Soziologie der Prognose von Erdbeben: Katastrophensoziologisches Technology Assessment am Beispiel der Türkei [1 ed.] 9783428483761, 9783428083763


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Soziologie der Prognose von Erdbeben: Katastrophensoziologisches Technology Assessment am Beispiel der Türkei [1 ed.]
 9783428483761, 9783428083763

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ELKE M. GEENEN

Soziologie der Prognose von Erdbeben

Soziologische Schriften

Band 62

Soziologie der Prognose vonErdheben Katastrophensoziologisches Technology Assessment am Beispiel der Türkei

Von

Elke M. Geenen

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Geenen, Elke M.:

Soziologie der Prognose von Erdbeben : katastrophensoziologisches technology assessment am Beispiel der Türkei I von Elke M. Geenen. Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Soziologische Schriften ; Bd. 62) Zug!.: Kiel, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-428-08376-8 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten

© 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0584-6064 ISBN 3-428-08376-8

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 §

Den Bewohnerinnen und Bewohnern erdbebengefährdeter Regionen

Inhalt I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

A. Zentrale Fragestellung der Untersuchung .

24

B. Erdbeben und Naturverhältnis

. . . . . . .

27

C. Gefahr und Risiko . . . . . . . . . . . . . .

35

II. Katastrophensoziologische und warntheoretische Überlegungen

37

A. Anwendung katastrophensoziologischer Überlegungen auf die Westtürkei ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

1. Sozialer Konflikt und die Bearbeitung des Überlebensproblems Erdbeben

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

2. Die Verortung des westtürkischen Erdbebenproblems im katastrophensoziologischen, prozessualen Makromodell FAKKEL . . . .

43

a) Das Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

b) Regionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

c) Darstellung der Figuration unter dem Aspekt der Erdbebengefahr in der Westtürkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

d) Die Zuspitzung der Figuration in einer durch Erdbeben

3. Konzeptuelle Rahmung

60 62 62 66 68

4. Historische Aspekte

70

ausgelösten Katastrophe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Gesellschaftliche Dimensionen der Bewältigungsfähigkeit . . . . . . l. Zeithorizonte

. . . .

2. Bewältigungsebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ein klassisches Erdbeben: Wandel der Bewältigungsfähigkeit Säkularisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

C. Grundlagen zum Verständnis geophysikalischer Prozesse bei Erdbeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

8

Inhalt D. Institutionalisierung von Vorhersage und Warnung anhand ausgewählter Naturereignisse . . . . . . . . . . . . 1. Entwicklung und Institutionalisierung der Erdbebenvorhersageforschung .. -. . . . . . .. . .... . a) Vereinigte Staaten von Amerika . . . . . . . . . . . . . b) Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kontroversen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Entwicklung von Warnnetzen am Beispiel von Tsunamis . E. Vorhersage, Warnung und Prophylaxe . . . . . . . l. Vorhersage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Prognose als Erkenntnisproblem . . . . . . . . . . . b) Die Diskontinuität des Ereignisses . . . . . . . . c) Die Komplementarität von Erkenntnisfortschritt und sozialer Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prognose und Epignose . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dimensionen von Vorhersagen und Warnungen

88 88 88 95 97 100 104 104 l 05

ll1

ll2 ll4 ll7

Exkurs: Ausbrüche der Vulkane Nevado del Ruiz und Mount St. Helens

127

4. Zur wechselseitigen Bedingtheit von Warnung und Prophylaxe . . 5. Warn- und Alarmierungsprozesse und -medien . . . . . . . . . . . . a) Warnmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Traditionell im Untersuchungsgebiet verwendete Signalmedien c) Warnsemantik in der Türkei . . . . . . . 6. Entwarnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

130 131 132 135 136 139

III. Zur Methodik und Durchführung der Untersuchung A. Fragebogen und Interviewleitfaden . . . . . . . . . . . . . . B. Auswahl des Erhebungsgebiets und der Siedlungseinheiten C. Durchführung der Felderhebung . . . . . ... . .. . . 1. Typischer Verlauf einer Befragung . . 2. Interviewmethodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. DurchfUhrung der Sondererhebungen . . . . . . . . . . . 4. Schwierigkeiten bei der Befragung und besonderer Befragungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kritik an der Befragung D. Auswertung und Auswertungsverfahren . . . . . . . . . . . . E. Beschreibung der Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143 . .

. . . .

145 147 147

148 150 153

153 154 . 155 . . . . . . . 157

Inhalt

IV. Ausgewählte Aspekte zur Sozialstruktur im Untersuchungsgebiet .......... . A. Sozioökonomische Grunddaten der Befragten B. Aspekte der Sozialstruktur . . . . . . . . . 1. Geburts- und Wohnort der Befragten . . . 2. Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Geschlechtsspezifische Segmentierung b) Annäherung an das Problem des öffentlichen Raumes in der Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Berufsstruktur, Subsistenzproduktion, Markt und öffentlicher Raum . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ethnien in der Untersuchungsregion .... . ... . 4. Altersstruktur der Befragten . . . . . . .. . . 5. Formale Bildung .

V. Empirische Ergebnisse A. Wahrnehmung, Erfahrung und Wissen

1. 2. 3. 4.

Erfahrung mit Erdbeben(-katastrophen) Siedlungsstrukturen und ihr postkatastrophischer Wandel . Erdbeben: Wahrnehmung, Wissen und Interpretation . . . Laienbeobachtungen zu erdbebenbezogenen Phänomenen . a) Angaben zu auffälligem und außergewöhnlichem Tierverhalten vor Beben . . . . . . . . . . . . b) Angaben über nicht-biogene Beobachtungen vor, während und nach Beben . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Makroskopische Beobachtungen hydrologischer Effekte (2) Angaben über das Erscheinen eines Kometen vor dem Beben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Wetter- und andere atmosphärische Beobachtungen . (4) Schallwahrnehmungen vor und zu Beginn von Beben (5) Tektonische Beobachtungen vor Beben . . . . . . . . . (6) Tektonische Beobachtungen während und nach Beben . B. Bedrohung, Kontrollierbarkeit und Fatalismus . . . . . 1. Wahrnehmung von Bedrohungen durch Erdbeben und Gefahrenbewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kontrollierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . b) Persönliches Risikobewußtsein ... . . . c) Schutzwille und Schutzmöglichkeiten

9

163 163 164 164 165 166 167 168 177

179 181 183 183 183 185 187 192 196 202 202 210 211 213

214 215 218 218

218 226 228

10

Inhalt

2. Die Rolle religiöser und magischer Vorstellungen im Hinblick auf Katastrophe und Warnung (Fatalismusthese) . . . . . .

232

a) Katastrophe als Vorherbestimmung und Strafe Gottes . 232 b) Differentielle Zeitwahrnehmung als Quelle von Fatalismusvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 C. Erdbebenbezogene Mediennutzung und Kommunikationsstruktur . . . 242 D. Ein entwickeltes Erdbebenvorhersage-Szenario und seine Aussagekraft für die West-Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

244

l. Einstellung gegenüber Erdbebenvorhersage und Wamung . . .

244

2. Hypothetische Ankündigung eines Bebens . . . . . . . . . . . . . 3. Die hypothetische Handlungs- und Evakuierungsbereitschaft

247

nach einer Prognose ohne Fehlprognoseerfahrung . . . .

248

4. Die Bewertung der simulierten Fehlprognose . ..... .

253

5. Die Beurteilung einer Warnung auf dem hypothetischen Hintergrund einer vorangegangenen Fehlprognose 6. Die hypothetische Evakuierungsbereitschaft

.. . 265

nach einer Fehlprognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 7. Gründe fllr eine potentiell fehlende Evakuierungsbereitschaft . . . 275 E. Sozioökonomische Wirkungen von Erdbebenvorhersagen . . . . . . .

282

l. Diskussion der Problematik ökonomischer Wirkungsanalysen anband eines Simulationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 a) Möglichkeiten und Grenzen regionaler Simulationsmodelle b) Das Simulationsmodell von Ellson, Milliman und Roberts: Darstellung und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

283 287

c) Modellkritik und Übertragbarkeit auf das Untersuchungsgebiet in der Westtürkei .... 2. Migrationserwägungen im Untersuchungsgebiet nach einer Vorhersage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

293 299

F. Wahrnehmung und Bewertung der Erdbebenvorhersageforschung durch die Bevölkerung des Untersuchungsgebietes . . . . . . . G. Handlungsbedarf, -optionen und -kompetenzen . . . . . . . . . . l. Die Antizipation von Handlungsoptionen auf lokaler Ebene (Dorf- und Stadtteilvorsteher) im Fall eines Erdbebens

310 313 313

2. Öffentlicher Handlungsbedarf aus Sicht der Bevölkerung . . . . . . 317

VI. Rückblicke und Zusammenführungen

. . . ... . ... . . . . .. . 341

Inhalt

11

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . .

353

1. Bücher und Beiträge in Zeitschriften und Sammelwerken . . . . 2. Artikel aus Zeitungen und Magazinen . . . . . . . . . . . . . . . .

353 369

Anhang ......................... . ............. . .. 373 a) Antworten auf die Frage (4g): Welches sind die größten Schwierigkeiten in Ihrem alltäglichen Leben? (incl. Mehrfachnennungen) . . . . . . . . . . . 374 b) Antworten auf die Frage (4g): Welches sind die größten Schwierigkeiten in Ihrem alltäglichen Leben? (eine Nennung bertlcksichtigt) . . . . 377 c) Dorfstatistik lt. Zensus und lt. Verwaltungsbefragung (Einwohner/ Einwohnerinnen, Haushalte, Alphabetisierungsrate) . . . . . . . . . d) Beschäftigungsbereiche lt. Zensus zum 12. 10. 1980 . . . . . . . . . e) Berufskombinationen und ihre Häufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . f) Antworten auf die Frage (4g): Welches sind die größten alltäglichen Schwierigkeiten für die in diesem Ort lebenden Menschen? (Befragung

378 381 384

der Dorf- bzw. Stadtteilvorsteher und Lehrer) . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 g) Zur Kommunikationsstruktur: Antworten auf die Frage (4b): Wo und mit wem sprechen Sie am meisten über Erdbeben und Schäden durch Erdbeben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 h) Zur Kommunikationsstruktur: Antworten auf die Frage (14a): Wo erfahren Sie etwas über Erdbeben und ähnliche Wissensgebiete? . . . . . . . . . . . . 392

Verzeichnis der Tabellen

Tab.

I Zusammensetzung der Bevölkerungsbefragung

Tab. 2 Ausfüller bzw. Ausfüllerinnen der Fragebögen

I48 I52

Tab. 3 Untersuchte Siedlungseinheiten . . . . . . . . . .

I59

Tab. 4 Untersuchte Siedlungseinheiten (Fortsetzung)

I6I

Tab. 5 Sozioökonomische Grunddaten der Befragten . . . . . . . . . .

I63

Tab. 6 Lokalität der Befragten nach Stadt I Land . . . . . . . . . . . . . . Tab. 7 Lokalität der Befragten nach Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . .

I65 I65

Tab. 8 Ethnien mit nicht-türkischer Muttersprache in Sakarya . . . . . . .

178

Tab. 9 Wahrnehmung veränderten Tierverhaltens- Ja/Nein-Kategorisierung zu Frage (6a) nach Region, Geschlecht, Schulbildung, Erdbebenerfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tab. IO Kontrollierbarkeit von Ereignissen (4a)

. . . . . . .

20 I 222

Tab. 11 Evakuierungsbereitschaft nach I. Warnung (V8cl)

. . . . . . . . . . . 249

Tab. I2 Evakuierungsbereitschaft nach 2. Warnung (V8c4)

. . . . . . . . .

274

Tab. 13 Modellrechnung: Gegenwarts-(Bar)werte der regionalen Einkommensverluste bei vollständigem Wiederaufbau

. . . . . . . . . . . . . . . . . 292

Tab. I4 Modellrechnung: Gegenwarts-(Bar)werte der regionalen Einkommensverluste bei alternativen Annahmen über Wiederaufbau und Erdbebenschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..... .

294

Tab. 15 Migrationsneigung nach hypothetischer Warnung (V8d)

308

Tab. I6 Wahrnehmung der Erdbebenforschung (V8a) ..... .

311

Tab. I7 Beurteilung der Erdbebenforschung (V8b I) . . . . . . .

313

Verzeichnis der Abbildungen

Abb. Geographische Übersichtskarte des Untersuchungsgebietes Abb. 2 Aktivitäten im türkisch-deutschen Erdbebenvorhersageprojekt Abb. 3 Starke Erdbeben (M5 ~ 7,0) in der Türkei 1800 - 1981 . . . Abb. 4 Geographische Verteilung der Epizentren in der Türkei 1800 1981 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 5 Seismische Risikozonen und Verwundbarkeit in der Türkei . Abb. 6 Befragungsorte in der Provinz Sakarya . . . . . . . . . Abb. 7 Befragungsorte in der Provinz Bolu . . . . . . . . . . . . . Abb. 8 Haupt-Berufe der Befragten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 9 Altersstruktur in der Befragung und lt. Zensus 1980 (Bolu, Sakarya) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 10 Alter der Häuser im Untersuchungsgebiet 1985 . . . . . . . . . . . Abb. ll Wahrnehmung veränderten Tierverhaltens vor Beben . . . . . . . . Abb. 12 Makroskopische hydro log. und geotherm. Beobachtungen vor Beben (Sakarya) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 13 Makroskopische hydro!. und geotherm. Beobachtungen vor Beben (Bolu) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 14 Hydro!. und geotherm. Beobachtungen während und nach Beben (Sakarya) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 15 Hydro!. und geotherm. Beobachtungen während und nach Beben (Bolu) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 16 Einstellung zu Gottesstrafe und Wahrnehmung von Handlungspotential . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 17 Erdbebenerfahrung und Risikowahrnehmung . . . . . Abb. 18 Gespräche über Beben und Bebenrisiken . . . . . . . . . . . . Abb. 19 Wahrnehmung und Nutzung von Handlungspotentialen . . . . . . . Abb. 20 Evakuierungsbereitschaft der Befragten nach 1. Warnung . . . . . Abb. 21 Evakuierungsbereitschaft der Befragten nach 2. Warnung . . Abb. 22 Simulation regionaler Realeinkommensveränderungen Abb. 23 Migrationserwägungen nach hypothetischer Warnung Abb. 24 Wahrnehmung der Erdbebenvorhersageforschung im Untersuchungsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 25 Öffentlicher Handlungsbedarf aus Sicht der Bevölkerung . . .

25 26 39 41 63 158 160 170 180 184 . . 199 .

204 205

. . 208 209

. .

221 227 229 231 247 270 295 299 312 319

Lesehinweise und spezielle Abkürzungen Köy Mah. Muhtar

Dorf Mahalle (Teil eines Dorfes) Dorf-, Gemeinde-, und Stadtteilvorsteher

Bolu Bolu

Provinz Hauptstadt der Provinz Bolu

Sakarya Adapazar1

Provinz Hauptstadt der Provinz Sakarya

Bei Zitaten mit Ortsangabe wird zuerst das Dorf (bzw. die Stadt), dann die Mahalle genannt. Dorf- und Mahallennamen können gleich sein. Beispiele: Dorf Karat;:omak Gölcük Gölcük

Mahalle T~kesti

Gölcük Tekirler

Fragebogenstatements werden teilweise mit Dorf-Mahallen-Schlüssel zitiert. Beispiel: d58m0l FB 2 d 58

m

Ol

FB 2

Dorf, Stadt Kodenummer des Dorfes I der Stadt. Hier: Akyaz1 Mahalle Kodenummer der Mahalle. Hier: Cumhuriyet Mahalle Fragebogen Nummer des Fragebogens

Die Fragen sind alphanumerisch kodiert, z. B. V51, V8d Im Text verwendete Abkürzungen: CEPEC

California Earthquake Prediction Evaluation Council

Lesehinweise und spezielle Abkürzungen

FAKKEL

FEMA FY GAO IDNDR

KFS

LECA LIDPAR

M

NEHRA NEHRP NEPEC OES OSTP SCEPP s. S&R THRUST USGS vgl.

Von Clausen (vgl. 1983) entwickeltes katastrophensoziologisches Prozeßmodell mit den sechs Stadien Friedensstiftung, Alltagsbildung, Klassenformation, Katastropheneintritt, Ende kollektiver Abwehrstrategien, Liquidation der Werte Federal Emergency Management Agency Financial Year General Accounting Office International Decade for Natural Disaster Reduction Katastrophenforschungsstelle (Universität Kiel) Large-Scale Earthquake Countermeasures Act Von Dombrowsky (vgl. 1983) entwickeltes katastrophensoziologisches Modell (Latenzphase, Identifikationsphase, Definitionsphase Personalisationsphase, Aktionsphase, Rückkopplungsphase) Magnitude (gemessen auf der nach oben offenen RichterSkala), z. B. im Text: M = 5,5 National Earthquake Hazard Reduction Act National Earthquake Hazards Reduction Program National Earthquake Prediction Evaluation Council Office of Emergency Services Office of Science and Technology Policy Southern Califomia Earthquake Preparedness Project Siehe (s.) vor Textverweisen bezieht sich auf den vorliegenden Text. Search and Rescue Tsunami Hazard Reduction Utilizing Systems Technology United States Geological Survey Vergleiche vor Literaturangaben bezieht sich auf Sekundärliteratur.

In den Tabellen verwendete Abkürzungen: EMG ÜK

Elke M . Geenen Üstün Ktyak

Abkürzungen verwendeter Zeitungen: DAS FAZ

Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt Frankfurter Allgemeine Zeitung

15

16 FR KN

sz

Lesehinweise und spezielle Abldlrzungen

Frankfurter Rundschau Kieler Nachrichten Süddeutsche Zeitung

I. Einführung Durch Erdbeben 1 ausgelöste Katastrophen verweisen darauf, daß die erste Distanzierung des Menschen - die von der Natur - noch nicht gelungen ist. Menschen in Erdbebenregionen leben in einer von der Gefährdung eigentümlich geprägten Figuration.2 Diese Verflechtungen, in die sie eingebunden sind, präformieren Wahrnehmungs- und ·Handlungskontexte und lassen dennoch situativ3 Gestaltungsspielräume und Einwirkungen auf die figurative Entwicklung zu. In Katastrophen gerät die Figuration aber nur dann ins Fließen, wenn in den mehr oder weniger langen Vorlaufzeiten bereits Umstrukturierungen oder Verschiebungen im Kräfteverhältnis innerhalb der Figuration stattgefunden haben. Wenn diese in Richtung der Aufhebung von Ungleichzeitigkeiten und Stärkung der Konfliktfähigkeit des schwächeren Teils abgelaufen sind, werden sich die Katastrophen- bzw. Risikopotentialenach einer Katastrophe beschleunigt verschieben. War dies im Vorlauf der Katastrophe nicht der Fall, so greifen spätestens nach der Beseitigung ihrer ärgsten Sichtbarkeit die alten Muster. Das Ereignis selbst trägt nur einige (wahrnehmungs- und handlungsentwickelnde) Wandlungselemente mit sich, die aber allein einen erheblichen Transformationsprozeß nicht tragen und somit die Figuration nicht als ganze, sondern nurmehr personal und materiell ins Fließen bringen können. Die Katastrophe bezeichnet Scheitern, die '"Real-Falsifikation' menschlichen Mühens, die Probleme des Überlebens technisch und organisatorisch zu lösen" (Dombrowsky 1989, S. 258). Daß sie kein Gleichmacher ist, wissen von ihr Betroffene genau, spätestens, wenn in ihr unterschiedliche Verwundbarkeiten manifest werden. 4 Der einfach erscheinende

1 Nach Peter J. Smith (vgl. 1973, S. 159) haben während historischer Zeit mehr als 14 Millionen Menschen durch Erdbeben oder von Erdbeben induzierte Ereignisse wie Hangrutschungen, Brände und Tsunamis ihr Leben verloren. 2 Der Begriff wird hier im Sinne von Norbert Elias (vgl. I 986, S. 139 ff.) verwendet. 3 Zur Bedeutung des situativen Anteils in der Figuration vgl. Dombrowslcy 1989, S. 230. 4 "Es hat sich in vielen Fällen gezeigt, daß die seismische Belastung einer Stadt eine Art von Ausleseprozeß darstellt: Von Einstürzen werden vor allem solche Bauwerke betroffen, die in Konstruktion und Festigkeit auch den außerhalb von Erdbebengebieten gültigen Regeln und Grenzwerten nicht genügt haben. Es ist natürlich kein Zufall, daß häufig arme und unterentwickelte Gebiete der Erde von Erdbebenkatastrophen betroffen werden. Viele der großen Schadensfltlle müssen also auf eine ungenügende Bautechnik und Bauaufsicht zurOckgeftlhrt werden" (Schneider I975, S. 382). 2 Geenen

18

I. Einftlhrung

und häufig beschrittene Weg, mit ihr umzugehen, ist der restaurative. Spuren der Katastrophe werden unsichtbar (gemacht),5 während sich neue Gefährdungspotentiale aufbauen. So stehen den ökonomisch und sozial Benachteiligten in Entwicklungs- und Schwellenländern kaum Ressourcen zur Ver:fiigung, um gegenläufige Risikoreduktionsstrategien, z. B. durch den Bau erdbebenresistenter Häuser, zu verfolgen. 6 Die rapide Binnenmigration aus den ländlichen in städtische Regionen, das damit verbundene rasche Wachstum der Städte und die Bevölkerungszunahme sind Faktoren, die neue Strukturen der Verwundbarkeit schaffen, die mit den vorhandenen Ressourcennicht aufgefangen werden können und die die Verwundbarkeit der Bewohner in Entwicklungs- und Schwellenländern generell erheblich verstärken, zumal wegen des Wachstums von schnell errichteten marginalen Wohnstätten wie Slums (in der Türkei Gecekondus), die für Binnenmigranten aus ländlichen Räumen oft die erste Station ihres Aufenthaltes in den größeren Städten sind, wobei die Gebäude in den meisten Entwicklungsländern ohne jegliche Baukontrolle errichtet werden und auch minimalen Baustandards nicht entsprechen (vgl. Torry 1980, S. 318 ff.). Die zugezogenen Bewohner nutzen, sofern möglich, die ihnen traditionell aus in ihren Dörfern bekannte Bauweise unter Verwendung des in den städtischen Regionen vorfmdbaren Materials (vgl. Yasa 1972, S. 577). In Anbetracht fehlender Fachkenntnisse und des nur eingeschränkt möglichen Rückgriffs auf das kumulierte Wissen lokaler Gemeinschaften verschärft sich das auch in ländlichen Regionen gravierende Problem der Verwundbarkeit durch erdbebeninstabile Baustrukturen.

