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German Pages 141 [144] Year 1970
Sozialhygiene, Sozialmedizin und prophylaktische Medizin Für Studierende und Ä r z t e sowie zum Gebrauch in der Gesundheitsfürsorge und Sozialpolitik von PROFESSOR D R . MED. E W A L D GERFELDT
Institut für Sozialhygiene, Berufsberatung und Arbeitsmedizin, Bonn-Bad Godesberg Mit 17 Abbildungen und 39 Tabellen
W A L T E R DE GRUYTER &
Co.
VORM. G . J . G Ö S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G J . G U T T E N T A G , V E R L A G S B U C H H A N D L U N G • G E O R G REIMER K A R L J . TRÜBNER • V E I T &
BERLIN 1 9 7 0
COMP.
© C o p y r i g h t 1970 by W a l t e r de G r u y t e r & C o . , v o r m . G . J . Göschen'sche Verlagshandlung, J . G u t t e n tag, Verlagsbuchhandlung, Georg Reimer, K a r l J . T r ü b n e r , Veit & C o m p . , Berlin 30 - Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen und der Ubersetzung, vorbehalten - A r c h i v - N r . 5 1 7 3 7 0 1 - Printed in G e r m a n y S a t z und D r u c k : Rombach & C o G m b H , 78 Freiburg i. B r .
Vorwort Von vielen Seiten, von Lehrenden, Studierenden und in der Praxis Tätigen, wurde mir der Wunsch vorgelegt, bei einer Neuauflage oder ergänzenden Erweiterung meiner beiden Bände der Sozialhygiene* die neue Entwicklung der Gesellschaftsformen und ihrer Anforderungen an den Menschen der Gegenwart stärker zu berücksichtigen und dabei internationale Erfahrungen zu betonen. Diesen Anregungen konnte ich mich nicht verschließen und habe bei den Vorbereitungen ein reges Veiständnis beim Verlag gefunden, der mich mit seinen Überlegungen wirksam unterstützte. Dafür meinen aufrichtigen Dank abzustatten ist mir eine angenehme Pflicht. Die Neufassung des Werkes wurde so gewissermaßen zu einem dritten Band meiner Sozialhygiene, dessen Ziele, Reichweite und Tendenz in den nachstehenden Vorbemerkungen dargelegt sind. Bonn-Bad Godesberg, Frühjahr
1970
E W A L D GERFELDT
* „Grundriß der Sozialhygiene", Walter de Gruyter & Co., Berlin 1951, und „Sozialhygiene Theorie, Praxis, Methodik", Walter de Gruyter & Co., Berlin 1955.
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Vorbemerkung
Seit dem Erscheinen der Vorläufer dieses Bandes, nämlich „Grundriß der Sozialhygiene" (1951) und „Sozialhygiene - Theorie, Praxis, Methodik" (1955), hat sich die Weltwirtschaft erweitert und gesteigert, der Arbeitsmarkt verändert, das Sozialprodukt kontinuierlich erhöht und die Lebenshaltung von dem Bedarf an den notwendigsten Gütern umgestellt auf die Gesundheits- und Körperpflege, die Bildung, Erholung und Unterhaltung sowie die Erweiterung des Verkehrswesens. Es entwickelte sich eine im Vergleich zur Nachkriegszeit wesentlich veränderte soziale Gesellschaft mit einem neuen Mittelstand, der von Jahr zu Jahr breiter wird, je rascher sich Wirtschaft und Verwaltung ausdehnen und Fachkräfte benötigen. Die Neigung zur Selbständigkeit im Erwerbsleben hält an, wie auch der Zusammenschluß zu leistungsfähigeren Betriebsgrößen eine Überleitung in Führungspositionen verlangt. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist eine größere Belastung der Menschen in der Produktion, eine psychische und geistige Anspannung, eine Gefährdung durch kulturelle und zivilisatorische Einflüsse, eine vermehrte Beanspruchung durch internationale Vorgänge sowie eine dadurch ausgelöste Überforderung durch Aufbrauchs- und Zivilisationskrankheiten. Eine vorausplanende Gesundheits- und Sozialpolitik erstrebt den Schutz und die Erhaltung von Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit, dient damit gleichzeitig der Produktivität und dem Wohlstand der Menschen: Andererseits werden in Wechselwirkung auch die Vorbedingungen für eine bessere Gesundheit und Lebensfreude geschaffen, sofern die Effektivität der Technik nicht dazu verleitet, das Tempo der Maschinen zum Vorbild für die menschliche Ansprechbarkeit zu wählen. Hier bietet sich für Ar%te, Krankenschwestern, Sozialfürsorgerinnen und -fürsorger, Gesundheitsingenieure, Architekten und Politiker ein weites und dankbares Betätigungsfeld. Nach wie vor bleibt aber die Notwendigkeit, sich weitgehend selbst zu behaupten und zu helfen. Das Ziel ist nicht ein ausgeklügelter Sozialstaat, der alle Daseinshärten und -kanten glättet, sondern ein Zusammenfinden zu sozialen Gemeinschaften. Diese wirken einer persönlichen Absonderung und einer Vereinsamung in der Gruppe entgegen, indem sie die Nachbarschaftshilfe anregen. Die Ansätze dazu liegen in der gesundheitlichen Aufklärung, einer Prophylaxe gegen vermeidbare Gefährdungen und einer dem eigenen Wohlbefinden angepaßten Lebensführung. Nur insoweit die persönliche Reichweite überschritten wird, sind soziale Hilfen der öffentlichen Hand möglich und wirksam.
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Vorbemerkung
Die wissenschaftlichen Grundlagen sind nach den Anforderungen der Gegenwart dargelegt und auf ein notwendiges, den prospektiven Aufgaben entsprechendes Maß begrenzt. Sowie ein Bedürfnis entsteht, sie in retrospektiver Sicht zu vertiefen, sei auf die einschlägigen Abschnitte in den beiden voraufgegangenen Bänden verwiesen. Das vorliegende Buch „Sozialhygiene, Sozialmedizin und prophylaktische Medizin" hat sich auf die Tendenzen und Anforderungen der Gegenwart eingestellt. Es konnte deshalb davon abgesehen werden, die wissenschaftlichen Grundsätze und den bisher beobachteten sozialen Entwicklungsgang nochmals in gleicher Breite wiederholen, wie sie in den beiden vorgenannten Bänden ausgiebig dargestellt wurden. Vielmehr erschien es zweckmäßiger, dem vorgesehenen Leser- und Benutzerkreis das entscheidend Wichtige in knapper Form zu bieten. Wer sich eingehender in die sozialen und wissenschaftlichen Prinzipien vertiefen will und muß, sei daher auf die beiden Werke (s. o.) verwiesen. Auf den Seiten 131 bis 133 sind die Inhaltsübersichten des 1951 erschienenen „Grundriß der Sozialhygiene" und der 1955 erschienenen „Sozialhygiene" veröflentlicht. Bonn-Bad Godesberg, Frühjahr 1970
EWALD GERFELDT
Inhaltsübersicht Vorwort
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Vorbemerkung I. Die Bedeutung der Sozialhygiene und prophylaktischen Medizin, ihre Stellung in der medizinischen Wissenschaft 1. Von der Individualhygiene zur Gesellschafts-und Kulturhygiene 2. Die wissenschaftliche Position der Sozialhygiene II. BegrifE und Aufgaben
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III. Sozialhygiene und prophylaktische Medizin in den Lebensepochen. . 1. Ehe und Familie Eheberatung und Ehewünsche Soziale Lage, Konsumnorm und Kinderzahl Geschlossenheit und Zusammenhalt der Familie Ehescheidungsgründe Die Gefährdung von Kindern und Jugendlichen 2. Schwangerschaft und Geburt 3. Säuglinge und Kleinkinder 4. Schulkinder 5. Jugendliche 6. Erwachsene - Leistungsalter 7. Alternde und Betagte
9 11 12 14 14 14 15 16 19 25 28 32 36
IV. Volkskrankheiten
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A.
Trend der Infektionskrankheiten 1. Tuberkulose 2. Geschlechtskrankheiten
41 42 49
B.
Sozial- und Zivilisationskrankheiten 1. Frequenz der führenden Todesursachen 2. Herz- und Kleislauferkrankungen 3. Bösartige Neubildungen 4. Krankheiten der Atmungsorgane (ohne Tuberkulose) . . . . 5. Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten, Krankheiten der Verdauungsorgane
53 53 55 61 66 69
Inhaltsübersicht
VIII
6. 7. 8. 9. 10.
la) Diabetes mellitus oder Zuckerkrankheit b) Fettsucht (Obesitas) c) Gicht d) Kropf e) Rachitis IIa) Krankheiten der Zähne b) Geschwüre des Magens und des Zwölffingerdarms . . . Rheumatischer Formenkreis Geistige und psychoneurotische Störungen, Suchten Körperbehinderung, Kriegsbeschädigung, angeborene Mißbildungen Selbstmorde Altersschwäche, Altersstörungen, Alterskrankheiten . . . .
V. Gesundheitspolitik und Sozialhygiene A. Neuorientierung, Prospektivplanung und Futurologie B. Gegenwartslage und Fortschrittstendenz C. Prospektive Aufgaben der Sozialhygiene und Sozialpolitik . . . D. Organisation und Durchführung der Gesundheitspflege und Gesundheitsfürsorge
69 71 73 75 75 76 78 80 85 88 92 93 97 97 98 100 102
VI. Arbeitsweise und Methodik 105 A. Beobachtungs- und Untersuchungsreihen 105 B. Grundzüge der Medizinal- und Sozialstatistik 106 C. Das große Experiment des Lebens 111 1. Übervölkerung und Nahrungsmangel 113 2. Arbeit und Beruf 114 3. Lebenserwartung und Aufbraucherscheinungen 116 D. Das Gruppen-Experiment 118 1. Lebenshaltung und Volkseinkommen 118 2. Methodik der Gruppenversuche 119 E. Demoskopie, Erforschung der öffentlichen Meinung, Subjektivis121 mus der Einstellung 1. Wissenschaftliche Meinungsforschung 121 2. Erhebungsmethodik 121 F. Wertverwendung und Axiologie
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Literaturverzeichnis
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Sachregister
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Inhaltsübersichten zu „Grundriß der Sozialhygiene" (1951) und „Sozialhygiene Theorie, Praxis, Methodik" (1955) 131
I. Die Bedeutung der Sozialhygiene und prophylaktischen Medizin, ihre Stellung in der medizinischen Wissenschaft 1. Von der Individualhygiene zur Gesellschafts- und Kulturhygiene Wir sind heute nur allzuleicht geneigt, anzunehmen, die Sozialhygiene sei erst in der jüngsten Neuzeit entstanden. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß ihre Grundgedanken als regula regni bei großer Siedlungsdichte bereits im Altertum üblich waren und als Rembours einer Kulturhöhe galten. Insbesondere waren die Kulturvölker in den fruchtbaren, eng bewohnten Flußtälern und Niederungen des fernen und nahen Ostens, Ägyptens, Palästinas und der Mittelmeerländer führend vorausgegangen. Infolge der vielseitigen Wechselbeziehungen stimmen ihre Einrichtungen in den auf der Erfahrung beruhenden Grundzügen überein. Aus dieser Entwicklung der Sozialhygiene können wir entnehmen, daß sie dort unentbehrlich ist, wo sich viele denkende und Anspruch erhebende Menschen auf engem Räume zusammendrängen müssen. Damit wird die „natürliche Umwelt" der unveränderten Natur zur „sozialen Umwelt" gestaltet, die nicht nur die Landschaft mit ihren Pflanzen und Tieren, sondern auch und in besonders hohem Maße die Menschen mit allen von ihnen geschaffenen Einrichtungen umschließt. Daraus folgt, daß die Sozialhygiene und ihre praktische Anwendung verschieden sein muß nach Wohngebiet, Klima und Bevölkerungsstruktur, daß sie einem regionären und zeitlichen Wandel unterworfen ist. Diese Beobachtungen führen uns unmittelbar zum Begriff der Sozialhygiene. Sie ist eine Erweiterung, ein Ausgriff der Individualhygiene auf Gruppen oder Gemeinschaften von Menschen, die nicht nur vorübergehend, sondern dauernd miteinander leben müssen und aufeinander angewiesen sind. Die so entstehenden Wechselbeziehungen lassen ein charakteristisches, der jeweiligen Situation angepaßtes Verhalten aufkommen. Die exakte Methodik der Sozialhygiene ist nicht leicht zu handhaben. Sie stützt sich vor allem auf das natürliche „große Experiment des Lebens", indem sie die Beobachtungen zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Gebieten, in verschiedenen Völkern und in verschiedenen Bevölkerungsgruppen, d. h. unter wechselnden Bedingungen entnimmt und vergleicht. In aller Erinnerung sind aus der neuesten Zeit das Massenexperiment der Mangelernährung in Deutschland sowie die Notlagen in Indien und China. Der internationale Erfahrungsaustausch ist dabei besonders förderlich. Aber auch das Gruppen- und Einzelexperiment ist nicht zu entbehren; es liefert bei sorgfältiger, dem Zustande der Wirklichkeit angepaßter Anordnung wertvollste Resultate. Es seien dafür erwähnt: die Berufsberatung und die nach angelsächsischem Vorbild durchgeführte Auswahl von Managern und Wirtschaftsberatern,
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Gerfeldt, Lehrbuch der Sozialhygiene
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Die Bedeutung der Sozialhygiene und prophylaktischen Medizin
die Eheberatung nach psychosomatischen Grundsätzen unter Verwendung von Erfahrungstests, die Arbeitsversuche und Analysen von Arbeitsprozessen in bipersoneller und multipersoneller Anordnung, die Verkehrsregelung und Verkehrserziehung sowie die Psychologie von Reklame und Belehrung, von Film und Rundfunk. Daraus erhellt, daß die Sozialhygiene keine Luxus- oder Komforthygiene sein will, sondern sich bestrebt, eine Hygiene der Leistungsfähigkeit, der Leistung und des Wohlbefindens zu sein. Andererseits ist ihr Ziel auch nicht die Maximalleistung, sondern die Optimalleistung. Dazu braucht sie eine analytische Bewertung der Konstitution in anthropologischer, klinischer, biologischer und soziologischer Sicht, um das Maß des adäquaten Reizes und der wirksamen, aber zuträglichen Reaktionsform bestimmen zu können. Die neuesten Erfahrungen sind um so beachtlicher, als die Sozialhygiene alle Lebensalter von der Empfängnis bis zum Tode umfaßt, mit der Schwangerenberatung beginnt und bis zur Altersfürsorge und Geriatrie reicht. Die soziale Frage und das Mitbestimmungsrecht werden als wichtigstes Kriterium der Gegenwart angesehen. Der Schwerpunkt einer Beteiligung liegt aber nicht beim Wunsche, im Betriebe „ein Wort mitreden" zu können, als vielmehr in der HoHnung auf soziale Sicherheit, höhere, dem Preisniveau angepaßte Löhne und verbesserte Arbeitsbedingungen. Der Arbeiter und Angestellte weiß bei uns wie anderwärts, daß nur dann etwas verteilt werden kann, wenn etwas geschaöen wird, und daß sein Anteil nur mit der Produktionsquote steigen kann. In diesem Rahmen kann sich jeder Schaffensfrohe je nach seiner individuellen Veranlagung homonom, hypernom oder hyponom eingliedern, sofern er nicht die entwickelte Ordnung paranom ablehnt, um etwas Besseres zu schaffen. Eine Anpassung von Individuen, Gruppen und Gesellschaftskreisen hat dabei den Sinn, eine „Gemeinschaft" zu bilden, und zwar vom Standpunkt des Sozialhygienikers aus gesehen durch Verhütung und Paralysierung aller vermeidbaren exogenen und endogenen Schäden. In ihrer wissenschaftlichen Forschung und praktischen Umsetzung stützt sich die Sozialhygiene auf die Erkenntnisse der anderen Sozialwissenschaften, um die ätiologischen Anlässe zu ergründen und ihr Urteil zu festigen. Bei der vorausschauenden Planung kann sie auch nicht der Sozialpolitik entraten, unter der sie aber nicht eine Parteipolitik oder Kompromißbereitschaft versteht, sondern eine kausalbedingte Lenkung. Für deren Wertung gelten: die Erhaltung der allgemeinen Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Lebensfreude sowie die Verhütung von Krankheiten aus exogener und endogener Ursache. Dabei dürfen aber auch nicht die aus der Struktur und Funktion der Gesellschaft entspringenden Gefahren übersehen oder vernachlässigt werden. Die Wechselwirkungen zwischen Fürsorge, Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik gründeten sich in der alten Zielsetzung auf die Erfordernisse von Nahrung, Arbeit und Wohnung. Die neuen Forschungen und Anforderungen haben sie erweitert zu den Wertbegriffen von Anteil, Leistung und Gemeinschaft. Die Sicherung des Anteils beschränkt sich nicht auf eine quantitativ, qualitativ und klimatisch-adäquate Ernährung, sondern geht weiter zurück auf einen lohnenden Bodenertrag und eine heim- und heimatständige Bindung an die Scholle. Wie grundlegend diese Beobachtung und Forderung ist, geht allein daraus hervor, daß alle Sozialreformen in allen Zonen und bei allen Völkern mit einer Lösung der
Die wissenschaftliche Position der Sozialhygiene
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Agrarrechte begannen. Dies hat sich auch heute nicht geändert. Die Entwurzelung von Millionen Menschen auf der Erde hat in der Gegenwart ernste und weltweite Probleme geschaffen, deren Tragweite nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Das nächste Ziel der Sozialhygiene ist die Sicherung der Leistung und Zufriedenheit. Es gehört zum Aufgabenbereich der heilenden, nachgehenden und vorbeugenden Fürsorgetätigkeit. Während die Heilfürsorge sich allgemein durchgesetzt hat, bereitet die nachgehende Fürsorge vielfach erhebliche Schwierigkeiten und wird daher leicht vernachlässigt, aber sehr zu Unrecht, denn sie ist die Gewissenserforschung für alle getroffenen Maßnahmen und für einen Dauererfolg unentbehrlich. Eine weit stärkere Förderung braucht in der Gegenwart die vorbeugende Gesundheitspflege oder präventive Medizin. Sie verlangt vom Arzt ein hohes Maß von Kenntnissen, Erfahrung und Umsicht, setzt aber auch voraus, daß die neuzeitlichen klinischen Untersuchungsmethoden angewandt werden können. Die Untersuchung und Beratung eines objektiv oder subjektiv „Gesunden" ist schwieriger und zeitraubender als die eines Kranken, bei dem doch vielfach seine Beschwerden richtungweisend verwendet werden können. Vor allem aber muß der präventiv wirkende Arzt die Konstitutionsdiagnose, die Deutung von Frühsymptomen und die prognostische Beurteilung beherrschen. Es war schon von jeher ein nobile officium des Hausarztes im klassischen Sinne der Wortbedeutung, die Familien, die sich seiner Obhut anvertrauten, nicht allein in Tagen der Krankheit zu betreuen und zu heilen, sondern auch in Zeiten des Wohlbefindens bei allen wichtigen Ereignissen zu beraten und im Bestreben um eine Gesunderhaltung zu unterstützen. In der Gegenwart haben sich jedoch Art, Umfang und Methodik unserer Vorsorge erweitert. Der Ausgleich in der Sexualproportion und die Verringerung des Frauenüberschusses tragen wiederum zur größeren Krisenfestigkeit der Familie bei. Sie ist die Voraussetzung für die Sicherung der Gemeinschaft durch Stabilität der Familie. Ein Heim mit neuzeitlichen Bequemlichkeiten und den Erleichterungen technischer Vollkommenheit, möglichst auch ein Landhaus und gesunde Kinder werden hoch geschätzt als zuversichtliches Unterpfand für den Aufbau in der Zukunft. Die Erfolge der Hygiene im allgemeinen und der Sozialhygiene im besonderen beruhen vor allem auf zwei Veränderungen, die für die heutigen Planungen eine völlig veränderte Ausgangsbasis geschaffen haben: 1. auf einer Eindämmung und Zurückdrängung der Infektionskrankheiten mit Einschluß der Tuberkulose und der Geschlechtskrankheiten; 2. auf einer Verlängerung der Lebenserwartung, die sich in den letzten 100 Jahren ungefähr verdoppelte. 2. Die wissenschaftliche Position der Sozialhygiene Als Sonderfach der Hygiene mit ihren Arbeitsbereichen von Umwelthygiene, Sozialhygiene und Psychohygiene hat die Sozialhygiene enge Beziehungen zu den sozialwissenschaftlichen Fachgebieten in der Arbeitsmedizin, berührt oder überschneidet sich auch mit allen anderen Fachgebieten der Medizin, ohne jedoch in deren Aufgaben einzubrechen. Vielmehr entsteht dabei eine Arbeitsgruppengemeinschaft (teamwork) zur gegenseitigen Ergänzung und Förderung, die sich seit Jahren vorteilhaft auswirkt. Dies gilt für die kollektiven Verknüpfungen mit Grup-
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Die Bedeutung der Sozialhygiene und prophylaktischen Medizin
pen und Bevölkerungskreisen ebenso wie für die spezifisch individuellen Belange. Von diesen sind für die Gegenwart und die nächste Zukunft zu nennen: 1. Tumoren, insbesondere Krebskrankheiten, 2. Kreislaufstörungen, vor allem Herzkrankheiten, 3. rheumatische Leiden, 4. Neurosen, Psychopathien und geistige Abwegigkeiten bis zu den ausgesprochenen Psychosen einschließlich der Suchtkrankheiten, 5. die Folgen von Ernährungsstörungen und die Wachstumsakzeleration der Kinder und Jugendlichen, 6. die Berufskrankheiten aller Art, nicht nur die in gewerblichen Betrieben vorkommenden, 7. die Unfälle im Heim, auf der Straße und im Betrieb, 8. die allergischen Krankheiten, 9. die endokrinen Störungen, 10. die Stoffwechselkrankheiten, 11. die Geschlechtskrankheiten und 12. die Zahnkaries. Eine auf so breiter Grundlage wirkende Sozial- und Kulturhygiene wird befähigt, die wissenschaftlichen Erkenntnisse sachgemäß zu fördern und dafür zu sorgen, daß die Gesundheit und Leistungsfähigkeit jedes einzelnen und von Bevölkerungsgruppen gegen vermeidbare Schädigungen aus der Umgebung und Umwelt abgesichert werden kann, damit jedes Individuum in der sozialen Gemeinschaft einen angemessenen Lebensstandard findet, seine Gesundheit bewahrt und seine Leistungsfähigkeit wirksam erprobt.
II. Begriff und Aufgaben Unsere Zeit hat im Übergang von der Industrialisierung zur Automation der Wirtschaftslage die Struktur der Gesellschaft, die Anforderungen an die Leistungsfähigkeit und die sozialen Bedürfnisse grundlegend verändert. Sie bestätigt von neuem die alte Formel von der Gesundheit als einer Harmonie von Umwelt und Persönlichkeit. Früher war jedoch der wandelbare Faktor allein die Persönlichkeit, während die Umwelt stabil blieb, eine Konstante, die sich nicht oder nicht meßbar veränderte und auf weite Sicht, auf ein Menschenalter oder sogar bis auf drei Generationen überblickt werden konnte. Heute besteht diese Formel aus zwei und sogar aus drei Unbekannten: der unbelebten Umgebung, der belebten Umwelt und der wandelbar gebliebenen Persönlichkeit, und zwar als Individuum wie auch als Teil einer sozialen Gruppe. Diese Veränderung ist eine internationale Erscheinung und beschäftigt in gleichem Maße die WHO. Aus unserer „natürlichen" Gesundheit ist eine „künstliche" Gesundheit geworden, die sich auf ein Schonen, ein bloßes Bewahren vor Schadensmöglichkeiten, ein Ausweichen und damit auf ein passives Verhalten verläßt. Wir brauchen aber eine Umkehr zu aktiver Übung der Schutzkräfte, ihrer Festigung und Stärkung. Sie ist im eigentlichen Sinne die Prävention gegen Störungen und Erkrankungen, das „Zuvorkommen", die Prophylaxe oder Vorsorge. Als Ursachen für die Wiedererweckung der alten „prohibitiven Hygiene" in der neugewandelten Form einer „präventiven Medizin" sind vor allem vier Faktoren zu nennen, nämlich die größere Lebenserwartung, die Veränderung der Bevölkerungsstruktur, der Wandel der sozialen Lage und die Umstellung des allgemeinen Krankheitsbildes. Seit dem Beginn der Industrialisierung und der in ihrem Gefolge aus der Not geschaffenen Verbesserung der Hygiene hat sich die Lebenserwartung nahezu verdoppelt und seit etwa 1900 um mehr als zwei Dezennien verlängert. Das bedeutet aber nicht, daß wir nunmehr heute alle wirklich älter werden, sondern stellt nur fest, daß jetzt eine größere Zahl von Menschen ein höheres Lebensalter erreicht als um 1870 oder um die Jahrhundertwende. Die statistische Lebenserwartung braucht mit dem biologischen Alter ebensowenig übereinzustimmen wie dieses mit dem Kalenderalter, wenn auch unter normalen, gleichartigen Voraussetzungen die Variationsbreite nicht groß zu sein pflegt. Gleichzeitig veränderte sich die Struktur der Gesamtbevölkerung wie auch die der einzelnen Sozial- und Berufsgruppen. Der alte Mittelstand wurde aufgerieben, und ein neuer beginnt sich zu formen, unbeschwert von der Tradition und mit anderer Einstellung zur Lebensführung. Die Anforderungen an die Gemeinschaft, die gegenseitige Hilfe und die soziale Sicherheit haben andere Gestalt gewonnen; die tätige Nachbarschaftsleistung wurde durch Versicherungen und Renten abgelöst, die Ansprüche an das Sozialprodukt stiegen trotz aller Abwehr von Eingriffen der Gesellschaft in das persönliche Leben, und der menschliche Kontakt wurde kühler, sachlicher, rationalistischer. Mit der vergrößerten Lebenserwartung war die Leistungsfähigkeit nicht in glei-
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Begriff und Aufgaben
chem Maße gestiegen. Es konnten wohl die akuten Gefahren abgeschirmt werden, dafür aber entstanden andere, neue Bedrohungen, die vielfach vom Menschen selbst heraufbeschworen oder doch begünstigt wurden, wie die Straßenverkehrsunfälle, die Betriebsunfälle, die Infektionen durch engen Kontakt infolge zunehmender Siedlungsdichte, die Verschlechterung der Wasserversorgung, die Verschmutzung der Gewässer und Flußläufe, die Veränderung und Schönung der Lebensmittel u. ä. Die „Gefährdung" des Menschen durch Umwelt und Umgebung wurde verändert. Infolgedessen wandelte sich das Krankheitsbild in unserem Volke von Grund aus. Die akuten und insbesondere die übertragbaren Krankheiten nahmen ab, dafür aber vermehrten sich die chronischen Leiden, die Aufbrauchs- und Domestikationsstörungen sowie die seelischen Schwierigkeiten infolge der steigenden Belastungen. Die Schutzmaßnahmen müssen darum früher einsetzen als bisher, als Abwehr wie auch als Vorbeugung. Im Rahmen der generellen Grundtendenz sind Umfang, Art und Weise des Vorgehens und des Verhaltens individuell verschieden. Es wird zunächst bestimmt durch eine Labilität oder Stabilität der Gesundheit. Im allgemeinen wird ein Krankheitsgefühl stärker, eindrucksvoller wahrgenommen als das Gesundheitsgefühl. Aber die Grenze zwischen beiden ist gleitend. Der Labile und Anfällige ist ängstlich, beobachtet sich aufmerksamer und spürt eine Veränderung früher, wenn auch nicht stets zuverlässiger. Der Zuversichtliche vertraut auf die Stabilität seiner Gesundheit und beachtet kleine Abweichungen nicht oder erst spät. Das präventive Verhalten ist somit auch weitgehend eine Temperamentssache. Für die Praxis heben sich drei Wirkungsbereiche ab: die Verhütung, die Vorsorge und die Fürsorge. Die Verhütung wendet sich an die Gesunden. Sie bietet ihnen eine Gesundheitserziehung oder Gesundheitsbildung, die gesundheitliche Beratung und Gesundheitsuntersuchungen. Die Vorsorge dient den durch Erkrankungen bereits Gefährdeten und will die Umwelthygiene sicherstellen, die Bedrohung durch Disposition und Exposition vermindern sowie eine Frühuntersuchung und Frühdiagnose gewährleisten. Die Fürsorge schließlich tritt bei bereits eingetretener Störung ein. Sie wendet sich also an die Leidenden, um die Rekonvaleszenz zu sichern, Verschlimmerungen zu vermeiden, periodische Nachuntersuchungen zu bieten, Defektheilungen und Abnutzungserscheinungen zu verhüten und als Leistungshygiene wirken zu können. Der schädliche Reiz, der „Stress", der das Individuum, die soziale Gruppe oder Gemeinschaft trifft, kann ätiologisch oder auslösend wirken. Die dabei in Gang gesetzten Faktoren sind aber kaum jemals einheitlich, sondern in der Regel komplex und lassen sich auf die Formel bringen: Die Krankheit ist eine Funktion der Faktoren a+b+c+d+e+ +n oderK = F ( a + b + c + d + e + +n). Diese verschiedenen Faktoren können sein: Erbanlagen, Geburtstraumen, organische Krankheiten der frühen Kindheit, Art der Erziehung von Säugling und Kleinkind, akzidentelle, physikalische und emotionale traumatische Erlebnisse in der Kindheit oder im späteren Leben, seelisches Familienklima, Wirkung spezifischer Persönlichkeitszüge von Eltern und Geschwistern, Ernährungsgewohnheiten, Arbeitskreis und seine Störungen, Erholung und Freizeit, Wohnung und Gemeinschaft, Kontaktstörung und Isolierung, Suggestibilität und Hörigkeit.
Begriff und Aufgaben
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In der Anwendung der Methodik ist es nötig, detaillierte und exakte Abläufe der Erscheinungen ohne wesentliche Lücken zu gewinnen, und zwar sowohl der physiologischen als auch der psychologischen Prozesse. Bruchstückhafte Analysen reichen nicht aus, sondern geben Anlaß zu Fehlschlüssen. In der Gesamtschau gehen die Störungen von den drei sozialbiologischen Faktoren aus, nämlich von 1. der Ernährung und in ihrer Ausweitung von der Lebensweise und der Anteilnahme an den gemeinsamen Gütern und Vorzügen der Gesellschaft, 2. der Arbeit, dem Beruf, dem Arbeitsklima, dem Mangel an Befriedigung und dem Versagen, 3. der Familie, ihrer Störung, dem Unfrieden im Haus, den sog. Ehe- und Wohnungspsychomen sowie den Kontaktverlusten in der Gesellschaft. Die Aufgaben bestehen in der Sicherung der Gesundheit und der Abwehr von oflenen oder latenten Gefahren. Im einzelnen sind dies: 1. die Gesundheitspflege und Gesunderhaltung, 2. die Leistungserhaltung, 3. die der zunehmenden Lebenserwartung entsprechende Leistungssteigerung, 4. die Erkennung von Frühzeichen als Mahnungen ernster, tiefgreifender Erkrankungen, 5. der zweckmäßige Rat an Unsichere, Gefährdete oder Fehlgeleitete. Der biologisch primäre Begriff ist die Gesundheit und ihre Erhaltung, der pathologisch sekundäre ihre Störung als Unbehagen bis zur Krankheit. Dies besagen auch die Bezeichnungen Hygiene (vom griechischen TOC uytetva) und Medizin (vom lateinischen medicina und mederi). Die medicina als Arznei und Heilkunst will den entstandenen Verlust wieder ausgleichen und das Wohlbefinden wiederherstellen. Der Streit um eine Priorität von Sozialhygiene und Sozialmedizin ist müßig; denn letztlich werden in der Praxis beiden Begriffen die gleichen Aufgaben und Ziele zugeteilt. Die Sozialhygiene soll den gesunden Zustand sichern und wahren, die Sozialpathologie bemüht sich ebenso wie die Sozialmedizin, die Gründe für die eingetretenen Störungen festzustellen und zu beseitigen, die Prophylaxe erstrebt eine vorsorgliche Absicherung von schädigenden Momenten und als Vorsorge den Anfängen von Gefahren zu begegnen. Die Fürsorge stellt die dazu notwendigen Hilfen zur Verfügung, nimmt sich als nachgehende Fürsorge (oder Nachsorge) der Rekonvaleszenten an und führt sie im Rehabilitations- oder Wiedereingliederungsverfahren in die frühere oder eine angemessene gleichwertige soziale Position zurück. Daraus ergibt sich als Definition: Die Sozialhygiene ist die Wissenschaft, die den unselbständigen, vom Milieu abhängigen Menschen vor Schädigungen durch seine belebte Umwelt und unbelebte Umgebung zu schützen sucht, indem sie die Einflüsse erforscht, praktische Vorschläge ausarbeitet, um hemmende Faktoren zu beseitigen und fördernde zu begünstigen, und die für dieses Ziel dienlichen und notwendigen Maßnahmen oder Einrichtungen trifft. Mit den Mitteln der sozialen Sicherung wird keinesfalls ein Versorgungsstaat erstrebt. Die persönliche Initiative und Verantwortung bleibt erhalten, die Hilfe soll jedoch einsetzen, soweit der einzelne und seine Familie überfordert sind. Daher werden die sozialen Ansprüche in wachsendem Maße auf Grund eigener Beitragsleistungen gesichert und ergänzend aus öffentlichen Mitteln der Sozialhilfe erwei-
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Begriff und Aufgaben
tert. Die Erfahrungen in den Ländern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) erwiesen vor allem die Notwendigkeit für ein Krankenversicherungs- und Pensionssicherungssystem. Die Alterspensionen und Familienbeihilfen umfassen beinahe die gesamte Bevölkerung, die medizinische Betreuung schützt 80 bis 90 Prozent der Einwohner. In der Bundesrepublik Deutschland erfordern diese beiden Sozialleistungen in der Vorausberechnung bis 1972 aus der gesetzlichen Rentenversicherung fast 45% und aus der Krankenversicherung nahezu 27%. Dadurch erhöht sich die bisherige Belastung der Versicherten von etwas mehr als 19% auf 22% ihres Einkommens. Die Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln steigen von 19,2 % auf 19,6 % des Bruttosozialproduktes, d. i. von 92,5 Milliarden im Jahre 1967 auf 126,8 Milliarden im Jahre 1972. Den Stand von 1964 zeigt die Abbildung 1. gesetzliche
Krankenversicherung
Rentenversicherung Kriegsopferversorgung Unfallversicherung Sozialhilfe Sonstige Leistungen
Mrd. DM %
55,3 Mrd. DM = 100%
%
Mrd. DM
Abb. 1. Von den Sozialleistungen wurden in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1964 verwendet (in DM und in v. H.)
III. Sozialhygiene und prophylaktische Medizin in den Lebensepochen In den einzelnen Lebensphasen zwischen Geburt und Tod wirken die Einflüsse von Umwelt und Umgebung als exogene Momente sowie die endogenen Faktoren in verschiedener Weise und Stärke auf den Menschen ein. Für die Sozialhygiene, Sozialmedizin und Prophylaxe genügt die soziologisch oft ausreichende Scheidung nach einer Generation der Älteren und Jüngeren nicht, sie benötigt vielmehr einer eingehenderen Differenzierung nach Schwangerschaft, Geburt, Säuglingsalter und Kindheit, Schulzeit, Erwachsenen- und Leistungsalter sowie Alternden. Auf diese Bedürfnisse hat sich auch das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vom 30. Juni 1961 - BGBl. I, S. 815 - in seiner jetzt geltenden Fassung eingestellt. Es betont das Individualprinzip, wenn es im § 2 den „Nachrang der Sozialhilfe" feststellt und bestimmt: „Sozialhilfe erhält nicht, wer sich selbst helfen kann oder wer die erforderliche Hilfe von anderen, besonders von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält." Sinngemäß sind als „Hilfe in besonderen Lebenslagen" (im § 27) vorgesehen: 1. Hilfe zum Aufbau oder zur Sicherung der Lebensgrundlage, 2. Ausbildungshilfe, 3. vorbeugende Gesundheitshilfe, 4. Krankenhilfe, 5. Hilfe für werdende Mütter und Wöchnerinnen, 6. Eingliederungshilfe für Behinderte, 7. Tuberkulosehilfe, 8. Blindenhilfe, 9. Hilfe zur Pflege, 10. Hilfe zur Weiterführung des Haushalts, 11. Hilfe für Gefährdete und 12. Altenhilfe. Die größte Gefährdung hat der Mensch bei seiner Geburt mit dem Eintritt in das selbständige Leben zu überstehen. Sie ist in diesem Zeitpunkt nach den jährlich sich wiederholenden Beobachtungen, die auch mit den Sterbetafeln und der aus ihnen ersichtlichen Lebenserwartung übereinstimmen, etwa so groß wie um das 70. Lebensjahr. Die Säuglingssterblichkeit ist am größten in den drei ersten Lebenstagen, hält sich aber auch noch in der nächsten Woche bis zum 10. Lebenstage auf erheblicher Höhe. Heute sind die „Würger der Kinder" nicht mehr Diphtherie und
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1-15
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Abb. 2. Krankheit und Lebensalter
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über 65Jahre
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Sozialhygiene und prophylaktische Medizin in den Lebensepodien
Fehlernährung, sondern die Belastung in den ersten Lebenstagen und in den folgenden Jahren, d. i. im Spiel- und Schulalter, die Verkehrsunfälle. Am gesündesten sind die Kinder dank der Schulgesundheitspflege, dem ältesten Zweige der Gesundheitsfürsorge, während des Schulalters. Das Kapital an Gesundheit, das sie in dieser Zeit erwerben, hält noch bis in das 30. und 35. Lebensjahr vor. Erst dann beginnt die Erkrankungs- und Sterbekurve langsam, nach dem 45. Lebensjahr aber rascher anzusteigen. In großen Zügen ergibt das Diagramm die charakteristische V-Form mit einer Absenkung nach dem 55. Lebensjahr. Die Erkrankungshäufigkeit steigt nach dem Aufbrauch der Gesundheitsreserven mit dem 35. Lebensjahr an und erreicht ihren höchsten Stand bis zum 55. Lebensjahr. Dann sinkt die Quote wieder auf das Niveau des 45. und 35. Lebensjahres ab; d. h., wer das 55. Lebensjahr gesund und widerstandsfähig erreicht hat, gewinnt die Aussicht, auch 65 Jahre alt und älter zu werden, ohne bei gleichmäßiger Lebensweise erkranken zu müssen. Im Generationsalter von 25 bis 45 Jahren sind die Frauen durch Erkrankungsmöglichkeiten stärker gefährdet als die Männer. Dieser Zeitraum entspricht dem ansteigenden Schenkel und dem Gipfel der allgemeinen Fruchtbarkeitskurve, die ihren Scheitelpunkt bei uns um das 26. bis 27. Lebensjahr erreicht. In allgemeiner Charakterisierung der einzelnen Lebensalter stehen in den jüngeren und mittleren Jahren bis zum 45. Lebensjahr an der Spitze der Häufigkeitsskala die Erkrankungen der Atmungsorgane, im Alter von 45 bis 55 Jahren die Erkrankungen der Zähne und bei den älteren Jahrgängen die Herzstörungen. Auch die weitere Frequenzfolge kennzeichnet die unterschiedliche Erkrankungsgefährdung und die Anfälligkeit gegen verschiedene Noxen oder Belastungen. Vom 1. bis 65. Lebensjahr sind etwa 60 bis 65 %, im höheren Alter aber 75 % aller Erkrankungsgruppen häufig anzutreffen, während der Rest sich auf andere, seltenere Störungen verteilt. Im Kindesalter herrschen Erkältungs- und Infektionskrankheiten vor, im Jugendalter außerdem Zahnschäden, Hautleiden und Unfälle. Das frühe Mannesalter wird durch Unfälle, Erkrankungen der Atmungsorgane und Geschlechtsleiden, das jüngere Frauenalter durch Krankheiten der Harn- und Geschlechtsorgane sowie durch Stoffwechselstörungen beeinträchtigt. Später treten bei beiden GeschlechternHerz-Kreislaufbeschwerden, Verdauungsstörungen und allmählich zunehmende Bewegungsbeschränkungen auf. Im Greisenalter kommen Seh- und Hörstörungen sowie Miktionsbeschwerden hinzu. Etwa zwei Drittel aller Krankheiten klingen im Verlaufe eines Monats ab, und nur 10 % brauchen ein Jahr und länger. Je älter der Mensch ist, desto länger dauert es gewöhnlich, bis eine Störung beseitigt werden kann. Die Geschlechtsunterschiede in der Krankheitsanfälligkeit werden durch die verschiedenartige Belastung bedingt, nämlich beim Manne durch Beruf und Witterungsexposition, bei der Frau durch Fortpflanzung und häusliche Aufgaben. Im hohen Alter pflegt der Gesundheitszustand im allgemeinen stabil zu bleiben; zu chronischen Erkrankungen mangelt es an Kraft und Zeit. Der Alterungsprozeß erfolgt diskontinuierlich in ineinandergreifenden Aufbauund Abbauprozessen. Sie sind in den verschiedenen Lebensabschnitten individuell unterschiedlich ausgeprägt, werden aber als Krankheitsbereitschaft durch die peristatischen Einflüsse von Lebensraum, sozialer Lage und Lebensführung in kennzeichnender Weise bei den Altersphasen wirksam.
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Ehe und Familie Frauen
Dauer in Monaten
Dauer in Monaten
Männer
über 65. LJ. 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 »
100
80 60
40
20
12
12
1 1 1 1 1
über 55.-65. LJ. 12 1 12 1 12 1 12 1 12 1 12 1
0%
über 45.-55. LJ.
über 35.-45. LJ.
Uber 25.-35. LJ.
über 15.-25. LJ.
1.-15.LJ.
12 1
1 12 1 12 1 12 1
> 1 1 1 1
\
12 1
1 1 1 12 • 1 1
%0
20
40 60
80
100
Abb. 3. Krankheitsdauer nach Alter und Geschlecht
1. Ehe und Familie In unserer Bevölkerung sind verheiratet 48 % der Einwohner, ledig 41 %, verwitwet 7,7%, geschieden 1,3% und leben getrennt 2%. Der Entwicklungstrend läßt für die Bundesrepublik Deutschland unter Berücksichtigung ihres Anteils im Deutschen Reich erkennen, daß im Verlauf der letzten 30 Jahre auf je 1000 Einwohner 10 Ehen geschlossen wurden (bei einer Schwankungsbreite von 8,7 bis 10,7) und von den bestehenden Ehen jede zehnte geschieden wurde (mit Schwankungen zwischen der 7. bis 13. Ehe). Die Fruchtbarkeitsziffer als Index der Lebendgeborenen je 1000 Frauen im gebärfähigen Alter fiel im Deutschen Reich von 128 im Jahre 1910/11 auf 84,2 im Jahre 1960. Im Bundesgebiet stieg sie von 65,2 im Jahre 1946 auf 83,2 im Jahre 1960. Auf jede Ehe kamen bis zum Jahre 1900 durchschnittlich 3,4 Kinder im Uberlebensalter von 15 Jahren; nach dem Ersten Weltkriege senkte sich die Quote auf 1,9 und nach dem Zweiten Weltkriege auf 1,7, stieg dann wieder langsam an und erreichte im Jahre 1960 den Betrag von etwas mehr als 2. Diese Entwicklung setzt sich jetzt weiter fort; man wünscht sich jetzt wieder drei und sogar vier Kinder, weil die sozialen Unterschiede sich ausgleichen, das Selbstgenügen mit einer Zweisamkeit nicht mehr behagt und die gestiegene Lebenshaltung auch die biologische Fruchtbarkeit fördert. Dabei wurde die „Bestandhaltung der Bevölkerung" weder von den Partnern noch von den Gruppen erwogen. Mit ihr beschäftigten sich dafür um so eingehender die
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Sozialhygiene und prophylaktische Medizin in den Lebensepodien
Soziologen, Politiker und Wirtschaftsexperten, wenn sie fragen, ob die Geburten ausreichen, um eine Generation wieder vollständig zu ersetzen, oder ob die Produktion von Nahrungsmitteln gleichen Schritt mit der Bevölkerungszunahme hält. Der Index für Konstanz und Stabilität ist die Netto-Reproduktionsziffer: Sie ergibt sich als Summe der Produkte aus der Zahl der Frauen, die das gebärfähige Alter überleben, und aus den altersspezifischen Geburtenziffern der Frauen für lebendgeborene Mädchen; wenn die Ziffer kleiner ist als 1, dann wird die Elterngeneration nicht ersetzt, liegt sie über 1, dann wird sie ausreichend aufgeholt. Sie erhöhte sich im Deutschen Reich bzw. in der Bundesrepublik von 0,708 im Jahre 1933 auf 1,112 im Jahre 1960. Diese Ausgangsbasis bietet die Ansätze für die soziale Hygiene der Ehe sowie die Prophylaxe und Restitution bei Eheschwierigkeiten oder Ehegefährdungen. Aus den Ehewünschen der Ehepartner, dem Bild einer gefestigten Familie, den Eheund Familienpsychomen (im Sinne von W. HELLPACH) in gestörten Familien, den Ehescheidungsgründen in demoskopischer und sozialpsychologischer Sicht und ihren Äußerungsformen sowie der Jugendgefährdung lassen sich tragfähige Entschlüsse gewinnen. Eheberatung und Ehewünsche Die amtlichen, halbamtlichen und fürsorgerischen (offiziellen und offiziösen) Eheberatungsstellen werden heute freiwillig aufgesucht, um ein Urteil des Gutachters bei bestehenden oder vermeintlichen Bedenken über einen meist schon vorhandenen bzw. in Aussicht genommenen Ehepartner zu erhalten. Es überwiegen dabei die sog. bevölkerungspolitischen Ziele mit dem Steigerungsprinzip für eine bessere Gesundheit und Leistungsfähigkeit, dem Erhaltungsprinzip für den Bestand von Bevölkerung und Nachwuchs sowie dem Sozialprinzip zur Verringerung gemeinschaftsschwieriger Familien. Sie erfordern eine Teamarbeit der verschiedensten Fachexperten. Die persönliche Eheberatung ist hingegen nicht sehr umfangreich und wird meist im Zusammenhang mit anderen Aufgaben derVor- und Fürsorge vorgenommen, vor allem mit der Fürsorge für Tuberkulöse, Geisteskranke, Geschlechtskranke und Süchtige, aber auch bei speziellen Ehe-, Frauen-, Lebens- und Jugendfragen sowie aus gesundheitlichen Anlässen. Von den Ratsuchenden ist etwa die Hälfte bereits verheiratet, während die andere Ledige und Verwitwete umfaßt. Die Frauen kommen mit zwei Dritteln der Besucher häufiger als die Männer. Aus den dabei gewonnenen Beobachtungen geht hervor, daß die Eheschließungen in der Bundesrepublik Deutschland in sichtbarem Maße durch die wirtschaftliche Lage und die sozialpolitische Situation beeinflußt und gesteuert werden, insbesondere durch 1. die Verdienstmöglichkeiten und das Einkommen, 2. den Wohnungsmarkt, d. h. durch die Möglichkeit, eine eigene Wohnung zu erhalten, oder die Notwendigkeit, bei Eltern oder Angehörigen unterzukommen, 3. den Frauenüberschuß und den Zwang zur selbständigen Berufstätigkeit der Frauen, 4. die Geburtenbesetzung der heiratsfähigen Jahrgänge, die für Männer 1930 schwach und von 1933 an stark war, sich jetzt aber wieder verringert, 5. die Einberufung zum Wehrdienst, der einen Aufschub der Eheschließungen bewirkt,
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Ehe und Familie
6. die jahreszeitliche Wahl des Eheschließungstermins aus „steuerlichen Gründen", so daß die Monate Juli und besonders August mit 27 % zu den bevorzugten gehören. Diese Generaltendenz, die außer den gesundheitlichen und eugenischen Voraussetzungen auch eine Prüfung der wirtschaftlich-sozialen Grundlagen, der zivilrechtlichen Bedingungen und konfessionellen Erwägungen umschließen kann, läßt aber bei den offiziellen und offiziösen Beratungen die spezifisch persönlichen Neigungen und Wünsche zurücktreten, weil beide Partner sich vielfach schon vorher über sie einig geworden waren. Über diese geben aber die Eheanbahnungen durch private Institute und durch Zeitungsannoncen wertvolle Aufschlüsse; denn es wird dabei nach einem geeigneten Partner erst gesucht und das Leitbild in mehr oder minder genauer Form umrissen. Aus den persönlichen Darlegungen der Probanden läßt sich das ihnen in individueller und sozialpsychologischer Sicht vorschwebende Ideal einer Ehe ableiten und ihre Einstellung zur Eheschließung erkennen. Die Ergebnisse bieten daher eine wichtige und notwendige Ergänzung zu den Bedingungen, die bei der amtlich-fürsorgerischen Eheberatung beobachtet werden. Bei der Analyse der Heiratswünsche trat die wirtschaftliche Sicherung eindeutig zurück gegen die Bewertung von Persönlichkeit und Befähigung. In der Gesamtsicht überwogen die Heiratswünsche nach guten menschlichen Qualitäten, wie Charakter, Häuslichkeit, Fleiß, Güte und Bildung, über das Streben nach Besitz und Vermögen. Demgemäß erhielt die soziale Übereinstimmung und „Gruppentreue" wieder den Vorrang und wurde auch stärker betont als eine konfessionelle Gleichheit. Die Männer suchten zunächst nach häuslichen Tugenden der Frau und erst in zweiter Hinsicht nach Vermögen. Auf musische und sportliche Neigungen der Frau legten sie mehr Wert als die Frauen bei ihren männlichen Partnern. Die Frauen erwarteten von der wirtschaftlichen Grundlage eine zuverlässigere Geborgenheit in der Ehe als von der sozialen Herkunft, der Intelligenz, der Bildung und dem Charakter des Mannes. i
i Frauen
wamm Männer
Gute Charaktereigenschaften Körperliche Vorzüge Wirtschaftliche Sicherung Liebhabereien (musisch, Sport) Körperliche u. Geistige Leistungsfähigkeit Konfessionsgleichheit
% 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Abb. 4. Ehewünsche in Eheanbahnungsinstituten und nach Heiratsinseraten (zusammen mehr als 100%, da mehrfache Wünsche geäußert wurden)
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Sozialhygiene und prophylaktisdie Medizin in den Lebensepodien
Diese rationale Einstellung wird verständlich, wenn man berücksichtigt, daß von den ehesuchenden Frauen etwa ein Drittel geschieden oder verwitwet war und ein beträchtlicher Teil von ihnen bereits Kinder hatte. Ihr Ehewunsch kam dann meist aus bedrängter wirtschaftlicher Lage oder aus Kummer. Im allgemeinen war bei Männern und Frauen die Bereitwilligkeit nicht groß, einen verwitweten Partner, namentlich einen solchen mit Kind, zu heiraten. iU
Soziale Lage, Konsumnorm und Kinderyahl Bei der Aufzucht und Erziehung der Kinder gewinnen gleichfalls immer deutlicher, wenn auch etwas zurückhaltender, die prospektiven, auf den Fortschritt bedachten Tendenzen an Einfluß. Dadurch wird die biologische Fruchtbarkeit des Menschen, die im Verlaufe größerer Wirtschaftsepochen durch Umwelt und soziale Lage gelenkt wird, zeitgemäß abgewandelt. Die eheliche Fruchtbarkeit und Kinderfreudigkeit wird also nicht allein durch den Lebensstandard und die Höhe von Verdienst und Einkommen bestimmt, sondern vielmehr durch die „Konsumnorm", d. i. durch die Ansprüche an das Leben, die sich in modernen Anschaffungen und einer entsprechenden Lebensführung äußern. Geschlossenheit und Zusammenhalt der Familie Die von etwa 70 % der Ehewilligen geäußerten Wünsche nach menschlicher und charakterlicher Güte des Partners sind der natürliche Ausdruck für das Streben nach einer harmonischen Einheit in gesundheitlicher, sozialpsychologischer, soziologischer und wirtschaftlicher Beziehung. In sozialhygienischem und daraus abgeleitetem Sinne wird eine Familie nur dort begründet, wo jedes Mitglied Rat, Hilfe und Zuflucht auch in Not und Bedrängnis findet. Die Grundlage für eine solche Geschlossenheit und den Zusammenhalt der Familie bilden zwei sich folgerichtig ergebende Sozialprinzipien, nämlich das Solidaritätsprinzip und das Subsidiaritätsprinzip. Beide hängen miteinander zusammen und bedingen sich gegenseitig. Das so verstandene Solidaritätsprinzip faßt die Sozialnatur des Menschen in seinen biologischen, physiologischen, psychologischen und dynamischen Kräften. Die Gemeinschaft nimmt dem Individuum keine Pflicht und Verantwortung ab, die aus eigener Kraft erfüllt werden kann. Erst wenn die Leistungsfähigkeit überfordert wird und eine Hilfsbedürftigkeit eintritt, hat der am nächsten stehende Lebenskreis (die Familie, der Berufsverband, die Gemeinde) und sodann der Staat (als Gemeinschaft) nach Recht und Verpflichtung eine ergänzende Hilfe zu leisten. Ehescheidungsgründe und die ihnen zugrundeliegenden demoskopischen Faktoren. In gerichtlichen Verfahren werden als Scheidungsgründe in 85 bis 90 % Ehebruch und andere Eheverfehlungen angegeben. Diese letzteren überwiegen im Mittel mit etwa 75 % und sind am wenigsten fest umrissen. Schon daraus geht hervor, daß sie als zuvor abgesprochene Gründe lediglich vorgeschoben wurden, um die eigentlichen sozialpsychologischen Motive zu verschleiern. Die Auswertung dieser amtlichen Daten in Analysen nach demoskopischen Faktoren gibt wertvolle, für unsere Aufgabe wegweisende Aufschlüsse. Danach wirken unter den demoskopischen Faktoren und sozialpsychologischen Motiven
Ehe und Familie
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a) gegen eine Bereitschaft zur Ehescheidung: Erfahrung, Rücksicht auf Ruf und Berufstätigkeit, soziale Exponiertheit, konfessionelle und ethische Bindung, Sicherung der Existenzgrundlagen und Kindererziehung; b) für eine Bereitwilligkeit zur Ehescheidung: jugendlicher Mangel an Erfahrung, Bewußtsein der Freiheit, Freizügigkeit und Ungebundenheit, konfessionelle Lösung, Zuversicht auf eine ungebrochene eigene Kraft zur Sicherung der Existenz, aber auch Entwurzelung und Fatalismus sowie eine unzureichende „Ehefähigkeit", die sich bei der Exploration von nicht wenigen zweiten Eheschließungen von Geschiedenen offenbart. Die Gefährdung von Kindern und Jugendlichen Wenn sich die Geschlossenheit einer Familie lockert und ihr Zusammenhang sich zu lösen beginnt, leiden darunter zunächst und am nachhaltigsten die Kinder. Nach den nationalen und internationalen Beobachtungen der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart stammen 65 bis 80 % aller abgleitenden und verwahrlosenden Kinder und Jugendlichen aus gestörten oder unvollständigen Familien. Ihre Vorstellungen vom Leben in der sozialen Gemeinschaft bleiben einseitig, eingeengt und egozentrisch. Das ungünstige und sozialpathologische Bild prägt sich in der zunehmenden Jugendkriminalität aus. Ein anderer Teil sucht sich zu betäuben und flüchtet in die Schonreviere des eigenen Ichs, um im Sorgenbrecher Alkohol, im blauen Dunst des Tabaks, im kosmetischen Persönlichkeitskult und in Auslandsreisen zu „genießen". Solche Ehe- und Familienpsychome äußern sich vorwiegend in drei Formen und zwar a) als Aggression mit Angriffen und Beleidigungen von Umgebung und Nachbarn, die Gerichtsprozesse nach sich ziehen; b) als Degression mit Fluchttendenzen, die ins Wirtshaus, zu Trunksucht, Vernachlässigung der Familie, Notständen und verschuldeter Armut führen; c) als Mimikry und einem Sichtotstellen durch Narkotika und Genußmittel. Die sich aus dem Subsidiaritätsprinzip ergebenden Maßnahmen zur Sicherung der gesellschaftlichen Rehabilitation lassen sich aus diesen Erkenntnissen in einige methodische Thesen zusammenfassen: a) Die in der Eheberatung und bei der Partnerwahl von dem größten Teil der Probanden geäußerten Wünsche nach Charaktereigenschaften, körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit sowie wirtschaftlicher Sicherung entsprechen intuitiv und erfahrungsgemäß den Erfordernissen einer familiären Solidarität und Subsidiarität. b) Das Fundament bildet eine geordnete Wirtschaftsführung. Mangel an Kenntnis in der Hauswirtschaft und Eignung für sie erweisen sich als Ursache für einen erheblichen Anteil an verschuldeter Armut. c) Ohne eine geregelte Zeiteinteilung für das Tages- und Wochenprogramm geht die erforderliche Ruhe und Gelassenheit bei Einkäufen, Vorbereitungen und beim Zusammensein verloren. d) Sie sichert die Anteilnahme an den Berufsaufgaben aller Familienmitglieder, an den besonderen Begabungen, fördert aber auch das Verständnis für die Anliegen, Freuden, Sorgen und Ängste jedes einzelnen, weil auch Zeit zum Anhören^ gemeinsamen Uberlegen und Beraten übrigbleibt.
