Sophokles: Philoktet 9783110344530

Auch große Geister können irren. Das Drama, in dem Sophokles das physische und psychische Leid des griechischen Troiakäm

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German Pages [485] Year 2017

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Sophokles: Philoktet
 9783110344530

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Sophokles: Philoktet

Griechische Dramen herausgegeben von Jens Holzhausen, Peter von Möllendorff und Bernd Seidensticker

De Gruyter

Sophokles Philoktet herausgegeben, übersetzt und kommentiert von

Bernd Manuwald

De Gruyter

ISBN 978-3-11-034453-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-034467-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038379-9

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandentwurf: Martin Zech, Bremen Einbandabbildung: basiert auf dem Bildmotiv Philoktet auf Lemnos (attisch-rotfigurige Lekythos, ca. 420 v. Chr., The Metropolitan Museum of Art. Department of Greek and Roman Art, Inv.-Nr. 56.171.58). Foto: Marie-Lan Nguyen (2011), bearbeitet. Bildnachweis: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Philoktetes_Lemnos_Met_56.171.58.jpg Lizenz: CC BY 2.5 (https://creativecommons.org/licenses/by/2.5/deed.en) Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort der Herausgeber Die Reihe Griechische Dramen möchte einen Wunsch all der Leser und Liebhaber der griechischen Tragödie und Komödie erfüllen, die über keine oder nur geringe Kenntnisse der griechischen Sprache verfügen: zu erfahren, was im griechischen Original steht. Deshalb sind die Übersetzungen anders als im Original nicht in Versmaßen gehalten, sondern – im Unterschied zu den gängigen deutschen Übersetzungen – in Prosa, um unabhängig von den Zwängen poetischer Rhythmisierung so genau wie möglich den Wortlaut wiedergeben zu können. Eine solche Übersetzung ist das Ergebnis einer gründlichen sprachlichen und inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Originaltext, die in den Bänden der Reihe auf mehreren Ebenen dokumentiert wird: Der Übersetzung ist der zugrunde gelegte griechische Text an die Seite gestellt, der von einem kritischen Apparat und sprachlichen Erläuterungen begleitet wird. Hier kann derjenige, der über Griechischkenntnisse verfügt, die sprachliche Basis der Übersetzung nachvollziehen. Der Kommentar, mit detaillierten Erläuterungen zu sprachlichen, sachlichen, dramaturgischen und interpretatorischen Problemen, setzt dagegen keine Kenntnisse der griechischen Sprache voraus. Das Druckbild ist so gestaltet, dass der Leser alle Informationen auf einen Blick erfassen kann: Die Doppelseiten präsentieren auf der linken Seite zunächst – als Ausgangspunkt der Lektüre und zugleich als Endpunkt der hermeneutischen Arbeit der Kommentatoren – den deutschen Text und darunter den griechischen Text mit textkritischen und sprachlichen Erläuterungen. Der Stellenkommentar begleitet den Text auf der rechten Seite. Dass die auf einer Doppelseite behandelten Textstücke dadurch in der Regel kurz sind, ist unvermeidlich; der Vorteil, alle Informationen zu einem Vers bzw. einer Textpassage unmittelbar nebeneinander zu finden, mag dafür entschädigen. In den umfangreichen Einführungen ziehen die Übersetzer in zusammenhängender Erörterung thematischer Schwerpunkte die Quintessenz ihrer Interpretation des Stücks und informieren über den Autor und sein Werk, über Datierung und historischen Hintergrund des Stücks, über die Geschichte des Stoffs und die vom Autor gewählte Akzentuierung, sowie über das Theater des 5. Jahrhunderts und die dramaturgische Realisierung des Stücks. Herausgeber und Autoren der Reihe Griechische Dramen hoffen, durch die Kombination von Einführung, Prosaübersetzung, Originaltext und Erläuterungen einem gräzistischen wie nichtgräzistischen Leserkreis den Zugang zum Theater des klassischen Athen und seinen großen Dramen zu erleichtern. Jens Holzhausen

Peter von Möllendorff

Bernd Seidensticker

Die Krankheit des Philoktet z. B., die stinkenden Geschwüre an seinem Fuße, sein Ächzen und Schreien würden wir ebensowenig sehen und hören mögen, als uns die Pfeile des Herkules, um welche es sich vornehmlich handelt, ein Interesse einflößen könnten. G. W. F. Hegel, Ästhetik, Teil III (Bd. II, S. 537).

Vorwort Auch große Geister können irren. Das Drama, in dem Sophokles das physische und psychische Leid des griechischen Troiakämpfers Philoktet auf die Bühne gebracht hat, findet seit der Antike bis heute durchaus das Interesse von Zuschauern und Lesern. Es zeigt das Geschehen um einen Menschen, den die Führer des Heeres auf der Fahrt nach Troia wegen seiner nicht heilenden Wunde auf einer einsamen Insel ausgesetzt hatten, den sie aber trotzdem nach neun Jahren des mühsamen Überlebens dazu bringen wollen, ihnen im Entscheidungskampf um Troia zum Sieg zu verhelfen – weil die Götter seine Mitwirkung dafür vorgesehen haben. Die verschiedenen Aspekte dieser konfliktreichen Situation in einem Spannungsfeld zwischen personaler Selbstbehauptung Philoktets gegenüber denen, die versuchen, ihn zu vereinnahmen, und den göttlich bestimmten Rahmenbedingungen sind auch immer wieder von Literaten rezipiert und in neue Konstellationen transponiert worden. Von Philologen ist die Tragödie bis in die jüngste Zeit oft ediert, übersetzt, kommentiert und in unzähligen Abhandlungen interpretiert worden, was angesichts des an manchen Stellen ungesicherten und in der Deutung strittigen Textes zu teilweise stark voneinander abweichenden Ergebnissen führte. Auch durch diese neue, zweisprachige Ausgabe werden sicherlich nicht alle Schwierigkeiten der Textgestaltung und des Verständnisses überwunden werden können, aber sie unterscheidet sich insofern von früheren Editionen bzw. deutschen Übersetzungen, als der Text erstmals in deutscher Sprache ausführlich kommentiert wird. Wegen der Fülle der bisherigen Arbeiten sind dabei kaum noch Beobachtungen zu machen, die sich in der langen Geschichte der Forschungen zu diesem Drama nicht schon irgendwo finden. Dennoch versteht sich diese Ausgabe nicht als eine Zusammenstellung bisheriger Ergebnisse, sondern als ein Versuch, eine Synthese des Plausiblen mit eigenen Akzenten vorzulegen. Der Intention der Reihe Griechische Dramen entsprechend sind Übersetzung und Kommentierung so angelegt, dass damit Lesern ohne Kenntnisse des Grie-

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Vorwort

chischen der Philoktet des Sophokles mit seinen Text- und Interpretationsproblemen in seiner Aspektvielfalt nahegebracht wird. Die Übersetzung, die dem Text Vers für Vers folgt, hält sich deshalb so eng wie möglich an den Ausgangstext, mit allen Kompromissen, die sich dabei stellenweise für die Formulierung im Deutschen ergeben. Griechischkundige Leser finden – im Apparat und im Anhang – noch zusätzliche Erläuterungen zu textkritischen, sprachlichen und metrischen Fragen. Bei meiner Arbeit am Philoktet habe ich vielfache Hilfe erfahren, für die ich hier danken möchte: Größere Abschnitte einer ersten Fassung von Übersetzung und Kommentar stellte ich im WS 2015/2016 an der Universität zu Köln im Rahmen eines Kolloquiums mit Kollegen und Studierenden zur Diskussion. Die konstruktiven Beiträge von Hannah und Yannik Brandenburg, Jan Felix Gaertner, Henrike Kümmerer, Sinja Küppers, Felix Meister, René Nünlist, Alexandra Scharfenberger, Johannes Schoroth und Sandra Zajonz waren sehr hilfreich für mich. Bei späteren Fassungen hat mich der kenntnisreiche und kritische Blick meiner Tochter Gesine vor vielen Irrtümern bewahrt. Bernd Seidensticker hat die Einführung durchgesehen und etliche Verbesserungen angeregt. Das Buch wäre aber nicht zustande gekommen ohne die beständige Hilfe und die weiterführenden Diskussionen mit meiner Frau; ihre wissenschaftliche Kompetenz hat diese Ausgabe entscheidend mitgeprägt. Köln, im Oktober 2017

B. M.

Inhalt Vorwort der Herausgeber ................................................................................. V Vorwort ......................................................................................................... VII Einführung ........................................................................................................ 1 Sophokles: Der Dichter in seiner Zeit .................................................... 3 Zur Geschichte des Philoktet-Stoffs ...................................................... 6 Sophokles’ Philoktet ............................................................................ 13 Übersicht über den Inhalt ............................................................ 13 Inhaltliche und formale Strukturierung ....................................... 15 Philoktet – eine Tragödie? ........................................................... 17 Szenerie und Fragen der Inszenierung ........................................ 18 Zur Weissagung des Helenos ...................................................... 22 Konzipierung der Figuren und des Chors ................................... 31 Zum Deus ex machina und zur Deutung des Philoktet ............... 46 Zur Rezeption von Sophokles’ Philoktet ............................................. 50 Zur Überlieferung des Textes .............................................................. 60 Zu dieser Ausgabe ............................................................................... 62 Anlage ......................................................................................... 62 Zitierweise ................................................................................... 64 Abkürzungen ............................................................................... 65 Text, Übersetzung, Kommentar ...................................................................... 67 Anhang .......................................................................................................... Abweichungen vom Text der Edition von Lloyd-Jones / Wilson ..... Ergänzende Kommmentarbemerkungen (EK) ................................... Ergänzende textkritische und sprachliche Erläuterungen (ETS) ....... Metrische Analysen ........................................................................... Hypotheseis zum Philoktet ................................................................

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Literaturverzeichnis ....................................................................................... 458

Einführung

Sophokles: Der Dichter in seiner Zeit Sophokles hat wie kein anderer der drei großen Tragiker des klassischen Athen den Aufstieg und den Niedergang seiner Stadt im 5. Jh. v. Chr. erlebt – fast bis zum katastrophalen Ende des Peloponnesischen Kriegs.1 Der etwa drei Jahrzehnte ältere Aischylos starb vor der Mitte des Jahrhunderts, Euripides war zur Zeit der Schlacht von Marathon noch nicht geboren, beim zweiten Perserkrieg noch ein kleines Kind. – Und Sophokles hat diese Zeit nicht nur erlebt, sondern war über sein Wirken als Dichter hinaus in führender Stellung in das politische, militärische und religiöse Leben der Polis Athen involviert. Geboren wurde Sophokles wahrscheinlich 497/96 v. Chr.2 in dem außerhalb der Stadtmauern gelegenen Demos Kolonos (Vita 1), dem Schauplatz seiner letzten Tragödie, des Ödipus auf Kolonos. Sein Vater hieß Sophillos und scheint eine Art Unternehmer gewesen zu sein, der Sklaven beschäftigte (Vita 1). Die Persische Strafexpedition bei Marathon (490 v. Chr.) wird Sophokles bereits als Bedrohung mitbekommen haben, den zweiten Perserkrieg (480/79) hat er als Heranwachsender miterlebt, und es wird überliefert, er habe bei der Siegesfeier zur Schlacht von Salamis (im J. 480) den Siegespaian angeführt (Vita 3). Musische Neigungen wird man voraussetzen können, aber was Sophokles im Einzelnen dazu brachte, Tragödien zu dichten, wissen wir nicht. Sicher hat ihn Aischylos beeindruckt, dem er, wie er später gesagt haben soll, in der ersten Phase seines dichterischen Stils folgte (T 100), und seit er Theateraufführungen miterleben konnte, wird er dessen Stücke gesehen haben. Jedoch war diese Erfahrung vielleicht nicht mehr als einer der Faktoren in seiner Entwicklung. Im Jahr 470 v. Chr. wurde Sophokles erstmals als einer der drei Dichter ausgewählt,3 deren vier Dramen (jeweils drei Tragödien und ein Satyrspiel) im alljährlichen Wettbewerb (Agon) am Dionysos-Fest in Athen aufgeführt wurden. Bereits 468 – bei seiner zweiten Teilnahme4 – errang er den ersten Sieg –––––––––––– 1

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Als Quellen für Leben und Werk des Sophokles stehen eine in den Handschriften überlieferte (sehr kritisch zu benutzende) Lebensbeschreibung (Vita), ein Eintrag in der in byzantinischer Zeit kompilierten Enzyklopädie Suda und zahlreiche weitere Testimonien (T) zur Verfügung. Die maßgebliche Ausgabe dieser Texte ist TrGF IV (Sophocles, ed. S. Radt, Göttingen 21999), S. 29 ff. Darstellungen von Sophokles’ Leben bieten u. a. Lesky 1972, 169–175; Flashar 2000 (2010), 30–41; Zimmermann 2011, 573–575; Tyrell 2012. So lassen sich die Angaben des Marmor Parium (T 3 u. 33) deuten. Vgl. Müller 1984, 60. Nach der von Müller (1984, 60 ff.) ermittelten ‚Intervallregel‘ hat ein Tragiker niemals an zwei aufeinanderfolgenden Agonen teilgenommen, sondern es sind immer ein- bis zweijährige Intervalle anzunehmen.

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Einführung

(DID a. 468 [p. 5]).5 Siege gelangen ihm insgesamt 18-mal (DID A 3 a, 15 [p. 28]), niemals soll er den dritten (d. h. den letzten) Platz belegt haben (Vita 8). Die Zahl seiner Stücke ist nicht einheitlich überliefert,6 am wahrscheinlichsten ist die Zahl 113, die 28 Teilnahmen am tragischen Agon ergibt, wozu noch die postum aufgeführte Tragödie Ödipus auf Kolonos kommt. Ganz erhalten sind lediglich sieben Tragödien. Angaben über das Aufführungsjahr gibt es nur für den Philoktet (409 v. Chr.; DID a. 409 [p. 10]) und den Ödipus auf Kolonos (401 v. Chr.; DID a. 401 [p. 11]). Für die Antigone lässt sich als Datum 440 v. Chr. erschließen.7 Sie weist ebenso wie der Aias und die Trachinierinnen die ‚Diptychonform‘ auf (die Stücke haben eine starke Zäsur in der Mitte), die als früh gilt. In den sicher späten Tragödien Philoktet und Ödipus auf Kolonos wird sie nicht angewandt, auch nicht im König Ödipus und in der Elektra. ‚Früh‘ ist allerdings rein relativ zu verstehen: Zur Entstehungszeit der Antigone näherte sich Sophokles bereits dem 60. Lebensjahr. Sophokles war nicht nur sehr erfolgreich bei den Aufführungen seiner Stücke, er hatte auch Anteil an der Entwicklung der Tragödie als literarischer Form: Ihm wird die Einführung eines dritten Schauspielers zugeschrieben; das müsste in einem seiner wirklich frühen Stücke geschehen sein, denn bereits in Aischylos’ Orestie (458 v. Chr.) gibt es Szenen, in denen drei Schauspieler gleichzeitig auf der Bühne sind. Außerdem soll Sophokles die Zahl der Choreuten von 12 auf 15 erhöht und die Bühnenmalerei eingeführt haben (Vita 4; T 95; Suda σ 815).8 Anders als von Euripides, über den es keine entsprechenden Nachrichten gibt, weiß man von Sophokles, dass er hohe politische Ämter bekleidete. In der seit der Reform des Ephialtes (462 v. Chr.) bestehenden radikalen Demokratie, in der fast alle Ämter durch das Los ermittelt wurden, heben sich Funktionen, die man nicht durch Los erhielt, besonders heraus. Sophokles hatte zwei der regulären inne. Während der Phase der maßgeblich von Perikles bestimmten Politik Athens, der ab 443/2 ununterbrochen 15-mal Stratege war, wurde Sophokles 443/2 einer der zehn athenischen Schatzmeister (Hellenotamiai) des attisch-delischen Seebundes (d. h. der Machtgrundlage Athens) und 441/0 selbst einer der zehn Strategen, wobei er zusammen mit Perikles gegen Samos zu Felde zog (T 18–25). Perikles soll dabei gesagt haben, Sophokles verstehe sich aufs Dichten, aber nicht aufs Stratege-Sein (T 75,29).9 Nach der –––––––––––– 5 6

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DID = Didascaliae tragicae, in: TrGF I2, ed. B. Snell – R. Kannicht, Göttingen 1986. 113 echte Stücke sind es nach Angabe des Aristophanes von Byzanz (Vita 18), 123 oder mehr nach der der Suda (σ 815 = T 2). Vgl. zur Anzahl der Siege und der Stücke Müller 1984, 60 f. und 1985/1999, 249–252; er nimmt 113 Stücke an. Finglass (2012, 10) plädiert für eine Zahl von 123 Stücken. Müller 1984, 47 f. (statt der verbreitet angenommenen Datierung auf das J. 442). Allerdings gibt es Gründe, die Bemerkung in der Poetik des Aristoteles „Drei [sc. Schauspieler] und Bühnenmalerei [Skenographie] Sophokles“ (Poetik 1449 a 18 f. = T 95) für eine Interpolation zu halten; vgl. Brown 1984, 1–8. Aber eine solche Interpolation muss nicht ohne Anhalt an der Sache sein. Die Angaben über weitere Strategien des Sophokles (428 v. Chr.; Vita 36 – 423 v. Chr; T 26) sind widersprüchlich bzw. unsicher. Vgl. auch Osborne 2012, 271 f.

Sophokles: Der Dichter in seiner Zeit

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Katastrophe, welche die Athener mit der Sizilischen Expedition erlebten, wurde der schon über 80-jährige Sophokles 413 einer der zehn Probulen, die dazu beitrugen, die Oligarchie der Vierhundert (im J. 411) einzurichten. Sophokles, dem man dies offenbar vorhielt, soll seine Beteiligung damit gerechtfertigt haben, dass es keine bessere Lösung gegeben habe (T 27). Es wird berichtet, dass sich Sophokles auch im religiösen Leben der Polis engagierte. Er sei Priester eines Heilheros Halon (Vita 11) gewesen und habe, als 420 v. Chr. der Kult des Heilgottes Asklepios von Epidauros auch in Athen eingeführt wurde und der Gott noch kein eigenes Heiligtum hatte, den ‚Gott‘ in seinem Hause aufgenommen; deswegen sei Sophokles nach seinem Tode als Heros Dexion (~ ‚der Aufnehmende‘) verehrt worden (T 67–73); jedoch ist die Zuverlässigkeit dieser Nachrichten zweifelhaft.10 Bei der herausgehobenen Stellung des Sophokles in Athen ist es als selbstverständlich anzunehmen, dass er Kontakt mit anderen geistig führenden Persönlichkeiten seiner Zeit hatte. In Bezug auf den Historiker Herodot ist das ausdrücklich bezeugt, und es gibt gedankliche Verbindungen zwischen den Werken von beiden. Sophokles schrieb im Alter von 55 Jahren eine Elegie für Herodot (Sophokles I, fr. 5 West). Was das Verhältnis zu dem Konkurrenten Euripides angeht, so ist der Respekt bezeichnend, den Sophokles dem gerade erst Verstorbenen erwies: Beim Proagon der Großen Dionysien11 des Jahres 406 v. Chr. erschien er im Trauergewand und ließ Chor und Schauspieler unbekränzt auftreten (T 54). Bald danach muss Sophokles gestorben sein. Denn in den Fröschen des Aristophanes (aufgeführt an den Lenäen12 405 v. Chr.) ist vorausgesetzt, dass er tot ist. Sein Tod fällt mithin noch in das Jahr 407/6 (nach den Dionysien 406) oder in das Jahr 406/5, doch so rechtzeitig vor die Lenäen 405, dass Aristophanes noch darauf Bezug nehmen konnte.13 Dabei lässt er den Gott Dionysos mit dem umgänglichen Wesen des verstorbenen Sophokles argumentieren, das dieser, wie schon auf Erden, (wohl) auch im Hades habe (v. 82). Und in den Musen des Phrynichos, die ebenfalls beim Agon der Lenäen 405 aufgeführt wurden, heißt es (fr. 32 Κ.-Α.): „Selig ist Sophokles, der nach einem langen Leben / starb als ein glücklicher und kluger Mann; / nachdem er viele schöne Tragödien gedichtet hatte, / fand er ein schönes Ende, ohne ein –––––––––––– 10 11 12 13

Vgl. Conolly 1998. Im attischen Monat Elaphebolion (~ März / April). – Im Proagon wurden wahrscheinlich die bei den Dionysien zur Aufführung kommenden Stücke vorgestellt; vgl. PickardCambridge 1988, 67 f. Im attischen Monat Gamelion (~ Januar / Februar). Die Entscheidung über die Datierung ist abhängig von der Interpretation der einschlägigen Zeugnisse und der Frage, ob Aristophanes bereits in Kenntnis von Sophokles’ Tod die Frösche zu verfassen begann oder ob er, bei einem späteren Todesdatum des Sophokles, ihn erst nachträglich in seiner Komödie berücksichtigte. Müller tritt für die erste Möglichkeit ein und datiert den Tod des Sophokles in das Jahr 407/6 v. Chr. (1995/1999, bes. 214), und zwar noch in den Elaphebolion 406, während Weißenberger 2008 (in Auseinandersetzung mit Müller) wohl zu Recht die zweite Möglichkeit favorisiert und für das spätere Datum (406/5) plädiert.

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Einführung

Leid erdulden zu müssen.“ Diese würdigenden Äußerungen über Sophokles, die die beiden Komödiendichter in ihre Werke aufgenommen haben, wird man als Zeichen seiner Wertschätzung in Athen sehen dürfen. Sophokles hatte zwei Söhne, Iophon, ebenfalls Tragödiendichter (TrGF I2 22), von seiner Gattin Nikostrate, und einen unehelichen Sohn, Ariston, von einer Sikyonierin namens Theoris (T 16–17). Der wurde Vater des jüngeren Sophokles, auch er ein Tragödiendichter (TrGF I2 62), der den Ödipus auf Kolonos des Großvaters postum im Jahre 401 v. Chr. aufführte (Hyp. II zu OC = DID C 23 [p. 49]).

Zur Geschichte des Philoktet-Stoffs Philoktet14 und sein Vater Poias (Homer, Odyssee 3,190) sind bereits Gestalten des frühgriechischen Epos.15 Poias war Teilnehmer am Zug der Argonauten nach Kolchis (Ps.-Apollodor, Bibliothek 1,112; 141).16 Nach Ps.-Apollodors Version war er es, der, als er zufällig am Berg Öta (neugr.: Iti, Oiti) nach einer Schafherde suchte, den Scheiterhaufen des Herakles anzündete, als niemand sonst dazu bereit war; dafür erhielt er von Herakles dessen Bogen (2,159 f.). Diese Version eignet sich für Sophokles nicht, da es zu den Voraussetzungen seines Plots gehört, dass es Philoktet war, der für diese Tat in den –––––––––––– 14 15

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Sprachwissenschaftlich wird als ursprüngliche Bedeutung des Namens angenommen: „der, welcher über die Seinen verfügt“ (Meier-Brügger 1978, 236 Anm. 41). Sophokles legt offenbar eine andere Deutung des Namens zugrunde; vgl. Komm. zu 673. Zum Mythos und seinen Quellen vgl. Gantz 1993, 457–469; 589 f.; 635–638; LIMC VII 1, 1994, 376 f. An neueren Beiträgen zur Stoffgeschichte vgl. Avezzù 1988; Müller 2000, 25–71; Masciadri 2008, 38–111 (Letzterer spürt den gesamten Verästelungen des Mythos nach). Im Folgenden wird die Stoffgeschichte nur so weit verfolgt, wie sie für Sophokles’ Philoktet erhellend ist. Zu Philoktets Schicksal nach dem Troianischen Krieg (er zog schließlich nach Italien) vgl. Gantz 1993, 700 f. Ps.-Apollodor vermittelt hier eine Tradition, die auf das archaische Argonauten-Epos (vgl. Homer, Odyssee 12,69–72) zurückgehen dürfte. Denn in den Argonautika des Apollonios Rhodios wird Poias nicht erwähnt. Sein Sohn Philoktet ist als Teilnehmer am Argonautenzug erst spät bezeugt (Valerius Flaccus 1,391; Hygin, Fabulae 14,22). Ebenso dürfte Philoktets Teilnahme an der ersten Eroberung Troias durch Herakles (Soph. Phil. 1131 wird er vielleicht auch in Anspielung auf die Unternehmung des Herakles als ‚zu ihm gehörig‘ bezeichnet) erst nach (oder neben) den epischen Erzählungen über den Troianischen Krieg aufgekommen sein. Jedenfalls hängt mit der Vorstellung, dass Philoktet am ersten Troiazug teilgenommen hat, die Nachricht zusammen, dass er beim zweiten die Stelle zeigen sollte, an der Herakles einst auf der Insel Chryse geopfert hatte (Scholion Soph. Phil. 194; Philostrat [iun.], Imagines 17 [II, p. 420,2 f. Kayser]; Hypothesis I Soph. Phil. 1–3: s. u. S. 454). Chryse als Ort, an dem dann Philoktet von der Schlange gebissen wurde, ist aber dem frühgriechischen Epos unbekannt (s. u.); vgl. Müller 2000, 34.

Zur Geschichte des Philoktet-Stoffs

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Besitz des Bogens kam (Phil. 801–803 mit Komm.), aber Sophokles hat mit Ps.-Apollodor die Lokalisierung des Herrschaftsgebiets des Poias und seines Sohns gemeinsam, nämlich das in Nordgriechenland gelegene Gebiet um den Golf von Malia mit dem Öta-Gebirge im Hinterland, dem Bergrücken von Trachis und der Spercheios-Ebene (Phil. 4 f.; 479; 490–492; 724–726; 1430). Nach Homer (Ilias 2,716 f.) herrschte Philoktet dagegen über Methone, Thaumakia, Meliboia und Olizon, Städte, die auf der weiter nordöstlich gelegenen Halbinsel Magnesia bzw. am Pagasäischen Golf zu lokalisieren sind. Die Erzählungen von Poias und Philoktet scheinen in beiden Gebieten verwurzelt gewesen zu sein.17 Philoktet gehörte zu dem Heer, das Agamemnon gegen Troia führte. Er wird unter die Freier der Helena gezählt (Ps.-Apollodor, Bibliothek 3,131) und war demgemäß verpflichtet, nach Paris’ Raub der Helena am Troia-Feldzug teilzunehmen. Nach den Kyprien wurde Philoktet auf der Fahrt nach Troia bei einem Mahl auf der Insel Tenedos von einer Wasserschlange gebissen und wegen des üblen Geruchs, der von der Wunde ausging, von den Griechen auf der Insel Lemnos zurückgelassen (Argumentum, p. 41,50 f. Bernabé = pp. 76 f. West 2003).18 Die Ilias Homers, der älteste zum Philoktet-Mythos überlieferte Text, erzählt, dass Philoktet, ein guter Bogenschütze,19 mit einem Kontingent von sieben Schiffen nach Troia unterwegs war, aber (ohne seine Mannschaft) auf Lemnos20 mit starken Schmerzen, die vom Biss einer bösartigen Wasserschlange herrührten, zurückgelassen wurde; doch, wie es heißt, sollten sich die Griechen seiner bald wieder erinnern (2,716–728). Dieses nachiliadische Geschehen war dann, wie man aus der überlieferten Inhaltsangabe schließen kann, in der Ilias parva berichtet: Odysseus stellt Helenos (einem troianischen Seher) einen Hinterhalt und ergreift ihn. Auf dessen Weissagung über die Eroberung Troias hin21 holt Diomedes22 Philoktet von Lemnos. In Troia wird er –––––––––––– 17 18

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Vgl. Kenner 1951, 1187 f.; Brügger 2003, 231 f. Nach Ps.-Apollodors (Epitome 3,27) z.T. wohl von den Tragikern beeinflusstem Bericht kam die Wasserschlange vom Altar Apollons auf Tenedos, als man dem Gott opferte. Weil das Heer die unheilbare und übelriechende Wunde nicht ertragen konnte, setzte Odysseus auf Befehl Agamemnons Philoktet mit dem Bogen des Herakles auf Lemnos aus, wo er sich in der Einsamkeit von Vögeln ernährte, die er mit seinem Bogen erlegte. Vgl. auch Homer, Odyssee 8,219–222, wo Odysseus Philoktet als einzigen preist, der ihm in dieser Kunst überlegen sei. Möglicherweise war in der Version der Ilias Lemnos auch als Ort des Schlangenbisses vorausgesetzt; vgl. Müller 2000, 27; West 2013, 212 f. Der Inhalt der Weissagung dürfte gewesen sein, dass der Bogenschütze Philoktet für die Eroberung Troias notwendig sei. Ob dabei schon der Bogen des Herakles vorauszusetzen ist (so z. B. West 2003, 121 Anm. 27; 2013, 113; 184), ist nicht sicher. – Nach Ps.-Apollodor, Epitome 5,8 erfolgt die Weissagung durch Kalchas. Ps.-Apollodor bietet für Dräger auch beim Philoktet-Mythos die ursprüngliche Version (2012, 133–140). Vgl. jedoch grundsätzlich zu Drägers Methode Fowler 2007. Ps.-Apollodor, Epitome 5,8 gibt an, dass es Odysseus zusammen mit Diomedes ist, weswegen West (2003, 120 f.) Odysseus auch für die Ilias parva annahm (korrigiert West 2013, 182 mit Anm. 19: nur Diomedes). Nach der Epitome hat sich Odysseus des Bogens mit List bemächtigt und dann Philoktet ‚überredet‘ (peithei), nach Troia zu gehen.

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Einführung

von dem Arzt Machaon geheilt23 und tötet Paris in einem Einzelkampf (Argumentum 1, p. 74,6–8 Bernabé = pp. 120–123 West 2003).24 Erst danach holt Odysseus25 Neoptolemos von Skyros und gibt ihm die Waffen seines Vaters Achill (p. 74,10 f. Bernabé = pp. 122 f. West 2003). Philoktet- und Neoptolemos-Handlung sind also im Epos nicht verbunden. Die Grundstruktur der Philoktet-Geschichte liegt damit bereits im frühgriechischen Epos in der Form vor, dass der am Troia-Zug beteiligte Bogenschütze Philoktet wegen einer Verwundung durch eine Schlange auf dem Weg nach Troia auf Lemnos zurückgelassen, aber gegen Ende des Kriegs zurückgeholt und geheilt wird, weil er gemäß der Weissagung des Sehers Helenos für die Eroberung Troias unverzichtbar ist. Aus den Zeugnissen für die Kyprien und die Ilias parva geht nicht hervor, woher Philoktet stammt. Wenn aber die Ilias mit ihrer Lokalisierung auf der Halbinsel Magnesia für die epische Stufe des Stoffes repräsentativ sein sollte, würde darin ein später wichtiges Element fehlen: Dass Philoktet den Bogen des Herakles besitzt, muss mit dessen Tod auf dem Berg Öta in Zusammenhang stehen, setzt also die andere Heimat Philoktets voraus.26 Für das Epos war Philoktet daher wahrscheinlich nur ein hervorragender Bogenschütze, aber ohne die ‚Wunderwaffe‘ des Herakles.27 Seine Rückholung könnte ‚undramatisch‘ verlaufen sein. Wo zuerst von Herakles’ Überlassung des Bogens an Philoktet die Rede war, ist nicht mehr festzustellen. Manche Interpreten glauben, dass bereits die Ilias parva davon berichtete,28 sichere Belege gibt es aber erst ab dem 5. Jh. v. Chr. Für Bakchylides ist es als wahrscheinlich anzunehmen, dass er Philo––––––––––––

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Aber da können in die Epitome Elemente aus der Behandlung des Stoffes durch die Tragiker eingeflossen sein. Es ist durchaus möglich, dass die Rückholung Philoktets in der Ilias parva eine problemlose Aufgabe war, für die auch ein Diomedes genügte, und die Konfliktsituation durch die Einführung des Gegenspielers Odysseus eine Erfindung des Aischylos ist (vgl. unten S. 9). Allenfalls das pluralische „gottgleiche Helden“ bei Pindar (Pythien 1,53) könnte auf eine alte Tradition weisen, wonach Diomedes bei dieser Unternehmung nicht allein war (vgl. auch T. v. Wilamowitz 1917, 270). Wilamowitz (ebd.) verweist auf Quintus Smyrnaeus (Posthomerica 9 [333–425]), nach dessen Bericht zwar auch Odysseus beteiligt ist, aber Philoktet u.a. durch den Hinweis auf die Schicksalsbedingtheit seines Leids gewonnen werden konnte; die Version einer solchen einvernehmlichen Rückkehr Philoktets kam vielleicht doch nicht erst in der Nachklassik auf (anders Müller 1997, 307 f.), sondern ist möglicherweise die epische Variante. Zu weiteren Einzelheiten vgl. Komm. zu 1333. Unter dieser Monomachie ist wohl entgegen der üblichen Bedeutung eines Nahkampfs ein Kampf der beiden Bogenschützen zu verstehen; vgl. Gantz 1993, 637 f. mit Verweis u. a. auf Dictys Cretensis 4,19; vgl. auch West 2013, 186. Nach Ps.-Apollodor, Epitome 5,11 zusammen mit Phoinix. Diese Angabe kann aber auch aus Soph. Phil. 344 eingedrungen sein. Vgl. Müller 2000, 33. Vgl. auch Komm. zu 801–803. Daher ist bei Ergänzungen der Inhaltsangaben der Kyprien und der Ilias parva aus Ps.Apollodor (wie sie des Öfteren West 2003 und auch Müller 2000 vornehmen) Vorsicht geboten. Weder der Bogen des Herakles (vgl. Anm. 21) noch die wohl insbesondere in diesem Fall notwendige Überlistung Philoktets (vgl. Anm. 22) sind für das Epos zu sichern. Noch Pindar (Pythien 1,50 ff.) sagt nichts vom Bogen des Herakles. Z. B. Müller 2000, 33; West 2003, 121 Anm. 27; 2013, 113; 184.

Zur Geschichte des Philoktet-Stoffs

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ktet als Besitzer dieses Bogens nannte,29 ebenso für Aischylos, wenn er in seinem Philoktet, von dem es nur einige Fragmente gibt, den Fluss Spercheios, also ein mit dem Berg Öta verbundenes Landschaftselement, (vermutlich spricht Philoktet) apostrophieren lässt (F 249 Radt), und für den ebenfalls nur fragmentarisch erhaltenen, aber besser zu erschließenden Philoktet des Euripides ist es gewiss (F 789 b [2] Kannicht). Um sich einem jahrelang verstoßenen, durch sein Leid verbitterten Philoktet, der durch die unbezwinglichen und tödlichen Geschosse des Herakles (vgl. Soph. Phil. 78; 105; 198) gefährlich ist, als einer von denen, die für seine Situation verantwortlich waren, zu nähern und zur Hilfe gegen Troia zu gewinnen, bedurfte eines höchst umsichtigen Vorgehens: Die Grundlage für eine dramatische Handlung und die zentrale Rolle eines raffinierten Abgesandten, des Odysseus, war damit geschaffen. „Mit der Wahl des Gegenspielers [sc. durch Aischylos] war die Unversöhnlichkeit des Helden vorausgesetzt und die Überwindung seiner Verweigerung durch List und damit verbundene Nötigung vorprogrammiert.“30 Für Aischylos’ Philoktet lassen sich über die wenigen kurzen Fragmente hinaus, die davon erhalten sind (F 249–257 Radt), aus der 52. Rede Dions von Prusa, in der die Philoktet-Dramen von Aischylos, Euripides und Sophokles verglichen werden, einige Angaben gewinnen:31 Der Chor der Tragödie bestehe aus Einwohnern aus Lemnos, die auftreten, ohne sich dafür zu entschuldigen, dass sie sich so lange (es muss sich nach den Erzählungsvoraussetzungen um über 9 Jahre handeln) nicht um Philoktet gekümmert haben (§ 7). Dieser erzähle ihnen, als ob sie völlig uninformiert seien, seine Leidensgeschichte (§ 9).32 Aischylos lasse Odysseus als schlau und listig auftreten, wenn auch nach –––––––––––– 29

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Dithyramben, fr. 7, Text aufgeführt zu c. 23 (p. 71) Maehler11 = Scholion zu Pindar, Pythien 1,100. Jedenfalls ist in dem Scholion die Abholung Philoktets von Lemnos aufgrund der Weissagung des Helenos mit der schicksalhaften Bestimmung verbunden, dass Troia ohne die Waffen des Herakles nicht zerstört werden könne. Daraus kann man nicht schließen, nur der Bogen sei für die Eroberung Troias notwendig (so aber Visser 1998, 8 f.). Die frühesten bildlichen Darstellungen, welche die Bogenübergabe an Philoktet zeigen, werden auf ca. 460–450 v. Chr. datiert (LIMC VII 1, 1994, 378 [C. a) 3 u. 4]). Müller 2000, 40. – Die Stoff-Fassung der Tragiker unterscheidet sich durch weitere Merkmale vom Epos: Der Ort der Verwundung ist nun die Insel Chryse am Altar der gleichnamigen Göttin, und die Schlange ist keine Wasserschlange (ͅὕδρος), sondern eine Viper (ἔχιδνα), jedenfalls bei Euripides ([Dion, or. 59,9 u. 3 = Eur. F 789 d [9], b [3]) und Sophokles (194; 267 [ἔχιδνα]; 632 [ἔχιδνα]; 270; 1327; 1328 [ὄφις]); für Aischylos sind entsprechende Details nicht überliefert. Vgl. zu den unterschiedlichen Schlangenarten im Philoktet-Stoff Masciadri 2008, 67–69. Dion (52. und 59. Rede) wird nach Müller 2000 zitiert; dessen Text liegt auch Kannichts Ausgabe des euripideischen Philoktet (TrGF V 2) zugrunde. – Die folgenden Ausführungen beschränken sich im Wesentlichen auf das durch Zeugnisse unmittelbar Gesicherte. Eine detaillierte Hypothese über den möglichen Ablauf der Handlung bietet Müller 2000, 38–64. Ob Aischylos in dieser Erzählung des Philoktet den Schlangenbiss auf Tenedos (wie in den Kyprien) oder auf Chryse (wie bei Euripides und Sophokles, vgl. Anm. 30) stattfinden ließ, wird sich nicht definitiv klären lassen. Bei der Neigung der Tragödiendichter, sich von den jeweiligen Vorgängern in Einzelheiten abzusetzen, besagen die Fas-

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Einführung

den Maßstäben der damaligen Zeit, aber weit entfernt von ‚heutiger‘ moralischer Schlechtigkeit. Obwohl Odysseus’ Äußeres nicht verfremdet sei, werde er von Philoktet nicht erkannt, sodass er mit einer Lügengeschichte, die Achaier seien in einer Notlage, Agamemnon sei tot, Odysseus der schimpflichsten Anschuldigung ausgesetzt und überhaupt sei das Heer am Ende, das Vertrauen Philoktets gewinnen könne (§§ 5; 9 f.). Vermutlich hat sich Odysseus im Zuge dieses Vorgehens den Bogen angeeignet und so den hilflosen Philoktet durch ‚nötigende Überredung‘ (vgl. § 2) dazu gebracht mitzukommen. Sehr viel mehr ist über den Philoktet des Euripides bekannt, der 431 v. Chr. zusammen mit der Medeia, dem Diktys und dem Satyrspiel Theristai aufgeführt wurde; Euripides belegte mit dieser Tetralogie den dritten Platz hinter Euphorion und Sophokles.33 Wichtige Grundlage der Information ist auch hier Dions 52. Rede, sowie seine 59., die eine Paraphrase des von Odysseus gesprochenen Prologs (§§ 2–4 = F 789 b [2–4] Kannicht) und eines längeren Dialogs Philoktets mit dem für ihn unerkennbar gemachten Odysseus (§§ 5–11 = F 789 d) enthält; zu Dions Reden kommen einige weitere Testimonien und Fragmente hinzu.34 Aus diesen Nachrichten ergibt sich folgendes Bild: Nach der Vorgeschichte der Handlung war ein Opfer am Altar der Chryse (eine) Voraussetzung für die Eroberung Troias. Philoktet zeigte den Griechen den Altar, wurde dabei von einer Schlange gebissen und wegen seiner unheilbaren Wunde von Odysseus auf Lemnos ausgesetzt (F 789 b [3]; d [9]; T iii a, 4–6). Den Kreis der handelnden Personen des Dramas hat Euripides gegenüber Aischylos erheblich erweitert. Neben Philoktet, Odysseus und dem Chor aus Lemniern (der sich dafür entschuldigt, dass er sich die ganzen Jahre nicht um Philoktet gekümmert hat, F 789 c) treten Diomedes, sowie der Hirte Aktor, der wie ein Vertrauter oft mit Philoktet zusammengekommen ist (T iv b), und eine Gesandtschaft der Troianer auf (T iv c; F 789 b [4]). Nach seinen Äußerungen im Prolog hat sich Odysseus erst nach einer Traumerscheinung Athenas, die ihn unkenntlich machen wird, entschlossen, die durch die Weissagung des Helenos notwendig gewordene schwierige Aufgabe zu übernehmen, Philoktet und den Bogen des Herakles nach Troia zu bringen. Er räsoniert darüber, was einen veranlasse, sich mehr als andere für ein siegreiches Ergebnis einzusetzen, und macht als Motivation Ehrgeiz und das Streben nach Anerkennung aus. Sich persönlich ––––––––––––

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34

sungen der späteren Tragiker nichts. Die Chryse-Szene auf dem Stamnos des Hermonax (Louvre G 413; LIMC III 1, 1986, 280 Nr. 7), ca. 460–450 v. Chr., kann auf Aischylos zurückgehen, muss aber nicht (anders Müller 2000, 40 mit Anm. 67). Aristophanes von Byzanz, Argumentum Eur. Med. (Eur. Philoktet T ii Kannicht; DID C 12, p. 7 u. 46 TrGF I2). Vgl. zur Rekonstruktion des Dramas Müller 1997 und 2000; Collard 2006; Collard / Cropp 2008 (bes. S. 368–373). Die folgenden Ausführungen beschränken sich (wie in Bezug auf Aischylos’ Philoktet-Drama) auf die unmittelbar zu sichernden Fakten, ohne auf die strittigen Details einzugehen. Vgl. insgesamt T i–v und F 787–803 Kannicht (TrGF V 2; gleiche Zählung bei Collard / Cropp 2008) sowie die umfassende Dokumentation bei Müller 2000.

Zur Geschichte des Philoktet-Stoffs

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sieht er durch seine früheren Erfolge getrieben, hinter denen er nicht zurückstehen will (F 787–789, pp. 831–833). Das Vertrauen Philoktets gewinnt er mit einer Lügengeschichte: Odysseus gibt sich als Freund des Palamedes aus. Dieser sei durch eine Intrige des Odysseus aufgrund der falschen Anschuldigung, die Griechen an die Troianer verraten zu haben, zu Tode gekommen. Die Freunde des Palamedes würden verfolgt, und so sei er ebenso ein Opfer des Odysseus wie Philoktet. Dieser lebt in erbärmlichen Verhältnissen, die der neue ‚Freund‘ mit ihm teilen darf. Philoktet leidet unter Schmerzanfällen wegen seiner Wunde, jedoch ist die Krankheit insgesamt nicht mehr so unerträglich wie zu Anfang (F 789 d [11]). Eine zentrale Szene war der Auftritt der Gesandtschaft der Troianer, die Philoktet gegen Überlassung des Bogens die Königsherrschaft in Troia anboten (T iv c [b]; F 794). Damit ist eine dramatische Konkurrenzsituation gegeben, und Philoktet hätte die Möglichkeit, sich gegen die verhassten Griechen zu entscheiden und sogar deren Eroberung Troias zu verhindern. Doch Odysseus hält dagegen (F 796), und es ist vom Ende des Dramas her klar, dass sich Philoktet trotz des Leids, das ihm angetan wurde, nicht auf das Angebot der Troianer eingelassen hat, er also keine Rache an den Griechen nimmt. Im weiteren Verlauf des Dramas hat Odysseus, vermutlich im Zusammenhang mit einem Anfall Philoktets und mit Hilfe des Diomedes,35 den Bogen an sich gebracht, sich zu erkennen gegeben und Philoktet, wie in Aischylos’ Tragödie, durch ‚nötigende Überredung‘ dazu bewogen mitzukommen (T iii b). Sophokles’ Philoktet wurde über zwei Jahrzehnte nach dem des Euripides aufgeführt (409 v. Chr.). Er errang mit seiner Tetralogie (deren übrige Stücke nicht bekannt sind) den ersten Platz.36 Von der Konzeption seiner Vorgänger, besonders der des Euripides, mit der ein etwas detaillierterer Vergleich möglich ist, unterscheidet sich die des Sophokles erheblich:37 (1) Philoktet wird in einem Gebiet ausgesetzt, in dem er keinerlei menschliche Kontakte hat. Entsprechend besteht der Chor auch nicht aus einheimischen Lemniern (wie bei Aischylos und Euripides), sondern aus Seeleuten des Achilleus-Sohnes Neoptolemos, die gerade erst angekommen sind. Philoktets Lebensumstände werden also von Sophokles als schlimmer dargestellt, als das bei den beiden anderen Tragikern der Fall war, und Philoktets Motivation, diejenigen zu has–––––––––––– 35 36 37

Vgl. Kannicht im Apparat zu T iii b, p. 828, nach Müller 1997 und 2000. Aufführung unter dem Archontat des Glaukippos (410/409 v. Chr.), wie aus der Prosahypothesis (Hypothesis II) zum Philoktet hervorgeht (DID a. 409 [p. 10]); vgl. dazu u. S. 456 f. Das Folgende beschränkt sich auf wesentliche Punkte, bei denen ein Vergleich mit Elementen möglich ist, die ausdrücklich für den Philoktet des Euripides bezeugt sind. Darauf wird auch bei der Kommentierung immer wieder eingegangen. Einen sehr detaillierten Vergleich auf der Grundlage seiner Rekonstruktion des euripideischen Philoktet unternimmt Müller 1997, 211–257. – Für das Verständnis der sophokleischen Version erscheinen Vergleiche mit der Stoffbehandlung vor Sophokles erhellender als eine Konfrontation der Handlung des Philoktet mit (z. T. nicht genau treffenden) Motiven des Volksmärchens im Sinn von Vladimir Propp, wie das Davies (2003 u. 2007) und Finglass (2006) unternommen haben.

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Einführung

sen, die ihm das angetan haben, wird so deutlich verstärkt. (2) Komplementär dazu wird die Helenos-Weissagung, wie sich aus Figurenäußerungen ergibt, zugespitzt, indem es nun heißt, Philoktet müsse f r e i w i l l i g nach Troia kommen.38 Durch die unter den Punkten (1) und (2) genannten Konstellationen ist ein kaum auflösbarer Gegensatz angelegt. (3) Während die HelenosWeissagung bei Euripides gleich zu Beginn als Handlungsvoraussetzung berichtet wird (F 789 b [2] Kannicht), wird sie bei Sophokles – nach bereits weit fortgeschrittener Handlung – zunächst nur teilweise vermittelt (610–613) und erst sehr spät (1329–1342) in allen entscheidenden Details dargelegt, wodurch der Handlungsaufbau erheblich beeinflusst wird. (4) Sophokles führt Neoptolemos, den er zusammen mit Odysseus aus Troia ankommen lässt, neu in den Philoktet-Stoff ein, während er nach der Ilias parva erst dann nach Troia geholt wurde, als die Philoktet-Handlung schon abgeschlossen war.39 Wegen der Beteiligung des Neoptolemos bedarf es zwar nicht einer Athena, die Odysseus unkenntlich macht (wie bei Euripides), aber der Initiator der Intrige, Odysseus, muss sich, weil er von Philoktet nicht erkannt werden darf, im Hintergrund halten und hat daher, indem er Neoptolemos vorschickt, das Vorgehen nicht mehr selbst in der Hand; das eigene Agieren des Neoptolemos verursacht eine Verkomplizierung der Handlungsstruktur und trägt zum Scheitern der Intrige des Odysseus bei. (5) Die Einführung des jungen Neoptolemos ermöglicht eine Diskussion mit dem ‚erfahrenen‘ Odysseus, ob es recht sei, sich des Bogens und Philoktets mit List zu bemächtigen40 – was dann nach der schließlich erfolgten vollständigen Wiedergabe der Weissagung eindeutig als ausgeschlossen erkennbar wird. (6) Ein Diebstahl des Bogens (jedenfalls im Sinne einer heimlichen Entwendung) findet nicht statt, der Bogen wird Philoktet zwar, nachdem er ihn freiwillig Neoptolemos überlassen hat, eine Zeitlang vorenthalten, dann aber wieder ausgehändigt. Die relevanten Entscheidungen kann Philoktet daraufhin im Besitz des Bogens treffen; er wird nicht mehr in einer Situation der Hilflosigkeit dazu genötigt. (7) Eine Folge davon ist, dass der Konflikt (vgl. [1] und [2]) durch den Deus ex machina Herakles, ebenfalls eine Neuerung des Sophokles, gelöst wird bzw. gelöst werden muss.41 Ob es im 5. Jh. v. Chr. weitere Tragödien gab, die Aussetzung und Rückholung Philoktets zum Gegenstand hatten, ist nicht ganz klar. Von dem Philoktet des Tragikers Philokles, eines Neffen des Aischylos (TrGF I2 12 T 3) und Zeitgenossen des Euripides (TrGF I2 24 T 1), ist nur der Titel bekannt (T 1). Sophokles’ Philoktet in Troia (F 697–703 Radt) und der Philoktet seines etwas –––––––––––– 38 39 40

41

Vgl. im Einzelnen u. S. 22–31. Vgl. Gantz 1993, 636 sowie o. S. 7 f. Vgl. Hoppin 1981, 14. – Wie Seidensticker (1994, 280) bemerkt, bewirkt die Einführung des Neoptolemos (ebenso wie die vollständige Vereinsamung Philoktets) eine Verschiebung des Schwerpunkts „von dem dramatischen und politischen Problem der Wiedergewinnung des Helden, …, auf die psychologischen Aspekte der Geschichte, … auf das komplexe … Zusammenspiel der drei so unterschiedlichen Charaktere“. Zu weiteren Einzelheiten der von Sophokles konzipierten Handlungsstruktur vgl. Komm. zu 6; 194; 219–390; 224; 614–619.

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Sophokles’ Philoktet

jüngeren Tragiker-Kollegen (TrGF I2 20 T 1) Achaios (F 37) thematisieren Ereignisse, nachdem Philoktet nach Troia gekommen ist. In der Komödie des 5. Jh.s wurde der auf Lemnos spielende Philoktet-Stoff von dem sizilischen Komödiendichter Epicharm (fr. 131–132 K.-A.) behandelt. Bei dem Philoktet des Komödiendichters Strattis (fr. 44–45 K.-A.) – vielleicht schon ins 4. Jh. zu datieren – dürfte es sich um eine Parodie der Tragödie des Sophokles handeln, sodass das Stück bereits zur Rezeptionsgeschichte gehört.

Sophokles’ Philoktet Übersicht über den Inhalt Formal lassen sich im Philoktet die in den griechischen Tragödien üblichen Abschnitte differenzieren, die traditionellerweise nach den von Aristoteles in seiner Poetik (1452 b14–27) für die sogenannten quantitativen Teile der Tragödie eingeführten Bezeichnungen benannt werden: Prologos (Szene bzw. Szenen vor dem Einzug des Chors, also nicht nur eine etwaige Prologrede), Parodos (Einzugslied des Chors), Epeisodion (Schauspielerauftritt zwischen zwei Chorliedern), Stasimon (‚Standlied‘ des Chors zwischen zwei Epeisodien), Exodos (Schlussteil nach dem letzten Lied des Chors). Außer diesen obligatorischen Teilen gibt es im Philoktet einen Kommos (1081–1217), der hier – jedenfalls von Seiten Philoktets – seiner ursprünglichen Bedeutung des klagenden Wechselgesangs zwischen Schauspieler und Chor gerecht wird. 1–134

135–218

Prologos Odysseus und Neoptolemos treten auf. Die Höhle Philoktets, wo er einst von Odysseus ausgesetzt wurde, wird identifiziert. Neoptolemos soll nach Odysseus’ Plan mit einer Lügengeschichte Philoktet überlisten und so dessen Bogen, den das Heer für die Eroberung Troias unbedingt benötigt, in seinen Besitz bringen (und damit auch Philoktets Mitkommen bewirken). Obwohl ein solches Vorgehen seinem Wesen widerspricht, lässt Neoptolemos sich überzeugen, dass Philoktet nur so zu überwältigen ist, und erklärt sich schließlich dazu bereit, auch weil er sonst einen Erfolg gegen die Troianer nicht erringen kann. Odysseus geht ab. Parodos Der Chor, Seeleute von Neoptolemos’ Schiff, wird auf seine Nachfrage hin von seinem Herrn in seine Rolle zur Unterstützung der Intrige eingewiesen und über die Lebensumstände Philoktets unterrichtet.

14 219–675

676–729

730–826

827–864

865–1080

1081–1217

Einführung

Erstes Epeisodion Philoktet kommt auf die Bühne. Neoptolemos erzählt seine Lügen-, Philoktet seine Leidensgeschichte. Hass auf die AtreusSöhne und Odysseus dient als verbindendes Element. Philoktet fasst Vertrauen und glaubt, Neoptolemos werde mit ihm nach Hause aufbrechen (219–538). Da erscheint ein (von Odysseus gesandter) angeblich zufällig gelandeter ‚Kaufmann‘ und drängt zur Eile mit der Finte, Odysseus und Diomedes seien auf dem Weg, Philoktet nach Troia zu holen; er erzählt von einer Weissagung des troianischen Sehers Helenos, wonach man Philoktet überzeugen müsse, nach Troia zu gehen (539–627). Nach dem Abtreten des ‚Kaufmanns‘ wird der Aufbruch forciert, da Philoktet auf keinen Fall nach Troia fahren will; er stellt Neoptolemos in Aussicht, dass er den Bogen in die Hand nehmen darf; sie gehen in die Höhle (628–675). Stasimon Der Chor schildert die leidvolle Ausnahmesituation, der Philoktet ausgesetzt war; hörbar für Philoktet gibt er vor (im Sinne der Intrige), dass Philoktet nach Hause gebracht werde. Zweites Epeisodion Als der Gang zum Schiff ansteht, erleidet Philoktet einen seiner akuten Schmerzanfälle, der ihn bewegungsunfähig macht. Neoptolemos verspricht, bei ihm zu bleiben, und erhält den Bogen zur Verwahrung; Philoktet fällt in Schlaf. Chorlied mit Rezitativeinlage des Neoptolemos Der Chor will Neoptolemos dazu bewegen, die Gelegenheit zum Diebstahl des Bogens zu nutzen. Neoptolemos widersteht: Der Bogen allein habe keinen Wert, Philoktet gebühre der Erfolg vor Troia. Drittes Epeisodion Philoktet kommt wieder zu Bewusstsein. Neoptolemos eröffnet ihm unter Seelenqualen, dass er in Wirklichkeit vorhabe, ihn nach Troia zu bringen. Eine von maßloser Enttäuschung geprägte Klagerede Philoktets führt bei Neoptolemos einen Sinneswandel herbei; durch das plötzliche Dazwischentreten des Odysseus kommt es aber nicht zur Rückgabe des Bogens. Philoktet wird nun endgültig klar, dass er Opfer einer Intrige ist, aber weder physischer noch psychischer Druck bewegt ihn nachzugeben. Odysseus und auch Neoptolemos gehen mit dem Bogen zum Landeplatz. Der Chor bleibt noch bei Philoktet. Kommos Philoktet beklagt seine elende Zukunft auf Lemnos ohne seinen Bogen, der Chor hält ihn für uneinsichtig, weist Vorwürfe zurück und versucht, ihn für eine ‚vernünftige‘ Lösung zu gewinnen, aber beide reden aneinander vorbei. Erst gegen Schluss des

Sophokles’ Philoktet

1218–1471

15

Kommos kommt es zu einem wirklichen Dialog, in dem Philoktet bei seiner Haltung bleibt und lieber sterben will als nach Troia zu gehen. Exodos Plötzlich (die vv. 1218–1221 sind vermutlich unecht) kommt Neoptolemos, gefolgt von Odysseus, zurück. Neoptolemos bereut sein Verhalten und will gegen den Widerstand des Odysseus den Bogen zurückgeben. Bevor es zur handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen den beiden kommt, zieht sich Odysseus zurück (1222–1260). Neoptolemos versucht vergeblich, Philoktet für die Fahrt nach Troia zu gewinnen, gibt ihm aber dann trotzdem den Bogen zurück, obwohl Odysseus – plötzlich wieder aufgetaucht – es verhindern will; Odysseus flieht vor dem auf ihn zielenden Philoktet (1261–1307). Durch die Übergabe des Bogens ist das Vertrauen zwischen Philoktet und Neoptolemos wiederhergestellt, aber Neoptolemos kann, obwohl er sich auf den in der Helenos-Weissagung zu erkennenden Götterwillen beruft, Philoktet nicht zur Fahrt nach Troia bewegen und stimmt schließlich zu, ihn nach Hause zu bringen (1308–1408). Als sie aufbrechen wollen, erscheint Herakles als Deus ex machina, hält sie zurück und verkündet als Willen des Zeus Philoktets Heilung und seine ruhmvolle Zukunft in Troia. Philoktet entschließt sich daraufhin, mit Neoptolemos nach Troia zu fahren; er nimmt Abschied von Lemnos (1409–1471).

Inhaltliche und formale Strukturierung Je nachdem, welche Aspekte man für die Deutung des Stücks als wesentlich ansieht, kann man unterschiedliche inhaltliche Teile, strukturelle Gliederungseinschnitte und korrespondierende bzw. kontrastierende Elemente unterscheiden.42 Unter dem Aspekt Nötigung und Freiheit lässt sich das Drama in zwei ungleiche Teile gliedern: Im umfänglicheren ersten Teil wird Neoptolemos für die Intrige gewonnen, und er versucht, in Durchführung des Intrigenplans Philoktet zu überlisten; auch noch nach Eröffnung der Wahrheit besteht für Philoktet ein Zustand der Nötigung, wegen der Vorenthaltung des Bogens und wegen der Androhung von Gewalt (1–1217). Dagegen geht es im zweiten Teil, nach der Rückgabe des Bogens, darum, Philoktet in Übereinstimmung mit der Weissagung des Helenos zu überzeugen; so erhält er die Möglichkeit, sich frei zu entscheiden ({1218–1221}1222–1471).43 –––––––––––– 42 43

Vgl. auch die Aufbauanalyse Schmidts (1973, 249–253). Andere treten für eine Dreiteilung ein: „Macht des verstellten Wortes – Ausbruch der Wahrheit – Ohnmacht des Wortes“ (Schmidt 1973, 250 f.; Flashar 1999, 99 f.) oder „deceit – violence – persuasion“ (Garvie 1972).

16

Einführung

Unter dem Gesichtspunkt der Verbindung von Intrige und Neoptolemos’ innerer Entwicklung ist der Krankheitsanfall Philoktets etwa in der Mitte des Dramas (732–820) zentral:44 Vor der akuten Phase des Anfalls ist Neoptolemos in den Besitz des Bogens gekommen (763–781), ist der Erfolg der Intrige in greifbarer Nähe. Danach berücksichtigt Neoptolemos erstmals auch die Interessen Philoktets (841), und er kann die Wahrheit nicht mehr verschweigen (895 ff.). Strukturell rhythmisiert ist das Drama durch das Motiv des Aufbruchs: Bevor das Stück nach Erscheinen des Deus ex machina Herakles mit dem tatsächlichen Aufbruch von Philoktet und Neoptolemos von Lemnos nach Troia endet, kommt es viermal zu dem Entschluss zur Abfahrt von Lemnos (526 [Neoptolemos drängt]; 645 [Neoptolemos gibt Philoktets Wunsch nach]; 877 ff. [Philoktets Wunsch]; 1408 f. [Neoptolemos fügt sich Philoktets Aufforderung]), der viermal nicht realisiert wird: 539 ff., als der ‚Kaufmann‘ erscheint; 730 ff. durch den Krankheitsanfall Philoktets; 895 ff., als Neoptolemos gesteht, dass die Fahrt nicht in die Heimat Philoktets führen soll, wie dieser die ganze Zeit glaubte, sondern nach Troia; 1409 ff., als nun die Heimfahrt Wirklichkeit werden soll und Herakles diese verhindert. Sodann lässt sich eine Reihe formal-inhaltlicher Entsprechungen beobachten: Philoktet geht während der Handlung zweimal in seine Höhle hinein, das erste Mal in der Erwartung, nach Hause fahren zu können (nach 675), dann in der Verzweiflung, auf Lemnos sein Leben beenden zu müssen, nachdem er sich auch durch die Vorenthaltung des Bogens nicht hat nötigen lassen, nach Troia mitzukommen (nach 1217). Neoptolemos hat zwei große Begegnungen mit Philoktet, das eine Mal, als er ihn betrügt und auch nach dem Eingeständnis der Wahrheit nicht ablässt, ihn zu nötigen, indem er die Rückgabe des Bogens verweigert (219 ff.), das andere Mal, als er kommt, um den Bogen zurückzugeben und alles wiedergutzumachen (1261 ff.). Auch die erste und die letzte Szene zwischen Odysseus und Neoptolemos sind gegenläufig: Ist Neoptolemos zuerst geradezu Befehlsempfänger und lässt sich wider seine Natur (88) zur Intrige überreden (1 ff.), setzt er sich am Ende, nachdem er zu sich zurückgefunden hat (vgl. 1310 f.), mit der Bogenrückgabe gegen Odysseus durch (1222 ff.). Odysseus verlässt die Bühne zweimal erfolgreich (wie er glaubt): zunächst (nach 134), als er Neoptolemos für die Intrige gewonnen hat – aber Neoptolemos wird schließlich die Wahrheit gestehen –, dann (nach 1080), als er mit Neoptolemos und dem Bogen weggeht – aber Neoptolemos wird den Bogen zurückbringen. Zweimal muss Odysseus aber auch geschlagen abziehen, als er Neoptolemos nicht davon abhalten kann, mit dem Bogen zu Philoktet zu gehen (1222 ff.), und als es ihm nicht gelingt zu verhindern, dass Neoptolemos den Bogen tatsächlich übergibt, und er sich nur durch die Flucht retten kann (1291 ff.). Die letztgenannte Szene ‚spiegelt‘ zugleich das frühere Dazwischentreten des Odysseus, als er eine Bogenübergabe gerade noch ver–––––––––––– 44

Vgl. Schein, S. 25 f.

Sophokles’ Philoktet

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hindern kann.45 Ein inhaltlicher Kontrast besteht auch zwischen den beiden großen gesungenen Partien. Während im Stasimon (676 ff.) der Chor überwiegend vom bisherigen Leid Philoktets singt, beklagt im Kommos (1081 ff.) Philoktet sein künftiges Elend und sein Ende, das ihm nach Verlust des Bogens auf Lemnos bevorsteht.

Philoktet – eine Tragödie? Das Drama wurde an den Großen Dionysien des Jahres 409 v. Chr. als eine der drei Tragödien der Tetralogie aufgeführt und ist also in diesem Kontext als Tragödie betrachtet worden. Damit ist aber nichts über den ‚tragischen‘ Gehalt ausgesagt, weil eine solche Einschätzung nicht von dem genannten, unbestreitbaren empirischen Befund abhängt, sondern von literaturtheoretischen Setzungen, was man als ‚tragisch‘ ansehen will. Je nachdem, wie ‚Tragik‘ bestimmt oder was jedenfalls als Elemente von Tragik verstanden wird, kann man zu unterschiedlichen Einstufungen kommen.46 Das soll im Folgenden gezeigt werden, indem der Philoktet zu exemplarisch ausgewählten Tragödientheorien in Beziehung gesetzt wird. Hätte sich Aristoteles zu Sophokles’ Philoktet geäußert, hätte er ihn nach den Maximen seiner Poetik nicht unter die Tragödien eingeordnet, deren Verlaufsform er empfiehlt; denn danach sollte nicht ein Umschlag vom Unglück ins Glück erfolgen (Poetik 1453 a 14 f.), und eine Lösung durch einen Deus ex machina verurteilt er (1454 a 37–b 2). Allerdings hätte er auch in seiner Theorie wichtige Elemente von Sophokles’ Philoktet als Bestandteile einer Tragödie anerkennen müssen. Ein Teil der Handlung in einer Tragödie ist für Aristoteles nämlich das Leid (pathos, 1452 b 10–13), und Aristoteles kennt auch eine Form der Tragödie, die er pathētikē nennt (1455 b 34). Das Leid wird im Philoktet ausgiebig geschildert und vor Augen geführt, und die Qualen, die Philoktet auf Lemnos erdulden muss, sind überdies unverdient und erregen daher Mitleid (1453 a 4 f.). Insoweit wäre auch nach Aristoteles die Aufgabe der Tragödie (1452 b 29 f.) erfüllt. Eine weitere Form der Tragödie bezeichnet Aristoteles als ēthikē (1456 a 1); durch die Darstellung der Charaktere zeichnet sich der Philoktet nicht weniger aus als durch die des Leids.47

–––––––––––– 45

46 47

Vgl. Taplin (1978, 131–134) zu „Mirror scenes“ im Philoktet. Eine weitere Mirror scene sieht er darin, wie jeweils der Aufbruch 893 ff. und 1402 ff. gestaltet ist. – Man könnte auch die Konzeption der Lügengeschichte des Neoptolemos als korrespondierend zu der Situation des Philoktet verstehen, etwa dass beide aus Hass gegenüber den Atreus-Söhnen und Odysseus (Neoptolemos vorgeblich und Philoktet aus Verbitterung) nicht gegen Troia kämpfen wollen. Vgl. Hamilton 1975, 132 f. Vgl. Manuwald / Manuwald 2010–2011. Vgl. Hawkins 1999, 240.

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Einführung

Gerade die Darstellung des Leids hat Georg Wilhelm Friedrich Hegel am Philoktet, mit dem er sich allerdings nicht näher befasst hat, nicht geschätzt.48 Doch hätte auch er jedenfalls einen Teil der Handlung mit seiner Tragödientheorie erfassen können: Neoptolemos, der entweder der Loyalität zum griechischen Heer oder der Freundschaftspflicht gegenüber Philoktet nicht Genüge getan hätte, wäre Herakles nicht erschienen, spiegelt im Sinne Hegels das Dilemma dessen wider, der zwischen zwei berechtigten Ansprüchen steht und bei Erfüllung des einen notwendig gegen den anderen verstößt.49 Das gilt insofern auch für Philoktet, als er nur entweder Neoptolemos nachgeben oder seinen bisherigen Maximen treu bleiben kann. Gotthold Ephraim Lessing hat sich in seiner Schrift Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) – in Auseinandersetzung mit Johann Joachim Winckelmann – zu den Schmerzensäußerungen Philoktets im Drama des Sophokles geäußert, das er als „eines von den Meisterstücken der Bühne“ bezeichnet. Dass der Held sein Leid herausschreit, ohne seine moralische Größe zu verlieren, entspricht nach seiner Ansicht der „einzige(n) Absicht der tragischen Bühne“, Mitleid zu erregen.50 Friedrich Schiller dagegen scheint sich nicht für den Philoktet interessiert zu haben. Aber auch er hätte ‚Tragisches‘ in diesem Drama entdecken können: Wenn Philoktet lieber in den Tod gehen als gegen seine Überzeugung der Nötigung des Odysseus folgen will, so ist er bereit, in freier Entscheidung eine ‚Naturzweckmäßigkeit‘ einer ‚moralischen Zweckmäßigkeit‘ zu opfern, und kann daher das Bühnengeschehen, um mit Schiller zu sprechen, ein ‚Vergnügen an einem tragischen Gegenstand‘ hervorrufen.51 Als Fazit ist festzuhalten: Wenn auch die Handlung des Philoktet letztlich zu einem ‚guten Ende‘ führt, so enthält sie doch spezifische Merkmale, die nach verschiedenen Tragödien-Konzeptionen als zu einer Tragödie gehörig angesehen werden können.

Szenerie und Fragen der Inszenierung Regieanweisungen sind für die antiken Dramen nicht überliefert. Aus verstreuten Angaben im Text des Philoktet lässt sich aber für dieses Stück ein Gesamtbild des ‚realen‘ Schauplatzes erschließen: Vorzustellen ist ein men–––––––––––– 48

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„Die Krankheit des Philoktet z. B., die stinkenden Geschwüre an seinem Fuße, sein Ächzen und Schreien würden wir ebensowenig sehen und hören mögen, als uns die Pfeile des Herkules, um welche es sich vornehmlich handelt, ein Interesse einflößen könnten.“ Ästhetik, Teil III, Bd. II, S. 537. Vgl. Ästhetik, Teil III, Bd. II, S. 549. Laokoon. Erster Teil, Kap. IV (ed. Barner 1990, S. 37) und IV.3 (ebd., S. 44 f.). Zu Lessings Auseinandersetzung mit dem Philoktet vgl. Korzeniewski 2003, 506–539; zu den unterschiedlichen Beurteilungen der Schmerzensäußerungen Philoktets in Antike und Neuzeit (auch bei Lessing) vgl. Männlein-Robert 2014. Vgl. Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (Nationalausgabe, Bd. 20, S. 140).

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schenleerer Teil der Küste der Insel Lemnos (1 f.; 144), eine steile Felslandschaft (1001 f.) in der Nähe vom ‚Berg des Hermes‘ (1458 f.). Diese Erhebung auf Lemnos wird nur noch im Agamemnon des Aischylos genannt (283 f.), wo sie eine Station des Feuersignals ist, mit dessen Hilfe Agamemnon seinen Sieg nach Argos meldet. Nach dem Text des Agamemnon geht das Signal vom IdaGebirge (bei Troia) über den ‚Fels des Hermes‘ und den Berg Athos auf der Chalkidike (281–285). Sofern hier eine ‚realistische‘ Vorstellung zugrunde liegt, käme als Signalpunkt auf Lemnos am ehesten eine Erhebung möglichst weit im Nordosten der Insel in Betracht, d. h. das Gebiet um das heutige Kap Plaka.52 In der im Philoktet angenommenen Felslandschaft befindet sich – etwas erhöht (29) – eine Höhle mit zwei Eingängen, die in unterschiedlichen Himmelsrichtungen liegen, da es bei Kälte zwei besonnte ‚Sitzplätze‘ gebe (d. h. je nach Sonnenstand), im Sommer ein kühler Wind hindurchweht (16– 19). Die Höhle ist nicht sehr tief; denn auch im Inneren ist Philoktet der Nässe ausgesetzt, die der Wind aus südlichen Richtungen (notos) hereinbläst (1456 f.). Das alles lässt sich mit einer Lokalisierung an der Südküste des Kaps Plaka vereinbaren. Ob man aus diesen Angaben schließen darf, dass Sophokles genau an diese Lokalisierung gedacht hat, muss offenbleiben. Wir wissen nicht, wie detailliert seine topographischen Kenntnisse waren. Da jedoch Lemnos politisch mit Athen verbunden war (seit den Zeiten des Miltiades, vgl. Herodot 6,137–140), waren die Verhältnisse auf Lemnos in Athen bekannt,53 sodass Sophokles Widersprüche zu allgemein gängigen Vorstellungen vermieden haben dürfte. Allerdings war Sophokles offenkundig nicht darum bemüht, dass der Zuschauer sogleich eine genaue Vorstellung von der Lage der Höhle auf der Insel gewinnt. Denn dafür wichtige Details erfährt er erst am Ende des Dramas. Sophokles setzt für das Verständnis des Handlungsablaufs nicht mehr voraus, als dass Philoktet in einer Höhle mit doppeltem Eingang irgendwo an der einsamen Küste von Lemnos lebt. Eine andere Frage ist, was – und ggf. in welcher Konkretisierung – dem Zuschauer im Theater von den im Text genannten Gegebenheiten optisch vermittelt wurde bzw. vermittelt werden konnte und was seiner Vorstellung überlassen blieb. Prinzipiell sind nur mehr oder weniger plausible Hypothesen möglich. Natürlich war eine Küstensituation bühnentechnisch nicht realisierbar. Aber das im Dionysos-Theater in Athen jeweils für die Aufführungen temporär errichtete Bühnengebäude (so die für die zweite Hälfte des 5. Jh.s mit einiger Wahrscheinlichkeit anzunehmenden Verhältnisse)54 hat man für die Aufführung des Philoktet vielleicht mit irgendwelchen Darstellungen versehen, die eine Felslandschaft suggerieren.55 Der Eingang ins Bühnenhaus konn––––––––––––

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Vgl. Jebb zu v. 1459. Vgl. Taplin 1987, 73. Vgl. Gogos 2008, 56–62, der vermutet: „Die Holzbühne des Dionysostheaters in der zweiten Hälfte des 5. Jhs. war sicherlich keine einfache Holzbaracke, sondern ein architektonisches Ensemble, …“ (S. 62). Aber es bleibt ungewiss, ob man das für das 5. Jh. annehmen kann. Vgl. Brown 1984, 8–14; Blume 1991, 60 ff.

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te als der eine Zugang zur Felsenhöhle Philoktets fungieren; der andere ist dann für die Rückseite des Bühnengebäudes vorzustellen, wie in der Forschung in der Regel angenommen wird. Jedenfalls eröffnet diese teils sichtbare, teils vorzustellende Positionierung der Höhleneingänge die Möglichkeit, dass Philoktet unvermittelt (sc. aus dem Bühnenhaus / der Höhle) auftritt, ohne dass man ihn zuvor sich nähern sah, wie es im ersten Epeisodion sehr wahrscheinlich der Fall ist (219). Jedoch gibt es auch die Auffassung, dass beide Eingänge auf der Frontseite des Bühnenhauses für die Zuschauer sichtbar gewesen seien, wofür neben anderen C. W. Müller plädiert.56 Da Müller meint, dass Philoktet nicht aus der Höhle auftritt, hat der zweite Eingang nach seiner Auffassung keine szenische Funktion, sondern wird als Reminiszenz an die Höhle im Philoktet des Euripides (vgl. F **790 a Kannicht) gedeutet, für die Müller einen rückwärtigen Eingang postuliert.57 Warum sollte aber Sophokles mit einem dramaturgisch funktionslosen zweiten sichtbaren Eingang an eine Höhle mit einem vorderseitigen und einem rückwärtigen Eingang erinnern wollen? Vielleicht hat Sophokles die Höhle mit doppeltem Eingang tatsächlich von Euripides übernommen (wie er sich auch sonst mit dessen Philoktet auseinandersetzt), aber dann zu einer kontrastierenden Verwendung: Der rückwärtige Eingang ermöglicht bei ihm nicht einen heimlichen Bogendiebstahl (den es bei Euripides, aber nicht bei ihm gibt), sondern (ebenfalls anders als bei Euripides) ein plötzliches Sichtbarwerden Philoktets. Müllers Einwand ist zwar richtig, dass die beiden winterlichen Sonnensitzplätze (16–19) nicht realistisch durch strikt entgegengesetzte Positionen, wie sie sich bei einem ‚Tunnel‘ durch das Bühnenhaus ergeben, repräsentiert werden können,58 aber genauso wenig realistisch ist es, sie in einer Linie in der Front des Bühnenhauses anzunehmen (d. h. in derselben Himmelsrichtung, sodass beide gleichermaßen besonnt würden und eine Unterscheidung von zwei Sitzplätzen sinnlos wäre).59 Außerdem kann Neoptolemos bei der Untersuchung der Höhle sofort erkennen, dass sie leer ist (31), er muss also beim Hineinblicken die Höhle bis zum anderen Eingang haben einsehen können, was für die Zuschauer irritierend wäre, wenn sie zwei Eingänge vor sich hätten und daher davon ausgehen müssten, dass die Höhle

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Einen Überblick über die Positionen bietet Schein (S. 13 Anm. 40); Müller (1997, 97– 110) ist dort nicht aufgeführt. Müller 1997, 100–103; 106 f. Müller 1997, 101. Davidson (1990, 308) denkt an eine Trennwand („screen“), aufgebaut parallel und mit gewissem Abstand zur Bühnenhausfront, sodass der Raum hinter dem „screen“ die Höhle bildete, mit Eingängen rechts und links. Dann hätte man zwar zwei Eingänge auf der dem Zuschauerraum zugewandten Seite in genau entgegengesetzter Richtung, aber es würde – von der aufwändigen und bizarren Konstruktion abgesehen – so die Spielfläche auf der Bühne stark eingeengt.

Sophokles’ Philoktet

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irgendwie gebogen wäre.60 Alles in allem liegt die Annahme nur eines für die Zuschauer sichtbaren Eingangs näher. Damit der Eingang zum Bühnenhaus als Höhleneingang dienen konnte, hat man möglicherweise, um den Eindruck eines gewöhnlichen Hauses zu vermeiden, die Flügel der sich üblicherweise dort befindlichen Tür nach innen geklappt oder sie für die Aufführung des Stückes entfernt. Außerdem dürfte der Zugang etwas höher gelegt worden sein als das Niveau der Bühne, die ihrerseits etwas erhöht über dem Niveau des Tanzplatzes des Chors, der Orchestra, anzunehmen ist. Denn die Höhle liegt ‚oben‘ (28 f.), und links unterhalb des Höhleneingangs soll man sich eine Quelle denken (20 f.), und diese wird man sich kaum in der Orchestra vorstellen sollen. Ein Höherlegen des Eingangs verkleinert zugleich die Türöffnung, ein möglicherweise nicht unerwünschter Nebeneffekt für einen Höhleneingang. Vielleicht wurde das ohnehin zur Theaterausstattung dieser Zeit gehörige Ekkyklema61 als ‚Baumaterial‘ für ein erhöhtes Plateau vor der Höhle genutzt oder mitgenutzt, sodass auf diese Weise ein Niveauunterschied zur Bühne und eine Verkleinerung des Eingangs mit einfachen Mitteln und schnell herzustellen war.62 Allerdings ist nicht völlig auszuschließen, dass bei der Suche nach der Höhle (vgl. ‚oberhalb oder unterhalb‘, 28) nur an das Vorstellungsvermögen der Zuschauer appelliert wurde. Sie mussten sich ohnehin auf die Theaterkonvention einlassen, dass etwas gesucht wird, was für sie vermutlich offen sichtbar war. Es stellt sich dann aber die Frage, ab wann eine solche Suche möglicherweise eher komisch wirkt, wenn nicht wenigstens die Niveauunterschiede angedeutet wurden. Auch passt es zu der im Verlauf der weiteren Handlung ausgesprochenen Drohung Philoktets, sich vom Felsen zu stürzen (1000–1002), besser, wenn er etwas erhöht steht. Für den Auftritt des Herakles als Deus ex machina (1409 ff.) hat man sich möglicherweise eines Bühnenkrans, der mēchanē, bedient, mit dem Herakles auf das Dach des Bühnenhauses geschwenkt werden konnte.63 Weitere Bühnenausstattungen sind für die Aufführung nicht erforderlich. In der Szene, in der Odysseus plötzlich wieder erscheint (974 b; 1293), braucht er dafür keinen speziellen Sichtschutz, sondern er kann sich, für das Publikum unsichtbar, in

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Neoptolemos (und ggf. auch der Chor; vgl. 159 f.) kann den zweiten Eingang ohne Weiteres am Lichtschein erkennen, der vom rückwärtigen Eingang einfällt, wenn man eine realitätsbezogene Erklärung möchte. Außerdem ist Odysseus’ Hinweis auf die Quelle links unten (20 f.) eindeutiger, wenn nur ein Eingang sichtbar ist. – Für lediglich einen einzigen sichtbaren Eingang spricht auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Bühnenhauskonstruktion im 5. Jh. v. Chr. nur eine zentrale Tür hatte (Taplin 1977, 438– 440). Das Ekkyklema ist eine Plattform, deren eigentlicher Zweck darin besteht, bei Bedarf einen Innenraum sichtbar auf die Bühne (vor das Bühnenhaus) rollen zu können. Vgl. auch Taplin 1977, 442 f. Vgl. auch Dale 1969, 127 f. Vgl. im Einzelnen Komm. zu 1409–1417.

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einem der seitlichen Bühneneingänge (Parodoi) aufhalten64 und von dort sich schnell auf die Bühne zu bewegen.65 Da der Chor Philoktet vor dessen Erscheinen nur hört (201–218), aber offenbar nicht sieht, ergibt sich, dass Philoktet optisch unvermittelt auftritt (219). Die Hypothese, dass ein solcher Auftritt am einfachsten und am theaterwirksamsten zu arrangieren ist, wenn Philoktet plötzlich aus der Höhle kommt, zwingt allerdings nicht zu der Konsequenz anzunehmen, dass man außer auf dem Weg, den Odysseus und Neoptolemos genommen haben, nur durch die Höhle zu dem Platz davor kommen kann. Denn der ‚Späher‘, der im Prologos von Neoptolemos auf Odysseus’ Anweisung hin weggeschickt wird, damit er vor dem etwa zurückkommenden Philoktet warnen kann (45–48), wird kaum durch die Höhle gegangen sein, womit das Risiko verbunden gewesen wäre, Philoktet zu begegnen. Wahrscheinlicher ist, dass er durch den seitlichen Bühneneingang, durch den Odysseus und Neoptolemos auf ihrem Weg vom Schiffslandeplatz nicht gekommen sind,66 abgegangen ist. Man soll sich wohl vorstellen, dass der Späher einen Punkt erreicht, von dem aus er die möglichen Zugänge zur Höhle übersehen kann, aber noch in Sichtweite von Odysseus und Neoptolemos. Odysseus kann ihn jedenfalls offenbar ohne größeren Aufwand (wohl durch ein bloßes Zeichen) zurückbeordern (125).67 Weitere Details der Inszenierung hängen unmittelbar mit der Interpretation der jeweiligen Textstellen zusammen und werden daher an Ort und Stelle besprochen. Vgl. bes. Komm. zu 485 b–486 a; 718–729; 974 b; 1222–1260; 1293–1298.

Zur Weissagung des Helenos Der Philoktet ist in erster Linie – sieht man vom Erscheinen des Deus ex machina ab – als eine Interaktion zwischen Menschen gestaltet, wobei die Titelfigur direkt oder indirekt im Zentrum steht.68 Jedoch entwickelt sich das –––––––––––– 64 65

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Vgl. Webster zu v. 1293. Müller, der ein aufwändiges Bühnenbild mit seitlich aufgebauten „Felswänden oder Erhebungen“ annimmt, um das überraschende Erscheinen Philoktets (das für ihn nicht aus der Höhle erfolgt) zu erklären, hält eine solche Kulisse auch für das Auftreten des Odysseus für notwendig: „Auf der ‚Seeseite‘ mußte sich eine Felsenkulisse befinden, die Odysseus bei seinem ersten Auftritt im Prolog den Blick auf die Höhle nimmt (V. 28) und hinter der er später [sc. 1295 f.] Philoktets Sicht entzogen ist, so daß dieser zwar seine Stimme hört, ihn aber nicht sieht“ (1997, 100). – Zu v. 28 vgl. Komm. z. St. Wie man festgestellt hat (Schein, S. 14), wird (wie man hinzufügen muss: sonst) nur der Eingang benutzt, durch den die beiden gekommen sind. Das ist nicht verwunderlich, denn alle handelnden Personen (außer Philoktet) kommen von oder gehen zu dem in dieser Richtung zu denkenden Schiffslandeplatz. Vgl. auch Webster zu v. 48. „What gives to the Philoctetes a unique place in ancient literature, and may be said to constitute a new departure in dramatic art, is the subtle climax of emotions produced by the interaction of these two persons [sc. Philoktet und Neoptolemos] upon each other“ (Campbell 1881, 358; vgl. Kirkwood 1958, 143 f.).

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Geschehen insgesamt, wie es Sophokles darstellt, nicht ohne göttliches Einwirken, wenn dieses auch im Drama nur an verstreuten Stellen artikuliert und für die Zuschauer erst allmählich erkennbar wird.69 Da nach dem Ratschluss des Zeus Troia nach längerer Frist zu einem bestimmten Zeitpunkt fallen soll, und zwar unter entscheidender Beteiligung Philoktets mit dem Bogen des Herakles (191–200; 841; 1329–1342; 1415; 1423–1430), ergibt sich, dass er bis dahin von Troia ferngehalten werden muss, wofür der Schlangenbiss auf der Insel Chryse der Ausgangspunkt war, den Philoktet – nach den im Drama gegebenen Informationen – ohne eigenes Verschulden erlitt (191–200; 681–686; 1326–1328).70 Durch die Aussetzung Philoktets auf Lemnos tragen die Menschen unwissentlich zur Erfüllung des göttlichen Plans bei.71 Ihr Bemühen, Philoktet nach über neun Jahren (312) von Lemnos nach Troia zu bringen, erfolgt wiederum durch göttlichen Anstoß aufgrund der Weissagung des troianischen Sehers Helenos (610–613; 1329–1342), wird aber erst durch unmittelbares göttliches Eingreifen des Deus ex machina erfolgreich (1409 ff.). Zum Ratschluss des Zeus gehört es auch, das Leid, das Philoktet nach gött-

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Dieser Sachverhalt darf aber nicht dazu führen, die theologischen Aspekte gewissermaßen zu eliminieren (so Kitto 1956, 101–106, in Auseinandersetzung mit Bowra 1944); vgl. auch Segal 1995, der sich besonders mit den Einstellungen der Figuren des Dramas zu den Göttern befasst. Es gibt aus verschiedenen Zeiten zahlreiche Versionen darüber, wie es zu Philoktets Verwundung kam (vgl. Gantz 1993, 589 f.). Für das Verständnis des Dramas ist jedoch allein maßgeblich, was Sophokles über das Vorkommnis mitteilt. Danach hat sich Philoktet „der Wächterin von Chryse genähert …, die den offenen heiligen Bezirk bewacht, die verborgen ihr Haus bewahrende Schlange“ (1327 f.). Da dies als göttliche Schickung (1326) bezeichnet wird und die Schlange offenbar nicht zu sehen war, lässt sich aus dem Text kein Vorwurf gegen Philoktet erkennen. Es war nicht unzulässig, einen heiligen Bezirk (Temenos) zu betreten, wenn man nicht gegen bestimmte Tabus verstieß (Burkert 2011, 138 f.). Insofern ist es auch problematisch, von einer Grenzüberschreitung zu sprechen (wie Masciadri 2008, 95 f.) oder gar von einer Schuld, die Lefèvre (2001, 195–197) Philoktet auf Lemnos abbüßen sieht. Diese Schuld ergibt sich für ihn letztlich daraus, dass Philoktet die Liebe der Nymphe Chryse nicht erwidert habe, wie der Scholiast zu v. 194 behauptet (vgl. auch das Scholion zu Lykophron, Alexandra 911,16–18 Scheer). Im Philoktet ist davon keine Rede und es ist noch nicht einmal auszumachen, ob Sophokles diese Version überhaupt kennen konnte. Das entlastet sie auf menschlicher Ebene allerdings nicht von der Verantwortung für das, was sie tun. Selbst wenn Odysseus’ religiöse Begründung für die Aussetzung (3– 11) als ‚wahr‘ angenommen werden soll (und nicht als Beschönigung gegenüber Neoptolemos; vgl. auch Schein 2006 b, 28 f.), hätte man Philoktet nicht im Schlaf (271–275) in einer menschenleeren Gegend (2) zurücklassen müssen – mit dem Risiko, dass er zu Tode kommt –, um sich dann über neun Jahre lang nicht mehr um ihn zu kümmern. Vgl. Machin (1981, 87) sowie Blundell (1989, 86): „Odysseus and the Atreidae are therefore guilty of treating a friend as an enemy and causing his justified hostility towards them.“ Stephens (1995) dagegen möchte Philoktets Aussetzung als notwendige Maßnahme der Griechen verständlich machen, weil Philoktet nicht mehr tolerabel gewesen sei.

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lichem Plan erfahren hat, durch Heilung, Anerkennung, Beute und Ruhm zu kompensieren (1421–1430).72 Ein besonderes Interpretationsproblem bildet im Zusammenhang der Bedeutung der gottgegebenen Voraussetzungen der Handlung die Art, wie Sophokles im Philoktet die Weissagung des Helenos darin einbezieht. Nach der epischen Tradition gehörte die Weissagung zu den stofflichen Voraussetzungen der Philoktet-Geschichte, wonach ohne Philoktet und seinen Bogen Troia nicht erobert werden kann.73 Im Philoktet des Euripides wurde diese Weissagung bereits im Prologos berichtet (F 789 b [2] Kannicht). Sie ist auch bei Sophokles der Ausgangspunkt der Handlung in der Vorgeschichte (wegen der Weissagung sind Odysseus und Neoptolemos nach Lemnos gekommen), wird jedoch bei ihm erst etwa in der Mitte des Stücks von dem angeblichen Kaufmann teilweise (604–613) und noch viel später von Neoptolemos ausführlicher dargelegt (1329–1342). Bei Sophokles erfährt der Zuschauer (durch Odysseus) zunächst nur, dass ohne Philoktets Bogen Troia nicht erobert werden kann (68 f.), aber nicht, worauf diese Feststellung beruht. Sie wird also anfangs nicht mit der Helenos-Weissagung in Beziehung gesetzt – ein nicht vorinformierter Zuschauer denkt vielleicht überhaupt nicht an eine Weissagung –, entspricht aber inhaltlich der Form der Helenos-Weissagung, wie sie aus der Überlieferung zur Ilias parva und zu Euripides’ Philoktet kenntlich ist.74 Insofern stimmt die Ausgangssituation der Handlung im Philoktet des –––––––––––– 72

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Gemessen an der Verbindlichkeit der göttlichen Vorbestimmung (vgl. auch 989 f. mit Komm. zu 989–993) und den persönlichen Motiven bzw. Motivierungen (112–120; 997 f.; 1052; 1344–1347; 1423–1430) spielen die Notlage der Griechen vor Troia (66 f.; 1346), der Einsatz für die Gemeinschaft (1143–1145), die Gehorsamspflicht gegenüber den Vorgesetzten (921–926) und die Loyalität gegenüber dem Heer (1243; 1250; 1257 f.; 1293 f.) in der jeweiligen Argumentation eine vergleichsweise geringe Rolle. Den letztgenannten Punkt führt Odysseus auch nur an, um dem unbotmäßigen Neoptolemos zu drohen, und die Gehorsamspflicht verbindet Neoptolemos gleich wieder mit dem eigenen Nutzen (926). Und wenn Odysseus mit dem Leid der Griechen argumentiert, um Neoptolemos zur Durchführung der Intrige zu motivieren (66 f.), stellt er ihm unmittelbar danach den persönlichen Vorteil vor Augen (68 f.). Vgl. o. S. 7 f. Es scheint nicht sinnvoll, die Zeugnisse danach trennen zu wollen, ob sie die Weissagung des Helenos auf den Bogen oder auf Philoktet bezogen berichten (so aber Visser 1998, 6 ff., bes. 7). Der Sache nach gehören beide zusammen, auch wenn nur ein Element benannt sein sollte. Denn es ist zu fragen, ob sich die antiken Autoren den Bogenkämpfer Philoktet ohne seinen Bogen (sei es ein ‚gewöhnlicher‘, sei es der des Herakles) oder den Bogen des Herakles ohne seinen rechtmäßigen Besitzer vorstellen konnten. Vgl. dazu auch die folgende Anm. Zwar spricht der sophokleische Odysseus im Prologos vv. 68 f. (wie auch später: 77 f.; 101; 103 [vgl. Komm. zu 101–103]; 113; 115) nur vom Bogen, aber er hatte zuvor schon als Ziel seines Planes verkündet, Philoktet ‚zu fassen zu kriegen‘ (v. 14), was sich doch wohl auf die Person bezieht; außerdem impliziert Odysseus mit dem Plural in v. 126, dass er erwartet, Neoptolemos werde zusammen mit Philoktet zum Schiff kommen (Hinds 1967, 173 f.). Für Neoptolemos jedenfalls ist es sogleich selbstverständlich, dass auch Philoktet nach Troia gebracht werden soll (90; 102; 112; vgl. auch 197 f.), sodass der Zuschauer (selbst ohne Vorkenntnisse des Mythos) den Eindruck gewinnen muss, dass es um Philoktet u n d seinen Bogen geht (vgl. auch Visser 1998, 60). Odysseus konzentriert sich vermutlich auf den Bogen, nicht weil er meint, es werde nur

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Sophokles mit derjenigen in früheren Erzählversionen überein. Wird nur gesagt, dass man Philoktet mit seinem Bogen nach Troia bringen muss, gibt es keine Einschränkung, wie das zu erreichen ist, und kann daher jede Weise des Vorgehens als zulässig erscheinen, wenn sie nur Erfolg hat. Bei Sophokles wird vom Inhalt der Weissagung allerdings in einer Version berichtet, die für die Art, wie mit Philoktet umgegangen werden kann, eine wesentliche Veränderung bedeutet.75 Nach den Ausführungen des ‚Kaufmanns‘ wurde gesagt, Philoktet müsse durch peithein (‚überzeugen‘ / ‚überreden‘) gewonnen werden (612), und Odysseus hat das, so der Bericht, wenigstens in erster Linie, im Sinne von Freiwilligkeit auf Seiten Philoktets verstanden (617). Zwar sind die Aussagen des ‚Kaufmanns‘ mit Vorsicht zu betrachten;76 in Neoptolemos’ sinngemäßem77 Referat der Helenos-Weissagung bildet die Freiwilligkeit Philoktets (1332) jedoch einen zentralen und von der Person des Sprechenden her unverdächtigen Punkt.78 Die dem Zuschauer erst spät vermittelte Information, dass es auf die Freiwilligkeit ankommt, muss aber, wie man bei genauerer Analyse erschließen kann, Odysseus und Neoptolemos von Anfang an bekannt gewesen sein. Odysseus hat die Information nach Aussage des ‚Kaufmanns‘ in Troia erhalten (606 ff.) – jedenfalls muss er sie gehabt haben, als er den als ‚Kaufmann‘ ausgesandten Mann in Aktion setzte –, und Neoptolemos hat seine Kenntnis nicht etwa erst durch den ‚Kaufmann‘ bekommen, sondern so, wie er sich ausdrückt, ebenfalls bereits aus Troia mitgebracht (1336 ff.) und nennt auch Details, die der ‚Kaufmann‘ nicht erwähnt hatte.79 Es ist also aufgrund der späteren Angaben zur Weissagung zu postulieren, dass Odysseus und Neoptolemos von Anfang an davon wissen,80 aber beide, ob––––––––––––

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dieser gebraucht, sondern weil Neoptolemos’ Aufgabe zunächst darin bestehen soll, den Bogen an sich zu nehmen, damit Philoktet ungefährlich ist (vgl. 70 ff.), und Odysseus auf eine effektive Methode bedacht ist, Philoktet in eine Situation zu bringen, in der dieser, wie Odysseus glaubt, nachgeben muss; vgl. auch Komm. zu 113–115. Später (982 ff.) sagt Odysseus ausdrücklich, auch Philoktet müsse nach Troia gehen, woran er bis zuletzt festhält (1296–1298). Vgl. auch Hoppin 1981, 10–14; Allan 2011, 3. Diese Ergänzung gegenüber der bisherigen Tradition ist sehr wahrscheinlich eine Neuerung des Sophokles; vgl. Schnebele 1988, 140–142. Vgl. u. S. 29–31 und auch Komm. zu 604–613 und 617 (dort auch zum ‚Wahrheitsgehalt‘ der Ausführungen des ‚Kaufmanns‘). Vgl. auch Komm. zu 1339–1341 a. Mit der Auffassung, dass Neoptolemos die Helenos-Weissagung nicht wörtlich wiedergebe, es vielmehr darum gehe, „daß er [sc. Philoktet] überhaupt nach Troia zieht“, und dies für Neoptolemos nun notwendig nur noch freiwillig geschehen könne (so Lefèvre 2001, 211 f.), ist nicht zu erklären, warum Neoptolemos (wie zuvor der ‚Kaufmann‘) die Freiwilligkeit – stark betont – hervorhebt („freiwillig, von dir aus“, 1332; vgl. auch 1343). Vgl. zur Sache auch Zwierlein 1970, 206–208. Vgl. Komm. zu 1339–1341 a. Neoptolemos’ Kenntnis beruht nicht auf „a prophetic insight into the prophecy“ (so aber Scodel 1984, 99), denn er beruft sich ausdrücklich auf eine Quelle (1336–1339). Vgl. (nach anderen) Ussher zu v. 1336. – Der Seherspruch hat auch nicht „schillernde Züge“, wie Zwierlein (1970, 210) meint. Alle Aussagen, die ausdrücklich auf ihn zurückgeführt werden, sind inhaltlich präzise und widerspruchsfrei (vgl. auch T. v. Wilamowitz 1917, 304).

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wohl doch die Weissagung den Anstoß für die Fahrt nach Lemnos gegeben hat, im Prologos Überlegungen anstellen, die sich aufgrund ebendieses Wissens eigentlich verbieten, insofern (mit Nötigung verbundene) List (54 f.; 101) oder gar Gewalt (90) sich nicht mit peithein und schon gar nicht mit der geforderten Freiwilligkeit vereinbaren lassen.81 Odysseus und Neoptolemos unterhalten sich wie zwei Männer, die über den maßgeblichen Inhalt der Weissagung nicht informiert sind. Dieser Widerspruch kann Sophokles nicht entgangen sein, durchaus allerdings dem notwendig linear der Handlung folgenden Zuschauer, der anfangs keinen Verdacht schöpfen kann, da er die erst später im Stück entfaltete Version der Helenos-Weissagung nicht kennt und sehr wahrscheinlich auch aus etwaiger Kenntnis früherer Bearbeitungen nicht mehr substituieren kann, als was er in den vv. 68 f. erfährt. Angesichts dieses Sachverhalts ist die Frage berechtigt, was der Dichter gewinnt, wenn er diesen objektiv bestehenden Widerspruch in Kauf nimmt.82 Solange es so scheint, als komme es nur auf das Ergebnis an, Philoktet und seinen Bogen nach Troia zu bringen, können Odysseus und Neoptolemos dargestellt werden, wie sie – ohne Rücksicht auf die Bedingungen, wie sie sich aus der Weissagung des Helenos ergeben – entsprechend ihrem jeweiligen Charakter glauben, das Ziel erreichen zu können. Auf diese Weise kann der Gegensatz zwischen dem an der ‚Staatsräson‘ orientierten und aufgrund seiner Erfahrung auf listige Überwältigung setzenden Odysseus und dem gemäß seinem Naturell geradlinigen Neoptolemos, der lieber mit offener Gewalt scheitern als mit hinterlistigem Vorgehen erfolgreich sein will, ausagiert werden (50–122). Und es kann so gezeigt werden, wie sich Neoptolemos allmählich wider seine Natur zu der von Odysseus erdachten Lügenkonstruktion verführen lässt, um vor Troia siegreich sein zu können. Das Zurückhalten der Helenos-Weissagung ist auch die Voraussetzung dafür, dass die Handlung im Prinzip zunächst so angelegt werden kann wie bei Aischylos und Euripides, nämlich – wie durch Odysseus’ Fokussierung auf das Ziel, den Bogen zu gewinnen, klar wird – durch die Inbesitznahme des Bogens Druck auf Philoktet auszuüben.83 Aber abgesehen von der Verkomplizierung –––––––––––– 81

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Aus den vv. 101–103 geht klar hervor, dass Odysseus List von peithein unterscheidet (vgl. auch Kitto 1956, 96; Alt 1961, 148; Seale 1972, 97). Die Annahme Vissers (1998, 72 f.; 75; 186), Odysseus’ Intrigenplan bestehe in einer vielleicht nicht sachgerechten, aber klugen Ausdeutung der Helenos-Weissagung, hat also keine Stütze im Text; unverständlich ist die Aussage Kyriakous (2012, 161): „Deception was the only possible interpretation of Helenus’ prophecy, and the only means of fulfilling it.“ Matthiessen (1981, 18) stellt fest, dass die Informationen zur Helenos-Weissagung im Prolog noch nicht gegeben werden dürften, weil die Handlung des Stückes nur möglich sei, wenn der Zuschauer dieses Wissen noch nicht besitze (vgl. auch schon Zwierlein 1970, 208). Einen Widerspruch (vgl. Machin 1981, 63; 67) konstatiert er nicht. Es hat allerdings nicht an Versuchen gefehlt, diesen Widerspruch auf verschiedene Weise interpretativ zu beseitigen oder zu verharmlosen (vgl. den Überblick bei Visser 1998, 76–78; noch Kyriakou 2012, 162 f.). Weiter führt es zu fragen, warum Sophokles diese Anlage des Stückes gewählt hat. Das hat Müller (1997, 221) im Prinzip richtig gesehen, aber seine Auffassung, Odysseus täusche Neoptolemos und die Täuschung bestehe in einer argumentativen Un-

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der Intrige dadurch, dass sie von Neoptolemos durchgeführt werden soll, der schließlich die Unehrenhaftigkeit seines Handelns nicht mehr ertragen kann (895 ff.; 1224 ff.), scheitert das Vorgehen des Odysseus vor allem daran, dass Sophokles Philoktet als eine Gestalt konzipiert hat, die sich nicht durch äußeren Zwang nötigen lässt (vgl. 995 ff.; 1197 ff.). Damit unterscheidet sich Sophokles deutlich von seinen Vorgängern, bei denen Philoktet, um mit Dion von Prusa zu sprechen, durch ‚nötigende Überredung‘ dazu gebracht wurde, nach Troia zu gehen. Mithilfe der erst allmählichen Aufklärung der HelenosWeissagung und dem darin enthaltenen ausdrücklichen Zusatz der Freiwilligkeit tritt Sophokles in deutliche Konkurrenz zu den Versionen seiner Vorgänger, indem er erkennbar macht, dass nur eine vollkommen freie Entscheidung für einen Menschen wie Philoktet angemessen und jede Form von Nötigung der falsche Weg wäre.84 Neoptolemos’ Entscheidung, Philoktet den Bogen zurückzugeben, die zugleich mit der Enthüllung der vollen Wahrheit der Helenos-Weissagung verbunden ist, bedeutet einen Wendepunkt in der Handlung. In einem zweiten Ansatz wird nun die von Helenos genannte freie Entscheidungsmöglichkeit Philoktets respektiert. Allerdings kann das frühere auf List und Nötigung beruhende Vorgehen nicht mehr ungeschehen gemacht werden und trägt zum Scheitern auch der Bemühung bei, Philoktet ohne Zwang zu überzeugen. Zur Helenos-Weissagung stellen sich noch drei weitere Fragen zu verschiedenen Aspekten: Die erste bezieht sich auf die Form der Weissagung. Durch Äußerungen des Odysseus wird die Gewinnung des Bogens – noch ohne Hinweis auf einen Seherspruch – als faktisch gegebene Bedingung für die Zerstörung Troias eingeführt (68 f.; 113). In den Angaben, die der ‚Kaufmann‘ zur Helenos-Weissagung macht, wird ebenfalls eine ‚Wenn-dann‘-Beziehung hergestellt: Wenn man Philoktet nicht durch Überzeugung von Lemnos nach Troia brächte, würde man die Stadt niemals zerstören (610–613). Neoptolemos formuliert den Zusammenhang temporal, aber in der Sache macht das letztlich keinen Unterschied: Philoktets Krankheit werde kein Ende nehmen, bevor er nicht freiwillig nach Troia komme und es mit Neoptolemos zusammen zerstöre ––––––––––––

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terschlagung der Bedingungen, unter denen das geplante Unternehmen allein gelingen könne (ähnlich schon frühere Interpreten; vgl. Schmidt 1973, 39–41), ist mit der sophokleischen Konstruktion des Plots nicht vereinbar, da für Odysseus und Neoptolemos in Bezug auf die Helenos-Weissagung derselbe Wissensstand zu postulieren ist (s. o.). Sophokles kann die beiden nur so lange in dieser Weise glaubhaft agieren lassen, wie der Zuschauer die Details der Weissagung noch nicht kennt. – Es ist aber auch nicht so, dass für den Plot ein Wissensvorsprung von Odysseus und Neoptolemos vor den Zuschauern charakteristisch wäre (so Seale 1982, 48); denn im Prologos wird ihr Handeln gerade nicht durch ein Wissen bestimmt, das weiter reicht als dasjenige, das auch den Zuschauern vermittelt wird. Nach Visser (1998, 70) wird die Helenos-Weissagung erst zu dem Zeitpunkt enthüllt, als sie für den Zuschauer wichtig werde. Das ist vom Geschehensablauf her zwar richtig, greift aber zu kurz. Entsprechendes gilt für die Auffassung von Gill (1980, 141 f.), dass Neoptolemos desto mehr von der Weissagung enthülle, je näher er innerlich Philoktet komme; ähnlich Scodel 1999, 129–132. Vgl. auch o. Anm. 82.

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(1329–1335). Aber dann fügt er als Aussage des Helenos hinzu, dass dies geschehen müsse und Troia notwendig während des gegenwärtigen Sommers erobert werde (1339–1342). Was von der freiwilligen Zustimmung Philoktets abhängig zu sein scheint, wird als notwendiges Geschehen verkündet, womit der Bedingungscharakter im Grunde aufgehoben ist.85 Damit ist ein Spannungsverhältnis angelegt, das dramenintern seine Lösung findet durch das Erscheinen des Herakles als Deus ex machina, der Philoktet die Beschlüsse des Zeus übermittelt, die in der Sache großenteils der Helenos-Weissagung entsprechen. Wenn Philoktet zusagt, Herakles’ Worten ‚nicht unfolgsam‘ zu sein, entscheidet er sich ‚freiwillig‘, nach Troja zu gehen (1447). Beim zweiten Problemkreis geht es um die Kenntnisse, die Neoptolemos über den theologischen Hintergrund von Philoktets Schicksal hat (191–200), obwohl er doch im Eingangsdialog mit Odysseus über Philoktet nicht allzu gut informiert zu sein und vom Plan des Odysseus nichts zu wissen scheint. So kann er den Chor über den gottgewollten Schlangenbiss als Verursachung der Leiden Philoktets informieren (wie später gegenüber Philoktet selbst; 1326– 1328) und deren Dauer, die sich durch den Zeitpunkt erklärt, vor dem Philoktet vor Troia nicht tätig werden soll (199 f.). Dieser Punkt ist auch Teil der Weissagung, wie sie Neoptolemos dann Philoktet wiedergibt (1340 f.); eine genauere Übereinstimmung, was Neoptolemos’ Angaben über den Fall Troias angeht, besteht zwischen v. 200 und der Ankündigung des Herakles (1439 f.). Neoptolemos beruft sich für dieses Wissen auf ‚Hörensagen‘ (199), sodass die Quelle letztlich unklar bleibt.86 An diesem Punkt der Handlung soll offenbar kein Zusammenhang mit der Helenos-Weissagung oder dem Ratschluss des Zeus (1415) hergestellt werden. Was Neoptolemos über das Schicksal Philoktets sagt, hat nichts mit der Weise zu tun, w i e er für Troia gewonnen werden soll,87 und ist insofern von der eigentlichen Funktion der Weissagung unabhängig. Daher beeinflussen die von Neoptolemos hier gegebenen Informationen nicht die Dramaturgie des Stücks. Indem Neoptolemos seinen Leuten erklärt, was es mit den Leiden Philoktets auf sich hat, vermittelt Sophokles vielmehr den Zuschauern eine Erklärung des größeren Zusammenhangs, die dem Schicksal Philoktets eine Sinndeutung gibt. Herakles wird später den Ruhm, den Philoktet erlangen wird, als Ausgleich für die Zeit des Leidens erklären (1421 f.). Von anderer Art ist allerdings Neoptolemos’ erste Andeutung –––––––––––– 85 86 87

Vgl. Visser 1998, 202; Dorati 2015, 187. Vgl. Pucci, S. 186. Es wird aber durch die vv. 196–200 auch hier schon klar, dass sich die göttliche Planung für Neoptolemos auf Philoktet (‚dieser‘, 197) u n d den Bogen bezieht, wie Neoptolemos bereits im Prologos seine Aufgabe so verstanden hatte, dass Philoktet nach Troia gebracht werden müsse (90; 102; 112), natürlich mit dem Bogen, von dem Odysseus mehrfach spricht; vgl. auch o. Anm. 74. Es erscheint ausgeschlossen, dass sich der göttliche Plan nur auf den Bogen beziehen sollte, wie Schmidt (1973, 148; 154; ähnlich Machin 1981, 69; Allan 2011, 5) meint, der sich auf die in v. 200 passiv formulierte Bezwingung Troias durch den Bogen stützt und sie von Philoktet als dessen Besitzer trennt. Die Formulierung ist ein Vorgriff auf die vv. 1439 f., wo Philoktet selbstverständlich mitgemeint ist.

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der Heilung Philoktets in Troia (919). Damit nimmt er faktisch, bevor er die Helenos-Weissagung ausführlich darlegt (1329 ff.), ein Detail daraus vorweg, das in der Aussage des ‚Kaufmanns‘ (610–613) nicht vorkam. Dieses Detail hat jedoch, nachdem Neoptolemos sich entschlossen hat, Philoktet ohne Trug zu gewinnen (915 f.), die wesentliche Funktion, Philoktet zu motivieren. Es ist ein Wissen, das Neoptolemos – ebenso wie die detaillierte Kenntnis der Weissagung (1329 ff.) – von Anfang an gehabt haben muss, das der Dichter ihn aber nicht früher aktivieren lassen kann, ohne die Trughandlung als unglaubhaft erscheinen zu lassen. Ob diese Mitteilung für die Zuschauer überraschend war, hängt von ihrem Vorwissen ab. Kennern des Mythos und des Epos dürfte klar gewesen sein, dass Philoktets Teilnahme an der Eroberung Troias mit seiner Heilung verbunden war.88 Die dritte Frage in Bezug auf die Helenos-Weissagung betrifft die Einschätzung der Äußerungen des ‚Kaufmanns‘ (604–613). Der ‚Kaufmann‘ ist Teil der von Odysseus initiierten Intrigenhandlung, wie die Zuschauer erfahren haben (125–131); sie mögen sich daher unsicher sein, was sie von dessen Aussagen glauben können und was nicht, zumal sie bereits als Lüge erkannt haben, dass Neoptolemos verfolgt werde (553–562) und auch Diomedes hinter Philoktet her sei (592). Aber das Faktum, dass zur Eroberung Troias die Anwesenheit Philoktets erforderlich sei (was er selbst noch nicht weiß), war bereits zur Sprache gekommen (112 mit Komm. zu 113–115; 197 f.), sodass nun darüber hinaus nur noch die Quelle dieses Wissens hinzugefügt wird (604–613), was die Information beim Publikum glaubwürdig machen kann. Ergänzend gegenüber dem schon Gesagten – und neu gegenüber der vorsophokleischen Tradition – ist allerdings die vom ‚Kaufmann‘ genannte Bedingung, dass Philoktet überzeugt werden müsse (612). Wahrscheinlich ist, dass Sophokles damit den ‚Kaufmann‘ ein ‚wahres‘ Element der Weissagung erwähnen lässt. Denn die Bedingung hätte als Bestandteil der Intrige bzw. als Lüge keine diese fördernde Funktion. Vielmehr führt ein der Bedingung entsprechendes Handeln keinesfalls zu dem, was nach Aussage des ‚Kaufmanns‘ Odysseus angeblich geschworen hat, nämlich falls Philoktet nicht überzeugt werden könne, Gewalt anzuwenden (594; 618). Der Hinweis auf die in der Weissagung verlangte Überzeugungsarbeit schwächt eher die Position des ‚Kaufmanns‘,89 der durch seinen Bericht Druck auf Philoktet ausüben will, sich schnell mit Neoptolemos auf das Schiff zu begeben. Der Eindruck, dass der ‚Kaufmann‘ die Weissagung in dem, was er sagt, wahrheitsgemäß berichtet, kann außerdem dadurch gestützt werden, dass er sie auch ohne die Bedingung des peithein hätte wieder-

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Vgl. o. S. 7 f. und Komm. zu 1333. – Von der Aussage in v. 919 ist diejenige der vv. 839–842 zu unterscheiden. Sie geht zwar in der zutage tretenden Empathie über das, was sich aus den vv. 196–200 ergibt, und die Information des ‚Kaufmanns‘ hinaus, aber nicht im Faktischen. Vgl. – mit anderer Argumentation – auch Machin 1981, 201 f.

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geben können.90 Diese Überlegungen deuten darauf hin, dass es Sophokles wichtig war, bereits an dieser Stelle des Dramas die Bedeutung der freien Entscheidung Philoktets zur Sprache zu bringen. Die von dem ‚Kaufmann‘ berichtete Weissagung, dass die Griechen Troia nur einnehmen könnten, wenn sie es schafften, Philoktet durch Gespräche dazu zu bringen, mit ihnen nach Troia zu kommen, hat für das Handlungsgeschehen und für die Zuschauerrezeption unterschiedliche Konsequenzen: Für Philoktet ist die Information, dass es Odysseus war, der versprochen habe, ihn den Griechen zu präsentieren, Grund genug, das Mittel, ihn mit Worten zu gewinnen, für absurd zu erklären (622–625) und auf baldige Abfahrt zu drängen – ganz im Sinne der von Odysseus angelegten Intrige. Die Zuschauer jedoch, ob sie gegenüber diesem Punkt der Ausführungen des ‚Kaufmanns‘ skeptisch sind oder nicht, können den Gegensatz erkennen, der zwischen der Helenos-Weissagung in der Version des ‚Kaufmanns‘ und dem – nach der Erzählung des ‚Kaufmanns‘ – von Odysseus für richtig gehaltenen bzw. tatsächlich praktizierten Vorgehen besteht.91 In dem Gespräch mit Neoptolemos wusste Odysseus sehr wohl, dass sein listiges Vorgehen etwas anderes ist als ein Überzeugen oder Überreden (101–103). Damit werden bei den Rezipienten erste Zweifel geweckt, ob die von Odysseus in die Wege geleitete Intrige wirklich die geeignete Vorgehensweise ist. Der intrigenfreie zweite Teil der Handlung wird auf diese Weise gedanklich vorbereitet, wenn es auch über den Stellenwert der Freiwilligkeit erst später durch Neoptolemos völlige Klarheit geben wird. Wenn der ‚Kaufmann‘ als Reaktion des Odysseus auf die Weissagung berichtet, dieser denke nicht nur an Freiwilligkeit, vielmehr gegebenenfalls auch daran, Philoktet gegen seinen Willen (617 f.; vgl. auch 594) nach Troia zu bringen, werden die Zuschauer, da sie Odysseus’ intrigantes Täuschungsmanöver kennen, diese Drohung kaum auf einen Gesinnungswechsel oder einen Widerspruch in der Einstellung des Odysseus zurückführen (gegenüber seiner in den vv. 103 und 105 ausgesprochenen Überzeugung, dass man Philoktet nicht mit Gewalt überwinden könne) und auch nicht auf eine kluge Ausdeutung der Weissagung durch Odysseus schließen,92 sondern eher darin einen Hinweis auf das listige Vorgehen sehen, mit dem auf jede Weise Druck auf Philoktet ausgeübt werden soll. Auch wenn der ‚Kaufmann‘ die Androhung von Gewalt Odysseus im Interesse der Intrige nur unterstellt haben sollte, auf jeden Fall –––––––––––– 90 91

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Dadurch, dass später für Neoptolemos die Freiwilligkeit Philoktets ein wesentlicher Bestandteil der Weissagung ist (1332; 1347), wird stückintern die Richtigkeit der Aussage des ‚Kaufmanns‘ bestätigt (anders Lefèvre 2001, 211). Vgl. auch o. Anm. 78. Dass die Zuschauer über die Formulierung der Weissagung nicht näher nachdenken sollten (Robinson 1969, 49; Garvie 1972, 213 f.), ist sicher nicht richtig. Sie sind seit dem Prologos für die verschiedenen Formen, mit denen Philoktet begegnet werden kann, sensibilisiert (vgl. Komm. zu 86–134), und zumindest durch den Widerspruch zwischen peithein (612) und Gewalt (594; 618) werden sie geradezu darauf gestoßen, über den Sinn der Weissagung nachzudenken. Vgl. auch Budelmann 2000, 120–123. Vgl. o. Anm. 81.

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tritt die erwünschte Wirkung, Philoktets Drängen auf Abreise, sogleich ein (635 f.)93 – aber ironischerweise später, als es ohne das Auftreten des ‚Kaufmanns‘ der Fall gewesen wäre.94 In gewisser Weise wird die Umsetzung der Weissagung durch Odysseus, wie sie der ‚Kaufmann‘ als Vorhaben des Odysseus berichtet, im Verlauf der Handlung vollzogen, weil Odysseus später tatsächlich mit Gewalt droht (983) und sie sogar anwenden lässt (1003). Odysseus kann zu diesem Zeitpunkt jedoch annehmen, die List sei bereits erfolgreich verlaufen (weil er den Bogen in der Hand des Neoptolemos sicher wähnt), und verfolgt so den von Anfang an von ihm vorgesehenen und der Helenos-Weissagung widersprechenden Kurs mit allen Mitteln weiter.95 Von der Weissagung hat er offenbar nur das daraus abzuleitende Ziel aufgenommen und glaubt sich in der Wahl des Weges frei.

Konzipierung der Figuren und des Chors PHILOKTET: Zwischen göttlicher Bestimmung und Selbstbehauptung Da Philoktet ein Einblick in die größeren Zusammenhänge zumindest zunächst verwehrt ist, kann er in seiner hinterhältigen Aussetzung nur menschliche Niedertracht (314 f.) – verbunden mit Vernachlässigung durch die Götter (1020; vgl. auch 446–452) – erkennen, die sein Racheverlangen hervorruft:96 Musste er doch eine über neunjährige, nur mühsam zu überlebende Leidenszeit in Einsamkeit97 unter Hunger und Schmerzen aushalten (169–190; 254–316; vgl. auch 681–717), mit wiederkehrenden akuten Anfällen (763–767), deren Grauenhaftigkeit in den Handlungsablauf relevant miteinbezogen ist (732–820).98 Schwer lastet auf ihm das Gefühl, von der Mitwelt vergessen und somit sozial tot zu sein (251–259; 1018; 1030). Man würde verstehen, wenn dieser Philoktet wie der euripideische jeden ankommenden Griechen mit Hass verfolgte (vgl. F 789 d [7] Kannicht), aber er ist trotz seines Leids offenbar nicht gegenüber jedermann verbittert, wie die Freude zeigt, mit der er Neoptolemos und seiner Mannschaft begegnet (234–244). Seine Fragen nach dem Ergehen von –––––––––––– 93 94 95

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Vgl. auch Komm. zu 610–613. – Philoktet sieht nicht nur die zu allem fähige Überredungskunst des Odysseus, sondern fürchtet auch weitere Machenschaften (633 f.). Vgl. Komm. zu 539–627. Dass Odysseus „auch in dieser Szene der πείθειν-Klausel Rechnung“ trage (Visser 1998, 148 f.), trifft daher nicht zu. – Wider alle frühere Überzeugung (103; 105) droht Odysseus auch dann noch mit Gewalt, als er dem mit dem Bogen bewaffneten Philoktet gegenübersteht (1296–1298). Das tritt immer wieder zutage: 315 f.; 791–795; 1019; 1035; 1302 b f.; 1369. Alleinsein und Einsamkeit sind geradezu leitmotivisch: 172; 183; 227 f.; 265; 269; 470; 487; 688; 691–700; 809; 954; 1018; 1070. „Philoctetes is not only the loneliest of the Sophoclean heroes, a man who has lived, sick and without resources, on a desert island for ten years, he is also the most outrageously wronged“ (Knox 1964, 117). Der verwilderte (226), von der Krankheit gezeichnete Philoktet tritt den Fremden als eine ‚unheroische‘ Erscheinung gegenüber, sein Inneres weist aber eine ‚heroische‘ Haltung (vgl. bes. 536–537 mit Komm.) auf.

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bestimmten Kämpfern vor Troia und seine Reaktion auf die Todesnachrichten, die ihm Neoptolemos übermittelt (331–338; 410–452), sind Zeichen seiner Verbundenheit mit den Griechen, die er für charakterlich gut hält.99 Dabei bestärkt ihn allerdings der Tod gerade der Tüchtigen in seiner Überzeugung, dass die Götter ungerecht seien (446–452). Dem (zunächst) vermeintlichen Freund Neoptolemos kommt er mit einem solchen Vertrauen entgegen, dass er ihn als einzigen Menschen seinen Bogen in die Hand nehmen lassen will (667–670) und ihm bei seinem Krankheitsanfall diesen, seinen wertvollsten Besitz, in Verwahrung gibt (763–766). Damit verliert Philoktet zugleich seine Unangreifbarkeit. Nachdem er den Anfall überstanden hat, ist er überaus dankbar, dass Neoptolemos ihn nicht verlassen hat (867–876), und voller vorsorglicher Rücksicht gegenüber seinen prospektiven Mitreisenden (889–892). Er hat also trotz seiner jahrelangen Isolation seine Fähigkeit zu sozialem Miteinander nicht verloren. Allerdings ist Philoktet, wie er auch von sich selbst sagt, eine Ausnahmeerscheinung in seiner Standhaftigkeit und Leidensfähigkeit (533– 538), die jedoch im Extremfall an ihre Grenzen gerät: Er kann Tränen vergießen (278) und Schmerzensschreie ausstoßen (732 ff.).100 Philoktets Verhalten anderen gegenüber ändert sich allerdings, als er feststellen muss, dass erneut durch Trug über ihn verfügt werden soll.101 Das führt zu einer kompromisslos abweisenden Haltung, zuerst gegenüber Neoptolemos, als der schließlich die Wahrheit gesteht (915 ff.), dann noch heftiger gegenüber Odysseus (976 ff.) und dem Chor (1163–1202), und schließlich noch weitere zwei Male gegenüber Neoptolemos (1275 ff.; 1348 ff.). Seine Verhärtung zeigt sich insbesondere daran, dass er, als Neoptolemos ehrlich mit ihm spricht, auf den verheißenen Gewinn (Heilung und Erfolg vor Troia), den ein Nachgeben für ihn brächte (919 f.), nicht reagiert. Wenn Neoptolemos als Fahrtziel Troia und die Atreus-Söhne nennt, die Philoktet haben aussetzen lassen, ruft das bei ihm stereotyp die traumatische Erfahrung der Aussetzung und ihrer Umstände hervor (915 ff.).102 Dass ausgerechnet der vermeintliche Freund Neoptolemos ihn zunächst hinterging, verstärkt noch die –––––––––––– 99

Vgl. auch Machin 1983, 270: „Philoctète est tout le contraire d’un être asocial“; Hösle 1984, 131–133. Philoktets Hass ist auf die ‚Schlechten‘ vor Troia fokussiert; vgl. Schmidt 1973, 94. 100 Wie schon Lessing erkannt hat, ist die Äußerung akuten Scherzes dramaturgisch notwendig, weil sie das Mitgefühl des Neoptolemos auslöst (759; 806), das zu seiner Umkehr beiträgt. Vgl. Laokoon. Erster Teil. Kap. IV.3 (ed. Barner 1990, S. 44 f.). 101 Vgl. zu dieser Veränderung des Verhaltens auch Avery 1965, 279–285; Schlesinger 1968, 106 f. 102 Vgl. auch Komm. zu 915–916. Zur Traumatisierung Philoktets vgl. Hose (2008, bes. 32), der ein „peer rejection“ genanntes sozialpsychologisches Modell heranzieht. Jedoch hat die Anwendung des Modells auf Philoktet auch ihre Grenzen. Die Aussetzung in einem menschenleeren Gebiet kann eigentlich nicht mehr mit sozialer Ausgrenzung allein beschrieben werden, sondern erfüllt nahezu den Tatbestand der versuchten Tötung (vgl. auch Komm. zu 274). Andererseits ist sich auch Philoktet sehr wohl bewusst, dass er mit seiner übelriechenden Wunde und seinen Anfällen eine schwere Belastung für seine Mitwelt darstellt (was für das Konzept der peer rejection als untypisch gilt); vgl. 481–483; 870–876; 889–892; 1032.

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Verbitterung. Eine Zustimmung kommt daher für ihn nicht in Frage, und er ist nur darauf fixiert, den für ihn lebenswichtigen Bogen wiederzubekommen. Noch weniger ist ein Nachgeben gegenüber Odysseus zu erwarten, der sich geradezu stolz zu der von ihm initiierten neuerlichen Intrige bekennt (980) und Philoktet sogleich Gewalt androht (982–985). Dass Philoktet unter diesen Umständen Odysseus’ Berufung auf Zeus (989 f.), dessen Vollzugsorgan er lediglich sei, nicht glauben kann und Odysseus’ Ankündigung, Philoktet müsse zusammen mit den anderen seines Standes Troia zerstören (997 f.), nicht verfängt, ist kaum verwunderlich. Wenn Sophokles Philoktet der Nötigung durch Vorenthaltung des Bogens und durch Anwendung von Gewalt (1003) damit begegnen lässt, dass er, neuerlich erbittert, seinen Feinden Verderben wünscht und lieber jedes Leid ertragen oder sich sogar selbst töten will, als sich diesem Druck zu beugen (999 –1044), wird es ihm eher darum gegangen sein, Philoktet als jemanden darzustellen, der sich auch unter größten Opfern nicht vereinnahmen lassen will, als den Zuschauer zu Kritik an Philoktets Verhalten zu veranlassen.103 Thematisiert wird diese Problematik auch in dem Gespräch mit dem Chor, der faktisch recht hat, wenn er sagt, Philoktet sei für seine unglückliche Zukunft (1081–1094) selbst verantwortlich, da er sich, als es ihm freistand, das bessere Los zu wählen, die Fahrt nach Troia, für das schlechtere, das Verbleiben auf Lemnos, entschieden habe (1095–1101). Der Chor sieht sich selbst als wohlmeinend in dem Bemühen, Philoktet zu der Einsicht zu bewegen, dass es an ihm liege, sich von seiner Krankheit zu befreien (1163–1166). Aber der Chor bedenkt dabei nicht, dass eine solche Entscheidung nicht wirklich frei wäre (Philoktet hat den Bogen noch nicht wieder); und als Philoktet Odysseus wegen dessen betrügerischer Intrige schmäht, weist der Chor das zurück, indem er sie als Tat für die Gemeinschaft wertet (1143–1145): Der Chor beachtet nur das Ziel, aber nicht, dass das gewählte Vorgehen auf Philoktets Würde keine Rücksicht nimmt. Insofern ist der Chor trotz seiner auch von Philoktet anerkannten wohlmeinenden Haltung (1171) weiterhin ebenfalls Teil der Intrige, was seine Überzeugungskraft gegenüber Philoktet mindert104 und dessen Standpunkt nicht unmotiviert wirken lässt. Die scheinbar paradoxe Reaktion Philoktets auf den dringlichen Appell des Chors, sich für die Rettung vor der todbringenden Krankheit zu entscheiden (1163–1168), dieser habe ihn an seinen alten Schmerz erinnert und ihn damit vernichtet (1169–1172), macht die Tiefe seiner Verletzung durch die nicht verwundene Aussetzung, den alten Schmerz, evident (1200–1202);105 untrennbar gehen hier für Philoktet Vergangenheit und Gegenwart in eins. Er weiß, dass er nicht ‚vernünftig‘ ist (1195), aber offenbar ist die Wunde als zu tief anzusehen, als dass er einlenken –––––––––––– 103 Vgl. auch Schmidt 1973, 185 f. in Auseinandersetzung mit Reinhardt 1947, 195 f. – Scheliha (1970, 68–78) weist zu Recht darauf hin, dass man Philoktets hasserfüllte Äußerungen aus der Ethik der Zeit heraus verstehen müsse (und nicht nach christlichen Wertmaßstäben). 104 Vgl. auch Kitzinger 2008, 133 f. 105 Vgl. im Einzelnen Komm. zu 1169–1172.

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könnte, und so kommt es zu der hyperbolischen Ablehnung, die als Verharren auf einer selbstzerstörerischen Position erscheint (1197–1199). Eine Veränderung in der ablehnenden Haltung Philoktets ist erstmals festzustellen, als sich auch die Rahmenbedingungen für seine Entscheidung verändert haben: Neoptolemos hat mit der Rückgabe des Bogens sein früheres Verhalten korrigiert, Odysseus wurde verjagt (1291–1307), sodass sich Philoktet ohne Nötigung auf der Grundlage eines neu geschaffenen Vertrauens zu Neoptolemos (1308–1313) frei entscheiden kann. Philoktet erfährt nun von ihm, dass sein bisheriges Schicksal auf göttlicher Schickung beruhe, und welche Zukunft ihm nach der Weissagung des Helenos zugedacht sei: Heilung von der Krankheit; Eroberung Troias zusammen mit ihm, Neoptolemos (1326– 1342). Philoktet, so Neoptolemos, solle sich freiwillig zur Fahrt nach Troia entschließen, auch im Hinblick auf die zu erwartende Vorrangstellung im griechischen Heer und den zu gewinnenden Ruhm (1343–1347). Erst Daraufhin lässt Sophokles Philoktet kurz wankend werden: Er weiß nicht, wie er sich gegenüber dem Zureden des Neoptolemos, das er als wohlwollend empfindet, entscheiden soll (1348–1351). Doch das Bedenken der Konsequenzen eines Nachgebens erweist sich schnell als stärker. Philoktet glaubt, auch im Sinne seines Ansehens, nicht von der einmal getroffenen Entscheidung abweichen zu können (1352 f.), und vor allem hat sich in seiner Sicht letztlich die Grundlage für diese Entscheidung nicht verändert: Wie soll er es aushalten, denen gegenüberzutreten, die ihn vernichtet haben (1354– 1357)? Daher bleibt er weiterem Zureden unzugänglich und den Atreus-Söhnen (und Odysseus) gegenüber unversöhnlich (1373–1392). Philoktets’ Argumentation bewegt sich dabei ganz im individualmoralisch-menschlichen Bereich, was dadurch noch deutlicher wird, dass er auch Neoptolemos empfiehlt, sich mit diesen Leuten nicht mehr abzugeben, sondern sie zugrunde gehen zu lassen und ihn nach Hause zu bringen (1362–1372). Auffallend ist, dass er auf den von Neoptolemos aufgewiesenen göttlichen Hintergrund nicht eingeht; so gibt es aber auch keine negative Reaktion Philoktets auf die Weissagung.106 Das lässt darauf rückschließen, dass gezeigt werden soll, wie sehr Philoktet auf seine Befindlichkeit fixiert ist und dass es der Autorität eines Herakles bedarf, der Beschlüsse des Zeus verkündet (1415), um ihn umdenken zu lassen.107 Neoptolemos billigt, wie auch schon vorher (1321 ff.), trotz eines gewissen Verständnisses das Verhalten Philoktets nicht (1373 ff.).108 Damit wird inner–––––––––––– 106 Nach Schmidt wird Philoktet „nicht göttlichen Bestimmungen konfrontiert“, weil nach Neoptolemos’ Wiedergabe des Seherspruchs die Fahrt nach Troia nur als Bedingung erscheine, unter der er einzig Heilung finden könne (1973, 241). Das wird dem Text aber nur teilweise gerecht; vgl. o. S. 27 f. 107 Philoktet kommt über die ihm angetane Behandlung ebenso wenig hinweg wie der homerische Achill über die Kränkung durch Agamemnon. Nicht zu Unrecht hat man Philoktet als „Achillean figure“ bezeichnet (Blundell 1989, 200; Van Nortwick 2015, 71), wenn auch die Gründe für das Verhalten beider sehr unterschiedlich sind (vgl. Poe 1974, 13–15). 108 Etliche Philologen denken ebenso, besonders ausgeprägt Lefèvre (2001, 192–203) mit zahlreichen Verweisen auf frühere Interpreten, durch die er sich bestätigt sieht. Eine

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dramatisch eine mögliche Reaktion auf eine solche Verweigerungshaltung artikuliert. Allerdings nimmt Neoptolemos bei seinen Bemühungen offenbar einen Sinneswandel der Atreus-Söhne an (1391). Davon ist aber – nach dem bisherigen Handlungsablauf – für Philoktet nichts zu erkennen, es wurde ihm von Odysseus als dem Abgesandten des Heeres kein Versöhnungsangebot übermittelt, sondern nur signalisiert, dass man ihn für den Sieg brauche.109 Wie Philoktet auf ein Versöhnungsangebot der Atreus-Söhne reagiert hätte, ist ein Denkmodell, das im Drama nicht zur Sprache kommt; dass Philoktet grundsätzlich in der Lage ist, auf ‚tätige Reue‘ hin einzulenken, wird durch seine Reaktion gegenüber Neoptolemos klar (1310–1313). Für einen entsprechenden Ausgleich fehlen von Seiten der Atreus-Söhne (und Odysseus als ihrem Abgesandten) die Voraussetzungen. Der von Sophokles als deus ex machina eingesetzte Herakles macht denn auch Philoktet keinerlei Vorhaltungen.110 Herakles’ Sinndeutung von Philoktets Leid und die dafür in Aussicht gestellte Kompensation wird Philoktet dagegen vorbehaltlos – wenn er dabei auch ein Werkzeug göttlichen Willens bleibt (1438–1440)111 – im Sinne einer Zustimmung zum Ratschluss des Zeus akzeptieren (1447), wird ihm doch erst von Herakles eine Vorrangstellung aufgrund seiner e i g e n e n Werthaftigkeit (aretē, 1425) in Aussicht gestellt, und nicht nur, weil er eine Aufgabe zu erfüllen hat.112 Außerdem wird Philoktet in Neoptolemos einen Mitkämpfer haben, der, wie Philoktet selbst hat erkennen können, seinen Vorstellungen von heroischen Werten entspricht (1433–1437).113 Damit (und erst jetzt) kann sich Philoktet als vollständig rehabilitiert betrachten,114 wenngleich der wiedererlangte Status und die zukünftige Ehrung mit der Bitternis verbunden sein werden, den Atreus-Söhnen und ––––––––––––

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Auswahl Philoktet tadelnder Stimmen findet sich auch bei Hose 2008, 29; anders Whitman 1951, 185 f.; Kitto 1956, 132; Schmidt 1973, 238–242; Easterling 1978, 36 f.; Kamerbeek, S. 23 f.; 175 zu 1316–20; Heath 1999, 157 f.; Hose 2008, 32. Vgl. Komm. zu 1391; Whitman 1951, 182. – Dies ist zu bedenken, wenn man in Philoktets Verhalten „an old-fashioned, Achillean model of heroism“ sieht, „grounded absolutely and without compromise in his sense of his own honour and shame“ (Schein, S. 26). Zwar mag man aus einer gewissermaßen kulturhistorischen Perspektive so urteilen, aber dann trifft dieses Urteil eher Sophokles selbst. Denn Ruhm und Ehre sind – neben der Anerkennung eines göttlichen Gebots – das Wertesystem, das auch Neoptolemos (1344–1347) und Herakles (1421–1431) gegenüber Philoktet zugrunde legen, d. h., es sind Werte, die im Philoktet überhaupt Geltung haben. Vgl. Kitto 1956, 132; Robinson 1969, 53. Vgl. Komm. zu 1439–1440 a. Dieser Gesichtspunkt wird extrem betont von Poe, der in Philoktets Einlenken ein Scheitern sieht, das „a paradigm of the frustration and futility of mankind“ darstelle (1974, 48–51; Zitat: 51). Dazu kritisch Segal 1981, 478 Anm. 53. Es ist nicht leicht zu verstehen, wenn Lefèvre in den Worten des Herakles die Anschauung des „Priester(s) Sophokles“ erkennt (2001, 215), gleichzeitig aber dem durch Herakles erhöhten Philoktet geradezu Hybris attestiert (ebd. 192–194). Vgl. auch Komm. zu 1436. Ob man auch davon sprechen kann, dass es durch Herakles zu einer „Heilung der Traumatisierung“ komme (so Hose 2008, 37), ist fraglich. Das mit der Traumatisierung verbundene Wort ‚Troia‘ (vgl. Komm. zu 915–916) nimmt Philoktet auch bei der Nennung des Fahrtziels (1465 f.) nicht in den Mund.

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Odysseus begegnen zu müssen.115 Der Dichter thematisiert dieses Problem nicht.116 Einen Menschen, der aus seiner Perspektive und aufgrund seiner leidvollen Erfahrung bis zuletzt nicht hat glauben können, die Götter könnten von ihm verlangen, dass er nach Troia gehe (1382), im Auftrag des Zeus geehrt und erhöht zu sehen (1421 ff.): Darin konnte Sophokles offenbar keinen Widerspruch erkennen. NEOPTOLEMOS: Zwischen Intrige und physis Indem Sophokles Neoptolemos, den Philoktet nicht kennt, als Helfer des Odysseus in den Philoktet-Stoff einführt und sich Odysseus als eigentlicher Urheber der Intrige bei ihm (zunächst) im Hintergrund halten muss, entsteht zusätzliches dramatisches Potenzial: Die Beteiligung einer dritten Person, die (relativ) selbstständig agiert, bedeutet, dass im Spannungsfeld zwischen Odysseus und Philoktet neue Konstellationen entstehen können. Neoptolemos, der Sohn Achills, war zwar in der literarischen Tradition (und damit sicher auch für manche Zuschauer) kein Unbekannter, allerdings aus Geschehnissen einer sagenchronologisch späteren Phase als diejenige, um die es im Philoktet geht. Zu nennen ist das überschwängliche Lob, das ihm in der Odyssee Odysseus in der Unterwelt gegenüber seinem Vater Achill spendet, wo er Neoptolemos’ Fähigkeit im Rat, ebenso wie seine Kampfkraft und Tapferkeit – auch als eines Mitglieds der Besatzung des Troianischen Pferdes – hervorhebt.117 In anderen Überlieferungen aber wurde seine sehr viel weniger rühmliche Tat berichtet, dass er König Priamos tötete, obwohl der sich an den Altar des Zeus Herkeios geflüchtet hatte; dafür soll Neoptolemos später (so jedenfalls nach einer Version) von Apollon in Delphi getötet worden sein.118 Nach der Ilias parva hat Neoptolemos ‚Hektors Gattin (Andromache) zu den hohlen Schiffen (der Griechen) geführt‘; er habe auch dessen Sohn ––––––––––––

115 Dall’Olio (2014) spricht bei seinem Vergleich des Philoktet mit dem Orest des Euripides in beiden Fällen sogar von einer „mancata reintegrazione“. Jedenfalls gibt es für ein „abandonment of his [Philoctetes’] rage against Odysseus and the sons of Atreus“ (das Schein annimmt, S. 27) keinerlei Hinweis im Text. Außerdem erscheint der Ausdruck „re-socialized“ (Schein, ebd.) nicht recht passend, vgl. auch o. S. 31 f. Philoktet war – auch gemäß göttlichem Plan – ausgestoßen. Er erhält zwar quasi als Kompensation eine Ehrenstellung (1425), aber von Beziehungen etwa zu den Atreus-Söhnen und Odyseus ist bei Herakles gerade nicht die Rede, nur von Gemeinsamkeit mit Neoptolemos (1433–1437). Die Ansicht, „that Sophocles develops the notion of two political virtues: first, pity as a political virtue and, second, the virtue of being able to accommodate unjust harm properly“, so dass „Philoctetes must learn how to accommodate the past harm done to him, …, into his own citizenship as part of an imperfect Greek community“ (McCoy 2013, 64 f.), kann sich nicht auf den Text stützen. 116 „Qu’en déduire, si non que s’établira, pour le moins, une certaine réserve entre le fils de Péas et les chefs grecs?“ (Machin 1983, 270). 117 Homer, Odyssee 11,506–537. 118 Iliou persis, Argumentum, p. 88,13 f. Bernabé = pp. 144 f. West 2003; Pindar, Paian 6,102–120; Pausanias 4,17,4. Abweichende Versionen u. a. bei Pindar, Nemeen 7,40–42 und Sophokles, Hermione (TrGF IV2, p. 192).

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(Astyanax) durch einen Wurf vom Turm getötet.119 Überliefert wird auch, dass Odysseus der Täter war,120 und eher dazu passt es, dass sich Andromache von Neoptolemos Hektors Schild als Sarg für die Bestattung ihres Sohnes erbitten kann (Eur. Tro. 1133–1142). Ibykos (fr. 307 PMG) und Euripides (Hek. 518 ff.) schreiben Neoptolemos die Opferung der Priamos-Tochter Polyxena am Grab seines Vaters zu, bei Euripides ist er allerdings, als er ihr den Todesstoß zufügt, zwischen Nicht-Wollen und Wollen hin und her gerissen, da sie sein Mitleid erregt (Hek. 566 f.). In Sophokles’ (nicht erhaltener) Tragödie Hermione und in Euripides’ Andromache werden Lebensabschnitte des Neoptolemos aus der Zeit nach dem Troianischen Krieg berührt, darunter die Frage, wer Menelaos’ Tochter Hermione zur Frau haben soll, Neoptolemos oder Orest. Sofern und soweit die Zuschauer mit dieser literarischen Tradition121 vertraut waren, mögen solche Berichte ihre Vorstellung von Neoptolemos vorbestimmt haben, und sie werden überrascht gewesen sein, nun einen anders gearteten Neoptolemos zu erleben.122 Neoptolemos ist im Philoktet ganz als Sohn Achills charakterisiert, er selbst sieht sich geprägt durch Aufrichtigkeit, Geradlinigkeit und Tapferkeit (vgl. 86 ff.). Gleich zu Beginn wird seine Herkunft betont (3 f.), die dann noch mehrfach hervorgehoben wird (96; 242; 260; 874; 1310–1312), ebenso wie sein dadurch bestimmtes Wesen, seine physis (79; 88; 874; 902; 1310): Diese physis soll man sich wohl als angeboren vorstellen. Zwar hält es Neoptolemos nicht mit seinem Wesen für vereinbar, mit List statt offen (sei es mit Gewalt, sei es mit Überzeugungskraft) gegen Philoktet vorzugehen (86 ff.; 102),123 hat aber Odysseus’ Ausführungen, es komme nur List in Frage (54 ff.; 96 ff.), nichts entgegenzusetzen, und lässt sich schließlich für die Durchführung der Intrige mit dem Argument gewinnen, er werde so den Ruf der Klugheit und der Tapferkeit in sich vereinen (119). Die physis erweist sich als beeinflussbar. Nachdem Neoptolemos einmal zugestimmt hat, erfüllt er seine Aufgabe nur allzu gut,124 sodass Philoktet bald glaubt, in Neoptolemos einen Leidensgenossen gefunden zu haben, mit dem er durch den gemeinsamen Hass gegen die Atreus-Söhne verbunden ist (314–316; 384; 389 f.; 403–406). Die Lügengeschichte von der angeblichen Vorenthaltung der Rüstung seines Vaters ist –––––––––––– 119 120 121 122

Ilias parva, fr. 21,1–5 Bernabé = fr. 29,1–5 West 2003; vgl. auch Pausanias 10,25,9. Iliou persis, Argumentum, p. 89,20 Bernabé = pp. 146 f. West 2003. Zur Überlieferung zu Neoptolemos im Einzelnen vgl. Gantz 1993, 687–694. Zu den Manifestationen seiner physis im Drama vgl. auch Ryzman 1991. – Neoptolemos’ späteres Schicksal wird aus dem Philoktet nicht kenntlich, von einer sehr zurückhaltenden Anspielung am Schluss abgesehen: Die vv. 1440 f. sind als Hinweis auch auf Neoptolemos’ Freveltat an Priamos zu verstehen; vgl. Komm. zu 1440 b–1441. 123 Diese unbedingte Einstellung kann dem Publikum auch als naiv und unreif erscheinen; vgl. Heath 1999, 144. 124 Vgl. zu seiner Technik auch Worman 1999, 51–54. – Gegen die These, dass Neoptolemos als Schauspieler in einem von Odysseus entworfenen ‚playlet‘ agiere (LadaRichards 2009), ist einzuwenden, dass nicht – wie beim ‚Kaufmann‘ – eine neue Figur geschaffen wird. Neoptolemos gibt nicht vor, ein anderer zu sein; er wird nur im Rahmen der Intrige partiell seiner Natur untreu, wie er auch selbst erkennt (902 f.).

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auch deshalb so wirksam, weil Neoptolemos sie mit Tatsachen aus seinem Lebensweg verbindet, die für Philoktet glaubhaft sind (343 ff.), und darin kann man eine Ausgestaltung durch Neoptolemos sehen, da Odysseus nur einen Rahmen vorgegeben hatte. Doch wird sich der durch Trug errungene Erfolg für Neoptolemos als nicht unproblematisch herausstellen bei dem Versuch, Philoktet wahrheitsgemäß zu überzeugen. Die Lüge von den vorenthaltenen Waffen seines Vaters (359 ff.) holt ihn später ein, wenn Philoktet, der sie immer noch glaubt, sich darüber wundert, dass Neoptolemos dafür plädiert, sie sollten beide nach Troja fahren (1362–1366). Zwar hatte Neoptolemos nicht wortwörtlich Philoktet versprochen, ihn nach Hause zu bringen, er drückt sich aber im Verein mit dem Chor so aus (507–529), dass Philoktet von einem Versprechen ausgehen muss und sich darauf mehrfach berufen kann (664 f.; 941 f.; 1367 f.; 1398 f.). Aber viel ‚gefährlicher‘ für die Durchführung der Intrige durch Neoptolemos entwickelt sich etwas anderes: Das Vertrauen, das Philoktet Neoptolemos entgegenbringt, bleibt nicht ohne Rückwirkung auf ihn, sodass er sich Philoktet gegenüber verpflichtet fühlt. Zuerst äußert Neoptolemos nur im Rahmen der Intrige (aber zugleich unbewusst eine spätere Wahrheit aussprechend) seine Freundschaft, als ihm Philoktet in Aussicht gestellt hat, den Bogen in die Hand nehmen zu dürfen (671–674). Sein Versprechen, Philoktet bei seinem Krankheitsanfall nicht zu verlassen und den in Verwahrung gegebenen Bogen niemand anderem zu übergeben (757–813), ist jedoch aufrichtig: Er wird es – wobei er erstmals sein Mitleid äußert (759 f.; 806) und so eine beginnende innere Nähe erkennen lässt – gegen die vom Chor vorgebrachten Vorschläge, mit dem Bogen wegzugehen (827–864), halten. Für ihn sind nun nicht mehr nur der Auftrag des Heeres vor Troia und sein eigenes Interesse am Sieg bestimmend, sondern er denkt jetzt auch von Philoktet her: „sein ist der Siegeskranz“ (841), und es erwachen wieder die überwunden geglaubten (120) Skrupel (842) – und das gerade, als mit der Gewinnung des Bogens das Ziel der Intrige faktisch erreicht ist.125 Diese Linie der Annäherung an Philoktet und des Zurückfindens zu seinen ursprünglichen Wertvorstellungen – und damit der Änderung der gegenüber Odysseus eingenommenen Haltung des Neoptolemos126 – setzt sich fort, als nach dem Ende von Philoktets Krankheitsanfall der Gang zum Schiff ansteht. Neoptolemos ist nun nicht mehr in der Lage, sein wirkliches Wesen zu unterdrücken (vgl. bes. 902 f.; 906), und gesteht Philoktet, dem er gerade beim Aufstehen geholfen hat (893), unter Qualen die Wahrheit, ohne allerdings seinem Auftrag untreu zu werden (895–926). Eine weitere Stufe ist erreicht, als Neoptolemos auf die von Enttäuschung und Bitterkeit geprägte Rede Philoktets (927–962) hin dabei ist, den Bogen an Philoktet zurück- und so die Intrige auf–––––––––––– 125 Vgl. Schlesinger 1968, 145. 126 Vgl. Vidal-Naquet 1988, 164 f.: „In the Philoctetes we have an example, unique in Sophocles’ work, of a tragic hero who undergoes a transformation.“ Vgl. auch Segal 1981, 343.

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zugeben (963–974 a). Nur durch das plötzliche Dazwischentreten des Odysseus (974 b ff.) kommt es zu einer Retardierung. Während der Auseinandersetzung zwischen Odysseus und Philoktet (976–1065) sagt Neoptolemos nichts, wie er zuvor schon mit Schweigen auf die Vorwürfe Philoktets reagiert hat (951).127 Als er nach 100 Versen wieder das Wort ergreift (1074), spricht er nicht Philoktet an, sondern den Chor. Wie immer man dieses Verhalten interpretieren will, es lässt auf eine Verunsicherung oder Zerrissenheit schließen, jedenfalls hält er seine Hinwendung zu Philoktet nicht durch. Wenn er dann mit Odysseus und dem Bogen zum Schiffslandeplatz weggeht, tut er das wohl in der Hoffnung, dass es sich Philoktet noch anders überlegt (1078 f.) und er, Neoptolemos, Odysseus und Philoktet gleichermaßen gerecht werden könne. Noch hat sich der Einfluss des Odysseus auf Neoptolemos als stärker erwiesen. In einer neuerlichen Krise, die man sich hinterszenisch während des Kommos (1081–1217) vorstellen muss, gibt Neoptolemos sein halbherziges Verhalten auf und entschließt sich, nun doch den Bogen zurückzugeben.128 Er hat einen eigenen Standpunkt sowohl gegenüber Odysseus als auch gegenüber Philoktet gewonnen, indem er dem ersteren trotz dessen Drohungen die Gefolgschaft verweigert129 und den letzteren daran hindert, mit dem wieder erhaltenen Bogen seinen Feind Odysseus zu töten (1223–1307). Wie es Philoktet ausdrückt, hat er mit der Rückgabe des Bogens die Wesensart seines Vaters Achill gezeigt (1310–1313), hat also zu seiner physis zurückgefunden. Will man diese eigene Positionierung als Ergebnis einer Entwicklung ansehen,130 so besteht sie in einer Festigung dessen, was schon einmal da war.131 –––––––––––– 127 Zu den Formen des Schweigens bei Neoptolemos (teils zur Täuschung, teils als Zeichen inneren Konflikts) vgl. Taplin 1978, 113 f. 128 Dieser Entschluss, so überraschend der Auftritt des Neoptolemos auch ist, kommt jedoch nicht aus dem Nichts. Das Bewusstsein, schändlich zu handeln, war schon in den vv. 842 und 906 artikuliert worden, neben der Äußerung des Mitleids (806; 975 f.; 1074), und in den vv. 965–974 a war der Wille, den Bogen zurückzugeben, nur noch nicht entschieden genug. Die schon zuvor angelegte Einsicht in die Schändlichkeit seines Verhaltens hat sich jetzt ganz durchgesetzt (1228; 1234; 1248 f.), verbunden mit der Erkenntnis, dass er sich den Bogen nicht auf gerechte Weise angeeignet habe (1234; vgl. auch 1246). Eine solch innere Entwicklung, die allerdings mehr zu erschließen ist, als dass sie als ein innerer Kampf dargestellt würde (vgl. Gibert 1995, 153), nimmt gegen T. v. Wilamowitz (1917, 307 f.) auch Schmidt an (1973, 195 ff.; vgl. auch Kirkwood 1958, 158–160), jedoch scheint es nicht ganz glücklich, von einem Verlauf vom οἶκτος zum λόγος zu sprechen. Beherrschend ist in der Auseinandersetzung mit Odysseus die Einsicht in das Unehrenhafte des bisherigen Vorgehens. 129 Seine Argumentation ist dabei rein moralisch-rechtlich (1224–1251). Zwar hat sein Mitleid Neoptolemos Philoktet menschlich nähergebracht, aber es lässt sich nicht allgemein belegen, „that the play shows that emotional responsiveness is necessary in making sound moral decisions“ (so Hawkins 1999, 341). 130 Vgl. die Diskussion bei Gibert 1995, 153–155. Bei Vidal-Naquets (1988) These, im Philoktet werde in der Gestalt des Neoptolemos der Übergang vom Epheben zum Hopliten dargestellt, wird u. a. nicht bedacht, dass Neoptolemos von Anfang an als vollgültiger Kämpfer auftritt (90; vgl. auch 344–347), dem schon vor seiner ‚Entwicklung‘ bestimmt war, Troia mit zu erobern (1335); vgl. auch Winnington-Ingram 1976, 10.

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Tatsächlich hat Neoptolemos sich damit von den Wertvorstellungen des Odysseus völlig gelöst.132 Er schlägt jetzt den Weg ein, den er von vornherein erwogen hat (102) und der der Weissagung des Helenos entspricht (612 f.; 1329–1342), nämlich Philoktet zu überzeugen, aus freiem Entschluss nach Troia zu gehen. Wenn er damit scheitert, bestätigt sich nur scheinbar die Prognose des Odysseus (103); denn gerade durch dessen Intrige ist Philoktet in seiner Verweigerung bestärkt worden, und auch Neoptolemos ist nun der Gefangene seines früheren Verhaltens, das ihn nicht glaubhaft erscheinen lässt, wenn er für die Fahrt nach Troia wirbt (1362 ff.).133 Zudem muss Philoktet immer noch annehmen, Neoptolemos habe ihm die Heimfahrt versprochen (1398–1401). Indem Neoptolemos dies akzeptiert und sich daran hält (wie an das Versprechen, niemandem den Bogen weiterzugeben; 757–813), bringt er zwar ein großes Opfer, denn er verzichtet auf eigenen Ruhm, Troia zu erobern.134 Aber zugleich lässt er sich gerade als der Zuverlässige, der seiner physis gemäß zu seinen Worten steht, als Freund dazu bringen, seiner ursprünglichen Überzeugung zuwiderzuhandeln, dass es richtig und gottgewollt wäre, mit Philoktet nach Troia zu gehen. Für eine Lösung seines Konflikts ist Neoptolemos also auf den Deus ex machina nicht weniger angewiesen als Philoktet. ODYSSEUS: Zwischen legitimem Ziel und Versagen Odysseus ist sicher seit dem Philoktet des Aischylos mit dem Philoktet-Stoff verbunden und spielt in dieser Tragödie und im Philoktet des Euripides die zentrale Rolle dessen, der Philoktet und seinen Bogen mit List nach Troia bringen will. Auch wenn die Zuschauer diese sehr viel älteren Stücke nicht kannten, hatten sie auf jeden Fall eine Vorstellung von Odysseus aus der Odyssee, sodass sie die listige Vorgehensweise, die er im Philoktet des Sophokles ent–––––––––––– 131 Vgl. auch Fulkerson 2006, 52; 56. – Das unterscheidet ihn von Telemach und seiner Art des Erwachsenwerdens, wie sie in Homers Odyssee zu beobachten ist. Zu Telemach als Anregung für die Neoptolemos-Figur des Philoktet vgl. Whitby 1996. 132 Vgl. Schmidt 1973, 210. Dass Neoptolemos’ ‚Ungehorsam‘ nicht als In-Frage-Stellung der Polis-Ordnung verstanden werden muss (so aber Goldhill 1990, 122 f.), zeigt Heath 1999, 151–155. Verfehlt ist Lada-Richards’ Einschätzung von Neoptolemos’ Verhalten (1998, 17–19): Sie geht davon aus, Neoptolemos sei ein ephebischer Initiand (vgl. dazu o. Anm. 130), weswegen sie ihm vorwirft, er hätte als „a ‘good’ and successful initiand“ gegenüber Odysseus’ Ansinnen nicht zögerlich sein und schon gar nicht rebellieren dürfen. Als Kriterien zieht sie dabei u. a. Verhältnisse in Sparta (!) heran, wie sie Isokrates im Zusammenhang einer heftigen Kritik am spartanischen Erziehungswesen beschreibt (Panathenaikos 212–214). Neoptolemos’ Widerstand gegen Odysseus wird schon dadurch, dass er sich in der Sache als im Einklang mit der Weissagung des Helenos befindlich erweist, gerechtfertigt. 133 „His own impassioned attempt to persuade is ‘tripped up’ by the trickery he has earlier employed“ (Easterling 1978, 33). Vgl. auch Taplin 1987, 70–72. – Wie Knox gesehen hat (1964, 119 f.), kommt es darauf an, wer wann mit welchen Mitteln arbeitet. „…, for it is clear that the right method used by the right person at the right time might well have succeeded“ (Zitat 120); vgl. ebd. 137. Vgl. auch Schlesinger 1968, 102 f. 134 Vgl. Visser 1998, 207; 209.

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wickelt, nicht überrascht haben dürfte; möglicherweise hatten sie auch aufgrund weiterer Kenntnisse ein ambivalentes Bild von ihm.135 Wenn man wie Odysseus von der Prämisse ausgeht, dass Philoktet auf keine andere Weise als mit List zu überwinden sei (54 ff.; 96 ff.), ist Odysseus’ Plan klug ausgedacht: Neoptolemos, der für Philoktet unverdächtig ist und zugleich als Sohn Achills prädestiniert, das Vertrauen Philoktets zu gewinnen, scheint die ideale Person zu sein, Philoktet anstelle von Odysseus gegenüberzutreten, der sich nicht gefahrlos bei ihm sehen lassen kann (75 f.). Aber wie Neoptolemos gegenüber Philoktet feststellt, ist Odysseus zwar schlau, werden aber auch schlaue Pläne oft durchkreuzt (431 f.). Und das in tragischer Ironie Gesagte gilt für Odysseus in mehrfacher Hinsicht. Eigentlich weiß Odysseus, dass Neoptolemos von seinem Naturell her nicht für die Intrige geeignet ist (79 f.). Aber er glaubt offenbar diesen ‚Mangel‘ durch den Gewinn, den er Neoptolemos vor Augen stellt (111 ff.), ausgleichen zu können. Bei seinem moralischen Relativismus und seinen rein erfolgsorientierten Maximen (1048– 1052; auch 111)136 ist es für ihn nicht vorstellbar, dass jemand von seinen Prinzipien nicht wenigstens kurzfristig einmal abweichen kann (83–85). Insofern ist Odysseus das genaue Gegenbild zum prinzipientreuen Philoktet.137 Außerdem agiert Odysseus, als habe er es mit einem Philoktet zu tun, wie ihn Aischylos oder Euripides konzipiert hatten, indem er meint, ihn durch die Entwendung des Bogens (77 f.) in seine Gewalt bekommen zu können (14). Er rechnet nicht mit einem Philoktet, der sich dadurch nicht unter Druck setzen lassen wird, sondern eher bereit ist, auf Lemnos zu sterben als nachzugeben (999 ff.). Damit ist aber auch das angeblich einzig erfolgversprechende listige Vorgehen gescheitert; denn die bloße Inbesitznahme des Bogens reicht nicht, wie Odysseus (trotz seiner Behauptung in den vv. 1055–1060) weiß (1297).138 Und schließlich scheint sich Odysseus trotz der Weissagung des Helenos, wonach Philoktet überzeugt werden müsse, in der Wahl der Mittel frei zu fühlen; auch wenn man seine Position nicht mit Sicherheit aus den Worten des ‚Kaufmanns‘ gewinnen kann (614–618), weil sie zweckgebunden erlogen sein könnte, geht sie doch ebenso aus dem faktischen Verhalten des Odysseus hervor. –––––––––––– 135 Vgl. Odyssee 13,291–295 (Athene spricht durchaus anerkennend über seine Verschlagenheit). Vielleicht kannte man aber auch aus den Kyprien seine Beteiligung am Mord an Palamedes (fr. 30 Bernabé = fr. 27 West 2003) oder in der Version von Euripides’ Palamedes (nur fragmentarisch erhalten; T i–vi; F 578–590 Kannicht) seine hinterhältige Intrige, die zum Tod der Titelgestalt führte. Die Zuschauer konnten aus weiteren Euripides-Tragödien auch wissen, wie Odysseus aus ‚Staatsräson‘ zur Opferung der Priamos-Tochter Polyxena (Hek. 299 ff.) und zur Tötung von Hektors kleinem Sohn Astyanax (Tro. 721–725) riet. Die Troerinnen und der Palamedes wurden nur wenige Jahre vor dem Philoktet, im J. 415 v. Chr., aufgeführt. 136 Vgl. Blundell 1989, 187 f. 137 Zur Unvereinbarkeit der moralischen Überzeugungen beider vgl. Blundell 1989, 205 f.; vgl. auch Knox (1964, 121 f.) zu Odysseus als Gegenbild Achills. 138 Die List scheitert also nicht nur dadurch, dass Neoptolemos seine Verstellung aufgibt (so aber Matthiessen 1981, 18).

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Zwar handelt Odysseus, was das angestrebte Ziel angeht, im Einklang mit dem Willen des Zeus, wie am Ende bestätigt wird (1415 ff.) und wie es Odysseus einmal selbst beansprucht (989 f.),139 und sein Einsatz steht auch, wie der Chor sagt (1143–1145), im Dienst der Gemeinschaft.140 Aber die Mittel, mit denen er sein Ziel erreichen will, List und Zwangsandrohung, vor allem sein eigenes Auftreten, verstärken letztlich nur den Widerstand Philoktets. Odysseus’ Ankündigung, Philoktet müsse – ranggleich mit den führenden Kämpfern – Troia erobern (997 f.), hebt mehr den Zwang als eine ehrende Stellung hervor und erfolgt nach und während des entwürdigenden Umgangs mit Philoktet, von dem Odysseus nicht ablässt (1047 ff.) und an dem er bis zum Ende festhält (1222–1258; 1293–1298). So erweist sich sein Vorgehen als völlig verfehlt,141 und seine Grundsätze, die er lehrhaft äußert (96–99; 1049–1052), sind der konkreten Situation nicht angemessen, sodass er schließlich auf ganzer Linie versagt. Das gilt schon, als er bei seiner ersten Begegnung mit Philoktet dessen Widerstand nicht überwinden kann (976–1069), und wird nirgendwo deutlicher als bei seinem letzten Auftritt: Obwohl er weiß, dass er gegen den mit seinem Bogen bewaffneten Philoktet keine Chance hat (75 f.; 103–105), droht er ihm mit Gewalt – das ist wohl als letzte Verzweiflungstat des Gescheiterten anzusehen – und kann sich dann nur noch durch die Flucht retten (1296 b–1307).142 Danach ist von Odysseus keine Rede mehr.143 Odysseus hat zwar einen ‚schlauen Plan‘ (sophisma, 14), aber Beziehungen zur intellektuellen Bewegung der Sophistik sind nicht so offenkundig, wie das vielfach angenommen wird,144 zumal Sophokles Odysseus, der dann als –––––––––––– 139 Vgl. aber Komm. zu 989–993. – Durch Herakles wird (implizit) nur das Ziel des Odysseus als richtig bestätigt; dass damit auch die Weise seines Vorgehens gebilligt werde, wie Paillard (2017, 121) annimmt, ergibt sich daraus nicht. Vgl. auch u. S. 46. 140 Vgl. Komm. zu 1143–1145. Eigennützige Motive sind damit nicht ausgeschlossen; diese betont besonders Blundell (1987, 312 ff.). Vgl. auch o. Anm. 72. 141 Vgl. auch Segal 1995, 102: „Yet the means that he employs still reveal the gap between human and divine purposes.“ Zum Gegensatz zwischen Ziel und Vorgehen vgl. auch schon Scheliha 1970, 15 f. 142 So ist das Bild, das Odysseus insgesamt abgibt, kaum geeignet, Lefèvres Auffassung zu stützen, nach der Odysseus als einziger in diesem Drama uneingeschränkt positiv gezeichnet ist (2001, 207–212). Vgl. auch schon Pucci zu 1251–8. 143 Zwar kann er wegen der Dreischauspielerregel am Ende nicht mehr in Person auftreten, doch hätte Sophokles Herakles auch auf Odysseus’ zukünftige Rolle eingehen lassen können. Aber offenkundig kam es Sophokles darauf an, den Eindruck zu erwecken, als hinge die Eroberung Troias allein von Philoktet mit seinem Bogen und von Neoptolemos ab (115; 1423–1440). So wird auch Odysseus’ Anteil an der Eroberung Troias ausgeblendet, der ihm in der Tradition zugeschrieben wurde (vgl. Homer, Odyssee 8,492– 495: Hölzernes Pferd). 144 Besonders zahlreiche Bezugnahmen erkennt Rose 1992; vgl. z. B. auch Schein, S. 22 f. Aber es erscheint problematisch, ein Verhalten, das nicht archaischer Heldenethik entspricht, auch in einem spezifischen Sinn als sophistisch zu deklarieren: Dann wäre etwa auch der sophokleische Orest als Sophist zu bezeichnen, wenn er seine Intrige, mit der er auf Weisung Apollons (El. 32 ff.) seinen Vater rächen und seine Mutter töten will, mit der Aussage rechtfertigt „Kein Wort, verbunden mit Gewinn, ist schlecht“ (El. 61).

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Sophist gelten müsste, als mögliche Verhaltensweise auch eine offenbar traditionelle ‚Frömmigkeit‘ (1050 f.) für sich beanspruchen und sich als Diener des Zeus bezeichnen lässt (989 f.). Auch ist nicht klar, inwiefern durch Odysseus’ moralischen Opportunismus und seine Haltung, die Mittel ganz dem Zweck unterzuordnen, speziell die politische und moralische Welt des späten 5. Jh.s evoziert werden soll.145 Das Modell eines Odysseus, der um eines höheren Zieles willen Philoktet mit List und Nötigung nach Troia bringen will, stammt bereits von Aischylos aus der ersten Hälfte des 5. Jh.s,146 und als jemanden, der sein Ziel mit allen zu Gebote stehenden Mitteln verfolgt, kennt ihn schon die Odyssee. Er ist ein Typus, wie er ohne Zweifel dem zeitgenössischen Publikum auch aus eigener Anschauung vertraut war,147 aber der mit der Bezeichnung ‚Sophist‘ wohl etwas zu einfach charakterisiert würde. DER FALSCHE KAUFMANN: ‚Odysseus‘ in Aktion Der angebliche ‚Kaufmann‘ ist ein entsprechend angekündigtes (126–131) Geschöpf innerhalb der Intrige des Odysseus (insofern handelt es sich um ein ‚Spiel im Spiel‘),148 der diese beschleunigen soll, faktisch aber zum Gegenteil beiträgt (542–627).149 Er tritt auf in großer Beflissenheit, nicht ohne sich von dem, was er mitzuteilen hat, einen Vorteil zu versprechen, wie er vorgibt –––––––––––– 145

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Vgl. dazu Strohm 1986, 112–115 und Komm. zu 14; Finglass 2007, 110 (zu Soph. El. 61). Vgl. dazu Altmeyer 2001, 235 ff.; Schein, S. 20 f., mit Verweis auf Thukydides’ Beschreibung der Verhältnisse z. Z. des Peloponnesischen Kriegs. – Sophokles gibt Odysseus noch nicht einmal ein ‚patriotisches‘ Plädoyer, das sein Vorgehen rechtfertigen könnte; vgl. Korzeniewski 2003, 526 f. Soweit Sophokles’ Dichtung politisch ist, ist sie nicht tagesgebunden, sondern geht ins Grundsätzliche und betrachtet die Verhältnisse mit Distanz; vgl. Szlezák 1994, 85–87, speziell zum Philoktet Scodel 2009, bes. 57–61. So ist nach Osborne im Philoktet ein zentraler Gegenstand die Frage des gegenseitigen Vertrauens, durch dessen Niedergang er die zeitgenössische politische Situation gekennzeichnet sieht (2012, 281). Einen tagespolitischen Bezug dieses Dramas weist auch Osborne (ebd. 273 f.) mit guten Gründen zurück; anders Bowie 1997, 56–61 (dagegen Scodel 2009, 58); vgl. auch Avezzù 2003, 237–239. Zwar beschreibt Dion den Odysseus des Aischylos folgendermaßen (or. 52,5): „Denn natürlich ließ auch er [sc. Aischylos] Odysseus als schlau und trickreich auftreten, nach den damaligen Maßstäben, doch weitgehend frei von der heutigen Verderbtheit des Charakters, …“ (Übers. Müller 2000, 151–153). Aber er charakterisiert auch den Odysseus des Sophokles überraschend positiv (or. 52,16). Scodel (1984, 97) denkt an den athenischen Politiker Theramenes (Ende 5. Jh. v. Chr.). Vgl. zur ‚mise en abyme‘-Funktion der Szene Dobrov 2001, 29–31. – Die Rolle, die der ‚Kaufmann‘ spielt, unterscheidet sich grundlegend von der des Neoptolemos, wenn er seine Lügengeschichte erzählt (vgl. o. Anm. 124); anders Falkner (1998), der extensiv metatheatralische Elemente im Philoktet überhaupt erkennen will. Der ‚Kaufmann‘ wird zwar vom selben Schauspieler gespielt wie Odysseus, aber es handelt sich nicht um den verkleideten Odysseus (so aber O’Kell 2000, 155; Roisman 2001, 46 f.; Paillard 2017, 103), wie aus den vv. 126–131 klar hervorgeht. In den Personenangaben der Handschriften wird er ΣΚΟΠΟΣ ὡς ΕΜΠΟΡΟΣ genannt. Tatsächlich soll nach der Fiktion des Dramas der Späher (45) die Funktion des ‚Kaufmanns‘ (vgl. Komm. zu 128–129) übernehmen, er ist also ein Mann aus der Schiffsmannschaft des Neoptolemos.

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Einführung

(552). Damit kann er seine Motivation, die Fahrt zu unterbrechen, rechtfertigen und seine Glaubwürdigkeit gegenüber Philoktet erhöhen. Sein anbiederndes Verhalten passt zu einem auf eine Gewinnmitnahme zielenden Charakter. Als jemand, der erklärt, aus Troia später abgefahren zu sein als Neoptolemos, kann er so tun, als bringe er Nachrichten, die Neoptolemos noch nicht kennt. Dabei lässt ihn Sophokles die freie Erfindung benutzen, Phoinix und die Söhne des Theseus seien hinter Neoptolemos her (um ihn nach Troia zurückzuholen), und sich der Philoktet-Version des Euripides bedienen, wenn er sagt, Diomedes und Odysseus wollten Philoktet mit allen Mitteln nach Troia bringen. Indem er sich Letzteres im Dialog mit Neoptolemos nur mühsam abringen lässt, steigert er seine Glaubhaftigkeit noch weiter. Sein Bemühen, Philoktet vom Gespräch auszuschließen, ermöglicht es Neoptolemos, sich auf die Seite Philoktets zu stellen, und stärkt so das Vertrauen Philoktets in diesen. Soweit agiert der ‚Kaufmann‘ einsträngig im Sinne der Intrige, und von dem, was er über die Verfolgungsfahrten sagt, kann sich Philoktet und könnte sich der Zuschauer vorstellen, dass er davon etwas im Hafen der Griechen mitbekommen habe. Aber es passt nicht ganz zu seinem vorgetäuschten Status als Weinhändler aus Peparethos, dass er auch über Details der Helenos-Weissagung und die Reaktion des Odysseus darauf Bescheid wissen will. Da seine Geschichte ihm jedoch von Odysseus vorgegeben sein wird, wollte Odysseus offenbar durch diese Version auch die Legitimation seines Vorgehens vermittelt sehen. Wenn der ‚Kaufmann‘ allerdings berichtet, dass Odysseus versichert habe, möglicherweise auch gewaltsam gegen Philoktet vorgehen zu wollen, lässt er eine Bereitschaft des Odysseus erkennen, sich in Gegensatz zur Weissagung zu setzen, da sich Gewalt nicht mit dem in der Weissagung vorgesehenen Überzeugen verträgt, wie der ‚Kaufmann‘ sie selbst referiert hatte. Die Figur des ‚Kaufmanns‘ erfüllt eine doppelte Funktion, handlungsintern wird durch die Nachricht von der bevorstehenden Ankunft des Odysseus der Druck auf Philoktet, sich Neoptolemos anzuschließen, erhöht, zumal sich beide, weil der ‚Kaufmann‘ behauptet, auch Neoptolemos werde verfolgt (553–564), als Verfolgte betrachten müssen; dramaturgisch wird erstmals die Weissagung des Helenos eingeführt, nachdem Odysseus und Neoptolemos so agierten, als ob sie die Weissagung bzw. ihre Details nicht kennten. Zwar bleibt die Information über die Weissagung, die im Handlungsgeschehen auch keine unmittelbare Konsequenz hat, wegen des Lügencharakters der ‚Kaufmanns‘-Figur mit Zweifeln behaftet, aber dem Zuschauer wird so ein neuer Anhaltspunkt an die Hand gegeben, zu dem er das Verhalten der handelnden Personen in Bezug setzen kann.150 DER CHOR: Helfer seines Herrn Die Mitglieder des Chors nennen Neoptolemos ihren Schiffsherrn (1072), man soll sie sich also als Leute aus seiner Schiffsmannschaft vorstellen (531), „sailor-soldiers“, wie man sich nach Homer die Schiffsbesatzungen im Troia–––––––––––– 150 Zum Wahrheitsgehalt der Aussagen des ‚Kaufmanns‘ vgl. o. S. 29–31.

Sophokles’ Philoktet

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nischen Krieg denken kann.151 Der Chor ist ganz in das Spiel integriert (wie es Aristoteles empfiehlt: Poetik 1456 a 25–27); das geht auch daraus hervor, dass ihm nur e i n reguläres Stasimon gegeben ist (676–729) und er in den übrigen lyrischen Partien – vor allem in der Parodos (135–218) und im Kommos (1081–1217) – dialogisch agiert. Er fungiert wie ein Schauspieler, der als handelnde Figur Neoptolemos bei der Durchführung der Intrige unterstützen will und soll.152 Entsprechend erfragt er von Neoptolemos Handlungsanweisungen (135–137) oder wird von Neoptolemos instruiert (144 ff., bes. 146–149). Am betrügerischen Vorgehen des Neoptolemos wirkt er aktiv mit (391–402; 507– 523; 718–729), wobei er sich auch nicht scheut, in diesem Kontext Götter anzurufen (391 ff.), er versucht sogar, seinen Herrn zu einem Wortbruch gegenüber Philoktet zu verführen (827–864). Es ist kein Widerspruch zur Rolle des Chors als Mitwirkender bei den von Odysseus und Neoptolemos verfolgten Zielen und keine inkonsistente Charakterzeichnung, wenn er über das, was Philoktet in der Vergangenheit erduldet hat, Mitleid empfindet (169–190; 317 f.; 676–717).153 In diesen Passagen benutzt ihn der Dichter zugleich dazu, auch dem Zuschauer das Leid Philoktets nahezubringen. Die Äußerungen des Chors haben hier eine objektiv informierende Funktion. Nachdem Neoptolemos die Wahrheit gestanden hat, redet der Chor im Kommos (1081–1217) im Sinne seines Herrn vergeblich auf Philoktet ein, zu seinem Besten nachzugeben und nach Troia zu fahren, und verteidigt gegenüber Philoktets Vorwürfen sich selbst (1116–1122) sowie Neoptolemos und Odysseus (1140–1145). Dass es der Chor mit seinem Zureden gut meint (1121 f.; 1163–1168), erkennt auch Philoktet (1171), doch findet der Chor keinen Zugang zu Philoktet, weil er auf dessen Befindlichkeit nicht wirklich eingeht.154 Der Chor macht, insofern er nach Aufdeckung der Wahrheit offen spricht, eine seinem Herrn vergleichbare Veränderung durch, die allerdings nur seiner Funktion als loyaler Untergebener seines Herrn entspricht und nicht wie bei diesem als eine innere Umkehr unter seelischen Qualen erkennbar ist. Zur Sinndeutung des Geschehens setzt der Dichter den Chor nicht ein;155 diese Aufgabe kommt Neoptolemos (191–200; 841; 1326–1342), Herakles (1418 ff.) und – ironischerweise – dem ‚Kaufmann‘ zu (610–613).

–––––––––––– 151 Schein, S. 146; Gardiner 1987, 16. 152 Vgl. auch Goldhill 2012, 130 f. – Dass der Chor nicht „as an actor“ an der Handlung teilnimmt (sondern als Chor agiert), wie Kitzinger (2008, 73–75) meint, relativiert diese Aussage nicht. 153 Anders Kitzinger 2008, 76 f. 154 Vgl. dazu o. S. 33; ganz negativ sieht hier die Rolle des Chors Gardiner 1987, 42–44. 155 Mit der Ausnahme, dass er ihn die Unschuld Philoktets an seinem Leiden auf Lemnos betonen lässt (681–686). Zur Charakterisierung und Funktion des Chors vgl. auch Schein, S. 18–20.

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Einführung

Zum Deus ex machina und zur Deutung des Philoktet Als es Philoktet endgültig ablehnt, mit Neoptolemos nach Troia zu fahren, und Neoptolemos zustimmt, ihn (wie versprochen) nach Hause zu bringen, scheint das Drama in einem unauflöslichen Widerspruch zu enden: Einerseits gibt es die Weissagung, Troia müsse im bevorstehenden Sommer fallen, und zwar indem Philoktet freiwillig nach Troia geht (1329–1342), andererseits sieht es so aus, als werde die Eroberung Troias geradezu verhindert, wenn Neoptolemos und Philoktet nach Hause fahren, wobei Neoptolemos damit auch auf den ihm bestimmten Ruhm als Eroberer Troias verzichtet (1402–1408). Während in den Philoktet-Dramen des Aischylos und des Euripides der Konflikt so gelöst wurde, dass Philoktet sich schließlich der ‚nötigenden Überredung‘ fügt, d. h. sich dem Druck beugt, der durch die Wegnahme des Bogens entstanden war,156 hat Sophokles seinen Philoktet nicht so konzipiert, dass er äußerem Druck nachgeben würde,157 und ihm in Neoptolemos ein Gegenüber geschaffen, das ihm in der Entscheidungssituation ethisch kongenial ist. Die Tatsache, dass Sophokles Philoktet die Freiheit seiner Entscheidung und seine Würde belässt, führt allerdings zu dem Ergebnis, dass diese Entscheidung vor dem Hintergrund des göttlichen Planes faktisch falsch ist. Wenn das Drama nicht damit enden sollte, dass ein göttlicher Ratschluss durch menschliches Handeln vereitelt wird, muss notwendigerweise eine Lösung von außen kommen, und das kann bei der eingetretenen Lage nur durch göttliches Eingreifen geschehen.158 Das Erscheinen des Deus ex machina führt zu einer Umstimmung Philoktets, und darüber hinaus wird die Art des Umgangs der Atreus-Söhne und des Odysseus mit Philoktet, die gerade seinen Widerstand hervorrufen musste, korrigiert, wie der würdigende Ton der Rede des Herakles zeigt.159 K. Matthiessen hat die berechtigte Frage gestellt, warum Sophokles Herakles nicht fünfzehn Verse früher hat auftreten lassen,160 also bevor es zu der Entscheidung des Neoptolemos kommt, die dem göttlichen Plan evident zuwiderläuft. Aber dann hätte nicht gezeigt werden können, wie die Mittel der Intrige nicht nur ihr Ziel verfehlen, sondern sich sogar die negative Konsequenz ergibt, dass das griechische Heer weder von Philoktet mit –––––––––––– 156 Vgl. o. S. 9–11. 157 Insofern kann man das Auftreten des Deus ex machina als „Lösung eines ethopoetisch notwendigen ‚Knotens‘ “ bezeichnen (Spira 1960, 28–30). 158 Einen Deus ex machina hatte Sophokles vermutlich bereits in seinem (nur fragmentarisch erhaltenen) Tereus (F **581–595 b Radt2) eingesetzt (vgl. F 581; Fitzpatrick 2001, bes. 98–100; Fitzpatrick / Sommerstein 2006, 153; 189–191). Die Tragödie wurde vor 414 v. Chr. aufgeführt (TrGF IV2, p. 436). In seinem Athamas erscheint Herakles, um die Titelfigur davor zu bewahren, geopfert zu werden (Schol. Aristophanes, Wolken 257 b Holwerda; TrGF IV2, pp. 99 f.), im Peleus scheint Thetis die Funktion einer Dea ex machina gehabt zu haben (Dictys Cretensis 6,9; TrGF IV2, p. 391). Philoktet ist jedoch die einzige erhaltene Tragödie des Sophokles, in der ein Deus ex machina die Lösung eines Konflikts bringt. 159 Vgl. auch Schmidt 1973, 146. 160 Matthiessen 1981, 21.

Sophokles’ Philoktet

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dem Bogen des Herakles161 noch von Neoptolemos Unterstützung erhalten wird.162 Das Auftreten des Herakles ist als Inszenierungseffekt überraschend, aber dass überhaupt ein Gott interveniert, kann man als die Manifestation des göttlichen Wirkens betrachten, das im Verlauf des Dramas schon indirekt zur Sprache gekommen ist.163 Und gerade auch Herakles war immer irgendwie gegenwärtig: vor allem durch die Erwähnung des Dienstes, den Philoktet Herakles erwiesen hat und mit dem er den von Neoptolemos für sich selbst erwünschten parallelisiert (799–803), durch den Hinweis auf die Herkunft des heiligen Bogens (942 f.), um den es die ganze Zeit geht, und dadurch, dass Philoktet sich sogar als Gefährten des Herakles bezeichnet (1131).164 Was der ‚Kaufmann‘ zu wissen behauptete (604–619), was Odysseus als Gehilfe des Zeus beanspruchte (989 f.) und was im Munde des Neoptolemos nur ein Bericht über die Weissagung eines gefangenen Sehers war (1336–1347), erhält jetzt eine autoritative Bestätigung durch den von den Göttern kommenden Zeus-Sohn Herakles (1409–1444). Für Philoktet entsteht dadurch eine völlig neue Lage: Er hat nunmehr absolute Gewissheit über den Plan des Zeus und kann sich daher auf diesen einlassen, und zwar gegenüber einem ihm durch ein früheres Ereignis (670; 801–803) verbundenen Überbringer von Zeus’ Ratschluss, sodass er ohne Beeinträchtigung seiner Reputation (1352 f.) einwilligen kann. Allerdings verkündet Herakles nicht nur, was sein wird; er fordert Philoktet und Neoptolemos auch imperativisch auf, seinen Worten entsprechend zu handeln (1433). Philoktets schnelle Zustimmung (1447) ist denn auch so formuliert, dass sie keine Freudenäußerung ausdrückt, vielmehr die Einsicht, dass sie notwendig und richtig ist (1466–1468). Philoktet gibt sie gegenüber einer mit Autorität ausgestatteten göttlichen Boten, der eine Parallele herstellt zwischen ihrer beider Schicksale (1418–1422), der ihm als einzige Figur in diesem Drama eine Rehabilitation um seiner selbst willen ankündigt (1425) und der nicht nur von –––––––––––– 161 Er würde gegebenenfalls zum Schutz des Neoptolemos sogar gegen die Griechen eingesetzt (1406 f.), statt dass mit ihm seiner Bestimmung gemäß für die Griechen Troia erobert würde (1439 f.). Newman (1991, 307) sieht in der Bereitschaft Philoktets, Neoptolemos mit seinem Bogen zu verteidigen, eine Entgegnung für den Freundschaftsdienst, den Neoptolemos ihm erweisen will. 162 Matthiessen, der die Besonderheiten der Intrigenhandlung im Philoktet und ihr Scheitern sorgfältig herausgearbeitet hat (1981, 13–18), sieht die Antwort darin, „daß Neoptolemos mit seiner Bereitschaft, Philoktet heimzubringen, seine Verstoßung aus der Gemeinschaft der Menschen endgültig aufhebt“ (1981, 22). Aber Philoktet wurde allein aus dem Heer verstoßen und seine Reintegration hätte sich auch bei einem früheren Auftreten des Herakles ergeben, wenn beide zusammen nach Troia gehen. 163 Insoweit hat Pucci recht, wenn er das Erscheinen des Herakles mit der in v. 196 erwähnten µελέτη eines der Götter in Beziehung setzt (1994, 31–34), wenn er auch den Deus ex machina im Ganzen anders deutet als hier vertreten (ebd. 34 ff.). – Die Vorstellung, der Deus ex machina sei in Wirklichkeit der als Herakles verkleidete Odysseus (so O’Kell 2000, 155; Roisman 2005, 109–111; Paillard 2017, 103; vorsichtiger auch Thévenet 2008, 56–62), erscheint abwegig. 164 Vgl. auch Kirkwood 1994, 426.