5 Z. T. ist dieser Prozeß intendiert, indem von politischen Entscheidungsträgem 'Normalisierung' propagiert wird (so z. B. der Provinz-Gouverneur nach dem Erdbeben vom 13. März 1992, das Erzincan und die umliegenden Dörfer am stärksten betraf). 'Normalisierung' als Anstrengung deutet auf die Form des Katastrophenmanagements. Je stärker dem 'Scheitern' mangelnde kollektive, insbesondere politische und behördliche Kompetenzen, Ressourcen sowie vorbeugende Kontrollen (bei Erdbeben insbesondere Baukontrollen) und Katastrophenprophylaxe zugrundeliegen, um so mehr ist das Management aufvage Offerten und das Kaschieren und Vergessenmachen der Schäden verwiesen. 6 Schöning-Ka/ender (1985, S. 65 f.) vermutet, daß diejahrhundertealte Erfahrung von Bebengefllhrdung in Istanbul eine Baugesinnung hervorgebracht habe, entsprechend der Häuser nicht als wertbeständige Gegenstände angesehen würden und wenig Kapital ftlr Instandhaltung und Reparaturen an Häusern aufgewendet werde. Hinzu käme die Erfahrung der Bevölkerung mit willkürlichen Eingriffen osmanischer Herrscher in die Bausubstanz, sofern diese dem Ausbau von Straßen im Wege gestanden hätten. Der Bau von Steinhäusern sei im !?.Jahrhundert zudem aufgrundder Beftlrchtung der osmanischen Regierung verboten worden, daß die Bewohner sich darin hätten verschanzen können. Die Erklärung der Baugesinnung mit einer durch den Glauben entwickelten fatalistischen Einstellung hält sie ftlr fragwürdig (zur Problematik einer sich auf Fatalismusthesen grUndenden Bewertung von Gefahrenwahrnehmung und Handlungsmustern der Bewohner erdbebengefllhrdeter Regionen in der Türkei s. auch Abschnitt V.B.2.a)).

I. Einfilhrung

19

Aber auch die Bausubstanz in ländlichen Regionen der Türkei ist hochgradig verwundbar, zumal wenn berücksichtigt wird, daß über 90 Prozent der Türkei in seismisch gefährdeten Regionen liegt. Anoglu und Anadol (vgl. 1977, S. 2 ff.) schätzten auf der Grundlage offizieller Quellen, daß es in der Türkei 4,96 Millionen ländliche Niedrigpreisgebäude7 gebe, die von 25,8 Millionen Personen bewohnt würden. 15 Prozent dieser Gebäude befanden sich in schlechtem und 28 Prozent in reparaturbedürftigem Zustand. Beobachtbar sei, daß die Verluste an Menschenleben bei den Niedrigpreisbauten höher seien, als erfahrungsgemäß bei einer bestimmten Bebenstärke zu erwarten wäre. Bayülke hat die Bausubstanz der in der Türkei am häufigsten gebauten Haustypen (betonarmierte, Ziegel-, Fachwerk- und Lehmhäuser) miteinander verglichen und geprüft. Er kommt in Bezug auf alle Gebäudetypen zu dem Resultat, daß sie gegenüber Erdbebenschäden hochgradig verwundbar seien und daß ihr Schadenspotential zu einer sehr hohen Zahl von Menschenverlusten sowohl in ländlichen als auch in städtischen Regionen fUhren könne. Die bisherigen Verluste bei Erdbeben in ländlichen Regionen bestätigten diesen Befund (vgl. Bayülke 1985, o. S. [S. 47]. Er stellt fest, daß die hohen Verluste und Schäden in ländlichen Regionen bisher nicht zu ernsthaften Anstrengungen gefiihrt hätten, durch eine technisch den Erdbebengefahren Rechnung tragende Bauweise und notwendige Baukontrollen die Gefahren zu reduzieren. Bei einem Vergleich der Bausubstanz von Fachwerkhäusern in Bolu im Jahre 1981 mit derjenigen in Gediz im Jahre 1970 ergibt sich, daß der Zustand vieler Holzhäuser wegen ihres Alters und der kaum angewandten Verfahren zum Schutz des Holzes und der Vernachlässigung notwendiger lnstandhaltungsarbeiten, etwa der Qualität der Häuser in der Gediz-Region vor dem Erdbeben von 1970 entspricht (vgl. Bayülke 1983, S. 225). Die Bevölkerung bevorzuge inzwischen Stein- und Betonbauten und behandele die Holzhäuser so, als würden sie in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren ersetzt. Die Slums befinden sind oft in den Gebieten der Städte, die besonders Steinschlag, Überflutung, Bränden etc. ausgesetzt sind, und sind infrastrukturell unzureichend ausgestattet. Überdies kommt es zu Spekulationen dadurch, daß Hütten in diesen marginalen Siedlungsgebieten errichtet werden, um eine Eigentümerschaft zu begründen und das Land mit der Behausung an Binnenmigranten weiterzuverkaufen. "A social system ill-equipped to make quick, wellorganized responses to hazard warnings, or to situational requirements for

7 Darunter verstehen die Autoren Gebäude, die von den Besitzern selbst und unter ausschließlicher Verwendung regionaler vorhandener Konstruktionsmaterialien und der regional bekannten Teclmologie ohne Inanspruchnahme von Bauingenieuren errichtet wurden.

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I. Einfilhrung

relieving resultant suffering only compounds the subsequent crises" (Torry 1980, S. 319). In der Türkei stieg der Anteil der Bevölkerung, die in Gecekondus wohnt, zwischen 1960 und 1970 von 23 auf 25 Prozent. Von der Bevölkerung Istanbuls lebten 1970 allein 40 Prozent in Gecekondus, in Ankara waren es 60 Prozent (vgl. Torry 1980, S. 323 f.). Am dichtesten bevölkert waren 1985 die Provinzen Istanbul, Ankara, Izmir und Konya. In diesen Provinzen lag das jährliche Bevölkerungswachstum zwischen 2,5 und 4,3 Prozent und überstieg damit zum Teil das durchschnittliche Wachstum der Gesamtbevölkerung von 2,5 Prozent fiir die Jahre 1980 und 1985. Während die westlichen Provinzen der Türkei, insbesondere Urfa, Kocaeli, und Istanbul hohe jährliche Zuwachsraten verzeichnen, war die Bevölkerungszunahme in fast allen östlichen Provinzen unterdurchschnittlich, in den Provinzen Artvin und Tunceli nahm die Bevölkerung entsprechend den Ergebnissen der Volkszählungen zwischen 1980 und 1985 ab. Deutlich wird die rapide Abwanderung in die städtischen Regionen an der Entwicklung des Verhältnisses von städtischer zu ländlicher Bevölkerung. Während 1950 nur 18,5 Prozent der Bevölkerung der Türkei in städtischen Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern lebte (vgl. Torry 1980, S. 322), waren es 1985 bereits 51 ,1 Prozent (vgl. Statistisches Bundesamt 1989, S. 24). Da die Türkei aber über keine Binnenwanderungsstatistik verfiigt, kann das Wanderungsvolumen nicht präzise geschätzt werden (vgl. Statistisches Bundesamt 1989, S. 22). Die von Torry aufgezeigtenProblerne mangelnder Infrastrukturentwicklung in den Gecekondus bestehen unvermindert fort (vgl. Statistisches Bundesamt 1989, S. 25). Institutionen, die den Katastrophenschutzgemeindeweit koordinieren könnten, existieren dort nicht. Das Defizit an Wohnungen belief sich nach Schätzungen der "Mass Housing and Public Partnership Administration" 1986 auf 1,5 Millionen Einheiten (vgl. Statistisches Bundesamt 1989, S. 25). Ertugrul Ttglay, Vorsitzender der Kammer der Bauingenieure in Istanbul, äußerte in einem Interview, daß es in der erdbebengefährdeten Region lstanbul fiir kein einziges Gebäude einen Bericht über seine Stabilität gebe (vgl. "Deprem geliyorum diyor", nokta vom 8. 2. 1987, S. 13). Darüber hinaus geht - auch dies entspricht Befunden, nach denen die Slums in den katastrophengefährdetsten Regionen von Städten entstehen - aus geologischen Karten, auf denen fiir das Gebiet Istanbul eine Zonierung der Qualität des Baugrundes ausgewiesen ist, hervor, daß die Slums sich überwiegend in den Regionen befinden, deren Baugrund am ungeeignetsten ist, um Einwirkungen durch mittlere oder stärkere Beben zu widerstehen (vgl. "lstanbul sallamrsa ...", nokta vom 9. 2. 1986, S. 50 f.).

I. Einfilhrung

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Vorhersagen8 würden diese Figuration vor allem dann ändern, wenn es gelänge, einen Teil des Aufwands, der bisher für Katastrophenhilfe und Wiederaufbau eingesetztwerden muß, 9 vorzuverlagern in Zeiträume, in denen starke Erdbeben erwartetwerden und sich Risikopotentiale auftürmen. Damit könnte eine partielle Umorientierung internationaler Hilfsprogramme auf das Ziel, die Resistenz von Risikogebieten und den Katastrophenschutzzu stärken, verbunden sein. Unabhängig davon, ob eine einzelne Prognose zutrifft oder nicht, würde sich die Sichtweise auf das Problem verändern. Es könnten sich u. a. Entwicklungen abzeichnen, in denen sich die Zeithorizonte der Planung, die derzeit überwiegend auf die Bearbeitung des Zeitraumes zwischen Katastropheneintritt und -bewältigung hin orientiert sind, erheblich verlängern. Reformatorische Lösungen (s. S. 46) würden wahrscheinlicher. Hierftlr ist aber über die Entwicklung und Implementation dieserneuen Technologie hinaus erforderlich, daß geeignete Strukturen vorhanden sind oder geschaffen werden, die es ermöglichen, mit den Vorhersagen in adäquater Weise umzugehen. Dazu ist neben der Berücksichtigung der spezifischen sozialen Bedingungen in dem Land oder der Region, in der dieses Verfahren angewendet werden soll, vor allem die Kenntnis der Gefahrenperzeption der Bewohnerinnen und Bewohner und der organisatorischen Strukturen, die geeignet sein könnten, eine erfolgreiche 10 Warnpolitik zu entwickeln und umzusetzen, bedeutsam. Auch filr letztere gilt, daß Information und Warnung nicht nach einfachen Regeln, die intergesellschaftlicheGültigkeit hätten, konzipiertwerden kann. Vielmehr ist es notwendig, die Sinnkontexte und lnterpretationsmuster, in denen soziales Handeln gedeutet wird, zu verstehen, um geeignete Verfahren anzuwenden.

8 Erdbebenvorhersageforscher stehen in eigenen, der oben genannten Figuration äußeren, aber ihr dennoch partiell verbundenen Zusammenhängen. Indern sie durch Vorhersagen /Nicht-Vorhersagen unter Umständen auf diese Figuration einwirken können, transzendiert die Vorhersage den naturwissenschaftlichen Problemkontext und wird als möglicherweise sozial problematisch erfahrbar. 9 Allein die Katastrophen- und Wiederaufbauhilfe der türkischen Regierung nach den Beben von Burdur (12. 5. 1971 -umgerechnet 25 Mio. $), Bingöl (22. 5. 1971 -umgerechnet 28 Mio. $)) und Gediz (28. März 1970- umgerechnet 50 Mio. $);die sich innerhalb einer Zeitspanne von wenig mehr als einem Jahr ereigneten, belief sich auf 5 Prozent des Staatshaushaltes der Regierung (vgl. Torry 1980, S. 322; Mitchelll976, S. 41). Hinzu kommen finanzielle Hilfen aus anderen Ländern (z. B. 14 Mio. $nach dem Lice-Beben aus externen Ressourcen, 34 Mio. seitens der türkischen Regierung, vgl. Mitchell 1976, S. 41). Zu den o. g. Erdbeben und den Schäden bzw. Verlusten an Leben, Gesundheit und Vermögen liegen Berichte vor (zum Gediz-Beben: Erinr; et al. 1970; Yarar et al. 1970 und Imar ve Iskan Bakanilg1 1970; zum Bingöl-Beben: Aktan et a/. o. J.; zum Burdur-Beben: Burdur Deprem Raporu 1971; zum Lice-Beben: Mitchell 1976). 10 Erfolgreich ist eine Warnung dann, wenn sie die Betroffenen erreicht und angemessene Reaktionen auslöst. Dazu gehört auch, daß die Adressaten die grundsätzliche Risikobehaftetheil jeder Vorhersage, auf der eine Warnung basiert, verstehen und akzeptieren.

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I. Einfilhrung

Wenn es gelänge, durch Vorhersage einen Teil der disponiblen internationalen und nationalen Interventionsmittel von der postkatastrophischen Hilfeleistung auf die präkatastrophische Prophylaxe umzulenken, 11 könnte der Effekt eintreten, daß Schwellen- und Entwicklungsländer mit erdbebengefiihrdetenRegionen daran interessiert wären, daß eine sie betreffende Erdbebenvorhersage herausgegeben würde, zumindest aber, daß ein Vorhersageforschungsprogramm in ihrer Region durchgefiihrt würde, weil sie darin eine Möglichkeit sähen, Ressourcen einzuwerben (s. S. 95 f.). Dank: Forschung erfolgt im zwanzigsten Jahrhundert in komplexen, arbeitsteiligen Zusammenhängen. Für die Erdbebenvorhersageforschung - so wird weiter unten argumentiert - gilt dies in besonderem Maße, wenn sie zu wissenschaftlich ertragreichen und praxisrelevanten Resultaten kommen will. Ein Teil dieser Zusammenhänge wird üblicherweise durch Zitation dokumentiert. Ein weiterer, nicht weniger wichtiger äußert sich in Dankesschulden. Sie betreffen Beiträge zur Gestaltung von Rahmenbedingungen, die ein empirisches Forschungsprojekt überhaupt erst möglich und durchfilhrbar machen. Vielleicht können die Ergebnisse dieser Untersuchung einen Teil dieser Schulden abtragen. Die freundliche Aufnahme in den Dörfern und Städten des Untersuchungsgebietes und die Gastfreundschaft der Befragten, die in den seltensten Fllllen angenommen werden konnte, und vor allem ihre unerwartet große Bereitschaft, geduldig, freimütig und konstruktiv Auskunft zu geben, ihre Aufgeschlossenheit gegenüber der fremden Wissenschaftlerin und gegenüber den - nicht immer schmerzfrei zu beantwortenden - Fragestellungen hat der Untersuchung zu einer reichhaltigen und wertvollen empirischen Basis verholfen, ohne die ein differenzierter Einblick in die Problematik nicht denkbar und die aufwendige und mühevolle Übersetzung und Auswertung nicht zu rechtfertigen gewesen wäre.

11 Als ein erster größerer internationaler Versuch auf dem Wege systematischer Analyse länderspezifischer Gefahrenpotentiale, der Struktur von Verwundbarkeilen und der Entwicklung von Strategien zur Reduktion der Auswirkung von Naturereignissen kann das IDNDR (International Decade for Natural Disaster Reduction) Programm aufgefaßt werden. Am 30. Juni 1991 wurde von 93 Ländern ein nationales IDNDR-Komitee eingerichtet (vgl. Osservatorio Vesuviano 1991, S. 6). Die einzelnen nationalen Komitees befinden sich in unterschiedlichen Entwicklungsstadien (vgl. auch Möller 1991 filr die Bundesrepublik Deutschland und Ergünay I Gülkan 1990 filr die Türkei). Ein Vorschlag filr den Aufbau eines nationalen Programms umfaßte folgende Schritte: (l) Einrichtung eines nationalen IDNDR Komitees (durch Regierungshandeln, z. B. Gesetzgebung), (2) Die IdentifiZierung von Lücken und Prioritäten im technologischen Wissen auf physischem [Katastrophenbewertungskapazitllt, Gefahrenzonierung, etc.], sozialem [öffentliches Bewußtsein, Lage verwundbarer Gemeinden, etc.] und infrastrukturellem [Planung und Bauvorschriften] Gebiet, (3) Planung von Aktivitäten zur Vorsorge und zum Vorbereitetsein auf landesweiter und lokaler Ebene (Risikozonierung von Erdbebengebieten), (4) die Vorlage nationaler Programme zur Genehmigung durch die Regierung (Haushaltsentscheidung), (5) Regierungsentscheidung über die Beteiligung an der nationalen Dekade (Programmimplementierung durch die Regierung), (6) Implementierung der nationalen Programme durch spezifiZierte Behörden und Institutionen (Nationales Rahmenprogramm), (7) Beobachtung und Bewertung der nationalen Programme (SpezifiZierung der zu erreichenden Ziele: a) Nationale Bewertung von Risiken, b) Nationale und I oder lokale Vorsorge- und Bereitschaftspläne, c) Globale, regionale, nationale und lokale Wamsysteme) (nach Osservatorio Vesuviano 1991, S. 6).