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Sozialhygiene und prophylaktische Medizin in den Lebensepochen
e) Andererseits braucht jeder Familienangehörige seinen eigenen Arbeitsplatz, an dem er nicht gestört wird. f) In Notlagen, bei Bedrängnis und auch bei Krankheit soll und kann die Familie das Refugium, eine stets oflene Zufluchtsstätte sein, in der die erste Hilfe geleistet wird.
2. Schwangerschaft und Geburt In diesem Lebensabschnitt richtet sich die Aufmerksamkeit von Sozialhygiene und Prävention auf 3 Momente: 1. den Willen zum Kind, die Kinderlosigkeit und eine Adoption, 2. die Ablehnung einer Schwangerschaft, die Konzeptionsverhütung, die Abtreibung, die Fehlgeburten und die Frühgeburten sowie 3. die Müttersterblichkeit und die perinatale Kindersterblichkeit. Die einzuleitenden Maßnahmen gehen infolgedessen aus von 1. dem vorhandenen oder fehlenden Wunsch nach Kindern, 2. einem gesundheitsgemäßen Verhalten und dem Vermeiden von Gefahrenexpositionen sowie 3. einer Vorsorge für den ungestörten Verlauf und Ablauf der Schwangerschaft. Diesen Bemühungen tragen das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vom 30. Juni 1961 und das Gesetz zum Schutze der erwerbstätigen Mutter, das sog. Mutterschutzgesetz (MuSchG) in der Fassung vom 9. November 1965 (BGBl. I, S. 1822) Rechnung. Die Hilfe für werdende Mütter und Wöchnerinnen ist im § 38 des BSHG vorgesehen. Sie umfaßt die Hebammenhilfe, ärztliche Behandlung, Versorgung mit Arznei- und Heilmitteln, einen Entbindungskostenbeitrag und ein Stillgeld, aber auch Vorsorgeuntersuchungen sowie angemessene Ernährungszulagen für sechs zusammenhängende Wochen vor der Entbindung außerhalb einer Anstalt oder eines Heims. Das MuSchG verbietet die Beschäftigung werdender Mütter mit schweren körperlichen Arbeiten sowie mit solchen, bei denen sie schädlichen Einwirkungen von gesundheitsgefährdenden Stoffen oder Strahlen, Gasen oder Dämpfen, von Hitze, Kälte oder Nässe, von Erschütterungen oder Lärm ausgesetzt sind. Bei der Hygiene ist das gesamte psychosomatische Verhalten zu berücksichtigen, dabei auch eine Enthaltsamkeit von Genußmitteln, insbesondere von Tabak und Alkohol, eine Vermeidung von Überernährung und das Unterlassen von Reisen in große Höhen nicht zu vergessen. Unter den Krankheiten während der Schwangerschaft bedürfen einer erhöhten Aufmerksamkeit: Rachitis, Tuberkulose, StoSwechselkrankheiten einschließlich der hereditären Enzymopathien, insbesondere Diabetes, Nierenleiden, Herz-Kreislaufstörungen, Leberschäden, Geschlechtskrankheiten sowie eine Rh-Inkompatibilität. Infolge dieser letzteren erkranken jährlich etwa 5000 Säuglinge, von denen 3000 entweder sterben oder unheilbare Hirnschäden zurückbehalten. Weiterhin sind zu nennen: Einwirkung ionisierender Strahlen sowie von Röntgenstrahlen, Mangelkrankheiten und Ernährungsfehler sowie Gestosen. Die Embryopathien rechnen vom 1. bis zum Ende des 3. Schwangerschaftsmonats, die Fetopathien vom 4. Schwangerschaftsmonat. Bei ihnen ist auf Infektionen während der Schwangerschaft zu achten. Die eheliche Fruchtbarkeit hat sich bei uns im Verlaufe der letzten 60 Jahre bemerkenswert verändert:
Schwangerschaft u n d G e b u r t
17
Von je 1000 Ehen hatten nach rund 20jähriger Dauer: keine Kinder
1 Kind
87
1945 1960
Jahr vor 1900
Kinder 2
3
4 und mehr
90
116
123
584
226
241
253
143
137
162
210
302
173
153
In der Tendenz nahmen die kinderlosen Ehen zu. Auch der Wunsch nach 1 bis 2 Kindern verstärkte sich deutlich und befriedigend sogar nach 3 Kindern. Hingegen verringerten sich die Mehrkinder-Ehen auf fast ein Viertel. Jede 16. bis 20. Ehe blieb kinderlos. Der Wille vytm Kind wird maßgebend bestimmt von Besitz und Einkommen; er wechselt mit der Wirtschaftslage und den Zeitströmungen. Wenn bei ernstem Wunsch nach einem Kind die Behandlung zur Beseitigung von Störungen nicht erfolgreich und eine artifizielle Befruchtung nicht angängig ist, bleibt noch eine Adoption zu erwägen. Bei ihr ist nicht bloß eine sorgfältige ärztliche Untersuchung beider Partnerfamilien notwendig, sondern auch die Übernahme des Kindes in ein vorteilhaftes Milieu zu bewerten; denn die Erfahrungen lehren, daß die Entwicklungskurve der Kinder in der Regel der sozialen Besserstellung folgt, namentlich wenn außerdem noch ein erbbiologisch günstiger Einfluß der natürlichen Großeltern mitwirkt. Der Anteil von unehelich Lebendgeborenen schwankte im Reichsgebiet zwischen 9 und 12 %, im Bundesgebiet seit 1947 zwischen 12 und konstant absinkend 5,4 %. Auch die Rate der Totgeborenen verringerte sich kontinuierlich: Die Totgeburtenziffer je 1000 aller Geburten betrug: im Jahre
insgesamt
ehelich
unehelich
1938
23,0
22,4
30,4
1950
21,8
20,5
33,5
1960
14,9
14,9
21,3
1961
14,0
14,0
20,5
Infolgedessen erhöhten sich die „Zuwachsraten derstabilen Bevölkerung". Während sie im Jahre 1950 noch einen Minus wert von 2,3 aufwiesen, stiegen sie im Jahre 1960 auf plus 3,8. Die Zahl der Fehlgeburten und Abtreibungen kann nur nach vielfachen Schätzungen unter Berücksichtigung erwiesener Tatbestände angegeben werden. Die Werte bewegen sich bei Verheirateten zwischen 22 und 29 % und bei Unehelichen zwischen 14 und 47 % aller Schwangerschaften. Nach den Angaben über die Jugendkrimi-
2 Gerfeldt, Lehrbuch der Sozialhygiene
18
Sozialhygiene und prophylaktische Medizin in den Lebensepochen
nalität für das Jahr 1961 wurden unter 10 915 Straftaten weiblicher Jugendlicher 1 % Abtreibungen festgestellt. Seit 1949 wurden die Entbindungen zunehmend von 52 auf 83 % in Krankenhäusern und geburtshilflichen Fachabteilungen vorgenommen; die kleinere Hälfte von 48%, abnehmend auf 17%, entfiel auf die Häuslichkeit, vor allem in ländlichen Gebieten. Die Müttersterblichkeit (im Zusammenhang mit Schwangerschaft, Entbindung und Wochenbett) zeigt eine deutlich sinkende Tendenz. Sie verringerte sich, bezogen auf je 100 000 Lebendgeborene, um fast 60%, wie die Übersicht erkennen läßt; denn sie betrug: bei Komplikationen in der Schwangerschaft
bei Fehlgeburten
bei Komplikationen der Entbindung und im Wochenbett
insgesamt
1952
45,6
35,8
138,2
219,6
1960
28,5
20,5
79,0
128,0
1961
18,6
11,7
56,3
86,6
im Jahre
Aus dem Vergleich mit Ländern, die ihre Beobachtungen gleichsinnig mit unseren Erfahrungen darstellten, wie Schweden, den Niederlanden und der Schweiz, geht hervor, daß mit einer frühzeitigen Beratung und Vorsorge sowie einer Berücksichtigung sozialer Einflüsse noch mehr erreicht werden kann und sich die Tendenz zum Absinken der Müttersterblichkeitsquoten, namentlich ihres perinatalen Anteils, weiter fortsetzen läßt. Zur Betreuung werdender Mütter haben sich bei uns Schulungskurse bewährt. In Nordrhein-Westfalen wurden rund 4000 solcher Einrichtungen von Wohlfahrtsverbänden, Gesundheitsämtern oder beiden gemeinsam angeboten und von fast 60 000 Teilnehmerinnen besucht. Die Säuglingssterblichkeit erwies sich gleichfalls als rückläufig und betrug in den Jahren 1965/1966 auf je 1000 Lebendgeborene 23,8 bzw. 23,6. Die wichtigsten Todesursachen waren: angeborene Lebensschwäche bzw. Frühgeburt bei 28,2% angeborene Mißbildungen bei 17,0% Geburtsverletzungen bei 12,7% Asphyxie während oder nach der Geburt bei 9,7% Folgen von Mehrlingsgeburt bei 7,2% Lungenentzündung bei 4,3 % Von diesen Säuglingen starb fast jeder zweite innerhalb des ersten Tages, nahezu jeder fünfte innerhalb der ersten Woche und 77 % vor vollendetem erstem Lebensmonat. In den elf Jahren von 1952 bis 1962 nahm die Säuglingssterblichkeit nur um 40 % ab, während sie sich in den voraufgegangenen sieben Jahren von 1946 bis 1952 um mehr als die Hälfte verringert hatte. Aus diesen Unterschieden geht hervor, daß die Säuglingssterblichkeit zu einem beträchtlichen Grade von den sozialen Bedin-
Säuglinge und Kleinkinder
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gungen abhängt, wie auch Kinderreichtum, Kinderarmut und Kinderlosigkeit eine soziale, sozialpsychische und sozialethische Bindung an die zugrundeliegenden persönlichen Ansprüche, die Lebensführung und die soziale Sicherheit aufweisen. Dem Mutterschutz obliegt demnach: 1. die Fürsorge für Schwangere und Mütter durch a) eine besondere Schwangerschaftshygiene und b) die Sicherung einer sachgemäßen Entbindung, eines ungestörten Wochenbettes und einer ausreichenden Rückbildungsperiode; 2. die Vorsorge für das zu erwartende Kind durch a) Verhütung von Fehlgeburt und Totgeburt, b) Vermeidung einer Frühgeburt, sofern sie nicht aus gesundheitlicher oder medizinischer Indikation erforderlich ist, sowie c) Verhütung von Geburtsschädigungen. 3. Säuglinge und Kleinkinder Das Gedeihen der Säuglinge (bis zum 1. Lebensjahr) wird durch vier Daten bestimmt : 1. die „Mitgift" der Eltern an Erbgut und Lebenskraft, 2. die Einflüsse von Umwelt und Umgebung, 3. die körperliche Pflege und geistigen Anregungen, 4. die zweckmäßige Ernährung. Dieser Uberblick ergibt sich aus der fürsorgerischen Betreuung, die sich in den letzten Jahren auf mehr als 80 % der Säuglinge erstreckte. In den Jahren 1962/1966 wurden in Nordrhein-Westfalen 86,5% aller Säuglinge in den Beratungsstellen vorgestellt; rund 50% wurden zur Untersuchung hingebracht, und bei fast 40% bedurfte es einer Betreuung durch Hausbesuche. Die sog. V-Kurve der Sterblichkeit im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik Deutschland für die Jahre 1924 bis 1964 zeigt, daß die Säuglingssterblichkeit etwa so hoch ist wie die Sterblichkeit um das 70. Lebensjahr. Daraus ist zu entnehmen, daß die Abwehrkräfte in beiden Lebensabschnitten geringer und die Belastungsfaktoren größer sind als in den mittleren Jahrgängen, vor allem in den Schuljahrgängen sowie im Jugend- und beginnenden Erwachsenenalter bis etwa zum 30. Lebensjahr. Die komplexen Erschwerungen für die Aufzucht der Säuglinge kommen aus der Peristase mit ihren sich erhöhenden Anforderungen, den klimatischen und meteorologischen Veränderungen, der Ernährung, dem Pflegeaufwand und den Erkrankungsinsulten. Eine typische jahreszeitliche Rhythmik zeigen nicht nur bei den Erwachsenen die sog. Erkältungskrankheiten, die Darminfektionen und HerzKreislaufstörungen nach Morbidität und Mortalität, sondern auch die häufigsten Infektionskrankheiten des Säuglings- und Kindesalters wie auch die Sterbefälle. Die durch die Automation und Rationalisierung eingetretene Veränderung von Lebenshaltung und Tagesrhythmus führte zusammen mit dem Absinken der Säuglingssterblichkeit unter das lange erstrebte 3 %-Niveau zu einer Abnahme der Stillfreudigkeit, die sich weit unter die Höchstgrenze der Stillunfähigkeit verringerte.
v
20
Sozialhygiene und prophylaktische Medizin in den Lebensepodien
110-, 100.
mittlere Sterblichkeit M Ö d e r S t Streuungen reuur O Mkiima) + O +
90.
80. 70.
60. 5040.
Abb. 5. V-Kurve der Sterblichkeit im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik Deutschland auf je 1000 gleichaltrige Einwohner 1924 bis 1964 als mittlere Sterblichkeit mit den Maxima und Minima der Streuungen
0 5 10 20 30 40 50 60 70 und mehr Jahre
Seit 1937 stieg der Anteil der überhaupt nicht gestillten, sondern nur künstlich ernährten Kinder im Deutschen Reich und in dem als repräsentativ für die Bundesrepublik geltenden größten Land Nordrhein-Westfalen von 4,8 auf 16,25% an, so daß sich als Maxima und Minima der Stillfrequenzen für den Zeitraum 1937 bis 1964 die im Diagramm der Abbildung 6 dargestellte Entwicklung ergibt. In ähnlicher Weise ist sie auch in anderen Industrieländern zu beobachten. Als Ursachen für die Abkehr vom naturgemäßen Verhalten werden angegeben: Zeitmangel infolge von Berufsarbeit bei 67%, begünstigt durch die beruhigenden Angebote der Industrie für eine künstliche Ernährung bei 59 %, so daß ein mangelnder Stillwille von 53 % nicht geleugnet und die Rücksicht auf die Figur von 34 % zugegeben wird; eine Stillunfähigkeit wird bei höchstens 27 % angenommen. Diese Angaben betragen mehr als 100 %, weil vielfach mehrere Gründe gleichzeitig wirken. Die Säuglingssterblichkeit des männlichen Geschlechts war zur Jahrhundertwende um 16 bis 19 % höher als die des weiblichen, erhöhte sich nach den beiden Weltkriegen auf 23 bis 26 % und senkte sich erst nach 1955 auf eineDiflerenz von2 und 1 %. Die unehelichen Säuglinge waren stets mehr gefährdet als die ehelichen. Der Mehrbetrag ihrer Sterblichkeit bewegte sich nach der Jahrhundertwende bis jetzt zwischen 70 und 94%.
21
Säuglinge und Kleinkinder %100 90 . 80 . 70
60 . 50 . 40 . 30 .
20 10 .
0 Lebensmonate
0
1 2
3
7
nicht gestillt
8
9
10 11 12
gestillt Maximum
Minimum
Abb. 6. Maxima und Minima der Stillfrequenzen im Deutschen Reiche und in Nordrhein -Westfalen in v. H. der beobachteten Säuglinge (1937-1964)
Ein biologisches Hindernis gegen das Stillen als die natürliche Ernährungsweise liegt nur bei Stillunfähigkeit der Mutter vor. Sonst kann jede Frau stillen, wenn sie wirklich will und keine ärztlichen Bedenken entgegenstehen; aber das Stillen will auch gelernt sein. Daß dies möglich ist, erweisen unsere Feststellungen in der Mütter- und Säuglingsberatung. Die Erfolge blieben nicht aus und rechtfertigten diesen Stillwillen. Im Zeitraum 1953 bis 1961 erhöhte sich in Nordrhein-Westfalen der Anteil der Säuglinge mit gutem Allgemeinzustand von 56 auf 62 %; gleichzeitig verringerten sich die mittelmäßigen Befunde von 39 auf 35 % und die schlechten von 5 auf 3 %. Die Abbildung 7 gibt einen Überblick für das Deutsche Reich, Preußen und NordrheinWestfalen in der Zeit von 1933 bis 1964. 60
% 60. 50
46
46 35
40. 30.
I
1933
•
1956 bis 1964
20 8
10 Gesundheitszustand
5
JL n
0 gut
mittel
schlecht
Abb. 7. Allgemeinzustand der Säuglinge 1933-1964 im Deutschen Reiche, in Preußen und in Nordrhein-Westfalen nach den Befunden der Säuglingsfürsorge
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Sozialhygiene und prophylaktische Medizin in den Lebensepochen
Einen entscheidenden Einfluß übt die Geburtenzahl auf die Stillfreudigkeit aus. Dies läßt darauf schließen, daß der Stillwille beim 2. Kind zu erlahmen beginnt, weil die Mutter sich entweder in der Ernährung und Pflege des Säuglings sicher genug fühlt, mit künstlicher Nahrungsform auskommen zu können glaubt oder weniger Zeit hat. Erst beim 3. und besonders beim 4. Kind erwacht wieder der mütterliche Instinkt. Aus den Beobachtungen der Säuglingsberatungsstellen geht für die Jahre 1962 bis 1966 hervor, daß nur 9 % aller vorgestellten Säuglinge behandlungsbedürftige Schäden oder Störungen aufwiesen. Davon waren 9 % Mißbildungen, 13 % schwere Pflegeschäden und 78 % sonstige Gesundheitsstörungen. Die geistige Ansprechbarkeit und die Körperbewegungen sowie die Haltung müssen unter den Aspekten der Erbkomponenten und der anregenden Förderung durch die den Säugling umgebende Umwelt und Umgebung gesehen und beurteilt werden. Insbesondere darf die enge Beziehung der Mutter zum Säugling nicht außer acht gelassen werden. Für die Ernährung des Säuglings stehen zwei Formen zur Verfügung, die natürliche und die künstliche. Die erste verabreicht arteigene Milch, und zwar entweder und vornehmlich als Muttermilch oder im weiteren Sinne als Frauenmilch, die früher von Ammen geboten wurde und sodann bis heute von Nährmüttern aus ideeller Verbundenheit gereicht wird. Die zweite Art der Säuglingsernährung benutzt Tiermilch und Tiermilchmischungen, vor allem Kuhmilch. Die Zubereitung in Säuglingsmilchküchen, die den Müttern entweder Ratschläge erteilten oder fertige Milchmischungen abgaben, sind durch die Entwicklung neuartiger Präparate überholt. Bei der Komposition der neuen Präparate wurde bereits eine starke Annäherung an die Zusammensetzung der Frauenmilch erreicht. Bei leichteren Ernährungs- und Verdauungsstörungen lassen sich Heilnahrungen einsetzen, bei schwereren Erkrankungen sind Muttermilch, Nährmuttermilch oder Frauenmilch aus Frauenmilchsammelstellen nicht zu entbehren. Dies gilt vor allem bei Gewichtsschwankungen, Infektanfälligkeit, Ekzemen und Rachitis. Bei dieser läßt sich eine medikamentöse Prophylaxe vorteilhaft unterstützen durch eine ausreichende Versorgung der Mutter mit Obst und Frischgemüse. Um Pflege- und Umweltschäden abzuwenden, werden in den Mütter- und Säuglingsberatungsstellen sowohl Untersuchungen vorgenommen mit Gewichts- und Ernährungskontrollen, Stillproben und Schutzimpfungen, als auch Wirtschaftsberatungen, Antragshilfen und Erziehungsanleitungen geboten. Berufstätigen Müttern bereitet die Beaufsichtigung ihrer Kinder vielfach Sorgen, wenn weder Verwandte noch Bekannte oder Nachbarn beistehen können. Die Einrichtung von Tageskrippen durch die öffentliche und private Fürsorge wie auch die Betriebs- und Werksfürsorge hat sich bestens bewährt. Für die Hauspflege sind Pflegestellen und Pflegerinnen nicht zu entbehren. Bei der Wohnungsbeschaflung, namentlich der jetzt wieder zunehmenden Neigung zur Kleinwohnung, vermögen die Fürsorgestellen vorteilhaft zu vermitteln. Die Kleinkinderfürsorge hat sich folgerichtig aus der Säuglingsfürsorge entwickelt. Sie ist nicht so umfangreich wie diese, weil die Mütter inzwischen gelernt haben, mit ihren Kindern umzugehen, Gesundheitsstörungen leichter auffallen und sich die Gefährdungen verändert haben, so daß sich die Sterblichkeit der Kleinkinder im Alter von 1 bis zu 5 Jahren auf weniger als 1/2S des Betrages verringerte.
Säuglinge und Kleinkinder
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Demgemäß wird die Kleinkinderberatung und -fürsorge weniger in Anspruch genommen. Im Zeitraum 1958 bis 1966 wurden in Nordrhein-Westfalen von den unter Sechsjährigen 8 bis 9 % untersucht. Dabei wurden unter ihnen festgestellt: schwere Pflegeschäden bei 4 % , Mißbildungen und Körperbehinderungen bei 6 % und sonstige gesundheitliche Störungen bei 90%. Daraus ist zu ersehen, daß die Kleinkinder nur dann vorgestellt wurden, wenn den Müttern eine Regelwidrigkeit auffiel. Eine hausärztliche Behandlung war dabei jedoch nur bei etwa 10% erforderlich. Als die wesentlichsten Ursachen für eine Fürsorgeberatung ergaben sich nach diesen Erfahrungen: 1. Infektionskrankheiten, insbesondere die Schmutz- und Schmierinfekte, 2. rheumatische Syndrome, 3. Entwicklungsstörungen, vor allem Rachitis, 4. Unfälle im häuslichen Bereich und auf der Straße sowie 5. angeborene Mißbildungen. Unter den Ansteckungsmöglichkeiten auf den unkontrollierten Streifzügen in die nähere Umgebung und bei neuen Freundschaften sind die Tuberkulose und Darminfektionen hervorzuheben. Aus dem vielgestaltigen und schwer zu deutenden Symptomenbild des rheumatischen Fiebers ließen sich vier Manifestationen herauslösen: die akute und chronische Polyarthritis zu 51 %, Karditiden zu 24 %, Chorea minor zu 16 % und die Purpura rheumatica zu 9 %. Ihre Verteilung nach den Geschlechtern zeigt die Abbildung 8. % 100
Knaben
Mädchen
90 80
Polyarthritis
70
60 50 40
Karditis
30
Abb. 8. Verteilung von rheumatischem Fieber nach Geschlechtern (i. v. H.)
Chorea minor
10
Purpura
Durch sie wurde das Kindesalter bis zum 5. Lebensjahr mit rund 10 % betroffen. Die Zahl der Unfälle steigt mit der Lebhaftigkeit der Kinder. Es treten stumpfe und scharfe Verletzungen, Verbrennungen, Verbrühungen, Fremdkörperläsionen und Überfahrungen auf. Sie werden begünstigt durch die Achtlosigkeit der in ihr Spiel vertieften Kinder. Die Zahl der Todesfälle durch Unfälle ist darum in diesem Alter
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Sozialhygiene und prophylaktische Medizin in den Lebensepochen % 60 _
50.
r
o' Jahre
2
4
6
8
10
12
14
16
Abb. 9. Altersverteilung von rheumatischem Fieber
etwa sechsmal so hoch wie im allgemeinen. Das Unfallrisiko im Straßenverkehr ist für Kleinkinder im Alter bis zu 6 Jahren mit etwa 20 auf je 10 000 fast ebensogroß wie für Jugendliche und Erwachsene im Alter von 15 bis zu 65 Jahren mit 21 auf je 10 000. Die Rachitisprophylaxe wird zu Hause vielfach nicht mit der erforderlichen Regelmäßigkeit durchgeführt, so daß die Kinder nur Teilbeträge der vorgesehenen Medikation erhalten. Darüber wird von den Beratungsstellen ebenso wie von den Hausärzten geklagt. Seit der Jahrhundertwende haben die angeborenen Entwicklungsstörungen und Mißbildungen bei uns eher abgenommen als zugenommen, obwohl die Gefährdungen durch die Zivilisation größer geworden sind. Diese Tendenz stimmt mit den internationalen Erfahrungen in anderen vergleichbaren Ländern überein. Fehlbildungen sind erwartungsgemäß hauptsächlich im Säuglingsalter anzutreffen, verringern sich dann um fast 90 % und sind im Alter über 18 Jahre nur noch mit knapp 1 % zu finden, weil sie in der Regel eine angeborene Lebensschwäche mitbringen. 50 40.
Abb. 10. Abnahme der angeborenen Mißbildungen von der Säuglingszeit bis zum Erwachsenenalter in Nordrhein-Westfalen 1952 bis 1960 (auf je 10 000 Gleichaltrige)
Schulkinder
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Von den genetischen Faktoren für angeborene Bildungsfehler ist etwa die Hälfte mit peristatisch bedingten Merkmalen kombiniert. Von einer Therapie sind bislang bei den schweren Mißbildungen noch keine befriedigenden Erfolge zu erwarten; hingegen bietet die Prophylaxe zahlreiche aussichtsvolle Möglichkeiten, die geeignet sind, die Manifestation von Mißbildungen zu verhindern oder wenigstens zu verringern, und die bei der Familie, den werdenden Müttern und den Umweltgefahren anzusetzen haben. Dafür ergeben sich nach den internationalen Erfahrungen als Maßnahmen: 1. Frühzeitige Untersuchungen in der Schwangerschaft. 2. Rechtzeitige erbbiologische Beratung mit dem Ziel: a) notfalls einen Verzicht auf Nachkommenschaft zu erreichen, b) eine Mutationsprophylaxe einzusetzen, c) schädliche erbbiologische Einflüsse zu vermeiden, um das Auftreten phänotypischer Manifestationen zu verhindern oder wenigstens einzuschränken. 3. Aufklärung der werdenden Mütter über die empfindlichsten Stadien der Schwangerschaft. 4. Aufklärung und Schulung der Frauen über die Gesundheitspflege vor und während der Schwangerschaft sowie nach der Geburt. Dies gilt besonders für Erstschwangere. 5. Vermeidung peristatischer Schädigungen und Auslösungsfaktoren. 6. Einhalten der Schonzeiten nach dem Mutterschutzgesetz. 7. Möglichste Vermeidung von Strahlendiagnostik in der Schwangerschaft. 8. Feststellung von Stoflwechselstörungen schon vor der Schwangerschaft, damit auf sie nicht erst durch die beim Kinde sichtbare Entwicklungsstörung hingewiesen wird. 9. Behandlung und Bekämpfung von Krankheiten, Stoffwechselstörungen und Enzymkrankheiten schon im Beginn der Schwangerschaft. 10. Durchführung von aktiven Schutzimpfungen nur bei zwingender Indikation. 11. Senkung schädigender Umweltfaktoren auf ein Minimum. 12. Ausdehnung und Intensivierung der Forschungsarbeit, insbesondere auch in sozialpathologischer Sicht, um exogene Gefahren zufindenund abzuwehren. Ergänzt wird die halboffene Form der Kleinkinder für sorge durch die geschlossene Form in Erholungsstätten, Kinderheilanstalten und Sonderschulen, die den Zwekken angemessen sind. Die zeitgemäße, den internationalen Erfordernissen angepaßte und den Fortschrittsgedanken auf sozialer Basis betonende Reform des Schulwesens bezieht auch die Förderung des Vorschulalters ein und will die Spielschule und den Kindergarten auf dem heuristischen Prinzip aufbauen. Nach den Forderungen der klassischen Schulreform übertrug die italienische Ärztin Maria Montessori ihre an behinderten Kindern gesammelten Erfahrungen auf die erzieherische Entwicklung gesunder Kinder und begann damit bei Kindern im Kindergartenalter vor dem 6. Lebensjahr. Sie betonte die Pflege der Persönlichkeit und der Charakterbildung, bahnte gleichzeitig auch den Weg von der Lernschule zur Produktions- und Arbeitsschule durch eigene Phantasie, Erfindung und Überlegung. 4. Schulkinder Der Übergang aus der Kleinkinderzeit mit ihrer erlebnisfrohen Freiheit in das Schulalter mit seiner Bindung an Pflichten, Pünktlichkeit und Schulgemeinschaft ist der härteste EingriS im menschlichen Leben. Er ist für die meisten härter als der
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Sozialhygiene und prophylaktische Medizin in den Lebensepochen
Berufsbeginn und die Eheschließung. Eine weitere Belastung bringen sodann die Pubertätskrisen, in denen schon kleine Anlässe Kurzschlußhandlungen von unberechenbarem Ausmaße auszulösen vermögen. Ehedem riefen die Schüler Selbstmorde große Unruhe hervor. Seit dem letzten sog. Menschenalter von 35 Jahren hat sie sich wieder gelegt, weil ihre Zahl auf 30 bis 35 im Jahre gesunken ist, so daß die Suizid-Ziffer (je 100 000 Gleichaltrige) gegenwärtig 1,2 für Knaben und 0,6 für Mädchen im Alter von 5 bis 15 Jahren beträgt und sich seit dem Jahre 1932 mit den Werten von 1,0 bzw. 0,33 nicht mehr signifikant veränderte. Die Anlässe liegen in der Regel nicht in Schulschwierigkeiten, sondern werden bei Kindern mit Neurosen und psychogenen Ausnahmezuständen beobachtet, und zwar als Kurzschlußreaktionen auf gestörte Familienverhältnisse (wie alleinstehende Mutter, Stiefvater-Familie, drohende Heimverbringung u. ä.). Die besonderen Schwierigkeiten für die Kinder im Schulalter und ihre ungewohnte Belastung bis zur Gefährdung erfordern umfassende Schutzmaßnahmen, die frühzeitig erkannt und vorgesehen wurden, so daß die Schulgesundheitsfürsorge die erste Für- und Vorsorge mit den ältesten Erfahrungen und besten Erfolgen ist. Sie erstreckt sich auf die laufende Überwachung der körperlichen und geistigen Gesundheit, die hygienische Beschaffenheit und Einrichtung der Schulen und ihrer Grundstücke, regelmäßige Besichtigungen, die Verhütung übertragbarer Krankheiten durch die Schulen und in den Schulen, den schulärztlichen Dienst mit Reihenuntersuchungen, Lehrer- und Eltemberatung, eine Erholungs- und Kurfürsorge, die Schulzahnpflege, den Jugendschutz und die gesundheitliche Erziehung. Die Untersuchung auf Schulfähigkeit umfaßt grundsätzlich alle Schulanfänger, sofern nicht bereits eine Bestätigung durch den Hausarzt vorliegt. Infolgedessen werden regelmäßig alljährlich etwa 97 % der Lernanfänger schulärztlich geprüft. Im Durchschnitt wurden jeweils 10% als noch nicht schulreif befunden. In den letzten Jahren senkte sich ihr Anteil auf 8%. Infolge der gestiegenen Lebenshaltung und der umfassenden Fürsorgemaßnahmen besserte sich im Verlaufe von 30 Jahren der Gesamtzustand der Schüler bis zum 15. Lebensjahr bzw. bis zum Schulabgang unter Verminderung von Befunden mit Krankheitswert um fast 30%. Die Gefährdung durch die „Volksseuche" Tuberkulose verringerte sich sogar um fast 94 %. Gegenwärtig sind 90 % aller Schulanfänger und Schulabgänger frei von krankhaften Befunden. Bei den übrigen 10% wurden an Störungen mit Krankheitswert festgestellt, und zwar auf je 1000 Untersuchte: bei Schulanfängern
Schulabgängern
1. Bindegewebsschwäche, Haltungsfehler, Platt- und Senkfuß
230
260
2. Adenoide Vegetationen
110
50
3. Hör-und Sehstörungen
40
95
4. Rachitisfolgen
26
16
5. Herzstörungen
18
15
6. Neurovegetative Störungen
16
16
Schulkinder
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Während sich danach die Haltungsfehler sowie die Hör- und Sehstörungen verstärkten, nahmen die anderen Befunde mit Ausnahme der neurovegetativen Beschwerden deutlich ab. Diese Erfahrungen erwiesen, daß es unzweckmäßig ist, ein Kind als schulunfähig für die Dauer eines Jahres zurückzustellen. Es verliert nicht nur diese Zeit, sondern fügt sich dann noch schwerer in die Schulkameradschaft ein. Vorzuziehen ist die Einweisung in eine angemessene Sonderschule oder bei Schwächlingen in eine Freiluft- oder Waldschule. In diesen wird auf die Unterrichtshygiene ein besonderer Wert gelegt und eine individualisierende Fürsorge in frischer Luft gefördert, so daß damit gleichzeitig eine Erholung und Kräftigung erreicht wird. Schüler, bei denen Gesundheitsstörungen oder Befunde festgestellt werden, die einer regelmäßigen Beobachtung bedürfen, werden unter die Überwachungsschüler eingereiht. Die zu treffenden Maßnahmen werden den Eltern mitgeteilt und mit ihnen vereinbart. Es hat sich als zweckmäßig erwiesen, dafür besondere Sprechtage und Sprechstunden für Eltern und Lehrer einzurichten, in denen auch andere Sorgen und Vorschläge für die Schulgesundheitspflege erörtert werden können. Zu den Themen dieser Art gehören insbesondere alle Gefährdungen außerhalb der Schule und ihres engeren Bereichs: die Gestaltung von Ferien und Freizeit, die Familienfürsorge mit Hausbesuchen durch die Gesundheitspflegerinnen, die Vorkehrungen gegen Kontakte mit Infektions kranken, Abwendung von Unfällen bei Sport und Spiel sowie Straßenverkehrsunfällen, Erholungs- und Landaufenthalte, Schulwanderungen, vorbeugende Kuren, verfrühte oder übertriebene Verwendung von Genußmitteln, insbesondere von Tabak und Alkohol, aber auch von Naschereien sowie nicht zuletzt auch die Sexualpädagogik und die Belehrung über Geschlechtskrankheiten. Durch Straßenverkehrsunfälle werden vor allem die Schulanfänger (im Alter von 6 bis 7 Jahren) gefährdet. Während sich die Sterbeziffern (je 10 000 gleichen Alters und Geschlechts) bei den Altersjahrgängen von 5 bis 15 infolge von Unfällen aller Art bei den Knaben von 6,8 auf 6,2 verringerte, erhöhte sie sich bei den Mädchen von 2,3 auf 3,2. Nach Straßenverkehrs- und Kraftfahrzeugunfällen jedoch stieg sie im Verlaufe der letzten vier Jahre bei beiden Geschlechtern an, und zwar von 2,6 auf 4,3 bei Knaben und von 1,3 auf 2,8 bei Mädchen. Um dieser beängstigenden Entwicklung zu begegnen, führten zahlreiche Schulen neuerdings Erkennungs- und Warnkleidungen in hellen und weithin erkennbaren Farben ein (Mützen, Umhänge, Armbinden u. ä., meist in hellgelb), um die Kraftfahrer zur Vorsicht zu mahnen. Die Schulzahnpflege entwickelte sich als besonderer Zweig der Schulgesundheitspflege und erweiterte sich zur Jugendzahnpflege, weil sich die Notwendigkeit zwingend ergab. In den letzten 10 Jahren hat sich der Zustand der Gebisse bei Schülern und Jugendlichen wesentlich verschlechtert. Von 100 Untersuchten hatten behandlungsbedürftige Zähne: im Jahre
in Volks-, Hilfs- und Sonderschulen
in Real- und Höheren Schulen
in Berufsbildenden Schulen
1958/59
29,0
29,0
38,5
1967
44,6
36,0
43,7
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Sozialhygiene und prophylaktische Medizin in den Lebensepodien
Eine Fluoraktion in Form der Tablettenmedikation bewährte sich in den Kindergärten Berlins nicht; Auswirkungen waren nicht erkennbar. Der Zusatz von Fluor zum Trinkwasser war nicht zulässig. Als wirksam bleibt die Zahnpflege, die Kariesvorbeugung, die regelmäßige Überwachung und die rechtzeitige Behandlung. Als Aufgaben und Ziele der Scbulgesundbeitspflege lassen sich sonach zusammenfassen: 1. regelmäßige Reihenuntersuchungen bei der Einschulung und Schulentlassung; 2. Betreuung der Uberwachungsschüler; 3. Verhütung oder Minderung aller gesundheitlichen Gefahren im und durch den Schulbesuch; 4. Fürsorge für eine rechtzeitige ausreichende Behandlung der festgestellten Störungen zur Sicherung der späteren Berufstauglichkeit; 5. Vorsorge für eine gesundheitliche Gestaltung von Ferien und Freizeit; 6. Beratung der Eltern und Lehrer bei der sozialhygienischen Sicherung des häuslichen Lebens und der sittlichen Haltung der Schüler. 5. Jugendliche Für die Beurteilung der Jugendlichen beim Übergang aus der Volksschule in die weitere Ausbildung und die Berufsvorbereitung sind die Befunde an den Entlassungsschülern von erheblichem Wert, und zwar in körperlich-gesundheitlicher Hinsicht ebenso wie in psychischer nach Intelligenz, Konzentration und Anpassungsfähigkeit. Die Wachstumsbeschleunigung der Jugendlichen und ihre oft erstaunliche Größenzunahme verleitet die Erwachsenen vielfach zu der Annahme, die Jungen und Mädchen seien heute früher „erwachsen" als ehedem. Aber sie sind nur akzeleriert, sie sind wohl hochgewachsen, aber nicht gereift, ihr Körpergewicht entspricht nicht ihrer Körperlänge, die sexuelle Frühreife hat einen Vorsprung vor ihrer geistigen und seelischen Entwicklung. Der Hochgewachsene bleibt immer noch kindlich oder jugendlich, er denkt und handelt so, wie es seinem jüngling- oder mädchenhaften Geisteszustand entspricht, während der Erwachsene von ihm annimmt oder sogar erwartet, daß er sich bereits wie ein Erwachsener verhält. Der Jugendliche hat noch einen anderen Zeitsinn und ein anderes Zeitmaß als der Erwachsene. Das Tableau seiner Erlebnisse, Vorstellungen und Begriffe bietet noch viel Raum zur Aufnahme und will gefüllt werden. Er hat auch viel Zeit und sucht nach neuen Eindrücken; es geht ihm alles zu langsam, und er will sich nicht langweilen. Sein Erleben ist nur Gegenwart und allenfalls nahe, ganz nahe Zukunft, aber er kennt noch keine Vergangenheit. Die sozialtypischen Kategorien der Zwischenkriegszeit, ihre historisch-traditionelle Gesellschaftsordnung und ihr Vokabularium werden von der Jugend heute weder gebraucht noch überhaupt verstanden. Dafür fesseln die neuen Erlebnisse der technischen Entwicklung, der Arbeitsweise und Zielstrebigkeit, überrascht die weltweite Offenheit und die Kenntnis fremder Länder. Damit wird aber nicht gesagt, daß die Leistungsfähigkeit sich verbessert, sondern nur, daß sie sich verändert hat. Vergleichende Untersuchungen erwiesen, daß praktische Begabung, Handfertigkeit, Organisieren und Disponieren sich (um 4 bis 6 %) verbesserten, dagegen sprachliche Begabung und logisches Denken deutlich zurückgegangen sind. Die geistige Haltung ist das Ergebnis der gesamten somatopsychischen Entwicklung der Jugendlichen.
Jugendliche
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Vergleichende Reihenuntersuchungen in Städten und Landbe^irken zeigten, daß der Kräfte- und Ernährungszustand bei den Stadtkindern wesentlich besser war als bei den Landkindern und sie sich auch viel früher entwickelten. Bei den Landkindern war jedoch die Intelligenz und die Anpassungs- bzw. Belastungsmöglichkeit größer, so daß sie trotz geringerer Konzentrationsbereitschaft (im Verhältnis von 38 zu 41) günstiger für den Berufseinsatz bewertet wurden. Während die Stadtkinder bei der Schulentlassung zu 75 % voll berufstauglich waren, wurden es die Landkinder zu 8 8 % . In den folgenden Lebensjahren wurde der Gesamtbefund kaum oder nur unzureichend aufgeholt. Ein Fünf jahresüberblick über die Jugendlichen in kaufmännischen Berufen war nicht viel günstiger; denn 2 6 % litten an statischen Fußbeschwerden, 1 0 % hatten Zahnschäden und 3 3 % bedurften einer Kur, vorwiegend wegen nervöser Störungen der verschiedensten Art (an Herz und Magen oder vegetativer Dystonie). Von den Wehrpflichtigen waren nur 75 % voll tauglich; diese Beobachtungen haben sich in den letzten 27 Jahren nicht verändert und weisen somit auf konstitutionelle Grundlagen hin. D e r E r l a ß d e s Gesetzes
%um Schutze der arbeitenden Jugend
(Jugendarbeitsschuts^gesetvQ
vom 9. August 1960 - BGBl. I, S. 605 - war daher sehr zeitgemäß. Es verbietet die Kinderarbeit mit kleinen Ausnahmen und regelt für Jugendliche unter 18 Jahren ihre Arbeitszeit, umfaßt Beschäftigungsverbote und -beschränkungen, legt den Arbeitgebern Pflichten auf zur Erhaltung von Gesundheit und Arbeitskraft, ordnet die gesundheitliche Betreuung durch Ärzte und nimmt sich auch verwandter Kinder und Jugendlicher an. D a sich eine Betreuung außerhalb der Schulen und der Arbeitsplätze als notwendig erwies, wurde eine Aktion der Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern, den Jugendbehörden und den freien Verbänden der Jugendarbeit vereinbart und als Bundesjugendplan mit den Richtlinien vom 16. Dezember 1958 - GMB1.1959, S. 34 veröffentlicht. Er erstrebt vor allem eine pädagogische Hilfe und setzt dabei die Erziehungsbereiche der primären Erziehungsträger sowie die Tätigkeit des ordentlichen, organisierten Erziehungs- und Bildungswesens voraus. Er befaßt sich sonach ausschließlich mit dem außerschulischen Erziehungs- und Bildungswesen, wie der Fortbildung, der Einrichtung und Erhaltung von Wohnheimen, Studentenwohnheimen, Jugendherbergen und Jugenderholungsstätten. Die Berufswahl wurde für die Jugendlichen in letzter Zeit immer schwieriger und wird auch künftig nicht so bald leichter werden. Infolge der zunehmenden Automation und der Entwicklung elektronischer Hilfsmittel oder Computer verlieren einzelne Berufsarten an Bedeutung oder werden in naher Zukunft eingehen. Dies sind für die Jugendlichen beunruhigende Aussichten, wenn sie erleben, daß manche Arbeitnehmer im Laufe ihrer Berufstätigkeit drei- bis viermal sich auf neue Aufgaben umstellen müssen und man ihnen versichert, daß das Zeitalter der übersichtlichen Laufbahnen und der hierarchischen Arbeitsordnung sich dem Ende zuneigt, wie aus dem Gesetzentwurf des Forschungsinstituts der Zentrale für Arbeitsverwaltung in Nürnberg über Berufs- und Arbeitsförderung (April 1967) geschlossen werden muß. Auf diesen zeitbedingten Wandel in der Sozialstruktur und den Berufserwartungen richtet sich notwendigerweise auch die Berufsberatung ein, um Anlagen, Neigungen und Befähigungen der Ratsuchenden mit den Anforderungen von Rationalisierung, Technisierung und Planung auch in sozialpsychischer Beziehung aufeinander abzustimmen. Die Jugendlichen erwarten dies, so daß für Sozialhygiene und Prophylaxe neue pädagogische und bildungspolitische Aufgaben erwachsen.
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Sozialhygiene und prophylaktische Medizin in den Lebensepodien
Entsprechend dem veränderten Angebot hat sich auch die Anziehungskraft der Lehrberufe gewandelt. Begehrt sind technische Berufe, wie Maschinenschlosser, Werkzeugmeister und Kraftfahrzeug-Handwerker. Im Zeitraum der letzten Dekade zeichnet sich diese Neigung bereits in der Strukturtendenz bei der Gesamtbevölkerung ab. Die Zahl der Lehrlinge verringerte sich bei Formern um 85 %, bei Maurern um 76 %, Stahlbauschlossern um 41 %, Drehern um 35 %, Betriebsschlossern um 22% und Maschinenschlossern um 21 %. Sie erhöhte sich dagegen bei Elektromechanikern um 327%, Starkstrom-Elektrikern um 257%, technischen Zeichnern um 235%, Chemie-Laboranten um 200%, Feinmechanikern um 141 % und Werkzeugmachern um 130 %. Nicht minder einflußreich auf die Berufswahl ist die Arbeitszeit in den einzelnen Berufen. Bei den Selbständigen sowie in der Land- und Forstwirtschaft wird sie mit 57 bis 60 Wochenstunden angegeben, bei den anderen Berufen, insbesondere im produzierenden Gewerbe, in der Industrie, bei Angestellten und Beamten mit 44 bis fast 45 Wochenstunden. Die Angaben des Statistischen Bundesamtes über die Vermittlung von Schulabgängern in Lehrstellen stimmen mit diesen Erfahrungen überein. Den Ausschlag bei der Berufswahl gibt nicht mehr die Eignung und Familientradition, sondern die Einschätzung von Aufstiegsaussichten und Vorteilen, bei den Mädchen (zu 54 %) das Streben nach Sicherheit. Der Anpassungsprozeß an die noch im Fluß befindliche Strukturumstellung ist bei den Jugendlichen ebenfalls noch nicht abgeschlossen. Dies ist aus den Lehrlingsabschlußprüfungen zu erkennen. Im industriellen und kaufmännischen Bereich versagten in den letzten Jahren durchschnittlich 15%, von denen 13% die Prüfung nicht bestanden und 2 % überhaupt nicht zur Prüfung kamen. Vielfach fehlten von vornherein die notwendigen Grundbegriffe und -kenntnisse; denn fast 20 % verließen die Volksschule ohne Abschlußzeugnis. Auch der Vergleich der Schulleistungen mit den späteren Berufserfolgen bestätigt diese Beobachtungen. Bei den Volksschülern stimmten bei 24% die Schulleistungen mit dem Ergebnis der Berufsabschlußprüfung überein, bei 40 % besserten sich die Leistungen, insbesondere bei Facharbeitern und in kaufmännischen Berufen. Die Mittelschüler erzielten bei 12 % übereinstimmende Leistungen und lieferten bei 81 % eine bessereBerufsabschlußprüfung. Von den Abiturienten erreichten 23% leitende Stellungen und 66% mittlere Positionen; eine Lebensstellung, die auch ohne Reifeprüfung erreicht werden kann, erhielten 8 %, und 3 % blieben Versager. Bei größeren Anforderungen verschlechterten sich die Ergebnisse, jedoch war es offenkundig, daß mit Leistungswillen und Ehrgeiz unter dem Einfluß einer charakterlichen Eignung bessere Resultate erzielt werden konnten, wie ein Vergleich der Leistungen zwischen der Einstellungsprüfung und dem Ausbildungsabschluß in der Industrie erwiesen hat: Die Wertungen stimmten bei 46 % völlig überein und waren bei 22 % gestiegen. Berufseignung und Leistungen sind die Voraussetzungen für die Gewährung einer Ausbildungshilfe nach den §§ 31 bis 35 des Bundessozialhilfegesetzes vom 30. Juni 1961. Zum Besuch einer mittleren oder höheren Schule oder einer Fachschule ist sie zu gewähren und zum Besuch einer Hochschule oder gleichgestellten Einrichtung kann sie gewährt werden, wenn außer Eignung und Leistung die beabsichtigte Ausbildung fachlich nötig ist und der erwählte Beruf eine ausreichende Lebensgrundlage bietet. Die genannte Kann-Bedingung für höhere Schulen und Hochschulen besagt, daß die Hilfe nur dann gewährt wird, „wenn die Fähigkeiten und Leistungen des Auszubildenden erheblich über dem Durchschnitt liegen oder wenn ein Abbruch der Ausbildung für ihn eine besondere Härte bedeuten würde".
Jugendliche
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Bei der Gefährdung der Jugendlichen sind die psychosomatischen Belastungen und die neu eintretenden Anlässe zu berücksichtigen. Körperlich sind es vor allem die Einflüsse von Arbeitsbereich und Umgebung, besonders die Unfälle und die Straßenverkehrsunfälle, sodann die übertragbaren Krankheiten, wie Grippe, rheumatische Beschwerden, Erkältungen, Tuberkulose und Poliomyelitis, ferner die durch die freiere Umwelt geförderten Geschlechtskrankheiten und die zunehmende Zahnkaries. Bei den Mädchen seien auch die Zyklusstörungen erwähnt. Die psychischen Belastungen bis zur Gefährdung gehen häufiger von neuen Bekanntschaften mit Freunden und Freundinnen als von der eigenen gewohnten Häuslichkeit aus, namentlich bei leichter Ansprechbarkeit auf die neuen Eindrücke, charakterlicher Labilität und ungeschminkter Verführung. Zusammenschlüsse zu Bünden oder Banden beruhigen etwaige Gewissensnöte, machen hörig und lassen eine Pflicht zur Aufsässigkeit entstehen. In der Folge entsteht eine Beteiligung an Schabernack, bösen Streichen und schließlich kriminellen Handlungen. In der Jugendkriminalität überwiegen Diebstähle, Autoknacken und Bankeinbrüche, bei denen sich die Mädchen meist mehr mit der passiven Rolle von Hehlern, Spitzeln und Aufpassern beteiligen. Die Promiskuität in solchem Verkehr führt zu ungewollten Schwangerschaften mit nachfolgender Abtreibung. Die Größe der Gefährdungen veranschaulichen einige Zahlen aus den letzten Jahren. Der Anteil der Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr an den Geschlechtskrankheiten betrug insgesamt 4 % aller Erkrankungen; davon entfielen auf die Lues beim weiblichen Geschlecht doppelt so viele Erkrankungen als beim männlichen und bei der Gonorrhoe sogar mehr als achtmal so viele. Die Unfallgefährdung im Straßenverkehr wird für Jugendliche mit 10 bis 12 auf je 10 000 eingeschätzt. Nach den Erfahrungen der Kriminalämter wird jede vierte Straftat von Kindern und Jugendlichen begangen, und zwar achtmal häufiger von männlichen als von weiblichen Tätern. Der Gipfel der Kriminalitätskurve wird jedoch erst zwischen dem 20. und 25. Lebensjahre erreicht. Die häufigsten Delikte sind zu etwa 50 % einfache und schwere Diebstähle, in weitem Abstand gefolgt von Sittlichkeitsvergehen, Betrug, Unterschlagung und Urkundenfälschung. Die Flucht der Jugendlichen in den Genuß von Rauschgiften hat in den letzten Jahren zugenommen, und zwar nach den polizeilich festgestellten Rauschgiftdelikten um mehr als 50 %. Die Beteiligung der Jugendlichen erhöhte sich im Verlaufe der letzten 5 Jahre von 0,3 % auf 6,2 %. Die beliebtesten Betäubungsmittel und Rauschgifte waren Opiate und Morphin, sodann auch Haschisch (Marihuana), LSD (Lysergsäure-Diäthylamid) und Heroin. Die zum Schutze der Jugendlichen vorgesehenen Maßnahmen und Möglichkeiten bieten der Bundesjugendplan (Richtlinien vom 16. 12. 1958) und das Gesetz für Jugendwohlfahrt (Jugendwohlfahrtsgesetz - JWG) in seiner Fassung vom 11. August 1961. Es sichert jedem deutschen Kind einen Anspruch auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit zu, und zwar als öffentliche Jugendhilfe unbeschadet der Mitarbeit freiwilliger Tätigkeit. Die Organe der öffentlichen Jugendhilfe sind die Jugendwohlfahrtsbehörden, nämlich die Jugendämter, die Landesjugendämter und die oberste Landesbehörde. Von den in den §§ 4 und 5 aufgestellten Aufgaben seien hervorgehoben: Erziehungsbeistand, Erziehungshilfe und Fürsorgeerziehung, Mitwirkung bei der Beaufsichtigung der Arbeit von Kindern und Jugendlichen, Mitwirkung bei der Unterbringung zur vorbeugenden Verwahrung und Freizeithilfen. Ein Anspruch der Kinder und Jugendlichen tritt nur ein, wenn die Eltern ihre Rechte und Pflichten nicht erfüllen.