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einer schicksalhaften Bestimmung spricht, der er sich fügen solle, sondern ihm zugleich auch die Heimkehr verheißt (1428–1430). Daher ist Philoktets Einwilligung auch aus seiner Sicht trotz seiner bisherigen beharrlichen Weigerung nicht unverständlich. Insofern bewirkt der Deus ex machina im Philoktet ein fortsetzendes Zu-Ende-Führen der bisherigen Handlung und steht nicht im Gegensatz zu ihr.165 Der für ihn widerwärtigen Begegnung mit den Söhnen des Atreus und mit Odysseus (1354–1357) wird Philoktet nicht enthoben sein,166 aber dieses Problem bleibt bei dem Auftritt des Herakles ausgeblendet; eine letzte Andeutung des Unbehagens zeigt sich daran, dass Philoktet den Namen des Fahrtziels Troia nicht ausspricht (1465–1468). Für Neoptolemos ist die Zustimmung zu Herakles (1448) ohnehin kein Problem, fügt sich jetzt doch alles so, wie er es schon lange Zeit wollte. Nach dem Willen des Zeus soll Philoktet Paris als den Schuldigen ‚an dem ganzen Elend‘, wie Herakles es ausdrückt, töten (1426 f.) – so wird in geradezu aischyleischer Weise Gerechtigkeit im Sinne des Zeus hergestellt werden (vgl. Aisch. Ag. 60–62) –, und es soll die Bestimmung erfüllt werden, dass Troia zum zweiten Mal durch den Bogen des Herakles fällt (1439 f.). Der Gedanke, dass das Anliegen des griechischen Heeres vor Troia Vorrang vor den Wünschen des Einzelnen habe und Philoktet daher verpflichtet sei, sich für die Gemeinschaft einzusetzen, spielt keine Rolle.167 Dieses Motiv, das sich aus dem Philoktet-Stoff gut entwickeln ließe, ist bei Sophokles nicht prominent. Um einen Ausgleich herzustellen zwischen der schicksalhaften Notwendigkeit und der selbstbestimmten Würde seiner Gestalten sowie deren heroischem Festhalten-Können an ihren Überzeugungen, lässt Sophokles sie auf das Wunder der göttlichen Epiphanie angewiesen sein. Die Alternative wäre die –––––––––––– 165 Vgl. auch o. S. 35 f. – In eine vergleichbare Richtung gehen bei Unterschieden im Einzelnen die Deutungen etwa von Pratt 1949, 186; Schmidt 1973, 245–248; Easterling 1978, 33 f.; Gill 1980, 142–144; Winnington-Ingram 1980, 299–301; Kamerbeek, S. 23 f.; 188; Segal 1981, 352; 1995, 109 f.; Hösle 1984, 141–143; Blundell 1989, 220 ff.; Fusillo 1990, 44–46; Müller 1997, 251 ff.; Visser 1998, 241 ff., bes. 259–261; Schein 2001; Schein, S. 29 f.; Van Nortwick 2015, 78. – Einen detaillierten Überblick über die z. T. deutlich differierenden Deutungsmuster bietet Visser 1998, 241 ff.; vgl. auch Schein, S. 28 f. So erklärt man z. B. den Schluss als durch die mythischen Vorgaben bedingt, es handle sich um „the arbitrary intervention of Herakles, which is necessary that the requirements of the legend may be fulfilled“ (Linforth 1956, 156), oder man versteht das Auftreten des Herakles symbolisch, z. B. als „eine richtungsweisende Vorstellung des um Erkenntnis ringenden schwer geprüften Mannes Philoktet, das ins Göttliche projizierte Modell“ (Erbse 1966, 200; ähnlich Deicke 1999, 185–187; vgl. auch schon Whitman 1951, 177; 187 f.), oder als gattungsbedingt, indem man das Stück als melodramatisch im Stil bestimmter euripideischer Dramen einstuft, sodass der Deus ex machina einfach die Funktion hat, „to give a final twist in a play full of surprises“ (Craik 1979, Zitat S. 22), um nur einiges zu nennen. 166 Insofern kann man mit Segal (1981, 338) sagen: „Heracles’ appearance is both a victory and a defeat for Philoctetes.“ 167 Noch nicht einmal Odysseus als Repräsentant des griechischen Heeres hat sich darauf berufen, sondern auf einen Beschluss des Zeus (989 f.), und entsprechend hat Neoptolemos mit Seherspruch (1344–1347), Götterwillen und persönlicher Freundschaft (1375– 1377) argumentiert.

Sophokles’ Philoktet

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bittere, aber realitätsnähere ‚realpolitische‘ Vereinnahmung des für den Sieg Gebrauchten, wie sie etwa für den euripideischen Philoktet anzunehmen ist. So wird man den Schluss als eine Art ideale Vorstellung davon ansehen dürfen, wie ein tief verletzter Mensch schließlich, ohne seine Integrität zu verlieren, in etwas einwilligt, was er unter allen Umständen hat vermeiden wollen, indem er sich in die göttlichen Bestimmungen einfügt. Der Philoktet ist somit ein Drama um unverdientes Leid und Selbstbehauptung, Betrogen-Werden, missbrauchtes Vertrauen und Freundschaftsfähigkeit, schließlich Auszeichnung und Selbstüberwindung einer herausragenden Persönlichkeit im Rahmen eines göttlichen Plans (191–200; 1326; 1415).168 Wie in anderen Dramen des Sophokles wird auch in diesem Drama nicht erklärt, warum die Götter solche Schmerzen, wie sie Philoktet ohne eigenes Verschulden erdulden muss, einem Menschen zumuten (wobei es die anderen Menschen sind, die für die göttlich bestimmte Fernhaltung Philoktets von Troia die schier unerträglichen konkreten Bedingungen geschaffen haben).169 Sophokles zeichnet jedoch durch die Einführung des Deus ex machina im Philoktet dramenimmanent ein versöhnlicheres Bild menschlichen Schicksals, als er es in manchen seiner früheren Tragödien (z. B. Antigone oder König Ödipus) vor Augen gestellt hat. Denn immerhin wird Philoktet als Ausgleich für dieses Leid von Herakles Heilung, Erfolg und Ruhm verheißen (1421–1438). Die Erhöhung Philoktets erfolgt analog zu dem Muster, das für Herakles selbst gilt, der nach vielen Mühen zu unsterblichem Ruhm gelangte (1418–1420). Dahinter steht ein Gedanke, der bereits in Homers Ilias begegnet: Mehr als eine solche Mischung von Gutem und Schlechtem wird den Sterblichen von Zeus nicht zugeteilt; ausschließlich Gutes erhält man nicht, allenfalls nur Schlechtes, wie es Achill Priamos zum Trost erläutert (24,527–533). Allerdings hat Priamos sein Leid nach dem Glück erfahren. Bei Herakles und Philoktet geht es um die Kompensation erlittener Mühsal durch spätere Erhöhung. Was Sophokles in hohem Alter für die Titelgestalt des König Ödipus im Ödipus auf Kolonos nach Jahrzehnten ergänzt hat, indem er für Ödipus nach all seinen Leiden ein versöhnliches Ende konzipierte,170 ist in dem ebenfalls späten Philoktet in ein und demselben Drama vereinigt. Im Unterschied zum Ödipus im Ödipus auf Kolonos, der im Tod erhöht wird, haben Philoktet und Neoptolemos die ihnen prophezeiten Erfolge und ihren Ruhm auf Erden noch vor sich, d. h., sie müssen sich im Leben noch bewähren. Im Hinblick darauf schließt Herakles mit einer Warnung vor der dem Erfolg inhärenten Gefahr zur Hybris: Habt fromme Scheu vor den Göttern, wenn ihr das Land zerstört (1440–1444).171 Diese Warnung ist zwar allgemein formuliert, der durch die literarische Tradition informierte Zuschauer kann sie –––––––––––– 168 Hinter diesen allgemein menschlichen Aspekten treten mögliche politische Bezüge eher zurück; vgl. o. Anm. 72; S. 43 mit Anm. 145. 169 Vgl. Robinson 1969, 54. 170 Vgl. Schmidt 1973, 247. 171 Vgl. Komm. zu 1440 b–1441 und 1442–1444.

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aber besonders auf Neoptolemos’ sagenchronologisch späteres Fehlverhalten bei der Eroberung Troias beziehen. Die Warnung weist jedoch zugleich auch über dieses konkrete Drama hinaus: Das Gute, das die Götter jetzt geben, kann durch menschliches Fehlverhalten auch wieder zunichtegemacht werden.

Zur Rezeption von Sophokles’ Philoktet Der Philoktet-Stoff blieb auch nach den Dramen der drei großen Tragiker ein literarisches Thema, und das Interesse an dramatischen Neugestaltungen – und im Wesentlichen darauf soll hier das Augenmerk gerichtet werden – besteht bis in jüngste Zeit. Dabei spielt für die Vermittlung des Stoffes Sophokles’ Philoktet eine besondere Rolle, weil für die Rezeption in der Neuzeit nur noch sein Drama als Ganzes zur Verfügung stand, wenn man sich auf eine dramatische Version beziehen wollte. Allerdings ist in einigen Fällen zu vermuten, dass neben Sophokles und gelegentlich Euripides’ Philoktet, soweit er bekannt war und zur Kenntnis genommen wurde, die Neufassungen selbst ihrerseits spätere Adaptionen beeinflusst haben.172 Für die Antike lassen sich nur sehr wenige literarische Zeugnisse finden, die unzweifelhaft auf das Drama des Sophokles Bezug nehmen. Die Komödie des Strattis wurde als mögliches Rezeptionszeugnis schon genannt.173 Im 4. Jh. v. Chr. hat der Dichter Theodektes eine Philoktet-Tragödie verfasst (TrGF I2 72 F 5 b), auf deren Titelgestalt Aristoteles verweist als auf jemanden, der von einem unwiderstehlichen Schmerz überwältigt wird.174 Theodektes hat also das Geschehen auf Lemnos dramatisiert, und wenn der Aristoteles-Kommentator Aspasios die Version des Theodektes zuverlässig wiedergibt, kam darin Neoptolemos vor.175 Insoweit stünde Theodektes in der Tradition des Sophokles, jedoch liegt bei ihm die stoffliche Variante vor, dass Philoktet nicht in den Fuß, sondern in die Hand gebissen wurde.176 Wieweit Theodektes von Sophokles beeinflusst war, lässt sich daher nicht sagen. Wie sich die Komödie Philoktet von Theodektes’ Zeitgenossen Antiphanes (fr. 218 K.-A.)177 zu –––––––––––– 172 Eine sehr detaillierte Darstellung der Rezeption von der Antike bis zur Gegenwart in Literatur, bildender Kunst, Musik und Film bietet Dugdale 2017, 83–145; im Bereich der Antike bezieht er dabei auch Nachwirkungen des Philoktet-Stoffs mit ein, die sich nicht spezifisch auf Sophokles’ Philoktet zurückführen lassen. 173 Vgl. oben S. 13. 174 Aristoteles, Nikomachische Ethik 1150 b 9 f. 175 Der Text ist in TrGF I2 72 zu F 5b aufgeführt. 176 Das ist daraus zu erschließen, dass Philoktet in dem einzigen erhaltenen Fragment (5b) jemanden dazu auffordert, ihm die Hand abzuhauen. 177 Ein unter Antiphon (TrGF I2 55 F 3) genannter Philoktet ist der des Antiphanes; vgl. Snell im Apparat zu F 3; Stobaios 4,501,10, vol. V, p. 1022 Hense mit Anm. zu 10.

Zur Rezeption von Sophokles’ Philoktet

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Sophokles verhielt, muss ebenfalls offenbleiben. In Rom hat Accius (Ende 2. Jh. v. Chr.) eine Philoktet-Tragödie verfasst, die im Wesentlichen der Tragödie des Euripides folgt, aber in einzelnen Elementen auch von Sophokles beeinflusst ist.178 Weitere Belege für eine Rezeption, die ausschließlich der sophokleischen Tragödie zuzurechnen ist, sind aus der Antike nicht mehr nachzuweisen. In augusteischer Zeit ging zwar Ovid in seinen Metamorphosen auf die Geschehnisse um Philoktet ein, jedoch, soweit er nicht eigenständig ist, unter Verwendung der auf Euripides und Accius zurückgehenden Tradition.179 Auch der griechische Epiker Quintus Smyrnaeus (wohl 3. Jh. n. Chr.) ist jedenfalls in der Darstellung der Lemnos-Episode (Posthomerica 9,333–425) nicht von Sophokles inspiriert; das Konzept einer Beteiligung des Diomedes neben Odysseus an der Rückholung Philoktets dürfte letztlich durch das Stück des Euripides vermittelt worden sein.180 Die aus dem 4. Jh. stammende lateinische Version von Dictys Cretensis’ Werk (Ephemeris belli Troiani) beruht in den Passagen zu Philoktet (bes. Buch 2) ebenfalls nicht auf Sophokles. Überhaupt scheint der Philoktet des Euripides, soweit ausdrückliche Zitate ein Indiz sind, in der Antike den größeren Einfluss ausgeübt zu haben.181 In der Zeit zwischen der Antike und dem Beginn der Neuzeit kommt zwar Philoktet als Teilnehmer am Zug gegen Troja in verschiedenen nicht-dramatischen Werken vor,182 aber es ist nicht erkennbar, dass dafür die Tragödie des Sophokles das Vorbild war, wenn auch die Geschichte der Aussetzung Philoktets ausgehend von Ovids Metamorphosen oder auch vermittelt durch die Angaben bei Dictys bekannt war.183 Die Grundlage für die Rezeption in der Neuzeit184 waren die Ausgaben des Sophokles-Textes (zuerst die bei Aldus Manutius 1502 in Venedig verlegte) und die ab 1543 bzw. ab 1725 erschienenen Übersetzungen ins Lateinische

–––––––––––– 178 Vgl. Müller 1997, 260–284, bes. 283 f. 179 Metamorphosen 13,45–54 (Anklage des Aias); 313–334 (Verteidigungsrede des Odysseus); 399–403 (abschließender Bericht des Dichters). Vgl. Müller 1997, 285 ff. 180 Vgl. Müller 1997, 299 mit Anmerkungen; vgl. auch o. Anm. 22. – Ovid, Tristien 3,12,37 f. könnte allerdings durch Soph. Phil. 221; 301–304 beeinflusst sein (Dugdale 2017, 87). 181 Vgl. Dugdale 2017, 83 f. 182 Z. B. in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg, wo Philoctet (während eines dreimonatigen Waffenstillstandes) vom Tod des Hercules erzählt (vv. 37866–38744). Konrad von Würzburg scheint sich auf den Fabularius des Konrad von Mure (p. 86 van de Loo) zu stützen, der seinerseits auf einen Mythographen zurückgeht; vgl. Worstbrock 1996, 280 Anm. 20. 183 Allerdings weiß Thomas von Aquin von dem Drama des Sophokles, vermittelt durch Aristoteles’ Nikomachische Ethik (Sententia libri ethicorum 7,2 [1146a19–21]; 7,9 [1151b18–21]; Tabula ethicorum cap. 12, vox 11). 184 Vgl. dazu neben Dugdale (2017, 91–139) die instruktiven Überblicke bei Flashar 1999 und Schein, S. 45–58, sowie Mandel 1981, 123–149 (vor allem zu Darstellungen in der bildenden Kunst).

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und in verschiedene moderne Sprachen.185 Die früheste dramatische Adaption von Sophokles’ Philoktet ist Il Filottete. Tragedia morale (ediert 1641) des Jesuiten Ortensio Scammacca (1562–1648), in der am Schluss nicht Herakles, sondern die väterliche Autorität des Peante (Poias) Filottete bewegt, nach Troia zu gehen. Beliebt war das Philoktet-Thema im 18. Jh. in Frankreich.186 Bekannt sind drei Theaterstücke: Philoctete, Tragédie von Jean Baptiste Vivien de Chateaubrun (gedruckt 1756); Philoctete, Tragédie von Jean-François de La Harpe (zuerst aufgeführt 1783); Philoctete, Tragédie von Antoine-François-Claude Ferrand (publiziert 1786). Bei Chateaubrun lebt außer Philoctete auch seine Tochter Sophie (und deren Gouvernante) auf Lemnos, was eine Liebesbeziehung zwischen Sophie und Neoptolemos, der hier Pirrhus heißt, ermöglicht; ihm gibt Philoctete schließlich seine Tochter zur Frau. Ulisse als Vertreter der Staatsräson kann am Ende Philoctete gewinnen, mit nach Troye zu ziehen. Näher an Sophokles ist die Fassung La Harpes, die sich als Übersetzung gibt (auch Hercule ist beibehalten), aber gekürzt ist (so lässt der Autor die Kaufmanns-Szene als überflüssig weg). Bei Ferrand fehlt der Deus ex machina, wie bei den meisten Neubearbeitungen, und es ist Néoptolème, der schließlich Philoctete überzeugen kann, ihn nach Troia zu begleiten. In Deutschland gab es im 18. Jh. weder Theateraufführungen noch dramatische Adaptionen von Sophokles’ Philoktet, doch war das Leiden Philoktets ein Gegenstand in der literatur- und kunsttheoretischen Diskussion.187 An dieser beteiligte sich (auf Seiten des Archäologen und Kunsttheoretikers Johann Joachim Winckelmanns) auch Johann Gottfried Herder, vom dem die einzige, kurze Nachdichtung aus dieser Zeit stammt: Philoktetes. Scenen mit Gesang (1774), vertont von J. C. F. Bach.188 Die Handlung ist eine ganz auf Neoptolem und Philoktet konzentrierte Abbreviatur des sophokleischen Dramas, mit Schwerpunkten auf der trügerischen ersten Begegnung der beiden und der Enthüllung und Entzweiung nach Philoktets Anfall. Auch hier gibt Neoptolem den Bogen schließlich zurück, aber bevor er darauf argumentativ aufbauen kann, erscheint schon Herkules, dem Philoktet freudiger als bei Sophokles folgt: „Sich unters Schicksal schmiegen ist, es besiegen!“ (78). –––––––––––– 185 G. B. Gabia (lat.) 1543; V. Winsheim (lat.) 1546; Th. Sheridan (engl.) 1725; P. Brumoy (franz.) 1730; J. J. Steinbrüchel (dt.) 1760; T. G. Farsetti (ital.) 1767. Weiteres bei Schein, S. 47 f. 186 Auslöser war vermutlich der Roman Les avantures de Telemaque von François de Salignac de La Mothe Fénelon, Paris 1699. Darin besucht im 12. Kapitel Telemach den alten Philoktet im süditalischen Petelia, und dieser erzählt ihm seine Geschichte, hauptsächlich nach Sophokles, jedoch mit Veränderungen, vor allem durch eine positivere Zeichnung des Odysseus; vgl. Mandel 1981, 127–129; Schein, S. 46 f. – Die Figur des Philoctete in Voltaires Œdipe (aufgeführt 1718) hat mit der antiken Gestalt (außer dass sie als Freund des Hercule bezeichnet wird) nichts gemein und sagt daher für die Sophokles-Rezeption nichts aus. 187 Vgl. o.S. 18. 188 Herder, Sämtliche Werke, Bd. 28, S. 69–78 (zur Datierung und Vertonung durch Bach vgl. S. 555).

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Das 19. Jh. war Sophokles’ Philoktet weniger gewogen als das 18. Am Anfang steht das Verdikt Hegels,189 und es gab – soweit in der APGRD-Database verzeichnet190 – auch nur wenige Aufführungen des sophokleischen Stücks. Erst am Ende des Jh.s leitete André Gide mit seinem Philoctète ou le traité des trois morales (1899) eine Renaissance der Philoktet-Thematik ein, die sich dann im 20. Jh. mit einer ganzen Reihe von Bearbeitungen191 (und zahlreichen Aufführungen des Originals) fortsetzt. In Gides Version erwartet Ulysse, auf einen Philoctète zu treffen, wie er bei Sophokles dargestellt wurde, doch dieser hat in der Einsamkeit in nahezu solipsistischer Weise zu sich selbst gefunden, er singt, wenn er allein ist (empfindet Schmerz nur in Gegenwart von Menschen), nähert sich dem Zustand, ganz Denken zu sein, sieht die Tugend in einer Hingabe an etwas Höheres als Vaterland und Götter, nämlich sein Selbst, worüber er nicht weiter sprechen kann. Er trinkt freiwillig ein Schlafmittel und führt durch sein Einschlafen eine Situation herbei, dass man ihm den Bogen nehmen kann (der für den Sieg der Griechen genügt), und siegt so über Ulysse (was dieser auch anerkennt). Um sein Glück zu finden, braucht Philoctète am Ende keinen Deus ex machina, es genügt ihm zu wissen, dass die Griechen nicht zurückkommen werden, da es keinen Bogen mehr gibt, den sie holen könnten: „Ils ne reviendront plus; ils n’ont plus d’arc à prendre … – Je suis heureux“ (463). Jetzt ist er nur noch er selbst, hat alles hinter sich gelassen und wird damit belohnt, dass Blumen um ihn erblühen und die Vögel nun von selbst kommen, ihn zu nähren („Sa voix est devenue extraordinairement belle et douce; des fleurs autour de lui percent la neige, et les oiseaux du ciel descendent le nourrir“, 464).192 Gides Fassung wurde im deutschen Sprachraum durch die Übertragungen Rudolf Kassners (1901 und 1904)193 bekannt und hat sehr wahrscheinlich Einfluss auf die Gestaltungen von Karl von Levetzow und Rudolf Pannwitz ausgeübt. In Levetzows Der Bogen des Philoktet (1909) lebt Philoktet nicht allein, sondern mit zwei Naturwesen, „die gewöhnlichen Augen verborgen sind“ (29), dem jungen hübschen Faun Kallotragos und der sinnlichen Oreade Syrinx, die mit ihren Kräutern seine Wundschmerzen lindert. Er hat sich in seiner Einsamkeit eingerichtet und will von Menschen nichts mehr wissen, nur, als ihm das Kommen der Griechen gemeldet wird, den Rachetriumph genießen, ihnen den Bogen vorzuenthalten (15–35). Als Neoptolem (hier Sohn des Herakles) zögert, Odysseus’ Intrigenplan auszuführen, Philoktet bei einem Anfall den Bogen zu entwenden, wird er von Odysseus mit der Unterstellung, Philoktet sei der Mörder des Herakles und Dieb des Bogens, der eigentlich ihm, dem Sohn, gehöre, neu angestachelt. In einem langen Gespräch klärt Philoktet –––––––––––– 189 190 191 192

Vgl. o. Anm. 48. Vgl. http://www.apgrd.ox.ac.uk (8.3.2017) s. vv. Philoctetes, Philoktet usw. Vgl. Lefèvre 2012, mit Analysen der einzelnen Stücke. Eine Chiffre für den Dichter als Einsiedler, von den Vögeln ernährt wie Paulus Eremita von einem Raben; vgl. Lefèvre 2012, 49. 193 Vgl. dazu Lefèvre 2012, 51–61.

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Neoptolem dann auf: Er müsse lernen, s e i n e Tat zu finden, wie Herakles es tat; der Olymp sei in uns, es existierten keine Götter außer uns selbst (83; 86), es gebe nur Menschen und (außergewöhnliche) Andere wie Herakles (86 f.). Für Philoktet hatte seine größte Tat, Herakles auf dem Scheiterhaufen von seinen Schmerzen zu befreien, eine doppelte Konsequenz: Er erhielt den Bogen, aber auch die Wunde, die von einem der vergifteten Pfeile stammt (39– 91). Neoptolem lässt sich weder durch den Anfall Philoktets noch durch die Initiativen des Odysseus dazu verleiten, den Bogen zu nehmen, bewahrt ihn vielmehr für Philoktet und hat dadurch zu seiner, der des Herakles würdigen Tat gefunden. Daraufhin schenkt Philoktet Neoptolem den Bogen zur Eroberung Troias. Er will nicht mehr nach Hause, das Gift macht ihn zwar letztlich blind, aber er ist jetzt vom Schmerz der Wunde befreit, er fühlt sich als Sieger über das Gift und stürzt sich freudig, Herakles entgegen, in den Tod (95–124). Rudolf Pannwitz’ Philoktetes. Ein Mysterium (1913), ein „epilog … heroischer welt“,194 lässt sich als düsterer Gegenentwurf zu Levetzows Fassung lesen. Das Drama gehört zu Pannwitz’ Friedrich Nietzsche gewidmeten „Dionysischen Tragödien“. Das in z. T. eigenwilliger Sprache verfasste Stück beginnt mit einem Dialog zwischen einem zynischen, jeglicher heroischen Moral entfremdeten Odysseus und Neoptolemos, in dem sich der Sohn Achills relativ leicht bereden lässt, sich den Bogen anzueignen. Es folgt ein aus der Höhle gesprochener Monolog des Philoktetes: Er habe beim Zug nach Troia verraten, wo sich die von Herkules vergrabenen Waffen befanden. Die Verwundung durch einen Giftpfeil (vgl. Levetzows Fassung) empfindet er als Strafe dafür. Die Verwendung von Gift durch den Helden Herkules problematisiert er und gelobt, dass den Bogen niemand außer Herkules selbst wiedererhalten solle. Aber im abschließenden Dialog mit Neoptolemos erkennt Philoktet, dass die Griechen sein Gift wollen und gesehen haben, dass sie nicht mit „des Herkules edelen waffen“ und auch nicht den von Hephaistos geschmiedeten siegen werden, sondern mit Gift (83), und übergibt Neoptolemos Bogen und Pfeile, denn „Wenn ichs behielte – / Oh ihr Himmlischen schüfet es neu!“ (89). Keiner ahnt, wie Philoktetes mit bitterem Lachen feststellt, dass somit er, der in seiner Höhle einsam vor sich hinstinkt, der wahre Eroberer von Troja ist (ebd.). In einer letzten Aufwallung schleudert der von den Menschen und vom Schicksal Betrogene Felsblöcke gegen das abfahrende Schiff und schreit: „Fluch! verderben! untergang euch allen!“ und bricht mit den Worten zusammen: „Wehe! wehe! gift des Herkules!“ (90).195 Näher an Sophokles’ Text als Gide und seine deutschsprachigen Nachfolger, auch formal durch die Beibehaltung eines Chors, ist Bernt von Heiselers Der Bogen des Philoktet. Drama nach Sophokles (1947). Was ihn beeindruckte an Sophokles’ Philoktet, seinem Vorbild, formulierte er so: „Kein Trug und kein Zwang darf die Freiheit einer Seele verletzen, denn diese ist kostbar und unersetzlich, selbst einer schwerwiegenden politischen Notwen–––––––––––– 194 Pannwitz 1921, 42. 195 Vgl. auch die Deutung bei Lefèvre 2012, 88–102.

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digkeit gegenüber: das ist die Einsicht, auf welcher der ‚Philoktet‘ von Sophokles aufgebaut ist“ (379). Demgemäß löst sich auch sein Neoptolemos von Odysseus’ Intrigenplan und gibt Philoktet den Bogen zurück. Aber neben diesem hohen Ethos vermittelt das Stück noch eine andere moralische Position: Philoktet lässt sich von Neoptolemos belehren, freiwillig nach Troia mitzugehen. Dabei sagt Neoptolemos vom Krieg um Troia: „Er schlägt, beraubt, verdirbt uns, und wir müssen / Ihn doch ertragen, wenn er vor uns aufsteht. / Es kam auf uns, es riß uns alle fort / Aus unserem Eignen, stieß uns da hinein, / Und keiner ist, dem nicht die süße Heimat / Sehnlich im Traum erscheint – und keiner doch / Entzieht sich dem gemeinsamen Verhängnis“ (376 f.). Von Heiseler selbst deutet die Teilnahme am Krieg so: „Der Trojanische Krieg steht in diesem Drama nicht als kriegerisches Motiv, keine Fanfare wird hier geblasen; vielmehr als Zeichen eines großen gemeinsamen Schicksals, von dem niemand sich lossagen kann. Der zurückgegebene Bogen wird zur Verpflichtung in den Händen Philoktets“ (379). Zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs liest sich diese Aussage als kollektive Rechtfertigung all derer, die sich widerstandslos dem ‚Verhängnis‘ fügten. Wie man die ‚Moral‘ von v. Heiselers Drama auch immer einschätzen mag, Heiner Müllers sprachgewaltiger Philoktet (1958/64) soll ausdrücklich keine haben; nach der Angabe im Prolog führt das „Spiel in die Vergangenheit / Als noch der Mensch des Menschen Todfeind war / Das Schlachten gewöhnlich, das Leben eine Gefahr“ (9). Das kann nur als eine der Situation in der damaligen DDR geschuldete, ironische Verschleierung verstanden werden, denn Müllers Drama stellt die Verhältnisse ungleich radikaler dar, als er es seinem Hauptvorbild aus der ‚Vergangenheit‘, dem sophokleischen Philoktet, je entnehmen konnte: Müller hält seiner (und nicht nur seiner) Gegenwart den Spiegel vor. In seinem Drama sind Neoptolemos und Odysseus tatsächlich verfeindet; Neoptolemos’ Rache für die als wirklich angenommene Vorenthaltung der Waffen seines Vaters ist wegen der Mission, Philoktet nach Troja zu holen, nur aufgeschoben (16 f.). Philoktet wird gebraucht, damit seine Mannschaft kämpft (15); er hasst (wie bei Euripides)196 nicht nur seine persönlichen Feinde, sondern alle Griechen (20 f.), und er bleibt auch unbeugsam, als er den ihm abgelisteten Bogen wiedererlangt hat: Er kann ihn sich nehmen, als Neoptolemos ihn zurückgeben will und es dabei zu einem Kampf zwischen Odysseus und Neoptolemos kommt (45). Auch Odysseus’ Angebot zu sterben (48) erweicht ihn nicht. Als Philoktet Odysseus töten will, wird er von Neoptolemos hinterrücks erstochen (50). Daraufhin ändert Odysseus plötzlich seine Meinung: Troja könne auch ohne Philoktet eingenommen werden (51 f.). Odysseus hat auch schon die passende Version für die Nachricht von Philoktets Tod, die man den Griechen präsentieren werde: Es seien Trojaner gewesen, die ihn gegen die Griechen gewinnen wollten, er habe sich aber weder bestechen noch

–––––––––––– 196 Vgl. auch C. W. Müller 2011.

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einschüchtern lassen (52 f.).197 Diese Ereignisfolge erinnert fatal an die Liquidierung eines abweichlerischen Genossen durch die eigenen Leute, die dann aber propagandistisch dem Feind in die Schuhe geschoben wird, wobei man den Abweichler gleichzeitig wider besseres Wissen für die eigene Sache vereinnahmt.198 In James K. Baxters The Sore-Footed Man (1967) lebt Philoctetes mit der Chryse-Priesterin Eunoe zusammen (sie haben auch einen Sohn), in deren Heiligtum Philoctetes von der Schlange gebissen wurde. Neben Odysseus und Neoptolemus treten noch drei Seeleute auf, die das Geschehen aus der Warte der einfachen Leute betrachten. Es gibt einen doppelten Intrigenplan: Der eine, zu dem sich Neoptolemus relativ leicht gewinnen lässt, läuft ins Leere; zwar kann er Philoctetes’ Vertrauen gewinnen, aber als der als Seemann verkleidete Odysseus die ‚Nachricht‘ überbringt, Neoptolemus und Philoctetes würden verfolgt, führt das bei Philoctetes nicht zu einem Drängen auf Eile, sondern zu philosophischen, Neoptolemus langweilenden Ausführungen über die Seelenwanderung. Die andere (erfolgreiche) Intrige besteht darin, dass währenddessen Odysseus Eunoe verführt, die ihm, als er mit dem waffenlosen Philoctetes spricht, den Bogen übergibt. Der hasserfüllte Philoctetes kann dann aber trotzdem von Odysseus zum Mitfahren bewogen werden: Odysseus gibt ihm den Bogen zurück, wobei er sich der Gefahr aussetzt, erschossen zu werden. Philoctetes sieht letztlich ein, dass er nicht für ein Leben als Philosoph oder in einer privaten Idylle geschaffen ist, sondern für ein Heldenleben in Gefahr, wie Eunoe schon von Anfang an vermutet hatte, dass er eigentlich vom Einsatz seines Bogens träume. So ist es in dieser Version Philoctetes, der zu sich selber findet, nicht Neoptolemos wie in der von Sophokles. Tom Stoppard hat mit seiner ganz auf filmische Dramaturgie setzenden Fernsehbearbeitung Neutral Ground (1968) aus dem sophokleischen Vorbild (S. vii) ein Agentenstück gemacht. Marin (mit code name Philo, Agent in britischen Diensten) ist ein Osteuropäer, dessen Staat nicht mehr existiert. Er sitzt seit Jahren als outlaw ohne Papiere in Montebianca, einem neutralen Kleinstaat auf dem Balkan, fest. Dorthin hat er sich abgesetzt, nachdem sein amerikanischer Chef Otis (~ Odysseus) ihn als vermeintlichen Verräter fallen ließ. Die Russen wollen ihn ermorden lassen, Otis hat jedoch erkannt, dass man Philo zu Unrecht aufgegeben hatte und ihn wieder braucht. Er setzt das britische Agentenpaar Acherson (~ Neoptolemos) und Carol auf ihn, der nichts als nach ‚Hause‘ will, an. Acherson, der die russischen Killer ausgeschaltet hat, gesteht Philo schließlich, dass er nicht nach Hause kommen werde. Im letzten Augenblick besteigt Philo trotzdem den Zug, um Acherson nicht zu gefährden. Die bei Sophokles durch den Deus ex machina von außen gegebene Handlungsanweisung wird als ethische Motivierung verinnerlicht, aber bei –––––––––––– 197 Vermutlich war Heiner Müller durch die Troer-Gesandtschaft in Euripides’ Philoktet inspiriert, von dessen Drama er wohl Kenntnis hatte; vgl. C. W. Müller 1997, 41 Anm. 117. 198 Zu den politischen Zeitbezügen, auch in Heiner Müllers eigener Deutung, vgl. auch den Überblick und die Einschätzung Lefèvres 2012, 128–133.

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Stoppard ist es nicht Acherson / Neoptolemos, der wie bei Sophokles (vor dem Auftreten des Deus ex machina) zugunsten Philoktets auf seine Ziele verzichtet, sondern umgekehrt Philo / Philoktet zugunsten von Acherson / Neoptolemos. In seiner Düsternis Heiner Müllers Philoktet verwandt ist das Fernsehspiel Der tödliche Schlag (1974) von Walter Jens. In diesem Anti-Kriegs-Stück war Philoktet zunächst Oberbefehlshaber der Griechen vor Troia, denen es in Wirklichkeit aber um Erzvorkommen und nicht um die Ahndung der von ihnen überdies inszenierten Entführung Helenas ging. Philoktet wurde aber, als er für einen schnellen Friedensschluss eintrat, da er einen Sieg für aussichtslos hielt, nach Lemnos verbannt mit der Absicht, ihn dort umkommen zu lassen. Im zehnten Kriegsjahr meutern die Soldaten und fordern Philoktet zurück, wozu ihn Neoptolemos und Odysseus bewegen sollen. Philoktet versucht zuerst Neoptolemos, dann Odysseus von einem Friedensschluss zu überzeugen, lässt aber unvorsichtig erkennen, dass er mit einer bestimmten Strategie einen tödlichen (Vernichtungs-)Schlag für möglich hält; aus Moral- und Vernunftgründen dürfe der aber nicht geführt werden. Odysseus nutzt jedoch die gewonnenen Kenntnisse skrupellos aus, ermordet Philoktet, schiebt die Tat den ebenfalls nach Lemnos gekommenen Troern in die Schuhe, die Philoktet für den Frieden gewinnen wollten, und gibt den schließlich geführten Vernichtungskrieg als Philoktets Vermächtnis aus.199 Jens arbeitet für sein Stück die schon bei Sophokles erkennbare Skrupellosigkeit der Odysseus-Figur weiter aus und interpretiert die Weigerung Philoktets, die Griechen vor Troja zu unterstützen, positiv als Bekenntnis zu einer Friedenslösung. Das Schauspiel Sherca. A Play in Three Scenes After Sophocles’ Philoctetes (1979) des irisch-schottischen Autors Sidney (Sydney) Bernard Smith hat seinen Namen nach einer ehemals bewohnten (fiktiven) kleinen Insel (eigentlich „island of love“, 21) vor der Westküste Irlands.200 Auf der Insel wohnt seit sieben Jahren Phil als Einsiedler, dem ungewöhnliche geistige Fähigkeiten zugeschrieben werden: Er soll mit seinem Geist die Dinge durchdringen können wie mit einem Laserstrahl, auch erahnen können, was andere denken, bzw. deren Denken beeinflussen. O’Dea und der junge Leo sind auf der Insel gelandet. Letzterer, Sohn eines toten Freundes von Phil, soll ihn auf ihre Seite ziehen, indem er für eine neue Organisation, „Lucidity Unlimited“, wirbt. – In einer langen Ideologie-Diskussion, in der Phil jeglichen doktrinären Sozialismus ablehnt, jedoch am Ideal der Nächstenliebe festhält, lässt er sich schließlich für „Lucidity Unlimited“ gewinnen, es kommt aber zur Entzweiung –––––––––––– 199 Wie Jens selbst in einer „Note“ bemerkt, wurde in dem Spiel „die Manipulierbarkeit des Intellektuellen durch die Vertreter der Macht, die Benutzbarkeit der Moral zu amoralischen Zwecken und die Paradoxie veranschaulicht, daß einer wider Willen ausgerechnet das, in bester Absicht, fördern kann, was er um jeden Preis verhindern möchte (so daß sein Heils-Plan am Ende zum Vehikel des Teufels-Plans wird) …“ (S. 141). – Für eine detailliertere Analyse von Jens’ Fassung vgl. Lefèvre 2012, 170–191. 200 1979 ist das Jahr der Publikation. Nach den Angaben bei Lefèvre (2012, 192) ist das Stück bereits 1976 entstanden. Zu möglichen historischen Bezügen vgl. ebd. 193.

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mit Leo, als Phil merkt, dass O’Dea auf der Insel ist, der ihn einst aus der Partei gedrängt hat; Leo verlässt Phil. Doch zwei an der Wand aufleuchtende Bilder (ein Porträt von Che Guevara und die ‚Verkündigung‘ von Leonardo da Vinci), die für Smith die Funktion des Deus ex machina haben (13) und Phils Unterbewusstsein beeinflussen (28), führen zu einer Sinnesänderung. Die in Phil verwurzelte Verbindung von sozialistisch-revolutionären und christlichen Idealen ist offenbar stärker als sein Hass auf O’Dea: „The picture in my head. I haven’t finished it yet“ (29). – O’Dea und Leo wissen nichts vom Sinneswandel und halten ihre Mission für gescheitert. Leo kritisiert O’Dea wegen seiner ideologischen Haltung und machtpolitischen Praxis, ein erster Erfolg Phils, der ihnen schließlich selbst gegenübertritt und gegen O’Deas Rückwärtsgewandtheit diesen (vergeblich) für ein „revolutionary vanguard“ (35) begeistern will. Trotzdem geht er mit: „I am with ye against you, O’Dea. I am with us. We are there before you“ (37).201 Denn (das könnte man als Fazit festhalten), wer etwas für die Gemeinschaft im Sinne seiner Ideale erreichen will, darf nicht in Isolation verbleiben, sondern muss sich einmischen: „Mêden agân, nothing to excess, not even moderation“ (28). Oscar Mandel bewegt sich mit seinem Drama The Summoning of Philoctetes. A Tragedy (1981, nach Vorstufen, die bis 1961 zurückreichen) formal in traditionellen Bahnen (die Figur des vergöttlichten Heracles wird beibehalten, es gibt einen Chor), stellt aber inhaltlich eine Welt dar, in der menschliche Gemeinschaft impliziert, sich schuldig zu machen. Heracles verkündet als sein (auf den Krieg bezogenes) Gesetz: „To be is to do. To do is to fight. To fight is to be“ (185), was der Autor selbst so versteht, „that social man is man at war with man: homo homini lupus“; er sagt außerdem von seinem Stück: „And the central exhibit is the unclarifiable ambiguity of the man Odysseus: the great civilizer, but also, and inevitably, the ruthless blood-letter“ (181). Im Stück selbst preist der Chor Odysseus als idealen Herrscher auf Ithaka, gleichsam als Gott (201–203). Andererseits schafft Odysseus die ‚Voraussetzungen‘ dafür, dass Philoctetes schließlich der Aufforderung des Heracles folgt, nach Troia zu gehen: Er lässt Medon, mit dem Philoctetes auf Lemnos zusammenlebte, töten, ebenso wie zwei Mitglieder seiner eigenen Mannschaft, die er als tote Trojaner präsentiert, so dass Philoctetes auf die Gesandtschaft aus Troja nicht mehr hoffen könne; Philoctetes’ Behausung wird verwüstet. Der Zweck heiligt hier die Mittel. Es wird so demonstriert, dass man völlig allein nicht leben könne. Nichtsdestoweniger entscheidet sich der junge Dichter-Krieger Demodocus am Schluss, allein auf Lemnos zu bleiben – und zu verstummen. Er entspricht in Mandels Version teilweise dem sophokleischen Neoptolemos: Auch er bringt im Auftrag des Odysseus den Bogen an sich, gibt ihn aber später wieder zurück. Nur in der völligen Einsamkeit sieht er seine Unschuld gewahrt (213), –––––––––––– 201 Wenn die unterschiedlichen Standpunkte, die in dem Stück vertreten werden, möglicherweise auf Positionen verschiedener Gruppierungen der IRA verweisen (vgl. Lefèvre 2012, 200 f.), so beschränken sie sich in ihrer Grundsätzlichkeit sicher nicht darauf.

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denn, wie der Autor ausführt, es gibt keine Gemeinschaft ohne „pollution“ (181). Das Stück endet also in unaufgelöster Dissonanz. The Cure at Troy (1990) des irischen Nobelpreisträgers Seamus Heaney ist als „A version of Sophocles’s Philoctetes“ untertitelt. Tatsächlich steht Heaneys Fassung der des Sophokles im Unterschied zu denen mancher seiner Vorgänger inhaltlich und formal (Chor) recht nahe, setzt aber durchaus eigene Akzente.202 Programmatisch ist der Titel: Der Fokus liegt auf der Heilung, nicht nur von Philoctetes, darüber hinaus auch von den Verwundungen, die ein Krieg als solcher bedeutet: So versucht Neoptolemus Philoctetes mit dem Hinweis zu überzeugen, dass er der „hero“ heißen werde, der nach eigener Heilung auszog „To heal the wound of the Trojan war itself“ (73), und der Chor fordert Philoctetes auf: „Conclude the sore / And cruel stalemate of our war“ (79), oder singt: „Believe in miracles / And cures and healing wells“ (77). Wenn dann Philoctetes der vom Chor vermittelten Stimme des Hercules folgt, fügt er sich nicht einem Befehl, sondern er sieht, dass durch den Appell etwas wieder in ihm erweckt wird, was verschüttet war. „It’s as if a thing I knew and had forgotten / Came back completely clear“ (79). So gibt das Drama vor dem Hintergrund des Nordirland-Konflikts der Hoffnung Ausdruck, dass auch verhärtete Fronten sich einmal lösen können und ein Umdenken möglich ist. Noch enger als The Cure at Troy ist Sophokles’ Philoktet die bislang letzte dramatische Version verpflichtet, Jean-Pierre Siméons im J. 2009 aufgeführter und publizierter Philoctète203 mit dem Untertitel „Variation à partir de Sophocle“. Es handelt sich nach den Worten des Autors weder um eine Übersetzung („je ne lis pas le grec, hélas“) noch um eine Adaption (etwa: „[a]u contexte socio-historique actuel“), sondern um „une réécriture“, „une transmutation qui touche tous les composants de la matière langagière: vers, rythme, scansion, métaphores, distribution de la parole“.204 In seiner Nachdichtung folgt Siméon in Inhalt und Aufbau (sogar der Deus ex machina bleibt erhalten) weitgehend dem Text des Sophokles,205 aber modern ist das Interesse, das ihn zu diesem Stoff geführt hat, denn für ihn ist der sophokleische Philoktet, der trotz seiner Qualen nicht aufgibt, ein Sinnbild für die menschliche Existenz überhaupt: „C’est aussi un poème sur la solitude, sur la déshérence, la déréliction, sur la souffrance du solitaire. Au-delà de l’individu et de sa psychologie, c'est une métaphore de la solitude métaphysique avec des accents beckettiens. L'incroyable force de cet homme qui se tient debout, au milieu des flots, des vents, et qui semble, avec le temps, fait de la matière de cette île, évoque pour moi la sculpture de Giacometti L’Homme qui chavire. Philoctète est une objection au néant. Lui et son île, malgré les menaces constantes, demeurent. Il ne songe –––––––––––– 202 Vgl. Lefèvres Analyse (2012, 228–248). 203 Édition revue et corrigée 2010. – Zu Julian Armitsteads bislang unpubliziertem Drama The Angry Wounds (aufgeführt 2009 in Oxford) vgl. Dugdale 2017, 132–135. 204 http://www.theatre-contemporain.net/textes/Philoctete-Jean-Pierre-Simeon/genese/ (21.4.2017) 205 Zu einigen Abweichungen vgl. Lefèvre 2012, 268–272.

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pas à se suicider. Il résiste. Il parle, il attend. C'est tout le destin de l'Homme qui, pour moi, est lui aussi une objection au néant.“206 Schon dieser knappe Überblick über die von Sophokles’ Philoktet ausgehenden Philoktet-Dramen zeigt, dass die im Stück des Sophokles dargelegte Problematik bis in die Moderne kreative Impulse geweckt hat (entsprechende Belege ließen sich auch in anderen Genres finden207). Die Autoren, die sich relativ nah an das sophokleische Vorbild angelehnt haben, hielten Sophokles’ Gestaltung als solche weiterhin für wirkungsmächtig. Andere haben den von Sophokles dargestellten Konflikt zwischen den Interessen und Ansprüchen der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen und dessen individuellen Bedürfnissen, der bei Sophokles durch göttliches Einwirken gelöst wird, ausagiert, wobei die Lösungen je nach weltanschaulicher Position differieren, bis hin zu einer positiven Bejahung der Einsamkeit, die bei Sophokles für Philoktet voller Bitterkeit war.

Zur Überlieferung des Textes Der Philoktet gehörte nicht zu der sog. byzantinischen Trias, d. h. einer besonders viel gelesenen (Schul-)Auswahl (Aias, König Ödipus, Elektra) aus den sieben Stücken des Sophokles, die im Mittelalter in Byzanz noch vorhanden waren, sondern ist außerhalb dieser Trias zusammen mit Antigone, Trachinierinnen und Ödipus auf Kolonos überliefert worden. Die Reduktion auf diese sieben Dramen ist das Ergebnis eines Auswahlprozesses in der handschriftlichen Überlieferung, die mit den Papyrusrollen der Dichter und den Exemplaren, aus denen die Schauspieler ihre Rollen lernten, begann.208 Die ‚Urtexte‘209 wurden wieder und wieder abgeschrieben, die Abschriften wurden im Buchhandel vertrieben und auch für die in Athen an den Großen Dionysien ab 386 v. Chr. zulässigen Wiederaufführungen verwendet. Den bei diesen Abschreibevorgängen teils unbewusst, teils absichtlich vorgenommenen Veränderungen suchte der athenische Staatsmann Lykurg um 330 v. Chr. durch die Anfertigung eines Staatsexemplars der Texte aller Dramen der drei Tragiker Einhalt zu gebieten.210 – Besonders aus der Zeit der Wiederaufführungen (aber nicht strikt darauf zu begrenzen) können sich Zusätze zum echten Text in der uns heute vorliegenden Überlieferung erhalten haben (die im Einzelfall ––––––––––––

206 http://educ.theatre-contemporain.net/pieces/Philoctete-Jean-PierreSimeon/textes/Philoctete-Jean-Pierre-Simeon/texte/ (21.4.2017) 207 Vgl. Schein, S. 56–58; Dugdale 2017, 93–101. 208 Die wichtigsten Informationen zur Überlieferungsgeschichte bietet Pöhlmann 2003 (mit weiterer Literatur); zu Sophokles vgl. auch Finglass 2012; Avezzù 2012. 209 Vermutlich waren es 113 Dramen; vgl. o. S. 4 mit Anm. 6. 210 [Plutarch], Vitae decem oratorum 7, p. 841F (= Soph. T 156 Radt); Pfeiffer 1978, 109.

Zur Überlieferung des Textes

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auch Echtes verdrängt haben mögen). Solche Zusätze sind prinzipiell nur mit Wahrscheinlichkeitsüberlegungen zu ermitteln, und demgemäß gehen die Ansichten darüber, ob ein Zusatz vorliegt bzw. wie er abzugrenzen ist, in der Forschung auseinander. Die fraglichen Stellen im Philoktet werden im Kommentar diskutiert. Das Staatsexemplar wurde eine wichtige Grundlage für die Arbeit der Philologen in Alexandria (ab dem 3. Jh. v. Chr.). Dort wurden Ausgaben der Tragiker hergestellt sowie die einzelnen Stücke mit Inhaltsangaben (Hypotheseis: Informationen über Inhalt, Bearbeitungen des Stoffes durch andere Tragiker, Ort der Handlung, Personen des Chors) und Didaskalien (d. h. letztlich auf die Aufführungsurkunden der Archonten in Athen zurückgehende Informationen: Datierung, weitere Stücke der Tetralogie, im Agon erzielter Rang) versehen.211 Die Kanonisierung der drei großen Tragiker, die schon gleich nach Sophokles’ Tod Aristophanes mit den Fröschen (71 ff.; 405 v. Chr.) angelegt hatte, war damit endgültig fixiert. Im weiteren Verlauf der Arbeit der Alexandriner wurden die Tragödien auch kommentiert (besonders zu nennen ist Didymos, z. Z. des Augustus, der wegen seiner vielen Werke den Beinamen ‚Chalkenteros‘ erhielt, d. h. der mit den ehernen Eingeweiden) – eine Tätigkeit, deren Ergebnisse dann in die in den Handschriften erhaltenen Scholien eingingen, für die sich der breiter angelegte Rand der Codices gut eignete. Denn eine weitere Stufe der Überlieferung bedeutete der Übergang von der Papyrusrolle zum Pergamentcodex, also unserer heutigen Buchform. Diese Entwicklung begann im 1. Jh. n. Chr. sehr allmählich und führte um 400 n. Chr. zur Verdrängung der Buchrolle. Parallel vollzog sich ein Auswahlprozess, der bei Sophokles schließlich zu den sieben uns überlieferten Tragödien führte, die bequem in einen Pergamentcodex passten. Wie viele Exemplare der Sophokles-Codices aus der Spätantike in die sog. ‚Makedonische Renaissance‘ des 9. und 10. Jh.s n. Chr. gelangten und in dem nun geistig führenden Zentrum Byzanz zur Verfügung standen, wissen wir nicht. Jedenfalls fand in dieser Zeit die Umschrift der bisherigen MajuskelCodices (d. h. der Codices mit Texten in Großbuchstabenschrift) in MinuskelCodices (d. h. solche in Kleinbuchstabenschrift) statt. Der älteste erhaltene Codex der Tragödien des Sophokles ist ein Minuskel-Codex und stammt aus dem 10. Jh.; es ist der Laurentianus plut. 32.9 (Florenz, Sigle L).212 Besonders intensiv wurde Sophokles von byzantinischen Gelehrten in der ‚Palaiologenzeit‘ (1259–1453) bearbeitet. Von Maximos Planudes, Manuel Moschopulos, Thomas Magistros und Demetrios Triklinios liegen kommentierende Bemerkungen (Scholien) zu Sophokles vor. Die erste gedruckte Ausgabe (editio princeps) aller erhaltenen Tragödien erschien 1502 bei Aldus Manutius in Venedig. –––––––––––– 211 Die namentliche Zuordnung der Editorentätigkeit ist schwierig; vgl. Finglass 2012, 12 f. Als sicher kann jedoch angenommen werden, dass Aristophanes von Byzanz, der ab ca. 195 v. Chr. der Bibliothek in Alexandria vorstand, Hypotheseis verfasst hat; vgl. Pfeiffer 1978, 235; 238 ff. Zu den Didaskalien vgl. Pfeiffer ebd. 108 f. 212 Dieser Codex ist auch die Hauptquelle für die ‚alten‘ Scholien (‚Scholia vetera‘), ediert von Papageorgius 1888.

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Einführung

Der Philoktet (und die anderen nicht zur Trias gehörigen Stücke) sind in wesentlich weniger Handschriften überliefert als die Trias (die meisten der fast 200 bekannten Sophokles-Handschriften enthalten nur die Trias), alle sieben Tragödien finden sich lediglich in 20 Handschriften.213 Von den Handschriften, die den Philoktet bieten, haben Lloyd-Jones / Wilson und Avezzù je 15, Dawe 13 als Grundlage ihrer Editionen genommen.214 Da in der SophoklesÜberlieferung häufig mehrere Vorlagen für eine Abschrift benutzt wurden (Kontamination), lassen sich diese Handschriften nicht insgesamt in ein stemmatisches Verhältnis bringen,215 man kann jedoch vier durch bestimmte Gemeinsamkeiten gekennzeichnete ‚Familien‘ unterscheiden.216 Durch eine Reihe von Papyri sind zusätzlich einzelne Textpassagen der Tragödien des Sophokles überliefert; einer der Papyri enthält zwei kurze Texte aus dem Philoktet.217

Zu dieser Ausgabe Anlage Die Prosaübersetzung versucht, den Text des Sophokles in einem verständlichen Deutsch, möglichst Vers für Vers, wiederzugeben. Dieses Vorgehen führt an manchen Stellen zu einer etwas ungewöhnlicheren Wortstellung. Wegen der Komplexität der sophokleischen Sprachgestaltung konnte auch nicht immer dieselbe Nähe zum Originaltext beibehalten werden; deswegen wird an vielen Stellen zusätzlich im Kommentar die wörtliche Bedeutung einer Formulierung angegeben. Gelegentlich sind in die Übersetzung verdeutlichende Zusätze in runden Klammern eingefügt. Der interpretierende Kommentar ist so angelegt, dass er zusammen mit der Übersetzung auch ohne Kenntnisse des Griechischen benutzt werden kann. Erläutert werden neben der Entwicklung der dramatischen Handlung Sachprobleme, in der Textüberlieferung strittige sowie sprachlich schwierige Stellen, bei denen die Formulierungen im Griechischen nicht ohne Weiteres ein eindeutiges Textverständnis zulassen. Dabei werden auch abweichende wissenschaftliche Meinungen diskutiert. – Um die Kommentare möglichst kurz zu fassen, wird des Öfteren den Figuren des Dramas direkt zugeschrieben, dass ––––––––––––

213 214 215 216

Vgl. die Tabelle bei Avezzù 2012, 54. Bibliographische Angaben s. u. S. 64 f. unter Avezzù, Dawe und Ll.-J/W. Vgl. dazu grundlegend Dawe 1978. Dawe, S. VI f.; Avezzù, S. LXV–LXXII. Die Handschriften einer dieser Familien spiegeln die philologische Arbeit des Demetrios Triklinios wider (Avezzù, S. LXX– LXXII). 217 P. Berol. inv. 17058: Phil. 419–421; 452–454.

Zu dieser Ausgabe

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sie agieren, reden oder auch, welche Motivationen für sie anzunehmen sind. Dabei ist immer mitzudenken, dass es sich um Figuren handelt, die der Dichter geschaffen und mit bestimmten Zügen ausgestattet hat und bei denen er durch die von ihm gewählten Darstellungsmittel dem Rezipienten Indizien an die Hand gibt, die Rückschlüsse darauf zulassen, wie ihr Agieren und Sprechen zu verstehen sein dürfte. – Mit früheren Kommentaren übereinstimmende Informationen, die als allgemein anerkannt gelten können, werden nicht ausdrücklich belegt. Der Bezug auf bestimmte Kommentare erfolgt nur bei daraus entnommenen oder diskutierten Erläuterungen, die nicht allgemein gängig sind. Die textkritischen Angaben und sprachlichen Erläuterungen unter dem griechischen Text sind für Leser gedacht, die von diesem Text ausgehen und sich detaillierter informieren wollen. Bei den textkritischen Angaben sind alle in den Text aufgenommenen Abweichungen von der Überlieferung vermerkt (nicht berücksichtigt wurden z. T. unterschiedliche Akzentsetzungen in den Handschriften, die ohnehin nicht auf Sophokles zurückgehen) sowie wichtigere Textvarianten und bedenkenswerte Konjekturen, in der Regel mit Begründungen für die in den Text gesetzte Überlieferungsvariante oder ggf. Konjektur, um den Nachvollzug der getroffenen Entscheidungen zu erleichtern. Da der Raum für den Apparat reihenbedingt in dieser Ausgabe begrenzt ist und es in erster Linie darauf ankommt, welche Varianten überliefert sind, und – angesichts der kontaminierten Überlieferung – nicht so sehr, in welcher Handschrift, wurde auf die Angabe von Handschriftensiglen verzichtet. Für detailliertere und ausführlichere Informationen sei auf die Ausgaben von Lloyd-Jones / Wilson, Dawe und Avezzú verwiesen (s. unten S. 64 f.). Wenn nicht im Einzelnen ausdrücklich vermerkt, sind die Angaben der Lesarten und der bestimmten Philologen zuzuweisenden Konjekturen oder Tilgungen218 diesen Ausgaben entnommen. Die sprachlichen Erläuterungen zum Griechischen mussten ebenfalls knapp formuliert werden. Sie enthalten oft Hinweise auf einschlägige Standardwerke, aus denen sich näherer Aufschluss ergibt, warum eine Stelle in bestimmter Weise aufgefasst wurde. – Einige ergänzende Kommentarbemerkungen (EK) sowie eine Reihe von textkritischen und sprachlichen Erläuterungen (ETS) wurden aus Platzgründen in den Anhang verlagert; vgl. unten S. 433–437 bzw. 438–443. In der Verszählung der Chorpartien folgen die modernen Ausgaben den Editionen von R. F. P. Brunck (zuerst Straßburg 1786), teilen die Verse aber aus metrischen Gründen häufiger anders ab (z. T. in den einzelnen Ausgaben unterschiedlich). Auch in dieser Ausgabe weicht die Abteilung der Verse gelegentlich von derjenigen Bruncks ab. Soweit zur Verdeutlichung notwendig, sind diese Verschiebungen durch die Verszahlen kenntlich gemacht.

–––––––––––– 218 Bei diesen Zuweisungen wurden auch die Korrekturen berücksichtigt, die sich aus den Aufstellungen von Finglass (2009 b; 2011) ergeben.

64

Einführung

Zitierweise Die Namen der drei großen Tragiker und die Titel ihrer Werke werden abgekürzt zitiert,219 die Namen anderer antiker Autoren und ihrer Werke ausgeschrieben. Die Arbeiten moderner Autoren werden mit Verfassernamen und Jahreszahl zitiert, auch die Kommentare (zu den Werken des Sophokles, Aischylos und Euripides); bibliographische Angaben dazu s. Literaturverzeichnis, S. 458–475. Häufiger herangezogene Ausgaben und Kommentare zum Philoktet sowie einige Standardwerke werden nur mit den Namen des Verfassers oder mit Siglen und Seitenzahlen oder Stellenangaben zitiert (wenn der Bezug im Kontext eindeutig ist, auch mit bloßem Namen): Avezzù Bruhn

Dawe GP Jebb

Kamerbeek K.-B.

Sofocle. Filottete. Introduzione e commento di P. Pucci. Testo critico a cura di G. Avezzù. Traduzione di G. Cerri, Milano 2003. Sophokles, erkl. von F. W. Schneidewin und A. Nauck, Bd. 8, Anhang, zusammengestellt von E. Bruhn, Berlin 1899 (Ndr. 1963); Stellenregister, zusammengestellt unter Leitung von A. Kessels, Utrecht 1977. R. D. Dawe (ed.), Sophocles, Philoctetes, Stuttgart / Leipzig (Teubner) 31996 (zuvor Bestandteil von: Sophocles, Tragoediae. Vol. II, Leipzig 1975, 21985). J. D. Denniston, The Greek Particles, Oxford 21954 (korr. Ndr. 1966). R. C. Jebb (ed.), Sophocles. The Plays and Fragments. Part IV. The Philoctetes, Cambridge 21898. Nachdruck als: R. C. Jebb, Sophocles: Plays. Philoctetes. General Editor: P. E. Easterling. Introduction: F. Budelmann, London 2004. J. C. Kamerbeek, The Plays of Sophocles. Commentaries. Part VI. The Philoctetes, Leiden 1980. R. Kühner, Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache. Teil I: Elementar- und Formenlehre, neu bearb. v. F. Blass, 2 Bde., Hannover 31890–1892 (Bd. I = K.-B. I; Bd. II = K.-B. II).

–––––––––––– 219 Aischylos (Aisch.): Ag. = Agamemnon; Cho. = Choephoren; Eum. = Eumeniden; Hik. = Hiketiden; Pers. = Perser; PV = Der gefesselte Prometheus; Sept. = Sieben gegen Theben. Euripides (Eur.): Alk. = Alkestis; Andr. = Andromache; Ba. = Bakchen; Cycl. = Kyklops; El. = Elektra; Hek. = Hekuba; Herakl. = Herakliden; HF = Herakles; Hik. = Hiketiden; Hipp. = Hippolytos; IA = Iphigenie in Aulis; Ion; IT = Iphigenie bei den Taurern; Med. = Medea; Or. = Orest; Phoin. = Phoinissen; Rh. = Rhesus; Tro. = Troerinnen. Sophokles (Soph.): Ai. = Aias; Ant. = Antigone; El. = Elektra; OC = Ödipus auf Kolonos; OT = König Ödipus; Phil. = Philoktet; Tr. = Trachinierinnen.

Zu dieser Ausgabe

K.-G. Ll.-J./W. Ll.-J./W.1 Ll.-J./W.2 LSJ Moorhouse MT Pucci Schein Scholien Schwyzer

Ussher Webster

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R. Kühner, Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache. Teil II: Satzlehre, neu bearb. v. B. Gerth, 2 Bde., Hannover / Leipzig 31898–1904 (Bd. I = K.-G. I; Bd. II = K.-G. II). H. Lloyd-Jones / N. G. Wilson (eds.), Sophoclis fabulae, Oxford (OCT) 1990 (korr. Ndr. o. J. [1992]). H. Lloyd-Jones / N. G. Wilson, Sophoclea. Studies on the Text of Sophocles, Oxford 1990. H. Lloyd-Jones / N. G. Wilson, Sophocles: Second Thoughts, Göttingen 1997 (Hypomnemata 100). A Greek-English Lexicon compiled by H. G. Liddell and R. Scott. A new edition by H. St. Jones, Oxford 91940. A Revised Supplement, ed. by P. G. W. Glare, Oxford 1996. A. C. Moorhouse, The Syntax of Sophocles, Leiden 1982 (Mnemosyne Suppl. 75). W. W. Goodwin, Syntax of the Moods and Tenses of the Greek Verb, London 1897. s. Avezzù S. L. Schein (ed.), Sophocles, Philoctetes, Cambridge 2013 (Cambridge Greek and Latin Classics). Scholia in Sophoclis tragoedias vetera, ed. P. N. Papageorgius, Leipzig 1888. E. Schwyzer, Griechische Grammatik (HdA II.1): Bd. I: Allgemeiner Teil, Lautlehre, Wortbildung, Flexion, München 1939 (spätere Aufl. unveränd.); Bd. II: Syntax und syntaktische Stilistik, vervollst. u. hg. v. A. Debrunner, München 1950 (spätere Aufl. unveränd.); Bd. III: Register D. J. Georgacas, München 1953, 21960; Bd. IV: Stellenregister, hergest. v. Fr. Radt u. hg. v. St. Radt, München 1971, 21994. R. G. Ussher (ed.), Sophocles, Philoctetes, Warminster 1990, repr. with corrections and revisions 2001. T. B. L. Webster (ed.), Sophocles, Philoctetes, Cambridge 1970 (Cambridge Greek and Latin Classics).

Abkürzungen (allgemein) Einf. Komm. EK TS ETS

Einführung (S. 1–66) Kommentar (S. 67–425) Ergänzende Kommentarbemerkungen im Anhang (S. 433–437) Textkritische Angaben und sprachliche Erläuterungen unter dem griechischen Text Ergänzende textkritische und sprachliche Erläuterungen im Anhang (S. 438–443)

66

Einführung

vgl. zu ‚vgl. zu + Verszahl‘ verweist im Kommentar auf eine Kommentarbemerkung zu diesem Vers, in den Angaben unter dem griechischen Text (TS) auf einen Eintrag dort.

Abkürzungen und Zeichen in TS und ETS :

| ] Hss. (Hss.) Ø + + Trikl.

〈…〉 {…} †…†

Durch einen Doppelpunkt getrennte griechische Wörter bezeichnen unterschiedliche überlieferte Lesarten (oder ggf. Konjekturen). Die erste Angabe verweist auf die in den Text aufgenommene Lesart (z. B. 108 δῆτα τὰ : δὴ τάδε). Griechische Wörter mit nachfolgendem(n) modernem(n) Eigennamen bezeichnen Konjekturen dieses oder dieser Philologen (z. B. 108 δῆτα τὸ Vauvilliers), antike oder byzantinische Namen (nach griechischen Wörtern) eine Nebenüberlieferung (z. B. 181 ἥκων Suda). Durch ‚|‘ werden mehrere Angaben (Lesarten oder sprachliche Erläuterungen) zum selben Vers getrennt. Nach ‚]‘ stehen sprachliche Erläuterungen bzw. einschlägige Fundstellen in Handbüchern. alle Handschriften bieten die entsprechende Textversion fast alle oder die weit überwiegende Zahl der Handschriften bieten die angegebene Textversion (nur signifikante und relevante Abweichungen werden aufgeführt) in einer oder mehreren Handschriften fehlt etwas in anderen Handschriften Überliefertes vor byzantinischem Namen: außer in den Handschriften auch in den Texten dieser Autoren überliefert vor modernem Eigennamen: handschriftlich überliefert und unabhängig davon in der Neuzeit von einem Philologen konjiziert eine oder mehrere der Handschriften, die die philologische Tätigkeit des Demetrios Triklinios reflektieren und die neben überlieferten Lesarten auch Emendationen von ihm enthalten können (vgl. o. S. 61 u. Anm. 216) vorgeschlagene Ergänzung (mit Nennung des Philologen) vorgeschlagene Tilgung (mit Nennung des Philologen) Textverderbnis, die bisher nicht überzeugend geheilt wurde

Text, Übersetzung, Kommentar

Prologos: 1–3

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Ort der Handlung: ein unbewohnter Küstenstreifen der Insel Lemnos, vor der Felsenhöhle Philoktets Zeit der Handlung: kurz vor Ende des Troianischen Kriegs Personen: Odysseus, Neoptolemos, Chor (Seeleute des Neoptolemos), Philoktet, ‚Kaufmann‘, Herakles Stumme Rollen: ein Begleiter des Neoptolemos, ein Begleiter des ‚Kaufmanns‘, zwei Begleiter des Odysseus Verteilung der Sprech-Rollen auf die drei Schauspieler: 1. Schauspieler: Philoktet 2. Schauspieler: Neoptolemos 3. Schauspieler: Odysseus, ‚Kaufmann‘, Herakles Aufführung:

Athen, Dionysien 409 v. Chr.

Odysseus und Neoptolemos (mit einem Begleiter) kommen durch den Seiteneingang (Parodos), den man sich als Zugang vom Schiffsankerplatz her vorstellen soll, und bleiben in einiger Entfernung von der Bühne stehen. Odysseus Das hier ist die Küste des rings umflossenen Landes Lemnos, von Menschen unbetreten und nicht bewohnt; hier, Sohn eines Vaters, der unter den Hellenen der Beste war, ᾿Οδυσσεύς Ἀκτὴ µὲν ἥδε τῆς περιρρύτου χθονὸς Λήµνου, βροτοῖς ἄστιπτος οὐδ’ οἰκουµένη, ἔνθ’, ὦ κρατίστου πατρὸς Ἑλλήνων τραφεὶς

1 µὲν] ‚inceptive‘, nicht korrespondierend mit ἀλλὰ (11); GP 382 f. 2 Λήµνου] gen. appositivus (K.-G. I 264 d) bzw. definitivus (Moorhouse 51). 3 πατρὸς … τραφεὶς] Genitiv der Abstammung (K.-G. I 376; Moorhouse 75 f.).

Kommentar

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Szenerie. Zur Szenerie vgl. Einf. S. 18–21. 1–134 Prologszene. Sie ist als Eingangsgespräch zwischen Odysseus und Neoptolemos gestaltet und gliedert sich in zwei größere Abschnitte: 1–49 wird eine kurze Exposition gegeben, 50–134 vermittelt Odysseus Neoptolemos den Auftrag, den er ausführen soll, wozu er ihn jedoch überreden muss. Dass Odysseus und Neoptolemos von einem Mann, der unter Neoptolemos’ Befehl steht (einer der Seeleute), begleitet werden, ergibt sich aus v. 45. Im realen Leben wäre es nicht vorstellbar, dass Neoptolemos mit Odysseus von Troia nach Lemnos gefahren ist und erst vor Ort erfährt, welchen Auftrag er ausführen soll. Im Drama dagegen wird dieses einführende Gespräch zugleich als Exposition für die Zuschauer genutzt. 1–49 Der erste Abschnitt der Prologszene beginnt mit einer Rede des Odysseus, in der ganz knapp Elemente der Vorgeschichte (Aussetzung Philoktets, seine damalige ‚Wohnung‘) erläutert und die Figur des Neoptolemos eingeführt werden (1–25); daran schließt sich ein Dialog zwischen Odysseus und Neoptolemos an, in dem mit der Auffindung der Höhle Philoktets zugleich dessen ärmliche Lebensverhältnisse und sein Leiden deutlich werden (26–49). 1–11 Der erste Satz ist ungewöhnlich lang und informationsreich. 1 Erst mit der Anrede in v. 26 wird der Sprecher eindeutig als Odysseus benannt. Auch Zuschauer, die nicht vorinformiert waren (etwa durch den Proagon; vgl. Pickard-Cambridge 1988, 67 f.; Einf. S. 5 mit Anm. 11), konnten jedoch möglicherweise nach den gegebenen Informationen über seine Rolle bei der Aussetzung Philoktets und seinen ‚klugen Plan‘ (v. 14) vermuten, um wen es sich handelt. Vielleicht trug er die für Odysseus charakteristische kegelförmige Kappe (Pilos). 2 Die Insel Lemnos liegt an der Fahrtroute des griechischen Heeres von der Hafenstadt Aulis (Böotien) nach Troia. Ihre Küste (nicht Lemnos selbst), und zwar der Teil, an dem Odysseus Philoktet ausgesetzt haben will (3–5) – zur möglichen Lokalisierung vgl. Einf. S. 18 f. –, wird hier als nicht bewohnt bezeichnet. In Sophokles’ Drama gibt es, anders als in den Philoktet-Dramen des Aischylos und des Euripides (vgl. Einf. S. 9–11), keine Kontakte Philoktets mit Bewohnern von Lemnos. Vgl. Kamerbeek zu 1–3. Den Zuschauern war sicher bekannt, dass die Insel zu ihrer Zeit bewohnt ist; denn sie gehörte seit langem politisch zu Athen (vgl. Herodot 6,137–140). Auch für die ‚mythische‘ Zeit (vgl. u. a. Homer, Ilias 7,467 f.; 21,40; PhiloktetDramen des Aischylos und Euripides) konnte sie ihnen als bewohnt gelten. Sie werden es daher als besondere Grausamkeit verstanden haben, dass Philoktet – nach der durch das Drama evozierten Vorstellung – gerade dort ausgesetzt wurde, wo er keine Menschen treffen konnte. Auf jeden Fall steigert dieser Zug die Verlassenheit Philoktets, der auch selbst das Land für unbewohnt hält (221); vgl. auch Schlesinger 1968, 148: „Die Örtlichkeit hat keine historischgeographische, sondern symbolisch-aesthetische Bedeutung“; Fusillo 1990, 56. 3–4 Neoptolemos wird gleich zu Beginn der Rede des Odysseus förmlich mit Namen und Herkunft angesprochen (vgl. Schein mit Verweis auf 263; 1261); er stellt als Gestalt in einem Philoktet-Drama eine Neuerung des Sopho-

Prologos: 4–6

70 Sohn Achills, Neoptolemos, habe ich den Mann aus Malis, Poias’ Sohn, einst ausgesetzt – beauftragt das zu tun von den Herrschenden –,

5

Ἀχιλλέως παῖ Νεοπτόλεµε, τὸν Μηλιᾶ, Ποίαντος υἱόν, ἐξέθηκ’ ἐγώ ποτε – ταχθεὶς τόδ’ ἔρδειν τῶν ἀνασσόντων ὕπο –

5

4 Ν͜εοπτόλεµε] Synizese und aufgelöste Länge (‒ ⏑ ⏖); der metrisch im iambischen Trimeter schwer zu handhabende Name kommt im Philoktet nur hier und v. 241 vor, wo er jeweils unverzichtbar ist; vgl. Kamerbeek. | Μηλιᾶ] attisch kontrahierte Form (aus Μηλιέᾱ) wie Aisch. Pers. 486 (K.-B. I 448). 6–7 Nauck hat v. 6 nach v. 7 angeordnet; vgl. Komm. zu 6. 6  ὕπο (Hss.) : πάρα – πάρα eher Konjektur (vgl. K.-G. I 510 δ) als Überlieferungsvariante. | ὕπο] Anastrophe.

Kommentar

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kles dar und wird auch im Epos nicht mit der Geschichte des Philoktet in Zusammenhang gebracht (vgl. Einf. S. 8). Als Sohn Achills dürfte er allerdings aus der Troia-Sage bekannt gewesen sein, jedoch nicht nur rühmlich (vgl. Einf. S. 36 f.). – Seine Abstammung von Achill wird mit trapheis ausgedrückt, was eigentlich ‚aufgezogen‘ bedeutet. Hier muss es sich in erster Linie auf die bloß physische Abkunft beziehen, da Neoptolemos – nach der dramatischen Konzeption (351) – seinen Vater nie gesehen hat, sicherlich sind aber auch seine „inborn qualities“ (Jebb zu 3) mitgemeint. Wenn dabei Achill als der Beste der Griechen bezeichnet wird, so wird das Publikum auf einen positiv konnotierten Neoptolemos eingestimmt (wie er in der Odyssee charakterisiert wird: 11,492 f.; 505–537), wobei diese Wesensart ihn für die Intrige des Odysseus gerade ungeeignet macht. So ist diese Einführung des Neoptolemos durch Odysseus nicht ohne tragische Ironie. Die Odyssee-Stelle ist der früheste sichere Beleg für Neoptolemos als Sohn Achills. Die Verse Ilias 19,326–337 u. 24,466 f., in denen Neoptolemos auch genannt wird, sind in ihrer Echtheit umstritten. Vgl. auch zu 240 u. 351. ‚Hellenen‘ ist zur Bezeichnung aller Griechen – und diese Bedeutung wird hier ebenso vorliegen wie 233 und 1344 – ein für die Zeit des Troianischen Kriegs anachronistischer, aber für die Zuschauer gebräuchlicher Ausdruck (vgl. Schein zu 3). Für Thukydides (1,3,2) war es ‚vor nicht langer Zeit‘, dass sich der Ausdruck als Name für alle Griechen durchgesetzt hat (bei Homer, Ilias 2,684 ist ‚Hellenen‘ ein Name für die Mannschaft Achills). Zu den wechselnden Bezeichnungen für ‚Griechen‘ und ‚griechisch‘ im Philoktet vgl. zu 47 und 224. 4–5 Die Umschreibung ‚Mann aus Malis, Poias’ Sohn‘ war für das athenische Publikum zur Identifizierung Philoktets vermutlich ausreichend, zumal man spätestens seit der Vorstellung der Stücke beim Proagon vor dem eigentlichen Dionysien-Fest (vgl. zu 1) wissen konnte, welche Themen in den Dramen vorkommen werden. Malis (oder Melis) ist das in Nordgriechenland gelegene Gebiet um den Golf von Malia mit dem Öta-Gebirge im Hinterland (vgl. zu 453). Poias ist als Vater Philoktets seit Homers Odyssee (3,190) belegt (vgl. auch Pindar, Pythien 1,53; Weiteres bei Kenner 1951, 1187). Vgl. auch Einf. S. 6 f. 5 ‚ausgesetzt‘: Das Wort wird typischerweise vom Aussetzen unerwünschter Kinder gebraucht; vgl. z. B. Herodot 1,112,1; Eur. Ion 344. Philoktet selbst empfindet die Aussetzung entsprechend, auch wenn er sie mit anderen (wechselnden) Bezeichnungen benennt: 257; 265; 268; 1034; 1390; vgl. auch 600; 1391 (Neoptolemos). 6 Obwohl Odysseus seine Rolle bei der Aussetzung Philoktets betont hatte (vgl. das im Griechischen grammatisch nicht notwendige ‚ich‘ [egō] in v. 5), schiebt er, noch bevor er die Gründe für die Aussetzung nennt, die Verantwortung für diese Tat ab, wohl um vor Neoptolemos nicht schlecht dazustehen; dieser für die Charakterisierung des Odysseus bemerkenswerte Zug würde durch die von Nauck vorgeschlagene Vertauschung der vv. 6 und 7 zerstört (vgl. Jebb). Philoktet wird Odysseus für ebenso verantwortlich halten wie die

Prologos: 7–13

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mit einem triefenden Geschwür am Fuß, den es zerfrisst, als wir uns weder einer Trankspende noch einem (Brand-)Opfer in Ruhe widmen konnten, sondern er mit wilden, Unglück verheißenden Rufen ständig das gesamte Heerlager erfüllte, 10 schreiend, brüllend. Indes, was zwingt dazu, (jetzt) darüber zu sprechen? Denn es ist für uns nicht die rechte Zeit zu langen Reden, dass er nicht noch merkt, dass ich gekommen bin, und ich den ganνόσῳ καταστάζοντα διαβόρῳ πόδα, ὅτ’ οὔτε λοιβῆς ἡµὶν οὔτε θυµάτων παρῆν ἑκήλοις προσθιγεῖν, ἀλλ’ ἀγρίαις κατεῖχ’ ἀεὶ πᾶν στρατόπεδον δυσφηµίαις, βοῶν, ἰύζων. ἀλλὰ ταῦτα µὲν τί δεῖ λέγειν; ἀκµὴ γὰρ οὐ µακρῶν ἡµῖν λόγων, µὴ καὶ µάθῃ µ’ ἥκοντα κἀκχέω τὸ πᾶν

10

7 νόσῳ καταστάζοντα … πόδα] vgl. Ai. 9 f. κάρα / στάζων ἱδρῶτι. πόδα ist Akk. der Beziehung. 8  ἡµὶν] ‒ ⏑ das übliche ἡµῖν wäre metrisch nicht möglich; vgl. 465. 9 προσθιγεῖν] ‚berühren‘ im Sinn von ‚sich mit etwas abgeben‘, wie das ähnlich gebrauchte θιγόντα (408); vgl. Jebb zu 8 ff. 10 κατεῖχ᾿ : κατείχετ᾿ – κατεῖχ’, vgl. z. B. Homer, Ilias 16,78 f. οἵ δ᾿ ἀλαλητῷ / πᾶν πεδίον κατέχουσι (Kamerbeek). 11 βοῶν, ἰύζων] das Asyndeton macht die Aussage emphatischer. | ἰύζων (geschrieben als ἰύζον) : στενάζων (Hss.), vgl. Tr. 787 βοῶν, ἰύζων – das eine größere Lautstärke bezeichnende ἰύζων passt im Kontext besser, wenn auch nicht auszuschließen ist, dass es aus Tr. 787 in eine Handschriftengruppe eingedrungen ist und ein ursprüngliches στενάζων verdrängt hat (so Schein, der στενάζων liest); vgl. aber Dawe 1973, I 84 zu Ai. 432. | µὲν] hebt ταῦτα hervor (vgl. 981; GP 381 [ii]), nicht korrespondierend mit ἀλλ᾿ (15); anders Schein. 12 ἀκµὴ γὰρ οὐ …] ~ οὐ γάρ ἐστιν ἀκµή, zur Stellung von οὐ vgl. K.-G. II 179 Anm. 1. | ἀκµὴ … λόγων] vgl. El. 22 ἔργων ἀκµή, Bruhn § 247,1 (~ καιρός). 13–14 {…} E.A. Richter; Fraenkel 1977, 44 f. – nach Fraenkel werden durch die beiden Verse λόγων (12) und ἔργον (15) zu weit getrennt; aber eine frühzeitige Andeutung des Odysseus, dass er von Philoktet nicht entdeckt werden will, damit sein σόφισµα nicht gefährdet wird, ist dramaturgisch sinnvoll. 13 µὴ καὶ] καί = „in negative final clauses, and after verbs of fearing. … ‘even’, ‘actually’“ (GP 298). Bei µὴ ist eher ein Ausdruck der Befürchtung zu ergänzen, als dass es sich um einen echten Finalsatz handelte. | κἀκχέω] (Konj. Aor.) ‚vertun‘, vgl. El. 1291. | πᾶν] zu Monosyllaba am Versende und darüber hinaus zur Tendenz bei Sophokles, das Versende zu überspielen, vgl. West 1982, 83 f.; vgl. auch vv. 263; 337; 626.

Kommentar

73

‚Herrschenden‘, d. h. Agamemnon und Menelaos (264 f.); vgl. Kamerbeek. – In Euripides’ Philoktet hatte, soweit man das noch erkennen kann, Odysseus die Verantwortung für die Aussetzung allein übernommen (F 789 b [3] Kannicht). Agamemnon und Menelaos werden im Philoktet nie namentlich genannt (v. 794 ist unecht), vermutlich weil die Namen nicht gut in den iambischen Trimeter passen. Philoktet spricht meist von den Atreus-Söhnen (zuerst 314), gelegentlich von den beiden Feldherren / Heerführern (264; 793; 873; 1024). 7 Wörtl.: ‚triefend (auf Philoktet bezogen) in Bezug auf den Fuß durch ein … Geschwür‘. Das Geschwür (nosos) und das, was es absondert, sind in dieser prägnanten Formulierung zusammengefasst; vgl. Kamerbeek. Die Vorstellung des ‚fressenden‘ Geschwürs findet sich bereits in den Philoktet-Dramen des Aischylos (F 253 Radt) und Euripides (F 792 Kannicht). Die Ursache ist der später ausdrücklich erwähnte, aber bei den Zuschauern wohl als bekannt vorausgesetzte (vgl. Homer, Ilias 2,723) Schlangenbiss (193 f.; 265–267). 8–11 Odysseus gibt als ‚honorigen‘ Grund für die Aussetzung die Störung von Opferhandlungen an, die andächtiges Schweigen (euphēmia) erfordern (vgl. aber 1032–1034); das sei durch die ‚Unglück verheißenden Rufe‘ (dysphēmiai) Philoktets verhindert worden. Odysseus unterscheidet das Ausgießen von Trankopfern, die als solche oder im Zusammenhang mit Tieropfern vollzogen wurden, und die eigentlichen (Brand-)Opfer von Tieren (vgl. 1033; Burkert 2011, 93 ff.; 113 ff.). Den lästigen Gestank des Geschwürs und Philoktets Behinderung (876; 890 f.; 1031 f.; Kyprien, Argumentum, p. 41,50 f. Bernabé = pp. 76 f. West 2003) erwähnt er nicht. – Mit seiner Begründung kann Odysseus allerdings nicht rechtfertigen, warum Philoktet ausgerechnet in einer menschenleeren Gegend (2) ausgesetzt wurde. Vgl. auch Einf. S. 23 Anm. 71; Pucci; Segal 1995, 98. 9 ‚wilden‘: Als ‚wild‘ (agrios) sind hier die Schreie Philoktets charakterisiert. ‚Wild‘ ist auch seine bösartige Krankheit (173; 265) und der grausame Biss der Schlange (267), die sie verursacht hat. Mit Bildungen vom selben Wortstamm bezeichnet sich Philoktet (in Bezug auf sein Äußeres) als ‚verwildert‘ (226) und wirft ihm Neoptolemos seinen ‚wilden‘ Grimm vor (1321); vgl. Schein. Es handelt sich jeweils um Phänomene, die die Dimension des Unkultiviert-Unmenschlichen, Dämonisch-Gefährlichen haben. 11–14 Mit dieser Abbruchsformel lässt Sophokles die bloß expositorischen Ausführungen (1–11) in eine Handlung mit expositorischer Funktion übergehen (15 ff.) und schafft so eine Verbindung von Informationsvergabe und Handlung. 13–14 Der Erfolg seiner Mission ist für Odysseus (der bei Sophokles anders als bei Aischylos und Euripides Philoktet nicht unerkannt gegenübertreten kann) davon abhängig, dass er Philoktet nicht persönlich begegnen muss: Er hält das für zu gefährlich, wie er später erläutert (vgl. 46 f.; 70 ff.). Odysseus glaubt jedoch, durch seinen Plan Philoktet ‚zu fassen zu kriegen‘ (hairein), d. h. ihn irgendwie in seine Verfügungsgewalt zu bekommen. Wie das geschehen soll, erfährt man hier noch nicht. Vgl. auch Kamerbeek.

Prologos: 14–21

74

zen klugen Plan zunichtemache, mit dem ich ihn sogleich zu fassen kriegen werde, wie ich glaube. Aber deine Sache ist es nun, bei dem, was noch zu tun ist, zu 15 Diensten zu sein und auszuspähen, wo hier eine Felsenhöhle mit zweifachem Eingang ist, so, dass sich dort bei Kälte auf beiden Seiten ein besonnter Sitzplatz befindet, im Sommer aber ein Windhauch Schlaf durch die an beiden Seiten offene Behausung schickt. Ein wenig unterhalb, zur Linken, könntest du vielleicht 20 eine Quelle mit Trinkwasser sehen, wenn sie noch fließt. σόφισµα, τῷ νιν αὐτίχ’ αἱρήσειν δοκῶ. ἀλλ’ ἔργον ἤδη σὸν τὰ λοίφ’ ὑπηρετεῖν σκοπεῖν θ’, ὅπου ’στ’ ἐνταῦθα δίστοµος πέτρα τοιάδ’, ἵν’ ἐν ψύχει µὲν ἡλίου διπλῆ πάρεστιν ἐνθάκησις, ἐν θέρει δ’ ὕπνον δι’ ἀµφιτρῆτος αὐλίου πέµπει πνοή. βαιὸν δ’ ἔνερθεν ἐξ ἀριστερᾶς τάχ’ ἂν ἴδοις ποτὸν κρηναῖον, εἴπερ ἐστὶ σῶν.

15

20

14 τῷ] ~ ᾧ (K.-G. I 587 f.). 15 σὸν] danach liegt zwar im technischen Sinn wegen des Wortendes nach ἤδη keine Mittelzäsur vor, aber syntaktisch ist der Vers in zwei Hälften geteilt; vgl. Ardizzoni 1987, 153–155; Schein. | ὑπηρετεῖν] eigtl. ‚als Ruderer dienen‘, aber zu ‚dienen‘ bzw. ‚mithelfen‘ verblasst (vgl. El. 996, bezogen auf eine Frau). 17 τοιάδ’, ἵν’] ~ τοιάδ’, ἐν ᾗ. 17–18 ἡλίου … ἐνθάκησις] gen. obi. ~ θακεῖν ἐν ἡλίῳ (Jebb). 20 ἐξ ἀριστερᾶς] vgl. LSJ s. v. ἐκ I 6.

Kommentar

75

14–16 (griechischer Text: 14–15) Odysseus versteht sich als (siegesgewisser) Schöpfer des Plans, der mit Hilfe des Neoptolemos ausgeführt werden soll. Wenn auch beide dazu nötig sind (25), so geht er doch von einer ganz klaren Rangordnung aus (vgl. auch 53). 14 Der ‚kluge Plan‘ (sophisma) passt zu einem Odysseus, für den seit den homerischen Epen seine erfindungsreiche Klugheit, wie die diesbezüglichen Epitheta bezeugen (z. B. Ilias 1,311; 2,173; 11,482; Odyssee 1,83; 3,163), und auch seine Fähigkeit, sich plausible Lügengeschichten auszudenken (Odyssee 19,203), charakteristisch sind. Der Plan beruht auf der Absicht, Philoktet durch Vorspiegelung falscher Tatsachen zu übertölpeln (54 ff.). Dass sophisma (in positiver Bedeutung seit Pindar, Olympien 13,17 belegt) auch den negativen Klang einer im schlechten Sinne ausgeklügelten Trickserei haben kann (vgl. z. B. Eur. Ba. 489), spielt aus Odysseus’ Sicht sicher keine Rolle, allenfalls kann der Zuschauer an diese Bedeutungsmöglichkeit denken und so zu einer entsprechenden Einschätzung des Odysseus kommen. Das könnte zum Bild eines Politikers passen, der bedenkenlos in der Wahl seiner Mittel ist, weniger zu einem Intellektuellen wie den sog. Sophisten, womit man (Schein z. St. u. 2016, 85; mit Einschränkungen auch Pucci zu 13–14) Odysseus in Verbindung gebracht hat, weil Sophokles ihn den Ausdruck sophisma gebrauchen lässt. Vgl. auch Einf. S. 42 f. 15–21 Noch bevor Odysseus Neoptolemos seinen Plan inhaltlich erläutert, bezieht er ihn mit dem Auftrag, Philoktets Höhle zu erkunden, in die aktive Durchführung ein. Nach den Gegebenheiten des Stoffes ist es über neun Jahre her (312), dass Odysseus Philoktet in dieser Gegend ausgesetzt hat. Es ist daher ‚realistisch‘, wenn die genaue Lage der Höhle erst wieder ermittelt werden muss. Zu ihren Merkmalen und zur Visualisierung vgl. Einf. S. 19–21. 16 ‚Felsenhöhle‘: Philoktets ‚Behausung‘, die kein richtiges Wohnen zulässt, wird unterschiedlich benannt; im Prinzip handelt es sich um verschiedene Formen des überdachten Raumes, wobei die Spannweite von ‚Fels‘ oder ‚Höhle‘ bis ‚Haus‘ reicht: petra (16; 272); aulion (19; 954; 1087; 1149); antron (27; 1263); oikēsis (31); melathron (147 [?]; 1453); aulē (153); oikos (159); stegē (286; 298; 1262); exoikēsis (534); schēma petras (952); gyalon (1081). 16–17 (griechischer Text: 16) ‚zweifacher Eingang‘: vgl. auch 159; 952; außerdem 19 (‚an beiden Seiten offene Behausung‘). 17–18 ‚auf beiden Seiten ein besonnter Sitzplatz‘: D. h., dass es im Winter die Möglichkeit gibt, sich je nach Sonnenstand auf der einen oder anderen Seite zu wärmen. 18–19 ‚Schlaf … schickt‘: Der kühlende Durchzug ermöglicht im Sommer den Schlaf. – „Odysseus describes the cave like a house-agent, implying that its desiderability mitigated his cruelty“ (Webster zu 16). Philoktet sieht die Gegebenheiten seiner Behausung deutlich negativer (1082). 19 ‚an beiden Seiten offene Behausung‘: Wörtl. heißt es ‚von beiden Seiten her durchbohrt‘, gemeint ist der durchbrochene Fels. 21 Neoptolemos’ Antwort (26 f.) klärt nicht eindeutig, ob die Quelle inzwischen versiegt ist. Wegen Philoktets späterer Klage, wie mühselig es für

Prologos: 22–29

76

Da geh mir leise hin und gib ein Zeichen, ob er noch an ebendiesem Platz wohnt oder ob er sich anderswo aufhält, damit du das Übrige, was zu sagen ist, hörst, ich es dir darlege, und es von uns beiden als gemeinsames Werk vonstattengeht.

25

Neoptolemos entfernt sich und sucht den Eingang zur Höhle. Er ruft von einem erhöhten Standpunkt aus. Neoptolemos Herr, Odysseus, die Aufgabe, die du stellst, führt nicht weit weg. Ich glaube nämlich, eine Höhle, wie du sie beschriebst, zu sehen. Od. Oberhalb (von dir) oder unterhalb? Es ist mir nämlich nicht klar. Ne. Hier, oben, und kein Geräusch von einem Tritt. ἅ µοι προσελθὼν σῖγα σήµαιν’, εἴτ’ ἔχει χῶρον πρὸς αὐτὸν τόνδ’ ἔτ’, εἴτ’ ἄλλῃ κυρεῖ, ὡς τἀπίλοιπα τῶν λόγων σὺ µὲν κλύῃς, ἐγὼ δὲ φράζω, κοινὰ δ’ ἐξ ἀµφοῖν ἴῃ. Νεοπτόλεµος ἄναξ Ὀδυσσεῦ, τοὔργον οὐ µακρὰν λέγεις· δοκῶ γὰρ οἷον εἶπας ἄντρον εἰσορᾶν. Οδ. ἄνωθεν ἢ κάτωθεν; οὐ γὰρ ἐννοῶ. Νε. τόδ’ ἐξύπερθε, καὶ στίβου γ’ οὐδεὶς κτύπος.

25

22 µοι] nach der Wortstellung eher ethischer Dativ zu προσελθὼν als Objekt zu σήµαιν’. | σῖγα] passt von der Situation her besser zur geräuschlosen Erkundung (προσελθὼν) als zum ohnehin lautfrei möglichen Zeichengeben (σήµαιν’). | σήµαιν᾿ Hss. : † σήµαιν᾿ † Ll.-J./W., Dawe, Avezzù : µάνθαν᾿ Dawe – das Wortende nach langer Schlusssilbe von σήµαιν᾿ verstößt gegen die Lex Porsoniana; allerdings wird das Wortende durch die Elision gemildert und passt σηµαίνειν hier semantisch sehr gut, sodass der ‚Verstoß‘ wohl hinzunehmen ist; vgl. im Einzelnen Renehan 1992, 367–369; Ll.-J./W.2; Schein (mit Hinweis auf weitere mutmaßliche Verstöße gegen die Lex Porsoniana in der griechischen Tragödie). | ἔχει] Subjekt von ἔχει ist Philoktet (nicht ἅ, so aber Webster; Pucci); es ergibt keinen Sinn zu fragen, ob sich die Höhle noch am selben Platz befindet. 23 πρὸς αὐτὸν Hss. : τὸν αὐτὸν Blaydes : προσάντη Tournier – s. ETS, S. 438. | τόνδ’ ἔτ’ Elmsley : Ø : τόνδε γ᾿ : τὸν δ᾿ : τόνδ᾿ – das vielfach überlieferte ΤΟΝΔ ist metrisch nicht möglich; ἔτ’ dürfte durch Haplographie ausgefallen sein, τόνδε γ᾿ ist ein Versuch, den Vers wenigstens metrisch vollständig zu machen. 24 τἀπίλοιπα τῶν λόγων] vgl. zur Formulierung 131; Bruhn § 32,2. | κλύῃς : κλύοις (Hss.) – vgl. φράζω (25). 25 κοινὰ] prädikativ auf τἀπίλοιπα (24) bezogen; der damit gemeinte Plan soll als gemeinsame Aktion vonstatten gehen (Kamerbeek). | ἴῃ Camerarius : εἴη Hss. – Konj. u. Form von ἰέναι erforderlich. 26 ἄναξ (Hss.) : ὤναξ – beides möglich (K.-G. I48 f.). | τοὔργον οὐ µακρὰν λέγεις] ~ τὸ ἔργον, ὃ λέγεις, οὐ µακράν ἐστι (Jebb); Bruhn § 130; zum prädikativen Gebrauch des Adverbs vgl. Aisch. Ag. 1650 τοὔργον οὐχ ἑκὰς τόδε. 28 γὰρ] „Γάρ gives the motive for saying that which has just been said: ‘I say this because …’ “ (GP 60). | ἐννοῶ] das Kompositum ist im Unterschied zum Simplex nicht in Bezug auf die sinnliche Wahrnehmung belegt; Odysseus will sagen, dass er noch keine zureichende Einsicht in den Sachverhalt hat (wie OT 559 οὐ γὰρ ἐννοῶ). 29 γ᾿ Trikl. (GP 159 [iv]) : δ᾿ : τ᾿ : ᾿στ᾿ Mudge | οὐδεὶς Hss. : οὔδει Bergk : οὐχ εἷς Mudge |

Kommentar

77

ihn sei, sich etwas zu trinken zu beschaffen (292–295), könnte man schließen, dass es die Quelle nicht mehr gibt. Bei seinem Abschied von Lemnos spricht Philoktet allerdings Quellen (im Plural) an (1461), denen er seinen Lebenserhalt verdankt. Offenbar wird jeweils diejenige Vorstellung evoziert, die gerade gebraucht wird. 24 ‚das Übrige, was zu sagen ist‘: Gemeint ist der vv. 50 ff. entwickelte Plan, den Odysseus bisher nur genannt, aber noch nicht dargelegt hat. 26  ‚Herr‘: Das griechische anax ist eine ehrende Anrede an Götter (z. B. an den vergöttlichten Schlaf, 830, oder Apollon, OT 80) oder an hochgestellte Persönlichkeiten. In v. 264 ist anax in Bezug auf Odysseus im Sinn von ‚Herrscher‘ gebraucht. Die Anrede kann daher (wie wohl hier, und wenn der Chor Neoptolemos anredet, z. B. 150) Ausdruck der Subordination sein (vgl. auch 54); das ist aber nicht notwendig so: König Ödipus nennt seinen Schwager Kreon anax (OT 85). Und wenn Neoptolemos an späterer Stelle (94) Odysseus als ‚Herr‘ anspricht, so ist er ihm zuvor mit der Anrede ‚Sohn des Laërtes‘ als gleichberechtigt gegenübergetreten (vgl. 87 mit Komm.). 28 Die Aussage des Odysseus bedeutet nicht, dass er aus der Entfernung überhaupt keinen Sichtkontakt hat (vgl. auch Einf. S. 22 Anm. 65), sondern, dass ihm die konkrete Situation noch nicht ganz klar ist (vgl. zum Sprachlichen TS). 29–31 Neoptolemos hat das Niveau des Höhleneingangs noch nicht ganz erreicht, will aber die Befürchtungen des Odysseus (13; 22) schon einmal zerstreuen (keine Bewegung zu hören). Jedoch möchte Odysseus sicher sein, dass sich Philoktet nicht schlafend in der Höhle aufhält (30), was Neoptolemos erst ausschließen kann, als er noch etwas höher gegangen ist und die Höhle voll übersieht (31). 29 ‚Tritt‘: Wie sich aus der Anweisung des Odysseus (v. 30) schließen lässt, hat er Neoptolemos’ Aussage (29) so verstanden, dass er bei und aus der Höhle kein Lebenszeichen wahrnehmen kann. Das mit ‚Tritt‘ übersetzte Wort stibos ist sonst nur in Bezug auf den Effekt belegt. Es hängt mit dem Verb steibein, ‚treten‘, zusammen und bezeichnet, was durch ein Eindrücken (meist des Fußes) zustande kommt, sei es der (durch Begehen) entstandene Pfad (48; 206 [vgl. ETS zu 206, S. 440]), sei es die Fußspur oder der Fußabdruck (Aisch. Cho. 205; 210; 228) oder auch Spuren anderer Art (Aisch. Ag. 411). Aber eine optisch wahrnehmbare Spur kann Neoptolemos nicht meinen, und so wird man hier eine aktive Bedeutung (‚Tritt‘) annehmen müssen (vgl. Jebb „act of treading“).

Prologos: 30–39

78 Od. Ne. Od. Ne. Od. Ne. Od. Ne.

Οδ. Νε. Οδ. Νε. Οδ. Νε. Οδ. Νε.

Gib acht, dass er nicht drin sein Lager hat und schläft! 30 Ich sehe eine leere Behausung, kein Mensch ist da. Und drinnen keine Dinge, wie sie zum Wohnen und Leben gehören? Doch, Laub, zusammengedrückt wie von einem Lagernden. Und das Übrige ist leer, und nichts ist im Innern? Ein Becher aus rohem Holz, eines schlechten Handwerkers 35 Arbeit, und Feuersteine sind hier dabei. Die Habseligkeiten, die du da bezeichnest, die sind von ihm. Iuh! iuh! Da sind noch andere Dinge: Es trocknen Lumpen, voll von Absonderungen aus einer schlimmen Wunde! ὅρα, καθ’ ὕπνον µὴ καταυλισθεὶς κυρῇ. ὁρῶ κενὴν οἴκησιν ἀνθρώπων δίχα. οὐδ’ ἔνδον οἰκοποιός ἐστί τις τροφή; στιπτή γε φυλλὰς ὡς ἐναυλίζοντί τῳ. τὰ δ’ ἄλλ’ ἔρηµα, κοὐδέν ἐσθ’ ὑπόστεγον; αὐτόξυλόν γ’ ἔκπωµα, φλαυρουργοῦ τινος τεχνήµατ’ ἀνδρός, καὶ πυρεῖ’ ὁµοῦ τάδε. κείνου τὸ θησαύρισµα σηµαίνεις τόδε. ἰοὺ ἰού· καὶ ταῦτά γ’ ἄλλα θάλπεται ῥάκη, βαρείας του νοσηλείας πλέα.

30

35

κτύπος : τύπος | καὶ στίβου οὔδει τύπος Dawe : κἄστι καὶ στίβου τύπος Jackson – läse man τύπος, würde schon eine Aussage über die Bewohntheit der Höhle getroffen; darum geht es aber erst ab v. 32; mit τύπος ist überdies die Aussage von v. 30 nicht zu vereinbaren (Jebb). Zunächst ist nach Identifzierung der Höhle festzustellen, ob man vor Philoktet sicher ist, und das kommt mit κτύπος (vgl. auch 202) klar heraus; vgl. Komm. zu 29–31 und besonders Jebb zu 29; anders Dawe 2010, 408. 30 καταυλισθεὶς (vgl. 19; 153; Jebb) : κατακλιθεὶς | κυρῇ (Hss.) : κυρεῖ +Schaefer : κυρεῖς – ὅρα … µή mit Konjunktiv wie bei Verben des Fürchtens (K.-G. II 390; 394; Jebb). 32 τροφή Hss. : τρυφή Welcker – Neoptolemos’ Antwort (Lagerstätte, 33) scheint für die Frage des Odysseus zunächst τροφή auszuschließen; aber ein ironisches τρυφή ist unpassend, solange Odysseus nur wissen will, ob Philoktet noch in dieser Höhle lebt. Vgl. auch Ll.-J./W.1, außerdem Komm. zu 32. 33 στιπτή : στειπτή +Eustathios II 820,3 van der Valk – vgl. ἄστιπτος (2), Jebb. | γε] „In answers“ (GP 130 ff.). | ὡς ἐναυλίζοντί τῳ] dat. auct. zu στιπτή (K.-G. I 422); ὡς drückt den Eindruck aus, den der Betrachter hat (Kamerbeek). 34 ἔρηµα] zum Akzent (ἔρηµος oder ἐρῆµος usw.) vgl. West 1990, XXXII. | ὑπόστεγον] ~ ὑπὸ στέγῃ: Adjektiv statt eines adverbialen Ausdrucks (K.-G. I 274). 35 γ᾿ (vgl. zu 33) : Ø : τ᾿ | φλαυρουργοῦ : φαυλουργοῦ – φλαυρός (= φαυλός) ist die von Sophokles bevorzugte Wortvariante; φαυλουργός ist eine von Pollux 7,7 fälschlich Aristophanes (vgl. fr. 912 K.-A.) zugeschriebene Form. 36 τεχνήµατ’] Plural „of a single cup: the adjective φλαυρ. contradicts the dignifying effect of τεχν., making it ironic“ (Moorhouse 7). 38–39 ἄλλα … ῥάκη] ‚anderes, nämlich Lumpen‘ (K.-G. I 275 Anm. 1 b); vgl. Eur. Philoktet F 789 d [11] Kannicht τελαµῶνές τε α⟨ἵµατος ἀ⟩νάπλεῳ (Ergänzung Bothe; Müller 2000, 386). 39 του] Neoptolemos kann nicht genau benennen, womit die Lumpen getränkt sind.

Kommentar

79

32 ‚Dinge, wie sie zum Wohnen und Leben gehören‘: Im Griechischen steht trophē (‚Nahrung‘), die als oikopoios (‚ein Haus konstituierend‘) bezeichnet wird. trophē muss daher in einem weiteren Sinn verwendet sein, generell für Mittel, die man zum Leben braucht. Vgl. Platon, Nomoi 667 b 8 (Jebb). 35 ‚aus rohem Holz‘, wörtl. ‚aus bloßem Holz‘: Gemeint ist, dass es sich um ein Stück Holz handelt, das nur rudimentär in Becherform gebracht wurde. 36 ‚Feuersteine‘: Der griechische Ausdruck ist pyreia. Aus Theophrasts De igne (63 Coutant) ergibt sich, dass damit Feuerhölzer und Feuersteine bezeichnet werden konnten, dass erstere aber als häufiger verwendet galten, und zwar für den ‚Herd‘ (eschara) bevorzugt Klematis oder Efeu, für den ‚Bohrer‘ (trypanon) Lorbeer (64 Coutant). Da Philoktet jedoch später (296 f.) von Steinen spricht, die er zum Feuermachen benutzte, dürften auch hier (36) diese gemeint sein. 37 Obwohl die ärmlichen Dinge, die Neoptolemos nennt, nicht sehr spezifisch sind, identifiziert sie Odysseus als Besitz des Philoktet, was sich dann durch die weiteren Funde bestätigt. ‚Habseligkeiten‘ (thēsaurisma): Das dazugehörige Verb (thēsaurizein) kann das Ansammeln von Dingen, die man für das Leben braucht, bezeichnen (vgl. Xenophon, Kyrupädie 8,2,24). In Anbetracht der Ärmlichkeit des Vorgefundenen ist der Ausdruck ironisch zu verstehen (vgl. Jebb). 39 ‚Absonderungen aus einer schlimmen Wunde‘: Diese spezifische Bedeutung des mit ‚schlimm‘ (bareia) qualifizierten Substantivs nosēleia erfordert der Kontext, wobei ‚schlimm‘ vermutlich von der Wunde selbst auf das übertragen ist, was sie absondert. Sonst ist nosēleia erst spät belegt und bedeutet „care of the sick, nursing“ oder „sickness which needs tending“ (LSJ s. v.).

Prologos: 40–47

80 Od.

Der Mann bewohnt diesen Platz hier, das ist klar, und ist irgendwo nicht weit weg. Denn wie sollte ein Mann, krank am Bein durch ein altes Leiden, weit zu Fuß gehen? Nein, er ist entweder zur Nahrungssuche weggegangen oder, wenn er vielleicht irgendwo ein schmerzstillendes Kraut kennt, zu dem.

40

Odysseus (mit dem Begleiter) ist inzwischen näher an die ‚Höhle‘ und Neoptolemos herangekommen.

Οδ.

Den Mann hier schicke, Ausschau zu halten, damit er nicht, ohne dass ich’s merke, auf mich trifft. Denn lieber als alle Argeier zusammen würde er mich in seine Gewalt bringen.

45

ἁνὴρ κατοικεῖ τούσδε τοὺς τόπους σαφῶς, κἄστ’ οὐχ ἑκάς που. πῶς γὰρ ἂν νοσῶν ἀνὴρ κῶλον παλαιᾷ κηρὶ ποσὶ βαίη µακράν; ἀλλ’ ἢ ’πὶ φορβῆς νόστον ἐξελήλυθεν ἢ φύλλον, εἴ τι νώδυνον κάτοιδέ που. τὸν οὖν παρόντα πέµψον ἐς κατασκοπήν, µὴ καὶ λάθῃ µε προσπεσών· ὡς µᾶλλον ἂν ἕλοιτό µ᾿ ἢ τοὺς πάντας Ἀργείους λαβεῖν.

40

45

40 ἁνὴρ Brunck : ἀνὴρ Hss. – es ist ein bestimmter Mann (hier: Philoktet) gemeint. 42 παλαιᾷ] zur Bedeutung von παλαιός vgl. Jouanna 2004, 23. | ποσὶ βαίη Dawe 2010, 408 (mit Verweis auf LSJ s. v. πούς 2) : προσβαίη Hss. : προστείχοι Herwerden : προσκάζοι Jebb – s. ETS, S. 438. 43 φορβῆς νόστον Hss. : φορβῆς µαστὺν Toup : φορβὴν νῆστις Wecklein : φορβὴν οἷµον Günther 1996, 125–127 – νόστος bedeutet nicht nur ‚Rückkehr‘, ‚Heimreise‘, sondern kann auch überhaupt ‚Gang‘, (erfolgreiche) ‚Reise‘ zu einem Ziel heißen (vgl. Homer, Odyssee 5,344 f.; Eur. IA 1261 οἷς νόστος οὐκ ἔστ᾿ Ἰλίου πύργους ἔπι); „the presence of ἐπί before it already tinges νόστον with the sense of ζήτησιν“ (Jebb). Der Genitiv φορβῆς ist „Pertinentive, with wider sense“, „ ‘a journey connected with food, to find food’ “ (Moorhouse 52); vgl. auch Ll.-J./W.2 (gegen Toups Konjektur). 44 ἢ φύλλον …] die Konstruktion ist wohl: ἢ, εἰ φύλλον νώδυνόν τι κάτοιδέ που, (ἐπ᾿ αὐτό), vgl. Jebb. | νώδυνον] = ἀνώδυνον (‚schmerzfrei‘), hier (wie auch bei ἀνώδυνον möglich) aktivisch gebraucht. 46 µὴ καὶ] vgl. zu 13, hier jedoch µὴ mit echtem Finalsatz. 47 ἕλοιτό µ᾿ Hss. (ob Hs. L vor der Korrektur ἕλοιτέ µ᾿ hatte, ist unsicher) : ἕλοιτ’ ἔµ’ Buttmann – dass es um Odysseus geht, ist bereits durch v. 46 klar, sodass die Nennung der Person in v. 47 nicht betont werden muss. Ein ähnlicher Fall liegt 1049–1051 vor, wo das enklitische µου metrisch gesichert ist (Jebb zu 47; außerdem K.-G. I 557, 2). | λαβεῖν (Hss.) : µολεῖν : βαλεῖν Valckenaer – βαλεῖν gibt (anders als µολεῖν) einen guten Sinn, damit ist aber keine Änderung der Überlieferung zu rechtfertigen.

Kommentar

81

41 ‚nicht weit weg‘: Die Annahme des Odysseus rechtfertigt seine weiteren Vorsichtsmaßnahmen und erklärt dramaturgisch Philoktets baldiges Auftreten. 42 ‚altes Leiden‘: Es begann vor langer Zeit und besteht noch weiter. 43 ‚zur Nahrungssuche weggegangen‘, wörtl.: ‚hat sich auf einen Weg (nostos) der Nahrung (der sich auf die Nahrung bezieht) aufgemacht‘; vgl. TS. Das griechische Wort für Nahrung (phorbē, vgl. auch 1108) kann für Tier(Homer, Ilias 5,202) und für Menschennahrung (z. B. Herodot 1,202,1) gebraucht werden. 44 Die als Alternative zur Nahrungssuche genannte mögliche Suche nach einem Heilkraut macht deutlich, wie Odysseus die armseligen Lebensbedürfnisse Philoktets einschätzt. 45–49 Nachdem nun feststeht, dass Philoktet abwesend ist, kommt Odysseus näher an das Bühnenhaus heran (vermutlich, während er die vv. 40–44 spricht) und fordert Neoptolemos auf, einen Posten auszusenden, als Sicherung gegen ein überraschendes Zurückkommen Philoktets. Dass Odysseus näher herankommt, ist dramaturgisch wahrscheinlich, da die ganze folgende Unterhaltung (50–134) kaum über eine große Distanz geführt wird. 45 ‚Den Mann hier‘: Da dieser Mann unter der Befehlsgewalt des Neoptolemos steht, wird es einer von dessen Schiffsmannschaft sein. An späterer Stelle wird klar, dass auch Odysseus Leute hat, denen er direkt Aufträge geben kann (1003). Dass hier ein Mann aus der Mannschaft des Neoptolemos zum Einsatz kommt, über den Odysseus nicht so ohne Weiteres verfügen kann, soll möglicherweise die Eigenständigkeit des Neoptolemos betonen und zeigen, dass er nicht bloß Helfer des Odysseus ist (53). – Vermutlich blieb der Mann zunächst bei Odysseus stehen, denn er wird bei Odysseus’ Auftrag (15 ff.) nicht erwähnt. Später (125) wird er ‚Späher‘ genannt. 46 ‚er‘: Philoktet. 47 ‚Argeier‘, eigtl. Bewohner der Landschaft Argolis im Nordosten der Peloponnes, aber hier, wie bereits bei Homer (z. B. Ilias 2,79), für die Griechen insgesamt gebraucht. Im Philoktet setzt Sophokles für die Griechen überwiegend die Bezeichnungen Achaier (59; 595; 609; 616; 623; 916; 1243; 1250; 1306; 1404) und Argeier ein (47; 67; 420; 554; 560; 630; 944; 1064); 1216 heißen sie Danaer; 3, 233 und 1344 Hellenen. Ein Bedeutungsunterschied ist nicht erkennbar, aber offensichtlich spielt die metrische Handhabbarkeit eine Rolle. In v. 233 sind nur ‚Hellenen‘, in v. 1216 nur ‚Danaer‘ metrisch möglich, ‚Ageier‘ und ‚Achaier‘ kommen jeweils zumeist an denselben Versstellen vor.

Prologos: 48–54 a

82

Neoptolemos gibt dem Begleiter ein Zeichen, seinen Posten zu beziehen. Ne.

Ja, er geht, und der Weg wird bewacht werden. Du aber, wenn du etwas wünschst, fahr fort mit deiner Rede.

Od.

Sohn Achills, du musst dich darin, wofür du hergekommen bist, deiner edlen Art wert erweisen, nicht nur mit deinem Körper, sondern, wenn du etwas Unerwartetes, wovon du bisher nichts gehört hast, vernimmst, Hilfe leisten; denn als Helfer bist du hier. Was also befiehlst du?

Ne. Νε.

ἀλλ’ ἔρχεταί τε καὶ φυλάξεται στίβος. σὺ δ’, εἴ τι χρῄζεις, φράζε δευτέρῳ λόγῳ.

Οδ.

Ἀχιλλέως παῖ, δεῖ σ’ ἐφ’ οἷς ἐλήλυθας γενναῖον εἶναι, µὴ µόνον τῷ σώµατι, ἀλλ’ ἤν τι καινόν, ὧν πρὶν οὐκ ἀκήκοας, κλύῃς, ὑπουργεῖν, ὡς ὑπηρέτης πάρει. τί δῆτ’ ἄνωγας;

Νε.

50

54 a

50

54 a

48 ἀλλ’] zustimmend (GP 17). | τε Hss. : τοι Blaydes | στίβος Hss. : στίβον Wakefield – φυλάξεται στίβος: mediales Futur in passiver Bedeutung (K.-G. I 114–116). 50 ἐφ’ οἷς] = ἐπὶ τούτοις, ἐφ᾿ οἷς. 51 γενναῖον] bei Aristoteles bestimmt als τὸ µὴ ἐξιστάµενον ἐκ τῆς αὑτοῦ φύσεως (Historia animalium I 1, 488 b 19 f.). 53 ὑπουργεῖν] ist parallel zu γενναῖον εἶναι (51) konstruiert; konzinner wäre in inhaltlicher Entsprechung zu τῷ σώµατι ein Ausdruck wie τῇ γνώµῃ ὑπουργοῦντα (Jebb). | ὡς Hss. : οἷς Musgrave

Kommentar

83

48 Neoptolemos spricht von einem Weg (stibos, vgl. zu 29). Odysseus und Neoptolemos waren vom Landungsplatz am Meer her gekommen und sind dabei Philoktet nicht begegnet. Also muss der (landseitige) Weg, der (theatertechnisch) durch die andere Parodos führt, gemeint sein; wahrscheinlich dorthin entfernt sich der Untergebene des Neoptolemos und ist vermutlich für die Zuschauer nicht mehr sichtbar. 49 ‚wenn du etwas wünschst‘: Zu ergänzen ist entweder ‚wenn du wünscht, dass etwas (sc. durch mich, Neoptolemos) geschehen soll‘ (so Schein) oder ‚wenn du Weiteres zu sagen wünschst‘ (Jebb; Ussher). ‚fahr fort mit deiner Rede‘, wörtl. ‚sprich mit einer zweiten Rede‘ (angekündigt in v. 24): Die erste bestand aus den vv. 1–25. 50–85 Zu Beginn des zweiten Abschnitts der Prologszene (50–134) versucht Odysseus, mit der Darlegung seines Plans Neoptolemos – wider dessen Naturell – für eine Intrige gegen Philoktet zu gewinnen, weil er als einziger für die Durchführung in Betracht komme. 50–53 Odysseus setzt mit einer Bemerkung ein, die Neoptolemos positiv einstimmen soll: Der Sohn Achills solle sich seiner edlen, von seinem Vater herrührenden Art wert erweisen, aber eben nicht nur als Kämpfer (‚mit deinem Körper‘, 51), wie er es gewohnt ist, sondern auch – die zu erwartende Entsprechung ‚Geist‘ o.ä. unterbleibt – auf einem Gebiet, das Odysseus verklausuliert und euphemistisch als ‚etwas Unerwartetes‘ bezeichnet. Damit ist nichts anderes gemeint als das listige Vorgehen, zu dem er Neoptolemos überreden will, und das, wie er wohl weiß (79 f.), dessen (und Achills) Wesensart gerade fremd ist (vgl. 86–95). ‚Edel‘ wird so zu einem ambivalenten Ausdruck (Alt 1961, 147), von „semantischer Verdrehung“ spricht Altmeyer (2001, 237 f.); sonst wird das Wort im Philoktet in seiner üblichen Bedeutung gebraucht (475; 799; 801; 1068; 1402; vgl. auch Rütz 2009, 565 f.). Da Odysseus bewusst ist, dass es mit Neoptolemos Probleme geben könnte, versäumt er es nicht, ihn am Ende (53) auf seine Gehorsamspflicht hinzuweisen. 52 ‚Unerwartetes‘ (für Neoptolemos’ Art), wörtl.: ‚Neues‘ (kainon), das im Sinne des Unerhörten negativ konnotiert sein kann (vgl. Jebb zu 50 ff.); so auch neon (vgl. 560; 751; 784; 1229). 53 ‚Helfer‘: Das griechische hypēretēs (Grundbedeutung ‚Ruderer‘) bezeichnet in der Regel Personen mit untergeordneter Funktion. Dass auch mehr oder weniger Gleichberechtigte so benannt werden können (Jebb verweist auf Eur. El. 821 und Xenophon, Anabasis 1,9,18), besagt für den Wortgebrauch hier nichts. Zweifellos sieht sich Odysseus in der Führungsposition, und Neoptolemos erwartet einen Befehl von ihm (54 a). Vgl. auch 93 f. mit Komm. zu 93–94. 54 a Neoptolemos scheint durch die Ankündigung des ‚Neuen‘ irritiert und antwortet mit schroffer Kürze nur in einem Halbvers. Es ergibt sich eine Antilabe (Aufteilung eines Verses auf zwei Sprecher; auch mehrfacher Sprecherwechsel ist möglich; vgl. 753; 810; 814; 816; 1407).

Prologos: 54 b–60

84

Od. Du musst die Seele Philoktets mit Worten, durch deine Rede, betören: Wenn er dich fragt, wer du bist und woher du kommst, sag: der Sohn Achills; dabei ist keine Täuschung nötig; deine Absicht ist, nach Hause zu segeln, die Kriegsflotte der Achaier hast du verlassen, da du von großem Hass gegen sie erfüllt bist: Mit Bitten hatten sie nach dir gesandt, du solltest von zu Hause kommen,

54 b 55

Οδ. τὴν Φιλοκτήτου σε δεῖ ψυχὴν ὅπως λόγοισιν ἐκκλέψεις λέγων· ὅταν σ’ ἐρωτᾷ τίς τε καὶ πόθεν πάρει, λέγειν, Ἀχιλλέως παῖς· τόδ’ οὐχὶ κλεπτέον· πλεῖς δ’ ὡς πρὸς οἶκον, ἐκλιπὼν τὸ ναυτικὸν στράτευµ’ Ἀχαιῶν, ἔχθος ἐχθήρας µέγα, οἵ σ’ ἐν λιταῖς στείλαντες ἐξ οἴκων µολεῖν,

54 b 55

60

60

54 b–55 δεῖ … λέγων Hss. : δεῖν … λέγω Matthiae | σε δεῖ … ὅπως … ἐκκλέψεις] Vermischung der Konstruktionen δεῖ σε ἐκκλέψαι mit dem absolut zu gebrauchenden ὅπως ἐκκλέψεις, vgl. Ai. 556 f.; K.-G. II 376 f. Anm. 6. 55 λόγοισιν Hss. : δόλοισιν Gedike | ἐκκλέψεις : ἐκκλέψῃς (Hss.) – zum Indikativ vgl. K.-G. II 376 f. Anm. 6. | λέγων Hss. : λαθών Faehse : ἑλών Purgold – die Wortfolge λόγοισιν … λέγων wird verschiedentlich als problematisch angesehen, aber das Element des Trügerischen steckt bereits in ἐκκλέψεις, was die Konjektur δόλοισιν (die Dawe übernimmt) überflüssig macht; im Übrigen lässt sich λόγοισιν ἐκκλέψεις λέγων als Verschränkung anstelle von ἐκκλέψεις λέγων λόγους auffassen (K.-G. II 575, 3. α), wodurch das Reden als Mittel der Täuschung stärker hervorgehoben wird (vgl. auch Komm. z. St.). λέγων mit Jebb / Ussher (mit Verweis auf Ai. 757) zu verstehen als „in thy converse with him“ / „in the course of what you say“ (temporales Partizip) liegt weniger nahe. 56 ὅταν …] durch das Asyndeton wird der Beginn der Rede markiert, die Neoptolemos halten soll und die anschließend inhaltlich von Odysseus skizziert wird; nach λέγων (55) sollte daher mit einem Hochpunkt (in der Funktion eines Doppelpunkts) interpungiert werden (vgl. auch Kamerbeek). | πόθεν πάρει] von εἰµί, vgl. πόθεν … φαίνῃ Platon, Protagoras 309 a 1; K.-G. I 545 Anm. 4; LSJ s. v. I. 6. 57 λέγειν Hss. : λέξεις Blaydes : (…, λέγων [55] …,) ἐγώ εἰµ᾿ Dawe 2003, 101 f. (vgl. 240 f.; 585) – λέγειν (Infinitiv statt Imperativ; Moorhouse 243) führt den Befehlston der vv. 54 f. fort. Dawes Konjektur setzt eine kaum zu erklärende Korruptel voraus; allerdings ergäbe sich so eine durchgehende syntaktische Periode für die vv. 54–57 und würde ein von manchen als abrupt empfundener Einsatz mit ὅταν σ’ ἐρωτᾷ (56) vermieden. | Ἀχιλλ͜έως] Synizese (⏑ ‒ ‒) wie 364; 582; 1066; 1237; 1298; 1312; aber nicht 4; 50; 241; 260; {1220}; 1433 (Jebb). | κλεπτέον] ‚etwas auf trügerische Weise sagen‘, vgl. Ai. 188 κλέπτουσι µύθους. 58 ὡς πρὸς] ὡς bezeichnet die Intention, πρὸς das geographische Ziel. 59 ἔχθος ἐχθήρας] dieselbe Figur El. 1034. 60 οἵ] mit kausalem Sinn (K.-G. II 441 a; 421 f.). | ἐν] wie häufig beim Instrumentalis, vgl. 102; 1393 (K.-G. I 436 Anm. 7). | οἴκων : οἴκου Trikl. – zum Plural vgl. 383: gemeint ist nicht das Wohnhaus, sondern „the home country“ (Jebb zu 382 ff.); Singular 58; 240; 488; 548.

Kommentar

85

54 b–85 Odysseus’ Rede gliedert sich in drei Teile: Anweisung, wie Neoptolemos vorgehen soll (54 b–69); Erklärung, warum Neoptolemos vorgeschickt werden muss (70–78); Appell an Neoptolemos, sich für die Intrige herzugeben, obwohl sie seiner Wesensart widerspricht (79–85). Odysseus hat seine Taktik von vornherein so angelegt, als ob ein Feind zu überwinden wäre, obwohl er doch Philoktet zur Hilfe für die Griechen gewinnen will (vgl. auch Pucci zu 79–85); er selbst muss ihn auch als Feind fürchten (75 f.). Später erweist sich, dass Philoktet zwar diejenigen hasst, die ihn ausgesetzt haben (z. B. 314–316), er ist jedoch nicht generell den Griechen gegenüber feindlich gesonnen (224; 234 ff.). 54 b–69 Die Lügengeschichte, die Odysseus erdacht hat, soll nach dem Prinzip, dass gemeinsame Feindschaft (gegenüber den Atreus-Söhnen) gemeinsame Freundschaft (zwischen Neoptolemos und Philoktet) begründet, funktionieren. Vgl. Scholion zu v. 59; Heath 1999, 148. 54 b (griechischer Text: 54 b–55) ‚die Seele Philoktets‘: Es handelt sich wohl nicht um eine bloße Umschreibung (wie El. 1127: Orests Seele = Orest), sondern es wird damit bereits angedeutet, dass Philoktet auf einer ‚psychischen‘ Ebene übertölpelt (wörtl.: seine ‚Seele‘ gestohlen) werden soll (indem Neoptolemos mit falschen Angaben das Vertrauen Philoktets gewinnt). 55 Wörtl.: ‚mit Worten stehlen, dadurch dass du sie sagst‘ (logoisi … legōn). Die Doppelung im Ausdruck hat vermutlich den Sinn, das von Odysseus ersonnene listige, verbale Vorgehen Neoptolemos, einem Mann der Tat (86–95), nachdrücklich nahezubringen. Vgl. Ll.-J./W.1, S. 181. 56–64 Die Lügengeschichte, die Neoptolemos erzählen soll, enthält ‚falsche‘ Elemente (Fahrt nach Hause, Verweigerung der Rüstung Achills) vermischt mit ‚wahren‘ (Herkunft des Neoptolemos) und muss dadurch für Philoktet plausibler erscheinen. Mit der als Erfindung des Odysseus gekennzeichneten Version, dass man Neoptolemos die Rüstung Achills verweigert habe, weicht Sophokles von der Tradition ab, wonach die Rüstung zwar auch Odysseus zugesprochen wurde, aber Aias sich tödlich gekränkt fühlte, dass nicht er sie erhielt; vgl. Homer, Odyssee 11,543 ff.; Soph. Aias. Nach Ilias Parva, Argumentum 1 (p. 74,10 f. Bernabé = pp. 122 f. West 2003) sowie Argumentum 2 (p. 75,8 f. Bernabé) und Ps.-Apollodor (Epitome 5,11) hat Odysseus die Rüstung Achills freiwillig an Neoptolemos abgetreten, als dieser nach Troia gekommen war. 59 ‚Achaier‘, eigtl. Bewohner der Landschaft im Norden der Peloponnes, aber der Name wird hier, wie schon bei Homer (z. B. Ilias 1,2; 2,235), für die Griechen insgesamt gebraucht. Vgl. auch zu 47. 60 Neoptolemos erzählt den Vorgang in den vv. 343 ff. genauer. Danach sollten Odysseus und Phoinix (vgl. zu 344 u. 562) ihn von der Insel Skyros (240; 326) abholen.

Prologos: 61–69

86

weil sie darin die einzige Möglichkeit sahen, Ilion einzunehmen, aber sie hielten dich nicht der Rüstung Achills für wert, sie dir nach deiner Ankunft zu geben, als du sie mit Recht verlangtest, sondern sie hatten sie Odysseus gegeben; dabei kannst du gegen mich sagen, soviel du nur willst, das Übelste von übelster Nachrede. 65 Denn damit kränkst du mich in keiner Weise; aber wenn du das n i c h t tust, wirst du Leid über alle Argeier bringen. Denn wenn wir seinen Bogen nicht in unsere Gewalt bekommen, wirst du nicht das Land des Dardanos zerstören können. µόνην γ’ ἔχοντες τήνδ’ ἅλωσιν Ἰλίου, οὐκ ἠξίωσαν τῶν Ἀχιλλείων ὅπλων ἐλθόντι δοῦναι κυρίως αἰτουµένῳ, ἀλλ’ αὔτ’ Ὀδυσσεῖ παρέδοσαν· λέγων ὅσ’ ἂν θέλῃς καθ’ ἡµῶν ἔσχατ’ ἐσχάτων κακά. τούτῳ γὰρ οὐδέν µ’ ἀλγυνεῖς· εἰ δ’ ἐργάσῃ µὴ ταῦτα, λύπην πᾶσιν Ἀργείοις βαλεῖς. εἰ γὰρ τὰ τοῦδε τόξα µὴ ληφθήσεται, οὐκ ἔστι πέρσαι σοι τὸ Δαρδάνου πέδον.

65

61 γ᾿ Seyffert : δ᾿ : Ø – bei δ᾿ würde ἔχοντες mit στείλαντες (60) logisch auf einer Stufe stehen; tatsächlich ist v. 61 nur als Begründung von v. 60 sinnvoll; dafür wäre zwar auch µόνην ohne Partikel ausreichend (vgl. Schein); das weithin überlieferte δ᾿ deutet allerdings darauf hin, dass an dieser Stelle etwas stand. | τήνδ᾿ : τὴν – τήνδ᾿ bezieht sich auf den Gedanken der notwendigen Mitwirkung des Neoptolemos (60); Attraktion an ἅλωσιν statt Neutrum (Schein). 62–63 οὐκ ἠξίωσαν … δοῦναι] Vermischung der Konstruktionen σε οὐκ ἠξίωσαν τῶν Ἀχιλλείων ὅπλων und οὐκ ἠξίωσάν σοι δοῦναι τὰ Ἀχίλλεια ὅπλα (Kamerbeek). 63 κυρίως Hss. : κυρίως ⟨τ᾿⟩ Musgrave – die Unterordnung von αἰτουµένῳ ergibt einen guten Sinn. 64 λέγων Hss. : λέγ᾿ οὐν Gedike – λέγων schließt an λέγειν (57) an; zum Nominativ vgl. K.-G. II 21. 65 ἔσχατ’ ἐσχάτων κακά] vgl. z. B. ΟC 1238 κακὰ κακῶν und zu dieser Steigerungsform K.-G. I 339; Thesleff 1954, § 342; Moorhouse 58. 66 τούτῳ Buttmann : τούτων Hss. | µ’ ἀλγυνεῖς (Hss.) : µ’ ἀλγυνεῖ Trikl. : (τούτων …) ἀλγυνεῖ µ᾿ Dindorf – τούτων γὰρ οὐδέν µ’ ἀλγυνεῖς kann wahrscheinlich nicht heißen ‚in nichts von diesen Dingen kränkst du mich‘ (was einen vertretbaren Sinn ergäbe), sondern muss verstanden werden als ‚keine dieser Kränkungen wirst du mir zufügen‘, eine im Kontext sinnlose Aussage. Daher liegt es nahe, eine der beiden Konjekturen zu übernehmen. Da gegen µ’ ἀλγυνεῖς nichts einzuwenden ist und τούτων leicht durch Angleichung an ἐσχάτων entstanden sein kann, ist Buttmanns Lösung vorzuziehen (vgl. auch Jebb). 66– 67 ἐργάσῃ µὴ] durch die Nachstellung der Negation wird das Wort betont, auf das sich die Negation des Verbs auswirkt (vgl. zu 12); der Effekt wird durch Enjambement verstärkt. 67 βαλεῖς] ~ ἐµ- oder προσβαλεῖς, zum bloßen Dativ vgl. Tr. 915 f. δεµνίοις … βάλλουσαν φάρη (Jebb). 68 τόξα] kann im Plural bedeuten: (1) ‚Bogen‘, (2) ‚Bogen und Pfeile‘ oder nur (3) ‚Pfeile‘, vgl. LSJ s. v. sowie Jebb zu 652 f.; hier kann nur (2) vorliegen. 69 ἔστι] Präsens statt Futur „to emphasise the assertion“ (Moorhouse 188).

Kommentar

87

61 ‚Ilion‘ ist in der griechischen Tragödie eine gebräuchliche Bezeichnung für ‚Troia‘ (bei Homer diese Form nur Ilias 15,71 [aber wohl unecht]), sie kommt mehrfach im Philoktet vor (245; 247; 454; 548; 1200; 1438). 62–64 Diese Lüge ist zwar geeignet, das Vertrauen Philoktets zu gewinnen, hat aber auch das Potenzial, seine Abneigung gegen die Atreus-Söhne zu steigern, und wird so später zum Hindernis bei den aufrichtig gemeinten Versuchen des Neoptolemos, Philoktet zur Mitfahrt nach Troia zu bewegen (1362 ff.); vgl. Schmidt 1973, 29. 62 ‚Rüstung Achills‘: Gemeint ist die Rüstung, die der Schmiedegott Hephaistos für Achill angefertigt hatte (Homer, Ilias 18,457 ff.), wohl einschließlich der Waffen. Der griechische Ausdruck hopla (so auch 362; 365; 376; vgl. z. B. auch Ai. 41) kann beides bezeichnen, ebenso die epische Bezeichnung teuchē (370; 398/9), in v. 1365 a wird die Rüstung ‚Ehrengeschenk‘ (geras) genannt. Zu der Rüstung vgl. auch zu 56–64; 364–373 u. 372–373. 64–69 Die von Odysseus angeratene Beschimpfung seiner Person entspricht seiner Selbstbeschimpfung bei Euripides (F 789 d [8] Kannicht); Müller 1997, 220. – Den zu erwartenden Widerstand des Neoptolemos gegen ein solches Vorgehen blockt Odysseus gleich mit dem Hinweis darauf ab, welcher Schaden dadurch für die Gemeinschaft verursacht würde. Odysseus verschiebt dann seine Argumentation, indem er ankündigt, dass Neoptolemos andernfalls auch nicht den ihm verheißenen Erfolg (114) haben werde. Offenkundig hält er den Verweis auf den persönlichen Gewinn für überzeugender. 68–69 Odysseus argumentiert so, als komme es für die Eroberung Troias nur auf Philoktets Bogen und auf Neoptolemos an. Das muss nicht heißen, dass Sophokles hier eine andere Form der Weissagung des Helenos voraussetzt, als sie später (612 f.; 1329–1342) dargelegt wird (vgl. zu dieser Problematik Einf. S. 24 mit Anm. 74). Vielmehr ist wahrscheinlich, dass er Odysseus hier so taktieren lässt, damit Neoptolemos leichter gewonnen werden kann: Er müsse ‚nur‘ den Bogen (nicht Philoktet) in seine Gewalt bringen (vgl. auch 77 f.) und werde allein den Ruhm der Eroberung Troias haben. 68 ‚Bogen‘: Gemeint ist der Bogen einschließlich der Pfeile; vgl. TS. – Hier wird erstmals die Notwendigkeit des Bogens für die Eroberung Troias thematisiert (113). Dass es sich um den des Herakles handelt, dessen Pfeile unbedingt tödlich sind (78; 105; 198), wird erst in v. 262 erwähnt. Der Bogen ist im Philoktet wesentlich für das Handlungsgeschehen, und es ist bedeutsam, wer ihn jeweils in der Hand hält. Für Philoktet ist er Mittel des Überlebens, für die anderen Figuren begehrter Garant des Erfolgs. Er verbindet darüber hinaus die Gegenwart des Stücks mit der Vergangenheit (Herkunft von Herakles) und der Zukunft (Zerstörung Troias). Vgl. Fletcher 2013, bes. 202–210. 69 ,Land‘, wörtl. ‚Grund, Boden‘: Das griechische pedon wird mit abhängigem Genitiv zur Umschreibung eines Gebiets verwendet; z. B. für Lemnos (1464). Vgl. auch zu 920. ‚Dardanos‘: Auf den Zeussohn Dardanos als Stammvater führt Priamos, der ‚jetzige‘ Herrscher Troias und des umgebenden Landes, seine Abstammung zurück; vgl. Homer, Ilias 20,215–238.

Prologos: 70–78

88

Warum aber ich nicht, du jedoch ihm so begegnen kannst, 70 dass er Vertrauen fasst und du sicher bist, das erfahre nun: Du bist (nach Troia) gefahren, weder jemandem durch Eid verpflichtet noch aus Zwang noch am ursprünglichen Kriegszug beteiligt, ich dagegen kann nichts von diesen Dingen abstreiten. Daher, wenn er – den Bogen führend – mich bemerken wird, 75 bin ich verloren und werde dich, wenn ich mit dir zusammen bin, mit ins Verderben ziehen. Vielmehr: ebendas muss ausgeklügelt werden, wie du zum Dieb der unbezwinglichen Waffen wirst. ὡς δ’ ἔστ’ ἐµοὶ µὲν οὐχί, σοὶ δ’ ὁµιλία πρὸς τόνδε πιστὴ καὶ βέβαιος, ἔκµαθε· σὺ µὲν πέπλευκας οὔτ’ ἔνορκος οὐδενὶ οὔτ’ ἐξ ἀνάγκης οὔτε τοῦ πρώτου στόλου, ἐµοὶ δὲ τούτων οὐδέν ἐστ’ ἀρνήσιµον. ὥστ’ εἴ µε τόξων ἐγκρατὴς αἰσθήσεται, ὄλωλα καὶ σὲ προσδιαφθερῶ ξυνών. ἀλλ’ αὐτὸ τοῦτο δεῖ σοφισθῆναι, κλοπεὺς ὅπως γενήσῃ τῶν ἀνικήτων ὅπλων.

70

75

73 τοῦ πρώτου στόλου] sc. ὤν (wie auch bei ἔνορκος zu ergänzen); gen. part. wie z. B. Homer, Ilias 6,211 ταύτης τοι γενεῆς … εὔχοµαι εἶναι, Thukydides 3,70,5 ἐτύγχανε … βουλῆς ὤν (Schwyzer II 122 f.). Diese Art des gen. part. kommt besonders in militärischer Sprache vor (Renehan 1992, 369 f.). Vgl. auch 246 f. Nach v. 73 eine Lücke anzusetzen (Dawe 1978, 123; vgl. auch app. crit. seiner Ausgabe), ist zur Erklärung des Genitivs daher nicht notwendig. Vgl. auch Ll.-J./W.1+2. | Nach v. 73 hat eine späte Hs. den hier unpassenden Vers ἀνὴρ γὰρ ἄνδρα καὶ πόλις σώζει πόλιν. 76 ὄλωλα] futurisch gebrauchtes Perfekt: das Eintreten des Ereignisses wird als sicher vorweggenommen (K.-G. I 150; Schwyzer II 287; Bruhn § 102, I). 77–78 κλοπεὺς … γενήσῃ] vgl. OT 721 φονέα γενέσθαι πατρός, OC 582.

Kommentar

89

70–74 Warum Odysseus Philoktet nicht begegnen will, geht eigentlich schon aus den vv. 4 f. und 46 f. hervor: Er hat Philoktet ausgesetzt und muss also mit dessen unversöhnlichem Hass rechnen. Darauf geht Odysseus hier nicht ausdrücklich ein, vielmehr spricht er davon, dass Neoptolemos an der ersten Ausfahrt, d. h. der von Aulis nach Troia, bei der Philoktet ausgesetzt wurde, nicht dabei war, also von dieser Problematik gegenüber Philoktet unbelastet ist. Nur er kann behaupten, dass er nach Hause fährt, weil er nicht durch die eidliche Verpflichtung gebunden ist (vgl. zu 72), vor Troia zu kämpfen. 70–71 Die Begegnung kann (wörtl.) ‚für dich glaubwürdig und sicher‘ sein. Gemeint ist, dass Philoktet Neoptolemos trauen kann (vgl. Jebb) und (daher) für Neoptolemos keine Gefahr von ihm ausgeht. 72 ‚durch Eid verpflichtet‘: Die Freier der Helena hatten geschworen, dem Erwählten beizustehen (es war dann Menelaos), falls seine Frau geraubt würde. Vgl. Eur. IA 58–65. Unter diese Freier wird auch Odysseus gezählt (Liste der Freier bei Ps.-Apollodor, Bibliothek 3,129–131). 73 ‚aus Zwang‘: vgl. 1025. Wie Hygin (Fabula 95) erzählt, stellte sich Odysseus wegen einer Weissagung, er werde erst nach 20 Jahren und ohne Gefährten wieder nach Hause zurückkehren, wahnsinnig, als er nach Troia mitkommen sollte. Als Zeichen seines Wahnsinns spannte er ein Pferd und ein Rind vor den Pflug. Doch der kluge Palamedes legte Odysseus dessen kleinen Sohn Telemach in die Bahn des Pflugs (worauf Odysseus reagierte) und deckte so die Verstellung auf, sodass Odysseus nach Troia fahren musste; vgl. auch (mit abweichenden Versionen) Kyprien, p. 40,30–33 Bernabé = pp. 70 f. West 2003; Ps.-Apollodor, Epitome 3,7. Bei Aisch. Ag. 841 ist erwähnt, dass Odysseus nicht freiwillig nach Troia ging, und Odysseus im Wahnsinn war der Titel einer Tragödie des Sophokles (vgl. F 462 ff. Radt2). Nach der Odyssee (24,115–119) hatte man Odysseus lediglich ‚antreiben‘ müssen. ‚am ursprünglichen Kriegszug‘, wörtl. ‚an der ersten Unternehmung‘: Der Sinn ist, dass Neoptolemos nicht von Anfang an dabei war (vgl. 246 f.), sondern erst von Odysseus und Phoinix geholt wurde (343 ff.); vgl. Jebb. 75 ‚den Bogen führend‘, wörtl. ‚des Bogens mächtig‘: Es ist an eine Situation gedacht, in der Philoktet in der Lage ist, den Bogen sofort zu gebrauchen. Bei Euripides zielt Philoktet tatsächlich bei der ersten Begegnung auf den (von ihm nicht erkannten) Odysseus (F 789 d [7] Kannicht); vgl. Müller 1997, 217. 76 ‚bin ich verloren‘: vgl. 1299–1303. 77 ‚Dieb‘: Mit diesem Wort wird das von Odysseus vorsichtig vorgetragene ‚Unerwartete‘ (52) brutal auf seinen faktischen Gehalt reduziert.

Prologos: 79–85

90

Ich weiß, Sohn, dass du von deinem Wesen her nicht geschaffen bist, solchen Trug zu äußern und auszuführen. Jedoch, denn es ist ein süßer Gewinn, einen Sieg zu erlangen, bring es über dich! Als Gerechte werden wir uns ein andermal wieder erweisen. Jetzt aber überlasse dich mir für die kurze Dauer eines Tages zu einer schamlosen Tat, und dann sollst du für den Rest der Lebenszeit der Rechtschaffenste von allen Menschen heißen! ἔξοιδα, παῖ, φύσει σε µὴ πεφυκότα τοιαῦτα φωνεῖν µηδὲ τεχνᾶσθαι κακά· ἀλλ’, ἡδὺ γάρ τι κτῆµα τῆς νίκης λαβεῖν, τόλµα· δίκαιοι δ’ αὖθις ἐκφανούµεθα. νῦν δ’ εἰς ἀναιδὲς ἡµέρας µέρος βραχὺ δός µοι σεαυτόν, κᾆτα τὸν λοιπὸν χρόνον κέκλησο πάντων εὐσεβέστατος βροτῶν.

80

85

80

85

79 παῖ Erfurdt : καὶ Hss. (vgl. Jebb 232 f.). | φύσει … πεφυκότα] vgl. z. B. Eur. Ba. 896 (figura etymologica), zum folgenden Infinitiv (80) vgl. 88; 1052; Ant. 523 (K.-G. II 11). | µὴ] nach einem Ausdruck des Wissens verstärkt die Emphase: ~ ‚ich bin überzeugt, dass …‘ (K.G. II 203 Anm. 5). 80 τοιαῦτα φωνεῖν Hss. : τοιαῦθ᾿ ὑφαίνειν Valckenaer – es liegt eine verschränkte Versparung vor (Kiefner 1964, 43 f.; 46), statt τοιαῦτα κακὰ φωνεῖν µηδὲ τεχνᾶσθαι τοιαῦτα κακά. 81 ἀλλ’ … γάρ] ἀλλ’ leitet den Haupt-, γάρ den Nebensatz ein (GP 98 f.). | ἡδὺ … λαβεῖν] brachylogisch für ἡδύ τι κτῆµά (Prädikat) ἐστι τὸ κτῆµα τῆς νίκης (Gewinn, der im Sieg besteht, gen. definitivus, vgl. Moorhouse 53 f.) λαβεῖν (epexegetischer Infinitiv); vgl. Jebb.   | τι : τοι | κτῆµα (Hss.) : χρῆµα +Tournier | λαβεῖν Hss. : λαχεῖν Erfurdt – das aktivere λαβεῖν ist hier unanstößig. 82 δ᾿ : θ᾿ : τ᾿ – die Anknüpfung mit einem Gegensatz ist dem Kontext gemäßer. | αὖθις] ‚ein anderes Mal‘, aber auch ‚hinterher, danach‘ (vgl. Ant. 1204). 83 ἀναιδὲς (Hss.) : ἀναιδοὺς : ἀναιδεῖς : εἰς ὄνειδος Housman : ὡς ἀναιδὴς G. Klyve | εἰς ἀναιδὲς ἡµέρας µέρος βραχὺ] ἀναιδὲς steht für ἀναιδές τι (wie ἐς δεινόν, OT 1312), (ἡµέρας) µέρος βραχὺ ist Akk. der Zeit. ἡµέρας ist eher als gen. definitivus (der Zeitraum besteht in einem Tag; vgl. Jebb) denn als partitiver Genitiv (so Schein) aufzufassen. Bei Jebbs vielfach akzeptierter Lösung, auch ἀναιδὲς als Epitheton zu ἡµέρας µέρος zu verstehen und das Ganze als einen zeitlichen Ausdruck zu deuten, ergibt sich die Schwierigkeit, dann ἀναιδὲς und βραχὺ unverbunden auf µέρος beziehen zu müssen, was im Sprechvers unwahrscheinlich ist (vgl. Webster); Jebbs ‚Parallele‘ Ant. 586–589 setzt überdies die textkritisch sehr zweifelhafte Lesung ποντίαις (statt ποντίας, so Ll.-J./W.) voraus.

Kommentar

91

79–85 Hier zeigt sich im Kern eine für das Geschehen dieser Tragödie entscheidende Problematik, da Odysseus jemanden für eine Intrige gewinnen will, dessen Wesen dafür nicht geeignet ist. Dass es sich (jedenfalls für Neoptolemos) um ‚etwas Schamloses‘ (84, griechischer Text: 83) handelt, ist Odysseus wohl bewusst, aber er glaubt, um des verheißenen Erfolgs willen, Neoptolemos dazu bringen zu können, einmal eine Ausnahme zu machen. Dass damit ein ethisches Prinzip verletzt wird, spielt für Odysseus keine Rolle. 79 ‚Sohn‘: Neoptolemos wird von Odysseus, dem Chor, Philoktet und dem angeblichen Kaufmann häufig als pais oder teknon angeredet. Dem jeweiligen Kontext entsprechend kann beides entweder (abstammungsmäßig) ‚Sohn‘ bzw. ‚Kind‘ bedeuten (vgl. z. B. 3 [griechischer Text: 4]; 1433) oder auch – im Philoktet sehr häufig – (altersmäßig) als Anrede von Älteren an Jüngere gebraucht werden (vgl. auch zu 141 und im Einzelnen Avery 1965, 285–287). Im Mund Philoktets hat die Anrede sicher auch einen Vertrauensgehalt, wie der Kontrast zu der später aus Enttäuschung erwachsenen Anrede ‚Fremder‘ (923) zeigt (vgl. Parlavantza-Friedrich 1969, 63 f.). Im Deutschen ist ‚Sohn‘ zwar auch in der zweiten Bedeutung in familiärem Gesprächston möglich, aber längst nicht so selbstverständlich wie im Griechischen. Dennoch erscheint es als Übersetzung angemessener als denkbare Alternativen wie ‚Kind‘, ‚Knabe‘, ‚Junge‘ oder ‚Jüngling‘. 80 ‚solchen Trug‘, wörtl. ‚derartiges Schlechte‘: Odysseus will nicht seinen ‚klugen Plan‘ (14; 77) herabsetzen, sondern stellt sich auf die Betrachtungsweise des Neoptolemos ein, wie auch in v. 84; vgl. Pucci zu 79–85. 81 ‚Sieg‘: Gemeint ist der Sieg über Troia (68 f.; 112–115), den Odysseus durch eine erfolgreiche Intrige ermöglicht sieht. Die Wendung heißt wörtlich: ‚Der Gewinn, der in einem Sieg besteht, ihn zu erlangen, ist ein süßer Gewinn.‘ Vgl. auch TS. – Der Gedanke, Troia erobern zu können, war für Neoptolemos von Anfang an mit bestimmend, überhaupt nach Troia zu fahren (114; 352 f.). Odysseus benutzt das Ruhm-Motiv hier und im Folgenden nur noch, um Neoptolemos darüber hinaus zu einer Vorgehensweise zu bewegen, die ihm nicht gemäß ist. 82 Im Hinblick auf die Fortsetzung der Argumentation des Odysseus (83– 85) ist seine Aussage wohl so zu verstehen, dass er den Trug als zeitlich begrenzte Ausnahme akzeptabel machen will, die für die Zukunft nichts präjudiziert. Alternativ könnte Odysseus auch meinen, der Erfolg werde ihnen recht geben. Was jetzt als moralisch verwerflich erscheine (zumindest in der Sicht des Neoptolemos), werde nach erfolgreichem Ausgang ganz anders beurteilt werden; vgl. Schein. Auf jeden Fall vertritt Odysseus hier einen moralischen Opportunismus. 83–85 Um Neoptolemos’ Widerstand zu brechen, entwickelt Odysseus sein problematisches Modell der zeitlichen Befristung für die wesensfremde Veränderung: Neoptolemos solle sich der von Odysseus vertretenen ‚schamlosen‘ Haltung für einen Tag anschließen. Ohne weitere Ausnahmen könne er dann wieder nach seinen Maximen leben, nach denen er im Ruf eines eusebestatos (Superlativ) stehen werde, d. h. eines, der sich in besonderer Weise

Prologos: 86–90

92 Ne.

Νε.

Ich hasse es, Worte, die anzuhören mich schon schmerzt, Sohn des Laërtes, auch noch in die Tat umzusetzen. Denn von meinem Wesen her tue ich nichts mit übler Hinterlist, weder ich selbst noch, wie man sagt, der mich erzeugt hat. Doch bin ich bereit, den Mann mit Gewalt wegzuführen,

90

ἐγὼ µὲν οὓς ἂν τῶν λόγων ἀλγῶ κλύων, Λαερτίου παῖ, τούσδε καὶ πράσσειν στυγῶ· ἔφυν γὰρ οὐδὲν ἐκ τέχνης πράσσειν κακῆς, οὔτ’ αὐτὸς οὔθ’, ὥς φασιν, οὑκφύσας ἐµέ. ἀλλ’ εἴµ’ ἑτοῖµος πρὸς βίαν τὸν ἄνδρ’ ἄγειν

90

86 µὲν] µέν solitarium, vgl. El. 372 (GP 381): ‚Ich (im Unterschied zu anderen)‘. 87 τούσδε Hss. : τοὺς δὲ Buttmann (vgl. Moorhouse 141) – τούσδε hier rückverweisend, statt prosaischem τούτους zur stärkeren Vergegenwärtigung (K.-G. I 646 f.). | πράσσειν] statt etwa ἐπιτελεῖν ἔργῳ (wie man in Prosa sagen könnte: Τhukydides 1,70,2), weil Neoptolemos die λόγοι als vorgeschlagene Taten versteht, die er nicht ausführen will; vgl. Jebb. E.A. Richters Konjektur πλάσσειν ist nicht notwendig. 88–89 ἔφυν … οὔτ’ αὐτὸς] statt οὔτε γὰρ αὐτὸς ἔφυν, οὔτε ὁ ἐκφύσας (ἔφυ) … (Jebb). 88 ἐκ] dient hier zur Bezeichnung des Mittels (K.-G. I 436 f. Anm. 7; 461). | πράσσειν] zum Infinitiv nach ἔφυν vgl. zu 79. | κακῆς (Hss.) : κακῶς 90 πρὸς βίαν] vgl. LSJ s. v. πρός C. III. 7; Bruhn § 72, II.

Kommentar

93

durch gottgefällige Rechtschaffenheit auszeichne (eusebēs: ‚gottesfürchtig‘, ‚fromm‘). – Zum Gedanken der kurzfristigen Ausnahmesituation vgl. Eur. Med. 1247 f.; Or. 655 f. Ebendiese Kurzfristigkeit spricht auch dagegen, dass auf einen Initiationsritus angespielt sei (so aber Lada-Richards 1998, 3 f.; Schein). 86–134 In dem folgenden Dialog kann Odysseus schließlich Neoptolemos’ Bedenken überwinden. Zugleich werden – für die Zuschauer einprägsam – die möglichen Formen des Umgangs mit Philoktet unterschieden (List, Gewalt, Überzeugung / Überredung), die im Lauf des Dramas in dieser Folge wichtig werden, obwohl nach Odysseus nur List in Betracht kommt. 86–95 Die List, die er anwenden soll, bringt Neoptolemos in ein Dilemma zwischen eigener Überzeugung und Loyalität gegenüber dem ‚Vorgesetzten‘. Seine abweisende Reaktion zeigt, dass Odysseus ihn richtig eingeschätzt hat, aber Neoptolemos erkennt auch den Loyalitätskonflikt gegenüber seinem Auftrag, wenn er seiner Überzeugung treu bleiben will. 86 ‚Worte‘: Konkret die Ausführungen des Odysseus (54 b–85). 87 ‚Sohn des Laërtes‘: Als ‚Sohn Achills‘ hatte Odysseus Neoptolemos angeredet (3 [griechischer Text: 4]; 50). Neoptolemos stellt sich hier, wo er widerspricht, auf eine Stufe mit Odysseus (vgl. auch 329 zu Philoktet). Sonst redet Neoptolemos Odysseus mit anax an (vgl. zu 26), dieser als der Ältere Neoptolemos mit ‚Sohn‘ (Radermacher 1911 z. St.). Vgl. auch zu 79. Sophokles gebraucht im Philoktet für den Vater des Odysseus drei Namensformen: Laertios (wie hier; 417; 628; 1357), Lartios (401; 1286) und Laertēs (366; 614). In der Übersetzung wird durchgehend die vertraute homerische Form Laërtes verwendet. 88–89 Neoptolemos charakterisiert sich selbst, er lehnt ‚üble Hinterlist‘ als ihm nicht wesensgemäß ab. Dadurch, dass er auf eine entsprechende Haltung seines Vaters verweist, wird sie als Familieneigenschaft geadelt. – An sich galt List (sc. gegenüber einem Feind) nicht als verwerflich, aber für Neoptolemos kommt nur eine offene Auseinandersetzung in Frage. 89 ‚wie man sagt‘: Neoptolemos beruft sich auf Hörensagen, er sagt später, er habe seinen Vater nie (sc. lebend) gesehen (351); vgl. zu 351. ‚der mich erzeugt hat‘: Nach Homer (Ilias 9,312 f.) hasst Achill jemanden, der anderes im Sinn hat, als er nach außen hin sagt, wie den Tod; die Worte sind – wie die des Neoptolemos hier – zu Odysseus gesprochen (vgl. Schein 2006 a, 135). Nach Eur. IA 926 f. wurde Achill zu ‚einfacher‘, d. h. nicht intriganter Sinnesart erzogen. 90–93 Neoptolemos weigert sich nicht, das von den Befehlshabern der Griechen angeordnete Unternehmen durchzuführen, doch tritt er für offene Gewalt ein, wogegen (das ist in der Begründung impliziert) angesichts ihrer drückenden Überlegenheit gegenüber dem Verwundeten auch Odysseus keine Einwände haben sollte. Vgl. Jebb. 90 Odysseus hatte nur vom Diebstahl des Bogens gesprochen (77 f.; vgl. auch 101 u. 103 mit Komm. zu 101–103; 113–115; 115), aber Neoptolemos nimmt hier, wie auch später (102; 112; vgl. auch 197) an, dass auch Philo-

Prologos: 91–100

94

Od.

Ne.

Οδ.

Νε.

bloß nicht mit List. Denn nicht wird er – mit nur einem (gesunden) Fuß – uns, die wir so viele sind, mit Gewalt in seine Hand bringen. Jedoch, da ich dir als Helfer mitgeschickt wurde, fürchte ich, Verräter genannt zu werden. Ich will aber, Herr, lieber ehrenvoll handelnd scheitern als auf schändliche Weise siegreich sein. 95 Sohn eines edlen Vaters, auch ich selbst war einst in meiner Jugend mit der Zunge untätig, mit der Hand dagegen tatkräftig. Jetzt aber, nach eingehender Prüfung, sehe ich, dass bei den Menschen die Zunge, nicht die Taten, in allem die Führung hat. Was also befiehlst du mir anderes, als dass ich lügen soll? 100 καὶ µὴ δόλοισιν· οὐ γὰρ ἐξ ἑνὸς ποδὸς ἡµᾶς τοσούσδε πρὸς βίαν χειρώσεται. πεµφθείς γε µέντοι σοὶ ξυνεργάτης ὀκνῶ προδότης καλεῖσθαι· βούλοµαι δ’, ἄναξ, καλῶς δρῶν ἐξαµαρτεῖν µᾶλλον ἢ νικᾶν κακῶς. ἐσθλοῦ πατρὸς παῖ, καὐτὸς ὢν νέος ποτὲ γλῶσσαν µὲν ἀργόν, χεῖρα δ’ εἶχον ἐργάτιν· νῦν δ’ εἰς ἔλεγχον ἐξιὼν ὁρῶ βροτοῖς τὴν γλῶσσαν, οὐχὶ τἄργα, πάνθ’ ἡγουµένην. τί οὖν µ’ ἄνωγας ἄλλο πλὴν ψευδῆ λέγειν;

95

100

91 καὶ µὴ δόλοισιν] zur Negation µή vgl. Herodot 3,127,2 τίς ἄν µοι τοῦτο … ἐπιτελέσειε σοφίῃ καὶ µὴ βίῃ τε καὶ ὁµίλῳ, wozu in K.-G. II 187 καὶ µὴ treffend mit „aber ja nicht“ 92 τοσούσδε (Hss.) : τοσούτους wiedergegeben ist (Kamerbeek). | ἐξ] vgl. zu 88. 93 γε µέντοι] adversativ (GP 412). 94–95 καλῶς … κακῶς] die Antithese ist durch Endreim betont. 94 προδότης] ⏑⏑ ‒, Auflösungen des ersten Anceps erreichen im Philoktet die ungewöhnlich hohe Zahl von 21 Fällen; vgl. Schein 1979, 78 (Table XXXI); West 1982, 82. 97 ἀργόν +Suda s. v. γλῶσσαν κτλ. : ἀργήν +Eustathios II 820,23; I 769,22 van der Valk – ἀργός ist ursprünglich ein Adj. zweier Endungen (LSJ). | ἐργάτιν (Hss.) : ἐργάτην +Suda a. O. in einigen Hss. : ἐργάνην Blomfield (vgl. [Aisch.] PV 461) – zur femininen Form ἐργάτιν vgl. z. B. Pindar, Isthmien 2,6. 98 ὁρῶ βροτοῖς (Hss.) : βροτοῖς ὁρῶ – die betontere Stellung von βροτοῖς würde einen unpassenden Gegensatz implizieren. 100 τί … λέγειν;] als Aussage fomuliert würde der Satz lauten: µηδὲν ἄλλο (ποεῖν) µε ἄνωγας πλὴν ψευδῆ λέγειν, wobei µηδὲν ἄλλο … πλὴν einem ‚nur‘ entspräche. | οὖν µ’ : µ’ οὖν Wakefield – zum Hiat τί οὖν vgl. Aisch. Sept. 704; Pers. 787. | ἄλλο] sc. ποιεῖν (Jebb).

Kommentar

95

ktet nach Troia gebracht werden muss. So entsteht beim Zuschauer der Eindruck, dass es bei dem Auftrag der beiden um den Bogen u n d um Philoktet geht, noch bevor er durch die Wiedergabe der Weissagung des Helenos erfährt (612 f.; 1329–1342), auf welche Weise diese Mission erfüllt werden soll. Zu den möglichen Gründen für die späte Eröffnung der Weissagung vgl. Einf. S. 25 f. 93–94 ‚Helfer‘: Neoptolemos sieht seine Hilfe, anders als Odysseus (vgl. zu 53), eher in der Funktion eines ‚Mitarbeiters‘ (xynergatēs), ist sich aber bewusst, sich mit seinem Angebot in Gegensatz zu Odysseus’ Anordnung zu setzen, an dessen Anweisungen er (in seiner untergebenen Funktion, 53) insofern gebunden ist, als beide einen Auftrag des Heeres vor Troia auszuführen haben (24 f.; 1226); Neoptolemos drückt sich entsprechend so aus, dass er von Odysseus Anweisungen entgegennimmt (54; 100); anders Ussher z. St.: Neoptolemos sei nicht zur Hilfe verpflichtet. 94–95 Die Konsequenz aus der vorhergehenden Aussage müsste eigentlich entweder sein ‚So füge ich mich denn‘ oder ‚Ich entziehe mich unter den Bedingungen deines Plans dem Auftrag des Heeres bzw. deiner Befehlsgewalt und werde zum Verräter‘. Stattdessen wiederholt Neoptolemos seinen Standpunkt nun als Präferenz, entscheidet sich also noch nicht endgültig, gibt ihm aber durch die Behauptung, dass er ein offenes Vorgehen selbst auf die Gefahr des Scheiterns hin vorzöge, mehr Emphase, obwohl er eine Niederlage gegen Philoktet gerade ausgeschlossen hatte. Seine Motivation ist rein personal; dass seine Verweigerung auch Schaden für das Gesamtheer bedeuten könnte, ist für ihn kein Argument. 96–99 In einer Verbindung von captatio benevolentiae in der Anrede und dem Ausspielen seiner Lebenserfahrung bei angeblich ursprünglich gleicher Denkweise verficht Odysseus die Überlegenheit des Redens über die Tat und verschiebt dabei beschönigend die Alternative, um die es Neoptolemos ging: List (d. h. Lüge) oder Tat (d. h. offenes Vorgehen). – Grundsätzlich verstößt es nicht gegen das alte Heldenideal, mit der Rede etwas bewirken zu wollen. Selbst Achill sollte – nach Homer – dazu erzogen werden, „Ein Redner von Worten zu sein und ein Täter von Taten“ (Ilias 9,443; Übers. Schadewaldt); Nestors (vgl. zu 421–423) Redegabe war legendär (Ilias 1,248 f.). Dass die Überzeugungskraft der Rede aber problematisch wird, wenn das Ziel moralisch zweifelhaft ist, das verschweigt Odysseus. 100 Neoptolemos durchschaut, was hinter Odysseus’ Aussage wirklich steht, und folgert mit seiner Frage, dass Odysseus nichts anderes von ihm will, als mit Lügen vorzugehen. Der Text bedeutet nicht, dass Neoptolemos nach einem weiteren Auftrag außerhalb des listigen Vorgehens fragt (obwohl diese Auffassung rein sprachlich möglich wäre; vgl. Campbell 1881 z. St.: „I see you want me to tell a lie: have you any further commands?“). Denn etwas anderes als listiges Vorgehen stand nicht zur Debatte, eine solche Frage schlösse sich nicht sinnvoll an die vv. 96–99 an und Odysseus antwortet in v. 101 auch nicht ‚Nichts anderes, sondern List‘, vielmehr bestätigt er Neoptolemos’ Schlussfolgerung.

Prologos: 101–110

96 Od. Ne. Od. Ne. Od. Ne. Od. Ne. Od. Ne.

Οδ. Νε. Οδ. Νε. Οδ. Νε. Οδ. Νε. Οδ. Νε.

Ich sage, mit List sollst du Philoktet überwältigen. Warum muss man ihn eher mit List als durch Überzeugen (nach Troia) bringen? Er wird sich bestimmt nicht überzeugen lassen; und mit Gewalt würdest du ihn nicht überwältigen. Hat er ein solch gewaltiges Zutrauen zu seiner Stärke? Pfeile hat er, unentrinnbar und Tod bringend. Noch nicht einmal sich ihm zu nähern kann man wagen? Nein, nur wenn man ihn mit List ergreift, wie ich sage. Hältst du es nicht für schändlich, was falsch ist, zu sagen? Nicht, wenn denn die Lüge Rettung bringt. Mit welcher Miene wird man es dann über sich bringen, solches zu sagen? λέγω σ’ ἐγὼ δόλῳ Φιλοκτήτην λαβεῖν. τί δ’ ἐν δόλῳ δεῖ µᾶλλον ἢ πείσαντ’ ἄγειν; οὐ µὴ πίθηται· πρὸς βίαν δ’ οὐκ ἂν λάβοις. οὕτως ἔχει τι δεινὸν ἰσχύος θράσος; ἰοὺς ἀφύκτους καὶ προπέµποντας φόνον. οὐκ ἆρ’ ἐκείνῳ γ’ οὐδὲ προσµεῖξαι θρασύ; οὔ, µὴ δόλῳ λαβόντα γ’, ὡς ἐγὼ λέγω. οὐκ αἰσχρὸν ἡγῇ δῆτα τὰ ψευδῆ λέγειν; οὔκ, εἰ τὸ σωθῆναί γε τὸ ψεῦδος φέρει. πῶς οὖν βλέπων τις ταῦτα τολµήσει λακεῖν;

105

110

105

110

101 λέγω σ’ … λαβεῖν] zu λέγω mit A c I in der Bedeutung ‚befehlen‘ vgl. K.-G. II 26 Anm. 2; der Vers hat eine Zäsur in der Mitte (nach dem dritten elementum longum), vgl. 988; 1064; 1369, wohl auch 737 (vgl. dort). 102 ἐν] vgl. zu 60. 103 οὐ µὴ] ‚gewiss nicht‘ (K.-G. II 221 f.; Rijksbaron 1991, 167–169). 104 τι δεινὸν] ~ δεινόν τι, zur Stellung von τι vgl. 519; 1039; 1231; K.-G. I 665 Anm. 6; gelegentlich wird damit eine Vorahnung ausgedrückt, vgl. Jebb zu 1231. | ἰσχύος θράσος] Zutrauen (θράσος), das in Bezug auf die Stärke (ἰσχύς) besteht und von ihr ausgeht, sodass es Philoktet kühn macht. 105 ἰούς Hss. : ἰούς ⟨γ’⟩ Dobree (Dawe; Ll.-J./W.; Schein) – s. ETS, S. 438 f. 106 οὐκ ἆρ’ (Hss.) : οὐκοῦν – ἆρ’ „Marking realization of the truth, or drawing a conclusion“ (GP 45). | γ᾿ (Hss.) : Ø – ohne γ᾿ ergibt sich ein Hiat. | θρασύ Hss. : πάρα Blaydes – θρασύς „of things, to be ventured“ (LSJ s. v. II), vgl. Pindar, Nemeen 7,50 θρασύ µοι τόδ᾿ εἰπεῖν. 107 λαβόντα Hss. : λαθόντα Blaydes – wie Odysseus selbst sagt, wiederholt er seine Worte von v. 101 (δόλῳ … λαβεῖν).   108 δῆτα τὰ : δὴ τάδε : δῆτα τὸ Valckenaer – aus v. 109 geht hervor, dass v. 108 einen allgemeinen Charakter haben muss, was δὴ τάδε ausschließt, aber durch δῆτα τὰ erreicht wird; vgl. F 352,1 Radt2 (καλὸν µὲν οὖν οὐκ ἔστι τὰ ψευδῆ λέγειν·); wie sich aus F 352,2–3 ergibt, liegt F 352,1 eine allgemeine und nicht bloß auf bestimmte Lügen bezogene Aussage vor; die von einigen Herausgebern übernommene Konjektur τὸ ist daher nicht notwendig. | δῆτα] betont den Fragecharakter (GP 271 [5]). 110 πῶς … βλέπων] vgl. OT 1371 ὄµµασι ποίοις βλέπων. | λακεῖν : λαλεῖν (Hss.) – λακεῖν kann von unangemessenen Äußerungen gebraucht werden, vgl. Ant. 1094; Aristophanes, Acharner 1046 (Jebb); λαλεῖν ist bei den Tragikern sonst nicht belegt.

Kommentar

97

101–103 Wie sich aus v. 115 ergibt (und er es 77 f. ausdrücklich sagte), meint Odysseus offenbar trotz der auf Philoktet selbst bezogenen Formulierung (101; 103) mit der listigen Überwältigung in erster Linie die Gewinnung des Bogens, während Neoptolemos das Ziel der List so versteht, dass auch Philoktet nach Troia zu bringen sei (vgl. auch 90). Vgl. Kamerbeek zu 101. – Ein Widerspruch besteht insofern nicht, als Odysseus klar ist, dass auch Philoktet nach Troia kommen muss (vgl. zu 113–115); für Odysseus ist aber die Gewinnung des Bogens das Mittel, Philoktet in eine Lage zu bringen, die ihn nötigt, mit nach Troia zu gehen. – Zu einem anderen Aspekt vgl. zu 68–69. 101 Odysseus gebraucht das im Griechischen normalerweise fehlende Personalpronomen ‚ich‘ (egō) und bekräftigt seine Aussage damit nachdrücklich als seinen Standpunkt, der durch das auf egō folgende dolō (List) vor der seltenen Mittelzäsur des Verses inhaltlich und formal hervorgehoben wird. 102 Neoptolemos’ Frage lässt erkennen, dass für ihn die Alternative ‚Wort oder Tat‘ (vgl. 99) nicht gleichbedeutend ist mit ‚List oder offene Gewalt‘, sondern auch ein unverstelltes verbales Vorgehen denkbar wäre, wozu er sich später dann auch entschließt. Das griechische Wort peithein kann gleichermaßen ‚überzeugen‘ wie ‚überreden‘ bedeuten. ‚Überzeugen‘ bringt deutlicher zum Ausdruck, dass bei diesem Vorgehen auf Seiten Philoktets Freiwilligkeit vorläge. Vgl. 617 f., wo die Alternative ‚Überzeugung oder Gewalt‘ (593 f.) durch ‚mit seiner Zustimmung (freiwillig) oder gegen seinen Willen (unfreiwillig)‘ ausgeführt ist. (nach Troia): Im Griechischen steht nur agein (‚führen‘, ‚bringen‘) ohne Zielangabe, die im Deutschen ergänzt werden muss. 103–107 Odysseus schließt die Möglichkeit, Philoktet zu überzeugen, ohne weitere Begründung aus (vermutlich weil er sich bewusst ist, was man Philoktet angetan hat), die Aussichtslosigkeit der Gewaltanwendung begründet er mit Philoktets tödlichen Pfeilen (105; Herakles hatte sie in die giftige Galle der Hydra getaucht, vgl. Tr. 566–574; Ps.-Apollodor, Bibliothek 2,80). Damit wird zugleich demonstriert, wie wichtig es ist, in den Besitz des Bogens zu kommen. Listiges Vorgehen erscheint als einzig mögliche Alternative. 108–112 Auf Odysseus’ Behauptung hin, dass die Anwendung von List alternativlos sei, stellt ihm Neoptolemos die grundsätzliche Frage nach der moralischen Bewertung von Lüge. Odysseus sieht sie gerechtfertigt, wenn sie ‚Rettung‘ bringe. – Vgl. auch die Aussage des Orest in Sophokles’ Elektra (61): „Kein Wort, verbunden mit Gewinn, ist schlecht“ (vgl. Pucci). Und in Sophokles’ Kreusa (F 352 Radt2) sagt jemand, Lügen sei nicht ehrenhaft (kalon), aber verzeihlich, wenn die Wahrheit zum eigenen Verderben führen würde. – Hier denkt Odysseus vielleicht bei dem Begriff der ‚Rettung‘ konkret an den Sieg der Griechen vor Troia, wenn er auch gleich wieder mit dem Hinweis auf den persönlichen Vorteil des Neoptolemos dessen Skrupel überwinden will, eine Taktik, die bei Neoptolemos verfängt (112). 110 ‚dann‘: sc. unter der Voraussetzung, dass Lügen zum Erfolg führt.– Damit lässt sich Neoptolemos zwar auf Odysseus’ Standpunkt ein, sieht aber nicht, wie er es über sich bringen soll, die Lüge Philoktet ins Gesicht zu sagen.

Prologos: 111–121

98 Od.

Ne. Od.

Wenn man etwas zu seinem Vorteil tun will, darf man nicht zögerlich sein. Und welcher Vorteil ist es für mich, diesen nach Troia zu bringen? Nur dieser Bogen wird Troia einnehmen. Bin also nicht ich derjenige, der Troia zerstören wird, wie ihr sagtet? Weder du ohne den Bogen noch der Bogen ohne dich. 115 Dann ergibt sich wohl, dass man ihn erbeuten muss, wenn es sich so verhält. Ja, denn durch diese Tat trägst du zweifachen Lohn davon. Welchen? Habe ich das erfahren, würde ich die Tat nicht verweigern. Du würdest – in einer Person! – klug und zugleich auch tapfer genannt werden. So sei’s! Ich lasse jegliche Scham fahren und werde es tun. 120 Denkst du auch daran, was ich dir angeraten habe?

Οδ. Νε. Οδ. Νε. Οδ. Νε. Οδ. Νε. Οδ. Νε. Οδ.

ὅταν τι δρᾷς εἰς κέρδος, οὐκ ὀκνεῖν πρέπει. κέρδος δ’ ἐµοὶ τί τοῦτον ἐς Τροίαν µολεῖν; αἱρεῖ τὰ τόξα ταῦτα τὴν Τροίαν µόνα. οὐκ ἆρ’ ὁ πέρσων, ὡς ἐφάσκετ’, εἴµ’ ἐγώ; οὔτ’ ἂν σὺ κείνων χωρὶς οὔτ’ ἐκεῖνα σοῦ. θηρατέ’ οὖν γίγνοιτ’ ἄν, εἴπερ ὧδ’ ἔχει. ὡς τοῦτό γ’ ἔρξας δύο φέρῃ δωρήµατα. ποίω; µαθὼν γὰρ οὐκ ἂν ἀρνοίµην τὸ δρᾶν. σοφός τ’ ἂν αὑτὸς κἀγαθὸς κεκλῇ’ ἅµα. ἴτω· ποήσω, πᾶσαν αἰσχύνην ἀφείς. ἦ µνηµονεύεις οὖν, ἅ σοι παρῄνεσα;

Ne. Od. Ne. Od. Ne. Od. Ne. Od.

115

120

111 εἰς : ἐς : πρὸς – die hauptsächliche Überlieferung ist hier gespalten in εἰς und ἐς, zum Gebrauch von εἰς und ἐς s. ETS, S. 439. 112 δ’ ἐµοὶ : δέ µοι – Neoptolemos fragt, was für i h n herausspringt (betonte Form). | ἐς : εἰς 113 αἱρεῖ] futurisches Präsens wie in der Orakelsprache (K.-G. I 138 a; Jebb; Moorhouse 188). 114 ἆρ’] vgl. zu 106. | πέρσων : πέρσων γ᾿ : πέρσων ⟨σφ᾿⟩ Burges | ἐφάσκετ’ (Hss.) : ἐφάσκες – vgl. Komm. 115 ἂν] sc. πέρσειας (Jebb; K.-G. I 243, 4). 116 θηρατέ’ οὖν Trikl. : θηρατέα (Hss.) : θηρατέα γοῦν : θηρατέ’ ⟨ἂν⟩ Elmsley – s. ETS, S. 439. | γίγνοιτ’ (Hss.) : γένοιτ᾿ Trikl. – die vorsichtigere Verlaufsform passt bei schlussfolgerndem γίγνεσθαι (vgl. z. B. Platon, Protagoras 355 a 5 f.) besser zu Neoptolemos’ sich allmählich ändernder Haltung; vgl. auch Jebb. 117 ὡς] ‚ja / gewiss, denn …‘ (K.-G. II 461 Anm. 1; MT § 719 [1]; GP 143 [3]). | φέρῃ] vgl. zu 113. 118 ποίω] Dual. | τὸ δρᾶν (Hss.) : τὸ µὴ δρᾶν : τὸ µή Blaydes – zum Artikel vgl. K.-G. II 43–45; τὸ µὴ δρᾶν ist unmetrisch; ungewöhnlich ist das Fehlen von µή (K.-G. II 216 f., k), vgl. aber 881; 1241; bei Blaydes’ ‚normalisierender‘ Konjektur müsste man auf das für die Haltung des Neoptolemos entscheidende δρᾶν verzichten. 119 αὑτὸς Vauvilliers : αὐτὸς Hss. – ‚selbst‘ (Hss.) gibt hier keinen Sinn. | κεκλῇ’ : κέκλησ᾿ (Hss.); vgl. Dawe – nur die Optativform ist in diesem Kontext sinnvoll. 120 ἴτω] bei einer folgenschweren Entscheidung, vgl. Eur. Med. 819. | ποήσω : ποιήσω (Hss.) – πο- ist die hier metrisch gebotene, zu Sophokles’ Zeit vor E-Lauten mögliche Form (vgl. Threatte 1980, 328 f.); bei Sophokles ist sie des Öfteren belegt. 121 µνηµονεύεις Hss. : µνηµονεύσεις Herwerden – vgl. Komm.

Kommentar

99

113–115 Neoptolemos hatte wieder davon gesprochen, dass Philoktet selbst nach Troia zu bringen sei (112; vgl. auch schon 90; 102), und Odysseus korrigiert diese Aussage nicht (Visser 1998, 58). Wenn er dann nur den Bogen und nicht Philoktet nennt (wobei der Bogen in v. 115 geradezu personifiziert wird und für Philoktet steht), so ist daraus zu schließen, dass er sich argumentativ auf den Bogendiebstahl konzentriert (vgl. auch Komm. zu 101–103; Einf. S. 24 Anm. 74). Außerdem lenkt er so Neoptolemos’ Denken vom Opfer weg auf den bloßen Gegenstand (vgl. Schlesinger 1968, 113; Hoppin 1981, 13) und verheißt ihm über die Gewinnung des Bogens den Sieg in Troia (vgl. zu 115). 114 ‚wie ihr sagtet‘: Es ist außer Odysseus auch Phoinix gemeint, der – nach dem Bericht des Neoptolemos – mit Odysseus nach Skyros kam, um Neoptolemos dazu zu bewegen, mit ihnen nach Troia zu fahren; vgl. 343–347. 115 Odysseus stachelt den Ehrgeiz des Neoptolemos an, indem er suggeriert, es komme für seinen Sieg allein auf den Besitz des Bogens an (vgl. Hinds 1967, 172). 116–117 Neoptolemos kann sich der Argumentation des Odysseus nicht verschließen, dass seine Zustimmung zu Odysseus’ Plan die notwendige Voraussetzung ist für den Ruhm, Troia-Eroberer zu sein. Die endgültige Einwilligung erreicht Odysseus jedoch, indem er ihm noch weiteren Gewinn in Aussicht stellt. 119 ‚klug‘: Neoptolemos wäre sophos, was hier zwar kaum ‚weise‘ (wie 423), sondern ‚clever‘ (wegen des Diebstahls des Bogens) bedeutet (wie z. B. 431), aber es ist dasselbe Wort und hat deshalb für Neoptolemos einen verführerischen Klang. Vgl. auch zu 1015; 1244–1246. ‚tapfer‘: Neoptolemos wäre ‚gut‘ (agathos) in der hier anzusetzenden Bedeutung ‚tapfer‘ (bei der Eroberung Troias); vgl. Scholion. Durch diese Verbindung überträfe Neoptolemos seinen ‚nur‘ tapferen Vater (vgl. Visser 1998, 59). 120 Hier stimmt Neoptolemos endgültig zu, ist sich dabei aber weiterhin bewusst, dass es sich eigentlich um eine nach seinen Maßstäben schändliche Tat handelt. Insofern steht der Entschluss auf einem schwankenden Boden, als dieses Bewusstsein bestimmend werden kann. Vgl. Jebb. 121–122 Die Stichomythie endet mit zwei Versen, an deren Ende von demselben Verbum simplex (aineō) abgeleiteten Komposita (parēnesa, synēnesa) stehen, sodass sich ein betonender Reimeffekt ergibt. Ohne Parallele bei Sophokles, vgl. aber Eur. Hipp. 104–107 (Ussher zu 122). 121 Mit der inquisitorischen Frage ‚Denkst du auch daran‘ will Odysseus sicherstellen, dass Neoptolemos auch entsprechend handeln wird. Odysseus verwendet das Präsens, weil Neoptolemos auch jetzt schon Odysseus’ Rat verinnerlicht haben und sich nicht erst beim Zusammentreffen mit Philoktet daran erinnern soll.

Prologos: 122–131

100 Ne. Od.

Νε. Οδ.

Da kannst du sicher sein, nachdem ich einmal zugestimmt habe. So bleibe du denn und erwarte ihn hier, ich werde weggehen, damit nicht bemerkt wird, dass ich da bin, und den Späher zurück zum Schiff schicken. Und hierher werde ich, wenn ich den Eindruck habe, dass ihr zu lange Zeit braucht, ebendiesen Mann wieder zurückschicken, nachdem ich ihn nach Art eines Kapitäns verkleidet habe, damit Philoktet nichts merkt. Wenn jener, Sohn, listig eine Geschichte erzählt, dann nimm von ihm, was er jeweils sagt, das auf, was dir nützt. σάφ’ ἴσθ’, ἐπείπερ εἰσάπαξ συνῄνεσα. σὺ µὲν µένων νυν κεῖνον ἐνθάδ’ ἐκδέχου, ἐγὼ δ’ ἄπειµι, µὴ κατοπτευθῶ παρών, καὶ τὸν σκοπὸν πρὸς ναῦν ἀποστελῶ πάλιν. καὶ δεῦρ’, ἐάν µοι τοῦ χρόνου δοκῆτέ τι κατασχολάζειν, αὖθις ἐκπέµψω πάλιν τοῦτον τὸν αὐτὸν ἄνδρα, ναυκλήρου τρόποις µορφὴν δολώσας, ὡς ἂν ἀγνοία προσῇ· οὗ δῆτα, τέκνον, ποικίλως αὐδωµένου δέχου τὰ συµφέροντα τῶν ἀεὶ λόγων.

125

130

125

130

122 συνῄνεσα (Hss.) : ξυνῄνεσα 123 νυν κεῖνον Dawe : νῦν κεῖνον (Hss.) : ἐκεῖνον : νυν ἐκεῖνον Trikl. : σύ νυν µένων ἐκεῖνον Blaydes – Sophokles’ ΝΥΝ ist im imperativischen Satz als νυν zu verstehen und daher der Eindeutigkeit halber so (Dawe) und nicht als νῦν (Ll.-J./W.) zu schreiben (vgl. LSJ s. v. νῦν II am Ende). 126–127 τοῦ χρόνου … τι κατασχολάζειν] möglicherweise ist der Genitiv in Analogie etwa zu ὑστερεῖν von κατασχολάζειν abhängig: ~ ‚durch Säumen hinter der (angemessenen) Zeit zurückbleiben‘ (Jebb; Webster; Moorhouse 67), wobei τι adverbiell zu verstehen wäre. Jedoch ist auch nicht auszuschließen, dass der Genitiv partitiv von τι abhängig und τι Objekt zu κατασχολάζειν ist: ~ ‚etwas von der (uns zur Verfügung stehenden) Zeit (nutzlos) vertun‘; vgl. Radermacher 1950, 159 f. 126 δοκῆτέ τι : δοκῆτ᾿ ἔτι (Hss.) – ἔτι ist sinnwidrig. 127 αὖθις : αὖτις – αὖθις ist die attische Form. 128 τρόποις (Hss.) : τρόπον Trikl. – „Not τρόπον, which would mean, ὥσπερ ναύκληρος δολοῖ τὴν µορφήν“ (Jebb). 129 µορφὴν δολώσας] die singuläre Verbindung dürfte zu verstehen sein als: ‚die äußere Erscheinung, die Gestalt zum Gegenstand der Täuschung machen‘ = ‚verkleiden‘; es handelt sich bei µορφὴν vermutlich um einen inneren Akkusativ. | ὡς ἂν] ἄν drückt eher eine Erwartung aus (Moorhouse 227) als zurückhaltende Vorsicht (K.-G. II 385). | ἀγνοία (Hss.) : ἀγνοίᾳ (vgl. Jebb). | ἀγνοία] ἀγνοίᾱ (wie Tr. 350) statt des üblicheren ἄγνοιᾰ, hier metrisch notwendig, da anlautende Tenues + Liquidae in der attischen Tragödie einkonsonantisch gemessen werden. 130 οὗ] ~ παρὰ οὗ, abhängig von δέχου (131), vgl. OT 1163 (Jebb); andere fassen οὗ … αὐδωµένου als gen. abs. auf. | δῆτα] betont das Relativpronomen (GP 277 [4]). | ποικίλως] vgl. LSJ s. v. III. 3. c. | αὐδωµένου] Medium wie 852 (K.-G. I 102), aber Passiv 240; 430. 131 τὰ συµφέροντα τῶν ἀεὶ λόγων] vgl. zu 24.