I. Einfllhrung

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Ohne Dr. Üstün K1yak, seinerzeit Assistent am Institut fllr Geophysik der Universität Istanbul, wäre die Feldforschung nicht möglich gewesen. Er hat den Zugang zu Behörden und zur befragten Bevölkerung erleichtert, bei den Dorfbefragungen das Erdbebenvorhersageprogramm aus geowissenschaftlieber Sicht vorgestellt, die Organisation und Abwicklung der Interviews unterstützt und selbst einen Teil der Befragungen (nach Fragebogen bzw. Interviewerleitfaden) durchgefllhrt. Feldbeobachtungen kommentierte und analysierte er aus der wohlinformierten Sicht eines kritischen Einheimischen. In der Auswertungsphase war er bei der Beschaffung von statistischem Material behilflich und tlbernahm die Transkription eines Teils der Bandaufzeichnungen von Verwaltungsinterviews. Ich danke den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Instituts fllr Geophysik der Universität Istanbul fllr ihre freundliche Aufnahme. Insbesondere Professor Dr. Soysal nahm lebhaften wissenschaftlichen Anteil an den in diesem Projekt untersuchten soziologischen Fragestellungen und stellte seinen Mitarbeiter Dr. K1yak fllr die Teilnahme an und Unterstützung der Feldforschung frei. Dem inzwischen leider verstorbenen Professor Soysal, der tlber die Grenzen seines Faches hinausdachte, gilt mein tiefer Respekt. Oktay Ergtlnay (Generaldirektor des Generaldirektorats fllr Katastrophenangelegenheiten im Ministerium fllr Öffentliche Arbeiten und Siedlungswesen, Ankara) stand fllr informative Gespräche zur Verfllgung und hat ntltzliche Kontakte zu Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern seines Hauses sowie zu externen Wissenschaftlern und Organisationen vermittelt. Insbesondere sei hier Nejat Baytllke (Diplom-Ingenieur, Sektion fllr Erdbebeningenieurwesen in der dem Ministerium fllr Öffentliche Arbeiten und Siedlungswesen angegliederten Erdbebenforschungsabteilung) fllr sein Interesse an der soziologischen Untersuchung, fllr die freundliche Überlassung von Manuskripten und fllr Hilfen bei der Organisation der Unterbringung im Untersuchungsgebiet gedankt. Sabn F1rat, stellvertretender Direktor der Abteilung des Ministeriums fllr Bau- und Siedlungswesen (Baymd1rhk ve Iskan MtldtlrltJgtJ), Bolu, hat die Durchfllhrung der Felduntersuchung in der Provinz Bolu mit Rat und Tat unterstützt und geholfen, administrative Schwierigkeiten zu tlberwinden. Gleiches gilt in Adapazar1 fllr Aydm Özal, den stellvertretenden Direktor der Abteilung des Ministeriums fllr Bau- und Siedlungswesens in Adapazar1. Damit sind noch nicht alle in der Administration genannt, deren Projektakzeptanz und Unterstützung fllr die Projektdurchftlhrung wichtig waren. Dozent Dr. Erkal vom Institut fllr Soziologie der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Istanbul danke ich ftlr sein Interesse an dieser Arbeit und die Überlassung sozialwissenschaftlicher Literatur tlber das Untersuchungsgebiet Wissenschaftlich ergiebige Gesprächskontakte hat es in der Ttlrkei dartlber hinaus mit sehr vielen Menschen gegeben. Stellvertretend seien hier nur genannt: Dr. Andrew W. Coburn (Universität Cambridge I UK); der Präsident der Stadtverwaltung (Belediye) von Akyaz1, Herr Ahmet Sarlf;;ismeli, und sein Stellvertreter; Mitarbeitern des Afet I~leri Gene! Mtldtlrltlgtl (Generalamt fllr Katastrophenarbeiten); Prof. Dr. Turgut Bilgin, Dozent Dr. Stlha Göney, Dozent Dr. Seiami Gözenfi:, alle Geographisches Institut der Universität Istanbul. Auch auf deutscher Seite ist die sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht erfreuliche Kooperation von Natur- und Sozialwissenschaftlern hervorzuheben, woran Professor Dr. Jochen Zschau, Koordinator des Erdbebenvorhersage-Forschungsprojektes auf deutscher Seite, inzwischen Geo-Forschungszentrum Potsdam, und die Mitarbeiter seiner Arbeitsgruppe besonderen Anteil haben. Professor Zschau hat den ersten Anstoß fllr dieses Projekt gegeben, Kontakte zu türkischen Organisationen vermittelt und interdisziplinäre Koordinationsaufgaben wahrgenommen. Zwei Forschungsreisen wurden in Abstimmung mit ihm vorbereitet und durchgeftlhrt.

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I. Einfilhrung

Prof. Dr. Lars Clausen hat das katastrophensoziologische Forschungsprojekt geleitet und durch llirderliche Kritik und Ennutigung begleitet. Diplom-Volkswirt Reinhard Strangmeier, Kiel, dankt die Autorio filr viele anregende Diskussionen. Dr. Wolf R. Dombrowsky hat in die reichhaltigen Bestande des Archivs der Katastrophenforschungsstelle, Institut filr Soziologie der Universität Kiel, eingefilhrt. Heiko Dählmann, inzwischen Diplom-Infonnatiker, filhrte als wissenschaftliche Hilfskraft einen großen Teil der anfallenden Datenverarbeitungsaufgaben (von der Dateneingabe bis zur Betreuung der RechnerHtufe) durch. Zahlreiche Menschen aus der Türkei haben die Autorio im Rahmen privater oder ehrenamtlicher Beziehungen mit Lebensverhältnissen und Problemen in der Türkei vertraut gemacht. Ihnen allen kann hier nicht namentlich gedankt werden. Frau Binnur Bilen, jetzt Hamburg, stand als erste Gesprächspartnerin zur Verfilgung und hat die Urfassung des Bevölkerungsfragebogens ins Türkische übersetzt. Sie und Frau Sennur Bilen, jetzt Bremen, haben der Autorio in Istanbul großzügige Gastfreundschaft geboten und den Start erleichtert. Später hat Sennur Bilen bei vielen Zweifelsfragen der Übersetzung offener Antworten Rat und Hilfe beigesteuert. Forschung ist teuer. Um so mehr danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die sich an der Finanzierung der Untersuchung durch Förderung von drei der insgesamt sechs Monate Feldforschung in der Türkei sowie von 18 Monaten der Auswertung beteiligt hat.

A. Zentrale Fragestellung der Untersuchung Im Rahmen der vorliegenden Arbeit werden die sozialen Bedingungen von Erdbebenvorhersagen und -wamungen in einem Teilbereich der Nord-Anatolischen Verwerfung zwischen Adapazan und Bolu (Westtürkei) untersucht (s. Abb. 1). 1 Das mögliche Verhalten der Betroffenen im Fall einer Erdbebenvorhersage wird von einem Wirkungsgefiige aus Erdbebenerfahrung,Risikowahrnehmung, Handlungspotential und Handlungsbereitschaftentscheidendbestimmt. Die Komponenten dieser Parameter wurden unter Berücksichtigung der sozioökonomischen Bedingungen des Schwellenlandes Türkei u. a. in einer Bevölkerungsbefragung erhoben und analysiert. 2 Im Frühjahr und Sommer 1985 filhrte die Autorin im Untersuchungsgebiet in Zusammenarbeit mit Dr. Üstün Ktyak (seinerzeit Geophysikalisches Institut der Universität Istanbul) die Befragungen durch. Ergebnisse der gleichzeitig durchgefiihrten Verwaltungsbefragung auf Dorfebene (Dorfvorsteher, partiell auch geeignete Ersatzpersonen) wurden ebenfalls berücksichtigt.

1 Der Arbeit liegt die Beteiligung an einem interdisziplinar ausgerichteten deutsch-türkischen Erdbebenvorhersage-Forschungsprojekt, das regional auf die o. g. seismisch gefllhrdete Region konzentriert ist, zugrunde (vgl. Geenen 1985, 1987a, 1987b, 1990a, 1991, 1992). Zu den verschiedenen an dem Programm beteiligten Projekten und den zwischenzeitlich vorliegenden Ergebnissen vgl. u. a. Zschau 1986, 1988 und Zschau I Ergünay 1989. Eine Übersicht über die Teilprojekte und die Dauer ihrer Beteiligung ist Abb. 2 zu entnehmen. 2 Dies ist die erste soziologische Untersuchung über die sozialen Bedingungen von Erdbebenvorhersagen in der Türkei.

A. Zentrale Fragestellung der Untersuchung

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Quelle: RV Reise- und Verkehrsverlag 1986/87

Abb. I Geographische Übersichtskarte des Untersuchungsgebietes

Dabei kann nur mit einer integrierten Studie, die sich (a) aufVerhalten und Handeln betroffener Bevölkerungsgruppen in Orten unterschiedlicher Größe und (b) auf die Folgeprobleme der im geophysikalischen Bereich arbeitenden Forscher und Prognostiker einstellt, die realitätsgerechte Kritik und Konkretisierung der hypothetisch angesetzten Analysemodelle erreicht werden. Denn es ist im Blick zu behalten: Erdbebenvorhersageforscher und Planer stehen, wenn die Vorhersage in die Nähe der geophysikalischen und technischen Möglichkeit gelangen sollte, vor dem Problem, adäquate Entscheidungsgrundlagen dafur zu finden, ob überhaupt und - wenn ja - wie vorhergesagt werden könnte. Um Entscheidungsgrundlagen fiir eine Vorhersageplanung (im weiteren Sinne Katastrophenschutzplanung) zu finden, sind Kenntnisse über Wissen und Deutungsmuster von Naturereignissen, Einstellungen zur Erdbebenvorhersage

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I. Einfilhrung

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li. Katastrophensoziologische und warntheoretische Überlegungen

Äquivalente Strategien "lösen" das Problem auch, zeitigen aber andere Folgeprobleme als adäquate Bearbeitungsstrukturen. Zudem können sie zu einer Akkumulation des "Abweichungsfehlers" führen und schließlich im Sinne eines circulus vitiosus, d. h. eines sich selbst verstärkenden Prozesses, in inadäquate oder inferiore Lösungsstrukturen münden. 3 Adäquate Lösungen sind solche, die das Problem nicht verdrängen, sondern bearbeiten. Es kann parallel mehrere adäquate Lösungsstrategien zur Problembearbeitung geben, die aber nicht alle gleich wirksam sein müssen. Als 'Beherrschte' bezeichnetK.rysmanski diejenigen, "die 'keine andere Wahl' als die der unter gegebenen Umständen eindeutigen, adäquaten Problemlösung haben; die sich sozusagen von einer begrenzt 'richtigen' Problemlösung zur nächsten entlanghangeln müssen; denen Apparat und damit Überblick fehlen" (Krysmanski 1971, S. 33). Dies muß bezweifelt werden, weil auch sie hierarchisch geordnete Strukturen ausbilden (zum Beispiel Männer gegenüber Frauen in der Familie) oder sich äquivalenter Lösungsmuster bedienen, um Ressourcen an sich zu ziehen. 4 Allerdings kann eine Asymmetrie der Kenntnis über Lösungsmöglichkeiten (Herrschaftswissen) dazu führen, daß Betroffenen äquivalente Lösungen so erscheinen, als seien sie adäquat, wenn sie nicht über die Organisationsstrukturen verfügen, die dazu geeignet sind, Wissensmonopole und mithin die Definitionsmacht über Situationen zu brechen. Ein partieller Ausweg eröffnet sich dort, wo es den Betroffenen möglich ist, sich konkurrierend zu organisieren, um eigene Informationspools zu entwickeln, die adäquate- in Verfolgung eigener (etwa wirtschaftlicher) Ziele manchmal auch äquivalente- Lösungen anbieten (z. B. Greenpeace, BUND). Ein Beispiel für inadäquate Lösungen bietet der Bau ungeeigneter Häuser nach Erdbeben in der Osttürkei, die von der Bevölkerung nicht genutzt werden. Offensichtlich inadäquate Leistungen führen zu adäquatem Handeln bei den Bewohnerinnen und Bewohnern, was die türkische Regierung in der Folge zu

3

In jedem Fall muß eine Gesellschaft filr den Rückgriff auf äquivalente Lösungsmuster bezahlen. Der Autorin sind zum Beispiel Fälle aus der Türkei bekannt, in denen Anzeigen gegen Nachbarn bzw. Bewohner desselben Dorfes wegen angeblicher Straftaten erstattet worden sind. Tatsächlich lagen aber Konflikte um knappe Ressourcen (Wasser zur Bewässerung der Felder) vor. Hier wurde "Aggression" und Verschiebung des Problems als Lösung gewählt. Ein Bürgermeister verweigerte die Unterstützung zum Bau einer Wasserleitung filr eine Mahalle mit der Begründung, die Mahalle, in der er selbst wohne, müsse dann auch eine Wasserleitung erhalten. Solche äquivalenten oder inferioren Lösungen versprechen zudem, besonders erfolgreich zu sein, wenn sie durch einen bürokratischen Apparat komplementiert werden. 4

A. Anwendung katastrophensoziologischer Überlegungen

43

äquivalenten Lösungen (Erforschung der Minimalansprüche türkischer Bewohner(innen) an ihre Häuser, der Bedürfnisstrukturen und der traditionellen Bauweise) veranlaßte und bei Fachleuten in und außerhalb türkischer Behörden (insbesondere Earthquake Research Institute, Ankara) zu reformatorischen Ansätzen führte (vgl. die Vorschläge fiir eine an den Bedürfnissen der Bewohner orientierte Bauweise bei Aysan I Oliver 1987 und Cobum 1987; s. auch S. 51). Jäger hat das Modell Krysmanskis um eine in ihrer Intention und Konsequenz über die äquivalente Problemlösung hinausgehende Lösungsstruktur erweitert: die antagonistische Problemlösung. Sie schließt "von vornherein selbst das Moment einer zumindest punktuellen Konzentration aller dem jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsstand entsprechenden oder diesem 'funktional äquivalenten' Möglichkeiten zur Problemlösung aus: das ' antagonistische Scheitern' geht bereits in das Konzept der Katastrophenhandhabung mit ein, das Risiko wiederauftretender extremer Lagen schlägt um in ein ausdrückliches Interesse an zunehmender Katastrophenhäufigkeit" (Jäger 1977, S. 115). Diese Konfliktstruktur läßt sich formal dadurch kennzeichnen, daß sich die Kontrahenten weder über das zu lösende Problem noch über die einzusetzende Leistung einig sind. 5 Sie erscheint :filr das Erdbebenproblem im westtürkischen Untersuchungsgebiet ohne Relevanz, jedoch in anderen Erdbebenregionen der Türkei durchaus von Bedeutung gewesen zu sein (s. S. 40). 2. Die Verortung des westtürkischen Erdbebenproblems im katastrophensoziologischen, prozessualen Makromodell FAKKEL a) Das Modell Ausgehend von der Erkenntnis, daß Katastrophen nicht "natürlich"6 oder zu-

5 Inferiore Lösungen sind demgegenOber schlecht ausgefochten, so daß filr den einen Kontrahenten eine bessere Zielerreichung möglich wäre, ohne den anderen schlechter zu stellen, wenn der Konflikt ausgetragen wurde. 6 Klassisch und weitgehend noch das Alltagsverständnis, aber auch die Sichtweise der frOhen Katastrophensoziologie des "Disaster Research Institute" (das an der Ohio State University in Columbus, Ohio I USA, I963 gegründet wurde) prägend wird Katastrophe als ein Menschen überwältigender plötzlicher Einbruch eines Fremden (''Natur", "Technik") in die Alltagswelt des Menschen aufgefaßt. Die Katastrophe ist vorüber, wenn das Fremde, mithin die Katastrophe "ausgemerzt" und die gewohnte soziale Ordnung wiederhergestellt ist (vgl. Jäger 1979, S. 35). Clausen und Jäger haben diesen sich aus subjektivem und kollektivem Überraschtsein durch "hereinbrechende" Katastrophen speisenden Mythos aufgedeckt und ihm die zugespitzte Hypothese "Es gibt gar keine Naturkatastrophen- nur Kulturkatastrophen" (C/ausen I Jäger 1975, S. 23) ent-

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Il. Katastrophensoziologische und warntheoretische Überlegungen

fällig und allenfalls wie "aus heiterem Himmel" erscheinend in Gesellschaften hereinbrechen, sondern daß Katastrophengefahren langfristig angelegt werden und ihr Eintritt und seine Folgen entscheidend von den eingeschlagenen gesellschaftlichen Problembearbeitungsmustern (siehe II.A.1) abhängen, hat Clausen (1983) das makrosoziologische Modell FAKKEL entwickelt. 7 Die Momente sozialen Wandels werden im Modell als besonderer Typ einer Figuration in drei Dimensionen (vgl. Clausen 1983, S. 48) analysiert, nämlich die der Radikalität Rapidität Ritualität

(Dimension: "extrem voneinander abgeschottet" bis "extrem miteinander vernetzt"; Katastrophe ist etwas extrem Gründliches;) (Dimension: "äußerst verzögert" und "äußerst beschleunigt"; Katastrophe ist etwas extrem Plötzliches;) und (Dimension: "kausal völlig rational-einsichtig erklärt" (säkularisiert) und "kausal völlig irrational einsichtig erklärt" (magisiert); Katastrophe ist etwas extrem Dämonisches;)

und - ausgehend von einem Stadium, in dem Katastrophen am wenigsten erwartet werden, bis zum Scheitern einer Gesellschaft - über sechs Stadien verfolgt (vgl. Clausen 1983, S. 56 - 76). Die Perspektive ist überwiegend auf innergesellschaftliche Prozesse gerichtet. Gegenstand der Analyse sind dabei nicht nur Entwicklungen, die in eine Katastrophe münden, sondern auch Bedingungen, unter denen Gesellschaften zwischen nicht-katastrophischen Stadien oszillieren können. Friedensstiftung: Die Rettung aus zentralen Nöten aller ist gelungen. Alle Offerten sind gedeckt und werden auf Anforderung eingelöst. Der Wandel ist radikal und rapide. Obwohl eine adäquate Problemlösung unter Aufhebung aller Antagonismen im Bereich der Utopie siedelt, ist die praktizierte Lösung so durchschlagend, daß sie Anlaß ftlr Feiern und Gedenktage bietet und erst späteren Beobachtern mit Ritualisierungen und Mythen behaftet erscheint. Ihr folgt

II

Alltagshildung: Das zentrale Problem wird von anderen aus der gesellschaftlichen Aufinerksamkeit verdrängt (Risiken werden geheim) und seine Bearbeitung durch Fachleute routinisiert, während bei den Laien die erforderlichen Ressourcen aus der materialen Kultur verschwinden. Sie verlieren Kenntnisse zur Problembearbeitung und Macht an die Fachleute,

gegengestellt Katastrophen sind "so normal, wie die Bräuche und Institutionen einer Gesellschaft Konfliktfronten verbergen, d. h. Konflikte latent (geheim) halten, und sind ftlr uns je nach Analysestand ... vorhersagbare scharfe Krisen. Wie jede Krise, können sie ein gesellschaftliches System zerstören" (Clausen I Jäger 1975, S. 24). Historisch, aber auch in der Praxis des Zivilschutzes, unreflektiert vorgenommene Gleichsetzungen von Krieg und Katastrophe beleuchtet Domhrowsky (vgl. 1983, S. I3) kritisch. 7 Hier wird versucht, ein sehr komplexes Modell äußerst kompakt und ohne Simplifikationen soweit darzustellen, wie es ftlr die Analyse der Erdbebenproblematik erforderlich erscheint. Für Details und Nachweise siehe Clausen 1983.