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Sozialhygiene und prophylaktische Medizin in den Lebensepochen
Die in neuester Zeit wieder begrüßten und von den Jugendlichen erstrebten Frübehen sind nur dann als günstig anzusehen, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: Die wirtschaftliche Grundlage muß gesichert sein, die Ehe darf keine Mußehe sein, weil ein Kind erwartet oder schon da ist, und die Frau sollte nicht älter sein als der Mann. 6. E r w a c h s e n e - Leistungsalter Durch den Vorrang, den der Beruf beansprucht, ist das Erwachsenenalter gekennzeichnet. In unserer Bundesrepublik stieg der Anteil der Erwerbspersonen in der Gesamtbevölkerung von 4 9 , 5 % im Jahre 1933 auf 5 9 , 9 % im Jahre 1964. Aus dieser Entwicklung ist zu entnehmen, welche große, ja entscheidende Bedeutung die körperliche und seelische Gesundheit, das „Wohlbefinden" der Menschen als der Träger von Wirtschaft, Kultur und Gemeinschaft für den Staat hat. Daraus resultiert einerseits ein Anspruch auf Schutz der Gesundheit, andererseits eine Verpflichtung zu ihrer Erhaltung, die folgerichtig die Familie und eine Rücksicht auf die Mitmenschen umschließt und damit auch Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte zur Wahrung von Leben und körperlicher Unversehrtheit zuläßt. D i e Akzente der Gesundheits- und Sozialpolitik werden durch die jeweiligen Erfordernisse gesetzt und sind eine politik£ tichne (7toXiTutijT£xwi), d. h. nach Wortsinn und Gehalt eine Kunst der Staatsführung, zumal der Aufgabenkatalog zeitgebunden ist, sich nach Lebensführung, Kultur- bzw. Zivilisationslage und Wirtschaftskonjunktur richtet und eine prospektive Beurteilung voraussetzt. E s soll vermieden werden, daß zwischenmenschliche soziale Beziehungen zu Ursachen oder Quellen von Erkrankungen werden oder der Mensch seine Individualität einbüßt und „kleiner, weicher, runder, unendlicher S a n d " wird. Während früher die Gesundheit als persönliches Gut und als Verpflichtung für Familie und Sippe galt, so daß die eigene Verantwortung überwog, ist es heute dem einzelnen nicht immer möglich, die ihm aus der Umgebung drohenden Gefährdungen zu erkennen und noch weniger abzuwehren. Damit wird die Erhaltung und Pflege der Gesundheit des einzelnen immer mehr als Volksgesundheit zu einer sozialen und öffentlichen Aufgabe. Z u solchen Außengefahren gehören gegenwärtig insbesondere Störungen durch Lärm, Staub, Rauch und Strahlungen, durch Verschmutzung von Trink- und Brauchwasser, durch nicht einwandfreie Lebensmittel, durch Gifte, durch Arbeitsvorgänge, durch den zunehmenden Verkehr, durch Mangel an Schutz und Pflege in der Kindheit, in der Jugend und im Alter. Die im letzten Jahrzehnt aufgestellten nationalen und internationalen Sozialpläne enthalten als Rahmenbereiche: 1. Soziale Struktur und Kultur, 2. Besitz und Arbeit, 3. Familie und Gesellschaft. Der seit den ältesten Zeiten geltende Grundsatz: „ D e r größte Reichtum eines Landes ist sein V o l k " wurde in der Folge immer von neuem in eine gängige Münze umgeprägt. In der Gegenwart ist die Formel üblich: Gesundes Volk - gesunder Staat. Als äußere Manifestation äußert sich der Eigenschaft in: 1. einem verstärkten Z u g der Bewohner in die Landbezirke um die Städte und insbesondere um die Großstädte herum. Diese werden nur noch von etwa einem Drittel der Bevölkerung bewohnt, während sich, begünstigt durch den wachsenden Wohlstand und die Motorisierung, in der Umgebung Trabantenstädte und Eigenheimsiedlungen ausbreiten;
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Erwachsene - Leistungsalter
2. einem Wunsch und Bedarf nach vermehrter Freizeit; 3. einer Vermehrung der in unselbständiger Position Tätigen und einer Abnahme der Selbständigen. Diese Verringerung betrug in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten 15 Jahren von 1950 bis 1965 rund 5 %. Die Wünsche an die Lebenshaltung und ihre veränderten Tendenzen lassen sich in den Grundzügen an den dafür vorgesehenen Aufwendungen ablesen. In der Zeit von 1950 bis 1967 wurden in einem Haushalt von vier Personen ausgegeben: im Jahre für
1950
1958
1962
1967
Nahrungs- und Genußmittel
53
47
43
33
Wohnung, Heizung und Beleuchtung
15
14
15
18
+
Freizeit, Bildung
7
9
9
9
Körperpflege
4
4
5
8
+ +
%
%
%
%
Zunahme
+
Abnahme —
Die Erkenntnis des hygienischen Wertes einer gesunden Lebensführung hat zugenommen. Eine Überernährung ist nicht erwünscht, wobei dahingestellt bleibe, inwieweit die Mode mitwirkt. Größerer Wert wird auf die Wohnkultur gelegt, aber auch auf Freizeit, Bildung einschließlich der beruflichen Fortbildung und auf die Körperpflege mit Einschluß der Kleidung. In prognostischer Beurteilung richtet sich der Arbeitseinsatz nach den Erfahrungsgrundsätzen der Arbeitsphysiologie, also nach Anstrengung und Ermüdung, Reprise und Erholung, Arbeitsbedingungen und Übung, Arbeitszeit und psychischer Einstellung sowie nach Nutzeffekt einer angepaßten Ernährung in qualitativer und quantitativer Hinsicht. Im Leistungseffekt wird ein Optimum erstrebt, während ein Maximum an Forderungen mit Überlastungen zum Kräfteverschleiß und Raubbau, vorzeitiger Abnützung sowie zu dem lange Zeit befürchteten Arbeits- und Leistungsknick führt. Der Ablauf der täglichen Leistungskurve läßt Arbeitstypen nach Anlaufzeit, Arbeitstempo und Ermüdungsreaktion unterscheiden. Die Höchstleistung tritt bei den einen bald nach Arbeitsbeginn ein, andere erreichen sie erst nach einer Anlaufzeit, und bei den dritten stellt sie sich als Späteffekt ein. Für exakte Entscheidungen zur vorteilhaftesten Verwendung im beiderseitigen Sinne von Arbeitskraft und Leistungserfolg ist eine Differenzierung nach Persönlicbkeitstypen nicht zu entbehren. Dabei wird die strukturbiologische Beurteilung zu den Anforderungen am Arbeitsplatz und seinen Gefahren sowie zur näheren und weiteren Peristase in Rechnung gesetzt. Nach der psychosomatischen Zusammengehörigkeit von Konstitution, Temperament und Charakter reicht es im allgemeinen aus, von zwei Formen der Kräftepotentiale auszugehen, einem kraftvoll beginnenden und im Decrescendo abfließenden sowie einem allmählich anfangenden und im Crescendo ansteigenden, deren Prototypen die eurysomen, extro vertierten Zyklothymen und die leptosomen, introvertierten Schizothymen sind. Zwischen diesen beiden extremen Formen
3
G e r f e l d t , Lehrbuch der Sozialhygiene
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Sozialhygiene und prophylaktische Medizin
liegen alle nur denkbaren Varianten nach den Anforderungen für manuelle und geistige Berufe, die sich nach Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, Willen und Verhalten, Vitalität und persönlichem Tempo sowie auch nach der Sozialanlage unterscheiden. Aus Arbeitsversuchen in experimenteller Anordnung ging hervor, daß ein günstig gestellter und ausgestatteter Arbeitsplatz sogar für weniger qualifizierte Typen vorteilhaftere Chancen bot als beste Befähigung bei ungünstiger Plazierung. Dies ist beim Tätigkeitseinsatz nicht minder zu beachten als die angemessene Auswahl nach dem psychosomatischen Leistungsprinzip. Andernfalls muß man damit rechnen, daß zwischen Bevorzugten und Zurückgesetzten eine Spannung im Betriebsklima auftritt und sich ein Gegensatz zwischen Innenseitern und Außenseitern ausbildet. Unter Beachtung der beiden Komponenten von Leistungstyp und angemessenem Tätigkeitsbereich gelingt es, zuverlässige Profiltypen für die meisten Berufseinsätze zu entwickeln. Dies ist gegenwärtig in unserer gründlich veränderten Sozial- und Wirtschaftsstruktur bedeutungsvoll. In der Nachkriegszeit haben sich zwei Ansatzmomente gewandelt: Der Lebensstandard hat sich erhöht, und die Lebenserwartung ist gestiegen. Gleichzeitig sank die Gefährdung durch Infektionskrankheiten, verringerte sich die Säuglingssterblichkeit und vergrößerte sich die Differenz zwischen Kalenderalter und biologischem Alter, so daß die absolute und relative Zahl der älteren Menschen zunahm. Für die Beurteilung der Berufe nach ihrer optimalen (nicht maximalen) Leistung, ihrer Gefährdung sowie ihrer Kurz- oder Langlebigkeit müssen daher exakte Grundsätze angewendet werden. Die besonderen, spezifisch durch den Arbeitsgang selbst bedingten Unterschiede, die sich bei einigen Untergruppen zeigen, beruhen auf zwei Faktoren: einer überdurchschnittlichen beruflichen Belastung und einer erhöhten Unfallgefährdung. Daraus ergeben sich zwei Hinweise für die prophylaktischen Maßnahmen, nämlich ein verstärkter Unfallschutz und eine Verzögerung des Alterungsprozesses. Dem besseren Unfallschutz dienen alle Vorbereitungen der vorgeschriebenen Art zur Auslese der geeigneten Leistungstypen und zur Ausgestaltung des Arbeitsbereiches. Die Unfälle können weitgehend ausgeschaltet werden durch 1. eine Änderung des persönlichen Verhaltens, also durch Erziehung zur Vor- und Umsicht, sowie durch Übung der Reaktionszuverlässigkeit, 2. Vermeidung von Überlastung und Übermüdung, 3. Ausschaltung aus Gefahrenbereichen, mindestens nach Rückfällen, und 4. automatisch wirkende Sicherungen. Die Arbeitsökonomie, die durch den natürlichen, persönlichen Rhythmus, die Arbeitsfreude und die Kameradschaft in der Gruppe (im Team) gewährleistet ist, wird gefördert durch die sozialen Faktoren von Selbständigkeit, Anerkennung und Ehre. Danach ergeben sich als Aufgaben der sozialen Hygiene und Fürsorge: 1. der gesundheitliche Schutz, 2. der geistig-sittliche Schutz, 3. der wirtschaftliche Schutz und 4. der gesellschaftliche Schutz. In allgemeiner Charakterisierung der Erkrankungsfrequenz in den einzelnen Lebensaltern stehen in den jüngeren und mittleren Jahren bis zum 45. Lebensjahr an der Spitze der Häufigkeitsskala die Erkrankungen der Atmungsorgane, im
Erwachsene - Leistungsalter
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Alter von 45 bis 55 Jahren die Erkrankungen der Zähne und bei den älteren Jahrgängen die Herzstörungen. Auch die weitere Frequenzfolge kennzeichnet die unterschiedliche Erkrankungsgefährdung und die Anfälligkeit gegen verschiedene Noxen oder Belastungen. Im Jugendalter bis zu 25 Jahren bereiten nächst den Erkältungen, Mandelentzündungen, Luftröhrenkatarrhen und Lungenentzündungen vor allem die Erkrankungen der Zähne zunehmende Sorge. Die Unfälle und Hautleiden machen sich bemerkbar, und zwar bei den Männern mehr als bei den Frauen. Es ist verständlich, daß die Geschlechtskrankheiten im Alter von 25 bis 35 Jahren, und zwar im frühen Abschnitt dieser Epoche, noch zunehmen, bei den Frauen mehr als bei den Männern. Zu den häufigsten und an erster Stelle stehenden Erkrankungen des Alters über 25-35 Jahre gehören die Erkrankungen der Atmungsorgane und der Zähne. Diese machen nunmehr und auch noch in den nächsten zehn Jahren (von 35—45 Jahren) bei den Männern mehr Beschwerden als bei Frauen. Es ist betrüblich, feststellen zu müssen, daß um das 40. Lebensjahr bei einer großen Zahl von Männern in den Fabrikbetrieben die Zähne so vernachlässigt werden, daß Verdauungsstörungen sehr häufig sind. Dabei sind nicht die Berufe besonders betroffen, die durch die Art ihrer Arbeit, wie etwa Bäcker, Zuckerbäcker und Müller, einer Karies der Zähne in erhöhtem Maß ausgesetzt sind. Bei den Männern überwiegen Hautleiden und Unfälle, bei den Frauen die Stoffwechselstörungen. Die übertragbaren Krankheiten sind auch in diesem dritten Lebensabschnitt nicht häufig. Im vierten Lebensabschnitt von über 35 bis 45 Jahre melden sich nach den Erkrankungen der Atmungsorgane und der Zähne mahnend die Erkrankungen des Herzens und des Kreislaufs. Nächst diesen stellen sich Verdauungsstörungen sowie Erkrankungen an den Knochen, Gelenken und Muskeln ein, so daß die Bewegungen schmerzhaft werden und erschwert sind. Die übertragbaren Krankheiten haben ihre frühere Bedeutung verloren. Die Charakterisierung der Krankheitsanfälligkeit, die sich in diesem Lebensabschnitt anbahnte, setzt sich im fünften Lebensabschnitt von über 45 bis 55 Jahre fort. Dazu treten jetzt die mit dem zunehmenden Alter sich einstellenden Sehstörungen durch Schwachsichtigkeit, Hornhauttrübungen und grauen Star. Dem sechsten Lebensabschnitt von über 55 bis 65 Jahre machen Herz und Bewegungsapparat zunehmende Beschwerden. Die Sehstörungen nehmen zu, die Zähne bedürfen noch des Ersatzes und der Stoffwechsel hat sich eingespielt. Etwa zwei Drittel aller Krankheiten klingen beim Durchschnitt der Bevölkerung im Verlaufe eines Monats ab und nur 10% brauchen ein Jahr und mehr. Im allgemeinen ist die Restitutionsfähigkeit und Genesungsbereitschaft bei den Frauen ein wenig schwächer als bei den Männern, bei denen der Zwang zum Arbeiten und zum Verdienen ausgeprägter zu sein pflegt. Bis zum 25. Lebensjahr überwiegen mit mehr als 70% die kurzdauernden Krankheiten, während die 12 und mehr Monate anhaltenden nur 5 % ausmachen. Nach dem 25. Lebensjahre verschiebt sich die Krankheitsdauer zu den länger währenden, so daß die 12 und mehr Monate beanspruchenden auf 7 bis 10% ansteigen. Vom 55. Lebensjahre an vermehrt sich ihr Anteil auf 12 bis 13%, während die kurzdauernden (von 4 Wochen) sich auf 62 % vermindern. Demnach verringert sich erwartungsgemäß die Restitutionsfähigkeit mit zunehmendem Alter. Die Abwehrbereitschaft ist bei den Frauen im allgemeinen geringer als bei den Männern.
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Sozialhygiene und prophylaktische Medizin
Die Erkrankungen mit einer mittleren Dauer (von 2 bis zu 12 Monaten) sind in allen Lebensaltern mit durchschnittlich 23 bis 27 % ziemlich gleichmäßig vertreten. Nur die extreme Zeitdauer von 4 Wochen und von 12 und mehr Monaten schwankt nach dem Lebensalter in weiten Grenzen, und zwar von 5 % im Alter bis zu 25 Jahren bis zu 10 und 13 % im Alter von 45 Jahren und höher. Unter der Gesamtheit der Todesursachen betragen im Durchschnitt des letzten Jahrzehnts die natürlichen Todesursachen 93 % und die unnatürlichen 7 %. Setzt man diese gleich 100, dann entfallen darauf: 24% Selbstmorde, 36% Kraftwagen- und Straßenverkehrsunfälle und 40% sonstige Unfälle mit Einschluß der Betriebsunfälle; deren Zahl ist sonach relativ klein. Die größte Sterblichkeit verursachen mit 43% die Herz-Kreislauferkrankungen und mit 19% die bösartigen Neubildungen, so daß alle anderen natürlichen Todesursachen zusammen 31 % ausmachen. Bei allen unnatürlichen Todesursachen sind die Männer mit 62 % stärker vertreten als die Frauen mit 38 %; dagegen überwiegen mit 3 % die Frauen über die Männer bei den natürlichen Todesursachen. Mit den Aufgaben der allgemeinen Hygiene und Gesundheitspflege, der Arbeitshygiene und Arbeitsmedizin sowie der Gewerbehygiene berühren sich die Fürsorge für vorbeugende Heilverfahren, die Absicherung gegen ein übersteigertes Arbeitstempo, die Berufskrankheiten, die Verhütung von Neurosen und Syndromen einer sozialen Unsicherheit aus Sorge um den Arbeitsplatz, von Aufbrauchserscheinungen sowie der Anwohnerschutz im Rahmen der Wohnungs- und Ortschaftshygiene. Soweit nicht Ansprüche an Versicherungsträger bestehen, sind nach den §§ 36 und 37 des Bundessozialhilfegesetzes vom 30. Juni 1961 zu gewähren vorbeugende Gesundheitshilfe und Krankenhilfe. Die vorbeugende Gesundheitshilfe erstreckt sich auf drohende Erkrankungen oder Gesundheitsschäden und umfaßt Vorsorgeuntersuchungen zu ihrer Früherkennung sowie die nach ärztlichem Gutachten erforderlichen Maßnahmen der Erholung, besonders für Kinder, Jugendliche und alte Menschen sowie für Mütter in geeigneten Müttergenesungsheimen. Die Krankenhilfe ist in freier Arztwahl gesichert und umfaßt ärztliche und zahnärztliche Behandlung, Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln, Zahnersatz, Krankenhausbehandlung sowie sonstige zur Genesung, Besserung oder Linderung der Krankheitsfolgen erforderliche Leistungen. 7. Alternde und Betagte In allen zivilisierten und hygienisch fortgeschrittenen Ländern hat sich im Laufe der letzten 80 Jahre die Lebenserwartung verdoppelt, so daß ein immer größer werdender Anteil der Bevölkerung ein Alter von 65 und mehr Jahren erreicht. Im Deutschen Reich waren es im Jahre 1910 noch 5 %,in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1961 (nach der Volkszählung) schon 11 %, und die Vorausschätzung für das Jahr 1972 erreicht einen Betrag von 14 bis 15 %. Diese Entwicklung führt zu einer Verschiebung des Verhältnisses von verdienender, berufstätiger Bevölkerung zu den noch nicht und nicht mehr arbeitenden Altersjahrgängen: Die „Erwerbsquote" verringert sich, die sozialen Aufwendungen steigen. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß gleichzeitig mit der verlängerten Lebensdauer anteilig auch der Gesundheitszustand und die Leistungsbereitschaft der „Alternden" günstiger werden.
Alternde und Betagte
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Mit dieser Umschichtung in der Bevölkerungsstruktur stellte sich ein Problem^uwachs auf dem Gebiete der Fürsorge ein, dessen wissenschaftliche Grundlage die Gerontologie wurde. Die Vorschläge zur Überleitung der Fürsorge und Wohlfahrtspflege in eine „Sozialhilfe" wollen den Rechtsanspruch des einzelnen auf Hilfe durch die Gemeinschaft schon in der Begriffsfassung ausdrücken und das Risiko des wirtschaftlichen Fortschritts „durch immer mehr verbürgte Sicherheiten" auffangen. In den „Katalog der Hilfen" ist auch die „Altenhilfe" eingesetzt, die zusätzlich durch vorbeugende Gesundheitshilfe, Krankenhilfe, Hilfe zur Pflege, Hilfe zur Familien- und Hauspflege, Eingliederungshilfe für Behinderte und Hilfe zur Sicherung der Lebensgrundlage ergänzt werden kann. Biologisch-medizinische Aspekte: Für das „Altern" und die „Alterung" läßt sich keine Generalformel prägen. Die Spannweite des Begriffs ist sehr groß und reicht von einer frühen Vergreisung bis zum Spätblüher. Jeder einzelne erlebt und lebt sein Altern individuell verschieden je nach seinen Erbanlagen und der ihm mitgegebenen Konstitution. Einzelne Organsysteme beginnen früher zu versagen, während die geistigen Funktionen erhalten bleiben. Das Altern zeigt somit eine „Heterochronie" und eine „Heterotopie". Die ersten Anzeichen pflegen sich schon um das 30. Lebensjahr bemerkbar zu machen, und zwar an den Sinnesorganen und den sportlichen Spitzenleistungen. Die Umstellung vollzieht sich ja nicht bloß „an" der Persönlichkeit, vielmehr setzt sich das Individuum mehr oder minder aktiv mit den Veränderungen seiner Gesamtsituation auseinander, d. h. als Glied einer Gemeinschaft oder Gesellschaft steht die Persönlichkeit im Wechselspiel zwischen Ich, Umwelt und Umgebung und sucht die Widerstände zu überwinden oder strebt nach einem Kompromiß oder muß resignieren. In einem solchen Lebensraum erweisen sich als „altersempfindliche Regionen" die Leistungsfähigkeit, die soziale Position und die Gesundheit. Im einzelnen sind daraus hervorzuheben: 1. Der Bereich der Interessengebiete schrumpft, wenn im Alter Beruf und Arbeit fortfallen. 2. Mit dem plötzlichen und oft drastischen Ausscheiden aus dem Beruf verändert sich auch die soziale Teilhaberschaft und damit die Lebensrolle. 3. Der sozio-ökonomische bzw. wirtschaftliche Status wirkt sich aus: a) in der gesellschaftlichen Hierarchie (Familie, Beruf, Gesellschaft) und b) in der persönlichen und finanziellen Bewegungsfreiheit. 4. Ein Kontaktverlust in der Sphäre der mitmenschlichen Beziehungen lockert das Gemeinschaftsbewußtsein. Für den Erfolg einer Prophylaxe, Sozialhilfe und Rehabilitation und seine Prognose sind somit von vornherein zu veranschlagen: 1. die in der angelegten Entwicklungstendenz der Persönlichkeit gegebenen Ansatzpunkte; 2. die Aktivität der Persönlichkeit; 3. die Weite des Spektrums von Interessengebieten; 4. die körperliche und geistige Gesundheit sowie der Wille zur Gesundheit; 5. die Erbkomponenten und die Familientradition. Die Lebenszäsur durch plötzliche Untätigkeit: Das Invalidisierungs- und Pensionierungsalter liegt in den für uns vergleichbaren Ländern um das 65. Lebensjahr. Nach demoskopischen Erhebungen, die bei uns und in mehreren Ländern innerhalb und
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Sozialhygiene und prophylaktische Medizin
außerhalb Europas durchgeführt wurden, lassen sich nach ihren Wünschen für den Beginn der „Zurruhesetzung" drei Gruppen unterscheiden; nämlich die erste, die vor dem 60. Lebensjahr abtreten will und im Mittel etwa 35 % der Probanden umfaßt, eine zweite mit 25 %, die das 60. bis 65. Lebensjahr als die richtige Zeit zum Ausscheiden ansieht, und eine dritte, die mit etwa 40 % zu beziffern ist, will über das 65. Lebensjahr hinaus tätig sein. Die einzelnen Gruppenteile schwanken nach der guten oder bescheidenen Wirtschaftslage mit ihren Verdienstaussichten in nur mäßigen Grenzen zwischen ± 16 %. Die aktiven und noch temperamentvollen Alten begnügen sich nicht mit einem Hobby, das ihnen als Spielerei und verlorene Zeit vorkommt, sondern brauchen einen Job, der ihren körperlichen und geistigen Anlagen entspricht und drei Kriterien erfüllen soll: Er muß ein sichtbares Produkt hervorbringen, die Leistung muß befriedigen, und die Aufgabe muß eine Verantwortung auferlegen. Frühzeitig wird der Übergang zum Ruhestand vorbereitet und eine angemessene Tätigkeit eingerichtet. Dabei kann die „Geragogik", die das Gegenstück zur Pädagogik ist, helfen, indem sie sich mit den „Reorientierungsprozessen" bei Veränderungen in wirtschaftlicher, beruflicher und persönlicher Hinsicht beschäftigt. Die Veränderungen von Wohnung und Familie: Verluste von Angehörigen und Freunden lassen die Alternden einsam werden. Nach einem Orts- und Wohnungswechsel fällt es ihnen schwer, einen passenden Kontakt zu finden. Über ein Fünftel von ihnen (nämlich 22 %) wohnt ganz allein und ein weiteres Drittel (33 %) zusammen mit dem Ehepartner, so daß über die Hälfte (55 %) ganz auf sich angewiesen ist. Der verbleibende Anteil (von 45 %) hat bei anderen Angehörigen und bei Freunden Unterkunft gefunden. Meist wünschen die Alternden eine eigene Wohnung, in der sie unbehindert schalten und walten können. Da sie jedoch nur selten der Haushaltsführung gewachsen sind, erstreben insbesondere die Männer eine Entlastung, die heute wegen des allgemeinen Mangels an Arbeitskräften und der geringen Neigung zu häuslichen Verrichtungen nicht leicht zu beschaffen ist. Es ist darum sehr zu begrüßen, daß einzelne Gemeindeverbände bestrebt sind, Haushilfen für Alternde und Raumpflegerinnen mit Kochkenntnissen anzuleiten, um gleichzeitig die Gemeindepflegestationen zu entlasten. Für kleine Besorgungen und Handreichungen haben sich bei uns und vor allem in den angelsächsischen Ländern die sog. Jugendbetreuungsgruppen bereits bewährt. Solche Regelungen verlangen eine gewisse Mühe. Es ist daher begreiflich, daß ein bedeutender Teil der Rat- und Hilflosen in Familienpflege oder in ein Heim zu flüchten sucht. Trotz mancher Nachteile können die Altersheime noch nicht entbehrt werden. Sie reichen heute nur aus, um 2 % der Unterkunftsuchenden aufzunehmen, während die Nachfrage nach der Zahl der Aufnahmeanträge mit 4,5 bis 5 % mehr als doppelt so groß ist. Eine zeitgemäße und soziale Lösung sieht darum neuerdings bei uns und im Ausland vor, den Familiencharakter einer eigenen, kleinen, bequemen Wohnung zu betonen und jede Abgeschiedenheit zu vermeiden. Aus den Altenheimen werden in zunehmender Zahl Alten Wohnungen, die je nach Bedürfnis als Altenwohnheime, Altenheime und Altenpflegeheime geführt werden, sich aber auch als sog. Dreistufenheime zusammenlegen lassen. Das vielgenannte Gefühl der Vereinsamung ist heute nur relativ zu verstehen. Der ältere Mensch ist mit sich und den aus der Vergangenheit geschöpften Anregungen für Planungen viel beschäftigt, möchte gern mit sich allein sein, sooft er es will, und
Alternde und Betagte
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ist ungehalten, wenn man seine Kreise im ungeeigneten Augenblick zu stören versucht. Eine Gesellschaft wünscht er in der Regel nur zu einer ihm genehmen Zeit, aber nicht unerbeten und auch nicht zu lange. Der noch geistig und körperlich Rüstige liebt es, sie aus eigenem Antriebe aufzusuchen; er will aber nicht, daß sie ihm aufgedrängt wird. So finden sich spontan die „Altenklubs" zusammen, deren ungeschriebenes oder geschriebenes Statut den Kreis ihrer Aktiven an ein Mindestalter knüpft. Die geselligen Veranstaltungen von Altenwohnheimen bieten auch außerhalb Wohnenden im „Prinzip der offenen Tür" manche Gelegenheit, daran zwanglos teilzunehmen, doch werden die Altenklubs immer beliebter. In ihnen wird der Gedankenaustausch und Zusammenhalt gepflegt, werden Vorträge und Musikaufführungen aus den eigenen Reihen oder durch Gäste veranstaltet und angepaßte Wanderungen angesetzt. Es ist erfreulich, zu sehen, daß solche Pläne durch private, karitative und öffentliche Mittel gefördert werden. Ein schließlich erstelltes Alten-Klubhaus wird zum Zentrum unaufdringlicher Betreuung im Stile der „Selbstbetreuung". Wenn die Alternden in ihrem Klub erst einmal warm geworden sind, entfalten sie eine erstaunliche Aktivität und sorgen selbst für die Ausgestaltung der Klubstunden. Gesundheitspflege und Ernährung: In der Gesellschaft von Jugendlichen und etwa Gleichaltrigen lernt der Alternde die ihm zuträgliche Tagesregelung, den Wechsel von Betätigung und Ruhe sowie eine gesundheitsgemäße Lebensweise. Seine Gesundheit entscheidet über die Selbsteinschätzung, den Kontakt und die geistige Beweglichkeit. Die erste Regel gilt einer Bekämpfung der Neigung zum Stillsitzen. Eine dem Kräftezustand angemessene Bewegung in frischer Luft ist an jedem Tag nötig, soweit die Witterung sie zuläßt. Die zweite, ihr parallele Forderung bezieht sich auf die geistige Beweglichkeit. Für sich selbst soll der Alternde mit einem Minimum an Zeit auskommen, dafür aber mehr für unpersönliche Belange aufwenden, für andere oder für das Gemeinwohl. Bei geregeltem Tagesablauf werden die Alten nicht über Schlaflosigkeit zu klagen haben. Nach vielseitigen Erfahrungen brauchen auch sie einen Schlaf von 8 Stunden Dauer. Wenn behauptet wird, sie kämen mit 4 Stunden aus, so liegt dies daran, daß sie tagsüber schlafen und für die Nachtzeit keine körperliche und geistige Ermüdung übrigbleibt. Für die Ernährung der Alternden und Alten sind viele Vorschläge gemacht worden, die im Grunde übereinstimmen. Das einfachste und zuverlässigste Kriterium ist ein natürlicher, unverdorbener Geschmackssinn. Er leitet am besten an, die nötige und zuträgliche Nahrung zu wählen, wie es die Bezeichnung „Appetit" ausdrückt. Ohne Not oder zwingenden Grund soll die gewohnte, liebgewordene und bekömmliche Ernährungsweise nicht verändert werden. Da große Nahrungsmengen nicht bewältigt und schlecht vertragen werden, pflegen die Alternden instinktiv ihre Mahlzeiten entsprechend ihrem Appetit und Hungergefühl auf den Tag zu verteilen. Auch kleine Genußmittel tragen zur Lebensfreude bei, wie etwas Wein, ein Glas Bier oder ein Schnaps, eine Zigarre und manche Gewürze in Auswahl. Als Mittelwerte für das Kostmaß haben sich bewährt: reichlich Eiweiß in verdaulicher Form und in Mengen von 1,5 bis 2,0 g täglich je kg Körpergewicht, davon die Hälfte als tierisches Eiweiß, Sparsamkeit mit Fetten und Ölen aller Art, deren Tagesmenge durchschnittlich 20 bis 40 g betragen, jedoch nicht über maximal 45 bis 60 g erhöht werden sollte, und schließlich Beschränkung der Kohlehydrate auf täglich 50 bis 90 g, weil sie als Energiespender nicht mehr so sehr gebraucht werden und der Überschuß alsdann als Fett deponiert wird; der Altersdiabetes ist nicht bloß ein Regulationsdiabetes, sondern auch ein Überangebotsdiabetes.
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Sozialhygiene und prophylaktisdie Medizin
Die Altenhilfe will nach § 75 des Bundessozialhilfegesetzes vom 30. Juni 1961 vor allem Schwierigkeiten, die durch das Alter entstehen, überwinden und eine Vereinsamung im Alter verhüten. Sie sieht dafür vor: die Hilfe zu einer Tätigkeit, wenn sie erstrebt wird und dienlich ist, eine Hilfe bei der Wohnungsbeschaffung, eine Hilfe zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen, die der Geselligkeit, Unterhaltung oder kulturellen Bedürfnissen dienen, sowie die Förderung der Verbindung mit nahestehenden Personen. Diese Altenhilfe kann ohne Rücksicht auf vorhandenes Einkommen oder Vermögen gewährt werden, soweit eine persönliche Hilfe erforderlich ist. Dazu gehören auch nach den §§ 51,68 fg. und 70 bis 71 die Hilfe zum Lebensunterhalt, zur Pflege und zur Weiterführung des Haushalts. In letzter Zeit wurde auch damit begonnen, eine Lieferung von fertigen Mahlzeiten ins Haus durch Gemeinschaftsküchen durchzuführen.
IV. Volkskrankheiten
A. Trend der Infektionskrankheiten Der moderne Reise- und Flugverkehr verbindet die entferntesten Länder der Erde innerhalb weniger Stunden und erhöht damit die wechselseitige Übertragung von ansteckenden Krankheiten. Infolgedessen wurden internationale Vereinbarungen zu ihrer Verhütung und Bekämpfung getroffen, die sich auf Menschen, Tiere, Güter und Transportmittel erstrecken. Deutschland hat sich diesen Anforderungen angeschlossen. Damit soll der notwendige Schutz auch beim Auftreten bisher unbekannter oder im allgemeinen weniger beachteter Krankheiten, die auf den Menschen unmittelbar oder mittelbar übertragen werden können, sichergestellt werden. Wir haben zwar gelernt, die althergebrachten, uns geläufigen Infektionen zu überwachen und zu beherrschen, müssen jedoch noch die neuerlichen Gefährdungen und ihre Erreger besser kennenlernen. Die Differenzierung nach Altbestand und Neuformen läßt erkennen, daß auch die Prognose eine andere Wertung erhält: Die Prototypen haben bei relativ hoher Erkrankungsziffer eine geringe Sterbeziffer und kleine Letalität, die Deuterotypen aber bieten bei relativ kleiner Erkrankungsund Sterbeziffer eine hohe Letalität. Die Unterscheidung stützt sich auf internationale Erfahrungen. Nach ihnen gehören zu den Altformen die Erkrankungen durch Schizomyzeten (Sch) und zu den Neuformen der Deuterotypen die Viren, Bruzellazeen, Spirochaetales und Protozoen, diese besonders als Toxoplasmose (VBrSpP). Aus der Reihe der Deuterotypen sind neun hervorzuheben. Nach der bei uns beobachteten Frequenz sind dies: Hepatitis infectiosa, Poliomyelitis, Tollwut, Ornithosen, Bruzellosen, Encephalitis epidemica, Leptospirosen, Toxoplasmosen und Pocken. Für die sozialhygienische Fürsorge und Prophylaxe beanspruchen die Poliomyelitis und die Encephalitis epidemica wegen der nachfolgenden Störungen besondere Aufmerksamkeit. Sie gehören nach dem Abklingen des infektiösen Stadiums in den Abschnitt „Körperliche Behinderungen". Die Hepatitis infectiosa hat ihre Bedeutung für die Krankenhausfürsorge ebenso wie die Anthropozoonosen (bzw. Zooanthroponosen), und zwar wegen der zu treffenden Vorsorgemaßnahmen. Ein Vergleich mit den Tuberkulose-Erkrankungen aller Formen läßt die Wertigkeit der Gefährdungen durch die drei Deuterotypen Hepatitis infectiosa, Poliomyelitis und Encephalitis epidemica erkennen. Nach Erkrankungsziffern, Sterbeziffern und Letalität steht die Tuberkulose unter ihnen an erster Stelle. In den letzten 15 Jahren ist festzustellen:
42
Trend der Infektionskrankheiten für die
bei
Erkrankungsziffern je 10 000 Einwohner
Tuberkulose aller Formen
eine Abnahme von 26 auf 9,4
Hepatitis infectiosa
eine Zunahme von 2,58 auf 2,93
Poliomyelitis
eine Abnahme von 0,93 auf 0,01
Encephalitis epidemica
eine Zunahme von 0,25 auf 0,63
Sterbeziffer je 100000 Einwohner
Letalität je 100 Erkrankungen
eine Abnahme von 93 auf 13
ein Rückgang von 17 auf 13
eine Abnahme von 0,81 auf 0,05
ein Anstieg von 13,3 auf 50,0
Die Tuberkulose nimmt ab (um 35 % bzw. 14 %), Hepatitis und Encephalitis nehmen zu und die Poliomyelitis neigt zu einem periodischen Wechsel. Die Altformen sind in den letzten Jahren zu 88 % , die Neuformen oder Deuterotypen zu 1 2 % erwiesen worden. Das Hauptkontingent unter diesen nehmen die Viruserkrankungen mit 96,5 % ein; der Anteil der Bruzellosen beträgt 2,0 % , der Spirochaetales 1,0 % und der Protozoen 0,5 % . Die Änderung des Bundes-Seuchengesetzes vom 23. Januar 1963 bietet die Möglichkeit, erforderliche Schutzmaßnahmen zu erweitern, indem sie im Abschnitt VI befristet vorsieht, daß die Meldepflicht auch auf andere, im Gesetz noch nicht genannte übertragbare Krankheiten ausgedehnt wird, wenn sie in epidemischer Form auftreten oder nicht nur vereinzelt einen bösartigen Verlauf aufweisen. 1. Tuberkulose Der säkulare Ablauf der Tuberkulose-Sterblichkeit (auf je 100 000 Einwohner) zeigt für alle Formen seit 1877 in Preußen, im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik Deutschland eine kontinuierliche Verringerung, deren gleichmäßige Kurve nur an zwei Stellen durch auffallende Anstiege unterbrochen wird, nämlich durch die Notjahre der Weltkriege und ihre Nachwirkungen von 1914/18 sowie 1939/45. Als diese überwunden waren, setzte sich die Absenkung in gleichsinniger Tendenz so fort, als wäre kein Rückstau erfolgt. Da sich die Kurve mit einer Sterbeziffer von 13 der Null-Linie nähert, begann man schon von der Tuberkulose als einer „sterbenden Krankheit" zu sprechen. Dieser Optimismus ist jedoch verfrüht, wie die Rückschläge durch die Kriegsnöte bei uns und in anderen Ländern mahnen. Auch in solchen mit einer günstigeren Tuberkulosesituation als bei uns, etwa in den skandinavischen Ländern, den Niederlanden, den USA und Kanada, traten wellenförmige epidemiologische Aufbrüche ein, vor allem durch langlebig gewordene Dauerausscheider. In anderen Ländern mit erheblicher Verbreitung der Tuberkulose, wie in Lateinamerika, Afrika und großen Gebieten Asiens, gewinnt sie noch seuchenartigen Charakter. Auch in manchen europäischen Ländern ist die Sterblichkeit erheblich größer als bei uns, so in Italien, Belgien und Frankreich. Durch die bei uns angeworbenen und einströmenden Fremdarbeiter entstehen für uns zusätzlich zu den internen Gefährdungen weitere Bedrohungen, denen das Bundes-
Tuberkulose
43
sozialhilfegesetz vom 30. Juni 1961 mit den Bestimmungen des § 120 über Sozialhilfe für Ausländer und Staatenlose zu begegnen bemüht ist. Wenngleich der Ablauf der Sterbeziffern Rückschlüsse auf die Morbiditätslage zuläßt, sind diese doch wegen der vorhandenen und verständlichen Erhebungsmängel, vor allem für die Bestandszahlen der Tuberkulose-Erkrankungen, nur begrenzt verwendbar, obwohl nach dem Bundesseuchengesetz vom 18. Juli 1961 in der Fassung vom 23. Januar 1963 jede Erkrankung, jeder Verdachtsfall und jeder Tod an Tuberkulose der Atmungsorgane (als aktive Form), der Haut und der übrigen Organe meldepflichtig ist. Die Datenlücken entstehen aus a) der Deutung von Aktivität und Ansteckungsfähigkeit, b) der Freiwilligkeit beim Besuch der Beratungsstellen und c) einer Scheu von Kranken und ihren Familien vor beruflichen oder wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Diese Gründe verlieren von Jahr zu Jahr an Einfluß. Dies darf geschlossen werden, weil die Erkrankungsziffer, bezogen auf alle Formen der Tuberkulose und auf je 10 000 Einwohner, in den letzten 14 Jahren um fast 35 % abgenommen hat. Die Krankendichte streut jedoch in den strukturell und wirtschaftlich verschiedenen Landesgebieten in beachtlichem Maße. Im epidemiologischen Gesamtbild steht die Tuberkulose (aller Formen) immer noch an erster Stelle der Infektionskrankheiten. Alle diese zusammen ergeben gegenwärtig eine Erkrankungsziffer (auf je 10 000 Einwohner) von4,0, die TuberkuloseErkrankungen jedoch von 9,4, nämlich von 8,0 für die Tuberkulose der Atmungsorgane und von 1,4 für die Tuberkulose anderer Organe einschließlich der Haut. Erwartungsgemäß sind auch die Todesopfer höher. Die Sterbeziffer (je 10 000 Einwohner) betrug in der gleichen Zeit für alle Tuberkuloseformen 1,21, für die Gesamtheit der anderen übertragbaren Krankheiten aber nur 0,31. Mit diesen Einschränkungen geben die Feststellungen der Tuberkulose-Fürsorgestellen unter Berücksichtigung der amtlichen Meldungen über die Infektionskrankheiten einen brauchbaren Überblick, nach dem sich die Vor- und Fürsorgemaßnahmen einstellen können. In ihm werden unterschieden: I. Fürsorgefälle, d. h. an aktiver Tuberkulose Erkrankte, und zwar a) ansteckende Tuberkulose der Atmungsorgane mit Bazillennachweis, b) ansteckende Tuberkulose der Atmungsorgane ohne Bazillennachweis, c) nicht ansteckende Tuberkulose der Atmungsorgane, d) Tuberkulose anderer Organe; II. Überwachungsfälle an Personen, die noch eine bestimmte Zeit überwacht werden als a) klinisch geheilte Tuberkulose der Atmungsorgane, b) klinisch geheilte Tuberkulose anderer Organe, c) exponierte oder exponiert gewesene Personen und d) unentschiedene Diagnosen; III. Beobachtungsfälle, das sind Personen mit Erkrankungen der Atmungsorgane, die beobachtet werden, bis die Diagnose gesichert ist und es feststeht, daß keine Tuberkulose vorliegt und der Prüfling als gesund befunden wird. Dabei erfolgt in der Regel kaum eine Aufgliederung nach den Erregerarten der Tuberkulose. Aus regionalen Untersuchungen und aus den Befunden bei den Tuberkulose-Tilgungsverfahren in den Tierbeständen geht hervor, daß etwa 18 % aller Tuberkulose-Erkrankungen beim Menschen durch den Genuß von Milch infizierter Rinder hervorgerufen wurden. Inzwischen sind die Tilgungsverfahren
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Trend der Infektionskrankheiten
soweit abgeschlossen, daß Gefahren wohl kaum noch zu befürchten sind. In den Tierbeständen wurden gefunden: bei Rindern 1,65 % bovine und 0,06% humane Infektionen, diese also als Rückinfektionen von tuberkulosekranken Menschen; aviäre Infekte mit dem Typus gallinaceus seu avium bei 1,28 % der Tierbestände, die sich leichter erkennen ließen. Dieser Hinweis erscheint notwendig, weil die Exposition in den Familien auch zu Infekten durch Haustiere führen kann, wie durch Hunde, Katzen und andere Tiere sowie durch Vögel (Kanarienvögel, Papageien, Sittiche u. a.), und zwar nach übereinstimmenden Beobachtungen in 1 bis 3%. Für die Gegenwart läßt sich danach ein Zustandsbild aufstellen: Der Bestand an Fürsorgefällen mit aktiver Tuberkulose aller Formen ist mit 42 bis 46 auf je 10 000 Einwohner zu veranschlagen; dies sind für das Bundesgebiet rund 257 000 und für das Land Nordrhein-Westfalen fast 70 000 Kranke mit aktiver Tuberkulose. Im Laufe der letzten Jahre hat sich die Quote bei den Erkrankungen um gut 50 %, die der Todesfälle um 77 % verringert. Der Anteil der ansteckungsfähigen Erkrankungen an den AtmungsOrganen hielt sich um 10 bis 11 je 10 000 Einwohner. Der jährliche Zugang an Neuerkrankungen verringerte sich im gleichen Zeitraum von 15 Jahren von 26 auf 8 (je 10 000 Einwohner). Die weitere Aufgliederung erweist im Bestand der Fürsorgefälle: 82 % mit aktiver Tuberkulose der Atmungsorgane, darunter 31 % mit Ansteckungsgefahr, sowie 18 % extrapulmonale Tuberkulosen. Von den Überatachungsfällen sind (auf je 1000 der Bevölkerung) 20 männliche und 16 weibliche Kranke, unter denen als klinisch bereits geheilt 57 % männliche und 45 % weibliche gelten. Der Anteil der Beobacbtungsfälle verringerte sich und betrug 2,3 männliche und 0,8 weibliche Personen (je 1000 der Bevölkerung). Aus der Beziehung zwischen dem Bestand an Kranken in einer der genannten Gruppen und dem Wechsel von einer Gruppe zur anderen läßt sich die mittlere Verweildauer der betreuten Fürsorgefälle in der Diagnosengruppe ermitteln nach der Formel Anfangsstand + Endbestand Zu- + Abgang Für die Letalität auf je 100 Erkrankte ließen sich als Faustregeln entwickeln: Bei allen Formen der Tuberkulose und bei der ansteckenden Lungentuberkulose beläuft sich für beide Geschlechter zusammen diese auf etwa 2,5 %, liegt jedoch bei den Männern mit 3,0 bis 3,5 % höher als bei den Frauen mit 1,5%; für die Lungentuberkulose ist sie bei Männern mit 9%, bei Frauen mit 7%, zusammen mit 8% zu veranschlagen; bei der Tuberkulose anderer Organe (der extrapulmonalen Form) liegt sie bei Männern um 0,20 %, bei Frauen etwas höher, bis fast 0,30 %, zusammen um 0,25 %; nach Altersjahrgängen ist sie für Frauen bis zum 45. Lebensjahr etwas höher als bei Männern, sodann nach dem 45. Lebensjahr umgekehrt bei Männern höher als bei Frauen. Für die Tuberkulose-Abwehr ist die Neigung zu Rückfällen oder zur Wiedererkrankung von Personen, die nach abgeschlossener Behandlung aus der Überwachung und Beobachtung entlassen werden, von großer Bedeutung, und zwar sowohl für die epidemiologischen Vorgänge als auch für die Gefährdung bestimmter Lebensalter. In der Klientel der Fürsorgestellen finden sich an Erst-Erkrankten 77 bis 80 %, an überwachten Kranken 15 bis 19 % und an Wiedererkrankten 4 bis 5 %. Zu ihnen
Tuberkulose
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gehören meist ältere Jahrgänge mit inaktiven Prozessen oder Kavernen, so daß man hierbei von einer „Altmännerkrankheit" spricht und darauf hinweist, daß die jüngeren Altersklassen und das weibliche Geschlecht immer mehr verschont werden. Infolgedessen ließ sich bisher keine vorherrschende Uberzeugung über die Ausrottung der Tuberkulose-Rückschläge im Seuchenzuge entwickeln, weil die langlebig gewordenen Keimträger die prognostische Auswertung erschweren, obschon die Bestände an Kranken mit aktiver Tuberkulose weitgehend bekannt sind. Aus den Beobachtungen der letzten 15 Jahre geht hervor, daß sich die Erkrankungen an Tuberkulose im Säuglingsalter nicht oder kaum erhöhten, die Jahrgänge des Kindesalters von 1 bis 15 sowie der Älteren über 65 Jahre weniger gefährdet waren und das frühe Erwachsenenalter von 15 bis 45 Jahren sowie das Mannesalter von 45 bis 65 Jahren stärker bedroht wurde, während bei Frauen im Alter von 45 bis 65 Jahren eine Abnahme der Gefährdung eintrat. Dieser Unterschied ist dadurch bedingt, daß die Männer durch ihren Beruf und durch Staublungenerkrankungen stärker exponiert waren. Tabelle 1. Tuberkulose-Erkrankungen nach Altersgruppen (auf je 10 000 der jeweiligen Altersklasse) ( = gleichbleibend, + Zunahme, — Abnahme) Tuberkulose aller Formen
Jahrgang Jahre
Tuberkulose der Atmungsorgane
männliches weibliches Geschlecht =
0-1
+
—
+
=
7,8 -4,5
1-15
45-65 über 65
-
=
+
+
—
2,3 6,9 —4,6 7,9 -7,5 6,9 —5,5
8,3 +16,6 18,3 +22,8
15-45
—
2,3
2,5
männliches weibliches Geschlecht —
2,0 6,4 —3,8 6,3 —5,6 5,0 —*,0
7,1 — 3,8 7,2 +14,3 16,5 +21,3
17,3 4,7 9,3
-
16,0 3,8 8,4
Die Sterbeziffer (je 100 000 Einwohner) ist im Alter bis zu 25 Jahren bei beiden Geschlechtern am niedrigsten, steigt bis zum 45. Lebensjahr mäßig und sodann bis zum Alter über 65 Jahren sehr steil an, und zwar bei den Männern erheblicher als bei den Frauen, so daß eine Relation von 22,3 Männern zu 7,1 Frauen resultiert. Tabelle 2. Sterbeziffer (je 100 000 Einwohner) an Tuberkulose aller Formen nach Altersjahrgängen und Geschlecht Geschlecht 0-15
Tuberkulose aller Formen Altersjahrgänge 25-45 45-65 15-25 über 65
zusammen
männlich
2,6
2,4
42,6
209,3
341,7
22,3
weiblich
2,1
2,7
20,6
34,7
114,4
7,1
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Trend der Infektionskrankheiten
Die Geschlechterproportion (in v. H.) beträgt sonach für die Erkrankungen an Tuberkulose aller Formen 64 m zu 36 w und für die Todesfälle 74 m zu 26 w. Aus den Beständen und Zugängen an sog. Erkrankungen anderer Organe, der extrapulmonalen Tuberkulosen, die mit insgesamt 18% veranschlagt werden, sind als häufigste hervorzuheben: die Urogenitaltuberkulose mit einem Anteil von 27%, die Knochen- und Gelenktuberkulose mit fast 23 % und die Lymphknotentuberkulose mit 20%. Die Hauttuberkulose und der Lupus treten als seltene Formen zurück, bedürfen jedoch einer sorgfältigen Betreuung, nicht bloß aus ästhetischen und wirtschaftlichen Gründen für die Erkrankten, sondern auch aus epidemiologischer Sicht. Den Bekämpfmgs-, Fürsorge- und Vorsorgemaßnahmen ist im Bundesseuchengesetz in seiner Fassung vom 23. Januar 1963 die Generalklausel der Verbütungsmaßnabmen vorangestellt, d. h. die Abwendung von Gefahren, die dem einzelnen oder der Allgemeinheit drohen. Damit ist die Verhinderung einer Entstehung der übertragbaren Krankheiten gemeint, nicht aber eine Verhinderung der Verbreitung bereits aufgetretener Krankheiten. Diese Aufgabe gehört vielmehr bereits zu den Bekämpfungsmaßnabmen beim Auftreten der Krankheit, des Krankheitsverdachts, des Ansteckungsverdachts sowie beim Ausscheiden von Krankheitserregern oder eines Verdachts darauf. Damit wird die Infektionsquellenforschung erfordert, die eine Expositions- und Dispositionsprophylaxe ermöglichen soll. Für eine Tuberkuloseanfälligkeit galt lange die These: Habitus asthenicus gleich Habitus phtisicus, womit die Beziehung der Tuberkulosegefährdung zur Konstitution ausgedrückt werden sollte. In vielseitigen Nachprüfungen mit maßtechnisch-mathematischen Methoden und mit Hilfe des Pignet-Index sowie des relativproportionalen Brustumfanges nach Th. Brugsch wurden bei Tuberkulosekranken in Deutschland und in der Schweiz die konstitutionellen Beziehungen nachgeprüft. Dabei konnte festgestellt werden, daß die leptosom-asthenischen Typen nur zu 27 % betroffen waren, während die normosom-normosthenischen Mittelwüchsigen zu 50% und die eurysom-hypersthenischen Konstitutionen zu 23% vertreten waren. Der diagnostische Blick findet also darin keine zuverlässige Stütze mehr. Die Ermittlungen zur Ausschaltung von Streuquellen erstrecken sich auf den Kranken und Krankheitsverdächtigen, seinen Zustand, seine Ausscheidungen und Absonderungen, seine Lebenshaltung, seine Umgebung und Tätigkeit. Bei ihnen wird eine Auskunftspflicht verlangt und die Bereitstellung von Untersuchungsmaterial unterstellt. Der wichtigste Schutz für den Kranken und die Umwelt ist die Sicherung einer sachgemäßen Behandlung. Bei allen Befunden mit offener und ansteckungsfähiger Tuberkulose soll eine stationäre Behandlung in einer Klinik, einem Sanatorium oder einer Heilstätte durchgeführt werden. Soweit eine häusliche Behandlung ausreicht, bedarf es einer Vorsorge gegen Ansteckungen in der Umgebung und einer sorgsamen Durchführung der laufenden Desinfektion. Im Querschnitt der letzten Jahre wurden von den Fürsorgestellen überwiesen: in Heilstätten 17 % der Kranken, in Krankenhäuser 9 % und in ambulante Behandlung 15 %. Im Gesamtergebnis bedeutet dies, daß rund 80 % aller vorhandenen Kranken in Fürsorge standen und von ihnen 30 % wegen ansteckungsfähiger, offener Tuberkulose in Anstaltspflege eingewiesen wurden. Unter den sozialen Faktoren beanspruchen die Wohnung, die Lebenshaltung und der Beruf eine angemessene Berücksichtigung. Bei der Wohnungsfürsorge mußte
Tuberkulose
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durch Hausbesuche noch in letzter Zeit festgestellt werden, daß etwa jeder vierte Kranke (27 bis 31 %) kein eigenes Zimmer und 1 % kein eigenes Bett hatte. Ohne einen festen Wohnsitz waren 1,2%. Die Lebenshaltung ist durch die §§51 bis 55 in Verbindung mit Abschnitt 2 des Bundessozialhilfegesetzes gesichert. Eine Arbeitsvermittlung als Hilfe zur Eingliederung nach dem § 50 konnte bei fast 2 % beantragt werden. Als wirksamste Maßnahme bei der Bekämpfung und Verhütung der Tuberkulose erwiesen sich die Reihenuntersuchungen durch die Tuberkulosefürsorgestellen, die von Gesundheitsämtern, Fürsorgeverbänden, Wohlfahrtsverbänden und Sozialversicherungsträgern eingerichtet wurden und ihre Tätigkeit in Arbeitsgemeinschaften aufeinander abstimmen. Sie führen die physikalischen, mikroskopischen und chemischen Untersuchungen ebenso durch wie die ergänzenden Röntgendurchleuchtungen und -aufnahmen sowie die Tuberkulin-Testprüfungen und die Tuberkulose-Schutt(impfungen, wenngleich sie schwer zu organisieren und auch nicht lückenlos durchzuhalten sind, wie die Erfahrungen lehren. Das Schwergewicht der Schirmbildaktionen liegt bei den älteren Personen sowie bei ehemaligen Patienten und Trägern tuberkulöser Residuen mit höherem Rückfallrisiko. Die Wirkung der BCG-Schutzimpfung läßt sich nicht genau bestimmen. Die Konversion der Tuberkulinreaktion fällt positiv aus bei 10 % der Zehnjährigen, bei 20 % der Zwanzigjährigen und bei 80 % der Vierzigjährigen. Das Erkrankungsrisiko ist um rund 80 % geringer bei Schutzimpfungen von Personen, die exponiert sind, als bei nichtgeimpften mit tuberkulin-negativem Test. Säuglinge und Kleinkinder in tuberkulosegefährdetem Milieu sollen geimpft werden. Schulanfänger mit relativ hohem Tuberkulinindex (über 2 bis 3 % ) sollen der Schutzimpfung unterzogen werden; auf sie soll jedoch verzichtet werden, wenn es ein niedriger Tuberkulinindex (unter 2 %) erlaubt und eine regelmäßige Nachprüfung gesichert werden kann. Im allgemeinen gilt der Grundsatz, Schutzimpfungen vorzunehmen, wenn sie notwendig und ungefährlich sind, sie jedoch einem großen Teil der Bevölkerung in freiwilliger Entscheidung und ohne Zwang anzubieten. Impflücken bei Neugeborenen durch Verweigerungen und Versager sind daher kleiner als Erfassungslücken bei Suchaktionen und Überwachungen, bei denen der diagnostische Aufwand zu groß ist, als daß der Erfolg den Erwartungen entsprechen könnte. Besonders günstig wirkten sich in letzter Zeit die zusätzlichen Vorschriften für Schulen und sonstige Gemeinschaftseinrichtungen aus, die sich auf die Tuberkuloseuntersuchungen des Schulpersonals und der Schüler beziehen. Sinngemäß gelten sie auch für Heime, Lager, Kindergärten und ähnliche Einrichtungen. Lehrer, Schulbedienstete und zur Vorbereitung auf den Beruf des Lehrers in Schulen tätige Personen haben vor der Aufnahme ihrer Tätigkeit und jährlich einmal der zuständigen Behörde durch ein Zeugnis des Gesundheitsamtes nachzuweisen, daß bei ihnen eine ansteckungsfähige Tuberkulose der Atmungsorgane nicht vorliegt. Das Zeugnis muß sich auf eine Röntgenaufnahme der Atmungsorgane stützen. Die Wiederholungsuntersuchungen können auch durch „sonstige Ärzte", also der freien Praxis und der Krankenhäuser, vorgenommen werden. Ihre Zeugnisabschriften sind unverzüglich dem zuständigen Gesundheitsamt zu übersenden. Die Schüler dürfen durch eine perkutane Tuberkuloseprobe auf Tuberkulose untersucht werden, die von den Eltern oder den Sorgeberechtigten pflichtgemäß geduldet werden muß. In den anderen Gemeinschaftseinrichtungen beziehen sich die Anforderungen auf das Lehr-, Aufsichts-, Erziehungs-, Pflege- und Hauspersonal. Wenn in den Familien oder der Wohngemeinschaft der in Schulen tätigen Personen, bei Schülern
48
Trend der Infektionskrankheiten
und Schulbediensteten eine meldepflichtige Tuberkuloseart auftritt, gelten für sie die gleichen Beschränkungen wie für Ausscheider, vor allem die Anzeigepflicht beim Wechsel von Wohnung und Arbeitsplatz, damit die angeordneten Schutzmaßnahmen überwacht werden können. Dem Schutz der Allgemeinheit dient auch die Gesundheitsüberwachung der Lebensmittelberufe hinsichtlich ansteckender Tuberkulose und Hauterkrankungen. Sie gehört zum Bereich der Verhütungsmaßnahmen, um eine Verbreitung von Infektionen durch Lebensmittelbetriebe und die in ihnen tätigen Personen zu verhindern. Ansteckend Erkrankte sollen nicht nur aus dem Arbeitsbereich ausgeschaltet, sondern auch der Sanierung zugeführt werden. Zu den gefährdenden Zweigen der Versorgung gehören Fleischereien, Küchen in Gaststätten, Kantinen, Krankenhäusern und Einrichtungen zur Gemeinschaftsverpflegung, Speiseeiszubereitungsund -Vertriebsstätten, Molkereien und Milchhandel, aber auch Wasserversorgungsanlagen. Wiederholungsuntersuchungen sind in gewissen Abständen und bei auftretenden Bedenken notwendig, jedoch ist von unzumutbaren Untersuchungsmethoden abzusehen (z. B. operativen Eingriffen, Entnahme von Rückenmarksoder Gehirnflüssigkeit, Narkosen). Eine neuzeitliche Aufgabe ist durch die Anwerbung von Fremdarbeitern entstanden. Die „Gastarbeiter-Tuberkulose" bedarf besonderer Präventivmaßnahmen schon bei oder gleich nach dem Grenzübertritt mit jährlichen Nachuntersuchungen in dem vorher dargestellten Umfange. Die Tuberkulosehilfe wird nach Aufgabe, Art und Umfang durch das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vom 30. Juni 1961 - BGBl. I, S. 815 - in den §§ 36,48-66,120 und 127-138 geregelt. Sie umfaßt: 1. Heilbehandlung, 2. Hilfe zur Eingliederung in das Arbeitsleben, 3. Hilfe zum Lebensunterhalt, 4. Sonderleistungen und 5. vorbeugende Hilfe. Die besonders wertvolle und wichtige vorbeugende Hilfe wird gewährt, wenn eine Erkrankung oder sonstige Gesundheitsschädigung einzutreten droht, und sieht Vorsorgeuntersuchungen zur Früherkennung von Erkrankungen sowie auch Erholungsmaßnahmen vor. Sie bezieht auch Personen ein, die in Wohngemeinschaft mit einem Kranken leben, der an einer ansteckenden Tuberkulose leidet, um sie vor Ansteckung oder einem Erkrankungsrückfall zu schützen. Die Heilbehandlung erstreckt sich auf eine stationäre und ambulante Betreuung mit allen erforderlichen Heilmaßnahmen, auf Pflege und Wartung, auf Heil- und Badekuren, auf Versorgung mit orthopädischen und sonstigen Hilfsmitteln sowie auf Zahnbehandlung. Die Hilfe zur Eingliederung in das Arbeitsleben veranschlagt den Kräftezustand, die Eignung und die Arbeitswilligkeit. Die Hilfe %um Lebensunterhalt ist weit gefaßt und paßt sich nach Form, Maß und Besonderheiten den durch die Krankheit verursachten besonderen Bedürfnissen an. Als Sonderleistungen können Beihilfen oder Darlehen zur Haltung von Hilfs- oder Ersatzkräften, zur Beschaffung von Wohnungen oder ihrer Verbesserung sowie zur Eingliederung in das Arbeitsleben gewährt werden. Eine So^ialhilfe für Ausländer und Staatenlose ist im § 120 ausgebracht. Die Tuberkulosebekämpfung außerhalb der So^ialhilfe regeln für den öffentlichen Dienst, die Deutsche Bundesbahn, die Anstaltspflege und den Strafvollzug die §§ 127-131. Darin ist die entsprechende Tuberkulosehilfe für Bedienstete des Bundes und bundesunmittelbarer Körperschaften, für Versorgungsempfänger, für Betriebsangehörige der Deutschen Bundesbahn, für Tuberkulosekranke, die wegen Geistes-
Geschlechtskrankheiten
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krankheit, Geistesschwäche, Epilepsie oder einer Sucht in Anstaltspflege untergebracht sind, sowie solche, die sich im Straf- oder Haftvollzug befinden, sinngemäß geregelt. Die Träger der So^ialhilfe und ihrer Einrichtungen sind (gemäß den §§ 9-10, 93-135): die kreisfreien Städte und die Landkreise, die von den Ländern bestimmten überörtlichen Stellen, die Gesellschaften und Verbände des öffentlichen Rechts, die Verbände der freien Wohlfahrtspflege, die besonderen außerhalb der Sozialhilfe genannten Behörden und Dienststellen, die Träger der Sozialversicherung und Kriegsopferversorgung sowie die Gesundheitsämter. Sie sollen Arbeitsgemeinschaften anstreben, um die gleichmäßige oder gemeinsame Durchführung von Maßnahmen zu sichern. Dies ist bei der Tuberkulosebekämpfung vor allem für den Bettenausgleich und das Verfahren der Schnelleinweisung erforderlich. 2. Geschlechtskrankheiten Trotz aller Unbefangenheit in Sex-Angebot und -Nachfrage werden Geschlechtskrankheitenverheimlicht oder nur ungern offenbart, weil man mit einem „Verkehrsunfall" dieser Art, wie man ihn nennt, keine Ehre einlegen kann. Man verhält sich wie beim Weingenuß: Man will Kenner, aber nicht Zecher sein. Als nach dem Ersten Weltkriege epidemiologische Besorgnisse wegen des ungeordneten Rückstromes der Truppen aufkamen, wurde eine systematische Ärztebefragung über den Bestand und Zugang an Geschlechtskranken ohne Namensnennung in der Zeit vom 15. November bis 14. Dezember 1919 im Deutschen Reich durchgeführt. Das Ergebnis wies eine Quote von 22,3 auf je 10 000 der Bevölkerung aus. Sie wurde nur in den großen Städten und in Gebieten mit einer großen Zahl von Ledigen im Alter von 15 bis 30 Jahren überschritten (mit Beträgen von 28 bis zu 76 je 10 000 Bewohner). Die Notverordnung vom 11. Dezember 1918 und ein Gesetzentwurf vom 9. Februar 1922, dem ein Reichsgesetz vom 18. Februar 1927 mit Abänderung vom 26. Mai 1933 folgte, sollte eine Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten durch zeitgemäß sachliche Maßnahmen verhüten, von denen die Aufhebung der Kurierfreiheit und die Pflicht zu ärztlicher Behandlung, die Einrichtung von Beratungsstellen, die Überwachung der Prostitution, der Schutz von Minderjährigen, das Ammenwesen, die Kostenregelung und die Bildung von Arbeitsgemeinschaften genannt seien. In der Folge verringerte sich die Erkrankungsziffer, erhöhte sich jedoch nach dem Zweiten Weltkriege und erreichte mit 53,4 je 10 000 Einwohner den höchsten Stand im Jahre 1948. Als die Chemotherapeutika und Antibiotika, insbesondere die Penizillinbehandlung, eingesetzt wurden, gingen die Geschlechtskrankheiten rasch zurück, erlebten zwar auch in internationaler Sicht eine leichte Vermehrung, die bei uns eine geringfügige Erhöhung der Erkrankungsziffer von 10,9 je 10 000 Einwohner im Jahre 1958 auf 11,6 im Jahre 1960 brachte, dann jedoch wieder kontinuierlich abfiel, so daß man bei uns wie in Europa hoffte, wenigstens „die Syphilis endgültig eingedämmt zu haben". Die Zunahme der Geschlechtskrankheiten im letzten Jahrzehnt wird, besonders bei den Jugendlichen, vorwiegend auf Prostituierte zurückgeführt, jetzt auf Personen mit wechselndem Geschlechtspartner, also auf die geheime Prostitution. Die Fortschritte in der modernen Therapie haben jedoch auch Besorgnisse ausgelöst, und zwar weniger infolge eines Abgleitens der Moral oder der Erleichterung im
4 Gerfeldt, LehrbuA der Sozialhygiene
Trend der Infektionskrankheiten
50 je 10000 Einwohner
Abb. 11. Erkrankungshäufigkeit an Lues und Gonorrhoe (1919-1948 bis 1966) 1919
45 50 55 60 65 70
internationalen Flugverkehr, als vielmehr wegen der breitgestreuten Anwendung von Penizillin und Penizillinpräparaten, die in unterschwelligen Mengen wohl genügen, um die Symptome zu maskieren, aber nicht ausreichen, um die Erreger zu neutralisieren. Die Infektion kann dann latent verlaufen und lange Zeit unerkannt bleiben. Als Keimträger können die Kranken ihre Partner unwissentlich anstecken, und die Infektionsquellenforschung setzt erst ein, wenn die Erkrankung manifest ausbricht. Heute sind organische Verheerungen durch eine jahrelang verschleppte Syphilis oder Gonorrhoe, die früher fast zur Regel gehörten, glücklicherweise zur Ausnahme geworden. Im Zusammenwirken in einer Arbeitsgemeinschaft zwischen öffentlichem Gesundheitsdienst und Sozialversicherung, wie sie auch im § 15 Absatz 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom 23. Juli 1953 - BGBl. I, S. 700 vorgesehen ist, war es möglich, einen Überblick über die Entwicklung der Geschlechtskrankheiten für einen Zeitraum von fast 20 Jahren zu erhalten, wenngleich naturgemäß und verständlicherweise nur Mindestwerte geboten werden können. In diesem Zeitraum verringerten sich ständig absinkend die absoluten Erkrankungszahlen ebenso wie die Erkrankungsziffern auf je 10 000 der Bevölkerung, und zwar für Lues um 92 %, für Gonorrhoe um 70 % und für beide zusammen um 80 %, d. h. von 53,4 auf 4,8 je 10 000 Einwohner. Der Rückgang war bei Lues für beide Geschlechter etwa gleich groß, bei Gonorrhoe der Frauen größer als bei den Männern. Dabei muß berücksichtigt werden, daß die Erkrankung bei den Frauen schwieriger zu erkennen und ein Betrag an Dunkelziffer zu veranschlagen ist. Die beiden anderen venerischen Krankheiten, weicher Schanker (Ulcus molle) und Lymphknotenentzündung (Lymphogranulomatosis inguinalis NICOLAS U. F A V R E ) , wurden nur ganz vereinzelt festgestellt. Die regionalen Unterschiede lassen ein erhebliches Gefälle von den großen Städten zu den Kleinstädten und Landbezirken erkennen. Es reicht von 70 bis 17 je 10 000 Einwohner im Jahre 1934 hinab auf 31 bis 11 je 10 000 im Jahre 1966.