Kommentar

101

123–134 Odysseus disponiert geradezu den weiteren Ablauf der Handlung. Die Ankündigung der Rolle des Mannes, der sich als Kapitän bzw. handeltreibenden Schiffseigner ausgeben wird, ermöglicht Neoptolemos und auch den Zuschauern, dessen Ausführungen (542 ff.) richtig einzuordnen. 124 Odysseus will zum Schiff gehen (132). – Vgl. 45–47 und 75 f. zu seinem Bestreben, eine Begegnung mit Philoktet zu vermeiden. 125 ‚Schiff‘: Sophokles hat sich offenkundig nicht darum bemüht, eindeutig klarzumachen, ob Odysseus und Neoptolemos mit einem oder zwei Schiffen nach Lemnos gefahren sind; vgl. Avery 2002. Zumindest punktuell ergibt sich aber die Vorstellung, dass jeder über ein eigenes Schiff verfügt (vgl. zu 1257–1258 u. 1408 sowie Jebb, S. xx Anm. 1, anders Müller 1997, 253 Anm. 199). An dieser Stelle dürfte das Schiff des Neoptolemos gemeint sein, da der hier als ‚Späher‘ bezeichnete Mann unter dessen Befehl steht (45). 126 ‚ihr‘: Neoptolemos und Philoktet (vgl. 123). 128–129 Die in den Personenangaben der Handschriften als emporos (ein Kaufmann, der Fernhandel betreibt) bezeichnete Figur (vgl. Kamerbeek zu 542) wird im Text als nauklēros eingeführt (vgl. auch 547). So wird jemand genannt, dem ein Schiff gehört (und der auch damit Handel betreibt), aber auch der Schiffsführer (Aisch. Hik. 177, metaphorisch). Da die Verkleidung sich offenbar auf eine typische ‚Berufskleidung‘ bezieht, wird letztere Bedeutung gemeint sein; auch Philoktet sieht in dem ‚Kaufmann‘ einen Seemann (578, griechischer Text: 579). Das schließt natürlich nicht aus, dass der Kapitän zugleich Schiffseigner ist und sich als Händler betätigt; vgl. 547; 548–549; 582–584 (vgl. Komm. zu diesen Stellen). Die Aufmachung eines griechischen Kapitäns (ornatus nauclericus) wird von Plautus (Miles gloriosus 1177–1181) beschrieben, zwar nach einer griechischen Quelle, die später ist als der Philoktet, aber an der Kleidung dürfte sich nicht allzu viel geändert haben: dunkelfarbiger Hut, dunkelfarbiger kurzer Mantel (palliolum), der den rechten Arm freilässt (griechisch exōmis) und daher als Arbeitskleidung geeignet ist. Die Kleidungsstücke haben die für Seeleute typische Farbe (is colos thalassicust, 1179). Plautus gebraucht die Farbbezeichnung ferrugineus (worin ferrum, Eisen, steckt); das verweist auf einen dunklen Farbton, der mit unterschiedlichen Farbangaben umschrieben wird (z. B. ‚blau‘, ‚purpurn‘); vgl. im Einzelnen ThLL s. v. 129 ‚damit Philoktet nichts merkt‘, wörtl.: ‚damit Unkenntnis dabei ist‘, nämlich Unkenntnis auf Seiten Philoktets, was die wahre Identität des Kapitäns / Kaufmanns betrifft (wie Jebb z. St. richtig erklärt hat). Dieser soll nicht als zur Schiffsmannschaft des Neoptolemos gehörend erkannt werden können. Die in ihrer Knappheit etwas kryptische Formulierung ist von Philoktet her gedacht, dem die Erkenntnismöglichkeit genommen werden soll. Bei der Verdeutlichung des Scholiasten (‚damit der Späher nicht erkannt wird‘) geht dieser andeutende Bezug verloren. 130 ‚Geschichte‘: vgl. 542–621. Über den Inhalt der Geschichte des ‚Kapitäns‘ sagt Odysseus nichts, aber er deutet an, dass sie so strukturiert sein wird, dass Neoptolemos sich ihrer Elemente bedienen könnte (131).

Prologos: 132–134 / Parodos

102

Ich gehe zum Schiff und überlasse dir diese Aufgabe. Hermes, der Geleiter, möge listig uns Führer sein, und Athena Nike, Stadtbewahrerin, in deren Schutz ich immer stehe. ἐγὼ δὲ πρὸς ναῦν εἶµι, σοὶ παρεὶς τάδε· Ἑρµῆς δ’ ὁ πέµπων δόλιος ἡγήσαιτο νῷν Νίκη τ’ Ἀθάνα Πολιάς, ἣ σῴζει µ’ ἀεί.

Odysseus geht in Richtung Ankerplatz ab, nachdem er dem Späher ein Zeichen gegeben hat mitzukommen. – Neoptolemos bleibt beim Eingang zur Höhle auf der Ebene der Bühne. – Der Chor, bestehend aus Seeleuten des Neoptolemos, zieht durch den Seiteneingang, durch den Odysseus weggegangen ist, in die Orchestra ein und beginnt sein Lied (Parodos). Der Chor verlässt die Orchestra bis zum Ende des Dramas nicht mehr.

Es folgt die Parodos des Chors (135–218), Text mit Einzelkommentierung ab S. 104.

133 δόλιος] prädikatives Adjektiv in adverbieller Funktion (K.-G. I 273 ff.); alternativ könnte man (mit Jebb) Odysseus’ Wunsch auch als Ἑρµῆς δόλιος, ὃς πέµπει verstehen. Sprachlich liegt hier die andere Auffassung näher, auch wenn der Wunsch in Bezug auf Athena dann leicht inkonzinn ist. 134 Ἀθάνα +Eustathios II 739,17 van der Valk : Ἀθηνᾶ (Hss.) – Ἀθάνα ist die bei den Tragikern gebräuchliche Form; Haberton und Fraenkel (1977, 46–48) athetieren den Vers, vgl. Komm. (EK, S. 433).

Kommentar

103

132 ‚Schiff‘: Wahrscheinlich das eigene des Odysseus; vgl. zu 125. 133–134 Durch eine Götteranrufung versucht Odysseus das Gelingen seines Plans abzusichern. 133 ‚Hermes‘: Zur ‚Listigkeit‘ des Hermes vgl. Aristophanes, Thesmophoriazusen 1202 (‚listiger Hermes‘) und Pausanias 7,27,1 (Statue des Hermes mit dem Beinamen Dolios, ‚der Listige‘, in Achaia bei Pellene). Weitere Details zu Hermes s. EK, S. 433. 134 ‚Athena Nike, Stadtbewahrerin‘: Athena gilt seit Homers Odyssee als die traditionelle Schutzgottheit des Odysseus (vgl. auch Ai. 14). Zum Problem der Doppelanrede s. EK, S. 433 ‚in deren Schutz ich immer stehe‘: Vielleicht spielt Sophokles ironisch auf Euripides’ Philoktet an (F 789 b [3 u. 5] Kannicht), wo Athena Odysseus ihre Hilfe zusichert und Odysseus den versprochenen Schutz einfordert. Bei Sophokles wird Athena Odysseus nicht zum Erfolg verhelfen. 135–218 Parodos (Einzugslied des Chors) Der Chor besteht aus 15 Männern, die zum Schiff des Neoptolemos gehören (531; 1072); sie stehen loyal zu ihrem Herrn (135–143; 150 f.). Da es am Anfang keine Marschanapäste (vgl. u. S. 446) gibt (wie im Aias), ist anzunehmen, dass Sophokles als Regisseur den Chor schweigend einziehen (durch den Seiteneingang, durch den auch Odysseus und Neoptolemos vom Ankerplatz her kamen) und sein Lied beginnen ließ, sobald dieser in der Orchestra seine Aufstellung erreicht hatte (in drei Fünferreihen, mit dem Chorführer in der Mitte der ersten Reihe; vgl. Pickard-Cambridge 1988, 240 f.). Der Chor wird begleitet von einem Aulos-Spieler (Pickard-Cambridge 1988, 160; 166 f.). Aus der Tatsache, dass der Chor gewisse Informationen hat (s. u.), folgt nicht notwendig, dass er – wider die übliche Theatertradition – bereits zusammen mit Odysseus und Neoptolemos auftrat und deren Gespräch gehört hat (vgl. Gardiner 1987, 14–16). Die Parodos gliedert sich in drei Strophenpaare des Chors (135–143, 150– 158; 169–179, 180–190; 201–209, 210–218), wobei das dritte Strophenpaar durch kurze Bemerkungen des Neoptolemos Merkmale eines Amoibaions (Wechselgesangs) aufweist. Zwischen der ersten Strophe und der ersten Antistrophe (144–149), zwischen dem ersten und dem zweiten Strophenpaar (159– 168, mit einem eingeschobenen Vers des Chors: 161), und zwischen dem zweiten und dritten Strophenpaar (191–200) sind anapästische Rezitative des Neoptolemos eingefügt. Wenn der Chor erst zur Parodos aufgetreten ist, hat er das Gespräch zwischen Odysseus und Neoptolemos nicht gehört, seine Eingangsfrage, was er verschweigen oder sagen solle, zeigt aber, dass man sich ihn als über den Plan, Philoktet, einen ‚argwöhnischen Mann‘ (136), zu betrügen, im Ganzen informiert vorstellen soll, wobei die Genese seiner Kenntnis nicht erklärt wird (vgl. Visser 1998, 113 f.). Mit der Eingebundenheit des Chors in die Intrige setzt sich die Handlung des Prologos direkt fort (vgl. Burton 1980, 227 f.). Der Chor möchte nun eine genaue Bestimmung seiner Aufgabe sowie Informationen darüber erhalten, wie und wo Philoktet lebt, was als Motivation für sein Er-

104

Parodos: 135–143

Chor Was muss, was muss ich, Gebieter, als ein im fremStrophe 1 135 den Land Fremder, verbergen oder was sagen zu dem argwöhnischen Mann? Sag es mir! 137 Denn das Können desjenigen überragt das Können anderer 137/8 und seine Einsicht (die anderer), in dessen Hand das 138/9 göttliche, von Zeus verliehene Zepter geführt wird. 140 Auf dich, mein Sohn, ist dies gekommen, die gesamte Gewalt, von alter Zeit her. Darum sag mir, worin ich dir zu Diensten sein soll. Χορός τί χρή, τί χρή µε, δέσποτ’, ἐν ξένᾳ ξένον στέγειν ἢ τί λέγειν πρὸς ἄνδρ’ ὑπόπταν; φράζε µοι. τέχνα γὰρ τέχνας ἑτέρας προὔχει καὶ γνώµα, παρ’ ὅτῳ τὸ θεῖον Διὸς σκῆπτρον ἀνάσσεται. σὲ δ’, ὦ τέκνον, τόδ’ ἐλήλυθεν πᾶν κράτος ὠγύγιον· τό µοι ἔννεπε, τί σοι χρεὼν ὑπουργεῖν.

στρ. αʹ

135 137 137/8 138/9 140

135 τί χρὴ τί χρή (Hss.) : τί χρὴ | µε δέσποτ’ Trikl. : δέσποτά µε (Hss.) – die gewählte Textfassung gewährleistet die Responsion mit v. 150 (µέλον πάλαι µέληµά); vgl. auch Dawe 1978, 52. | ἐν ξένᾳ ξένον] vgl. zu dieser Figur Bruhn § 223. 137–139 τέχνα … γνώµα] ~ τέχνη καὶ γνώµη ⟨ἐκείνου⟩ παρ᾿ ὅτῳ κτλ., τέχνης ⟨καὶ γνώµης⟩ ἑτέρας προὔχει (Kamerbeek zu 138–140; zum Genitiv vgl. K.-G. I 393). 139 γνώµα : γνώµας : γνώµα γνώµας – metrisch kommt nur γνώµα oder γνώµας in Frage, mit Sicherheit ist die γνώµα des Herrschers selbst gemeint. 140 σκῆπτρον ἀνάσσεται] Passiv zu σκῆπτρον ἀνάσσειν ‚mit dem Zepter herrschen‘ (vgl. σκῆπτρα κραίνειν, OC 449), wobei σκῆπτρον eine Art innerer Akkusativ ist, der im Passiv erhalten bleibt, analog zu Verben, die zu dem inneren noch einen Akk. der Person zu sich nehmen (K.-G. I 307 f. Anm. 2). 141 σὲ δ’ ὦ : εἰς σε δ᾿ ὦ : σοὶ δὲ Trikl. | ἐλήλυθεν Hss. : ἐπήλυθεν Hartung – ἔρχοµαι mit bloßem Akkusativ ist zwar sonst nicht belegt, vgl. aber die Parallele µ(ε) … βαίνει (Eur. Hipp. 1371), ebenfalls aus einem lyrischen Vers; vgl. Moorhouse 45. 142 τό : τῷ – τό ist metrisch notwendig und kann (wie τῷ [K.-G. II 154 Anm. 2] oder Pronomina im Akkusativ wie ὅ oder ταῦτα [K.-G. I 310 Anm. 6]) die Bedeutung ‚darum‘ haben; vgl. Homer, Ilias 3,176 τὸ καὶ κλαίουσα τέτηκα (Jebb). Diese Lösung ist wahrscheinlicher, als τὸ in der Funktion eines Demonstrativpronomens aufzufassen (K.-G. I 582 f.), was (anders als 154) zu einem Asyndeton führen würde.

Kommentar

105

scheinen verstanden werden kann; vgl. Schmidt 1973, 45 (erstes Strophenpaar und erstes Rezitativ). Das zweite Rezitativ und das zweite Strophenpaar thematisieren die bedauernswerte Lebenssituation Philoktets, im dritten Rezitativ erklärt Neoptolemos – unter Berufung auf Hörensagen –, dass Philoktets Schicksal gottgewollt ist. D.h., die Exposition des Dramas reicht letztlich bis v. 200, indem zunächst die Notwendigkeit und die Möglichkeiten, den Bogen zu gewinnen (1–134), erläutert, dann das Leid Philoktets und seine Gründe dargelegt werden. Das dritte Strophenpaar bildet den Übergang zur eigentlichen Handlung, insofern der Chor die Geräusche beim Herankommen Philoktets charakterisiert, der unmittelbar nach dem Lied erscheint. 135–143 (Strophe 1) Der Chor informiert sich bei seinem Herrn über die ihm zugedachte Aufgabe. 135 ‚Gebieter‘: Mit despotēs reden Untergebene (auch Sklaven) ihren Herrn an (vgl. z. B. OT 1149; 1165), alternativ auch mit anax (150 [vgl. zu 26]; OT 1173). Behandelte Odysseus Neoptolemos im Prinzip wie einen Befehlsempfänger (vgl. zu 53), so ist er in ironischem Kontrast dazu für seine Mannschaft der mit Einsicht begabte (137–140) Gebieter; vgl. Schmidt 1973, 49. 136 ‚verbergen … sagen‘: Die gedankliche Antithese wird im Griechischen von einen Gleichklang der Wörter begleitet (stegein / legein). ‚argwöhnischen‘: Im Griechischen steht ein Substantiv (in adjektivischer Funktion): ‚Argwöhner‘. Das verstärkt den Ausdruck (vgl. Jebb zu 135 f.). 137–139 Gemeint ist die Kunst/Fähigkeit und Einsicht des Herrschers. Dem griechischen Wortlaut nach wird gesagt, dass Fähigkeit und Einsicht dessen, dem die Herrschergewalt anvertraut ist, andere Fähigkeiten (und Einsicht) übertreffen (zum Vorrang der Herrscherkunst vgl. OT 380 f.). Andere Fähigkeiten sind aber zugleich Fähigkeiten anderer, und als Begründung des Chors für seine Annahme, dass er von Neoptolemos Anweisungen erhalten könne, ist ein Verständnis naheliegender, dass der Chor sagen will, dass ein Herrscher über mehr Fähigkeiten und Wissen verfügt als andere, gewöhnliche Leute (wie der Chor); vgl. Jebb (mit Verweis auf OC 230). 140 (griechischer Text: 139–140) Wörtl. ‚von dem mit dem Zepter des Zeus geherrscht wird‘: Das Zepter ist göttlich, weil Zeus die dadurch symbolisierte Herrschergewalt verliehen hat. Vgl. Homer, Ilias 2,101–108; Aisch. Eum. 626. 141–142 Die Herrschaft, in Phthia (Thessalien), von Aiakos begründet, kam über Peleus und Achilleus auf Neoptolemos und steht daher in einer langen Tradition. 141 ‚Sohn‘: Unter Neoptolemos’ Seeleuten soll man sich vermutlich die Mannschaft seines Vaters vorstellen. Als die Älteren können sie diese gegenüber Jüngeren mögliche Anrede gebrauchen, obwohl sie sich ihrer untergeordneten Stellung bewusst sind (135–143; 150). Vgl. etwa auch OT 1008, wo der (alte) Mann aus Korinth König Ödipus so anredet. Vgl. zu 79.

106 Ne.

Parodos: 144–151

Jetzt, denn vielleicht willst du den Platz am äußersten Inselrand sehen, wo er sein Lager hat, sieh dich unbesorgt um. Aber wenn er kommt, {der furchterregende Wanderer, hier aus seiner Behausung,} so sei, immer wenn ich dir einen Wink gebe, bereit und versuche zu helfen, wie es die Lage erfordert.

Ch.

Du nennst ein Anliegen, an dem mir schon Gegenstrophe 1 lange liegt, Herr, dass mein Auge darüber wacht, was für dich am günstigsten ist.

Νε.

νῦν µέν, ἴσως γὰρ τόπον ἐσχατιαῖς προσιδεῖν ἐθέλεις, ὅντινα κεῖται, δέρκου θαρσῶν· ὁπόταν δὲ µόλῃ, {δεινὸς ὁδίτης τῶνδ’ ἐκ µελάθρων,} πρὸς ἐµὴν αἰεὶ χεῖρα προχωρῶν πειρῶ τὸ παρὸν θεραπεύειν.

Χο.

µέλον πάλαι µέληµά µοι λέγεις, ἄναξ, φρουρεῖν ὄµµ’ ἐπὶ σῷ µάλιστα καιρῷ·

145

150

145

ἀντ. αʹ

150

144–145 τόπον … ὅντινα κεῖται] innerer Akkusativ, „ ‘the place in which he lies (i.e. lives)’ “ (Moorhouse 40). 144 ἴσως γὰρ (Hss.) : γὰρ ἴσως +Herwerden : ἴσως – γὰρ gehört logisch zu dem mit ἴσως eingeleiteten Satz. | ἐσχατιαῖς : ἐσχατιᾶς – ἐσχατιαῖς ist ein lokativer Dativ (poetischer Plural), „τόπον ἐσχατιᾶς (‘region, part of the sea-marge’) would be an unusual phrase“ (Jebb). 145 ὅντινα] ~ ὅν, vgl. Moorhouse 265; K.-G. II 400. | κεῖται : ναίει Blaydes – zum Akkusativ bei Verben der Ruhe vgl. K.-G. I 313 Anm. 13, zur Semantik Komm. zu 144–145. 147 {δεινὸς … µελάθρων} (alternativ: δεινὸς † ὁδίτης τῶνδ’ ἐκ µελάθρων †) Manuwald : δεινὸς ὁδίτης τῶνδ’ ἐκ µελάθρων Hss. : δεινὸς ὁδίτης τῶνδ’ οὑκ µελάθρων Linwood : δεινὸς ἱδρυτὴς τῶνδε µελάθρων Dawe 1978, 23–25 : δεινὸς ἀλήτης τῶνδ’ οὑκ µελάθρων Lane 2004, 442 : δεινὸς ἱδρυτὴς {τῶνδ’ (ἐκ) µελάθρων} Sommerstein 1982, 34 f. – s. ETS, S. 439. 148 πρὸς] ‚nach‘, ‚entsprechend‘ vgl. K.-G. I 520; LSJ s. v. C. III. 2. 150 ἄναξ : ἄναξ τὸ σὸν (Hss.) : τὸ σὸν Benedikt – wegen der Responsion mit v. 135 (ξένον) kommt nur entweder ἄναξ oder τὸ σὸν in Betracht. Bei τὸ σὸν wäre das Auge (151) des Neoptolemos gemeint, das der Chor (um Neoptolemos zu helfen) bewachen würde. Aber es liegt näher, dass das Auge des Chors zugunsten von Neoptolemos wachsam sein soll; vgl. Jebb, Ll.-J./W.1. 151 φρουρεῖν ὄµµ’] ὄµµα ist Subjektsakkusativ zu φρουρεῖν (vgl. Tr. 225 f. οὐδέ µ᾿ ὄµµατος / φρουρὰν παρῆλθε), wohl nicht innerer Akkusativ (vgl. Schein). | ἐπὶ σῷ … καιρῷ] vgl. OT 325 πρὸς καιρόν in entsprechender Bedeutung.

Kommentar

107

144–149 In seinem Rezitativ gibt Neoptolemos dem Chor eine zweifache Antwort: Jetzt könne dieser sich unbesorgt umsehen, wenn Philoktet aber zurückgekommen ist, solle er (bzw. der Chorführer) auf den jeweiligen Wink des Neoptolemos näher zu den sich Unterhaltenden herantreten und sich in geeigneter Weise äußern, wie das später auch der Fall ist (z. B. 317; 391; 507 usw.). 144–145 ‚den Platz … wo er sein Lager hat‘: Es ist von dem Platz die Rede, an dem Philoktet (sonst) ‚liegt‘, ein Verb, das besonders passend ist für „a crippled sufferer“ (Jebb). Vgl. Homer, Ilias 2,721, wo es von Philoktet heißt: „Doch der lag auf der Insel, starke Schmerzen leidend“ (Übers. Schadewaldt). – Neoptolemos verweist zunächst nur auf das Umfeld, in dem Philoktet lebt, noch nicht auf sein ‚Haus‘ (159). 144 ‚du‘: Der Chor kann als Einheit betrachtet werden (daher Singular), aber auch als Gruppe; vgl. 1169 ff., wo singularische und pluralische Anreden wechseln (vgl. zu 1169–1205). Er kann auch von sich nicht nur im Singular (135 ff.), sondern auch im Plural sprechen (828, neben Singular 832, 834). ‚am äußersten Inselrand‘: Dieser ist zwar sachlich identisch mit der Küste (aktē, v. 1; 272), aber der Blick ist jetzt von innen nach außen gerichtet (vgl. z. B. Homer, Odyssee 5,238) und signalisiert zugleich die Abgesondertheit und Zivilisationsferne. So haust der Kyklop Polyphem ‚am äußersten Rand‘ des Kyklopen-Landes (Odyssee 9,182). Vgl. auch Schein. 147 Der Vers ist in mehrfacher Hinsicht problematisch und vermutlich unecht; vgl. im Einzelnen EK, S. 433 f. und ETS, S. 439. 148 ‚sei … bereit‘, wörtl. ‚tritt … vor‘: Gemeint ist, dass sich der Chor den beiden miteinander Redenden zuwenden und in das Gespräch eingreifen soll, vielleicht ein Ausdruck analog zum Auftreten des Redners in der Versammlung. Eine rein figürliche Bedeutung („proceeding according to my beck“, Kamerbeek) scheint das Wort nicht herzugeben und würde entgegen v. 149 auch implizieren, dass Neoptolemos mit seinem Wink inhaltliche Vorgaben macht. ‚immer wenn ich dir einen Wink gebe‘, wörtl. ‚auf mein jeweiliges Hand(zeichen) hin‘: ‚Hand‘ steht hier prägnant für das Handzeichen. 149 ‚zu helfen, wie es die Lage erfordert‘, wörtl.: ‚die gegenwärtige Situation zu bedienen, auf sie bedacht sein‘. 150–158 (Gegenstrophe 1) Der Chor reagiert zuerst auf die zuletzt genannte Aufforderung des Neoptolemos, ihm zu helfen, sie entspreche seinem ohnehin schon vorhandenen Bestreben. Dann verlangt er zu Unterkunft und Aufenthaltsort des Philoktet nähere Auskünfte. 150 ‚Anliegen … liegt‘: Im Griechischen gibt es eine entsprechende figura etymologica (melon … melēma); durch sie wird das Engagement des Chors akzentuiert. Vgl. auch v. 173: ‚an … Krankheit krankt‘ (nosei … noson). 151 ‚was für dich am günstigsten ist‘: Der Chor will darauf sehen, womit Neoptolemos den ‚entscheidenden Punkt‘ (kairos) trifft (vgl. Trédé 1993). Das war schon immer (vgl. 150) seine grundsätzliche Haltung, die sich aber jetzt konkret bewähren soll. So wird er später Neoptolemos auf die günstige Gelegenheit (kairos) hinweisen, als Philoktet in den Schlaf gesunken ist (837).

108

Ne. Ch. Ne.

Νε. Χο. Νε.

Parodos: 152–163

Jetzt aber sag mir, 152 in welcher Behausung er seinen Wohnsitz 152/3 hat und an welchem Ort er sich aufhält; denn das ist es, 153/4 was ich erfahren muss, 155 damit er mich nicht unbemerkt von irgendwoher überrascht. Welche Gegend oder welcher Wohnsitz? Wo hält er sich jetzt auf, drinnen oder draußen? Hier siehst du sein ‚Haus‘, mit Eingängen auf beiden Seiten, eine Lagerstätte im Fels. 160 Und wohin hat er sich selbst, der Unglückliche, entfernt? Ich bin mir sicher, dass er aus Bedürfnis nach Nahrung sich hier irgendwo in der Nähe fortschleppt. νῦν δέ µοι λέγ’, αὐλὰς ποίας ἔνεδρος ναίει καὶ χῶρον τίν’ ἔχει· τὸ γάρ µοι µαθεῖν οὐκ ἀποκαίριον, µὴ προσπεσών µε λάθῃ ποθέν· τίς τόπος ἢ τίς ἕδρα; τίν’ ἔχει στίβον, ἔναυλον ἢ θυραῖον; οἶκον µὲν ὁρᾷς τόνδ’ ἀµφίθυρον πετρίνης κοίτης. ποῦ γὰρ ὁ τλήµων αὐτὸς ἄπεστιν; δῆλον ἔµοιγ’, ὡς φορβῆς χρείᾳ στίβον ὀγµεύει τῇδε πέλας που.

152 152/3 153/4 155

160

152 αὐλὰς (Hss.) : αὐλᾶς – αὐλὰς sc. ναίει, zum Plural zur Bezeichnung eines Raumes vgl. Ant. 945 (Jebb). 154–155 τὸ … ἀποκαίριον] Artikel als Demonstrativpronomen (K.-G. I 582 f.; vgl. auch zu 142). τὸ kann Subjekt zu ἀποκαίριον sein (mit µαθεῖν als epexegetischem Infinitiv, so Jebb) oder auch Objekt zu µαθεῖν, wobei τὸ … µαθεῖν insgesamt Subjekt zu ἀποκαίριον wäre; der Sinn ändert sich nicht. 156 προσπεσών µε λάθῃ Hermann : µε λάθῃ προσπεσών Hss. – die Umstellung ergibt Responsion mit v. 141; zu προσπεσών vgl. 46. 157 τόπος … στίβον Hss. : στίβος … τόπον Herwerden, Dawe – der konjizierte Text τίς στίβος ἢ τίς ἕδρα stellt keine sinnvolle Alternative dar, während τίν’ ἔχει στίβον verstanden werden kann als ‚Welche Stelle (sc. auf die er seinen Fuß gesetzt hat) hat er inne?‘; vgl. Komm. zu 29. Damit erübrigt sich auch Wakefields Konjektur τίς … στίβος. Ll.-J./W.1 verstehen „ ‘where does he plant his steps’ “; diese Vorstellung mag hinter der Formulierung stehen, aber damit wird die u n m i t t e l b a r e Bedeutung von τίν’ ἔχει στίβον nicht genau erfasst. 158 ἔναυλον ἢ θυραῖον Hss. : ἔναυλος ἢ θυραῖος Thomas Magister, Porson – bei dem zu v. 157 dargelegten Verständnis von τίν᾿ ἔχει στίβον ist die Überlieferung unproblematisch. 159 µὲν] οἶκον µὲν ὁρᾷς „(sc. ‘but not its inhabitant’)“, µέν solitarium (GP 380). 160 πετρίνης κοίτης] gen. definitivus, vgl. zu 81. 161 γὰρ] „Progressive use, in answerquestions“, „a speaker …, having been satisfied on one subject, wishes to learn something further.“ (GP 81 f.). | τλήµων (Hss.) : τλάµων – rezitative Anapäste haben keine dorische Dialektfärbung (anders Dawe 1978, 52). 163 τῇδε Blaydes : τήνδε +Suda (cod. V s. v. ὀγµός) : τόνδε (Hss.) – τῇδε ergibt den anzunehmenden Sinn (vgl. OT 1128 τῇδέ που); τήνδε ist unverständlich (Verschreibung von τῇδε). τόνδε (Avezzù) bedeutete, dass Neoptolemos genau den Weg zeigen könnte, den Philoktet geht, aber er kann nur vermuten, wo er ist.

Kommentar

109

152 ‚Jetzt aber‘: D. h., bevor der Chor tätig werden kann. 153 ‚er seinen Wohnsitz hat‘, wörtl.: ‚er als jemand, der einen Wohnsitz hat, wohnt‘. ‚an welchem Ort er sich aufhält‘, wörtl. ‚welche Gegend er innehat‘: Gefragt wird wohl nach der Größe von Philoktets Aktionsraum, wo man mit ihm rechnen muss. 155 ‚muss‘, wörtl. ‚nicht unpassend‘ (sc. zu erfahren): Aber damit würde die im Griechischen vorliegende Litotes zu schwach wiedergegeben. Der Chor will sagen, dass es für ihn unabdingbar ist, die gewünschten Informationen zu erhalten; das griechische apokairios nimmt kairos (151) auf. 157–158 Nachdem der Chor motiviert hat, warum er Genaueres über Philoktet wissen will, wiederholt er seine Fragen (152 f.) in umgekehrter Reihenfolge (zuerst die Gegend, dann die Wohnung) und erregter Kürze (Jebb), wobei er dazu noch von Neoptolemos eine genaue, positive Auskunft über den jetzigen Aufenthaltsort Philoktets erwartet. 157 ‚Welche Gegend oder welcher Wohnsitz‘ (sc. ist es, wo er sich aufhält oder wohnt). Die telegrammstilartigen Fragen werden durch die weitere Frage erläutert, in der Aufenthaltsort und Wohnsitz in Verbindung gebracht sind. ‚Wo hält er sich jetzt auf‘, wörtl. ‚Welchen stibos hat er inne‘ (einen drinnen oder einen draußen), wobei stibos hier etwa die von Philoktet gerade eingenommene Stelle bedeutet, diejenige, worauf er (jetzt) seinen Fuß gesetzt hat. Vgl. zu 29. 159–168 Das anapästische Rezitativ ist hier als Wechselgespräch zwischen Neoptolemos und dem Chor gestaltet. Die Frage nach dem Wohnsitz wird zuerst und konkret beantwortet, die nach dem Aufenthaltsort entwickelt sich zu einer Darstellung der mühseligen Lebensweise Philoktets. Dabei lässt Neoptolemos – auf das Stichwort ‚der Unglückliche‘ des Chors hin (161) – ein gewisses Mitgefühl mit der Situation Philoktets erkennen; vgl. Schmidt 1973, 49 f.; Hawkins 1999, 346. 159 ‚mit Eingängen auf beiden Seiten‘: Neoptolemos beschreibt dem Chor die Art von Philoktets Behausung den Informationen entsprechend, die Odysseus gegeben hatte (16 f.), und nach seiner eigenen Erkundung (26 f.). Seine Worte müssen nicht bedeuten, dass die Choreuten den zweiten (rückwärtigen) Eingang auch wirklich als solchen sehen können, wozu sie die Orchestra hätten verlassen müssen. 161 Aus dem nicht mit einer Warnung verbundenen Hinweis des Neoptolemos auf die Wohnung Philoktets schließt der Chor offenbar, dass er nicht darin ist, und fragt darum nur nach einem draußen befindlichen Ort. 162–163 Diese Überzeugung des Neoptolemos stammt eigentlich von Odysseus (43); vgl. Ussher. 163 ‚sich … fortschleppt‘, wörtl. ‚seine Bahn pflügt‘: „Das langsame Hinziehen der Spur, welche der Pflug in dem Acker hinterläßt, dient als treffendes Bild für das Fortschleppen des kranken Fußes“ (Radermacher 1911 z. St.). Vgl. 206 u. 291.

110

Parodos: 164–176

Denn diese Art von Lebensunterhalt soll er haben, heißt es, dass er Tiere erlegt mit gefiederten Pfeilen, der Mühselige mühevoll, und dass niemand sich zu ihm als Heiler seiner Leiden begibt. Ch.

Ich habe Mitleid mit ihm, weil er, Strophe 2 ohne dass ein Mensch für ihn sorgt 170 und ohne dass er in das Gesicht eines Gefährten blicken kann, der Unselige, immer allein, an bösartiger Krankheit krankt, und sich hilflos fühlt bei einem jeden Bedürfnis, das ihm entsteht. Wie denn, wie hält der Unglückliche 175/6 es nur aus? ταύτην γὰρ ἔχειν βιοτῆς αὐτὸν λόγος ἐστὶ φύσιν, θηροβολοῦντα πτηνοῖς ἰοῖς στυγερὸν στυγερῶς, οὐδέ τιν’ αὐτῷ παιῶνα κακῶν ἐπινωµᾶν.

Χο.

165

οἰκτίρω νιν ἔγωγ’, ὅπως µή του κηδοµένου βροτῶν µηδὲ σύντροφον ὄµµ’ ἔχων, δύστανος, µόνος αἰεί, νοσεῖ µὲν νόσον ἀγρίαν, ἀλύει δ’ ἐπὶ παντί τῳ χρείας ἱσταµένῳ. πῶς ποτε, πῶς δύσµορος ἀντέχει;

165

στρ. βʹ 170

175/6

166  στυγερὸν στυγερῶς Hss. : σµυγερὸν σµυγερῶς Brunck : µογερὸν µογερῶς Blaydes – s. ETS, S. 439 f. 167 αὐτῷ : αὑτῷ – für αὑτῷ (Dawe) könnte sprechen, dass ἐπινωµᾶν wie gewöhnlich transitiv gebraucht wäre, jedoch müsste dann παιών die unbelegte Bedeutung ‚Heilmittel‘ haben. Daher ist eher αὐτῷ zu schreiben mit intransitivem Gebrauch von ἐπινωµᾶν (wie προσνωµᾶν, 717); vgl. Jebb, Webster. 169 οἰκτίρω editores : οἰκτείρω Hss. – οἰκτίρω ist die durch Inschriften bezeugte Form (LSJ). | ὅπως] kausal (Schwyzer II 670). 170–171 µή … µηδὲ] eigentlich würde man οὐ bzw. οὐδέ erwarten. Jebb erklärt die Negation als „ ‘generic,’ i.e., it presents the situation as typical of a class; ‘in a case where there is none to tend’: and this implies the cause of pity, … “; anders bei K.-G. II 201 Anm. 3 (Grund für eine Handlung nicht selten als Bedingung ihres Geschehens aufgefasst). Die Bedingung ist letztlich nichts anderes als Jebbs „case“. 171 µηδὲ : µηδ᾿ αὖ Trikl. : µὴ – µηδὲ bietet die metrisch nötigen zwei Silben und die zu erwartende einfache Anreihung. | σύντροφον Hss. : ξύντροφον Brunck – ξύντροφον ist erwägenswert; die äolischen Basen der drei Glykoneen zu Beginn von Strophe und Gegenstrophe bestünden dann aus je zwei Längen; die Responsionsfreiheit lässt aber auch ‒ ⏑ (µηδὲ σ.) zu. | σύντροφον ὄµµ’] vgl. Ai. 977 ὦ φίλτατ᾿ Αἴας, ὦ ξύναιµον ὄµµ᾿ ἐµοί. 172 αἰεί Trikl. (metrisch notwendig) : ἀεί (Hss.). 173 νόσον ἀγρίαν] vgl. Eur. Or. 34 ἀγρίᾳ … νόσῳ (Ussher zu 174–175). 174–175 ἐπὶ παντί τῳ χρείας] vgl. z. B. Ant. 1229 ἐν τῷ συµφορᾶς. 175/6 πῶς ποτε πῶς] vgl. 688.

Kommentar

111

164 ‚diese Art‘ bezieht sich wahrscheinlich sowohl auf das Faktum, dass Philoktet zur Nahrungssuche weggehen muss, als auch die Weise, wie er Tiere erlegt (vgl. Kamerbeek). Aus der Tatsache, dass Philoktet sich mit Hilfe seines Bogens Nahrung beschafft, ergibt sich die Konsequenz, dass er keine Überlebenschance mehr hat, wenn man ihn des Bogens beraubt. Vgl. 952 ff.; 1102 ff. 165 ‚heißt es‘: Es könnten Nachrichten von Seefahrern, die zufällig bei Philoktet anlandeten (305 ff.), zu den Griechen in Troia gedrungen sein (wenn man sich eine ‚realistische‘ Erklärung zurechtlegen will), Informationen, die Neoptolemos für sich später (253) leugnen wird (vgl. Ussher z. St.). Näherliegt es, dass Neoptolemos aus dramaturgischen Gründen zur Unterrichtung des Chors (und vor allem der Zuschauer) mit diesen Kenntnissen ausgestattet ist. – Ein funktional ähnlicher Verweis auf ein ‚Hörensagen‘ auch v. 199. 166 ‚der Mühselige mühevoll‘: Durch den Doppelausdruck wird die Beschwerlichkeit von Philoktets Nahrungsbeschaffung hervorgehoben. 168 ‚Heiler‘: Das griechische paian oder paiōn bezeichnet eigentlich einen Heiler-Gott (vgl. zu 827–832), kann aber auch auf Menschen übertragen werden; vgl. Aisch. Ag. 99. Da ihm niemand hilft, gibt es für Philoktet auf Lemnos keine Perspektive auf eine Heilung. 169–179 (Strophe 2) Das Gefühl des Mitleids, das schon in der Bezeichnung ‚Unglücklicher‘ (161) anklang, wird vom Chor jetzt artikuliert, der die kaum auszuhaltende Verbindung von Einsamkeit und Krankheit (vgl. 167 f.) betont; aus diesem Schicksal Philoktets schließt er auf das Wirken der Götter. 169 Das Mitleid des Chors soll hier sicher als echt gelten, da er in Abwesenheit Philoktets keinen Grund hat, sich zur Unterstützung des Neoptolemos, die er als seine Hauptaufgabe versteht, zu verstellen. An späteren Stellen (317 f.; 507 ff.) ist die Empathie allerdings (zumindest auch) interessegeleitet. Vgl. Ussher z. St. 171 ‚in das Gesicht eines Gefährten blicken‘, wörtl.: ‚er hat kein mit ihm lebendes Auge / Gesicht‘. 172 ‚immer allein‘: vgl. 183 und vor allem Philoktets eigene Klagen über seine Einsamkeit, vgl. zu 228. 173 ‚bösartiger Krankheit‘, wörtl. ‚wilder Krankheit‘: vgl. zu 9. Es handelt sich um einen für die griechische Medizin belegten Ausdruck für die schwerere Form einer Erkrankung (Celsus 5,28,16). Bisher ist über Philoktets ‚Krankheit‘ nur bekannt, dass er eine nicht heilende Wunde hat, dass er auch überaus schmerzhafte Anfälle erleidet, wird erst im weiteren Handlungsgeschehen relevant (vgl. 732 ff. und zu 733). 174 ‚sich hilflos fühlt‘: Das griechische Verb (alyein) meint eine seelische Erregung, meist unangenehmer Art; vgl. 1194 (‚Aufruhr‘). 174–175 ‚bei einem jeden Bedürfnis‘, genauer: ‚bei jedem einzelnen Fall / Vorkommen eines Bedürfnisses‘, d. h. ständig und immer.

112

Parodos: 177–185

O Wirken der Götter! O unglückselige Geschlechter der Menschen, deren Lebenslos nicht in (ungefährdeter) Mitte bleibt! Dieser Mann, der wohl niemandem aus Gegenstrophe 2 vornehmen Häusern nachsteht, aller Dinge beraubt im Leben liegt er allein, abgesondert von anderen Menschen, zusammen mit gefleckten oder zottigen Tieren, in seinen Schmerzen und seinem Hunger

180

185

ὦ παλάµαι θεῶν, ὦ δύστανα γένη βροτῶν, οἷς µὴ µέτριος αἰών. οὗτος πρωτογόνων ἴσως οἴκων οὐδενὸς ὕστερος, πάντων ἄµµορος ἐν βίῳ κεῖται µοῦνος ἀπ’ ἄλλων στικτῶν ἢ λασίων µετὰ θηρῶν, ἔν τ’ ὀδύναις ὁµοῦ

ἀντ. βʹ

180

185

177 θεῶν Lachmann (vgl. auch Ll.-J./W.2) : θνητῶν Hss. – θεῶν (⏑ ‒) stellt die Responsion zu v. 188 her und ergibt vor allem einen guten Sinn. παλάµαι θνητῶν würde heißen „the resources of man“, wie sie sich bei Philoktet zeigen (Jebb), was einen merkwürdigen Kontrast zum nächsten Vers bildete, von der Folge θνητῶν – βροτῶν ganz abgesehen. Günther (1996, 127 f.), Pucci und Schein halten θνητῶν („O devices of mortals“) und sehen darin (auch) eine Anspielung auf die für das Schicksal Philoktets konkret Verantwortlichen. Aber es ist – von den anderen Problemen ganz abgesehen – schwer vorstellbar, dass ein Zuschauer bei dem Begriff θνητοί nur an die Atreus-Söhne und Odysseus denken sollte, zumal der Chor diesen gegenüber keine kritische Haltung haben kann. Günthers Argument (a.O.), wenn der Chor die Götter schon genannt hätte, seien Neoptolemos’ anschließende Bemerkungen (191 ff.) unpassend, ist nicht überzeugend; denn nachdem der Chor sich das Schicksal Philoktets nicht ohne göttliches Wirken vorstellen kann, sind sie als Sinndeutung im Einzelnen zu erklären. 178 γένη] vgl. LSJ s. v. III. 1. b „clan, house, family“. 179 µὴ] zur Negation vgl. K.-G. II 185 (~ ‚die so sind, dass …‘). | αἰών] ‚Lebenslos‘, vgl. LSJ s. v. I. 3. 180 πρωτογόνων] übliche Bedeutung ‚erstgeboren‘, aber vom Scholion hier mit εὐγενῶν erklärt (sonst nicht belegte, jedoch hier anzunehmende Bedeutung). | ἴσως] ἴσως bestimmt οὐδενὸς ὕστερος (181) näher. Der Chor bezweifelt nicht die edle Abkunft, sondern äußert sich nur vorsichtig über Philoktets Rang innerhalb der führenden Geschlechter. 181 οἴκων Hss. : ἥκων Suda (cod. E) s. v. λασίοις – für ἥκων käme allenfalls eine von „depend on“ (LSJ s. v. II. 3) abgeleitete Bedeutung in Frage, die bei den Tragikern (sonst) nicht belegt ist. 183 µοῦνος ἀπ’ ἄλλων] dieselbe Wendung im homerischen HermesHymnos (4) 193; zu ionischen Formen bei Sophokles und im Philoktet vgl. Schein, S. 32. 184 µετὰ editores : µέτα Hss. : µέτ᾿ ὢν Burges – die Responsionsfreiheit lässt eine kurze Schlusssilbe zu; da µετὰ sich auf das nachfolgende θηρῶν bezieht, kann keine Anastrophe vorliegen (anders Kamerbeek nach Wilamowitz 1921, 532). 185 ἔν τ’ ὀδύναις] statt ἔν ὀδύναις τε (GP 518 [v]), zu ἐν zur Bezeichnung von Zuständen vgl. OT 1112 f. ἔν τε γὰρ µακρῷ / γήρᾳ, Bruhn § 69, II.2.

Kommentar

113

177 ‚O Wirken der Götter!‘: Wörtl. werden die palamai der Götter (wie wohl richtig statt des überlieferten ‚Sterblichen‘ konjiziert wurde; vgl. TS) apostrophiert. palamē (bzw. im Plural palamai) bedeutet eigentlich ‚Hand‘ (bzw. ‚Hände‘). Daraus ergeben sich verschiedene Bedeutungen: die ‚gewaltsame Tat‘ (1206), die geschickte Hand des Handwerkers (Homer, Ilias 15,411) und übertragen die geschickte Handhabe, Planung (z. B. eines Feldherren: Herodot 8,19,1), aber auch das ränkevolle Planen eines Sisyphos (z. B. Pindar, Olympien 13,52). So kann mit palamai bezeichnetes göttliches machtvolles Wirken für die Betroffenen günstig (Pindar, Olympien 10,21) oder ungünstig sein (Pindar, Nemeen 10,65). An der vorliegenden Stelle kann sich der Chor das Ausmaß von Philoktets Leid nicht ohne göttliches Wirken erklären, das somit den Bedeutungsmöglichkeiten von palamai entsprechend durchaus als ambivalent zu verstehen ist. Mit seiner Annahme, dass Philoktets Leiden von den Göttern gewollt ist, steht der Chor nicht allein, wie sich aus den Ausführungen des Neoptolemos gleich ergibt (191–200). 178–179 Der Chor beklagt das Schicksal bestimmter Menschengeschlechter, eine Klage, die dann (180 ff.) speziell auf Philoktet bezogen wird. Mit ‚Geschlechter der Menschen‘ sind solche Geschlechter gemeint, die aufgrund ihrer herausgehobenen Stellung durch einen Schicksalsschlag besonders tief stürzen können. Der Relativsatz ist einschränkend zu verstehen, sonst würde ausgesagt, dass es überhaupt keine Geschlechter mit mittlerem (bzw. dem Durchschnitt entsprechendem) Lebenslos gebe. Es sind ‚vornehme Häuser‘ gemeint, wie v. 181 zeigt. Dass eine mittlere Lebensstellung vorzuziehen sei, findet sich auch in anderen Tragödien ausgesprochen: vgl. Aisch. Ag. 471–474; Eur. Med. 123–130. Dieses Verständnis wird dem Zusammenhang hier eher gerecht als ein im Scholion zu v. 179 (alternativ) vorgeschlagenes und verschiedentlich vertretenes, wonach gemeint ist, dass diese Geschlechter ein Unmaß an Leid erfahren; vgl. auch Jebb. Außerdem könnte dieser Gedanke kaum mit der bloßen Wendung (wörtl.) ‚die nicht ein mittleres Lebenslos haben‘ ausgedrückt werden. 180–190 (Gegenstrophe 2) Philoktet ist für den Chor ein Beispiel für den tiefen Fall, von dem Hochstehende betroffen sein können (178 f.). Er ist Verlassenheit (vgl. 691–695), Hunger und Schmerzen ausgesetzt, wilde Tiere ersetzen die menschliche Gemeinschaft (vgl. 936 f.; Mauduit 1995, 347), und die einzige ‚menschliche‘ Stimme ist das Echo der eigenen Schmerzensschreie. 183 ‚liegt er allein‘: vgl. zu 144–145. 184–185 ‚mit gefleckten oder zottigen Tieren‘: Das griechische Wort für Tiere (thēres) bezeichnet wildlebende Tiere, und nur solche können an einem Ort fern von Menschen gemeint sein. ‚gefleckt‘ (stiktos) könnte auf Rotwild (vgl. El. 568; Eur. Ba. 111), Hyänen (Oppian, Kynegetika 3,288) oder Vögel (Soph. F **581,8 Radt2) weisen, ‚zottig‘ (oder ‚wollig‘: lasios) auf dichte Behaarung, wie sie z. B. beim Ziegenbock (Theokrit, Eidyllion 7,15; Epigramm 4,17) oder der Mähne eines Löwen (Theokrit [?], Eidyllion 25, 257) vorkommt.

114

Parodos: 186–194

gleichermaßen bejammernswert, mit schwerem Leiden, unheilbar und unversorgt. Und sie, die ihren Mund nicht verschließen kann, Echo, lässt aus der Ferne auf sein bitteres Wehgeschrei hin ihre Klage ertönen. Ne.

190

Nichts davon ist für mich verwunderlich; denn gottverhängt, wenn denn einer wie ich einige Einsicht hat, sind sowohl jene Leiden auf ihn von der grausam gesinnten Chryse gekommen λιµῷ τ’ οἰκτρὸς ἀνήκεστ’ ἀµερίµνητά τ’ ἔχων βάρη. ἁ δ’ ἀθυρόστοµος Ἀχὼ τηλεφανὴς πικρᾶς οἰµωγᾶς ὕπο κλαίει.

Νε.

186/7

186/7 190

οὐδὲν τούτων θαυµαστὸν ἐµοί· θεῖα γάρ, εἴπερ κἀγώ τι φρονῶ, καὶ τὰ παθήµατα κεῖνα πρὸς αὐτὸν τῆς ὠµόφρονος Χρύσης ἐπέβη,

186/7 ἀνήκεστ᾿ ἀµερίµνητά τ’ Page : ἀνήκεστα µεριµνήµατ᾿ Hss. – vgl. zu 187–188. 187–188 βάρη. ἁ δ’ Hermann : βαρεῖα δ᾿ Hss. : ὀρεία δ᾿ Mekler 1911, XC : βοᾷ· ἁ δ᾿ Hekmeyer – das α vor δ᾿ muss lang sein, außerdem ist nach dem Asklepiadeus maior ein Periodenende wahrscheinlich, was gegen Meklers ‚überschwappendes‘ ὀρεία einzuwenden ist. ἀνήκεστα µεριµνήµατ᾿ ist außerdem eine ungewöhnliche, jedenfalls unbelegte Verbindung; so spricht vieles für ἀνήκεστ’ ἀµερίµνητά τ’ … βάρη. Zwar ist ἀµερίµνητος nicht belegt, aber Sophokles hat ἀµέριµνος (Ai. 1206), und das Verb ἀµεριµνέω kommt im späteren Griechisch häufiger vor. 188 ἀθυρόστοµος Hss. : ἀθυρόγλωσσος (vgl. Eur. Or. 903) Musgrave (um Responsion mit dem in v. 177 überlieferten θνητῶν herzustellen). 189– 190 πικρᾶς οἰµωγᾶς Hss. : πικρὰς οἰµωγὰς Musgrave, Irigoin, Willink 2003, 84, u. a. : πικραῖς οἰµωγαῖς Ast | ὕπο κλαίει Manuwald : ὑπόκειται Hss. : ὑποχεῖται Musgrave, Irigoin, Willink 2003, 84 : ἀπόκειται Lane 2004, 442 f. : ὑπακούει Auratus – s. ETS, S. 440. 193 παθήµατα κεῖνα Brunck : παθήµατ᾿ ἐκεῖνα Hss. – die Konjektur stellt die obligatorische Dihärese her. 194 Χρύσης ἐπέβη] ablativischer Genitiv, der den Ausgangspunkt bezeichnet, vom örtlichen Gebrauch (z. B. OT 152 Πυθῶνος … ἔβας) auf eine Person übertragen (vgl. auch K.-G. I 394 f.); die Wortstellung legt eher diese Auffassung nahe als Χρύσης mit τὰ παθήµατα κεῖνα zu verbinden.

Kommentar

115

188–190 Der Text ist am Ende von v. 190 korrupt überliefert. Der Sinn muss sein, dass die einzige Kommunikation des einsamen Philoktet mit dem personifizierten Echo (vgl. Pindar, Olympien 14,20 f.; Eur. F 118 Kannicht) stattfindet, indem es Philoktets Wehgeschrei widerhallen lässt (vgl. 1458– 1460). Text und Übersetzung beruhen auf einer Emendation, die den anzunehmenden Sinn ergibt. Möglich wäre z. B. auch, den Text (mit stärkerem Eingriff in das Überlieferte) so herzustellen: „Und sie, die ihren Mund nicht verschließen kann, Echo, antwortet aus der Ferne seinen bitteren Wehrufen.“ Vgl. TS. 188 ‚die ihren Mund nicht verschließen kann‘: Das nur hier belegte Wort (athyrostomos) bezeichnet wörtl. jemanden, der ‚keine Tür vor dem Mund‘ hat, treffend für das personifizierte Echo. Vgl. Simonides, fr. 541,2 PMG athyron stoma (‚türloser Mund‘). 189 ‚aus der Ferne‘, genauer: ‚aus der Ferne erscheinend‘, eine optische Metapher für ein akustisches Phänomen wie öfter; vgl. Aisch. Pers. 395; Soph. OT 186; 473; 525; Phil. 202 sowie Bruhn § 256. 191–200 In diesem (anapästischen) Rezitativ gibt Neoptolemos eine theologische Erklärung für Philoktets Schicksal: Es ist für ihn der Wille der Götter, dass Philoktet so leiden muss. Von einer Schuld Philoktets spricht er hier nicht, wie auch sonst im Drama davon keine Rede ist (vgl. auch zu 194). Als Beleg für eine göttliche Verursachung gilt Neoptolemos, dass Philoktets Waffen erst zu der Zeit, die für Troias Fall bestimmt ist, zum Einsatz kommen sollten (wie es heiße), er also ferngehalten werden müsse. Die Frage nach der göttlichen Gerechtigkeit wird nicht gestellt. Neoptolemos wirkt von der Härte des Umgangs der Götter mit den Menschen (vgl. auch Poe 1974, 32–37) – bei aller sachlichen Feststellung von Philoktets Leid (193–195) – nicht besonders tangiert; anders äußert sich etwa Odysseus zu der Grausamkeit, mit der Athena in Sophokles’ Tragödie mit Aias verfährt (Ai. 121–126; vgl. Pucci). Zu dem Wissen, das Neoptolemos hier hat, vgl. Einf. S. 27 f. 192 ‚gottverhängt‘: Was Neoptolemos jetzt noch mit einer Einschränkung hinsichtlich seines Erkenntnisvermögens versieht, weiß er später (1326–1328) sicher, was nur dramaturgisch zu erklären ist. 194 ‚Chryse‘: Diese Gottheit, die nach Sophokles in einem heiligen Bezirk verehrt wurde (1327 f.), trägt denselben Namen wie die Insel Chryse (vgl. zu 269–270); sie war nach einem archäologischen Zeugnis (ein Stamnos von 460 / 450 v. Chr.; vgl. Einf. S. 9 Anm. 32) schon vor Euripides und Sophokles mit dem Philoktet-Mythos verbunden. In Euripides’ Philoktet-Tragödie war ein Opfer am Altar der Chryse (eine) Voraussetzung für die Eroberung Troias, und Philoktet hatte den Griechen den Altar gezeigt (F 789 d [9] Kannicht). Aus Sophokles’ Drama wird ein solcher Zusammenhang nicht kenntlich. An späterer Stelle des Handlungsgeschehens (1326–1328) erklärt Neoptolemos, Philoktets Leiden sei durch göttliche Schickung verursacht, weil er sich Chryses Wächterin, der verborgen das Heiligtum bewachenden Schlange, genähert habe. Dabei ist nicht zu erkennen, dass der Dichter Philoktets Verhalten als schuldhaft eingeschätzt wissen wollte (vgl. auch 684 f.): Philoktet konnte die verborgene Schlange anscheinend nicht sehen; vgl. auch Einf. S. 23 mit

116

Parodos: 195–203

als auch, die er jetzt leidet, ohne dass ihn jemand umsorgt: unmöglich, dass es nicht das Wirken eines der Götter ist, damit dieser nicht früher gegen Troia die unabwehrbaren Göttergeschosse richtet, bevor die Zeit gekommen ist, zu der, wie es heißt, es von diesen Geschossen bezwungen werden muss. Ch.

Χο.

Sei still, Sohn.

Ch. Ein Geräusch ertönte, wie es zu einem Mann gehört, der sich quält,

195

200

Ne. Was ist da?

Strophe 3 201/2

καὶ νῦν ἃ πονεῖ δίχα κηδεµόνων, οὐκ ἔσθ’ ὡς οὐ θεῶν του µελέτη τοῦ µὴ πρότερον τόνδ’ ἐπὶ Τροίᾳ τεῖναι τὰ θεῶν ἀµάχητα βέλη, πρὶν ὅδ’ ἐξήκοι χρόνος, ᾧ λέγεται χρῆναί σφ’ ὑπὸ τῶνδε δαµῆναι.

195

εὔστοµ’ ἔχε, παῖ.

Νε. τί τόδε;

Χο. προὐφάνη, κτύπος φωτὸς σύντροφος ὡς τειροµένου ⟨του⟩,

200 στρ. γʹ 201/2

195 ἃ πονεῖ] καὶ νῦν ἃ korrespondiert mit καὶ τὰ παθήµατα κεῖνα (193). So steht ἃ für παθήµατα, das als sinnverwandtes Substantiv im Akkusativ zum intransitiven πονεῖ tritt; anders Schein („acc. of respect“) mit Verweis auf Tr. 137, wo die Textsituation aber anders ist. 196 ἔσθ’ ὡς Porson : ἔστιν ὅπως (mit Tilgung von του) Trikl. : ἔσθ᾿ ὅπως (Hss.) – die Überlieferung ist unmetrisch; wahrscheinlich ist das seltenere ἔσθ᾿ ὡς (vgl. Ant. 750) durch ἔσθ᾿ ὅπως verdrängt worden (Kamerbeek); vgl. auch Dawe 1978, 52. | θ͜εῶν] Synizese. | µελέτη West 1979, 112 : µελέτῃ Hss. – µελέτῃ würde die Ergänzung eines Vollverbs erfordern (πονεῖ, aus 195), was aber, wie West zeigt, in dieser Form ohne Parallele wäre; daher µελέτη (sc. ἐστί). θεῶν του µελέτη (ἐστί) ist dann parallel zu 192 θεῖα γάρ (ἐστι). 197–198 τοῦ µὴ … τεῖναι] finaler Infinitiv mit Artikel, vgl. K.-G. II 40 c; Moorhouse 150; 248 f. (abhängig von µελέτη). 197 Τροίᾳ : Τροίαν : Τροίας (varia lectio in einer Hs.) – ἐπί mit Dativ in feindlichem Sinn seit Homer (Ilias 5,124 ἐπὶ Τρώεσσι µάχεσθαι). 199 ὅδ’] statt des in Bezug auf ein Relativpronomen gewöhnlicheren οὗτος, wodurch eine größere Emphase entsteht (K.-G. I 647, 9; Kamerbeek). | ἐξήκοι : ἐξήκει : ἐξίκοι : ἐξίκοιτο : ἐξήκῃ Schaefer – Optativ trotz vorausgegangener Gegenwartstempora, weil die µελέτη der Götter in der Vergangenheit liegt und die göttlichen Gedanken wiedergegeben werden (Jebb mit Verweis auf Demosthenes, or. 22,11; Moorhouse 235; 299; K.-G. II 548). „For ἐξήκειν used to express the ‘running out of time’ implying a supposed or predicted fulfilment cf. Ant. 896 πρίν µοι µοῖραν ἐξήκειν βίου.“ (Kamerbeek). 200 χρῆναι : χρήν : χρῆν – nur χρῆναι ist metrisch möglich. | σφ᾿] ~ αὐτήν, sc. Τροίαν. | τῶνδε] vgl. zu 87. 201 εὔστοµ’ ἔχε] εὔστοµ(α) ἔχε ~ εὐστόµως ἔχε ~ εὐφήµει, vgl. Herodot 2,171,1; Aristophanes, Wolken 833 f. 203 φωτὸς … ⟨του⟩] ~ ὡς σύντροφος φωτός ⟨του⟩ τειροµένου (Kamerbeek). | σύντροφος] ebenso wie z. B. οἰκεῖος auch mit Genitiv zu konstruieren. | τειροµένου ⟨του⟩ Porson : τειροµένου (Hss.) : τειρεοµένου Trikl. : τειροµένοιο Bergk – v. 212 liegt ein eindeutig überlieferter glc vor; bei τειροµένου fehlt zur Responsion eine Silbe. Sie kann durch Bergks oder Porsons Konjekturen hergestellt werden. Da aber ein Genitiv auf -οιο für Sophokles nicht belegt ist (vgl. Ll.-J./W.1, S. 15 zu Ai. 210), ist Porsons Lösung vorzuziehen.

Kommentar

117

Anm. 70. – Segal vergleicht insofern zu Recht die sophokleische Konzeption der Figur des Philoktet mit der des Ödipus im OT (1981, 318). Chryse wird ‚grausam gesinnt‘ genannt, offenbar weil die Strafe für den unabsichtlich ‚Schuldigen‘ als unverhältnismäßig erscheint. In Homers Ilias ist von göttlichem Einwirken und einer Schlange in einem Heiligtum nicht die Rede, sondern Philoktet wird lediglich als Opfer einer übelgesinnten Wasserschlange bezeichnet (2,723). Vgl. zu den Versionen des Schlangenbisses auch Einf. S. 7 mit Anm. 18 u. 20; S. 9 Anm. 30. 196–200 Es wird nicht klar, woher Neoptolemos dieses Wissen hat (‚wie es heißt‘, 199; vgl. Pucci, S. 186); vgl. auch zu 165. Für das Zukünftige stimmt Neoptolemos mit der Weissagung des Helenos (vgl. dazu 604–613; 1329– 1342) überein in Bezug auf den Zeitpunkt, an dem Philoktet in Troia kämpfen soll (199 f.; 1340 f.), und mit Herakles’ Aussage (200; 1439 f.) hinsichtlich des Einsatzes des Bogens (z. T. mit ähnlichem Wortlaut); vgl. Einf. S. 28. 196 ‚eines der Götter‘: Neoptolemos bleibt allgemein wie 841 u. 1374. 198 ‚Göttergeschosse‘: Philoktet erhielt Bogen und Pfeile vom Zeus-Sohn Herakles (943; vgl. auch Diodor 4,38,4) für eine ‚Wohltat‘ (vgl. zu 801–803); Herakles soll diese Waffe (nach erst später fassbarer Überlieferung) von Apollon bekommen haben (Ps.-Apollodor, Bibliothek 2,71; Diodor 4,14,3). Zu Apollon als Bogengeber (bei Pandaros und Teukros) vgl. Homer, Ilias 2,827 (anders 4,105 ff.); 15,441. Vgl. auch Willcock 1970, 3 f. 201–218 (Strophe und Gegenstrophe 3) Der Chor hört – anders als Neoptolemos – Philoktet kommen, sieht ihn aber offenbar nicht, bis dieser unvermittelt zu sprechen anfängt (219); vgl. auch Dale 1969, 128. Der Chor beschreibt das Sich-Annähern als mühevolles Gehen eines durch seinen schmerzenden Fuß Behinderten und bereitet Neoptolemos auf die Begegnung vor. 201–202 Doppelter Sprecherwechsel innerhalb eines lyrischen Verses ist bei Sophokles selten und ein Zeichen erregten Dialogs. Vgl. OT 654 f.; 683 f.; El. 829 f.; 844 f.; OC 212; 224; dreifacher Wechsel OC 539; 546 (Schein). 202–209 Der Chor nennt verschiedene akustische Phänomene, um anzugeben, was er hört. ‚Geräusch‘ (ktypos, 202) wird im Allgemeinen nicht von der menschlichen Stimme gebraucht (jedoch für unartikuliertes Stimmengewirr, OC 1500). In v. 29 war damit das Geräusch gemeint, das ein Schritt verursacht. Auch hier ist es als vom schleppenden Gang Philoktets ausgehend zu denken, vielleicht von einem Stöhnen begleitet, aber der Chor kann noch nicht genau ausmachen, was er und von wo er es hört. Den ‚Laut‘ (phthongā, 206) ordnet er wohl in erster Linie der Gehbewegung Philoktets zu. Zwar wird phthongē, (bzw. dorisch phthongā) sonst von der menschlichen Stimme gebraucht, aber da es eine poetische Form für phthongos ist, womit auch nichtmenschliche Geräusche bezeichnet werden (vgl. Kamerbeek), könnte man auch phthongā so verstehen. Dann ergibt sich eine klare Differenzierung zu den vv. 208 f., wo der Chor von der klagenden Stimme Philoktets spricht. 202 ‚ertönte‘, wörtl.: ‚zeigte sich‘, ‚erschien‘, vgl. zu 189. 203 Bei ‚gehört‘ ist die viel engere Verbindung, die durch das griechische syntrophos (‚zusammen ernährt, aufgezogen‘) angegeben ist, mitzudenken.

118

Parodos: 204–215

ich glaube hier oder dort in der Gegend. Es trifft, es trifft mich untrüglich ein Laut von einem, der sich den Weg notgedrungen heranschleppt, und es bleibt mir nicht verborgen, was die von fern her kommende laute Stimme eines geplagten Mannes deutlich von sich gibt.

205

Komm, Sohn, fasse … Ne. Sag, was? Gegenstrophe 3 Ch. … neue Gedanken; denn der Mann ist nicht fern seiner Wohnung, sondern hier in der Nähe, nicht mit dem Klang einer Syrinx wie ein Hirte, der auf dem Weideland einhergeht, sondern entweder, glaube ich, lässt er, weil er in seiner Not (mit ἤ που τᾷδ’ ἢ τᾷδε τόπων. βάλλει, βάλλει µ’ ἐτύµα φθογγά του στίβον κατ’ ἀνάγκαν ἕρποντος, οὐδέ µε λάθει βαρεῖ᾿ ἃ τηλόθεν αὐδὰ τρυσάνωρ διάσηµα γαρύει. ἀλλ’ ἔχε, τέκνον …

Νε. λέγ’ ὅ τι. Χο. … φροντίδας νέας· ὡς οὐκ ἔξεδρος, ἀλλ’ ἔντοπος ἁνήρ, οὐ µολπὰν σύριγγος ἔχων, ὡς ποιµὴν ἀγροβάτας, ἀλλ’ ἤ που πταίων ὑπ’ ἀνάγ-

210/1

215

205

ἀντ. γʹ 210/1

215

204 τᾷδ’ ἢ τᾷδε Blaydes : τῇδ’ ἢ τῇδε Hss. – vgl. die im Kontext einheitlich dorische Dialektfärbung; Jebb hält wegen des kolloquialen Stils auch die attische Form für möglich (bei Dawe und Avezzù im Text). | τόπων] zu τᾷδε, vgl. zum (partitiven) Genitiv K.-G. I 340 c; Moorhouse 58. 205 βάλλει] vgl. Ant. 1187 f. µε φθόγγος … βάλλει δι᾿ ὤτων. | ἐτύµα : ἑτοίµα (nur ἐτύµα im Zusammenhang sinnvoll) – ἔτυµος ist sonst Adjektiv zweier Endungen. 206 του : τοῦ (Hss.) – der Chor kann nur beschreiben, welche Geräusche er von ‚jemandem‘ hört. | στίβον : στίβου – s. ETS, S. 440. 207 λάθει (s. zu 204) : λήθει. 208 βαρεῖ᾿ ἃ Willink 2003, 85 : βαρεῖα Hss. 209 τρυσάνωρ] passivisch wie z. B. Ant. 1022 ἀνδροφθόρου … αἵµατος (~ αἵµατος ἀνδρὸς ἑφθαρµένου); vgl. Jebb. | γαρύει (ῡ wie [Aisch.] PV 78) Willink 2003, 85 : γὰρ θροεῖ (Hss.) : γὰρ θρηνεῖ Dindorf : θροεῖ γάρ Trikl. : {γὰρ} θρηνεῖ Ll.-J./W. – s. ETS, S. 441. 212 ἁνήρ editores : ἀνήρ Hss. – ἁνήρ [ᾱ] ist metrisch und vom Sinn her nötig; vgl. zu 40. 213 µολπὰν (Hss.) : µολπὰς Trikl. | µολπὰν σύριγγος ἔχων] ~ σύριγγι µέλπων, vgl. Homer, Ilias 18,495 αὐλοὶ … βοὴν ἔχον ~ αὐλοὶ (µέλος) ἐβόων. | σύριγγος ἔχων Hss. : σύριγγι χέων Blaydes – vgl. den Eintrag zu µολπὰν. 214 ἀγροβάτας : ἀγροβότας – ἀγροβάτας (LSJ Suppl. s. v. „ranging over the fields“) ist als seltene Form (vgl. noch Eur. Cycl. 54), und weil damit der Gegensatz zu Philoktets mühevollem Gang besser herauskommt, ἀγροβότας (LSJ s. v. „feeding in the field“) vorzuziehen. 215–216 ἀλλ’ … βοᾷ] auf ἔχων (213) folgt anstelle eines Partizips (βοῶν) ein finites Verb.

Kommentar

119

208–209 ‚laute Stimme eines geplagten Mannes‘: Die Stimme ist durch zwei Adjektive bestimmt. ‚laute‘ gibt bareia wieder. barys heißt eigtl. ‚schwer‘, von Tönen ‚stark‘, auch ‚tief‘; es wird auch im Zusammenhang mit Klageäußerungen verwendet (vgl. Chadwick 1996, 69) und drückt hier die Heftigkeit der Lautäußerung aus. Das nur an dieser Stelle belegte Adjektiv trysanōr hat von seiner Bildung her eigentlich die aktive Bedeutung ‚männerquälend‘, was aber in dieser Situation keinen überzeugenden Sinn ergibt. Der Chor wird kaum sagen wollen, dass ihn die Lautäußerung quält. Daher ist eine (kühne) passive Auffassung anzunehmen: ‚Stimme eines Mannes, der gequält wird‘ (vgl. Jebb). 210–211 Hier liegt nicht nur doppelter Sprecherwechsel vor (wie 201 f.), sondern der zweite Sprecher fällt dem ersten ungeduldig ins Wort, sodass dieser erst danach seine Aussage syntaktisch zu Ende führen kann. Vgl. zu diesem Merkmal erregten Dialogs in lyrischen Versen (über mehrere lyrische Einheiten hinweg) OT 649–654. 211 ‚neue Gedanken‘: Der Chor fühlt, dass Philoktet so nahe ist, dass er es geboten findet, Neoptolemos darauf hinzuweisen, sich konkret auf die neue Situation einzustellen. 212 ‚in der Nähe‘, wörtl.: ‚am Ort‘: Philoktet ist nah, aber nicht notwendig, wie Pucci und Schein meinen, bereits in der Höhle. Der als Alternative (zum Schmerz) für sein Schreien genannte Grund, ‚weil er auf den Ankerplatz blickt‘ (217), ist sinnvoller, wenn Philoktet noch außerhalb der Höhle zu denken ist. 213 ‚Klang einer Syrinx‘: Die Töne der Hirtenflöte (Panflöte) werden als schöne Töne mit den Lauten, die der Chor hört, kontrastiert; vgl. Schein. 215–218 Der Chor hört das laute Schreien Philoktets, weiß aber nicht, ob der Grund ein physischer Schmerz ist (verursacht durch den kranken Fuß) oder ein psychischer, weil er immer noch kein Schiff erblicken kann, das seiner Einsamkeit ein Ende macht; vgl. Jebb. Diese Interpretation der Vermutung des Chors über die Reaktion beim Anblick des Ankerplatzes setzt voraus, dass man die Aussage versteht als: weil er den Ankerplatz sieht, der kein Schiff gastlich aufnimmt bzw. aufgenommen hat (wörtl. ‚den Ankerplatz, ⟨der⟩ ungastlich für ein Schiff ⟨ist⟩‘; vgl. TS); so auch Schein. Alternativ wird vertreten (z. B. Kamerbeek): weil er unser Schiff an seinem ungastlichen Ankerplatz sieht (d. h. wörtl. ‚den ungastlichen Ankerplatz unseres Schiffs‘). Aber dagegen spricht einerseits die Wortstellung (‚Schiff‘ steht von ‚Ankerplatz‘ weit entfernt, aber unmittelbar neben ‚ungastlich‘), andererseits würde man erwarten, dass das Schiff als direktes Objekt des Sehens genannt würde (und nicht der Ankerplatz), wenn Philoktet beim Anblick des Schiffes schreien sollte. Aber warum sollte er überhaupt beim Anblick eines Schiffes Schmerz empfinden, wo doch dessen Ankunft die Chance bieten könnte, von der Insel wegzukommen (vgl. 237)? Im Übrigen wird durch die Ausführungen des Odysseus (70–76) die Vorstellung nahegelegt, dass er das Schiff (oder die Schiffe) an einem Punkt hat landen lassen, wo es von dem vermuteten Wohnsitz Philoktets aus nicht gesehen werden kann.

Parodos / Erstes Epeisodion: 216–220

120

dem Fuß) anstößt, einen weithin zu hörenden Schrei ertönen oder, weil er auf den Ankerplatz blickt, der kein Schiff gastlich aufnimmt; er schreit nämlich in furchterregender Weise. Philoktet erscheint plötzlich im Eingang der Höhle. Er hat seinen Bogen bei sich und sieht verwildert aus. Seine Kleidung ist zerfetzt, die Fußwunde mit Lumpen umwickelt. Philoktet Ioh, Fremde! Wer seid ihr denn, die ihr mit eurem Schiff an diesem Land ange-

220

κας βοᾷ τηλωπὸν ἰωὰν ἢ ναὸς ἄξενον αὐγάζων ὅρµον· προβοᾷ τι γὰρ δεινόν. Φιλοκτήτης ἰὼ ξένοι· τίνες ποτ’ ἐς γῆν τήνδε ναυτίλῳ πλάτῃ

220

216 τηλωπὸν : τηλωπὰν – Adjektiv zweier Endungen. 217 ναὸς ἄξενον] zum Genitiv abhängig von einem Adjektiv mit alpha privativum vgl. Moorhouse 54 f. 218 προβοᾷ] nur hier und Homer, Ilias 12,277. | τι γὰρ Wunder : γάρ τι Hss. : {γάρ} τι Ll.-J./W. – s. ETS zu 209, S. 440 f. | τι] charakterisiert die Art des Schreiens, zur Stellung vgl. K.-G. I 665 Anm. 6. | γὰρ] vgl. zu 28, zur Stellung vgl. GP 95 f. | δεινόν Hss. : αἰνόν Burges : αἴλινον (mit Tilgung von τι) Lachmann. 219 ἰὼ ξένοι] Ausruf extra metrum. 220 ποτ’] intensiviert die Frage, vgl. LSJ s. v. III. 3. | ναυτίλῳ πλάτῃ : κἀκ ποίας πάτρας – die Entstehung der Variante ist schwer zu erklären, aber ναυτίλῳ πλάτῃ ist kaum (wie man früher glaubte) eine byzantinische Interpolation (nach einem Euripideszitat bei Aristophanes, Frösche 1207), um die Wiederholung von ποίας πάτρας (222) zu vermeiden, sondern passt hervorragend in den Zusammenhang; vgl. Dawe 1978, 52; Kamerbeek; Ll.-J./W.1+2; Battezzato 1992, 391 (zum Vorkommen der Lesart im Codex K [Laurentianus 31.10, 2. Hälfte 12. Jh.]).

Kommentar

121

216 ‚weithin zu hörenden‘, wörtl.: ‚von Ferne zu sehenden‘, vgl. zu 189 und 202. 219–675 Erstes Epeisodion In dem langen Epeisodion lassen sich inhaltlich folgende Abschnitte unterscheiden: (1) gegenseitiges Bekanntmachen, wahre und falsche Leidensgeschichte (219–390); (2) Chorstrophe: Bestätigung der Lügengeschichte des Neoptolemos (391–402); (3) Erläuterung, warum Neoptolemos vor Troia niemand beistand, Bitte Philoktets, mitgenommen zu werden (403–503 {504–506}); (4) Gegenstrophe: Fürsprache des Chors, Philoktet mitzunehmen (507–518); (5) Entscheidung (519–538); (6) Dazwischentreten des ‚Kaufmanns‘, der zur Eile drängt (539–627); (7) Abschiedsvorbereitungen: Neoptolemos wird den Bogen in die Hand nehmen dürfen (628–675). – Formal sind die Sprechpartien des Epeisodions durch die zwei Chorstrophen (391–402; 507–518) in drei Abschnitte 219–390, 403–503{504–506} und 519–675 gegliedert. 219–390 Zur Dramaturgie: Der Chor hat Philoktet bisher nur gehört, aber nicht gesehen, sonst hätte er wohl (auch) beschrieben, wie er ihn kommen sieht. Philoktet tritt also (optisch) unvermittelt auf. Das ist bühnentechnisch am leichtesten erklärlich, wenn Philoktet plötzlich aus dem bühnenseitigen Eingang seiner Höhle erscheint, die er durch den nicht sichtbaren hinteren Eingang betreten hat. Mit diesem unvermittelten Auftritt Philoktets unterscheidet sich die Version des Sophokles von der des Euripides, bei dem Odysseus Philoktet herankommen sieht und die jammervolle Gestalt beschreibt (F 789 d [5] Kannicht). Dass Philoktet seinen Bogen bei sich hat, ergibt sich aus v. 288 (vgl. auch 655), sein ‚verwildertes‘ Aussehen aus v. 226; dass er die Fußwunde (vgl. zu 748) mit Lumpen umwickelt hat, lässt sich aus den vv. 38 f. erschließen. Für die Kleidung ist er auf das angewiesen, was man ihm zurückgelassen hat (vgl. 274 mit Komm.) und was zufällig vorbeikommende Seefahrer ihm überlassen (305–309); man kann sie sich als in schlechtem Zustand befindlich vorstellen. 219–231 Die Szene ist gekennzeichnet durch das Erstaunen Philoktets über das unvermutete Auftauchen von Fremden, in denen er zu seiner Freude Griechen vermutet, ohne sich dessen ganz sicher sein können, bevor sie nicht sprechen; dem korrespondiert auf Seiten der Ankömmlinge die sprachlose Reaktion, die aus den Worten Philoktets abzuleiten ist (229 f.); Philoktet führt das Verhalten der anderen auf sein verwildertes Aussehen (226) zurück. Ihr quälendes Schweigen sucht Philoktet durch seine flehentlichen Bitten zu beenden. 219 ‚Ioh‘: Ausruf der Überraschung, da Philoktet nicht mit dem Erscheinen von Fremden rechnen konnte. 220 ‚Schiff‘, wörtl. ‚Seemanns-Ruder‘: Im Griechischen kollektiver Singular. Gemeint sind die Ruderblätter am Ende der Ruder, wie sie Seeleute handhaben. Der Ausdruck kann eine Synekdoche für ‚Schiff‘ (so Schein), aber auch wörtlich zu nehmen sein, weil man sich vielleicht vorstellen soll, dass wegen der schlechten Hafensituation (vgl. zu 221) die Ruder zu Hilfe genommen werden mussten (Kamerbeek). Für Philoktet ist es selbstverständlich, dass

Erstes Epeisodion: 221–226

122

legt habt, das weder einen guten Ankerplatz hat noch bewohnt ist? Aus welchem Heimatland, von welchem Volk (kommend) spreche ich euch richtig an? Denn das Aussehen der Kleidung ist zwar griechisch, mir am liebsten; aber eure Sprache will ich hören. Und schreckt nicht in Scheu 225 voll Furcht vor mir zurück, weil ich verwildert bin, κατέσχετ’ οὔτ’ εὔορµον οὔτ’ οἰκουµένην; ποίας πάτρας ὑµᾶς ἂν ἢ γένους ποτὲ τύχοιµ’ ἂν εἰπών; σχῆµα µὲν γὰρ Ἑλλάδος στολῆς ὑπάρχει προσφιλεστάτης ἐµοί· φωνῆς δ’ ἀκοῦσαι βούλοµαι· καὶ µή µ’ ὄκνῳ δείσαντες ἐκπλαγῆτ’ ἀπηγριωµένον,

225

221 κατέσχετ’] sc. τὴν ναῦν (LSJ s. v. κατέχω A. IV) oder νηΐ (B. 2). κατέχω („come from the high sea to shore“, LSJ s. v. B. 2) bedeutet offenbar ein konkretes Anlanden (z. B. Herodot 6,101,1), während προσέχω (236) als ‚Kurs nehmen auf‘, ‚sich nähern‘ zu verstehen ist, unabhängig davon, ob eine Landung erfolgt (z. B. Herodot 9,99,1) oder nicht (z. B. Herodot 3,58,1; Eur. Or. 362); anders Jebb; Schein. 222–223 ἂν … ἂν] durch die Verdoppelung werden die entscheidenden Wörter hevorgehoben. 222 {…} Radermacher, Kraus 1980 | ὑµᾶς ἂν : ἂν ὑµᾶς : ὑµᾶς nach γένους Trikl. : ποίας ἂν ὑµᾶς πατρίδος Dindorf – Radermacher tilgt den Vers, weil man in Griechenland nach Namen und Heimat, aber nicht nach dem γένος gefragt habe, wegen der Lesart κἀκ ποίας πάτρας in 220 (die er halten will) und weil der Vers metrisch unmöglich sei. Aber die Frage nach dem γένος ist auch sonst belegt (z. B. Aristophanes, Vögel 108 [Kraus 1980, 13]), die Wiederholung fällt weg, wenn man in 220 ναυτίλῳ πλάτῃ liest, und die späte Stellung von ἂν nach ὑµᾶς ist möglich (ἂν ὑµᾶς geht metrisch nicht, und ὗµᾰς gibt es bei Sophokles nicht); vgl. Fraenkel 1977, 48; Ll.-J./W.1. | ποίας πάτρας … γένους] genetivi originis (abhängig von ὑµᾶς … εἰπών sc. ὅντας, vgl. Schein). 223–224 σχῆµα … ἐµοί] statt σχῆµα στολῆς ὑπάρχει Ἑλληνικόν, προσφιλέστατον ἐµοί (Jebb). 223 τύχοιµ’] vgl. LSJ s. v. B. I „in speaking, to be right“. | γὰρ] begründet die Unsicherheit, wie Philoktet die Fremden anreden soll: Sie sehen aus wie Griechen, aber Gewissheit gibt es erst, wenn sie sprechen. | Ἑλλάδος] Völkername in adjektivischer Bedeutung (K.-G. I 272). 225 φωνῆς] es geht hier noch nicht um den Inhalt des Gesagten, sondern um das Sprechen als solches (ist es Griechisch?), daher der Genitiv (K.-G. I 357 f. mit Anm. 5). | µ’ ὄκνῳ] µε ist von ἐκπλαγῆτ’, aber auch von δείσαντες abbhängig, während ὄκνῳ zum ganzen Satz gehört (Kamerbeek). 226 seltener DreiwortTrimeter mit Mittelzäsur (vgl. Schein).

Kommentar

123

Fremde nur zur See zu ihm gekommen sein können. Damit ist nicht impliziert, dass er ihr Schiff gesehen hat (vgl. zu 215–218). 221 ‚weder einen guten Ankerplatz hat noch bewohnt ist‘: Zur schlechten Anlandemöglichkeit vgl. 217 f. (griechischer Text: 217), zur Unbewohntheit der Insel vgl. zu 2. Zumindest aus der Sicht Philoktets ist die Insel unbewohnt. 222–223 Philoktet hat auf seine erste Frage (220 f.) noch keine Antwort erhalten und versucht jetzt herauszubekommen, ob er mit seiner Vermutung, es könne sich um Griechen handeln (223 f.), recht habe. 222 ‚von welchem Volk‘: Da Philoktets Frage darauf zielt zu klären, ob er Griechen vor sich hat, muss das griechische Wort genos hier weiter gefasst sein als die üblichere Bedeutung ‚Stamm‘, es sei denn, es entspricht der Bestimmung ‚Heimatland‘ (patra, ‚wo der Vater zu Hause ist‘); vgl. 239. 223–225 Nach Ps.-Xenophon (Staatsverfassung der Athener 2,8) sind die (übrigen) Griechen (der Autor polemisiert gegen die Athener) durch eine für sie charakteristische Sprache, Lebensweise und Kleidung gekennzeichnet. Als typisch für griechische Kleidung können Chiton (Untergewand in Form einer ‚Stoffröhre‘ mit Öffnungen für Hals und Arme an der Oberkante) und Himation (Mantel aus einer um den Körper gewickelten rechteckigen Stoffbahn) gelten. Da der Chor aus Männern der Mannschaft des Neoptolemos besteht, ist darüber hinaus anzunehmen, dass sie eine für Seeleute charakteristische Arbeitskleidung tragen. Vgl. zu 128–129. Neoptolemos ist mit einem Schwert umgürtet (vgl. zu 1254 b–1256). 223 ‚Aussehen‘: Die sichtbare Gestalt (schēma) der Kleidung lässt zwar eine Vermutung zu, bedarf aber der Bestätigung durch die noch nicht gehörte Sprache (225) der Angekommenen. 224 (griechischer Text: 223) ‚griechisch‘: Das für ‚griechisch‘ verwendete Wort Hellas bezeichnete in homerischer Zeit nur ein der Landschaft Phthia benachbartes Gebiet (Homer, Ilias 2,683 f.; 9,395; 478 f.; Odyssee 11,496; Gschnitzer 1998, 297). Jedoch hat der Begriff später eine starke Ausweitung erfahren. Bei Herodot kann er sogar Ionien (1,92,1) und Sizilien (7,157,2) umfassen, und in einem solch weiten Sinn ist er auch Soph. Tr. 1060 gebraucht (Jebb zu 255 f.). Nur die weite Bedeutung gibt hier einen Sinn. Vgl. auch zu 4. ‚am liebsten‘: In diesem einen Wort, schon durch seine Länge (prosphilestatēs, fünf Silben) gewichtig, das zusammen mit ‚mir‘ (emoi) die ganze zweite Vershälfte füllt, tritt Philoktets Sehnsucht nach seiner griechischen Heimat zutage. Im Folgenden kommt der Wortstamm phil- gleich noch weitere vier Mal vor (234; 237; 242 [Superlativ / Elativ]; 242 [Positiv]), ein Zeichen, wie sehr ihm der unerwartete Kontakt mit seiner heimatlichen Welt nahegeht. Bei Euripides zeigte Philoktet ein abweisendes Verhalten gegen den Griechen (aber als Person unerkannten) Odysseus, der, nur weil er Grieche ist, von ihm mit dem Tode bedroht wird (F 789 d [6 f.] Kannicht); Müller 1997, 218. 226 ‚verwildert‘: vgl. zu 9. Der Ausdruck bezieht sich auf sein Aussehen, von dem Philoktet glaubt, dass es die Fremden erschreckt (wie er vielleicht aus früheren Begegnungen [307 ff.] weiß). Eine drastische Beschreibung von Philoktets Erscheinungsbild gibt Quintus Smyrnaeus (wohl 3. Jh. n. Chr.) in

Erstes Epeisodion: 227–235

124

sondern bedauert den unglücklichen Mann, der allein ist, so einsam und ohne Freunde leidend, und sprecht, wenn ihr wirklich als Freunde gekommen seid. – So antwortet doch! Denn es gehört sich nicht, weder dass ich von euch keine Antwort erhalte noch ihr keine von mir.

230

Philoktet ist inzwischen vom erhöhten Eingang der Höhle zu Neoptolemos heruntergekommen. Ne. Ph.

Νε. Φι.

Nun, Fremder, wisse dies zuerst, dass wir Griechen sind; denn das willst du erfahren. O liebste Sprache! Ach, auch nur angesprochen zu werden von solch einem Mann nach so langer Zeit! ἀλλ’ οἰκτίσαντες ἄνδρα δύστηνον, µόνον, ἔρηµον ὧδε κἄφιλον κακούµενον, φωνήσατ’, εἴπερ ὡς φίλοι προσήκετε. – ἀλλ’ ἀνταµείψασθ’· οὐ γὰρ εἰκὸς οὔτ’ ἐµὲ ὑµῶν ἁµαρτεῖν τοῦτό γ’ οὔθ’ ὑµᾶς ἐµοῦ. ἀλλ’, ὦ ξέν’, ἴσθι τοῦτο πρῶτον, οὕνεκα Ἕλληνές ἐσµεν· τοῦτο γὰρ βούλῃ µαθεῖν. ὦ φίλτατον φώνηµα· φεῦ τὸ καὶ λαβεῖν πρόσφθεγµα τοιοῦδ’ ἀνδρὸς ἐν χρόνῳ µακρῷ.

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230

235

227 δύστηνον Hss. : δύσµορον (varia lectio in einer Hs.). 228 κἄφιλον Hss. : κἀφίλως Wecklein – ἄφιλον steht parallel zu ἔρηµον, vgl. Ll.-J./W.1. | κακούµενον Valckenaer : καλούµενον (Hss.) : καλώµενον : γ᾿ ἀλώµενον Valckenaer ursprünglich (Finglass 2009b, 197), Toup – καλούµενον (gehalten von Avezzù) ist kaum mit Radermacher durch αὐδῶµαι (240) zu rechtfertigen, denn in v. 240 geht es wirklich um den Namen des Neoptolemos, während hier die Fremden jemanden bemitleiden sollen, der sich im Unglück befindet und nicht nur so bezeichnet wird. Valckenaers / Toups (von Dawe akzeptierte) Konjektur bringt einen im unmittelbaren Kontext nicht relevanten Aspekt ins Spiel. 229 προσήκετε : προσήκατε – andere Formen außer Präsens und Futur sind bei ἥκω erst spät belegt. 230 ἀλλ’] auffordernd, meist beim Imperativ der 2. Person (GP 14 f.). | ἀνταµείψασθ’ Hss. : ἀνταµείβεσθ’ Zusatz in Hs. L – vgl. φωνήσατ’ (229). 231 ὑµῶν / ἐµοῦ] die Genitive sind nicht Objekte zu ἁµαρτεῖν, sondern ablativische Genitive (‚von eurer / meiner Seite etwas nicht erhalten‘); vgl. Jebb. | τοῦτό γ᾿ Hss. : τοῦδέ γ᾿ J. B. Matthaei – auch τοῦτο ist nicht Objekt, sondern adverbieller Akkusativ (‚darin‘); vgl. Jebb. Vgl. auch Ll.-J./W.1, die u.a. auf Eur. IA 995 verweisen und τοῦτο offenbar als Objekt auffassen. 232 ἀλλ’] drückt die Zustimmung aus, der Aufforderung Philoktets nachzukommen (GP 18). 234 φεῦ τὸ καὶ λαβεῖν] Infinitiv mit Artikel zum Ausdruck affektvoller Exklamationen (K.-G. II 46); zu φεῦ als Ausdruck der Freude vgl. LSJ s. v. II; zum eingeschobenen καὶ („Marking a minimum“) vgl. Eur. Med. 1052; GP 293 f. 235 ἐν] zur Bedeutung ‚nach‘ vgl. Ant. 422 (Webster); Eur. Phoin. 305 (Schwyzer II 458).

Kommentar

125

seinen Posthomerica (9,364 ff.); vgl. Jebb. – Der schlechte Zustand der Kleidung Philoktets wird schon von Euripides (431 v. Chr.) thematisiert, worauf Aristophanes (Acharner 424 f. [425 v. Chr.]) anspielt; vgl. Müller 2000, 230 f. Bei Euripides (Philoktet F 789 d [5] Kannicht) ist von Tierfellen die Rede. 228 ‚einsam‘: Seine Einsamkeit betont Philoktet immer wieder; vgl. 265; 269; 470 f.; 486 f.; 809; 954; 1018; 1070. 230 Nach v. 229 muss man sich auf jeden Fall eine Pause vorstellen, in der Philoktet vergeblich auf eine Äußerung der Fremden wartet. Daher seine erneute Aufforderung. Eine solche Pause tritt wahrscheinlich nicht schon innerhalb des v. 225 ein (so aber Pucci zu 225–9; Schein zu 225–6); dagegen spricht – trotz des syntaktischen Einschnitts nach dem zweiten Metrum – das mit ‚und‘ angefügte Bemühen, von vornherein ein mögliches Sprechhemmnis auszuräumen. 230–231 ‚dass ich … von mir‘, wörtl.: ‚dass ich bei euch darin [sc. im Erhalten einer Antwort] nicht zum Ziel komme noch ihr nicht bei mir‘. 232–253 Es ist anzunehmen, dass diese Unterhaltung auf ‚gleicher Ebene‘ stattfindet, Philoktet sich also vom erhöhten Eingang der Höhle zu Neoptolemos herabbegeben hat. Der Dialog ist gekennzeichnet durch die Freude Philoktets, dass Griechen, und dann auch noch der Sohn Achills, gekommen sind, und durch sein Informationsbedürfnis, dem die sehr knappen Entgegnungen des Neoptolemos gegenüberstehen, der die Fragen nicht vollständig und in Bezug auf das Fahrtziel nicht wahrheitsgemäß beantwortet. Neoptolemos wird durch seine Antworten als jemand charakterisiert, dem das Lügen (noch) nicht ganz leichtfällt. Das unnatürliche Verhalten, dass ihm angesichts von Philoktets Zustand und angesichts von dessen Äußerungen kein Wort des Mitgefühls über die Lippen kommt, ist möglicherweise als Zeichen seiner Verlegenheit zu deuten. Vgl. Kamerbeek, S. 57. 232 ‚Fremder‘: Die übliche Anrede (xenos) gegenüber einem nicht näher Bekannten (vgl. 557). Vgl. zu 432. 234 ‚O liebste Sprache!‘: vgl. zu diesem Ausdruck der Freude vv. 242; 530. Schon die bloße Tatsache, eines Wortes in seiner Muttersprache gewürdigt zu werden, erfüllt Philoktet mit Freude. 235 ‚von solch einem Mann‘, d. h. zunächst einmal von einem Griechen, wie Philoktet jetzt weiß, aber vielleicht erkennt er auch schon dessen vornehme Art; vgl. Jebb.

Erstes Epeisodion: 236–244

126

Ne. Ph.

Νε. Φι.

Welche Not, mein Sohn, ließ dich hierher Kurs nehmen, welche führte dich hierher? Welches Bestreben? Welcher mir liebste von den Winden? Sag mir all das, damit ich erfahre, wer du bist. Ich stamme aus dem ringsumströmten Skyros; ich fahre nach Hause; ich bin der Sohn 240 Achills und heiße Neoptolemos. Jetzt weißt du alles. Du, Sohn des mir so lieben Vaters, aus mir liebem Land, Pflegesohn des greisen Lykomedes, auf welcher Fahrt hast du Kurs auf dieses Land genommen? Woher segelst du? τίς σ’, ὦ τέκνον, προσέσχε, τίς προσήγαγεν χρεία; τίς ὁρµή; τίς ἀνέµων ὁ φίλτατος; γέγωνέ µοι πᾶν τοῦθ’, ὅπως εἰδῶ τίς εἶ. ἐγὼ γένος µέν εἰµι τῆς περιρρύτου Σκύρου· πλέω δ’ ἐς οἶκον· αὐδῶµαι δὲ παῖς Ἀχιλλέως, Νεοπτόλεµος. οἶσθ’ ἤδη τὸ πᾶν. ὦ φιλτάτου παῖ πατρός, ὦ φίλης χθονός, ὦ τοῦ γέροντος θρέµµα Λυκοµήδους, τίνι στόλῳ προσέσχες τήνδε γῆν; πόθεν πλέων;

240

236   τίς σ’ Hss. : τί σ᾿ Wakefield | προσέσχε Hss. : κατέσχε Ll.-J./W. : ποτ᾿ ἔσχε Blaydes – als Subjekt zu προσέχε wäre in der hier anzunehmenden Bedeutung normalerweise jemand zu erwarten, der zu Schiff fährt, als Objekt (wenn ausgedrückt) das Schiff (vgl. LSJ s. v. 2 und z. B. Herodot 9,99,1 προσσχόντες τὰς νέας ἀπέβησαν ἐς τὸν αἰγιαλόν, worauf Jebb verweist; vgl. auch Kirkwood 1991 und Ll.-J./W.2 sowie oben zu 221). Es läge also ein kühner kausativer (vgl. Kamerbeek) Gebrauch vor (vgl. Übersetzung), der aber Sophokles zuzutrauen sein dürfte. Alternativ wäre an Ll.-J./W.s (inzwischen von ihnen verworfene, vgl. Ll.-J./W.2), aber von West (1991, 300) als „excellent“ eingestufte Konjektur κατέσχε zu denken. Die Verba κατέσχε und προσήγαγεν wären dann deutlicher differenziert und die χρεία (237) als möglicher Grund für das Anlaufen von Lemnos stärker akzentuiert; vgl. Komm. Aber zu ὁρµή und ἀνέµων ὁ φίλτατος passt προσέσχε besser. 237 τίς ἀνέµων ὁ φίλτατος;] ~ τίς (ἄνεµος), ἀνέµων ὁ φίλτατος (ὤν), der Artikel intensiviert den Superlativ, vgl. Ant. 100 f. (Jebb). | ἀνέµων +Suda (cod. A) s. v. προσέσχεν : δ᾿ ἀνέµων +Eustathios II 19,11 van der Valk – δ᾿ ist metrisch nicht möglich. | ὁ Hss. : ὦ Reiske 238 γέγωνέ] Imperativ zum Perfekt γέγωνα. | τοῦθ’] vgl. zu 15 (Versstruktur). 239–240 µέν … δ᾿ … δὲ] Bezug mehrerer Prädikate auf ein Subjekt (K.-G. II 266 b). | γένος] Akk. der Beziehung, wobei γένος hier nicht die Abstammung angibt, sondern den Ort, zu dem man gehört; τῆς … Σκύρου kann als possessiver Genitiv aufgefasst werden (K.-G. I 371 f.; Moorhouse 51).  240  αὐδῶµαι] fungiert zugleich als εἰµί (Bruhn § 231, III). 241 οἶσθ’ ἤδη (Hss.) : οἶσθα δὴ – δή (von früheren Editoren bevorzugt) signalisiert nur eine relativ zurückhaltende Folgerung (vgl. GP 215), das stärkere ἤδη passt besser zur Charakterisierung des zunächst kurz angebundenen Neoptolemos, der, ohne viel zu sagen, alles gesagt haben will. | Ν͜εοπτόλεµος] Synizese und aufgelöste Länge (‒ ⏖ ⏑); vgl. auch zu 4. 242 ὦ φίλης χθονός] Genitiv wie 239; zum bloßen Genitiv ohne neuerliche Anrede vgl. Ant. 379 f.: ὦ δύστηνος καὶ δυστήνου / πατρὸς Οἰδιπόδα (Jebb). 243–244 τίνι στόλῳ] Dativ zur Angabe des Grundes (K.-G. I 438 f.). 244 τήνδε γῆν] bloßer Ortsakkusativ statt Dativ oder εἰς. | πόθεν πλέων : πλέων πόθεν – letztere Wortstellung ergibt ein bloßes Anhängsel zur vorausgehenden Frage, erstere macht die Frage nach dem Woher gewichtiger.

Kommentar

127

236–237 Philoktet erwägt mehrere Möglichkeiten, die zur Landung der Fremden an der Küste von Lemnos geführt haben könnten (wohin eigentlich niemand freiwillig fahre, vgl. 300 f.). Die für Neoptolemos verfänglichste Frage (‚Welches Bestreben?‘) verfolgt Philoktet anschließend nicht weiter, vielleicht wegen des ihn elektrisierenden Stichworts ‚Ilion‘ (245), woraufhin er sich nicht gleich nach weiteren Details der Fahrt erkundigt (vgl. aber 327 f.). 236 ‚mein Sohn‘: So spricht der Ältere zu dem Jüngeren, vgl. zu 79 und 141. Ob man hier schon ein Zeichen einer besonderen Beziehung sehen darf (Schein), ist fraglich. Mit ‚ließ dich hierher Kurs nehmen‘ wurde das überlieferte prosesche übersetzt. Akzeptiert man die Konjektur katesche, hieße es ‚hat dich ergriffen / kam über dich‘. Vgl. TS. – Die Ziele der Bewegungsverben (‚hierher‘) sind im griechischen Text nicht angegeben und wurden in der Übersetzung sinngemäß ergänzt. 239–241 Neoptolemos reagiert nur auf die Aufforderung Philoktets (238), seine Identität zu nennen (vgl. 56 f.), und gibt das vorgebliche Ziel seiner Fahrt an, beantwortet aber die Fragen Philoktets (236 f.) nicht und verschleiert mit ‚Jetzt weißt du alles‘ (vgl. 389: ‚Jetzt ist alles gesagt‘; 1240) die wahren Absichten seines Kommens. 240 ‚Skyros‘: Skyros gehört zu den Nördlichen Sporaden. Dass Neoptolemos auf der Insel Skyros lebte (und erst nach dem Tod seines Vaters Achill nach Troia kam), entspricht der in der Odyssee vorliegenden Version (11,492 f.; 506–537). Nach Ps.-Apollodor, Bibliothek 3,174 wurde Neoptolemos auf der Insel Skyros geboren, weil Achills Mutter Thetis – nachdem der Seher Kalchas (offenbar weit vor dem Ausbruch des Troianischen Kriegs) geweissagt hatte, Troia werde ohne Achill nicht eingenommen werden können – im Vorauswissen um den frühzeitigen Tod ihres Sohnes, falls er in den Krieg zöge, den Neunjährigen dort im Hause des Lykomedes in Mädchenkleidern versteckte; dort wuchs er heran und zeugte mit Lykomedes’ Tochter Deidameia Pyrrhos, der später Neoptolemos genannt worden sei. So weit ist diese Geschichte auch im Philoktet vorausgesetzt (vgl. auch 243). Der Name Pyrrhos ist allerdings erst nach Sophokles (ab dem 4. Jh. v. Chr.) belegt, die Odyssee (11,506) nennt ihn Neoptolemos; vgl. Scherf 2000, 830. 242 Die Nennung Achills führt bei Philoktet zu einer heftigen Gemütsbewegung. Von einer engeren Beziehung zwischen beiden ist (sonst) nichts bekannt, bei Sophokles jedoch gehört Achill zu denen, die Philoktet sehr schätzt, und deren Tod er, als er davon hört, besonders bedauert (331 ff.; 410 ff.). Diese Hochschätzung des Vaters Achill bildet die Grundlage für Philoktets Verhältnis zu Neoptolemos (vgl. z. B. 260 und auch zu 358). ‚liebem Land‘: vgl. auch hier zu 224. 243 ‚Lykomedes‘: vgl. zu 240.

128

Erstes Epeisodion: 245–252

Ne. Ph.

Von Ilion komme ich jetzt auf meiner Reise. 245 Was sagst du? Du fuhrst jedenfalls nicht zur See mit uns, als unser Zug nach Ilion begann. Nahmst denn auch d u teil an dieser Mühsal? Mein Sohn, weißt du denn nicht, wen du vor dir hast? Wie sollte ich denn einen kennen, den ich noch nie gesehen habe? 250 Nicht einmal meinen Namen und auch nicht e i n e Kunde von meinen Leiden hast du je vernommen, durch die ich zugrunde ging?

Ne. Ph. Ne. Ph.

Νε. Φι. Νε. Φι. Νε. Φι.

ἐξ Ἰλίου τοι δὴ τανῦν γε ναυστολῶ. πῶς εἶπας; οὐ γὰρ δὴ σύ γ’ ἦσθα ναυβάτης ἡµῖν κατ’ ἀρχὴν τοῦ πρὸς Ἴλιον στόλου. ἦ γὰρ µετέσχες καὶ σὺ τοῦδε τοῦ πόνου; ὦ τέκνον, οὐ γὰρ οἶσθά µ’ ὅντιν’ εἰσορᾷς; πῶς γὰρ κάτοιδ’, ὅν γ’ εἶδον οὐδεπώποτε; οὐδ’ ὄνοµ’ ⟨ἄρ’⟩ οὐδὲ τῶν ἐµῶν κακῶν κλέος ᾔσθου ποτ’ οὐδέν, οἷς ἐγὼ διωλλύµην;

245

250

245 τοι δὴ] „Here τοι = ‘you must know,’ [vgl. GP 537] and δὴ = ‘then’ (i.e., ‘since you ask me’). The effect of the particles (which could be properly represented only by voice and manner) is to give an easy, ready tone to the answer“ (Jebb). Das ist einleuchtender, als ein Zögern ausgedrückt zu sehen (Webster, Kamerbeek mit Verweis auf OT 1171), wozu Neoptolemos in diesem Punkt keinen Grund hat. | δὴ τανῦν (anonyme Konjektur [1810 = The Classical Journal I, p. 333]) : δῆτα νῦν Hss. – die Verbindung τοι δῆτα ist offenbar unbelegt; außerdem ist eine Bedeutung von δῆτα, wie sie hier zu postulieren wäre, sonst nicht nachzuweisen (GP 269–279). 246 οὐ γὰρ δὴ … γ’] diese Kombination dient dazu, eine (oder mehrere) Möglichkeiten auszuschließen (GP 243 „ ‘certainly not, at any rate’ “). 247 κατ’ ἀρχὴν … στόλου] στόλου ist der Wortstellung nach eher von ἀρχὴν als von ναυβάτης (246) abhängig. 248 ἦ γὰρ] zur Einleitung einer (lebendigen, nachdrücklichen) Frage, die (hier gespielte) Überraschung ausdrücken kann (GP 78 f.; 284 f.). 249–250 οἶσθά … κάτοιδ’] vgl. Ant. 1063 f.; El. 922 f.; Phil. 1241 f. (Moorhouse 95). 249 οὐ γὰρ Hss. : οὐκ ἆρ᾿ Valckenaer – vgl. GP 79 zu οὐ γὰρ. | µ᾿ (Hss.) : γ᾿ – µ’ ὅντιν’ εἰσορᾷς „admirable condensation of ὅστις εἰµὶ ἐγὼ ὃν εἰσορᾷς“ (Kamerbeek). 250 γὰρ] „Sometimes a γάρ question, forming the answer to a preceding question, conveys a surprised recognition of the grounds which occasioned that question“ (GP 78 f. [iv]); gleichzeitig dürfte auch Überraschung ausgedrückt sein (Jebb). | ὅν γ’] zu γε beim Relativpronomen (mit kausalem Nebensinn) vgl. GP 141 f. 251 οὐδ’ ὄνοµ’ ⟨ἄρ’⟩ Erfurdt : οὐδ’ ὄνοµ’ oder οὐδ’ οὔνοµ’ Hss. : οὐδ’ ὄνοµά ⟨γ᾿⟩ Livineius ‘p’ (vgl. Ll.-J./W.1 269 ff.) : οὐ τοὔνοµ᾿ Valckenaer – die Form οὔνοµα kommt bei den Tragikern nicht vor und ist daher als ungeeigneter Versuch zu werten, den Vers metrisch in Ordnung zu bringen. Erfurdts Konjektur ergibt den wahrscheinlichen Sinn (mögliche Genese der Korruptel: ΟΥΔΟΝΟΜΑΡΟΥΔΕ ➞ ΟΥΔΟΝΟΜΑΟΥΔΕ [Lipographie] ➞ ΟΥΔΟΝΟΜΟΥΔΕ [Hiatvermeidung]); vgl. auch Ll.J./W.1. | κακῶν κλέος (Hss.) : κλέος κακῶν Trikl. : κακῶν φήµην (φ. in einer Handschriftengruppe vermutlich als Erklärung darübergeschrieben). 252 ἐγὼ (Hss.) : κακῶς – vgl. Komm.

Kommentar

129

245 Neoptolemos antwortet nur auf den letzten Teil der Frage nach seiner Reiseroute und vermeidet es so noch, auf den Zweck seiner Fahrt einzugehen. 246–247 Dass Neoptolemos nicht zu den ursprünglichen Teilnehmern des Kriegszugs gegen Troia gehörte, hatte Odysseus schon in seinen Plan eingerechnet (73). Philoktet dagegen zählt sich ganz selbstverständlich dazu (‚mit uns‘, 247). 248 Indem Neoptolemos wider besseres Wissen (scheinbar überrascht) nach Philoktets Teilnahme am Kriegszug gegen Troia fragt, beginnt er hier aktiv seine Truggeschichte anzulegen; vgl. Kamerbeek. ‚Mühsal‘: Im Griechischen steht ponos (‚Arbeit‘, ‚Mühe‘), was speziell für die mit dem Krieg verbundenen Mühen und Qualen gebraucht werden kann; vgl. Homer, Ilias 11,601. – Vgl. auch zu 1419 u. 1422. 249–253 Neoptolemos’ Behauptung, Philoktet nicht nur nie gesehen, sondern auch nichts über ihn gehört zu haben, lässt ihn ganz unvoreingenommen erscheinen und provoziert eine Selbstvorstellung Philoktets, trifft diesen aber mit besonderer Härte (254–256); vgl. Schmidt 1973, 62. 252 ‚ich‘: Im Griechischen durch die Setzung des grammatisch nicht notwendigen Personalpronomens hervorgehoben: I c h ging über die Jahre hin (duratives Imperfekt) zugrunde (sc. während die anderen vor Troia waren); vgl. Jebb.

Erstes Epeisodion: 253–257

130 Ne. Ph.

Νε. Φι.

Glaub mir, dass ich nichts weiß von dem, wonach du fragst. O ich vielfach Unglücklicher, o ich den Göttern Verhasster, von dem nicht einmal eine Kunde, dass es ihm so ergeht, nach Hause kam und überhaupt nicht irgendwohin in Griechenland! Vielmehr: diejenigen, die den Frevel begingen, mich auszusetzen,

255

ὡς µηδὲν εἰδότ’ ἴσθι µ’ ὧν ἀνιστορεῖς. ὢ πόλλ’ ἐγὼ µοχθηρός, ὢ πικρὸς θεοῖς, οὗ µηδὲ κληδὼν ὧδ’ ἔχοντος οἴκαδε µηδ’ Ἑλλάδος γῆς µηδαµοῦ διῆλθέ πω. ἀλλ’ οἱ µὲν ἐκβαλόντες ἀνοσίως ἐµὲ

255

253 ὡς µηδὲν εἰδότ’ ἴσθι] ὡς beim Partizip drückt die Sichtweise des Subjekts des regierenden Verbs aus (K.-G. II 90 ff.), ist aber nach imperativischen Verben des Wissens formelhaft geworden (Moorhouse 306 f.); nach εἰδέναι (und anderen Verben des Überzeugtseins) steht meist der gen. absol., jedoch ist auch der Akkusativ möglich (K.-G. II 93 f. mit Anm. 5). µή statt des bei ὡς mit Partizip üblichen οὐ wegen des regierenden Imperativs (K.G. II 200). | ἀνιστορεῖς : ἂν ἱστορῇς (od. -εῖς) – vgl. OT 578. 254 ὢ πόλλ’ … µοχθηρός, ὢ πικρὸς] Nominativ als Ausruf (K.-G. I 46), πόλλ’ (adv.) ist steigernd (LSJ s. v. πολύς III. 2. c); πικρός wird vom Scholion als ἐχθρός gedeutet; exklamatorisches ὤ wird meist so akzentuiert im Unterschied zum vokativischen ὦ (z. B. 260); vgl. LSJ s. v., Schwyzer ΙΙ 600. | ὢ πικρὸς : ὡς πικρὸς – Fortsetzung des Ausrufs. 255–256 µηδὲ … µηδ’ … µηδαµοῦ] ~ ‚ein Mann von der Art, dass …‘; daher die Negation µή (K.-G. II 185 f. und zu 179). 256 µηδ’ : µήθ᾿ | Ἑλλάδος] vgl. zu 223. | µηδαµοῦ Hss. : µηδαµοῖ Blaydes : µηδαµῇ Dawe – µηδαµοῦ ist unanstößig, prägnanter Gebrauch durch Verbindung der Vorstellung von Bewegung und Ruhe; vgl. Tr. 40 f.; K.-G. I 545 Anm. 4. | πω +Markland : που (Hss.) – möglicherweise schrieb Sophokles im J. 409 v. Chr. noch ΠΟ, das als πω oder που aufgelöst werden kann. Ein einschränkendes που (~ ‚glaube ich‘) passt weniger zur Bitterkeit Philoktets als ein in weiter Sperrung zu µηδ’ stehendes πω (‚überhaupt nicht‘); πω verstärkt hier die Negation (vgl. OT 105; El. 403) und bedeutet nicht ‚noch (nicht)‘ (so Schein zu 254–6).

Kommentar

131

254–316 Philoktets Rede, in der er Neoptolemos seine Leidensgeschichte darlegt, ist hoch emotional und gleichzeitig durch deutliche Textsignale (mehrfach hat die Anrede ‚Sohn‘ gliedernde Funktion) durchstrukturiert: 254–259 (Klage); 260–299 (Leidensgeschichte, untergliedert: 260–275; 276–284; 285– 299; 300–313); 314–316 (Fazit und Fluch). – Pucci und Schein dagegen sehen die Rede in die Abschnitte 254–284; 285–299; 300–316 unterteilt. Bei v. 285 beginnt nach der Darstellung des Leidens zum Zeitpunkt der Aussetzung die des Lebens auf der Insel. Vor allem zu Beginn der Rede sind durch zahlreiche rhetorische Mittel (Anaphern, mehrfache Anreden an das Gegenüber, signifikante Wortwiederholungen) das Leid Philoktets und die Unmenschlichkeit derer, die ihn ausgesetzt haben, auch sprachlich hervorgehoben. Vgl. Schein zu 254–84. 254–259 Philoktet ist darüber erschüttert, dass man nirgendwo mehr von ihm spricht, wie er aus Neoptolemos’ Antwort extrapolierend schließt. In seinem Unglück, das sich ständig verschlimmert, fühlt er sich Göttern verhasst und von den Menschen, die ihn schmählich behandelt haben, verlacht. 254 ‚Verhasster‘: Griechisch pikros, wörtl. ‚bitter‘. Wer anderen ‚bitter‘ ist (vgl. Aisch. Ch. 234; Eum. 152), ist diesen verhasst (vgl. Eur. Phoin. 955 f.). Dieser Effekt ist hier gemeint, wie schon das Scholion verstand (vgl. TS), sodass pikros in passiver Bedeutung aufzufassen ist. Nur in diesem Verständnis passt es zu ‚O ich vielfach Unglücklicher‘. Philoktet will nicht sagen, er habe sich gegen die Götter vergangen, vielmehr kann er sich das Ausmaß seines Unglücks nur damit erklären, dass die Götter ihm nicht wohlgesonnen sind. 255–256 ‚nicht einmal … überhaupt nicht irgendwohin‘: Die starke Hervorhebung der Negationen unterstreicht Philoktets Fassungslosigkeit darüber, dass er, wie er annehmen muss, totgeschwiegen wird. 256 ‚irgendwohin in Griechenland‘: Nicht nur nicht in seine Heimat (Malis, vgl. zu 4–5), an keine Stelle des ‚hellenischen Landes‘ (so wörtlich) drang die Kunde. Das für ‚das griechische Land‘ verwendete Wort Hellas (vgl. zu 224) ist hier in seiner weiten Bedeutung gebraucht. 257 ‚die den Frevel begingen, mich auszusetzen‘, wörtl. ‚die mich in unfrommer / gottloser Weise ausgesetzt haben‘: Diese Auffassung steht in Gegensatz zu Odysseus’ religiöser Begründung für die Aussetzung (8–11); vgl. Webster. ‚auszusetzen‘: Griechisch ekballein (vgl. auch 1034; 1390 f.) ‚aus etwas herauswerfen‘, z. B. von einer Welle aus dem Schiff an Land geworfen werden (Homer, Odyssee 19,278). Es ist eines der Wörter, die für das Zurücklassen Philoktets auf Lemnos gebraucht werden, und kann wie ektithenai (5) auch das Aussetzen von Kindern bezeichnen (Eur. Ion 964). Vgl. zu 5.

Erstes Epeisodion: 258–264

132

hüllen sich in Schweigen und lachen über mich, aber meine Krankheit blüht beständig und schreitet voran. Mein Sohn, Sohn, der du Achill zum Vater hast, ich stehe hier als derjenige vor dir, vom dem du vielleicht gehört hast, dass er Herr ist über den Bogen des Herakles: der Sohn des Poias, Philoktet, den die zwei Heerführer und der Herr über die Kephallenen γελῶσι σῖγ’ ἔχοντες, ἡ δ’ ἐµὴ νόσος ἀεὶ τέθηλε κἀπὶ µεῖζον ἔρχεται. ὦ τέκνον, ὦ παῖ, πατρὸς οὑξ Ἀχιλλέως, ὅδ’ εἴµ’ ἐγώ σοι κεῖνος, ὃν κλύεις ἴσως τῶν Ἡρακλείων ὄντα δεσπότην ὅπλων, ὁ τοῦ Ποίαντος παῖς, Φιλοκτήτης, ὃν οἱ δισσοὶ στρατηγοὶ χὠ Κεφαλλήνων ἄναξ

260

260

259 τέθηλε κἀπὶ µεῖζον ἔρχεται] vgl. Soph. (?) Niobe, F **441 a,11 Radt2 ἐπὶ µέγα τόδ̣ε φλ[ύει κα]κόν, El. 260 θάλλοντα µᾶλλον sowie Eur. Hec. 380, wo κἀπὶ µεῖζον ἔρχεται im positiven Sinn gebraucht ist (Kamerbeek). 260 οὑξ Trikl. : ἐξ (Hss.) – Apposition im Nominativ (wie 940) nach einem Vokativ; vgl. Lane (2004, 445) mit Verweis auf Aisch. Sept. 70 Ἀρά τ᾿ Ἐρινὺς πατρὸς ἡ µεγασθενής. 261–262 ὃν … ὄντα] Akkusativ nach κλύω bei mittelbarer Wahrnehmung (K.-G. I 360 Anm. 8). 261 σοι] vgl. El. 665 ἥδε σοι κείνη πάρα. σοι ist ethischer Dativ (Jebb). | κλύεις] zum Präsens vgl. K.-G. I 135; OT 305; Tr. 68 (was er gehört haben kann, wirkt jetzt weiter fort). 263–264 οἱ / … στρατηγοὶ] Enjambement mit Artikel am Versende; vgl. Ant. 409 f.; El. 879 f.; OC 351 f.; vgl. auch zu 13 (πᾶν).

Kommentar

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258 ‚hüllen sich in Schweigen‘, d. h., sie verhalten sich still, indem sie nicht über ihn sprechen, wie er annehmen muss, sodass die Erinnerung an ihn nicht wachgehalten wird. ‚lachen‘: vgl. 1023; 1125. Dass die Feinde über einen lachen, ist das Schlimmste, was einem Helden widerfahren kann. Vgl. Ai. 454; Eur. Med. 404 f.; 797; 1049; 1354–1357; 1362. Philoktet stellt sich vor, dass man ihn nicht nur in Vergessenheit geraten lässt, sondern die Verantwortlichen auch noch über ihn triumphieren. 259 ‚blüht‘: Vgl. zu dieser Metapher El. 260, wo Elektra sagt, dass sie das durch den Tod ihres Vaters entstandene Leid mehr blühen als dahinschwinden sehe. Vgl. auch zu 420. ‚schreitet voran‘, wörtl. ‚geht zum Größeren hin‘: D. h., sie wird schlimmer. Anders als der euripideische Philoktet, bei dem sich die Krankheit im Laufe der Zeit abgeschwächt hat (F 789 d [11]; Kannicht), ist der sophokleische (wie der aischyleische, Philoktet F *255 Radt) von heftigen Schmerzen geplagt, und sie nehmen bei ihm sogar noch zu; vgl. Müller 1997, 225 f. 260–275 Kaum dass sich Philoktet vorgestellt hat, bricht es aus ihm heraus, wie hinterhältig und unmenschlich sich diejenigen verhalten hätten, die ihn, den Herrn über den Bogen des Herakles, ausgesetzt haben. Sprachlich wird seine Erbitterung auch daran erkennbar, dass die vv. 260–270 eine einzige pathosreiche, stark durchgestaltete Satzperiode bilden. Vgl. Kamerbeek zu 260–70; 261–63; Ussher zu 263–264. 260 Mit der überaus emphatischen Anrede wendet sich Philoktet an Neoptolemos, dem er glaubt vertrauen zu können und von dem er, weil dieser der Sohn Achills ist, Verständnis für seine Lage erhoffen kann. Vgl. dagegen 940. 262 Bevor noch Philoktet seinen Namen sagt (263), nennt er als sein ihn auszeichnendes Merkmal den Besitz der Waffen des Herakles (vgl. zu 198), und damit unbewusst gerade das, worauf es sein Gesprächspartner abgesehen hat. 263 Zur gleichzeitigen Nennung von Abstammung und Eigennamen vgl. 4; 1261. ‚Poias‘: vgl. zu 4–5. 264 ‚die zwei Heerführer‘: Agamemnon und Menelaos; vgl. zu 6. ‚Herr über die Kephallenen‘: Odysseus, der nach Homer, Ilias 2,631–637, Führer der Kephallenen ist, die die Insel Ithaka, benachbarte Inseln (darunter das später [Herodot 9,28,5] Kephallenia genannte Samos / Same) und das gegenüberliegende Festland bewohnten. Diese Umschreibung für Odysseus findet sich nur hier und 791, sonst nennt ihn Philoktet beim Namen. Alle drei sind Philoktet sicher verhasst, aber ob in diesen Umschreibungen als solchen schon etwas Abschätziges liegt, wie verschiedentlich angenommen wird (z. B. Schein), ist wohl nicht zu erweisen. Etwas anderes ist es, wenn Odysseus diffamierend als Sohn des Sisyphos bezeichnet wird (417; 1311).

Erstes Epeisodion: 265–273

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schändlich in solche Einsamkeit verstießen, an einer bösartigen 265 Krankheit dahinsiechend, von der männerverderbenden Schlange verletzt mit grausamem Biss; mit dieser Krankheit haben mich jene, Sohn, hier ausgesetzt, einsam, und fuhren weg, als sie von der Insel Chryse kommend hier gelandet waren mit ihrer Flotte. 270 Wie sie da zu ihrer Freude mich vom vielen Wellengang (erschöpft) schlafen sahen, ließen sie mich an der Küste in einer Felsenhöhle zurück und fuhren fort, nachdem sie – gut genug für einen Mann im ἔρριψαν αἰσχρῶς ὧδ’ ἔρηµον, ἀγρίᾳ νόσῳ καταφθίνοντα, τῆς ἀνδροφθόρου πληγέντ’ ἐχίδνης ἀγρίῳ χαράγµατι· ξὺν ᾗ µ’ ἐκεῖνοι, παῖ, προθέντες ἐνθάδε ᾤχοντ’ ἔρηµον, ἡνίκ’ ἐκ τῆς ποντίας Χρύσης κατέσχον δεῦρο ναυβάτῃ στόλῳ. τότ’ ἄσµενοί µ’ ὡς εἶδον ἐκ πολλοῦ σάλου εὕδοντ’, ἐπ’ ἀκτῆς ἐν κατηρεφεῖ πέτρᾳ λιπόντες ᾤχονθ’, οἷα φωτὶ δυσµόρῳ

265

270

265 ὧδ’ ἔρηµον] vgl. Ant. 919 ὧδ’ ἐρῆµος. | ἀγρίᾳ Hss. : ἀθλίᾳ Wakefield – weder hier noch 267 ist die Wortwiederholung ein ausreichender Grund für eine Änderung; vgl. auch ἔρηµον 265 u. 269, ᾤχοντ’ 269 und 273; es handelt sich um die Hervorhebung sinntragender Wörter. 266 τῆς Korrektur in einer Hs., Auratus : τῆσδ᾿ (Hss.) : τῆς τ᾿ : τῇδ᾿ Musgrave – für Philoktet ist es die bekannte Schlange (τῆς), aber nicht die, auf die er zeigen kann oder die er gerade erwähnt hatte (τῆσδ᾿). 267 ἀγρίῳ Hss. : φοινίῳ Schneidewin (nach Eustathios, Epistula 18,10 Kolovou) – ἀγρίῳ χαράγµατι passt zu ἀγρίᾳ νόσῳ (265 f.; 173). 268 ξὺν ᾗ] sc. νόσῳ (266), die Krankheit wie eine begleitende Person aufgefasst (Bruhn § 257). 271 ἄσµενοί Hss. : ἄσµενόν L. Dindorf – vgl. F. **389 a,4 Radt2 ὡς ἄσµενός σ’ ἐσεῖδον ̣ , Tr. 755; die Situation ist denen willkommen, die Philoktet loswerden wollen, vgl. außerdem Jebb. 272 ἐπ’ ἀκτῆς ἐν κατηρεφεῖ πέτρᾳ] diese Ortsangabe kann entweder mit εὕδοντ’ (Jebb; Ll.-J./W.; Schein, wie ihre Interpunktion nach πέτρᾳ zeigt) oder mit λιπόντες (273; Webster, Interpunktion nach εὕδοντ’) verbunden werden. Da sich die Freude der Atreus-Söhne und des Odysseus aber doch wohl darauf bezieht, d a s s Philoktet schläft, und nicht, w o er schläft (was auch gegen Kamerbeeks Interpunktion nach ἀκτῆς einzuwenden ist), aber eine Angabe, wo er zurückgelassen wurde, ganz natürlich ist, spricht alles für Websters Lösung; vgl. auch Komm. zu 271–272. | πέτρᾳ +Blaydes : πέτρῳ (Hss.) – vgl. 16; 937 sowie Jebb und v. 296 (πέτρος = Stein). 273 οἷα] ist nur scheinbar = ὡς (so Jebb; Schein); es bezieht sich auf ῥάκη (274) und ἐπωφέληµα (275): ~ ‚von einer für einen Elenden geeigneten Beschaffenheit‘.

Kommentar

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265–269 Die Motive der Einsamkeit (265; 269 [‚einsam‘]) und der Bösartigkeit (vgl. zu 265) der Krankheit bzw. des Schlangenbisses werden durch Wortwiederholungen einprägsam hervorgehoben; vgl. Ussher zu 265–269. 265 ‚in solche Einsamkeit verstießen‘, wörtl.: ‚herauswarfen, verstießen als so Einsamen‘, wobei ‚einsam‘ (erēmos) proleptisch gebraucht ist in dem Sinn, dass Philoktet durch das Verstoßen einsam wurde. ‚herauswerfen‘ (erriptein) kann als drastischer Ausdruck für das Aussetzen von Kindern (vgl. zu 5) gebraucht werden: OT 719. Die Art und Weise, wie er ausgesetzt wurde, beschreibt Philoktet als ‚schändlich‘; vgl. ‚Frevel‘ (257). ‚bösartigen‘, wörtl. ‚wilden‘: vgl. zu 9. 266–267 ‚männerverderbenden Schlange‘: vgl. zu 194. Dass es sich um eine das Heiligtum der Chryse bewachende Schlange handelte, scheint Philoktet erst durch Neoptolemos zu erfahren (1327 f.). 268 ‚mit dieser Krankheit‘, wörtl.: ‚(zusammen) mit ihr‘, der Krankheit (266), gewissermaßen als seiner Gefährtin. ‚ausgesetzt‘: Mit dem griechischen Wort protithenai (prothentes) kann ebenso wie mit ektithenai (5) der Gedanke an das Aussetzen von Kindern assoziiert werden; vgl. Herodot 1,112, wo beide Wörter nebeneinander vorkommen. Vgl. auch zu 5. 269 ‚einsam, und fuhren weg‘: ‚einsam‘ steht im Griechischen nach ‚fuhren weg‘. So ist das für Philoktet besonders schmerzliche Wegfahren betont an erster Stelle des Verses platziert (vgl. Jebb) und das resultierende ‚einsam‘ durch die starke Sperrung zum Bezugswort ‚ausgesetzt‘ (268) hervorgehoben. 269–270 ‚Insel Chryse‘: Eine kleine Insel in der Nähe von Lemnos (Soph. F 384 Radt2), die heute nicht mehr existiert. Sie war bereits zur Zeit des Pausanias (vgl. 8,33,4) im Meer versunken (vgl. Tümpel 1899, 2486 f.). Die Insel und die dort verehrte Gottheit tragen denselben Namen (vgl. 194). 271–272 Der Text ist wohl so zu verstehen (vgl. TS zu 272), dass die beiden Heerführer und Odysseus Philoktet, als er von Wellengang und Krankheit erschöpft von tiefem Schlaf überwältigt wurde (was nach Philoktets Auffassung ihrer Absicht, ihn loszuwerden, entgegenkam), in die Höhle schaffen ließen, die sicher mit der identisch ist, an die sich Odysseus erinnert (15 ff.) und die die ganze Zeit Philoktets Behausung war. Ovid (Metamorphosen 13,313–318) bietet eine Version, nach der sich Philoktet von Odysseus überreden ließ, zur Linderung seiner Schmerzen nach Lemnos zu gehen. Müller (1997, 84 f.) sieht darin die Fassung des Euripides. 272 ‚Felsenhöhle‘: Wörtl.: ‚in einem Felsen, der darüber gewölbt ist‘.

Erstes Epeisodion: 274–279

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Unglück – ein paar Lumpen hingelegt hatten und auch an Speise eine kleine Gabe: Möge es ihnen ebenso ergehen! 275 Du, Sohn, was für ein Erwachen, glaubst du, war das für mich, als sie fort waren und ich damals aus diesem Schlaf aufstand, welche Tränen ich vergoss, welches Elend ich beklagte, als ich sah, dass meine Schiffe, mit denen ich gefahren war, ῥάκη προθέντες βαιὰ καί τι καὶ βορᾶς ἐπωφέληµα σµικρόν· οἷ’ αὐτοῖς τύχοι. σὺ δή, τέκνον, ποίαν µ’ ἀνάστασιν δοκεῖς αὐτῶν βεβώτων ἐξ ὕπνου στῆναι τότε, ποῖ’ ἐκδακρῦσαι, ποῖ’ ἀποιµῶξαι κακά, ὁρῶντα µὲν ναῦς, ἃς ἔχων ἐναυστόλουν,

275

274 προθέντες] vgl. Ant. 775 f. φορβῆς τοσοῦτον ὅσον ἄγος φεύγειν προθείς, / ὅπως µίασµα πασ᾿ ὑπεκφύγῃ πόλις. | καί τι καὶ] „the first καί is copulative, the second adverbial“ (GP 294). 275 τύχοι] zum Optativ des Wunsches im Relativsatz vgl. K.-G. II 429, 5. 276 σὺ δή Hss. : οὗ δή Kvíčala – zu konnektivem δή vgl. GP 236 f.; die Emphase, mit der Neoptolemos angeredet wird, passt gut zum Kontext (260; 284; 300); anders Ll.-J./W.1, die Kvíčala folgen, jedoch stünde οὗ extrem weit von seinem Beziehungswort ὕπνου (277) entfernt. 276–277 ἀνάστασιν … στῆναι] figura etymologica ~ ἀναστῆναι (vgl. K.-G. Ι 303–305) in weiter Sperrung, die das für Philoktets Schicksal entscheidende αὐτῶν βεβώτων einschließt. 278 ποῖ’ ἐκδακρῦσαι] ποῖα ist innerer Akkusativ (‚welche Tränen‘), da die Verbindung des Verbs mit einem externen Objekt (etwa κακά) jedenfalls in klassischer Zeit nicht belegt zu sein scheint. | ποῖ’ ἀποιµῶξαι (Hss.) : ποῖα µ᾿ οἰµῶξαι Trikl. : ποῖ’ ἀνοιµῶξαι Schubert – die Überlieferung ist unverdächtig, µ᾿ (276) ist für die Konstruktion noch präsent; zum externen Objekt (κακά) bei ἀποιµῶξαι vgl. z. B. Ant. 1224 f. 279 µὲν] müsste eigentlich hinter ναῦς stehen (korrespondierend zu ἄνδρα δ’ [280]); der Sprecher hat angefangen, als ob er fortfahren wollte: ὁρῶντα δ’ ἄνδρα (Jebb).

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274 ‚Lumpen‘: Gemeint sind wohl geringwertige Kleidungsstücke, wie sie – so unterstellt es Philoktet den anderen – für einen Elenden in seinem Zustand zur Bekleidung ausreichen. Die Lappen, mit denen Philoktet seine Wunde verbindet (39), wurden mit demselben griechischen Wort bezeichnet. ‚hingelegt‘: Im Griechischen dasselbe Wort wie 268 ‚ausgesetzt‘. Usshers Deutung (zu 268), dass die Aussetzenden Philoktet und den Lumpen gleichen Wert beigemessen haben, geht wohl etwas weit, aber vermutlich ist impliziert, dass man Dinge zurückgelassen hat, auf die man leicht verzichten konnte. ‚Speise‘: Etwas zu essen wurde hingelegt, um eine religiöse Befleckung (miasma) zu vermeiden, die ein unmittelbarer Tod Philoktets durch Verhungern mit sich gebracht hätte; vgl. Ant. 775 f. (Zitat s. TS) und Jebb z. St. Philoktet wird also ausgesetzt wie ein potenziell dem Tod Geweihter, d. h., die Aussetzenden hatten die Möglichkeit des Todes zumindest nicht ausgeschlossen. – Das griechische Wort für ‚Speise‘ (bora) wird zwar überwiegend von Tiernahrung gebraucht, aber auch eindeutig für gewöhnliche menschliche Nahrung (z. B. Aisch. Pers. 490; Eur. El. 425; 429). Daher sollte man nicht aus dem Wortgebrauch schließen, die Griechen (oder vorbeikommende Fremde, 308) hätten Philoktet wie ein Tier behandelt (so aber Schein zu 273–5). 275 ‚Gabe‘, wörtl.: ‚Hilfe‘, ‚Unterstützung‘. Dieser Teil der Rede endet mit dem Wunsch Philoktets, dass seine Peiniger dasselbe Schicksal erleiden möchten wie er. Er wiederholt ihn am Ende seiner Rede als Erwartung an die Götter (315 f.). 276–284 Gerahmt durch die Anreden an Neoptolemos schildert Philoktet sein verzweifeltes Erwachen in der Verlassenheit. Auch dieser Abschnitt ist mit den Mitteln der Sperrung, der Anapher und der gezielten Wortwiederholung rhetorisch durchgestaltet. 278 Im Epos sind Tränen männlicher Helden nichts Ungewöhnliches, nicht einmal bei Achill; vgl. Monsacré 1984, 137–142 und Komm. zu 367. In der Tragödie sind sie weniger selbstverständlich. Sie kommen vor bei größtem Schmerz, z. B. bei Herakles, der erstmals weint angesichts des Todes seiner von ihm im Wahn getöteten Familie (Eur. HF 1353–1356), vgl. auch Amphitryon (Eur. HF 1111 ff.). Aber Weinen kann auch als unmännlich gelten (Eur. Or. 1031 f.); selbst der sophokleische Herakles betrachtet es so, sogar im Extremfall der unerträglichen Schmerzen, die das sein Fleisch zerfressende vergiftete Gewand verursacht (Soph. Tr. 1070–1075). Er ist neben Philoktet und Neoptolemos (der vorgibt, geweint zu haben: 367) der einzige männliche Held in den erhaltenen Tragödien des Sophokles, der weint (OT 1486 ist in der Echtheit zweifelhaft, OT 1515 sicher unecht; vgl. Manuwald 2012 zu OT 1468–1514 und 1515–1530). Der euripideische Hippolytos ist über seine Ehrkränkung (anders als Achill; vgl. zu 367) den Tränen nur nahe (Eur. Hipp. 1070 f.; 1078 f.; dazu Barrett 1964). 279 Philoktet war mit sieben Schiffen (1027) nach Troia gefahren; vgl. auch Homer, Ilias 2,718–728, wonach die Schiffe und ihre Mannschaften vor Troia unter dem Befehl des Medon, des unehelichen Sohns des lokrischen Königs Oileus, stehen (Brügger 2003, 234).

Erstes Epeisodion: 280–290

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alle fort waren und kein Mensch hier in der Gegend, 280 niemand, der helfen, auch niemand, der dem Kranken bei der Krankheit beistehen könnte? Sondern überall, wohin ich blickte, fand ich nichts vorhanden, außer was mich quält, aber das im Überfluss, mein Sohn. So schritt mir die Zeit voran, immerfort, 285 und ich musste mich in dieser engen Behausung allein versorgen. Zwar was der Magen brauchte, fand dieser Bogen, indem er die flügelschnellen Tauben traf; zu dem aber, was mir jeweils der Pfeil, mit der Sehne zurückgezogen, traf, schleppte ich Elender 290 πάσας βεβώσας, ἄνδρα δ’ οὐδέν’ ἔντοπον, οὐχ ὅστις ἀρκέσειεν οὐδ’ ὅστις νόσου κάµνοντι συλλάβοιτο; πάντα δὲ σκοπῶν ηὕρισκον οὐδὲν πλὴν ἀνιᾶσθαι παρόν, τούτου δὲ πολλὴν εὐµάρειαν, ὦ τέκνον. ὁ µὲν χρόνος νυν διὰ χρόνου προὔβαινέ µοι, κἄδει τι βαιᾷ τῇδ’ ὑπὸ στέγῃ µόνον διακονεῖσθαι· γαστρὶ µὲν τὰ σύµφορα τόξον τόδ’ ἐξηύρισκε, τὰς ὑποπτέρους βάλλον πελείας· πρὸς δὲ τοῦθ’, ὅ µοι βάλοι νευροσπαδὴς ἄτρακτος, αὐτὸς ἂν τάλας

280

285

290

281–282 ἀρκέσειεν u. συλλάβοιτο] der Modus ist wegen der Ähnlichkeit von (οὐχ) ὁρῶντα (imperfektisch, K.-G. I 200 Anm. 9) οὐδέν᾿ ὅστις zu οὐκ ἔστιν ὅστις (vgl. K.-G. II 403) vielleicht am ehesten als potentialer Optativ ohne ἄν zu erklären; vgl. 692–694; 695–699 (Moorhouse 275), außerdem Eur. IT 588–590 (K.-G. II 428, 2: üblich wäre Futur oder Potentialis). 281 ἀρκέσειεν] sc. ἐµοὶ (Kamerbeek); vgl. κάµνοντι (282), Ellendt s. v. | νόσου (Hss.) : νόσον : νόσῳ Trikl. – vgl. Eur. Med. 946 συλλήψοµαι δὲ τοῦδέ σοι κἀγὼ πόνου (K.G. I 343); anders Kiefner 1964, 86 f. (νόσον κάµνοντι). 282 συλλάβοιτο : συµβάλ(λ)οιτο – συµβάλ(λ)οιτο würde bedeuten, dass jemand zur Krankheit beitrüge (vgl. Eur. Med. 284). 283 πλὴν ἀνιᾶσθαι] zu πλήν mit Infinitiv ohne Artikel vgl. K.-G. II 45 f. und z. B. OC 573 f. 285–286 µὲν … κἄδει] zu µὲν … καὶ vgl. GP 374. 285 νυν Wecklein : δὴ : οὖν : µοι Fraenkel (1977, 50 f.) – da δή als Glosse für νυν gilt und οὖν (metrisch ist es hier nicht möglich, -ος muss lang gemessen werden können) eine übliche Korruptel für νυν / νῦν ist, liegt das folgernde νυν nahe (Dawe 1978, 53). | χρόνου Hss. : πόνου Nauck – s. ETS, S. 441. 286 τι] kollektive Bedeutung (~ ἕκαστόν τι), vgl. K.-G. I 662, 1; Jebb. | βαιᾷ : βαιῇ – βαιᾷ ist die korrekte attische Form. 287 διακονεῖσθαι] reflexives Medium, Scholion: ἐµαυτῷ ἐξυπηρετεῖσθαι, vgl. Aristophanes, Acharner 1017. 288 ἐξηύρισκε editores : ἐξεύρισκε : εὕρισκε – der Kontext erfordert Imperfekt. 289 βάλλον (Hss.) : βάλον Trikl. 289–291 βάλοι … ἂν … εἰλυόµην] Optativ wegen Iterativ der Vergangenheit (hier Indikativ Imperfekt mit ἄν) im Hauptsatz (K.-G. I 211 [die einzelnen Fälle wiederholen sich]; 254 a; Moorhouse 189); ἄν ist 292 wiederholt (K.-G. I 246 ff.). 290 νευροσπαδὴς ἄτρακτος] zu ἄτρακτος ‚Spindel‘ in der Bedeutung ‚Pfeil‘ vgl. Aisch. F 139,2 Radt; Soph. Tr. 714; Fries 2014 zu [Eur.] Rh. 312–13; zur Bedeutung von νευροσπαδής vgl. analog λιθοσπαδής (Ant. 1216: ‚wobei die Steine zurückgezogen, entfernt sind‘).

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284 ‚Überfluss‘: Das griechische eumareia (hier noch durch ‚viel‘ gesteigert) kann etwas bezeichnen, das sich leicht machen lässt, sich leicht ergibt (vgl. 704). Voll Bitterkeit stellt Philoktet fest, dass er reichlich davon vorfand, was ihm Leid bereitete. 285–299 Waren die vorausgehenden Abschnitte dem Beginn seiner Leidenszeit gewidmet, schildert Philoktet danach ihre Fortsetzung unter den schwierigen Umständen seiner Behinderung und des ‚robinsonhaften‘ Lebens. Da er lang dauernde, wiederkehrende Verhältnisse beschreibt, enthält der Text eine Reihe von iterativen Signalen, die sich im Deutschen nicht in jedem einzelnen Fall ausdrücklich wiedergeben lassen. 285 ‚immerfort‘: Gemeint ist, wie ein Zeitabschnitt auf den anderen folgt (ohne dass ein Ende abzusehen ist); s. ETS, S. 441. 286 ‚Behausung‘, wörtl. ‚Dach‘ (stegē), aber auch ganz allgemein ‚(Wohn-)Raum‘ (298), im Plural ‚Haus‘, ‚Wohnung‘ (1262). Entsprechend der Szenerie wird Philoktet bei ‚dieser‘ auf seine Höhle zeigen. ‚allein‘: wie zuvor schon durch die Verdoppelung von ‚niemand‘ (281) wird hier durch die Endstellung von ‚allein‘ (monon) die Hilflosigkeit durch Einsamkeit stilistisch hervorgehoben. 287–292 Mit den Möglichkeiten des Wunderbogens, der hier eine ganz unheroische Aufgabe hat (Mauduit 1995, 357), kontrastiert die Behinderung Philoktets, die ihn die Erfolge seiner Jagd nur mit Schmerzen erreichen lässt. Vgl. die emphatische Wiederholung ‚zu dem aber‘ (289) – ‚zu dem hin (292)‘, wodurch das schwierige Erreichen des Ziels besonders betont wird. 288 ‚dieser Bogen‘: Philoktet weist selbst auf die für ihn lebenserhaltende Bedeutung seines Bogens hin, den er offenkundig in der Hand hält; das deiktische Pronomen lässt vermuten, dass er auf den Bogen zeigt. ‚flügelschnellen‘, wörtl. ‚geflügelt‘: Kein Pleonasmus, sondern es wird angedeutet, dass die Tauben schwer zu jagen und nur mit Philoktets besonderem Bogen zu treffen sind (Kamerbeek). 290 ‚Pfeil, mit der Sehne zurückgezogen‘: Gemeint ist der Augenblick des Zielens mit bereits gespannter Bogensehne (Jebb z. St.). 290–291 ,schleppte ich … mich‘: Das griechische Wort (eilyomai, 291) heißt eigentlich ‚kriechen‘ (vgl. v. 702, Vergleich mit einem Kleinkind). Ob Philoktet diesen starken Ausdruck für seine Fortbewegung wörtlich meint oder ob er damit seinen schleppenden Gang (163; 206 f.) bezeichnen will, bei dem er ein Bein nachzieht (291), ist nicht eindeutig zu klären. In jedem Fall wird die Mühseligkeit betont, ebenso wie bei dem ‚Kriechen‘, um Feuerholz zu beschaffen (295, griechischer Text 294).

Erstes Epeisodion: 291–301

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selbst mich jedes Mal, das unselige Bein nachziehend, zu dem hin. Und wenn es nötig war, etwas zu trinken zu holen, und ich, weil etwa sich Frost ausgebreitet hatte, wie im Winter, etwas Holz hauen musste, verschaffte ich Elender mir dies jeweils, kriechend. Dann war immer wieder kein Feuer da, 295 sondern Stein an Steinen reibend brachte ich mit Mühe den verborgenen Lichtfunken zum Vorschein, und das ist es, was mich immer (wieder) am Leben hält. Denn ein Dach, unter dem man wohnen kann, dazu Feuer, gibt mir alles – nur nicht, dass ich nicht krank bin. Jetzt, mein Sohn, sollst du auch noch erfahren, wie es mit 300 dieser Insel steht: Ihr nähert sich kein Seefahrer absichtlich; εἰλυόµην, δύστηνον ἐξέλκων πόδα, πρὸς τοῦτ’ ἄν· εἴ τ’ ἔδει τι καὶ ποτὸν λαβεῖν, καί που πάγου χυθέντος, οἷα χείµατι, ξύλον τι θραῦσαι, ταῦτ’ ἂν ἐξέρπων τάλας ἐµηχανώµην· εἶτα πῦρ ἂν οὐ παρῆν, ἀλλ’ ἐν πέτροισι πέτρον ἐκτρίβων µόλις ἔφην’ ἄφαντον φῶς, ὃ καὶ σῴζει µ’ ἀεί. οἰκουµένη γὰρ οὖν στέγη πυρὸς µέτα πάντ’ ἐκπορίζει πλὴν τὸ µὴ νοσεῖν ἐµέ. φέρ’, ὦ τέκνον, νῦν καὶ τὸ τῆς νήσου µάθῃς· ταύτῃ πελάζει ναυβάτης οὐδεὶς ἑκών·

295

300

291 δύστηνον Canter (vgl. 1377) : δύστηνος Hss. (auch Scholion zu 702, Suda s. v. ἄτρακτος) – δύστηνος ist neben τάλας (290) auf das Subjekt bezogen sicher korrupt. 292 καὶ] wohl korrespondierend mit καί (293); Kamerbeek (anders GP 304; Schein). | ποτὸν Hss. : ποτοῦ Burges – ein gen. part. wäre möglich, ist aber nicht notwendig. 293 καί που] „ ‘and haply’ “ (GP 494). | οἷα] adverbiell ~ ὡς, vgl. OT 751. 294–295 ἂν … ἂν] vgl. zu 289– 291. 294 ξύλον Hss. : ξύλων : ξύλου Blaydes – vgl. zu 292 (ποτὸν). | τάλας (Hss.) : τάχα – nur τάλας ist sinnvoll. 296–297] Vermischung der Konstruktionen ἐκ πέτρων πῦρ ἔκτριψα (vgl. Xenophon, Kyrupädie 2,2,15) und ἐν πέτροισι πέτρον τρίβων ἔφηνα φῶς. 296 πέτροισι / πέτρον] πέτροισι ⏑ ‒ ⏑, aber πέτ'ρον ‒ ⏑, vgl. zur unterschiedlichen Positionsbildung OC 442 (Jebb). | ἐκτρίβων : ἐκθλίβων : ἐντρίβων Blaydes – vgl. zu 296–297. 297 ἔφην’] Aorist nach einer Reihe von Imperfekta, es kommt auf das plötzliche Hervortreten des Funkens an (Kamerbeek). | φῶς (Hss.) : πῦρ (vgl. Eustathios IV 201,1 van der Valk ἄφαντον πῦρ κατὰ τὴν Τραγῳδίαν) – φῶς darf als lectio difficilior gelten. | ὃ καὶ] zu diesem Gebrauch von καί vgl. GP 294 f.: „ ‘and that it is which preserves me’ “. 298 γὰρ οὖν] οὖν hebt die Bedeutung der Begründung hervor (GP 446). 299 ἐµέ Hss. : ἔτι Blaydes : τινά Gernhard – vgl. Komm. zu 298–299. 300–301] asyndetischer Anschluss bei Übergang zu etwas Neuem; vgl. z. B. Homer, Odyssee 9,39 (K.-G. II 346 e). 300 ὦ (Hss.) : οὖν : νυν Trikl. | καὶ Hss. : κἂν (…µάθοις) Seyffert, Dawe. | µάθῃς (Hss.) : (καὶ …) µάθοις Trikl. : µάθε : µάθ᾿· εἰς / ταύτην Gronewald 1982, 248 f. – adhortativer Konjunktiv nach φέρε sonst in der 1. Person (1452; K.-G. I 219, 4), nur hier ist die 2. Person als ‚Gebot‘ überliefert. Vermutlich liegt eine Analogiebildung zu φέρ᾿ εἴπω oder φέρε λέγω vor. Vgl. Kamerbeek, Ll.-J./W.1 und die ausführliche Diskussion der Probleme bei Moorhouse 223.

Kommentar

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291 (griechischer Text: 290) ‚selbst‘: Er musste es trotz seiner Behinderung in eigener Person tun, niemand half ihm (oder, wie Jebb es versteht: „having no dog to fetch it“). 292 ‚trinken‘: vgl. zu 21. 295–297 Auch die Mühe des Feuermachens ist eine Begleiterscheinung von Philoktets Isolation: Er kann sich nicht Feuer vom Nachbarn holen (vgl. Homer, Odyssee 5,488–490; Xenophon, Memorabilien 2,2,12). 296 ‚Stein an Steinen‘: vgl. zu 36. 297 ‚den verborgenen Lichtfunken‘: Wörtl. heißt es nur ‚Licht‘ (phōs). Die in den Steinen als verborgen vorgestellten Feuerfunken treten durch das Reiben bzw. Schlagen hervor. Im Griechischen ist das zum Vorschein-Bringen des Feuers durch Alliteration hervorgehoben: ephēn’ aphanton phōs. Es geht um die wiederholte Anwendung einer bekannten Kulturtechnik und die Bedeutung des Feuers für das tägliche Leben. Ein Bezug auf zeitgenössische Kulturentstehungslehren (so Schein) ist daher fraglich. ‚mich immer (wieder) am Leben hält‘: Im Griechischen findet sich dieselbe Wendung wie diejenige, mit der Odysseus seinen andauernden Schutz durch Athena beschreibt (134). Vermutlich liegt ein üblicher Ausdruck vor, mit dem kein ausdrücklicher Bezug zwischen den beiden Stellen hergestellt werden soll; vgl. Ussher z. St. 298–299 Der Abschluss dieses Redeabschnitts beginnt wie eine allgemeine Sentenz (ein Dach über dem Kopf und Feuer bieten alles, was man braucht), spitzt sich dann aber auf Philoktets persönliche Situation zu: I h m bringen sie keine Erlösung von der Krankheit. Vgl. Jebb; Kamerbeek; Bruhn § 258. Es zeigt sich hier eine Verbindung von Stolz und Resignation, wie Schein zu Recht bemerkt, die aber eher Mitleid erregt, als dass sie zu einem Vergleich mit dem sich alles verschaffenden Menschen im berühmten Chorlied der Antigone (360) einlädt. 300–313 In diesem Abschnitt will Philoktet sagen, ‚wie es mit dieser Insel steht‘. Man könnte jetzt allgemeine Bemerkungen über Lemnos erwarten, Philoktet geht aber in einer letzten Steigerung der Ausführungen über sein Leben nur darauf ein, was die Insel für sein Schicksal bedeutet: Seeleute verirren sich lediglich zufällig zu ihr und sind dann nicht bereit, ihn nach Hause zu bringen, was die fast zehnjährige Dauer seiner Leidenszeit aus seiner Sicht erklärt; vgl. aber die ‚theologische‘ Perspektive (191–200). 301–303 Über die früheren Charakterisierungen der Insel hinaus als unbewohnt (durch Odysseus, v. 2; durch Philoktet, v. 221) hebt Philoktet nun hervor, dass auch niemand ,absichtlich‘ (oder ‚freiwillig‘) dorthin kommt. Das ist voll tragischer Ironie, denn Neoptolemos ist nicht ‚unabsichtlich‘ (305) dorthin gekommen, wenn sein wahrer Beweggrund auch ein anderer ist, als einer der üblichen, woran Philoktet denkt (303). Seine Frage nach Neoptolemos’ Absicht (237) nimmt Philoktet hier nicht wieder auf (vgl. zu 236–237).

Erstes Epeisodion: 302–313

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denn es gibt keinen Ankerplatz, nichts, wohin man fährt, um durch Handel Gewinn zu erzielen oder gastlich aufgenommen zu werden: Dies ist kein Fahrtziel für Menschen mit Vernunft. Nimm an, jemand ist unabsichtlich angelandet – denn das könnte 305 oft vorkommen in der langen Lebenszeit der Menschen –: Sooft solche Leute kommen, mein Sohn, bemitleiden sie mich zwar mit Worten und geben mir dazu vielleicht auch ein wenig Nahrung, aus Erbarmen, oder etwas Kleidung, das aber, wenn ich es zur Sprache bringe, will niemand tun, 310 mich retten und nach Hause bringen, sondern ich gehe zugrunde, ich Elender, jetzt schon das zehnte Jahr in Hunger und Leid meine gefräßige Krankheit nährend. οὐ γάρ τις ὅρµος ἔστιν οὐδ’, ὅποι πλέων ἐξεµπολήσει κέρδος ἢ ξενώσεται· οὐκ ἐνθάδ’ οἱ πλοῖ τοῖσι σώφροσιν βροτῶν. τάχ’ οὖν τις ἄκων ἔσχε – πολλὰ γὰρ τάδε ἐν τῷ µακρῷ γένοιτ’ ἂν ἀνθρώπων χρόνῳ –· οὗτοί µ’, ὅταν µόλωσιν, ὦ τέκνον, λόγοις ἐλεοῦσι µέν, καί πού τι καὶ βορᾶς µέρος προσέδοσαν οἰκτίραντες ἤ τινα στολήν· ἐκεῖνο δ’ οὐδείς, ἡνίκ’ ἂν µνησθῶ, θέλει, σῶσαί µ’ ἐς οἴκους, ἀλλ’ ἀπόλλυµαι τάλας ἔτος τόδ’ ἤδη δέκατον ἐν λιµῷ τε καὶ κακοῖσι βόσκων τὴν ἀδηφάγον νόσον.

305

310

303 ἐξεµπολήσει κέρδος] Futur zum Ausdruck der Finalität im Relativsatz (K.-G. II 422, 4); κέρδος ist innerer Akkusativ ~ κερδαλέαν ἐξεµπόλησιν.  | ξενώσεται] mediales Futur mit passiver Bedeutung, vgl. zu 48. 304 {…} Markland, Bergk, Dawe – der Vers kann als asyndetisch angefügte nähere Erklärung (vgl. K.-G. II 345 ε) der vv. 301–303 verstanden werden, bringt allerdings gegenüber diesen Versen nicht eigentlich etwas Neues, und ἐνθάδε im Sinne von δεῦρο ist bei Sophokles singulär, sodass gewisse Zweifel an der Echtheit bleiben. 305 τάχ’ οὖν Hss. : τάχ’ ἂν Hermann – zu οὖν vgl.: „Proceeding to a new point, or a new stage in the march of thought“ (GP 426). τάχα ohne ἄν bedeutet normalerweise ‚schnell‘, vgl. aber die Verwendung in Hesiod, Erga 401; Platon, Nomoi 711 a 6, weswegen sich die Grundbedeutung von „contingency from a probability to bare possibility“ (LSJ s. v. II) hier rechtfertigen lässt (Jebb, Kamerbeek). | ἔσχε] statt κατ- oder προσέσχε. 306 ἀνθρώπων (Hss.) : ἀνθρώπῳ Blaydes (varia lectio in einer Hs.) – die Aussage ist allgemein zu interpretieren (vgl. Komm.); außerdem wäre angesichts des Zusammenhangs eine Verderbnis von ἀνθρώπων zu ἀνθρώπῳ erklärlich, aber kaum umgekehrt. 307 οὗτοί] nimmt dem Sinn nach τις (305) auf; Bruhn § 16, II. 308 ἐλεοῦσι] ⏑⏑ ‒ ⏑, vgl. zu 94. | καί … τι καὶ] vgl. zu 274. 309 προσέδοσαν] der Aorist lässt sich als gnomisch verstehen (‚es kommt vor, dass …‘); vgl. Ussher zu 307–309. 310 ἐκεῖνο … θέλει] sc. σῶσαί µ᾿ (311) (Kamerbeek; Bruhn § 81). 312 ἔτος τόδ’ … δέκατον] vgl. Demosthenes, or. 54,3 ἔτος τουτὶ τρίτον. | τε καὶ] zur Stellung am Versende vgl. OT 267; 1234. 313 τὴν Hss. : τήνδ᾿ Blaydes – Artikel in der Funktion des Possessivpronomens (K.-G. I 593, 2).

Kommentar

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302 ‚Ankerplatz‘: Philoktet will nicht sagen, dass man an der Insel nicht anlanden kann (vgl. 305 ff.), sondern dass es keinen regulären Ankerplatz in einem Hafen gibt. 304 Der Vers ist in seiner Echtheit umstritten (vgl. TS). Die tragische Ironie wird hier zugespitzt, insofern Odysseus zielgerichtet und mit einem ‚klugen Plan‘ (14) auf die Insel gekommen ist. 305–306 Die Parenthese bezieht sich allgemein darauf, dass sich in einem längeren Zeitraum die Wahrscheinlichkeit ergibt, dass man dort landet, wohin man eigentlich nicht wollte (im Unterschied zur Absichtlichkeit, die Philoktet schon ausgeschlossen hatte, 301). Und diese allgemeine Erfahrung hat sich auch speziell für Lemnos bewahrheitet, wohin während des fast zehnjährigen (312) Aufenthalts Philoktets mehrfach Seefahrer kamen (307). 307–313 Dass Seefahrer, welche die Insel angelaufen haben, ihm nur verbal und mit wohltätigen Gaben helfen, aber nicht bereit sind, ihn nach Hause zu bringen (wonach er selbst fragen muss, sie denken nicht daran, es anzubieten), erbittert Philoktet und veranlasst ihn dazu, dem Verhalten der anderen seine elende Situation entgegenzusetzen. 307–309 ‚bemitleiden‘ (eleein) … ‚Erbarmen‘ (oiktirein): vgl. zu 507. 310–311 Wie er früher schon Ankömmlinge gebeten hatte, ihn nach Hause zu bringen, so wird er auch Neoptolemos darum bitten (468–503), und sein Verlangen wird für das Verhältnis zu Neoptolemos zu einem wesentlichen Faktor. 311 ‚gehe zugrunde‘: Die vielen Stellen, an denen Sophokles Philoktet von ‚zugrunde gehen‘ und ‚sterben‘ sprechen lässt (vgl. die Aufstellung bei Schein zu 311 und 978), bedeuten nicht, dass gesagt werden soll, dass Philoktet „symbolically dead“ sei (so Schein), vielmehr wird dadurch sein Leiden betont, das nicht zuletzt darin besteht, dass er – wenngleich er sich als eine schattenhafte, totengleiche Existenz sieht (946 f.) – mit Schmerzen l e b e n muss (1021 f.). Den Griechen vor Troia allerdings unterstellt er, dass sie ihn schon lange als tot betrachteten (1030). 312 ‚jetzt schon das zehnte Jahr‘, wörtl. ‚schon dieses zehnte Jahr‘: Durch das deiktische Pronomen hebt Philoktet die lange Dauer seines Leidens hervor: ~ ‚bis heute schon über neun Jahre!‘. Der Ausdruck gehört ebenso zu ‚gehe zugrunde‘ (311) wie zu ‚nährend‘ (313). 313 ‚meine gefräßige Krankheit nährend‘: Personifizierung der Krankheit wie 268. Das Nähren der Krankheit kontrastiert mit dem Hungern Philoktets (312). Zum ‚Nähren‘ der Krankheit vgl. 795 u. 1167.

Erstes Epeisodion: 314–321

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Solches haben die Atreus-Söhne und der mächtige Odysseus, mein Sohn, mir angetan. Gleiches mögen die olympischen Götter 315 ihnen einmal als Vergeltung für mich zu leiden geben! Chf. Ich glaube, dass auch ich dich in gleicher Weise wie die Fremden, die hier angekommen sind, bedauere, Sohn des Poias. Ne. Auch ich selbst bin Zeuge für ebendas, was du sagtest: Ich weiß, dass es wahr ist, da mir ebenso wie dir Übles widerfuhr. 320 {(da ich ebenso wie du auf schurkische) Männer (traf), die AtreusSöhne und den mächtigen Odysseus.}

Χο. Νε.

τοιαῦτ’ Ἀτρεῖδαί µ’ ἥ τ’ Ὀδυσσέως βία, ὦ παῖ, δεδράκασ’· οἷ᾿ Ὀλύµπιοι θεοὶ δοῖέν ποτ’ αὐτοῖς ἀντίποιν’ ἐµοῦ παθεῖν. ἔοικα κἀγὼ τοῖς ἀφιγµένοις ἴσα ξένοις ἐποικτίρειν σε, Ποίαντος τέκνον. ἐγὼ δὲ καὐτὸς τοῖσδε µάρτυς ἐν λόγοις· ὡς εἴσ’ ἀληθεῖς, οἶδα, σὺν τυχὼν κακῶν. {ἀνδρῶν Ἀτρειδῶν τῆς τ’ Ὀδυσσέως βίας.}

315

320

315 οἷ᾿ Porson : οἷς Hss. – ein Bezug auf den Inhalt der Vergeltung (der bei οἷς fehlen würde) ist wahrscheinlich, und ἀντίποιν’ (316) ist vermutlich prädikativ wie El. 591 f.; dass οἷα nicht auf τοιαῦτα folgen könne (so Fraenkel 1977, 51), erscheint unbegründet. „With οἷς, both αὐτοῖς (as = ‘themselves’) and ἀντίποιν᾿ become comparatively tame“ (Jebb zu 314 ff.); anders Pucci; Schein. 316 ἀντίποιν’ : ἀντάποιν’ – ἀντάποιν’ ist eine Verschreibung für ἀντίποιν’. 317 ἴσα] adverbieller Akkusativ mit abhängigem Dativ (K.-G. I 411,9). 318 ἐποικτίρειν editores : ἐποικτείρειν Hss. – vgl. zu 169. 319 µάρτυς ἐν (Hss.) : µάρτυς τοῖς : µάρτυς ὢν Gernhard : µαρτυρεῖν Fröhlich, Gronewald 1982, 249; Dawe 2003, 102 – µάρτυς ist nur mit personalem Dativ belegt (was gegen Gernhards Lösung spricht), µαρτυρεῖν mit sächlichem Dativ nicht klassisch. Ein Genitiv (τῶνδε … λόγων) wäre zu direkt: Neoptolemos kann nicht den von Philoktet gemeinten Sachverhalt als solchen bezeugen. Bei der ungewöhnlichen Verbindung µάρτυς ἐν λόγοις könnte ἐν die Bedeutung „in respect of“ (LSJ s. v. A. I. 7) haben: ~ ‚in Bezug auf ebendas, was du sagtest‘; vgl. auch Kamerbeek. Vgl. Komm. zu 319–320. | λόγοις (Hss.) : λόγῳ – vgl. τοῖσδε. 320 ὡς Hss. : χὠς Blaydes – v. 320 folgt als erklärendes Asyndeton (K.-G. II 344 δ). | σὺν τυχὼν Paley : συντυχὼν (Hss.) : γὰρ τυχὼν : οἶδ᾿, ἴσων τυχὼν Dawe 2003, 102 – was bei ΣΥΝΤΥΧΩΝ als gesichert gelten kann, ist der adverbiale Charakter von ΣΥΝ (~ ‚ebenso wie du‘); dafür muss es wohl nicht unbedingt einen eigenen Ton tragen (σὺν τυχὼν), da durch die Konstruktion mit Genitiv wie beim Simplex (statt des üblichen Dativs, vgl. z. B. 682) die eigene Bedeutungskomponente von ΣΥΝ signalisiert wird (vgl. West 1978, 121). Der Eindeutigkeit halber wurde aber mit Paley σὺν τυχὼν geschrieben. {321} West 1978, 121 – s. EK, S. 434; Toup schreibt die Überlieferung folgendermaßen um (wobei er συντυχὼν mit Dativ voraussetzt): κακοῖν (320) / ἀνδροῖν Ἀτρείδαιν τῇ τ᾿ Ὀδυσσέως βίᾳ. Danach würde Neoptolemos lediglich auf ‚schlechte Menschen‘ treffen, ohne dass gesagt würde, dass ihm Übles widerfahren sei.

Kommentar

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314–316 Zum Schluss seiner Rede bezieht sich Philoktet auf die Eingangsabschnitte (254–259; 260–275) zurück, indem er die Schuldigen noch einmal benennt und wünscht, dass ihnen – als göttliche Vergeltung – dasselbe Schicksal wie ihm widerfahre (vgl. 275). 314 ‚mächtige Odysseus‘, wörtl. ‚Odysseus’ Gewalt‘: Die Umschreibung ‚Gewalt / Stärke (bia) des Odysseus‘ begegnet im Philoktet noch {321} und 592. Es handelt sich um eine epische Umschreibung (z. B. Homer, Ilias 3,105 für Priamos), die auch in der Tragödie vorkommt (Bruhn § 238; vgl. auch Tr. 38). Möglicherweise liegt nur der genannte Epizismus vor (vor allem in v. 592 dürfte die Wendung neutral gebraucht sein): Philoktet will vielleicht dadurch den Einfluss des Odysseus auf sein Schicksal hervorheben. Andere Interpreten (z. B. Webster; Hose 2008, 30 f.) verstehen bia als Hinweis auf Odysseus’ ‚violence‘ bzw. ‚Brutalität‘; vgl. zu Odysseus und Gewalt auch vv. 983; 988; 1003; 1297 (Schein 2002, 42 f.). Denkbar wäre auch (aus der Perspektive des Dichters) eine ironische Verwendung des Epithetons für d i e s e n Odysseus, der sich als ein Mann der ‚Zunge‘ (99) versteht; vgl. Blundell 1987, 327. 317–318 Eine Bemerkung des Chorführers am Ende einer längeren Schauspielerrede (vgl. 963 f.) oder zwischen zwei solchen Reden (1045 f.) ist üblich. Der Chor hatte spontan echtes (vgl. zu 169) Mitleid mit Philoktet bekundet (169–176); daher ist anzunehmen, dass durch den ambivalenten Vergleich mit den anderen Fremden wiederum sein Mitleid zum Ausdruck kommen soll (vgl. Jebb). Er kann kaum Philoktet glauben machen wollen, auch Neoptolemos und seine Mannschaft hätten außer guten Worten nichts zu bieten (obwohl der Text so verstanden werden kann und wird: z. B. Visser 1998, 115); denn das wäre wenig hilfreich für Neoptolemos, den der Chor doch unterstützen will und soll (146–151), und auch die Zuschauer wissen, dass es nicht bei Worten bleiben, sondern Philoktet nach Troia kommen soll (zuletzt 197 f.). 319–342 Der Dialog zwischen Neoptolemos und Philoktet ist zweigeteilt. Der erste Teil endet, als Neoptolemos eine ausführliche Antwort auf Philoktets Frage ankündigt (329 f.) und zu erzählen beginnt (331), aber von Philoktet unterbrochen wird, dessen Einwurf den zweiten Teil (332–342) prägt. 319–328 Zunächst stilisiert sich Neoptolemos als jemanden, der ebenso wie Philoktet von den Atreus-Söhnen schlecht behandelt wurde. Auf Philoktets Leid geht er nicht ein. Vgl. Schmidt 1973, 79 f. 319–320 Neoptolemos kann, da er nicht dabei war, nicht das von Philoktet beklagte Unrecht bezeugen, jedoch aufgrund (angeblich) eigenen entsprechenden Leids die Glaubwürdigkeit von Philoktets Bericht bestätigen und zugleich zu der Lügengeschichte ansetzen, um zu erklären, warum er Troia verlassen hat und angeblich nach Hause fährt; die Lügengeschichte ist daher nicht überflüssig, wie Müller meint (1997, 231 f.), weil Philoktet Neoptolemos längst als Freund angenommen habe. Neoptolemos spricht in v. 320 unspezifiziert von Üblem, wodurch er Philoktets Neugier weckt. Durch den Zusammenhang ist klar, dass das ‚Üble‘ irgendwie mit den Atreus-Söhnen zu tun hat. 321 Der Vers ist wahrscheinlich unecht; s. EK, S. 434. In den runden Klammern ist ausgeführt, wie die zweite Hälfte von v. 320 übersetzt werden

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Erstes Epeisodion: 322–331

Ph.

Hast denn auch du den durch und durch verdorbenen Atreus-Söhnen etwas vorzuwerfen, sodass du ihnen zürnst aus eigenem Leid? Möge ich eines Tages meinen Zorn mit meiner Hand stillen können, damit ihr Mykene und ihr Sparta erkennen, dass 325 auch mein Skyros die Mutter wehrhafter Männer ist! Recht so, mein Sohn! Wegen welcher Sache denn, die du ihnen vorwirfst, bist du mit deinem großen Groll hierhergekommen? Sohn des Poias, ich will es sagen, bringe es aber kaum heraus, worin ich von ihnen so schmählich behandelt wurde, als ich kam: 330 Als Achill das Schicksal ereilt hatte, dass er sterben musste, …

Ne. Ph. Ne.

Φι. Νε. Φι. Νε.

ἦ γάρ τι καὶ σὺ τοῖς πανωλέθροις ἔχεις ἔγκληµ’ Ἀτρείδαις, ὥστε θυµοῦσθαι παθών; θυµὸν γένοιτο χειρὶ πληρῶσαί ποτε, ἵν’ αἱ Μυκῆναι γνοῖεν ἡ Σπάρτη θ’ ὅτι χἠ Σκῦρος ἀνδρῶν ἀλκίµων µήτηρ ἔφυ. εὖ γ’, ὦ τέκνον· τίνος γὰρ ὧδε τὸν µέγαν χόλον κατ’ αὐτῶν ἐγκαλῶν ἐλήλυθας; ὦ παῖ Ποίαντος, ἐξερῶ, µόλις δ’ ἐρῶ, ἅγωγ’ ὑπ’ αὐτῶν ἐξελωβήθην µολών· ἐπεὶ γὰρ ἔσχε µοῖρ’ Ἀχιλλέα θανεῖν, …

325

330

322 ἦ γάρ] vgl. zu 248. 324 θυµὸν … χειρὶ Lambinus : θυµῷ … χεῖρα Hss. – idiomatisch ist nur θυµὸν πληροῦν, vgl. Eur. Hipp. 1328; Platon, Politeia 465 a 2. | πληρῶσαί] der Infinitiv kann als Subjekt zu γένοιτο verstanden werden (Moorhouse 241) oder als Ergänzung zu einem unpersönlich aufzufassenden γένοιτο (K.-G. II 12, 4). 325–326 αἱ Μυκῆναι …] zum (ungewöhnlichen) Artikel bei den Ortsnamen und den dadurch ausgedrückten Nuancen vgl. Moorhouse 147 und Komm.; vgl. auch 381; 969; 1392 mit Komm. 325 γνοῖεν] Modusassimiliation nach γένοιτο (324), K.-G. I 255 f.; II 383; Moorhouse 234. | ἡ Σπάρτη θ’] statt ἥ τε Σπάρτη (GP 516 [i]). 326 ἀλκίµων (Hss.) : γενναίων – ἀλκίµων passt besser in den Kontext. 327 εὖ γ’] dieser elliptische kolloquiale Ausdruck ist nur hier für die Tragiker belegt (GP 127 [ii]). | τίνος] gen. causae; vgl. 1308; Moorhouse 70 f.; vgl. OT 697 f. (Jebb). | γὰρ] vgl. GP 82 (2) (i). | ὧδε τὸν : ὧδ᾿ ἔχων Erfurdt – die Konjektur ‚normalisiert‘ die sonst prägnante Konstruktion, bei der χόλον für die Sache steht, die den Groll verursacht hat (vgl. Komm.), man müsste aber die erst spät belegte Verbindung von ἐγκαλεῖν mit gen. rei annehmen (LSJ s. v. II. 1). ὧδε gehört wahrscheinlich zu ἐλήλυθας (328); vgl. Kamerbeek. 328 κατ’ αὐτῶν] statt des bei ἐγκαλεῖν üblichen Dativs, in feindlichem Sinn (‚gegen‘), vgl. 65. 329 ἐρῶ] ἐξ- von ἐξερῶ kann bei Wiederholung fehlen; Moorhouse 95. 330 ἅγωγ’] γε betont in ἃ ἐγώ γε das Personalpronomen (GP 122 f.). 331 γὰρ] „After an expression denoting the giving … of information“ (GP 59 [2]), im Deutschen etwa einem Doppelpunkt entsprechend. | ἔσχε] ingressiver Aorist. | θανεῖν (Hss.) : παθεῖν – vgl. 333.

Kommentar

147

müsste, wenn sich v. 321 anschließen soll. Vgl. auch zu 314. – Da Neoptolemos in den vv. 319 f. die Untaten der Atreus-Söhne an Philoktet bestätigen will und von einer Art Schicksalsgemeinschaft spricht, kann Philoktet (322 f.) Neoptolemos’ Aussage auch ohne Nennung der Namen richtig beziehen. Vgl. im Einzelnen West 1978, 121. 322 ‚durch und durch verdorbenen‘: Entsprechend qualifiziert Philoktet Odysseus (1357). 325–326 Aus den bedeutenden Orten Mykene und Sparta kommen die Atreus-Söhne Agamemnon und Menelaos, Neoptolemos’ Heimat dagegen ist das sprichwörtlich unbedeutende, felsige (459) Skyros, dessen Wert durch die erwünschte künftige Rache erwiesen werden soll. Zur Einschätzung von Sparta und Skyros vgl. Eur. Andr. 209 f.; Zenobios, Centuria 1,32 (CPG I, p. 11). Bei den Orten steht der im Griechischen nicht übliche Artikel, der bei Mykene und Sparta wohl auf deren Rang hinweist, bei Skyros auf die Vertrautheit des Sprechers mit seiner Heimat; vgl. TS. – Das Heimatland als ‚Mutter‘ zu bezeichnen, war verbreitet; vgl. z. B. Aisch. Sept. 416. 327–328 ‚Wegen … hierhergekommen?‘, wörtl. ‚Weswegen denn bist du, den großen Groll ihnen vorwerfend, hierhergekommen?‘: Bei dieser prägnanten Konstruktion steht für die Sache, die Neoptolemos den Atreus-Söhnen vorzuwerfen hat, der daraus entstandene Groll; vergleichbar ist die Wendung in OT 702. – Philoktet nimmt mit seiner Erkundigung nach dem Grund von Neoptolemos’ Fahrt seine frühere, unbeantwortete Frage (237) wieder auf. 329 Neoptolemos gibt vor, die Kränkung sitze so tief, dass er sie sich nur mit Widerstreben durch die Erzählung vergegenwärtigen wolle. Ein solcher Eindruck soll sicher dem Gegenüber vermittelt werden. Kamerbeek vergleicht Homer, Odyssee 9,12 f. und bes. Vergil, Aeneis 2,3 infandum, regina, iubes renovare dolorem. Ob man noch eine weitere (Neoptolemos bewusste oder auch unbewusste) Ebene mithören soll, dass es ihm, der nicht lügen könne, schwer falle, eine Lügengeschichte zu erzählen (so Schein nach anderen), ist fraglich; denn Neoptolemos hatte sich zuletzt ohne Wenn und Aber auf die Intrige eingelassen (120; 122) und schon mit der Verwirklichung begonnen. Seine eigentliche Denkweise wird für ihn erst später wieder bestimmend, als sich eine emotionale Beziehung zu Philoktet entwickelt hat. 330 Das im Griechischen betonte ‚ich‘ und das nur hier vorkommende Kompositum eklōbasthai (~ ‚äußerst schmählich behandelt werden‘) heben Neoptolemos’ (vorgebliche) Betroffenheit hervor: Lügner übertreiben. ‚kam‘: sc. zu den Atreus-Söhnen nach Troia (vgl. 343 ff.). 331 Neoptolemos beginnt seine Rede mit einem Nebensatz, wird aber auf die Nachricht über Achills Tod hin von Philoktet unterbrochen, was zu einem neuerlichen Dialog führt. Die Fortsetzung der Erzählung in v. 343 setzt ein, als ob es der zu v. 331 gehörige Hauptsatz wäre, sie wird allerdings durch Philoktets Bemerkung in den vv. 341 f. vorbereitet. ‚ereilt hatte‘, wörtl.: ‚in Besitz genommen hatte‘, im Sinn von ‚Gewalt über ihn bekommen hatte‘.

148

Erstes Epeisodion: 332–342

Ph.

Weh mir! Erzähle mir nicht weiter, bis ich zuerst das erfahren habe: Ist er wirklich tot, der Sohn des Peleus? Ja, tot, nicht durch einen Menschen, sondern durch einen Gott, mit einem Bogenschuss, so heißt es, von Phoibos bezwungen. 335 Edel, gewiss, war, der ihn getötet, wie der, der fiel. Da weiß ich nicht, mein Sohn, soll ich zuerst fragen, was dir widerfahren ist, oder jenen beklagen? Ich glaube, du hast wirklich schon genug eigenes Leid, du Unglücklicher, sodass du nicht das der anderen zu beklagen brauchst. 340 Du hast recht. So komm denn auf das wieder zurück, worin sie dir Unrecht getan haben.

Ne. Ph. Ne. Ph.

Φι. Νε. Φι. Νε. Φι.

οἴµοι· φράσῃς µοι µὴ πέρα, πρὶν ἂν µάθω πρῶτον τόδ’· ἦ τέθνηχ’ ὁ Πηλέως γόνος; τέθνηκεν, ἀνδρὸς οὐδενός, θεοῦ δ’ ὕπο, τοξευτός, ὡς λέγουσιν, ἐκ Φοίβου δαµείς. ἀλλ’ εὐγενὴς µὲν ὁ κτανών τε χὠ θανών. ἀµηχανῶ δὲ, πότερον, ὦ τέκνον, τὸ σὸν πάθηµ’ ἐλέγχω πρῶτον ἢ κεῖνον στένω. οἶµαι µὲν ἀρκεῖν σοί γε καὶ τὰ σ’, ὦ τάλας, ἀλγήµαθ’, ὥστε µὴ τὰ τῶν πέλας στένειν. ὀρθῶς ἔλεξας. τοιγαροῦν τὸ σὸν φράσον αὖθις πάλιν µοι πρᾶγµ’, ὅτῳ σ’ ἐνύβρισαν.

335

340

332 φράσῃς : φράσεις – µή mit imperativisch gebrauchtem Futur wäre ungewöhnlich (K.-G. I 176, 6); zum Aorist, obwohl das Verbot nur das Fortfahren in der Erzählung betrifft, vgl. Moorhouse 220. | µὴ] zur Nachstellung der Negation vgl. zu 12 u. zu 66–67; hier wird das entscheidende πέρα betont. | πρὶν ἂν] vgl. K.-G. II 454 f. 333   ἦ : εἰ : ᾗ Locella (Stokes 1990, 16–20) – die direkte Frage ist lebendiger (Kamerbeek) und bringt das ungläubige Staunen Philoktets zum Ausdruck; vgl. OT 943 (Dik 2007, 53). Stokes hält nach der eindeutigen Ausage in v. 331 nur die Frage nach dem ‚wie‘ für logisch und setzt konsequenterweise nach τέθνηκεν (334) kein Komma; aber dann würde man statt des Perfekts eher Aorist erwarten. 334 τέθνηκεν] Bejahung durch Wortwiederholung (K.-G. II 539 a). 335 τοξευτός … δαµείς] ~ τόξοις oder τοξεύµατι δαµείς, das Adjektiv bezeichnet hier das Mittel. | ἐκ] ~ ὑπό (K.-G. I 460). 336 ἀλλ᾿] „A sympathetic reaction to the previous speaker’s words or actions“ (GP 19 [b]), im Deutschen kaum wiederzugeben. | µὲν] emphatisch zur Betonung des Adjektivs (GP 359–361), korrespondiert nicht mit δὲ (337). 337 σὸν] vgl. zu 13 (πᾶν). 338 ἐλέγχω … στένω] deliberative Konjunktive.   339 µὲν] solitarium, GP 382 (iii). | σ’] σ(ά) Elision bei einer akzentuierten Form, vgl. z. B. OT 64. | ὦ τάλας] Nominativ statt Vokativ (anders 1196); vgl. K.-G. I 47 f. 340   τῶν πέλας] nicht nur ‚die in der Nähe sind‘, sondern allgemein ‚die anderen‘, vgl. Barrett 1964 zu Eur. Hipp. 441–2. 342 αὖθις πάλιν] ‚wieder zurück‘ (vgl. 127; 1232), auch von der Wiederholung einer Aktion (952), hier in Bezug auf das nochmalige Einsetzen der Erzählung. | ὅτῳ σ’ : ὅπως : ὅπως σ᾿ Blaydes – eine Angabe der Person ist notwendig, und die bietet bereits ὅτῳ σ’. | ὅτῳ σ’ ἐνύβρισαν] ὅτῳ ist Dat. der Beziehung (K.-G. I 440, 12), da Neoptolemos’ πρᾶγµα nicht das Mittel sein kann, mit dem er gekränkt wurde; ἐνυβρίζω ist ein verstärktes ὑβρίζω, das wie dieses mit dem acc. pers. konstruiert werden kann.

Kommentar

149

332–342 Der zweite Teil des Dialogs ist bestimmt von der für Philoktet schockierenden Nachricht, dass Achill tot sei. 333 ‚Ist … tot?‘: Philoktet kann nicht recht glauben, was er gehört hat. ‚Sohn‘: Das Wort gonos (‚Nachkomme‘) wird hier für Achill, 366 für Odysseus, 416 für Diomedes und 425 für Antilochos gebraucht, sämtlich herausgehobene epische Gestalten. Es ist gewählter als das Allerweltswort pais; vgl. zu 79. 334–335 Nach Homer, Ilias 22,359 f. wird Achill durch Paris und Apollon sterben (so auch Aithiopis, Argumentum, p. 69,15 f. Bernabé = pp. 112 f. West 2003), nach Ilias 19,416 f. durch einen Gott und einen Mann, Ilias 21,278 wird nur Apollon genannt, ebenso Aisch. F 350,8 f. Radt (um nur Belege zu nennen, die man z. Z. des Philoktet kennen konnte). Man wird in jedem Fall verstehen sollen, dass Apollon den entscheidenden Anteil hat, aber der Tod Achills erscheint umso unausweichlicher (331) und ehrenhafter (336), wenn, wie hier, eine menschliche Verursachung geradezu geleugnet wird. 335 ‚so heißt es‘: Neoptolemos war nicht dabei, und eine direkte Bezeugung göttlichen Wirkens ist ohnehin schwierig. Möglicherweise lässt Sophokles Neoptolemos sich so vorsichtig ausdrücken, um die Nachricht, dass auch Paris beteiligt war, nicht völlig auszuschließen; vgl. zu 334–335. ‚Phoibos‘ ist ein seit Homer (Ilias 1,43) geläufiger Beiname Apollons von ungeklärter Bedeutung (Burkert 1975, 14 Anm. 56; 2011, 225). 337–340 Trotz eigenen Leids (an das er geradezu erinnert werden muss) nimmt Philoktet Anteil am Schicksal anderer. Vgl. Kamerbeek zu 336–338. 339–340 Die Klage Philoktets wird von Neoptolemos abgeblockt mit einer Äußerung des Mitgefühls, die aber zugleich auf die Fortsetzung der Täuschungs-Rede abzielt; vgl. Schmidt 1973, 81. 341–342 Philoktet erinnert Neoptolemos an seine Ankündigung (329 f.) und will jetzt detailliert wissen, worum es ging.

Erstes Epeisodion: 343–346

150 Ne.

Νε.

