Sozialontologie in der Perspektive des deutschen Idealismus: Ansätze, Rezeptionen, Probleme 9783110572735, 9783110571134

The ontology of the social enquires after the irreducible constitution of the social dimension of human existence. The p

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German Pages 266 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Die moderne Sozialontologie und ihr historischer Hintergrund
Naturrecht, Künstlichkeit und die Sozialontologie moralischer Grundnormen
In sozialontologischer Absicht: Kants Weltbegriff des Menschen und seine Zuschärfung bei Heidegger
Pluralsubjektivität – „Fichtes ursprüngliche Einsicht“ und die Ontologie der Gemeinschaft
Soziale Gemeinschaft und absoluter Geist
Hegel über Sozialontologie und die Möglichkeit sozialer Pathologien
Der ontologische Status des Betriebs in den aktualisierten Grundlinien der Philosophie des Rechts
Von Hegel zu Marx und zurück – zwei Entwürfe einer normativen Ontologie der menschlichen Lebensform
Organisation – philosophische Exposition eines sozialwissenschaftlichen Grundbegriffs
Grundformen des kooperativen Handelns als Themen philosophisch reflektierter Sozialwissenschaft
Autoreninformationen
Namenregister
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Sozialontologie in der Perspektive des deutschen Idealismus: Ansätze, Rezeptionen, Probleme
 9783110572735, 9783110571134

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Stephan Zimmermann/Christian Krijnen (Hg.) Sozialontologie in der Perspektive des deutschen Idealismus

Sozialontologie in der Perspektive des deutschen Idealismus Ansätze, Rezeptionen, Probleme Herausgegeben von Stephan Zimmermann und Christian Krijnen

ISBN 978-3-11-057113-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-057273-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-057139-4 Library of Congress Control Number: 2018937502 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston www.degruyter.com

Inhalt Stephan Zimmermann und Christian Krijnen Einleitung VII Theo Kobusch Die moderne Sozialontologie und ihr historischer Hintergrund

1

Kenneth R. Westphal Naturrecht, Künstlichkeit und die Sozialontologie moralischer Grundnormen 21 Stephan Zimmermann In sozialontologischer Absicht: Kants Weltbegriff des Menschen und seine 41 Zuschärfung bei Heidegger Hans Bernhard Schmid Pluralsubjektivität – „Fichtes ursprüngliche Einsicht“ und die Ontologie der 75 Gemeinschaft Guido Kreis Soziale Gemeinschaft und absoluter Geist

93

Frederick Neuhouser Hegel über Sozialontologie und die Möglichkeit sozialer Pathologien

119

Paul Cobben Der ontologische Status des Betriebs in den aktualisierten Grundlinien der Philosophie des Rechts 141 Heikki Ikäheimo Von Hegel zu Marx und zurück – zwei Entwürfe einer normativen Ontologie der menschlichen Lebensform 161 Christian Krijnen Organisation – philosophische Exposition eines sozialwissenschaftlichen Grundbegriffs 185

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Inhalt

Pirmin Stekeler-Weithofer Grundformen des kooperativen Handelns als Themen philosophisch 223 reflektierter Sozialwissenschaft Autoreninformationen Namenregister

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Stephan Zimmermann und Christian Krijnen

Einleitung Zeitgenössische theoretische Versuche zur Sozialontologie nehmen ihren Ausgang zumeist vor dem Hintergrund der systematischen Fragestellung, ob und, wenn ja, unter welchen Bedingungen soziale Entitäten von einer vollständigen Naturalisierung ausgenommen sind. Weist die gesellschaftliche Dimension des menschlichen Daseins eine eigene, irreduzible Struktur auf, so dass sich in der Folge die Sozialwissenschaften prinzipiell von den Naturwissenschaften durch die spezifische Eigenart ihres Gegenstandsbereichs unterschieden wissen dürfen? Damit wird eine Debatte aufgegriffen und in neuer Weise geführt, die naturgemäß schon in der Gründungszeit der Soziologie als einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin im 19. und frühen 20. Jahrhundert aufgekommen ist. Auslöser der laufenden Diskussion war ein Aufsatz von J. R. Searle aus dem Jahre 1990, in dem dieser vorgeschlagen hat, die Ontologie des Sozialen auf den Begriff der collective intentionality aufzubauen.¹ Die Rede von kollektiver Intentionalität hatte dabei zunächst eine praktische Stoßrichtung. Im Zentrum nämlich stand das Problem, wie gemeinsames Handeln angemessen begrifflich zu fassen ist. Wodurch unterscheidet sich das einsame Tun eines Einzelnen vom gemeinschaftlichen Tun mit anderen? Zwei oder mehr Personen können ja nicht nur zufällig auf dasselbe gerichtet oder nebeneinanderher tätig sein; sie können, was sie tun, auch absichtlich gemeinsam tun. Dank H. B. Schmid und D. Schweikhard liegen die maßgeblichen englischsprachigen Aufsätze mittlerweile gesammelt und in deutscher Übersetzung vor.² Die gegenwärtige Debatte will dabei jedoch zugleich einen Beitrag zur philosophischen Explikation der Grundverfassung des Sozialen überhaupt leisten. Infrage stehen wohlgemerkt nicht bereits die Bedingungen gelungener Vergesellschaftung oder einer gerechten Einrichtung der Gesellschaft, wie dies beispielsweise das Anerkennungsdenken im Gefolge der Kritischen Theorie und unter produktiver Aufnahme insbesondere Hegel’scher Ideen tut.³ Insofern die

 Vgl. Searle, John R.: Collective Intentions and Actions, in: Cohen, Philip R./Morgan, Jerry/Pollack, Martha E. (Hg.): Intentions in Communication, Cambridge, Mass. 1990, S. 401– 415.  Vgl. Schmid, Hans B./Schweikard, David P. (Hg.): Kollektive Intentionalität. Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen, Frankfurt a. M. 2009.  Vgl. Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 1992; Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Berlin 2010; The Pathologies of Individual Freedom. Hegel’s Social Theory, Princeton, N. J. 2010; Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2011. https://doi.org/10.1515/9783110572735-001

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Fähigkeit, mit anderen Menschen koordiniert Aufgaben anzugehen und sich in gemeinsamen Unternehmungen zu engagieren, mit zum begrifflichen Bestand dessen gehört, was uns als vergesellschaftete Wesen auszeichnet, stellt die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen weitreichende Konsequenzen für die Sozialontologie im Ganzen in Aussicht, es mag sich dabei um gerechte oder ungerechte, faire oder unfaire, versöhnte oder unversöhnte gesellschaftliche Verhältnisse handeln. Dazu liegen inzwischen viel beachtete Arbeiten u. a. von M. Gilbert⁴ und R. Tuomela⁵ vor. Ontologie des Sozialen lässt sich verstehen als das Unterfangen, das allen thematischen Gegenständen der empirischen Sozialwissenschaften zugrunde liegende Sachgebiet zu einem begrifflichen Verständnis zu bringen. Wenn sich jedoch das Bedürfnis nach einer Konzeptualisierung des Sozialen als solchen auch folgerichtig innerhalb der Selbstverständigung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisinteressen einstellt, ist damit freilich nicht gesagt, dass es sich ausschließlich hier einstellt. Das macht bereits der Umstand deutlich, dass die philosophische Auseinandersetzung mittlerweile in benachbarte wissenschaftliche Disziplinen wie die Politologie, Entwicklungspsychologie und Kognitionswissenschaft übergegriffen und zu fruchtbaren Erörterungen geführt hat. Und kollektive Intentionalität soll die gesuchte Eigenstruktur des Sozialen abgeben, die sich nicht oder nicht vollends naturalistisch auffassen lässt: die notwendige und hinreichende Bedingung dafür, dass etwas etwas Soziales ist. Sozial soll demnach dasjenige sein, was entweder selber eine kollektive Intention ist oder doch in irgendeiner Weise auf eine solche bezogen ist. Der vorliegende Band will diese Kontroverse aufgreifen und weiter vorantreiben dadurch, dass er die geschichtliche Quellenlage erweitert. Denn richtungweisend für die Beschäftigung mit der Sache kollektiver Intentionalität und den Grundlagen des Sozialen war bislang ihre Herkunft aus der analytischen Handlungstheorie der 1950er bis 1970er Jahre.⁶ Abgesehen von einigen wenigen begrüßenswerten Bezugnahmen, beispielsweise Gilberts Rezeption von G. Simmels Analyse des Gesellschaftsbegriffs⁷ oder P. Pettits kritische Beschäftigung mit

 Vgl. Gilbert, Margaret: On Social Facts, London/New York 1989.  Vgl. Tuomela, Raimo/Miller, Kaarlo: We-Intentions, in: Philosophical Studies 53 (1988), S. 367– 389; Tuomela, Raimo: The Importance of Us: A Philosophical Study of Basic Social Notions, Stanford 1995; Joint Intention and Commitment, in: Meggle, Georg (Hg.): Social Facts and Collective Intentionality, Frankfurt a. M. 2002, S. 385 – 418; The Philosophy of Social Practices: A Collective Acceptance View, Cambridge 2002.  Vgl. Meggle, Georg/Beckermann, Ansgar (Hg.): Analytische Handlungstheorie, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1985; White, Alan R. (Hg.): The Philosophy of Action, Oxford 1968.  Vgl. Gilbert, Margaret: On Social Facts, a.a.O., S. 146 – 236.

Einleitung

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É. Durkheim,⁸ scheinen sich viele Autoren Searles Verdacht anzuschließen, wonach die soziologischen Klassiker, namentlich Durkheim, Simmel, M. Weber und A. Schütz, aber auch solche der Philosophie, von J.-J. Rousseau über D. Hume bis zurück zu Aristoteles, kaum bis kein Potenzial für sozialontologische Entwürfe auf der Höhe der Zeit enthielten.⁹ Schmid hat demgegenüber vollkommen zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass der Mangel an Einbeziehung größerer soziologie- und philosophiehistorischer Zusammenhänge zu wesentlichen sachlichen Einseitigkeiten in der gegenwärtigen Diskussion führt, was er selber eindrucksvoll anhand seiner Heidegger-Rezeption demonstriert. Muss sich doch jedes ernsthafte Nachdenken mit einschlägigen Auffassungen der Vergangenheit befassen und durch sie ebenso herausgefordert wie belehrbar wissen.¹⁰ So sind etwa auch die systematischen Überlegungen, die im Umfeld der klassischen deutschen Philosophie angestellt worden sind, bis dato kaum im Hinblick auf ihre Erklärungskraft für die Problemstellung der Sozialontologie gewürdigt worden. Der deutsche Idealismus lebt derzeit vornehmlich in englischsprachigen erkenntnistheoretischen Debatten wieder auf. In der Auseinandersetzung um kollektive Intentionalität und die fundamentale Verfasstheit des Sozialen indes hat er bislang keine nennenswerte Rolle gespielt – wenn man einmal von der weithin beliebten, aber haltlosen Missdeutung absieht, G. W. F. Hegel habe mit seinem Begriff des objektiven bzw. absoluten Geistes dem Schreckgespenst eines überindividuellen Kollektivsubjekts das Wort geredet.¹¹ Das ist aus mehrerlei Gründen überraschend. Wohl handelt es sich bei dem Ausdruck ‚Sozialontologie‘ um eine Begriffsbildung jüngeren Datums, die im deutschen Sprachraum zum ersten Mal M. Theunissen, ein international renommierter Kenner des deutschen Idealismus, in seiner Monographie Der Andere aus dem Jahr 1965 verwendet.¹² Der Sache nach fällt darunter jedoch etwa auch die

 Siehe dazu insbesondere Pettit, Philip: The Common Mind. An Essay on Psychology, Society, and Politics, New York/Oxford 21996, Kap. 2.  Vgl. Searle, John. R.: Social Ontology. Some Basic Principles, in: Anthropological Theory 6 (2004), S. 14.  Vgl. Schmid, Hans B.: Wir-Intentionalität: Kritik des ontologischen Individualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft, Freiburg 2005.  Siehe etwa Searle, John R.: The Construction of Social Reality, New York 1995, S. 36; Pettit, Philip: The Common Mind. An Essay on Psychology, Society, and Politics, a.a.O., S. 126, 167 f., 307; Tuomela, Raimo: Social Ontology. Collective Intentionality and Group Agents, Oxford 2013, S. 4.  Vgl. Theunissen, Michael: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1965. Siehe in der Folge Kondylis, Panajotis: Das Politische und der Mensch. Grundzüge der Sozialontologie, Bd. 1: Soziale Beziehung, Verstehen, Rationalität, Berlin 1999; Jansen, Ludger: Was ist Sozialontologie?, in: Neumaier, Otto/Sedmak, Clemens/Zichy, Michael (Hg.): Philosophische Perspektiven, Frankfurt a. M./Lancaster 2005, S. 279 – 284; Scholz, Oliver R.: Sozialontologie, in:

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weit verbreitete und prominente anerkennungstheoretische Strömung, welche versucht, Hegels Philosophie des Geistes für ethische Überlegungen (in der Sozialphilosophie) oder für die Analyse der Grammatik sozialer Konflikte (in der politischen Philosophie) anschlussfähig zu machen. Inwieweit die Figur der Anerkennung auch und womöglich sogar primär als eine sozialontologische gedacht werden kann, haben jüngst H. Ikaheimo und C. Krijnen thematisiert.¹³ Hegel als Sozialphilosophen zu lesen, dafür hat bereits K. Mayer-Moreau einen nach wie vor wichtigen Anstoß gegeben.¹⁴ Überdies ist J. G. Fichte in die sozialontologische Diskussion einzubinden. Und das nicht lediglich als derjenige Autor, der diese Gedankenfigur der Anerkennung überhaupt erst im Rahmen seiner naturrechtlichen Überlegungen in den philosophischen Diskurs eingeführt hat. Sondern weil er zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie nicht weniger als eine apriorische Deduktion der sozialen Daseinsweise des Menschen vorzulegen scheint. In seiner Grundlage des Naturrechts von 1796 leitet er den Begriff des Rechts in Übereinstimmung mit den Prinzipien seiner Wissenschaftslehre aus dem Bewusstsein des Menschen ab. Man hat das als Entdeckung der unserer Subjektivität wesenhaft einliegenden Intersubjektivität, als Einbruch gesellschaftlichen Denkens in die nachkantische Philosophie gelobt. Gemäß W. Weischedel beispielsweise mache Fichte dort „den Menschen als ursprünglich soziales Wesen“¹⁵ einsichtig.¹⁶ Und schließlich hat I. Kant, Inspirator des nachfolgenden deutschen Idealismus, die Sache des Sozialen nicht nur an einschlägiger Stelle mitgedacht, nämlich im Kontext seiner Moral- und politischen Philosophie. In anderen Schriften, die jenseits des streng geformten Denkens der drei Kritiken liegen wie z. B. seine Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, bedient er sich eines anthropologischen Begriffs der Welt, als welche er hier den Menschen selbst und dessen Miteinandersein mit seinesgleichen anspricht. Allerdings bleibt dieser Weltbegriff des Menschen bei Kant unausgearbeitet; und er hat in eins damit auch den Ein-

Gosepath, Stefan/Hinsch, Wilfried/Rössler, Beate (Hg.): Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Berlin 2008, S. 1229 – 1234.  Vgl. Ikaheimo, Heikki/Laitinen, Arto (Hg.): Recognition and Social Ontology, Leiden/Boston 2011; Krijnen, Christian (Hg.): Recognition. German Idealism as an Ongoing Challenge, Leiden/ Boston 2014.  Vgl. Mayer-Moreau, Karl: Hegels Sozialphilosophie, Tübingen 1910. Zu Versuchen, Hegels Sozialphilosophie herauszuarbeiten, Krijnen, Christian: The Very Idea of Organization. Social Ontology Today: Kantian and Hegelian Reconsiderations, Leiden/Boston 2015.  Weischedel, Wilhelm: Der Aufbruch der Freiheit zur Gemeinschaft. Studien zur Philosophie des jungen Fichte, Leipzig 1939, S. 122.  Vgl. Weber, Marianne: Fichteʼs Sozialismus und sein Verhältnis zur Marxʼschen Doktrin, Tübingen 1900, S. 28 ff.

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schlag von Sozialem, der in diesem liegt, nicht weiter verfolgt im Hinblick auf das Gebiet der Transzendentalphilosophie im Ganzen, wie bereits M. Heidegger zutreffend diagnostiziert.¹⁷ Der vorliegende Band versammelt Stimmen von einschlägig ausgewiesenen nationalen wie internationalen Experten und Nachwuchswissenschaftlern, um die verschiedenen Konzeptualisierungsstrategien des Sozialen in der Philosophie des deutschen Idealismus historisch wie systematisch mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen für die laufende Debatte über Sozialontologie auszuloten und nutzbar zu machen. Insbesondere Kant, Fichte und Hegel werden als gewinnbringende Anlaufstellen für sozialontologische Überlegungen erschlossen. In der Phase, in der sich die Sozialwissenschaften herausgebildet haben, waren sie es ohnehin für die Neukantianer und die Gründungsväter der Soziologie wie Durkheim, Simmel und Weber. Insgesamt ist es eines der vordringlichen Ziele aller hier vertretenen Autoren, durch Rückgriff auf die Philosophie des deutschen Idealismus der gegenwärtigen Diskussion neue, grundlegende Denkimpulse zu geben, um einen Begriff des Sozialen in Aussicht zu stellen, der komplexer und damit problemreicher ist als der des in der gegenwärtigen Debatte federführenden individualistischen Ansatzes, der bereits als verfehlter „Mythos des Singulären“ entlarvt wurde.¹⁸ Was sich aus der klassischen deutschen Philosophie lernen lässt, kann man kurzerhand dahingehend zusammenfassen, dass das Soziale keineswegs auf kollektive Intentionen beschränkt bleibt, wenn dieses auch eine veritable Erscheinungsform gesellschaftlicher Zusammenhänge darstellt. Gemeinsam geteilte Handlungsabsichten sind keineswegs die einzige Art und Weise, wie sich Gemeinsamkeit mit anderen im Leben von Menschen geltend macht. Theo Kobusch geht in seinem Beitrag „Die moderne Sozialontologie und ihr historischer Hintergrund“ von der Beobachtung aus, dass jene, namentlich im Werk von Searle, mit dem Anspruch auftritt, einen neuen Bereich menschlicher Wirklichkeit zu erschließen: den Bereich der sog. sozialen oder institutionellen Tatsachen bzw. Sachverhalte. Dagegen legt Kobusch offen, dass und inwiefern die Hauptthesen der gegenwärtigen Ontologie des Sozialen die traditionelle Lehre von den entia moralia aufgenommen und zugleich in bestimmter Weise verengt hat. Es sind gerade die tragenden Säulen der neuzeitlichen Sozialontologie, nämlich die Theorie der Sprechakte, der Performative, der Intentionalität einschließlich der kollektiven Intentionalität und nicht zuletzt der institutionellen  Vgl. Heidegger, Martin: Vom Wesen des Grundes, in: Wegmarken, GA 9, Frankfurt a. M. 92004, S. 147 ff.; Einleitung in die Philosophie, GA 27, Frankfurt a. M. 22001, S. 248 ff.  Vgl. Schweikard, David P.: Der Mythos des Singulären. Eine Untersuchung der Struktur kollektiven Handelns, Paderborn 2011.

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Sachverhalte selbst, die in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ontologie der entia moralia vorgebildet sind – ohne dass die analytische Ontologie des Sozialen ein Bewusstsein dafür entwickelt hätte, aus welcher historischen Quelle sie da unbewusst getrunken hat. Wie Kenneth R. Westphal unter dem Titel „Naturrecht, Künstlichkeit und die Sozialontologie moralischer Grundnormen“ darlegt, wird heute weithin unterstellt oder angenommen, dass moralische Grundnormen, wenn sie etwas von Menschen Gemachtes sind, konventionell und damit arbiträr seien. Im Gegenzug heißt das, dass strikt objektive, universal gültige Normen irgendeine Form von Realismus verlangen. Kants kritische Moralphilosophie lässt diese Vorstellung jedoch als verfehlt erkennen: Selbst wenn moralische Grundnormen gemacht sind, können sie sehr wohl universal notwendig sein für menschliche, und d. h. endliche, semirationale, Akteure. Denn Kant stellt einen moralischen Konstruktivismus bereit, der die Schwierigkeiten des Relativismus bzw. Skeptizismus umgeht, indem er sich auf dasjenige beruft, was Kant ‚praktische Anthropologie‘ nennt: das Inventar unserer basalen physiologischen und kognitiven Vermögen. Kant vermeidet Varianten von moralischem Konventionalismus und Relativismus, die in gegenwärtigen Spielarten des moralischen Konstruktivismus zu finden sind. Westphal legt dar, dass sich infolgedessen durchaus eine Ontologie des Sozialen aufrechterhalten lässt, die nicht auf die Objektivität oder universale Gültigkeit moralischer Grundnormen zu verzichten braucht. Stephan Zimmermann versteht in seinem Beitrag „In sozialontologischer Absicht: Kants Weltbegriff des Menschen und seine Zuschärfung bei Heidegger“ die Fragestellung der Ontologie des Sozialen als Frage danach, was das Soziale selbst und im Allgemeinen darstellt. Gibt es eine Bedingung dafür, dass etwas etwas Soziales ist, die nicht bloß eine notwendige, sondern darüber hinaus eine hinreichende und so für sämtliche Fälle ein und dieselbe ist? Eine geschichtliche Perspektive, an die sich anknüpfen lässt, um einen sachlichen Beitrag zur Lösung dieses Problems zu leisten, versprechen Kants Weltbegriff des Menschen und dessen Zuschärfung bei Heidegger. Der erstere findet sich hauptsächlich in Kants später Schrift Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), und die letztere lässt sich besonders eindringlich anhand von Heideggers Vorlesung Einleitung in die Philosophie (1928/29) dokumentieren, wo dieser seinen eigenen Begriff von Welt im Anschluss an Kant entwickelt. Der Ertrag für die Sozialontologie besteht darin, dass der Rückgriff auf das menschliche Bewusstsein, welches derzeit die Rahmenvorstellung hergibt, in deren Blickbahn sich die Konzeptualisierung des Sozialen bewegt, zu kurz greift. Hans Bernhard Schmid geht in seinem Aufsatz „Pluralsubjektivität – „Fichtes ursprüngliche Einsicht“ und die Ontologie der Gemeinschaft“ Möglichkeiten

Einleitung

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nach, Gemeinschaften als intentionale Subjekte zu denken. Das Verhältnis von Subjektivität und Gemeinschaft ist ja von gewissen Spannungen gezeichnet. Subjektivität wird für gewöhnlich mit so etwas wie Freiheit, Vernunft, Individualität und Selbstverwirklichung assoziiert, und es ist nicht ohne Weiteres klar, welchen Platz Gemeinschaft in einer Welt haben kann, wo ‚Subjektivität‘ die Hauptrolle spielt im menschlichen Selbstverständnis. Wer Freiheit bloß als Sache des Einzelnen begreift, dem erscheint Gemeinschaft leicht als bloßer Hort von Zwang; wo Vernunft als Selbstdenken nur des Individuums angesetzt wird, droht, Gemeinschaft nur als Quelle ungeprüfter Vorurteile in den Blick zu geraten; und wenn der Kompass der Lebensführung ausschließlich im Inneren der Person vermutet wird, wirkt Gemeinschaft schnell wie ein ausschließliches Hindernis. Schmid argumentiert indessen, dass der aussichtsreichste Weg, Gemeinschaften als intentionale Subjekte zu denken, in einer Pluralversion von „Fichtes ursprünglicher Einsicht“ besteht: dass sie derlei Subjekte vermöge des pluralen, vorreflexiven Selbstbewusstseins ihrer Mitglieder sind. Guido Kreis geht in seinem Beitrag „Soziale Gemeinschaft und absoluter Geist“ der Sozialphilosophie Hegels nach. Jene hat ihren systematischen Ort in den Abschnitten der Enzyklopädie zum objektiven Geist. Der objektive Geist vollzieht allerdings einen Übergang in den absoluten Geist, welch letzterer die Wahrheit des ersteren ausmachen soll. Das mag die Bedenklichkeit wecken, Hegels Theorie sozialer Freiheit sei allenfalls um den Preis einer transzendenten Metaphysik des Absoluten zu verteidigen. Kreis legt jedoch dar, dass dem ganz und gar nicht so ist. Er bietet eine alternative Lesart von Hegels Begriff des absoluten Geistes an. Erstens verfolgt er diesen Begriff bis zu seinen Wurzeln im subjektiven und objektiven Geist zurück. Zweitens zeigt er auf, dass der absolute Geist bestimmte Formen der Selbstreflexion, in der Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft ihre eigene Freiheit zum ausdrücklichen Thema machen, erweitert zu einer Art universalen Selbstreflexion, in der wir als Philosophen die Grundbestimmungen unseres Begriffsschemas explizit thematisieren. Und drittens diskutiert er, wie solche universale Selbstreflexion offenlegt, dass menschliche Subjekte in einem absoluten Sinne frei, d. h. durch keine Art von Ansich beschränkt, sind. Dieses Bewusstsein absoluter Freiheit fügt unserem Selbstverständnis, dem zufolge wir sozial und politisch frei sind, einen grundlegenden und unverzichtbaren Aspekt hinzu. Frederick Neuhouser untersucht unter der Überschrift „Hegel über Sozialontologie und die Möglichkeit sozialer Pathologien“ die theoretischen Möglichkeiten, welche Hegels Philosophie bietet, um eine überzeugende Konzeption gesellschaftlicher Pathologien zu erarbeiten. Seine These ist im Kern die, dass jene Möglichkeiten allein dann zutage treten, wenn vorher Hegels Ontologie des Sozialen, d. h. seine Auffassung davon geklärt ist, was die menschliche Gesellschaft,

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als Erscheinung des objektiven Geistes, ausmacht. Der Schlüssel für diese Klärung liegt im Verständnis der grundlegenden Analogie, die Hegel zwischen Geist (einschließlich der menschlichen Gesellschaft) und Leben zieht, und zwar insbesondere mit Betracht auf deren jeweilige ,Funktionen‘. Im Zuge dessen ist es unerlässlich, auch die Rücksichten zu analysieren, in denen sich das soziale Leben, als Erscheinungsform des Geistes, vom bloßen Leben unterscheidet, vor allem weil die Mitglieder menschlicher Gesellschaft bewusste Akteure und daher zu einer Reflexivität imstande sind, welche nichtmenschlichem Leben abgeht. Die Art sozialer Pathologien, die Neuhouser dabei in den Mittelpunkt seiner Überlegungen rückt, stellt sich dann ein, wenn es menschlichen Subjekten nicht gelingt, die grundlegende elementare Opposition zwischen geistigem und bloß tierischem Leben zu ertragen respektive auszugleichen. Sie vermögen, anders gesagt, nicht, ihre Zwecke als lebende Wesen zur Deckung zu bringen mit dem höheren Zweck ihrer Freiheit. Paul Cobben untersucht in seinem Aufsatz „Der ontologische Status des Betriebs in den aktualisierten Grundlinien der Philosophie des Rechts“, unter welchen Voraussetzungen die selbstbewusste Bestimmung zu einem guten Leben sich verbinden lässt mit der Faktizität eines freien Marktes. Das bedeutet erstens, dass die subjektive Autonomie der Akteure im System des freien Marktes verkörpert sein und Teil jenes heteronomen Gesetzes werden muss, dem dieser untersteht, dem Gesetz des Marktes. Dafür jedoch muss der freie Markt zweitens Institutionen ausbilden, welche die Realisierung eines guten Lebens ermöglichen. Obwohl Hegels Begriff der Korporation auf solch vermittelnde Institutionen abstellt, vermag er doch die Gefahr eines entfremdenden (K. Marx) oder die Lebenswelt kolonialisierenden (J. Habermas) freien Marktes nicht abzuwenden. Cobben entwickelt diejenigen normativen Bedingungen, die Betriebe für eine derartige Rolle qualifizieren. Das zentrale Problem besteht darin, die Rationalisierung des Arbeitslebens dergestalt zu denken, dass kein Arbeitnehmer ausgeschlossen und durch Maschinen ersetzt wird. Automatisierung sollte stattdessen zur Weiterbildung der Arbeitnehmer führen. Unter dem Titel „Von Hegel zu Marx und zurück – zwei Entwürfe einer normativen Ontologie der menschlichen Lebensform“ erläutert und vergleicht Heikki Ikäheimo anhand des reifen Hegel sowie des jungen Marx zwei theoretische Ansätze für eine normative bzw. evaluative Ontologie menschlicher Lebensformen. Genauer gesagt setzt sich Ikäheimo mit der Rolle auseinander, welche die Ideen der Anerkennung und der konkreten Freiheit im Denken der beiden besagten Autoren spielen, einer expliziten Rolle im Falle Hegels und einer mehr nur impliziten Rolle bei Marx. Es stellt sich dabei im Ergebnis einerseits heraus, dass Marxens Konzeption der von Hegel weitaus näher liegt, als es auf Anhieb scheinen möchte oder dieser selber gesehen hat. Aber andererseits zeigt sich auch,

Einleitung

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dass Marxens Ontologie in entscheidenden Aspekten ärmer ausfällt als die von Hegel. In seinem Beitrag „Organisation – philosophische Exposition eines sozialwissenschaftlichen Grundbegriffs“ legt Christian Krijnen dar, dass die gegenwärtige Debatte über die sozialontologischen Grundlagen von Organisationen aus methodologischen Gründen ungenügend ist, um das Phänomen der Organisation begrifflich zu fassen zu bekommen. Die ursprüngliche Bestimmtheit von Organisation bleibt hier implizit vorausgesetzt. Um sie explizit machen zu können – und damit, was eine Organisation ausmacht –, ist eine andere, umfassendere und tiefer gehende Methodologie vonnöten. Krijnen zufolge stellt die Philosophie des deutschen Idealismus eine solche Methodologie zur Verfügung. Allerdings sind Organisationen im organisationswissenschaftlichen Sinne kein Thema in der klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel sowie dem Neukantianismus bis hin zur Transzendentalphilosophie der Gegenwart. Die Herausforderung besteht demzufolge darin, den Begriff der Organisation allererst in idealistischer Blickstellung zu konstruieren: in der Perspektive der Vernunft und damit der Freiheit. Das führt auf einen neuen begrifflichen Rahmen, innerhalb dessen die Erscheinung der Organisation in Theorie und Praxis zu handhaben ist. Krijnens Überlegungen, die sich auf methodologische Aspekte beschränken, entfalten ebendiese Idee der Organisation vom Standpunkt der Philosophie Hegels. Pirmin Stekeler-Weithofer schließlich widmet sich den „Grundformen des kooperativen Handelns als Themen philosophisch reflektierter Sozialwissenschaft“. Er zeigt, dass der den methodologischen Individualismus in der Sozialtheorie beherrschende Mainstream an einer doppelten Schwäche leidet. Er vernachlässigt den Unterschied zwischen dem distributiven und dem generischen Gebrauch des Wortes ‚wir‘. Im distributiven Sinne tun wir x oder haben die Eigenschaft y, wenn alle oder die meisten von uns x tun bzw. die Eigenschaft y haben; im generischen Sinn tun wir x oder haben die Eigenschaft y, wenn die entsprechende Institution oder ein repräsentativer Teil von uns x tut bzw. die Eigenschaft y hat. Dieser Mangel führt im Ergebnis zu dem verfehlten Vorwurf, eine transzendentale Analyse dessen, was es heißt, ein personales Subjekt zu sein, belaufe sich auf einen Kollektivismus. Doch eine Gesellschaft ist keine Gruppe menschlicher Individuen und ein Staat nicht ihre Organisation. Wie Stekeler-Weithofer argumentiert, sind wir stattdessen freie Personen nur dank gesellschaftlicher Institutionen und Traditionen der Bildung und Ausbildung des Einzelnen. Wir sind freie Bürger in einer freien Gesellschaft, sofern der Staat hinreichend gut eingerichtet ist.

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Einleitung

Literatur Gilbert, Margaret: On Social Facts, London/New York 1989. Heidegger, Martin: Vom Wesen des Grundes (1929), in: Wegmarken, GA 9, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 92004, S. 123 – 176. Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), GA 27, hg. von Otto Saame und Ina Saame-Speidel, Frankfurt a. M. 1996. Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 1992. Honneth, Axel: Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Berlin 2010. Honneth, Axel: The Pathologies of Individual Freedom. Hegel’s Social Theory, Princeton, N.J. 2010. Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2011. Ikaheimo, Heikki/Laitinen, Arto (Hg.): Recognition and Social Ontology, Social and Critical Theory 11, Leiden/Boston 2011. Jansen, Ludger: Was ist Sozialontologie?, in: Neumaier, Otto/Sedmak, Clemens/Zichy, Michael (Hg.): Philosophische Perspektiven, Frankfurt a. M./Lancaster 2005, S. 279 – 284. Kondylis, Panajotis: Das Politische und der Mensch. Grundzüge der Sozialontologie, Bd. 1: Soziale Beziehung, Verstehen, Rationalität, hg. von Falk Horst, Berlin 1999. Krijnen, Christian (Hg.): Recognition. German Idealism as an Ongoing Challenge, Critical Studies in German Idealism 10, Leiden/Boston 2014. Mayer-Moreau, Karl: Hegels Sozialphilosophie, Tübingen 1910. Meggle, Georg/Beckermann, Ansgar (Hg.): Analytische Handlungstheorie, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1985. Pettit, Philip: The Common Mind. An Essay on Psychology, Society, and Politics, New York/Oxford 21996. Schmid, Hans B.: Wir-Intentionalität: Kritik des ontologischen Individualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft, Alber-Reihe Praktische Philosophie 75, Freiburg 2005. Schmid, Hans B./Schweikard, David P. (Hg.): Kollektive Intentionalität. Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen, Frankfurt a. M. 2009. Scholz, Oliver R.: Sozialontologie, in: Gosepath, Stefan/Hinsch, Wilfried/Rössler, Beate (Hg.): Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Berlin 2008, S. 1229 – 1234. Schweikard, David P.: Der Mythos des Singulären. Eine Untersuchung der Struktur kollektiven Handelns, Paderborn 2011. Searle, John R.: Collective Intentions and Actions, in: Cohen, Philip R./Morgan, Jerry/Pollack, Martha E. (Hg.): Intentions in Communication, Cambridge, Mass. 1990, S. 401 – 415. Searle, John R.: The Construction of Social Reality, New York 1995. Searle, John R.: Social Ontology. Some Basic Principles, in: Anthropological Theory 6 (2004), S. 12 – 29. Theunissen, Michael: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1965. Tuomela, Raimo: The Importance of Us. A Philosophical Study of Basic Social Notions, Stanford 1995. Tuomela, Raimo: Joint Intention and Commitment, in: Meggle, Georg (Hg.): Social Facts and Collective Intentionality, Frankfurt a. M. 2002, S. 385 – 418.

Einleitung

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Tuomela, Raimo: The Philosophy of Social Practices. A Collective Acceptance View, Cambridge 2002. Tuomela, Raimo: Social Ontology. Collective Intentionality and Group Agents, Oxford 2013. Tuomela, Raimo/Miller, Kaarlo: We-Intentions, in: Philosophical Studies 53 (1988), S. 367 – 389. Weber, Marianne: Fichteʼs Sozialismus und sein Verhältnis zur Marxʼschen Doktrin, Volkswirtschaftliche Abhandlungen der badischen Hochschulen 4.3, Tübingen 1900. Weischedel, Wilhelm: Der Aufbruch der Freiheit zur Gemeinschaft. Studien zur Philosophie des jungen Fichte, Leipzig 1939. White, Alan R. (Hg.): The Philosophy of Action, Oxford 1968.

Theo Kobusch

Die moderne Sozialontologie und ihr historischer Hintergrund Abstract: “Contemporary Social Ontology and its historical background.” Contemporary social ontology, particularly in the works of J. R. Searle, appeared on the scene with the claim to have opened up a new area of human reality: the one of so-called social or institutional facts. The present paper shows that, and in how far, analytic social ontology in its central assumptions has taken up, and in a certain sense at the same time narrowed down, the traditional doctrine of the entia moralia. It is precisely the mainstay of contemporary social ontology, its theory of speech acts, of performatives, of intentionality – including collective intentionality – and last but not least of institutional facts themselves that has already been prefigured by the medieval and early modern ontological tradition of the entia moralia – this being the case without analytic social ontology having developed an awareness of the historical well it drank from unknowingly.

1 Die Geschichtsvergessenheit der gegenwärtigen Sozialontologie Normalerweise wird durch die Neuprägung eines Begriffs oder Namens angezeigt, dass auch die entsprechend bezeichnete Sache neu, d. h. exakt so vorher noch nicht, zu Bewusstsein gekommen ist. Die von dem Begriff verschiedene Sache ist immer die bewusste Sache, also die Sache, insofern sie bewusst ist. Bei philosophischen Disziplinentiteln ist das ganz evident: Die zur Zeit der Aufklärung geprägten Begriffe der ‚Geschichtsphilosophie‘ und der ‚Ästhetik‘ etwa verraten eine neue Sicht der Dinge, die vorher schon als historia oder pulchrum bezeichnet worden sein mögen. Auch der neuerdings viel verwendete Titel der ‚Sozialontologie‘, der durch M. Theunissen geprägt worden sein mag, insinuiert ein solches neues Bewusstsein von den sozialen Tatsachen.¹

 Vgl. Theunissen, Michael: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1965. Vgl. Jansen, Ludger: Was ist Sozialontologie?, in: Neumaier, Otto/Sedmak, Clemens/Zichy, Michael (Hg.): Philosophische Perspektiven. Beiträge zum VII. Internationalen Kongress der ÖGP, Frankfurt a. M./Lancaster 2005, S. 279 – 284. https://doi.org/10.1515/9783110572735-002

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Was jedoch in dem neuerdings gebrauchten Begriff der Sozialontologie auch mitschwingt, ist der Anspruch, einen ganz neuen Bereich der menschlichen Wirklichkeit entdeckt zu haben. Bei J. R. Searle, dem namhaftesten Vertreter der Sozialontologie aus der Sicht der analytischen Philosophie, ist dieser Anspruch am deutlichsten ausgedrückt. Wir können uns hier auf seine Hauptthesen beschränken. In der „Einführung“ seines 1995 erschienenen Werkes The Construction of Social Reality, das 1997 auch in deutscher Übersetzung erschien, behauptet Searle, dass die „großen Gründer der Sozialwissenschaften“ – und Searle denkt besonders an M. Weber, G. Simmel, É. Durkheim – die in seinem Buch behandelten Fragen nicht befriedigend gelöst hätten, weil sie nicht über die „notwendigen Werkzeuge“ verfügten, d. h. keine Theorie der Sprechakte, der Performative, der Intentionalität, der kollektiven Intentionalität, des regelgeleiteten Verhaltens hatten.² Wenn aber diese „Philosophen-Soziologen“ eine solche Theorie nicht hatten, so unterstellt Searle, dann schon gar nicht die Tradition davor. Mit anderen Worten: Die analytische Sozialontologie sieht sich selbst als die Entdeckerin der Theorie von den sozialen Tatsachen. Das aber ist ein tiefgreifender Irrtum. Denn schon die am Anfang des Werkes getroffene Unterscheidung zwischen den von G. E. M. Anscombe sog. „rohen Tatsachen“ der Physik oder Biologie oder Chemie auf der einen Seite, die unabhängig vom Bewusstsein bestehen, und den „institutionellen“ oder „sozialen Tatsachen“, die sich der Tätigkeit des Bewusstseins verdanken, verweist auf eine lange hier zu thematisierende Tradition. Auch die bei Searle immer wieder benutzten Beispiele für institutionelle Tatsachen wie Geld, Eigentum, Regierungen, Ehen, Kauf und Verkauf, Versprechen, Krieg, Ämter, Universitäten, Sprache stammen allesamt aus der großen Tradition der Ontologie der entia moralia, die vom Mittelalter an bis in die Zeit Kants so genannt wurden, weil sie im Unterschied zu den Naturdingen eine Realität bezeichnen, die in irgendeinem bestimmten Zusammenhang (sei es als Wirkung, sei es als Voraussetzung) mit der menschlichen Freiheit, d. h. mit dem menschlichen Willen, stehen. Auch wenn Searle sagt, die institutionellen Tatsachen existierten sozusagen auf den „Schultern roher physischer Tatsachen“³, entspricht das ganz und gar der traditionellen Einsicht, der gemäß die entia moralia immer die entia physica voraussetzen. Es gehört zu den wesentlichen Kennzeichen der Sozialontologie Searles, dass in ihr die Sprache eine grundlegende Funktion hat, und dies gleich in einem  Searle, John. R.: Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge 1969, dt. Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt a. M. 1971, S. 8.  Searle, John. R.: The Construction of Social Reality, New York 1995, dt. Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, übers. von Martin Suhr, Hamburg 1997, S. 45.

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doppelten Sinne. Denn zum einen sind es die performativen Äußerungen, die als konstitutiver Grund institutioneller Tatsachen fungieren können, zum anderen der Repräsentationscharakter der Sprache, der der Grund für die Möglichkeit der Erschaffung sozialer Tatsachen oder, wie Searle auch sagt, sozialer „Sachverhalte“ (states of affairs) ist. Was das Erste betrifft, so greift Searle auf seine bekannte Sprechakttheorie zurück, deren historischer Ursprung in der scholastischen Lehre vom actus exercitus / actus signatus sowohl J. L. Austin wie auch Searle verborgen geblieben ist, obwohl beide die aus dieser Tradition stammenden Beispiele der Sakramentsworte u. a. gebrauchen. Die Repräsentation der Sprache dagegen hat eine schöpferische Funktion: None is more remarkable than this: in human languages we have the capacity not only to represent reality, both how it is and how we want to make it be, but we also have the capacity to create a new reality by representing that reality as existing. We create private property, money, government, marriage, and a thousand other phenomena by representing them as existing⁴.

Hier spätestens werden die Probleme dieser Theorie sichtbar. Denn so ist nicht erkennbar, um was für eine Art von Sein es sich im Falle der institutionellen Tatsachen oder solcher Sachverhalte wie der Ehe, des Geldes oder des Eigentums wirklich handelt. In einer Kurzfassung der Construction heißt es: „Ein bemerkenswert rätselhaftes Merkmal der sozialen Wirklichkeit ist, daß sie nur existiert, weil wir denken, daß sie existiert“⁵. So soll nach dieser Auffassung eine notwendige Bedingung des Geldseins darin bestehen, dass Menschen es für Geld halten, und dies wiederum besagt, dass sie „denken müssen, daß es Geld ist“⁶. „Rätselhaft“ ist das in der Tat, weil dieses Merkmal ebenso auf die Welt der Gedankendinge zutrifft. Auch da handelt es sich nämlich um eine Art der „Schöpfung“, und doch haben beide Welten, die der institutionellen Sachverhalte oder der – wie ich sie mit der Tradition nenne – ‚moralischen Dinge‘ und die der Gedankendinge einen wesentlich unterschiedlichen ontologischen Status. Auch der von Searle ins Spiel gebrachte Begriff der Intentionalität unterstreicht eher diese Unklarheit, als dass er sie beheben könnte. Denn Intentionalität ist in der modernen Philosophie als Wesensbestandteil des theoretischen Bewusstseins eingeführt und behandelt worden. Das Intentionale des praktischen

 Searle, John. R.: Making the Social World. The Structure of Human Civilization, Oxford 2010, S. 86.  Searle, John. R.: Einige Grundprinzipien der Sozialontologie, in: Schmid, Hans B./Schweikard, David P. (Hg.): Kollektive Intentionalität. Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen, Frankfurt a. M. 2009, S. 505.  Ebd., S. 506.

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Bewusstseins dagegen hat seit alters einen eigenen Namen: die Absicht (bei Augustin oder P. Abaelard). Das Eigene des Praktischen kommt aber bei Searle nicht zur Geltung. Die Intentionalität des Bewusstseins ist eine kognitive Auszeichnung. Sie wird auch nicht dadurch zu einer praktischen, indem man sie als ‚kollektive Intentionalität‘ bezeichnet. Die in den Spuren Searles wandelnde moderne Kognitionswissenschaft bestätigt das: Hier wird die kollektive Intentionalität einseitig als sozial-kognitive Fähigkeit verstanden.⁷ Was die moderne Sozialontologie übersieht, ist die Tatsache, dass die sozialen Sachverhalte oder die institutionellen Tatsachen wie Ehe oder Eigentum oder Institutionen überhaupt zwar durch die Tätigkeit des Bewusstseins geschaffen werden, aber es ist die praktische Tätigkeit, die das leistet.⁸ Diese aber wird seit sehr langer Zeit in der Philosophiegeschichte ‚Wille‘ genannt. Es hieße, diesen traditionellen Begriff einer absoluten Missdeutung aussetzen, wollte man ihn mit dem der Intentionalität gleichsetzen. Vielmehr umfasst der Begriff des Willens auch das Nichtintentionale, ja das Antiintentionale, das in dem Respekt oder in der Wertschätzung, in der Achtung oder, was hier von Bedeutung ist, in der Anerkennung liegt. Denn die sozialen und besonders die institutionellen Tatsachen wie Geld oder Eigentum sind, was sie sind, durch die Anerkennung der Menschen. Anerkennen aber bedeutet, die partikulären Intentionen zurückstellen, damit ein Objektives als solches zur Geltung kommt. Das Geld ist nur so lange Geld, als es allgemein als solches anerkannt ist. Anerkennung, Achtung und Wertschätzung aber sind der traditionellen Einsicht nach Modi des Willensverhaltens. Das durch den Willen so Konstituierte oder auch anders mit ihm Verbundene heißt aber ein ens morale. Deswegen ist das Geld geradezu das klassische Beispiel für die entia moralia. Die moderne Sozialontologie aber hat es versäumt, an die traditionelle Ontologie des moralischen Seins anzuknüpfen. Stattdessen hat sie die Biologie als Basis ihrer Thesen angenommen. Searle erklärt ja ganz freimütig: Es ist unser Ziel, die gesellschaftliche Wirklichkeit unserer grundlegenden Ontologie der Physik, Chemie und Biologie anzugleichen. Zu diesem Zweck müssen wir die kontinuierliche Linie aufzeigen, die von Molekülen und Bergen zu Schraubendrehern, Hebeln und schönen Sonnenuntergängen und dann zu Gesetzgebungen, Geld und Nationalstaaten führt. Der zentrale Bogen auf der Brücke von der Physik zur Gesellschaft ist kollektive Intentionalität.⁹

 Vgl. Rakoczy, Hannes/Tomasello, Michael: Kollektive Intentionalität und kulturelle Entwicklung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 56/3 (2008), S. 401– 410.  Searle erwähnt in Making the Social World. The Structure of Human Civilization, a.a.O., S. 124 die praktische Vernunft als zweite Form der Rationalität, aber sie ist nur ein Abbild der theoretischen, und die Eigenheit des Willens wird nicht erkannt.  Searle, John. R.: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, a.a.O., S. 51.

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Deswegen erscheint die Sozialontologie als eine Disziplin, die mit nichts anderem zu tun hat „als mit der künstlichen Erweiterung natürlicher, sozialbiologisch gegebener Geselligkeitsformen“¹⁰. Was es aber mit jenem Bereich auf sich hat, der durch den Begriff des Moralischen, d. h. des Willens, bezeichnet und jahrhundertelang so dem Bereich der Natur entgegen gesetzt war, das vermag die moderne Sozialontologie uns nicht zu sagen. Ja, sie kann uns nicht einmal deutlich machen, was für eine Art der Realität das hat, wovon sie so ausführlich spricht: Geld, Eigentum, Kauf, Ehe, Universität, Institutionen überhaupt usw. Die Geschichtsvergessenheit der analytischen Philosophie wird im Falle der Sozialontologie in besonderer Weise offenbar. Denn einerseits bewegt sie sich in den Spuren der traditionellen Lehren von den entia moralia und den actus signati / exerciti, ohne es zu wissen, andererseits untergräbt sie – auch ohne es zu wissen – die traditionelle Lehre vom Willen und seinem konstitutiven Charakter für die sozialen Tatsachen, indem sie biologische Systeme zu sozialen Wesen erweitern will. Als geschichtsvergessen erweist sich auch jene Theorie, die in kritischer Haltung die Sozialontologie im Ganzen als „überflüssig“ aufzeigen und sie zum Verschwinden bringen will. Dahinter steckt der Glaube, dass das Rad der Geschichte zurückdrehbar sei und die „eine“ Welt wieder hergestellt werden könne: „Demnach gibt es eben nur eine Welt“¹¹. Doch die Geschichte hat uns belehrt, dass wir nicht nur in einer von vielen möglichen Welten leben, sondern auch in einer Vielheit von wirklichen Welten. Die sphaera moralis, das Reich der Freiheit, des Willens, des Moralischen, der institutionellen Tatsachen ist nur eine von ihnen.

2 Praktische Sachverhalte Einer der wichtigsten Grundsätze der modernen Sozialontologie ist der von der Sprachgebundenheit der Institutionen bzw. der institutionellen Tatsachen. Searle sagt bisweilen, dass die Sprache „teilweise konstitutiv“ für diese Tatsachen ist, bisweilen aber spricht er auch davon, dass sie „without exception“ von der Sprache konstituiert werden bzw. auch von der „essentiell konstitutiven Rolle der

 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Sozialontologie auf sozialbiologischer Basis, in: Philosophische Rundschau 45 (1996), S. 105.  Vielmetter, Georg: Die Unbestimmtheit des Sozialen. Zur Philosophie der Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M. /New York 1998, S. 156 – 162.

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Sprache“¹². Das Problem gehört in den umfassenden Kontext einer Ontologie der Sachverhalte. Auch Searle spricht gelegentlich von „states of affairs“¹³. Die Lehre von den Sachverhalten war im 19. Jahrhundert zu ihrer eigentlichen Blüte gelangt. Da an anderen Orten schon ausführlich dargelegt ist, welche Bedeutung diese Lehre in der Geschichte der Ontologie hat, muss hier eine bloße Andeutung genügen. C. Stumpf hat (unter dem Einfluss H. Lotzes) die Theorie des Sachverhalts innerhalb seiner umfassenden Lehre vom „Gebilde“ dargelegt, B. Bolzano die der „Sätze an sich“, A. Meinong entwirft eine Lehre von den sog. „Objektiven“, die womöglich, durch B. Russell vermittelt, Einfluss auf L. Wittgenstein genommen hat. G. Frege und Simmel entwickeln die Idee von einem „dritten Reich“, die bis zu K. Poppers „Welt 3“ sich ausgewirkt hat – um nur das Wichtigste zu nennen.¹⁴ Was in all diesen Theorien durchaus umstritten ist, ist der ontologische Status des Sachverhalts. Was jedoch keinem Zweifel unterliegt, ist die Bedeutung des Satzes, in dem und durch den allein die komplexe Wirklichkeit des Sachverhaltes konstituiert oder nur erfasst werden kann. In diesem Zusammenhang wird auch erörtert, was es ontologisch mit den sog. nichtbestehenden Sachverhalten oder auch den negativen Sachverhalten, die schon in der Spanischen Scholastik diskutiert wurden, auf sich hat. Gibt es eine Welt der negativen Sachverhalte? Interessant ist auch, dass dieses Reich der „Gebilde“ (mit Stumpf zu sprechen) nicht nur theoretisch zugängliche, d. h. in Aussagesätzen formulierbare, Sachverhalte enthält, sondern auch die Inhalte der emotionellen bzw. volitiven Funktionen, wie z. B. die Werte oder Güter, die Gemütsbewegungen, das Gewollte überhaupt. Diese Überlegungen der Sachverhaltsontologie des (vorwiegend) 19. und des anfangenden 20. Jahrhunderts führen uns zu jener bedeutsamen mittelalterlichen Diskussion um den ontologischen Status der sog. complexe significabilia, deren Zusammenhang mit den Sachverhaltsentwürfen des 19. Jahrhunderts einer überzeugenden Deutung noch harrt.

 Vgl. Searle, John. R.: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, a.a.O., S. 69; Making the Social World. The Structure of Human Civilization, a.a.O., S. 90; Einige Grundprinzipien der Sozialontologie, a.a.O., S. 508.  Searle, John. R.: Making the Social World. The Structure of Human Civilization, a.a.O., S. 85.  Vgl. Kobusch, Theo: Sein und Sprache. Historische Grundlegung einer Ontologie der Sprache, Leiden/New York 1987, S. 352 ff.; Das ‚geheimnisvolle Reich des Wahren, Schönen und Guten‘. Überlegungen zum Platonismus Carl Stumpfs, in: Mensching-Estakhr, Alia/Städler, Michael (Hg.): Wahrheit und Geschichte. Die gebrochene Wahrheit metaphysischen Denkens, Würzburg 2012, S. 303 – 313; Smith, Barry: Sachverhalt, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel 1992, Sp. 1102– 1113; Gabriel, Gottfried: Reich, drittes, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel 1992, Sp. 499 – 501.

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Schon vor Jahren hatte ich einmal die Theorie des complexe significabile, die durch den Franziskaner A. Wodeham und den Augustinereremiten Gregor von Rimini an die prominente Stelle der Ontologie gerückt wurde, die „Entdeckung des Sachverhalts“ genannt.¹⁵ Die in der Zeit Wodehams und besonders durch seine Lehrer W. Chatton und Wilhelm von Ockham bedingte anstehende Frage war, was der eigentliche Gegenstand des Wissens ist. Aus den Kritiken der Thesen dieser beiden zieht Wodeham den bedeutsamen Schluss, dass nicht ein einzelner Gegenstand, sondern nur das durch den Satz als Satz Bezeichnete das Objekt der Zustimmung und damit das Objekt des wissenschaftlichen Wissens sein kann. Die Bedeutung eines Satzes ist das „So Sein“ (sic esse) oder „Nicht-so sein“ (sic non esse) von etwas. Sie kann nur durch einen Satz, einen Dass-Satz im Deutschen, durch einen A.c.I. im Lateinischen, ausgedrückt werden. Der Akt der reflexiven Zustimmung, der immer – schon nach Ockham – das einfache Erfassen des Satzes voraussetzt, bezieht sich genau auf dieses im Satz ausgedrückte Sosein oder Nichtsosein. Was Wodeham in Auseinandersetzung mit seinen zeitgenössischen Konkurrenten entdeckt, ist das, was wir im Deutschen seit dem 19. Jahrhundert den „Sachverhalt“ nennen, den Urteilsinhalt, das, was durch den Satz als solchen dargestellt wird.¹⁶ Nicht nur affirmative, sondern auch negative Sätze drücken nach Wodeham einen Sachverhalt aus. Der Satz ‚Der Mensch ist nicht ein Esel‘ drückt den Sachverhalt aus, dass der Mensch kein Esel ist. Der Sachverhalt ist in seiner Existenz nicht von der Bildung des Satzes abhängig, aber er ist nur durch einen Satz ausdrückbar.Wodeham nennt ihn deswegen – wie alle Welt nach ihm auch – das complexe significabile. ¹⁷ Es ist nur komplex, d. h. in einem Satz darstellbar, aber es ist ein einheitliches Ganzes.¹⁸ Sein ontologischer Status ist

 Vgl. Kobusch, Theo: Nominalismus, in: Krause, Gerhard/Müller, Gerhard (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. 24, Berlin/New York 1994, S. 593 f.  Vgl. Smith, Barry: Sachverhalt, a.a.O., S. 1104 ff.  Vgl. Wodeham, Adam: Lectura Secunda in Librum Primum Sententiarum, Bd. 1, St. Bonaventure, N.Y. 1990, S. 194, 198.  Zur Wodeham’schen Lehre vom complexe significabile siehe neben der Pionierarbeit von Gál, Gedeon: Adam of Wodeham’s Question on the ‘Complexe Significabile’ as the Immediate Object of Scientific Knowledge, in: Franciscan Studies 37 (1977), S. 66 – 102 besonders Nuchelmans, Gabriel: Adam Wodeham on the Meaning of Declarative Sentences, in: Historiographia Linguistica 7 (1980), S. 177– 187; Tachau, Katherine H.: Vision and Certitude in the Age of Ockham: Optics, Epistemology and the Foundations of Semantics 1250 – 1345, New York 1988; Zupko, Jack: How it played in the Rue de Fouarre: The Reception of Adam Wodeham’s Theory of the Complexe Significabile in the Arts Faculty at Paris in the Mid-Fourteenth Century, in: Franciscan Studies 54. Franciscan Philosophy and Theology. Part II (1994– 1997), S. 211– 225; Lenz, Martin: Adam de Wodeham und die Entdeckung des Sachverhalts, in: Kahnert, Klaus/Mojsisch, Burkhard (Hg.): Umbrüche: Histori-

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umstritten – bis heute. Wodeham sagt nur, dass dieses „Totalobjekt“ der Zustimmung weder eine Substanz noch ein Etwas ist. Gregor von Rimini hat diese Theorie aufgenommen und erweitert.¹⁹ Was von diesen Erweiterungen der Gregorʼschen complexe significabileTheorie in unserem Zusammenhang von eminenter Bedeutung ist, betrifft die Erweiterung auch des Satzverständnisses und mit ihm auch den Charakter des Sachverhalts. Konnte man bisher vielleicht den Eindruck haben, als seien Sachverhalte auf den theoretischen Bereich beschränkt, die infolgedessen nur durch Aussagesätze ausgedrückt werden könnten, so belehrt uns Gregor nun eines Besseren. Denn Gregor erweitert den Sachverhaltsbegriff auch auf den praktischen Bereich. Es gibt auch praktische Sachverhalte. Von solcher Art sind alle Gebote oder Verbote, die ein zu Tuendes oder zu Lassendes ausdrücken. Gregor hat das an den Verboten exemplifiziert: Das Musterexempel für den praktischen Sachverhalt ist die Sünde. Sie ist ein complexe significabile, d. h. ein allein durch einen Satz, in diesem Falle einen Verbotssatz, Ausdrückbares. Durch das Verbot ‚Du sollst nicht ehebrechen‘ wird nicht der Mann oder die Frau oder ein Ding, ein Etwas, ja überhaupt nichts, was nur durch einen Begriff bezeichenbar wäre, verboten, sondern was allein durch diesen Satz, dass man sich nicht mit einer Frau, die nicht die eigene ist, vereinigen darf, ausdrückbar ist. Was durch das Verbot gezeigt wird, gilt aber genauso für das Gebot: „Denn in den Verboten oder den negativen Geboten wird im eigentlichen Sinne jenes, was verboten wird, ‚Sünde‘ genannt, und in den bejahenden Geboten das Gegenteil dessen, was geboten wird. Aber für beide Seiten gilt, daß derartig nur komplex Bezeichenbare sind“²⁰. Oder nehmen wir das Beispiel des Gotteshasses. Auf den ersten Blick könnte man ihn für eine Entität in dieser Welt halten, aber zu dieser Annahme verführt nur diese verkürzte Redeweise. In Wirklichkeit besteht die Sünde darin, dass jemand Gott hasst. Es ist in der Tat ein Akt, kein bestimmtes Seiendes, aber ein solcher Akt, der nur durch einen solchen Satz bezeichenbar ist.²¹ Was die Ontologie des complexe significabile und besonders Gregor von Rimini sagen will, ist, dass es Realitäten gibt, die nicht in die Ordnung der (von Gott geschaffenen) „Wesenheiten“ einzuordnen sind und sich auch dem SubstanzAkzidens-Schema und damit der Zehnkategorienordnung des Aristoteles entzie-

sche Wendepunkte der Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart, Amsterdam 2001, S. 99 – 116.  Vgl. Kobusch, Theo: Die Philosophie des Hoch- und Spätmittelalters, München 2011, S. 451 ff.  Vgl. Gregor von Rimini: Lectura super Primum et Secundum Sententiarum, Bd. 4, Berlin/New York 1980, S. 235 – 236, dt. Gregor von Rimini, Kommentar zu den Distinktionen 34 – 37 des zweiten Sentenzenbuches, Freiburg et al. 2010, S. 99.  Gregor von Rimini: Lectura super Primum et Secundum Sententiarum, a.a.O., S. 254 f.

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hen. Die complexe significabilia sind deswegen generell, wie auch das objektive Sein des Erkannten, „außerkategorial“ (extrapraedicamentale). Von besonderer Bedeutung ist diese Auffassung des complexe significabile aber für das Verständnis der praktischen Sachverhalte, denn so wird klar, dass alle von der modernen Sozialontologie sog. institutionellen Sachverhalte oder Tatsachen schon hier, im 14. Jahrhundert, nicht als kategorisierbare Dinge, sondern als eine Realität besonderer Art aufgefasst werden.²² Die Legisten und Dekretisten des 12. und 13. Jahrhunderts waren in dieser Hinsicht schon früh mit dem Satz hervorgetreten, dass das natürliche Recht, d. h. das einer Person zukommende subjektive Recht – das ja auch ein wichtiger Gegenstand der modernen Sozialontologie ist²³ – nicht von der Art der kategorisierbaren Naturdinge ist.²⁴

3 Sprechakte Das zweite bedeutende Versatzstück der modernen Sozialontologie ist die Sprechakttheorie. Searle ist selbst einer der Hauptvertreter dieser Theorie, die von Austin in die sprachanalytische Philosophie eingeführt wurde. In der Sprechakttheorie reift die Einsicht, dass unser Sprechen performativen Charakter hat. Jeder Sprecher vollzieht einen illokutionären Akt, d. h. er tut etwas dadurch, dass er etwas sagt. Wenn der Priester bei der Taufe sagt ‚Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes‘, will er nicht die Umstehenden von dem Ereignis der Taufe informieren, sondern vollzieht durch ebendiese Worte den Taufakt. Ähnliches gilt für das Eheversprechen, ja für Versprechen überhaupt, Entsprechendes auch für die neben dem Aussagesatz bekannten anderen Sprechakte, wie z. B. den Befehl, den Rat, den Fluch, die Segnung usw. Auf der Theorie Austins aufbauend hat Searle seine Sprechakttheorie entwickelt. Sein diesbezügliches Hauptwerk Speech Acts ist 1969 erschienen. Bei der Analyse der Bedingungen des illokutionären Aktes geht Searle (wie wenig später auch P. F. Strawson) in einem entscheidenden Punkt über Austin hinaus. Die illokutionären Akte sind regelgeleitet und als solche an bestimmte Institutionen gebunden. Wenn der Bräutigam und die Braut auf dem Standesamt oder vor dem

 Vgl. Kobusch, Theo: Sein und Sprache. Historische Grundlegung einer Ontologie der Sprache, a.a.O., S. 158, siehe auch S. 568, Anm. 14a. Auf Gregors Entdeckung der praktischen Sachverhalte hatte ich schon auf S. 376 aufmerksam gemacht.  Searle, John. R.: Making the Social World. The Structure of Human Civilization, a.a.O., S. 174– 198.  Vgl. Kobusch, Theo: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Darmstadt 21997, S. 35.

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Altar ‚Ja‘ sagen, folgen sie damit einer bestimmten Regel, ja einem System von Regeln, und eben dadurch erhält das Jasagen den Charakter eines illokutionären Aktes. Schon hier unterscheidet Searle zwischen natürlichen und institutionellen Tatsachen. Dass Herr Schmidt Fräulein Jones heiratet, dass jemand des Diebstahls überführt wird, dass der Kongress die Gesetzesvorlage zur Bewilligung von Geldern verabschiedet und dergleichen ist kein physischer Vorgang, sondern eine institutionelle Tatsache, weil er die Existenz bestimmter menschlicher Institutionen, nämlich die Institution der Ehe, des Eigentums, des Geldes voraussetzt. W. Stegmüller schreibt in seinem viel beachteten Werk Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie: Eigentlich ist es ein Skandal. Und zwar ist es ein beschämender Skandal für alle diejenigen, welche sich in den letzten 2500 Jahren in irgendeiner Weise mit Sprachen beschäftigten, daß sie nicht schon längst vor J. L. Austin dessen Entdeckung machten, deren Essenz man in einem knappen Satz ausdrücken kann: Mit Hilfe von sprachlichen Äußerungen können wir die verschiedensten Arten von Handlungen vollziehen. Besonders merkwürdig ist es, daß selbst nach dem ‚linguistic turn‘ in der neuzeitlichen Philosophie mehrere Jahrzehnte vergehen mußten, bis ein Philosoph die Entdeckung machte, daß es so etwas wie Sprechakte gibt.²⁵

Stegmüller hat ganz recht. Wenn das Phänomen der Sprechakte nicht vor Austin in den Blick jener Disziplin getreten wäre, die sich von Anfang an die ‚Bewahrung der Phänomene‘ zur Aufgabe gemacht hatte, dann wäre eine solche Lücke in der Tat eine Art Armutszeugnis für die Philosophie. Wenn man jedoch nicht bestimmte Epochen der Philosophiegeschichte dieser „letzten 2500 Jahre“ aus der kollektiven Erinnerung wegstreicht, sondern sie sprachphilosophisch ernst nimmt, dann kann jener historische Hintergrund, vor dem und von dem inspiriert die moderne Sprechakttheorie entstand, deutlicher vor uns treten. So haben K. Schumann und B. Smith T. Reids Sprachlehre, nach der sprachliche „social acts“ wie Fragen oder Verpfänden von den „solitary acts“ wie Erkennen zu unterscheiden sind, als „a true forerunner of the modern (speech act) theory“ ausfindig gemacht.²⁶ Andere haben auf andere mögliche Quellen hingewiesen.²⁷ Doch in Wirklichkeit ist es schon ein Hauptanliegen einer im

 Stegmüller, Wolfgang: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Stuttgart 1975, S. 64.  Schumann, Karl/Smith, Barry: Elements of Speech Act Theory in the Work of Thomas Reid, in: History of Philosophy Quarterly 7 (1990), S. 47– 68.  Siehe den hervorragenden Artikel Strube, Werner: Sprechakt, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried/Gabriel, Gottfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel 1995, Sp. 1536 – 1541.

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Mittelalter beginnenden Tradition, auf diese Besonderheit unseres Sprechens hinzuweisen. Denn die Tradition der Sprachphilosophie, die mit der sog. Grammatica speculativa im Mittelalter beginnt, hat den eigenartigen Charakter der Sprechakte erkannt und sie auch durch dieselben oder sehr ähnliche Sprachhandlungen exemplifiziert. Was die Sprachhandlung betrifft, die Searle als das Beispiel schlechthin analysiert, nämlich das Versprechen, so findet man in der Scholastik, besonders in der sog. Spanischen Scholastik, ganz verblüffende Parallelen, die zeigen, dass der besondere Charakter einzelner Sprechakte in der scholastischen Philosophie längst analysiert war. Domingo de Soto (1494 – 1560) z. B. behandelt im 7. Buch seines Werkes De Justitia et Jure (1556) das Gelübde oder das Versprechen. Dort finden sich Bestimmungen, die fast wörtlich mit den Searlʼschen übereinstimmen. Searle unterscheidet (als vierte Bedingung) das Versprechen von der Drohung. Das Versprechen ist eine feste Zusage, etwas für jemanden zu unternehmen, nicht gegen ihn. Das letztere wäre vielmehr eine Drohung. Soto definiert: „Promissio est rei quam quis in alterius gratiam facere disponit“, dies nämlich unterscheidet sie von einer Drohung, die ihr entgegengesetzt ist, denn die Drohung bezieht sich auf eine Sache, die dem anderen schädlich oder gefährlich ist. Das Versprechen bezieht sich also auf eine Wohltat. Searle sagt: Zum aufrichtigen Versprechen gehört die Absicht, das Versprochene zu halten. Dementsprechend Soto: Der Vorsatz oder die Absicht ist keine hinreichende, aber eine notwendige Bedingung des Versprechens. Searle definiert: Das wesentliche Merkmal eines Versprechens besteht in der Übernahme einer Verpflichtung zum Vollzug einer Handlung. Soto formuliert: „Promissio ex natura sua parit obligationem“²⁸. Man könnte so fortfahren. Auch das Austinʼsche Beispiel des Taufvorgangs zeigt möglicherweise schon, dass die Lehre von den Sprechakten viel älter ist als bisher angenommen. Denn es wird sowohl in der Spanischen Scholastik wie auch in der Sprachphilosophie der Hochscholastik verwendet, um den Unterscheid zwischen dem sog. actus exercitus und dem actus signatus zu veranschaulichen. Auch die Wandlungsworte Hoc est corpus meum … sind unter dieser Rücksicht zu verstehen: Nach Thomas sind sie im Sinn einer demonstratio exercita zu verstehen und nicht als demonstratio concepta. Dahinter steckt die in frühen anonymen Sprachphilosophien wie De interiectione oder Sicut dicit Remigius oder auch bei R. Kilwardby und R. Bacon

 Vgl. Searle, John. R.: Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, a.a.O., S. 57– 61, dt. Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, a.a.O., S. 88 – 95; Domingo de Soto: De justitia et jure, Antwerpen 1568, VII, q. 1, a. 2, S. 220a.

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entwickelte Lehre vom Unterschied zwischen der Bezeichnung einer Sache vermittels eines Begriffs und der Bezeichnung durch ein Gefühl.²⁹ Was die Gefühlsbezeichnung angeht, so tritt in diesen sprachphilosophischen Traktaten wie auch in der daran anknüpfenden Grammatica speculativa unter den seit der Stoa bekannten acht „Redeteilen“ besonders die Interjektion in den Vordergrund. Bacon und andere erkannten, dass die Interjektion, die aus dem Adverb ‚Oh‘ und dem Vokativ ‚Heinrich‘ besteht, nicht von der Art der anderen Redeteile ist, die irgendeinen bestimmten Akt anzeigen. Vielmehr wird durch das ‚Oh‘ der Akt selbst vollzogen. Die Grammatica speculativa hat beide Arten des Aktes als actus signatus und actus exercitus oder exercitatus unterschieden. Thomas von Erfurt hat den Unterschied so erklärt: „Der actus signatus ist der, der durch ein Verb oder ein Partizip wie ‚ich lese, lesend’ angezeigt wird. Der actus exercitus ist der, der durch das Aussprechen dieses Adverbs ‚oh‘ ausgeführt wird“³⁰. M. Heidegger erklärt dazu: „Bei dem Anruf ‚oh, Henrice‘ liegt in dem ‚oh‘ der Aktvollzug; er wird dadurch nicht erst kundgegeben, sondern vollzogen“³¹. Ein anderes Beispiel: Durch den Gebrauch des Wortes ‚nego‘ gebe ich kund, dass ich einen Akt der Verneinung vollziehe, durch den des Wortes ‚non‘ aber vollzieht sich der Akt selbst. Wir könnten auch in der Terminologie der modernen Sprechakttheorie sagen: Durch ‚nego‘ informiere ich andere über meine ablehnende Haltung, durch die Verwendung des Wortes ‚non‘ dagegen vollziehe ich einen performativen Akt. Auch in ganz anderen Zusammenhängen kommt dieser Gegensatz zum Ausdruck. ‚Doleo‘ – ‚ich habe Schmerzen‘ bezeichnet den Schmerz als einen aktuellen Sachverhalt, insofern er im Denken des Sprechers präsent ist. Der Schmerz wird so kundgetan, andere werden darüber informiert. ‚Heu‘ dagegen, also ‚Ach‘ oder ‚Au‘, die Interjektion, will nicht über einen Sachverhalt informieren, sondern ist unmittelbarer Ausdruck des in der Seele unvermittelt, d. h. ohne die Vermittlung des theoretischen Begriffs, vorhandenen Affekts. Die Interjektionen sind deswegen alle, ob sie den Umstand des Schmerzes, der Furcht, der Freude oder der

 Siehe dazu bes. Rosier, Irène: La distinction entre actus exercitus et actus significatus dans les sophismes grammaticaux du MS BN lat 16618 et autres textes apparentés, in: Read, Stephen (Hg.): Sophisms in Medieval Logic and Grammar, Dordrecht et al. 1993, S. 231– 261.  Radulphus Brito: Quaestiones super librum Topicorum Boethii, in: Cahiers de l’Institut du moyen-âge Grec et Latin 26 (1978), S. 76; Martinus de Dacia: Modi significandi, Hauniae 1961, c. XXVII, 9, n. 83, S. 42; Thomas de Erfurt: Grammatica speculativa, London 1972, c. XIX, n. 32, S. 190, 192, 252.  Heidegger, Martin: Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus (1915), in: Frühe Schriften, GA 1, Frankfurt a. M. 1978, S. 371.

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Bewunderung ausdrücken – wie es in einem Text heißt – quasi Instrumente, durch die Akte dieser Art ausgeführt werden.³² Auch andere Sprechakte werden nach diesem Muster analysiert. So hat z. B. F. Suárez den Befehl als actus signatus und actus exercitus unterschieden. Ein Befehl, als actus signatus, der eingeleitet wird mit dem Wort ‚ich befehle‘ oder ‚schreibe vor‘, drückt am deutlichsten aus, dass der Wille des anderen einer Pflicht unterworfen werden soll. Dem entspricht negativ das ‚ich verbiete‘ oder ‚ich untersage‘. Die Worte des Befehlens, als actus exercitus genommen, können dagegen nach Suárez – ähnlich wie Austin die implizit performativen Sprachhandlungen erläutert – ggf. auch im Sinne eines Rates oder eines einfachen Hinweises verstanden werden.³³ Ähnliches würde gelten für die Frage, die Bitte, die Warnung und was wir sonst an Sprachhandlungen kennen. Was das Mittelalter durch die Unterscheidung von actus exercitus und actus signatus entdeckt hat, entspricht ganz dem, was Austin durch die Abgrenzung der performativen Äußerungen von den konstatierenden Äußerungen im Sinne hatte. Bedenkt man obendrein, dass Bacon zur Veranschaulichung des actus exercitus auf Beispiele der sakramentalen Sprache zurückgreift³⁴ und spätere Zeiten (besonders die Spanische Scholastik) die bei der Sakramentenspendung verwendeten Formeln („Ego te baptizo“ und Ähnliches) als Beispiele heranziehen – die ja auch bei Austin, Searle unter anderem eine wichtige Rolle spielen –, dann kann kaum mehr zweifelhaft sein, dass die in der mittelalterlichen Sprachphilosophie entwickelte Unterscheidung zwischen actus signatus und actus exercitus, durch die der Handlungscharakter der Sprache erstmals zu Bewusstsein gekommen zu sein scheint, als ein Vorläufer der modernen Sprechakttheorie angesehen werden kann.³⁵ Was zudem auch interessant im Hinblick auf die moderne Problematik ist, ist die Frage, die schon bei Thomas und im Thomismus gestellt wird, nämlich ob es bei den Sprechakten der Sakramente genügt, um wirksam zu sein,

 Siehe die von Irène Rosier zitierten Texte in ihrem Beitrag Rosier, Irène: La distinction entre actus exercitus et actus significatus dans les sophismes grammaticaux du MS BN lat 16618 et autres textes apparentés, a.a.O., Anm. 22, 33, 41  Suárez, Francisco: De legibus, Bd. 2, Madrid 1972, III, XV, 8, S. 224 ff.  Bacon, Roger: Summa grammatica, Oxford 1940, S. 170 f.  Siehe dazu Nuchelmans, Gabriel:The Distinction actus exercitus / actus significatus in Medieval Semantics, in: Kretzmann, Norman (Hg.): Meaning and Inference in Medieval Philosophy, Dordrecht et al. 1988, S. 57– 90; Rosier, Irène: La distinction entre actus exercitus et actus significatus dans les sophismes grammaticaux du MS BN lat 16618 et autres textes apparentés, a.a.O.; La parole comme acte. Sur la grammaire et la sémantique au XIII e siècle, Paris 1994. Zu den sakramentalen Formeln als Sprechakten siehe Rosier, Irène: La parole efficace. Signe, rituel, sacré, Paris 2004, S. 191 ff.

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die institutionell vorgegebenen Worte auszusprechen, oder ob die entsprechende innere Einstellung (mentalis intentio) auch notwendig ist.³⁶ Zugleich wird auf diese Weise deutlich, dass damit die traditionelle, aristotelische einseitige Orientierung am Aussagesatz relativiert und eine neue Sensibilität für jenen großen Bereich der performativen Äußerungen geweckt wird, zu dem die Bitte, die Begrüßung, der Glückwunsch, die Beileidsbekundung, die Warnung, die Entschuldigung und das Versprechen – um das Wichtigste zu nennen – gehören.

4 Welt des Sozialen – Welt der entia moralia Am Schluss seines oben genannten Aufsatzes über die Sozialontologie erklärt L. Jansen: „Kurz: Sie [die Sozialontologie; d. Verf.] untersucht das Soziale qua Seiendes“³⁷. Deswegen hatte eine große Tradition die Dinge beim Namen genannt und von den entia moralia gesprochen.³⁸ Die Welt der entia moralia ist die Welt der menschlichen Freiheit. Ihr Sein besteht, wie das schon im Mittelalter festgelegt wird, in der Wertschätzung der Menschen,³⁹ d. h. – wie Kant den lateinischen Begriff übersetzt⁴⁰ – in ihrem Anerkanntwerden. Anerkennen aber ist eine Sache des Willens, nicht der theoretischen Vernunft. Die entia moralia sind daher gewissermaßen Willensdinge, ohne dass dadurch einer Verdinglichung des Moralischen das Wort geredet würde. Sie betreffen den Einzelwillen ebenso wie den allgemeinen Willen. Der Einzelwille ist in der individuellen Person verkörpert. Dass es die Person ist, die im Zentrum der moralischen Welt steht, ist die einhellige Überzeugung vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. P. J. Olivi z. B. identifiziert die Person geradezu mit ihrem selbstreflexiven Willen, und im 19. Jahrhundert wird sie hypostasierte Freiheit genannt.⁴¹ Indem so die Person und ihre Handlungen im Zentrum der sphaera moralis stehen, wurden sie zum Hauptge-

 Thomas von Aquin: Scriptum super Sententiis Magistri Petri Lombardi, Bd. 4, Paris 1947, d. 6, q. 1, a. 2, S. 234 f. Vgl. Durandus a Sancto Porciano: In Petri Lombardi Sententias Theologicas Commentariorum libri IV, Venetiis 1571, d. 6, q. 2, n. 6, II 305a.  Jansen, Ludger: Was ist Sozialontologie?, a.a.O., S. 283.  Zu dieser Tradition vgl. Kobusch, Theo: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, a.a.O.  Vgl. Petrus Aureoli: Commentariorum in secundum, tertium, quartum libros Sententiarum pars secunda II – IV Sent., Rom 1605, d. 14, q. 1, a. 4, II 134 aE.  Vgl. MSTL, Ak. 6, S. 462. Siehe auch KpV, Ak. 5, S. 79.  Vgl. Olivi, Petrus J.: Quaestiones in secundum librum sententiarum, Bd. 2: Quaestiones 49 – 71, Ad Claras Aquas 1924, q. LI, S. 121; Kobusch, Theo: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, a.a.O., S. 213.

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genstand der Ontologie des Moralischen, die, folgt man den richtungsweisenden Darlegungen in S. Pufendorfs De jure naturae et gentium oder dem vorkantischen Naturrecht überhaupt, die Einzelperson, ihren gesellschaftlichen Status, ihren Ruf, ihre Ehre, ihre Lebenszeit, ihren „Wert“, d. h. ihre Würde, usw. thematisiert. Daneben wird auch die Handlung einer ontologischen, d. h. einer kategorisierenden, Betrachtung unterworfen. So kommen Phänomene wie die Pflicht, das Recht, die Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, das Notwendige und Erlaubte unter anderem in den Blick der Ontologie. Was nun im Blick auf die moderne Sozialontologie von besonderer Bedeutung ist, ist die Tatsache, dass sich die Ontologie der entia moralia nicht nur am Einzelwillen orientiert, sondern auch den Allgemeinwillen berücksichtigt. Das kommt nicht nur dadurch zum Ausdruck, dass im Kontext der Ontologie des Moralischen tatsächlich eine Theorie vom „allgemeinen Willen“ entwickelt wurde.⁴² Vor allem ist die Lehre von den entia moralia auch eine Ontologie der Institution, was seit F. C. von Savigny die „juristische Person“ genannt wird, d. h. in dieser Tradition der entia moralia die persona moralis composita oder auch die „öffentliche Person“⁴³. Von solcher Art sind die verschiedenen Arten der Gemeinschaften wie das Volk, die Armee, Gesellschaften, Kollegien usf.⁴⁴ Der Staat wird in diesem Sinne im Naturrecht, aber auch noch bei I. Kant und G. W. F. Hegel eine „moralische Person“ genannt.⁴⁵ Die Institution allgemein ist im Reich des Moralischen dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht einfach nur eine Agglomeration vieler Einzelwillen darstellt, sondern die Einheit eines Willens aufweist.⁴⁶ Das Institutionelle ist somit das durch einen allgemeinen Willen Getragene. Es ist die konkrete Form eines  Zu J.-J. Rousseaus Lehre von der volonté générale siehe Kobusch, Theo: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, a.a.O., S. 121– 129.  Siehe z. B. Rousseau, Jean-Jacques: Extrait du projet de paix perpétuelle de Monsieur l’Abbé de Saint-Pierre, Œuvres complètes, Bd. 3, Paris 1964, S. 608: „Et qu’est-ce qu’une personne publique? Je responds que c’est cet être moral qu’on appelle souverain, à qui le pacte social a donné l’existence.“  G. W. Leibniz am 28. November 1686 an Arnauld in Die philosophischen Schriften, Bd. 2, Hildesheim 1978, S. 76: „Il y a autant de difference entre une substance et entre un tel estre qu’il y en a entre un Homme et une communauté, comme peuple, armée, societé ou collège, qui sont des estres moraux“.  Vgl. de Vattel, Emer: Le droit des gens ou principes de la loi naturelle, appliqués à la conduite et aux affaires des Nations et des Souverains, Bd. 1, Londres 1758, § 40, S. 42: „La societé politique est une personne morale […] entant qu’elle a un entendement & une volonté“.  Siehe z. B. Leibniz, Gottfried W.: Nova methodus discendae docendaeque jurisprudentiae (1667), AA VI/1, Darmstadt 1930, II, § 15, S. 301: „Persona civilis est Collegium, quod quia habet unam voluntatem certo signo dignoscibilem v. g. ex pluralitate votorum“. Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur l’économie politique, Œuvres complètes, Bd. 3, Paris 1964, S. 245: „Le corps politique est donc aussi un être moral qui a une volonté“.

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Allgemeinen. In der Ontologie des Moralischen werden besonders drei Institutionen dieser Art genannt, ohne die das Menschengeschlecht nicht bestehen kann: die Sprache, die in noch älterer Zeit die institutio institutionum genannt wurde, das Eigentum und der den Dingen, verstanden als Waren, auferlegte Preis.⁴⁷ Deswegen ist auch z. B. der Diebstahl ein solches ens morale.⁴⁸ Hegel, der mit seiner Rechtsphilosophie durchaus auch noch in dieser Tradition der entia moralia steht, hat den Bereich des „Sittlichen“ als jenes Wollen bezeichnet, das sich an einen „festen Inhalt“ bindet, der „für sich notwendig und ein über das subjektive Meinen und Belieben erhabenes Bestehen ist, die an und für sich seienden Gesetze und Einrichtungen“⁴⁹. Hegel bezeichnet die Seinsweise dieser objektiven sittlichen Institutionen als die „Geltung“, das ist das Anerkanntsein durch ein Bewusstsein.⁵⁰ Bedenkt man, dass die Institution in der traditionellen Lehre von den entia moralia auch ‚Personʻ genannt wurde (persona moralis, persona civilis, persona ficta und Ähnliches), dann muss man umso mehr und sicherer behaupten, dass das Zentrum und der Angelpunkt dieser ‚moralischen Welt‘ die Person ist, um die sich alles dreht. In der modernen Sozialontologie scheint die Person – auf den ersten Blick – keine Rolle zu spielen. Im zweiten, diesem Thema gewidmeten Werk hat Searle zwar auch keine Persontheorie entwickelt, aber in den Kapiteln 6 bis 8 (über den „freien Willen“ bzw., wie Searle es zu benennen vorzieht, „the gap“, die politische Macht und die Menschenrechte) doch eine Theorie des freien Subjekts nachgeliefert, die man eigentlich schon für die Konstruktion erwarten konnte. Die darin vertretene Ansicht von der Besonderheit des Menschen im Vergleich zu allen anderen Wesen, nämlich das Handelnkönnen aus neigungsunabhängigen Gründen,⁵¹ entspricht gänzlich der Ansicht einer großen Tradition des Naturrechts, die auch in Kants Denken aufgenommen ist.⁵²

 Budde, Johann Fr.: Elementa Philosophiae Practicae, Halle/Magdeburg 1717, P. II, Cap. IV, s.VI, § 1, S. 291: „Eiusmodi instituta universalia, sine quibus humanum genus subsistere non potuit, tria sunt: sermo, dominium, rerum pretium.“  von Ickstatt, Johann A.: Meditationes praeliminares de studio iuris ordine atque methodo scientifica instituendo, Würzburg 1731, Cap. I, § VI: „Furtum est ens morale.“  GPR, § 144, S. 293 f.  VPR, S. 20. Siehe auch S. 204 und Enz, § 484, S. 303: „[…] das Anerkanntsein, d.i. ihr Gelten im Bewußtsein […]“.  Searle, John. R.: Making the Social World. The Structure of Human Civilization, a.a.O., S. 127 f.  Siehe z. B. de Vattel, Emer: Le loisir philosophique ou pieces diverses de philosophie, de morale et d’amusement, a.a.O., nr. 11, S. 13: „Ce ne peut être que des motifs; lesquels étant présens à l’âme, appercus & pesés par la raison, nous font sentir la nécessité d’agir d’une telle maniere, et

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Die Vertreter der modernen Sozialontologie haben, wie dieser Beitrag zeigen wollte, aus einer Quelle getrunken, die sie nicht kennen.

Literatur Aureoli, Petrus: Commentariorum in secundum, tertium, quartum libros Sententiarum pars secunda II – IV Sent., Rom 1605. Bacon, Roger: Summa grammatica, hg. von Robert Steele, Oxford 1940. Budde, Johann F.: Elementa Philosophiae Practicae, Halle/Magdeburg 1717. Domingo de Soto: De justitia et jure, Antwerpen 1568. Durandus a Sancto Porciano: In Petri Lombardi Sententias Theologicas Commentariorum libri IV, Venetiis 1571. Gabriel, Gottfried: Reich, drittes, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel 1992, Sp. 496 – 502. Gál, Gedeon: Adam of Wodeham’s Question on the ‘Complexe Significabile’ as the Immediate Object of Scientific Knowledge, in: Franciscan Studies 37 (1977), S. 66 – 102. Gregor von Rimini: Lectura super Primum et Secundum Sententiarum, Bd. 4, hg. von Adolf D. Trapp und Venicio Marcolino, Berlin/New York 1980, dt. Gregor von Rimini, Kommentar zu den Distinktionen 34 – 37 des zweiten Sentenzenbuches, übers. von Isabelle Mandrella, lat.-deutsch, Freiburg et al. 2010. Hegel, Georg W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), Werke, Bd. 7, hg. von Eva Moldenhauer und Karl M. Michels, Frankfurt a. M. 1970. (= GPR) Hegel, Georg W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Dritter Teil, Werke, Bd. 10, hg. von Eva Moldenhauer und Karl M. Michels, Frankfurt a. M. 1970. (= Enz) Hegel, Georg W. F.: Vorlesungen zur Philosophie der Religion, Sämtliche Werke, Bd. II/2, hg. von Georg Lasson, Leipzig 1927. (= VPR) Heidegger, Martin: Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus (1915), in: Frühe Schriften, GA 1, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 1978, S. 189 – 411. von Ickstatt, Johann A.: Meditationes praeliminares de studio iuris ordine atque methodo scientifica instituendo, Würzburg 1731. Jansen, Ludger: Was ist Sozialontologie?, in: Neumaier, Otto/Sedmak, Clemens/Zichy, Michael (Hg.): Philosophische Perspektiven. Beiträge zum VII. Internationalen Kongress der ÖGP, Frankfurt a. M./Lancaster 2005, S. 279 – 284. Kant, Immanuel: Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin/New York 1900 – 1966. Kobusch, Theo: Sein und Sprache. Historische Grundlegung einer Ontologie der Sprache, Leiden/New York 1987. Kobusch, Theo: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Darmstadt 21997.

déterminent la volonté, souvent contre l’inclination du cœur et malgré la résistance des passions.“

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Theo Kobusch

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Kenneth R. Westphal

Naturrecht, Künstlichkeit und die Sozialontologie moralischer Grundnormen Abstract: “Natural Law, Artifice and the Social Ontology of Basic Moral Norms.” It is widely presumed or asserted that if basic moral norms are artificial, then they must be conventional and so must be arbitrary; and conversely, that strictly objective, universally valid basic moral norms require some form of moral realism, whether metaphysical or theological. Kant’s Critical moral philosophy demonstrates that this presumption is mistaken: Even if basic moral norms are artificial, they can be universally necessary for our form of finite, semi-rational embodied agency here on Earth. That is, Kant’s Critical moral philosophy provides a cogent form of moral constructivism which avoids problems of moral relativism or skepticism by appeal to what Kant calls ‘practical anthropology’, an inventory of our basic physiological and cognitive capacities and vulnerabilities. Kant thus avoids the forms of moral conventionalism and relativism found in contemporary forms of moral constructivism which appeal to one or another form of subjective responses or states of awareness. Kant’s Critical moral philosophy thus succeeds in identifying and justifying basic moral norms without appeal to considerations of ‘values’, not even to the purported incommensurable value of human dignity. Therefore, the social ontology of broad and basic features of our moral lives can be acknowledged without rescinding the objectivity or universal validity of basic moral norms. Joachim Hruschka in memoriam herzlichst gewidmet

1 Problemstellung I. Kant ist neben vielem anderen dafür bekannt, die unendliche, inkommensurable Würde des Menschen als Zweck an sich selbst und diese als Prüfstein der Moral sowie der Moraltheorie herausgestellt zu haben. Insofern weist seine Moraltheorie Aspekte eines Moralrealismus auf. Ob seine Inkommensurabilitätsthese oder gar sein Moralrealismus zutrifft, bleibt allerdings umstritten. Heute behaupten selbsternannte „kantische Konsequentialisten“¹ oder auch etwa  Vgl. Commiskey, David: Kantian Consequentialism, New York 1996; Parfit, Derek: On What Matters, 2 Bde., Oxford 2011. https://doi.org/10.1515/9783110572735-003

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Kenneth R. Westphal

A. Sen, dass sich „deontologische“ Prinzipien innerhalb konsequenzialistischer Theorien modellieren lassen.² Weder Kants Inkommensurabilitätsthese noch einen Moralrealismus will ich in Abrede stellen; gleichwohl bleibt der Moralrealismus prinzipiell umstritten, und zwar aus Gründen, die schon im pyrrhonischen Kriteriumsdilemma zugespitzt sind.³ Anstatt diese Streitfragen erneut aufzugreifen, möchte ich im Folgenden darlegen, dass und wie Kants Moraltheorie streng objektiv gültige Grundnormen identifiziert und rechtfertigt – ich verwende absichtlich Erfolgsausdrücke in diesem Zusammenhang –, ohne seine Inkommensurabilitätsthese samt seinem Moralrealismus heranzuziehen. Dieser Nachweis erhellt, dass und wie Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ein Stück kritische Philosophie ist; ferner, dass die Grundfragen der Identifizierung und Rechtfertigung moralischer Grundnormen ganz und gar unabhängig sind von Fragen nach der Wertschätzung bzw. Handlungsmotivation (Fragen, die immer noch von vielen Moralphilosophen stattdessen als grundlegend betrachtet werden). Am wichtigsten ist, dass Kants kritische Rekonstruktion der Grundnormen der Moral klarstellt, wie es möglich ist, dass diese Grundnormen soziale Gebilde (menschliche Artefakte) und dennoch streng objektiv gültig sind. Also kann die Sozialontologie moralischer Grundnormen dem Moralrelativismus oder Moralskeptizismus nicht nur entkommen, sondern ihn darüber hinaus auch widerlegen. Das ist schon darum wichtig, weil oft vorausgesetzt, wenn nicht sogar behauptet wird, dass wenn wir die Sozialontologie des Menschen oder gar der Moralprinzipien ernst nehmen, wir einen Konventionalismus bzw. einen Kontextualismus in Kauf nehmen und die behauptete Objektivität moralischer Grundnormen preisgeben müssten. Diese Schlussfolgerungen sind jedoch prinzipiell ungültig, wie ich zeigen werde. Obwohl die Sozialontologie sich als grundlegend für die Moral erweist, lässt sich zugleich für die strenge Allgemeingültigkeit moralischer Grundnormen argumentieren.

2 Eine Grundunterscheidung der Moraltheorie Eine Grundunterscheidung in der Ontologie der Moralnormen ergibt sich aus Sokrates prominenter Frage an Euthyphron, was denn fromm und was gottgefällig

 Vgl. Sen, Amartya: The Idea of Justice, Cambridge, Mass. 2009.  Sextus Empirikus: PH 2, 20. Vgl. 1, 116 f.; AD 1, 316 f. Zur Diskussion siehe Westphal, Kenneth R.: Urteilskraft, gegenseitige Anerkennung und rationale Rechtfertigung, in: Klein, Hans-Dieter (Hg.): Ethik als prima philosophia?, Würzburg 2011, S. 171– 193.