A. Anwendung katastrophensoziologischer Überlegungen

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deren Erfahrungen zu Tradition (bis hin zu Betriebsblindheit, Verfahrenshörigkeit) werden. Vereinzelt eintretende Notfl!lle isolieren tendenziell betroffene von nichtbetroffenen Laien. Damit einher geht steigende Magisierung. Die Problembearbeitungskapazitäten der Fachelite werden selten getestet, ihre diesbezüglichen Offerten undurchsichtig, ihr Wissen geheim, ihr soziales Ansehen zu Prestige (Kastenbildung). Die Gründlichkeit (Radikalität) vermindert sich und die Rapidität des Wandels sinkt. III

Klassetiformation: In diesem Stadium wird die Fachelite zur Fachklasse, wenn "Klassen" dadurch definierbar sind, "daß sie sich grundsätzlich prozessual-paarweise entwickeln, nämlich durch einerseits Besitz und andererseits Nichtbesitz von Sanktionsmöglichkeiten (-techniken, -offerten) bestimmten Charakters" (Ciausen 1983, S. 61). Zwischen Laien und Fachleuten zeichnet sich eine Frontenbildung ab. Die Radikalisierung sozialer Prozesse steigt. Die Qualität derjetzt äquivalenten Lösungen sinkt. Je leerer die Problemlösungsversprechen der Fachklasse werden, desto leichter kann sie von der Machtelite enteignet (d. h. von ihren Problembearbeitungskapazitäten getrennt) werden. Die Suche nach neuen Lösungen ist nicht mehr konfliktunbefangen möglich, weil sie den Besitzstand der Fachklasse gefllhrdet. Der soziale Wandel wird behindert. Magisierung (Geheimhaltung von Risiken) und Katastrophengefahren steigen. Damit ist das nächste Stadium vorbereitet:

IV

Katastropheneintritt: Alte Probleme akkumulieren sich, Niederlagen werden verschleiert und die in den Vorstadien ausgebildete Konstellation fllhrt dazu, daß Warnzeichen und punktuelle Defizite nicht mehr zur Kenntnis genommen werden. Das gesellschaftliche Warnsystem versagt. Den Laien sind die Risikoquellen unklar und sie können der Katastrophe keine vernünftige Ursache zuordnen. Daraus ergibt sich ihre Suche nach Schuldigen, deren Ergebnis zwischen reflexiven Mustern (Selbstanklagen, allgemeine SOndhaftigkeit, Schicksal) und spezifizierten SOndenböcken (Minderheiten, Fach- und Machteliten) variieren kann. Die materielle Kultur hat mitversagt und wird situativ ausgeschlachtet. Die sozialen Wandlungsprozesse sind extrem beschleunigt, gründlich und magisiert. Was droht, ist das

V

Ende kollektiver Abwehrstrategien: Es ist dadurch gekennzeichnet, daß grundlegende Bedürfnisse nicht mehr sozial erfllllt werden können. Wenn die sozialen Beziehungen nicht mehr durch Realisation und Antizipation nützlicher Austauschbeziehungen stabilisiert werden, werden sie fragil und es kommt zu Identitätskrisen aus der Wahrnehmung eigener Nutzlosigkeit fiir andere. Wesentliche Institutionen und kollektive Schutzvorkehrungen (auch gegen Naturgefahren) brechen zusammen und die Grenzen nach außen werden instabil. Schwindendes Zutrauen in die eigenen politisch-organisatorischen Strukturen fllhrt zur Flucht. Zuverlässige Fachleute lassen sich nicht mehr identifizieren. Kulturell Erarbeitetes, Umgang mit Risikobehaftetem, Techniken und Spezialisierungen werden in ihren gefllhrlichen Anteilen freigesetzt und erlernte Balancen kippen. Bei höchster Rapidität der Ereignisse zerreißen die sozialen Vernetzungen (die Radikalisierung kehrt sich um). Der katastrophische Prozeß selbst wird hochmagisch besetzt. Ärgstenfalls folgt die

VI

Liquidation der Werte: Im letzten Stadium zerbricht das Vertrauen aufjegliche Offerten und es kommt zum Verlust der alten Werte (Entrnagisierung). Diese Säkularisierung kann, ist sie als Chance nutzbar, Basis neuer, pragmatisch begangener Wege sein und zu Stadium I oder aber- unter ungünstigen Bedingungen, Resignation, Perspektivlosigkeit, gar Liquidationzum Ende dieser Gesellschaft fllhren. Das schließt nicht aus, daß überlebendes Personal ganz oder teilweise von intervenierenden Gesellschaften übernommen wird.

Manche Stadien, namentlich Stadium II, können sehr lange, wohl auch Jahrhunderte, andauern, andere, wie Stadium IV, können schnell durchlaufen

46

II. Katastrophensoziologische und warntheoretische Überlegungen

werden. Die Geschwindigkeit der Stadienabfolge ist von der Reichweite der Katastrophe abhängig und bei geringerer Reichweite größer, mit verwischten Grenzen und auch empirisch schwieriger zu beobachten als bei gesamtgesellschaftlichen Katastrophen, auf die sich das Modell bezieht (vgl. Clausen 1983, S. 56). Das Modell impliziert nicht einen linearen Durchlauf der Gesellschaft durch die Stadien. Grundsätzlich ist von jedem Stadium der Übergang zu jedem anderen möglich, wobei bestimmte Übergänge jedoch empirisch häufiger vorkommen und ihrerseits spezifische Probleme aufwerfen. Insbesondere gibt es in den meisten Stadien Wege unterschiedlicher Qualität (adäquate, äquivalente, antagonistische Lösungen) in vorgeordnete Stadien, die aus der Katastrophe fuhren oder sie vermeiden. Von den 30 formal möglichen Wegen werden sechs (vgl. Clausen 1983, S. 78) als die empirisch wichtigsten herausgestellt:

Im Stadium III 1. antagonistische 2. reformatorische im Stadium IV 3. charismatische 4. äquivalente 5. restaurative im Stadium V 6. suizidale

Lösungsrichtung Lösungen nach Lösungen nach

V, li,

Lösungen nach Lösungen nach Lösungen nach

I, li, III,

Lösungen nach

IV.

Zu 2.: Reformatorische Lösungen kommen in zwei Varianten vor: a) b)

Die klasseninterne Kritik an Unzulänglichkeiten der Fachklasse fuhrt zu Reformeffekten, welche selbst zur Tradition werden können. Im optimalen Fall oszilliert das Problemlösungsmuster zwischen Stadium li und III. Die Machtelite, deren Problembewußtsein oder -sensibilisierung größer ist als das der- möglicherweise schwachen- Fachelite, erreicht über Reformen Stadium II.

Zu 3.: Die mit hohem Mißbrauchsrisiko behaftete, seltene, charismatische Lösung setzt auf einen mit unorthodoxen Mitteln zur rechten Zeit die hergebrachten Organisationsformen instrumentalisierenden Retter, wobei sich paradoxerweise in der Wahrnehmung des Laienpublikums die Vorstellung, das alte System habe sich bewährt, festigt.

A. Anwendung katastrophensoziologischer Überlegungen

47

Zu 4.: Beide Lösungsvarianten sind nur äquiva1ent, weil sie die Laien nicht einbeziehen: a) b)

Fachliche Revolution (Paradigmenwechsel). Retter aus der Machtelite werden zur Ersatz-Fachelite (Personalwechsel).

Zu 5.: In diesem Stadium sind restaurative Lösungen wahrscheinlich. Die adhoc-Retter etablieren eine "Schnell-Verwaltung" mit "unbürokratische(n) Maßnahmen" (Clausen 1983, S. 69), haben jedoch zuwenig Selbstbewußtsein oder Macht, um radikale Reformen durchzusetzen. Mittelfristig werden sie von der Fachklasse assimiliert, ohne daß prophylaktische Lehren gezogen würden. b) Regionalisierung FAKKEL bezieht sich zunächst auf gesamtgesellschaftliche Probleme und gesamtgesellschaftliche Katastrophen. 8 Für Erdbeben ist aber gerade die räumliche Konzentration geophysikalischer und dadurch indirekt auch möglicher katastrophischer Wirkungen charakteristisch. Zwar liegen weite Bereiche der Türkei in seismisch aktiven Zonen, so daß viele Menschen potentiell bedroht sind. Aber selbst ein schweres Beben trifft nur kleinere Gebiete und getahrdet die Gesellschaft in der Türkei als Ganze nicht existenziell. Daher läßt es sich als Katastrophe begrenzter Reichweite bezeichnen. Bei der Entwicklung von Modellen für gesamtgesellschaftlicheund regionale Katastrophen sind die Austauschbeziehungen zwischen "Katastrophengebiet" und "Nichtkatastrophengebiet" zu berücksichtigen. Bei gesamtgesellschaftlichen Katastrophen sind zudem Grenzen zwischen mit Hilfe des Modells analysierter und nicht analysierter Gesellschaft zu ziehen. Die nicht unmittelbar betroffenen "externen" Gesellschaften stehen zugleich außerhalb der Modellbetrachtung, sofern ihr Personal nicht unmittelbar in der betroffenen Gesellschaft interveniert. Externe Einflüsse gewinnen erst in Stadium V an Bedeutung, als "Eroberung", "Invasion". 9

8 Diese Einschränkung wurde von Clausen vorgenommen, da bei Katastrophen mit einer geringeren Reichweite ein weniger 'störungsfreier' Ablauf zu erwarten ist. "Katastrophen geringerer Reichweite ... kennen vor allem mehr und frühere Außen-Interventionen ... Zudem trifft eine Katastrophe geringerer Reichweite eine kollektiv geringere soziale Differenzierung, und die zu charakterisierenden Stadien laufen daher verwischter, schneller und empirisch schlechter beobachtbar ab" (vgl. Clausen 1983, S. 56). 9 Es ist aber zum Beispiel zu prüfen, welche gesamtgesellschaftlichen Konflikte stellvertretend im Katastrophengebiet ausgetragen oder dort hineingetragen werden. So kann der Appell an die

48

II. Katastrophensoziologische und warntheoretische Überlegungen

Bei der Modellanwendung auf Katastrophen begrenzter Reichweite sind einige Besonderheiten 10 zu berücksichtigen: Das Modell muß auf dieses spezielle Überlebensproblem zugeschnitten und im Hinblick auf dieses Problem interpretiert werden. Das bedeutet :rum Beispiel, daß der Begriff der Facheliten nicht alle Fachleute umfaßt, sondern nur die, die mit der Bearbeitung des speziellen (hier: Erdbeben-)Problems befaßt sind.

Bewohner Erzincans nach dem Beben am 13. März 1992, im Gebiet zu bleiben, einerseits als regionale Sorge vor einer Ressourcenverarmung, andererseits als Befilrchtung, daß der Prozeß der Binnenmigration verstärkt werden könnte, aufgefaßt werden. Clausen hat bei der Darstellung seines Modells darauf hingewiesen, daß Einzelfltlle oder sehr örtlich angesiedelte Katastrophen Hinweise filr gesamtgesellschaftliche Katastrophenrisiken sein können (vgl. C/ausen 1983, S. S6). 10 Auf den Bezug zur Art staatlicher Verfaßtheil und deren Bedeutung ftlr die Organisation von Katastrophenschutz sei nur verwiesen. (a) Bei einem fMeralen System kann die Bewältigung regionaler Katastrophen weitgehend in der Hand der Regierung einer Provinz, eines Bundesstaates (USA) oder eines Bundeslandes (Bundesrepublik Deutschland) liegen. (b) In zentralistischen Systemen liegt die Bewältigung nationaler, Oberregionaler und regionaler Katastrophen entweder ganz oder weitgehend bei der zentralen Administration (fUrkei). EinflUsse, die die sozialen Vorraussetzungen der Katastrophe mitbestimmen, so z. B. Gesetzgebungsverfahren, Ausbildungsgänge (z. B. im Bauwesen), Kotitrollverfahren, können zentral, regional oder gemischt geregelt sein. Bei zentraler Regelung und regional spezifischer Gefllhrdung lägen sie weitgehend außerhalb des Einflusses des gefllhrdeten Gebietes. Darober hinaus ist die Ressourcenallokation von Bedeutung. Wenn sie fast ausschließlich auf nationaler Ebene, d. h. zentral, erfolgt und auch die Prioritäten der Vergabe national geregelt werden, kann dies wegen der schwachen Allokationsmöglichkeiten auf Provinz- oder Regionalebene dazu fuhren, daß regional erkannte Probleme nicht bearbeitet werden können. Dies kann z. B. Fragen der Katastrophenprophylaxe oder der Bewältigung von Ereignissen mit katastrophischer Wirkung betreffen. Dieses Problem stellt sich ftlr die Provinzen in der Türkei. So blieben Offerten der Provinzverwaltung zum Wiederaufbau nach dem Beben von Erzincan vom 13. März 1992 so lange leer, bis von der zentralen Verwaltung in Ankara entsprechende Zusagen gemacht wurden. Die Hilfeleistungen stellen sich filr ein betroffenes Gebiet und die in der Verwaltung Tätigen als Interventionen von außen (Stadium V FAKKEL) dar. "The Turkish Govemment is heavily centralized, which implies that the distribution of public funds, goods and services all tie in to a network in which the focus of decision-making is often the national capital. Local govemments although run by elected mayors, do not constitute autonomous units but are also financially dependent. All decisions and actions of municipalities are subject to review and modification by the central govemment" (Evin 1984, S. I 09). Diese Situation hat sich bis heute kaum verändert. Sie beinhaltet bestimmte Beziehungen zwischen zentraler und peripherer Verwaltung. Eine Asymmetrie in der Kontrollstruktur ist sehr viel starker als in föderalen Systemen ausgeprägt. Tendenziell kontrolliert die Zentrale, die Provinzen werden kontrolliert. In den Provinzverwaltungen können sich Ober informell gepflegte Beziehungen Allianzen herausbilden, in denen eine gegenseitige Warnung erfolgt, wenn "Kontrolleure" aus Ankara erwartet werden. Darober hinaus ist die Herstellung und Pflege von persönlichen Beziehungen zu Stellen in der zentralen Verwaltung von Bedeutung, um in der Provinz an Ressourcen partizipieren zu können. Da die Gouverneure der Provinzen von der Regierung ernannt und eingesetzt werden, können Interessen, die karrierebezogen und daher eher auf eine Erfilllung der Aufgaben im Sinne der nationalen Regierung gerichtet sind, mit Zielen der Förderung von Entwicklungen in der jeweiligen Provinz konfligieren.

A. Anwendung katastrophensoziologischer Überlegungen

49

Die Begriffe des Modells sind relational konzipiert und in der Modellanwendung konsequent auf das Referenzproblem zu beziehen. Laien in diesem Sinne sind Erdbebenlaien. Sie können durchaus zur Fachelite in anderen Gebieten gehören, zum Beispiel Koryphäen in der Philosophie, der Mathematik oder im Marketing sein. Dies vorausgesetzt stellt sich die Frage nach der Modellbildung bei Katastrophen begrenzter Reichweite. Hier sind grundsätzlich zwei Wege denkmöglich: - Das Modell wird intern differenziert, um die unterschiedlichen Positionen von Betroffenen und Nicht-Betroffenen, Zentrale und Peripherie etc. und deren vielfältige Verflechtungen einzubauen. Man denke nur an Wanderungen vor und nach der Katastrophe, Ressourcentransfer, Diskrepanzen zwischen lokalen und zentralen Eliten usw. - Gesellschaft wird dann als ein großräumiges Beziehungsgeflecht verstanden, dessen innere Dynamik Gegenstand soziologischer Analyse ist. - Es ist jedoch auch denkbar, kleinere Einheiten wie Kommunen (Städte und Dörfer sowie deren lokale Verbindungen) als separate "Gesellschaften" zu betrachten, die mehr oder weniger lose oder eng mit anderen "Gesellschaften" verbunden sind: In der Katastrophe können vor allem Dörfer zunächst auf sich gestellt sein, zumal, wenn sie abgelegen sind und die Transport- und Kornmunikationsverbindungen nach dem katastrophischen Ereignis tage- oder wochenlang unterbrochen sind. Hier sei an das Erdbeben in Karopaoien und Basilicata vom 23. 11. 1980 (vgl. Hübner 1981, Dombrowsky 1981, Ventura 1982), aber auch an Erdbeben in der Osttürkei (z. B. das Muradiye-Beben vom 24. 11. 1976) erinnert. Die türkische Gesellschaft kann sowohl im Hinblick auf die Ethnien als auch auf die produktionsökonomischen Strukturen nicht als homogenes Gebilde begriffen werden (Heterogenität). Auf Subsistenzökonomie basierende Dörfer haben in ihren Außenbeziehungen eine geringere Verflechtungsdichte als marktorientierte, im Extremfall auf Monokultur basierende Gemeinden. In dieser Perspektive werden die Beziehungen zu anderen Dörfern, zur nationalen Zentrale etc. wie Außenbeziehungen behandelt. Es ist daher sinnvoll, die Untersuchungsergebnisse der Dörfer (bzw. Städte) vergleichend zu analysieren. In Bezug auf die unterschiedliche ökonomische Basis von Stadt und Land erscheint ein Vergleich zwischen Stadt- und Landbevölkerung

50

II. Katastrophensoziologische und warntheoretische Überlegungen

insofern berechtigt, als aus der unterschiedlichen ökonomischen Struktur divergierende Umgangsformen mit Gefahren hervorgehen können. Diese Sicht verweist auf das theoretische Grundproblem, wie Gesellschaften abzugrenzen seien (wo sie enden), welches aber nur empirisch gelöst werden kann, da einerseits auch nationalstaatlich verfaßte Gesellschaften in ihrem Inneren höchst unterschiedliche Dichten der Verflechtungen aufweisen können, andererseits diese Gesellschaften im historischen Prozeß immer stärker miteinander in Beziehung treten (Weltgesellschaft). Katastrophen, denen heute eine regionale Reichweite zuzuschreiben wäre, können früher gesamtgesellschaftliche Katastrophen gewesen sein. Das bedeutet nicht, daß es heute weniger gesamtgesellschaftliche Katastrophen gibt, wenn man Verflechtungen in nationaler, supranationaler oder globaler Größenordnung für dicht genug hält (vgl. auch Clausen I Dombrowsky I Strangmeier 1993). Beide (regionale und überregionale) Perspektiven sind filr die Analyse erdbebenbezogener Probleme von Bedeutung und werden daher verwendet. Ein Spezifikum von Katastrophen mit begrenzter Reichweite ist die besondere Bedeutung der Trennung von betroffenen und nicht-betroffenen Laien, die sich bereits in Stadium II anbahnt (vgl. Clausen 1983, S. 59), aber in dieser Modellfassung noch nicht näher beleuchtet ist. Die Aufteilung in Opfer und NichtOpfer, Betroffene und Nicht-Betroffene, die im übrigen auch im nicht-katastrophischen Alltag häufig beobachtet werden kann, kann sich in Stadium III verschärfen, unter anderem, weil die Begrenzung der Reichweite zu Gebieten unterschiedlicher Gefahrdung filhrt, was Teilgruppen die - realistische oder auch illusionäre -Annahme nahelegt, das Unheil könne sie nicht treffen. Auch die ökonomisch bedingten unterschiedlichen Selbstschutzmöglichkeiten scheiden zumindest in der subjektiven Wahrnehmung- potentiell Betroffene von NichtBetroffenen. Diese Scheidung stabilisiert die Klassenbildung laienseitig. Sie kann aber auch reformatorische Ansätze anstoßen, wenn diese Dichotomisierung bewußtseinswirksam wird und - bei hinreichend großer Zahl potentiell Betroffener - zur Organisierung dieser Interessen ("Klasse an sich" zur "Klasse llir sich") fuhrt. Sie können durch Organisation oder gleichgerichtetes Handeln möglicherweise die Verfilgungsmacht über problembezogene Sanktionsmittel (zurück-)erlangen und so den Prozeß der Klassenbildung hemmen oder gar umkehren. 11 Die Verweigerung des Neubezugs von staatlicherseits erstellten Ersatzbauten (Fertig-

11 Insofern stehen z. 8 . starke Gewerkschaften paradigmatisch ftlr die Institutionalisierung reformatorischer Lösungswege.

A. Anwendung katastrophensoziologischer Überlegungen

51

bauten) nach Erdbeben 12 und die darauf erfolgende Erkundung der Bedürfnisse der Betroffenen (s. S. 43) könnten unter diesem Aspekt gesehen werden. Die laieninduzierte reformatorische Lösung tritt als dritte Variante neben die fach-und die machtklasseninduzierte(s. S. 46). Sie kann sich entwickeln, wenn Laien die von der Administration angebotenen Lösungen nicht akzeptieren, wenn sie etwa infolge der Nichteinlösung von Offerten individuell oder gemeinschaftlich Folgerungen für sich ziehen, die die regionale Struktur wesentlich berühren (z. B. Migration 13 der qualifizierteren und besitzenden Bevölkerungsgruppen),

12 Über Totalverweigerung der Annahme vorgefertigter Bauten wurde nach dem Bingöl-Erdbeben 1971 und dem Lice-Erdbeben 1975, beide in der Osttürkei, berichtet (vgl. Aysan I OUver 1987, s. 32). 13 Nach Angaben des Jahrbuchs ftlr die Provinz Bolu von 1967 sahen sich nach dem starken Beben von 1944 einige Familien "aus Erdbebenfurcht gezwungen", die Stadt Bolu zu verlassen (vgl. Bolu 1968, S. 151). 1945 lag die Einwohnerzahl der Stadt Bolu niedriger als 1940 und erreichte erst wieder 1950 etwa die Höhe, die sie bereits 1935 erreicht hatte. Hinweise darauf, wovon die Migration der Familien nach dem Beben abhing, sind nicht verftlgbar. Ein Zusammenhang mit dem Umfang der Zerstörungen in der Stadt kann aber vermutet werden (s. S. 183 ff.).