Geschlechtskrankheiten
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Tabelle 3. Neuerkrankungen an Lues und Gonorrhoe 1948-1966
im Jahre
Neuerkrankungen an
Neuerkrankungen an
Lues bei Männern Frauen
Gonorrhoe bei Männern Frauen absolut je absolut je 10000 10000 17 717 31,3 13 860 21,8 12152 19,8 9 353 13,8 8146 11,9 4 963 6,5 9 273 12,5 5 278 6,4 7 460 9,3 3 037 3,5 6 765 8,4 2 885 3,3
absolut 1948 1950 1955 1960 1965 1966
14 961 6168 1921 1764 1627 1 532
je absolut je 10000 10000 26,4 18 848 28,7 10,1 7 305 10,7 2,9 2,8 2169 1645 2,0 2,4 1149 1,3 2,0 1134 1,3 1,9
insgesamt für Lues und Gonorrhoe o absolut [Tl
•ü 64 406 34 978 17 199 17 960 13 273 12 316
53,4 27,1 11,9 11,6 11,3 4,8
Nachdem die Geschlechtskrankheiten ihren Tiefstand im Jahre 1958 erreicht hatten (10,9 je 10 000 Einwohner), stiegen sie in den beiden folgenden Jahren leicht an, besonders bei den Heranwachsenden im Alter von 21 bis 25 Jahren, und zwar bei beiden Geschlechtern. In den folgenden Jahren setzte sich jedoch der erwartungsmäßige Rückgang von Lues und Gonorrhoe wieder fort. Die Ermittlung der Infektionsquellen, die sog. Infektionsquellenforschung, erbrachte eine Aufklärung in 30 % bei Lues und in 45 % bei Gonorrhoe. Von den dabei festgestellten Ansteckungsquellen wurden bei Lues 62% und bei Gonorrhoe 64% zur Behandlung gebracht. Von dem Bestand an Lueskranken verweigerten 22 % die Behandlung, entzogen sich ihr oder stellten sich nicht zur Nachuntersuchung; bei der Gonorrhoe waren es 20 %. In der Altersgliederung standen unter den Geschlechtskranken (an Lues und Gonorrhoe zusammen): im Alter bis zu 14 Jahren 1% von 14 bis 21 Jahren 14% 21 bis 40 Jahren 74% 40 bis 60 Jahren 9% 60 und mehr Jahren 2% zusammen 100% Die Verhältnis werte betrugen: für Lues zu Gonorrhoe für männliche und weibliche Kranke bei Lues bei Gonorrhoe bei Lues und Gonorrhoe zusammen
22% zu 78% 43% m zu 57% w 70% m zu 30% w und 67% m zu 33% w.
Den Veränderungen in den wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen sowie den wechselnden Gefährdungen mußte sich auch die Gesetzgebung, nament-
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Trend der Infektionskrankheiten
lieh bezüglich der Vor- und Fürsorgemaßnahmen, anpassen. Durch das Bundesgesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom 23. Juli 1953 - BGBl. I, S. 700 - wurden die früheren Gesetze des Deutschen Reiches vom 18. Februar 1927 in der Fassung vom 21. Oktober 1940 und die entsprechenden Ländergesetze und -Verordnungen aufgehoben. Belassen wurden aber die strafrechtlichen Bestimmungen über Kuppelei, Anpreisung von Heilmitteln und Heilverfahren, Erregung von öffentlichem Ärgernis und Prostitution. Ergänzt wurde das Gesetz durch Verordnungen vom 28. Dezember 1954 - BGBl. I, S. 523 - und vom 5. Juli 1955 BGBl. I, S. 402. Geschlechtskrankheiten im Sinne dieses Gesetzes sind: 1. Syphilis (Lues), 2. Tripper (Gonorrhoe), 3. Weicher Schanker (Ulcus molle) und 4. Venerische Lymphknotenentzündung (Lymphogranulomatosis inguinalis NICOLAS und FAVRE) ohne Rücksicht darauf, an welchen Körperstellen die Krankheitserscheinungen auftreten. Die Kranken und krankheitsverdächtigen Personen sind verpflichtet, sich von einem Arzt oder in einem Krankenhaus untersuchen und behandeln zu lassen, Ansteckungsgefährdungen zu vermeiden und bei der Pflege fremder Kinder Unterweisung über die gebotenen Vorsichtsmaßnahmen einzuholen. Die Pflichten der Ärzte und die Behandlung der Geschlechtskranken sind besonders geregelt. Eine Meldepflicht besteht, wenn die verordnete Behandlung ohne triftigen Grund verweigert oder unterbrochen wird oder die Nachuntersuchung nicht erfolgt. Anweisungen über ärztliche Zeugnisse, Aufzeichnungen des Arztes, Merkblätter, Meldungen, Ordnungswidrigkeiten und Geschlechtskrankenstatistik sowie über ärztliche Eingriffe, bei denen die Einwilligung des Kranken erforderlich ist, enthalten die beiden vorgenannten Durchführungsverordnungen. Bei der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten haben die Gesundheitsämter mit den Fürsorgeverbänden, den Jugendämtern, den Versicherungsträgern und der Freien Wohlfahrtspflege zusammenzuarbeiten, sollen auch Arbeitsgemeinschaften bilden und Beratungsstellen einrichten. Zu den Aufgaben gehört auch die Aufklärung und Belehrung der Bevölkerung. Zwangsmaßnahmen sind nach landesrechtlichen Bestimmungen zulässig. Die Abgabe und Verwendung von Heilmitteln oder Heilverfahren ist Apotheken bzw. Ärzten vorbehalten. Die entstehenden Kosten für Untersuchung, Behandlung und notwendige Krankenpflege werden von Versicherungsträgern übernommen oder aus öffentlichen Mitteln bestritten, wenn der Kranke sie selbst zu tragen nicht imstande ist. Die Einrichtung von besonderen Krankenhausfachabteilungen kann Gemeinden oder Gemeindeverbänden auferlegt werden. Sinn und Zweck der Arbeitsgemeinschaftist: 1. eine frühzeitige und lückenlose Erfassung aller Geschlechtskranken, 2. die Sicherung von Behandlung und Überwachung der Kranken bis zur Beseitigung der Ansteckungsgefährlichkeit, 3. die Erforschung der Ansteckungsquellen und ihre Zuführung zur Behandlung, 4. enge Zusammenarbeit mit den Gesundheitsämtern zur Sicherung der gesetzlichen Aufgaben. Die Beratungsstellen übernehmen grundsätzlich keine Behandlung. Ihr Personal ist in gleicher Weise wie die Ärzte der Schweigepflicht unterworfen. Diese wird ebenso wie die Anonymität der von Ärzten zur Beratung überwiesenen Kranken am besten gewahrt, wenn nur der behandelnde Arzt den Namen des Kranken kennt, auf Überweisungsscheinen und auf Rezepten für die Apotheken jedoch nur eine chiffrierte Bezeichnung oder die Krankenbuchnummer angibt, so daß alle Verwaltungs- und Kostenfragen unter dieser ablaufen.
Frequenz der führenden Todesursachen
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B. Sozial- und Zivilisationskrankheiten 1. Frequenz der führenden Todesursachen In europäischer Sicht wurde von Experten des Europarates nicht bloß von einer „gelenkten Fekundität", sondern auch von einer „gelenkten Mortalität" gesprochen und der Tod von morgen als ein soziales Problem bezeichnet. Dies wird verständlich, wenn man feststellt, daß die Lebenserwartung der Menschen steigt und die Verstädterung zunimmt. In den letzten 15 Jahren vermehrte sich die Bevölkerung in Städten bis zu 20 000 Einwohnern um 43 %, in Kleinstädten und auf dem Lande um 13%. Unter den Todesursachen in Europa, Nordamerika und Ozeanien führen mit Vorrang die Herzerkrankungen, gefolgt von den Krebsleiden, den Unfällen und den akuten Erkrankungen der Atmungsorgane. In der Bundesrepublik Deutschland liegen als Todesursache ebenfalls die Herzkrankheiten an erster Stelle; es schließen sich mit Abstand an die bösartigen Neubildungen und die akuten Krankheiten der Atmungsorgane. Erst dann reihen sich die unnatürlichen Todesursachen an, insbesondere Kraftfahrzeugunfälle, andere Unfälle und Selbstmord. Herz-Kreislauf-Krankheiten
45,5% 42,0%
Bösartige Geschwülste
18,5% 20,0%
Unfälle, Vergiftungen, Selbstmorde
H _ I
Alle anderen Todesursachen
In:
H
30,9% 30,0%
23 industrialisierten Ländern der Erde der Bundesrepublik Deutschland
A b b . 1 2 . Frequenz der führenden Todesursachen nach der W H O u n d in der Bundesrepublik Deutschland ( 1 9 6 4 u n d 1 9 6 7 )
Im dreißigjährigen Zeitraum von 1932 bis 1961 nahmen im Deutschen Reich bzw. in der Bundesrepublik die Sterbefälle infolge von Unfällen einschließlich Vergiftungen und Kraftfahrzeugunfällen um 65 %, an Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems um 33 % und an bösartigen Neubildungen um 23 % zu; sie verringerten sich an Altersschwäche (ohne Geistesstörungen) um 61 %, an Krankheiten der Atmungsorgane (ohne Tuberkulose) um 53 %, an angeborenen Mißbildungen um 36 % und an Diabetes mellitus um 30 %. Dieser Frequen^wandel bei den genannten und anderen Krankheiten weist auf die tiefgreifenden Veränderungen der sozialen und natürlichen Umwelt hin, die durch die Zivilisation nicht minder wie durch die Kultur hervorgerufen wurden. Sie nötigten die Medizin und die einschlägige Gesetzgebung, sich darauf einzustellen,
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Sozial- und Zivilisationskrankheiten Tabelle 4. Frequenzänderungen der Todesfälle und Erkrankungen im Zeitraum 1932 bis 1961 im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik Deutschland (+ Zunahme, — Abnahme) Todesfälle
Erkrankungen
+ 33 + 23
+ 87 + 30
+ 65 — 61
+ 46
— 53 — 30 — 36 — 30
+ 18
%
1. Herz-Kreislauf-Erkrankungen 2. Bösartige Neubildungen 3. Unfälle, einschließlich Vergiftungen und Straßenverkehrsunfälle 4. Altersschwäche (ohne Geistesstörung) 5. Erkrankungen der Atmungsorgane (ohne Tuberkulose) 6. Diabetes 7. Angeborene Mißbildungen 8. Krankheiten der Verdauungsorgane 9. Erkrankungen der Knochen und Bewegungsorgane 10. Allergische Krankheiten, Stoffwechselstörungen und Krankheiten des Nervensystems
%
+ 58 + 60 + 43
um der Gesundheitspflege die nötige Hilfe zu bieten und die Gefährdungen durch das Großstadtleben mit übersteigerter Technik und Beschleunigung des Tempos, unnatürlicher Lebensweise und Ernährung mit denaturierten Lebensmitteln sowie den geistigen und seelischen Überlastungen abwehren zu können. Die allgemeine Gesundheitslage wird in der Gegenwart gekennzeichnet durch eine Zunahme von protrahiert verlaufenden Leiden vom Charakter der Aufbrauchs- und Zivilisationserscheinungen, unter denen die psychosomatischen Überlastungen mit Krankheits wert im Mittel mit 30 bis 35 % anzusetzen sind, wenngleich ihre Frequenz in den verschiedenen Wohn- und Beschäftigungsbereichen zwischen 20 und 70 % schwanken kann. Sie werden ausgelöst und unterhalten durch zwei Faktorenreihen, nämlich idiokrine oder evitable Anlässe, wie körperliche und geistige Überforderungen, Mißbrauch von Genuß- und Beruhigungsmitteln, ablenkende Vergnügungen zu Lasten einer ausreichenden Nachtruhe u. ä., sowie heterokrine oderinevitable Agenden, bei denen es nicht oder nur sehr begrenzt in der Macht des einzelnen steht, sie aus der Umgebung und Umwelt abzuwehren oder einzuschränken. Dies gilt für die Einflüsse, die aus der Welt- und Marktwirtschaft, den sozialen Bindungen, aus Arbeit und Beruf, Naturkatastrophen, Verkehrsgefahren, Konfrontationen mit fremden Völkern und Kulturen u. ä. auf den modernen Menschen eindringen und seine persönlichen Bereiche von Lebenshaltung und Ernährung, Beruf und Arbeit sowie Familie und Gesellung beeinflussen. Mit dem Beginn der Industrialisierung um 1870/74 veränderten sich unsere Lebensgewohnheiten: Die schwere körperliche Arbeit wurde durch Maschinen abgenommen, die weiten Anmarschwege und die Rationalisierung der Produktion erforderten eine durchgehende Arbeitszeit und die Umstellung im Tagesrhythmus, so daß die sogenannte Eilkost mit einer Verlegung der Hauptmahlzeit in die Abendstunden erzwungen wurde; schließlich paßte sich das Angebot diesen Bedürfnissen an, indem eine Fülle von Fertigmahlzeiten mit gehaltvollen, nicht belastenden Grund-
Herz- und Kreislauferkrankungen
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Stoffen (vor allem Eiweiß und Fett) bereitgehalten wurde. Die Folge war eine Abnahme im Verbrauch von Milch und Milchprodukten, Brot, Kartoffeln und Hülsenfrüchten (um 6 bzw. 47 %) sowie eine Zunahme des Bedarfs an Fleisch, Geflügel und Fisch (um 118 %), von Fetten und Butter (um 200 %), von Zucker (um 800 %), von Obst und Südfrüchten (um 410 %). Die gleichen Tendenzen zeigten sich auch in anderen Ländern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (OEEC). So vorteilhaft diese Umstellung sich in mancher Hinsicht auswirkte, brachte sie doch auch ernste Nachteile, von denen die Übergewichtigkeit (Obesitas) und die Ulkusleiden hervorgehoben seien. Die Fettleibigkeit nahm seit 1960 um fast 40 % bei den Männern und um 30 bis 35 % bei den Frauen zu. Die Ulkusleiden können geradezu als Paradigma einer psychosomatischen Störung bezeichnet werden. Sie treten besonders bei Bauberufen, Bergleuten, Tischlern, Fleischern und Köchen auf und haben eine Sterberate von etwa 20 auf je 1000 dieser Berufsangehörigen. Im Bereiche von Beruf und Arbeit führen spezifische Anforderungen zu kennzeichnenden Belastungen: Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Kaufleuten, Verwaltungsbeamten, Ärzten und angestellten Apothekern, bösartige Neubildungen bei Verkehrsberufen und Landwirten, Erkrankungen der Atmungsorgane bei Exposition im Freien und in staubiger Luft, Erkrankungen von Magen- und Zwölffingerdarm sowie Stoffwechselkrankheiten bei Bauberufen, Bergleuten, Tischlern, Fleischern und Köchen. In den Hauptfaktoren steckt ein ganzes Bündel von Einflüssen, die sich aus Konstitution, Milieu, Peristase, sozialem Klima und psychischer Einstellung ergeben. Der Einfluß eines geordneten Familienlebens auf eine gesunde Lebensführung zeigt sich weniger in der mehr erwünschten als exakt beweisbaren höheren Lebenserwartung, vielmehr als komplexer und variabler Faktor, der das persönliche Verhalten und den Lebensrhythmus zu regeln vermag. Zu den teils idiokrinen, teils heterokrinen Faktoren gehören die Einflüsse des Wohnbereiches nach Landleben und Verstädterung. Anpassungskonflikte entstehen oder verschärfen sich aus Wettbewerbsdruck, unzweckmäßiger Freizeit, Mangel an Bewegung, Konsum von Genuß- oder Anregungsmitteln. Die pandemischen Gefährdungen durch Verschmutzung der Luft, durch Lärm und Autoabgase zeigen sich relativ spät wegen ihrer latenten Wirkungsweise. Bei den Straßenverkehrsunfällen zählen etwa 45 % zu den idiokrinen, bei genügender Aufmerksamkeit vermeidbaren Bedrohungen; der größere Anteil ist zu 20% schicksalsbedingt oder „fatal" und zu 35 % durch „menschliches Versagen" hervorgerufen. Bei allen diesen Überlastungen und Überforderungen muß die ärztliche Behandlung ergänzt werden durch eine Psychagogie, um die Selbstkritik, das Selbstvertrauen und die eigene Aktivität anzuregen und damit auch prophylaktisch zu wirken in der Lebensführung, am Arbeitsplatz, in der Familie und in der Gesellung bzw. der Gemeinschaft. 2. Herz- und Kreislauferkrankungen Seit der Jahrhundertwende haben die Todesfälle infolge von Erkrankungen des Herz-Gefäß-Systems in den zivilisierten Ländern so zugenommen, daß sie in der Mortalitätsskala von der vierten an die erste Stelle rückten. In Deutschland setzte diese Veränderung mit der nach 1870 sich mächtig entwickelnden Industrialisierung ein und führte bis zum Jahre 1967 zu einer Vermehrung um das Zehnfache,
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Sozial- und Zivilisationskrankheiten
indem die Sterblichkeit an Leiden der Kreislauforgane von 5 auf 50 je 10 000 der Bevölkerung anstieg. Gleichwohl wurden bei uns und in aller Welt auffallend wenig Verhütungs- und Fürsorgemaßnahmen getroffen. Man begnügte sich meist mit der Feststellung der Tatsache und errechnete, daß bei 3 bis 5 % der Lebenden die Zirkulationsorgane nicht intakt seien oder Störungen hervorriefen, so daß es durchaus berechtigt sei, von einer Volkskrankheit 2u sprechen und sie entweder als Attribut der Zivilisation oder als Aufbrauchserscheinung hinzunehmen, zumal sich die Lebenserwartung auf mehr als das Doppelte erhöht habe. Die Aufmerksamkeit wurde jedoch wieder wach, als es sich zeigte, daß die Herz-Gefäßleiden um etwa 110 % zugenommen, sich also stärker vermehrt hatten. Die Sterblichkeit an Herz-Gefäß-Erkrankungen beträgt gegenwärtig 42% aller Todesursachen und behauptet damit den Vorrang unter ihnen. An Häufigkeit überwiegen bei weitem die Herzmuskelstörungen; man muß sich dabei bewußt bleiben, daß sich unter dieser Bezeichnung manche unklare Diagnose verbirgt. Mit diesem Vorbehalt läßt sich die Frequenzfolge gliedern in 41 % Myodegeneratio cordis, 20% allgemeine Herzschwäche, 13% Herzklappenfehler, 12% Herzinfarkt, 11 % Koronarsklerose und 3 % Endocarditis und Embolie. Mit zunehmendem Alter finden sich vorwiegend Myokardschäden und arteriosklerotische Veränderungen. An Obduktionen in repräsentativem Umfange ließen sich regelrechte Gefäße nur in 10 % feststellen, jedoch Koronarsklerosen bei 30 % und Erkrankungen von Herz oder Aorta bei 45 %. Die pathologischen Befunde bevorzugten das 40. bis 60. Lebensjahr zu 55 % in der Weise, daß vom vierten Dezennium an eine gleichmäßige Vermehrung von 20 % über 25 % auf 30 % eintrat, während im Alter von 60 bis 70 Jahren eine Senkung festzustellen war. Das männliche Geschlecht ist entsprechend seiner stärkeren Belastung im Beruf erheblicher gefährdet als das weibliche, und zwar im Verhältnis von 3 zu 2. Dieser relativ geringe Unterschied wird noch auffallender, wenn man feststellt, daß die Männer viermal so häufig beschäftigt sind als die Frauen. Außerordentlich bezeichnend ist der jahreszeitliche Rhythmus der Mortalität. Das Maximum fällt in die kalten Monate, ihr Minimum in den Sommer. In den USA lag der Gipfel im Dezember, der Tiefpunkt im August. Bei uns steigt die Sterblichkeitsquote erst im März zur Höhe und fällt dann sehr rasch bis zum tiefsten Stand im September. Eine völlig gleichartige und synchrone Wellenbewegung erleben wir beim Tod an Erkrankungen der Atmungsorgane, und zwar ausgeprägter bei Bronchitis und Pneumonie als bei der Lungentuberkulose. Daraus geht hervor, daß die letzte Phase dieser Erkrankungen durch eine gleichsinnig wirkende Ursache bestimmt wird, nämlich durch die mittlere Monatstemperatur. Die Kreislaufstörungen werden durch interkurrente Erkältungen und die Atembeschwerden belastet, während die Verschlechterung im Zustande der Lungen ungünstig auf den Blutkreislauf wirkt. Eine Beziehung zur relativen Luftfeuchtigkeit ließ sich nicht erweisen. Diese an den Sterbefällen getroffenen Beobachtungen werden ergänzt durch die Befunde an den Kranken und Überlebenden. Auch bei ihnen stehen die Myokardschäden obenan. Der Häufigkeit nach folgen sodann die Neurosen und Kreislaufinsuffizienzen, schließlich die hypotonischen und arteriosklerotischen Zustände. Diese Rangfolge erfährt in den bevorzugten Lebensaltern eine charakteristische Umstellung. Das 30. bis 50. Lebensjahr leidet in abnehmender Frequenz unter Neurosen, Myokardschäden, Kreislaufschwäche und Hypertension, das 50. bis 70. Lebensjahr unter Myokardstörungen, Arteriosklerose, Hypertension und Kreislauf schwäche.
Herz- und Kreislauferkrankungen
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In der Beteiligung der Geschlechter ist keine Veränderung gegen die Vorkriegszeit von 1938 eingetreten. Alle Erkrankungsformen verteilen sich zu 60% auf die Männer und zu 40 % auf die Frauen, so daß sich ein Verhältnis von 3 zu 2 wie bei den Todesfällen ergibt. Die Verteilung der Erkrankungen auf die einzelnen Lebensalter läßt wie bei der Mortalität erkennen, daß am stärksten das 30. bis 60. Lebensjahr betroffen ist. Auf je 1000 der Altersgruppe wurden Herz-Gefäßleiden festgestellt vom 20. bis 30. L J zu 3,0 prom., vom 30. bis 40. L J zu 6,5 prom., vom 40. bis 50. L J zu 6,4 prom., vom 50. bis 60. L J zu 6,7 prom., vom 60. bis 70. L J zu 11,1 prom. und über 70 L J zu 2,5 prom. Die soziale Struktur wirkt sich in der Weise aus, daß eine starke Beanspruchung durch eigene Verantwortung, geistige Leistung und körperliche Arbeit zu einer größeren Gefährdung führt als eine unselbständige Tätigkeit. Es waren vertreten unter Berücksichtigung ihres beruflichen Anteils mit erhöhte Quote 46,5 Arbeiter 7 % Selbständige 4,6% Beamte
erniedrigte Quote
zu 56,4% zu 9,0% zu 8,8%
1,8% 17,7% 3,9% 18,3%
mithelfende Angehörige Angestellte Hausangestellte Berufslose
zu 0,8% zu 8,9% zu 1 , 8 % zu 15,5%
Diese Belastung wird noch eindrucksvoller, wenn man die Erkrankungen auf je 10 000 Berufsangehörige berechnet. Es ergibt sich dann eine übermäßige Belastung der Beamten mit 13,1, der Selbständigen mit 9,1, der Arbeiter mit 8,6 und eine verringerte Belastung der Berufslosen mit 5,2, der Angestellten mit 3,9, der mithelfenden Angehörigen mit 3,2, der Hausangestellten mit 3,1. Dabei darf nicht übersehen werden, daß die Berufslosen zum erheblichen Teil aus vermindert oder völlig Arbeitsunfähigen bestehen und die Hausangestellten nur in jüngeren Jahren dieser Gruppe anzugehören pflegen, um später in andere Tätigkeiten überzuwechseln. Die Verbreitung der verschiedenen Herzstörungen nach der Betätigungsform und der Stellung in den Berufsgruppen läßt einige kennzeichnende Schlüsse zu, die sich aus der unterschiedlichen Struktur der Bevölkerungskreise, ihrer Konstitution und dem Arbeitstempo ergeben. Es waren verbreitet in v. H. unter den Selbständigen
Beamten
Angestellten
Arbeitern
Berufslosen
zu zu zu zu zu
31 10 9 25 21
40 18 9 16 16
35 13 9 18 17
41 24 9 12 9
42 22 12 15 8
zu
4
1
8
5
1
zusammen
100
100
100
100
100
Herzmuskelschäden allg. Herzschwäche Herzklappenfehler Herzinfarkt Koronars klerose Endokarditis und Embolie
58
Sozial- und Zivilisationskrankheiten
Die Beamten, Arbeiter und Berufslosen sind in ausgesprochenem Maße durch Herzmuskelschäden, die Selbständigen vor allem durch Herzinfarkt und Koronarsklerose gefährdet. Die Angestellten lassen keine pointierte Systematik ihrer Störungen erkennen. Unter ihnen finden sich viele Personen, die aus ihrem eigentlichen, erlernten Tätigkeitsbereich wegen Erkrankung ausscheiden mußten, um eine andere Aufgabe zu übernehmen, der sie sich gewachsen fühlten. Die Gruppe der Berufslosen läßt erkennen, daß sie ziemlich gleichmäßig in ihrer Leistungsfähigkeit geschädigt ist. Die Lebenserwartung ist am geringsten bei Herzklappenfehlern, Endokarditis und Embolie, am größten bei den mit der weitgespannten Diagnose Herzmuskelschaden bezeichneten Veränderungen. Eine funktionelle Erholung wurde nur bei etwa 30% beobachtet. Die Lebens Verkürzung war mit 5 bis 15 Jahren zu bemessen. Es erliegen Kranke mit Herzklappenfehlern Endokarditis und Embolie und Koronarsklerose Herzinfarkt allgemeiner Herzschwäche Herzmuskelschaden
zu 50% zu 3 0 % zu 60% zu 55% zu 54% zu 4 2 % zu 4 0 %
vor dem 50. Lebensjahr im 4. Lebens-Jahrzehnt vor dem 50. Lebensjahr um das 60. Lebensjahr um das 60. Lebensjahr um das 60. Lebensjahr um das 60. Lebensjahr
Die Lebenserwartung nach der sozialen Position und insbesondere nach der Stellung im Beruf ist die Resultante aus Art der Kreislaufschädigung, Beginn des Leidens und fortdauernder Belastung oder möglicher Schonung. Es erliegen danach zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr Angestellte zu 30 %, Selbständige zu 25 %, Beamte zu 20%, Arbeiter zu 20%, Berufslose zu 18 %. Die überdurchschnittliche Gefährdung der Angestellten beruht auf ihren vorausgegangenen Erkrankungen, die der Selbständigen auf ihrem Zwang zur Arbeit und der dadurch hervorgerufenen Unrast. Bei den Beamten, Arbeitern und Berufslosen gestattet diesoziale Sicherung oder Versorgung eine ausgedehntere Schonung. Die schlechteste Prognose kommt dem Cor pulmonale chronicum und dem Herzinfarkt zu. Es folgen sodann die Herzen mit Dekompensation nach den ersten Insuffizienzerscheinungen. Ihr ungünstiger Verlauf vollendet sich durchschnittlich in 3y 2 Jahren. Er ist kürzer bei rheumatischen Herzleiden mit i y 2 Jahren und bei hypertonischem Erlahmen mit 1 Jahr, zieht sich aber etwas länger hin bei luischen und arteriosklerotischen Störungen. Eine vorübergehende, wenn auch mitunter anhaltende funktionelle Erholung ist nur bei 30 % zu beobachten; der überwiegende Anteil von 70 °/0 geht über eine chronische Dekompensation tödlich aus. In dieser allgemeinen Prognostik sind die einzelnen Erkrankungen der Kreislauforgane mit ihrer besonderen Note zu erkennen. Sie unterscheiden sich nach ihrem Verlauf, der sozialen Gliederung, den bevorzugtenLebensaltern und ihrer Frequenz in durchaus charakteristischer Typisierung. Die meisten Beschwerden und Besorgnisse machen den Kranken die nervösen Herzstörungen. Sie haben seit der Vorkriegszeit um 115 % zugenommen und sind bei allen Berufen ohne Ausnahme anzutreffen. Je zu gleichen Teilen werden sie vorwiegend bei den Jahrgängen 30 bis 40 und 40 bis 50 gefunden, und zwar häufiger beim weiblichen Geschlecht. Reizbildungs- und ReizleitungsStörungen herrschen bei den geistigen Berufen vor. Eine Nikotineinwirkung ließ sich nicht erweisen,
Herz- und Kreislauferkrankungen
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wohl aber waren nicht selten, insbesondere bei Frauen, Infektionskrankheiten vorausgegangen oder es bestanden thyreotoxische Symptome. Die Herzmuskelschäden der verschiedenen Genese und Äußerung haben sich in der Nachkriegszeit um 65 % vermehrt und betreffen zu 60 % die körperlich schwer arbeitenden und zu 40 % die geistig angespannt tätigen Berufe. Als Ursachen wurden festgestellt: übermäßige Anstrengungen, Infektionskrankheiten mit besonderer Betonung des Rheumatismus, toxische Einflüsse und Milieuschäden. Die Beteiligung der Männer überwiegt die der Frauen im Verhältnis von 2 zu 1. Nicht selten erliegen die Kranken ihrem Leiden bereits um das 50. Lebensjahr. Die Herzklappenfehler sind vorwiegend im mittleren Lebensalter anzutreffen, und zwar bei den Männern doppelt häufiger als bei den Frauen. Diese Beobachtung ist in der Nachkriegszeit ebenso zu machen wie im Jahre 1938. Ursächlich sind anzuschuldigen: Infektionskrankheiten, insbesondere Rheumatismus, Scharlach und Syphilis, sowie Arteriosklerose. Bei dieser ist die Prognose im allgemeinen günstiger als bei luischen Prozessen. Eine Kreislaufinsuffizienz schließt sich an als ein Versagen des geschwächten und doch mehr arbeitenden Herzmuskels an einen Herzmuskelschaden, eine Myokarditis, eine Koronarsklerose, einen Klappenfehler, eine Hypertension, eine Überanstrengung oder ein Emphysem und bedingt eine ungünstige Prognose. Nach durchschnittlich zweijährigem Verlauf tritt eine vorzeitige Invalidität oder ein früher Tod um das 50. Lebensjahr ein. Am stärksten gefährdet sind die körperlich anstrengenden Berufe und demgemäß mehr die Männer als die Frauen. Die Arteriosklerose hat im Vergleich zur Vorkriegszeit infolge der veränderten Altersstruktur in der Bevölkerung um 60% zugenommen und bevorzugt das sechste Lebensdezennium. Je zur Hälfte kommt sie auf das Schuldkonto von körperlicher und geistiger Arbeit. Als Koronarsklerose offenbart sie sich im Gefolge von dauernder Hast und von quälendem Arbeitszwang, der oft verbunden ist mit Unlust, Angst, Verantwortungslast, seelischer Spannung und körperlicher Anstrengung. Um diese Zustände zu beheben oder zu lindern, werden anregende, beruhigende oder lösende Genußmittel gewählt, wie Kaffee, Tee, Nikotin und Alkohol, insonderheit in der Form von schweren Süd weinen, die jedoch den ätiologischen Ring nicht sprengen, sondern verengen und den Herzinfarkt beschleunigen. Die begleitende Hypertension verläuft lange Zeit ohne Beschwerden, ist stets kompensiert und wird daher vielfach als Gelegenheitsbefund festgestellt. Die geistigen Berufe sind zu 43 % vertreten, verhältnismäßig oft auch Frauen. Das 5. und 6. Lebensjahrzehnt sind je zur Hälfte vorzugsweise beteiligt. In der Form eines stabilen Hochdruckes wird eine konstitutionelle Anlage kaum jemals vermißt. Den auslösenden Anstoß gibt entweder eine berufliche Überlastung, wie sie bei Industriellen, leitenden Direktoren und Beamten, Ärzten, Lokomotivführern und weiblichen Angestellten mit selbständiger Verantwortung anzutreffen ist, oder eine gewohnheitsmäßige Uberernährung bei Metzgern, Brauern und Gastwirten. Verstärkt werden die Erscheinungen durch Schlafmangel und anstrengende Reisen. Die in den ersten Nachkriegsjahren viel bemerkte Hypotension ist in den letzten Jahren nur wenig aufgetreten und trifft jetzt meist mit einer allgemeinen Schwäche, besonders bei Frauen, zusammen. Endokarditis und Embolie werden nur selten diagnostiziert. Frauen sind viermal häufiger betroffen als Männer. Weitreichende soziologische Gesetzmäßigkeiten lassen sich jedoch nicht gewinnen.
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Sozial- und Zivilisationskrankheiten
Alle ernsten, die Lebenserwartung einengenden Erkrankungen der Kreislauf organe sind weitaus am häufigsten im 5. und 6. Lebensjahrzehnt anzutreffen. Das nächste Dezennium folgt aber in der Frequenz unmittelbar nach, so daß es an die vorige Quote fast heranreicht. Unter den Entstehungsursachen muß daher die steigende Überalterung der Bevölkerung hervorgehoben werden. Ausgelöst werden die Beschwerden und Erscheinungen durch körperliche und geistige Überlastung ohne genügende Entspannung. Zur Beruhigung und zur Leistungssteigerung werden sodann Genuß- und Betäubungsmittel, Reizstoffe und Hypnotika verwendet, die aber keine natürliche Erholung ersetzen, sondern nach kurzer Zeit zur Verschlimmerung beitragen. Durch diese Stimulantien und eine unzureichende oder unzweckmäßige Ernährung werden Umstimmungen im vegetativen Nervensystem und im Endokrinium hervorgerufen. Vielfach verhindert zudem eine ungeregelte Lebensweise die erforderliche Erholung. Sie wird beeinträchtigt durch Wohnungsenge, lange Arbeitszeit, weite Arbeitswege, Nachtarbeit und Nachwirkungen von ungewöhnlichen Strapazen. Jedoch darf nicht der gesamte Betrag an Herz-Gefäßerkrankungen auf die sozialen Zeitbedingungen bezogen werden. Eine relative Zunahme beruht auf einer besseren Diagnostik und einer erhöhten Lebenserwartung, so daß diese Störungen als ein natürliches, der Abnützung angemessenes Begleitsymptom anzusehen sind. Aber man kann die Leiden und Beschwerden lindern, das Leben verlängern und die Leistungsfähigkeit bessern, wenn die Krankheit frühzeitig festgestellt wird, der Patient sich die ihm zuträglichen Beschränkungen auferlegt, sich einer regelmäßigen ärztlichen Kontrolle unterzieht und sein Verhalten vernünftig, d. h. nach seiner Konstitution und Belastungsspanne einrichtet. Für di ^.Individuai- und Gruppenpropbjlaxe folgt daraus als erste Folgerung und Forderung eine Frühdiagnose und Frühtherapie. Sie führt sinngemäß und zwangsläufig zu der Erkenntnis, eine Auslösung von Herz-Gefäßschäden durch inadäquate Milieubelastungen verhüten zu müssen. Dies kann in weitem Umfange erreicht werden durch eine angepaßte Berufsberatung und Berufswahl. Sie muß sich nach der biodynamischen Konstitution richten und die anatomisch-physiologische Reichweite bewerten. Zu der Hygiene des Arbeitsplatzes, die in der Gegenwart eine zunehmende Beachtung erlangt, gehört nicht nur die Einschränkung von Akkordarbeit und die Regelung von Nachtarbeit, sondern im weitesten Sinne die Vermeidung einer „Berufsversklavung", indem ein angemessener Wechsel von Arbeit und Ruhe, ein physiologischer Rhythmus von Spannung und Entspannung die Angsthast löst. Der Erfolg einer zuträglichen Zeiteinteilung wird verstärkt durch eine sinnvolle Lebensführung, die in der Ernährung, Wohnung und Erholungszeit eine besondere Wertigkeit erhält. In den letzten Jahren beanspruchte der Herzinfarkt eine größere Beachtung, weil seine Sterbeziffer (auf je 100 000 Einwohner) sich für beide Geschlechter um 50 % erhöhte. Die Relation der Anteile betrug für Männer 64% und für Frauen 36%. Im Stellenwert der Mortalitätsskala ist der Tod an Herzinfarkt mit 15 % anzusetzen bei einer Schwankungsbreite von 12 bis 17%. Er wird begünstigt durch starkes Rauchen sowie durch eine Vorliebe für reichliches und fettes Essen mit einer Zunahme des Körpergewichts. Weniger deutlich ist der Einfluß von Alkoholgenuß und Schlafdauer. Am stärksten gefährdet waren Berufe mit hoher Verantwortung und angespannter Aufmerksamkeit im Betriebe. Vor der ersten Herzattacke, die meist zwischen dem 56. und 63. Lebensjahr auftrat, hatten 44 % der Kranken keinerlei Beschwerden, so daß der Infarkt wie aus heiterem Himmel einschlug.
Bösartige Neubildungen
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Dabei war die Letalität mit 40% sehr hoch; den zweiten Herzinfarkt überlebten 26% und den dritten nur 2%. Nach einer stationären Behandlung von durchschnittlich 53 Tagen konnten 50 % der Kranken im Alter von weniger als 60 Jahren ihre Tätigkeit wieder aufnehmen, von ihnen jedoch nur 30 % an gleicher Stelle mit Erleichterungen und 20 % nach Berufswechsel. Für die Prognose der Herz-Kreislauferkrankungen und damit als Ansätze für die Prophylaxe ergeben sich vier Hinweise: 1. die klinischen Zeichen nach Art, Begleitkrankheiten, Frühbeschwerden und Rückfällen; 2. die biologischen Fakten nach Alter, Geschlecht, Konstitution, Lebensführung, Lebenshaltung und Genußmittelmißbrauch; 3. die peristatischen Faktoren, insbesondere nach körperlicher und geistiger Überlastung ohne ausreichende Entspannung; 4. die psychischen und psychosomatischen Momente nach anhaltenden oder sich wiederholenden Stress-Wirkungen in Beruf, Familie und Umgebung. Die öffentliche Fürsorge kann dabei helfen, indem sie 1. Einrichtungen für eine Frühdiagnose schafft, 2. sich der Rekonvaleszenten annimmt, 3. Heim- und Gemeindepflegerinnen einstellt, 4. eine häusliche Überwachung aller Bedürftigen, insbesondere der älteren, alleinstehenden und hilfebedürftigen Kranken, einrichtet. 3. Bösartige Neubildungen Seit dem Jahre 1892 rückten die Todesfälle an bösartigen Neubildungen von der 5. Stufe in der Mortalitätsskala allmählich auf und nehmen gegenwärtig die 2. Stelle ein. Für das Deutsche Reich und die Bundesrepublik Deutschland zeigt sich ein Anstieg der Sterbeziffer (auf je 10 000 der Bevölkerung) von 8 im Jahre 1905 über 14 im Jahre 1931 auf 20 im Jahre 1962. In anschaulicherer Form dargestellt waren Krebskrankheiten aller Art die Todesursache bei jedem 38. Sterbefall des Jahres 1892, jedem 30. des Jahres 1900, jedem 15. des Jahres 1920 und jedem 7. oder 6. seit dem Jahre 1946. Eine Gegenläufigkeit dazu läßt die Sterbekurve der Tuberkulose (aller Formen) erkennen: Sie sank von 26 (je 10 000 Einwohner) im Jahre 1892 auf 4 im Jahre 1950 und auf 1,4 im Jahre 1962, während sich die Kurve der Sterblichkeit an Krebskrankheiten in den gleichen Jahren von 6 auf 16 und 20 im Jahre 1962 erhöhte. Für diese anhaltende Zunahme der Todesfälle und der Erkrankungen an bösartigen Neubildungen sind als auslösende Faktoren zu veranschlagen: 1. der Bevölkerungszuwachs, 2. die verlängerte Lebensdauer, 3. die Vermehrung der Krebsnoxen aus den Neben- und Abfallstoffen der Produktionsprozesse, die mit Kanzerogenen die Umgebung des Menschen kontaminieren, und 4. die verbesserte Diagnostik. Aus der Reihe der ätiologischen Momente sind 6 Gruppen hervorzuheben, nämlich physikalische, chemische, thermische, infektiöse, genetische und konstitutionelle, so daß sie in exogene Schädigungen und endogene Anfälligkeit gegliedert werden können. Den exogenen Noxen wird eine entscheidende Wirkung vor einer
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Sozial- und Zivilisationskrankheiten
inneren Disposition bei2umessen sein. Angeschuldigt werden Ruß und Paraffine, Tabak und manche mit Farbstoffen geschönte oder mit Zusätzen konservierte Nahrungs- und Lebensmittel, wie Konserven, Obst, Früchte u. a. Sie erfordern eine mit allen Mitteln zu erstrebende Prophylaxe. In der Bundesrepublik Deutschland ist die Bekämpfung der bösartigen Neubildungen, der sog. Krebskrankheiten, den Ländern überlassen. Sie haben dazu Krebsberatungsstellen, Konsiliarstellen oder eine Geschwulstkrankenfürsorge eingerichtet, die in enger Verbindung mit den Ärzten, Krankenanstalten und Kliniken einen freiwilligen Besuch vorsehen. Die Erfahrungen der Konsiliarstellen des Landes Nordrhein-Westfalen reichen am weitesten zurück, nämlich in das Jahr 1948, und führten bis in die Gegenwart zu Anpassungen an die Anforderungen. Die Übersichten der Bundesrepublik Deutschland stützen sich auf die Leichenschauscheine und lassen daher nur begrenzte Rückschlüsse auf die Erkrankungsfrequenz zu. Ein Vergleich mit anderen europäischen Ländern zeigt, daß die Sterbeziffern der bösartigen Neubildungen einschließlich der des Blut- und Lymphsystems sich in annähernd gleichen Maßen zwischen 15 bis 20 je 10 000 der Bevölkerung halten und geringere Beträge bis herab zu 12 oder 8 ganz selten sind. Die Sterblichkeit nach Altersklassen im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik Deutschland für die Jahre 1924/26 und 1961 erweist eine übereinstimmende Tendenz, v o m Säuglingsalter mit einer niedrigen Q u o t e unter 0,5 (je 10 000 Einwohner) zu beginnen und gleichmäßig bis zu 20 und 26 im Alter von 75 und 80 Jahren anzusteigen. In diesem Zeitraum von 35 Jahren blieb die Sterbeziffer bis zum 30. Lebensjahr nahezu gleich hoch, stieg jedoch bei den späteren Jahrgängen deutlich an. Der Organbefall veränderte sich in der Zeit seit 1905 nicht wesentlich. E s waren betroffen in den Jahren 1905-1931 1932-1961
die Verdauungsorgane Geschlechtsorgane Atmungsorgane Brustdrüsen Haut sonstigen Organe einschließlich Leukämie und Aleukämie zusammen
52% 22% 8% 7% 1% 10% 100%
48% 22% 12% 5% l J
13% 100%
In Nordrhein-Westfalen bieten die „Allgemeinen Konsiliarstellen" als Krebsberatungsstellen nach einer Anlaufzeit von vier Jahren einen verwendbaren Uberblick über die Erkrankungen an bösartigen Neubildungen. Innerhalb von 15 Jahren, von 1952 bis 1966, konnten 185 derartige Einrichtungen mit der erforderlichen Ausstattung erstellt werden. Die Beratung und Untersuchung von Frauen und Männern erfolgt kostenlos, da die notwendigen Mittel von Land, Gemeindeverbänden, Versicherungsträgern und Fürsorgeverbänden aufgebracht werden. Unter den bisher rund 900 000 Ratsuchenden waren mehr als ein Drittel Frauen, von denen 81 auf je 1000 im Alter von mehr als 25 Jahren standen; erwerbstätig waren 14 % , und 86 %waren verheiratete Hausfrauen.