Naturrecht, Künstlichkeit und die Sozialontologie moralischer Grundnormen

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sei?⁴ Entweder treffe der Moralrealismus (in irgendeiner Form) zu, so dass es objektive moralische Maßstäbe gibt; oder aber der Moralrealismus sei verfehlt, so dass moralische Maßstäbe allesamt künstlich sind, insofern das, was als moralisch gilt, wesentlich von der Betrachtungsweise einer Gruppe abhängt (ganz gleich, ob göttlicher oder menschlicher Subjekte). Moralrealisten wollen die Künstlichkeit moralischer Grundnormen vermeiden, weil sie darin die Gefahr eines Konventionalismus, Relativismus oder gar Skeptizismus der Moral wittern. Indes entsteht eine derartige Gefahr erst durch eine weitere These, welche ich die ‚Beliebigkeitsthese‘ nenne. Die Beliebigkeitsthese lautet: Wenn moralische Maßstäbe künstlich sind, dann sind sie ebendeshalb auch relativ, konventionell oder willkürlich, keineswegs jedoch objektiv gültig. Trifft diese These zu? Keineswegs. Ebendas ist die Grundeinsicht der Gerechtigkeitstheorie D. Humes. Er argumentiert nachdrücklich für die folgende Annahme, auch wenn er sie unzureichend entwickelt: So gewiß die Regeln der Rechtsordnung künstlich sind, so sind sie doch nicht willkürlich. Es ist daher auch die Bezeichnung derselben als Naturgesetze nicht unpassend, wenn wir unter natürlich das verstehen, was irgend einer Spezies gemeinsam ist, ja sogar, wenn wir das Wort so beschränken, daß nur das von der Spezies Unzertrennliche damit gemeint ist.⁵

Entsprechend dieser Einsicht entwickelt Hume die Grundzüge einer Naturrechtslehre, die in Bezug auf den Moralrealismus schlicht neutral ist.⁶ J.-J. Rousseau, Kant und G. W. F. Hegel haben seinen naturrechtlichen Neuansatz in dieser Hinsicht aufgegriffen und weiterentwickelt.⁷ Die Streitigkeiten zwischen Humeanern und Kantianern (von Hegelianern ganz zu schweigen) haben diese Entwicklung völlig verdeckt. Alle vier genannten Philosophen vertreten eine gewisse Art von Moralkonstruktivismus.  Vgl. Platon: Euthyphr. 5c f.  T 3, 2, 1, 19.  Vgl. Westphal, Kenneth R.: Von der Konvention zur Sittlichkeit. Humes Begründung einer Rechtsethik aus nach-Kantischer Perspektive, in: Heidemann, Dietmar/Engelhardt, Kristina (Hg.): Ethikbegründungen zwischen Universalismus und Relativismus, Berlin 2005, S. 153– 180; ausführlicher How Hume and Kant Reconstruct Natural Law: Justifying Strict Moral Objectivity Without Debating Moral Realism, Oxford 2016.  Zu diesen drei Nachfolgern siehe Westphal, Kenneth R.: Objektive Gültigkeit zwischen Gegebenem und Gemachtem. Hegels kantischer Konstruktivismus in der praktischen Philosophie, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), S. 177– 198; Moralkonstruktivismus, Vertragstheorie und Grundpflichten: Kant contra Gauthier, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 22 (2014), S. 545 – 563; Rousseaus Umbau des Naturrechts in Du contrat social , in: Kaufmann, Mattias/Renzikowski, Joachim (Hg.): Freiheit als Rechtsbegriff, Berlin 2016, S. 213 – 226; Hegel, Naturrecht und Moralkonstruktivismus, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 26 (2016), S. 451– 483.

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Allgemein gesprochen geht das konstruktivistische Verfahren in vier Schritten vor. Innerhalb eines bestimmten Bereichs gilt es: 1) bevorzugte Grundelemente zu finden, 2) diese zu identifizieren und auszugliedern, 3) aufgrund der bedeutsamsten und entscheidendsten dieser Grundelemente hinreichende Prinzipien bzw. Theorien zu konstruieren mittels 4) der Verwendung bevorzugter Konstruktionsprinzipien. Derart allgemein betrachtet, lässt sich diese Methodologie in der theoretischen Philosophie – wie bei Kant und R. Carnap – und in der praktischen Philosophie einsetzen.⁸ Insbesondere im Hinblick auf den Moralkonstruktivismus steht zu fragen: Inwiefern sind Grundnormen, wenn sie künstlich – d. h. von uns konstruiert – sind, damit schon relativ, konventionell bzw. willkürlich und somit beliebig? Bei der Beantwortung dieser Frage hängt alles von den bevorzugten Grundelementen ab (Schritt 1). Die heutigen Moralkonstruktivismen versuchen zwar, moralischer Beliebigkeit zu entkommen. Jedoch sind ihre Konstruktionen dazu prinzipiell kaum imstande, weil sie allesamt auf subjektiven Grundelementen basieren (Schritt 1 und 2), dergestalt, dass wir moralischer Grundnormen gewahr sind (ob implizit oder explizit) und dieses Gewahrsein als theoretische Grundlage herangezogen wird. Beispiele solch eines Gewahrseins sind: Gefühle – in Humes Ethik sentiments –, Leidenschaften (S. Blackburn, A. Gibbard), moralische Intuitionen, subjektive Reaktionen auf Umstände bzw. auf andere Personen (Blackburn),⁹ offenbare Präferenzen, Einzelinteressen (J. Rawls, D. Gauthier), Verhandlungsüberlegungen (in Vertragstheorien, zum Beispiel bei O. Höffe) oder auch Geltungsansprüche (J. Habermas).¹⁰ Genau deshalb, weil diese Moralkonstruktivisten  Vgl. KrV, B 737, 862 f.; Carnap, Rudolf: Der logische Aufbau der Welt, Berlin 1928. Auch in der deutschen Literatur erhält Kants konstruktivistischer Ansatz in der Methodenlehre wenig Aufmerksamkeit; die Reflexionen von O’Neill, Onora: Vindicating Reason, in: Guyer, Paul (Hg.): The Cambridge Companion to Kant, Cambridge 1992, S. 280 – 308 bleiben nach wie vor wegweisend. Kants kritische Methodologie und ihre Bedeutung für die praktische Philosophie wird ausführlich untersucht in Westphal, Kenneth R.: Vernunftkritik, Konstruktivismus und Besitzrecht bei Kant, in: Merle, Jean-Christophe/Trivisonno, Alexandre T. G. (Hg.): Kant’s Theory of Law, Stuttgart 2015, S. 57– 100.  Die heute üblichen ‚response-dependent concepts‘ gehören hierzu.  Habermas’sche Geltungsansprüche gehören hierzu, sofern nur das als Geltungsanspruch bzw. Rechtfertigungsgrund gilt, was jemand für gültig bzw. für gut hält. Vgl. Kettner, Matthias: The Disappearance of Discourse Ethics in Habermas’s Between Facts and Norms, in: von Schomberg, Rene/Baynes, Kenneth (Hg.): Discourse and Democracy. Essays on Habermas’s Between Facts and Norms, Albany 2002, S. 201– 218; Das Spezifikum der Diskursethik ist die vernunftmoralische Normierung diskursiver Macht, in: Ulrich, Peter/Breuer, Markus (Hg.): Wirtschaftsethik im philosophischen Diskurs. Begründung und „Anwendung“ praktischen Orientierungswissens, Würzburg 2004, S. 45 – 64; Konsens, in: Gosepath, Stefan/Hinsch, Wilfried/Rössler, Beate (Hg.): Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Bd. 1, Berlin 2008, S. 641– 644.

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versuchen, eine Moraltheorie bloß durch Berücksichtigung solcher subjektiven Grundelemente aufzubauen, vermögen sie prinzipiell nur, Moralprinzipien für diejenigen und in Bezug auf diejenigen zu rechtfertigen, welche die bevorzugten Grundelemente hinreichend teilen. Alle übrigen hingegen, welche diese Grundelemente nicht teilen, sie verleugnen oder gar zurückweisen, können davon nicht erreicht werden. Und genau das gerät zu einem großen Problem, da derartige subjektive Grundelemente historisch wie auch kulturell verschieden und wandelbar sind. Das ist eine basale Schwäche jener Moralkonstruktionen. Sie bleiben entsprechend dem pyrrhonischen Kriteriumsdilemma verhaftet.

3 Kants konstruktivistisches Rechtfertigungsmodell Im Kern besagt das konstruktivistische Rechtfertigungsmodells in Kants praktischer Philosophie, dass es für keine verbotene Maxime oder Handlungsart möglich ist, allen anderen, besonders den betroffenen, Personen, hinreichende Gründe zur Rechtfertigung einer Handlung anzugeben, die der Maxime entspricht. Entsprechendes gilt nach diesem Prinzip auch in Bezug auf positive Vorschriften. Hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden Maximen ist es unmöglich, allen anderen, besonders den betroffenen, Personen, hinreichende Gründe zur Rechtfertigung einer Unterlassung solcher Handlungen anzugeben, die der Vorschrift entsprechen. Die vom Kant’schen Prinzip abweichende Rechtfertigungsgrundlagen (z. B. eine Autorität, Gründungserklärung, Tradition, Geltungsansprüche oder sogar Gefühle von Lust und Unlust bzw. sonstige Neigungen) sind dem pyrrhonischen Kriteriumsdilemma ebenso unterworfen wie die oben angedeuteten Moralkonstruktivismen. Dagegen werde ich in aller Kürze darlegen, dass es dem Normenkonstruktivismus Kants gelingt, basale Moralnormen zu identifizieren und zu rechtfertigen, und zwar als streng objektiv gültig. Kants Rechtfertigungskonstruktivismus zieht weder Zustimmung noch Konsens in Betracht, sondern die bloße Möglichkeit der Konsistenz unserer Maximen bzw. äußeren Handlungen. Er bezieht sich weder auf eine bestimmte Gesellschaft samt ihren Normen (Kommunitarismus) noch auf den „überlappenden Konsens“ einer pluralistischen Gesellschaft (Rawls) oder eine Menge verschiedener Stimmen, die bestrebt sind, in Übereinstimmung mit den Prinzipien einer idealen Sprechsituation miteinander zu kommunizieren (Habermas), bzw. auf eine Vielzahl potenzieller Sozialvertragspartner (z. B. Gauthier bzw. T. Scanlon). Solche Überlegungen sind wichtig, jedoch nachrangig in Bezug auf die Grundprinzipien

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menschlichen Denkens und Handeln als solchen, wie sie durch Kants Konstruktivismus identifiziert und gerechtfertigt werden. Die Prinzipien des legitimen Vertrags lassen sich durch keinen Vertrag etablieren bzw. rechtfertigen, denn – wie schon Hume sieht –¹¹ ein Vertrag setzt jene Prinzipien bereits voraus. Was als legitimer Vertrag gelten kann, lässt sich durch keinen Vertrag festsetzen, werden doch die nötigen Legitimitätsbedingungen gerade vom rechtfertigungsfähigen Vertragsakt vorausgesetzt.¹² Dem Konsens als Grundlage der Grundnormen fehlt ein Prinzip bzw. ein Verfahren, um der Vernachlässigung bzw. Verdrängung der eigenen Pflichten durch Vernachlässigung bzw. Verdrängung relevanter Überlegungen oder Belege bzw. durch Ablehnung einer Zustimmung zu entkommen.¹³ Kants Konstruktivismus identifiziert und rechtfertigt diejenigen Grundnormen, zu deren Erfüllung wir verpflichtet sind – ganz unabhängig davon, ob wir sie mögen oder nicht und ob wir sie bejahen oder nicht –, und zwar einerseits durch die rationale Aufforderung, unseren Willen nur aufgrund rechtfertigungsfähiger Prinzipien zu bestimmen, andererseits durch die Endlichkeit unseres Wesens.¹⁴ Kants Konstruktivismus zufolge gibt es überhaupt keinen öffentlichen Gebrauch der Vernunft, ohne ihr Grundprinzip zu beachten. Er setzt keine andere Autorität voraus, sei diese ideologischer, religiöser, sozialhistorischer, konventioneller oder persönlicher Art. Das Kriterium für den deontologischen Status einer Handlung ist nach Kant weder ein assertorisches noch ein hypothetisches, sondern ein modales. Diese Modalität wird von O. O’Neill zugespitzt formuliert: „Wenn wir denken, dass andere Personen ein Prinzip nicht übernehmen und ihm darum nicht zustimmen können, so können wir ihnen keine Gründe nennen, aus denen sie nach dem Prinzip handeln sollten.“¹⁵ In diesem Zusammenhang meint „übernehmen können“ die Fähigkeit aller Menschen, im Denken und Handeln dasselbe Prinzip konsistent befolgen zu können, einschließlich der Handlung,

 T 3, 2, 5, 1– 4.  Kants Kritik der Sozialvertragstheorie gilt auch in Bezug auf Gauthier. Vgl. Westphal, Kenneth R.: Moralkonstruktivismus, Vertragstheorie und Grundpflichten: Kant contra Gauthier, a.a.O.  Siehe O’Neill, Onora: Kant and the Social Contract Tradition, in: Duchesneau, François/Lafrance, Guy/Piché, Claude (Hg.): Kant Actuel. Hommage à Pierre Laberge, Montréal 2000, S. 185 ff.; Westphal, Kenneth R.: Moralkonstruktivismus, Vertragstheorie und Grundpflichten: Kant contra Gauthier, a.a.O.  Westphal, Kenneth R.: Do Kant’s Principles Justify Property or Usufruct?, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), S. 141– 194; How Hume and Kant Reconstruct Natural Law: Justifying Strict Moral Objectivity Without Debating Moral Realism, a.a.O.  „When we think that others cannot adopt, a fortiori cannot consent to, some principle we cannot offer them reasons for doing so“ (O’Neill, Onora: Kant and the Social Contract Tradition, a.a.O., S. 200). Vgl.Westphal, Kenneth R.: Do Kant’s Principles Justify Property or Usufruct?, a.a.O., §§ 4 f.

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welche man für sich selber erwägt; sonst gibt es keine Verallgemeinerung Kant’scher Art. Es ist z. B. kein Einwand gegen Kants Verallgemeinerungstest, die ja konsistent ausfallen muss, dass jemand mich jetzt ausbeutet und später ich ihn. So ein Fall ist keine Anwendung von Kants Verallgemeinerungstest, da der vermeintliche Einwand den Akteur selber zum Ausnahmefall macht, was Kant jedoch ausdrücklich zurückweist.¹⁶ Was andere übernehmen können, ist keine Frage der psychologischen Bereitschaft, einem Prinzip zuzustimmen. Es ist auch keine Frage von Motivationen oder Handlungsgründen, die eine Person hat bzw. bejaht. Was wir als Prinzip imstande sind zu übernehmen, wird durch die handlungsleitende Maxime bzw. die durch sie geleitete Handlungsart bestimmt, durch basale Fakten, die mit unserer Endlichkeit als körperlichen Vernunftwesen zu tun haben, sowie durch basale Eigenschaften des jeweiligen Handlungskontexts. Diese kontingenten Faktoren werden durch das Prinzip hypothetischer Imperative – „wer den Zweck will, will auch (der Vernunft gemäß nothwendig) die einzigen Mittel, die dazu in seiner Gewalt sind“ (GMS, Ak. 4, S. 417 f.) – in Kants Verallgemeinerungstest einbezogen. Durch den Verallgemeinerungstest schließt Kants konstruktivistisches Rechtfertigungsmodell Maximen für Betrug, Ausbeutung, Erpressung und Entführung aus, jedoch Vorschriften des Besitzrechts, des Friedens und der Redlichkeit ein (als dem endlichen Menschen auf Erden unentbehrlich). Im Prinzip ist es bezüglich jener verbotenen Maximen gar nicht möglich, anderen Personen, besonders den Opfern, zulängliche Rechtfertigungsgründe anzugeben, damit sie jene Maximen widerspruchsfrei übernehmen können.¹⁷ Kants Ausschluss von Maximen kommt wegen des Fehlens sogar der bloßen Möglichkeit einer Aufnahme durch andere zustande, aber diese mögliche Aufnahme wird zugleich durch das Fehlen der bloßen Möglichkeit der Zustimmung signalisiert, die demgemäß als Legitimitätskriterium dient. Die Zustimmung als solche, ob sie nun implizit, explizit oder in hypothetischer Form stattfindet, spielt indessen überhaupt keine Rolle in Kants Rechtfertigungstheorie. Kants Rechtfertigungsmodell ist darin konstruktivistisch, dass es sich auf keine angeblich selbständige Art normativer Begründung bzw. Autorität stützt. Ihm liegt stattdessen die Autonomie der Vernunft zugrunde. Vernunftautonomie bildet die Grundlage, welche zur Identifizierung und Rechtfertigung legitimer

 GMS, Ak. 4, S. 424.  Vgl. Westphal, Kenneth R.: Do Kant’s Principles Justify Property or Usufruct?, a.a.O., §§ 4 f.; O’Neill, Onora: Kant and the Social Contract Tradition, a.a.O., S. 200.

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Grundprinzipien der Moral notwendig und hinreichend ist, auch wenn diese Grundprinzipien grundsätzlich soziale Artefakte sind.

4 Moraltheorie und praktische Anthropologie bei Kant Einerseits behauptet Kant, dass die Grundprinzipien der Moral rein a priori sind und darum ganz unabhängig von der Empirie, einschließlich jeglicher Anthropologie, vorgetragen werden müssen. Er betont jedoch genauso, dass der Mensch nur zu dem verpflichtet sein kann, was er auch auszuführen imstande ist.¹⁸ Um letzteres zu bestimmen, sind allerdings empirische Tatsachen nötig, u. a. anthropologische sowie möglicherweise Eigentümlichkeiten der betreffenden Person sowie ihrer Handlungsumstände. Die relevanten empirischen Tatsachen sind dabei zwar anthropologische bzw. individuelle, jedoch keine moralischen. Kants Berücksichtigung der Anthropologie oder auch Charakterologie ist kein heimlicher Weg zurück zu irgendeinem Moralrealismus. In der Grundlegung behauptet Kant bekanntlich, dass die Metaphysik a priori ist, dass sie als rationale Prinzipienlehre auch ein empirisches Gegenstück hat und dass sie in zweifacher Hinsicht auszuführen ist: einmal hinsichtlich der Natur, das andere Mal hinsichtlich der Moral. In dieser letzteren Hinsicht spricht Kant schon in der Grundlegung von einer „praktischen Anthropologie“ (GMS, Ak. 4, S. 388 f.). Er behauptet zum einen, dass die Grundprinzipien der Moral keineswegs auf Empirie basieren: Sie lassen sich empirisch weder ableiten noch rechtfertigen. Zum anderen sagt er aber auch, dass sich besagte Grundprinzipien vermittels einer (hier nicht näher spezifizierten) Anthropologie auf den Menschen beziehen.¹⁹ Dies ist zweifelsohne eine denkbare oder sogar eine vernünftige Position. Man kann daher erwarten, dass Kant sie auch in der Metaphysik der Sitten einnimmt. Dies tut er dort, wo er ausdrücklich einer „moralischen Anthropologie“ (MSRL, Ak. 6, S. 217) das Wort redet.²⁰ Die für die Moraltheorie relevanten Tatsachen betreffen das, was wir als Menschen überhaupt zu leisten vermögen, wozu  Vgl. KpV, Ak. 5, S. 30, 125.  Vgl. GMS, Ak. 4, S. 411 f.  Der Schlüsselsatz lautet: „[…] wir werden oft die besondere Natur des Menschen, die nur durch Erfahrung erkannt wird, zum Gegenstande nehmen müssen, um an ihr die Folgerungen aus den allgemeinen moralischen Principien zu zeigen, ohne daß jedoch dadurch der Reinigkeit der letzteren etwas benommen, noch ihr Ursprung a priori dadurch zweifelhaft gemacht wird. – Das will so viel sagen als: eine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet, aber doch auf sie angewandt werden.“

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auch die uns umgebenden Handlungsumstände gehören sowie unsere vielfältigen sonstigen Endlichkeiten, z. B. unsere Verletzbarkeit, Verführbarkeit oder Täuschbarkeit.

5 Die soziale Grundlage des Kant’schen Moralkonstruktivismus Kants Normenkonstruktivismus ist nun insofern sozial angelegt, als er auf die mögliche Verteilung von Rechtfertigungsgründen unter alle Personen abstellt. (Ich rede von einer ‚Verteilbarkeit‘ von Rechtfertigungsgründen, um auf ihre Adressierbarkeit sowie Übernehmbarkeit durch alle anderen im oben angeführten Sinne hinzuweisen; vgl. § 3.) Durch das Grundprinzip und den Verallgemeinerungstest von Kants Konstruktivismus sind wir dazu verpflichtet, alle Personen, uns selbst eingeschlossen, als rationale Akteure zu achten, d. h. als Akteure, die rational gerechtfertigte Prinzipien entwickeln, verstehen, prüfen und befolgen können, und zwar dadurch, dass die Durchführung von Kants Verallgemeinerungstest auf die Verteilbarkeit hinreichender Rechtfertigungsgründe unter allen Personen abzielt. Kurz, Kants Moraltheorie muss die Inkommensurabilitätsthese (bezüglich der Würde des Menschen) nicht als eine unabhängige Prämisse heranziehen, weil die Beachtung und Behandlung aller Personen als Vernunftwesen mit zum Kern des kategorischen Imperativs samt dessen Verallgemeinerungstest gehört. Sie ist eine conditio sine qua non rationaler Rechtfertigung, ohne dabei von „Preis“, „Wert“ oder „Würde“ (GMS, Ak. 4, S. 434 ff.) des Menschen reden, also auch ohne darüber streiten zu müssen.²¹ Unsere Handlungen sind durch keine natürliche, transzendentale oder transzendente Instanz koordiniert. Darum lassen sich stabile Sozialgebilde, ob es sich dabei nun des Näheren um sprachliche, physische, sittliche, wirtschaftliche

 Übrigens brauche ich auch nicht Kants „Faktum“ (KpV, § 7) der reinen praktischen Vernunft heranzuziehen. Dieses betrifft eher die Frage nach unserer Entscheidungs- und Handlungsfreiheit, dient jedoch nicht als moralisches Handlungskriterium. Zu Kants Faktum siehe Wolff, Michael: Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist. Auflösung einiger Verständnisschwierigkeiten in Kants Grundlegung der Moral, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57/4 (2009), S. 511– 549. Zu Kants Analyse der Urteils-, Entscheidungs- und Ausführungs-, also der menschlichen Handlungsfreiheit, die sich gar ohne Heranziehung des transzendentalen Idealismus sehr gut vertreten lässt, siehe Westphal, Kenneth R.: Die positive Verteidigung Kants der Urteils- und Handlungsfreiheit, und zwar ohne transzendentalen Idealismus, in: Brandhorst, Mario/Hahmann, Andree/Ludwig, Bernd (Hg.): Sind wir Bürger zweier Welten? Freiheit und moralische Verantwortung im transzendentalen Idealismus, Hamburg 2012, S. 259 – 277.

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oder politische Gebilde handelt, nur auf Prinzipien gründen, die jeder im Denken und Handeln konsistent befolgen kann. Diese conditio sine qua non der Begründung stabiler Sozialgebilde ist zugleich eine conditio sine qua non ihrer rationalen Rechtfertigungsfähigkeit. Um solche Prinzipien auf der Grundlage von Kants Rechtfertigungskonstruktivismus zu identifizieren und zu rechtfertigen, ist es erforderlich, wie Kant betont, dass wir selber denken, dass wir konsistent („mit“ uns „selbst einstimmig“) denken, dass wir ohne Vorurteile gegenüber anderen denken und dass wir schließlich „an der Stelle jedes andern denken“ (KU, § 40; WDO, Ak. 8, S. 145). Diese Denkmaximen sind keine Rechenregeln; sie geben auch keine Methode an die Hand. Sie sind vielmehr die conditio sine qua non jedes stichhaltigen und rechtfertigungsfähigen Denkens, Urteilens und Handelns. O’Neill betont zu Recht, dass diese Denkmaximen darüber hinaus Bedingungen der Möglichkeit einer Kommunikation zwischen letztendlich allen Personen sind.²² Genau das stellt Hegel durch seine Untersuchung des „geistigen Tierreichs“ heraus.²³ Er modelliert die fehlende Sozialkoordination von Sprechakten nach T. Hobbes Untersuchung fehlender Sozialkoordination von körperlichen Handlungen. In beiden Störfällen ist jegliche Leistungsmöglichkeit des Einzelnen durch die fehlende gegenseitige Rücksicht auf andere durchgehend unterminiert. Man kann so wenig etwas bloß als Einzelner besitzen, wie man bloß als Einzelner etwas sagen kann. Solche Handlungen sind keine lediglich natürlichen Vorkommnisse; sie fordern gewisse Wie-Kenntnisse, die weder bloß natürlich noch bloß individuell sind. Beide Handlungsarten sind durch Regeln konstituiert (nicht bloß spezifiziert), wobei diese Regeln ebenso wie das relevante Regelwissen sozial konstituiert sind.²⁴ Das Merkwürdige an dem hier untersuchten Moralkonstruktivismus ist, dass Hume, Rousseau, Kant und Hegel eingesehen haben, wie wir eine Sozialontologie moralischer Grundnormen und ihre strenge Allgemeingültigkeit zwanglos vereinbaren und dadurch eine vortreffliche Art von Naturrechtslehre konstruieren können – unabhängig von der ganzen Debatte um einen etwaigen Moralrealismus bzw. -irrealismus (sowie um moralische Motivationen).²⁵ Auch wenn die Ge-

 O’Neill, Onora: Constructions of Reason, Cambridge 1989, S. 24– 27, 42– 48.  PhG, S. 216 – 228.  Zur Diskussion von Hegels Analyse siehe Stekeler-Weithofer, Pirmin: Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar, Hamburg 2014, S. 1174– 1179. Auf das Hobbes’sche Vorbild wurde ich durch Sklar, Judith: Freedom and Independence. A Study of the Political Ideas of Hegel’s Phenomenology of Mind, Cambridge 1976, S. 100, 122 – 125 aufmerksam, auch wenn sie es nicht ausdrücklich benennt.  Erfahrungsgemäß erwarte ich an dieser Stelle die Replik, ich würde Kant ‚hegelianisieren‘. Keineswegs! Dabei wird übersehen, dass Hegel Kants kritische Methodenlehre übernimmt und

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nannten die Sozialontologie moralischer Grundnormen bejahen, ist diese sozialontologische These nicht nötig für die Methodologie der Identifizierung und rationalen Rechtfertigung jener Moralnormen, weil sie in dieser Methode nicht als Prämisse herangezogen wird. Kants kritische Rechtfertigungstheorie ist insofern grundsätzlich sozial angelegt, als sich Erkenntnisansprüche sowie auch Moralansprüche auf gemeinsame, öffentliche Dinge und Tatsachen beziehen²⁶ und wir endliche, fehlbare Vernunftwesen prinzipiell aufeinander angewiesen sind, um die eigenen Gedanken und Beurteilungen kritisch zu prüfen (wie gleich erläutert wird). Erkenntnisansprüche beziehen sich auf unsere gemeinsame Welt oder Aspekte derselben. Einen solchen Realismus vertritt Kant jedoch nicht im Bereich des Moralischen. Und doch sind dort objektive, öffentliche Tatsachen bezüglich des menschlichen Tunkönnens (also unseres tatsächlichen Handlungsvermögens, unserer Handlungsmöglichkeiten und unseres Handlungskontexts) unausbleiblich relevant. In dieser Sache gilt es jedoch, Kants Ansicht zu verbessern. Kant will das „Selbstdenken“ als „die Maxime der vorurtheilfreien […] Denkungsart“ (KU, Ak. 5, S. 294) verstehen. Die neuere Hermeneutik hat dagegen herausgestellt, dass die menschliche Urteilskraft immer durch implizite Vorurteile geleitet und gerichtet (wenn auch nicht bestimmt) ist. Also müssen wir die Gattung ‚Vorurteile‘ genauer ausdifferenzieren und berücksichtigen. A. Dorschel hat hierzu sehr zutreffend herausgearbeitet, dass das Problem bei z. B. rassistischen, sexistischen oder anderen moralisch verwerflichen Vorurteilen nicht darin liegt, dass es sich um Vorurteile handelt, sondern, dass sie moralisch verwerfliche Vorurteile sind.²⁷ Um jene Denkmaximen wirklich zu befolgen und nicht bloß zu bejahen, sie befolgen zu wollen, ist es erforderlich, dass wir unsere eigenen Vorurteile identifizieren und einschätzen können. Nur so sind wir in der Lage, sie nötigenfalls vorübergehend außer Kraft zu setzen, um den Standpunkt eines anderen zu verstehen. Mit anderen Worten: Die Befolgung der Kant’schen Denkmaximen

weiterführt, insofern er Kants transzendentale Prinzipienlehre unabhängig von dessen Transzendentalidealismus freilegt und kräftig untermauert, und zwar auf eine Weise, die Kants scharfe offizielle Trennung zwischen dem Apriorischen und dem Aposteriorischem gar nicht mehr braucht. Zur praktischen Philosophie bei Kant und Hegel in dieser Hinsicht siehe Westphal, Kenneth R.: Objektive Gültigkeit zwischen Gegebenem und Gemachtem. Hegels kantischer Konstruktivismus in der praktischen Philosophie, a.a.O.; Kant, Hegel und Determining Our Duties, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 13 (2005), S. 335 – 354. Zu Hegels Sozialontologie des Menschen siehe Community as the Basis of Free Individual Action, in: Daly, Markate (Hg.): Communitarianism. A New Public Ethics, Belmont, Calif. 1994, S. 36 – 40; Hegel’s Epistemological Realism, Cambridge, Mass. 2003, §§ 29 – 37.  Vgl. KU, § 21.  Vgl. Dorschel, Andreas: Nachdenken über Vorurteile, Hamburg 2001.

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erfordert die Fähigkeit zu konstruktiver Selbstkritik. Die Autonomie des eigenen Denkens und Urteilens hängt gerade daran, wie Kant betont, möglichst genau und zutreffend zu überlegen, ob sich die relevanten Bestandteile (oder Aspekte) eines erwogenen Urteils, so wie sie in den eigenen Gedanken derzeit vorkommen, so verhalten „wie sie zu einander gehören sollen“ (KrV, B 318). Beurteilung im Unterschied zur bloßen Reaktion oder Bejahung begreift wesentlich eine selbstkritische Einschätzung der eigenen Beurteilung mit ein. Eine solche konstruktive Selbstkritik bezüglich jeglicher substanziellen Sachfrage besteht in der Ausübung einer reifen Urteilskraft. Sie lässt sich folgendermaßen explizieren. Eine reife Urteilskraft besteht aus folgenden Fähigkeiten und Bereitschaften: 1) die Grundbestimmungen eines Problems auszudifferenzieren und festzustellen, 2) mit Blick auf das Problem relevante von nichtrelevanten sowie mehr relevante von weniger relevanten Überlegungen zu unterscheiden, 3) wichtige Fragen bzw. Unterfragen, die zur Problemlösung gehören, zu erkennen und zu formulieren, 4) die zur Beantwortung dieser Fragen nötigen Untersuchungen zu bestimmen, durchzuführen und einer Antwort zuzuführen, 5) die historischen oder sozialen Voraussetzungen – darunter auch die je eigenen –, die in diesen Fragestellungen wirksam sind, zu erkennen, 6) diese Fragestellungen sowie die relevanten Belege und Analysen kritisch zu bedenken und einzuschätzen, 7) diese verschiedenen Überlegungen möglichst weitgehend miteinander in Einklang zu bringen oder sachgerecht einzuordnen, 8) durch solche Reflexionen und Untersuchungen das Problem möglichst vollständig zu lösen, 9) alle diese Überlegungen und Befunde den betroffenen Parteien möglichst klar, ausführlich und überzeugend vorzulegen. 10) Daher heißt für uns, da wir fehlbar sind, rational zu urteilen, eine Beurteilung folgender Art abzugeben: ‚So weit ich jetzt die Sachlage verstehe und zum jetzigen Zeitpunkt verstehen kann, ist dieser Schluss in Hinsicht auf diese Gründe (Belege, Informationen, Überlegungen bzw. Rechtfertigungsprinzipien) und in diesen Beziehungen gerechtfertigt. Habe ich die Sachlage so richtig verstanden?‘ Eine derart reife Urteilskraft versetzt uns in den Stand, Fakten, Prinzipien, Analysen sowie Ansprüche – sie mögen die eigenen oder die anderer Menschen sein –, zu prüfen und auszuwerten. Demgemäß sind wir dazu in der Lage, die eigenen Einstellungen sowie die Einstellungen anderer produktiv zu prüfen, zu bestätigen oder zu verbessern. Dadurch allein können wir unsere Prinzipien, Beurteilungen und Behauptungen sowie unsere diesbezüglichen Belege und Beweisführungen prüfen und sie auf diese Weise bestätigen, entkräften oder verbessern. Das Kriteriumsdilemma wird durch die Möglichkeit konstruktiver Selbstkritik sowie gegenseitiger konstruktiven Prüfung unterminiert, aber nur, sofern wir diese Fähigkeit tatsächlich einsetzen. Genau darin besteht die Autonomie der menschlichen Urteilskraft, die sich durchaus unabhängig von Kants

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transzendentalem Idealismus vertreten lässt.²⁸ Wie Kant selber betont: Ohne Publizität und offene, öffentliche Debatte über unsere Behauptungen und deren Rechtfertigungsgründe, egal ob im theoretischen oder im praktischen Bereich, wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mittheilen, dächten! Also kann man wohl sagen, daß diejenige äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mitzutheilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken nehme (WDO, Ak. 8, S. 144).

Obwohl Kant mit dem letzteren an eine äußere politische Gewalt denkt, kann sich heutzutage die Macht der Massenmedien wohl wirksamer, weil schlauer gegen die Denkfreiheit auswirken. Dass die Anerkennung der eigenenen Fehlbarkeit in der Praxis wie auch in der Theorie (vgl. Nummer 10 der oben genannten Kennzeichen) gar konstitutiv zur Ausübung der eigenen rationalen, rechtfertigungsfähigen Urteilskraft mit hinzugehört, ist ferner das entschiedene Endergebnis von Hegels Analyse gegenseitiger Anerkennung: Nur dadurch, dass wir uns gegenseitig als vernunftbegabte, rational urteilsfähige, darin aber auch endliche und fehlbare Wesen anerkennen, gelangen wir zu einer möglichst vollkommenen menschlichen Urteilskraft und können wir diese möglichst zuverlässig ausüben.²⁹ Dadurch ist rationale Rechtfertigung (jedenfalls außerhalb der bloß formalen Axiomatik) und darum auch menschliche Erkenntnis wesentlich sozial angelegt, nicht zuletzt hinsichtlich moralischer Grundnormen. Dass unser rational rechtfertigungsfähiges Denken sowie unsere tatsächlich ausgeführten rationalen Rechtfertigungen als Vernunftleistungen insofern grundsätzlich sozial beschaffen sind, ist also eine Grundthese der Sozialontologie. Sie verträgt sich freilich mit strenger objektiver Gültigkeit, ob im theoretischen oder im praktischen Bereich. Darum ist diese Art von Moralkonstruktivismus fähig, unabhängig von der ganzen Debatte um Moralrealismus bzw. -irrealismus moralische Grundnormen zu identifizieren und zu rechtfertigen, auch ohne als Prämisse heranzuziehen, dass moralische Grundnormen letztendlich soziale Gebilde, also Artefakte, sind. Wie der vorgestellte Moralkonstruktivismus dies leistet, wird im folgenden Abschnitt resümiert.

 Vgl. Kenneth R.: Die positive Verteidigung Kants der Urteils- und Handlungsfreiheit, und zwar ohne transzendentalen Idealismus, a.a.O.  Vgl.Westphal, Kenneth R.: Urteilskraft, gegenseitige Anerkennung und rationale Rechtfertigung, a.a.O.

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6 Die Modalität des Kant’schen Rechtfertigungsprinzips Kants Denkmaxime und meine Explikation der reifen Urteilskraft sind die conditio sine qua non eines jeden stichhaltigen, rechtfertigungsfähigen Denkens. Insofern ist ihre Anwendung nötig, um die für die Moral relevanten Tatsachen einer praktischen Anthropologie Kant’scher Art samt ihrer Relevanz zu erkennen und einzuschätzen. Ihre Anwendung ist auch nötig, um zu bestimmen, ob alle Betroffenen die eigenen Rechtfertigungsgründe für die je eigene Maxime und deren Ausführung übernehmen können oder nicht. Hier ist zwischen ‚übernehmen können‘ und ‚zustimmen können‘ zu unterscheiden. Letztendlich muss letzteres direkt oder indirekt auf Rechtfertigungsgründen basieren, die eine jede andere Person bejaht oder für sich übernommen hat. Damit kommen wir nie weg von den durch eine stichhaltige Moraltheorie zu lösenden Meinungsunterschieden, Verhandlungsschwierigkeiten oder gar Streitigkeiten über ‚Grundwerte‘ oder sonstige ‚Grundprämissen‘ der Moral. Das ist zuletzt auch die Schwäche bei Habermas’schen Geltungsansprüchen.³⁰ Die Pointe des sittlichen Verallgemeinerungstests zufolge des kategorischen Imperativs ist es aufzuweisen, dass verbotene Maximen bzw. Handlungsarten solche sind, welche die Übernahme der eigenen Rechtfertigungsgründe durch eine andere Person entweder durch eigene Zwangsausübung irrelevant machen (z. B. bei Erpressung, Ausbeutung, Gewalttätigkeit, Machtergreifung) oder ihr entgehen müssen, um erfolgreich handeln zu können (z. B. im Falle des Lügens, Betrugs, des Schwindels oder der Täuschung). Auch dafür ist nicht nur Kants apriorisches Grundprinzip, der kategorische Imperativ, sondern auch seine praktische Anthropologie grundlegend, insofern wir Menschen z. B. nicht solche rationalen Wesen sind, wie sie Kant gegen Ende der Anthropologie erwähnt, die nämlich nur dadurch überhaupt denken können, dass sie alles laut denken; sie können „keine Gedanken haben […], die sie nicht zugleich aussprächen“ (GMS, Ak. 4, S. 332). Diese Wesen können einander nie täuschen, da sie nur so handeln, dass sie einem potenziellen Opfer zugleich mitteilen, was sie planen. Umgekehrt sind gebotene Maxime von der Art, dass hinreichende Rechtfertigungsgründe ihrer Unterlassung nicht universal übernommen werden können.

 Vgl. Kettner, Matthias: The Disappearance of Discourse Ethics in Habermas’s Between Facts and Norms, a.a.O.; Das Spezifikum der Diskursethik ist die vernunftmoralische Normierung diskursiver Macht, a.a.O.; Konsens, a.a.O.

Naturrecht, Künstlichkeit und die Sozialontologie moralischer Grundnormen

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Hinsichtlich der Sozialontologie moralischer Grundnormen sind zwei Feststellungen von Hobbes entscheidend. Erstens, dass eine unbegrenzte Handlungsfreiheit unter Menschen zur vollkommenen gegenseitigen Beeinträchtigung und dadurch zur Aufhebung jeglicher wirksamen Handlungsmöglichkeit führt. Zweitens, dass eine bloße, unbefangene Unwissenheit darüber, wem was gehört, zur vollkommenen gegenseitigen Beeinträchtigung und dadurch zur Aufhebung jeglicher wirksamen Verwendung materieller Ressourcen führt, einschließlich Luft, Platz und Lebensmittel.³¹ Rousseau bekräftigt nun, drittens, mit Recht, dass diese beiden Feststellungen nur unter historischen Bedingungen einer niedrigen Bevölkerungsdichte zutreffen. Alle drei Feststellungen sind für Kants Metaphysik der Sitten wie auch schon für Humes Gerechtigkeitstheorie grundlegend. Und alle diese Naturrechtslehrer haben, viertens, eingesehen, dass zu den Grundproblemen der Moral Probleme sozialer Koordination gehören, die sich nur über öffentliche, wechselseitig anerkannte Handlungsprinzipien samt ihrer Institutionalisierung als soziale Handlungspraktiken lösen lassen. Erst Rousseau hat, fünftens, erkannt, dass sich diese sozialen Grundprinzipien und -praktiken nur dann als legitim rechtfertigen lassen, wenn sie die Selbständigkeit einer jeden Person dadurch anerkennen und bewahren, dass niemand eine Art bzw. einen Grad von Macht oder Reichtum sich aneignen darf, wodurch er die Entscheidungsund Handlungsfreiheit eines anderen einschränken kann.³² Genau diese sozialpolitischen Selbständigkeitsbedingungen nimmt auch Kant zu Beginn seiner Rechtslehre auf, nämlich in Gestalt des einzig angeborenen Rechts: Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht. (MSRL, Ak. 6, S. 237 f.)³³

Indem eine Fülle von Grundproblemen der Moral in sozialen Koordinationsproblemen besteht, fordern diese zu ihrer Lösung öffentliche, gemeinsame, gegenseitig übernehmbare Prinzipien und deren Institutionalisierung. Deshalb ist die

 Die von Hobbes herausgestellten Grundprobleme des Naturzustands entstammen bloß natürlicher Unwissenheit darüber, was wem gehört, ohne Berücksichtigung menschlicher Psychologie der Handlungsmotivationen. Zu Hobbes siehe Ludwig, Bernd: Die Wiederentdeckung des epikureischen Naturrechts: zu Thomas Hobbesʼ philosophischer Entwicklung von De cive zum Leviathan im Pariser Exil 1640 – 1651, Frankfurt a. M. 1998, eine immer noch maßgebende Studie.  „‚In der Republik‘, sagt der Marquis d’Argenson, ‚ist jeder vollkommen frei, soweit er den anderen nicht schadet‘. Das ist die unverrückbare Grenze; man kann sie nicht genauer ziehen“ (CS, S. 467 Anm.).  Vgl. MSRL, Ak. 6, S. 236 f.

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mögliche Publizität einer Maxime eine notwendige Bedingung ihrer Gerechtigkeit, genau wie Kant das in seiner Schrift Zum ewigen Frieden herausstellt: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publicität verträgt, sind unrecht.“ (ZeF, Ak. 8, S. 381) Aber dieses erste Publizitätsprinzip ist noch keine hinreichende Bedingung der Gerechtigkeit einer Maxime, und zwar deshalb nicht, wie Kant im Weiteren ausführt, „weil, wer die entschiedene Obermacht hat, seiner Maximen nicht hehl haben darf“ (ZeF, Ak. 8, S. 384 f.). Um diese Schranke zu beheben, führt Kant ein zweites, „bejahendes Princip des öffentlichen Rechts“ ein: „Alle Maximen, die der Publicität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen.“ (ZeF, Ak. 8, S. 386) Genau diese Publizität verlangen die Grundnormen des uns Menschen möglichen – und notwendigen – Zusammenlebens. Es sind das die Grundnormen der Gerechtigkeit, einschließlich der Prinzipien des Besitzrechts und der republikanischen Bürgerschaft, wie auch des Vertragsrechts und der Redlichkeit.³⁴ Diese Prinzipien und die ihnen entsprechenden Maximen, Handlungsarten und Handlungen lassen sich nur mittels Publizität verwirklichen. Nur mittels Publizität sind die eigenen moralisch erlaubten Maximen, Handlungsarten und Handlungen auch gerechte sowie in der Theorie und Praxis überhaupt möglich. Nur mittels Publizität wird gegenseitige Beeinträchtigung durch gerechte soziale Koordination behoben. Nur mittels Publizität also sind die eigenen moralisch erlaubten, gerechten Handlungen überhaupt ausführbar. Insofern sind die Grundprinzipien und die Grundpraktiken der Moral – nicht nur der Gerechtigkeit, sondern auch der Ethik – unsere Konstruktionen. In ebendieser

 Kants Universalisierungsproben stelle ich dar in Westphal, Kenneth R.: Practical Reason: Categorical Imperative, Maxims, Laws, in: Dudley, Will/Engelhard, Kristina (Hg.): Kant: Key Concepts, London 2010, S. 103 – 119. Kants Rechtfertigung des Besitzrechts untersuche ich ausführlich in Westphal, Kenneth R.: Do Kant’s Principles Justify Property or Usufruct?, a.a.O. Vgl. Rühl, Ulli F. H.: Kants Deduktion des Rechts als intelligibler Besitz. Kants „Privatrecht“ zwischen vernunftrechtlicher Notwendigkeit und juristischer Kontingenz, Paderborn 2010. Auch in seiner Analyse des Widerstandsrechts ist Kant ein ausgeprägter Republikaner: Seine absolute, also unbedingte Zurückweisung eines Widerstandsrechts gilt nur innerhalb seiner metaphysischen Rechtsprinzipien, also genau dann, wenn ein Staat völlig legitim ist; ein solcher Staat aber findet sich nicht auf Erden. Parallel dazu vertritt Kant auch eine äußerst entschiedene, jedoch bedingte Gehorsamspflicht gegenüber wirklichen Staaten, wohl aber nur, sofern dies Staaten und keine bloßen Herrschaftsordnungen sind. Vgl. Westphal, Kenneth R.: Kant on the State, Law, und Obedience to Authority in the Alleged „Anti-Revolutionary“ Writings, in: Journal of Philosophical Research 17 (1992), S. 383 – 426. Für das damit sehr eng verwandte Thema der nichtidealen Normativität bei Kant siehe Horn, Christoph: Nichtideale Normativität. Ein neuer Blick auf Kants politische Philosophie, Berlin 2014.

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Hinsicht sollten wir folgende Betrachtung Kants über Handlungsmaximen erneut berücksichtigen: Denn wenn sie nur durch die Publicität ihren Zweck erreichen können, so müssen sie dem allgemeinen Zweck des Publicums (der Glückseligkeit) gemäß sein, womit zusammen zu stimmen (es mit seinem Zustande zufrieden zu machen), die eigentliche Aufgabe der Politik ist. Wenn aber dieser Zweck nur durch die Publicität, d.i. durch die Entfernung alles Mißtrauens gegen die Maximen derselben, erreichbar sein soll, so müssen diese auch mit dem Recht des Publicums in Eintracht stehen; denn in diesem allein ist die Vereinigung der Zwecke Aller möglich. (ZeF, Ak. 8, S. 386)

7 Schlussbetrachtung Ich habe darzulegen versucht, was und wie viel Kant in Bezug auf die Sozialontologie moralischer Grundnormen leistet, und zwar ohne einen Moralrealismus oder die inkommensurable Würde des Menschen heranziehen zu müssen. Diese wichtige Leistung hat Kant durch seine kritische, durchaus konstruktivistische Methodologie rationaler Rechtfertigung in einem jeglichen, nicht bloß formalen, sondern ebenso sehr materiellen Bereich erbracht. Leider sind sie bisher weitgehend unbeachtet geblieben, weil die meisten Interpreteten und alle Kant-Kritiker immer noch vorkritischen Ansichten über rationale Rechtfertigung verhaftet sind.³⁵ Hegel bildet die Ausnahme. Er hat Kants kritische, konstruktivistische Methodenlehre sowie dessen kritischen Umbau des Naturrechts noch weiter vorangetrieben und untermauert, u. a. dadurch, dass er en détail zeigt, wie das pyrrhonische Kriteriumsdilemma zugleich den Rechtfertigungsfundamentalismus und den Rechtfertigungskohärentismus – darunter auch die sog. ‚Methode‘ des reflexiven Gleichgewichts – widerlegt und es darüber hinaus Kants kritischer, konstruktivistischer Methode gelingt, das pyrrhonische Kriteriumsdilemma zu lösen. Dies freilich nur insoweit, als wir bestrebt sind, die eigene Urteilskraft immer weiter zu bilden und beständig eine möglichst reife Urteilskraft zur Anwendung zu bringen.³⁶

 Dies gilt besonders für Kants angelsächsische Kritiker, die das längst besser wissen könnten, nämlich aufgrund von Watson, John: Kant and his English Critics. A Comparison of Critical and Empirical Philosophy, Glasgow 1881 sowie Caird, Edward: The Critical Philosophy of Immanuel Kant, 2 Bde., Glasgow 1889.  Vgl.Westphal, Kenneth R.: Urteilskraft, gegenseitige Anerkennung und rationale Rechtfertigung, a.a.O.

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Literatur Caird, Edward: The Critical Philosophy of Immanuel Kant, 2 Bde., Glasgow 1889. Carnap, Rudolf: Der logische Aufbau der Welt, Berlin 1928. Commiskey, David: Kantian Consequentialism, New York 1996. Dorschel, Andreas: Nachdenken über Vorurteile, Hamburg 2001. Hegel, Georg W. F.: Phänomenologie des Geistes, Gesammelte Werke, Bd. 9, hg. von Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede, Hamburg 1980. (= PhG) Horn, Christoph: Nichtideale Normativität. Ein neuer Blick auf Kants politische Philosophie, Berlin 2014. Hume, David: A Treatise of Human Nature, London 1738 – 40; kritische Ausgabe hg. von David F. Norton und Mary J. Norton, Oxford 2000, zitiert nach Buch, Teil, Paragraph, Absatz-Nr. (= T) Kant, Immanuel: Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin/New York 1900 – 1966. Kettner, Matthias: The Disappearance of Discourse Ethics in Habermas’s Between Facts and Norms, in: von Schomberg, Rene/Baynes, Kenneth (Hg.): Discourse and Democracy. Essays on Habermas’s Between Facts and Norms, Albany 2002, S. 201 – 218. Kettner, Matthias: Das Spezifikum der Diskursethik ist die vernunftmoralische Normierung diskursiver Macht, in: Ulrich, Peter/Breuer, Markus (Hg.): Wirtschaftsethik im philosophischen Diskurs. Begründung und „Anwendung“ praktischen Orientierungswissens, Würzburg 2004, S. 45 – 64. Kettner, Matthias: Konsens, in: Gosepath, Stefan/Hinsch, Wilfried/Rössler, Beate (Hg.): Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Bd. 1, Berlin 2008, S. 641 – 644. Ludwig, Bernd: Die Wiederentdeckung des epikureischen Naturrechts: zu Thomas Hobbesʼ philosophischer Entwicklung von De cive zum Leviathan im Pariser Exil 1640 – 1651, Frankfurt a. M. 1998. O’Neill, Onora: Constructions of Reason, Cambridge 1989. O’Neill, Onora: Vindicating Reason, in: Guyer, Paul (Hg.): The Cambridge Companion to Kant, Cambridge 1992, S. 280 – 308. O’Neill, Onora: Kant and the Social Contract Tradition, in: Duchesneau, François/Lafrance, Guy/Piché, Claude (Hg.): Kant Actuel. Hommage à Pierre Laberge, Montréal 2000, S. 185 – 200. Parfit, Derek: On What Matters, 2 Bde., Oxford 2011. Platon: Euthyphron, griechisch-deutsch., übers. von. Klaus Reich, Hamburg 1968. Rousseau, Jean-Jacques: Du contract social ou Principes du droit politique (1762), in: Œuvres complètes 3, hg. von Bernhard Gagnebin und Marcel Raymond, Paris 1964, S. 347 – 470. (= CS) Rühl, Ulli F. H.: Kants Deduktion des Rechts als intelligibler Besitz. Kants „Privatrecht“ zwischen vernunftrechtlicher Notwendigkeit und juristischer Kontingenz, Paderborn 2010. Sen, Amartya: The Idea of Justice, Cambridge, Mass. 2009. Sextus Empirikus: Gegen die Dogmatiker (Adversus mathematicos), libri 7 – 11, übers. von Hansueli Flückiger, Sankt Augustin 1998. (= AD) Sextus Empirikus: Gegen die Wissenschaftler (Adversus mathematicos), libri 1 – 6, aus dem Griechischen übers., eingel. und kommentiert von Fritz Jürß, Würzburg 2001. (= AD)

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Kenneth R. Westphal

Westphal, Kenneth R.: Rousseaus Umbau des Naturrechts in Du contrat social , in: Kaufmann, Mattias/Renzikowski, Joachim (Hg.): Freiheit als Rechtsbegriff, Berlin 2016, S. 213 – 226. Wolff, Michael: Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist. Auflösung einiger Verständnisschwierigkeiten in Kants Grundlegung der Moral, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57/4 (2009), S. 511 – 549.

Stephan Zimmermann

In sozialontologischer Absicht: Kants Weltbegriff des Menschen und seine Zuschärfung bei Heidegger Abstract: “With Socio-Ontological Intent: Kant’s World Concept of the Human Being and its Specification by Heidegger.” The present paper understands the problem posed by the ontology of the social as the question of what the social is in itself and in general. Is there a condition for something to be something social, which is not only a necessary, but furthermore a sufficient one and therefore the very same for any and all cases? A historical perspective which can be drawn upon to make a systematic contribution to solving this problem is promised by Kant’s world concept of the human being and its specification by Heidegger. The former is primarily found beyond the strictly formed thought of the three Critiques in Kant’s later writing Anthropology from a Pragmatic Point of View (1798). And the latter can be documented especially poignantly in Heidegger’s lecture Introduction into Philosophy (1928/29) where he develops his own concept of the world subsequent to Kant. The benefit for social ontology lies in the insight that the regress merely back to human consciousness, which currently constitutes the notion that lends the framework in which the conceptualization of the social moves, falls short.

1 Leicht geht es uns ein, wenn von etwas als etwas Sozialem die Rede ist. Unzählige sowohl adjektivische Fügungen wie auch Komposita sind heute in aller Munde. Wie selbstverständlich reden und hören wir von Sozialpolitik und Soziallasten, von Sozialabbau und Sozialprodukt, loben etwas als sozialverträglich oder geißeln es als unsozial, studieren den sozialen Strukturwandel einer Gesellschaft, schließen uns einer sozialen Bewegung an oder appellieren an das soziale Gewissen einer Person. Dabei hat das aus dem Lateinischen herkommende Lehn-

Für sachliche Hinweise zu Teilen des Textes danke ich Friedrich-Wilhelm von Herrmann. https://doi.org/10.1515/9783110572735-004

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Stephan Zimmermann

wort ‚sozial‘ seine rasante Erfolgsgeschichte im Deutschen erst vor ungefähr 200 Jahren angetreten.¹ In der Neuzeit sind es in erster Linie die lateinischsprachigen Naturrechtskompendien des 17. und 18. Jahrhunderts, die sich zunehmend des Terms socialis bedienen und so seine Eindeutschung vorbereiten. Anders als social in Frankreich und social in England allerdings hat ,sozial‘ im deutschen Sprachraum bis um das Jahr 1830 noch keine nennenswerte Aufnahme gefunden. Erst von da an ist ein rascher Anstieg zu beobachten, und das gleich auf zwei unterschiedlichen Feldern. Auf der einen Seite kommen jene drastischen Missstände, welche die tief greifenden Umwälzungen der industriellen Revolution in allen westeuropäischen Ländern mit sich bringen, insgesamt als soziale Frage ins Gespräch.² Zeitgleich wird ein Drängen gänzlich anderer Art spürbar, das auf die Ausbildung und theoretische Begründung einer erfahrungswissenschaftlichen Erforschung gesellschaftlicher Ereignisse und Zusammenhänge geht und die sich selber unter dem Banner der sozialen Wissenschaft bzw. Soziologie aufstellt.³ Seitdem hat sich der Ausdruck zu einem gängigen Bestandteil nicht nur der wissenschaftlichen Fach- und gelehrten Bildungssprache, sondern bis zu einem gewissen Grade sogar unseres alltäglichen Wortschatzes ausgewachsen. Was ‚sozial‘ alsdann besagen will, liegt indes keineswegs offen zutage. Denn was ist es, das auf diese Weise in Wissenschaft und Politik, Verwaltung, Presse und Umgangssprache scheinbar wahllos allem und jedem im Leben der Menschen beigelegt zu werden vermag?⁴

 Erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts liegen hierzu einige etymologische Studien vor. Vgl. Zimmermann, Waldemar: Das ‚Soziale‘ im geschichtlichen Sinn- und Begriffswandel, in: Geck, Ludwig H. A./Kempski, Jürgen von/Meuter, Hanna (Hg.): Studien zur Soziologie, Mainz 1948, S. 173 – 191; Geck, Ludwig H. A.: Über das Eindringen des Wortes ‚sozial‘ in die deutsche Sprache, Göttingen 1963.  H. Heine bedient sich in seinem Pariser Artikel für die Augsburger Allgemeine Zeitung vom 30. April 1840 erstmals der Übersetzung, jedoch noch im Plural, „sociale Fragen“. (Heine, Heinrich: Lutezia. Berichte über Politik, Kunst und Volksleben. Erster Theil, DHA Bd. 13/1, Hamburg 1988, S. 32)  Die Wendung ‚science sociale‘ taucht zum ersten Mal 1792 in dem Gutachten des Marquis de Condorcet für die gesetzgebende Versammlung für eine Neuordnung des französischen Bildungswesens auf. Nachzuweisen ist sie sodann 1808 bei C. Fourier und 1822 bei A. Comte. In der deutschen Sprache findet sich der Terminus ‚sociale Wissenschaft‘ 1837 in der Übersetzung von J. de Sismondis Etudes sur les sciences sociales. Vgl. de Sismondi, Jean: Forschungen über die Verfassungen der freien Völker, Frankfurt a. M. 1837, S. 1 ff.  Sicher mag man sich behelfen und ‚sozial‘ mittels altbewährter Erbworte erläutern. Nahe liegt das bereits aus dem Mittel- und Althochdeutschen herstammende ‚gesellschaftlich‘. Allein, was wäre damit gewonnen? ‚Gesellschaftlich‘, wo es sich mit ‚sozial‘ überschneidet oder ganz damit zusammenfällt, ist kaum deutlicher. Es besagt: die Gesellschaft betreffend, und ‚Gesellschaft‘

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Jedoch ist die Schwierigkeit, die sich hier auftut, zuletzt gar keine semantische. Die Sprache macht uns nur auf ein Problem anderer Art aufmerksam, das sich in ihr reflektiert. Denn was über das bloß Bedeutungsmäßige des besagten Wortgebrauchs hinaus eigens erwogen werden muss, ist doch das sachliche Recht solchen Redens: Hält sich, wie der Wortsinn unterstellt, in all den unendlich vielfältigen Erscheinungen, die wir heutzutage gleichermaßen als ‚soziale‘ Erscheinungen anzusprechen und so zusammenzufassen pflegen, wirklich ein Gemeinsames durch? Worin besteht dieser einheitliche Charakter? Diese Frage stellt offenkundig nicht auf die sprachliche Seite des Ausdrucks ab, was nicht bedeutet, dass das so Erfragte nicht auch die Sprache als etwas Soziales mit einschließt. Es wäre aber ein irreführendes Verfahren, wollte man sie durch eine Erörterung des Ausdrucks oder seiner Verwendungspraxis abtun; die Verwechslung, der man dabei aufsäße, ist vergleichbar der, da jemand Einsichten in Aufbau und Funktion von Zellen zu erlangen sucht, indem er sich einen Überblick über die Grammatik der Sprachspiele mit dem Ausdruck ‚Zelle‘ verschafft.⁵ Anstatt die rund 200-jährige Geschichte des Ausdrucks, der sich längst zu einer unabweisbaren Tatsächlichkeit verhärtet hat, einfach hinzunehmen, müssen wir einen Standpunkt dazu gewinnen. Es gilt, über die faktische Bedeutungsspur des Wortes hinaus- und zu demjenigen hinzugelangen, was darin zur Sprache kommt: Das Gemeinte, die Sache selber ist es, deren innere Problematik ins Licht hervortreten muss. Die Sache selbst – das ist, wie ich in substantivierter Form sagen möchte, das Soziale. Während die Redeweise von etwas als etwas Sozialem vergleichsweise neu ist, ist das, was damit bezeichnet sein will, doch außerordentlich alt; immerhin haben Menschen bereits dort miteinander gearbeitet, füreinander gesorgt und gegeneinander gestritten, wo die gemeinsame Wahrheit solcher und anderer Vorgänge ihren Weg noch nicht ins Vokabular der Sprache gefunden hat. Und seine Aufklärung ist die eigentliche Aufgabe, vor welche das Achthaben auf die lebendig geübte Sprache unserer Zeit führt. Für ein Unternehmen dieser Art hat M. Theunissen in seiner Monographie Der Andere aus dem Jahr 1965 den Titel der Sozialontologie aufgebracht.⁶ Im angel-

bedeutet dann in etwa die Gesamtheit der Verhältnisse, in denen Menschen zueinander stehen (vgl. Duden. Das Herkunftswörterbuch, Mannheim/Zürich 42007, S. 77 ff.). ‚Sozial‘ benennt aber genau dieses: das die Gesellschaft und das Zusammenleben der Menschen Betreffende (vgl. S. 272). Wenn Erklären heißt Unklares auf Verständliches zurückführen und daraus erhellen, sind solche Rückgriffe auf sinnverwandte Ausdrücke also keine wirkliche Hilfe.  L. Jansen legt, was er „analytische Sozialontologie“ nennt, so als eine „Untersuchung sprachlicher Ausdrücke und Äußerungen“ an. (Jansen, Ludger: „Analytische Sozialontologie“, unveröffentl. Habilitationsschrift, Rostock 2010, S. 25)  Vgl. Theunissen, Michael: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1965.

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sächsischen Sprachraum redet auch J. R. Searle in seiner 1995 erschienen Abhandlung über The Construction of Social Reality und seitdem in vielen weiteren Schriften von „social ontology“, was sich seither einer breiten Übernahme erfreut.⁷ Diesen bestehenden Sprachgebrauch will ich aufgreifen und heiße die spezifische Frage, die mich hier interessiert, die sozialontologische. Ontologie des Sozialen soll allerdings keine schlichte Sammlung und Wiedergabe dessen sein, was es so alles an Sozialem gibt oder geben mag.⁸ Sie zählt keine Objekte oder Sachverhalte zusammen, und sie entscheidet schon gar nicht darüber, welche Objekte oder Sachverhalte (oder was auch immer) es gibt. Überhaupt geht die Forderung nicht darauf, dem Sozialen, was es hier oder dort war, ist oder sein kann, nachzuspüren. Dieses soll vielmehr ganz im Allgemeinen, d. h. so zu Begriffe kommen, wie es in jedwedem Miteinander, Füreinander und Gegeneinander der Menschen dasselbe ist, ohne sich jeweils darin zu erschöpfen. Bei all den Verschiedenheiten, die zwischen den einschlägigen Phänomenen bestehen, kommt es also darauf an, sie in derjenigen Hinsicht zu ergreifen, worin sie ungeachtet ihrer Unterschiede übereinstimmen. Die viel berufene Formel, die eine solche Fragestellung klassischerweise anzeigt, ist ‚als solches‘. Dabei handelt es sich um die deutsche Übersetzung des scholastischen qua talis, welches wiederum dem ᾗ der griechischen Antike entspricht.⁹ Im Schlagwort dieser Tradition formuliert, ist die zentrale Frage der Sozialontologie demnach die, was das Soziale als solches ist. Der Zusatz ‚als solches‘ sei dabei im striktestmöglichen Sinne ausgelegt. Er soll die Suche nach derjenigen Bedingung für Soziales ausdrücken, die nicht bloß eine notwendige, sondern darüber hinaus eine hinreichende und so für sämtliche der betreffenden Fälle ein und ebendieselbe ist. Mithin begreife ich Sozialontologie im Kern als das Unterfangen, eine Voraussetzung freizulegen, ohne deren Erfülltsein etwas nicht etwas Soziales sein kann, die aber, wenn sie erfüllt ist, macht, dass die betreffende Sache zwangsläufig etwas Soziales sein muss. Sollte sich eine derartige Bedingung angeben lassen, und das ist durch das schiere Faktum einer eingewöhnten Wortverwendung keinesfalls schon verbürgt, gälte sie

 Vgl. Searle, John R.: The Construction of Social Reality, New York 1995. Siehe neuerdings ebenso Making the Social World: The Structure of Human Civilization, Oxford 2010.  So hat man oftmals (freilich zu Unrecht) W. V. O. Quines Adaption der Ontologie und ihrer traditionellen Problemstellungen an die analytische Philosophie in der Mitte des 20. Jahrhunderts verstanden, wenn er ihre Grundfrage angibt als „What is there?“ und dann beantwortet mit „Everything“. (Quine, Willard V. O.: On What There Is, in: Review of Metaphysics 2 (1948), S. 21)  Bekanntermaßen lautet Aristoteles fundamentalste Erläuterung der von ihm so getauften „ersten Philosophie“ in Buch Gamma seiner Metaphysik auf die Lehre vom ὄν ᾗ ὄν, ens qua ens, dem Seienden als Seienden. Vgl. Aristoteles: Met. 1003a21.

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gleicherweise für gerechte wie ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse, faire wie unfaire, versöhnte wie entfremdete, verfeinerte wie rohe, vernünftige wie unvernünftige; und sie wäre in jedem Bereich menschlicher Gesellschaft am Werk, in politischen Aktivitäten geradeso wie in erzieherischen Maßnahmen, in sportlichen und religiösen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Betätigungen, um nur einige zu nennen (diese mögen im Übrigen institutionalisiert und auf Dauer gestellt sein oder sich einmalig, zufällig, spontan ereignen). Und freilich gilt hier alsdann desgleichen die Umkehrung. Wir haben es wie immer mit einer logischen Äquivalenz zu tun, wo ein Bedingungsverhältnis zugleich notwendig und hinreichend ist. Die fragliche Voraussetzung, welche gesucht wird, ist eine, die unweigerlich genau dann gegeben sein müsste, wenn etwas etwas Soziales ist.

2 Um 1900 verdichtet sich vornehmlich in Deutschland und Frankreich das Ringen der neu entstehenden Sozialwissenschaften um ein ausdrückliches Verständnis der eigenen Bestimmung. Dazu gehört nicht zuletzt ein begrifflicher Entwurf ihres Forschungsbereichs, für welchen sie im Kanon der alteingesessenen wissenschaftlichen Disziplinen einen exklusiven Erkenntnisanspruch anzumelden vermögen. Es kommt zu einer über bloße Wortanalysen hinausführenden Bemühung um eine adäquate Konzeptualisierung der Sache selbst und im Allgemeinen, um das jeden thematischen Sachverhalt der Soziologie umgreifende Gebiet im Voraus abzustecken. Die Frage, die wir als die sozialontologische herausgehoben haben, stellt sich naturgemäß immer auch dort, wo soziologische Interessen zu sich selber erwachen, womit gewiss nicht gesagt sein soll, dass sie sich lediglich hier stellt. Die Gründungsschriften der Väter der modernen Sozialwissenschaft, die ‚sozial‘ in den Rang eines grundlegenden terminus technicus heben – darunter etwa É. Durkheim, G. Simmel und M. Weber –, legen davon ein eindrucksvolles Zeugnis ab.¹⁰ Dessen ungeachtet scheinen viele Autoren, die an der laufenden, von Searle Anfang der 1990er-Jahre in Gang gebrachten Debatte teilnehmen, sich dessen Verdacht anzuschließen, wonach die genannten und andere sozialtheoretische Klassiker kaum bis gar keine Bedeutung für die gegenwärtige Ontologie des Sozialen entfalten könnten.¹¹ Nur einige wenige Bezugnahmen lassen sich hier als  Siehe etwa Weber, Max: Soziologische Grundbegriffe (1921), in: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 51980, S. 1 ff.  Vgl. Searle, John. R.: Social Ontology. Some Basic Principles, in: Anthropological Theory 6 (2004), S. 14.

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begrüßenswerte Ausnahmen anführen, darunter M. P. Gilberts Rezeption von Simmels Analyse des Gesellschaftsbegriffs¹² und P. Pettits kritische Beschäftigung mit Durkheim.¹³ Tatsächlich war für die Beschäftigung mit den begrifflichen Grundlagen des Sozialen bislang die analytische Handlungstheorie der 1950erbis 1970er-Jahre richtungsweisend.¹⁴ Vor diesem Hintergrund hat kürzlich H. B. Schmid durch seinen Rückgriff auf Ansätze der Phänomenologie und Existenzphilosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts demonstriert, dass die mangelnde Einbeziehung größerer philosophie- und soziologiegeschichtlicher Zusammenhänge die aktuelle Diskussion mit schwerwiegenden systematischen Einbußen bedroht. Muss sich doch jedes ernsthafte Nachdenken mit einschlägigen Meinungen der Vergangenheit gleichzeitig und durch sie ebenso herausgefordert wie belehrbar wissen.¹⁵ Eine weitere solche Perspektive, an die sich anknüpfen lässt und die eine Bereicherung für die Lösung der skizzierten Problemstellung verspricht, eröffnet sich beispielsweise, wie ich im Folgenden darlegen möchte, im Rückgang auf I. Kants Weltbegriff des Menschen und dessen Zuschärfung bei M. Heidegger. Damit ist wohlgemerkt nicht diejenige Rede von Welt gemeint, wie sie prominent in der Kritik der reinen Vernunft (1781) begegnet. Dort entwickelt Kant im „Ersten Buch“ der transzendentalen Dialektik den Begriff der Welt neben dem von Seele und Gott als eine sog. Vernunftidee. Nicht nur der menschliche Verstand sei eine Quelle reiner Begriffe, sondern imgleichen unsere Vernunft. Und der Beitrag, welchen sie zum Aufbau von Erfahrungserkenntnis beisteuert, soll es sein, wie Kant zum Ende des Kapitels hin verdeutlicht, das durch den Verstand bereits den Kategorien gemäß geordnete Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung, will sagen die aus diesen Synthesen erwachsende Vielheit an Erfahrungen raumzeitlicher Phänomenen, selber noch einmal, und zwar nach Maßgabe der Ideen, unter eine höhere, ja die „höchste Einheit des Denkens“ (KrV, B 355) und so in einen allseitigen Zusammenhang zu bringen. Welt als Vernunftidee ist die vorausgehende Vorstellung eines anschaulich nie erfüllbaren, Erfahrung ermöglichenden, weil letzte Einheit stiftenden Ganzen: einer, wie Kant zu Beginn des

 Vgl. Gilbert, Margaret P.: On Social Facts, London/New York 1989, S. 146 – 236.  Siehe dazu insbesondere das zweite Kapitel „Mind and Society“ in Pettit, Philip: The Common Mind. An Essay on Psychology, Society, and Politics, New York/Oxford 21996, S. 111– 214.  Vgl. Meggle, Georg/Beckermann, Ansgar (Hg.): Analytische Handlungstheorie, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1985; White, Alan R. (Hg.): The Philosophy of Action, Oxford 1968.  Vgl. Schmid, Hans B.: Wir-Intentionalität: Kritik des ontologischen Individualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft, Freiburg 2005, bes. S. 243 ff.

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Antinomien-Kapitels im „Zweiten Buch“ der Dialektik erklärt, „absolute[n] Totalität in der Synthesis der Erscheinungen“¹⁶. Dieser Begriff der Welt, wie ihn die Transzendentalphilosophie aufstellt, ist recht besehen schon auf den Menschen bezogen. Soll er doch in der apriorischen Struktur unseres Intellekts beschlossen liegen und dessen Endlichkeit geschuldet sein. Nach Kant sind wohl bloße Geistwesen wie beispielsweise Gott und ihm untergeordnete transzendente Gestalten denkbar, allerdings haben sie wesensmäßig keine solche Vorstellung, ja überhaupt keine Ideen, wie sie auch nicht über Kategorien verfügen. Schließlich sind sie von vornherein gar keiner auf sinnlicher Anschauung fußenden Erfahrungserkenntnis von Gegenständen in Raum und Zeit fähig.¹⁷ Damit sind wir unmittelbar bei einer anderen Bedeutung angelangt, mit der Kant den Weltbegriff auflädt. Insbesondere in späteren Werken, der Kritik der Urtheilskraft (1790) und der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), spricht er vom Menschen mehrfach als einem vernünftigen „Weltwesen“¹⁸. Da diese Charakterisierung immerzu in explizitem Gegensatz zu Gott als „höchstem“ oder „Urwesen“ steht, ist der Mensch qua Weltwesen für Kant offenbar ein endliches Wesen. Anders als in der christlichen Tradition jedoch, bei Augustinus etwa und T. von Aquin, besteht die Endlichkeit des Menschen nicht in seiner Geschöpflichkeit; Kant will nicht so sehr sagen ens creatum.¹⁹ Genauso wenig ist damit auf die unentrinnbare Sterblichkeit der Menschen als Naturwesen angespielt, auf ihr Sein zum Tode. Gemeint ist anstatt dessen eine prinzipielle Bedingtheit unserer Rationalität: In seinem theoretischen Gebrauch etwa ist der menschliche Intellekt daran gebunden, dass ihm Objekte in sinnlicher Anschauung gegeben werden, und in seinem praktischen Gebrauch bedarf er allemal Gefühle als Triebfedern, um Gegenstände, unsere Handlungen und deren absehbare Folgen, hervorbringen zu können. Die hier in Rede stehende Welthaftigkeit menschlichen Daseins liegt mithin darin, dass wir gerade nicht rein geistige Wesen sind. Mit dieser Auffassung von Welt als der Grundverfassung mancher Vernunftwesen vertieft sich die Beziehung von Welt und Mensch merklich. Denn nicht nur hat der Mensch kraft seiner jederzeit endlichen Vernunftsubjektivität eine Vorstellung von Welt. Er selber wird mit ‚Welt‘ angesprochen: Der Mensch ist eine weltförmige, und d. h. eben endliche, Existenz. Allein, das ist vom Menschen  „Ich nenne alle transscendentale Ideen, so fern sie die absolute Totalität in der Synthesis der Erscheinungen betreffen, Weltbegriffe“ (KrV, B 434). Vgl. KrV, B 447.  Vgl. KrV, B 72, 138 f., 145.  Siehe etwa KU, Ak. 5, S. 353, 393, 439, 444, 445, 451; RGV, Ak. 6, S. 60, 74 Anm., 103.  Was aber mitunter doch mitschwingt. Vgl. KU, Ak. 5, S. 443.

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gewiss nicht ausschließungsweise zu sagen, sondern gilt nicht minder im Falle aller sonstigen etwaigen endlichen Intelligenzen. Solche heißen in Kants Sprache ebenfalls „Weltwesen“, wenn er sich in diesem Zusammenhang auch nur recht selten so ausdrückt.²⁰

3 Gehen wir in Kants Schriften noch weiter voran, so finden wir in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht aus dem Jahr 1798, dass noch eine weitere Bedeutung in den Begriff der Welt hineinspielt. Um ebendiese ist es mir zu tun. Denn Kant lässt die „Vorrede“ mit der Erklärung anheben, was man überhaupt von einer Anthropologie, zumal in pragmatischer Hinsicht, zu erwarten habe. Den Menschen, so lesen wir da, „seiner Species nach, als mit Vernunft begabtes Erdwesen zu erkennen, verdient besonders, Weltkenntniß genannt zu werden, ob er gleich nur einen Theil der Erdgeschöpfe ausmacht“ (Anth, Ak. 7, S. 119). Die bewusste sprachliche Trennung zwischen Welt einerseits und der Erde mitsamt den auf ihr lebenden Wesen andererseits, von welchen der Mensch nur eines unter vielen ausmacht, bereitet die Annäherung an die Aufgabe vor, welche Kant der Anthropologie steckt. Und zwar konzipiert er diese, so der Folgesatz unumwunden, als die „Lehre von der Kenntniß des Menschen, systematisch abgefaßt“. Damit nimmt Kant eine bemerkenswerte Zuordnung vor; Anthropologie soll zum einen „Weltkenntniß“ sein, das aber soll zum anderen heißen „Kenntniß des Menschen“. Das Verhältnis von Welt und Mensch erreicht hier seine Spitze im Gedanken einer ausschließlichen Zusammengehörigkeit beider. Danach wird durch die erstere unter den mannigfachen Geschöpfen der Erde lediglich der letztere bestimmt: Kant versteht Welt jetzt allem Anschein nach als einen Wesenszug einzig des Menschen. Kant detailliert das, indem er kurz darauf unterscheidet zwischen „Welt kennen und Welt haben“ (Anth, Ak. 7, S. 120); und er führt aus, dass „der Eine nur das Spiel versteht, dem er zugesehen hat, der Andere aber mitgespielt hat“. Welches Spiel hat Kant hier im Auge? Nicht das „Spiel der Natur“, das er an dieser Stelle gleichfalls erwähnt und explicite abgrenzt; aus diesem gehen „Thiere, Pflanzen und Mineralien in verschiedenen Ländern und Klimaten“, selbst die „Menschenrassen“ als „Producte“ hervor. Gemeint ist dagegen ein Spiel, welches augenscheinlich auf den Menschen berechnet ist. Denn Kant fährt sogleich fort: „Die sogenannte große Welt aber, den Stand der Vornehmen, zu beurtheilen,

 Siehe etwa RGV, Ak. 6, S. 6 Anm., 26 Anm.

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befindet sich der Anthropologe in einem sehr ungünstigen Standpunkte“. Warum dem so sein mag, können wir dahingestellt sein lassen. Doch identifiziert Kant hier abermals Welt und Mensch, indem er die „große Welt“ durch den Einschub „Stand der Vornehmen“ erklärt. Ziehen wir die Nachschrift zu einer seiner Anthropologievorlesungen (1791/ 92) zurate, so lesen wir da mit ähnlichem Wortlaut: „Ein Mann von Welt ist Mitspieler im großen Spiel des Lebens.“²¹ Die Welt, um die es geht, ist danach das „große Spiel des Lebens“. Und dieses besteht in nichts anderem als dem Trachten und Treiben der Menschen miteinander, füreinander und gegeneinander. Der „Mann von Welt“, den Kant im Munde führt, ist einer, der in jenem Spiel bewandert ist: „Weltmann heißt die Verhältnisse zu anderen Menschen und wie’s im menschlichen Leben zugeht, wissen.“ Dementsprechend bringt die Wendung „Welt haben“ für Kant zum Ausdruck, dass einer mitspielt im Geschehen menschlicher Gesellschaft; und „die Welt kennen“ bedeutet demgegenüber sich auf Abstand halten und unbeteiligter Zuschauer bleiben. „Welt haben, heißt Maximen haben und große Muster nachahmen. Es kommt aus dem Französischen. Zum Zweck gelangt man durch Conduite, Sitten, Umgang usw.“ Mithin weist die Welt, die jemand Kants eigenwilliger Ausdrucksweise zufolge hat und und womit sich in Gestalt der Anthropologie eine eigene philosophische Fragestellung verbindet, über den Einzelnen hinaus: Sie soll so etwas wie das soziale Geformtsein eines Individuums bezeichnen.²² Werfen wir auf diese Weise belehrt einen Blick zurück in Kants Œuvre, so findet sich der besagte anthropologische Begriff der Welt bereits im Jahr 1785, in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Dort notiert Kant in einer Fußnote: Das Wort Klugheit wird in zwiefachem Sinn genommen, einmal kann es den Namen Weltklugheit, im zweiten den der Privatklugheit führen. Die erste ist die Geschicklichkeit eines Menschen, auf andere Einfluß zu haben, um sie zu seinen Absichten zu gebrauchen. Die zweite die Einsicht, alle diese Absichten zu seinem eigenen daurenden Vortheil zu vereinigen. (GMS, Ak. 4, S. 416 Anm.)

Auch hier besagt ‚Welt‘ ganz klar nicht „Totalität in der Synthesis der Erscheinungen“, geschweige denn Endlichkeit, sei es als Bedingtheit menschlicher Rationalität, sei es als Kreatürlichkeit oder irdische Sterblichkeit unserer Existenz. Welt ist hingegen erneut der Titel für den Menschen allein, nicht aber nach seiner ihn jeweils von anderen unterscheidenden Individualität, sondern hinsichtlich  Die philosophischen Hauptvorlesungen Immanuel Kants. Nach den neu aufgefundenen Kollegheften des Grafen Heinrich zu Dohna-Wundlacken, Leipzig/München 1924, S. 71.  Den sozialen Aspekt, der hier in den Weltbegriff hineinkommt, übersieht Düsing, Klaus: Die Teleologie in Kants Weltbegriff, Bonn 1968, S. 25 f.

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seiner sozialen Bezüglichkeit: für seine Teilhabe an und sein Sichauskennen mit dem Spiel des gesellschaftlichen Lebens, dem „Verhältnisse zu anderen Menschen“ und „wie’s im menschlichen Leben zugeht“. Denn nur dank solcher mehr oder weniger ausgeprägten Vertrautheit mit Sprach- und Benimmformen, Traditionen und Riten, Geschmackstendenzen und Rechtsmaßstäben etc. versteht sich einer ja im konkreten Fall überhaupt darauf, „auf andere Einfluß zu haben, um sie zu seinen Absichten zu gebrauchen“. „Weltklugheit“ ist in Kants Sprache diejenige Form von Klugheit, die sich aus dem Umgang mit Menschen, aus „Conduite, Sitten, Umgang usw.“ speist und dahin zurückzielt.²³ Indem Kant die Zugehörigkeit des Menschen zu anderen seiner Art als die Weltlichkeit unserer Existenz fasst, führt er jedoch in Wahrheit nur die ursprünglich, ebenso humane wie soziale Semantik des Ausdrucks ‚Welt‘ fort.²⁴ Denn über das mittelhochdeutsche werlt und das althochdeutsche weralt ist unser heutiges Wort ‚Welt‘ seiner Herkunft nach eine Zusammensetzung, deren erstes Glied das alte germanische Substantiv wer ausmacht. Dieses bedeutet Mensch oder Mann. Das in Sage und Dichtung lebendige Wesen des Werwolfs z. B. ist wörtlich ein Mannwolf, ein Mensch, der sich zeitweise in ein Tier verwandelt. Den zweiten Bestandteil bildet das germanische Substantiv, das mit unterschiedlicher Stammbildung im Altnordischen mit ǫld (Lebenszeit, Zeitalter), im Gotischen mit alds (Menschenalter, Zeit) und im Altenglischen mit ieldo (Zeitalter, Zeitraum, Lebenszeit, Alter) überliefert und dessen Wurzel dieselbe ist wie in unseren Ausdrücken ‚alt‘ und ‚Alter‘, namentlich al- (wachsen, wachsen lassen, nähren). Etymologisch genommen steht ‚Welt‘ folglich für Menschenzeit, Zeitalter der Menschen. Die diversen heidnischen Schöpfungsvorstellungen germanischer Völker nämlich, soweit uns darüber glaubhafte schriftliche Dokumente überliefert sind, unterschieden verschiedene zeitliche Epochen in der Entstehung der Götter, der Erde und der Menschen. Dazu zählt etwa das Riesenalter, das Windund Schwertalter, die Wolfszeit, das Beilalter, das Zwergen- und das Goldalter. Das

 In dem von G. B. Jäsche besorgten Handbuch zu Kants Logikvorlesungen findet sich eine vergleichbare Unterscheidung, und zwar zwischen einem Schul- und einem Weltbegriff der Philosophie: „Philosophie ist also das System der philosophischen Erkenntnisse oder der Vernunfterkenntnisse aus Begriffen. Das ist der Schulbegriff von dieser Wissenschaft. Nach dem Weltbegriffe ist sie die Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft.“ (Log, Ak. 9, S. 23; siehe ebenso KrV, B 866 f.) Hier kommt mit der Rede von Welt gleichfalls eine genuin menschliche Rücksicht in die Philosophie.Während es nämlich der Schulphilosophie lediglich um die systematische Einheit aller Erkenntnis aus Begriffen gehe, sei diese für die Weltphilosophie allein insofern von Belang, als sie in Beziehung auf die Bestimmung des Menschen, die wesentlichen Zwecke der „menschlichen Vernunft“, steht. Die soziale Dimension fehlt hier allerdings.  Zum Folgenden siehe Duden. Das Herkunftswörterbuch, a.a.O., S. 30 und 922.

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gegenwärtige Zeitalter schließlich, dasjenige, in dem die Menschen leben, das Menschenalter also, ist – die Welt.²⁵ Im Laufe der Zeit haben sich dazu zahlreiche Ableitungen gebildet und bis heute erhalten. Der zeitliche Sinn allerdings ist darin verloren gegangen. Einige Beispiele mögen dies veranschaulichen. Zunächst ein älteres aus der hochmittelalterlichen Literatur. H. von Aue etwa charakterisiert in den berühmten Prologzeilen seiner Verserzählung Der arme Heinrich aus den 1190er-Jahren seine Hauptfigur u. a. dadurch, dass er angibt: „So konnte er Anerkennung und Beifall / der Welt gewinnen [alsus kunde er gewinnen / der werlte lop unde prîs]“²⁶. Wir fragen hier, wessen „Anerkennung und Beifall“ Heinrich durch seine Fertigkeiten und Tugenden gewinnen konnte; und jene Welt, welche darauf die Antwort gibt, ist die menschliche Gesellschaft, der Heinrich angehört. Die „weltlichen Ehren [werltlîchen êren]“²⁷, die ihm nach Auskunft des Dichters zuteil sind, sind ein zentraler Wert ritterlicher Lebensweise. Und sie sind, ganz im Gegensatz zum verinnerlichten Würdebegriff der Neuzeit, das Ergebnis eines gewissen Regeln der mittelalterlichen Gesellschaft gemäßen Lebens. Und auch der lebendige Sprachgebrauch unserer Gegenwart ist reich an solchen Ableitungen.²⁸ Wenn einer etwa weltabgewandt oder gar weltflüchtig lebt, lebt er ja immer noch in der Welt als dem Inbegriff dessen, was ist. Nur hat er seine Mitmenschen weitestgehend hinter sich gelassen; sie sind es, von denen er sich zurückgezogen hat und die er meidet. ‚Weltfremdʻ nennen wir, wem es an Bildung mangelt, der nicht weiß, wie es im Leben zugeht; wie G. F. Meier in seiner Cosmologie (1756) anmerkt, kann man auch sagen, „man lerne die Welt kennen, wenn man die Menschen kennen lernt“²⁹. ‚Alle Welt weiß doch‘ meint: jedermann weiß. ‚Das hat die Welt noch nicht gesehen‘ heißt, so etwas hat bis dato noch keiner gesehen. Oder einer gilt in den Augen der Welt als Verbrecher, während ein anderer, was er tut, vor den Augen der ganzen Welt tut. Und wer zur Welt kommt,

 Vgl. Adelung, Johann C.: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 4: Seb-Z, Leipzig 1801, Sp. 1479. – Die Schöpfungsmythen der Germanen sind uns hauptsächlich durch die mittelalterliche Edda-Literatur erhalten. Diese gibt jedoch die westnordischen Mythen des Mittelalters wieder, die in unterschiedlichem Maße bereits von christlichem Gedankengut beeinflusst sind. Teile lassen sich zwar auf Mythen zurückführen, die noch aus urgermanischer Zeit stammen; diese sind jedoch nicht mehr zweifelsfrei rekonstruierbar.Vgl. Hultgård, Anders: Schöpfungsmythen, in: Beck, Heinrich/Geuenich, Dieter/Steuer, Heiko (Hg.): Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Bd. 27, Berlin/New York 22004, S. 242 ff.  von Aue, Hartmann: Der arme Heinrich, Tübingen 2001, V. 72 f.  Ebd., V. 57.  Zahlreiche Beispiele gibt Löwith, Karl: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Ein Beitrag zur anthropologischen Grundlegung der ethischen Probleme, München 1928, S. 15 f.  Meier, Georg F.: Metaphysik. Zweyter Theil: Die Cosmologie, Halle 1756, § 291.

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der tritt nicht einfach bloß ins nackte Dasein; er stößt zur menschlichen Gesellschaft, ihrer Geschichte und ihren Institutionen hinzu, in die er hineingeboren und innerhalb derer er auferzogen wird. Der ‚Weltbürgerʻ schlussendlich – jenes Schlagwort der Aufklärungsepoche, dem auch Kant den abschließenden Platz in seiner politischen Philosophie einräumt³⁰ – ist Bürger jenes virtuellen Gemeinwesen, welches alle Menschen beherbergt, insofern er nämlich in Staaten außerhalb seines Vaterlandes Besuchsrecht genießt.³¹

4 Kants anthropologischer Begriff von Welt hat nach ihm weitergewirkt. Freilich nicht nur dieser, hat doch das 19. Jahrhundert im Anschluss an die unter den Vorzeichen der Transzendentalphilosophie neu formulierte kosmologische Weltproblematik mit verschiedensten Absichten Wege gesucht, u. a. in Gestalt des Positivismus und Neukantianismus, sich des Phänomens zu vergewissern. Ausdrückliche und durchaus produktive Aufnahme findet Kants Weltbegriff des Menschen im frühen 20. Jahrhundert bei M. Heidegger. Dabei bleibt er jedoch nicht einfach, wie er ist. Heidegger übernimmt ihn in die von ihm seit den 1920erJahren phänomenologisch betriebene Analytik des Daseins als einen ihrer Grundbegriffe nur, indem er ihn unter den entsprechenden Vorzeichen seines Denkansatzes in mehrerlei Hinsicht näher entwickelt und präzisiert. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang mehr noch als das frühe Hauptwerk Sein und Zeit (1927) die kurz darauf, im Wintersemester 1928/29 an der Universität Freiburg i. Br. gehaltene Vorlesung Einleitung in die Philosophie. Dieser Text ist für das Thema der Sozialontologie allein schon deshalb überaus interessant, obgleich dahingehend bislang noch nicht wirklich ausgelotet, weil Heidegger dort im „Ersten Abschnitt“, entgegen der Vorgehensweise in Sein und Zeit, vermittels der Frage nach dem Wesen moderner Wissenschaft das spezifische Mitsein des Menschen mit seinesgleichen freilegt und festsetzt. Jene steckt zum

 Vgl. MSRL, Ak. 6, S. 352 ff.; ZEF, Ak. 8, S. 357 ff.  H. Heimsoeth hat schon 1963 in einem Vortrag vor der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur „Kants Weltverständnis“ nachgespürt. Dabei geht es ihm jedoch nicht um den oder einen Begriff von Welt, der sich bei Kant nachweisen lässt. Aus Äußerungen jenseits des streng geformten Denkens der drei Kritiken rekonstruiert er stattdessen Kants Anschauungen in Bezug auf den Erfahrungsbereich des Astronomischen und Theologischen.Vgl. Heimsoeth, Heinz: Astronomisches und Theologisches in Kants Weltverständnis, Wiesbaden 1963.

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Voraus den Rahmen ab, innerhalb dessen dieses erarbeitet wird.³² Die eingehende Auseinandersetzung mit dem Kant’schen Begriff der Welt dagegen, in dem die anfänglich humane und soziale Sinndimension des Wortes wieder durchbricht, findet sich im „Zweiten Abschnitt“. Auf diese will ich mich hier im Wesentlichen beschränken. Sie hat im handschriftlichen Vorlesungsskript, welches erst posthum erschienen ist, so viel Raum eingenommen, dass Heidegger mehr als zwanzig Seiten nicht mündlich vorgetragen hat.Viele Passagen sind wortwörtlich, allerdings nur in stark gekürzter Form in die wohl gleichzeitig entstandene und 1929 als Festbeitrag zu Ehren von E. Husserls 70. Geburtstag veröffentlichte Abhandlung Vom Wesen des Grundes eingegangen.³³ Heideggers Ausführungen nehmen ihren geschichtlichen Ausgang von den jüngeren Quellen, aus denen sich Kants Wortgebrauch speist. Unmittelbar und zuvörderst von Bedeutsamkeit ist für Kant ohne Zweifel dasjenige Weltverständnis, welches in der deutschen Schulmetaphysik vorherrschend wird. Die Metaphysik hat sich im Verlauf ihrer schulmäßigen Ausbildung während der frühen Neuzeit in eine metaphysica generalis und eine metaphysica specialis aufgespalten. Die allgemeine Metaphysik soll nach dem fragen, was überhaupt zum Seienden qua talis gehört, sprich Ontologie sein. In Kants transzendentalphilosophischer Umbildung wird sie zur Lehre von der Möglichkeit spezieller Metaphysik als Wissenschaft. Diese wiederum will von den hauptsächlichen Bezirken des Seienden handeln, darunter die Kosmologie (cosmologia rationalis) oder, wie C. A. Crusius seit 1745 eingedeutscht sagt, die „Weltlehre“³⁴. C.Wolff etwa, der 1720 den deutschen Ausdruck ‚Welt‘ erstmals in das metaphysische Denken einführt, definiert seine Bedeutung als die Reihe sämtlicher veränderlichen Dinge.³⁵ Diese Vorstellung von der Welt als dem All des Seienden, das nicht mehr Teil eines anderen, umfassenderen Ganzen ist, durchzieht sodann, mit feinen Unterschieden, die gesamte deutsche Schulphilosophie.³⁶ Und sie kehrt nicht nur dem Geist,

 Vgl. Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), GA 27, Frankfurt a. M. 22001, §§ 13 und 14.  Und beide Texte stellen wiederum die Ausarbeitung einer entsprechenden Partie der von Heidegger im Sommersemester 1928 unter dem Titel „Logik“ an der Universität Marburg gehaltenen Vorlesung dar. Vgl. Heidegger, Martin: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (1928), GA 26, Frankfurt a. M. 1978, S. 218 ff.  Crusius, Christian A.: Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegen gesetzt werden, Leipzig 31766, S. 8.  Vgl. Wolff, Christian: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Halle 1720, § 544.  Siehe etwa Baumgarten, Alexander G.: Metaphysica, Halle 71779, § 354; Crusius, Christian A.: Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegen gesetzt werden, a.a.O., § 350; Meier, Georg F.: Metaphysik. Zweyter Theil: Die Cosmologie, a.a.O., § 292.

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sondern überdies dem Buchstaben nach in Kants kritisch gewendeter Weltkonzeption als einem in der Natur menschlicher Subjektivität wurzelnden Totalitätsbegriff wieder. Erläutert Kant Welt doch (ebenso wie mitunter Seele und Gott) wiederholt anhand des Gedankens einer Reihe: als „die absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinungen“ (KrV, B 391).³⁷ Der andere Weltbegriff, der demgegenüber bei Kant an vergleichsweise abgelegener Stelle zum Vorschein kommt und der für uns von Belang ist, ist, wie Heidegger einbringt, vor Kant im eschatologischen Existenzverständnis des Christentums ebenso sehr überliefert wie herabgewertet.³⁸ Während κόσμος in der antiken Alltagssprache, Dichtung und Philosophie durchweg positiv konnotiert ist als gut eingerichtete, sinnvolle Ordnung, zweckmäßige Gliederung, verwendet das Neue Testament, welches zunächst auf Altgriechisch verfasst war, den Ausdruck pejorativ. In Paulus erstem Brief an die Korinther sowie dem an die Galater kommt er als Name für einen bestimmten Zustand menschlicher Existenz in Gebrauch: Kosmos meint denjenigen Zustand des Menschen, da dieser von Gott abund den irdischen Dingen zugekehrt lebt;³⁹ ähnlich im Johannesevangelium.⁴⁰ Und diese im Koine-Griechisch des Neuen Testaments anhebende Bedeutungsprägung setzt sich später im Kirchenlatein des Augustinus, Thomas und anderer fort. Bei Augustinus bedeutet mundus nicht nur den Inbegriff des von Gott Geschaffenen, sondern steht ebenso sehr für die „inhabitantes“, die Bewohner der Welt, und zwar mit dem spezifischen Sinn, dass sie „dilectores mundi“⁴¹ sind, Liebhaber der Welt, des Irdischen und Vergänglichen. Solches diligere mundum aber ist ein non cognoscere Creatorem suum, ein verwerfliches, weil vom rechten Pfad der Liebe zum Schöpfer abgekommenes Leben.⁴² In der Folge rückt mit dem 9. Jahrhundert auch im Deutschen das Prädikat ,weltlich‘ (weraltlīh) zum Gegenwort auf zu geistlich, kirchlich, jenseitig; ,Weltmann‘ (weraltman) konnte man von da an abschätzig eine weltlich gesinnte, will sagen den diesseitigen Angelegen-

 Siehe ebenso KrV, B 379, 398, 435 ff. und passim.  Zum Folgenden siehe auch Rentsch, Thomas: Welt I, in: Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12: W-Z, Darmstadt 2004, Sp. 408 ff.  Vgl. 1 Kor 1, 21; 2, 12; Gal 6, 14.  Vgl. Joh 7, 7; 16, 33. Siehe ebenso 1. Joh 2, 15; Jak 4, 4.  Augustinus: In Evangelium Ioannis tractatus centum viginti quatuor, Tract. II, n. 11 (PL, Sp. 1393).  Heidegger legt Augustinus fälschlich die Worte „amare mundum“ in den Mund. Ebenso K. Löwith in Der Weltbegriff der neuzeitlichen Philosophie, Heidelberg 1960, S. 10 f. und Mensch und Menschenwelt, in: Sämtliche Schriften, Bd. 1, Stuttgart 1960, S. 305 f. Der identische Wortlaut von Löwiths Ausführungen lässt vermuten, dass diese Heideggers Vorlesung zum Vorbild haben. Tatsächlich ist es Thomas, der in seiner Summa theologiae mit demselben Sinn wie Augustinus von den „amatores mundi“ (STh I – II, q. 72, a. 3) spricht.