Jahre

*)

Einwohner und Einwohnerinnen der Stadt Bolu

1927

7215

1935

7835

1940

8103

1945

7244

1950

7954

1955

12271

1960

15728

1965

21644

1980

38283

1985

50288

*) Quellen: Bolu 1968, S. 151 (ftlr die Jahre 1927 - 1965); Ba~bakanlzk Devlet Jstatistik Enstitüsü 1983a, S. 5 (ftlr 1980) und Ba~bakanhk Devlet Jstatistik Enstitüsü 1986, Abschnitt 14- Bo1u, S. 5 (ftlr 1985). 4•

52

II. Katastrophensoziologische und warntheoretische Überlegungen

so daß sich politische Institutionen gezwungen sehen, sichtbare und positive Sanktionen zu setzen, um den Verbleib dieser Gruppen und eine gewünschte ökonomische Stabilisierung zu erreichen, 14 aber auch durch laienseitige Organisation, wie sie eher in modernen Gesellschaften mit stabilen demokratischen Institutionen anzutreffen ist (z. B. Bürgerinitiativen), die situativ entsteht und sich wieder auflösen kann, oder aber eine neue Fachklasse hervorbringt (z. B. in der Bundesrepublik Deutschland bundesweit organisierte Umweltorganisationen), die sich langfristig als Anbieter reformatorischer Lösungen institutionalisieren kann. Es stellt sich die Frage, welchen Einfluß die Regionalisierung von Risiken und Katastrophen auf den Weg, den die Figuration durch die skizzierten Stadien nimmt, hat. Im Katastrophenfall entsteht ein Ungleichgewicht zwischen den außerhalb und innerhalb des betroffenen Gebietes zur Verfügung stehenden Macht- und Produktionsressourcen, was Interventionsmöglichkeiten übergeordneter oder benachbarter Organisationsebenen bzw. -einheiten befördert.

14 Bei Interviews mit Verwaltungsfachleuten in Erzincan im April 1992 wurde die Befllrchtung geäußert, daß es durch die Abwanderung besitzender und höher qualifizierter BUrger(innen) zu einem materiellen Ausbluten der Stadt kommen könne. Eine langfristige Verringerung der Einwohnerzahl von Erzincan wurde nicht vermutet, da zu erwarten sei, daß die abwandernden Städter durch zuziehende Bewohner aus den Dörfern im Umkreis der Stadt ersetzt wUrden. Die aus Erzincan abwandernden, über Ressourcen verfUgenden BUrger wären eventuell über Bleibeprämien verschiedener Form zu halten. Von betroffenen Beamten und Angestellten der Verwaltung wurden als Möglichkeit Einkommenszulagen genannt, von Geschäftsleuten günstige Kredite oder Steuerermäßigungen. Darüber hinaus könnte eine sichtbare Einlösung von Offerten, die eine zukünftige erdbebenresistente Bauweise in Erzincan betreffen, die Zahl Migrationswilliger reduzieren. Die von interviewten Bewohnern Erzincans als flüchtig und fachlich nicht abgesichert wahrgenommene Begutachtung der Erdbebenschäden durch die mit der Schadensaufuahme befaßten staatlichen Ingenieure und der z. T. gehegte Verdacht, Schäden wUrden "schöngeredet", um Entschädigungen und Kredite (durch Staat und Versicherungsgesellschaften) fllr den Wiederaufbau zu vermeiden, zeigen einerseits, daß die einheimische Fachelite unter dem Verdacht steht, gegen die Interessen der Betroffenen zu handeln. Andererseits nehmen Bewohner die als oberflächlich beobachtete Prüfung der Bausubstanz wiederum als Indiz dafllr, daß weitere Offerten, die die Sicherheit der zukünftigen Bauweise betreffen könnten, nicht ernstzunehmen sind. Auch aus anderen Erdbebenregionen in der Türkei (so nach dem Erdbeben in Erzurum vom 30. 10. 1983 (M = 6,5), bei dem fast 50 Dörfer zerstört und mehr als 75.000 Menschen obdachlos wurden; vgl. "Nach der Katastrophe folgtjetzt der Exodus", FAZ vom 5. II. 1983) und in anderen Ländern wird über beschleunigte Migration aus betroffenen Gebieten nach Beben berichtet, wobei vermutet wird, daß z. T. vorher aufgeschobene Entscheidungen durch die Katastrophe auf eine kurze Zeitspanne konzentriert werden. Geipel erklärt das Ausbleiben einer Migration aus dem durch das Beben vom 6. Mai 1976 betroffenen Gebiet in Friaul mit der Förderung des Wiederaufbaus durch die Regierung (vgl. Geipell991 , S. 124).

A. Anwendung katastrophensoziologischer Überlegungen

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- Hat die Katastrophe regionale Reichweite, können diese Interventionen auf vorgebahnten Wegen, mit eingeübten Verfahren und durch erprobte Verwaltungsstrukturen erfolgen. - Die Interventionen können ambivalenten Charakter haben. a)

Sie können von den Betroffenen erbeten sein, weil sie überwiegend positive Sanktionen (Rettung, Sicherung der Grundversorgung, Wiederaufbauhilfe) beinhalten. Derartige ausgleichende Maßnahmen sind bei Katastrophen begrenzter Reichweite leichter und schneller, ggf. auch im Rahmen automatisierter Verfahren, möglich. Sofern von Prognosen, die ja bei Erdbeben immer ein regional begrenztes Zielgebiet haben, negative Effekte erwartet werden, können struktur- und regionalpolitisch orientierte Ausgleichsverfahren hier systematisch geplant und eingesetzt werden.

b)

Sie können aber auch die Abhängigkeit der betroffenen Region von der Zentrale verstärken. Letztere kann bei Gelegenheit der Katastrophenintervention katastrophenunabhängige (Neben-)Ziele, etwa die Verstärkung politischer Kontrolle, verfolgen, indem "unpopuläre Maßnahmen" ohne Mitwirkung der Betroffenen durchgesetzt werden.

- Regionalisierung führt dazu, daß das - regionale - Problem schneller aus den Augen verloren wird, weil sich andere gesamtgesellschaftliche Probleme in den Vordergrund schieben und die eingesetzten Kapazitäten in der betroffenen Region nur noch für restaurative Lösungen reichen. Ein Spezialfall ergibt sich, wenn ein katastrophisches Ereignis begrenzter Reichweite die Zentrale eines zentralistisch orientierten Verflechtungsrusammenhangs trifft und die funktionalen Interdependenzen die Regionalisierung der Katastrophe verhindern. Das verweist auf die besondere Verwundbarkeit zentralistischer Strukturen. Ein weiterer Sonderfall ist denkbar: Ist die gesamtgesellschaftliche Struktur bereits sehr weit geschwächt (Stadium III), kann ein einzelnes Ereignis begrenzter Reichweite eine gesamtgesellschaftliche Katastrophe auslösen. 15

15 Ob der Sturz der Somoza-Diktatur nach dem Erdbeben von Managua (Nicaragua) im Jahr 1972 (vgl. Bähr 1980) diesen Fall illustrieren kann, wäre im einzelnen zu untersuchen. Auch die Wirkung des Erdbebens in Konstantinopel (jetzt: Istanbul) am 10. 7. 1894 und seiner Folgen (vgl. Eginitis 1895) auf die soziale und politische Entwicklung ist nicht hinreichend

54

II. Katastrophensoziologische und warntheoretische Überlegungen

c) Darstellung der Figuration unter dem Aspekt der Erdbebengefahr in der Westtürkei (1) Umfeld

Als zentraler, aus Katastrophenerfahrungen abgeleiteter Wert ist hier der Schutz vor Erdbebenfolgen zu betrachten. Nach Erdbeben wendet sich die soziale Aufmerksamkeit mit zunehmenden zeitlichen Abstand von der Katastrophe anderen Problemfeldern zu, vor allem der Existenzsicherung des Alltags und seinen vielen kleinen Risiken. Das Gefahrenbewußtsein sinkt, zumal in der nachwachsenden Generation, in der Untersuchung belegt durch den Zusammenhang von Erdbebenerfahrung und Gefahrenbewußtsein. Je drängender andere Probleme sind, desto schneller und gründlicher gleiten erdbebenbezogene Werte und Zielvorstellungen aus dem Blickfeld, vor allem, wenn die täglich erforderlichen Reproduktionsleistungen der Bewohner(innen) des Risikogebietes ihre Kapazitäten nahezu vollständig absorbieren. So war 1981 die Baustruktur der Holzhäuser in Bolu 24 Jahre nach dem Erdbeben von 1957 mindestens genauso anflillig wie 1970 in Gediz vor dem dortigen Erdbeben (s. s. 19). Diese Befunde sind im Stadium II zu verorten. Im Stadium der Klassenformation (FAKKEL III) zeigt sich ein Spezifikum des Verhältnisses Mensch - Natur: Während soziale Beziehungen sehr gut funktionieren können, auch wenn nicht alle Offerten erftlllt werden, manche sogar nicht erfüllbar sind, läßt sich die Natur "nicht durch ungedeckte Offerten abspeisen" (Clausen 1983, S. 61). Fehler und äquivalente Lösungen werden katastrophenträchtig. Wer am Kliff oder auf der aktiven Verwerfung baut, muß mit negativen "Sanktionen" durch die Natur (Verlusten an Eigentum und Gesundheit) rechnen.

analysiert. Prof. Dr. Soysal (t) aus Istanbul vermutete in diesem Beben eine entscheidende Komponente des Untergangs des Osmanischen Reiches (persönliche Mitteilung an die Autorin). Auf die seismische Vorgeschichte des Peloponnesischen Krieges ist zu verweisen. - 464 verlor Sparta bei einem Beben auf einen Schlag mehrere Nachwuchsjahrgänge der Spartiaten durch einen Gymnasion-Einsturz, was zu einem von Athen geförderten messenischen Aufstand und einer wesentlich rigideren Innen- und Außenpolitik ftlhrte.

A. Anwendung katastrophensoziologischer Überlegungen

55

(2) Fachleute Umfeld und Fachleute korrespondieren hier nicht entsprechend dem Modell. Es gibt keine Fachelite, die ein an erfolgreichen Problemlösungen bewährtes Selbstbewußtsein hätte, welches sie gegen ihre Klientel kehren könnte. Die schwache Fachelite, in Ankara konzentriert, ist befaßt mit prophylaktischen Maßnahmen (Baugrunduntersuchungen, erdbebenresistenter Bauweise etc.) 16 sowie mit der Schadenserfassung und Verteilung knapper HUfsgüter in Katastrophen. Die eigentliche Fachelite residiert im Ausland (Japan, USA, Westeuropa, in unserem Fall zumal in Deutschland), von wo auch die Impulse zur Entwicklung neuer Problembewältungsstrategien (Meßverfahren, Erdbebenvorhersage) und größtenteils die zur Realisierung notwendigen materiellen Ressourcen kommen. Einheimische Ressourcen, die eine Fachelite alimentieren könnten, sind quantitativ sehr beschränkt und werden zentral verteilt, so daß sie in der Peripherie spärlich ankommen. Weiter ist das Militär als "alternative Fachelite besonderer Art" zu nennen, die auf "negative Sanktionen der Gewalt spezialisiert" (Clausen I Dombrowsky 1983, S. 68) und auf die Bewältigung schlecht strukturierter Problemlagen mit spezifischen Mitteln, insbesondere im Stadium IV (Katastropheneintritt), vorbereitet ist. Das Untersuchungsgebiet befindet sich im Hinblick auf die Fachleute nicht in Stadium II des FAKKEL-Modells. Ähnliches dürfte erdbebenbezogen auch für andere Entwicklungs- oder Schwellenländer gelten. Hinsichtlich der Erdbebenproblematik ist die Fachklasse vielmehr in schwacher Variante in Stadium III anzusiedeln. Die relative Schwäche vor allem gegenüber der Machtelite wirkt sich nachteilig auf die Abwehr katastrophischer Gefahren aus. 17

16 In enger Kooperation mit den einschlägigen Fachleuten wurden Verordnungen erlassen, die u. a. Bauvorschriften fllr Erdbebengebiete enthalten und unter Einbeziehung der aus Katastrophen gewonnen Erfahrungen weiterentwickelt wurden, um Planungsgrundlagen fllr Gemeinden und Grundlagen fllr die Analyse von gegenüber Erdbeben instabiler Bausubstanz und ihre Verbesserung zu liefern (vgl. Ergünay I Gülkan 1990). 17 Die Position der inländischen Fachelite ergibt sich vor allem aus ihrem Verhältnis zu den beiden wichtigsten Bezugsgruppen: zu den ausländischen Facheliten, mit denen sie aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen und unzulänglicher Mittelausstattung nur schwer konkurrieren kann, und zur inländischen Machtelite, die weitgehend über eben diese Bedingungen entscheidet. Diese Konfiguration ist in vielen post-kolonialen Entwicklungsgesellschaften zu finden. Hingegen ist bei den Laien ihre Reputation als kompetent Ratende und punktuell Helfende relativ unbeschädigt. Dies ist möglicherweise auch auf die von Ambivalenz durchzogene Wertschätzung der ländlichen Intellektuellen (insbesondere Lehrer und Dorfgeistliche, seltener Ärzte und Anwälte oder Notare) zurückzufllhren, die, worauf bereits Gramsei (vgl. 1991, S. 63 f.) hingewiesen hat, eine

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II. Katastrophensoziologische und warntheoretische Überlegungen

Im Bereich der nachkatastrophischen Versorgung zeigten sich jedoch Defizite in der Kommunikation zwischen Facheliten und Laien, die - sei es aufgrund von Fehleinstellungen, -Wahrnehmungen oder kulturellen Entfremdungsphänomenen zwischen Stadt und Land oder verschiedenen Ethnien - jedenfalls zu einer teilweise auf Unkenntnis beruhenden Mißachtung der Bedürfnisse der Erdbebenopfer filhrten (s. S. 42 und 51). Besonders bei Beben in der Osttürkei, aber auch in Gediz (vgl. Aysan I Oliver 1987, S. 35 ff.), stießen Fertigbauten auf minimale Akzeptanz der Obdachlosen. Dies hat mittlerweile zu reformatorischen Ansätzen (vgl. Aysan I Oliver 1987, Coburn 1987) bei den zuständigen Fachleuten gefilhrt. Die Veränderungen ergeben sich dabei primär aus der Interaktion zwischen Machteliten und betroffenen Laien (Opfer nehmen vorgefertigte Bauten nicht an, die politische Verwaltung reagiert). Den wenig durchsetzungsflihigen Fachleuten, die an Katastrophenschutzplanungen und -entscheidungen nicht hinreichend beteiligt sind, bleibt nur der Nachvollzug und ggf. die Ausbesserung getroffener Entscheidungen. Auch wenn die Machteliten - etwa in Interaktion mit ausländischen Hilfsorganisationen - unter Legitimationsdruck geraten, weil Hilfsgüter von den Laien nicht angemessen genutzt werden, sind partiell reformierende Lösungen möglich. Facheliten, die adäquate Lösungen (zum Beispiel verläßliche Erdbebenvorhersagen) versprechen könnten, würden ihre Position gegenüber Machteliten deutlich stärken. Dadurch würden reformatorische Lösungen von Stadium III nach Stadium II begünstigt.

(3) Laien Hoffnungen richten sich auf die Fachleute hinsichtlich der Möglichkeiten von Erdbebenprophylaxe und -prognose, die von diesen (noch) nicht eingelöst werden können. Die Laien halten ihren Kompetenz-Kontrast zur Fachelite für größer, als er tatsächlich ist. Dadurch bleiben die Legitimationsleistungen, die den Fachleuten von Laien abgefordert werden, gering. Greifbar wird der Wissensabstand- vor allem der zur ausländischen Fachelite - in Großaggregaten als materiale Kultur, die den radikalen Bruch mit der

Vermittlerrolle zwischen ländlicher Bevölkerung und staatlicher bzw. örtlicher Verwaltung einnehmen (können).

A. Anwendung katastrophensoziologischer Überlegungen

57

traditionalen Kultur symbolisiert und gleichzeitig industrielle Risiken transportiert, denen weder die einheimische Infrastruktur, die Facheliten noch die Kontrollinstanzen gewachsen sind. Dies ist auch im Hinblick auf Erdbebenrisiken zu bedenken. Das nächste schwere Erdbeben könnte sich - vor allem in den schnell industrialisierten Gebieten der Westtürkei- in den Wirkungen nicht nur als regionale Katastrophe fiir die unmittelbar betroffene Bevölkerung, sondern möglicherweise zusätzlich als ökologische Katastrophe mit weit größerer Reichweite erweisen. 18 Partiell geben Menschen im Zuge der Ausdifferenzierung von Facheliten Problembearbeitungskompetenzen (kommunikative Fertigkeiten, Fachkenntnisse, teils auch Ausrüstungsgegenstände) auf und werden in dieser Hinsicht zu ("Sekundären") Laien, was umso gefährlicher ist, wenn die Fach- und Machteliten über keine zuverlässigen Problemlösungsmöglichkeiten verfUgen. 19 Dieser Prozeß wird vor allem durch Binnenmigration und Urbanisierung teils gefordert, teils erzwungen. Derartige Kompetenzen sind häufig noch in bestimmten Wohngebieten der Städte (Gecekondusf0 erkennbar, die zum Teil erste Etappe für (Binnen-)Migranten aus Dörfern und armen agrarisch orientierten Städten in einem mehrstufigen Prozeß der Urbanisierung sind (vgl. Yasa 1972, S. 575 und 577 f.). 21 Hinsichtlich der Laien erscheint die Einordnung des Untersuchungsgebietes in Stadium II von FAKKEL realistisch.

18 Die unmittelbare Natur (Erdbeben) kann dabei Prozesse anstoßen, die erst im Zusammenspiel mit umproduzierter, "sekundärer" Natur (zum Beispiel bei Bruch von Staudämmen, Bränden, Freisetzung von Giften) ihre vernichtende Kraft entfalten. 19 Diese Situation verzögert die laienseitige Abgabe von Kompetenzen an die Eliten. Es gibt kaum ungedeckte Offerten, da ernsthafte Offerten wie in vielen anderen Schwellen- und Entwicklungsländern Oberhaupt knapp sind, so daß es in dieser Hinsicht zu keinem Übergang von Stadium II in Stadium III kommen kann. ' 20 Gecekondus sind schnell (wörtlich: über Nacht gebaut) und ohne Einholung einer behördlichen Genehmigung meist auf staatlichem Land gebaute Häuser, bei deren Bau Gesetze und Bauvorschriften weitgehend unbeachtet bleiben. Übertragen bedeutet gecekondu auch oberflächlich gemacht, "zusammengestoppelt" (vgl. Steuerwald 1985, S. 317). "Where possible and feasible the 'gecekondu' family, immediately after obtaining its own house, begins adding adjuncts to it, such as a poultry coop, a miniature garden, a wood shed, a Iavatory (consisting of a roof and a pit), etc. In this way, the house begins to Iook like the one in the village, and the physical construction with its parts is converted to a place resembling the ancestral home or 'ocak'" (Yasa 1972, S. 577). 21 Zu weiteren wesentlichen Untersuchungen, die sich um den thematischen Schwerpunkt der Abwanderung der Dorfbevölkerung in die gecekondus ranken, gibt Planck eine Übersicht (vgl. Planck 1972a, S. 186).