Sie kamen mich zu holen mit einem geschmückten Schiff, der edle Odysseus und der Erzieher meines Vaters; sie sagten, sei’s die Wahrheit, sei’s denn nun zum Schein, es sei wider Recht und Brauch, dass, nachdem mein Vater ἦλθόν µε νηὶ ποικιλοστόλῳ µέτα δῖός τ’ Ὀδυσσεὺς χὠ τροφεὺς τοὐµοῦ πατρός, λέγοντες, εἴτ’ ἀληθὲς εἴτ’ ἄρ’ οὖν µάτην, ὡς οὐ θέµις γίγνοιτ’, ἐπεὶ κατέφθιτο

345

345

343 ποικιλοστόλῳ (Hss.) : ποικιλοστόµῳ – ποικιλοστόλῳ ist von Eustathios I 483,3 van der Valk für Sophokles bezeugt, ποικιλοστόµῳ erst in byzantinischer Zeit belegt. | µέτα] es ist kaum zu entscheiden, ob µέτα in Tmesis zu ἦλθον steht oder Präposition (in Anastrophe) zu µε ist (vgl. K.-G. I 534, 6; LSJ s. v. C. I. 2). 344 δῖός : δόλιος Pierson | τ᾿ Hss. : {τ᾿} Nauck | τροφεὺς (Hss.) : τροφὸς – τροφεύς ist die gewöhnliche maskuline Form. 345 ἀληθὲς] Akkusativ zu λέγοντες, verbunden mit adv. µάτην wie Eur. Ion 275. | ἄρ’ οὖν] die Partikelkombination gibt der zweiten Hälfte des εἴτε / εἴτε-Gefüges das größere Gewicht; vgl. auch GP 42; 419 (ii). 346 γίγνοιτ’] obliquer Optativ (in direkter Rede γίγνεται: ‚es ergibt sich jetzt‘).

Kommentar

151

343–390 Neoptolemos folgt in seiner Täuschungs-Rede den Anweisungen, die Odysseus gegeben hatte (54 ff.). Sie besteht aus zwei ineinander übergehenden Abschnitten, die sich auf zeitlich nacheinander folgende Handlungsphasen beziehen: Die Abholung des Neoptolemos (Versprechungen des Odysseus und des Phoinix; Motive des Neoptolemos, 343–359 a) und die Auseinandersetzung mit den Atreus-Söhnen und Odysseus über die Rüstung Achills (359 b–390). Dabei schildert Neoptolemos seinen Zornesausbruch, als ihm die Rüstung verweigert wurde, als wolle er noch den Zorn seines Vaters überbieten (vgl. Reinhardt 1947, 179), der gekränkt war, weil ihm Agamemnon die Beutefrau Brisëis weggenommen hatte (Ilias 1,172 ff.). Die Rede des Neoptolemos ist so gestaltet, dass sie fast durchweg mit ‚wahren‘ Elementen arbeitet (gemessen an der sonstigen mythischen Tradition) und nur in einem Punkt zu einer inhaltlichen Lüge greift, nämlich dass Odysseus die Rüstung nicht habe Neoptolemos geben wollen (vgl. zu 56–64). Neoptolemos sagt – wie die hesiodeischen Musen (Theogonie 27) – Falsches, das dem Wahren gleicht. 343 ‚geschmückten Schiff‘: Dieses Detail soll die Bedeutung der Abholung des Neoptolemos unterstreichen. Das nur für diese Sophokles-Stelle belegte Wort poikilostolos ist zusammengesetzt aus poikilos (‚bunt‘) und stolos (eigtl. ‚Zurüstung‘, ‚Fahrt‘), was heißen könnte ‚zur Fahrt geschmückt‘ (vgl. Pindar, Pythien 2,62). Es könnte bei stolos aber auch die Sonderbedeutung ‚Rammbock (am Bug)‘ vorliegen (vgl. Aisch. Pers. 408), d. h., dass das Schiff am Bug geschmückt worden wäre. 344 ‚edle‘, wörtl. ‚göttliche‘: Episches Epitheton, das bei Homer häufig mit Odysseus verbunden ist. Ob in der Lügenrede des Neoptolemos bei diesem Wort ein sarkastischer Unterton vorliegt (Kamerbeek), ist nicht sicher. Eher nennt Neoptolemos Odysseus so, um seine anfänglich positive Wahrnehmung zu betonen, wozu dann das spätere Urteil (384) in krassem Gegensatz steht. ‚Erzieher meines Vaters‘: Phoinix; vgl. Homer, Ilias 9,432; bes. 485 ff. Auf ihn wurde schon in v. 114 angespielt (Abholung des Neoptolemos mit Odysseus); v. 562 wird sein Name innerhalb des Intrigenplans instrumentalisiert. Nach dem Argumentum 2 der Ilias parva (p. 75,7 f. Bernabé) ist in einer Lücke des Papyrus Odysseus neben Phoinix eine wahrscheinliche Ergänzung, nach dem Argumentum 1 (p. 74,10 f. Bernabé = pp. 122 f. West 2003) und Homer, Odyssee 11,508 f., war es Odysseus allein, der Neoptolemos von Skyros abholte, nach Ps.-Apollodor, Epitome 5,11 Odysseus zusammen mit Phoinix. – Die Abholung des Neoptolemos von Skyros war vermutlich in Sophokles’ Skyrioi (F 553–561 Radt2) behandelt; vgl. bes. F 557. 345–347 Hier wird mit der Vorstellung argumentiert, dass nach der natürlicherweise bestehenden bzw. göttlich sanktionierten Ordnung (themis) es dem führenden Kämpfer Achill zugestanden hätte, Troia einzunehmen. Und diese Rolle, so erklären die Gesandten, solle jetzt dem Sohn zufallen. Dies war nur die halbe Wahrheit (wie Neoptolemos inzwischen weiß; vgl. 114 f.), und er zieht sie auch noch in Zweifel, um mit der Distanzierung gegenüber den Gesandten Philoktet für sich einzunehmen.

Erstes Epeisodion: 347–355

152

gestorben ist, ein anderer als ich Troias Burg einnehmen solle. Indem sie das so darstellten, Fremder, brachten sie mich sogleich dazu, schnell in See zu stechen, vor allem zwar aus Sehnsucht nach dem Toten, 350 damit ich ihn noch unbestattet sähe; denn ich hatte ihn nie gesehen. Dann war jedoch dazu auch die Überlegung verlockend, ob ich Troias hohe Burg einnähme, wenn ich hinginge. Es war inzwischen der zweite Tag meiner Fahrt, als ich mit Rudern und günstigem Wind Sigeion anlief, das mir 355 πατὴρ ἐµός, τὰ πέργαµ’ ἄλλον ἢ ’µ’ ἑλεῖν. ταῦτ’, ὦ ξέν’, οὕτως ἐννέποντες οὐ πολὺν χρόνον µ’ ἐπέσχον µή µε ναυστολεῖν ταχύ, µάλιστα µὲν δὴ τοῦ θανόντος ἱµέρῳ, ὅπως ἴδοιµ’ ἄθαπτον· οὐ γὰρ εἰδόµην· ἔπειτα µέντοι χὠ λόγος καλὸς προσῆν, εἰ τἀπὶ Τροίᾳ πέργαµ’ αἱρήσοιµ’ ἰών. ἦν δ’ ἦµαρ ἤδη δεύτερον πλέοντί µοι, κἀγὼ πικρὸν Σίγειον οὐρίῳ πλάτῃ

350

355

347 ἤ ᾿µ᾿ (als ἢ ἐµέ interpretiert bei Trikl.) : ἤ µ᾿ – αls Pendant zu ἄλλον muss das Personalpronomen betont sein. 348 ἐννέποντες Hss. : ἐννέποντας Dawe (mit σφ᾿ [Page] statt µ᾿ in 349) – vgl. zu 349. 349 ἐπέσχον : ἔπασχον – ἐπέσχον ist kausativ zu verstehen: ‚sie hielten mich nicht lange auf‘, im Sinne von ‚sie veranlassten mich dazu, mich nicht lange aufzuhalten, zu zögern‘, vgl. Jebb zu 348 f. mit Verweis auf Thukydides 4,5,1 u. 1,129,3. | µή µε Hss. : µὴ οὐχὶ Blaydes – µὴ οὐ wäre zu erwarten (K.-G. II 210, 4), aber es gibt Ausnahmen (K.-G. II 216 h), vgl. ΟΤ 1387 f. Die Wiederholung von µε nach µή ist ungewöhnlich; sie wird zwar vermieden, wenn man den Text wie Dawe umschreibt (vgl. zu 348: ἐννέποντας … σφ᾿ ἐπέσχον [1. P. Sg.]), aber das µε nach µή wird noch schwieriger; außerdem gehört es zur Taktik des Neoptolemos, sich als Opfer der anderen darzustellen, was an sich schon die 1. P. unwahrscheinlich macht. | ταχύ (Hss.) : τάχα 350 µάλιστα µὲν δὴ] korrespondiert mit ἔπειτα µέντοι (352); GP 257 f. 351 εἰδόµην] Medium statt εἶδον wie z. B. El. 892. 352 καλὸς] prädikativ (K.-G. I 614 f.). | λόγος] nicht die Rede der Gesandten (dann wäre in v. 353 ὡς oder ὅτι zu erwarten, dort ist jedoch εἰ überliefert), sondern die auf deren Aussage beruhende Überlegung des Neoptolemos (Kamerbeek). 353 αἱρήσοιµ’] obliquer Optativ in „virtual indirect speech“; „if (I thought to myself) I should capture Troy“ (Moorhouse 235; 315). 354 πλέοντί µοι] Dat. mit Partizip zur Bezeichnung der Person, der die Handlung gilt (K.-G. I 424 f.). 355 κἀγὼ] καί parataktisch anstelle einer Temporalkonjunktion (K.-G. II 231). | πικρὸν : ᾿π᾿ ἀκρὸν Burges – vgl. Komm. zu 356. | Σίγειον] Akk. des Ziels wie z. B. 1175 (K.-G. I 311 f.). | οὐρίῳ πλάτῃ] πλάτη ist hier Ruder (vgl. zum Sinn Komm.) und nicht Synekdoche für ‚Schiff‘; denn οὔριος scheint als Epitheton für ‚Schiff‘ nicht belegt (vgl. aber πλοῦς οὔριος, 780).

Kommentar

153

347 ‚Troias Burg‘: Genau genommen ist nur von ‚Burg‘ (pergama, ntr. pl.) die Rede (wie 1334), wie auch in Homers Ilias von Pergamos (fem.) als von Troias Burg gesprochen werden kann (z. B. 4,508). 348–349 ‚brachten sie mich sogleich dazu‘, wörtl. ‚hielten sie mich nicht lange Zeit davon ab‘: Das ist „another way of saying, ‘they filled me with burning eagerness to sail at once’ “ (Jebb). Es liegt eine Art Litotes vor, deren Sinn sich im Deutschen nur durch eine Umformulierung ins Positive wiedergeben lässt. In gespielter Verbitterung führt Neoptolemos seinen früheren Entschluss, nach Troia zu fahren, (neben der Sehnsucht nach seinem Vater) auf die Versprechungen der Gesandten zurück. 351 ‚unbestattet‘: Die Möglichkeit, Achill noch zu sehen, setzt voraus, dass er nicht gleich begraben wurde. Vielleicht will Sophokles beim Zuschauer eine Vorstellung evozieren, wie sie aus Homers Odyssee (24,63–65) hervorgeht: Danach wurde der Leichnam Achills, nachdem man ihn 17 Tage und Nächte beweint hatte, in der 18. Nacht dem Feuer übergeben. Die Angabe, dass Neoptolemos seinen Vater nie (sc. lebend) gesehen habe, wird nicht erklärt. Der Zuschauer kann denken, dass Achill bereits vor oder bald nach der Geburt des Neoptolemos Skyros verließ und nicht von dort nach Troia kam (wie es bei Ps.-Apollodor, Bibliothek 3,174 heißt), sondern, wie aus Homer (Ilias 11,765–782) zu erschließen ist, von seiner Heimat Phthia, wohin er dann zuvor wieder zurückgekehrt sein müsste. – Allerdings ist die Vorstellung, dass Achill einen Sohn auf Skyros hat, mit der in der Ilias gegebenen, dass Achill ganz jung (von Phthia aus) in den Krieg gezogen sei (Ilias 9,438 ff.), nicht leicht zu vereinbaren. Es ist daher fraglich, ob der in der Odyssee (11,506) genannte Sohn in der Ilias ursprünglich bekannt war. Die Stellen, an denen er in der Ilias erwähnt ist (19,326–337; 24,466 f.), sind jedenfalls in ihrer Echtheit umstritten; vgl. Coray 2009, 141 f.; Brügger 2009, 165. Ob Sophokles selbst unterschiedliche Traditionen verbunden hat oder einer bestehenden, sonst nicht bekannten Version folgt, lässt sich nicht feststellen. 352 ‚Überlegung‘: Die Aussage der Gesandten (347) führt bei Neoptolemos zu der als verlockend angesehenen Überlegung, Eroberer Troias werden zu können (353). 353 ‚Troias hohe Burg‘, wörtl.: ‚die Burg auf Troia‘, d. h., die auf der Höhe Troia überragt; ebenso 611. 355 ‚mit Rudern und günstigem Wind‘, wörtl. ‚mit vom Wind begünstigtem Ruder‘: Gemeint ist die Kombination von Rudern und Segeln, wenn es auf Eile ankommt (vgl. Cicero, Epistulae ad familiares 12,25,3; Florus 1,18,18: ventis remis). Dass man nur zur Einfahrt in den Hafen gerudert habe (so Schein zu 355–6), wird z. B. durch Thukydides 3,49,3 widerlegt. Sigeion: Ein Ort in der Troas. Nach Plinius, Naturalis historia 5,125 waren dort Achills Schiffslager und in der Nähe davon auch sein Grabhügel. Zur Lokalisierung des Ortes an der Stelle des heutigen Yenişehir vgl. Cook 1973, 178–185, bes. 184 f.

154

Erstes Epeisodion: 356–363

bitter werden sollte. Und sogleich umringte mich das gesamte Heer, als ich von Bord ging, und hieß mich willkommen: Sie schwuren, Achill, der nicht mehr war, wieder lebend zu sehen. Jener nun lag aufgebahrt da. Aber ich Unglücklicher ging, nachdem ich ihn beweint hatte, gleich 360 zu den Atreus-Söhnen – zu Freunden, wie anzunehmen war – und verlangte von ihnen die Rüstung und den übrigen Besitz meines Vaters. Die aber gaben, weh mir, eine höchst unverschämte Antwort: κατηγόµην· καί µ’ εὐθὺς ἐν κύκλῳ στρατὸς ἐκβάντα πᾶς ἠσπάζετ’, ὀµνύντες βλέπειν τὸν οὐκέτ’ ὄντα ζῶντ’ Ἀχιλλέα πάλιν. κεῖνος µὲν οὖν ἔκειτ’· ἐγὼ δ’ ὁ δύσµορος, ἐπεὶ ’δάκρυσα κεῖνον, οὐ µακρῷ χρόνῳ ἐλθὼν Ἀτρείδας – πρὸς φίλους, ὡς εἰκὸς ἦν – τά θ’ ὅπλ’ ἀπῄτουν τοῦ πατρὸς τά τ’ ἄλλ’ ὅσ’ ἦν. οἱ δ’ εἶπον, οἴµοι, τληµονέστατον λόγον·

360

357 ὀµνύντες] sinngemäßer Bezug des Plurals auf den singularischen Kollektivbegriff στρατὸς (356), K.-G. I 54. 358 οὐκέτ’] es ist ein bestimmter Toter gemeint, daher nicht Negation µή (K.-G. II 201 f., Anm. 4). 360 ’δάκρυσα Trikl. : δάκρυσα (Hss.) – Prodelision des Augments wie z. B. 369; Ant. 457. 361 πρὸς φίλους (Hss.) : προσφιλῶς +Bothe : πρὸς φίλως / προσφιλὴς Korrekturen in zwei Hss. – Sophokles schrieb möglicherweise noch in alter Schreibweise ΠΡΟΣΦΙΛΟΣ, eine Zeichenfolge, die sich nach der euklidischen Schriftreform ebenso als πρὸς φίλους wie als προσφιλῶς auflösen ließ. „i.e. πρὸς Ἀτρ. ὡς πρὸς φίλους, ὥσπερ εἰκὸς ἦν αὐτοὺς εἶναι φίλους“ (Campbell 1881 zu 361); vgl. Komm. 363 τληµονέστατον] ~ ἀναιδέστατον, vgl. El. 439 τληµονοστάτη γυνὴ (sc. Klytaimestra).

Kommentar

155

356 (griechischer Text: 355) ‚bitter‘ sagt Neoptolemos von Sigeion, weil er dort seinen toten Vater zu betrauern hatte und weil er dort die schlechte Behandlung erfuhr, die er im Folgenden schildert. 358 Der Bericht über die beschworene Ähnlichkeit mit dem Vater, den Philoktet so sehr schätzte (242), soll Neoptolemos (auch in seiner Integrität) als zweiten Achill erscheinen lassen und Philoktet für Neoptolemos einnehmen (vgl. Kamerbeek). Das Motiv der Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn ist noch ausgeprägter formuliert in Adespota F 363 TrGF (vielleicht aus Sophokles’ Philoktet in Troia oder seinen Skyrioi), wo es heißt: „Nicht der Sohn Achills, sondern jener selbst.“ Vgl. auch Livius 21,4,2: Hannibal erscheint den älteren Soldaten als jugendlicher Hamilkar. 359 ‚aufgebahrt‘: Das griechische Wort (ekeit[o]) heißt wörtl. nur ‚lag da‘, was bedeuten könnte ‚als Toter begraben‘. Da Neoptolemos aber Achill noch unbestattet sehen wollte (351) – und in Anbetracht der großen Eile der Fahrt (355) –, soll man sich wohl vorstellen, dass Neoptolemos ihn noch aufgebahrt sah (ekeito also für proukeito gebraucht ist) und den Leichnam seines Vaters beweinen konnte (360). 361 ‚zu Freunden, wie anzunehmen war‘: Neoptolemos will in seiner Rede erklären, wie es zu der angeblichen Feindschaft zwischen ihm und den AtreusSöhnen (sowie Odysseus) gekommen ist. Seine gespielte Bitterkeit und Enttäuschung über das, was dann geschehen sei (363 ff.), kommt besonders gut heraus, wenn er seine natürliche Erwartung voranstellt, er würde Freunden gegenübertreten (pros philous), die ihm selbstverständlich aushändigten, was ihm zustünde (vgl. zu 1383). Die alternative Lesart (prosphilōs, die nach Fraenkel (1977, 53) die Bitterkeit der Szene steigert) ergibt den Sinn: „having gone to the Atreidai, I asked in a friendly way, as was reasonable, to have my father’s arms returned and the other things, as many as were (his)“ (Schein). Diese Lesart würde zu dem weniger grundsätzlichen Gegensatz ‚freundlicher – unverschämter / dreister Umgang‘ führen, während die andere mit dem für das ganze Drama sinntragenden Freund-Feind-Motiv arbeitet. Warum sollte auch das selbstverständlich freundliche Zugehen auf Freunde (wie er ja so oder so glauben muss) ausdrücklich als vernünftig oder angemessen deklariert werden? 363 ‚unverschämte Antwort‘: Neoptolemos charakterisiert die Antwort der Atreus-Söhne (364–366) als unverschämt, um emotional die seines Erachtens ungerechtfertigte Vorenthaltung der Rüstung zu brandmarken und gegenüber Philoktet seine Betroffenheit zu zeigen. Da Philoktet den Anspruch des Neoptolemos für berechtigt hält, wie seine Reaktion zeigt (406–409), ist er offenbar als gültig anzusehen (auch Odysseus war bei der Konzeption seiner Lügengeschichte davon ausgegangen, 63), obwohl der Streit zwischen Aias und Odysseus um die Rüstung Achills (vgl. zu 56–64; 364–373) die Vorstellung, der Erbe müsse die Rüstung erhalten, nicht als sachlich zwingend erweist. In Sophokles’ Aias vererbt Aias seinen Schild seinem Sohn, sein übriges Rüstzeug soll nicht als Kampfpreis ausgesetzt, sondern mit ihm begraben werden (Ai. 572–577). Daraus folgt, dass sowohl Vererbung als auch Aussetzung als Preis für grundsätzlich mögliche Verfahren gelten können.

Erstes Epeisodion: 364–376

156

„Spross Achills, es steht dir frei, das Übrige, was dem Vater gehörte, zu nehmen, doch Herr über jene Rüstung ist jetzt ein anderer Mann, des Laërtes Sohn.“ Da breche ich in Tränen aus und springe sofort auf in heftigem Zorn und sage schmerzerfüllt: „Elender, ihr wagtet es wirklich, anstelle von mir einem anderen meine Rüstung zu geben, ehe ihr mich gefragt habt?“ Da sagte er, Odysseus, denn er war gerade in der Nähe: „Ja, Sohn, zu Recht haben diese sie mir gegeben; denn ich habe sie geborgen und jenen, weil ich zugegen war.“ Und ich in meinem Zorn überschüttete ihn sofort mit Schmähungen aller Art, wobei ich nichts ausließ, für den Fall, dass er mich meiner Rüstung berauben sollte. „ὦ σπέρµ’ Ἀχιλλέως, τἄλλα µὲν πάρεστί σοι πατρῷ’ ἑλέσθαι, τῶν δ’ ὅπλων κείνων ἀνὴρ ἄλλος κρατύνει νῦν, ὁ Λαέρτου γόνος.“ κἀγὼ ’κδακρύσας εὐθὺς ἐξανίσταµαι ὀργῇ βαρείᾳ, καὶ καταλγήσας λέγω· „ὦ σχέτλι’, ἦ ’τολµήσατ’ ἀντ’ ἐµοῦ τινι δοῦναι τὰ τεύχη τἀµά, πρὶν µαθεῖν ἐµοῦ;“ ὁ δ’ εἶπ’ Ὀδυσσεύς, πλησίον γὰρ ὢν κύρει· „ναί, παῖ, δεδώκασ’ ἐνδίκως οὗτοι τάδε· ἐγὼ γὰρ αὔτ’ ἔσωσα κἀκεῖνον παρών.“ κἀγὼ χολωθεὶς εὐθὺς ἤρασσον κακοῖς τοῖς πᾶσιν, οὐδὲν ἐνδεὲς ποιούµενος, εἰ τἀµὰ κεῖνος ὅπλ’ ἀφαιρήσοιτό µε.

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366 Λαέρτου (Hss.) : Λαρτίου – metrisch ist beides möglich (vgl. Komm. zu 87). 367 κἀγὼ ’κδακρύσας : κἀγὼ δακρύσας : κἄγωγ᾿ ἀκούσας Bothe – die sofortige emotionale Reaktion, die im überlieferten Text zum Ausdruck kommt, erscheint der Situation angemessener als die durch die Konjektur hergestellte; vgl. Jebb; Ll.-J./W.1. | κἀγὼ] καί bezeichnet (analog zu den GP 293 [10] aufgeführten Fällen) den Einsatz der Handlung, die sich aus 364–366 ergibt. 368  καταλγήσας] zu dieser seltenen, verstärkten Form von ἀλγέω vgl. noch Polybios 3,80,4. 369 ὦ σχέτλι’, ἦ Hss. : ὦ σχέτλι’, οἱ (Korrektur in 1 Hs.) : ὦ σχέτλιοι Valckenaer – vgl. Komm. 370 ἐµοῦ Hss. : ἐµέ Tournier (nach Hartung) – µαθεῖν ἐµοῦ bedeutet gewöhnlich ‚mich verstehen‘, ist hier aber offenbar wie πυθέσθαι ἐµοῦ gebraucht; vgl. Tr. 408 (K.-G. I 361 Anm. 10 a). Tourniers Konjektur führt zwar zu einer üblicheren Konstruktion, aber: nicht Neoptolemos muss davon hören, sondern die anderen, ob er einverstanden ist. 371 ὁ δ’ εἶπ’ Ὀδυσσεύς] ὁ ist hier Pronomen und der Name Apposition, ein Epizismus, vgl. z. B. Homer, Ilias 2,402; Soph. Ai. 780–782. | κύρει Hss. : κυρεῖ Markland – vgl. zum (augmentlosen) Imperfekt Rijksbaron 2006, 140–144. 374 κἀγὼ] vgl. zu 367. | ἤρασσον] vgl. Ai. 724 f. ὀνείδεσιν ἤρασσον. 375 ποιούµενος] zum Medium vgl. OC 1143 f. τὸν βίον σπουδάζοµεν / λαµπρὸν ποιεῖσθαι. 376 ἀφαιρήσοιτό] vgl. zu 353. | µε (Hss.) : µου (varia lectio in einigen Hss.) – mit µου wäre die Konstruktion ungewöhnlich (K.-G. I 328 Anm. 10 c).

Kommentar

157

364–373 Die Lügengeschichte enthält das ‚wahre‘ Element, dass Odysseus (statt Aias) nach dem Tod Achills dessen Rüstung bekam. Vgl. Odyssee 11,543 ff.; Ilias parva, Argumentum 1 (p. 74,3 f . Bernabé = pp. 120 f. West 2003); Soph. Ai. 441–446. Vgl. auch zu 56–64. 364 ‚Spross‘: Neoptolemos wird hier (sowie 582; 1066) – anders als sonst (vgl. zu 79) – als sperma (eigtl.: ‚Same‘, aber auch ‚Nachkomme‘) bezeichnet. Es handelt sich jeweils um besonders herausgehobene Anreden in angeblich oder tatsächlich kritischen Situationen. 366  ‚Sohn‘: vgl. zu 333. 367 Auch Achill hatte mit Tränen auf eine Kränkung reagiert (Ilias 1,349; 357; 360). Vgl. auch zu 278. ‚springe … auf‘: Er hatte sich zuvor, so kann man wohl erschließen, wie unter Freunden im Sitzen unterhalten (Jebb). 368 ‚in heftigem Zorn‘: Neoptolemos ist auch im Zorn (vgl. noch 374) ein zweiter Achill, ganz anders als Odysseus (377). 369 ‚Elender‘: Das Scholion bezieht die singularische Anrede auf Agamemnon (den man sich vielleicht auch 364–366 als Wortführer denken soll); Neoptolemos geht dann in den Plural über: die beiden Atreus-Söhne. An etwaige weitere Führer der Griechen (vgl. Schein) ist weniger zu denken; Odysseus sei eher zufällig in der Nähe gewesen (371). 370 ‚meine Rüstung‘: Neoptolemos artikuliert hier einen eindeutigen Besitzanspruch. Vgl. auch zu 62. ‚ehe ihr mich gefragt habt‘, wörtl. ‚von mir hörtet‘: sc. ob ich damit einverstanden bin. 372–373 Vielleicht konnte es als Großtuerei des Odysseus erkannt werden, wenn Neoptolemos ‚referiert‘, dass Odysseus hier die Bergung allein für sich beansprucht (vgl. auch Ovid, Metamorphosen 13,284 f.). Denn nach der Aithiopis, Argumentum (p. 69,16–18 Bernabé = pp. 112 f. West 2003) hat Aias Achills Leichnam geborgen, Odysseus lediglich die Troianer abgewehrt. 372 ‚zu Recht‘: Neoptolemos lässt in dieser fingierten Rede des Odysseus diesen einen anderen Rechtsanspruch (endikōs) erheben, als Odysseus selbst im Entwurf seiner Lügengeschichte angenommen hatte (63). 373 ‚sie … jenen‘: die Rüstung und den toten Achill. 374–376 Offenbar soll man den Rechtsanspruch des Neoptolemos auf die Rüstung seines Vaters nicht durch die Leistung dessen, der die Rüstung geborgen hat, eingeschränkt ansehen. Jedenfalls verfängt die Rechtfertigung des Odysseus bei Neoptolemos nicht und ist auch Philoktet, wie er soll, vollkommen überzeugt, dass Neoptolemos übel behandelt wurde (406–409). 375 ‚wobei ich nichts ausließ‘, wörtl. ‚wobei ich nichts machte (soweit es an mir lag), an dem noch etwas fehlte‘: Die Beleidigungen waren vollständig. 376 In direkter Rede dürfte Neoptolemos etwa gesagt haben: Ich werde dich immer einen Schurken usw. nennen, für den Fall, dass du mir die Rüstung, auf die ich Anspruch habe, vorenthalten solltest. Vgl. Kamerbeek.

Erstes Epeisodion: 377–390

158

Und der, so weit gebracht, obwohl er nicht leicht in Zorn gerät, getroffen durch das, was er gehört hatte, antwortete darauf so: „Du warst nicht, wo wir waren, sondern warst fern, wo du nicht hättest sein sollen. Und mit dieser Rüstung, da du auch noch frech daherredest, 380 wirst du niemals zu deinem Skyros fahren!“ Auf solche Vorwürfe, solche üblen Schmähungen hin fahre ich nach Hause, meines Eigentums beraubt vom größten Schurken und Sohn von Schurken, von Odysseus. {Und doch beschuldige ich ihn nicht so wie die Befehlshaber. 385 Denn die Stadt hängt ganz von den Führern ab und das gesamte Heer; und die Menschen, die sich nicht an die Regeln halten, werden schlecht durch das, was ihre Lehrer sagen.} Jetzt ist alles gesagt: Wer die Atreus-Söhne hasst, der sei gleichermaßen mir und den Göttern Freund! 390 ὁ δ’ ἐνθάδ’ ἥκων, καίπερ οὐ δύσοργος ὤν, δηχθεὶς πρὸς ἁξήκουσεν ὧδ’ ἠµείψατο· „οὐκ ἦσθ’ ἵν’ ἡµεῖς, ἀλλ’ ἀπῆσθ’ ἵν’ οὔ σ’ ἔδει. καὶ ταῦτ’, ἐπειδὴ καὶ λέγεις θρασυστοµῶν, οὐ µή ποτ’ εἰς τὴν Σκῦρον ἐκπλεύσῃς ἔχων.“ τοιαῦτ’ ἀκούσας κἀξονειδισθεὶς κακὰ πλέω πρὸς οἴκους, τῶν ἐµῶν τητώµενος πρὸς τοῦ κακίστου κἀκ κακῶν Ὀδυσσέως. {κοὐκ αἰτιῶµαι κεῖνον ὡς τοὺς ἐν τέλει· πόλις γάρ ἐστι πᾶσα τῶν ἡγουµένων στρατός τε σύµπας· οἱ δ’ ἀκοσµοῦντες βροτῶν διδασκάλων λόγοισι γίγνονται κακοί.} λόγος λέλεκται πᾶς· ὁ δ’ Ἀτρείδας στυγῶν ἐµοί θ’ ὁµοίως καὶ θεοῖς εἴη φίλος.

380

385

390

378 πρὸς] ‚in Bezug auf‘, „can always represent the cause of a feeling; cp. Tr. 1211“ (Jebb), mit δηχθεὶς und mit ἠµείψατο zu verbinden. | ἁξήκουσεν] das intensivierende ἐξ- steigert den Eindruck der Beschimpfung auf Odysseus; vgl. Jebb; El. 553. 380 ταῦτ’] (sc. τὰ ὅπλα) wird in weiter Sperrung von ἔχων (381) aufgenommen. Ein Bezug von ταῦτ’ zunächst als adverbieller Akkusativ auf λέγεις beim Hören (so Schein) ist unwahrscheinlich, wenn beim Vortrag der syntaktische Einschnitt nach ταῦτ’ deutlich wird. | ἐπειδὴ καὶ] καί hier in der Bedeutung „ ‘in addition to everything else’ “ (GP 297). 381 οὐ µή] vgl. zu 103. | εἰς : ἐς (Hss.) | τὴν Σκῦρον] vgl. Komm. und zu 325–326. 382 τοιαῦτ’ … κακὰ] Objekt zu ἀκούσας und innerer Akkusativ zu ἐξονειδισθεὶς (wiederum intensivierendes ἐξ-); vgl. zu 80. 383 πρὸς οἴκους] vgl. zu 60. 384 Dawe 2003, 103 will den Vers nach v. 382 platzieren oder die Athetese der vv. 385–388 schon mit v. 384 beginnen lassen; vgl. EK, S. 434 f. | πρὸς τοῦ κακίστου κἀκ κακῶν] vgl. OT 1397, Eur. Andr. 590 ὦ κάκιστε κἀκ κακῶν sowie zur Formulierung Soph. Phil. 874. {385–388} Barrett, Reeve, {387–388} Polle – vgl. EK, S. 435. 385 κοὐκ] adversatives καί (GP 292 [9]). 386 τῶν ἡγουµένων] der Genitiv ist „Pertinentive, with wider sense“ (Moorhouse 52). 388 λόγοισι Hss. : τρόποισι Nikolaos, Progymnasmata 3 (Rhet. Gr. I 274 Walz). 389 πᾶς] vgl. zu 15 (Versstruktur).

Kommentar

159

377 ‚so weit gebracht‘, wörtl. ‚zu diesem Punkt gekommen‘, sc. durch Neoptolemos, der ihn mit seinen Beschimpfungen dazu trieb. ‚nicht leicht in Zorn gerät‘: Neoptolemos stilisiert Odysseus als den kühl Berechnenden (wie er in der Odyssee charakterisiert ist), ganz im Gegensatz zu sich selbst, der angeblich mit emotionaler Heftigkeit auf die Ehrkränkung reagiert. 379 Neoptolemos will sagen, Odysseus habe den unfairen Vorwurf erhoben, dass er (der erst nach Achills Tod nach Troia geholt wurde, 345–353) den Fehler begangen habe, nicht vor Troia zu sein (und damit auch bei der Bergung Achills und seiner Rüstung nicht zugegen). 380–381 Wie überliefert wird, hat Odysseus allerdings dem aus Skyros herbeigeholten Neoptolemos Achills Rüstung übergeben, vgl. zu 56–64. 381 ‚zu deinem Skyros‘: d. h. ‚zu deinem (lächerlichen) Skyros‘. Vgl. zu 325–326. Der im Griechischen gesetzte Artikel vor Skyros hat hier die Funktion eines verächtlich gebrauchten Possessivpronomens. 384 ‚Sohn von Schurken‘: Gemeint ist die angebliche Abstammung des Odysseus von Sisyphos; vgl. 417 mit Komm. Der Plural ist idiomatisch (vgl. die Parallelen in TS), gemeint ist nur einer. Zur Frage der Echtheit bzw. Platzierung des Verses vgl. EK, S. 434 f. 385–388 Diese Verse sind vermutlich unecht; vgl. EK, S. 435. 385 ‚Befehlshaber‘, wörtl. ‚die im Amt sind‘, ‚die die Entscheidungsgewalt haben‘ (vgl. Ai. 1352). Gemeint sind Agamemnon und Menelaos. 386–387 Die schuldhafte Verantwortlichkeit der Atreus-Söhne für das Fehlverhalten des Odysseus soll dadurch als erwiesen gelten, dass es generell Autoritätspersonen wie Lehrern anzulasten ist, wenn sich Menschen nicht an Regeln halten, d. h., wenn Odysseus widerrechtlich die Waffen beansprucht. 389 ‚Jetzt ist alles gesagt‘, wörtl. ‚Was zu sagen war (logos), ist zur Gänze gesagt‘ (vgl. 241), wobei der Ausdruck für ‚ganz‘ betont vor der ungewöhnlichen Mittelzäsur des Verses steht. Philoktet soll sich als umfassend informiert betrachten, aber auch Odysseus’ Auftrag (54 ff.) ist vollständig ausgeführt; vgl. Kamerbeek. 389–390 Auf der Basis gemeinsamer Feindschaft dient sich Neoptolemos als Freund an: Damit hat er dem Plan des Odysseus entsprechend die Intrige konsequent eingeleitet.

Erstes Epeisodion (Strophe): 391–402

160 Ch.

Χο.

Göttin der Berge, allnährende Erde, Mutter sogar von Zeus, die du wohnst, wo der große, goldreiche Paktolos fließt, dich habe ich auch dort, erhabene Mutter, angerufen, als gegen diesen (zeigen auf Neoptolemos) der Atreus-Söhne ganzer Frevelmut ging, als sie die väterliche Rüstung übergaben – ioh, du glückselige, die du auf stiertötenden Löwen reitest – dem Sohn des Laërtes, (eine Rüstung,) die höchster Verehrung wert ist. ὀρεστέρα παµβῶτι Γᾶ, µᾶτερ αὐτοῦ Διός, ἃ τὸν µέγαν Πακτωλὸν εὔχρυσον νέµεις, σὲ κἀκεῖ, µᾶτερ πότνι’, ἐπηυδώµαν, ὅτ’ ἐς τόνδ’ Ἀτρειδᾶν ὕβρις πᾶσ’ ἐχώρει, ὅτε τὰ πάτρια τεύχεα παρεδίδοσαν – ἰὼ µάκαιρα ταυροκτόνων λεόντων ἔφεδρε – τῷ Λαρτίου, σέβας ὑπέρτατον.

Strophe 394/5 398/9 400

στρ. 394/5 398/9 400

392 αὐτοῦ] zur Bedeutung ‚selbst‘, ‚sogar‘ vgl. K.-G. I 653 b. 393 τὸν µέγαν Πακτωλὸν εὔχρυσον] zur Stellung der zwei beigeordneten Adjektive (K.-G. I 277) vgl. 986 f. u. OT 1199 f.; Bruhn § 166. 395 ἐπηυδώµαν (Hss.) : ἐξηυδώµαν Trikl. – das verbreitetere ἐξαυδάω ist eine Trivialisierung des nur hier im klassischen Griechisch vorkommenden ἐπαυδάω; das Imperfekt (wie auch 397 u. 399) dient der Veranschaulichung; vgl. Bers 1981, 502 f. 397 πᾶσ’] attributiv, wenn auch eine prädikative Auffassung („ ‘in full strength’ “, Webster) nicht auszuschließen ist. 398/9 τεύχεα] mit diesem Ausdruck wird bei Homer die Rüstung Achills bezeichnet (Ilias 18,466; 19,10). 399 παρεδίδοσαν : παραδίδοσαν 401 Λαρτίου : Λαερτίου – die Form Λαερτίου würde die Serie der Dochmien durchbrechen (vgl. ‚Metrische Analysen‘, S. 448); zur Form Λαρτίου vgl. 1286 und Komm. zu 87. 402 σέβας Hss. : γέρας Nauck – σέβας kann ein Objekt der Verehrung und Bewunderung bezeichnen, vgl. El. 685 (von Orest); es steht in Apposition zu τεύχεα (398/9).

Kommentar

161

391–402 Statt der zwischen der Rede des Neoptolemos und der Antwort Philoktets zu erwartenden vom Chorführer gesprochenen Verse (wie etwa 317 f.) bestätigt hier der Chor durch seinen Gesang die Version des Neoptolemos mit einer kurzen Strophe. Dadurch wird nicht nur das lange erste Epeisodion markant gegliedert, sondern die von Neoptolemos erbetene Hilfe durch seine Leute (148 f.; vielleicht auf ein Zeichen von ihm hin einsetzend), die die Intrige des Neoptolemos durch die eigene gespielte Empörung über das Neoptolemos angetane ‚Unrecht‘ unterstützen, wirkt durch die gesungene Äußerung emotional eindrücklicher. – Die Gegenstrophe folgt 507–518; zu getrennten Strophenpaaren vgl. bes. OT 649 ff. / 678 ff.; OC 833 ff. / 876 ff. Eur. Hipp. 362 ff. / 669 ff.; Or. 1353 ff. / 1537 ff. (Gardiner 1987, 26–28). 391–392 In dieser Anrufung werden ursprünglich verschiedene Göttinnen in eins gesetzt: Die Göttin der Berge ist die phrygische Stadt- und Muttergöttin Kybele, die auf bzw. bei Löwen sitzt (400–401 mit Komm.). Die sonst auch als ‚Mutter aller Götter und aller Menschen‘ (Homerischer Hymnos 14,1), die ‚große Mutter Kybele‘ (Eur. Bacch. 78 f.), die ‚Mutter der Götter in den Bergen‘ (Eur. Hel. 1301 f.) benannte Göttin wird hier identifiziert mit Gaia / Gaiē bzw. Gē, der göttlichen Erde, und über die Gleichsetzung mit der Titanin Rhea, der Mutter des Zeus, wird sie als Mutter des höchsten Gottes apostrophiert und so als Adressatin der Anrufung, welche die Mannschaft des Neoptolemos getätigt haben will (394 f.), in ihrer Bedeutung gesteigert. Weitere Erläuterungen zu Kybele und ihrer Funktion hier s. EK, S. 435 f. 393 ‚Paktolos‘: Fluss in Lydien, der im Tmolos-Gebirge entspringt, durch Sardeis fließt, in den Hermos mündet und Goldstaub mit sich führte; vgl. Herodot 5,101,2. Nach Strabon (* 64/63 v. Chr.) war das zu seiner Zeit nicht mehr der Fall (Geographika 13,4,5). Vgl. Keil 1942, 2439. 394 ‚dort‘: in Troia. 395–399 ‚angerufen … ging … übergaben‘: im Griechischen den Vorgang beschreibende Imperfekta: Der Chor will sich schon an die Göttin gewandt haben, als die Atreus-Söhne Achills Rüstung an Odysseus gegeben hätten. 396 ‚diesen‘: Neoptolemos. Nur er, der anwesend ist, kann mit dem deiktischen Pronomen (tond’) gemeint sein. Dass der Chor sich (mit einer weniger massiven Lüge) auf Aias (vgl. zu 410–413) bezöge, nur Philoktet ihn anders verstehen müsste (erwogen von Visser 1998, 119), liegt daher fern. Zur Lüge des Chors vgl. auch Kitzinger 2008, 88–91. 400–401 ‚auf stiertötenden Löwen reitest‘: Der hier verwendete griechische Ausdruck ephedros kann bedeuten, dass die Göttin auf einem Löwen sitzt (wie man auf einem Pferd sitzt, vgl. Eur. Ion 202), könnte aber auch ausdrücken, dass sie in der Nähe von Löwen sitzt (vgl. zum Sprachlichen Platon, Politikos 273 e 1), sei es auf einem von Löwen gezogenen Gespann, sei es auf einem von Löwen flankierten Thron. Alle diese Konstellationen sind durch Bildzeugnisse belegt (vgl. LIMC VIII 1, 751 f.; 758–760). 402 Die Rüstung Achills war als Werk des Gottes Hephaistos (Homer, Ilias 18,457 ff.; vgl. auch zu 1365 a) in vergleichbarer Weise göttlich wie der von Herakles überlassene Bogen Philoktets (‚Göttergeschosse‘; vgl. zu 198).

Erstes Epeisodion: 403–410

162 Ph.

Φι.

Mit deutlichem Zeichen der Zusammengehörigkeit, scheint es, eurem Schmerz, seid ihr, Fremde, zu mir gefahren, und ihr stimmt mit mir überein, sodass ich erkenne: Das sind die Taten der Atreus-Söhne und des Odysseus. Denn ich weiß genau, dass er seine Zunge jeglicher üblen Sache und jeder Schandtat leiht, um damit letztlich etwas Ungerechtes tun zu können. Indes, nicht das verwundert mich, sondern dass der größere ἔχοντες, ὡς ἔοικε, σύµβολον σαφὲς λύπης πρὸς ἡµᾶς, ὦ ξένοι, πεπλεύκατε, καί µοι προσᾴδεθ’ ὥστε γιγνώσκειν, ὅτι ταῦτ’ ἐξ Ἀτρειδῶν ἔργα κἀξ Ὀδυσσέως. ἔξοιδα γάρ νιν παντὸς ἂν λόγου κακοῦ γλώσσῃ θιγόντα καὶ πανουργίας, ἀφ’ ἧς µηδὲν δίκαιον ἐς τέλος µέλλοι ποεῖν. ἀλλ’ οὔ τι τοῦτο θαῦµ’ ἔµοιγ’, ἀλλ’ εἰ παρὼν

405

410

405

410

404 λύπης] Genitiv statt Apposition (K.-G. I 264 d), das σύµβολον besteht in der λύπη. | πρὸς ἡµᾶς] als Richtungsangabe wird man πρὸς ἡµᾶς vor allem auf πεπλεύκατε beziehen (Fraenkel 1977, 55 f.); es ist aber nicht auszuschließen, dass Philoktet auch als Empfänger des σύµβολον mit gemeint ist (vgl. zuletzt Schein). 405 προσᾴδεθ’ : προσᾴδεσθ’ – die mediale Form ist nicht klassisch. | γιγνώσκειν] zu ergänzen µε (aus µοι); vgl. zu 460; 1367. 406 ἐξ … κἀξ] ἐξ zur stärkeren Betonung der Urheberschaft statt des bloßen Genitivs. 407 λόγου κακοῦ (Hss) : κακοῦ λόγου 409 µέλλοι : µέλοι : µέλλει – Attraktion (µέλλοι ποεῖν  = ποήσοι) statt des Indikativs Futur. Im finalen Relativsatz ist die Negation µή (vgl. Jebb; Kamerbeek; K.-G. II 422, 4). Die Negation könnte auch als ‚generic‘ erklärt werden: „his purposes are of such a kind as can have no honest results“ (alternative Deutung Jebbs). Aber das mit allen Mitteln intendierte Ziel charakterisiert Odysseus treffender; vgl. etwa 83– 85. | ποεῖν : ποιεῖν – vgl. zu 120. 410–411 παρὼν … ὁρῶν] ὁρῶν bildet mit ἠνείχετο einen Ausdruck, dem παρὼν untergeordnet ist; vgl. zu asyndetischen Partizipien K.-G. II 104,2.

Kommentar

163

403–503 {504–506} Philoktet hat die von Neoptolemos und dem Chor gemeinsam präsentierte Lügengeschichte davon überzeugt, dass auch Neoptolemos von den Atreus-Söhnen und Odysseus schändlich behandelt wurde, er versteht aber nicht, warum nicht andere ihm beistanden. In einer Mischung aus zutreffenden Informationen und die ‚tatsächlichen‘ Verhältnisse verschleiernden Halbwahrheiten erweckt Neoptolemos bei Philoktet den Eindruck, dass die potentiellen Helfer tot oder durch einen Schicksalsschlag verhindert gewesen seien, den Schlechten es dagegen gut gehe. Diese Darstellung führt dazu, dass sich beide in einer gemeinsamen Wertewelt treffen (vgl. 419 f.; 435–438; 456– 458; Schmidt 1973, 92). Die (von Neoptolemos betont artikulierte) Übereinstimmung macht seinen Trug besonders wirksam (Parlavantza-Friedrich 1969, 57 f.), aber sie ist im Prinzip auch wirklich gegeben, wie die spätere Annäherung der beiden erweist. Bei Philoktet nährt Neoptolemos’ Bericht über die anderen Griechen vor Troia Zweifel an der göttlichen Gerechtigkeit. – Mit einer abrupt geäußerten Erklärung, dass er jetzt nach Hause aufbrechen wolle, provoziert Neoptolemos Philoktet zu der Bitte, mitgenommen zu werden, die auch mit großer Eindringlichkeit sogleich (468–503 {504–506}) erfolgt. 403 ‚Zeichen der Zusammengehörigkeit‘, wörtl. ‚Erkennungszeichen‘ (symbolon): Ein solches besteht im materiellen Sinn aus zwei Teilen eines ursprünglich Ganzen (z. B. eines Knochens); ihre Besitzer können am Zusammenpassen der Teile erkennen, dass sie die für einander Bestimmten sind. Vgl. Scholion zu Eur. Med. 613 (II, p. 175 Schwartz); Eubulos, fr. 70 K.-A.; Herodot 6,86,α 5. Philoktet sieht das symbolon in der passgenauen Übereinstimmung des Schmerzes, verursacht durch die Atreus-Söhne und Odysseus. 405 ‚ihr stimmt mit mir überein‘, wörtl. ‚ihr singt im Einklang mit mir‘: Die musikalische Metapher (die in Bezug auf den Chor insofern nicht nur Metapher ist, als dieser zuvor gesungen hat) drückt aus, dass das, was die Fremden sagen, genau dem entspricht, was Philoktet selbst widerfahren ist. 407–409 Der Sinn ist, dass – nach Einschätzung Philoktets – Odysseus seine rhetorische Kompetenz unmoralisch einsetzt, um damit ein nicht gerechtes Ziel zu erreichen. Philoktet charakterisiert damit das Vorgehen des Odysseus, dessen Opfer er gerade wird, wozu Odysseus jedoch Neoptolemos vorgeschickt hat; vgl. auch Odysseus’ Selbsteinschätzung vv. 96–99. 410–413 Das Verhältnis dieser Verse zur mythisch-literarischen Tradition ist ebenso komplex wie raffiniert. Denn an dieser Tradition gemessen nimmt Philoktet ‚richtig‘ an, dass Aias die Übergabe der Rüstung an Odysseus nicht geduldet hätte, kann das aber nur sagen, weil er nicht weiß, was ‚wirklich‘ geschehen ist. Neoptolemos spricht ‚zutreffend‘ vom Tod des Aias (wobei es offenbleiben muss, ob man sich sagenchronologisch dessen Tod vor oder nach der Ankunft des Neoptolemos in Troia vorstellen soll), verschweigt aber, dass Aias letztlich wegen dieser Rüstung den Freitod wählte, nachdem seine Rache an den Atreus-Söhnen und Odysseus, weil er die Rüstung nicht erhalten hatte, fehlgeschlagen war (vgl. Aithiopis, Argumentum, p. 69,23 f. Bernabé = pp. 112 f. West 2003; Ilias Parva, Argumentum 1, p. 74,3–5 Bernabé = pp. 120 f. West 2003; Sophokles, Aias). Bei einer derartigen Anspruchshaltung wäre

Erstes Epeisodion: 411–421

164

Ne. Ph. Ne. Ph. Ne. Ph.

Νε. Φι. Νε. Φι. Νε. Φι.

Aias, wenn er dabei war, dies mit ansehen konnte. Er war nicht mehr am Leben, Fremder; denn niemals wäre ich, hätte jener gelebt, der Rüstung beraubt worden. Was hast du gesagt? Auch e r ist tot, dahingegangen? Betrachte ihn als einen, der nicht mehr unter der Sonne weilt. Weh mir, ich Unglücklicher! Aber der Sohn des Tydeus und der Sohn des Sisyphos, gekauft von Laërtes, die sterben gewiss nicht; dabei hätten die den Tod verdient! Die sterben nicht, da kannst du sicher sein! Sondern sie stehen jetzt in hohem Ansehen im Heer der Argeier. Und was ist mit ihm, der ein alter und tüchtiger Mann ist und ein Freund von mir, Αἴας ὁ µείζων ταῦθ’ ὁρῶν ἠνείχετο. οὐκ ἦν ἔτι ζῶν, ὦ ξέν’· οὐ γὰρ ἄν ποτε ζῶντός γ’ ἐκείνου ταῦτ’ ἐσυλήθην ἐγώ. πῶς εἶπας; ἀλλ’ ἦ χοὖτος οἴχεται θανών; ὡς µηκέτ’ ὄντα κεῖνον ἐν φάει νόει. οἴµοι τάλας. ἀλλ’ οὐχ ὁ Τυδέως γόνος, οὐδ’ οὑµπολητὸς Σισύφου Λαερτίῳ, οὐ µὴ θάνωσι. τούσδε γὰρ µὴ ζῆν ἔδει. οὐ δῆτ’· ἐπίστω τοῦτό γ’· ἀλλὰ καὶ µέγα θάλλοντές εἰσι νῦν ἐν Ἀργείων στρατῷ. τί δ᾿; ὃς παλαιὸς κἀγαθὸς φίλος τ’ ἐµός,

415

420

415

420

411 ἠνείχετο Hss. : ἠνέσχετο Porson – Philoktet stellt sich den Verlauf der Aktion vor. 412 ἦν … ζῶν] vgl. Tr. 735 εἶναι ζῶσαν, Bruhn § 108. 413 ταῦτ’ Hss. : τἄµ᾿ Nauck – zum Akk. der Sache (ταῦτ’ ~ τὰ τόξα) beim Passiv vgl. K.-G. I 326 Anm. 7. 414 ἀλλ’ ἦ χοὖτος : ἦ χοὖτος : ἦ γὰρ χοὖτος Seyffert – vgl. El. 879 und besonders Eur. Alk. 58 πῶς εἶπας; ἀλλ’ ἦ καὶ σοφὸς λέληθας ὤν; Ll.-J./W.1; zu ἀλλ’ ἦ vgl. GP 27 (4). | οἴχεται] Präsens zur Bezeichnung des resultierenden Zustands (K.-G. I 136 b). 415 ὡς µηκέτ’ ὄντα κεῖνον … νόει] vgl. zu 253. 416–418 οὐχ … (οὐδ᾿) … οὐ] rhetorische Anadiplose der Negationen, die sich nicht aufheben (K.-G. II 204 f. Anm. 1). 417 οὑµπολητὸς Σισύφου Λαερτίῳ] statt ὁ Σισύφου, ἐµπολητὸς Λαερτίῳ; durch die verschränkte Wortstellung wird der Makel der Abstammung von Sisyphos und des Gekauftseins akzentuiert. | Λαερτίῳ : Λαερτίου – nur Λαερτίῳ ist syntaktisch möglich. 418 οὐ µὴ] vgl. zu 103. | γὰρ] begründet ein zu ergänzendes ‚⟨das ist nicht recht⟩, denn …‘. | ἔδει] zur irrealen Auffassung im Deutschen bei Ausdrücken der Notwendigkeit vgl. K.-G. I 204 ff. 419 οὐ δῆτ’] bestätigt emphatisch eher οὐ µὴ (θάνωσι) als µὴ (ζῆν), wie Schein meint; so kommt der Gegensatz zu ἀλλὰ … θάλλοντές εἰσι (419 f.) besser heraus. 420 Ἀργείων : Ἀργείῳ – vgl. στρατὸν δ’ Ἀχαιῶν, 1250. 421 τί δ’; ὃς παλαιὸς : τί δ’ ὁ / ὤ / ὡ / παλαιὸς : τί δ᾿ αὖ παλαιὸς Hermann : τί ⟨γὰρ⟩ ὁ παλαιὸς Badham : ⟨φεῦ·⟩ τί δ’; ὁ παλαιὸς Page : τί φὼς παλαιὸς Rappold : τί χὠ παλαιὸς Dawe 1978, 125 – da die Konjekturen teils stärkere Eingriffe darstellen, teils sprachlich nicht überzeugen (z. B. wäre bei αὖ ein Artikel vor παλαιὸς zu erwarten), empfiehlt es sich, mit Campbell 1907, 205 und Kamerbeek (vgl. auch Ll.-J./W.2, die ὃ⟨ς⟩ für eine Konjektur Campbells halten) trotz der neben ἔστιν zu ergänzenden Copula das unter den tradierten Lesarten einzig mögliche ὃς zu lesen: „ ‘And what of him who is an old and good man, and a friend of mine?’ “ (Campbell). | κ(ἀγαθὸς) … τε] vgl. GP 500 (a) (α).

Kommentar

165

Aias wohl kaum prädestiniert gewesen, für eine Übergabe der Rüstung an Neoptolemos einzutreten, und so ist dessen Gesamtaussage auf Täuschung Philoktets angelegt, was Zuschauer, die über die Geschichte von Aias informiert waren, sicher sogleich durchschauen konnten. 411 Aias, der Sohn des Telamon, König von Salamis; der ‚große‘ Aias (zu unterscheiden vom ‚kleinen‘ Aias, dem Sohn des Oileus) galt nach Achill als der zweitstärkste Kämpfer vor Troia (vgl. Homer, Ilias 2,768 f.). 413 ‚Rüstung‘: Im griechischen Text steht nur ein Demonstrativpronomen. 414–415 Philoktet nimmt vermutlich an, dass Aias im Kampf gefallen sei (vgl. 426–429), und Neoptolemos weicht mit der wortreichen Umschreibung der Wahrheit aus. 415 ‚unter der Sonne‘, wörtl.: ‚im Licht‘. 416 ‚Weh mir, ich Unglücklicher!‘: Unglücklich fühlt sich Philoktet wohl deswegen, weil jemand, den er schätzte, tot ist, den Tod aber nicht verdient hat (im Gegensatz etwa zu Odysseus, 418; 429 f.). ‚Sohn des Tydeus‘: Diomedes, Herrscher in Argos (Homer, Ilias 2,559– 568; 23,471 f.), einer der herausragenden Kämpfer vor Troia. Zur Frage, warum Philoktet Diomedes ebenso wie Odysseus negativ beurteilt, s. EK, S. 436. 417 Sophokles lässt Philoktet Odysseus damit schmähen, dass er die Vaterschaft des Laërtes bestreitet (vgl. auch 1311). Tatsächlich wird überliefert, Odysseus sei in Wahrheit der Sohn des (berüchtigten und in der Unterwelt mit ewigem Hochrollen eines Felsblocks bestraften) Sisyphos, von dem Odysseus’ Mutter Antikleia schwanger gewesen sei, als Laërtes für sie bei ihrem Vater Autolykos den Brautpreis bezahlt habe (insofern wird Odysseus als ‚gekauft‘ bezeichnet). Vgl. Scholion zu v. 417; ferner Ai. 190 mit Scholion; F 567 Radt2; Aisch. F 175 Radt; Eur. Cycl. 104; IA 524; Ovid, Metamorphosen 13,31 f. 420 ‚stehen … in hohem Ansehen‘: Im Griechischen ist die Metapher des Blühens (thallein) gebraucht: Sie ‚stehen in voller Blüte‘, wie auch – mit negativen Vorzeichen – Philoktets Krankheit ‚blüht‘ (259; vgl. Pucci zu 259). 421–423 Nach der für Philoktet überraschenden Nachricht vom Tod des Aias ist er im Zweifel, ob auch der weise Nestor (der nach Homers Ilias schon zwei Generationen überlebt hatte und in der dritten herrschte; 1,250–252) noch am Leben sei, von dem er ebenfalls ein Eingreifen zugunsten des Neoptolemos erwartet hätte. Auf welcher Grundlage Sophokles diese Annahme Philoktets dem Zuschauer plausibel erscheinen lassen kann, ist nicht klar. Entweder galt der mäßigende Einfluss schon in der nicht erhaltenen voriliadischen Tradition als typisch für Nestor (Kyprien) oder Sophokles setzt die den Zuschauern aus der Ilias vertraute Vermittlertätigkeit Nestors (z. B. 1,254–284 zwischen Agamemnon und Achill) auch für die Figur Philoktet als bekannt voraus, obwohl dieser sie, da er vor Troia nicht dabei war, nicht kennen kann. Sophokles nutzt auch sonst das Phänomen, dass ein Zuschauer, der bereits eine bestimmte Kenntnis hat, in der Regel nicht bemerkt, wenn auch eine Figur über dieses Wissen verfügt, das sie eigentlich nicht haben kann; vgl. Manuwald (2012, 117) zu OT 350–353. Zu einem vergleichbaren Phänomen s. EK, S. 436 zu v. 416.

Erstes Epeisodion: 422–430

166

Ne. Ph.

Νε. Φι.

Nestor aus Pylos, ist er am Leben? Denn der pflegte doch wenigstens deren Schurkereien zu verhindern durch seinen weisen Rat. Ihm geht es jetzt schlecht, da ihm Antilochos durch den Tod entrissen ist, sein Sohn, der ihm zur Seite stand. 425 Weh mir! Auch noch diese zwei Männer nanntest du, von denen ich am wenigsten hätte hören wollen, dass sie tot sind. Weh, Weh! Worauf soll man da noch blicken, wenn diese tot sind, andererseits Odysseus lebt, auch da wieder, wo es anstatt von dem heißen müsste, er sei tot? 430 Νέστωρ ὁ Πύλιος, ἔστιν; οὗτος γὰρ τά γε κείνων κάκ’ ἐξήρυκε, βουλεύων σοφά. κεῖνός γε πράσσει νῦν κακῶς, ἐπεὶ θανὼν Ἀντίλοχος αὐτῷ φροῦδος, ὃς παρῆν γόνος. οἴµοι, δύ’ αὖ τώδ’ ἄνδρ᾿ ἔλεξας, οἷν ἐγὼ ἥκιστ’ ἂν ἠθέλησ’ ὀλωλότοιν κλύειν. φεῦ φεῦ· τί δῆτα δεῖ σκοπεῖν, ὅθ’ οἵδε µὲν τεθνᾶσ’, Ὀδυσσεὺς δ’ ἔστιν αὖ κἀνταῦθ’, ἵνα χρῆν ἀντὶ τούτων αὐτὸν αὐδᾶσθαι νεκρόν;

425

430

422 τά γε (Hss.) : τάχα : τάχ’ ἂν Hermann – vgl. zu 423. 423 κάκ’ (Hss.) : τάδ᾿ : ἂν Nauck | ἐξήρυκε (Hss.) : κἀξεκήρυξε(ν) : ἐξήρυξε Nauck | σοφά : σοφῶς : σαφῶς – wenn βουλεύων σοφά (innerer Akkusativ [Schein]) eine ständige Eigenschaft Nestors bezeichnet, ist eher ἐξήρυκε als in Kombination mit ἂν (422 o. 423) ἐξήρυξε (Nauck) zu lesen, das zu einem Einzelfall in der Vergangenheit passt (anders Ll.-J./W.). τάχ’ ἂν (Hermann, Ll.-J./W.) würde überdies eine Unsicherheit auf Seiten Philoktets ausdrücken, der doch offenbar auf die bewährte Vermittlertätigkeit Nestors vertraut (vgl. Pucci). γε (422) bedeutet, dass Nestor zwar nicht alles Schlechte, aber doch die ganz schlimmen Taten der Atreus-Söhne und des Odysseus zu verhindern pflegte (Jebb; anders Ll.-J./W.1). 424 πράσσει νῦν (Hss.) : πράσσειν ἦν : πράσσων ἦν Blaydes – Blaydes verbindet ingeniös die Überlieferungszweige, aber was Neoptolemos widerfuhr, war eben erst, und es geht um die gegenwärtige Befindlichkeit Nestors. 425 φροῦδος] sc. ἐστίν, gerade bei diesem Wort fehlt die Copula häufiger (K.-G. I 40 f., c). | ὃς παρῆν Toup, Hermann : ὅσπερ ἦν Hss. – Philoktet ist mit Nestor vertraut (421); Neoptolemos kann daher kaum nur sagen, Antilochos sei der Sohn Nestors. Der Zusammenhang erfordert eine nähere Spezifikation (anders Pucci). γόνος ist in den Relativsatz gezogene Apposition zu Ἀντίλοχος (K.-G. II 419,4). | γόνος (Hss.) : µόνος (Korrektur in einer Hs., auch durch das Scholion bezeugt, von Toup favorisiert) – das Scholion setzt die Lesung ὅσπερ ἦν voraus, d. h., Antilochos wäre Nestor als einziger Sohn geblieben; ein solcher (funktionsloser) Widerspruch zu Homer (Ilias 17,378 [vgl. 382]; Odyssee 3,411–415) ist unwahrscheinlich. 426 αὖ τώδ᾿ ἄνδρ᾿ ἔλεξας Blaydes, Jebb : αὔτως δείν᾿ ἔλεξας Hss. : † αὔτως δείν᾿ ἔλεξας † Dawe : αὖ τώδ᾿ ἐξέδειξας Porson – der überlieferte Text ist nicht haltbar (vgl. im Einzelnen Jebb), und die in den Text aufgenommene Konjektur (Blaydes) ist semantisch und vom Sinn her am ehesten zu vertreten. | αὖ] „i.e. after having mentioned Achilles’ death“ (Kamerbeek). 426–427 οἷν … κλύειν] der Genitiv bezeichnet die Person, über die man etwas erfährt (K.-G. I 360 f., b; Moorhouse 72 f.). 429 αὖ κἀνταῦθ’ Hss. : οὐκ ἐνταῦθ᾿ Bothe : „fortasse καὶ ταῦθ“ Ll.-J./W. – ἐνταῦθα ist weder rein lokal noch rein zeitlich zu verstehen, sondern die Grundbedeutung ist hier „generally, herein“ (LSJ s. v. IV); καί steigert ἐνταῦθα, αὖ geht auf das wiederholte Überleben der Schlechten statt der Guten; vgl. Komm. 430 χρῆν] vgl. zu 418 (ἔδει).

Kommentar

167

422 ‚Nestor aus Pylos‘: Er war Herrscher in Pylos, das nach der Ilias südlich des Flusses Alpheios (mittlere Peloponnes), nach der Odyssee wohl in Messenien (südliche Peloponnes) zu lokalisieren ist. Vgl. Scherf 2001, 614 f. 423 ‚deren‘: Damit müssen die Atreus-Söhne und Odysseus gemeint sein (nicht „such men as Odysseus and Diomedes“, Jebb), denn Philoktet will ermitteln, warum das ‚Unrecht‘ an Neoptolemos nicht verhindert wurde, womit (nach der Erzählung des Neoptolemos) Diomedes nichts zu tun hat. 424–425 Neoptolemos geht in seiner Antwort nur auf die Befindlichkeit Nestors ein und weicht so einer Auskunft über einen eventuellen Vermittlungsversuch Nestors aus. Antilochos war von Memnon, dem Führer der Aithiopier, getötet worden, als er seinen Vater Nestor, der ihn zu Hilfe rief, rettete (Pindar, Pythien 6,28–43). Diese Geschichte, die auf die Aithiopis zurückgeht (vgl. Argumentum, pp. 68,13; 69,19 Bernabé = pp. 112 f. West 2003), steht sicher im Hintergrund der Bemerkung des Neoptolemos, wenn auch das ‚Zur-Seite-Stehen‘ so allgemein ausgedrückt ist, dass kaum nur diese Rettungsaktion gemeint sein dürfte (vgl. Jebb). 426 ‚Auch noch‘: wiederum (au) eine schlimme Todesnachricht nach derjenigen von Achill. ‚zwei Männer‘: Aias und Antilochos. Die beiden zuletzt genannten (Nestor und Antilochos) können es nicht sein, da Nestor nicht tot ist. Zwar bedeutet das griechische Wort (olōlotoin, 427), das mit ‚tot sind‘ übersetzt wurde, genauer ‚vernichtet sein‘ (was nicht physischen Tod bezeichnen muss), aber ihm entspricht gleich danach (429) das eindeutige ‚tot sind‘ (tethnas’). 428 ‚Worauf … blicken‘: Das griechische Wort skopein bedeutet ‚beobachten‘, ‚prüfen‘, ‚bedenken‘. Hier will Philoktet wohl sagen, auf welchen (Orientierungs-)Punkt man noch sein Augenmerk richten soll, wenn die Weltordnung so durcheinanderkommt, dass die Guten sterben, die Schlechten am Leben bleiben. Ein vergleichbarer Gebrauch von skopein liegt OT 964 vor. Eine (sonst offenbar nicht belegte) Bedeutung „expect“ (Jebb; Schein) ist angesichts der üblichen Bedeutungen des Wortes weniger naheliegend. 429 ‚auch da wieder‘: D. h., Odysseus hat Aias und Antilochos überlebt (‚diese‘, 428), wie er auch schon Achill überlebt hat (331; 371) – statt dass diese lebten und er tot wäre (430); vgl. Jebb. Dass eher Odysseus hätte sterben sollen, hatte Philoktet schon in v. 418 gesagt.

Erstes Epeisodion: 431–441

168 Ne. Ph. Ne. Ph. Ne. Νε. Φι. Νε. Φι. Νε.

Ein schlauer Ringer ist der, doch auch die schlauen Pläne, Philoktet, werden oft durchkreuzt. Nun sag, bei den Göttern, wo war denn da, als du ihn brauchtest, Patroklos, deines Vaters liebster Freund? Auch der war tot. Und – kurz gefasst – will ich dir das sagen: Der Krieg rafft keinen schlechten Mann mit Absicht dahin, sondern immer nur die Tüchtigen. Das kann ich dir bezeugen; und ganz in diesem Sinn will ich dich nach einem Mann fragen, der nichts wert ist, aber ‚tüchtig‘ mit der Zunge und gerissen, wie es ihm jetzt ergeht. Wen anders willst du damit bezeichnen außer Odysseus? σοφὸς παλαιστὴς κεῖνος, ἀλλὰ χαἰ σοφαὶ γνῶµαι, Φιλοκτῆτ’, ἐµποδίζονται θαµά. φέρ’ εἰπὲ πρὸς θεῶν, ποῦ γὰρ ἦν ἐνταῦθά σοι Πάτροκλος, ὃς σοῦ πατρὸς ἦν τὰ φίλτατα; χοὖτος τεθνηκὼς ἦν. λόγῳ δέ σ’ ἐ⟨ν⟩ βραχεῖ τοῦτ’ ἐκδιδάξω· πόλεµος οὐδέν’ ἄνδρ’ ἑκὼν αἱρεῖ πονηρόν, ἀλλὰ τοὺς χρηστοὺς ἀεί. ξυµµαρτυρῶ σοι· καὶ κατ’ αὐτὸ τοῦτό γε ἀναξίου µὲν φωτὸς ἐξερήσοµαι, γλώσσῃ δὲ δεινοῦ καὶ σοφοῦ, τί νῦν κυρεῖ. ποίου δὲ τούτου πλήν γ’ Ὀδυσσέως ἐρεῖς;

435

440

435

440

433 θ͜εῶν] Synizese. | ἐνταῦθά] vgl. zu 429. | γὰρ] bei Einholung einer weiteren Information (GP 81 f.), jedoch dürfte πρὸς θεῶν darauf schließen lassen, dass die Frage gleichzeitig einen erstaunten Unterton hat. 434 σοῦ Hemsterhuys : σοι Hss. – σοι ergibt keinen Sinn. | τὰ φίλτατα] zur Bezeichnung einer Person vgl. Eur. Ion 521; vgl. auch Aisch. Eum. 100 πρὸς τῶν φιλτάτων (gemeint ist Orest, wobei allerdings nicht zu entscheiden ist, ob die Form Neutrum oder Maskulinum ist) sowie K.-G. I 63; Bruhn § 20. 435 ἦν] vgl. zu 15 (Versstruktur). | λόγῳ δέ σ’ ἐ⟨ν⟩ βραχεῖ] vgl. El. 673 ἐν βραχεῖ ξυνθεὶς λέγω. | σ᾿ ἐ⟨ν⟩ Erfurdt : σε Hss. – ἐ⟨ν⟩ ist sprachlich notwendig. 436 τοῦτ’] zur Beziehung auf das Folgende vgl. K.-G. I 646, 7. 437 αἱρεῖ Trikl., Suda : αἵρει : αἴρει 439 φωτὸς ἐξερήσοµαι] zum bloßen Genitiv vgl. K.-G. I 363 c; Moorhouse 73. 441 ποίου δὲ τούτου …] ~ τίς ἂν εἴη οὗτος περὶ οὗ ἐρεῖς πλὴν Ὀδυσσεύς; (Kamerbeek; Bruhn § 96, 2). Zum Genitiv vgl. zu 439; zur Verbindung von Fragewort und Demonstrativpronomen vgl. Moorhouse 161 f. | δὲ : γε : τε | τούτου Hss. : τοῦτο Brunck | ἐρεῖς (Hss.) : λέγεις

Kommentar

169

431–432 Neoptolemos will Philoktet etwas Verbindliches sagen: Wenn Odysseus schon nicht tot ist, so ist doch damit zu rechnen, dass auch ein solcher einmal zu Fall kommt. Gleichzeitig spricht er in tragischer Ironie. Denn Odysseus wird tatsächlich mit seinem Plan bei Philoktet scheitern; vgl. Pucci. 431 ‚schlauer Ringer‘: Die Ringkampf-Metaphorik wird auch sonst zur Bezeichnung trickreichen Vorgehens verwendet; vgl. Aristophanes, Frösche 689; 877 f.; Aischines 3,205. Zu ‚schlau‘ (sophos) vgl. zu 119. In anderer Weise war das Wort in Bezug auf Nestor verwendet worden (423 ‚weiser Rat‘). 432 Neoptolemos redet Philoktet erstmals mit seinem Namen an (412 noch ‚Fremder‘). Obwohl er noch uneingeschränkt am Intrigenplan festhält, könnte man darin ein Zeichen einer beginnenden inneren Nähe sehen; vgl. Schein. ‚durchkreuzt‘: Das griechische Verb empodizein, Grundbedeutung ‚die Füße behindern‘, dann allgemein ‚verhindern‘, verstehen manche als Ausdruck aus dem Vokabular des Ringkampfs, doch gibt es hierfür keinen Beleg. 433 ‚als du ihn brauchtest‘: Im Griechischen wird dasselbe unspezifische ‚da‘, ‚an diesem Punkt‘ gebraucht wie in v. 429, verbunden mit einem ethischen Dativ (‚wo war dir Patroklos‘). Die Übersetzung versucht, beides wiederzugeben. Philoktet kann immer noch nicht glauben, dass niemand Neoptolemos’ Partei ergriffen hat, als man ihm Achills Rüstung verweigert habe. 434 ‚Patroklos … liebster Freund‘: Patroklos, Sohn des Menoitios, ist der von Achill hochgeschätzte Gefährte (Homer, Ilias 19,315; 321 f.), der, als Achill – von Agamemnon entehrend behandelt – selbst nicht kämpfen will, mit Achills Rüstung in den Kampf zieht und dabei den Tod findet (Ilias 16). Die Bezeichnung ‚liebster Freund‘ (ta philtata, ntr. pl.) wird zumeist als Hinweis verstanden, dass Patroklos der Geliebte Achills gewesen sei. Eine solche, bei Homer nicht thematisierte homoerotische Beziehung wird seit Aischylos’ Myrmidonen (F *134 a ff. Radt) tradiert (vgl. auch Platon, Symposion 180 a 4–7). Ob Sophokles hier darauf anspielt, ist unsicher, da ta philtata in der Tragödie sonst keine homoerotische Konnotation hat (El. 1208; OC 1110; Eur. Ion 521). 436–437 Hier erscheint der Krieg personifiziert – als Manifestation des Gottes Ares. – Zum Gedanken vgl. auch Soph. Phryger F 724 Radt2, wonach Ares die Edlen zu töten pflegt, während sich die Maulhelden durch Flucht retten. Ähnlich Eur. F 728 Kannicht. Neoptolemos spricht dagegen allgemein von charakterlich minderwertigen Männern. 440 ‚gerissen‘: sophos wird an dieser Stelle wiederum in pejorativer Bedeutung verwendet; vgl. zu 119; 431. 441 ‚Wen anders willst du damit bezeichnen …‘, wörtl. ‚Über was für einen (wenn du) diesen (nennst) willst du sprechen, …‘: Nach der Beschreibung ist für Neoptolemos ein Bezug von Philoktets Frage auf Odysseus zwar nicht ausgeschlossen, hatte Philoktet Odysseus doch bereits eine entsprechende Zungenfertigkeit zugeschrieben (407) und Odysseus selbst sich zu ihr bekannt (96–99), aber eher soll man wohl ein absichtliches Missverständnis annehmen, das es Neoptolemos ermöglicht, sich durch den Bezug der pejorativen Charakterisierung auf Odysseus von Neuem bei Philoktet einzuschmeicheln.

170

Erstes Epeisodion: 442–449

Ph.

Nicht diesen meinte ich, sondern es gab einen gewissen Thersites, der nie nur einmal das Wort ergriff, auch wo niemand ihn überhaupt reden lassen wollte. Weißt du, ob der noch lebt? Ich sah ihn nicht selbst, hörte aber, dass er noch am Leben sei. 445 Wie zu erwarten! Denn noch nie ging etwas Schlechtes zugrunde, sondern gut schützen das die Götter, und irgendwie haben sie ihre Freude daran, zwar alles Schurkische und Durchtriebene wieder aus dem Hades zurückzuholen, aber

Ne. Ph.

Φι. Νε. Φι.

οὐ τοῦτον εἶπον, ἀλλὰ Θερσίτης τις ἦν, ὃς οὐκ ἂν εἵλετ’ εἰσάπαξ εἰπεῖν, ὅπου µηδεὶς ἐῴη· τοῦτον οἶσθ’ εἰ ζῶν κυρεῖ; οὐκ εἶδον αὐτός, ᾐσθόµην δ’ ἔτ’ ὄντα νιν. ἔµελλ᾿· ἐπεὶ οὐδέν πω κακόν γ’ ἀπώλετο, ἀλλ’ εὖ περιστέλλουσιν αὐτὰ δαίµονες, καί πως τὰ µὲν πανοῦργα καὶ παλιντριβῆ χαίρουσ’ ἀναστρέφοντες ἐξ Ἅιδου, τὰ δὲ

445

443 ἂν εἵλετ’ Hss. : ἀνεῖχετ᾿ Reiske – ἂν εἵλετ’ ist Iterativ der Vergangenheit (Thersites traf jeweils wieder die Entscheidung zu sprechen), vgl. K.-G. I 211 f., wo sich auch Beispiele mit Aorist finden. 444 µηδεὶς] zur (generischen) Negation µή vgl. Moorhouse 325 (iii). | ἐῴη : ἐῶν / ἐὼν : ἐῶν ἦν Dawe 2003, 103 – ἐῴη ist iterativer Optativ, vgl. K.-G. II 427, 1 u. 444, 4; Wakker 2006, 169 (zu 443 f .); Dawe, der durch seine Konjektur die Überlieferung erklärt sieht, bemerkt dagegen: „What we really want is not so much indefinite frequency as, on any given occasion, continuous restraint.“ Kontinuität kann aber auch durch die Wiederholung desselben Vorgangs gewährleistet sein. | τοῦτον] Prolepse des Subjekts des Nebensatzes, K.-G. II 577 ff. 445 αὐτός Burges : αὐτόν Hss. – αὐτόν erscheint neben νιν als unnötig starke Hervorhebung des Objekts und ist nach τοῦτον (444) und εἶδον leicht als Verschreibung zu erklären; αὐτός drückt – passend zur Irreführung des Philoktet (vgl. Komm.) – aus, dass Neoptolemos nicht selbst die Richtigkeit der Aussage bestätigen kann; anders Pucci. 446–450 κακόν κτλ.] Neutra als stärkerer Ausdruck für Personen, vgl. OT 1195 βροτῶν οὐδὲν. 446 ἔµελλ’] sc. εἶναι. | ἐπεὶ : ἐπεί γ᾿ Trikl. – ἐπεὶ͜ οὐδέν Synizese, vgl. 948; 1037. | οὐδέν πω „Riccardianus 77 (i.e. Aristobulos Apostolides)“ Ll.-J./W. (οὐδὲν ist in der Wendung πῶς οὐδὲν κακὸν … auch Suda π 107 s. v. Παλιντριβῆ überliefert) : οὐδέπω (Hss.) : οὔπω Trikl. | κακόν Hss. : κακῶν Wakefield – vgl. οὐδὲν κακὸν ⟨×⟩ ῥαδίως ἀπόλλυται, Adesp. F *344 TrGF II (Ussher). 447 περιστέλλουσιν] zur Bedeutung ‚schützen‘ vgl. Herodot 9,60,2.  448–450 „Mihi suspecti. Ad Sisyphum eos referri dicunt: sed nihil ad rem.“ (Fraenkel 1977, 57) – aber die Verse haben einen Anknüpfungspunkt: Die Kenntnis der Sisyphos-Geschichte setzt Sophokles offenbar voraus (vgl. vv. 624 f.), ein Bezug zwischen dem notorisch betrügerischen Vater und Odysseus ist hergestellt (vgl. 417), und dass die Guten in den Hades geschickt werden, ist auf jeden Fall „ad rem“.

Kommentar

171

442–444 Wie schon 416 (s. EK, S. 436) und 421–423 (vgl. Komm.) spricht Philoktet so, als ob er die dem Zuschauer aus ihrer Kenntnis der mythischen Erzählungen vertrauten Sachverhalte aus eigener Anschauung kennen könnte. Der Bezugspunkt ist Homer, Ilias 2,212–214: „Thersites allein, der in Worten Maßlose, kreischte noch weiter. / Der wußte Worte in seinem Sinn, ungeordnete und viele, / Um drauflos und nicht nach der Ordnung mit den Königen zu streiten, …“ (Übers. Schadewaldt). Thersites wird von Homer als hässlich und schmähsüchtig gekennzeichnet (Ilias 2,216–222), er macht keine Angaben über dessen Herkunft; vgl. auch Brügger 2003, 70 f. – Durch das ‚Missverständnis‘ des Neoptolemos werden zwei Personen als gleichartig eingestuft, die in der Ilias in denkbar größtem Gegensatz zueinander stehen (2,220; 244–277); vgl. auch Scheliha 1970, 44. 445 Nach der Aithiopis (Argumentum, p. 68,6–8 Bernabé = pp. 110 f. West 2003) hat Achill Thersites getötet, nachdem dieser Achill wegen seiner angeblichen Liebe zu der von Achill im Kampf getöteten Amazone Penthesilea geschmäht hatte; vgl. auch das Scholion zu v. 445. Wenn die Zuschauer auch die nicht von Homer behandelten Phasen der Troia-Sage kannten, konnten sie bemerken, dass Neoptolemos nicht die Wahrheit sagt; jedenfalls stützt er mit seiner Aussage, Thersites lebe, seine generelle Behauptung, dass der Krieg die Schlechten verschone (435–437). Vgl. Ussher; Huxley 1967, 33 f. 446–452 Philoktet – durch sein eigenes schweres Schicksal dazu prädestiniert – fühlt sich durch den in Teilen unvollständigen und unzutreffenden Bericht des Neoptolemos in seiner Erfahrung bestätigt, dass die Götter die Menschen ungerecht behandeln und damit schlecht sind. Es sind wohl eher Worte eines Verzweifelten, nicht eines Gotteslästerers (vgl. Schmidt 1973, 96 f.). So wird ihn Herakles’ Theodizee (1418 ff.) auch dazu bringen, dass er den göttlichen Willen akzeptiert und seine Rettung auf die Macht der Götter zurückführt (1447; 1467 f.). Zu Philoktets Haltung zu den Göttern vgl. auch Schein 2006 b, 39–43. – Die Skepsis Philoktets gegenüber den Göttern fällt in der (außerphilosophischen) Gottesauffassung der Griechen nur durch ihre Radikalität auf; denn dass von den Göttern auch Schlechtes kommen kann, sagt schon Achill bei Homer (Ilias 24,525 ff.). Vgl. auch die Zweifel an göttlicher Gerechtigkeit, die Figuren – ebenfalls aufgrund unmittelbarer persönlicher Betroffenheit – in anderen Tragödien des Sophokles äußern (Ant. 921–924; Tr. 1266–1269). 449 (griechischer Text: 448) ‚Durchtriebene‘: Das griechische Wort (palintribēs) bezeichnet etwas, das sich immer wieder (sc. am Schlechten) gerieben und dadurch diese Eigenschaft ganz angenommen hat. ‚aus dem Hades zurückzuholen‘: Eine weitere Anspielung auf Sisyphos (Odysseus’ angeblichen Vater, vgl. 417 mit Komm.); vgl. auch 624 f. Nach den Theognidea 701–704 kehrte er aus dem Hades, dem Totenreich in der Unterwelt, zurück, nachdem er die Göttin Persephone überredet hatte. Nach Pherekydes (Scholion zu Homer, Ilias 6,153 = BNJ 3 F 119 = fr. 119 EGM) hatte Sisyphos vor seinem Tod seiner Frau verboten, die Totenriten zu vollziehen, sodass ihn der Gott Hades wieder gehen ließ, damit er sich bei seiner Frau (wegen der nicht vollzogenen Riten) beklagen könne.

Erstes Epeisodion: 450–455

172

Ne.

Νε.

alles Gerechte und Tüchtige schicken sie stets dorthin weg. Wie soll ich das einschätzen, wie es loben, wenn ich beim Preisen göttlichen Wirkens herausfinde, dass die Götter schlecht sind? Ich nun, du Sohn eines Vaters vom Öta, werde nunmehr in Zukunft nur aus der Ferne Ilion und die Atreus-Söhne betrachtend mich vor ihnen hüten. δίκαια καὶ τὰ χρήστ’ ἀποστέλλουσ’ ἀεί. ποῦ χρὴ τίθεσθαι ταῦτα, ποῦ δ’ αἰνεῖν, ὅταν τὰ θεῖ’ ἐπαινῶν τοὺς θεοὺς εὕρω κακούς; ἐγὼ µέν, ὦ γένεθλον Οἰταίου πατρός, τὸ λοιπὸν ἤδη τηλόθεν τό τ’ Ἴλιον καὶ τοὺς Ἀτρείδας εἰσορῶν φυλάξοµαι·

450

455 450

455

451 τίθεσθαι] zum Gebrauch der medialen Form zum Ausdruck geistiger Vorgänge vgl. z. B. 876; Demosthenes, or. 18,299 (Jebb) und LSJ s. v. B. II. 452 ἐπαινῶν Hss. : ἐπαθρῶν Postgate, Ll.-J./W. : ἐρευνῶν Schneidewin – Lloyd-Jones / Wilson halten den Gedanken des Lobens für unlogisch und lesen ‚(das Göttliche) betrachtend‘ (vgl. Ll.-J./W.1, dagegen Lane 2004, 446 f.). | κακούς Hss. : κακά Musgrave 453 µέν] „Inceptive“ µέν, das ohne korrespondierendes δέ nicht selten am Beginn von Reden, auch im Drama, steht (GP 382 f.). 454 τὸ λοιπὸν ἤδη] vgl. zu dieser Verbindung K.-G. II 121; OC 1619; Tr. 168; 921; es ist das gemeint, was nunmehr (ἤδη) als Folge des Vorausgegangenen geschieht, und dies wird auch für die ganze Zukunft beansprucht. 455 εἰσορῶν : εἰσορᾶν – Neoptolemos will sich nicht davor hüten, die Atreus-Söhne aus der Ferne anzusehen, sondern sich vor ihnen hüten, indem er sie nur von Weitem ansieht.

Kommentar

173

450 ‚dorthin weg‘, wörtl.: ‚weg‘, gemeint ist ‚in den Hades‘. 451 ‚Wie soll ich das einschätzen‘, wörtl. ‚Wo soll ich das für mich hinstellen‘: D. h., wie soll ich das (sc. das Verhalten der Götter) in die Vorstellungen von ihnen einordnen? 451–452 ‚beim Preisen göttlichen Wirkens‘, wörtl. ‚das Göttliche preisend‘: Gemeint ist mit dem Göttlichen (ta theia) das göttliche Wirken, das Philoktet eben beschrieben hat (446–450). Das Partizip kann auch konativ verstanden werden: ‚wenn ich versuche, mich daranmache, das Göttliche zu preisen‘. Die Formulierung ist als Paradoxon zu verstehen: Philoktet geht von der Grundannahme aus, dass das, was die Götter machen, eigentlich lobenswert ist, muss aber dann angesichts dessen, was er gerade über andere erfahren hat (und wohl auch wegen seines Schicksals, 254–256), bestürzt das Gegenteil feststellen und schließt auf die mangelnde moralische Qualität der Götter. Vgl. zum Zweifeln an göttlicher Gerechtigkeit Theognidea 743–752 (Schein). – Der überlieferte Text ist nicht unumstritten; vgl. TS zu 452. 453–465 Neoptolemos geht auf Philoktets Problematisierung der Götter nicht ein, hat er sie doch selbst teilweise provoziert (436 f.), sondern bekräftigt – mit erneuten abträglichen Bemerkungen über die Führer vor Troia – sein bereits v. 240 genanntes Fahrtziel und kündigt etwas abrupt seinen Aufbruch an. Wie er erwarten konnte (310 f.; Linforth 1956, 112 f.), löst Neoptolemos damit bei Philoktet die Bitte um Mitnahme aus (468 ff.); so erreicht er, dass Philoktet ‚freiwillig‘ auf das Schiff gehen will. – Wären beide jetzt oder nach dem Auftritt des ‚Kaufmanns‘ (542–627) aufgebrochen, hätte sich ergeben können, dass Philoktet mit seinem Bogen auf Odysseus stoßen könnte, was dieser unbedingt vermeiden wollte (70 ff.). Da aber diese Möglichkeit im Drama weder zur Sprache gebracht wird noch eintritt, soll sie für das Verständnis der Handlung offenbar keine Rolle spielen. Man wird daher aus dieser bloßen Möglichkeit nicht mit Schlesinger (1968, 113–117) ableiten, der Plan des Odysseus beruhe an sich auf einem Irrtum. Odysseus’ Irrtum ist grundsätzlicher (vgl. Einf. S. 41). – Die Zuschauer können eigentlich auch nicht im Unklaren sein, ob Neoptolemos jetzt die Intrige aufgeben oder sie fortsetzen will (so aber Seale 1972, 98 f.; 1982, 33 mit Anm. 19); denn Neoptolemos gibt sein Fahrtziel an, wie es ihm Odysseus aufgetragen hat (58). Auch ein Unbehagen an der Durchführung der Intrige (Steidle 1968, 178; Visser 1998, 95–99) ist an dieser Stelle nicht zu erkennen. 453 ‚Vaters vom Öta‘: Poias (461), der am Öta, dem Gebirgszug südlich des in den Golf von Malia mündenden Spercheios, beheimatet gedacht ist. Vgl. auch zu 4–5. Vermutlich mit Absicht spielt Neoptolemos auf die Heimat Philoktets an, wohin, wie auch gleich klar wird, Philoktet zu seinem Vater zurückkehren will (479; 490; 492). – Der griechische Name des Gebirges ist Oite (fem.), im Deutschen hat sich jedoch Öta als Maskulinum eingebürgert. 454–455 ‚aus der Ferne … betrachtend‘: Verächtlich, wie Hippolytos über die von ihm nicht geliebte Göttin Aphrodite sagt, er wolle sie nur von Ferne grüßen (Eur. Hipp. 102).

174

Ph.

Φι.

Erstes Epeisodion: 456–466

Denn wo der Schlechtere größere Macht hat als der Gute und das Rechtschaffene zugrunde geht und der Nichtswürdige herrscht, mit diesen Männern werde ich niemals Freundschaft schließen. Sondern das felsige Skyros wird mir genug sein in Zukunft, dass ich mich an meinem Zuhause erfreuen kann. Jetzt gehe ich zum Schiff. Und du, Sohn des Poias, leb wohl aufs Beste, leb wohl; und mögen dich die Götter von deiner Krankheit befreien, wie du selbst es willst. Wir aber wollen gehen, damit wir, wann die Götter uns die Fahrt gewähren, dann auslaufen können. Ihr brecht schon auf, Sohn? Ne. Ja, denn das Ergreifen des rechten Zeitpunkts verlangt, ὅπου δ’ ὁ χείρων τἀγαθοῦ µεῖζον σθένει κἀποφθίνει τὰ χρηστὰ χὠ δειλὸς κρατεῖ, τούτους ἐγὼ τοὺς ἄνδρας οὐ στέρξω ποτέ· ἀλλ’ ἡ πετραία Σκῦρος ἐξαρκοῦσά µοι ἔσται τὸ λοιπόν, ὥστε τέρπεσθαι δόµῳ. νῦν δ’ εἶµι πρὸς ναῦν. καὶ σύ, Ποίαντος τέκνον, χαῖρ’ ὡς µέγιστα, χαῖρε· καί σε δαίµονες νόσου µεταστήσειαν, ὡς αὐτὸς θέλεις. ἡµεῖς δ’ ἴωµεν, ὡς, ὁπηνίκ’ ἂν θεὸς πλοῦν ἡµὶν εἴκῃ, τηνικαῦθ’ ὁρµώµεθα. ἤδη, τέκνον, στέλλεσθε; Νε. καιρὸς γὰρ καλεῖ

460

465

460

465

456 ὅπου Hss. : ἐν οἷς oder παρ᾿ οἷς erwägen Ll.-J./W. – ὅπου = παρ᾿ ὅτοις, vgl. Ai. 1081 f. ὅπου δ᾿ ὑβρίζειν δρᾶν θ᾿ ἃ βούλεται παρῇ, / ταύτην νόµιζε τὴν πόλιν … vgl. Jebb; K.-G. II 401 Anm. 3. | δ᾿ Hermann : θ᾿ : γ᾿ – δ᾿ bewirkt einen Anschluss in der Funktion einer Begründung (GP 169) und τἀγαθοῦ und κἀποφθίνει (457) schließen sich gedanklich mit τε … καί zusammen. | ὁ χείρων Hss. : τὸ χεῖρον Nauck – vgl. das maskuline δειλὸς / δεινὸς (457). 457 δειλὸς Brunck : δεινὸς Hss. – vgl. Komm. 459 πετραία (Hss.) : πατρῴα – πετραία passt besser zu ἐξαρκοῦσά µοι. 460 τέρπεσθαι] zu ergänzen µε (aus µοι, 459); vgl. zu 405; 1367. | δόµῳ Hss. : µόνῳ Suda s. v. στέρξω : µόνῃ F.W. Schmidt – vgl. Komm. zu 459–460. 462 χαῖρ’ ὡς µέγιστα] vgl. µέγα χαῖρε: Homer, Odyssee 24,402; homerischer Apollon-Hymnos (3) 466. 465 πλοῦν Hss. : πλεῖν (?) Jebb | εἴκῃ : ἥκη : ἵκη δὲ : ἵκει : ἥκει – zu (seltenem) εἴκω τινί τι vgl. Homer, Ilias 23,337 εἶξαί τέ οἱ ἡνία. 466 γὰρ] zum Ausdruck der Zustimmung in Antworten (GP 73 f.).

Kommentar

175

457 ‚der Nichtswürdige‘: So die Konjektur von Brunck (deilos) statt des überlieferten deinos. Letzteres bildet keinen klaren Gegensatz zu ‚das Recht– schaffene‘ (ta chrēsta), wo der Plural des Neutrums wieder konkret (wie 446– 450; vgl. Komm.) die Rechtschaffenen, Tüchtigen bezeichnen dürfte. deilos schließt eine allgemeine Minderwertigkeit mit ein, könnte aber auch auf das feige Verhalten des Odysseus vor Beginn des Troianischen Kriegs anspielen (vgl. 1025 mit Komm.). deinos heißt eigtl. ‚fähig‘, wobei sich eine negative Konnotation erst durch den Zusammenhang ergibt, wie 440 „ ‚tüchtig‘ (deinos) mit der Zunge“; vgl. Jebb. – Die generell formulierte Absage an die Freundschaft mit moralisch Minderwertigen passt eigentlich zu dem, was Neoptolemos über sich selbst gesagt hat (86–89), aber innerhalb der Intrige diskreditiert er damit seine ursprünglichen moralischen Prinzipien. 459–460 Mit der Angabe seiner Heimat Skyros (vgl. zu 240) als vorgespiegeltem Fahrtziel stachelt Neoptolemos den Wunsch Philoktets an, ebenfalls nach Hause zu kommen. Vgl. Kamerbeek. 459 ‚felsige Skyros‘: Mit der Charakterisierung als ‚felsig‘ soll hier vielleicht der geringere Wert der Insel im Gegensatz zu dem versprochenen Kriegsruhm in Troia betont werden; vgl. auch Komm. zu 381. 461 Neoptolemos’ Drängen zum Aufbruch, zunächst nur zum Schiff, mag auch darin begründet sein, dass Odysseus bei seinem Auftrag davon ausgegangen war, dass die Aktion relativ schnell vonstatten gehen sollte (126). ‚Poias‘: vgl. zu 4–5. 462 ‚leb wohl aufs Beste‘: Neoptolemos verabschiedet sich mit übertriebener Herzlichkeit, indem er dem üblichen ‚leb wohl‘ (chaire) – ganz singulär – einen Superlativ hinzufügt; zu einer anderen Steigerungsform vgl. TS. 462–463 Nach dem, was Philoktet über das Wirken der Götter gesagt hatte (446–452), muss es für ihn höhnisch klingen, wenn er für die Heilung seiner Krankheit auf die Götter verwiesen wird; vgl. Schmidt 1973, 100. Dass sogar der Heilgott Asklepios Philoktet heilen wird (1437 f.), kann auch Neoptolemos nicht wissen, obwohl er die Prophezeiung des Helenos kennt (1329–1335). 464–465 ‚wann die Götter uns die Fahrt gewähren‘: Im Griechischen steht theos (Gott) im Singular, aber ohne Artikel, was man so verstehen kann, dass Neoptolemos nicht an einen bestimmten Gott (etwa Poseidon) denkt, sondern allgemeiner eine göttliche Lenkung bezeichnen will. Gemeint ist, dass ein günstiger Wind gegeben sein muss (466 f.). Nach den Angaben im Drama weht der Wind in Richtung Troia (639 f., 855 und 1451) und nicht in Richtung Skyros, wohin Neoptolemos angeblich auf dem Weg ist (239 f.). 466–467 Mit der gnomischen Bemerkung vermeidet es Neoptolemos, einen konkreten Grund anzugeben, warum er jetzt schon aufbrechen will. 466 ‚das Ergreifen des rechten Zeitpunkts‘: Das griechische Wort (kairos) bedeutet eigentlich nur die rechte Gelegenheit, den rechten Zeitpunkt selbst, während hier prägnant die Möglichkeit, ihn zu nutzen, gemeint sein muss, die es erfordert, dass man nahe beim Schiff ist, um den günstigen Wind wahrnehmen zu können, wenn die göttlichen Mächte ihn gewähren (464 f.). Der kairos ist personal aufgefasst, indem er (wörtl.) ‚ruft‘ (kalei). – Das angebliche Ab-

176

Ph.

Φι.

Erstes Epeisodion: 467–473

die Fahrt eher nicht aus der Ferne als aus der Nähe abzupassen. Bei deinem Vater, bei deiner Mutter, mein Sohn, und bei dem, was dir sonst zu Hause lieb sein mag, flehe ich dich nun als Schutzflehender an: Lass mich nicht so 470 allein zurück, einsam, in diesen fürchterlichen Umständen hier, solchen, bei denen du siehst, und so vielen, von denen hörtest, dass ich darin lebe. Sondern sieh mich mitzunehmen als etwas an, das du nebenbei noch tun kannst! Die Unannehmlichkeit, πλοῦν µὴ ’ξ ἀπόπτου µᾶλλον ἢ ’γγύθεν σκοπεῖν. πρός νύν σε πατρός, πρός τε µητρός, ὦ τέκνον, πρός τ’ εἴ τί σοι κατ’ οἶκόν ἐστι προσφιλές, ἱκέτης ἱκνοῦµαι, µὴ λίπῃς µ’ οὕτω µόνον, ἔρηµον ἐν κακοῖσι τοῖσδ’, οἵοις ὁρᾷς ὅσοισί τ’ ἐξήκουσας ἐνναίοντά µε· ἀλλ’ ἐν παρέργῳ θοῦ µε. δυσχέρεια µέν,

470

468–470 πρός … σε πατρός … ἱκνοῦµαι] vgl. Ai. 587 f., zur Stellung von σε Bruhn § 163. 468 νύν] ‚nun‘, folgernd, die Konsequenz aus Neoptolemos’ Ankündigung bezeichnend (K.G. II 118,4); zur Stellung vgl. K.-G. I 553 c. 469 πρός τ’ εἴ τί σοι … προσφιλές] ~ πρὸς τούτου, εἴ τί … (Webster). 470 ἱκνοῦµαι] wird hier gebraucht wie ἱκετεύω; es wird verstärkt durch ἱκέτης (mit aufgelöstem erstem Anceps; vgl. zu 94), wodurch zugleich Alliteration und figura etymologica entstehen (vgl. Schein). 471 τοῖσδ’ οἵοις Hss. : τοῖσδέ γ᾿ οἷς Suda s. v. πρός – οἵοις passt besser zu ὅσοισι (472). 471–472 οἵοις … ὅσοισί τ’ … ἐνναίοντά µε] beide Dative sind parallel abhängig von ἐνναίοντα (Webster), das gleichermaßen von ὁρᾷς und ἐξήκουσας regiert wird: Neoptolemos sieht und hört, in welchen bzw. wie vielen schlimmen Umständen sich Philoktet befindet (anders Schein, nach dem οἵοις Attraktion des Relativs ist [~ οἷα sc. ὁρᾷς] und nur ὅσοισι von ἐνναίοντα abhängt). 473 ἐν παρέργῳ] ~ ἐν παρέργου µέρει, Platon, Politeia 370 c 2 (Jebb).

Kommentar

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warten des für die Fahrt nach Skyros günstigen Windes ist Teil der Lügengeschichte, da der Wind in Richtung Troia weht; vgl. Komm. zu 464–465. 467 ‚nicht aus der Ferne‘, wörtl. ‚nicht außer Sicht‘: D. h. nicht von einer Stelle aus, von der man das Schiff nicht sehen kann. Vgl. Avery 2002, 3 f. 468–503 {504–506} Die flehentliche, in einer längeren Rede vorgetragene Bitte Philoktets, seinem Leid ein Ende zu machen und ihn mitzunehmen, ist seine Reaktion auf die von Neoptolemos provozierend vorgetragene Ankündigung der Abreise. Philoktet verschafft seiner Bitte mit zwölf Imperativen Nachdruck (470; 473; 475; 480; 481 [2 x]; 484; 485; 486; 488; 501 [2 x]). Er appelliert an Neoptolemos’ moralische (475–479) und religiöse (484) Verpflichtung, setzt jetzt ganz auf ihn (500 f.), nachdem er andere früher oft vergeblich gebeten habe, seine Bitte um Hilfe an den Vater zu übermitteln (494– 499), und erinnert ihn an die Brüchigkeit der menschlichen Existenz, die auch bei ihm einmal dazu führen könnte, dass er ebenso auf Hilfe angewiesen wäre (501–503). Philoktet seinerseits will alles tun, um auf dem Schiff der Mannschaft mit seiner Krankheit so wenig wie möglich lästig zu fallen (480–483). Philoktets Rede kann vom Zuschauer auch als Gegenstück zu Odysseus’ Bemühen verstanden werden, Neoptolemos für seinen Plan zu gewinnen (54– 122), nur dass Philoktet, ohne dass er es weiß, Odysseus in die Hände spielt (vgl. Ussher zu 468–506). Zu den Korrespondenzen und Divergenzen im Einzelnen vgl. Kirkwood 1958, 243 Anm. 23, und Pucci zu 474–83. Wenn Philoktet alle Mittel anwendet, um Neoptolemos zu bewegen, ihn mitzunehmen, so steht seine Rede in ironischem Kontrast dazu, dass Neoptolemos nichts anderes vorhat, aber eben nicht dorthin, wohin Philoktet will. 469 ‚was dir sonst zu Hause lieb sein mag‘: Der gleiche Gedanke findet sich OC 250 f., woraus auch hervorgeht, dass mit einer solchen Formel auch weitere Personen gemeint sein können. 470 ‚flehe … als Schutzflehender‘: Philoktet bestimmt seinen Status als den eines Schutzflehenden, der sich ganz dem Schutz durch eine andere Person überlassen will. Zur Frage, ob Philoktet das formelle Ritual der Hikesie ausführt, vgl. zu 485 b–486 a. Eine Zurückweisung der Bitte um Schutz wäre ein Frevel gegenüber Zeus, dem Gott der Schutzflehenden (484; 517 f.). Eine klare Antwort des Neoptolemos erfolgt jedoch nicht, vielmehr unterstützt der Chor Philoktets Bitte (507–518) und billigt Neoptolemos dann die Auffassung des Chors (524–525). Zur möglichen Erklärung seines Vorgehens vgl. zu 519–538. 472 (griechischer Text: 471–472) ‚siehst‘: die Krankheit und die Wohnverhältnisse. ‚hörtest‘: sein Leben, das Philoktet 285–299 geschildert hat. Vgl. Jebb. 473 ‚mich mitzunehmen‘: im Griechischen nur ‚mich‘, das verkürzt für das Anliegen Philoktets steht. D. h., Neoptolemos solle neben seinem eigentlichen Vorhaben (der Fahrt in seine Heimat – vorgeblich) das Anliegen Philoktets als eine dabei mit zu erledigende Nebenaufgabe (parergon) betrachten. Philoktet spricht in tragischer Ironie (Kamerbeek), da die Mitnahme Philoktets die ‚Hauptaufgabe‘ des Neoptolemos, sein ergon, ist. – Nach Pucci und Schein soll der Ausdruck gleichzeitig auch bedeuten: „‘stow me away in a secondary

Erstes Epeisodion: 474–483

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das weiß ich, die mit dieser Last verbunden ist, ist groß. Nimm’s dennoch auf dich! Für die Edlen, sag ich dir, 475 ist das Schändliche verhasst und gilt das Rechttun als rühmlich. Wenn du das unterlässt, entsteht dir üble Nachrede, tust du es aber, mein Sohn, die höchste Ruhmesehre, wenn ich lebend ins Land am Öta gelange. Komm, es ist nur eines Tages Mühsal, nicht e i n e s ganzen! 480 Nimm es auf dich! Bring mich (an Bord) und verstaue mich, wohin du willst, in den Kielraum, an den Bug, an das Heck, wo ich am wenigsten den Mitreisenden zur Last fallen werde. ἔξοιδα, πολλὴ τοῦδε τοῦ φορήµατος· ὅµως δὲ τλῆθι· τοῖσι γενναίοισί τοι τό τ’ αἰσχρὸν ἐχθρὸν καὶ τὸ χρηστὸν εὐκλεές. σοὶ δ’, ἐκλιπόντι τοῦτ’, ὄνειδος οὐ καλόν, δράσαντι δ’, ὦ παῖ, πλεῖστον εὐκλείας γέρας, ἐὰν µόλω ’γὼ ζῶν πρὸς Οἰταίαν χθόνα. ἴθ’· ἡµέρας τοι µόχθος οὐχ ὅλης µιᾶς. τόλµησον, εἰσβαλοῦ µ’, ὅποι θέλεις, ἄγων, εἰς ἀντλίαν, εἰς πρῷραν, εἰς πρύµνην, ὅποι ἥκιστα µέλλω τοὺς ξυνόντας ἀλγυνεῖν.

475

480

475 τοι] zur Hervorhebung allgemeiner Maximen (GP 541 [10]). 478 πλεῖστον εὐκλείας γέρας] ~ µεγίστης εὐκλείας γέρας (Jebb; Kamerbeek). 480 ἴθ’ (Hss.) : ὅθ᾿ – ὅτε würde eine nicht sinnvolle Begründung für die vv. 478 f. einleiten. 481 εἰσβαλοῦ Meineke, Dawe : ἐµβαλοῦ (Hss.) : ἐκβαλοῦ – εἰσβαλοῦ ist der spezifische Ausdruck dafür, jemanden an Bord zu bringen (LSJ s. v. I); das sinnlose ἐκβαλοῦ könnte eine Verschreibung von εἰσβαλοῦ sein (ΙϹ → Κ) und e contrario zu der Korrektur ἐµβαλοῦ geführt haben, zumal dies im nachklassischen Griechisch wie εἰσβαλοῦ verwendet werden konnte. | ὅποι +Wakefield : ὅπου : ὅπῃ – ὅποι (als Attraktion zu einem zu ergänzenden ἐκεῖσε) kann als lectio difficilior betrachtet werden. | ἄγων] ergänzt εἰσβαλοῦ und ist wahrscheinlich nicht kondizional („ ‘If you will but take me’ “, Campbell 1981 z. St.), sondern verdeutlicht die εἰσβαλοῦ vorausgegangene Handlung (K.-G. II 87 Anm. 10). 482 πρύµνην Elmsley : πρύµναν : πρύµναν θ᾿ : πρύµναν µ᾿ Bergk : (Ll.-J./W. erwägen die Tilgung von ἄγων [481] … πρύµναν) – die attische Form πρύµνᾰν ist metrisch nicht möglich; da bei Sophokles gelegentlich ionische Formen vorkommen, ist Elmsleys Konjektur die einfachste Lösung. | ὅποι : ὅπου : ὅπῃ – vgl. zu 481. | εἰς : ἐς

Kommentar

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part (of the ship, cf. 481)’ “. Eine solche lokale Bedeutung von parergon belegen sie jedoch nicht, und die Tatsache, dass von der räumlichen Unterbringung erst 481–483 die Rede ist, spricht überdies gegen dieses Verständnis. ‚Unannehmlichkeit‘: Das ist nach dem Handlungsverlauf auf das von Odysseus erwähnte Verhalten Philoktets (8–11) zu beziehen. Nach den Kyprien wurde Philoktet von den Griechen wegen des üblen Geruchs, der von seiner Wunde ausging, auf Lemnos zurückgelassen (Argumentum, p. 41,50 f. Bernabé = pp. 76 f. West 2003). Davon wussten die Zuschauer möglicherweise schon, bevor der Sachverhalt auch im Philoktet ausdrücklich zur Sprache kommt (876; 890 f.; 1032). Außerdem mag Philoktet an die Anfälle denken, die er von Zeit zu Zeit erleidet (vgl. 732 ff.). 474 ‚Last‘: Die Last (phorēma) besteht in der Fracht, die das Schiff zu tragen hat, d. h. in Philoktet selbst, worauf er mit einem deiktischen Pronomen hinweist und was der Schauspieler gestisch mit einem Zeigen auf sich unterstützt haben dürfte. Vielleicht ist auch die metaphorische Bedeutung ‚Bürde‘ mitzuhören, die man tragen muss. 475–479 Philoktet versucht Neoptolemos mit einer Maxime zu gewinnen (475 f.), welche an die innere Haltung appelliert, die Edelgesinnte haben und durch die sie zu einem bestimmten Tun motiviert sein sollen. Dass die Einstellung gemeint ist, wird durch ‚verhasst‘ klar. Die vv. 477 f. dagegen betreffen die äußeren Folgen (‚üble Nachrede‘ oder ‚Ruhm‘), die eintreten, wenn man das Rechttun (d. h. das moralisch Richtige, chrēston) unterlässt bzw. das Richtige tut, das hier konkret im Heimbringen Philoktets besteht (479). Vgl. auch Jebb; Henze 2015, 109 („Wertbegriffe des aristokratischen Verhaltenskodex“). Auch Odysseus hatte Neoptolemos, wenn er Philoktet durch Trug nach Troia bringe, Ruhm verheißen (119), aber um den Preis einer (punktuellen) Aufgabe seiner moralischen Qualitäten (79–85). Vgl. auch Ussher zu 475–478. 479 ‚Öta‘: vgl. zu 453. 480 Die Zeit, die er mitfahren würde, will Philoktet möglichst kleinreden. Jedenfalls ist die Strecke Lemnos – Skyros (ca. 125 km Luftlinie) kürzer als die Fahrt von Skyros zur Küste bei Troia (ca. 185 km Luftlinie), wofür sich nach Neoptolemos’ Erzählung (354) weniger als zwei Tage ergeben. Mit der Kürze der Zeit hatte Odysseus ebenfalls argumentiert: Auch die von ihm geforderte Überwindung, zu der sich Neoptolemos bereitfinden sollte, sollte nur den Teil eines Tages dauern (83 f.). 481–483 Philoktet ist bereit, sich ganz in die Hand des Neoptolemos zu begeben, und nennt Plätze auf dem Schiff, die für Passagiere seines Standes eigentlich nicht in Betracht kommen (vgl. Jebb mit Belegen), an extremen Stellen, wo die wenigsten Kontakte mit anderen zu erwarten sind. Möglicherweise hält Philoktet nach diesem Appell kurz inne, weil er eine Reaktion des Neoptolemos erwartet (Fraenkel 1977, 59). Jedenfalls sieht er sich veranlasst, seine Bitte als Schutzflehender unter Berufung auf Zeus zu intensivieren (484).

Erstes Epeisodion: 484–489

180

Stimme zu, bei Zeus selbst, dem Gott der Schutzflehenden, Sohn, lass dich überzeugen! – Soll ich dich auf Knien anflehen, obwohl ich dazu, ich Elender, nicht fähig bin, als Krüppel? – Lass mich nicht so einsam zurück, fernab von dort, wo Menschen gehen, sondern rette mich, indem du mich zu deinem Haus bringst oder zu Chalkodons Wohnsitz, Euboia – νεῦσον, πρὸς αὐτοῦ Ζηνὸς ἱκεσίου, τέκνον, πείσθητι. προσπίτνω σε γόνασι, καίπερ ὢν ἀκράτωρ ὁ τλήµων, χωλόςͅ; ἀλλὰ µή µ’ ἀφῇς ἔρηµον οὕτω χωρὶς ἀνθρώπων στίβου, ἀλλ’ ἢ πρὸς οἶκον τὸν σὸν ἔκσωσόν µ’ ἄγων ἢ πρὸς τὰ Χαλκώδοντος Εὐβοίας σταθµά –

485

485

485 προσπίτνω σε γόνασι] γόνασι ist lokaler Dativ zu προσπίτνω, wobei der Akkusativ die durch den Kniefall angeflehte Person bezeichnet; vgl. Eur. Phoin. 293; Moorhouse 87. Wenn Neoptolemos’ Knie gemeint wären, was Schein – nach Pucci 219 – mit sprachlich uneinschlägigem Verweis auf Eur. Hik. 9 f. für möglich hält, müsste es σοῦ γόνασι heißen; vgl. Eur. Or. 1332 (oder ggf. σοι γόνασι, als σχῆµα καθ᾿ ὅλον καὶ µέρος). Da sprachlich Philoktets Knie gemeint sein müssen, kann die Wirkung der Behinderung auch nicht darin bestehen, dass Philoktet die Knie des sich bereits entfernenden Neoptolemos nicht erreichen könne (so aber Kaimio 1988, 54 f.). | γόνασι : γούνασι – die ionische Form γούνασι würde zu einem aufgelösten Anceps im letzten Metrum führen, was sonst nur bei Eigennamen vorkommt (vgl. Schein). | καίπερ] „doch trägt Philoktetes gleich nach, daß er, weil gelähmt, außerstande sei, die übliche Haltung der ἱκέται wirklich anzunehmen“ (Radermacher 1911 z. St.). Jedoch steht die mit καίπερ eingeleitete Einräumung zwar im Gegensatz zur Aussage des Hauptverbs, hebt diese aber nicht auf. Daher ergibt sich der von Radermacher richtig beobachtete Sachverhalt sprachlich nur, wenn man προσπίτνω (Konjunktiv) … χωλόςͅ als Frage versteht. 486 ἀκράτωρ] wohl nicht „weak“ (Jebb), sondern „having no control of my limbs“ (Kamerbeek nach dem Scholion z. St.); so schließt sich auch χωλός als erklärendes Asyndeton (‚weil ich lahm, ein Krüppel bin‘) besser an (vgl. ebenfalls Kamerbeek). | ἀλλὰ] intensiviert den Imperativ (GP 13–15); vgl. 950, wo das sehr wahrscheinlich zu ergänzende ⟨ἀλλ’⟩ mit Imperativ ebenfalls nach einer Frage steht. 489 Εὐβοίας Hss. : Εὐβοίᾳ Musgrave – Εὐβοίας ist entweder gen. definitivus, ‚der Wohnsitz, der in Euboia besteht‘ (vgl. zu 2) oder ein possessiv-pertinentiver Genitiv (Moorhouse 51 f.) statt eines Adjektivs (z. B. OC 947) ~ ‚euboiischer Wohnsitz‘ (bzw. ‚euboiische Stallungen‘).

Kommentar

181

484 ‚Stimme zu‘, wörtl. ‚nicke (Zustimmung) zu‘. Da Philoktet dabei Zeus beschwört, wird das homerkundige athenische Publikum an das Nicken des Zeus (Ilias 1,527 f.) gedacht haben, mit dem er der Bitte der Thetis zugunsten ihres Sohnes Achill entspricht. 485 b–486 a Bei der Gestik der Hikesie, auf die hier angespielt ist, umfasst der Bittflehende mit der linken Hand die Knie des anderen und berührt mit der rechten dessen Kinn. In der Ilias wird gesagt, dass sich die bittende Thetis so vor Zeus setzt (Homer, Ilias 1,500 f.; vgl. zur Hikesie Gould 1973). Philoktet meint jedoch – zur Intensivierung seiner Bitte – ein kniefälliges Anflehen (vgl. TS), nicht physischen Kontakt (Kosak 1999, 115–118). Fasst man Philoktets Äußerung als Aussage auf (die Verbform prospitnō als Indikativ), der ein reales Hinknien entspricht, ergeben sich zwei Probleme. (1) Wie soll man es verstehen, dass Philoktet niederkniet (mit dem Bogen in der Hand?), obwohl er gleichzeitig sagt, dass er bei seiner Behinderung dazu gar nicht in der Lage sei, und dies stilistisch (Enjambement: ‚obwohl / … nicht fähig‘) und inhaltlich durch den dreifachen Ausdruck (‚Elender‘; ‚nicht fähig‘; ‚Krüppel‘) sehr stark betont wird? Konsequenterweise wäre ‚nicht‘ zu ‚eigentlich nicht‘ zu ergänzen; das von Philoktet kaum zu bewältigende Niederknien wäre dann als besonders wirksame Hikesie-Geste zu verstehen. (2) Unabhängig davon fällt auf, dass es kein Textsignal gibt, wann Philoktet wieder aufgestanden wäre: möglicherweise erst nach v. 529 (nach dem Chorlied), also nachdem Neoptolemos zu erkennen gibt, dass er ihn mitnehmen wird; so Ussher z. St.; Schein zu 507– 18. Aber dann erscheint es geradezu zynisch, wenn Neoptolemos über den mühsam knienden Philoktet hinweg, den er da auch nicht anspricht, den Chorführer anweist, dass Philoktet schnell aufbrechen solle (526; vgl. auch Komm. dazu). Man könnte erwägen, das Hikesie-Begehren nur bildlich zu verstehen (vgl. Eur. IT 1068–1070, wo Iphigenie die Hikesie nicht real bei der angesprochenen Gruppe der Choreutinnen vollziehen kann; Kaimio 1988, 55 f.: „Figurative Supplication“), aber der mit ‚obwohl‘ eingeleitete Nebensatz ist logisch damit nicht eigentlich zu vereinbaren. Dieser letztgenannte Einwand besteht nicht, wenn man den Satz nicht als Aussage, sondern als Frage versteht (die Verbform kann auch Konjunktiv sein), die Philoktet äußert, da Neoptolemos nicht reagiert: ‚Soll ich dich (nach allem, was ich schon gesagt habe, auch noch) auf Knien anflehen, obwohl ich dazu nicht in der Lage bin?‘ Dann müsste man nicht annehmen, dass Philoktet tatsächlich niederkniet, vielmehr nach dieser Frage, als Neoptolemos nicht antwortet, einfach mit seinem Appell fortfährt. So ließen sich vielleicht am ehesten die o. g. Probleme lösen. 487 ‚von dort, wo Menschen gehen‘, wörtl.: ‚vom Weg der Menschen‘. 488–492 Bisher hatte Philoktet als Ziel nur das Land am Öta angegeben (479). Jetzt schlägt er Alternativen vor, um zu demonstrieren, dass es wenig Mühe machte, ihn mitzunehmen. Neoptolemos solle ihn entweder nach Skyros bringen oder (besser noch) weiter nach Euboia (was für Neoptolemos ein Umweg wäre), von wo aus er leicht in seine Heimat kommen könne. 489 Chalkodon ist der Vater des Elephenor, des Führers des euboiischen Kontingents der Abanten vor Troia (Homer, Ilias 2,536–545; 4,463 f.). Er ge-

Erstes Epeisodion: 490–497

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und von dort wird für mich die Fahrt nicht lang sein zum Öta und zum Bergrücken von Trachis und zum breiten Strom des Spercheios –, damit du mich zu meinem Vater bringst, von dem ich schon seit langem fürchte, dass er mir dahingegangen ist. Denn oft ließ ich ihn durch die, die hierhergekommen sind, mit flehentlichen Bitten auffordern, mit eigenem Schiff zu fahren und mich sicher nach Hause zu bringen. Aber entweder ist er tot oder die Beauftragten haben,

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κἀκεῖθεν οὔ µοι µακρὸς εἰς Οἴτην στόλος Τραχινίαν τε δεράδα καὶ τὸν εὔροον Σπερχειὸν ἔσται –, πατρί µ’ ὡς δείξῃς φίλῳ, ὃν δὴ παλαιὸν ἐξότου δέδοικ’ ἐγὼ µή µοι βεβήκῃ. πολλὰ γὰρ τοῖς ἱγµένοις ἔστελλον αὐτὸν ἱκεσίους πέµπων λιτάς, αὐτόστολον πλεύσαντά µ’ ἐκσῶσαι δόµους. ἀλλ’ ἢ τέθνηκεν, ἢ τὸ τῶν διακόνων,

490

495

495

491 δεράδα καὶ τὸν Toup : δειράδα καὶ τὸν Hss. : δειράδ᾿ ἢ τὸν Scaliger – die Überlieferung führt zu der Anomalie, dass statt der Kürze des zweiten Metrums eine Doppelkürze stünde; da es im Attischen δέρη (nicht δειρή) heißt, ist die von Toup analog gebildete Form eine sinnvolle Lösung. | εὔροον] unkontrahierte Form, wie sie gelegentlich in den iambischen Trimetern der Tragödie vorkommt. „Like the Homeric ἐΰροος, ἐϋρρείτης, the epithet refers simply to the beauty of the river, not to that swiftness (σπέρχοµαι) from which it takes its name …“ (Jebb). 492 ὡς δείξῃς] als Finalsatz abhängig von ἔκσωσόν µ’ (488); vgl. zu δείξῃς 609 (ἔδειξ᾿) u. Ai. 569. 493 παλαιὸν : παλαιὰν : πάλαι ἂν : πάλαι᾿ ἂν : παλαιὸς ἂν – παλαιὸν ἐξότου entspricht parenthetisch eingeschobenem παλαιόν ἐστιν ἐξ ὅτου, vgl. Ai. 600. Zu den Gründen, die gegen πάλαι ἂν sprechen, vgl. Jebb. 494 βεβήκῃ : βεβήκει Trikl. : βεβήκοι : βέβηκε Elmsley – mit βέβηκε würde der Tod des Vaters bereits als gewiss gelten und nicht als Befürchtung (vgl. Jebb); ob hier der Optativ stehen kann, ist sehr zweifelhaft (Diskussion bei Moorhouse 291). | ἱγµένοις] zu Personen im instrumentalen Dativ vgl. K.-G. I 436. 495 ἔστελλον] ~ ἐκέλευον, vgl. Ant. 164 f. ὑµᾶς … ἔστειλ᾿ ἱκέσθαι, „ ‘to urge’ “ (Kamerbeek). 496 αὐτόστολον Hss. : αὖθις στόλον G. Wolff – vgl. zu αὐτόστολον Anthologia Graeca 7,585,1 (Jebb). | πλεύσαντά Variante in einer Hs., Blaydes : πέµψαντά Hss. – πλεύσαντά lässt sich mit (prädikativem) αὐτόστολον besser konstruieren als πέµψαντά (vgl. Dawe 1978, 53 f.). Vgl. zur Bedeutung Ll.-J./W.1 und Komm. | πλεύσαντά … ἐκσῶσαι] die Aoriste drücken die gewünschte Vollendung der Aktion aus. | δόµους +Wunder : δόµοις (Hss.) – δόµους ist Akk. des Ziels (K.-G. I 311 f.). 497 ἀλλ’ ἢ τέθνηκεν, ἢ τὸ Saeger : ἀλλ’ ἢ τέθνηκεν, ἢ τὰ Hss. : ἀλλ’ ἢ τέθνηκ᾿ ἢ κατὰ τὸ Dawe 2003, 103 f. – ποιούµενοι (499) richtet sich in Numerus und Genus nach dem von τὸ oder τὰ abhängigen Genitiv τῶν διακόνων (vgl. K.-G. I 57 f.). τὸ oder τὰ τῶν διακόνων ist nicht identisch mit οἱ διάκονοι, sondern es ist ‚die Aufgabe der διάκονοι, was sie eigentlich hätten tun sollen‘ impliziert (vgl. Platon, Politeia 563 c 3 f. τὸ … τῶν θηρίων … ἐλευθερώτερά ἐστιν ~ ‚das Leben der Tiere …‘), wofür dann im Partizip ποιούµενοι die διάκονοι selbst stehen. Wenn man den Ausdruck (mit τὸ) als adverbiale Bestimmung auffasste (,nach Art von διάκονοι‘), ist τὸ zwingend, da solche Wendungen nur mit τό belegt sind; bei der in der Übersetzung wiedergegebenen Auffassung ist τὸ vorzuziehen, wie die Beispiele bei K.-G. zeigen. Es ist nicht recht klar, was Dawes Konjektur über Saegers τὸ hinaus leistet.

Kommentar

183

hört damit der Generation von Philoktets Vater Poias an. Pausanias weiß von einem Grabmal des Chalkodon (am Weg von Teumessos bei Theben nach Chalkis), der in einer Schlacht der Euboier gegen die Thebaner durch Amphitryon gefallen sei (9,19,3). ‚Wohnsitz‘: Dies ist eine mögliche Bedeutung des Wortes stathmos / stathma, vgl. Pindar, Olympien 5,10; 10,92; Pythien 4,76, und stünde hier in Entsprechung zu ‚deinem Haus‘ (sc. auf Skyros). Eine andere ist ‚Stallungen‘ (wie OT 1139). Dann wäre auf den Viehreichtum auf Euboia und damit auf den seines Herrschers angespielt: Bringe mich zu dir oder zu Chalkodon mit seinem reichen Besitz an Herden. Über Chalkodon ist wenig überliefert, aber Euboia ist durch seine Rinder bekannt. Der Name soll von bous (Rind) abgeleitet sein (Hesiod, fr. 296 M.-W. = 232 Most). Autolykos habe auf Euboia Rinder gestohlen (Ps.-Apollodor, Bibliotheke 2,129). Nach seinen weißen Rindern hätten die Dichter Euboia das ‚weißrindrige‘ genannt (Aelian, De natura animalium 12,36). Einige Städte hatten das Rind als Münzsymbol (Philippson 1907, 855). Jedenfalls will Philoktet, falls die Bedeutung ‚Stallungen‘ vorliegen sollte, kaum sagen, dass ihm statt eines richtigen Hauses wie das des Neoptolemos auf Skyros als Behelf auch Viehunterkünfte genügten, wenn der Ort auf seinem Weg liege (so aber Schein mit Berufung auf Chadwick 1996, 254; vgl. auch ebd. 256), sondern Philoktet gibt – welche Wortbedeutung man auch annimmt – lediglich unterschiedliche Zielorte an. 490–492 Philoktet nennt für seine Heimkehr charakteristische Orte, das Ziel (Öta) zuerst, die Stelle, wo er zu Schiff ankäme (die Flussmündung des Spercheios), zuletzt (zu beidem vgl. zu 453). Dazwischen liegt der ‚Bergrücken von Trachis‘, womit wohl die ‚Trachinischen Felsen‘ (Herodot 7,198,1) gemeint sind, „der steile, 200 m hoch fast senkrecht abfallende Nordabhang des Kalkgebirges, das im Süden der Spercheiosebene von der Senke von Dyovuna bis zum Asopos reicht“ (Stählin 1937, 1863). 492 ‚zu meinem Vater bringst‘, wörtl. ‚meinem Vater zeigst‘: D. h., sorge dafür, dass ich zu ihm komme und er mich sehen kann. Einschränkend äußert Philoktet jedoch die Befürchtung, dass sein Vater tot sei, weil auf die an ihn gerichteten Hilfegesuche (wenn die Boten sie denn ausgerichtet haben) keine Reaktion erfolgt sei (493–499; vgl. auch 1210 f.). An anderen Stellen (665; 1371) geht Philoktet davon aus, dass sein Vater noch lebt; vgl. zu 1211. 494 ‚dahingegangen‘, wörtl. nur ‚gegangen‘, das euphemistisch für ‚tot sein‘ gebraucht werden kann; vgl. Aisch. Pers. 1002. 496 ‚mit eigenem Schiff‘, d. h. nicht mehr in Abhängigkeit von denen, die ihn nicht mitnehmen wollen. Gemeint ist, dass Poias ein Schiff mit eigener Mannschaft ausrüsten soll, nicht, dass er auch selbst fährt. ‚mich sicher nach Hause zu bringen‘, im Griechischen prägnant: ‚mich nach Hause zu retten‘.

Erstes Epeisodion: 498–506

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wie zu erwarten, glaube ich, mein Anliegen gering geschätzt und sind eilends nach Hause gefahren. Jetzt aber – denn an dich als Geleiter und zugleich auch Boten 500 wende ich mich – rette du mich, habe du Mitleid mit mir, da du siehst, wie alles zu fürchten und voller Gefährdung ist für die Sterblichen, dass es ihnen gut ergehen, aber auch wieder schlecht ergehen kann. {Man muss aber, solange man außerhalb des Leids steht, die Gefahr sehen, und wenn es einem gut geht, dann auf sein Leben besonders 505 achten, damit es nicht unvermerkt zunichtewird.} ὡς εἰκός, οἶµαι, τοὐµὸν ἐν σµικρῷ µέρος ποιούµενοι τὸν οἴκαδ’ ἤπειγον στόλον. νῦν δ’, ἐς σὲ γὰρ ποµπόν τε καὐτὸν ἄγγελον ἥκω, σὺ σῶσον, σύ µ’ ἐλέησον εἰσορῶν, ὡς πάντα δεινὰ κἀπικινδύνως βροτοῖς κεῖται παθεῖν µὲν εὖ, παθεῖν δὲ θἀτέρᾳ. {χρὴ δ’ ἐκτὸς ὄντα πηµάτων τὰ δείν’ ὁρᾶν, χὤταν τις εὖ ζῇ, τηνικαῦτα τὸν βίον σκοπεῖν µάλιστα µὴ διαφθαρεὶς λάθῃ.}

500

505

498 µέρος (Hss.) : µέρει : µέρεις – τὸ ἐµὸν / σὸν µὲρος ist idiomatisch (LSJ s. v. µέρος III 2; vgl. Ant. 1062; OT 1509). 500–501 ἐς σὲ … ἥκω] vgl. K.-G. I 468; Radermacher 1911 z. St. mit Verweis auf Demosthenes (or. 45,85) zur Bedeutung von ἥκω. 500 γὰρ] begründet proleptisch, warum Neoptolemos Philoktet retten soll; vgl. K.-G. II 332–334. 501 µ᾿] gehört auch zu σῶσον (Versparung des Objekts; Kiefner 1964, 34 f.). | ἐλέησον] epische Form. 502–503 πάντα … θἀτέρᾳ] πάντα (~ ‚die ganzen Lebensumstände‘) ist als Subjekt zu κεῖται aufzufassen (zum Nebeneinander von adjektivischem δεινὰ und dem Adverb ἐπικυνδίνως vgl. 345), und παθεῖν … θἀτέρᾳ expliziert πάντ᾿ … κεῖται. δεινὰ (ἐστιν) zu verstehen und mit κἀπικινδύνως einen neuen Satz beginnen zu lassen, dessen Subjekt παθεῖν … θἄτερα wäre (Kamerbeek, mit dieser Lesart), widerspräche dem Satzduktus und würde die in κεῖται liegende Nuance (vgl. Komm. zu 502) auf einen Teil der Aussage beschränken. 502 πάντα δεινὰ Hss. : πάντ᾿ ἄδηλα Wakefield – gemeint ist nicht eine Ungewissheit, sondern die Gefahr eines Umschlags des Schicksals ins Unglück. | δεινὰ κἀπικινδύνως] zum Doppelausdruck vgl. Platon, Nomoi 736 c 7 f.; Xenophon, Memorabilien 4,6,10 (Lane 2004, 447). 503 παθεῖν µὲν εὖ, παθεῖν δὲ θἀτέρᾳ] der Akzent liegt auf dem δὲ-Glied, während das µὲν-Glied geradezu den Charakter eines untergeordneten Satzes hat („während, nachdem“, K.-G. II 232; GP 370 [ii]; Webster): „ ‘that, as they have fared well, so they may fare ill.’ “ (Jebb). | θἀτέρᾳ Blaydes : θἄτερα Hss. – adverbiell (korrespondierend zu εὖ) ist θἀτέρᾳ gebräuchlich, vgl. LSJ s. v. IV. 1. c; Lane 2004, 448. {504–506} Reeve 1970, 288 f. – vgl. Komm. 505 τὸν βίον] Subjekt von λάθῃ (506) in proleptischer Stellung.

Kommentar

185

498 ‚wie zu erwarten‘ drückt die allgemeine negative Einschätzung der Beauftragten aus, ‚glaube ich‘ das Ergebnis im konkreten Fall; vgl. Jebb. ‚mein Anliegen‘, wörtl. ‚mein Teil‘, ‚meine Sache‘: Der Ausdruck kann auch einfach ‚mich‘ bedeuten. 500 ‚als Geleiter und zugleich auch Boten‘: Neoptolemos kann Philoktet mitnehmen und zugleich die Botenfunktion der vorher Ausgesandten erfüllen; vgl. Jebb. 501–503 Philoktet argumentiert generell mit der Bedrohtheit der menschlichen Existenz, bei der man damit rechnen muss, dass man, auch wenn man sich gerade im Glück befindet, auch wieder ins Unglück geraten kann, zielt jedoch auf Neoptolemos: Bedenke, dass es dir einmal ebenso gehen könnte wie mir und du dann selbst auf Hilfe angewiesen wärst. 502 ‚ist‘: Im Griechischen schwingt die Nuance mit, dass es für die Menschen so ‚eingerichtet ist‘ (keitai [503]. sc. von den Göttern); vgl. Jebb. 503 ‚schlecht‘, wörtl.: ‚auf andere Weise‘, sc. als gut. 504–506 Die Verse sollen den Gedanken in den vv. 501–503 fortsetzen. Jedoch geht es jetzt nicht mehr um unvermeidliche schicksalsbedingte Gefährdungen, denen jeder Mensch ausgesetzt ist, sondern darum, dass man im Glück nichts falsch machen soll, um sich nicht zu gefährden, dass man also sein Schicksal selbst in der Hand hat; es ist aber wenig überzeugend, wenn Philoktet androhen wollte, dass Neoptolemos s e i n eigenes Leben ‚unvermerkt zunichte‘ machte, wenn er Philoktet nicht mitnähme, zumal es keinen Sicherheitsautomatismus im positiven Fall gäbe. In Anbetracht der vielfach zu belegenden sophokleischen Manier, längere Reden mit einer antithetischen Formulierung, wie sie in v. 503 vorliegt, zu beschließen, besteht der begründete Verdacht, dass es sich bei diesen Versen um einen nachträglichen Zusatz (mit gedanklicher Verschiebung) handelt. Vgl. Reeve 1970, 288 f.; Ll.-J./W.1. Anders Pucci; keine Diskussion bei Schein.

186

Erstes Epeisodion (Gegenstrophe): 507–518

Ch.

Habe Erbarmen, Herr; von den Plagen vieler Gegenstrophe schwer zu ertragender Mühen sprach er, wie sie keiner meiner Freunde erfahren möge. Und wenn du, Herr, die widerwärtigen Atreus-Söhne hasst, 510/1 würde ich deren Schurkerei für ihn zu einem großen Gewinn machen und ihn, wohin er möchte, 514/5 auf dem gut ausgerüsteten schnellen Schiff nach Hause bringen und so der Götter Vergeltung entrinnen.

Χο.

οἴκτιρ’, ἄναξ· πολλῶν ἔλεξεν δυσοίστων πόνων ἆθλ’, οἷα µηδεὶς τῶν ἐµῶν τύχοι φίλων. εἰ δὲ πικρούς, ἄναξ, ἔχθεις Ἀτρείδας, ἐγὼ µέν, τὸ κείνων κακὸν τῷδε κέρδος µέγα τιθέµενος, ἔνθαπερ ἐπιµέµονεν, ἐπ’ εὐστόλου ταχείας νεὼς πορεύσαιµ’ ἂν ἐς δόµους, τὰν {ἐκ} θεῶν νέµεσιν ἐκφυγών.

ἀντ. 510/1 514/5

507 πολλῶν (Hss.) : πολλῶν δ᾿ Trikl. – begründendes Asyndeton (K.-G. II 344 δ). 508– 509 πόνων ἆθλ’] gen. definitivus: die Plagen bestehen in den Mühen; vgl. Moorhouse 53 f.; ἆθλα ist in der Bedeutung von ἆθλοι gebraucht. 509 οἷα Porson (ursprünglich) : ὅσσα / ὅσα (Hss.) : ὅσσων : ἅττα : ἅσσα Porson – der Aspekt der Qualität ist hier naheliegender (vgl. 275; 315; 1004; 1359) als derjenige der Quantität (anders Kamerbeek; Pucci), da auch eine geringere Zahl von solchen Qualen für Freunde nicht wünschenswert wäre. | τύχοι Hss. : λάχοι Seyffert – zum pronominalen Akkusativ (οἷα) bei τυγχάνω vgl. K.-G. I 350 Anm. 9. 510 πικρούς] vgl. zu 254 (mit Komm.). | ἔχθεις Ἀτρείδας (Hss.) : Ἀτρείδας ἔχθεις +Bergk; Conomis 1964, 26 – da es bei Euripides des Öfteren Dochmien gibt, die nur aus Längen bestehen (vgl. Conomis 1964, 23), ist dieses Phänomen auch beim späten Sophokles nicht auszuschließen; das Nebeneinander von kurzer (396) und langer (510) Messung der ersten Silbe von Ἀτρείδ- begegnet mehrfach in Sprechversen im Philoktet (z. B. 323; 389). 512 µέν] µέν solitarium nach einem Personalpronomen (GP 381 [ii]). Sinn: ‚wenn es nach mir ginge …‘. 514 µέγα τιθέµενος Hss. : µετατιθέµενος (Variante bei Trikl.; Scholion zu v. 512) – bei der Lesung µέγα trägt der Chor sein Ansinnen pathetischer vor, und man muss nicht mit Jebb bei µετατίθεσθαι einen nur beim Simplex belegten doppelten Akkusativ (mit adverbiellem µετα „by transference“) annehmen. 515 ἐπιµέµονεν editores : ἐπεὶ µέµονεν (Hss.) : ἐπιµέµηνεν Trikl. – ἐπιµέµονεν korrigiert den itazistischen Fehler ἐπεὶ µέµονεν. Das hergestellte ἐπιµέµονεν kommt nur hier vor und ist die einzige Form von µέµονα bei Sophokles. Zu ergänzen: πορεύεσθαι (vgl. LSJ s. v.). 516 εὐστόλου ταχείας] Asyndeton bei epitheta ornantia (K.-G. II 341 f.). 517  πορεύσαιµ’ ἂν] der Potentialis drückt hier eine höfliche Form der Aufforderung aus (Kamerbeek). | {ἐκ} θεῶν Hermann : ἐκ θεῶν Hss. – wenn man ἐκ hält und θεῶν einsilbig liest, entsteht ein Dochmius der Form ⏑ ‒ ‒ ‒ ‒ (vgl. auch Andreatta 1999, 156); diese ist zwar für Sophokles belegt (vgl. Conomis 1964, 27), aber die Tilgung von ἐκ ergibt eine genauere Responsion mit v. 401.

Kommentar

187

507–518 Wie Philoktet nicht direkt auf die Rede des Neoptolemos (343– 390) reagiert, sondern der Chor gesungen hatte (Strophe, 391–402), so antwortet auch Neoptolemos nicht unmittelbar auf Philoktet, sondern der Chor singt die zugehörige Gegenstrophe (statt der sonst üblichen Sprechverse). – Vielleicht ist der Chor durch das Schicksal Philoktets wirklich gerührt, aber in erster Linie handelt er gemäß Neoptolemos’ Anweisung (149) im Sinne der Intrige: Er appelliert an Neoptolemos’ Mitgefühl, damit der den Eindruck erwecken kann, er werde Philoktet nach Hause bringen, um so Philoktet und seinen Bogen in seine Gewalt zu bekommen. Strophe und Gegenstrophe sind durch die trügerische Intention verbunden (Gardiner 1987, 29). 507 Philoktet hatte um Mitleid (eleein) gebeten (501), der Chor fordert Neoptolemos auf, sich zu erbarmen (oiktirein). Die griechischen Wörter sind weitgehend bedeutungsgleich, man könnte die Übersetzungen auch vertauschen, es ist jedoch behauptet worden, dass sie sich dadurch unterscheiden, dass oiktirein nicht in gleicher Weise eine daraus folgende Aktion impliziere wie eleein (Schein zu 500–1, mit Berufung auf Prauscello 2010). Aber die an der homerischen Sprache gewonnene Unterscheidung scheint jedenfalls im Philoktet zu wenig hilfreichen Differenzierungen zu führen. In v. 507 soll das oiktirein gerade eine Aktion bewirken (während in den vv. 307 f. das eleein mit Worten erfolgte; Burkert 1955, 42). Wenn der Gebrauch von oiktirein ein Hinweis sein sollte, dass der Chor Neoptolemos’ Täuschung unterstützt (so Prauscello 2010, 209 f.), könnte auch Philoktet Verdacht schöpfen, was kontraproduktiv wäre. Aber der Chor täuscht viel direkter (vgl. 391–402). Und Philoktet selbst kann auch oiktirein mit der Implikation des (erwünschten) Handelns verwenden (756 f.; 1071). 510/1 Der (fiktive) ‚Hass‘ des Neoptolemos gegen die Griechen und insbesondere die Atreus-Söhne ist – für die Zuschauer deutlich erkennbar – von Anfang an konstitutiv für Odysseus’ Intrigenplan (58 ff.; 374–376; 389; 455– 458). Das legt eine zweite Deutungsmöglichkeit der Choraussage, nach der Neoptolemos aufgrund der Kenntnis der Leidensgeschichte Philoktets die Atreus-Söhne nun wirklich hasse, nicht nahe (so aber Kitzinger 2008, 93 ff., die die Gegenstrophe durchgehend als ambivalent ansehen möchte). Wenn der Chor den in der Intrige vorgespielten Hass des Neoptolemos meint, sind auch seine weiteren Ausführungen in der Gegenstrophe als Täuschung zu verstehen. 512–513 ‚deren Schurkerei‘: Das, was die Atreus-Söhne angeblich Neoptolemos angetan haben (359 ff.). So hätte die durch deren Verhalten veranlasste ‚Heimfahrt‘ des Neoptolemos etwas Gutes für Philoktet. 517–518 ‚der Götter Vergeltung‘: die sich aus der Anrufung des Zeus als Gott der Schutzflehenden (484) ergibt, wenn Neoptolemos Philoktet nicht hilft. Neoptolemos’ intendiertes Verhalten entspricht allerdings, wie der Chor weiß, nicht der Bitte Philoktets und könnte so auch nicht vor göttlicher Vergeltung schützen. Wie schon in den vv. 391 ff. (vgl. zu 391–392) beruft sich der Chor auch hier für den Erfolg der Intrige missbräuchlich auf göttliche Mächte.

Erstes Epeisodion: 519–525

188 Ne.

Sieh zu, dass du jetzt nicht als einer, der gutmütig ist, dabei bist, wenn du aber genug hast von der Krankheit wegen des Zusammen- 520 seins mit ihm, dann dich als nicht mehr im Einklang mit deinen Worten erweist! Chf. Ganz und gar nicht! Unmöglich wirst du einmal gegen mich diesen Tadel zu Recht vorbringen können! Ne. Ja, es wäre schändlich, wenn ich mich weniger bereit als du zeigte, für einen Fremden Mühe aufzuwenden, wie es nötig ist für ihn. 525 Νε.

Χο. Νε.

ὅρα σὺ, µὴ νῦν µέν τις εὐχερὴς παρῇς, ὅταν δὲ πλησθῇς τῆς νόσου ξυνουσίᾳ, τότ’ οὐκέθ’ αὑτὸς τοῖς λόγοις τούτοις φανῇς. ἥκιστα· τοῦτ’ οὐκ ἔσθ’ ὅπως ποτ’ εἰς ἐµὲ τοὔνειδος ἕξεις ἐνδίκως ὀνειδίσαι. ἀλλ’ αἰσχρὰ µέντοι σοῦ γέ µ’ ἐνδεέστερον ξένῳ φανῆναι πρὸς τὸ καίριον πονεῖν.

520

525

519 ὅρα σὺ µὴ] vgl. zu 30 (K.-G. II 390); σὺ ist als Subjekt des Nebensatzes durch die vorgezogene Stellung stark betont. | τις] „gives a slightly contemptuous tone“ (Jebb mit Verweis auf [Aisch.] PV 696). | παρῇς] wegen des Sinnkontextes eher eine Form von πάρειµι als von παρίηµι. 520 πλησθῇς τῆς νόσου ξυνουσίᾳ] in der Bedeutung ‚genug haben‘ regiert πίµπλαµαι den Genitiv, ξυνουσίᾳ ist kausaler Dativ. 521 οὐκέθ’ αὑτὸς : οὐκέθ’ αὐτὸς : οὐκέθ’ ὡὐτὸς : οὐκέτ᾿ αὐτὸς | αὑτὸς τοῖς λόγοις τούτοις φανῇς] verkürzt für ὁ αὐτός σοι λέγοντι τούτους τοὺς λόγους φανῇς, zum Dativ vgl. K.-G. I 411 f. 522– 523 ἥκιστα … ὀνειδίσαι] durch die starke Verneinung (ἥκιστα), durch τοῦτο in weiter Sperrung zu ὄνειδος, durch die Formel οὐκ ἔσθ’ ὅπως und die figura etymologica (ὄνειδος ὀνειδίσαι) entsteht ein Höchstmaß an Emphase; vgl. auch Schein. 524 ἀλλ’ … µέντοι] zum Ausdruck der Zustimmung (GP 411 [2]). | αἰσχρὰ] zum Plural vgl. K.-G. I 66 f. | γέ µ’ (Hss.) : γ᾿ ἔµ᾿ +Brunck – γ᾿ ἔµ᾿ „would imply an ungraceful emphasis on the speaker’s personal dignity“ (Jebb). 525 πονεῖν] epexegetischer Infinitiv zu ἐνδεέστερον (524); vgl. Ai. 38 πρὸς καιρὸν πονῶ.

Kommentar

189

519–538 Statt – nach dem Chor – direkt auf die Bitte Philoktets zu antworten, wendet sich Neoptolemos an den Chorführer als Repräsentanten des Chors und spricht von Philoktet nur in der dritten Person. Dadurch wird einerseits das Intrigenspiel fortgesetzt: Neoptolemos lässt sich durch die ausdrückliche Bereitschaft des Chors, Philoktet trotz der zu erwartenden Belästigungen mitzunehmen, gewissermaßen die Zustimmung abringen; seinerseits legt er den Chor auf dessen Haltung fest. Dieses Vorgehen soll auf Philoktet glaubhafter wirken als eine nur spontane Entscheidung. Vgl. auch Visser 1998, 125 f. Andererseits kann es Neoptolemos durch seinen Dialog mit dem Chor vermeiden, Philoktet direkt anzulügen, wie er ja auch nicht verspricht, Philoktet nach Hause zu bringen, sondern das Fahrtziel doppeldeutig angibt (529). Wollte er wirklich Philoktets Wunsch erfüllen, müsste er sich nicht so unklar ausdrücken. Zwar hat Neoptolemos in Bezug auf sich selbst lügen können (‚ich fahre nach Hause‘, 240; 453–465), fühlt sich aber vielleicht doch gehemmt, dem Gegenüber offen ein falsches Fahrtziel anzugeben, das dessen ganze Zukunft betrifft; vgl. auch zu 525 und 526. Vgl. zu Neoptolemos’ Ausdrucksweise auch Stokes 1988, 157 f. – Philoktet versteht Neoptolemos’ Äußerung als definitive Zusage und bedankt sich überschwänglich. 519  ‚als einer, der gutmütig ist, dabei bist‘: sc. wie ein Zuschauer, ohne dich einer Belästigung aussetzen zu müssen. Der leicht verächtliche Ton kommt im Griechischen durch tis zustande. 521 ‚im Einklang mit deinen Worten‘, wörtl. ‚als identisch mit diesen (deinen) Worten‘ im Sinne von ‚als derselbe wie du, als du diese Worte sagtest‘. 522–523 Der Chorführer weist Neoptolemos’ Unterstellung mit höchster, sprachlich geradezu übertreibender Emphase zurück. 524 ‚schändlich‘: Gegenüber Odysseus (108) schien es Neoptolemos schändlich zu lügen. Nun gebraucht er dieselbe moralische Kategorie, um die Intrige voranzubringen. Vgl. Blundell 1989, 202. 525 ‚für einen Fremden‘: Durch die allgemeine Formulierung (‚einen Fremden‘, der Artikel fehlt) tritt die moralische Verpflichtung des Neoptolemos, sich seiner Mannschaft anzuschließen, umso mehr hervor. Nachdem er aber zuvor schon Philoktet namentlich bezeichnet hatte (432), kann die Ausdrucksweise auch als ein Zeichen der Scheu, sich Philoktet unmittelbar zuzuwenden, gesehen werden. ‚wie es nötig ist für ihn‘: Die Formulierung ist doppelsinnig (vgl. Pucci), für Neoptolemos zielt die Mühe darauf, Philoktet zum Schiff zu bringen (für die Fahrt nach Troia), Philoktet muss verstehen, man wolle ihm helfen, nach Hause zu kommen.

Erstes Epeisodion: 526–532

190

Ph.

Φι.

Wenn es recht ist, wollen wir fahren, er soll schnell aufbrechen; denn das Schiff wird ihn befördern und sich nicht verweigern. Mögen nur die Götter uns heil aus diesem Land geleiten und dorthin, wohin wir von hier aus fahren möchten. O liebster Tag, du liebenswertester Mann, ihr lieben Seeleute, könnte ich euch doch durch die Tat erweisen, wie sehr ihr mich zu eurem Freund gemacht habt! ἀλλ’ εἰ δοκεῖ, πλέωµεν, ὁρµάσθω ταχύς· χἠ ναῦς γὰρ ἄξει κοὐκ ἀπαρνηθήσεται. µόνον θεοὶ σῴζοιεν ἔκ τε τῆσδε γῆς ἡµᾶς ὅποι τ’ ἐνθένδε βουλοίµεσθα πλεῖν. ὦ φίλτατον µὲν ἦµαρ, ἥδιστος δ’ ἀνήρ, φίλοι δὲ ναῦται, πῶς ἂν ὑµὶν ἐµφανὴς ἔργῳ γενοίµην, ὥς µ’ ἔθεσθε προσφιλῆ;

530

530

526 ἀλλ’] vgl. zu 486 (hier Intensivierung des Hortativs). | ταχύς] prädikatives Adjektiv in adverbieller Funktion (K.-G. I 273 ff.). 527 χἠ ναῦς γὰρ] καὶ … γὰρ „for in fact“ (GP 110 f.). | ἀπαρνηθήσεται] Deponens wie die passive Aoristform. 528 µόνον] wie das lateinische modo (LSJ s. v. B. II). | τε Gernhard : δὲ : γε – γε dürfte ein Versuch sein, das unmögliche δὲ zu verbessern, τε stellt die Korresponsion mit τ’ (529) her. 529 βουλοίµεσθα] der Optativ wird von den Kommentatoren zumeist als Modusattraktion (σῴζοιεν, 528) erklärt (vgl. auch K.-G. I 255 f.); er ist aber eher Ausdruck vieldeutiger Unbestimmtheit (‚wohin auch immer …‘), vgl. K.-G. II 444, 4 (mit Verweis auf § 560,1). 530–531 ὦ … ναῦται] die Wendung oszilliert zwischen Ausruf und Anrede. Sofern sie Letzteres ist, handelt es sich zumindest bei ἀνήρ um einen Nominativ; zum Nominativ statt Vokativ bzw. zur Mischung beider Formen vgl. K.-G. I 47 f.; Moorhouse 25. 531–532 πῶς ἂν … γενοίµην] Wunsch in Frageform (K.-G. I 235, 6; Moorhouse 231).

Kommentar

191

526 ‚er soll schnell aufbrechen‘: Diese Aufforderung an den behinderten Philoktet ist wohl nicht als „somewhat cruel“ (so Schein) zu verstehen; jedenfalls empfindet Philoktet einen schnellen Aufbruch nicht als Problem (533). Vermutlich soll Neoptolemos als jemand charakterisiert werden, der die für ihn unangenehme Situation schnell hinter sich bringen will (zur ‚Eile‘ vgl. auch zu 461). – Die distanzierende ‚Er-Formulierung‘ spricht dagegen, dass Neoptolemos Philoktet jetzt zum Aufstehen die Hand reicht und ihn damit als Schutzflehenden anerkennt (so aber Belfiore 1994, 120), man also einen Beweis hätte, dass Philoktet gekniet habe (vgl. zu 485 b–486 a). 527 Die Aussage nimmt Bezug auf 481–483: Von Seiten des Schiffes wird es kein Problem geben, Philoktet mitzunehmen. Das Schiff ist personifiziert wie Homer, Odyssee 10,131 f. und Aristoteles, Politik 1284 a 24 f. (über die Argo, die Herakles nicht habe mitnehmen wollen). 528–529 Neoptolemos meint mit seiner unbestimmten Angabe als Fahrtziel Troia, Philoktet muss ihn aber, da Neoptolemos den Chor (517 ‚nach Hause‘ = Heimat Philoktets) nicht korrigiert, so verstehen, dass es jetzt in seine Heimat Malis gehen soll, vielleicht auch über Skyros oder Euboia (488– 490). 530–538 Philoktet ist in argloser Freude überwältigt von dem Entgegenkommen der anderen, das er in seiner Situation nicht vergelten kann. Dem vermeintlichen Freund will er, bevor sie aufbrechen, noch seine bisherigen Lebensverhältnisse vorführen, deren Bewältigung er als Beweis seiner Sonderstellung versteht. Vgl. zu 536–537. 530 ‚O liebster Tag‘: Vgl. ‚O liebste Sprache‘ (234). Wie sich Philoktet freute, wieder seine Muttersprache zu hören, so jetzt über die (vermeintliche) Heimkehr. 531 ‚ihr lieben Seeleute‘: Philoktet ist sich bewusst, dass er die ‚Zusage‘ des Neoptolemos nicht zuletzt dem Chor verdankt. Später wird er ihn als ‚Bester von denen, die bisher hier waren‘ (1171) bezeichnen.

Erstes Epeisodion: 533–538

192

Wir wollen gehen, mein Sohn, wenn wir beide einen Abschiedsgruß entboten haben der unwohnlichen Wohnung drinnen, damit du noch erfährst, wovon ich mein Leben fristete und wie standhaft mein Herz war: 535 Ich glaube, kein anderer, hätte er auch nur den Anblick mit seinen Augen wahrgenommen, hätte das ertragen außer mir. Ich aber lernte allmählich durch die Not, mich abzufinden mit dem Elend. ἴωµεν, ὦ παῖ, προσκύσαντε τὴν ἔσω ἄοικον ἐξοίκησιν, ὥς µε καὶ µάθῃς, ἀφ’ ὧν διέζων ὥς τ’ ἔφυν εὐκάρδιος· οἶµαι γὰρ οὐδ’ ἂν ὄµµασιν µόνην θέαν ἄλλον λαβόντα πλὴν ἐµοῦ τλῆναι τάδε· ἐγὼ δ’ ἀνάγκῃ προὔµαθον στέργειν κακά.

535

533 ἴωµεν] Asyndeton beim Übergang zu einer Aufforderung (K.-G. II 346 e). | προσκύσαντε : προσκύσοντες : προσκύσαντες – zur Dualform vgl. Komm. | τὴν ἔσω Hss. : γῆν … (Lücke vom Umfang eines Verses) ἔσω Schneidewin : ἑστίαν Bergk (Scholion: προσκύσαντες· ἀσπασάµενοι τὴν ἑστίαν) – als Objekt von προσκύσαντε könnte man in diesem Zusammenhang zwar die Erde erwarten (1408; OC 1654), aber Gegenstand von προσκυνέω kann z. B. auch Philoktets Bogen (657) sein; insofern ist die Wohnung als Objekt nicht anstößig (vgl. 1453); vgl. Ll.-J./W.1. 534 ἐξοίκησιν Frederking : εἰς οἴκησιν : εἰσοίκησιν (vgl. auch Scholion zu 536) : ἐς οἴκησιν : οἴκησιν – εἰς οἴκησιν wäre nur bei der Annahme einer größeren Verderbnis denkbar, da es bei Beibehaltung des übrigen Textes nicht von ἴωµεν abhängen kann. εἰσοίκησιν (nur hier) ist eine denkbare Bildung (vgl. εἰσοικέω – wenn das Wort auch erst spät belegt ist, sowie Scholion zu 536), aber neben ἔσω ganz unwahrscheinlich. So spricht manches für ἐξοίκησιν, wenn man es nicht in seiner erst nach Sophokles belegten Bedeutung „emigration, deportation“ (LSJ s. v.) versteht, sondern ausgehend von Soph. OC 27 ἐξοικήσιµος (‚bewohnbar‘, ‚bewohnt‘) als verstärktes οἴκησις (vgl. Ll.J./W.1). ΕΞΟΙΚΗΣΙΝ kann leicht zu ΕΣΟΙΚΗΣΙΝ korrumpiert worden sein. Zu (neugebildeten) -sis-Wörtern bei Sophokles vgl. Long 1968, 33–35. | µε] Prolepse, vgl. zu 444. | καὶ] zu καί im Finalsatz vgl. GP 298. 536 γὰρ] vgl. zu 331. | µόνην Hss. : µόνον Blaydes – das adverbiale µόνον ist zwar üblicher, aber die adjektivische Verwendung möglich (vgl. LSJ s. v. II. 1), sodass µόνην als lectio difficilior gelten kann. 538 προὔµαθον] „ ‘ich machte im Lernen Fortschritte’ ‘ich lernte allmählich’ “ (Radermacher 1911 z. St.). | κακά (als Variante in zwei Hss. vermerkt) : τάδε (Hss.) : Vers fehlt in zwei Hss. – der Ausfall des Verses in zwei Hss. erklärt sich am leichtesten, wenn er, wie der vorige, auf τάδε endete; auch der Scholiast las τάδε (empfiehlt freilich: γράφε κακά), das als einhellig überliefert gelten, aber leicht wegen τάδε (537) entstanden sein kann. κακά ist vermutlich nur eine, vielleicht richtige Konjektur; τάδε ergibt letztlich denselben Sinn.

Kommentar

193

533 ‚gehen‘: zum Schiff, um abzufahren. ‚wir beide‘: Die Verbform zur Bezeichnung des Verabschiedens hat Sophokles vermutlich im Dual formuliert (alternativ ist auch Plural überliefert, aber die seltenere Dual-Form kann als lectio difficilior gelten). Er will damit Philoktet möglicherweise eine Zusammengehörigkeit mit Neoptolemos ausdrücken lassen. ‚Abschiedsgruß‘: Philoktet lebte zwar unter unerträglichen Bedingungen (vgl. auch 536 f.), aber nach der langen Zeit möchte er nicht ohne ein förmliches Abschiednehmen gehen; vgl. 1408; 1453 (Ussher). – Das griechische Wort für ‚grüßen‘ (proskyneō) leitet sich von der Grundform kyneō ‚küssen‘ ab und bedeutet eigentlich ‚seine Verehrung durch Entbieten eines Kusses zeigen‘ (Kroll 1931, 518 f.), im religiösen Bereich dann allgemeiner ‚(niederkniend) verehren‘ („die Erde und den Wohnsitz der Götter“, OC 1654 f.; vgl. Aisch. Pers. 499, wobei sich das Küssen allenfalls auf die Erde beziehen kann). Vgl. zum Wort auch 776; 1408. 534–535 Philoktet weiß nicht, dass Neoptolemos bereits seine Höhle gesehen hat und welchen Eindruck sie auf ihn machte (vgl. 26–39). 534 ‚unwohnlichen Wohnung‘: Der – allerdings nicht ganz sichere Text (vgl. TS) – läuft wörtlich auf das Oxymoron ‚unbewohnbare Bewohnbarkeit‘ hinaus. 536–537 Schon in v. 535 hatte Philoktet auf den Mut hingewiesen, den sein Leben erforderte, jetzt kennzeichnet er ausdrücklich seine Ausnahmestellung, ähnlich wie der sophokleische Ödipus gesagt hatte: „Denn mein Elend kann keiner von den Menschen tragen außer mir“ (OT 1414 f.); Hösle 1984, 131. 538 Dass Philoktet sich mit seiner Notlage arrangierte und sie ertrug, hat er gemeinsam mit Herakles, der ihn am Ende der Tragödie (1418–1420) auf sein eigenes Ertragen der Mühen verweist. Dadurch wird im Nachhinein Philoktets Selbsteinschätzung auf ein anderes Niveau gehoben.

Erstes Epeisodion: 539–541

194

Während Philoktet und Neoptolemos dabei sind, in die Höhle zu gehen, nähern sich zwei Männer vom Seiteneingang (Ankerplatz des Schiffes) her. Chf. Wartet! Lasst uns hören! Denn zwei Männer, der eine ein Seemann von deinem Schiff, der andere ein Fremder, kommen; wenn ihr sie gehört habt, dann geht hinein. Χο.

ἐπίσχετον, µάθωµεν· ἄνδρε γὰρ δύο, ὁ µὲν νεὼς σῆς ναυβάτης, ὁ δ’ ἀλλόθρους, χωρεῖτον, ὧν µαθόντες αὖθις εἴσιτον.

540

540

539 ἐπίσχετον, µάθωµεν] zum Wechsel vom Imperativ zum Hortativ vgl. Eur. Hipp. 567, dazu Barrett 1964. | µάθωµεν Hss. : σταθῶµεν Hense : µένωµεν Wakefield – µάθωµεν ist nicht unproblematisch, nicht so sehr wegen der Wiederholungen (προὔµαθον [538], µαθόντες [541]), sondern weil sich der Chorführer hier in ein Verlangen nach Information einschließt, die – wie er weiß (541) – nur Neoptolemos und Philoktet angeht; aber σταθῶµεν ist keine Alternative, weil nur Philoktet und Neoptolemos in Bewegung waren, und µένωµεν fügt zu ἐπίσχετον keinen neuen Aspekt hinzu (Jebb). | δύο : δύω – δύο ist die attische und klassische Form. 541 µαθόντες] Plural neben Verb im Dual (Κ.-G. I 70). | αὖθις : αὖτις : αὐτίκ᾿ Blaydes – zur Bedeutung ‚danach‘ von αὖθις vgl. LSJ s. v. II. 3; zur Form αὖθις vgl. zu 127.

Kommentar

195

539–627 Die Szene, in welcher der von Odysseus für den Fall, dass Neoptolemos für den Erfolg zu lange brauche, angekündigte ‚Kaufmann‘ (vgl. 126 ff.; zu 540) auftritt, gliedert sich – nach der Ankündigung des Chorführers (539–541) – in die Auftrittsrede des ‚Kaufmanns‘ (542–556), den Dialog zwischen ihm und Neoptolemos (557–602), einmal unterbrochen durch Philoktet (578 f.), eine weitere Rede des ‚Kaufmanns‘ (603–621) und abschließende Bemerkungen Philoktets und des ‚Kaufmanns‘ (622–627). Der Auftritt des ‚Kaufmanns‘ hat die Funktion, den Druck auf Philoktet so zu erhöhen, dass er zu schnellem Aufbruch bereit ist, und dabei zugleich das Vertrauen Philoktets in Neoptolemos zu stärken, hat aber auch die Wirkung, dass Philoktets ohnehin bestehender Hass gegen Odysseus neu angefacht wird (628 ff.); vgl. Linforth 1956, 117 f. Außerdem wird die für das Verständnis des Dramas wichtige Information über die Weissagung des Helenos vermittelt; vgl. Einf. S. 28–30. Hätte Odysseus den ‚Kaufmann‘ nicht geschickt, wären Philoktet und Neoptolemos in die Höhle und dann zum Schiff gegangen und die Intrige wäre vermutlich erfolgreich verlaufen. Dass Odysseus mit seiner Aktion vor allem die Gewinnung des Bogens befördern wolle, um den sich Neoptolemos bisher nicht ausdrücklich bemüht habe (so z. B. Kamerbeek S. 96 f.), ist nicht plausibel, denn aus den Ausführungen des ‚Kaufmanns‘ ergibt sich nichts, was speziell auf die Gewinnung des Bogens weist, er will nur zur Eile drängen (620); das Problem, dass dann Philoktet mit seinem Bogen auf Odysseus treffen könnte (vgl. zu 453–465), soll offenbar keine Rolle spielen. Durch seine Ungeduld bewirkt Odysseus eine Verzögerung, die über den Anfall Philoktets (732 ff.) und die wachsende Zuneigung des Neoptolemos zu ihm (806 ff.) schließlich zum Scheitern des ursprünglichen Plans führen wird. Es tritt ein, was Neoptolemos 431 f. in tragischer Ironie über den ‚schlauen Ringer‘ gesagt hatte. Vgl. auch Müller 1997, 232 f.; Visser 1998, 74 f. Das Auftreten des ‚Kaufmanns‘ ist auch in der Hinsicht kontraproduktiv, dass sie Philoktets äußersten Widerstand gegen den Plan hervorruft, nach Troia zu gehen (628 ff.); vgl. T. v. Wilamowitz 1917, 302. Für Philoktet ist Odysseus jetzt nicht nur der Verursacher früheren Leids, sondern auch eine erneute Bedrohung (vgl. Poe 1974, 19). Im Gegensatz zur Fiktion des ‚Kaufmanns‘ ist diese bereits real. 539–541 Eigentlich kann der Chor der Seeleute nicht wissen, dass der auftretende Fremde für den Ablauf der Ereignisse wichtig ist; denn er war nur Neoptolemos angekündigt worden (126 ff.); vgl. Kamerbeek. Aber der Dichter lässt sie die Intrige mitspielen, als ob sie informiert wären, wie er auch an anderen Stellen ein größeres Wissen der Figuren voraussetzt, als sie dem Handlungsverlauf nach haben können, vgl. EK, S. 436 (zu 416) sowie zu 421–423; 696–705; 1028. Der Gebrauch von Dual-Formen in der Anrede an Neoptolemos und Philoktet ist kaum, wie zu v. 533 erwogen, belastbar (so aber Schein), denn der Chorführer spricht auch über die beiden Ankömmlinge im Dual. 539 ‚Lasst uns hören!‘: sc., was die Ankommenden zu sagen haben. 540 ‚von deinem Schiff‘: Der Chorführer wendet sich Neoptolemos zu. ‚Fremder‘: Das griechische Wort (allothrous) heißt eigentlich ‚in einer fremden Sprache redend‘, dann aber auch überhaupt ‚fremd‘. Der Fremde ist

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Erstes Epeisodion: 542–551

Kaufmann Sohn Achills, den hier, der mich herbegleitet, der mit zwei anderen Wächter deines Schiffes war, forderte ich auf, mir zu sagen, wo du dich aufhältst, nachdem ich auf sie traf – ohne damit zu rechnen, 545 sondern zufällig irgendwie zum selben Ankerplatz gekommen bin. Denn – ich fahre als Handelsschiffer mit kleiner Mannschaft von Ilion nach Hause ins traubenreiche Peparethos – als ich hörte, dass die Seeleute alle zu deiner Schiffsmannschaft gehören, 550 schien es mir richtig, nicht wortlos meine Fahrt fortzusetzen, bevor Ἔµπορος Ἀχιλλέως παῖ, τόνδε τὸν ξυνέµπορον, ὃς ἦν νεὼς σῆς σὺν δυοῖν ἄλλοιν φύλαξ, ἐκέλευσ’ ἐµοί σε ποῦ κυρῶν εἴης φράσαι, ἐπείπερ ἀντέκυρσα, δοξάζων µὲν οὔ, τύχῃ δέ πως πρὸς ταὐτὸν ὁρµισθεὶς πέδου. πλέων γὰρ ὡς ναύκληρος οὐ πολλῷ στόλῳ ἀπ’ Ἰλίου πρὸς οἶκον ἐς τὴν εὔβοτρυν Πεπάρηθον, ὡς ἤκουσα τοὺς ναύτας ὅτι σοὶ πάντες εἶεν οἱ νεναυστοληκότες, ἔδοξέ µοι µὴ σῖγα, πρὶν φράσαιµί σοι,

545

550

544 σε] Prolepse, vgl. zu 444. | κυρῶν εἴης] statt κυροίης ὤν, weil der Optativ Präsens von κυρέω ungebräuchlich ist (Aerts 1965, 19 A. 4; Bentein 2016, 238). 545 ἀντέκυρσα] sc. αὐτοῖς, vgl. Komm. und Lloyd-Jones 1998 „them“ (nicht σοί, so Kamerbeek; Schein). | οὔ] die Negation ist betont nachgestellt (K.-G. II 179 Anm. 1; Bruhn § 169, II). 546 πως Hss. : τῳ Blaydes – der ‚Kaufmann‘ übertreibt die Absichtslosigkeit (τύχῃ … πως), dieser Aspekt ginge mit Blaydes’ Normalisierung verloren. | ὁρµισθεὶς : ὁρµιθεὶς Trikl. : ὁρµηθεὶς : συγκύρσας. | πέδου Maguinness 1958, 17 : πέδον Hss. – vgl. Eur. Bacch. 1220 ἐν ταυτῷ πέδου, wo πέδου (Jackson 1955, 187 Anm. 1) für das überlieferte πέδω (Diggle, app. crit.) zwingend ist; der Zufall, der den ‚Kaufmann‘ hergeführt haben soll, ist nur dann bedeutungsvoll, wenn er nicht im selben Land (πέδον bezeichnet sonst das ganze Gebiet: 69; 1464), sondern am selben Punkt des Landes ankert; vgl. Maguinness 1958, 17 (so auch Ll.J./W., Dawe; anders Avezzù, Schein). 547 πλέων Hss. : πλέω Reiske – Reiskes Konjektur ergibt zusammen mit ⟨δ’⟩ in 549 eine übersichtlichere Struktur des Textes, aber dagegen spricht die Unwahrscheinlichkeit einer korrespondierenden Korruptel an auseinanderliegenden Stellen. Möglicherweise wollte Sophokles die Sprechweise des einfachen Mannes (584) charakterisieren. Das Partizip ist ἤκουσα im ὡς-Satz (549) untergeordnet. | στόλῳ] vgl. LSJ s.v. 3 für στόλος zur Bezeichnung einer Gruppe von Personen. 548 ἀπ’ : ἐξ – vgl. K.-G. I 456 u. 459. 549 ὡς Hss. : ὡς ⟨δ’⟩ Reiske – vgl. zu 547. | ναύτας] Prolepse eines Teils des Subjekts des Nebensatzes, Bruhn § 27, II. 550 οἱ νεναυστοληκότες Hss. : συννεναυστοληκότες Dobree – vgl. Campbell 1881 z. St. (nach Hermann): „that the mariners who had manned the vessel were one and all your men“. 551–552 ἔδοξέ … ἴσων] die Satzstruktur wäre klarer, wenn es hieße: ἔδοξέ µοι φρασάντι τὸν πλοῦν ποεῖσθαι, προστυχόντι τῶν ἴσων oder ἔδοξέ µοι µὴ σῖγα τὸν πλοῦν ποεῖσθαι, πρὶν φράσαιµι καὶ προστύχοιµι τῶν ἴσων. – ‚µὴ σῖγα, πρὶν φράσαιµι‘ ist emphatischer als bloßes φρασάντι,

Kommentar

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der v. 128 genannte nauklēros, dort mit ‚Kapitän‘ übersetzt (vgl. zu 128–129), der auch hier durch entsprechende Tracht kenntlich ist (Philoktet nennt ihn ‚Seemann‘, 579), aber jetzt in seiner Eigenschaft als Handel treibender Schiffseigner auftritt (547–549; 583 f.), weswegen er im Folgenden – wie im Personenverzeichnis der Handschriften –‚Kaufmann‘ genannt wird. 542–556 Der ‚Kaufmann‘ unterhält sich nur mit Neoptolemos und erkundigt sich erst später (573 f.), wer der ihm angeblich unbekannte Mann neben ihm ist, den er nie direkt anspricht. Er stellt sich vor und gibt als Motivation für seinen Auftritt an, Neoptolemos vor der Verfolgung durch die Griechen warnen zu wollen. So wird zunächst der Eindruck erweckt, das Erscheinen des ‚Kaufmanns‘ habe mit Philoktet nichts zu tun und es sich erst im Gespräch ergebe, dass Neoptolemos und Philoktet beide ‚Verfolgte‘ sind. 542–543 Begleitet wird der ‚Kaufmann‘ von einem Mann, der zur Schiffsmannschaft des Neoptolemos gehört, vielleicht dargestellt von der stummen Person, die eingangs mit Odysseus und Neoptolemos auftrat (45) und als Späher (125) fungierte. Zwar hatte Odysseus gesagt, er werde den Späher als Kapitän verkleidet zurückschicken, und das soll man sich auch so vorstellen. Aufführungstechnisch kann das allerdings nicht diese stumme Person sein, sondern muss es sich um den dritten Schauspieler handeln, der auch die Rollen des Odysseus und des Herakles spielt. 545 ‚sie‘: Die Person ist im Griechischen nicht ausgedrückt, aber angetroffen haben muss – der Fiktion nach – der ‚Kaufmann‘ die zur Bewachung des Schiffs zurückgelassenen drei Matrosen (543 f.), von denen er einen gefragt haben will, wo sich Neoptolemos aufhält. 545–546 Die Betonung der Zufälligkeit gehört zur Psychologie des Lügners, besonders hervorzuheben, was gerade nicht stimmt. 546 ‚zum selben Ankerplatz gekommen‘, wörtl.: ‚vor Anker gegangen am selben Punkt des Landes‘ (vgl. TS). 547 Der ‚Kaufmann‘ ist mit nur einem Schiff und wenigen Seeleuten un– terwegs. Er selbst hält sich für einen armen Mann (584). 548–549 ‚traubenreiche Peparethos‘: Peparethos (heute Skopelos) ist eine Insel der nördlichen Sporaden. Lemnos liegt auf dem Weg, wenn man von Troia nach Peparethos fährt; insofern klingt es glaubhaft, dass der ‚Kaufmann‘ bei seiner Fahrt in Lemnos angelandet ist. Peparethos war bekannt für seinen Wein, der bei Aristophanes (fr. 334 K.-A.) in einer Reihe mit Weinen aus Pramnos, Chios und Thasos steht. Herakleides Lembos (Excerpta politiarum, fr. 41 Dilts) nennt die Insel euoinos (‚mit gutem Wein‘). Nach Ps.-Demosthenes (or. 35,35) wird Wein u. a. von Peparethos ans Schwarze Meer verschifft. Den ‚Kaufmann‘ muss man sich also als jemanden vorstellen, der den Griechen vor Troia Wein liefert (vgl. auch Homer, Ilias 7,467 f. bzw. 9,71 f.). Peparethos war vermutlich auch im Prolog von Euripides’ Hypsipyle erwähnt; vgl. Lloyd-Jones 1963. 549–550 Aus der Tatsache, dass die Seeleute, die er am Ufer angetroffen haben will, alle zur Schiffsmannschaft des Neoptolemos gehören (und nicht zu einer anderen), kann der ‚Kaufmann‘, der direkt aus Troia zu kommen behaup-

Erstes Epeisodion: 552–560

198

Ne.

Νε.

ich dir berichtet habe – gegen entsprechenden Gunsterweis. Du weißt wohl nicht, wie es um dich steht, welche neuen Pläne die Argeier mit dir haben, und nicht nur Pläne, 555 sondern Taten, die ausgeführt, nicht vernachlässigt werden. Ja, deiner mir erwiesenen Vorsorge, Fremder, werde ich – es sei denn, ich wäre schlecht – stets mit Wohlwollen gedenken. Nenne mir die Taten, von denen du sprachst, damit ich erfahre, welch neuerlichen Plan von Seiten der Argeier du mir sagen kannst. 560 τὸν πλοῦν ποεῖσθαι, προστυχόντι τῶν ἴσων. οὐδὲν σύ που κάτοισθα τῶν σαυτοῦ πέρι, ἃ τοῖσιν Ἀργείοισιν ἀµφὶ σοῦ νέα βουλεύµατ’ ἐστί, κοὐ µόνον βουλεύµατα, ἀλλ’ ἔργα δρώµεν’, οὐκέτ’ ἐξαργούµενα. ἀλλ’ ἡ χάρις µὲν τῆς προµηθίας, ξένε, εἰ µὴ κακὸς πέφυκα, προσφιλὴς µενεῖ· φράσον δ᾿ ἅ γ᾿ ἔργ᾿ ἔλεξας, ὡς µάθω, τί µοι νεώτερον βούλευµ’ ἀπ’ Ἀργείων ἔχεις.

555

560

vgl. Jebb. Durch προστυχόντι, das sich auf µοι bezieht, wird µοι (passend zur Wichtigtuerei des ‚Kaufmanns‘) stärker hervorgehoben, als es bei dem zur Ergänzung des Infinitivs ebenso möglichen προστυχόντα der Fall wäre (K.-G. II 26 Anm. 2). 552 ποεῖσθαι : ποιεῖσθαι – vgl. zu 120. | τῶν ἴσων] zum hier einschlägigen Bedeutungsspektrum von ἴσος vgl. LSJ s. v. II. 1 u. 2. 553] der asyndetische Anschluss des Verses ist als Ausdruck von Dringlichkeit zu verstehen. 554–555 ἃ … νέα βουλεύµατ’ ἐστί] statt περὶ τῶν νέων βουλευµάτων (Apposition zu τῶν σαυτοῦ πέρι), ἃ … vgl. Ai. 1025 f., K.-G. II 416 ff. (bes. 418 c). 554 ἀµφὶ (Hss.) : ἀµφὶς – ἀµφί ist die übliche Form der Präposition. | σοῦ νέα Auratus : 557 ἡ χάρις … τῆς σου ᾿νεκα : σ᾿ οὕνεκα – vgl. Ll.-J./W.1, anders Moorhouse 97. προµηθίας] gen. definitivus: die χάρις, die in der προµηθία besteht (vgl. zu 81). | τῆς Hss. : σῆς Seyffert – vgl. K.-G. I 556 oben. | προµηθίας : προµηθείας – vgl. LSJ s. v. 559 δ᾿ ἅ γ᾿ ἔργ᾿ Broadhead : δ᾿ ἅπερ γ᾿ : δ᾿ ἅπερ : δὲ τἄργ’ Dale bei Webster z. St. | ἔλεξας Hss. : ἅλεξας Dale : κἄλεξας Blaydes – Broadheads Konjektur ΔΑΓΕΡΓ unterscheidet sich von der Überlieferung ΔΑΠΕΡΓ fast nicht (vor allem, wenn man mit der Form 𐅃 für Π rechnet) und ist mit der Wiederaufnahme der vom ‚Kaufmann‘ so stark hervorgehobenen ἔργα (556) wesentlich pointierter als die etwas blasse Version ‚sag mir, was du meintest‘ der Überlieferung. δ᾿ ἅ γ᾿ ἔργ᾿ ἔλεξας ist äquivalent zu τὰ ἔργα, ἃ γ᾿ ἔλεξας (vgl. zu 554–555) und entspricht damit (bis auf γ᾿) der von Ll.-J./W.1 bevorzugten Konjektur Dales, die jedoch stärker in die Überlieferung eingreift. Zu γε im Relativsatz vgl. GP 123 (5). 560 ἀπ’ Ἀργείων] abhängig von βούλευµ᾿. | ἔχεις : φέρεις – ἔχεις bedeutet entweder ‚du weißt‘ (vgl. Bruhn § 247, 7) mit µοι (559) als ethischem Dativ, oder – was gezielter auf die Aufforderung zur Mitteilung geht – ‚du kannst‘, wobei aus φράσον (559) gedanklich φράσαι zu ergänzen wäre, das dann µοι regiert.

Kommentar

199

tet, ‚schließen‘, dass seine Nachricht noch kein anderer überbracht haben kann und er so der erste ist; vgl. Jebb. Gleichzeitig wird (gegenüber Philoktet) so getan, als ob es am Strand kein weiteres Schiff außer dem des Neoptolemos und des ‚Kaufmanns‘ gebe (vgl. Kamerbeek). Vgl. aber zu 125. 552 ‚gegen entsprechenden Gunsterweis‘, wörtl. ‚wenn ich auf das Gleiche treffe / das Gleiche erlange‘: D. h., der ‚Kaufmann‘ bietet etwas an (vgl. zu 553–556) und erwartet eine Gegenleistung, die dem Angebot entspricht. – Es ist für Boten typisch, dass sie für ihre Mitteilung mit einem Vorteil, einem Entgegenkommen (nicht unbedingt materieller Art) von Seiten des Benachrichtigten rechnen; vgl. Tr. 190 f.; OT 1005 f. (vor allem an der letzteren Stelle denkt der Bote nicht an eine unmittelbare Belohnung). Dass Neoptolemos den ‚Kaufmann‘ so versteht, zeigt seine Antwort (557–560). Sie passt nicht zu einer zuweilen vertretenen Deutung von v. 552, wonach der ‚Kaufmann‘ sage, ‚nachdem ich auf dasselbe gestoßen bin wie du‘, d. h. an derselben Küste gelandet bin. 553–556 Wie bei einer echten Botschaft macht der ‚Kaufmann‘ durch seine andeutungsreiche Angabe Neoptolemos neugierig, um ihn zu motivieren, auf sein Angebot einzugehen. Erst nach Neoptolemos’ positiver Reaktion (557–560) auf seine v. 552 genannte Bedingung erläutert er die Einzelheiten (561 ff.). Die Enthüllung über die (angebliche) Verfolgung des Neoptolemos bestätigt gegenüber Philoktet von ‚unabhängiger‘ Seite, dass Neoptolemos im Streit von den Griechen vor Troia weggegangen ist (vgl. Visser 1998, 64). 554 ‚neuen Pläne‘: Als ‚neu‘ kann sie der ‚Kaufmann‘ in doppelter Hinsicht bezeichnen: Einerseits ist bei seiner Geschichte vorausgesetzt, dass Neoptolemos nicht wissen kann, was die Griechen nach seiner Abreise gegen ihn beschlossen haben, andererseits handelt es sich (fiktiv) um ein weiteres gegen die Interessen des Neoptolemos gerichtetes Vorgehen nach der angeblichen Verweigerung der Rüstung. So nimmt es Neoptolemos auf, vgl. 560. 557 ‚deiner mir erwiesenen Vorsorge‘, wörtl.: ‚dem Gunsterweis, der in deinem Vorausbedenken besteht‘. 558 ‚stets mit Wohlwollen gedenken‘, wörtl. ‚(dein Gunsterweis …) wird (mir) angenehm bleiben‘: D. h., die vom ‚Kaufmann‘ erwiesene Gunst führt zu einer beständigen freundlichen Einstellung zu ihm. Das griechische Wort (prosphilēs) kann passive (‚angenehm‘) Bedeutung haben, aber auch die dazu komplementäre aktive (‚freundlich‘, vgl. 587). 560 ‚neuerlichen‘: Im Griechischen Komparativ, das neuere Vorgehen im Vergleich zur schon bekannten Verweigerung der Rüstung Achills. ‚neu‘ (neos) kann dabei den Nebensinn des Unerwarteten, Befremdlichen haben. Vgl. auch zu 52 u. 751.

Erstes Epeisodion: 561–569

200 Ka. Ne. Ka. Ne. Ka. Ne.

Εµ. Νε. Εµ. Νε. Εµ. Νε.

Fort sind sie, verfolgen dich zu Schiff, der alte Phoinix und die Söhne des Theseus. Um mich mit Gewalt oder mit Worten zurückzubringen? Ich weiß nicht; nur, was ich hörte, zu berichten, kam ich zu dir. D a s tun Phoinix und die, die mit ihm segeln, mit solchem Eifer den Atreus-Söhnen zu Gefallen? Gewiss, das tun sie, es steht nicht erst bevor. Warum war dann Odysseus nicht bereit, zu dieser Aufgabe selbst als Bote zu fahren? Hielt ihn irgendeine Befürchtung ab?

565

φροῦδοι διώκοντές σε ναυτικῷ στόλῳ Φοῖνίξ θ’ ὁ πρέσβυς οἵ τε Θησέως κόροι. ὡς ἐκ βίας µ’ ἄξοντες ἢ λόγοις πάλιν; οὐκ οἶδ’· ἀκούσας δ’ ἄγγελος πάρειµί σοι. ἦ ταῦτα δὴ Φοῖνίξ τε χοἰ ξυνναυβάται οὕτω καθ’ ὁρµὴν δρῶσιν Ἀτρειδῶν χάριν; ὡς ταῦτ’ ἐπίστω δρώµεν’, οὐ µέλλοντ’ ἔτι. πῶς οὖν Ὀδυσσεὺς πρὸς τάδ’ οὐκ αὐτάγγελος πλεῖν ἦν ἑτοῖµος; ἦ φόβος τις εἶργέ νιν;

565

561 φροῦδοι] sc. εἰσίν, „but the wording is much more vivid without it; cf. El. 807 ἀλλ᾿ ἐγγελῶσα φροῦδος“ (Kamerbeek). | ναυτικῷ στόλῳ] vgl. 270 ναυβάτῃ στόλῳ. 562 θ᾿ : Ø 563 ἐκ βίας] vgl. 945 sowie K.-G. I 461. | λόγοις Hss. : δόλοις Nauck – vgl. 593 f. und Jebb. 565 ταῦτα (Hss.) : τάχα – ταῦτα ist als Objekt unverzichtbar. | ἦ ταῦτα δὴ] ebenso El. 385; δή ist nach οὗτος „often contemptuous in tone“ (GP 208 [viii]). 566 οὕτω καθ’ ὁρµὴν] ~ κατὰ τοσαύτην σπουδήν, zu οὕτως zur Steigerung der Intensität vgl. LSJ s. v. III. 567 ὡς ταῦτ’ ἐπίστω δρώµεν’] vgl. zu 253. 568 αὐτάγγελος Hss. : αὐτόστολος Nauck – vgl. OC 333 (Jebb), Naucks Konjektur ist nicht notwendig. 569 ἦ Brunck : ἢ Hss. – es geht um das Motiv für den 568–569 a hinterfragten Sachverhalt, nicht um eine Alternative dazu; in Sophokles’ Text stand nur Η.