Bösartige Neubildungen
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Als entscheidendes Ergebnis ist festzuhalten, daß bei 1 % der Besucher eine bösartige Neubildung, also eine Krebskrankheit, nachgewiesen wurde. In weiteren 26 % bestanden andere Erkrankungen, die einer ärztlichen oder klinischen Behandlung bedurften. In den ersten Jahren der Konsiliartätigkeit wurden 1,4% Krebsleiden gefunden, vor allem bei Frauen an den Geschlechtsorganen und an der Brust. Als operabel und günstig wurden 80 % erklärt, jedoch 20 % als fortgeschritten und inoperabel. Die größte Gefährdung bestand bei den Frauen im Alter von 35 bis 50 Jahren, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung mit 15 % zu veranschlagen ist. Wenn man bei einer überschläglichen prognostischen Bewertung der Aktionen von einer Neuerkrankungsquote von 2 auf je 1000 Einwohner ausgeht, dann errechnet man für die Bundesrepublik Deutschland mit ihren 60 Millionen Einwohnern einen Betrag von 120 000 Neuzugängen an Kranken im Jahr. Bei einer Heilungsoder Besserungsfähigkeit in 80 % kann 96 000 Menschen geholfen werden. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die Aufrechnung für England und Wales mit 1,7 Krebsleiden auf je 1000 Einwohner. Von den sich bei 54 Millionen ergebenden 91 800 Neuerkrankungen wären die Chancen für 73 440 günstig. Diese Aussichten rechtfertigen die aufgewendeten Mühen und Geldmittel. Von den Kranken mit Neubefunden an bösartigen Neubildungen, die in den Konsiliarstellen beraten wurden, standen 7% im Alter unter 35 Jahren, 10% im Alter von 35 bis 40 Jahren, 14% im Alter von 40 bis 45 Jahren, 15% im Alter von 45 bis 50 Jahren, 15% im Alter von 50 bis 55 Jahren, 14% im Alter von 55 bis 60 Jahren und 25% im Alter über 60 Jahre. Diese Verteilung und die Frequenzverschiebung gegen die Sterberaten erklärt sich zum Teil aus einer gewissen Scheu zum Besuch der Konsiliarstellen und auch aus persönlichen Besorgnissen; denn 15 bis 20 % der Besucher hatten bis zu ihrer ersten Untersuchung weder Beschwerden noch irgendwelche ihnen auffallende Erscheinungen. Den Anlaß %um Aufsuchen der Beratungsstelle gaben: 1. vorbeugende Bestrebungen im Alter bis zu 40 Jahren bei 190 von je 1000 Gleichaltrigen; 2. vorhandene Besorgnisse oder Symptome im Alter von 40 bis 60 Jahren bei 100 bis 120 von je 1000 der Gleichaltrigen und 3. mindere Befürchtungen bei 30 von je 1000 der über 60jährigen, weil sie lediglich eine Sicherheit haben wollten. Von den festgestellten Organbefunden waren Erkrankungen der Geschlechtsorgane 67 %, davon 54 % der Gebärmutter, 28 % der Brustdrüsen und 5 % anderer Organe. Unter den Neubefunden waren 13% mit Metastasen oder Rezidiven. Erste Feststellungen waren bei 87 % gegeben. Dies ist um so wichtiger einzuschätzen, als bis zum Jahre 1952 jeder 5. bis 6. weibliche Sterbefall durch eine bösartige Neubildung verursacht wurde, davon mehr als ein Drittel durch eine Krebskrankheit der Genitalien oder der Brustdrüsen. Eine Differenzierung des Organsitzes nach Geschlechtern ergibt für NordrheinWestfalen und vergleichsweise für neun andere europäische Länder folgendes Bild, bezogen auf die gleichen Zeiträume:
64
Sozial- und Zivilisationskrankheiten Nordrhein-Westfalen
Erkrankte Organe
m
Haut Atmungsorgane Mund und Rachen Verdauungsorgane Brustdrüsen Harnorgane Geschlechtsorgane andere Organe davon: Hirn und Zentralnervensystem Knochen zusammen
m
w
%
%
17 8 10 36
11
%
8
16
2
2 23 24 3 27 8
7 12 10
(2)
54
13 9
(1.5)
(1,0)
(1,5) 100
Europäische Länder
100
100
Besonders hervorgehoben seien die in den letzten Jahren beachteten Neubildungen der lymphatischen und hämatopoetischen Gewebe, die unter der Bezeichnung neoplastische Leukämien und Aleukämien in den Statistiken aufgeführt werden. Die Sterbeziffern (auf je 100 000 Gleichaltrige) erhöhten sich in der Bundesrepublik Deutschland von 4,5 auf 6,2. In ihrer Altersfrequenz nahmen sie vom Säuglingsalter (mit 4,7 bis 4,9) gleichmäßig bis zum 20. Lebensjahr ab (auf 1,8 bis 2,3), um dann wieder kontinuierlich bis zu fast 30 anzusteigen. Als Behandlungsfälle wurden in europäischen Ländern auf je 1000 Einwohner angegeben: für das männliche Geschlecht 0,1 bis 0,6 und für das weibliche 0,1 bis 0,4. Der Besuch der Konsiliarstellen ließ in den letzten Jahren etwas nach; er verringerte sich von 7 bis 10 Untersuchungen je 1000 der Bevölkerung und Jahr auf 6 bis 7. Die Ursache ist wohl in einer bequemen oder erschwerten Erreichbarkeit der Beratungsstellen zu suchen. In den Großstädten mit ihren guten Verkehrsverbindungen betrug die Quote etwa 110 (je 1000 Einwohner), verringerte sich jedoch in den Mittel- und Kleinstädten auf 75 bis 53 und in den Landgemeinden auf 46 bis 42. Für die prognostischen Erwartungen sind die Angaben einiger europäischer und außereuropäischer Länder aufschlußreich. Die Sterbeziffern (je 100000 Einwohner) nahmen im Dezennium 1950/52 bis 1958/60 überall zu: England und Wales Frankreich den USA Australien Chile Israel Japan
von von von von von von von
19,7 18,0 14,1 12,7 8,6 8,0 8,0
auf auf auf auf auf auf auf
21,4 19,4 14,8 13,0 10,0 10,0 10,0
Die Morbidität (auf je 100 000 Einwohner) belief sich in der Tschechoslowakei in der gleichen Zeit auf 180, in England und Wales auf 184 und in Ost-Deutschland auf 246. Die Altersgliederung ergab jeweils rasche Anstiege nach dem 45. Lebenswahr, und zwar um das Neun- bis Zehnfache gegen die Altersperiode vom 15. bis
Bösartige Neubildungen
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45. Lebensjahr. Nach dem Organsitz werden vor allem die Geschlechtsorgane und Brustdrüsen bei den Frauen betroffen, sodann bei beiden Geschlechtern die Verdauungsorgane und die Atmungsorgane. Die Neoplasmen des Blut- und Lymphsystems werden mit 0,1 bis 0,6 auf je 1000 Einwohner (als Erkrankungsziffer) aufgeführt. Nach den vieljährigen Erfahrungen werden übereinstimmend als Vor- und Fürsorgemaßnahmen vorgeschlagen und gefordert: 1. eine Früherfassung in freiwilligen Vorsichtsuntersuchungen mindestens aller über 55 Jahre alten Menschen, unter Ergänzung durch Röntgen-Reihenuntersuchungen, 2. eine gesetzlich gesicherte öffentliche Gesundheitsfürsorge und 3. eine Nachsorge und nachgehende Fürsorge, die sich erstreckt auf eine Besserung der Milieubedingungen, der Lebensführung und eine vorbereitende Einstellung von Familie, Angehörigen und Heim auf die Entlassung aus der stationären Behandlung. Die Planungen für die Konsiliarstellen sehen vor: eine Vermehrung der Beratungsstellen, besonders auf dem Lande, einen Ausbau der Beratungs- und Untersuchungsmöglichkeiten für Männer, die Beschaffung von Radium und eine Förderung der Forschung über die Ursachen einer Entstehung von bösartigen Neubildungen. Nach dem Stande von 1968 sind als Forschungszentren vorhanden: 1. das Deutsche Krebsforschungszentrum Heidelberg, Direktor Professor Dr. K . H . BAUER, u n d
2. das Krebsforschungszentrum für klinische Krebsforschung am Klinikum in Essen, Direktor Professor Dr. C . - G . S C H M I D T , das insbesondere für die Forschung „am Krankenbett" und die Hämatologie vorgesehen ist. Das Wichtigste und Entscheidende sind die Vorsorgemaßnahmen, die eine Ausdehnung von Erkrankungsherden verhüten und eine rechtzeitige, aussichtsreiche Behandlung sichern sollen. Dabei leisten die notwendige Hilfe die Versicherungsträger sowie die öffentlichen und privaten Fürsorgeverbände, die sich meist zu Arbeitsgemeinschaften zusammengeschlossen haben. Nach der klinischen Behandlung setzt eine ambulante Überwachung des Erfolges sowie eine Nachsorge ein, um Rückfällen vorzubeugen. Die Hilfe nach dem Sozialhilfegesetz vom 30. Juni 1961 kann beansprucht werden als Krankenhilfe (§ 37), Eingliederungshilfe (§§ 39-47), Hilfe zur Pflege (§§ 68 und 69), Hilfe zur Weiterführung des Haushalts (§§ 70 und 71) sowie als Altenhilfe (§ 75). Die Prophylaxe ist besonders erfolgreich bei den sogen. „Berufskrebsen", und zwar durch die umgebungshygienischen Schutzmaßnahmen. Sonst bedarf es einer Früherfassung durch a) individuelle Untersuchung von Gesunden (medical check up) mit eingehenden „Gesunden-Kontroll-Untersuchungen" und b) Reihenuntersuchungen (mass-screening) mit vorwiegenden Laboratoriumsuntersuchungen. Der Auslese-Erfolg ist bei beiden Methoden etwa gleich groß und ergibt die Feststellung von 1-2 % Krebskranken. Die Methodik beschränkt sich gewöhnlich auf Anamnese, Palpation von Brust, Bauch und Becken, Zervikalabstrich mit zytologischer Untersuchung, Proktoskopie und Blutstatus. Dabei können zwar einzelne Kresbformen entgehen, aber die Bevölkerung findet sich leichter bereit zu einer Untersuchung. Sie muß dafür gewonnen werden durch eine gesundheitliche Volksaufklärung und eine Gesundheitserziehung.
5
Gerfeldt, Lehrbuch der Sozialhygiene
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Volkskrankheiten
Für die Therapie sehen erfahrene Vorkämpfer, wie K. H . BAUER, H . KIRCHHOFF u. a., eine notwendige Ergänzung der klassischen Methoden mit Operation und Bestrahlung in der Chemotherapie, um eine Karzinostase durch Störung der Stoffwechselvorgänge in den Krebszellen zu erreichen. 4. Krankheiten der Atmungsorgane (ohne Tuberkulose) In Mittel- und Westeuropa sind die akuten und chronischen Erkrankungen der Atmungsorgane in der Frequen^skala für Erkrankung, Tod und Lebenserwartung meist an vierter Stelle im Wettstreit mit den Unfällen zu finden. Ihre Position wechselt unter den Einflüssen von Landschaft, Klima, Milieu und Lebensweise nur in mäßigen Grenzen. Die durch eine verschiedene Klassifikation von Krankheitsgruppen in einzelnen Ländern bedingten Unterschiede haben sich seit der Übernahme des Internationalen Verzeichnisses der Krankheiten, Gesundheitsschädigungen und Todesursachen der Weltgesundheitsorganisation von 1948 in den Neufassungen von 1958 und 1968 verringert. Es wurden auch die Erfahrungen einbezogen, nach denen inhalierte Reizstoffe sowohl unmittelbar wirksam werden können als auch sekundär über Entzündungen der Nasen-Nebenhöhlen und Mandelentzündungen. Demnach werden in der internationalen Klassifikation unterschieden: akute Infektionen der oberen Luftwege einschließlich Nebenhöhlenentzündung, Rachen- und Mandelentzündung, Lungenentzündung (Pneumonie), Bronchitis in akuter und chronischer Form, Rippenfellentzündung und -Vereiterung (Pleuritis und Pleuraempyem), Lungenabszeß, Bronchiektasie, Pneumokoniosen (Staublunge u. a.), Emphysem, Asthma, Bronchorrhoe und Altersbronchitis. In den Aufstellungen und Ubersichten werden diese Untergruppen kaum einmal aufgeführt. Die Sterbeziffer (auf je 100 000 Einwohner) verringerte sich im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik Deutschland im dreißigjährigen Zeitraum von 1932 bis 1961 um gut 53 %. In Nordrhein-Westfalen sank sie in der Nachkriegszeit von 1952 bis 1964 noch um 4 % ab. Einbegriffen sind in beiden Uberblicken die Erkrankungen der Mandeln, der oberen Luftwege, der Infekte durch Grippe und andere Ansteckungen (ohne Tuberkulose), Pneumonie, Bronchitis, Pleuritis und alle sonstigen Erkrankungen der Atmungsorgane. Die höchsten Sterbeziffern (je 100 000 Einwohner) wiesen auf: Pneumonie mit 23,4, Bronchitis mit 18,2 und das Gros der Komplikationen mit 15,7. Die Erkrankungen jedoch stiegen in der Bundesrepublik Deutschland im gleichen Zeitraum von 1932 bis 1961 um 18% an. Dieser außerordentliche Unterschied zwischen Sterbe- und Erkrankungsfrequenz kann als Erfolg von Prophylaxe, Fürsorge und Therapie gewertet werden, verlangt jedoch noch weitere intensive Verhütungsmaßnahmen. Dies ist um so notwendiger, weil zwischenzeitlich auch Anstiege der Mortalitätsziffern auftraten, so im Jahre 1962 auf 80 und im Jahre 1963 auf 106 je 100 000 Einwohner. Aus den Erfahrungen der Pflichtversicherungen und der freien Versicherungen, die den größten Teil der Bevölkerung umfassen, ist zu entnehmen, daß die Geschlechter durch Erkrankungen der Atmungsorgane entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung bedroht werden, nämlich das männliche Geschlecht zu 46 % und das weibliche zu 54 %; sie sind als Einwohner im Verhältnis von 47 % m zu 53 % w vertreten. In der Aufgliederung nach Altersklassen überwiegt ebenfalls
Krankheiten der Atmungsorgane (ohne Tuberkulose)
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das männliche Geschlecht. Die Erkrankungsfrequenzen sind im Kindes- und Jugendalter größer als in den höheren Lebensaltern, weil die akuten Erscheinungen überwiegen, während später die ver2ögerten oder chronischen Abläufe zunehmen. Es pflegt an allen Formen von Erkrankungen der Atmungsorgane beteiligt zu sein: im Alter von Jahren 0-15 15-25 25-35 35-45 45-55 55-65 über 65
das männliche Geschlecht in%
das weibliche Geschlecht in%
28 21 17 17 16 15 14
27 19 16 16 12 10 14
Die durchschnittliche Dauer der Erkrankungen betrug - ohne Rücksicht auf das Alter - bei 76 % bis zu 8 Wochen, verlängerte sich bei 13 % auf 6 Monate und hielt bei 11 % bis zu 12 und mehr Monaten an. Die Abläufe tendieren von akuten und kurzen Erscheinungen in der Kindheit und Jugend zu protrahierten Zuständen mit zunehmendem Alter, so daß sich die Zeitdauer von 2 bis 4 Wochen auf 1 bis 2 Monate bei den mittleren Jahrgängen und auf 4 bis 6 Monate bei den 55- bis 60jährigen (in 13 %) verlängerte. Bei den Überlebenden jenseits des 60. und 65. Lebensjahres hatte sich eine Neigung zur Stabilität des bis dahin bewahrten Gesundheitszustandes eingestellt, und zwar bei beiden Geschlechtern. Für extravagante Belastungen, interkurrente Störungen und protrahierte Abläufe verbleibt weder die erforderliche Reservekraft noch die Zeit. Ein biologischer Sparvorgang setzt bei den Frauen meist früher ein als bei den Männern. Diese Abläufe wirken sich auf die Arbeits- und Berufs-Unfähigkeit aus. Sie bewegt sich zwischen 200 und 300 auf je 1000 Pflichtversicherte und erforderte bei 11 bis 16 je 1000 Versicherten eine Krankenhausbehandlung. Die Rentenzugänge erhöhten sich von 11 % im Alter von 50 bis 55 Jahren auf 28 % im Alter von 55 bis 60 Jahren und auf 48 % bis zum 65. Lebensjahr. Auch bei den Angestelltenberufen mußte jeder dritte Versicherte seine Tätigkeit vor dem Erreichen der Altersgrenze aufgeben. Die Mehrzahl der Rentenbezieher starb vor oder kurz nach Vollendung des 60. Lebensjahres, so daß die Rentenbezugsdauer mit 1,0 bis 2,4 Jahren weit unter dem allgemeinen Mittelwert von 3,8 bis 5,0 Jahren lag. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß nach Vollendung des 65. Lebensjahres fast 23 % sich noch nicht ganz zur Ruhe setzen und sogar 16% der über 70jährigen, wenngleich begrenzt, noch im Berufsleben verharren. Diese Beobachtungen geben wertvolle Hinweise für die Prophylaxe und für die Bestrebungen zur Wiedereingliederung in eine angemessene Tätigkeit. Berufliche Schädigungen können vorliegen bei Erkältungen ohne und mit bakteriellen Nachweisen, besonders aber bei zusätzlichen Reizungen der Atemwege mit absteigender Tracheitis durch Staub, Rauch und Gase. Als Berufskrankheiten gelten sie nach der 7. Berufskrankheiten-Verordnung vom 20. Juni 1968, wenn sie durch die in ihr aufgeführten Stoffe und Einwirkungen bedingt sind, wie Vanadium,
5*
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Volkskrankheiten
Aluminium, Asbest, Metallstäube, Quarz und Thomasmehl. Dafür kommen nicht nur bestimmte berufliche Arbeiten in Betracht, sondern auch bestimmte Unternehmen, in denen bei der Einwirkung von Gasen, Dämpfen, Rauch, Staub und trockener Hitze oder feuchter Wärme derartige Erkrankungen in erheblich höherem Grade oder Umfange auftreten als bei der übrigen Bevölkerung. Unter den Ursachen, die den Übergang einer hartnäckigen Bronchitis in ein Asthma oder Emphysem begünstigen, ist häufig (in 41 %) eine Erbanlage zu nennen. Zu einer solchen konstitutionellen Disposition treten sodann auslösende Faktoren hinzu, nämlich Infekte und Intoxikationen, körperliche Überlastungen, psychische Erschöpfungen (beim Emotionsasthma) sowie Umwelt- und Milieu-Einflüsse als physikalische Reize (durch Witterung, Klima, Erkältungen, atmosphärische Störungen, Bodenbeschaffenheit) und infolge von Allergenen aerogener und nutritiver Art. Die chronische Bronchitis und ihre Folgezustände, wie bronchitisches Asthma, Bronchiektasien und Cor pulmonale, sind vorwiegend multifaktoriell bestimmte Zustände, worauf sich die Prophylaxe in ihrer ätiologischen Analyse einzustellen hat. Trotz einer gewissen Veranlagung oder Neigung zu chronischen Verlaufsarten lassen sich keine charakteristischen Persönlichkeitsprofile aufstellen. In der Regel bilden die endogenen und exogenen Momente, die emotionelle Ansprechbarkeit und die allergischen Faktoren ein Bündel von Ursachen. Innerhalb der landschaftlichen Verschiedenheit und der beruflichen Einflüsse zeigen sich regelmäßig signifikante Differenzierungen nach Geschlecht und Altersperioden. Die Männer leiden erheblich häufiger an chronischen Zuständen mit ihren Folgen als die Frauen, und zwar im Verhältnis von 2 zu 1 bis zu 3 zu 1. Mit der beruflichen und peristatischen Exposition steigert sich in zunehmendem Alter auch die Prädisponiertheit. Bei Säuglingen und Kleinkindern werden Spasmophilie und Rachitis als begünstigende Vorbedingungen gefunden. Im Schulalter treten sie zurück hinter den Zeichen von Lymphatismus und neurovegetativer Reizbarkeit. Nach dem Eintritt in den Beruf überwiegen die exogenen Einflüsse. Die Erkrankungen der Atmungsorgane verlaufen dabei im Jugend- und mittleren Lebensalter (etwa bis zum 50. Lebensjahr) überwiegend akut innerhalb von wenigen Wochen. Erst später werden die Ablaufszeiten länger und können chronische Zustände nachfolgen lassen. Wenn sich jenseits des 65. Lebensjahres eine relative Stabilität des Gesundheitszustandes erhalten läßt, dann treten die Erkrankungen der Atmungsorgane seltener auf, und zwar nur halb so oft wie im Kindesalter. Sie verlaufen dann bei 70 bis 80 % innerhalb von 1 bis 2 Monaten. Das Schicksal der Kranken mit Erkrankungen der Atmungsorgane wird letztlich durch die Funktion des rechten Herzens bestimmt; dies gilt für die chronischen Zustände nicht minder wie für die akuten. Unter Berücksichtigung von Befund und Körperzustand ist eine Übersterblichkeit bei chronischer Bronchitis im Vergleich zur allgemeinen Sterblichkeit durchschnittlich mit 50 bis zu 100% anzusetzen. Die Prognose wird um so ungünstiger, je früher die Erkrankung beginnt und zu Asthma, Emphysem und Cor pulmonale führt; dann erhöht sich die Übersterblichkeit auf 165 bis zu 200 und 260 %. In der Prophylaxe und den sozialen Hilfen wird die Heilbehandlung unterstützt durch eine roborierende Diät und durch alle Maßnahmen, die eine vegetative Umschaltung wie bei den Adaptationskrankheiten (Parasympathikotonie bzw. Vagotonie und Sympathikotonie) und eine Stützung der Abwehrkräfte erstreben. Sobald
Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten, Krankheiten der Verdauungsorgane
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schädliche Allergene oder ihre Äquivalente festgestellt werden, ist eine zweckmäßige Allergiekarenz anzusetzen. Sie kann in ihrer Vermeidung bestehen, aber auch einen Wechsel von Wohnort und Arbeitsplatz sowie eine Umstellung von Lebensweise und Lebensgewohnheiten erfordern. Den Übergang in die tägliche Umgebung erleichtern Klimakuren im Hochgebirge oder in Klimaanlagen unter Vermeidung von Überforderungen und Erkältungen. Der erneute Arbeits- und Berufseinsatz bedarf einer zweckentsprechenden Vorprüfung von Peristase und Milieu. 5. Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten, Krankheiten der Verdauungsorgane In Anlehnung an die Internationale Klassifikation (ICD) von 1968 sollen hervorgehoben werden: Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), Fettsucht, Gicht, Rachitis und Kropf sowie Krankheiten der Zähne und Magen-Zwölffingerdarmgeschwüre. Sie sind aus epidemiologischen Gründen unter die sozialbedingten Störungen einzureihen und einer Prophylaxe, Vor- und Fürsorge zugänglich. I a) Diabetes mellitus oder Zuckerkrankheit Alle internationalen und nationalen Übersiebten über eine Zunahme des Diabetes beruhen auf indirekten Schlußfolgerungen, insbesondere aus den Mortalitätsdaten und aus „Suchaktionen" mit Testproben bei Reihenuntersuchungen. Sie sind daher als Mindestwerte anzusehen. Die wirklichen Quoten dürften ungefähr in doppelter Höhe liegen. Die Schwankungsbreiten werden mit 2 bis 170 je 10 000 der Bevölkerung angegeben und bewegen sich um einen Mittelwert von 110 je 10 000. Die Mortalität (auf je 100 000 der Bevölkerung) im Deutschen Reiche, in der Bundesrepublik Deutschland und im Lande Nordrhein-Westfalen stieg kontinuierlich seit 1877 bis 1956 für beide Geschlechter an, und zwar von 0,9 auf 16,6; dann stellte sich bis zum Jahre 1964 eine Remission auf 12,9 ein. Diese Beobachtung spricht nicht dafür, daß die Hungerjahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges günstig auf die Abnahme der Diabetesfrequenz gewirkt hätten, vielmehr dürfte die Aufklärung über Ernährungsfragen und eine verstärkte Beratung diese Senkung der Sterbeziffern begünstigt haben. Aus der Aufgliederung der Sterbefälle nach Geschlechtern geht hervor, daß das weibliche Geschlecht im Querschnitt stärker betroffen war als das männliche, und zwar im Verhältnis von 69 % w zu 31 % m. Die Altersjahrgänge von der Kinderzeit bis zum 45. Lebensjahr weisen mit 0,4 bis 2,0 je 100 000 Gleichaltrige bei beiden Geschlechtern die niedrigsten Werte auf. Dann erhöht sich die Sterbeziffer rasch und steil über 3,0 auf 6,0 und 32 bis zum 65. Lebensjahr, um im Alter von 75 bis 80 Jahren die Höchstbeträge mit 110 beim männlichen und 143 beim weiblichen Geschlecht zu erreichen. Diese Werte sind sehr wahrscheinlich nur unvollständige Feststellungen, und manche Sterbefälle dürften unter anderen Krankheitsbezeichnungen eingetragen worden sein, weil die aufgetretenen Komplikationen im Vordergrund standen. Für die Feststellung der Morbidität stehen zur Verfügung: die Anforderungen zum Insulinbedarf der Ärzte, die Suchaktion der Bundesärztekammer von 1964 und die Beobachtungen der Diabetes-Beratungstellen. Danach ist mit einem Mindestbetrag von 0,8 bis 1,0% an Diabetikern in der Bevölkerung zu rechnen, wahrscheinlich
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Volkskrankheiten
aber mit 1,25 bis 1,7%, wenn man sich dabei auf die Reihenuntersuchungen in München und vergleichsweise in den USA stützt. Die Geschlechterproportion wäre auch nach internationalen Analysen mit etwa 60 % weiblichen und 40 % männlichen Kranken anzusetzen. Die Ursachen für dieses Überwiegen der Frauen sind noch nicht völlig geklärt. Sie werden gesucht in ihrer größeren Lebenserwartung, zumal vorwiegend die älteren Jahrgänge betroffen werden, in den erhöhten Anstrengungen mit zunehmendem Alter, den Belastungen durch Schwangerschaften und die Veränderungen im Endokrinium durch die Menopause, so daß die somatotropen und adrenokortikotropen Hormone über das Insulin überwiegen und als Insel-Antagonisten wirken. Dafür spricht auch die mit dem Wachstumsschub in der Pubertät sich einstellende Gegenregulation. In diesem Alter von 12 bis 14 Jahren können die ersten Diabeteserkrankungen beobachtet werden. Dann erfolgt um das 50. Lebensjahr eine zweite Episode der Erkrankungen, die häufig (bis zu 95 %) mit einer Fettsucht einhergeht. Sie hält bis zum 70. Lebensjahre an. In dieser Altersspanne werden 40 bis 60 % der Diabeteserkrankungen nur zufällig oder bei Reihenuntersuchungen entdeckt. Ein Schlankheitsdiabetes ist ziemlich selten. Bei einem Untergewicht um 20 % besteht in der Regel keine Zuckerkrankheit. Der Fettleibigkeitsdiabetes ist die Regel und ergibt eine klare Beziehung zwischen Diabetes und Obesitas. Sinngemäß tritt die Stoffwechselstörung bei der Stadtbevölkerung etwa zwei- bis dreimal häufiger auf als bei der Landbevölkerung und in Kleinstädten. In der Zeit von 1956 bis 1963 trat übereinstimmend mit den Beobachtungen in Ostdeutschland eine Zunahme der Erkrankungen um 127 % ein. Diese Tendenzen kennzeichnen die sovyalpathologische Lage. Von den Kranken fühlen sich 70 % nicht beeinträchtigt, aber 30 % klagen über Behinderungen. Von diesen wurden 4 % vorzeitig invalide, und 14% mußten ihre Tätigkeit oder ihren Beruf wechseln. Eine Früherkennung ist notwendig, um Spätkomplikationen zu vermeiden, die Arbeitsfähigkeit zu sichern und die Lebenserwartung zu erhalten. Die Gefahren liegen vor allem in einer Retinopathie, Angiopathie und Nephropathie. Die wirtschaftlichen Belastungen durch eine Zahl von fast 1 Million Diabetikern sind hoch. Sie rechtfertigen umfassende Präventivmaßnahmen. Vielfach reicht schon eine Diät mit Diätkontrollen aus, um einen Patienten „bedingt gesund" zu machen oder einem Gesunden fast gleichzusetzen. Sie genügt im Alter von 20 bis 29 Jahren bei 72 % und im Alter von 50 bis 59 Jahren bei 70 %. Eine Diät und Insulin sind nötig im Alter von 20 bis 29 Jahren bei 28 % und im Alter von 50 bis 59 Jahren bei 30%. Damit wird gleichzeitig die Lebenserwartung verlängert. Während vor wenigen Jahrzehnten noch 64 % vorzeitig starben, sind es gegenwärtig nur noch 2 %. Zwingend notwendig ist es, eine Adipositas zu verhüten; dabei werden die Diätregelungen durch angepaßte Körperbewegung unterstützt. In der Methodik der Früherkennung ist die qualitative Harnzuckerfeststellung nur ein grobes Sieb, um Kranke herauszufinden. Besser, aber auch zeitraubender und kostspieliger ist der Vergleich zwischen Harnzucker und Blutzucker sowie die qualitative Harnuntersuchung mit einem enzymatischen Glukotest und Farbindikator (in Form von Teststreifen). Ein Verdachtsbefund erfordert sodann eine genauere Ergänzungsprüfung, um harmlose Glykosurien von echtem Diabetes zu unterscheiden. Die Einstellung auf Diät und Insulin erfolgt am besten durch Diabetes-Beratungsstellen, die an die interne Abteilung einer Klinik oder eines Krankenhauses angeschlossen sind. Gleichzeitig wird die Diät so festgelegt, daß
Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten, Krankheiten der Verdauungsorgane
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eine Fettleibigkeit vermieden wird. Sie entscheiden auch, ob ein Depotinsulin oder Biguanide verwendet werden sollen. Bei Kindern diabetischer Eltern sind regelmäßige Vorsichtsuntersuchungen mit Gewichtskontrollen angezeigt, weil die Erbanlage ein wichtiger Faktor ist. Die erbliche Anfälligkeit und eine Pankreasschwäche reagieren leichter auf exogene Einflüsse, wie etwa Ernährungsform, körperliche und seelische Belastungen sowie Gravidität. Im ganzen ist der Diabetes mehr als eine „Wohlstandskrankheit" zu charakterisieren, als daß er wirtschaftlich oder rassisch bedingt erscheint. b) Fettsucht (Obesitas) Durch die neuzeitlichen Hilfsmittel wurde die schwere körperliche Arbeit erleichtert und weitgehend den Menschen abgenommen. Vor rund 100 Jahren mußten noch 40 % der Arbeitnehmer mit eigener Kraft schwer arbeiten, heute sind es noch etwa 10%. Gleichzeitig konnte die Arbeitszeit verkürzt werden. Das Nahrungsangebot hat sich erhöht und verbessert. Es wurde vielgestaltig und paßte sich der Geschmacksrichtung an. Gleichwohl ermäßigten sich die Haushaltsausgaben für Ernährung und Genußmittel für die sog. Normalfamilie, bezogen auf ein Durchschnittseinkommen und vier Familienmitglieder (Eltern und 2 Kinder) von 48 % im Jahre 1950 auf 44 % im Jahre 1962 und auf 34 % in den Jahren 1967 und 1968. Die Gefahr von Überernährung hat sich erhöht. In der Bundesrepublik Deutschland weisen etwa 36 % aller Bürger ein Übergewicht auf. Die Körperfülle belastet die Herztätigkeit und den Kreislauf, verleitet zur Einschränkung der Körperbewegung und verkürzt die Lebenserwartung, wie die Erfahrungen der Lebensversicherungen bei uns und in anderen Ländern erweisen. Die Beziehungen zum Diabetes werden auch aus diesen bestätigt. In Ostdeutschland wird der Morbiditätsanstieg auf die Überernährung, vor allem den gestiegenen Fettkonsum, zurückgeführt, verbunden mit zunehmender körperlicher Inaktivität. Übereinstimmende Beobachtungen stellen fest, daß bei einem Übergewicht von 10 % die Lebenserwartung um 17 % sinkt, bei einem solchen von 30 % um 40 %, weil dadurch beeinflußt oder verstärkt werden: Stoffwechselerkrankungen, Magen-, Darm-, Leber- und Gallenleiden, Blutdruck, Herzinfarkt, Arteriosklerose und Gicht, so daß dadurch etwa ein Drittel der Todesursachen mitverschuldet wird. Begünstigt wird eine Körpergewichtszunahme vor allem durch Fette, aber auch durch leicht resorbierbare Kohlehydrate, namentlich Zucker und Weizengebäck. Als Fettsucht oder Obesitas ist eine Erhöhung des Normal- oder Idealgewichts um 10 % anzusprechen. Bei der maskulinen (androiden) Form, die manchmal auch bei Frauen vorkommt, setzt sich das Fettgewebe vorwiegend in der oberen Körperhälfte an. Dabei bleiben Hunger und Assimilation in der Regel recht ansehnlich, so daß die Körperfülle überraschend gut ertragen wird, eine gute Aktivität erhalten bleibt und die Muskulatur nicht beeinträchtigt wird. Doch auch bei diesem Typ treten mit der Zeit Komplikationen auf, insbesondere Arteriosklerose, Diabetes und Gicht. Die feminine (gynoide) Form tritt meist bei Frauen auf, zuweilen auch bei Männern und Kindern beiderlei Geschlechts. Der Fettansatz bevorzugt die untere Körperhälfte (Hüften, Gesäß, Schenkel). Dabei braucht die Nahrungsaufnahme nicht auffallend erhöht zu sein. Diese Typen sind muskelschwach, weichlich und wenig aktiv. Die Komplikationen zeigen sich vor allem an den Venen (Krampfadern), am Herzmuskel als Verfettung und als Gallensteinleiden.
Volkskrankheiten
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Zwischen beiden Formen gibt es Übergänge, die dazu verleiten, gemeinhin von einer Mastfettsucht zu sprechen. Die Ursachen liegen jedoch in einer Störung innerhalb des hormonalen Systems, das vom Zwischenhirn über die Hypophyse gesteuert wird und Impulse vom vegetativen Nervensystem erhält. Wenn die homöostatische Tendenz, das stabile Körpergewicht trotz aller im täglichen Leben vorkommenden Ernährungsschwankungen aufrechtzuerhalten, gestört wird, dann übersteigt die Assimilation der Nahrung den Abbau zu Abfallstoffen. Dieses Mißverhältnis tritt besonders bei Fetten und leicht aufschließbaren Kohlehydraten ein. Als auslösende Faktoren kommen Umwelteinflüsse verschiedener Art in Betracht, nicht zuletzt nervöse Reize, seelische Erschütterungen und Überlastungen, die über das Vegetativum und das Zwischenhim in die Regulation eingreifen und das Gleichgewicht zwischen Insulin, Testosteron und Androgenderivaten sowie von Kortisol und Kortikosteroiden stören. Solche kritische Zeiten finden sich oft in der Pubertät, der Schwangerschaft und im Klimakterium. Dazu treten dann noch die neuropsychischen Faktoren hinzu. Da es noch nicht möglich ist, die Störung des zentralen Hormonringes zu korrigieren, sind prophylaktische Vorkehrungen erforderlich, nämlich 1. eine gesundheitliche Aufklärung über die richtige, zeitgemäße und individuelle Ernährung, 2. eine Verminderung der Aufnahme von Fettgewebsbildnern, also von Fetten und Kohlehydraten, am besten nach einer praktischen Kuranleitung, 3. regelmäßige Kontrollen von Gewicht und Nahrungsmenge, 4. ausreichende körperliche Bewegung, 5. Ausschaltung der exogenen Belastungsfaktoren und nervös-psychischen Anlässe, 6. Milieu-Besserung oder Milieu-Wechsel, insbesondere wenn die Umgebung zu Bemitleidung oder Verspottung neigt, 7. kalmierende Medikation und Psychotherapie. Diese Anforderungen sind um so beachtlicher, als sich der „Warenkorb" und der Speisezttel im letzten Dezennium gewandelt haben, wie auch die Tendenz weiter anhält, sie mit hochwertiger Nahrung anzureichern. Während die Nachfrage nach Kohlehydraten, insbesondere nach Brot und Kartoffeln, abnimmt, bleiben Fette weiterhin beliebt, und Eiweißträger werden reichlicher angeboten, wie die Rückund Vorschau von 1955 bis 1975 belegt. Der Verbrauch je Einwohner in kg bzw. Stück bemißt sich
an
in
Rind- und Kalbfleisch Schweinefleisch Geflügel
kg kg kg
zusammen
kg
auf auf auf
1955
für 1964
16,2 25,4 1,7
21,6 31,2 5,6
28,6 28,6 8,6
43,3
58,4
65,8
1975 (geschätzt)
Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten, Krankheiten der Verdauungsorgane
an
in
1955
für 1964
Käse, Quark Eiern Trinkmilch Butter Pflanzenfetten
auf kg Stück auf Liter auf auf kg auf kg
6,0 177 120 7,0 13,4
7,9 234 106,5 8,9 12,4
9,6 266 106,5 9,6 10,4
20,4
21,3
20,0
160,0 93,8
123,0 70,9
105,1 58,9
253,8
193,9
164,0
zusammen Kartoffeln Brot
kg kg kg
zusammen
kg
auf auf
73
1975 (geschätzt)
Wenngleich bei den Lebenshaltungskosten die Preise für Nahrungsmittel von 1964 bis 1966 gestiegen sind, erhöhten sich gleichzeitig auch die Löhne und Gehälter, so daß ein gewisser Ausgleich erfolgte. Nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes verfügte der Durchschnittshaushalt im Jahre 1967 über einen Betrag von 955 DM monatlich. c) Gicht Im allgemeinen wird die Gicht nach ihrer Morbidität und Mortalität von den rheumatischen Erkrankungen nicht getrennt und in den Statistiken der Sterbefälle unter die sonstigen Stoffwechselkrankheiten und Avitaminosen eingereiht, so daß genaue Angaben über die Frequenz schwer zu erbringen sind. In der Gegenwart hebt man hervor, daß die Erkrankungshäufigkeit entsprechend dem zunehmenden Wohlstand ansteigt und mit 0,1 bis 0,5 des gesamten Krankenbestandes einzuschätzen sei. Aus europäischer Sicht läßt sich ein ausreichendes epidemiologisches Bild entwerfen. In der Bundesrepublik Deutschland und in Nordrhein-Westfalen betrug die Mortalität an allen Stoffwechselerkrankungen einschließlich der Avitaminosen in den Jahren 1952 bis 1964 im Durchschnitt 0,1 je 10 000 Einwohner jährlich. An dem rheumatischen Symptomenkomplex war die Gicht als Todesursache mit 1,2% beteiligt bei einer Geschlechterproportion von 80% männlichen und 20% weiblichen Kranken, während sie für den akuten und chronischen Rheumatismus umgekehrte Werte aufwies, nämlich 25 % männliche und 75 % weibliche Personen. Im Gegensatz zum akuten und chronischen Gelenkrheumatismus, bei dem schon im Alter von 20 bis 30 Jahren ein Anstieg der Todesfälle einsetzte, traten sie bei der Gicht erst im Alter über 60 Jahren ein. Die so^ialpathologische Lage der Gegenwart zeigt eine ansteigende Morbidität, läßt jedoch keine Veränderung in den Erkrankungsquoten nach erblicher, konstitutioneller und geschlechtlicher Bindung erkennen. Die früheren Unterschiede zwischen begüterten und bedürftigeren Kreisen haben sich entsprechend der Lebenshaltung ausgeglichen: Zum Mittelstand gehören 55 % und zu den Arbeitern und
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Volkskrankheiten
Handwerkern 45 % der Kranken. Dagegen haben sich die im Jahre 1966 von der Universität Ann Arbor in Michigan (USA) mitgeteilten Angaben auch für Europa bestätigt, daß die Gicht vielfach bei Geistesarbeitern vorkäme; man zog daraus die Schlußfolgerung als Theorie, die Harnsäure übe wie das strukturähnliche Koffein eine anregende, psychoanaleptische Wirkung aus. Unabhängig davon stellte die Medizinische Universitätsklinik in Münster fest, daß durch die methylierten Purine, wie Kaffee und Tee, die Gicht nicht befördert werde, wie man bislang glaubte. Wie alle Wohlstandskrankheiten hat auch die Gicht ihre eigene Latenzzeit zwischen Beginn und Manifestwerden: Sie ist beim Herzinfarkt mit 1 bis 2 Jahren nur kurz, beträgt j edoch bei der Gicht 10 bis 15 Jahre. Die Beziehung zum Hormonring zeigt sich darin, daß die Umstellung beim männlichen Geschlecht erst nach der Pubertät, beim weiblichen nach der Menopause einzutreten pflegt. Eine Heredität ist bei etwa 60 % anzunehmen. Im familiären Auftreten zeigen sich gewöhnlich wechselnde Anlagen zu allergischen Störungen, endokrinen Erscheinungen und Stoffwechselveränderungen. So kann sich ein Diabetes in der Elternoder Großelterngeneration als Gicht bei den Kindern oder Enkeln zeigen und umgekehrt. Die Männer werden mit 96% stärker befallen als die Frauen mit 4 % . Nach der Altersgliederung tritt ein Anstieg von der Pubertät bis zum Gipfel zwischen dem 50. bis 60. Lebensjahr ein, an den sich wieder ein Abfall anschließt. Die meisten Erkrankungen weisen mit 65 % die Altersklassen von 30 bis 60 Jahren auf. Die ersten Anfälle pflegen im vierten Jahrzehnt aufzutreten. Nach der Konstitution überwiegen unter den Erkrankten die pyknisch-fettleibigen Menschen mit 75 % über die normalgewichtigen mit 25 %. Als auslösende Ursachen für einen Gichtanfall gelten alimentäre Belastungen, Gifte und Drogen sowie physikalische Einflüsse. Eine reichliche Mahlzeit mit Leckereien oder Innereien und Alkoholgenuß, besonders mancher Weine, reichen zu einer Attacke aus, namentlich wenn noch eine seelische Erregung hinzukommt. Unter den Giften sind Blei und Quecksilber hervorzuheben, unter den Hormonen die Organextrakte. Traumen, klimatische Einflüsse und Infekte können Anfälle begünstigen. Eine berufliche Prädisposition wird im Nahrungsmittel-, Gaststätten- und Brauereigewerbe sowie im Fuhrdienst mit 45 % der Erkrankten beobachtet, entsprechend einer Vorliebe für Fleisch, Fett und Alkoholika. Nach der Form der Erkrankung unterscheidet man zweckmäßig die Gelenkgicht und die Eingeweidegicht (artikuläre und viszerale Gicht), nach dem Verlauf den akuten und chronischen. Die viszeralen Schäden sind ernster zu beurteilen als die augenfälligen Arthropathien; denn 42 % der Gichtkranken haben Myokardstörungen oder eine Niereninsuffizienz, aber auch eine Prostatitis als Folge einer Harninfektion. Als weitere Komplikationen treten auf: Verdauungsstörungen, Leberleiden und Gallensteine, Diabetes mellitus, Fettsucht, Reizerscheinungen an den Atmungsorganen und am Zentralnervensystem sowie an den Augen nicht selten Hornhautentzündungen oder -geschwüre und Chorioretinitis. Diese Begleit- und Folgezustände entscheiden über die Prognose. Sie ist bezüglich der Lebenserwartung im allgemeinen günstig. Sterbefälle infolge von viszeralen Komplikationen treten bei Männern in etwa 0,2, bei Frauen in 0,4 je 10 000 Lebende auf. Die entscheidende Belastung besteht in der Beeinträchtigung der Berufstätigkeit. Im Durchschnitt dauert die Arbeitsunfähigkeit beim akuten Anfall 14 Tage, zieht sich aber bei chronischen Rezidiven und subakuten Abläufen auf mehrere Monate hin.
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Darauf stellen sich die Fürsorgemaßnahmen und die Prophylaxe ein. Sie erstreckt sich auf die Regelung der Lebensweise und Ernährung, die Prüfung von Wohnung und Arbeitsplatz, die Unterweisung über auslösende Ursachen, die Einweisung in stationäre Behandlung und die Sicherung der häuslichen Pflege in sachgemäßer Form. d) Kropf In meerfernen Gebieten kommt der Kropf (Struma) endemisch oder sporadisch vor, und zwar im Alpengebiet wie auch in manchen Mittelgebirgen. Die sporadische Form tritt als Schilddrüsenschwellung bei Frauen und als Pubertätskröpf auf. Die Jodprophylaxe mit sog. Vollsalz hatte in den deutschen Bereichen gute Ergebnisse. Die meisten Erfahrungen liegen aus der Schweiz vor, wo der Kropf bis zum Jahre 1955 sehr verbreitet war, und zwar bei den unter 20jährigen in 8 %, bei den Erwachsenen bis zu 60 Jahren in 67 % und bei den älteren in 81 %. Zur Prophylaxe wurde und wird ein jodiertes Kochsalz mit einem Gehalt von 10 mg K J (entsprechend 7,7 mg J 2 ) je 1 kg Salz verwendet. Seitdem ist der Kropf bei Neugeborenen und Jugendlichen bis zu 20 Jahren so zurückgegangen, daß er nicht mehr als Problem der Sozialmedizin gilt, sondern als eine chronische verhütbare Krankheit. Bei älteren Menschen, bei denen bereits eine Struma nodosa entstanden ist, läßt sich günstigenfalls ein Stillstand erreichen. Der Jodmangel ist regional verschieden. Daher tritt der Kropf in jodarmen Gebieten endemisch auf, in jodreichen jedoch nur selten. Der Anlaß zur Kropfbildung kann zusätzlich auch von toxischen Stoffen in der Nahrung oder aus der Umgebung ausgehen, die es verhindern, daß aus der Depotsubstanz des Thyreoglobulins das proteolytische Thyroxin, das Monojod- und Dijodtyrosin freigesetzt werden. Solche Stoffe sind beispielsweise schwefelhaltige heterozyklische Verbindungen und Thioharnstoff. In diese Entwicklung greift anorganisches Jod ein und wird dadurch zur Grundlage der Jodtherapie nach PLUMMER. Der Jodbedarf zur Prophylaxe und Verhütung von Rezidiven beträgt 100 bis 300 Gamma Jod. Der Differenzbetrag zur angewendeten Jodgabe von 150 Gamma wird aus der Nahrung gedeckt. Eine infektiöse Ursache als mitwirkender Faktor konnte nicht bestätigt werden. e) Rachitis Wegen der hohen Säuglingssterblichkeit und der vielen Rachitis-Erkrankungen in ihrer Beziehung zu Verkrüppelungen, besonders auf dem Lande, wurden die Gesundheitsämter im Jahre 1934 veranlaßt, sich in den Säuglingsberatungsstellen auch einer planmäßigen Aufklärung der Mütter über die richtige Pflege und Ernährung ihrer Kinder anzunehmen. Mit bereitgestellten Mitteln sollten Fehlernährungen und Avitaminosen verhütet werden. Dies geschah in weitestem Umfange bis in die Nachkriegszeit hinein. Seit 1966 gehört die Schwangeren- und Säuglingsfürsorge zu den Pflichtaufgaben nach dem Mutterschutzgesetz und der RVO. In Nordrhein-Westfalen nahm die Rachitis bei den in den Mütter- und Säuglingsberatungsstellen untersuchten und betreuten Kindern von 60% im Jahre 1952 auf 8 % im Jahre 1953 ab und verringerte sich weiterhin bis zum Jahre 1961 auf 4 % , so daß von 1962 an keine besondere zentrale Überwachung mehr nötig war und die Obhut den Familien und ihren Hausärzten überlassen wurde.
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Die Besserung in den sozialhygienischen Bedingungen (an Wohnung, Lebenshaltung, Körperpflege), die Gesundheitserziehung, die prophylaktischen Maßnahmen und die Verwendung antirachitischer Wirkstoffe machten die Rachitis zu einer seltenen Krankheit. Soweit sie noch beobachtet wird, verläuft sie mild und hinterläßt keine Restschäden. Zur Prophylaxe werden unterstützend eingesetzt: Naturstoffe mit Vitamin-D-Gehalt, Lebertranzubereitungen in standardisierter Form und auch mit Zusatz von Vitaminen A, B und C, Calciferole im Frühstoß, als Stoßtherapie und in den letzten Monaten der Schwangerschaft wie auch Sonnenbestrahlung und UV-Licht. In den Übersichten von Ostdeutschland, der Schweiz, von England, Japan und den USA wird die Rachitis als Für- und Vorsorgeaufgabe nicht mehr erwähnt. II a) Krankheiten der Zähne Man könnte geneigt sein, anzunehmen, daß die Strukturveränderungen im Gefolge der Rachitis die Entstehung von Zabnkrankheiten und insonderheit von Karies begünstigen und ihr den Weg bahnen. Im Verlaufe der letzten 15 Jahre zeigte sich nach kritischer Sichtung des Beobachtungsgutes und seiner Reduktion auf vergleichbare Größen, daß die Rachitis eindeutig abgenommen hat, während die Karieshäufigkeit nach Zahnbefall und Kariesbefall der Bevölkerung als Frequenp quotient in der allgemeinen Tendenz zunahm, so daß eine Gegenläufigkeit zwischen Karies-und Rachitismorbidität besteht. Die günstigen Erfolge bei der Rachitisbekämpfung wirkten sich sonach bei der Jugendzahnpflege und der Kariesbekämpfung nicht aus. Da die Kariesfrequen£ auf der Erde mit 90 % eingeschätzt wird, muß sie als eine globale echte Volks- und besonders Zivilisationskrankheit bezeichnet werden; denn in den zivilisierten Ländern muß fast jeder Mensch damit rechnen, daß er durch Karies und ihre Folgen, durch Pulpitis, Parodontitis oder Ostitis, vorzeitig seine Zähne verliert. Dies ist nicht bloß ein kosmetischer Nachteil, er setzt vielmehr trotz prothetischer Hilfen die Leistungsfähigkeit herab, weil er die Verdauung beeinträchtigt, den Gesichtsschädel verformt und den psychischen Zustand bedrückt. In Nordrhein-Westfalen haben nach amtlicher Statistik des Innenministeriums nur noch 2 % aller Menschen im mittleren Lebensalter ein gesundes Gebiß. Zur Zeit des Zahnwechsels ist fast jedes Kind karieskrank und im Schulalter jedes dritte Kind behandlungsbedürftig. Bei den Arbeitern in den Betrieben und in der freien Wirtschaft setzt der Gebiß verfall um das 40. Lebensjahr ein. In den letzten 15 Jahren hatten nach den Feststellungen der Jugendzahnpflege 60% der Kleinkinder behandlungsbedürftige Zähne. Der Anteil verringerte sich bei den Besuchern der Real- und Höheren Schulen auf 36 %, bei den Volks- und Berufsschülern auf 43 bzw. 44%. Man kann nicht einwenden, das Gebiß sei nur in der Urzeit im Kampf ums Dasein lebensnotwendig gewesen, aber heute im Zeitalter der Zivilisation mit allen Erleichterungen und den Fortschritten der Prothetik nicht so wichtig. Es ist auch heute noch unentbehrlich zur Nahrungsaufnahme, zur Lautbildung und für die Mimik, weil der Gesichtsausdruck die Persönlichkeit prägt und viele soziale Lebensfunktionen erleichtert. Gerade die Fortschritte der Zivilisation begünstigen die Zunahme von Zahnkrankheiten. Die Ursachen sind vor allem in der Verweichlichung sowie der Verfeinerung und Denaturierung der Nahrungsmittel zu suchen; dabei werden viele wertvolle Wirkstoffe entzogen, vor allem Mineralien und
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Vitamine. Die Mineralisierung des Dentins steht aber in unmittelbarer Abhängigkeit vom Kalkgehalt des Blutes. Nach der Art der Erkrankungspro^esse lassen sich zweckmäßig unterscheiden: Zahnkaries und Parodontopathien (Erkrankungen des Zahnbettes). In jüngeren Jahren herrscht die Zahnkaries vor, mit zunehmendem Alter überwiegen die Zahnbetterkrankungen. Diese verursachen Schmerzen, behindern das Kauen, machen schlechten Mundgeruch und beeinträchtigen den Geschmack; schließlich werden die Zähne locker und fallen aus. Die Parodontopathien treten nach internationalen Erfahrungen bei Jugendlichen bis zu 20 Jahren in etwa 25% auf; die Frequenz erhöht sich bei Erwachsenen in mittleren Jahren auf 85 % und im Alter über 50 Jahre auf 85 bis 95 %. Die Proportionen von Karies zu Parodontopathien belaufen sich für diese Alters]ahrgänge auf 90% zu 10% bzw. 50% zu 50% und 30% zu 70 %. Männer haben häufiger Zahnfacherkrankungen als Frauen. In Ostdeutschland werden für den Bereich Zittau an Krankheiten der Mundhöhle und der Zähne, die ärztlich (nicht zahnärztlich) behandelt wurden, angegeben: hohe Erkrankungsziffern von rund 30 auf je 1000 der Bevölkerung in der Altersgruppe von 0 bis 5 Jahren; im Schul- und Jugendalter fällt der Betrag auf ein Drittel ab und weist eine sinkende Tendenz bis zum Alter von 65 bis 75 Jahren auf; dann erfolgt wieder ein Anstieg. Im Mittel errechnet sich die Erkrankungshäufigkeit für alle Jahrgänge und beide Geschlechter auf 7 je 1000 Menschen. Die zahnärztlichen Beobachtungen sind darin nicht enthalten. Bei dem chemisch-parasitären Erkrankungspro^eß sind zwei Vorgänge zu unterscheiden, die sich summieren: Die Kohlehydrate, insbesondere Zucker und Feinmehle, werden durch Mikroben zu Säuren vergoren, die Eiweißstoffe in Aminosäuren zerlegt; beide Spaltprodukte erfahren durch Metalle, wie Natrium u. a., eine Bindung zu Chelaten, die in saurem ebenso wie in alkalischem oder neutralem Milieu die Hartsubstanz der Zähne angreifen und zu einem „chemischen Verfaulungsvermögen" Anlaß geben. Die mit großen Erwartungen vor Jahren eingeleitete Fluoraktion wird nach den bisher gesammelten Erfahrungen mit bedenklicher Zurückhaltung beurteilt. Das Innenministerium Nordrhein-Westfalen (Gesundheitsabteilung) weist unter dem 3. April 1967 darauf hin, daß ein nennenswerter Erfolg von der Behandlung mit Kalkfluortabletten nur zu erwarten sei, wenn die Fluorgaben während der Zahnentwicklung einsetzen und über längere Zeit verabfolgt werden. In den Erörterungen auf Fachberatungen während der Jahre 1967 und 1968 wurde dargelegt, daß die Karies niemals durch Fluormangel in unserer Nahrung bedingt sein könne. Eine Vollwertkost in natürlicher, dem Bedürfnis und Geschmack angepaßter Mischung mit einem optimalen Gehalt an Mineralstoffen, insbesondere den Hauptelementen Ca und P, wird als Antikarieskost für wichtig und vorteilhaft erklärt. Da die therapeutische Breite des Fluors äußerst gering ist, reiche seine Wirkung für eine umfassende Kariesprophylaxe nicht aus. Eine kleine Dauerüberschreitung über die im Körper vorhandene Konzentration von 10 ~8 könne Schädigungen hervorbringen, insbesondere an enzymatisch gebundenen Zellfunktionen, so daß das Fluor sogar als „Kalkräuber" wirken könne. Die möglichen Spätschäden sind noch nicht ausreichend erforscht. Daher warnen Fachexperten vor einer Fluoridierung des Trinkwassers, die als Zwangsverordnung bedenklich sei. Auch in England sind die Ansichten zwiespältig: Einerseits wird der Fluorid-Zusatz zum Trinkwasser abgelehnt, andererseits wird versichert, der Zahnverfall habe nach
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Fluorid-Beigabe in der Altersgruppe von drei bis sieben Jahren nach elfjähriger Beobachtung um die Hälfte abgenommen, die Gruppe der überhaupt nicht von Zahnkaries befallenen Kinder habe sich verdoppelt, und Nebenwirkungen hätten sich nicht gezeigt. In der Schweiz will man mit lokaler Fluorapplikation bei Kindern nach dem Zahndurchbruch eine Karieshemmung bei 30 % festgestellt haben. Als Verhütung!- und Bekämpfungsmaßnahmen haben sich bisher als wirksam und notwendig erwiesen: Vorsorgeuntersuchungen, Frühbehandlung, regelmäßige Überwachung, Kostenübernahme für Versicherte oder Gewährung von ausreichenden Beihilfen bei regelmäßigen Nachuntersuchungen und hygienische Unterweisung, um Zahnmark-, Wurzel- und Zahnfacherkrankungen zu verhüten. Die Aufwendungen hierfür sind gering im Vergleich zu den Unkosten, die durch langwierige und eingreifende Behandlungen entstehen. Die Vorschläge und Entwürfe für ein Bundes-Jugendzahnpflegegesetz aus letzter Zeit stützen sich auf diese Erfahrungen und sehen die Aufgabe in einer Hilfe für Kinder und Jugendliche zur Pflege und Gesunderhaltung der Zähne, des Mundes und der Kiefer sowie zur Bekämpfung von Zahn-, Mund- und Kiefererkrankungen. Als zuständig für Durchführung und Sicherung der Maßnahmen sind die Gesundheitsämter vorgesehen. An Leistungen werden erfordert: 1. Reihenuntersuchungen, Nachuntersuchungen und nachgehende Fürsorge, wobei mindestens eine zahnärztliche Untersuchung im Jahr notwendig ist; 2. regelmäßige zahngesundheitliche Belehrungen; 3. Beratung der Eltern und Sorgeberechtigten, der Lehrer und Berufsausbilder; 4. schriftliche Benachrichtigung der Eltern oder Sorgeberechtigten über Befund und erforderliche Schutz- oder Behandlungsmaßnahmen; 5. unentgeltliche Leistungen; 6. statistische Auswertung für Forschung und notwendige prophylaktische Vorkehrungen. In Nordrhein-Westfalen sind für die Durchführung der Aktionen nach dem Stand von 1966 bereits 213 Zahnärzte tätig, und zwar 60% hauptamtlich als Beamte (47 %) oder Angestellte (13 %) und 40 % im freien Vertrags Verhältnis. Sie werden unterstützt durch 3 Zahntechniker und 141 zahntechnische Helferinnen. In den einzelnen Ländern der Bundesrepublik Deutschland sind zusätzlich zu den freien Behandlungsformen und den Verträgen mit Versicherungsträgern drei Systeme der Schul- und Jugend^ahnpflege eingerichtet, nämlich a) das Behandlungssystem mit ausschließlich hauptamtlichen Schulzahnärzten, b) das Überweisungssystem mit untersuchenden hauptamtlichen Zahnärzten und behandelnden freipraktizierenden Zahnärzten und c) das gemischte sog. „Frankfurter System" mit einer Beteiligung von hauptamtlichen Schulzahnärzten und freipraktizierenden Zahnärzten. Die Erfolge sind in allen annähernd gleich. Die besten Ergebnisse werden dem Behandlungssystem zugeschrieben mit dem Zusatz, es sei das teuerste. Das Überweisungssystem arbeitet mit guten Erfolgen billiger. Die Tätigkeit der gemischten Systeme hängt mehr oder weniger von Einsicht und gutem Willen der Eltern bzw. Sorgeberechtigten ab. b) Geschwüre des Magens und des Zwölffingerdarms Das Einwirken von peristatischen Einflüssen auf eine vorhandene psychosomatische Veranlagung zeigt sich bei der Entstehung von Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüren in einer Häufung der Morbidität zu Zeiten wirtschaftlicher Ümwälzungen und sozialer Schwierigkeiten. In den Tropen und bei Naturvölkern wird die Erkrankung nicht beobachtet; die natürliche Auslese ist dabei nicht zu
Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten, Krankheiten der Verdauungsorgane
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übersehen. Weit verbreitet ist sie hingegen in den zivilisierten und industrialisierten Ländern. Die Erkrankungsfrequenz schwankt gleichsinnig mit den politischen und konjunkturellen Veränderungen, wie die Beobachtungen in europäischen Ländern erweisen. Darin liegen die Ursachen der Morbiditätsquoten und die Ansätze für Prophylaxe und Fürsorge. Die Morbiditäts- und Mortalitätsvyffer läßt sich nur in Mindestwerten angeben, soweit eine ärztliche Behandlung erfolgte. Ein ansehnlicher Anteil wird nicht bekannt oder unter harmloseren Beschwerden registriert. Die vorhandenen umfassenden Daten bieten jedoch ein zuverlässiges Bild, zumal die Angaben über Erkrankungshäufigkeit und Sterblichkeit übereinstimmende Werte ergeben. Die Erkrankungstendenz im Deutschen Reich, in der Bundesrepublik Deutschland und in Nordrhein-Westfalen in der Zeit von 1932 bis 1964 läßt erkennen, daß der Anteil der Ulkusleiden an der Gesamtheit von Erkrankungen der Verdauungsorgane sich um einen Mittelwert von 6 % hält. Die Männer werden durch Geschwürsbildungen mehr betroffen als die Frauen. Das Frequenzverhältnis von Krankheiten der Verdauungsorgane zu Ulkusleiden beträgt bei den Männern 91 % zu 9 %, bei den Frauen 97 % zu 3 %. Die Mortalität nahm im Zeitraum der letzten 32 Jahre von 7,0 auf 5,5 je 100 000 Einwohner ab, und zwar bei den Männern mit 10,0 auf 9,0 in geringerem Maße als bei den Frauen mit 4,0 auf 2,0. Das Geschlechterverhältnis schwankte nur in geringen Grenzen und belief sich auf 72 % Männer und 28 % Frauen. Nach Altersjahrgängen war die Sterblichkeit am höchsten nach dem 50. Lebensjahr. Sie betrug im Alter von 0-20 Jahren 0% 20-30 Jahren 3% 30-40 Jahren 5% 40-50 Jahren 1 0 % 50-65 Jahren 3 8 % über 65 Jahren 4 4 % zusammen
100%
bei einer Proportion von 76% Magengeschwüren zu 24% Zwölffingerdarmgeschwüren. In den amtlichen Statistiken wird die Erkrankungsquote mit 0,8 % aller Erkrankungen angeführt. In der Frequenzskala stehen die Ulkusleiden an 10. Stelle und nach der Erkrankungsdauer an 6. Stelle. Diese beträgt durchschnittlich 45 Tage, ist also wesentlich länger als bei der Gesamtheit aller Erkrankungen mit 15 Tagen. Die soziale Aufgliederung nach den Erkrankungen und dem Anteil der Berufe in der Bevölkerung läßt keine soziale Bindung oder Prävalenz erkennen; denn es erkrankten Arbeiter Angestellte leitende Angestellte Kauileute, Handwerker zusammen
in v.H.
bei einem Anteil in der Bevölkerung in v. H.