58

II. Katastrophensoziologische und warntheoretische Überlegungen

(4) Materiale Kultur

Hier ist die Differenzierung zwischen Stadt und Land auffallend. In den Städten verschwinden die Gegenstände und Werkzeuge, die zur Problembearbeitung nötig sind, schneller aus den Haushalten und Arbeitsfeldern der Laien als auf dem Lande. Sie bleiben nur dann erhalten, wenn sie von Zeit zu Zeit noch aktualisiert werden. 22 Auf dem Land wird - vor allem, wenn subsistenzwirtschaftlich gearbeitet wird - vielfaltiges Gerät alltäglich gebraucht und die Bevorratung von Lebens- und Futtermitteln ist unabdingbar. Durch mangelhafte Infrastruktur und Transportsysteme schlagen Versorgungskrisen auf dem Land schnell durch, so daß die lokalen Kapazitäten permanent einsatzbereit sein müssen oder die materiale Kultur auf Engpässe eingestellt ist. 23 Auf der anderen Seite verursachen Erdbeben in der Türkei Schäden insbesondere an ländlichen Low-Cost-Bauten und Todesopfer in größerem Ausmaß und höherer Zahl, als die Bebenmagnitude erwarten ließe (vgl. Anoglu I Anadol 1977, ohne Seitenzahl [3]). Gleichzeitig fehlen anders als im Modell (Stadium Il) auch in den Städten die hochentwickelten und bewährten Technologien und Traditionen (zum Beispiel im Rettungswesen). Effiziente Verfahren der Baugrund-, Baumaterial-und Bauausfiihrungskontrolle und entsprechende Vorschriften werden entwickelt und mehr oder weniger erfolgreich durchgesetzt. Dieser Prozeß ist in den westtürkischen Städten weiter fortgeschritten als auf dem Lande, angetrieben durch die sich im Zuge der Verstädterung akkumulierenden Risiken. Trotzdem gibt es immer wieder Meldungen, nach denen Neubauten zusammenbrechen,24 was nachdrücklich auf die Fragilität der Kontrollroutinen hinweist. 25

22 In lstanbul gibt es noch zahlreiche Wasserreservoire (Kanister, Tonnen, Tanks) in und auf Privathäusern und öffentliche Brunnen, die mehr oder weniger regelmäßig aufgefilllt und in Anspruch genommen werden mOssen, da die öffentliche, leitungsgebundene Wasserversorgung stadtteilspezifisch unzuverlässig arbeitet. 23 Beispiele: Wenig Kühlschranke oder Gefriertruhen wegen UIIZllverlässiger Elektrizitätsversorgung, netzunabhängige Radios. 24 Vgl. "7 kath bina yav~ r,:öküyor. Müteahhidin dü~ük kaliteli beton kulland•g• belirlendi" ("Siebenstöckige Gebäude brechen langsam zusammen. Es hat sich herausgestellt, daß Unternehmer Beton niedriger Qualität verwenden", Hürriyet vom 5. 10. 1985, S. 20). 25 Die Fragilität des Bauens selbst hat Tradition und ist nicht allein dem ökonomischen Mangel geschuldet. Helmuth von Moltke schrieb schon 1836 aus der Türkei: "Die Häuser sind hier überall von Holz, selbst die großen Palais des Sultans sind eigentlich nur weitläufige Bretterbuden. Man errichtet auf einer steinernen Substruktion ein schwaches, oft sehr hohes Gerüst aus dünnen Balken,

A. Anwendung katastrophensoziologischer Überlegungen

59

Solche Ereignisse fördern die kritische Distanzierung (Spott, Mißachtung, Korruptionsverdacht) der Laien gegenüber der eigenen (nationalen) Fachelite, was die Position der Fachelite gegenüber der Machtelite zusätzlich schwächt (Stadium III).

(5) Gesamtaspekte des Kollektivs "Durch die Differenzierung der Lebensbereiche lockern sich die sozialen Netzwerke (...) Tradition erfiillt die Funktion von Erfahrung (die Magisierung steigt)" (Clausen 1983, S. 60). Der soziale Wandel bezüglich der Problembearbeitung (Schutz vor katastrophischen Erdbebenfolgen) wirkt verlangsamt gegenüber der rapide sich überstürzenden Entwicklung in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Diese Aspekte verweisen auf Stadium II von FAKKEL. In Bezug auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung in der Türkei deuten einige Phänomene auch auf Stadium III. Hierzu gehören - die rapide wertezerstörend wirkende Industrialisierung - ein schwacher Basiskonsens - die Dreiteilung in (l) auf eigene Probleme fixierte Machtelite, (2) problemverengte Fachelite, (3) problementfremdete bzw. sanktionsmittellose Laienklasse und - magisierend wirkende Geheimhaltungsstrategien.

bekleidet es mit Brettern, die inwendig mit Mörtel überzogen werden, bedeckt das Dach mit Ziegeln, und in wenig Tagen steht ein großes Haus da" (Moltke [1836] 1911, S. 102) und stellte anschließend die enorme Brandgefahr heraus. Diese vergängliche und wandlungsfllhige Schnellbauweise enthält auch Reminiszenzen an nomadische Lebensformen (vgl. auch Bammer 1982). Hier sei angemerkt, daß in der Bundesrepublik im Zusammenhang mit dem Versuch, dem Mangel an Wohnraum abzuhelfen, eine Entwicklung hin zu einer weniger kontrollierten Bauprüfung eingeleitet wird. So ist z. B. entsprechend einem Referentenentwurf der Landesregierung SchleswigHolsteins in einem vereinfachten Verfahren vorgesehen, daß Bauämter nur noch prüfen, ob bei Bauvorhaben die planungsrechtlichen Vorschriften erfilllt sind, während eine bautechnische Prüfung nicht mehr stattfindet. Für diese sind allein Architekten und Ingenieure verantwortlich. Sofern die Baubehörden "zu langsam arbeiten, treten Baugenehmigungen künftig nach drei Monaten auch ohne amtlichen Bescheid automatisch in Kraft" ("Wohnungsbau: Ab 1994 billiger und einfacher", Kieler Nachrichten Nr. 57 vom 9. 3. 1993, S. 5). Die Pläne filr dieses Verfahren beziehen sich auf fast alle Wohnungsbauten. Die Baukontrolle wird durch ein solches vereinfachtes Verfahren, welches einen hohen Entwicklungs- und Befolgungsgrad (compliance) professioneller Standards und Ethikcodes voraussetzte - Annahmen, die eine gewisse Heroizität nicht entbehren - möglicherweise langfristig auf den Stand von Entwicklungs- und Schwellenländern wie der Türkei zurückgeworfen, bei denen zwar Bauvorschriften gesetzlich festgeschrieben und weiterentwickelt werden, aber die Kontrolle faktisch den Architekten und Bauunternehmern (d. h. den Produzenten) obliegt.

60

II. Katastrophensoziologische und warntheoretische Überlegungen

d) Die Zuspitzung der Figuration in einer durch Erdbeben ausgelösten Katastrophe Bei regionalen Katastrophen sind "gründliche", aber auch antagonistische Lösungen in Stadium N unwahrscheinlicher als bei überregionalen. Dafiir treten eher Mischformen anderer Lösungswege auf. Der charismatische "Retter" ist denkbar, etwa als Provinzgouverneur, der "über sein Amt hinauswächst", umsichtig und schnell Ressourcen mobilisiert · und koordiniert einsetzt. Er verliert jedoch im weiteren Verlauf an Bedeutung. Bestenfalls ist er ein späterer Anwärter :filr Höheres. Die äquivalente Lösung "fachliche Revolution" ist nach Ereigniseintritt unwahrscheinlich, es sei denn, es käme zu einer Erdbebenprognose. Mischformen zwischen charismatischen und restaurativen Lösungen sind zum Beispiel denkbar, wenn regional fähiges Management stattfindet, die zur VerfUgung stehenden Ressourcen aber langfristig nur für restaurative Lösungen hinreichend sind. Der gängige Weg bei Erdbebenkatastrophen26 ist die restaurative Lösung, und zwar in ihrer Minimalform: Die :filr die Bewältigung von Katastrophen Zuständigen organisieren die Rettungsmaßnahmen, nehmen nach bewährlern Muster die Schäden auf, und die notwendigsten Hilfsressourcen werden verteilt. Ein Organisationsplan zur Koordinierung der Hilfsarbeiten, welcher u. a. die nationalen und regionalen Zuständigkeiten regelt, besteht und wird im Verlaufe der Hilfsarbeiten mehr oder weniger zielkonform umgesetzt. Aber nicht einmal die Auffüllung der alten Fachklasse durch neue Retter findet statt, wenn zusätzliche inländische Experten nicht hinzugezogen werden. Allerdings ist es dennoch möglich, daß die alte Fachklasse in geringem Umfang von Katastrophe zu Katastrophe prophylaktische Lehren zieht. Die Auffassung von Erdbeben als "Natur"Katastrophen begünstigt zudem restaurative Strategien, weil die Anfangsglieder der in die Katastrophe führenden Kausalketten in der (unbeeinflußbaren) "Natur" und nicht in den gesellschaftlichen Verflechtungszusammenhängengesucht oder dorthin verlegt werden. Bei Erdbeben spielt die Schuldzuweisung auch laienseitig eine besondere Rolle. Diese Frage ist deshalb in der empirischen Erhebung (s. u.) eingehend berücksichtigt worden.

26 Wenn nicht nach katastrophischen Vorerfahrungen, wie etwa in San Franzisko nach dem Beben von 1906 oder in Japan nach Erfahrungen mit schweren Erdbeben von vomherein die Verbesserung prophylaktischer Maßnahmen, die den Eintritt in Stadium IV vermeiden hilft, systematisch und planvoll unter Mobilisierung der notwendigen Ressourcen betrieben wird.

A. Anwendung katastrophensoziologischer Überlegungen

61

Stadium V ist vor allem in den lokalen Verflechtungszusammenhängen in der ersten Zeit nach dem Beben zu diagnostizieren. Zur Dichotomisierung von Opfern und Nicht-Opfern kommt die von Opfern und intervenierenden Helfern hinzu. Die Opfer sind vor allem aus Sicht der Helfer hilf-, macht- und nutzlos, "können nichts tun". Identitätskrisen und lethargische Verzweiflung markieren das Zerreißen sozialer Netze, vor allem bei Verlust von oder Ungewißheit über das Schicksal naher Angehöriger. Korrespondierend fokussieren die ad-hoc eingerichteten Stützpunkte der Hilfsorganisationen als "Rettungsinseln im Chaos" Hoffnungen und Enttäuschungen. Stadium VI ist aufgrund der begrenzten Reichweite von Erdbeben unwahrscheinlich und allenfalls vorstellbar, wenn lokale Gesellschaften letal getroffen werden, Hilfe dauerhaft ausbleibt und das Unglück durch negative Interventionen (zum Beispiel, wenn infolge interner Konflikte [Bürgerkrieg] Hilfe abgeschnitten wird27 oder die Opfer gleichzeitig einer verfolgten Minderheit angehören) komplettiert wird. Der Frieden (Stadium I) ließe sich stiften, wenn Erdbeben zuverlässig vorhersagt werden könnten oder die materiale Kultur so gestaltet wäre, daß sie allen Erdbebengefahren im wesentlichen standhielte. Ein Abglanz davon ließe sich unter Umständen in der Folge der gelungenen Bebenprognose in China 1975 ausmachen, durch die Hunderttausende der Gefahr entronnen sind (Legendenbildung und Hoffnungen auf zukünftige prognostische Möglichkeiten befördernd, siehe S. 90) oder bei dem letzten starken Beben in San Franzisko 1989 (Loma Prieta Beben), bei dem zwar die Schäden beträchtlich waren, aber nur wenige Menschen starben (vgl. "Spalten, Trümmer, Feuer. Das Beben von San Francisco war nur der Vorbote einer vielleicht noch größeren Erschütterung", Die Zeit Nr. 44 vom 27. 10. 1989, S. 17- 20), obwohl das Beben zur Hauptverkehrszeit stattfand28 (nach dem Beben wurde in den Straßen gefeiert, vielfach gedeutet als Californian way of life29 ) . An dieser Stelle der Analyse stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten von Gesellschaften, mit dem Überlebensproblem Erdbeben umzugehen, nach

27 Vgl.

das Erdbeben mit katastrophischer Wirkung am 7. 12. 1988 in Armenien. Wenn z. B. die Tageszeit des Bebenereignisses in Bezug auf die Auswirkungen, d. h. die Zahl der letal Getroffenen, keine entscheidende intervenierende Variable mehr ist, wird der Grad der Kontrollierbarkeit von Bebenauswirkungen sozial sichtbar. 29 Die Frage ist, ob dort nicht ein Erfolg und gleichzeitig das Ende einer langen Wartezeit begangen wurde, an dem das Beben als "Offenbarer" ftlr die Stabilität bzw. Verwundbarkeit der Strukturen diente - sozusagen - als Bewährungsprobe, in der sich die Einlösbarkeit der Offerten nachprüfen ließ. 28

62

II. Katastrophensoziologische und warntheoretische Überlegungen

dem Stellenwert von Erdbebenvorhersage in diesem Spektrum und nach den Determinanten, von denen ihre Realisierung abhängig ist. B. Gesellschaftliche Dimensionen der Bewältigungsfähigkeit 1. Zeithorizonte Theoretisch sind mehrere Möglichkeiten denkbar, wie eine Gesellschaft mit dem Erdbebenproblem umgehen kann. Reine Formen sind: 1 ignorieren, als Schicksalsschlag akzeptieren, Prophylaxe treiben, prognostizieren. Die beiden zuletzt genannten Lösungen haben den Anschein der Rationalität für sich und verdienen hervorgehoben zu werden, weil es sich dabei um adäquate handeln könnte. Die Frage, wel ehe Lösungswege unter welchen gesellschaftlichenBedingungen eingeschlagen werden, bildet den Hintergrund, vor dem die empirische Analyse durchgeführt wurde und gelesen werden sollte. -

Welche Welche Wie ist Welche

Alternativen stehen zur Wahl? sind unter welchen Bedingungen für wen nützlich? zu erklären, daß nützliche Wege trotzdem nicht gewählt werden? Verflechtungszusammenhänge blockieren die Wahlmöglichkeiten?

Das Untersuchungsgebiet in der Westtürkei ist durch hohe seismische Aktivität, die Diagnose einer seismischen Lücke für starke Erdbeben sowie geologisch durch die Existenz einer Plattengrenzemit hohen Verschiebungsbeträgengekennzeichnet Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist ein zyklisches Auftreten starker Erdbeben mit einer sehr kurzen Wiederkehrperiode von durchschnittlich nur 15 Jahren belegbar (mit Ruheintervallen von 9 bis maximal 21 Jahren). Die letzten starken Beben mit katastrophischer Wirkung in dem nur 70 x 120 km großen Gebiet ereigneten sich am 22. 7. 1967 mit einer Magnitude (Ms) von 7,2 (MudurnuBeben) und am 26. 5. 1957 mit einer Magnitude von 7,1 (Bolu-Abant-Beben). Inzwischen ist seit dem letzten Großbeben von 1967 ein Vierteljahrhundert vergangen. Das regelmäßige Auftreten starker seismischer Ereignisse in diesem Gebiet läßt ein erneutes starkes Erdbeben in absehbarer Zukunft erwarten (vgl. Nehl 1982, S. 82 - 91).

1

Empirisch sind zumeist Mischformen vorzufinden.

63

B. Gesellschaftliche Dimensionen der Bewältigungsflthigkeit Seismic Vulnerability of Eastern Turkey

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First Oegree I,. ,. IX

lo (11IX VIII VII

VI

IX Vlll VII VI .

I

§

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E. Beschreibung der Stichprobe

Tab. 4: Untersuchte Siedlungseinheiten (Fortsetzung) Provinz Bolu Dorfverwaltung Anzahl der Name des Dorfes I Anzahl der FraEinwohnerderMahalle gebogen frage bogen A~agtdedegan

I I

Elmac1kdere

0

Gökören

Hamitler

2 I I I

Harmanseki

0

Igneciler Karamurat

2 I I

Madenpa~a

0

Ortaköy

Ak~aalan

(Markoglu)

Gölcük Hacllar

Kara~omak

I9 I6 23 36 I7 0

9 5 2I 13

Tekirler

I I I I

Y egenderesi

0

Sonderbefragung Verkehrsstaua

0

I5

268

Akyaz1

2

Adapazan

0

Bolu

0

51 I8 28 97 788

Ta~kesti

~

Provinz Bolu

Sonderbefragung in Städtenb

~

Sonderbefragung

Gesamtsumme

2 39

* = Befragung im Frühjahr I985 a zwischen lgneciler und Ahant-See b schriftlich, nur Rücklauf II Oeenen

* *

*

13

9 I4 IO 23 I9 I2 9

Suay1pler (Cüyüp)

*

*

IV. Ausgewählte Aspekte zur Sozialstruktur im Untersuchungsgebiet A. Sozioökonomische Grunddaten der Befragten Eine nach Gemeinden und Teilgemeinden (Mahallen) differenzierte Übersicht (Einwohnerzahllt. Zensus und lt. Befragung, Zahl der Haushalte, Alphabetisierungsrate) ist im Anhang, S. 378 ff., dokumentiert. Tab. 5 bietet eine Zusammenfassung der erhobenen Grunddaten. Tab. 5: Sozioökonomische Grunddaten der Befragten

Ausprägung

Variable

Provinz

absolute Häufigkeit

relative Häufigkeit (%) bzw. Mittelwert

Bolu

275

35,9%

Sakarya

492

64,1%

Im Befragungsort geboren (hiesig)

Ja

72,9%

Nein

27,1%

Geschlecht

Männlich

625

81,9%

Weiblich

138

18,1 %

Lebensalter

(Mittelwert)

41,5 Jahre'

Formale Bildung

Ohne Schulbildung

17,8%

Grundschule

59,7%

Mittelschule

6,6%

1 Der Mittelwert der Stichprobe liegt etwa ftlnf Jahre höher als das Durchschnittsalter der vergleichbaren Gesamtbevölkerung.

164

IV. Ausgewählte Aspekte zur Sozialstruktur im Untersuchungsgebiet

Tab. 5: Sozioökonomische Grunddaten der Befragten

Variable

Ausprägung

absolute Häufigkeit

relative Häufigkeit (%) bzw. Mittelwert

Gymnasium

12,4%

Hochschule

3,5%

Gesamtdauer des Schulbesuchs

(Mittelwert)

5,6 Jahre

Familienstatus

Ledig

111

18,0%

Verheiratet

484

78,3%

Verwitwet

20

3,2%

Geschieden

3

0,5%

Anzahl der Kinder

(Mittelwert)

2,9 Kinder

Größe des Haushalts

(Mittelwert)

6,5 Pers.

Im Haushalt vorhandene Funkmedien

Radio

86,1%

Fernseher

60,3%

B. Aspekte der Sozialstruktur I. Geburts- und Wohnort der Befragten Fast Dreiviertel (72,9 Prozent) der Befragten sind im Befragungsort geboren ("hiesig", n = 753). In den Dörfern stammen die meisten der Zugezogenen aus der näheren Umgebung. Bei einem Vergleich zwischen Befragten aus Dörfern und aus den Städten Adapazan, Akyaz1 und Bolu ergeben sich nur geringfügige Unterschiede.

165

B. Aspekte der Sozialstruktur

Tab. 6: Lokalität der Befragten nach Stadt I Land Hier geboren

Dörfer

Städte

Ja

73,3%

70,2%

Nein

26,7%

29,8%

Daraus lassen sich keine Schlüsse auf die Migrationsquote ziehen, da die Auswahl der Befragten in den Städten spezifisch verzerrt ist. 2. Geschlecht Bei einer Differenzierung nach Geschlecht über alle Dörfer und Städte ergibt sich ein hochsignifikanter Zusammenhang. Fast die Hälfte der befragten Frauen wohnt in einem anderen als ihrem Geburtsort. Tab. 7: Lokalität der Befragten nach Geschlecht Hier geboren

Frauen

Männer

Ja

56,0%

76,6%

Nein

44,0%

23,4%

Dieser Befund bildet ab, daß die Frau in der türkischen Gesellschaft (hier: in allen ethnischen Gruppen, die von der Befragung erfaßt wurden) patrilokal heiratet (vgl. Bammer 1982, S. 86). 1 Daß ein größerer Anteil der verheirateten Frauen aus anderen Orten stammt, könnte die Chance für verstärkten sozialen Austausch und Lernprozesse eröffnen.

1 Nur eine Ausnahme wurde von der Autorio beobachtet: Der Mann war nach der Eheschließung in das Haus des Brautvaters gezogen. Seine Stellung war nicht wesentlich verschieden von der junger türkischer Frauen (gelin) gleichen Alters in dieser Region. Selbst sein Status als Vater (eines Sohnes) schien daran wenig zu ändern. In diesem Fall bediente der Schwiegersohn die ganze Familie (seine Schwiegereltern, seine Frau) und die Gäste. Möglicherweise spielte eine zusätzliche Rolle, daß der Schwiegervater Dorfvorsteher war.