Kommentar

201

562 ‚Phoinix‘: Sohn des Amyntor, Erzieher Achills. Vgl. zu 344. ‚Söhne des Theseus‘: Akamas und Demophon. Sie kommen in Ilias und Odyssee nicht vor, sind aber aus der Iliou persis (Argumentum, p. 89,21 f. Bernabé = pp. 146 f. West 2003) bekannt; in Euripides’ Herakliden ist Demophon Herrscher Athens (Akamas tritt als stumme Person auf; 119), in der Hekabe (122 f.) werden die beiden Söhne des Theseus ‚Sprösslinge Athens‘ genannt. Pausanias (1,23,8) kennt eine Bronzeskulptur des Hölzernen Pferdes im Bezirk der Göttin Artemis Brauronia auf der Akropolis in Athen, bei der sich beide aus dem Pferd herausbeugen, also zu dessen Besatzung bei der Eroberung Troias gerechnet wurden; nach Homer gehörte auch Neoptolemos dazu (Odyssee 11,506; 523–532). Die Skulptur stammt von Strongylion und ist, wenn Aristophanes in den Vögeln (v. 1128) auf dieses Pferd anspielen sollte, vor 414 v. Chr. zu datieren (vgl. DNO 1170–1174; Goette / Hammerstaedt 2004, 41 f.). Die Theseus-Söhne können daher auf dieser Basis (und vielleicht auch aufgrund besserer Kenntnis der Iliou persis, als wir sie haben) von den Zuschauern als Kampfgenossen des Neoptolemos verstanden werden. Wahrscheinlich hat Sophokles Personen nennen lassen, von denen man eine Beziehung zu Neoptolemos und entsprechenden Einfluss auf ihn annehmen konnte. So kann evident gemacht werden, wie sehr den Griechen an einem Erfolg der Mission gelegen ist, da sie Neoptolemos für die Eroberung Troias unbedingt brauchen (114 f.), wie auch Philoktet inzwischen weiß (345–347). Phoinix war in der Rolle des ‚Abholers‘ schon bewährt (344), und Odysseus musste ersetzt werden, weil ihm, der Reizfigur für Philoktet, in der Geschichte des ‚Kaufmanns‘ die Aufgabe zugeschrieben wird, Philoktet aus Lemnos zu holen. – Nach Jebb, Pucci und Schein kommen Demophon und Akamas als Feinde des Neoptolemos: Dessen Großvater Lykomedes soll auf Skyros für den Tod des Theseus verantwortlich gewesen sein (Pausanias 1,17,6). Aber zu dieser Deutung passt Phoinix nicht (vgl. Kamerbeek, der seinerseits die Einführung der TheseusSöhne lediglich damit erklärt, dass sie zu „Attic lore“ gehörten), und da es Neoptolemos auch für möglich hält, dass man mit ihm reden wolle (563), geht er zumindest nicht eindeutig von einer feindlichen Gesinnung dieser ‚Gesandtschaft‘ aus. Fraenkels Erklärung (1977, 60), dass mit der Einführung der Söhne des Theseus die Iliou persis und die Geschichte Athens hätten zusammengebracht werden sollen, greift zu kurz, weil sie die persönliche Beziehung der Theseus-Söhne zu Neoptolemos nicht berücksichtigt. 563 ‚mit Gewalt … mit Worten‘: Aspekte aus dem Prologos (90; 102 f.), die – in umgekehrter Reihenfolge (593 f.) – auch von Odysseus in Bezug auf Philoktet gesagt worden sein sollen (Alt 1961, 154) und eine Parallele zwischen Philoktet und Neoptolemos herstellen. 565–566 Neoptolemos gibt sich ungläubig überrascht, dass ausgerechnet Phoinix und die Theseus-Söhne (vgl. zu 562) sich derart für die Interessen der Atreus-Söhne engagieren sollten. Er fragt deswegen nach. 568 Nachdem der ‚Kaufmann‘ die Frage des Neoptolemos bejaht hat (567), verwundert sich dieser, warum nicht wieder (344) Odysseus als besonders mit den Anliegen der Atreus-Söhne Vertrauter dabei ist. In ironischer

Erstes Epeisodion: 570–575

202 Ka. Ne. Ka. Ne. Εµ. Νε. Εµ. Νε.

Der und der Sohn des Tydeus machten sich auf zu einem anderen Mann, als ich in See stach. Was für einer könnte der sein, zu dem Odysseus selbst ausfuhr? Es war ein gewisser …, (leise) aber sag mir zuerst, wer ist der? Aber was du auch sagst, sprich nicht laut! (laut) Das ist doch der berühmte Philoktet, Fremder!

570

κεῖνός γ’ ἐπ’ ἄλλον ἄνδρ’ ὁ Τυδέως τε παῖς ἔστελλον, ἡνίκ’ ἐξανηγόµην ἐγώ. πρὸς ποῖον ἂν τόνδ’ αὐτὸς Οὑδυσσεὺς ἔπλει; ἦν δή τις …, ἀλλὰ τόνδε µοι πρῶτον φράσον τίς ἐστίν· ἃν λέγῃς δὲ µὴ φώνει µέγα. ὅδ’ ἔσθ’ ὁ κλεινός σοι Φιλοκτήτης, ξένε.

570

575

575

570 κεῖνός γ’] „the γε throws a slight stress on the pron., ‘oh, he’: cp. 424“ (Jebb). Gemeint ist die Aussage aber nicht als „contemptuous“ (so Schein), wie v. 424 zeigt. 571 ἔστελλον] intransitiv ~ ἐστέλλοντο (LSJ s. v. II. 2). | ἐγώ : ἔσω (Hss.) – ἔσω ist eine bloße Verschreibung. 572 πρὸς ποῖον … τόνδ᾿] vgl. zu 441 (Moorhouse 161 f.). | ἂν Hss. : αὖ Dobree : οὖν Dissen – πρὸς ποῖον ἂν τόνδ’ (sc. ὄντα) ~ ποῖος ἂν εἴη ὅδε πρὸς ὃν ἔπλει, vgl. Campbell 1881 z. St. u. 1907, 210; Moorhouse 341; diese Auffassung ist wahrscheinlicher, als ἂν im Sinne eines Potentialis der Vergangenheit zu ἔπλει zu beziehen, weil es feststeht, dass Odysseus losgefahren ist (570 f.), und auch aufgrund der Wortstellung; der überlieferte Text scheint jedenfalls der Intrigenabsicht angemessener (vgl. Komm.) als Dobrees vielfach akzeptierte Konjektur, die zu einer etwas unwilligen Frage führt (~ ‚wer ist es denn jetzt schon wieder, …‘). | Οὑδυσσεὺς : Ὀδυσσεὺς – Οὑδυσσεὺς ist metrisch notwendig; der Artikel könnte anaphorisch sein (in Bezug auf 568) oder abwertend, lateinischem iste entsprechend (K.-G. I 597 f.). 573 δή τις] δή hebt τις hervor (wobei der Sprecher weiß, wer gemeint ist, aber sein Wissen zurückhält), vgl. GP 213 (b). | τόνδε] vgl. zu 444 (Prolepse). 574 ἃν Markland (zu Eur. Hik. 364) : ἂν Hss. – der Sinn erfordert ἃν = ἃ ἀν. | ἃν … δὲ] statt ἃ δ᾿ ἂν λέγῃς, zur Nachstellung von δέ vgl. GP 187 f. 575 ὁ] zum Artikel beim Prädikatsnomen vgl. K.-G. I 592 Anm. 4. | σοι] vgl. 261, ethischer Dativ (K.-G. I 423 d).

Kommentar

203

Brechung ist durch die aktuelle Mission klar, dass Odysseus tatsächlich der bevorzugt von den Atreus-Söhnen Beauftragte ist. Gleichzeitig leitet Neoptolemos so unverdächtig zu der Philoktet-Mission über. Er nimmt vom ‚Kaufmann‘ auf, was ihm nützt (131), lenkt aber dabei auch selbst das Gespräch. 570–571 In der Lügengeschichte des ‚Kaufmanns‘ ist gegenüber der ‚Realität‘ Neoptolemos durch Diomedes (‚Sohn des Tydeus‘ [416]) ersetzt. Da die Zuschauer Philoktets Abneigung gegen Diomedes kennen (s. EK, S. 436 zu 416), können sie die Wirkung, die die Nennung von Odysseus und Diomedes auf ihn haben wird, ermessen. Sophokles verwendet eine für Euripides’ Philoktet (431 v. Chr.) bezeugte Konstellation, wonach Odysseus und Diomedes Philoktet nach Troia bringen sollten (T iv [c], 13 f. Kannicht). Der Dichter kann so Elemente der Fassung seines Vorgängers kontrastiv in sein Drama integrieren (vgl. 591 ff.). Doch wird sich der ‚Kaufmann‘ zunehmend auf Odysseus konzentrieren und erwähnt Diomedes später nicht mehr (603 ff.). Insofern mündet die Lügengeschichte in die aus dem Prologos bekannte Konstellation ein: Odysseus in der Führungsrolle; vgl. Budelmann 2000, 118. 571–590 Zur Taktik des ‚Kaufmanns‘ gehört es, mit der eigentlich wichtigen ‚Information‘ nicht ohne Weiteres herauszurücken. Indem er sie sich schließlich abpressen lässt, wirkt er umso glaubhafter. 572 Neoptolemos tut gesprächstaktisch so, als habe er keine Vorstellung, zu wem Odysseus in eigener Person ausgefahren sei. 573–579 Der ‚Kaufmann‘ gibt sich plötzlich zögerlich und beginnt, mit Neoptolemos vertraulich zu reden, angeblich, weil er nicht weiß, wer der in der Nähe stehende Mann ist, und er etwas ‚verraten‘ würde, was er nicht dürfe (582 f.). Wahrscheinlich fängt er schon ab v. 573 b an konspirativ zu flüstern, als ihm scheinbar bewusst wird, dass er einen Namen ‚verraten‘ soll, und will, damit es echt wirkt, auch Neoptolemos dazu bringen, leise zu sprechen. Sicherlich flüstert er die vv. 576 f. (Philoktet versteht ihn nicht). Dagegen dürfte Neoptolemos v. 575 laut sprechen, da seine Worte nur so eine Wirkung auf Philoktet haben können; vgl. zu 575. Es tritt der erwartete Effekt ein, dass die Geheimnistuerei des ‚Kaufmanns‘ bei Philoktet den Verdacht erregt, der ‚Kaufmann‘ wolle etwas hinter seinem Rücken aushandeln (578 f.), und dieser ‚gezwungen‘ wird, den Plan der Griechen zu ‚verraten‘. – Bühnentechnisch wird das Flüstern als a parte-Sprechen realisiert worden sein, d. h., die Zuschauer mussten nachvollziehen können, dass Philoktet den ‚Kaufmann‘ nicht versteht, während sie selbst ihn hören; vgl. Bain 1977, 81–86. 575 Wörtl.: ‚Der hier ist dir (~ musst du wissen) der berühmte Philoktet.‘ Neoptolemos wendet in teilweise ähnlicher Formulierung Philoktets impliziten Vorwurf, dass Neoptolemos ihn nicht kenne (260 ff.), sehr viel deutlicher auf den ‚Fremden‘ an. So kann er gleichzeitig bei Philoktet Sympathie gewinnen und diesem gegenüber seine Distanz zu dem ‚Kaufmann‘ betonen. Da, wie anzunehmen (vgl. zu 573–579), Neoptolemos diese Worte laut spricht (vgl. Kamerbeek, Pucci), kann Philoktet seinen Namen hören und hat daher einen Anlass für seine Fragen in den vv. 578 f. Neoptolemos aber erscheint auf diese Weise als jemand, der vor Philoktet offen spricht.

Erstes Epeisodion: 576–584

204 Ka. Ph. Ne. Ka.

Εµ. Φι. Νε. Εµ.

(leise) Dann frag mich nicht weiter, sondern möglichst schnell pack dich und fahr ab aus diesem Land! Was sagt er, mein Sohn? Was für ein Geschäft handelt denn der Seemann mit dir im Geheimen über mich aus? Ich weiß noch nicht, was er meint; er muss offen sagen, was er sagen will, zu dir und mir und zu diesen hier. Spross Achills, schwärze mich nicht beim Heer an, wenn ich sage, was ich nicht darf! Denn viel Gutes erfahre ich von ihnen für das, was ich (für sie) tue – was eben ein armer Mann (erhält).

580

µή νύν µ’ ἔρῃ τὰ πλείον’, ἀλλ’ ὅσον τάχος ἔκπλει σεαυτὸν ξυλλαβὼν ἐκ τῆσδε γῆς. τί φησιν, ὦ παῖ; τί µε κατὰ σκότον ποτὲ διεµπολᾷ λόγοισι πρός σ’ ὁ ναυβάτης; οὐκ οἶδά πω, τί φησι· δεῖ δ’ αὐτὸν λέγειν ἐς φῶς, ὃ λέξει, πρὸς σὲ κἀµὲ τούσδε τε. ὦ σπέρµ’ Ἀχιλλέως, µή µε διαβάλῃς στρατῷ λέγονθ’, ἃ µὴ δεῖ· πόλλ’ ἐγὼ κείνων ὕπο δρῶν ἀντιπάσχω χρηστά θ’, οἷ’ ἀνὴρ πένης.

580

576 νύν Scaliger : νῦν Hss. – νύν ist die bei Imperativen übliche Form; vgl. 1449; 1452; Ant. 648 (K.-G. II 118). | ἔρῃ] zum Aorist vgl. zu 332 u. Moorhouse 220. | τὰ πλείον’] „das Weitere, was du hören willst“ (K.-G. I 637; Bruhn § 87). 577 ἔκπλει σεαυτὸν Hss. : ἔκπλει τὰ σαυτοῦ Dindorf : ἔκπλευσον αὐτὸν Paley (erwogen von Ll.-J./W.1+2) : ἔκπλει σφε σαυτῷ Dawe 2003, 104. | σεαυτὸν (Hss.) : σεαυτῷ – vgl. Komm. | σεαυτὸν ξυλλαβὼν] vgl. Komm. sowie Aristophanes, Wolken 701 f. σαυτὸν … πυκνώσας (Ll.-J./W.2), Soph. Ant. 444 κοµίζοις … σαυτὸν (Jebb). 578 µε Hss. : δὲ Seyffert – dass das häufige τί δέ zu τί µε verdorben sein könnte, ist recht unwahrscheinlich; Philoktet kann, auch wenn in v. 577 nicht von ihm die Rede ist, vermuten, dass es irgendwie um ihn geht. 579 διεµπολᾷ] vgl. zur metaphorischen Verwendung 978 und Ant. 1036. 581 λέξει] Futur zum Ausdruck des Wollens (K.-G. I 173 f.). | καί … τε] vgl. zu 421 (GP 500 [a] [α]). 582 στρατῷ] Dativ (wie Eur. Hek. 863) statt des üblichen πρός oder εἰς mit Akkusativ. 583 πόλλ’ …] begründendes Asyndeton (K.-G. II 344 δ). 584 θ’ Dobree : γ᾿ (Hss.) : Ø – üblich wäre πολλὰ (vgl. 583) καὶ χρηστά (K.-G. II 252), τε sonst nur Aisch. Sept. 339 (vgl. GP 501 [d]); trotzdem ist θ’ vom Sinn her wahrscheinlicher als γ᾿ (Jebb). | οἷ’] vgl. 273; OT 763 f.

Kommentar

205

576–577 Die (für Philoktet nicht klar hörbaren) Worte des ‚Kaufmanns‘ enthalten für Neoptolemos die Botschaft, dass er sich mit der Durchführung der Intrige beeilen soll; dazu ist der ‚Kaufmann‘ geschickt worden (vgl. 126 ff.), und er hat ein Szenario aufgebaut, nach dem Neoptolemos auch aus eigenem Interesse eiligst aufbrechen sollte (553–567). – Im überlieferten (sprachlich problematischen) Text erwähnt der ‚Kaufmann‘ Philoktet nicht, darf aber auch noch nichts von einer Freundschaft zwischen diesem und Neoptolemos (585 f.) wissen (anders ist die Situation in v. 621; vgl. Campbell 1881 z. St.), und eine Erwähnung Philoktets würde auch nicht dazu passen, dass er sich nur mühsam Auskünfte, die Philoktet betreffen, abringen lässt (582–590). Daher empfehlen sich die Konjekturen Paleys und Dawes (vgl. TS) nicht, wonach Neoptolemos aufgefordert würde, mit Philoktet wegzufahren. 577 ‚pack dich‘: Das Wort xyllambanein kann man vielleicht als kolloquial und damit zum sozialen Status des ‚Kaufmanns‘ passend erklären (vgl. bes. Schein), obwohl es mit reflexivem Objekt offenbar nicht belegt ist („an unusual expression“, Ll.-J./W.2); vgl. auch TS. 578 b–579 Wörtl.: ‚In welcher Hinsicht verkauft mich der Seemann im Dunkeln mit Worten an dich?‘ Dass er mit Worten einen Handel betreibe, sagt Philoktet passend angesichts des Metiers des Ankömmlings. Das ‚Verkaufen‘ steht bildhaft für die Befürchtung Philoktets, der ‚Kaufmann‘ tue etwas, das zu seinem Nachteil ausgehen könnte; das Scholion gibt ‚verkaufen‘ (diempolān) mit ‚betrügen‘ wieder. Philoktets Frage lässt Misstrauen nur gegenüber dem ‚Kaufmann‘ erkennen, nicht gegenüber Neoptolemos. Vgl. auch 978. 580–581 Was der ‚Kaufmann‘ gesagt hat, ist eigentlich eindeutig (vorausgesetzt, der Text der vv. 576 f. ist richtig rekonstruiert). Aber für das Ziel der Intrige muss Neoptolemos erreichen, dass vor Philoktet zur Sprache kommt, was Odysseus und Diomedes (angeblich) vorhaben. 580 (griechischer Text: 581) ‚offen‘, wörtl. ‚ans Licht‘ (es phōs), als Gegensatz zu ‚im Geheimen [wörtl. ‚im Dunkeln‘]‘ (578); phōs kann aber auch ‚das Licht der Öffentlichkeit‘ bedeuten, vgl. zu 1353. 581 ‚diesen hier‘: Seeleute des Neoptolemos (Chor und Begleiter des ‚Kaufmanns‘), also in aller Öffentlichkeit. 582–584 Der ‚Kaufmann‘ lässt sich auf die Taktik des Neoptolemos ein und erhöht seine Glaubwürdigkeit dadurch, dass er sich gegen die Folgen seines ‚Geheimnisverrats‘ zu schützen sucht. Er gibt die Gefahr vor, seine Existenzgrundlage zu verlieren. Vgl. zu 548–549. 582 ‚Spross‘: vgl. zu 364. ‚Heer‘: Sicher das Heer vor Troia, obwohl angesichts der (angeblichen) Absicht des Neoptolemos, nach Hause zu fahren, nicht einsichtig ist, wie die Nachricht dorthin kommen soll (vgl. Pucci, der die Aussage auf die Seeleute des Neoptolemos beziehen will, aber selbst einwendet, dass nicht klar sei, welchen Schaden der ‚Kaufmann‘ durch sie erleiden sollte). Aber durch die Bitte des ‚Kaufmanns‘ wird die Antwort des Neoptolemos ermöglicht (585– 588), mit der er Philoktet weiter für sich einnehmen kann.

Erstes Epeisodion: 585–595

206 Ne.

Ka. Ka. Ka.

Νε.

Εµ. Εµ. Εµ.

Ich bin den Atreus-Söhnen feindlich gesinnt; und der ist mein bester Freund, weil er die Atreus-Söhne hasst. Du darfst also, wenn du zu mir als Freund gekommen bist, nichts von den Dingen, die du gehört hast, vor uns verheimlichen. Gib acht, was du tust, Sohn! Ne. Ich bedenke es schon längst. Ich mache dich dafür verantwortlich. Ne. Tu das, aber rede! Ich rede. Der hier ist das Ziel, nach dem die beiden Männer, von denen du gehört hast, der Sohn des Tydeus und der mächtige Odysseus, ausfahren mit dem Schwur, ihn – bestimmt! – zurückzubringen, sei es mit der Überzeugungskunst des Wortes, sei es mit der Stärke der Gewalt. Und das hörten alle Achaier deutlich ἐγώ εἰµ᾿ Ἀτρείδαις δυσµενής· οὗτος δέ µοι φίλος µέγιστος, οὕνεκ’ Ἀτρείδας στυγεῖ. δεῖ δή σ’, ἔµοιγ’ ἐλθόντα προσφιλῆ, λόγων κρύψαι πρὸς ἡµᾶς µηδὲν ὧν ἀκήκοας. ὅρα, τί ποιεῖς, παῖ. Νε. σκοπῶ κἀγὼ πάλαι. σὲ θήσοµαι τῶνδ’ αἴτιον. Νε. ποιοῦ λέγων. λέγω· ’πὶ τοῦτον ἄνδρε τώδ’, ὥπερ κλύεις, ὁ Τυδέως παῖς ἥ τ’ Ὀδυσσέως βία, διώµοτοι πλέουσιν ἦ µὴν ἢ λόγῳ πείσαντες ἄξειν ἢ πρὸς ἰσχύος κράτος. καὶ ταῦτ’ Ἀχαιοὶ πάντες ἤκουον σαφῶς

585

590

595 585

590

595

585 εἰµ᾿ : ᾿µ᾿ : µὲν | Ἀτρείδαις Hss. : αὐτοῖς Blaydes – ἐγώ͜͜ εἰµ᾿ ist zwar eine ungewöhnliche Synizese, aber Blaydes’ (µὲν) αὐτοῖς ist nach στρατῷ (582) und κείνων (583) ohne klaren Bezug, so dass die Nennung der zweifellos gemeinten Atriden notwendig ist. 587 ἔµοιγ’] „γε in a participial clause denotes that the main clause is only valid in so far as the participial clause is valid“ (GP 143 [4]). 587–588 λόγων Burges : λόγον Hss. | µηδὲν +Linwood (Fraenkel 1977, 60) : µηδέν᾿ (Hss.) – vermutlich beruht die Überlieferung letztlich auf ΛΟΓΟΝ (keine Unterscheidung zwischen Ο und Ω), sodass λόγων nur eine von der Überlieferung in den Hss. abweichende Interpretation darstellt. µηδὲν / µηδέν᾿ lag ursprünglich nur in der Schreibweise ΜΗΔΕΝ vor. Die neutrale Form µηδὲν geht (wie bei den Demonstrativpronomina, K.-G. I 60 f.) stärker auf das Allgemeine (~ ‚nichts von den Worten, Reden, Dingen, die du gehört hast‘), deshalb scheint es sinnvoll, λόγων … µηδὲν ὧν der Version λόγον … µηδέν᾿[α] ὧν vorzuziehen. Zu λόγων vgl. LSJ s. v. VIII. 1 „thing spoken of“. 590 ποιοῦ Hss. : πιθοῦ Reiske : τίθου Wecklein – vgl. zu ποιοῦ λέγων OC 1038 χωρῶν ἀπείλει νῦν ‚drohe nur, aber gehe jetzt‘. 591 ’πὶ] ungewöhnliche Prodelision nach starkem syntaktischen Einschnitt. | ὥπερ : ὥσπερ – zum Akkusativ ὥπερ (Dual) vgl. zu 261–262. | κλύεις] zum Präsens mit perfektischem Sinn vgl. zu 261. 593 διώµοτοι] prädikatives Adjektiv statt Partizip; zum Numerus (auch bei πλέουσιν und πείσαντες [594]) vgl. K.-G. I 70. | ἦ µὴν] „In oaths and pledges, usually in indirect speech.“ (GP 351 [2]). | ἢ Hss. : νιν Elmsley – ein ‚ihn‘ ist hier (oder 594) aus τοῦτον (591) gedanklich zu ergänzen. 594 πείσαντες (Hss.) : πείσαντέ γ᾿ Trikl. – vgl. zu 593. | ἄξειν Hss. : ἄξειν ⟨σφ᾿⟩ Blaydes – vgl. zu 593 (zur gedanklichen Ergänzung des Objekts). | πρὸς … κράτος] vgl. zu 90. 595 ἤκουον (Hss.) : ἤκουσαν – es geht um den Verlauf (λέγοντος, 596).

Kommentar

207

585–588 Die Antwort verbindet zwei Punkte: (1) Als Feind der AtreusSöhne wird Neoptolemos den ‚Kaufmann‘ nicht an sie verraten. (2) Da nun er und Philoktet im gemeinsamen Hass gegen die Atreus-Söhne Freunde sind, muss der ‚Kaufmann‘, wenn er Neoptolemos einen Freundschaftsdienst erweisen will, auch Philoktet einbeziehen und darf den beiden nichts vorenthalten. 589–590 Bevor der ‚Kaufmann‘ mit der Sprache herausrückt, erfolgt ein kurzer Wortwechsel in Antilabai (vgl. zu 54), ein Zeichen erregter Diskussion. Da sich der ‚Kaufmann‘ prinzipiell auf das von Neoptolemos verlangte Vorgehen eingelassen hat (582–584; er fürchtet nur um seine ökonomischen Interessen), hat seine Warnung (589 a) nicht die Funktion, Neoptolemos an Odysseus’ Intrigenplan zu erinnern, sondern ihn zu einer Antwort zu provozieren, die Philoktet zeigt, Neoptolemos lasse zu, dass ein Geheimnis ausgeplaudert werde, das Philoktet nicht hören solle. Die angebliche Brisanz wird noch durch v. 590 a betont, wo der ‚Kaufmann‘ Neoptolemos für etwaige Folgen verantwortlich macht. Wenn Neoptolemos etwas von oben herab erklärt, er habe das schon längst bedacht (589 b) und sich über die Bedenken des ‚Kaufmanns‘ hinwegsetzt (590 b), lässt er eine gewisse Distanz zum ‚Kaufmann‘ erkennen, die jeden Gedanken daran ausschließt, sie könnten kooperieren. 589 ‚schon längst‘: Die Angabe reicht wohl nicht weiter zurück als bis zum Stand des Gesprächs in v. 580 (vgl. Jebb) und verstärkt eher den Nachdruck der Aussage, als dass sie strikt zeitlich zu verstehen wäre. Hier bereits bei Neoptolemos ein Zeichen des Unbehagens an der Intrige zu sehen (z. B. Visser 1998, 99), liegt im Hinblick auf sein weiteres Vorgehen nicht nahe. 591–621 In zusammenhängender Rede, nur durch eine Frage des Neoptolemos unterbrochen (598–602), verkündet der ‚Kaufmann‘ nun sein ‚Wissen‘: Diomedes und Odysseus seien auf dem Weg zu Philoktet (dass Odysseus schon da ist, gerät so nicht in den Blick) und wollten ihn nach Troia holen wegen der Weissagung des Helenos (diese lässt Philoktet jegliche Anstrengung des Odysseus, sich seiner zu bemächtigen, glaubhaft erscheinen). 591–597 Ob sich Odysseus ‚wirklich‘ so zuversichtlich über den Erfolg seiner Mission geäußert haben sollte oder ob die vom ‚Kaufmann‘ referierte Aussage Teil des Intrigenplans ist – in jedem Fall widerspricht sie der Auffassung des Odysseus, dass Philoktet nur mit List, aber weder mit Worten noch durch Gewalt nach Troia zu bringen sei (101–103); vgl. Schein. Vor allem der Hinweis auf Gewalt hat hier die Funktion, Druck auf Philoktet auszuüben, jetzt gleich mit Neoptolemos wegzufahren, und steht damit ebenso im Dienst der Intrige wie die Betonung der prominenten Rolle des Odysseus (596 f.), wodurch Philoktet besonders aufgeschreckt werden soll. 591 ‚gehört hast‘: vgl. 570 f. 592 ‚mächtige Odysseus‘, wörtl.: ‚Odysseus’ Gewalt‘; vgl. zu 314. 593–594 ‚Überzeugungskunst des Wortes‘, wörtl. ‚mit Worten überzeugend‘: Dieselben griechischen Worte gebraucht der ‚Kaufmann‘ bei seinem Referat der Weissagung des Helenos (vgl. zu 612), die auf die Freiwilligkeit Philoktets zielt (vgl. 1332; 1343). Die Alternative ‚Worte oder Gewalt‘ gibt dem Inhalt nach wieder, was Odysseus gesagt haben soll (617 f.).

Erstes Epeisodion: 596–607

208

Ne.

Ka.

Νε.

Εµ.

Odysseus sagen; denn der hatte mehr Zuversicht als der andere, das zu vollbringen. Aber weswegen nur waren die Atreus-Söhne nach so langer Zeit so angelegentlich um den bemüht, ebenden, den sie schon vor Zeiten ausgesetzt hatten? 600 Was ist das für ein Verlangen, das sie überkam? Gewalt und Vergeltung von Seiten der Götter, die böse Taten ahnden? Ich werde dir das, denn vielleicht hast du es nicht gehört, alles genau erklären: Es gab da einen Seher von hoher Abkunft, ein Sohn des Priamos, mit Namen hieß er 605 Helenos, den dieser, als er eines Nachts allein hinausgegangen war, er, von dem man alles sagt, was schändlich und ehrenrührig ist, Ὀδυσσέως λέγοντος· οὗτος γὰρ πλέον τὸ θάρσος εἶχε θἀτέρου δράσειν τάδε. τίνος δ’ Ἀτρεῖδαι τοῦδ’ ἄγαν οὕτω χρόνῳ τοσῷδ’ ἐπεστρέφοντο πράγµατος χάριν, ὅν γ’ εἶχον ἤδη χρόνιον ἐκβεβληκότες; τίς ὁ πόθος αὐτοὺς ἵκετ’; ἦ θεῶν βία καὶ νέµεσις, οἵπερ ἔργ’ ἀµύνουσιν κακά; ἐγώ σε τοῦτ’, ἴσως γὰρ οὐκ ἀκήκοας, πᾶν ἐκδιδάξω· µάντις ἦν τις εὐγενής, Πριάµου µὲν υἱός, ὄνοµα δ’ ὠνοµάζετο Ἕλενος, ὃν οὗτος νυκτὸς ἐξελθὼν µόνος, ὁ πάντ’ ἀκούων αἰσχρὰ καὶ λωβήτ’ ἔπη,

600

605

596 πλέον] prädikativ zu τὸ θάρσος (597), im Deutschen schwer adäquat wiederzugeben. 597 θἀτέρου] ~ ἢ ὁ ἕτερος θάρσος εἶχε, sogenannte unmittelbare Vergleichung zweier Subjekte (K.-G. II 310). | δράσειν (Hss.) : πράσσειν +J. H. Wright – das (hier effektive) Futur drückt passender eine größere Zuversicht aus als das Präsens. 598–599 χρόνῳ τοσῷδ’] n a c h so langer Zeit (Jebb; K.-G. I 446). 600 γ’ Trikl., Heath : Ø : τ᾿ (Hss.) – zu γε nach Relativpronomen vgl. GP 123 (5). | εἶχον … ἐκβεβληκότες] Partizip Perfekt ist in der Umschreibung selten (K.-G. II 61 f.; Aerts 1965, 136), ~ „were keeping as an outcast“ (Webster). 601 τίς ὁ πόθος] ~ τίς ἐστιν ὁ πόθος ὅς (Kamerbeek); vgl. Homer, Ilias 1,240 ἦ ποτ᾿ Ἀχιλλῆος ποθὴ ἵξεται υἷας Ἀχαιῶν. | ἦ Radermacher; Ll.-J./W. : ἢ Hss. – vgl. zu ἦ GP 283 („Often introducing a suggested answer, couched in interrogative form, to a question just asked.“); Ll.-J./W.1; die überlieferte Akzentuierung stellt nur eine Interpretation des Schreibers dar. | βία Hss. : φθόνος (varia lectio bzw. glossema in 3 Hss.) : δίκη Nauck – zur Wendung θεῶν βία vgl. Himerios, or. 10,16 Z. 92 Colonna (Radermacher 1950, 161 f.). 602 νέµεσις] sc. θεῶν (601), vgl. 518.   |   οἵπερ (Hss.) : εἴπερ : αἵπερ Pallis – da βία und νέµεσις ausdrücklich den Göttern zugeordnet sind und von ihnen ausgehen, ist das Relativpronomen besser auf die Götter zu beziehen; anders Ll.-J./W.1. | ἀµύνουσιν] in der Bedeutung ‚vergelten‘ im Aktiv selten, vgl. noch OC 1128. 605  Πριάµου] ⏑⏑ ‒, aufgelöstes Anceps, häufig bei Eigennamen, vgl. West 1982, 81 f. und zu v. 94. 605–606 ὄνοµα δ’ ὠνοµάζετο Ἕλενος] vgl. zu diesem Idiom K.-G. I 45. 606 Ἕλενος] ⏑ ⏑⏑. 607 ἀκούων Hss. : ἀπακονῶν Dawe – ἀκούων im Sinne von λεγόµενος, vgl. LSJ s. v. III. | λωβήτ’] hier aktiv (‚schmähende [Worte]‘), vgl. LSJ s. v. II.

Kommentar

209

598–602 Mit ‚Erstaunen‘ stellt Neoptolemos – aus der Perspektive Philoktets – die Frage, was die Atreus-Söhne angesichts ihres bisherigen Verhaltens jetzt von diesem wollen. Es könne doch wohl nur darum gehen, göttlicher Vergeltung für die Untat zu entgehen (vgl. zu 601–602). So lässt Sophokles Neoptolemos dem ‚Kaufmann‘ ein Stichwort für seine Ausführungen zur Motivation der fingierten (und tatsächlichen) Mission geben (vgl. auch Alt 1961, 154). 598–599 ‚weswegen nur‘, wörtl. ‚um welcher … Sache / Angelegenheit willen‘, im Griechischen stark betont durch eine weite Sperrung; vgl. Schein. 600 ‚ausgesetzt hatten‘: Der griechische Wortlaut hat die zusätzliche Sinnkomponente ‚und in dieser Situation beließen‘. 601 ‚Verlangen‘: Die Formulierung ist angelehnt an die Aussage Achills (Homer Ilias 1,240; vgl. TS), der – von Agamemnon entehrt – diesem die Gefolgschaft verweigert hat, dass die Achaier ein Verlangen nach ihm überkommen werde. Tatsächlich brauchen die Griechen jetzt die Hilfe Philoktets, aber Neoptolemos gibt der Formulierung durch seine weitere Frage (601 b f.) eine Wendung, dass Philoktet glauben muss, die Griechen wollten lediglich aus Furcht vor Strafe das Vergehen der Aussetzung an ihm wiedergutmachen. 601–602 ‚Vergeltung von Seiten der Götter‘: Es handelt sich um die Strafe, die droht, wenn man gegen Gebote verstößt, deren Übertretung den Zorn der Götter erregt; vgl. 517 f. 602 ‚die‘: Gemeint sind die Götter. 603–621 Der ‚Kaufmann‘ informiert über die Weissagung des Helenos, von der nun erstmals in diesem Drama die Rede ist. Philoktet soll zu der Überzeugung gebracht werden, er werde um des Sieges in Troia willen von Odysseus (und Diomedes) verfolgt, damit er bereit ist, mit Neoptolemos Lemnos zu verlassen, und Odysseus so sein Ziel erreicht. 603 Wenn der ‚Kaufmann‘ es für möglich hält, dass Neoptolemos noch uninformiert ist, schafft er sich damit eine Motivation, in dessen Gegenwart (und der Philoktets) die Helenos-Weissagung zu berichten. Daraus folgt jedoch nicht zwangsläufig, dass Neoptolemos keine eigene Kenntnis davon hat (vgl. 1336 ff. und zu 1336). Da der Prologos aber so gestaltet ist, als müsse Neoptolemos erst über grundlegende Sachverhalte unterrichtet werden, liegt für die Zuschauer die Annahme nahe, auch Neoptolemos werde jetzt erstmals über die Helenos-Weissagung informiert. 604–613 Nach Homer (Ilias 6,76; 7,44–53) war der Seher Helenos, der die Stimme der Götter vernehmen konnte, ein Sohn des Priamos, er soll Zwillingsbruder der Kassandra gewesen sein (Antikleides, FGrHist 140 F 17). Von seiner Gefangennahme durch Odysseus, seiner Weissagung und der daraufhin erfolgten ‚Rückführung‘ Philoktets berichtet die Ilias parva (Argumentum 1, p. 74,6 f. Bernabé = pp. 120 f. West 2003). Die Weissagung des Helenos bestand nach der für Bakchylides bezeugten Version (fr. 7 Blass = **23 Maehler = Schol. Pindar, Pythien 1,100 Drachmann) darin, dass Troia ohne die Waffen des Herakles nicht zerstört werden könne, was bedeutet, da man Philoktet geholt hat, nicht ohne die Waffen u n d Philoktet. Entsprechendes gilt für die Hypothesis zu Euripides’ Philoktet (T iii a, 9–14 Kannicht [POxy. 2455 fr.

Erstes Epeisodion: 608–616

210

der listige Odysseus, fing. Er brachte ihn gefesselt und stellte ihn den Achaiern öffentlich zur Schau, einen schönen Fang. Der nun weissagte ihnen alles andere 610 und auch, dass sie Troias hohe Burg niemals zerstören würden, wenn sie nicht den hier mit Worten überzeugten und herbrächten von dieser Insel, auf der er jetzt wohnt. Und als der Sohn des Laërtes gehört hatte, dass der Seher das verkündete, versprach er sogleich, er werde 615 diesen Mann herbringen und ihn den Achaiern vorführen. δόλιος Ὀδυσσεύς, εἷλε· δέσµιόν τ’ ἄγων ἔδειξ’ Ἀχαιοῖς ἐς µέσον, θήραν καλήν· ὃς δὴ τά τ’ ἄλλ’ αὐτοῖσι πάντ’ ἐθέσπισε καὶ τἀπὶ Τροίᾳ πέργαµ’ ὡς οὐ µή ποτε πέρσοιεν, εἰ µὴ τόνδε πείσαντες λόγῳ ἄγοιντο νήσου τῆσδ’, ἐφ’ ἧς ναίει τὰ νῦν. καὶ ταῦθ’ ὅπως ἤκουσ’ ὁ Λαέρτου τόκος τὸν µάντιν εἰπόντ’, εὐθέως ὑπέσχετο τὸν ἄνδρ’ Ἀχαιοῖς τόνδε δηλώσειν ἄγων·

610

615

608 δόλιος Hss. : Housman, Ll.-J./W – δόλοις … εἷλε gäbe zwar als solches einen sehr guten Sinn, aber bei der vorliegenden Wortstellung würde die appositive Funktion von Ὀδυσσεύς verunklärt. | τ᾿ : δ᾿ 609 θήραν] ‚Fang‘ als Ergebnis der Jagd. 611 τἀπὶ Τροίᾳ πέργαµ’] proleptisch (und betont) aus dem ὡς-Satz herausgenommen. 612 πέρσοιεν : πέρσειεν : πέρσωσιν +Blaydes : πέρσειαν Elmsley – οὐ µή mit Optativ wegen indirekter Rede (K.-G. II 222). 613 ἄγοιντο Hss. : ἀγάγοιντο oder ἄξοιντο Blaydes – zur Möglichkeit des Optativ Präsens (~ Konjunktiv in direkter Rede) bei Futur im Hauptsatz vgl. Demosthenes, or. 18,148, MT § 690 sowie Jebb. | νήσου] bloßer ablativischer Genitiv (K.G. I 394 f.). 614 ταῦθ’] Prolepse wie 611. | ἤκουσ’ Trikl., Valckenaer : ἤκουσεν (Hss.) – vor ὁ ist metrisch ἤκουσ’ erforderlich. | Λαέρτου (Hss.) : Λαερτίου – nur Λαέρτου ist metrisch passend. | τόκος (Hss.) : γόνος

Kommentar

211

17,254–259]). Zumindest insoweit die Geschichte des ‚Kaufmanns‘ mit der vorsophokleischen Tradition übereinstimmt, wird man annehmen dürfen, dass Sophokles sie als ‚wahr‘ erscheinen lassen wollte (nur nach der sophokleischen Version nicht als vollständig, vgl. bes. 1339–1341; Jebb zu 1336), der ‚Kaufmann‘ also mithilfe einer wahren Geschichte trügt. – Zur Frage von Funktion und Stellenwert der Aussage, dass Philoktet durch Überzeugung gewonnen werden müsse (612), vgl. zu 102 u. Einf. S. 29–30. Bevor überhaupt gesagt wird, welche Aktion Odysseus gegen Helenos unternommen hat, wird Helenos vom ‚Kaufmann‘ als von hoher Herkunft vorgestellt, Odysseus dagegen moralisch abqualifiziert (604–609). Diese Abqualifizierung soll Philoktet einnehmen; vgl. auch 64 f. Nicht ganz klar ist allerdings, ob der Seitenhieb unabhängig von der Gefangennahme des Helenos gelten bzw. ob auch sie als Beleg für die Minderwertigkeit des Odysseus dienen soll. Dass Odysseus Helenos im Alleingang gefangen habe, stimmt, soweit noch kenntlich, auch mit der Version in der Ilias parva (Argumentum 1, p. 74,6 Bernabé = pp. 120 f. West 2003) überein. Diese Aktion zumindest wird in der vorsophokleischen Tradition eher als Heldentat denn als Vorwurf verstanden worden sein. 609 ‚einen schönen Fang‘: Das griechische Wort (thēra) stammt aus dem Jagdbereich, zumindest in der Bedeutung ‚Jagen‘ kann es auch auf Menschen angewandt werden (Ai. 564), und in der hier vorliegenden Bedeutung ‚Beute‘ / ‚Fang‘ ist es nicht auf Tiere beschränkt; auch Philoktets Bogen kann als ‚Beute‘ bezeichnet werden (840). Dass der ‚Kaufmann‘ die Einzelheiten des Umgangs mit dem gefangenen Helenos berichtet, kann als Illustration dazu gedeutet werden, wie es kam, dass Helenos eine Weissagung äußern konnte. 610–613 Dadurch, dass er von der Weissagung erfährt, wird Philoktet eine glaubhafte Motivation der Atreus-Söhne geboten, ihn nach Troia holen zu wollen (vgl. Visser 1998, 66 f.). – Nach der vom ‚Kaufmann‘ vermittelten Formulierung der Weissagung sieht es so aus, als habe es Philoktet in der Hand, ob Troia fallen wird oder nicht. Neoptolemos’ vollständigere Version (1329– 1342) wird ein anderes Bild ergeben; vgl. zu 1339–1341 a und Einf. S. 27 f.. 610–611 Die Weissagung zu Troia wird vom ‚Kaufmann‘ als eine unter anderen gekennzeichnet, und er gibt sie nicht vollständig wieder, gemessen an den (späteren) Ausführungen des Neoptolemos (vgl. 1329–1342). 611 ‚Troias hohe Burg‘: vgl. zu 353. 612 ‚mit Worten‘: D. h. ein Überzeugen mit rationaler Argumentation (logos); vgl. Pucci. Nach Angabe des ‚Kaufmanns‘ wollte Odysseus so vorgehen, hatte als Alternative aber gleich Gewaltanwendung erwogen, die eigentlich aufgrund der Weissagung ausgeschlossen ist (vgl. auch zu 593–594; 617; 618). 614–619 Das Verhalten, das hier Odysseus zugeschrieben wird, kontrastiert stark mit seinem anfänglichen Zögern, die Aufgabe zu übernehmen, das er in Euripides’ Version an den Tag legt (F 789 b [3] Kannicht). 616 ‚vorführen‘, wörtl. ‚zeigen‘, ‚vor Augen stellen‘, genau so, wie er es mit Helenos, dem Seher der Feinde, gemacht hatte (609); vgl. v. 630 und Schmidt 1973, 11; 120.

Erstes Epeisodion: 617–625

212

Ph.

Φι.

Am ehesten, dächte er, indem er ihn mit seiner Zustimmung mitnähme, wenn der aber nicht bereit sei, auch gegen seinen Willen; und wenn er das nicht erreiche, dürfe, wer wolle, ihm den Kopf abschneiden. Du hast alles gehört, mein Sohn; und zur Eile rate 620 ich dir selbst und wenn dir sonst noch an jemandem liegt. O weh, ich Elender! Hat jener – das Unheil in Person! – geschworen, mich zu überreden und zu den Achaiern zu bringen? Gerade so werde ich mich überreden lassen, nach meinem Tod aus dem Hades ans Licht zurückzukehren – wie sein Vater! 625 οἴοιτο µὲν µάλισθ’ ἑκούσιον λαβών, εἰ µὴ θέλοι δ’, ἄκοντα· καὶ τούτων κάρα τέµνειν ἐφεῖτο τῷ θέλοντι µὴ τυχών. ἤκουσας, ὦ παῖ, πάντα· τὸ σπεύδειν δέ σοι καὐτῷ παραινῶ κεἴ τινος κήδῃ πέρι. οἴµοι τάλας· ἦ κεῖνος, ἡ πᾶσα βλάβη, ἔµ’ εἰς Ἀχαιοὺς ὤµοσεν πείσας στελεῖν; πεισθήσοµαι γὰρ ὧδε κἀξ Ἅιδου θανὼν πρὸς φῶς ἀνελθεῖν, ὥσπερ οὑκείνου πατήρ.

620

625

617 οἴοιτο] bloßer Optativ im Hauptsatz als Fortsetzung der indirekten Rede, vgl. K.-G. 255; MT § 675; Moorhouse 255 (der ein Verb des Sagens ergänzt). | µάλισθ’] zu οἴοιτο zu beziehen (nicht: „größtenteils freiwillig“; so Visser 1998, 72). 618 δ’] Nachstellung statt εἰ δὲ (GP 187 f.). | τούτων (Hss.) : τούτου – Plural, weil zwei Möglichkeiten genannt sind; τούτων in weiter (und damit sehr betonter) Sperrung zu τυχών (619). 619 ἐφεῖτο : ὑφεῖτο – zur Bedeutung von ἐφίεµαι („allow or permit one to do“) vgl. LSJ s. v. B. I. 2. 620 ἤκουσας] Asyndeton zum Abschluss der Rede (K.-G. II 343 β). | τὸ σπεύδειν] substantivierter Infinitiv statt des bloßen Infinitivs (K.-G. II 43 f.). 621 καὐτῷ] καί korrespondiert mit καί in κεἴ und ist nicht adverbial („even“, Schein); die Stellung von κ(αί) nach σοι und vor αὐτῷ erklärt sich so, dass der ‚Kaufmann‘ Neoptolemos (σοι) zur Eile rät, und zwar sowohl in seinem Interesse als auch in dessen, für den er vielleicht sorgen will. | τινος κήδῃ πέρι] κήδοµαι hier mit Präposition statt des üblichen bloßen Genitivs (K.-G. I 367 Anm. 15). 622 ἡ πᾶσα βλάβη] die Apposition muss nicht im Genus kongruieren (K.-G. I 62); vgl. 927 u. El. 301. 623 στελεῖν] hier: ‚holen‘, ‚bringen‘, vgl. OT 860. 624 γὰρ] „… the γάρ clause explains the tone of the preceding words, rather than their content.“ (GP 62).

Kommentar

213

617 ‚mit seiner Zustimmung‘, wörtl. ‚freiwillig‘: Dass Odysseus an echte Freiwilligkeit denkt (wie später Neoptolemos, 1332; 1343), zeigt der Gegenbegriff ‚gegen seinen Willen‘ (618). Sollte man in logō peithein (vgl. zu 612) ein Überreden durch List impliziert sehen wollen, würde der Begriff der Freiwilligkeit aufs Äußerste strapaziert (vgl. auch zu 102; Minadeo 1993, 94 Anm. 8). – Gegenüber Neoptolemos hatte es Odysseus ausdrücklich für unmöglich erklärt, Philoktet überzeugen oder mit Gewalt bezwingen zu können (103). 618 ‚gegen seinen Willen‘: Diese Formulierung könnte auf die in v. 594 vom ‚Kaufmann‘ genannte Gewalt hindeuten, muss sich aber nicht darauf beschränken; der Ausdruck ist auch offen für die von Philoktet wohl eher gefürchtete Vielfalt von Odysseus’ Machenschaften (633 f.). Das von Odysseus geplante listige Vorgehen (107) besteht weder in unmittelbarer Gewalt noch in Überzeugungsversuchen (103), sondern in der Entwendung des Bogens (77 f.), sc. um dadurch Druck auf Philoktet auszuüben. 618 b–619 Die Behauptung, dass Odysseus sogar sein Leben als Erfolgsgarantie eingesetzt habe, soll Philoktet umso mehr motivieren, mit Neoptolemos mitzugehen: So ernst sei es Odysseus, Philoktet nach Troia zu bringen. Sophokles spielt mit seiner Formulierung auf zwei Homerstellen mit vergleichbarer Selbstverpflichtung des Odysseus an: Ilias 2,259; Odyssee 16,102. 620–621 ‚alles‘, d. h. angeblich sein ganzes Wissen, dass Phoinix und die Söhne des Theseus hinter Neoptolemos her seien und dass Odysseus und Diomedes mit allen Mitteln Philoktet nach Troia bringen wollten. Unter dieser Voraussetzung kann der ‚Kaufmann‘ Neoptolemos selbst nur zur Eile raten und auch hinsichtlich Philoktets, wenn er ihn mitnehmen will, darauf drängen; der ‚Kaufmann‘ bezieht sich auf ihn ohne Namensnennung nur als Möglichkeit, da er in seiner Rolle nicht erkennen lassen darf zu wissen, welche Absichten Neoptolemos mit Philoktet hat. 622 ‚das Unheil in Person!‘, wörtl. ‚der ganze Schaden‘, ‚das ganze Unheil‘, d. h. das Unheil in seiner Gesamtheit, sodass daneben nichts mehr übrig bleibt: Odysseus verkörpert für Philoktet d a s Unheil. Derselbe Ausdruck wird El. 301 (für Aigisthos) gebraucht. Vgl. zur Ausdruckweise v. 927. 623–624 ‚überreden‘: Philoktet nimmt nur darauf Bezug, dass Odysseus mit Worten auf ihn einwirken wolle (peithein, vgl. zu 102), was für ihn eher als Überreden negativ konnotiert sein dürfte. Er hält das für einen vergeblichen Versuch, da Überredung zumindest von Seiten des Odysseus aussichtslos wäre (vgl. auch 628–632). Damit scheint sich Odysseus’ frühere Einschätzung (103) zu bestätigen; aber gegenüber Neoptolemos wird Philoktet kurzzeitig schwankend werden (1348–1351) und von Herakles wird er sich überzeugen lassen (1447). D. h., die in der Weissagung gegebene Bedingung der notwendigen Überzeugung und damit Freiwilligkeit Philoktets ist also grundsätzlich erfüllbar und somit kein „adynaton“ (so aber Budelmann 2000, 124). 624–625 Die Unmöglichkeit, ihn zu überreden, nach Troia zu gehen, illustriert Philoktet mit der entsprechenden Unmöglichkeit, dass er nach dem Tod aus dem Hades zurückkehren könne. Die absolute Unmöglichkeit wird aber gleich konterkariert durch den Fall des wieder aus dem Hades heraufgekom-

Erstes Epeisodion: 626–638

214 Ka.

Ich weiß davon nichts. Sondern was mich betrifft, gehe ich zum Schiff, euch beiden aber mögen die Götter aufs Beste beistehen!

Der ‚Kaufmann‘ geht (mit seinem Begleiter) zum Seiteneingang hin ab. Ph.

Ist das nicht ungeheuerlich, mein Sohn, dass des Laërtes Sohn erwartet, er könne mich einmal mit schmeichlerischen Worten vom Schiff führen und mitten unter den Argeiern vorzeigen? Nein! Eher würde ich auf die mir bestverhasste Schlange hören, die mich so ‚fußlos‘ gemacht hat. Doch dem ist jedes Wort, jede dreiste Tat zuzutrauen; und jetzt weiß ich, dass er kommen will. Auf, mein Sohn, lass uns gehen, damit uns die Weite des Meeres trennt vom Schiff des Odysseus. {Lass uns gehen! Eile zur rechten Zeit – weißt du – bringt, hat die Mühe aufgehört, Schlaf und Erholung.}

Εµ.

οὐκ οἶδ’ ἐγὼ ταῦτ’· ἀλλ’ ἐγὼ µὲν εἶµ’ ἐπὶ ναῦν, σφῷν δ’ ὅπως ἄριστα συµφέροι θεός.

Φι.

οὔκουν τάδ’, ὦ παῖ, δεινά, τὸν Λαερτίου ἔµ’ ἐλπίσαι ποτ’ ἂν λόγοισι µαλθακοῖς δεῖξαι νεὼς ἄγοντ’ ἐν Ἀργείοις µέσοις; οὔ· θᾶσσον ἂν τῆς πλεῖστον ἐχθίστης ἐµοὶ κλύοιµ’ ἐχίδνης, ἥ µ’ ἔθηκεν ὧδ’ ἄπουν. ἀλλ’ ἔστ’ ἐκείνῳ πάντα λεκτά, πάντα δὲ τολµητά. καὶ νῦν οἶδ’, ὁθούνεχ’ ἵξεται. ἀλλ’, ὦ τέκνον, χωρῶµεν, ὡς ἡµᾶς πολὺ πέλαγος ὁρίζῃ τῆς Ὀδυσσέως νεώς. {ἴωµεν· ἥ τοι καίριος σπουδὴ πόνου λήξαντος ὕπνον κἀνάπαυλαν ἤγαγεν.}

630

635

630

635

626 ἐπὶ] zu ἐπί am Versende vgl. zu 13. 627 ὅπως] verstärkt den Superlativ (K.-G. I 27). | συµφέροι] vgl. LSJ s. v. A. III. 1. 628 οὔκουν] zur Einleitung einer erregten Frage (K.-G. II 166 f.; GP 431). | δεινά] vgl. zum Plural zu 524. 629–630 ἐλπίσαι … ἂν … δεῖξαι] zu ἐλπίζω mit Infinitiv Aorist und ἄν vgl. Thukydides 7,61,3; MT § 136. 629 ἂν (Hss.) : ἐν – vgl. zu 629–630. 630 δεῖξαι] vgl. 492. | νεὼς Hss. : λεῲς E.B. Koster – zum möglichen Verständnis von νεὼς vgl. Komm. zu 629–630, zum bloßen Genitiv vgl. zu 613; das von Dawe in den Text gesetzte λεῲς würde bedeuten, dass Odysseus den mit schmeichlerischen Worten weggeführten Philoktet der Mannschaft (den Soldaten) zeigt, wozu aber ‚mitten unter den Achaiern‘ sachlich eine Dublette wäre. 631 οὔ· θᾶσσον Hss. : οὐ θᾶσσον Turnebus : οὗ θᾶσσον Welcker | πλεῖστον] Superlativ zur Verstärkung des Superlativs ἐχθίστης (K.-G. I 27; Bruhn § 181, VII). 632 ἄπουν] zur Deklination vgl. K.-B. I 540. 633 δὲ] zum Fehlen von µέν in der Anaphora vgl. 779; 827; GP 163 (2). 635 ὡς Hss. : ἕως Welcker 636 ὁρίζῃ Lambinus : ὁρίζει Hss. – Konjunktiv im Finalsatz; vgl. auch Jebb. | νεώς (Hss.) : βίας – νεώς passt besser zum Kontext. {637–638} Bergk, Blaydes, Dawe – vgl. Komm. 637 τοι] zur Stellung zwischen Artikel und Substantiv vgl. GP 548 (3). 638 ἤγαγεν] gnomischer Aorist.

Kommentar

215

menen Sisyphos – nicht ganz logisch, aber so kann Philoktet seine Empörung über das Vorhaben des Odysseus mit einem schmähenden Seitenhieb gegen ihn verbinden. Zu Sisyphos als ‚Vater‘ des Odysseus vgl. zu 417, zu seiner Rückkehr aus dem Hades vgl. zu 449. 626–627 In seiner Rolle als einfacher Mann (584) kann der ‚Kaufmann‘ glaubwürdig behaupten, dass er nicht wisse, was es mit Odysseus’ Vater auf sich hatte (vgl. Kamerbeek). Er hat den von Odysseus gegebenen Auftrag erfüllt (620), verabschiedet sich und geht (wohl mit dem Begleiter) zum Schiff. 627 Den abschließenden Wunsch, der als Abschiedsgruß zu verstehen ist, kann jeder der beiden Angesprochenen seiner jeweiligen Absicht gemäß auf sich beziehen; vgl. Schein. An welchen Gott der ‚Kaufmann‘ denkt, ist nicht erkennbar; die Unbestimmtheit des singularischen Ausdrucks ohne Artikel wurde in der Übersetzung mit Plural wiedergegeben (vgl. zu 464–465). 628–675 Der Dialog zwischen Philoktet und Neoptolemos führt dazu, dass sich Philoktet (wahrhaftig) und Neoptolemos (vorgetäuscht) einander so weit annähern, dass Philoktet Neoptolemos in Aussicht stellt, er dürfe den Bogen in die Hand nehmen, und zum Abschied von der Höhle ihn als Unterstützung mit hineinnimmt. Damit ist Neoptolemos dem von Odysseus vorgegebenen Ziel, sich in den Besitz des Bogens zu bringen, nähergekommen. 629–630 Wenn der überlieferte Text in Ordnung ist (vgl. zu den Konjekturen TS), liegt wohl eine Verkürzung des Gedankens vor ‚mich mit schmeichlerischen Worten (sc. von hier wegzubringen) und vom Schiff zu führen …‘. Die Verkürzung könnte so zu erklären sein, dass für Philoktet die ihm vermittelte Alternative, dass Odysseus ihn mit Gewalt von Lemnos wegführen könnte, in den Hintergrund tritt, und er sich auf den Endpunkt konzentriert, der ihm bei einem möglichen Überredungserfolg des Odysseus besonders widerstrebte, nämlich vom Schiff zu gehen und von Odysseus (triumphierend, wie bei Helenos) dem griechischen Heer vorgeführt zu werden. 631–632 ‚bestverhasste Schlange‘; Vgl. zu 266–267. Philoktets Empörung über Odysseus, der glaube, ihn gewinnen zu können, ist so groß, dass er sich (wie er in einem Adynaton ausdrückt) eher noch von der Schlange, die seinen Fuß funktionsunfähig gemacht hat, bereden lassen wolle als von diesem. 633–634 In tragischer Ironie befürchtet Philoktet, was Odysseus mit seinem Einfallsreichtum längst in die Wege geleitet hat. Zur Beurteilung des Odysseus vgl. 407–409 (Blundell 1987, 316). 635–636 Philoktets einziges Ziel ist, möglichst weit von Odysseus wegzukommen. Von der Weissagung realisiert er nur, was Odysseus daraus machen will, nicht die ihm zugedachte Rolle im Troianischen Krieg; vgl. auch 1029 f. 637–638 Es wäre zwar nicht ungewöhnlich für die Rede einer sophokleischen Figur, wenn Philoktet mit einer Gnome endete. Es geht ihm aber um die dringende Rettung vor Odysseus (das ist auch der Sinn seiner sentenzhaften Äußerungen 641 und 643 f.); dazu passt als Zielsetzung der Appell, sich weit von Odysseus zu entfernen (635 f.), aber kaum der Hinweis auf die nach der

Erstes Epeisodion: 639–644

216 Ne. Ph. Ne. Ph.

Νε. Φι. Νε. Φι.

Ja, wenn der Wind vom Bug her sich gelegt hat, dann wollen wir in See stechen; denn jetzt steht er uns entgegen. Es ist immer eine günstige Zeit zu segeln, wenn man vor Schlimmem flieht. Ich weiß; aber auch jenen steht der Wind entgegen. Seeräuber haben niemals Gegenwind, wenn sie stehlen und mit Gewalt rauben können. οὐκοῦν ἐπειδὰν πνεῦµα τοὐκ πρῴρας ἀνῇ, τότε στελοῦµεν· νῦν γὰρ ἀντιοστατεῖ. ἀεὶ καλὸς πλοῦς ἔσθ’, ὅταν φεύγῃς κακά. οἶδ’· ἀλλὰ κἀκείνοισι ταῦτ’ ἐναντία. οὐκ ἔστι λῃσταῖς πνεῦµ’ ἐναντιούµενον, ὅταν παρῇ κλέψαι τε χἀρπάσαι βίᾳ.

640

640

639 οὐκοῦν] drückt hier Zustimmung aus (K.-G. II 165; GP 437). | πνεῦµα τοὐκ (Hss.) : πνεύµατ᾿ ἐκ | πρῴρας : πρύµνας | ἀνῇ Lambinus : ἄῃ : ἀγῇ : ῥάῃ Trikl. – πρύµνας und ἄῃ oder ἀγῇ sind durch ἀντιοστατεῖ (640) ausgeschlossen; zu ῥάῃ vgl. Dawe app. crit.; zum intransitiven Gebrauch von ἀνίηµι vgl. 764; Herodot 2,113,1. 640 στελοῦµεν] intransitiv, vgl. zu 571. 641 πλοῦς] vgl. LSJ s. v. 2 „time or tide for sailing“. 642 οἶδ’· ἀλλὰ Doederlein : οὔκ· ἀλλὰ Hss. : οὐκ ἆρα Meineke : ἀλλ᾿ οὐχὶ O. Heine – folgt man der Überlieferung, würde die sprichwortartige Aussage Philoktets generell verneint, was kaum sinnvoll ist, man erwartet stattdessen sinngemäß ein ‚ja, aber‘; dem entspricht Doederleins Konjektur am besten (vgl. sprachlich Eur. Hik. 109; Tro. 246; F 45,1 Kannicht). 644 τε Hss. : τι Bergk – „τε dà al discorso un’enfasi che è fuori luogo“ (Fraenkel 1977, 61), aber Ll.-J./W.1 vergleichen zu Recht Aisch. Ag. 534.

Kommentar

217

Anstrengung zu erwartende Ruhe und Erholung. Allenfalls könnte man hier Zwischenverse des Chors sehen (Hermann), aber der Kontext legt eher nahe, diese Verse mit Bergk, Blaydes und Dawe für unecht zu halten. 639–646 Der Gegenwind muss der ‚Realität‘ entsprechen, sie ist auch für Philoktet nachprüfbar (vgl. Ussher zu 639–640); vgl. auch 855 u. 1451, wo ebenfalls ein in Richtung Troia wehender Wind vorausgesetzt ist. Ein Widerspruch zu 526 f. besteht nicht; denn zuvor schon hatte Neoptolemos gesagt, dass er beim Schiff den richtigen Wind für die Fahrt nach Hause abwarten wolle (464 f.); vgl. Visser 1998, 101 f. Aber warum lässt Sophokles Neoptolemos diesen Sachverhalt überhaupt erwähnen? Die These, dass Neoptolemos die Abfahrt verzögern wolle, weil er ein Unbehagen gegenüber der Intrige habe (z. B. Steidle 1968, 179; Visser 1998, 106 f.), wird zu Recht abgelehnt (Kamerbeek; Schein); es gibt kein Textsignal, warum das Unbehagen sich gerade jetzt zeigen sollte. Nach Kamerbeek (der Schmidt 1973, 122 f. folgt) zögert Neoptolemos, weil er den Bogen noch nicht habe. Diese Situation hat sich jedoch gegenüber derjenigen nicht verändert, als man vor dem Auftreten des ‚Kaufmanns‘ in die Höhle gehen wollte (533 ff.), und sie ist noch so, als Neoptolemos dem Weggehen zustimmt (645), sodass dafür die vv. 639–644 fehlen könnten. Vielleicht soll gezeigt werden, dass Neoptolemos verhindern möchte, dass Philoktet womöglich doch noch zögern könnte, das Schiff zu besteigen, wenn man am Hafen angekommen ist und man dort (angeblich) warten müsste, bis der Wind gedreht hätte, was aber der Intrige zuwiderlaufen würde, da der Wind in Richtung Troia weht. Mit seinem Drängen, sogar bei falscher Windrichtung loszufahren, begünstigt Philoktet jedenfalls unbewusst die Intrige, da Neoptolemos das Schiff in die ‚falsche‘ Richtung fahren lassen könnte (vgl. auch zu 641–644). 640 Die praktische Frage, wie Neoptolemos und der ‚Kaufmann‘ kurz zuvor bei dem in Richtung Troia wehenden Wind von dort kommen konnten, stellt Philoktet nicht und wird sich der Zuschauer bei der Aufführung auch kaum gestellt haben. Dass Sophokles diese Ungereimtheit in Kauf nimmt, zeigt, dass er mit dem Hinweis auf die Windrichtung eine für die dramatische Entwicklung des Stücks relevante Aussage machen lassen will. Vgl. auch 855. 641–644 Philoktet begegnet den Einwänden des Neoptolemos mit zwei sentenzhaften Bemerkungen (641; 643 f.), die mehr Ausdruck seines Wünschens bzw. Befürchtens (und seiner pessimistischen Lebenserfahrung) sind, als dass sie der von Neoptolemos angeführten nautischen ‚Realität‘ gerecht würden. Gleichzeitig ist beides in tragischer Ironie gesagt: Das Wegfahren würde (solange Neoptolemos bei der Intrige bleibt) nicht von dem für Philoktet ‚Schlimmen‘ wegführen, und die ‚Seeräuber‘ sind bereits da. 642 ‚jenen‘: Odysseus und Diomedes, vor denen Philoktet fliehen will. ‚der Wind‘: Im Griechischen steht nur ein Demonstrativpronomen im Plural (‚diese‘ [sc. Witterungsbedingungen]), das sich auf Neoptolemos’ Aussage in v. 640 bezieht. Konkret gemeint ist der Gegenwind. 643 Implizit werden die – wie der ‚Kaufmann‘ sagt – vom griechischen Heer ausgeschickten Abgesandten von Philoktet mit Seeräubern gleichgesetzt.

218

Erstes Epeisodion: 645–655

Ne.

Gut, wenn du meinst, lass uns gehen, wenn du von drinnen 645 geholt hast, was du brauchst und woran du am meisten hängst. Ja, es gibt Dinge, die ich brauche, wenn auch nicht aus vielem (auszuwählen ist). Was ist das, was nicht auf meinem Schiff vorhanden ist? Ein Kraut liegt da für mich bereit, mit dem ich immer am besten diese Wunde beruhige, sodass ich sie ganz ‚zahm‘ mache. 650 Ja, bring es heraus. Was wünschst du sonst noch mitzunehmen? Falls mir einer von diesen Pfeilen versehentlich herausgerutscht ist, damit ich ihn nicht für einen zurücklasse, dass er ihn nehmen kann. Ist das denn der berühmte Bogen, den du jetzt hältst? Ja, kein anderer ist’s, sondern der, den ich in Händen trage. 655

Ph. Ne. Ph. Ne. Ph. Ne. Ph. Νε. Φι. Νε. Φι. Νε. Φι. Νε. Φι.

ἀλλ’ εἰ δοκεῖ, χωρῶµεν, ἔνδοθεν λαβὼν ὅτου σε χρεία καὶ πόθος µάλιστ’ ἔχει. ἀλλ’ ἔστιν ὧν δεῖ, καίπερ οὐ πολλῶν ἄπο. τί τοῦθ’, ὃ µὴ νεώς γε τῆς ἐµῆς ἔπι; φύλλον τί µοι πάρεστιν, ᾧ µάλιστ’ ἀεὶ κοιµῶ τόδ’ ἕλκος, ὥστε πραΰνειν πάνυ. ἀλλ’ ἔκφερ’ αὐτό. τί γὰρ ἔτ’ ἄλλ’ ἐρᾷς λαβεῖν; εἴ µοί τι τόξων τῶνδ’ ἀπηµεληµένον παρερρύηκεν, ὡς λίπω µή τῳ λαβεῖν. ἦ ταῦτα γὰρ τὰ κλεινὰ τόξ’, ἃ νῦν ἔχεις; ταῦτ’, οὐ γὰρ ἄλλ’ ἔστ’, ἀλλ’ ἃ βαστάζω χεροῖν.

645

650

655

645 ἀλλ’] „Assentient“ (GP 16 f.). | εἰ δοκεῖ] eine Formel des Nachgebens, vgl. Fraenkel 1950 zu Aisch. Ag. 944. | χωρῶµεν Hss. : χωροῖς ἂν Jackson – eine Angleichung der Numeri ist nicht nötig, vgl. den folgenden Eintrag. | λαβὼν Hss. : λαβόνθ᾿ Wyttenbach : λαβεῖν Page, Dawe, Lane 2004, 449 : λάβ᾿ οὖν Fröhlich – λαβὼν ist trotz des Wechsels im Numerus zu halten (vgl. die Beispiele und die Diskussion bei Ll.-J./W.1), dem Sprecher schwebt bereits das in σε (646) implizierte ‚du‘ vor. 647 ἀλλ’] Spezialfall des ‚zustimmenden‘ ἀλλά, bei dem der Antwortende auf eine vom Mitunterredner erwähnte Möglichkeit (646) eingeht (GP 20 [7]). | καίπερ] ohne Partizip (GP 486). | ἄπο] vgl. zu 6 (ὕπο), zur Präposition Thukydides 1,110,1 ὀλίγοι ἀπὸ πολλῶν (Jebb). 648 µὴ] zur Negation vgl. K.G. II 185. | ἔπι Auratus : ἔνι Hss. – vgl. Jebb. 650 ἕλκος (Hss.) : ἄλγος Trikl. | πάνυ (Hss.) : πόνου : πόνον Reiske – vgl. Jebb; Eur. Cycl. 646. 651 γὰρ] vgl. zu 161. 652 εἴ µοί : οἴµοι – οἴµοι ist neben ἀπηµεληµένον sinnlos. | τόξων] im Unterschied zu 654 hier ‚Pfeile‘; vgl. Eur. Ion 524 (Jebb) und zu 68. | ἀπηµεληµένον : ἀπηµεληµένων – -ων ist eine durch τόξων τῶνδ’ induzierte Verschreibung. 653 λίπω µή] ~ µὴ λίπω, vgl. zu 12 u. 66– 67. 654 τόξ’ ἃ : τόξα 655–747 Diese Verse fehlen in Hs. S. 655 ἄλλ’ ἔστ’, ἀλλ’ Seyffert : ἄλλ’ ἔσθ’, ἀλλ’ : ἔσθ’, ἀλλ’ : ἄλλα γ᾿ ἔσθ᾿ : ἄλλ’ ἔσθ’ : ἄλλα γ᾿, ἴσθ᾿, Dawe 2003, 104 – Seyfferts Version gibt einen guten Sinn und wird dem Überlieferungsbefund gerecht; vgl. auch Jebb.

Kommentar

219

645–651 Nach Schmidt (1973, 124) steuert Neoptolemos ganz bewusst auf sein Ziel zu, den Bogen. Aber das kann mit Fragen, was Philoktet aus der Höhle (in die er noch einmal gehen wollte, 533 f.) brauche, nicht erreicht werden, da er den Bogen sichtbar bei sich trägt (654 f.). Für Neoptolemos ist die Thematisierung des Bogens ein eher zufälliges Ergebnis, zu dem der Dichter hinleitet, indem er Philoktet sagen lässt, dass er nach einem eventuell in der Höhle vergessenen Pfeil suchen wolle (652 f.). Daraus ergibt sich aber nicht, dass Neoptolemos seine Absicht nicht energisch verfolgen wolle (so aber Steidle 1968, 179). 649 ‚Kraut‘: vgl. Odysseus’ Vermutung v. 44 (Ussher). 650 ‚ganz ‚zahm‘ mache‘: Wie ein Tier, das man zähmt. Vgl. 698, wo vom ‚tierisch-wilden‘ Fuß die Rede ist; vgl. auch zu 9. – Wenn die Lesart richtig ist, will Philoktet mit diesem Rückgriff auf seine positive Erfahrung wohl auch Neoptolemos die Besorgnis nehmen, es könne auf der Fahrt zu Problemen kommen (vgl. Radermacher 1911 z. St.). Vgl. 8–11; 473 f. (mit Komm.); 481– 483. 652 ‚diesen‘: Philoktet zeigt vermutlich auf seinen Köcher, in dem sich die Pfeile befinden. Zu den Pfeilen vgl. auch zu 103–107. ‚versehentlich‘, wörtl.: ‚ganz vernachlässigt‘. 653 Bei diesem ‚einen‘, der sich einen liegen gebliebenen Pfeil nehmen könnte, denkt Philoktet womöglich an Odysseus, von dem er nun weiß, dass er auf die Insel kommen wird (634). 654 Die Erwähnung der Pfeile nutzt Neoptolemos, um nach dem dazugehörigen Bogen zu fragen. Seine Frage kann man als moralisch problematisch ansehen („disingenious“, Schein), da Neoptolemos weiß, dass dies der Bogen ist, den er beschaffen soll, aber sie entspricht seiner der Intrige verpflichteten Taktik, wie er sie auch bei seiner angeblichen Unkenntnis der Person Philoktets angewendet hat (250). 655 ‚in Händen‘: Vom Bogen in der Hand (oder: ihn nicht in der Hand halten zu können) ist häufig die Rede (1004 f.; 1109 f.; 1125 f.; 1128 f.; ⟨1134⟩; 1150 f.; 1287; 1292; vgl. auch 1301). Denn den Bogen zu halten ist gleichbedeutend mit dessen Besitz und verleiht auch dessen Besitzer Macht.

220

Erstes Epeisodion: 656–666

Ne.

Darf ich ihn auch aus der Nähe betrachten, ihn anfassen und wie einen Gott verehren? D i r, mein Sohn, wird dies und anderes aus meinem Besitz, was immer dir Nutzen bringt, zu Gebote stehen. Gewiss, danach verlangt es mich! Aber mit meinem Verlangen 660 halte ich es so: Wenn heiliges Recht es mir erlaubt, möchte ich es, wenn nicht, so lass es. Du sagst, was den Göttern gefällt, und, mein Sohn, heiliges Recht erlaubt es dir, der du dieses Sonnenlicht mir zu schauen gewährt hast, nur du allein, der das Land am Öta-Gebirge zu sehen, der den alten Vater, der die Freunde; der du, als ich meinen 665 Feinden unterlegen war, mich aufgerichtet hast, jenseits ihrer Macht.

Ph. Ne.

Ph.

Νε. Φι. Νε. Φι.

ἆρ’ ἔστιν ὥστε κἀγγύθεν θέαν λαβεῖν καὶ βαστάσαι µε προσκύσαι θ’ ὥσπερ θεόν; σοί γ’, ὦ τέκνον, καὶ τοῦτο κἄλλο τῶν ἐµῶν, ὁποῖον ἄν σοι ξυµφέρῃ, γενήσεται. καὶ µὴν ἐρῶ γε· τὸν δ’ ἔρωθ’ οὕτως ἔχω· εἴ µοι θέµις, θέλοιµ’ ἄν· εἰ δὲ µή, πάρες. ὅσιά τε φωνεῖς ἔστι τ’, ὦ τέκνον, θέµις, ὅς γ’ ἡλίου τόδ’ εἰσορᾶν ἐµοὶ φάος µόνος δέδωκας, ὃς χθόν’ Οἰταίαν ἰδεῖν, ὃς πατέρα πρέσβυν, ὃς φίλους, ὃς τῶν ἐµῶν ἐχθρῶν µ’ ἔνερθεν ὄντ’ ἀνέστησας πέρα.

660

665

656 ἔστιν ὥστε] ~ fierine potest, ut …? (K.-G. II 12 Anm. 9). 657 µε Hss. : σφε oder τε Blaydes – µε ist syntaktisch nicht notwendig (und das Objekt leicht zu ergänzen), aber es geht darum, dass N e o p t o l e m o s den Bogen anfassen darf. 659 ξυµφέρῃ (Hss.) : συµφέρον : ξυµφέροι – ein Iterativ ist hier sinnvoller als ein Potentialis. 660 καὶ µὴν] zum Ausdruck der Zustimmung (GP 353 f.). 661 εἴ … εἰ δὲ µή] Schein ergänzt jeweils εἴη, aber eine indefinite Protasis ist dem Tenor angemessener. | µοι Hss. : µὲν Reiske – zum Fehlen von µέν vgl. zu 633. 662 ὅσιά … θέµις] vgl. zu dieser Verbindung El. 432 f. 663 ὅς γ’] limitativ und kausal (GP 141 f.). | τόδ’ : τότ : τό γ᾿ 666 µ’ : Ø | πέρα Hss. : µ᾿ ὕπερ Burges : (ἀναστήσας) πάρει Jebb (ursprünglich) – πέρα ist Präposition zu ἐχθρῶν wie ἔνερθεν: „thou hast lifted me up, (placing me) beyond their reach“ (Jebb).

Kommentar

221

656–657 Auch wenn Neoptolemos dem Intrigenplan folgt, ist damit nicht ausgeschlossen, dass er aufrichtige Scheu und echte Verehrung gegenüber dem Bogen empfindet, der dem vergöttlichten Herakles gehörte und den man sich vielleicht auch schon zur Zeit des Sophokles als von Apollon stammend gedacht hat (vgl. zu 198); vgl. Alt 1961, 156, anders Schmidt 1973, 125. Die Herkunft des Bogens von Herakles erklärt jedenfalls, warum Neoptolemos ihn wie einen Gott verehren will. Wie man sich die Verehrung des Bogens konkret vorstellen sollte (im Griechischen proskyneō, vgl. zu 533), ob nur verbal oder mit körperlichem Ausdruck, muss offenbleiben (vgl. Schein). 658–659 Philoktet hat volles Vertrauen zu Neoptolemos gefasst und verspricht ihm jetzt gerade den ‚Vorteil‘ (vgl. 112–120), den er durch seinen Trug zu erlangen sucht. D. h., Philoktet trägt wiederum unwissentlich zum Erfolg der Intrige bei. Vgl. auch zu 639–646. 660–661 Neoptolemos äußert sich hier so, wie es von ihm zu erwarten gewesen wäre, bevor er sich auf den Trug eingelassen hat (86 ff.). Ist diese Haltung echt (Webster; vgl. auch Ussher), oder spielt er seine Rolle nur allzu gut (Kamerbeek)? Neoptolemos müsste im Sinne der Intrige überhaupt nichts sagen, er bräuchte nur die Realisierung der von Philoktet gegebenen Erlaubnis (658 f.) abzuwarten, besonderer Raffinesse bedarf es in dieser Situation nicht. Aber Neoptolemos ist offenbar durch die Möglichkeit, den ‚göttlichen‘ Bogen anfassen zu dürfen, derart bewegt, dass er seiner wahren Natur folgt: vielleicht ein Indiz, dass sie durch das Befolgen der Anweisungen des Odysseus lediglich überdeckt ist. 661 ‚heiliges Recht‘: Gemeint ist göttlich sanktioniertes Recht (themis) im Unterschied zu bloß menschlicher Konvention, vgl. auch die Antwort Philoktets (662). ‚so lass es‘: Für den Fall, dass es nicht ‚heiligem Recht‘ entspricht (dass Neoptolemos den Bogen in die Hand nimmt), solle Philoktet sein Angebot nicht weiterverfolgen. 662–666 Hoch emotional erklärt es Philoktet für heiliges Recht, dass Neoptolemos den Bogen anfasst, und begründet dies in fünf asyndetisch aneinandergereihten Relativsätzen, welche die Wohltaten auflisten, die ihm Neoptolemos (vermeintlich) gewährt. Zugleich wird jedoch Neoptolemos die Differenz zwischen dem Intrigenplan und dem, was Philoktet aufgrund der Zusage von ihm eigentlich erwarten kann, deutlich gemacht. Und es ist bittere Ironie, wenn Philoktet die Vorzugsbehandlung des Neoptolemos, dass er als einziger Mensch diesen Bogen in die Hand nehmen darf, damit begründet, dass auch er selbst ihn durch eine (reale) Wohltat erworben habe (667–670). 663 ‚Sonnenlicht zu schauen‘: d. h. zu leben statt unter den Bedingungen auf Lemnos vom Tod bedroht zu sein; vgl. Jebb. 664 ‚Land am Öta-Gebirge‘: vgl. zu 453. 665 ‚alten Vater‘: Zur Vorstellung, dass der Vater noch lebt, vgl. 1371 (anders 492–494; 1210 f.). Vgl. zu 492; 1211. 666 ‚Feinden‘: sc. die Atreus-Söhne und Odysseus, die Philoktets, wenn er wieder zu Hause ist, nicht mehr habhaft werden können.

222

Erstes Epeisodion: 667–671

Nur zu, dieser Bogen wird für dich da sein, ihn zu halten, ihn dem Geber zurückzugeben und dich zu rühmen, dass du allein unter den Sterblichen deines Edelmutes wegen ihn angefasst hast; denn auch ich selbst habe ihn durch eine Wohltat erworben. 670 ⟨Ne.⟩ Ich bin sehr froh, dich getroffen und als Freund gewonnen zu haben. θάρσει, παρέσται ταῦτά σοι καὶ θιγγάνειν καὶ δόντι δοῦναι κἀξεπεύξασθαι βροτῶν ἀρετῆς ἕκατι τῶνδ’ ἐπιψαῦσαι µόνον· εὐεργετῶν γὰρ καὐτὸς αὔτ’ ἐκτησάµην. ⟨Νε.⟩ οὐκ ἄχθοµαί σ’ ἰδών τε καὶ λαβὼν φίλον.

670

667 θάρσει, παρέσται] begründendes Asyndeton (K.-G. II 344 δ).   | ταῦτά] Nominativ; zu θιγγάνειν, das immer den Genitiv regiert, ist αὐτῶν zu ergänzen. 668 καὶ δόντι δοῦναι Hss. : καὶ στόµατι δοῦναι Musgrave : καὶ δόντι σῶσαι Schubert : † καὶ δόντι δοῦναι † Dawe – vgl. Komm. u. Jebb. | κἀξεπεύξασθαι Hss. : καί σ᾿ ἐπεύξασθαι Blaydes – die Einfügung eines σε würde den Bezug von µόνον (669) erleichtern, ist aber dafür nicht notwendig; vgl. zu 669. 669 ἕκατι] in der Tragödie übliche dorische Form für ἕκητι. | µόνον Hss. : µόνῳ Nauck – die Ergänzung des Infinitivs muss nicht mit σοι (667) und δόντι (668) kongruieren (K.-G. II 25). 671–673 Diese Verse hat Doederlein Neoptolemos zugeteilt, die Hss. geben sie Philoktet, vgl. Komm. und bes. Jebb. Allan 2012 plädiert dagegen für die überlieferte Sprecherzuteilung; dabei glaubt sie, οὐκ (671) zu οὐδ᾿ ändern zu sollen, was jedoch in ihrer Deutung („In no way“, S. 292) das Asyndeton nicht beseitigt. Eine ausführliche Widerlegung der These von Allan bietet Finglass 2014.

Kommentar

223

667 ‚halten‘, wörtl. ‚berühren‘, aber im durativen Infinitiv Präsens gesagt, wodurch ein dauerhafter Kontakt ausgedrückt ist. 668 ‚dem Geber zurückzugeben‘: Im Kontext ist von ‚halten‘ bzw. ‚anfassen‘ die Rede (667; 669), und solange er Neoptolemos völlig vertraut, hat Philoktet eigentlich kein Motiv, die Selbstverständlichkeit auszusprechen, dass er den Bogen auch zurückbekommen möchte. Aber das ist kein Grund, den Text zu ändern oder für korrupt zu erklären (vgl. TS), sondern Sophokles lässt Philoktet so (ohne dass dieser die Relevanz kennen kann) für Neoptolemos (und die Zuschauer) das zentrale Problem artikulieren. Dramentechnisch ist damit die Entwicklung des Konflikts vorbereitet. ‚allein‘: sc. außer (dem Besitzer) Philoktet. Wenn man von Apollon absieht (vgl. zu 198), hatten bisher nur Herakles und Philoktet den Bogen in der Hand. 669 ‚Edelmutes‘: Griechisch aretē, womit das ‚Gut-Sein‘ bzw. ‚Herausragen‘ in jeder Hinsicht bezeichnet werden kann, bei Menschen z. B. ‚Tugend‘, aber etwa auch von Sachen; hier ist gemeint, dass Neoptolemos so ‚gut‘ ist, es auf sich zu nehmen, Philoktet (wie er glaubt) nach Hause zu bringen. In diesem Drama wird das Wort sonst nur noch von Herakles verwendet, der über seine eigene aretē spricht (1420) und auch die des Philoktet würdigt (1425). ‚angefasst hast‘: Der Zusammenhang ist futurisch (667), Neoptolemos wird sich einmal rühmen können, den Bogen angefasst zu haben. Die Möglichkeit dazu ergibt sich erst, als Philoktet einen Anfall seiner Krankheit erleidet (763 ff.), hier wird noch kein Zeitpunkt angegeben. 670 Philoktet hat die Waffen des Herakles erhalten, weil nur er es über sich brachte, dessen Scheiterhaufen anzuzünden; vgl. 801–803 mit Komm. 671–673 Nach der Überlieferung spricht diese Verse Philoktet, sie werden aber mit Recht durchweg Neoptolemos zugewiesen. Sie passen als Aussage Philoktets über Neoptolemos nicht; denn nicht der hat Gutes erfahren, sondern Philoktet, wie er glauben soll (663–666), und die Ankündigung, dass Neoptolemos den Bogen anfassen darf, ist – als Reaktion Philoktets – eben das gute Handeln (672), das nur Neoptolemos so benennen kann. Im Übrigen ist es unwahrscheinlich, dass Neoptolemos die emotionalen Worte Philoktets nur mit einem bloßen ‚Geh bitte hinein‘ (674 a) beantwortet hätte, und dürfte Philoktet kaum selbst ein Wortspiel mit seinen Namen machen (vgl. zu 673). Neoptolemos ist in einer schwierigen Situation. Das überwältigende Vertrauen, das Philoktet ihm entgegenbringt, könnte der Beginn einer echten gegenseitigen Freundschaft sein, aber die Basis der Freundschaft Philoktets ist die Intrige, aus der Neoptolemos nicht ohne Eingeständnis seiner wahren Absichten herauskommen kann, sodass nicht klar ist, inwieweit seine freudigen Worte ehrlich gemeint sind. 671 ‚Ich bin sehr froh‘, wörtl. ‚ich fühle mich nicht belastet‘ / ‚es ist mir nicht unangenehm‘: Aber das ist vermutlich nicht als zurückhaltende Formulierung (als „stiffness of ἀπορία [Ratlosigkeit]“, so Kamerbeek), sondern als verstärkende Litotes zu verstehen („I rejoice“, Jebb; vgl. auch Schein). ‚gewonnen‘: Zwar wird dasselbe Wort gebraucht (labein) wie in den vv. 101, 103 und 107, wo es den Sinn hat ‚in seine Gewalt bekommen‘, aber dass

224

Erstes Epeisodion: 672–675 / Stasimon

Denn wer, wenn ihm Gutes widerfuhr, gut zu handeln weiß, erweist sich als ein Freund, besser als jeglicher Besitz. Geh bitte hinein. Ph. Auch dich will ich mit hineinführen; denn die Krankheit verlangt, dich als Beistand mitzunehmen. 675 Philoktet und Neoptolemos gehen in die Höhle. ὅστις γὰρ εὖ δρᾶν εὖ παθὼν ἐπίσταται, παντὸς γένοιτ’ ἂν κτήµατος κρείσσων φίλος. χωροῖς ἂν εἴσω. Φι. καὶ σέ γ’ εἰσάξω· τὸ γὰρ νοσοῦν ποθεῖ σε ξυµπαραστάτην λαβεῖν.

675

Es folgt das Stasimon des Chors (676–729), Text mit Einzelkommentierung ab S. 226.

673 γένοιτ’ ἂν] urbane Ausdrucksweise für eine an sich gewisse Tatsache (K.-G. I 233, 3). 674 χωροῖς ἂν] Optativ mit ἄν als mildere (oder auch, wie 1222, schärfere) Form der Aufforderung (K.-G. II 233 f., 4). | καὶ … γ’] vgl. GP 157. | τὸ γὰρ] zu τὸ γὰρ am Versende vgl. Dik 2007, 212 f. 674–675 τὸ … νοσοῦν] zum substantivierten neutralen Partizip bei Sophokles vgl. Moorhouse 149.

Kommentar

225

auch hier diese Bedeutung als Nebensinn evoziert werden sollte (so Tarrant 1986, 132 Anm. 13), ist vom Zusammenhang her nicht sehr wahrscheinlich; vgl. auch 675 (labein in der Bedeutung ‚mitnehmen‘). 672 Zur Interpretation vgl. Komm. zu 671–673; vgl. Jebb. 673 ‚Freund, … Besitz‘: Mit ‚Freund‘ (philos) und ‚Besitz‘ (ktēma) wird auf die Bestandteile des Namens ‚Philo-ktetes‘ angespielt, der sich als ‚Freund des Besitzes‘ verstehen lässt (vgl. aber Einf. S. 6 Anm. 14). Der ‚Freund des Besitzes‘ erweist sich für Neoptolemos als ein besserer Freund als jeglicher Besitz. Es ist vielleicht kein Zufall, dass in v. 670 vom Bogen als Besitz Philoktets die Rede war (‚erworben‘ = ektēsamēn, von demselben Wortstamm wie ktēma). Vgl. bes. Daly 1982, 440–442. Neoptolemos’ Sentenz enthält eine Wahrheit, dient aber zugleich der Intrige, indem er hier den sozialen Wert der Freundschaft höherstellt als die tatsächlich intendierte Inbesitznahme des Bogens (vgl. Schein). 674 ‚Geh bitte hinein‘: Neoptolemos kommt auf seine Aufforderung in den vv. 645 f. zurück. 675 Philoktet will Neoptolemos als ‚Beistand‘ haben, dem er vertraut, für Odysseus war Neoptolemos ‚Helfer‘ (93). Vgl. Strohm 1986, 117 Anm. 28. 676–729 Stasimon Dieses Chorlied ist das einzige regelrechte Stasimon im Philoktet, ein ‚Standlied‘, das der in der Orchestra ‚aufgestellte‘ Chor singt, wobei er Tanzbewegungen vollführt. Im überlieferten Text des Chorlieds gibt es etliche Korruptelen (vgl. TS), sodass bei der Rekonstruktion manches unsicher bleiben muss. Das Lied besteht aus zwei Strophenpaaren, von denen das erste und die Strophe des zweiten (676–717) das bisherige leidvolle Dasein Philoktets zum Thema haben, dem in der zweiten Gegenstrophe (718–729) die Aussicht auf die durch Neoptolemos möglich gewordene, rettende Heimkehr gegenübergestellt wird. – Das etwa in der Mitte des Dramas stehende Stasimon beginnt mit einer mythologischen Anspielung auf Ixion, dessen selbst verschuldete Qual zu dem bisherigen, unverdienten Leiden Philoktets einen Kontrast bildet, und endet mit einem Verweis auf die Vergöttlichung des Herakles, wodurch die Lösung am Schluss vorbereitet wird (vgl. Davies 2001). Die Gegenstrophe 2 mit ihrer – angesichts des aktuellen Kenntnisstands des Chors – unwahren Ankündigung steht im Dienst der vom Chor unterstützten Intrige. Die vorausgehenden Strophen scheinen auf den ersten Blick dazu nicht zu passen. Zwar äußert der Chor nicht ausdrücklich Mitleid (wie 169), aber er gibt eine mitfühlende Beschreibung der langjährigen unverdienten Leiden Philoktets, wobei sein Staunen über dessen Durchhaltevermögen, (von einer Übertreibung abgesehen; vgl. zu 715–717) zugleich dem Zuschauer ein plastisches Bild von Philoktets Leben auf Lemnos vermittelt. Mit einem solchen Mitfühlen hinsichtlich dessen, was Philoktet in der Vergangenheit erdulden musste, ist die Intrige, die Philoktet eine große Zukunft verheißt, letztlich durchaus vereinbar; der Chor zeigt damit eine konsistente Haltung (vgl. Tarrant 1986, 125; Pucci, S. 241, und auch Komm. zu 169).

226

Stasimon: 676–683

Ch.

Als Geschichte habe ich es gehört, aber gesehen nicht, Strophe 1 676 wie den, der sich einst genähert hat dem Bett des Zeus {Ixion}, indem er ihn auf ein sich drehendes Rad band, ergriffen hat der allmächtige Sohn des Kronos. 680 Aber von keinem anderen Sterblichen weiß ich, vom Hören oder 681/2 Sehen, dass er auf ein verhassteres Geschick traf als dieser hier,

Χο.

λόγῳ µὲν ἐξήκουσ’, ὄπωπα δ’ οὐ µάλα, τὸν πελάταν λέκτρων ποτὲ τῶν Διὸς {Ἰξίονα}κατ’ ἄµπυκα δὴ δροµάδα δέσµιον ὡς ἔλαβεν παγκρατὴς Κρόνου παῖς· ἄλλον δ’ οὔτιν’ ἔγωγ’ οἶδα κλυὼν οὐδ’ ἐσιδὼν µοίρᾳ τοῦδ’ ἐχθίονι συντυχόντα θνατῶν,

στρ. αʹ 676

680 681/2

676–680 Im tradierten Text ist keine Responsion zu den korrespondierenden vv. 691–695 gegeben, deren Text im Wesentlichen intakt zu sein scheint (vgl. die Bemerkungen dort). Mit der vorliegenden Textgestaltung wird versucht, die fehlende Responsion mit möglichst geringen Änderungen herzustellen. 677 πελάταν Hss. : πελάταν ⟨ὑπάτων⟩ West | λέκτρων Hss. : λέκτρων ⟨σφετέρων⟩ Ll.-J./W.   | ποτὲ τῶν Διὸς Porson : ποτὲ τοῦ Διὸς Trikl. : ποτὲ Διὸς (Hss.) – das Metrum erfordert zwischen ποτὲ und Διὸς eine Länge; τῶν akzentuiert, dass es sich um das B e t t (die Ehe) des Zeus handelt. 677–678 Διὸς {Ἰξίονα} : {Διὸς Ἰξίονα} Ll.-J./W. (die ποτὲ κατ᾿ ἄµπυκα lesen) : {Διὸς} Stinton 1977, 132 f. (der ποτὲ δέσµιον Ἰξίον᾿ ἐπ᾿ ἄµπυκα … ἔβαλεν liest) – Διὸς dürfte zu halten, Ἰξίονα zu tilgen sein, vgl. Komm. und TS zu 678. 678 {Ἰξίονα} Erfurdt – da Sophokles auch sonst ohne Namensnennung auf mythische Gestalten anspielt (Ant. 133 [Kapaneus]; 966–987 [Kleopatra]; vgl. Jebb) und man ohne eine Tilgung nicht auskommt, bietet sich die des Namens an, der als erklärende Randnotiz eingedrungen sein dürfte. | κατ᾿ Hss. : ἀν᾿ Dindorf | ἄµπυκα Hss. : ἄντυγα Musgrave | δὴ] emphatisch bei Substantiven (GP 213 f.), hier das Außerordentliche von Zeus’ Vorgehen betonend. | δροµάδα Hss. : δροµάδ’ ⟨Ἅιδου⟩ Ll.J./W.   679 ἔλαβεν Vater : ἔλαβ᾿ ὁ (Hss.) : ἔβαλεν Schneidewin – benötigt wird ⏑ ⏑ ‒ (vgl. 694); meist entscheidet man sich für ἔβαλεν (ohne ὁ), aber βάλλειν (τινὰ) κατά (τι) heißt, wie oft bei Homer, ‚jemanden an etwas treffen‘, sodass ἔλαβεν die wahrscheinlichere Lösung ist. 682 κλυὼν West 1984, 172 ff. : κλύων Hss. | ἐσιδὼν Wakefield : ἐσίδων : ἐσ(σ)ίδον oder ἐ(ι)σεῖδον (Hss.) 683 τοῦδ’] ~ ἢ τόνδε, zur Art des Vergleichs vgl. zu 597. | θνατῶν] in weiter Sperrung zu ἄλλον δ’ οὔτιν’ (681).

Kommentar

227

Das Lied ist so konzipiert, dass es Philoktet als Ganzes hören könnte – die vv. 676–717 würden ihn durch die Anerkennung seines ungerechten Leidens für den Chor einnehmen und hätten so ebenfalls eine Funktion innerhalb der Intrige –, aber der Chor nennt Philoktet in der dritten Person, und es entspricht der dramaturgischen Wahrscheinlichkeit, dass die Zuschauer Personen, die sie nicht sehen, auch nicht als Adressaten empfinden, es sei denn, es gibt ein ausdrückliches Signal, dass man im hinterszenischen Raum etwas gehört hat (wie 1261–1264). Da die Gegenstrophe 2 aber zumindest mit ihrer falschen Ankündigung der bevorstehenden Heimfahrt unmittelbar im Dienst der Intrige steht, wäre sie in ihrer Wirkung beeinträchtigt, wenn Philoktet hier den Chor nicht hörte (vgl. im Einzelnen zu 718–729). Eine zweite – dem Chor unbewusste – Bedeutungsebene der Gegenstrophe 2 ist damit nicht völlig ausgeschlossen, zumal mit dem Hinweis auf Herakles eine Verbindung zum Ende des Stücks hergestellt wird: Philoktet wird letzten Endes (ohne Neoptolemos’ Hilfe) heil nach Hause kommen (vgl. Schein, S. 228 f., und Komm. zu 720–721). 676–705 In Strophe 1 stellt der Chor zunächst dem schuldigen und gegen Zeus undankbaren Ixion (vgl. zu 676–680), der zu Recht leidet, den unverdient leidenden Philoktet (676–686) gegenüber. Der zweite Teil der Strophe 1 (687– 690) bildet mit der Gegenstrophe 1 eine gedankliche Einheit: Der Chor staunt, wie Philoktet sein Leben führen konnte, einsam, ohne jede Hilfe, von Schmerzen geplagt, aufgrund seiner Behinderung unter schwierigsten Bedingungen. 676–680 Gemeint ist Ixion, König der Lapithen oder Phlegyer (dessen Name ursprünglich nicht im Text stand; vgl. TS). Er war der erste, der einen Verwandten ermordete (seinen Schwiegervater Eïoneus), jedoch von Zeus entsühnt wurde, dessen Frau Hera er dann nachstellte, aber Zeus täuschte ihn durch eine ihr nachgebildete Wolke, und Ixion zeugte mit ihr den ersten Kentauren. Zur Strafe für sein Verhalten wurde Ixion auf ein Rad gebunden; so lässt sich seine Geschichte aus Pherekydes (FGrHist / BNJ 3 F 51 b) und Pindar (Pythien 2,21–48), den hauptsächlichen vorsophokleischen Zeugnissen, zusammenstellen. 677 ‚dem Bett des Zeus‘: Gegen die Echtheit der namentlichen Erwähnung des ‚Sohnes des Kronos‘ scheint zu sprechen, dass dieser am Satzende als Subjekt fungiert, sodass man hier statt des Namens eher ein Pronomen erwarten würde (so auch eine Konjektur; vgl. TS). Aber abgesehen von der dafür erforderlichen starken Textänderung benennt der Chor ihn als den vom Frevel Betroffenen, der mit ‚Bett des Zeus‘ stärker hervorgehoben wird, als das bei ‚seinem Bett‘ der Fall wäre; vgl. (mit etwas anderer Erklärung) auch Schein. 678–679 ‚indem er … band‘, wörtl. ‚auf ein sich drehendes Rad gebunden‘ (ergriffen hat): ‚gebunden‘ nimmt vorweg, was aus dem Ergreifen folgt. 678 ‚Rad‘: Die Grundbedeutung des Wortes ist ‚Stirnband‘, übertragen hier ‚Radkranz‘, ‚Rad‘. 680 ‚Sohn des Kronos‘: Nach Hesiod war der Titan Kronos ein Sohn der Gaia (Erde) und des Uranos (Himmel). Seine Kinder, die Kroniden (Hestia, Demeter, Hera, Hades, Poseidon, Zeus), stammen aus der Verbindung mit seiner Schwester Rheia (Hesiod, Theogonie 126–138; 453–458).

228

Stasimon: 684–692

der weder einem etwas getan noch weggenommen hat, sondern als ein gerechter Mann unter Gerechten dabei war, so unverdient zugrunde zu gehen. Darüber ⟨indes⟩ hat mich ein Staunen ergriffen, wie er denn, wie denn, allein mit dem ringsum anschlagenden Geräusch der Brandung, wie er nur das so tränenreiche Leben meisterte; wo er nur selbst sein Nachbar war, unfähig zu gehen und ohne einen Einheimischen, der ihm nahestünde im Leid, ὃς οὔτε τι ῥέξας τιν’ οὔτε νοσφίσας, ἀλλ’ ἴσος ἐν ἴσοις ἀνήρ, ὤλλυθ’ ὧδ’ ἀναξίως. τόδε ⟨δ᾿ αὖ⟩ θαῦµά µ’ ἔχει, πῶς ποτε, πῶς ποτ’ ἀµφιπλήκτων ῥοθίων µόνος κλύων, πῶς ἄρα πανδάκρυτον οὕτω βιοτὰν κατέσχεν· ἵν’ αὐτὸς ἦν πρόσουρος, οὐκ ἔχων βάσιν, οὐδέ τιν’ ἐγχώρων κακογείτονα,

685

690 a 690 b

Gegenstrophe 1

685

690 a 690 b ἀντ. αʹ

684 οὔτε τι ῥέξας (τιν’) Eustathios II 756,16 van der Valk : οὔτ᾿ ἔρξας τιν’ Hss. : οὔ τι ῥέξας οὔτιν᾿ Bergk (Dawe, Willink 2003, 95) | οὔτε Hss. : οὔ τι Schneidewin – die (mutmaßliche) Nebenüberlieferung bei Eustathios ist die einfachste Lösung (trotz der Längung τῑ vor ῥ-, was beim Indefinitpronomen nicht ausgeschlossen scheint); denn ῥέζειν / ἔρδειν τινά brauchen ein sachliches Objekt (vgl. zum Ganzen Ll.-J./W.1+2). Mit Schneidewins οὔ τι ergibt sich der offenbar intendierte iambische Rhythmus am Versanfang nicht. Bergks Lösung vermeidet die Längung von τῑ, aber mit stärkerer Änderung der Überlieferung. 685 ἐν Hss. : ἔν γ᾿ Hermann : ὢν F. Schultz – ἴσος ἐν ἴσοις ist sprichwörtlich, vgl. Renehan 1992, 371 (zu 684). 687 ⟨δ᾿ αὖ⟩ Hermann : ⟨τοι⟩ Dindorf : ⟨µὰν⟩ Ll.-J./W. – eine Länge fehlt zur Responsion mit v. 702; für Hermanns Lösung spricht, dass sich der Ausfall von δ᾿ αὖ als Haplographie der Buchstabenfolge ΔΑΥΘΑΥ(ΜΑ) erklären lässt. | θαῦµά µ’ ἔχει Hermann : θαῦµ᾿ ἔχει µε Hss. – Hermanns Konjektur ergibt den erforderlichen Choriambus (vgl. 702 -λυόµενος). 688 πῶς ποτε, πῶς ποτ’] vgl. 175 f. 688–689 ἀµφιπλήκτων Hss. : ἀµφιπλάκτων Erfurdt – vgl. Björck 1950, 240. 689 κλύων : κλύζων : κλυζόµενος – nur κλύων ist mit dem Subjekt Philoktet sinnvoll. 690 a ἄρα] bei einer (indirekten) Frage „add[s] liveliness to the question“ (GP 39 f.). 691 πρόσουρος Hss. : πρόσουρον (zu βάσιν) Bothe – der überlieferte Text ist „far more forcible“ (Jebb). 692 κακογείτονα] ~ „κακῶν (or κακοῖς) γείτονα“ (Jebb); die Bedeutung ‚schlechter Nachbar‘ (Kallimachos, DemeterHymnos 118) gäbe hier keinen Sinn.

Kommentar

229

684 Er hat weder etwas getan (nicht wie Ixion gemordet) noch etwas weggenommen (wie Ixion, der Zeus dessen Gattin Hera wegnehmen wollte). 685 ‚ein gerechter Mann unter Gerechten‘: Eine sprichwortartige Aussageweise, bei der nicht an bestimmte andere Gerechte gedacht sein muss; vgl. zu diesem Verständnis Renehan 1992, 371. Es ist aber auch möglich, dass der Ausdruck bedeutet ‚ein gerechter Mann in den Augen (im Urteil) von Gerechten‘. Vgl. OT 677; Schein. 686 ‚dabei war, … zugrunde zu gehen‘: Imperfekt wie v. 252. Es wird das fortwährende Zugrundegehen bezeichnet, dem Philoktet die ganzen Jahre ausgesetzt war. – Mit ‚unverdient‘ wird noch einmal hervorgehoben, dass ihn keinerlei Schuld trifft. 688–689 ‚allein … Brandung‘; wörtl. ‚als er allein (in seiner Einsamkeit) die ringsum anschlagende Brandung hörte‘: Der Sinn ist, dass er nichts anderes als die Brandung hören konnte. 690 b ‚meisterte‘, im Sinn von ‚in seiner Gewalt hatte‘, ‚im Griff hatte‘ (katechein), sodass es ihm nicht entglitt; vgl. Jebb. 691 ‚nur selbst sein Nachbar‘: Ein Oxymoron. Vgl. Lukian, Timon 43: „den Göttern soll er allein opfern und das Opfermahl essen als sein eigener Haus- und Grenznachbar“. – Er konnte die Situation nicht ändern, da er sich nicht auf die Suche nach anderen Menschen begeben konnte. Es gab aber auch niemanden, der sich um ihn kümmern konnte (692), die Insel wird als ‚menschenleer‘ vorgestellt (2). 692 ‚der ihm nahestünde im Leid‘, wörtl.: ‚ein Nachbar zu seinen Übeln‘ (kakogeitōn).

230

Stasimon: 693–704

bei dem er sein Stöhnen – eines, das Erwiderung fände –, ⟨das⟩ blutig verschlingende, hätte weinend hervorbringen können; 695 niemand, der den brennendheißen Blutstrom, hervorquellend aus 696/7 der Wunde des ‚tierisch-wilden‘ Fußes, mit lindernden Kräutern hätte stillen können, falls ihn ein ⟨Verlangen⟩ überkäme, eines von der nährenden Erde zu pflücken. 700 Und er kroch dann bald hier-, bald dorthin, sich fortschleppend wie ein Kind ohne seine Amme, dorthin, wo eine leichte Möglichkeit gegeben wäre, παρ’ ᾧ στόνον ἀντίτυπον ⟨τὸν⟩ βαρυβρῶτ’ ἀποκλαύσειεν αἱµατηρόν· οὐδ’ ὃς{τὰν}θερµοτάταν αἱµάδα κηκιοµέναν ἑλκέων ἐνθήρου ποδὸς ἠπίοισι φύλλοις κατευνάσειεν, εἴ τις ἐµπέσοι ⟨πόθος⟩ φορβάδος {ἔκ} τι γᾶς ἑλεῖν. εἷρπε δ’ ἄλλοτ’ ἀλλ⟨αχ⟩ᾷ τότ’ ἂν εἰλυόµενος, παῖς ἄτερ ὡς φίλας τιθήνας, ὅθεν εὐµάρει’ ὑπάρ-

695 696/7 700

693–695 στόνον … αἱµατηρόν] vgl. Eur. El. 752 φόνιον οἰµογὴν κλύω, Aisch. Sept. 348 (Pucci). 693 ἀντίτυπον Hss. : ἀντίτυπον ⟨νόσον⟩ Ll.-J./W. – vgl. Komm. zu 694. 694 ⟨τὸν⟩ βαρυβρῶτ’ Dain : βαρυβρῶτ’ Hss. – ⟨τὸν⟩ stellt Responsion zu v. 679 her; der zu στόνον (693) appositive Ausdruck βαρυβρῶτ’ … αἱµατηρόν (694 f.) wird so betont. | ἀποκλαύσειεν (ebenso κατευνάσειεν, 699)] zum Modus vgl. zu 281–282. 696 οὐδ’ Hss. : {οὐδ’} Hermann | {τὰν} Erfurdt – durch die Tilgung ergibt sich die Responsion mit v. 681/2, dessen Überlieferung keinen Anstoß bietet. 698 ἐνθήρου Hss. : ἐµπήρου Vauvilliers – vgl. Komm. | φύλλοις : φύλλοισι – φύλλοισι ist eine unmetrische Anpassung an ἠπίοισι. 699 εἴ τις ἐµπέσοι ⟨πόθος⟩ Jackson : εἴ τις ἐµπέσοι (Hss.) : οὐδ᾿ εἴ τις ἐµπέσοι : ⟨σπασµὸς⟩ oder ⟨σεισµὸς⟩ εἴ τις ἐµπέσοι Dawe – s. ETS, S. 441 f. 700 {ἔκ} τι Stinton 1977, 135 : ἔκ τε Hss. : ἔκ τι Hartung – da für das Verb ein Objekt nötig ist und, wenn man im respondierenden v. 685 den überlieferten Text hält, in v. 700 eine Silbe zuviel überliefert ist, muss ἔκ getilgt werden und kommt nur Stintons τι in Frage; vgl. auch Ll.-J./W.1 zu v. 683. | γᾶς ἑλεῖν] bloßer Genitiv der durch φορβάδος gleichsam personifizierten Erde; vgl. Stinton 1977, 134 mit Verweis z. B. auf OT 1022 δῶρον … τῶν ἐµῶν χειρῶν λαβών. | ἑλεῖν Hss. : ἑλών Turnebus – vgl. zu 699 (ETS, S. 441 f.). 701 εἷρπε Bothe : ἕρπει Hss. – εἷρπε ist metrisch und wegen ἂν (702) notwendig. | δ’ Hermann : γὰρ Hss. : Ø Trikl. : (εἷρπ᾿) ἂν Stinton 1977, 135 – γὰρ passt nicht in das durch v. 687 vorgegebene Lekythion, ein mit δέ markierter Neueinsatz nach Subjektswechsel ist ἂν vorzuziehen. | ἀλλ⟨αχ⟩ᾷ Campbell : ἀλλὰ γὰρ od. ἄλλῃ Trikl. : ἄλλᾳ Hss. – zur Responsion mit v. 687 fehlt eine Silbe. 702 τότ’ Hss. : πόδ᾿ Seyffert – (εἷρπε) τότ’ ἂν (Iterativ, K.-G. I 211 f.) korrespondiert mit ἁνίκ’ ἐξανείη (705). 704 ὅθεν (Hss.) : ἔνθεν – metrisch sind zwei kurze Silben erforderlich. | ὑπάρχοι : ὑπάρχει (Hss.) – zum Optativ vgl. zu 289–291.

Kommentar

231

693 ‚das Erwiderung fände‘: Gemeint ist eine mitleidvolle Reaktion eines Mitmenschen. Nur Echo reagiert auf ihn (188–190); vgl. auch Jebb. 694 (griechischer Text: 694–695) ‚blutig verschlingende‘: Im überlieferten Text beziehen sich die beiden Epitheta auf das Stöhnen, gehören der Sache nach aber zu dem Leiden, welches das Stöhnen verursacht. Vermutlich liegt in starker Verdichtung des Ausdrucks eine kühne Übertragung der Attribute von der Ursache auf die Wirkung vor (zu einer sprachlichen Parallele vgl. TS zu 693–695). Hält man dieses Verständnis nicht für möglich und ergänzt im Text mit Ll.-J./W. ‚Krankheit‘ (nosos), ist man – aus metrischen Gründen – auch in der Strophe (679) zu einer Textänderung an einer Stelle gezwungen, an der der überlieferte Text verständlich erscheint. Das spricht gegen diese Textgestaltung. 696–705 Der Chor beschreibt einen anfallartigen Ausbruch der Krankheit (vgl. 824 f.), wovon er eigentlich nichts wissen kann. Philoktet hatte davon nicht gesprochen (vgl. 260 ff.), und auch Neoptolemos ist über das anfallsweise Auftreten der Krankheit nicht informiert (751 ff.; vgl. auch zu 539–541). 698 ‚tierisch-wilden‘: Das griechische Wort (enthēros) wird in der Grundbedeutung verwendet für Gebiete, die reich an Tieren sind, übertragen für etwas, das tierartig wild ist. Der Fuß ist in Bezug auf die Schmerzen, die er erzeugt, wild, wie ein ungezähmtes Tier. Ähnlich wird auch die Krankheit wörtl. als ‚wild‘ bezeichnet (173; 265 f.); vgl. zu 9. 699–705 Beim Aufbrechen der Wunde (696–698) war niemand da, Philoktets Wunsch, ein schmerzlinderndes Kraut zu beschaffen, zu erfüllen, sondern er musste jeweils warten, bis der Anfall nachließ (705) und er sich mühsam selbst versorgen konnte. Vgl. auch Kamerbeek zu 696–700. Allerdings hatte Philoktet gesagt, dass er in der Höhle ein Kraut habe (649 f.). – Zur Herstellung des Textes in v. 699 s. ETS, S. 441 f. 700 ‚eines‘: ein linderndes Kraut (698); der Satz bezieht sich auf das zuvor Genannte. 703 ‚wie ein Kind ohne seine Amme‘: eine Amme, die das Kind trägt, das noch nicht laufen kann.

232

Stasimon: 705–717

sich zu versorgen, sooft nachließ das herzverzehrende Unheil.

705 a 705 b

Nicht erntete er als Nahrung die Frucht der Strophe 2 heiligen Erde, nicht etwas von anderen Dingen, von denen wir Menschen uns ernähren, außer wenn er einmal mit den gefiederten Pfeilen von seinem schnellschießenden Bogen seinem Magen Nahrung verschaffte. O elendes Leben (dessen), der sich in zehnjähriger Zeit nicht einmal an einem Trank aus Wein erfreuen konnte, sondern Ausschau haltend, wo er eines erblicke, sich dann jeweils zu dem stehenden Gewässer begab.

706/7

χοι πόρου, ἁνίκ’ ἐξανείη δακέθυµος ἄτα· οὐ φορβὰν ἱερᾶς γᾶς σπόρον, οὐκ ἄλλων αἴρων τῶν νεµόµεσθ’ ἀνέρες ἀλφησταί, πλὴν ἐξ ὠκυβόλων εἴ ποτε τόξων πτανοῖς ἰοῖς ἀνύσειε γαστρὶ φορβάν. ὦ µελέα ψυχά, ὃς µηδ’ οἰνοχύτου πώµατος ἥσθη δεκέτει χρόνῳ, λεύσσων δ’, ὅπου γνοίη, στατὸν εἰς ὕδωρ αἰεὶ προσενώµα.

708/9 710/1 711/2 714/5

705 a 705 b στρ. βʹ 706/7 708/9 710/1 711/2 714/5

705 a πόρου Wakefield : πόρον : πόρων – εὐµάρει(α) verlangt einen Genitiv. | ἐξανείη Hermann : ἐξανίει od. ἐξανίῃ Trikl. : ἐξανίησι (Hss.) – ἐξανείη ist metrisch und grammatisch (vgl. zu 704) nötig; intransitiver Gebrauch wie ἀνῇ 639 (vgl. dort). 707 ἄλλων] gen. part. abhängig von einem allgemeineren aus αἴρων zu ergänzenden Ausdruck, z. B. λαβών, vgl. Xenophon, Kyrupädie 1,4,20 λαβὼν τῶν … ἵππων (Jebb). 708 τῶν] ~ τούτων, ἃ – Artikel statt Relativpronomen (K.-G. I 588). | νεµόµεσθ’] „ ‘feed on’ “ (Kamerbeek). 709 ἀνέρες] episches ᾱ wie OT 869; Tr. 1011 (Jebb). 711 πτανοῖς ἰοῖς Erfurdt (vgl. 166) : πτανῶν πτανοῖς Hss. (in einigen Hss. πτανοῖς nach ἀνύσειε) – im überlieferten Text hätte τόξων zwei Epitheta, und nach dem adjektivischen πτανῶν müsste πτανοῖς als Substantiv (‚Vögel‘) verstanden werden (als Mittel der Ernährung), vielleicht möglich (vgl. Kamerbeek, Pucci), aber Erfurdts Konjektur ergibt einen klareren Text. | φορβάν Hss. : χρείαν Metzger 714 ὃς] bezieht sich sinngemäß auf den, der das elende Leben führte; vgl. K.-G. I 55; Bruhn § 16, II. | µηδ’] vgl. zu 170–171. | πώµατος : πόµατος (Hss.) – πόµα ist hier unmetrisch und kommt bei den Tragikern nicht vor. 715 ἥσθη] mit Genitiv wie bei Verben des Genießens (K.-G. I 355). | δεκέτει : δεκατεῖ : δεκάτει : δεκέτη | χρόνῳ : χρόνον – zum Dativ δεκέτει χρόνῳ vgl. Moorhouse 88: „ ‘who did not even know the joy of drinking wine (at any time) in a period of ten years’: as Jebb notes, the accus. would imply absence of ten years’ continuous enjoyment (also with an imperfect verb)“. 716 λεύσσων : λεύσων : λεύσσειν : λεύσειν – das Partizip (in der üblichen Schreibweise) ist hier gefordert. | ὅπου Hss. : εἴ που Brunck – liest man in v. 728 θεὸς, ist ὅπου metrisch korrekt. | στατὸν Hss. : στρατόν (mit Interpunktion danach) Dawe 2003, 105; vgl. Komm. zu 715–717. 717 αἰεὶ Trikl. : ἀεὶ

Kommentar

233

706–717 Die Strophe 2 setzt die Schilderung der unerträglichen Lebensumstände Philoktets mit weiteren Details fort. Thema ist jetzt nicht mehr die Krankheit, sondern die Schwierigkeit, Essen und Trinken zu beschaffen. Anders als in der Parodos (135–218) oder in Philoktets Darstellung (254–316) wird an dieser Stelle die Sondersituation Philoktets (710–712; 716 f.) mit den negierten üblichen Verhältnissen (706–709; 714 f.) kontrastiert; vgl. Visser 1998, 128 f. 706 (griechischer Text: 708) ‚erntete‘, wörtl.: ‚hob auf‘. ‚heiligen Erde‘: vgl. 391. – Bei der ‚Frucht‘ dürfte an Getreide gedacht sein (vgl. 709). 708 (griechischer Text: 707) ‚anderen Dingen‘: Außer Getreide z. B. Obst, Milch usw. (vgl. Jebb). 709 ‚Menschen‘: Die im Griechischen vorliegende homerische Wendung aneres alphēstai (Odyssee 13,261) ist gleichbedeutend mit ‚(Menschen), die die Frucht der gepflügten Erde essen‘ (Homer, Ilias 6,142), sich also von Produkten des Ackerbaus ernähren. Vgl. West 1966, 310 (zu Hesiod, Theogonie 512). 710 ‚außer‘: Streng logisch wäre etwa zu ergänzen: ‚außer ⟨dann konnte er Nahrung bekommen,⟩ wenn …‘. 711 (griechischer Text: 710) ‚schnellschießend‘: Das relativ seltene Wort (ōkybolos) zeichnet den besonderen Bogen aus und ist hier erstmals belegt. 715–717 Der Chor arbeitet bei seinem Bemühen, sein Mitleid zum Ausdruck zu bringen, mit dem denkbar größten Kontrast: Statt, wie es üblich ist, Wein zu trinken, habe sich Philoktet nach Wasser in Pfützen umsehen müssen (und das auf Lemnos, das für seinen Wein bekannt war: Homer, Ilias 7,467; Aristophanes, Frieden 1162; Segal 1981, 470 Anm. 31). Mit Jebb (und Thukydides 8,74,3) kann man sagen, dass der Chor im Furchtbaren übertreibt. Dass es nur Pfützen gegeben habe, entspricht wohl nicht den ‚Tatsachen‘ (21 [wenn die Quelle noch fließt]; 1461), aber reines Quellwasser wäre zu Wein vielleicht ein zu wenig aufrüttelnder Kontrast gewesen. Überdies war der Chor noch nicht zugegen, als über das Vorhandensein der Quelle gesprochen wurde (21). Da man jedoch die Äußerung des Chors im Kontext seiner Bemerkungen über Nahrungsbeschaffung Philoktets als Übertreibung verstehen kann, erübrigt sich auch Dawes Konjektur ‚Heer‘ (vgl. TS, statt ‚stehendes [Gewässer]‘), nach dem Philoktet Ausschau gehalten und dabei auf das Wasser (= Meer) geblickt habe, zumal dabei auch nicht klar ist, wohin sich Philoktet dann jeweils bewegt haben sollte.

234

Stasimon: 718–721

Philoktet und Neoptolemos erscheinen am Eingang der Höhle. Jetzt aber, wo er auf einen Sohn von edler Gegenstrophe 2 718/9 Abkunft traf, wird er am Ende glücklich und groß aus jenem Leid herauskommen. 720/1 νῦν δ’ ἀνδρῶν ἀγαθῶν παιδὸς ὑπαντήσας εὐδαίµων ἀνύσει καὶ µέγας ἐκ κείνων·

ἀντ. βʹ 718/9 720/1

(Hss.) – αἰεὶ stellt die Responsion mit v. 729 her. | προσενώµα Hss. : πόδ᾿ ἐνώµα Wakefield – προσενώµα ist sehr wahrscheinlich intransitiv wie ἐπινωµᾶν (168); vgl. Ll.-J./W.2. 719 παιδὸς ὑπαντήσας Hss. : παιδὶ συναντήσας Fröhlich – Genitiv hier in Analogie zu ἀντάω, vgl. z. B. Homer, Ilias 16,423 (Jebb). 720 εὐδαίµων ἀνύσει] ~ τελευτῶν εὐδαιµονήσει, εὐδαίµων sc. ὤν (Jebb).

Kommentar

235

718–729 In der Gegenstrophe 2 avisiert der Chor eine glückliche Zukunft für Philoktet und legt Neoptolemos’ Zusage (524–529) so aus, wie er es selbst insinuiert hatte (507–518): Neoptolemos werde Philoktet in seine Heimat bringen (eine Illusion, die auch hier nicht als solche gekennzeichnet ist; Parlavantza-Friedrich 1969, 52). Der Chor weiß, dass Neoptolemos mit Philoktet nach Troia fahren wird (dass er sich plötzlich über die Absichten des Neoptolemos im Irrtum befinden sollte, ist eine wenig plausible Annahme; so aber Paulsen 1989, 91, nach Müller 1967, 214 f.). Und die Behauptung des Chors, N e o p t o l e m o s werde Philoktet nach Hause bringen, entspricht noch auf andere Weise nicht seinem Kenntnisstand (sie ist auch dann nicht richtig, wenn die Gegenstrophe 2 als zweite Bedeutungsebene eine wahre Perspektive für eine positive Zukunft Philoktets enthalten sollte [vgl. zu 676–729]). Denn Chor wie Zuschauer haben erfahren, dass Philoktet, ist er erst einmal in Troia, über eigene Schiffe verfügt (vgl. 279 mit Komm.) und auf Neoptolemos’ Hilfe nicht mehr angewiesen ist. Wenn der Chor also ein Heimbringen durch Neoptolemos ankündigt, ist diese Ankündigung Teil seiner auf Philoktet zielenden Täuschung (507–518). Nach Kamerbeek (S. 109 f.) ist es dafür belanglos, ob Philoktet die zweite Gegenstrophe hören kann oder nicht. Dann würde nur dem Publikum die Haltung des Chors als solche vermittelt, aber dessen Aussage hätte für die Durchführung der Intrige keine Funktion. Alternativ ist zu erwägen, dass Philoktet in der Höhle mithört (so Tarrant 1986, 127 f.; vgl. Schmidt 1973, 132 f.) oder dass Neoptolemos und Philoktet zur 2. Gegenstrophe für die Zuschauer im Höhleneingang wieder sichtbar werden (so z. B. Jebb zu 718 f.; Linforth 1956, 122 f.; Gardiner 1987, 30–36, bes. 34–36; Minadeo 1993, 96 mit Anm. 11). Die letztere Variante ist auf jeden Fall die dramaturgisch wirksamere (vgl. das Erscheinen des Ödipus im König Ödipus vor dem Ende der Parodos, der dann auf die Worte des Chors reagiert, OT 216; vgl. Gardiner, ebd. 35). Man muss jedoch nicht annehmen, dass der Chor erst durch Philoktets Erscheinen am Höhleneingang zu dem Text motiviert wird; denn zuvor schon hatte er sein Mitleid mit Philoktets früherem Leben so formuliert, dass seine Aussagen durchaus im Rahmen der Intrige blieben (vgl. Kamerbeek, S. 109 f.). – Einen Überblick über unterschiedliche Deutungen der 2. Gegenstrophe bietet Visser 1998, 129–133. Vgl. noch Kitzinger (2008, 104– 112), die die Probleme des Chorlieds lösen will, indem sie es als vom aktuellen Geschehen abgehoben versteht (bes. 106 f.; 109), aber auch Kamerbeeks Lösung nicht ausschließt (111), sowie Dobrov (2001, 31), der den Chor sieht als „being complicit in a striking theatrical experiment [sc. mise en abyme]“. 718 ‚edler Abkunft‘: Neoptolemos ist zwar von edler Abkunft, insofern er die Reihe Aiakos, Peleus, Achill (vgl. auch zu 141–142) fortsetzt, aber die Bezeichnung steht in ironischem Kontrast zu dem, was er in der Intrigenhandlung tut. Allerdings wird er sich auch als seiner Herkunft entsprechend erweisen (vgl. 1310 f.), wenn er zu sich zurückfindet und die jetzt vom Chor unterstützte Intrige nicht weiterverfolgt. Vgl. Tarrant 1986, 129. 720–721 ‚glücklich und groß‘: Philoktet kann darunter seine glückliche (unmittelbare) Heimkehr verstehen, aber der Chor meint vielleicht letztlich

236

Stasimon: 722–729

Der wird ihn auf meerfahrendem Schiff, nachdem sich viele 722/3 Monate erfüllt haben, zum väterlichen Wohnsitz bringen 723/4 im Gebiet der Malischen Nymphen, 725 und zu den Ufern des Spercheios, wo der Mann mit dem ehernen 726/7 Schild sich zu den Göttern gesellte als Gott, in göttlichem Feuer hellstrahlend, über den Höhen des Öta. ὅς νιν ποντοπόρῳ δούρατι, πλήθει πολλῶν µηνῶν, πατρίαν ἄγει πρὸς αὐλὰν Μηλιάδων νυµφᾶν, Σπερχειοῦ τε παρ’ ὄχθας, ἵν’ ὁ χάλκασπις ἀνὴρ θεοῖς πλάθη θεὸς, θείῳ πυρὶ παµφαής, Οἴτας ὑπὲρ ὄχθων.

722/3 723/4 725 726/7

722 ποντοπόρῳ] vgl. z. B. Homer, Ilias 1,439; Soph. Ai. 250. 723 δούρατι] δόρυ (in ionischer Form) als Bezeichnung für ‚Schiff‘ nur hier bei Sophokles. | πλήθει] zum Dativ vgl. zu 598–599 u. Jebb. 724 πατρίαν Porson : πατρῴαν Hss. – metrisch notwendig, da bei πατρῴαν nicht mit interner Hiatkürzung zu rechnen ist. | αὐλὰν] hier allgemein ‚Wohnsitz‘, wie auch Philoktets Höhle (152) so bezeichnet werden kann. 725 Μηλιάδων Hss. : Μαλιάδων Erfurdt – vgl. Björck 1950, 240. | Μηλιάδων νυµφᾶν] zu αὐλὰν zu beziehen (pertinentiver Genitiv; vgl. Moorhouse 51), vgl. Jebb und zu 726. 726 ὄχθας Hermann : ὄχθαις Hss. – läse man ὄχθαις, müssten die vv. 723–726 heißen: ‚zum väterlichen Wohnsitz bei den Ufern der Nymphen von Malis und des Spercheios‘, eine zwar konstruierbare, aber kaum sich empfehlende Wendung; überzeugender ist es, παρ’ ὄχθας parallel zu πρὸς αὐλὰν zu verstehen. 728 πλάθη +Bergk : πλάθει – die Aoristform (ἐ)πλάθη (vgl. LSJ s. v. πελάζω) ist im Kontext angemessener als ein historisches Präsens πλάθει neben einem ‚futurischen‘ Präsens (ἄγει, 724). | θεὸς Hermann : πᾶσι Hss. : βάσιν Seyffert : δέµας Wecklein : πατρὸς Jebb : πάλαι Hermann (ursprünglich) : θεός πλάθει θεοῖς Schneidewin : παῖς ⟨θ͜εοῦ⟩ Willink 2003, 88 (in Verbindung mit Bruncks εἴ που in v. 716) : † πᾶσι † Dawe („de corruptela cf. [Aisch.] Prom. 354“) – Hermanns θεὸς ist eine hier und in Bezug auf die deus ex machina-Szene einleuchtende Lösung für das korrupte πᾶσι. 729 ὄχθων : ὄχθας : ὄχθην Trikl. – ὑπὲρ gibt den Ort an (‚über‘), nicht die Ortsbewegung (‚über hin‘).

Kommentar

237

etwas anderes (oder der Rezipient kann seine Worte so deuten), dass die Nennung von Philoktets Größe auf seine entscheidende Leistung vor Troia (1425– 1430) verweist (vgl. Schein, S. 229). ‚aus jenem Leid‘: Im griechischen Text steht nur das pluralische Pronomen ‚aus jenen‘. Gemeint ist all das Schlimme, das der Chor beschrieben hat. 723 ‚nachdem sich viele Monate erfüllt haben‘: Damit dürfte sehr wahrscheinlich die Zeit auf Lemnos gemeint sein. Bezöge man die Zeitangabe als Anspielung des Chors (auch) auf die Zukunft (Visser 1998, 131 f.; Schein), insofern der ‚Umweg‘ über Troia Philoktet erst später heimkommen ließe, entstünde ein Widerspruch zu der Angabe, dass N e o p t o l e m o s ihn nach Hause brächte; vgl. zu 718–729. 724 ‚zum väterlichen Wohnsitz‘: Wohnsitz des Poias (vgl. zu 4–5). 725 ‚Malischen Nymphen‘: Zur Landschaft Malis vgl. zu 4–5; nymphē bezeichnet eine junge, heiratsfähige Frau, dann auch ein weibliches, göttliches (oder langlebiges) Wesen, das in der belebten Natur wirkt und bestimmten Bereichen zugeordnet sein kann (vgl. auch 1470). Vgl. umfassend Herter 1937. 726 ‚den Ufern des Spercheios‘: vgl. zu 453. 726–729 Mit der Erwähnung von Tod und Vergöttlichung des Herakles (auch er wird, wie Ixion, nicht namentlich genannt; vgl. zu 676–680) wird die Situation aufgerufen, in der Philoktet die Waffen des Herakles erhielt; vgl. 670; 801–803 (jeweils mit Komm.). Philoktets Beziehung zu ihm bildet die Basis für das Erscheinen des Herakles am Ende des Dramas. Dass Herakles bei den Göttern weilt, steht schon in der Odyssee (11,601– 604), wo er allerdings gleichzeitig Odysseus im Hades als Schattenbild gegenübertritt (vgl. Heubeck 1989 zu Odyssee 11,601–27). 727 ‚Schild‘: Zu Herakles’ Attributen gehören hier nicht Bogen oder Keule, sondern ein Bronzeschild, wie es zu seiner Eroberung der Stadt Oichalia mit dem Speer (Tr. 478) passt, die der Ausgangspunkt der in den Trachinierinnen des Sophokles geschilderten Ereignisse war, die schließlich zu seinem Tod auf dem Scheiterhaufen führten (vgl. Schein; zu Weiterem Holt 1986). 728 ‚in göttlichem Feuer‘: Wohl nicht das Feuer des Scheiterhaufens, sondern der Blitz des Zeus, der die Erhebung des Herakles unter die Götter begleitet haben soll (Ps.-Apollodor, Bibliothek 2,160; Diodorus Siculus 4,38,4 f.). 729 ‚über den Höhen des Öta‘: Auf dem Öta wollte Herakles verbrannt werden; vgl. Tr. 1191. Zum Öta-Gebirge vgl. zu 453.

238 Ne. Ph. Ne. Ne. Ph. Ne. Ph. Ne.

Νε. Φι. Νε. Νε. Φι. Νε. Φι. Νε.

Zweites Epeisodion: 730–741

Komm, wenn’s dir recht ist. – Warum bist du denn, ganz ohne Grund, so still und bleibst wie gelähmt stehen? Ah ah ah ah! Was ist? Ph. Nichts Schlimmes. Geh nur, mein Sohn! Du hast doch nicht Schmerzen von der Krankheit, die dich plagt? Nein, gar nicht! Eben glaube ich, Erleichterung zu spüren. – Ioh! Ihr Götter! Warum rufst du so aufstöhnend die Götter an? Dass sie als Retter und sanft mir kommen. Ah ah ah ah! Was ist denn mit dir? – Willst du nicht reden, sondern so schweigend verharren? Denn offenbar geht es dir irgendwie schlecht. ἕρπ’, εἰ θέλεις. – τί δή ποθ’ ὧδ’ ἐξ οὐδενὸς λόγου σιωπᾷς κἀπόπληκτος ὧδ’ ἔχῃ; ἆ ἆ ἆ ἆ. τί ἔστιν; Φι. οὐδὲν δεινόν. ἀλλ’ ἴθ’, ὦ τέκνον. µῶν ἄλγος ἴσχεις τῆς παρεστώσης νόσου; οὐ δῆτ’ ἔγωγ’, ἀλλ’ ἄρτι κουφίζειν δοκῶ. – ἰὼ θεοί. τί τοὺς θεοὺς οὕτως ἀναστένων καλεῖς; σωτῆρας αὐτοὺς ἠπίους θ’ ἡµῖν µολεῖν. ἆ ἆ ἆ ἆ. τί ποτε πέπονθας; – οὐκ ἐρεῖς, ἀλλ’ ὧδ’ ἔσῃ σιγηλός; ἐν κακῷ δέ τῳ φαίνῃ κυρῶν.

730

735

740

730

735

740

730–731 ἐξ οὐδενὸς λόγου] diese Wendung ist nur hier belegt; zur Bedeutung von λόγος vgl. LSJ s. v. III. 1; zum Gebrauch von ἐξ vgl. K.-G. I 460. 731 ἀπόπληκτος … ἔχῃ] ~ ἀποπληξίᾳ κατέχῃ (Kamerbeek nach Ellendt). 732 ἆ ἆ ἆ ἆ : ἆ ἆ ἆ – Ausrufe extra metrum; daher gibt es kein sicheres Kriterium, was deren Zahl betrifft. 733 τί Hss. : τί ⟨δ᾿⟩ Erfurdt – Hiat nach τί ist möglich (vgl. West 1982, 15 und zu v. 100); es ist dann allerdings die einzige Stelle bei den Tragikern, an der am Versanfang nach Sprecherwechsel τί ἔστιν statt τί δ’ ἔστιν steht; vgl. z. B. 102; 751. 734 ἴσχεις : ἴσχει – die 2. P. ist durch v. 735 gesichert; ἴσχεις hier = ἔχεις, vgl. 1110. | τῆς Hss. : σῆς West 1979, 113 – zur possessiven Kraft des Artikels vgl. K.-G. I 593, 2; anders West, ebd. | παρεστώσης] auf die aktuelle Situation bezogen, vgl. 1340 und West, ebd. 735 δῆτ’] in Antworten bei heftiger Ablehnung (GP 276 [2]). | κουφίζειν] seltener intransitiver Gebrauch wie im medizinischen Schrifttum, z. B. Hippokrates, Aphorismen 2,27; vgl. auch Eur. Hel. 1555. 736 ἰὼ θεοί (Hss.) : ὦ θεοί +Konjektur unbekannter Herkunft (1810) – vgl. zu 737. 737 οὕτως : Ø : ὧδ’ Konjektur unbekannter Herkunft (1810) – (a) entweder ist ἰὼ θεοί (736) ein Ausruf extra metrum; dann muss man οὕτως lesen und danach eine Mittelzäsur annehmen (vgl. zu 101); (b) oder man muss ὦ θεοί (736, vermutlich auch in der einzigen Hs. [Zg], die es hat, Konjektur) und ὧδ’ konjizieren, sodass ὦ θεοί in den Vers 737 integriert wird, bei dem dann allerdings θ͜εοί und θ͜εοὺς mit Synizese zu lesen sind; in einem Kontext, in dem es ohnehin Ausrufe extra metrum gibt, ist (a) die sinnvollere Lösung. 738 µολεῖν] abhängig von καλῶ (zu ergänzen aus καλεῖς, 737), vgl. El. 996. 739 ἆ ἆ ἆ ἆ : ἆ ἆ ἆ – vgl. zu 732. 741 δέ] in der Funktion von γάρ (GP 169). | κυρῶν] κυρεῖν ~ εἶναι, vgl. z. B. Ai. 984; OT 362.

Kommentar

239

730–826 Zweites Epeisodion Nach dem Handlungsgeschehen vor dem Chorlied (645 ff.; vgl. auch 730 a) konnte man erwarten, dass sich Philoktet und Neoptolemos nach Verlassen der Höhle zum Schiff begeben. Stattdessen tritt durch die – ohne Bezug zum vorhergehenden Chorlied – neu einsetzende Handlung in dieser Hinsicht eine Retardierung ein, weil Philoktet einen akuten Anfall, wie er wegen seiner Verletzung immer wieder auftritt, erleidet und vorerst nicht weggehen kann. Zugleich entwickelt sich das Geschehen in zweifacher Weise weiter: Faktisch, indem Neoptolemos den Bogen erhält, emotional, indem sich Neoptolemos Philoktet mitleidvoll zuwendet (vgl. 759–760/1 u. bes. 806) und sich – ungeachtet der Intrige – Philoktet so verpflichtet fühlt, dass er den Anfall nicht ausnutzen wird, Philoktet allein zu lassen. Einen (hinterszenischen) Krankheitsanfall Philoktets gab es vermutlich auch in der Tragödie des Euripides, aber Sophokles bringt den Anfall auf die Bühne und macht ihn „zur eindrucksvollsten Darstellung physischer Qual in der attischen Tragödie“ (Müller 1997, 238–240, Zitat 239 f.). 730–731 Philoktet antwortet auf Neoptolemos’ Aufforderung nicht und kommt ihr offenbar auch nicht nach. Die anschließende Frage des Neoptolemos – nach einer Pause – lässt erkennen, dass er eine ihm (noch) unerklärliche Veränderung an Philoktet bemerkt. 731 ‚bleibst wie gelähmt stehen‘: wörtl.: ‚wirst gelähmt festgehalten‘. 732 Ein Ausruf außerhalb des Versmaßes (extra metrum), wie er in dieser Szene noch mehrfach vorkommt und als Ausdruck des Außergewöhnlichen und großer Qual den Fluss der Rede unterbricht. – Diese Schmerzensschreie bilden dramatisch einen Kontrast zu der für Philoktet positiv klingenden letzten Gegenstrophe des Chorlieds; vgl. Burton 1980, 239. 733 Philoktet versucht zunächst, seinen Anfall zu bagatellisieren (zu ‚verbergen‘, vgl. 743), wohl um die ersehnte Heimfahrt (wie er meint) nicht zu gefährden (vgl. 757), und fordert Neoptolemos daher zum Weitergehen auf. Wie es immer wieder zu akuten Anfällen kommt, ist nicht klar, sicher ist nur, dass die Anfälle von der immer noch nicht geheilten Wunde am Fuß, die eine ständige Erkrankung bewirkt, ausgehen. Sie sind offenkundig außerordentlich schmerzhaft (745), vergehen aber schnell (808), Blut tropft aus der Wunde und quillt dann heraus (783 f.; 824 f.), körperlicher Kontakt wird unerträglich (817), dann kommt es zum Schweißausbruch (823), und Philoktet versinkt in einen todesähnlichen Erschöpfungsschlaf (766 f.; 821). 734 ‚von der Krankheit, die dich plagt‘, wörtl. ‚von der Krankheit, die (stets) bei dir ist‘: Gemeint ist hier die ständige (chronische) Anwesenheit (durativer Aspekt), die sich jetzt in Schmerzen äußern könnte. Neoptolemos denkt nicht an einen akuten Anfall (den er nicht kennt, 751 ff.) und erhofft, wie die Form der Frage anzeigt, eine verneinende Antwort. 735 Nach der Antwort Philoktets wird man sich eine kleine Pause vorstellen müssen, nach der er wieder einen Schrei ausstößt und damit seine Antwort Lügen straft. 740 Auch hier ist nach der ersten Frage, als Philoktet nicht antwortet, eine Pause anzunehmen; vgl. Kamerbeek.

Zweites Epeisodion: 742–752

240 Ph.

Ne.

Φι.

Νε.

Ich bin verloren, Sohn, und ich werde mein Leiden in eurer Gegenwart nicht verbergen können, attatai! Es geht, geht (mir) durch und durch. Ich Unglücklicher, o ich Elender! Ich bin verloren, Sohn, es frisst mich auf, Sohn! papai, apapapai! Bei den Göttern! Wenn du griffbereit, Sohn, ein Schwert in den Händen hast, schlag zu, in die Fußspitze! Trenne sie so schnell wie möglich ab! Schone nicht mein Leben! Tu’s, mein Sohn! Was gibt es denn plötzlich so Ungewöhnliches, weshalb du solch ein Geschrei und Stöhnen um dich erhebst? ἀπόλωλα, τέκνον, κοὐ δυνήσοµαι κακὸν κρύψαι παρ’ ὑµῖν, ἀτταταῖ· διέρχεται, διέρχεται. δύστηνος, ὢ τάλας ἐγώ. ἀπόλωλα, τέκνον· βρύκοµαι, τέκνον· παπαῖ, ἀπαπαπαῖ. πρὸς θεῶν, πρόχειρον εἴ τί σοι, τέκνον, πάρα ξίφος χεροῖν, πάταξον εἰς ἄκρον πόδα· ἀπάµησον ὡς τάχιστα· µὴ φείσῃ βίου. ἴθ’, ὦ παῖ. τί δ’ ἔστιν οὕτω νεοχµὸν ἐξαίφνης, ὅτου τοσήνδ’ ἰυγὴν καὶ στόνον σαυτοῦ ποῇ;

745

750

745

750

742 ἀπόλωλα (Hss.) : ὄλωλα Trikl. – aufgelöstes erstes Anceps wie 470; 745; 749. 743 παρ’ ὑµῖν (Hss.) : παρ᾿ ἡµῖν : πρὸς ὑµᾶς Dawe – παρ’ ὑµῖν kann nicht ‚vor euch‘ heißen, eine Aussage, die man zunächst erwarten würde (wie v. 58 πρὸς ἡµᾶς); daher Dawes (1978, 127 f.) Konjektur, die er jedoch nicht in den Text setzte. Die Korruptel wäre auch nur schwer zu erklären. Philoktet will vermutlich nur ausdrücken „when I am in your presence“ (Webster). | διέρχεται] Subjekt wohl κακὸν (742). 744 ὢ : ὦ (Hss.) – zum Akzent vgl. zu 254. 745 βρύκοµαι : βρύχοµαι (Hss.) – βρύκοµαι gilt als die attische Form. 746 ἀπαπαπαῖ Manuwald : ἀπα· παπᾶ· παπᾶ· παπᾶ· παπᾶ· παπαῖ oder ähnlich Hss. : ἀπαππαπαῖ, παπᾶ παπᾶ παπᾶ παπαῖ Hermann : παπαῖ, παπαῖ Dawe (beispielshalber) – s. ETS, S. 442. 747–748 σοι … χεροῖν] σοι gibt die Person an, von der der für den Verbalausdruck entscheidende Teil (χεροῖν) näher benannt wird (σχῆµα καθ᾿ ὅλον καὶ µέρος, K.-G. I 289, 9), χεροῖν als Dativ zu πρόχειρον (so Kamerbeek) liegt wegen der Wortstellung weniger nahe. 747 πάρα] = πάρεστιν. 748 ἄκρον πόδα] s. ETS, S. 442. 749 βίου Hss. : βίας Wakefield; West 1979, 113 : βίᾳ (mit ἀπάµησον zu verbinden) Burges, Dawe – West bemerkt zwar richtig „Philoctetes is requesting an amputation, not euthanasia“, aber Philoktet kann in seiner Qual trotzdem sagen, man solle dabei sein Leben nicht schonen; vgl. Ll.-J./W.1. 750 ἴθ’, ὦ παῖ.] extra metrum; ἴθι ist eigentlich Imperativ zu ἰέναι, wird dann aber auch adverbiell als starke Aufforderung gebraucht. – Die verbalen Äußerungen extra metrum (vgl. noch 787; 804) haben jeweils die metrische Form ⏑ ‒ ‒, die man als katalektisches iambisches Metrum deuten kann. 751 τί δ᾿] konnektives δέ bei einer Frage (GP 173 f.). | ἔστιν οὕτω : ἔστι τοῦτο – οὕτω passt zur Beunruhigung des Neoptolemos. | ἐξαίφνης] wird üblicherweise unmittelbar mit νεοχµὸν verbunden, es kann aber auch (so hier aufgefasst) ἔστιν (als Vollverb) näher bestimmen (K.-G. I 38, 4). | ὅτου : ὅτι –

Kommentar

241

742–750 Der Versuch Philoktets, seinen Anfall vor den anderen zu verbergen, ist gescheitert. Von physischen Schmerzen gepeinigt kann er sich nur emotional aufgewühlt und durch Schmerzensschreie unterbrochen äußern. Stilistische Kennzeichen sind Auflösungen des ersten Elements des iambischen Trimeters (742; 745; 749; vgl. auch TS zu v. 742); Iterationen (‚geht, geht durch‘ [743 f.]; wiederholtes ‚(mein) Sohn‘ [742; 745; 747; 750]), Text außerhalb des Versmaßes (750; vermutlich auch 746, vgl. ETS, S. 442 zu v. 746). Vgl. auch Schein. Die Schmerzattacke ist so stark, dass Philoktet in seiner Verzweiflung sogar darum bittet, ihm den schmerzenden Fuß abzuhauen (748 f.). 743 ‚attatai!‘: Eine (hier metrisch eingebundene) Interjektion, die Klage ausdrückt (schetliastikon epirrhēma) und die wie andere diesbezügliche Interjektionen (z. B. papai, 745) typischerweise auf den Diphthong -āī endet (vgl. Herodian, Grammatici Graeci III 2, p. 428,13 f. Lentz). Auf eine ‚Übersetzung‘ (‚o weh!‘, o. ä.) wurde an dieser Stelle verzichtet und stattdessen der griechische Lautbestand wiedergegeben. Zur Unangemessenheit einer Übersetzung vgl. Knox 1964, 130 f. 743–744 ‚Es geht, geht (mir) durch und durch‘: Im griechischen Text steht nur ein zweimaliges ‚es geht durch‘. 745 ‚es frisst mich auf‘, wörtl. ‚ich werde aufgefressen, zerbissen‘, sc. von dem Leiden (742), der Krankheit, so wie das Gift des Nessos Herakles ‚zerfrisst‘ (Tr. 987). Vgl. auch 7 mit Komm. 745–746 papai, apapapai!: vgl. zu 743 sowie ETS, S. 442. 747 (griechischer Text: 748) ‚Schwert‘: Neoptolemos trägt eines; vgl. zu 1254–1256. 748 ‚Fußspitze‘: Wenn die griechische Wendung so zu verstehen ist (und nicht allgemeiner als ‚Fuß‘; s. ETS, S. 442), ist die Vorstellung impliziert, dass die Schlange Philoktet in die Fußspitze gebissen hat. 751 ‚Ungewöhnliches‘, wörtl. ‚Neues‘: Das ‚Neue‘ (neochmon), nach dem Neoptolemos fragt, ist durch den Kontext als etwas Unangenehmes konnotiert (bei Herodot [9,99,3; 9,104] kann es geradezu ‚Umsturz‘, ‚Meuterei‘ bezeichnen); vgl. auch zu 52. Natürlich vermutet Neoptolemos, dass Philoktets Verhalten etwas mit seiner Wunde am Fuß zu tun hat (vgl. 734), und er kennt die Schilderung Philoktets (260–313), aber von den anfallartigen Schmerzen war dabei nicht die Rede, sodass sich Neoptolemos insofern einer unerwarteten Situation gegenübersieht.

Zweites Epeisodion: 753–759

242 Ph. Ne. Ph. Ne.

Φι. Νε. Φι. Νε.

Du weißt es, mein Sohn.

Ne. Was ist? Ph. Du weißt es, mein Sohn. Ne. Was ist dir? Ich weiß es nicht. Ph. Wie weißt du das nicht? pappapappapai. Offenbar ist es die Bürde der Krankheit. 755 Ja, sie ist furchtbar und nicht sagbar; komm, hab’ Mitleid mit mir! Was soll ich also tun? Ph. Gib mich nicht aus Furcht preis! Denn diese (Krankheit) hat sich nach einer Zwischenzeit wieder eingestellt, vielleicht weil sie vom Herumschweifen genug hat. Ne. Ioh, Ioh, du Unglücklicher, οἶσθ’, ὦ τέκνον. Νε. τί ἔστιν; Φι. οἶσθ’, ὦ παῖ. οὐκ οἶδα. Φι. πῶς οὐκ οἶσθα; παππαπαππαπαῖ. δῆλόν γε τοὐπίσαγµα τοῦ νοσήµατος. δεινὸν γὰρ οὐδὲ ῥητόν· ἀλλ’ οἴκτιρέ µε. τί δῆτα δράσω; Φι. µή µε ταρβήσας προδῷς· ἥκει γὰρ αὕτη διὰ χρόνου, πλάνοις ἴσως ὡς ἐξεπλήσθη. Νε. ἰὼ ἰὼ δύστηνε σύ,

Νε. τί σοί; 755

ὅτου ist kausaler Genitiv (wie τίνος, 327). 752 ποῇ (ποεῖ) Jebb : πο(ι)εῖς Hss. – das Medium ist erforderlich (στόνον ποιεῖσθαι = στένειν), die überlieferte Aktivform würde ‚στόνον verursachen‘ bedeuten; vgl. Jebb; Jebb selbst hat in seiner Ausgabe die Form ποεῖ, für die Zeit des Sophokles ist jedoch der Lautwert η anzunehmen (Schwyzer I 668). 753   τί ἔστιν (Hss.) : τί δ᾿ ἔστιν – vgl. zu 733. 754 (Νε.) οὐκ οἶδα. Φι. πῶς οὐκ οἶσθα; παππαπαππαπαῖ. Purgold : Φι. οὐκ οἶδα. Νε. πῶς οὐκ οἶσθα; Φι. παππαπαππαπαῖ. Hss. (Der Ausruf ist in den Hss. unterschiedlich überliefert.) – Purgolds Änderung der überlieferten Sprecherverteilung ist notwendig; es ist auszuschließen, dass Philoktet nach 742 ff. sagt, er wisse nicht (was mit ihm sei). 755 δῆλόν Dawe 1978, 128 f. : δεινόν Hss. – für Dawes Konjektur spricht einerseits, dass bejahendes γάρ (756; GP 87 f.) mit Wortwiederholung (sonst) bei den Tragikern nicht vorkommt, andererseits die Gedankenfolge: Nachdem es zwei Verse lang um das Wissen des Neoptolemos geht, erwartet man eine Aussage von ihm dazu, was er jetzt verstanden hat; er hat immerhin erkannt (zur auch limitativen Kraft des γε vgl. GP 130 [11]), dass Philoktet durch seine Krankheit jetzt besonders gequält wird. Zur Art der Korruptel verweisen Ll.-J./W.2 auf Diggle 1994, 10 Anm. 6. | τοὐπίσαγµα : τοὐπείσαγµα (Hss.) – τοὐπίσαγµα von ἐπισάττω. 758 ἥκει Hss. : εἴκει Heimsoeth : λήγει F.W. Schmidt | αὕτη (Hss.) : αὐτὴ F.W. Schmidt : ἄτη – die Konjekturen εἴκει, λήγει und αὐτὴ dürften aus einem Missverständnis der Begründungsfunktion von γὰρ (vgl. Komm. zu 758–759) entstanden sein, aber zu πλάνοις … ἐξεπλήσθη (758 f.) passt nur ἥκει, vgl. auch Kamerbeek. | αὕτη] Femininum, als ob 755 nicht νοσήµατος, sondern νόσου gestanden hätte (K.-G. I 57 Anm. 3); vgl. zu αὕτη auch ἥδε (807) sowie Bers 2014, 105–108. | διὰ χρόνου] vom zeitlichen Abstand (K.-G. I 482, 2 b) oder ‚in Abständen, Intervallen‘ (vgl. Aischines, Gegen Ktesiphon 220). | πλάνοις : πλάνης – die seltenere Konstruktion mit Dativ (K.-G. I 355 Anm. 1) dürfte als Argument für πλάνοις zu werten sein. 759 (Νε.) ἰὼ ἰὼ : (Νε.) ἰὼ : (Φι.) φεῦ (Νε.) ἰὼ Trikl. : (Φι.) νόσος. (Νε.) ἰὼ Robertson – Robertsons (von Ll.-J./W. aufgenommene Konjektur) soll den Hiat ἐξεπλήσθη. ἰὼ vermeiden. Doch ist dieser wegen des Sprecherwechsels zu tolerieren. ἰ͜ ὼ ἰὼ ist am ehesten (mit Synizese) als ‒ ⏑ ‒ zu lesen. | σύ : σύ ἰώ – vgl. zu 760/1.

Kommentar

243

753 Die Äußerungen Philoktets sind keine Fragen (Ll.-J./W.2 tilgen die Fragezeichen in ihrer Edition zu Recht). Denn er kann auf die Fragen des Neoptolemos (751 f.; 753) kaum mit Gegenfragen antworten. Er möchte vielmehr, weil es ihm schwerfällt (756), den Anfall mit allen seinen Implikationen zu beschreiben, das Wissen bei Neoptolemos gern voraussetzen. Vgl. auch Kamerbeek. 754 pappapappapai: Ein gegenüber apapapai (746), wenn diese vermutete Form richtig ist, nochmals gesteigertes papai, hier metrisch eingebunden. Vgl. zur Struktur der Erweiterung Aristophanes, Thesmophoriazusen 1191: papapapai. Vgl. auch zu 743. 755 Nach dem neuerlichen Schmerzensschrei Philoktets erkennt Neoptolemos zwar, wie schwer seine Krankheit gerade auf Philoktet lastet, aber noch nicht, was jetzt konkret droht. ‚Bürde‘: Das griechische Wort (episagma) bedeutet eigentlich etwas, was ‚draufgesattelt‘ ist (von episattein) wie eine Last auf ein Lasttier (vgl. Scholion zu Aristophanes’ Wolken 450 Koster). 756 ‚nicht sagbar‘: Philoktet kann die Erscheinungsweise der Krankheit beschreiben (743 f.; 758 f.; 766–769; 783 f.; 807 f.), aber nicht zureichend in Worten ausdrücken, wie groß das Leid ist, das sie verursacht. 757 ‚Was soll ich also tun?‘: Dies ist die erste der rat- und hilflosen Fragen, die Neoptolemos stellt, hier angesichts von Philoktets Zustand, später auch wegen seiner eigenen schwierigen Situation (895; 908; 974; 1393). – Entsprechend formulieren auch der Chor (963) und Philoktet (1063; 1350) ihre ratlosen Fragen. Vgl. Pucci. ‚Gib mich nicht … preis‘: Philoktets größte Sorge ist, dass Neoptolemos erschreckt ohne ihn abfahren könnte, dass er sich nicht mehr trauen könnte, ihn an Bord zu nehmen; vgl. Jebb. 758–759 Philoktet muss mit ‚diese‘ (wie es im Text lediglich heißt) die ‚Krankheit‘ (die er immer hat) in ihrer sich in Intervallen einstellenden akuten Form (als Anfall) meinen, in der sie jetzt (wörtl.) ‚gekommen, da ist‘ (hēkei). Dieser Hinweis ist insofern eine Begründung seiner Bitte (757), Neoptolemos solle ihn nicht aus Furcht im Stich lassen, als daraus hervorgeht, dass das akute Stadium nur in zeitlichen Abständen eintritt, Neoptolemos also damit rechnen kann, dass der Anfall wieder vorbeigeht. 759 ‚Herumschweifen‘: Die anfallsartige Zuspitzung seiner Krankheit erklärt Philoktet geradezu wie das Verhalten einer Person (vgl. zu 313), die als solche existiert und ‚herumschweift‘ (möglichweise auch andere Kranke befällt), sich jetzt aber wieder bei Philoktet niedergelassen hat. Vielleicht besteht ein Anklang an die Bezeichnung unregelmäßig auftretender Fieberschübe, die bei Hippokrates, Epidemien 1,6 planētes heißen, also ‚Herumschweifende‘. 759–760/1 Neoptolemos’ erste eindeutige Ä u ß e r u n g des Mitfühlens gegenüber Philoktet.

Zweites Epeisodion: 760–771

244

Ph.

Φι.

ja, als unglücklich Erwiesener in jeder Art von Mühsal. Willst du denn, dass ich dich anfasse und dir einen Halt gebe? Nein! Das nicht! Sondern nimm mir den Bogen da, wie du mich eben darum gebeten hast, bis er nachlässt, dieser gegenwärtige Anfall der Krankheit, bewahre ihn auf und gib auf ihn acht. Denn Schlaf kommt über mich, wenn dieses Übel weggeht. Und es kann nicht früher aufhören; sondern man muss mich ruhig schlafen lassen. Wenn aber in dieser Zeit jene kommen, so gebe ich dir, bei den Göttern, den Auftrag, weder freiwillig noch unfreiwillig noch auf irgendeine Weise

760/1

δύστηνε δῆτα διὰ πόνων πάντων φανείς. βούλῃ λάβωµαι δῆτα καὶ θίγω τί σου; µὴ δῆτα τοῦτό γ’· ἀλλά µοι τὰ τόξ’ ἑλὼν τάδ’, ὥσπερ ᾔτου µ’ ἀρτίως, ἕως ἀνῇ τὸ πῆµα τοῦτο τῆς νόσου τὸ νῦν παρόν, σῷζ’ αὐτὰ καὶ φύλασσε. λαµβάνει γὰρ οὖν ὕπνος µ’, ὅταν περ τὸ κακὸν ἐξίῃ τόδε· κοὐκ ἔστι λῆξαι πρότερον· ἀλλ’ ἐᾶν χρεὼν ἕκηλον εὕδειν. ἢν δὲ τῷδε τῷ χρόνῳ µόλωσ’ ἐκεῖνοι, πρὸς θεῶν ἐφίεµαι ἑκόντα µήτ’ ἄκοντα µήτε τῳ τέχνῃ

760/1

765

770

765

770

760/1 Zuweisung zu Neoptolemos (Hss.) : zu Philoktet +Lindner, Dawe – Letzteres ist wegen des Vokativs kaum möglich, vgl. Ll.-J./W.1. | δύστηνε : ἰὼ oder ἰὼ ἰὼ δύστηνε – δύστηνε δῆτα ist ein unmittelbares Echo auf δύστηνε (759); die in einigen Hss. eingeschobenen Ausrufe unterbrechen diese Abfolge. | δύστηνε] prädikatives Adjektiv im Vokativ zum vokativischen φανείς, vgl. Moorhouse 30. | δῆτα] „a speaker echoes … his own words“ (GP 277). | διὰ πόνων πάντων] „ ‘in all manner of troubles,’ – i.e., ‘in the course’ of them“ (Jebb). 762 λάβωµαι … θίγω] deliberativer Konjunktiv mit vorangestelltem βούλῃ, wovon der Konjunktiv aber nicht abhängt (K.-G. I 221, 6). | δῆτα] Neoptolemos zieht die praktische Konsequenz aus seinem Mitleid (GP 269–271, bes. [5]). 763 δῆτα] vgl. zu 735. 764 ἀνῇ : ἂν ᾖ – zu dem in der Dichtung nicht seltenen Fehlen von ἄν vgl. K.-G. II 449 Anm. 4; ἀνῇ intransitiv wie 639. 765 τὸ πῆµα … τῆς νόσου] vgl. Aisch. Ag. 850 πῆµ᾿ … νόσου. | τὸ νῦν (Hss.) : τὰ νῦν 766 γὰρ οὖν] vgl. zu 298. 767 ἐξίῃ : ἐξήῃ : ἐξίκῃ : ἐξήκῃ Trikl. – ἐξίῃ ist intransitiv wie ἀνῇ 764 u. 639. 768–769 λῆξαι … εὕδειν] für die Infinitive ist kein Subjekt ausgedrückt, aber es ist sachlich geboten, zu λῆξαι aus 767 τὸ κακὸν und nicht µε zu ergänzen (vgl. Jebb; anders Schein), zu εὕδειν dann aber trotz des Subjektwechsels µε; vgl. zur Problematik Dawe 1978, 129, der aber seine Konjektur (vgl. zu 769) nicht in den Text setzt. 769 ἕκηλον (Hss.) : εὔκηλον Trikl. : ἕκηλά µ᾿ Dawe | εὕδειν (Hss.) : εὕδειν µ᾿ – εὕδειν µ᾿ dürfte nur den Rang einer Konjektur haben. | δὲ τῷδε τῷ χρόνῳ (Hss.) : δὲ τῷ χρόνῳ τάχα Trikl. – τῷδε ist für den Sinn notwendig. | τῷ χρόνῳ] Dativ zur Bestimmung der Zeit, innerhalb derer etwas geschieht (K.-G. I 445; Moorhouse 87 f.). 770 ἐφίεµαι Hss. : ⟨σ᾿⟩ ἐφίεµαι Fröhlich – es genügt, σοι (oder auch σε, vgl. Ai. 112) vom Kontext her gedanklich zu ergänzen; vgl. Kamerbeek. 771 ἑκόντα] davor zu ergänzen µήθ᾿, vgl. zu dieser Erscheinung K.-G. II 291 sowie Kiefner 1964, 31 (Figur der

Kommentar

245

760/1 Nach v. 759 haben einige Hss. ein einfaches oder doppeltes ‚ioh!‘ (zusätzlich zu dem innerhalb von v. 759). Das hat Brunck extra metrum als v. 760 gezählt. Folgt man, wie die späteren Herausgeber, den anderen Hss. (ohne ‚ioh!‘), behält aber Bruncks Nummerierung bei, ergibt sich nur e i n Vers (Bruncks 761), der dann als 760/1 gezählt werden sollte, damit nicht der Eindruck entsteht, es werde ein Vers weggelassen. 762 Neoptolemos konkretisiert seine ratlose Frage von v. 757 und gibt damit gleichzeitig zu erkennen, dass er Philoktet nicht verlassen will. ‚anfasse … Halt gebe‘: Die Bedeutungen der beiden Wörter liegen nahe beieinander. Während das erste (labein, Aorist) eher den Akt des Ergreifens bezeichnet, meint das zweite (thigein, Aorist) eher den Beginn eines auf eine längere Dauer ausgerichteten Berührens, was im konkreten Fall wohl bedeutet, dass Neoptolemos Philoktet einen Halt bieten will. 763–773 Der Anfall wird Philoktet, wie er aus früherer Erfahrung weiß, völlig hilflos machen, und in Furcht vor den (angeblich) nahenden Odysseus und Diomedes (vgl. zu 770) bittet er in tragischer Ironie ausgerechnet den, der im Auftrag des bereits anwesenden Odysseus sich des Bogens und Philoktets bemächtigen soll, darum, den Bogen unter keinen Umständen Odysseus und Diomedes auszuhändigen. 763 Philoktet ist in entsprechend hilfloser Lage durchaus bereit, sich auch körperlich helfen zu lassen (879). Wenn er hier Neoptolemos’ Angebot entschieden ablehnt, so entweder weil ihm die Sicherung des Bogens jetzt vordringlich erscheint (vgl. auch Kosak 1999, 124) oder weil er sich bewusst ist, dass er schon jetzt Körperkontakt nicht aushalten kann, wie es in der akuteren Phase dann der Fall sein wird (817). 764 ‚eben‘: Bevor beide in die Höhle gingen (656 f.). Vgl. auch zu 669. 765 ‚Anfall‘, wörtl. ‚Leid‘ (pēma), es ist das ‚Leid der Krankheit‘ gemeint, das sich konkret im Anfall manifestiert. 766–767 Im Zustand des Schlafens, der Schlussphase des Anfalls, ist Philoktet im höchsten Maße wehrlos. Die Hilflosigkeit des Schlafenden (damals allerdings durch die anstrengende Schiffsreise bedingt) hatte Odysseus bei der Aussetzung ausgenutzt (271–273). 770 ‚jene‘: Odysseus und Diomedes, von denen sich Philoktet nach der Aussage des ‚Kaufmanns‘ (591–594), die er gehört hat, verfolgt glauben muss. 771 ‚noch auf irgendeine Weise (technē)‘: Dieser Ausdruck entspricht einem zusammenfassenden und steigernden ‚überhaupt nicht‘ (‚unter gar keinen Umständen‘), wie die sprachlichen Parallelen (vgl. TS) nahelegen. Anders Alt (1961, 158): ,noch auf Grund von Überlistung‘ (vgl. auch Schein); eine solche Möglichkeit ist aber durch die Kategorie ‚unfreiwillig‘ bereits miterfasst.

Zweites Epeisodion: 772–780

246

Ne.

jenen den Bogen zu überlassen, damit du nicht an dir zugleich und mir, der ich mich in deinen Schutz begab, zum Mörder wirst. Sei unbesorgt, ich bin vorsichtig! Der Bogen wird nur dir und mir ausgehändigt werden. So gib ihn mir, zu gutem Ende.

775

Philoktet übergibt den Bogen an Neoptolemos. Ph. Ne.

Νε. Φι. Νε.

Hier, nimm ihn, Sohn; und wende betend den Neid (der Götter) ab, dass der Bogen für dich nicht Ursache vielen Leides wird, nicht wie für mich und den, der ihn vor mir besaß. Ihr Götter! Möge uns beiden das in Erfüllung gehen! Und möge unsere Fahrt mit gutem Wind und günstig sein, wohin immer 780 κείνοις µεθεῖναι ταῦτα, µὴ σαυτόν θ’ ἅµα κἄµ’, ὄντα σαυτοῦ πρόστροπον, κτείνας γένῃ. θάρσει προνοίας οὕνεκ’. οὐ δοθήσεται πλὴν σοί τε κἀµοί· ξὺν τύχῃ δὲ πρόσφερε. ἰδού, δέχου, παῖ· τὸν Φθόνον δὲ πρόσκυσον, µή σοι γενέσθαι πολύπον’ αὐτά, µηδ’ ὅπως ἐµοί τε καὶ τῷ πρόσθ’ ἐµοῦ κεκτηµένῳ. ὦ θεοί, γένοιτο ταῦτα νῷν· γένοιτο δὲ πλοῦς οὔριός τε κεὐσταλής, ὅποι ποτὲ

775

780

Versparung). | µήτ’ Hss. : µηδ᾿ Eustathios 1697,17 | µήτε : µηδὲ – da der folgende Ausdruck als steigernd aufgefasst werden kann (K.-G. II 290 g), ist nicht auszuschließen, dass Sophokles µηδὲ geschrieben hat. | τῳ τέχνῃ] vgl. Ai. 752 παντοίᾳ τέχνῃ, Herodot 1,112,1 µηδεµιῇ τέχνῃ. 772 ταῦτα (Hss) : Ø – gemeint ist der Bogen (τὰ τόξ᾿, 763). 773 πρόστροπον] das Wort nur noch OT 41 ~ προστρόπαιος, vgl. 930 τὸν προστρόπαιον, τὸν ἱκέτην. | κτείνας γένῃ] hervorhebende Umschreibung wie Ai. 588; vgl. K.-G. I 39. 774 προνοίας (Hss.) : προνοίας γ᾿ | οὕνεκ’] „soweit es ankommt auf“, Bruhn § 70. | οὐ δοθήσεται] zum Asyndeton vgl. zu 667. 777 γενέσθαι] Infinitiv nach πρόσκυσον (776) wie bei Verben des Betens. | αὐτά] der Bogen, vgl. zu 772. | ὅπως] sc. ἐγένετο, zu ὅπως ~ ὡς vgl. LSJ s. v. A. I. 4. 780 κεὐσταλής Trikl. : καὶ εὐσταλής (Hss.) – die Krasis ist metrisch notwendig.

Kommentar

247

772 ‚Bogen‘: Zuletzt wurde er in v. 763 benannt, hier steht nur ein Pronomen, das sich darauf zurückbezieht, in v. 774 ist ‚Bogen‘ als Subjekt des Verbs zu denken, in v. 777 wird wieder pronominal darauf Bezug genommen. Zum leichteren Verständnis wurde in der Übersetzung jeweils ‚Bogen‘ eingesetzt. 773 ‚Schutz‘: Philoktet hatte sich als Schutzflehender an Neoptolemos gewandt (Hikesie); vgl. 470 (mit Komm.); 484; 518 (mit Komm.). 774–775 Dieses Versprechen kann Neoptolemos sogar im Rahmen der Intrige halten. Denn wenn es gelingen sollte, Philoktet nach Troia zu bringen, und sie gemeinsam Troia erobern (vgl. 115), muss Odysseus den Bogen nicht bekommen. Ob Neoptolemos sein Versprechen so meint, lässt sich nicht klären. Im weiteren Handlungsgeschehen wird Odysseus jedenfalls den Bogen niemals erhalten (vgl. Kamerbeek). Die früher verlangte Rückgabe des Bogens (668) hatte Philoktet zuletzt nicht ausdrücklich erwähnt. Der abschließende Wunsch des Neoptolemos mag doppeldeutig sein: Philoktet kann während seines Anfalls bezüglich des Bogens beruhigt sein, und für Neoptolemos besteht der glückliche Umstand darin, dass er den Bogen bekommt (ähnlich Ussher). 776–778 Mit der Übergabe des Bogens ist faktisch wenigstens ein Teilziel der Intrige erreicht, aber nicht in erster Linie durch die Geschicklichkeit der Akteure; denn letztlich gibt der ‚Zufall‘ des akuten Anfalls den entscheidenden Impuls. Vgl. auch Pucci zu 762–63. Die zeitlich befristete (667 f.) Bogenübergabe nach dem Muster des Austauschs von Gastgeschenken (xenia) zu verstehen (Belfiore 1994, bes. 123), liegt wegen des situativen Kontextes nicht nahe. 776–777 (griechischer Text: 776) ‚wende betend den Neid (der Götter) ab‘, wörtl. ‚verehre fußfällig den Neid‘: Die von Philoktet empfohlene Verehrung des Phthonos legt nahe, dass er dabei an die personifizierte Missgunst seitens der Götter denkt (vgl. zur Vorstellung vom Neid der Götter Pindar, Isthmien 7,39; Herodot 1,32,1). Die ganz besondere, vielleicht von Apollon stammende Wunderwaffe (vgl. zu 198), die Neoptolemos wie einen Gott verehren wollte (657) – wobei dasselbe Wort für ‚verehren‘ (proskynein) gebraucht wird wie hier –, könnte den Besitzer dem Neid der Götter aussetzen, wobei Philoktet glaubt, es liege am Besitz des Bogens, dass er und Herakles durch neidische Götter vom Unglück heimgesucht würden (778; vgl. Jebb). Wenn der personifizierte Neid verehrt werden soll, dann natürlich, damit er nicht in Aktion tritt. So auch der Wortgebrauch bei Platon, Politeia 451 a 4. 779–781 Philoktet hatte das Gebet nur im Interesse des Neoptolemos empfohlen (777). Dieser bezieht die erwünschte Erfüllung jedoch ausdrücklich auf ‚uns beide‘ (Dual, 779; dass damit Neoptolemos und Odysseus gemeint sind, wie es Schein für möglich hält, ist sehr unwahrscheinlich). Neoptolemos erhofft sich bei seinem Wunsch nach der Erfüllung der Gebetsbitte vermutlich, dass der Bogen ihnen bei der gemeinsamen Eroberung Troias (115; 1335) kein Unglück bringen solle. Bei der Angabe des Fahrtziels äußert er sich aber so, dass nur der Zuschauer, nicht Philoktet versteht, was er wirklich meint. Es spricht nichts dafür, dass die unbestimmte Angabe des Fahrtziels bedeutet, Neoptolemos sei nun (anders als noch 582 f.) unsicher hinsichtlich des intendierten Fahrtziels (so Visser 1998, 165).

Zweites Epeisodion: 781–792

248

Ph.

Φι.

die Götter es für recht halten und unsere Fahrt gehen soll. Ich fürchte aber, mein Sohn, dass dein Gebet unerfüllt bleibt; denn wieder tropft mir da dunkel aus der Tiefe hervorquellend Blut, und ich erwarte einen neuen Anfall. pappai, weh! 785 pappai, noch mehr! Mein Fuß, was Schlimmes willst du mir antun! Das kriecht heran, kommt mir nahe! Weh mir, ich Elender! Ihr wisst, wie es steht; ergreift auf keinen Fall die Flucht! attatai! 790 Mein Freund aus Kephallenia, wenn doch dich – deine Brust durchdringend – dieser Schmerz im Griff hielte! Weh, pappai!

θεὸς δικαιοῖ χὠ στόλος πορσύνεται. † ἀλλὰ δέδοικ᾿, ὦ παῖ, µή µ᾿ ἀτελὴς εὐχή.† στάζει γὰρ αὖ µοι φοίνιον τόδ’ ἐκ βυθοῦ κηκῖον αἷµα, καί τι προσδοκῶ νέον. παπαῖ, φεῦ. παπαῖ µάλ’, ὦ πούς, οἷά µ’ ἐργάσῃ κακά. προσέρπει, προσέρχεται τόδ’ ἐγγύς. οἴµοι µοι τάλας. ἔχετε τὸ πρᾶγµα· µὴ φύγητε µηδαµῇ. ἀτταταῖ. ὦ ξένε Κεφαλλήν, εἴθε σοῦ διαµπερὲς στέρνων ἔχοιτ᾿ ἄλγησις ἥδε. φεῦ, παπαῖ.

785

790

782 † ἀλλὰ δέδοικ᾿, ὦ παῖ, µή µ᾿ ἀτελὴς εὐχή. † Dawe : ἀλλὰ (Hss.) : ἀλλ᾿ οὐ od. ἀλλ᾿ οὖν Trikl. : ἆ ἆ ἆ ἆ. Philp 1958, 220 (extra metrum, vor v. 782 anzuordnen). | δέδοικ᾿ Hss. : δέδοικα ⟨δ’⟩ Wunder | µή µ᾿ Hss. : µὴ Wunder | εὐχὴ (Hss.) : εὐχὴ τέκνον : εὐχὴ ⟨τύχῃ⟩ Wunder : εὐχὴ ⟨πέσῃ⟩ Pflugk – die Überlieferung ergibt einen dochmischen Dimeter, der (von anderen Problemen abgesehen) in der Folge der iambischen Trimeter nicht zu erklären ist; eine sichere Herstellung ist nicht möglich. In ἀλλὰ (ΑΛΛΑ) könnte der von Philp vermutete Ausruf extra metrum ἆ ἆ ἆ ἆ (ΑΑΑΑ) stecken, aber dieser Vorschlag ist paläographisch einleuchtender als sachlich. Denn Philoktet erwartet erst einen neuerlichen Anfall (784), und dazu passt der Schmerzensruf nach diesem Vers (785), aber weniger einer vor dieser Ankündigung; anders Ll.-J./W., Pucci und Schein, die die Konjekturen von Philp und Wunder übernehmen. 783 φοίνιον : φόνιον – nur φοίνιον passt metrisch. 787 προσέρπει (Hss.) : Ø : {προσέρπει} Dawe 1978, 129 f. (als Bühnenanweisung) – vgl. aber Ll.J./W.1. 788 µοι : Ø | τάλας] zum Nominativ vgl. 254. 789 ἔχετε] zur Bedeutung ‚kennen‘, ‚wissen‘ vgl. Ant. 9. 792 ἔχοιτ᾿ Hss. : ἵκοιτ’ Wakefield – ἔχοιτ᾿ ist mit σοῦ (791) zu verbinden, „cleave to thee“ (Jebb).

Kommentar

249

781 ‚Götter‘: im Griechischen Singular ohne Artikel; vgl. zu 464–465. ‚Fahrt gehen soll‘, wörtl. ‚Fahrt vorbereitet wird‘: Das Verb (porsynein) wird in ursprünglicher Bedeutung vom ‚Betten machen‘ gebraucht und steht hier in einer singulären Verbindung; durch die passive Form wird vermieden, die handelnde Person (Odysseus) anzugeben. Neoptolemos hofft, dass göttlicher Wille und menschliche Planung zu einem positiven Effekt übereinstimmen; vgl. Kamerbeek. 782–805 Philoktet fühlt eine weitere Phase des Anfalls kommen und befürchtet wieder, nicht mitgenommen zu werden (789). Schmerzgepeinigt wünscht er seine Qualen seinen Feinden an; die Schmerzen sind so stark, dass er sich den Tod herbeisehnt. Das ist offenkundig ein situationsbedingter Wunsch (vgl. auch 749), denn wenig später kann er Neoptolemos mit dem Hinweis beruhigen, dass der Anfall schnell vorübergeht (807 f.). Der erneut akut werdende Anfall wird nicht nur durch den Inhalt der Aussagen, sondern auch durch eine Reihe von Schmerzensrufen vermittelt, die teils in die Verse integriert sind (786; 792; 793), teils extra metrum stehen (785; 790; 796), sowie durch Äußerungen extra metrum (787; 804; vgl. TS zu 750): Die Ausnahmesituation lässt eine ‚normale‘ Redeweise nicht zu. 782 Der Vers ist korrupt überliefert. Der Sinn dürfte der in der Übersetzung ausgedrückte sein, die sich inhaltlich an den Konjekturen von Wunder orientiert (vgl. TS): Philoktet hat Neoptolemos’ Worte (779–781) auf seine Heimfahrt bezogen und sieht sie durch seinen Anfall gefährdet. 783 ‚tropft‘: Kennzeichen des kommenden (787 f.) Anfalls, bevor das aus der aufbrechenden Wunde herausquellende Blut dann offenbar Erleichterung bringt; vgl. zu 823–826. ‚dunkel‘: Das griechische Wort (phoinios) heißt eigentlich ‚blutig‘, hier geht es – als Epitheton zu ‚Blut‘ (784) – auf dessen Farbe. Dass dunkles Blut gemeint ist, wird vv. 824 f. klar. 784 ‚neuen Anfall‘, wörtl.: ‚etwas Neues‘, mit negativer Konnotation wie öfter; vgl. zu 52. 785–786 Zu den Ausrufen pappai und attatai (790) vgl. zu 743. ‚Fuß‘: Als Verursacher des Leidens ist er ein feindliches Gegenüber. 789 Zu Philoktets Angst, verlassen zu werden, vgl. auch 757; 809. 791 ‚Freund‘: Das griechische Wort (xenos) heißt ‚Fremder‘ (vgl. zu 232), aber auch ‚Gastfreund‘, und ist in letzterer Bedeutung hier in Bezug auf Odys– seus ironisch gebraucht. ‚Kephallenia‘: vgl. zu 264. 791–792 Philoktet wünscht, dass Odysseus den Schmerz, den er selbst anfallsweise hat, fühlen muss, und das nicht ‚nur‘ am Fuß, sondern die Brust durchdringend (diamperes), wie es mit einer an Homer angelehnten Wendung heißt, wo diamperes vom durchdringenden Stich der Waffe gesagt werden kann (Ilias 5,658; 12,429). 792 ‚Schmerz‘: Das im klassischen Griechisch seltene Wort (algēsis) – vgl. noch Aristophanes, Thesmophoriazusen 147 – bezeichnet von der Bildung her den Vorgang des Schmerzes (~ Schmerzempfindung). Vgl. auch Schein.

Zweites Epeisodion: 793–800

250

pappai, noch einmal! Ihr beiden Feldherren, {Agamemnon, Menelaos, könntet ihr doch statt meiner} möchtet ihr doch die gleiche Zeit (wie ich) diese Krankheit nähren! 795 Weh mir! O Tod, Tod, warum kannst du, ständig so sehr herbeigerufen jeden Tag, niemals kommen? Mein Sohn, du Edler, auf, ergreife mich und mit diesem Feuer, das man das Lemnische nennt, 800 παπαῖ µάλ’ αὖθις. ὦ διπλοῖ στρατηλάται, {Ἀγάµεµνον, ὦ Μενέλαε, πῶς ἂν ἀντ’ ἐµοῦ} τὸν ἴσον χρόνον τρέφοιτε τήνδε τὴν νόσον. ὤµοι µοι. ὦ Θάνατε, Θάνατε, πῶς ἀεὶ καλούµενος οὕτω κατ’ ἦµαρ οὐ δύνῃ µολεῖν ποτε; ὦ τέκνον, ὦ γενναῖον, ἀλλὰ συλλαβὼν τῷ Ληµνίῳ τῷδ’ ἀνακαλουµένῳ πυρὶ

795

800

793 µάλ’] verstärkt αὖθις, Bruhn § 247, 16. {794} E. Philipp – Agamemnon und Menelaos werden im Philoktet sonst nie mit Namen genannt, sondern immer umschrieben, entweder als Atreus-Söhne oder als Feldherren (264; 793; 873; 1023 f.); die auf die Umschreibung (793, wie bei Odysseus [791], den Philoktet auch nie mit Namen anredet) noch folgende namentliche Anrede (794) ist daher höchst verdächtig, und so gibt es gute Gründe für die Athetese von v. 794 (vgl. auch West 1984, 185), auch wenn Ll.-J./W.2 inzwischen an ihrer in der Ausgabe vorgenommenen Tilgung zweifeln. | πῶς ἂν] vgl. zu 531–532 (Wunsch in Frageform). 795 τρέφοιτε (Hss.) : νέµοιτε – vgl. 313 u. 1167 zum Gedanken des Nährens der Krankheit. 797 Θάνατε, Θάνατε] in der Serie der Personenanrufungen ist auch der Tod als Personifikation vorzustellen, nach moderner Konvention großgeschrieben. 798 οὕτω] steigernd zum vorangehenden Wort, vgl. z. B. Aisch. Sept. 1056 πρuµνόθεν οὕτως. 799 ὦ τέκνον, ὦ γενναῖον] Wiederholung der Interjektion ὦ zur Steigerung des Nachdrucks statt bloßem ὦ τέκνον γενναῖον (K.-G. I 49).