57 22 7 14
54 28 5 13
100
100
80
Volkskrankheiten
Nach der Geschlechterproportion waren es 80 % Männer und 20 % Frauen. Besonders betroffen waren bei beiden Geschlechtern die Altersklassen von 20 bis 35 und von 45 bis 60 Jahren. Ein Vergleich mit den Analysen im Kreise Zittau (Ostdeutschland) bietet ein Geschlechterverhältnis von 70 % Männern und 30 % Frauen. Die Erkrankungsziffer (auf je 1000 Einwohner) wirdfür den Zeitraum 1962 bis 1963 mit 17 Männern und 6 Frauen angegeben. In der Bundesrepublik Deutschland und in Nordrhein-Westfalen ließen sich kennzeichnende Persönlichkeits- und Erscheinungstypen abgrenzen: Eine leptosome Konstitution herrschte bei 80 % vor, wobei auch 20 % schlankwüchsige einbezogen sind; breitwüchsig war enl5 % und dysplastisch 5 %. Siereagiertenschonauf geringfügige Anlässe empfindlich, waren labil mit einer ambivalenten Einstellung zwischen Unterordnung und Geltungsdrang, Unterlegenheit und Machtstreben, die autonom nicht bewältigt werden konnte. Am häufigsten lagen mit 85 % orale oder Besitzkonflikte vor, teilweise verknüpft mit Aggressivität und Geltungskonflikten (in 29%) und Sexualkonflikten (in 6%). Familiäre Belastungen ergaben sich bei 12%. Die auslösenden Erkrankungsursachen ließen sich aus der Erinnerung der Patienten nicht immer feststellen; sie gaben höchstens erschwerte Lebensbedingungen, Kriegsgefangenschaft und Truppenverpflegung an. Erfahrungsgemäß treten nach den Gesetzmäßigkeiten der Psychosomatik zu der sensitiven Ansprechbarkeit noch externe Belastungen aus dem Lebensbereich und dem Milieu hinzu, wie Ärger im Beruf, Differenzen zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten, Schwierigkeiten in der Familie oder wirtschaftliche Sorgen. Wenn sodann Diätfehler und Alkoholgenuß auffallen, wird diesen Begleiterscheinungen der Anlaß zugemessen. Die Arbeitsunfähigkeit je 1000 Mitglieder nahm in den letzten 6 Jahren bei den Allgemeinen Ortskrankenkassen um 60 bis 63 % zu, die Zahl der Krankenhausfälle jedoch um 0,6 % ab. Daraus kann jedoch nur geschlossen werden, daß eine ärztliche Behandlung früher nachgesucht wird, so daß eine stationäre oder chirurgische Therapie weniger oft nötig wird. Für die Prophylaxe, die Für- und Vorsorge sowie die nachgehende Fürsorge ergeben sich daraus als Erfordernisse: 1. eine Regelung der Lebensweise mit angepaßter Diät sowie ausreichenden Ruhepausen und genügendem Schlaf; 2. ein Ausgleich im Milieu, in der Familie und am Arbeitsplatz unter Aufklärung und Beseitigung der Konfliktursachen; 3. psychotherapeutische Erziehung zur Weckung des Selbstbewußtseins; 4. rechtzeitige ärztliche Behandlung und Überwachung, ohne jedoch durch intensive Kontrollen eine Abhängigkeit zu erzeugen oder ein Krankheitsbewußtsein zu stabilisieren. 6. Rheumatischer Formenkreis Die vielgestaltigen rheumatischen Erkrankungen werden in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten und Todesursachen (ICD) von 1968 unter verschiedenen Kapiteln aufgeführt. Die häufigsten und wichtigsten werden unter dem Begriff des „Rheumatic Fever" bzw. des „rheumatischen Fiebers" zusammengefaßt und sind der akute Gelenkrheumatismus mit rheumatischem Fieber, die Poly-
Rheumatischer Formenkreis
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arthritis mit und ohne Karditis, die choreatischen Erscheinungen (Chorea minor Sydenham) und die Purpura rheumatica (Erythema marginatum) sowie die primär und sekundär chronische Polyarthritis. Wie groß die Verbreitung des rheumatischen Fiebers und seiner Begleit- oder Folgestörungen in der Bevölkerung ist und in welchem Umfange die Kinder gefährdet sind, läßt sich nur indirekt abschätzen aus der Mortalität und den amtlichen Sterbeziffern, aus Gebrechlichenzählungen, dem Besuch der Fürsorge- und Beratungsstellen sowie aus repräsentativen Erhebungen an einem mehr oder minder großen Beobachtungsgut. Die dabei festzustellenden Daten sind Mindestwerte, weil nur ein Teil bekannt wird, wenn er auch recht erheblich ist und dem wirklichen Betrag nahekommen kann. Ein Überblick für das Jahr 1964 weist eine Mortalität von 4,0 auf je 100 000 Einwohner aus mit einer Geschlechterproportion von 34% für Männer und 66% für Frauen. Nach der Statistik der Todesfälle und Todesursachen der letzten fünf Jahre ist das Kindesalter bis zum 15. Lebensjahr an akutem fieberhaftem Gelenkrheumatismus und begleitender Karditis mit 12 % beteiligt, und zwar das männliche Geschlecht zu 60 % und das weibliche zu 40 %. Im Gesamtbetrage dieser Todesursache bei allen Lebensaltern ist das männliche Geschlecht jedoch mit 40 % geringer betroffen als das weibliche mit 60 %. Im Jugendalter von 15 bis 20 Jahren, das mit 4 % vertreten ist, überwiegt das männliche Geschlecht mit 75 % erheblich über das weibliche mit 25 %. Erst jenseits des 20. Lebensjahres und dem größten Anteil von 84 % sind die Frauen mit 65 % stärker vertreten als die Männer mit 35 %, wie die nachstehende Übersicht erkennen läßt. An den Todesfällen infolge von Rheumafieber mit Karditis sind beteiligt: Kinder bis zum 15. LJ.
mit 12%, und zwar männliche weibliche Jugendliche von 15-20 Jahren mit 4%, und zwar männliche weibliche Erwachsene über 20 Jahre mit 84%, und zwar männliche weibliche zusammen
100%, und zwar
= 60% = 40% = 75% = 25% = 35% =65%
männliche = 40% weibliche = 60%
Morbidität und Erkrankungs^iffer lassen sich aus den absoluten Zahlen und den relativen Werten auch nicht annähernd abschätzen, weil eine Differenzierung der Diagnosen nicht vorhanden ist und die im Zusammenhang mit einem rheumatischen Leiden eingetretenen Todesfälle vielfach unter der Organkomplikation eingereiht werden. Es läßt sich aber schon aus diesen Daten ablesen, daß 1. die Krankheitsbezeichnung Gelenkrheumatismus mit Herzbeteiligung eingeschränkt worden ist, 2. das Kindesalter mit 12% erheblich gefährdet wird und 3. das männliche Geschlecht im Kindesalter stärker betroffen ist als das weibliche. Aus diesen Beobachtungen dürfte zu errechnen sein, daß wir gegenwärtig mit mindestens 4,0 bis 4,5 je 100 000 der Bevölkerung an Jugendlichen im Alter von über 15 bis zu 20 Jahren rechnen müssen, die an einem rheumatischen Fieber erkranken. Ihre Letalität ist mit einem Betrage zu veranschlagen, der nach den internationalen Erfahrungen zwischen 5 bis 25 % wechselt.
6
Gerfeldt, Lehrbudi der Sozialhygiene
Volkskrankheiten
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Im Gesamtbild, das v o m Vorschulalter bis über das 70. Lebensjahr hinaus reicht, umfaßt die Periode des akuten Rheumatismus im Kindes- und Jugendalter einen beträchtlichen Anteil. % 40
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Alter: 0-10 10-20 20-30 30-40 40-50 50-60 60-70 70-80 Jahre —
—
Männer
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Abb. 13. Akuter Gelenkrheumatismus nach Lebensaltern Der verzögerte Beginn des rheumatischen Fiebers beim weiblichen Geschlecht in der Kindheit verlagert den Gipfel der Erkrankungen in das dritte Lebensdezennium, während er beim männlichen Geschlecht um das 20. Lebensjahr erreicht wird; dann aber fällt die Frequenz ab und erhöht sich unter dem Einfluß exogener Momente im fünften Lebensdezennium. Beim weiblichen Geschlecht verzögert die hormonale Umstellung um das 40. bis 45. Lebensjahr den Abfall der Frequenzkurve. Die Altersverteilung der primär chronischen Polyarthritis reicht vom 13. bis zum 71. Lebensjahr mit einem Gipfel zwischen dem 35. und 39. Lebensjahr und einem durchschnittlichen Alter bei Krankheitsausbruch von 38,7 ± 1 , 2 Jahren für Frauen und von 40,3 ± 1 , 4 Jahren für Männer, d. i. für beide Geschlechter ein Durchschnitt von 39,2 ± 0,9 Jahren. % 40
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Abb. 14. Chronischer Gelenkrheumatismus nach Lebensaltern
Rheumatischer Formenkreis
83
Der akute und noch mehr der chronische Gelenkrheumatismus zeigt bemerkenswerte Korrelationen %um Körperbau. Unterscheidet man nach der französischen Typologie lediglich zwischen Leptosomen und Eurysomen, dann werden betroffen von akutem
Leptosome Eurysome
chronischem Gelenkrheumatismus
Männer
Frauen
%
%
33,3 57,9
21,5 49,0
Männer
Frauen
%
%
23,7 58,5
23,2 61,0
Bevorzugt werden somit die Eurysomen, und zwar zwei- bis dreimal mehr als die Leptosomen. Demgemäß wird der akute und chronische Gelenkrheumatismus zum Bereich des sog. „Arthritismus" gezählt, der neben einer vererbbaren Körperverfassung auch eine familiäre Neigung zu anderen Krankheiten in mannigfaltigen Kombinationen aufweist, wie Arteriosklerose, Diabetes, Konkrementbildung in Galle- und Harnwegen sowie Fettsucht. In seiner sozialen Belastung wird der Rheumatismus durch Auswirkungen charakterisiert, die anderen Erkrankungen in solcher Reichhaltigkeit nicht zukommen. Er befällt zunächst einmal alle Lebensalter ohne Ausnahme, er dauert lange und neigt zu Rückfällen. Schon durch diesen schleppenden Verlauf bedingt er große Ausfälle an Arbeitskraft. Die besten Leistungsalter um das 45. bis 50. Lebensjahr werden durch einen „Leistungsknick" vorzeitig bedroht und wettbewerbsunfähig. Ein unbefriedigender Heilerfolg verschärft die Lage, veranlaßt immer wieder neue Kuren, macht mißgestimmt oder verzweifelt und spannt das Sozialprodukt durch Leistungsausfall sowie zunehmende Aufwendungen über alles Erwarten an. Die Resultate lassen sich nach den neuen internationalen Erhebungen der Weltgesundheitsorganisation in Mitteleuropa mit besonderer Berücksichtigung von Deutschland, Frankreich, Schweden, Dänemark und England wie auch in den USA in vier eindrucksvolle Daten zusammenfassen: 1. 10 % aller Invalidisierungen werden durch Rheumatismus veranlaßt; 2. in 60% aller Erkrankungen hinterläßt der akute Gelenkrheumatismus einen bleibenden Herzschaden; 3. die mittlere Lebensdauer wird nach dem Auftreten rheumatischer Herzfehler auf 10 Jahre verkürzt; 4. 20 % aller Herzschäden werden durch Rheumatismus bedingt. Der einzelne wird durch rheumatische Erkrankungen in seiner Lebensführung durch drei Momente behindert (individuelle Seite des Soziallebens): 1. durch vorzeitigen Arbeitsknick und verfrühte Invalidität, 2. durch bleibende Herzschäden und 3. durch Verkürzung der Lebensdauer. Der Arbeitsknick setzt vielfach recht plötzlich um das 45. bis 50. Lebensjahr die Leistungsfähigkeit brüsk herab, führt daher zur Wettbewerbsunfähigkeit und bringt eine lange soziale Belastung. Als Invalidisierungsursache sind rheumatische Krankheiten und ihre Folgen im Mittel bei 10 % aller Anlässe zu vermerken. Über
6*
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Volkskrankheiten (Internationale Ergebnisse)
% 100 90. 8070. 60. 5040. 30.
Rheumatismus
Akuter Rheumatisches Gelenkrheuma Herzleiden
Rheumatismus
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. 10 0
Herzkrankheiten insgesamt
Abb. 15. Auswirkungen rheumatischer Erkrankungen diesem Querschnitt liegen Farbrikarbeiter mit 12 %, Bergleute mit 18 % und Eisenbahnbedienstete mit 20%. Bleibende Veränderungen am Herzen werden bei uns in 60% von akutem Gelenkrheumatismus beobachtet; in den USA rechnet man sogar mit 80 % von Dauerschäden. Insgesamt werden 20 % aller Herzkrankheiten auf das Schuldkonto von rheumatischen Erkrankungen zu setzen sein. Die Verkürzung der mittleren Lebensdauer wird mit 22 % bewertet. Bei einer durchschnittlichen Lebensdauer von 67 Jahren bedeutet dies eine Einbuße von jeweils 15 Jahren. Die soziale Bedeutung der rheumatischen Leiden für die Gesellschaft (gentile Seite des Soziallebens) ist hauptsächlich in drei Auslösungen zu finden: 1. in protrahierten, wiederholten Rheumakuren entsprechend dem Verlauf der Krankheit, 2. in einer Einbuße an Arbeitskräften im meist günstigsten Leistungsalter und 3. in einer Belastung des Sozialprodukts durch vermeidbare Ausgaben. Die Behandlungsdauer und Arbeitsunfähigkeit beträgt im Mittel für jede Attacke von Gelenkrheumatismus 40 Tage, von Muskelrheumatismus 20 Tage. In der Zeit von 1955 bis 1961 nahm die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage auf je 1000 Mitglieder der Ortskrankenkassen bei Männern um 6 %, bei Frauen um 2 % zu, verringerten sich jedoch die Krankenhaustage bei Männern um 16 % und bei Frauen um 13 %. Die höchsten Ausfälle an Arbeitstagen traten bei den Altersklassen von 25 bis 55 Jahren ein. Die Rentenzugänge betrugen in der Bundesrepublik Deutschland für die Versicherten im Alter von 20 bis 50 Jahren 8 %, im Alter von 50 bis 65 Jahren 68 % und im Alter über 65 Jahre 24%. Für die Prophylaxe ist die erste und wichtigste Aufgabe eine Frühdiagnose und Frühtherapie. So einfach und selbstverständlich dies klingt, ist es doch nicht immer leicht, sie zu erfüllen, weil das rheumatische Fieber vielfach ein so buntes Symptomenbild bietet, daß die Diagnose erschwert wird. Mit dem Einsatz wirksamer neuer Vorbeugungs- und Heilmittel konnte die Rezidivgefahr von früher 50% auf nunmehr 5 % und 2 % verringert werden. Dem Hausarzt können seine Auf-
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gaben, die oft genug seinen Pflichtenbereich überschreiten, erleichtert werden durch die Einrichtung von diagnostischen Untersuchungsinstituten und Beratungsstellen, die von öffentlicher Hand und von Arbeitsgemeinschaften eingerichtet werden. In wechselseitiger Hilfe und Mitarbeit lassen sich die genannten individuellen und gentilen Faktoren ermitteln und Störungen oder auslösende Ursachen, die von Wohnung, Arbeitsplatz, Beruf, Ernährung, sozialer und wirtschaftlicher Lage ausgehen, beseitigen und Witterungseinflüsse mildern. Nach einer Behandlung oder Kur setzt sodann die Nachsorge und nachgehende Fürsorge ein, um in örtlichen Nachprüfungen und periodischen Kontrollen das Erreichte zu sichern und etwa verbliebene latente Restherde zu sanieren. Zwanglos läßt sich aus solchen Erhebungen eine angewandte Forschung entwickeln, deren Ergebnisse auch der Grundlagenforschung zugute kommen. 7. Geistige und psychoneurotische Störungen, Suchten Die Psychosen, Psychoneurosen, Persönlichkeitsstörungen und Suchtgefährdungen haben zugenommen und steigen auch noch weiter an. Sie müssen mit etwa 1 bis 2 % an Psychosen in der Gesamtbevölkerung, 10% Neurosen und 20% leichteren neurotischen Störungen veranschlagt werden. Dabei muß berücksichtigt werden, daß die Lebenserwartung gestiegen ist und die Umweltbelastungen stärker geworden sind. Die persönlichen Reaktionen darauf veränderten sich, und so entstand ein neuer Patiententyp, der sich in die Gesellschaft nicht einfügen konnte, aber nicht immer einer stationären Behandlung bedurfte. In diesem Sinne lassen sich auch die Sterbeziffern in ihrer Entwicklung verstehen. In der Zeit von 1952 bis 1964 stiegen sie für den Gesamtkomplex der psychischen und neurologischen Krankheiten von 18 je 100 000 Einwohner auf 19 an. Die Geschlechterproportion verblieb (mit geringfügigen Schwankungen) bei 50% männlichen und 50% weiblichen Personen. Die größte Gefährdung bestand vom 40. Lebensjahre an. Von den Sterbefällen (auf je 100 000 Einwohner) entfallen auf die Altersgruppen von 0 bis 5 Jahren 20 5 bis 10 Jahren 5 20 bis 40 Jahren 8-10 40 bis 60 Jahren 10-20 über 60 Jahre 40, wobei die Geschlechterproportion ebenfalls mit 50 zu 50 etwa gleichblieb. Die neuzeitlichen So^ialneurosen nehmen bei uns und in anderen Ländern, wie der Schweiz und den USA, als verschleierte Formen zu, dagegen als schwere Störungen ab. Der gesteigerte Alkoholgenuß wird dabei als Versuch gewertet, die neurotischen Beschwerden zu überwinden. Bei Arbeitern überwiegen Unfallneurosen, und zwar je nach Art der Arbeit und Verantwortung mit 3 bis 17%. Frauen werden wegen ihrer Belastung durch Arbeit und ihre Pflichten als Hausfrauen und Mütter etwa doppelt so häufig betroffen. Die Angestellten weisen vorwiegend Organneurosen auf, und zwar am Verdauungs- und Herz-Kreislauf-System sowie am Endokrinium. Eine Berufsunfähigkeit tritt dabei mit etwa 57 Jahren ein, und zwar bei beiden Geschlechtern. Neurosen bei Kindern und Jugendlichen werden meist ausgelöst durch Störungen in der Familie, durch Entbehrung der Mutter infolge ihrer Berufstätigkeit, durch Entwicklungsstörungen, Reizüberflutung, Schulschwierigkeiten und frühen Berufseinsatz. Sie äußern sich als funktionelle
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Volkskrankheiten
Auffälligkeiten (wie Bettnässen, motorische Unruhe, Sprachstörungen u. ä.), als Beeinträchtigungen des Ichgefühls mit Angst oder Depression, als soziale Ablehnung (Kontaktschwache, Trotz, Unaufrichtigkeit) sowie in einem Leistungsversagen. Bei Auswahluntersuchungen für Schulverschickungen wurden solche Erscheinungen bei 27% gefunden. Bei Zöglingen, die aus gestörtem Milieu stammten und wegen Jugendkriminalität in Fürsorgeheime eingewiesen wurden, boten sie sich in 90%. Zunächst wird die soziale Prophylaxe und Therapie mit einer Aufklärung und einer Beratung für die persönliche Haltung zu helfen sich bemühen. Dazu gehört die Gestaltung von Umgebung und Umwelt, die regelnde Ordnung in Familie, Ehe, Beruf und Gesellschaftskreis sowie eine intensive Psychagogik mit einer Ablenkung auf andere Betätigungsgebiete. Auch Psychosen beruhen auf Konflikten in der Lebensführung mit Problemen und Krisen. Für sie genügen jedoch nicht die psychotherapeutischen Behandlungsformen, wie sie bei den Neurosen mit ihren seelischen Fehlhaltungen und der gestörten Erlebnisverarbeitung erfolgreich geübt werden. Die Vor- und Fürsorge hat zwei größere Bereiche auszugleichen und zu schützen, den Beruf mit seinem Aufgabengebiet und die Gemeinschaft, in die solche Erkrankungen störend eingreifen. Eine gezielte Therapie setzt voraus, daß die Entstehungsursachen bekannt sind. Bei den endogenen Psychosen und den Schwachsinnszuständen liegen dafür jedoch nur erste ätiologische Ansätze vor, wie bei der Oligophrenie. Auch die neuen Psychopharmaka konnten nicht weiterhelfen. Die Gruppentherapie vermag wohl in die Gemeinschaftswelt zurückzuführen, muß aber mit einer außerordentlich hohen Rezidivgefahr rechnen. Diesen Erfahrungen mußte sich die Prophylaxe, Fürsorge und Rehabilitation anpassen und sich darauf einstellen, eine Atmosphäre der Hoffnung auf Wiedereingliederung zu schaffen. Für den Aufenthalt in einer Krankenanstalt bedeutet dies den Einsatz von intensiven Maßnahmen zur Resozialisierung: Beschäftigungstherapie, Überwindung von Langeweile und Milieumüdigkeit durch spontane Aktivität und Selbstwertbesinnung, Lösung des Kranken aus der Umgebung von akut gestörten Mitpatienten, Einfügung in ein anregendes Milieu mit Geselligkeit unter Aufsicht, Spaziergänge und Gymnastik. Außerhalb einer stationären Behandlung verlangt die Gemeinschaft ihren gebotenen Schutz durch Disziplinierung, Übung, Gewöhnung und Verantwortungsgefühl. Der nach dem Zweiten Weltkrieg (1949) einsetzende offene psychiatrische Dienst vermag diesen erhöhten Anforderungen nicht mehr zu genügen, so daß eine Neuordnung nötig wurde. Sie entwickelte sich aus dem sog. Gelsenkirchener System, das in kommunaler Regie vorwiegend mit hauptamtlichen Fachärzten für Psychiatrie betrieben wurde. Den weiteren Ausbau erfuhr es in England, den USA und besonders in den Niederlanden. Das hier vorgesehene Amsterdamer System arbeitet in einer Dauerbereitschaft von Psychiatern mit den notwendigen Hilfskräften und ist organisatorisch in der Form einer Ersten Hilfe aufgebaut. Seine Aufgaben bestehen in Untersuchung, Einweisung in Behandlang, Aufklärung von sozialer Lage und Konfliktstoffen, Familienfürsorge, Rehabilitation, Einfügung in geeignete Zentren für Wiederbeschäftigung oder anleitende Werkstätten. Die nachgehende Fürsorge handelt im Einvernehmen mit der Arbeitsvermittlung. Zu den Beeinträchtigungen der Persönlichkeit gehören auch die Sprachstörungen und die Fehlsichtigkeit, weil sie Minderwertigkeitsgefühle auslösen und den Einsatz
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in manchen Berufen behindern. Unter den Kindern im schulpflichtigen Alter finden sich mehr als 2 % sprachgestörte in einer Proportion von 80 % Knaben und 20 % Mädchen. Ihre Zahl im Vorschulalter läßt sich nicht schätzen. Im Sinne der Eingliederungshilfe zählen dazu nach § 39 (1) Ziffer 3 und 4 des Bundessozialhilfegesetzes vom 30. Juni 1961 solche Personen, die durch eine Beeinträchtigung der Hörfähigkeit oder der Sprachfähigkeit nicht nur vorübergehend wesentlich behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, also Seelentaube und Hörstumme sowie Stammler und Stotterer. Sie werden in Einrichtungen der örtlichen und überörtlichen Sozialhilfeträger behandelt, und zwar bei leichten bis mittelschweren Befunden in ambulanten Kursen, bei schweren Störungen stationär in Kurheimen. Da die Sprachstörung meist die auffälligste Erscheinung in einem Syndrom von psychosomatischen Veränderungen ist, die sich wechselseitig beeinflussen können, gehört zur Sicherung eines Erfolges in gezielter Behandlung die Feststellung der Kausalfaktoren. Daher sind zu beteiligen: Arzt, Psychologe und Pädagoge; auch die Hilfe des Gymnastikers ist wertvoll, um durch Übung eine Lockerung und Beruhigung zu erreichen. Die Sprecherziehung wird erleichtert, wenn die Sprechbarrieren überwunden sind. Bei einer früh eingesetzten Hilfe für fehlsichtige Kinder ergab sich, daß in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig etwa 2,5 Millionen behinderter oder bedrohter Menschen vorhanden sind. Die Schielstellung der Augen führt zu vorwiegend einseitigem Sehen, bedroht das andere Auge durch Schwachsichtigkeit und ist auch kosmetisch unvorteilhaft. Durch Sehkorrekturen können etwa 30 % ihr binokulares Sehvermögen bewahren, sofern die Hilfe frühzeitig einsetzt. Dies ist nötig, weil das Schielen oft vor vollendetem 2. Lebensjahr eintritt. Die dritte Gruppe der Persönlichkeitsstörungen umfaßt die Suchten. Sie entstehen, wenn labile Charaktere mit den Schwierigkeiten des täglichen Lebens nicht aus eigener Kraft fertigwerden und ihnen auszuweichen suchen, indem sie in das Nirwana des Vergessens oder in eine Traumwelt flüchten. Die bequemste Möglichkeit bietet der Alkohol. Sein Genuß und Konsum ist ein Ausdruck oder eine Begleiterscheinung der Geselligkeit seit jeher gewesen und geblieben; seine Auswirkungen sind schwer faßbar. Erst der ungezügelte Verbrauch führt zum Alkoholismus. In Krisenzeiten steigt die Nachfrage bei anziehenden Preisen. Im Deutschen Reich bzw. in der Bundesrepublik Deutschland entfielen im Etatsj ahr 1913/14 je Kopf und Jahr an reinem (100 %igem) Alkohol 7,5 Liter, im Jahre 19511952 nur noch 3,84 Liter, und erst nach 1956 setzte ein Anstieg ein, der im Jahre 1965 den Betrag von 10,0 Litern und im Jahre 1966 mit 9,82 Litern fast die gleiche Höhe erreichte. Die Ausgaben dafür betrugen 19,5 Milliarden DM und lagen um 1,1 % höher als im Jahre 1965. Die Trinkgewohnheiten sind in der Bevölkerung recht verschieden. Nach Repräsentativumfragen brauchen 24% der Befragten täglich oder fast täglich und 37 % mit einiger Regelmäßigkeit 1 bis 2mal wöchentlich alkoholische Getränke; selten trinken 34% (etwa 1 bis 2malim Monat oder Vierteljahr), und nur 5 % sind völlig abstinent (4 % Männer und 6 % Frauen). Die Ursachen für einen Mißbrauch oder übermäßigen Genuß von Alkohol sind bei uns ebenso wie in anderen Ländern in materiellen Schwierigkeiten und psychosomatischen Krisen zu suchen, insgesamt am häufigsten in einem sozialen Versagen, das bei mehr als 80 % vorliegt. Die Skala der ätiologischen Anlässe ist sehr vielgestaltig und nur bei 10 bis 15 % unklar. Besonders auffallend ist die Beziehung zu Kriminalität, Ehescheidung und Selbstmord. Wirtschaftliche Notlagen bestehen
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höchstens bei 34 bis 40 % der Alkoholkranken, während 60 % von ihnen in gesicherten Verhältnissen leben. Die Erfolge von Entziehungskuren sind nicht sehr befriedigend. Bei ihrer Entlassung aus der stationären Behandlung versprechen fast alle Kranken, sich zu halten und künftig eine absolute Enthaltsamkeit zu wahren. Die Hälfte von ihnen (50 %) wird innerhalb eines Jahres rückfällig, und weitere 25 % folgen im zweiten Jahre. Im Durchschnitt dauert eine Entziehungskur 6 bis 8 Wochen; für eine zweite Kur sind schon 2 bis 3 Monate und für eine dritte etwa ein Jahr anzusetzen. Die Rauschgiftsuchten durch Betäubungsmittel, Rauschmittel und Weckamine haben von 1948 bis 1966 nach ihren absoluten Zahlen um 70 % zugenommen. Bezogen auf eine mittlere Bevölkerung betrug der Bestand an erfaßten Süchtigen im Jahre 1948 (auf je 100 000 der Bevölkerung) 5,4 und erhöhte sich bis zum Jahre 1966 auf 15,0. Von ihnen waren in der ganzen Beobachtungszeit ziemlich konstant 60 % Männer und 40 % Frauen. Besonders gefährdet sind die Altersgruppen zwischen 30 und 50 Jahren; die Jugendlichen bis zu 30 Jahren sind jedoch mit 6,5 % ebenfalls vertreten, dabei die weiblichen mit 9 % öfter als die männlichen mit 5 %. Nur ein einziges Sucht- bzw. Betäubungsmittel verwendeten 74%, und zwar zu 34% aus der Gruppe der Grundstoffe und zu 40 % aus den synthetischen Mitteln. Mehrere Mittel brauchten 26 %. Alle diese wurden zu 66 % auf gesetzlichem und zu 34 % auf ungesetzlichem Wege erworben. Der Personenkreis setzte sich aus allen Bevölkerungsbereichen zusammen: 75 % stammten aus Großstädten und 36 % kamen aus günstigem Milieu. Die Entziehungskuren sind erfolgreich bei etwa 70%, erfolglos bei 20% und fraglich bei 10%. Bei einem freiwilligen Eintritt, bei dem eine bessere Einsicht und Mitarbeit unterstellt werden kann, ist die Prognose (mit 90%) günstiger zu stellen. Mit einer einzigen Kur wird nur bei knapp der Hälfte (44 %) aller Kranken ein Erfolg zu erwarten sein. Mit Rückfällen muß bei 90 % gerechnet werden, namentlich in jüngerem Lebensalter und bei einer bereits mehr als 4 Jahre dauernden Sucht, die zu einer psychischen Verfestigung geführt hat. 8. Körperbehinderung, Kriegsbeschädigung, angeborene Mißbildungen Nach einer Sondererhebung des Statistischen Bundesamtes wurden die Körperbehinderungen verursacht durch Kriegsbeschädigungen und ihre Folgen in 47 %, durch berufliche, häusliche und sonstige Unfälle in 25 %, durch Erkrankungen einschließlich Poliomyelitis in 18%, durch angeborene Mißbildungen in 7 % und durch Straßenverkehrsunfälle in 3%. Das männliche Geschlecht überwog mit 80 % bei weitem über das weibliche mit 20 %. Nach der Art der Behinderung waren betroffen: Augen und Ohren mit 8%, Gliedmaßen, Wirbelsäule und Rücken mit 45 %, Hirn und Zentralnervensystem mit 9 % sowie innere Organe mit 38 %. Amtlich anerkannt waren nach Ursache und Art der Störung die Schädigungen in 80 % bei Männern und in 51 % bei Frauen. Die Gesamtzahl aller dieser Behinderungen wurde mit 4,1 Millionen Personen in der Bundesrepublik für das Jahr 1966 ermittelt und betrug 7 % der Wohnbevölkerung. Als langfristige Leiden galten sie nach Art der Behinderung in 10 % bei Männern und in 4 % bei Frauen; dazu gehörten etwa 25% der über 50jährigen Männer. Die Ausfälle an Arbeitskraft und die Aufwendungen an Fürsorge sind schon aus diesen Daten recht hoch zu bewerten. Ihnen stehen die Todesfälle gegenüber; diesebetrugen in der Gesamtheit der Sterbe-
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fälle für die beruflichen und häuslichen Unfälle (ohne Verkehrsunfälle) fast 3 % und für die angeborenen Mißbildungen 1 % bei einer Geschlechterproportion von 55 % männlichen und 45 % weiblichen Personen für jede der beiden Todesursachen. Bei den Unfällen in Betrieben und in der Häuslichkeit lag die Schuld 2u 57 % in eigener oder eines Mitarbeiters Unachtsamkeit, zu 27 % in unzureichender Anleitung oder Aufsicht sowie zu 16 % in der Art der Arbeit. Als auslösende oder begünstigende Ursachen wirkten: a) technische Konstruktion und Automation, b) physiologische, durch Licht, Luft, Wärme und Feuchtigkeit angeregte Faktoren, c) psychische Momente, wie Übermüdung, Eile, Hast, Lärm, Unaufmerksamkeit, sowie d) wirtschaftliche Anlässe, die in Benachteiligungserlebnissen, Akkordleistungen und Prämiengewährung bestehen konnten. Zu den exogenen Momenten tritt noch die individuelle Veranlagung hinzu, die das vielgesagte menschliche Versagen begründet und den Typ des „Unfällers" kennzeichnet. Erfahrungsgemäß werden 40 % aller Unfälle im Betrieb und im Straßenverkehr durch solche Persönlichkeiten herbeigeführt. Sie offenbaren sich durch eine vegetative Stigmatisation und ein hormonales Temperament, reagieren auf Belastungen mit körperlichen Schwächezuständen oder psychischem Versagen oder beidem gleichzeitig und lassen charakteristische Persönlichkeitskomponenten erkennen. Die drei häufigsten Aspekte von Vitalität, Dynamik und Steuerung wirken auf das Handeln reaktiv ein, erhöhen über die Emotionalität ihr Ichgefühl und Selbstvertrauen und vermindern die soziale Rücksichtnahme. Die Prophylaxe und soziale Fürsorge bestrebt sich daher, eine Kongruenz zwischen Persönlichkeit und Aufgabe herzustellen. Von den Unfallverletzten konnten in den beiden letzten Beobachtungsjahren 1965 und 1966 im Durchschnitt 1,6% in geeignete Arbeitsplätze vermittelt werden, soweit eine Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft noch vorhanden war. Der Gesamtbetrag der betreuten Körperbehinderten belief sich in der gleichen Zeit auf 47 je 10 000 Einwohner; die Geschlechterproportion war mit 50 % zu 50 % für männliche und weibliche Personen gleich, während die Einweisung in berufliche Tätigkeiten bei den Männern mit 60 % höher war als bei den Frauen mit 40 %. Eine Rente wegen Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit erhielten im Zugangsalter bis zu 30 Jahren weniger als 1 % der Körperbehinderten. Die Quoten erhöhten sich bis zu 5 % für die Jahrgänge bis zum 50. Lebensjahr, auf 10 bis 20% für die 50- bis 60jährigen und auf 36% für die 60- bis 65jährigen, um dann rasch bis auf 2 % für die älteren Altersklassen abzusinken. Der Betrag an angeborenen Mißbildungen bei Neugeborenen als körperliche und geistige Behinderungen, die sich nicht wieder ausgleichen lassen, ist mit etwa 3 % aller Neugeborenen anzunehmen. Die Angaben verschiedener Beobachter in verschiedenen Gebieten schwanken zwischen 0,3 bis 3,3 %; für Nordrhein-Westfalen werden in den amtlichen Statistiken 30 auf je 10 000 Lebendgeborene ausgewiesen, das sind 0,3 %, wobei jedoch eine gewisse Dunkelziffer hinzuzurechnen ist. Die Phenolketonurie (PKU) als Enzymdefekt, bei dem die Umwandlung des Phenylalanins in Tyrosin gestört ist, wird hier seit 1966 regelmäßig beachtet. In zwei dafür vorgesehenen Untersuchungsämtem werden kostenlos alle Prüfungen vorgenommen; bisher ließen sich etwa 80% aller Neugeborenen erfassen. Die Frequenz dieser gebundenen, autosomal-rezessiv vererbbaren Stoffwechselstörung, die unbehandelt zum Schwachsinn führt, wurde mit einer Erkrankung auf je 10 000 Neugeborene ermittelt.
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Die Zahl der lebenden Kinder mit Fehl- und Mißbildungen dürfte (nach Angabe des Bundesgesundheitsministeriums) bei etwa 3000 liegen. Die Gesamtzahl der totgeborenen oder verstorbenen Kinder mit derartigen Störungen läßt sich nicht genau feststellen. Nach übereinstimmenden Ansichten sterben etwa 40 bis 50 % solcher Kinder. Ihre Frühsterblichkeit wird mit etwa 12%, ihre Spätsterblichkeit mit 23 % angegeben und entspräche im Vergleich zur Durchschnittssterblichkeit im Säuglingsalter einer Quote von 17%. Schätzungsweise beträgt ihre absolute Zahl etwa 5000 bis 6000. Die Dysmelien (Mißbildungen der Gliedmaßen) gehen vielfach mit inneren Fehlbildungen einher, vor allem am Herzen und den großen Gefäßen, an den Verdauungsorganen, den Nieren und Harnwegen. Insgesamt muß eine angeborene Lebensschwäche unterstellt werden. Nur 10 bis 11 % der Kinder mit Fehl- und Mißbildungen erreichen das 18. Lebensjahr, und nur 1 % werden älter als 18 Jahre. Der Trend zur Sterblichkeit nimmt ab, und zwar bezogen auf je 10 000 Gleichaltrige von 30 bis 40 im ersten Lebensjahr auf 4 im Alter von 1 bis 18 Jahren und auf 0,22 im Alter über 18 Jahren. Gleichzeitig ist eine Tendenz zur Verminderung von Entwicklungsstörungen anzunehmen. Unter den Ursachen für angeborene Mißbildungen als kausaler Genese von Entwicklungsstörungen gelten zwei Prinzipien: a) genetische oder erbliche Anlässe, die im Genom der Eizelle angelegt sind, und b) peristatische pathogene Faktoren, die aus der Keimumgebung kommen (Erkrankungen der Mütter, Störungen im Eibett u. ä.). Demgemäß richtet sich die Prophylaxe und soziale Therapie ein. Ihre Maßnahmen sind: 1. frühzeitige Untersuchung der Mutter zur Sicherung der Diagnose; 2. Aufklärung und Schulung der werdenden Mütter, insbesondere der Erstschwangeren, über Schädigungsgefahren; 3. erbbiologische Beratung, nötigenfalls zum Verzicht auf Nachkommen; 4. Mahnung, von Medikamenten mit Nebenwirkungen abzusehen, weil die Schwangerschaft ein physiologischer Zustand ist und keine unnötige Beeinflussung brauchen kann; 5. Vermeidung von Genußgiften, Beruhigungsmitteln, Tranquilizern (Tranquillantien) und Ataraktika. Die Hilfeleistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz vom 30. Juni 1961 erstrecken sich bei körperlichen und geistigen Behinderungen sowie angeborenen Mißbildungen auf: a) Ausbildungshilfe (§§ 31-34), b) vorbeugende Gesundheitshilfe und Krankenhilfe (§§ 36 und 37), c) Eingliederungshilfe für Behinderte (§§ 39—47), nämlich für Körperbehinderte und von einer Körperbehinderung bedrohte Personen, für Blinde und Sehschwache, für Hörbeeinträchtigte, für Sprachbeeinträchtigte und für geistig schwach entwickelte Personen, d) Maßnahmen zur Behandlung, Schulbildung, Berufsausbildung und -fortbildung, Arbeitsplatzvermittlung und nachgehende Hilfe, wie auch Hilfe zum Lebensunterhalt und zur Heimunterbringung. Ein Gesamtplan zur Durchführung der einzelnen Maßnahmen ist von den Trägern der Sozialhilfe frühzeitig aufzustellen, und zwar im Benehmen mit dem Gesund-
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heitsamt, dem behandelnden Arzt, dem Landesarzt und den Dienststellen der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, die jetzt Bundesanstalt für Arbeit heißt. Um die gesundheitliche, berufliche und gesellschaftliche Eingliederung Behinderter zu verbessern, werden durch eine Ergänzung zum Bundessozialhilfegesetz vom 1. Oktober 1969 an Eltern und Vormünder verpflichtet, solche Kinder unverzüglich dem Gesundheitsamt oder dem Arzt ihres Vertrauens vorzustellen, bei denen sie eine Behinderung bemerken oder auf die sie hingewiesen werden. Hierzu verpflichtet sind Hebammen, Medizinalpersonen (außer den Ärzten), Lehrer, Sozialarbeiter, Wohlfahrtspfleger, Jugendleiter, Kindergärtnerinnen und Angehörige ähnlicher Sozialberufe. Den Ärzten obliegt eine chiffrierte Meldung (ohne Angabe des Namens des Behinderten und der Personensorgeberechtigten) an das Gesundheitsamt, in der die wesentlichen Angaben zur Person des Behinderten zu machen sind, um dem Gesundheitsamt seine Aufgabe zu ermöglichen. Diese Verpflichtung erstreckt sich auf alle dem Arzt in seiner Berufsausübung bekannt werdenden Patienten mit a) einer erheblichen, nicht nur vorübergehenden Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit, die auf dem Fehlen oder auf Funktionsstörungen von Gliedmaßen oder auf anderen Ursachen beruht, b) Mißbildungen, Entstellungen und Rückgratverkrümmungen, wenn die Behinderungen erheblich sind, c) einer nicht nur vorübergehenden erheblichen Beeinträchtigung der Seh-, Hörund Sprachfähigkeit, d) einer erheblichen Beeinträchtigung der geistigen oder seelischen Kräfte. Diese Neuregelung soll den Planungen bei der Behandlung, der Vor- und Fürsorge dienen, die erforderlichen Eingliederungsmaßnahmen fördern, die statistischen Beobachtungen ergänzen und die wissenschaftliche Auswertung bereichern, um die Bevölkerung unterrichten zu können. Die Bundesregierung soll dem Bundestag alle vier Jahre, erstmals zum 1. Oktober 1972, über die Durchführung und den Erfolg der Eingliederungsmaßnahmen für Behinderte berichten. Die Straßenverkehrs- und Kraftfahrzeugunfälle haben in der Bundesrepublik Deutschland im Verlaufe der letzten 30 Jahre um 66 % zugenommen. Eine ähnliche und sogar beängstigende Entwicklung ist auch in allen europäischen und außereuropäischen Ländern zu beobachten, von denen brauchbare Angaben vorliegen. Der Anteil der Verkehrstodesfälle an der Gesamtzahl aller Todesfälle betrug im Jahre 1964in Nordrhein-Westfalen 3 %, in der Bundesrepublik s ogar 5 %. Betroff en waren 75 % männliche und 25 % weibliche Personen. Nach der Altersverteilung wurden auf je 10 000 gleichaltrige Einwohner getötet: im Vorschul- und Schulalter 6, von den mittleren Altersklassen im Alter von 20 bis 40 Jahren 23 und von den älteren Jahrgängen ansteigend 50 bis 60. Nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes für 1968 betrug die absolute Zahl der Straßenverkehrsunfälle 1 143 000. Dabei wurden 461 311 Menschen verletzt und 17061 getötet; täglich starben somit 47 Menschen auf den Straßen. Im Kindesalter bis zu 14 Jahren gab es fast 55 000 Verletzte und mehr als 1600 Tote; die Schulanfänger im 6. und 7. Lebensjahr waren mit 20 % besonders gefährdet. Die Entwicklung der Verkehrsgefahren in den Jahren von 1950 bis 1968 läßt für alle Verkehrsunfälle eine Zunahme von 70 % erkennen; die Zahl der Verletzten erhöhte sich um 67 %, die der Getöteten um 63 %.
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An dieser traurigen Bilanz von schweren Verkehrsunfällen waren mit 10 % jugendliche PKW-Fahrer im Alter von 18 bis 21 Jahren am stärksten beteiligt. Die Quoten verringerten sich nach Quinquennien auf 7,3 %, 4,5 % und weiterhin auf 3,0 und 2,6 % bis zum 65. Lebensjahr. Seit dem 1. Januar 1958 wurden fast 7 Millionen Verkehrssünder in die Zentralkartei eingetragen. Mit 16 000 Namen sind darin vor allem Schnell- und Rekordfahrer sowie Alkoholtäter vertreten. Im Querschnitt trägt der Alkohol in 25 % die Schuld am Tod und an Verletzungen bei Straßenverkehrsunfällen. Unter den Gefahren sind äußere, technische und personelle zu unterscheiden. Die exogenen von Straßenbeschaffenheit, Klima, Witterung und Fahrzeug wirken zurück auf die Belastungs- und Leistungsfähigkeit der Verkehrsteilnehmer und insbesondere der Kraftfahrer. Bei ihnen kann die Prophylaxe und der soziale Schutz ansetzen. Wie bei den Betriebsunfällen gibt es auch im Straßenverkehr die „Unfäller", von denen 4 % einen Anteil von 40 % aller Verkehrsunfälle verursachen. Das reaktive, persönliche Verhalten erfordert für einen zuverlässigen Fahrer eine Anpassung von Fahrweise und Fahrstil an die örtlichen Gegebenheiten und die jeweilige Verkehrslage, Pflichtgefühl und Verantwortungsbewußtsein unter Berücksichtigung des eigenen Könnens und Befindens. Der Unfäller ist in dieser Hinsicht unausgeglichen und affektiv gespannt. Zu den exogenen Gefährdungen und ihrer Ausschaltung oder Verringerung gehören zunächst automatisch wirkende Sicherungen: örtliche und zeitliche Verkehrsplanungen, Verkehrswege, Ortschaftsplanung mit einer Vorsorge für Wohnviertel, Schullage und Schulwege, geschützte Überwege, begrenzte Höchstgeschwindigkeit in Gefahrenzonen und Verhütung von Lärm, um die Aufmerksamkeit der Fahrer und Fußgänger nicht abzulenken. Im persönlichen Bereich gilt vor allem die Ausschaltung aus den Gefahrenbereichen durch Eignungsprüfung, Nachuntersuchung, insbesondere nach vorausgegangenen Fehlern, Begrenzung des Fahralters nach unten und nach oben, das Vermeiden von Alkohol und das Angebot von alkoholfreien Getränken. Die Persönlichkeits- und Charakterfestigung geht von einer praktischen Verkehrserziehung aus und erstrebt eine bewußte Verkehrsdisziplin mit einer Vermeidung von Fahrüberlastung, Ermüdung und Schläfrigkeit, wie sie vor allem auf eintönigen Bahnen auftreten kann. Die Stressgefahren gehen vom Kreislauf und vom Herzen aus; sogar auf verkehrsarmen Straßen pflegt eine Pulsbeschleunigung im Mittel um 10 % auch bei Gesunden einzutreten. Bei angespannter Aufmerksamkeit und Reflexbereitschaft kann eine ganze Kette von Reaktionshandlungen ausgelöst werden, so daß an die Aufmerksamkeits-Energie und die Konzentration erhöhte Anforderungen gestellt werden. In 25 % zeigen sich dann Persönlichkeitsstörungen, die sich in Emotionen, neurotischem Verhalten, Machtstreben, Aggressivität, Schuldkomplexen und Frustrationsgefühlen äußern können. Auf eine kurze Formel gebracht sind es drei Verhaltensweisen, die gefahrvoll werden: Unverantwortlichkeit, Eitelkeit und Reizbarkeit. 9. Selbstmorde Zu Unrecht werden die Selbstmorde für ein unentrinnbares Fatum gehalten, das nur den einzelnen und höchstens noch seine nächsten Angehörigen angeht. Ihre Zahl ist größer, als gemeinhin angenommen wird, und konkurriert in nur geringem
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Altersschwäche, Altersstörungen, Alterskrankheiten
Abstand mit den Sterbefällen an Kraftfahrzeugunfällen und Tuberkulose aller Formen. Bezogen auf je 100 000 Einwohner endeten durch Selbsttötung im Deutschen Reich bzw. in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1932 männliche Personen weibliche Personen
41,60 17,43
und
1963 26,3 13,1
in einer Geschlechterproportion von 60% 40%
Während die Todesfälle im Straßenverkehr um 66 % anstiegen, verringerte sich die Sterbeziffer bei Tuberkulose um 80 %, die der Selbstmorde um 47 %. Für die Jahre 1961/63 ergibt sich für die Sterbeziffern (je 100 000 Einwohner) die Frequen^folge von 14 bei Tuberkulose, 19 bei Selbstmord und 26 bei Straßenverkehrsunfällen. Die wirkliche Zahl der Selbstmorde dürfte aber wesentlich größer sein, weil ein nicht unbeträchtlicher Teil von den Angehörigen aus Prestigerücksichten verschwiegen wird. Am häufigsten wurde als Todesart das Erhängen oder Erdrosseln gewählt. Mit Abstand folgten Leuchtgas und Schlafmittel, während Gifte, Ertrinken, Stich und Schnitt, Überfahrenlassen und Feuerwaffen nur selten angewandt wurden. Den Altersjahrgängen nach war das Schulalter mit 6 % am seltensten vertreten. Vom 20. bis zum 40. Lebensjahr stieg der Anteil auf 23 % an und schnellte dann auf 50 bis 60% an. Für die Prophylaxe sind die Gründe zum Selbstmord oder Freitod am wesentlichsten. Die Ursachen lagen in v. H. beim männlichen weiblichen Geschlecht 80 7
schwerer Krankheit Familienzwistigkeiten Furcht vor Strafe oder Schande wirtschaftlichen Gründen Eifersucht, Liebeskummer sonstigen Motiven unklaren Anlässen
2 2
4 3 2
zusammen
100
Eine Prophylaxe ist bei den meisten dieser Ursachen möglich, wenn Peristase und Anlässe rechtzeitig aufgeklärt werden und Hilfe bzw. Behandlung einsetzen kann. Das Suizid ist keine Krankheit, sondern wird durch eine psychische Alteration ausgelöst, und diese wiederum ist das Ergebnis einer schon in der Jugend angelegten falschen Einstellung zum Leben. 10. Altersschwäche, Altersstörungen, Alterskrankheiten Lange Zeit sah man das Alter als eine Krankheit an nach der alten These: Senectus ipsa morbus. Heute wissen wir, daß es eine Lehensphase ist wie die Kindheit und die Jugend mit Episoden des Wohlbefindens und des Unbehagens. Wir kennen zu
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Volkskrankheiten
einem wesentlichen Teil die physiologischen Vorgänge beim Alterungsprozeß, wie uns auch die pathologischen Veränderungen bei Krankheitszuständen bekannt sind. Aber erst seit der neuesten Gegenwart wissen wir, daß kein fließender Phasenablauf vorliegt mit Entwicklung und Wachstum, Reife und Welken, sondern daß Abbau und Aufbau, Rückbildung und Regeneration, Funktionsminderung und Leistungsverbesserung diskontinuierlich verlaufen. Auch individuell, von Mensch zu Mensch, treten diese Organveränderungen verschieden stark und verschieden schnell auf. Selbst die Reihen- und Zeitfolge in der Auswahl der Organe weist Unterschiede auf, so daß man von einer Heterotopie und Heterochronie des Alterns oder einem „disharmonischen Altern" spricht. So wird es verständlich, daß das Geburts- oder Kalenderalter nicht mit dem biologischen Alter übereinzustimmen braucht, daß in der Leistungsskala auf der einen Seite ein frühzeitiger intellektueller, emotionaler und reaktiver Abbau steht und auf der anderen die „Spät- und Langblüher" zu finden sind. Die Differenzierung des Gefälles in der Energie der Biokolloide wird nach Ansprechbarkeit, Abwehrkraft, Restitutionsfähigkeit und Krankheitsbereitschaft durch obligatorische Faktoren und fakultative Einflüsse bestimmt. Obligatorisch sind die Vorgänge bei der Viskoseänderung und damit der „Alterung der Biokolloide". Die fakultativen Einflüsse kommen aus der unbelebten Umgebung, der belebten Umwelt und der Lebensführung, d. h. dem Zurechtfinden in beiden. Die Umgebung ist der peristatische Lebensraum nach Klima, Gesellschaft, Stadt und Land. Durch die Umwelt wird die soziale Position nach Arbeit, Beruf und Wirtschaftslage bestimmt. In der Lebensführung zeigt sich die psychosomatische und sozialpsychologische Reaktion auf die Motive von Ernährung, Kleidung, Leistungsanforderung und Wohnung. Der Prozeß des Alterns beginnt als Abnahme der Leistungen schon frühzeitig. An den Augen und Ohren macht sich die Verringerung des Seh- und Hörvermögens nach Reaktionszeit und Aufnahmeintensität bereits im 3. Dezennium oder um das 30. Lebensjahr bemerkbar. Der Normal- oder Durchschnittsablauf in den Funktionen des alternden Menschen läßt auf körperlichem Gebiet vor allem eine Erschwerung oder Behinderung der Bewegungen erkennen. Es folgen sodann Störungen am Herzen, im Kreislauf und bei der Atmung. Die Frequenzliste der Störungen sieht nun so aus: Krankheiten des/der Herzens Atmungsorgane Knochen und Bewegungsorgane Zähne Augen Haut Harn- und Geschlechtsorgane Stoffwechsels einschl. Ernährung und Allergie zusammen
bei W in %
bei M in %
20 14 12 9 9 5 3 3
15 14 10 11 12 7 4 2
75
75
Altersschwäche, Altersstörungen, Alterskrankheiten
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Obwohl die Frauen in diesem Alter häufiger über Herzbeschwerden klagen als die Männer und ihre Beweglichkeit stärker behindert ist, erreichen sie im allgemeinen ein höheres Lebensalter; ihre Lebenserwartung ist durchschnittlich um 3—4 Jahre höher als die der Männer. Dies liegt daran, daß die Frauen die größte Gefährdung ihres Lebens durch Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett bereits überstanden haben, daß die Herz- und Kreislaufbeschwerden meist leichter Natur sind und daher in wenigen Wochen abklingen und daß die „Spareinstellung" der Frauen auf Ernährung, Belastung und Lebensrhythmus günstiger, ja vernünftiger ist als bei den Männern, die sich nur ungern von Beruf und geregelter Tätigkeit trennen. Das höhere und Greisenalter über 65 Jahre zeigt bei den Überlebenden eine allgemeine Tendenz zur Stabilität des bewahrten Gesundheitszustandes. Die meisten Störungen klingen innerhalb von einem Monat, höchstens von zwei Monaten ab. Dies gilt für Krankheiten der Zähne Augen Atmungsorgane Atmungsorgane Bewegungsorgane Verdauungsorgane Harn- und Geschlechtsorgane Harn- und Geschlechtsorgane Kreislauforgane Kreislauforgane
in Monaten
bei W in%
beiM in%
im Durchschnitt in%
1 1 1 bis 2 1 1 1 bis 2 1 bis 1 - 6
83 79 53 (71) 60 45 43 (57) 26 (57)
73 72 72 (83) 58 56 36 (47) 30 (55)
78 76 63 (77) 59 50 39 (52) 28 (56)
Damit wird die alte Erfahrung bestätigt: Wer das 60. Lebensjahr überstanden hat, erhält die Anwartschaft auf ein noch höheres Alter, sofern er nicht einem Verkehrsunfall oder einer akuten, interkurrenten Erkrankung erliegt. Die Sammelbezeichnung „Altersschwäche" als Todesursache wurde entsprechend den besseren Erkenntnissen seltener und durch eine Organdiagnose ersetzt. Sie verringerte sich von 10,3 (je 10 000 der Bevölkerung) im Jahre 1932 auf 4,6 im Jahre 1964. Nach den neuen Angaben starben im höheren Alter an Herzkrankheiten Gefäßschädigungen (auch im Zentralnervensystem) bösartigen Geschwülsten Verunglückungen Lungenentzündung Diabetes mellitus Bronchitis Tuberkulose
27% 16% 15% 5% 1% 0,75% 0,75% 0,3%
Danach obliegen einer Fürsorge besonders die Herz- und Kreislauferkrankungen, die Erkrankungen an bösartigen Geschwülsten, Verunglückungen im Haushalt und im Straßenverkehr sowie die Erkrankungen der Atmungsorgane. Unter
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Volkskrankheiten
Berücksichtigung der Bestimmungen über Altenhilfe im § 75 des Bundessozialhilfegesetzes vom 30. Juni 1961 kommen in Betracht: Hilfen zur Pflege in häuslicher Wartung und bei Hilflosigkeit (§§ 68 und 69), Hilfe zur Weiterführung des Haushalts (§§ 70 und 71) sowie Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 51 fg.). In unserer Gegenwart hört man immer wieder die Klage, daß die Verlängerung der Lebensdauer nicht allgemein auch mit einer gleichzeitigen gesundheitlichen Leistungsfähigkeit und Lebensfreude verbunden sei. Es kommt eben nicht darauf an, dem bereits erreichten Alter noch einige Lebensjahre anzuhängen, sondern ihnen auch einen Inhalt zu geben, damit sie zu einem erfüllten Leben werden mit Lust und Verantwortung. Die Aufgabe vergleicht Cicero in seinem Gespräch über das Greisenalter sehr schön mit der Tätigkeit eines Landmannes, der noch im Alter Bäume für ein künftiges Geschlecht pflanzt; er will, daß ihre Früchte von den Nachkommen geerntet werden, wie er selbst sie von seinen Vorfahren empfing.