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heiten allzu sehr zugetane, Person nennen. Diese ganz und gar auf den Menschen gemünzte Auslegung von Welt ist unübersehbar bestimmend für Kants anthropologischen Weltbegriff, wenn dieser auch keinerlei christliche Wertung des menschlichen Lebenswandels mehr erkennen lässt, ja insgesamt wertneutral bleibt.⁴³ Wie Heidegger nun feststellt, stehen bei Kant beide Weltbegriffe lose und unvermittelt nebeneinander.⁴⁴ Kants Rede von Welt wechselt zwischen zwei Bedeutungen, deren eine Heidegger mit Kant selber die kosmologische und deren andere er in der Regel nicht die anthropologische, sondern nach der Gewohnheit seines eigenen Sprachgebrauchs die existenzielle Bedeutung von Welt nennt. Wir werden noch sehen, warum. Die dritte Weltbedeutung, die wir oben unterschieden haben und die auf die grundsätzliche Endlichkeit menschlicher Rationalität abstellt, behandelt Heidegger dagegen nicht als eine eigenständige; er schlägt sie kurzerhand der ersten zu.⁴⁵ Das ist nicht gänzlich falsch, bringt doch der menschliche Intellekt die kosmologische Weltvorstellung nur deswegen von Haus aus mit, weil er ein endlicher ist. Allerdings ist seine Endlichkeit ein weit umfangreicherer Tatbestand, der keineswegs mit der einen Vernunftidee der Welt in eins gesetzt werden darf, sondern sich darüber hinaus noch in vielen anderen Hinsichten manifestiert. Wie dem auch sei, Kant hat die Frage nach dem etwaigen Zusammenhang von kosmologisch und anthropologisch respektive existenziell gefasster Welt in der Tat nicht eigens gestellt. Und er hat damit auch den Einschlag von Sozialem, der in der einen liegt, nicht weiter verfolgt im Hinblick auf die andere oder gar das Gebiet der Transzendentalphilosophie im Ganzen. Indessen sind beide Weltbegriffe, so Heidegger weiter, doch nicht ohne jegliche Beziehung, wie es bei Kant den Eindruck macht. Dem existenziellen Begriff komme in Wahrheit der Vorrang zu, er sei „ursprünglicher“⁴⁶, wie Heidegger sich ausdrückt, als der kosmologische. Das will besagen, das Weltverständnis in der ersten Bedeutung ist explanatorisch primär und so dort unerlässlich vorausgesetzt, wo wir es mit dem Verständnis von Welt in der letzten Bedeutung zu tun bekommen. Wir müssen mithin nach Heidegger den einen Wortsinn von Welt

 Allerdings ist es die Gegenstellung von Menschlichem und Göttlichem, aus der heraus Kant (und schon das lateinischsprachige Mittelalter) die Philosophie als „Weltweisheit“ (sapientia saecularis) gegen die Gottesgelehrtheit, die Theologie (sapientia divina), abhebt. Siehe etwa KrV, B 29, 382; GMS, Ak. 4, S. 387, 389.  Vgl. Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), a.a.O., S. 247 f., 298.  So jedenfalls in Heidegger, Martin: Vom Wesen des Grundes (1929), in: Wegmarken, GA 9, Frankfurt a. M. 1975, S. 149 ff.  Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), a.a.O., S. 308.

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zugrunde legen, um uns den anderen überhaupt angemessen klarmachen zu können, welcher so ein nur abkünftiger ist. Wie hat man sich das zurechtzulegen?

5 Die Kennzeichnung von Kants anthropologischer Weltauffassung sowie ihres christlichen Wegbereiters als einer existenziellen bedeutet in der Diktion der Daseinsanalytik eine deutliche Würdigung. Heidegger würdigt sie dafür, wie er eigens bemerkt, dass sie „weiter“⁴⁷ sei als die kosmologische bzw. dass jene eine „Verengung“⁴⁸ darstelle gegenüber dieser. Die Vorstellung von Welt, die sich vom Neuen Testament her bis zu Augustinus und Thomas nachweisen lässt und bei Kant wiederkehrt, „umfaßt“⁴⁹ laut Heidegger alles Seiende mit, enthalte aber darüber hinaus noch mehr. Und weil dem so ist, rückt Heidegger in seiner Vorlesung Einleitung in die Philosophie die eigenen phänomenologischen Überlegungen in Sachen Welt bewusst in diese Traditionslinie ein. Mit Heideggers Behauptung, der existenzielle Weltbegriff sei weiter und umfasse mehr als der kosmologische, ist bereits ausgeschlossen, dass die damit gemeinte Welt allein so etwas wie die Menschenwelt im Gegensatz zu etwas anderem sein kann, im Gegensatz zur Natur etwa. Die heutigentags gebräuchliche Verwendung des Wortes, welche in unseren oben herangezogenen Beispielen leidlich belegt ist, kann so etwas ja durchaus zum Ausdruck bringen. Mit noch größerer Beschneidung seines Umfangs pflegen wir imgleichen von der Welt des Sports, der Welt eines Jugendlichen und derlei zu sprechen, doch scheidet konsequentermaßen auch dies aus. Und gemeint ist schließlich genauso wenig die sprichwörtliche gute Gesellschaft, der „Stand der Vornehmen“, auf den sich Kant als auf die „große Welt“ bezieht. Schon in Sein und Zeit nimmt Heidegger diesen Sprachgebrauch zur Kenntnis, jedoch lediglich, um ihn sogleich wieder beiseitezuschieben. In seiner Analytik des Daseins ist Welt gerade kein bloß regionaler Titel, der dazu dienen möchte, eine Seinsregion von einer oder einigen anderen abzuheben.⁵⁰ So lesen wir ebenso in Vom Wesen des Grundes, „zur ‚vornehmen Welt‘ gehören auch z. B. Hotels und Rennställe“ und es sei

 Ebd., S. 302, 308.  Ebd., S. 246.  Ebd., S. 302.  „Und zwar kann ,Welt‘ zum Titel der Region werden, die je eine Mannigfaltigkeit von Seiendem umspannt; z. B. bedeutet Welt soviel wie in der Rede von der ‚Welt‘ des Mathematikers die Region der möglichen Gegenstände der Mathematik.“ (Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927), GA 2, Frankfurt a. M. 1977, S. 87)

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daher gleich irrig, den Ausdruck Welt entweder als Bezeichnung der Allheit der Naturdinge (naturaler Weltbegriff) oder als Titel für die Gemeinschaft der Menschen (personaler Weltbegriff) in Anspruch zu nehmen.Vielmehr liegt das metaphysisch Wesentliche der mehr oder minder klar abgehobenen Bedeutung von κόσμος, mundus, Welt darin, daß sie auf die Auslegung des menschlichen Daseins in seinem Bezug zum Seienden im Ganzen abzielt.⁵¹

Welt hat für Heidegger einen relationalen Sinn. Sie ist weder nur die unbeschränkte Gesamtheit dessen, was vorhanden ist, noch der eingeschränkte Bereich der oder einer menschlichen Gesellschaft, sondern stattdessen die Haltung des einzelnen Menschen zu alledem: der Stand, welchen er dazu jeweils hat. So meint ja im christlichen Denken das weltliche, gottferne Leben, wie Heidegger es versteht, eine „bestimmte Grundstellung des Menschen zu allem Seienden“⁵²; und auch Kants Äußerungen deutet er dahin, dass Welt „der Titel für das menschliche Dasein“ sei, „und zwar in Rücksicht darauf, wie es in ihm zugeht, das Spiel des Miteinander der Menschen in ihrem Verhältnis zum Seienden“⁵³. Der existenzielle Weltbegriff verdankt also bei Heidegger seinen Namen dem Umstand, dass in ihm Welt als das Ganze der mannigfachen Bezüge einer konkreten menschlichen Existenz zum Seienden – den Dingen des praktischen Gebrauchs ebenso wie denen theoretischer Erkenntnis, den Vorkommnissen der physischen Natur, gesellschaftlichen Ereignissen, Kunstwerken, dem je eigenen Selbst etc. – gedacht ist, in welches auch noch, und für Heidegger letztlich sogar grundlegend, ein Verständnis seines Seins eingeschlagen ist. Welt im existenziellen Sinne, das meint „die Menschen, und zwar in einer eigentümlichen Stellung zur Welt im ersten Sinne“⁵⁴, dem kosmologischen.⁵⁵ Und so kommt man von dem einen Weltverständnis zum anderen durch einen Akt der Abstraktion. Was Heidegger die existenzielle Weltvorstellung nennt, soll insofern der explanatorische Primat zukommen, als darin „Lebenserfahrung“⁵⁶ liege, wie er Kants Rede von „Weltkenntniß“ paraphrasiert, d. h. eine bei jedem von uns unvermeidlich anfallende, ein ums andere Mal bewährte und dabei zumeist unreflektierte Bekanntschaft mit den Seiten und Geschehnissen des menschlichen Lebens. In seiner Anthropologievorlesung aus dem Wintersemester 1775/76 spricht Kant selber von der Weltkenntnis als einer „natürliche[n] Kennt Heidegger, Martin: Vom Wesen des Grundes (1929), a.a.O., S. 155 f.  Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), a.a.O., S. 242.  Ebd., S. 300.  Ebd., S. 297 f.  Mit den Worten von Sein und Zeit: „Welt kann […] verstanden werden […] als das, ,worin‘ ein faktisches Dasein als dieses ‚lebt‘. Welt hat hier eine vorontologisch existenzielle Bedeutung.“ (Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927), a.a.O., S. 87)  Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), a.a.O., S. 299.

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niß“ (V-Anth/Fried, Ak. 25, S. 471). Und ebendavon, von diesem mehr oder weniger eingelebten Verhältnis, ja dieser natürlichermaßen erstehenden Zugehörigkeit der jeweiligen menschlichen Existenz zum Seienden wird laut Heidegger abgesehen, wo man es bloß noch mit der nackten Allheit des Seienden zu tun hat. Das ist die Kernidee, dass in der kosmologischen Auffassung von Welt – welche sich nach Heidegger an der Schwelle zur frühen Neuzeit im Gleichschritt mit dem ebenfalls neu aufkommenden methodenbestimmten Gedanken von der Wissenschaftlichkeit menschlicher Erkenntnisbemühungen herausgebildet hat – ein jedes aus den geläufigen Bezügen freigesetzt ist, in denen es für uns je seine Bedeutsamkeit besitzt, und dass imgleichen der Mensch selber nur noch als ein neben allem anderen auch noch Vorhandenes vorkommt.⁵⁷ Allein, Heideggers Charakterisierung von Kants Weltbegriff des Menschen als existenziellem beinhaltet zugleich eine gewisse Kritik. Denn ‚existenziell‘ zeigt in Heideggers Sprachgebrauch, wie er sich bereits in Sein und Zeit dokumentieren lässt, immer nur eine bestimmte Möglichkeit u. a. an, welche die menschliche Existenz ergreifen und ausbilden kann, aber nicht muss; was existenziell ist, dass ist, wie es da heißt, „eine ontische ‚Angelegenheit‘ des Daseins“⁵⁸, des jeweiligen Individuums also. ‚Existenzial‘ hingegen nennt Heidegger, was unverrückbar zum Dasein als solchem gehört, die „ontologische Struktur der Existenz“. Und diese Struktur ist es mitsamt den ihr zugehörigen Bestimmungen, den Existenzialien, welche die Daseinsanalytik auszuheben antritt; sie will dem eigenen Bekunden nach eine „existenziale Analytik des Daseins“⁵⁹ sein. Mit Blick auf den Weltbegriff bedeutet dies, dass Welt zum Existenzial avanciert und Heidegger dementsprechend darauf abzielt, einen „existenzialen Begriff“⁶⁰ von Welt zu entfalten. Dieser soll die formal bestimmbare „Weltlichkeit der Welt überhaupt“⁶¹ aufzeigen, und d. h. insbesondere ihre sie generell kennzeichnende innere Gliederung.⁶²

 In Sein und Zeit spricht Heidegger diesbezüglich von einer Verarmung der Phänomene, einer „bestimmten Entweltlichung“ des Seienden. (Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927), a.a.O., S. 88) Denn die Dinge, welche wir dem bloß auffassenden, zumal wissenschaftlichen Erkennen als Gegenstände begegnen lassen, werden so ihrer bisherigen Selbstverständlichkeit beraubt und als vermeintlich Unbekannte vor uns hingestellt. „Welt […] bedeutet dann das All des Seienden, das innerhalb der Welt vorhanden sein kann.“ (S. 87)  Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927), a.a.O., S. 17.  Ebd.  Ebd., S. 87.  Ebd., S. 85.  „Welt bezeichnet schließlich den ontologisch-existenzialen Begriff der Weltlichkeit.“ (Ebd., S. 87)

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Heidegger räumt zwar ein, dass der „existenzielle Weltbegriff Kants […] philosophisch in keiner Weise ausgearbeitet und zum Problem gemacht“⁶³ ist. Gleichwohl bleibt fraglich, ob Heideggers Einschätzung von Kants anthropologischem Weltverständnis diesem gerecht zu werden vermag. Denn wie gesehen, benennt die einschlägige Weltauffassung des Christentums tatsächlich eine ganz bestimmte Seinsart des Menschen im Gegensatz zu einer anderen, diejenige nämlich, welche dem Diesseitigen anstatt dem Jenseitigen zugewandt ist. Bei Kant allerdings ist das nicht der Fall. Er hebt gar keine verschiedenen Lebenseinstellungen menschlicher Existenz voneinander ab. Seine Leistung müssen wir vielmehr gerade darin erblicken, den Begriff der Welt aus seiner material bestimmten Einseitigkeit im christlichen Denken zur vollen Breite einer menschlichen Grundbestimmung befreit zu haben, die sich in unterschiedlichsten Existenzweisen nur unterschiedlich realisiert, indem er den Menschen allgemein als Welt und damit, wie gesehen, als vergesellschaftetes Wesen anspricht. Mit Heidegger muss Kants Weltbegriff des Menschen, soweit er sich jedenfalls trotz seines von Heidegger zu Recht diagnostizierten Unausgearbeitet- und Unproblematisiertseins in Kants Schriften nachzeichnen lässt, eher ein ‚existenzialerʻ denn ein ‚existenziellerʻ genannt werden. Dann aber wäre Kant in dieser Sache weit mehr ein Vorreiter von Heideggers eigenem philosophischem Denken, als dieser zuzugestehen bereit ist.⁶⁴

6 Der Vollständigkeit halber darf hier nicht unerwähnt bleiben, dass Heidegger, was Kant als „Weltkenntniß“ denkt und benennt, einzig auf dessen Anthropologie in pragmatischer Hinsicht bezieht. Kant zählt dazu aber auch die sog. Physische Geographie. So lautet der Titel einer Vorlesung, die er seit 1756 durchgängig bis zum Ende seiner Lehrtätigkeit im Jahre 1796 an der Königlichen Albertus-Universität zu Königsberg gehalten hat, die 1802 von seinem Schüler D. F. T. Rink auf der Grundlage verschiedener, seither verschollener Manuskripte aus den 1750erund 1770er-Jahren erstmals zur Publikation gebracht und 1923 in Band neun der Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften aufgenommen wurde.⁶⁵ Und

 Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), a.a.O., S. 308.  So auch Bermes, Christian: ,Welt‘ als Thema der Philosophie. Vom metaphysischen zum natürlichen Weltbegriff, Hamburg 2004, S. 61 f.  E. Adickes hat allerdings in seiner Eigenschaft als Herausgeber von Kants handschriftlichem Nachlass erhebliche Zweifel an der philologischen Zuverlässigkeit von Rinks Edition aufgebracht. Vgl. Adickes, Erich: Untersuchungen zu Kants physischer Geographie, Tübingen 1911.

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zwar hat Kant stets abwechselnd in jedem Sommersemester über physische Geographie und ab 1772 in jedem Wintersemester über Anthropologie gelesen. Dieser Umstand bereits (nebst dem, dass er dank eigener ministerieller Genehmigung ohne ein, wie sonst vorgeschrieben, etabliertes Lehrbuch zu kommentieren vortrug)⁶⁶ lässt erkennen, dass Kant beiden Sachbereichen einen nicht eben geringen Stellenwert zugemessen hat, wozu er sich auch verschiedentlich äußerte.⁶⁷ Heidegger allerdings entgeht dies, oder er blendet es geflissentlich aus, dass Anthropologie und physische Geographie für Kant ebenbürtig sind, indem sie nur zusammen die ganze „Weltkenntniß“ erschöpfen. „Die physische Geographie und Anthropologie machen also die Weltkenntniß aus“ (V-Anth/Collins, Ak. 25, S. 9), heißt es in einer Nachschrift von Kants erster Anthropologievorlesung im Jahre 1772/73. Und bereits 1755 bemerkt er in der Ankündigung seiner ersten Geographievorlesung: Die physische Geographie, die ich hiedurch ankündige, gehört zu einer Idee, welche ich mir von einem nützlichen akademischen Unterricht mache, den ich die Vorübung in der Kenntniß der Welt nennen kann. Diese Weltkenntniß ist es, welche dazu dient, allen sonst erworbenen Wissenschaften und Geschicklichkeiten das Pragmatische zu verschaffen, dadurch sie nicht bloß für die Schule, sondern für das Leben brauchbar werden. (VvRM, Ak. 2, S. 443)

Die physische Geographie wird von Kant ebenso wie die Anthropologie erklärtermaßen in pragmatischer Hinsicht angegangen. Beide haben die Obliegenheit, Schule und Leben miteinander zu vermitteln, wie es in dieser frühen Anmerkung heißt; sie sollen dem Wissen und Können, welches die Erstgenannte lehrt, Eingang verschaffen in das Letztgenannte.⁶⁸ Sie leisten dies, indem sie uns in die Lage versetzen, den Gegenständen sämtlicher Beobachtungen, welche wir selber anstellen, und von Erzählungen, die uns durch andere erreichen, „ihr Verhältniß im Ganzen, worin sie stehen und darin ein jeder selbst seine Stelle einnimmt“, zu bestimmen.⁶⁹ Dazu hat man allerdings vorab einen „Abriß nöthig“, um alle gemachten sowie „künftige Erfahrungen darin nach Regeln ordnen zu können“:

 Siehe dazu Stark, Werner: Die Formen von Kants akademischer Lehre, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 40 (1992), S. 548.  So etwa in einem undatierten Brief an M. Herz gegen Ende des Jahres 1773 (vgl. Br, Ak. 10, S. 145 f.). Siehe ebenso Anth, Ak. 7, S. 122 Anm.; VvRM, Ak. 2, S. 443; PG, Ak. 9, S. 157 f.  „Die Kenntniß, die Wissenschaften gehörig anzuwenden, ist die Weltkenntniß.“ (V-Anth/ Collins, Ak. 25, S. 9)  „[…] jeder gemachten Erfahrung ihre Classe und ihre Stelle in derselben anzuweisen.“ (PG, Ak. 9, S. 158)

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einen Entwurf vom Ganzen, seiner äußeren und inneren Grenzen.⁷⁰ Und es liegt hier ein insgesamt „zwiefaches Feld“ vor uns, „nämlich die Natur und der Mensch“. Kant führt diese Zweiteilung darauf zurück, dass wir einen doppelten Sinn haben, einen äußeren und einen inneren. Der eine eröffnet uns die Natur um uns, der andere die Seele in uns.⁷¹ Beide Erfahrungsfelder gilt es, vorbereitend zu strukturieren. „Die erstere Unterweisung nenne ich physische Geographie […], die zweite Anthropologie“⁷². In diesen programmatischen Aussagen Kants zum vollen Umfang einer von ihm zunächst noch in Aussicht gestellten „Kenntniß der Welt“ waltet unverkennbar die kosmologische Weltbedeutung vor. Von einem Weltbegriff des Menschen kann hier keine Rede sein. Explizit definiert Kant Welt dann auch in der Physischen Geographie mit den Worten: „Das Ganze ist hier die Welt, der Schauplatz, auf dem wir alle Erfahrungen anstellen werden.“ (PG, Ak. 9, S. 158) Wenn man daher von jemandem sagt, „er kenne die Welt: so versteht man darunter dies, daß er“ beides, also „den Menschen und die Natur kenne“.⁷³ Das schließt freilich mitnichten aus, dass Kant den Ausdruck ‚Welt‘ unterschiedlich gebraucht und nur in einer seiner Verwendungen mit der von uns anhand der Anthropologie und Grundlegung zur Metaphysik der Sitten herausgestellten und von Heidegger als ‚existenziell‘ aufgegriffenen Bedeutung benutzt. Gewiss wäre es zu viel gesagt, wollte man mit M. Foucault, der Kants Anthropologie 1961 ins Französische übersetzte und mit einer (mittlerweile auch gedruckten) Einleitung versah, behaupten, der reife Kant löse Weltkenntnis vollends in Menschenkenntnis auf und betrachte ihre Behandlung als Aufgabe ausschließlich der Anthropologie.⁷⁴ Immerhin erwähnt Kant dort – wenigstens ein einziges Mal, äußerst kurz und auch nur in einer Fußnote am Ende der „Vorrede“ – das Thema der physischen Geographie und seine Zusammengehörigkeit mit dem der Anthropologie, und das unmissverständlich unter der gemeinsamen Rubrik der

 Vgl. Kaulbach, Friedrich: Weltorientierung, Weltkenntnis und pragmatische Vernunft bei Kant, in: Ders./Ritter, Joachim (Hg.): Kritik und Metaphysik. Studien, Berlin 1966, S. 62 f.  „Die Welt, als Gegenstand des äußern Sinnes, ist Natur, als Gegenstand des innern Sinnes aber, Seele oder der Mensch.“ (PG, Ak. 9, S. 156)  Dafür, dass Anthropologie und physische Geographie die beiden Komponenten der Weltkenntnis ausmachen, siehe ebenso Anth, Ak. 7, S. 122 Anm; PG, Ak. 9, S. 157; Br, Ak. 10, S. 146; NEV, Ak. 2, S. 312 f.  Wie Kant sodann 1772/73 angibt, soll Welt der „Inbegriff aller Verhältniße“ sein, „in die der Mensch kommen kann, wo er seine Einsichten und Geschicklichkeiten ausüben kann“ (V-Anth/ Collins, Ak. 25, S. 9).  Vgl. Foucault, Michel: Einführung in Kants Anthropologie, Berlin 2010, S. 27.

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„Weltkenntniß“ (Anth, Ak. 7, S. 122 Anm.).⁷⁵ Worauf sich demgegenüber allerdings mit gutem Recht beharren lässt, ist, dass an den oben zitierten Textstellen in Kants Rede von einer Welt, die man nicht kennt, sondern hat, und einer demgemäßen Weltklugheit sehr wohl, sei es nun mit der bewussten Absicht des Verfassers oder nicht, jene humane und soziale Bedeutung hervorleuchtet, wie wir sie dargelegt haben.

7 Worin genau ist nun die Zuschärfung zu sehen, die Heidegger Kants Weltbegriff des Menschen angedeihen lässt? Und worin besteht ihr etwaiger sachlicher Ertrag für die Fragestellung der Sozialontologie? Von jener sind wir ausgegangen, und mit ihr wollen wir enden. Einerseits nimmt Heidegger die humane Zuspitzung des Ausdrucks ,Welt‘, wie wir sie bei Kant (zumindest in einigen Passagen) angetroffen haben, unverkennbar in sein eigenes Denken auf und führt sie konsequent fort. Fasst er die existenziale Grundstruktur des menschlichen Daseins doch als In-der-Welt-sein: Der Mensch, und nur dieser, wird als Weltwesen begriffen.⁷⁶ Und im Zusammenhang damit arbeitet Heidegger andererseits auch, und für uns von eigentlichem Interesse, den sozialen Bedeutungsgehalt, der sich in Kants Wortverwendung von ‚Welt‘ (jedenfalls in den angeführten Zitaten) vordrängt, zu mehr Deutlichkeit aus. Seine These lautet, dass das Soziale „ursprünglich“⁷⁷ hier, wie er abermals sagt, d. h. am Begriff und Phänomen der Welt, festzumachen ist: Wie bereits von Sein und Zeit formuliert, jedoch erst im Manuskript der Vorlesung Einleitung in die Philosophie wirklich im Detail auseinanderlegt, sei die Welt, in der ein Mensch lebt, wesenhaft „Mitwelt“⁷⁸.

 „In meinem […] Geschäfte der reinen Philosophie habe ich einige dreißig Jahre hindurch zwei auf Weltkenntniß abzweckende Vorlesungen, nämlich (im Winter‐) Anthropologie und (im Sommerhalbenjahre) physische Geographie gehalten […]; von deren ersterer dies das gegenwärtige Handbuch ist, von der zweiten aber ein solches aus meiner zum Text gebrauchten, wohl keinem Anderen als mir leserlichen Handschrift zu liefern mir jetzt für mein Alter kaum noch möglich sein dürfte.“ (Anth, Ak. 7, S. 122 Anm.)  So ausführlich in Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (1929/30), GA 29/30, Frankfurt a. M. 1983, wo Heidegger Mensch und Tier unter dem Gesichtspunkt der Welthabe miteinander kontrastiert.  Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), a.a.O., S. 87, 101 und passim.  Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927), a.a.O., S. 159.

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Heideggers diesbezüglicher Gedankengang lässt sich für unsere Zwecke auf die beiden folgenden Schritte bringen, wohl wissend, dass dabei vieles, und für Heideggers aus der Seinsfrage bestimmtem Gedankengang gerade Entscheidendes, unberücksichtigt bleibt.⁷⁹ Die dem Menschen einzigartige Seinsweise mit anderen seiner Art bestimmt er zunächst allgemein als „Sichteilen in Wahrheit“⁸⁰. Es ist der Begriff der Wahrheit, von dem her die Analytik des Daseins das Soziale denkt, wenngleich Heidegger selber diesen Ausdruck nicht verwendet, sondern das betreffende Existenzial wahlweise als ‚Mitseinʻ, wie schon in Sein und Zeit, oder als ‚Miteinanderʻ respektive ‚Miteinanderseinʻ wiedergibt. Wahrheit wird dabei wie sonst in Heideggers Schriften nicht propositional aufgefasst, als die Wahrheit eines Urteils oder einer Aussage über etwas, sondern aus der buchstabengetreuen Übersetzung des alten griechischen ἀλήθεια vorgestellt im Sinne von Unverborgenheit.Wahr in diesem ontologischen Verständnis ist das Seiende selbst: „Wir teilen uns in die Unverborgenheit von Seiendem“⁸¹. Was folglich für Heidegger allein etwas Soziales ausmachen kann, das ist die Wahrheit von Seiendem und in eins damit, wie wir ergänzen dürfen, die seines Seins. Darin soll überhaupt das Proprium des menschlichen Daseins bestehen, dass Seiendes ausschließlich dem Menschen wahr ist, will sagen als Seiendes offensteht.⁸² In der Folge kommt dann aber die Bestimmtheit des Sozialen, wenn anders sie solches Entborgensein dessen, was ist, als das, was es ist, angeht, desgleichen einzig menschlicher Existenz zu: „miteinander sind nur Mensch und Mensch“⁸³. Doch wir „teilen uns in die Unverborgenheit“ nicht, indem wir sie zerteilen und unter uns aufteilen, sondern indem sie für alle Beteiligten die Nämliche ist. Mit Heidegger steht zu sagen, dass die Wahrheit genau dann und in dem Maße eine soziale ausmacht, wenn und als

 Siehe ausführlich Zimmermann, Stephan: „Sichteilen in Wahrheit“. Heideggers Begriff des Sozialen in seiner Vorlesung Einleitung in die Philosophie (1928/29), in: Tasheva, Gallina/Weiß, Johannes (Hg.): Existenzialanalytik und Soziologie, Tübingen 2018. (i. Ersch.)  Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), a.a.O., S. 107.  Ebd., S. 105. Um die Doppeldeutigkeit des Wahrheitsbegriffs zu vermeiden, geht Heidegger nach Sein und Zeit dazu über, die propositionale Wahrheit nur noch als „Richtigkeit“ zu bezeichnen. So bereits in Einleitung in die Philosophie (1928/29), a.a.O., S. 56 und dann prominent in Vom Wesen der Wahrheit (1930), in: Wegmarken, a.a.O., S. 180.  Gleichfalls kurz nach Sein und Zeit gibt Heidegger dies als die „Freiheit“ des menschlichen Daseins zum Seienden und seinem Sein aus und sieht darin das Wesen der ontologischen Wahrheit. So andeutungsweise schon in Einleitung in die Philosophie (1928/29), a.a.O., S. 103, 214 und dann ausdrücklich in Vom Wesen der Wahrheit (1930), a.a.O., S. 185 ff.  Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), a.a.O., S. 85.

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sie für mehrere Menschen ein und dieselbe ist. Das Soziale besteht in der Identität des Unverborgenseins von Seiendem und seines Seins für mehrere Menschen.⁸⁴ Solch gemeinsam geteilte Wahrheit ist indes, so Heideggers Überlegung weiter, doch immer nur in zweiter Linie die Wahrheit desjenigen, wozu wir uns hier und jetzt verhalten. Gleichsam früher setze demgegenüber eine andere Dimension der Unverborgenheit an. Heidegger interpretiert ja die von ihm als existenziell apostrophierte Welt im christlichen und Kant’schen Denken aller zwischen beiden bestehenden Differenzen zum Trotz in nuce als das Ganze der vertrauten Bezüge eines Menschen zum Seienden und seinem Sein. Dieses sei dem Betreffenden bereits „vorgängig“⁸⁵, wie Heidegger bevorzugt sagt, irgendwie offenbar. Vorgängigkeit ist dabei insofern temporal zu nehmen (nicht nur, wie wir noch sehen werden), als sie gegenüber jeder Erfahrung qua gegenwärtigem Vollzug die Erfahrung qua Schon-Erfahrensein im perfektischen Sinne zur Abhebung bringt: In gewissem Umfang und mit gewisser Deutlichkeit und Gewissheit kenne sich der Mensch je schon damit aus. Und dergleichen Erfahrenheit, das ist der für unsere sozialontologische Absicht vielversprechende Anknüpfungspunkt bei Heidegger, ist niemals nur die eines Einzelnen allein. Sie trenne ihn nicht so sehr von anderen Menschen, als sie ihn immer auch mit diesen zusammenschließe: Seien doch die Dinge des praktischen Umgangs und der theoretischen Erkenntnis, die Vorkommnisse der physischen Natur, gesellschaftliche Ereignisse, Werke der Kunst, das je eigene Selbst usw. in der einen oder anderen Hinsicht stets vielen auf selbe Weise erschlossen. Dabei bleibt es freilich eine von Fall zu Fall erneut und empirisch auszulotende Frage, worauf sich die Selbigkeit da erstreckt und wie weit sie reicht, inwiefern also die Welt eines Menschen wirklich mithaft, sprich Mitwelt, ist. Sofern das Dasein gleichursprünglich seinem Wesen nach Mitsein mit Anderen ist im Sein bei Vorhandenem und all das als Selbstsein, ist das Ganze der Seinsverfassung dieses so offenbaren Seienden im Ganzen grundsätzlich reicher und ursprünglicher als das, was in Kants kosmologischem Weltbegriff gedacht ist und im anthropologischen zum mindesten angezeigt ist.⁸⁶

Heideggers Reflexion über unser „Mitsein mit Anderen“ steht also dem eigenen Selbstverständnis zufolge in der Tradition von Kants anthropologischer Weltauffassung, wenn sie diese auch erklärtermaßen über sich hinausführt. Was wir im Vorstehenden dazu ausgeführt haben, bleibt zweifelsohne im Groben stecken und

 Vgl. ebd., S. 96 ff.  Ebd., S. 241. Siehe ebenso Heidegger, Martin: Vom Wesen des Grundes (1929), a.a.O., S. 143.  Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), a.a.O., S. 308.

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vor allem unvollständig. Heidegger selber lässt sich im Text seiner Einleitung in die Philosophie mit ungleich mehr gedanklicher Breite und Tiefe über jene vorausgehende Dimension der Unverborgenheit von Seiendem und seines Seins aus, in welche sich die Menschen da teilen; denn macht sie auch das wesentliche Strukturmoment unseres In-der-Welt-seins aus, so sichert ihr Aufweis der Analytik des Daseins doch nur den Boden, aus dem weitere Besinnung, zumal über ihren inneren Aufbau, zu erwachsen hat.⁸⁷ Und trotzdem, wir können uns an dem, was gesagt wurde, genügen lassen. Es reicht durchaus hin, um einen Ausblick zu gewinnen darauf, und mehr können wir hier auch gar nicht leisten, dass und inwieweit, was Heidegger im Gedanken der Mitwelt denkt, für die Frage der Sozialontologie fruchtbar sein kann. Weiterreichende Einzelheiten seiner Daseinsanalytik ebenso wie die Frage nach dem Sinn von Sein, welchem diese zuletzt zuarbeitet, können wir dabei getrost außen vor lassen. Schauen wir nämlich in gegenwärtige Versuche zur Ontologie des Sozialen, fällt sofort auf, dass der hierbei dominierende Ansatz das von Heidegger Thematisierte überspringt: Es ist stattdessen das menschliche Bewusstsein, welches weithin die Rahmenvorstellung hergibt, in deren Blickbahn sich die Konzeptualisierung des Sozialen bewegt. Auslöser der von Searle losgetretenen Kontroverse war im Anfang die Herausforderung, wie das gemeinschaftliche Handeln mehrerer Akteure adäquat zu fassen ist. Zwei oder mehr Personen können ja nicht nur zufällig auf dasselbe gerichtet sein; sie können, was sie tun, auch absichtlich zusammen tun.⁸⁸ Und insofern diese Fähigkeit, Tätigkeiten mit anderen zu verrichten – seien dies nun solche, die man notwendig gemeinsam verrichtet wie etwa heiraten, oder aber solche, auf die das bloß kontingentermaßen zutrifft, z. B. spazieren gehen⁸⁹ –, gewiss mit zu dem zählt, was uns als vergesellschaftete Wesen auszeichnet, stellt die begriffliche Aufarbeitung dieses hervorragenden Phänomens einen sozialontologisch wertvollen Anhalt in Aussicht. Viele Teilnehmer der laufenden Debatte jedoch, darunter Searle selbst, ziehen diesen speziellen Fall ohne Weiteres ins Allgemeine aus; sie glauben, damit bereits die Verfasstheit des Sozialen überhaupt in Händen zu halten. So ist es momentan

 Im Vorlesungsskript zur Einleitung in die Philosophie findet sich der Terminus ‚Mitwelt‘ nicht. Das ist aber insofern nicht groß verwunderlich, als sich Heidegger erst im „Zweiten Abschnitt“ mit dem Thema der Welt auseinandersetzt, das Existenzial des Mitseins aber bereits im „Ersten Abschnitt“ erörtert wird, eben als ein vorgängiges Sichteilen in Wahrheit, ohne dass dabei auch schon deren innere Gliederung, sprich die „Weltlichkeit der Welt überhaupt“, zur Sprache kommt.  Zuerst in Searle, John R.: Collective Intentions and Actions, in: Cohen, Philip R./Morgan, Jerry/ Pollack, Martha E. (Hg.): Intentions in Communication, Cambridge, Mass. 1990, S. 401– 415.  Vgl. Gilbert, Margaret P.: Walking Together: A Paradigmatic Social Phenomenon, in: Midwest Studies in Philosophy 15 (1990), S. 1– 14.

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verbreitete Meinung, diese sei in gemeinsam geteilten, sog. kollektiven Intentionen zu suchen, worein auch immer das Kollektive solcher Intentionen dann des Näheren gesetzt wird. Dagegen lässt sich Heidegger mit guten Gründen in Stellung bringen.

8 Im Anschluss an Kants Weltbegriff des Menschen, an dem wir schon wenigstens schemenhaft die Idee eines sozialen Geformtseins der Menschen abgenommen haben, setzt auch Heidegger mit seinem Begriff der Mitwelt das Soziale derart fundamental an, im Gegensatz zu Kant jedoch nachdrücklich und eindeutig, dass dieses nicht bloß je und je zu unserer Existenz gehört. In seiner Vorlesung Einleitung in die Philosophie entfaltet er seine Auslegung des menschlichen Mitseins im Durchgang durch diverse Annahmen, die er einer Prüfung unterzieht und allesamt verwirft. Dazu zählt auch die, wir könnten nur dann gesellschaftliche Wesen sein, wenn wir, und nur solange, wie wir uns absichtsvoll mit anderen betätigen oder überhaupt auf irgendeine Art beschäftigen – ebendiejenige Annahme, welche so oder so ähnlich zurzeit in der sozialontologischen Diskussion hoch im Kurs steht. Ein derartiger Ansatz jedoch, der zum einen allein das menschliche Bewusstsein in Rechnung zieht und darin zum anderen das vermutet, was am Grunde unseres Miteinanderseins liegt, weil es nicht bereits von sich her in Gesellschaftliches verstrickt ist – gibt es doch, wie man da gegenüberzustellen pflegt, gleichfalls so etwas wie individuelle Intentionen, solche also, die ein Einzelner hat und verfolgt, ohne das andere daran beteiligt sind –, bleibt nach Heideggers Dafürhalten unzulänglich.⁹⁰ Erstens greift der Rückgang bloß bis zum Bewusstsein des Menschen nach Heidegger deshalb zu kurz, wo man das faktische Verhalten der Menschen erklären möchte, weil die fallweise Ausbildung und Umsetzung gemeinsam geteilter Absichten unverzichtbar etwas als zugrunde liegende Bedingung in Anspruch nehme, was selber bereits etwas gemeinsam Geteiltes und sonach Soziales ist. Heidegger illustriert das an einem Beispiel. Zwei Wanderer marschieren zusammen durch Feld und Wald; sie kommen an zwei Felsblöcken vorbei, die seitwärts

 Searle selber spricht von „I-intentions“ (Searle, John R.: Collective Intentions and Actions, a.a.O., S. 407), R. Tuomela unterscheidet zwischen dem „I-mode“ und „we-mode“ einer Absicht (Tuomela, Raimo: The We-Mode and the I-Mode, in: Schmitt, Frederick F. (Hg.): Socializing Metaphysics. The Nature of Social Reality, Lanham 2003, S. 93 – 127) und in einem gemeinsamen Aufsatz mit K. Miller zwischen „we-intention“ und „I-intention“ (Tuomela, Raimo/Miller, Kaarlo: We-Intentions, in: Philosophical Studies 53 (1988), S. 367).

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des Pfades an einer Geröllhalde liegen. Sind die beiden Wanderer, fragt Heidegger, darum miteinander anstatt nur nebeneinander wie die Steine, weil sie anders als jene ein „Bewußtsein von diesem Nebeneinander“⁹¹ haben? Heidegger wehrt ab. Und er setzt dagegen, dass ihr „Miteinander nicht durch ein gegenseitiges Erfassen konstituier[t]“ wird, sondern dass „alles gegenseitige Sicherfassen von Dasein und Dasein das Miteinandersein beider schon voraussetzt. Gegenseitiges Sicherfassen ist fundiert im Miteinandersein.“⁹² Das besagte Miteinander, welches Heidegger hier als die ermöglichende Voraussetzung für das wechselseitige Bewusstsein der zwei Wanderer voneinander einschließlich der Entstehung und Realisierung ihrer Absicht anführt, den Weg, welchen sie gehen, zusammen zu gehen, ist uns nicht unbekannt. Wie sich nämlich im weiteren Verfolg der Vorlesung zeigt, handelt es sich dabei um nichts anderes als ebenjene vorgängige Wahrheit, die Heidegger im existenziellen Weltbegriff denkt, welcher ebenso sehr von dem der Totalität alles Vorhandenen wohlunterschieden wie eigens geschichtlich ausgewiesen ist: Die zwei Wandersleute teilen sich zum Voraus in die Unverborgenheit von Seiendem und seines Seins. Die Welt, in welcher jeder von ihnen heimisch ist und sich versteht, ist in den für die vorliegende Situation relevanten Hinsichten Mitwelt; und nur weil dem so ist, ist ihnen laut Heidegger überhaupt die Chance angebahnt, sich hic et nunc sinnhaft zueinander zu verhalten, so etwa, wie sie es tatsächlich tun. „Dasein muß zuvor schon für Dasein offenbar sein, damit gegenseitiges Erfassen möglich wird.“⁹³ Heideggers Rede von Vorgängigkeit hat demnach noch eine andere, und zwar konditionale, Seite. Denn das vorerwähnte Offenbarsein soll augenscheinlich, ohne selber einen Zustand des Bewusstseins auszumachen, doch die Bedingung der Möglichkeit einer jeden Bewusstseinsleistung abgeben. Die Auskenntnis mit dem menschlichen Leben, welche wir jeweils in die wechselnden Lagen und Umstände, die wir durchleben, mitbringen, legt uns nach Heidegger vorab fest, und nur dank dieses flexiblen, aber stetigen Festgelegtseins sind wir auf die gleiche Weise offen für dasjenige, womit wir es da zu tun bekommen, und diejenigen, die daran beteiligt sind: Es versetzt uns in die Lage zu einem der jeweiligen Situation entsprechenden, in seinem Verlauf folgerechten und auf andere Menschen abgestimmten Verhalten. Dabei nehmen wir von dieser Voraussetzungsstruktur des Miteinander-in-der-Welt-seins, in die unser jeweiliger Bewusstseinsstrom aufbehalten ist, für gewöhnlich keine bis kaum Notiz. Wir gehen

 Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), a.a.O., S. 86.  Ebd., S. 87.  Ebd., S. 88.

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in unserem Vorwissen weit mehr auf, als dass wir seiner gewahr sind. Ja, dieses ist, wie Heidegger im Vorlesungstext anmerkt, eigentlich dann voll da, wenn es sich selber im Hin und Her der Ereignisse, auf die es uns den Blick freigibt, verbirgt in der Bewusstlosigkeit des Selbstverständlichen.⁹⁴ Und in der Tat, lässt sich dem nicht ein durchaus nachvollziehbarer Sinn abgewinnen? Muss man nicht sagen, dass Menschen zu gemeinschaftlichen Tätigkeiten bloß zusammenfinden, insofern sie einander verstehen und sich zu verständigen vermögen? Dass sie dies aber gerade nur insoweit können, als sie bereits an einer Sphäre des Wir teilhaben? Einer Sphäre, von der einesteils gilt, dass sie so etwas wie das für die entsprechende Einschätzung des Gegenüber, der gegebenen Verhältnisse und der darin sich eröffnenden Gelegenheiten unentbehrliche Vorverständnis in sich birgt? Die anderenteils dabei selber allerdings den betreffenden Personen weder im Ganzen noch im Einzelnen bewusst vor Augen steht oder gar zu stehen braucht? Sollte sich dafür überzeugend argumentieren lassen, was getan zu haben zweifelsfrei Heideggers phänomenologischer Anspruch in der Einleitung in die Philosophie ist, erschöpfte sich das Soziale bei Weitem nicht im Phänomen kollektiver Intentionalität. Die Erklärung dieses Phänomens wäre vielmehr um eine Analyse jener von uns hier mehr nur angedeuteten Vorstruktur des Bewusstseins zu ergänzen, die eben ihrerseits bereits eine soziale ausmacht. Zweitens kommt nach Heidegger in der Konsequenz selbst noch im Nebenund Ohneeinander der Menschen Soziales zum Tragen. Es sei mitnichten so, dass das Bewusstsein eines Menschen, wenn dessen Inhalt einmal keine andere Person mit einschließt, und damit auch eine sog. individuelle Intention, auf die das ja per definitionem zutrifft, gesellschaftlich vollauf unbestimmt ist. Um das anschaulich zu machen, treibt Heidegger sein Beispiel weiter voran. Nehmen wir an, notiert er, die beiden Wanderer folgen dem Pfad, auf dem sie laufen, um eine Biegung und kommen dadurch unversehens in den Genuss einer Aussicht auf das vor ihnen sich aufreckende Gebirge. Beide sind von dem Bild, das sich ihnen bietet, hingerissen und stehen schweigend da: Es ist dann keine Spur von gegenseitigem Sicherfassen, jeder steht vielmehr benommen von dem Anblick. Sind die beiden jetzt nur noch nebeneinander wie die beiden Felsblöcke, oder sind sie in diesem Augenblick gerade in einer Weise miteinander, wie sie es nicht sein

 Vgl. ebd., S. 77. Im Gegensatz zu Kant muss man mit Heidegger denn auch eher sagen, dass nicht wir Welt haben, sondern dass die Welt uns hat. Siehe dazu bereits Heidegger, Martin: Sein und Zeit, a.a.O., S. 190 f.

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können, wenn sie unentwegt zusammen schwatzen oder gar sich gegenseitig erfassen und auf ihre Komplexe beschnüffeln?⁹⁵

Doch damit nicht genug. Kurz darauf gibt Heidegger noch ein weiteres Beispiel: „irgend jemand in Berlin sieht ein Automobil, und ein Bauer im Schwarzwald sieht seine Kuh; es sind da mehrere, die je ein Identisches erfassen, und doch nicht: miteinander dasselbe und doch noch ein Miteinander, auch hier.“⁹⁶ Obwohl dieser dritte Fall im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen fraglos extrem anmutet, soll sich das sozialontologische Problem des Mitseins, wie Heidegger unzweideutig feststellt, darin nicht weniger bekunden als in den bisherigen Fällen. Ganz gleich, ob jemand, obwohl eine andere Person in Sicht- und Hörweite ist, von dieser keine Notiz nimmt, sondern nur neben ihr her in etwas versunken ist, oder aber gänzlich ohne irgendeinen anderen um sich herum oder vor dem geistigen Auge zu haben mit etwas sich befasst – es handelt sich dabei laut Heidegger niemals um ein Geschehen, wenngleich es auch auf Anhieb so scheinen möchte, das abseits schlechthin aller Bahnen menschlicher Gesellschaft möglich ist und vor sich geht. Die Begründung, die Heidegger dafür ins Feld führt, ist dieselbe wie zuvor. Denn wenn es richtig ist, dass jegliches Verhalten der Menschen getragen ist durch ihre jeweilige, einer souveränen Überschau jedoch zunächst und meisthin verborgene Beschlagenheit in den Dingen des menschlichen Lebens, und wenn es weiter richtig ist, dass dieses Sich-schon-auskennen in zahlreichen und wesentlichen Rücksichten ein mit anderen gemeinsam geteiltes ist, dann liegt ebendiese Form des Miteinanderseins unvermeidlich auch noch demjenigen zugrunde, was einer tut und lässt, ohne dass er davor oder dabei bewusst andere Personen im Sinn hat. In derlei Betätigungen ist dessen ungeachtet eine Hinsicht von Sozialem wirksam. Wie viele Überschneidungen muss doch die Lebenskunde der beiden Wanderer in Heideggers zweitem Beispiel aufweisen, dass der Ausblick auf eine breit daliegende Gebirgskette sie in gleicher Weise einzunehmen und zu ergebenem Verweilen zu bringen vermag? Und weiß nicht in Heideggers letztem Beispiel der Berliner ebenso um Kühe, wie auch der Schwarzwälder Bauer um Automobile weiß, so dass ihr Zugang dazu unbeschadet der großen räumlichen Entfernung, die sie jetzt gerade voneinander trennt, ja obwohl sie einander vermutlich nicht einmal kennen, immer noch ein mithafter, ein gemeinschaftlicher sein kann? Heidegger sagt es expressis verbis, jenes „ursprüngliche“ Mitsein reiche so weit, dass es nicht allein das Verhalten der Menschen mit-, für- und gegeneinander

 Heidegger, Martin: Einleitung in die Philosophie (1928/29), a.a.O., S. 86.  Ebd., S. 97.

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vorgängig in seine Möglichkeit bringt und mitgängig in seinem Ablauf orientiert, sondern auch noch dasjenige Verhalten, welches sie neben- und ohneeinander vorhaben und ins Werk setzen: Weil aber Da-sein wesenhaft erschlossenes ist, muß das Zusammen von Dasein und Dasein je ein Miteinander sein. Dasein ist qua Da-sein wesenhaft Mitsein mit … Erst auf dem Grunde dieses Mit des je einzelnen Daseins sind die verschiedenen Weisen des Zueinander, Füreinander, Gegen- und Ohneeinander möglich.⁹⁷

Damit ist die Frage allerdings noch nicht abschließend beantwortet, die ich zu Anfang als die Frage der Sozialontologie ausgegeben habe: die nach der ebenso notwendigen wie hinreichenden Bedingung dafür, dass etwas etwas Soziales ist. Denn Heideggers Art des Nachdenkens über das Soziale ist keineswegs ohne Schwierigkeit. Allem voran das einseitige Voraussetzungsgefälle, in welchem es sich bewegt, wird man nicht bedenkenlos hinnehmen dürfen. Indem sich Heidegger wiederholt auf ‚Ursprüngliches‘ und gar ‚Ursprünglicheres‘ beruft, wie wir gesehen haben, arbeitet er mit dem Bild einer ersten Quelle, aus der alles andere herfließt: Der Rückstieg auf die Ebene jenes vorthematischen Horizonts aller menschlichen Praxis, den er insgesamt als Welt anspricht, geht unverhohlen einher mit einer gewissen Herabsetzung der so auf ihre Präsuppositionen hin hinterstiegenen Praxis. Schon die Sprache, die Heidegger führt, lässt das klar erkennen, dass er mit keinem Rückschlag unserer datierbaren und lokalisierbaren Daseinsvollzüge auf das Geflecht der Bezüge unseres In-der-Welt-seins rechnet, so dass die ersteren nicht nur nachgeordnet sind, sondern letztlich sogar irrelevant scheinen für die letzteren. Während alles Tun und Lassen der Menschen immer auch aus der Mitwelt bestimmt ist, soll dieses selber umgekehrt offensichtlich keinen positiven Einfluss auf deren inhaltliche Aus- und Fortbildung haben.⁹⁸ Wir wollen das hier jedoch nicht weiterverfolgen. Wir haben dargelegt, und damit soll es sein Bewenden haben, dass Kants anthropologischer Weltbegriff und seine Aufnahme und Ausdeutung bei Heidegger einen systematischen Beitrag zur Sozialontologie der Gegenwart beizusteuern vermögen. Wohl ist damit nicht schon alles gesagt. Womöglich mag sich am Ende gar herausstellen, dass es nicht nur eine einzige, sondern mehrere notwendige Bedingungen gibt, die erst zusammen genommen hinreichend sind für Soziales. Indessen haben wir mit Kant und Heidegger wohl zumindest eine solche notwendige Bedingung namhaft

 Ebd., S. 150.  So auch, wenngleich nicht mit Blick auf die sozialontologische Problemstellung, Seel, Martin: Heidegger und die Ethik des Spiels, in: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt a. M. 2002, S. 171 ff.

Kants Weltbegriff des Menschen und seine Zuschärfung bei Heidegger

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machen können. Worauf uns Kants Weltbegriff des Menschen und seine Zuschärfung bei Heidegger führt, lässt sich ganz elementar dahingehend angeben, dass einem die menschliche Gesellschaft zwar nahezu allerorten begegnet, dass sie uns umgibt und bedrängt, anspornt und enttäuscht, dass sie uns bei alledem jedoch nicht nur äußerlich bleibt, sondern auch und gerade tief im Inneren, ja zuallerinnerst betrifft. Jede Zuwendung zu dem, was war, ist oder sein kann, so lässt sich argumentieren, speist sich mit aus dem, worauf wir uns bereits verstehen, und sie rückt die betreffende Sache, welcher wir uns zuwenden, in eine gesellschaftliche Hinsicht: Etwas Soziales ist schon das Ganze der unser faktisches Verhalten zu den Dingen führenden Erwartungen, unter denen uns diese stehen, wir mögen uns dessen bewusst sein oder nicht. Das aber läuft dann letztendlich darauf hinaus, dass es bei all dem, was auch immer uns da vorkommen mag, so gesehen nichts gibt, das nicht etwas Soziales ist, das keinen gesellschaftlichen Anstricht besitzt. Im historischen Ausgang von Kant und Heidegger wird folglich die wohlverstandene, nichtreduktionistische Losung der Ontologie des Sozialen, für welche diese unter rein sachlichen Gesichtspunkten den Erweis zu erbringen hat, lauten müssen, dass alles sozial ist.

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Pluralsubjektivität – „Fichtes ursprüngliche Einsicht“ und die Ontologie der Gemeinschaft Abstract: “Plural Subjectivity. “Fichte’s Original Insight” and the Ontology of Community.” This paper examines ways of conceiving of communities as intentional subjects. It is argued that the most promising way is a plural version of Fichte’s Original Insight: Communities are subjects in virtue of their members’ plural pre-reflective self-awareness.

Das Verhältnis von Subjektivität und Gemeinschaft ist von Spannungen geprägt. Subjektivität ist mit Freiheit, Vernunft, Individualität und Selbstverwirklichung assoziiert, und in einer Welt, in der ‚Subjektivität‘ im menschlichen Selbstverständnis die Hauptrolle spielt, ist nicht klar, was für ein Platz Gemeinschaft haben kann. Wer Freiheit als Sache des Einzelnen begreift, sieht Gemeinschaft leicht als Hort von Zwang; wo Vernunft als Selbstdenken des Individuums gedacht wird, erscheint Gemeinschaft als Quelle ungeprüfter Vorurteile; wenn der Kompass der Lebensführung im Inneren der einzelnen Person vermutet wird, wirkt Gemeinschaft leicht wie ein bloßes Hindernis. Gemeinschaft, so ein alter Topos, steht der Subjektivität im Wege. Für das Gemeinschaftsdenken bleiben zwei Optionen, die ich die ‚weiße‘ und die ‚schwarze‘ Strategie zu nennen vorschlage. Man kann entweder versuchen, den Begriff der Gemeinschaft von diesen Verdächtigungen reinzuwaschen und zu zeigen, dass Gemeinschaft in Tat und Wahrheit auf die eine oder andere Art und Weise positiv auf Freiheit, Vernunft, Individualität und Selbstverwirklichung bezogen ist. Oder aber man akzeptiert den Gegensatz von Subjektivität und Gemeinschaft und wendet sich einer sozusagen ‚schwarzen‘ Gemeinschaftstheorie zu. Gemeinschaft wird dann als Widerspruch zur Subjektivität behandelt und als solcher affirmiert. Subjektivität, so die These, muss sich unterordnen, wo es um den Wert der Gemeinschaft geht. Tatsächlich bewegen sich viele Gemeinschaftstheorien irgendwo im Graubereich des Spektrums der Zwischentöne, aber bis in die Gegenwart ist es wohl das hellere Ende des Spektrums, das favorisiert wird. Auf dieser Linie wird mehr oder weniger entschlossen auf die These gesetzt, dass Gemeinschaft, genau wie Subjektivität selbst, sich der Eigenleistung der Einzelnen verdankt. Gemeinschaft, so die These, ist nichts den einzelnen Beteiligten von außen Zugemutetes, nichts https://doi.org/10.1515/9783110572735-005

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ihre eigene, subjektive Perspektive Unterlaufendes, nichts, was die Fähigkeit der Beteiligten, sich selbst aus ihrer eigenen Perspektive heraus zu bestimmen, behindert. Dies drückt sich einerseits in der normativen Rolle aus, die der Gemeinschaft zugeschrieben wird, andererseits aber auch in der Ontologie der Gemeinschaft, und dieser zweite Aspekt ist es, der im Folgenden im Zentrum steht. Es geht nicht um Sichten davon, wie Gemeinschaften ausgestaltet sein sollen, sondern bloß um die Frage, was Gemeinschaften sind. Die ‚weiße‘ Ontologie der Gemeinschaft will zeigen, dass Gemeinschaft in ihrem begrifflichen Kern aus der Subjektivität der Beteiligten selbst fließt, dass sie, um eine fichtesche Wendung zu gebrauchen, wesentlich etwas Selbstgesetztes bzw. Selbstkonstituiertes ist – und keine objektive Vorgegebenheit, die dem Subjekt von außen gegenübertritt. Die Einheit der Gemeinschaft ist keine Syntheseleistung eines anderen, der den Beteiligten eine kollektive Identität bloß zumutet, sondern etwas von den Teilnehmenden selbst kreiertes – genauso, wie auch das individuelle Ich keine fremde Schöpfung ist, sondern sich der Selbstkonstitution verdankt. Die Intuition ist, dass das ‚Wir‘, das die Gemeinschaft aus der Teilnehmerperspektive ist, selbst von der Art eines Subjekts ist: ein plurales Subjekt, um M. Gilberts Ausdruck zu verwenden, d. h. etwas aus der Selbst- und Wechselbeziehung der Beteiligten Bestehendes. Der Akt dieser Selbstkonstitution, der Identifikation der Mitglieder mit ihrer Gruppe, wird oft als eine Art reflexive Selbstobjektivierung der Beteiligten als ‚Wir‘ oder ‚Gruppe‘ verstanden. Die Selbstkonstitution von Gemeinschaft erfolgt dieser Sicht zufolge dadurch, dass sich die Beteiligten reflexiv selbst als Gruppe begreifen. Ich nenne das die ‚Reflexionstheorie der Gemeinschaft‘. Ich werde die Reflexionstheorie der Gemeinschaft in einem ersten Schritt anhand einiger Beispiele vorstellen (1.) und in einem zweiten Schritt die These vertreten, dass sich die Theorie der Gemeinschaft mit der Anlehnung an ein reflexionslogisches Subjektivitätsmodell genau jene Probleme einhandelt, die J. G. Fichte und J.-P. Sartre im Hinblick auf die Ontologie des individuellen Subjekts mit starken Argumenten kritisiert haben (2.). Meine These lautet: Wenn Gemeinschaft ontologisch von der Art der Subjektivität ist, dann sollte diese Subjektivität nicht als reflexiver Selbstbezug, sondern als plurales, nichtthetisches Selbstbewusstsein verstanden werden. In einem dritten Schritt werde ich kurz auf Sartres Weigerung eingehen, diese Konsequenz auch im pluralen Fall zu ziehen (3.). Sartre schlägt vor, was ich eine ‚schwarze‘ Theorie der Gemeinschaft genannt habe. Er sieht Gemeinschaft als externe Syntheseleistung und bringt sie damit in einen grundbegrifflichen Gegensatz zur Subjektivität der Beteiligten. Ich werde die These vertreten, dass dieser Schritt zwar falsch ist, daraus aber etwas zu lernen ist, was für die Ontologie der Gemeinschaft große Bedeutung hat.

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Die Sicht, die ich verteidigen möchte, lautet: Die ‚weiße‘ Theorie der Gemeinschaft hat grundsätzlich recht. Gemeinschaften sind tatsächlich von der Art von Subjektivität, sie sind, was sie sind, kraft Selbstkonstitution oder ‚Selbstsetzung‘. Gleichzeitig liegen die herkömmlichen ‚weißen‘ Theorien falsch, weil sie die Selbstkonstitution von Gemeinschaft als Selbstobjektivierung der Mitglieder als Gemeinschaft zu denken versuchen. Gemeinschaften sind ebenso wenig reflexive Selbstobjektivierungen wie externe Syntheseleistungen. Die Selbstkonstitution von Gemeinschaft muss vielmehr als plurales, unthematisches Selbstbewusstsein gedacht werden, d. h. als eine Form der nichtobjektivierenden Selbstbeziehung der Beteiligten, die eine nichtobjektivierende Wechselbeziehung unter ihnen mit einschließt. In Gemeinschaft, so meine These, verhalten sich Individuen zu anderen auf exakt dieselbe Weise wie zu sich selbst: Sie konstituieren sich als ‚Wir‘ auf dieselbe Art und Weise, wie sie sich als ‚Ich‘ konstituieren. ‚Wir‘ und ‚Ich‘ sind von derselben Art: Subjekte. Aber sie unterscheiden sich auch gemäß ihrer Spezifik; ‚Wir‘ sind kein kollektives ‚Ich‘, und ‚Ich‘ bin kein individuelles ‚Wir‘.

1 Reflexionstheorien des Pluralsubjekts Zunächst also zum Begriff und Problem der Reflexionstheorie der Gemeinschaft. Reflexionstheorien der Gemeinschaft vertreten die These, dass Gemeinschaften sich dadurch konstituieren, dass Individuen sich selbst und andere als Gemeinschaft begreifen. Dieses ‚Begreifen‘ und der genaue Inhalt des Begriffenen können ziemlich unterschiedlich gedeutet werden. Entscheidend für den Begriff der Reflexionstheorie der Gemeinschaft ist, dass es dabei einerseits um einen Selbstund Wechselbezug geht und andererseits Gemeinschaft oder abgeleitete Begriffe wie Mitgliedschaft im Gehalt der entsprechenden reflexiven und reziproken Haltung der Beteiligten vorkommen. Als Illustration für die Bandbreite der Reflexionstheorie der Gemeinschaft nur einige fast beliebige Beispiele. Das erste Beispiel stammt aus der Sozialpsychologie und ist unter dem Titel social itentity theory bzw. self-categorization theory bekannt. Diese Theorie geht davon aus, dass Gruppen sich dadurch konstituieren, dass sich Gruppenmitglieder selbst und wechselseitig als Gruppenmitglieder verstehen. „Self-conception as a group member […] is what creates the uniformity and co-ordination of group behavior“¹. Und: „The self-categorization analysis

 Abrams, Dominic/Hogg, Michael A.: An Introduction to the Social Identity Approach, in: Dies. (Hg.): Social Identity Theory. Constructive and Critical Advances, New York 1990, S. 4.

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reconceptualizes the social group in predominantly congnitive terms […]. The group is cognitively represented within the mind of the individual member and in this sense exists as a social identification“². Als zweites, begrifflich vielleicht etwas anspruchsvolleres Beispiel wähle ich U. Tietz, der in seiner Studie zur Theorie der Gemeinschaft ebenfalls ganz auf reflexive Identifikation der Mitglieder setzt: Die Identität von partikularen Wir-Gruppen steht und fällt mit der Identifikation seitens der Individuen mit diesen Gruppen – wobei der Identitätsbegriff in diesem Zusammenhang für die Fähigkeit der Kollektivmitglieder steht, sich auf der Grundlage eines reflektierten Selbstverhältnisses als das Kollektiv zu identifizieren, das man ist und das man künftig sein will.³

Um den Eindruck zu vermeiden, Reflexionstheorien der Gemeinschaft seien auf offen-liberale Konzeptionen beschränkt, möchte ich aus der Menge der Beispiele noch ein weiteres, eher konservatives oder exklusives heranziehen, nämlich S. P. Huntingtons Begriff der Identität aus seiner Studie Who Are We? Challenges to America′s National Identity: Identity is an individual’s or a group’s sense of self. It is a product of self-consciousness, that I or we possess distinct qualities as an entity that differentiates me from you and us from them. A new baby may have elements of an identity at birth in terms of a name, sex, parentage, and citizenship. These do not, however, become part of his or her identity until the baby becomes conscious of them and defines itself in terms of them.⁴

Huntington versteht auch kulturelle Identität nach diesem Strickmuster: als „civilization consciousness“, in dem sich Individuen reflexiv mit ihrem Kulturkreis identifizieren. Ohne weitere Belege möchte ich die Behauptung aufstellen, dass die überwiegende Mehrheit der Gemeinschaftsbegriffe in der gegenwärtigen Literatur diesem reflexionslogischen Muster folgt. Meine Vermutung ist, dass die Attraktivität der Reflexionstheorie der Gemeinschaft daher kommt, dass sie als quasiselbstverständliche Konsequenz der ‚weißen‘ These von der Selbstkonstituiertheit von Gemeinschaft verstanden wurde. Diese Vermutung möchte ich an zwei wichtigen, klassischen Beispielen plausibilisieren.

 Hogg, Michael: Social Identity and Group Cohesiveness, in: Turner, John C. et al. (Hg.): Rediscovering the Social Group. A Self-Categorization Theory, Oxford 1987, S. 101.  Tietz, Udo: Die Grenzen des Wir. Eine Theorie der Gemeinschaft, Frankfurt a. M. 2002, S. 77.  Huntington, Samuel P.: Who are We? Challenges to America’s National Identity, Cambridge, Mass. 2004, S. 21.

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Das erste Beispiel ist der Völkerpsychologe und Theoretiker des Volksgeistes M. Lazarus. In einer Schrift zum Thema Was heißt national? sowie einer Reihe anderer Schriften macht Lazarus gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunächst deutlich, dass mit „Volksgeist“ und „Volk“ keine externe Klassifikation verstanden werden soll, sondern so etwas wie eine Eigenleistung der Einzelnen. Diese bestehe darin, dass die Einzelnen sich selbst als zur Gemeinschaft zugehörig verstehen. Lazarus hat die Art und Weise, wie Gemeinschaften kraft Selbstkonstitution einbinden, in Gegenstellung zur Zugehörigkeit zu einer biologischen Klasse charakterisiert: Handelt es sich um Pflanzen oder Tiere, so ist es der Naturforscher, der sie nach objektiven Merkmalen in ihre Art versetzt; Menschen aber fragen wir, zu welchem Volke sie sich zählen. […] Wir haben die vorhandenen subjektiven, von den Völkern stillschweigend (implicite) gegebenen Definitionen von sich selbst zu erläutern.⁵

Lazarus charakterisiert diese implizite Selbstdefinition weiter als reflexiven Selbstbegriff: „Das, was ein Volk zu eben diesem macht, liegt […] in der subjectiven Ansicht der Glieder des Volks, welche sich alle als ein Volk ansehen. Der Begriff Volk beruht auf der subjectiven Ansicht der Glieder des Volks selbst von sich selbst“⁶. Ähnlich klingt es dann bei Lazarus Schüler G. Simmel. Hier ein längeres, berühmtes Zitat aus seinem „Exkurs über das Problem: wie ist gesellschaftliche Ordnung möglich?“ von 1908: Die entscheidende Differenz der Einheit einer Gesellschaft gegen die Natureinheit aber ist diese: dass die letztere – für den hier vorausgesetzten Kantischen Standpunkt – ausschließlich in dem betrachtenden Subjekt zustande kommt, ausschließlich von ihm an und aus den an sich unverbundenen Sinneselementen erzeugt wird, wogegen die gesellschaftliche Einheit von ihren Elementen, da sie bewusst und synthetisch aktiv sind, ohne weiteres realisiert wird und keines Betrachters bedarf. Jener Satz Kants: Verbindung könne niemals in den Dingen liegen, da sie nur vom Subjekte zustande gebracht wird, gilt für die gesellschaftliche Verbindung nicht, die sich vielmehr tatsächlich in den ‚Dingen‘ – welche hier die individuellen Seelen sind – unmittelbar vollzieht. Auch sie bleibt natürlich als Synthese, etwas rein Seelisches und ohne Parallele mit Raumgebilden und deren Wechselwirkun-

 Lazarus, Moritz/Steinthal, Heyman: Einleitende Gedanken ü ber Völkerpsychologie als Einladung zu einer Zeitschrift fü r Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, in: Zeitschrift fü r Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 1 (1860), S. 35. Vgl. Lazarus, Moritz: Grundzü ge der Völkerpsychologie und Kulturwissenschaft, Hamburg 2003, S. 88; Was heißt national?, Berlin 1880, S. 13.  Lazarus, Moritz/Steinthal, Heyman: Einleitende Gedanken ü ber Völkerpsychologie als Einladung zu einer Zeitschrift fü r Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 34 f. Vgl. Lazarus, Moritz: Grundzü ge der Völkerpsychologie und Kulturwissenschaft, a.a.O., S. 88.

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gen. Aber die Vereinheitlichung bedarf hier keines Faktors außerhalb ihrer Elemente, da jedes von diesen die Funktion übt, die dem Äußeren gegenüber die seelische Energie des Beschauers ausführt: das Bewusstsein, mit den andern eine Einheit zu bilden, ist hier tatsächlich die ganze zur Frage stehende Einheit.⁷

Ich will mit diesen Zitaten von Lazarus und Simmel die These plausibilisieren, dass die Reflexionstheorie der Gemeinschaft ihre Überzeugungskraft daraus bezieht, dass sie als direkte Konsequenz der These von der Selbstkonstituiertheit von Gemeinschaft verstanden wird. Lazarus und Simmel gehen tatsächlich ohne Zwischenschritt von der einen These zur anderen über. Weil Gemeinschaften nichts extern Konstituiertes, nichts Vorgegebenes bzw. den Beteiligten Zugemutetes sind, sondern aus der Subjektivität der Beteiligten selbst fließen, muss Gemeinschaft in so etwas wie einem Selbstbegriff oder Selbstobjektivierung der Beteiligten als Gemeinschaft bestehen. Diesen Schluss halte ich für falsch und fatal. Die Reflexionstheorie ist keine Konsequenz aus der These von der Selbstkonstituiertheit der Gemeinschaft, und es ist fatal, die Selbstkonstitution von Gemeinschaft als Selbstobjektivierung durch die Mitglieder zu verstehen. Ich möchte zunächst die Reflexionstheorie direkt angreifen, und zwar anhand eines wichtigen Beispiels aus der aktuellen Literatur. Die britisch-amerikanische Philosophin Gilbert entwickelt ihre einflussreiche Konzeption der Grundstruktur sozialer Gruppen in ausdrücklichem Anschluss an Simmel. Hier ein Zitat aus ihrem Hauptwerk On Social Facts von 1989, und zwar aus dem Kapitel „Social Groups: A Simmelian View“, in dem sie eine Auseinandersetzung mit Simmels eben zitierter These führt: According to my account of social groups […], the basic condition on social group existence involves everyone in volunteering his part in a certain special kind of unity: a unity of wills. Let us call this the willed unity condition. […] If we were to construe ‘consciousness of constituting with the others a unity’ in terms of one’s personal contribution to the willed unity condition, that is, as ‘willingness to constitute with the others a unity’, then one could agree – albeit stretching a point – that such consciousness is ‘all there is’ to this unity. For it is the basic building block, so to speak, of the social unit: this is ‘all that’ underlies the existence of the unit constituted by the individuals concerned.⁸

Die in diesem Zitat ausgesprochene Relativierung betrifft die Tatsache, dass Gilbert der kognitivistischen Version der Reflexionstheorie von Simmel gleichsam

 Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen ü ber die Formen der Vergesellschaftung (1908), Berlin 61983, S. 22.  Gilbert, Margaret: On Social Facts, Princeton 1989, S. 222.

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eine voluntaristische Wendung gibt: Es ist nicht bloß die Selbstzuschreibung, sondern die Teilnahmebereitschaft, die den fundamentalen Baustein der Gemeinschaft darstellt. Auch ist Gilbert im Unterschied zu Simmel nicht der Meinung, dass eine solche Haltung aller Mitglieder zum Zustandekommen einer Gruppe schon zureicht; vielmehr muss die Teilnahmebereitschaft offen deklariert werden, wodurch eine vereinte Festlegung (joint commitment) zustande komme, die nicht auf die mentalen Zustände der beteiligten Individuen reduzierbar sei. Im ontologischen Kern der Gruppe steht trotzdem eine reflexive Haltung der einzelnen Mitglieder, in deren intentionalem Gehalt die Gemeinschaft figuriert. Gruppen sind selbstkonstituiert, und sie konstituieren sich im Medium des intentionalen Gruppenbezugs ihrer Mitglieder. Bei Gilbert resultiert dies in einer vereinten Festlegung. Eine solche Festlegung ist dann nicht mehr eine Haltung von Individuen, sondern diejenige einer Gruppe. Gilbert nennt Gruppen deshalb Plural Subjects, Pluralsubjekte.

2 Zwei Probleme der Reflexionstheorie Ich möchte nun zwei Probleme benennen, die sich bei Gilbert manifestieren, die aber nach meiner Überzeugung alle Reflexionstheorien der Gemeinschaft treffen. Das erste ist ein circulus vitiosus, das zweite ein regressus ad infinitum. Diese beiden Probleme des Reflexionsbegriffs des Pluralsubjekts entsprechen den Aporien der Reflexionstheorie, die im Fall des Singularsubjekts seit Fichte gut bekannt sind. Diese Parallele motiviert den Vorschlag, im pluralen Fall dieselbe Konsequenz zu ziehen wie im Singular: Die Selbstkonstitution des Subjekts ist Sache eines vorreflexiven Selbstverhältnisses, nicht eines reflexiven Selbstbezugs. Der circulus vitiosus resultiert daraus, dass Gilbert den Begriff des Pluralsubjekts über die individuelle Bereitschaft definiert, mit anderen ein Pluralsubjekt zu bilden. Um ein Pluralsubjekt zu werden, müssen die Beteiligten die Absicht haben, ein Pluralsubjekt zu werden. Das macht die Analyse explanatorisch zirkulär, denn das explanans, das Pluralsubjekt, kommt im explanandum, dem Gehalt der individuellen Bereitschaft, bereits vor. Diese Zirkularität ist Gilbert von D. Tollefsen und R. Tuomela vorgeworfen worden. Gilbert hat darauf mit der These reagiert, das explanans, das Pluralsubjekt, sei ein technischer Begriff, der als solcher nicht im explanandum, dem Gehalt der individuellen Absichten und Überzeugungen, vorkommen müsse. Die Beteiligten, so Gilbert, erklären ihre Bereitschaft zur Beteiligung an einem sozusagen alltagssprachlich oder, wenn man so will, volkssoziologisch aufgefassten Pluralsubjekt und konstituieren sich dadurch als Pluralsubjekt im technischen

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Sinn, was etwas anderes sei.Wenn dem so ist, dann müsste der alltagssprachliche oder volkssoziologische Begriffs des Pluralsubjekts auf eine Weise erläuterbar sein, welche den technischen Begriff nicht bereits enthält. Das wiederum scheint sich schlecht mit Gilberts These zu vertragen, dass ihr Begriff des Pluralsubjekts tatsächlich im Kern des alltagssprachlichen Begriffs der Gruppe steckt. Soweit die Theorie des Pluralsubjekts den Anschluss an unseren intuitiven Begriff der Gemeinschaft nicht verlieren soll, bleibt die Analyse mit dem Problem einer Zirkularität behaftet (wobei natürlich immer gefragt werden kann, wie vitiös diese wirklich ist; es gibt ja Zirkel ganz unterschiedlicher Art). Das zweite Problem ist ein regressus ad infinitum. Um sich als Pluralsubjekt zu konstituieren, so Gilberts These, müssen die Beteiligten – wie implizit oder explizit auch immer – einander erst einmal die Bereitschaft signalisieren, an einem Pluralsubjekt teilzunehmen. Das kann aber nur geschehen, indem sie, ob implizit oder explizit, miteinander kommunizieren. Kommunikation ist aber eine gemeinsame Handlung mit dem Ziel der Verständigung, also etwas, was die Beteiligten nicht je für sich, sondern bloß gemeinsam tun können. Gemeinsame Handlungen gehören aber nach Gilbert zu jenen Phänomenen, die plurale Subjekte implizieren. Deshalb bräuchte es bereits ein konstituiertes Pluralsubjekt der Kommunikation, damit sich das Pluralsubjekt der resultierenden gemeinsamen Festlegung konstituieren kann. Die Beteiligten müssten sich erst wechselseitig die Bereitschaft zur Kommunikation signalisieren und sich als Pluralsubjekt auf Kommunikation festlegen, um dann innerhalb der Kommunikation das Pluralsubjekt der fraglichen Haltung konstituieren zu können. Und natürlich müsste auch das Pluralsubjekt der Kommunikation über die Konstitution eines Pluralsubjekts wieder kommunikativ konstituiert werden, also letztlich über ein noch fundamentaleres Pluralsubjekt und so weiter und so fort. Jede Konstitution eines Pluralsubjekts setzt ein bereits konstituiertes Pluralsubjekt voraus. Das führt in einen unendlichen Regress. Diese beiden an Gilbert gerichteten Vorwürfe des circulus vitiosus und des regressus ad infinitum können verallgemeinert werden, so dass sie sämtliche Formen der Reflexionstheorie der Gemeinschaft treffen. Erstens: Die Reflexionstheorie der Gemeinschaft erläutert Gemeinschaft über so etwas wie Gemeinschaftsbewusstsein. Sie muss aber auch erläutern können, wovon dieses Bewusstsein denn Bewusstsein ist, was sofort zum Ausgangspunkt zurückführt, dem Begriff der Gemeinschaft. Das ist der circulus vitiosus. Zweitens: Die Reflexionstheorie geht davon aus, dass Gemeinschaft dadurch zustande kommt, dass sich einzelne Individuen je selbst und wechselseitig als Gemeinschaftsmitglieder auffassen. Aber es reicht nicht, dass sich alle einzelnen Beteiligten zufällig alle als ‚Wir‘ auffassen, sondern auch der Akt des Auffassens selbst muss schon gemeinschaftlich erfolgen. Wenn der Akt, durch den eine Ge-

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meinschaft zustande kommt, schon eine andere Gemeinschaft impliziert, führt das in einen infiniten Regress. Die Mitglieder der Gemeinschaft müssten sich demgemäß so auffassen, dass sie sich als gemeinschaftlich sich als Gemeinschaft auffassend auffassen, und auch diese Auffassung müsste natürlich wieder gemeinschaftlich erfolgen, was reflexionslogisch zum Einziehen einer weiteren Stufe zwingt et cetera et cetera pp. Das ist der infinite Regress. Das sind die beiden formalen Probleme der Reflexionstheorie der Gemeinschaft oder pluralen Subjektivität. Die beiden genannten formalen Probleme der Reflexionstheorie des Pluralsubjekts entsprechen genau den Mängeln, welche die sog. Heidelberger Schule des Selbstbewusstseins den Reflexionstheorien der Subjektivität angekreidet haben. Fichte und Sartre spielen für diese Kritik die Rolle der Kronzeugen. Verkürzt gesagt: Bei Fichte wird das Problem deutlich, bei Sartre zeichnet sich eine Lösung ab. Zunächst möchte ich an D. Henrichs wichtigen Aufsatz zu Fichtes ursprünglicher Einsicht erinnern. Dieser Aufsatz prägt den Begriff der Reflexionstheorie der Subjektivität oder des Ich, und er macht die Grenzen dieser Theorie deutlich. Henrich definiert die Reflexionstheorie des Ich als „Theorie vom Wesen des Ich als Reflexion“, und erläutert sie auf folgende Weise: Sie nimmt zunächst ein Subjekt des Denkens an und betont, dass dieses Subjekt in einer stetigen Beziehung zu sich selbst steht. Dann behauptet sie weiter, diese Beziehung komme dadurch zustande, dass sich das Subjekt zu seinem eigenen Gegenstand macht, die Tätigkeit des Vorstellens, die ursprünglich auf Gegenstände bezogen ist, in sich selbst zurückwendet und so den einzigen Fall einer Identität von Tätigkeit und Getätigtem bewerkstelligt.⁹

Henrich zeigt in seinem Aufsatz, wie Fichte mit der Ureinsicht in die Zirkularität und den regressiven Charakter der Ableitung des Selbst aus der Selbstobjektivierung rang und zu welchen Lösungen er im Verlaufe seiner Werkentwicklung kam. Fichtes Grundeinsicht liegt darin, dass die Reflexionstheorie dem Fehler aufsitzt, die Selbstbezüglichkeit des Subjekts als Selbstobjektivierung zu denken, also davon auszugehen, dass das Ich nur ein Objekt unter anderen möglichen Objekten der Bezugnahme sei. Fichtes drei Begriffe des Ich als selbstgesetzt, als sich selbst setzend gesetzt und als ihrer selbst gewahre Tätigkeit werden von Henrich als sukzessive Versuche gedeutet, den Gedanken zu entfalten, dass das Ich sich keiner anderen Setzung als ihrer eigenen verdankt, also kein höheres Subjekt voraussetzt, und als Selbstgesetztes stets zugleich auch Setzendes ist.

 Henrich, Dieter: Fichtes ursprü ngliche Einsicht, in: Ders./Wagner, Hans (Hg.): Subjektivität und Metaphysik, Frankfurt a. M. 1966, S. 192.

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Die Grenze von Fichtes Beitrag zur Analyse des Selbstbewusstseins, so Henrich, liege demgegenüber darin, dass hier zu wenig herausgearbeitet worden sei, dass das reflexive Umsichwissen ein Wissen von sich schon voraussetze. Die ursprüngliche Selbstbeziehung, die das Ich oder Selbst kraft Selbstkonstitution ist, könne nicht als Akt der Reflexion verstanden werden; vielmehr setzt die Reflexion als expliziter Rückbezug schon ein vorgängiges Vertrautsein mit sich selbst voraus, welches Henrich in diesem Aufsatz bloß als das „ursprüngliche, aber dunkle Wesen des Ich“ bezeichnet: Von dem ursprünglichen Wesen des Ich her muß die Möglichkeit der Reflexion verstanden werden. Die Reflexionstheorie verfährt umgekehrt und erklärt das Ich als Fall eines Vollzuges der Reflexion. Sie deutet also mit Hilfe des manifesten, aber sekundären Phänomens das ursprüngliche, aber dunkle Wesen des Ich. ¹⁰

M. Frank, der zweite Hauptvertreter der Heidelberger Schule des Selbstbewusstseins, hat in seinen Studien zum in den 80er- und 90er-Jahren wie kein Zweiter darauf hingewiesen, dass der von Fichte selbst vielleicht noch vernachlässigte Aspekt seiner ursprünglichen Einsicht von Sartre ausgearbeitet worden ist.¹¹ Sartre zeigt die Lösung zu Fichtes Problem. Er setzt bei der Einsicht ein, dass alles Bewusstsein bereits Selbstbewusstsein impliziert, dass Selbstbewusstsein nicht etwas ist, was zum Bewusstsein noch hinzukommt.Wer etwas erlebt, tut das nicht ‚unbewusst‘, sondern erlebt auch, dass er es erlebt. Von diesem Punkt aus bearbeitet Sartre die bei Fichte nach Henrichs Diagnose offengebliebene Frage, welcher Art denn dieses Selbstbewusstsein sei. Sartre kommt zu der Einsicht, dass in einen infiniten Regress geraten muss, wer dieses Selbstbewusstsein als thematisch-reflexiven Bezug auf sich selbst deute, also als Zum-Thema-Machen, als eine Form der ‚Kenntnis‘ seiner selbst auf dieselbe Art und Weise, wie man andere Dinge ‚kennen‘ oder zum Thema machen kann. Das Selbstbewusstsein, so Sartre, sei von anderer Art: nichtthetisch und vorreflexiv. Ich zitiere eine längere Passage aus dem grundlegenden Aufsatz Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis: Aber das Bewusstsein von etwas impliziert notwendigerweise, wenn es nicht in das Unbewusste fallen soll, ein Bewusstsein von sich. Hier erlaube ich mir, Sie darauf hinzuweisen, dass ich dieses ‚von‘ immer in Klammern setzen werde; das ist ein typographisches Zeichen; ich verstehe Bewusstsein von sich […] nicht als Bewusstsein von etwas. Beim Selbstbewusstsein ist ja das ‚selbst‘ Objekt für das ‚Ich‘, das erkennt. Wir haben es mit der Erkenntnis zu tun, und zwar mit der Reflexion. Es gibt Bewusstsein von sich selbst mit einem hervor-

 Ebd., S. 196.  Vgl. Frank, Manfred (Hg.): Selbstbewusstseinstheorien von Fichte bis Sartre, Frankfurt a. M. 1991.

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gehobenen ‚von‘ in dem Fall, in dem wir reflexives Bewusstsein von uns selbst haben. Wenn wir dagegen annehmen, dass ich in diesem Augenblick nicht weiß, dass ich existiere, dass ich so beansprucht bin, dass ich, in meiner Lektüre unterbrochen, mich fragte, wo ich bin, aber dass meine Lektüre vielleicht das Bewusstsein meiner Lektüre impliziert, kann das Bewusstsein meiner Lektüre sich nicht als das Bewusstsein des vor mir liegenden Buches setzen. Wir werden also sagen, dass es sich um ein nicht-setzendes oder nicht-thetisches Bewusstsein handelt. Man muss an diesem Bewusstsein festhalten, wenn man die Rückkehr zum Unendlichen vermeiden will. […] Das Problem ist nicht so sehr, die Existenz des nichtthetischen Selbstbewusstseins zu suchen: Jeder ist es in jedem Augenblick; jeder erfreut sich seiner, wenn man so sagen kann. Das Problem ist, wie wir vom nicht-thetischen Selbstbewusstsein, das das Sein des Bewusstseins ist, zur reflexiven Erkenntnis übergehen können, die sich auf sich selbst gründet.¹²

Die These der Heidelberger Schule des Selbstbewusstseins lautet, dass im begrifflichen Kern der Subjektivität eine Selbstbeziehung steckt, die nicht thematischreflexives Wissen von sich selbst ist, sondern ein ganz anders strukturiertes Vonsich-selbst-‚Wissen‘: ein Sich-seiner-selbst-gewahr-Sein, ein Mitsichvertrautsein, das nicht zum Bewusstsein hinzukommt, sondern allem Bewusstsein zugehört, und das keine Selbstvergegenständlichung ist, sondern ein unthematisches Selbstbewusstsein. Dieses Mitsichvertrautsein ist so etwas wie ein Urphänomen (E. Husserl nennt es die „Urbiegung des Bewußtseins zu sich selbst“), das seinerseits dem reflexiv-thematischen Wissen von sich selbst ermöglichend zugrunde liegt. Es ist kraft dieser vorreflexiven Selbstvertrautheit, dass das Wissen auch wirklich Wissen von sich selbst ist. Frank hat das vorreflexiv-unthematische Selbstbewusstsein mit großem Lektüreaufwand in die Bezüge sowohl der Philo-

 „La conscience de quelque chose implique nécessairement sous peine de tomber dans l’inconscient, une conscience de soi. Ici, je me permettrai de vous signaler que je mettrai toujours ce ‚deʻ entre parenthèses; c’est un signe typographique; je n’entends pas conscience de soi […] comme conscience de quelque chose. En effet, s’il y a conscience de soi, le soi est objet pour le ‚jeʻ qui connaît. Nous avons affaire à la connaissance, et justement à la réflexion. Il y a conscience de soi avec un ‚deʻ souligné, dans le cas où nous avons conscience réflexive de nous-mêmes. Si au contraire nous considérons que j’ignore en ce moment que j’existe, que je suis si absorbé que, quand on me sortira de ma lecture je me demanderai où je suis, mais que peut-être ma lecture implique la conscience de ma lecture, la conscience de ma lecture ne peut pas se pose comme la conscience du livre devant moi. Nous dirons donc qu’il s’agit d’une conscience non-conditionelle, ou non-thétique. Cette conscience est indispensable à maintenir si nous voulons éviter le retour à l’infini. […] Le problème n’est pas tellement de chercher l’existence de la conscience non-thétique de soi: tout le monde l’est à chaque instant; tout le monde en jouit, si je puis dire. Le problème sera de savoir comment nous pouvons passer de la conscience non-thétique de soi, qui est l’être de la conscience, à la connaissance réflexive qui se fonde sur elle-même.“ (Sartre, Jean-Paul: Conscience de soi et connaissance de soi, in: Bulletin de la Société française de Philosophie 42/3 (1948), S. 62 f.)

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sophie der Romantik wie der jüngeren analytischen Philosophie des Selbstbewusstseins gestellt. Ich möchte darauf nicht eingehen, sondern bloß auf die strukturellen Parallelen hinweisen zwischen den Problemen der Reflexionstheorie der Gemeinschaft, wie ich sie dargestellt habe, und den Problemen der Reflexionstheorie des individuellen Selbstseins, wie sie die Heidelberger Schule beleuchtet hat. In beiden Fällen ist die Grundintuition die, dass der Gegenstand der Analyse etwas ist, was nicht extern gesetzt, sondern selbstkonstituiert ist. In der Theorie der Gemeinschaft äußert sich dies im Primat der Teilnehmer- vor der Beobachterperspektive, den wir bei Lazarus und Simmel gesehen haben, in der Theorie des individuellen Selbstseins in Fichtes ursprünglicher Einsicht in die Selbstgesetztheit des Ich. Die Reflexionstheorie der Gemeinschaft verortet den Kern des Pluralsubjekts im Gehalt individueller reflexiver und wechselseitiger Überzeugungen, die Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins das Singularsubjekt im Gehalt des Reflexionsaktes. In beiden Fällen geraten wir in einen circulus vitiosus bzw. einen regressus ad infinitum. Im Plural gilt wie im Singular: Das reflexionslogisch verstandene Subjekt wird über den thematischen Selbstbegriff als Subjekt erläutert, was explanatorisch zum Ausgangspunkt zurückführt; und die Konstitution des reflexionslogisch verstandenen Subjekts setzt ein bereits konstituiertes Subjekt voraus. Diese Strukturanalogie der Problemlage legt den Schluss nahe, dass die Lösung für die Strukturanalyse des Ich auch den Weg zu einem adäquaten Verständnis des Wir sein könnte. Die Grundidee lautet: So wie wir als Einzelne nichtthetisch und vorreflexiv auf uns selbst bezogen sind, sind wir in Gemeinschaft nichtthetisch und vorreflexiv auf uns selbst und auch wechselseitig aufeinander bezogen – nicht so, dass wir irgendwie wechselseitig zum Gegenstand intentionaler Einstellungen werden, sondern gleichsam als laterale Kopräsenz und Komponente des intentionalen Bezugs auf das, worum es uns gemeinsam geht. J. R. Searle spricht einmal vom „preintentional sense of ‘the other’ as an actual or potential agent like oneself in cooperative activities“¹³, M. Scheler, M. Heidegger und auch Sartre betonen, dass im gemeinsamen Erleben und Handeln der andere nicht thematisch gegeben ist, sondern gleichsam im Akt selbst mit dabei ist. Der Begriff eines pluralen Selbstbewusstseins scheint dazu geeignet, diesen Beschreibungen einen genaueren Sinn zu geben. Genauso, wie es zum individuellen Erleben und Tun gehört, dass es vorreflexiv und unthematisch als indivi-

 Searle, John R.: Collective Intentions and Actions, in: Cohen, Philip R./Morgan, Jerry L./Pollack, Martha E. (Hg.): Intentions in Communication, Cambridge, Mass. 1990, S. 413.

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duelles Erleben und Tun bewusst ist, gehört zum gemeinsamen Erleben und Tun so etwas wie ein vorreflexives und nichtthetisches Wir-Bewusstsein, ein vorreflexives cogitamus dazu. Solch ein Vertrautsein mit sich selbst schließt das Vertrautsein mit anderen bereits mit ein, und das Verhältnis zu anderen in solchen Einstellungen ist exakt aus dem gleichen Stoff gemacht wie das Selbstverhältnis. Im Kern des Begriffs der Gemeinschaft steckt damit ein plurales Selbstbewusstsein. Kraft solchen pluralen Selbstbewusstseins gibt es plurale Subjekte.¹⁴

3 Sartres These vom Vorrang des Objekt-Wir Sartre ist in seiner Interpretation von Heideggers Mitsein sehr nahe an einen solchen Begriff eines pluralen Selbstbewusstseins gekommen: Er nennt es Subjekt-Wir („Nous-sujet“¹⁵). Aber bekanntlich hat er diese Konzeption nur deshalb entfaltet, um sie sodann umso dezidierter zurückweisen zu können. Zumindest gilt das vom dritten Abschnitt des dritten Kapitels von Das Sein und das Nichts. Ich werde mich im Folgenden auf diesen Text beschränken und Sartres wichtige weitere Beiträge zur Sozialontologie, insbesondere in der Kritik der dialektischen Vernunft, ignorieren.Wenn von Sartre die Rede ist, so ist stets nur den Autor dieses Kapitels gemeint. Sartre lehnt die These ab, dass der ontologische Kern von Gemeinschaft in der vorreflexiven Erfahrung eines gemeinsamen Engagiertseins oder sonstigen intentionalen Bezogenseins bestehen könnte.¹⁶ Diese Erfahrung gebe es zwar, so Sartre, aber er wird nicht müde zu betonen, dass es sich dabei um ein kontingentes, bloß individualpsychologisches Phänomen ohne sozialontologische Relevanz handle (dies wiederholt Sartre auf diesen Seiten nicht weniger als achtmal). Dies ist die erste Behauptung Sartres: Ein vorreflexives Gemeinschaftsbewusstsein ist keine notwendige Bedingung für Gemeinschaft. Sartres eigene Ontologie der Gemeinschaft gehört im Sinne der Unterscheidung, die ich eingangs gemacht habe, klar zur ‚schwarzen‘ Sorte: Gemeinschaft ist im Kern nichts, was der eigenen Subjektivität der Beteiligten entspringt, sondern etwas, was ihr von außen fremd und limitierend gegenübertritt. Es ist der Blick des Dritten, der uns, wie Sartre sagt, zwischen fremden Existenzen verklebt: Es ist, so

 Vgl. Schmid, Hans B.: Plural Self-Awareness, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 13/7 (2014), S. 7– 24; Expressing Group Attitudes. On First Person Plural Authority, in: Erkenntnis 79 (2014), S. 1685 – 1701.  Sartre, Jean-Paul: L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris 1943, S. 486.  Vgl. Schmid, Hans B.: Wir-Intentionalität. Kritik des ontologischen Individualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft, Freiburg i. Br. 2012, § 11.