Kommentar

251

793–795 Philoktet bezieht in seine Verwünschung nun auch die AtreusSöhne (die ‚Feldherren‘) mit ein, d. h., er meint alle, die er für seine Aussetzung verantwortlich macht: Sie sollten ebenso lange wie er diese Krankheit (in ihrer chronischen Erscheinung und in ihren Anfällen) ertragen müssen. 794 Der Vers ist wahrscheinlich unecht (vgl. TS). Hielte man ihn für echt, müsste in der Übersetzung von v. 795 die Formulierung des Wunsches (‚möchtet ihr doch‘) weggelassen werden. 795 ‚Krankheit nähren‘: Zu dieser Metapher vgl. 313; 1167. 797–798 Vgl. Aischylos, Philoktet F 255,1 Radt, wo Philoktet den Tod als Heiler anruft und ihn zu kommen bittet. 799–803 Da der Tod nicht von selbst komme, möchte Philoktet von Neoptolemos ebenso verbrannt und von seinen Schmerzen erlöst werden, wie er dies für Herakles durch die Entzündung von dessen Scheiterhaufen getan hat. 800 ‚Lemnisches Feuer‘ war als heftiges Feuer bekannt (Bakchylides 18,55 f.; Aristophanes, Lysistrata 299; Lykophron, Alexandra 227). Lemnos galt als mit dem Schmiedegott Hephaistos verbunden, da er dort gepflegt wurde, als ihn Zeus vom Olymp geworfen hatte (Homer, Ilias 1,590–594). Auf Lemnos sollen Feuer und Waffenherstellung erfunden worden sein (Hellanikos, FGrHist / BNJ 4 F 71 b u. c); Philoktet spricht selbst vom allbeherrschenden, von Hephaistos geschaffenen Feuerglanz (986). Verschiedentlich werden (Vulkan-)Krater auf Lemnos erwähnt (z. B. im Scholion zu v. 800). Der um 400 v. Chr. zu datierende Antimachos von Kolophon weiß von einem Feuer, das Hephaistos hervorbringe; der Dichter lokalisiert es auf dem Berg Mosychlos (fr. 46 Wyss = 52 Matthews). Antimachos verwendet dieses Feuer als Bezugsgröße in einem Vergleich, er muss es also als bekannt vorausgesetzt haben (weitere antike Zeugnisse zu vulkanischen Erscheinungen bei Forsyth 1984, 6–10). In historischer Zeit gab es zwar auf Lemnos keinen aktiven Vulkan (vgl. Masciadri 2008, 131–133; Ficuciello 2013, 171 f.), jedoch ist ein heutzutage versiegter ‚sekundärer Vulkanismus‘, d. h. entflammbare Gasaustritte, welche die zahlreichen antiken Nachrichten erklären könnten, nicht auszuschließen (Forsyth 1984, 12–14; Ficuciello 2013, 172). Daher muss die Kunde vom Lemnischen Feuer ihren Ursprung zumindest nicht ausschließlich in einer Kultbegehung (vgl. Philostrat 53,5 f. de Lannoy) haben, wie Burkert (1970, 5 f.) meint. ‚diesem‘: Das deiktische Pronomen bedeutet, dass Philoktet das mit Lemnos verbundene Feuer vor seinem geistigen Auge sieht; es ist nicht real ‚da‘. ‚das man das Lemnische nennt‘: Das griechische Wort anakalein kann (u. a.) heißen ‚etwas mit Namen benennen‘, indem man es gewissermaßen mit Namen anruft (El. 693; Thukydides 1,3,3; 7,70,8). Es wäre dann indirekt auf das besondere Feuer von Lemnos, das mit dem Hephaistos-Kult verbunden ist (v. 986), angespielt. Alternativ könnte das Wort, wenn eine direkte Bezugnahme auf den Kultvorgang vorliegen sollte, in einem magisch-rituellen Sinn ‚herauf- bzw. hervorrufen, sodass das Feuer zum Vorschein kommt‘, bedeuten (‚das als das Lemnische hervorgerufen wird‘); vgl. Aisch. Pers. 621; Eur. Hel. 966; Radermacher 1911 z. St.; Burkert 1970, 5; Masciadri 2008, 239 ff.

Zweites Epeisodion: 801–806

252

Ne.

Νε.

verbrenne mich, du Edler; auch ich – weißt du – habe einst dem Sohn des Zeus für diesen Bogen, den du jetzt bewahrst, dies zu tun für recht gehalten. – Was sagst du dazu, Sohn? Was sagst du dazu? Warum schweigst du? Wo bist du denn (mit deinen Gedanken), Sohn? Schon lange fühle ich Schmerz, klagend über das Leid, das auf dir lastet. ἔµπρησον, ὦ γενναῖε· κἀγώ τοί ποτε τὸν τοῦ Διὸς παῖδ’ ἀντὶ τῶνδε τῶν ὅπλων, ἃ νῦν σὺ σῴζεις, τοῦτ’ ἐπηξίωσα δρᾶν. – τί φής, παῖ; τί φής; τί σιγᾷς; ποῦ ποτ’ ὤν, τέκνον, κυρεῖς; ἀλγῶ πάλαι δὴ τἀπὶ σοὶ στένων κακά.

803 σὺ : Ø : σοι – σοι ist sinnwidrig. κυρεῖς gehörigen Partizips.

805

805

805 ὤν : ὦ – ὦ (τέκνον) ist eine Fehldeutung des zu

Kommentar

253

801–803 Als Herakles die Qualen, die durch das mit dem giftigen Blut des Kentauren Nessos getränkte Gewand ausgelöst waren, mit dem Tod auf einem Scheiterhaufen beenden wollte, weigerte sich sein Sohn Hyllos, diesen anzuzünden (vgl. Tr. 1206–1215). Nach der hier vorliegenden Version hat Philoktet diese Aufgabe übernommen und dafür den Bogen vom Zeus-Sohn Herakles erhalten (vgl. auch Diodor 4,38,4; Ovid, Metamorphosen 9,229–234; Seneca [?], Hercules Oetaeus 1648–1660; 1715–1727; Hyginus, Fabula 36; LIMC V 1, 1990, 128 C u. D). In anderer Überlieferung wird diese Tat Philoktets Vater Poias zugeschrieben (Ps.-Apollodor, Bibliothek 2,160). Vgl. Gantz 1993, 458 f. Ein weiteres Mal wird die besondere Nähe zwischen Philoktet und Herakles thematisiert (vgl. zu 727–729, sowie vv. 1131 f.), wobei die Parallelität ihres Schicksals, auf die Herakles später verweist (1418–1422), sich hier ganz konkret durch den Feuertod realisieren würde. 803 ‚du‘: Im Griechischen durch die Setzung des grammatisch nicht notwendigen Personalpronomen hervorgehoben. Es ist, als ob Philoktet die (wenn auch nur temporäre) Sukzession Herakles – Philoktet – Neoptolemos ausdrücken wollte. Auf jeden Fall hält er Neoptolemos (‚du Edler‘, 801) für würdig (wie er selbst war), für das Entzünden des Feuers den Bogen zu übernehmen. 804–805 Neoptolemos reagiert mit einem vielsagenden Schweigen: Vermutlich ist das als ein Signal zu verstehen, dass ihn der verzweiflungsvolle Schmerz Philoktets und dessen vertrauensvolle Hochschätzung, die in Gegensatz steht zu seinem eigenem intriganten Vorgehen, sehr verunsichert. ‚Was sagst du dazu?‘: Die übliche (zu wörtliche) Übersetzung ‚Was sagst du?‘ gibt eine falsche Nuance. Die Frage zielt nicht auf den Inhalt der Aussage, Neoptolemos sagt ja nichts, sondern Philoktet fordert – nach einer kleinen Pause, weil keine verbale Reaktion erfolgt – nachdrücklich (durch Wiederholung) ein, dass Neoptolemos etwas sagt (fast gleichbedeutend mit: ‚Sag doch etwas!‘). ‚Wo bist du denn …?‘: Natürlich weiß Philoktet, wo sich Neoptolemos befindet. Die Frage bezieht sich auf dessen mentalen Zustand. 806 Statt einer konkreten Antwort bekundet Neoptolemos sein Mitleid, was man angesichts seines vorherigen Schweigens als Ausdruck einer echten Emotion werten kann. ‚Schon lange‘: vgl. auch zu 589. Wie weit der Rückbezug hier geht, wird unterschiedlich beurteilt und lässt sich nicht genau festlegen (vgl. Visser 1998, 182). Es kann nur ein Zeitpunkt innerhalb der Tragödienhandlung gemeint sein, aber es erscheint Neoptolemos in seiner seelischen Affektion subjektiv lang (vgl. auch Jouanna 2004, 30 f). Die erste eindeutige Ä u ß e r u n g des Mitfühlens gegenüber Philoktet findet sich jedenfalls in den vv. 759–760/1.

Zweites Epeisodion: 807–814

254 Ph. Ne. Ph. Ne. Ph.

Hab auch Zuversicht, mein Sohn; denn diese Krankheit überkommt mich immer heftig und geht schnell wieder weg. Aber trotzdem flehe ich dich an: Lass mich nicht allein zurück! Sei unbesorgt, wir bleiben. Ph. Wirst du bleiben? Ne. Sei dessen sicher! Nicht verlange ich, dich durch einen Eid zu binden, Sohn. Gewiss, denn heiliges Recht verbietet es mir, ohne dich zu gehen. Gib mir deine Hand zur Bekräftigung! Ne. Ich gebe sie: Wir werden bleiben.

810

Neoptolemos reicht Philoktet die Hand. Ph.

Dorthin nun (lass) mich, dorthin …

Φι.

ἀλλ’, ὦ τέκνον, καὶ θάρσος ἴσχ’· ὡς ἥδε µοι ὀξεῖα φοιτᾷ καὶ ταχεῖ’ ἀπέρχεται. ἀλλ’ ἀντιάζω, µή µε καταλίπῃς µόνον. θάρσει, µενοῦµεν. Φι. ἦ µενεῖς; Νε. σαφῶς φρόνει. οὐ µήν σ’ ἔνορκόν γ’ ἀξιῶ θέσθαι, τέκνον. ὡς οὐ θέµις γ’ ἐµοὔστι σοῦ µολεῖν ἄτερ. ἔµβαλλε χειρὸς πίστιν. Νε. ἐµβάλλω µενεῖν. ἐκεῖσε νύν µ’, ἐκεῖσε – Νε. ποῖ λέγεις; Φι. ἄνω –

Νε. Φι. Νε. Φι. Φι.

Ne. Wohin, meinst du? Ph. Nach oben …

810

807 ἥδε] sc. νόσος (vgl. 795), obwohl zuletzt von κακά (806) die Rede war; vgl. K.-G. I 57 Anm. 3. 808 ὀξεῖα … ταχεῖ’] adverbieller Gebrauch des Adjektivs (K.-G. I 275 c). | φοιτᾷ] vom Kommen einer Krankheit, vgl. Hesiod, Erga 102 f. (Ussher). 809 ἀλλ᾿] Philoktet rechtfertigt seine Bitte, für die, wie er glauben machen will, eigentlich kein Anlass besteht, da so ein Anfall schnell vorübergehe; Schein fasst ἀλλὰ adhortativ auf. 810 σαφῶς φρόνει] vgl. OT 1038 λῷον φρονεῖ (φρονεῖν ~ ‚wissen‘, vgl. Ellendt s. v.). 811 οὐ µήν] emphatische Verneinung (GP 331), vgl. OC 650 οὔτοι σ᾿ ὑφ᾿ ὅρκου γ᾿ ὡς κακὸν πιστώσοµαι. | γ’ : Ø 812 ὡς] vgl. zu 117. | ἐµοὔστι Hermann : ἐµοί ᾿στι (Hss.) : ἔµ᾿ ἴσθι – Krasis aus ἐµο(ί) ἐστι, vgl. Aisch. Eum. 913 σοὔστι. 813 ἔµβαλλε χειρὸς πίστιν] pertinentiver Genitiv in der Funktion eines instrumentalen Dativs „(‚durch Handschlag gegeben‘)“, Schwyzer II 121. | µενεῖν : µένειν – Futur ist hier passender. 814 νύν Blaydes : νῦν Hss. – vgl. zu 576. | µ᾿ : Ø – ohne µ᾿ ergäbe sich kein Bezug zwischen dem Wunsch Philoktets und Neoptolemos’ Verhalten.

Kommentar

255

807–808 Philoktet merkt, dass Neoptolemos realisiert hat, wie es jetzt um ihn steht, fürchtet, dass der deswegen Bedenken haben könnte, ihn mitzunehmen (vgl. zu 758–759; 789), und sucht ihn mit dem Hinweis auf die kurze Dauer eines solchen Anfalls zu beruhigen. Vgl. Schmidt 1973, 146, und zu 809–813. Zum anfallsweisen Auftreten des Leidens vgl. 758 f. 807 ‚auch‘: D. h., empfinde nicht nur Schmerz. 809–813 Nach den Erfahrungen mit anderen, die ihn nicht mitgenommen haben (310 f.), ist Philoktet bei aller Zuversicht, zu der er Neoptolemos ermutigt hatte (807 f.), in höchster Sorge, dass man seinen Anfall ausnutzen könnte, ihn allein zurückzulassen (809; 810 b). Nach Neoptolemos’ entschiedener Zusicherung zu bleiben, verzichtet Philoktet zwar ausdrücklich auf eine eidliche Verpflichtung (811), die ihm als ein unangemessenes Misstrauen gegenüber der (vermuteten) edlen Gesinnung des Neoptolemos erschienen wäre (vgl. zu diesem Gedanken Ödipus gegenüber Theseus in OC 650), möchte aber doch wenigstens die Zusicherung durch einen Handschlag (Herakles verlangte von seinem Sohn Handschlag und Eid, Tr. 1181–1190). 811 Zum Problem der eidlichen Verpflichtung vgl. zu 941; 1367–1369. 810 Der zweifache Sprecherwechsel weist auf die Dramatik der Situation. 812 ‚heiliges Recht verbietet es mir‘, wörtl. ‚es ist nicht heiliges Recht für mich‘: Neoptolemos’ Versprechen ist doppelsinnig. Einerseits gründet es in der religiösen Verpflichtung (themis) gegenüber dem Schutzflehenden (470), der nach Hause gebracht werden will (468 ff.) – und nur so wird es Philoktet verstehen. Andererseits entspricht Neoptolemos damit der auf die Weissagung des Helenos zurückgehenden (610–613; vgl. auch 841 [Jebb]) Verpflichtung gegenüber Odysseus und dem Heer (vgl. Schein), Philoktet mit seinem Bogen nach Troia zu bringen. Eine Erfüllung der Zusage im Sinne Philoktets, wozu es später beinahe kommen wird (1402 ff.), zieht er hier kaum in Betracht. 813 ‚Gib mir deine Hand zur Bekräftigung!‘, wörtl. ‚Gib mir durch Handschlag ein Versprechen! Vgl. TS. Zum Handgeben als Gestus der Zusicherung vgl. Tr. 1181–1190; OC 1632. 814 ‚Dorthin ... nach oben‘: Zu Neoptolemos’ durch Handschlag bekräftigte Zusicherung zu bleiben äußert sich Philoktet nicht, sondern entgegnet: (wörtl.) ‚Dorthin nun mich, dorthin‘. Dabei impliziert das Pronomen ‚mich‘, dass er die Erfüllung des Verlangens nach ‚dorthin‘ von einem Gegenüber erreichen will. Daher ist eine Aufforderung an Neoptolemos (der ihn wohl noch an der Hand hält, vgl. zu 815–818) zu ergänzen, ihn loszulassen (wie 816, wo Philoktets Verlangen eskaliert). Philoktets nähere Erklärung ‚nach oben‘ zu wollen, und sein gleichzeitiger Blick zum Himmel (815) sprechen dafür, dass mit ‚dorthin‘ kein „diesseitiges Ziel“ gemeint ist (Reinhardt 1947, 189), etwa nach oben zur Höhle (so z. B. Mastronarde 1979, 66). Vielmehr handelt es sich wohl um einen Wunsch nach Entrückung im Sinne von nicht mehr ‚da‘ sein zu wollen (vgl. Eur. Ion 796–799; Hipp. 732–734; Linforth 1956, 124 Anm. 22; Kamerbeek). Der zweifache Sprecherwechsel deutet auch hier wieder auf eine besondere Erregtheit.

256 Ne. Ph. Ne. Ne. Ph.

Zweites Epeisodion: 815–820

Was bist du wieder von Sinnen? Warum blickst du zum Himmelsrund? Lass, lass mich los! Ne. Wohin soll ich dich lassen? Ph. Lass mich endlich los! Nein, ich erlaub’ es nicht. Ph. Du richtest mich zugrunde, wenn du zufasst! Gut, ich lasse dich los, wenn du’s denn wirklich besser weißt. O Erde, nimm mich Todgeweihten auf, so wie ich bin; denn dieses Leiden lässt mich nicht mehr aufrecht stehen.

815

820

Philoktet sinkt auf die Erde nieder. Neoptolemos steht daneben, den Bogen in der Hand. Νε. Φι. Νε. Νε. Φι.

τί παραφρονεῖς αὖ; τί τὸν ἄνω λεύσσεις κύκλον; µέθες µέθες µε. Νε. ποῖ µεθῶ; Φι. µέθες ποτέ. οὔ φηµ’ ἐάσειν. Φι. ἀπό µ’ ὀλεῖς, ἢν προσθίγῃς. καὶ δὴ µεθίηµ’, ⟨εἴ⟩ τι δὴ πλέον φρονεῖς. ὦ γαῖα, δέξαι θανάσιµόν µ’ ὅπως ἔχω· τὸ γὰρ κακὸν τόδ’ οὐκέτ’ ὀρθοῦσθαί µ’ ἐᾷ.

815

820

817 ἀπό µ’ ὀλεῖς] Tmesis, bei Sophokles fast durchweg nur am Anfang des Satzes (K.-G. I 534, 6); vgl. Tr. 1008 ἀπολεῖς µ᾿. | προσθίγῃς] das Verb kann auch vom Handgeben gebraucht werden (Eur. IA 339). Der in diesem Zusammenhang schwierige Aorist (vgl. Telò 2001, 236) ist vermutlich so zu verstehen, dass Philoktet den Akt des bereits geschehenen Zufassens hervorhebt, und nicht so, dass er Neoptolemos vor einem bevorstehenden Zufassen warnen will. Der Ausdruck ist äquivalent zu ‚wenn du mich nicht loslässt‘, wie man µηδὲ προσψαύσητ’ ἔτι (1054) übersetzen kann „take your hands off him!“ (Lloyd-Jones 1998). 818 καὶ δὴ] in Antworten auf einen Befehl, „often with a word of the command echoed“ (GP 251 f.); vgl. 816. | ⟨εἴ⟩ τι δὴ Hermann : τί δὲ δὴ : σε τί δὴ Trikl. : τι δὴ – εἰ … δή „ ‘if really’ “ (GP 223 f.). | φρονεῖς] wie 810, ‚wenn du mehr Einsicht hast (als ich)‘, vgl. Campbell 1881 z. St.; Kamerbeek. 820 τόδ’ : τοῦτ᾿ – die deiktische Funktion ist bei τόδ’ ausgeprägter.

Kommentar

257

815–818 Neoptolemos versteht nicht, wohin Philoktet will, deutet dessen Verlangen (814 f.) als Verwirrtheit und hält ihn deswegen fest – weiter an der Hand oder vielleicht auch an anderer Stelle des Körpers (soweit das Neoptolemos mit dem Bogen in der Hand möglich ist) –, bis er schließlich auf dessen heftiges Verlangen hin ihn loslässt (818). Schein (z. T. nach Telò 2001, 234– 238) ist der Ansicht, nach dem Handschlag habe kein physischer Kontakt mehr bestanden, vielmehr blockiere Neoptolemos Philoktet den Weg und gebe schließlich den Weg frei. Dass Philoktet nicht berührt werden wolle (763), spreche gegen die Vorstellung, Neoptolemos lege seine Hände auf ihn, um ihn zurückzuhalten. Aber der Satz ‚Du richtest mich zugrunde, wenn du zufasst!‘ (817) ist keine plausible Reaktion auf jemanden, der sich in den Weg stellt. Auch das Niedersinken Philoktets, nachdem Neoptolemos losgelassen hat (819 f.), deutet nicht darauf hin, dass Philoktet weggehen wollte. Dass er die Berührung nicht (weiter) aushalten kann, ist klar (817), aber den Handschlag wollte er, und daraus kann sich ein Festhalten (vgl. auch Kamio 1988, 24) organisch ergeben. – Vgl. zum Nicht-berührt-werden-Wollen bei akutem Schmerz das Verhalten des Herakles (Tr. 1007 f.) sowie des Hippolytos (Eur. Hipp. 1358 f.; 1372); vgl. Kaimio 1988, 17 mit Anm. 30. 815 ‚wieder‘: Wie zu Anfang des Auftretens seines Schmerzanfalls (732 ff.); Neoptolemos denkt vielleicht besonders an den Wunsch Philoktets, ihm seinen Fuß abzuhauen (747–749). ‚Himmelsrund‘, wörtl. ‚Kreis‘ (kyklos): Verkürzt für ‚Kreis des Himmels‘, wie es bei Herodot (1,131,2) vollständig heißt. 817 ‚richtest mich zugrunde‘: So hat Sophokles in den Trachinierinnen (1008) auch den sterbenden Herakles sich äußern lassen, als man ihn anfasste. 818 Nachdem Philoktet zu erkennen gegeben hat, dass er die Berührung durch Neoptolemos nicht aushalten kann (817), lässt dieser ihn schließlich los, weil er – nicht ganz überzeugt – akzeptieren muss, dass Philoktet besser weiß, was für ihn in der gegebenen Situation das Richtige ist. Dass Philoktet jetzt wieder etwas ‚vernünftiger‘ geworden wäre, wie meist verstanden wird, lässt sich aus dem Text nicht erkennen. 819–820 Philoktet fühlt sich wie zum Tode bestimmt, auf das Streben nach ‚oben‘ folgt das Niedersinken des Kranken auf die Erde. Vgl. Reinhardt 1947, 190. 819 ‚so wie ich bin‘, d. h. ohne weitere Umstände, „here and now“ (Jebb); vgl. Ant. 1108.

258

Zweites Epeisodion: 821–826 / Chorlied

⟨Ch.⟩ Den Mann wird, scheint es, der Schlaf in Kürze umfangen; denn sein Haupt, sieh, neigt sich nach hinten über. Ne. Ja, Schweißtropfen perlen über seinen ganzen Körper, und schwarz ist ihm vorn am Fuß aufgebrochen eine Ader, blutend. Wir wollen ihn, Freunde, in Ruhe lassen, damit er in Schlaf fällt. ⟨Χο.⟩ τὸν ἄνδρ’ ἔοικεν ὕπνος οὐ µακροῦ χρόνου ἕξειν· κάρα γὰρ ὑπτιάζεται τόδε. Νε. ἱδρώς γέ τοί νιν πᾶν καταστάζει δέµας, µέλαινά τ’ ἄκρου τις παρέρρωγεν ποδὸς αἱµορραγὴς φλέψ. ἀλλ’ ἐάσωµεν, φίλοι, ἕκηλον αὐτόν, ὡς ἂν εἰς ὕπνον πέσῃ.

825

825

Es folgt ein Chorlied mit eingeschobenem Rezitativ des Neoptolemos (827– 864), Text mit Einzelkommentierung ab S. 260.

821–822 Zuweisung zum Chor Dawe 1978, 130 f., Avezzù : zu Neoptolemos Hss., die meisten Herausgeber – in v. 823 kann γέ τοί kaum restriktiv (GP 551 [4] [ii]) oder (selteneres Vorkommen) emphatisch sein (GP 551 [4] [iii]), sondern hat am ehesten die Funktion „Giving a reason, valid so far as it goes, for accepting a proposition“ (GP 550 [4] [i]). Dieser Gebrauch kommt regelmäßig in der Antwort auf die Feststellung eines anderen vor; vgl. z. B. Ai. 534; Tr. 234; vgl. außerdem Komm.; anders Ll.-J./W.1 zu v. 823. 821 οὐ µακροῦ χρόνου] Genitiv zur Bestimmung der Zeit, innerhalb derer etwas geschieht, K.-G. I 386. 823 γέ (Hss.) : δὲ „Paris. gr. 2886 (i.e. Aristobulus Apostolides)“, Dindorf – vgl. zu 821– 822. | νιν … δέµας] vgl. zu 747–748. 824 ἄκρου … ποδὸς] gen. separativus: das Blut bricht vom Fuß aus hervor (824 f.). 825 αἱµορραγὴς] kommt im klassischen Griechisch nur hier vor, vgl. aber Hippokrates, De visu 3 ῥαγῇ αἷµα, De morbis I 3 φλέβα αἱµόρροον, sowie Schein. 826 ὡς Hss. : ἕως Wecklein – ὡς ἂν vgl. 129 und Moorhouse 285 f.

Kommentar

259

821–822 Nach den Handschriften spricht diese Verse Neoptolemos, sie gehören aber wahrscheinlich dem Chorführer: Es gibt in v. 823 ein sprachliches Signal (ge toi), das auf die bestätigende Antwort (vgl. 823–826) eines anderen und somit auf einen Sprecherwechsel weist (vgl. TS). Geht man davon aus, dass hier Zwischenverse des Chorführers vorliegen, ergibt sich eine Überleitung vom Dialog zwischen Neoptolemos und Philoktet zur folgenden Interaktion zwischen Neoptolemos und dem Chor (823–866). 822 ‚sieh‘ gibt das an Neoptolemos gerichtete deiktische Pronomen tode (‚hier‘, ‚da‘) wieder. 823–826 Neoptolemos vertraut auf Philoktets Aussage, dass der Anfall schnell vorbeigeht (807 f.), und deutet daher dessen Zusammenbrechen als Zeichen eines bevorstehenden Erschöpfungsschlafs, wie ihn Philoktet beschrieben hatte (vgl. 766–769). ‚Schweißtropfen‘: Nach Hippokrates (Prognostikon 6) ist Schweiß ein Zeichen dafür, dass der Patient besser mit der Krankheit zurechtkommt. Offenbar versteht Neoptolemos auch das Aufbrechen der Ader (nach dem Tröpfeln, 783 f.) als Indiz der Erleichterung, sodass jetzt nur ein Schlaf zur Erholung folgen muss.

827–864 Chorlied Bei diesem aus Strophe, Gegenstrophe und Epode bestehenden Chorlied, bei dem zwischen Strophe und Gegenstrophe vier daktylische Hexameter des Neoptolemos stehen, handelt es sich nicht um einen Kommos (so z. B. Jebb; Schein), bzw. um einen lyrischen Dialog (so Taplin 1977, 247 mit Anm. 3); denn dazu müssten die Hexameter nicht nur gesungen werden, was wahrscheinlich nicht der Fall ist (vgl. zu 839–842), sondern auch in die Chorstrophen integriert sein (vgl. zur Gattungsproblematik auch Lameere 1985, 159 f.). Dafür, dass die Strophe von einem Halbchor gesungen werde, die Gegenstrophe vom anderen, die Epode vom Gesamtchor (so Jebb), gibt es kein Indiz; vgl. auch Goldhill 2012, 127. Der Chor singt mit gedämpfter Stimme (vgl. zu 844–846). Das Lied ist entgegen dem Eindruck, den sein Anfang erwecken kann, „alles andere als ein Schlaflied …, vielmehr ein Lied der leisen, aber um so stärkeren Verführung zum Verrat“ (Reinhardt 1947, 190). Das durchgehende, wenn auch verhüllt vorgetragene Anliegen des Chors ist es, Neoptolemos, der mit Handschlag versichert hatte zu bleiben (810–813), dazu zu bewegen, die Situation auszunutzen und mit dem Bogen wegzufahren; jedenfalls versteht Neoptolemos die Worte des Chors so (839 f.), und der widerspricht nicht. Vgl. Visser 1998, 136–142, in Auseinandersetzung mit anderen Deutungen (vgl. aber zu 843); Schein, S. 246 f.; anders Günther 1996, 132 f. Das Stasimon (bes. 718–729) und dieses Chorlied zeigen – bei unterschiedlicher Argumentation im Einzelnen – die gleiche Grundhaltung des Chors, die Intrige zu unterstützen; ein Widerspruch (so Kitzinger 2008, 113 f.) besteht daher nicht.

260 Ch.

Χο.

Chorlied: 827–832

Schlaf, der du Schmerz, Schlaf, der du Beschwerden nicht kennst, mögest du kommen, wir bitten dich, mit sanftem Wehen, glückbringend, glückbringend, Herr! Vor seine Augen halte (weiter) diesen Heilglanz, der jetzt vor ihnen ausgebreitet ist! Komm, komme, ich bitte dich, du Heilbringer! Ὕπν’ ὀδύνας ἀδαής, Ὕπνε δ’ ἀλγέων, εὐαὴς ἡµῖν ἔλθοις, εὐαίων, εὐαίων, ὦναξ· ὄµµασι δ’ ἀντίσχοις τάνδ’ αἴγλαν, ἃ τέταται τανῦν. ἴθι ἴθι µοι, Παιών.

Strophe

830/1

στρ. 830/1

827 Ὕπ'ν’ (ῡ), aber Ὕ'πνε (ῠ), zur unterschiedlichen Positionsbildung vgl. zu 296. | Ὕπν’ … ἀδαής] zum prädikativen Adjektiv vgl. zu 760/1 (δύστηνε). | δ᾿] das bei Anaphora meist übliche korrespondierende µέν fehlt hier (GP 163). 828–829 εὐαίων, εὐαίων Trikl. : εὐαίων (Hss.) – vgl. 844 f. βαιάν µοι, βαιάν, ὦ. | εὐαίων] vgl. Eur. Ion 125–127 ὦ Παιάν, εὐαίων εὐαίων εἴης (Pucci). 829 ὦναξ (Hss.) : ἄναξ +Wilamowitz | ὄµµασι : ὄµµασιν | ἀντίσχοις Musgrave (so im Lemma des Scholions) : ἀντέχοις Hss. : ἀµπίσχοις Burges – die Textentscheidungen zu v. 829 sind metrisch begründet. 830 αἴγλαν Hss. : ἀχλὺν Reiske – vgl. Komm. 830–831 αἴγλαν, ἃ τέταται] vgl. Ant. 600 ἐτέτατο φάος. 832 ἴθι ἴθι (Hss.) : ἴθι µοι ἴθι : ἴθι δ᾿ ἴθι Hermann – vgl. zum Hiat bei solchen Wendungen Ant. 1328 ἴτω ἴτω.

Kommentar

261

827–838 Die Strophe ist zweigeteilt. 827–832: Anrufung des personifizierten Schlafs; 833–838: Aufforderung an Neoptolemos, sich zu entscheiden. 827–832 Diese Verse haben die Form eines Paians. Paiane sind Kultlieder an helfende Götter, oft an Apollon gerichtet (frühester Beleg Homer, Ilias 1,473). ‚Paian‘ kann aber auch einen (ursprünglich selbstständigen) Gott bezeichnen (Homer, Ilias 5,401) und als Beiname für Götter verwendet werden. Ein Adressat für Paiane ist der Heilgott Asklepios (vgl. zu 1437), für den auch Sophokles selbst als Paian-Dichter bezeugt ist (fr. 737 PMG; Pai. 32 Käppel); vgl. Conolly 1998, 3 f. Der vergöttlichte Schlaf (Hypnos), der nach Homer (Ilias 14,230 f.) auf Lemnos anzutreffen ist und hier als Heilbringer (Paiōn) angerufen wird (832), hat eine Kultverbindung zu Asklepios (vgl. Haldane 1963, 54), der auch selbst den Beinamen Paiōn trägt (Aristophanes, Plutos 636). Der vorliegende Paian ist ein Hymnos klētikos (ein ‚anrufender‘ Hymnos), der aus einem Anruf des Gottes (827–829 a), einer Gebetsbitte (829 b–831) und der Wiederholung des Anrufs (832) besteht (vgl. Haldane 1963, 54 f.). Die Bitte an den Schlaf ist allerdings nicht uneigennützig; ihre Erfüllung ist die Voraussetzung dafür, dass sich eine für den Diebstahl des Bogens günstige Situation ergibt, die auszunutzen der Chor Neoptolemos auch bewegen will. 827 ‚Schlaf‘: Hypnos ist in der Mythologie der Sohn der Nacht, sein Bruder ist Thanatos, der Tod (Hesiod, Theogonie 211 f.; Homer, Ilias 14,231). 828 ‚wir bitten dich‘: Damit wurde ein griechisches ‚uns‘ übersetzt. Der Dativ drückt das Interesse und die innere Beteiligung der sprechenden Person aus, was in etwa einem „at our prayer“ (Jebb) entspricht; ebenso 832. ‚mit sanftem Wehen‘: Vielleicht eine Anspielung darauf, dass Hypnos als geflügelter junger Mann vorgestellt werden konnte und also sachte heranfliegen soll. Vgl. den Krater des Malers Euphronios (ca. 515–510 v. Chr.), auf dem Hypnos und Thanatos (beide mit Flügeln) den toten Sarpedon vom Schlachtfeld tragen; LIMC VII 1, S. 697, C 4*, VII 2, S. 520 (Sarpedon 4), jetzt Cerveteri, Museo Nazionale Cerite (früher New York, MMA 1972.11.10). ‚glückbringend‘: Der Schlaf macht Beschwerden vergessen; er ist ‚allbezwingend‘ (Homer, Ilias 24,4 f.), ‚leidlos‘ (14,164), ‚süß‘ (14,242; 354). 829 ‚seine Augen‘: Das Possessivpronomen steht im Griechischen nicht, da es aber um Philoktets Schlaf geht, können nur seine Augen gemeint sein. ‚halte‘: Duratives Präsens: der bestehende Zustand soll weiterhin bleiben. 830 ‚Heilglanz‘, wörtl. ‚Glanz‘ (aiglē bzw. mit dorischer Färbung aiglā): Eigentlich könnte man genau das Gegenteil erwarten, (schlafförderndes) Dunkel, was auch konjiziert wurde (Reiske, vgl. TS). Gemeint ist aber ein – im Asklepios-Kult bedeutsamer – heilender Glanz („‘light of healing’ “, Haldane 1963, 55). Asklepios kann Aiglaēr (Hesych, α 1728 Latte) oder Aglaopēs (Hesych, α 604; Text fraglich Latte setzt eine Crux) genannt werden; Aiglē heißt seine Mutter (Isyllos, Pai. 40,55 Käppel) oder eine seiner Töchter (fr. 934,13 PMG / Campbell; Pai. 37,13 Käppel), auch er selbst kann so bezeichnet werden (Photios, α527,5 Theodoridis). Zu ‚Licht‘ als Metapher für Trost und Hoffnung vgl. fr. 1019,8 PMG / Campbell. Vgl. Pearson 1911, 246 f. 832 ‚Heilbringer‘: vgl. zu 827–832.

262

Chorlied: 833–838

Mein Sohn, sieh zu, wo du stehen, wohin du gehen wirst und worum ich mich von jetzt an kümmern soll. Siehst du es schon? Worauf warten wir, dass wir handeln? Die rechte Gelegenheit, die in allem das Entscheidende ist, gewinnt auf der Stelle ⟨einen großen⟩, großen Sieg. ὦ τέκνον, ὅρα, ποῦ στάσῃ, ποῖ δὲ βάσῃ, πῶς δέ µοι τἀντεῦθεν φροντίδος. ὁρᾷς ἤδη; πρὸς τί µένοµεν πράσσειν; καιρός τοι πάντων γνώµαν ἴσχων ⟨πολύ τι⟩ πολὺ παρὰ πόδα κράτος ἄρνυται.

835

835

834 † ποῖ … τἀντεῦθεν † Dawe – den Vers für korrupt zu erklären besteht kein Anlass, vgl. das Folgende. | ποῖ : ποῦ – ποῦ ist eine durch ποῦ (833) induzierte Verschreibung. | µοι Hss. : σοι Blaydes – mit σοι ergibt sich kein wesentlicher Gedankenfortschritt, während mit µοι sich der Fokus auf den Chor verlagert, der gleich danach auch von einem gemeinsamen Agieren spricht (836, 1. P. Plural), sodass insgesamt die Überlieferung der Konjektur überlegen ist. | τἀντεῦθεν] lässt sich als Ganzes als adverbielle Wendung auffassen (vgl. Aisch. Eum. 60; Herodot 1,9,3), anders Schein, der ein substantiviertes Adverb in der Funktion eines Akk. der Beziehung annimmt („in respect to things from this point on“, Schein). 835 φροντίδος] abhängig von πῶς (834 b), vgl. K.-G. I 382 f. | ὁρᾷς ἤδη Hss. : ὁρᾷς; εὕδει Herwerden : οὖρος ἤδη Erfurdt – zum Verständnis des überlieferten Textes als Frage vgl. Komm. 836 µένοµεν Erfurdt : µενοῦµεν Hss. – da ᾧν in v. 852 nicht zu halten ist (vgl. TS dort), muss (gleichgültig, ob man dort ὅ γ᾿ oder ὃν liest) die Responsion durch Erfurdts Konjektur hergestellt werden. | πράσσειν] epexegetischer Infinitiv. 837 τοι] der Chor will Neoptolemos seine Auffassung nahelegen (GP 537 f.). 838 ⟨πολύ τι⟩ Hermann (ursprünglich) : ⟨ἀνδράσιν⟩ (nach κράτος) Hermann (vgl. El. 75 f.) – für die Responsion mit v. 854 ist eine Ergänzung notwendig; eine Möglichkeit ist πολύ τι, das durch Haplographie ausgefallen sein könnte. | πόδα : πόδας – die Wendung lautet παρὰ πόδα, eigentl. ‚neben dem Fuß‘, d. h. ‚unmittelbar dabei‘, im Sinn von ‚sofort‘ (vgl. Platon, Sophistes 242 a 11–b 1 παρὰ πόδα µεταβάλλων ἐµαυτὸν ἄνω καὶ κάτω). | κράτος ἄρνυται] vgl. κράτος φέρεσθαι, Homer, Ilias 13,486; 18,308.

Kommentar

263

833–834 ‚stehen … gehen‘: Die beiden Verben der Ortsruhe und -bewegung stehen bildhaft für die Entscheidungsfindung angesichts einer schwierigen Situation. Vgl. Eur. Alk. 863 (Admet weiß nicht, wie er sich nach dem Tod seiner Gattin verhalten soll); Hek. 1056. 834–835 ‚worum ich mich von jetzt an kümmern soll‘, wörtl. etwa: ‚wie etwas, um das man sich kümmern muss, von jetzt an für mich (da ist)‘. – Wie in den vv. 142 f. fragt der Chor, welche Aufgabe ihm zufallen soll; vgl. Schein. 835 ‚Siehst du es schon?‘: Das in v. 833 gebrauchte Verb horan (‚sieh zu‘) wird wieder aufgegriffen. Beide Male nähert sich die Bedeutung der von ‚bedenken‘ an (vgl. El. 945 f.). Dafür, die Wendung als Frage und nicht als Aussage aufzufassen, spricht, dass der Chor, wenn er sich sicher wäre, dass Neoptolemos schon eine Entscheidung gefällt hätte, nicht fragen müsste, warum es jetzt nicht zu einem Handeln kommt. 836 Der Chor schließt eine weitere Frage an, er drängt zur Eile. Das von ihm verlangte Handeln kann nur bedeuten, dass man nicht warten soll, bis Philoktet wieder aufwacht. Welches Handeln er erwartet, sagt er nie ausdrücklich, aber aus dem Kontext der Situation ist zu erschließen (vgl. auch die Reaktion des Neoptolemos, 839f.), dass er daran denkt, Philoktet allein zu lassen und sich mit dem Bogen zu entfernen. 837–838 Mit einer gnomischen Bemerkung versucht der Chor, seinen Vorstoß gegenüber seinem jungen Herrn zu rechtfertigen und seiner Forderung nach einer Entscheidung Nachdruck zu verleihen Dass der Chor meint, nicht das Aufwachen Philoktets abwarten zu sollen, wird ganz deutlich durch seinen Hinweis auf die Bedeutung des günstigen Augenblicks (kairos). Den kairos zu nutzen führt nach Ansicht des Chors zu einem Erfolg. Sich daran zu orientieren war ihm auch schon früher wichtig (151); zum kairos vgl. auch zu 466; 1450–1451.

264 Ne.

Νε.

Chorlied (Rezitativ): 839–842

Nun, zwar hört der nichts, aber ich sehe, dass wir den Bogen vergeblich erbeutet haben, wenn wir ohne den hier abfahren. Denn sein ist der Siegeskranz, ihn selbst, sagte der Gott, sollen wir bringen. Sich mit nicht zu Ende gebrachter, mit Täuschung verbundener Tat zu brüsten ist hässliche Schande. ἀλλ’ ὅδε µὲν κλύει οὐδέν, ἐγὼ δ’ ὁρῶ, οὕνεκα θήραν τήνδ’ ἁλίως ἔχοµεν τόξων, δίχα τοῦδε πλέοντες. τοῦδε γὰρ ὁ στέφανος, τοῦτον θεὸς εἶπε κοµίζειν. κοµπεῖν δ’ ἔργ’ ἀτελῆ σὺν ψεύδεσιν αἰσχρὸν ὄνειδος.

840

840

839 ἀλλ’] „Assentient. … (b) Agreement is presented, not as self-evident, but as wrung from the speaker malgré lui. … ‘Well’ is usually the best translation.“ (GP 16). | θήραν] vgl. zu 609. 841 τοῦδε … τοῦτον] zum Wechsel der Pronomina vgl. 1331; 1434 f.; 1437; Ruijgh 2006, 161. | τοῦδε γὰρ ὁ στέφανος] τοῦδε ist gen. possessivus, kaum definitivus (‚in ihm besteht der Kranz [unseres] Sieges‘), wie es Schein nach Winnington-Ingram (1969, 49; so auch Allan 2011, 12) für möglich hält. | εἶπε κοµίζειν] zum Ausdruck des Sollens vgl. Ai. 1089 καί σοι προφωνῶ τόνδε µὴ θάπτειν (K.-G. II 6 f.). 842 κοµπεῖν] zum abhängigen Akkusativ vgl. [Aisch.] PV 947. | ἔργ’ Blaydes : ἐστ᾿ Hss. – die Überlieferung zu halten ist vielleicht nicht unmöglich, aber ἐστ᾿ ist nicht nur überflüssig, sondern hätte eine merkwürdig betonte Stellung, weitab vom erst danach folgenden Prädikatsnomen und κοµπεῖν von seinem Objekt trennend. Auch wäre ein substantiviertes ἀτελῆ zumindest bei den Tragikern unbelegt; daher empfiehlt es sich, mit Blaydes und Ll.-J./W. ἔργ’ zu lesen. | σὺν ψεύδεσιν] gehört von der Stellung und der Bedeutung von σύν her eher eng zu ἀτελῆ als adverbiell zu κοµπεῖν (~ κοµπεῖν ψευδῶς); vgl. Jebb.

Kommentar

265

839–842 Zwischen Strophe und Gegenstrophe stehen vier daktylische Hexameter, das Versmaß der Orakel (vgl. Wilamowitz 1921, 347), aber auch des Epos. Man könnte sagen: Neoptolemos verkündet seinen Standpunkt mit der Autorität des zeptertragenden (140) homerischen Königs (Gardiner 1987, 38). Offenbar spricht er recht laut (vgl. zu 844–846). Die Verse haben keine dorische Dialektfärbung und werden daher wahrscheinlich nicht gesungen, sondern im Rezitationston vorgetragen; vgl. West 1982, 98; anders Willink 2003, 92. Neoptolemos muss zwar dem Chor zugeben, dass die Situation günstig wäre, den Bogen zu entwenden, was er auftragsgemäß tun sollte (77 f.; vgl. auch 113–115), tritt aber jetzt engagiert für die Rolle Philoktets bei der Eroberung Troias ein: ‚sein ist der Siegeskranz‘ (vgl. dagegen 114!). Diese deutliche Positionierung ließe sich angesichts der Helenos-Weissagung als Pragmatismus fassen (so Schein). Aber die moralische Betrachtungsweise in v. 842, in der Neoptolemos das eigene Tun reflektiert, ist nicht pragmatisch, deutet eher auf einen inneren Prozess hin. Vgl. auch zu 841; 842; ferner Kirkwood 1958, 147. Dass Neoptolemos sich auf eine Aussage ‚des Gottes‘ beruft, können die Zuschauer einordnen in den göttlichen Rahmen, von dem sie durch Neoptolemos (196–200) und durch den ‚Kaufmann‘ (610–613; vgl. Einf. S. 29 f.) schon erfahren haben. Überraschen kann sie jedoch Neoptolemos’ Engagement für die Philoktet zugedachte Stellung (vgl. auch Visser 1998, 172 f.), das über seine früher geäußerte Auffassung, dass auch Philoktet nach Troia kommen müsse, hinausgeht (vgl. zu 101–103; Einf. S. 24 Anm. 74). 839 ‚zwar hört der nichts, aber‘: Neoptolemos will sagen, dass Philoktet vom Rat des Chors nichts mitbekommt, man ihm insofern folgen könne, aber zugleich macht er durch den Beginn seiner Rede klar, dass er anders denkt. 839–840 ‚den Bogen vergeblich erbeutet haben‘, wörtl. ‚diese Beute hier, die im Bogen besteht, vergeblich (in unserem Besitz) haben‘: Mit dieser Einschätzung nimmt Neoptolemos eine andere Position ein als Odysseus, der sich bei seinem Intrigenplan ganz auf den Bogen konzentriert (113, 115). 841 Neoptolemos sieht in der Helenos-Weissagung die Stimme eines Gottes, betrachtet sie also als verbindlich. Allerdings erwähnt er hier nicht, dass die Weissagung ein Überzeugen Philoktets (vgl. Einf. S. 25 f.) vorsieht, was er, wie sich später herausstellt, weiß (1329–1342), sodass noch unklar ist, ob er das Ziel ohne Intrige erreichen will. Seine Würdigung der Rolle, die Philoktet nach Götterwillen zukommen wird, entspricht dem, was Odysseus (989–998), er selbst (1335; 1345–1347) und Herakles (1425 f.) sagen werden. Ohne das Anliegen seiner Auftraggeber aufzugeben, berücksichtigt er jetzt auch den legitimen Anspruch Philoktets, wobei er den für sich selbst zu erwartenden Gewinn (114 f.) ausblendet. Da Philoktet das alles nicht hört, darf man darin Neoptolemos’ wahre Überzeugung sehen, ebenso in dem folgenden moralischen Argument (842). – Szenisch ist die Diskrepanz bemerkenswert zwischen der Verheißung des Sieges und dem wie tot daliegenden künftigen Sieger (Segal 1995, 106). – Zur Unbestimmtheit des Gottes vgl. auch 196; 1374. 842 Die ‚nicht zu Ende gebrachte, mit Täuschung verbundene Tat‘ bestünde in der hinterlistigen Entwendung des Bogens, ohne Philoktet mitzuneh-

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Chorlied: 843–852

Ch.

Doch auf dieses zwar, Sohn, wird der Gott sehen; Gegenstrophe aber was du auch mir wieder antwortest: leise, leise, mein Sohn, lass den Laut deiner Worte zu mir kommen; 845/6 denn bei allen, die krank sind, ist scharfsichtig der schlaflose Schlaf im Sehen. Komm! So sehr du es nur vermagst, sieh mir auf jenes, mir auf jenes, dass du es 850 heimlich vollbringst; du weißt ja, wovon ich spreche.

Χο.

ἀλλά, τέκνον, τάδε µὲν θεὸς ὄψεται· ὧν δ’ ἂν ⟨κ⟩ἀµείβῃ µ’ αὖθις, βαιάν µοι, βαιάν, ὦ τέκνον, πέµπε λόγων φήµαν· ὡς πάντων ἐν νόσῳ εὐδρακὴς ὕπνος ἄυπνος λεύσσειν. ἀλλ’ ὅ τι δύνᾳ µάκιστον κεῖνο ⟨δή⟩ µοι, κεῖνό ⟨µοι⟩ λαθραίως ἐξιδοῦ, ὅπως πράξεις· οἶσθα γὰρ, ὅ γ᾿ αὐδῶµαι.

ἀντ. 845/6

850

844 ὧν … ἂν] ἀµείβοµαι kann den doppelten Akkusativ regieren (µ᾿ … φήµαν [846]), vgl. OC 991, ὧν ist an das von φήµαν abhängige λόγων attrahiert (statt οὓς … λόγους).   |  ⟨κ⟩ἀµείβῃ Hermann : ἀµείβῃ Hss. : ἀµείβῃ σύ Trikl. – statt der zwei Kürzen ἂν, ἀµ- werden zur Responsion mit v. 828 zwei Längen gebraucht, die sich durch Hermanns Konjektur ergeben; zur Funktion von καί vgl. GP 321 (7). | αὖθις Hss. : αὖθις, ⟨παῖ⟩, Dawe (der ἀµείβῃ liest) – Dawes ⟨παῖ⟩ steht nicht nur das gleich folgende ὦ τέκνον (845) entgegen, sondern auch die Durchbrechung der Serie der Längen durch eine Doppelkürze. 846 φήµαν (Hss.) : φάµαν Trikl. : φάτιν Nauck (bei Lesung ἀντέχοις in 829). 849 ἀλλ’] auffordernd, mit ἐξιδοῦ (851) zu verbinden (GP 13–15). | µάκιστον (Hss.) : γὰρ µάκιστον Trikl. | ὅ τι δύνᾳ µάκιστον] adverbial zu λαθραίως ἐξιδοῦ (850 b f.); möglicherweise auch als Relativsatz aufzufassen, der durch κεῖνο (850 a b) aufgenommen wird: „the farthest reaching thing you have in your power“ (Kamerbeek). | δύνᾳ : δύναιο – das metrisch notwendige δύνᾳ ist eine Nebenform zu δύνασαι. 850 ⟨δή⟩ Hermann | ⟨µοι⟩ Kuiper | λαθραίως Campbell : λάθρᾳ Hss. : λάθρ᾿ Trikl. – diese Konjekturen stellen die Responsion zu v. 834 her, wobei allerdings ein recht hohes Maß an Unsicherheit bleibt; λαθραίως steht in betonter Prolepse vor dem ὅπως-Satz, in den es sachlich gehört. 851 ὅπως : ὅτι πῶς : ὅτι (Hss.) : ὅπᾳ Schneidewin 852 οἶσθα (Hss.) : οἶσθ᾿ οἶσθ᾿ Trikl. | ὅ γ᾿ Dawe 1978, 131 : ὃν : ὅντιν᾿ Trikl. : ὧν : ᾧ : ἃν Hermann – vgl. Komm. zu 852–854; ὧν (Kamerbeek; Ussher) ist wegen des Plurals nach κεῖνο (850) problematisch (was auch für Hermanns ἃν = ἃ ἄν gilt), vor allem aber weil es unbelegt scheint, bloßes ὧν im Sinne von „⟨περὶ⟩ τούτων ἃ or (better) ταῦτα ⟨περὶ⟩ ὧν“ (Kamerbeek) verstehen zu können.

Kommentar

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men. Ob man daraus schließen darf, Neoptolemos hielte es nicht für eine Schande, wenn der Trug dazu führte, Bogen und Philoktet nach Troia zu bringen (so Schein), ist fraglich. Wenn Neoptolemos’ Problem nur die ‚nicht zu Ende gebrachte Tat‘ wäre, müsste er die Täuschung überhaupt nicht erwähnen. Es geht ihm offenbar nicht nur darum, „to avoid failure“ (Gibert 1995, 148), vielmehr lässt das Bewusstsein der Täuschung eher eine Rückkehr der anfänglichen moralischen Skrupel vermuten (88 f.; 108; 110). 843–854 In der Gegenstrophe weist der Chor Neoptolemos’ Einwand zurück und fordert ihn nachdrücklich auf, heimlich das zu tun, wozu er beauftragt ist, andernfalls fürchtet er, wie er andeutet, negative Konsequenzen für Neoptolemos, vielleicht denkt er dabei konkret an Odysseus. 843 Offenkundig in Reaktion auf v. 841 meint der Chor (etwas kryptisch), dass ‚der Gott‘ – sc. der durch Helenos hat weissagen lassen, dass auch Philoktet nach Troia kommen solle – schon dafür sorgen werde, dass die Weissagung erfüllt werde. Wenn der Chor dem, was der Gott tun soll (‚zwar‘), die vom ihm erwartete Antwort des Neoptolemos (die dann inhaltlich nicht mehr erfolgt; vgl. zu 862–863 a) mit ‚aber‘ gegenüberstellt, besteht der Gegensatz darin, dass es in der Antwort um das gehen soll, was Neoptolemos selbst tun kann und wozu ihn der Chor auffordert (849 ff.). Mit seinem Hinweis auf den Gott will der Chor nicht sagen, dass der Bogen vor Troia allein genüge (so aber Visser 1998, 139; 141 f.), wohl aber, dass sich Neoptolemos nur um den Bogen kümmern solle. Dabei berücksichtigt der Chor jedoch nicht, dass es nach der Weissagung Sache der Griechen wäre, Philoktet für Troia zu gewinnen (610–613; Einf. S. 24 f.); vgl. Visser, ebd. 142. 844–846 Aus der Warnung des Chors, leise zu sein, ergibt sich, dass Neoptolemos bei den vv. 839–842 seine Stimme nicht zurückgenommen hat, gleichzeitig, dass der Chor weniger laut singt als sonst bei Chorliedern üblich. 847–848 Der Chor nimmt an, dass der Schlaf der Kranken eigentlich kein Schlaf ist (hypnos ahypnos) und die Gefahr besteht, dass sie alles mitbekommen. Das ‚Sehen‘ steht hier stellvertretend für die Wahrnehmung überhaupt. 850 ‚auf jenes‘, nämlich heimlich den Bogen zu entwenden. Das betonte ‚auf jenes‘ steht im Gegensatz zu ‚auf dieses‘ (843), dass auch Philoktet nach Troia kommt, worum sich der Gott, nicht Neoptolemos kümmern soll. 852–854 Text und Deutung dieser Verse sind sehr umstritten. ‚wovon‘ (ho g’, 852) ist Dawes Konjektur und bietet die zu erwartende nähere Ausführung zu ‚jenes‘ (850). Überliefert ist u. a. ‚von wem‘ (hon, vgl. TS), aber ein Bezug auf eine Person ist insofern problematisch, als zuvor der Chor mit ‚jenes‘ nachdrücklich ein Vorgehen verlangt, aber noch nicht inhaltlich bestimmt hatte. Zudem scheint es wenig sinnvoll, dass so andeutend Philoktet gemeint wäre (z. B. Schein), da es im Kontext nur um ihn geht; wenn es Odysseus wäre, ergeben sich Schwierigkeiten im weiteren Textverlauf, wo mit ‚über ihn‘ (853, eindeutig Philoktet) doch wohl dieselbe Person gemeint sein müsste wie mit ‚von wem‘ (852). – Die vv. 853 f. lassen sich am ehesten so verstehen, dass der Chor einen Konflikt mit Odysseus voraussieht, wenn Neoptolemos bei seiner

268

Chorlied: 853–863a

Wenn du an deiner Meinung über ihn festhältst, können kluge Leute gar ausweglose Leiden vorhersehen. Der Wind steht dir günstig, Sohn, der Wind; und der Epode 855 Mann, ohne sehendes Auge und ohne Beistand, 856/7 liegt ausgestreckt wie in nächtlichem Schlaf, {Schlaf in der wärmenden Sonne ist gut} nicht über Hände, nicht über Füße, über nichts hat er Gewalt, 860 sondern wie ein (Toter) im Hades liegt er da. Sieh zu, achte darauf, ob du, was jetzt richtig ist, äußerst. Was wir erfassen können mit unserem 863 a εἰ ταύταν τούτῳ γνώµαν ἴσχεις, µάλα τοι ἄπορα πυκινοῖς ἐνιδεῖν πάθη. οὖρός τοι, τέκνον, οὖρος· ἁνὴρ δ’ ἀνόµµατος οὐδ’ ἔχων ἀρωγάν ἐκτέταται νύχιος {ἀλεὴς ὕπνος ἐσθλός} οὐ χερός, οὐ ποδός, οὔτινος ἄρχων, ἀλλά τις ὡς Ἀίδᾳ πάρα κείµενος. ὅρα, βλέπ’ εἰ καίρια φθέγγῃ. τὸ δ’ ἁλώσιµον ἁµᾷ

ἐπ.

855 856/7 860 863 a

853 ταύταν : ταυτὰν (Hss.) : ταὐτᾷ Dobree – ταύταν … γνώµαν bezieht sich auf die von Neoptolemos in den vv. 839–842 geäußerte Ansicht. | τούτῳ] vgl. zu diesem Dat. der Beziehung Platon, Politeia 598 d 2 f. ὑπολαµβάνειν δεῖ τῷ τοιούτῳ ὅτι εὐήθης τις ἄνθρωπος (K.G. I 416 Anm. 19). | ἴσχεις : ἔχεις : ἔχοις – nur ἴσχεις passt metrisch. 854 πυκινοῖς Trikl. : πυκινοῖσιν oder πυκνοῖσιν (Hss.) : πυκινά τ᾿ Parker : πυκίν᾿ Blaydes – πυκινοῖς entspricht mit der zulässigen Responsionsfreiheit -ρὰ πόδα (838), vgl. auch ‚Metrische Analysen‘, S. 450; zu πυκινά τ᾿ vgl. Dawe 1978, 56. 855–856 ἁνὴρ Brunck : ἀνὴρ (Hss.) – vgl. zu 40. 856 οὐδ’ (Hss.) : οὐδὲν – οὐδ’ wegen Sinn (einfache Anreihung) und Versmaß. 859 ἀλεὴς ὕπνος ἐσθλός : ἀλεὴς ἐσθλός ὕπνος : ἐσθλός ὕπνος ἀλεὴς : {…} Hartung : ἀλεὴς Hss. : ἀδεὴς Reiske (ΑΔΕΗΣ ➝ ΑΛΕΗΣ) – zur Problematik des Verses vgl. Komm. | ὕπνος ἐσθλός : ἐσθλὸς ὕπνος 860 οὔτινος Hss. : οὐ φρενὸς Todt – οὔτινος bezeichnet die Totalität der Hilflosigkeit eindrucksvoller (Jebb). 861 τις ὡς Wunder : ὥς τις (Hss.) – Umstellung aus metrischen Gründen. | πάρα κείµενος Dindorf : παρακείµενος Hss. – der Sinn erfordert Ἀίδᾳ πάρα (Anastrophe). 862 ὅρα, βλέπ’ εἰ καίρια Hermann : ὁρᾷ· βλέπει· καίρια (Hss.) – βλέπει ist sinnlos, u.a. wegen v. 861. 863 a φθέγγῃ : φθέγγου : φθέγγει (Hss.) – folgt aus der Textgestaltung in v. 862. 863 a b τὸ δ’ ἁλώσιµον ἁµᾷ φροντίδι] Nominalphrase im Nominativ, die das Folgende ankündigt (Moorhouse 22), oder ein τοῦτό ἐστιν ist zu ergänzen (K.-G. I 656; Kamerbeek). | ἁµᾷ Dindorf : ἐµᾷ Hss. – mit ἁµᾷ (vgl. zur Form zu 1118) ergibt sich eine überzeugendere metrische Struktur, vgl. Willink 2003, 92.

Kommentar

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in den vv. 839–842 geäußerten Auffassung bleibt, weiter auf ‚ihn‘ (Philoktet, 853) Rücksicht nimmt und jetzt nicht heimlich mit dem Bogen davongeht (vgl. auch Schein). Denn Odysseus’ Plan war, dass sich Neoptolemos mit List des Bogens bemächtigen müsse (77 f.). Ob dieses Vorgehen dann im Sinne des Odysseus oder auch des Chors (vgl. 843) das spätere Mitkommen des ohne seinen Bogen hilflosen Philoktet nach sich zöge, ist eine andere Frage. 854 Mit dieser andeutenden Umschreibung (‚kluge Leute‘) vermeidet es der Chor, sich gegenüber seinem Herrn als der Einsichtigere zu profilieren. 855–864 Während der Chor zuvor (847 f.) der Tiefe von Philoktets Schlaf misstraute, scheint er nun einen geradezu todesähnlichen Schlaf zu beobachten. So ist er umso mehr motiviert, Neoptolemos das schon in den Strophen nahegelegte heimliche Vorgehen anzuraten (vgl. bes. 863 b–864). Er empfiehlt damit ein Ausnutzen des Schlafzustandes, wie es entsprechend Odysseus bei der Aussetzung Philoktets getan hatte (271–273); vgl. Schmidt 1973, 155. 855 Neoptolemos hatte den Chor – zu Recht – so verstanden, dass er darauf drängt, mit dem Bogen, aber ohne Philoktet abzufahren (vgl. 839 f.). Insofern könnte mit ‚Wind‘ der reale Wind gemeint sein, der in Richtung Troia weht (vgl. zu 639–646). Es ist aber auch möglich, in dem Ausdruck eine aus der Seefahrt kommende Metapher für eine günstige Gelegenheit zu sehen (vgl. Scholion), nämlich sich (erst einmal) des Bogens endgültig zu bemächtigen. 856–861 Mit den Angaben zum todesähnlichen Schlaf Philoktets steigert der Chor indirekt das moralische Problem, einen so Hilflosen zu bestehlen. 859 Das singuläre Wort aleēs wird in der Regel (wie schon im diesbezüglichen Scholion) mit alea (B) ‚Wärme‘, ‚Sonnenwärme‘ in Verbindung gebracht (so auch hier übersetzt). Jouanna (1983) will einen Zusammenhang mit alea (A) ‚Vermeiden‘, ‚Ausweichen‘ sehen und postuliert eine Bedeutung des Verses „une sommeil profond est protecteur / reparateur“ in dem doppelten Sinn der Heilung Philoktets und der Begünstigung des Vorhabens des Chors (bes. S. 57–59). Mit der Änderung eines Buchstabens (adeēs statt aleēs) ergäbe sich die Bedeutung: ‚guter Schlaf kennt keine Furcht‘ (vgl. TS). – Wie man den Vers auch immer versteht, er unterbricht mit seinem Kommentarcharakter die eindringliche Aussage des Chors (855–861) über den todesähnlichen Schlaf, den es zu nutzen gelte (862–864), und passt mit einer unklaren metrischen Struktur nicht zu dem durchgehenden daktylischen Rhythmus (858– 861). Daher spricht vieles für eine Tilgung (vgl. auch TS). Die Wendung könnte als Randnotiz eingedrungen sein. 861 ‚im Hades‘, wörtl. ‚beim Hades‘, d. h. dem Gott des Totenreiches, also wie ein Toter, dessen Seele bereits in die Unterwelt gegangen ist. Vgl. die Sentenz vom Schlaf als Bruder des Todes (Homer, Ilias 14,231). 862–863 a Der Chor hatte nach seinem Hinweis, Neoptolemos solle bei einer weiteren Antwort leise sein (844–846), keine Stellungnahme zu dem angeratenen Vorgehen erhalten und erwartet jetzt eine der Situation angemessene Reaktion; dazu kommt es nicht mehr, weil Philoktet plötzlich erwacht (865 f.). 863 b–864 Der Chor beendet seine Ausführungen zwar mit einem Bescheidenheitsvorbehalt, aber deutlich warnend mit einer sentenzhaften Äußerung,

Chorlied / Drittes Epeisodion: 863b–871

270 Denken, Sohn: Ein Tun, das nicht aufschreckt, ist das beste. Ne. Ph.

Seid still, sag’ ich, und bleibt besonnen! Der öffnet nämlich seine Augen und erhebt sein Haupt. O Licht, das folgt dem Schlaf, und, was ich nicht zu hoffen gewagt, die Behütung durch diese Fremden hier! Denn niemals, mein Sohn, hätte ich das geglaubt, dass du es über dich brächtest, so mitleidsvoll das Ende meiner Leiden abzuwarten, indem du hierbliebst und mir beistandst. φροντίδι, παῖ· πόνος ὁ µὴ φοβῶν κράτιστος.

Νε. Φι.

σιγᾶν κελεύω, µηδ’ ἀφεστάναι φρενῶν. κινεῖ γὰρ ἁνὴρ ὄµµα κἀνάγει κάρα. ὦ φέγγος ὕπνου διάδοχον, τό τ’ ἐλπίδων ἄπιστον οἰκούρηµα τῶνδε τῶν ξένων. οὐ γάρ ποτ’, ὦ παῖ, τοῦτ’ ἂν ἐξηύχησ’ ἐγώ, τλῆναί σ’ ἐλεινῶς ὧδε τἀµὰ πήµατα µεῖναι παρόντα καὶ ξυνωφελοῦντά µοι.

863 b 865

870

863 b 865

870

865 ἀφεστάναι φρενῶν] vgl. Eur. Or. 1021 ἐξέστην φρενῶν. 866 ἁνὴρ Brunck : ἀνὴρ Hss. – vgl. zu 40. 867–868 ὦ φέγγος … τό τ’ … οἰκούρηµα] zur Verbindung von Vokativ und Nominativ vgl. zu 530–531. | ἐλπίδων ἄπιστον] ~ οὐ πιστευόµενον ὑπὸ τῶν ἐλπίδων (Jebb); vgl. Moorhouse 68 f. 868 οἰκούρηµα τῶνδε τῶν ξένων] ~ οἵδε οἱ ξένοι οἰκουροῦντες (Kamerbeek; Long 1968, 99); Moorhouse 53; οἰκούρηµα bedeutet eigentlich die ‚Bewahrung des Hauses‘, ist aber hier (wie auch bei οἰκουρέω möglich) in allgemeinerem Sinn gebraucht. 869 τοῦτ’] weist auf den a.c.i. τλῆναί σ’ … µεῖναι (870 f.) voraus. | ἂν ἐξηύχησ’] zur Bedeutung an dieser Stelle (~ ἐνόµισα, Radermacher 1911 z. St.) vgl. [Aisch.] PV 688 f. οὔποθ᾿ ⟨ὧδ᾿⟩ οὔποτ᾿ ηὔχουν ξένους / µολεῖσθαι λόγους εἰς ἀκοὰν ἐµάν. – ἂν gehört der Stellung nach eher zu ἐξηύχησ’ als zu τλῆναί (870): Er hätte es für unmöglich gehalten, zu der Auffassung zu kommen … (sc. bevor er nicht jetzt eines Besseren belehrt wurde); zum abhängigen Infinitiv Aorist trotz der zukünftigen Handlung vgl. Jebb, Appendix 246 f. 871 µοι (Hss.) : µε – normalerweise steht bei ξυνωφελεῖν der Akkusativ, aber der Dativ ist bei ὠφελεῖν mehrfach belegt.

Kommentar

271

mit der er noch einmal seinen Rat Neoptolemos nahelegt, der anders als dessen Absichten nicht ‚aufschreckt‘, also nicht zu Problemen führen würde; vgl. auch die Warnung Chors 853 f. 865–1080 Drittes Epeisodion In diesem Epeisodion vollzieht sich ein Umschwung in der Handlung, da Philoktet erfährt, dass er das Opfer einer Intrige ist. Nachdem er wieder zu Bewusstsein gekommen ist (865–894), eröffnet ihm Neoptolemos unter Seelenqualen, was er wirklich mit ihm vorhat; das führt zu einer langen, von maßloser Enttäuschung geprägten Klagerede Philoktets, die bei Neoptolemos über die bereits erfolgte Offenlegung seines wirklichen Plans hinaus zu großer Ratlosigkeit und fast dazu führt, dass er auch auf das Druckmittel des Bogens verzichtet (895–974 a). Überraschend erscheint jedoch Odysseus, der das durch sein plötzliches Dazwischentreten verhindert. Dadurch wird Philoktet seine Lage endgültig klar, und diese Erkenntnis löst eine zweite große Rede von ihm aus. Doch weder physischer noch psychischer Druck bewegen ihn nachzugeben (974 b–1080). 865–894 Als man nach dem Erwachen Philoktets endlich zum Schiff gehen könnte, steht Neoptolemos vor der Alternative: Er kann die Täuschung fortsetzen, oder er muss wahrheitsgemäß das wirkliche Fahrtziel angeben. 865–866 Neoptolemos bemerkt, dass Philoktet das Bewusstsein wiedererlangt, und will verhindern, dass der Chor sein Ansinnen weiter vorträgt, das Philoktet nicht hören soll; das wäre kontraproduktiv für Neoptolemos’ Erfolg, da er beabsichtigt, nicht ohne Philoktet abzufahren (839–842; 912). 865 ‚bleibt besonnen!‘, wörtl. ‚tretet nicht außerhalb eurer Sinne‘: Die negative Formulierung könnte das Verständnis nahelegen ‚aus Furcht‘ (so Jebb), aber Philoktet ist ohne seine Waffe nach wie vor hilflos. Neoptolemos will vielmehr sagen, der Chor solle geistesgegenwärtig sein und sich angesichts des plötzlichen Erwachens Philoktets nicht unüberlegt verhalten. 866 ‚öffnet … seine Augen‘, wörtl.: ‚bewegt das Auge‘. ‚erhebt sein Haupt‘: vgl. 822. 867–881 Philoktet, der noch auf der Erde ruht, ist gleichermaßen überwältigt von der Wiedergewinnung des Sonnenlichts und der trotz dessen Zusage (813) unerwarteten Treue des Neoptolemos, der sich in seiner edlen Art von den verachteten Atreus-Söhnen unterscheide. Das dankbare Lob steht in starker, Philoktet verborgener Spannung zu der ihm unbekannten Absicht des Neoptolemos, ihn nicht in die Heimat, sondern nach Troia zu bringen; dadurch wird Neoptolemos’ Entscheidungsdilemma noch vergrößert. Hinzu kommt, dass Philoktet – nun auch auf die physische Hilfe des Neoptolemos vertrauend – auf einen raschen Abgang zum Schiff drängt. 867–868 Philoktet spricht zunächst zu sich selbst (‚diese Fremden‘), bevor er sich Neoptolemos zuwendet. 870–871 (griechischer Text: 870) ‚das Ende meiner Leiden‘, wörtl. ‚meine Leiden‘, was in Bezug auf das Warten nur bedeuten kann: bis sie zu Ende sind (vgl. Kamerbeek).

272

Drittes Epeisodion: 872–882

Ne.

Die Atreus-Söhne jedenfalls haben sich nicht so leicht überwunden, sie zu ertragen – diese tüchtigen Heerführer! Indes, edel ist dein Wesen und von edler Abkunft, mein Sohn: so hast du all das als erträglich 875 angesehen, obwohl du Geschrei und Gestank ausgesetzt warst. Und jetzt, da ich diesen Anfall, wie es scheint, etwas vergessen kann und es nun eine Pause gibt, Sohn, hilf du mir auf, stelle mich auf die Beine, Sohn, damit wir, wenn die Ermattung schließlich von mir geht, 880 zum Schiff aufbrechen und die Abfahrt nicht verzögern. Nun, ich bin froh, dass ich dich wider Erwarten

Νε.

οὔκουν Ἀτρεῖδαι γ᾿ αὔτ᾿ ἔτλησαν εὐφόρως οὕτως ἐνεγκεῖν, ἁγαθοὶ στρατηλάται. ἀλλ’ εὐγενὴς γὰρ ἡ φύσις κἀξ εὐγενῶν, ὦ τέκνον, ἡ σή, πάντα ταῦτ’ ἐν εὐχερεῖ ἔθου, βοῆς τε καὶ δυσοσµίας γέµων. καὶ νῦν ἐπειδὴ τοῦδε τοῦ κακοῦ δοκεῖ λήθη τις εἶναι κἀνάπαυλα δή, τέκνον, σύ µ’ αὐτὸς ἆρον, σύ µε κατάστησον, τέκνον, ἵν’, ἡνίκ’ ἂν κόπος µ’ ἀπαλλάξῃ ποτέ, ὁρµώµεθ’ εἰς ναῦν µηδ’ ἐπίσχωµεν τὸ πλεῖν. ἀλλ’ ἥδοµαι µέν σ’ εἰσιδὼν παρ’ ἐλπίδα

875

880

872 γ᾿ αὔτ᾿ Blaydes : τοῦτ’ Hss. – emphatisches οὔκουν ist gewöhnlich mit γε verbunden (GP 423–425), und αὔτ᾿ (von ἐνεγκεῖν [873] abhängig) nimmt τἀµὰ πήµατα (870) genauer auf als τοῦτ’ (vgl. auch Kamerbeek). | εὐφόρως Valckenaer : εὐπόρως (Hss.) : εὐπόνως – εὐφόρως φέρειν ist als medizinischer Ausdruck belegt (vgl. Hippokrates, Aphorismen 1,13 sowie De diaeta i. m. a. c. 10,4: δυσφόρως φέρειν), meint aber die Leidenden selbst, hier ist εὐφόρως eher zu ἔτλησαν, d. h. die Haltung der anderen, zu beziehen; εὐπόρως scheint weder mit *τλάω noch mit φέρειν vorzukommen. 873 ἁγαθοὶ editores : οἱ ᾿γαθοὶ : ἀγαθοὶ – als neutrale Apposition (‚gute Heerführer‘) wäre der Ausdruck im Munde Philoktets funktionslos. 874 ἀλλ’ … γὰρ] „complex“ (GP 98 f.): Neoptolemos’ Verhalten in 876 f. wird mit ἀλλ’ von dem der Atreus-Söhne abgesetzt, mit γὰρ antizipatorisch (GP 69 f.) begründet. | εὐγενὴς … κἀξ εὐγενῶν] vgl. zur Fomulierung z. B. v. 384. 875–876 ἐν εὐχερεῖ ἔθου] zum Medium vgl. zu 451, zu τίθεσθαι ἐν v. 473, zu εὐχερεῖ vgl. Hippokrates, Prorrhetikon 1,119 σπασµοί, εὐχερέες. 876 γέµων] vgl. 520 πλησθῇς (Kamerbeek). 878 λήθη τις Hss. : λώφησις F.W. Schmidt – vgl. Eur. Or. 213 ὦ πότνια Λήθη τῶν κακῶν. | κἀνάπαυλα δή] καὶ … δή sind hier eher als getrennt zu verstehen (Kamerbeek) denn als emphatisch zusammengehörig (‚und sogar‘, vgl. Schein); zur Problematik vgl. GP 254. 879 αὐτὸς Hss. : αὖθις Blaydes – zum Sinn von αὐτὸς vgl. Komm., eine Konjektur ist nicht notwendig. | σύ µε … τέκνον (Hss.) : καὶ κατάστησον σύ µε – σύ µ’ … σύ µε … τέκνον ist in seiner Emphase der Variante überlegen. 880 κόπος µ’ ἀπαλλάξῃ Hss. : κόπου ἀπαλλαχθῶµεν (Variante in einer Hs.) – nur Philoktet ist erschöpft. 881 εἰς : ἐς | µηδ’ ἐπίσχωµεν τὸ πλεῖν] nach negiertem Verb wäre eigentlich τὸ µὴ πλεῖν zu erwarten, vgl. zu 118; ἐπέχειν kann hier transitiv sein (mit τὸ πλεῖν als Objekt) oder intransitiv (τὸ πλεῖν epexegetischer Infinitiv); vgl. Kamerbeek. 882 ἀλλ’] wird gebraucht für „A sympathetic

Kommentar

273

872–873 Ironisch-verächtlich will Philoktet sagen, dass die Atreus-Söhne es nicht auf sich genommen haben, seine Leiden (‚sie‘) mit anzusehen. ‚so‘: sc. ‚wie du‘ (Schein). ‚diese tüchtigen Heerführer‘: Der im Griechischen stehende Artikel dient der Verächtlichmachung. Vgl. Dawe 2006 zu OT 385. Zum sarkastischen Gebrauch von ‚tüchtig‘ bzw. ‚gut‘ (agathos) vgl. Ant. 31: ‚der gute Kreon‘. 874–876 Wenn Philoktet Neoptolemos’ mitleidvolles Aushalten der Krankheit auf dessen edle Natur und Herkunft zurückführt, erweitert er das Spektrum epischer aretē (Henze 2015, 111 f.). 876 ‚Geschrei und Gestank‘: Dass Philoktet Schreie ausstößt, war schon von Odysseus als Grund für die Aussetzung benannt worden (8–11). Dass die Wunde stinkt, hatte Odysseus nicht erwähnt, Philoktet wohl mit ‚Unannehmlichkeiten‘ (473) gemeint, hier wird dieser Sachverhalt ganz selbstverständlich vorausgesetzt; vgl. auch zu 890–891. ‚ausgesetzt warst‘, wörtl. ‚voll, angefüllt warst‘: Vgl. OT 4: ‚die Stadt ist voll von Weihrauchopfern‘. 878–879 ‚Sohn … Sohn‘: Dieselbe Anrede jeweils am Versende ebenso wie das wiederholte im Griechischen pronominal ausgedrückte ‚du‘ (879) sind – wie zuvor schon die Anreden ‚mein Sohn‘ (869; 875) – ein Zeichen intimer Hinwendung eines Philoktet, der glaubt, in Neoptolemos einen gleichgesinnten, edlen Menschen gefunden zu haben. Vgl. auch Schein. 878 ‚Pause‘: Philoktets Annahme, dass lediglich eine Pause zwischen den Anfällen besteht, gibt ihm einen zusätzlichen Impuls, auf Eile zu drängen. 879 ‚hilf du mir auf‘: Im Griechischen folgt auf ‚du‘ noch ‚selbst‘ (autos), was so verstanden wurde, dass nur Neoptolemos, nicht der Chor helfen solle (Jebb; Schein), oder auch als Rücksichtnahme auf die Seeleute (Ussher). Wahrscheinlicher ist, dass die Aufgabe, die Neoptolemos (allein) übernehmen soll, vom gemeinsamen Vorhaben (‚wir‘), möglichst die Abfahrt des Schiffes nicht zu verzögern (881), abgegrenzt wird. Vgl. 893: ‚halte du dich (selbst) an mir fest‘, wo ebenso ein ‚selbst‘ steht und keiner außer Philoktet in Frage kommt, vielmehr der Anteil, den Philoktet erbringen soll (‚festhalten‘), vom Aufhelfen des Neoptolemos unterschieden wird. In der Übersetzung wurde ‚selbst‘ jeweils weggelassen, weil es im Deutschen eher missverständlich ist. 881 ‚zum Schiff aufbrechen‘: Beim ersten Mal wurde das Vorhaben aufzubrechen wegen des Erscheinens des ‚Kaufmanns‘ nicht realisiert (vgl. zu 539– 627), beim zweiten Mal wegen Philoktets Anfall (732 ff.), jetzt wird es wegen der Gewissensbisse des Neoptolemos (895 ff.) und der dadurch ausgelösten Ereignisse verhindert werden. 882–888 Neoptolemos drückt zwar Erleichterung aus, dass Philoktet den Anfall überstanden hat, wendet sich aber sehr schnell praktischen Fragen zu, wobei er sich seinerseits auf den auf der Basis der Täuschung gefassten Beschluss als solchen noch einmal beruft (888). Auf das überschwängliche Lob, das Philoktet ihm gezollt hatte, geht er nicht ein, was vielleicht als Zeichen dafür gewertet werden kann, dass er eine Diskrepanz zwischen diesem Lob und seinen gegenüber Philoktet verborgen gehaltenen Plänen empfindet.

Drittes Epeisodion: 883–893

274

Ph.

Ne.

Φι.

Νε.

noch leben und atmen sehe – ohne Schmerzen; denn, als seist du nicht mehr am Leben, haben sich Zeichen an dir bei deinem Anfall eben gezeigt. 885 Doch jetzt richte dich auf; wenn es dir aber lieber ist, werden die hier dich tragen; sie schrecken vor der Mühe nicht zurück, da doch du u n d ich beschlossen haben, was wir tun wollen. Dafür danke ich, mein Sohn, und hebe du mich auf, wie du es vorhast; aber die lass sein, damit sie nicht belästigt werden durch den üblen 890 Geruch, bevor es nötig ist; denn auf dem Schiff wird für diese die Beschwernis noch genug sein, mit mir zusammen zu wohnen. So soll es sein! Nun steh auf und halte dich an mir fest! ἀνώδυνον βλέποντα κἀµπνέοντ’ ἔτι· ὡς οὐκέτ’ ὄντος γὰρ τὰ συµβόλαιά σου πρὸς τὰς παρούσας ξυµφορὰς ἐφαίνετο. νῦν δ’ αἶρε σαυτόν· εἰ δέ σοι µᾶλλον φίλον, οἴσουσί σ’ οἵδε· τοῦ πόνου γὰρ οὐκ ὄκνος, ἐπείπερ οὕτω σοί τ’ ἔδοξ’ ἐµοί τε δρᾶν. αἰνῶ τάδ’, ὦ παῖ, καί µ’ ἔπαιρ’, ὥσπερ νοεῖς· τούτους δ’ ἔασον, µὴ βαρυνθῶσιν κακῇ ὀσµῇ πρὸ τοῦ δέοντος· οὑπὶ νηὶ γὰρ ἅλις πόνος τούτοισι συνναίειν ἐµοί. ἔσται τάδ’· ἀλλ’ ἵστω τε καὐτὸς ἀντέχου.

885

890

 reaction to the  previous speaker’s words or actions“ (GP 19). | µέν] verstärkt ἥδοµαι (kaum korrespondierend mit δ᾿, 886). 883 βλέποντα] Ai. 962 f. κεἰ βλέποντα µὴ ᾿πόθουν, / θανόντ᾿ ἂν οἰµώξειαν. | κἀµπνέοντ’] Aisch. Ag. 671 ἐκείνων ⟨τ᾿⟩ εἴ τίς ἐστιν ἐµπνέων. 884 γὰρ] die späte Stellung von γὰρ (GP 96) erklärt sich daraus, dass ὡς οὐκέτ’ ὄντος als Einheit aufgefasst wird (vgl. Schein). | συµβόλαιά] ~ σύµβολα, in dieser Bedeutung im Attischen nur hier. | σου : σοι – die Zeichen zeigten sich nicht Philoktet; vgl. auch Kamerbeek. 887 οἴσουσί σ’ οἵδε : οἴσουσιν οἵδε – die Nennung des Objekts ist vorzuziehen. 888 οὕτω : οὕτως – vor Konsonanten ist οὕτω die Regel. 892 ἅλις] das Adverb hier in der Funktion eines prädikativen Adjektivs; vgl. K.-G. I 38 Anm. 2; LSJ s. v. 4. | ἐµοί Hss. : ὁµοῦ Blaydes 893 ἔσται (Hss.) : ἔστω Trikl. – vgl. z. B. Eur. Med. 731. | ἵστω] ~ ἀνίστω, z.Β. ΟΤ 143. | ἀντέχου] sc. ἐµοῦ.

Kommentar

275

883 ‚leben‘, wörtl. ‚sehen‘ sc. das Licht der Sonne (vgl. 663), seit Homer (z. B. Ilias 5,120; 18,61) eine Chiffre für ‚leben‘. Vgl. auch TS. 885 ‚bei deinem Anfall eben‘, wörtl. ‚im Hinblick auf deine Leiden, die bei dir sind‘: Gemeint ist sicher in erster Linie der akute Anfall, den Neoptolemos beobachten konnte und nach dem Philoktet in einen todesähnlichen Schlaf fiel (861); vgl. auch Jebb. 886–887 ‚richte dich auf‘: Diese Aufforderung ist nach der Bitte Philoktets um Hilfe (879) nicht „particularly insensitive“ (wie Schein sagt), sondern gemeint muss sein, ‚mit meiner, von dir erbetenen Hilfe‘. So sieht es jedenfalls Philoktet, der von einem Angebot des Neoptolemos ausgeht (889), das allerdings nicht verbalisiert, sondern möglichweise durch das Entgegenstrecken einer Hand (in der anderen hat er den Bogen) bei v. 886 signalisiert war (vgl. Jebb; Pucci). – Die von Neoptolemos angebotene Alternative ist ein Aufstehen mit seiner Hilfe (was ein Mitwirken Philoktets voraussetzt, vgl. 893 f.) oder, falls sich Philoktet auch dazu zu schwach fühlt (was aber Neoptolemos taktvoll nicht ausspricht), Getragen-Werden von den Seeleuten (886 f. [‚die hier‘]). 888 Die Seeleute werden sich nach Neoptolemos’ Auffassung nicht weigern, weil sie wissen, dass es der ihm und Philoktet gemeinsame Beschluss ist, zum Schiff zu gehen und wegzufahren. Allerdings verdeckt er mit dieser formalen ‚Einigkeit‘ die unterschiedlichen Vorstellungen vom Ziel der Fahrt. 889–892 Wie Neoptolemos auf den Gesundheitszustand Philoktets Rücksicht genommen hatte (vgl. zu 886–887), so jetzt Philoktet auf die Belastbarkeit der Mannschaft des Neoptolemos (‚die‘, 890), der er möglichst wenig lästig fallen will (so schon 480–483). 889 ‚danke‘ (ainō): Das Wort, das eigentlich ‚loben‘ bedeutet, kann im Sinn einer höflichen Ablehnung verwendet werden (‚danke, nein‘, bei Sophokles durch F 109 Radt2 belegt, wie aus Hesych, α 2008, hervorgeht), aber auch (dankende) Zustimmung ausdrücken (Eur. Hik. 388; vgl. auch HF 1235). Wenn man hier ein ‚danke, nein‘ in Bezug auf den Transport durch die Seeleute annimmt (so Webster, Kamerbeek, Schein), wäre zu erwarten, dass die Hilfe durch Neoptolemos dem entgegengesetzt wäre. Aber wie die Fortsetzung mit ‚und‘ zeigt, bedankt sich Philoktet zunächst für das Angebot (wohl als höherer Grad der Höflichkeit zu verstehen) und sagt dann, was er tatsächlich will. Dass Philoktet nicht von Neoptolemos’ Leuten getragen werden will, wird durch den weiteren Zusammenhang klar. Vgl. auch Jebb; Quincey 1966, 146. 890–891 ‚üblen Geruch‘: Philoktet geht hier erstmals ausdrücklich auf den üblen Geruch ein, der von seiner Wunde ausgeht. Beiläufig erwähnt (876) bzw. vorausgesetzt (473) wurde der Sachverhalt schon früher; vgl. auch 1032. 893 ‚steh auf‘ vor ‚halte dich an mir fest‘ ist als Hysteron proteron zu verstehen: zum Aufstehen solle sich Philoktet an Neoptolemos festhalten. Alternativ müsste man annehmen, Neoptolemos setze voraus, dass Philoktet nach dem Aufstehen noch Unterstützung beim Stehen brauche (so Taplin 1971, 27: „Neoptolemos helps Philoctetes to his feet (see 877–92) and supports him“; Kaimio 1988, 24). Jedoch wird man sich die folgende Dialogszene (896 ff.) eher so vorstellen, dass sich beide gegenüberstehen und sich nicht mehr

Drittes Epeisodion: 894–895

276 Ph.

Keine Sorge! Die alte Gewohnheit, glaub mir, wird mir aufhelfen.

Neoptolemos hilft Philoktet beim Aufstehen und lässt ihn dann los. Der Bogen ist weiterhin bei Neoptolemos. Ne.

Pappai! (zu sich) Wie soll ich denn nur weitermachen?

895

Φι. Νε.

θάρσει· τό τοι σύνηθες ὀρθώσει µ’ ἔθος. παπαῖ· τί δῆτ’ ἂ⟨ν⟩ δρῷµ’ ἐγὼ τοὐνθένδε γε;

895

894 τοι] vgl. zu 637. | µ’ ἔθος (Hss.) : µέ πως : µέ που Blaydes – ἔθος könnte eine Glosse zu τό … σύνηθες sein, das substantiviert auch ohne ἔθος stehen könnte (vgl. Blaydes 1870 z. St.); die Variante ist bedenkenswert. 895 τί δῆτ’] „δῆτα denotes that the question springs out of something which another person (…) has just said“ (GP 269). | δῆτ᾿ ἂ⟨ν⟩ Schaefer, Anonymus (1810) : δῆτα Hss. – ἂ⟨ν⟩ ist angesichts von v. 1393 wahrscheinlich. | δρῷµ’] δρῷµ(ι) statt der üblichen attischen (und hier metrisch nicht möglichen) Form δρῴην. | γε : λέγε – λέγε ist unmetrisch, und es ist ganz unwahrscheinlich, dass Neoptolemos Philoktet auffordert, ihm zu sagen, was er tun solle; zu γε am Versende vgl. 438; vgl. im Einzelnen Jebb; Kamerbeek; Moorhouse 229 f.; Schein.

Kommentar

277

aneinander festhalten; die vv. 910 f. etwa sind kaum denkbar als Äußerung eines Philoktet, der sich auf den, über den er spricht, stützt. Wie man auch immer das Szenische rekonstruiert (vgl. Schein zu 894–7), es ist wohl aufgrund der vv. 879 und 889 auszuschließen, dass Philoktet alleine aufsteht und sich dann auf Neoptolemos stützt (so aber Kosak 1999, 128 f.). ‚halte dich an mir fest‘: vgl. zu 879. 894 ‚Keine Sorge!‘, wörtl. ‚sei zuversichtlich, ohne Besorgnis‘: Vermutlich will Philoktet bei Neoptolemos etwaige Bedenken zerstreuen, dass es Probleme geben könnte, wenn Neoptolemos ihm – wie gewünscht (879; 889) – beim Aufstehen hilft. ‚alte Gewohnheit‘, wörtl. ‚die gewohnte Gewohnheit‘ (figura etymologica): Philoktet hat einen solchen Anfall schon öfter erlebt und ist bisher immer wieder irgendwie auf die Beine gekommen. ‚wird aufhelfen‘: Philoktet wollte Unterstützung beim Aufstehen (879; 889). Man kann daher von der gewöhnlichen Bedeutung des Verbs (orthoō) ausgehen und muss nicht eine sonst nur im Passiv belegte (z. B. El. 742) ‚aufrecht halten‘ annehmen (so aber Webster, Kamerbeek). 894–895 Neoptolemos’ Aussage in v. 895 lässt sich so verstehen, dass er sich nun vor eine neue Situation gestellt sieht, die eine Entscheidung von ihm verlangt. Seine Ratlosigkeit spricht dafür, dass der Vorgang des Aufstehens szenisch zwischen den vv. 894 und 895 anzusetzen ist. Dazu passt, dass Philoktet in v. 894 einen (noch nicht erfolgten) Vorgang in der Zukunft bezeichnet. 895–926 Als die konsequente Umsetzung der Intrige ansteht, erfolgt überraschend, wenn auch nicht gänzlich unvorbereitet (vgl. zu 806; 842; 906), ein Umschwung. Neoptolemos bringt es nicht über sich, Philoktet zu betrügen, rückt aber nicht sogleich mit der Sprache heraus; Philoktet ist über das ihm unerklärliche Verhalten des Neoptolemos beunruhigt und befürchtet (aufgrund schlimmer Erfahrungen: 310 f.), Neoptolemos wolle sein Versprechen nicht wahrmachen, ihn mitzunehmen (901). Die Äußerung schließlich, dass die Fahrt nach Troia gehen werde, ist aber für Philoktet noch bestürzender. Für dieses Ziel, an dem Neoptolemos festhält (915–920), nur es jetzt ohne Trug erreichen will, kann er Philoktet nicht zuletzt wegen des getäuschten Vertrauens nicht gewinnen. Als Philoktet seinen Bogen vergeblich zurückfordert, kommt es zum Bruch. Wenn Neoptolemos nicht entschieden die Intrige zu Ende bringt, ist der Grund nicht die Befürchtung, die Wahrheit käme zwangsläufig spätestens bei der Ankunft auf dem Schiff heraus (so T. v. Wilamowitz 1917, 197), sondern dass er Skrupel hat, den Betrug durchzuführen: Dem Geschwächten aufzuhelfen und ihn dabei zu betrügen, macht die aus Mitleid und vertrauensvoller Nähe erwachsene Aporie unerträglich (vgl. auch Kaimio 1988, 24): Er hält diese schändliche Betrugsgeschichte (908 f.) nicht mehr für vereinbar mit seinem Wesen (902 f.) und ringt sich in dem sich entwickelnden Dialog dazu durch, sein Inneres offenzulegen und den entscheidenden Satz zu sagen (915 f.). 895 ‚Wie … weitermachen?‘, wörtl. ‚Was soll ich denn von diesem Punkt an tun?‘: Vgl. Knox 1964, 132, der auch treffend darauf hinweist, dass das,

278

Drittes Epeisodion: 896–907

Ph. Ne. Ph. Ne. Ph.

Was ist, mein Sohn? Wohin irrtest du mit deiner Rede ab? Ich weiß nicht, wie ich es in meiner Ratlosigkeit ausdrücken soll. Du bist ratlos? Worin? Sag nicht so etwas, mein Sohn! Aber dahin bin ich jetzt in meiner Seelenqual gekommen. Es hat dir doch nicht die Widerwärtigkeit meiner Krankheit einen 900 solchen Schlag versetzt, dass du mich nicht mehr mit an Bord nehmen willst? Alles ist widerwärtig, sooft man dem eigenen Wesen nicht treu bleibt und tut, was einem nicht entspricht. Aber du tust und sagst doch nichts, was nicht zu deinem Vater passt, wenn du einem edlen Mann hilfst. 905 Als niederträchtig werde ich dastehen; das quält mich schon lange. Nicht in dem, was du tust; aber was du sagst, beunruhigt mich.

Ne. Ph. Ne. Ph. Φι. Νε. Φι. Νε. Φι. Νε. Φι. Νε. Φι.

τί δ’ ἔστιν, ὦ παῖ; ποῖ ποτ’ ἐξέβης λόγῳ; οὐκ οἶδ’, ὅπῃ χρὴ τἄπορον τρέπειν ἔπος. ἀπορεῖς δὲ τοῦ σύ; µὴ λέγ’, ὦ τέκνον, τάδε. ἀλλ’ ἐνθάδ’ ἤδη τοῦδε τοῦ πάθους κυρῶ. οὐ δή σε δυσχέρεια τοῦ νοσήµατος ἔπαισεν, ὥστε µή µ’ ἄγειν ναύτην ἔτι; ἅπαντα δυσχέρεια, τὴν αὑτοῦ φύσιν ὅταν λιπών τις δρᾷ τὰ µὴ προσεικότα. ἀλλ’ οὐδὲν ἔξω τοῦ φυτεύσαντος σύ γε δρᾷς οὐδὲ φωνεῖς, ἐσθλὸν ἄνδρ’ ἐπωφελῶν. αἰσχρὸς φανοῦµαι· τοῦτ’ ἀνιῶµαι πάλαι. οὔκουν ἐν οἷς γε δρᾷς· ἐν οἷς δ’ αὐδᾷς, ὀκνῶ.

900

905

896 λόγῳ Hss. : λόγων Valckenaer; auch eine späte Hs. – es geht nicht um einen speziellen Punkt in der Aussage, sondern um die Aussage als Ganze; vgl. auch Jebb. 897 ὅπῃ : ὅποι – ὅποι dürfte als Normalisierung anzusehen sein. 899 ἐνθάδ’ … τοῦδε τοῦ πάθους] an diesem Punkt des πάθος (sc. der ἀπορία), d. h. bereits tief darin verstrickt; der Genitiv ist partitiv (Bruhn § 32, IV.1). 900 οὐ δή] leitet eine Überraschung ausdrückende Frage ein (GP 223). | δυσχέρεια τοῦ νοσήµατος] beim regierenden Substantiv fehlt der Artikel, wenn ein Gesamtbegriff ausgedrückt werden soll (K.-G. I 607 k). 901 ἔπαισεν : ἔπεισεν – ἔπαισεν ergibt ein plastisches Bild und ist die lectio difficilior; vgl. Ll.-J./W.1 (mit Verweis auf Aisch. Cho. 184 für den metaphorischen Gebrauch des Wortes). | ναύτην] hier im Sinne von ‚Passagier‘ zu verstehen; vgl. Platon, Epistula VII 347 a 2 (Kamerbeek; LSJ Suppl. s. v.). 902 ἅπαντα δυσχέρεια] zur Kongruenz vgl. OC 883 ἆρ᾿ οὐχ ὕβρις τάδ᾿; K.-G. I 62. | αὑτοῦ : αὐτοῦ 904 φυτεύσαντος Hss. : ᾿µφυθευτέντος Tournier – ἔξω τοῦ φυτεύσαντος steht brachylogisch für ‚außerhalb des Vorbilds, das dein Vater gegeben hat‘; vgl. Jebb; Webster. 906 τοῦτ’] Akk. der Beziehung (‚darüber bin ich betrübt‘); vgl. 913. | πάλαι (Hss.) : πάλιν – πάλαι setzt die Aussagen in 589 u. 806 fort. 907 γε : τε – γε kommt hier in der Funktion µέν nahe (GP 140 f.). | ἐν οἷς δ’ Hss. : ἐφ᾿ οἷς δ’ Nauck | δρᾷς] stark betont durch die Versstruktur: syntaktischer Einschnitt in der Versmitte nach der kaum fühlbaren Zäsur (nach γε); vgl. zu 15. | δ᾿ : τ᾿

Kommentar

279

was Neoptolemos in der ‚kurzen Dauer eines Tages‘ (so Odysseus in v. 83) getan hat, ihn nie mehr loslassen wird. Die Dimension seiner Seelenqual ist dadurch markiert, dass Neoptolemos denselben Wehlaut (Pappai) ausstößt wie Philoktet bei seinem physischen Schmerz (z. B. 785). 896 ‚Wohin irrtest du mit deiner Rede ab?‘, wörtl. ‚Wohin bist du mit deiner Rede abgewichen?‘: Philoktet fragt nach, weil er es für selbstverständlich hält, was zu tun sei: an Bord zu gehen (vgl. 901) und nach Hause zu fahren. Neoptolemos’ klagende Ratlosigkeit muss ihn daher sehr irritieren. 897 ‚wie ich es in meiner Ratlosigkeit ausdrücken soll‘, wörtl. ‚wohin ich das ratlose / ausweglose Wort wenden soll‘: Neoptolemos’ eigene Ratlosigkeit (vgl. 898), was er jetzt sagen soll, ist in seiner Formulierung auf die Äußerung selbst übertragen, deren Richtung er nicht zu bestimmen weiß. 900–901 Zu dieser Befürchtung Philoktets vgl. 473 f. 901 ‚Schlag versetzt‘, wörtl. ‚geschlagen‘: Einen Schlag versetzt bekommen, kann im Griechischen (vgl. TS) wie im Deutschen metaphorisch gebraucht werden. 902 ‚widerwärtig‘: Im Griechischen beschreibt Neoptolemos seine psychische Situation mit demselben Substantiv, mit dem Philoktet die ‚Widerwärtigkeit‘ der Krankheit (900) charakterisiert hatte (dyschereia). ‚Wesen‘ (physis): vgl. zu Neoptolemos’ Wesen bzw. natürlicher Anlage 79; 88 f.; 874; 1310 f. 904–905 Zur In-Bezug-Setzung von Neoptolemos zu seinem Vater Achill vgl. (unter verschiedenen Perspektiven) 3; 50 f.; 96; 242; 260; 874; 1310 f. 905 ‚edlen Mann‘: Philoktet will damit sagen, dass Neoptolemos seine Hilfsbereitschaft nicht einem Unwürdigen zukommen lässt; vgl. Jebb. 906 ‚Als niederträchtig werde ich dastehen‘: Neoptolemos wird in erster Linie sein Verhalten gegenüber Philoktet meinen, aber vielleicht denkt er auch an seinen Ruf überhaupt, der schon früher ein für ihn wichtiger Aspekt war (vgl. 94; 119 f.). ‚quält‘: Neoptolemos gebraucht dasselbe Wort wie Philoktet für seine Situation nach der Aussetzung (283); vgl. Pucci. ‚schon lange‘: vgl. (zu der Zeitangabe) zu 589 und 806. Ging es bei dem in seiner zeitlichen Erstreckung unbestimmten Ausdruck in v. 806 um Mitleid mit Philoktet, so nun um die eigenen moralischen Skrupel (vgl. Steidle 1968, 181). Vgl. auch zu 912–913. Neoptolemos’ erste verbale Äußerung, die darauf deutete, dass die anfänglichen Bedenken wieder virulent werden, zeigte sich in v. 842 (vgl. Komm. dazu).

280

Drittes Epeisodion: 908–918

Ne.

O Zeus, was soll ich tun? Soll ich zum zweiten Mal als schlecht befunden werden, indem ich verheimliche, was ich nicht sollte, und sage, was höchste Schande bringt? Der Mann da, wenn ich mich in meinem Urteil nicht täusche, 910 will mich offenbar verraten und ohne mich die Fahrt antreten. Gewiss nicht ohne dich! Aber dass ich dich auf eine Fahrt mitnehme, die allzu schmerzlich für dich ist – das quält mich schon lange. Was sagst du denn da, mein Sohn? Ich verstehe nicht. Ich will dir nichts verheimlichen: Du musst nach Troia fahren 915 zu den Achaiern und zum Heer der Atreus-Söhne. Weh mir, was hast du gesagt? Ne. Klage nicht, bevor du erfahren hast … Was erfahren? Was hast du denn vor, mir anzutun?

Ph. Ne. Ph. Ne. Ph. Ph. Νε. Φι. Νε. Φι. Νε. Φι. Φι.

ὦ Ζεῦ, τί δράσω; δεύτερον ληφθῶ κακός, κρύπτων θ’ ἃ µὴ δεῖ καὶ λέγων αἴσχιστ’ ἐπῶν; ἁνὴρ ὅδ’, εἰ µὴ ’γὼ κακὸς γνώµην ἔφυν, προδούς µ’ ἔοικε κἀκλιπὼν τὸν πλοῦν στελεῖν. λιπὼν µὲν οὐκ ἔγωγε, λυπηρῶς δὲ µὴ πέµπω σε µᾶλλον, τοῦτ’ ἀνιῶµαι πάλαι. τί ποτε λέγεις, ὦ τέκνον; ὡς οὐ µανθάνω. οὐδέν σε κρύψω· δεῖ γὰρ ἐς Τροίαν σε πλεῖν πρὸς τοὺς Ἀχαιοὺς καὶ τὸν Ἀτρειδῶν στόλον. οἴµοι, τί εἶπας; Νε. µὴ στέναζε, πρὶν µάθῃς. ποῖον µάθηµα; τί µε νοεῖς δρᾶσαί ποτε;

910

915

909 ἐπῶν : ἔπη 910 ἁνὴρ editores : ἀνὴρ Hss. – vgl. zu 40. | µὴ ’γὼ  : µ᾿ ἐγὼ : µὴ κἀγὼ – Negation erforderlich, nur zwei Silben metrisch möglich. 911 ἔοικε (Hss.) : ἔοικεν 912–913 µὴ πέµπω] Neoptolemos beginnt, als folge ein Verb des Fürchtens, bricht dann aber ab und greift seine Klage von v. 906 wieder auf (vgl. Schein). Das ist vielleicht eine wahrscheinlichere Annahme, als sich ἀνιῶµαι (913) nach Art eines Verbs des Fürchtens konstruiert zu denken (Radermacher 1911 z. St.; Kamerbeek). 913 πέµπω : πέµπων – vgl. zu 912–913. | σε µᾶλλον, τοῦτ’ (Hss.) : σε, µᾶλλον τοῦτ’ +Blaydes (Dawe) – trotz seiner Stellung verstärkt µᾶλλον wahrscheinlich eher λυπηρῶς (912, vgl. Ellendt s. v. µάλα) als das bereits durch πάλαι qualifizierte ἀνιῶµαι. λυπηρῶς … µᾶλλον kann als Umschreibung eines Komparativs aufgefasst werden (K.-G. I 24 f. Anm. 3), der ohne einen konkreten Vergleichspunkt steigert: ‚allzu schmerzlich‘ (K.-G. II 305 Anm. 7). | πάλαι : πάλιν – im Dialog 907– 913 erklärt Neoptolemos (teilweise) gegenüber den Befürchtungen Philoktets seine Aussage in v. 906 und wiederholt daher die zweite Vershälfte als Bekräftigung: sein Zustand bleibt derselbe, er tritt nicht wieder (πάλιν) ein; vgl. zu solchen Wiederholungen Ant. 613/618 u. 614/624 (Jebb). 915 οὐδέν σε κρύψω] zum doppelten Akkusativ vgl. LSJ s. v. | γὰρ] vgl. zu 331. 917 τί εἶπας (Hss.) : τί σ᾿ εἴπω Trikl. : τί δ᾿ εἶπας Jebb – Hiat ist nach τί nicht unmöglich (vgl. zu 100 und 733, außerdem 753), aber nicht die Regel (vgl. 102; 751), sodass im Einzelfall die Entscheidung unsicher bleiben muss. | πρὶν µάθῃς] ἄν kann in der Dichtung fehlen, z. B. Ant. 619 (K.-G. II 455 Anm. 1); vgl. auch zu 764. 918 τί µε … δρᾶσαί] vgl. 314 f. τοιαῦτ’ … µ’ … δεδράκασ’.

Kommentar

281

908 ‚O Zeus, was soll ich tun?‘: Zur Ratlosigkeit des Neoptolemos vgl. auch 895; 969; vgl. außerdem 1063; 1350 (Philoktet). 908–909 ‚zum zweiten Mal‘: Das ‚erste Mal‘ meint wohl die ganze Lügengeschichte, die Neoptolemos bisher Philoktet vorgetragen hat, mit der Aufforderung zum Aufbruch (526), vermeintlich in Philoktets Heimat. Wenn er jetzt mit Philoktet zum Schiff ginge mit dem Ziel, nach Troia fahren, aber die Wahrheit verheimlichte, verhielte er sich zum zweiten Mal schändlich. 909 ‚was ich nicht sollte‘: Das Sollen bezieht sich auf seine wesensmäßige ethische Gesinnung, die dagegen spricht, Philoktet zu betrügen. ‚sage, was höchste Schande bringt‘, wörtl. ‚das Schändlichste an Worten sage‘, sc. (fälschlich) behaupte, dass die Fahrt nach Hause gehe. Dass Philoktet nun in der dritten Person über Neoptolemos spricht, ist noch kein Zeichen der Entfremdung und Verbitterung. Denn die Anrede ‚mein Sohn‘ folgt gleich wieder in v. 914. Vielmehr spricht Philoktet zu sich selbst (vgl. Ussher), wird aber von Neoptolemos gehört (912). Eine deutliche Distanzierung erfolgt erst, als Neoptolemos seine Pläne definitiv entwickelt hat: Dann redet Philoktet sein Gegenüber mit ‚Fremder‘ an (923). 911 Nach seinen bisherigen Erfahrungen kann sich Philoktet keinen anderen ‚Verrat‘ vorstellen, als dass Neoptolemos sein Versprechen brechen will. 912–913 Neoptolemos beruhigt Philoktet, was das Mitnehmen angeht, deutet aber an, dass es eben die Fahrt ist, die für Philoktet, der – wie Neoptolemos weiß – auf keinen Fall nach Troia will (622 ff.), ‚allzu schmerzlich‘ sein wird. Das sei es, was ihm ‚schon lange‘ (vgl. zu 906) Seelenqual bereite. 915–916 Nachdem Neoptolemos sich entschlossen hat, Philoktet nichts verheimlichen zu wollen, konfrontiert er ihn mit der Wahrheit in ihrer ganzen Brutalität. Er begnügt sich nicht damit, das wirkliche Fahrtziel (915) anzugeben, sondern weist auch darauf hin, dass Philoktet dort zu den Achäern und dem Heer der Atreus-Söhne kommen werde, vielleicht weil er sich vorstellen kann, was die Fahrt für Philoktet besonders ‚schmerzlich‘ (913) macht. Die ausdrückliche Nennung der verhassten Atreus-Söhne (916) muss Philoktet zusätzlich erbittern. Vgl. auch Visser (1998, 178 f.), die hierin eine ‚Ungeschicklichkeit‘ des Neoptolemos sieht. Aber es ist die ‚Geschicklichkeit‘ des Dichters, gleich hier die Faktoren nennen zu lassen, die – zusammen oder einzeln – das Trauma der Aussetzung (268–284) evozieren: Troia ist für Philoktet mit den Schuldigen für seine Aussetzung verbunden, wie zunehmend klarer wird (vgl. 1169–1172 mit Komm.; 1173–1175; 1200–1202; 1354–1357; 1376 f.; 1390; 1392), dieses Ziel löst daher strikte Ablehnung aus. 917 Philoktet reagiert mit einem Klageruf, aber er hofft offenbar, nicht richtig verstanden zu haben.

282 Ne. Ph. Ph. Ne. Νε. Φι. Φι. Νε.

Drittes Epeisodion: 919–925

Von diesem Elend zuerst dich zu befreien, dann vereint mit dir Troia zu zerstören – wenn ich dorthin gefahren bin. Und das hast du wirklich vor zu tun? Ne. Gewaltig nötigt ein Zwang dazu. Und daher sei du nicht zornig, nachdem du davon gehört hast! Ich bin verloren, ich Armer, bin verraten. Was hast du, Fremder, mir angetan? Gib mir auf der Stelle den Bogen zurück! Nein, unmöglich! Denn den Heerführern zu gehorchen σῶσαι κακοῦ µὲν πρῶτα τοῦδ’, ἔπειτα δὲ ξὺν σοὶ τὰ Τροίας πεδία πορθῆσαι, µολών. καὶ ταῦτ’ ἀληθῆ δρᾶν νοεῖς; Νε. πολλὴ κρατεῖ τούτων ἀνάγκη· καὶ σὺ µὴ θυµοῦ κλυών. ἀπόλωλα τλήµων, προδέδοµαι. τί µ’, ὦ ξένε, δέδρακας; ἀπόδος ὡς τάχος τὰ τόξα µοι. ἀλλ’ οὐχ οἷόν τε· τῶν γὰρ ἐν τέλει κλύειν

920

925

920

925

919 σῶσαι κακοῦ] sc. σε, κακοῦ ist ablativischer Genitiv (K.-G. I 398). | µὲν πρῶτα] zur Stellung von µέν vgl. GP 371 f. 920 µολών] abhängig, ebenso wie die Infinitive σῶσαι (919) und πορθῆσαι, von einem aus νοεῖς (918) zu ergänzenden νοῶ. Das Partizip scheint üblicherweise nur auf den ἔπειτα δὲ-Teil (919 f.) der Aussage bezogen zu werden (z. B. Schein: „and then with you to go and sack the plain of Troy“), aber als bloße nähere Bestimmung zu πορθῆσαι ist µολών überflüssig. Für Websters Übersetzung etwa „ in your company“ würde ξὺν σοὶ ausreichen bzw. wäre eher ξὺν σοὶ µολόντι zu erwarten. Vgl. 1332 u. 1335). Wahrscheinlicher ist also, dass µολών, betont gestellt, als prägnanter Ausdruck für die Fahrt nach Troia (sc. mit Philoktet) die Voraussetzung für die Heilung Philoktets und das Zerstören Troias bezeichnet; dann hat auch der (effektive) Aorist eine volle Bedeutung. Zur Semantik vοn µολεῖν vgl. auch 479. 921 καὶ] kann eine indignierte Frage einleiten (GP 311 [ii]). | ἀληθῆ] prädikativ in der Funktion eines Adverbs. | πολλὴ] ebenfalls prädikativ (Webster). 922 καὶ] ‚und daher‘. „καί with imperatives has often a slightly illative force“ (Campbell 1881 z. St. mit Verweis auf Platon, Gorgias 449 c 4 f.). | κλυών „fortasse“ Ll.J./W. : κλύων Hss. – die Akzentuierung ist eine Frage der Interpretation: Da Philoktets Zorn sich aus dem (abgeschlossenen) Hörvorgang ergibt, ist der Aorist vorzuziehen. Zum Grundsätzlichen vgl. West 1984, 172 ff. 924 τὰ : Ø – Sinn und Metrik erfordern τὰ.

Kommentar

283

919–920 Die Änderung des Fahrtziels, die von Philoktet als Betrug verstanden werden muss, lässt Neoptolemos in dem einen kurzen Wort (molōn) am Ende der beiden Verse erkennen (im Griechischen als Partizip, das eine vollendete Handlung impliziert und die Voraussetzung für das zuvor Ausgedrückte bezeichnet) – nach den Perspektiven, die für Philoktet attraktiv erscheinen könnten: Beendigung des Elends auf Lemnos (vgl. 1329–1334 a), Eroberung Troias zusammen mit Neoptolemos (vgl. 1334 b–1335). 919 ‚Von diesem Elend‘: Das Elend ist zunächst die Situation auf Lemnos, die durch die Fahrt nach Troia ein Ende fände; vermutlich schließt ‚Elend‘ aber auch die Krankheit mit ein, von der Neoptolemos Philoktet durch diese Fahrt befreien würde – seine Heilung ist ohnehin die Voraussetzung für die gemeinsame Eroberung Troias. Trifft dieses Verständnis zu, würde Neoptolemos bereits hier Kenntnisse verwenden, die ihn der Dichter – aus dramaturgischen Gründen – erst später (1329 ff.) näher ausführen lässt. Vgl. zu 1336. 920 ‚Troia‘, wörtl. ‚Troias Ebene‘ (pedia), womit die Stadt Troia (insgesamt) mit ihrem Umland gemeint ist (vgl. 69; 1297; 1332; 1376; 1435) im Unterschied zu ‚Troias hoher Burg‘ (vgl. 347; 353 jeweils mit Komm. sowie 611; 1335 [griechischer Text: 1334]); vgl. auch OC 1312. ‚wenn ich dorthin gefahren bin‘: Bei seiner Antwort auf Philoktets Frage (918) fokussiert Neoptolemos auf sein eigenes Tun als Voraussetzung für Pläne, die die Anwesenheit Philoktets bedingen. 921 ‚das‘: Die zuletzt genannte Fahrt nach Troia. Die von Neoptolemos verkündeten (positiven) Aussichten haben Philoktet nicht beeindruckt, er sieht nur, dass man ihn ‚verraten‘, sc. getäuscht und ausgeliefert, hat (923). 922 ‚Zwang‘: Ob Neoptolemos mit der Notwendigkeit, auf die er sich beruft, die Anordnung der Befehlshaber (93 f.; 925) meint oder die göttliche Bestimmung, dass und wie Troia fallen soll (vgl. 610–613; 989 f.; 1329 ff.; 1415), ist nicht klar und beides muss sich auch nicht ausschließen (vgl. Kamerbeek). Neoptolemos’ Bitte, dass Philoktet nicht zornig sein solle, kann man als Hinweis darauf verstehen, dass Philoktet deutliche Anzeichen von Zorn zeigt, nachdem er gehört hat, er solle nach Troia gebracht werden. 923–924 Die Sprechweise Philoktets ist als erregt gekennzeichnet, durch die Kürze der einzelnen Ausdrücke und metrisch durch mehrere aufgelöste Längen. Vgl. Kamerbeek. 923 ‚Fremder‘: Mit dieser distanzierenden Anrede hatte Philoktet bisher Neoptolemos selbst nie bezeichnet, sondern ihn nur mit gemeint, wenn er ihn und die Mannschaft als ‚Fremde‘ angeredet hat (219; 404). Vgl. auch zu 909. 924 Die Forderung nach der Rückgabe des Bogens ist für Philoktet die erste Konsequenz aus der Erkenntnis, dass sein Vertrauen missbraucht wurde. 925–926 Die Verweigerung der Rückgabe des Bogens rechtfertigt Neoptolemos mit äußerem Zwang. So, wie Philoktet betrogen wurde, muss ihn diese recht kühle Rechtfertigung sehr verletzen; vgl. Alt 1961, 162. 925 ‚den Heerführern‘, wörtl. ‚den im Amt Befindlichen‘ (vgl. z. B. Ant. 67): Es sind Agamemnon, Menelaos und wohl auch Odysseus, also diejenigen, die Philoktet am meisten verhasst sind. Zur Verpflichtung gegenüber dem

Drittes Epeisodion: 926–930

284

Ph.

Φι.

veranlasst mich rechtliche Verpflichtung ebenso wie Nutzen. Du Feuersbrunst und Ungeheuer ganz und gar und schlimmster Schurkerei verhassteste Ausgeburt, was hast du mir angetan, wie hast du mich betrogen! Und schämst du dich nicht, mich anzusehen, den, der deinen Beistand, deinen Schutz erfleht hat, du Schuft?

930

τό τ’ ἔνδικόν µε καὶ τὸ συµφέρον ποεῖ. ὦ πῦρ σὺ καὶ πᾶν δεῖµα καὶ πανουργίας δεινῆς τέχνηµ’ ἔχθιστον, οἷά µ’ εἰργάσω, οἷ’ ἠπάτηκας· οὐδ’ ἐπαισχύνῃ µ’ ὁρῶν τὸν προστρόπαιον, τὸν ἱκέτην, ὦ σχέτλιε;

930

928 εἰργάσω (Hss.) : εἴργασαι +Elmsley – zur Folge Aorist – Perfekt (ἠπάτηκας, 929) vgl. 676; 1172 (Jebb); die punktuelle Tat (Aorist) wird von Philoktet als bereits dauernd sich auswirkend (Perfekt) verstanden. 930 τὸν …, τὸν] anaphorische Artikel (K.-G. I 597, 8); Philoktet verweist auf seinen Status als Schutzflehender zurück (773). | προστρόπαιον] hier synonym mit ἱκέτης, nicht jemanden bezeichnend, der um Entsühnung bittet (wie z. B. Aisch. Eum. 41).

Kommentar

285

Heer vgl. vv. 93 f. – Dass der Abgesandte des Heeres, Odysseus, bereits auf Lemnos ist (vgl. Schein zu 915–16), sagt Neoptolemos jedoch nicht. Ob er damit als jemand charakterisiert werden soll, der noch immer nicht mit der ganzen Wahrheit herausrückt, oder ob er nur auf seine eigene Rolle fixiert ist, auf jeden Fall ergibt sich dramaturgisch, dass Odysseus’ Auftritt für Philoktet nicht mehr überraschend wäre (976), wenn er von seiner Anwesenheit wüsste. 926 Die rechtliche Verpflichtung (to endikon) besteht in Neoptolemos’ Loyalität gegenüber den Heerführern, der Nutzen in dem Ansehen, das er gewinnen will (119 f.). Dazu muss er Philoktet mit dem Bogen nach Troia bringen und kann nicht den Bogen bei Philoktet zurücklassen. Faktisch schließt er sich (zumindest kurzfristig) der Methode des Odysseus an, durch den Besitz des Bogens Einfluss auf Philoktet auszuüben. Dies ist zwar eine Form von Gewalt, aber nicht diejenige, die Neoptolemos ursprünglich für vertretbar gehalten hatte (90). 927–962 Auf Neoptolemos’ Weigerung reagiert Philoktet mit einer langen, Rede. In ihren drei Teilen enden die Vorwürfe an und über Neoptolemos jeweils in dem Versuch, ihn doch noch zur Rückgabe des Bogens zu bewegen (927–935; 936–951; 952–962). Die Rede führt (1) von einer direkten Anklage gegen Neoptolemos (2) über eine an seine physische Umgebung gewandte Klage über den Betrüger (3) zu dem verzweifelten, an seine Höhle gerichteten Ausblick, wie er ohne Bogen zum Verhungern bestimmt sei. Jedoch bleibt Neoptolemos, der alles mit anhört, auch in den Abschnitten (2) und (3) indirekt der Adressat; vgl. Medda 1983, 138–140. Zum Wechsel der in dieser Rede ausgedrückten Stimmungslagen vgl. bes. Reinhardt 1947, 192 f. 927–935 Philoktets Enttäuschung und Zorn entlädt sich in einer Beschimpfung des Neoptolemos, der sich eine flehentliche Bitte anschließt, den Bogen zurückzugeben, doch Neoptolemos wendet sich ab, wie Philoktet verzweifelt feststellen muss. 927–928 Beschimpfungen, angelegt als Trikolon nach dem Gesetz der wachsenden Glieder. Vgl. Fraenkel 1977, 65. 927 ‚Feuersbrunst‘: ein Schimpfwort wegen der zerstörerischen und unwiderstehlichen Kraft des Feuers; vgl. z. B. Homer, Ilias 17,565; Aristophanes, Lysistrata 1014 f.; weitere Stellen bei Kamerbeek. ‚Ungeheuer‘: eigtl. ‚Furcht‘, dann ‚furchterregendes Gebilde‘; vgl. Aisch. Cho. 586. Vgl. zur Formulierung v. 622. 928 ‚Ausgeburt‘: Das griechische Wort (technēma) bezeichnet wörtlich etwas künstlich Hergestelltes, ein ‚Produkt‘ oder (mit pejorativem Sinn) einen Kunstgriff, eine Trickserei, eine Bedeutung, die hier mitschwingen kann. 929–930 Der Verweis auf den Status eines Schutzflehenden (und damit Schutzbefohlenen; vgl. 773) ist noch Teil der Beschimpfung (vgl. auch ‚du Schuft‘, 930, in betonter Endstellung): Philoktet wirft Neoptolemos Schamlosigkeit vor, wenn er ihm, obwohl er ihn trotz seiner Zusicherung nicht ‚beschützt‘ hat, ins Gesicht sieht (vgl. 110!). Es ist daher ganz unwahrscheinlich, dass Philoktet hierbei physisch die Haltung eines Bittflehenden einnehmen (also niederknien) und in dieser Haltung bis v. 935 verharren soll (so aber

Drittes Epeisodion: 931–938

286

Durch den Raub des Bogens hast du mir das Leben genommen. Gib ihn zurück, ich bitte dich inständig, gib ihn zurück, ich flehe dich an, Sohn. Bei den Göttern deiner Väter, nimm mir nicht das Leben! Neoptolemos schweigt und wendet seinen Blick von Philoktet ab. O weh, ich Elender! Er spricht nicht einmal mehr zu mir, sondern als wolle er (den Bogen) niemals hergeben, so blickt er weg. 935 Ihr Buchten, ihr Landzungen, ihr Tiere in den Bergen – meine Gesellschaft –, ihr schroffen Felsen, zu euch, denn ich weiß keinen anderen, zu dem ich sprechen kann, ἀπεστέρηκας τὸν βίον τὰ τόξ’ ἑλών. ἀπόδος, ἱκνοῦµαί σ’, ἀπόδος, ἱκετεύω, τέκνον. πρὸς θεῶν πατρῴων, τὸν βίον µε µὴ ἀφέλῃ. ὤµοι τάλας. ἀλλ’ οὐδὲ προσφωνεῖ µ’ ἔτι, ἀλλ’ ὡς µεθήσων µήποθ’, ὧδ’ ὁρᾷ πάλιν. ὦ λιµένες, ὦ προβλῆτες, ὦ ξυνουσίαι θηρῶν ὀρείων, ὦ καταρρῶγες πέτραι, ὑµῖν τάδ’, οὐ γὰρ ἄλλον οἶδ’ ὅτῳ λέγω,

935

931 ἀπεστέρηκας τὸν βίον] zu ergänzen µε, zum doppelten Akkusativ (statt τοῦ βίου) – wegen der Parallelität zu τὰ τόξ’ ἑλών (Kannicht 1969 zu Eur. Hel. 95) – vgl. El. 1276 f. | τὰ τόξ’ ἑλών] dieselbe Wendung wie 763, jedoch in gegenläufigem Sinn. 932 ⏑ ⏖ ⏑ ‒ ‒ ⏖ ⏑ ⏖ ‒ ‒ ⏑ ‒ ‖ 933 θ͜εῶν] Synizese. | µε µὴ ἀφέλῃ Elmsley : µή µ᾿ ἀφέλῃς : µή µου ᾿φέλῃς – µή µ᾿ ἀφέλῃς ist unmetrisch; mediale Verbform verbunden mit doppeltem Akkusativ kommt auch sonst bei Sophokles vor (vgl. 376). µὴ͜ ἀφέλῃ: Synizese, vgl. OT 1388; El. 1169. 934 προσφωνεῖ : προφωνεῖ : προσφωνεῖν – nur προσφωνεῖ ist semantisch und syntaktisch möglich. 935 µήποθ’] µή ist vermutlich nicht „generic“ (so Jebbs bevorzugte Erklärung; Schein), da man in solchen Fällen ein Partizip mit Artikel erwarten würde (K.-G. II 201 Anm. 4), sondern eher eine verstärkende Verneinung (vgl. OC 656; OT 1455 f.), manchmal – wie hier (934) – steigernd nach οὐ wie 1058 f.; vgl. ebenfalls Jebb; Manuwald 1999, 158 f. 936 προβλῆτες] hier als Substantiv gebraucht, anders z. B. Homer, Odyssee 5,405 ἀκταὶ προβλῆτες.  |    ξυνουσίαι Hss. : ξυνουσία Suda s. v. προβλῆτες – die Pluralform passt besser zu den vorausgehenden Pluralen. 936–937 ξυνουσίαι θηρῶν] Umschreibung für θῆρες (sc. µοὶ) ξυνόντες. 938 τάδ’] abhängig von ἀνακλαίοµαι (939), wird durch οἷ’ ἔργ’ (940) näher ausgeführt.

Kommentar

287

Schein). Noch v. 931, wo Philoktet wieder auf den Bogen zurückkommt, ist ein Vorwurf. Es gibt jedenfalls keine Indizien für die Annahme, dass Philoktet, der nach seinem Anfall mühsam aufgestanden ist, bei der unmittelbar folgenden flehentlichen Bitte (932 f.) kniet (vgl. auch zu vv. 468–470). 931–934 Die asyndetische Aneinanderreihung der Verse, abgehackte Sprechweise (v. 932), Wiederholungen, metrisch drei aufgelöste Längen (vgl. TS zu 932): das alles sind Indizien eines erregten Sprechens. 931 Bei ‚Leben‘ vermuten einige Kommentatoren das von Heraklit her (VS 22 B 48) bekannte etymologische Wortspiel mit den sich nur durch den Akzent unterscheidenden Wörtern bíos (Leben) und biós (Bogen). Aber bei der Lautfolge bios neben dem hier durch toxa bezeichneten Bogen ebenfalls an ‚Bogen‘ zu denken, ist nicht plausibel; es würde dann zweimal dasselbe gesagt. Vielmehr kam es darauf an, dass der Schauspieler das Wort richtig akzentuierte, um einen Heiterkeitseffekt zu vermeiden (vgl. Jebb). Im Lesetext Heraklits stand unakzentuiert BIOS, sodass die Bedeutung für den Leser zunächst offen war. Vgl. auch zu 1282. 932 ‚Sohn‘: Im Zusammenhang seiner Bitte setzt Philoktet seine Beschimpfungen nicht fort und gebraucht wieder die Vertrauen zeigende Anrede. 934–935 Zwischen Philoktets Feststellung, Neoptolemos blicke ihm, wie er meint, schamlos ins Gesicht (929), und der Klage, dass er wegblicke, muss sich Neoptolemos von ihm abgewandt haben. Darauf reagiert Philoktet mit einem Wehruf und spricht jetzt über den wegblickenden und nicht antwortenden Neoptolemos in der dritten Person. Aus dessen Verhalten schließt er (mit steigernder Negation; vgl. TS zu 935), dass Neoptolemos den Bogen überhaupt niemals mehr zurückgeben wolle. – Über das Motiv des Neoptolemos, sich abzuwenden, kann man nur spekulieren. Vielleicht wollte Sophokles ihn als verunsichert erscheinen lassen, vielleicht auch als beschämt, zumal er von Philoktet bei den Göttern seiner Väter (933) beschworen worden war. 936–951 Als Neoptolemos den Kontakt mit Philoktet verweigert, klagt sich dieser bei der Landschaft und den Tieren seiner Umgebung als den einzigen, an die er sich vertrauensvoll wenden kann, über dessen Treulosigkeit und Hinterlist aus, sieht dann aber doch keinen anderen Weg, als wiederum unmittelbar an ihn zu appellieren (950 f.). 936–937 Philoktet apostrophiert seine Umgebung, ausgehend von den Gegebenheiten der Küste hin zum Landesinnern mit seinen Tieren und steilen Felsen. Solche Apostrophen sind als Zeichen seiner Verlassenheit von den Menschen für Philoktet charakteristisch; vgl. zu Philoktets Gebrauch von Apostrophen insgesamt Nooter 2012, 131 ff. 936 ‚Buchten‘: Das griechische Wort (limenes) bedeutet gewöhnlich ‚Häfen‘, aber es können in der Einsamkeit, in der Philoktet haust, nicht regulär genutzte Schiffsanlegeplätze gemeint sein, zumal es nach Philoktet (302) keinen Ankerplatz gibt (vgl. zu 302). Es sind daher wohl Einbuchtungen in der Küste gemeint, in die sich auch einmal ein Schiff verirren kann (305 ff.). ‚Landzungen‘: Es dürfte sich um alles handeln, was an der Küstenlinie vorspringt.

Drittes Epeisodion: 939–947

288

erhebe ich meine Klage – zu euch, die ihr es gewohnt seid, bei mir zu sein –, was für Taten der Sohn Achills an mir verübt hat: 940 Er hat geschworen, mich nach Hause zu bringen – und will mich nach Troia führen; er gab mir seine rechte Hand – und nahm mir doch den Bogen, den heiligen, des Zeus-Sohns Herakles, und behält ihn jetzt und will ihn den Argeiern stolz vorweisen. Als ob er einen starken Mann gefasst hätte, will er mich mit 945 Gewalt wegführen und sieht nicht, dass er eine Leiche tötet oder eines Rauches Schatten, eine bloße Erscheinung. Wäre ich nämlich bei Kräften geweἀνακλαίοµαι παροῦσι τοῖς εἰωθόσιν, οἷ’ ἔργ’ ὁ παῖς µ’ ἔδρασεν οὑξ Ἀχιλλέως· ὀµόσας ἀπάξειν οἴκαδ’, ἐς Τροίαν µ’ ἄγει· προσθείς τε χεῖρα δεξιάν, τὰ τόξα µου ἱερὰ λαβὼν τοῦ Ζηνὸς Ἡρακλέους ἔχει, καὶ τοῖσιν Ἀργείοισι φήνασθαι θέλει. ὡς ἄνδρ’ ἑλὼν ἰσχυρὸν ἐκ βίας µ’ ἄγει κοὐκ οἶδ’ ἐναίρων νεκρόν ἢ καπνοῦ σκιάν, εἴδωλον ἄλλως. οὐ γὰρ ἂν σθένοντά γε

940

945

939 παροῦσι τοῖς εἰωθόσιν] „παροῦσι is predicate, τοῖς εἰωθόσιν sc. παρεῖναι attribute to ὑµῖν“ (Kamerbeek). 941–947 ὀµόσας … ἄλλως] in dem Passus sollte man nach θέλει (944) interpungieren, sodass ὡς … ἄλλως (945–947) asyndetisch folgt (allenfalls könnte man nach ἑλὼν [945] mit Dindorf ⟨δ’⟩ einfügen; vgl. Ll.-J./W.2); denn ὡς … kann nicht unmittelbar von φήνασθαι (944) regiert werden, und verstünde man ὡς als ‚dass‘ (angeschlossen an ein zu φήνασθαι ergänzendes ‚als Zeichen‘), ergäbe die Fortsetzung mit κοὐκ οἶδ’ (946) keinen Sinn; vgl. bes. Jebb. 941 οἴκαδ’ : µ᾿ οἴκαδ’ | µ’ ἄγει (Hss.) : ἄγει Trikl. – bei einem der Verben (ἀπάξειν, ἄγει) muss das Objekt (µ᾿) ausgedrückt sein, im Kontext von ἐς Τροίαν hat es mehr Aussagekraft. | ἄγει] von der Absicht gesagt (vgl. K.-G. I 140, 7 a); Philoktet denkt nicht an eine Realisierung (vgl. 952 ff.). 942 προσθείς : προθείς – vgl. El. 47 ὅρκον (Reiske : -ῳ Hss.) προστιθείς. 943 ἱερὰ] sc. ὄντα. | λαβὼν … ἔχει] die Periphrase akzentuiert das In-Besitz-Behalten (Bentein 2016, 120); anders Aerts 1965, 137: ἕχει „independent verb“. | τοῦ Ζηνὸς Ἡρακλέους] Genitiv zu ὁ Ζηνὸς Ἡρακλῆς, vgl. OC 623 χὠ Διὸς Φοῖβος (Jebb). 944 φήνασθαι] Aorist Medium von φαίνω ist nur hier belegt; das Medium (indirekt-reflexiv) drückt das Interesse des Handelnden aus, also ‚für sich‘, d. h. etwa ‚stolz vorzeigen‘ (vgl. Moorhouse 178). 945 ἑλὼν +Suda s. v. κακοπινέστατον : ἑλών µ᾿ (Hss.) : ἑλὼν δ᾿ Dindorf | µ᾿ +Suda (in den meisten Hss.) : Ø (zur Frage, ob µ᾿ an beiden Stellen gesetzt werden sollte, vgl. Ll.-J./W.1). | ἄγει] vgl. zu 941. 946 οἶδ’ ἐναίρων (Hss.) : οἶδεν αἴρων +Suda – nur ἐναίρων ergibt Sinn (falsche Worttrennung bei der Variante). 947 ἄλλως] vgl. Kallimachos, Epigramm 18,4 Pfeiffer (von einem Kenotaph) ἐγὼ δ᾿ ἄλλως οὔνοµα τύµβος ἔχων ‚ich, das Grab, trage den Namen (sc. des Toten) umsonst‘, d. h.: ‚ich trage nichts als den Namen, den bloßen Namen‘ (Kamerbeek; Weiteres bei Jebb).

Kommentar

289

939 ‚die ihr es gewohnt seid, bei mir zu sein‘: Philoktet nimmt die Perspektive seiner Umgebung ein, als habe diese sich daran gewöhnt, bei ihm zu sein. Auf diese Weise entsteht ein Kontrast zu Neoptolemos und seiner Mannschaft, die als ‚Fremde‘ kein vertrautes Gegenüber bilden. 940 ‚Taten‘: Philoktet sieht sich zweifach betrogen, denn statt nach Hause will Neoptolemos ihn nach Troia bringen (941), und er gibt ihm den Bogen nicht wieder zurück (942–944). ‚der Sohn Achills‘, wörtl. ‚der Sohn …, der von Achill (stammt)‘: Die Abstammung von Achill wird stark betont: ausgerechnet der Sohn Achills (von dem es wegen seiner Abkunft am wenigsten zu erwarten gewesen wäre). 941 ‚geschworen‘: Er hat es versprochen (524–527) bzw. Philoktet konnte ihn nach der Choräußerung in den vv. 510–518 nur so verstehen (vgl. auch zu 528–529), aber keinen formellen Eid geleistet. Neoptolemos’ in der AnfallsSzene gegebener Handschlag (813) – Philoktet hatte auf einen Eid verzichtet (811) – bezieht sich unmittelbar nur auf die Zusicherung, während Philoktets Anfall dazubleiben (vgl. Ussher), jedoch konnte Philoktet annehmen, dass nach Ende des Anfalls das Versprechen wahrgemacht wird. 942 ‚gab mir seine rechte Hand‘: Philoktet hatte den Handschlag über die verbale Zusicherung hinaus als Bekräftigung verlangt. Vgl. 813 und zu 941. Wenn auch der Handschlag nicht ausdrücklich mit der Rückgabe des Bogens zu tun hat, so hatte doch Philoktet von vornherein die Überlassung des Bogens nur als temporär versprochen (667 f.; vgl. auch 762–773) und ist die NichtRückgabe auf jeden Fall ein Verhalten, das sich nicht mit einem Vertrauensverhältnis verträgt, das durch einen Handschlag (anstelle eines Eides) begründet wurde. Insofern liegt es für Philoktet nahe, beides zusammenzubringen. 943 ‚heiligen‘: Zur Herkunft des Bogens vgl. zu 198. 944 Philoktet unterstellt Neoptolemos, dass es dessen alleiniges Ziel sei, sich stolz mit dem Bogen den Griechen (vermutlich denkt er an das Heer vor Troia) zu präsentieren. Die Vorstellung, dass ein Gegner sich mit dem Besitz des Bogens brüsten könnte, ist besonders quälend für ihn; vgl. 1125 f. 945–948 Philoktet unterstellt Neoptolemos außerdem, ihn selbst mit Gewalt wegbringen zu wollen, und stuft dessen Erfolg als nichtswürdig ein, da dieser nicht realisiere, nur einen Sieg über einen Wehrlosen errungen zu haben. 946–947 Die Problematik von Neoptolemos’ Sieg illustriert Philoktet mit Bildern abnehmender Konkretheit, um seine Nichtigkeit auszudrücken: Leiche, Rauches Schatten, bloße Erscheinung. – Zu ‚Rauches Schatten‘ als Bild für etwas Nichtiges vgl. Ant. 1170, als Chiffre für die Nichtigkeit menschlicher Existenz vgl. Aisch. F 399 Radt (auch F 154 a 9, wo ‚Schatten‘ allerdings nicht sicher lesbar ist); vgl. auch Pindar, Pythien 8,95 f. (der Mensch als Traum von einem Schatten). Mit ‚Rauch‘ kann aber auch die Seele verglichen werden, die in die Unterwelt geht (Homer, Ilias 23,100 f.), wie das griechische Wort für ‚Erscheinung‘ (eidōlon) auch für die substanzlose Existenzweise der Toten im Hades gebraucht wird (Odyssee 11,476). Vgl. auch Kamerbeek; Schein.

Drittes Epeisodion: 948–955

290

sen, hätte er mich nicht ergriffen; denn nicht einmal in meinem Zustand hätte er das, außer mit List. Doch jetzt bin ich betrogen, ich Unglücklicher! Was soll ich tun? – Gib ihn zurück! Auch jetzt noch werde wieder du selbst! – 950 Was sagst du dazu? – Du schweigst: Ich bin ein Nichts, ich Unglücklicher. Felsengebilde mit doppeltem Eingang!, wieder einmal kehre ich zu dir zurück, ohne Wehr, ohne Nahrung; ja, ich werde zugrunde gehen in dieser Behausung, einsam, weil ich keinen gefiederten Vogel, auch kein Tier, das durch die 955 Berge streift, εἷλέν µ’· ἐπεὶ οὐδ’ ἂν ὧδ’ ἔχοντ’, εἰ µὴ δόλῳ. νῦν δ’ ἠπάτηµαι δύσµορος. τί χρή µε δρᾶν; – ⟨ἀλλ’⟩ ἀπόδος. ἀλλὰ νῦν ἔτ’ ἐν σαυτοῦ γενοῦ. – τί φής; – σιωπᾷς· οὐδέν εἰµ’ ὁ δύσµορος. ὦ σχῆµα πέτρας δίπυλον, αὖθις αὖ πάλιν εἴσειµι πρὸς σὲ ψιλός, οὐκ ἔχων τροφήν· ἀλλ’ αὐανοῦµαι τῷδ’ ἐν αὐλίῳ µόνος, οὐ πτηνὸν ὄρνιν, οὐδὲ θῆρ’ ὀρειβάτην

950

955

948 ἐπεὶ͜ οὐδ’] Synizese, vgl. zu 446. | ἂν] sc. εἷλεν. 949 µε δρᾶν : πο(ι)εῖν +Suda – Philoktet bedenkt, was er (µε) tun soll. 950 ⟨ἀλλ’⟩ ἀπόδος Turnebus : ἀπόδος (Hss.) : ἀπόδος σύ γ᾿ Trikl. – im überlieferten Text (ἀπόδος σύ γ᾿ dürfte nur den Rang einer Konjektur haben) fehlt eine Silbe; ⟨ἀλλ’⟩ ist eine idiomatisch plausible Ergänzung; vgl. GP 15 zur Wiederholung von ἀλλά bei Aufforderungen. | ἀλλὰ νῦν] vgl. zu diesem Gebrauch von ἀλλά GP 13; zu ergänzen etwa: ‚Wenn du dich auch zwischenzeitlich anders verhalten hast, so werde wenigstens jetzt noch …‘ (vgl. auch Bruhn § 146, I). | ἐν] prägnante, proleptische Verwendung der Präposition: die Ankunft am Ziel des Vorgangs wird vorweggenommen. Vgl. K.-G. I 541 a; Ant. 782 Ἔρως, ὃς ἐν κτήµασι πίπτεις, Herodot 5,33,1 ἐγένετο ἐν Χίῳ. | σαυτοῦ : σαυτῷ (Hss.) – σαυτοῦ ist die lectio difficilior und wird gestützt durch Wendungen wie Aristophanes, Wespen 642 κἄστιν οὐκ ἐν αὑτοῦ, Menander, Samia 340 οὐκ ὄντ᾿ ἐν (sc. φρέσι, Lamagna 1998 z. St.) ἑαυτοῦ, Aspis 307 οὐκ εἴµ᾿ ἐν ἐµαυτοῦ. Vgl. Ll.-J./W.1. Bei ἐν ist hier vielleicht φύσει zu ergänzen. 951 σιωπᾷς] als Frage aufgefasst von Blaydes und Dawe. Vgl. Ll.-J./W.1 mit Verweis auf v. 805; OC 1271 (wo allerdings jeweils in τί σιγᾷς eindeutig eine Frage vorliegt) und Eur. Hypsipyle F 757 Col. XV,7 (p. 772 Kannicht). 952 ὦ σχῆµα πέτρας δίπυλον] vgl. zu dieser Umschreibung Eur. Alk. 911 ὦ σχῆµα δόµων, Hek. 619 ὦ σχήµατ᾿ οἴκων, Andr. 1 Ἀσιάτιδος γῆς σχῆµα. Zum Bezug von δίπυλον auf σχῆµα statt auf πέτρας vgl. K.-G. I 363 Anm. 2. | αὖθις αὖ πάλιν] „emotional abundance of expression“ (Kamerbeek); ebenso OC 1418 (dazu Ll.-J./W.1), aber z. B. Phil. 342 αὖθις πάλιν, Eur. Or. 279 αὖθις αὖ. 953 ψιλός] vgl. LSJ s. v. III. 954 ἀλλ’] hier offenbar bekräftigend, analog zu dem zustimmenden Gebrauch von ἀλλά im Dialog (GP 16 ff.); „Yes“ Jebb; Ussher. | αὐανοῦµαι (varia lectio in zwei Hss., vgl. Scholion) : αὖ θανοῦµαι Hss. – vgl. El. 819; mediales Futur mit passiver Bedeutung, vgl. zu 48.

Kommentar

291

948  Zuletzt relativiert Philoktet seine Aussage, dass er nur wegen seiner Kraftlosigkeit habe überwunden werden können, den ‚Erfolg‘ des Neoptolemos noch weiter mit der Feststellung, dass es auch in seinem gegenwärtigen Zustand nur mit List möglich gewesen sei. Damit bestätigt er die Analyse des schlauen Fuchses Odysseus (vgl. v. 101). 949 Die Klage an die Umwelt führt Philoktet von Neuem (vgl. 929) zu dem Ergebnis, dass er betrogen sei, und zu einer ratlosen Frage, was er tun solle; denn die jetzigen Adressaten können ihm nicht helfen. – Die an sich selbst gestellte Frage, was er tun solle, ist kennzeichnend für seinen gesamten Entscheidungsprozess (vgl. 1063; 1350). 950 ‚Gib ihn zurück!‘: Mit der wiederholten Bitte (apodos, 932) wendet sich Philoktet dann doch noch einmal direkt an Neoptolemos. ‚werde wieder du selbst!‘, wörtl. ‚komme zu (etwas) von dir (selbst)‘, wobei das ‚etwas‘ nicht benannt ist, aber sicher etwas vorzustellen ist, das Neoptolemos’ Wesen ausmacht. Philoktet unterstützt seine Bitte, den Bogen zurückzugeben, mit einen Appell an Neoptolemos (der als einziger ihm helfen könnte), sich so zu zeigen, wie er glaubte, ihn bisher kennengelernt zu haben. 951 Neoptolemos reagiert offenkundig auch dieses Mal nicht, denn Philoktet fragt nach. Als (nach kurzem Warten) wieder keine Antwort erfolgt, stellt Philoktet resigniert das Schweigen seines Gegenübers und die Konsequenz für sich selbst fest. Alternativ wäre auch denkbar, so zu interpungieren, dass Philoktet seiner ersten Frage eine weitere (‚Du schweigst?‘) nachfolgen lässt und dann (nach einer Pause) die Konsequenz für sich nennt. ‚Was sagst du dazu?‘: vgl. zu 804–805. ‚Ich bin ein Nichts‘: Seine ohnmächtige Nichtigkeit beklagt Philoktet mehrfach; vgl. 1030; 1217. 952–962 Nachdem auch der zweite Versuch, Neoptolemos zur Rückgabe des Bogens zu bewegen, keinen Erfolg brachte, macht sich Philoktet an seine Höhle gewandt seine Zukunft klar, in der er ohne die Möglichkeit, sich mit dem Bogen Nahrung zu verschaffen, den Tod finden wird. Dabei geht er nicht mehr davon aus, dass Neoptolemos ihn nach Troia bringen wird (945). Er endet mit einer Verwünschung des Neoptolemos, allerdings mit dem Vorbehalt, dass diese erst wirksam sein solle, wenn der seine Meinung nicht ändere. 952 Philoktet spricht seine Höhle mit einer Umschreibung an (wörtl. ‚doppeltürige Gestalt des Felsens‘), ein Verfahren, das, wie Parallelen zeigen (Stellen in TS), typisch ist für eine Situation, in der der Sprecher mit starker Emotion etwas Vertrautes nach negativer Veränderung seiner Lebensumstände apostrophiert. Vgl. Dale 1954 zu Eur. Alk. 911; Schein. 953 ‚ohne Wehr‘, wörtl. ‚entblößt‘: Philoktet hat seinen Bogen nicht mehr. Das Wort (psilos) kann von Soldaten, die nur leichte Waffen tragen oder unbewaffnet sind, gebraucht werden. ‚ohne Nahrung‘: Im Sinne von ‚Nahrungsgrundlage‘ zu verstehen, weil Philoktet den Bogen nicht mehr hat. 954 ‚zugrunde gehen‘, wörtl.: ‚verdorren‘ (wie ein abgeschnittener Ast austrocknet; Homer, Odyssee 9,320 f.).

Drittes Epeisodion: 956–966

292

mit diesem Bogen erlegen kann, sondern ich Elender selbst werde sterben und denen ein Mahl bereiten, von denen ich mich ernährte, und auf mich werden, die ich zuvor jagte, jetzt Jagd machen. Mit Blut werde ich zur Sühne für Blut büßen, ich Elender, durch den, der nichts Böses zu kennen schien. 960 Mögest du zugrunde gehen – nein, noch nicht, bis ich erfahre, ob du deine Absicht ändern willst; wenn nicht, sollst du übel sterben! Chf. Was sollen wir tun? Bei dir liegt es nun, ob wir fahren, Herr, oder auf seine Wünsche eingehen. Ne. Mich hat ein heftiges Mitleiden befallen 965 mit diesem Mann, nicht jetzt zum ersten Mal, sondern schon lange.

Χο. Νε.

τόξοις ἐναίρων τοισίδ’, ἀλλ’ αὐτὸς τάλας θανὼν παρέξω δαῖτ’ ὑφ’ ὧν ἐφερβόµην, καί µ’, οὓς ἐθήρων πρόσθε, θηράσουσι νῦν· φόνον φόνου δὲ ῥύσιον τείσω τάλας πρὸς τοῦ δοκοῦντος οὐδὲν εἰδέναι κακόν. ὄλοιο – µή πω, πρὶν µάθοιµ’, εἰ καὶ πάλιν γνώµην µετοίσεις· εἰ δὲ µή, θάνοις κακῶς. τί δρῶµεν; ἐν σοὶ καὶ τὸ πλεῖν ἡµᾶς, ἄναξ, ἤδη ’στὶ καὶ τοῖς τοῦδε προσχωρεῖν λόγοις. ἐµοὶ µὲν οἶκτος δεινὸς ἐµπέπτωκέ τις τοῦδ’ ἀνδρὸς οὐ νῦν πρῶτον, ἀλλὰ καὶ πάλαι.

960

965

956 τοισίδ’ : τοῖσιν : τοῖσδε : τοῖς δέ γ᾿ Trikl. : τοῖσδ᾿ ἔτ᾿ Burges – die in der Tragödie seltene ionische Form auch Aisch. Ag. 520 (vgl. dazu Fraenkel 1950). 957 ὑφ᾿ Hss. : ἀφ’ Wunder – (ἐκείνοις) ὑφ᾿: Philoktet personalisiert seine ‚Ernährer‘, vgl. Jebb (anders Ll.J./W.1). 958 {…} Purgold, Bergk, Fraenkel 1977, 67 – vgl. aber Ll.-J./W.1: θανὼν (957) muss nicht ‚vorzeitig‘ sein, und die in 957 und 958 genannten Vorgänge lassen sich als parallel (oder als Hysteron proteron) verstehen. 959 ῥύσιον] zum Βedeutungsspektrum des Wortes vgl. Fraenkel 1950 zu Aisch. Ag. 534 „compensation“. 960 δοκοῦντος] das Partizip vertritt ein Imperfekt ~ πρὸς τοῦ, ὃς ἐδόκει. Vgl. z. B. OT 835 πρὸς τοῦ παρόντος. 961 µάθοιµ’] Modusassimilation an ὄλοιο, vgl. K.-G. I 255 f. 961–962 καὶ πάλιν γνώµην µετοίσεις] ~ ‚deine Absicht völlig zurück(nimmst und) ändern willst‘. καὶ steigert πάλιν, vgl. Ant. 1280 καὶ τάχ᾿ „(‘full soon’)“ (GP 319 [3]), πάλιν und µετοίσεις verstärken in ihrer Kombination die Angabe der erwarteten Gesinnungsänderung. 963–964 ἐν σοὶ … ’στὶ] zu der Wendung mit Infinitivkonstuktion (hier mit Artikel) vgl. z. B. Herodot 6,109,3. 964 τοῖς Hss. : τὸ Blaydes – vor τοῖς ist τὸ aus 963 zu ergänzen; vgl. OC 808 (wenn man den Hss. und nicht der Suda folgt); Demosthenes, or. 21,19 (Radermacher 1911 z. St.). 965 ἐµοὶ µὲν] µὲν (ohne korrespondierendes δέ) hebt das Personalpronomen hervor; vgl. Ai. 80; GP 381 (ii). | οἶκτος δεινὸς] vgl. Tr. 298 ἐµοὶ γὰρ οἶκτος δεινὸς εἰσέβη. 966 καὶ πάλαι (Hss.) : καὶ πάλιν : πολλάκις (varia lectio in einer Hs.) – καὶ steigert πάλαι, vgl. Ant. 289; Tr. 87; OC 1252 (GP 318).

Kommentar

293

956–959 Philoktet stellt sich vor, dass er nach seinem Tode zum Fraß für Tiere wird, aber auch, dass sie den noch Lebenden angreifen könnten. Der wehrlose Jäger wird nun selbst zur Beute derer, die er früher jagte. 956 ‚diesem‘: Das Pronomen ist deiktisch. Philoktet zeigt wahrscheinlich auf den Bogen, den Neoptolemos in der Hand hält. 959 Philoktets Blut wird als Vergeltung dienen für das Blut der von ihm getöteten Tiere. Darin kann man eine Vermenschlichung der Tiere sehen, als ob ihnen gegenüber ein Verhältnis der Blutrache bestünde wie zwischen Menschen (so Schein). Doch gibt es auch die alte Vorstellung der generellen Schuld des Jägers, die im Töten als Vergehen gegen das an sich zu erhaltende Leben besteht (vgl. Burkert 1997, 24 u. passim). Auf jeden Fall denkt Philoktet an eine Art Vergeltung für sein früheres Jagen. 960 Hier zeigt sich die ganze Bitternis dessen, der sich im Charakter seines Gegenübers getäuscht zu haben glaubt. Die früher erkannte edle Art des Neoptolemos (874) erscheint Philoktet im Nachhinein als bloße Fassade. 961–962 Philoktet setzt nach dem, was er zuvor gesagt hat, konsequent zu einer Verwünschung des Neoptolemos an, der zeitliche Vorbehalt lässt sich aber als indirekter Versuch verstehen, Neoptolemos doch noch umzustimmen. 963–974 a Die Unschlüssigkeit bei Chor und Neoptolemos ermutigt Philoktet zu einer neuerlichen Bitte, die das Entscheidungsdilemma des Neoptolemos so weit steigert, dass er den Chor um Rat fragt. 963–964 Neoptolemos reagiert in seiner Ratlosigkeit (vgl. bes. 969) nicht auf Philoktets Klage, sodass der Chor ihn darauf hinweisen muss, es sei jetzt an ihm, eine Entscheidung zu treffen. Die vom Chor genannten alternativen Möglichkeiten sind wohl so zu verstehen: (1) Abfahren nach Troia (sc. ohne Philoktet, aber mit dem Bogen, wie schon 827–842; 843–864 vom Chor insinuiert), (2) den Bogen an Philoktet zurückgeben und (vielleicht auch noch) ihn selbst nach Hause bringen. Vgl. Ussher. Es fällt auf, dass der Chor die Alternative, im Sinne Philoktets zu handeln, überhaupt aufführt, nachdem er zuvor eindeutig für den Bogendiebstahl eingetreten war. Er verhält sich jetzt in der Sache neutral, vielleicht weil er das Dilemma seines Herrn bemerkt; vgl. Visser 1998, 143 f. Aus Philoktets Einmischung (967 f.) ist zu schließen, dass er die Ermahnung des Chors und Neoptolemos’ Antwort hört. 963 ‚Was sollen wir tun?‘: Die Frage des Chors changiert zwischen einer Bitte um Handlungsanweisung für sich selbst (wie 135) und einem Neoptolemos miteinschließenden ‚wir‘ (wie 836). 965 ‚befallen‘: Das Wort empiptein (wörtl. ‚auf etwas fallen‘) kann in Bezug auf äußere Mächten wie Feuer, Eros, Krankheit benutzt werden, gegen die man nichts ausrichten kann. Das Mitleid mit Philoktet ist – was im Intrigenplan nicht einkalkuliert war – einfach über Neoptolemos gekommen (und ist zum Dauerzustand geworden, wie das griechische Perfekt ausdrückt; vgl. Winnington-Ingram 1980, 284 mit Anm. 13). 966 ‚nicht jetzt zum ersten Mal, sondern schon lange‘: Vgl. zu 806, zur Form der Aussage außerdem vv. 589 und 906.

294

Drittes Epeisodion: 967–973

Ph.

Erbarme dich, mein Sohn, bei den Göttern, und lass nicht zu, dass die Menschen dich beschimpfen, weil du mich betrogen hast! Weh mir! Was soll ich tun? Hätte ich doch niemals mein Skyros verlassen! So sehr bedrückt mich, wie es jetzt steht. 970 Nicht du bist schlecht; sondern von schlechten Menschen in Schändlichem unterrichtet bist du, so scheint es, hierher gekommen. Jetzt überlass das anderen, für die es passt, und fahre weg! Zuvor gib mir meine Waffen!

Ne. Ph.

Φι. Νε. Φι.

ἐλέησον, ὦ παῖ, πρὸς θεῶν, καὶ µὴ παρῇς σαυτοῦ βροτοῖς ὄνειδος ἐκκλέψας ἐµέ. οἴµοι, τί δράσω; µή ποτ’ ὤφελον λιπεῖν τὴν Σκῦρον· οὕτω τοῖς παροῦσιν ἄχθοµαι. οὐκ εἶ κακὸς σύ· πρὸς κακῶν δ’ ἀνδρῶν µαθὼν ἔοικας ἥκειν αἰσχρά. νῦν δ’ ἄλλοισι δοὺς, οἷς εἰκὸς, ἔκπλει, τἀµά ’µοι µεθεὶς ὅπλα.

970

967 ἐλέησον] episch, vgl. zu 501. | παρῇς : παρῇ – der Sinn erfordert die 2. P. von παρίηµι. 968 σαυτοῦ : σαυτὸν – bei παρίηµι mit Reflexivpronomen würde man eher σαυτὸν βροτῶν ὀνείδει erwarten (vgl. Eur. Tro. 693); anders Ll.-J./W.1. σαυτοῦ ist gen. obiectivus zu ὄνειδος (statt der üblichen Konstruktion βροτοῖς ὀνειδίζειν, vgl. Jebb). | ἐκκλέψας] zur übertragenen Bedeutung vgl. 55. 969 µή ποτ’ ὤφελον] unerfüllbarer Wunsch der Vergangenheit (K.-G. I 207 Anm. 3; Moorhouse 215). 970 τὴν Σκῦρον] zum Artikel vgl. zu 325– 326. 971 δ’ : Ø – adversatives δ’ ist hier passend. 972 ἥκειν Hss. : ἀσκεῖν Bergk : εἴκειν Fraenkel 1977, 68 – ‚in αἰσχρά unterrichtet bist du hier(her gekommen)‘, d. h., man hat dich so unterrichtet, bevor du hierher kamst (vgl. Webster). | ἄλλοισι δοὺς Hss. : ἄλλοις διδοὺς Dawe 2003, 105 f. – vgl. zu 973. 973 οἷς Hss. : οἷ᾿ Dindorf : ὅσ᾿ Wilson – dass δοὺς (972) ein Objekt braucht (Ll.-J./W.2), ist richtig, aber dazu ist weder Dindorfs οἷ᾿ noch Wilsons ὅσ᾿ (verfochten von Ll.-J./W.2) nötig. Aus dem Vorhergehenden lässt sich zu δοὺς gedanklich τὰ αἰσχρά ergänzen (Jebb; Webster), was einen guten Sinn ergibt; vgl. zum Gebrauch von διδόναι Ai. 483 f. δὸς ἀνδράσιν φίλοις γνώµης κρατῆσαι. Überlegenswert ist Dawes Vorschlag ἄλλοις διδοὺς, weil Neoptolemos’ Rückkehr nach Hause (nach Rückgabe des Bogens) damit identisch wäre, dass er das Schändliche anderen überlässt. | οἷς εἰκὸς] sc. αὐτά bzw. τὰ αἰσχρὰ δοῦναι (Jebb; Kamerbeek) bzw. διδόναι, wenn man Dawe folgt; ‚Subjekt‘ zu δοῦναι / διδόναι ist Neoptolemos. | τἀµά µοι Hss. : τἄµ’ ἐµοὶ Platt – der Gegensatz zu ἄλλοισι (972) ist vor allem Neoptolemos (σύ, 971), nicht in erster Linie Philoktet, sodass ein betontes ἐµοί nicht notwendig ist, vielmehr kommt es Philoktet darauf an, s e i n e Waffen zurückzuerhalten.

Kommentar

295

967–968 Ermutigt durch Neoptolemos’ Mitgefühl appelliert Philoktet (wie schon 501) an dessen Mitleid und verstärkt den Appell mit der Aufforderung, dadurch zugleich Schande in den Augen der Mitwelt für sich selbst zu vermeiden. Furcht vor der Schande (oneidos) des Betrugs hatte auch Neoptolemos (gegenüber dem Chor) geäußert (842). Philoktet argumentiert hier mit epischheroischen Wertvorstellungen; vgl. Homer, Ilias 16,498 f.; Schein. 968 ‚betrogen hast‘: Im Griechischen dasselbe Wort wie v. 55 (‚täuschen‘), nur hat Neoptolemos die dort gemeinte Täuschung inzwischen aufgegeben. Ob Philoktet daran denkt, dass Neoptolemos sein ‚Versprechen‘ (vgl. zu 941), ihn nach Hause zu bringen, nicht einhalten, oder daran, dass er den Bogen nicht zurückgeben will, oder sich der Betrug für ihn als Gesamtkomplex darstellt, ist nicht auszumachen. 969 ‚Hätte ich doch niemals‘: Neoptolemos ist so ratlos (vgl. auch 895; 908), dass er sich nicht zu einer Entscheidung durchringen kann, nur bedauert, überhaupt in diese Situation gekommen zu sein. (griechischer Text: 970) ‚mein Skyros‘: Der Artikel drückt hier ein affektives Verhältnis aus, er lässt Skyros als Sehnsuchtsort erscheinen. Zu Skyros vgl. zu 240. 971–974 a Philoktet erkennt, dass Neoptolemos in einem echten Gewissenskonflikt steckt, nicht überzeugt seinen Auftrag erfüllt (vgl. auch zu 1011– 1012). Denn er will das Dilemma des Neoptolemos dadurch lösen, dass er ihn zumindest teilweise von der Verantwortung für sein bisheriges Verhalten befreit, indem er es auf schlechten Einfluss anderer zurückführt. Bei den ‚schlechten Menschen‘ denkt er vermutlich an die Auftraggeber, die AtreusSöhne und Odysseus (vgl. 925 f.). Wenn Philoktet Neoptolemos auffordert, abzufahren und ihm zuvor den Bogen zurückzugeben, dann verzichtet er damit auf die Erfüllung seiner Bitte, mitgenommen zu werden. Da er für Neoptolemos kein Fahrtziel angibt, ist nicht klar, ob er eine Rückkehr nach dem gerade genannten Skyros meint (wohin Neoptolemos seiner Lügengeschichte nach fahren wollte [240]) oder auch – dem Auftrag gemäß – eine Fahrt zurück nach Troia. Ersteres ist wahrscheinlicher, weil Philoktet Neoptolemos wohl kaum raten will, zu denen zu gehen, zu denen ‚Schändliches passt‘; damit würde er ihm ermöglichen, einen unerfüllbaren Wunsch (969 f.) gewissermaßen ‚erfüllbar‘ zu machen. Jedenfalls bringt Philoktets Vorschlag Neoptolemos in eine solche Verlegenheit, dass er, der Führer, seine Leute um Rat fragt (974 a) – mit derselben Frage, mit der seine Leute ihn gefragt hatten (963). 972 ‚überlass das‘: Das Tun des Schändlichen, das du von diesen Männern gelernt hast.

Drittes Epeisodion: 974a–974b

296 Ne.

Was sollen wir tun, Männer?

974 a

Neoptolemos geht mit dem Bogen auf Philoktet zu, als plötzlich Odysseus mit zwei Begleitern erscheint. Od. Du Schlechtester der Menschen, was tust du? Νε.

τί δρῶµεν, ἄνδρες; Οδ. ὦ κάκιστ’ ἀνδρῶν, τί δρᾷς;

974 b 974 a 974 b

Kommentar

297

974 a ‚Was sollen wir tun, Männer?‘: Das sind die letzten Worte des Neoptolemos, bis er sich einhundert Verse später (1074–1080) an den Chor wendet, auch dann nicht an Philoktet (das geschieht erst 1261). Reinhardt (1947, 194) zitiert treffend Radermacher (1911 z. St.): „Das Stillschweigen des Neopt. während des folgenden Gesprächs ist bedeutsamer als jede Rede.“ Nach diesen Worten, so ist anzunehmen, will Neoptolemos offenbar Philoktet den Bogen übergeben. Jedenfalls versteht es Odysseus so, der überraschend erscheint – und das dramatisch höchst wirkungsvoll mitten im Vers: Der ratlosen Frage des Neoptolemos nach dem gemeinschaftlichen zukünftigen Handeln ist die Frage des Odysseus (974 b), was Neoptolemos (real) tue, direkt gegenübergestellt. Handelt Neoptolemos irrational aus Mitleid (965 f.), wobei er nicht nur gegen den Auftrag des Odysseus verstieße, sondern auch sein Ziel aufgäbe, mit Philoktet zusammen Troia zu erobern (919 f.; vgl. Visser 1998, 183 f.)? Oder hofft er, wie später nach der tatsächlichen Rückgabe des Bogens, einen Philoktet, der keinem Druck ausgesetzt ist, von der Fahrt nach Troia überzeugen zu können (1314 ff.)? Da Neoptolemos nicht dazu kommt, seine Absicht auszuführen, lässt sich darüber nur spekulieren. 974 b ‚Schlechtester‘: Philoktet hatte gesagt, Neoptolemos sei nicht ,schlecht‘, vielmehr von ,schlechten Menschen‘ beeinflusst (971), jetzt nennt Odysseus Neoptolemos den ,Schlechtesten‘, wobei jeweils dasselbe griechische Wort (kakos) zugrunde liegt. Die gegensätzlichen Wertmaßstäbe treffen unmittelbar aufeinander (vgl. Blundell 1989, 207). Wenn Odysseus, der v. 132 angekündigt hatte, zum Schiff zurückzugehen, und zwischenzeitlich den ‚Kaufmann‘ geschickt hatte, zum richtigen Zeitpunkt (mit zwei Begleitern: 983; 1003; vgl. Komm.) vom Seiteneingang herbeieilt, ist daraus nicht notwendig zu schließen, er sei in der Nähe versteckt gewesen und habe sogar gehört, was zuletzt gesprochen wurde. Dass ‚was tust du‘ als ein „eco ironica“ auf ‚Was sollen wir tun‘ zu verstehen sei (Fraenkel 1977, 68), ist richtig, ebenso dass ‚Du Schlechtester der Menschen‘ zu den ‚schlechten Menschen‘ (971) in Beziehung steht (Schein), aber dafür bedarf es nicht der Annahme, dass Odysseus die Worte gehört hat. Die Vorstellung, Odysseus sei aus der Höhle aufgetreten (Variante bei Schein; O’Kell 2000, 158–160), ist unplausibel, denn dann wäre Philoktets Frage (976) unmotiviert, und Schauspieler treten in der Regel von dort wieder auf, wohin sie abgegangen sind. Der Text legt den Schluss nahe, dass Odysseus die Szene im Herankommen beobachtet hat und (selbst noch in Bewegung) die Übergabe unterbinden will. Jedenfalls ist Odysseus bei seinen ersten Worten zumindest für Philoktet noch nicht zu sehen – daher fragt er nach, ob es Odysseus sei, den er höre (976); erst bei v. 977 kann er Odysseus erkennen. Odysseus muss aber schon, bevor er sichtbar in Erscheinung tritt, wahrgenommen haben, dass sich der Bogen in der Hand des Neoptolemos befindet (denn sonst hätte er Philoktet nicht begegnen wollen; vgl. 75 f.). Warum er überhaupt erscheint, wird nicht motiviert. Aber da Odysseus von der Verzögerung durch Philoktets Anfall nichts wissen konnte, mag er nach dem Bericht des ‚Kaufmanns‘ beunruhigt gewesen sein, dass die beiden noch nicht zum Schiff gekommen waren.

Drittes Epeisodion: 975–979

298

Zurück mit dir, gib mir diesen Bogen! Weh mir! Wer ist der Mann? Höre ich Odysseus? Ja, gewiss, Odysseus, mich, den du vor dir siehst. Weh mir! Verkauft bin ich und vernichtet; der also ist es, der mich ergriff und der Waffen beraubte.

975

Ph. Od. Ph.

οὐκ εἶ, µεθεὶς τὰ τόξα ταῦτ’ ἐµοί, πάλιν; οἴµοι, τίς ἁνήρ; ἆρ’ Ὀδυσσέως κλύω; Ὀδυσσέως, σάφ’ ἴσθ’, ἐµοῦ γ’, ὃν εἰσορᾷς. οἴµοι· πέπραµαι κἀπόλωλ’· ὅδ’ ἦν ἄρα ὁ ξυλλαβών µε κἀπονοσφίσας ὅπλων.

975

Φι. Οδ. Φι.

975 {…} West 1979, 113 – West tilgt diesen Vers, weil er es für absurd hält, dass Neoptolemos sage, ‚Was sollen wir tun?‘ (974 a) und sich gleichzeitig auf Philoktet zu bewege, als wolle er ihm den Bogen geben. Aber schon Neoptolemos’ Frage zeigt, dass er sich nicht mehr sicher ist, den Bogen behalten zu wollen, und Gleichzeitigkeit muss man nicht annehmen, es könnte auch eine kleine Pause eingetreten sein. Ferrari (1983, 56) will in Auseinandersetzung mit West die Szene so deuten, dass es von Seiten des Neoptolemos oder des Philoktet realiter keine Bewegung gebe, sondern Odysseus sich diese aus gewissem Abstand nur vorstelle. Aber Odysseus’ Befehl (‚zurück mit dir‘) ohne auch nur einen Ansatz des Neoptolemos, sich zu bewegen, wäre für den Zuschauer irritierend. | οὐκ εἶ … πάλιν] negierter Indikativ Futur in Frageform = strenger Befehl (K.-G. I 176, 7). 976 ἁνήρ Brunck : ἀνήρ Hss. – vgl. zu 40. 977 Ὀδυσσέως] Bejahung durch Wortwiederholung; vgl. z. B. ΟΤ 987 f. Genitiv abhängig von dem aus κλύω (976) zu ergänzenden κλύεις. | ἐµοῦ γ’] „Epexegetic. … γε gives force and urgency to an addition or supplement“ (GP 138 f.). | εἰσορᾷς Hss. : ἱστορεῖς (varia lectio in einer Hs.) – Odysseus benennt das, was auf Philoktet wirken soll, sein Vor-Augen-Stehen.   978 ἦν ἄρα] im Deutschen Präsens, weil die Einsicht, zu der man eben kam, weiterbesteht (K.-G. I 145 f.); ἄρα „wie ich jetzt sehe“ (Bruhn § 148).

Kommentar

299

975 Neoptolemos antwortet nicht, folgt aber auch nicht Odysseus’ Aufforderung (vgl. 981; Steidle 1968, 183) und gibt den Bogen auch später (vgl. 1232) nicht an Odysseus. 976–1080 Der letzte Teil des dritten Epeisodions ist durch den überraschenden Auftritt des Odysseus geprägt, womit wie beim Auftritt des ‚Kaufmanns‘ und dem Krankheitsanfall Philoktets die Handlung in eine andere Richtung gelenkt wird: Odysseus hat mit seinem Dazwischentreten verhindert, dass Neoptolemos den Bogen an Philoktet übergibt. Philoktet erkennt, wer hinter der Intrige steht, und ergeht sich in einer langen Rede in Anwürfen gegen Odysseus und die Atreus-Söhne (1004–1044), die Odysseus aber ins Leere laufen lässt (1047 ff.). Zwar gibt er seinen Versuch auf, Philoktet physisch zu vereinnahmen, setzt ihn aber psychisch unter Druck und lässt ihn hilflos zurück; sein Ziel, sowohl den Bogen als auch Philoktet nach Troia zu bringen (985 b–998), hat er bisher nicht erreichen können. – Neoptolemos steht schweigend dabei und geht schließlich, ohne den Bogen zurückzugeben, mit Odysseus zum Schiff. 976–1003 Philoktet sieht sich unvermittelt seinem Erzfeind Odysseus gegenüber. Trotz faktisch wahrer Berufung auf den Willen des Zeus (989 f.) kann Odysseus nicht zuletzt wegen der Art seines Vorgehens, durch die er sich von Neuem verhasst macht, Philoktet nicht zum Mitgehen bewegen, sondern gerade noch dessen Selbstmord verhindern. 977 ‚gewiss‘: Diese Versicherung (saph’ isth’ bzw. isthi) wird nicht nur (vgl. 122 [Neoptolemos]; 1421 [Herakles]), aber häufiger von Odysseus verwendet (vgl. noch 980; 1296) – in fast höhnischem Ton; dazu kommt noch eine ähnliche Formel in v. 989. Offenbar liegt ein Mittel vor, Odysseus auch sprachlich zu kennzeichnen. Vgl. Ussher zu v. 122. 978–980 Philoktet muss seine Auffassung, dass die Intrige in Wirklichkeit von ‚schlechten Menschen‘ (971), also einem wie Odysseus ausging, vollkommen bestätigt sehen. Für die Charakterisierung des Odysseus ist es bezeichnend, dass ihm sein Vorgehen in keiner Weise als bedenklich erscheint, sondern er sich offen dazu bekennt. 978 ‚Verkauft‘: Dieser merkantile Begriff ist hier (wie 578 b–579; vgl. Komm.) nicht wörtlich zu verstehen, Philoktet glaubt sich vermutlich auf schändliche Weise wie eine Ware ausgeliefert. Später deutet er seine Situation als die eines Sklaven (995). 979 ‚ergriff‘: Genau das war die Absicht des Odysseus, vgl. 101 ‚einfangen‘, ‚überwältigen‘ (im Griechischen derselbe Wortstamm wie hier).

300 Od. Ph.

Ph. Ph.

Οδ. Φι. Φι. Φι.

Drittes Epeisodion: 980–988

Ich, gewiss, und kein anderer; das gebe ich zu. Gib mir, Sohn, den Bogen zurück, überlasse ihn mir!

980 Od. Das wird er, auch wenn er es will, niemals tun; vielmehr musst auch du zusammen mit dem Bogen gehen, oder sie werden dich mit Gewalt fortbringen. Mich, Schlechtester der Schlechten und Unverschämtester, sollen die hier mit Gewalt wegführen? Od. Wenn du nicht freiwillig 985 gehst. O Lemnische Erde und allbeherrschender Feuerglanz, geschaffen von Hephaistos, ist das denn zu ertragen, wenn dieser mich aus euren Bereichen gewaltsam fortbringen will? ἐγώ, σάφ’ ἴσθ’, οὐκ ἄλλος· ὁµολογῶ τάδε. ἀπόδος, ἄφες µοι, παῖ, τὰ τόξα. Οδ. τοῦτο µέν, οὐδ’ ἢν θέλῃ, δράσει ποτ’· ἀλλὰ καὶ σὲ δεῖ στείχειν ἅµ’ αὐτοῖς, ἢ βίᾳ στελοῦσί σε. ἔµ’, ὦ κακῶν κάκιστε καὶ τολµήστατε, οἵδ’ ἐκ βίας ἄξουσιν; Οδ. ἢν µὴ ᾿ρπῃς ἑκών. ὦ Ληµνία χθὼν καὶ τὸ παγκρατὲς σέλας Ἡφαιστότευκτον, ταῦτα δῆτ’ ἀνασχετά, εἴ µ’ οὗτος ἐκ τῶν σῶν ἀπάξεται βίᾳ;

980

985

983 ἅµ’ αὐτοῖς Hss. : ὁµοῦ τοῖσδ᾿ Doederlein, Jackson 1955, 123 f. : ἅµ᾿ ἡµῖν Blaydes – αὐτοῖς bezieht sich zurück auf τὰ τόξα (981), vgl. τούτων (1059) mit Bezug auf ὅπλ᾿ (1056); vgl. auch Komm. | στελοῦσί σε Hss. : στελῶ σ᾿ ἐγώ Blaydes : στελοῦσι οἵδε σε Hermann (mit Tilgung von αὐτοῖς) – vgl. Komm. 984 ἔµ’ Hss. : ἦ ’µ᾿ Wakefield : ἦ µ᾿ Erfurdt – ohne Fragewort ist die Frage affektiver (K.-G. II 522 f.). | κακῶν κάκιστε] vgl. OC 1384. | τολµήστατε : τολµίστατε : τόλµης πέρα Pearson : τόλµης τέρας Housman – die Form τολµήστατε kommt nur hier vor und ist (wenn der Text richtig überliefert ist, vgl. auch Ll.J./W.1) die kontrahierte Form eines regulär gebildeten Superlativs τολµηέστατε (von τολµήεις); vgl. Scholion; zur Möglichkeit der Kontraktion vgl. Homer, Ilias 18,475: τιµῆντα aus τιµηέντα. τολµίστατε würde eine Positivform auf -ης oder -ος voraussetzen; vgl. Jebb. 985 µὴ ᾿ρπῃς : µἤρπῃς : µ᾿ εἵρπῃς ̣: µὴ ἕρπῃς – metrisch darf es nur zwei Silben geben, die Prodelision lässt dass sinnwichtige µή hervortreten; zur Prodelision von aspiriertem ε vgl. Aristophanes, Acharner 828 µὴ ᾿τέρωσε, sowie Lysistrata 736, Frösche 64. 986 τὸ Hss. : σὺ Blaydes – zum Nebeneinander von Vokativ und Nominativ vgl. zu 530–531. 986– 987 παγκρατὲς … Ἡφαιστότευκτον] zur Stellung der beiden Adjektive vgl. zu 393. 987 ταῦτα δῆτ’] vor allem in einer solchen Kombination drückt δῆτα Indignation aus (GP 272). 988 εἴ … ἀπάξεται] εἰ mit Futur kann Zeichen der Indignation des Sprechers sein (Jebb), ἀπάξεται ist indirekt-reflexives Medium. | ἐκ τῶν σῶν] „τὰ σά, the precincts of Lemnos and her ἐγχώριοι θεοί“ (Jebb); die Wortgruppe stellt ein Wortbild dar, sodass nach σῶν Mittelzäsur anzunehmen ist.

Kommentar

301

981–983 Da Philoktet offenbar kein Nachgeben vom Initiator der Intrige erwartet, wendet er sich mit erneuter Bitte um die Rückgabe des Bogens wieder an Neoptolemos. Bevor dieser auch nur die Chance hat zu antworten, lehnt Odysseus Philoktets Verlangen ab (Sprecherwechsel im Vers) und macht zugleich klar, dass es auf Neoptolemos gar nicht ankomme. Vielmehr bestimmt Odysseus als Notwendigkeit, dass Philoktet mit dem Bogen nach Troia gehen müsse. Odysseus, der glaubt, über den Bogen verfügen zu können, greift aber nicht nur zum Mittel der Nötigung, sondern droht alternativ auch Gewalt an. Das kann er jetzt tun, weil Philoktet nicht mehr den Bogen hat (eine gegenüber früher veränderte Situation, vgl. 102 ff.), setzt sich damit allerdings in einen krassen Gegensatz zu der Helenos-Weissagung (vgl. 612 f.; Einf. S. 25; 29 f.). 982 ‚auch du‘: Nicht nur der Bogen, der sich bereits in der Gewalt von Neoptolemos und Odysseus (wie er glaubt) befindet. 983 ‚mit dem Bogen‘: Im griechischen Text steht nur ‚mit ihm‘, gemeint ist der ‚Bogen‘ (981). Im Deutschen wäre das bloße Pronomen missverständlich. Dass sich das Pronomen (autois) auf den Bogen (toxa; pl.) bezieht, wird zu Recht vielfach angenommen. Andere Deutungen sind weniger überzeugend: Wären mit autois die Begleiter des Odysseus gemeint, würde man ein deiktisches Pronomen erwarten (toisde), wie auch konjiziert wurde (vgl. TS); aber dann wäre unverständlich, warum Philoktet ausgerechnet mit den beiden Hilfsleuten nach Troia gehen sollte und nicht mit ‚uns‘. Das wurde zwar ebenfalls konjiziert, ist aber in ‚zusammen mit dem Bogen gehen‘ impliziert, was ein anderer Ausdruck ist für ‚mit denen, die den Bogen tragen‘ (Jebb), d. h. denjenigen, die jetzt im Besitz des Bogens sind. ‚sie‘: Gemeint sind die beiden Begleiter des Odysseus (vgl. 1003), auf die Philoktet in v. 985 weist. Eigentlich würde man ein Demonstrativpronomen erwarten (vgl. TS; Konjektur Hermanns), aber der Bezug dürfte für die Zuschauer dadurch eindeutig gewesen sein, dass die zwei dicht dabei standen und / oder Odysseus zu ihnen hinblickte oder auf sie deutete; vgl. Jebb (anders Jackson 1955, 123 f.). 984 ,Schlechtester der Schlechten‘: Fassungslos, dass Odysseus ihm Gewalt androht, beschimpft Philoktet ihn, vielleicht noch eine Steigerung gegenüber ‚Schlechtester der Menschen‘ (974 b). 985 ‚nicht freiwillig‘: im Griechischen (hekōn) wörtlich ein Gegensatz zu dem, was Neoptolemos von der Helenos-Weissagung referiert (1332). Vgl. auch Odysseus’ Reaktion (nach dem Bericht des ‚Kaufmanns‘) auf die Weissagung (617 f.): Freiwilligkeit sei die beste Option, andernfalls Gewalt. 986–988 Da er von Odysseus Gewaltanwendung (bia, 988; vgl. 983; 985) erwarten muss (und Neoptolemos schweigt), richtet Philoktet seine Klage – wie schon 936 ff. – an seine natürliche (und zugleich auch göttliche) Umgebung als Ansprechpartner. Zur Verbindung von Hephaistos mit Lemnos und dem Lemnischen Feuer vgl. zu 800.

Drittes Epeisodion: 989–994

302 Od. Ph. Od. Ph. Οδ. Φι. Οδ. Φι.

Zeus ist es, dass du’s weißt, Zeus, der über dieses Land herrscht, Zeus, der das beschlossen hat; und ich stehe in seinen Diensten. Du Scheusal, was für eine Geschichte erfindest du da! Indem du Götter vorschützt, machst du die Götter zu Lügnern. Nein, zu Wahrheitskündern: Du musst die Fahrt machen! Ich sage: Nein! Od. Ich aber: Ja! Du musst hier gehorchen! Ζεύς ἐσθ’, ἵν’ εἰδῇς, Ζεύς, ὁ τῆσδε γῆς κρατῶν, Ζεύς, ᾧ δέδοκται ταῦθ’· ὑπηρετῶ δ’ ἐγώ. ὦ µῖσος, οἷα κἀξανευρίσκεις λέγειν· θεοὺς προτείνων τοὺς θεοὺς ψευδεῖς τίθης. οὔκ, ἀλλ’ ἀληθεῖς· ἡ δ’ ὁδὸς πορευτέα. οὔ φηµ’. Οδ. ἐγὼ δέ φηµι. πειστέον τάδε.

990

990

989 ἵν’ εἰδῇς] als Ellipse zu erklären: ‚(ich sage dir’s,) dass du’s weißt‘ (Moorhouse 309; Schwyzer II 674). 990 Ζεύς (Hss.) : Ζεὺς δ᾿ – Asyndeton wie 989. 991 µῖσος] vgl. Ant. 760: abstractum pro concreto (K.-G. I 10 f.). | κἀξανευρίσκεις λέγειν] καί steigert ἐξανευρίσκεις (GP 316 [v]), λέγειν ist epexegetischer Infinitiv. 992 τίθης Auratus : τιθείς oder τιθεῖς Hss. – die finite Form ist syntaktisch notwendig. 994 οὔ φηµ’. Ὀδ. ἐγὼ δέ φηµι Gernhard (Verschiebung des Sprecherwechsels schon Wakefield) : οὔ φηµ’ ἔγωγε. Ὀδ. φηµί. Hss. – beim Text der Hss. würde der Gegensatz zwischen den Sprechern nicht in gleicher Weise zugespitzt.

Kommentar

303

989–993 Wenn Odysseus sich als Vollzieher des Willens des Zeus stilisiert, sagt er faktisch die Wahrheit (vgl. 1415); allerdings spricht Neoptolemos nur unbestimmt vom Willen eines Gottes (841) oder von Göttern (196; 1374) und erwähnt einen Ratschluss des Zeus auch nicht bei seiner Darlegung der Helenos-Weissagung (1329–1342), obwohl ein Verweis darauf seine Argumentation stärken würde, zumal er Odysseus’ Ausführungen jetzt mithört. Da es kein Indiz dafür gibt, dass Zeus in der Weissagung des Helenos genannt wurde, soll man Odysseus vielleicht so verstehen, dass er eine eigene, auf den Effekt bei Philoktet zielende Interpretation der Weissagung des Helenos bietet. Philoktet hört den Hinweis auf Zeus nur aus dem Munde des verhassten Gegners; das dürfte der Grund dafür sein, warum ihm dieser Rückbezug auf Zeus als Element eines mit der Intrige verbundenen Vorgehens erscheint, er die Rechtfertigung mit dem ‚Auftraggeber‘ Zeus als Betrügerei einstuft und nicht glauben kann, es sei ein Beschluss des Zeus, dass er nach Troia gehen solle. 989–990 Über Hephaistos stellt Odysseus emphatisch (und effektheischend) als den obersten Gott mit dreimaliger Nennung Zeus, als dessen Diener er sich bezeichnet. 992–993 Da Philoktet die Berufung auf den Willen des Zeus zur Rechtfertigung dafür, dass er aus Lemnos weggebracht werden soll, für eine Lüge hält, schließt er daraus verallgemeinernd, dass Odysseus, Götter ‚zu Lügnern mache‘, indem er ihnen falsche Aussagen unterschiebe. Wenn Odysseus entgegnet, dass er sie im Gegenteil zu ‚Wahrheitskündern‘ mache, soll man ihn wohl so verstehen, er beanspruche, durch ihn würden die wahren Sprüche der Götter verkündet. Die ‚Wahrheit‘ besteht für ihn darin, dass Philoktet nach Troia fahren müsse. Mit der (gewaltsamen) Verbringung Philoktets nach Troia will er für deren Verwirklichung sorgen. Offenbar glaubt er, die göttliche Bestimmung in eine menschliche Zwangssituation umsetzen zu können. 993–998 ‚Du musst … Du musst … du … musst‘: Im griechischen Text ist jeweils zunächst nur die bloße Notwendigkeit ausgedrückt (ohne Nennung dessen, der etwas tun soll; 993 f.). Aber Odysseus meint Philoktet, der die Aussagen auch auf sich bezieht; in v. 998 wird er ausdrücklich mit ‚du‘ angesprochen. Odysseus betont den Zwang, weil er sich als Vollstrecker eines göttlichen Befehls sieht, die Formulierungen entfalten jedoch ihre eigene Dynamik. 994 ‚gehorchen‘: Angesichts des Kontextes, Odysseus’ Berufung auf das göttlich Verlangte und Philoktets Reaktion, sich als Sklave zu fühlen (995), ist peisteon (von peithein) eher als ‚gehorchen‘ denn als ‚sich überzeugen lassen‘ zu verstehen. Insofern widerspricht Odysseus seiner früheren Leugnung der Möglichkeit, Philoktet zu überzeugen, nicht (102 f.; vgl. Buxton 1982, 127). Und ein etwa vom Dichter intendierter Bezug zu dem von Helenos in seiner Weissagung gebotenen peithein (612) – vgl. Visser 1998, 149 – dürfte dann allenfalls eine kontrastierende Funktion haben.