V. Gesundheitspolitik und Sozialhygiene
A. Neuorientierung, Prospektivplanung und Futurologie Der Freitod als Kurzschlußhandlung mahnt, die Sicherung der gesunden Menschen und ihrer Leistungsfähigkeit nicht zu vergessen. Eine soziale Einstellung, die sich darauf beschränkt, nur dem Schwachen zu Lasten der Werktätigen zu helfen, hebt sich selbst auf, weil sie die Quelle versiegen läßt, aus der geschöpft werden soll. Prognostische Hinweise bietet die aus dem Altersaufbau der Bevölkerung abzuleitende „Erwerbsquote". Dieser Index ist die Relation der berufstätig Schaffenden zu den Unterhaltsbedürftigen, die noch nicht oder nicht mehr arbeiten oder verdienen können, d. h. das Mengenverhältnis der Leistungszeit von 15 bis 65 Jahren zu den Altersklassen von 0 bis 15 und über 65 Jahren. Je größer die Wertziffer ist, desto günstiger ist die Wirtschafts- und Sozialprognose. Für das Deutsche Reich bzw. die Bundesrepublik und das Land Nordrhein-Westfalen ist eine Entwicklungsreihe zu errechnen, die sich um den Quotienten 2,0 bewegt. Er beträgt für die Jahre 1919 1939 1950 1961 1966 als Voraussage für 1972 als Voraussage für 1980
im Dt. Reich bzw. in der BRD
in Nordrhein-Westfalen
1,94 2,2 2,0 2,0 2,3 1,63
2,44 2,22 2,10 1,60 1,77
In Geldwert kennzeichnet der „Preisindex für die Lebenshaltung' die Entwicklungstendenz. Bezogen auf die Basis von 100 im Jahre 1954/56 betrug er für die Bundesrepublik 106,7 im Jahre 1960 und erhöhte sich kontinuierlich auf 122,6 im Jahre 1965, auf 128,7 im Jahre 1967 und auf 135,2 im Jahre 1968. Auch die von der Bundesrepublik geleistete Entwicklungshilfe fügte sich ein. Sie erhöhte sich von 1,6 Milliarden DM im Jahre 1960 auf 4,562 Milliarden DM im Jahre 1967 und auf 6,513 Milliarden DM im Jahre 1968. Sie gibt gleichzeitig auch an, daß für eine Völkerverständigung zur Völkergemeinschaft höhere Aufwendungen nötig und erforderlich wurden. Im Verlaufe der letzten zehn Jahre waren dies mehr als 75 %. Der Gesamtbetrag für den Zeitraum von 1950 bis 1964 beläuft sich auf 25,91 Milliarden DM, so daß ein Jahresdurchschnitt von 1,667 Milliarden
7
Gerfeldt, Lehrbudi der Sozialhygiene
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Gesundheitspolitik und Sozialhygiene
DM resultiert. Diese Hilfeleistung betrug in diesem Zeitraum von 15 Jahren, bezogen auf den Kopf unserer mittleren Bevölkerung, jährlich 32 DM und stieg für die Jahre 1967 und 1968 auf rund 93 DM an. In ähnlichem Maße steigt auch die Beschäftigung von Ausländern in der Bundesrepublik an. Ihre Zahl erhöhte sich im Quinquennium 1960 bis 1965 auf das Vierfache. Ende Juni 1969 wurden 1,37 Millionen ausländische Arbeitnehmer beschäftigt (970 000 Männer und 400 000 Frauen). Die Veränderungen in Lebenshaltung und Weltwirtschaft zwingen zu einer Neuorientierung, die soziale Einstellung wandelt sich. Die Agrarzeit mit ihrer patriarchalischen oder matriarchalischen Struktur wurde abgelöst durch das Industriezeitalter, und die nachfolgende Periode der Automation strebt kosmische Aspekte an. Darauf stellen sich zwangsläufig die prospektiven Sozialprogramme ein, die von der Wirtschaftsführung angeregt und von den staatlichen Organen geprüft und angenommen werden. Sie stützen sich auf eine prognostische Leitung unter den vorausberechnenden Hinweisen der modernen wissenschaftlichen Futurologie, die keine Prophetie ist und sein will, sondern auf exakten Analysen aufbaut. Folgerichtig wird die Staatsführung zu einer 7toXiTixij T£Xvy1 (politiketechne) im ursprünglichen Sinne und muß damit zu einer Staatskunst werden. Die Rückwirkungen aus der Diskrepanz zwischen der Gegenwartslage und der sozialen Zukunft äußerten sich in letzter Zeit in einer Berufsunsicherheit und einer Unruhe unter den Jugendlichen. Sie sollen nunmehr abgefangen werden durch neue, bereits vorliegende Gesetzentwürfe, und zwar a) zur Gesellschaftspolitik als Arbeitsförderungsgesetz, Ausbildungsgesetz und Ausbildungsförderungsgesetz sowie b) zur Agrarpolitik als einer Alterssicherung für Landwirte, die aus ihrem Beruf ausscheiden.
B. Gegenwartslage und Fortschrittstendenz Zwei Korrelate kennzeichnen die Ausgangsbasis für das künftige Verhalten und Planen: Der Wohnraum der Erde ist begrenzt, aber meliorationsfähig, andererseits wächst die Bevölkerung ständig. Von der gesamten Landfläche werden nur 20 % bebaut, jedoch nur die Hälfte davon ausreichend und ertragreich. Der andere Teil besteht zu 30 % aus Waldgebieten und 20 % aus Steppen, die beide gute Böden haben. Der Rest von 30% ist Brach- und Ödland, das einer Nutzung ebenfalls angepaßt werden kann. Auf den bisher erschlossenen Territorien vermehrte sich die Zahl der Menschen von etwa 160 Millionen seit der Zeitwende um Christi Geburt auf gegenwärtig 3,5 Milliarden. Wenn der Geburtenzuwachs wie bisher anhält, die Kindersterblichkeit sich verringert und die Lebenserwartung sich verlängert, dürfte mit einer Menschenmenge von vier Milliarden bis 1980 und von fünf Milliarden bis 2000 zu rechnen sein. Die Siedlungsdichte ist jedoch in den verschiedenen Landstrichen unterschiedlich und schwankt zwischen 1 bis 5 oder 10 Einwohnern je qkm in Australien, Afrika und Amerika bis zu 230 in Japan oder 480 in Nordrhein-Westfalen, ganz abgesehen von den Ballungen in Großstädten oder Industriezentren. Entsprechend dem landwirtschaftlichen Anbau ist auch der Ertrag an Nahrungsmitteln ungleichmäßig verteilt. Der Index für die Möglichkeit einer Ernährung der Bevölkerung aus eigener Produktion ist der Sättigungsgrad
Gegenwartslage und Fortsdirittstendenz
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(Sg) eines Gebietes. Er ist mit dem Wert von 100 anzusetzen, wenn er für die ansässige Bevölkerung gerade ausreicht. Ergibt sich eine Unterbilanz an Nahrungsmitteln, dann ist das Land übervölkert und der Index steigt über 100; fällt er unter 100, dann bringt der Agrarbereich mehr an Nahrung auf, als die Bevölkerung benötigt, und das Land kann 2ur Ausfuhr übergehen. Die Berechnung erfolgt nach der Formel Sg =
¿ a r j n bedeutet Sg den Sättigungsgrad, Sd die SiedE lungsdichte je qkm und E die Ernährungsquote als festgestellte Höchstmenge an eigenerzeugten Nahrungsmitteln. Von den europäischen Ländern ist nur Dänemark zur Selbstversorgung mit einem Index von 100 imstande. Bei Österreich ist er mit 110 und bei der Bundesrepublik Deutschland mit 310 anzusetzen. Dieser steigt jedoch an, da fortgesetzt Acker- und Gartenland für Wohnungsbau, Verkehrswege und Industrieanlagen erfordert wird. Andere Territorialbereiche bieten verschiedenartige und begehrte Landwirtschaftsprodukte oder verfügen über wichtige Bodenschätze und lebensnotwendige Erzeugnisse. Ihre industrielle Erschließung steht vielfach erst in den bescheidensten Anfängen. Daher nehmen die Bestrebungen zur Kooperation und zum wirtschaftlichen Ausgleich zu. Die Anbahnung erfolgt bereits durch zwischenstaatliche Abmachungen, durch Verträge und durch Zusammenschlüsse großer Produktionszweige und Handelsgesellschaften. Als derartige „Bastionen im Auslande" werden für Ende des Jahres 1967 und für 1968 an Auslandsanlagen angegeben: von den USA 237 Milliarden DM, von England 71 Milliarden DM und von der Bundesrepublik Deutschland 13 Milliarden DM. Vergleichsweise belaufen sich die Exportbeträge für 1968 gleichfalls in Milliarden DM für die USA auf 135,6, für England auf 61,2 und für die Bundesrepublik auf 99,5. Andererseits hebt der sog. Grüne Bericht 1969 der Bundesregierung hervor, daß bei uns, insbesondere im nordwestdeutschen Raum, die Betriebe bis zu 20 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche (LN) zum Teil nicht mehr als ausreichende Grundlage einer selbständigen landwirtschaftlichen Existenz angesehen werden. Zum Ausgleich sollen neben anderen sozialen Hilfen die Nahrungsgründe der Meere erschlossen werden. Infolge der wirtschaftlichen Strukturveränderungen nehmen die Mittel- und Kleinbetriebe ab, die großen Konzerne verlangen Führungskräfte bei zunehmender Nachfrage, und so wird es immer schwieriger, für Behinderte und nicht voll Leistungsfähige einen Arbeitsplatz zu finden, wenn die Leistungsanforderungen und die Umstellung auf neue Produktionsformen den Einsatz und die Adaptation von Arbeitskräften im besten Alter von 50 und höchstens 55 Jahren wider Erwarten behindern. Die Anforderungen an die Fortbildung und Umschulung steigen, die Rehabilitation und Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß ist erschwert. Um bei dieser Umstellung von Binnenwirtschaft auf Weltwirtschaft eine soziale Absicherung der Selbständigen des Mittelstandes in Handwerk, Handel und Gewerbe vorzubereiten und die Arbeitsplätze zu bewahren, sieht die neue moderne Selbständigen-Politik als Schutzmaßnahmen vor: ein Altersgeld, Umschulungshilfen, Bereitstellung von ERP-Krediten (nach dem Europäischen Wiederaufbauprogramm = European Recovery Program), Wettbewerbsförderung durch verbesserte Finanzierungsmöglichkeiten zum Start und zur Erweiterung des Betriebes (gleichzeitig auch zur Überwindung eines Assoziationsdenkens in Besitzstandwahrung), Gewerbeförderung durch Beratung und Information sowie schließlich auch eine angepaßte, vereinfachte Steuergesetzgebung.
100
Gesundheitspolitik und Sozialhygiene
C. Prospektive Aufgaben der Sozialhygiene und Sozialpolitik Die Ernährungssicherung wird immer zwingender, je größer die Inkongruenz zwischen Eigenerzeugung an Nahrungsmitteln im eigenen Land und dem Bevölkerungswachstum wird. In der Bundesrepublik Deutschland verringerte sich die landwirtschaftliche Nutzfläche in der Zeit von 1961/62 bis 1967/68 um insgesamt 622 900 ha oder um 4,6 %. In Geldwert ausgedrückt betrug sie 53 % und die Einfuhr 47%, zumal sich die Nachfrage nach sog. hochwertiger Nahrung mit viel Eiweiß und Fetten erhöhte, hingegen nach Milch und Kohlehydraten verringerte (insbesondere Kartoffeln, Hülsenfrüchten, Mehl und Brot). Die gleiche Tendenz zeigt sich in allen Industrieländern. Die Folge ist das Bemühen, Industrieprodukte gegen Landwirtschaftserzeugnisse in weltweitem Handel einzutauschen. Dadurch steigert sich der Wettbewerb in der Weltkonkurrenz, entstehen Währungsschwierigkeiten, erhöhen sich die Kämpfe um Absatzmärkte und damit auch die Kriegsgefahren. Nicht minder schwierig als die NahrungsVorsorge ist die Beschaffung von Wohnungen. Dabei fallen die Nöte in der Regel leichter und darum früher auf. Ein beträchtlicher Teil des Ackerlandes wird beaufschlagt für Wohnungen, Verkehrswege und Fabrikanlagen. Die Verstädterung steigt an, die Anmarschwege zu den Arbeitsplätzen werden immer weiter. Die Enge der Zentren von großen Städten begünstigt die Neigung, sich in den Vorstädten und Randgebieten anzusiedeln. Der Zwang zum Bauen in die Höhe und Tiefe läßt Hochhäuser oder Wohntürme sowie UntergrundVerkehrswege entstehen. Trotz allem ist der Wohnungsbedarf immer noch mit jährlich 400 000 bis 500 000 Wohnungen zu bemessen. Die Modernisierung von Altbauwohnungen wird immer teurer und kostet vielfach mehr als der Abbruch mit der Erstellung eines Neubaues. Bei einer Lebensdauer von 50 Jahren für ein Haus verfallen ebenso viele Altbauten dem Abbruch, wie der Neubedarf beträgt, so daß die gleiche Zahl von neuen Wohnungen nötig wird, um nur den Bestand zu wahren. Mit der Bevölkerungszunahme, den gestiegenen Ansprüchen an den Wohnungskomfort und durch neue Fabrikanlagen entstehen weitere gesundheitliche Schwierigkeiten. Die anfallenden Abfallstofle und Abwässer gefährden die Versorgung mit Trinkwasser, ihre Beseitigung erfordert weitere Landflächen oder verleitet dazu, die Bach- und Flußläufe als Vorfluter zu mißbrauchen. Die sozialen Rückwirkungen liegen besonders bei der zunehmenden Urbanisierung vor. Sie nahm in der Bundesrepublik in der Zeit von 1950 bis 1960 um 43 % zu, während sich die Kleinstadtund Landbevölkerung bei 13 % hielt. Die Prognose für die Weltbevölkerung befürchtet, daß in absehbarer Zeit die Hälfte aller Menschen in Gemeinschaften von mindestens 100 000 Einwohnern leben wird. Das Stadtleben erschwert den Kontakt zur Nachbarschaft. In den Hochhäusern kennt kaum ein Bewohner den anderen, jeder wünscht und wahrt seine persönliche Sphäre. In den Landgemeinden und -bezirken kennt einer den anderen, bietet ihm in Notfällen unaufgefordert seine Hilfe an und erwartet sie auch seinerseits. In den Großstädten bleibt man auf sich angewiesen, hält Abstand und Wohndistanz ein. Die Wahrung von Individualität und Eigenpersönlichkeit findet ihre Grenze an der Ehe und Familie sowie am Zusammenschluß zur Gemeinschaft. Sie geht in der Gesellschaft als dem lockereren Band nicht auf, fügt sich ihr aber integrierend ein. Eine Betonung der Persönlichkeit wahrt wohl die Rücksicht auf den Mitmenschen, kann
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Prospektive Aufgaben der Sozialhygiene und Sozialpolitik
jedoch zur Entfremdung führen. Der äußere Ausdruck ist die Wohndistanz. Sie betrug bei einer Wohn- oder Siedlungsdichte von 600 Millionen Menschen auf der Erde um das Jahr 1750 rein rechnerisch und abstrahiert für den Lebens- und Jagdraum durchschnittlich 500 m. Bei einer Siedlungsdichte von 10 Menschen je qkm ist sie mit 320 bis 350 m zu bewerten; in Ballungsgebieten mit 400 Bewohnern je qkm verringert sie sich auf 50 m. Ein Wall von Verfremdung verwehrt jeden unerwünschten Einblick, die Nachbarschaftshilfe geht verloren. Die öffentliche Hilfe vermag erst bei Notruf von dritter Seite einzusetzen, vielfach spät oder auch zu spät. Der Tod einsamer Menschen fällt nicht auf. Die heutige Tendenz neigt daher wieder zur Flucht aufs Land, in eine schöne Umgebung, mindestens in angenehme Vorstädte oder Vororte. Die Suburb-Bewegung fördert familiäre Zusammenkünfte und Zusammenschlüsse zu gemeinsamen Besorgungen, zu Fahrten zum Dienst oder zur Schule, auch zu gemeinsamen Ausflügen. Die Wohndistanz wird aus dem Lebensbedürfnis heraus aufgelockert, kann aber auch bei zu großer Vertrautheit bedenkliche Fehler herbeiführen. Auch das Wohnen in Hochhäusern oder Wohntürmen vermag beiden Charakterformen gerechtzuwerden, dem Einsiedler wie dem Geselligen. Die Großstadt-Nähe bietet alle gewünschten Bequemlichkeiten ebenso wie die Möglichkei zu persönlichen Kontakten und wechselseitiger Hilfe. Diese Aspekte sind bedeutsam bei der Durchführung von So^ialbilfe, Krankenhilfe und Gemeindepflege. Ihre Aufgaben werden immer schwieriger. Es mangelt an geschulten Kräften, die Plätze in Alters- und Pflegeheimen sind auf Jahre besetzt und werden nur durch Tod frei, die Krankenhausbetten stehen nur für Akut-Kranke zur Verfügung, und die nachgehende Krankenhausfürsorge braucht Helfer. Daher bleiben Alternde und Alte vielfach auf sich selbst angewiesen. Die sozialen Ausgaben erhöhen sich zwangsläufig. Sie betrugen allein als Bundesaufwendungen im Jahre 1966 rund 34% des Haushaltsansatzes von 68,9 Milliarden DM oder 400 DM je Kopf der Bevölkerung und Jahr. Verglichen mit anderen Staaten, die in ihrer wirtschaftlichen und insbesondere industriellen Struktur einander ähnlich sind, hält die Bundesrepublik Deutschland einen „guten Mittelplatz" bei der Verwendung ihres Bruttosozialproduktes für soziale Leistungen, wie die nachstehende Übersicht zeigt. Die Sozialabgaben und Lasten betrugen in den Jahren 1966 bzw. 1967 in Anteilen des Sozialprodukts für Japan die Schweiz die USA Kanada Belgien Italien Dänemark
19,3% 21,0% 28,1% 28,2% 31,1% 31,3% 32,3%
England die BR Deutschland Österreich die Niederlande Norwegen Frankreich Schweden
33,8% 34,1% 35,6% 35,7% 35,8% 38,4% 39,2%
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Gesundheitspolitik und Sozialhygiene
D. Organisation und Durchführung der Gesundheitspflege und Gesundheitsfürsorge Nach den sozialhygienischen, sozialmedizinischen und präventiven Aufgaben sowie der Gesundheitsfürsorge und nachgehenden Fürsorge, die vielfach kurz als Nachsorge bezeichnet wird, müssen die ärztlichen Funktionen von der Fürsorgetätigkeit unterschieden werden. Als Träger amtlicher Aufgaben treten die Gesundheitsämter und die staatlichen Gewerbeärzte auf. Den Gesundheitsämtern der Stadt- und Landkreise obliegen: a) die Medizinalaufsicht über die Krankenanstalten, Altersheime und sonstigen Einrichtungen der Krankenfürsorge, über Apotheken, Drogerien und den Arzneimittelverkehr, über die Suchtbekämpfung, die Gewerbehygiene im Zusammenwirken mit den Gewerbeärzten und der Gewerbeaufsicht, der Strahlenschutz und die allgemeine Sozialhygiene; b) aus den einzelnen Zweigen und Sachgebieten der Gesundheitspflege und Gesundheitsfürsorge: die Schwangeren-, Mütter- und Säuglingsfürsorge, die Kleinkinderfürsorge, die Schulgesundheitspflege einschließlich der Jugenderholungsfürsorge, die Tuberkulosefürsorge, die Krebskrankenfürsorge, die Geschlechtskrankenfürsorge, die Geisteskranken-, Siechen- und Süchtigenfürsorge, die Körperbehindertenfürsorge, die sozialärztliche Begutachtung, der sportärztliche Dienst, die Eheberatung, die gesundheitliche Volksbelehrung (in Gemeinschaft mit den besonderen, dafür entstandenen Verbänden und Vereinigungen, wie der Bundesvereinigung für Gesundheitserziehung, der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege, der Hessischen Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitserziehung, dem Deutschen Grünen Kreuz u. a.) sowie die Schul- und Jugendzahnpflege im Zusammenwirken mit Schulzahnärzten und den Zahnärzten. Beim ärztlichen Katastrophendienst, im Rettungsund Krankenbeförderungswesen haben sie an der Durchführung mitzuwirken. Die staatlichen Gewerbeär^te sind die amtlichen Berater im staatlichen Arbeitsschutz. Den betrieblichen Arbeitsschutz versehen die Werksärstfe. In der Sozialhygiene, Sozialmedizin, Präventivmedizin, Gesundheitspolitik, Arbeitsmedizin, Verkehrsmedizin, dem Jugendarbeitsschutz, der Fürsorge für geistig und körperlich Behinderte sowie bei der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten findet die Ärzteschaft der freien Praxis ein weites Arbeitsfeld und hat sich darin in zunehmendem Maße betätigt. Sie ist nach der Bundesärzteordnung und der Berufsordnung für deutsche Ärzte dazu auch berufen; denn „der Arzt dient der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamtes Volkes". Die Träger der öffentlichen Fürsorge sind die Fürsorgeverbände, die als Landesfürsorgeverbände jeweils für ein Land oder für Teile eines Landes und als Bezirksfürsorgeverbände jeweils für einen Stadt- oder Landkreis gebildet sind. Die Geschäftsstellen dieser örtlichen Träger sind die Wohlfahrtsämter oder Fürsorgeämter oder Sozialämter. Als überörtliche Träger sind tätig: das Landeswohlfahrtsamt oder das Landessozialamt, der Landeswohlfahrtsverband oder der Landschaftsverband. Die Unterschiede sind durch die Eigenständigkeit der Länder des Bundesgebietes bedingt, aber nicht durch die sach- und fachlichen Aufgabenbereiche. Die öflent-
Organisation und Durchführung der Gesundheitspflege und Gesundheitsfürsorge
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liehe Fürsorge ist eine Pflichtaufgabe der öffentlich-rechtlichen Körperschaften und damit ein Teil der öffentlichen Verwaltung. Als Angelegenheit der Selbstverwaltung wird sie von den Trägern im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung durchgeführt. Die Möglichkeit, bestimmte Aufgaben den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege zur selbständigen Durchführung zu übertragen, enthebt die öffentliche Verwaltung nicht ihrer eigenen Verpflichtung. Die Fürsorge geht vom Grundsatz der Individualisierung aus und soll den Menschen helfen, die einer sozialen Hilfe bedürfen, weil sie dazu selbst nicht imstande sind. Soweit sie es mit eigenen Mitteln teilweise vermögen, setzt die ergänzende oder erweiterte Hilfe nach dem Prinzip der Subsidiarität ein. Die Fürsorge richtet sich somit nach der jeweiligen Besonderheit und der Eigenart der Notlage. Sie ist bestrebt, sich selbst wieder entbehrlich zu machen, indem sie dem Hilfsbedürftigen dazu verhilft, sich selbst weiterzuhelfen und auch für sich und die unterhaltsberechtigten Angehörigen den Lebensbedarf selbst zu beschaffen. Maß und Umfang der Sozialhilfe sind im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vom 30. Juni 1961 (BGBl. I, S. 815) festgelegt. Es enthält auch Bestimmungen über die Sozialhilfe für Deutsche im Ausland, über Sozialhilfe für Ausländer und Staatenlose sowie Verfahrensbestimmungen. Gegen Ablehnung der Fürsorge sowie die Festsetzung ihrer Art und Höhe stehen demgemäß dem Hilfsbedürftigen die verwaltungsmäßigen Rechtsbehelfe zu, und zwar die formlose Beschwerde bei der Dienststelle der Fürsorge, der Einspruch und die Beschwerde im Verwaltungsverfahren sowie die Anfechtungsklage, die Berufung und die Revision im Verwaltungsstreitverfahren. Die freie Wohlfahrtspflege ergänzt oder erweitert die Tätigkeit der öffentlichen Fürsorge, bleibt aber in selbständiger Verantwortung tätig und ist begründet auf ihre karitative oder humanitäre Einstellung. Ihre Fürsorgegebiete und Fürsorgeformen lassen sich nach drei Bereichen gliedern, nämlich der Gesundheitsfürsorge, der Erziehungsfürsorge und der Wirtschaftsfürsorge. Sie werden ihrerseits in der Form der geschlossenen, der offenen und der halboffenen Fürsorge durchgeführt. Die großen Spitzenverbände haben sich meist oder vielfach zu Arbeitsgemeinschaften zusammengeschlossen, wie sie auch im § 134 des Bundessozialhilfegesetzes vorgesehen sind. Dazu gehören: die Arbeiterwohlfahrt, die Innere Mission, das Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Deutsche Caritas-Verband, der Paritätische Wohlfahrtsverband, das Deutsche Rote Kreuz und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Die Träger der Sozialversicherung, die Träger der Kriegsopferversorgung, der Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz, die Träger nach dem Unterhaltsversicherungsgesetz und die Bundesanstalt für Arbeit (bisher: Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung) beteiligen sich im Rahmen ihrer Zuständigkeit ebenfalls an den Fürsorgeaufgaben. Das Deutsche MütterGenesungswerk als Gemeinschaftsaufgabe von Frauen für die Mütter will körperlich und seelisch erschöpften, in bedrängten Verhältnissen lebenden Frauen helfen und bietet ihnen den dringend nötigen Erholungs- oder Kuraufenthalt in besonderen Heimen. Für den Rettungsdienst und den Krankentransport bedarf es der Einrichtung von zentralen Meldestellen, Rufsäulen und Unfallmeldestationen, die insbesondere an Gefahrenstellen nicht fehlen dürfen, einer Vorsorge für eine ausreichende Zahl von Arzt-Einsatzwagen und der planmäßigen Verteilung von Rettungsstellen und Nothilfestationen. Eine frühzeitige und sachgemäße Hilfe ist die Voraussetzung für
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Gesundheitspolitik und Sozialhygiene
den Erfolg der Behandlung im Krankenhaus. In ihnen ist der Unfallbereitschaftsdienst und die rasche Aufnahme im Krankenhaus durch einen zentralen Bettennachweis für Unfallverletzte zu sichern. Der Einsatz von Rettungsflugzeugen kann in manchen Bezirken erforderlich sein. Die Blutspendeorganisation und der Transfusionsdienst sind nach den bisherigen Erfahrungen funktionsbereit ausgebaut. Zur Prophylaxe auf den Fernstraßen gehört auch die Einrichtung von Rasthäusern mit der Gelegenheit, sich zu erholen, einen Imbiß einzunehmen und alkoholfreie Getränke zu erhalten. Einen eigenen Unfall- und Rettungsdienst haben Industriewerke, Gruben, Eisenbahn und Flugverkehr eingerichtet. Weiterhin sind zu nennen: Deutsche Lebensrettungsgesellschaft, Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, Deutsche Bergwacht und Rotes Kreuz. Die Krankenhäuser legen in zunehmendem Maße darauf Wert, den Behandlungserfolg auch nach der Entlassung aus der stationären Betreuung überwachen und nachprüfen zu können. Diese Aufgabe kann vom Pflegepersonal neben den regelmäßigen Pflichten nicht übernommen werden und wird daher Krankenhausfürsorgerinnen oder Gesundheits- und Wohlfahrtspflegerinnen mit besonderen Fachkenntnissen übertragen. Auf diese Weise wird eine wirksame Verbindung zwischen Krankenhaus, Familie und Arbeitsplatz erzielt. Für diese Krankenhausfürsorge oder Fürsorge im Krankenhaus ergeben sich vornehmlich drei Aufgaben: 1. die Klärung von Umweltbedingungen in der Familie, am Arbeitsplatz und im sozialen Milieu, die einen Einfluß auf Entstehung, Verlauf, Heilung oder Rückfälligkeit der Erkrankung haben können; 2. die Beseitigung von Notständen, die einen ungünstigen Einfluß auf die Restitution erwarten lassen, wie Belastung durch häusliche Sorgen, wirtschaftliche Schwierigkeiten, Ungewißheit des Arbeitsplatzes, Furcht vor Strafe, Unterbrechung der Behandlung wegen Geldmangels oder aus sozialen Gründen; 3. die Umstellung auf die erwünschte oder notwendige Reaktionsweise durch Regelungen im Familienleben, am Arbeitsplatz, Verhandlungen mit Arbeitgeber, Versicherungsträgern und Behörden, Anregung und Vorbereitung einer Einweisung in Übergangsheime oder Erholungsstätten, um die Rekonvaleszenz und Wiedereingliederung in den Beruf und die Gemeinschaft zu sichern. Soweit eine Krankenhausfürsorge nötig ist, soll sie vom Gesundheitsamt und dem Krankenhaus möglichst im Rahmen der Familienfürsorge gefördert werden (§ 47 Abs. 6 der Dienstordnung für die Gesundheitsämter, Besonderer Teil). Die Krankenhausfürsorgerin wird tätig: a) aus eigener Initiative, b) auf Wunsch des Kranken oder seiner Angehörigen, c) auf Veranlassung der Ärzte, Schwestern und Verwaltung und d) auf Anfordern der Stellen der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege. Diese Tätigkeit muß in Übereinstimmung mit der Leitung des Krankenhauses durchgeführt werden.
VI. Arbeitsweise und Methodik Der Sozialhygiene als einer exakten Wissenschaft der Gegenwart fällt die Aufgabe 2u, den Ursachen von soytalphysiologischen, so^ialpathologisehen und so^ialpsychologischen Gesellschaftserscheinungen sowie ihren Auswirkungen auf die Gesundheit und Leistungsfähigkeit von Individuen und Bevölkerungsgruppen nachzugehen, um aus Gesetzmäßigkeiten zu Prognosen und prophylaktischen oder therapeutischen Maßnahmen zu gelangen. Dazu benötigt sie eine ausgewogene Methodik und vergleichende Maßstäbe. Sie sind besonders dort unentbehrlich, wo viele denkende, schaffende und anspruchsberechtigte Menschen auf engem Raum zusammenleben müssen, die natürliche Umwelt zum sozialen Lebenskreis gestaltet wird und die Wirksozietät der natürlichen Nachbarschaftshilfe sich zur Gruppe, Gemeinschaft und Gesellschaft erweitert. Aus den wechselnden Vorgängen und fließenden Entwicklungen müssen gesicherte Daten, Fakten und Faktoren gewonnen werden, und zu dieser Objektivation sind Beobachtungs- und Untersuchungsreihen nötig. Die sich dabei ergebenden Konstanten sind unabhängig von der persönlichen Auffassung, weil viele Experten und Analytiker dabei beteiligt sind und Kontrollen durch Gruppenversuche in einer Projektion auf das große Experiment des Lebens vorgenommen werden. Die Resultate lassen Vergleiche mit internationalen Befunden zu. Ergänzend hierzu bietet eine Erforschung der Volksmeinung, die Demoskopie, den notwendigen Einblick in die individuelle Einstellung, die eine Erscheinung des Subjektivismus auch dann ist, wenn Gruppeneinflüsse wirksam werden.
A. Beobachtungs- und Untersuchungsreihen Die Durchführung von Reihenuntersuchungen und -beobachtungen bedarf einer sorgfältigen sachlichen und methodischen Vorbereitung sowie einer inneren und äußeren Abgrenzung der Merkmale. Bei der Erforschung von Grundlagen wird zunächst Wert auf die Gewinnung von einfachen Teilergebnissen und Begriffen zu legen sein, ehe im stufenweisen Aufbau die ursächlichen und folgemäßigen Zusammenhänge angefaßt werden. Die entscheidenden Merkmale sind klar und scharf zu umreißen. Freilich können sie auch sehr subtil und weitläufig gegliedert werden, doch bedeutet dies nicht immer eine größere Genauigkeit; vielmehr entsteht leicht die Gefahr einer Unübersichtlichkeit oder Verzettelung. Nötig ist es jedoch, die wertbestimmenden Faktoren, die sich aus der Analyse der Objekte darstellen, vollständig herauszulösen. Für alle Reihenuntersuchungen gelten Forderungen: 1. eine möglichst lückenlose Quantität und 2. eine zuverlässige Gleichartigkeit. Je größer die Zahl der Untersuchungen ist und je genauer sie ein verkleinertes Abbild der Gesamtheit bieten, desto zuverlässiger ist eine Verallgemeinerung zu begründen. Ein bewährtes
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Arbeitsweise und Methodik
Mittel für Ausweitungen sind regionale und periodische Erhebungen in umschriebenen Bezirken durch verschiedene Untersucher nach übereinstimmenden Regeln, so daß subjektive Auffassungen ausgeschaltet werden. Die Zusammenfassungen liefern dann abgerundete Ergebnisse, in denen kleine Unebenheiten durch 2entrale Nachprüfungen ausgeglichen werden können. Während nach dem „Gesetz der großen Zahl" die häufigsten und mittleren Werte für manche Erhebungen die wichtigeren sein können, werden für andere Antworten, insbesondere für die Prophylaxe und Fürsorge, die extremen Befunde nach ihren Maxima und Minima unentbehrlich und sogar entscheidend sein, vorausgesetzt, daß Gleichartiges zusammengefaßt und miteinander verglichen worden ist. Da die Merkmale der Untersuchungseinheiten nicht immer konstant oder starr sind, sondern in einer Hinsicht gleichartig, in anderer aber ungleichartig sein können, bedarf es einer Abgrenzung nach einheitlichen Erhebungsprin^ipien. Die Beweglichkeit der Fakten kann örtlich, zeitlich oder sachlich bedingt sein. Wenn die mit ihnen erzielten Ergebnisse miteinander verglichen werden sollen, müssen sie entsprechend abgesteckt werden und untereinander nach Umfängen, Einheiten und Kennzeichen gleichwertig sein. Eine solche Ordnung nach örtlichen, zeitlichen und sachlichen Merkmalen ist am leichtesten zu erreichen, wenn man von kleineren Bereichen und Gruppen ausgeht. Für größere Bezirke und Felduntersuchungen bedarf es einer Zusammenfassung nach übergeordneten Klassifizierungen. Für spezifische Erscheinungen und feinere Einzelheiten ist eine Auswahl kleinerer Gruppen unerläßlich. Die Bildung sog. „offener Gruppen", die nach oben und unten nicht scharf begrenzt werden können, ist unzweckmäßig und sogar unbrauchbar. Für die Auswertung der Beobachtungen und Befunde ist eine gute Übersichtlichkeit notwendig. Wenn es angängig ist und den Ergebnissen kein Zwang angetan wird, begnügt man sich in der Statistik und in der Sozialhygiene mit einer zweifachen bis vierfachen Gliederung in Rubriken. Die biologische Vielgestaltigkeit und ätiologisch-kausale Analyse wird jedoch nicht immer damit auskommen. Trotz erweiterter Aufteilung darf der Überblick nicht leiden oder das Ziel gefährdet werden, wenn in den Untergruppen zu kleine Angaben erscheinen und die Signifikanz verlorengeht. Andererseits darf durch zu breite Normierung den Teilergebnissen nicht Gewalt angetan werden und das Ergebnis großzügig vorweggenommen werden (Antizipation des Resultats). Dieser Gefahr begegnet man rationell, indem die Untergruppen nur soweit zu Oberbegriffen zusammengefaßt werden, als der Merkmalcharakter gewahrt bleibt. Die Auswertung erfolgt nach den Grundsätzen der Statistik, im besonderen der Medizinalstatistik, und der Demoskopie.
B. Grundzüge der Medizinal- und Sozialstatistik Während ein Teil der Naturwissenschaften sich mit der Analyse von Einzeltatsachen beschäftigt, benötigen Sozialhygiene, Sozialmedizin und prophylaktische Medizin eine Begründung und Ergründung ihrer Maßnahmen aus der Prüfung von Massenerscheinungen und ihrerAbläufe. Dazu brauchen sie als unentbehrliches Hilfsmittel die Statistik in ihrer besonderen Form der Medizinal- und Sozialstatistik, für die große Mengen und Reihen von Beobachtungen erforderlich sind, um auf
Grundzüge der Medizinal- und Sozialstatistik
107
dem „Gesetz der großen Z a h l " aufbauen zu können. Mit Hilfe von statistischen Gesetzmäßigkeiten sollen bisher unbekannte Zusammenhänge innerhalb der Variationen, Abweichungen und Streuungen von Erscheinungen oder Vorgängen erforscht werden. Dazu sind notwendig: eine Kenntnis der Arbeitsweise und Methodik, der Auswertung und Beurteilung sowie der Wahrscheinlichkeitsgesetze. Sie sollen in diesem Rahmen nur in den Grundbegriffen dargelegt werden. D a die Beschaffung von großem Material stets zeitraubend und vielfach auch kostspielig ist, sollte zunächst stets geprüft werden, ob wertvolle Erkenntnisse zu erwarten sind, so daß der Aufwand gerechtfertigt erscheint. Die Erhebungseinheiten müssen groß und gleichartig sein, damit sie nach einheitlichen Merkmalen methodisch zusammengefaßt werden können und nicht bloß eine formale, sondern vor allem eine materielle, innere Übereinstimmung ergeben. D i e Methodik darf nie mißbraucht werden, um eine vorgefaßte Ansicht zu begründen, und die Zahlen zu einer „ L ü g e in Ziffern" werden. Das Prinzip der Statistik ist der Vergleich, mit dem Beobachtungen und Ereignisse, die sich in Zahlen ausdrücken lassen, aneinander gemessen und gegeneinander abgewogen werden. In einem sorgfältig vorbereiteten Plan sind auszuschalten: fehlerhaftes Ausgangsmaterial und mangelhafte Vergleichsmöglichkeiten. D i e zusammengehörenden Gruppen werden nach den Gründen und Zielen in örtlicher, zeitlicher und sachlicher Beziehung geordnet. Der übersichtlich eingeteilte Stoff wird sodann nach den Regeln der Gleichartigkeit und der großen Zahl überprüft. Bei der Aufbereitung sind Fragebogen, Strichlisten, Übernahmeverzeichnisse, Zählkarten, Summenlisten, Lochkarten und Tabellenübersichten nicht zu entbehren. Die Auszählung und Ausrechnung wird erleichtert und beschleunigt durch die Verwendung von Sortier- und Zählmaschinen, Rechenmaschinen, Logarithmentafeln und -rechenschiebern, vor allem aber durch neuzeitliche Computer mit elektronischer Datenverarbeitung. Sie gewährleisten zugleich zuverlässige Ergebnisse, vorausgesetzt, daß Fehler in den Daten und Unterlagen ausgemerzt wurden. Als Anwendungsbereiche seien aus den zahlreichen und vielfältigen Aufgaben hervorgehoben: die Bevölkerungsstatistik und Demographie, die Krankheitsstatistik, die Gesundheitsstatistik, die Medizinalstatistik und die Sozialstatistik. Die Demographie und Bevölkerungsstatistik umfaßt den Bevölkerungsstand, die Bevölkerungsbewegung einschließlich der Wanderungen, Verstädterung, Landflucht und Auswanderungen, den Altersaufbau, die Geschlechtsverteilung, die Eheschließungen, die Geburten und Geburtenhäufigkeit, die Totgeburten, die Sexualproportion, die Sterblichkeit und die Lebenserwartung. Die Krankheitsstatistik ist nur für den Bereich der meldepflichtigen Erkrankungen ausreichend gesichert. Für andere Krankheiten bieten die Statistiken und Berichte der Kliniken und Krankenhäuser sowie Sondererhebungen und Aufzeichnungen von Lebensversicherungen, Versicherungsträgern und Betrieben repräsentative Unterlagen. Eine Gesundheitsstatistik ist erst im Aufbau begriffen und muß sich vielfach auf Sonder-Enqueten stützen oder Daten der Bevölkerungs-, Arbeits- und Wohnungsstatistik heranziehen. D i e Medi^inalstatistik verwendet die Beobachtungen der Gesundheitsämter und des Gesundheitswesens, der Sozialversicherungsträger, der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege sowie der Fürsorge- und Wohlfahrtseinrichtungen.
108
Arbeitsweise und Methodik
Aus der So^ialstatistik sind die Angaben über die Auswirkungen von Gesellschaft und Wirtschaft auf die Gesundheit und die Erkrankungen wertvoll, wie Arbeit und Lohn, Lebenshaltung und Ernährung, Wohnung und Erholung. Manche ihrer Arbeitsbereiche berühren oder überschneiden sich mit anderen Tätigkeitsgebieten, wie Bildungswesen, Kriminalität und Suchten. Es ist leicht einzusehen, daß die Gesundheitsstatistik und die Sozialstatistik ohne Grenze ineinander überfließen, wie ja auch die Gesundheitsfürsorge und die Sozialhygiene ineinander übergehen und in eine Gesundheitspolitik sensu strictiore ausmünden, nicht als eine Technik des Verhandeins über gesundheitliche Anforderungen, als vielmehr eine Methodik des Handelns nach kritischen Erkenntnissen, um die Leistungsfähigkeit zu steigern, den Lebensstandard zu verbessern und das Wohlbefinden zu erhöhen. Aus dem Beobachtungsgut wird das Arbeitsmaterial in seinen zeitlichen, räumlichen und artlichen Erscheinungsformen entnommen und in Ereignis- oder Beobachtungsreihen geordnet. Dies gilt auch bei der Beurteilung von Behandlungsmaßnahmen für die Unterform der Erfolgsstatistik. Den Ausgang nimmt die Bearbeitung von der einfachen Auszählung in der Ereigniszahl. Diese wird mit dem absoluten Wert angegeben, für einzelne Unterbegriiie oder Teilerscheinungen auch in relativen oder prozentualen Beträgen zur Gesamtsumme sowie untereinander. Dabei muß man sich klar sein, daß Ereignisse nur in ganzen Zahlen ausgedrückt werden können, nicht aber durch Brüche oder Dezimalen, weil sie in ihrer Folge wohl zweimal, dreimal und hundertmal vorkommen können, nicht aber ein viertelmal oder ein zehntelmal. Daher soll der Häufigkeitswert P nicht mehr gültige Dezimalstellen besitzen, als die Beobachtungszahlen (z und n) sie aufweisen, z. B. „
=
100x250 25000 — 8 0 0 — = ~8ÜÖ~ =
,.„.
,
*=
,„„-„, /o'
3 , 5
Bei einer biologischen Auszählung von Beobachtungen, Feststellungen, Ereignissen und Häufigkeiten gruppieren sich alle Daten um einen Mittelwert oder Durchschnittswert, so daß in einem Diagramm entweder eine binomische Säulenreihe oder, wenn man die Endpunkte der Säulen miteinander verbindet, eine glockenförmige Binomialkurve entsteht. In der Praxis wird sie auch Variationskurve, Wahrscheinlichkeitskurve, Gaußsche symmetrische Kurve, Galtonsche oder Queteletsche Kurve genannt. In ihrer regelrechten, binomischen Form umschließt sie einen Flächenraum mit der Gesamtsumme 1. Rechts und links von ihrem durch eine Senkrechte bezeichneten Mittel- oder Durchschnittswert liegen die positiven und negativen Abweichungen, die mit den Wahrscheinlichkeitssignen p und q bezeichnet werden. Da die Summe p + q = 1 ist, muß p = 1 —q und q = 1 —p sein, z. B. p = 18, q = 12, p + q = 30. Die binomische Verteilungskurve ist symmetrisch, wenn p = q = y 2 ist. Sie wird linksschief, wenn p größer ist als und rechtsschief, wenn p kleiner ist als Mehrgipfelige und flachgipfeüge Kurven, sog. Livikurven, sprechen dafür, daß den Beobachtungen ein uneinheitliches Material zugrunde liegt oder daß mehrere verschiedene Merkmalsträger einwirken. Die Form der Kurve ist somit gleichzeitig eine Arbeitskontrolle für die Arbeitsmethode und das Beobachtungsgut. Sie kann auch verwendet werden, um vorhandene Lücken im Beobachtungsgut, sofern es insgesamt einwandfrei ist, durch Einschaltung oder Interpolation zu ergänzen. Weniger zuverlässig ist jedoch die Weiterführung oder Extrapolation von Reihen
Grundzüge der Medizinal- und Sozialstatistik
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über den Beginn und das Ende hinaus. Keinesfalls darf sie sich auf Vermutungen oder bloße Annahmen stützen; denn dies wäre ein unzulässiges statistisches Wahrsagen. Wenn die gleichen Konstellationen fortwirken, die den Beobachtungsreihen zugrunde lagen, können die ermittelten Entwicklungs- und Wiederholungsreihen auch zur Prognose verwendet werden. Vorauszusetzen ist dabei, daß die Feststellungen zahlreich sind, sich über einen langen Zeitraum erstrecken und Streuungsereignisse oder Auslesefaktoren ausgeschlossen sind, so daß ein zuverlässiges, wenngleich verkleinertes Spiegelbild des Gesamtvorganges entstanden ist. Insbesondere gilt dies für die gern gefragten Zukunftsprognosen; denn es darf nicht vergessen werden, daß die Erkenntnisse der Statistik nicht zu Gewißheiten führen, sondern nur zu Wahrscheinlichkeiten. Sie können somit nur mit dem Vorbehalt gelten, daß unter Berücksichtigung aller Erfahrungen in der Vergangenheit sich später nichts Wesentliches ändern wird. Eine statistisch gesicherte Korrelation beweist auch noch nicht eine ätiologische Beziehung. Dazu bedarf es vielmehr weiterer sachlicher Prüfungen und ergänzender Untersuchungen. Der Begriff der auslösenden Ursache ist nicht identisch mit dem logischen Prinzip der statistischen Methodik. Daher darf nie übersehen werden, daß im biologischen und sozialen Geschehen auch Konvergenzen und Parallelitäten auftreten, denen keine kausal identischen Anlässe zugrunde liegen. Die statistische Ursächlichkeit kann daher keine kausale Gesetzlichkeit sein, sondern ist lediglich eine gesetzmäßige Wahrscheinlichkeit, die eintreten kann, aber nicht mit Gewißheit zu erwarten ist. In ihrer Methodik bedient sich daher die statistische Ursachenforschung logischer Mittel, nämlich der Konkordanz oder Übereinstimmung, der Differenz oder des Unterschiedes und der Korrelation oder der Entsprechung. Sie ist keine Wissenschaft der ätiologischen Verknüpfungen, sondern des Vergleichs von Quantitäten; sie will nicht gefragt werden: warum?, sondern antwortet auf die Fragen: wie oft?, wieviel?, wievielmal mehr? In der Bevölkerungsstatistik werden die geläufigsten Daten in absoluten Zahlen und in Relation zu bestimmten oder gewählten Einheiten in der Gesamtheit gegeben. Die absolute Zahl der Eheschließungen nennt man Heiraten, ihre relative Zahl, bezogen auf 1000 oder 10 000 oder auch 100 000, die als Bezugsgröße jeweils anzugeben ist, heißt Heiratsfrequenz oder Trauungsziffer. Die Geburtenhäufigkeit wird im absoluten Wert zur Natalität, im relativen Betrag aber zur Geburtenziffer. Die absolute Zahl der Todesfälle ist die Mortalität oder allgemeine Sterblichkeit, die Relativzahl hingegen die Sterbeziffer. Der erfahrungsmäßige tödliche Verlauf einzelner Krankheiten ist ihre Letalität und wird in Prozenten der gefragten Erkrankungsfälle ausgedrückt. Amtliche Zusammenstellungen dafür gibt es noch nicht. Abweichend von der allgemeinen Sterblichkeit wird die Säuglingssterblichkeit nicht auf die genannten Einwohnereinheiten bezogen, sondern in Prozenten aller Lebendgeborenen ausgedrückt. Als Geburtenüberschuß bezeichnet man die positive Differenz zwischen der Zahl der Geborenen und der Zahl der gestorbenen Neugeborenen. Eine negative Differenz heißt Sterbeüberschuß. Diese beiden Werte können auch als Relativzahl zu je 1000 Einwohnern aufgeführt werden. Von besonderer sozialhygienischer Bedeutung ist die Sexualproportion als Verhältniszahl der Geschlechter. Meist ist die Zahl der Knaben größer als die der Mädchen; doch können die Wertbeträge unter dem Einfluß biologischer und gesellschaftlicher Faktoren sich auch umkehren oder angleichen.
110
Arbeitsweise und Methodik
Aus der allgemeinen Absterbeordnung, der Sterblichkeit nach Altersklassen und der Todesursachenstatistik gewinnt man im Zusammenhang mit den Volkszählungen die „Sterbetafeln". Sie geben an, wieviel Personen jedes Lebensalters im nächstfolgenden Lebensjahre starben. Hieraus läßt sich die Lebenswahrscheinlichkeit eines Menschen berechnen sowie die mittlere Lebenserwartung eines lebendgeborenen Kindes feststellen. Sie besagt aber nicht, daß alle Menschen bei steigender Lebenserwartung älter oder alt werden, sondern läßt nur ersehen, daß im Vergleich zu früher mehr Menschen ein höheres Lebensalter erreichen. Wenn die Feststellungen der Sterbetafeln als Kurve gezeichnet werden, dann entsteht die bereits genannte V-Kurve (Abbildung 5, S. 20). Allen Zählungen, Messungen und Beobachtungen haften kleine Fehler an, die bereinigt werden, indem man mehrere gleichartige Feststellungen miteinander vergleicht, um den wahrscheinlichsten Wert zu finden. Dazu bedient man sich der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Mit ihr stellt man fest: 1. das Eintreten von günstigen (g) aus einer Anzahl von möglichen (m) Fällen, wobei die Wahrscheinlichkeit (w) für die günstigen Trefier sich aus dem Quotienten w = g : m ergibt; 2. die Gegenwahrscheinlichkeit als Wahrscheinlichkeit für das Ausbleiben eines TrefEers. Die mathematische Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines Ereignisses setzt voraus, daß die Bedingungen und fortwirkenden Anlässe konstant bleiben und in ihren entscheidenden Motiven bekannt sind. Der mathematische Ausdruck dafür ist die Bezeichnung = 1, die besagt, daß der Betrag gegen den Ausgangswert kleiner oder gleich sein muß. Die Gegenwahrscheinlichkeit (u) wird dann im Vergleich zur Wahrscheinlichkeit (w) zur Formel u = 1 —w; 3. den mittleren Fehler des Mittelwertes als Streuung oder Abweichung vom effektiven Durchschnittswert; 4. die Wahrscheinlichkeit von Ursachen bei Ausschluß anderer Ursachen; 5. den mathematischen Erwartungswert beim Vergleich von Vorgang, Ereignis, Experiment oder Versuch mit dem postulierten Ergebnis. Bei einfachen, leicht zu überblickenden Bedingungen wird man mit der W E S T E R GAARDJT/fe« Regel auskommen. Man erhält mit ihr die wahrscheinlichen oder möglichen Grenzwerte, indem man zu dem gefundenen statistischen Wert die Wurzel daraus addiert und von ihm abzieht; dasselbe geschieht beim Vergleichs wert. Wenn die Grenzwerte sich berühren und nicht überschneiden, dann ist das Ergebnis nicht wahrscheinlich. Für komplizierte Vorgänge und genauere Werte benutzt man nach GAUSS und BERNOULLI
a) für die mittlere quadratische Abweichung die Formel
und b) für den mittleren Fehler die Formel
Darin bedeuten: D den Abstand vom Mittel, p die Zahl der gefundenen Beobachtungen, n die Gesamtzahl der Beobachtungen und 2 die Summe sowie p 1 den Pro-
Das große Experiment des Lebens
111
zentsatz der Beobachtungsergebnisse, so daß p 2 gleich 100 - p 1 ist und n die Gesamtzahl aller Fälle darstellt. Mit Hilfe der CHi-2-Methode werden Stichproben mit Erwartungswerten verglichen, so daß die Beobachtungen mit der Hypothese in Beziehung gesetzt werden. Wenn die beobachteten Ergebnisse x + m betragen und die hypothetischen Erwartungswerte m sind, dann ist
Da diese Berechnungen recht kompliziert sind, wurden dafür Fluchtlinientafeln entworfen und Tabellen aufgestellt, die ein bequemes Ablesen gestatten. Die Ergebnisse werden in Tabellen und graphischen Darstellungen zusammengefaßt und durch einen knappen, aber anschaulichen Text erläutert. Die Tabellen sind je nach der Gruppierung des Materials entweder einfache oder gegliederte Ubersichten. Als Diagrammformen werden bevorzugt: Linien und Kurven, Stäbe und Säulen, Flächen von geometrischen Figuren, wie Dreiecke, Quadrate und Kreise, räumlich dargestellte Körper, wie Würfel und Kugeln, oder auch Figuren und Bilder sowie zur Differenzierung nach Gebieten oder Ländern einfache Kartogramme. Alle Darstellungen erfüllen ihren Zweck nur dann, wenn sie den Grundgedanken hervorheben und jede Überfüllung vermeiden.