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Sartres zweite These, eine hinreichende Bedingung für Gemeinschaft, dass sich eine beliebige Anzahl Menschen als durch einen Dritten wahrgenommen erfahren. Das Wir ist, mit anderen Worten, primär Objekt-Wir („Nous-objet“¹⁷). Sartre gibt zwei eindrückliche phänomenologische Beschreibungen dieses Vorgangs, die ich gerne in Erinnerung rufen möchte. Das erste Beispiel ist das der beiden Kämpfenden, die sich als angeblickt erfahren, das zweite dasjenige der beiden einander fremden Passanten. So kann ich also in Abwesenheit des Dritten sagen: ‚Ich bekämpfe den andern‘. Sobald aber der Dritte erscheint, wird […] die Beziehung wechselseitig, und ich bin gezwungen zu erfahren, dass ‚wir uns bekämpfen‘. Die Formulierung ‚Ich bekämpfe ihn, und er bekämpft mich‘ wäre ja deutlich unzureichend: Tatsächlich bekämpfe ich ihn, weil er mich bekämpft und umgekehrt; die Absicht zu kämpfen entstand in seinem Geist wie in meinem, und für den Dritten vereinigt sie sich zu einer einzigen Absicht, die dem Objekt-Sie gemein ist, das er durch seinen Blick umfängt und das die vereinigende Synthese dieses ‚Sie‘ konstituiert. Ich muss mich also als vom Dritten wahrgenommener integrierender Teil des ‚Sie‘ übernehmen. Und dieses durch eine Subjektivität als ihr Sinn-für-Andere übernommene ‚Sie‘ wird das Wir.¹⁸

Das zweite Beispiel: Wenn ich auf der Straße hinter einem Mann hergehe, den ich nur von hinten sehe, habe ich das denkbare Minimum technischer und praktischer Beziehungen zu ihm. Trotzdem genügt, dass ein Dritter mich anblickt, die Straße anblickt, ihn anblickt, damit ich durch die Solidarität des Wir an ihn gebunden bin: Wir gehen an einem Julimorgen einer hinter dem andern die Rue Blomet entlang. Es gibt stets einen Gesichtspunkt, von dem aus verschiedene Für-sich durch einen Blick in dem Wir vereinigt werden können.¹⁹

 Sartre, Jean-Paul: L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, a.a.O., S. 486.  „Ainsi, puis-je dire ‘Je me bats contre l’Autre’ en l’absence du Tiers. Mais dès qu’il paraît […] le rapport devient réciproque et je suis contraint d’éprouver que ‘nous nous battons’. En effet la formule ‘Je me bats et il me bat’ serait nettement insuffisante: en fait, je le bats parce qu’il me bat et réciproquement; le projet du combat a germé dans son esprit comme dans le mien et, pour le tiers, il s’unifie en un seul projet, commun à cet Eux-objet qu’il embrasse par son regard et qui constitue même la synthèse unificatrice de cet ‘Eux’. C’est donc en tant qu’appréhendé par le Tiers comme partie intégrante du ‘Eux’ que je dois m’assumer. Et ce ‘Eux’ assumé par une subjectivité comme son sens-pour-autrui devient le Nous.“ (Ebd., S. 490)  „Si je marche dans la rue, derrière cet homme que je ne vois que de dos, j’ai avec lui le minimum de relations techniques et pratiques que l’on puisse concevoir. Pourtant, il suffit qu’un tiers me regarde, regarde la chaussée, le regarde pour que je sois lié à lui par la solidarité du nous: nous arpentons l’un derrière l’autre la rue Blomet, par un matin de juillet. Il y a toujours un point de vue duquel des pour-soi divers peuvent être unis par un regard dans le nous.“ (Ebd., S. 491)

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Sartre selbst betont, der Unterschied der beiden Fälle bestehe darin, dass das Wir im ersten Fall sozusagen schon durch die Situation vorbereitet sei. Den zweiten Fall führt Sartre aber als Beleg für die radikale These an, dass das Vorbereitetsein durch die Situation keine notwendige Bedingung sei, sondern der Blick des Dritten allein schon hinreiche. Die Grenzen des Wir, so Sartre, wird allein durch den anderen festgelegt. Was gerade uns und nicht eine andere Auswahl von Individuen zum Wir macht, ist einfach die Tatsache, dass wir es sind, die der andere im Blick hat. Nicht Selbstkategorisierung oder eine andere Form der Selbstkonstitution, sondern Fremdbeschreibung konstituiert Zugehörigkeit. Bei näherer Überlegung wird man hier, vermute ich, nicht umhinkönnen, Dissens anzumelden. Weder Sartres Beispiel überzeugt, noch ist ein besserer Weg absehbar, die ‚schwarze‘ These zu stützen, die das Beispiel belegen soll. Ein Schein von Plausibilität ergibt sich dadurch, dass wir uns alltagssprachlich im Fall der vom Dritten angeblickten Fußgänger tatsächlich in einem gewissen auf den Fremden und uns selbst als Wir beziehen. Aber wir würden dies bloß in einem distributiven Sinn tun, und die distributive Verwendung von ‚Wir‘ muss von der kollektiven scharf unterschieden werden: Nur die letztere kommt für die Theorie der Gemeinschaft infrage. ‚Wir gehen die Straße entlang‘ bedeutet im distributiven Sinn: jede und jeder geht für sich die Straße entlang. Das Entlanggehen wird durch den Blick des Dritten etwas, was jedermann tut, es wird aber nicht zu etwas, was wir gemeinsam tun in dem Sinn, in dem wir gemeinsam die Straße entlang gehen, wenn wir zusammen einen Spaziergang machen. Erst dann läge ein kollektives Wir vor; der Blick des Dritten hat aber nicht die Macht, einzeln Gehende in gemeinsam Gehende zu verwandeln. Dies scheint im Fall des Kampfs anders zu sein: ‚Wir kämpfen‘ heißt nicht distributiv: jeder von uns kämpft, sondern vielmehr kollektiv: wir kämpfen miteinander. Sartre überschätzt die synthetische Kraft des Blicks des Dritten, wenn er behauptet, dieser könne beliebige Individuen zu einem Wir verschmelzen. Aber er weist gleichzeitig auf ein höchst wichtiges Phänomen hin, und dieses zeigt sich am Beispiel der Kämpfenden. Wie Sartres Kämpfende, die nur daran denken, was sie selbst individuell tun und was der andere tut, und dabei vergessen, dass sie das, was sie tun, letztlich gemeinsam tun, tendieren im Alltag dazu, unser Tun als individuelles Tun unter der Restriktion des Tuns von anderen zu begreifen. Die Möglichkeiten, auf die wir uns beabsichtigend und handelnd beziehen, verstehen wir als individuelle Möglichkeiten. Individuum A tut das, was es gegeben seine Erwartung von Individuum B im Hinblick auf seine Ziele für optimal hält. Das ökonomische Verhaltensmodell hat dieses individualistische Selbstverständnis sogar als quasiapriorische Wahrheit verkündet. Dabei handelt es sich bei diesem

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Selbstverständnis um ein Selbstmissverständnis. Wir übersehen in dieser Haltung, dass die meisten Handlungskontexte in Tat und Wahrheit durch gemeinsames Handeln konstituiert sind. Mein Schreiben und Ihr Lesen sind durch den Rahmen unserer Kommunikation konstituiert. Heidegger hat diese Tendenz zum individualisierenden Selbstverständnis das „Man-selbst“²⁰ genannt und es einmal als „zerbrochenes Wir“²¹ gekennzeichnet: zerbrochen deshalb, weil wir im Rahmen eines solchen Selbstverständnisses uns nicht als das verstehen, was wir eigentlich sind: ein gemeinsames Dasein. Sartres Beispiel illustriert nun eindringlich, wie der Blick des Dritten uns aus einem individualisierenden Selbstverständnis reißen und dazu führen kann, dass wir uns der Gemeinsamkeit unseres Daseins innewerden. Aber in diesen Fällen fungiert der Dritte nicht als Seinsgrund unserer Gemeinschaft, wie Sartre denkt, sondern bloß als Erkenntnisgrund. Der Dritte kann keine Gemeinschaften aus dem Nichts herbeiobjektivieren, wie das Scheitern des Fußgängerbeispiels zeigt, aber er kann sehr wohl ein individualisierendes Selbstbewusstsein unseres Daseins durchbrechen und uns unserer Gemeinschaft innewerden lassen, wo diese bereits vorliegt. Von da aus fällt ein kritisches Licht zurück auf Sartres erste These. Diese lautet, dass die Erfahrung des Subjekt-Wir bloß ein individualpsychologisches Phänomen sei, dem keine sozialontologische Relevanz zukomme. Manchmal, so Sartre, überkomme halt Einzelne dieses subjektive Gefühl des gemeinsamen Daseins mit anderen, aber das sei zur Gemeinschaft keineswegs notwendig und nur von psychologischem Interesse. Die Kontingenz der Erfahrung wäre vor dem Hintergrund des Gesagten zwar zu bestätigen: Tatsächlich ist es, wie die Tendenz zur Individualisierung zeigt, für uns nicht notwendig, der Gemeinsamkeit unserer Situation gewahr zu sein. Aber d. h. nicht, dass das Gewahrsein der Gemeinschaft bloß psychologisch relevant wäre: Vielmehr entspricht es der Erfahrung einer im Alltag meist verdeckten ontologischen Grundstruktur unseres gemeinsamen Daseins. Über die tieferen Ursachen, die Sartre dazu brachten, in der Theorie der Gemeinschaft die schwarze Seite zu wählen, möchte ich nicht spekulieren. Sartre hat mit dem Begriff des unthematischen Selbstbewusstseins ein Konzept entwickelt, das die Selbstkonstitution von Subjektivität ohne die Paradoxien der Selbstobjektivierung zu denken erlaubt und das damit die Konsequenzen von Fichtes ursprünglicher Einsicht zieht. Und er ist in einer sehr scharfsinnigen Interpreta-

 Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927), GA 2, Frankfurt a. M. 1977, S. 172.  Heidegger, Martin: Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache (1934), GA 38, Frankfurt a. M. 1998, S. 43.

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tion von Heideggers Mitsein auf Millimeter an die Konzeption von Gemeinschaft als plurales Selbstbewusstsein herangekommen. Trotzdem hat er diese Konzeption in Bausch und Bogen zugunsten einer, gelinde gesagt, eher wackeligen Theorie der Gemeinschaft als Fremdobjektivierung verworfen. Man kann nur vermuten, dass Sartre so sehr an der Vereinzeltheit des Individuums gehangen hat, dass er sich schlicht nicht vorstellen wollte, dass dieses das Privileg seines Selbstseins mit anderen teilen könnte. Es bleibt die (von M. Theunissen gestellte) Diagnose, dass Sartre der wohl individualistischste Denker unserer Geistesgeschichte ist.²² Das Motto muss hier m. E. lauten: mit Sartre gegen Sartre über Sartre hinaus denken. Mit dem Begriff der Gemeinschaft als plurales Selbstbewusstsein können die formalen Probleme behoben werden, in welche die ‚weiße‘ Ontologie der Gemeinschaft qua Reflexionstheorie gerät. Gemeinschaft ist ebenso wenig Selbstobjektivierung wie Fremdobjektiviertwerden, sondern primär nichtthetische Selbstkonstitution. Dieser Ansatz erlaubt es, den Blick auf Formen der Gemeinschaft zu weiten, die vor aller reflexiven Selbstkonzeptualisierung liegen, denn ein reflexives Selbstverständnis erscheint nicht als notwendige Bedingung von Gemeinschaft. Dieser Ansatz erlaubt es auch, einen kritischen Blick auf reflexive Gemeinschaftskonzeptionen zu werfen, denn ein reflexives Selbstverständnis ist auch keine hinreichende Bedingung von Gemeinschaft. Heidegger hat einmal die Vermutung geäußert, wer wir selbst eigentlich seien, lasse sich nicht unserer Reflexion entnehmen; je lauter wir ‚wir, wir‘ sagen, desto weniger sind wir möglicherweise wirklich gemeinsam. Vielleicht sind wir schon lange nicht mehr die, für die wir uns halten; die Semantik gesellschaftlicher Selbstbeschreibung und die Gesellschaftsstruktur sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Eine Theorie der Gemeinschaft, die Gemeinschaft von dem zu unterscheiden vermag, was die Beteiligten oder auch Außenstehende für Gemeinschaft halten, kann dieser Einsicht gerecht werden.

Literatur Abrams, Dominic/Hogg, Michael A.: An Introduction to the Social Identity Approach, in: Dies. (Hg.): Social Identity Theory. Constructive and Critical Advances, New York 1990, S. 1 – 9. Frank, Manfred (Hg.): Selbstbewusstseinstheorien von Fichte bis Sartre, Frankfurt a. M. 1991. Gilbert, Margaret: On Social Facts, Princeton 1989.

 Vgl. Theunissen, Michael: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1965.

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Soziale Gemeinschaft und absoluter Geist Abstract: “Social Community and Absolute Spirit.” Hegel’s social philosophy has its systematic place in the sections on objective spirit in the Encyclopedia. Objective spirit, however, passes into absolute spirit, whereby the latter is supposed to be the truth of the former. As a consequence, the concern arises that Hegel’s theory of social freedom might at best be defendable at the expense of subscribing to a transcendent metaphysics of the absolute. In this paper, however, I argue that this is not the case, by offering an alternative account of Hegel’s notion of absolute spirit. Firstly, I shall trace back this notion to its roots in the subjective and the objective spirit. Secondly, I argue that the absolute spirit extends specific forms of self-reflection, in which members of social communities explicitly address their own freedom, to a kind of universal self-reflection, in which we as philosophers explicitly thematize the basic concepts of our conceptual scheme. Thirdly, I shall discuss how this universal self-reflection shows that human subjects are free in an absolute sense, i. e., as not being limited by any kind of InItself. This awareness of absolute freedom adds a fundamental, and indeed indispensable, aspect to our self-understanding as being socially and politically free.

Eine der zentralen Herausforderungen der Interpretation der Hegel’schen Rechtsphilosophie besteht in dem Verhältnis derjenigen Teile seines enzyklopädischen Systems, die Hegel ‚objektiver Geist‘ und ‚absoluter Geist‘ nennt. Die praktische und politische Philosophie macht den objektiven Geist aus. Der objektive Geist geht aber über in den sogenannten absoluten Geist, und aus der Logik der Übergänge in der Hegel’schen Dialektik ergibt sich daher sofort, dass der absolute Geist nach Hegel die Wahrheit des objektiven Geistes oder doch wenigstens eine notwendige Bedingung von dessen Existenz sein muss. Mehr noch: Objektiver Geist und absoluter Geist sind nach Hegels Anspruch beides jeweils Sphären der Freiheit. Die grundlegende rechtliche und soziale Einheit des objektiven Geistes, der Staat, ist die „Verwirklichung der Freiheit“ (GPR, § 258 Z). Zugleich wird die grundlegende Struktur des absoluten Geistes, der sogenannte Begriff, von Hegel in einem emphatischen Sinne als „das Reich der Freiheit“ (Log II, S. 251) eingeführt. In § 552 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften geht aber die in den Staaten und ihrer historischen Entwicklung, der Weltgeschichte, manifestierte objektive Freiheit in die eigentümliche Freiheit des absoluten Geistes über: https://doi.org/10.1515/9783110572735-006

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Der denkende Geist der Weltgeschichte aber […] erhebt sich zum Wissen des absoluten Geistes, als der ewig wirklichen Wahrheit, in welcher die wissende Vernunft frei für sich ist und die Notwendigkeit, Natur und Geschichte nur seiner Offenbarung dienend und Gefäße seiner Ehre sind. (Enz III, § 552)

Wenn also der objektive Geist in den absoluten Geist übergeht, dann scheint das zu bedeuten, dass die absolute Freiheit nach Hegel die „Wahrheit“ der objektiven Freiheit oder doch wenigstens eine notwendige Bedingung von deren Existenz sein muss. In einem bestimmten Sinne scheint die Freiheit, deren Realisierung im modernen säkularen Verfassungsstaat für Hegel bereits erreicht ist, in den absoluten Geist auszuwandern, durch ebendiese Bewegung aber auch abgewertet zu werden: Die Geschichte der Staaten und der objektiven Freiheit ist „nur seiner Offenbarung dienend“, wie es an der zuletzt zitierten Stelle heißt, und der Ausdruck „nur“ impliziert eine Abwertung der objektiven gegenüber der absoluten Freiheit. Die entscheidende Frage ist, wie dieser Übergang zu bewerten ist. Macht die Entwicklung zum absoluten Geist die in der Rechtsphilosophie erarbeitete Dimension der objektiven Freiheit zugunsten einer obskuren metaphysischen und in diesem Sinne „absoluten“ Freiheit zunichte? Gerät die philosophische Analyse des modernen Verfassungsstaates und seiner Grundlagen in den Sog einer transzendenten „absoluten Idee“, auf die hin, man weiß nicht wie, der Weltgeist die Entwicklung der Staaten anordnet? Verschenkt die Metaphysik des absoluten Geistes die Errungenschaft der Philosophie des objektiven Geistes? Kann die letztere also überhaupt nur ernstnehmen, wer die erstere unterschreibt? Was kann die Philosophie des absoluten Geistes überhaupt zur Theorie sozialer Gemeinschaften beitragen? Mit den folgenden Überlegungen möchte ich eine Antwort auf diese Fragen vorbereiten, indem ich einen Vorschlag dafür entwickle, was Hegel überhaupt unter ‚absolutem Geist‘ versteht. Dieser Vorschlag geht vor allem von der zentralen Bestimmung des absoluten Geistes in der Enzyklopädie aus. Ich möchte diese Lesart zugleich so entwickeln, dass deutlich wird, inwiefern der absolute Geist einerseits eine Erscheinungsform der menschlichen Freiheit ist und andererseits eine notwendige Voraussetzung der in den Gestaltungen des objektiven Geistes manifestierten Freiheit sein kann. Der Vorschlag läuft darauf hinaus, dass das, was Hegel ‚absoluter Geist‘ nennt, tatsächlich eine bestimmte Form der Metaphysik impliziert, auf jeden Fall aber keine Form einer transzendenten Metaphysik. Ich gehe zunächst auf den von Hegel vorausgesetzten Zusammenhang zwischen subjektivem und objektivem Geist und vor allem auf die Grundstrukturen des letzteren ein (1.), bevor ich am Leitfaden des Freiheitsbegriffs danach frage,

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worin überhaupt das Feld einer dritten Geistform, die die Bezeichnung ‚absolut‘ verdient, bestehen könnte (2.). Im Zentrum meiner Überlegungen steht dann vor allem Hegels These, dass die absolute Idee, um die es im absoluten Geist hauptsächlich geht, weder als ein transzendentes Absolutes noch überhaupt als ein Gegenstand aufgefasst werden darf (3.). Diese These schließt letztlich aus, dass die Philosophie des absoluten Geistes eine Form der transzendenten Metaphysik sein kann; stattdessen muss sie als eine transzendentale Kategorientheorie verstanden werden, von der sich tatsächlich zeigen lässt, dass wir uns mit ihrer Hilfe einer elementaren Dimension menschlicher Freiheit versichern können, die auch für die in unseren sozialen Gemeinschaften realisierte Freiheit eine notwendige Bedingung darstellt (4.).¹

1 Objektiver Geist Hegel führt den Begriff des absoluten Geistes offiziell in § 553 der Enzyklopädie ein: Der Begriff des Geistes hat seine Realität im Geiste. Daß diese in der Identität mit jenem als das Wissen der absoluten Idee sei, hierin ist die notwendige Seite, daß die an sich freie Intelligenz in ihrer Wirklichkeit zu ihrem Begriffe befreit sei, um die dessen würdige Gestalt zu sein. Der subjektive und der objektive Geist sind als der Weg anzusehen, auf welchem sich diese Seite der Realität oder der Existenz ausbildet. (Enz III, § 553)

Diese Passage fügt drei ganz unterschiedliche Themen in einen einzigen Argumentationszusammenhang. Im dritten Satz sagt Hegel, dass der absolute Geist das Resultat einer Entwicklung sei, die vom subjektiven Geist ihren Ausgang nehme und über den objektiven Geist zum absoluten Geist führe. Im zweiten Satz sagt er, dass der entscheidende Zugewinn des absoluten Geistes gegenüber den beiden vorangehenden Geistformen darin liege, dass die menschlichen Subjekte, die die ‚Träger‘ des Geistes sind, nicht nur in der Außenperspektive als „an sich“ freie Subjekte beschrieben werden können, sondern sie selbst auch für sich, in ihrer eigenen Beschreibung ihrer Selbst- und Weltverhältnisse, von ihrer Freiheit explizit wissen. Im ersten Satz legt Hegel schließlich die Bestimmung nahe, dass

 Die folgenden Überlegungen sind in jeweils anderem Zusammenhang bereits an anderen Orten erschienen. Zu den Abschnitten 1. bis 3. siehe meinen Aufsatz Das Ende der Kunst im absoluten Geist: mit Hegel gegen Hegel, in: Braune-Krickau, Tobias/Erne, Thomas/Scholl, Katharina (Hg.): Vom Ende her gedacht. Hegels Ästhetik zwischen Religion und Kunst, Freiburg 2014, S. 28 – 49. Zum Abschnitt 4. siehe mein Buch Negative Dialektik des Unendlichen: Kant, Hegel, Cantor, Berlin 2015, S. 211– 226.

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der absolute Geist eine besondere Form der Wirklichkeit ist, die der Geist seinem eigenen Begriff nach haben kann. Diese drei Themen – die Entwicklung dreier Geistformen, die explizit reflektierte Freiheit menschlicher Subjekte und die besondere Realisierungsform des absoluten Geistes – werde ich in diesem und den folgenden Abschnitten der Reihe nach diskutieren. In den Hauptströmungen der gegenwärtigen Philosophie des Geistes wird der Ausdruck ‚Geist‘ im Sinne von ‚Bewusstsein‘ verstanden, als Bezeichnung für den Inbegriff der geistigen Vorkommnisse, die ein individueller Denker unterhalten kann. ‚Geist‘ in diesem Sinne bedeutet so viel wie mens oder mind. Die zugehörige philosophische Theorie ist deshalb eine Philosophie des Mentalen oder eine philosophy of mind; Hegel nennt sie eine ‚Philosophie des subjektiven Geistes‘. Die für die gegenwärtige Philosophie des Geistes größte Herausforderung Hegels besteht darin, dass er der Philosophie des subjektiven Geistes explizit eine Theorie des objektiven Geistes an die Seite stellt.² ‚Geistig‘ können nach Hegel nicht lediglich die mentalen Vorkommnisse individueller Denker genannt werden, sondern insbesondere auch die Gegenstände, Institutionen und Ereignisfolgen innerhalb unserer sozialen Lebenswelt, die auf die Initiativen und Handlungen individueller oder kollektiver Subjekte zurückgehen. Diese Redeweise ermöglicht es Hegel, auch von Kunstwerken als geistigen Objekten zu sprechen. Geist in diesem Sinne ist dasjenige, was man (in einer heute weitgehend verschütteten philosophischen Tradition) spiritus oder spirit genannt hat. Fragen wir zunächst nach dem rationalen Gehalt von Hegels Unterscheidung zwischen subjektivem Geist (mind) und objektivem Geist (spirit). In den Paragraphen der Enzyklopädie, die die Theorie des subjektiven Geistes entwickeln, behandelt Hegel der Reihe nach die verschiedenen Klassen von mentalen Vorkommnissen, die menschliche Subjekte unterhalten können. Dazu gehören etwa Empfindungen, Gefühle, Wahrnehmungen, Überzeugungen und Gedanken, aber auch Begierden, Wünsche und Intentionen, also sowohl „theoretische“ (Enz III, § 445) als auch „praktische“ (Enz III, § 469) geistige Vorkommnisse. Hegel nennt den Geist des erkennenden Individuums die „Intelligenz“, den Geist des handelnden oder handlungsbezogenen Individuums dagegen den „Willen[n]“ (Enz III, § 443). Intelligenz und Wille können sich auch zum Geist eines Individuums vereinen, das sich durch die Erkenntnis von Gründen vorsätzlich zum Handeln bestimmt; dann spricht Hegel vom „freien Geist“ (Enz III, § 481). Die mentalen Vorkommnisse, die zu diesen drei Grundformen  Zu den Gründen dafür, Hegels Philosophie des objektiven Geistes auch für die gegenwärtige philosophy of mind zurückzugewinnen, siehe Quante, Michael: Die Wirklichkeit des Geistes. Studien zu Hegel, Berlin 2011, S. 146 ff. und Kreis, Guido: Für eine Philosophie des objektiven Geistes, in: Gethmann, Carl-Friedrich (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft, Hamburg 2011, S. 120 – 136.

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des subjektiven Geistes gehören, sind auf unterschiedliche Weisen wirklichkeitsbezogen. In Wahrnehmungen, Überzeugungen und Gedanken wird die Wirklichkeit erlebt, begriffen und reflektiert. Über die handlungsbezogenen geistigen Vorkommnisse greift der Wille dagegen in die Verfassung der Wirklichkeit selbst ein. Ein vernünftiges menschliches Subjekt, das sich anhand von bestimmten Zwecksetzungen und aufgrund von bestimmten Gründen zu einem bestimmten Handeln entschließt und dieses Handeln auch realisiert, verwendet und verändert einige der gegenständlichen Gegebenheiten der es umgebenden raumzeitlichen Wirklichkeit in aktiver Weise.³ Dieser gestaltende Eingriff in die Wirklichkeit definiert in Hegels Philosophie des Geistes den Übergang in eine kategorial neue Form des Geistes. Hegel deutet diesen Eingriff einerseits als Selbstobjektivierung des subjektiven, individuellen Geistes in die raumzeitliche Wirklichkeit, als objektivierten Geist, andererseits aber auch die so entstandenen Gestaltungen als ihrerseits geistige Gegenstände in unserer Wirklichkeit, als objektiven Geist. Jede praktische Ausführung geistiger Leistungen ist ein gestaltender Übergang in die Wirklichkeit zu raumzeitlichen Ereignisfolgen (zu Handlungen, Handlungszusammenhängen, durch Gewohnheit stabilisierten und etablierten Handlungsmustern und Praktiken und so fort) und zu raumzeitlichen, durch Gestaltung, Formung und Arbeit hervorgebrachten Gegenständen (zu Werken, Produkten, Artefakten und so fort), die es ohne die ihnen zugrunde liegenden geistigen Leistungen gar nicht in unserer Wirklichkeit gäbe. Diese Handlungen und Werke sind Manifestationen unserer geistigen Leistungen. Umgekehrt können wir die in sie investierten geistigen Leistungen in ihnen auch wiederfinden und explizit reflektieren; wenn wir dies tun, werden wir uns unserer selbst in unseren Gestaltungen bewusst. Alle Gegenstände (im weitesten Sinne dieses Ausdrucks), die in dieser Weise im Kontext unseres bewussten intentionalen Handelns und Gestaltens stehen, sind expressive Spiegel unserer selbst. Hegels Theorie des objektiven Geistes enthält aber neben der objektivierenden Komponente auch eine intersubjektive Komponente. Selbstbestimmtes Handeln setzt nach Hegel ein inhaltsreiches Selbstbewusstsein der jeweiligen Subjekte voraus: ein Bewusstsein von wenigstens einigen der Facetten der je eigenen Identität und Persönlichkeit, in deren Lichte konkurrierende Gründe für rationales Handeln überhaupt erst sinnvoll abgewogen werden können. Inhaltsreiches Selbstbewusstsein setzt aber nach Hegel seinerseits die intersubjektive Anerkennung durch andere Subjekte voraus. Intersubjektivität ist eine notwendige

 Eine klare systematische Rekonstruktion des Übergangs vom subjektiven in den objektiven Geist findet sich bei Quante, Michael: Die Wirklichkeit des Geistes. Studien zu Hegel, a.a.O., Teil III.

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Bedingung für Subjektivität. Hegel hatte die selbstbewusstseinstheoretische Grundüberzeugung, die in der Welt des modernen Bildungsromans in besonders sinnfälliger Weise anschaulich wird, seit seinen Jenaer Systementwürfen und insbesondere seit seiner Aufnahme des Fichte’schen Anerkennungstheorems in die Phänomenologie des Geistes akzeptiert.⁴ Dass Subjektivität Intersubjektivität voraussetzt, bedeutet, dass sich ein Subjekt die jeweiligen konkreten Aspekte und Hinsichten seiner eigenen Identität überhaupt nur unter der Voraussetzung erfolgreich zuschreiben kann, dass sie ihm in der intersubjektiven Auseinandersetzung von anderen Subjekten auch tatsächlich zugeschrieben werden. Das hat Konsequenzen für Hegels Sozialphilosophie und für seine politische Theorie und Rechtsphilosophie. Das neuzeitliche Naturrecht war von der methodischen Fiktion eines Naturzustandes ausgegangen, in dem die Menschen als atomisierte, radikal voneinander isolierte Individuen existieren – nach der Metapher von Hobbes so, „als ob sie plötzlich nach der Art von Pilzen aus der Erde hervorgekommen und ohne jede wechselseitige Verpflichtung zur Reife gekommen seien“⁵. Das methodische Prinzip der Naturrechtslehre besteht darin, Menschen als Atome zu deuten. Vergesellschaftung und soziale Gemeinschaft sind den Individuen in dem Sinne äußerlich, dass sie in der Natur des Menschen nicht nur nicht angelegt, sondern dieser sogar fremd sind. Mit der auf Fichte zurückgehenden transzendentalphilosophischen Intersubjektivitätstheorie macht Hegel dagegen gerade das Vorliegen der (von Hobbes ausgeschalteten) wechselseitigen

 Vgl. Fichte, Johann G.: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke, Bd. 3, Berlin 1845/46, S. 41 ff.; PhG, S. 145 ff. Hegel übernimmt das Anerkennungstheorem allerdings nicht kritiklos. Den Begriff der streng reziproken, symmetrischen Anerkennung, den Fichte aufgestellt hatte, nimmt Hegel in der Phänomenologie lediglich als „reinen Begriff“ (PhG, S. 147) auf, der in der für alle Bewusstseinsgestalten typischen Erfahrung sogleich in eine inverse Ausprägung, die asymmetrische Anerkennungsbeziehung zwischen Herr und Knecht, mündet. Im Geist-Kapitel der Phänomenologie beschreibt Hegel dann eine ganze Vielfalt von asymmetrischen und zum Teil sogar entfremdeten Anerkennungsverhältnissen. Ein im engeren Sinne symmetrisches Anerkennungsverhältnis ist in der Phänomenologie erst am Ende des Gewissens-Kapitels realisiert: in der verzeihenden Gesinnung moralisch handelnder Gemeinschaften. In dieser Gesinnung ist dann aber bereits jene Geistform realisiert, die Hegel „absoluten Geist“ nennt (vgl. PhG, S. 493; dazu mehr im nächsten Abschnitt). In all diesen Fällen bleibt der Begriff der Anerkennung das heuristische Leitkonzept, um soziale Verhältnisse adäquat aufschlüsseln zu können. Vgl. ausführlich Sticker, Martin: Hegels Kritik der Anerkennungsphilosophie – Die Aufhebung verwirklichter Anerkennung in Phänomenologie VI – VIII, in: Hegel-Studien 49 (2015), S. 90 – 122.  „Si essent iamiam subito e terra (fungorum mode) exorti et adulti, sine omniunius ad alterum obligatione“. (Hobbes, Thomas: Elementorum philosophiae, sectio tertia, de cive, Paris 1642,VIII.1)

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Verpflichtungen von menschlichen Subjekten zur notwendigen Bedingung dafür, dass ein menschliches Wesen überhaupt ein Subjekt sein kann.⁶ Die Philosophie des objektiven Geistes hat bei Hegel damit eine objektivierende und eine intersubjektive Komponente. Auf diese Weise ist sie aber noch nicht vollständig entwickelt. Denkt man den Aspekt der objektivierenden Manifestation der geistigen Leistungen mit dem Aspekt der Intersubjektivität zusammen, dann ergibt sich, dass die geistigen Gestaltungen in die intersubjektiven Relationen und Interaktionen eingebettet und daher nichts anderes als die Medien der intersubjektiven Anerkennung sind. Damit wird deutlich, dass der Bereich des objektiven Geistes auch eine natürliche Komponente aufweist: Jede Manifestation meiner selbst in meinen Gestaltungen ist zwangsläufig immer eine Bearbeitung und Formung eines bestimmten „natürlichen Materials“, angesiedelt im intersubjektiven Raum des gemeinsamen Handelns; in Hegels berühmter Urszene des Anerkennungsverhältnisses, der Konstellation von Herr und Knecht, ist die asymmetrische Beziehung der beiden Subjekte über die Produkte vermittelt, die der Knecht durch gestaltende Bearbeitung dem „natürlichen Material“ abgewinnt.⁷ Marx hat in den Pariser Manuskripten darauf hingewiesen, dass bestimmte sozial eingerichtete Formen der Bearbeitung der Natur, nämlich Lohnarbeit unter arbeitsteiligen Bedingungen, die Bedeutung eines intentionalen Entzuges intersubjektiver Anerkennung haben können.⁸ Es gibt aber auch andere Bearbeitungsformen natürlicher Materialien, über die unsere intersubjektiven Beziehungen vermittelt sein können: In unseren kommunikativen Sprechakten gestalteten wir physischen Schall, in unseren ästhetischen Praktiken gestalten wir vielfältige Materialien zu Kunstwerken, in unseren rechtlichen und politischen Beziehungen bauen wir unsere gesamte ‚natürliche‘ Wirklichkeit in einen normativ strukturierten Institutionenraum um. Die materialgestaltenden Medien der intersubjektiven Anerkennung sind so zahlreich wie die Ausprägungen der symbolischen Formen, in denen wir leben und handeln.⁹ Ausdrücke wie ‚Natur‘ oder

 Vgl. Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung, Frankfurt a. M. 1992, Kap. 1 und 2.  Vgl. PhG, S. 153 – 155.  Vgl. Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), in: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke, Ergänzungsband I, Berlin/Ost 1968, S. 510 – 522.  Hier ergänze ich Hegels Theorie des objektiven Geistes durch den Grundgedanken von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, die sich systematisch ohne Weiteres als Fortführung von Hegels Ansatz verstehen lässt. Zu einem vergleichbaren Resultat gelangte man aber auch schon bei Hegel selbst. Seine offizielle Theorie des objektiven Geistes, die in der Enzyklopädie und in den Grundlinien der Philosophie des Rechts enthalten ist, berücksichtigt ausschließlich die symbolischen Formen der Moral und des Rechts. Zahlreicher und vielfältiger sind dagegen die Formen des objektiven Geistes, die Hegel in kritischer Absicht in der Phänomenologie des Geistes erörtert. Zu ihnen gehören unter anderem auch Formen des kommunikativen Handelns, des Arbeitens und

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‚Material‘ sind in all diesen Fällen Reflexionsausdrücke, in denen wir den Aspekt dessen, was in unseren Handlungen und Bearbeitungspraktiken gestaltet wird, abstrahierend reflektieren, ohne damit je eine Art materialen ‚Urstoff‘ zu bezeichnen; denn alles Material, dem wir durch unser Handeln und Bearbeiten eine neue Form geben, weist selbst bereits die Form eines gestalteten Materials auf. Alles natürliche Material, das wir kennen, die ganze ‚Natur‘, ist in die intersubjektiven Relationen geistig tätiger Individuen integriert (was freilich nicht heißt, dass das, was wir ‚Natur‘ nennen, nur eine soziale Konstruktion wäre). Die Medien der intersubjektiven Anerkennung sind ihrer Eigenart nach soziale Medien. Auf diese Weise erschließt sich die soziale Komponente des objektiven Geistes: Alle Sprachen, alle Formen der handwerklichen oder industriellen Produktion, alle ästhetischen, kultischen und religiösen Praktiken (und so weiter) setzen ausnahmslos die Existenz sozialer Gemeinschaften voraus, relativ zu denen die jeweiligen Regeln dieser Medien normative Verbindlichkeit besitzen. Eine langfristig stabile Realisierung erhalten intersubjektive Relationen nur in sozialen Gemeinschaften, und zwar nach Hegels Auffassung letztlich nur in rechtlich organisierten Staaten, noch präziser: im modernen säkularen Verfassungsstaat. Damit haben wir in unserer Rekonstruktion des objektiven Geistes schließlich diejenige soziale Wirklichkeit erreicht, die Hegel in den offiziellen Paragraphen über den objektiven Geist in der Enzyklopädie und dann ausführlich in den ausgearbeiteten Grundlinien der Philosophie des Rechts thematisiert. Die konstruktive Pointe besteht darin, dass sich alle drei zuerst genannten Komponenten des objektiven Geistes (die objektivierende, die intersubjektive und die natürliche Komponente) erst im rechtlich organisierten sozialen Raum realisieren können. So gesehen sind rechtlich verfasste soziale Gemeinschaften die „Wahrheit“ von Subjektivität, Intersubjektivität, symbolischer Gestaltung und Natur: Sie bilden denjenigen umfassenden Wirklichkeitsrahmen (denjenigen ‚Grund‘), relativ zu dem sich alle diese Aspekte unserer Selbst- und Weltverhältnisse erst in stabiler Weise realisieren und ausbilden können. Umgekehrt bildet auch der soziale Raum eine eigene Gestaltungswirklichkeit aus: die ‚Welt‘ der sozialen und rechtlichen Institutionen, die Hegel in der Rechtsphilosophie vom Eigentumsvertrag des Privatrechts über die Verfassungsorgane des öffentlichen Rechts bis zu den transnationalen Relationen der Weltgeschichte (und, möglicherweise, des Völkerrechts) in ihren Schritt für Schritt immer komplexeren und umfassenderen Strukturen entfaltet.

Wirtschaftens, außerdem Kunst und Religion (wobei diese letzteren auch in der Phänomenologie bereits als Formen des absoluten Geistes behandelt werden).

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Man muss Hegels Begriff des objektiven Geistes in dieser ganzen Bandbreite seiner Komponenten im Blick behalten, um die Konzeption des absoluten Geistes auch nur im Ansatz verstehen zu können. Es ist von ausschlaggebender Bedeutung auch für Hegels Theorie des absoluten Geistes, dass der Mittelpunkt seiner Geisttheorie diejenige soziale Wirklichkeit ist, in der wir alle in vielfältigen natürlichen, intersubjektiven, sozialen und rechtlichen Beziehungen miteinander (und gegeneinander) leben.¹⁰ Die traditionelle und gegenwärtige philosophy of mind ist durch Hegels anspruchsvolle Verknüpfung von subjektivem und objektivem Geist nicht durchgestrichen, sondern erweitert und in den expressiven Manifestationsraum der angeblich ‚nur‘ subjektiven geistigen Vorkommnisse überführt. Alles, was wir nach Hegel mit Recht ‚Geist‘ nennen können, ist in unserer sozialen Lebenswirklichkeit objektiv: objektiviert und manifestiert. Im Hintergrund dieser Expressionsfigur steht die aus der Tradition von Herder und von Humboldt stammende und bis in die Philosophie der symbolischen Formen vererbte These von der umfassenden Ausdrucksgebundenheit alles Geistigen. Umgekehrt kann dann nach Hegels Auffassung auch dasjenige, was in unserer sozialen Lebenswirklichkeit den Status des Objektiven hat, mit Recht ‚geistig‘ genannt werden. Was geistig ist, so könnte man in geringfügiger Modifikation einer Passage aus Hegels „Vorrede“ zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts sagen, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist geistig.¹¹ Die Verknüpfung dieser beiden Thesen (derjenigen von der Ausdrucksgebundenheit des Geistigen und derjenigen von der Repräsentationalität des Wirklichen) definiert Hegels Philosophie des objektiven Geistes. Die entscheidende Frage ist dann, welche neue (bislang noch nicht beschriebene) Form und Ausprägung des Geistigen mit dem von Hegel sogenannten absoluten Geist überhaupt noch zum objektiven Geist hinzukommen kann.

2 Hegels Einführung des absoluten Geistes Wenn man danach fragt, was mit dem absoluten Geist überhaupt noch Neues zum objektiven Geist hinzukommen kann, dann findet man eine erste Antwort im zweiten Satz der bereits zitierten Definition des absoluten Geistes in § 553 der Enzyklopädie:  Hier treffe ich mich von der Seite der Theorie des absoluten Geistes her mit Überlegungen, die Bertram mit Blick auf Hegels Phänomenologie entwickelt hat.Vgl. Bertram, Georg W.: Hegel und die Frage der Intersubjektivität. Die Phänomenologie des Geistes als Explikation der sozialen Strukturen der Rationalität, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 56/6 (2008), S. 877– 898.  Vgl. GPR, S. 24.

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Der Begriff des Geistes hat seine Realität im Geiste. Daß diese in der Identität mit jenem als das Wissen der absoluten Idee sei, hierin ist die notwendige Seite, daß die an sich freie Intelligenz in ihrer Wirklichkeit zu ihrem Begriffe befreit sei, um die dessen würdige Gestalt zu sein. Der subjektive und der objektive Geist sind als der Weg anzusehen, auf welchem sich diese Seite der Realität oder der Existenz ausbildet.

Der Schlüssel zum Verständnis des absoluten Geistes ist demnach das Problem der Freiheit. Was Freiheit ist, sagt Hegel in besonders prägnanter Weise in einer Passage von Hothos Ausgabe der Berliner Ästhetik-Vorlesungen: Die Freiheit ist die höchste Bestimmung des Geistes. Zunächst ihrer ganz formellen Seite nach besteht sie darin, daß das Subjekt in dem, was demselben gegenübersteht, nichts Fremdes, keine Grenze und Schranke hat, sondern sich selber darin findet. […] Näher aber hat die Freiheit das Vernünftige überhaupt zu ihrem Gehalte: die Sittlichkeit z. B. im Handeln […]. (VÄ I, S. 134)

Hegel exponiert hier in gedrängter Form drei verschiedene Freiheitsbegriffe. In einem ersten Sinn ist Freiheit die Abwesenheit von externem Zwang durch die Gegebenheiten der raumzeitlichen Wirklichkeit oder durch andere Personen. Diese Form von Freiheit findet ihren Ausdruck darin, „daß das Subjekt in dem, was demselben gegenübersteht, […] keine Grenze und Schranke hat“. Hegel nennt diese Erscheinungsform von Freiheit eine negative Freiheit; dass sie vorliegt, ist, richtig verstanden, zweifellos eine notwendige Bedingung dafür, dass wir Personen oder Handlungen überhaupt ‚frei‘ nennen können. Sie kann allerdings nach Hegel auch zu einer inadäquaten Auffassung von Freiheit führen, die sich dann ergibt, wenn man den Begriff der Freiheit bereits durch den Begriff der negativen Freiheit für vollständig erfasst hält. In einer Theorie, die Freiheit ausschließlich als negative Freiheit versteht, herrscht, wie Hegel kritisiert, die „Freiheit des Verstandes“ und die „Freiheit der Leere“ vor, und die praktische Umsetzung eines derartig einseitigen Freiheitsverständnisses mündet faktisch in die nach Hegel abstrakte Negation, also Vernichtung jeglicher sozialer Ordnung ohne Unterschied und damit in eine fatale „Furie des Zerstörens“ (GPR, § 5 A). Der vollständige Begriff der Freiheit ist nach Hegel reichhaltiger als der Begriff einer bloß negativen Freiheit. In einem zweiten Sinne ist Freiheit ein bestimmtes Verhältnis, das Personen mit ihrem jeweiligen gegenständlichen oder personalen Gegenüber eingehen können und das darin besteht, dass sie sich in diesem Gegenüber selbst wiedererkennen können. Freiheit in diesem Sinne ist das Verhältnis, im Anderen bei sich selbst zu sein, also mit der begegnenden Wirklichkeit in der Weise umgehen und interagieren zu können, „daß das Subjekt in dem, was demselben gegenübersteht, nichts Fremdes […] hat, sondern sich

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selber darin findet“. Ein derartiges Verhältnis ist dann realisiert, wenn es sich bei der Umgebung, in der ich mich befinde, um eine von mir allein oder zusammen mit anderen Subjekten gestaltete Wirklichkeit handelt, bei der ich mich (oder uns) in transparenter Weise als Urheber und Verantwortlichen der Verhältnisse begreifen kann. Im Fall von selbstgestalteten Verhältnissen sind selbst die normativen Verpflichtungen, die von den anderen Subjekten und von den Institutionen unserer sozialen Lebenswelt ausgehen, wenigstens grundsätzlich kein externer Zwang. Darin, dass ich mich in den anderen Subjekten und in den Institutionen wiederfinden und den Verhältnissen unserer sozial gestalteten Wirklichkeit aktiv zustimmen (oder sie in adäquater Form kritisieren) kann, liegt eine Form von subjektiver Freiheit, die ebenfalls eine notwendige Bedingung dafür ist, dass ich mich oder meine Handlungen überhaupt ‚frei‘ nennen kann. Es kann allerdings auch, wie das Kapitel über den von sich selbst entfremdeten objektiven Geist in der Phänomenologie variationsreich zeigt, von Menschen gestaltete Verhältnisse geben, die ihnen selbst (oder einer bestimmten Klasse von ihnen) nicht als von Menschen gemachte Verhältnisse transparent sind; in diesen Fällen schlägt das Potenzial der Freiheit in Unfreiheit um. Der Zusammenhang zwischen Freiheit und verantwortungsvoller Urheberschaft der Verhältnisse führt auf den für Hegel entscheidenden dritten Sinn des Freiheitsbegriffs. Freiheit ist ihrem Wesen nach Selbstfestlegung auf jeweilige verbindliche rationale Gehalte und damit im Kern positive Freiheit, die Freiheit also, sich auf etwas Bestimmtes mit normativen Konsequenzen zu verpflichten: „Näher aber hat die Freiheit das Vernünftige überhaupt zu ihrem Gehalte: die Sittlichkeit z. B. im Handeln“. Mit dem Akzent auf der rationalen Selbstverpflichtung setzt Hegel die Konzeption der Freiheit fort, die bereits in Rousseaus politischer Philosophie angelegt war.¹² Freiheit in diesem Sinne impliziert insbesondere die Distanzierung von den jeweiligen Partikularinteressen der einzelnen Subjekte im Interesse der Verfolgung allgemeiner Güter. Erst diese distanzierte Einstellung ermöglicht die Einrichtung politisch freier sozialer Gemeinschaften, in denen sich die Bürger darüber einig sind, dass die Verfolgung bestimmter allgemeiner Güter zu ihren eigenen individuellen Interessen gehört, und in denen sich die Bürger ebendeshalb auch auf die Verfolgung dieser Güter positiv festlegen. Die Einzelnen handeln dann gemäß ihrer Vorstellung von den gemeinsamen Gütern, und sie sind disponiert, sie in Konfliktfällen über ihre Partikularinteressen zu stellen. Nur unter der Voraussetzung einer selbstdistanzierenden und selbstverpflichtenden positiven Freiheit können selbstbestimmtes Handeln und

 Dazu ausführlich Neuhouser, Frederick: Foundations of Hegel’s Social Theory, Cambridge, Mass. 2000, S. 55 – 81.

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staatsbürgerliches Handeln zusammenfallen. Das ist das große Thema von Hegels Theorie des modernen Verfassungsstaates. Aus dieser Unterscheidung dreier Grundformen von menschlicher Freiheit ergibt sich sofort, dass in Hegels Philosophie des Geistes nicht lediglich der absolute Geist, sondern zwangsläufig auch die beiden ihm vorangehenden Bereiche des Geistigen Stationen der Freiheit darstellen. Im subjektiven Geist bin ich frei, insofern ich mich von meinen natürlichen Instinkten, Trieben und Leidenschaften distanzieren und meinen Willen nach Maßgabe von rational reflektierten Gründen selbst bestimmen kann. Freiheit darf aber nicht nur in den geistigen Vorkommnissen jeweiliger individueller Subjekte sein, sie muss sich auch in der Wirklichkeit manifestieren und zum Gestaltungsprinzip der genuin menschlichen Lebenswelt werden. Im objektiven Geist bin ich frei, insofern mir unsere institutionalisierte soziale Welt eine Vielfalt klar bestimmter Handlungsoptionen bereitstellt, auf die ich mich festlegen kann; insofern ich mich (oder uns) in diesen Optionen wiederfinden kann, insofern wir also selbst in transparenter Weise die Autoren unserer Handlungsoptionen sind, bin ich durch sie nicht fremdbestimmt, sondern selbstbestimmt: „Im wahrhaft vernünftig gegliederten Staat sind alle Gesetze und Einrichtungen nichts als eine Realisation der Freiheit nach deren wesentlichen Bestimmungen.“ (VÄ I, S. 136) Welches Freiheitsmoment kommt nun im absoluten Geist hinzu? Es besteht darin, „daß die an sich freie Intelligenz in ihrer Wirklichkeit zu ihrem Begriffe befreit sei“. Im subjektiven und im objektiven Geist ist das vernünftige Subjekt nur an sich frei: Es ist nur von außen betrachtet, in der Perspektive der dritten Person, frei. Es ist sich seiner Freiheit noch nicht selbst, in der Perspektive der ersten Person, und noch nicht in voller Qualität bewusst; es weiß noch nicht wirklich, dass es frei ist. Es kann natürlich über seine eigenen Handlungen reflektieren und sie ‚frei‘ nennen; aber das ist für Hegel an dieser Stelle noch nicht hinreichend. Ebenso können Staaten ihre rechtsstaatlich herbeigeführten Entscheidungen ‚frei‘ nennen, aber auch das ist nach Hegel noch nicht hinreichend. Der Punkt scheint zu sein, dass die freien Handlungen in all diesen Fällen nur in relativem Sinne ‚frei‘ genannt werden können, weil sie innerhalb der sozialen Welt auf Grenzen der Freiheitsspielräume treffen: Individuen auf andere Individuen, Gesellschaften auf andere Gesellschaften, Rechtssysteme auf andere Rechtssysteme, Staaten auf andere Staaten. Tatsächlich ist es aber so, dass die vernünftigen Subjekte sozialer Lebenswelten auch in einem absoluten Sinne ‚frei‘ genannt werden können. Dieser Sinn von Freiheit erschließt sich diesen Subjekten aber nur in einer besonderen geistigen Einstellung und geistigen Leistung. Sie besteht in einer Selbstreflexion der vernünftigen Subjekte innerhalb ihrer Lebenswelten. Dabei wenden sie sich aber in einer besonderen Weise auf sich selbst. Denn natürlich gibt es auch innerhalb

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des objektiven Geistes bereits institutionalisierte Selbstreflexionsinstanzen, zum Beispiel Gerichte, Parlamente und die Medien der Öffentlichkeit. In seiner Rechtsphilosophie legt Hegel insbesondere auf die „Öffentlichkeit der Ständeverhandlungen“ Wert, die das Ziel verfolgen, „daß so die öffentliche Meinung erst zu wahrhaften Gedanken und zur Einsicht in den Zustand und Begriff des Staates und dessen Angelegenheiten und damit erst zu einer Fähigkeit, darüber vernünftiger zu urteilen, kommt“ (GPR, § 315). Die voll entwickelte Ausprägungsform des objektiven Geistes, die nach Hegel im modernen säkularen Verfassungsstaat zu sehen ist, kann ohne die Instanzen seiner Selbstreflexion gar nicht zustande kommen, weil der moderne Verfassungsstaat daran gebunden ist, auch im individuellen Bewusstsein jedes einzelnen seiner Bürger reflektiert und anerkannt zu werden. Dennoch schreibt Hegel diesen Selbstreflexionsinstanzen des objektiven Geistes noch nicht die Qualität des absoluten Geistes zu. Warum ist das so? Offensichtlich leisten sie lediglich eine im Partikularen verbleibende Selbstreflexion: Sie reflektieren dieses Gerichtsverfahren, diese Verfassung, diese Öffentlichkeit und diese jeweilige soziale Gemeinschaft. Und sie müssen das im Interesse eines funktionierenden vernünftigen Gemeinwesens auch tun. Die nicht herkömmliche Selbstreflexion, auf die Hegel hinauswill, besteht demgegenüber in einer entpartikularisierenden Grundlagenreflexion: Wir reflektieren auf uns und unsere soziale Welt, aber nicht insofern sie dieser oder jener Staat ist, sondern insofern sie objektiver Geist ist. Wir reflektieren uns hinsichtlich unserer subjektiven geistigen Grundstrukturen, und wir reflektieren unsere soziale Welt hinsichtlich der in ihr objektivierten geistigen Grundstrukturen. Dass es sich dabei um Grundstrukturen handelt, heißt, dass wir kategoriale Gehalte von einer letztlich universalen Allgemeinheit denken, die in vielen verschiedenen Ausprägungen realisiert werden können. Wir reflektieren also auf die Struktur des Verfassungsstaates als solchen und nicht auf das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland oder eine andere Verfassung, obwohl wir wissen, dass sich die allgemeine Struktur, die wir hier reflektieren, immer nur konkret ausprägen kann. Wir wollen nicht auf einen utopischen Idealstaat hinaus, sondern wir wollen die allgemeine Struktur unserer real existierenden Gemeinwesen analysieren und auf den Begriff bringen. Was hat diese entpartikularisierende Grundlagenreflexion mit Freiheit zu tun, und inwiefern führt sie über das in den Bereichen des objektiven Geistes bereits realisierte Freiheitspotenzial hinaus? Hegels Antwort auf diese Frage besagt, dass sie uns vorführt, dass die soziale Welt, in der wir leben, ihrer Grundstruktur nach schrankenlos ist, dass sie nicht durch etwas uns prinzipiell Fremdes von außen eingeschränkt ist. Die Grundlagenreflexion, um die es Hegel hier geht, führt zu dem Ergebnis, dass die Grundstrukturen der sozialen Welt, in der wir leben, geistige Strukturen sind, dass sie also auf uns zurückgehen, dass wir die

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Autoren der Strukturen der Welt sind, in der wir leben; dass also, anders gesagt, die allgemeinen geistigen Strukturen vernünftiger Subjekte und die allgemeinen Strukturen der Wirklichkeit, in der wir vernünftigen Subjekte leben, dieselben sind, dass sie numerisch identisch sind; und dass dasjenige, was wir normalerweise und abstrakt ‚die Natur‘ nennen, zwar eine relative Grenze für unser konkretes individuelles und kollektives Handeln darstellt, dass die Natur aber in das intersubjektive und soziale Handeln und Gestalten unserer Lebenswelt vollständig integriert ist, so dass die Vorstellung einer ganz anderen, uns völlig fremden Natur inhaltsleer ist. Wenn wir die Grundstrukturen unserer sozialen Welt derart reflektieren, dann stellt sich heraus, dass wir in einer Wirklichkeit leben, in der wir nicht prinzipiell von etwas uns Äußerlichem fremdbestimmt werden, weder sozial noch physisch. Unsere Subjektivität und unsere geistigen Leistungen sind, konkret und partikular gesehen, relativ beschränkt, weil wir hier und jetzt immer auf Grenzen treffen, die uns die Anderen, die sozialen Institutionen oder die natürlichen Gegebenheiten setzen. Unsere Subjektivität und unsere geistigen Leistungen sind aber, prinzipiell und grundsätzlich gesehen, unbegrenzt und schrankenlos und in diesem Sinne absolut frei. Denn alles, was wir an unserer sozialen Welt der Grundstruktur nach reflektieren können, ist entweder subjektiv gestaltet oder doch, im Falle des Natürlichen, subjektiv verstehbar. Erst in dieser entpartikularisierenden Grundlagenreflexion erkennen wir unsere grundsätzliche Freiheit, und diese Freiheit ist eine absolute. Hegel sagt, dass das, was wir mit diesem Gedankengang nachvollziehen, der Begriff oder, genauer, die Idee ist. Der Begriff (im emphatischen Singular) ist das System unserer kategorialen Gehalte, das System unserer geistigen Grundstrukturen. Weil alle unseren geistigen Leistungen konkrete Ausprägungen dieser kategorialen Gehalte sind, und unsere geistigen Leistungen sich ihrerseits in den raumzeitlichen Gestalten unserer sozialen Wirklichkeit manifestieren, prägt sich das System unserer geistigen Grundstrukturen als System der Grundstrukturen dieser sozialen Wirklichkeit aus. Dann aber bilden das System unserer geistigen Grundstrukturen und das System der Grundstrukturen der sozialen Wirklichkeit eine sich in sich differenzierende Einheit von Geistigem, dessen Wesen im Ausprägen seiner selbst in der Wirklichkeit besteht. Diese Struktur des Begriffs nennt Hegel die Idee. Es ist nichts Fremdes gemeint, wenn Hegel von Begriff und Idee spricht; es sind wir selbst. Dass der Begriff als Idee im Ausprägen seiner selbst besteht – als Ausprägen des Systems unserer geistigen Grundstrukturen im System der Grundstrukturen unserer sozialen Wirklichkeit –, macht nach Hegel seine Negativität aus; und dass nichts diesem geistigen Ausprägen gegenüber radikal fremd ist, macht den schrankenlosen, absoluten Charakter dieses Ausprägens aus. Der Begriff ist, wie Hegel sagt, „absolute Negativität“, durch nichts in grundsätzlicher Weise be-

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schränkte Ausdifferenzierung seiner selbst, und deshalb Freiheit. In der Enzyklopädie heißt es: „Das Wesen des Geistes ist […] die Freiheit, die absolute Negativität des Begriffes als Identität mit sich.“ (Enz III, § 382) Der Zusammenhang zwischen den Grundstrukturen des Denkens und den Grundstrukturen der Wirklichkeit erklärt damit auch Hegels Behauptung in der Einleitung zur „Lehre vom Begriff“ in der Wissenschaft der Logik: „Im Begriffe hat sich daher das Reich der Freiheit geöffnet.“ (Log II, S. 251)¹³ Damit, so kann man Hegel jetzt interpretieren, ist der absolute Geist zusätzlich zum subjektiven und objektiven Geist in seiner spezifischen geistigen Leistung eingeführt. Die Instanzen des absoluten Geistes sind die Instanzen der entpartikularisierenden Grundlagenreflexion auf unsere soziale Welt als objektiven Geist, die uns unsere prinzipielle absolute Freiheit aufzeigt. Dieses Freiheitsverständnis hat uns in allen bloß partikularen Reflexionen auf unser Gemeinwesen oder unsere Verfassung gefehlt. Das bedeutet freilich, dass alle Instanzen des absoluten Geistes ihren Ort im objektiven Geist haben. Das kann auch gar nicht anders sein, denn woanders als in unseren sozialen Lebenswelten können wir – vernünftige Subjekte unseres Zuschnitts – gar nicht leben, geschweige denn reflektieren. Die Instanzen des absoluten Geistes sind deshalb nach wie vor Momente innerhalb unserer intersubjektiven Relationen (und nicht etwa Instanzen einer anonymen Schicksalswelt); und die Instanzen des absoluten Geistes sind von dieser Welt und in dieser Welt, nicht aber in einer jenseitigen transzendenten Welt. Dem entspricht exakt die Definition des absoluten Geistes, die sich in Hothos Ausgabe der Vorlesungen über die Ästhetik findet: Der Geist als wahrer Geist ist an und für sich und dadurch kein der Gegenständlichkeit abstrakt-jenseitiges Wesen, sondern innerhalb derselben im endlichen Geiste die Erinnerung des Wesens aller Dinge: das Endliche in seiner Wesentlichkeit sich ergreifend und somit selber wesentlich und absolut. (VÄ I, S. 139)

In dieser Theorie des absoluten Geistes liegt eine für Hegels gesamte Philosophie charakteristische Rückbindung des sogenannten Absoluten (und des absoluten Geistes) an das Endliche (und den endlichen Geist menschlicher Subjekte). Bereits zu Beginn der „Einleitung“ in die Phänomenologie weist Hegel darauf hin, dass „das Absolute, das Erkennen, und so fort,Worte sind, welche eine Bedeutung voraus setzen, um die zu erlangen es erst zu tun ist“ (PhG, S. 70). Diese Bemerkung fordert dazu auf, den herkömmlichen und traditionellen Gehalt, den der Aus-

 Dazu ausführlich Pippin, Robert B.: Hegels Begriffslogik als die Logik der Freiheit, in: Koch, Anton F./Oberauer, Alexander/Utz, Konrad (Hg.): Der Begriff als die Wahrheit, Paderborn 2003, S. 223 – 237.

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druck ‚das Absolute‘ in philosophischen und nichtphilosophischen (etwa theologischen) Kontexten hat, nicht unreflektiert als gegeben vorauszusetzen, sondern selbst allererst eine rational begründbare und tragfähige Konzeption des Absoluten zu entwickeln. Zu den zentralen, immer wiederkehrenden Motiven in Hegels kritischer Destruktion der überlieferten metaphysischen Theoreme gehört die Absage an jede Form von Transzendenz und jede Variante von Jenseitskonzeptionen. Dies hat Hegel immer wieder den Vorwurf eingehandelt, eine deflationistische und finitistische Theorie des Absoluten zu entwerfen: „War das Hegelsche Absolute Säkularisation der Gottheit, so eben doch deren Säkularisation; als Totalität des Geistes blieb jenes Absolute gekettet an ihr endlich menschliches Modell.“¹⁴ Adornos Beobachtung trifft den Kern der Hegelschen Theorie, aber sie verdient es, positiv gewendet zu werden. Hegels Theorie des absoluten Geistes ist nicht zwangsläufig eine Verendlichung des Absoluten, denn unsere Reflexion auf den objektiven Geist als objektiven Geist ist entpartikularisierend und betrifft nicht lediglich unsere je partikulare Existenz, sondern eben das Wesentliche an ihr. Treffender sollte die Grundlage von Hegels Theorie des absoluten Geistes als Rückbindung des Absoluten an das Endliche beschrieben werden. Die entpartikularisierende Reflexion richtet sich auf den objektiven Geist nicht in Hinblick auf etwas anderes (etwas ‚Absolutes‘), sie richtet sich vielmehr auf den objektiven Geist als objektiven Geist (und als nichts sonst); sie erfasst damit unser Wesentliches und erreicht eine ‚absolute‘ Qualität. Darin besteht dann aber nach Hegel auch dasjenige, was man vernünftigerweise ‚das Absolute‘ nennen kann.¹⁵

3 Die absolute Idee ist kein Gegenstand Die Rekonstruktion des von Hegel behaupteten Weges des absoluten Geistes vom subjektiven und objektiven Geist her hat gezeigt, dass die zusätzliche geistige Leistung im absoluten Geist in einer entpartikularisierenden Selbstreflexion besteht. Die Instanzen des absoluten Geistes sind wesentlich Reflexionsinstanzen. Reflektieren kann aber in letzter Konsequenz nur eine wissensfähige Instanz, und ein Wissen ist es auch, auf das die fragliche Selbstreflexion führen soll: das

 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1966, S. 397.  Siehe die analoge Deutung der Schlusspassage des Gewissens-Kapitels in der Phänomenologie des Geistes bei Stekeler-Weithofer: „Die ‚Zweiheit ausgedehnten Ichs‘ ist das Ich und Du des Wir. Sie ist ‚der erscheinende Gott‘ mitten unter uns. […] Dieser Gott sind wir selbst, die wir uns ‚als das reine Wissen wissen‘. Er ist die Zweiheit von mir und dir, die sich dann ausweitet auf alle anderen Personen.“ (Stekeler-Weithofer, Pirmin: Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar, Bd. 2: Geist und Religion, Hamburg 2014, S. 727)

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Wissen von der absoluten Freiheit objektiv geistiger Subjekte. Es ist das Wissen von unserer grundsätzlichen absoluten Freiheit und damit ein Selbstwissen. Daraus folgt, dass die spezifische Wirklichkeit des absoluten Geistes in nichts anderem als in bestimmten Instanzen von Wissen, in Instanzen von nichtpartikularem Selbstbewusstsein, besteht. Das sagt Hegel im zweiten Satz von § 553 der Enzyklopädie, von dem ich zu Beginn ausgegangen war: „Der Begriff des Geistes hat seine Realität im Geiste“, und die „Identität“ der Realität des Geistes mit seinem Begriff ist „als das Wissen der absoluten Idee“. Dass es sich dabei um ein Wissen „der absoluten Idee“ handelt, ist doppeldeutig: Versteht man den Genitiv objektiv, dann handelt es sich um ein Wissen von der absoluten Idee.Versteht man den Genitiv dagegen subjektiv, dann besteht die absolute Idee selbst in einem besonderen Wissen, das die folgende, in sich komplexe Gestalt hat: Es ist zunächst das Wissen davon, was ‚der Begriff‘ seinem Gehalt nach ist, nämlich der vollständige systematische Zusammenhang aller reinen kategorialen Gehalte und damit der konkrete Inhalt von Hegels transzendentallogischer Kategorientheorie, der Wissenschaft der Logik (darin liegt die ‚subjektive‘ Komponente der absoluten Idee). Es ist aber auch das Wissen darüber, dass die Wirklichkeit als solche begrifflich strukturiert ist und dass die Strukturen des Denkens als solche die Strukturen der Wirklichkeit sind (darin liegt die ‚objektive‘ Komponente der absoluten Idee, die im zweiten Abschnitt der Begriffslogik ausdrücklich entfaltet wird). Es handelt sich schließlich um das Wissen davon, dass die Wirklichkeit ihrer Grundstruktur nach nichts anderes als die Realisierung ‚des Begriffs‘ selbst ist (darin liegt die ‚absolute‘ Komponente der absoluten Idee, die am Ende der Logik explizit erreicht wird, wenn Hegel behauptet, dass der Begriff alles ist und dass nichts von dem, was es gibt, nicht Begriff ist).¹⁶ Die absolute Idee ist dasjenige Wissen, das aus den genannten drei Komponenten besteht. Damit ist erst der Sinn des ersten Satzes von § 553 der Enzyklopädie erschlossen: Die im raumzeitlichen objektiven Geist lokalisierten Instanzen nichtpartikularer Selbstreflexion sind die ureigene Realität des Begriffs des Geistes selbst.¹⁷ Die angemessene Manifestation des Begriffs des Geistes kann nur ein Begreifen sein, aber eben ein raumzeitlich und historisch, objektiv geistig situiertes Begreifen. Es ist zunächst sinnvoll, sich zu fragen, in welcher Weise sich die absolute Idee überhaupt in einer geistigen Selbstreflexion erfassen lassen könnte. Die Vorlesungen zur Ästhetik enthalten zwei verschiedene Modelle als Antwort auf diese Frage: ein vergegenständlichendes und ein performatives Modell der ab Hegel fasst diese Komponente prägnant folgendermaßen zusammen: „Idee nun überhaupt ist nichts anderes als der Begriff, die Realität des Begriffs und die Einheit beider.“ (VÄ I, S. 145)  Siehe zur Interpretation dieses Paragraphen Theunissen, Michael: Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat, Berlin 1970, S. 103 ff.

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soluten Idee. Im ersten dieser beiden Modelle wird die absolute Idee zu einem Gegenstand von Kunst, Religion und Philosophie: Durch die Beschäftigung mit dem Wahren als dem absoluten Gegenstande des Bewußtseins gehört nun auch die Kunst der absoluten Sphäre des Geistes an und steht deshalb mit der Religion […] wie mit der Philosophie ihrem Inhalte nach auf ein und demselben Boden. Denn auch die Philosophie hat keinen anderen Gegenstand als Gott [….]. (VÄ I, S. 139)

Dass die Kunst oder die Philosophie einen Gegenstand hat, könnte dabei so interpretiert werden, dass sie diesen Gegenstand jeweils auf eine gegenständliche Weise repräsentiert. Diese Interpretation liefe allerdings auf ein Missverständnis des absoluten Geistes hinaus, denn etwas auf gegenständliche Weise zu repräsentieren ist gerade keine angemessene Weise, das „Wahre“, die „absolute Sphäre“ oder „Gott“ zum Gegenstand zu haben. Dass dies nicht Hegels ursprünglichem Gedanken entsprechen kann, macht Hegels eigene Antwort auf die Frage deutlich, in welcher Weise die absolute Idee überhaupt erfasst werden kann: „[D]er absolute Geist [ist] nur als absolute Tätigkeit und damit nur als absolute Unterscheidung seiner in sich zu fassen“ (VÄ I, S. 128). Im Einklang mit dieser Behauptung steht Hegels Beschreibung der Selbsterfassung des absoluten Geistes: „In allen Sphären des absoluten Geistes enthebt der Geist sich den beengenden Schranken seines Daseins, indem er sich […] zu der Betrachtung und dem Vollbringen seines Anundfürsichseins erschließt.“ (VÄ I, S. 131) Eines machen diese Erläuterungen auf der Stelle deutlich: Es ist unangemessen zu sagen, dass die absolute Idee (oder ‚das Absolute‘) der (gegenständlich repräsentierte) Gegenstand des absoluten Geistes sei, weil die Instanzen des absoluten Geistes gerade umgekehrt die absolute Idee aufführen, also durch performativen Vollzug der entpartikularisierenden Selbstreflexion ‚vollbringen‘, wie Hegel an der zuletzt zitierten Stelle ausdrücklich sagt. Die absolute Idee ist ein Gehalt, der wesentlich nur in seiner Performanz realisiert zu werden vermag. Es ist nichts, dass einfach nur zum Gehalt eines Wissens, eines Zeichens oder einer sonstigen Form gemacht werden könnte. Darin liegt ein origineller Grundgedanke von Hegels Philosophie des absoluten Geistes, dass eine derartige vergegenständlichende – verdinglichende – Deutung des Absoluten die seiner Auffassung nach fatalen Aporien der klassischen und idealistischen Metaphysik nach sich ziehen muss. Wer das Absolute zum gegenüberstehenden Gegenstand eines Wissens macht, verhindert die Einsicht, dass das, was man vernünftigerweise ‚das Absolute‘ nennen kann, gerade in dem Wissen von der absoluten Freiheit unserer selbst in unserer sozialen Wirklichkeit besteht, dass also, anders gesagt, diejenige wissende Instanz, die die Reflexion vollbringt, den absoluten Charakter dieser Reflexion selbst erst mitkonstituiert (verdinglichend

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gesprochen: dass der Denker des Absoluten selbst Moment des Absoluten ist). Es existiert zwar – zwangsläufig – eine Differenz zwischen demjenigen, der reflektiert, und demjenigen, auf das er reflektiert, aber die Pointe des Hegel’schen Absoluten besteht darin, dass beide Pole dieser Relation in wechselseitiger Aufarbeitung, und nur durch ihre Aufarbeitung, das Absolute ausmachen. Die absolute Idee ist deshalb nicht ein separater Gehalt, der durch ein besonderes Wissen mit der endlichen, ihm gegenüberstehenden Erkenntnis vermittelt werden müsste, sondern die absolute Idee ist nichts anderes als der vollständige Vermittlungsprozess des endlichen Denkens selbst. Im Vollzug dieses Prozesses vollzieht sich deshalb auch die absolute Idee, und nur in diesem Vollzug gibt es sie überhaupt: ein Wissen, das, wie Hegel im wiederholt zitierten § 553 der Enzyklopädie sagt, die absolute Idee selbst ist. ¹⁸ Diese These vom performativen Charakter des Absoluten und von der Vollzugsform aller Instanzen des absoluten Geistes selbst ist entscheidend für die Bewertung der verschiedenen Formen des absoluten Geistes, die Hegel diskutiert, für die Bewertung von Philosophie, Religion und Kunst. Denn aus der Theorie des absoluten Geistes ergibt sich, wie wir gesehen haben, dass über die Angemessenheit oder Unangemessenheit einer Gestalt des absoluten Geistes nie die Frage entscheiden kann, ob sie einen adäquaten Inhalt hat, sondern immer nur die Frage, ob es sich um eine adäquate Vollbringung handelt. Nicht das, was aufgeführt wird, sondern allein die Form der Aufführung selbst entscheidet also darüber, ob sie absoluten Geist in Hegels Sinne vollbringt oder nicht: nicht die Tatsache, dass ihr Gehalt das Unendliche ist, sondern die Tatsache, dass sie selbst unendliche Form realisiert.

4 Der absolute Geist als Kategorientheorie Die angemessene Gestalt des absoluten Geistes ist diejenige Reflexionsform innerhalb des objektiven Geistes, die in der Lage ist, eine jeweilige objektiv geistige Situiertheit so zu reflektieren, dass deren partikularer Charakter zugleich erfasst

 Lediglich an einer Stelle in den Hegel’schen Schriften tritt der Sonderfall ein, dass die absolute Idee als eigener Gehalt – als begrifflicher Gehalt einer eigenen kategorialen Grundstruktur des Denkens – explizit thematisiert wird, und zwar im Schlusskapitel der Wissenschaft der Logik. Dort wird sie freilich auch in der einzigen Weise thematisiert, die dem Performanzcharakter des absoluten Geistes überhaupt angemessen ist: „Die logische Idee hat somit sich als die unendliche Form zu ihrem Inhalt“ (Log II, S. 550). Die absolute Idee ist die (unendliche) Form und die (voraussetzungslose) Methode der entpartikularisierenden Selbstreflexion von uns selbst auf uns selbst. Sie ist die Dialektik. Die Dialektik selbst wäre aber gar nichts ohne dasjenige, dessen Reflexionsform sie ist.

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und überboten werden kann. Dann wird das partikular lokalisierte Denken ein allgemeines, ein entpartikularisierendes Denken. Es ist dann eine Reflexionsform, die in der Lage ist, den objektiven Geist als objektiven Geist zu reflektieren. Anders gesagt: Es handelt sich um diejenige Form der Selbstreflexion, die imstande ist, den gesamten hier rekonstruierten begrifflichen Zusammenhang, mit allen seinen Thesen und allen ihren Begründungen, argumentativ zu entwickeln, sprachlich auszudrücken und kommunikativ zu vertreten, also zur Diskussion zu stellen.Wir, und nur denkende Personen wie wir, können absoluten Geist aufführen, indem wir als endliche Wesen an endlichen Orten, als Autoren und als Leser, als Vortragende und als Zuhörer, Nichtpartikulares denken. Aber damit ist noch nicht gesagt, was wir denken müssen, wenn wir den absoluten Geist aufführen wollen. Die Antwort ergibt sich aus einer Passage der Phänomenologie: Das Wort der Versöhnung ist der daseiende Geist, der das reine Wissen seiner selbst als allgemeinen Wesens in seinem Gegenteile, in dem reinen Wissen seiner als der absolut in sich seienden Einzelheit anschaut, – ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist. (PhG, S. 493)

Das allgemeine Wissen realisiert sich nach Hegels Konstruktion im einzelnen Wissen, insofern das einzelne Wissen selbst eine allgemeine Perspektive einnimmt. Nun sagt Hegel, wie gesehen, dass der absolute Geist in einem gegenseitigen Anerkennen besteht. Das, worauf sich das endliche Denken bezieht, wenn es eine allgemeine Perspektive einnimmt, muss also etwas sein, dass anerkannt werden kann – und seinerseits auch selbst anerkennen kann. Anerkennen können aber nur Subjekte. Das endliche Denken muss sich also auf ein Subjekt richten – ein allgemeines Subjekt. Die sinnvollste Lesart dieser These scheint mir die folgende zu sein: Das endliche Denken, das eine allgemeine Perspektive einnimmt, richtet sich auf das allgemeine Subjekt, also auf uns, und vollzieht dessen Denkform nach. Diese Denkform ist aber nichts anderes als unser aller Begriffsschema. Nicht was wir als einzelne Denker konkret denken, ist dann das Thema, sondern das, was wir alle unterschiedslos grundsätzlich denken müssen, damit wir überhaupt einen einzelnen konkreten Gedanken denken können. Das Thema des absoluten Geistes ist nichts anderes als die Grundstrukturen unseres Begriffsschemas. Weil aber der absolute Geist ein Anerkennungsverhältnis zwischen endlichem und allgemeinem Denken ist, wird Hegels Philosophie damit gerade nicht zu einer transzendenten Metaphysik, sondern zur deskriptiven Metaphysik im Sinne von Strawson: „Descriptive metaphysics is content to describe the actual structure of our thought about the world, revisionary metaphysics is concerned to

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produce a better structure.“¹⁹ Eine revisionäre Metaphysik hat ein anderes als unser eigenes Begriffsschema zum Gegenstand. Hegel wird in der Regel als revisionärer Metaphysiker verstanden. Revisionär kann der absolute Geist aber nicht sein, denn dann wäre er kein gegenseitiges Anerkennen zwischen endlichem und allgemeinem Denken. Jede revisionäre Metaphysik wäre transzendentes Denken. Aber ein Begriffsschema, das radikal von unserem Begriffsschema unterschieden wäre, können wir weder erkennen noch anerkennen. Der absolute Geist besteht aber darin, dass das allgemeine Denken die Endlichkeit unseres endlichen Denkens anerkennt, und er akzeptiert damit als ein Faktum, dass wir dasjenige Begriffsschema haben, das wir haben. Das Allgemeine des absoluten Geistes kann also nie in einem fremden Begriffsschema liegen, sondern immer nur darin, dass wir die Grundstrukturen von unser aller Denken untersuchen, aber eben auch als Grundstrukturen von unser aller (und keines anderen) Denken. Wenn wir nun über die Grundstrukturen unseres Begriffsschemas nachdenken, dann liegt es an der Eigenart dessen, was ein Begriffsschema ist, dass wir automatisch über die Grundstrukturen der Wirklichkeit nachdenken. Nehmen wir drei einfache Alltagssituationen. Ich sitze hinten im Bus und will gerade am Bahnhof aussteigen. Da sagt meine Nachbarin zu mir: ‚Vorsicht, diese Tür ist defekt!‘, indem sie auf die hintere Tür deutet. Ich verstehe, wovon die Rede ist, gehe zur vorderen Tür und erreiche noch pünktlich meinen Zug. Anhand der Äußerung habe ich die defekte Tür erfolgreich identifizieren können. Dafür, dass es in unserem Begriffsschema Einzeldinge wie zum Beispiel die genannte Tür gibt, ist es, wie Strawson sagt, eine notwendige Bedingung, dass sie sich auch erfolgreich identifizieren lassen.²⁰ Einen Tag später erzähle ich einem Freund von dem Vorfall und sage: ‚In dem Bus, mit dem ich gestern Abend um sieben zum Bahnhof gefahren bin, war die hintere Tür defekt, so dass ich fast meinen Zug verpasst hätte.‘ Mein Gesprächspartner kann die Tür identifizieren, obwohl er sie nicht gesehen hat. Das funktioniert deshalb, weil ich die Tür mit Hilfe von Ausdrücken wie ‚in dem Bus zum Bahnhof‘ und ‚gestern Abend um sieben‘ eindeutig raumzeitlich lokalisieren kann. Dafür, dass sich in unserem Begriffsschema Einzeldinge identifizieren lassen, die wir gegenwärtig nicht beobachten können, ist es, wie Strawson sagt, eine notwendige Bedingung, dass es ein einheitliches und öffentlich verbindliches Raum-Zeit-System gibt, in dem wir sie eindeutig lokalisieren können.²¹ Als ich mit dem Bus gefahren bin, bin ich außerdem mittendrin für zwei Minuten eingeschlafen. Nach dem Aufwachen frage ich mich, wo ich bin,

 Strawson, Peter F.: Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, London 1959, S. 9.  Vgl. ebd., S. 16.  Vgl. ebd., S. 22.

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erinnere mich wieder und sage dann zu mir: ‚Ich sitze in dem Bus, mit dem ich zum Bahnhof fahren wollte.‘ Ich habe den Bus auf diese Weise reidentifiziert. Dass ich das kann, setzt voraus, dass der Bus in der Zwischenzeit kontinuierlich fortbestanden hat. Falls mich nicht zufälligerweise jemand verpflanzt haben sollte, ist meine Reidentifizierung des Busses auch erfolgreich gewesen, und ich kann davon ausgehen, dass sich der Bus während meines Schlafes nicht in Luft aufgelöst hat und dass ich mich beim Aufwachen nicht in einem neuen Bus befinde. Davon, dass die Einzeldinge in der Regel auch dann fortbestehen, wenn wir sie einige Zeit nicht beobachten, gehen wir auch alle ständig aus. Dafür, dass wir Einzeldinge erfolgreich reidentifizieren können, ist es eine notwendige Bedingung, dass sie unbeobachtet persistieren.²² Der Witz an diesen kurzen Alltagsszenen zeigt sich, wenn wir von ihnen zu dem allgemeinen Nachdenken über unser Begriffsschema übergehen. Es ist eine faktische Eigenschaft unseres alltäglichen Sprechens und Handelns in der Wirklichkeit, dass wir Einzeldinge erfolgreich identifizieren und reidentifizieren können. Das aber ist nur möglich unter den Bedingungen, dass es ein einheitliches Raum-Zeit-System gibt und dass die Gegenstände unserer Wirklichkeit persistieren. Insbesondere gehört zur Stabilität der Reidentifizierung die Persistenz der Einzeldinge. Damit haben wir eine Kategorie unseres Begriffsschemas erfasst: Die Stabilitätsstruktur der Reidentifizierung in unseren Aussagen ist die Persistenzstruktur der Dinge.Wir erfassen direkt eine Struktur der Wirklichkeit, wenn wir die Stabilitätsstruktur der Reidentifizierung in unseren Aussagen erfassen. Stroud hat gegen diesen Gedankengang einen Einwand formuliert. Stroud fasst Strawson so auf, dass dieser ein sogenanntes transzendentales Argument für die Persistenz der Einzeldinge entwickeln will. Ein radikaler Skeptiker könnte aber nach Stroud gegen das Argument immer noch einwenden, dass es nur zeige, dass wir glauben müssen, dass die Einzeldinge unbeobachtet persistieren, damit wir sie reidentifizieren können, nicht aber, dass die Einzeldinge tatsächlich unbeobachtet persistieren. ²³ Aber die deskriptive Metaphysik, die Strawson in Individuals vorführt, ist keine Ansammlung isolierter transzendentaler Argumente, sondern vielmehr die Entwicklung eines transzendentalen Argumentationszusammenhangs, einer Kategorientheorie.²⁴ Die Zurückweisung des Erfülltseins ei-

 Strawson formuliert diese notwendige Bedingung auf etwas andere Weise: Dafür, dass es ein einheitliches und öffentlich verbindliches Raum-Zeit-System gibt, ist es nach Strawson eine notwendige Bedingung, dass wenigstens einige Einzeldinge unbeobachtet persistieren. Vgl. ebd., S. 35.  Vgl. Stroud, Barry: Transcendental Arguments, in: Journal of Philosophy 65/9 (1968), S. 241– 256.  Vgl. Strawson, Peter F.: Scepticism and Naturalism. Some Varieties, New York 1985, S. 21– 23.

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ner jeweiligen notwendigen Bedingung (etwa die Leugnung der Persistenz der Einzeldinge) läuft nicht nur auf die Zurückweisung eines vereinzelten Zuges unseres Begriffsschemas hinaus (etwa auf die Leugnung der Reidentifizierung), sondern auf die Leugnung unseres gesamten Begriffsschemas. Aber die Existenz unseres gesamten Begriffsschemas zu leugnen, ist etwas, das man nicht konsistenterweise durchführen kann, denn dazu müsste man sich unseres Begriffsschemas selbst allererst bedienen.²⁵ Wer zum Beispiel nur zulassen will, dass wir glauben müssen, dass die Einzeldinge persistieren, der muss aufgrund der engen Verknüpfung der kategorialen Grundbegriffe letztlich auch nur zulassen, dass wir glauben müssen, dass wir dasjenige Begriffsschema haben, das wir haben. Aber das ist absurd. Wir haben nun einmal dasjenige Begriffsschema, das wir haben – und „we cannot change it“, so Strawson, „even if we would“²⁶. Wer diese kontrafaktische Möglichkeit ernsthaft realisiert sehen will, betreibt eine revisionäre und keine deskriptive Metaphysik. Der stärkste Grund für die antiskeptische Kraft der deskriptiven Metaphysik ist die Tatsache, dass unser Begriffsschema unauflöslich mit den sozialen Gemeinschaften und Gegebenheiten verwachsen ist, in denen wir als soziale Individuen natürlicherweise leben und mit anderen unserer Art interagieren. Bei Hegel hat die theoretische Erfassung dieser Tatsache die Gestalt einer Philosophie des objektiven Geistes, bei Strawson die (verwandte) Gestalt eines sogenannten sozialen Naturalismus.²⁷ Wenn Hegel und Strawson von den Kategorien des Denkens sprechen, dann meinen sie damit nicht die Strukturen der mentalen Vorkommnisse jeweiliger individueller Denker. Sie meinen vielmehr die Strukturen desjenigen menschlichen Sprechhandelns, das in dem öffentlichen sozialen Handlungsraum verankert ist, in dem wir natürlicherweise leben. Hegels Begriff des Begriffs (des Systems der Kategorien) und Strawsons Begriff unseres Begriffsschemas sind so weit gefasst, dass die Personen, Gegenstände und Kontexte, mit und in denen unser menschliches Sprechhandeln immer schon stattfindet, in ihm (dem Begriff und dem Begriffsschema) bereits enthalten sind. Grundsätzlich können unsere Gedanken, Aussagen und Sätze daher die Wirklichkeit auch er-

 Deshalb zieht Strawson zum Beispiel nach dem einzelnen Argument für die Persistenz der Einzeldinge eine generelle antiskeptische Konsequenz, wenn er über den Skeptiker, der die Persistenz der Einzeldinge bestreitet, sagt: „his doubts are unreal, not simply because they are logically irresoluble doubts, but because they amount to the rejection of the whole conceptual scheme within which alone such doubts make sense.“ (Strawson, Peter F.: Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, a.a.O., S. 35)  Ebd.  Vgl. Strawson, Peter F.: Scepticism and Naturalism. Some Varieties, a.a.O., S. 14– 21, insbes. S. 24 f.

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folgreich treffen (obwohl es im Einzelnen natürlicherweise immer auch Fehlleistungen unseres Wahrnehmens, Denkens und Sprechens geben kann). Dass wir ernsthaft befürchten, dass wir die Wirklichkeit in unserem Begriffsschema grundsätzlich immer verfehlen könnten, ist eine Form des Zweifels, die überhaupt nur aufgrund der mentalistischen Eingitterung der Gedanken in unsere Köpfe möglich ist. Aber das ist ein Fehler unserer modernen philosophischen Selbstkonzeption, von dem uns Hegel und Strawson befreien wollen, und nicht ein Defekt unseres Begriffsschemas. Der skeptische Einwand gegen die deskriptive Metaphysik beruht auf einem falschen Verständnis des Ausdrucks ‚für uns‘. Natürlich führt eine Analyse unseres Begriffsschemas auf Wirklichkeitsstrukturen, deren Bestehen nur relativ zu unserem Begriffsschema erwiesen werden kann.Wiedererkennende Wesen wie wir benötigen Busse, die sich nicht in Luft auflösen, wenn wir für kurze Zeit darin einnicken. Aus der soverstandenen Einschränkung des ‚für uns‘ folgt aber nicht, dass wir bei der Analyse der Bedingungen und Grundstrukturen unseres Begriffsschemas gar nicht über die Wirklichkeit sprächen, sondern nur über unsere Überzeugungen über diese Wirklichkeit in unserem Geist. Aus dieser Einschränkung folgt nur, dass wir als deskriptive Metaphysiker immer nur über die tatsächliche Einrichtung unseres Begriffsschemas und dessen Wirklichkeit sprechen können. Über andere Begriffsschemata als unseres und andere Wirklichkeiten als unsere können wir nur spekulieren. Aber dann werden wir revisionäre Metaphysiker. In Wahrheit sind es skeptische Einwände vom Typ der Kritik Strouds, die die Rede von ‚Dingen für uns‘ und ‚Dingen an sich‘ unter der Hand wieder einzuführen drohen. Dass wir als Kategorientheoretiker bestenfalls zeigen können, dass wir die Einzeldinge persistierend denken müssen, ohne jemals die theoretischen Mittel haben zu können um sicherzustellen, dass sie so, wie sie wirklich sind, auch tatsächlich persistieren – dieser Zweifel spiegelt die alte Angst, dass wir in unserem Erkennen auf ewig im Gefängnis unseres Geistes eingesperrt sind, so dass wir uns mit den Repräsentationen der Gegenstände, den Gegenständen für uns, begnügen müssen, während die Gegenstände an sich ewig unerkennbar bleiben werden. Aber Hegel und Strawson zeigen, dass das Problem des Ansich ein Scheinproblem ist. Es stimmt: Aus unseren Denkstrukturen ergeben sich Wirklichkeitsstrukturen immer nur relativ zu unserem Begriffsschema. Aber wir haben nun einmal das Begriffsschema, das wir haben. Wer dagegen einwendet, dass wir deshalb die Gegenstände an sich nie erreichen können, weiß nicht, dass er etwas Leeres sagt, und er weiß nicht, was ein Begriffsschema ist. Aus den Grundstrukturen unseres Denkens ergeben sich die Grundstrukturen der Gegenstände. Und diese Strukturen sind die Kategorien. Kategorientheoretisches Nachdenken über unser Begriffsschema ist dann aber tatsächlich absolutes Denken in dem Sinne, dass es uns an keiner Stelle an

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absolute ontologische Grenzen zwischen einem Füruns und einem Ansich führt; im Gegenteil, es erweist jede Rede von einer derartigen Grenze als leere Rede. Diese ganze Überlegung zeigt dann aber nichts anderes als unsere wohlverstandene absolute Freiheit auf: Sie befreit uns ein für alle Mal vom Ansich. Es ist diese nichtpartikulare Freiheit, diese grundsätzliche Freiheit vom Ansich, die uns als Sprecher und Denker unseres Begriffsschemas auszeichnet. Diese absolute Freiheit darf natürlich nicht trivialisiert werden im Sinne einer Freiheit zu allem und jedem, was immer wir nur wollen. Das zu behaupten wäre Unsinn. Natürlich sind wir in jedem konkreten Sprechakt abhängig von natürlichen, sozialen, institutionellen und vielen weiteren Faktoren. Aber wir sind grundsätzlich frei in dem Sinne, dass der Gedanke einer grundsätzlichen Einschränkung durch ein fremdes Ansich ein leerer Gedanke ist. Weil sie dies aufzeigen und explizit zu einem Teil unseres reflexiven Selbstverständnisses machen kann, deshalb ist die transzendentale Kategorientheorie absoluter Geist. Recht verstanden ist Hegels These vom absoluten Geist ein paradigmatischer Fall von Aufklärung.²⁸ Man könnte im Gegenzug dann noch auf die Dialektik der Aufklärung hinweisen und hinter Hegels Lehre von der absoluten Freiheit einen Fall von Selbstermächtigung vermuten. Aber wenn wir den absoluten Geist aufführen, dann determinieren wir nicht die Rede über Struktur und Reichweite unseres Begriffsschemas, sondern halten die Auseinandersetzung darüber gerade in Gang (und noch und gerade die Dialektik der Aufklärung ist eine Aufführung des absoluten Geistes). Die Freiheit vom Ansich wird uns reflexiv nur bewusst, wenn wir Kategorientheorie betreiben und insofern wir Kategorientheorie betreiben. Eine Grundlagenreflexion dieser Art ist im objektiven Geist allein nicht möglich. Sie hat dort noch gefehlt. Deshalb ist es erst der absolute Geist, der in den konkreten Instanzen des objektiven Geistes beginnt und dann auf den objektiven Geist als objektiven Geist reflektiert, der auf die Kategorien führt und über unsere grundsätzliche Freiheit reflektieren kann. Deshalb ist der Begriff, das System der Kategorien unseres Begriffsschemas, wie Hegel in der Wissenschaft der Logik sagt, „das Reich der Freiheit“ (Log II, S. 251).

 Siehe in diesem Sinne auch die Überlegungen von F. Knappik über „Die Wissenschaft der Logik als Vollzug von Freiheit“ in Knappik, Franz: Im Reich der Freiheit. Hegels Theorie autonomer Vernunft, Berlin 2013, S. 155 – 171.

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Frederick Neuhouser

Hegel über Sozialontologie und die Möglichkeit sozialer Pathologien Abstract: “Hegel on Social Ontology and the Possibility of Pathology.” This paper examines the theoretical resources Hegel’s philosophy offers for constructing a compelling conception of social pathology. Its main thesis is that these resources can be adequately grasped only by first getting clear on his social ontology, that is, on his view of what kind of thing human societies, as part of objective spirit, are. The key to doing this lies in understanding the fundamental analogy Hegel draws between spirit (including human societies) and life, especially with respect to their essential ‘functions’. This requires also investigating the ways in which social life, as a form of spirit, differs from mere life, primarily because the beings who make up human societies are conscious agents and are therefore capable of a kind of reflexivity that is absent in non-human life. The type of social pathology the paper focuses on is one in which human subjects fail to endure, or negotiate, the fundamental opposition between spiritual and merely animal life or, in other words, fail to unite their ends as living beings with the loftier end of freedom.