166

IV. Ausgewählte Aspekte zur Sozialstruktur im Untersuchungsgebiet

Denn strukturell kennen Frauen zumindest zwei Orte genau. Den, in dem sie aufgewachsen und den, in dem sie verheiratet sind, während Männer, abgesehen von der Militärzeie und biographischen Besonderheiten, nur einen Ort genau kennen. Die Frauen bringen ein Veränderungspotential mit, welches aber nicht zur Geltung kommt, weil sie als einheiratende Ehegatten gezwungen werden, sich vollständig an die neue Umgebung anzupassen (vgl. auch Planck 1972, S. 265 f.). Diese Anpassungsleistung wird insbesondere durch die Schwiegermutter gefordert, zumalletztere diese - zumindest in der idealtypischen Konstellation selbst erbracht hat. a) Geschlechtsspezifische Segmentierung Bammer benennt die Geschlechtertrennung als persistierendes Merkmal des türkischen Dorfes. Sie sei im Alltag aber um so geringer ausgeprägt, je "einfacher" die Bauern oder je kürzer der Zeitraum seit ihrer Seßhaftwerdung sei. Diese geringere Geschlechtertrennung drücke sich in der Teilnahme von Frauen an Gesprächen auch beim Besuch Fremder aus (vgl. Bammer 1982, S. 86). Diesen Zusammenhang finden wir partiell bestätigt. In den Dörfern der Provinz Bolu konnten Frauen ohne Schwierigkeiten interviewt werden und waren bei Unterhaltungen anwesend. Wurden allerdings zentrale Themen des Dorfes oder allgemeine Fragen, vor allem im größeren Kreis (5 - 10 Personen), angesprochen, blieben sie in der Regel stumme Zeugen. Bei Gesprächen in Privathäusern mit wenigen Beiteiligten gestalteten sie zum Teil die Unterhaltung auch über allgemeine Themen aktiv mit. Eine ausgeprägte Geschlechtertrennung sieht Bammer in der Arbeitsteilung3 und konstatiert, daß Frauen grundsätzlich keine Tätigkeiten in der Öffentlichkeit wahrnähmen. Diese Befunde müssen zumindest partiell relativiert werden. Während der Feldforschung konnten vereinzelt traktorfahrende Frauen beobachtet werden, eine möglicherweise neuere Entwicklung. In einigen Dörfern des östlichen Untersuchungsgebietes(Bolu) wurden Drescharbeiten von männlichen und weiblichen Dorfbewohnern gemeinsam durchgeführt. An der Feldarbeit (Gartenbau in der Provinz Bolu, Haselnußernte in Sakarya) sind indes auch Männer beteiligt. Selbst Weidearbeiten (Auf-, Ab- und Umtrieb des Viehs)

1 Planck meint, daß sie auch als ein Instrument des sozialen Wandels verstanden wurde und die Sozialisation während der Militärdienstzeit vor allem im Zusammenhang mit der Technisierung der Landwirtschaft von größerer Bedeutung gewesen sei (vgl. P/anck 1972, S. 268 f.). 3 Frauen seien ftlr die gesamte Haus- und Feldarbeit, Männer ftlr das Weiden des Viehs, Pflügen und Dreschen zuständig. Tätigkeiten wie Kauf und Verkauf weist er allein den Männem zu.

B. Aspekte der Sozialstruktur

167

obliegen nicht allein den Männern. Vor allem der Handel wird, insbesondere in einigen Dörfern Bolus, auch von Frauen betrieben (s. S. 174 f.). Bennholdt-Thomsen (vgl. 1988, S. 54 ff.) hat bei einer Untersuchung über Bauern in Mexiko beobachtet, daß Aussagen von Bauern und Bauersfrauen über die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung nicht mit der gesellschaftlichen Realität übereinstimmten. Frauen und Männer gaben an, daß Frauen nicht auf dem Feld arbeiteten, obwohl sie dort tatsächlich verschiedene Arbeitsgänge verrichteten. Auch aufNachfragen der Forscherio blieben Männer bei dieser Auffassung (die Frauen würden spazierengehen, arbeiteten zu ihrem persönlichen Vergnügen), während Frauen konkrete Arbeitsgänge beschrieben. Bennholdt-Thomsen erklärt diese Verzerrung mit vorhandenem Bewußtsein über den ausbeuterischen Charakter der Arbeitssituation der bäuerlichen Hausfrau und dem "schlechten Gewissen" der Männer wegen der Doppelbelastung der Frauen, aber auch durch den Prozeß geschlechtsspezifischer Trennung in Subsistenzproduktion (weiblich) und Warenproduktion (männlich), in deren Zuge weiblicher Arbeit der Wert aberkannt werde. Zugleich hätten in Mexiko Frauen keinerlei Besitzanspruch auf den Boden, der entsprechend dem Wahlspruch der Revolution dem gehöre, der ihn bebaue.

Auch dieses Beispiel4 zeigt, daß die Wahrnehmung geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung von den Realitäten abweichen kann. Es scheint, daß die Übernahme nonnierter Vorstellungen von Arbeitsrollen und androzentrischen Vorurteilen oder Darstellungen eher zu einer Überschätzung der vorhandenen Arbeitsteilung und zu einer Unterschätzung der Teilhabe von Frauen am öffentlichen Raum fiihrt. Weiter erscheint sie als geeignetes Mittel, weibliche BesitzansprUche auf Grund und Boden abzuwehren. b) Annäherung an das Problem des öffentlichen Raumes in der Befragung In vielen Dörfern der Bolu-Region waren die öffentlichen Orte fiir die Befragung von Frauen prinzipiell geeignet und die Auswahl mußte daher nicht mit den Männern des Dorfes ausgehandelt werden. In einigen Dörfern Sakaryas hingegen wurde eine Befragung der Frauen von den männlichen Dorfbewohnern nicht unterstützt, obwohl geeignete Befragungsorte (wie z. B. die örtliche Schule) vorgeschlagen wurden. Aus prinzipiellen GrUnden fiel das Cafehaus fiir die Befragung von Frauen aus. Cafehäuser werden im Untersuchungsgebiet, vennutlich aber in der gesamten Türkei, traditionell ausschließlich von Männern besucht. Frauen an diesem Ort wären unschicklich (aytp). Es ist sogar nonnwidrig, das Cafe zu 4 Ein räumlich näherliegendes Beispiel filrdie Überzeichnung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ist die sogenannte Bäuerinnenentscheidung des Bundesgerichtshofes aus dem Jahre 1959 (1963 vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben), in welcher die Bevorzugung männlicher Hoferben mit der bäuerlichen Lebensordnung und der "nonnalen" Arbeitsteilung begründet wurde (vgl. GerhardTeuscher 1989, S. 120 f.).

168

IV. Ausgewählte Aspekte zur Sozialstruktur im Untersuchungsgebiet

passieren. Die Autorin beobachtete, wie Frauen ihre Schritte beschleunigten und den Blick in diese Richtung vermieden, wenn sie dort vorbeigehen mußten. Die Norm war so stark, daß es undenkbar gewesen wäre, dort Frauen zu befragen. Das Cafehaus ist kein neutraler Ort in einer so rigide nach Geschlechtern segmentierten Gesellschaft wie der türkischen. Zumeist war es aber nicht erforderlich, Frauen in ihrer Privatsphäre aufzusuchen, denn Schulen, Dorfzimmer bzw. Moscheezimmer waren öffentliche Räume, die auch von Frauen fllr diese Zwecke genutzt werden konnten. Inwieweit Dorfzimmer und Moscheeräume Frauen auch sonst offenstehen, wurde nicht ermittelt. Allerdings läßt die Selbstverständlichkeit ihrer Nutzung zu diesem Zweck den Schluß zu, daß hier keine besondere Ausnahme gemacht wurde. Weiter konnten Frauen in quasi-öffentlichen Orten wie Gärten (auch offen einsehbaren) von Privathäusern oder auf kleinen Dorfplätzen befragt werden. Ein weiterer Ort, der fllr Frauen nicht so stark belastet scheint, aber dennoch ausschließlich Männern zur VerfUgung steht, ist das (Amts-)Zimmer des Dorfvorstehers5. Frauen betraten diese· Zimmer nicht, konnten sich aber in einem Dorf auf die Bänke vor diesem Gebäude setzen. Während der Befragung - vor allem, wenn die Räume größer waren, so in Schulklassen - saßen Männer und Frauen nach Geschlechtern getrennt. In kleineren Räumen saßen Frauen zumeist an einer anderen Seite des Raumes, auf anderen Bänken oder auf dem Boden, wenn die Männer auf Bänken saßen und nicht genügend Plätze auf Bänken verfilgbar waren. c) Berufsstruktur, Subsistenzproduktion, Markt und öffentlicher Raum Die Wirtschaftsstruktur der Türkei insgesamt, und auch diejenige der Provinzen, in denen die Untersuchung durchgefllhrt wurde, ist noch weitgehend agrarisch geprägt, wobei der Industrialisierungsprozeß in der Provinz Sakarya weiter fortgeschritten ist als in Bolu. Subsistenzökonomie ist in größeren Teilen des ländlichen Untersuchungsgebietes noch die charakteristische Produktionsweise. Vollständige Subsistenzökonomie bedeutet, daß alle arbeitsfähigen Menschen des Dorfes an der Herstellung der notwendigen Güter beteiligt sind und überwiegend filr den Eigenbedarf produziert wird. D. h., es ist innerhalb dieser Gemeinschaften nur wenig Geld im Umlauf. Es wird nicht fUr einen "Markt" produziert, so daß nur erarbeitete Überschüsse in monetären Tauschaktionen dazu verwendet werden können, zusätzlich Erforderliches zu kaufen.

5

Amtszimmer wurden nur in der Provinz Sakarya angetroffen.

B. Aspekte der Sozialstruktur

169

Von einer fast reinen Subsistenz-Wirtschaftsweise bis zu einer ausschließlich marktvermittelten können im Untersuchungsgebiet fast alle Übergangsformen beobachtet werden. Wie die Ergebnisse des Zensus zum 12. 10. 1980 (s. Tabellen S. 381 ff.) über die Struktur der Beschäftigung zeigen, überwogen mit 69 Prozent in Bolu und 64 Prozent in Sakarya Tätigkeiten im agrarischen Bereich, gefolgt von Produktion und Transport (Bolu 15 Prozent, Sakarya 20 Prozent). Die Beschäftigungsstruktur, wie sie in der amtlichen Beschäftigungsstatistik ausgewiesen ist, findet sich in der Zusammensetzung der von mir befragten Personen weitgehend wieder. 6 Über die Hälfte der Befragten sind im agrarischen Bereich tätig (Landwirt 45 Prozent, Bäuerin und Hausfrau 7,8 Prozent). Die Berufsstruktur (Hauptberuf) kann Abb. 8 entnommen werden. Die Befragung ergibt ein weniger klares Bild als der Zensus, da die Nennung mehrerer Berufe möglich war und im Fragebogen keine Kategorie "Hauptberuf' vorgesehen war. 7 13 Prozent der Befragten gaben an, einen oder mehrere Berufe (gleichzeitig oder gegeneinander phasenverschoben) auszuüben. 8 Die regionale Wirtschaftsstrukturdes Untersuchungsgebietesist insbesondere in subsistenzwirtschaftlich orientierten Regionen durch fragile Existenzgrundlagen und geringe Arbeitsteilung geprägt. Eine einzige Tätigkeit reicht in vielen Fällen nicht, um

6 Unterschiede ergeben sich u. a. daraus, daß der Zensus eine Totalerhebung darstellt, während die Beteiligung an der hier durchgeftlhrten Untersuchung freiwillig war. Frauen beteiligten sich z. B. in erheblich geringerem Umfang als Männer (s. auch S. 149). Zu weiteren Unterschieden s. Kapitel III. 7 Als Hauptberuf wurden bei der Kategorisierung jeweils die Tätigkeiten klassifiziert, die nach Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten den größten Einkommensanteil erbringen. Dieses Prinzip ist jedoch nicht ganz durchhaltbar. Z. B. sind einige Dörfer so arm, daß sie sich den Imam nur im Winter leisten können. Vor allem im Bolu-Gebietbeziehen die Imame einen wesentlichen Teil ihrer Lebensgrundlage aus anderen Tätigkeiten (zumeist aus der Landwirtschaft), der hier jedoch nicht quantiftzierbar ist. Der Beruf dieser Befragten wurde mit der geistlichen Tätigkeit, von der angenommen werden kann, daß sie sie am treffendsten charakterisiert, kodiert. Gleiches gilt in noch stärkerem Maße ftlr den Dorf- oder Stadtteilvorsteher (Muhtar), der ehrenamtlich ftlr eine minimale Aufwandsentschädigung tätig ist und selbstverständlich den wesentlichen Teil seines Einkommens aus einer anderen Tätigkeit bezieht. 8 Von den insgesamt 663 Befragten, die Angaben zu ihrer Berufstätigkeit machten, gaben 12,5 Prozent (n = 83) mehr als einen Beruf an. 10,1 Prozent (n = 67) nannten zwei, 1,8 Prozent (n = 12) drei und 0,6 Prozent (n = 4) vier berufliche Tätigkeitsbereiche.

170

IV. Ausgewählte Aspekte zur Sozialstruktur im Untersuchungsgebiet

Haupt-Berufe der Befragten andere

5,7

Arbeitslose(r) Rentner(in) Schüler(in) Student Akademiker Lehrer(in)

5,4

Imam Muhtar Angestellter Fahrer

i

0,8

Arbeiter In Baubranche Tätiger

5,4

~

0,8

Handwerker Unternehmer Kaffeehaus-Wirt Händler(in) Hausfrau Bäuerin und Hausfrau Bauer

45,2 0

10

20

30

Anteile in Prozent (n = 663) Abb. 8 Haupt-Berufe der Befragten

40

50

B. Aspekte der Sozialstruktur

171

eine Person oder gar eine Familie zu ernähren. 9 Darauf, daß die Kleinbauernfamilien mit einem Landbesitz unter filnf Hektar sich vom Ertrag ihres Landes allein nicht ernähren können und zur Sicherung des Existenzminimums gezwungen sind, durch saisonale Industriearbeit, als Landproletarier oder Pächter zusätzliche Einkünfte zu erlangen, verweist auch Keskin (vgl. Keskin 1981, S. 226). Eine Berücksichtigung sozialer Stratifikation wurde in dieser Untersuchung angestrebt, ließ sich aber nur in wenigen Punkten realisieren: Die meisten der untersuchten Orte sind noch partiell subsistenzwirtschaftlich geprägt, so daß hier das Einkommen nicht in einer Weise erhoben werden konnte, die Vergleichbarkeit hätte herstellen können. Variablen wie die Größe des Landbesitzes (die erhoben wurden) geben hier nur sehr unzulänglich Auskunft, da sie die Lage und Qualität des bewirtschafteten Landes sowie die Möglichkeiten der Bewirtschaftung mit agrarindustriellen Methoden unberücksichtigt lassen. Die Zahl des im jeweiligen Besitz befindlichen Groß- und Kleinviehs (ebenfalls erhoben) ist wiederum nicht filr sich genommen aussagekräftig. Sie müßte zu den Erträgen aus dem Ackerbau in Verhältnis gesetzt werden und erforderte zudem Kenntnisse über Absatzmärkte in der Türkei, über die ich nur unzulänglich verfUge. Als aussagekräftige und diskriminierende Variable haben sich schulische Bildung und die Berufsnennungen erwiesen. Ein Indikator filr die Wirtschaftsweise kann neben anderen (s. unten Eigenbau von Häusern, Schulen etc.) in der ortsspezifisch unterschiedlichen Hervorhebung von Problemen des alltäglichen Lebens gesehen werden (s. Tabellen S. 374 ff.). Hierbei wird von der Hypothese ausgegangen, daß eine Veränderung der Produktionsweise von der subsistenzwirtschaftlichen zu einer stärker marktvermittelten auch die Sicht auf Alltagsprobleme verändert. Während bei subsistenzwirtschaftlicher Produktion eher Probleme, die die Ernährung und Bevorratung

9 In der Befragung wurde nach dem Landbesitz in Dönüm (I Dönüm = 920 m2 , vgl. Steuerwald 1985, S. 242) gefragt. Der größte angegebene Landbesitz betrug 4 Hektar (eine Nennung). 90 Prozent der Landbesitzer hatten lediglich maximal 0,5 Hektar und 60 Prozent maximal 0,26 Hektar. 303 Bewohner hielten Vieh, davon besaßen 182 auch Großvieh (Rinder, Wasserbüffel). Der Bestand an Großvieh betrug maximal 25 Tiere (I Befragter). 39 Prozent hielten bis 2 Großtiere, 76 Prozent bis 4 und 95 Prozent bis 5 Tiere. Hinsichtlich Kleintieren (Schafe, Hühner etc.) betrug der Bestand zwischen 5 und maximal 80 Tieren (bei 90 Prozent der Befragten bis maximal 9 Tiere). Zwei Befragte mit Hühnerfarmen besaßen 4000 bzw. 6500 Tiere. Diese Daten zeigen, daß die geringe Größe des Landbesitzes kaum durch den Umfang an Tierhaltung ausgeglichen wird. Allerdings sind hinsichtlich des Landbesitzes regionale Differenzen zu berücksichtigen. Die Ova von Sakarya (zur Darstellung dieses Landschaftstyps vgl. Hütteroth 1982, S. 57 ff.) ist fruchtbar und verfUgt Ober günstige klimatische Bedingungen (milde Winter, heiße Sommer), so daß der Anbau von Mais und Haselnüssen möglich ist. Die flächenbezogene Wertproduktivität liegt erheblich höher als in der östlichen, klimatisch rauheren und bergigen Untersuchungsregion Sakaryas und in den untersuchten Gebieten in Bolu.

172

IV. Ausgewählte Aspekte zur Sozialstruktur im Untersuchungsgebiet

betreffen und damit indirekt Fragen, die die Sicherstellung der Reproduktion über den primären Sektor beeinflussen oder beeinträchtigen könnten (Klima, Größe landwirtschaftlicher Flächen, Qualität des Bodens), von Bedeutung sind, stehen in stärker marktwirtschaftlich orientierten Gemeinden (mit erhöhtem Anteil industrieller Produktion und monokultureller Landwirtschaft) Fragen, die das monetäre Einkommen (bei abhängiger und selbständiger Beschäftigung) betreffen, im Zentrum. Die Befragungsergebnisse reflektieren diese Tendenz: In der Provinz Bolu wurden die Befragungen fast ausschließlich in Gemeinden mit überwiegender Subsistenzwirtschaft durchgefiihrt, 10 während in Sakarya nur einige z. T. noch auf Subsistenzbasis wirtschaftende Gemeinden in der Befragung enthalten sind (Durmu~lar, Gök~eler, Sepet~iler, Güven~ler, Osmanlar, Haydarlar, Beyler). Während in Bolu Ernährung, Bevorratung, Klima und landwirtschaftliche Flächen allein 43 Prozent der genannten Problemfelder bezeichnen, sind es in Sakarya nur 31 Prozent. Auf Einkommen und Arbeitslosigkeit als Probleme bezogen sich hingegen in Sakarya 32 Prozent, in Bolu nur 18 Prozent der Nennungen. Auch die mit einer marktförmigen Orientierung verbundene größere Bedeutung der Infrastruktur'' zeichnet sich in den Befragungsergebnissen (in Sakarya sieben Prozent, in Bolu nur zwei Prozent der Nennungen) ab. Die Transformationsprozesse reflektieren sich im Bewußtsein der Bewohner (s. Tabellen S. 374 ff.) und der Dorfvorsteher (s. Tabellen S. 392 ff.) in den noch subsistenzwirtschaftlich geprägten Regionen insofern, als in der dörflichen Lebenswelt nicht mehr genügend berufliche Chancen fiir die Dorfjugend gesehen werden 12, die (neben älteren Arbeitsmigranten) zum Teil in die größeren Städte (Hauptstädte der Provinzen) oder Metropolen abwandert, um dort Arbeit zu finden, oder deren Abwandern befiirchtet oder filr notwendig erachtet wird. Ursächlich dafilr sind einerseits die stärkere Technisierung der Landwirtschaft, die Arbeitskraft freisetzt, andererseits auch die durch die Infrastruktur verbesserten Möglichkeiten, Vergleiche zwischen Lebensbedingungen in den dörflichen Siedlungen und in den Städten zu ziehen. Die Technisierung der 10 Ausnahmen davon sind Ak~aalan und T~kesti. Die Ortschaft Ak~aalan '(ein Straßendorf) ist verkehrsmäßg gut erschlossen. Die Orientierung auf den Markt hin wurde besonderen ökonomischen Bedingungen zugeschrieben. T~kesti ist die größte Ortschaft der Region mit Holzwirtschaft, einem regionalen Wochenmarkt und einer Mittelschule. T~kesti wurde erst nach dem Bolu-Beben errichtet (s. Gründungsbericht S. 185 f.). In den 70er Jahren hatte die Regierung unter Ecevit in verschiedenen Gebieten der Türkei Musterdörfer ausgewiesen, in denen die regionale Wirtschaftsstruktur entwickelt werden sollte. Einer dieser Orte war T~kesti. 11 Hierbei wurden die Nennungen medizinische Infrastruktur, Verkehrs-Infrastruktur, NachrichtenInfrastruktur, Bildungswesen und Wohnungsprobleme berücksichtigt. 12 Angaben über die Arbeitslosenquote unter den jungen Dortbewohnern reichen von 50 Prozent (Dokurcun) bis 90 Prozent (Kanh~ay).