C. Das große Experiment des Lebens Schon in äußerlich als geschlossen erscheinenden Wohnbereichen sind die biologischen, landschaftlichen und kulturellen Unterschiede für die Sozialhygiene und ihre Aufgaben relevant, um wieviel mehr für den gesamten Lebensraum der Erde mit seinen nach Klima, Ertragfähigkeit und Bodenschätzen abweichenden Siedlungsbedingungen. Sie prägen die Völker, ihre Lebensauffassung, ihre Kultur und ihre Zivilisation. In großen Zügen sind abzugrenzen: ostasiatische Stämme Inder Germanen Romanen Slawen Sonstige
mit mit mit mit mit mit
zusammen
29% 17% 13% 11% 10% 20% 100%
Ihr Verhalten wird durch ihre Lebensregeln und Konfessionen bestimmt. Es sind Buddhisten, Konfuzianer, Schintoisten, Taoisten und Hindus Christen Mohammedaner Andere
33% 30% 14% 23%
zusammen 100%
112
Arbeitsweise und Methodik
Die zeitlichen Veränderungen der Kulturperioden, des Wirtschaftslebens und des Gesundheitswesens entwickelten sich von der griechisch-römischen Klassik des Altertums und ihrer Nachblüte zu Gotik, Renaissance, Barock, Neuklassizismus, Expressionismus, Konstruktivismus, Elektronik, Geomedizin und Raumflug. Wenngleich das Analphabetentum auf der Erde (nach den Angaben der Unesco von 1966) in den letzten 10 Jahren um 6 % anstieg, lernten doch andererseits von den Erwachsenen 30 % mehr das Lesen und Schreiben. Diese Entwicklung zeigt im sozialhistorischen Aspekt der Gegenwart 1. eine Ablösung der naturhaften Zusammenhänge durch soziologische Gesetze, 2. die Formung eines extrovertierten Menschentyps, dessen selbstgeschaffenes Wirkungsprinzip seine Technik ist, 3. eine Säkularisation des transzendentalen Strebens nach sozialer Erfüllung in Menschenbild und Menschenrecht sowie 4. eine Ablösung von Tradition und Legalitätsprinzip durch Fakten und Funktionen ohne jeglichen Formalismus. Die in den kontinuierlichen Prozessen oder den einzelnen Phasen auftretenden Spannungen veranlassen Vorschläge zu Änderungen, die sich im inneren Aufbau als Reformen, im Verhalten nach außen und zu anderen Völkern als Abkommen, Konventionen, Verträge, Vergleiche oder Unionen äußern, um einem Krieg als der ultima, aber nicht optima ratio aus scheinbarer Ausweglosigkeitzu entgehen. Solche Vorgänge wirken soziologisch, sozialhygienisch und sozialpathologisch als das „große Experiment des Lebens" mit seiner reichen Fülle von Stoff und sollen oder sollten als Test ^ur Verifikation dienen, um neue Fehlreaktionen zu vermeiden und die stets versicherte These zu bekräftigen: „Wir werden nicht die gleichen Fehler begehen wie unsere Väter!" In den Grundgedanken und Zielen richten sich die Bestrebungen auf territorialen Besitz, Sicherung des eigenen Wohnbereichs, wirtschaftliche Ausweitung und ideologische Propagation. Die dabei erzielten Veränderungen lassen noch stärker als beim wissenschaftlichen Experiment die leitenden Absichten aus dem Ergebnis des Erfolges erkennen und sind in einer Umkehrung des Prozesses die Deutung aus der Wirkung, also eine Ergebnisanalyse. In gleicher Weise wie beim gestellten Versuch wirken in Bereichen mit gleichen oder ähnlichen sozialen Bedingungen auch Konvergenz und Parallelerscheinungen ein, so daß eine kausale Prüfung nötig ist, um unterschiedliche Momente zu erfassen. Je größer die Zahl der übereinstimmenden Faktoren ist, desto eher darf unterstellt werden, daß gleiche oder ähnliche Ursachen auslösend wirken. Die enge Verknüpfung der sozialen und kulturellen Erscheinungen in geschlossenen Wohn- und Lebensbereichen ruft bei Veränderungen an einer Stelle des Gefüges zwangsläufig Alterationen in den Beziehungen hervor, wie dies auch bei gezielten Experimenten als Nebenwirkung zu erwarten ist. So beobachten wir, daß beim Rückgang von akuten und insbesondere übertragbaren Krankheiten die verzögert verlaufenden Störungen als Aufbrauchskrankheiten zunehmen und die verlängerte Lebenserwartung nicht gleichzeitig von einer erhöhten Erwerbsfähigkeit begleitet wird, sondern eine Ausbreitung der sog. Kulturkrankheiten begünstigt, zu denen vor allem Herz-Kreislaufstörungen, bösartige Neubildungen, rheumatische Leiden, Stoffwechselkrankheiten und Neurosen gehören. Die moderne Verhaltenspsychologie geht von der Beobachtung aus,
Übervölkerung und Nahrungsmangel
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nach der die Sphäre zwischen Individual- und Kollektivwelt immer enger wird und die Entfremdung („Alienation") eine andere Ausgangsposition zum Menschen, seiner Leistungsfähigkeit und organisatorischen Bindung zu beziehen nötigt. Diese erstreckt sich auf die Lebensbereiche von a) Übervölkerung und Nahrungsmangel, b) Arbeit und Beruf, c) Aufbrauchserscheinungen und Lebenserwartung. 1. Übervölkerung und Nahrungsmangel Die Zeit der „Hungerkur" in Deutschland im und nach dem Zweiten Weltkrieg ist nahezu vergessen. Dafür stehen heute zahlreiche andere Gebiete der Erde mit unzureichender Ernährung, Kriegsnöten und Flüchtlingsbewegungen im Blickfeld. Sie lassen sämtlich erkennen, daß 1. die Emährungsgewohnheiten klimatisch bedingt sind: In kalten Zonen wird Fleisch und Fett bevorzugt, während Cerealien zurücktreten, und umgekehrt werden in warmen Zonen Fette und Fleisch schlecht vertragen und Cerealien gefragt; 2. der zunehmende Welthandel einen Güteraustausch begünstigt; 3. wirtschaftliche und konjunkturelle Ursachen sich im Marktangebot und in der Nachfrage äußern; 4. physiologische, soziale und psychische Momente den Bedarf an Erhaltungs-, Aufbau- und Leistungsenergien je nach Alter, Tätigkeit und Peristase bestimmen. Gegenwärtig lebt die Lehre von M A L T H U S in der Form eines Neo-Malthusianismus wieder auf und wirft die Alternative auf: Restriktion oder Vorsorge? Die Weltbevölkerungspolitik stellt sich auf eine Geburtenkontrolle ein, während die Sozialvorsorge sich auf biologische Voraussetzungen stützt und eine aktive, bewußte Adaptation durch Evolution, nicht aber durch Restauration erstrebt. Ihr Bemühen um eine ausreichende und einwandfreie Versorgung mit Lebensmitteln gilt vier Erfordernissen, nämlich der Produktion, dem Transport, der Distribution und der Konsumregelung nach Quantität, Qualität und Preiswürdigkeit. In den auskömmlich oder gut versorgten Bereichen der Erde mit etwa zwei Dritteln der Gesamtbevölkerung, insbesondere in Nordamerika und Europa, ist der Verbrauch von Fetten, Fleisch, Geflügel und Eiern angestiegen, und zwar zu Lasten einer Verfütterung von Getreide und Kartoffeln in der Tierzüchtung, so daß vier Fünftel ihres Nährwertes dazu verbraucht werden und nur ein Fünftel der menschlichen Ernährung zugute kommt. Die Gründe für diesen Wandel des Kostmaßes liegen nicht bloß in einer veränderten Geschmacksrichtung und dem Verlangen nach einer wenig voluminösen, leicht verdaulichen und bei geringer Belastung gleichwohl lange vorhaltenden Nahrung, sondern ebenso im Arbeitstempo, in der größeren Anspannung und erhöhten Aufmerksamkeit sowie in der gebräuchlichen durchgehenden Arbeitszeit und den verlängerten Anmarschwegen zur Arbeitsstätte. Dieses ganze Bündel von sozialen Motiven begünstigt das Auftreten von Zivilisationskrankheiten. Die Lebensversicherungsgesellschaften haben die Prämien für Übergewichtige erhöht. Die Parallele zwischen Fettverbrauch und Sterblichkeit erweist nicht bloß eine Konvergenz, sondern einen ursächlichen Zusammenhang, wie er aus vergleichenden Untersuchungen in verschiedenen Ländern erhellt.
8 Gerfeldt, Lehrbudi der Sozialhygiene
Arbeitsweise und Methodik
114 Todesfälle per 1000
Alter 55-59
7
6 5 4
Abb. 16. Fett verbrauch und Sterblichkeit Ordinate: Sterblichkeit infolge von degenerativen Herzkrankheiten bei Männern Abszisse: Kalorien für den Fettverbrauch in Prozenten der insgesamt verbrauchten Kalorien
3
2 1 Japan
10
20
30
40
Die Extreme von Mangelernährung und Tafelluxus sind biologische Randerscheinungen und werden durch exogene und endogene Faktoren bestimmt. Unter dem Einfluß klimatischer Bedingungen sind in gleich oder ähnlich strukturierten Ländern besonders drei wirksam, nämlich physiologische und psychische Momente als Ausdruck der Konstitutionstypen, soziale Ursachen und wirtschaftliche Konjunkturen. Als Regulator schaltet sich bei der Nahrungsselektion vorwiegend der Geschmack (als Appetit) ein und weniger die Kenntnis der Kalorienwerte, wie sie in den Diätvorschriften verzeichnet sind. 2. Arbeit und Beruf Die Erfolgskontrolle von Tätigkeiten ist nicht bloß am Produktionsindex und am Sozialprodukt abzulesen, sondern auch und sogar besonders differenziert an der psychischen Bewertung der gestellten Aufgaben und der Einstellung %ur Berufsarbeit. Diese wird erkennbar in 1. einer Befriedigung und Erfüllung oder im Ertragen als Last und notwendiges Übel oder als unvermeidliches Mittel zum Gelderwerb, 2. einer psychosomatisch bedingten Neigung zu Unfällen, 3. einer Überforderung mit neurotischen Erscheinungen, 4. einer sozialen Unsicherheit und 5. einer unzweckmäßigen Einteilung und Verwendung von Freizeit, Urlaub und Erholung. In der Botschaft der Weltgesundheitsorganisation zum Weltgesundheitstag 1969 wird daher hervorgehoben, daß Gesundheit und Produktivität zu den Zielen jeden Fortschritts zählen, weil sie sich gegenseitig bedingen und ergänzen. Bei aller Entwicklung von Maschinen darf nicht übersehen werden, daß es leichter und auch wirkungsvoller ist, die Maschine dem Menschen anzupassen, als umgekehrt den Menschen der Maschine. In diesem Sinne ist für den arbeitenden Menschen die Dreiheit von Gesundheit, Arbeit und Produktivität eine Einheit.
Arbeit und Beruf
115
Jedoch vermag Arbeit allein nie der ganze Sinn und Inhalt des menschlichen Lebens zu sein, sie bedarf auch einer kulturell sinnvollen Nutzung der Freizeit, die immer notwendiger wird, je kürzer in Zukunft die Arbeitszeit wird. Eine repräsentative Umfrage ergab im Jahre 1968, daß sich nur 45 % der Berufstätigen an ihrem Arbeitsplatz wohlfühlten. Die sehr differenzierte automatisierte Arbeit setzt für unsere nächste Zukunft neue Maßstäbe für den Wert des Menschen, namentlich in geistiger und sozialpsychischer Beziehung. Diese Voraussicht wird auch durch die Beobachtungen über die Fluktuation in den Berufen gestützt. In den letzten 15 Jahren wechselten jährlich im Durchschnitt 10 bis 11 % aller Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz und zwar die Männer (mit 12 %) häufiger als die Frauen (mit 10 %). Mit nur einem Beschäftigungsverhältnis begnügten sich 90 %, während der Restanteil von 10 % an der Fluktuationstendenz sich beteiligte und zwei bis zu vier Tätigkeiten wählte. Ansehen und Prestige haben sich gewandelt. Früher waren im allgemeinen Besitz und Vermögen die Kennzeichen für Rang und Stellung des Menschen in der Gesellschaft. In der Gegenwart aber erfolgt die Einordnung in der sozialen Stufenleiter im wesentlichen nach dem Beruf, der Leistung und dem Einfluß. Diese Tendenz ist schon aus dem Vergleich der Erwerbsbevölkerung in ihrer Gliederung für die Jahre 1950 und 1967 zu erkennen. Es waren im Jahre 1950 1967 in% in% Arbeiter (davon Facharbeiter) Angestellte und Beamte Selbständige Mithelfende Familienangehörige • zusammen
59 22 12 7 100
49 (36) 29 12 10 100
d. h.: + Zunahme —Abnahme = unverändert in% —
10
+ 7
±
+
0 3
Bei der demoskopischen Einstufung in die sog. Prestige-Leiter (mit Rangstufen von 1 als höchstem Prädikat und abnehmend bis 18 am Fußende der Skala) standen im Jahre 1967 (in Auswahl): Diplom-Ingenieure, Physiker und Architekten an 4. bis 6. Stelle andere Ingenieure an 9. Stelle Lehrer an 10. Stelle Feinmechaniker an 14. Stelle Schlosser an 16. Stelle Verkäufer an 17. Stelle Bauarbeiter an 18. Stelle Die Ansprüche an die Berufsleistung sind überall gestiegen, und mit der Festigung in der Arbeits- und Berufswelt werden auch Bewertung und Ansehen in der sozialen Umwelt, in Gemeinschaft und Gesellschaft begründet und stabilisiert. Auch der Zug bewährter Führungskräfte zum Großunternehmen hält vor und steigt sogar an, weil in ihm der Ehrgeiz befriedigt werden kann und die Einflußsphäre dem Prestigebedürfnis mehr entspricht als eine gleichnamige Position in mittleren und
116
Arbeitsweise und Methodik
kleineren Unternehmen. Aber der kurze oder kürzere Weg nach oben birgt auch seine Gefahren, und wer auf der Strecke bleibt, will dann doch lieber die erste Nummer im kleineren Betrieb werden. Dies klingt zwar seltsam, ist aber verständlich, wenn man bedenkt und feststellt, daß die berufliche Leistung, Sicherheit und Zufriedenheit auch auf die körperliche und seelische Gesundheit zurückwirken, zugleich auch den Lebenskreis im Handeln, Wirken, Ansehen und Einfluß gestalten. Als Konsequenz folgt die Notwendigkeit einer Fort- und Weiterbildung, weil dann mit dem erhöhten Persönlichkeitswert im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Leben auch der „Marktwert" steigt. In internationaler Sicht tendieren darum die Jugendlichen zur qualifizierten beruflichen Ausbildung, und wenn sie sich auch heute noch vielfach an den Vorstellungen des Elternhauses orientieren, berücksichtigen sie dabei doch nicht minder die „Halbwertzeit" der modernen Erkenntnisse und des Wissensstoffes, in der ein Teil des erlernten Fachwissens überholt werden muß. 3. Lebenserwartung und Aufbraucherscheinungen Die Siedlungsräume der Menschen auf der Erde unterscheiden sich als Landschaftsgürtel in kennzeichnender Weise voneinander. Mit den fünf Klimazonen stimmen sie nur in groben Umrissen überein, weil sie nicht allein durch das Klima, die Summe der atmosphärischen Erscheinungen, sondern auch durch die natürlichen biologischen Kräfte der Landschaft, wie Bodenform, Bodenart und das gesamte organische Leben, bestimmt werden. Diesen wohlcharakterisierten Nahrungsräumen müssen sich die Menschen in einer Wechselwirkung anpassen und schaffen so ihre angemessenen Anbau- und Kulturformen. Die dabei entwickelten strukturellen und sozialen Grundlagen wirken als potentielle Gesetzmäßigkeiten auf die Leistungsfähigkeit und Lebenserwartung, die Verringerung der akuten Krankheiten und die Zunahme der verzögert ablaufenden Aufbrauchs- und Kulturkrankheiten ein. Grundlegende Unterschiede zeigen sich im Gefüge schon beim Überblick über die Wohndichte auf der Erde. Auf ihr beträgt (nach dem Stand von 1963): in den Territorien von
der Anteil an Landflächen Bevölkerung in % in %
Asien Amerika Afrika Europa Australien und Ozeanien Antarktis
30 28 20 7
zusammen
100
6 9
56 14 8 21
die Siedlungsdichte je qkm im als Streuung Durchschnitt von-bis 67 11 10 90
1
2
-
-
100
24
16-356 2 - 38 5 - 34 10-344
2-356
Die Rückwirkungen auf die Bevölkerungsbewegung zeigen sich in der Fluktuation, den Geburten, den Sterbeziffern und den Todesursachen. Nach dem Bericht der UNOKommission für Bevölkerungsfragen in Genf vom 1. November 1967 (über den Stand von 1964) nahm die Bevölkerung in der Dekade 1950 bis 1960 um 20 % zu,
Lebenserwartung und Aufbraudbersdieinungen
117
und zwar am stärksten in Lateinamerika, Afrika und der Sowjet-Union, dicht gefolgt von Asien, aber nur mit der halben Quote in Nordamerika und Ozeanien, am wenigsten in Europa. Die Stadtbevölkerung (in Städten mit mehr als 20 000 Einwohnern) erhöhte sich um 43 %, die Kleinstadt- und Landbevölkerung nur um 13%. Die Tendenz zur Verstädterung steigt sonach rasch an. Es wohnen gegenwärtig in Städten: 65 % der Bewohner in den USA, 58 % in Europa, 56 % in Ozeanien, 48 % in der Sowjet-Union und 48 % in Südamerika. Die Frequenz der wichtigsten Todesursachen läßt zwei Gruppen unterscheiden: a) Die Gruppe I umfaßt die industrialisierten Länder. In ihnen führten mit 45 % aller Todesfälle die Herzkrankheiten und Kreislaufstörungen, gefolgt mit 18 % von den Krebskrankheiten, mit 13 % von Schlaganfällen, mit 5 % von Unfällen und mit 4% von Influenza und Pneumonie; b) die Gruppe II schließt die sich entwickelnden Länder zusammen, nämlich von Afrika, Süd- und Zentralamerika sowie Asien. In abnehmender Folge wurden in ihnen angegeben: Infektionskrankheiten, Magen-Darm-Störungen, Influenza und Pneumonie, Herzkrankheiten, Krebskrankheiten, Unfälle und alle anderen Krankheiten. Die Zivilisations- und Aufbrauchsstörungen weisen somit in großen Zügen eine Umkehrung der in agrarwirtschaftlichen Bereichen auftretenden Erkrankungsfrequenzen auf. Die Sterbeziffern (je 1000 Einwohner) bewegen sich in den europäischen Ländern zwischen 7 bis 13 und in den außereuropäischen zwischen 6 bis 18. Die jährliche Geburtenzahl (je 1000 Einwohner) ist jedoch in den außereuropäischen Territorien mit 22 bis 51 erheblich höher als in Europa mit 14 bis 25, und infolgedessen ist in ihnen auch der Geburtenüberschuß (je 1000 Einwohner) beträchtlicher. In Europa fällt er von 16 als Maximum ab bis auf 4,6, während die Quoten außerhalb von Europa, z. B. in Venezuela und Japan, von 35 bis zu 10 reichen. Die verbesserten Arbeitsbedingungen und die günstigere Lebenshaltung haben die Lebenserwartung erhöht. Das Durchschnittsalter der Menschen stieg seit dem Mittelalter um mehr als das Doppelte an. Für die Entwicklung von der frühen Eisen- und Bronzezeit bis zur Gegenwart stellte P . D. W H I T E die Skala auf: frühe Eisen- und Bronzezeit um 2000 v. Chr. im Mittelalter von 1687 bis 1691 vor 1789 von 1838 bis 1854 von 1900 bis 1902 jetzt
18 Jahre 22 Jahre 33 Jahre 33,5 Jahre 33,5 Jahre 40,9 Jahre 49,2 Jahre 68 bis 70 Jahre
Die gegenwärtigen Voraussagen rücken ein erreichbares Alter von hundert und mehr Jahren in den Bereich der Wahrscheinlichkeit, weil in nicht wenigen Ländern (z. B. Japan, USA, UdSSR und auch in Nordrhein-Westfalen) 2 bis 3 und mehr gesunde Hundertjährige auf je 1 Million Einwohner festgestellt werden. Das Vorurteil vom „hinfälligen Alter" lehnen die Gerontologen ab, weil umfangreiche Testprüfungen (seit 1965) ergaben, daß die „Spannweite des Zukunftsbezuges" nach dem Ausmaß der Planungen bei den Älteren (von 70 bis 75 Jahren) nicht ab-
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Arbeitsweise und Methodik
genommen hat, sondern noch genauso intensiv ist wie bei den Jüngeren. Diese Tendenzen und Erwartungen werden bei der Altersversorgung, der Invalidisierung und Pensionierung sowie der Rehabilitation künftig berücksichtigt werden müssen.
D. Das Gruppen-Experiment 1. Lebenshaltung und Volkseinkommen In großen oder in sich geschlossenen Wohngebieten, die sich durch ihre landschaftlichen, biologischen, sozialen und kulturellen Züge auszeichnen, wird die Lebensführung bestimmt durch die Leistungsprodukte, die durch einen Mittelwert ausgedrückt werden und im Wandel der Wirtschaftslage und besonders in Krisenzeiten schwanken können. Der äußere sieht- und feststellbare Begrifl ist das Sozialprodukt, dessen Quotienten sich gleich oder ähnlich unterscheiden, wie das Verhältnis von Familienhaushalt zur Volkswirtschaft oder anschaulicher, wie von produktiven zu nicht berufstätigen Volksgruppen oder individueller Lebensdauer zu durchschnittlicher Lebenserwartung. Nach den amtlichen Jahreswirtschaftsberichten für die Bundesrepublik erhöhte sich das Bruttosozialprodukt bezogen auf 100 im Jahre 1953 um 193% bis zum Jahre 1968 und in der Projektion für 1969 um 215 %. In seiner Verwendung hielt es sich im gleichen Zeitraum ziemlich unverändert (bei Schwankungsbreiten zwischen 1 bis 5 %) im Privatverbrauch bei 55 %, als Investitionen bei 25 % und im Staats verbrauch bei 20 %. v.H. 100 90
25% Investitionen
80. 70. 60.
20% Staatsverbrauch
50. 40 30. 55% private Haushalte 20-
10.
0 1953
1967
1968
1969 (prospektiv)
Abb. 17. Entwicklung des Sozialprodukts / Verwendung des Sozialprodukts (bezogen auf 100% im Jahre 1953)
Methodik der Gruppenversuche
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Gleich2eitig bestätigte sich der Erfahrungsgrandsatz, nach dem Familien mit hohem Einkommen einen geringeren Anteil davon für ihre Ernährung brauchen als die ärmeren.
2. Methodik der Gruppenversuche Die Daten über einen Querschnitt durch ein ganzes Volk oder eine Kulturgemeinschaft stimmen nicht immer oder sogar nur selten mit den Teilquerschnitten durch einzelne Gebiete, Bevölkerungskreise oder Gruppen überein. Um für diese nach ihrer besonderen Konstellation die erforderlichen Vorkehrungen und sozialprophylaktischen Schutzmaßnahmen treffen zu können, bedarf es einer Durchführung von Sonderuntersuchungen. In ihnen sind experimentelle Variationen möglich, um die Zahl von wirksamen Faktoren zu begrenzen, ihre Valenz zu verändern sowie Richtung und Grad des Einflusses zu bestimmen. Dies ist nötig, weil im biologischen und sozialen Bereich eine Vielzahl von effektiven, wie auch belanglosen, Agenden vorhanden ist, die nicht leicht abgegrenzt werden können. Darauf kann jedoch nicht verzichtet werden, so daß die zugrundeliegenden Konstellationen und Motive nach ihren besonderen Kennzeichen und Wertungen analysiert werden müssen. Hierzu ist es erforderlich, in dem sich stellenden Problem die Gruppen nach ihren bestimmenden Merkmalen, der peristatischen Exposition, den Strebungen und Beweggründen für ihre Reaktionen und Verhaltensweisen abzuwägen. Eine übersichtliche, einfache Gliederung der Aufgabe und der zu lösenden Fragen ist bei derartigen Modellprüfungen nicht nur vorteilhaft, sondern sogar unerläßlich, so daß die gleichen Grundsätze zu befolgen sind, wie bei Laboratoriumsversuchen. Es sind dies vier Kardinalregeln, von denen je nach Ausgangslage und Tendenz die eine oder die andere schärfer betont werden muß, nämlich a) scharfe Formulierung von Problem und Fragestellung, b) repräsentative Auswahl der Probanden, c) Aufgliederung in Einheiten, Blöcke oder Kollektive und d) Wiederholung des Versuchs, wenn es irgendwie möglich ist. Zunächst wird das Problem klar umrissen und tunlichst die wichtigste Frage hervorgehoben. Erst wenn bei einer breiteren Streuung der biologischen Einwirkungen und effektiven Varianten eine Erweiterung sich als notwendig erweist, wird eine zweite oder höchstens dritte Frage so eingefügt, daß die Grundfrage erläutert, eingeschränkt oder verbreitert wird. Alle weiteren aus den Versuchsergebnissen hervorgehenden Notwendigkeiten bleiben einem neuen Experiment vorbehalten. Solche Selektionen erweisen sich als erfolgreicher und beengen auch nicht weitere Analysen. Im Diagramm entstehen aus den Aufzählungs- oder Summationsdaten die gesuchten Wirkungskurven, wenn auf der Abszisse die belastenden Einwirkungen (oder Motive) und auf der Ordinate die Prozentsätze der Probanden aufgetragen werden. Z u m zweiten werden die Probanden aus den vorgesehenen Gruppen unter exaktem Vergleich der für sie geltenden Kennzeichnungen ausgewählt, ohne daß jedoch besonders geeignete Testpersonen bevorzugt werden. Das Aggregat soll nach Streuung und Repräsentanz ein verkleinertes Abbild der natürlichen Gruppe darbieten. Zweckmäßig verwendet man so wie bei der Erforschung der öffentlichen Meinung oder Demoskopie die Auslese nach der prozentualen Stichprobe, der systematisierten Schlüsselzahl oder dem Quotenverfahren; dieses letztere ent-
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Arbeitsweise und Methodik
spricht am besten der Gruppenstruktur. Dadurch wird den biologischen Variationsbreiten oder Häufigkeitsverteilungen entsprochen, wenngleich das Resultat nicht immer in einer absoluten Zahl oder konstanten Formel ausgedrückt wird, sondern ein Meß-Intervall umschließt, bei dem dann die Wahrscheinlichkeitsrechnung anzuwenden ist. Zum dritten teilt man die Gruppen in möglichst gleichartige Einheiten oder Blöcke bzw. Kollektive und erhöht dadurch die Genauigkeit der Ergebnisse. Kleine Versuchsfehler lassen sich dann durch Vergleiche ausmerzen. Am häufigsten werden vier Kollektive gebildet. Sie bieten den Vorteil, übersichtlich zu bleiben. Nach Bedürfnis können natürlich diese Anordnungen bis zur Pluripersonalität erweitert werden. Zum vierten ist es zweckmäßig, den Versuch oder einzelne Teile in mehreren Gruppen zu wiederholen. Dies ist vielfach schwer zu erreichen, weil die Mühen erheblich sind, die Probanden nicht immer zur Verfügung stehen und erhöhte Aufwendungen aufgebracht werden müssen. Zur Erläuterung dieser Prinzipien seien einige Beispiele aus dem umfangreichen Untersuchungs- und Forschungsbereich aufgeführt. 1. Aus dem Gebiet der Ernährung sind von früher bis in die Gegenwart zahlreiche Versuchs- und Testanordnungen bekannt geworden, die sich auf bestimmte Personenkreise mit verschiedenen Aufgaben und unterschiedlicher Zusammensetzung von Nahrungs- und Kostmaß erstreckten. Um die Zeit des Ersten Weltkrieges wurden die Gruppenversuche des Dänen M. HINDHEDE stark beachtet. Die Hungerkur in Deutschland während des Zweiten Weltkrieges und in der ersten Nachkriegszeit gab den Anlaß zu vielfachen Expertisen und Untersuchungen. Sie ergänzten durch ihren Bezug auf große Bevölkerungskreise und besondere Leistungsgruppen die klinischen Beobachtungen bei den einzelnen Erkrankungen und Störungen, bezogen sich auf das Kindes- und Wachstumsalter, die Wachstumsbeschleunigung (Akzeleration), die Rückwirkungen auf die Tuberkuloseverbreitung, den Diabetes und andere Stoffwechselstörungen, den Einfluß auf die Leistungen im Arbeitsprozeß, die Bewertung von Ernährungszulagen, die Krankmeldungen und die Sterblichkeit. 2. Die Gestaltung der Arbeit und des Arbeitsprozesses sowie die Auswirkungen auf die Leistungsfreude und das Leistungspotential veranlaßten eine fast unerschöpflich große Zahl von Gruppentestungen. Daraus seien hervorgehoben: der Arbeitskontakt und die Arbeitskameradschaft in bipersoneller und multipersoneller Anordnung, die Partnerschaft, die Dominanz und Hyponomie, der Vergleich mit dem Spiel der Kinder und ihrer Geselligkeit, die Position im Arbeitsbereich nach Erfolg und Geschicklichkeit, nach Außenseitern und Mißerfolgen, das Arbeitsklima, die persönliche Anteilnahme und die Mitverantwortung. Im wesentlichen lassen sich drei Gruppierungen zusammenfassen: die Wirkung einer guten Gestaltung des Arbeitsplatzes, die Psychologie der Gruppenarbeit und die Psychologie der Betriebsaussprache. 3. Die Gesellung und Gemeinschaftsbildung zeigt sich schon im Kindesalter und erfährt bei den heranwachsenden und älteren Jahrgängen eine Vertiefung, Veränderung, Verlagerung oder Umformung. Die Prüfungen bezogen sich vor allem auf die soziale Sicherheit, die Erstellung von Werkswohnungen und Werkssiedlungen, die Festigung der Familie, die Emanzipation und Gleichberechtigung der Frau, die Errichtung von Warenhäusern und Einkaufszentren, die Neuordnung der
Erhebungsmethodik
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Landwirtschaft unter den Einflüssen von Industrialisierung und Kommerzialisierung, die Verwahrlosung und Kriminalität, besonders von Kindern und Jugendlichen, die Schaffung von „Häusern der offenen Tür" und von Klubs, die Anleitung und Erziehung zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung, die Bildung von Gruppen- und Interessengemeinschaften, die Nachbarschaftshilfe oder die Absonderungstendenzen, die Bodenständigkeit und die Wanderungsbewegung, die Stresswirkungen, die Sozial-, Wohnungs- und Ehe-Psychome (im Sinne von W. HELLPACH), die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen.
E. Demoskopie, Erforschung der öffentlichen Meinung, Subjektivismus der Einstellung 1. Wissenschaftliche Meinungsforschung Aus Untersuchungsreihen und Beobachtungsergebnissen sollen objektive Vorgänge und Zustände unabhängig von einer persönlichen oder gar vorgefaßten Meinung festgestellt werden, um eine rationalistische Analyse vornehmen und Schlußfolgerungen für Neugestaltungen ziehen zu können. Die wissenschaftliche Demoskopie ergänzt dieses Verfahren, indem sie die subjektive psychologische Auffassung von Bevölkerungskreisen oder -gruppen klarstellt, deutet und auf die zugrundeliegenden Ursachen bezieht. Der Wert solcher Erkenntnisse in der Sicht des Subjektivismus liegt in der Möglichkeit, die soziale Überzeugung und Haltung von Personen, Gruppen oder Kollektiven nach ihrer individuellen Selbständigkeit, gesellschaftlichen Gebundenheit und Wertung erfassen zu können. Wenn sich die persönliche Einstellung an der „überwiegenden Meinung" orientiert und „man" das zu glauben und zu tun sich verpflichtet fühlt, was andere „für Rechtens" halten, dann droht die Gefahr, die eigene rationalistische Unbefangenheit zu verlieren. Damit ist zunächst nichts darüber vorweggenommen, ob die zahlenmäßige Menge einer Ansicht oder ihr Übergewicht als Massenüberzeugung richtig oder zutreffend, wahr oder fehlerhaft ist. Sie bringt jedoch den „Willen der Mehrheit" zur Geltung, wenn sie suggestiv wirkt. Das entscheidende Kriterium für die Qualität einer Auffassung und einer überwiegenden Meinung ist nicht die Ponderabiütät der Zahl, sondern die Kausalität nach Entwicklung, konsequenter Fortführung und zuverlässiger Wirkung. Diese Kennzeichen bewahren vor einer unzulässigen Verallgemeinerung von Einzel- oder Gruppenerscheinungen, besonders dann, wenn sie mit der sozialgesunden Norm und dem Querschnitt durch die Bevölkerung verglichen werden. Eine solche Kontrolle ist unerläßlich, wenn die Ergebnisse für Prognosen und projektive Entschlüsse verwendet werden sollen, wie dies bei der Objektivation durch Untersuchungs- und Beobachtungsreihen geschieht. 2. Erhebungsmethodik Diese Erforschung der öffentlichen Meinung oder Demoskopie kann sich schon rein technisch nicht auf die gesamte Bevölkerung erstrecken, sondern muß ein Ausleseverfahren anwenden, bei dem der vorgesehene Anteil ein möglichst getreues
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Arbeitsweise und Methodik
Abbild des Ganzen darstellt. Es ist somit eine Stichprobe, die um so zuverlässigere Ergebnisse zeitigt, je umfangreicher sie ist. Sie geht von der Erfahrung aus, nach der bei gesicherter Homogenität sich die Wesensform der Gesamtheit auch in den Summen der ausgewählten Teile wiederfindet. Dieses eklektische Resultat berechtigt zu einer Verallgemeinerung jedoch nur dann, wenn die Stichprobe so sorgsam erlesen wird, daß ein wahrheitsgetreues Spiegelbild des Ganzen in verkleinerter Form entstanden ist und keine wichtigen Besonderheiten übersehen wurden. Die Probe aufs Exempel kann in umgekehrter Sicht vorgenommen werden, indem man einen Auslesefaktor herausgreift und prüft, welche Wirkung er auf das Ergebnis haben würde. Danach werden die Stichproben nach drei Verfahren ausgesucht: 1. Beim völligen Zufall rechnet man mit einem Umfang von 5 bis 15% des Kollektivs; 2. eine systematisierte Auswahl benutzt einen festen Schlüssel, indem sie z. B. jedes 10. oder 30. oder 100. Objekt auswählt; 3. im Quotenverfahren wird die Auslese nach sachlichen Gesichtspunkten getroffen, so beispielsweise nach der sozialen Stellung, dem Einkommen, dem Geschlecht, der Kinderzahl, der Wohnverteilung. Um die gestellte Frage zu beantworten und die Auswertung der sozialen Erscheinungen durchführen zu können, benutzt man zwei Möglichkeiten: die FragebogenMethode oder den persönlichen Ermittler. Bei jener wird nach dem Vorbild amtlicher oder sozialökonomischer Enqueten ein Fragebogen verwendet, der dem Gegenstand angepaßt ist und schriftlich beantwortet wird. Je klarer, einfacher und verständlicher er abgefaßt ist, desto brauchbarer fallen die Antworten aus. Besonders erleichtert wird das Verfahren, wenn sich jeder einzelne in seiner individuellen Art persönlich angesprochen fühlt. Da der subjektive Kontakt über manche Hemmungen und Bedenken hinweghilft, ist bei schwierigen Situationen oder subtilen Differenzierungen der Einsatz von Ermittlern, Befragern oder Untersuchern vorzuziehen, wenn nicht sogar unentbehrlich. Es ist selbstverständlich, daß dabei Takt, Höflichkeit, Rücksicht und strengste Verschwiegenheit beobachtet werden, die Anonymität gewahrt bleibt und Chifireschrift, Codeschlüssel oder Kryptographen angewandt werden. Während sonach die Fragebogen-Methode einfacher ist, aber mit einem Ausbleiben von Antworten in 20 und mehr Prozent rechnen muß, wird die Ermittlermethode kostspieliger und zeitraubend, entschädigt jedoch durch größere Zuverlässigkeit der Resultate. Für beide Erhebungsformen müssen zur Sicherung eines brauchbaren Ergebnisses gefordert werden: eine ausreichende, dem Objekt angepaßte Repräsentanz, eine klare, normierte Information aller Probanden oder Untersuchten, eine objektive, von keinen vorgefaßten Erwartungen abgelenkte Auswertung und eine Bereitwilligkeit der Probanden zur Mitwirkung, die durch Wekkung der Anteilnahme, Vermeidung von Häsitationsfetilem und auch durch Gruppenbesprechungen bzw. Team-Untersuchungen gefördert werden kann. In der Regel sind die Ergebnisse solcher Erhebungen nur Annäherungswerte. Nach vielfältigen Erfahrungen beläuft sich die Abweichung vom Mittelwert auf 5 bis höchstens 10 %, und zwar nach der Plus- oder Minusseite. Die abschließende Kontrolle geschieht mit Hilfe der CHi2-Methode oder der Wahrscheinlichkeitsrechnung: Alle Ergebnisquoten, die innerhalb der Drei-Sigma-Grenze von 99,73%
Wertverwendung und Axiologie
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liegen, sind Zufalls- oder Fehlerwerte im Streuungsbereich, so daß nur solche Daten verwendbar sind, die jenseits dieser Streuung von 100 bzw. der Drei-SigmaGrenze liegen. Nötigenfalls muß der gleiche Versuch nach einiger Zeit wiederholt werden, wenn die psychologischen Momente von Hemmung oder Begünstigung weggefallen sind. Alle derartigen Expertisen zeigen lediglich die subjektive Einstellung von Bevölkerungskreisen an, bieten somit keine ätiologische Bewertung, sondern erbringen wichtige Hinweise dafür. Zur Ergänzung sind deshalb die Analyse und Synthese der Erscheinungen nötig sowie das natürliche Groß- bzw. Gruppenexperiment mit konkreten Testverfahren.
F. Wertverwendung und Axiologie Die Bewertungen und Wertbeziehungen sozialhygienischer, sozialmedizinischer, sozialpsychologischer und sozialpathologischer Untersuchungen unterscheiden sich sehr erheblich von statistischen Indikatoren. Diese sollen eine große Reihe von Feststellungen in nur wenigen Zahlen oder möglichst in einer einzigen Zahl angeben. Dazu dienen die Mittelwerte, und zwar der mittlere Wert oder Zentralwert und der durchschnittliche Wert oder das arithmetische Mittel. Dies sind mathematische Operationen: für den Zentralwert = Summe + 1 : 2 = 101 : 2 = 50% und für das arithmetische Mittel = Summe : 2 = 100 : 2 = 50. Durch sozialhygienische Feststellungen sollen jedoch nicht Mittelwerte oder größte Anhäufungen nachgewiesen werden, sondern die Maxima und Minima von Spannweiten erträglicher oder vorhandener gesellschaftlicher Zustände erkannt werden. Für ihre Maßnahmen oder Vorschläge bei der Prognose, Therapie, Prophylaxe, Vor- und Fürsorge, nachgehenden Fürsorge und Wiedereingliederung (Rehabilitation) benötigt die Sozialhygiene eine Eruierung der kausalen Anlässe und ätiologischen Bedingungen für sozialpathologische Erscheinungsformen, um sich auf die qualitative und quantitative Grundauslösung stützen zu können, z. B. bei klimatischen Einflüssen, bei Armut und Sterblichkeit, Erkrankung und Arbeitsüberlastung, Stoffwechselleiden und Lebenshaltung. Dabei reicht es nicht aus, sich mit allgemeinen Parallelitäten, Korrelationen und Konkordanzen zu begnügen, an denen das moderne Zeitalter so reich ist. Die Polarität zwischen Einzelwesen und Gemeinschaft erfordert einen naturgemäßen Ausgleich zwischen Egoismus und Altruismus. Die bei einer katanomen Einfügung sich abspielenden Vorgänge ermittelt die Axiologie in ihrem besonderen Zweig der sozialen Wertlehre. Als Maßstäbe dienen dabei: der Mensch in seiner Leistung als Wertsubjekt, das Leistungsziel oder der Effekt als Wertobjekt und das Wechselverhältnis zwischen beiden als Wertbeziehung. Das Abwägen oder Abmessen erfolgt sowohl durch verstandesmäßige Überlegungen als auch durch die intuitiven biodynamischen Antriebe von Erhaltung, Entfaltung und Gestaltung, die auf den physiologischen Korrelaten von Stoffwechsel, Energiewechsel und Formwechsel beruhen.
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Sachregister Abtreibung 17 Adoption 17 Alkoholismus 87 Altenhilfe 9, 37, 40 Altersfürsorge 2 Arbeit 7 Arbeitseinsatz 33 Arbeitshygiene 36 Arteriosklerose 59 Aufbrauchserscheinungen 116 Aufbrauchs- und Zivilisationserscheinungen 54 Ausbildungshilfe 9, 30 Axiologie 123 Berufsberatung 1, 29 Berufskrankheiten 4, 67 Berufskrankheiten-Verordnung 67 Berufswahl 29, 30 Bevölkerungsbewegung 116 Blutspendeorganisation 104 Bruttosozialprodukt 101, 118 Bundesjugendplan 29, 31 Bundes-Seuchengesetz 42 Bundessozialhilfegesetz (BSG) 9, 16, 36, 40, 48, 90, 91, 96 Demoskopie 106, 119, 121 Diabetes mellitus 69 Diagrammformen 111 Ehe 11, 12, 100 Eheberatung 2, 12, 14 Ehescheidungsgründe 14 Embryopathien 16 Entwicklungshilfe 97 Ernährung 7, 39 Ernährung des Säuglings 22 Ernährungssicherung 100 Ernährungsstörungen 4 Familie 7, 11, 14, 15, 100 Fehlgeburten 17 Fehlsichtigkeit 86 Fettsucht 71 Fluoraktion 77 Fragebogen-Methode 122 Fruchtbarkeitsziffer 11 Frühehen 32
Fürsorge 6, 7, 34, 36, 61, 65, 79, 80, 89 Fürsorge, öffentliche 102 Geburtenkontrolle 113 Geburtenüberschuß 117 Geriatrie 2 Geschlechtskrankheiten 3, 4 , 1 6 , 35, 49 —Arbeitsgemeinschaften 50, 52 - , Beratungsstellen 49 - , Infektionsquellenforschung 50, 51 - , Bekämpfung 52 Gesundheitsämter 102 Gesundheitsfürsorge 102 Gesundheitspflege 102 Gesundheitspolitik 108 Gesundheitsstatistik 107 Gewerbeärzte 102 Gewerbehygiene 36 Gicht 73 Gruppenexperiment 1, 118, 123 Herzinfarkt 60 Herzkrankheiten 4, 53, 55, 84, 95, 114, 117 Infektionskrankheiten 3, 6, 10, 19, 23, 41 Jodprophylaxe 75 Jugendarbeitsschutzgesetz 29 Jugendkriminalität 15 Jugendwohlfahrtsgesetz 31 Kleinkinderfürsorge 22, 25 Konstitutionsdiagnose 3 Körperbehinderungen 88 Krankenhausfürsorge 101, 104 Krankenhilfe 9, 101 Krankentransport 103 Krankheitsstatistik 107 Krebskrankheiten 4, 53, 61, 117 Krebskrankheiten-Beratungsstellen 63 Kreislaufinsuffizienz 59 Kreislaufstörungen 4 Kulturkrankheiten 116 Lebensalter, Charakterisierung 10 Lebenserwartung 3, 5, 7, 9, 36, 71, 116, 117, 118
130 Lebenserwartung, mittlere 110 Lebenshaltung 33 Leistungskurve 33 Malthusianismus 113 Mangelernährung 1, 114 Medizinalstatistik 106, 107 Mißbildungen, angeborene 24, 88 Mitbestimmungsrecht 2 Mittelwerte 123 Mutterschutz 19 Mutterschutzgesetz 16 Müttersterblichkeit 16, 18 Neurosen 4, 112 Polyarthritis 82 Prestige 115 Psychoneurosen 85 Psychopathien 4 Rachitis 75, 76 Rachitisprophylaxe 24 Rauschgiftsuchten 88 Rehabilitation 7, 15, 86, 99 Reihenuntersuchungen 29, 105 Rettungsdienst 103 Rheumatisches Fieber 80 Säuglingsfürsorge 22 Säuglingssterblichkeit 9, 18, 20, 109 Schulfähigkeit 26 Schulgesundheitspflege 10, 28 Schul- und Jugendzahnpflege 78 Schulkinder 25 Schulkinder, Schutzmaßnahmen 26 Schulzahnpflege 27 Schwangerenberatung 2 Selbstmorde 92 Sexualproportion 3, 109 Siedlungsdichte 98 Solidaritätsprinzip 14
Sachregister Sonderschulen 25 Sozialhilfe 7, 9, 48, 101 Sozialneurosen 85 Sozialpläne 32 Sozialpolitik 2, 32, 97, 100 Sozialprogramme, prospektive 98 Sozialstastik 106, 108 Sozialversicherung 103 Sprachstörungen 86 Sterbeziffer 66 Stillfreudigkeit 19, 22 Stillunfähigkeit 19, 21 Stoffwechselkrankheiten 4, 71, 73, 112 Stress 6 Subsidiarität 103 Subsidiaritätsprinzip 14, 15 Suchten 85, 87 Suchtkrankheiten 4 Todesursachen 36, 53, 66, 80, 95, 117 Tuberkulose 3, 16, 26, 41, 42, 44 Tuberkulose der Gastarbeiter 48 Tuberkulose-Fürsorgestellen 43 Tuberkulose-Schutzimpfungen 47 Übervölkerung 113 Unfälle 4, 6, 10, 23, 27, 88, 89, 91 Unfallschutz 34 Urbanisierung 100 Verifikation, Test zur 112 Wachstumsbeschleunigung 28, 120 Wahrscheinlichkeitsrechnung 110, 120 Weltgesundheitsorganisation 114 Wiedereingliederung 99 Wohlfahrtspflege, freie 103 Wohndistanz 100, 101 Zahnkaries 4, 76 Zivilisationskrankheiten 53
Inhaltsübersicht zu: E W A L D GERFELDT:
Grundriß der Sozialhygiene, Walter de Gruyter & Co, Berlin
1951
Geleitwort Vorwort A. Die G r u n d l a g e n I. Die Bedeutung der sozialen Hygiene für Volk und Arzt II. Medizinische Gesellschafts- und Bevölkerungslehre III. Soziale Axiologie und soziale Psychologie IV. Lebensstandard und Lebensraum V. Vererbung und Umwelt VI. Erblichkeit beim Menschen VII. Mutation und Fortschritt VIII. Soziale Pathologie der Infektionskrankheiten IX. Soziale Hygiene des Berufs X. Medizinal- und Sozialstatistik XI. Die Gesundheitsverwaltung XII. Soziale Fürsorge und Wohlfahrtspflege B. Die einzelnen A u f g a b e n g e b i e t e I. Die Fürsorge für Ehe und Familie II. Die Fürsorge für Säuglinge und Kleinkinder III. Die Fürsorge für die Jugend IV. Die Fürsorge für Körperbehinderte V. Die Bekämpfung der Tuberkulose VI. Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten VII. Die Fürsorge bei Rheumatismus, Stoffwechselkrankheiten, inkretorischen Störungen und Krebs VIII. Die Fürsorge für Abwegige IX. Die Wohnungs- und Siedlungsfürsorge X. Die Förderung der Gesundheitspflege XI. Die Fürsorge im Beruf XII. Rettungsdienst und Krankenhausfürsorge Literatur-Verzeichnis Sachregister
Inhaltsübersicht zu: E W A L D GERFELDT :
Sozialhygiene - Theorie, Praxis, Methodik, Walter de Gruyter & Co, Berlin 1955
Geleitwort Vorwort Einleitung I. Pragmatismus und Sozialprogramme 1. Soziale Gesetze und Forderungen 2. Sozialprogramme und ihre wissenschaftliche Fundierung II. Begriff und Aufgaben: Hygiene, Sozialhygiene und Soziologie 1. Individualhygiene und Gesellschaftshygiene 2. Soziale Tropik und Gemeinschaftshilfe 3. Sozialanthropologie und Soziologie 4. Sozialphysiologie und Sozialpathologie 5. Begriffsdefinition III. Untersuchungs- und Beobachtungsreihen, Objektivation der Vorgänge 1. Reihenuntersuchungen und Reihenbeobachtungen 2. Begrenzung des Untersuchungsbereichs 3. Methodik 4. Werte und Wertverwendung IV. Erforschung der öffentlichen Meinung, Demoskopie und Subjektivismus der Einstellung 1. Wissenschaftliche Meinungsforschung 2. Erhebungsmethodik 3. Mitarbeit der Probanden V. Das große Experiment des Lebens 1. Lebensäußerungen und Aktualsituationen 2. Ergebnisanalyse und Verifikation 3. Kulturkrankheiten 4. Übervölkerung und Nahrungsmangel 5. Arbeit und Beruf 6. Lebenserwartung und Aufbrauchserscheinungen 7. Biometrie und Bewährungsprobe VI. Das Gruppen-Experiment 1. Lebenshaltung und Lebenswahrscheinlichkeit 2. Methodik der Gruppenversuche
Inhaltsübersicht zu „Sozialhygiene - Theorie, Praxis, Methodik" 3. Biodynamische Prinzipien a) Ernährung b) Wohnung und Bodenständigkeit c) Arbeit, Arbeitsplatz und Arbeitskontakt d) Gesellung und Gemeinschaftsbildung 4. Modellversuche VII. Sozialbiologie 1. Sozionomie und Soziometrie 2. Gesellschaftsstruktur und Zivilisationsprozeß 3. Determinismus und Indeterminismus 4. Selbständigkeit und soziale Sicherheit 5. Soziale Umschichtungen 6. Kultur- und Zivilisationskrankheiten VIII. Sozialphysiologie und Sozialpathologie 1. Der Sozialprozeß 2. Biodynamik und Triebe 3. Leistungstypen 4. Ideorealgesetz und Carpenter-Effekt 5. Pathognomonik Literatur Sachregister
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Sozialhygiene
Gerfeldt
Theorie - P r a x i s - Methodik von Prof. Dr. Ewald Gerfeldt. M. e. Geleitw. von Karl H. Kisskalt. Gr. - 8 ° . Mit 6 Abb. VIII, 90 S. 1955. Lw. DM 14,80
Grundriß der Sozialhygiene
Gerfeldt
von Prof. Dr. Ewald Gerfeldt. Gr. - 8 ° . Mit 49 Abb. u. vielen Übers. VIII, 267 S. 1951. (Der Kliniker) Lwd. DM 24,Haseloff-Hoffmann
Kleines Lehrbuch der praktischen Sozialforschung Planung, Durchführung und Auswertung v o n Test, E x p e r i m e n t und U m f r a g e in Sozialforschung und Verhaltenswissenschaften von Prof. Dr. Otto W. Haseloff und Dipl.-Psydiologe Hans-J. Hoffmann. 8°. Etwa 250 S. mit etwa 20 Abb. In Vorbereitung
Haseloff-Hoffmann
Kleines Lehrbuch der Statistik F ü r Naturwissenschaft und Technik, Psychologie, Sozialforschung und Wirtschaft von Prof. Dr. Otto W. Haseloff und Dipl.-Psydiologe Hans-J. Hoffmann. 4., neubearb. u. erw. Aufl. 8°. Mit 59 Fig., 99 Tab., 1 Anh. stat. Arbeitstab. u. Übungsaufg., 1 Ausschlagtaf. XII, 253 S. 1970. Plast, flex. DM 19,80
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Sozialpsychologie von Prof. Dr. Peter R. Hofstätter. 4., unveränd. Aufl. Kl. - 8 ° . Mit 18 Abb. 191 S. 1970. DM 5,80 (Sammlung Göschen, Band 104/104a)
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Spezielle Mikrobiologie
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Leitsätze für Studierende und Ä r z t e von Prof. Dr. Ulrich Schneeweiß unt. Mitarb. von Eva-Maria Fabricius. Gr. - 8 ° . Mit 158 Abb. u. 39 Tab. XII, 477 S. 1968. Plast, flex. DM 30,-
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Gerichtliche Psychiatrie von Prof. Dr. med. Albrecht Langelüddeke. 3., vollst, neubearb. Aufl. G r . - 8 ° . Etwa 480 S. Im Druck
Langelüddeke
Die Entmannung von Sittlichkeitsverbrechern von Prof. Dr. med. Albredit Langelüddeke. G r . - 8 ° . VIII, 240 S. 1963. DM 38,-
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für Chemiker, P h a r m a z e u t e n , Mediziner und Physiker Begr. von F. W. Küster, fortgef. von A. Thiel, neubearb. von K. Fischbeck. 100., verb. u. vermehrte Aufl. 8°. XVI, 310 S. 1969. PI. DM 22,- (Arbeitsmethoden d. modernen Naturwissenschaften)
Fälle und Probleme von Dr. H. March. 8°. XII, 356 Seiten. 1969. Flexibel DM 28,-
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medizinische Arbeit vertiefen will. Die Neubearbeitung umfaßt alle klinischen Fächer, aber auch die Pharmakologie, Mikrobiologie, Klinisdie Chemie, Enzymologie, Humangenetik usw. Auch im nuklearmedizinischen Bereich wurde das Fachgebiet der Radiologie vollständig neu bearbeitet und damit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und technischen Neuerungen angepaßt. Die neue Ausgabe hat 400 Seiten und fast 1000 (!) Abbildungen mehr als die letzterschienene. Allein schon diese Zahlen zeigen, wie vieles neu hinzugekommen ist und wie sehr die Sachbearbeiter mit Erfolg bemüht waren, etwas wirklich Umfassendes zu schaffen. Deutsche
Hebammen-Zeitschrift
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