Der vorliegende Aufsatz will die philosophischen Mittel ausloten, welche G. W. F. Hegel für die Konstruktion eines auch heute noch überzeugenden Begriffs sozialer Pathologien bereithält. Obwohl Hegel natürlich keineswegs der einzige Philosoph ist, der sich mit dem Sozialen beschäftigt und den wir daher zurate ziehen können, wo es darum geht zu untersuchen, inwiefern Probleme gegenwärtiger Gesellschaften als Pathologien begriffen werden können, ist seine Auffassung von gesellschaftlicher Realität sowie dessen, was eine gute Ordnung der Gesellschaft auszeichnet, doch bei Weitem die wichtigste Bezugsquelle, welche wir haben. Darüber hinaus sind etliche andere Autoren, die für ein solches Unternehmen durchaus einschlägig sind – darunter K. Marx, É. Durkheim sowie die Mitglieder der Frankfurter Schule –, ihrerseits Schüler Hegels. Ihre Überlegungen in Sachen sozialer Pathologien sind nicht selten Erweiterungen der Hegel’schen Philoso-

Der vorliegende Beitrag ist die übersetzte Fassung meines Aufsatzes Hegel on Social Ontology and the Possibility of Pathology, in: Testa, Italo/Ruggiu, Luigi (Hg.): „I that is We, We that is I.“ Perspectives on Contemporary Hegel, Critical Studies in German Idealism 17, Leiden/Boston 2016, S. 29 – 48. https://doi.org/10.1515/9783110572735-007

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phie, die aber deren Gedankenwege im Wesentlichen nicht verlassen. Für sie ist wie für uns Hegel der unabdingbare Ausgangspunkt für eine Reflexion über das Thema sozialer Pathologien. Der entscheidende Grund dafür liegt m. E. in Hegels außerordentlich differenziertem Verständnis von der Natur sozialer Wirklichkeit, sprich seiner Ontologie des Sozialen. Die These, welche ich im Folgenden entwickeln und stark machen möchte, besagt, dass die begrifflichen Ressourcen, die sich mit Hegel für eine Betrachtung sozialer Pathologien aufbieten lassen, angemessen nur zu verstehen sind, wenn man sich zuvor darüber ins Bild setzt, welche Art von Realität die menschliche Gesellschaft für Hegel ist. Wie der Titel meines Beitrags ankündigt, möchte ich also die Möglichkeit sozialer Pathologien – einschließlich der verschiedenen Formen, in denen sie auftreten können – von dem demgegenüber fundamentaleren Standpunkt der Sozialontologie aus angehen. Bevor wir uns jedoch Hegels Sozialontologie zuwenden, sind zwei Vorbemerkungen über das nähere Ziel der hier anzustellenden Überlegungen angebracht. Zunächst ist einem möglichen Missverständnis vorzubeugen. Für zeitgenössische Ohren mag die Rede von einer sozialontologischen Grundlegung sozialer Pathologien so klingen, als ob beabsichtigt sei, aus einer metaphysischen und nichtnormativen Darstellung dessen, was die menschliche Gesellschaft als solche ausmacht, normative Schlussfolgerungen über eine gesunde menschliche Gesellschaft abzuleiten – wie man etwa Platon und Aristoteles dahingehend lesen kann, dass sie ihre jeweilige Auffassung von der gut eingerichteten Gesellschaft hergeleitet haben aus einem vorgängigen Begriff von der wahrhaften Natur aller Realität überhaupt. Genauer gesagt speist sich der Irrtum, welchem ich zuvorkommen möchte, aus dem zeitgenössischen Vorurteil der angloamerikanischen Philosophie, wonach die Metaphysik als ein Bereich der Philosophie zu unterscheiden sei von einem anderen, den man Werttheorie nennt. Zwar bin ich nicht daran interessiert, Hegels Sozialphilosophie gegen den Vorwurf zu verteidigen, eine metaphysische zu sein – alles hängt hier freilich davon ab, wie der Begriff des Metaphysischen ausgelegt wird –, doch möchte ich jedweden Verdacht zerstreuen, in Hegels Sozialontologie eine nichtnormative Grundlage für normative Behauptungen über die gesunde menschliche Gesellschaften freilegen zu wollen. Ich bezweifle sehr, dass eine gehaltvolle Darstellung menschlicher Gesellschaft normative Behauptungen im Hinblick darauf vermeiden kann, wie diese Gesellschaft sein sollte. Hegels Metaphysik jedenfalls ist so nicht angelegt, und meine sozialontologischen Interessen haben nichts mit dieser unhegelschen Vorstellung von der Beziehung zwischen Metaphysik und normativer Philosophie zu tun. Der Gedanke, den ich Hegel zuschreibe (und den er sich von Aristoteles angeeignet hat), ist kurz gesagt der, dass jede Darstellung menschlicher Gesellschaft eine Festlegung derjenigen Funktionen einbegreift, welchen diese im Rahmen des

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menschlichen Lebens dient – derjenigen Aufgaben, welche sie zu erfüllen hat –, und dass die Ontologie, sobald sie, was eine Sache ist, mittels der Funktion ebendieser Sache spezifiziert, zugleich sehen lässt, was es heißt, dass die betreffende Sache gut oder schlecht funktioniert, dass sie die ihr eigentümlichen Aufgaben mehr oder weniger erfolgreich erfüllt. Eine Pathologie bestände alsdann grosso modo in einer Störung der für die fragliche Sache bezeichnenden Funktionen bzw. Aufgaben, in unserem Fall denen der menschlichen Gesellschaft. Der zweite Punkt betrifft Hegels eigene Verwendung des Begriffs der Krankheit. Obwohl Hegel in seiner Naturphilosophie vier Absätze der Krankheit tierischer Organismen widmet, ist Krankheit für ihn keine derart zentrale Kategorie wie beispielsweise für S. Kierkegaard und F. Nietzsche, denen die Beziehung zwischen geistigen Erscheinungen und Krankheit nachgerade als eine konstitutive gilt.¹ Der Unterschied zwischen Hegel und seinen vornehmlich romantischen Nachfolgern ist der, dass er zwar zu erklären für notwendig erachtet, wie dem tierischen Leben die Möglichkeit zur Krankheit eingeschrieben ist, dass er der Krankheit allerdings keine positive Rolle zumisst für die Vorgänge, in denen sich das Leben von Organismen realisiert, oder für die Fortentwicklung tierischer Lebensformen zu höher organisierten geistigen Wesen. Bekanntermaßen legt Hegel dem ‚Negativen‘ in zahlreichen seiner Erscheinungsweisen eine große positive Bedeutung bei – Verzweiflung, Entfremdung, Angst und Tod –, jedoch die Erscheinungsweise der Krankheit kommt in dieser Liste nicht vor. Allein, nichts von alledem spricht dagegen, auf Hegel als auf einen Theoretiker sozialer Pathologien zurückzugreifen.² Auch wenn sein Augenmerk nicht darauf liegt, die Missstände der modernen Gesellschaft zu diagnostizieren, seine

 Der Unterschied zwischen Hegel und diesen Denkern ist nicht der, dass Hegel das Phänomen der Krankheit auf tierisches Leben einschränke. Immerhin erkennt er ausdrücklich die Existenz dessen an, was wir heute psychische Krankheiten nennen, Krankheiten also, die überhaupt nur bei geistigen Wesen auftreten können. Vgl. Enz, § 371 Z.  Wie erwähnt, verstattet Hegel die Anwendung des Begriffs der Krankheit auf geistige Phänomene. Dass er es hingegen unterlässt, eine Darstellung sozialer Pathologien zu geben, ist hauptsächlich dem Umstand geschuldet, dass er – anders als etwa J.-J. Rousseau, und zwar besonders in dessen zweitem Discours – die Obliegenheit der Philosophie nicht darin sieht, gesellschaftliche Übel zu diagnostizieren, sondern stattdessen, uns mit der vorfindlichen sozialen Welt zu versöhnen. Die Philosophie habe aufzuzeigen, wie und in welchem Umfang die soziale Welt bereits in sich vernünftig ist (und insofern nicht pathologisch). Freilich müssen wir Hegels optimistische Einschätzung der bestehenden gesellschaftlichen Realität nicht teilen, wo wir von den begrifflichen Mitteln Gebrauch machen, die in seiner Darstellung vernünftig geordneter Gesellschaft am Werk sind, um funktionale Störungen, sprich Pathologien, des zeitgenössischen Gesellschaftslebens aufzuspüren.

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Auffassung, worin die menschliche Gesellschaft besteht – genauer seine Auffassung der menschlichen Gesellschaft nach dem Modell des Lebens –, stellt einen besonders vielversprechenden Anknüpfungspunkt für eine Sozialphilosophie in Aussicht, der es darum zu tun ist, die Probleme des sozialen Lebens als pathologische Fälle zu verstehen. Wenn man, wie ich gerade vorgeschlagen habe, aus Hegels Deutung einer gut funktionierenden sozialen Ordnung eine Deutung sozialer Pathologien herauspräparieren möchte, setzt das voraus, dass eine enge Verbindung zwischen der menschlichen Gesellschaft und dem Leben besteht. Und mit diesem Gedanken sind wir bereits in das Thema meiner folgenden Ausführungen eingestiegen, nämlich in Hegels Ontologie des Sozialen. Die maßgebliche Annahme, die Hegel hinsichtlich der Seinsart menschlicher Gesellschaft trifft, ist die, dass das soziale Leben mit zur Domäne des Geistigen gehört. In seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts liest man, dass die Sittlichkeit den objektiven Geist in seiner vollendeten Form verkörpert;³ und in der Phänomenologie des Geistes begegnen wir dem Begriff des Geistes zum ersten Mal dort, wo wir es mit gesellschaftlichen Phänomenen zu tun bekommen (die sich u. a. dadurch auszeichnen sollen, dass mehrere Ich in und durch eine Dialektik der Anerkennung als Wir konstituiert sind). Es ist die Beziehung zwischen Herr und Knecht, die in der Phänomenologie als die erste, d. h. begrifflich einfachste, Erscheinung des Geistes und der menschlichen Gesellschaft firmiert. Ich komme darauf zurück, wenn ich mich mit dem nach Hegel basalsten Merkmal aller sozialen Realität auseinandersetze. Die geistige Verfasstheit menschlicher Gesellschaft scheint nun zugegebenermaßen mit meiner vorigen Behauptung im Widerstreit zu stehen, wonach es die Verbindung zwischen Gesellschaft und Leben ist, die den Beginn der Hegel’schen Sozialontologie markiert. Der scheinbare Widerstreit löst sich jedoch auf, sobald man sich erinnert, dass für Hegel der Geist desgleichen durch seine Beziehung zum Leben definiert ist. Das rechte Verständnis des Verhältnisses von Geist und Leben ist unumgänglich, um den Blick dafür freizubekommen, warum die Vorstellung sozialen Lebens als eines geistigen Phänomens die Möglichkeit eröffnet, dieses als für Krankheiten anfällig zu begreifen (in einer seinem geistigen Dasein entsprechenden Weise). Der Zusammenhang von Geist und Leben lässt sich kurz so angeben, dass der Geist aufgehobenes Leben ist. Wie ich im Weiteren argumentieren werde, besagt diese Auffassung des Geistes als aufgehobenes Leben des Näheren, dass ein wesentlicher Charakter geistiger Entitäten, menschliche Gesellschaften eingeschlossen, darin besteht, dass diese die Struk-

 Die Gestaltung der Weltgeschichte in den Grundlinien der Philosophie des Rechts lasse ich hier außen vor.

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tur des Lebens an sich zeigen (und das gleich in drei Hinsichten, welche ich unten anführen werde).Weil der Geist jedoch nicht einfach mit dem Leben identisch ist – er ist eben Leben qua aufgehobenes –, muss es etwas geben, das über das rein Biologische hinaus als etwas Neues in der sozialen Wirklichkeit begegnet, etwas, das mit dem Prozess des Lebens ebenso sehr in Beziehung steht wie es ihn aufnimmt und verwandelt. Sozialontologie im Stile Hegels zu betreiben, verlangt mithin zu erklären: a) was für Hegel Leben ist, b) was zum Leben dazukommen muss, damit es in ein Moment des Geistes transformiert wird, und c) wie in der menschlichen Gesellschaft die Vorgänge des Lebens mit jenen Funktionen in Einklang gebracht sind, durch die sich geistige Wesen von ihren bloß lebenden Gegenstücken unterscheiden. Nachdem ich ausgeführt habe, was für eine Art von Sache die menschliche Gesellschaft Hegel zufolge ist, wird sich zeigen, wie Störungen der charakteristischen Funktionen des gesellschaftlichen Lebens der Menschen mithilfe von Begriffen analysiert werden können, die aus dem Bereich des Lebens abgeleitet sind – in anderen Worten, mithilfe einer Sprache des Pathologischen. Hegels Sozialontologie nimmt den Umstand ernst, dass wir auf menschliche Gesellschaften oftmals derart Bezug nehmen, als ob sie Lebewesen wären. Wir sprechen dann z. B. vom „sozialen Leben“ oder vom „Leben einer Gesellschaft“, und es ist uns oftmals selbstverständlich, Metaphern wie Gesundheit und Krankheit zu verwenden, wo wir eine bestimmte Gesellschaft beurteilen.⁴ Ich habe gesagt, dass geistige Entitäten, insbesondere die soziale Wirklichkeit, nach Hegel die Struktur des Lebens in dreierlei Hinsicht in sich befassen. Die erste dieser Hinsichten ist, dass die menschliche Gesellschaft nach dem Modell des Lebens zu betrachten ist. Das bedeutet, dass Gesellschaft und Leben eine gemeinsame Struktur aufweisen, die nichtlebenden (und ungeistigen) Wesen abgeht. Der erste Schritt in der Rekonstruktion von Hegels Ontologie des Sozialen muss demnach darin bestehen zu erklären, was er sich unter Leben vorstellt, oder aus Gründen des Umfangs zumindest darin, diejenigen Aspekte seiner Auffassung vom Leben auseinanderzulegen, die für seinen Begriff menschlicher Gesellschaft am wichtigsten sind. Es mag naheliegen, den Unterschied zwischen lebenden und nichtlebenden Wesen an der organischen Struktur der ersteren festzumachen. Das wäre auch sicherlich nicht falsch, doch möchte ich nicht mit der Struktur des Organischen anheben, weil diese, angewandt auf die Gesellschaftstheorie, dazu verleitet, eine metaphorische Vorstellung von der menschlichen Gesellschaft als biologischem

 So gesehen trifft die übliche englische Übersetzung von Sittlichkeit mit ‚ethical life‘ etwas durchaus Richtiges in Hegels Gesellschaftsbegriff.

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Organismus zu motivieren. Das vermittelt ein falsches Bild davon, inwiefern die soziale Wirklichkeit für Hegel nach dem Modell des Lebens organisiert ist. (Vor allem besitzen die Mitglieder einer Gesellschaft eine größere Integrität und Unabhängigkeit, als das Modell des biologischen Organismus suggeriert; einzelne Individuen sind, mit anderen Worten, nicht den Mitochondrien oder Nahrungsvakuolen von Amöben vergleichbar.) Stattdessen setze ich damit ein, dass für Hegel sowohl Gesellschaften als auch Lebewesen teleologisch (oder zweckmäßig) organisiert sind. Das bedeutet, dass es unmöglich ist zu verstehen, was sie sind oder warum sie auf die ihnen eigene Weise aufgebaut sind, ohne ihre eigentümlichen Funktionen zugrunde zu legen, Funktionen, die, wie man sagen kann, auf Zwecke abzielen und ebendarum teleologisch sind. Um herauszustellen, was einen tierischen Organismus ausmacht, beruft sich Hegel auf Aristoteles Charakterisierung des Lebendigen, wonach dieses „als nach dem Zwecke wirkend zu betrachten sei“⁵ (wobei Hegel und Aristoteles darin einig gehen, dass im Falle geistloser Lebewesen diese Zwecke den betreffenden Wesen unbewusst sind und bleiben). Ich lese das so, dass man nicht einzusehen vermag, warum lebendige Wesen derart eingerichtet sind, wie sie eingerichtet sind, und warum sie sich derart in der Welt verhalten, wie sie sich verhalten, wenn man nicht auf irgendwelche Zwecke oder Funktionen zurückgreift, in deren Dienst die Eigenschaften und Aktivitäten dieser Wesen stehen. Das lässt sich sogar bis auf die unteren Ebenen organischer Vorgänge herunterbrechen. Wir können beispielsweise fragen ‚Warum sondern Tiere Speichel ab?‘, was der Frage entspricht ‚Welcher Funktion dient der Speichelfluss?‘. Im Falle von Lebewesen stellt sich allerdings im Anschluss an die Antwort, dass nämlich Speichelfluss die Verdauung von Nahrung unterstützt, eine weitere Frage, und zwar die nach der Funktion der Nahrungsverdauung – bis man zuletzt erkennt, dass der fragliche Prozess einem Zweck dient, der den Organismus als Ganzen bestimmt. Was solcherlei Fragen im Bereich des Lebens an ein Ende bringt, ist die Entdeckung eines Zweckes, den man als den wesensgemäßen Zweck des betreffenden Organismus bezeichnen kann, eines Zweckes also, der dieses Wesen als diejenige Art Wesen definiert, das es nun einmal ist. Nach Hegel sind die für lebende Wesen essenziellen Zwecke die der Selbsterhaltung und Fortpflanzung.⁶ Dass Leben teleologisch organisiert ist, besagt sonach, dass die verschiedenen spezialisierten Funktionen eines lebendigen Wesens, indem sie zusammenwirken, in irgendeiner Weise zum Erreichen ebendieser essenziellen Zwecke des Gesamtorganismus beitragen: Die Funktion des Speichelflusses ist es,

 Enz, § 360 A.  Vg. Enz, §§ 350 – 3.

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die Verdauung von Nahrung zu unterstützen, die Funktion der Nahrungsverdauung aber wiederum ist es, die Selbsterhaltung des Organismus zu ermöglichen und zu befördern.⁷ Diese Beobachtung führt uns auf ein weiteres Merkmal der teleologischen Verfassung des Lebens, welches eine bedeutende Rolle in Hegels Sozialontologie spielt: Denn nachdem einmal aufgewiesen ist, dass die Merkmale und Prozesse eines Lebewesens im Dienste von dessen charakteristischen Zwecken stehen, verlangen diese Zwecke selber noch einmal eine Erklärung. Es ergäbe schlicht keinen Sinn – würde also einen Mangel im Begreifen dessen sichtbar werden lassen, was es heißt, ein lebendes Wesen adäquat zu denken –, wenn man antworten wollte: ‚Ja, ich sehe zwar, dass der Speichelfluss dem Stachelschwein ermöglicht, seine Nahrung zu verdauen, was es ihm wiederum ermöglicht, am Leben zu bleiben. Doch wozu das alles?‘. Das ist es, was Hegel meint (jedenfalls ein Teil dessen), wenn er sagt – dabei dem eigenen Selbstverständnis zufolge sowohl Kant folgend als auch über Aristoteles hinausgehend –, dass ein lebendiges Wesen nicht nur zweckmäßig eingerichtet, sondern auch ein Zweck an sich selber, ein Selbstzweck ist:⁸ ein Wesen, das bestimmten Zwecken zustrebt, welche nicht selber wiederum nützlich sind zur Erreichung anderer Zwecke, die über die Erhaltung des Lebens dieses Wesens hinausgehen. Die letzten, wesenseigenen Zwecke eines Lebewesens sind keine äußeren, sondern entspringen gewissermaßen der Seinsweise des betreffenden Wesens selbst.⁹ Doch damit nicht genug. Bislang habe ich mich nur auf das einzelne Lebewesen beschränkt. Allerdings vergleicht Hegel den Geist und die menschliche Gesellschaft für gewöhnlich weniger damit als mit dem Leben im Allgemeinen. ‚Leben‘ bezieht sich auf die biologische Aktivität nicht von Individuen, sondern ihrer Gattung; und diese besteht aus nichts anderem als der biologischen Aktivität der Masse ihrer lebenden Einzelwesen.¹⁰ In seiner weitesten Bedeutung hebt ‚Leben‘ auf die biologische Aktivität aller Gattungen ab – was wir das gesamte Netz des Lebens nennen können –, da die biologische Aktivität einer Gattung normalerweise ein Verhältnis zu Mitgliedern anderer Gattungen impliziert (in Gestalt von Nahrung etwa). Diesem Übergang vom lebenden Einzelwesen zum allgemeinen Leben liegt eine ontologische These zugrunde, der zufolge die Gat-

 Vgl. Enz, § 354.  Vgl. Enz, §§ 352, 360 A.  Selbstzweck zu sein, hat mehr als nur dies zur Folge: „das Leben muß als Selbstzweck gefaßt warden, als ein Zweck, der in sich selber sein Mittel hat, al seine Totalität, in welcher jedes Unterschiedene zugleich Zweck und Mittel ist“ (Enz, § 423 Z).  Vgl. ebd.

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tung (oder ‚das Allgemeine‘) primär ist gegenüber dem einzelnen Lebewesen.¹¹ Eine Eigenschaft lebendiger Wesen, im Unterschied etwa zu Felsen und Regentropfen, ist es, dass zwischen ihnen und ihrer Gattung ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis besteht. Danach sind Lebewesen nicht selbständig (oder gänzlich substanziell), weil sie in ihrem Sein durch etwas bedingt sind, das größer und umfassender ist als sie, namentlich die Gattung, welcher sie angehören.¹² Das ließe sich zwar so interpretieren, dass alle Lebewesen die biologischen Nachkommen anderer Lebewesen sind, welche wiederum die Nachkommen anderer sind und so weiter. Der tiefer gehende Anspruch der vorerwähnten ontologischen These betrifft indes nicht die existenzielle, sondern die begriffliche Abhängigkeit, in der das Individuum von seiner jeweiligen Gattung steht. Das lässt sich abermals auf unterschiedliche Weise auslegen, doch ist bei Hegel damit in der Regel dies gemeint: dass bestimmte eigentümliche Verhaltensweisen der Lebewesen selber in Bezug zur Gattung stehen und nur von diesem Bezug her richtig begriffen werden können. Das schlagendste Beispiel hierfür ist, dass der Sexualtrieb Lebewesen zu Verhaltensweisen antreibt, die aus der Sicht ihrer eigenen, individuellen biologischen Bedürfnisse keinem Zweck dienen. Jene legen dann ein Verhalten an den Tag, das einzig und allein einen allgemeinen Zweck erfüllt.¹³ Folglich können wir diese Wesen nur gebührend auf den Begriff bringen, wenn wir ihr diesbezügliches Verhalten in Relation auf die gesamte Gattung als Zweck betrachten (die Reproduktion der Gattung im Gegensatz zur Selbsterhaltung des Einzelnen). Lebewesen, so können wir sagen, sind, was sie sind, nur insofern, als sie am Leben ihrer Gattung teilhaben und dieses vorantreiben. Mit Blick auf menschliche Individuen und ihr gesellschaftliches Leben wird Hegel eine ähnliche Behauptung aufstellen. Doch fürs Erste möchte ich lediglich festhalten, dass die Analogie, auf der seine Ontologie des Sozialen beruht, keine ist zwischen der menschlichen Gesellschaft und einem biologischen Organismus, sondern eine zwischen der Gesellschaft und dem Leben einer Gattung (wenn man auch nicht vergessen darf, dass die Analogie nicht alles erfasst, da die menschliche Gesellschaft anders als eine biologische Gattung immer auch ein geistiges Gebilde darstellt). Bevor wir zu dem übergehen, was laut Hegel zum Leben hinzukommt, um auf die Entwicklungsstufe des Geistes hinaufzusteigen, ist noch ein weiteres Moment seiner Auffassung von Leben namhaft zu machen, welches in der Darstellung  Vgl. Enz, § 367.  Freilich hängt die Gattung ihrerseits von den einzelnen Mitgliedern ab, weil sie nichts jenseits der Totalität ebendieser Mitglieder und deren Verhaltensweisen ist.  Lust oder der Abbau sexueller Spannung ist kein solcher Zweck. Denn ein Zweck ist stets ein Zustand, welcher in der Außenwelt hervorgebracht wird.

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menschlicher Gesellschaft einen geistigen Widerklang findet. In der Enzyklopädie macht Hegel im Zuge seiner Beschäftigung mit lebenden Wesen die folgende rätselhafte Bemerkung: „Ein solches, das den Widerspruch seiner selbst in sich zu haben und zu ertragen fähig ist, ist das Subjekt; dies macht seine Unendlichkeit aus.“¹⁴ Die Idee hier ist, dass Lebewesen Subjekte sind (im technischen Sinne des Wortes) und dass, was sie zu Subjekten macht, ihre Fähigkeit ist, einen inneren Widerspruch auszuhalten. Zwar sind es diverse Eigenschaften lebendiger Wesen, die Hegel zu dieser merkwürdigen Behauptung veranlassen, doch werde ich mich auf die wesentlichen beschränken.¹⁵ Erstens existiert ein Lebewesen nicht nur wie ein Stein. Es ist nicht, wie Hegel sagt, ein bloß Seiendes. ¹⁶ Seine Art zu sein ist vielmehr die eines Subjekts in dem Sinne, dass ein Lebewesen als ein Sichreproduzierendes existiert (man denke an Fichtes Subjektbegriff, wonach einem Subjekt jenseits seiner selbstsetzenden Aktuosität kein Sein eignet). Es existiert nur insoweit, als es sich beständig als dasjenige selber hervorbringt, was es ist, einschließlich der beständigen Wiederherstellung seiner für es charakteristischen „Gestalt“¹⁷.Wie Hegel sich ausdrückt, ist „das Lebendige […] nur, indem es sich zu dem macht, was es ist“¹⁸. Darüber hinaus reproduziert es sich allein dadurch, dass es sich fortwährend zu etwas in Beziehung bringt, das es nicht ist, z. B. Luft, Wasser und Nahrung. Es verleibt sich jenes ein, assimiliert sich die fremden Elemente, indem es sie nicht bloß aufnimmt, sondern dem eigenen Zweck der Selbsterhaltung unterwirft. (Nietzsche wird diesen Lebensvorgang später Interpretation nennen: etwas aufnehmen und ihm einen Zweck auferlegen.) Das Lebewesen ist in Hegels Sinn unendlich und wie ein Subjekt, weil es sich auf sich selbst bezieht (seine eigene Lebensweise erhält) dadurch, dass es sich auf solches bezieht, was es nicht ist. Man könnte sagen, ein derartiges Wesen erträgt einen inneren Widerspruch, den Widerspruch nämlich zwischen sich selbst und dem, was es nicht ist. Doch passender noch ist zu formulieren, dass es sich davon ernährt, ja davon lebt, diesen Widerspruch auf besondere Art zu bewältigen. Das

 Enz, § 359 A.  Z. B., dass solche Wesen Triebe besitzen. Die Idee dahinter ist, dass einem Trieb unterworfen sein die Bewältigung von Gegensätzen nach der Art eines Subjekts beinhaltet, weil hier sowohl ein Gefühl von „Mangel“ als auch „das Darüberhinaussein“ (Enz, § 359 A) miteinander verbunden werden. Beide zusammen übersetzen sich in eine Bewegung in der Außenwelt, die den Trieb befriedigt (den Mangel aufhebt) und das Lebewesen in einen Zustand zurückbringt, in dem es eins mit sich selbst ist (vgl. Enz, § 360). Nichts in meiner Darstellung sozialer Pathologien sowie der Beziehung zwischen menschlicher Gesellschaft und Leben nimmt jedoch dieses Verständnis von Trieben in Anspruch.  Vgl. Enz, § 352.  Enz, § 353.  Enz, § 352.

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Lebendige „ist und erhält sich“¹⁹ nur als das, was es ist – ein teleologisch organisiertes Wesen, das der Selbsterhaltung und Fortpflanzung der Gattung zustrebt –, indem es mit demjenigen in Austausch steht, was nicht zu ihm gehört.²⁰ Und es tut dies fließend, d. h. immerzu und ohne dabei seine Identität auch nur punktuell einzubüßen (sprich ohne zwischen Zuständen des Selbstseins und des Andersseins hin- und herzuspringen). Da der Lebensvorgang einer Gattung in einer strengeren Analogie zur menschlichen Gesellschaft steht, muss erwähnt werden, dass Hegel dieselbe subjekthafte Struktur auch dem Leben im Allgemeinen zuschreibt: Eine biologische Gattung erhält sich selbst, indem sie in sich Unterschiede setzt (einzelne Mitglieder der Gattung, die je eigene Zwecke verfolgen), diese Unterschiede sodann aufhebt und sich darüber als das erhält, was sie ist.²¹ Denn das Leben im Allgemeinen, eine tierische Gattung etwa, reproduziert sich im Laufe der Zeit dergestalt, dass es in viele individuelle Lebewesen auf- und auseinanderbricht, die, indem sie zu leben, sich fortzupflanzen und schließlich sogar zu sterben bestrebt sind, jene biologischen Aufgaben erfüllen, von denen das Überleben der gesamten Gattung abhängt. In diesem Fall besteht die Beseitigung der Unterschiede, welche die Gattung in sich ausbildet – will sagen den Widerspruch nach der Art eines Subjekts bewältigt –, darin, ihre eigene Identität vermittels der einzelnen Lebewesen, aus denen sie sich zusammensetzt, zu erzeugen und immer wieder aufs Neue zu erzeugen, indem sie deren Aktivitäten (der Selbsterhaltung, Fortpflanzung und des Sterbens) in den Dienst ihres eigenen allgemeinen Zwecks stellt, nämlich der Aufrechterhaltung der Gattung als Ganze. Wenn nun Leben und geistiges Wesen eine gemeinsame Struktur teilen, wodurch unterscheiden sie sich dann in Hegels Auffassung? Ohne viel Aufwand lässt sich hier die erste und wichtigste Hinsicht angeben, in welcher der Geist mehr ist als bloßes Leben: Obwohl beide sich selbst erhalten, indem sie interne Differenzen setzen und wieder aufheben, bleibt das Leben doch seiner selbst und der es kennzeichnenden Prozesse unbewusst. Es vermag als das, was es wesentlich ist, nur für einen anderen zu existieren; seine Natur kann lediglich einem Wesen thematisch werden, das wie der Geist Bewusstsein (und Selbstbewusstsein) besitzt. Daher wäre es nicht abwegig, den Geist – und in der Folge die menschliche Gesellschaft – kurzerhand als selbstbewusstes Leben zu definieren. Im Anschluss daran ließe sich die Frage der Sozialontologie wie folgt ausgeben:  Ebd.  „Die animalische Subjektivität ist aber dieses, in ihrer Leiblichkeit und dem Berührtwerden von einer äußeren Welt sich selbst zu erhalten und als das Allgemeine bei sich selbst zu bleiben.“ (Enz, § 350 Z).  Vgl. PhG, S. 23.

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Was wird aus dem Leben und den ihm eigentümlichen Funktionen, wenn es vom Selbstbewusstsein durchdrungen wird? Die Antwort darauf fällt natürlich ungleich komplexer aus, als die einfache Formel ‚Geist gleich Leben plus Selbstbewusstsein‘ anzeigt. Dass hier mehr geschieht als nur das Hinzufügen einer Sache zu einer anderen, wird deutlich, wenn wir die Verwicklungen berücksichtigen, welche eintreten, sobald wir das Selbstbewusstsein in den Bereich des Lebendigen einführen. Ich will nur drei solche Verwicklungen benennen. Erstens verändert sich der Zweck des Lebens, wo das Selbstbewusstsein mit ins Spiel kommt: In geistigen Wesen tritt an die Stelle des biologischen Zwecks der Selbsterhaltung der der Freiheit (wobei Freiheit so zu denken ist, dass eine Form von Selbstbewusstsein dafür ausschlaggebend ist). Zweitens bringt das Selbstbewusstsein eine Art von Entzweiung oder innerer Teilung mit sich, die dem bloßen Leben abgeht. Während nämlich ein Wesen, das bloß lebendig ist, nicht einzusehen vermag, dass sein Leben mit dem, was von ihm unterschieden ist, zugleich identisch und nichtidentisch ist, weiß sich der selbstbewusste Geist als identisch und nichtidentisch mit dem, was er als sein anderes setzt. Drittens schließlich ist dasjenige, wovon sich das selbstbewusste Subjekt unterscheidet und womit es sich identifiziert, nichts anderes als das Leben; der grundlegende Widerspruch, den der Geist zu bewältigen hat, ist der zwischen Selbstbewusstsein und Leben. D. h., dass es für geistige Wesen typisch ist, sich als mit dem Leben identisch und nichtidentisch zu wissen oder, genauer, ihrer selbst als Leben bewusst zu sein und zur gleichen Zeit als etwas über das seiner selbst unbewusste Leben Hinausragendes, Darüberliegendes, Höheres. Das lenkt uns unmittelbar auf eine zweite Hinsicht, in welcher der Geist, einschließlich menschlicher Gesellschaften, Leben in sich befasst: Für das, was der Geist ist, ist einschlägig, dass er sich selbstbewusst auf das Leben bezieht. Ein geistiges Wesen hat einen Begriff von sich selbst, vom Leben und von seinen eigenen mannigfaltigen Beziehungen dazu. Zunächst zur zweiten Verwicklung, dem Widerspruch innerhalb der bewussten Beziehung des Geistes zum Leben, dass sich nämlich ein seiner selbst bewusstes Subjekt sowohl vom Leben unterscheidet als auch damit identifiziert. Dass die Herausbildung einer solchen doppelten Einstellung zum Leben scheitert, muss sich in Hegels Blickwinkel, wie ich meine, als eine Form geistiger Pathologie qualifizieren (eine Störung der Funktionen geistiger Wesen). Und diese Klasse an Pathologien lässt sich beschreiben als ein Defizit in der Erfüllung jener spezifischen Leistung, durch die alle selbstbewusste Subjektivität überhaupt bestimmt ist. Ich erinnere hier an Hegels Charakterisierung des Subjekts in der „Vorrede“ zur Phänomenologie des Geistes als eine „reine einfache Negativität“,

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als „die Entzweiung des Einfachen“ und als „Verdoppelung“²², die zunächst eine Differenz (oder Opposition) ausbildet, diese alsdann im Bewusstsein negiert und darüber eine Identität des Unterschiedenen hervorbringt. Die Natur des Selbstbewusstseins besteht demnach in einer unverwechselbaren Tätigkeit, der Selbstverneinung, welche sowohl die Teilung seiner selbst als auch die anschließende Bewältigung dieser Teilung impliziert, so dass die Teilung zugleich annulliert und das, was auseinandergerissen wurde, zusammengebracht wird. Dass diese spezifische Aktivität selbstbewusster Subjektivität unentbehrlich ist, um den Geist als aufgehobenes Leben zu verstehen, wird aus Hegels Bemerkung im selben Absatz ersichtlich, dem zufolge es besagte Aktivität ist, die den Geist zu einer „lebendige[n] Substanz“²³ macht. Und dass diese Aktivität ferner unentbehrlich ist für das Thema des Pathologischen, drückt sich darin aus, dass Hegel, nach wie vor im selben Absatz, die genannte Bewegung des Bewusstseins mit der Überwindung von Entfremdung gleichsetzt.²⁴ Einiges von dem, worauf diese noch recht abstrakten Bestimmungen des Geistes und seiner Krankheiten des Näheren hinauslaufen, ist in den folgenden Zeilen Hegels angedeutet: Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, […] sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt.²⁵

Wie ich diese Passage deute, liegt das grundlegende Merkmal blühender Geistigkeit in der Fähigkeit, einen Widerspruch (oder eine Mehrdeutigkeit) bewusst auszuhalten auf eine Weise, die keines der beiden einander Entgegengesetzten leugnet und die aus ebendiesem Grunde ihren Gegensatz nie vollends eliminiert. Geistige Gesundheit besteht mithin in einem bewussten Austragen oder Bewältigen innerer Widersprüche anstatt darin, sie zu ignorieren, zu leugnen oder ihnen auszuweichen. Doch zurück zu meiner Behauptung, dass Leben und menschliche Gesellschaft eine gemeinsame Grundstruktur an den Tag legen. Aufbauend auf dem,

 PhG, S. 23.  Ebd.  Vgl. ebd., S. 32. Später in der „Vorrede“ zerstreut Hegel alle Zweifel, die noch hinsichtlich der Bedeutung dieses Zusammenhangs bestehen könnten, indem er das Fehlen oder den Zusammenbruch der selbstnegierenden Leistung des Bewusstseins als eine Form von (geistigem) Tod charakterisiert. Vgl. ebd., S. 36.  Ebd., S. 36.

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was wir uns über die Struktur des Lebens klargemacht haben, möchte ich umrisshaft nachzeichnen, was für eine Art von Realität Hegel zufolge eine menschliche Gesellschaft darstellt. Eine solche Gesellschaft existiert wie das Leben nur als ein Sichreproduzierendes, etwas, das beständig die Erhaltung seiner selbst als demjenigen vollbringt, was es dank seiner eigenen zweckmäßigen Funktionen, die in ihrer Erfüllung miteinander koordiniert sind, ist – Selbsterhaltung also (wie im Falle des Lebens), jedoch mitsamt dem geistigen Zweck selbstbewusster Freiheit. Beide Zwecke haben dabei den Charakter eines Selbstzwecks; sie werden nur um ihrer selbst willen verfolgt und nicht, weil sie anderen, ihnen äußerlichen Zwecken dienen. Und sie werden nur durch solche Leistungen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder realisiert, die sowohl die partikularen Zwecke des Individuums befördern als auch in einer konstitutiven Beziehung zu den eigentümlichen Zwecken der Gesellschaft als Ganzer stehen. Folglich ist ein entscheidender Aspekt jener Tätigkeit, wodurch sich eine Gesellschaft selber als das erhält, was sie ist, dass sie innere Widersprüche bewältigt, vor allem den Widerspruch zwischen freiem Selbstbewusstsein und Leben. Das ist freilich zunächst nur ein Umriss derjenigen Seinsweise, welche die menschliche Gesellschaft für Hegel besitzt. Einige Details will ich näher entwickeln. Ich beginne mit dem teleologischen Charakter sozialer Prozesse. Wie das Leben auch reproduziert sich die menschliche Gesellschaft durch eine Vielzahl von Aktivitäten, die auf gewisse Zwecke hinzielen. Die Erziehung von Kindern (in der Familie) und die Herstellung von Gütern (in der bürgerlichen Gesellschaft) sind zwei Beispiele für solche Vorgänge, die es offenbar beide mit der Befriedigung von Bedürfnissen zu tun haben, welche Menschen qua lebende Wesen umtreibt. Sie dienen einer biologischen Funktion, doch weil sie Verrichtungen geistiger Wesen sind, werden sie im Bewusstsein der Aufgaben ausgeführt, welche jene erfüllen. Tätigkeiten, die von Mitgliedern einer Gesellschaft erbracht werden, geschehen nicht einfach nur um der Gesellschaft willen; sie geschehen imgleichen um dieser Mitglieder selber willen (wenn diese auch nur ein unvollkommenes oder gar wohl falsches Verständnis davon haben mögen, was sie da tun und warum sie es tun). Darüber hinaus lässt sich der Kern solcher Aktivitäten, weil sie eben Aktivitäten geistiger Wesen sind, nicht auf die Erhaltung des Lebens reduzieren. Als geistige zielen sie gleichfalls und wesentlich auf Freiheit hin. Das bedeutet, dass es für die Mitglieder einer menschlichen Gesellschaft in der Erziehung von Kindern sowie der Herstellung von Gütern allemal um mehr geht; und zwar handelt es sich dabei um Formen der Lebenserhaltung, die in eins damit auf Freiheit aus sind und die ergriffen werden, um diese zu fördern. Das ist die dritte Hinsicht, in der geistige und damit auch soziale Tätigkeiten Leben in sich befassen: Die eigentümlichen Prozesse einer Gesellschaft vereinigen die Zwecke lebender Wesen mit dem demgegenüber vornehmeren Zweck der Freiheit. Will

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man dem Umstand Rechnung tragen, dass viele der vorfindlichen Gesellschaften es ihren Mitgliedern nur unzulänglich ermöglichen, diese beiden Zwecke in ein und derselben Tätigkeit zu vereinen, sollte man wohl besser sagen, dass es die Natur des Geistes ist, ihre Vereinigung zu erstreben, und dass die Mitglieder einer Gesellschaft erst dann geistig zufriedengestellt sein können, wenn sie in der Lage sind, ebendies zu tun. Während relativ einsichtig ist, was als Erhaltung des Lebens zählen darf, ist es schwerer zu sagen, worin genau Freiheit besteht. Wie ich anderswo argumentiert habe, ist Hegels Theorie der Gesellschaft auf einer Vorstellung von Freiheit aufgebaut, die mehrere Dimensionen besitzt und sich gegen eine allzu einfache Darstellung sperrt.²⁶ Jedoch ist es hilfreich, sich in einem ersten Schritt Hegels allgemeinste Beschreibung jener Freiheit vor Augen zu führen, die der Geist zu verwirklichen sucht. Die Phänomenologie gibt uns gleich mehrere Auskünfte, wonach der Geist wesenhaft trachtet – unbeschränkte Selbständigkeit z. B., aber ebenso vollständiges Selbstwissen, eine vollkommene Übereinstimmung zwischen dem, was der Geist ist, und dem, was er von sich weiß, sowie die Hervorbringung einer Welt, welche das Selbstverständnis des Geistes angemessen realisiert. Daneben wird im Kapitel über das Selbstbewusstsein, wo Geist und Gesellschaft das erste Mal in dieser Schrift vorkommen, das Ziel der Tätigkeiten des Subjekts in eine Anerkennung durch andere selbstbewusste Subjekte gesetzt. Allein, all diese Auskünfte können als Formulierungen eines einzigen Zieles verstanden werden, welches den Geist in jeder seiner ihm spezifischen Tätigkeiten lenkt. So allgemein wie möglich gesagt, besteht die Tätigkeit des Geistes, d. h. das für ihn charakteristische Streben, in der Selbstdefinition und Selbstverwirklichung. Genauer, ein geistiges Wesen agiert immer, sei es implizit oder explizit, mit einem Verständnis davon, was es im Wesentlichen ist; der Kern dieses Selbstverständnisses ist dabei eine Form von Selbständigkeit oder Freiheit, wobei Freiheit im Unterschied zu dem bestimmt ist, was nicht frei ist, mag das ein bloßes Ding sein, ein anderes Subjekt, welches seine Stellung qua Subjekt aufgegeben hat, oder das Leben, verstanden als das dem Selbstbewusstsein Entgegengesetzte. Ein Selbstverständnis dieser allgemeinen Art ist nicht nur deskriptiv, sondern eindeutig normativ; es setzt ein Kriterium fest für wahre, vollauf verwirklichte Subjektivität. Und es ist die Grundlage für geistiges Streben, weil sich ein Subjekt, das über ein derartiges Selbstverständnis verfügt, in der Regel auch bewusst ist, dass seine derzeitige Existenz dem nicht gerecht wird, was doch aber nötig ist, um wesensgemäß zu existieren. Das Streben des Geistes manifestiert sich als eine Tätigkeit,

 Vgl. Neuhouser, Frederick: Actualizing Freedom: Foundations of Hegel’s Social Theory, Cambridge, Mass. 2000.

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in der ein Subjekt in einer Wechselbeziehung zu etwas steht, das es als ein anderes seiner selbst betrachtet – mit der objektiven Welt und anderen Subjekten –, um sich darin zu der Art von (freiem) Wesen zu entfalten, das es seiner Einschätzung nach an sich ist. Geistige Befriedigung besteht demnach in der Ausbildung realer Beziehungen zu Dingen und anderen Subjekten, welche das Verständnis der eigenen freien Natur uneingeschränkt zum Ausdruck bringen. Die Vielschichtigkeit von Hegels Lehre verdankt sich dem Umstand, dass die Rede von Freiheit in seiner Darstellung eines geistig erfüllten gesellschaftlichen Lebens an einer Reihe von Stellen begegnet. Mitglieder einer restlos vernünftigen Gesellschaft begreifen sich als praktisch frei in drei Hinsichten – als Personen, als moralische Subjekte sowie als Glieder sittlicher Verbände.²⁷ Jedoch ist ihre Freiheit erst dann vollkommen, wenn sie diesen drei Auffassungen von sich selbst als freien Wesen in ihrer sozialen Tätigkeit erfolgreich Dasein geben, d. h. wenn sie sehen, dass die Welt ihren Selbstauffassungen entgegenkommt und das gesellschaftliche Leben diese Selbstauffassungen zurückspiegelt. Nur dann ist ihr geistiges Ziel der Selbstdefinition und Selbstverwirklichung in vollem Umfang erreicht.²⁸ Die vorstehende Konzeption von Sozialontologie lässt sich an jenem einfachen Gesellschaftsmodell, welches Hegel in seiner Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Herr und Knecht umreißt, veranschaulichen. Dort treten bereits die wesentlichen Merkmale des sozialen Lebens zum Vorschein.Wie leicht zu sehen ist, dienen die Tätigkeiten von Herr und Knecht zunächst den biologischen Zwecken beider: Der Herr gebietet, der Knecht arbeitet, und ihre je spezialisierten, komplementären Leistungen münden zusammen genommen in die Herstellung von für die Erhaltung des Lebens notwendigen Gütern.²⁹ Diese Aktivität hat jedoch gleichfalls eine Bedeutung in Bezug auf Freiheit. Die Herrschaft des Herrn und der Gehorsam des Knechts sind vermittelt durch, d. h. sind begründet in und bringen zum Ausdruck, ein gemeinsam geteiltes Verständnis davon, was Freiheit ist und dass Freiheit einen dem Leben gegenüber höherrangigen Wert besitzt. Der künftige Knecht mag im entscheidenden Moment des Kampfes auf Leben und Tod zurückschrecken und seinem Leben den Vorzug geben vor der Freiheit, doch bekundet sich darin keineswegs die Preisgabe der grundlegenden normativen Einstellung, mit der er in den Kampf hineingegangen ist. Oder genauer, der künftige Knecht nimmt ein neues Prinzip an – „daß ihm das Leben so  Vgl. ebd., S. 18 – 35.  Zumindest in der Sphäre des objektiven Geistes. Ich spare hier aus, wie Selbstdefinition und Selbstverwirklichung im absoluten Geist erreicht werden und warum die diesbezüglichen Gestaltungen des Geistes ‚höhere‘ sind als die vorigen.  Dieser Aspekt ihrer Interaktion tritt klarer heraus in Enz, § 434.

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wesentlich als das reine Selbstbewußtsein ist“³⁰ –, und diese neue Haltung bedeutet einen gewissen Fortschritt, denn das Leben ist dem Geist wesentlich, wenn Freiheit auch der durchaus überlegene Wert bleibt. Dass sich der Knecht auch weiterhin der normativen Autorität der Freiheit als der maßgebenden unterstellt, und zwar (solange er Knecht bleibt) demselben Freiheitsverständnis, das er bereits vor dem Kampf hatte, zeigt sich in dem Umstand, dass für ihn und den Herrn Ansehen und Autorität, kurz Anerkennung, eigentlich demjenigen Individuum zukommt, welches in seinen Handlungen dem Vorrang der Freiheit vor dem Leben Ausdruck gegeben hat. Die beiden Figuren teilen ein Verständnis von Freiheit und ihres Wertes in Bezug auf das Leben im Allgemeinen, aber sie unterscheiden sich hinsichtlich des Wertes, den sie der Freiheit mit Blick auf ihr je eigenes Überleben einräumen. Die Beziehung zwischen Herr und Knecht gilt darum als eine genuin soziale, weil in ihr gemeinschaftlich verrichtete Vorgänge des Lebens mit geistiger Bedeutung angereichert sind. Ferner leistet sie das in solch einer Weise, dass wir von dem Verhältnis zwischen ihren Mitgliedern sagen dürfen „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist“³¹. Diese Wendung weist zurück auf den Zusammenhang, den Hegel zwischen Lebewesen und ihrer Gattung ansetzt, da sich die Aktivitäten der ersteren immer auf die letztere beziehen, obwohl dieser Zusammenhang in menschlichen Gesellschaften hinaufgehoben und dadurch verwandelt ist in die Sphäre des Geistigen. Keine der lebensbezogenen Leistungen von Herr und Knecht ist in sich vollständig ohne die des je anderen, und keine hat für sich Sinn ohne Bezug auf den allgemeinen Zweck gesellschaftlicher Selbsterhaltung. Aber die geistige Dimension der Iche, die da ein Wir ausmachen, ist sogar noch wichtiger. Denn weil menschliche Individuen ein gewisses Maß an Unabhängigkeit von dem Wir genau wie Lebewesen von ihrer Gattung haben, dem sie angehören, strebt ein jeder danach, als frei anerkannt zu werden, was bedeutet, dass er die Befriedigung seiner individuellen Zwecke nur in der Anerkennung durch den anderen findet (auch wenn diese Bestrebungen im Herr-Knecht-Verhältnis bloß extrem rudimentär erfüllt werden). Zur gleichen Zeit ist hier ein echtes Wir am Werk, weil die Iche in einem gemeinschaftlichen Bewusstsein davon verbunden sind, was für sie den höchsten Wert besitzt. Und dieses gemeinsame Bestimmtsein durch denselben Wert regelt die Beziehungen unter den Gesellschaftsmitgliedern, einschließlich der Anerkennungsbeziehungen, mit normativer Autorität: Die gemeinsame Freiheitskonzeption gibt vor, wer zu herrschen berechtigt ist, wer gehorchen muss und wer als der Überlegene anzuerkennen ist. Obwohl die Bezie-

 PhG, S. 150.  Ebd., S. 145.

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hung zwischen Herr und Knecht noch eine primitive und letztlich nicht zufriedenstellende Weise ausmacht, wie Subjekte kollektiv versuchen, ihr Verstricktsein in das Leben zu vereinigen mit der Gewissheit, mehr als bloßes Leben zu sein, kennen alle menschlichen Gesellschaften in der einen oder anderen Form diesen Versuch und weisen in der einen oder anderen Form die Grundstruktur der HerrKnecht-Relation auf. Das jedenfalls ist der Anspruch von Hegels Ontologie des Sozialen. Was ich bislang noch nicht ausreichend an dem Verhältnis zwischen Herr und Knecht gewürdigt habe, ist, inwiefern die Tätigkeiten von Herr und Knecht als Bemühung darum gesehen werden können, den Widerspruch zwischen Selbstbewusstsein und Leben zu vermitteln. Womöglich lässt sich das am besten aufzeigen, indem ich zu meinem letzten und eigentlichen Thema übergehe: die Folgen von Hegels Sozialontologie für die Diagnose sozialer Pathologien. Aus Platzgründen werde ich mich dabei auf einen Teil dieses Themas beschränken, nämlich auf die Untersuchung dessen, worin im Falle von Herr und Knecht die soziale Pathologie besteht. Bis jetzt habe ich dargelegt, dass eine Pathologie mit Hegel im Allgemeinen verstanden werden kann als systematische Störung der eigentümlichen Funktionen lebender und geistiger Wesen. Insbesondere im Falle geistiger Wesen können solche Pathologien als Mangel charakterisiert werden, in den für sie spezifischen Tätigkeiten Befriedigung zu finden bzw. die Ziele zu erreichen, auf welche diese Tätigkeiten ausgehen. Nirgendwo deutet Hegel an, das Scheitern der Herr-Knecht-Beziehung habe mit der Unfähigkeit zu tun, die materiellen Lebensvoraussetzungen beider herzustellen. (Da Hegel im 19. Jahrhundert und nicht in unserem lebt, kommt ihm natürlich nicht in den Sinn, eine Gesellschaft könnte den wirtschaftlichen Produktionsprozess so organisieren, dass er die Umweltbedingungen zukünftigen Lebens planmäßig aufzehrt. Weil aber Lebenserhaltung ein zentraler Zweck der Gesellschaft ist, bleibt in Hegels Theorie durchaus Raum, dieses Szenario desgleichen als soziale Pathologie in Anschlag zu bringen.) Die Pathologien, welche im Zusammenhang mit dem Verhältnis zwischen Herr und Knecht zu verzeichnen sind, haben ihren Ort stattdessen auf der Ebene geistiger Befriedigung. Das geistige Scheitern von Herr und Knecht (wie bereits das der vorherigen Gestalt der Phänomenologie, der Begierde) ist einem unangemessenen Selbstverständnis geschuldet, genauer einem Verständnis von der eigenen Beziehung zum Leben, welches diese Beziehung entweder in Abrede stellt oder die Bedrohung grob missdeutet, die daraus für die Erlangung von Freiheit erwächst. Gemeinsam ist beiden Gestalten, der Begierde einerseits und der Dialektik von Herr und Knecht andererseits, eine allzu hochfliegende Konzeption von Selbstbewusstsein und der ihm eigenen Selbständigkeit. Beide Male wird unterstellt, die wesentliche Eigenschaft des Selbstbewusstseins, nämlich durch nichts

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Äußeres bestimmt zu sein, bestehe darin – was sich jedoch schließlich als eine mangelhafte, einseitige Beziehung zum Leben herausstellen wird –, dass ein Subjekt seine Freiheit behauptet, indem es unter Beweis stellt, keine essenzielle Beziehung zum Leben und damit eine höhere Stellung gegenüber dem bloß Lebendigen zu haben. Ähnlich kann der Defekt beider Gestalten zuletzt darauf zurückgeführt werden, dass die Aktivitäten, auf welche sich die Subjekte einlassen müssen, um sich als das behaupten zu können, was sie ihrem Selbstverständnis nach sind, auf je unterschiedliche Weise sehr wohl eine Beziehung zum Leben erfordern, was das Selbstverständnis der Subjekte Lügen straft. Dass Herr und Knecht demselben, außerordentlich starren Begriff von Freiheit verschrieben sind, erklärt, warum das Ergebnis ihres Kampfes auf Leben und Tod asymmetrisch ausfällt: Wenn Freiheit die absolute Unabhängigkeit des Subjekts von allem anderen verlangt, dann ist der Umstand, dass einer sich seine Bindung zum Leben eingesteht, wie es ja der spätere Knecht im Laufe des Kampfes tut, damit unvereinbar. Die ungleiche Beziehung zwischen Herr und Knecht ist nur ein Ausdruck dieser gemeinsamen Alles-oder-Nichts-Auffassung von Freiheit sowie der Tatsache, dass einer der Beteiligten im Angesicht seines möglichen Todes den Wert des Lebens bejaht, wohingegen der andere auf der ausschließlichen Wertschätzung absoluter Unabhängigkeit beharrt. Die einseitige Anerkennungsbeziehung zwischen Herr und Knecht ist daher sowohl in einem gewissen allgemeinen Begriff von Freiheit gegründet als auch in verschiedenen Haltungen der beiden Protagonisten zum Leben, welche diese im Verlauf ihres Kampf annehmen. Da sich Anerkennung stets in körperlichen Praktiken manifestiert,³² sind die Stellungen zum Leben, welche Herr und Knecht innerhalb der Gesellschaft haben, geradeso einseitig wie die Anerkennungsbeziehungen, die sie zum Ausdruck bringen. Die beiden Momente der Lebenserhaltung – Produktion und Konsumtion von Gütern – werden auseinandergerissen und jeweils einem der entgegengesetzten Pole der gesellschaftlichen Beziehung exklusiv zugewiesen: Der Knecht arbeitet, während der Herr genießt, und dabei bezieht sich ein jeder von ihnen auf den jeweils anderen im Modus der Anerkennung. Für den Knecht steht die Arbeit zugleich in Relation zum Leben, zu sich selbst (sie ist Ausdruck seiner eigenen Haltung zu Freiheit und Leben) und zu einem anderen Subjekt (durch Anerkennungsbeziehungen, welche Bedingungen von Herrschaft und Gehorsam festlegen). Die dienende Arbeit des Knechts ist eine geistige Aktivität – das Nämliche gilt für das Genießen des Herrn –, da sie eine, obschon unbefrie-

 Dies folgt aus der Annahme, dass das Geistige und das Körperliche niemals vollends getrennt sind, was selber wiederum mit dem Umstand zusammenhängt, dass sich Anerkennungsbeziehungen unter Menschen immer in körperlichen Beziehungen manifestieren.

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digende, Art und Weise darstellt, den Gegensatz von Selbstbewusstsein und Leben aufzuheben. Wenn sich die Pathologien im Verhältnis von Herr und Knecht zurückrechnen lassen auf deren unangemessenes Selbstverständnis, auf eine abstrakte Freiheitskonzeption des Selbstbewusstseins, liegt der Schluss nahe, dass diese Pathologien zunächst und zumeist im Bereich des Bewusstseins liegen und dass soziale Pathologien nichts anderes sind als ein falsches Bewusstsein, eine defiziente Vorstellung des Subjekts davon, was dieses im Wesentlichen ist – und dass dementsprechend das Heilmittel in einer Veränderung des Bewusstseins besteht. Nennen wir dies das therapeutische Modell der Emanzipation. Dass dieses Modell Hegels Darstellung von der emanzipatorischen Rolle, welche die Philosophie in der modernen Welt zu spielen hat, innerhalb der „Vorrede“ zur Philosophie des Rechts nahekommt, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass erstens Hegels Möglichkeiten, soziale Pathologien zu konzeptualisieren, weit über das therapeutische Modell hinausreichen und dass zweitens die Bedeutung, welche dieses Modell in der Philosophie des Rechts beansprucht, von einer bestimmten, heute nicht mehr ohne Weiteres überzeugenden Annahme abhängt, der Annahme, wonach die gesellschaftliche Welt der Neuzeit in ihren Grundzügen bereits objektiv vernünftig ist und, um vollständig vernünftig zu werden, von ihren Mitgliedern nur als solche begriffen werden muss. Wie die Phänomenologie deutlich macht, hat Hegel mehr Instrumente an der Hand als diese, um soziale Pathologien begreiflich zu machen, und es sind ebendiese Instrumente, welche wir uns zu eigen machen müssen, um auf das Niveau einer wahrhaft kritischen Theorie der Gesellschaft zu gelangen. Anders gesagt, was sich im „Vorwort“ der Grundlinien der Philosophie des Rechts wie ein einseitig idealistischer Standpunkt ausnehmen mag, überdeckt eine viel stärker körperbezogene Sichtweise auf soziale Pathologien, die uns Hegels Denken ebenfalls darbietet (und die nach meinem Dafürhalten die grundlegendere ist). Doch Hegels Auffassung von sozialen Pathologien ist sogar noch materialistischer. Und zwar ist die Quelle seines Materialismus in Sachen Gesellschaftstheorie die Ansicht, dass die für den Geist bezeichnenden Tätigkeiten in einem mentale Tätigkeiten (des Bewusstseins) und körperliche Tätigkeiten sind. Das liegt daran, dass, was den Geist antreibt, nicht nur der Drang ist, von sich selber in einer bestimmten Weise zu denken, sondern auch, dieses Selbstverständnis zur Wirklichkeit zu bringen, es in der Welt zu realisieren, und das so, dass seine Leistungen und Werke ein objektives Zeugnis davon ablegen, dass er tatsächlich ist, was er zu sein meint. Die Prozesse des Lebens bringen dann zugleich die Selbstauffassung und Gestaltung des Geistes zum Ausdruck, ja berichtigen diese mitunter. Mit anderen Worten tritt die Bewältigung von Widersprüchen, durch welche Tätigkeit sich der Geist auszeichnet, nicht nur im Bewusstsein auf; körperliche Praktiken sind für die Vermittlung von Entgegenge-

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setztem gleichwesentlich. Darüber hinaus sind körperliche Praktiken unverzichtbar für das Ziel des Geistes, einen wahren Begriff von sich selbst zu gewinnen, weil der einzige Weg, der ihm zur Korrektur seiner Selbstauffassung zur Verfügung steht, der ist aufzudecken, wie diese Selbstauffassung, wenn sie in körperliche Praktiken umgesetzt wird, reale Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt hervorbringt, zwischen Selbstbewusstsein und Leben, die ebenden Freiheitsbegriff, welcher sich in diesen Praktiken äußert, Lügen strafen. Insofern für Hegel das ‚soziale Sein‘ nicht einförmig das ‚soziale Bewusstsein‘ bestimmt, findet das letztere seinen Ausdruck in und wird transformiert durch gesellschaftliche Praktiken, die irreduzibel körperlich sind in dem Sinne, dass sie ganz und gar mit den Funktionen des Lebens verwoben sind. Und selbst wenn das Soziale mehr umfasst als die bloße Auseinandersetzung mit dem Leben, so bleibt doch wahr, dass, was auch immer zum Sozialen gehört – Anerkennungsverhältnisse z. B. –, untrennbar an die Vorgänge des Lebens gebunden sind. D. h., soziale Pathologien dürfen nicht nur als ein falsches Bewusstsein gedacht werden, sie sind nicht minder als falsche körperliche Praktiken anzusehen, sprich gesellschaftliche Praktiken, die verfehlte oder unbefriedigende Weisen der Vermittlung des Gegensatzes von Selbstbewusstsein und Leben verkörpern. Doch wo genau kommt das Pathologische ins Bild? Man könnte den pathologischen Charakter der Herr-Knecht-Beziehung an einer Vielzahl von Merkmalen festmachen: Keiner der Beteiligten erfährt von seinem Gegenüber eine wirklich zufriedenstellende Anerkennung, ihre Beziehung basiert auf Herrschaft und Gehorsam statt auf Freiheit, und der Knecht ist seinem wahren Wesen entfremdet (insofern er zwar an sich ein freies Subjekt ist, selber aber nur den Herrn als zu dieser erhabenen Kategorie gehörend ansieht). Keine dieser Antworten ist falsch, und doch muss eine umfassendere Beschreibung dessen, was hier misslingt, lauten, dass die Gesellschaft, die sich aus Herr und Knecht zusammensetzt, keine geistige Erfüllung zu erreichen vermag, weil sie jenem Begriff von Freiheit widerspricht bzw. ihm nicht gerecht wird, in welchem zu wurzeln sie selber unterstellt. Ihre Praktiken zielen wohl auf Freiheit hin (in einer Bedeutung von Freiheit), bringen jedoch am Ende genau das Gegenteil davon hervor. Diese Charakterisierung sozialer Pathologien kann auch formuliert werden als das Scheitern menschlicher Gesellschaft, ihre eigentümliche Aufgabe (oder Funktion) zu erfüllen, nämlich den Gegensatz von Subjektivität und Leben auf zufriedenstellende Art zu vermitteln. Das will besagen, dass nicht alle möglichen Lebensweisen, welche die Mitglieder einer Gesellschaft pflegen können, Ausdruck ihrer Freiheit sind und dass nicht alle Aktivitäten, welche die Mitglieder einer Gesellschaft als Ausdruck ihrer Freiheit erachten, Weisen der Teilhabe am Leben darstellen. Volle geistige Befriedigung verlangt, dass das Leben zur Freiheit erhoben und das Selbstbewusstsein mit den Zwecken des Lebens erfüllt wird. So

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gesehen treten soziale Pathologien immer dann auf, wenn die Mitglieder einer Gesellschaft durch die grundlegenden Zustände in dieser Gesellschaft davon abgehalten werden – in Bezug auf ihr Selbstverständnis, ihre Anerkennungsbeziehungen untereinander sowie ihre körperlichen Praktiken –, ihre Zugehörigkeit zu beiden Reichen miteinander in Einklang zu bringen, dem Reich der Freiheit und dem Reich der Notwendigkeit. Gänzlich erreicht wäre dies dann, wenn kein wesentlicher Vorgang des Lebens nicht auch eine Seite der Freiheit besitzt und kein Ausdruck von Freiheit nicht auch eine wesentliche körperliche Praktik ausmacht. Es bereitet keine größeren Schwierigkeiten, darin den Kern von Marxens Darstellung entfremdeter Arbeit wiederzufinden: „Es kömmt daher zu dem Resultat, daß der Mensch (der Arbeiter) nur mehr in seinen tierischen Funktionen […] sich als freitätig fühlt und in seinen menschlichen Funktionen nur mehr als Tier.“³³ Eine Gesellschaft, die auf dem Verhältnis von Herr und Knecht basiert, zeigt sonach Pathologien, weil sie, anstatt den Widerspruch zwischen Selbstbewusstsein und Leben aufzuheben, dem Problem mit einer Strategie begegnet, die man in der Psychoanalyse als ‚Spaltung‘ bezeichnet. Das Leben selbst wird aufgespalten, insofern die Produktion und die Konsumtion von Gütern unterschiedlichen, ja antagonistischen Gesellschaftsklassen zufallen. Das hat zur Folge, dass die Konsumtion in Unkenntnis jener Leistungen und ihrer Träger erfolgt, welche sie ermöglichen, während die Produktion nicht um der Befriedigung geistiger Ziele willen, sondern nur deshalb betrieben wird, weil dem Herrn zu gehorchen eine Grundvoraussetzung für den Knecht ist, um am Leben zu bleiben. Und mit dieser Aufspaltung der Lebensprozesse geht eine geistige Spaltung einher: Die Gesellschaft zerfällt in zwei Personengruppen, von denen eine im Leben aufgeht, aber unfrei bleibt, wohingegen die andere eine gewisse Form von Freiheit genießt, aber sich dabei weitestgehend vom Leben entfernt. Das Problem ist jedoch nicht nur, dass einige frei sind und andere nicht, sondern, was noch bedeutender ist, dass sowohl Freiheit als auch Leben letztlich unbefriedigt bleiben. Zum einen wird die Arbeit für die Notwendigkeiten des Lebens zu einer Sache – statt der Freiheit – von Herrschaft und Selbstverleugnung; zum anderen verkommt der Genuss zu luxuriösem Konsum, der keine echte Befriedigung zu gewähren vermag. Diejenigen, welche arbeiten, tun das nur, um zu überleben, während die anderen, welche konsumieren, wohl ein geistiges Ziel vor Augen haben, und zwar ihre Freiheit zu demonstrieren, jedoch angetrieben sind von einer verzerrten

 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW 40, Berlin 1968, S. 514 f.

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Vorstellung davon, worin ebendiese Freiheit besteht, nämlich eine vollständige Unabhängigkeit von den Fesseln des Lebens. Natürlich ließe sich noch weitaus mehr zu den Möglichkeiten sagen, die sich mithilfe von Hegels Sozialontologie eröffnen, um soziale Pathologien zu durchschauen. Ich habe aber lediglich versucht, diejenigen Kategorien darzustellen, welche meiner Ansicht an für eine Diagnose sozialer Pathologien am grundlegendsten sind. Ganz allgemein habe ich argumentiert, dass soziale Pathologien mit Hegel zu denken sind als Weisen, wie eine menschliche Gesellschaft an ihrer geistigen Aufgabe scheitert, sich im Modus der Freiheit zum Leben zu verhalten – eine Aufgabe, die sich als erfolgreiche Vermittlung selbstbewusster Freiheit mit dem Leben fassen lässt. Oder in anderen Worten: als die Bejahung des und Identifizierung mit dem Leben einerseits und der in der praktischen Tätigkeit erbrachte Nachweis andererseits, dass man in der Art eines freien, selbstbewussten Subjekts doch auch über dem Leben steht. Übersetzt von Stephan Zimmermann

Literatur Hegel, Georg W. F: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Zweiter Teil: Die Naturphilosophie, Werke, Bd. 9, hg. von Eva Moldenhauer und Karl M. Michel, Frankfurt a. M. 1986. (= Enz) Hegel, Georg W. F: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke, Bd. 7, hg. von Eva Moldenhauer und Karl M. Michel, Frankfurt a. M. 21989. (= GPR) Hegel, Georg W. F: Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. 3, hg. von Eva Moldenhauer und Karl M. Michel, Frankfurt a. M. 21989. (= PhG) Marx, Karl/Engels, Friedrich: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW 40, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1968, S. 465 – 588. Neuhouser, Frederick: Actualizing Freedom: Foundations of Hegel’s Social Theory, Cambridge, Mass. 2000. Neuhouser, Frederick: Hegel on Social Ontology and the Possibility of Pathology, in: Testa, Italo/Ruggiu, Luigi (Hg.): „I that is We, We that is I.“ Perspectives on Contemporary Hegel, Critical Studies in German Idealism 17, Leiden/Boston 2016, S. 29 – 48. Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi des hommes (1755), in: Œuvres complètes, hg. von Bernhard Gagnebin und Marcel Raymond, Bibliothèque de la Pléiade, Bd. 3: Du contract social. Écrits politiques, Paris 1964, S. 109 – 237.

Paul Cobben

Der ontologische Status des Betriebs in den aktualisierten Grundlinien der Philosophie des Rechts Abstract: “The Ontological Status of the Company in the Re-Actualized Philosophy of Right.” This paper investigates under which conditions the self-conscious determination of the good life can be reconciled with the free market. Firstly, this means that the subjective autonomy is expressed in the system of the free market, thereby becoming part of a heteronomous law (the law of the market). Secondly, however, this market system may not be transformed into an independent alienated system, but must generate institutions that mediate the self-realization of the good life. Although Hegel’s “corporation” is meant as such a mediating institution, this concept has insufficient impact to avert the danger of an alienated (Marx) or colonizing (Habermas) free market. The normative conditions are elaborated that qualify companies for an adequate mediating role. The central problem is how to think the rationalization of the labor process in a way that no workers are excluded because they can be replaced by machines. Automation must not lead to expulsion, but rather to education of workers.

In seinem Werk Political Liberalism stellt J. Rawls die für die moderne Sozialphilosophie fundamentale Frage: „How is it possible for there to exist over time a just and stable society of free and equal citizens who still remain profoundly divided by reasonable religious, philosophical, and moral doctrines?“¹ Eine solche Möglichkeit lässt sich nur aufgrund eines „Gesetzes der Freiheit“ denken, eines Gesetzes, in dem die Relationen zwischen den vielen freien und gleichen Personen als ein notwendiger Zusammenhang formuliert sind. Das Schulbeispiel eines Gesetzes, in dem eine kontingente Vielheit in notwendiger Einheit zusammengedacht wird, ist das Naturgesetz. In der Phänomenologie des Geistes beschreibt G. W. F. Hegel die Natur auf der Ebene des Verstandes als ein Spiel von Kräften.² Der Dynamik dieses Kräftespiels liegt eine innere Einheit zugrunde, welche im Naturgesetz expliziert wird. Die Struktur dieses Gesetzes ist für Hegel auf eine bestimmte Weise das Modell für ein Gesetz

 Rawls, John: Political Liberalism, New York 1993, S. xxv.  Vgl. PhG, S. 86. https://doi.org/10.1515/9783110572735-008

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der Freiheit. Das tritt zutage, wenn Hegel behauptet, dass das Anerkennungsverhältnis zwischen Selbstbewusstseinen das Spiel der Kräfte gewissermaßen wiederholt.³ Die Selbstbewusstseine, welche hier betrachtet werden, sind freie und gleiche. Genau wie die Beziehung zwischen freien und gleichen Selbstbewusstseinen muss auch die Beziehung zwischen freien und gleichen Personen notwendig als ein Anerkennungsverhältnis vorgestellt werden. Trotzdem lässt sich die Anerkennung zwischen freien und gleichen Selbstbewusstseinen nicht ohne Weiteres als Gesetz der Freiheit auslegen. Das zeigt sich, wenn der Unterschied zum Gesetz der Natur einmal näher betrachtet wird. Das Naturgesetz ist ein heteronomes Gesetz: Sein Gehalt ist äußerlich gegeben.⁴ Die Erkenntnis der Geltung dieses Gesetzes ist von spezifischen experimentellen Voraussetzungen abhängig. Seine Bestimmtheit lässt sich nur empirisch, in einem wissenschaftlichen Experiment feststellen. Das Gesetz jedoch, das für die Beziehung zwischen freien und gleichen Personen gültig ist, lässt sich nicht als ein solches heteronomes verstehen. Nur wenn das einschlägige Gesetz ein autonomes ist, wird die Freiheit der Person nicht verletzt. Die Frage ist jedoch, wie sich Autonomie zur Bestimmtheit des Gesetzes verhält. Wenn die vielen Personen „profoundly divided“ sind, wie können diese dann ein inhaltlich bestimmtes Freiheitsgesetz teilen? Nach Hegel werden autonomes und heteronomes Gesetz durch die Kategorie des Lebens vermittelt. Dies kommt zum Ausdruck, wenn Hegel das Gesetz der Freiheit als menschliches, d. h. als dasjenige Gesetz angibt, in dem die freien und gleichen Bürger einer Gesellschaft ihre Vorstellung vom guten Leben verwirklichen.⁵ Dieses Gesetz ist heteronom, sofern der Sinn des guten Lebens als eine kontingente Tradition vorgegeben ist. Hingegen ist es dann und in dem Maße autonom, wenn und als die Bürger diese Tradition als Ausdruck ihrer eigenen Freiheit auffassen. Die modernen Bürger, welche „profoundly divided“ sind, scheinen nicht imstande, einen traditionsmäßig vorgegebenen Inhalt als einen gemeinsam geteilten Inhalt ihrer Freiheit zu akzeptieren. Gerade dessen Vorgegebenheit widerspricht ihrer Autonomie. T. Hobbes versucht, dieses Dilemma mit einem Gedankenexperiment zu lösen. Wenn das gute Leben als das Ergebnis eines gesellschaftlichen Vertrages gedacht wird, in dem die staatliche Gewalt einem Leviathan übertragen wird, braucht die Bestimmtheit des guten Lebens nicht der

 „In dieser Bewegung sehen wir den Prozess wiederholen, der sich als Spiel der Kräffte darstellte, aber im Bewusstseyn.“ (PhG, S. 110)  Vgl. PhG, S. 94.  Vgl. PhG, S. 242.

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Freiheit der Bürger zu widerstreiten.⁶ Die Grundidee ist, dass sich die Bürger im Vertrag nicht schon für einen bestimmten Sinn des guten Lebens entscheiden – diese Wahl überlassen sie dem Leviathan –, sondern vielmehr daran interessiert sind, dass es überhaupt Gesetze, gleich welchen Inhalts, gibt. Für Hegel ist diese Lösung nicht akzeptabel. Denn die Verwirklichung von Freiheit bleibt hierbei vom Zufall abhängig, vom Bestehen eben irgendeiner vorgegebenen traditionellen Ordnung. Dieses Moment der Zufälligkeit wird allein dann überwunden, wenn die Existenz solcher Ordnung durch die freie Tätigkeit der Bürger vermittelt ist. Das gute Leben lässt sich jedoch nicht unmittelbar als Resultat freien Handelns verstehen. Insofern die modernen Bürger „profoundly divided“ sind, streben sie alle eine andere Form des guten Lebens an. Hegel meint deswegen, dass zwischen dem Staat, in welchem das gute Leben objektiviert ist, und dem freien Bürger eine gesellschaftliche Sphäre eingeschoben sein muss. In dieser gesellschaftlichen Sphäre haben die Bürger die Freiheit, ihre subjektive Autonomie auszudrücken, d. h., sie sind frei, in ihrem Handeln einen frei bestimmten Sinn zu realisieren. Zugleich müssen die Bürger in dieser gesellschaftlichen Sphäre einen Weg der Bildung durchlaufen, der dazu führt, dass sich ihr Handeln in die objektive Ordnung des Staates einfügt, in welcher das gute Leben zur Wirklichkeit gelangt. Das grundlegende Modell, das diesen paradoxen Ansprüchen entgegenkommt, die von jener gesellschaftlichen Sphäre gestellt werden, meint Hegel in A. Smiths Modell des freien Marktes zu finden. Auf dem freien Markt ist ein Mechanismus wirksam, der dazu führt, dass ein jedes Individuum, indem es unmittelbar sein besonderes Interesse verfolgt, nichtdestoweniger mittelbar das allgemeine Interesse verfolgt. Ohne eigenes Wissen und Wollen verwirklicht es in seinem Handeln zugleich das gute Leben. K. Marxens Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft⁷ ist in ihrem Kern eine Kritik an dem Gedanken, dass der freie Markt zwischen der subjektiven und objektiven Autonomie zu vermitteln vermag. Insofern der freie Markt die universelle Freiheit der freien und gleichen Personen zu seinem Ausgangpunkt nimmt, lässt er sich nicht mit der objektiven Autonomie der Gemeinschaft vereinen. Die Gemeinschaft widerspricht der Universalität der subjektiven Freiheit nicht nur, weil sie sich auf bestimmte Personen beschränkt, sondern auch, weil sie die Gebrauchswerte, welche die Personen auf dem Markt tauschen können, auf solche Gebrauchswerte beschränkt, welche einer traditionsmäßig überkommenen Konzeption des guten Lebens dienen.

 Vgl. Höffe, Otfried: Politische Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1987, S. 130 ff.  Vgl. Cobben, Paul: Value in Capitalist Society. Rethinking Marx’s Criticism of Capitalism, Leiden/ Boston 2015.

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Der Widerspruch zwischen der universellen Freiheit der Person und der inhaltlichen Bestimmtheit des guten Lebens kann nach Marx nur dann aufgehoben werden, wenn die Dynmik des freien Marktes zugusten einer kommunistischen Gesellschaft überwunden wird, in der das gute Leben auf selbstbewusste Weise, nämlich von einer kommunistischen Partei, festgelegt wird, welche das Volk (die vielen freien und gleichen Personen) repräsentiert. In diesem Fall ist jedoch nicht klar, inwieweit die objektive Autonomie (der kommunistischen Partei) noch der subjektiven Autonomie (der Personen) Raum bietet. Der Widerspruch des freien Marktes kann ebenso wenig überwunden werden, indem die Güter und Dienstleistungen, welche gehandelt werden, wie das in der modernen Ökonomie geschieht, überhaupt nicht mehr als Gebrauchswerte beschrieben werden. Waren haben einen (quantitativ angebbaren) Preis, der sich durch die vorfindlichen markmäßigen Tauschverhältnisse einspielt. Wenn von jeder Bestimmung des guten Lebens abgesehen wird, fehlt jene Autonomie, die es gestattet, von Verwirklichung der Freiheit zu sprechen. Im vorliegenden Aufsatz will ich ausloten, unter welchen Bedingungen die bewusste Bestimmung des guten Lebens vereinbar ist mit einem freien Markt. Das soll bedeuten, dass die subjektive Autonomie in einem Marktsystem verkörpert wird und dadurch Teil eines heteronomen Gesetzes, eben dem des Marktes, ist. Das Marktsystem darf dabei nicht zu einem entfremdeten System verselbständigt werden, sondern muss als eine Institution zur Geltung kommen, die eine vermittelnde Rolle in der Verwirklichung eines autonom bestimmten guten Lebens ausübt. Um diese Herausforderung einer Antwort entgegenzuführen, werde ich zuerst J. Habermas zurate ziehen. Für Habermas zerfällt die moderne Gesellschaft prinzipiell in zwei Bereiche: Lebenswelt und System. Die Lebenswelt ist zwar in mehrere, komplexe Teilbereiche unterteilt; für uns ist jedoch einzig wichtig, dass sie den einen Bereich des kommunikativen Handelns ausmacht.⁸ Damit ist sie zugleich derjenige Bereich, in dem mittels politischem Diskurs zwischen modernen Staatsbürgern (die „profoundly divided“ sind) auf selbstbewusste Weise dem guten Leben ein Inhalt gegeben werden kann (obwohl das gute Leben heutzutage eine Form hat, in der es auf vielerlei Weise ausdifferenziert ist und vom System unterschieden werden muss). Obwohl Habermas mit dem Konzept des Systems sowohl das politische (bürokratische) als auch das wirtschaftliche System anspricht, konzentriere ich mich hier auf letzteres. Denn Habermas scheint damit einen Begriff des freien Marktes vorzulegen, der den Qualifikationen entspricht,

 Vgl. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1981, S. 182 ff.

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die ich zu finden suche. Einerseits versteht Habermas die Ausdifferenzierung von Lebenswelt und System als einen Prozess der Rationalisierung. Das Wirtschaftssystem ist eine effiziente Einrichtung, um Güter und Dienstleistungen zu produzieren, die der subjektiven Freiheit der Konsumenten genügen. Die Effizienz liegt darin, dass die freien Konsumenten in einem systemischen Verhältnis stehen, d. h. einem heteronomen Gesetz unterstehen, dem des Systems. Das System hat jedoch gleichfalls eine andere Seite. Gerade weil es (neben der Lebenswelt) eine eigene Selbständigkeit besitzt, kann es Entfremdungseffekte bewirken. Das System steht in der Möglichkeit, die Lebenswelt, wie Habermas sagt, zu „kolonialisieren“⁹. In diesem Fall werden die kommunikativen Verhältnisse der Lebenswelt (welche politische Autonomie ermöglichen) von „entsprachlichten“¹⁰ Verhältnissen, die dem heteronomen Gesetz des Systems folgen, durchdrungen und verdrängt. Habermas scheint damit eine Position einzunehmen, die zwischen derjenigen von Hegel und Marx liegt. Denn wie bei Hegel ist der freie Markt (dessen „System der Bedürfnisse“)¹¹ ein Mittel zur Verwirklichung politischer Autonomie. Und wie bei Marx kann der freie Markt Entfremdungen hervorbringen und die subjektive Freiheit der Individuen beschneiden. Um diesen doppelten Status des Systems zu begreifen, ist es unabdinglich, die spezifische Handlungsform zu beleuchten, die für das System charakteristisch ist, und das ist die gesellschaftlichen Handelns.

1 Gesellschaftliches Handeln als „Verlust der Sittlichkeit“ Für Hegel kann gesellschaftliches Handeln nur unter der Voraussetzung des „Verlusts der Sittlichkeit“¹² entstehen. Die Sittlichkeit, welche dabei verloren geht, ist die der Familie. Die Familie ist eine traditionelle Gemeinschaft, in der die jeweiligen Mitglieder unmittelbar bestimmte Normen und Werte teilen. Gesellschaftliches Handeln setzt dagegen voraus, dass ebendiese gemeinsam geteilte Tradition von Normen und Werten aufgegeben wird und die Individuen sich als freie und gleiche Personen zueinander verhalten. Der „Verlust der Sittlichkeit“ steht somit für das Entstehen einer negativen Freiheit, derjenigen nämlich, nicht äußerlich durch eine vorgegebene Tradition bestimmt zu sein.

 Ebd., S. 522.  Ebd., S. 385.  Vgl. GPR, §§ 189 ff.  GPR, § 181.

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Solcher „Verlust der Sittlichkeit“ lässt sich auch bei Marx und Habermas dokumentieren. Bei Marx finden wir ihn im Übergang von der privaten Produktionssphäre der Familie hin zum Markt. Die Form der privaten Reproduktion ist traditionell geregelt, nämlich durch die Höhe des Arbeitslohns sowie die Gebrauchswerte, welche damit gekauft werden können. Auf dem Markt jedoch lassen die Individuen diese traditionsmäßige Regelung hinter sich und verhalten sich zueinander als freie und gleiche Personen. Bei Habermas finden wir den „Verlust der Sittlichkeit“ im Übergang von der Lebenswelt hin zum System. In der Lebenswelt agieren die Individuen in Gestalt kommunikativer Handlungen, durch welche sie ein geteiltes Verständnis strittiger Normen und Werte anstreben. Im System hingegen wird solches Handeln zu in einem, das durch „entsprachlichte Steuerungsmedien“ gesteuert ist. Die negative Freiheit, welche der „Verlust der Sittlichkeit“ mit sich bringt, bedeutet nicht bloß, dass der unmittelbar geteilte traditionell vorgegebene Handlungssinn abhanden kommt, sondern auch, dass ein subjektiv bestimmter und insofern selbstgegebener an seine Stelle tritt. So verstanden, wandelt sich die negative umstandlos in eine positive Freiheit: Es entsteht die Freiheit, innerlich durch sich selber bestimmt zu sein. Aber gerade weil dieser Wandel eine Subjektivierung der Freiheit bedeutet, ist er mit einem Problem verbunden. Kann doch die Verwirklichung der positiven Freiheits einer Person unvereinbar sein mit der Verwirklichung der positiven Freiheit einer anderen. Dieser Handlungssinn ist gerade kein unmittelbar geteilter. Das positive gesellschaftliche Handeln ist darum nur möglich, wenn das Handeln der Personen auf eine Weise normiert wird, dass es mit dem Handeln anderer Personen zusammenbesteht, wenn es die Form eines allgemeinen Gesetzes annimmt. In diesem Sinne bedeutet der Übergang der Sittlichkeit der Familie zum gesellschaftlichen Handeln nicht allein eine Befreiung aus überkommener Tradition und den Erwerb subjektiver Autonomie, sondern zugleich einen Vorgang der Vergesellschaftung, durch den das Handeln die Form eines allgemeinen gesellschaftlichen Gesetzes gewinnt. Das gesellschaftliche Handeln ist darin ein heteronomes, eines, das sich dem allgemeinen Gesetz eines gesellschaftlichen Systems unterwirft. Die Frage lautet dann, wie sich die infolge des „Verlustes der Sittlichkeit“ erworbene subjektive Autonomie des Einzelnen zur Heteronomie seines systemischen Handelns verhält. Im nächsten Absatz werde ich erörtern, wie diese Schwierigkeit von Habermas, Marx und Hegel angegangen wird. Es soll sich zeigen, wie der Übergang zum gesellschaftlichen Handeln für Habermas lediglich die Möglichkeit, für Marx und Hegel aber die Notwendigkeit von Entfremdung impliziert. Im Gegensatz zu Marx allerdings meint Hegel, dass diese Entfremdung auf höherer Ebene wieder durchbrochen zu werden vermag.

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1.1 Habermas Im System der Wirtschaft wird die Beziehung zwischen Personen nicht durch kommunikatives Handeln abgesteckt, sondern durch das entsprachlichte Steuerungsmedium Geld. ¹³ Geld ist eine Art eindimensionale Sprache, in der die Individuen auf monologische Subjekte reduziert sind, welche über Kaufkraft oder Marktangebote verfügen. Wer eine bestimmte Summe Geldes besitzt, kann auf dem Markt Güter oder Dienstleistungen des gleichen Wertes erwerben. Käufer und Verkäufer brauchen sich deshalb nicht erst in kommunikativer Einstellung zu verständigen. Das Geld des Käufers gibt diesem Anspruch auf Erwerb eines Marktangebots mit gleichem Wert. Solange Käufer und Verkäufer sich nur dahingehend einig werden, kann der Kauf vollzogen werden. Wenn der Kauf eines Produktes ausschließlich Sache von Käufer und Verkäufer wäre, könnte er als Ausdruck von deren subjektiver Freiheit gedeutet werden. Die Verwirklichung dieser subjektiven Freiheit wäre jedoch von dem Zufall abhängig, dass Käufer und Verkäufer zueinanderfinden. Diese Zufälligkeit wird durch das ökonomische System verringert und in Wahrscheinlichkeit transformiert. Denn durch die Wirkung des freien Marktes ist die Bestimmung des Geldwertes eines Produkts keine Angelegenheit subjektiver Willkür und folglich auch kein Ausdruck subjektiver Freiheit. Der Markt macht, dass der Geldwert des Produkts erwartungsgemäß bestimmbar ist. Auf dem Markt wird der Gebrauchswert eines Produkts einerseits mit allen anderen auf dem Markt verfügbaren Gebrauchswerten verglichen, und andererseits wird der Vergleich der einen Person mit dem Vergleich aller anderen auf dem Markt agierenden Personen verglichen. In diesem Sinne bewirkt der Mechanismus des Marktes, dass die Bestimmung des Geldwertes aller Produkte durch und durch intersubjektiv ist. Indem sich die Marktteilnehmer am Geldwert orientieren, welchen der Markt den betreffenden Produkten zuerkennt, fügen sie sich einem hetoronomen Gesetz und geben damit ihre subjektive Freiheit auf. Für Habermas bedeutet dies jedoch nicht ohne Weiteres, dass die Teilnahme am System der Ökonomie als ein Prozess der Entfremdung genommen werden muss. Das Steuerungsmedium Geld erhöht auf vielfache Weise die Effizienz des wirtschaftlichen Vorgangs. Der allgemeine Geldwert der Produkte macht, dass der Gebrauchswert des Produkts als solcher ausgedrückt, d. h. abgehoben wird vom Gebrauchswert, welchen das jeweilige Produkt für ein je besonderes Subjekt haben mag. Deshalb ist Geld maßgeblich für die Rationalisierung des wirtschaftlichen Geschehens. Es fördert den Handel und

 Vgl. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, a.a.O., S. 395 ff.

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die weitere Entwickung der Arbeitsteilung und ermöglicht die Akkumulation von Reichtum. Diese Akkumulation wiederum bietet die Chance für Investitionen, welche für technologische Innovationen unverzichtbar sind. Die Entfremdung kommt für Habermas erst so zustande, dass die Entwicklung des ökonomischen Systems zu einer sog. Kolonialisierung der Lebenswelt führt. Was bedeutet das? Im Allgemeinen sagt Habermas, dass eine solche Kolonialisierung stattfindet, wo Beziehungen zwischen Individuen, die eigentlich zur Lebenswelt gehören und darum durch kommunikatives Handeln charakterisiert sind, durch systemische Beziehungen substituiert werden. Aber wie lässt sich dies denken, wenn das System als eine Sphäre definiert wird, die neben der Lebenswelt existiert? Insofern das System die Lebenswelt zu kolonialisieren vermag, müsste es zumindest möglich sein, etwas über das Verhältnis zwischen System und Lebenswelt zu sagen. Dann erst lässt sich unterscheiden, wann dieses Verhältnis als ein entfremdetes zu gelten hat. Die bestmögliche Deutung von Habermasens Denken scheint mir die folgende: Das ökonomische System hat gerade als System seine eigene Selbständigkeit, die sich in seinem heteronomen Gesetz manifestiert, dass nämlich der freie Markt den Geldwert von Produkten intersubjektiv bestimmt und damit seine eigene Dynamik ausbildet in Bezug auf Angebot und Nachfrage. Das Produktangebot dient der Freiheit der Individuen und ist insofern nicht entfremdet, wenn es der Verwirklichung einer Vorstellung vom guten Leben dient, welche – mittels gewisser Formen und Institutionen kommunikativen Handelns – auf die Lebenswelt zielt. Aber es ist auch möglich, dass das Produktangebot nicht mit einer Vorstellung guten Lebens zusammengeht. Der Markt kann z. B. die Konsumtion von etwas anregen, was nicht mit einer dauerhaft stabilen Gesellschaft verträglich ist. Hier könnte es sich um einen Fall von Kolonialisierung und Entfremdung handeln. Es ist dann der Markt, der die Konsumtion inhaltlich bestimmt, ohne dass diese Konsumtion die Realisierung einer Interpretation des guten Lebens ins Werk setzt. Indessen ist mir nicht ganz klar, wie einer Kolonialisierung der Lebenswelt durch das wirtschaftliche System überhaupt innerhalb von Habermasens Theorierahmen vorgebeugt werden kann. Gerade weil Habermas das Handeln innerhalb des Systems auf ein monologisches, zweckrationales reduziert, scheint jede Beziehung zur Lebenswelt abgeschnitten. Die Gefahr der Kolonialisierung lässt sich so doch lediglich dann bannen, wenn das System des freien Marktes gänzlich abgeschafft wird. Die Relativierung, welche Habermas in Bezug auf Marxens Kapitalismuskritik etablieren will – Akzeptanz eines freien Marktes, jedoch innerhalb der Grenzen der Lebenswelt –, scheint nichts weiter als ein ohnmächtiger Wunschtraum zu sein.

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1.2 Marx¹⁴ Marx analysiert die kapitalistische Gesellschaft nach dem Modell des freien Marktes. Wie Habermas scheint er den Markt als ein ökonomisches System zu begreifen, in dem freie und gleiche Personen durch die Vermittlungsleistung von Geld Waren kaufen und verkaufen. Sein Verständnis des kapitalistischen Systems der Ökonomie hebt sich jedoch in zweierlei Hinsicht fundamental von dem Habermasens ab. Erstens meint Marx, dass das ökonomische System nicht nur möglicherweise, sondern notwendigermaßen zu Entfremdung führt. Indem sie am freien Markt teilnehmen, unterstellen sich Personen einem heteronomen Gesetz, dem des Kapitals. Der Tausch auf dem Markt wird nicht vollzogen, um Bedürfnisse zu befriedigen, die auf der Linie einer bestimmten Interpretation des guten Lebens liegen; er dient stattdessen dem zum Subjekt gewordenen Kapital. In der Gestalt von Kapital ist Geld von einem bloßen Mittel, mit dem man beliebige Zwecke verfolgen kann, zum Selbstzweck avanciert. Der marktmäßige Austausch dient ausschließlich dem Ziel, aus Geld mehr Geld zu machen. Zweitens meint Marx, dass die universelle Freiheit der Person, gerade weil sie in Form totaler Entfremdung daherkommt, als Ideologie, will sagen als bloße Scheinfreiheit, entlarvt werden muss. Die Divergenz zwischen Habermas und Marx lässt sich auf die unterschiedliche Deutung zurückführen, welche sie dem „Verlust der Sittlichkeit“ geben, welcher das Wirtschaftssystem kennzeichnet. Marx interpretiert den „Verlust der Sittlichkeit“ als negative Freiheit, die aus der Befreiung des Einzelnen von traditionsmäßig vorgegebenen Inhalten resultiert. Die Befreiung von solchen Vorgaben führt in seinen Augen zur Zerstörung des Menschen als Kulturwesen und infolgedessen zur Entfremdung. Das wird verständlich durch die nähere Form, die Marx dem „Verlust der Sittlichkeit“ verleiht. Er versteht ihn als das Ergebnis eines Bildungsweges, welchem der Prozess der Arbeit auf dem Markt unterworfen ist. Für Marx ist das einer der immer weiter voranschreitenden Arbeitsteilung, die unter kapitalistischen Voraussetzungen ihr höchstes Stadium erreicht, nämlich die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit. Körperliche Arbeit ist für Marx rein mechanische Arbeit. Sie wird von Arbeitern an Produktionsbändern verrichtet. Diese Arbeit lässt sich im Prinzip durch Maschinen ersetzen. Gerade hierin zeigt sich, wie sehr die Arbeit in der Moderne entfremdet ist. Wenn der Lohnarbeiter, der seine Arbeitskraft als Ware verkauft, gegen eine Maschine ausgewechselt zu werden vermag, ist sein gesellschaftlicher

 Für das Folgende siehe ausführlich Cobben, Paul:Value in Capitalist Society. Rethinking Marx’s Criticism of Capitalism, Leiden/Boston 2015.