B. Aspekte der Sozialstruktur

173

Landwirtschaft wiederum erfordert, daß ein Teil der Produktion marktförmig tauschbar ist. Das notwendige Geld wird in den subsistenzwirtschaftlich orientierten Dörfern über z. T. saisonabhängige Zweit- und Drittbeschäftigungen oder -berufe erbracht. 13 Hier finden sich auch Übergänge von der Subsistenzproduktion in die Teil- oder Nebenerwerbslandwirtschaft 14 . Für die untersuchten Provinzen insgesamt wird aus den Ergebnissen des Zensus (s. Tabellen S. 381 ff.) deutlich, daß Frauen quantitativ in größerem Umfang in der Landwirtschaft tätig sind als Männer. So können sowohl Mehrfachbeschäftigungen als auch die Beteiligung der Frauen am Erhalt der Subsistenzproduktion als Faktoren angesehen werden, die den Transformationsprozeß erleichtern und abfedern. Nach einer These von Planck (vgl. 1985, S. 15) trug in Deutschland die Mehrfachbeschäftigung während des Industrialisierungsprozesses zur Erhöhung der Tragfllhigkeit des ländlichen Raumes bei. In ländlichen, dünn besiedelte Räumen ist es aufgrund des geringen Marktvolumens und der SaisonalitätlandwirtschaftlicherArbeit, wie schon Adam Smith hervorgehoben hat (vgl. Smith 1776, S. 121 ff.), vielfach schwer, vollwertige Arbeitsplätze zu schaffen, und Bauern und Handwerker sind auf mehrere Tätigkeiten hin ausgerichtet. Mehrfachbeschäftigungen in Kleinbetrieben sind in Asien kein prinzipiell neues Phänomen und eher die Regel als eine Ausnahmeerscheinung (vgl. Kuhnen 1986, S. 227 ff.). Kuhnen unterscheidetindividuelle Erwerbskombinationen und Haushalts-Erwerbskombinationen. Beide Typen sind auch in dem von mir untersuchten Gebiet nachweisbar. Der erste Typus zeigt sich an den Mehrfachnennungen von Berufen, während der zweite Typus entweder eine Arbeitsteilung innerhalb der Familie (zwischen der den Betrieb fortfUhrenden Frau und dem außerhäuslich tätigen Mann oder intergenerationell durch Binnenmigration von erwachsenen Kinder in die Zentren) bedeuten kann. Bei Binnenmigration von Kindem muß die Bindung an die Familie noch so stark sein, daß sie einen Teil ihres Einkommens an den landwirtschaftlichen Haushalt der Eltern abgeben. Umgekehrt erhalten die in die Stadt gewanderten Kinder einen Teil ihres Grundnahrungsmittelbedarfs aus wirtschaftlichen 15 oder sentimentalen Gründen vom landwirtschaftlichen Betrieb der Eltern. Dies ist bei der ersten Migrantengeneration noch häufig der Fall, während sich der Familienzusammenhalt in den

13 Die Problemangabe "Geldmangel" (para stkmttst) verweist auf die Notwendigkeit, Einkommen über Zweit- und Drittberufe zu erwirtschaften, welches z. B. ftlr landwirtschaftliche Investitionen aufgewendet werden kann. 14 Z. B. Übergänge zwischen einer saisonbezogenen Tätigkeit in der Waldarbeit (Holz fl1llen) und einer dauerhaften Beschäftigung in der Holzwirtschaft oder als Kraftfahrer. 15 Yasa (vgl. 1972, S. 583) beschreibt die Austauschbeziehungen zwischen Herkunftsfamilie und Binnenmigranten in Gecekondus.

174

IV. Ausgewählte Aspekte zur Sozialstruktur im Untersuchungsgebiet

Folgegenerationen auch aufgrund der stärkeren Arbeitsteilung reduziert. Nach Kuhneo sind im Zuge der "Grünen Revolution" viele Brunnen und Traktoren über in der Stadt lebende Verwandte finanziert worden (vgl. Kuhneo 1986, S. 230 f.). Neben den durch (saisonale oder sporadische) Mehrfachbeschäftigung erworbenen Nebeneinkünften fließt auch in Gemeinden mit vorherrschender Subsistenzproduktion ein Teil der Einkünfte aus dem Verkauf von Überschüssen auf lokalen Märkten 16 . In den auf überwiegendmonokulturell und daher aufmonetäre Tauschtransaktionen ausgerichteten Gebieten Sakaryas 17 läuft der Verkauf der Produkte überwiegend über Zwischenhändler. Frauen haben bei der Vermarktung über Zwischenhändler kaum Zugang zu dem Verkaufsgeschehen 18 und daher nur einen geringeren Einblick in Umsatz und Wert der von ihnen miterzeugten Produkte. Verkaufüber Zwischenhändler findet im Untersuchungsgebiet vor allem dann statt, wenn überwiegend ftlr den Markt, ggf. in Monokultur (hier vor allem Haselnüsse), produziert wird. Insofern hat auch die Art der erzeugten Produkte etwas damit zu tun, ob und inwiefern Frauen Zugang und partiell auch aktive Möglichkeiten der Teilhabe an öffentlichen Räumen haben,

16 Märkte mit sehr begrenztem räumlichem Einzugsgebiet finden einmal wöchentlich in den Sommermonaten in Dokurcun (Provinz Sakarya) und in T~kesli (Provinz Bolu) statt. Dort beteiligen sich die Bauern der umliegenden Dörfer an einem Obst-, Gemüse- und Kleinviehmarkt als Händler, die auf diesem Markt Überschüsse umsetzen und Bargeld in geringem Umfang erwirtschaften können. Bei der Organisation des Marktstandes arbeiten Frauen und Männer der jeweiligen Dörfer Hand in Hand. Männer, die während der Sommermonate innerhalb der Woche als Waldarbeiter tätig sind, kommen filr den Markttag von den Bergen zurück. Frauen und Männer fahren gemeinsam zum Markt und verkaufen dort ihre Produkte. Obwohl weitgehend filr den Eigenbedarf produziert wird, lassen sich die landwirtschaftlichen Produkte partiell marktilirmig umsetzen. Dies ist insofern von Bedeutung, als Frauen nicht nur subsistenzerhaltend tätig sind, sondern auch an der Produktion filr den Markt teilnehmen. Auch in der Transformation sind sie u. a. über Preise und Mengen verhandelnd tätig, wenn die Produkte marktförmig umgeschlagen werden. Frauen haben hier den Kontakt mit Endverbrauchern, während die Vermarktungswege über Zwischenhändler von Männern kontrolliert werden. 17 Vor allem die Gebiete, in denen Haselnüsse angebaut werden (s. S. 173). 18 Zwischenhändler erscheinen als Fremde (vgl. Simme/1987, S. 64). Verhandlungen mit Fremden werden in der Regel von Männern gefilhrt. Frauen sind daher weitgehend vom Umschlag dieser Produkte in Märkte ausgeschlossen. Die Befragung im Cafehaus eines Dorfes fand nach Beendigung einer Verhandlung von Dorfbewohnern mit Zwischenhändlern statt, die aus dem Zentrum der Provinz (Stadt Adapazar1) gekommen waren. Das Scheitern der Verhandlung ließ sich (nachträglich bestätigt durch Rücldiagen bei den Dorfbewohnem) - in räumlicher Distanz beobachtend und wartend - allein aus den die Unterhaltung begleitenden Gesten gegen Ende des Verkaufsgesprächs und der Weise, wie beide Seiten aufstanden und sich - ohne Handschlag und distanziert wirkend - verabschiedeten, ableiten. Gescheitert war die Verhandlung, weil der filr Haselnüsse angebotene Preis den dörflicherseits Verhandelnden noch nicht hoch genug erschien.

B. Aspekte der Sozialstruktur

175

andererseits auch, ob sie selbst ihre Arbeit teilweise in Marktwerten (Preisen, Gewinnen) benennen können, oder ob diese in der Subsistenzproduktion verborgen bleibt. Die Landwirtschaft des Dorfes wird - bei (vorübergehender) Abwesenheit der Männer oft von den Frauen getragen. Kennzeichnend ist in den Übergangsphasen, daß ein geringerer oder größerer Teil der Subsistenzproduktion von Frauen übernommen wird, während Männer19 das monetäre Einkommen erwirtschaften. Die Subsistenzökonomie verliert je nach erwerbsmäßiger Einbindung der männlichen Bewohner in den Markt an Bedeutung. Bei geringer Einbindung dient sie der Existenzerhaltung, bei stärkerer ermöglicht sie ein bestimmtes Maß an Sicherheit. In diesem Prozeß verlieren Frauen als Produktivkräfte an Bedeutung. Teils geht die Subsistenzökonomie weit über den Rahmen privater Selbstversorgung hinaus. D. h. Einrichtungen des Dorfes (zum Beispiel Schulen, Moscheen, Wasserleitungen und -depots, Straßen und Waschhäuser), deren Fehlen eine unzulängliche Infrastruktur bedeutet, werden in Eigenleistung errichtet. 20 Behördliches Desinteresse fiir die Belange der Dörfer und schleppend arbeitende Verwaltungen fiihren nicht in jedem Fall zum Aufgeben der jeweiligen Ziele. Die Bewohner(innen) können die Behörden wie im dargestellten Beispiel (s. Fußnote) durch die Herstellung materieller Voraussetzungen in Zugzwang bringen und Handlungsbedarf schaffen. Daß solche Interaktions- und Verhandlungsmuster vielfach und bereits über lange Zeiträume erprobt sind, kann wegen der Fülle der von Bewohnern verschiedener Dörfer (vor allem in Bolu) genannten ähnlich gelagerten Vorgehensweisen vermutet werden. 21

19 Bei geringen zusätzlichen Erwerbsmöglichkeiten als Nebenverdienst, hier auch teils noch in Form von Naturalien (Holzkontingent), teils aber auch als monetärer Verdienst. 20 Beispiel: Die Bewohner eines Mahalle hielten den Schulweg ihrer Kinder in eine benachbarte Mahalle im Winter ftlr unzumutbar. Daher ersuchten sie ProvinzbehOrden, in ihrer Mahalle eine Schule zu errichten und einen Lehrer zur Verftlgung zu stellen. Als dies abgelehnt wurde, errichteten sie die Schule in Eigenleistung und benötigten jetzt nur noch eine Lehrerstelle, die ihnen daraufhin zugewiesen wurde. 21 Über die Elektrifizierung eines Ortes in der Provinz Bolu wird eine Geschichte berichtet, die Aufschluß darüber gibt, daß aus Sichtweise der Bewohner vor allem der charismatische Führer in der Lage ist, effizientes Verwaltungshandeln durchzusetzen: Auf die Frage, wann das Dorf elektrifiziert worden sei, antwortete der Befragte: "1978 während der Regierungszeit von Ecevit. 1974 zahlten die Dorfbewohner pro Person (Mann - Anm. EMG) 20 000- 30 000 n: an den Staat, damit elektrischer Strom in das Dorf gebracht werde. Bis 1978 kam die Elektrizität aber nicht. 1978 war Ecevit Premierminister und kam hierhin, und er versprach uns 'Ihr werdet hier innerhalb von 30 Tagen Elektrizität haben' . Und er machte es so, wie er es gesagt hatte. Ecevit hatte eine heftige Diskussion mit dem Manager von TEK (TUrkiye Elektrik Kurumu - Türkischer Stromversarger - Anm. EMG). Der Manager wollte die Einrichtung des

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IV. Ausgewählte Aspekte zur Sozialstruktur im Untersuchungsgebiet

Derartige Fälle dörflicher Eigeninitiative wurden nur in überwiegend subsistenzverhafteten Gemeinden genannt. Vor allem in den westlichen, bereits stärker in den Markt integrierten Gemeinden sind Solidarnetze innerhalb des Dorfes inzwischen häufig soweit aufgebrochen, daß gemeinsames Handeln kaum noch möglich ist. 22 Vielleicht entfiel in den letzten Jahrzehnten auch die Notwendigkeit filr ein solches Vorgehen, und die Orientierung ist bereits weitgehend auf die Bereitstellung von Infrastruktur durch Behörden gerichtet. Dies wird deutlich bei der Beantwortung der an die Dorfvorsteher gerichteten Frage, wie sie im Falle eines Erdbebens (und nachfolgender Brände) handeln würden (siehe Abschnitt V.G.1). Je stärker die Dörfer auf die Bereitstellung von Ressourcen durch Behörden orientiert waren, desto leichter waren die Dorfvorsteher bereit, bei unerwarteten Ereignissen Kompetenzen an übergeordnete Stellen abzutreten oder die Hilfe allein von externen Stellen zu erwarten. Dabei ist allerdings zu beachten, daß das Verweisen des Muhtar auf die Notwendigkeit behördlichen Eingreifens nicht unbedingt Passivität der übrigen Bewohner im Ereignisfall erwarten läßt. Inkompetenz und fehlende Schulung von Dorf- und Stadtteilvorstehern bei einem Handeln in Gefahrensituationen stehen nicht unbedingt stellvertretend filr Kompetenz und Handlungsflihigk:eit der übrigen Bewohner (s. beispielsweise S. 335 f.). Der Transformationsprozeß in der dörflichen Sozialstruktur, der seinen materiellen Niederschlag u. a im Verschwinden von Dorf- und Moscheezimmern und deren Ersatz durch Cafehäuser findet (vgl. Beeley 1970, S. 476), hat einschneidende Begleitumstände: Den Frauen wird partiell öffentlicher Raum entzogen. Die Straße ist nicht mehr überall fiir Frauen gleichmäßig offen; es gibt vor den Cafes Vermeidungszonen. Durch sie werden Höfe segmentierter Kommunikation geschaffen. Männer-Orte sind, solange es keine Cafehäuser gibt, mobil, durch die Cafes gewinnen sie stationären Charakter. Das wäre nicht von erheblicher Bedeutung, wenn den Frauen statt dessen andere Kommunikationsorte zur Verfugung stünden (Arbeitsplatz, etc.), was im ländlichen Raum jedoch nicht der Fall ist. Die Orte, in denen Frauen verstärkt im öffentlichen Raum des Dorfes an solche Schranken stoßen, sind auch filr ihre Befragung nicht mehr zugänglich.

Elektrizitätssystems verhindern, weil er ein Anhllnger der Oppositionspartei war. Der Manager von TEK sagte: 'Wir haben kein Material ftlr diese Arbeit'. Ecevit erwiderte: 'Ich werde diese Materialien von außerhalb importieren und Sie werden dieses System hier einrichten'. Und 20 Tage später war das Elektrizitätssystem installiert". 22 Hier ist auf den u.a. von Even et a/. (1984, S. 98 ff.) beschriebenen generellen Zusammenhang zwischen der Integration tüikischer Dörfer in die Marktökonomie, der Monetarisierung innerdörflicher Sozialbeziehungen und der damit verbundenen Auflösung der Solidarnetze hinzuweisen. Symbolischer Ausdruck ftlr diese Entwicklung ist das Verschwinden der Gastzimmer zugunsten der Cafehäuser.

B. Aspekte der Sozialstruktur

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Nach Geschlecht segmentierte Kommunikationsstrukturen und deren dorfspezifische Unterschiede könnten filr die Warnproblematik bedeutsam sein. Die Frau als Meinungs- und Kommunikationsmultiplikator, wie sie in überwiegend subsistenzorientierten Gebieten noch anzutreffen ist, verliert in marktorientierten Dorfökonomien an Bedeutung. "Gegenöffentlichkeit"zurmedialen Öffentlichkeit wird reduziert und männerdominiert. Damit verändern sich auch die Entscheidungsstrukturen. Struktur und Wandel innerdörflicher Sozialbeziehungen sind darüber hinaus fiir die Gestaltung von erdbebenbezogenen Informations-, Vorhersage- und Warnprozeduren bedeutsam.

3. Ethnien in der Untersuchungsregion Zur Provinz Sakarya und der Stadt Adapazan liegt eine Untersuchung der ethnischen Zusammensetzung(vgl. Eröz I Alpan 1968) vor. Danach war Sakarya zum Zeitpunkt der Bestandsaufnahme eine der heterogensten Provinzen der Türkei. 23 Allerdings hatten von den 361 .992 Einwohnern Sakaryas im Jahr 1960 alle bis auf ca. 11 000 türkisch als Muttersprache. Eröz und Alpan bedauern die starke Assimilation nichttürkischer Ethnien an die nationale Kultur in den letzten 50 - 60 Jahren vor der Untersuchung, die zu einer Reduktion von Möglichkeiten gefilhrt habe. Die Migration nordwestkaukasischer Stämme aus Rußland in die Türkei fand gegen Ende des russisch-osmanischen Krieges in der zweiten Hälfte des 19. Jh. (vgl. Bernatzik 1974, S. 388) und verstärkt nach 1864 statt.24 Die Abchasen

23 Nach Jnandlk (vgl. 1956, S. 34 f.) entstanden alle Dörfer der Region Adapazan nach der ottomanischen Invasion. Bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts waren die Dörfer fast ausschließlich von Türken besiedelt. In den Jahren darauf wurde die Region von zahlreichen griechischen und armenischen Immigranten besiedelt. Im Verlauf von drei Jahrhunderten hatten sie sich in den türkischen Dörfern angesiedelt oder neue Dörfer gegründet. Die Armenier verließen das Gebiet während des ersten Weltkrieges und die Griechen nach 1923. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden von abchasischen, georgischen und tscherkessischen Flüchtlingen aus dem Kaukasus neue Dörfer gegründet. Viele von ihnen siedelten in den türkischen Dörfern, behielten aber ihre Bräuche und ihre typische Siedlungsstruktur bei. Fast alle alten Dörfer der Region dehnten sich aus, und die Bevölkerung nahm um neue Immigranten, die von der Balkanhalbinsel und aus der orientalischen Schwarzmeerregion stammten, zu. 24 Infolge einer Welle russischer Einwanderung nach Aufhebung der Leibeigenschaft (1861) in das Kuhan-Gebiet und den Kaukasus kam es zu Konflikten mit den ansässigen Tscherkessen, wobei letztere von russischen Streitkräften im Mai 1864 besiegt wurden. Zur Vertreibung der Mohammedaner aus den eroberten Gebieten sei 1864 verkündet worden, daß Tscherkessen, die sich nicht binnen eines Monats zur Auswanderung entschlossen hätten, als Kriegsgefangene betrachtet würden. Über 80 Prozent aller Tscherkessen verließen daraufhin ihre Wohngebiete und wanderten in das Osmanische Reich ein (vgl. Wirth 1963, S. 16). 12 Oeenen

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IV. Ausgewählte Aspekte zur Sozialstruktur im Untersuchungsgebiet

aus B1~k1dere gaben z. B. an, 1874 in dieses Gebiet eingewandert zu sein. Sie wechselten von der orthodox-christlichen zur islamischen Religion. 25 Im Jahre 1960 stellten die seit Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem nördlichen Kaukasus in die Türkei ausgewanderten Stämme mit 5520 fast die Hälfte der Bewohner mit einer anderen Muttersprache als türkisch. In der Statistik über Adapazan wird erwähnt, daß 11.478 Einwohner 14 verschiedene Sprachen sprechen (s. Tab. 8). Die Zahlen fUr 1965 würden ein ähnliches Ergebnis zeigen (Bk. lstatistik Enstitüsü'nün 1960 Nüfus Say1m1, nach Eröz I Alpan 1968).

Tab. 8: Ethnien mit nicht-türkischer Muttersprache in Sakarya Diller

Sprachen

1960

1965

Frauen*

Insg.

1014

709

Arabisch

19

6

Arnavut~a

Albanisch

850

396

Bo~nak~a

Bosnisch

2492

1459

lcr (Mob.) Bewohner Goven~cr (Dorf) (~1Govm~

MuhIM

341133

I!Jydarlar (Dorf)

MuhiM

126"120~

Mah.)

I!Jydarlar (Mall.)

lnsges.

Fraum

M>nncr

8

6

12

'

80

36l

182

172

120

60

100

65

400

'"

Ignccilc:r (Dorf)

Muhlar

383/331

371

120

lgnedlcr (Dorf)

Bewohner

F+K=225

67

119

61

ISO

389

Muhlar

31

lgnedlcr (Mall.)

Muhlar

30

Akp~ßr9rl