Drittes Epeisodion: 995–1003

304 Ph. Od. Ph. Od. Od.

O Weh, ich Elender! So hat mich denn – klar ist’s – als Sklaven der Vater gezeugt, aber nicht als Freigeborenen. Nein, sondern als den Besten gleich, mit denen du Troia einnehmen und mit Gewalt zerstören musst. Niemals, selbst wenn ich jegliches Leid erdulden muss! – wenigstens, solange mir diese steil abstürzende Felsenklippe bleibt. Was willst du tun? Ph. Dies mein Haupt werde ich sogleich auf dem Felsen, vom Felsen oben gestürzt, blutig zerschmettern. Ihr beide, ergreift ihn! Das soll nicht in seiner Macht stehen!

995

1000

Die Begleiter fassen Philoktet an den Händen. Φι. Οδ. Φι. Οδ. Οδ.

οἴµοι τάλας. ἡµᾶς µὲν ὡς δούλους σαφῶς πατὴρ ἄρ’ ἐξέφυσεν οὐδ’ ἐλευθέρους. οὔκ, ἀλλ’ ὁµοίους τοῖς ἀριστεῦσιν, µεθ’ ὧν Τροίαν σ’ ἑλεῖν δεῖ καὶ κατασκάψαι βίᾳ. οὐδέποτέ γ’, οὐδ’ ἢν χρῇ µε πᾶν παθεῖν κακόν – ἕως γ’ ἂν ᾖ µοι γῆς τόδ’ αἰπεινὸν βάθρον. τί δ’ ἐργασείεις; Φι. κρᾶτ’ ἐµὸν τόδ’ αὐτίκα πέτρᾳ πέτρας ἄνωθεν αἱµάξω πεσών. ξυλλάβετον αὐτόν· µὴ ’πὶ τῷδ’ ἔστω τάδε.

995

1000

996 ἄρ’] hebt das Zur-Einsicht-Kommen hervor, vgl. zu 978. | οὐδ’] statt ἀλλ᾿ οὐ (GP 191 [ii]). 997 ἀριστεῦσιν Nauck : ἀριστεῦσι : ἀριστεύσασι : ἀρίστοισιν (Hss.) – ἀρίστοισιν ist zwar ohne Anstoß, aber das homerische ἀριστεῦσιν (vgl. Ai. 1304) bezeichnet gleichzeitig auch den sozialen Rang (vgl. LfgrE s. v.) und gibt einen besseren Kontrast zu δούλους (995). Möglicherweise steckt in dem in einer Hs. überlieferten ἀριστεῦσι das Richtige. 999– 1000 οὐδέποτέ γ’ … βάθρον] οὐδέποτέ γ’ vertritt den Hauptsatz, vom dem zunächst der Nebensatz οὐδ’ ἢν … κακόν abhängig ist, sodann auf gleicher Ebene – den ersten Nebensatz ergänzend (daher asyndetisch) – ἕως γ’ ἂν … βάθρον; vgl. auch Schein. 999 οὐδέποτέ γ’ (Hss.) : οὐ δή ποτ᾿ Trikl. – γε zur Emphase in Antworten (GP 130 f.). | χρῇ Brunck : χρῆ : χρή (Hss.) – der Konjunktiv ist grammatisch notwendig. | µε (Hss.) : γε – es geht nicht um eine allgemeine Aussage, sondern um das Leid Philoktets (µε). | παθεῖν (Hss.) : µαθεῖν – ‚kennenlernen‘ wäre sehr schwach. 1000 γ᾿ : δ᾿ : Ø – limitatives γε. 1001 ἐργασείεις : ἐργασείας Trikl. – zum Desiderativum ἐργασείω vgl. Tr. 1232. | κρᾶτ’] Akk. Sg. von τὸ κρᾶς (vgl. 1207; 1457). 1002 πέτρᾳ Hss. : πέτρᾳ ⟨’κ⟩ Blaydes – πέτρᾳ ist Lokativ, der folgende Genitiv ist als gen. separativus (abhängig von πεσών) aufzufassen, wobei das Verständnis von πεσών durch das Adverb ἄνωθεν erleichtert wird (auf πέτρας bezogen würde es ‚oberhalb des Felsens‘ bedeuten; vgl. Herodot 1,75,5). 1003 ξυλλάβετον Bernhardy : ξυλλάβετέ γ᾿ : ξυλλάβετ᾿  : ξύλλαβέ τις Bergk : ξυµµάρψατ᾿ M. Schmidt – ξυλλάβετ᾿ ist unmetrisch, ξυλλάβετέ γ᾿ (Imperativ mit γε ist selten und die Überlieferung oft nicht eindeutig; GP 125 [7]; Diggle 1981, 22 f.) möglicherweise ein Versuch, die Metrik in Ordnung zu bringen; gegen ξύλλαβέ τις (gedruckt von Dawe) spricht der Plural ἄφετε γὰρ αὐτόν (1054). ξυλλάβετον erscheint als die sachgerechteste Lösung. | αὐτόν (Hss.) : τοῦτον Trikl. : ναῦται Hense – αὐτόν ist unanstößig. | ’πὶ τῷδ’] zum Gebrauch von ἐπί vgl. OC 66 ἢ ᾿πὶ τῷ πλήθει λόγος (Jebb).

Kommentar

305

995–996 ‚Sklave‘: Dieser starke Ausdruck zeigt, wie sehr Philoktet die herabwürdigende Zwangsandrohung verletzt hat. 997–998 Philoktets Schlussfolgerung aus der Forderung nach Gehorsam, dass ihm ein Sklavendasein bestimmt sei, versucht Odysseus mit dem Hinweis, dass Philoktet zu den Besten gehöre, zu widerlegen, nicht ohne sofort wieder auf die Zwangssituation zurückzukommen: Er müsse zusammen mit diesen Besten Troia erobern. Ob Odysseus mit diesen ‚Besten‘ konkret Neoptolemos meint (Kamerbeek), ist nicht zu sichern, da es primär um die Entgegensetzung zu dem von Philoktet benannten Sklavenstatus geht. Vielleicht denkt Odysseus an die Gruppe der Angesehensten im Heer vor Troia, in die er Philoktet argumentativ eingliedert, aber es ist offenkundig, dass Odysseus Philoktet nicht, wie später Neoptolemos (1345) und mit größerer Autorität Herakles (1425), als den einzig Besten und für den Erfolg Unverzichtbaren würdigt. 999 ‚Niemals‘: Das Stichwort Troia genügt offenbar, um eine unbedingte Abwehrreaktion Philoktets auszulösen (vgl. zu 915–916). Denkbar ist, dass dabei auch seine Überzeugung eine Rolle spielt, dass die seiner Bewertung nach Besten / Angesehensten tot sind (333; 414; 426 f.); vgl. Poe 1974, 43. 999–1000 Philoktets Abwehrreaktion ist so stark, dass er als Alternative sogar den Freitod durch Herabstürzen vorziehen will (1001 f.). 1000 ‚diese steil abstürzende Felsenklippe‘, wörtl. ‚dieser steil abfallende Erdgrund‘: Die Gegend soll man sich als felsig vorstellen (952), und Philoktet befindet sich, seit er mit Neoptolemos aus seiner Höhle trat, (spätestens ab v. 730) auf dem erhöhten Platz vor seiner Höhle (vgl. v. 29). Der kann im Theater nicht allzu hoch gewesen sein, aber die Zuschauer waren die bescheidenen Realisierungsmöglichkeiten der Bühne im Dionysos-Theater gewohnt. Das deiktische ‚diese‘ legt die Annahme nahe, dass Philoktet auf eine bestimmte Stelle weist oder dass er sich dahin wendet. 1001 Auf Odysseus’ irritierte oder vergewissernde Frage antwortet Philoktet erregt noch in demselben Vers. 1001 b–1002 ‚mein Haupt … blutig zerschmettern‘, wörtl.: ‚gefallen werde ich mein Haupt blutig machen‘. 1003 Odysseus kann den Entschluss Philoktets nur mit Gewalt verhindern: Philoktet wird von den Begleitern des Odysseus an den Händen (vgl. 1004) festgehalten, bis Odysseus den Befehl zum Loslassen gibt (1054). D. h., während seiner langen Klagerede steht Philoktet wie ein Gefangener auf der Bühne. – Weder Odysseus’ Auftrag noch der göttliche Wille, wonach Philoktet zur Eroberung Troias gebraucht wird, lassen es zu, dass Philoktet stirbt. Vgl. zu dieser Problematik Dorati 2015, 190–195. Wenn, wie wahrscheinlich, der Befehl (1003) im Dual gegeben wurde (vgl. TS), ist Odysseus mit zwei Begleitern aufgetreten, die unter seinem Befehl stehen (vgl. auch zu 45). Einer kann es nicht gewesen sein (vgl. die Plurale 983; 1054), und gegen mehr als zwei spricht unabhängig vom Textproblem die für die Inszenierung anzunehmende Ökonomie.

306

Drittes Epeisodion: 1004–1013

Ph.

Ihr Hände, was erduldet ihr in Entbehrung der vertrauten Bogensehne, von diesem Mann da gefangen! 1005 Du mit deiner unehrenhaften und niedrigen Gesinnung, wie hast du mich wieder hintergangen, wie mich gefangen, indem du zu deiner Deckung diesen Jungen nahmst, den ich nicht kannte, zu gut für dich, aber von passender Art für mich, der sich auf nichts verstand außer zu tun, was du ihm aufgetragen, 1010 und der, wie man sieht, auch jetzt schmerzlich trägt an dem, worin er selbst fehlging, und dem, was ich erlitt. Aber deine verdorbene Seele, die stets durch das Innerste hindurchschaut,

Φι.

ὦ χεῖρες, οἷα πάσχετ’ ἐν χρείᾳ φίλης νευρᾶς, ὑπ’ ἀνδρὸς τοῦδε συνθηρώµεναι. ὦ µηδὲν ὑγιὲς µηδ’ ἐλεύθερον φρονῶν, οἷ’ αὖ µ’ ὑπῆλθες, ὥς µ’ ἐθηράσω, λαβὼν πρόβληµα σαυτοῦ παῖδα τόνδ’ ἀγνῶτ’ ἐµοί, ἀνάξιον µὲν σοῦ, κατάξιον δ’ ἐµοῦ, ὃς οὐδὲν ᾔδει πλὴν τὸ προσταχθὲν ποεῖν, δῆλος δὲ καὶ νῦν ἐστιν ἀλγεινῶς φέρων οἷς τ’ αὐτὸς ἐξήµαρτεν οἷς τ’ ἐγὼ ’παθον. ἀλλ’ ἡ κακὴ σὴ διὰ µυχῶν βλέπουσ’ ἀεὶ

1005

1010

1006 µηδὲν … µηδ’] die Negationen wohl wegen des affektiven Gehalts von µή (K.-G. II 201 Anm. 3; Kamerbeek). | µηδὲν ὑγιὲς] vgl. Eur. Andr. 448 (dazu Stevens 1971; 1976, 26: Kolloquialismus). | ἐλεύθερον] ~ ἐλευθέριον (LSJ s. v. II). 1007 οἷ’ αὖ Hermann : οἷα : οἷον +Blaydes : οἷος – οἷα (zumeist überliefert) ist unmetrisch, οἷ’ αὖ (paläographisch nahe) ergibt den besten Sinn. | ὥς : ὅς +Wakefield – unterschiedliche Auflösungen eines ursprünglichen ΟΣ, das (sinngemäß) anaphorische ‚wie‘ ist aussagekräftiger. | ἐθηράσω] dasselbe Wort hatte Neoptolemos gebraucht, als er zustimmte, den Bogen zu beschaffen (116; vgl. Ussher). 1009 σοῦ] Versstruktur wie 907 (vgl. zu 15), die Wirkung hier noch verstärkt durch das gleichklingende ἐµοῦ am Ende; vgl. auch 1369. 1010 οὐδὲν … πλὴν] kolloquial (Collard 2005, 372), häufiger in der Komödie, z. B. Aristophanes, Vögel 19. | ποεῖν : ποιεῖν (Hss.) – vgl. zu 120. 1011 ἀλγεινῶς φέρων] mit Dativ (οἷς = τούτοις, ἅ, 1012), vgl. z. B. Xenophon, Anabasis 1,3,3. 1012 οἷς τ’ αὐτὸς : οἷς αὐτὸς – vgl. οἷς τ’ ἐγὼ. | ’παθον editores : πάθον Hss. – unaugmentierte Formen sind im Tragödientrimeter selten (vgl. Schein).

Kommentar

307

1004–1044 In seiner langen Rede klagt Philoktet darüber, wie Odysseus den eigentlich aufrechten Neoptolemos missbraucht habe, um ihn zu hintergehen (1007–1015), verwünscht Odysseus, dessen erfreuliches Leben er im Vergleich zu seinem eigenen als ungerechtfertigt empfindet, und hält ihm ein widersprüchliches Verhalten vor, wenn er, der ihn ausgesetzt habe, ihn jetzt mitnehmen wolle (1016–1039). Er schließt mit einer Verwünschung aller Griechen, die für sein Schicksal verantwortlich sind (1040–1044). Neoptolemos, der danebensteht, redet er mit keinem Wort an. 1004–1015 Philoktet beginnt nach der Anrede an seine festgehaltenen Hände mit einer Beschimpfung des Odysseus, den er vor allem dafür verantwortlich macht, den ihm wesensfremden Neoptolemos, zur Intrige verführt zu haben. „Phil. speaks almost as if he had heard the discussion between Od. and Ne. in the prologue: cf. 79–80, 88, 119.“ (Schein zu 1013–15). 1005 ‚Bogensehne‘: Das Wort bezeichnet einerseits als pars pro toto den Bogen, ist aber vermutlich gewählt, weil die festgehaltenen Hände gerade das, worauf es jetzt ankäme, die Sehne zu spannen und einen Pfeil auf Odysseus abzuschießen, nicht tun können. ‚diesem Mann da‘: Gemeint ist Odysseus, der verantwortliche Auftraggeber, obwohl in der Realität es die Begleiter sind, die die Hände festhalten. 1006 ‚Du … Gesinnung‘, wörtl.: ‚Der du nichts Gesundes und nichts eines freien Mannes Würdiges denkst‘. 1007 ,wieder‘: Vermutlich denkt Philoktet daran, wie man ihn im Schlaf heimtückisch ausgesetzt hatte (271–273). 1008 ,nicht kannte‘: Dass Neoptolemos nicht zu den ursprünglichen Teilnehmern am Zug nach Troia gehörte, hatte Odysseus klug mit einkalkuliert, vgl. 70–74. 1009 ‚zu gut für dich‘ (anaxios), wörtl. ‚deiner unwürdig‘, womit gesagt sein soll, dass Neoptolemos Odysseus charakterlich übertrifft. Umso mehr passt er zu Philoktets Wesensart, was durch das die Grundform axios steigernde kataxios hervorgehoben wird. Ein Reim (‚dich – mich‘) liegt im Griechischen ebenfalls vor (sou – emou), wobei die Pronomina auch durch die Stellung jeweils am Ende der ersten und zweiten Vershälfte akzentuiert sind. 1011–1012 ‚schmerzlich trägt‘: Hier wird ganz deutlich, dass Philoktet die Seelenqual des Neoptolemos erkannt hat (vgl. 971–973), und mit ihm eine Leidensgemeinschaft besteht. 1013 ‚durch das Innerste‘: Das griechische Wort (mychos) bedeutet den innersten Teil von etwas, in der Regel in konkretem Sinn, z. B. des Hauses. Es kommt aber bei Theokrit (Eidyllion 29,3) einmal übertragen auf das seelische Innere vor (vgl. Kamerbeek). Für das Verständnis der Stelle bieten sich daher zwei Möglichkeiten. Entweder versteht man mychos konkret, dann müsste man für ‚durch‘ (dia) eine instrumentale Bedeutung annehmen: Odysseus späht mithilfe eines verborgenen Winkels, also aus dem Hinterhalt heraus. Oder man legt die übertragene Bedeutung zugrunde und versteht ‚durch‘ in ‚lokalem‘ Sinn: Dann würde gesagt, dass Odysseus durch dass Innere von Menschen hindurchblicken könne, also Neoptolemos durchschaut und ihn entsprechend ma-

Drittes Epeisodion: 1014–1022

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hat ihn, obwohl es seinem Wesen fremd war und er nicht wollte, doch gut zuvor geschult, im Unrechten geschickt zu sein. Und jetzt, du erbärmlicher Mensch, hast du vor, mich zu fesseln und von dieser Küste wegzubringen, an die du mich hinwarfst ohne Freunde, verlassen, heimatlos: wie unter Lebenden tot. O weh! Geh zugrunde! Tatsächlich habe ich dir das oft gewünscht. Jedoch, denn gar nichts Willkommenes teilen mir die Götter zu, du freust dich des Lebens, ich aber leide gerade dadurch, dass ich lebe mit vielen Übeln, ich Unglücklicher, ψυχή νιν ἀφυᾶ τ’ ὄντα κοὐ θέλονθ’ ὅµως εὖ προὐδίδαξεν ἐν κακοῖς εἶναι σοφόν. καὶ νῦν ἔµ’, ὦ δύστηνε, συνδήσας νοεῖς ἄγειν ἀπ’ ἀκτῆς τῆσδ’, ἐν ᾗ µε προὐβάλου ἄφιλον, ἔρηµον, ἄπολιν, ἐν ζῶσιν νεκρόν. φεῦ. ὄλοιο· καί σοι πολλάκις τόδ’ ηὐξάµην. ἀλλ’ οὐ γὰρ οὐδὲν θεοὶ νέµουσιν ἡδύ µοι, σὺ µὲν γέγηθας ζῶν, ἐγὼ δ’ ἀλγύνοµαι τοῦτ’ αὔθ’ ὅτι ζῶ σὺν κακοῖς πολλοῖς τάλας,

1015

1018 1019 1020

1015 1018 1019 1020

1014 ἀφυᾶ L. Dindorf : ἀφυῆ (Hss.) – ἀφυᾶ ist die attische Form. 1015 προὐδίδαξεν] die Vorsilbe προ- kann mit διδάσκω das allmähliche Lehren bezeichnen (vgl. 538 προὔµαθον) oder das Zuvor-Instruieren; vermutlich meint Philoktet, dass Neoptolemos entsprechend instruiert wurde, bevor er ihm begegnete. 1016 ἔµ’ (Hss.) : σύ µ᾿ +Nauck : δέ µ᾿ Trikl. – das ‚du‘ ist durch den folgenden Vokativ schon hinreichend ausgedrückt. 1017 ἄγειν (Hss.) : ἄγειν µ᾿ – vgl. ἔµ’ 1016. | προὐβάλου] indirekt-reflexives Medium. 1018 ἄφιλον, ἐρῆµον, ἄπολιν] vgl. Eur. Med. 255; Hek. 811; IT 220 (Ussher). | ἐν ζῶσιν νεκρόν] nach der Reihe von Adjektiven dürfte auch νεκρός (wie 430) als Adjektiv aufzufassen sein. Was vorliegt, ist keine Realitätsbeschreibung, sondern ein Vergleich ohne ὡς (die Einsamkeit ist so, wie wenn man ein Toter unter Lebenden wäre). Vgl. zu dieser Art verkürzten Vergleichs OT 478; Kassel 1973, 109 ff. Vgl. zur Sache Ant. 1167: ἔµψυχον … νεκρόν. Nach 1018 φεῦ (Hss.) : Ø – ein eingeschobener Ausruf extra metrum. 1019 καί σοι oder καὶ σὺ Hss. : καίτοι Wakefield – Ll.-J./W.1 konstatieren, der Sinn sei „ and yet“ und der ergebe sich nur bei Wakefields καίτοι, dessen Paraphrase („atqui quid opus est haec dicere?“) sie zitieren. Aber der nächste Vers (1020), in dem Philoktet feststellt, dass die Götter i h m nichts Willkommenes gönnten, lässt sich als Kontrast verstehen zu der Aussage, dass er schon oft ‚ d i r ‘ (Odysseus) das Verderben gewünscht habe. | ηὐξάµην : εὐξάµην (Hss.) 1020 ἀλλ’ … γὰρ] vgl. zu 81. | θ͜εοὶ] Synizese. 1021–1024] Die eigentliche Antithese ist σὺ … ζῶν ↔︎ ἐγὼ δ’ … ζῶ, wobei dann Philoktet sein an sich schon schmerzliches Leben durch Nennung der Begleitumstände noch weiter ausführt (σὺν … τάλας, γελώµενος … στρατηγῶν); vgl. Kamerbeek. 1021] zwar liegt technisch wegen des Wortendes nach γέγηθας zwischen ζῶν und ἐγὼ keine Mittelzäsur vor, aber die Vershälften sind durch den gedanklichen und syntaktischen Einschnitt nach ζῶν deutlich differenziert. 1022 τοῦτ’ αὔθ’] innere Akkusative zu ἀλγύνοµαι (121), näher ausgeführt durch den ὅτι-Satz.

Kommentar

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nipuliert habe. Da es im Zusammenhang darum geht, wie Odysseus auf Neoptolemos Einfluss nimmt, liegt die zweite Deutung näher. Vgl. Webster, Kamerbeek; anders Schein. 1015 ‚geschickt‘: Das Wort sophos, das auch ‚weise‘ bedeuten kann, wird hier in pejorativem Kontext gebraucht; vgl. zu 119. – Mit bitterer Ironie erkennt Philoktet die erfolgreiche ‚Lehre‘ des Odysseus an. 1016–1039 Über die verderbliche Wirkung, die Odysseus auf Neoptolemos hatte, kommt Philoktet zu dem, was Odysseus ihm antut: Ausgerechnet der, der ihn in die Einsamkeit gestoßen hat, will ihn jetzt gefesselt wieder wegbringen. Die Ungleichheit ihrer Lebenssituationen führt ihn zu einer Klage über die Ungerechtigkeit der Götter ihm gegenüber (1020–1028), das Verhalten des Odysseus bei der Aussetzung und sein Vorhaben, ihn nach Troia zu bringen, erscheinen ihm widersinnig (1029–1034); ihm bleibt nur, diejenigen, die für sein Schicksal verantwortlich sind, zu verwünschen (1035–1039). 1016 Philoktet geht davon an, dass man ihn, der jetzt an den Händen festgehalten wird (1003 f.), in gefesseltem Zustand wegbringen werde. 1017 ‚hinwarfst‘: Philoktet gebraucht hier einen ähnlich drastischen Ausdruck für seine Aussetzung wie v. 265. 1018 ‚ohne Freunde, verlassen, heimatlos‘: Die Dimension der Verlassenheit wird in ihren verschiedenen Facetten ausgedrückt: keine persönlichen Beziehungen mit emotionaler Zuwendung, überhaupt kein menschlicher Kontakt (vgl. 487), keine bürgerliche Gemeinschaft, in die sonst jeder selbstverständlich eingebunden ist. Die Konsequenz ist: Eine vernichtete Existenz in dem, was einen Menschen ausmacht, genau so, als wenn man unter ringsum Lebenden ein Toter wäre. Vgl. auch zu 946–947. Nach v. 1018 steht ein Ausruf extra metrum, der in der Verszählung nicht berücksichtigt wird. 1020 ,nichts Willkommenes‘: Die pessimistische Ansicht, dass die Götter nicht die Guten, sondern die Schlechten begünstigen, bezieht Philoktet hier auf sich selbst, früher hatte er sich schon generell so geäußert (446–452); weniger einseitig negativ sieht er das Wirken der Götter vv. 1031; 1035–1042, und eine Umstimmung wird am Ende des Dramas erkennbar (1466–1468). 1021–1022 ,du … ich‘: Den Gegensatz zwischen dem Leben des Odysseus und seinem eigenen hebt Philoktet durch Verwendung der im Griechischen grammatisch nicht notwendigen Personalpronomina (jeweils zu Beginn der Vershälften; vgl. TS) stark hervor. Gegenübergestellt ist Odysseus’ freudenreiches Leben und das Philoktets, das er – gottgewollt – im Unglück verbringen muss. Diese Position Philoktets ist allerdings nicht so absolut wie der Pessimismus des Chors im OC 1224–1227, dass nicht geboren worden zu sein, das Beste für den Menschen sei, das Zweitbeste, wenn man geboren wurde, möglichst schnell dorthin wieder zurückzukehren, woher man kam.

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Drittes Epeisodion: 1023–1029

verlacht von dir und den Söhnen des Atreus, den beiden Heerführern, denen du in dieser Sache zu Diensten bist. Doch du fuhrst durch List und Zwang unters Joch gebracht 1025 mit ihnen, aber mich, den ganz Unglücklichen, der freiwillig mit zur See fuhr mit sieben Schiffen, warfen sie entehrt hinaus – sie, wie du sagst, jene aber, dass du es warst. Und jetzt, was bringt ihr mich weg? Was führt ihr mich fort? Wozu? γελώµενος πρὸς σοῦ τε καὶ τῶν Ἀτρέως διπλῶν στρατηγῶν, οἷς σὺ ταῦθ’ ὑπηρετεῖς. καίτοι σὺ µὲν κλοπῇ τε κἀνάγκῃ ζυγεὶς ἔπλεις ἅµ’ αὐτοῖς, ἐµὲ δὲ τὸν πανάθλιον ἑκόντα πλεύσανθ’ ἑπτὰ ναυσὶ ναυβάτην ἄτιµον ἔβαλον, ὡς σὺ φής, κεῖνοι δὲ σέ. καὶ νῦν τί µ’ ἄγετε; τί µ’ ἀπάγεσθε; τοῦ χάριν;

1025

1023 τε : γε – τε καὶ betont die Verbindung zwischen Odysseus und den Atreus-Söhnen. 1023–1024 τῶν Ἀτρέως … στρατηγῶν] Angabe des Vaters wie bei τοῦ Ζηνὸς Ἡρακλέους, vgl. zu 943. 1024 διπλῶν : δισσῶν – vgl. Ai. 959 f. διπλοῖ … Ἀτρεῖδαι (δισσῶν vielleicht Angleichung an 264). 1025 κἀνάγκῃ (Hss.) : κἀπάτῃ (Scholion gibt für κλοπῇ die Erklärung ἀπάτῃ). | ζυγεὶς (Hss.) : ῥαγεὶς – eine hier passende metaphorische Bedeutung von ῥήγνυµι ist nicht zu belegen. 1028 ἔβαλον : ἐξέβαλον : ἔκβαλον Trikl. : ἐκβάλλον – ἔβαλον hier in der Funktion der metrisch unpassenden Komposita ἐξέβαλον oder προὔβαλον. 1029 ἀπάγεσθε] indirekt-reflexives Medium.

Kommentar

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1023 ‚verlacht‘: vgl. 258 mit Komm. 1024 ‚zu Diensten bist‘: Odysseus hatte gesagt, er handle in Diensten des Zeus (990). Philoktet verwendet dasselbe Wort, nennt aber als Auftraggeber die Atreus-Söhne (vgl. Schein). ‚in dieser Sache‘ (tauth’) dürfte sich dem Zusammenhang nach (1016 f.) vor allem auf die jetzige Unternehmung beziehen (Präsens), vielleicht ist aber auch die Aussetzung mit eingeschlossen. 1025–1028 ,du … mich‘: Noch einmal kontrastiert Philoktet seine Situation mit der des Odysseus, nun hinsichtlich der ungerechten Behandlung (durch die Atreus-Söhne und Odysseus selbst), die ihm, der freiwillig am Troia-Zug teilgenommen habe, im Unterschied zu dem nur gezwungenermaßen mitfahrenden Odysseus (1025), zuteil geworden sei. 1025 ‚List und Zwang‘: vgl. Komm. zu 73. ‚unters Joch gebracht‘: Die Formulierung ist vielleicht eine Anspielung auf Aisch. Ag. 841 f., wonach Odysseus nicht freiwillig nach Troia ging, jedoch – ‚ins Geschirr gebracht‘ (dasselbe griechische Wort wie hier) – für Agamemnon ein bereitwillig mitlaufendes ‚Handpferd‘ war. Gleichzeitig drückt Philoktet so verächtlich Odysseus’ deutliche Unterordnung unter die Atreus-Söhne aus. Ein Bezug zu der bei Hygin (vgl. Komm. zu 73) erzählten Geschichte (so Schein), dass Odysseus selbst in seinem angeblichen Wahnsinn ein Pferd und ein Rind zusammen an den Pflug gejocht habe, ist kaum wahrscheinlich. 1027 ‚zur See fuhr‘, im Griechischen redundant ausgedrückt ‚als Seefahrer zur See fuhr‘. ‚mit sieben Schiffen‘: Diese Zahl wird in der Ilias (2,718 f.) genannt. 1028 ‚entehrt (atimon)‘: Der athenische Zuschauer kann die in Athen als Strafe mögliche ‚Atimie‘, die in der Aberkennung der bürgerlichen Rechte bestand, assoziiert haben; vgl. Schein. ‚sie, wie du sagst, jene aber, dass du es warst‘: Philoktet behauptet, dass sich Odysseus und die Atreus-Söhne gegenseitig die Verantwortung für seine Aussetzung zuschieben. Darüber kann er eigentlich keine Kenntnis haben, auch über den wirklichen Sachverhalt kann er nichts wissen, weil er schlafend ausgesetzt wurde (271–273). Da sich jedoch Odysseus gegenüber Neoptolemos auf den Befehl der Herrschenden berufen hatte (6), ergibt sich im Handlungsgeschehen für die Zuschauer daraus keine grundsätzliche Irritation (vgl. zu 421–423; 442–444; 539–541; auch EK, S. 436 [zu 416]). Vielmehr offenbart die Bemerkung über das gegenseitige Zuschieben der Verantwortung die Verachtung Philoktets für Leute, die noch nicht einmal zu ihren Taten stehen. 1029–1039 Die pluralischen Anreden beziehen sich auf Odysseus und die Atreus-Söhne, nicht auf Odysseus (bzw. seine Begleiter, die Philoktet festhalten) und Neoptolemos, denn es geht Philoktet um die Absicht der Auftraggeber, wozu er Neoptolemos nicht rechnet; vgl. auch Avery 2002, 12 f. 1029–1030 Ein Grund, warum ihn nun diejenigen, die ihn längst abgeschrieben haben, wieder holen wollen, ist für Philoktet in seinem Elend anscheinend nicht erkennbar, sonst würde er nicht mehrfach nachfragen. Er hat also die wesentliche Botschaft der Helenos-Weissagung, dass man ohne ihn Troia nicht erobern könne, nicht realisiert; vgl. auch zu 635–636; 1035–1039.

Drittes Epeisodion: 1030–1039

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Mich, der ich ein Nichts bin und für euch schon lange tot. 1030 Warum, Gottverhasstester, bin ich für dich jetzt nicht lahm und übelriechend? Wie ist es (jetzt) möglich, den Göttern, wenn ich mit auf Fahrt gehe, Brandopfer darzubringen? Wie noch Trankopfer? Denn das war für dich doch der Vorwand, mich auszusetzen. Mögt ihr übel zugrunde gehen! Und ihr werdet es, weil ihr diesem 1035 Mann Unrecht getan habt, wenn den Göttern an Gerechtigkeit liegt. Und ich weiß, dass ihnen daran liegt; denn niemals hättet ihr diese Fahrt unternommen um eines armseligen Mannes willen – wenn nicht ein göttlicher Stachel euch getrieben hätte – meinetwegen. ὃς οὐδέν εἰµι καὶ τέθνηχ’ ὑµῖν πάλαι. πῶς, ὦ θεοῖς ἔχθιστε, νῦν οὐκ εἰµί σοι χωλός, δυσώδης; πῶς θεοῖς ἔξεσθ’, ὁµοῦ πλεύσαντος, αἴθειν ἱερά; πῶς σπένδειν ἔτι; αὕτη γὰρ ἦν σοι πρόφασις ἐκβαλεῖν ἐµέ. κακῶς ὄλοισθ’· ὀλεῖσθε δ’ ἠδικηκότες τὸν ἄνδρα τόνδε, θεοῖσιν εἰ δίκης µέλει. ἔξοιδα δ’, ὡς µέλει γ’· ἐπεὶ οὔποτ’ ἂν στόλον ἐπλεύσατ’ ἂν τόνδ’ οὕνεκ’ ἀνδρὸς ἀθλίου – εἰ µή τι κέντρον θεῖον ἦγ’ ὑµᾶς – ἐµοῦ.

1030

1035

1032 ἔξεσθ’ (nach Pierson, der ἔξεστ᾿ [ἐµοῦ κλαύσαντος] konjizierte) : εὔξεσθ᾿ Hss. – mit εὔξεσθ᾿ lassen sich die Infinitive nicht sinnvoll konstruieren; außerdem stützt das Scholion zu 1033 (ὅτι θῦσαι οὐκ ἔστι) die Konjektur; vgl. Dawe. | ὁµοῦ (varia lectio in einer Hs.), Gernhard : ἐµοῦ Hss. – vgl. Jebb zur Erklärung der Korruptel. Zu ὁµοῦ ist ἐµοῦ zu ergänzen; Präsens, weil νῦν (1029; 1031) weiter mitzudenken ist; anders Jebb zu 1031; Schein zu 1032–3. 1034 {…} Mollweide; Ll.-J./W. (wegen des Scholions zu v. 1033, das die Nichtexistenz von v. 1034 voraussetze); allerdings räumen Ll.-J./W.1 auch ein, dass das Scholion eine Paraphrase von v. 1034 sein könne. 1035 ὀλεῖσθε Brunck : ὄλοισθε (Hss.) – die von Philoktet ausgedrückte Zuversicht (bes. 1037) gibt nur mit der Futurform einen Sinn. 1036 θ͜εοῖσιν] Synizese (‒ ⏑). 1037 δ’ : γ᾿ – verbindendes δέ, kein Asyndeton; auch an δέ in der Funktion von γάρ ist zu denken (vgl. zu 741). | γ᾿] betont µέλει (vgl. 660; Jebb; GP 153). | ἐπεὶ] in der Funktion von γάρ, vgl. K.-G. II 461 mit Anm. 1. | ἐπεὶ͜ οὔποτ’] Synizese, vgl. 446. 1039 ἐµοῦ Hss. : ἐµοί Viketos 1986, 491f. – ἐµοῦ nimmt wahrscheinlich – in betonter Endstellung und weiter Sperrung – ἀνδρὸς ἀθλίου (1038) auf (vgl. Brunck, Ll.-J./W.1). Eine Verbindung von ἐµοῦ als gen. obiectivus mit κέντρον scheint nicht belegbar, Jebb verweist allerdings auf eine derartige Konstruktion bei οἶστρος (Anthologia Graeca 11,389,4 µὴ σέ γ᾿ ἀπειρεσίων οἶστρος ἕλῃ κτεάνων).

Kommentar

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1030 ‚der ich ein Nichts bin‘: vgl. 951. ‚für euch‘: Nicht nur ‚in euren Augen‘, sondern auch mit kausalem Nebensinn: ‚soweit es an euch liegt‘, ‚wäre es nach euch gegangen‘ (vgl. Ai. 1128). Die Aussetzung bedeutete nicht nur ‚mort sociale‘ (Mauduit 1995, 341 f.), sie war auch mit physischer Todesgefahr verbunden. ‚schon lange‘: Anders als 589 und 806 bezieht sich der Ausdruck hier auf eine Zeit, die bereits vor der Tragödienhandlung begann. 1031–1034 Philoktet wendet die Argumente, die Odysseus gegenüber Neoptolemos als Gründe für die Aussetzung angegeben hatte (7–11) – von einer Geruchsbelästigung hatte Odysseus allerdings nichts gesagt, aber Philoktet ist sich derer bewusst (890 f.) –, auf das jetzige Ansinnen an, ihn mitzunehmen: Warum sollen die Argumente von damals jetzt nicht mehr gelten? Zur Frage, wie Philoktet diese Argumente kennen konnte, vgl. zu 1028 mit weiteren Verweisen. Wer eine realistische Erklärung sucht, müsste annehmen, dass Philoktet vor seiner Aussetzung Beschwerden mitbekommen hat. 1031 ‚Gottverhasstester‘: Wenn Philoktet Odysseus mit diesem Schimpfwort belegt, setzt er voraus (oder wünscht es jedenfalls), dass die Götter doch auf moralische Qualitäten der Menschen reagieren; vgl. auch 1036. 1035–1039 Aus der Überzeugung, dass die Begründung, er behindere mit seinem Leiden die Opfer an die Götter, vorgeschoben war, erwächst Philoktets erste Verfluchung derjenigen, die ihn damals ausgesetzt haben. Anders als zunächst (1020) glaubt er nun doch, dass die Götter Gerechtigkeit walten lassen und die Übeltäter bestrafen werden (er scheint dabei eine Weltordnung anzunehmen, die in seinem Fall wenigstens nicht unmittelbar greift; vgl. 1041; Schein zu 1035–44 mit weiterer Literatur). Denn er sieht ein solches göttliches Handeln dadurch belegt, dass man seinetwegen die Fahrt zu ihm angetreten habe, was er nur auf einen göttlichen Antrieb zurückführen kann. Es ist nicht klar, welche sachliche Motivation er sich für die Fahrt denkt, eine Beziehung zur Weissagung stellt er jedenfalls nicht her (anders Visser 1998, 227; tatsächlich argumentiert er nicht mit der Macht, die ihm der Seherspruch eigentlich gibt), und der von ihm gemeinte göttliche Antrieb entspricht nicht dem, der die Griechen zu Philoktet geführt hat (vgl. 1329 ff.; 1415 f.). Im Laufe des Stückes wird sein Wunschdenken, dass die Götter ihm Genugtuung leisten, indem sie die bestrafen, die ihm sein Leid angetan haben, nicht erfüllt. Dass nach der Mythentradition Philoktet sicher nach Hause kommen (Homer, Odyssee 3,190), während Agamemnon ermordet werden wird und Odysseus noch eine lange Irrfahrt bevorsteht, mögen die Zuschauer vielleicht assoziieren (und so Philoktets Wunsch [1040 ff.] in Erfüllung gehen sehen), diese Zukunftsperspektive ist aber für das Handlungsgeschehen nicht relevant. 1039 ‚Stachel‘: Ein kentron ist eigentlich ein spitzer Gegenstand, mit dem man Pferde und andere Zugtiere antreiben kann. Das Wort kann aber auch metaphorisch im Sinne von ‚Antrieb‘ gebraucht werden, z. B. Aisch. Eum. 427.

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Drittes Epeisodion: 1040–1048

O Land der Väter und ihr Götter, die ihr alles seht, lasst sie, lasst sie es büßen – irgendwann im Lauf der Zeit! –, sie alle zusammen, wenn ihr überhaupt euch meiner erbarmt. Denn mein Leben ist zwar jammervoll, aber wenn ich diese vernichtet sähe, meinte ich, meiner Krankheit entronnen zu sein. Chf. Voll Bitternis ist der Fremde und bitter ist diese seine Rede, Odysseus, und sie beugt sich nicht der Leidensnot. Od. Viel könnte ich zu dessen Worten sagen, wenn es mir passte. Jetzt sage ich nur das Eine:

Χο. Οδ.

ἀλλ’, ὦ πατρῴα γῆ θεοί τ’ ἐπόψιοι, τείσασθε, τείσασθ’ ἀλλὰ τῷ χρόνῳ ποτὲ ξύµπαντας αὐτούς, εἴ τι κἄµ’ οἰκτίρετε. ὡς ζῶ µὲν οἰκτρῶς, εἰ δ’ ἴδοιµ’ ὀλωλότας τούτους, δοκοῖµ’ ἂν τῆς νόσου πεφευγέναι. βαρύς τε καὶ βαρεῖαν ὁ ξένος φάτιν τήνδ’ εἶπ’, Ὀδυσσεῦ, κοὐχ ὑπείκουσαν κακοῖς. πόλλ’ ἂν λέγειν ἔχοιµι πρὸς τὰ τοῦδ’ ἔπη, εἴ µοι παρείκοι. νῦν δ’ ἑνὸς κρατῶ λόγου·

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1040

1045

1040 ἀλλ’] ist zum Imperativ τείσασθ’ (1041) zu beziehen, leitet den Schlussappell ein (GP 13–15). | γῆ] vgl. zu 15 (Versstruktur). 1041 ἀλλὰ τῷ χρόνῳ] vgl. El. 1013 und zu 950 (ἀλλὰ νῦν); zur hier wahrscheinlichen Funktion von ἀλλὰ vgl. Komm. 1042 εἴ τι κἄµ’] die Wendung ist wohl analog zu der Formel εἴ τις καὶ ἄλλος zu betrachten, bei der zugleich das entscheidende Element der Apodosis akzentuiert wird (vgl. GP 304 [v]), also hier etwa: ‚Wenn es denn mit m i r irgendein Erbarmen gibt, dann zeigt es sich mir darin, dass s i e büßen müssen.‘ 1043 ὡς Hss. : ὃς Auratus – ὡς kann die Begründung nach einem Imperativ am Ende einer Rhesis einleiten; vgl. Fraenkel 1963, 66 f. (Kamerbeek). 1044 τῆς νόσου] zum Genitiv vgl. K.-G. I 395; Moorhouse 67 f. 1045 βαρύς] sc. ὁ ξένος (Versparung des Subjekts; Kiefner 1964, 32 f.). 1046 τήνδ’] verweist hier auf etwas Vorausgehendes; vgl. 1431 (seltenerer Gebrauch, K.-G. I 646 f.). 1048 παρείκοι (Hss.) : παρήκοι – vgl. Thukydides 3,1,2: die attischen Reiter unternahmen Angriffe, ὅπῃ παρείκοι (‚wo eine Gelegenheit bestand‘); vgl. Komm.

Kommentar

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1040–1044 Philoktet beschließt seine Rede mit einem Appell an seine Heimat und die Götter, ihm Genugtuung zu verschaffen, wobei er jetzt eine Zeitdimension für die Erfüllung nennt und die Möglichkeit offen lässt, dass sie ihn irgendwann erhören werden. Eine Vernichtung der Gegner würde ihm wie eine Befreiung von seinem Leiden erscheinen. Nach dem Beschluss des Zeus ist die Heilung aber an die Fahrt nach Troia gebunden (1423 f.; vgl. auch 1333 f.). 1040 ‚Götter, die ihr alles seht‘: Philoktet ruft neben seiner Heimat zwar ganz allgemein die Götter an, die auf die Taten der Menschen sehen (epopsioi), aber diese Funktion kommt in besonderer Weise Zeus zu (El. 175), der auch das Epitheton epopsios haben konnte (z. B. Apollonios Rhodios 2,1123; 1133; vgl. Pfeiffer zu Kallimachos fr. 85,14 Pf.; Kamerbeek). Außerdem hat Zeus nach Sophokles’ Trachinierinnen eine besondere Beziehung zu Philoktets heimatlichem Öta (vgl. zu 4–5; 453), er hat die „nie geschnittene Flur des Öta“ inne (Tr. 200, Übers. Schadewaldt), er blitzt von dort herab (Tr. 436 f.). 1041 ‚irgendwann im Lauf der Zeit‘: Der Sinn ist: ‚Wenn nicht gleich, so doch (gewiss) später einmal im Lauf der Zeit‘. Philoktet kompensiert die gegenwärtige Nichterfüllung seiner Verwünschungen mit dem Wunsch, dass die Untaten der anderen irgendwann einmal der Strafe der Götter anheimfallen; vgl. zur Vorstellung der zeitverzögerten Bestrafung Solon, fr. 13,25 ff. West. 1042 ‚sie alle zusammen‘: Sicherlich meint Philoktet diejenigen, die an seiner Aussetzung beteiligt waren (1023–1028) und ihn jetzt (mit List) zurückholen wollen, kaum ist dabei auch Neoptolemos mit gemeint (so aber Ussher). Denn für ihn hatte Philoktet zuvor Verständnis gezeigt (1006–1015), und das mehrfache ‚ihr‘ ist anders zu beziehen (vgl. zu 1029–1039). ‚überhaupt … erbarmt‘: Zur Skepsis Philoktets, was die Haltung der Götter ihm gegenüber angeht, vgl. 1019 b–1020. 1045–1046 Eine Bemerkung des Chorführers trennt die Reden der Kontrahenten, indem er – nur an Odysseus gewandt – Philoktets Ausführungen kurz kommentiert und charakterisiert. ‚Voll Bitternis … bitter‘: Das griechische Wort (barys) heißt eigentlich ‚schwer‘, oft mit der Konnotation des Drückenden, Unangenehmen (vgl. 368: ‚heftiger Zorn‘). Hier geht es auf den Groll, der bei Philoktet spürbar ist, wobei das Attribut von seiner Person auch auf seine Rede übertragen ist, die dann auch statt Philoktet selbst als unbeugsam beschrieben wird. – Vgl. auch die Charakterisierung der Antigone in Sophokles’ Antigone (Ant. 472). 1045 ‚der Fremde‘: vgl. zu 232. 1047–1062 Als Reaktion auf die Anrede des Chorführers spricht Odysseus zunächst auch nur zu diesem, dem er erklärt, dass er auf ‚dessen‘ (Philoktets) Rede (1047) nicht im Einzelnen antworten wolle. Stattdessen erläutert er seine Grundsätze, die er ausgerechnet gegenüber Philoktet nicht anwenden will (1053). Überraschend lässt er Philoktet freigeben (1054 f.), wobei er ihn damit konfrontiert, dass er ohnehin nicht gebraucht werde (1055–1062). 1048 ‚Jetzt sage ich nur das Eine:‘, wörtl. ‚Jetzt habe ich nur die Verfügung (sc. die Zeit) für das eine Wort‘. Wie schon bei der fingierten Botschaft des ‚Kaufmanns‘ (620 f.) gehört zur Taktik des Odysseus die Erzeugung eines

Drittes Epeisodion: 1049–1052

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Wo es Leute von bestimmter Art braucht, solcher Art bin ich; und wo es um die Beurteilung gerechter und rechtschaffener 1050 Männer geht, wirst du wohl keinen finden, der gottesfürchtiger ist als ich. Jedoch überall siegreich sein zu wollen, das ist meine Wesensart – οὗ γὰρ τοιούτων δεῖ, τοιοῦτός εἰµ’ ἐγώ· χὤπου δικαίων κἀγαθῶν ἀνδρῶν κρίσις, οὐκ ἂν λάβοις µου µᾶλλον οὐδέν’ εὐσεβῆ. νικᾶν γε µέντοι πανταχοῦ χρῄζων ἔφυν,

1050

1049 γὰρ] vgl. zu 331. 1051 µου (Hss.) : Ø 1052 γε µέντοι] adversativ (GP 412): Im Gegensatz zur variablen ethischen Einstellung steht in diesem Punkt Odysseus’ Grundsatz fest. | χρῄζων Hss. : κρείσσων (varia lectio in einigen Hss.) – mit χρῄζων betont Odysseus seine Entscheidungsgewalt, κρείσσων würde (in Kombination mit πλὴν ἐς σέ, 1053) zu der Konsequenz führen, dass sich Odysseus gegenüber Philoktet als unterlegen bezeichnete.

Kommentar

317

Zeitdrucks, und entsprechend kündigt er wenig später den Aufbruch an (1061). Mit seiner Behauptung, dass er aus Zeitgründen, das viele, das er zu Philoktets Ausführungen zu sagen hätte, nicht sage, weicht er einer inhaltlichen Auseinandersetzung aus. 1049–1052 Die Selbstcharakterisierung des Odysseus entspricht ganz der Verhaltensweise, die er Neoptolemos angeraten und von ihm erwartet hatte (81–85). Odysseus hat nur eine Maxime, die ausnahmslos gilt (vgl. aber zu 1053), nämlich überall siegreich, erfolgreich sein zu wollen (1052). Diesem Grundsatz passt er die jeweilige Gesinnung und Vorgehensweise an: Wenn ‚Leute von bestimmter Art‘ gebraucht werden (1049), d. h. etwa solche, mit denen man die Intrige gegen Philoktet durchführen kann, dann ist Odysseus – nach seiner Meinung – ebenso der richtige Mann, wie wenn es gilt, einen Gerechten und Rechtschaffenen zu finden. Vgl. zum Gedanken einer solchen Anpassungsfähigkeit Theognidea 313 f. (Blundell 1987, 314 Anm. 34; dass der sprichwörtliche Charakter der Theognis-Verse Odysseus entlaste, wie Raubitschek 1980 meint, leuchtet allerdings nicht ein). Für Odysseus müssen offenbar auch Eigenschaften wie gerecht und rechtschaffen nicht bedingungslos vorhanden sein, sondern können bei Bedarf aktiviert werden, und ist es möglich, sich darin auszuzeichnen, auch wenn man diese Eigenschaften zwischenzeitlich ablegt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Odysseus beschreibt sich insofern als genaues Gegenteil zur Prinzipientreue Philoktets. 1049 ‚Leute von bestimmter Art‘: Im Griechischen heißt es nur ‚derartige‘ bzw. ‚solche‘, womit er wohl Leute meint, die bestimmten Erfordernissen genügen und entsprechend handeln können. Aus der Entgegensetzung zu der folgenden Alternative (1050) ist zu schließen, dass dieses Handeln nicht ‚rechtschaffen‘ sein muss. 1051 ‚gottesfürchtiger‘: Sogar in Bezug auf die ‚Frömmigkeit‘ beansprucht Odysseus eine Siegerposition. Dass Gottesfurcht (eysebeia) unmittelbar nach der Erklärung des amoralischen Relativismus (eher: Opportunismus; vgl. Blundell 1987, 320 f.) keine moralische Qualität bezeichne, sondern ein äußerliches Verhalten sein müsse (so Schein), ist eher unwahrscheinlich. Denn eine solche Veräußerlichung stimmt nicht zusammen mit ‚gerecht und rechtschaffen‘. Vielmehr scheint Odysseus zu glauben, bei Bedarf auch eine ‚moralische‘ Haltung annehmen, zwischen Amoral und Moral wechseln zu können. 1052 Die Maxime des Odysseus erinnert an die Anweisung, die Peleus seinem Sohn Achill mit auf den Weg gab: „Immer Bester zu sein und überlegen zu sein den anderen“ (Homer, Ilias 11,784 [= 6,208], Übers. Schadewaldt). Aber was als heldisches Ideal eines Kämpfers im Krieg um Troia gemeint war, ist bei Odysseus zu einem Übertreffen um jeden Preis mit moralisch beliebiger Methode geworden. Ähnlich scheint Odysseus im Philoktet des Euripides charakterisiert gewesen zu sein; vgl. Eur. Philoktet F 787–789 (2) [1–2] Kannicht, wo Müller (2000, 320) in der Prologrede des Odysseus die „Irrationalität männlichen Ehrgeizes“ und eine „Erfolgsfixierung“ erkennt, die eine Überlistung Philoktets zum Ziel hat.

Drittes Epeisodion: 1053–1059

318

(zu Philoktet) außer dir gegenüber: Dir gehe ich jetzt freiwillig aus dem Weg. (zu den Begleitern) So lasst ihn los, rührt ihn nicht mehr an! Die Begleiter geben Philoktet wieder frei. Lasst ihn hierbleiben! (zu Philoktet) Auch brauchen wir dich nicht noch dazu, wo wir diesen Bogen haben. Denn da steht bei uns der Teukros bereit, der diese Kunst beherrscht, und ich, der, wie ich glaube, nicht schlechter als du den Bogen führen noch zielen könnte mit der Hand. πλὴν ἐς σέ· νῦν δὲ σοί γ’ ἑκὼν ἐκστήσοµαι. ἄφετε γὰρ αὐτόν, µηδὲ προσψαύσητ’ ἔτι. ἐᾶτε µίµνειν. οὐδὲ σοῦ προσχρῄζοµεν, τά γ’ ὅπλ’ ἔχοντες ταῦτ’· ἐπεὶ πάρεστι µὲν Τεῦκρος παρ’ ἡµῖν, τήνδ’ ἐπιστήµην ἔχων, ἐγώ θ’, ὃς οἶµαι σοῦ κάκιον οὐδὲν ἂν τούτων κρατύνειν µηδ’ ἐπιθύνειν χερί.

1055

1055

1054 γὰρ] „the use of the words contained in the γάρ clause forms a confirmation of what precedes“ (GP 61). 1055 οὐδὲ Hss. : οὔτι Wakefield – eine weitere Verstärkung (οὔτι) der Aussage ist nicht notwendig. | σοῦ : σου – der Akzent liegt auf σοῦ in Entgegensetzung zum Bogen (vgl. auch Jebb). 1056–1057 πάρεστι … παρ’ ἡµῖν] die Doppelung von παρά bedeutet: Teukros ist bei uns im Heer und steht auch zur Verfügung; vgl. Jebb. 1056 µὲν] gefolgt von einer nicht-adversativen Partikel (θ’, 1058) bei nur schwachem Kontrast (GP 374 f.). 1058 ἐγώ θ’] zu ergänzen πάρειµι. 1059 τούτων] sc. ὅπλ’ (1056). | κρατύνειν µηδ’ Hss. : κρατύνων τῇδ᾿ Pflugk – sc. µηδὲ (κάκιον, 1058) ἐπιθύνειν: Odysseus rühmt sich, in der Bogenführung nicht schlechter als Philoktet zu sein und vor allem nicht (worauf es ankommt) im zielenden Ausrichten; zur steigernden Funktion von µή nach οὐ vgl. Kamerbeek; Manuwald 1999, 158 f.  

Kommentar

319

1053 ‚außer dir gegenüber‘: Der Verkündigung des absoluten Siegeswillens stellt Odysseus überraschend ein ausnahmsweises Nachgeben gegenüber, er befiehlt die Freilassung Philoktets (1054): Lenkt Odysseus tatsächlich ein oder tut er nur so und will Philoktet mit der Behauptung, man brauche ihn gar nicht und der Bogen werde vielleicht ihm selbst Ehre verschaffen (1055– 1062), so unter Druck setzen, dass er doch noch mitgeht? Einige Interpreten meinen, Odysseus sei es ernst (z. B. T. v. Wilamowitz 1917, 303 f.; Robinson 1969, 45; Garvie 1972, 220; Taplin 1978, 49 mit Anm. 17; mit Einschränkungen 1987, 70; Blundell 1989, 208). Pucci (S. 282) und Schein (zu 1054–62) halten die Frage für nicht zu entscheiden, ob Odysseus wirklich ohne Philoktet abfahren wolle. Kamerbeek deutet Odysseus’ Vorgehen einleuchtend als Bluff; vgl. auch Kitto 1964, 98; Hinds 1967, 177 f.; Ussher; Dorati 2015, 192; Visser 1998, 151–161 (mit einer Übersicht über unterschiedliche Deutungen). Zwar hatte Odysseus zunächst nur davon gesprochen, Neoptolemos solle sich Philoktets Bogen bemächtigen (77 f.). Der von ihm beauftragte ‚Kaufmann‘ aber hatte Odysseus mit der Behauptung ‚zitiert‘, er werde (aufgrund der Helenos-Weissagung) Philoktet mit oder auch gegen dessen Willen nach Troia bringen (615–618). Und nach Odysseus’ eigenen Worten (982 f.; 989– 994) ist es kaum glaubhaft, dass er wirklich ohne Philoktet abfahren wolle; er hätte dann den Selbstmordversuch Philoktets nicht gewaltsam verhindern müssen (1001–1003). Er hat seine Meinung auch nicht geändert, denn v. 1062 belegt, dass Odysseus weiß, wer vor Troia den Bogen führen sollte (auch 1296– 1298 geht er davon aus, Philoktet müsse nach Troia kommen). Neoptolemos hat Odysseus offenbar so verstanden, dass er auf Philoktet Druck ausüben und nicht nur mit dem Bogen wegfahren will (1078 f.), ebenfalls der Chor, wenn er Philoktet zur Umkehr auffordert (1165 f.; 1196). Da das Drama durch die Sinnesänderung des Neoptolemos (1222 ff.) eine überraschende Wendung nimmt, mit der Odysseus nicht rechnen konnte, lässt sich nicht sagen, wie Odysseus weiter verfahren wäre, falls sein Bluff keine Wirkung zeigte. Wenn dagegen Philoktet glaubt, Odysseus meine es ernst (1063 f.; 1081 ff.), ist das gerade die beabsichtigte Wirkung des Bluffs und stützt nicht die Auffassung derer, welche Odysseus’ Ankündigung ernst nehmen. 1054 Der Befehl ist an die Begleiter gerichtet, die Philoktet an den Händen festgehalten haben, vgl. 1003 f. 1055–1062 Auch diese Verse sprechen dagegen, dass es Odysseus mit seiner Ausnahme, gegenüber Philoktet nicht siegreich sein zu wollen (1052 f.), ehrlich meint, wenn er erwägt, den nach der Weissagung für Philoktet bestimmten Erfolg in Troia sogar für sich gewinnen zu können. 1057–1059 Nach Homer (Ilias 13,313 f.) war Teukros der Beste der Achaier im Bogenschießen. Als Bogenschütze wird Teukros auch Ai. 1120 bezeichnet (allerdings mit pejorativer Konnotation). In der Odyssee sagt Odysseus von sich, nur Philoktet habe ihn im Bogenschießen übertroffen (8,219 f.), und es wird berichtet, dass Odysseus mit dem Bogen einen Pfeil durch die Öhren (oder Augen) von zwölf Äxten schießen könne (Odyssee 21,76; 404–423). 1059 ‚Bogen‘: im Griechischen nur ein Pronomen, Rückbezug auf 1056.

Drittes Epeisodion: 1060–1069

320

Ph. Od. Ph. Od.

Φι. Οδ. Φι. Οδ.

Was brauchen wir da dich? Freu du dich daran, auf deinem Lem- 1060 nos herumzulaufen! Wir aber wollen gehen. Und vielleicht wird, was du als Geschenk erhieltst, mir die Ehre verschaffen, die du hättest haben sollen. Weh mir! Was soll ich Unglücklicher tun? Wirst du mit meinen Waffen geschmückt dich vor den Argeiern zeigen? Entgegne mir nichts, du siehst ja, ich bin dabei zu gehen! 1065 Spross Achills, werde ich auch von dir, deiner Stimme, nicht mehr angeredet werden, sondern willst du einfach weggehen? (zu Neoptolemos) Komm du! Sieh ihn nicht an – bist du auch edlen Sinns –, damit du unseren glücklichen Erfolg nicht zunichtemachst. τί δῆτα σοῦ δεῖ; χαῖρε τὴν Λῆµνον πατῶν. ἡµεῖς δ’ ἴωµεν. καὶ τάχ’ ἂν τὸ σὸν γέρας τιµὴν ἐµοὶ νείµειεν, ἣν σὲ χρῆν ἔχειν. οἴµοι· τί δράσω δύσµορος; σὺ τοῖς ἐµοῖς ὅπλοισι κοσµηθεὶς ἐν Ἀργείοις φανῇ; µή µ’ ἀντιφώνει µηδέν, ὡς στείχοντα δή. ὦ σπέρµ’ Ἀχιλλέως, οὐδὲ σοῦ φωνῆς ἔτι γενήσοµαι προσφθεγκτός, ἀλλ’ οὕτως ἄπει; χώρει σύ· µὴ πρόσλευσσε, γενναῖός περ ὤν, ἡµῶν ὅπως µὴ τὴν τύχην διαφθερεῖς.

1060

1065

1060 τὴν Hss. : σὴν Walter – zum Artikel vgl. zu 325–326, hier mit spöttisch-verächtlichem Ton. | πατῶν] das Wort bedeutet eigtl. ‚betreten‘, dann aber auch ‚häufig betreten‘ im Sinn von ‚bewohnen‘, vgl. Theokrit, Eidyllion 18,20 (mit dem Kommentar von Gow); hier mag im Hinblick auf den fußkranken Philoktet in zynischer Weise auch die Grundbedeutung eine Rolle spielen. 1062 σὲ χρῆν Ellendt : σ᾿ ἐχρῆν (Hss.) – der Sinn legt ein betontes Pronomen nahe, χρῆν ist die übliche Imperfektform bei Sophokles. 1064 ὅπλοισι … Ἀργείοις Hss. : ὅπλοις ἐν Ἀργείοισι κοσµηθεὶς Mekler 1911, XCIX – durch Meklers Umstellung wird die Mittelzäsur vermieden, aber diese hebt hervor, was Philoktet besonders kränkt, dass sich sein Hauptfeind mit seinen Waffen ziert. 1065 ἀντιφώνει] mit doppeltem Akkusativ wie bei ἀµείβοµαι; vgl. OC 991 (Jebb) sowie Bruhn § 56. | ὡς] perspektiviert die Partizipialhandlung aus der Sicht Philoktets (K.-G. II 92 f.). | δή] betont das Partizip (GP 214–216), hier nicht ironisch (GP 230); vgl. Schein. 1066 Ἀχιλλ͜έως] Synizese. | σοῦ φωνῆς] ist nicht gleich σῆς φωνῆς, sondern es liegt das σχῆµα καθ᾿ ὅλον καὶ µέρος vor, vgl. zu 747– 748; zum Genitiv vgl. K.-G. I 402 Anm. 7; Moorhouse 69; 75. 1069 ἡµῶν (Hss.) : ἡµῶν γ᾿ – ἡµῶν ist bereits durch seine Stellung betont. | διαφθερεῖς : διαφθαρῇς : διαφθαρείς – Futur kommt nach ὅπως auch bei finalem Adverbialsatz vereinzelt vor (K.-G. II 384 Anm. 4).

Kommentar

321

1060–1062 ‚Freu du dich daran‘: Der Wunsch des Odysseus, Philoktet möge sich daran erfreuen, auf Lemnos herumzulaufen (!), und seine Erwartung, vielleicht selbst den Philoktet zugedachten Ruhm zu ernten, sind von bösartigem Zynismus. Diese letzten Worte müssen Philoktet sehr verletzen (vgl. auch seine Antwort, 1063 f.) und haben wahrscheinlich auch das Ziel, dass Philoktet es nicht aushalten kann, auf Lemnos zurückzubleiben. 1060 ‚deinem Lemnos‘: Zu dem verächtlich gesetzten Artikel vgl. auch 381 (mit Komm.). 1061 ‚Wir‘: Odysseus, der zuletzt Neoptolemos als ‚Schlechtesten der Menschen‘ (974 b) beschimpft hatte, geht hier selbstverständlich davon aus, dass sich Neoptolemos seiner Strategie unterordnen wird. ‚Geschenk‘: sc. der Bogen des Herakles (vgl. zu 801–803). 1063–1080 Philoktet, nicht erfreut über seine zurückgegebene ‚Freiheit‘, sondern bestürzt, dass man mit seinem Bogen wegfahren will, versucht vergeblich, mit einem nach dem anderen ins Gespräch zu kommen: Odysseus verweigert das Gespräch, Neoptolemos wird an einer Antwort gehindert, der Chor verweist ihn auf Neoptolemos, der schließlich redet, aber nicht mit ihm. 1063–1064 ‚Was soll ich Unglücklicher tun?‘: Philoktet ist fassungslos. Dass der Erzfeind Odysseus mit seinem Bogen (der freilich noch in der Hand des Neoptolemos ist) bei den Griechen auftreten könnte, muss ihn noch härter treffen, als wenn Neoptolemos das täte (vgl. 944). Sein Entsetzen kommt in den Versen durch das Nebeneinander von ‚du‘ und ‚ich‘ (‚meinen‘) und dem Enjambement (‚meinen / Waffen‘) auch formal zum Ausdruck. Odysseus hat insofern einen Erfolg erzielt, als sein Vorgehen bei Philoktet zu einer gewissen Unentschlossenheit führt (vgl. Ussher und auch v. 1350), die aber im folgenden Kommos sofort wieder entschiedener Ablehnung weichen wird. Zur Durchgestaltung der Verse vgl. TS zu 1064; Schein. 1065 Durch die Eile vorgebende Weigerung, weiter mit Philoktet zu reden, versucht Odysseus, den Druck auf ihn zu erhöhen. 1066–1067 ‚Spross Achills‘: Mit dieser Anrede (vgl. zu 364) appelliert Philoktet an Neoptolemos’ vom Vater ererbte Wesensart. Man kann sich vorstellen, dass er daran denkt, dass Neoptolemos auf seine frühere Bitte hin (vgl. 971–973) nicht definitiv geantwortet hatte, vielmehr vor dem Dazwischentreten des Odysseus dabei war, auf ihn zuzugehen (974 f.); so mag er hoffen, ihn wenigstens jetzt zu einer Äußerung bewegen zu können. 1068–1069 ‚Komm du!‘: Offenbar macht Neoptolemos Anstalten, auf Philoktet zu reagieren, oder Odysseus befürchtet das und unterbindet von vornherein eine solche Aktion (etwa die Rückgabe des Bogens; vgl. Jebb), ebenso wie schon 974 f. Er vermutet zu Recht, dass sich Neoptolemos von seiner Art her durch den Anblick Philoktets rühren lassen könnte, und bringt das Problem ausdrücklich zur Sprache. Daher will er einen Blickkontakt verhindern – wie der Fortgang des Textes zeigt – mit Erfolg: Neoptolemos nimmt mit Philoktet keinen direkten Kontakt mehr auf. Noch ‚siegt‘ Odysseus über Neoptolemos. 1069 ‚glücklichen Erfolg‘: Im Griechischen steht tychē, von Webster treffend als „the favourable way things have turned out“ erläutert, nämlich den

322

Drittes Epeisodion: 1070–1078

Ph.

Werde ich denn auch von euch so einsam, ihr Fremden, zurückgelassen, und habt ihr kein Erbarmen mit mir? Chf. Der junge Mann da ist unser Schiffsherr. Alles, was der dir sagt, das sagen auch wir dir. Ne. Ich werde zu hören bekommen, mein Wesen sei zu mitleidig, von dem; aber dennoch bleibt, wenn dieser es möchte, so lange Zeit, bis die Seeleute die Dinge auf dem Schiff zur Fahrt bereit gemacht und wir zu den Göttern gebetet haben. Und vielleicht kommt er in dieser Zeit zu einer Überlegung,

1070

Φι.

1070

Χο. Νε.

ἦ καὶ πρὸς ὑµῶν ὧδ’ ἔρηµος, ὦ ξένοι, λειφθήσοµαι δὴ κοὐκ ἐποικτερεῖτέ µε; ὅδ’ ἐστὶν ἡµῶν ναυκράτωρ ὁ παῖς. ὅσ’ ἂν οὗτος λέγῃ σοι, ταῦτά σοι χἠµεῖς φαµεν. ἀκούσοµαι µὲν ὡς ἔφυν οἴκτου πλέως πρὸς τοῦδ’· ὅµως δὲ µείνατ’, εἰ τούτῳ δοκεῖ, χρόνον τοσοῦτον, εἰς ὅσον τά τ’ ἐκ νεὼς στείλωσι ναῦται καὶ θεοῖς εὐξώµεθα. χοὖτος τάχ’ ἂν φρόνησιν ἐν τούτῳ λάβοι

1075

1075

1070  πρὸς] beim Passiv (K.-G. I 127 f.). 1071 λειφθήσοµαι δὴ Wakefield : λειφθήσοµ᾿ ἤδη Hss. – vgl. Ll.-J./W.1 und GP 236 (δή in „indignant questions“). 1073 ταῦτά Hss. : ταὐτά F. Schultz – Schultz’ Akzentuierung ist möglich, hebt aber die Identität der Aussagen unnötig stark hervor. 1075 µείνατ’] Aorist, weil der Endpunkt des Bleibens schon in den Blick genommen ist (K.-G. I 191 f.). | εἰ τούτῳ δοκεῖ] εἰ mit kausalem Nebensinn; zu τούτῳ δοκεῖ als Ausdruck eines „earnest wish“ vgl. Sommerstein 1982, 36. 1076 εἰς ὅσον] zum Fehlen von ἄν vgl. zu 764. | τ’ ἐκ Hss. : τῆς Tournier – die Wendung τά τ’ ἐκ νεὼς ist entweder als „the things that are fixed to the ship“ zu erklären (Kamerbeek mit Verweis auf K.-G. I 544 C), oder ἐκ gibt die Perspektive der Betrachtung aus einem Abstand wieder (Moorhouse 108 f.). 1078 χοὖτος Hss. : χοὔτως (varia lectio in einigen Hss.)

Kommentar

323

Gewinn des Bogens, vielleicht auch die Verunsicherung Philoktets (die ihn zum Mitgehen veranlassen könnte). tychē kann u. a. das von äußeren Mächten oder Umständen mitbeeinflusste Gelingen oder Misslingen bezeichnen. 1070–1071 Dass sich Philoktet auch noch an die von Neoptolemos abhängige (1072 f.) Mannschaft wendet, nachdem er bei Neoptolemos kein Gehör fand, wird man als Ausdruck seiner Verzweiflung verstehen müssen (die sich auch gleich zeigt, 1081 ff.). Nach dem mitleidigen Appell der Mannschaft an Neoptolemos, Philoktet mitzunehmen, und ihrer Zustimmung zu der (angeblichen) gemeinsamen Fahrt nach Hause (507 ff.) muss er glauben, dass er die Seeleute mit seiner Frage, die einer Bitte um Erbarmen gleichkommt, zu weiteren Interventionen aktivieren könnte. 1071 ‚Erbarmen‘: Es liegt derselbe Wortstamm vor (epoiktirein) wie bei dem an Neoptolemos gerichteten Appell des Chors; vgl. 507 mit Komm. 1072–1073 ,was der dir sagt, das sagen auch wir‘: Der Chor reagiert entsprechend dem Grundsatz, den er anfangs formuliert hat, das zu sagen, was sein Herr ihm vorgibt (135–137). 1074–1080 Neoptolemos, der nun erst wieder (zuletzt 974 a) das Wort ergreift, spricht zu seinen Leuten; er gibt ihnen Anweisungen, wodurch auch Odysseus und Philoktet erfahren, welche Entscheidung er getroffen hat. Man kann nur mutmaßen, wie Neoptolemos Odysseus’ erstaunliche Wendung versteht. Aber wenn er darin ein Mittel sehen sollte, Philoktet zum Umdenken zu bewegen (vgl. 1078 f.), erklärt sich, warum er sich jetzt Odysseus anschließt (‚wir beide‘, 1079). Allerdings distanziert er sich von Odysseus, indem er die Seeleute erst einmal zurücklässt, auch wenn er damit dem von ihm befürchteten Tadel des Odysseus zu entsprechen scheint. Seine Anordnung beruht wohl auf der Hoffnung, dass sich Philoktet doch noch entschließt, ‚freiwillig‘ (allerdings unter dem Druck, dass er den Bogen nicht mehr hat) mitzugehen. Mit der Frage Philoktets an den Chor (1070 f.) und Neoptolemos’ Entscheidung, die Seeleute vorerst bei Philoktet zu lassen, löst Sophokles auch ein dramaturgisches Problem: Als Mannschaft des Neoptolemos müssten die Choreuten eigentlich mitgehen, wenn ihr Herr abfahren will. Als Chor der Tragödie müssen sie bis zum Ende des Dramas in der Orchestra stehen. So ist ein handlungsinterner Weg gefunden, dass der Chor zunächst bleibt, und mit der überraschenden Rückkehr des Neoptolemos (1222) erledigt sich die Frage, was der Chor tun soll, von selbst. 1074 ‚zu mitleidig‘, wörtl. ‚voll von Mitleid‘, was von Odysseus (‚von dem‘, 1075) als Kritik gemeint wäre. 1075 Neoptolemos weist mit unterschiedlichen Demonstrativpronomina, zunächst auf Odysseus (‚von dem [hier])‘, dann auf Philoktet (‚dieser‘). Man kann sich eine lebhafte gestische Aktion vorstellen. 1076–1077 Der bei der Landung umgelegte Mast musste wieder aufgerichtet und die Segel gesetzt werden (vgl. Homer, Odyssee 2,422–426). Vor der Abfahrt erfolgten Gebet und Trankopfer (Thukydides 6,32,1; Odyssee 2,432).

324

Drittes Epeisodion: 1079–1080 / Kommos

die besser ist für uns. Wir beide gehen nun los, ihr macht euch schnell auf den Weg, wenn wir euch rufen.

1080

Odysseus (mit seinen Begleitern) und Neoptolemos entfernen sich zu dem Seiteneingang in Richtung Schiffsankerplatz. λῴω τιν’ ἡµῖν. νὼ µὲν οὖν ὁρµώµεθον, ὑµεῖς δ’, ὅταν καλῶµεν, ὁρµᾶσθαι ταχεῖς.

1080

Es folgt der Kommos (1081–1217), Text mit Einzelkommentierung ab S. 326.

1079 ὁρµώµεθον (Hss.) : ὁρµώµεθα +Elmsley – seltene Dualform der 1. P., eher Indikativ (Kamerbeek) als (adhortativer) Konjunktiv (Jebb), da Neoptolemos kaum (wie Odysseus 1061) als treibende Kraft dargestellt werden soll; zur Form vgl. Schwyzer I 672, 4. 1080 ὁρµᾶσθαι ταχεῖς] Infinitiv statt Imperativ (vgl. 57), ταχεῖς ist Prädikativum (mit adverbieller Funktion) im Nominativ (K.-G. II 20 f.).

Kommentar

325

1079 Wenn Neoptolemos ein mögliches Einlenken Philoktets (‚er‘, 1078) als ,besser für uns‘ bezeichnet, wird deutlich, dass er die von Odysseus jedenfalls nach außen vertretene Lösung, lediglich mit dem Bogen nach Troia zurückzukehren, für unbefriedigend hält. Diese Situation entspricht auch nicht dem, was Odysseus ursprünglich wollte (982–998).

1081–1217 Kommos Dieser Wechselgesang besteht aus zwei Strophenpaaren (1081–1168), gefolgt von einer Epode (1169–1217). Die Strophen und Gegenstrophen setzen sich jeweils aus verzweifelten Äußerungen Philoktets und darauf reagierenden Bemerkungen des Chors zusammen: Dabei weist der Chor Philoktet auf seine Eigenverantwortung für sein Elend hin, sieht sich nicht schuldig am Betrug, nimmt Odysseus und Neoptolemos gegen Philoktets Anschuldigungen in Schutz und rät Philoktet, zu seinem eigenen Wohl nach Troia mitzufahren. Dieser geht jedoch auf die Worte des Chors nicht ein, fährt vielmehr mit seiner Klage fort, als ob der Chor nichts gesagt hätte. In seinem Schmerz, betrogen, des Bogens beraubt und verlassen zu sein, ist Philoktet offenkundig für die ‚vernünftige‘ Argumentation des Chors nicht erreichbar. Erst den Hinweis des Chors auf den Ausweg aus der schon lange währenden ‚Krankheit‘ in der zweiten Gegenstrophe (1165–1168) nimmt er schließlich wahr, und es kommt in der Epode zu einem Dialog, in dem Philoktet aber auf seiner kompromisslosen Haltung, nicht nach Troia zu gehen und lieber den Tod in Kauf zu nehmen, beharrt. Es ist umstritten, ob die Unnachgiebigkeit Philoktets gegenüber dem Chor als Charakterstärke oder als tadelnswerte Verstocktheit zu verstehen ist. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Alternative richtig ist angesichts der Situation, in der sich Philoktet befindet. Denn in seiner Klage malt er sich nicht nur die Wehrlosigkeit und Aussichtslosigkeit seiner Lage aus, die ein Nachgeben vernünftig erscheinen lassen könnte, sondern vergegenwärtigt sich auch, wie er neuerlich betrogen wurde und welchen Triumph Odysseus über ihn errungen hat, der nun den für ihn lebenswichtigen Bogen in Händen halte (1111–1115; 1123–1139). D. h., gerade der Verlust des Bogens, ausgerechnet an Odysseus (wie er meint), ist für ihn so schmerzlich, dass er aufgrund seines emotionalen Zustandes glaubt, sich nicht überwinden zu können. Der Chor wird, da er auch Mitgefühl gezeigt hat, von Philoktet zwar geschätzt (1171), aber er kann mit den Argumenten, die er vorbringt, den zutiefst Gekränkten nicht davon überzeugen, dass es richtig wäre, nach Troia zu gehen. Vielmehr evoziert der Appell des Chores, um der verheißenen Heilung willen nachzugeben (1165– 1168), das alte Trauma der Aussetzung (vgl. 1169–1172 mit Komm.). Entscheidend scheint für Philoktet zu sein, dass der Chor ihn letztlich nur (wie die anderen) mit der Forderung konfrontiert, einzulenken und nach Troia mitzufahren. Erst Herakles gibt mit seiner Botschaft dem Leiden und dem Nachgeben Philoktets verbindlich einen Sinn (vgl. Einf. S. 46–50).

326 Ph.

Φι.

Kommos: 1081–1092

O Gewölbe im hohlen Fels, bald heiß, bald frostig, so gilt es also, dass ich dich – oh ich Elender! – niemals verlassen soll, sondern du wirst mir auch beim Sterben Zeuge sein! Weh mir, weh! Du, meine Behausung, ganz erfüllt von meinem Leid, du elende, worin denn wird für mich der tägliche Unterhalt bestehen? Worin denn, woher kann ich Unglücklicher hoffen, auf Nahrung zu treffen? Sieh, oben am Himmel ziehen ὦ κοίλας πέτρας γύαλον θερµὸν καὶ παγετῶδες, ὥς σ’ οὐκ ἔµελλον ἄρ’, ὢ τάλας, λείψειν οὐδέποτ’, ἀλλά µοι καὶ θνῄσκοντι συνείσῃ. ὤµοι µοί µοι. ὦ πληρέστατον αὔλιον λύπας τᾶς ἀπ’ ἐµοῦ τάλαν, τίπτ’ αὖ µοι τὸ κατ’ ἦµαρ ἔσται; τοῦ ποτε τεύξοµαι σιτονόµου µέλεος πόθεν ἐλπίδος; ἴδ’, αἱθέρος ἄνω

Strophe 1

1085

1090

στρ. αʹ

1085

1090

1081 κοίλας πέτρας γύαλον] vgl. Eur. Hel. 189 πέτρινα γύαλα. 1082 θερµὸν Trikl. : θερµόν τε (Hss.) – mit τε keine Responsion mit v. 1103. | καὶ] in der Funktion von ἤ (K.-G. II 248, 4; GP 292 [8]). | ὥς] exklamatorisches ὡς, LSJ s. v. D. I. 2 (Akzent wegen des folgenden Enklitikums). 1083 ἄρ’] GP 36 (2) (i): „With µέλλειν and similar expressions, denoting that the predestination of an event is realised ex post facto.“ Vgl. auch zu 978. | ὢ Blaydes : ὣ : ὦ : ὁ – zum Akzent vgl. zu 254. 1085 συνείσῃ Reiske : συνοίσῃ (Hss.) – zu συνείσῃ (Futur zu σύνοιδα) vgl. Scholion (ἢ οὕτω, σὺν ἐµοὶ ἔσῃ καὶ ὄ ψ ε ι µ ε ἀποθανόντα) u. El. 92 f.; συνοίσῃ (von συµφέροµαι) ist auszuschließen; vgl. bes. Jebb. 1086 ὤµοι : οἴµοι – während ὤµοι µοι oder οἴµοι µοι (1123) geläufig ist, kennt man für ὤµοι µοί µοι nur diesen Beleg; zwar ergibt sich so Responsion mit αἰαῖ αἰαῖ (1107) und könnte man die singuläre Wendung als hoch-expressiven Ausdruck verstehen, aber vielleicht ist auch ein Ausruf extra metrum (ὤµοι µοι) unidiomatisch erweitert worden, um eine möglicherweise von Sophokles nicht intendierte Responsion herzustellen. 1089 τίπτ’ Musgrave : τί ποτ᾿ Hss. – durch τίπτε (vgl. Aisch. Ag. 975; synkopiert aus τί ποτε) ergibt sich die Responsion mit v. 1110. | τὸ κατ’ ἦµαρ] kann adverbial (so Schein; vgl. Eur. Ion 124), aber auch (wie hier) als substantivierter Ausdruck aufzufassen sein (vgl. F 593,1 f. Radt2 τὸ κατ’ ἦµαρ … πορσύνων [Ussher]; Isokrates, or. 11,39 τῶν καθ’ ἡµέραν ἐνδεεῖς [Jebb]). 1090–1091 τοῦ (= τίνος) … πόθεν] zur Kombination zweier Fragewörter vgl. K.-G. II 521, 5. 1091 σιτονόµου] das Wort ist nur hier belegt. | ἐλπίδος] „object of hope“, LSJ s. v. I. 2. 1092–1094] die Herstellung der korrupt überlieferten Verse ist nur tentativ möglich; zur Auswahl der Konjekturen vgl. bes. Günther 1996, 136–138. 1092 ἴδ’, αἱθέρος Günther : εἴθ᾿ αἰθέρος Hss. : ἴθ’ αἱ πρόσθ’ Hermann : πέλειαι δ᾿ Jebb – zu αἱθέρος ἄνω vgl. Eur. Or. 1542.

Kommentar

327

1081–1101 (Strophe 1) Philoktet sieht – wie zuvor schon (952 ff.) – nur noch ein Gegenüber, bei dem er sich ausklagen kann und an das er wegen seiner Verweigerung der Troia-Fahrt für immer gebunden sein wird, seine Felsenhöhle, die er nun auch als den zukünftigen Ort seines Todes betrachtet. Ohne seinen Bogen kann er sich nicht mehr versorgen, sodass er die Vögel nicht mehr erjagen, sondern nur noch resigniert vorbeiziehen lassen kann. Der Chor bedauert zwar Philoktet wegen seines Schicksals (1096), macht ihn aber für die jetzige und künftige Situation ganz allein verantwortlich, da er sich der gebotenen Chance der Veränderung (d. h. nach Troia mitzugehen) verweigere (1095; 1097–1101). 1081 ‚O Gewölbe im hohlen Fels‘, wörtl. ‚hohlen Felsens Aushöhlung (gyalon)‘: Philoktet spricht mit dieser Umschreibung seine Felsenhöhle wie eine Person an (entsprechend schon 952). gyalon kann z. B. die Wölbung eines Panzers oder die Eintiefung eines Mischkessels bezeichnen. 1082 ‚bald heiß, bald frostig‘: D. h., das ‚Gewölbe‘ bietet kein angenehmes Wohnen; in Odysseus’ Mund hörte sich das anders an (17–19). 1087–1088 ‚Du, meine Behausung‘: Noch einmal spricht Philoktet seine Höhle direkt an (‚Behausung‘, wie v. 19), als Person, die im Leid mit ihm identisch ist: Ebenso wie sich selbst (1083) bezeichnet er sie (1088) als ‚elend‘ (talas, talan). 1090–1091 Wörtl.: ‚Auf welche nahrungsspendende Hoffnung (und) woher werde ich Unglücklicher treffen?‘ ‚Hoffnung‘ steht hier für den Sachverhalt, der etwas erhoffen lässt (vgl. TS). 1092–1094 Wenn die korrupt überlieferten Verse richtig hergestellt wurden (vgl. TS), folgt auf Philoktets verzweifelte Frage, woher er noch Nahrung bekommen könne, die Feststellung, dass die Vögel (von denen er sich ernährt hatte: 287–289; 955 f.) hoch oben an ihm vorbeiziehen und er sie nicht mehr ‚festhalten‘ (1094), d. h. mit seinem Bogen erreichen kann. Alternativ könnte die Schlusswendung auch heißen: ‚Macht (sc. sie zu jagen) besteht (für mich) nicht mehr‘ (vgl. TS). Philoktet wird sich also nicht mehr vor dem Verhungern bewahren können. 1092 ‚Sieh‘: Mit dieser (wahrscheinlich zu konjizierenden) Anrede setzt sich die Reihe der Anreden an die Höhle (1081; 1087) fort.

328

Ch.

Ph.

Χο.

Φι.

Kommos: 1093–1103

scheue (Vögel) durch die helltönende Luft dahin; festhalten kann ich sie nicht mehr. Du selbst, d u hieltest es so für richtig, du schwer vom 1095/6 Schicksal Geschlagener, nicht anderswoher bist du durch dieses Geschick gefangen, 1097/8 von einer größeren (Macht), da du, als es dir freistand, zur Vernunft zu kommen, es vorzogst, statt eines besseren Loses das schlechtere anzunehmen. 1100/1 Unglücklich, unglücklich bin ich also und von Mühsal gequält, der ich nun πτωκάδες ὀξυτόνου διὰ πνεύµατος ἐλῶσιν· οὐκέτ’ ἴσχω. σύ τοι, σύ τοι κατηξίωσας, ὦ βαρύποτµ’, οὐκ ἄλλοθεν ἔχῃ τύχᾳ τᾷδ’, ἀπὸ µείζονος, εὖτέ γε παρὸν φρονῆσαι λωίονος δαίµονος εἵλου τὸ κάκιον αἰνεῖν. ὢ τλάµων τλάµων ἄρ’ ἐγὼ καὶ µόχθῳ λωβατός, ὃς ἤ-

Gegenstrophe 1

1095/6 1097/8 1100/1 ἀντ. αʹ

1093 πτωκάδες Hss. : πτωχάδες, πτωµάδες, πρωτάδες, δροµάδες (variae lectiones in einigen Hss.) –πτωκάδες ist entweder Adjektiv und man muss ὄρνιθες ergänzen (Radermacher 1911 z. St.) oder ist hier Substantiv (vgl. zu Letzterem Günther 1996, 137). 1094 ἐλῶσιν Erfurdt : ἕλωσί µ᾿ Hss. : ἅλωσιν Jeep | οὐκέτ’ ἴσχω Dissen : οὐ γὰρ ἔτ᾿ ἰσχύω Hss. : οὐκέτ’ ἰσχύς Günther (nach Blaydes 1870 z. St.) 1095–1097 In der überlieferten Form korrespondieren diese Verse und die vv. 1116–1118 nicht, sodass an wenigstens einer Stelle geändert werden muss: Das doppelte σύ τοι (1095) passt gut zur vorwurfsvollen Haltung des Chors, und insgesamt wirkt der Text der vv. 1095–1097 nicht anstößig (vgl. Wilamowitz 1923, 113; anders Willink 2003, 92 f.), was nahelegt, eher in der Gegenstrophe zu ändern. Wirkliche Sicherheit ist allerdings nicht zu erreichen. Problematisch bleibt die metrische Analyse der vv. 1097/8 und 1118/9. 1095 σύ τοι σύ τοι (Hss.) : σύ τοι – vgl. zu 1095– 1097. 1096 βαρύποτµ’ Erfurdt : βαρύποτµε Hss. – vgl. zu 1097. 1097 οὐκ (Hss.) : κοὐκ +Wecklein – das Asyndeton lässt den Gegensatz schärfer hervortreten, ist allerdings mit der Änderung in v. 1096 verbunden. | ἄλλοθεν ἔχῃ τύχᾳ τᾷδ᾿ Hss. : ἄλλοθεν ἁ τύχα ἅδ’ Dindorf : † ἄλλοθεν … (1098) µείζονος † Dawe – der überlieferte Text kann ohne größere Änderungen verstanden werden; vgl. Übers. u. Komm. 1099 εὖτέ γε] ~ quandoquidem (K.-G. II 177 c). 1100 λωίονος Bothe : τοῦ λῴονος Hss. : λῴονος ἐκ Pearson : τοῦ πλέονος Hermann (πλείονος Scholion) – τοῦ λῴονος wäre nur zu halten, wenn es ‒ ⏑ ⏑ ‒ skandiert werden könnte, aber die Kürzung von ω vor ο ist in der Tragödie unbelegt (vgl. Jebb); daher bietet sich Bothes Konjektur an, um Responsion mit v. 1121 herzustellen. | λωίονος δαίµονος] gen. comparationis bei einem Verb des Vorziehens (K.-G. I 393, αἱρέοµαι ~ προαιρέοµαι). | αἰνεῖν Hermann : ἑλεῖν Hss. : ἀντλεῖν B. Arnold – ἑλεῖν ergibt keine Responsion mit v. 1122 und wäre neben εἵλου ohnehin merkwürdig. 1102 ὢ : ὦ (Hss.) – zum Akzent vgl. zu 254. | τλάµων τλάµων : τλῆµον τλῆµον – dorische Dialektfärbung. | ἄρ’] zur Funktion vgl. zu 1083.

Kommentar

329

1093 ‚helltönende Luft‘: Gemeint ist entweder das Rauschen des Windes oder auch das Geräusch des Flügelschlags (vgl. Jebb). 1094 Wie man auch den Vers versteht (vgl. zu 1092–1094), auf jeden Fall ist die Klage über die nun gegebene Unmöglichkeit, Tiere zu erjagen, hier – anders als vv. 955 f. – auf die Vögel beschränkt. 1095 ‚Du selbst, d u ‘: Durch das im Griechischen nicht notwendige Personalpronomen sowie dessen Anfangsstellung und Verdoppelung (sy toi, sy toi) macht der Chor die seiner Meinung nach alleinige Verantwortung Philoktets für seine jetzige Situation überdeutlich, obwohl er in seiner Anrede (1096) die Schwere von Philoktets (bisherigem) Schicksal anerkennt. 1098 ‚einer größeren (Macht)‘: Im Griechischen steht lediglich ‚von etwas Größerem‘, womit der Chor im Unbestimmten bleibt, jedoch eine göttliche Sphäre andeutet, die ein Geschick (tychē) verhängen könnte. 1099 ‚Vernunft‘: Der Chor hält zwar Philoktet zugute, dass er wegen seines Schicksals bedauernswert ist (1096), wobei er vermutlich vor allem an sein Leid auf Lemnos denkt, wirft ihm aber vor, dass seine jetzige Lage nicht schicksalsbedingt sei, sondern durch die vernünftige Entscheidung, mit nach Troia zu gehen, vermieden werden könnte. Er blendet dabei aus, welchen Anteil die Atreus-Söhne und Odysseus an der seinen Tod in Kauf nehmenden Aussetzung haben und an dem Verlust des Bogens, wodurch Philoktet auf Lemnos dem Hungertod preisgegeben ist. 1100 ‚Loses‘: Im griechischen Text steht daimōn, womit ganz allgemein ein Gott oder Götter bezeichnet werden können (im Philoktet 447; 462; 1116; 1468), aber auch die persönlich zugeordnete schicksalsbestimmende Macht, das eigene Schicksal oder Los (1186); vgl. Ai. 534 (dazu Kamerbeek 1953 z. St.); OT 1194. 1102–1122 (Gegenstrophe 1) Philoktet setzt seine Klage fort, ohne auf die Worte des Chores einzugehen. Seine Vergegenwärtigung der zukünftigen Notlage, in die man ihn durch die Wegnahme des Bogens, seiner Lebensgrundlage, gebracht hat, führt ihn zu einer Verfluchung des Urhebers der betrügerischen Intrige, wofür der Chor jede Verantwortung von sich weist und den Fluch lieber auf andere gelenkt wissen will. 1103–1106 Die Häufung der Zeitadverbien signalisiert das Bedrückende von Gegenwart und Zukunft: ‚nun‘ (1103) bezeichnet die Situation, in der er sich sieht, ‚künftig‘ (1104) weist auf die Verlassenheit, wenn die Griechen wieder abgefahren sind, ‚weiterhin‘ (1105) auf das elende Leben, in dem er schließlich zugrunde gehen wird (1105 f.); vgl. Schein.

330

Kommos: 1104–1115

künftig ohne einen Menschen weiterhin in meinem Elend hier wohnend zugrunde gehen werde, aiai aiai, nicht mehr fähig, Nahrung herbeizuschaffen, nicht durch meinen Bogen mit gefiederten Pfeilen in den starken Händen; doch undurchsichtige, trügerische Worte einer listigen Seele schlichen sich bei mir ein; und ich möchte den sehen, der sich das ausgedacht hat, wie ihm ebenso lange Zeit meine Qualen zuteilwerden. δη µετ’ οὐδενὸς ὕστερον ἀνδρῶν εἰσοπίσω τάλας ναίων ἐνθάδ’ ὀλοῦµαι, αἰαῖ αἰαῖ, οὐ φορβὰν ἔτι προσφέρων, οὐ πτανῶν ἀπ’ ἐµῶν ὅπλων κραταιαῖς µετὰ χερσὶν ἴσχων· ἀλλά µοι ἄσκοπα κρυπτά τ’ ἔπη δολερᾶς ὑπέδυ φρενός· ἰδοίµαν δέ νιν, τὸν τάδε µησάµενον, τὸν ἴσον χρόνον ἐµὰς λαχόντ’ ἀνίας.

1105

1110

1115

1105

1110

1115

1105 ἀνδρῶν Hss. : φωτῶν Meineke – ἀνδρῶν bietet kein metrisches Problem, wenn man die letzte Silbe von ὕστερον (1104) als brevis in longo auffasst. 1109 πτανῶν : πτανὸν – πτανῶν ist syntaktisch und metrisch geboten. 1110 µετὰ] mit Dativ ‚zwischen‘, ‚in‘ (K.G. I 507, II). | ἴσχων] sc. αὐτά, zu ergänzen aus ὅπλων (1109). 1111 ἄσκοπα Hss. : ἄψοφα (varia lectio bei Trikl. und in Scholien) – ἄψοφα wird vom Scholion als Metapher für λαθραῖα verstanden, aber dieser Aspekt ist schon durch κρυπτά (1112) ausgedrückt. 1112 ὑπέδυ] Dativ (µοι, 1111) wäre nicht ungewöhlich, wenn die Bedeutung wäre ‚kam mir in den Sinn‘ (wie Homer, Odyssee 10,398). „But here the sense is ‘beguiled,’ for which we should have expected the acc., … The explanation may be that the sense, ‘beguiled,’ is here derived from the sense, ‘insinuated themselves into my mind.’ “ (Jebb). 1113 ἰδοίµαν] Medium wie 351. 1115 ἐµὰς : ἐµᾶς : ἐµοὶ (zweifelnd) Blaydes – der (Akk.) Plural ist emphatischer als der (Gen.) Singular (für den sich Dawe entscheidet).

Kommentar

331

1108–1109 Die jeweils am Anfang der metrisch gleich gebauten Verse (Glykoneen) stehenden Negationen betonen auch formal, worin sich Philoktet jetzt beeinträchtigt sieht, wobei das Fehlen des Bogens die Unmöglichkeit, Nahrung zu beschaffen, bedingt. 1108 ‚Nahrung‘: vgl. zu 43. 1109 ‚durch meinen Bogen mit gefiederten Pfeilen‘, wörtl. ‚durch gefiederte Waffen‘: Zu den Pfeilen vgl. auch 105; 198. 1110 ‚in den starken Händen‘, wörtl. ‚(den Bogen) in starken Händen haltend‘. Im Griechischen wird nicht ausgedrückt, was Philoktet nicht (mehr) ‚hält‘, ist aber aus v. 1109 gedanklich zu ergänzen. ‚Händen‘: vgl. zu 655. 1111 ‚doch‘: Der an sich positiv besetzten Vorstellung des Bogens in den Händen setzt Philoktet entgegen, wie und durch wen es dazu kam, dass er ihn nicht mehr hat. ‚undurchsichtige‘: Das griechische Adjektiv askopos bedeutet in passivem Gebrauch eigtl. ‚unsichtbar‘. D. h., die Wahrheit war ‚verschleiert‘. Diese Auffassung liegt näher als die Deutung des Scholions: ‚unvermutet, listig, was man nicht vorhersehen kann‘. 1112 ‚trügerische‘, wörtl. ‚verborgene‘ (kryptos): Der wahre Sinn war unter den trügerischen Worten verborgen. 1112–1115 ‚einer listigen Seele‘: Die Worte kamen zwar aus dem Mund des Neoptolemos, sodass Philoktet auch ihn meinen könnte, doch personal ist er ganz auf den Urheber des listigen Betrugs, Odysseus, fixiert (‚den‘, 1113; vgl. 978–980), dem allein der Rachewunsch gilt. 1114 Zum Motiv der gleichen Dauer der Vergeltung beim Racheverlangen vgl. 795. Dort nannte er (auf Agamemnon und Menelaos bezogen) konkret seine Krankheit, die sie ebenso lange erleiden sollten wie er, hier spricht er weniger spezifisch von seinen ‚Qualen‘.

332 Ch.

Kommos: 1116–1124

Als Schicksal, ⟨Schicksal⟩ von den Göttern ist das über dich gekommen, nicht als Trug von mir; den fürchterlichen, unglückbringenden Fluch richte auf andere. Denn wirklich liegt mir daran, dass du meine Freundschaft nicht zurückweist.

Ph.

Weh mir, weh! Und vermutlich sitzt er am grauen Strand des Meeres

Χο.

πότµος, ⟨πότµος⟩ σε δαιµόνων τάδ’, οὐδὲ σέ γε δόλος ἔσχεν ὑπὸ χειρὸς ἁµᾶς· στυγερὰν ἔχε δύσποτµον ἀρὰν ἐπ’ ἄλλοις. καὶ γὰρ ἐµοὶ τοῦτο µέλει, µὴ φιλότητ’ ἀπώσῃ.

Φι.

οἴµοι µοι, καί που πολιᾶς πόντου θινὸς ἐφήµενος

1116/7 1118/9 1119/20 1121/2 Strophe 2

1116/7 1118/9 1119/20 1121/2 στρ. βʹ

1116 πότµος ⟨πότµος⟩ Erfurdt : πότµος Hss. – die Responsion mit v. 1095 verlangt hier eine Ergänzung; die Verdoppelung von πότµος passt formal gut zum doppelten σύ τοι (1095) und verstärkt nachdrücklich die Rechtfertigung des Chors (vgl. Komm. zu 1116–1122). Die Konstruktion ist wohl so, dass τάδ’ (zu dem in der Figur der Versparung [Kiefner 1964, 87 f.] bereits ἔσχεν [1118] zu ergänzen ist) als Subjekt und πότµος als Prädikativum fungiert (wie Aisch. Pers. 750 f. τάδ᾿ … νόσος), weniger wahrscheinlich, dass πότµος Subjekt wäre und τάδ’ adverbieller Akkusativ. | γε : Ø – γε schließt sich an das Personalpronomen an, verstärkt aber nicht dieses, sondern die negative Aussage (GP 122). 1118 ἔσχεν ὑπὸ χειρὸς ἀµᾶς Bergk (besser ἁµᾶς, West 1990, xxx) : ἔσχ᾿ ὑπὸ χειρὸς ἐµᾶς Hss. – die Änderungen stellen die Responsion mit v. 1097 her. | χειρὸς] zu χείρ als selbstständig handelnder (für die Person eintretender) Größe vgl. LSJ s. v. III. 2 mit Verweis u.a. auf Homer, Ilias 13,77; Soph. Ai. 50. 1120 ἀρὰν : ἀρὰν ἀρὰν (Hss.) – Responsion mit v. 1099. 1122 µὴ] ~ ὅπως µὴ, der Satz erklärt τοῦτο (1121). 1123 οἴµοι µοι (Hss.) : οἴµοι οἴµοι Trikl. | που] der spekulative Charakter der Äußerung legt nahe, που im Sinn von ‚vielleicht‘, ‚ich vermute‘ (LSJ s. v. II) und nicht lokal aufzufassen.

Kommentar

333

1116–1122 Obwohl er weder unmittelbar angesprochen noch gemeint war, fühlt sich der Chor von Philoktets Klage über die Intrige und seiner Verwünschung ihres geistigen Urhebers betroffen. Daher will er, um den Vorwurf von sich abzuwenden, das Vorgehen, an dem er faktisch beteiligt war, als durch Götterwillen bestimmt rechtfertigen. Wenn er allerdings Philoktet auffordert, den Fluch auf andere zu richten (1119 f.), impliziert er neben den Göttern eine menschliche Beteiligung (durch andere). Wer die anderen sind, die (Mit-)Verantwortung haben könnten, lässt der Chor offen; sich selbst hält er jedenfalls für unschuldig und versucht, sich als wohlwollender Freund anzunähern (1122). 1116 ‚Schicksal‘: Da der Chor den Fluch von sich abwenden will, der aus Philoktets Vergegenwärtigung der Intrige erwachsen ist, kann man annehmen, dass sich das hier vom Chor genannte, von den Göttern gesandte Schicksal insbesondere auf das Ziel der Intrige, nämlich dass Philoktet nach Troia kommen solle, bezieht (vgl. 610–613; 989 f.; auch 922 mit Komm.), weniger auf das durch den Schlangenbiss verursachte bisherige Leid auf Lemnos (was Kamerbeek erwägt). Mit seiner Einschätzung denkt der Chor ganz vom göttlich sanktionierten Ziel her und blendet die Mittel aus, mit denen es zu erreichen versucht wurde. 1118 ‚von mir‘, wörtl. von ‚meiner Hand‘: ‚Hand‘ kann für die handelnde Person stehen; vgl. TS. 1119/20 ‚auf andere‘: Auf wen der Chor den Fluch gerichtet sehen will, ist nicht sicher festzulegen, vermutlich denkt er an Odysseus, den Urheber der Intrige, den auch Philoktet als solchen erkannt (978 f.) und beim Fluch gemeint hatte (1113–1115). 1122 ‚zurückweist‘, wörtl. wegstößt: Die Freundschaft wird wie eine Person angesehen, die man wegstoßen kann. 1123–1145 (Strophe 2) Auch in dieser Strophe fährt Philoktet fort, als ob der Chor nichts gesagt hätte. Er knüpft an die Verwünschung des Odysseus (1113–1115) an und malt sich aus, wie dieser mit dem Bogen in der Hand über ihn triumphiert. Das leitet über zu einer Apostrophe an den personal gedachten Bogen (vgl. die Apostrophen 952 ff.; 1004 f.; 1081 ff.), der voll Mitleid ‚sieht‘, wie ein anderer ihn besitzt und wie schändlich Philoktet betrogen wurde (1123–1139). Diese Vorwürfe gegen einen, der sich für die Gemeinschaft eingesetzt habe, weist der Chor als unangemessen zurück (1140–1145). 1123 ‚sitzt er‘: Der in den vv. 1113–1115 Gemeinte, d. h. Odysseus, hat sich mit dem Bogen, wie Philoktet es sich vorstellt, am Meer niedergelassen. Dem Handlungsablauf nach denkt Philoktet vielleicht an die Zeit des Wartens bis zur Abfahrt des Schiffes (1076 f.). Vgl. Campbell 1881 zu v. 1124. Seine Annahme, der Bogen sei jetzt bei Odysseus, mag auch dadurch bedingt sein, dass er miterlebte, wie sich Neoptolemos dem Willen des Odysseus fügte. 1124 (griechischer Text: 1123 f.) ‚am grauen Strand des Meeres‘: Die Farbbezeichnung (polios) benennt eher etwas Weißlich-Graues (wie bei grauen Haaren). Üblicherweise wird nicht der Strand, sondern das Meer selbst so bezeichnet (z. B. Homer, Ilias 1,350; Soph. Ant. 334 f.). Möglich, dass der Dich-

334

Kommos: 1125–1135

und lacht über mich, schwingt mit der Hand 1125 meinen Bogen, der mich Elenden ernährte, den kein anderer jemals getragen hat. Du, mein Bogen, du aus meinen Händen mit Gewalt entwundener, gewiss – glaube ich – siehst du voll Mitleid, wenn du irgendwie 1130 empfinden kannst, dass der Freund des Herakles, der so unglückliche, dich künftig nicht mehr in Gebrauch 1132/3 haben wird, sondern du durch Wechsel (des Besitzers) von den Händen eines ‚erfindungsreichen‘ Mannes geführt wirst; 1135 γελᾷ µου, χερὶ πάλλων τὰν ἐµὰν µελέου τροφάν, τὰν οὐδείς ποτ’ ἐβάστασεν. ὦ τόξον φίλον, ὦ φίλων χειρῶν ἐκβεβιασµένον, ἦ που ἐλεινὸν ὁρᾷς, φρένας εἴ τινας ἔχεις, τὸν Ἡράκλειον ἄθλιον ὧδέ σοι οὐκέτι χρησόµενον τὸ µεθύστερον, ἀλλ’ ἐν µεταλλαγᾷ ⟨χεροῖν⟩ πολυµηχάνου ἀνδρὸς ἐρέσσῃ,

1125

1130 1132/3 1135

1125 µου Hss. : µοι  Cavallin – Dativ wäre bei γελᾶν üblich, aber das Verb steht vermutlich prägnant für καταγελᾶν. | χερὶ : χειρὶ – χερὶ ist metrisch notwendig. 1126 ἐµὰν µελέου] zur Kombination von Possessivpronomen und possessivem Genitiv vgl. OC 344 τἀµὰ δυστήνου κακά. 1127 τὰν] ist als Relativpronomen gebraucht, K.-G. I 587 f. | οὐδείς ποτ’ (Hss.) : οὐ δήποτ᾿ Trikl. – οὐ δήποτ᾿ würde bedeuten, dass Odysseus den Bogen noch nie in der Hand hatte; darum kann es aber nicht gehen. 1130 ἦ που] „Here [sc. bei der Kombination ἦ που] the hesitation implied by που imposes a light check on the certainty implied by ἦ.“ (GP 286). | ἐλεινὸν Brunck : ἐλεεινὸν Hss. – ἐλεινὸν ist (die metrisch gebotene) attisch-tragische Form, hier in aktivischer Bedeutung. 1132 ἄθλιον : ἆθλον : ἄρθµιον Erfurdt : † ἄθλιον † Dawe – τὸν Ἡράκλειον (1131) ist als ‚der zu Herakles Gehörige‘, ‚Mann des Herakles‘ verständlich und braucht nicht ἄρθµιον als Stützwort (vgl. Stinton 1977, 136); ebenso ist es unanstößig, wenn sich Philoktet als ἄθλιον ὧδέ bezeichnet (vgl. 1038). 1134 ἀλλ’ Hss. : ἄλλου δ᾿ Hermann | ⟨χεροῖν⟩ Stinton (nach Hartung) – s. ETS, S. 442. 1135 ἐρέσσῃ Hss. : ἑλίσσῃ Wecklein – zur Semantik von ἐρέσσῃ vgl. Komm.

Kommentar

335

ter hier den durch die Schaumkronen der Brandung ‚grauen‘ Strand meint (vgl. zur sprachlichen Auffassung Kamerbeek). Es könnte aber auch der Fall vorliegen, dass das Attribut grammatisch statt auf den abhängigen Genitiv auf das regierende Substantiv bezogen ist, weil beides als Einheit betrachtet wird (K.-G. I 263 Anm. 2 und in der Regel die Kommentatoren). Dann würde man ‚am Strand des grauen Meeres‘ übersetzen. 1125 ‚lacht über mich‘: vgl. 1023 und zu 258. ‚schwingt mit der Hand‘: sc. ‚meinen Bogen‘ (vgl. zu 1126). Das griechische Wort (pallein) wird sonst in Bezug auf das Schwingen von Wurfgeschossen vor dem Wurf verwendet. An welche Bewegung Philoktet denkt, ist unklar, aber auf jeden Fall unterstellt er, dass der sitzende Odysseus den Bogen nicht in sachgerechter Weise in der Hand hält oder benutzt. 1126 ‚meinen Bogen, der mich Elenden ernährte‘, wörtl. ‚meine, des Elenden, Nahrung‘: ‚Nahrung‘ steht für das, womit Philoktet sich die Nahrung verschafft, den Bogen (vgl. 287–292; 953–956). Ähnlich 1282 f., wo in der Formulierung, dass Neoptolemos Philoktet das Leben geraubt habe, ‚Leben‘ statt des lebenserhaltenden Bogens gebraucht ist. Schein verweist auf v. 953, aber dort ist ‚Nahrung‘ nicht so unmittelbar mit dem Bogen identifiziert wie hier. In Verbindung mit der Vorstellung vom bloßen, nicht zielgerichteten ‚Schwingen‘ des Bogens zeugt die Aussage Philoktets von äußerster Bitterkeit. 1127 ,kein anderer‘, wörtl. ‚niemand‘: Dass niemand (sc. außer Philoktet) den Bogen vorher getragen habe, ist eine aus dem wütenden Schmerz resultierende hyperbolische Feststellung, da außer Philoktet den Bogen zuvor Herakles getragen hat und nach ihm schon Neoptolemos ihn in der Hand hatte. 1128 ‚mein (philon) … meinen (philōn)‘: philos (‚lieb‘) ist affektiver als ‚mein‘, aber ‚lieb‘ in Bezug auf Bogen und eigene Hände klingt im Deutschen etwas befremdlich. Zum affektiven Verhältnis zu den Händen vgl. auch 1004. 1129 ,mit Gewalt‘: Tatsächlich hatte Philoktet den Bogen Neoptolemos übergeben (762–766), aber die anschließende Verweigerung der Rückgabe verdichtet diesen Vorgang zu einer gewaltsamen Wegnahme. 1130–1131 ‚wenn du empfinden kannst‘, wörtl. ‚wenn du irgendwelche phrenes hast‘, d. h. in deinem Inneren ein Organ, das zu Wahrnehmung und Empathie in der Lage ist. Ein gewisser Vorbehalt gegenüber der Personalisierung des Bogens wird hier spürbar. 1131 ‚Freund des Herakles‘, wörtl. ‚der Herakleische‘: Vermutlich denkt Philoktet an seine Entzündung des Scheiterhaufens (vgl. zu 801–803). Es könnte auch eine Anspielung auf seine Teilnahme am ersten Troia-Zug (mit Herakles) vorliegen. Vgl. Einf. S. 6 Anm. 16; Stinton 1977, 136 mit Anm. 38. 1132–1133 Es handelt sich um dramatische Ironie, denn dem Zuschauer dürfte aus den bisherigen Textinformationen und seiner wahrscheinlichen Kenntnis des Troia-Mythos klar gewesen sein, dass es keinen dauerhaften ‚Wechsel‘ des Besitzers geben wird; vgl. Pindar, Pythien 1,53–55 (Ussher). 1135 ‚ ‚erfindungsreichen‘ ‘: Philoktet meint Odysseus und ‚zitiert‘ die Ilias (2,173) und – anachronistisch – die sagenchronologisch spätere Odyssee, wo ‚erfindungsreich‘ (polymēchanos, 1,205 und öfter) ein positives Epitheton

336

Ch.

Χο.

Kommos: 1136–1143

da siehst du schändlichen Betrug und einen verhassten, feindseligen Mann, unzählige schlimme Dinge, von schändlichem Ursprung, die dieser gegen uns ersonnen hat. Ein Mann darf sein Recht vertreten, aber wenn er es getan hat, dann soll er nicht hasserfüllte Kränkungen ausstoßen. Denn jener wurde als einer von vielen ὁρῶν µὲν αἰσχρὰς ἀπάτας, στυγνόν τε φῶτ’ ἐχθοδοπόν, µυρί’ ἀπ’ αἰσχρῶν ἀνατέλλονθ’, ὅσ᾿ ἐφ’ ἡµῖν κάκ’ ἐµήσατ’ οὗτος. ἀνδρός τοι τὸ µὲν ὃν δίκαιον εἰπεῖν, εἰπόντος δὲ µὴ φθονερὰν ἐξῶσαι γλώσσας ὀδύναν. κεῖνος δ’ εἷς ἀπὸ πολλῶν

1140

1140

1136 ὁρῶν] Nominativ des Neutrums (zu τόξον, 1128); davon hängen ab (1) ἀπάτας, (2) φῶτ’ (1137) und asyndetisch (vgl. K.-G. II 345 ε) als zusammenfassende Erklärung des Vorausgehenden, (3) µυρί’ … ἀνατέλλονθ’ … κάκ’ (1138 f.). | µὲν] das eigentlich hinter αἰσχρὰς stehen müsste (vgl. zu 279), gefolgt von τε (1137), vgl. zu 1056. 1137 τε Hss. : δὲ Turnebus – vgl. zu 1136. 1138–1139 das hier unmetrische Wort Ὀδυσσεύς (1139) ist sicher eine eingedrungene Randnotiz, die οὗτος (Campbell) erklärt haben könnte; bei dieser Annahme ist ἀνατέλλονθ’ nicht transitiv auf φῶτ’ (1137), sondern intransitiv (vgl. OC 1246) auf µυρί’ … κάκ’ zu beziehen. 1138 µυρί’ ἀπ’ Hss. : µυρία τ᾿ Fröhlich | αἰσχρῶν Hss. : (µυρία δ᾿) ἀθρῶν Kaibel 1139 ὅσ᾿ (Hss.) : ὅσσ᾿ Trikl. : ὃς +Bothe | οὗτος Campbell : Ὀδυσσεύς Hss. : ἔργων Blaydes : ὦ Ζεῦ Dindorf : οὐδεὶς Arndt : † Ὀδυσσεύς † Dawe 1140 ἀνδρός] sc. ἐστιν. | ὃν Kells 1963, 7 f. : εὖ (teilw. nach δίκαιον) Hss. : οὗ (‘sui’) Brooks : οὗ (‘ubi’) bereits Palmer – das überlieferte εὖ ergibt keinen plausiblen Sinn (vgl. bes. Jebb; anders Masaracchia 1984; Pucci); einleuchtend ist die Konjektur von Kells (vgl. auch Ll.-J./W.1), der auf Tr. 266 (possessiver Gebrauch von ὅν) und für τὸ δὶκαιον (Recht im Sinn von ‚Rechtsanspruch‘, LSJ s. v. B. I. 2) mit Possessivpronomen auf Eur. IA 810 verweist. 1143 δ’] zur Funktion vgl. zu 741.

Kommentar

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des Odysseus ist, der sich in allen Lagen zu helfen weiß. Entweder gebraucht Philoktet den Ausdruck ironisch, denn welcher Art die ‚Erfindungen‘ sind, wird gleich deutlich (1136 ff.), oder das Wort selbst hat hier eine andere, pejorative Bedeutung. Das wäre von der Wortzusammensetzung her möglich, denn der Bestandteil mēchanē kann auch ‚List‘, ‚Ränke‘ bedeuten. ‚geführt wirst‘: Das griechische Wort (eressein) bedeutet eigentlich ‚rudern‘, kann aber auch übertragen u. a. für andere Bewegungsvorgänge verwendet werden, kommt allerdings nur hier in Bezug auf einen Bogen im Sinne von ‚handhaben‘ vor (wie nōmaein, Homer, Ilias 5,594); vgl. Jebb; Schein. 1136–1139 ‚schändlichen Betrug‘: Damit ist die Intrige gemeint, die Philoktet auf Odysseus zurückgeführt hat (978 f.); auch wenn noch die Aussetzung hinzukommt, ist die Angabe ‚unzählige schlimme Dinge‘ als hyperbolischer Ausdruck zu verstehen, entsprechend zu der früher geäußerten Furcht vor dem Einfallsreichtum des Odysseus (633 f.). 1140–1145 Für den Chor steht es einem Mann (d. h. auch Philoktet) zu auszusprechen, was er als sein Recht ansieht, der Chor sieht ihn aber nicht berechtigt, darüber hinaus andere zu schmähen, die in der Sicht des Chors im Interesse der Gemeinschaft gehandelt haben. Damit meint er das Bestreben des Odysseus, im Interesse aller Philoktet und den Bogen nach Troia zu bringen. 1142 ‚Kränkungen ausstoßen‘, wörtl. ‚herausstoßen (sc. wie einen Stachel) einen Schmerz, (der) von der Zunge (ausgeht)‘. 1143–1145 Nach dem überlieferten Text gibt es zwei Demonstrativpronomina in diesem Satz, wobei unklar ist, wer mit ‚jener‘ (1143) und wer mit ‚diesem (da)‘ (1144) gemeint ist. Die vorher genannten ‚Kränkungen‘ (1142) beinhalten sicher das, was Philoktet in den vv. 1135–1139 über Odysseus gesagt hat. Von daher läge es am nächsten, unter ‚jener‘ Odysseus zu verstehen, der vom Chor in Schutz genommen würde. Doch dann ist das deiktische Pronomen ‚dieser‘ (1144) unverständlich, denn wer sollte der sein, der Odysseus den Auftrag gegeben hat? Soll ‚jener‘ Odysseus bezeichnen, muss man in v. 1144 den Text ändern, etwa zu ‚beordert zu diesem Auftrag‘ (vgl. TS zu 1144). Hält man den Text (wie in der Übersetzung; vgl. Kamerbeek; Ll.-J./W., Pucci), bezieht sich ‚jener‘ (1143) auf (den abwesenden) Neoptolemos, ‚dieser‘ (1144) auf Odysseus, wobei sich das deiktische Pronomen damit erklärt, dass von ihm zuletzt die Rede war (vgl. auch Schein, der aber die Bezüge letztlich offenlässt). Der verbindende Gedanke könnte sein, dass Philoktet davon gesprochen hatte, aus dem, was Odysseus ersinne, gehe Schlimmes hervor, und der Chor, der aus Leuten des Neoptolemos besteht, darin auch eine Kritik an seinem Herrn erkennt, der den Bogen für die Griechen in Besitz genommen hat. Da die Tat vom Chor insgesamt als hilfreich für die Gemeinschaft eingestuft wird, entlastet er zugleich den unmittelbaren Auftraggeber. Damit bekennt er sich – wie Odysseus – zu dem Prinzip, dass der Zweck die Mittel heiligt. 1143 ‚als einer von vielen‘: Für die Durchführung des Intrigenplans des Odysseus kam niemand außer Neoptolemos in Frage. Gesagt werden soll wohl, dass er stellvertretend für die Gemeinschaft handelt; vgl. auch Schein.

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Kommos: 1144–1152

beordert durch den Auftrag von diesem und hat für die Freunde eine allen helfende Tat zustande gebracht. Ph.

Ihr Vögel, Ziele der Jagd, und ihr Scharen Gegenstrophe 2 von gierig blickenden wilden Tieren, ihr, die dieses Gebiet beherbergt, auf Bergen weidend, durch eure Flucht werdet ihr mich nicht mehr von meiner Behausung aus herankommen lassen; denn nicht halte ich in den Händen 1150 die Geschosse, früher meine Stärke, ich Unglücklicher jetzt! ταχθεὶς τοῦδ’ ἐφηµοσύνᾳ κοινὰν ἤνυσεν ἐς φίλους ἀρωγάν.

Φι.

1145

ὦ πταναὶ θῆραι χαροπῶν τ’ ἔθνη θηρῶν, οὓς ὅδ’ ἔχει χῶρος οὐρεσιβώτας, φυγᾷ µ᾿ οὐκέτ᾿ ἀπ’ αὐλίων πελᾶτ’· οὐ γὰρ ἔχω χεροῖν τὰν πρόσθεν βελέων ἀλκάν, ὢ δύστανος ἐγὼ τανῦν.

1145 ἀντ. βʹ

1150

1144 τοῦδ’ Hss. : τῶνδ᾿ Gernhard : τοῦτ᾿ Musgrave : τάνδ᾿ Blaydes | ἐφηµοσύνᾳ (Hss.) : εὐφηµοσύνᾳ  : εὐφηµοσύναν Trikl. : ὑφηµοσύνᾳ +Hermann : ἐφηµοσύναν Blaydes – vgl. Komm. zu 1143–1145. Wenn man den Text ändern will, ist mit Dawe die Konjektur von Blaydes (τάνδ᾿ ἐφηµοσύναν) der von Gernhard (τῶνδ᾿ unter Beibehaltung von ἐφηµοσύνᾳ) vorzuziehen, da nach κεῖνος, wenn damit Odysseus gemeint ist, das deikitische τῶνδ᾿ (sc. die Atreus-Söhne bzw. die Griechen) unmotiviert wäre. 1146 πταναὶ : πτηναὶ 1148 οὐρεσιβώτας (oder -βότας) (Hss.) : οὐρεσσιβώτας : οὐρεσιβάτας 1149–1150 φυγᾷ … πελᾶτ᾿] „non amplius fuga vestra me ab antro meo ad vos adducetis“ (Hermann 1824, 209; anders 1877, 198); vgl. Komm. 1149 φυγᾷ µ᾿ οὐκέτ᾿ Hss. : φυγᾷ µηκέτ’ Auratus | ἀπ’ αὐλίων] sonst (für Philoktets Behausung) im Singular (19; 954; 1087); Hermann 1839 verweist aber u.a. auf Eur. Cycl. 593, wo der (poetische) Plural für die Höhle des Kyklopen verwendet ist. 1150 πελᾶτ᾿ Hss. : ἐλᾶτ’ Canter : πηδᾶτ᾿ Jebb – Ll.-J./W1 erklären zu v. 1163 „πέλασσον … cannot mean ‘allow to come near’ “; vgl. aber Homer, Ilias 13,1, wozu LSJ s. v. Ζεὺς … Ἕκτορα νηυσὶ πέλασσεν einleuchtend wiedergibt mit „let him approach the ships“, was einer solchen Bedeutung zumindest nahekommt. 1151 πρόσθεν : πρόσθε – πρόσθεν ist metrisch notwendig. | βελέων ἀλκάν] gen. definitivus: die Stärke, die in den Geschossen besteht (Moorhouse 53 f.). | ἀλκάν Hss. : ἀκµάν Hermann – vgl. ‚Metrische Analysen‘, S. 451. 1152 ὢ editores : ὦ Hss. – zum Akzent vgl. zu 254.

Kommentar

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1145 ‚für die Freunde eine allen hilfreiche Tat‘, wörtl. ‚eine gemeinsame Hilfe für die Freunde‘: Daraus ergibt sich eine starke Entgegensetzung zu dem ,einen‘, der diese Leistung vollbracht hat (die darin besteht, den Bogen als Voraussetzung für die Eroberung Troias zu beschaffen). 1146–1168 (Gegenstrophe 2) Wieder geht Philoktet über die Äußerung des Chors hinweg und spricht nun, nach seinem Bogen, die Ziele seines Bogens bzw. der Pfeile an, Vögel und Wild, zu denen sich jetzt das Verhältnis gerade umkehren wird. Er kann sie mit seinen Pfeilen nicht mehr erjagen, sie aber können sich ihm gefahrlos nähern und Rache nehmen für die früher erlegten Tiere (der Vergeltungsgedanke war entsprechend schon 957–959 aufgekommen). Denn er werde nicht mehr lange leben, da er sich nicht mehr wie zuvor ernähren könne, sodass die Tiere sich an dem Toten sättigen können. – Angesichts dieser zugespitzt ausgemalten Zukunftsperspektive beschwört der Chor Philoktet geradezu flehentlich, sich auf ihn einzulassen: Es liege in seiner Hand, der todbringenden Krankheit zu entkommen. 1147 (griechischer Text: 1146) ‚gierig blickenden‘: Nach LfrgE s. v. ist die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes (charopos) ‚gieräugig‘, d. h. „mit gierigem Blick, wild“. Risch (1974, 172) erwägt für den Eigennamen Charops die Bedeutung ‚mit kampffreudigem Blick‘. Das würde sich gut zur Zusammensetzung des Wortes (aus den Stämmen für ‚freuen‘ und ‚blicken‘) fügen, ebenso wie zur Verwendung des Wortes als Epitheton für Löwen (Homer, Odyssee 11,611), und dazu passen, dass der waffenlose Philoktet die Tiere nun als Bedrohung empfindet (1155–1157). 1148 ‚auf Bergen weidend‘: Das griechische Adjektiv (ouresibōtas) kann als Akkusativ Plural auf die Scharen der Tiere bezogen werden (die sich auf den Bergen ernähren) oder als Nominativ Singular auf das Gebiet (das die Weide zur Verfügung stellt). Im ersten Fall ergibt sich im Griechischen eine gewähltere Wortstellung, aber die zweite Auffassung ist ebenfalls möglich. 1149–1150 Dem in der Übersetzung ausgedrückten, im Prinzip auf Gottfried Hermann zurückgehenden Verständnis des überlieferten Textes (vgl. TS) liegt die Vorstellung zugrunde, dass sich Philoktet nicht weit von seiner Behausung entfernen konnte und beim Jagen von wilden Tieren auf die angewiesen war, die sich zufällig seiner Höhle näherten, die aber – seiner ansichtig – flohen, jedoch mit seinen Pfeilen erreicht werden konnten; ‚herankommen‘ ließen sie ihn mit seinen Pfeilen, wie aus den vv. 1150 f. klar wird. Dieses nicht ganz einfache Verständnis wird meist zugunsten des durch die Konjekturen von Auratus und Canter (vgl. TS) geänderten Textes verworfen: ‚entfernt euch nicht mehr fliehend von euren Lagerstätten‘. Dabei wäre die ebenfalls nicht einfache Vorstellung vorausgesetzt, dass Philoktet trotz seiner Wunde am Fuß bisher das Wild – in den Bergen – in seinen Lagerstätten aufgestöbert und dann, wenn es floh, mit seinen Pfeilen erlegt hätte, und es würde eine Jagdmöglichkeit angenommen, die jedenfalls auf Vögel nicht gut passt. 1151 ‚die Geschosse, früher meine Stärke‘, wörtl. ‚die frühere Stärke der Geschosse‘: Philoktet beklagt, dass der Verlust des Bogens ihm seine frühere Macht, Tiere zu erjagen, genommen hat.

340

Kommos: 1153–1162

Auf, ungehindert – als Lahmer werde ich hier festgehalten, nicht mehr furchterregend für euch –, kommt, jetzt ist es günstig, Blut mit Blut vergeltend eure Mäuler nach Belieben zu sättigen an meinem fleckigen Fleisch. Das Leben werde ich nämlich gleich verlassen. Denn woher wird kommen, was ich zum Leben brauche? Wer kann sich so, von der Luft, ernähren, wenn er nicht mehr über irgendetwas verfügt, was von der lebenspendenden Erde kommt? ἀλλ’ ἀνέδην – ὅδε χωλὸς ἐρύκοµαι, οὐκέτι φοβητὸς ὑµῖν – ἕρπετε, νῦν καλὸν ἀντίφονον κορέσαι στόµα πρὸς χάριν ἐµᾶς ⟨γε⟩ σαρκὸς αἰόλας. ἀπὸ γὰρ βίον αὐτίκα λείψω· πόθεν γὰρ ἔσται βιοτά; τίς ὧδ’ ἐν αὔραις τρέφεται µηκέτι µηδέν τι κρατύνων, ὅσα πέµπει βιόδωρος αἶα;

1155/6

1160

1155/6

1160

1153 ἀνέδην (Hss.) : ἀναίδην – ἀναίδην ist eine Verschreibung für ἀνέδην. | ὅδε Hss. : ὅτε Wecklein | χωλὸς Porson : χῶρος Hss. : χωρὶς Headlam | ἐρύκοµαι Blaydes : ἐρύκεται Hss. : ἄρ᾿ οὐκέτι Jebb – die Überlieferung ἀνέδην ὅδε χῶρος ἐρύκεται wäre allenfalls zu halten, wenn ἀνέδην ‚nachlässig‘ heißen und χῶρος ἐρύκεται (sc. τῶν θηρῶν) verstanden werden könnte als θῆρες ἐρύκονται τοῦ χῴρου. Im Etymologicum Magnum (ed. Gaisford) steht zwar s. v. ἀνέδην: Σηµαίνει καὶ τὸ ἐκλελυµένως, jedoch scheint es für das sehr häufige Wort keinen diesbezüglichen Beleg zu geben, dass ἀνέδην also auch wie ἀνειµένως (LSJ: „carelessly“) verwendet werden könnte; daher ist ἀλλ᾿ (vgl. zu 230) ἀνέδην (in der üblichen Bedeutung) mit ἕρπετε (1155) zu verbinden. So (mit anderen) auch Schein, der jedoch ὅδε χῶρος ἐρύκεται verstehen will als „this place … wards off (enemies) for itself“. Aber das tut er ja gerade nicht (1155–1157), abgesehen von der Frage, ob ἐρύκεται wie (absolut gebrauchtes) ἐρύκει verwendet werden kann. Zwar ist es denkbar, dass übertragen der Platz selbst als einer, der zu fürchten ist, bezeichnet wird (1154), aber doch eher Philoktet mit seinen Geschossen. Das legt in v. 1153 die 1. P. nahe (ἐρύκοµαι, Blaydes) und entsprechend ὅτε χωρὶς (Wecklein, Headlam, Dawe) oder ὅδε χωλὸς (Porson, Ll.-J./W.). ὅτε χωρὶς drückt im Grunde den Gedanken doppelt aus, während ὅδε χωλὸς erklärt, warum Philoktet ohne Bogen die Tiere nicht erreichen kann. Wie Sophokles’ Text lautete, bleibt jedoch unsicher. 1155 καλὸν] Gebrauch wie bei ἐν καλῷ (χρόνῳ), vgl. LSJ s. v. II.1. 1156 κορέσαι : κορέσαι τε – hier mit Genitiv (σαρκὸς, 1157) statt des üblicheren Dativs. | πρὸς χάριν] vgl. LSJ s. v. πρός C. III. 7 „freq. periphr. for Adv.“. 1157 ἐµᾶς ⟨γε⟩ Ll.-J./W. : ἐµᾶς (Hss.) : τάσδ᾿ αἰόλας σαρκός (ohne ἐµᾶς) Trikl. : ἀµᾶς Blaydes : ἐν δαιτὶ Stinton 1977, 136 f. – vgl. zu 1134. 1158 ἀπὸ] in Tmesis zu λείψω; vgl. zu 817. 1158–1159 γὰρ … γὰρ] zur Häufung von γάρ bei Sophokles vgl. GP 58. 1160 ὧδ’ ἐν αὔραις] ἐν αὔραις bestimmt die Art und Weise (ὧδ’) näher. Mit ἐν kann die Ernährungsgrundlage benannt werden, vgl. z. B. Platon, Timaios 81 c 1 f. τεθραµµένης … ἐν γάλακτι. 1161 µηκέτι] Negation µή wegen der in der Frage implizierten generellen Feststellung (Moorhouse 332). | µηδέν τι Wecklein, Willink 2003, 94 : µηδενὸς Hss. – die Konjektur bewirkt eine genauere Responsion mit v. 1138; vgl. Willink a. O. u. zum Akkusativ nach κρατύνω LSJ s. v. II. 1162 ὅσα] bezieht

Kommentar

341

1153–1155 Sinngemäß dürfte Sophokles etwas Derartiges gemeint haben: Philoktet kann die Tiere nicht mehr (mit Pfeilen) erreichen, sie aber können seine Wehrlosigkeit auszunutzen, ihn zu bedrohen, wozu er sie geradezu auffordert. Der Text im Einzelnen ist sehr umstritten, und der hier aufgenommene Lösungsversuch kann Sicherheit nicht beanspruchen (vgl. TS). 1153 ‚Lahmer‘: Mit dem Ausdruck ‚lahm‘ hatte Philoktet schon in v. 1032 seine Bewegungseinschränkung bezeichnet. 1156 Die Blut-für-Blut-Vergeltung wird im Griechischen mit einem Wort desselben Wortstammes (antiphonon) ausgedrückt wie 959 (phonon phonou). Philoktet überträgt ein unter Menschen mögliches Vergeltungsschema (vgl. El. 248) analog auf das Verhältnis Tier – Mensch. Vgl. auch zu 959. 1157 ‚fleckigen Fleisch‘: Welche Bedeutung des Wortes aiolos genau gemeint ist, ist unsicher. Das griechische Wort kann einen schnellen Bewegungsvorgang (hier dann etwa ‚zuckend‘) oder eine vielgestaltige Erscheinung (‚vielfarbig‘, ‚schillernd‘) bezeichnen. Meist wird das Adjektiv auf die durch die Wunde fleckige Haut bezogen (von ‚bunt‘ wegen der Wunde spricht schon das Scholion). Andererseits begründet Philoktet, dass er zum Fraß der Tiere werde, mit seinem ‚gleich‘ eintretenden, durch Nahrungsmangel bedingten Tod (1158–1162), scheint also nicht anzunehmen, dass die Tiere bereits über den Lebenden herfallen. So ist es eher wahrscheinlich, dass proleptisch die Totenflecken des Verstorbenen gemeint sind; vgl. Chantraine 1968, 37 s. v.; Pucci. Auf jeden Fall geht Philoktet von einer Phase der Schwächung und des Verfalls aus, in der die Tiere Vergeltung üben können, wie auch immer die Fleckigkeit des Körpers genau zu verstehen ist. 1160 ‚von der Luft‘: Das griechische Wort (aura) bezeichnet die bewegte Luft (Brise) und hat damit die Konnotation des Vergeblichen, in der ‚Wind‘ (anemos) in griechischen Sprichwörtern vorkommt, z. B. ‚Wind mit dem Netz jagen‘ (CPG I 62,17). Vgl. Schein. 1159–1162 ‚lebenspendenden Erde‘: Nachdem sich Philoktet bisher von der Jagd ernährte (287 ff.; 710–712), fällt nach dem Verlust des Bogens umso mehr ins Gewicht, dass er sich auch nicht von Ackerbau ernähren kann (vgl. 706–709). Ohne seinen Bogen ‚spendet‘ ihm die Erde also nichts mehr, womit er sich am Leben erhalten könnte; vgl. Schein. Zu ‚lebenspendend‘ (biodōros) vgl. TS.

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Kommos: 1163–1170

Ch.

Bei den Göttern, wenn es etwas gibt, das du achtest, lass einen Fremden dir nahekommen, der sich dir mit allem Wohlwollen nähert; komm, erkenne es, erkenne es klar: Bei dir liegt es, 1165 deiner todbringenden Krankheit zu entkommen. Denn jammervoll ist es, sie zu nähren, und der kann nicht lernen, die unermessliche Last zu ertragen, mit dem sie zusammenwohnt.

Ph.

Wieder, wieder hast du mich an meinen alten Schmerz erinnert,

Χο.

πρὸς θεῶν, εἴ τι σέβῃ, ξένον πέλασσον εὐνοίᾳ πάσᾳ πελάταν· ἀλλὰ γνῶθ’, εὖ γνῶθ’· ἐπὶ σοὶ κῆρα τάνδ’ ἀποφεύγειν. οἰκτρὰ γὰρ βόσκειν, ἀδαὴς δ’ ὀχεῖν µυρίον ἄχθος ᾧ ξυνοικεῖ.

Φι.

πάλιν, πάλιν παλαιὸν ἄλγηµ’ ὑπέµνασας, ὦ

Epode 1170

1165

ἐπ. 1170

sich auf ein zu µηδέν τι (1161) zu ergänzendes πάντων. | πέµπει] zur Bezeichnung der Herkunft von etwas; vgl. Aisch. Pers. 34; Chadwick 1996, 235. | βιόδωρος αἶα] eine an das Epos erinnernde Junktur, vgl. Homer, Ilias 3,243 φυσίζοος αἶα (Pucci); das Wort selbst auch bei Aisch. F **168,17 Radt; Pindar, Paian IV (fr. 52 d,26 Maehler) = 9,26 Käppel; auf die Erde bezogen bei Artemidor, Onirocriticon 2,39. 1163–1164 εἴ … πελάταν] neben der im Komm. erläuterten Textauffassung (im Text durch Interpunktion markiert, so z. B. auch bei Kamerbeek, Dawe) vgl.: (a) εἴ τι σέβῃ ξένον, πέλασσον, εὐνοίᾳ πάσᾳ πελάταν (Jebb, Ll.J./W. [vgl. Ll.-J./W.1]; Avezzù [jedoch entspricht Cerris Übersetzung dieser Interpunktion nicht]). Dabei ist ξένον von σέβῃ abhängig (‚wenn du auch nur etwas Achtung vor einem Fremden hast‘), πέλασσον (intransitiv ‚nähere dich‘) eingeschoben und εὐνοίᾳ πάσᾳ πελάταν bestimmt ξένον näher. Durch πέλασσον wird Philoktet selbst zu einer wie auch immer gearteten Aktion aufgefordert. Da Philoktet bisher überhaupt nicht auf die Worte des Chors reagiert hat, passt „transitive-causative“ (Kamerbeek) πέλασσον besser zur Situation als ein intransitiv aufgefasstes. (b) εἴ τι σέβῃ ξένον, πέλασσον εὐνοίᾳ πάσᾳ πελάταν (Schein). Hier wird ξένον wie bei (a) bezogen, aber πέλασσον transitiv wie in dieser Ausgabe verstanden, jedoch erscheint die Logik ‚wenn du einen Fremden achtest, bringe dir einen nahe, der sich wohlwollend nähert‘ nicht plausibel. 1163 πέλασσον : πέλασον – vgl. auch zu 1150. 1165 ἐπὶ σοὶ Seyffert : ὅτι σοι Hss. : ὅτι σὸν Dindorf (Avezzù) – ὅτι σοι „could not mean ‘that is for thee,’ i.e. ‘in thy power.’ “ (Jebb); zu ἐπὶ σοὶ vgl. 1003. 1166 κῆρα] vgl. 42. | ἀποφεύγειν : ἀποφυγεῖν – metrisch ist ⏑⏑ ‒ ‒ erforderlich. 1167 οἰκτρὰ … βόσκειν] Subjekt κήρ (aus 1166), persönliche Konstruktion. 1167–1168 Die Konstruktion (bei Lesart ᾧ) ist: ⟨οὗτος⟩ δ᾿, ᾧ (κὴρ) ξυνοικεῖ, ἀδαής ⟨ἐστιν⟩ ὀχεῖν µυρίον ἄχθος (vgl. Kamerbeek, Ll.-J./W.1); anders Schein: „and [sc. κήρ] cannot be taught to bear the infinite burden with which it makes its home“. Jebb liest ὃ: „that dwell with it“. 1168 ὀχεῖν Trikl. : ἔχειν (Hss.) – zu ὀχεῖν (Frequentativum zu ἔχειν) vgl. LSJ s. v. I. 1. b „endure, suffer“. | ᾧ : ὃ – vgl. zu 1167–1168. 1169–1170 ἄλγηµ᾿] zu ἄλγηµα bei psychischem Schmerz vgl. Eur. F 507 Kannicht; Menander, fr. 848 K.-A.; auch Phil. 340 dürfte sich ἀλγήµαθ’ nicht nur auf physisches Leid beziehen. 1170 ὑπέµνασας (Hss.) : ὑπέµνασας µ᾿ Trikl.

Kommentar

343

1163–1168 Der Chor, der bisher bei Philoktet kein Gehör gefunden hat, beschwört ihn nun eindringlich, ihn, den Chor, der wohlwollend sei, an sich heranzulassen, natürlich, um ihm zu sagen, was er für richtig hält. Zwar hatte sich der Chor an der Intrige beteiligt und geht jetzt nicht darauf ein, dass die zugespitzte Lage, die Philoktet gerade beklagt hat, durch die Entwendung des Bogens erst geschaffen wurde, aber es ist wohl trotzdem nicht als Heuchelei aufzufassen, wenn er sich als wohlgesinnt betrachtet. Denn der Chor ist wie Neoptolemos (919 f.) davon überzeugt, dass Philoktet, wenn er mit nach Troia fährt, von seinem Leid befreit werden kann (1165), sodass die Fokussierung auf eine positive Zukunftsperspektive nicht nur Berechnung ist. Als Ziel nennt der Chor allerdings – taktisch geschickt – nur die Heilung, nicht Troia, dennoch rufen seine Worte sofort eine Abwehrreaktion Philoktets hervor (1169 ff.), der versteht, was der Chor sagen will (1174 f.); vgl. zu 915–916. 1163 ‚Fremden‘: Das griechische xenos (vgl. zu 232) tendiert in diesem Zusammenhang vielleicht eher zu ‚(Gast)Freund‘, weil der Chor eine positive Beziehung zu Philoktet aufbauen möchte. Vgl. Belfiore 1994, 126. 1167–1168 Zur Begründung, dass es von Philoktet selbst abhänge, geheilt zu werden (1165 f.), äußert der Chor sentenzhaft die Überzeugung, dass es nur Leid bedeute, eine solche Krankheit zu haben, und es unmöglich sei, die Last der Krankheit ertragen zu lernen, Philoktet allein also nicht in der Lage sein werde, seinen Zustand zu erleichtern. 1167 ‚nähren‘: vgl. 312 f. (auch 795, mit anderem griechischen Wort). 1168 ‚sie zusammenwohnt‘: Die Krankheit wird vom Chor ebenso wie von Philoktet (313; 758 f.) als selbstständig existierend vorgestellt. 1169–1217 (Epode) Auf diesen letzten dringlichen Appell des Chors (1163–1168) reagiert Philoktet schließlich, und es kommt zu einem – durch mehrfachen Sprecherwechsel innerhalb einzelner metrischer Einheiten als lebhaft gekennzeichneten – Dialog. Darin zeigt sich Philoktet hin- und hergerissen zwischen seiner vehement vertretenen Ablehnung, nach Troia zu gehen, und der Verzweiflung, alleingelassen zu werden, sodass er den Chor wegschickt, aber auch wieder zurückruft. Da er Verweigerung und Gesellschaft nicht zugleich haben kann, siegt der Todeswunsch. Völlig vernichtet begibt er sich in seine Höhle. 1169–1205 Der Chor kann sich selbst als Einheit oder Vielheit verstehen und wird auch von Philoktet entsprechend angeredet; vgl. zu 144. Hier gibt es einen mehrfachen Wechsel zwischen Singular und Plural. Singular: 1169– 1175; 1178 f.; 1182 f.; 1197; Plural: 1177; 1180 f.; 1184 f.; 1190; 1203; 1205. 1169 Philoktet antwortet emphatisch, was durch Wortwiederholung und Alliteration auch akustisch vermittelt wird (palin, palin palaion; 1169). 1169–1172 ‚meinen alten Schmerz‘: Der ‚alte Schmerz‘ wird zumeist allein auf die für Philoktet quälende Forderung bezogen, er solle nach Troia mitgehen (vgl. 622–625; 915 ff.; 997 ff.), aber diese besteht nicht schon seit ‚langer Zeit‘ (wie die Wunde, 41 f.); vgl. zum Gebrauch von palaios (‚alt‘) Jouanna 2004, 23; 28 f. Es kann auch kaum die todbringende Krankheit (1166; 41 f.) als solche gemeint sein (so aber Jouanna, ebd. 28), an die man Philoktet

344

Ch. Ch. Ph. Ch.

Kommos: 1171–1181

Bester von denen, die bisher hier waren. Warum hast du mich vernichtet? Was hast du mir angetan? Wie meinst du das? Ph. Wenn du hofftest, mich in das mir verhasste troische Land bringen zu können! Ja, das halte ich für das Beste. Dann verlasst mich sofort! Willkommen ist mir, willkommen dein Befehl, und gerne führe ich ihn aus. Lasst uns gehen, lasst uns gehen, (dorthin,) wo auf dem Schiff unsere zugewiesenen Plätze sind.

1173/4 1175

1180

Der Chor beginnt, sich zum Seiteneingang hin zu entfernen.

Χο. Χο. Φι. Χο.

λῷστε τῶν πρὶν ἐντόπων. τί µ’ ὤλεσας; τί µ’ εἴργασαι; τί τοῦτ’ ἔλεξας; Φι. εἰ σὺ τὰν ἐµοὶ στυγερὰν Τρῳάδα γᾶν µ’ ἤλπισας ἄξειν. τόδε γὰρ νοῶ κράτιστον. ἀπό νύν µε λείπετ’ ἤδη. φίλα µοι, φίλα ταῦτα παρήγγειλας ἑκόντι τε πράσσειν. ἴωµεν, ἴωµεν, ναὸς ἵν’ ἡµῖν τέτακται.

1173/4 1175

1180

1171 λῷστε τῶν πρὶν ἐντόπων] Vermischung zweier Vorstellungen: „ ‚bester von allen die bisher gekommen‘ und ‚besser als alle die früher kamen‘ “ (Radermacher 1911 z. St.; K.-G. I 23). | πρὶν] vor dem jetzigen Zeitpunkt, d. h. ‚bisher‘. | ἐντόπων] nicht Einwohner (wie OC 1457), sondern Fremde, die (zu einem Zeitpunkt, vgl. 211) gerade anwesend waren. 1172 ὤλεσας … εἴργασαι] zur Abfolge Aorist – Perfekt vgl. zu 928. 1173 ἔλεξας] zur Wiedergabe im Präsens vgl. K.-G. I 369. 1174 τὰν ἐµοὶ Hss. : τὰν {ἐµοὶ} Hartung – Sinn und Sprache stehen der Beibehaltung von ἐµοὶ nicht entgegen, zur Metrik vgl. ‚Metrische Analysen‘ zu 1173-4, S. 452 f.; Tilgung erwägen Ll.-J./W.2 mit Hinweis u.a. auf Dale 1981, 50. 1175   Τρῳάδα γᾶν] Akk. des Ziels (K.-G. I 311, 4). | γᾶν : γαίαν – nur γᾶν passt ins Metrum. | µ’ ἤλπισας : ἤλπισας µ᾿ – die betonte Stellung von µ᾿ ist dem Pathos Philoktets angemessener. 1176 γὰρ] zustimmend, vgl. zu 466. 1177 ἀπό] zu λείπετ’ (Tmesis). | ἤδη : ὧδε Trikl. – Sinn und Metrik sprechen für ἤδη. 1178–1179 φίλα … πράσσειν] µοι gehört zu φίλα und zu παρήγγειλας, πράσσειν ist mit παρήγγειλας und mit (µοι) ἑκόντι zu konstruieren; zu τε, das zwei Elemente verbindet, die nicht genau parallel sind, vgl. GP 497 Anm. 2. 1178 φίλα ταῦτα Hss. : {φίλα} ταῦτα Hartung – es besteht kein Zwang, reine Ioniker herzustellen. 1179 τε Hss. : γε Nauck – zu τε vgl. GP 497 Anm. 2; Jebb. 1180 ἴωµεν ἴωµεν (Hss.) : ἴοµεν – die adhortative Verdoppelung entspricht der Heftigkeit der Reaktion Philoktets (1181 f.). 1181 ναὸς Hss. : λαὸς Dawe – vgl. Ll.-J./W.1 zu 1180; ναὸς ist partitiver Genitiv zu ἵν᾿. | τέτακται] unpersönlich, sc. ἰέναι (LSJ s. v. τάσσω II. 3).

Kommentar

345

vermutlich nicht ‚erinnern‘ und durch deren Erwähnung er sich nicht vernichtet fühlen müsste, zumal der Chor von der Möglichkeit der Heilung gesprochen hatte. Die Heilung impliziert aber nicht nur die Fahrt nach Troia (1174 f.), sondern auch die Begegnung mit den Atreus-Söhnen (und auch wieder Odysseus), wodurch das nicht verwundene ‚alte‘ Trauma der Aussetzung evoziert wird (vgl. Radermacher 1911 z. St., der dies wohl mit „vergangenes Leid“ meint). Diese Implikation, an die er nach seiner Fixierung auf sein Ende auf Lemnos wieder ‚erinnert‘ worden ist, versteht Philoktet als Vernichtung seiner selbst (1172; vgl. auch bes. 1200–1202; 1390), wie er dann selbst erläutert (1174 f.). 1171 ‚Bester von denen, …‘: Trotz der von ihm als Zumutung empfundenen Mahnung des Chors hebt Philoktet ihn vor anderen, die auf die Insel kamen (vgl. 307 ff.), heraus. Der Chor war es schließlich, der sich – im Rahmen der Intrigenhandlung – vor Philoktet für seine Mitnahme (vorgeblich nach Hause) ausgesprochen (507–518) und sich ihm gegenüber mehrfach als wohlwollender Freund bezeichnet (1121 f.; 1163 f.) hatte. 1173 ‚Wie meinst du das?‘: Da der Chor es für richtig hält, dass Philoktet nach Troia gehen soll (vgl. 1176), versteht er nicht, womit er ihn vernichtet haben soll. 1175 ‚verhasste troische Land‘: Verhasst ist Philoktet das ‚Land‘, weil er dort auf die trifft, die ihn ausgesetzt haben (vgl. auch zu 915–916). 1177 ‚sofort‘: Aus der Antwort Philoktets ist die Heftigkeit seiner Reaktion abzulesen. 1178–1190 Nachdem er von Philoktet weggeschickt worden ist (1177), beginnt der Chor, sich wegzubewegen, und setzt diese Bewegung während der folgenden Verse fort, obwohl Philoktet gleich wieder versucht, ihn aufzuhalten (1182). Die Kontinuität der Bewegung ist daraus zu erschließen, dass Philoktet in v. 1190 den Chor bittet, wieder zurückzukommen. Nach Wilamowitz (1923) hält der Chor nach v. 1185 inne und kommt nach v. 1190 zurück. 1178–1179 Die betonte Bereitwilligkeit des Chors wegzugehen lässt vermuten, dass der Chor noch nicht endgültig weggehen will (denn nach 1075– 1080 soll er bleiben, bis er gerufen wird); vielmehr nutzt er Philoktets Wegschicken aus, um den Druck auf ihn zu erhöhen (vgl. Ussher), ähnlich wie schon Odysseus und Neoptolemos es durch ihr Weggehen versuchten; vgl. zu 1065 und 1074–1080. 1180–1181 ‚zugewiesenen Plätze‘: Der Chor der Seeleute tut jedenfalls so, als wolle er nur allzu bereitwillig wieder zu seiner alltäglichen Arbeit auf den jeweiligen Posten im Schiff zurückkehren.

346 Ph. Ph. Ph.

Ch.

Kommos: 1182–1192

Bei Zeus, der die Flüche erhört, geh nicht weg, ich flehe dich an! Ch. Mäßige dich! Ihr Fremden, bleibt, bei den Göttern! Ch. Warum rufst du (nach uns)? aiai aiai, mein Los, mein (schlimmes) Los! Ich bin verloren, ich Unglücklicher! Mein Fuß, mein Fuß, was soll ich noch im weiteren Leben mit dir machen, ich Elender? Ihr Fremden, kommt wieder zurück! Um was zu tun? Ist ganz anders (jetzt) deine Absicht als die frühere, die du zu erkennen gabst?

1183/4 1184 1185 1186 1186/7

1190

Der Chor hat sich wieder genähert. Φι. Φι. Φι.

Χο.

µή, πρὸς ἀραίου Διός, ἔλθῃς, ἱκετεύω. Χο. µετρίαζ’. ὦ ξένοι, µείνατε, πρὸς θεῶν. Χο. τί θροεῖς; αἰαῖ αἰαῖ, δαίµων, δαίµων· ἀπόλωλ’ ὁ τάλας· ὦ πούς, πούς, τί σ’ ἔτ’ ἐν βίῳ τεύξω τῷ µετόπιν, τάλας; ὦ ξένοι, ἔλθετ’ ἐπήλυδες αὖθις. τί ῥέξοντες; ἀλλόκοτοι γνῶµαι τῶν πάρος ὧν προὔφαινες;

1183/4 1184 1185 1186 1186/7 1190

1183 ἔλθῃς] ~ ἀπέλθης. 1186 δαίµων δαίµων : δαῖµον δαῖµον – vgl. zu 339 (ὦ τάλας); die ebenfalls überlieferte Vokativform ist wohl als Normalisierung zu betrachten, die metrisch weniger gut passt. 1187 ὁ : ὦ – ὢ (vgl. zu 254) wäre vom Sinn her möglich, aber ὁ entspricht der metrischen Struktur. 1188–1189 τί σ’ … τεύξω] ~ τί σε ποιήσω, τί σοι χρήσοµαι (vgl. Jebb). 1188 τί : τίς – τίς σ᾿ ist als ein dittographischer Fehler zu erklären. 1190 ἐπήλυδες] hier nicht in der üblichen Bedeutung ‚Ankömmling‘ im Sinne von ‚Fremder‘ gebraucht, sondern in der etymologischen Grundbedeutung ‚herankommend‘; vgl. Kamerbeek. 1191 ῥέξοντες Hss. : ῥέξοντος Vauvilliers – τί ῥέξοντες sc. ἔλθωµεν (aus ἔλθετ’ 1190; Kamerbeek); zu ῥέξοντος vgl. Jebb. 1191–1192 ἀλλόκοτοι γνῶµαι Dawe 2003, 106 : ἀλλοκότῳ γνώµᾳ Hss. : ἀλλόκοτος γνώµα Page | τῶν Hss. : τᾶς Blaydes | ὧν Hss. : ἃς Dawe 2003, 106 (ohne Begründung) : ἃν Page | προὔφαινες : προὔφανες : προφαίνεις Pearson (Page; Dawe) – wenn Sophokles’ Text vor der Schriftreform die Form ΑΛΛΟΚΟΤΟΙΓΝΟΜΑΙ hatte, kann man ihn als ἀλλοκότῳ γνώµᾳ (so die Hss.), aber auch als ἀλλόκοτοι γνῶµαι lesen; ὧν ist attrahiertes Relativpronomen, προὔφαινες iteratives Imperfekt (Philoktet hat sich immer wieder so geäußert). Zur metrischen Problematik vgl. ‚Metrische Analysen‘ zu 1192, S. 452 f. Die Äußerung des Chors ist eher als zweifelnde Frage, ob Philoktet wirklich jetzt etwas anderes will, denn als Aussage zu verstehen. 1192 τῶν πάρος] ablativischer Genitiv, abhängig von ἀλλόκοτοι (K.-G. I 401, 3).

Kommentar

347

1182–1184 Das Epitheton ‚der die Flüche erhört‘ (araios, 1182) hat Zeus nur hier. Gemeint ist wahrscheinlich, dass Zeus, der der Gott der Schutzflehenden ist (hikesios, 484), sich der Flüche von Menschen annimmt, die von denen, die sie um Hilfe bitten, abgewiesen werden. Offenbar befürchtet Philoktet, dass der Chor, nachdem er eben weggeschickt wurde (1177), seiner neuerlichen Bitte zu bleiben nicht entsprechen könnte, und äußert sich dann gleich so, als ob er auf eine abgelehnte Bitte reagieren müsste. – Ob man sich Philoktets Bitte auch von der körperlichen Geste der Hikesie begleitet vorstellen soll (vgl. zu 485 b–486 a), wie Schein meint, muss offenbleiben. Allenfalls hätte Philoktet, wenn er zu dieser Geste überhaupt in der Lage war, dazu ansetzen, aber sie nicht vollenden können, da sich der Chor entfernt. 1182 ‚geh nicht weg‘: Die flehentliche Bitte, die Seeleute möchten doch bei ihm bleiben bzw. umkehren, wiederholt Philoktet noch zweimal (1184 f.; 1190), vermutlich auch weil seine Wunde am Fuß ihn gerade wieder besonders schmerzt (vgl. 1186–1195). 1184 ‚Mäßige dich!‘: Die Aufforderung des Chors ist als Reaktion auf Philoktets sehr erregte Anrufung des Zeus, der die Flüche hört, zu verstehen. 1185 ‚Warum rufst du (nach uns)‘, wörtl. ‚Was rufst du?‘: Aber der Chor fragt nicht danach, was Philoktet laut äußert (das ist nicht misszuverstehen), sondern nach dem ‚Warum‘ (vgl. Ussher), da Philoktet sie eben noch schroff weggeschickt hatte (1177). Die Frage ist als Versuch des Chors zu deuten, Philoktet auch eine inhaltliche Meinungsänderung zu entlocken (vgl. auch 1191 f. mit Komm. zu 1191–1192). 1186–1188 ‚aiai aiai … mein Los, mein … Los … Mein Fuß, mein Fuß‘: Der seelische Ausnahmezustand und die Schmerzen Philoktets spiegeln sich in seiner ekstatischen Redeweise. 1186 ‚mein Los, mein (schlimmes) Los‘: Der doppelt angerufene daimōn (Los) ist wohl nicht als gleichbedeutend mit ‚Gott‘ (vgl. zu 1100) zu verstehen, vielmehr als Geschick, und zwar in seiner negativen Ausprägung, weswegen zur Verdeutlichung in der Übersetzung an der zweiten Stelle ‚schlimmes‘ hinzugesetzt wurde. Vgl. 1100 f. zu besserem und schlechterem ‚Los‘. 1191–1192 Folgt man dem überlieferten Text (anders Schein, der die Konjekturen von Page und Pearson übernimmt; vgl. TS), präzisieren die Seeleute ihre erste Frage, warum Philoktet, nachdem er sie weggeschickt hatte (1177), sie nun wieder rufe, indem sie fragen, ob er jetzt andere Pläne habe als diejenigen, auf denen er die ganze Zeit (iteratives Imperfekt) bestanden habe (nämlich, nicht nach Troia zu gehen). Eine solche Willensänderung sollten sie ja abwarten (1078 f.). Vielleicht haben sie auch seine Klage (1186–1189) als Signal für einen Sinneswandel verstanden. – Aus der Tatsache, dass der Chor die Diskussion fortsetzt, ist zu schließen, dass er sich wieder Philoktet genähert hat.

348 Ph. Ch. Ph.

Φι. Χο. Φι.

Kommos: 1193–1203

Es ist nicht zu verübeln, wenn man in Aufruhr durch stürmischen Schmerz etwas auch wider die Vernunft äußert. Dann geh, du Unglücklicher, wie wir dich auffordern. Niemals, niemals, das nimm als unverrückbare Gewissheit, auch nicht, wenn der feuertragende Blitzeschleuderer mich mit Blitz und Donner in Flammen aufgehen lassen will. Dahinfahren soll Ilion und alle unterhalb (seiner Mauern), die es fertig brachten, meinen Fuß wegzustoßen. Ihr Fremden, einen einzigen Wunsch erfüllt mir! οὔτοι νεµεσητὸν ἀλύοντα χειµερίῳ λύπᾳ καὶ παρὰ νοῦν θροεῖν. βᾶθί νυν, ὦ τάλαν, ὥς σε κελεύοµεν. οὐδέποτ’, οὐδέποτ’, ἴσθι τόδ’ ἔµπεδον, οὐδ’ εἰ πυρφόρος ἀστεροπητὴς βροντᾶς αὐγαῖς µ’ εἶσι φλογίζων. ἐρρέτω Ἴλιον οἵ θ’ ὑπ’ ἐκείνῳ πάντες, ὅσοι τόδ’ ἔτλασαν ἐµοῦ ποδὸς ἄρθρον ἀπῶσαι. {ἀλλ᾿} ὦ ξένοι, ἕν γέ µοι εὖχος ὀρέξατε.

1195

1200

1195

1200

1193 οὔτοι (Hss.) : οὔτι – das Metrum erfordert, dass die zweite Silbe lang ist; οὔτι ist vielleicht induziert durch Homer (Odyssee 22,59; {Ilias 9,523}), ebenso wie das homerische νεµε(σ)σητὸν. | νεµεσητὸν (Hss.) : νεµεσσητὸν : νεµεσητὸν ⟨µ᾿⟩ Page – die Homerstellen belegen, dass man Situationen anerkannte, in denen ein bestimmtes Verhalten nicht zu verargen ist. 1194 ἀλύοντα Hss. : σαλεύοντα Earle – vgl. Komm. zu 174. 1196 ὥς σε (Hss.) : ὅπου Trikl. : οἷ σε Reiske – der Chor fordert, dass sich Philoktet so verhält, wie er rät. 1197 ἔµπεδον] kann Prädikativum zu τόδ᾿ sein (Kamerbeek) oder adverbiale Bestimmung zu ἴσθι, der Sinn bleibt derselbe. 1198 πυρφόρος ἀστεροπητὴς] vgl. Aristophanes, Thesmophoriazusen 1050 πυρφόρος αἰθέρος ἀστήρ. ἀστεροπητής ist ein Epitheton des Zeus, z. B. Homer, Ilias 1,580. 1199 βροντᾶς αὐγαῖς Scholion : βρονταῖς αὐταῖς Hss. – βρονταῖς αὐταῖς würde heißen ‚(mich) mitsamt den Donnerschlägen‘. | εἶσι φλογίζων] ein Verb des Gehens oder Kommens kann den im Partizip ausgedrückten Vorgang anschaulicher machen (K.-G. II 60 f.); „ ‘shall be in the course of consuming’ “ (Jebb); „…, the notion of intention can be regarded as implied in the main verb“ (Kamerbeek). 1200 ὑπ’ : ἐπ᾿ | ἐκείνῳ (Hss.) : ἐκεῖνο : ἐκείνων – vgl. zu ὑπ’ ἐκείνῳ Eur. Hek. 764 ὑπ᾿ Ἰλίῳ (Jebb). 1201– 1202 ποδὸς ἄρθρον] ποδὸς ist gen. definitivus, das ἄρθρον besteht im πούς, vgl. zu 81; ἄρθρον, eigtl. ‚Gelenk‘ oder ‚Gelenkpfanne‘, kann auch das ganze am Gelenk bewegliche Glied bezeichnen, wie aus v. 1208 hervorgeht; insgesamt liegt eine expressive Umschreibung für ‚mein Fuß‘ vor. 1203 {ἀλλ᾿} Erfurdt – aufforderndes ἀλλά würde sprachlich gut passen, kann aber gerade deswegen eingedrungen sein; es ist nicht notwendig (vgl. 1190; Blumenthal 1934, 456), unterbricht den daktylischen Zusammenhang (Synizese mit ἀπῶσαι ist auszuschließen), der von v. 1196 bis v. 1209 reicht, und muss deswegen athetiert werden.

Kommentar

349

1193–1195 ‚nicht zu verübeln‘: Philoktet antwortet nicht unmittelbar auf die letzten Worte des Chors, er entschuldigt vielmehr seine Schroffheit ihm gegenüber mit den Schmerzen, die ihn bedrängen. Offensichtlich ist ihm nun daran gelegen, den Chor wieder für sich einzunehmen. 1194 ‚stürmischen‘: vgl. zu diesem bildhaften Gebrauch v. 1460. 1195 ‚etwas‘: Im Griechischen steht kein Objekt, aber Philoktet bezieht sich vermutlich darauf, was er ‚unvernünftig‘ geäußert hat: seine Aufforderung, die Seeleute sollten ihn verlassen (1177), und wohl auch seine Anrufung von Zeus als Erhörer von Flüchen (1182). 1196 ‚Unglücklicher‘: Der Chor äußert sich wieder voll Mitleid, aber er zieht aus der von Philoktet eingestandenen verzweifelten Situation nur die Konsequenz, dass er seinem Rat entsprechend mit nach Troia zu fahren solle. 1197–1202 Ganz entschieden (verdoppelte Verneinung) lehnt es Philoktet ab, nach Troia mitzukommen. Die Kränkungen, die er erlitten hat, sind für ihn offenbar so schmerzhaft, dass er lieber tot sein will als einzuwilligen. Stattdessen verwünscht er Troia und alle, die er für die Aussetzung verantwortlich macht. Troia und die dort kämpfenden ‚Schuldigen‘ werden von ihm wohl eher als ein Komplex betrachtet (vgl. Ussher), als dass Philoktet sagen wollte, es sei ihm gleichgültig, wie der Krieg ende (so aber Jebb). 1198–1199 ‚feuertragende Blitzeschleuderer‘: Zeus, auf dessen zerstörerisches Potenzial mit Blitz und Donner (wörtl. ‚mit den Blitzstrahlen des Donners‘) sich Philoktet bezieht, könnte ihn, so versichert er, nicht von seiner Haltung abbringen, womit er sich noch emphatischer äußert als bereits v. 999. Das Motiv ist bei Homer (Ilias 15,115–118) vorgeprägt, wo sich Ares mit ähnlichen Worten nicht davon abhalten lassen will, seinen Sohn Askalaphos zu rächen. Vgl. auch Vergil, Aeneis 4,25. Schon wegen der Motivverwandtschaft und wegen der Funktion als Bekräftigungsformel liegt es nicht nahe anzunehmen, dass Philoktet sich hier ausdrücklich gegen den Willen des Zeus stellen wolle (so Visser 1998, 227 f.). Er hat den von Odysseus genannten Beschluss des Zeus (989 f.) nicht als solchen realisiert oder gar akzeptiert. Als er ihm von einer anderen Autorität vermittelt wird, fügt er sich ihm (1415; 1447). 1200 ‚alle unterhalb‘, wörtl. ‚alle unter jenem‘: Gemeint sind die Griechen, die unterhalb der Stadt, vor ihren Mauern, kampieren und Troia erobern wollen. 1202 ‚wegzustoßen‘: Der Fuß, der als pars pro toto für Philoktet steht, wird wie ein Schutzflehender betrachtet, den man wegstößt, statt sich seiner anzunehmen; vgl. Jebb. 1203 ‚Wunsch erfüllt mir‘, wörtl. ‚streckt entgegen‘: Das kann so gesagt werden, weil der Wunsch in einem Gegenstand besteht. – Nach seiner starken Weigerung, nach Troia zu gehen, ist Philoktet klar, dass er verlassen werden wird. Daher nutzt er die letzte Gelegenheit, einen Wunsch äußern zu können.

350 Ch. Ch. Ph. Ch. Ch.

Χο. Χο. Φι. Χο. Χο.

Kommos: 1204–1213

Was willst du damit sagen? Ph. Ein Schwert, von irgendwoher, oder ein Beil oder irgendeine Waffe bringt mir! Um welche Tat denn auszuführen? Um mein Haupt ganz und (alle) meine Glieder abzuschneiden; zu töten, zu töten steht nun mein Sinn! Warum denn? Ph. Weil ich den Vater suche. Wo auf Erden? Ph. Im Hades. Denn er ist nicht mehr im Licht der Sonne. – Meine Stadt, Stadt der Väter, ποῖον ἐρεῖς τόδ’ ἔπος; Φι. ξίφος, εἴ ποθεν, ἢ γένυν ἢ βελέων τι προπέµψατε. ὡς τίνα ⟨δὴ⟩ ῥέξῃς παλάµαν ποτέ; κρᾶτ᾿ ἀπὸ πάντα καὶ ἄρθρα τέµω χερί· φονᾷ, φονᾷ νόος ἤδη. τί ποτε; Φι. πατέρα µατεύων. ποῖ γᾶς; Φι. εἰς Ἅιδου. οὐ γὰρ {ἐστ’} ἐν φάει γ’ ἔτι. ὦ πόλις, {ὦ} πόλις πατρία,

1205 1206/7 1207/8 1210

1205 1206/7 1207/8 1210

1204 εἴ ποθεν] „sc. προπέµψαι ἔχετε = ‘from any quarter’ “ (Jebb). 1206 ⟨δὴ⟩ Hermann – durch die Ergänzung wird der daktylische Rhythmus hergestellt. | ῥέξῃς (Hss.) : ῥέξεις : ῤέξειας : ἀράξῃς – zu ὡς (final) τίνα … ῥέξῃς vgl. El. 390; OC 398; K.-G. II 519 f. (Nebensatz geht unter Beibehaltung der Konstruktion in direkten Fragesatz über). 1207 παλάµαν] Scholion: πρᾶξιν ὅθεν καὶ παλαµᾶσθαι· ἢ τέχνην. Grundbedeutung ‚Handfläche‘, dann ‚Hand als Mittel für Gewalttaten‘ und hier möglicherweise die ‚Gewalttat‘ selbst (vgl. LSJ s. v.), wenn das Wort nicht, wie das Scholion meint, auch neutral gebraucht werden kann. 1207–1208 κρᾶτ᾿ : χρῶτ᾿ Hermann (Dawe) – vgl. Ll.-J./W.1 und Komm. | ἀπὸ πάντα καὶ ἄρθρα Hss. : καὶ ἄρθρ’ ἀπὸ πάντα Bergk | κρᾶτ᾿ … πάντα] κρᾶτα kommt als Akk. Sg. im Philoktet zweimal im Neutrum vor (1001; 1457), ist aber auch als Maskulinum belegt (Ion F 61 Snell [TrGF I2 19]; Eur. Archelaos F 241 Kannicht; vgl. auch Phoin. 1149); πάντα ist daher hier adjektivisch auf κρᾶτα zu beziehen (und gedanklich zu ἄρθρα zu ergänzen) und nicht adverbiell aufzufassen. | ἀπὸ] Tmesis, zu τέµω. | τέµω : τεµῶ – Konjunktiv, Fortsetzung des Finalsatzes. 1209 φονᾷ] φονάω hat desiderative Bedeutung. | νόος : νόσος – νόσος ergibt keinen plausiblen Sinn. 1210 µατεύων : µαστεύων – µατεύων (das metrisch erforderlich ist) bezieht sich grammatisch auf νόος (1209), wird aber gebraucht, als ob Philoktet gesagt hätte φονῶ ἤδη (Schein). 1211 ποῖ … εἰς] in µατεύων steckt die Vorstellung einer Bewegung. | εἰς : ἐς 1212 γὰρ Hermann : γάρ ἐστ’ (Hss.) : γὰρ ἔτ᾿ Trikl. – mit der Tilgung des sprachlich nicht notwendigen ἐστ’ ergibt sich ein Lekythion; die Überlieferung ergibt einen Creticus gefolgt von einem Hypodochmius (vgl. Ll.-J./W.1 mit Verweis auf Pohlsander 1964, 130). Das erscheint im Hinblick auf die vv. 1173/4 zwar unproblematisch, aber die Kombination passt nicht in den iambischäolischen Kontext. 1213 {ὦ} πόλις Gleditsch : ὦ πόλις Hss. : ὦ {πόλις} Dindorf – Gleditschs Tilgung von ὦ vor dem zweiten πόλις ist metrisch plausibel; vgl. Ll.-J./W.2 (es ergibt sich ein anaklastischer Glykoneus). ὦ kann leicht wegen des vorausgehenden ὦ πόλις eingedrungen sein. Vgl. auch zu 339.

Kommentar

351

1204–1205 Die Seeleute wird man sich als unbewaffnet (und ohne ein Werkzeug wie ein Beil) vorstellen müssen, sodass sich Philoktets Bitte erklärt, ihm von irgendwoher etwas ‚zuzusenden‘ (wie es wörtlich heißt). – Odysseus und Neoptolemos haben allerdings Schwerter bei sich; vgl. zu 1254 b–1256. 1205 ‚irgendeine Waffe‘: Das griechische Wort bezeichnet zumeist ein Wurfgeschoss, aber auch allgemein eine Waffe (hier zum Schneiden geeignet), vgl. Ai. 658, wo Aias sein Schwert so bezeichnet. 1206/7 ‚Tat‘: Möglichweise ist ‚Tat‘ schon in der Frage des Chors nicht neutral, sondern, wie sich dann ergibt, als ‚Gewalttat‘ zu verstehen, da Philoktet offenkundig eine Waffe haben möchte; vgl. auch TS. 1207/8 Es ist keine realistische Vorstellung, sich selbst seinen Kopf abschneiden zu wollen und (alle) seine Glieder. Aber die hyperbolische Wendung ist Ausdruck der Verzweiflung und Todesbereitschaft, wie sie Philoktet auch schon zuvor (1001 f.) zu erkennen gegeben hatte. 1209 ‚zu töten, zu töten‘: Philoktet richtet den Willen zu töten, durch den Doppelausdruck stark akzentuiert, gegen sich selbst, er entspricht dem Willen zu sterben. 1210–1212 Die Frage des Chors, warum er sterben wolle, scheint unangebracht angesichts der jammervollen Zukunftsperspektive Philoktets. Denkbar ist aber, dass der Chor noch einmal versuchen möchte, ihn zu einer Alternative zu überreden. Philoktets Antwort zeigt jedoch, dass er dafür nicht mehr erreichbar ist: Er sehnt sich nach heimatlicher Geborgenheit, die er aber nur noch im Tod glaubt finden zu können. 1210 ‚Weil ich den Vater suche‘: Die überraschende Antwort auf die Frage des Chors passt einerseits zu dem früheren Wunsch Philoktets, zu seinem Vater gebracht zu werden (492–497), und zeigt andererseits, wie weit er sich gerade von dieser Welt entfernt hat. 1211 ‚im Hades‘: Philoktet nimmt hier an, dass sein Vater tot, in der Unterwelt, sei, wie er es in den vv. 492–497 schon befürchtet hatte. In den vv. 665 und 1371 setzt er dagegen voraus, dass er lebt (wie es ‚tatsächlich‘ der Fall ist; vgl. 1430). Die Aussagen variieren je nach der Stimmung, in der sich Philoktet befindet. 1213–1214 Der Dialog mit dem Chor ist mit der letzten Antwort auf dessen Frage beendet, und Philoktet wendet sich – Zeichen seiner Verlassenheit von den Menschen – mit seinen abschließenden Worten apostrophierend seiner Heimat zu, wie er den Kommos mit einer Anrede an seine Behausung auf Lemnos begann (1081 ff.). Eine vergleichbare Apostrophe (mit Anrede an den Fluss Spercheios) gab es in Aischylos’ Philoktet (F 249 Radt), vielleicht der erste Vers des Dramas (Müller 2000, 42). Vgl. auch, wie Aias vor seinem Selbstmord u. a. seine Heimat anspricht (Ai. 859 ff.); vgl. Pucci. 1213 ‚Stadt‘: Trachis, vgl. 491. Schon bei der Bitte an Neoptolemos, ihn mitzunehmen, hatte Philoktet seine Heimat als Sehnsuchtsort visualisiert.

352

Kommos: 1214–1217 / Exodos

könnte ich dich doch sehen – ich unglückseliger Mann, der ich deinen heiligen Strom verlies und mit den verhassten Danaern ging als Helfer! Ich bin nichts mehr. πῶς ἂν εἰσίδοιµι σ’, ἄθλιός γ᾿ ἀνήρ, ὅς γε σὰν λιπὼν ἱερὰν λιβάδ’ ἔβαν ἐχθροῖς Δαναοῖς ἀρωγός; ἔτ’ οὐδέν εἰµι.

1215

1215

Philoktet geht in seine Höhle, der Chor bleibt auf seinem Platz. Plötzlich eilt von der Seite her, wo der Schiffsankerplatz anzunehmen ist, Neoptolemos (mit dem Bogen) herbei, dicht gefolgt von Odysseus. Sie beginnen ein erregtes Gespräch und bleiben in einiger Entfernung vom Höhleneingang stehen. Es folgt die Exodos (1218–1471), Text mit Einzelkommentierung ab S. 354.

1214 πῶς ἂν εἰσίδοιµι] Wunsch in Frageform, vgl. zu 531–532. | εἰσίδοιµι σ’ ἄθλιός γ᾿ Hss. : εἰσίδοιµ’ ἄθλιός σ’ Dindorf – vgl. zu diesem epexegetischen γε GP 139 und Jebb, der unter Hinweis auf OT 372 ἄθλιος als „wretchedly foolish“ versteht. Mit Dindorfs Konjektur verschwände diese Nuance; ihr einziger Gewinn wäre, dass v. 1214 dann klar aus zwei Hypodochmien bestünde. Angesichts der inhaltlichen Überlegenheit des überlieferten Textes wird man jedoch metrisch einen akephalen iambischen Trimeter vorziehen. 1215 ὅς γε] zum Nebensinn von γε vgl. zu 663. 1216 ἔβαν ἐχθροῖς Buijs 1986, 68 : ἐχθροῖς ἔβαν Hss. – die Umstellung empfiehlt sich metrisch, vgl. Willink 2003, 94 f. 1217 ἔτ’ οὐδέν εἰµι] statt οὐκέτι οὐδέν εἰµι (K.-G. II 181 Anm. 4), vgl. OT 24.

Kommentar

353

1214–1217 Philoktet gibt sich selbst die Schuld, dass er sein Zuhause am ‚heiligen‘ Spercheios-Fluss (vgl. 491 f.; 726), das er jetzt zu sehen wünscht, verließ, um den Griechen zu helfen. Verhasst sind ihm die Griechen allerdings erst in der Rückschau. – Zur Göttlichkeit der Flüsse vgl. Burkert 2011, 269. 1216 ‚Danaern‘: Der Name ‚Danaer‘ ist seit Homer (z. B. Ilias 1,42) als Bezeichnung für die Gesamtheit der Griechen belegt. Der Name selbst ist bereits mittelhelladisch, die mythische Ableitung vom argivischen König Danaos offenbar sekundär (vgl. Schaffner 1997). Vgl. auch zu 47. 1217 ‚Ich bin nichts mehr‘: Mit diesem Ausdruck äußerster Verzweiflung hatte Philoktet sich schon zuvor charakterisiert (vgl. 951; 1030). Da er unter den gegebenen Umständen nicht bereit ist, sich vereinnahmen zu lassen, muss er annehmen, dass Odysseus und Neoptolemos mit seinem Bogen nach Troia fahren und er ohne diesen nicht wird überleben können. Dramaturgisch ergibt sich aus den vv. 1261–1264, dass sich Philoktet in die Höhle zurückgezogen hat, möglicherweise bereits während der vv. 1213– 1217, nachdem der Dialog mit dem Chor beendet ist (vgl. Wilamowitz 1923). Auf jeden Fall ist er bei den auf 1217 folgenden Versen nicht mehr auf der Bühne, denn von der Dramaturgie her darf er weder die Verse 1218–1221 hören (wenn sie denn echt sind; vgl. zu 1218–1221 [= EK, S. 436]) noch das Gespräch zwischen Odysseus und Neoptolemos (1222 ff.). Der Abgang Philoktets wirkt inhaltlich wie ein Ende der Tragödie, aber da der Chor nicht auszieht, gab es für die damaligen Zuschauer ein deutliches Signal zur Fortsetzung der Handlung, deren Richtung allerdings ungewiss war: Werden Odysseus und Neoptolemos ohne Philoktet nach Troia fahren, im Vertrauen darauf, der Bogen allein werde vielleicht doch genügen? Oder ist der vom ‚Kaufmann‘ vermittelten Weissagung zu trauen, dass Philoktet selbst (und zwar ohne Zwang) nach Troia kommen müsse (612 f.)? Auch Zuschauer, die mit dem Stoff und / oder den früheren Bearbeitungen von Aischylos und Euripides vertraut waren, konnten nicht wissen, welche Folgen die Einführung des Neoptolemos für den Handlungsverlauf insgesamt haben würde. 1218–1471 Exodos Der lange Schlussteil nach der letzten Chorpartie, d. h. die Exodos (‚Auszug‘) nach der aristotelisch-technischen Definition, lässt sich in folgende Abschnitte unterteilen: (1) Dialog zwischen Odysseus und Neoptolemos, der die Entwendung des Bogens bereut und entschlossen ist, ihn gegen den Widerstand des Odysseus zurückzugeben, Rückzug des Odysseus (1222– 1260); (2) hochdramatische Szenenfolge: erfolgloser Versuch des Neoptolemos (ohne Rückgabe des Bogens), Philoktet für die Fahrt nach Troia zu gewinnen, Wiederauftauchen und vergebliche Intervention des Odysseus, die Rückgabe des Bogen zu verhindern, Flucht des Odysseus (1261–1307); (3) weiterer (erfolgloser) Versuch des Neoptolemos, Philoktet unter Berufung auf den durch die Weissagung des Helenos erklärten Götterwillen zur Fahrt nach Troia bewegen, und seine Zustimmung, Philoktet – wie versprochen – nach Hause zu bringen (1308–1408); (4) der eigentliche Schluss mit dem Auftritt des Herakles als deus ex machina und dem Aufbruch nach Troia (1409–1471).

354 {Ch. Ich wäre schon lange zu meinem Schiff auf dem Weg, ging’s nur um dich, wenn wir nicht Odysseus näher kommen und Achills Sohn zu uns hierher gehen sähen.} {Χο. ἐγὼ µὲν ἤδη καὶ πάλαι νεὼς ὁµοῦ στείχων ἂν ἦν σοι τῆς ἐµῆς, εἰ µὴ πέλας Ὀδυσσέα στείχοντα τόν τ’ Ἀχιλλέως γόνον πρὸς ἡµᾶς δεῦρ’ ἰόντ’ ἐλεύσσοµεν.}

Exodos: 1218–1221

1220

1220

Es folgt ein Dialog zwischen Odysseus und Neoptolemos (1222–1260), Text mit Einzelkommentierung ab S. 356.

{1218–1221} Taplin 1971, 39–44 (Mekler 1911, C: „1218–21, si genuini, corrupti“) – vgl. Komm. und EK, S. 436. | ἐγὼ … ἦν … ἐλεύσσοµεν] zum Wechsel zwischen Singular und Plural bei demselben Sprecher vgl. 1393 f.; Ant. 734. 1218 ὁµοῦ : ἐγγὺς – ἐγγὺς ist metrisch nicht möglich, und für ὁµοῦ mit Genitiv gibt es nur die zweifelhafte Parallele Xenophon, Anabasis 4,6,24 (ein Teil der Hss. hat den üblichen Dativ); vgl. auch Menander, fr. 640 K.-A. mit Apparat. 1219 ἦν Hss. : ἦ Elmsley – Sophokles hätte die Form ἦ gewählt, vgl. Ll.-J./W. | σοι] vermutlich ein Dat. der Beziehung (K.-G. I 440, 12).

Kommentar

355

1218–1221 Diese Verse sind vermutlich unecht, s. EK, S. 436. Ohne sie folgt auf den Kommos, dessen Ende Spannung erzeugte (vgl. zu 1217), dramatisch wirkungsvoll ein unvermittelter und überraschender Neueinsatz. 1219 ‚ging’s nur um dich‘, wörtl. ‚dir‘: Mit diesem Dativ (soi, vgl. dazu TS) spricht der Chor (den außer Hörweite befindlichen) Philoktet an. 1219–1221 Der Chorführer drückt sich so aus, als ob Odysseus irgendwie näher käme, Neoptolemos aber gezielt zu seinen Leuten. Letzteres kann er bei seinem Herrn zwar vermuten, die Differenzierung bleibt aber trotzdem merkwürdig, da beide Personen wegen des einsetzenden Gesprächs dicht beieinander sein müssen und die Situation eher so ist, dass der als zweiter genannte Neoptolemos vorausgeht; vgl. zu 1222–1260. 1222–1260 Der Auftritt von Odysseus und Neoptolemos beginnt sofort dialogisch, was in der Tragödie selten ist; vgl. Eur. Hipp. 601 ff.; IA 303 ff. Während man bei diesen beiden vergleichbaren Szenen annehmen kann, dass das Gespräch hinterszenisch schon angefangen hatte, ist das hier kaum der Fall (anders Taplin 1971, 40), zumindest nicht über das nun zu besprechende Thema (ebenso wenig wie Phil. 730 ff.): Aus der ersten Frage des Odysseus ist zu erschließen, dass Neoptolemos ohne Erklärung in Richtung Höhle eilt, und man kann sich vorstellen, dass Odysseus hinter ihm her hastet und ihn nach seiner Absicht fragen will. Von dem erregten und daher sicher nicht sehr leisen Wortwechsel bekommt Philoktet offenbar nicht gleich etwas mit, sondern hat wohl erst am Ende, als die Auseinandersetzung eskaliert, etwas gehört (vgl. zu 1263). Auf jeden Fall fühlt er sich durch das Herausrufen des Neoptolemos (1261 f.), der vielleicht näher zur Höhle gegangen ist, angesprochen (1264). Die Szene kann in verschiedener Hinsicht als eine Art Peripetie betrachtet werden, zunächst in Bezug auf die Haltung des Neoptolemos, aber dadurch bedingt auch für das gesamte Handlungsgeschehen. Während Neoptolemos bisher – trotz anfänglicher und später wieder aufkommender Zweifel – sich für den Plan des Odysseus einspannen ließ, steht jetzt sein Entschluss fest (und er wird auch durch Odysseus’ Drohungen nicht wankend), den Betrug an Philoktet wiedergutzumachen und ihm den Bogen zurückzugeben. Neoptolemos’ eigentliches Wesen zeigt sich darin, wie er seinen Standpunkt vertritt (bes. 1234; 1249), und die unterschiedlichen Wertvorstellungen von Neoptolemos und Odysseus prallen aufeinander. Neoptolemos bleibt sich jedoch treu, und der bisher ‚siegreiche‘ Odysseus muss abziehen, ohne seinen Willen durchsetzen zu können. Ihr Verhältnis kehrt sich um, und diesmal zeigt sich die ‚Zunge‘ gegenüber der Tat nicht als überlegen (vgl. 96–99; Knox 1964, 136). Neoptolemos begründet die geplante Bogenübergabe mit rein moralischrechtlichen Argumenten, nicht damit, dass er so der Weissagung genügen wolle (vgl. Visser 1998, 191); die Rückgabe ist aber faktisch die Voraussetzung dafür, dass sich Philoktet, was ihn selbst angeht, ohne äußeren Zwang entscheiden kann, wie er sich zu der Fahrt nach Troia stellen will. Ob Neoptolemos dabei bewusst das Risiko eingeht, dass Philoktet ablehnen und damit die Eroberung Troias verhindern könnte (so Visser, 1998, 190 f.), ist aus dem Text

356

Exodos: 1222–1228

Od.