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Stand der eines Dings. Das wird nicht nur in der Natur der Arbeit offenbar – die mechanische ist jeglichen geistigen Sinnes beraubt und lässt sich geradeso durch Maschinen verrichten –, sondern ebenfalls in der Weise, wie sich der Lohnarbeiter als lebendiges Wesen reproduziert. Weil der Wert seiner Arbeitskraft nicht größer sein kann als der der Maschinen, welche seine Arbeitskraft vertreten sollen, zwingt ihn die Höhe seines Arbeitslohns zu einem Existenzminimum, das die Chance auf physische Reproduktion nicht übersteigt. Der Geldwert marktmäßig gehandelter Produkte wird in Marxens Analyse durch die Quantität mechanischer Arbeit festgesetzt, welche im Arbeitsprodukt objektiviert vorliegt. (Die qualitätslose mechanische Arbeit lässt sich in Zeit messen: Die Quantität mechanischer Arbeit ist proportional zu demjenigen Zeitraum, den es braucht, um die fragliche Arbeit zu verrichten.) Das macht es am Ende möglich, dass der Tauschvorgang auf dem Markt nicht der subjektiven Freiheitsverwirklichung der Personen zugutekommt, sondern dem Kapital. Der Geldwert der Ware Arbeitskraft ist auf dem Markt niedriger als der zusätzliche Geldwert, welchen der Kapitalist durch Verkauf seiner Produkte erwirtschaftet. So ist der Kapitalist in der Lage, aus Geld mehr Geld zu generieren. Trotzdem meint auch Marx, dass das wirtschaftliche System des freien Marktes am Ende doch der Verwirklichung subjektiver Freiheit förderlich ist: Die kommunistische Gesellschaft soll ja im Schoße des Kapitalismus geboren werden. Mit dem technologischen Wissen, das die geistige Arbeit hervorbringt, ist die Macht der Natur im Prinzip gebrochen. Unter dieser Prämisse kann nach Marx wahre Freiheit heranreifen. Um diese wahre Freiheit tatsächlich zustande zu bringen, soll die geistige Arbeit nicht länger dem Kapital dienen und dadurch zur Ausbeutung körperlicher Arbeit beitragen. Erst wenn die Trennung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit überwunden ist, wird es möglich, den Produktionsprozess autonom zu organisieren. Die Aufhebung dieser Trennung geht allerdings mit der Aufhebung anderer Trennungen Hand in Hand, die den freien Markt von Grund auf prägen, etwa die zwischen Lohnarbeit und Kapital oder die zwischen Markt und Produktion. Marx meint daher, dass die freie, kommunistische Gesellschaft erst zu haben ist, wenn der freie Markt der Vergangenheit angehört. Von Marxens Standpunkt aus betrachtet, erhellt sich, in welchem Sinne Habermasens Verständnis des Systems der Ökonomie einseitig bleibt. Habermas konzentriert sich auf die intersubjektiven Verhältnisse des Marktes, ohne zu fragen, wie diese sich zum Produktionsprozess und zur Sache eines guten Lebens verhalten. Die Dynamik des ökonomischen Systems kann dazu führen, dass der Markt immer wieder Angebote qualitativ neuer Produkte entstehen lässt. Ob diese Produkte und die Weise, wie sie produziert werden, dem guten Leben zuträglich sind, lässt sich jedoch nur äußerlich feststellen, da die Bestimmung des guten

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Lebens auf der Ebene der Lebenswelt in ihren Ort hat. Deshalb ist es zufällig, ob das System die Lebenswelt kolonialisiert. Es bleibt unklar, wie die Wirkung des wirtschaftlichen Systems externen Begrenzungen unterworfen werden kann, ohne dabei seine Selbständigkeit als Wirtschaftssystem einzubüßen. Der Ausgleich zwischen System und Lebenswelt lässt sich nur denken, wenn deutlich ist, wie die freien Personen innerhalb des Systems der Wirtschaft zu denjenigen innerhalb der Lebenswelt stehen. Das bedeutet, dass nicht nur behauptet werden muss, dass das System sich von der Lebenswelt durch einen „Verlust der Sittlichkeit“ unterscheidet, indem an die Stelle der partikulären Verhältnisse in der Familie die universellen Verhältnisse freier und gleicher Personen auf dem Markt getreten sind, sondern dass auch zu erläutert ist, wie der Bildungsprozess charakterisiert werden muss, in dem das Individuum sich von überlieferter Tradition emanzipiert und die Freiheit seiner Person entfaltet. Marx versteht diesen Prozess als den einer immer weiter durchgeführten Differenzierung und Spezialisierung der Arbeit. Marx zufolge führt dieser Bildungsprozess jedoch nur mittelbar zu universeller Freiheit, dann nämlich, wenn der freie Markt überwunden und in eine kommunistische Gesellschaft überführt ist. Der freie Markt selbst lässt nur eine scheinbare Freiheit zu, eine, die eigentlich als Entfremdung durchschaut werden muss. Marx weiß jedoch nicht zu erklären, wie sich ein Zustand vollkommener Unfreiheit je zu einem der Freiheit fortentwickeln kann. Wie vermag der Proletarier, der gesellschaftlich auf ein Ding unter anderen Dingen herabgewürdigt ist, jemals Selbstbewusstsein zu gewinnen? Die Vereinigung von geistiger und körperlicher Arbeit, die Marx für die Zeit nach der kommunistischen Revolution vorhersieht, ist in Wirklichkeit keine. Vor der Revolution dient die geistige Arbeit dem Kapital, nach der Revolution soll sie der autonomen Bestimmung des guten Lebens dienen. Aber das erklärt mitnichten, inwiefern damit die Entfremdung des Proletariats beendet sein soll. Wenn die körperliche Arbeit die autonome Bestimmung des guten Lebens zu befördern hat, wird die Trennung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit keineswegs überwunden. In diesem Sinne mündet die kommunistische Revolution überhaupt nicht in die Befreiung des Proletariats. Die Macht des Kapitals wird nur gegen die Macht der geistigen Arbeit vertauscht. Dies mag vielleicht wie Fortschritt erscheinen, weil die geistige Arbeit im Besitz des Wissens ist, wie der Produktionsprozess in den Dienst des guten Lebens zu stellen ist. Doch wenn die Bestimmung des guten Lebens sich nicht durch subjektive Freiheit vermitteln lässt, sondern einseitig und auf intransparente Weise von einer Elite der kommunistischen Partei dekretiert wird, ist der vermeintliche Fortschritt mehr nur ein Rückfall in eine Gesellschaftsform, in der kein Platz für die Freiheit und Gleichheit der Individuen vorhanden ist.

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Aus einem Zustand totaler Unfreiheit heraus lässt sich die Bildung zur Freiheit nicht denken. Solche Bildung kann dann erst eine sinnvolle Bedeutung erhalten, wenn sie als Explikation derjenigen Freiheit auftritt, die immer schon implizitermaßen vorausgesetzt ist. Wir werden sehen, wie Hegels konzeptueller Rahmen dazu die Möglichkeit bietet. Für Hegel ist der Mensch als kulturelles Wesen ein Knecht, weil er je schon dem Gesetz kultureller Ordnung folgt und Herr seiner Triebe, mithin frei, ist.

1.3 Hegel Wie Habermas charakterisiert auch Hegel das ökonomische System (das „System der Bedürfnisse“) als eines, innerhalb dessen freie und gleiche Personen mithilfe von Geld Eigentum tauschen können. Und genau wie bei Habermas wird der Geldwert der jeweiligen Produkte als deren Gebrauchswert festgelegt: Er beruht auf einem universellen Vergleich der angebotenen Waren. Aber anders als bei Habermas spielt bei Hegel das Problem keine Rolle, dass das gute Leben vom ökonomischen System getrennt und auf der Ebene der Lebenswelt angesiedelt ist. Bei Habermas bleibt infolgedessen unentschieden, wie das gute Leben Kriterium dafür sein kann zu beurteilen, ob Produkte überhaupt einen Gebrauchswert haben. Hegel dagegen unterscheidet nicht zwischen dem monologischen Verhältnis, das Personen auf dem Markt einnehmen, und dem dialogischen Verhältnis, das sie innerhalb der Lebenswelt einnehmen sollen. Nach Hegel verhalten sich Personen auch innerhalb des Systems der Bedürfnisse dialogisch zueinander: Sie erkennen einander als freie und gleiche Personen an. Mithin findet keine Trennung statt zwischen den am Markt teilnehmenden Personen und den Subjekten, die Teil der Lebenswelt sind. Im Prinzip können erstere erkennen, ob die angebotenen Produkte das gute Leben der letzteren zu befördern vermögen. Wenn die Personen auf dem Markt dialogisch agieren und darin stets auf die Lebenswelt bezogen bleiben (in Hegels Terminologie auf die Sittlichkeit von Familie und Staat), stellt sich die Frage, was jener „Verlust der Sittlichkeit“, welcher die Systemverhältnisse überhaupt erst in ihre Möglichkeit bringt, bei Hegel genau bedeutet. Kann der „Verlust der Sittlichkeit“ auch bei Hegel zu Entfremdung führen? Die „Verlust der Sittlichkeit“, welcher die negative Freiheit der Person zum Ergebnis hat, situiert Hegel im Übergang des Mitglieds einer Familie hin zur Person der bürgerlichen Gesellschaft. Die Person hat sich von traditionell vorgegebenen inhaltlichen Bestimmungen der Familie abgelöst und sieht sich nunmehr einer Vielheit von subjektiven, selbstgegebenen Bestimmungen gegenüber. Als wirkliche Person hat sie sich selber zu einem Inhalt bestimmt. Sie reproduziert

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sich z. B. mittels gewisser Gebrauchswerte und hat einen bestimmten Beruf ergriffen, durch den sie ihr Auskommen sichert.¹⁵ Wie Habermas aus der Außenperspektive heraus einen Unterschied zwischen Lebenswelt und System macht, macht Hegel einen zwischen Familie und bürgerlicher Gesellschaft. Die Familie ist eine sittliche Gemeinschaft, in der der Sinn des Handelns traditionell vorgegeben ist. In der bürgerlichen Gesellschaft hat der „Verlust der Sittlichkeit“ sich vollzogen und ist das Handeln durch subjektive Freiheit der Einzelnen sinnvoll selbstbestimmt. Das freie Handeln der vielen Personen lässt sich in Harmonie zusammenbringen, indem es einem heteronomen Gesetz unterworfen wird, dem des freien Marktes, welches bewirkt, dass das besondere Angebot und die besondere Nachfrage immerzu die Form der Allgemeinheit annimmt: Das besondere Angebot, nach dem es keine allgemeine Nachfrage gibt, oder die besondere Nachfrage, die kein allgemeines Angebot findet, werden durch den Mechanismus des Marktes aussortiert. Während es für Habermas zufällig bleibt, ob dieses System zu Entfremdung führt (zur Kolonialisierung der Lebenswelt), ist die Entfremdung für Hegel grundsätzlich ausgeschlossen, weil das Verhältnis zwischen Lebenswelt und System (bzw. Familie und bürgerlicher Gesellschaft) gleichfalls aus einer Innenperspektive heraus gedacht wird. Die Verwirklichung der subjektiven Freiheit wird von Hegel, ähnlich wie von Marx, aus der Innenperspektive heraus verstanden als ein Prozess der Bildung. Aber anders als bei Marx bedeutet dies nicht, dass aus einem Zustand von Unfreiheit Freiheit erwächst. Bildung beinhaltet die Explikation einer Freiheit, die implizit immer schon vorausgesetzt ist. Der genannte Bildungsvorgang vollzieht sich sowohl auf der Ebene der Familie als auch auf der der bürgerlichen Gesellschaft. Auf der Ebene der Familie ist er Erziehung der Kinder zu Erwachsenen. Als Familienmitglieder gehören sie zu einer traditionsmäßig geregelten Gemeinschaft von Menschen. In der Erziehung zu Erwachsenen erwerben die Kinder negative Freiheit: Sie erkennen, dass die Familientradition eine kontingente ist, die sehr wohl auch anders ausfallen kann. Diese Unabhängigkeit von der Familientradition entsteht nicht aus dem Nichts, sondern ist der Familie immer schon vorgelagert. Familie konstituiert sich ja, wo zwei Personen entscheiden, eine Ehe zu schließen und deshalb zusammen eine neue, gemeinsame Person begründen.¹⁶ Diese Person hat ihre Wirklichkeit im

 Systematisch betrachtet, werden im „System der Bedürfniße“ das zweite Moment von Hegels abstraktem Recht (der Vertrag) und das zweite Moment von Hegels Moralität (die Absicht und das Wohl) synthetisiert.  Vgl. GPR, § 162.

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Organismus der Familie. Die Normen und Werte dieses Familienorganismus sind für die Kinder immer schon gegeben. Für die Eltern sind sie jedoch Ausdruck ihrer subjektiven Freiheit. Nur ihre Genderrolle als Mann und Frau ist traditionell vorgegeben. Auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaft ist die Bildung theoretische und praktische Ausbildung für den Arbeitsprozess.¹⁷ Das System der Bedürfnisse ist ein freies Marktsystem, in dem die Betriebe unter dem Druck von Konkurrenz immer neue, bessere und günstigere Produkte anbieten. Das führt zu einem Innovationsdruck, der in stets weiter vorangetriebener Arbeitsteilung mündet. Die Arbeitsteilung macht die Arbeit nicht nur spezialistischer, sie hat zudem zur Folge, dass der Sinn der Arbeit zunehmend weniger vom Arbeiter selbst, sondern mehr und mehr vom Produktionsapparat festgelegt wird. In ihrer theoretischen und praktischen Ausbildung lernen die arbeitenden Personen, ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten an die objektiven Erfordernisse des Arbeitsgeschehens anzupassen. Diese Anpassung ist jedoch nur möglich, wenn die Menschen innerlich frei sind. Nur als Herr über seine Triebe ist der Einzelne imstande, einem heteronomen Gesetz zu folgen. Diese innere Freiheit wird explizit in der Automatisierung des Produktionsprozesses.¹⁸ Das Verhältnis der Personen zur Maschine ist ein freies Verhältnis. Denn die Konstruktion der Maschine setzt voraus, dass die Naturprozesse, auf die sich die Maschine aufstützt, als solche eingesehen werden. Jene Freiheit, in der die Ausbildung für den Arbeitsprozess mündet, ist abermals keine Freiheit, die aus dem Nichts entsteht. Die Freiheit der Personen, welche aus der Erziehung innerhalb der Familie hervorgeht, ist der bürgerlichen Gesellschaft je schon vorgeordnet. Und die Freiheit, in der Ausbildung resultiert, ist nichts anderes als die Verwirklichung der formellen Freiheit der Person. Die Person auf dem Markt hat sich von der Tradition emanzipiert und verfügt in diesem Sinne über negative Freiheit; solche Freiheit setzt sie instand, sich nach Belieben zu jedem Inhalt zu verhalten. Die besonderen Inhalte, aus denen sie tatsächlich auswählt, mögen aus dem Angebot der Produkte und den marktmäßigen Arbeiten bestehen. Welchen Inhalten der Einzelne auf dem Markt begegnet, ist jedoch eine zufällige (kontingente) Angelegenheit. Durch die theoretische und praktische Ausbildung werden die Waren des Marktes als Ausdruck von Freiheit gesetzt. Durch die Ausbildung für den Arbeitsprozess haben die Personen ihre Abhängigkeit von zufälligem Sinn abgeschüttelt und damit ihre Freiheit an und für sich verwirklicht.

 Vgl. GPR, § 197.  Vgl. GPR, § 198.

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Trotzdem meint Hegel genau wie Marx, dass der freie Markt wenigstens eine gewisse Entfremdung nicht ausschließt. Wenn Arbeit auch durch Maschinen verrichtet werden kann, wird sie überflüssig, sobald Maschinen billiger produzieren. Hegel glaubt, dass der freie Markt Arbeiter ausstößt, was nicht durch Schaffung neuer Arbeitsplätze kompensiert zu werden vermag. Die bürgerliche Gesellschaft ist, wie er konstatiert, nicht reich genug für alle.¹⁹ Die einzige Lösung, welche Hegel vor Augen hat, ist die, dass Personen, welche keine Arbeit finden können, auswandern und anderswo in der Welt Kolonien gründen eine neue Existenz aufbauen.²⁰ Diese Lösung ist jedoch schon deshalb nicht annehmbar, weil sie zur schlechten Unendlichkeit von immer neuen Auswanderergesellschaften führt. In unserer Zeit ist ferner deutlich geworden, dass die Endlichkeit der Erde solcher Expansion deutliche Grenzen zieht.

2 Der freie Markt und das gute Leben Die Verwirklichung der freien Person im System der Bedürfnisse führt allerdings noch nicht zu einem wirtschaftlichen Produktionsprozess im Dienste des guten Lebens. Das ist erst dann möglich, wenn die Personen qua Staatsbürger sich über eine bestimmte Interpretation des guten Lebens einig und institutionelle Vorkehrungen getroffen sind, um den Produktionsprozess dementsprechend zu normieren. Für Hegel bedeutet die Normierung des Produktionsprozesses durch eine Interpretation des guten Lebens in erster Linie, dass diejenigen Institutionen, in denen wirtschaftliche Produktion und gutes Leben Gestalt annehmen, nämlich in den Institutionen des Systems der Bedürfnisse ebenso wie des Staates, durch Korporationen vermittelt werden. Die Korporationen bewirken einerseits, dass die verschiedenen Produktionszweige dem guten Leben dienen, appellieren aber andererseits an den freien Markt, um neue Mitglieder zu sichern. Ich sehe davon ab zu erörtern, wie Hegel die Korporationen genau ausarbeitet. Ich stelle nur fest, dass die Einführung des Begriffs der Korporation diejenigen Probleme, welche Habermasens und Marxens Konzeption des Systems der Ökonomie anhaften, nicht lösen kann. Denn weil die Mitglieder der Korporation über spezifische Arbeitsqualifikationen verfügen müssen, ist die Schwierigkeit, welche Hegel auf der Ebene des Systems der Bedürfnisse aufbricht, ebenda nicht zu meistern. Für die individuelle Person kann der freie Markt sowohl zu Entfremdung wie zu Freiheitsverwirklichung führen. Ob das eine oder das andere der

 Vgl. GPR, § 245.  Vgl. GPR, § 248.

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Fall ist, bleibt vom Zufall abhängig, davon, ob die Person über die einschlägigen Fähigkeiten verfügt, welche auf dem Markt nachgefragt werden oder nicht. In diesem Sinne weiß Hegel das Moment der Zufälligkeit in Habermasens Kolonialisierungsthese nicht abzuwehren. Aber er bietet ebenfalls keine Lösung für die fundamentale Aufgabe, die sich Marxens Aufhebung des freien Marktes weiterhin stellt, nämlich die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit. Auch Hegel weiß die Trennung zwischen den Lohnarbeitern, für welche die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, und den Korporationsmitgliedern nicht zu überwinden. Mit Recht erklärt Hegel – im Gegensatz zu Habermas –, dass das ökonomische System nicht neben der Domäne der Freiheit (bzw. der Lebenswelt) stehend konzipiert werden darf. Die Partizipation am ökonomischen System muss vielmehr selbst zur Verwirklichung der Freiheit beitragen. Und mit Recht sagt Hegel auch – im Gegensatz zu Marx –, dass die Realisierung von Freiheit keine Gestalt annehmen kann in einer Gesellschaft ohne Markt, sondern mit dem Vorhandensein eines freien Marktes kombiniert werden muss. Diese Kombination lässt sich jedoch nicht zusammenbringen mit der Arbeitsteilung zwischen Lohnarbeit und Arbeit in einer Korporation. Erst wo man über diese Trennung hinaus ist, kommt ein Produktionsprozess im Dienste des guten Lebens in Sicht. Die Lohnarbeit darf nicht als eine Ware auf dem freien Markt verkauft werden. Jede Person, die ihre Arbeitskraft verkauft, muss (wie das Korporationsmitglied) einer Arbeitsgemeinschaft, dem Betrieb, beitreten, die Produkte oder Dienste liefert, welche Bausteine der herrschenden Interpretation des guten Lebens sind. Eine solche Arbeitsgemeinschaft lässt sich nach dem Modell des zum Selbstbewusstsein gekommenen Herr/Knecht-Verhältnisses denken. Die Person, die ihre Arbeitskraft verkauft, ist der zum Selbstbewusstsein gekommene Knecht, der dem Gesetz des Betriebes dient. Das Gesetz des Betriebes ist das heteronome Gesetz, das einem bestimmten Telos dient: die Produktion von Gütern oder Dienstleistungen, die der herrschenden Interpretation des guten Lebens dienen. Der Geldwert der Ware Arbeitskraft wird nicht vom Markt bestimmt, sondern ist Teil der herrschenden Vorstellung vom guten Leben, die einen gewissen Beruf mit einem bestimmten Lebensstandard verknüpft. Diese Bestimmung eines gewissen Lebensstandards kann durch gesellschaftliche Verhandlungen vermittelt sein und muss stets in Übereinstimmung mit dem gesetzlichen Rahmen bleiben, innerhalb dessen die Arbeit verrichtet wird. Weil die Betriebsgemeinschaften Teil eines freien Marktsystems sind – des Systems der Bedürfnisse nämlich – stehen sie unter Konkurrenz- und Innovationsdruck. Dies führt dazu, dass die Arbeiter in der Betriebsgemeinschaft – genau wie in Hegels System der Bedürfnisse – eine theoretische und praktische Bildung durchlaufen. Zutreffend meint Hegel, dass diese Ausbildung zu der

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kontinuierlichen Vereinfachung der Arbeit führen kann und am Ende zur Automatisierung. Diese Entwicklung braucht jedoch nicht eine Klasse von Lohnarbeitern zu generieren, deren Arbeit so niedrig qualifiziert ist, dass diese leicht die Arbeit wechseln können und deswegen eine Reservearmee an Lohnarbeitern entsteht, welche die Nachfrage weit übertrifft. Denn erstens haben wir schon gesehen, dass der Geldwert der Arbeitskraft nicht durch den Markt bestimmt wird. Ausgangspunkt ist, dass jede Person einen Lebensstandard aufrechterhält, der durch die einschlägige Vorstellung vom guten Leben bestimmt ist. Deshalb wird es nicht billiger sein, die mechanische Arbeit von Lohnarbeitern verrichten zu lassen; normalerweise wird mechanische Arbeit durch Maschinen geleistet. Wichtiger ist jedoch zweitens, dass die besagte Ausbildung, die der Arbeiter im Arbeitsprozess durchläuft, nicht einseitig zur Mechanisierung der Arbeit führt (und in diesem Sinne die Trennung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit fördert), sondern zugleich mit einer entgegengesetzten Entwicklung verbunden ist. Der Markt zwingt zur Innovation und damit zu andauernder Integration neuer Technologien in den Arbeitsprozess. Das erfordert von den Arbeitern nicht nur, dass sie unentwegt Kenntnisse in Bezug auf diese neuen Technologien erwerben, sondern ebenso, dass sie die Fähigkeiten erlernen, um diese Technologien, und das in Zusammenarbeit mit ihren Kollegen, zu implementieren. Darum führt die Ausbildung im Arbeitsprozess nicht zu einer Trennung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit oder zwischen Lohnarbeit und Arbeit in Korporationen. Was Hegel theoretische und praktische Ausbildung nennt (zur Anpassung an die Objektivität des Arbeitsgeschehens), ist ein Moment innerhalb der Entwicklung der Arbeit. Dieser Vorgang lässt sich als Entfremdung charakterisieren, insofern das für die Versachlichung des Arbeitsprozesses steht, die den Unterschied zwischen der Objektivität des Arbeitsprozesses und der Subjektivität sowie Freiheit des Arbeiters expliziert. Dieser Unterschied kann am Ende zur Entlassung der Arbeiter führen. Solche Entfremdung ist ein Moment in der Entwicklung des Arbeitsgeschehens, die zugleich mit der Integration neuer Technologien einhergeht. Die Entfremdung führt deshalb nicht zum Ausstoßen der Arbeiter, sondern vielmehr zu mehr Innovation. Geistige und körperliche Arbeit brauchen nicht erst nach der Revolution miteinander vereint zu werden, sondern sind im modernen Produktionsprozess selber immer schon miteinander vereint. Die modernen Arbeiter, die erfahren, dass ihre Arbeit einem fortwährenden Prozess von Innovation und Rationalisierung unterworfen ist, haben ein freies Verhältnis zur Arbeit: Nicht nur weil sie erleben, wie unablässig Teile des Arbeitsprozesses durch Automatisierung verselbständigt werden, sondern auch, weil sie fortgesetzt in Innovationsprozesse einbezogen sind, die nur implementiert werden können aufgrund technologischer Kenntnisse, mit denen die Prinzipien des Arbeitsprozesses als solche verstanden

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werden. Diese Bildung zur Freiheit macht sie geeignet, als Staatsbürger an politischen Debatten teilzunehmen, die die Auslegung des guten Lebens und den Produktionsprozess, der diesem dienen soll, zu ihrem Gegenstand machen.

3 Schluss Nicht die Korporation, sondern der Betrieb ist die zweite Familie, die zweite Wurzel der Sittlichkeit, in der der freie Wille sich verwirklicht. Im Betrieb bekommt die subjektive Selbstverwirklichung eine sittliche Form. Einerseits handelt es sich um subjektive Selbstverwirklichung, d. h. dass der Arbeitnehmer ein freies Verhältnis zum Betrieb hat und seine Subjektivität ausdrücklich von der Objektivität des Betriebs zu unterscheiden vermag. In diesem Sinne stehen Arbeitnehmer und Betrieb in einem Zweck/Mittel-Verhältnis zueinander. Der Arbeitnehmer kann den Betrieb als Mittel seines Lebenserwerbs und der Betrieb kann den Arbeitnehmer als Mittel seiner Produktionsabläufe in Anspruch nehmen. Trotzdem ist dieses Zweck/Mittel-Verhältnis kein rein äußerliches. Der Arbeitnehmer erwirbt sein freies Verhältnis erst durch die Bildung, der er im Arbeitsprozess unterworfen ist. In und durch diese Ausbildung versachlicht sich die Arbeit, d. h., sie unterscheidet sich ausdrücklich von der Subjektivität des Arbeitnehmers. Am Ende lässt sich diese Versachlichung erst in der Entlassung des Arbeitnehmers zeigen. Andererseits hat die Selbstverwirklichung im Betrieb eine sittliche Form, d. h., die subjektive Freiheit wird in ein sittliches Ziel eingeformt. Dieses sittliche Ziel wird im Gesetz des Betriebs expliziert, in dessen Rahmen die Arbeitshandlungen der Arbeitnehmer Güter oder Dienstleistungen produzieren können, welche der herrschenden Interpretation des guten Lebens dienen. Die subjektive Freiheit steht nicht neben diesem sittlichen Ziel, sondern gehört mit dazu. Erstens weil die Arbeitnehmer, die freien Subjekte, in der Öffentlichkeit als politische Subjekte auftreten, die die Interpretation des guten Lebens tragen. Zweitens weil die Arbeit im Betrieb auf doppelte Weise durch subjektive Freiheit vermittelt ist: zuerst, weil der spezifische Beruf der Arbeitnehmer auf einer subjektiven Wahl beruht, sodann, weil die Versachlichung der Arbeit unmittelbar eine Kehrseite hat. Die modernen Arbeitnehmer müssen imstande sein, die permanenten Innovationen des Arbeitsprozesses zu implementieren. In dieser Innovation bringen sie ihre subjektive Identität positiv zum Ausdruck.

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Literatur Cobben, Paul: Value in Capitalist Society. Rethinking Marx’s Criticism of Capitalism, Leiden/Boston 2015. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1981. Hegel, Georg W. F.: Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1999. (= PhG) Hegel, Georg W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1955. (= GPR) Höffe, Otfried: Politische Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1987. Rawls, John: Political Liberalism, New York 1993.

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Von Hegel zu Marx und zurück – zwei Entwürfe einer normativen Ontologie der menschlichen Lebensform Abstract: “From Hegel to Marx and Back – Two Sketches of a Normative Ontology of the Human Life-Form.” This article clarifies and compares two theoretical approaches to a normative or evaluative ontology of the human lifeform by the mature Hegel and the young Marx. More exactly, it looks into the ways in which the ideas of recognition and concrete freedom figure in the thinking of the two authors, explicitly in Hegel and more implicitly in Marx. It turns out that Marx’s conception is closer to Hegel than may seem or he himself may have been aware of, but also that Marx’s ontology is in crucial ways poorer than Hegel’s.

Einer der gegenwärtigen Diskussionsstränge zu K. Marxens Denken setzt sich mit dessen Beziehung zu und seinen etwaigen Anleihen bei G. W. F. Hegel auseinander. Die viel diskutierte Hegel’sche Figur der Anerkennung ist dabei einer der Gesichtspunkte, unter dem die Beschäftigung mit Marx steht.¹ Im Folgenden will ich einige begriffliche Fragen zu klären versuchen, die im Hinblick auf das Verhältnis von Marx und Hegel bislang noch ungeklärt sind, Fragen, die sich allesamt um diesen Begriff der Anerkennung ranken.

Die vorliegende Untersuchung verdankt sich der Förderung durch das Australian Research Council Project ‘The Social Ontology of Personhood – A Recognition-Theoretical Account’. Ferner bin ich den Teilnehmern der Tagungen und Workshops für ihre Kommentare zu Dank verpflichtet, wo ich frühere Fassungen dieses Aufsatzes vorstellen durfte.  Vgl. Quante, Michael: Recognition as the Social Grammar of Species Being in Marx, in: Ikäheimo, Heikki/Laitinen, Arto (Hg.): Recognition and Social Ontology, Leiden 2011, S. 239 – 267; Chitty, Andrew: Hegel and Marx, in Houlgate, Stephen/Baur, Michael (Hg.): A Companion to Hegel, Oxford 2011, S. 477– 500; Moggach, Douglas: German Idealism and Marx, in: Boyle, Nicholas/Disley, Liz/Walker, John (Hg.): The Impact of Idealism. The Legacy of Post-Kantian German Thought, Bd. 2: Historical, Social and Political Thought, Cambridge 2013, S. 82– 107; und mit Beiträgen von D. Brudney, A. Chitty, J.-P. Deranty und M. Quante Schmidt am Busch, Hans-Christoph (Hg.): Ethical Theory and Moral Practice, Sonderband 16/4: Karl Marx and the Philosophy of Recognition, Dordrecht 2013. Es war Quantes bahnbrechende Arbeit über Anerkennung beim jungen Marx, die mein Interesse für diese Thematik geweckt hat. https://doi.org/10.1515/9783110572735-009

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Ich gehe dabei in zwei Schritten vor. Zunächst analysiere ich, was nach meinem Dafürhalten die hauptsächlichen Elemente von Hegels Anerkennungsbegriff sind, und erläutere ihre Beziehung zu einem anderen Grundbegriff von Hegels Geistphilosophie, nämlich dem konkreter Freiheit (1.). Sodann will ich ein möglichst klares Bild davon zeichnen, wie genau der Begriff der Anerkennung und der konkreter Freiheit in demjenigen Text aus Marxens Feder auftauchen, der diesbezüglich wohl der einschlägigste ist, und zwar die 1844 in Paris verfassten Auszüge aus James Mills Buch „Éléments d’économie politique“ (2.). Ich werde herausarbeiten, in welcher Weise Hegels Verständnis von Anerkennung und konkreter Freiheit in Marxens Auszügen sowohl wirksam als auch abwesend ist. Nur durch eine detaillierte Rekonstruktion von Hegels Anerkennungsbegriff und dessen Verhältnis zum Begriff konkreter Freiheit lässt sich wirklich darüber befinden, inwieweit Marxens Auffassung eine hegelianische genannt zu werden verdient. Der Vergleich beider Denker, der auf dieser Rekonstruktion basiert, ermöglicht es, die Schwächen der Marx’schen Konzeption und zugleich auch die Mittel in den Blick zu bekommen, welche Hegel womöglich bereithält, um hier Abhilfe zu schaffen (3.). Die Begriffe der Anerkennung und der konkreten Freiheit sind bei beiden Autoren mit einem besonderen philosophischen Programm verbunden, wie sich zeigen wird, nämlich dem Programm eines normativen Essenzialismus menschlicher Lebensform – welche Hegel als Geist und Marx als Gattungswesen anspricht. Mein Anliegen soll es hier daher ebenso sein darzutun, dass Hegel und Marx desgleichen in dieser Hinsicht, und zwar trotz aller terminologischen Differenzen und unabhängig davon, ob und inwiefern sich Marx selber über seine Nähe zu Hegel im Klaren war, sehr eng beieinander stehen. Letzten Endes ist mein Vorhaben dabei aber gar nicht so sehr ein historisches denn ein systematisches; ich bin davon überzeugt, dass der Entwurf einer normativen Ontologie menschlicher Lebensform, welcher in den Vorstellungen Anerkennung und konkrete Freiheit wurzelt, gegenwärtig eine ernsthafte philosophische Auseinandersetzung, wenn nicht gar Rehabilitation verdient.² Diesen Gedanken werde ich hier indes weder verteidigen noch weiter entwickeln. Ich beschränke mich stattdessen auf die Nachzeichnung dessen, wie er bei Hegel und Marx jeweils zu finden ist, sowie die Gegenüberstellung dieser seiner beiden Fassungen.

 Für die Grundzüge einer solchen Konzeption siehe Ikäheimo, Heikki: Anerkennung, Berlin 2014, Kap. 7.

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1 Die Hegel’schen Grundlagen Der einschlägige Ausgangspunkt, um die Hegel’schen Grundlagen freizulegen, auf denen Marxens Auszüge aufbauen, ist Hegels Geistverständnis und die es auszeichnenden Wesensmerkmale. Denn Marx reformuliert Hegels normativen Essenzialismus des Geistes in seinem Text in einer offenbar eher naturalistischen Terminologie, indem er, was er für den abzulehnenden metaphysischen Ballast von Hegels Denken hält, mitzuschleppen vermeiden möchte. Die beste Formel für den Sinn des Terminus ‚Geist‘ bei Hegel ist m. E. ,menschliche Lebensform‘ oder, um einen genaueren Ausdruck zu verwenden, ‚Lebensform menschlicher Personen‘.³ In der „Einleitung“ zu seiner Philosophie des Geistes redet Hegel vom Geist als vom „Wesen des Menschen“ und von der „Freiheit“ als dem „Wesen des Geistes“ (Enz, § 382; VPG, S. 5 f.).⁴ In beiden Fällen denkt er „Wesen“ im normativen aristotelischen Sinn; danach kann etwas sein Wesen in unterschiedlichen Graden realisieren, und je mehr es sein Wesen realisiert, desto ‚wahrer‘ ist es. Ein guter Freund, so ein Beispiel, welches Hegel selber anderswo heranzieht, ist ein guter Freund, insofern er das Wesen oder den Begriff der Freundschaft zur Wirklichkeit bringt, sich also derart verhält, dass sein Verhalten vereinbar ist mit dem, was einen Freund wesensmäßig ausmacht. Dass der Geist ein Wesen hat, bedeutet für Hegel allerdings mehr als dieses Verständnis von normativem Essenzialismus, welches wir alltagsweltlich wohl alle zumindest implizit teilen. Hegel will mehr sagen, nämlich dass alle grundlegenden Strukturen oder Beziehungen, die das Reich des Geistes im Unterschied zum Reich der Natur auszeichnen, von einer entsprechenden Abstraktionshöhe her gesehen denselben Charakter aufweisen: Dass das Wesen der grundlegenden geistigen Strukturen oder Beziehungen in der Freiheit besteht, meint für Hegel, dass geistige Phänomene, wenn sie ihr Wesen realisieren, Freiheit verwirklichen. Und dass das Wesen des Menschen Geist ist, besagt dementsprechend, dass es diese Phänomene, Strukturen und Beziehungen sind, die Menschen von bloß naturhaften Entitäten, bloßen Tieren, unterscheiden. In eine mehr zeitgenössische Terminologie übersetzt, geht es Hegel um das, was man die Persönlichkeit des Menschen nennen  In Hegels reifem System, wie es in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriß dargelegt ist, behandelt der Abschnitt über den subjektiven Geist die subjektive Konstitution der menschlichen Person, der Abschnitt über den objektiven Geist die idealen institutionellen Strukturen menschlicher Koexistenz und ihrer Geschichte, der Abschnitt über den absoluten Geist schließlich die kollektiven Formen der Selbstrepräsentation und -reflexion menschlicher Lebensform, als da sind Kunst, Religion und Philosophie.  Vgl. Ikäheimo, Heikki: Anerkennung, a.a.O., Kap. 4.1.

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kann, und darum, dass sich Menschen von all dem, was es sonst noch gibt, durch ihr – potenzielles oder wirkliches – Personsein unterscheiden. Geistig zu sein oder Person zu sein, ist mithin eine Möglichkeit des Menschen, welche er in unterschiedlichen Graden realisieren kann. Und der Grad, in welchem er seine Geistigkeit oder Personalität jeweils instanziiert, ist im Kern der Grad seiner Freiheit. Allein, was genau versteht Hegel unter Freiheit? Er denkt darunter nicht jene abstrakte Freiheit, nicht die Freiheit von Bestimmtheit, sondern Freiheit in einem konkreten Sinn; als solche betrifft sie gerade das, was uns notwendigerweise bestimmt.⁵ Dass es Freiheit als das Freisein von Bestimmung sei, die unser Wesen ausmacht, ist schlicht unsinnig. Darum ist die einzig reale Freiheit, die hinsichtlich solcher wesenhaften Bestimmungen denkbar ist – wie etwa unseres Bestimmtseins durch innere und äußere Natur, soziale Institutionen und andere Menschen –, ein Freisein zu ihnen. Hegel fasst die Struktur konkreter Freiheit mithilfe des Begriffs absoluter Negativität, der, wie er erläutert, „Negation der Negation“ (Enz, § 382) oder „gedoppelten Negation“ (WL II, S. 275 f.). Die erste Negation meint dabei die Differenzierung oder Unterscheidung von etwas gegen etwas, welches so als das Gegenteil bestimmt ist; die zweite Negation besteht sodann in der Überwindung dieser Fremdheit oder Entfremdung hin zu einer gewissen Einheit der beiden zuvor Getrennten. Eine andere Wendung, mit der Hegel für gewöhnlich konkrete Freiheit beschreibt, ist „Identität der Identität und der Nichtidentität“⁶ oder die metaphorische Fügung „Beisichsein im Anderen“, genauer „Selbstbewußtsein im Anderen“⁷. Das Bewusstsein unterscheidet Objekte von sich, vom Subjekt, und die Überwindung dieser Fremdheit der Objekte besteht darin, dass sich das Bewusstsein oder Subjekt zu ihnen in ein Verhältnis konkreter Freiheit setzt, dass es also in ihnen bei sich bzw. seiner selbst bewusst ist. Damit zum Begriff (oder den Begriffen) der Anerkennung. Hegel gebraucht den Terminus ‚Anerkennung‘ in seinem philosophischen Sinn für Beziehungen, in denen Menschen einerseits zueinander und andererseits zu sozialen Institu-

 VPG, S. 14.  Die Einheit (oder „Identität“) zweiter Stufe, auf die sich der erste Ausdruck in dieser Formulierung bezieht, meint nicht einfach das Nebeneinanderstehen, sondern eine Beziehung, in der die Natur sowohl der Einheit erster Ordnung wie auch die der Differenz (oder „Nichtidentität“) besteht.  Zum Unterschied der letzten beiden Formulierungen siehe Ikäheimo, Heikki: Holism and Normative Essentialism in Hegel’s Social Ontology, in: Ders./Laitinen, Arto (Hg.): Recognition and Social Ontology, Leiden 2011, S. 145 – 210. Kurz gesagt ist „Bewußtsein“ oder Intentionalität wesentlich für die Form, wie Menschen (in einem viel höheren Grad als bloße Tiere) auf konkrete Weise frei sein können.

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tionen stehen. Die erste Form von Anerkennung will ich, in Anlehnung an L. Siep,⁸ horizontale Anerkennung nennen, die zweite vertikale Anerkennung. Diejenige Stelle in Hegels Werk, wo er die Sache der Anerkennung prominent diskutiert bzw. den Terminus in einer systematischen Weise entfaltet, ist das Selbstbewusstseins-Kapitel in der Phänomenologie des Geistes von 1807. Die eigentliche Bedeutung und Tragweite der Anerkennung wird jedoch erst in Hegels reifer Philosophie des subjektiven Geistes in der Enzyklopädie sichtbar, wo das Thema der Anerkennung ganz ähnlich im Kapitel über das Selbstbewusstsein vorkommt – diesmal aber nicht beschränkt auf den Zweck und die Methode einer Einleitung in die Philosophie, worein Hegel die Aufgabe der großen Phänomenologie gesetzt hat, sondern als Teil einer enzyklopädisch ausgearbeiteten Philosophie menschlicher Lebensform.⁹ Um jedoch erhellen zu können, was in der Enzyklopädie ‚Anerkennungʻ heißt, müssen wir zusätzlich zu der vorerwähnten Differenz zwischen horizontaler und vertikaler Anerkennung folgende begriffliche Unterscheidungen anbringen: 1) Erstens ist zwischen einer institutionell vermittelten und einer rein intersubjektiven Bedeutung horizontaler Anerkennung, also der Anerkennung zwischen Personen, zu unterscheiden.¹⁰ Eine naheliegende Deutung der Anerkennungsbeziehung zwischen den bekannten Figuren Herr und Knecht, die Hegel im Selbstbewusstseins-Kapitel auseinanderlegt, nimmt diese Beziehung als eine rein intersubjektive, eine, die nicht durch soziale Institutionen vermittelt ist. Immerhin beschreibt Hegel, wenigstens am Anfang seiner Ausführungen, eine äußerst primitive Form von Intersubjektivität zwischen durch Begierden angetriebenen Tieren und die Herausbildung von Intentionalität infolge einer Kollision, in die diese Tiere miteinander geraten.¹¹ Im Grunde diskutiert Hegel hier also die Geburt menschlicher Sozialität oder sozialer Verhältnisse, und so scheint es ausgeschlossen, dass er soziale Institutionen bereits als gegeben voraussetzt, durch welche diese Verhältnisse vermittelt sind. Nichtsdestotrotz deuten etliche Inter-

 Vgl. Siep, Ludwig: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie: Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Freiburg/München 1979.  Enz, §§ 424– 438.  Für eine detaillierte Interpretation des Hegel’schen Textes aus dieser Sicht sowie für weitere Distinktionen siehe Ikäheimo, Heikki: Anerkennung, a.a.O., Kap. 4. Einer der vielen Aspekte, in denen sich meine Lektüre der Beziehung von Herr und Knecht von der gängigen Deutung unterscheidet, ist, dass ich herauszuarbeiten versuche, in welchen Hinsichten die Anerkennung im Herr-Knecht-Verhältnis tatsächlich eine wechselseitige Anerkennung ausmacht. Hegel hat sich zu diesem Detail nicht eigens geäußert, die in der Sekundärliteratur oftmals vertretene Ansicht jedoch, die Anerkennungsbeziehung sei eine rein einseitige, läuft nach meinen Dafürhalten auf eine nicht angängige Simplifizierung hinaus.  Vgl. Enz, §§ 429 – 431.

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preten Hegels Ausführungen in institutioneller Perspektive. Schon die Rede von Herr und Knecht legt freilich eine solche Deutungsrichtung nahe, stellt doch Knechtschaft (oder Sklaverei) durchaus eine soziale Institution innerhalb der realen Welt dar.¹² Wer die Anerkennungsbeziehung von Herr und Knecht als eine institutionell vermittelte auslegt, begreift diese Beziehung als eine wechselseitige Anerkennung des anderen qua Träger von institutionell definierten Status oder Rollen, sprich qua Träger von deontic powers (um mit J. R. Searle zu sprechen), welche den Status oder die Rolle des Herrn wie des Knechts festlegen. Mir scheint demgegenüber, dass Hegel bewusst für beide Interpretationen Raum lässt (wie merkwürdig sich dies auch unter dem Gesichtspunkt der Architektonik der Geistphilosophie ausnehmen mag, sind doch Institutionen eigentlich erst im objektiven und nicht schon im subjektiven Geist thematisch). 2) Wir müssen noch deutlicher fassen, was in der Enzyklopädie ‚Anerkennungʻ im rein intersubjektiven, d. h. nicht institutionell vermittelten, Sinne besagt. Darum ist zweitens zu differenzieren zwischen zwei Bedeutungen oder, wenn man so will, Dimensionen rein intersubjektiver Anerkennung und sogar noch einer dritten, allerdings im Hegelʼschen Text weniger offensichtlichen.¹³ Die erste Dimension rein intersubjektiver Anerkennung ist eine deontologische. Sie zeigt sich aufseiten des Knechts, insofern dieser den Herrn als seinen Herrn im Sinne einer autoritativen Quelle von Regeln oder Normen für die gemeinsame Koexistenz und damit für das eigene Tun und Lassen anerkennt.¹⁴ Allerdings bringt die schlichte Tatsache, dass Regeln oder Normen um ihrer Realisierung willen auf konkrete Lagen und Umstände angewandt und insofern interpretiert werden müssen, mit sich, dass umgekehrt auch dem Knecht in ebendiesem Sinne eine wenigstens minimale ‚technische‘ Autorität gegenüber dem Herrn zukommt. In der Umsetzung der Anweisungen des Herrn konkretisiert

 Freilich gibt es viele verschiedene Formen von Knechtschaft sowie der Knechtschaft ähnliche Institutionen bzw. institutionalisierte Normsysteme. Hegels Überlegungen sind jedoch so allgemein gehalten, dass sie diese Vielheit durchaus zulassen. Sein Gebrauch von ‚Knecht‘ soll gerade einem Überschuss unangebrachter Konkretion vorbeugen.  Diese drei Dimensionen kommen in etwa mit jenen überein, die Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 1992 im Ausgang von Hegels Jenaer Schriften identifiziert. Meiner Deutung zufolge sind sie gleichfalls beim reifen Hegel zu finden, obgleich meine Anerkennungskonzeption im Detail von der Honneths abweicht. Für eine Diskussion der Arbeiten Honneths über Anerkennung siehe Ikäheimo, Heikki: Anerkennung, a.a.O., Kap. 6. Für eine Widerlegung der Ansicht, Intersubjektivität und damit Anerkennung habe keinen Ort innerhalb der Philosophie des subjektiven Geistes, siehe Ikäheimo, Heikki: On the Role of Intersubjectivity in Hegel’s Encyclopaedic Phenomenology and Psychology, in: The Bulletin of the Hegel Society of Great Britain 49/50 (2004), S. 73 – 95.  Vgl. Enz, § 435.

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der Knecht allererst deren Gehalt für den jeweiligen Fall. Und wie Hegel bemerkt, muss der Herr stets dahingehend „vernünftig befehlen“¹⁵, als seine Befehle doch ausführbar sein und ausgeführt werden sollen. Dazu gehört eben, auch wenn Hegel dies nicht eigens betont, dass der Herr den Knecht als Interpreten anerkennt: Der Knecht gibt den Befehlen des Herrn überhaupt erst einen bestimmten Gehalt. Die zweite Dimension rein intersubjektiver Anerkennung, die in Hegels Text virulent ist, ist dagegen eine axiologische. Sie geht sowohl den Knecht als auch den Herrn an, insofern beide das Wohl des jeweils anderen auf gewisse Weise wertschätzen und sich darum bekümmern. Wie Hegel schreibt, muss zum einen der Herr den Knecht „in seinem Leben […] erhalten“ (Enz, § 434), d. h. zumindest basal für dessen Wohlergehen sorgen; anderenfalls könnte jener kein Knecht und dieser kein Herr sein. Zum anderen macht es den Knecht aus, dass er durch seine Arbeit die Bedürfnisse des Herrn befriedigt. Gelänge ihm das nicht, hätte er selber darunter zu leiden, so dass er für seinen Teil gute Gründe hat, sich um das Wohlergehen des Herrn zu sorgen. Eine weitere, dritte Dimension rein intersubjektiver Anerkennung tritt in Hegels Text gewiss weniger eindeutig hervor; eine adäquate Rekonstruktion kommt jedoch nicht umhin, sie eindeutig zu benennen. Es handelt sich dabei um die, wie ich sagen möchte, kontributive Dimension der Anerkennung, und zwar die Anerkennung des Knechts durch den Herrn. Denn der Herr erkennt ja den Knecht und den Beitrag, welchen dieser zur Umsetzung seiner Zwecke leistet, an. Jemanden aber so als Mittel zu seinem eigenen Zweck zu gebrauchen, impliziert allemal eine instrumentelle Schätzung des betreffenden Mittels, in diesem Fall des Knechts. Tatsächlich folgt die zweite Dimension rein intersubjektiver Anerkennung, sprich die Sorge um das Wohl des anderen, logisch aus dieser dritten: Der Herr ist nur insofern um das Wohlergehen des Knechts bekümmert, als er den Knecht instrumentell, d. h. um der Verwirklichung seiner eigenen Zwecke und damit seines eigenen Wohlergehens willen, schätzt. 3) Damit kommen wir zur nächsten Unterscheidung, die hier zu treffen ist. Diese ist unverzichtbar, wenn wir angemessen verstehen wollen, wie in Anerkennungsbeziehungen konkrete Freiheit wirklich ist, was ja nach Hegel das Wesen des Menschen ausmacht. Und zwar ist im Hinblick darauf die Differenz von bedingten und unbedingten Formen oder Modi rein intersubjektiver Anerkennung zu beherzigen. Diese betrifft alle drei zuvor angeführten Dimensionen von Anerkennung.

 „Wer befehlen will muß vernünftig befehlen, nur wer vernünftig befiehlt dem wird gehorcht“ (PhG, S. 342).

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In der deontologischen Dimension finden wir zum einen eine bedingte Form der Anerkennung, nämlich den je anderen aus Gründen der Klugheit, d. h. nur insoweit als eine Autorität, anzuerkennen, als es für das eigene Überleben erforderlich (wie im Falle des Knechts, der jederzeit vom Herrn getötet werden kann) oder sonst wie für das eigene Wohlergehen förderlich ist (wie im Falle des Herrn, der seine Anweisungen vom Knecht ausgeführt wissen möchte). Zum anderen treffen wir hier aber gleichfalls auf einen unbedingten Modus der Anerkennung, da der andere daneben immer auch unabhängig von der einschränkenden Bedingung des jeweiligen Selbstinteresses von seinem Gegenüber anerkannt wird. Wir können dies als ‚Respektʻ bezeichnen. In der axiologischen Dimension ist zwischen der bedingten oder instrumentellen Sorge um das Wohlergehen des anderen, welches uns sowohl aufseiten des Herrn wie des Knechts begegnet, und der unbedingten oder intrinsischen Sorge um das je eigene Wohlergehen zu differenzieren. Damit tragen sich Herr und Knecht gleichermaßen. Wir wollen dies als ,Liebe‘ (oder ‚Selbstliebe‘) apostrophieren. Schließlich findet sich in der kontributiven Dimension ein entsprechender Unterschied zwischen einer instrumentellen Anerkennung des Knechts durch den Herrn, sofern dieser zur Verwirklichung von dessen Zwecken und damit Wohlergehen beiträgt, und einer nichtinstrumentellen oder nichtinstrumentalisierenden Anerkennung von jemandem als Beiträger. Wir nennen dies ‚Dankbarkeit‘.¹⁶ Wie verhalten sich nun all diese Unterscheidungen – die zwar in Hegels Text nicht wortwörtlich anzutreffen sind, aber doch aus einer sorgfältigen Lektüre hervorgehen – zum Begriff konkreter Freiheit, der das Fundament von Hegels Nachdenken über Anerkennung bildet? Im letzten Teilstück des Selbstbewusstseins-Kapitels in der Enzyklopädie, dem „Allgemeinen Selbstbewußtsein“, beschreibt Hegel die Struktur einer erfüllten wechselseitigen Anerkennung als die Struktur des „Wissen[s] seiner selbst im anderen Selbst“, da jedes Subjekt „ab-

 Diese Unterscheidung entnehme ich der folgenden Stelle bei Hegel: „Das Instrument [der Knecht oder Sklave; d. Verf.] dient dem Herrn daher auch mit Willen, bleibt an sich freies Selbstbewußtsein und dieser Wille des Knechts muß dem Herrn geneigt gemacht werden, er muß für den Knecht als Lebendiges sorgen, ihn schonen als an sich freien Willen, so wird der Knecht in die Gemeinsamkeit der Vorsorge aufgenommen, so wird er auch Zweck, er gilt, er hat seine Ehre, ist Glied der Familie.“ (Hegel, Georg W. F.: Die Phänomenologie des Geistes, Sommersemester 1825, in: Hegel’s Philosophy of Subjective Spirit, Bd. 3, Dordrecht 1979, S. 342) Den letzten Satz verstehe ich als die Beschreibung eines intersubjektiven Status einer Person, die als Mitglied der Familie etwas zur dieser Familie beiträgt und für ihre Beiträge eine nicht nur instrumentelle Schätzung durch die übrigen Familienmitglieder erfährt, sondern von ihnen geliebt und respektiert wird. (Damit ist freilich nicht gesagt, dass die Mitglieder einer Familie allein in solchen Anerkennungsbeziehungen zueinander stehen, die unbedingte sind.)

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solute Selbständigkeit“ besitzt und gleichwohl „sich nicht vom anderen unterscheidet“ (Enz, § 436). Hegel sieht in dieser Struktur sicherlich konkrete Freiheit als die Einheit von Einheit und Unterschied (bzw. „Identität der Identität und der Nichtidentität“) zwischen Personen vorliegen, also das wechselweise Bewusstsein seiner selbst in einer anderen, unabhängigen Person. Hegel gibt indessen kaum Aufschluss über den näheren Zusammenhang dieser Erscheinungsweise konkreter Freiheit und der Sache der Anerkennung im Allgemeinen oder gar der Formen und Dimensionen von Anerkennung, wie sie (implizit) in seinem Text am Werk sind. Auch sagt er im Kapitel zum „Allgemeinem Selbstbewußtsein“ nichts expressis verbis über die vertikale Anerkennung zwischen Individuen und Institutionen, obwohl diese hier ganz offenkundig eine Rolle spielt; denn was Hegel beschreibt, ist doch die anerkennungstheoretische Grundstruktur des auf konkrete Weise freien sozialen Lebens, welche für Hegel Institutionen (ein Thema erst der Philosophie des objektiven Geistes) einbegreift. Die normativen und damit evaluativen Prinzipien konkreter Freiheit gelten ersichtlich sowohl für horizontale wie für vertikale Anerkennungsbeziehungen insofern, als sie in diesen mit verschiedenen Graden realisiert sein können. Hierbei ist von Belang, dass die Wirklichkeit konkreter Freiheit nach zwei Richtungen hin graduell unterschiedlich ausfallen kann. Diese Richtungen hängen mit den beiden Momenten konkreter Freiheit zusammen, Einheit und Unterschied („Identität und Nichtidentität“). Denn es kann entweder nicht genügend Differenz zwischen den jeweiligen Relata oder nicht genügend Einheit geben. Hegels Herr etwa veranschaulicht den nahezu gänzlichen Mangel an Selbständigkeit von Normen gegenüber dem Subjekt, sprich eine Identität ohne entsprechende Differenz (so dass diese Identität selber unvollkommen ist). Die Normen, welche das Herr-Knecht-Verhältnis kennzeichnen, hängen so gut wie vollständig vom Herrn ab (abgesehen von der ‚technischen‘ Autorität des Knechts, sie in der Anwendung auf Lagen und Umstände zu konkretisieren), so dass der Herr selber keine von Normen geleitete Instanz darstellt; es gibt schlicht keine Regeln, an die seine Handlungen gebunden wären. Der Knecht hingegen veranschaulicht im Gegenzug eine radikale Entfremdung von oder Feindschaft gegen jene Normen, die für sein Leben leitend sind, will sagen eine Differenz ohne entsprechende Identität (die daher selber eine unvollkommene Differenz ist). Er hat nur geringen Einfluss auf den Gehalt der Regeln, die sein Handeln verbindlich bestimmen. Beide Figuren instanziieren folglich einen Mangel an konkreter Freiheit im Hinblick auf soziale Normen. Und der Mangel, den sie jeweils instanziieren, ergänzt sich wechselseitig: Weder der Herr noch der Knecht sind in ihrer Beziehung zueinander frei im konkreten Sinne, und keiner von beiden realisiert das Wesen des Menschen vollends (d. h. Geistigkeit oder Persönlichkeit).

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Worin besteht konkrete Freiheit in der vertikalen Beziehung zwischen Individuen und sozialen Normen bzw. (aus diesen Normen bestehenden)¹⁷ Institutionen? Im Kapitel über Selbstbewusstsein klärt Hegel das nicht auf, jedoch können wir die Frage beantworten, indem wir die oben getroffenen begrifflichen Unterscheidungen in Anschlag bringen. Dabei ist maßgeblich auf das Verhältnis zu achten, in dem vertikale und horizontale Anerkennung zueinander stehen. So besteht konkrete Freiheit in vertikalen Anerkennungsbeziehungen erstens darin, dass Individuen von sozialen Normen geleitet sind, welche unabhängig von dem jeweiligen Individuum Bestand haben; in der Folge erkennen sie andere Personen horizontal, also als die Quelle dieser Normen und damit als Autorität für sich, an. Das ist das Moment der Differenz, des Bestimmtseins durch etwas anderes als sich selber, nämlich – vertikal – durch soziale Regeln oder Institutionen und somit – horizontal – durch andere Personen. Zweitens gehört zur konkreten Freiheit in vertikalen Anerkennungsbeziehungen, dass das Individuum die sozialen Normen als damit übereinstimmend erachtet, was es für vernünftig hält und/oder zuträglich für das eigene sowie das Wohlergehen der anderen, um das es sich bekümmert, und/oder für einen Ausdruck der eigenen Autorität. Das ist abermals von sich aus verbunden mit einer horizontalen Anerkennung derjenigen anderen, die über derlei Normen Autorität haben bzw. diese Normen teilen; das hat die Gestalt des Vertrauens darauf, dass sich die anderen gleichfalls um das eigene wie das Wohlergehen der anderen sorgen, um das man sich je selber sorgt, und/oder dass sie einen als jemanden anerkennen, der über jene Normen Autorität hat bzw. diese Normen teilt. Das ist das Moment der Einheit, das Bewusstsein seiner selbst im anderen, der einen bestimmt, nämlich – vertikal – in den sozialen Regeln und Institutionen und – horizontal – in den anderen Personen, die mit einem zusammen über diese Regeln und Institutionen Autorität besitzen. Aus dem Dargelegten geht hervor, und das zu bemerken ist von großer Wichtigkeit, dass konkrete Freiheit, wie sie im sozialen Leben realisiert ist, selbst noch mit einer bloß bedingten Anerkennung unter Individuen vereinbar ist: einer Anerkennung, da sich die beteiligten Individuen wechselweise Autorität zuschreiben bloß aus Gründen der Angst oder Klugheit, aus einem gegenseitigen,

 In seiner Diskussion des Tyrannen Pisistratus berührt Hegel die vertikale Anerkennung (vgl. Enz, § 435 Z). Denn der Tyrann steht ‚über‘ den und ist also vertikal bezogen auf die Athener, die ihrerseits horizontal aufeinander bezogen sind. Unter Institutionen verstehe ich hier solche Konstellationen sozialer Normen, die Rollen, bestehend aus deontologischen Kräften (Rechten, Pflichten usw.), bestimmen und die es nur gibt, sofern Personen diese Rollen ausüben. Da auch Sprache und sprachbasiertes Denken von sozialen Normen geleitete Aktivitäten darstellen, ist klar, dass die Beziehung von Personen zu sozialen Normen und Institutionen keineswegs eine äußerliche ist.

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bloß instrumentellen Interesse am Wohlergehen des anderen und einer gegenseitigen, bloß instrumentellen Wertschätzung des anderen als nützlich für einen selbst. Mit einem Wort: aufgrund gegenseitiger Instrumentalisierung. Ein solches Bild vom sozialen Leben jedoch, dessen Regeln und Institutionen allein auf Angst, Selbstinteresse und wechselseitiger Instrumentalisierung beruhen, scheint eine unschöne hobbesianische Karikatur der ethischen Einheit oder Sittlichkeit zu sein, wie sie Hegel im Kapitel über das „Allgemeinen Selbstbewußtsein“ als die Erfüllung konkreter Freiheit und sonach als das Wesen des Menschen vorschwebt. Es ist dies gewiss nicht, was Hegel im Sinn hatte, jedenfalls nicht ohne Weiteres.¹⁸ Wir sehen jetzt, warum es unerlässlich ist, zwischen bedingten und unbedingten Modi rein intersubjektiver horizontaler Anerkennung zu unterscheiden. Es ist eben erst die rein intersubjektive Anerkennung im Modus der Unbedingtheit – Dankbarkeit, Liebe, Respekt –¹⁹, die konkrete Freiheit in horizontalen Beziehungen auf vollendete Weise zum Dasein bringt. Das bedeutet: Indem man weiß, dass man der Gegenstand einer unbedingten Anerkennung durch andere ist, erfährt man sich selbst in Bezug auf andere, unabhängige Subjekte, deren Intentionalität einen nichtsdestotrotz „affirmiert“²⁰, so dass man in ihnen „durchaus“ „sich selbst anschaut“²¹ und folglich mit ihnen versöhnt ist. Doch warum ist es erst die unbedingte Form der Anerkennung, in der konkrete Freiheit und damit Geist „durchaus“ oder auf vollendete Weise wirklich ist? Und in welchem Sinne kann man sagen, wie ich angeregt habe, dass dies auf die Realisierung von Personalität hinausläuft? Die Antwort lautet, dass anders als bei bedingter Anerkennung die unbedingte Anerkennung jene Selbstanerkennung widerspiegelt, die vollständig ausgebildete psychologische Personen sich selber zuteilwerden lassen: Es ist für eine gelungene oder vollständig ausgebildete psychologische Persönlichkeit wesentlich, sich um das ei-

 In der Sekundärliteratur wird gegenseitige oder symmetrische Anerkennung des Öfteren als Lösung ins Feld geführt für die Defizienz der Herr-Knecht-Beziehung. Gegenseitigkeit oder Symmetrie reicht allerdings nicht aus, ist doch die Anerkennung in solchen Beziehungen, wie gezeigt, immer schon in mehrfacherweise eine gegenseitige oder symmetrische.  Im Kapitel über das „Allgemeine Selbstbewußtsein“ erwähnt Hegel davon lediglich „Liebe“. Darüber hinaus nennt er jedoch auch „Freundschaft“; und diese befasst üblicherweise so etwas wie Respekt und Dankbarkeit in sich: „Dieses allgemeine Wiedererscheinen des Selbstbewußtseins […] ist die Form des Bewußtseins der Substanz jeder wesentlichen Geistigkeit, der Familie, des Vaterlandes, des Staates, sowie aller Tugenden, der Liebe, Freundschaft, Tapferkeit, der Ehre, des Ruhms.“ (Enz, § 436)  „Das allgemeine Selbstbewußtsein ist das affirmative Wissen seiner selbst im anderen Selbst“ (Enz, § 436).  „Der dem Knecht gegenüberstehende Herr war noch nicht wahrhaft frei, denn er schaute im anderen noch nicht durchaus sich selber an.“ (Enz, § 436 Z)

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gene Wohlergehen nicht nur aus instrumentellen, sondern aus intrinsischen Gründen zu bekümmern, den eigenen Urteilen und dem eigenen Willen einen unbedingten Anspruch auf Autorität einzuräumen und sich selber nicht nur als ein nützliches Werkzeug, sondern als jemanden anzusehen, der einen freien Beitrag zum gemeinsamen Leben mit anderen liefert.²² Indem man weiß, dass man der Gegenstand einer solchen unbedingten Anerkennung durch ein anderes Subjekt ist, erfährt man sich selbst so, dass man in dessen Intentionalität „durchaus“ „affirmiert“ ist, und ist sich insofern „durchaus“ in einem unabhängigen anderen seiner selbst bewusst. Allgemeiner formuliert, unbedingte Anerkennung realisiert das spezifisch menschliche Vermögen kollektiver Autonomie in größtmöglicher Weise, inklusive der normgeleiteten Aktivitäten des sprachlichen Diskurses und des sprachbasierten Denkens.²³ Sie erlaubt es den Menschen, sich gegenseitig in größtmöglicher Weise als vollauf unabhängige Personen zu erfassen, die sich nicht auf die Perspektive des anderen reduzieren lassen, und sich selber in einer motivational wirksamen Weise als eine Person unter anderen zu sehen, und das dennoch so, dass sie sich und die anderen als in Gründen, Interessen und Motivationen vereint erfährt. Man könnte daher die unbedingte rein intersubjektive Anerkennung auch als eine ‚vollumfänglich personifizierende‘ Anerkennung bezeichnen, weil sie in äußerster Weise Personalität, in Hegels Sprache (subjektiven) Geist, da sein lässt. Überdies ist es diese vollkommen freie ethische „Identität von Identität und Nichtidentität“ in horizontalen Anerkennungsbeziehungen, definiert durch vollumfängliche gegenseitige Personifizierung, welche die intersubjektive Grundlage einer freien und vernünftig begründeten institutionellen Ordnung bildet, die die Autorität, die Interessen und das Wohlergehen derer, deren Leben sie regelt,  Das ermöglicht es, dementsprechende Selbstbeziehungen wahrzunehmen, die pathologisch sind im Sinne von förderlich oder hinderlich für die psychische Personalität: die Wahrnehmung des eigenen Lebens oder Glücks, sofern es in Bezug auf seine intrinsische Bedeutung mangelhaft bleibt, die Wahrnehmung seiner selbst, sofern man hinter den Normen oder Regeln, die das eigene Leben bestimmen, zurückbleibt, sowie die Wahrnehmung seiner selbst, sofern man ohne Aufgabe und Nutzen oder bloß instrumentell für andere bedeutsam ist.  In Ikäheimo, Heikki: Is ,Recognition‘ in the Sense of Intrinsic Motivational Altruism Necessary for Pre-linguistic Communicative Pointing?, in: Christensen, Wayne/Schier, Elizabeth/Sutton, John (Hg.): ASCS09: Proceedings of the 9th Conference of the Australasian Society for Cognitive Science, Sydney 2010, S. 145 – 153 begründe ich diesen Anspruch aus einer evolutionär-anthropologischen Perspektive. Kurz gesagt entlastet die Unbedingtheit der Anerkennung die Sozialität, Kommunikation und das Denken, indem sie das Bedürfnis nach fortwährender Klugheitsüberlegung hinter sich lässt. Dies steht im Einklang mit Hegels Betonung der Bedeutsamkeit, und zwar in seiner Philosophie des subjektiven Geistes, der Gewohnheit als einem notwendigen Element aller kognitiven Funktionen und damit aller intentionalen Beziehungen. Gewöhnung an etwas schließt ja die relative Abwesenheit einer fortgesetzten Problematisierung der betreffenden Sache ein; so gesehen hat die unbedingte Anerkennung einen Vorzug im Vergleich zur bedingten.

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maximal reflektiert. Anders gesagt besteht eine enge Verbindung zwischen konkreter Freiheit in horizontalen Beziehungen unter Individuen einerseits und konkreter Freiheit in vertikalen Beziehungen unter Individuen und sozialen Institutionen bzw. der Gesellschaft andererseits. Zu wissen, dass andere Mitglieder der Gesellschaft die institutionellen Strukturen und Normen des gemeinsamen Lebens nicht bloß aus Furcht vor den anderen (mich eingeschlossen) oder überhaupt aus bloßen Klugheitsgründen akzeptieren (weil sie etwa Institutionen für ein nützliches Mittel halten, andere auszubeuten), sondern sich auch deshalb daran halten, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, weil sie die anderen respektieren (mich eingeschlossen) und/oder eine genuin nichtinstrumentelle Sorge um das Wohlergehen der anderen empfinden und/oder deren Beiträge dankbar wertschätzen, ist entscheidend für meine Fähigkeit, Vertrauen zu diesen anderen zu haben und mich in der gemeinsam geteilten sozialen Welt zu Hause zu fühlen, in ihr also frei im konkreten Sinne zu sein. Hegel selbst entfaltet diese Details nicht im Selbstbewusstseins-Kapitel oder sonst wo in einem veröffentlichten Werk, welches Marx bekannt war. Eine strikt auf die Sache konzentrierte Rekonstruktion jedoch hat dies als den Kern der Anerkennungsbeziehung des „Allgemeinen Selbstbewußtseins“ und damit der Sittlichkeit herauszuarbeiten. Es wäre daher nicht verwunderlich, wenn gedanklich eigenständige und geistreiche, obgleich nicht immer sorgfältige Hegel-Leser wie L. Feuerbach und der junge Marx auf ähnliche Gedanken gekommen wären.

2 Anerkennung und konkrete Freiheit in Marxens Auszügen aus James Mill Aus Marxens kritischer Auseinandersetzung mit Hegel im dritten seiner Pariser Manuskripte geht nicht hervor, ob ihm die im Vorstehenden angesprochenen Themen vor Augen standen. Allein, liest man Marxens Auszüge aus James Mills Buch „Eléments d’économique politique“ vor diesem Hintergrund, lässt sich leicht ersehen, dass sie im Text durchaus präsent sind, wenn auch auf eher unausdrückliche und z.T. womöglich sogar unbewusste Weise. Eingedenk des erheblichen Einflusses, den Hegel auf die philosophische Bildung von Marx im Allgemeinen und die intellektuellen Kreise im Besonderen ausgeübt hat, in welchen sich der junge Marx bewegte, wäre es natürlich keineswegs überraschend, in Marxens Überlegungen mehr Hegel aufzufinden, als Marx selber klar war. Auch Feuerbach, dessen Hegel-Verständnis eine große Wirkung auf den jungen Marx ausübte, war sich in einem erstaunlichen Maß entweder nicht im Klaren über Hegels enormen Einfluss auf sein Denken oder wollte diesen Einfluss geflissent-

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lich ausblenden.²⁴ Mir ist es hier allerdings nicht um die Quellen von Marxens ‚unbewusstem Hegelianismus‘ in den Auszügen zu tun.Vielmehr interessiert mich ganz unabhängig von Marxens Selbstverständnis die faktische Präsenz von Hegels Gedanken über Anerkennung, konkrete Freiheit und das Wesen des Menschen in Marxens Text sowie die Ähnlichkeiten und Unterschiede in den Konzeptionen der beiden Autoren. Im Folgenden werde ich zunächst darlegen, welche der oben unterschiedenen Formen von Anerkennung Marx in den Auszügen in seine Beschäftigung mit Kapitalismus und Kommunismus einbezieht. Anschließend wende ich mich den Ähnlichkeiten und Unterschieden zu, die zwischen Hegels und Marxens Auffassung des menschlichen Wesens, soweit sich diese anhand einer Rekonstruktion der jeweiligen Anerkennungskonzeptionen und ihrem Verhältnis zu konkreter Freiheit ausmachen lassen, bestehen.

2.1 Anerkennung im Kapitalismus Zentral ist in Marxens Ausführungen der Gegensatz, mit dem sich menschliches Leben in Kapitalismus und Kommunismus vollzieht.²⁵ Dieser Gegensatz lässt sich wohl unter diversen Gesichtspunkten erhellen, was bislang auch vielfach geschehen ist, doch ist es gerade der Gesichtspunkt der Anerkennung, der eine

 Vgl. Feuerbach, Ludwig A.: Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843), Frankfurt a. M. 1983, § 36, wo Feuerbach die „alte Philosophie“ und damit auch Hegel dafür kritisiert, dass sie das Ich nur inadäquat fasst: „Ich bin ein abstraktes, ein nur denkendes Wesen, der Leib gehört nicht zu meinem Wesen“. Wenn wir davon ausgehen, dass Feuerbach mit Hegels Philosophie des subjektiven Geistes vertraut war, einschließlich der Anthropologie, wo Hegel die unabdingliche Körperlichkeit des menschlichen Geistes diskutiert, sowie des Selbstbewusstsein-Kapitels, wo Hegel die intersubjektive Vermittlung der Struktur menschlichen Bewusstseins bzw. menschlicher Intentionalität entwickelt, fällt es schwer zu verstehen, wie Feuerbach allen Ernstes zu derlei Behauptungen kommen konnte. Feuerbach hat nachweislich Hegels Vorlesung „Philosophie des Geistes – Oder Anthropologie und Psychologie“ (1825) besucht. Vgl. Feuerbach, Ludwig A.: Gesammelte Werke, Bd. 1, Berlin 1966, S. xii – xiii. Eine freundlichere Auslegung von Feuerbachs Behauptung wäre, dass er nicht ganz durchgestiegen ist durch das, was er von Hegel gelesen und gehört hat. Dieses Gelesene und Gehörte hat aber nichtsdestotrotz gewisse Spuren in Feuerbachs Denken hinterlassen, die er später eigenständig ausgearbeitet hat, selbst wenn er dabei nicht über deren wahre Quelle im Bilde war.  ‚Kapitalismus‘ gehört zu dieser Zeit noch nicht zu Marxens Vokabular. Ich verwende die Termini ‚Kapitalismus‘ und ‚Kommunismus‘ hier und im Weiteren jedoch zugegebenermaßen ungenau als Abkürzungen für ‚entfremdete‘ und ‚nichtentfremdete‘ soziale Lebensbedingungen, wie sie Marx selber in seinem Text einander gegenüberstellt.

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besonders aufschlussreiche Perspektive verspricht.²⁶ Betrachten wir zunächst, wie oder in welchem Sinne Marx in seinen Auszügen Anerkennung unter den entfremdeten Bedingungen des Kapitalismus für möglich hält. Mindestens fünf miteinander verbundene Bedeutungen von Anerkennung lassen sich hier namhaft machen. a) Im Kapitalismus begegnen sich die Individuen als „Privateigentümer“²⁷ und erkennen sich als solche an, d. h. als Träger von Rechten auf Eigentum oder „Person“²⁸. Da ich den Begriff der Person bereits in meiner Auseinandersetzung mit Hegel herangezogen habe und das mit einer Bedeutung, die von Marxens Begriffsverwendung abweicht, bedarf dieser hier einige Erläuterung. Kurz gesagt sind drei Bedeutungen von Persönlichkeit zu differenzieren: institutionelle, psychologische und intersubjektive Persönlichkeit.²⁹ Marx gebraucht den Terminus im institutionellen Sinn. Person sein heißt ihm, Träger von gewissen grundlegenden Rechten und anderen deontischen Vermögen innerhalb eines institutionellen Systems zu sein, paradigmatischerweise des Rechts auf Leben und Eigentum. Der sonst übliche sprachliche Ausdruck für diesen Sachverhalt ist ‚juridische Persönlichkeit‘. Die gegenseitige Anerkennung von Individuen als Eigentümern – der Kapitalist als Eigentümer der Produktionsmittel, der Arbeiter als Eigentümer seiner Arbeitskraft – ist gemäß der von mir oben eingeführten begrifflichen Unterscheidungen eine institutionell vermittelte Anerkennung des anderen als eines Trägers von Rechten und sonstigen institutionell festgelegten deontischen Vermögen, welche das Personsein im institutionellen Sinn definieren. Diese institutionelle Bedeutung, mit der Marx in seinen Auszügen von Persönlichkeit spricht, ist nicht zu verwechseln mit Persönlichkeit in psychologischer Bedeutung; diese ist demgegenüber durch psychische Fähigkeiten definiert, welche den Menschen von einfacheren Tieren unterscheiden, und hängt Hegel zufolge genetisch und konstitutiv von intersubjektiver Anerkennung ab. Und sie ist auch nicht zu verwechseln mit Persönlichkeit im intersubjektiven Sinn, welche in der Rolle besteht, die Individuen einander zuschreiben, wenn sie sich im Modus der (unbedingten) rein intersubjektiven Anerkennung begegnen: im Modus der Liebe, da das Glück oder Wohlergehen des anderen von intrinsischer Bedeutung ist, im Modus des Respekts, da die Urteile und der Wille des anderen einen irreduziblen Anspruch auf Autorität haben, sowie im Modus der Dankbarkeit, da die freien und (we-

 Siehe auch Quante, Michael: Recognition as the Social Grammar of Species Being in Marx, a.a.O.  Marx, Karl: Auszüge aus James Mills Buch „Éléments d’économie politique“, in: Karl Marx. Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, Frankfurt a. M. 2009, S. 196.  Ebd., S. 201.  Vgl. Ikäheimo, Heikki: Anerkennung, a.a.O., Kap. 2 und 7.

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nigstens partiell) uneigennützigen Beiträge des anderen aus nichtinstrumentellen Gründen geschätzt werden. b) Die zweite und eng damit zusammenhängende Bedeutung von Anerkennung ist die, welche Marx in seiner Beschreibung des Kapitalismus als „ökonomische Anerkennung“³⁰ ausdrückt: die Anerkennung des anderen als eines Vertragspartners im Geben und Nehmen von Geld bei Kreditgeschäften, dass er insbesondere in der Lage ist, Geld zurückzuzahlen – eine, wie Marx notiert, im Kapitalismus ins Moralische pervertierte Angelegenheit.³¹ Diese Art der Anerkennung lässt sich vielleicht am besten als eine Mischform wiedergeben, bestehend aus mindestens 1) der ‚Anerkennung‘ des anderen als eines Subjekts, das einer den Kapitalismus auszeichnenden Norm unterliegt und sie befolgt, das sich also nach der kapitalistischen Denkart einer fundamentalen moralischen Norm menschlicher Koexistenz gemäß verhält, und 2) der Anerkennung des anderen in einem instrumentellen Sinn, den ich sogleich unter e) behandeln werde. c) Obwohl Marx das nicht ausdrücklich diskutiert, ist klar, dass beide der vorgenannten Formen institutionell vermittelter horizontaler Anerkennung immer auch eine vertikale (aufsteigende) Anerkennung des institutionellen Systems, welches die Rechte, Pflichten und sonstige deontische Kräfte garantiert, durch die Individuen implizieren, d. h. des Staates. (Die ‚absteigende‘ vertikale Anerkennung von Individuen durch den Staat ist darin freilich ebenfalls mit enthalten, obwohl es sich dabei eher um Anerkennung in einem nur metaphorischen Sinne handelt.) d) Die institutionelle Ordnung des Privateigentums und der Vertragsbeziehungen geht im Kapitalismus einher mit einer bedingten Form der axiologischen Dimension rein intersubjektiver horizontaler Anerkennung, sprich einem instrumentellen Interesse am Wohlergehen der anderen. Denn damit der Arbeiter seine Bedürfnisse befriedigen kann, was für ihn ein unbedingtes Interesse darstellt, muss er dem Kapitalisten etwas zur Befriedigung von dessen Bedürfnissen anbieten, und das ist seine Arbeitskraft. Der Kapitalist seinerseits hat ein Interesse daran, etwas auf den Markt zu bringen, was Konsumenten zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse benötigen. Jeder der beiden, Arbeiter wie Kapitalist, trägt sich also mit einer unbedingten Sorge um die eigenen Bedürfnisse sowie mit einer bedingten oder instrumentellen Sorge um die Bedürfnisse der anderen Gesellschaftsmitglieder, die zu befriedigen nützlich ist für die Befriedigung der eigenen  Marx, Karl: Auszüge aus James Mills Buch „Élémens d’économie politique“, a.a.O., S. 194: „nationalökonomische Anerkennung des Menschen“.  „Indem im Creditsystem die moralische Anerkennung eines Menschen […] die Form des Credits erhielt, tritt dass Geheimniss, welches in der Lüge der moralischen Anerkennung liegt, die unmoralische Niedertracht dieser Moralität“ (ebd., S. 195).

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Bedürfnisse. Wie Marx notiert: „was deinem Bedürfniss zu meiner Sache einen Werth, eine Würde, einen Effekt für mich giebt, ist allein dein Gegenstand, das Aequivalent meines Gegenstandes.“³² Anders formuliert, deine Bedürfnisse haben einen „Effekt für mich“ oder bewegen mich nur in dem Maße, als sie mir zur Befriedigung meiner eigenen Bedürfnisse dienen (indem ich sie nämlich durch meine Arbeit oder meinen „Gegenstand“ befriedigen kann oder durch das Zahlen eines Preises für deinen „Gegenstand“, den du nicht ablehnen willst oder kannst). e) Das soeben erwähnte instrumentelle Interesse an der Befriedigung der Bedürfnisse anderer ist offenbar eine Folge aus dem Umstand, dass sich Individuen gegenseitig als für das je eigene Wohlergehen nützlich einschätzen. So schätzt auch Hegels Herr den Knecht als nützlich ein für die Befriedigung seiner Bedürfnisse. Damit macht desgleichen der bedingte oder instrumentelle Modus der kontributiven Dimension rein intersubjektiver bedingter Anerkennung ein wesentliches Element der menschlichen Beziehungen im Kapitalismus aus. f) Da Individuen schließlich die Güter, Produkte oder „Gegenstände“ der anderen benötigen, jedoch kein intrinsisches Interesse am Wohlergehen oder der Bedürfnisbefriedigung der anderen haben, sind sie darauf aus, sich so viele Gegenstände wie möglich anzueignen und so wenig wie möglich dafür zu bezahlen. Das bedeutet, dass im Kapitalismus die Beziehungen zwischen den Individuen, so Marx, von „Plünderung“ oder „Betrug“ durchdrungen sind; ja, Marx charakterisiert diese „gegenseitige Anerkennung“ gar als „Kampf“³³. Dabei scheint er Hegels Beschreibung jener Kollision im Hinterkopf zu haben, die zur asymmetrischen Beziehung von Herr und Knecht führt. Nach Marx ist der Kapitalismus ein teilweise vorsozialer Naturzustand, in dem der fortwährende „Kampf“ um Anerkennung noch nicht überwunden ist. Die Normen und Institutionen des Kapitalismus geben diesem „Kampf“ um Anerkennung nur eine spezifische Ausprägung, ohne jedoch die Bedingtheit oder Instrumentalität sozialer Beziehungen und den damit verbundenen Kampf zwischen aufgeklärten Egoisten zu überwinden. Das gehört mit zum Kern der Auffassung, die der junge Marx vom Kapitalismus hat, dass unter seiner Herrschaft menschliche Beziehungen nicht wahrhaft „menschliche Beziehungen“ sein können.

 Ebd., S. 205.  Ebd., S. 204.

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2.2 Anerkennung im Kommunismus Marxens Beschreibung der demgegenüber nichtentfremdeten Lebensbedingungen im Kommunismus, unter denen das Gattungswesen der Menschlichkeit zur Wirklichkeit zu kommen vermag, fällt äußerst knapp und skizzenhaft aus. Dennoch führt Marx genug aus, um die darin liegenden anerkennungstheoretischen Grundelemente nachzeichnen zu können. Und zwar sind menschliche Beziehungen im Kommunismus Marx zufolge durch zwei, und nur zwei, Formen von Anerkennung geprägt. Erstens vollzieht sich das menschliches Leben – anders als unter den kapitalistischen Bedingungen von Eigentum, Produktion und Konsumtion, wo Individuen als Arbeiter, Kapitalisten und Konsumenten ein nur instrumentelles und daher bedingtes Interesse am Wohlergehen der anderen haben – im Kommunismus in der Gestalt solcher Arbeit, die um der Befriedigung der Bedürfnisse von anderen willen getan und, jedenfalls teilweise, von einem nichtinstrumentellen und folglich unbedingten Interesse an deren Wohlergehen getragen ist.³⁴ Was hier am Werk ist, ist demnach der unbedingte Modus der axiologischen Dimension rein intersubjektiver Anerkennung, will sagen Liebe. Anders als im Kapitalismus werden die Individuen unter kommunistischen Bedingungen in unbedingter Weise durch die Bedürfnisse der anderen motiviert: Der „Effekt“, den meine Bedürfnisse auf dich haben, ist nicht vermittelt durch deine Klugheitskalkulation, inwiefern ich für dich nützlich bin. Zweitens: Frei und, zumindest z.T., aus altruistischen Beweggründen heraus arbeiten, um die Bedürfnisse anderer zu befriedigen, d. h. zu ihrem Wohlergehen aus freien Stücken und, wenigstens teilweise aus dem Motiv der Liebe beizutragen, löst in diesen anderen eine moralische Wirkung aus, eine Anerkennung besonderer Art, die Marx selber (recht missverständlich) auf der letzten Seite seines Manuskripts als „Liebe“³⁵ bezeichnet. Dieser sprachliche Fehlgriff lässt sich indes unschwer korrigieren, wenn man, wie von mir vorgeschlagen, bedenkt, dass Liebe für Marx nichts anderes ist als eine bestimmte Triebfeder für die Produktion von Gütern und damit die Reproduktion menschlichen Lebens und dass die Reaktion auf frei und aus Liebe geleistete Beiträge zum Wohlergehen anderer in der Dankbarkeit besteht. Marxens Diskussion des Unterschieds zwischen der Anerkennung im Kapitalismus und der im Kommunismus macht sich generell daran fest, dass die  Ein unbedingtes Interesse an anderen als Motiv der eigenen Arbeit ist nicht das einzige wichtige subjektive Kennzeichnen nichtentfremdeter Arbeit. Ein anderes ist: „In der Arbeit wäre daher die Eigentümlichkeit meiner Individualität […] bejaht.“ (Ebd., S. 207)  Ebd., S. 207: „sowohl in deinem Denken wie in deiner Liebe mich bestätigt zu wissen“.

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Menschen unter kapitalistischen Voraussetzungen einander als Personen anerkennen, unter kommunistischen Voraussetzungen hingegen als Menschen. ³⁶ Wie ist das zu verstehen? Dieser Gegensatz ist in engem Zusammenhang zu sehen mit Marxens Rede von „Vermittlung“, genauer davon, dass der Kapitalismus seiner Meinung nach durch zwei ‚schlechte‘ Formen der Vermittlung menschlicher Beziehungen und der Kommunismus durch eine ‚gute‘ Vermittlungsform charakterisiert ist. Die beiden schlechten Vermittlungsformen sind erstens die „entäusserte Vermittlung“³⁷ durch Geld, allgemeiner durch den Markt als eine Institution mit seinen Regeln oder Normen des Tausches und der Distribution unter Individuen³⁸ als „Personen“; zweitens die Vermittlung durch Eigeninteresse. Letztere bringt Marx in seiner Rede vom „Gegenstand“ zum Ausdruck, d. h. dem Eigentum oder den „Produkten“ des anderen als meinem primären Zweck, welcher meine Sorge um die Bedürfnisse des anderen nach meinem Eigentum oder meinen Produkten vermittelt bzw. bedingt.³⁹ Die gute Form der Vermittlung, durch die sich der Kommunismus bestimmt, ist eine, in der der „Mensch“ – „als Mensch“ – „Mittler für den Menschen“⁴⁰ ist. Marx unterstreicht damit, negativ, die Abwesenheit der beiden schlechten Vermittlungsformen, der Vermittlung durch Geld, allgemeine Normen oder Institutionen, und durch Eigeninteresse. Zudem, und jetzt positiv, operiert Marx hier mit einer Hegel’schen Idee (mit der er wahrscheinlich durch Feuerbach in Berührung gekommen ist, welcher sie seinerseits vermutlich von Hegel hat, ohne darum zu wissen), nämlich der Idee eines Bewusstseins oder einer Erkenntnis seiner selbst im anderen. Einerseits „weiß“ sich, wie Marx bemerkt, das Individuum qua Produzent „im Denken und der Liebe“ anderer Individuen, die von seiner Arbeit

 Ebd., S. 213: „[…] kein menschliches Verhältnis […]“; „Weil die austauschenden Menschen sich nicht als Menschen zu einander verhalten […]“.  Ebd., S. 189. Marx verwendet hier „entäusserte“ synonym mit „entfremdete“.  Ebd., S. 201: „[…] Production, Consumption und als Vermittler von beiden Austausch oder die Distribution […]“.  Ebd., S. 205: „Der Austausch vermittelt sich also von beiden Seiten nothwendig durch den Gegenstand der wechselseitigen Production und wechselseitigen Besitzes“. Die beiden schlechten Vermittlungsformen stehen in der folgenden Formulierung zusammen: „Im Credit ist statt des Metalls oder des Papiers der Mensch selbst der Mittler des Tausches geworden, aber nicht als Mensch, sondern als das Dasein eines Capitals und der Zinzen.“ (Ebd., S. 193)  „Statt dass der Mensch selbst der Mittler für den Menschen sein sollte […]“ (ebd., S. 189). „Im Credit ist statt des Metalls oder des Papiers der Mensch selbst der Mittler des Tausches geworden, aber nicht als Mensch, sondern als das Dasein eines Capitals und der Zinzen. [Herv. d. Verf.]“ (Ebd., S. 193)

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profitieren, „bestätigt“⁴¹. Anderseits sind dem Individuum qua Konsumenten andere Individuen, als Arbeiter oder Produzenten, bewusst als „Ergänzung [s]eines eigenes Wesens, als ein nothwendige[r] Theil [s]einer selbst“. Mit anderen Worten bin ich als Produzent meiner selbst in dem Sinne in dir bewusst, dass ich mich durch deine Dankbarkeit bestätigt weiß, und du bist dir als Konsument deiner selbst in mir bewusst durch meine Liebe zu dir und meine durch Liebe veranlassten Beiträge zu deinem Wohlergehen. (Und so auch wechselweise, wenn beide Konsument und Produzent sind.) Dieses Bewusstsein bzw. diese Erkenntnis, durch die unbedingte Anerkennung des anderen bestätigt oder bejaht zu sein, bezeichnet Hegel im ersten Satz des Kapitels über das „Allgemeine Selbstbewußtsein“ als das wechselseitige „affirmative Wissen seiner selbst im anderen Selbst“. Und er identifiziert es mit dem allgemeinen Selbstbewusstsein, d. h. als konkrete Freiheit in zwischenmenschlichen Beziehungen. In der Terminologie der Personalität ausgedrückt, in der ich eine hilfreiche Übersetzung von Hegels GeistTerminologie sehe, heißt dies, dass in Marxens kommunistischer Utopie – wie in Hegels Darstellung des „Allgemeinen Selbstbewußtseins“ – Individuen einander uneingeschränkt als Personen im rein intersubjektiven Sinne betrachten. Diese unbedingte und insofern vollständig personifizierende rein intersubjektive Anerkennung ist es, die zwischen ihnen eine wahrhaft „menschliche Beziehung“ begründet, eine, in denen sich ihr Wesen als Menschen unverkürzt realisiert. Es dürfte nunmehr ersichtlich sein, dass Marxens konzise Beschreibung des nichtentfremdeten sozialen Lebens der Sache nach, ob ihm das bewusst war oder nicht, mit dem (oder mit Hegels) Begriff konkreter Freiheit als „Selbstbewußtsein im Anderen“ operiert. Und es sind eben horizontale Beziehungen, in denen sich eine unbedingte rein intersubjektive Anerkennung und damit konkrete Freiheit instanziiert, die für Marx das Gattungswesen verwirklichen. – Das sieht nun alles sehr nach einer Paraphrase von Hegels normativem Essenzialismus des Geistes und des Menschseins aus, dem zufolge die Realisierung des Wesens des Geistes und der Menschlichkeit eine Realisierung konkreter Freiheit in Beziehungen, die den Geist oder die menschliche Lebensform auszeichnen, ausmacht.

 „Ich hätte […] für dich der Mittler zwischen dir und der Gattung gewesen zu sein, also von dir selbst als eine Ergänzung deines eigenes Wesens, als ein nothwendiger Theil deiner selbst gewusst und empfunden zu werden, also sowohl in deinem Denken als in deiner Liebe mich bestätigt zu wissen […]“ (ebd., S. 207).

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3 Was an Hegels Modell fehlt bei Marx? Allein, es muss sich dabei offenkundig um eine nur selektive Aufnahme Hegel’scher Gedanken handeln. Denn in Marxens Bild der „wahrhaft menschlichen“⁴² Beziehungen fehlen wichtige Bestandteile von Hegels Konzeption derjenigen Verhältnisse, in denen das Wesen wirklich ist. Abschließend will ich daher die Aufmerksamkeit auf diese auffällige Lücke in Marxens Entwurf lenken. Zum einen fehlt bei Marx völlig die deontologische Dimension von Hegels dreidimensionalem Entwurf rein intersubjektiver Anerkennung. Das ist ein erhebliches Defizit, besteht doch eines der am wenigsten kontroversen Merkmale menschlicher Lebensform (im Unterschied zu bloß tierischen Lebensformen) darin, dass sie durch soziale Normen geregelt ist. Und wo soziale Normen sind, da gibt es autoritative Quellen für diese Normen und somit Anerkennungsbeziehungen zwischen denjenigen, welche diese Autorität haben bzw. teilen. Hegel hat gute Gründe, die deontologische Problematik im Kontext des Herr-Knecht-Verhältnisses als eine der maßgeblichen Dimensionen menschlicher Lebensform zu behandeln. Indem es Marx nicht gelingt, der deontologischen Anerkennungsdimension eine positive, elementare Rolle im nichtentfremdeten, das Gattungswesen verwirklichenden sozialen Leben zuzuerkennen, konzeptualisiert er dieses Gattungswesen daher sachlich unangemessen. Zum anderen fehlt in Marxens Konzeption des Gattungswesens ein weiteres Element von Hegels ontologischem Entwurf menschlicher Lebensform, und das ist eine Spezifikation des vorerwähnten Elements: institutionalisierte Normen, d. h. das, was als Institutionen im strikten Sinne bezeichnet werden kann. Nimmt man den Gedanken Hegels aus seiner Philosophie des subjektiven Geistes ernst, wonach all die Prozesse, Aktivitäten oder Praktiken, die geistiger Art sind und daher gemäß unserer Ausdrucksweise Persönlichkeit begründen, in eine zur Gewohnheit gewordene „zweite Natur“ eingebettet sind, von der sie abhängen;⁴³ und wenn man weiterhin institutionalisierte Normen oder Institutionen im strikten Sinne als ein tragendes Moment dieser zweiten Natur begreift, welches die menschliche Interaktion von der kräftezehrenden Last beständiger Reflexion und Verständigung über jede die Interaktion konstituierende oder regulierende Norm befreit; dann zeigt sich abermals, dass sich Marx über ein entscheidendes Element menschlicher Lebensform keine Rechenschaft gibt. Schon dass Sprache institutionalisierte Normen einschließt und darum sprachbasiertes Denken und in der Folge alles spezifisch menschliche Verhalten von Institutionen abhängig  Ebd., S. 196.  Vgl. Enz, §§ 409 f. u. ö.

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ist, macht deutlich, wie schwer Marxens Versäumnis wiegt. Um auf den Begriff bringen zu können, was es heißt, sein Leben im vollen Sinne als Person mit anderen Personen zu führen – als „Mensch“, wie Marx sagt –, sind die institutionellen, intersubjektiven und psychischen Aspekte voll ausgebildeter Persönlichkeit im Zusammenhang zu sehen.⁴⁴ Wer, wie ich, prinzipiell mit der Idee einer normativen Ontologie der menschlichen Lebensform sympathisiert – fußend auf den Begriffen Anerkennung, Personalität, konkreter Freiheit –, kommt nicht umhin, den Weg zurück zu Hegels vielschichtiger Konzeption auf sich zu nehmen. Deren bedeutender Vorzug ist es, dass sie Institutionen, überhaupt die deontologische Dimension der Anerkennung, nicht bereits von vornherein als eine Sphäre der Entfremdung denkt, sondern als mehr oder weniger entfremdete bzw. mehr oder weniger auf konkrete Weise freie Beziehung zu sozialen Normen. So gestattet sie, bessere und schlechtere Weisen voneinander abzuheben, durch diese für uns wesentlichen Merkmale bestimmt zu sein. Wie ich dargelegt habe, hängt dies zuinnerst mit der Möglichkeit zusammen, institutionell vermittelte menschliche Beziehungen als mehr oder weniger entfremdet bzw. frei im konkreten Sinne aufzufassen und nicht als allemal entfremdet schon per Definition. Dies alles erfordert keineswegs, dass man sich auf all die institutionellen Details von Hegels Staatsmodell verpflichtet, sondern lediglich, dass man Normen und Institutionen ihren Rang als Bestandteil einer positiven Theorie der ethisch idealen sozialen Organisation zuerkennt. Was die Details angeht, so gibt der Begriff oder das Prinzip konkreter Freiheit vor dem Hintergrund von Hegels oder Marxens Entwurf vom normativen Wesen (neutraler formuliert: vom immanenten Ideal) der Menschlichkeit nicht unmittelbar darüber Auskunft, ob beispielsweise die Institution des Privateigentums geeignet ist, konkrete Freiheit zu realisieren, ob wir eine gewisse Form von Gemeinschaftseigentum bevorzugen sollten oder ob letztlich eine Mischung bzw. ein unbequemer Kompromiss das Erstrebenswerte ist. Im Rahmen von Hegels philosophischem Humanismus bleibt mithin durchaus Platz für einen verfeinerten Marxismus bzw. im Rahmen des Humanismus des jungen Marx Platz für einen ausgefeilteren Hegelianismus.⁴⁵ Übersetzt von Christian Krijnen

 Siehe dazu Ikäheimo, Heikki: Recognizing Persons, in: Journal of Consciousness Studies 14/56 (2007), S. 224-247 und Anerkennung, a.a.O., Kapitel 7.  Zur Unterscheidung verschiedener Ebenen begrifflicher Abstraktion siehe Ikäheimo, Heikki: Holism and Normative Essentialism in Hegel’s Social Ontology, a.a.O., S. 151– 153.

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Organisation – philosophische Exposition eines sozialwissenschaftlichen Grundbegriffs Abstract: “Organization – a Philosophical Exposition of a Basic Concept of the Social Sciences.” The contemporary debate on the social-ontological foundations of organization does, for methodological reasons, not sufficiently get grip on the phenomenon of organization. The original determinacy of organization remains presupposed. To render this implicit meaning – of what organization is – explicit, another, more embracing and in-depth methodology is needed. German idealist types of philosophy provide an extreme powerful methodology. However, in the philosophy of German idealism from Kant to Hegel, neo-Kantianism up to contemporary transcendental philosophy, the idea of organization is not addressed. Rather, it is a big challenge to construct the idea of organization from such an idealist perspective: the perspective of reason, and with that, of freedom. This results in a new framework for dealing with organization in theory and practice. Focusing on methodological aspects, this chapter constructs the very idea of organization within the philosophical framework of G. W. F. Hegel.

1 Exposition und Sozialontologie der Organisation 1) Die im Titel angekündigte Exposition des Organisationsbegriffs bildet die vorerst letzte in einer Reihe von Untersuchungen, die ich in den vergangenen Jahren zur Grundlegung des modernen Organisationsbegriffs als Grundbegriff der Organisationswissenschaften vorgelegt habe. Bevor die zu behandelnde Thematik näher erläutert wird, zunächst: Was heißt in diesem Kontext Exposition? Mit I. Kant gesprochen, ist eine Exposition keine Definition, sondern eine „Annäherung zur Definition“ (Log, § 105),¹ wie überhaupt die Gründlichkeit der

 Vgl. KrV, B 758. Kant wird zitiert nach Kant’s gesammelte Schriften, 29 Bde., hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. (Band, Seitenzahl), die Kritik der reinen Vernunft dagegen gemäß der Originalpaginierung. Siglen: KrV = Kritik der reinen Vernunft; GMS = Grundlegung zur Metaphysik der Sitten; Log = Logik. https://doi.org/10.1515/9783110572735-010

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Philosophie, anders als die der Mathematik, nicht auf Definitionen beruht,² Definitionen als „abgemessene Deutlichkeit“ und „vollständige Exposition“ allenfalls am Ende einer philosophischen Untersuchung stehen können.³ Philosophische Erklärungen eines Begriffs sind für Kant nur als Expositionen gegebener Begriffe möglich;⁴ als solche sind sie keine Definitionen, sondern „Erörterungen“ (Log, § 105).⁵ Kant bestimmt die Erörterung näherhin als eine „an einander hängende (succesive) Vorstellung“ der Merkmale eines Begriffs, soweit sie eben durch „Analyse“ gefunden werden. Die Exposition oder Erörterung liefert für Kant somit die „deutliche“ Vorstellung dessen, „was zu einem Begriff gehört“ (KrV, B 38). Sofern es sich um eine transzendentale Erklärung handeln soll, gilt es den Begriff als „Prinzip“ zu fassen und, Kants Verständnis transzendentaler Erkenntnis entsprechend,⁶ die Möglichkeit „anderer synthetischer Erkenntnisse a priori“ (KrV, B 41) aus ihm einsichtig zu machen. J. G. Fichte wiederum hat die Exposition systemphilosophisch pointiert. Als wissenschaftliche Erörterung eines Begriffs gebe sie „den Ort desselben im System der menschlichen Wissenschaften“ an: Sie zeige, „welcher Begriff ihm seine Stelle bestimme, und welchem anderen sie durch ihn bestimmt werde“⁷. Es kommt Fichte auf die begründete Herausstellung der Systemstelle eines Begriffs an. So auch G.W. F. Hegel.Wie Kant unterscheidet Hegel eine Exposition von einer Definition und stellt dabei auf den bestimmten Begriff als Ergebnis einer internen Begriffsentwicklung ab (versus einer externen Gegebenheit), also auf seine Stelle im System der Begriffe.Wie die Naturphilosophie (aber anders als die Logik) fängt die Geistphilosophie mit einer Exposition des Begriffs von ihrem Gegenstand an (als des durch ihre Vorgängerdisziplin bereitgestellten Ergebnisses). Dieser ‚exponierte‘ Begriff wird sodann spekulativ ‚realisiert‘ zur Idee qua Einheit von Begriff und Gegenstand, so dass der Begriff ein erfüllter ist. Kurzum: Die in Aussicht gestellte Exposition des Organisationsbegriffs bietet keine durchgeführte (realisierte) Organisationsphilosophie, sondern liefert den bestimmten Anfang einer Organisationsphilosophie im System der Philosophie. Sie weist die Stelle des Organisationsbegriffs aus und damit seine anfängliche Bestimmtheit. Damit erfüllt sie zum einen ein Desiderat gegenwärtiger ‚sozialontologischer‘ Bemühungen um eine zureichende Grundlegung des Orga-

 Vgl. KrV, B 754 ff.  Vgl. KrV, B 758 f.  Vgl. KrV, B 758.  Vgl. KrV, B 41.  Vgl. KrV, B 80.  Fichte, Johann G.: Über den Begriff der Wissenschaftslehre (1794, 21798), in: Sämmtliche Werke, Bd. 1, Berlin 1845, S. 55.

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nisationsbegriffs. Zum anderen zeigt sie neue Perspektiven auf für die Sozialphilosophie im Allgemeinen sowie für entsprechende Aktualisierungsversuche des deutschen Idealismus im Besonderen. Eine Ontologie, wie der im gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Grundlagendiskurs geläufige Terminus lautet, näherhin eine Sozialontologie, d. i. eine Ontologie (Sachlehre, Gegenstandslehre) des Sozialen, bildet das zentrale Thema der ‚metatheoretischen‘ Auseinandersetzungen innerhalb der Organisationsforschung. Hauptakteure der Debatte sind positivistisch, sozial-konstruktivistisch und kritisch-realistisch orientierte Forscher, genauer grundlageninteressierte Sozialwissenschaftler.⁸ Vom Gesichtspunkt der Philosophie aus fällt dabei auf, dass zwar in vielerlei Hinsicht Bezug genommen wird auf philosophische Begriffe, eine zureichende Rechenschaftsgabe über deren Bestimmtheit und Geltung jedoch fehlt. Eine kritische Reflexion des dominanten Diskurses führt schnurstracks auf den Idealismus – wie er sich paradigmatisch im Zuge der klassischen deutschen Philosophie herausgebildet hat – und damit auf dessen Bedeutung für eine zeitgemäße Sozialphilosophie. Vor diesem Hintergrund habe ich versucht, den sozialontologischen Ansatz in der kantianisierenden Transzendentalphilosophie und bei Hegel herauszuarbeiten und diese beiden Herangehensweisen miteinander zu konfrontieren, um herauszufinden, welcher Ansatz zwecks Entwicklung eines tragfähigen Organisationsbegriffs am aussichtsreichsten erscheint,⁹ bilden doch die kantianisierende Transzendentalphilosophie und Hegel die systematisch ausgereiftesten Formen von Idealismus. Hegels Ansatz erwies sich dabei in den relevanten Aspekten letztlich als der überlegene. Daher soll im Folgenden der Organisationsbegriff dem Hegel’schen Ansatz gemäß exponiert werden. 2) Bevor der Organisationsbegriff exponiert wird, ist es allerdings wichtig, drei methodische Vorbemerkungen zu machen. Die erste betrifft die problemgeschichtliche Lage der Sozialphilosophie. Problemgeschichtlich gesehen hat der Begriff des Sozialen eine ‚praktische‘ Färbung, ganz gleich ob eine rechts-, staats-

 Siehe dazu eingehend Krijnen, Christian: The Very Idea of Organization. Social Ontology Today: Kantian and Hegelian Reconsiderations, Leiden/Boston 2015, Kap. 1.  Siehe dazu Krijnen, Christian: The Very Idea of Organization. Social Ontology Today: Kantian and Hegelian Reconsiderations, a.a.O., Kap. 2– 4; Das Soziale bei Hegel. Eine Konstruktion in Auseinandersetzung mit der kantianisierenden Transzendentalphilosophie, in: Ders./Zeidler, Kurt W. (Hg.): Gegenstandsbestimmung und Selbstgestaltung. Transzendentalphilosophie im Anschluss an Werner Flach, Würzburg 2011, S. 189 – 226; Das Dasein der Freiheit. Geltungsrealisierung bei Hegel und in der kantianisierenden Transzendentalphilosophie, in: Ders./Ferrari, Massimo/Fiorato, Pierfrancesco (Hg.): Kulturphilosophie. Probleme und Perspektiven des Neukantianismus, Würzburg 2014, S. 35 – 84.

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bzw. politik- oder moralphilosophische. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts kommt es zu einer theoretischen Ausdifferenzierung des Sozialen als einer eigenen Sphäre und einer sie begleitenden philosophischen Reflexion. Daher werden wir auf die nachhegelsche Geschichte verwiesen: Sie bietet das Material für uns, wenn wir versuchen, das Soziale bei Hegel zu konstruieren. Zudem hat man den Anfang der Sozialphilosophie nicht zu Unrecht im Neukantianismus, der damals dominanten akademischen Philosophie, tradiert.¹⁰ Der Neukantianismus, die nachfolgende kantianisierende Transzendentalphilosophie und Hegel bildeten sodann das Spektrum, innerhalb dessen ich versucht habe, zunächst das Soziale zu konstruieren. Zweitens: Die Möglichkeit der Thematisierung speziell des Organisationsbegriffs ergab sich im Rahmen einer Untersuchung zum Dasein der Freiheit in der kantianisierenden Transzendentalphilosophie und bei Hegel. Das Problem der Geltungsrealisierung, d. i. des Daseins der Freiheit, warf das Thema der Organisation als eines möglichen Anschlussthemas philosophischer Betrachtungen ab. Es stellte sich dabei heraus, dass Geltungsrealisierung unterschiedlich gefasst wurde, nämlich als Entwicklung von Unbedingtheit bzw. von Bedingtheit zur Unbedingtheit. Hegel arbeitet die Gestalten des objektiven Geistes heraus, die Ausdruck von Unbedingtheit sind. W. Flach indes, um ihn als Repräsentanten gegenwärtiger kantianisierender Transzendentalphilosophie herauszugreifen, treibt die Entwicklung von der Bedingtheit zur Unbedingtheit voran. Das erstere Entwicklungsmodell erwies sich, wie angedeutet, insgesamt als das vorteilhaftere. Folglich ist es am systematisch aussichtsreichsten, die Exposition des Organisationsbegriffs im Rahmen von Hegels Philosophie durchzuführen. Allerdings trat in der Kritik des Begriffs der Geltungsrealisierung der kantianisierenden Transzendentalphilosophie ein bei Hegel unthematischer Gesichtspunkt hervor, der für den Organisationsbegriff wiederum sehr relevant ist. Flachs Analyse der Idee des utile nämlich wirft die ökonomisch-sozialen Grundwerte der wirtschaftlichen und sozialen Ergiebigkeit, Nachhaltigkeit und Einträglichkeit der Arbeit ab.¹¹ Damit kommt ein Gesichtspunkt zum Vorschein, der zwar mit Realisierung von Freiheit verbunden ist, jedoch auf der Ebene der Unbedingtheit nicht selbst Unbedingtheitsgestalten qualifiziert, sondern eine Dimension ihrer inneren instrumentellen (teleologischen) Zweckmäßigkeit; unmissverständlicher gesagt: die Dimension ihrer inneren Organisation gemäß dem Wert des Nutzens und damit den Werten der Ergiebigkeit, Nachhaltigkeit und Einträglichkeit, d. i. der

 Siehe etwa Röttgers, Kurt: Kategorien der Sozialphilosophie, Magdeburg 2002, S. 47 ff.  Flach, Werner: Grundzüge der Ideenlehre. Die Themen der Selbstgestaltung des Menschen und seiner Welt, der Kultur, Würzburg 1997, S. 137 ff.

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zweckgemäßen Organisation objektiv-geistiger Gestalten. So ergab sich diejenige hochkomplexe und forschungsbedürftige sozialphilosophische Anschlussthematik, der im Folgenden nachgegangen werden soll: die Exposition des sozialwissenschaftlichen Organisationsbegriffs. Das dritte vorauszuschickende methodische Moment schließlich lässt sich als nachholende Phänomenologie bezeichnen.¹² Was hat es damit auf sich? Am Anfang der angedeuteten Untersuchungsreihe war eine ‚Phänomenologie‘ des Organisationsbegriffs vonnöten, um in Auseinandersetzung mit dem „fruchtbare [n] Bathos der Erfahrung“ (Kant) – nämlich organisationswissenschaftlichen und damit liierten philosophischen Bestimmungen von Organisation – Organisation als ein legitimes philosophisches Problem zu gewinnen.¹³ Für eine Exposition des Organisationsbegriffs reicht eine auf diese Aufweisfunktion beschränkte Phänomenologie jedoch nicht aus. Denn sie zeigt nur auf (anders freilich als Hegels Projekt der Phänomenologie des Geistes), dass in direkter Gegenstandszuwendung gewonnene Organisationsbestimmungen immer schon die Bestimmtheit und Geltung eines ursprünglicheren Organisationsbegriffs in Anspruch nehmen. Es wird also allenfalls Organisation als ein genuin philosophisches Problem nachgewiesen. Für eine Exposition des Organisationsbegriffs sind jedoch wesentlich mehr inhaltliche Bestimmungen, ‚Merkmale des Begriffs‘, vonnöten, die es in einer begründeten Weise ‚aneinanderzuhängen‘ gilt. Diese inhaltlichen Bestimmungen des Organisationsbegriffs müssen phänomenologisch nachgeliefert werden.¹⁴ Die nachholende Phänomenologie klopft die Geschichte von Organisation und Organisationstheorie auf Gehalte ab, die für Grundbestimmungen von Or Siehe für die Ausarbeitung dieses Moments ausführlich Krijnen, Christian: The Very Idea of Organization. Social Ontology Today: Kantian and Hegelian Reconsiderations, a.a.O., Kap. 5.  Diese Funktion kann sich insofern zu Recht auf Hegel berufen, als die Phänomenologie eine Einleitung bildet in das reine Denken, das das Thema der Hegel’schen spekulativen Logik ist. Diese Bedeutung von Phänomenologie ist etwa auch maßgebend für Husserl, der eine ‚phänomenologische‘ von einer ‚eidetischen‘ Reduktion unterscheidet; aber beispielsweise auch W. Windelband oder H. Wagner kennen einen solchen Sinn von Phänomenologie. Vgl. Krijnen, Christian: Philosophie als System. Prinzipientheoretische Untersuchungen zum Systemgedanken bei Hegel, im Neukantianismus und in der Gegenwartsphilosophie,Würzburg 2008, S. 59 – 62. Zu Hegel siehe neuerdings auch Aschenberg, Reinhold: Das Recht des Bewusstseins. Eine These der Phänomenologie des Geistes und ihre System- und Kritik-Funktion, in: Gerten, Michael (Hg.): Hegel und die Phänomenologie des Geistes. Neue Perspektiven und Interpretationsansätze, Würzburg 2012, S. 83 – 105. Für E. Husserl siehe Bernet, Rudolf/Kern, Iso/Marbach, Eduard: Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, Hamburg 21996, Kap. 2.  Hegels Phänomenologie des Geistes hingegen ist von Anfang an aus inhaltlichen Bestimmungen entwickelt, während die Enzyklopädie durchgängig die geschichtlich vorhandenen Bedeutungen eines Begriffs integriert.

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ganisation relevant sind. So gewinnt sie durch die verschiedenen Organisationstheorien hindurch eine in der empirischen Organisationsforschung fundierte allgemeine, maximal umfängliche Bestimmung von Organisation. In diese Bestimmung fließt zudem die Geschichte der Philosophie, vor allem die der politischen Philosophie, mit ein, auf die die Organisationstheorie sich ebenfalls, wenn auch in stark rekonstruierender Weise, bezieht. Organisation im organisationswissenschaftlichen Sinne ist in der Geschichte der Philosophie vor Hegel und überhaupt in der Geschichte nicht eigens, sondern hauptsächlich in einem anderen Kontext mitthematisch. – Dieses Ergebnis ergibt sich auch, wirft man einen begriffsgeschichtlichen Blick auf Organisation: Bis in die Zeit des deutschen Idealismus hinein bleibt der Organisationsbegriff primär dem Kontext von Recht und Staat verbunden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts erweitert er allerdings sein Anwendungsfeld und wird zum Leitbegriff für die Diskussion über eine bewusste Veränderung der Gesellschaft und deren Ordnung überhaupt. Der Organisationsbegriff wird verallgemeinert, bezieht sich auf den ‚Zusammenschluss vieler, die gleiche Zwecke verfolgen‘, auf aktionsfähige, auf Zwecke abgestellte Gebilde. Die Beschränkung auf Einrichtungs- und Gestaltungsvorgänge der staatlich-politischen Sphäre wird also aufgegeben. Der Organisationsbegriff modelt sich zum Fachbegriff der entstehenden Betriebswirtschaftslehre und der Soziologie, gar zum „Grundbegriff zwischenmenschlicher Aktivität“¹⁵ als solcher. Durch all diese problem- und begriffsgeschichtlichen Erkundungen der Bedeutung des Organisationsbegriffs kommt jedoch nicht nur eine allgemeine und maximal umfängliche Bestimmung von Organisation in Sicht, unerlässlich freilich für eine Exposition von Organisation als geistigem Phänomen. Die nachholende Phänomenologie macht nämlich auch deutlich, dass in der organisationswissenschaftlichen Organisationsbestimmung übergeordnete Organisationsbegriffe eine Rolle spielen. Diese fungieren hier als Perspektiven oder Paradigmen, innerhalb derer die Organisationstheorie ihrer Bestimmung von Organisation begrifflich nachgeht. Trotz der fortwährend betonten Inkommensurabilität dieser Perspektiven, lässt sich durchaus ein übergreifender, geradezu formaliter und materialiter paradigma-irreferenter bzw. -fundierender Organisationsbegriff ausmachen. Laut dem übergreifenden Organisationsbegriff ist Organisation keineswegs bloß ein spezielles Phänomen etwa der modernen Wirtschaft; es bildet vielmehr ein menschliches Phänomen sui generis.

 Dohrn-van Rossum, Gerhard/Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4: Mi-Pre, Stuttgart 1978, S. 621.

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Dem phänomenologisch gewonnenen Organisationsbegriff zufolge besteht eine Organisation a) aus Menschen, die b) zusammenarbeiten, um c) einen Zweck oder mehrere Zwecke zu erreichen. Sozialität, ausdrückliche Zwecksetzung und Koordination (Formalisierung) gliedern das Phänomen der Organisation als Thema der Organisationswissenschaften aus. Auch die Perspektiven oder Paradigmen der Organisationsforschung liefern übergeordnete und zugleich unmittelbar organisationsreferente Gesichtspunkte materialer Art, die in den anvisierten philosophischen Begriff von Organisation zu übersetzen sind. Zweifelsohne liegt mit den vorliegenden sozialwissenschaftlichen und philosophischen Bestimmungsversuchen von Organisation und deren philosophischen Grundlagen wichtiges Material vor. Dessen Sinn und Recht aber ist von einer genuinen idealistischen Organisationsphilosophie in einem systematischen Bestimmungsversuch des zur Bestimmung stehenden Begriffs Organisation selbst zu bestimmen. Für eine philosophische Exposition des Organisationsbegriffs ist das Material freilich nur ansatzweise relevant (umso mehr hingegen für eine doktrinäre Ausarbeitung des Organisationsbegriffs). Diese Relevanz erwies sich zunächst dadurch, dass durch die phänomenologische Betrachtung ein organisationswissenschaftlich fundierter Organisationsbegriff gewonnen werden konnte. Ebendieser auf der Ebene der Organisationstheorie unmittelbar wirksame Begriff bildet sodann das im Rahmen einer Exposition spekulativ zu thematisierende Material. Dieses Material, ganz besonders die grundlegenden Bestimmungsstücke der verschiedenen ‚Perspektiven‘ der Organisationstheorie, gilt es nunmehr, mit Hegels Philosophie zu verbinden, was die Aufgabe der vorliegenden Studie ist. Ein erster Schritt macht der Abschnitt Organisation in Hegels Geistphilosophie, topologisch: Wo in Hegels Geistphilosophie ist das Phänomen Organisation anfänglich anzusiedeln, d. h. begrifflich als thematisches Phänomen zu positionieren? Es wird also der Expositionsort von Organisation dargelegt. Daran schließt sich der Abschnitt Organisation in Hegels Geistphilosophie, spekulativ an. Hier stellt sich heraus, dass der exponierte philosophische Organisationsbegriff sowohl im Material der Hegel’schen Sittlichkeitslehre als auch in der Logik des Begriffs fundiert ist. So ergibt sich eine von Hegel selbst nicht thematisierte, heute jedoch höchst relevante Anschlussthematik spekulativen Begreifens. Als philosophischer Nebengewinn wird zugleich in methodischer Hinsicht klar, wie überhaupt eine an Hegel anschließende Thematisierung nachhegelscher Konstellationen wissenschaftlich möglich ist.

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2 Organisation in Hegels Geistphilosophie, topologisch 1) Aufgrund des phänomenologisch gewonnenen Materials zur Organisationsbestimmtheit wird zunächst sichtbar, dass der organisationswissenschaftliche Versuch, Organisation zu bestimmen, mit einer Vielzahl von Themen verbunden ist, die in Hegels Philosophie, vor allem seiner Geistphilosophie, traktiert sind: Das im ‚natürlichen‘ Organisationskonzept so hervorstechende Moment des Überlebens etwa ist schon in der Herkunft des Geistes aus der Natur als zu ihrem „Fürsichsein gelangte[r] Idee“ (Enz, § 381) mit aufgenommen sowie in der Anthropologie, die den Geist als „Naturgeist“ (Enz, § 387) thematisiert, wobei Hegel den auf dieser anthropologischen Ebene von Freiheitsbestimmtheit relevanten Gegensatz von „Leib“ und „Seele“ überwindet.¹⁶ Die Thematik der Freiheit des Subjekts, für den Begriff der Organisation außerordentlich wichtig, ist damit freilich noch lange nicht adäquat abgehandelt. Als Naturgeist ist der Geist keineswegs im strikten Sinne ein freier, sich selbst bestimmender Geist. Hegels Geistphilosophie ist vielmehr so angelegt, dass der Geist erst zu einem Dasein gelangen muss, in dem er völlig befreit ist von Formen, die seinem Begriff – Freiheit – nicht entsprechen. Diese Freiheit erlangt der Geist als etwas „durch seine Tätigkeit Hervorzubringendes“; entsprechend thematisiert die Geistphilosophie den Geist als „Hervorbringer seiner Freiheit“; die Entwicklung des Geistbegriffs stellt „das Sichfreimachen des Geistes von allen seinem Begriffe nicht entsprechenden Formen seines Daseins dar“ (Enz, § 382 Z). Formell genommen ist das Wesen des Geistes die Freiheit,¹⁷ der Geist im Reich des Geistes ist ‚freier Geist‘.¹⁸ Dieser freie Geist manifestiert sich in drei Formen seiner selbst: Als subjektiver Geist bezieht sich die Entwicklung des freien Geistes in einem engeren Sinne auf diesen selbst.¹⁹ Damit ist nicht nur das Wesen des Geistes Freiheit, sondern indem der „Begriff“ des Geistes „für ihn“ wird, wird ihm sein „Sein“, „bei sich, d. i. frei zu sein“ (Enz, § 385). Die Entwicklung des Geistes hat also einen selbsterkenntnisfunktionalen Charakter; die Entwicklungsstufen sind Stufen der Selbsterkenntnis des Geistes und damit der absoluten Idee als des Geistes. In der Phi-

 Die Naturbestimmtheit eines Organismus, der der Geist immer auch ist, ist schon in der Naturphilosophie thematisch (vgl. etwa Enz, § 367 über den Gattungsprozess, Enz, § 369 über das Geschlechtsverhältnis).  Vgl. Enz, § 382.  Vgl. Enz, §§ 382, 384.  Vgl. Enz, § 385.

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losophie des subjektiven Geistes gilt es entsprechend zu klären, wie der Geist sich zum Erkennen bestimmt. Es ergeben sich drei Stufen der Entwicklung: der (subjektive) Geist „an sich“ als „Seele oder Naturgeist“; „für sich“ als „Bewußtsein“; an und für sich als „sich bestimmender Geist, als Subjekt [theoretischer und/oder praktischer Tätigkeit; d. Verf.] für sich“ (Enz, § 387). Während Hegel auf der ersten Stufe den Gegensatz von Leib und Seele, Natur und Mensch überwindet, bewältigt er auf der zweiten mit der Vernunft den Gegensatz von (bewusstem bzw. selbstbewusstem) Ich und (bewusster) Welt; dadurch kann es auf der dritten Stufe darum gehen, den Gegensatz von theoretischer und praktischer Vernunft, von Denken und Wollen zu überwinden. Erst hier wird der eigentliche Begriff des (geistigen) Subjekts erreicht, nämlich der des sich selbst bestimmenden und damit freien Geistes.²⁰ Im Kontext der Philosophie des subjektiven Geistes, die den Begriff des Subjekts darlegt, finden sich beispielsweise aber auch Überlegungen zur Kreativität des Menschen,²¹ zu seiner theoretischen²² und praktischen²³ Erkenntniskompetenz samt den vielfältigen Bestimmungsgründen dieser Kompetenz, etwa durch Gefühl,²⁴ Triebe und Willkür,²⁵ Glückseligkeit²⁶ und eben Freiheit.²⁷ Hegel arbeitet in subjektiv-logischer Weise geradezu die ganze Skala von Selbstbestimmungsmöglichkeiten (Zwecksetzung, Instrumentalität) heraus, angefangen von der bedingten bis hin zur unbedingten Gestaltung. Die Thematik der Freiheit bzw. Subjektivität als Personalität kehrt dann in der Philosophie des objektiven Geistes zurück (als Rechtsperson, moralische, sittliche Person).²⁸ In der an die Philosophie des subjektiven Geistes anschließenden Philosophie des objektiven Geistes geht es um den freien Geist. Dieser objektiviert sich zu einer geistigen Welt, die er sich allmählich adäquat macht, d. h. zu einer Welt, in der „Freiheit als vorhandene[r] Notwendigkeit“ (Enz, § 385) ist. In dieser Form seiner Tätigkeit und deren Produkt(e) ist der Geist „objektiver“, d. i. eine geistige Welt hervorbringender und Freiheit in der Realität verwirkli-

 Indem Freiheit selbst zum Bestimmungsgrund des Subjekts wird, ist auch der Relativismus bzw. Individualismus überwunden, der mit dem ‚kulturellen‘ und ‚libertären‘ Organisationskonzept noch verbunden ist: Das Subjekt bestimmt sich als freier Geist gemäß Allgemeinem, und damit wahrhaft selbst. Vgl. Enz, § 480.  Vgl. Enz, §§ 455 ff.  Vgl. Enz, §§ 445 ff.  Vgl. Enz, §§ 469 ff.  Vgl. Enz, §§ 471 ff.  Vgl. Enz, §§ 473 ff.  Vgl. Enz, §§ 479 ff.  Vgl. Enz, §§ 481 ff.  Vgl. Enz, §§ 483 ff.

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chender Geist. Erst in der Philosophie des objektiven Geistes haben wir es konstitutionstheoretisch gesehen mit einer Pluralität von Subjekten zu tun.²⁹ Sie alle haben sich das Dasein ihrer Freiheit zum Zweck gemacht. Daraus ergeben sich allerlei Abstimmungs- und Ordnungsprobleme. Auch bei Hegel stellt sich heraus, dass, wie im ‚rationalen‘ Organisationskonzept, ein Regelsystem zwar nötig ist, ein solches Regelsystem jedoch für sich genommen ‚abstrakt‘ ist³⁰ und zur Wirksamkeit nicht nur gewisse Prädispositionen des Subjekts erfordert,³¹ sondern gar dessen Einbettung in einer gemeinschaftlich gelebten Normativität.³² Dergleichen wird in der Kritik des rationalen Organisationskonzepts durch die Verfechter eines ‚natürlichen‘ oder eines ‚kulturellen‘ Organisationskonzepts immer wieder ins Feld geführt. Solche ‚Gestalten‘ des objektiven Geistes sind Realisierungsbedingungen eines wahrhaft freien Geistes. Und auch bei Hegel ist das subjektive Agieren auf eine natürliche und personale Umwelt angewiesen, wie auch das Organisationskonzept des ‚offenen Systems‘ unterstreicht. Nicht nur ist der Geist selbst auch Natur; als freier Geist hat er geradezu seinen Zweck, Freiheit, in einer „äußerlich vorgefundenen Objektivität“ (Enz, § 483) zu realisieren. Diese Objektivität besteht wiederum aus einer Vielzahl von Kreisen, d. i. Subsystemen, die ebenfalls Teil umfassender Kreise, Subsysteme, sind, letztlich gar Teil eines umfassenden Systems, das die ‚Idee‘ als selbsterkenntnisfunktional strukturierte, prozessuale Subjekt-Objekt-Einheit ist. Für Hegel ist Philosophie geradezu „wesentlich“ System (Enz, § 14).³³ Und was für die Philosophie als Ganzes gilt, gilt nicht weniger für ihre Teile: Immer betrifft es ‚in sich selbst schließende Kreise‘, wobei das Ganze der Philosophie, wie Hegels berühmte Floskel lautet, als „Kreis von Kreisen“ fungiert, in dem jeder Kreis als Moment zugleich ein „notwendiges Moment“ (Enz, § 15) des Ganzen ist.³⁴ Das umfassende System (wie jegliches Subsystem) ist damit an das Denken qua Prinzip von Objektivität rückgebunden – nicht, wie in einem realwissenschaftlichen System, bloß an eine reale Größe (Gesellschaft, Natur, Welt, Galaxie usw.): Das System ist ‚idealistisch‘ fundiert. Anders als in den erwähnten Organisationskonzepten werden bei Hegel die angedeuteten Aspekte nicht verselbständigt, etwa: a) dass über die Naturbestimmtheit des Menschen seine geistige und damit freiheitliche Bestimmtheit verlorengeht;

     

Vgl. Enz, §§ 485 ff. Siehe „abstraktes Recht“ in Enz, §§ 487 ff. Siehe „Moralität“ in Enz, §§ 503 ff. Siehe „Sittlichkeit“ in Enz, §§ 513 ff. Vgl. PhG, S. 11. Vgl. WL II, S. 504.

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b) dass die Einbezogenheit des Menschen in reale (natürliche, soziale) Systeme verschiedenster Art den Blick auf seine Selbstbestimmungsmöglichkeit und -fähigkeit verstellt,³⁵ er gar zum bloßen Mittel der Realisierung extern gegebener Zwecke reduziert wird; c) der Mensch zwar als geistiges Wesen in Anschlag gebracht, diese geistige Bestimmtheit jedoch so gedacht wird, dass Freiheitsgestaltung immer bloß je kulturell bedingt ist (‚Kulturalisierung‘); d) auf die bloße Selbstbestimmungsfähigkeit (Freiheit) des Subjekts abgestellt wird, ohne zugleich die positiven inhaltlichen Bestimmungsstücke mit einzubeziehen, die zur Freiheit als Grund der Selbstbestimmung gehören. 2) Sodann muss gefragt werden: Wo lässt sich das Phänomen Organisation begrifflich als thematisches Phänomen im Rahmen der Hegel’schen Geistphilosophie verorten? Eine die Verortung eröffnende Antwort lautet: Organisation ist eine Gestalt des freien Geistes. Für diese Charakterisierung sprechen viele Gründe. Sie ergeben sich schon, blickt man auf die allgemeine und zugleich maximal umfängliche Bestimmung von Organisation, die den diskutierten Konzepten, Definitionen, Paradigmen usw. von Organisation noch zugrunde liegt: Organisationen bestehen aus Menschen, die zusammenarbeiten, um einen bestimmten Zweck bzw. mehrere Zwecke zu erreichen. Mit W. R. Scott gesprochen, sind Organisationen „social structures created by individuals to support the collaborative pursuit of specific goals“³⁶. Daraus lässt sich zunächst schließen, dass das Phänomen Organisation, so wie es in den Organisationswissenschaften thematisch ist, kein Phänomen des subjektiven Geistes bildet. In der Philosophie des subjektiven Geistes bezieht die Entwicklung des freien Geistes sich auf sich, so dass noch gar kein Subjekt im vollen begrifflichen Sinne, und schon gar keine Pluralität von Subjekten, konstituiert ist; vielmehr wird allererst ein Subjekt konstituiert:³⁷ Die Entwicklung des (subjektiven) Geistes als „Seele oder Naturgeist“ schreitet über das „Bewußtsein“  Er ist vielsagend, dass W. R. Scott Organisationen zwar im Rahmen der Systemperspektive diskutiert, sie aber hier qualifiziert als kybernetische und offene Systeme. Vgl. Scott, W. Richard: Organizations. Rational, Natural and Open Systems, Upper Saddle River, N. J. 2003, S. 85 ff.; siehe auch die Überschrift von Kap. 4. Gemäß der Einteilung von K. E. Bouldings Systemtypen, auf den er sich beruft (vgl. S. 84, 85, 89), sind weder kybernetische noch offene Systeme soziale Systeme, wie es doch Organisationen sind.  Ebd., S. 11.  Dies wird in den Ver Hegel für die gegenwärtig viel diskutierte Problematik der Anerkennung (recognition) fruchtbar zu machen, unterschätzt. Vgl. Krijnen, Christian: Recognition. Future Hegelian Challenges for a Contemporary Philosophical Paradigm, in: Ders. (Hg.): Recognition. German Idealism as an Ongoing Challenge, Leiden/Boston 2014, S. 99 – 127.

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zum „sich bestimmenden Geist, als Subjekt [theoretischer oder praktischer Tätigkeit; d.Verf.]“ (Enz, § 387) voran. Der Geist wird folglich zum freien Geist,³⁸ zum Geist, „der sich als frei weiß und sich als diesen seinen Gegenstand will, d. i. sein Wesen zur Bestimmung und zum Zweck hat“ (Enz, §§ 481, 482).³⁹ Nur ein solcher Geist ist überhaupt einer wahrhaft theoretischen und praktischen Selbstbestimmung fähig. Er ist Voraussetzung möglicher Zwecksetzung und der Realisierung gesetzter Zwecke in einer äußerlich vorgefundenen Objektivität, wie sie etwa innerhalb einer Organisation in Kooperation mit anderen freien Geistern stattfindet. Organisation gehört, strikt genommen, zur Sphäre des objektiven Geistes. Sie ist eine Gestalt desjenigen Geistes, der sich als frei weiß und will, folglich sein Wesen (Freiheit) zur Bestimmung und zum Zweck hat. Diese Form des Geistes realisiert sich in einer äußerlich vorgefundenen Objektivität, so dass diese eine durch den freien Geist bestimmte Welt wird. Mit dieser Objektivierungsdimension der Freiheit ist die subjektive Dimension des Geistes als ‚Beziehung auf sich‘ verlassen. Im Rahmen des objektiven Geistes denkt Hegel den freien Geist als „Zwecktätigkeit“ (Enz, § 484), die darauf aus ist, der inneren (wesentlichen, freien) Bestimmung des Geistes objektives Dasein zu verschaffen. Organisation ist kein Naturprodukt, sondern ein Resultat menschlicher und damit grundsätzlich freiheitlicher, frei-geistiger Gestaltung der Welt. Sie ist eine Gestalt von Menschen, die Subjekte theoretischer und praktischer Tätigkeit sind. 3) All diese Affinitäten mit Hegels Geistphilosophie dürfen aber nicht den Blick auf einen nicht weniger wichtigen Sachverhalt verstellen: ‚Organisation‘ ist als solche nicht in Hegels Lehre vom freien Geist und dessen Gestalten thematisch (auch wenn Aspekte von Organisation gelegentlich berührt werden). Es ist dies eine bedeutsame Einsicht. Sie wird fortwährend eine Rolle spielen und ihre nähere Bestimmung erfahren. Vorerst kommt es nur darauf an, den Organisationsbegriff von den Gestalten des objektiven Geistes abzuheben und dabei plausibel zu machen, dass der Organisationsbegriff ein Anliegen enthält, das es verdient, in den philosophischen Begriff übersetzt zu werden. Die Phänomenologie des Organisationsbegriffs ergab Organisation als die Form bewusster kooperativer Zwecktätigkeit. Die Organisationsphilosophie hat diese Form zu bestimmen. Sie bestimmt damit, was bewusste kooperative Zwecktätigkeit selbst ist. Unterscheidet man an dieser Form ‚Effektivität‘ ((Grad der) Zweckerreichung) und ‚Effizienz‘ (Verhältnis zwischen Zweckerreichung und Mittelaufwand), dann könnte man versucht sein, Organisation als ‚technischen‘ Aktor und die sie lei-

 Vgl. Enz, § 385.  Vgl. Enz, § 469.

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tende Idee als die ‚technische‘ Idee aufzufassen, folglich als Form bloß ‚instrumenteller‘ (Mittel-Zweck) Rationalität (wie paradigmatisch im rationalen Organisationskonzept). Organisation wäre dann etwa die technische Einrichtung von Zweckrealisierung, Organisationswissenschaft wäre Technikwissenschaft. Dieses Verständnis von Organisation scheitert freilich daran, dass zu den einzusetzenden Mitteln Menschen gehören und zudem die Zwecksetzung, woraufhin der Mitteleinsatz erfolgt, Ergebnis menschlicher (freier) Tätigkeit ist. Technik verwandelt unmittelbar Natur, Organisation unmittelbar Menschen.⁴⁰ Technik (τέχνη, Kunst, Können) bezieht sich auf künstliche Geräte, Maschinen, Herstellungsprozesse, kurzum auf die Nutzung der Natur (Mittel) für Zwecke des Menschen.⁴¹ Die Natur wird genutzt. Organisation indes nutzt den bzw. die Menschen. Es wundert also nicht, dass die zweckgemäße Organisation objektiver Gestalten des Geistes vor allem unter dem Stichwort der ‚instrumentellen Rationalität‘ diskutiert wurde und wird. Die bloß instrumentelle Sicht auf die Realisierung von Zwecken ist jedoch in der neueren Transzendentalphilosophie grundsätzlich überwunden (durch die Idee des Ökonomisch-Sozialen), wie sie auch schon für Hegels Lehre vom objektiven Geist – eine Lehre der Objektivierung des freien Geistes – nicht maßgebend war.⁴² Nützlichkeit, Organisation sind selbst Momente der Unbedingtheit (Freiheit) des Subjekts. Die Thematik der ‚bloß‘ instrumentellen Vernunft muss daher im Folgenden auch nicht weiter berücksichtigt werden.⁴³ Vielmehr ist Organisation als Moment der Unbedingtheit objektiv geistiger Gestalten zu begreifen.

 Da Technik selbst eine Leistung des Menschen ist, ist der Organisationsbegriff dem Technikbegriff übergeordnet. Siehe zum Begriff der Technik etwa Hubig, Christoph/Huning, Alois/ Ropohl, Günter: Nachdenken über Technik. Die Klassiker der Technikphilosophie, Berlin 2000; Hübner, Kurt: Technik, in: Krings, Hermann/Baumgartner, Hans M./Wild, Christoph (Hg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1973, S. 1475 – 1485; Rapp, Friedrich/ Schubbe, Daniel: Philosophie der Technik, Hagen 2012; Wandschneider, Dieter: Technikphilosophie, Bamberg 2004.  Social engineering, ernst genommen, ist also ein Mißverständnis dessen, was als Mittel für Zwecke fungiert.Wie Kant einmal pointiert formuliert, hat der Mensch nicht bloß, wie alles andere im Reich der Zwecke, einen Preis („relativen Werth“), sondern auch eine Würde („innern Werth“), ist er doch nicht bloß Natur, sondern auch Zweck an sich selbst. Vgl. GMS, Ak. 4, S. 434 f.  Siehe dazu Krijnen, Christian: Das Dasein der Freiheit. Geltungsrealisierung bei Hegel und in der kantianisierenden Transzendentalphilosophie, a.a.O.  Auf der Ebene der Logik hat Hegel im Teleologie-Kapitel die bloße Äußerlichkeit von Zweck und Mittel überwunden. Wie es heißt, hat der Zweck an seiner Äußerlichkeit sein eigenes Moment (WL II, S. 399), setzt der Begriff sich im Ergreifen des Mittels als das an sich seiende Wesen des Objekts (Enz, § 212). Auf der Ebene des Geistes ist der objektive Geist freier, also sich selbst als frei wissender und wollender Geist, so oder so durch Allgemeines, das die Vernunft selbst ist, bestimmbar und bestimmt, mitnichten auf bloß instrumentelle Rationalität reduziert.

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Dazu lässt sich hervorkehren, dass wir es bei Organisation mit Utilität (Nützlichkeit) zu tun haben. Organisationen sind bewusste Zweckrealisierungsverbunde von Menschen, zweckbestimmte und auf das Realisieren von Zwecken ausgerichtete menschliche Gemeinschaften. Organisation als Thema oder Gestalt des objektiven Geistes betrifft dabei nicht diese Gestalten selbst qua unbedingte Gestaltungsformen menschlicher Subjektivität, des freien Geistes, sondern eine andere Dimension – die Dimension der inneren Zweckmäßigkeit dieser objektiven Freiheitsgestalten, d. h. ihre innere Verfasstheit gemäß der Idee oder dem Wert des Nutzens. Die dem Zweck der Nützlichkeit gemäße Einrichtung objektiver Gestalten steht also zur Diskussion; eine Einrichtung, deren freiheitliche Form selbst von den jeweiligen Gestalten des objektiven Geistes als Gestalten des freien Geistes verbürgt ist. Diese Diskussion ist eine andere als die, die in Hegels Philosophie des Geistes und dessen Entwicklung leitend ist: die Selbsterkenntnis der Idee als des Geistes, die den Geist als „Hervorbringer seiner Freiheit“ begreift und die Entwicklung des Geistbegriffs als „das Sichfreimachen des Geistes von allen seinem Begriffe nicht entsprechenden Formen seines Daseins“ (Enz, § 382 Z). Während der subjektive Geist zum Begriff des Geistes führt, der sich als frei weiß und will, kommt es in der Philosophie des objektiven Geistes darauf an, diesen freien Geist in seinem freien objektiven Dasein zu erkennen. Sie erkennt, wie, in welchen Gestalten, Freiheit in die Welt kommt, und zwar zuerst als „Recht“, dann als „Moralität“ und schließlich als „Sittlichkeit“.⁴⁴ Recht, Moralität und Sittlichkeit sind Gestalten, die die Idee sich gibt und damit Formen, in denen sie sich Dasein verschafft. In dieser Weise begreift Hegel das Dasein der Freiheit. Die Daseinsgestalten des freien Geistes als objektiven Geistes selbst und ihr Zusammenhang sind das Thema seiner Philosophie des objektiven Geistes. Es stellt sich sodann heraus, dass die jeweiligen Gestalten es nicht vermögen, Freiheit begrifflich zu erhalten. Diese Inadäquatheit einer jeweiligen Daseinsgestalt von Freiheit bedingt den Fortgang zu einer nächsten. Ihre freiheitsfunktionale Stellung und damit ihre Bestimmtheit ist das Thema, nicht die innere Einrichtung einer objektiven Gestalt gemäß der Idee der Nützlichkeit als Effizienz und Effektivität bewusster Zweckrealisierung.⁴⁵ Effektivität ist hierbei freilich nicht auf die Freiheitsfunktionalität der Gestalt selbst abgestellt, und damit auf die Form der Zweckrealisierung, sondern auf einen konkreten Inhalt als Zweck, den zu  Vgl. Enz, § 487.  Diese Begriffe sind in der oben angeführten allgemeinen Bestimmung zu verstehen, nicht von vornherein in einem wirtschaftswissenschaftlich reduzierten Sinne (auch ein Rechtssystem ist nützlich – nicht jedoch, weil es finanziell günstiger ist, eins zu haben statt keins, sondern weil es der Freiheit des Subjekts nützt).

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realisieren Freie sich vorgenommen haben, nicht auf die Voraussetzungen gelingender Zweckrealisierung. Diese Voraussetzungen müssen als erfüllt gelten, denn sonst läge gar keine Zweckrealisierung vor und die Frage nach ihrer inneren nützlichen Einrichtung erübrigte sich. Die Exposition von Organisation und die daran anschließende Entwicklung der Prinzipien von Organisation sind die Antwort auf diese Frage. 4) Damit lässt sich die Exposition des Organisationsbegriffs weiter vorantreiben. Denn das Problem, das sich nunmehr aufdrängt, ist das der Stelle in Hegels Philosophie des objektiven Geistes, an der sich der Begriff der Organisation als Thema philosophischen Begreifens ergibt, genauer: ergeben würde, hätte Hegel den Organisationsbegriff eigens thematisiert. Dabei gilt es sich zu vergegenwärtigen, dass im Rahmen des Hegel’schen Verfahrens spekulativer Begriffsentwicklung Begriffe an einer bestimmten Stelle wirksam sein können, die erst an späterer Stelle thematisch werden.⁴⁶ Ausschlaggebend für den entsprechenden Expositionsort ist der Argumentationsgang selbst. Wie Hegel auch sagt, ist eine philosophische Einteilung keine „äußerliche“, sondern das „immanente Unterscheiden des Begriffs selbst“ (GPR, § 33).⁴⁷ Es ist somit darauf zu achten, an welcher Stelle der phänomenologisch gewonnene Organisationsbegriff am prägnantesten begrifflich greifbar ist. Ein erster Durchlauf durch die Geistphilosophie ergab den objektiven Geist als Expositionsort. Der objektive Geist enthält näherhin drei unterschiedliche Formen von Freiheitsverwirklichung: (abstraktes) Recht, Moralität und Sittlichkeit. Diese via negativa zu durchlaufen, ist aufschlussreich.  Der oft verhandelte, geradezu paradigmatische Fall ist der Anfang von Hegels Logik, mit dem Sein als dem unbestimmten Unmittelbaren. Der Seinsbegriff kann selbst nur unter Verwendung von noch zu bestimmenden Begriffen bestimmt werden kann. Siehe zur Diskussion Krijnen, Christian: Philosophie als System. Prinzipientheoretische Untersuchungen zum Systemgedanken bei Hegel, im Neukantianismus und in der Gegenwartsphilosophie, a.a.O., S. 80 ff. In der Geistphilosophie kompliziert sich das Verhältnis nochmals dadurch, dass die Stadien der Begriffsentwicklung nicht für sich existieren, sondern die Bestimmungen und Stufen des Geistes „wesentlich nur als Momente, Zustände, Bestimmungen an den höheren Entwicklungsstufen“ (Enz, § 380) sind.  Zur Methode spekulativer Begriffsentwicklung siehe Düsing, Klaus: Syllogistik und Dialektik in Hegels spekulativer Logik, in: Henrich, Dieter (Hg.): Hegels Wissenschaft der Logik. Formation und Rekonstruktion, Stuttgart 1986, S. 15 – 38; Fulda, Hans F.: Hegels Dialektik als Begriffsbewegung und Darstellungsweise, in: Horstmann, Rolf-Peter (Hg.): Seminar ‚Dialektik in der Philosophie Hegels‘, Frankfurt a. M. 1978, S. 124– 178; G. W. F. Hegel, München 2003; Forster, Michael N.: Hegel’s Dialectical Method, in: Beiser, Frederick C. (Hg.): The Cambridge Companion to Hegel, Cambridge 1993, S. 130 – 170; Krijnen, Christian: Philosophie als System. Prinzipientheoretische Untersuchungen zum Systemgedanken bei Hegel, im Neukantianismus und in der Gegenwartsphilosophie, a.a.O., § 3.4.

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Das abstrakte oder formelle Recht, wie von Hegel dargelegt,⁴⁸ ist ein System normativer Verbindlichkeiten, das den freien Willen als Person betrifft und Bestimmungen wie Besitz, Eigentum, Vertrag, Sache, Unrecht, Verbrechen, Strafe usw. abwirft, dem als abstraktem System von Verbindlichkeiten jedoch noch jegliche Institutionalisierung dieser Gestalt fehlt; es kann folglich gar kein Kandidat möglicher Organisation sein. Das abstrakte Recht enthält nur die abstraktrechtliche Vernünftigkeit möglicher Organisation. Als organisierte (und garantierte) Rechtsordnung ist das Recht erst thematisch auf der Ebene der Sittlichkeit, namentlich der bürgerlichen Gesellschaft (vgl. ‚Rechtspflege‘, ‚Polizei und Korporation‘) und des (substanziellen) Staates.⁴⁹ Für die Moralität gilt im Grunde dasselbe. Sie betrifft die innere willensmäßige Verfasstheit der Person, den „in sich reflektierten Willen“, die Willensbestimmtheit „im Innern“ (Enz, § 503),⁵⁰ das „Recht des subjektiven Willens“ (GPR, § 107). Hier wären allenfalls moral-anthropologische Aspekte einzubinden, die zwar die Selbstorganisation des Subjekts beträfen, jedoch als solche kein Bestandteil des auf ein Zusammen von Subjekten ausgelegten Organisationsbegriffs der Organisationswissenschaften sind. Bestimmungen wie Vorsatz, Schuld, Absicht, Wohl usw. qualifizieren freilich subjektive Dispositionen, die, wie das abstrakte Recht, relevant sind für und eingehen in Organisationsphänomene, diese jedoch nicht eigens kennzeichnen, fehlt doch als Willensbestimmtheit im ‚Innern‘ das für Organisation konstitutive Moment kooperativer Pluralität von Subjekten. So bleibt die Sittlichkeit als Expositionsort von Organisation übrig. Hier ist die Abstraktheit sowohl der Objektivität durch das formelle Regelsystem des Rechts wie die der Reflexion in sich des Willens zugunsten eines substanziellen Willens überwunden. Das Dasein der Freiheit, das die Sittlichkeit ist, ist die „Einheit und Wahrheit“ der beiden vorhergehenden Gestalten oder Sphären: von „äußerlicher Welt“ (abstraktem Recht) und „reflektiertem Willen“ (Moralität); in der Sittlichkeit existiert Freiheit also objektiv wie subjektiv, ist der freie Wille substanzieller Wille, Wille, der die seinem Begriff gemäße „Wirklichkeit“ (GPR, § 33; Enz, § 487) hat – an (abstraktes Recht) und für sich (Moralität) freier Wille ist. Indem die Abstraktheit von abstraktem objektivem Regelsystem und bloß subjektiver Selbstbestimmung überwunden ist, sind wir im konkreten Leben in seiner ganzen objektiv-geistigen Fülle angelangt. D. h., in der Sittlichkeit ist die Freiheit zum

 Vgl. Enz, §§ 488 – 502; GPR §§ 34– 104.  Schon auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaft bedarf es etwa des „Gerichts“, das „erkennt und handelt im Interesse des Rechts“ (Enz, § 531) als einer „öffentlichen Macht“ (GPR, § 219). Das Recht ist hier nicht mehr nur „abstrakt“, „an sich“, sondern „in seiner geltenden Wirklichkeit“ (GPR, § 208).  Vgl. GPR, § 105.

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„lebendigen Guten“ (GPR, § 142), die „selbstbewußte Freiheit zur Natur“ (Enz, § 513),⁵¹ das „absolute Sollen“ zum „Sein“ (Enz, § 514) geworden. Wie entspringt im konkreten Zusammensein von konkreten Subjekten nun der Begriff der Organisation? Obwohl gerade in den frühen Texten der Organisationstheorie ein durchaus weiter Organisationsbegriff vorliegt, der auch Familien einbezieht, scheidet aufgrund des phänomenologisch gewonnenen Organisationsbegriffs und dessen Merkmale einer relativ hohen formalisierten sozialen Struktur und einer relativ spezifischen Zweckbestimmtheit die Hegel’sche Familie aus. Hegel fasst die Familie geradezu als „unmittelbaren“, „natürlichen“ (Enz, § 517),⁵² „empfindenden“ (Enz, § 518; GPR, § 158) Geist. Abstrakt-rechtliche Bestimmungen spielen hier nur als Grenzfall eine Rolle.⁵³ Die Zweckbestimmtheit ist aufgrund der Unmittelbarkeit des familiären Zusammens eher unspezifisch. Aus diesem unmittelbaren, empfindenden Zusammen gehen jedoch „selbständige Personen“ (Enz, §§ 517, 521 ff.)⁵⁴ hervor – bürgerliche Gesellschaft.⁵⁵ Ebendiese bürgerliche Gesellschaft ist im Rahmen einer Hegel’schen Geistphilosophie der wahrhafte Expositionsort von Organisation. Hier haben wir es zum einen mit selbständigen freien Geistern zu tun, die ihre partikulären Interessen „in ihrem Bewußtsein und zu ihrem Zwecke“ (Enz, § 523) haben, mit „konkreten Personen“, die sich „besonderer Zweck“ (GPR, § 182) sind. Dies ist für Hegel „das eine Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft“ (GPR, § 182). Die „Beziehung“ (GPR, § 182) auf andere solche besondere Personen, die alle ihre jeweiligen besonderen Interessen bezwecken, und damit der „vermittelnde Zusammenhang von selbständigen Extremen“ (Enz, § 523) ist das andere Prinzip.⁵⁶ Näherhin betrifft der „selbstsüchtige Zweck in seiner Verwirklichung“ (GPR, § 183) daher ein „System der Atomistik“ (Enz, § 523), ein „System allseitiger Abhängigkeit“ (GPR, § 183), eine „in ihre Extreme verlorene Sittlichkeit“ (GPR, § 184). Hegel bezeichnet dieses System zunächst auch als „äußeren Staat“, als „Notund Verstandesstaat“ (GPR, § 183).⁵⁷ In einem solchen Staat sind die Bürger Privatpersonen, die je ihr eigenes Interesse zum Zweck haben; das Allgemeine erscheint ihnen so nur als „Mittel“; damit bestimmen sie „ihr Wissen, Wollen und

 Vgl. GPR, § 151.  Vgl. GPR, § 157.  Vgl. GPR, §§ 159, 176 ff.; Enz, § 522.  Vgl. GPR, §§ 157, 175, 180.  Vgl. GPR, §§ 157, 181 ff.; Enz, §§ 517, 523 ff.  Vgl. GPR, § 182.  Vgl. Enz, § 523. Und das im Unterschied zum „eigentlich politischen“ (GPR, § 267) oder „substantiellen“ Staat (Enz, § 534).

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Tun“ jedoch zugleich auf „allgemeine Weise“ und machen sich zum „Gliede der Kette“ (GPR, § 187) desjenigen Zusammenhangs, das der Staat ist. Organisation ist eben ein solcher äußerer oder Verstandesstaat. 5) Um den Organisationsbegriff näher via negativa zu charakterisieren, ist es einerseits sinnvoll, ihn b) sowohl in Bezug auf das erste Moment der Hegelʼschen bürgerlichen Gesellschaft, d. h. das „System der Bedürfnisse“ (Enz, §§ 524 ff.; GPR, §§ 189 ff.), zu setzen und Organisation dabei zugleich abzuheben von ‚Wirtschaft‘, also von einem Bereich, der in Hegels Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft eine wichtige Rolle spielt. Zudem ist Hegels Erkenntnisperspektive der bürgerlichen Gesellschaft a) zu unterscheiden von derjenigen Erkenntnisperspektive, der eine begriffliche Entwicklung des Organisationsbegriffs bedürfte. a) Zunächst ist klar: Mit der Bestimmung von Organisation als äußerem Staat ist Organisation nicht mehr als bloße Instrumentalität gefasst, sondern als Moment von Höherem oder Allgemeinerem, das die Freiheit ist. Es ist dieses Momentsein einer höheren Freiheitsbestimmung und also eine spezifische Funktion für die Verwirklichung von Freiheit zu haben, worauf Hegel abstellt. Entsprechend ist ihm die bürgerliche Gesellschaft ein Moment der Sittlichkeit zwischen Familie und Staatsverfassung.⁵⁸ Speziell die bürgerliche Gesellschaft als ‚selbstsüchtiger Zweck in seiner Verwirklichung‘ und das dazugehörige Verhältnis von ‚besonderer Person‘ und ‚Allgemeinheit‘ im äußeren Staat machen die Idee zu einer in der „Entzweiung“, das System allseitiger Abhängigkeit zu einer „relativen Totalität“, so dass die Idee hier zwar als „innere Notwendigkeit“, jedoch an einer „äußeren Erscheinung“ (GPR, § 184) ist.⁵⁹ Indem nun das Prinzip der Besonderheit sich für sich zur Totalität entwickelt, geht es in die Allgemeinheit und damit in die Freiheit über;⁶⁰ die Idee „erhebt“ (GPR, § 187) sich durch die Individuen mit ihren jeweiligen Interessen hindurch zur Freiheit und Allgemeinheit des Wissens

 Vgl. Enz, § 517; GPR, § 157.  Vgl. GPR, § 186. Im System der Bedürfnisse lässt sich übrigens eine weiterführende Anschlussthematik aufzeigen, die ebenfalls zur organisationswissenschaftlichen metatheoretischen Debatte gehört: die wissenschaftstheoretische Dimension von Organisationswissen. Sie bricht hier insofern auf, als die Akteure im System der Bedürfnisse gewiß Kenntnis ihrer Zwecke benötigen sowie der Wege, sie zu verwirklichen. Organisationswissen ist eine Form theoretischer Erkenntnis bzw. Leistung des theoretischen Geistes. Die Einbettung der wissenschaftstheoretischen Dimension in die Hegel’sche Systematik erfordert also den Einbezug der Philosophie des subjektiven Geistes. Dieser Geist ist offenbar integriert in die Philosophie des objektiven Geistes und damit auch die organisationswissenschaftliche Erkenntnis. Dies auszuführen übersteigt jedoch Sinn und Zweck der vorliegenden Studie.  Vgl. GPR, § 186.

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und Wollens.⁶¹ Zweck der bürgerlichen Gesellschaft ist die Befriedigung der Bedürfnisse auf eine „feste und allgemeine Weise, d. i. die Sicherung dieser Befriedigung“ (Enz, § 533). Die bürgerliche Gesellschaft enthält näherhin drei Momente, wovon das Moment der Bedürfnisbefriedigung den Einstieg bietet, die Möglichkeitsbedingungen seiner Sicherung zu ermitteln, sofern diese die „Wirklichkeit des darin enthaltenen Allgemeinen der Freiheit“ (GPR, § 188) betreffen: „Rechtspflege“ (Enz, §§ 529 ff.; GPR, §§ 209 ff.) sowie „Polizei und Korporation“ (Enz, §§ 533 ff.; GPR, §§ 230 ff.). Sie ermöglichen es dem und den Einzelnen, das eigene Wohl nach eigenem Dafürhalten zu verfolgen und zu erreichen und dabei zugleich das dynamische System der Wirtschaft selbst zum Bestandteil einer stabilen politischen Ordnung zu machen. So wird Bedürfnisbefriedigung auf ‚feste und allgemeine Weise‘ gewährleistet, und nur so wird individuelle Freiheit wirklich. Freilich identifiziert Hegel die bürgerliche Gesellschaft nicht mit der Sphäre der modernen Wirtschaft. Die bürgerliche Gesellschaft ist eine Gestalt des Rechts qua Daseins der Freiheit; nur als Moment dieses Daseins der Freiheit ist moderne Wirtschaft ihrer Rationalität nach selbst möglich. Damit wird erneut sichtbar, dass es freiheitsfunktionale Momente sind, die Hegels begrifflichen Entwicklungsgang bestimmen. Hegel thematisiert die Freiheitsrelevanz objektiv geistiger Gestalten (ihr ‚Recht‘ qua Dasein der Freiheit). Die Organisationstheorie hingegen ist an der inneren Einrichtung einer objektiven Gestalt gemäß der Idee der Nützlichkeit als Effizienz und Effektivität bewusster Zweckrealisierung interessiert. Aber nicht nur dies markiert eine wichtige Differenz der jeweiligen Erkenntnisperspektiven. Die Erkenntnisperspektive der Organisationstheorie unterscheidet sich nämlich auch von derjenigen der Ökonomik.⁶² Gerade die Ökonomik spielt in Hegels Überlegungen zum System der Bedürfnisse eine große Rolle; sie führt bei ihm zur Konzeption einer vernünftigen, den Forderungen der Vernunft gemäß regulierten Marktwirtschaft.⁶³ Man hat nicht zu Unrecht vom Konzept einer „philosophischen Ökonomik“⁶⁴ gesprochen.  Damit ist nicht nur Hegels Bildungsbegriff greifbar, sondern in puncto Instrumentalität wendet sich Hegel ausdrücklich gegen die Auffassung, Bildung als Fortgang ins Allgemeine sei bloß etwas „Äußerliches“ bzw. ein bloßes „Mittel“; er verweist dagegen auf die „Natur des Geistes“ und den „Zweck der Vernunft“, nämlich dass der Geist seine Wirklichkeit nur durch zu überwindende Selbstentzweiung hat und seine Naturbestimmtheit, d. i. Unmittelbarkeit, Einzelheit, zur Allgemeinheit ‚wegarbeitet‘; Bildung wird so selbst zum „immanenten Moment des Absoluten“ (GPR, § 187 A).  – sogar noch dann, wenn man verkürzender Weise unter Organisation vor allem Wirtschaftsorganisationen verstehen möchte.  Indes verkennt das vom Neoliberalismus (F. von Hayek, M. Friedman et al.) – Smiths Gedanke der Wirtschaft als ‚System der Freiheit‘ (einseitig) fortschreibend – favorisierte Verständnis der

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b) Diese Ausrichtung auf die Ökonomie hat mit Hegels Bestimmung des ersten Moments der bürgerlichen Gesellschaft zu tun: des Systems der Bedürfnisse.⁶⁵ Überhaupt ist Hegels Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft auch das Dokument eines historischen Emanzipationsprozesses. Das Individuum löst sich von seiner traditionellen Rückbindung an gesellschaftliche und politische Verbände durch die Erkennung individueller Freiheitsrechtsrechte. Es ist ein Verdienst Hegels, die Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft erfasst und von jenen des politischen Staates unterschieden zu haben: Gesellschaft und Staat sind von eigenen Prinzipien geleitet, fallen also nicht zusammen (auch wenn Hegel keineswegs in neoliberalistischer Weise den Staat aus der Gesellschaft treibt, sondern ihn als Möglichkeitsbedingung gesellschaftlichen Agierens konzeptualisiert). Das eine Prinzip, die konkrete Person als Ganzes von Bedürfnissen, und das andere Prinzip, ihre Beziehung zu ebensolchen anderen Personen und das daraus fließende System der Abhängigkeiten, führen zunächst zu einer Befriedigung, die vorwiegend nicht durch „unmittelbare“ Besitzergreifung vonstattengeht, sondern vermittelt ist durch den Willen des Besitzers und „Arbeit“ (Enz, § 524; GPR, § 189). Hegel zufolge ist es die „Staatsökonomie“, die von solchen Gesichtspunkten her „das Verhältnis und die Bewegung“ der Menschen in ihrer quantitativen und qualitativen Bestimmtheit darlegt, d. h. die ökonomische Gesetzlichkeit im menschlichen Verhalten aufdeckt; er verweist dabei auf Vertreter der ökonomischen Klassik wie A. Smith, D. Ricardo und J. B. Say.⁶⁶ Während Hegel die Familie

modernen Wirtschaft als Freiheits- und Wohlfahrtsmaschinerie die destabilisierende Kraft der wirtschaftlichen Dynamik (‚Bankenkrise‘, ‚Finanzkrise‘, ‚Immobilienblase‘, ‚Globalisierung‘ usw.), ebenso wie die antiliberalistische, totalitaristische Variante Rousseau’scher oder Marx’scher Prägung die Freiheit und die Rechte des Einzelnen missachtet.  So neuerdings Vieweg, Klaus: Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, München 2012, S. 289, der sich auf E. Rózsas Rede von „Wirtschaftsphilosophie“ bezieht. Der ökonomische Charakter des Systems der Bedürfnisse wird vielfach hervorgehoben. Siehe etwa auch Heyde, Ludwig: De verwerkelijking van de vrijheid. Een inleiding in Hegels rechtsfilosofie, Leuven/Assen et al. 1987, S. 178; Petersen, Thomas/Fulda, Hans F.: Hegels „System der Bedürfnisse“, in: Dialektik 3 (1999), S. 129 – 146; Schnädelbach, Herbert: Der objektive Geist, in: Drüe, Hermann et al. (Hg.): Hegels „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriß, Frankfurt a. M. 2000, S. 306.  Vgl. Enz, §§ 524 ff.; GPR, §§ 189 ff.  Vgl. GPR, § 189 A. Siehe zur Differenz von klassischer und neoklassischer Ökonomik etwa Manstetten, Reiner: Das Menschenbild der Ökonomie. Der homo oeconomicus und die Anthropologie von Adam Smith, Freiburg i. Br. 2000, Teil I. Siehe zu ‚Hegels Rezeption der Nationalökonomie‘ Riedel, Manfred: Zwischen Tradition und Revolution. Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Stuttgart 1982, S. 116 ff. Das System der Bedürfnisse ist dabei eng verbunden mit Smiths Wirtschaftsbegriff qua System von Wirtschaftssubjekten mit je eigenen Interessen, die für die Realisierung dieser Interessen voneinander abhängig sind.

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nicht mehr als οἰκονομία, sondern als gefühlsmäßig fundiertes sittliches Verhältnis begreift, handelt er unter dem ‚System der Bedürfnisse‘ von Themen wie Bedürfnissen und deren Befriedigung, Arbeit und deren produktionsmäßiger Optimierung, Vermögen und der damit zusammenhängenden ökonomischen Organisation in Form von Ständen, kurzum von ökonomischen Sachverhalten. Der Mensch ist dabei insofern als ein Nützlichkeitsfaktor in Anschlag gebracht, als im Rahmen der Bedürfnisbefriedigung die, wie es heißt, Tendenz zur Abstraktion der Arbeit (Spezifizierung von Produktionsprozessen und Arbeitsteilung) die „Abhängigkeit und Wechselbeziehung“ der Menschen zur „gänzlichen Notwendigkeit“ (GPR, § 198), also zur „unbedingten Abhängigkeit“ (Enz, § 526) vom gesellschaftlichen Zusammenhang führt. Im System der Bedürfnisse ist die moderne Wirtschaft thematisch. Die vormoderne Ökonomie (οἰκονομία) betraf das Hauswesen (οἶκος). Als Lehre vom Hauswesen bzw. der Hausverwaltungskunst (οἰκονομική) eruierte sie Produktion und Erwerb von Gütern sowie familiäre Verhältnisse und Herrschaftsverhältnisse. Interaktionen zwischen den verschiedenen Haushalten, etwa auf dem ‚Markt‘, waren von peripherer Relevanz. Tauschverhalten und damit einhergehende Phänomene kamen nämlich unter ethischen Gesichtspunkten der Gerechtigkeit zur Sprache. Als Wirtschaft wurden Güterproduktion, Distribution, Märkte, Beschäftigung, Geldwesen usw. sowie damit einhergehende Institutionen erst im 17. Jahrhundert durch eine sog. ‚Politische Ökonomie‘ (auch: (National‐)Ökonomie, Volkswirtschaftslehre, Ökonomik) einer eigenen Betrachtung unterworfen. Sie schickte sich an, die Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft zu bestimmen.⁶⁷ Dabei ging es ihr ursprünglich, gewissermaßen in Übertragung des Aristotelischen οἶκος-Begriffs auf die Makroebene, um die Einrichtung der Gesellschaft bzw. des Staates, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Produktivitätssteigerung und der Wohlfahrtsvermehrung; um, wie es Smith, Begründer der Politischen Ökonomie als Wissenschaft, ausdrückt: den „Wohlstand der Nationen“, den Wohlstand wohlgemerkt des Einzelnen (Einkommen, Lebensunterhalt) in der Gesellschaft.⁶⁸ Für ihn ist, anders als für Aristoteles,⁶⁹ die Wirtschaft ein System, das seine Funktion optimal erfüllt, lässt man dem Selbstinteresse des Einzelnen weitgehend freien Raum, ein ‚System der natürlichen Freiheit‘. Die neoklassische Ökonomik

 Siehe dazu Manstetten, Reiner: Das Menschenbild der Ökonomie. Der homo oeconomicus und die Anthropologie von Adam Smith, a.a.O., S. 37 ff. Vgl. auch Petersen, Thomas: Individuelle Freiheit und allgemeiner Wille. Buchanans politische Ökonomie und die politische Philosophie, Tübingen 1996, Kap. I – II.  Smith, Adam: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Dublin 1776.  Bei Aristoteles ermöglicht das Haus als Lebensgrundlage autarker Bürger es diesen, am Leben der Polis teilzunehmen.

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(L.Walras,W. Jevons, C. Menger, L. Robbins, M. Friedman, G. S. Becker) hat daraus seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Lehre vom homo oeconomicus gestrickt, die wirtschaftliches Verhalten nicht nur in ihrer größten Verzerrungen als Grundlage menschlichen Verhaltens überhaupt begreift;⁷⁰ sondern während für die ökonomische Klassik (A. Smith, T. R. Malthus, D. Ricardo, J. S. Mill, K. Marx) Wirtschaft noch eng mit dem Streben nach Vermögen, Wohlfahrt, Produktivitätssteigerung zusammenhängt, wandelt die Neoklassik Arbeit, Produktion, Vermögenserwerb usw. zu nachrangigen Bestimmungen um, insofern sie wirtschaftliches Verhalten ganz allgemein als Streben nach Genuss und maximaler Befriedigung, nach ‚Nutzen‘, auffasst. Damit modelt die Ökonomik sich von einer materiellen Wohlfahrtstheorie zu einer Theorie der Optimierungsentscheidungen.⁷¹ Dies wurde zum dominanten Ansatz der Ökonomik des 20. Jahrhunderts. Zu ihr gehören etwa die ‚marginalistische Revolution‘, d. i. die mathematische Erfassung und Darstellung ökonomischer Sachverhalte, sowie ein methodologischer Individualismus (wirtschaftliche Handlungen werden auf das Streben nach Nutzen der Individuen zurückgeführt). Lässt man dabei gemäß dem ursprünglichen Ansatz der Politischen Ökonomie einen genuinen Bereich wirtschaftlichen Verhaltens bzw. wirtschaftlicher Phänomene gelten, nämlich der Produktion (‚Allokation‘) und Verteilung (‚Distribution‘) von Wohlstand (‚Kapital‘- und ‚Konsumgütern‘, ‚Dienstleistungen‘) unter Knappheitsbedingungen, löst man den Gegenstandsbereich der Ökonomik also nicht in der ökonomischen Methodik der Nutzenmaximierung auf (wodurch die Ökonomik sich zu einer (naiven) allgemeinen Theorie menschlichen Verhaltens gestaltet), dann wird eine prinzipielle Differenz zur Erkenntnisperspektive der Organisationstheorie greifbar: Beide sind auf Optimierung des Wohlstandes und damit auch auf den ‚Nutzen‘ aus. Darin unterscheiden sie sich nicht. Noch abgesehen von der Tatsache, dass Hegel die Wirtschaftswissenschaft seiner Zeit, d. i. die Nationalökonomie (Volkswirtschaftslehre), vor Augen steht, also jener Zweig der Wirtschaftswissenschaften, der die Volkswirtschaft zum Explanandum hat und nicht wie die Betriebswirtschaftslehre den Betrieb und sich schon darin von der Organisationstheorie unterscheidet, dass diese indifferent ist in Bezug auf die Unterscheidung von Volks- und Betriebswirtschaft, ist sogar im Falle gleicher Analysanda

 Becker et al., d. i. der sog. ‚ökonomische Imperialismus‘. Siehe dazu Krijnen, Christian: Values. Limits of Economic Rationality and Imperialism of Culture, in: Economic and Political Studies 4 (2016), S. 101– 121.  Mit L. Robbins gesprochen, thematisiert die Ökonomik „human behaviour as a relationship between ends and scarce means which have alternative uses“. (Robbins, Lionel: An Essay on Nature and Significance of Economic Science, London 1932, S. 15)

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die Fragestellung und damit die Thematik eine andere: Die Organisationstheorie interessiert sich für das Organisationshafte an Organisationen, die Wirtschaftswissenschaften für deren wirtschaftlichen Aspekt. Das Organisationshafte betrifft die Form sozialer Einheiten, in denen Zwecke realisiert werden. Die klassische Organisationstheorie widmet sich etwa der Rationalisierung bzw. Optimierung von Produktionsabläufen durch Management (F. W. Taylor) oder durch Differenzierung von Managementfunktionen (H. Fayol), den Prozessen der Zwecksetzung und Formalisierung (H. A. Simon) oder den internen informellen organisatorischen Konstellationen (E. Mayo), wobei auch die organisatorische Umgebung als bedeutender Faktor für das Überleben sozialer Systeme einbezogen (P. Selznick, T. Parsons) oder der Fokus von der Struktur der Organisation auf die des Organisierens verschoben wird (K.Weick, A. Giddens). Im Grunde herrschen somit ‚soziologische Gesichtspunkte vor. Das Wirtschaftliche ist eine Spezifizierung dieser Form von Zweckrealisierung. Hingegen geht es bei der Volkswirtschaftslehre um das, wie es heute heißt, Makroökonomische und Mikroökonomische. Die Mikroökonomie beschäftigt sich mit dem wirtschaftlichen Verhalten einzelner Wirtschaftssubjekte (Haushalte und Unternehmen), rückt dabei besonders den Tausch von Gütern und Dienstleistungen auf Märkten in den Vordergrund und analysiert sowohl das Verhalten der Akteure auf diesen Märkten als auch die Marktstrukturen und die institutionellen Rahmenbedingungen. Dabei ist die Lehre vom Marktgleichgewicht eine zentrale Doktrin: Sie führt zur Preisbildung und damit zur Koordination von Verhalten. Die Makroökonomie indes traktiert die gesamtwirtschaftlichen Vorgänge, betrifft also aggregierte Größen. Sie interessiert sich für die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (BNP), die Einkommens- und Beschäftigungstheorie, Wachstumstheorie, Konjunkturtheorie und nicht zuletzt für die Rolle, die der Staat im gesamtwirtschaftlichen Kontext spielt bzw. spielen sollte. Diese Differenzen lassen sich dahingehend formalisieren, dass die Wirtschaft selbst eine Gestalt des objektiven, näherhin des sittlichen, Geistes ist, Organisation aber nur einen formalen Aspekt dieser Gestalt betrifft: die Ausrichtung auf bestimmte kooperative Zweckrealisierung selbst wirtschaftlichen Verhaltens. Organisationen als Phänomene des Geistes gibt es also nur als Wirtschaftsunternehmen, Staatsunternehmen, Bürokratien usw. Organisation fällt daher auch nicht mit irgendeiner Sphäre des objektiven Geistes zusammen. Sie betrifft eine Anschlussthematik, deren Expositionsort Hegels ‚System der Bedürfnisse‘ ist. Als solche betrifft Organisation überhaupt die Sittlichkeit als gelebte Normativität und Bedingung der Verwirklichung entworfener Zwecke. Sie ist durchgängig wirksam. Mit Blick jedoch auf die beiden Bestimmungen der Zweckbestimmtheit und Formalität, leitend für den organisationswissenschaftlichen Organisations-

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begriff, ist Organisation thematisch im Anschluss an die Bedürfnisbefriedigung im System der Bedürfnisse. 6) Darin liegt in Bezug auf Hegels Staatsphilosophie zweierlei, ein Negatives und ein Positives: a) Der Organisationsbegriff ist nicht dort zu exponieren, wo er als Terminus in Hegels Geistphilosophie in den Vordergrund rückt, d. i. in den Ausführungen zum (substanziellen, politischen) Staat. Hegel denkt den Staat als die „selbstbewußte sittliche Substanz – die Vereinigung des Prinzips der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft“ (Enz, § 535)⁷² und als solchen als deren „Grund“, „Erstes“ (GPR, § 256 A). Im Staat als der „Wirklichkeit der konkreten Freiheit (GPR, § 260) entwickelt sich (immer schon) eine konkrete, lebendige, vernünftige, freie Gemeinschaft von Subjekten. Anders als der Verstandesstaat der bürgerlichen Gesellschaft ist er „absoluter unbewegter Selbstzweck“ (GPR, § 258), denn (im objektiven Geist) zum Subjekt gewordene Substanzialität. Sein Zweck ist das „allgemeine Interesse als solches und darin als ihrer Substanz die Erhaltung der besonderen Interessen“; er „weiß“, was er „will“, handelt nach „gewußten Zwecken“ und „Gesetzen“, die nicht nur „an sich“, sondern „fürs Bewußtsein“ (GPR, § 270) sind.⁷³ Tatsächlich pflegt Hegel im Staatskapitel der Sittlichkeit die Terminologie von ‚Organisation‘ und ‚Organisieren‘ wie auch die von ‚Organismus‘. Der Staat ist ihm „ein sich auf sich beziehender Organismus“ (GPR, § 259).⁷⁴ Die Metapher, genauer gesagt die Anapher, des ‚Organismus‘ besagt, dass der Staat kein Mechanismus ist, kein Ganzes, dessen Teile einander äußerlich sind, sondern ein lebendiges Ganzes, dessen Teile ihre jeweilige Selbständigkeit nur innerhalb des Ganzen haben, so dass jedes Teil in einer bestimmten Hinsicht zugleich das Ganze ist. Die organische Verfasstheit des Staates ermöglicht es Hegel, den Staat als innere Teleologie zu begreifen. Insofern hebt der Staat die beiden anderen Prinzipien der Sittlichkeit, Familie und bürgerliche Gesellschaft, auf; im Staat kommen sie zur Entfaltung und zur Einheit, er ist ihr wahrer Grund.⁷⁵ Der Terminus Organisation verweist also auf die Struktur spekulativen Begreifens bzw. des spekulativen Begriffs (genauer: auf die unmittelbare Idee).

 Vgl. GPR, § 257.  Vgl. Enz, § 537.  Vgl. GPR, §§ 267, 269, 270 A, 271, 271 A.  Siehe etwa auch GPR, § 278 A, wo Hegel unterstreicht, Teile im animalischen Organismus seien „Glieder“, „organische Momente“, deren Isolieren und Für-sich-Bestehen indes die „Krankheit“. Der Staat ist ihm sodann „wesentlich eine Organisation von solchen Gliedern, die für sich Kreise sind, und in ihm soll sich kein Moment als eine unorganische Menge zeigen“ (GPR, § 303 A).

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‚Organisation‘ tut das im Grunde auch, betont jedoch weniger das Zusammenwirken der Momente als vielmehr die innere Gliederung selbst. So redet Hegel von Begriffsverhältnissen als von der „Organisation des Begriffs der Freiheit“ (GPR, § 261 Z), vom Staat als Willen, der sich als gegenwärtiger Geist zur „Organisation einer Welt“ (GPR, § 270 A) entfaltet, von der politischen Verfassung, die „Organisation des Staates“ (GPR, § 271) ist, von einem in seiner „Organisation ausgebildeten und darum starken Staat“, von der „Staatsorganisation“ bzw. „Organisation des Staates“ (GPR, § 270 A), vom Staat als „in sich organisiert“ (GPR, § 263 Z), „gegliedert und wahrhaft organisiert“ (GPR, § 260 Z), von der Selbstbestimmung des Begriffs in sich, die das Vernünftige in der „Staats-Organisation“ (GPR, § 272 A) ausmacht, von einer „inneren Unterscheidung“ als „entwickelter Organisation in sich“, „gegliederter Organisation“ (GPR, § 273 A), von der „Organisation der Behörden“ (GPR, § 290).⁷⁶ Diese ‚Organisation des Staates‘ ist bei Hegel thematisch als „inneres Staatsrecht“ (GPR, §§ 260 ff.).⁷⁷ Es geht Hegel dabei um den Staat in seiner inneren freiheitsfunktionalen Verfassung. Darin folgt er zum einen den Gepflogenheiten seiner Zeit. Bekanntlich betrifft der Organisationsbegriff im Zeitalter der Französischen Revolution und des deutschen Idealismus den Staat und andere Organisationsformen politischer Herrschaft. Zum andern aber trägt Hegel der Struktur des Staates als eines geistigen ‚Organismus‘ Rechnung: Organisation betrifft die wirkliche Gliederung einer Gestalt des Geistes, die durch und durch frei sein ist – eine freie Organisation von Freien. Thematisch ist also die Organisation der Freiheit. Diese Thematisierung der Organisation von Freiheit erfolgt jedoch in einer bestimmten Hinsicht, die sich von derjenigen der Organisationstheorie unterscheidet. Anders als in der bürgerlichen Gesellschaft qua Sphäre der Besonderheit ist der zu realisierende Zweck kein besonderer, beliebiger, allenfalls relativallgemeiner, sondern das an und für sich Allgemeine, das Vernünftige des Wil-

 Vgl. GPR, §§ 279 A, 279 Z, 280 Z, 281 Z, 290 A, 297 Z, 302 Z.  Vgl. Enz, § 539, wo vom Staat als einem „organisierten“ Ganzen und der Verfassung als „Gliederung der Staatsmacht“ die Rede ist sowie von der Verfassung als „Organisation“ der Verwirklichung von Rechten, d. i. Freiheit; ferner Enz, § 540, wo Hegel die Garantie der Verfassung zum einen in der „wirklichen Organisation“ des Selbstbewußtseins (eines Volkes) erblickt; § 540 A, wo Hegel von der „organisierten Autorität“ spricht; schließlich § 541, wo die Familie und die bürgerliche Gesellschaft als „natürliche Organisation“ der Regierung angesehen werden, wobei (auch) die „Organisation“ der Regierung in der Unterscheidung von Gewalten erfolgt, die der Logik des Begriffs folgen. Dieser Logik des Begriffs gemäß geht Hegel auf die Teilung der Gewalten ein, die er als „Organisation“ (Enz, § 541 A) fasst. Hier findet sich auch ein organisatorisches Bonmot: „Was die Einheit des Logisch-Vernünftigen desorganisiert, desorganisiert ebenso die Wirklichkeit.“ Siehe zur Organisation noch Enz, § 544 A: Ein „organisiertes Volk“ ist eins, in welchem eine Regierungsgewalt vorhanden ist.

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lens. Der Staat ist hier kein Verstandes- oder äußerlicher Staat mehr, sondern der substanzielle Staat, die selbstbewusste sittliche Substanz. Indes ist für die Organisationstheorie staatliche Organisation nur ein bestimmter Typus von Organisation. Zudem kommt es ihr nicht auf Organisation als Weise der Gliederung des Staates qua Verwirklichung von Rechten an und damit auf eine Gestalt des objektiven Geistes; ihr geht es vielmehr um einen Aspekt dieser Gliederung bzw. Verwirklichung bzw. Gestalt. b) Interessanterweise kommen jedoch in Hegels Diskussion des Staates, vor allem des inneren Staatsrechts, eine Vielzahl von Momenten zur Sprache, die Organisation ganz generell kennzeichnen, unabhängig vom zu realisierenden Zweck, auch wenn Hegel sie bloß in Bezug auf den Staat und damit auf den Zweck des Allgemeinen thematisiert. Solche Momente gehen als Bestimmungen in den gesuchten philosophischen Begriff von Organisation ein. Sie weisen zudem Tendenzen auf, die als die grundlegenden Prinzipien von Organisation in Anschlag gebracht werden können: Anders als der Staat überhaupt ist der ‚eigentlich politische Staat‘ ein Organismus, der nicht nur vernünftige Ordnung von Gemeinschaftsleben als solchem ist. Er betrifft nämlich eine spezifische Form, die die Wirksamkeit der Idee des Staates ermöglicht qua Gebilde, dessen „Zweck“ (GPR, § 270) oder „Wesen“ (Enz, § 537) eben das Allgemeine (allgemeine Interesse, an und für sich Allgemeine) ist. Dieser Staat ist schon in den beiden sittlichen Gestalten der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft begrifflich wirksam (Rechtspflege, Polizei und Korporation); ohne solche Wirksamkeit und damit ohne stabilisierende Momente würde die Sittlichkeit einfach desintegrieren; das Verfolgen und Realisieren besonderer Interessen bedarf zu seiner eigenen Möglichkeit eines Allgemeinen, das es hält und durchdringt, innerhalb dessen es sein kann, was es ist. Beim modernen Organisationsbegriff geht es dabei nicht speziell um die Wirksamkeit der Idee des Staates, sondern um Zweckrealisierung überhaupt. Die Interessen, die verfolgt werden, sind also beliebig, können allgemeine oder besondere sein (es kommt dabei allerdings nicht auf die Beliebigkeit an, sondern auf die Indifferenz bezüglich des Inhalts). Die „Gesetze“ als staatliche sind zwar als „Endzweck“ und „Inhalt-Bestimmung der objektiven Freiheit“ (Enz, § 538) zu begreifen, das Allgemeine beliebiger organisatorischer Zweckrealisierung ist davon jedoch zu unterscheiden, so dass „Freiheit und Gleichheit“ (Enz, § 539 A) hier zwar wirksam sind, jedoch nicht die ‚Verfassung‘ beliebiger Organisation ausmachen können; Organisationen müssen eine ihrem jeweiligen besonderen Zweck gemäße Verfassung haben, so wie der Staat als auf das Allgemeine Abgestelltes die seinem Zweck gemäße Verfassung hat. Die Konstitution des Staates als Vermittlungsstruktur von Allgemeinem und Besonderem, sowohl in objektiver (Verfassung) als in subjektiver (Gesinnung)

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Hinsicht, betrifft also eine Spezifikation von Organisation. Während Organisation ganz allgemein eine funktionale Teilung der Glieder bedingt, handelt es sich speziell bei der Organisation des Staates mit Blick auf seine Wirksamkeit um ‚Gewaltenteilung‘. Das Erscheinen der Wirklichkeit der Freiheit ist dabei der dominante Gesichtspunkt. Der Staat als Wirklichkeit des substanziellen Willens ist nicht nur das zu seiner Allgemeinheit erhobene Selbstbewusstsein,⁷⁸ sondern darin zugleich die Wirklichkeit der Freiheit, indem die persönliche Einzelheit und deren besondere Interessen nicht bloß zur vollen Entfaltung kommen, sondern sie „durch sich selbst“ (GPR, § 260) mit Wissen und Wollen in das Interesse des Allgemeinen übergehen, das für sie ihr Allgemeines, Endzweck, substanzieller Geist ist. Das anerkannte Allgemeine im politischen Staat ist dabei gerade nicht das Besondere beliebiger Organisation; gleichwohl erfordert Organisation die Anerkennung eines Allgemeinen, das ein organisiertes Gebilde durchzieht, etwa von der Organisation gesetzter Zwecke (wie im rationalen Organisationskonzept) bzw. des übergreifendes Zwecks ‚Überleben‘ (wie im natürlichen/organischen Organisationskonzept). Ein Allgemeines wird bewusst anerkannt und damit freilich auch die Vermittlungsstruktur von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem. Diese spezifiziert sich im Staat Hegel zufolge zwar in fürstliche Gewalt,⁷⁹ Regierungsgewalt⁸⁰ und gesetzgebende Gewalt.⁸¹ Dabei handelt es sich vom Gesichtspunkt der Zweckrealisierung als solcher her gesehen jedoch um eine Spezifikation, die sich aus dem Zweck des politischen Staates als des (konkret) allgemeinen Interesses ergibt. Dennoch ist für Organisation so oder so eine funktionale Gliederung und die damit gegebene Arbeitsteilung unerlässlich. Und trotz der Betonung des ‚bewussten Entwurfs‘ einer Organisation durch das rationale Organisationskonzept (vs. der ‚natürlichen‘ Entwicklung, wie vom organischen Konzept favorisiert), ist Organisation so wenig wie der Staat einfach ein ‚Gemachtes‘,⁸² sondern in der Regel das Ergebnis einer jedwedes Machen präformierenden historischen Entwicklung, die das Machen und seine Möglichkeiten einbettet.⁸³ Dass im Hegel’schen Staat dem Monarchen eine exponierte Stellung

 Vgl. GPR, § 258.  Vgl. GPR, §§ 275 ff.  Vgl. GPR, 287 ff.  Vgl. GPR, §§ 298 ff.  Vgl. GPR, §§ 273 A, 274 inkl. A und Z.  „Keine Verfassung wird daher bloß von Subjekten geschaffen“ (GPR, § 274 Z) – eine Einsicht, die beispielsweise das natürliche Organisationskonzept gegen das rationale ausspielt und die es in sich hat, auch die Furie der in der gegenwärtigen internationalen Politik viel berufenen Nationbuilding zur vernünftigen Besinnung zu bringen.

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zukommt als der in einer Person (Individuum) konkretisierten letzten Entscheidungsgewalt und damit auch als Symbol der Macht und Einheit des Staates, lenkt den Blick auf Probleme wie Organisationsstruktur, Führung und (Letzt‐)Verantwortung, die sich in der Ordnung des auf substanzielle Freiheit ausgelegten politischen Staates freilich spezifisch ausprägen. Die unterschiedenen Funktionseinheiten sind wiederum in sich gegliedert. Z. B. ist, wie Hegel darlegt, die Funktion des Ausführens und Anwendens von Entschiedenem wie das Fortführen und Instandhalten von Entschiedenem und Vorhandenem, d. i. die ‚Regierungsgewalt‘, in sich differenziert.⁸⁴ So wenig wie im Staat, so wenig kann Regierungsgewalt (Leitung, Management) in der Organisation überhaupt eine bloße Technokratie sein, jedenfalls wird sie so nicht mehr von der sittlichen Gemeinschaft, die eine jedwede Organisation ist, getragen.Während freilich auf der Ebene des Staates solche technokratische Ordnung der Idee der Freiheit widerspricht, wird generell auf der Ebene von Zweckrealisierung überhaupt der je spezifische Kontext rasch über die Folgen technokratischer Organisation entscheiden. Hegel unterscheidet näherhin eine Vielzahl staatlicher Verwaltungseinheiten,⁸⁵ kehrt also die Thematik der Organisationsstruktur hervor, aber in diesem Kontext auch damit verbundene Themen wie Zentralismus (bzw. Subsidiarität), Regelsucht, Verantwortung, Hierarchie, das Spannungsverhältnis von besonderen Interessen der beteiligten Glieder und allgemeinem Zweck des Ganzen sowie Arbeitsteilung.⁸⁶ Organisationstheoretisch interessant ist auch, dass Hegel in seiner Sittlichkeitslehre immer wieder auf das Thema der Stellenvergabe, also der personalen Arbeitsverteilung eingeht, ein wichtiges Thema schon für die Gründungsväter der Organisationstheorie.⁸⁷ Ebenso wie schon in der bürgerlichen Gesellschaft sich Unterschiede der Stände nach „natürlichem Talent“, „Geschick“, „Willkür“ und auch „Zufall“ (Enz, § 527) ergeben,⁸⁸ so sind öffentliche Ämter aufgrund objektiver Kriterien der Befähigung zu verteilen.⁸⁹ Anders als in Organisation überhaupt, die zwar die Bezogenheit auf und Bestimmtheit durch ein Allgemeines erfordert, hat speziell der allgemeine Stand (Beamtenschaft) das Allgemeine zur „wesentlichen Bestimmung“ seines „partikulären Lebens“ (Enz, § 543) gemacht.⁹⁰ Ebenso kommt Hegel, freilich bezogen

 Vgl. GPR, § 287.  Vgl. GPR, §§ 288 f.  Vgl. GPR, §§ 289 f.  Vgl. Taylor, Frederick W.: The Principles of Scientific Management, New York 1911; Fayol, Henry: General and Industrial Management (1917), London 1949.  Vgl. GPR, §§ 207, 303 A.  Vgl. GPR, § 291; Enz, § 543.  Vgl. GPR, §§ 294, 303

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auf die Beamtenschaft, auf die Thematik der moralischen Kompetenz, wie man heute sagt, der Integrität zu sprechen,⁹¹ jedoch auch auf Themen wie Besoldung,⁹² Machtmissbrauch und Korruption.⁹³ Zugleich sieht Hegel die (quantitative) „Größe des Staates“ (GPR, § 296) als Puffer und damit die Größe der Organisation als Stabilitätsgaranten, als Sittlichkeitsbegünstiger gegen das Durchschlagen der mannigfaltigen partikularen Interessen. Die Regierung selbst fasst er als die „fortdauernde Hervorbringung des Staates und seiner Verfassung“ (Enz, § 541). Der geistige Organismus, der der Staat ist, lässt sich in seiner Ausrichtung auf das Allgemeine nur erhalten durch eine in sich differenzierte, zweckgemäße Gliederung organisatorischer Funktionseinheiten. Offenbar lassen sich organisationsrelevante Aspekte aus Hegels Sittlichkeitslehre herausschälen, die für sich, d. i. aus der Perspektive des Organisatorischen, zu betrachten wären – als Momente des Organisationsbegriffs selbst, nicht unmittelbar als Momente der Selbsterkenntnis der absoluten Idee als des absoluten Geistes.

3 Organisation in Hegels Geistphilosophie, spekulativ Für die oben genannten Momente der Selbsterkenntnis gilt der Methodik realphilosophischer Erkenntnis entsprechend, dass sie sowohl im Material als auch in der Logik des Begriffs fundiert sein müssen, kurzum in der Sache selbst. 1) Was die materiale Grundlage betrifft, konnten zwar Momente des Organisationsbegriffs andeutungsweise hervorgekehrt werden, eine ausdrückliche Thematisierung fehlt jedoch bei Hegel aufgrund der Ausrichtung seiner Geistphilosophie. Damit fehlen auch die übergeordneten Gliederungsbegriffe, die den Organisationsbegriff kennzeichnen und seine inhaltliche Ausdifferenzierung ermöglichen, geschweige denn deren spekulative Ordnung. Die erste Aufgabe ist also, übergeordnete Gliederungsbegriffe zu gewinnen. Interessanterweise liefert die Geschichte der Transzendentalphilosophie eine mögliche Handhabe. Jedenfalls enthalten neuere Philosophien des ÖkonomischSozialen in dieser Hinsicht Potenziale. Wie anfangs gesagt, läuft speziell Flachs

 Vgl. GPR, §§ 293 f. Fayol, Henry: General and Industrial Management (1917), a.a.O. etwa hält es für geradezu verhängnisvoll, als Manager moralisch in Diskredit gebracht zu werden, wie in der Bankenkrise allenthalben zu beobachten.  Vgl. GPR, § 294.  Vgl. GPR, §§ 295 f.

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Analyse der Idee des utile auf die ökonomisch-sozialen Grundwerte der wirtschaftlichen und sozialen Ergiebigkeit, Nachhaltigkeit und Einträglichkeit der Arbeit hinaus.⁹⁴ Ich hatte darauf angespielt, dass damit ein bei Hegel unthematischer Gesichtspunkt hervortritt, der zwar mit Freiheit verbunden ist, jedoch auf der Ebene der Unbedingtheit nicht selbst Unbedingtheitsgestalten des objektiven Geistes qualifiziert, sondern die Dimension ihrer inneren Organisation gemäß dem Wert des Nutzens betrifft. Zwar bringt Flach anders als Hegel die Prinzipien der Ergiebigkeit, Nachhaltigkeit und Einträglichkeit als Grundwerte schlechthin (definierende Bestimmungsstücke) der Idee des utile, d. i. der Idee des Ökonomisch-Sozialen, in Anschlag – im Rahmen einer Hegel’schen Bestimmung von Organisation jedoch lassen sie sich für die Bestimmung der zweckgemäßen Organisation objektiver Gestalten fruchtbar machen. Sie bilden nämlich die grundlegenden, organisationsrelevanten materialen Momente der Hegel’schen Sittlichkeitslehre ab, wie sie oben geltend gemacht wurden. Ihre triadische Konstellation prädisponiert sie zudem für eine spekulative Artikulation gemäß der Logik des Begriffs. Flach rückt den Arbeitsbegriff ins Zentrum seiner Überlegungen zur ökonomisch-sozialen Sphäre.⁹⁵ Deren Philosophie habe die Arbeit als „Produktion und Kalkulation“ sowie als „Konsum und Wohlfahrt“ zu diskutieren. Die Diskussion entwickelt sich entlang des Flach’schen Schematismus der Idee, d. i. entlang der Unterscheidung von konstitutiver, universal-regulativer und speziell- bzw. spezifisch regulativer Prinzipiation.⁹⁶ Sie wirft dabei die Grundwerte der Ergiebigkeit, Nachhaltigkeit und Einträglichkeit (der Arbeit) ab. Was besagen diese Grundwerte?

 Vgl. Flach, Werner: Grundzüge der Ideenlehre. Die Themen der Selbstgestaltung des Menschen und seiner Welt, der Kultur, a.a.O., S. 142 ff. Für eine Diskussion des Flach’schen Ansatzes siehe Krijnen, Christian: Das Soziale bei Hegel. Eine Konstruktion in Auseinandersetzung mit der kantianisierenden Transzendentalphilosophie, a.a.O. und Das Dasein der Freiheit. Geltungsrealisierung bei Hegel und in der kantianisierenden Transzendentalphilosophie, a.a.O.  Das Folgende bezieht sich auf Flach, Werner: Grundzüge der Ideenlehre. Die Themen der Selbstgestaltung des Menschen und seiner Welt, der Kultur, a.a.O., S. 141– 145.  Sie ist für das axiotische Grundverhältnis schlechthin maßgebend. Dieses enthält eine „Ordnung der Werte in deren Realisierung“ gemäß „differenter Momente“ (ebd., S. 62 f.). Eine solche Ordnung hat sich bei Flach schon in seiner Erkenntnislehre ergeben. Vgl. Flach, Werner: Grundzüge der Erkenntnislehre. Erkenntniskritik, Logik, Methodologie, Würzburg 1994, S. 77, 249, 264 ff., 355 ff., 394 ff. Sie kehrt folglich in derjenigen Prägung wieder, die sie als philosophia secunda erfährt. Vgl. Flach, Werner: Grundzüge der Ideenlehre. Die Themen der Selbstgestaltung des Menschen und seiner Welt, der Kultur, a.a.O., S. 39 f. Es handelt sich hierbei um eine innovative Weiterbildung kantischer Lehrstücke.

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Das Prinzip der Ergiebigkeit betrifft die Verwertung von etwas, das entweder durch oder für die Arbeit vorgegeben ist. Es handelt sich also um einen „Einsatz“, der zu einem „Ergebnis“ führt. Dieses Ergebnis unterliegt dem Zweck der „Nützlichkeit“: Es müssen (produktiv, kalkulatorisch, konsum-, wohlfahrtsmäßig) „günstige Verhältnisse“ hergestellt werden. So ‚konstituiert‘ sich ein einheitliches Spektrum ökonomisch-sozialer Phänomene. Das Prinzip der Nachhaltigkeit indes ‚reguliert‘ die hergestellten günstigen Verhältnisse dahingehend, dass es sich um „permanent sich wiederholende“, um „sich selbst stabilisierende“ Verhältnisse handelt; nur dann sei die Verwertung von Vorgegebenem „wirklich effizient“. Ökonomisch-soziale Phänomene schließen also, in welcher Form auch immer, ihren „Fortbestand“ in sich; ihre jeweilige Ablösung ist „Sublimierung“, Perfektionierung günstiger Verhältnisse. Das Prinzip der Einträglichkeit trägt sodann der Tatsache Rechnung, dass Arbeit nichts Einheitliches, sondern „nach Geschick“ verteilt bzw. zu verteilen ist. Nur dann ist der Einsatz einträglich: Einträgliche Verwertung von Vorgegebenem erfordert geschickte Allokation von Arbeit; Arbeit muss sich für alle Beteiligten (Einzelne, Gruppe(n)) in irgendeiner Form ‚lohnen‘. An diese Gliederung der Grundwerte lassen sich Flach zufolge eine Vielzahl ökonomisch-sozialer Phänomene verschiedenster Art anschließen (etwa Produktions-, Arbeits-, Markt-, Technik-, Gewalt-, Rechts- und Staatsverhältnisse). Es wäre die Aufgabe einer ausgeführten materialen Philosophie des ÖkonomischSozialen deren Werte, die folglich derivative Werte sind, herauszuarbeiten. Freilich kommt es darauf in der vorliegenden Untersuchung nicht an. Sie hat die Gedankenführung vielmehr auf die Relevanz des Skizzierten für den spekulativen Gehalt des zu exponierenden Organisationsbegriffs zu lenken. Diese Relevanz besteht zunächst darin, hinsichtlich des Organisationsbegriffs die drei Flach’schen Grundwerte zu verbinden mit dem Material der Hegel’schen Sittlichkeitslehre. Die obige topologische Erkundung des Organisationsbegriffs ergab nicht nur das System der Bedürfnisse als den Expositionsort des Organisationsbegriffs, sondern auch, dass sich in Hegels Staatslehre eine Vielzahl von Momenten aufweisen lassen, die Organisation ganz generell kennzeichnen. Schon der Zweck der bürgerlichen Gesellschaft bestand darin, die Befriedigung der Bedürfnisse auf eine ‚feste und allgemeine Weise zu sichern‘, was immer auch den Einbezug staatlicher Momente involviert. Durchgehend berührt Hegel das Thema der Allokation der Arbeit, sowohl was die Fähigkeiten der Subjekte und damit die personale Arbeitsverteilung betrifft als auch was die objektive, (freiheits‐)funktionale Qualifikation der Arbeitsverteilung anbelangt. Und das sich dies alles für den Einzelnen so oder so lohnen muss, gehört schon zur Anlage der Hegel’schen Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft, ist sie doch darauf abgestellt, dem und den Einzelnen zu ermöglichen, das eigene Wohl nach eigenem

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Dafürhalten zu verfolgen, was nicht weniger für den Staat gilt, zu dessen wesentlichen Funktionen es gehört, Wohlfahrt zu garantieren. 2) Schon diese Hinweise sollten genügen, um einsichtig zu machen, dass die herangezogenen Gliederungsbegriffe ein materiales Fundament haben. Sie spekulativ zu artikulieren, erfordert es, Flachs kantianisierenden Schematismus von Konstitution und Regulation begriffslogisch als Verhältnis von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem zu modellieren. Dadurch werden die Grundwerte der Ergiebigkeit, Nachhaltigkeit und Einträglichkeit als die grundlegenden Momente des Organisationsbegriffs in den Hegel’schen Begriff übersetzt. Freilich kann es sich bei einer solchen Übersetzung in die Logik des Begriffs nur noch darum handeln, zu plausibilisieren, dass sich die dargelegten Gliederungsbegriffe als die Begriffsmomente des Allgemeinen, Besonderen, Einzelnen interpretieren lassen. Sie begriffs- und sodann urteils- und schlusslogisch auszuarbeiten, also wahrhaft spekulativ zu bestimmen, wäre die Aufgabe einer ausgearbeiteten Organisationsphilosophie. Das Vorliegende hingegen ist dem Zweck verbunden, die Systemstelle des Organisationsbegriffs darzulegen.⁹⁷ Zunächst ist es für das Verfahren einer spekulativen Philosophie wichtig, dass Bestimmungen nicht ‚von außen‘ hinzutreten, sondern sich im Rahmen einer „immanenten Deduktion“ (WL II, S. 219) ergeben.⁹⁸ Entsprechend enthält der „Begriff als solcher“ (Enz, § 163) die Momente der Allgemeinheit, der Besonder-

 Es ist ein Verdienst von Vieweg, Klaus: Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., nicht nur gegen deren Unterschätzer auf die logische Grundlage der Hegel’schen Rechtsphilosophie hingewiesen, sondern zugleich versucht zu haben, diese logische Grundlage darzulegen. Für den Organisationsbegriff wäre Entsprechendes noch zu leisten. Eine solche Arbeit müßte allerdings auch Viewegs Deutung übersteigen, ist er doch der Auffassung, nur der Wille habe das „Prädikat“ ‚frei‘ und Freiheit sei „nur im Paradigma des Willens“ zu denken, erst in den Grundlinien werde „expliziert und erwiesen“, daß Freiheit eine „immanente Bestimmtheit der Idee ist“ (S. 44). Hegel ist da doch anderer Auffassung: „Der Begriff ist das Freie“; und das und wie der Begriff das Freie ist, ist das Ergebnis einer „immanenten Deduktion“, welche die „Genesis des Begriffs“ ist. Siehe dazu Fulda, Hans F.: Der eine Begriff als das Freie und die Manifestationen der Freiheit des Geistes, in: Wirsing, Claudia/Koch, Anton F./Schick, Friedrike et al. (Hg.): Hegel – 200 Jahre Wissenschaft der Logik, Hamburg 2014, S. 15 – 41; Knappik, Franz: Im Reich der Freiheit. Hegels Theorie autonomer Vernunft, Berlin 2013; Krijnen, Christian: Freiheit als ursprüngliche Einheit der Vernunft: Hegels begriffslogische Lösung eines Kantischen Problems, in Neuser, Wolfgang/Stekeler-Weithofer, Pirmin (Hg.): Natur und Geist, Würzburg 2016, S. 25 – 52. – Mit dem jedwede Komplexität und fruchtbare Hegel-Deutung und -Aneignung annihilierenden simplen Schema ‚These – Antithese – Synthese‘, das Hegel selbst nicht verwendet (sich über solche Schemata vielmehr lustig macht), hat all dies freilich nichts zu tun.  Wie es in der Rechtsphilosophie heißt, „eines immanenten Unterscheidens des Begriffs selbst“ (GPR, § 33 A).

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heit und der Einzelheit; er ist das „schlechthin Konkrete“ (Enz, § 164).⁹⁹ Der Begriff ur-teilt sich sodann in Urteile, ist in seiner Besonderheit das Urteil,¹⁰⁰ während er anschließend seine Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit in Schlussweisen zusammenschließt, also zur „Einheit des Begriffs und des Urteils“ (Enz, § 181) wird. Somit ist der Begriff nur durch sich selbst bestimmt, nicht durch anderes; das Einzelne ist das Wirkliche als aus dem Begriff hervorgegangen,¹⁰¹ das in sich reflektierte und dadurch zum Allgemeinen zurückgeführte Besondere. Die spekulative Methode philosophischen Begreifens ist geradezu darauf abgestellt, ‚(Selbst‐)Bewegung des Begriffs‘ zu sein. So ergibt sich eine synthetische Einheit, die Selbstvermittlung des Begriffs ist, seine eigene „immanente Reflexion“, „manifestierte Beziehung“ (WL II, S. 242).¹⁰² An die Stelle des bloßen Behauptens, dass es diese oder jene Verhältnisse gebe, entwickelt der Begriff sich „aus sich selbst“, ist er „immanentes Fortschreiten und Hervorbringen seiner Bestimmungen“ (GPR, § 31). Sodann gilt es herauszustreichen, das der Anfang einer spekulativen Begriffssequenz qua Anfang ein Unmittelbares ist.¹⁰³ Der Sinn des Fortgangs ist es wiederum, dass der Anfang, als die abstrakte Allgemeinheit, die er ist, sich selbst bestimmt: ,für sich‘ das Allgemeine wird.¹⁰⁴ Der Begriff ‚realisiert‘ sich so durch sein Anderssein hindurch, ist die ,Wahrheit‘ oder das ,gesetzte‘ Allgemeine.¹⁰⁵ Anschließend lässt sich das Erreichte erneut als ein Anfang in Anschlag bringen;¹⁰⁶ die Methode selbst erweitert sich zu einem „System“ (WL II, S. 500) von Gedankenbestimmungen. Was speziell den freien Willen als Anfangsbegriff der Philosophie des objektiven Geistes betrifft, ist dieser der skizzierten allgemeinen methodischen Handhabe gemäß zunächst „unmittelbar“, sodann „in sich reflektiert“ und schließlich als Einheit beider „substantieller“ (Enz, § 487) Wille. Er enthält folglich in sich

 Siehe zu Hegels Lehre vom Begriff etwa Arndt, Andreas/Iber, Christian/Kruck, Günter (Hg.): Hegels Lehre vom Begriff, Urteil und Schluss, Berlin 2006; Koch, Anton F./Oberauer, Alexander/ Utz, Konrad (Hg.): Der Begriff als die Wahrheit. Zum Anspruch der Hegelschen „Subjektiven Logik“, Paderborn 2003; Düsing, Klaus: Syllogistik und Dialektik in Hegels spekulativer Logik, a.a.O.; Fulda, Hans F.: Hegels Dialektik als Begriffsbewegung und Darstellungsweise, a.a.O.  Vgl. Enz, §§ 165 f.  Vgl. Enz, § 163 A.  Siehe dazu und zum Folgenden auch Krijnen, Christian: Philosophie als System. Prinzipientheoretische Untersuchungen zum Systemgedanken bei Hegel, im Neukantianismus und in der Gegenwartsphilosophie, a.a.O., § 3.4.  Vgl. WL II, S. 488.  Vgl. WL II, S. 490.  Vgl. WL II, S. 498 f.  Vgl. WL II, S. 499.

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die „reine Unbestimmtheit“, „Allgemeinheit“ (GPR, § 5), das „Übergehen aus unterschiedsloser Unbestimmtheit zur Unterscheidung“, „Besonderung“ (GPR, § 6), und die „Einheit dieser beiden Momente“, die „in sich reflektierte und dadurch zur Allgemeinheit zurückgeführte Besonderheit – Einzelheit“, wahrhafte „Selbstbestimmung“; also jene „Freiheit des Willens“, die seinen „Begriff oder Substantialität“ ausmacht (GPR, § 7). Nicht anders stellt sich die Lage in der Sphäre der Sittlichkeit dar: Die „sittliche Substanz“ ist zunächst „unmittelbarer“ Geist („Familie“), dann „relative Totalität der relativen Beziehungen der Individuen als selbständiger Personen in einer formellen Allgemeinheit“ („bürgerliche Gesellschaft“), schließlich „selbstbewußte Substanz“ („Staatsverfassung“) (Enz, § 517), „substantielles Allgemeines“ (GPR, § 157). Die bürgerliche Gesellschaft als der Verstandes- oder äußerliche Staat, der sie ist, enthält als erstes Moment jenes, das sich für die Exposition des Organisationsbegriffs als Ansatzpunkt erwies: die „Vermittlung des Bedürfnisses und die Befriedigung des Einzelnen durch seine Arbeit und durch die Arbeit und Befriedigung der Bedürfnisse aller Übrigen – das System der Bedürfnisse“ (R § 188).¹⁰⁷ Die ‚reflektierte Sittlichkeit‘ des Verstandesstaates, der eine Organisation als solche ist, hat a) als abstrakt allgemeine Bestimmung des Anfangs diejenige Bestimmtheit, die Organisationsphänomene generell qualifiziert, d. i. als Organisationsphänomene konstituiert: die Befriedigung partikularer Bedürfnisse durch eine produktive Tätigkeit, die Arbeit ist.¹⁰⁸ Durch sie wird Vorgegebenes verwertet. Diese Formierung von Vorgegebenem ist der Direktive der Ergiebigkeit, der „Nützlichkeit“, unterworfen: Es sind so oder so „günstige Verhältnisse“ herzustellen. b) Verbesondert wird dieses allgemeine Herstellen günstiger Verhältnisse, indem diese Verhältnisse zu „permanent sich wiederholenden“, sich selbst „stabilisierenden“, „fortbestehenden“ und sich darin „sublimierenden“ Verhältnissen spezifiziert werden. Die Formierung von Vorgegebenem unterliegt also näherhin der Direktive der Nachhaltigkeit der Arbeit. c) Die substanzielle Einheit und Wahrheit von Unmittelbarkeit und In-sichReflektiertheit, abstrakter Ergiebigkeit und besonderer Nachhaltigkeit, kommt aber erst durch die geschickte Verteilung¹⁰⁹ der Arbeit an die Einzelnen zustande, durch „Allokation“ der Arbeit also. Durch das Prinzip der Einträglichkeit der Arbeit ‚lohnt‘ sich der Einsatz, handelt es sich um selbstbestimmte Arbeit, wirkliche  Vgl. Enz, § 524.  Vgl. GPR, § 196. Zu Hegels Arbeitsbegriff siehe Schmidt am Busch, Hans-Christoph: Hegels Begriff der Arbeit, Berlin 2002 und Cobben, Paul: Value in Capitalist Society: Rethinking Marx’s Criticism of Capitalism, Leiden/Boston 2015.  – und die dazugehörige Ausführung freilich.

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Herstellung günstiger Verhältnisse – die Idee in ihrer an und für sich allgemeinen Existenz, die Idee der Organisation.

Literatur Arndt, Andreas/Iber, Christian/Kruck, Günter (Hg.): Hegels Lehre vom Begriff, Urteil und Schluss, Berlin 2006. Aschenberg, Reinhold: Das Recht des Bewusstseins. Eine These der Phänomenologie des Geistes und ihre System- und Kritik-Funktion, in: Gerten, Michael (Hg.): Hegel und die Phänomenologie des Geistes. Neue Perspektiven und Interpretationsansätze, Würzburg 2012, S. 83 – 105. Bernet, Rudolf/Kern, Iso/Marbach, Eduard: Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, Hamburg 1996. Cobben, Paul: Value in Capitalist Society: Rethinking Marx’s Criticism of Capitalism, Leiden/Boston 2015. Dohrn-van Rossum, Gerhard/Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4: Mi-Pre, Stuttgart 1978, S. 519 – 622. Düsing, Klaus: Syllogistik und Dialektik in Hegels spekulativer Logik, in: Henrich, Dieter (Hg.): Hegels Wissenschaft der Logik. Formation und Rekonstruktion, Stuttgart 1986, S. 15 – 38. Fayol, Henry: General and Industrial Management (1917), London 1949. Fichte, Johann G.: Über den Begriff der Wissenschaftslehre (1794, 21798), in: Sämmtliche Werke, Bd. 1, hg. von Immanuel H. Fichte, Berlin 1845. Flach, Werner: Grundzüge der Erkenntnislehre. Erkenntniskritik, Logik, Methodologie, Würzburg 1994. Flach, Werner: Grundzüge der Ideenlehre. Die Themen der Selbstgestaltung des Menschen und seiner Welt, der Kultur, Würzburg 1997. Forster, Michael N.: Hegel’s Dialectical Method, in: Beiser, Frederick C. (Hg.): The Cambridge Companion to Hegel, Cambridge 1993, S. 130 – 170. Fulda, Hans F.: Hegels Dialektik als Begriffsbewegung und Darstellungsweise, in: Horstmann, Rolf-Peter (Hg.): Seminar ‚Dialektik in der Philosophie Hegels‘, Frankfurt a. M. 1978, S. 124 – 178. Fulda, Hans F.: G. W. F. Hegel, München 2003. Fulda, Hans F.: Der eine Begriff als das Freie und die Manifestationen der Freiheit des Geistes, in: Wirsing, Claudia/Koch, Anton F./Schick, Friedrike et al. (Hg.): Hegel – 200 Jahre Wissenschaft der Logik, Hamburg 2014, S. 15 – 41. Hegel, Georg W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), hg. von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler, Hamburg 81991. (= Enz) Hegel, Georg W. F.: Wissenschaft der Logik. Erster Teil, hg. von Georg Lasson, Leipzig 1951. (= WL I) Hegel, Georg W. F.: Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil, hg. von Georg Lasson, Leipzig 1951. (= WL II) Hegel, Georg W. F.: Phänomenologie des Geistes, hg. von Hans-Friedrich Wessels, Heinrich Clairmont und Wolfgang Bonsiepen, Hamburg 1988. (= PhG)

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Hegel, Georg W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1955. (= GPR) Heyde, Ludwig: De verwerkelijking van de vrijheid. Een inleiding in Hegels rechtsfilosofie, Leuven/Assen et al. 1987. Hubig, Christoph/Huning, Alois/Ropohl, Günter: Nachdenken über Technik. Die Klassiker der Technikphilosophie, Berlin 2000. Hübner, Kurt: Technik, in: Krings, Hermann/Baumgartner, Hans M./Wild, Christoph (Hg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1973, S. 1475 – 1485. Kant, Immanuel: Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 29 Bde., Berlin 1900 ff. Knappik, Franz: Im Reich der Freiheit. Hegels Theorie autonomer Vernunft, Berlin 2013. Koch, Anton F./Oberauer, Alexander/Utz, Konrad (Hg.): Der Begriff als die Wahrheit. Zum Anspruch der Hegelschen „Subjektiven Logik“, Paderborn 2003. Krijnen, Christian: Philosophie als System. Prinzipientheoretische Untersuchungen zum Systemgedanken bei Hegel, im Neukantianismus und in der Gegenwartsphilosophie, Würzburg 2008. Krijnen, Christian: Values. Limits of Economic Rationality and Imperialism of Culture, in: Economic and Political Studies 4 (2016), S. 101 – 121. Krijnen, Christian: Das Soziale bei Hegel. Eine Konstruktion in Auseinandersetzung mit der kantianisierenden Transzendentalphilosophie, in: Ders./Zeidler, Kurt W. (Hg.): Gegenstandsbestimmung und Selbstgestaltung. Transzendentalphilosophie im Anschluss an Werner Flach, Würzburg 2011, S. 189 – 226. Krijnen, Christian: Das Dasein der Freiheit. Geltungsrealisierung bei Hegel und in der kantianisierenden Transzendentalphilosophie, in: Ders./Ferrari, Massimo/Fiorato, Pierfrancesco (Hg.): Kulturphilosophie. Probleme und Perspektiven des Neukantianismus, Würzburg 2014, S. 35 – 84. Krijnen, Christian: Recognition. Future Hegelian Challenges for a Contemporary Philosophical Paradigm, in: Ders. (Hg.): Recognition. German Idealism as an Ongoing Challenge, Leiden/Boston 2014, S. 99 – 127. Krijnen, Christian: The Very Idea of Organization. Social Ontology Today: Kantian and Hegelian Reconsiderations, Leiden/Boston 2015. Krijnen, Christian: Freiheit als ursprüngliche Einheit der Vernunft: Hegels begriffslogische Lösung eines Kantischen Problems, in: Neuser, Wolfgang/Stekeler-Weithofer, Pirmin (Hg.): Natur und Geist, Würzburg 2016, S. 25 – 52. Manstetten, Reiner: Das Menschenbild der Ökonomie. Der homo oeconomicus und die Anthropologie von Adam Smith, Freiburg i. Br. 2000. Petersen, Thomas: Individuelle Freiheit und allgemeiner Wille. Buchanans politische Ökonomie und die politische Philosophie, Tübingen 1996. Petersen, Thomas/Fulda, Hans F.: Hegels „System der Bedürfnisse“, in: Dialektik 3 (1999), S. 129 – 146. Rapp, Friedrich/Schubbe, Daniel: Philosophie der Technik, Hagen 2012. Riedel, Manfred: Zwischen Tradition und Revolution. Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Stuttgart 1982. Robbins, Lionel: An Essay on Nature and Significance of Economic Science, London 1932. Röttgers, Kurt: Kategorien der Sozialphilosophie, Magdeburg 2002. Schmidt am Busch, Hans-Christoph: Hegels Begriff der Arbeit, Berlin 2002.

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Schnädelbach, Herbert: Der objektive Geist, in: Drüe, Hermann et al. (Hg.): Hegels „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriß, Frankfurt a. M. 2000, S. 289 – 316. Scott, W. Richard: Organizations. Rational, Natural and Open Systems, Upper Saddle River, N. J. 2003. Smith, Adam: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Dublin 1776. Taylor, Frederick W.: The Principles of Scientific Management, New York 1911. Vieweg, Klaus: Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, München 2012. Wandschneider, Dieter: Technikphilosophie, Bamberg 2004.

Pirmin Stekeler-Weithofer

Grundformen des kooperativen Handelns als Themen philosophisch reflektierter Sozialwissenschaft Abstract: “Basic Forms of Cooperative Action as Topics of Philosophically Reflected Social Science.” The paper tries to show that the main stream of methodological individualism in social theory suffers from a double defect. It neglects the logical difference between a distributive and a generic use of the word ‘we’. In the distributive sense, we do X or have the property Y if all or most of us do X or have the property Y. In the generic sense, we do X or we have the property Y if the corresponding institution or a representative sub-group of the whole group Z in question does X or has the property Y. The result is a wrong accusation of collectivism against a transcendental analysis of being a personal subject. A society is not a class of human individuals and a state its organization, but we are free persons only thanks to societal institutions and traditions of formation and self-formation (Bildung). We are free citizens in a free society only thanks to a sufficiently good constitution of a state.

1 Ein Beginn mit der Machttheorie des Thrasymachos Nicht erst M. Webers Bild vom „stahlharte[n] Gehäuse“¹ und R. Dahrendorfs Rede von der „ärgerlichen Tatsache“² der Gesellschaft mit ihrem „Zwang“ zur Erfüllung von Rollenerwartungen gehen davon aus, dass ein sanktionsbewehrtes soziales, rechtliches und moralisches System von Normen uns sagt, was zu tun und was zu lassen sei. Schon der Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts, von J. Austin bis H. Kelsen, zum Teil noch H. L. A. Hart,³ stehen in der entsprechenden Tradition von T. Hobbes und seinem Motto: auctoritas non veritas facit legem. Frei ausgelegt, besagt dieses gnomische Orakel inhaltlich: Die Zentralmacht im Staat, nicht die

 Weber, Max: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (1918), in: Gesammelte politische Schriften, Tübingen 51988, S. 332.  Dahrendorf, Ralf: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle (1958), Opladen 101971, S. 18.  Vgl. Hart, Herbert L. A.: The Concept of Law (1961), Oxford 21994. https://doi.org/10.1515/9783110572735-011

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Zustimmung der Bürger oder eine höhere, göttliche Vernunft ist der Ursprung von Recht und Gesetz. In Dahrendorfs Buch Pfade aus Utopia findet sich neben dem Schlüsseltext Homo Sociologicus: Versuch der Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle ein geradezu nietzscheanisches Lob des Thrasymachos. Zur Neuorientierung von politischer Theorie und politischer Analyse. Die Überlegung versucht, die Argumente des Sokrates aus dem Ersten Buch der Politeia (und die von allerlei vermeintlichen späteren Anhängern wie T. Parsons) gegen die These von einem ‚Recht des Stärkeren‘ zu widerlegen, und ist zugleich eine Art Manifest für eine ‚realistische Soziologie‘ in den Fußstapfen von Hobbes gegen eine angeblich ‚idealistische Sozialphilosophie‘ der Frankfurter Schule. Was dabei heute den unbefangenen Leser erstaunt und vielleicht immer schon hätte erstaunen müssen, ist die Nähe des Liberalismus Dahrendorfs zu G. W. F. Hegels Kritik an I. Kant und seinen Analysen der Rolle des Staates und seiner Macht als dem notwendigen Rahmen einer bürgerlichen Gesellschaft, wie sie in eklatantem Widerspruch steht zur Verteufelung von Hegel als angeblich autoritärem Staatsphilosophen. Der Streit um Hegel, bei Dahrendorf nur implizit gefühlt, ist dabei eigentlich ein Streit um die Bedeutung der Philosophie für die Sozialwissenschaft insgesamt. Dahrendorf liefert nur eine besonders klar artikulierte Dokumentation dafür, wie grundbegriffliche und strukturlogische Voraussetzungen der eigenen Wissenschaft und die Geschichte ihrer Explikation von der Wurzel her fehlgedeutet werden können. Es sollte sich daher lohnen, in neuer Weise auf derartige Grundlagentexte einer ganzen Wissenschaft und auf davon abhängige Selbstverständnisse zu reflektieren, auch wenn ein einzelner Text sicher nicht ausreichen kann, um z. B. die Problematik einer Fixierung auf Kants unfertige Analyse von Natur- und Freiheitsgesetzen zurechtzurücken.⁴ Freilich anerkennt Dahrendorf die Ambivalenzen und Unklarheiten in den folgenden Thesen des Thrasymachos: „Das Gerechte ist […] der Nutzen des Stärkeren“. „Der Herrscher […] gibt Gesetze zu seinem Nutzen […], das Volk […] gibt demokratische, der Einzelherrscher monarchische […]; ihren Nutzen erklären sie für das Recht […] und bestrafen den Übertreter“. Er übersieht dann aber schon, dass die erste Reaktion des Sokrates eben darin besteht, dass er die Sätze als in ihrer Ausdeutung noch allzu offene und damit problematische Orakelsprüche erkennt. Der Appell an den Konsens, „daß jede herrscherartige Tätigkeit, solange sie ihrem Wesen treu bleibt, nur das Wohl der Untergebenen und

 Siehe dazu Dahrendorf, Ralf: Pfade und Utopia. Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie, München 1974, S. 185 – 190.

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Schutzbefohlenen im Auge hat“⁵, verdient außerdem unbedingte Zustimmung, sofern man nur die normative Bedingung im Ausdrucksteil „solange sie ihrem Wesen treu bleibt“ angemessen liest. Freilich ist dazu zu bemerken, dass hier gar keine Tatsache behauptet, sondern bei Platon nur mit leiser Ironie darauf hingewiesen wird, dass alle Herrscher öffentlich versichern (müssen), dem Gemeinwohl zu dienen, weil es sonst um ihre Anerkennung schlecht bestellt wäre. D. h., Thrasymachos und Dahrendorf müssten beide zugeben, dass kein Herrscher von sich sagen wird, dass seine Gesetze nur ihm selbst und nicht dem Volk dienen. Die Rede von einer Herrschaft des Volkes oder Demos über sich selbst stellt dann ein ohnehin sehr schwieriges logisches Problem dar, nicht anders als das der Autonomie oder Selbstgesetzgebung überhaupt, wie Hegel – der bisher einzige Logiker der ideologischsten aller Wörter, der Wörter „sich“, „selbst“, „Gesetz“, „Allgemeinheit“, „Volk“ und „Wille“ – klar erkannt hat. Die zentrale Frage wird von Dahrendorf immerhin ganz richtig gestellt: „Wie können wir die Ausübung von Herrschaft verstehen“?⁶ Wie weit diese Frage implizit auch schon die sokratisch-platonische Zusatzfrage enthält: „Welches ist die Gestalt einer guten Gesellschaft?“, bleibe dahingestellt. Immerhin gibt Dahrendorf das Folgende zu, aber ohne zu bemerken, dass er damit sozusagen implizit zum Sokratiker wird: „Positionen der Macht sind entstanden, um einem allgemeinem Willen Ausdruck zu geben.“ Das führt ihn dann weiter zur Frage nach dem schwierigen Begriff des Allgemeinwillens bei Rousseau (und, wie wir jetzt schon wissen, Hegel), damit über die Ausdrucksformen oder „Sprache von Thrasymachos und Sokrates“⁷ durchaus weit hinaus. Dennoch verbindet Dahrendorf den Namen „Sokrates“ mit „Gleichgewichtstheorien“⁸ der Gesellschaft, in welcher ‚Consensus‘ oder ‚Austausch‘ Macht erzeugen soll. Der Name „Thrasymachos“ steht dann für das Programm, „Macht als Mittel des Zwangs ebenso konsequent und subtil durchzuführen wie die Macht als Mittel des Austauschs“. Dahrendorf meint dazu, es gäbe keinen Grund anzunehmen, dass diese Idee des Thrasymachos „an sich unmöglich sein sollte“⁹, und bekennt klar: „Normen werden als solche begründet und aufrechterhalten allein durch Herrschaft; und ihre inhaltliche Ausprägung lässt sich weitgehend zurückführen auf die Interessen der Mächtigen“¹⁰. Es würde zu weit führen, hier die implizit nicht nur gegen J. Habermas, sondern gegen jede ‚normative Theorie‘ bzw. Moral- und Sozialphilosophie ge-

 Ebd., S. 296.  Ebd., S. 298.  Ebd., S. 300.  Ebd., S. 301.  Ebd., S. 302.  Ebd., S. 304.

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Pirmin Stekeler-Weithofer

richteten Thesen Dahrendorfs im Einzelnen zu diskutieren. Er meint sogar, die Geschichte Deutschlands im Nationalsozialismus sei besser über eine Herrschafts- als eine Konsensustheorie der Macht zu erklären. Allerdings ist auf den zentralen Punkt des Betrachtungsniveaus, also die hohe Stufigkeit der Ebene der logischen Geographie, hinzuweisen. Denn es ist absurd, eine ganz allgemeine Analyse der Möglichkeit von Macht direkt für die kausale Erklärung eines bloß sog. Machtwechsel von einer Person zu einer anderen (etwa von General K. von Schleicher über F. von Papen zu A. Hitler) bzw. einer Partei oder Parteiengruppe zu einer anderen anwenden zu wollen. Ihr Sinn weist sich auch nicht einfach in fingierten Prognosen im Nachhinein aus. Überhaupt ist der Grad der empirischen Widerlegbarkeit einer ‚Theorie‘ absolut kein Zeichen ihrer Sinnhaftigkeit. Das ist erstens so, weil die meisten guten Theorien nur generische Orientierungen für hinreichend prototypische Fälle (ceteris paribus) anbieten, so dass sie durch Ausnahmen nicht widerlegt werden, da sie ja gar keine Allaussagen für empirische Einzelfälle artikulieren. Es ist zweitens so, weil wichtigste ‚Theorien‘ wie etwa die, dass alle Lebewesen und Menschen nach relativ kurzer Zeit sterben, nie jemand in die Vergangenheit reisen und Geschehenes ungeschehen machen oder auch nur ein Perpetuum Mobile erfinden kann, nie widerlegt werden können. Und doch sind sie keine sinnleeren Tautologien. Man sollte sich daher von K. Poppers Wissenschaftsphilosophie mit seinem vermeintlichen Sinnkriterium der Falsifizierbarkeit und H. Alberts Kritischem Rationalismus hinreichend fernhalten. Denn ein universal generisches Wissen, wie es die skizzierten Sätze oder Kurztheorien artikulieren, schließt jedes Rechnen mit der Möglichkeit einer Ausnahme als sinnlos aus. Etwas genauer zu diskutieren ist die folgende These: „Der Ausgang vom Zwangscharakter menschlicher Gesellschaften ist die allgemeinere, die plausiblere, die bessere Perspektive auf das soziale und politische Leben“ als der einer Konsens- oder Anerkennungsanalyse von Macht. Es ist das ein durchaus erstaunlicher ‚Liberalismus‘, der obendrein meint, Sokrates argumentiere in seiner Definition der Rollenerfüllung durch die Formel „das Seinige tun“ für eine Welt „ohne Rebellen und Eremiten, ohne Wandel und ohne Freiheit“¹¹. Dahrendorfs Seufzer, dass philosophische Reflexion für die Praxis nicht tauge, ist ebenso verständlich wie irreführend, was bekanntlich schon Kant so sieht: „Glücklicherweise waren weder Sokrates noch seine Nachfolger in der Lage, die Gesetze zu machen, nach denen sie und wir leben“¹². Dahrendorf schenkt offenbar Poppers Zerrbild Glauben, es sei bei Platon um einen „allem Wandel entrückten

 Ebd., S. 312.  Ebd., S. 313.

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Zustand unbewegter Institutionen“ zu tun gewesen. Dabei wird übersehen, dass Platon die nachhaltige Anerkennung einer Staatsverfassung als ein zentrales Zeichen ihrer Qualität erkennt.Wie später auch Hegel geht Platon davon aus, dass die Menschen auf Dauer selten so dumm und schwach sind, dass sie ein Regime, das sie nicht auch für sich als einigermaßen gut anerkennen, am Ende nicht doch abschütteln oder wenigstens reformieren. Im Übrigen wird nicht verstanden, dass Platon lange vor Hobbes in der Politeia, auf Deutsch Stadtverfassung, die Grundideen einer Wissenschaft von der Gesellschaft und dem Staat und dann in den Nomoi, den Gesetzen, die eines Rechtsstaates entwirft. Mancher Leser hält sich eben bloß an Buchstaben, ohne den nötigen Perspektivenwechsel von einer entwickelten Wissenschaft zu ihren immer weit schwierigeren Anfängen vorzunehmen oder auch nur zu beherrschen – und geht eben damit an der Sache vorbei. Es geht bei Platon ja um das Projekt eines möglichst situationsübergreifenden und insofern nicht bloß anekdotisch-empirischen Strukturwissens über stabile Grundformen im gesellschaftlichen Leben und Handeln. Das Wort ,philosophia‘ drückt dabei ebendieses Projektartige des gemeinsamen Strebens nach Wissen im Kontrast zu einer ,sophia‘ im Sinne einer bloß subjektiven Versicherung eigener Weisheit aus. Der spätere Wandel von Wortbedeutung und Begriff der Philosophie ergibt sich dann einfach aus der Ausdifferenzierungen der logischen und methodologischen Reflexionen auf die Rahmenformen der Wissenschaften. Das beginnt schon in Platons dialektike techne und in der Ersten Philosophie des Aristoteles. Dessen später sog. Metaphysik ist neben dem Organon logischer Analyse (den Analytiken) und Kritik (den Topiken) als Grundlagenwissenschaft zu begreifen und als solche den verschiedenen Sachwissenschaften vorzuordnen. Diese wiederum erzählen nicht nur von einem bloß empirischen Geschehen, sind keine bloße historia, sondern schon theoria. Zu artikulieren ist das Wesen der Dinge, ihre physis oder Natur. Dieses Wesen wird dargestellt als allgemeine Form des Seins, als eidos oder Idee. Das alles gilt auch für jede Gesellschaftswissenschaft. Dahrendorf selbst erscheint als verwirrt, wenn er gegen Platons Einsicht, dass es um das Stabile einer guten Verfassung geht, die Möglichkeit heroischer Rebellion setzt. Das wäre etwa so, wie wenn man an der Zahl der verzweifelten Dichter die kulturelle Höhe einer Gesellschaftsordnung messen wollte. Die scheinbare Langeweile des Wohlstandes griechischer Landschaften im römischen Reich hebt sich sogar durchaus wohltuend von unerträglichen Gewaltherrschaften ab. Dass, wie Dahrendorf sagt, das Thema der Soziologie insgesamt melancholisch macht, wohl auch, weil es immer etwas langweilig ist, mag wahr sein. Dennoch ist es nicht trivial, implizit bekannte Strukturen explizit zu machen. Leider konterkariert Dahrendorf die Langeweile durch das wissenschaftliche Pathos des Soziologen, das Wesen der Gesellschaft erschließen zu können, und

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zwar in einer angeblich empirisch, und das kann immer nur heißen: auf viele Einzeldaten und anekdotischen Einzelgeschichten statistisch gestützten ‚kausalen‘ Erklärungshypothese für das soziale Handeln der Einzelnen. Das methodologische Problem dieses Empirismus (früher Positivismus) in der Soziologie und Sozialtheorie besteht nämlich gerade darin, dass der Kontrast zwischen dem Empirischen und Begrifflichen in seiner wissensphilosophischen Bedeutung bis heute nicht verstanden ist. Es wird der logische Status von occasion sentences nicht begriffen, die etwas über empirisches Einzelgeschehen aussagen und dabei längst schon abhängen von transzendental präsupponierten standing sentences, welche etwas über typische Ursachen von Ereignissen oder Widerfahrnissen und über generische Gründe für Handlungen sagen und als relativ apriorisches Vorherwissen in den empirischen Aussagen selbst längst schon implizit vorausgesetzt werden. Das Allgemeinwissen ist eine Art materialbegriffliches Vorwissen für empirisches Einzelwissen. In unseren wissenschaftlichen Theorien versuchen wir dieses Allgemeinwissen zu kanonisieren und zugleich zu kritisieren – was der Grund für die innere Dialektik jeder Wissenschaft ist. Denn die Kritik hebt einen gegebenen Kanon auf. Die Kanonisierung von Wissen aber erstrebt ein ‚ewiges‘, zeitallgemeines Wissen, auf dessen Grundlage wir aus empirischen Fakten hier und jetzt oder damals und dort vieles erschließen oder als erschließbar erklären.

2 Gefahren des ‚Dienstes‘ an der Gesellschaft oder im Staat Sachlich interessant werden die Dinge, wenn wir zu der Macht- und Rechtsstaatsanalyse Hegels übergehen, die Dahrendorf oder Albert ebenso wie Habermas oder A. Honneth weitgehend unbekannt ist. Dabei wollen wir eine gewisse Richtigkeit der ‚positivrechtlichen‘, und d. h. ‚naturrechtskritischen‘, Position des Thrasymachos oder Hobbes anerkennen, am Ende aber dennoch Sokrates verteidigen und die Unrichtigkeit der Sicht Dahrendorfs aufweisen. An vielen Stellen schon der Phänomenologie des Geistes teilt Hegel in der Tat die Sicht Dahrendorfs auf wirkliche und erst recht vermeintliche rein moralische Selbstaufopferungen für die Gemeinschaft. Er bringt diese auf etwas überraschende Weise in eine Verbindung mit der Möglichkeit der Empörung. Im Absatz Nr. 505 schreibt Hegel beispielsweise: Die Aufopferung des Daseins, die im Dienste geschieht, ist zwar vollständig, wenn sie bis zum Tode fortgegangen ist; aber die bestandne Gefahr des Todes selbst, der überlebt wird, läßt ein bestimmtes Dasein und damit ein besonderes Fürsich übrig, welches den Rat fürs

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allgemeine Beste zweideutig und verdächtig macht und sich in der Tat die eigne Meinung und den besonderen Willen gegen die Staatsgewalt vorbehält. Es verhält sich daher noch ungleich gegen dieselbe und fällt unter die Bestimmung des niederträchtigen Bewußtseins, immer auf dem Sprunge zur Empörung zu stehen. (PhG, S. 275).

So tugendhaft und lobenswert der Dienst am Gemeinwesen ist, so fragwürdig ist die heroische und damit vermeintlich rein moralische Aufopferung des eigenen Willens. Jeder Vasall und jeder Stand verfolgt immer auch eigene Interessen. Besonders gefährlich sind dabei gerade diejenigen Personen, die in ihrem Dienst den eigenen Tod in Kauf nehmen, wie in Polizei oder Militär. Das gilt übrigens auch für die Gewaltherrscher selbst. Die Macht des Staates, gerade auch sein Gewaltmonopol, bildet aber auch für die Bürger eine dauernde Gefahr, obwohl sie doch, auch Hobbes und jeder liberalen Staatstheorie zufolge, der Gefahrenabwehr und Sicherheitspolitik dienen sollte. Diese Gefahr wird schon von Hobbes unterschätzt und im Liberalismus falsch behandelt. Denn in über die durch ein Gewaltmonopol vermittelte Macht des Leviathan als Rechtsschützer wird der Staat selbst möglicherweise zur größten Gefahr für Recht und Freiheit, nämlich wenn seine Macht in der Anwendungsform nicht kontrolliert wird. Das ist ein weiteres Beispiel für dialektische Verhältnisse, wie sie Hegel hervorhebt. Anzuerkennen ist allerdings dieses: Die Struktur des Staates und seiner Institutionen ist insgesamt und in seinen Teilen pyramidenförmig. Einzelpersonen sind Entscheidungsträger an den Spitzen. Als solche sind sie dem Anspruch nach Repräsentanten des Ganzen, wie Sokrates erkennt. Wir finden eine weitere Übereinstimmung mit dem liberalen Denken in der Einsicht, dass jeder ‚Kommunismus‘ die Entscheidungs- und damit die Machtstrukturen einer res publica zerstört: Es entstehen dann bloße Mengen von Personen, obwohl man meint, einen kommunitarischen Demokratismus zu erstreben. Hegel spricht ironisch vom gestorbenen Geist und meint damit das zu erwartende Ergebnis einer gleichschaltenden kommunistischen bzw. demokratistischen Revolution. Dabei weiß er schon, dass der Geist das Ethos ist. Er ist die normative Form einer nach der neolithischen Revolution der Form nach staatlich geformten Gesellschaft. Dies wird schon in der Formel des Heraklit ausgedrückt: ethos anthropo daimon, der Geist des Menschen ist das System der Praxisformen und Institutionen. Kommunismus und Demokratismus lösen mit den Repräsentanten der Macht auch die institutionelle Ordnung auf. Bei Auflösung der Gesellschaft in „einer Gleichheit, worin Alle als Jede“ nicht bloß verbal als Autoritätsträger gelten und Staat und Gesellschaft in eine Art Naturzustand vor der Bildung von kooperativer Arbeitsteilung kollabieren, bleibt nur die leere Hülse der Idee einer Republik oder auch bloß einer Gemeinschaft zurück. Diese gilt es immer, aus mafiösen Familienbanden zu lösen bzw. neu zu

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bilden. Hegel spricht im Absatz 473 über das „empörende Prinzip der Einzelnheit, die Familie“. Die Kunst ist es, eine nur in gewissen Teilaspekten demokratische res publica am Leben zu halten, welche die anarchisch-kommunitarische und als solche mafiöse Macht der Familien bricht. Darum war es auch Platons Sokrates gegangen. Im Abschnitt 590 der Phänomenologie schreibt Hegel entsprechend: Aber die höchste und der allgemeinen Freiheit entgegengesetzteste Wirklichkeit oder vielmehr der einzige Gegenstand, der für sie noch wird, ist die Freiheit und Einzelnheit des wirklichen Selbstbewußtseins selbst. Denn jene Allgemeinheit, die sich nicht zu der Realität der organischen Gegliederung kommen läßt und in der ungeteilten Kontinuität sich zu erhalten den Zweck hat, unterscheidet sich in sich zugleich, weil sie Bewegung oder Bewußtsein überhaupt ist. Und zwar um ihrer eignen Abstraktion willen trennt sie sich in eben so abstrakte Extreme, in die einfache, unbiegsame, kalte Allgemeinheit und in die diskrete, absolute, harte Sprödigkeit und eigensinnige Punktualität des wirklichen Selbstbewußtseins. Nachdem sie mit der Vertilgung der realen Organisation fertig geworden [also alle republikanischen Institutionen gleichgeschaltet, das heißt, der zentralen Direktive rein untergeordnet sind; d. Verf.] und nun für sich besteht, ist dies ihr einziger Gegenstand – ein Gegenstand, der keinen andern Inhalt, Besitz, Dasein und äußerliche Ausdehnung mehr hat, sondern er ist nur dies Wissen von sich als absolut reinem und freiem einzelnem Selbst [niemand hat noch einen republikanischen Status, niemand hat als Rollenträger also eine Institution und ihre relative kooperative Macht mehr im Rücken; d. Verf.]. An was er erfaßt werden kann, ist allein sein abstraktes Dasein überhaupt. – Das Verhältnis also dieser beiden, da sie unteilbar absolut für sich sind und also keinen Teil in die Mitte schicken können, wodurch sie sich verknüpften, ist die ganz unvermittelte reine Negation, und zwar die Negation des Einzelnen als Seienden in dem Allgemeinen. Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod, und zwar ein Tod, der keinen innern Umfang und Erfüllung hat; denn was negiert wird, ist der unerfüllte Punkt des absolutfreien Selbsts; er ist also der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers. (PhG, S. 319 f.)

Die Folge der Aufhebung aller Stände und Rollen, Institutionen und gesellschaftlichen Gliederungen ist offenbar zunächst in Gedanken, dann aber auch in der Realität, etwa in der Französischen Revolution M. de Robespierres, im Nationalsozialismus oder im real existierenden Sozialismus sowjetischer Prägung, dass der Einzelne der Gesamtmasse aller Individuen gegenübersteht, der Einzelwille dem vermeintlich allgemeinen Gesetz und Werk des Gesamtkollektivs. Dabei mag der Einzelne sogar glauben, das Gesetz sei sein Gesetz, das Werk sei sein Werk, eben weil er sich als Teil des Kollektivs mit dem Kollektiv identifiziert. Doch der Kollektivwille fällt in der Realität nie mit den Einzelwillen zusammen. Die Einzelnen meinen, „Gesetze und Staatsaktionen“ machen zu können. Doch sie sind es nicht als Kollektiv. Als Kollektiv haben sie die Macht des Allgemeinen anzuerkennen; ‚gemacht‘ ist dieses anderweitig, so wie ‚der starke Arm‘ der Arbeiter noch nie eine Fabrik oder ein Unternehmen rein kollektiv aufgebaut hat.

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Das ist so, weil es keinen rein zufälligen Kollektivwillen geben kann. Die weitere Geschichte der Lösung des Problems politischen Widerstands durch Vertilgung der Gegner, von Robespierre über J. Stalin und Hitler bis in alle anderen ‚Sozialismen‘, bedarf keines weiteren Kommentars.

3 Das Problem eines allgemeinen Willens Dass es keinen zufälligen Kollektivwillen gibt, sagt Hegel selbst: „Es folgt daraus, dass es zu keinem positiven Werke“ (der Gemeinschaft) kommen kann. Das wiederum heißt: Einen kollektiven Willen gibt es nur vermöge einer uns schon vorab bekannten und bewusst anerkannten Arbeitsteilung bzw. Rollenverteilung einer gemeinsamen Handlung H=(Hi)iεW. Das W vertritt hier ein Wir, das durch unsere Teilnahme an einer strukturierten Institution definiert ist. Die Wir-Gruppe ist also nicht einfach eine Menge von Individuen. Die gemeinsame Handlungsform H wird im guten Fall von uns gemeinsam in die Tat umgesetzt. In allen Praxisformen und Institutionen geschieht dies laufend. Es bedarf offenbar einer logischen Analyse gemeinsamer Intentionen (joint intentions) und gemeinsamen Handelns im Kontrast zu einem bloßen Aggregat des zufälligen Effekts von Einzelhandlungen, also einer Strukturanalyse der Konstitution von Praxisformen. Eine stabile Verfassung besteht aus Praxisformen in Institutionen, welche ein nicht bloß okkasionelles, sondern nachhaltiges gemeinsames Wollen und Handeln allererst ermöglichen. Das beginnt schon in den freien, nicht durch schriftartige Gesetze verfassten gemeinsamen Handlungen einer familialen Gemeinschaft.¹³ In einer Gesellschaft ist ein solches gemeinsame Handeln nicht ohne einen staatlichen Rahmen zu haben – was auch immer die gegenwärtig herrschende Ideologie der Leistungen angeblich völlig nichtstaatlicher Institutionen meint: Schon ein Verein ist in seiner Satzung staatsabhängig. Daher verlangt jedes formelle gemeinsame Handeln, wie etwa schon der Vertrag, Kauf und der Verkauf im Eigentumsregime, eine zugehörige, staatlich durch Sanktionen geschützte Institution wie die des Geldes, zuvor des Besitz- und Eigentumsrechts. Das wiederum verlangt die Kontrolle der staatlichen Sanktionsmacht als eigener Institution. Es ist das Eigentumsregime der Bauern nach der neolithischen Revolution, das Regierungen und exekutive Behörden nötig macht, nicht die Lebenssicherung der einzelnen Jäger und Sammler. Eigentumsschutz wiederum führt zur Gewaltenteilung, zu den checks and balances, und macht

 Vgl. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirische Culturformen, Leipzig 1887.

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daher am Ende die Trennung von Gesetzgebung und Jurisdiktion nötig, entsprechend auch von Parlament und Regierung. Die gegenseitigen Kontrollen werden wichtig, bis herunter in die subalternen und bürokratischen Teilinstitutionen wie das Bildungswesen, die Polizei, die Armee, die Steuer und den Zoll. Es ist also im Blick auf ein eigentumbasiertes Austauschsystem an alle Arten von Verwaltung und Ämter zu denken. Die Gesellschaft wird so zu einem System von Korporationen und Ständen, von Personen mit ihrem jeweiligen Status und den zugehörigen Verteilungen von Rollen, von Pflichten, commitments, und Erlaubnissen oder Befähigungen, entitlements. Der Staat ist der Rahmen dieser Stände, die nicht als feste Gruppen, sondern eben als Institutionen mit austauschbarem und erweiterbarem Personal zu verstehen sind. Die Personen erhalten institutionellen Status und spielen institutionelle Rollen, sekundär dann auch die Urkunden, Gesetze oder das Geld. Auch alle sozialen und wirtschaftlichen Infrastrukturen sind daher längst staatsabhängig, am Ende sogar noch die Familie und die inzwischen gesetzlich geregelten und staatlich geschützten und geförderten Formen eheähnlicher Lebensgemeinschaften. Wer das nicht sieht, begreift den strukturlogischen Aufbau unseres Gemeinwesens nicht in seiner durch die Entwicklungsgeschichte bedingten methodischen Ordnung – oder wird ideologisch. So kann es insbesondere kein funktionsfähiges Eigentumsregime ohne Stütze durch eine staatsartige Institution der formellen Regelungen und Sanktionen bei Normbrüchen geben. Es gibt die freie Gesellschaft eines marktförmigen Austausches von Gütern und Leistungen, aber auch der zugehörige ‚Arbeitsmarkt‘ freier Arbeitsverträge, also die gesamte sog. Ökonomie, nur in diesem Rahmen. Das gilt für die kollektive Produktion unserer Wirtschaft, angeleitet durch ‚das Kapital‘, den ‚Vorschuss‘ der ‚Unternehmer‘ und durch den Handel, die Distributionssphäre, die nach wie vor die kollektive Produktion steuert. Hegel sieht, dass gemeinsames Handeln in der Gesellschaft strukturelle Arbeits-, Güter- und ‚ständische‘ Machtverteilungen voraussetzt. Anderes zu meinen, führt in gefährliche Schieflagen, wie sie schon am Beispiel des Umschlags der Französischen Revolution vom Traum einer egalitären Republik in die Tyrannis der Bergpartei zu sehen sind, und zwar gemäß ihrer eigenen logischen Dynamik. Analoges zeigt sich wieder in der russischen Revolution und durchaus auch in den faschistischen und faschistoiden Gegenrevolutionen. Das Problem besteht darin, dass sich einzelne Personen (Robespierre, Stalin, B. Mussolini, Hitler) zu Führern des Volkes erklären und dass ihre Bestimmungsmacht eine Zeit lang toleriert wird. Es wird toleriert, dass ihr Wille der allgemeine Wille des Volkes sei. Zum Teil wird das vermittelt über die ‚Fraktion‘ oder ‚Partei‘, welche von sich meint, die Mehrheit zu repräsentieren, sich zur Partei der ‚Bolschewiki‘ erklärt, also zur Mehrheitsfraktion. Der Betrug ist offenkundig. Zugleich ist klar, dass sich

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‚das Volk‘ betrügen lässt, besonders dann, wenn man es wie Hitler zunächst besticht, etwa auch mit dem Besitz einer verfolgten und ermordeten Minderheit, die im Rassismus rein ethnisch, in anderen Ideologien religiös oder klassentheoretisch diskriminiert wird.¹⁴ Weil den Gegnern des Führerwillens alias Volkswillens kein Platz gelassen wird, kann es für sie, wie Hegel schon sarkastisch schildert, nur eine ‚Strafe‘ geben: die Liquidation, also Verflüssigung, Ermordung, die dann keine größere Bedeutung hat „als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers“. Wert und Würde des so erklärten Volksfeinds fallen also weit unter Wert und Würde lebender Tiere, auf die Ebene des Pflanzlichen, ja des chemischen Stoffs Wasser. Hegels Platzierung der Praxis der Guillotine an den Ort eines gescheiterten Wettbewerbs zwischen Parteien oder Fraktionen ist als Kritik an allen Frühformen des Demokratismus vor den Bürgerkriegen etwa in den USA oder der Schweiz und einer erst danach etablierbaren Parteiendemokratie in ihrer markanten Formanalyse unüberbietbar. Das Wesen der Parteiendemokratie ist die Duldung der unterlegenen Partei durch die siegreiche und die Anerkennung des zeitweiligen Vorrechts der Mehrheitspartei. Aber sehen wir noch genauer zu, welche Logik den Terror leitet. Die allgemeine Freiheit einer echten ‚republikanischen‘ Ordnung, wie ich einen institutionell gegliederten Staatsrahmen und die zugehörige ‚ökonomisch‘ strukturierte Gesellschaft mit freiem Vertragsrecht und Eigentumssicherung, aber sozialen Rahmenbedingungen nennen will, ist gerade als stabiles System von Ordnungen nicht durch den Willen Einzelner veränderbar; insofern ist sie frei von der einzelnen Individualität. In gewissem Sinne ist dann Robespierres ‚Republik‘ nicht republikanisch, ebenso wenig wie die Deutsche Demokratische Republik.

4 Person, Rolle und Gesetz Die Personen in einer Republik haben je begrenzte Commitments und Entitlements. Diese bestimmen ihre Rollen, was es also heißt, das Seinige hinreichend richtig zu tun. Niemand ist für alles verantwortlich, sondern immer nur für seinen

 Aber auch schon das Kommunistische Manifest (1848) betrügt den Leser rhetorisch, etwa in den Sätzen: „Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen. […] Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, dass sie […] stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten. […] sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.“

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Bereich. Niemandem ist alles erlaubt, schon gar nicht dem Herrscher, wie wir noch sehen werden. Die Folge ist die Einsicht, mit welcher die Soziologie ihr Thema bestimmt, nämlich dass den Einzelpersonen der Gesamtrahmen erst einmal vorgegeben ist. Jede Selbstbestimmung bleibt entsprechend begrenzt; eine allgemeine Autonomie im Sinne einer eigenen Setzung des Verfassungsrahmens gibt es nicht: Das ‚System‘ der republikanischen Konstitution der Gesellschaft entwickelt sich, formal gesehen, eher ‚naturwüchsig‘, sozusagen ‚von selbst‘, nicht als ein von einzelnen Personen direkt Gemachtes, trotz aller Arbeit an Verfassungstexten und Gesetzgebung. Dass diese praktisch anerkannt werden, ist nicht die Tat derer, welche die Texte formulierten. Dabei hilft auch die bloße Vorstellung nicht wirklich weiter, man könne doch eine tradierte Verfassung, wie Hobbes vorschlägt, so betrachten, als sei sie in einem Vertrag von uns selbst gemacht. Wir schulden ihr nicht einfach Gehorsam aufgrund eines von uns gar nicht wirklich, sondern bloß hypothetisch unterstellten Urstaatsvertrags, in dem wir die Rollenverteilung, gerade auch die Macht der Regierung, anerkennen. An die Stelle von Verträgen ist die anerkennende Duldung von Macht und Gesetz getreten. Wenn Hegel sagt, so wie in Hobbes Vertragsvorstellung lasse sich das Selbstbewusstsein nicht betrügen, spricht er aus der Perspektive der revolutionären Kritiker und stimmt der Kritik partiell zu. Denn dessen Argumente sind in der Tat viel zu schwach, um uns zu einer ‚Pflicht‘ zur Unterordnung unter die gegebenen Machtverhältnisse zu überreden. Wir wollen Autonomie. Wir wollen die Gesetze selbst geben, um „das Allgemeine selbst zu vollbringen“. Das ist die sokratische Modifikation des Thrasymachos. Hegel distanziert sich aber auch von möglichen Selbstüberschätzungen, wo er sagt, dass ‚unser Selbst‘, das Wir des Staatsvolks, ohnehin immer nur vorgestellt, also repräsentiert, sei, und zwar entweder bloß verbal oder durch einen personalen Repräsentanten, der das Wir vertritt. Selbst wenn dabei ein Kollektiv das Wir vertritt, muss am Ende, etwa im Fall einer Gesetzgebung oder eines Erlasses, eine Person unterschreiben: der Monarch oder, wo es mehrerer Vertreter gibt, die monarchischen oder präsidialen Unterschriftsberechtigten; und es müssen die Sprecher anerkannt sein. Es gibt daher keine republikanische Verfassung ohne monarchische, d. h. präsidiale, Elemente.

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5 Präsentation und Repräsentation von Gemeinschaft Außer in der Kirche, beim Nürnberger Parteitag oder im Sportpalast sprechen wir nie im Chor wie aus einem Munde. Wer immer für uns spricht, uns repräsentiert, tut dies teils wirklich in Vertretung von uns, wobei wir die Vertretung implizit anerkennen, auch wenn wir es explizit nicht tun, teils durch bloße Selbstzuschreibung dieser Vertretung, wobei wir, wie gesagt, auch diese Anmaßung oftmals anerkennen oder auch nur widerspruchslos dulden, jedenfalls zunächst, solange wir uns in innerer Emigration befinden, statt in tätigen Widerstand. In jedem Fall ergibt sich, dass die logische Bedeutung des ‚wir selbst‘ und ‚uns selbst‘ alles andere als klar und alles andere als harmlos ist. Zur Schwierigkeit, Worte und Inhalte von Hegels Überlegung zu verstehen, kommt hier oft eine Unterschätzung der schwierigen Semantik der Personalpronomina ‚wir‘ und ‚uns‘ hinzu und damit zugleich eine gewisse kooperationslogische Naivität, von der man nicht einmal Weber freisprechen kann. Denn man kann nicht alle soziologischen Erklärungen bei einem subjektiven Sinn beginnen, also einem System von Einzelintentionen, aus dem sich das kollektive Handeln ergeben soll. Der methodische Individualismus übersieht nicht nur die Organisation gemeinsamen Handelns, sondern auch die holistische Konstitution personaler Fähigkeiten und Seinsweisen, die nur relational und im kooperativen Zusammenhang gemeinsamen Wissens und Könnens begreifbar sind. Das gilt gerade auch für jedes Denken und Sprechen. Ohne Praxisformen und Institutionen gibt es keine Personen. Zumeist aber werden die Rolle und die Funktion von Institutionen und des Staates für die Ermöglichung personalen Lebens und verlässlicher Regelungen auch freier Kooperation unterschätzt. F. Tönnies hatte zwar versucht, darauf zu verweisen; seine hochstufigen logischen Analysen zu Gemeinschaft und Gesellschaft werden aber wegen ihres vermeintlich spekulativen Tons kaum in Form und Inhalt verstanden. Analoge Diagnosen finden sich immerhin in der Idee einer Kritischen Theorie bei M. Horkheimer, ohne aber methodisch wirklich die Sozialwissenschaften zu orientieren. Auch die sog. philosophische Anthropologie wie die von H. Plessner oder A. Gehlen findet nur selten allgemeinen Anklang.¹⁵ Im allgemeinen Ergebnis kollektiven Handelns findet sich das einzelne Selbstbewusstsein nicht unmittelbar wieder: Was kollektiv geschieht, ist dem

 Vgl. Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), Wiesbaden 1986.

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Einzelnen ein Widerfahrnis, kein Tun, obgleich das, was da geschieht, direkte Folge des intentionalen Urteilens und Handelns der Einzelpersonen ist. Das führt, wie skizziert, zum Gedanken, dass man einen Führer braucht, wenn man ein kollektives Verhalten in ein gemeinschaftliches Handeln überführen will. Denn der Wille des Führers wird, so scheint es, durch Anerkennung seiner Macht zum Willen des Volkes, zur volonté générale. Gerade eine gelenkte Demokratie ist rousseauistisch. Wie werden zusehen müssen, wie sich ein solcher Volksführer von einem Monarchen unterscheidet und wie Hegels Verteidigung der Monarchie fehlinterpretiert wird. Wir brauchen, meint die Masse, einen populistischen Repräsentanten unseres Willens, einen, der unser Selbstbewusstsein repräsentiert, dessen selbstbewussten Willen wir als unseren Willen anerkennen. Denn nur in der Form eines solchen Führers des Volkes und Vaters des Vaterlandes, eines Hitler oder Stalin, eines Robespierre oder Napoleon, können wir „ein einzelnes Selbstbewußtsein an die Spitze stellen“, wie Hegel dann noch sagt. Nur in einzelnen personalen Individuen gibt es einen wirklichen Willen. Die Ergebnisse kollektiven Duldens von Geschehnissen, die sich in einem kollektiven ‚Handeln‘ ergeben mögen, sind kein zielgerichtetes Handeln. Das scheint auf eine klare Apologie der Monarchie hinauszulaufen: Die Begründung lautet, dass nur Einzelpersonen intentional handeln können. Also kann der Wille eines Volkes nur dadurch real werden, dass er durch einen einzigen Führer vertreten wird. Die Folge ist dann aber, dass unterhalb dieser Vertretung der Masse durch einen Volksführer, den man in Anlehnung an die altrömische Tradition der Ausnahmeregelung im Notstand mit Recht ,Diktator‘ nennt, jede weitere einzelne Person von der Bestimmung des allgemeinen Wollens ausgeschlossen bleibt. Jeder Bürger, besonders aber jedes Mitglied der ‚Faktion‘ oder Partei des Führers, hat nur noch den beschränkten Anteil der Anerkennung des Führerwillens durch Ausführung der Anordnung. In einem solchen ‚demokratischen Zentralismus‘ – und um ebendiese Herrschaftsform geht es – bringt praktisch jede Kollektivhandlung, sofern diese nicht den Aufstand gegen den Diktator bedeutet, den Willen des Führers, nicht aber des „wirklichen allgemeinen Selbstbewusstseins“ zum Ausdruck. Das Ergebnis der Überlegung ist dieses: Keine Tat kann „die allgemeine Freiheit“ eines intentionalen kollektiven Handelns hervorbringen, durchaus auch nicht die ‚Tat des Führers‘. Es bleibt daher nur „das negative Tun“, und d. h. die Ausschaltung all derer, welchen den vom Diktator ‚vertretenen‘ kollektiven Willen nicht anerkennen. Diese Ausschaltung kann auf ‚weiche‘ oder ‚harte‘ Weise geschehen. Die weiche Art ist am Ende die der ‚Mehrheitsparteiendemokratie‘: Es werden hier die ‚Minderheiten‘ von den Schalthebeln der Macht für einige Zeit

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ausgeschlossen; es wird die Staatsmacht zum Monopol der ‚Mehrheitsparteienkoalition‘. Das gilt besonders für die Staatsgewalt, also für die Befehlshaber von Polizei und Armee (Kanzler, Innenminister,Verteidigungsminister) und dann auch für das Rechts- und Bildungssystem bzw. die Staatsfinanzen. Die ‚harte‘ Art dagegen einer ‚Volksdemokratie‘ ist bei Robespierre wie Stalin oder Hitler der Terror, die „Furie des Verschwindens“, die Liquidation der politischen Gegner. Es ist offenbar, dass wir Hegel hier auf keine Weise als Apologeten eines monarchischen Führerstaates lesen können. Er zeigt nur auf, was es realiter bedeutet, eine ‚Politik des Konsenses‘ durchzusetzen und als konkrete volonté générale an die Macht zu bringen. Der idealistische Appell an einen idealen Konsens hilft hier gar nicht weiter. Die Toleranz gegen einen realen Dissens muss immer auch die Grenzen des eigenen Urteils dazu anerkennen, was man für vernünftig hält.

6 Anordnungen, Anerkennungen und Anpassungen Hegels ebenso basale wie absolut allgemeine Einsicht in die Konstitution von politischer und sozialer Macht beginnt mit der Beobachtung, dass kein Diener oder Sklave anders als frei Macht und Gewalt anerkennt – da jeder Mensch im Grund sich selbst und andere töten kann und eben damit als potenzieller Selbstmordattentäter eine nie völlig zu kontrollierende Gefahr für jeden anderen darstellt. Nur wenn ‚die Untertanen‘ nach Lage der Dinge die Anerkennung der Machtverhältnisse einer gewaltsamen Veränderung vorziehen, bleiben letztere einigermaßen stabil. Eine solche Analyse der Macht, die sich auf einen gewissen Opportunismus stützt, nicht auf eine Vertrag zwischen Gleichen mit expliziten Ausnahmeregeln für die Verwalter der kollektiven Macht, findet sich in der hobbesianischen Tradition eines naturrechtsskeptischen und zugleich positivrechtlichen Liberalismus nicht. Damit unterschätzt dieser den logischen Status der impliziten Anerkennung einer gegebenen Ordnung, welche nicht einfach als kausal verursachtes Folgebenehmen auf Drohungen verstanden werden kann (wie man Tieren drohen kann), sondern vom Einzelnen her längst schon eine Abwägung von Nutzen und Nachteil von Widerstand und Konformismus, Revolte und Compliance ist und in ihrer Rationalität und Freiheit entsprechend zu begreifen ist. Ebendies sehen Sokrates und Hegel gegen Thrasymachos, F. Nietzsche und Dahrendorf. Während die konsenstheoretische Deutung von Anerkennung diese allzu aktiv und in Abstraktion von den traditionell gegebenen institutionellen (repu-

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blikanischen) Verhältnisse in ein utopisches Ideal eines unvoreingenommenen ‚demokratischen‘ Diskurses verwandelt, erkennt Hegel die Tautologien jeder derartigen Redeweisen in der Realität: Redend das Wahre, Gute und Schöne zu wollen, ist billig und leicht. Anzuerkennen, dass im kooperativen Gemeinschaftshandeln viele Kompromisse zu machen sind, ich schwer. Der Grundfehler Kants und der Diskursethik besteht eben darin, das Problem nur in der moralischen Ehrlichkeit der Kohärenz von Reden und Handeln zu sehen. Das erzeugt erstens den Schein, als würde man viel erreicht haben, wenn man Zustimmung zu idealen Konsensen erwirkt. Es erzeugt zweitens den Schein, als könnte man die faktischen Verhältnisse aus der idealistischen Perspektive eines allgemeinen Konsenses kritisieren, etwa wegen mangelnder ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Gleichheit‘. In dieser Kritik wiederholt Dahrendorf, ohne es zu wissen, nur Hegels Einsicht, wo er sagt: „Der Ursprung der Ungleichheit unter Menschen liegt also in der Existenz von mit Sanktionen versehenen Normen des Verhaltens in menschlichen Gesellschaften“¹⁶, worauf auch das Recht beruht.¹⁷ Das aber heißt, dass der Ursprung der Ungleichheit in der Gesellschaft im Recht selbst begründet liegt, besonders im Eigentumsrecht. Und wieder sind wir in eine Dialektik geraten, jetzt in die, dass das Recht nicht bloß Gerechtigkeit schafft, sondern auch Ungleichheit. Es ist ja der Rechtsstaat, der das Privateigentum schützt, welches Ungleichheiten produziert. Die Folgen dieser Einsicht und die sich ergebenden Probleme sieht Hegel viel klarer als Dahrendorf. Denn wenn die Ungleichheit der Lebenschancen zu groß werden, insbesondere wenn der ‚Pöbel‘, d. h. die industrielle Reservearmee der Proletarier, keine Chancen mehr auf ein einigermaßen gutes Leben und Überleben in einem liberalen Eigentumsstaat hat, dann nützen alle frommen Reden nichts mehr. Gegen Gnomen wie: ‚Verträge sind zu halten‘, ‚Du sollst nicht stehlen‘ oder auch ‚Du darfst nicht töten‘ steht das Gnomon: ‚Not kennt kein Gebot‘. Es ist daher nach Hegel eine sozialstaatliche Kompensation der Ungleichheit des Eigentumsrechtsstaates absolut notwendig, um die Anerkennbarkeit des Rechtsstaates als solchen und damit der durch ihn erst möglichen ‚liberalen‘ bürgerlichen Gesellschaft sicherzustellen. Anders formuliert, Hegel und Dahrendorf betrachten beide die Gesellschaft im Unterschied zu Kant und Habermas moralinfrei. Im Unterschied zu Dahrendorf aber anerkennt Hegel alle ‚Notrechte‘ derer, welche keine Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben haben. Die Folge ist, dass der Sozialstaat die notwendige Stütze des staatlich gesicherten Eigentumsrechts ist. Gerade wenn wir daher eine möglichst freie Gesellschaft der

 Dahrendorf, Ralf: Pfade und Utopia. Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie, a.a.O., S. 370.  Vgl. ebd., S. 371.

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Selbstbestimmung und Selbstverantwortung der Einzelnen durch das rechtlich und machtstaatlich gesicherte Institut des Privateigentums ‚wollen‘ bzw. ‚anerkennen‘, müssen wir dafür sorgen, dass die durch dieses Institut maximal Benachteiligten in die Lage versetzt werden, die gesellschaftliche Ordnung auch für sich als wenigstens erträglich anzuerkennen. Wir kennen diese Form der Argumentation inzwischen auch aus den Überlegungen von J. Rawls, obgleich dieser sie fälschlicherweise mit kantianischen und utilitarischen Betrachtungen vermengt und die Beurteilung einer Ordnung der Verteilung von Status und Rollen in Staat und Gesellschaft unter einem Schleier des Nichtwissens um den möglichen eigenen Status und die eigenen personalen Möglichkeiten in einem idealistischen Dunkel belässt.¹⁸ Mit Hegel könnte man hier klarer sehen. Denn es geht erstens um die denkende, zunächst verbale, Anerkennung einer staatlichen Machtordnung und gesellschaftlichen Eigentums- und Arbeitsteilung an sich, also der allgemeinen Form nach. Zweitens geht es um die reale, aktive, praktische Anerkennung des je eigenen Status, mit seinen besonderen, immer auch beschränkten Möglichkeiten zu handeln und zu leben. Das Seinige zu tun bedeutet dabei die Erfüllung von Rollenerwartungen. Dazu gehören so basale Dinge, wie nicht zu töten und nicht zu stehlen, oder so spezielle, wie in einer Disziplin gut zu forschen, zu lehren, gut Recht zu setzen und gut Recht zu sprechen. Am Ende aber wird die Absolutheit des Subjekts und die Freiheit seines Handelns anerkannt. Die Personalität des Subjekts ist dabei zunächst ein Kompetenzbegriff: Ein Subjekt, das Person werden will, muss die Fähigkeit erwerben, seine Rollen richtig zu ‚spielen‘, wie man für die Ausübung der betreffenden Handlungsteilformen metaphorisch sagt, zusammen mit den durch den gesellschaftlichen Ort, den Stand und Status mitbestimmten Möglichkeiten, entsprechende Rollenhandlungen auszuüben. Nicht jeder kann in einem institutionell geordneten Gemeinwesen die Normen des Richtigen mitbestimmen. Nicht jeder kann Recht setzen oder Recht sprechen, sondern nur diejenigen können bzw. dürfen es in Institution, welchen der entsprechende Status erstens durch die tradierte Ordnung und zweitens durch deren ‚stillschweigende‘, d. h. empraktische, Anerkennung ‚der Gesellschaft‘, jetzt im Sinne des früheren Wortes ‚Volk‘, also der Mitglieder der staatlichen und ökonomischen Ordnung, zugestanden wird.

 Vgl. Rawls, John: A Theory of Justice, Oxford 1972.

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7 Zur Logik der Macht Wie aber funktionieren die Ermächtigungsrechte oder empowerment laws strukturell, welche Personen oder Personengruppen eine gewisse Macht zugestehen? Die Tradition des naturrechtskritischen positiven Rechts macht sich die Antwort auf diese Frage nach der Logik der Macht zu einfach. Denn es wird unterstellt, es reiche hier der diffuse Begriff der Autorität aus. Es wird ohnehin zumeist eine logisch-funktionale Analyse mit einer genetisch-kausalen konfundiert und die Rolle verbaler und praktische Anerkennung fehlplatziert. Gerade hier wird die platonische (auch aristotelische) Denktradition relevant, welche Hegel dem direktiven Autoritarismus der Hobbes-Tradition und dem idealistischen Anerkennungsmoralismus der Rousseau- und Kant-Tradition entgegenstellt. Dabei beginnt jede realistische Logik der Macht, wie bei Hobbes und wohl zuvor schon bei Platon, mit der Einsicht, dass es viele Situationen gibt, in denen eine machtfreie, d. h. nicht durch (negative) Sanktionsdrohungen bewehrte Kooperation der Personen und Bürger durch die Verlockung von Gewinnmitnahmen von Trittbrettfahrern, free riders, oder Defektoren bedroht sein kann. Wir kennen das Problem aus der Tragödie der Allmende, der tragedy of the commons. Es handelt sich um Fälle der Überweidung, Überfischung und Übernutzung von Ressourcen, weil jeder aus bloß seiner Perspektive urteilt und handelt, um nicht als der Dumme zurückzubleiben: Die anderen tun es ja auch und eben daher bleibt dem Tugendhaften wenig übrig, als bloß verbal tugendhaft zu sein, wie er meint. Das Gefangenendilemma ist strukturell völlig äquivalent: Selbst wenn die Mitglieder einer Verbrecherbande einander verbal versprechen, sich nicht gegenseitig zu verraten, sind die Anreize der Kronzeugenregelung, wenn sie von einem Staatsanwalt klug gehandhabt werden, ein gutes Mittel, die Kooperation des Schweigens zu brechen. Es ginge in beiden Falltypen zwar den Betroffenen besser, wenn alle kooperieren und nicht defektieren würden. Aber wie in der Situation eines unerkannten Gyges, der ungestraft die Macht an sich reißen, den König töten, die Herrscherin erobern und das Reich für seine Interessen gewinnen kann, ist die Gefährdung durch den Trittbrettfahrer oft so groß, dass sozusagen alle zu Trittbrettfahrern werden. Es bedarf daher aus Sicherheitsgründen sanktionsbewehrter Gesetze zur Verschiebung der erwartbaren Auszahlungsmatrix. Denn sonst löst sich die Kooperationsform auf. Gerade aus ethischen Gründen und zum Schutz der Freiheit fordert daher Hegel, bloß scheinbar in gleicher Weise wie Hobbes, einen mächtigen Rechts- und Sanktionsstaat, gerade weil er, nichtidealistisch, einen bloß moralischen Appell als untauglich und utopisch einsieht. Wichtig ist jetzt aber, dass der Staat nur eine Sicherungsfunktion hat. Im Grundsatz verteidigt Hegel daher das Prinzip des Liberalismus oder der Freiheit,

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dass es, nach Möglichkeit, keine positiven Gebote über die Sicherung der Freiheit gerade auch des Eigentumsregimes hinaus geben sollte. Der zentrale Punkt ist, dass Hegel nicht an ein religiöses oder halbreligiöses Naturrecht appellieren muss. Vielmehr ermöglicht er uns zu sehen, dass es in der säkularen Aufklärung und dann auch in der angelsächsischen Freiheitsphilosophie, wie sie von J. Locke über J. S. Mill bis heute reicht, eine latente Ideologie gibt, die das Recht, das Eigentum, die rechtlichen und moralischen Pflichten mystifiziert und dem Staat nur den Rechtsschutz und nicht die sozialstaatliche Wohlfahrt zugesteht. Marx kann diese Kritik einfach übernehmen. Es ist daher leicht irritierend, dass ein Liberalismus, der zwischen Naturrechtsdogmatismus und Zwangsrechtspositivismus hin- und herschwankt, Hegels einfache und absolut grundlegende Einsichten in eine dialektische freiheitstheoretische Doppelbegründung von Eigentumsrecht und Sozialstaat nicht zu begreifen scheint. Stattdessen appelliert man im Utilitarismus und Sozialismus an eine vermeinte moralische Pflicht, ein Allgemeinwohl zu fördern. Oder man appelliert an ein vermeintes absolutes Eigentumsrecht, das dem Staat jede Einschränkung seiner völlig willkürlichen Nutzung durch den Eigentümer verbieten sollte. Gleichzeitig verlangt man vom Staat, jeden Anspruch der Nichtbesitzenden und damit oft auch deren Lebensrecht mit Gewalt abzuwehren: Ebendas ist die geheime Unwahrheit einer ‚liberalen‘ Soziologie im Sinne Dahrendorfs, wie sie mit Hegel schon längst Marx als ideologische Apologetik der faktischen Macht der neuen Fürsten, der Bourgeoisie, erkannt hat. Hervorstechendes Zeichen ist die Vertuschung der ökonomischen Machtstrukturen in der Gesellschaft durch eine angeblich empirische Schichtentheorie. In Alternative zu einer allzu einfachen Zweiklassentheorie wie im dogmatischen Marxismus wählt Dahrendorfs Schichtenlehre daher nur einen anderen Weg der verharmlosenden Anerkennung der bestehenden Ordnung als die ideale Konsensustheorie Frankfurter Provenienz mit ihrer utopischen und damit für eine reale Strukturentwicklung notwendigerweise folgenlosen verbalrevolutionären Gesellschaftskritik. Eine komplexe Strukturtheorie staatlicher und ökonomischer Macht hat es demgegenüber schwer. Insbesondere kommen moralische Aufrufe zur Anerkennung einer demokratischen Verfassung wie des bundesdeutschen Grundgesetzes viel zu spät. Sie artikulieren nur epiphänomenale Zufriedenheiten mit einer gegebenen Situation, trotz aller Diskursethik. Denn ein solcher Diskurs liefert bestenfalls die verbale und damit immer bloß ideale Anerkennung einer allgemeinen Ordnung an sich. Er allein kann nie das für jede reale Gesellschaft zentrale Sicherheitsproblem der Freiheit lösen. Dazu braucht man Staat, Gesetz und Recht. Das Ungleichheitsproblem erkennt Dahrendorf dann immerhin als Folge des Rechts auf Eigentum und der Macht seines Schutzes. Die Ungleichheit von öko-

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nomischen Möglichkeiten und Chancen ist damit als strukturelle Folge einer für die Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft notwendigen Institution begriffen. Es ist durchaus schade, dass weder Habermas und seine Nachfolger noch Dahrendorf und die ihm folgende bundesdeutsche Soziologie die Bedeutung der hegelschen Vertiefung der Debatte lange vor ihren gegenwärtigen Wiederholungen überhaupt begriffen haben.

Literatur Dahrendorf, Ralf: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle (1958), Opladen 101971. Dahrendorf, Ralf: Pfade und Utopia. Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie, München 1974. Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), Wiesbaden 12 1986. Hart, Herbert L. A.: The Concept of Law (1961), Oxford 21994. Hegel, Georg W. F.: Phänomenologie des Geistes (1807), Gesammelte Werke, Bd. 9, hg. von Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede, Hamburg 1980. (= PhG) Rawls, John: A Theory of Justice, Oxford 1972. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirische Culturformen, Leipzig 1887. Weber, Max: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (1918), in: Gesammelte politische Schriften, Tübingen 51988, S. 306 – 443.

Autoreninformationen Paul Cobben. Prof. em. für Philosophie an der Universität Tilburg (Niederlande), arbeitet z. Zt. an der Vrije Universiteit Amsterdam, Forschungsschwerpunkt ist die praktische Philosophie, seine Publikationen verbinden eine historische und systematische Perspektive, darunter finden sich die Monographien Das endliche Selbst (1999), Das Gesetz der multikulturellen Gesellschaft (2002), hg. Hegel-Lexikon (2006), The Nature of the Self. Recognition in the Form of Right and Morality (2009), hg. Institutions of Educations: Then and Today (2010), The Paradigm of Recognition. Freedom as Overcoming the Fear of Death (2012) und Value in Capitalist Society. Rethinking Marx’s Criticism of Capitalism (2015). Theo Kobusch. Promotion 1972 an der Justus-Liebig-Universität Gießen, 1982 Habilitation an der Eberhard Karls Universität Tübingen, 1983 bzw. 1990 Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität in Bochum, 2003 – 2016 Professor für Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Arbeitsgebiete sind Metaphysik, Ontologie, Religionsphilosophie, Sprachphilosophie, Geschichte der Philosophie, besonders Philosophie der Antike und des Mittelalters, Descartes, Kant und Hegel, Publikationen liegen vor u. a. zu Sein und Sprache. Historische Grundlegung einer Ontologie der Sprache (1987), Die Entdeckung der Person (²1997), Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität (2006), Die Philosophie des Hoch- und Spätmittelalters (2011), Unser vergessenes Erbe. Spätantike Philosophie und ihr Einfluß auf die Moderne (2016) und Selbstwerdung und Personalität (Tübingen 2017). Guido Kreis. Associate Professor für Philosophie an der Universität Aarhus (Dänemark), Promotion an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1999, Habilitation an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn 2014, die wichtigsten Veröffentlichungen sind Cassirer und die Formen des Geistes (2010), hg. mit Joachim Bromand Gottesbeweise: von Anselm bis Gödel (2011) und Negative Dialektik des Unendlichen: Kant, Hegel, Cantor (2015). Christian Krijnen. Associate Professor für Philosophie an der Vrije Universiteit Amsterdam (Niederlande), Promotion 2001, Habilitation 2006, Forschungsschwerpunkte sind Philosophie der Neuzeit, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, praktische Philosophie, Metaphysik, Kulturphilosophie, Wirtschafts- und Organisationsphilosophie, zahlreiche Veröffentlichungen zu Kant, Hegel, dem Neukantianismus und der Transzendentalphilosophie der Gegenwart, darunter Nachmetaphysischer Sinn. Eine problemgeschichtliche und systematische Studie zu den Prinzipien der Wertphilosophie Heinrich Rickerts (2001), hg. mit M. Heinz Kant im Neukantianismus. Fortschritt oder Rückschritt? (2007), Philosophie als System. Prinzipientheoretische Untersuchungen zum Systemgedanken bei Hegel, im Neukantianismus und in der Gegenwartsphilosophie (2008), hg. mit K. W. Zeidler Gegenstandsbestimmung und Selbstgestaltung. Transzendentalphilosophie im Anschluss an Werner Flach (2011), hg. Recognition – German Idealism as an Ongoing Challenge (2014) und The Very Idea of Organization. Social Ontology Today: Kantian and Hegelian Reconsiderations (2015). Heikki Ikäheimo. Senior Lecturer an der University of New South Wals, Sydney (Australien), Ph.D. in Philosophie an der Universität Jyväskylä (Finnland), akademische Anstellungen ebenda von 1997 bis 2004, Visiting Scholar an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt https://doi.org/10.1515/9783110572735-012

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Autoreninformationen

von 2005 bis 2008, Macquarie University Fellow in Sydney von 2008 bis 2012, Arbeitsgebiete sind Hegel, nachhegelsche Philosophie, Kritische Theorie, Anerkennung, Personalität und Sozialontologie, neben zahlreichen Artikeln und Buchbeiträgen liegen Buchpublikationen u. a. vor zu Anerkennung (2014), hg. mit A. Laitinen Dimensions of Personhood (2007) und Recognition and Social Ontology (2011). Frederick Neuhouser. Professor für Philosophie am Barnard College der Columbia University, New York (USA), Forschungsschwerpunkte sind deutscher Idealismus, Sozial- und politische Philosophie, jüngere Arbeiten kreisen hauptsächlich um Anerkennung und amour-propre, gegenwärtig arbeitet er an einem Projekt zur Sozialontologie und Sozialpathologie im Denken des 18., 19. und 20. Jahrhunderts, weitere Interessen gelten den Themen Psychoanalyse und Film, insbesondere der Arbeit von K. Kieślowski, als Monographien liegen vor Rousseau’s Critique of Inequality (2014), Rousseau’s Theodicy of Self-Love (2008), Foundations of Hegel’s Social Theory (2000) und Fichte’s Theory of Subjectivity (1990). Hans Bernhard Schmid. Professor für Politische und Sozialphilosophie an der Universität Wien (Österreich), Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Phänomenologie, Sozialtheorie und Philosophie der Sozialwissenschaften, neben zahlreichen Artikeln, Buchbeiträgen und Herausgeberschaften liegt als wichtigste Publikation vor Wir-Intentionalität. Kritik des ontologischen Individualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft (22012). Pirmin Stekeler-Weithofer. Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Leipzig seit 1992, von 2008 bis 2015 Präsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Arbeitsschwerpunkte sind Logik in Sprache, Handlung und den exakten Wissenschaften sowie systematische Philosophiegeschichte, als letzte Veröffentlichungen liegen vor Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar (2 Bde., 2014) und Hegels Philosophie der Logik, Bd. 1: Die Logik des Seins (2017). Kenneth R. Westphal. Professor für Philosophie an der Boğaziçi Üniversitesi, İstanbul (Türkei), Ph.D. 1986 an der University Wisconsin-Madison (1986), Associate Professor an der University of New Hampshire von 1994 bis 2000, Professor an der University of East Anglia von 2000 bis 2003, an der University of Kent von 2007 bis 2010, Vertretungsprofessur für Philosophiegeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg von 2013 bis 2014, DAAD-Stipendiat bei M. Theunissen an der Freien Universität Berlin von 1983 bis 1984, AvH-Stipendiat bei H. F. Fulda an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1995, bei M. Carrier an der Universität Bielefeld 2007 sowie bei B. Ludwig an der Georg-August-Universität Göttingen 2011, Leibniz Forschungsstipendiat bei M. Carrier an der Universität Bielefeld von 2012 bis 2013, neben zahlreichen Herausgeberschaften sowie Beiträgen in führenden Zeitschriften und prominenten Sammelbänden liegen als Monographien vor Hegel’s Epistemological Realism (1989), Hegel, Hume und die Identität wahrnehmbarer Dinge (1998), Hegel’s Epistemology (2003), Kant’s Transcendental Proof of Realism (2004), How Hume and Kant Reconstruct Natural Law (2016) und Grounds of Pragmatic Realism: Hegel’s Internal Critique and Transformation of Kant’s Critical Philosophy (2018). Stephan Zimmermann. Promotion 2009 an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg bei H. F. Fulda, bis 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von J. Halfwassen ebenda, danach wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Erkenntnistheorie, Philosophie der

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Neuzeit und Gegenwart von M. Gabriel an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für theoretische Philosophie von M. N. Forster ebenda, Habilitationsprojekt „Vorgängige Gemeinsamkeit. Studie zur Ontologie des Sozialen“, Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind deutscher Idealismus (Kant, Hegel), Hermeneutik (Heidegger, Gadamer, Dilthey), Gesellschaftsvertragslehre (Hobbes, Locke, Rousseau) und Ästhetik, neben Aufsätzen liegen als Buchpublikationen vor Kants „Kategorien der Freiheit“ (2011), hg. mit T. Dangel und C. Kömürcü Dichten und Denken. Perspektiven zur Ästhetik (2011), hg. mit J. Halfwassen und M. Gabriel Philosophie und Religion (2011) und Die „Kategorien der Freiheit“ in Kants praktischer Philosophie. Historisch-systematische Beiträge (2016).

Namenregister Adorno, Theodor W. 108 Anscombe, Gertrude E. M. 2 Aristoteles 8, 44, 120, 124 f., 205, 227 Augustinus 47, 54, 56 Austin, John L. 3, 9 f., 13, 223 Baumgarten, Alexander G. Carnap, Rudolf 24 Crusius, Christian A.

53

Huntington, Samuel P. 78 Husserl, Edmund 53, 85, 189 Jansen, Ludger

1, 14, 43

Kant, Immanuel 2, 14 – 16, 21 – 37, 41, 46 – 50, 52 – 62, 64, 66, 68, 70 f., 79, 95, 125, 185 f., 189, 197, 224, 226, 238, 240 Kierkegaard, Søren 121

53

Dahrendorf, Ralf 223 – 228, 237 f., 241 f. Domingo de Soto 11 Durkheim, Émile 2, 45 f., 119 Feuerbach, Ludwig 173 f., 179 Fichte, Johann G. 75 f., 81, 83 f., 86, 90, 98, 127, 186 Flach, Werner 187 f., 213 – 216 Foucault, Michel 61 Frank, Manfred 84 f. Frege, Gottlob 6

Lazarus, Moritz 79 f., 86 Locke, John 241 Löwith, Karl 51, 54 Marx, Karl 99, 119, 139, 141, 143 – 146, 149 – 151, 153, 155 f., 161 – 163, 173 – 182, 204, 206, 218, 241 Meier, Georg F. 51, 53 Mill, John S. 66, 162, 173, 175 f., 206, 241 Nietzsche, Friedrich Olivi, Peter J.

Gehlen, Arnold 235 Gilbert, Margaret 46, 65, 76, 80 – 82 Gregor von Rimini 7 f. Habermas, Jürgen 24 f., 34, 141, 144 – 150, 152 f., 156, 225, 228, 238, 242 Hegel, Georg W. F. 15 f., 23, 30 f., 33, 37, 93 – 113, 115 – 117, 119 – 135, 137 f., 140 – 143, 145 f., 152 f., 155 – 157, 161 – 175, 177, 179 – 182, 185 – 204, 206 – 218, 224 f., 227 – 241 Heidegger, Martin 12, 41, 46, 52 – 71, 86 f., 90 f. Heine, Heinrich 42 Henrich, Dieter 83 f., 199 Hobbes, Thomas 30, 35, 98, 142, 223 f., 227 – 229, 234, 240 Honneth, Axel 99, 166, 228 Horkheimer, Max 235 Hume, David 23 f., 26, 30, 35

https://doi.org/10.1515/9783110572735-013

121, 127, 237

14

Pettit, Philip 46 Platon 23, 120, 225 – 227, 230, 240 Plessner, Helmuth 235 Popper, Karl 6, 226 Pufendorf, Samuel 15 Quine, Willard V. O.

44

Rawls, John 24 f., 141, 239 Reid, Thomas 10 Sartre, Jean-Paul 76, 83 – 91 Schmid, Hans B. 3, 46, 75, 87 Searle, John R. 1 – 6, 9 – 11, 13, 16, 44 f., 65 f., 86, 166 Siep, Ludwig 165 Simmel, Georg 2, 6, 45 f., 79 – 81, 86 Smith, Adam 6 f., 10, 143, 203 – 206 Stegmüller, Wolfgang 10

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Namenregister

Strawson, Peter 9, 112 – 116 Suárez, Francisco 13 Theunissen, Michael 1, 43, 91, 109 Thomas von Aquin 14 Tietz, Udo 78 Tönnies, Ferdinand 231, 235

Weber, Max 2, 45, 223, 235 Wilhelm von Ockham 7 Wittgenstein, Ludwig 6 Wodeham, Adam 7 f. Wolff, Christian 29, 53