Willst du nicht sagen, warum du wieder den Weg 1222 zurückgehst so voll Eifer und in Hast? Um alles wiedergutzumachen, worin ich zuvor gefehlt habe. Ungeheuerliches sagst du da! Und der Fehler, worin bestand er? 1225 Darin, dass ich dir gehorchend und dem gesamten Heer … ausführtest welche Tat, die sich nicht für dich gehörte? … mit schändlichem Betrug einen Mann und mit List überwältigte.

Ne. Od. Ne. Od. Ne. Οδ. Νε. Οδ. Νε. Οδ. Νε.

οὐκ ἂν φράσειας ἥντιν’ αὖ παλίντροπος κέλευθον ἕρπεις ὧδε σὺν σπουδῇ ταχύς; λύσων, ὅσ’ ἐξήµαρτον ἐν τῷ πρὶν χρόνῳ. δεινόν γε φωνεῖς· ἡ δ’ ἁµαρτία τίς ἦν; ἣν σοὶ πιθόµενος τῷ τε σύµπαντι στρατῷ … ἔπραξας ἔργον ποῖον ὧν οὔ σοι πρέπον; … ἀπάταισιν αἰσχραῖς ἄνδρα καὶ δόλοις ἑλών.

1222 1225

1222 οὐκ (Hss.) : κοὐκ : οὐδ᾿ – der neue Einsatz ist naturgemäß asyndetisch; οὐδ᾿ käme nur in Betracht, wenn man (wie Dawe) vor v. 1222 einen Versausfall annimmt, wozu aber nichts zwingt. | οὐκ ἂν φράσειας] ist etwas höflicher als οὐ mit Futur. | αὖ] verstärkt παλίντροπος. 1223 κέλευθον ἕρπεις] vgl. Ant. 1213 und ETS, S. 440 (zu 206). | σὺν] zur Angabe der Art und Weise (K.-G. I 467). | ταχύς] prädikativ, vgl. zu 1080. 1224 λύσων] vgl. Aristophanes, Frösche 691 λῦσαι τὰς πρότερον ἁµαρτίας. 1225–1230 {…} Günther 1996, 138 f. – vgl. Komm. zu 1225–1240. 1225 γε] exklamatorisch (GP 127). 1226– 1228 ἣν … ἑλών] ἣν ist (als innerer Akkusativ) von einem in v. 1228 zu ergänzenden ἥµαρτον oder ἔπραξα abhängig, an das sich ἑλών anschließt (‚als ich …‘); in der Übersetzung wurde die Syntax aus stilistischen Gründen vereinfacht. 1226 πιθόµενος : πειθόµενος – nur πιθόµενος passt metrisch. 1227 ἔπραξας ἔργον ποῖον …;] die Frage ist durch das weit nachgestellte ποῖον stark betont, noch mehr als OT 559 δέδρακε ποῖον ἔργον; vgl. auch Dik 2007, 150. | ὧν] ~ τούτων (partitiver Genitiv), ἃ (οὔ σοι πρέπον ἦν πρᾶξαι), vgl. OT 862 und K.-G. II 408.

Kommentar

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nicht zu ersehen. Dass jedenfalls Neoptolemos’ Absicht auf eine Teilnahme Philoktets gerichtet bleibt, zeigt sich vor (1278 f.) und nach der Bogenübergabe (1315 ff.). Vgl. auch zu 1339–1341 a. 1222–1223 Während des Chorliedes (1081–1217) sind – nach den Vorgaben des Handlungsverlaufes (vgl. 1074–1080) – Odysseus und Neoptolemos unterwegs zum Schiff, wo die Abfahrt vorbereitet werden soll. Offenbar kam es aber nicht zur Realisierung dieses gemeinsamen Vorhabens, vielmehr kehrt Neoptolemos hastig um, ohne Odysseus über seine Gründe zu informieren – ein erster Schritt der Emanzipation. ‚warum …‘, wörtl. ‚was für einen Weg‘, d. h. ,was hat es damit auf sich, dass du diesen Weg gehst‘. ‚wieder … zurückgehst‘: „the change of heart is demonstrated by the change of path“ (Goldhill 2012, 33). 1224 ‚wieder gutzumachen‘, wörtl. ,lösen‘ (lyein), hier im Sinn von ‚auflösen‘, ‚umstoßen‘: Dieser eine Satz enthält eigentlich schon alles, was im Folgenden zur Sprache kommt. Es geht Neoptolemos um eine Korrektur dessen, was er zuvor – nach seiner jetzigen Einschätzung – falsch gemacht hat. Er hat den ‚Fehler‘ (hamartia) erkannt, von dem Philoktet gesprochen hatte (1012). 1225–1240 Die Ankündigung in v. 1224 führt zu einem so erregten Dialog, dass die Sprecher nicht nur von Vers zu Vers wechseln, sondern Odysseus sogar Neoptolemos mehrfach nicht zu Ende reden lässt, vielmehr seine Sätze unterbricht. Odysseus kann nicht glauben, was bereits auf der Hand liegt. Das zeigt sich an den Fragen (1225; 1227; 1229; 1233; 1237), die er selbst beantworten könnte; dass er sie stellt, spricht nicht gegen die Echtheit des Textes: In seiner Fassungslosigkeit will Odysseus unbedingt eine Bestätigung aus dem Mund des Neoptolemos hören. 1226 Auch Philoktet sah es so, dass Neoptolemos nur etwas ausgeführt hat (1010), aber Neoptolemos hatte sich auch entschieden, dem Befehl des Heeres und des Odysseus zu folgen (93 f.; 120; 925 f.); vgl. Ussher. Jetzt allerdings findet die Pflicht zum Gehorsam für Neoptolemos da eine Grenze, wo etwas Schändliches (1228) verlangt wird; vgl. Schmidt 1973, 221. 1227 ‚die (sc. zu tun) sich nicht für dich gehörte‘: Die Stellung der Negation ist bezeichnend. Odysseus will nicht sagen, dass sich die Tat überhaupt nicht gehört, sondern nur Neoptolemos meine, sie gehöre sich nicht für ihn. Außerdem spielt Odysseus die Angelegenheit dadurch herunter, dass er statt weiterhin Neoptolemos’ Begriff des ‚Fehlhandelns‘ aufzugreifen (1224 hamartanein, 1225 hamartia), jetzt einen schwächeren Ausdruck (negiertes ‚gehörend‘, ‚passend‘: prepon) benutzt; vgl. Pucci. 1228 ‚schändlichem Betrug‘: Neoptolemos beurteilt hier das, was geschehen ist, mit den gleichen Wörtern wie Philoktet (1136); vgl. auch Pucci. Das Prinzip, lieber ehrenvoll handelnd zu scheitern als auf schändliche Art erfolgreich zu sein, hatte Neoptolemos schon anfangs als seine ihm eigene Handlungsmaxime dargelegt (94 f.). ‚einen Mann‘: Diese unspezifische Angabe ist vielleicht so zu deuten, dass es Neoptolemos doch nicht leichtfällt, den Sachverhalt klar zu benennen. –

358

Exodos: 1229–1239

Od. Ne. Od. Ne. Od.

Ne. Od. Ne. Od.

Welchen? Weh mir! Planst du etwa etwas Unerhörtes? Nichts Unerhörtes, aber dem Sohn des Poias, … 1230 Was willst du tun? Wie mich eine Furcht überkommt! … von dem ich diesen Bogen hier nahm, will ich wieder zurück … O Zeus, was willst du sagen? Du hast doch nicht vor, ihn zurückzugeben? Doch, denn mit Schande und nicht zu Recht habe ich ihn in meinem Besitz. Bei den Göttern, sagst du das, um dich über mich lustig zu 1235 machen? Wenn Sich-lustig-zu-Machen bedeutet, die Wahrheit zu sagen. Was sagst du, Sohn Achills? Welche Rede führtest du da? Willst du, dass ich zwei- und dreimal dieselben Worte wiederhole? Ich hätte sie überhaupt nicht hören wollen, auch nicht einmal.

Οδ. Νε. Οδ. Νε. Οδ. Νε. Οδ. Νε. Οδ. Νε. Οδ.

τὸν ποῖον; ὤµοι· µῶν τι βουλεύῃ νέον; νέον µὲν οὐδέν, τῷ δὲ Ποίαντος τόκῳ, … τί χρῆµα δράσεις; ὥς µ’ ὑπῆλθέ τις φόβος. … παρ’ οὗπερ ἔλαβον τάδε τὰ τόξ’, αὖθις πάλιν … ὦ Ζεῦ, τί λέξεις; οὔ τί που δοῦναι νοεῖς; αἰσχρῶς γὰρ αὐτὰ κοὐ δίκῃ λαβὼν ἔχω. πρὸς θεῶν, πότερα δὴ κερτοµῶν λέγεις τάδε; εἰ κερτόµησίς ἐστι τἀληθῆ λέγειν. τί φής, Ἀχιλλέως παῖ; τίν’ εἴρηκας λόγον; δὶς ταὐτὰ βούλῃ καὶ τρὶς ἀναπολεῖν µ’ ἔπη; ἀρχὴν κλύειν ἂν οὐδ’ ἅπαξ ἐβουλόµην.

Ne. Od.

1230

1235

1229 τὸν ποῖον] Odysseus fragt nach der näheren Bestimmung von ἄνδρα (1228), vgl. zum Artikel K.-G. I 625, 2. 1231 τί χρῆµα : τί χρῆµα τί – χρῆµα ist ein kolloquialer Ausdruck, vgl. Stevens 1971 zu Eur. Andr. 181; 1976, 21 f. | τις : τοι Seyffert | τις φόβος] zur Stellung von τις vgl. zu 104. 1232 αὖθις πάλιν] sc. δοῦναι νοῶ o.ä. (vgl. 1233). 1233 οὔ : ἦ – οὔ τί που wird gebraucht in „incredulous or reluctant questions“ (GP 492). 1234 λαβὼν ἔχω] zu dieser periphrastischen Konstruktion (statt resultativen Perfekts) vgl. Moorhouse 206 f.; K.-G. II 61 f. 1235 θ͜εῶν] Synizese. | πότερα] ohne folgendes ἤ (K.-G. II 532 Anm. 10). Der zweite Teil kann aus v. 1237 ergänzt werden: ‚Machst du dich lustig oder was ist das für eine Rede?‘ Vgl. auch Schein, der auch auf die seltene Auflösung des zweiten Longum hinweist (noch 1314: πατέρα). | δὴ : Ø : σὺ Hermann – zu δὴ vgl. zu 1071. 1236 κερτόµησίς] das Wort ist hier erstmals belegt, und das ist zugleich sein einziges Vorkommen in der Dichtersprache. 1237 Ἀχιλλ͜έως] Synizese. 1238 ταὐτὰ : ταῦτα

Kommentar

359

Ähnlich unbestimmt hatte auch der ‚Kaufmann‘ nicht gleich Philoktet mit Namen genannt (571). Vgl. auch zu 1241. ‚List‘: Zur Funktion der List vgl. 88–107; 948. 1229 ‚Welchen?‘: Diese eigentlich überflüssige Frage des Odysseus offenbart seine fassungslose Ungläubigkeit. ‚Unerhörtes‘, wörtl. ‚Neues‘: Zur negativen Konnotation vgl. zu 52. 1231–1233 ‚mich eine Furcht überkommt‘: Odysseus erkennt klar, dass nach Übergabe des Bogens jedes Druckmittel fehlt, Philoktet nach Troia zu bringen, und sein Plan scheitern wird. 1232 Dies ist die inhaltlich entscheidende Aussage. Die Erregung auch des Neoptolemos ist formal daran zu erkennen, dass in diesem Vers durch Auflösung von zwei Längen zweimal drei kurze Silben hintereinanderstehen. ‚zurück …‘: Wegen der Unterbrechung durch Odysseus (der ‚geben‘ ergänzt, 1233) kommt Neoptolemos gar nicht mehr dazu, das Zurück g e b e n auszusprechen, er geht sogleich zur Rechtfertigung über (1234). 1233 ‚O Zeus‘: Der Anruf hat hier wohl keinen speziellen Bezug zu der von Odysseus beanspruchten Rolle als Diener des Zeus (990), er ist eher formelhaft (vgl. auch 1235) in einem extrem emotionalen Zustand wie bei Neoptolemos in seiner Ratlosigkeit (908). 1234 ‚Schande‘: Neoptolemos sieht den ,Fehler‘ sowohl in der schändlichen Art, wie er in den Besitz des Bogens gekommen ist (ähnlich schon 842; vgl. auch 1228; 1248 f.), als auch in der Tatsache, dass er ihn noch besitzt. Er fühlt sich wegen des Betrugs nicht als rechtmäßigen Besitzer. 1235–1236 ‚lustig zu machen‘: Odysseus kann so wenig glauben, dass es Neoptolemos ernst ist, dass er sogar die Möglichkeit des Verspottens in Betracht zieht und zunehmend verärgert reagiert. Dem setzt Neoptolemos seinen Wahrheitsanspruch entgegen. 1237 ‚Sohn Achills‘: Nur in v. 50, wo es im Zusammenhang um Neoptolemos’ Wesensart geht, die zur Intrige nicht passe (79 f.), und hier, wo seine Natur der Intrige konkret entgegensteht, spricht Odysseus Neoptolemos so an; vgl. Ussher. Den von Neoptolemos erhobenen Wahrheitsanspruch widerlegt Odysseus nicht, qualifiziert seine Rede eher als ungehörig ab. 1238–1239 Zu vergleichen ist die sprichwörtliche Redensart ‚Zwei- und dreimal (muss man) das Schöne (wiederholen)‘, nach CPG II 369,26 mit der Fortsetzung ‚aber das Schlechte auch nicht einmal‘. Vgl. Platon, Philebos 59 e 10–60 a 2; Dodds 1959 zu Platon, Gorgias 498 e 11. 1238 ‚wiederhole‘: Das griechische Wort (anapolein) bedeutet eigentlich ‚wieder umpflügen‘ und kann bildlich für ‚wiederholen‘ gebraucht werden. Nach Pindar (Nemeen 7,104 f.) ist dasselbe drei- und viermal umzupflügen (anapolein) gleichbedeutend mit Hilflosigkeit (aporia). 1239 ‚nicht hören wollen‘: vgl. dazu 86; 427.

360

Exodos: 1240–1246

Ne. Od. Ne. Od. Ne. Od. Ne.

Sei jetzt versichert, dass du alles, was zu sagen war, gehört hast. Es gibt, es gibt einen, der dich hindern wird, das zu tun. Was meinst du? Wer wird der sein, der mich daran hindern will? Die gesamte Heerschar der Achaier, und darunter ich. Klug geartet äußerst du doch nichts Kluges. Und du, weder was du sagst, noch was du tun willst, ist klug. Aber wenn es gerecht ist, ist das besser als deine ‚Klugheit‘.

Νε. Οδ. Νε. Οδ. Νε. Οδ. Νε.

εὖ νῦν ἐπίστω πάντ’ ἀκηκοὼς λόγον. ἔστιν τις, ἔστιν, ὅς σε κωλύσει τὸ δρᾶν. τί φής; τίς ἔσται µ’ οὑπικωλύσων τάδε; ξύµπας Ἀχαιῶν λαός, ἐν δὲ τοῖς ἐγώ. σοφὸς πεφυκὼς οὐδὲν ἐξαυδᾷς σοφόν. σὺ δ’ οὔτε φωνεῖς οὔτε δρασείεις σοφά. ἀλλ’ εἰ δίκαια, τῶν σοφῶν κρείσσω τάδε.

1240

1245

1240

1245

1240 πάντ’ … λόγον] normalerweise würde man hier einen Artikel erwarten (K.-G. I 633 Anm. 8). | ἀκηκοὼς : ἀκήκοας (Punkt nach ἐπίστω in Hs. L) – vermutlich handelt es sich um unterschiedliche Deutungen eines ursprünglichen ΑΚΗΚΟΟΣ, die Konstruktion mit Partizip ist die übliche. 1241 τὸ δρᾶν] vgl. zu 118. 1242 ἔσται Hss. : ἐστι Ebner | οὑπικωλύσων Hss. : οὑπικωλύων Herwerden – mit ἔσται ignoriert Neoptolemos, dass Odysseus bereitsteht, ihn zu hindern (vgl. ἔστιν, 1241), οὑπικωλύσων nimmt das Futur κωλύσει (1241) auf. | µ’ οὑπικωλύσων] statt ὁ ἐµὲ ἐπικωλύσων, das Pronomen steht betont voran (K.-G. I 616, 2). 1243 λαός : στρατός Trikl. – vgl. Homer, Ilias 7,434 λαὸς Ἀχαιῶν. | ἐν δὲ τοῖς Trikl., Buttmann : ἐν τοῖσδ᾿ – vgl. OC 742 ἐκ δὲ τῶν µάλιστ᾿ ἐγώ.  1245 δρασείεις] Desiderativum, vgl. 1001 u. Ai. 326; 585. | σοφά Brunck : σοφόν Hss. – die Pluralformen δίκαια und τῶν σοφῶν (1246) deuten darauf hin, dass hier σοφά stand, vielleicht wegen σοφόν (1244) verschrieben. 1246 τῶν σοφῶν] mit dem Artikel bezieht sich Neoptolemos auf Odysseus’ σοφά zurück: ‚das, was du als klug bezeichnetest‘.

Kommentar

361

1240–1243 Nach der dezidierten Feststellung des zunehmend abweisender reagierenden Neoptolemos, dass alles gesagt sei, akzeptiert Odysseus, dass er ihn nicht umstimmen kann, und ändert seine Taktik: Er beginnt Neoptolemos zu drohen, wobei er letztlich an die Macht des Heeres denkt (1243). Während Neoptolemos sich früher davor fürchtete, vor dem Heer, seinem Auftraggeber, als Verräter dazustehen (93 f.), ist er sich jetzt so der gerechten Sache sicher, dass die Drohungen ihn nicht beeindrucken (1251 f.). Vgl. auch zu 1404–1405. 1240 ‚alles, was zu sagen war‘: Mit einer entsprechenden apodiktischen Formel hatte Neoptolemos auch das für ihn problematische Truggespräch mit Philoktet beendet (389). 1241 ‚einen‘: Auch Odysseus nennt nicht gleich einen Namen (vgl. zu 1228). Ob er sich meint oder das Heer (1243), wie er auf Nachfrage behauptet, ist nicht zu klären. 1242 ‚Wer wird der sein …?‘: Mit der zukunftsgerichteten Nachfrage nach der Identität des ‚einen‘ (1241) ignoriert Neoptolemos die implizite Drohung des anwesenden Odysseus. 1243 Indem Odysseus zuerst die gesamte Heeresmacht nennt und sich als Teil der Gemeinschaft bezeichnet, erhöht er verbal seine Legitimation, Neoptolemos daran zu hindern, dem Heeresauftrag zuwiderzuhandeln (vgl. 1250). 1244–1246 ‚Klug … Kluges … klug … ‚Klugheit‘ ‘: Es liegt jeweils das griechische Wort sophos zugrunde, das im Philoktet schon mehrfach in teils positiver (423), teils – und überwiegend – in schillernder bis pejorativer Weise gebraucht worden war (vgl. zu 119; 431; 440; 1015). Während Neoptolemos wohl mit positiver Bedeutung Odysseus durchaus ‚Klugheit‘ zugesteht, sein konkretes Vorgehen aber eben nicht für ‚klug‘ hält (1244), bei Odysseus’ Kritik an Neoptolemos aus seiner Perspektive eher ein zumindest changierendes Verständnis vorliegen könnte (1245), muss in v. 1246, wenn das, was ‚gerecht‘ ist, als höherwertig angesehen wird als das, was sophos ist, Letzteres abträglich konnotiert sein, d. h. ‚Klugheit‘ im speziellen Verständnis des Odysseus als Mittel der Intrige, also zu ‚Gerissenheit‘ tendierend. Neoptolemos bestreitet Odysseus, dass sein ‚kluger Plan‘ (14) seiner Klugheit gemäß ist, während Odysseus gerade die Ablehnung dieses Vorgehens als unklug bezeichnet. Darüber, was inhaltlich mit ‚klug‘ zu bezeichnen ist, sind sich beide so uneins wie über die Bedeutung von ‚gerecht‘ (vgl. zu 1246–1248 a). – Für Neoptolemos ist Odysseus’ Drohung vermutlich deshalb nicht klug, weil sie gegen eine gerechte Sache geht. Überdies mag er annehmen, dass Odysseus die Bogenübergabe nicht wird verhindern können (vgl. zu 1240–1243). 1246–1248 a ‚gerecht … gerecht‘: Während Neoptolemos ‚gerecht‘ (1246) im Sinn einer wertbestimmten Moralität versteht (vgl. ‚schändlich‘, 1248 b) – in den vv. 925 f. konnte er das Gerechte und das Nützliche (sc. den Intrigenplan) noch vereinbaren (vgl. Kamerbeek) –, begreift Odysseus darunter rein formal sein individuelles ‚Urheberrecht‘ am Intrigenplan, das unabhängig von inhaltlichen Wertkategorien gilt (1247–1248 a). – Die moralische Problematik des Intrigenplans hatte Odysseus ursprünglich selbst zur Sprache gebracht (82– 85). Vgl. auch zu 82.

362

Exodos: 1247–1260

Od.

Und wie ist es gerecht, gerade das, was du durch meinen Rat gewonnen hast, das wieder herzugeben? Ne. Den schändlichen Fehler, den ich beging, will ich versuchen, wiedergutzumachen. Das Heer der Achaier fürchtest du nicht, wenn du das tust? 1250 Mit der Gerechtigkeit im Bunde fürchte ich nicht, wovor du mir Angst machst. ⟨ ⟩ Nein, auch deiner Gewalt füge ich mich in meinem Handeln nicht. 1252 Nicht mit den Troern also, sondern mit dir werden wir kämpfen. So geschehe, was da kommen soll. Od. Siehst du meine Rechte den Schwertgriff anfassen? Ne. Ja, und auch mich wirst du 1255 ebendasselbe tun sehen, und ohne noch zu zögern! Indes, ich werde dich (gewähren) lassen: Aber dem gesamten Heer werde ich das sagen, wenn ich dort bin, das dich bestrafen wird.

Od. Ne. Od. Ne. Od. Ne. Od.

Odysseus entfernt sich. Neoptolemos ruft die beiden folgenden Verse hinter ihm her und geht dann näher an die Höhle heran. Ne.

Du bist zur Vernunft gekommen; und wenn du künftig so denkst, könntest du dich vielleicht aus Schwierigkeiten heraushalten. 1260

Οδ.

καὶ πῶς δίκαιον, ἅ γ’ ἔλαβες βουλαῖς ἐµαῖς, πάλιν µεθεῖναι ταῦτα; Νε. τὴν ἁµαρτίαν αἰσχρὰν ἁµαρτὼν ἀναλαβεῖν πειράσοµαι. στρατὸν δ’ Ἀχαιῶν οὐ φοβῇ, πράσσων τάδε; ξὺν τῷ δικαίῳ τὸν σὸν οὐ ταρβῶ φόβον. ⟨ ⟩ ἀλλ’ οὐδέ τοι σῇ χειρὶ πείθοµαι τὸ δρᾶν. οὔ τἄρα Τρωσίν, ἀλλὰ σοὶ µαχούµεθα. ἔστω τὸ µέλλον. Οδ. χεῖρα δεξιὰν ὁρᾷς κώπης ἐπιψαύουσαν; Νε. ἀλλὰ κἀµέ τοι ταὐτὸν τόδ’ ὄψῃ δρῶντα κοὐ µέλλοντ’ ἔτι. καίτοι σ’ ἐάσω· τῷ δὲ σύµπαντι στρατῷ λέξω τάδ’ ἐλθών, ὅς σε τιµωρήσεται. ἐσωφρόνησας· κἂν τὰ λοίφ’ οὕτω φρονῇς, ἴσως ἂν ἐκτὸς κλαυµάτων ἔχοις πόδα.

Οδ. Νε. Οδ. Νε. Οδ. Νε. Οδ. Νε.

1250 1252 1255

1260

1247 ἅ γ’] γε bewirkt hier nicht wie 663 einen kausalen Nebensinn (so aber Schein), sondern ist determinativ (GP 123 f.). 1248–1249 ἁµαρτίαν … ἀναλαβεῖν] vgl. Eur. Ion 426 τὰς πρὶν ἀναλαβεῖν ἁµαρτίας. 1251 φόβον Hss. : † φόβον † Dawe : στρατόν Hermann (mit Annahme einer Lücke danach) : ψόφον Fröhlich – s. ETS, S. 443 f. 1252–1256 die Personenzuweisungen variieren in den Hss., vgl. im Einzelnen Dawe. 1252 ἀλλ’ οὐδέ τοι] vgl. GP 552 (5). | πείθοµαι] mit Dativ und Infinitiv (zu τὸ δρᾶν vgl. Ant. 1105 f.; K.-G. II 43 f.); vgl. Platon, Protagoras 338 a 7 f. 1253 τἄρα] vgl. GP 555 (9). 1255 ἀλλὰ] zur Funktion vgl. zu 48. 1257 καίτοι] vgl. GP 558 (v): „here Odysseus’ change of intention ignores Neoptolemus’ words, to which he hardly listens: see Jebb“. 1260 ἐκτὸς κλαυµάτων ἔχοις πόδα] vgl. z. B. Eur. Herakl. 109 καλὸν δέ γ᾿ ἔξω πραγµάτων ἔχειν πόδα.

Kommentar

363

1247–1249 Die sich gegenüberstehenden Positionen sind formal durch Unterbrechung der Stichomythie hervorgehoben, indem jedem Sprecher eineinhalb Verse gehören, mit Sprecherwechsel in v. 1248. 1250 ‚Heer der Achaier‘: Da Neoptolemos unbeeindruckt bleibt, wiederholt Odysseus seinen Hinweis auf das Heer, in dessen Auftrag Neoptolemos ja handeln soll. Die Drohungen, die Neoptolemos jetzt selbstbewusst zurückweist, wird er später durchaus ernst nehmen (1404 ff.). 1251–1252 Wie aus der Antwort des Neoptolemos (1252) zu schließen ist, hat Odysseus in der (mit Sicherheit anzunehmenden) Lücke nach v. 1251 vermutlich eindeutig (vgl. 1243) damit gedroht, mit eigener Hand gegen Neoptolemos vorzugehen, etwa ‚Mit der Gerechtigkeit im Bunde wird mein Arm dich zwingen‘ (zum denkbaren griechischen Text s. ETS, S. 442 f.). 1253–1254 a Auch Odysseus’ Drohung mit der Kriegsmacht der Griechen (wie gegen die Troianer) scheint Neoptolemos nicht zu beeindrucken, für Odysseus bleibt daher als Konsequenz nur die Androhung direkter Gewalt. 1254 b–1256 Es kommt fast zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung, wobei die gesteigerte Erregung sich auch durch die Sprecherwechsel im Vers (1254; 1255), die Auflösung der Stichomythie, ausdrückt. – Ausstattungsmäßig ist vorausgesetzt, dass beide Schwerter mitführen, und zwar von ihrem ersten Auftreten an. Denn selbst wenn Neoptolemos nach v. 1080 den ganzen Weg zum Schiff zurückgegangen sein sollte (vgl. aber zu 1222–1223), wäre nicht einzusehen, warum er sich für die Bogenübergabe aus dem Schiff ein Schwert geholt haben sollte. Entsprechendes gilt für den zurückkehrenden Odysseus. – Den Bogen (mit Köcher?) wird Neoptolemos in der linken Hand halten, sodass seine Drohung, das Schwert zu ziehen, glaubhaft wirken kann. 1257–1258 Der Rückzieher des Odysseus kommt – nach seiner Drohung (1254 b f.) – überraschend. Er erklärt ihn nicht, aber damit geht er über Neoptolemos’ Gegendrohung hinweg und vermeidet, sich dieser unmittelbar zu stellen; vgl. auch Schein. Philoktet wird Odysseus gleich als ‚feige‘ charakterisieren (1305–1307). Die angekündigte Anklage der Handlungsweise des Neoptolemos beim Heer ist eine Ersatzhandlung für das unterlassene handgreifliche Vorgehen; seine grundsätzliche Einstellung hat Odysseus nicht geändert. Wenn Odysseus seine Ankündigung, Neoptolemos beim Heer anzuklagen, verwirklichen will, setzt das voraus, dass er ein eigenes Schiff hat; vgl. zu 125. 1259 ‚zur Vernunft gekommen‘: Neoptolemos meint den Verzicht auf die kämpferische Auseinandersetzung. Da Odysseus nicht mehr antwortet und Neoptolemos sich dann Philoktet zuwendet (1261), ist davon auszugehen, dass Odysseus dabei ist, sich zurückzuziehen. 1260 ‚aus Schwierigkeiten heraushalten‘: Im Griechischen ein bildhafter Ausdruck: ‚wirst du vielleicht den Fuß aus dem Bereich der Dinge, die Weinen verursachen, heraushalten‘. Neoptolemos meint wohl, Odysseus werde dann nicht in Gefahr geraten, ihm im Schwertkampf zu unterliegen. Aber Odysseus wird sich nicht ‚aus Schwierigkeiten heraushalten‘, wie sich gleich ergibt (1293 ff.).

364

Ph.

Exodos: 1261–1266

Du aber, Sohn des Poias, Philoktet!, komm heraus, verlasse deine felsige Behausung! (von innen) Was für ein lärmendes Geschrei erhebt sich da wieder bei der Höhle? Wozu ruft ihr mich heraus? Was wünscht ihr, Fremde?

Philoktet ist aus der Höhle getreten und sieht jetzt, wen er vor sich hat. Weh mir! Nichts Gutes! Ihr seid doch wohl nicht da, weil ihr mir 1265 zu meinen Leiden noch ein ungeheuerliches Leid bringen wollt?

Φι.

σὺ δ’, ὦ Ποίαντος παῖ, Φιλοκτήτην λέγω, ἔξελθ’, ἀµείψας τάσδε πετρήρεις στέγας. τίς αὖ παρ’ ἄντροις θόρυβος ἵσταται βοῆς; τί µ’ ἐκκαλεῖσθε; τοῦ κεχρηµένοι, ξένοι; ὤµοι· κακὸν τὸ χρῆµα. µῶν τί µοι µέγα πάρεστε πρὸς κακοῖσι πέµποντες κακόν;

1265

1261 σὺ : σοὶ  |  Φιλοκτήτην Hss. : Φιλοκτήτης Matthiae (Nominativ statt Vokativ, dabei λέγω auf σοὶ bezogen) – λέγω hebt den Eigennamen hervor (K.-G. I 283 Anm. 4; Jebb). 1262 ἀµείψας] ἀµείβω ‚wechseln‘ kann allgemein vom Ortswechsel (heraus- und hineingehen) gebraucht werden (LSJ s.v A. I. 3. b). | στέγας] zur Bezeichnung der Höhle auch 286; 298; poetischer Plural wie auch ἄντροις (1263). 1264 κεχρηµένοι] zur Bedeutung ‚wünschen‘ vgl. LSJ s. v. C. I.1+2. 1265 κακὸν τὸ χρῆµα Hss. : κακῶν· τί χρῆµα; Page (κακῶν bereits Fl. Chrestien) – zum kolloquialen χρῆµα vgl. zu 1231; vielleicht beabsichtigter Anklang an κεχρηµένοι (1264). | µέγα Hss.: νέον Schneidewin : νέα Brunck – zu µέγα „with a bad sense“ vgl. LSJ s. v. II. 5; vgl. Komm. zu 1266. 1266 πέµποντες] ‚herbeigeleiten‘ (LSJ s. v. III.1) im Sinn von ‚bringen‘; zum finalen Nebensinn des Partizips vgl. K.-G. II 86, 5 mit Verweis auf I 141 f. | κακόν (Hss.) : κακά – κακόν bezogen auf µέγα (1265).

Kommentar

365

1261–1307 In dieser dramatischen Szene erhält Philoktet den Bogen zurück, Odysseus’ Plan scheitert endgültig. Bevor Neoptolemos Philoktet den Bogen zurückgibt, macht er im Sinne des Auftrags des Heeres einen letzten Versuch zu klären, ob Philoktet nicht doch nach Troia mitfahren will. Dieser Versuch wirkt auf Philoktet so, als handle Neoptolemos immer noch unter Odysseus’ Einfluss, und er äußert daher seine entschiedene Ablehnung in einer heftigen Auseinandersetzung (mehrfacher Sprecherwechsel im Vers), die schließlich zu einem Hassausbruch gegen die Atreus-Söhne, Odysseus und auch gegen Neoptolemos führt. Da kommt es zu einem Umschwung, als Neoptolemos dem zunächst ungläubigen Philoktet den Bogen übergibt. Odysseus, der plötzlich wieder herbeigeeilt war, kann die Rückgabe nicht mehr unterbinden und flieht vor dem von Philoktet auf ihn gerichteten Pfeil, dessen Abschuss Neoptolemos gerade noch verhindern kann. 1261 ‚Sohn des Poias, Philoktet!‘: Die doppelte Anrede kennzeichnet die Bedeutung, die Neoptolemos der Begegnung beimisst. Aus dem Text ergibt sich, dass Philoktet sich in der Höhle aufhält und den draußen stattfindenden Streit inhaltlich nicht hat verfolgen können. 1263 ‚lärmendes Geschrei‘: Der griechische Ausdruck (thorybos boēs) lässt sich kaum nur auf das Herausrufen des Neoptolemos beziehen, weil thorybos vornehmlich das verworrene Schreien einer Menge bezeichnet. Man soll wohl annehmen, dass Philoktet Stimmen von der am Ende sicher auch in der Lautstärke eskalierenden Auseinandersetzung zwischen Odysseus und Neoptolemos gehört hat (worauf er zunächst reagiert) und daher, als er den einzelnen Ruf hört, vermutet, dass mehrere etwas von ihm wollen. Da nur der Chor der Seeleute bei Philoktet verblieben war, denkt er an diese (1264). 1264 ‚Fremde‘: Zu Philoktets Anrede des Chors vgl. z. B. 1184; 1190, 1203. 1265 ‚Weh mir!‘: Der Wehlaut signalisiert, dass Philoktet erkannt hat, wer ihn herausgerufen hat. ‚Nichts Gutes!‘: Diese Wendung entspricht im Deutschen am ehesten der kolloquialen griechischen Wendung (wörtl.) ‚Übel ist das Ding‘. Philoktet befürchtet etwas Schlimmes, hofft aber, dass es nicht eintritt. Denn seine anschließende Frage (1265 f.) ist so formuliert, dass sie eine Verneinung erwarten lässt. ‚Ihr‘: Ob Philoktet mit dem Plural speziell Neoptolemos und Odysseus bezeichnen will (so Schein), ist fraglich. Weil die Seeleute nicht zum Schiff gerufen wurden (vgl. 1080) und sich auch nicht von sich aus entfernt haben, müssen sie noch anwesend sein und haben nun wieder ihren Herrn bei sich, daher kann Philoktet ebendiese Gruppe meinen. Nur diese Leute sind wirklich da, im Unterschied zu Odysseus, an dessen Erscheinen Philoktet später erst gar nicht glauben will (1295 f.). 1266 (griechischer Text: 1265 f.) ‚ungeheuerliches Leid‘: Philoktet kann sich als Grund für die neuerliche Kontaktaufnahme offenbar nur vorstellen, dass man ihm ein weiteres Leid zufügen will, das alles bisher Erlittene im Ausmaß noch übertrifft.

366

Exodos: 1267–1281

Ne. Ph.

Nur Mut! Höre, mit welcher Botschaft ich zu dir gekommen bin. Ich bin in Furcht. Denn auch zuvor erging es mir auf deine schönen Reden hin schlecht, weil ich deinen Worten vertraute. Ist es nicht möglich, seinen Sinn auch wieder zu ändern? 1270 So warst du deinen Worten nach auch, als du mir den Bogen stahlst: vertrauenswürdig – Unheil bringend im Geheimen! Aber diesmal bestimmt nicht! Vielmehr will ich von dir hören, ob du entschlossen bist, hierzubleiben und auszuharren oder mit uns zu fahren. Ph. Hör auf, sprich nicht weiter! 1275 Denn vergeblich wird alles, was du sagst, gesagt sein. So ist es beschlossen? Ph. Noch entschiedener, glaube mir, als ich es sagen kann. Nun gut, ich wünschte mir zwar, du ließest dich überzeugen durch meine Worte; wenn aber meine Rede nicht zum Ziel führt, höre ich auf. Ph. Ja, alles wirst du vergeblich sagen; 1280 denn niemals wirst du mein Wohlwollen gewinnen,

Ne. Ph. Ne.

Ne. Ne.

Νε. Φι. Νε. Φι. Νε.

Νε. Νε.

θάρσει· λόγους δ’ ἄκουσον, οὓς ἥκω φέρων. δέδοικ’ ἔγωγε. καὶ τὰ πρὶν γὰρ ἐκ λόγων καλῶν κακῶς ἔπραξα, σοῖς πεισθεὶς λόγοις. οὔκουν ἔνεστι καὶ µεταγνῶναι πάλιν; τοιοῦτος ἦσθα τοῖς λόγοισι χὤτε µου τὰ τόξ’ ἔκλεπτες, πιστός, ἀτηρὸς λάθρᾳ. ἀλλ’ οὔ τι µὴν νῦν· βούλοµαι δέ σου κλύειν, πότερα δέδοκταί σοι µένοντι καρτερεῖν ἢ πλεῖν µεθ’ ἡµῶν. Φι. παῦε, µὴ λέξῃς πέρα. µάτην γὰρ ἃν εἴπῃς γε πάντ’ εἰρήσεται. οὕτω δέδοκται; Φι. καὶ πέρα γ’ ἴσθ’ ἢ λέγω. ἀλλ’ ἤθελον µὲν ἄν σε πεισθῆναι λόγοις ἐµοῖσιν· εἰ δὲ µή τι πρὸς καιρὸν λέγων κυρῶ, πέπαυµαι. Φι. πάντα γὰρ φράσεις µάτην· οὐ γάρ ποτ’ εὔνουν τὴν ἐµὴν κτήσῃ φρένα,

1270

1275

1280

1267 δ’ (Hss.) : τ᾿ Wakefield – δ’ „Continuative“ (GP 162). 1268 γὰρ] zur späten Stellung vgl. GP 95 f. | ἐκ] zum Gebrauch von ἐκ vgl. K.-G. I 460. 1269 σοῖς (Hss.) : σοῦ – das Personalpronomen müsste enklitisch sein und sollte nicht in Sperrung stehen (K.-G. I 559, 3). | λόγοις Hss. : δόλοις A. Grégoire – zur Wiederholung (λόγων, 1268) vgl. Jebb. 1271 τοιοῦτος] auf πιστός (1272) zu beziehen, vgl. OT 435 f. | ἦσθα : οἶσθα 1272 ἔκλεπτες] Imperfekt, gemeint ist die ganze Intrige, die mit dem Bogendiebstahl verbunden ist. 1273  ἀλλ’ οὔ τι µὴν] starke adversative Beteuerung; vgl. El. 817; GP 341 f. | µὴν : µὴ – µὴ Haplographie (µὴν νῦν). 1275 παῦε Trikl. : παῦσαι (Hss.) – παῦε (intransitiv, LSJ s. v. II) ist metrisch notwendig. 1276 ἃν : ἂν | γε Hss. : σὺ Dobree | ἃν εἴπῃς γε] „anything you do say“ (GP 124). 1277 καὶ πέρα γ’ ἴσθ’ ἢ λέγω] ~ καὶ πέρα γε (sc. δέδοκται), ἴσθ’, ἢ λέγω. Zu ἢ λέγω vgl. Eur. Alk. 1082; Hek. 667. 1278 ἀλλ’] zustimmend, vgl. zu 645; πέπαυµαι (1280) nimmt παῦε (1275) auf und drückt so das Einlenken aus (GP 17). | ἤθελον … ἄν] irrealer Wunsch; vgl. Wakker 2006, 174. 1280 γὰρ] zustimmend, vgl. zu 466. 1281 κτήσῃ Hss. : θήσῃ Wakefield – vgl. zur Konstruktion Eur. Or. 267 τὸ θεῖον

Kommentar

367

1267 ‚Höre‘: Neoptolemos’ Versuche, das Vertrauen Philoktets mit Worten wiederzugewinnen, stoßen bei Philoktet auf Unglauben, weil Neoptolemos ihn mit der ‚Zunge‘, wie von Odysseus empfohlen (96–99), schon einmal getäuscht hatte (1268 f.; 1271 f.). In den vv. 961 f. hatte Philoktet noch eine Sinnesänderung bei Neoptolemos für denkbar gehalten (und sie wäre auch fast eingetreten, 965 ff.); jetzt ist er skeptischer geworden. 1272 ‚vertrauenswürdig – Unheil bringend im Geheimen‘: An früherer Stelle hatte Philoktet entlastend davon gesprochen, dass Neoptolemos nur von schlechten Menschen angeleitet worden sei (971–973; 1006–1012). Seine Beschreibung des Vorgehens von Neoptolemos ist jedoch völlig zutreffend. 1273–1275 Die Frage, ob er mit nach Troia fahren werde, stellt Neoptolemos unvermittelt an einen Philoktet, der noch ganz seiner Verbitterung wegen der früheren Täuschung durch ihn hingegeben ist (vgl. 1280 b–1284). 1275 ‚uns‘: Vermutlich meint Neoptolemos mit ‚uns‘ zumindest primär sich und seine Seeleute, es könnten aber auch alle auf Lemnos gelandeten Griechen mit einbezogen sein, wozu dann auch Odysseus gehört. ‚Hör auf, sprich nicht weiter!‘: Neoptolemos hat zwar das Reizwort ‚Troia‘ nicht gebraucht, aber wenn er ‚mit uns‘ sagt und dabei den Bogen in der Hand hält, ist das Fahrtziel klar. 1278–1279 (griechischer Text: 1278) ‚überzeugen durch meine Worte‘: Vgl. die Formulierung der Helenos-Weissagung durch den ‚Kaufmann‘ (612), an die sich der Zuschauer erinnert fühlen kann. Helenos hatte die notwendige Vorgehensweise der Griechen angegeben, Neoptolemos beschreibt hier die erhoffte Reaktion Philoktets (vgl. zum Perspektivwechsel Visser 1998, 192). Allerdings hat Neoptolemos den Bogen noch nicht zurückgegeben, es handelt sich insofern nicht um ein reines Überzeugen durch Worte (vgl. Visser, ebd. 191 f.); Philoktet muss daher weiterhin annehmen, er solle genötigt werden. 1279–1280 Abrupt gibt Neoptolemos den Versuch auf, Philoktet ohne Rückgabe des Bogens für Troia zu gewinnen, ohne dass sein weiteres Vorgehen erkennbar wird. Gegenüber Odysseus hatte er allerdings schon von der Rückgabe des Bogens gesprochen (1232). ‚Ziel‘: Damit ist kairos übersetzt, womit genau der Punkt bezeichnet wird. der örtlich oder zeitlich zu treffen ist; vgl. zu 151. Zur Formulierung vgl. Trédé 1993, 206 f. „Si mon propos ne touche pas au but (n’emporte pas la décision, reste inefficace), je m’arrête.“ ‚höre ich auf‘: Damit wird ‚Hör auf‘ (1275) aufgenommen, nur jetzt im Perfekt, was die Endgültigkeit des Aufhörens bezeichnet (‚bin ich still‘).

368

Ph. Ne. Ph. Ne.

Φι. Νε. Φι. Νε.

Exodos: 1282–1292

der du mir mit List die Grundlage für mein Leben genommen und sie geraubt hast; und dann kommst du und willst mich mahnend bereden, des besten Vaters mir verhasstester Sohn! Mögt ihr zugrunde gehen, vor allem die Atreus-Söhne, dann aber 1285 der Sohn des Laërtes und du … Ne. Fluche nicht weiter! Sondern nimm aus meiner Hand den Bogen da. Was hast du gesagt? Werde ich ein zweites Mal betrogen? Ich schwöre, nein!, bei Zeus’, des höchsten, heiliger Majestät. O liebstes Wort, wenn du die Wahrheit sprichst! 1290 Die Tat wird der Beweis sein: Komm, strecke deine rechte Hand aus und sei Herr deiner Waffe! ὅστις γ’ ἐµοῦ δόλοισι τὸν βίον λαβὼν ἀπεστέρηκας· κᾆτα νουθετεῖς ἐµὲ ἐλθών, ἀρίστου πατρὸς ἔχθιστος γεγώς. ὄλοισθ’, Ἀτρεῖδαι µὲν µάλιστ’, ἔπειτα δὲ ὁ Λαρτίου παῖς, καὶ σύ … Νε. µὴ ’πεύξῃ πέρα· δέχου δὲ χειρὸς ἐξ ἐµῆς βέλη τάδε. πῶς εἶπας; {οὐκ} ἆρα δεύτερον δολούµεθα; ἀπώµοσ’ ἁγνὸν Ζηνὸς ὑψίστου σέβας. ὦ φίλτατ’ εἰπών, εἰ λέγεις ἐτήτυµα. τοὔργον παρέσται φανερόν. ἀλλὰ δεξιὰν πρότεινε χεῖρα, καὶ κράτει τῶν σῶν ὅπλων.

1285

1290

δυσµενὲς κεκτήµεθα. 1282 ὅστις γ’] zu γέ vgl. zu 250 (ὅν γ’); ὅστις statt ὅς, weil auch auf die Art des Neoptolemos angespielt wird (~ ‚da du so einer bist, dass du …‘). | γ’ ἐµοῦ Hss. : γέ µου Blaydes – Blaydes’ Worttrennung ist erwägenswert, der Akzent liegt dann ganz auf τὸν βίον. | βίον Hss. : βιὸν Mehler – vgl. Komm. 1284 ἐλθών Hss. : ἐλθεῖν (varia lectio in zwei Hss.), Blaydes [sc. ἐς Τροίαν] – νουθετεῖν ist mit Infinitiv offenbar nicht belegt. | ἔχθιστος Hss. : αἴσχιστος Pierson – Philoktet, der sich verraten glaubt, kann durchaus seinem Hass Ausdruck geben, wie auch gleich 1285 f., sodass eine Änderung der Überlieferung zumindest nicht zwingend ist; vgl. Ll.-J./W.1. | γεγώς] bezeichnet sowohl die Abstammung von Achill als auch, dass sich Neoptolemos als ἔχθιστος erwiesen hat (Kamerbeek). 1286 Λαρτίου : Λαερτίου – Λαρτίου wird durch das Metrum gefordert; vgl. auch zu 87. 1288   {οὐκ} ἆρα Porson : οὐκ ἆρα oder οὐκ ἄρα Hss. : οὐ γὰρ Wakefield – οὐκ ἆρα / ἄρα ist metrisch nicht möglich; die für die Antwort offene zweifelnde Frage passt zur Situation. 1289 ἀπώµοσ’] Aorist, der Schwur ist gewissermaßen schon vorweg geleistet und steht jetzt unabänderlich fest (K.-G. I 164 f.; Moorhouse 195 f.); vgl. aber Lloyd 1999, 31 „no more than an emphatic denial of Philoctetes’ suspicions“. | ἁγνὸν Wakefield : ἁγνοῦ Hss. – zur Funktion des Akkusativs (ἁγνὸν … σέβας) vgl. Aristophanes, Ritter 424. | ὑψίστου +Wakefield : ὕψιστον (Hss.) – es sieht so aus, als seien die Epitheta in der Überlieferung jeweils an das falsche Bezugswort angepasst worden. Die Junktur ὕψιστον σέβας wäre singulär, während ὕψιστος ein Kulttitel des Zeus ist (z. B. Tr. 1191). Die Verbindung von ἁγνός mit Zeus ist zwar möglich (Aisch. Hik. 653), aber σέβας ist in solchen Zusammenhängen üblicher (Aisch. Eum. 885; Soph. OT 830), und wenn ὕψιστος auf Zeus zu beziehen ist, spricht alles dafür, nicht auch noch ἁγνός als Epitheton für Zeus zu betrachten; vgl. Ll.-J./W.1, anders Schein. 1291 παρέσται (Hss.) : πάρεστι : τάχ᾿ ἔσται Blaydes – zu παρέσται vgl. OC 726 (Jebb); das Futur ist der Ankündigung angemessener.

Kommentar

369

1282 ‚List‘: Genau dieses Vorgehen hatte Neoptolemos gegenüber Odysseus, der es für unbedingt notwendig hielt (107), als Fehler bezeichnet (1228). ‚Grundlage für mein Leben‘, wörtl. ‚Leben‘: Es ist wahrscheinlich, dass bios, wie in v. 931 (vgl. Komm.), so auch hier als bíos (Leben im Sinne von ‚Lebensgrundlage‘) und nicht als biós (Bogen) zu verstehen ist, ein Wort, das in der erhaltenen tragischen Dichtung singulär wäre. Neoptolemos hat zwar den Bogen geraubt, aber damit, was entscheidender ist, das, womit sich Philoktet ernähren kann (vgl. 1108–1110; 1146 ff.). Ob die Zuschauer, wenn der Schauspieler bíos akzentuierte, eine Anspielung auf die Bedeutung ‚Bogen‘ haben mithören sollen (so Robinson 1969, 43 f.), muss offenbleiben. 1284–1286 a ,des besten Vaters mir verhasstester Sohn‘: In dieser prägnanten Formel kommt die ganze Enttäuschung Philoktets zum Ausdruck, der dem Sohn wegen der Qualitäten des Vaters vertraut hat. In den anschließenden Fluch bezieht er dann auch diejenigen mit ein, die ihn ausgesetzt haben (die Atreus-Söhne und Odysseus), aber besonders herausgehoben ist (der Betrüger) Neoptolemos. Vgl. Schein. 1286 b–1287 Neoptolemos unterbricht die Fluchrede Philoktets mitten im Vers, da er sich offenbar – nach dem vergeblichen Umstimmungsversuch mit ‚Worten‘ – zur ‚Tat‘ (1291) entschlossen hat. 1289 ‚Zeus‘: Zu Zeus als Schwurgott vgl. zu 1324. 1291–1292 ‚Die Tat wird der Beweis sein‘, wörtl. ‚Die Tat wird da sein als etwas Offensichtliches‘: D. h., durch die Tat wird es evident werden, dass Neoptolemos die Wahrheit sagt und es ehrlich meint. Auch gegenüber dem Schwur bei Zeus war Philoktet noch skeptisch geblieben (1290). ‚rechte Hand‘: Dass hier ausdrücklich die rechte Hand genannt wird, ist vielleicht nicht ohne Bezug zu der per Handschlag (mit der rechten Hand, 813; 1398) von Neoptolemos eingegangenen Verpflichtung (vgl. Ussher); bei der Bogenübergabe durch Philoktet (776) spielte die rechte Hand keine Rolle (anders Belfiore 1994, 126 f.), und sie ist auch nicht die Hand (anders als Odysseus’ kampfbereite rechte Hand am Schwert, 1254), mit der ein Bogenschütze seine Waffe beim Kampf hält. 1292 ‚deiner Waffe‘: Neoptolemos betont ausdrücklich das Besitzverhältnis; dass er den Bogen nicht zu Recht in Besitz hat, ist ihm bewusst (1234).

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Exodos: 1293–1299

Neoptolemos ist dabei, Philoktet den Bogen zu geben. Plötzlich ist Odysseus zu hören. Od. Ph.

Aber ich verbiete es – die Götter sind meine Zeugen! – im Namen der Atreus-Söhne und des ganzen Heeres! Sohn, wessen Stimme? Ich habe doch nicht Odysseus gehört?

1295

Odysseus zeigt sich Philoktet. Od. Doch, gewiss! Und nahe siehst du den, der dich nach Troia bringen wird mit Gewalt, mag der Sohn Achills es wollen oder nicht. Philoktet hat den Bogen in den Händen, macht ihn schussbereit. Ph.

Nicht ungestraft, wenn dieser Pfeil auf dich gerichtet wird!

Οδ.

ἐγὼ δ’ ἀπαυδῶ γ’, ὡς θεοὶ ξυνίστορες, ὑπέρ τ’ Ἀτρειδῶν τοῦ τε σύµπαντος στρατοῦ. τέκνον, τίνος φώνηµα; µῶν Ὀδυσσέως ἐπῃσθόµην; Οδ. σάφ’ ἴσθι· καὶ πέλας γ’ ὁρᾷς, ὅς σ’ ἐς τὰ Τροίας πεδί’ ἀποστελῶ βίᾳ, ἐάν τ’ Ἀχιλλέως παῖς ἐάν τε µὴ θέλῃ. ἀλλ’ οὔ τι χαίρων, ἢν τόδ’ ὀρθωθῇ βέλος.

Φι.

Φι.

1295

1293 δ’ … γ’] „In retorts and lively rejoinders“ (GP 152 f. [I]). | ὡς Hss. : ὦ Reiske : ᾧ Tournier – ὡς wie in Ausrufesätzen, K.-G. II 439. 1294 ὑπέρ] vgl. zu dieser Bedeutung K.-G. I 486 f. | τ’ Trikl. : Ø (Hss.) – zur Stellung von τ’ vgl. zu 185. 1295–1296 mit der in den Text gesetzten Interpunktion ergibt sich eine erregtere Sprechweise (vgl. Jebb), als wenn man nach φώνηµα und Ὀδυσσέως Kommata setzt (so Ll.-J./W.; Dawe), d. h. φώνηµα von ἐπῃσθόµην abhängig sein lässt und φώνηµα noch einmal zu Ὀδυσσέως ergänzt. 1295 µῶν] Philoktet kann nicht glauben, dass er Odysseus hört, und erwartet eine verneinende Antwort. 1299 οὔ τι χαίρων] vgl. zu diesem gerne bei Drohungen angewandten Idiom Bruhn § 247, 21.

Kommentar

371

1293–1298 Während der Übergabe des Bogens erscheint überraschend Odysseus wieder. Jetzt wird klar, dass er nach v. 1258 nicht wirklich weggegangen, sondern in Hörweite geblieben ist, jedoch so, dass ihn die Zuschauer nicht sehen konnten und es glaubhaft ist, dass er sich außerhalb des Blickfelds von Philoktet und Neoptolemos befand. Bühnentechnisch wird man das so eingerichtet haben, dass Odysseus ein Stück weit durch den Seiteneingang (durch den man sich den Weg zu seinem Schiff vorstellen soll) gegangen ist. Ob er, als er zu sprechen anfängt, nur von Philoktet nicht gesehen wird (vgl. 1295 f.) oder auch von den Zuschauern nicht, ist nicht zu entscheiden. Dieser zweite Versuch des Odysseus, die Bogenrückgabe an Philoktet zu verhindern (beendet durch den endgültigen Abgang des Odysseus während v. 1302), fungiert als ein knapp gefasstes Gegenbild zur Szene mit dem ersten, erfolgreichen Versuch (974 b–1080): Anders als in der früheren Szene ist Philoktet, nun wieder im Besitz des Bogens, nicht mehr wehrlos, steht Neoptolemos nicht schweigend dabei, sondern greift seinen eigenen ethischen Prinzipien gemäß aktiv in das Geschehen ein, und geht Odysseus nicht freiwillig (1053), muss vielmehr schmählich die Flucht ergreifen. Er scheitert, ist eben nicht siegreich (1052), weil er seine Methode nicht ändert, im Gegenteil sich zur Gewalt bekennt. Damit wird indirekt auch der Weg, den Neoptolemos eingeschlagen hat, als der richtigere erkennbar, obwohl auch er noch nicht zum Erfolg geführt hat. 1293–1294 Odysseus tritt auf als Repräsentant der Heeresführung und der Gesamtheit des Heeres vor Troia, der unter Berufung auf die Götter unbeirrt seine Mission erfüllen will. Dass Odysseus’ Verhalten auf Erfolgsbesessenheit beruhe (Schmidt 1973, 229 f.), geht aus dieser Stelle nicht hervor. 1295 ‚Sohn‘: Nachdem Philoktets Misstrauen beseitigt ist, kommt es wieder zu dieser, Vertrauen signalisierenden Anrede. Wie bei der von Odysseus verhinderten Bogenübergabe zuvor erkennt Philoktet zuerst die Stimme des Odysseus (976), bevor sie sich gegenüberstehen, wobei Odysseus dann selbst seine Identität bestätigt (977; 1296). Schon durch dieses äußerliche Signal werden die beiden Szenen zueinander in Beziehung gesetzt. 1297–1298 ‚Troia‘: vgl. zu 920. ‚Gewalt‘: Ebendie Gewaltanwendung hatte Odysseus anfangs für unmöglich erklärt, wenn Philoktet im Besitz des Bogens sei (103; 105); allerdings hat er nach Aussage des ‚Kaufmanns‘ vor dem griechischen Heer von dieser Möglichkeit gesprochen (618) und er hatte diese Alternative Philoktet angedroht, falls er nicht freiwillig mit nach Troia komme (983). Hier geht es Odysseus aber auch darum, sich mit seinem – an seiner früheren Einstellung gemessen – irrationalen Vorstoß gegenüber Neoptolemos durchzusetzen (1298). Auf jeden Fall widerspricht die angedrohte Gewaltanwendung der Helenos-Weissagung, dass Philoktet überzeugt werden müsse (612). 1299 Aus dem Text ergibt sich, dass Philoktet auf die angedrohte Gewalt reagiert, indem er seinen Bogen schussbereit auf Odysseus richtet. In Euripides’ Philoktet wollte Philoktet zu Beginn des Dramas Odysseus, den er nicht

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Exodos: 1300–1307

Neoptolemos hindert Philoktet am Abschuss. Ne. Ph. Ne.

Ah! Bloß nicht, nein, bei den Göttern, lass den Pfeil nicht losschnellen! Lass, bei den Göttern, meine Hand los, liebster Sohn! Nein, ich lasse nicht los!

1300

Odysseus flieht.

Ne. Ph.

Νε. Φι. Νε. Νε. Φι.

Ph. Ach! Warum hast du mich gehindert, den feindlichen und verhassten Mann zu töten mit meinem Bogen? Aber das wäre weder für mich ehrenvoll noch für dich. Doch soviel muss dir klar sein, dass die Ersten des Heeres, die lügnerischen Abgesandten der Achaier, feige sind im Angesicht der Lanze, aber mit Worten kühn. ἆ, µηδαµῶς, µή, πρὸς θεῶν, µεθῇς βέλος. µέθες µε, πρὸς θεῶν, χεῖρα, φίλτατον τέκνον. οὐκ ἂν µεθείην. Φι. φεῦ· τί µ’ ἄνδρα πολέµιον ἐχθρόν τ’ ἀφείλου µὴ κτανεῖν τόξοις ἐµοῖς; ἀλλ’ οὔτ’ ἐµοὶ καλὸν τόδ’ ἐστὶν οὔτε σοί. ἀλλ’ οὖν τοσοῦτόν γ’ ἴσθι, τοὺς πρώτους στρατοῦ, τοὺς τῶν Ἀχαιῶν ψευδοκήρυκας, κακοὺς ὄντας πρὸς αἰχµήν, ἐν δὲ τοῖς λόγοις θρασεῖς.

1305

1300

1305

1300 ἆ Trikl. : ἆ ἆ (Hss.) – metrisch passt nur ein ἆ in den Vers; ein Ausruf extra metrum liegt nicht vor, weil dann v. 1300 nicht mehr vollständig wäre. | µηδαµῶς, µή] „rhetorische Anadiplose“ (K.-G. II 205). | µεθῇς Hss. : µὴ ’φῇς Meineke (Ll.-J./W.) : ἀφῇς Nauck – Ll.J./W.1 halten die Wiederholung von µεθίηµι (vgl. 1301) in unterschiedlichem Sinn für verdächtig, aber es ist beide Mal ein ‚Loslassen‘, und Jebb sagt mit Recht: „µεθῇς, ‘permit to escape from thy hand,’ ‘allow to fly,’ is a more forcible word than ἀφῇς (‘discharge’) when, as here, the archer is at the very point of shooting.“ 1301 µε … χεῖρα] σχῆµα καθ᾿ ὅλον καὶ µέρος, vgl. zu 747–748. 1302 οὐκ ἂν µεθείην] zur 1. P. Optativ mit ἄν als Ausdruck einer entschiedenen Weigerung vgl. K.-G. I 233, 4. | τί µ’ : τίν᾿ – τίν᾿ ergibt keinen Sinn (Verschreibung). | πολέµιον] eine seltene Auflösung des 5. Longum; vgl. 1327. 1303 ἀφείλου µὴ κτανεῖν] Infinitiv mit ‚redundantem‘ µή wie bei Verben des Hinderns; vgl. Eur. Tro. 1146; K.-G. II 209 Anm. 7; LSJ s. v. ἀφαιρέω II. 3. | κτανεῖν (Hss.) : θανεῖν Trikl. – θανεῖν würde die von Philoktet erstrebte Aktivität des Tötens mildern. 1304 τόδ’ : τοῦτ᾿ (οὔτ’ ἐµοὶ τοῦτ᾿ ἐστὶν οὔτε σοί καλόν Pierson; Schein) – wenn man τοῦτ᾿ liest, ist Piersons Umstellung metrisch notwendig, καλόν bezieht sich aber auch ohne Umstellung auf Philoktet und Neoptolemos und nicht nur auf Neoptolemos. | ἐστὶν] es i s t tatsächlich nicht ehrenvoll, aber im Deutschen tritt eine Modusverschiebung ein, analog zu den bei K.-G. I 304 ff. genannten Fällen. 1305 ἀλλ’ οὖν] „Usually in such cases ἀλλ’ οὖν introduces a more moderate suggestion, made as a pis aller (‘Well, at least’)“ (GP 443).

Kommentar

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erkannt hatte, mit dem Bogen erschießen, was dieser mit seiner Überredungskunst abwenden konnte (F 789 d [7 f.] Kannicht). Der sophokleische Philoktet zielt zum Ende der Odysseus-Handlung auf den, der ihn neuerlich (diesmal allerdings erfolglos) hintergangen hat (vgl. Müller 1997, 248 f.). Dass sich Odysseus nicht mehr selbst retten kann (1300–1302), ist bezeichnend für die unterschiedliche Gestaltung der Odysseus-Figur in den beiden Dramen. 1300–1302 Neoptolemos verhindert den Abschuss des Pfeils, indem er, wie aus Philoktets Bitte zu erschließen ist, dessen Hand festhält. Während Neoptolemos früher (816–818) zum Besten Philoktets ihn auf sein Bitten hin schließlich losgelassen hat, lässt er ihn hier mit derselben Intention nicht los (zur moralischen Begründung, die Neoptolemos für sein Handeln anführt, vgl. 1304). Vgl. zur Beziehung der beiden Stellen Ussher. Wie man sich das Einbzw. Zugreifen des Neoptolemos auch immer im Einzelnen vorstellen muss, der überlieferte Text deutet darauf hin, dass Neoptolemos speziell das Losschnellen-Lassen des Pfeils unmöglich machte, nicht nur allgemein ein zielgenaues Schießen. 1302 b Da Philoktet sich bei Neoptolemos über dessen Eingreifen beklagt (1302 b f.), muss Odysseus spätestens bei v. 1302 b von der Bühne geflohen sein. Durch seine Flucht bestätigt Odysseus unfreiwillig seine ursprüngliche Einschätzung, dass Philoktet (im Besitz des Bogens) nicht mit Gewalt nach Troia gebracht werden kann. 1303 ‚gehindert‘, wörtl. ‚(die Gelegenheit) genommen‘. 1304 Wie gegenüber Odysseus vertritt Neoptolemos auch gegenüber Philoktet den eigenen Standpunkt unter Berufung auf einen moralischen Wert. ‚ehrenvoll‘: Odysseus ist kein für den Bogenschützen adäquat bewaffneter Gegner (Webster; Ussher), und Neoptolemos müsste mit der Schande leben, nicht verhindert zu haben, dass jemand in unfairem Kampf getötet wurde. 1305–1307 ‚Ersten des Heeres‘: Philoktet spricht generalisierend im Plural, meint aber Odysseus, der vom Heer geschickt wurde, mit trügerischer List arbeitete und (auch gegenüber Philoktet) groß tat, er werde ihn mit Gewalt nach Troia bringen (983; 1297; vgl. 614–619), jetzt aber angesichts des bewaffneten Philoktet die Flucht ergriffen hat. An diesem ‚Nachtreten‘ Philoktets gegenüber Odysseus beteiligt sich Neoptolemos nicht (1308 f.). 1306 ‚lügnerischen Abgesandten‘, wörtl. ‚Lügenherolde‘: Philoktet bezeichnet Odysseus so wegen dessen Intrige. Es mag bei ‚Lügenherolde‘ aber auch eine Konnotation von Großtuerei mitschwingen. Vgl. das Gebaren der Herolde in Aisch. Hik. 872 ff.; Eur. Hik. 399 ff. – Zu den ‚lügnerischen Abgesandten‘ gehört eigentlich auch Neoptolemos, aber Philoktet rechnet ihn nicht (mehr) dazu. ‚feige‘, wörtl. ‚schlecht (sc. vor einer Waffe)‘: Vgl. Homer, Ilias 13,278– 280, wo ‚schlecht‘ (kakos) als Äquivalent für ‚feige‘ (deilos) gebraucht ist. 1307 ‚im Angesicht der Lanze‘: Konkret hatte Philoktet Odysseus mit dem Pfeil bedroht; die Lanze steht generell für die Bedrohung (in der Schlacht), vor der Odysseus geflohen ist, wie er auch bei der von Neoptolemos angedrohten Gegenwehr zurückwich (1257).

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Exodos: 1308–1317

Ne.

Nun gut! Den Bogen hast du, und so es gibt keinen Grund, weswegen du über mich zornig sein oder mir Vorwürfe machen solltest. Du hast recht. Du hast die Wesensart (dessen) gezeigt, mein Sohn, 1310 aus dem du hervorgingst: Nicht Sisyphos hast du zum Vater, sondern Achill, der, als er unter den Lebenden war, im besten Ruf stand, und jetzt unter den Toten. Ich freue mich, dass du meinen Vater rühmst und mich selbst; was ich aber von dir erlangen möchte, 1315 das höre: Die Menschen müssen das von den Göttern gegebene Geschick notgedrungen tragen;

Ph.

Ne.

Νε. Φι.

Νε.

εἶἑν· τὰ µὲν δὴ τόξ’ ἔχεις, κοὐκ ἔσθ’ ὅτου ὀργὴν ἔχοις ἂν οὐδὲ µέµψιν εἰς ἐµέ. ξύµφηµι. τὴν φύσιν δ’ ἔδειξας, ὦ τέκνον, ἐξ ἧς ἔβλαστες, οὐχὶ Σισύφου πατρός, ἀλλ’ ἐξ Ἀχιλλέως, ὃς µετὰ ζώντων θ᾿ ὅτ’ ἦν ἤκου’ ἄριστα, νῦν δὲ τῶν τεθνηκότων. ἥσθην πατέρα τὸν ἀµὸν εὐλογοῦντά σε αὐτόν τ’ ἔµ’· ὧν δέ σου τυχεῖν ἐφίεµαι, ἄκουσον· ἀνθρώποισι τὰς µὲν ἐκ θεῶν τύχας δοθείσας ἔστ’ ἀναγκαῖον φέρειν·

1310

1315

1308 εἶἑν editores : εἶεν Hss. – εἶἑν (mit Interaspiration, Schwyzer I 219) zur Unterscheidung der Interjektion (Schwyzer II 557; 558 Anm. 1), die den Übergang zu etwas Neuem bezeichnet, von der Optativform εἶεν (im ursprünglichen Text des Sophokles stand nur ΕΙΕΝ); vgl. Eur. Hel. 761 εἶἑν· τὰ µὲν δὴ δεῦρ᾿ ἀεὶ καλῶς ἔχει. | µὲν] bereitet δέ (1315) vor und ist durch δὴ verstärkt. | δὴ : Ø : νυν Wecklein | κοὐκ] zu καί mit folgernder Wirkung (‚und so‘) vgl. K.-G. II 248, 5. | ὅτου Turnebus : ὅπου Hss. – ὅτου gibt den Grund an (vgl. OT 698); ὅπου lässt sich möglicherweise als Verschreibung aufgrund des formelhaften οὐκ ἔσθ’ ὅπου erklären. 1309 εἰς ἐµέ] vgl. 522. 1310 δ’ : Ø – δ’ ist metrisch notwendig. 1311–1312 Σισύφου … ἐξ Ἀχιλλέως] zu ergänzen: βλαστών (Jebb) 1311 ἔβλαστες] kurz gemessener Vokal (ἔ'βλαστες) vor βλ ist selten; vgl. z. B. El. 440; West 1982, 16 f. 1312 ζώντων θ᾿ : ζώντων – θ᾿ kann als lectio difficilior betrachtet werden. Ein Ausfall von θ᾿ ist angesichts der bei Sophokles singulären Stellung (GP 516 [ii]) und der möglichen, aber weniger üblichen Korresponsion mit δὲ (1313) wahrscheinlicher, als dass es nachträglich eingedrungen wäre. Vor ζώντων ist von τῶν τεθνηκότων (1313) τῶν zu ergänzen (Versparung des Artikels; Kiefner 1964, 41). 1313 δὲ Hss. : τε Turnebus – vgl. GP 513 (6) (ii). 1314 ἥσθην] Aorist: die Freude ist schon bei der Äußerung Philoktets eingetreten (K.-G. I 164); zur Konstruktion mit Akkusativ und Partizip vgl. Eur. F 328,1 Kannicht (in Hss. SA1, in MA2 Konstruktion mit Dativ), Bruhn § 60. | πατέρα (Hss.) : πατέρα τε (einige Hss. s.l.) | ἀµὸν Trikl. : ἐµὸν (Hss.) – ἀµὸν [ᾱ] ist metrisch notwendig, es sei denn, man läse πατέρα τε, womit die Metrik in Ordnung zu bringen wäre, was aber zu zwei Auflösungen hintereinander führt und der Aussage einen unangemessen aufgeregten Ton gäbe; vgl. El. 1496. Zu πατέρα vgl. auch zu 1235. 1315 τ’ ἔµ’ : τέ µ᾿  – die betonte Form neben αὐτόν. | δέ σου Hss. : δ᾿ ⟨ἔκ⟩ σου Blaydes | σου : σοι – τυχεῖν ist hier mit Genitiv der Person und der Sache konstruiert (K.-G. I 350). 1316 θεῶν Hss. : θεοῦ Suda s. v. τύχη – die allgemeinere Formulierung ist der Aussage angemessen. 1317 δοθείσας] prädikativ gestellt, da das Partizip zugleich auch einen Grund angibt (K.-G. I 624).

Kommentar

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1308–1408 Nachdem Odysseus verschwunden ist, setzt Neoptolemos neu an, um den vom Heer übertragenen Auftrag zu erfüllen, der für ihn mit der Rückgabe des Bogens nicht hinfällig geworden ist. Auf der Grundlage der neu gefestigten Freundschaft gelingt es Neoptolemos, indem er Philoktet die Helenos-Weissagung darlegt und die Vorteile vor Augen stellt, die die Fahrt nach Troia für ihn bedeute, Philoktet in seiner Ablehnung der Troia-Fahrt kurzzeitig wankend zu machen. Doch kann der sich nicht überwinden nachzugeben, seine Aversion gegen die Atreus-Söhne und Odysseus ist stärker, sodass er schließlich Neoptolemos auf die – im Kontext der Intrige – gemachte Zusage verpflichtet, ihn nach Hause zu bringen. 1308–1315 a Neoptolemos möchte Philoktet durch Argumente überzeugen (1315 b ff.) und legt dafür die Basis, indem er etwaige Ressentiments Philoktets ihm gegenüber, die auf der Wegnahme des Bogens beruhen könnten, für erledigt erklärt (ähnlich bestimmt äußert sich Neoptolemos auch 1240). Durch Philoktets Erwiderung (1310–1313) und Neoptolemos’ Reaktion darauf (1314–1315 a) ergibt sich eine Einvernehmlichkeit ihrer moralischen Ansichten, die sich in dem übereinstimmenden Urteil über Achill ausdrückt. 1310–1313 ‚Du hast recht‘: Philoktet stimmt vorbehaltlos Neoptolemos’ Feststellung zu, dass mit der Rückgabe des Bogens kein Grund für Vorwürfe geblieben ist, wohl weil er nicht ihn für den Betrug verantwortlich macht. ‚Wesensart (dessen) …, aus dem du hervorgingst‘, wörtl. ‚Wesensart … aus der du hervorgingst‘: Die Wesensart (physis) bezeichnet zugleich die Abstammung. Philoktet lobt Neoptolemos, indem er das Verhalten des Neoptolemos (gemeint sein muss die gerade genannte Rückgabe des Bogens) auf dessen vom Vater ererbte physis zurückführt und den Gegensatz zu Odysseus (bzw. dessen angeblichem und berüchtigtem Vater Sisyphos [vgl. zu 417]) betont. 1312–1313 ‚unter den Lebenden … unter den Toten‘: Der Lobpreis Achills ist vielleicht durch Homer, Odyssee 11,482–486 angeregt, wo Odysseus den Rang Achills unter den Lebenden und unter den Toten hervorhebt. Zu Philoktets Hochschätzung Achills vgl. auch 331–338. 1315 b–1316 a: ‚was ich … möchte‘: Nach knappem Dank für Philoktets Anerkennung geht Neoptolemos unmittelbar zu seinem Anliegen über. 1316 b–1323 Neoptolemos beginnt mit der generellen Feststellung, dass Menschen ihr Schicksal tragen müssten. Von dieser allgemeinen Notwendigkeit differenziert er diejenigen, die für ihren leidvollen Zustand selbst verantwortlich sind; sie müsse man nicht bemitleiden. Zu dieser Gruppe rechnet Neoptolemos auch Philoktet, weil er sich wohlwollendem Rat verschließe (vgl. 1318–1323). Die Einstellung des Neoptolemos entspricht der des Chors (vgl. zu 1081–1101 sowie die vv. 1095–1101; 1121/2; 1163–1166). Allerdings blendet Neoptolemos (ebenso wie der Chor) bei seiner Kritik an Philoktet das psychische Problem aus, dass Philoktet durch das Unrecht der Aussetzung und den gerade erfahrenen Betrug geradezu traumatisiert ist und die Fahrt nach Troia von ihm fordern würde, dieses Unrecht zu vergessen. 1316 b–1317 Dass der Mensch auch negativen Schicksalsfügungen ausgesetzt ist, entspricht Philoktets Überzeugung (501–503); vgl. Ussher.

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Exodos: 1318–1328

wer aber in selbstgewähltes Leid verstrickt ist, wie du: dass man mit denen Nachsicht übt, ist nicht recht, noch dass man mit ihnen Mitleid hat. Du bist voll wildem Grimm und lässt keinen Ratgeber zu, und wenn dir jemand mit wohlwollenden Worten zuredet, hasst du ihn, im Glauben, er sei dir feindlich und übel gesinnt. Aber dennoch will ich reden, und ich rufe Zeus, den Eidesschützer, an: {Das sollst du wissen und schreibe es dir in die Seele.} Du krankst an diesem Leiden aus göttlicher Schickung, weil du dich Chryses Wächterin genähert hast, die den offenen heiligen Bezirk bewacht, die verborgen ihr Haus bewahrende Schlange. ὅσοι δ’ ἑκουσίοισιν ἔγκεινται βλάβαις, ὥσπερ σύ, τούτοις οὔτε συγγνώµην ἔχειν δίκαιόν ἐστιν οὔτ’ ἐποικτίρειν τινά. σὺ δ’ ἠγρίωσαι, κοὔτε σύµβουλον δέχῃ, ἐάν τε νουθετῇ τις εὐνοίᾳ λέγων, στυγεῖς, πολέµιον δυσµενῆ θ’ ἡγούµενος. ὅµως δὲ λέξω· Ζῆνα δ’ ὅρκιον καλῶ· {καὶ ταῦτ’ ἐπίστω, καὶ γράφου φρενῶν ἔσω.} σὺ γὰρ νοσεῖς τόδ’ ἄλγος ἐκ θείας τύχης, Χρύσης πελασθεὶς φύλακος, ὃς τὸν ἀκαλυφῆ σηκὸν φυλάσσει κρύφιος οἰκουρῶν ὄφις·

1320

1325

1320

1325

1318 ἑκουσίοισιν : ἑκουσίῃσιν : ἑκουσίαισιν – ἑκούσιος ist auch als Adjektiv zweier Endungen belegt. 1319 τούτοις : τούτοισιν – nur τούτοις passt metrisch. 1319–1320 οὔτε … οὔτ’ (Hss.) : οὐδὲ … οὐδ᾿  Trikl.   1321–1322 κοὔτε … τε] vgl. 1363 f. µήτ’ … τ’ (K.-G. II 291 f., 3 a). 1322 ἐάν] Iterativ, K.-G. II 475, 2. | εὐνοίᾳ : εὔνοιαν : εὔνοιαν σοι : εὔσοιαν Schneidewin | λέγων (Hss.) : ἔχων Trikl. – εὔνοιαν ἔχων wäre unmetrisch. 1324 καλῶ (Hss.) : καλῶν (Ζῆνα γ’ ὅρκιον καλῶν Hartung) – καλῶν ist neben Ζῆνα δ’ nicht möglich, und die Anrufung erhält als selbstständiger Satz auch mehr Gewicht, als wenn man sie mit Hartungs Konjektur unterordnet. {1325} Dawe 2003, 106 – nach der emphatischen Wahrheitsbeteuerung (1324) wirkt die die ermahnende Aufforderung wie eine unpassende Antiklimax. „Furthermore any καὶ ταῦτ᾿ should be followed by a plain statement of what the ταῦτα consists in, not by a γὰρ sentence“ (Dawe, ebd.). Es sieht so aus, als sei zur Verstärkung des Pathos ein Vers aus einer anderen Tragödie hierher versetzt worden. | γράφου φρενῶν ἔσω] vgl. Aisch. Cho. 450 ἐν φρεσὶν ⟨γράφου⟩. 1326 γὰρ] vgl. zu 331. 1327 Χρύσης : Χρυσῆς – die Göttin Chryse (194) und die Insel Chryse (270; F 384 Radt2) werden gleichartig akzentuiert. | πελασθεὶς] Passiv in der Bedeutung des intransitiven Aktivs, hier mit dem selteneren Genitiv statt Dativ (K.-G. I 353). 1328 οἰκουρῶν ὄφις] vgl. Hesych ο 270: οἰκουρὸν ὄφιν· τὸν τῆς Πολιάδος φύλακα δράκοντα.

Kommentar

377

1320 ‚Mitleid‘: Menschen, die ihr Leid selbst verschulden, verdienen nach Neoptolemos’ Ansicht kein Mitleid; dazu rechnet er ohne verständnisvolle Einschränkungen auch Philoktet in seiner jetzigen Situation. Vgl. auch die Ansicht des Chors über die Selbstverantwortlichkeit Philoktets (1095–1101). 1321 ‚voll wildem Grimm‘, wörtl. ‚verwildert‘: vgl. zu 9. ‚lässt keinen Ratgeber zu‘: Neoptolemos bezieht sich wohl auf seinen Versuch, Philoktet mit den positiven Perspektiven der Troia-Fahrt zu überzeugen (919 f.), und die abweisende Reaktion Philoktets darauf (927 ff.). Die Zuschauer können auch an die Bemühungen des Chors denken (1163 ff.), Philoktet zum Mitkommen zu bewegen. 1324–1347 Nach seinem Tadel setzt Neoptolemos zu einem neuen Überzeugungsversuch an, indem er ihn über die Ursache seines Leids, die Weissagung des Helenos sowie die positiven Aspekte der Troia-Fahrt informiert. 1324 Zeus ist seit Homer (Ilias 7,411) der bevorzugte Schwurgott und trägt als solcher den Beinamen Horkios (z. B. auch Eur. Hipp. 1025; vgl. auch OC 1767). So stand im Buleuterion von Olympia eine Statue des Zeus Horkios (Pausanias 5,24,9). Neoptolemos verbürgt sich, indem er Zeus als Schwurgott anruft, emphatisch für die absolute Wahrheit dessen, was er Philoktet berichten will: Aufklärung über die Ursache seines Leids; Zukunftsperspektive gemäß der Helenos-Weissagung. Vgl. auch Neoptolemos’ Schwur 1289. 1325 Der Vers ist vermutlich unecht. Er verdoppelt lediglich in belehrender Weise die bereits erfolgte Ankündigung (1324); diese nachdrückliche Aufforderung wirkt nach der Berufung auf Zeus eher provokant, und stärkt die Überzeugungskraft der Worte des Neoptolemos nicht; vgl. TS. 1326 ‚aus göttlicher Schickung‘: Schon zuvor (192 ff.) hatte Neoptolemos Philoktets Verletzung auf Chryse und sein jahrelanges Leiden als gottgewollt gekennzeichnet, weil die Waffen des Herakles erst zu der für den Fall Troias festgesetzten Zeit dorthin kommen sollten und Philoktet daher solange von Troia ferngehalten werden musste. – Neoptolemos deklariert sein Wissen nicht als Teil der Weissagung des Helenos (1329–1342), die sich nach seinem (und des ‚Kaufmanns‘) Referat nur auf die Zukunft zu beziehen scheint. Woher er seine Kenntnisse hat, bleibt offen; vgl. auch Einf. S. 28. 1327 ‚Chryses‘: Gemeint ist die Göttin (vgl. zu 194), nicht die Insel. 1327–1328 ‚offenen‘, wörtl. ‚unüberdachten‘: Bei dem Heiligtum handelt sich offenbar um einen tempellosen Bezirk, vermutlich lediglich durch eine Abgrenzung (Steine) oder einen einfachen Peribolos (Einfriedung) markiert. 1328 ‚verborgene … Schlange‘: Philoktets Unschuld (vgl. auch 684–686) wird noch dadurch betont, dass Neoptolemos hervorhebt, die Schlange sei verborgen gewesen, Philoktet habe sie also nicht bemerken können, als er sich dem heiligen Bezirk näherte. Dazu, dass keine Verfehlung Philoktets vorliegt, vgl. auch Pucci (307 f.) in Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen. ‚Haus bewahrende‘: Bei dem offenen Bezirk geht es eigentlich nicht um ein Haus, aber die Schlange ist wie die Schlange benannt, die dem athenischen Publikum als Wächterin des Heiligtums der Athena Polias (im Erechtheion) bekannt war; vgl. Herodot 8,41,2; Aristophanes, Lysistrata 759. Vgl. auch TS.

378

Exodos: 1329–1336

Und sei überzeugt, dass niemals ein Ende eintreten wird dieser schweren Krankheit, solange die Sonne beständig 1330 dort aufgeht, da wieder untergeht, bevor du nicht freiwillig, von dir aus, nach Troia kommst, den Söhnen des Asklepios begegnest, die bei uns sind, und so von dieser Krankheit Erleichterung erfährst und dich als der erweist, der mit diesem Bogen und im Bund mit mir die Burg zerstört. 1335 Woher ich aber weiß, dass sich das so verhält, will ich dir sagen: καὶ παῦλαν ἴσθι τῆσδε µή ποτ’ ἂν τυχεῖν νόσου βαρείας, ἕως ἂν αὑτὸς ἥλιος ταύτῃ µὲν αἴρῃ, τῇδε δ’ αὖ δύνῃ πάλιν, πρὶν ἂν τὰ Τροίας πεδί’ ἑκὼν αὐτὸς µόλῃς, καὶ τῶν παρ’ ἡµῖν ἐντυχὼν Ἀσκληπιδῶν νόσου µαλαχθῇς τῆσδε, καὶ τὰ πέργαµα ξὺν τοῖσδε τόξοις ξύν τ’ ἐµοὶ πέρσας φανῇς. ὡς δ’ οἶδα ταῦτα τῇδ’ ἔχοντ’ ἐγὼ φράσω·

1330

1335

1329 ἂν τυχεῖν Porson : ἐντυχεῖν Hss. – die Struktur der Aussage (εἰδέναι [‚überzeugt sein‘, daher auch Negation µή , K.-G. II 193 f.] mit Infinitiv) ist mit (OT 1455 f.) und ohne ἄν (Ant. 473 f.; Eur. Med. 593 f.) möglich; vgl. K.-G. II 69, 7; da παῦλαν als Subjekt des Infinitivs zu betrachten ist (ἐντυγχάνειν ist überhaupt nicht, τυγχάνειν nur mit neutralen pronominalen Akkusativen bzw. substantivierten Adjektiven oder Infinitiven belegt), muss das Verb ‚eintreten‘ bedeuten, was aber für ἐντυγχάνειν (trotz Pindar, Paian 2,75 f.) nicht gesichert ist; vgl. aber LSJ s. v. τυγχάνω A. I. 2. Zum futurischen Sinn des Aorists vgl. OT 1455 f.; [Aisch.] PV 667 (Jebb). 1330 ἕως +Lambinus : ὡς (Hss.) : ἔστ᾿ Brunck – ͜ἕως: Synizese; ὡς ἂν würde nicht den geforderten durativen Sinn ergeben (Moorhouse 296). | αὑτὸς Heath : αὐτὸς Hss. : οὗτος Brunck – in Sophokles’ Text stand unakzentuiert ΑΥΤΟΣ, ein Demonstrativpronomen müsste deiktisch sein (ὅδε, ‚die Sonne die du hier siehst‘), ist aber metrisch nicht möglich. 1331 αἴρῃ] hier intransitiv. 1332 πρὶν ἂν] zu πρὶν (ἂν) in Bezug auf Zukünftiges mit Konjunktiv Aorist vgl. K.-G. II 454 f. | ἑκὼν αὐτὸς : αὐτὸς ἑκὼν – nur ἑκὼν αὐτὸς ist metrisch möglich; αὐτὸς verstärkt ἑκὼν ~ ‚aus eigenem freien Willen‘, vgl. Jebb mit Verweis auf Eur. Phoin. 476. 1333 ἐντυχὼν] zum abhängigen Genitiv (statt Dativ) vgl. Herodot 4,140,4. | Ἀσκληπιδῶν : Ἀσκληπιαδῶν : τοῖν … Ἀσκληπίδαιν Dindorf (Ἀσκληπίδαιν Porson), wohl als Dativ gemeint, sodass ἐντυγχάνω seine übliche Konstruktion behält – nur die singulären (und irregulären) Formen auf -ιδῶν oder -ίδαιν sind metrisch möglich; vgl. Herodian, GG III 2, p. 240,1 f. Lentz ἐχρῆν ἄρα παρὰ τὸ Ἐριχθόνιος Ἐριχθονιάδης, ἀλλὰ κατὰ συγκοπὴν Ἐριχθονίδης. 1334 µαλαχθῇς] mit separativem Genitiv wie z. B. κουφίζεσθαι (Eur. Or. 43); K.-G. I 396; es handelt sich um einen medizinischen Ausdruck, vgl. z. B. Hippokrates, Epidemien 3,17,6 (Ussher). 1335 ξὺν … ξύν] das erste ξύν hat im Unterschied zum zweiten rein instrumentale Bedeutung (LSJ s. v. 7).

Kommentar

379

1329–1335 Streng logisch kann man Neoptolemos’ Aussage so verstehen, als ob er sagen wolle, dass Philoktets Krankheit erst ein Ende finde, wenn er Troia erobert habe (vgl. Jebb zu 1334 f.; Kamerbeek zu 1332–35; anders Visser 1998, 198 f.). So kann es nicht gemeint sein, denn aus anderen Aussagen des Neoptolemos geht hervor, dass Philoktet vor der Eroberung geheilt werden soll (vgl. 919 f.; 1345–1347; vgl. auch 1424 ff.). Die Formulierung ist vielleicht damit zu erklären, dass stark akzentuiert sein soll, die Heilung sei nur unter der Bedingung möglich, dass Philoktet freiwillig nach Troia kommt, und was danach erfolgt, Heilung und Eroberung Troias, so eng verbunden ist, dass beides auf gleicher Ebene in die Satzkonstruktion einbezogen wird. Zudem wird die ‚Begegnung‘ mit den Asklepios-Söhnen vor dem Faktum der Eroberung genannt, sodass doch die Vorstellung einer Reihenfolge evoziert wird. 1330–1331 ‚die Sonne beständig‘, wörtl. ‚dieselbe Sonne‘: Gemeint ist, dass die Sonne sich gleichbleibt (in ihrem täglichen Bahnverlauf). Vgl. Jebb mit Verweis auf Herodot 8,143,2. Der Beständigkeit der Sonnenbewegung, die in ihrer Gleichartigkeit für ewige Dauer steht, wird die von Philoktets Leiden entsprechen, wenn er nicht nach Troia kommt. 1332 ‚freiwillig, von dir aus‘: Die Bedingung der Freiwilligkeit wird in zweifacher Formulierung von Neoptolemos stark betont. Dass Philoktet überzeugt werden müsse, also aufgrund freier Entscheidung nach Troia kommen solle, war auch in dem Referat des ,Kaufmanns‘ impliziert (vgl. 612). Odysseus hatte es allerdings von vornherein für unmöglich erklärt, dass man Philoktet überzeugen könne (103). ‚Troia‘: vgl. zu 920. 1333 ‚Söhnen des Asklepios‘: Die beiden heilkundigen Söhne des Heilgottes Asklepios (vgl. zu 1437), Podaleirios und Machaon (vgl. Homer Ilias 2,731 f.), sollen hier zusammen an der Heilung Philoktets beteiligt sein. Nach der Ilias parva (Argumentum 1, p. 74,7 f. Bernabé = pp. 120 f. West 2003) ist es nur Machaon. Wie Dionysios von Samos berichtet (FGrHist / BNJ 15 F 13), nahm Philoktet nach einem Orakelspruch Apollons ein Bad und fiel in Schlaf; Machaon entfernte das verfaulte Fleisch, goss Wein darüber und legte ein Kraut auf, das Asklepios vom weisen Kentauren Cheiron erhalten hatte. Ps.Apollodor (Epitome 5,8) nennt als Heiler Podaleirios; so auch Quintus Smyrnaeus, Posthomerica 9,463. – Der Dichter lässt Neoptolemos sich mit seiner Aussage im Rahmen der homerischen Tradition bewegen. – Herakles kündigt am Ende an, dass er Asklepios schicken werde (1437 f.). 1334 (griechischer Text: 1335) ‚erweist‘: Neoptolemos will sagen, dass Philoktet ruhmreich in Erscheinung treten wird; vgl. 1347. 1335 ‚im Bund mit mir‘: Der ‚Kaufmann‘ hatte nur von der Bedeutung Philoktets für die Eroberung Troias gesprochen (611–613), Neoptolemos aber weiß (wie Odysseus, 112–115), dass auch er dabei mitwirken soll (vgl. auch 919 f.), eine Kampfgemeinschaft, wie dann Herakles ausführt (1435–1437). ‚Burg‘ (griechischer Text: 1335): vgl. 347; 353; 611. 1336 ‚Woher ich aber weiß‘, wörtl. ‚Wie ich aber weiß‘, d. h., ‚Wie es gekommen ist, dass ich weiß‘: Neoptolemos äußert sich in einer Weise, die zeigt,

380

Exodos: 1337–1344

Ein Mann ist bei uns, aus Troia gefangen genommen, Helenos, ein herausragender Seher, der klar verkündet, dass das so geschehen muss; und außerdem noch, dass unausweichlich während des gegenwärtigen Sommers 1340 Troia vollständig erobert wird; andernfalls bietet er freiwillig an, sich töten zu lassen, wenn dieses sein Wort sich als falsch erweise. Da du nun dies weißt, gib nach aus freiem Willen! Denn schön ist der Zugewinn, als der Hellenen ἀνὴρ γὰρ ἡµῖν ἔστιν, ἐκ Τροίας ἁλούς, Ἕλενος ἀριστόµαντις, ὃς λέγει σαφῶς, ὡς δεῖ γενέσθαι ταῦτα· καὶ πρὸς τοῖσδ’ ἔτι, ὡς ἔστ’ ἀνάγκη τοῦ παρεστῶτος θέρους Τροίαν ἁλῶναι πᾶσαν· ἢ δίδωσ’ ἑκὼν κτείνειν ἑαυτόν, ἢν τάδε ψευσθῇ λέγων. ταῦτ’ οὖν ἐπεὶ κάτοισθα, συγχώρει θέλων. καλὴ γὰρ ἡ ’πίκτησις, Ἑλλήνων ἕνα

1340

1337 γὰρ Hss. : παρ’ Elmsley – zu γὰρ vgl. zu 331. | ἡµῖν ἐστιν : ἐστιν ἡµῖν od. ἡµὶν Trikl. – ἡµῖν (wobei wahrscheinlich besser ἔστιν zu akzentuieren ist; vgl. Jebb) ist possessiver Dativ. 1338 ἀριστόµαντις] Adjektiv statt Substantiv in der Apposition (K.-G. I 264 b). 1340 τοῦ παρεστῶτος θέρους] zum Genitiv vgl. zu 821. 1342 ψευσθῇ λέγων : ψευδῆ λέγῃ  – der effektive Aorist ist dem Kontext gemäßer. 1344 ἕνα] steigert den Superlativ ἄριστον (1345; K.-G. I 28 f; Moorhouse 174).

Kommentar

381

dass seine Kenntnis der Helenos-Weissagung über die Erzählung des ,Kaufmanns‘ (604–613) hinausreicht, er sie also von Anfang an gehabt haben muss. Vgl. Ussher und Einf. S. 25 f. Wenn Sophokles ihn sich jetzt darauf zurückbeziehen lässt, kann man darin eine Fortsetzung von Neoptolemos’ früherem Versuch sehen, Philoktet zu überzeugen (919–926), als er sich noch an die Vorgaben der Heerführer gebunden fühlte. Dramaturgisch ist die Eröffnung an dieser Stelle besonders wirksam, weil Philoktet in seiner Entscheidung frei ist. 1338 ‚Helenos‘: vgl. zu 604–613. 1339 ‚geschehen muss‘: Zwar war die Freiwilligkeit Philoktets als Voraussetzung für die vorausgesagten Ereignisse genannt worden (612; 1332), andererseits hat der Seher aber auch gesagt, dass sie passieren ‚müssen‘ (vgl. auch ‚unausweichlich‘, 1340), eine klare Antinomie. Vgl. auch zu 1339–1341 a. 1339–1341 a Neoptolemos bezieht sich mit ‚das‘ (1339) auf die von ihm zuvor aufgeführten Vorgänge (1329–1335) zurück und fügt nun eine ‚Datierung‘ der Eroberung Troias auf den gegenwärtigen Sommer hinzu (1340 f.). Mit der Ankündigung der Heilung und der Datierung geht Neoptolemos über die Angaben des ‚Kaufmanns‘ (611–613) hinaus, widerspricht ihm aber nicht, sondern formuliert die Weissagung mit der Hervorhebung der Heilung lediglich in einer adressatenbezogenen Weise (so im Grundsatz schon T. v. Wilamowitz 1917, 309). Alle von Neoptolemos genannten zentralen Punkte werden später durch Herakles bestätigt (vgl. auch Pucci, S. 310; zu einer Abweichung vgl. zu 1333). D. h. also, dass der Inhalt der Weissagung, wie sie Neoptolemos berichtet, als authentisch angenommen werden soll, wenn sie auch nicht wörtlich zitiert wird (vgl. Winnington-Ingram 1980, 292); anders Visser 1998, 200: „eigene Deutung“. Vgl. auch Einf. S. 25 mit Anm. 78 u. 80. Wenn vorherbestimmt ist, dass ohne Philoktet Troia nicht erobert werden kann (611–613), er freiwillig dorthin gehen soll (612; 1332) und Troia notwendig im ‚gegenwärtigen Sommer‘ fallen wird, ergibt sich einerseits folgerichtig die Bitte des Neoptolemos (der auch für seinen Sieg auf Philoktet angewiesen ist; 115; 1335), Philoktet möge zustimmen, nach Troia mitzufahren (1343), andererseits aber das Problem, wie die Vorherbestimmung erfüllt werden kann, wenn Philoktet auf keinen Fall nach Troia gehen will. Der Text ist nicht so zu verstehen, dass der Fall Troias noch im Sommer davon abhängt, o b sich Philoktet entscheidet, nach Troia zu gehen (so aber Jebb zu 1339; Visser 1998, 190; vgl. aber 237 f.); vgl. auch Matthiessen 1981, 20 Anm. 22. 1341–1342 So soll auch Odysseus sein Angebot beglaubigt haben (618 f.). 1343–1347 Zu dem Vollzug dessen, was ohnehin schicksalhaft bestimmt ist und dem Philoktet ‚aus freiem Willen‘ (1343) zustimmen soll, wie Neoptolemos wiederum hervorhebt (vgl. 1332), will er Philoktet abschließend noch damit motivieren, dass er ihm als persönlichen Gewinn Ehre und Ruhm ankündigt. In diesen Hauptgedanken ist, nicht als Voraussetzung vorweg genannt (wie 1423 ff.), der weitere Vorteil der Heilung eingeschoben. Die vor Troia unvermeidliche Begegnung mit den Atreus-Söhnen und Odysseus thematisiert Neoptolemos nicht (Linforth 1956, 144; Visser 1998, 200), für Philoktet erweist sich aber gerade dieser Punkt als entscheidend (1354–1357).

382

Ph.

Φι.

Exodos: 1345–1349

einzig Bester auserwählt, zuerst zu heilenden Händen zu kommen, dann Troia, das so viel Kummer brachte, einzunehmen und höchsten Ruhm zu erlangen. O verhasstes Leben, warum, warum nur hältst du mich oben im Anblick des Lichts und hast mich nicht auf den Weg in den Hades geschickt?

1345

κριθέντ’ ἄριστον, τοῦτο µὲν παιωνίας εἰς χεῖρας ἐλθεῖν, εἶτα τὴν πολύστονον Τροίαν ἑλόντα κλέος ὑπέρτατον λαβεῖν. ὦ στυγνὸς αἰών, τί µε, τί δῆτ’ ἔχεις ἄνω βλέποντα, κοὐκ ἀφῆκας εἰς Ἅιδου µολεῖν;

1345

1345–1346 µὲν … εἶτα] vgl. GP 376 f. (3). 1346 εἰς : ἐς 1348 αἰών] Nominativ statt Vokativ, vgl. zu 339. | µε τί δῆτ᾿ (Hss.) : µ’ ἔτι δῆτ’ Toup – als überliefert kann beides gelten, da der Unterschied nur in der Worttrennung besteht, die im Original nicht vorlag; aber die Akzentuierung der Hss. ist emphatischer (vgl. Kamerbeek); zu δῆτ᾿ vgl. 759 f.; GP 277. 1349 βλέποντα] vgl. Komm. zu 883. | κοὐκ] nach GP 3 hier nicht von ἀλλ᾿ οὐ zu unterscheiden. | µολεῖν] epexegetischer Infinitiv, vgl. Herodot 1,194,2.

Kommentar

383

1345 ‚einzig Bester auserwählt‘: Neoptolemos nimmt vorweg, was Herakles Philoktet ebenfalls verheißen wird (1425). Eigentlich kann Neoptolemos von dieser Auszeichnung nichts wissen, auf die Weissagung beruft er sich jedenfalls nicht. Odysseus hatte nur davon gesprochen, dass Philoktet eine Rolle unter den Besten der Kämpfer vor Troia spielen solle. Vgl. zu 997–998. 1345–1347 ‚zuerst … dann‘: Zur Reihenfolge vgl. zu 1329–1335. 1346 ‚so viel Kummer brachte‘: Mit dieser Qualifizierung deutet Neoptolemos (sehr zurückhaltend und indirekt) an, dass die Eroberung Troias als Ausgleich für die Verluste der Griechen (vgl. Philoktets Trauer 332 f.; 414–438) eine Leistung für die Gemeinschaft bedeutet. Hätte er die ‚patriotische Pflicht‘ gegenüber dem persönlichen Gewinn (1344–1347) betont, wäre Philoktet vielleicht noch weniger schwankend geworden (1348–1351), da nur seine Abneigung verstärkt worden wäre, denen zu helfen, die ihm jahrelang Leid antaten. 1348–1372 Philoktets Antwort beginnt mit einem Selbstgespräch (1348– 1357 [1358–1361 sind vermutlich unecht]) und geht in eine Ansprache an Neoptolemos über (1362–1372). Philoktet ist, nachdem er sich von Neoptolemos’ Aufrichtigkeit hat überzeugen können (1310–1313), kurz in seinem Entschluss, nicht nach Troia mitzugehen, verunsichert (1348–1351), bedenkt aber sogleich, wie ein Nachgeben seinem Ansehen schaden würde und wie unerträglich es wäre, mit denen zusammen zu sein, die ihn schändlich behandelten (1352–1357). Und so fängt die Zuwendung an Neoptolemos mit der Verwunderung an, wie gerade er, dem die Führer der Griechen doch auch Unrecht zufügten, wieder nach Troia fahren und ihn dazu bewegen wolle (1362–1366). Hier rächt sich Neoptolemos’ Trugrede (362 ff.), die – was die Rüstung Achills angeht, niemals richtiggestellt – Philoktet immer noch als Realität zu nehmen scheint (vgl. aber zu 1363–1366). Philoktets Rede endet mit einem Appell an Neoptolemos, stattdessen sein Versprechen wahr zu machen, ihn nach Hause zu bringen, selbst nicht nach Troia zurückzukehren und sich damit von der Wesensart seiner Gegner zu unterscheiden (1367–1372). Philoktets Haltung ist von dem Gedanken bestimmt, dass leidvolles Unrecht nicht einfach hinzunehmen ist, daher von der Verbitterung gegenüber den Verursachern dieses Unrechts. Insoweit bleibt sich Philoktet treu, anders als es Neoptolemos zuerst gegenüber Odysseus vermochte (vgl. Schmidt 1973, 237). Die (seinen Grundsätzen zuwiderlaufende) göttliche Fügung, von der Neoptolemos gesprochen hatte, hat Philoktet nicht im Blick; Neoptolemos hatte sich allerdings ‚nur‘ auf die Weissagung berufen (in der er göttlichen Willen sieht, 1374), aber nicht auf einen Ratschluss des Zeus, den der Dichter ihn offenkundig nicht kennen lässt, obwohl Neoptolemos mit dem Verweis auf ihn eine größere Überzeugungskraft hätte gewinnen können (vgl. zu 989–993). Sophokles hat die Verkündigung des Beschlusses von größter Autorität Herakles vorbehalten (1415). – So fügt sich Philoktet mit seiner Weigerung zwar faktisch nicht der Weissagung, aber er stellt sich auch nicht ausdrücklich bzw. argumentativ dagegen (anders Visser 1998, 237–249); vgl. auch zu 1382. 1348–1349 Wie Philoktet der Tod als Rettung vor den Schmerzen erschien (797 f.), so würde er ihn jetzt davor bewahren, dem Dilemma ausgesetzt zu

384

Exodos: 1350–1360

Weh mir! Was soll ich tun? Wie kann ich dessen Worten 1350 misstrauen, der mir wohlwollend zuredete? Doch soll ich nachgeben? Wie kann ich Unglücklicher mich dann noch sehen lassen, wenn ich das getan habe? Wer wird noch ein Wort mit mir wechseln? Wie, meine Augen, die ihr alles, was mir widerfuhr, gesehen habt, werdet ihr das aushalten, wenn ich mit den Söhnen 1355 des Atreus zusammen bin, die mich vernichtet haben? Wie, wenn mit dem durch und durch verdorbenen Sohn des Laërtes? {Denn nicht quält mich der Schmerz über das Vergangene, sondern darüber, was ich von diesen noch erdulden muss, wie ich vorauszusehen glaube. Denn allen, denen ihre Gesinnung 1360 οἴµοι, τί δράσω; πῶς ἀπιστήσω λόγοις τοῖς τοῦδ’, ὃς εὔνους ὢν ἐµοὶ παρῄνεσεν; ἀλλ’ εἰκάθω δῆτ’; εἶτα πῶς ὁ δύσµορος ἐς φῶς τάδ’ ἔρξας εἶµι; τῷ προσήγορος; πῶς, ὦ τὰ πάντ’ ἰδόντες ἀµφ’ ἐµοὶ κύκλοι, ταῦτ’ ἐξανασχήσεσθε, τοῖσιν Ἀτρέως ἐµὲ ξυνόντα παισίν, οἵ µ’ ἀπώλεσαν; πῶς τῷ πανώλει παιδὶ τῷ Λαερτίου; {οὐ γάρ µε τἄλγος τῶν παρελθόντων δάκνει, ἀλλ’ οἷα χρὴ παθεῖν µε πρὸς τούτων ἔτι δοκῶ προλεύσσειν. οἷς γὰρ ἡ γνώµη κακῶν

1350

1355

1360

1352 ἀλλ’ … δῆτ’] GP 273 f. 1353 τῷ : τοῦ Schaefer | προσήγορος] das Wort kann, zumindest mit Genitiv, aktivisch (Ant. 1184 f.) und passivisch (OT 1437 µηδενὸς προσήγορος) verwendet werden; mit Dativ (vgl. Platon, Theaitetos 146 a 8) scheint es sonst nicht aktivisch belegt zu sein, hier ist es eher passivisch als aktivisch zu verstehen: Philoktet sieht, wenn er nachgibt, seine Reputation gefährdet, sodass ihn niemand mehr anreden will. 1354 ἐµοὶ : ἐµοῦ – ἀµφ’ ἐµοὶ „in betreff“ (K.-G. I 490). | κύκλοι] ‚Augen‘, vgl. OT 1270; Ant. 974. 1355 ταῦτ’] betont am Versanfang, weist auf das Folgende voraus (Schein). 1357 τῷ Λαερτίου : τοῦ Λαερτίου – vgl. K.-G. I 617 f. {1358–1361} Dawe (vgl. auch Dawe 1978, 133 f.) – s. EK, S. 437. 1358 µε τἄλγος : µ᾿ ἔτ᾿ ἄλγος – vgl. K.-G. I 617 f. 1360 κακῶν Hss. : κακὸν (L vor der Korrektur) : κακοῦ Seyffert

Kommentar

385

sein, sich entscheiden zu müssen (vgl. Ussher). Sein Wunsch, nicht in diese Entscheidungssituation gekommen zu sein, entspricht dem an früherer Stelle (969 f.) von Neoptolemos geäußerten (vgl. Müller 1997, 251). ‚Leben‘: Der hier personifizierte aiōn ist die Lebenszeit, die ‚mitwächst‘ (Aisch. Ag. 107) und die Konnotation ‚Schicksal‘ haben kann (vgl. 179; Jebb). ‚oben‘: in der Oberwelt (vgl. Ant. 1068; El. 1167), wo man das Licht der Sonne sieht, im Gegensatz zur (düsteren) Unterwelt des Hades. 1350 ‚Weh mir! Was soll ich tun?‘: vgl. die identisch formulierte Ratlosigkeit des Neoptolemos, 969; außerdem 895; 908; 1063. 1351 ,wohlwollend‘: Dass Philoktet Neoptolemos’ Worte als ‚wohlwollend‘ anerkennt und bedenkt (1322), ist ein deutliches Zeichen dafür, dass er nicht unberührt geblieben ist. 1352 ‚nachgeben‘: Die von den Griechen gewünschte Fahrt nach Troia versteht Philoktet ausschließlich als Forderung eines Feindes, der gegenüber ein Einwilligen ein Nachgeben bedeuten würde, das Ehrverlust und soziale Isolierung zur Folge hätte. „Sophoclean heroes do not yield, unless to a god, and even then not always“ (Kamerbeek); vgl. Knox 1964, 16 f. Vgl. auch Kreons Aussage (Ant. 1096): „Nachgeben ist etwas Schlimmes“. 1353 ‚sehen lassen‘, wörtl. ‚ins Licht gehen‘: Licht (phōs) steht für ‚(das Licht der) Öffentlichkeit‘. Vgl. Xenophon, Agesilaos 9,1. ‚Wer wird noch ein Wort mit mir wechseln?‘, wörtl. ,von wem werde ich angesprochen‘ (vgl. TS): Diese soziale Isolierung, die Philoktet als Folge seines Ehrverlustes befürchtet, entspricht der, die König Ödipus als Folge seiner Befleckung mit Schuld für sich fordert (OT 1437). 1354 ‚meine Augen‘: Personifizierung und Apostrophe wie 1004 (Hände); 1128 (Bogen); Fuß (786; 1188); Höhle (1081–1089; 1453). ‚alles, was mir widerfuhr‘, wörtl. ‚alles mich Betreffende‘: Letztlich bezweifelt Philoktet, dass seine Augen, die für ihn hier wie externe Personen eigene Empfindungen haben, nachdem sie sein Leid mitangesehen haben, den Anblick der Verursacher werden ertragen können. 1355–1357 Den Atreus-Söhnen zu begegnen, denen Philoktet seine ‚Vernichtung‘ (wohl die Aussetzung) anlastet, wäre schon unerträglich, eine Begegnung mit Odysseus aber erscheint ihm wegen dessen moralischer Verderbtheit noch als Steigerung der Zumutung; vgl. auch 978 f. 1358–1361 Diese Verse, deren Aussage im Widerspruch steht zu dem gerade ausgesprochenen Schmerz über das erlittene Unrecht, sind vermutlich unecht, s. EK, S. 437.

386

Exodos: 1361–1366

Mutter von bösen Taten wurde, nährt sie die anderen bösen Taten.} Und gerade bei dir bin ich verwundert über dies: Du solltest niemals nach Troia gehen, nicht du selbst, und auch mich davon abhalten. Die dich schlecht behandelt haben, indem sie dich deines Vaters Rüstung beraubten, {die den 1365 a unglücklichen Aias im Streit um die Rüstung deines Vaters 1365 b als Odysseus unterlegen beurteilten} zu denen willst du nun 1365 c gehen, um mitzukämpfen, und versuchst mich dazu zu zwingen? µήτηρ γένηται, τἆλλα παιδεύει κακά.} καὶ σοῦ δ’ ἔγωγε θαυµάσας ἔχω τόδε· χρῆν γάρ σε µήτ’ αὐτόν ποτ’ ἐς Τροίαν µολεῖν, ἡµᾶς τ’ ἀπείργειν. οἳ δέ σου καθύβρισαν, πατρὸς γέρας συλῶντες, {οἳ τὸν ἄθλιον Αἴανθ᾿ ὅπλων σοῦ πατρὸς ὕστερον δίκῃ Ὀδυσσέως ἔκριναν} εἶτα τοῖσδε σὺ εἶ ξυµµαχήσων, καί µ᾿ ἀναγκάζεις τόδε;

1365 a 1365 b 1365 c

1361 γένηται] zum Fehlen von ἄν vgl. K.-G. II 426 Anm. 1. | τἄλλα Hss. : κἄλλα Cavallin : πάντα Reiske : τἄργα Erfurdt | κακά Hss. : κακούς Dobree | τἆλλα παιδεύει κακά] παιδεύει hat hier entweder die Bedeutung ‚lehren‘ und wird dann mit doppeltem Akkusativ konstruiert (wobei αὐτούς aus οἷς [1360] zu ergänzen wäre, so Schein) oder die Bedeutung ‚nähren‘ (vgl. F *648 Radt2 λευκὸν αὐτὴν ὧδ’ ἐπαίδευσεν γάλα, Kamerbeek); Letzteres passt besser zum Bild der Mutter; zum Akzent τἆλλα vgl. K.-B. I 331; Schwyzer I 401. 1362 καὶ … δ’] καὶ ist Adverb, δ’ stellt den Anschluss zum Vorausgehenden her, die Kombination bei Sophokles nur hier (GP 200 [2]). | δ’ (Hss.) : γ᾿ +Blaydes | θαυµάσας ἔχω] die emphatische Umschreibung für τεθαύµακα drückt einen dauernden Zustand aus (K.-G. II 61, 11); zum abhängigen σοῦ … τόδε vgl. K.-G. I 361 Anm. 10 b. | τόδε : τάδε Trikl. : τέκος (Variante in einer Hs.) – Philoktet staunt nicht über Neoptolemos als solchen, sondern über ein bestimmtes Verhalten von ihm. 1363–1364 µήτ’ … τ’] vgl. zu 1321–1322. 1363 γάρ] Mitteilung nach Ankündigung, vgl. zu 331; oder: „Γάρ gives the motive for saying that which has just been said“ (GP 60). | µολεῖν Hss. : καλεῖν (Variante in einer Handschriftengruppe) – mit αὐτόν ist nur µολεῖν sinnvoll. 1364 οἳ δέ West 1979, 113 f. : οἵ τε Hss. (vgl. Dawe 1978, 134 f., der zwischen ἀπείργειν und οἵ τε eine Lücke annimmt) : οἵδε Ll.-J./W. : οἵ γε Heath – οἳ δέ löst das Problem eines sonst unklaren (aus ἐς Τροίαν [1363] zu gewinnenden) oder weit zurückliegenden (1355–1357, bei οἵδε Ll.-J./W.) Bezugs, ohne dass man eine Lücke annehmen muss. Warum δέ nicht „the right connective“ sein soll, ist nicht klar, und dass τοῖσδε (1365 c) als Bezugswort des Relativs οἳ am Anfang des Hauptsatzes stehen müsste (so die Einwände von Ll.-J./W.1), überzeugt nicht. Durch εἶτα (1365 c) am Satzanfang wird die für Philoktet unverständliche Konsequenz betont. Zu Heaths οἵ γε vgl. Dawe a. O. 1365 a πατρὸς γέρας  (Hss.) : πατρὸς γέρα od. γέρας πατρὸς Trikl. – γέρα ist ein haplographischer Fehler (unmetrisch); die Betonung liegt eher auf πατρὸς, die Umstellung würde zur ‚untragischen‘ Messung πᾰˈτρὸς führen. 1365 a–1365 c {οἳ τὸν … ἔκριναν} Brunck – vgl. Komm.; „haud scio an olim post συλῶντες exstiterint ὕστερον δὲ σὲ / Ὀδυσσέως κρίναντες (vel ἔκριναν)“ Pearson. 1366 καί µ᾿ Hss. : κἄµ’ Brunck – σὺ (1365 c) scheint als Pendant ein betontes Personalpronomen zu fordern, aber der Gegensatz ist nicht in erster Linie ‚du und ich‘, vielmehr ‚du (in deiner Situation unverständlich) willst nicht nur selbst hingehen, sondern mich dazu z w i n g e n ‘. | ἀναγκάζεις] zum doppelten Akkusativ vgl. K.-G. I 311 Anm. 6. | τόδε : τάδε

Kommentar

387

1361 ‚Mutter von bösen Taten‘: ‚Mutter‘ kann als Metapher für den Ursprung oder Hauptvertreter von etwas gebraucht werden, z. B. für Olympia als ‚Mutter der Wettkämpfe‘ (Pindar, Olympien 8,1). 1363–1366 Für Philoktet ist es die logische Konsequenz des Unrechts, das sie beide durch die Atreus-Söhne und Odysseus erlitten haben, dass Neoptolemos nicht nach Troia fahren und ihm sogar abraten sollte. Aufgrund der Äußerung des Philoktet muss man vermuten, dass er dieses Element der Intrige (vgl. 362 ff.) weiterhin für wahr hält, obwohl er doch Neoptolemos als Werkzeug des Odysseus erkannt hat (1006 ff.), ihn mit Odysseus gemeinsam agieren sah (1079) und aus der Tatsache, dass Neoptolemos wieder nach Troia gehen will, eigentlich schließen müsste, dass er die Atreus-Söhne nicht für seine Feinde hält. Ist mit Taplin (1987, 70) zu erwägen, „that we are not meant to notice this trivial discrepancy“ ? Oder soll man annehmen, dass Philoktet auch diesen Trug durchschaut und Neoptolemos nur mit dessen eigenen Waffen schlagen will? Oder kann Philoktet in der Trug-Geschichte, die ursprünglich die Annäherung der beiden begründete (403–406), gleichsam den wahren Neoptolemos sehen (vgl. Schmidt 1973, 235), weil der Trug Neoptolemos, die Atreus-Söhne und vor allem Odysseus in einer Weise zeigt, wie sie tatsächlich auch sein können? Eine Variante dieser These wäre, dass der Hass Philoktets gegen die Atreus-Söhne so tief geht, dass er unbesehen jede Übeltat, die ihnen vorgeworfen wird, für wahr hält, zumal ihn seine jüngsten Erfahrungen in dieser Einstellung nur bestärken konnten. Diese Vermutung hat insofern eine gewisse Wahrscheinlichkeit, als Philoktet auch die in der Helenos-Weissagung übermittelte Notwendigkeit der Troia-Fahrt und die damit verbundenen positiven Aspekte für ihn selbst nicht zur Kenntnis genommen hat. 1364 b ‚Die‘: die Atreus-Söhne und Odysseus, die, wenn die vv. 1358– 1361 fehlten, drei Verse zuvor genannt waren (1355–1357); vgl. 364 ff. 1365 a ‚Rüstung‘, wörtl. ‚Ehrengabe‘ (geras): Achill hatte nach Homer (Ilias 18,369 ff.) auf Bitten seiner Mutter Thetis seine Rüstung vom Schmiedegott Hephaistos erhalten. 1365 a–1365 c Die in den Handschriften überlieferten, hier eingeklammerten Wörter in den vv. 1365 a–1365 c sind mit Sicherheit als interpoliert zu betrachten. Nach Darstellung des Sophokles im Philoktet weiß Philoktet nichts von der Auseinandersetzung zwischen Aias und Odysseus (vgl. 410–413), und für die Situation des Neoptolemos, die Philoktet nur aus dessen Trugversion (362 f f.) kennt, ist die Zurücksetzung des Aias irrelevant; vgl. im Einzelnen Jebb, S. 252. Es wäre allerdings zu fragen, ob der Interpolator in seinem Bestreben, den – u. a. aus Sophokles’ Aias – bekannten Streit zwischen Aias und Odysseus auch im Philoktet zu erwähnen, einen Satz wie „die dich als Odysseus unterlegen beurteilten“ verdrängt hat, was Pearson erwog (vgl. TS). 1366 ‚dazu‘: nach Troia zu gehen und mitzukämpfen. ‚zwingen‘: Philoktets Wortwahl zeigt, wie sehr er sich durch den Überzeugungsversuch des Neoptolemos unter Druck gesetzt fühlt, da er auf keinen Fall nach Troia kommen will.

388

Exodos: 1367–1372

Tu’s nicht, Sohn! Sondern, was du mir unter Eid versprochen hast, geleite mich nach Hause. Und du selbst bleibe auf Skyros und lass übel sie zugrunde gehen, die schlechten Menschen. Und so wirst du zweifachen Dank gewinnen, zweifachen, von mir 1370 und vom Vater; und du wirst nicht, indem du Schlechten hilfst, im Ruf stehen, von gleichem Wesen wie diese Schlechten zu sein. µὴ δῆτα, τέκνον· ἀλλ’, ἅ µοι ξυνώµοσας, πέµψον πρὸς οἴκους· καὐτὸς ἐν Σκύρῳ µένων ἔα κακῶς αὐτοὺς ἀπόλλυσθαι κακούς. χοὔτω διπλῆν µὲν ἐξ ἐµοῦ κτήσῃ χάριν, διπλῆν δὲ πατρός· κοὐ κακοὺς ἐπωφελῶν δόξεις ὁµοῖος τοῖς κακοῖς πεφυκέναι.

1370

1367 δῆτα] starke Ablehnung, vgl. zu 735. | ἀλλ’ ἅ µοι ξυνώµοσας Hss. : ἀλλά µ᾿, ὃ ξυνῄνεσας Blaydes, Herwerden : ἀλλά µ᾿, οἷ᾿ ξυνῄνεσας Robertson (vgl. 1398) – „ ‘what you agreed with me under oath’, ‘promised me by oath’ “ (Kamerbeek), vgl. ὀµόσας (941); Visser 1998, 234 Anm. 402; zu πέµψον (1368) lässt sich ein µε aus µοι (1367) ergänzen; vgl. zu 405; 460. 1369 κακῶς … κακούς Hss. : κακούς … κακῶς Wakefield – zu κακῶς … κακούς vgl. Ll.-J./W.1 und v. 166 στυγερὸν στυγερῶς. | αὐτοὺς ἀπόλλυσθαι Hss. : σὺ τούσδ᾿ ἀπόλλυσθαι Polle : αὐτοῦ ’ξαπόλλυσθαι Dawe 1978, 135 f. (Doederlein, Hartung) – die Konjekturen sind u.a. Versuche, die Mittelzäsur zu mildern; obwohl αὐτοῦ (sc. in Troia) einen treffenden Gegensatz zu ἐν Σκύρῳ (1368) böte, spricht die Hervorhebung der Mittelzäsur durch Homoioteleuton (αὐτοὺς, κακούς) für die Überlieferung (vgl. zu 101); vgl. auch Ll.-J./W.1; Schein. 1371 δὲ (Hss.) : τε – δὲ passt besser zu der Differenzierung ἐξ ἐµοῦ (1370) – πατρός.

Kommentar

389

1367–1369 ‚Tu’s nicht, Sohn!‘: Die Anrede wirkt wie die Einleitung zu einem väterlichen Rat. In der Tat denkt Philoktet nicht nur an sich, sondern auch an die Zukunft des Neoptolemos (Leben auf Skyros; keine Beeinträchtigung des Rufs). ‚unter Eid versprochen hast‘: Das war nicht wörtlich der Fall, aber Philoktet musste Neoptolemos insgesamt so verstehen, dass er ihm die Heimfahrt verbindlich zugesichert habe; vgl. zu 941 (mit weiteren Verweisen). – Neoptolemos war möglicherweise seine frühere Behauptung, er selbst führe nach Skyros (240), als hinfällig erschienen, nachdem er Philoktet die Wahrheit über die Notwendigkeit der Fahrt nach Troia mitgeteilt hatte. Er hat seine Truggeschichte jedenfalls nicht widerrufen, und da er es auch jetzt nicht tut, ist er nun der Gefangene seines Versprechens, an dessen Verbindlichkeit Philoktet appelliert; vgl. 1398 f., auch zu 1373–1375. 1369 ‚zugrunde gehen, die schlechten Menschen‘: Gemeint sind die Atreus-Söhne und Odysseus. Vermutlich geht Philoktet hier von seiner Wunschvorstellung von einer gerechten Bestrafung derer aus, die ihm Unrecht getan haben (1035 ff.). In seiner evidenten Fixierung auf die Atreus-Söhne und Odysseus denkt er nur an sie, aber seine Weigerung, nach Troia zu fahren, bedeutet zugleich, dass auch andere Griechen vor Troia sterben werden. 1370–1371 ‚zweifachen … zweifachen‘: Die emphatische Verdoppelung ist zwar im Griechischen so formuliert, dass Neoptolemos zweifachen Dank von Philoktet und zweifachen Dank von dessen Vater Poias erhalten werde; das müsste man dann so verstehen, dass sich beide bei Neoptolemos sowohl für die Heimkehr als auch dafür bedanken, dass er die Griechen vor Troia im Stich lässt (so Jebb; Ussher). Aber mit dem formelhaften Ausdruck ist wohl nur gemeint, dass Philoktet und sein Vater (den Philoktet hier – wie 665 – mit Gewissheit als lebend annimmt; anders 492–494; 1211 f.; vgl. aber 1430) Dank wissen werden (Kamerbeek; Schein); entsprechend wurde die Übersetzung formuliert. Dass mit ‚Vater‘ der verstorbene Achill gemeint sein sollte (Wilamowitz 1923, 114; erwogen von Kamerbeek; Ussher) – erschlossen aus dem Verweis auf die Wesensart (1372) –, ist weniger wahrscheinlich. 1370 ‚zweifachen Dank‘: Auch Odysseus hatte Neoptolemos ‚zweifachen Lohn‘ versprochen (klug und zugleich tapfer genannt zu werden; 117–119), aber im Unterschied dazu muss Neoptolemos für den Dank, den Philoktet ihm in Aussicht stellt, sein Wesen nicht verleugnen, im Gegenteil (1371 f.). 1371–1372 ‚Schlechten‘: sc. die Atreus-Söhne und Odysseus. Odysseus hatte Neoptolemos damit für seine Intrige gewonnen, dass er ihm den Gewinn – mit einem nur kurzfristigen schamlosen Tun (83 f.) – eines besonderen Rufs verheißen hatte (117–119).

390 Ne. Ph.

Νε. Φι.

Exodos: 1373–1377

Es leuchtet ein, was du sagst; aber dennoch möchte ich, dass du im Vertrauen auf die Götter und meine Worte mit mir als deinem Freund von diesem Land losfährst. Nach Troia und zu Atreus’ verhasstestem Sohn – mit diesem elenden Fuß?

1375

λέγεις µὲν εἰκότ’, ἀλλ’ ὅµως σε βούλοµαι θεοῖς τε πιστεύσαντα τοῖς τ’ ἐµοῖς λόγοις φίλου µετ’ ἀνδρὸς τοῦδε τῆσδ’ ἐκπλεῖν χθονός. ἦ πρὸς τὰ Τροίας πεδία καὶ τὸν Ἀτρέως ἔχθιστον υἱὸν τῷδε δυστήνῳ ποδί;

1375

1374 θεοῖς] zu ergänzen τοῖς (vgl. zu 1312, Versparung). 1377 τῷδε δυστήνῳ ποδί] komitativer Dativ (Moorhouse 91), nicht (mit Personifizierung von πούς) ‚Atreus-Sohn, dem Fuß verhasst‘ (Radermacher 1911) oder ‚Atreus-Sohn, der dem Fuß höchst feindlich ist‘ (Webster); beides lässt sich mit der geschlossenen Wortstellung (τὸν [1376] … υἱὸν) nicht vereinbaren.

Kommentar

391

1373–1408 Neoptolemos hält in Auseinandersetzung mit Philoktet weiterhin daran fest, die Vorteile der gemeinsamen Fahrt nach Troia aufzuzeigen; Philoktet erkennt dagegen nur die für ihn unerträgliche Zumutung, mit seinen Feinden zusammen zu sein, was für ihn auch nicht durch eine zu erwartende Heilung von seiner Krankheit aufgewogen wird. Neoptolemos’ Argumente sind damit erschöpft, und er gibt seine Pläne resigniert auf. Die Folge ist jedoch, dass er sich der dringenden Bitte Philoktets stellen muss, ihn nach Hause zu bringen, der er auch folgen will, nachdem Philoktet seine Bedenken wegen der befürchteten Reaktion des griechischen Heeres zerstreut hat. Damit scheint das Drama einen Schlusspunkt erreicht zu haben. Philoktet wird ermöglicht, sich selbst treu zu bleiben – unter Verzicht auf Heilung und Ruhm –, gleichzeitig ergibt sich aber, dass der in der Weissagung erkennbare göttliche Wille nicht erfüllt wird und nun Neoptolemos wider besseres Wissen und seinerseits unter Verzicht auf den verheißenen Ruhm handelt. Allerdings entscheidet er sich nicht ‚verführt‘ durch Odysseus (wie zunächst), sondern weil er gegenüber Philoktet nicht wortbrüchig werden will, also insofern diesmal zumindest partiell seinem Wesen entsprechend. Da auf diese Weise aber nicht zustande kommt, was zustande kommen soll, verbleibt ein unaufgelöster Konflikt, der nicht zuletzt aus der jeweiligen Wesensart der Figuren erwuchs. Diese Situation ist vielleicht für die Zuschauer irritierend gewesen – vor allem, weil daraus folgen müsste, dass Troia dann nicht erobert werden würde –, und es dürften Zweifel aufgekommen sein, ob mit dem Entschluss der beiden zur Abreise das Drama beendet sein kann. Vgl. auch Hoppin 1990, 149. 1373–1375 Neoptolemos antwortet verbindlich, indem er Philoktets Standpunkt eine gewisse Anerkennung zollt, aber nicht uneingeschränkt zustimmt (etwa: ‚du sagst die Wahrheit‘, vgl. OT 1141). Die Geschichte von der Vorenthaltung der Rüstung Achills (362 ff.), mit der Philoktet argumentiert hatte (1364–1366), stellt Neoptolemos allerdings nicht richtig. Eine Aufklärung dieser Geschichte, welche die Grundlage für ihre ‚Leidensgemeinschaft‘ bildete (403–406), die sie einander näherbrachte, wäre auch nicht leicht gewesen: Er hätte wieder an Glaubwürdigkeit verloren; vgl. dazu Alt 1961, 170 f.; Blundell 1988, 146. Offenbar will Neoptolemos möglichst schnell über Philoktets Einwände hinweggehen und wieder zu seinem Anliegen kommen (vgl. auch Visser 1998, 205 f.). Er stützt sich nun ganz auf den Götterwillen und das Vertrauen als Freund, als der er sich doch mit der Bogenrückgabe erwiesen hat. Es sind dies ebendie Werte, die Philoktet bei seiner Fixierung auf das ihm zugefügte Unrecht (noch) nicht genügend zur Geltung kommen lässt. 1374 ‚Götter‘: Neoptolemos äußert sich so unbestimmt wie 196 u. 841, bezieht sich aber sicher auf den Götterwillen, den er in der Weissagung des Helenos ausgedrückt sieht, auf die Philoktet nicht eingegangen war. – Vorsichtig spricht Neoptolemos das Ziel der Fahrt nicht aus, aber diese Taktik bewirkt nichts, wie Philoktets Antwort zeigt (1376 f.). 1376 ‚Troia‘; vgl. zu 920. 1376–1377 ,Atreus’ verhasstestem Sohn‘: Während Philoktet sonst von den Atreus-Söhnen spricht (zuletzt 1355 f. und wieder 1384), muss er hier

392

Exodos: 1378–1385

Ne.

Zu denen vielmehr, die dich und deinen eitrigen Fuß vom Schmerz befreien und von der Krankheit heilen werden. Du, der du einen ungeheuerlichen Rat gegeben hast, was sagst 1380 du da? Was ich für dich und für mich als das Beste ansehe, wenn es vollendet wird. Und wenn du das sagst, schämst du dich nicht vor den Göttern? Wie sollte man sich denn schämen, wenn man den Freunden nützt? Meinst du aber mit diesem Nutzen einen für die Atreus-Söhne oder einen für mich? Für dich natürlich, bin ich doch dein Freund; und derart ist auch, 1385 was ich sage.

Ph. Ne. Ph. Ne. Ph. Ne.

Νε. Φι. Νε. Φι. Νε. Φι. Νε.

πρὸς τοὺς µὲν οὖν σε τήνδε τ’ ἔµπυον βάσιν παύσοντας ἄλγους κἀποσώσοντας νόσου. ὦ δεινὸν αἶνον αἰνέσας, τί φής ποτε; ἃ σοί τε κἀµοὶ λῷσθ’ ὁρῶ τελούµενα. καὶ ταῦτα λέξας οὐ καταισχύνῃ θεούς; πῶς γάρ τις αἰσχύνοιτ’ ἂν ὠφελῶν φίλους; λέγεις δ’ Ἀτρείδαις ὄφελος ἢ ’π’ ἐµοὶ τόδε; σοί που φίλος γ’ ὤν· χὠ λόγος τοιόσδε µου.

1380

1385

1378 µὲν οὖν] „In dialogue. Adversative. ‘No’: ‘on the contrary’: ‘rather’ “ (GP 475 [3] [i]). | ἔµπυον] ein medizinischer Ausdruck (z. B. Hippokrates, Prognostikon, c. 18), der sonst in der Tragödie nicht vorkommt. | βάσιν] eigentlich der Akt des Gehens (691), aber hier konkret ‚Fuß‘ (LSJ s. v. II). 1379 κἀποσώσοντας Heath : κἀποσῴζοντας Hss. – die parallele Stellung zu παύσοντας erfordert die Korrektur. 1380 αἶνον αἰνέσας] figura etymologica. 1381 λῷσθ’ Dindorf : κάλ᾿ : καλῶς – die Überlieferung ist korrupt (auch κᾱ́λ᾿ ist nicht möglich, da das α bei καλός in der Tragödie kurz ist); Dindorfs λῷσθ’ ist die allgemein akzeptierte Konjektur. | ἃ … λῷσθ’ ὁρῶ τελούµενα] zu konstruieren als: ἃ … λῷσθ’ ὁρῶ ⟨ὄντα⟩ τελούµενα (Kamerbeek). 1382 καταισχύνῃ] zur Konstruktion mit Akkusativ vgl. OT 1424 f. 1383 ὠφελῶν φίλους Buttmann : ὠφελούµενος Hss. : ὠφελῶν τινα Wecklein – dass ὠφελούµενος unmöglich und eine Wendung mit ὠφελῶν notwendig ist, zeigt Philoktets Reaktion (1384); anders Avezzù / Pucci. 1384 δ’ : Ø – da in einer Stichomythie Verse in der Regel nicht mit δέ eingeleitet werden, ist δ’ als lectio difficilior zu betrachten; zur Funktion vgl. Komm. | ἢ ’π’ ἐµοὶ Hss. : ἢ κἀµοὶ Hermann – ἐπί zur Angabe der Bestimmung (K.-G. I 502 f); ἐπί ist wahrscheinlich auch zu Ἀτρείδαις zu ergänzen (Figur der Versparung; Kiefner 1964, 28; 88); zur gleichzeitigen Prodelision und Elision (’π’) vgl. OT 820; Eur. Or. 1148. | τόδε : τάδε (Hss.) – direkter Rückbezug auf ὠφελῶν (1383). 1385 που] „ ‘I imagine I am your friend, unless I deceive myself’: Neoptolemus rather resents Philoctetes’ suspicion“ (GP 491). | µου : µοι – µου in der Funktion des hier notwendigen Possessivpronomens zu λόγος (K.-G. I 559, 3).

Kommentar

393

Agamemnon als obersten Feldherrn vor Troia und den Letztverantwortlichen für sein Schicksal meinen. Er empfindet es als besondere Zumutung ausgerechnet zu diesem zu fahren mit dem kranken Fuß, der für Agamemnon Grund der Aussetzung war (vgl. zu 1202). Vgl. Jebb. 1378–1379 ‚Zu denen vielmehr‘: Die Erwähnung der Wunde am Fuß veranlasst Neoptolemos, noch einmal darauf zu verweisen, dass Philoktet in Troia geheilt würde (vgl. 1333 f.; 1345 f.). Dabei tauscht er das ‚Fahrtziel‘ aus: nicht der verhasste Agamemnon, sondern diejenigen, die Philoktet heilen werden. 1380 ‚ungeheuerlichen Rat‘: Die Reaktion erscheint paradox, aber Philoktet sieht nicht auf die mögliche Heilung, er denkt nur an die damit verbundene ‚Auslieferung‘ an die Söhne des Atreus (vgl. 1386). Schon früher (919– 973) hatte die in Aussicht gestellte Heilung (vgl. 1165 f. u. zu 919) bei Philoktet nicht zum Umdenken geführt, und hätte er es vorgezogen, unter den bisherigen Bedingungen auf Lemnos zu bleiben (972 f.; vgl. auch zu 971–974 a). ‚was sagst du da?‘: Diese Frage ist keine echte Nachfrage, sie drückt eher einen empörten Versuch der Vergewisserung aus, ob Neoptolemos wirklich wolle, dass er nach Troia fahren solle. 1381 ‚für dich und für mich‘: Wie in v. 1304, wo es um das geht, was ehrenvoll ist, sieht Neoptolemos Philoktet und sich selbst in einer Wertegemeinschaft; hier ist es der durch die Gesundung Philoktets mögliche Sieg beider über Troia (wenn er ‚vollendet‘ werden kann). 1382 Philoktets Frage, ob sich Neoptolemos nicht vor den Göttern schäme, wird verschiedentlich als Beleg dafür gesehen, dass Philoktet die HelenosWeissagung nicht glaube, zumal er sie zuerst vom ‚Kaufmann‘ gehört habe (vgl. [mit leicht unterschiedlichen Nuancen] Webster; Kamerbeek; Ussher). Aber Philoktet weiß nicht, dass der ‚Kaufmann‘ im Auftrag des Odysseus handelte, dass er gar kein ‚Kaufmann‘ ist. Philoktet nimmt vielmehr, was Neoptolemos über die Weissagung gesagt hatte (1329–1342), nicht zur Kenntnis, sonst hätte er vermutlich auf dessen Berufung auf die Götter (1374) gleich so reagiert, wie es bei einer entsprechenden Äußerung von Odysseus der Fall war (989–992). Jetzt ist Philoktet darüber empört, dass der Freund Neoptolemos ihm das Zusammensein mit seinen Feinden zumuten will („Art thou not ashamed before heaven of pretending that a return to Troy is for my good?“, Jebb); vgl. auch Pucci zu 1381–6. Da er in Neoptolemos’ Bemühen nur erkennt, dass er den Feinden ausgeliefert werden solle (1386), hält er dessen Argumente für so unredlich, dass der sich vor den Göttern schämen müsste. 1383 ‚Wie sollte man sich denn schämen‘: Die Rückfrage des Neoptolemos macht deutlich, dass er die Engführung, in der Philoktet wegen der Behandlung durch die Atreus-Söhne und Odysseus denkt, nicht verstanden hat. ‚den Freunden nützt‘: Vgl. z. B. Platon, Politeia 332 d 7 f., wo die ethische Maxime, den Freunden zu nützen und den Feinden zu schaden sei Gerechtigkeit, diskutiert wird, und allgemein Blundell 1989, 26–59. 1384 Diese Frage ist aufschlussreich für die psychische Situation Philoktets: Er ist so sehr auf die Zumutung fixiert, den Atreus-Söhnen und Odysseus in Troia zu begegnen, dass er eher die ehrliche Fürsorge des Neoptolemos be-

394

Exodos: 1386–1391

Ph. Ne. Ph. Ne. Ph. Ne.

Wie das, da du mich doch den Feinden ausliefern willst? Mein Lieber, lerne, nicht unverschämt zu werden im Unglück! Du willst mich vernichten, ich erkenne es, mit deinen Worten. Bestimmt nicht ich! Sondern du, sage ich, verstehst nicht. Ich weiß nicht, dass die Atreus-Söhne mich ausgesetzt haben? 1390 Ja, ausgesetzt, doch blicke darauf, ob sie dich wieder retten wollen.

Φι. Νε. Φι. Νε. Φι. Νε.

πῶς, ὅς γε τοῖς ἐχθροῖσί µ’ ἐκδοῦναι θέλεις; ὦ τᾶν, διδάσκου µὴ θρασύνεσθαι κακοῖς. ὀλεῖς µε, γιγνώσκω σε, τοῖσδε τοῖς λόγοις. οὔκουν ἔγωγε· φηµὶ δ’ οὔ σε µανθάνειν. ἐγὼ οὐκ Ἀτρείδας ἐκβαλόντας οἶδά µε; ἀλλ’ ἐκβαλόντες εἰ πάλιν σώσουσ’ ὅρα.

1390

1386 ὅς γε] zur Funktion von γε vgl. zu 663. | ἐχθροῖσί µ’ Valckenaer : ἐχθροῖσιν Hss. – ἐκδοῦναι braucht ein Objekt. 1387 θρασύνεσθαι] „in bad sense, to be over-bold, overconfident“ (LSJ s. v. II. 2). | κακοῖς Hss. : ⟨᾿ν⟩ κακοῖς Blaydes – der Dativ κακοῖς bezeichnet den begleitenden Umstand (K.-G. I 435, 6; Jebb). 1388 γιγνώσκω σε] sc. ὅτι ὀλεῖς, statt γιγνώσκω, ὅτι (σὺ) ὀλεῖς µε. Vgl. Markusevangelium 1,24 οἶδά σε τίς εἶ (Ussher). 1389 οὔκουν … γε] leitet eine emphatisch ablehnende Antwort ein (GP 423 [i]). 1390 ἐγὼ Hermann : ἔγωγ᾿ Hss. | οὐκ : Ø – οὐκ ist gut überliefert (was dann Hermanns ἐγὼ erforderlich macht), bei der Lesart ἔγωγ᾿ Ἀτρείδας ergäbe sich statt der indignierten Frage eine recht platte Aussage; vgl. auch Schein. | ἐγὼ͜ οὐκ] zur Synizese vgl. 585; Ant. 458.

Kommentar

395

zweifelt (vgl. das einwendende ‚aber‘), als die positiven Aspekte der Fahrt nach Troia zu realisieren. Entsprechend verweist Neoptolemos in seiner Antwort (1385) auf die Basis der Freundschaft, die seine Glaubwürdigkeit garantiert. 1386 ‚Wie das‘: Indem Philoktet, wegen der Forderung, mit nach Troia zu gehen, was er als ‚Auslieferung‘ versteht, Neoptolemos’ Freundschaft misstraut, steigert er sich in die Unterstellung einer bösartigen Absicht hinein. 1387 ‚Mein Lieber‘: Das griechische ō tān kann zwar „a polite and respectful form of address“ sein, die gegenüber Eltern, sozial Höher- oder Gleichgestellten (die keine engen Vertrauten sind) gebraucht wird (Dodds 1960 zu Eur. Ba. 802), häufiger wird sie jedoch von einer überlegenen Position aus gebraucht, wie auch Neoptolemos seine Ermahnung von einer Haltung aus erteilt, die er für moralisch überlegen hält (vgl. de Vries 1966, 225–230, bes. 229: „Some condescending pity is expressed by the turn.“). ‚nicht unverschämt zu werden‘: Das ist wohl der Sinn des griechischen mē thrasynesthai, ,sich nicht dreist zu benehmen‘. Neoptolemos empfindet die Unterstellung, er wolle Philoktet den Feinden ausliefern, selbst angesichts der Lage, in der sich Philoktet befindet, als unangemessen. 1388 ,vernichten‘: Vernichtet würde sich Philoktet fühlen, wenn er durch die Worte des Neoptolemos dazu gebracht würde, seine ablehnende Haltung aufzugeben, die er als Bewahrung seiner selbst versteht. ‚mit deinen Worten‘: Nach Angaben des ‚Kaufmanns‘ hatte Helenos gesagt, dass Philoktet mit Worten überzeugt werden solle (612), Philoktet fühlt sich aber durch Worte ‚vernichtet‘ (wie durch die Worte des Chors, 1172). 1389–1390 ‚verstehst nicht … weiß nicht‘: Während Neoptolemos mit ‚verstehst nicht‘ meint, dass Philoktet nicht den Sinn seiner Worte aufnimmt (und dass sein Rat zu Philoktets Vorteil ist), deutet Philoktet Neoptolemos’ Feststellung als Zweifel an seiner Fähigkeit zu erkennen, wer ihm was angetan habe, bzw. die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen. 1391 ‚retten‘: Das tun sie, wenn sie Philoktet – wegen der Helenos-Weissagung – zurückholen wollen. Indem Neoptolemos die Rettungsbemühung um Philoktet den Atreus-Söhnen zuschreibt, versucht er, dem Hass Philoktets auf sie auf dessen Diskussionsebene ein positives Gegenbild gegenüberzustellen. Dass sich bei den Atreus-Söhnen ein Sinneswandel im Sinne einer Würdigung Philoktets ergeben haben könnte, ist eine Vorstellung, die der Wesensart des Neoptolemos entspricht (vgl. 1270) und die als Zeichen einer gewissen Naivität zu deuten sein könnte. Denn eine Versöhnungsbotschaft nach Art derjenigen Agamemnons an Achill in der Ilias (9,260–299) sucht man in diesem Drama vergebens. Zuletzt hatte Odysseus im Namen der Atreus-Söhne verboten, den Bogen zurückzugeben, und seinerseits angedroht, Philoktet mit Gewalt nach Troia zu bringen (1293–1298). Ob man aus der von Odysseus en passant vorgebrachten Bemerkung, Philoktet solle gleichrangig mit den Vornehmsten Troia einnehmen (997 f.), und der von Neoptolemos angekündigten Vorrangstellung (1344 f.) auf eine gewandelte Haltung der Führung der Griechen schließen kann, ist fraglich.

396 Ph. Ne.

Ph.

Φι. Νε.

Φι.

Exodos: 1392–1398

Niemals unter der Bedingung, dass ich freiwillig euer Troia aufsuche! Was sollte ich dann noch tun, wenn ich dich mit Worten zu nichts von dem werde überzeugen können, was ich sage? So ist es für mich am leichtesten, dass ich mit Reden aufhöre, du aber lebst, wie du jetzt lebst, ohne Rettung. Lass mich das erleiden, was ich erleiden muss; doch was du mir versprachst, meine rechte Hand fassend, οὐδέποθ’, ἑκόντα γ’ ὥστε τὴν Τροίαν ἰδεῖν. τί δῆτ’ ἂν ἡµεῖς δρῷµεν, εἰ σέ γ’ ἐν λόγοις πείσειν δυνησόµεσθα µηδὲν ὧν λέγω; ὡς ῥᾷστ᾿ ἐµοὶ µὲν τῶν λόγων λῆξαι, σὲ δὲ ζῆν, ὥσπερ ἤδη ζῇς, ἄνευ σωτηρίας. ἔα µε πάσχειν ταῦθ’, ἅπερ παθεῖν µε δεῖ· ἃ δ’ ᾔνεσάς µοι δεξιᾶς ἐµῆς θιγών,

1395

1395

1392 ὥστε] ‚unter der Bedingung, dass‘ (K.-G. II 504 f.); OC 602. | τὴν Τροίαν (Hss.) : Τροίαν γ᾿ Trikl. – der bei Τροία (ohne Attribut) ungewöhnliche Artikel (vgl. Moorhouse 147) hat hier einen verächtlichen Ton; vgl. 1060 τὴν Λῆµνον und zu 325–326. | ἰδεῖν : ἑλεῖν : µολεῖν Burges (ἐλθεῖν varia lectio in einer Hs.) : µε πλεῖν Pallis – ἰδεῖν versteht Jebb zu Recht als ‚to set eyes upon‘, ‚visit‘ und vergleicht OT 824. 1393–1394 ἡµεῖς δρῷµεν … λέγω] zum Wechsel vom Plural zum Singular (Neoptolemos spricht jeweils nur von sich) vgl. analog 1458–1463. 1393 τί δῆτ’] zur Funktion von δῆτ’ vgl. zu 895. | ἐν] vgl. zu 60. 1394 πείσειν Hss. : πεῖσαι Nauck : πείθειν Schaefer – zum Infinitiv Futur nach einem Verb des Könnens vgl. K.-G. I 185; MT § 113 („when it was desired to make the reference to the future especially prominent“); die Enttäuschung ist umso größer, wenn das für die Zukunft Erhoffte nicht eintritt; vgl. Schein. 1395 ὡς ῥᾷστ᾿ ἐµοὶ (Hss.) : ὡς ὥρα ἔστ(α)ι µοι Trikl. : ὥρα ’στ’ ἐµοὶ Bergk – ὡς wird oft kausal aufgefasst (Jebb; Kamerbeek; Schein), aber das ergibt keinen plausiblen Sinn, vielmehr zieht Neoptolemos die Konsequenz aus der Unmöglichkeit, Philoktet zu überzeugen. Zu konsekutivem ὡς mit Verbum finitum vgl. Aisch. Pers. 730 (Garvie 2009 hält ὡς an dieser Stelle kaum überzeugend für kausal); MT § 608. Wenn man an dieser Möglichkeit zweifelt, sollte man sich für Bergks Konjektur entscheiden. – Zum Plural ῥᾷστ(α) vgl. K.-G. I 66 f. | µὲν : Ø : γε Trikl. – ἐµοὶ µὲν korrespondiert mit σὲ δὲ. | λῆξαι] dazu ist αὐτόν oder ἐµέ aus ἐµοὶ zu ergänzen. | σὲ δὲ Hss. : σὲ δ᾿ ἐᾶν F.W. Schmidt – die Konjektur macht auf eine leichte Inkonzinnität der Aussage aufmerksam, die jedoch nicht beseitigt werden muss. 1397 πάσχειν … παθεῖν] das aktuelle Leiden (Präsens) im Unterschied zu dem insgesamt zugemessenen Leid (komplexiver Aorist). 1398 ᾔνεσάς] Simplex statt des Kompositums συνῄνεσας.

Kommentar

397

1392 ‚Niemals … freiwillig‘: Die Vorgehensweise, die Philoktet seitens des Odysseus gerade erlebt hat, ist nicht geeignet, ihn an eine positive Einstellung der Atreus-Söhne ihm gegenüber glauben zu lassen und von seinem Entschluss (‚niemals‘; vgl. 999; 1197) abzubringen. Mit der erneuten apodiktischen Aussage Philoktets ist die in der Helenos-Weissagung genannte Bedingung für seine Rückkehr (1332; 1343) als Möglichkeit ausgeschlossen. Einer gewaltsamen Verbringung nach Troia hatte Philoktet sich bereits – sogar als er des Bogens beraubt war – mit aller Macht widersetzt (986 ff.; bes. 1001 f.); und seit er den Bogen wieder in Besitz hat, kommt Gewalt nicht mehr in Frage (103–105; 1299–1307). Damit ergibt sich, dass Philoktet nicht freiwillig und auch nicht unfreiwillig nach Troia fahren wird. ‚euer Troia‘: Im Griechischen ist die verächtliche Abgrenzung durch den bei Ortsnamen unüblichen Artikel gekennzeichnet (vgl. TS u. Komm. zu 381). 1393–1394 Auf die Absage Philoktets hin stellt Neoptolemos die ratlose Frage, was er noch tun könne, wenn Philoktet sich nicht durch Worte überzeugen lasse. In v. 1393 ist der Gegensatz durch die im Griechischen gesetzten Personalpronomina betont: I c h kann nichts mehr tun, weil d u dich nicht überzeugen lässt. Auch der Versuch, Philoktet gemäß der Weissagung (612) mit Worten zu überzeugen (‚mit Worten … sage‘) ist also – wie der, ihn durch eine Intrige zu überlisten – gescheitert; vgl. Visser 1998, 207. 1395–1396 Als Konsequenz kündigt Neoptolemos wieder an (wie 1279 f.), nicht weiter reden zu wollen. Dabei stellt er seiner Situation (‚am leichtesten‘), die problematische Philoktets gegenüber, der durch seine Weigerung, nach Troia zu gehen, keine Aussicht auf Heilung seiner Krankheit haben werde. Neoptolemos’ Worte sind auf das Zweierverhältnis fokussiert, von den Folgen der Weigerung Philoktets für die Eroberung Troias spricht er nicht, die Helenos-Weissagung ist aber präsent, wenn er Philoktet klarmacht, dass er wegen seiner Verweigerungshaltung nicht geheilt werden könne. 1397 ‚Lass mich das erleiden‘: In heroischer Selbstbehauptung bekennt sich Philoktet dazu, sein Leid ertragen zu wollen. Mit dem, was er zu erleiden bereit ist, meint er seine Krankheit, auf deren Heilung er verzichtet, wenn er nicht nach Troia mitfährt, nicht das Leben auf der Insel, denn er will ja nach Hause gebracht werden (1398–1400). Philoktet weist eine für sophokleische ‚Heldenfiguren‘ charakteristische Haltung auf, seiner Überzeugung treu zu bleiben, auch wenn dieses Beharren Nachteile mit sich bringt, wie eine ähnliche Äußerung Antigones zeigt (Ant. 95 f.; vgl. Schein); es ist ein teuer erkaufter Sieg (vgl. Knox 1964, 139; Pucci 2003, 311). 1398–1399 Philoktet muss seine frühere Forderung, wie versprochen, nach Hause gebracht zu werden (1367 f.), noch einmal stellen. Neoptolemos hatte zuvor nicht darauf reagiert; vielmehr könnte man seine letzten Worte (1395 f.) auch so verstehen, dass er es bei der jetzigen Situation Philoktets belassen will. 1398 ‚rechte Hand fassend‘: Das Berühren der ‚rechten‘ Hand (vgl. 942) verweist auf v. 813, bezog sich dort aber auf Neoptolemos’ Zusicherung, Philoktet während des Anfalls nicht zu verlassen. In v. 1367 hatte Philoktet in Bezug auf die Heimfahrt sogar von einem Eid gesprochen; vgl. zu 1367–1369.

398

Ne.

Νε.

Exodos: 1399–1402

mich nach Hause zu bringen, das erfülle mir, Sohn, und säume nicht und sprich auch nicht mehr von Troia; denn genug Gerede hat es darüber gegeben. Wenn es recht ist, lass uns gehen. Ph. Du Sprecher eines edlen Wortes! πέµπειν πρὸς οἴκους, ταῦτά µοι πρᾶξον, τέκνον, καὶ µὴ βράδυνε µηδ’ ἐπιµνησθῇς ἔτι Τροίας· ἅλις γάρ τοι τεθρύληται λόγος. εἰ δοκεῖ, στείχωµεν. Φι. ὦ γενναῖον εἰρηκὼς ἔπος.

1400

1400

1399 πέµπειν (Hss.) : πέµψειν +Blaydes – πέµπειν bezeichnet nicht den Gegenstand eines neuerlichen Versprechens (wobei Futur zu erwarten wäre), sondern den Inhalt von ἃ (1398), und das Geleiten ist durativ, daher nicht Aorist (vgl. Jebb). 1400 βράδυνε] hier intransitiv. 1401 τοι Trikl. : µοι (Hss.) | τεθρύληται Hermann : τεθρήληται eine Hs. am Rand : τεθρύλληται „Paris. gr. 2886 (i.e. Aristobulus Apostolides)“ : τεθρήνηται Hss. | λόγος : λόγοις : γόοις (varia lectio in einigen Hss.) – vgl. zu den den Textentscheidungen Dawe 1978, 61 f. (mit überzeugender Begründung); anders Pucci. 1402–1403 {…} Dawe 1978, 136 f. (mit detaillierter Argumentation) – vgl. zu 1402, 1403 und EK, S. 437. 1402 εἰ δοκεῖ Hss. : {εἰ δοκεῖ} Porson – der Vers ist in der Tragödie neben Aisch. Pers. 165 (wo die Anomalie allerdings durch eine Wortumstellung beseitigt werden kann) der einzige katalektische trochäische Tetrameter, in dem die Mitteldihärese fehlt. Porson wollte deswegen einen iambischen Trimeter herstellen (dagegen mit Recht Jebb). Aber vielleicht ist die geringe Zahl der erhaltenen tragischen trochäischen Tetrameter keine ausreichende Basis, die Anomalie so stark zu gewichten, dass daraus die Unechtheit des Verses folgt; vgl. Kamerbeek; Ll.-J./W.1. | εἰ δοκεῖ, στείχωµεν] vgl. 526 u. 645 (ἀλλ’ εἰ δοκεῖ); ohne ein einleitendes ἀλλ’ wirkt der Einsatz mit εἰ δοκεῖ recht abrupt.

Kommentar

399

1399–1401 Philoktet ist, wie zuvor schon einmal (635 ff.), darauf aus, möglichst schnell nach Hause zu kommen. Daraus resultiert die Anweisung an Neoptolemos, nicht wieder mit Troia anzufangen. Offenbar fürchtet er, dass Neoptolemos seine Überredungsversuche doch noch fortsetzen könnte. 1401 ‚genug Gerede hat es darüber gegeben‘: Mit der Wortwahl (es handelt sich um eine Konjektur, die aber einen Anhalt in einem Teil der Überlieferung hat) zeigt Philoktet deutlich, wie er den (vergeblichen) Versuch, ihn verbal umzustimmen, einschätzt. Nach der von manchen bevorzugten alternativen Textgestaltung (‚geweint‘) würde Philoktet sagen, es seien von ihm nun genug Wehklagen geäußert worden, eine Aussage, die sich in den Zusammenhang nicht eigentlich sinnvoll integriert. 1402–1408 Nach dem überlieferten Text (zu 1402–1403 s. EK, S. 437) stimmt Neoptolemos nun ohne weitere Einwände überraschend schnell zu und bietet Philoktet seine Hilfe beim Gehen an (vgl. 893). Dann, so muss man annehmen, überkommt ihn jedoch die Besorgnis, welche Folgen dieser Entschluss für ihn haben wird (1404 ff.; anders noch 1251; 1254 gegenüber Odysseus’ Drohungen 1250; 1253). Als nach erregtem Gespräch (Antilabai, in denen Neoptolemos Philoktet zweimal mitten im Satz unterbricht; Wechsel des Metrums) Philoktet zugesichert hat, Neoptolemos gegen eine mögliche Rache des griechischen Heeres gegebenenfalls mit seinem Bogen zu verteidigen, willigt Neoptolemos schließlich ein, bezeichnenderweise nicht ohne die Bedingung der Hilfe noch einmal zu nennen. Mit seiner Entscheidung, sich dem Willen Philoktets zu fügen (vgl. auch zu 1367), opfert Neoptolemos nicht nur seine Pläne, ruhmvoll Troia zu erobern (115 f.; 1335), sondern stellt sich auch gegen den Auftrag des griechischen Heeres (93 f.) und insofern zugleich gegen die von ihm als verbindlich betrachtete Weissagung (1374; vgl. auch zu 1339–1341a); anders Visser 1998, 210. Bei den Versen handelt es sich um katalektische trochäische Tetrameter, die bei Sophokles nur hier und in F 461 u. 807 Radt2 zu finden sind (die in OT 1515–1530 sind wahrscheinlich unecht). Es ist laut Aristoteles das ursprüngliche Versmaß der Tragödie (Poetik 4, 1449 a 21–25), das aber nach Aischylos’ Agamemnon (458 v. Chr.) – sieht man von den beiden undatierten SophoklesFragmenten ab – erst wieder in den späteren Stücken des Euripides belegt ist (z. B. HF 855 ff.; Ba. 604 ff.; Drew-Bear 1968, 386). Das Versmaß wird gerne an emotionalen und dramatischen Höhepunkten verwendet (vgl. Drew-Bear 1968; Fraenkel 1977, 75 f.; Schein), wie hier, wo Neoptolemos endgültig die für ihn problematische Entscheidung treffen muss. Es kann aber auch am Ende einer Tragödie vorkommen (Aisch. Ag. 1649–1673; Eur. Ion 1606–1622) und somit als ein Signal für den Schluss wirken (Drew-Bear 1968, 395; Hoppin 1990, 143). – Vielleicht wurden die Verse unter Begleitung eines AulosSpielers rezitiert (Pickard-Cambridge 1988, 156 mit Anm. 3). 1402–1403 Die Echtheit dieser Verse ist fraglich; s. EK, S. 437. 1402 ‚edlen Wortes‘: Mit dem Epitheton ‚edel‘ wird der edle Charakter des Sprechers gekennzeichnet (vgl. 799), der zu seinem Wort steht; in v. 51 hat ‚edel‘ eine andere Konnotation (vgl. zu 50–53). Vgl. Schein zu 1402.

400

Exodos: 1403–1408

Ne. Ne.

Stütze dich also auf mich beim Gehen! Ph. So gut ich kann. Aber wie werde ich der Anschuldigung der Achaier entkommen? Ph. Mach dir keine Sorgen! Und was, wenn sie mein Land zerstören? Ph. Durch meinen 1405 Beistand … … wirst du welche Hilfe leisten? Ph. … werde ich mit den Pfeilen des Herakles … Wie meinst du? Ph. … sie hindern, sich deiner Heimat zu nähern. Ne. Nun gut, wenn du ⟨…⟩ das tun wirst, wie du sagst, sag dem Land Lebewohl und geh!

Ne. Ne. Ne.

Νε. Νε. Νε. Νε. Νε.

ἀντέρειδέ νυν βάσιν σήν. Φι. εἰς ὅσον γ’ ἐγὼ σθένω. αἰτίαν δὲ πῶς Ἀχαιῶν φεύξοµαι; Φι. µὴ φροντίσῃς. τί γάρ, ἐὰν πορθῶσι χώραν τὴν ἐµήν; Φι. ἐγὼ παρὼν … 1405 τίνα προσωφέλησιν ἔρξεις; Φι. … βέλεσι τοῖς Ἡρακλέους … πῶς λέγεις; Φι. … εἴρξω πελάζειν σῆς πάτρας. Νε. ἀλλ’ εἰ ⟨⏑ ‒ ‒ ⏑⟩ † δρᾷς † ταῦθ’, ὥσπερ αὐδᾷς, στεῖχε προσκύσας χθόνα.

1403 ἀντέρειδέ νυν βάσιν σήν] die Wendung bedeutet vielleicht: ‚Stütze dich auf mich beim Gehen‘, wenn man etwa τῇ ἐµῇ βάσει (Webster) ergänzt (wörtl.: ‚Verbinde deinen Schritt fest ⟨mit dem meinen⟩‘); vgl. auch Ll.-J./W.1 „ ‘lean on me as you walk’ “ mit Verweis auf OC 197 f., wo der Sachverhalt jedoch anders ausgedrückt ist. Vgl. aber Pindar, Pythien 4,37 χειρὶ χεῖρ᾿ ἀντερείσαις, wo ein gegenseitiges Entgegenstrecken und Verbinden der Hände gemeint ist (zumeist bedeutet das Verb ein Entgegenwirken oder -stemmen: Pindar, Paian 6,88; Eur. Hik. 702; Xenophon, Hellenika 5,2,5). Jedenfalls kann die Bedeutung kaum sein ‚Setze deinen Fuß (vgl. 1378) fest auf‘, sc. ‚den Boden‘; Jebbs Parallele τὼ πόδε ἀντερείδων πρὸς τὸ ἔδαφος (Lukian, Kataplous 4) weist in eine andere Richtung: die Füße auf den Boden stemmen, um nicht fortgeschleppt zu werden. – Die Wendung ergibt wohl nur einen Sinn, wenn sie (wie oben) als ein Hilfsangebot des Neoptolemos aufzufassen ist; vgl. 893 ἀντέχου. | νυν Matthaei : νῦν Hss. – vgl. zu 123. 1405 τί γάρ] „a speaker … (2) having been satisfied on one subject, wishes to learn something further“ GP 81 f.; τί γάρ ist kolloquial, vgl. Stevens 1945, 101; 1976, 30 f. (Schein). 1406 προσωφέλησιν] nur hier belegt. | ἔρξεις Hss. : ἕξεις Konjektur unbekannter Herkunft (1810) – προσωφέλησιν ἔρξεις umschreibt προσωφελήσεις. | Ἡρακλέους Brunck : Ἡρακλείοις Hss. : Ἡρακλέοις Wackernagel – Sophokles gebraucht sonst die Adjektivform Ἡράκλειος, das spricht gegen die unbelegte Form Ἡράκλεος. 1407 εἴρξω (Hss.) : εἵρξω – nach Eustathios 1387,3 bedeutet εἴργω ‚ausschließen‘, εἵργω ‚einschließen‘; vgl. LSJ. | πελάζειν] zum abhängigen Genitiv vgl. Ai. 709 f.   | ἀλλ’] „Acquiescence, ready or reluctant, in the attitude or declared intentions of the previous speaker“ (GP 19 [iii] [a]). 1407–1408 ἀλλ’εἰ δρᾷς ταῦθ’ ὥσπερ αὐδᾷς Hss. : {σῆς … αὐδᾷς} Νε. στεῖχε … Dindorf : ἀλλ’ εἰ ⟨δοκεῖ ταῦτα⟩ δρᾶν ὅπωσπερ αὐδᾷς Porson – die Verse sind korrupt überliefert; σῆς … αὐδᾷς könnte eine Binneninterpolation sein (Dindorf; aufgrund einer πελάζειν erklärenden Randnotiz σῆς πάτρας) und Neoptolemos auf Philoktets εἴρξω πελάζειν mit στεῖχε προσκύσας χθόνα antworten. Das wäre sehr abrupt, vor allem wenn bei Unechtheit der vv. 1402 f. Neoptolemos seine Zustimmung στείχωµεν (1402) noch nicht gegeben hätte. Daher wird man in der Überlieferung eher Reste des ursprünglichen Wortlauts erkennen, aber der genaue Text lässt sich nicht sicher herstellen. Die Konjektur Porsons ist nur ein Beispiel, Weiteres bei Jebb (S. 253); vgl. noch Housman: ἀλλ’ εἰ ⟨θέλεις⟩ δρᾶν ⟨σὺ⟩ ταῦθ᾿ ὅπωσπερ αὐδᾷς. 1408 ταῦθ’ ὥσπερ (Hss.) : τάδ᾿ ὡς Trikl.

Kommentar

401

1403 ‚Stütze dich‘: Neoptolemos bietet dem körperlich Beeinträchtigten seine Hilfe an wie schon früher nach seinem Anfall (vv. 886–889). ‚So gut ich kann‘, wörtl. Soweit meine Kraft reicht, d. h., so gut ich mich eben stützen und gehen kann. Vgl. auch Kosak 1999, 132 f. 1404–1405 Gegenüber Odysseus hatte sich Neoptolemos angesichts der angedrohten Bestrafung durch das Heer noch unbeeindruckt gezeigt (vgl. 1250–1254). Jedoch hatte er, schon als ihm Bedenken kamen, bei der von Odysseus geplanten Intrige mitzumachen, befürchtet, wegen seines Heeresauftrags als Verräter dazustehen (93 f.). Jetzt sieht er, wenn er sich den Wünschen Philoktets fügt, auch sein Land gefährdet. Dieser erklärt sich sofort bereit, dem ‚Freund‘ zu helfen. 1406 ‚Pfeilen des Herakles‘: Wohl nicht zufällig lässt der Dichter die Macht des Bogens (und der Pfeile) des Herakles bewusst machen, kurz bevor dieser selbst auftritt; vgl. Kamerbeek. Zu den Pfeilen vgl. auch zu 103–107. 1407–1408 Die beiden Verse sind teilweise korrupt überliefert und nicht sicher herzustellen (vgl. TS). Die Übersetzung versucht wiederzugeben, was als genereller Sinn anzunehmen ist: Neoptolemos erklärt sich bereit, Philoktet nach Hause zu bringen, wenn dieser hält, was er versprochen hat, ihn mit Waffengewalt gegen die Rache der (im Stich gelassenen) Griechen zu schützen. Der Verlust an Ansehen für Neoptolemos auf menschlicher Ebene und die Folgen einer Nicht-Erfüllung der Weissagung für Philoktet werden nicht mehr thematisiert. Die beiden handeln, als ob es keinen göttlichen Willen gäbe, durch den ein anderer Geschehensablauf vorgesehen ist. 1408 ‚sag dem Land Lebewohl‘: vgl. zu dieser Abschiedsgeste Komm. zu 533. Gemeint ist, was Philoktet 1452 ff. in die Tat umsetzen wird. ‚geh‘: Neoptolemos gibt eine Anweisung an Philoktet wie 893 (‚steh auf‘), ohne dabei (anders als 1403) seine Hilfe anzubieten. Jetzt würde tatsächlich Abschied genommen, und beide würden – nun im vierten Anlauf (nach 526; 645; 877 ff.) – auf Neoptolemos’ Schiff gehen, um nach Hause zu fahren, wenn nicht Herakles erschiene. Eine Überlegung, was dann aus Odysseus würde, gibt es nicht; sie erübrigte sich auch, wenn Odysseus mit einem eigenen Schiff gekommen sein sollte; vgl. zu 125.

402

Exodos (Schluss der Exodos)

Bevor Philoktet Neoptolemos’ Aufforderung folgen kann, erscheint plötzlich der vergöttlichte Herakles aus der Höhe.

Es folgt der Schluss der Exodos (1409–1479), Text mit Einzelkommentierung ab S. 404.

Kommentar

403

1409–1471  Die Exodos begann der aristotelischen Definition gemäß nach der letzten lyrischen Chorpartie mit v. 1218 (bzw. 1222), der eigentliche ‚Auszug‘ im engeren Sinne fängt jedoch hier an. Er gliedert sich in Verse mit der Herakles-Szene (1409–1451) sowie die Abschiedsverse Philoktets, der überraschend der Fahrt nach Troia zugestimmt hat (1452–1468), und die Schlussverse des Chors (1469–1471). Vgl. auch Einf. S. 46 ff. zum Deus ex machina. 1409–1451 Die Szene mit den Deus ex machina Herakles besteht aus dem Auftrittsteil (1409–1417) und dem Teil mit der Botschaft an Philoktet und Neoptolemos (1418–1444) sowie deren Einwilligung (1445–1451). Das Dilemma, dass nach göttlicher Bestimmung Troia im gegenwärtigen Sommer fallen soll, und zwar dadurch, dass Philoktet freiwillig nach Troia geht (1329–1347), menschliche Bemühungen aber Philoktet dazu nicht haben bewegen können, wird durch göttliches Eingreifen gelöst: Herakles, mit seiner Autorität zugleich als von den Göttern (vgl. 726–728) kommender Zeus-Sohn und als jemand, der mit Philoktet in besonderer Beziehung stand (801–803), ist geradezu prädestiniert, diesen zu der Entscheidung zu motivieren, anzunehmen, was der Ratschluss des Zeus vorgesehen hat (vgl. auch zu 1445–1447; 1466–1468). Philoktet wird es durch das Eingreifen des Herakles ermöglicht einzulenken, ohne dass er auf menschlicher Ebene sich selbst aufgeben müsste. Und es wird ihm, was ihm Neoptolemos nur als Zukunftsperspektive vor Augen stellen konnte (1347), von einer göttlichen Instanz das Gewinnen höchsten Ruhms zugesichert, ein Ausgleich für sein Leid, das er zu erdulden hatte (1421 f.). Wie sich das problematische Verhältnis Philoktets zu seinen ‚Feinden‘ vor Troia gestalten wird, bleibt dabei ausgeblendet. 1409–1417 Herakles spricht die ersten Verse in ‚Marschanapästen‘ (vgl. u. S. 446). Er sei von seinem himmlischen Wohnsitz gekommen (1413 f.), wie auch Athena in der Ilias (1,207 ff.) ‚vom Himmel‘ kommt, als sie Achill von einer Handlung zurückhält (vgl. Pucci, S. 320; 323). Auf der Bühne wäre das Erscheinen des Herakles am eindrucksvollsten zu realisieren, wenn er mit der mēchanē, dem Bühnenkran (vgl. Lendle 1995), plötzlich auf das Dach geschwenkt wird. Dass während des Schwebens ‚Marschanapäste‘ rezitiert werden können, zeigt Aristophanes, Friede 154 ff.; die getragenen Anapäste bringen nach den bewegten Trochäen zugleich ein Element der Ruhe (vgl. Hoppin 1990, 151), bevor in den folgenden Trimetern (1418–1444) die eigentliche Botschaft verkündet wird. Dazu wird Herakles zum Stehen gekommen sein, vielleicht indem eine Plattform, die ihn trägt, auf dem Dach des Bühnenhauses aufsetzt; so kann er auch nach v. 1451 am schnellsten entschwinden. Nimmt man den Einsatz der mēchanē nicht an, könnte Herakles von hinten auf das Bühnendach gestiegen sein und die Anapäste rezitiert haben, während er zum vorderen Rand ging. Vgl. zu den Problemen der Inszenierung Barrett 1964 zu Eur. Hipp. 1283; Jouanna 2003, 160–167; Pucci, S. 320. Herakles beginnt und endet seine Auftrittsverse mit der Aufforderung, auf seine Worte zu hören (Ringkomposition). Er kündigt zunächst nur formal den Ratschluss des Zeus an und dass er Philoktet von der Fahrt nach Hause zurückhalten wolle, nennt sein positives Anliegen aber noch nicht.

404

Exodos: 1409–1417

Herakles Noch nicht, höre erst auf meine Worte, Sohn des Poias! Wisse, dass du die Stimme des Herakles mit deinen Ohren vernimmst und seine Erscheinung siehst. Um deinetwillen bin ich gekommen, habe ich meinen himmlischen Sitz verlassen, um dir den Ratschluss des Zeus zu verkünden und dich von der Fahrt zurückzuhalten, zu der du aufbrichst. Höre du auf meine Worte! Ἡρακλῆς µήπω γε, πρὶν ἂν τῶν ἡµετέρων ἀίῃς µύθων, παῖ Ποίαντος· φάσκειν δ’ αὐδὴν τὴν Ἡρακλέους ἀκοῇ τε κλύειν λεύσσειν τ’ ὄψιν. τὴν σὴν δ’ ἥκω χάριν οὐρανίας ἕδρας προλιπών, τὰ Διός τε φράσων βουλεύµατά σοι, κατερητύσων θ’ ὁδὸν, ἣν στέλλῃ· σὺ δ’ ἐµῶν µύθων ἐπάκουσον.

1410

1415

1410

1415

1409 γε πρὶν ἂν Hss. : πρίν γ᾿ ἂν Blaydes – γε verstärkt den zu ergänzenden Imperativ (GP 126); zu µήπω γε vgl. Aristophanes, Wolken 267 (Blaydes 1870). 1410 ἀίῃς µύθων] Genitiv (nicht Akkusativ) bei der Bedeutung ‚hören auf‘ (K.-G. I 359 Anm. 6); zu erwarten wäre Aorist, der aber bei diesem Verb nicht vorkommt (Moorhouse 299). 1411 φάσκειν] vgl. El. 9; LSJ s. v. 2 „think, deem, expect“; Infinitiv statt Imperativ, vgl. 57; 1080. | Ἡρακλ͜έους] Synizese. 1412 ἀκοῇ] ‚Ohr‘ (LSJ s. v. II. 3). | τε … τ’] zur anomalen Stellung des ersten τε vgl. GP 519 f. 1413 τὴν σὴν … χάριν] zur uneigentlichen Präposition χάριν tritt regelmäßig das Possessivpronomen statt des Genitivs des Personalpronomens (K.-G. I 461 Anm.). 1416 ὁδὸν, ἣν στέλλῃ] innerer Akkusativ (Moorhouse 39), vgl. Apollonios Rhodios 4,296.

Kommentar

405

1409–1410 ‚höre … auf meine Worte‘: Es ist kein bloßes Vernehmen gemeint, sondern die Konstruktion im Griechischen impliziert ein ‚Auf-etwasHören‘ im Sinne eines ‚Sich-zu-Herzen-Nehmens‘ (vgl. TS); ebenso v. 1417, vgl. auch zu 1447. Insofern bedeutet das einleitende ‚Noch nicht‘ (bezogen auf die Absicht, nach Hause zu fahren) mehr als die Bitte um eine kurze Unterbrechung. ‚Sohn des Poias‘: Mit dieser Anrede wird eindeutig klar, dass Herakles zu Philoktet gekommen ist, obwohl dieser doch mit Neoptolemos gemeinsam aufbrechen will und szenisch beide vor Herakles stehen. Dennoch spricht Herakles nur vom Aufbruch Philoktets (1416) und verlangt am Ende explizit dessen Zuhören durch das betonte Personalpronomen (1417). Vgl. auch zu 1413. 1411–1412 Herakles’ Selbstvorstellung ist zwar an Philoktet gerichtet, der aber darauf nicht angewiesen ist, da er Herakles kennt. Der wahre Adressat ist außerdramatisch das Publikum, das über die Identität der überraschend auftretenden Figur informiert werden muss, zumal wenn der vergöttlichte Herakles nicht mit seinen üblichen Attributen (Keule und Löwenfell) ausgestattet gewesen sein sollte (vgl. zu 1420). An seinem Bogen (wie Odyssee 11,607) kann er im Philoktet nicht kenntlich sein. 1413 ‚Um deinetwillen‘: Das kann man als Auszeichnung verstehen, die aber Philoktet gleichzeitig verpflichtet (vgl. Visser 1998, 247 f.). Tatsächlich soll Philoktet in einen umfassenden göttlichen Beschluss eingebunden werden; vgl. zu 1439–1440 a. 1413–1414 ‚himmlischen Sitz‘: Herakles gehört als Sohn einer sterblichen Mutter nicht zu den Olympischen Göttern, wurde aber in ihren Kreis aufgenommen; vgl. auch 726–729 mit Komm. 1415 ‚Ratschluss des Zeus‘: Der vom Zeus-Sohn Herakles unmittelbar überbrachte Wille des Zeus hat eine höhere Qualität als die vom ‚Kaufmann‘ (603–613) und Neoptolemos (1329–1342) referierte Weissagung des Helenos (Jebb) und kann daher für Philoktet eine vertrauenswürdige Grundlage für eine Sinnesänderung sein. – Zum Hinweis des Odysseus auf Zeus vgl. zu 989–993. 1416 ‚zurückzuhalten‘: Philoktet von der Fahrt nach Hause abzuhalten (und stattdessen nach Troia zu senden), ist der Grund und das eigentliche Ziel des Erscheinens des Herakles; der Zeitpunkt ist also von der menschlichen Entscheidung bestimmt.

406

Exodos: 1418–1421

Und zuerst will ich dir von meinen Schicksalsfügungen erzählen, auf wie viele Mühen hin, mit denen ich mich abquälte und die ich bis zum Ende durchmachte, ich den unsterblichen Ruhm erhielt, wie man sehen kann. 1420 Auch dir, sei dessen gewiss, ist bestimmt, das zu erfahren: καὶ πρῶτα µέν σοι τὰς ἐµὰς λέξω τύχας, ὅσους πονήσας καὶ διεξελθὼν πόνους ἀθάνατον ἀρετὴν ἔσχον, ὡς πάρεσθ’ ὁρᾶν. καὶ σοί, σάφ’ ἴσθι, τοῦτ’ ὀφείλεται παθεῖν,

1420

1418 πρῶτα µέν] es folgt kein ἔπειτα δὲ in 1421; µέν ist „inceptive“ (GP 382 f.). 1419 πονήσας … πόνους] figura etymologica. 1420 ἀρετὴν] „reward of excellence, distinction, fame“ (LSJ s. v. III). | Im ersten Metrum sind beide Längen aufgelöst, was den Ausdruck ἀθάνατον ἀρετὴν betont (Schein). 1421 τοῦτ’ Hss. : ταῦτ᾿ Blaydes – τοῦτ’ bezieht sich (wie τοῦτο, 1440) auf das Folgende (Jebb). | ὀφείλεται] El. 1173 πᾶσιν γὰρ ἡµῖν τοῦτ᾿ ὀφείλεται παθεῖν ‚uns allen ist bestimmt, das (den Tod) zu erleiden‘. Phil. 1421 ist παθεῖν positiv konnotiert.

Kommentar

407

1418–1444 Nach den Auftrittsanapästen trägt Herakles seine Botschaft im üblichen Sprechvers der Tragödie (iambischer Trimeter) vor. Herakles beginnt, als ob er mit der Parallele seines eigenen Schicksals um eine Entscheidung Philoktets werben wolle, erklärt dasjenige Philoktets aber sogleich als Bestimmung und setzt voraus, dass Philoktet tun wird, was er ihm als seine Zukunft in Troia und danach verkündet (1423–1433), wobei er einmal sogar einen Imperativ gebraucht (1432, griechischer Text: 1433). Auch der Rat an Neoptolemos, den er dann erst anspricht, besteht letztlich in einem Imperativ (1433– 1437). Nur Neoptolemos und Philoktet zusammen seien stark genug, Troia zu erobern, dem bestimmt sei, ein zweites Mal durch den Bogen des Herakles zerstört zu werden (1439 f.). Herakles schließt mit der Ermahnung, bei der Eroberung Troias die Götter zu achten (1440–1444). Herakles macht Philoktet keinerlei Vorwürfe, etwa, dass er starrköpfig dem Zureden des Neoptolemos nicht schon von sich aus nachgegeben habe, sondern lässt es als selbstverständlich erscheinen, dass Philoktet unmittelbar der entscheidende Ratschluss des Zeus mitgeteilt wird. Auch die für Philoktet in Aussicht gestellte Kompensation für seine Leiden spricht dagegen, dass seine gegenüber Neoptolemos beibehaltene Weigerung, nach Troia zu gehen, als unverständlich oder unverzeihlich angesehen werden soll. Dann würde ihm auch kaum eine Vorrangstellung aufgrund seiner aretē (vgl. zu 1425) verheißen. Gegenüber Philoktet tritt Herakles als göttlich-distanzierter Übermittler von Zeus’ Ratschluss auf und als eigentlicher Herr des (heiligen, 943) Bogens (1427; 1439 f.), dessen Wirkung (auch) zu Herakles’ heroischer Verehrung dienen soll (1431–1433). Von einer freundschaftlichen Beziehung zu Philoktet aus früherer Zeit oder von dessen Liebesdienst (801–803) spricht Herakles nicht. Philoktet dagegen äußert sich Herakles gegenüber deutlich emotionaler (vgl. zu 1445–1447). 1418–1420 ‚zuerst‘: Man könnte so, wie Herakles anfängt, eine Aufzählung seiner mühevollen Taten erwarten, aber er geht gleich zu der dadurch erworbenen Anerkennung über; damit bereitet er die Ankündigung eines bei allen Unterschieden entsprechenden Schicksals Philoktets vor (1421 f.). 1418 ‚Schicksalsfügungen‘: im Griechischen tychē; vgl. zu 1069; 1098. 1419 ‚Mühen‘: Gemeint sind sicher die bekannten ‚Zwölf Taten‘ (Dodekathlos) des Herakles, die ihm König Eurystheus auferlegt hatte, aber vielleicht auch seine Taten im Wahnsinn (Ermordung seiner Frau und Kinder) und seine Todesqualen (vgl. zu 801–803); vgl. im Einzelnen Graf 1998, 388–390. 1420 ‚unsterblichen Ruhm‘: aretē (‚Bestheit‘) ist hier prägnant als ‚Anerkennung für die erbrachten Leistungen‘ zu verstehen (vgl. TS). Herakles ist auch selbst unsterblich, nicht nur der Ruhm für seine Taten, und er spielt darauf an, indem er auf seine sichtbar göttliche Erscheinung verweist. Daher ist die Wendung für ihn mit der Bedeutung ‚Ruhm der Unsterblichkeit‘ konnotiert. Für Philoktet dürfte das nicht in identischer Weise gelten (vgl. Webster): Er wird ‚nur‘ sein ‚Leben‘ ruhmvoll machen (1422). Wenn auch der Ruhm darüber hinaus bestehen bleiben k a n n , ist es daher fraglich, ob man in Herakles’ Äußerung (1420) eine Anspielung auf einen Heroenkult für Philoktet

408

Exodos: 1422–1425

auf diese deine Leiden hin dein Leben ruhmvoll zu machen. Denn wenn du mit diesem Mann zur Stadt Troia gekommen bist, wirst du zuerst befreit werden von deiner Verderben bringenden Krankheit und, wegen deines Wertes als der Erste aus dem Heer erwählt,

1425

ἐκ τῶν πόνων τῶνδ’ εὐκλεᾶ θέσθαι βίον. ἐλθὼν δὲ σὺν τῷδ’ ἀνδρὶ πρὸς τὸ Τρωϊκὸν πόλισµα πρῶτον µὲν νόσου παύσῃ λυγρᾶς, ἀρετῇ τε πρῶτος ἐκκριθεὶς στρατεύµατος,

1425

1422 ἐκ] „not merely ‘after’ (720), but ‘as a result of,’ ‘through’ “ (Jebb). 1423 δὲ] zur Funktion vgl. zu 741 (Kamerbeek). 1424–1428 µὲν … τε / µέν … τε … τ᾿] δie einzelnen Glieder, die auf πρῶτον µὲν folgen, bilden keine Gegensätze, daher τε statt δέ (GP 374 f.). 1424 πόλισµα : πτόλισµα – πτόλισµα ist erst spät belegt.

Kommentar

409

sehen soll, wie er durch Appian, Mithradateios 77 für die Insel Chryse belegt ist (so Harrison 1989, 175; zu Recht bezweifelt von Schein, S. 30 f.). ‚wie man sehen kann‘: Vielleicht trug Herakles als Zeichen seiner Unsterblichkeit einen Kranz und/oder war durch Jugendlichkeit (Jünglingsmaske) gekennzeichnet. Vgl. LIMC V 1, S. 128, V 2, S. 120, Nr. 2916 (Pelike, München, Antikensammlungen Inv.-Nr. 2360, um 410 v. Chr., Kadmos-Maler: Himmelfahrt des jungen Herakles; er ist nackt, bartlos und bekränzt); LIMC IV 1, S. 801, IV 2, S. 533, Nr. 1368 (Amphore, Tarent [Privatsammlung], um 400 v. Chr.: Herakles, bekränzt, in einer Tempelarchitektur). 1422–1428 Durch Herakles’ Worte wird bestätigt, wovon Neoptolemos aufgrund der Helenos-Weissagung Philoktet schon informiert hatte: Ruhm (1347); Heilung (1333 f.; vgl. auch 1378 f.); Auserwählung (1345); Zerstörung Troias mit dem Bogen des Herakles zusammen mit Neoptolemos (1334 f.). Zusätzlich verkündet ihm Herakles die Tötung des Paris als des am Krieg Schuldigen (1426 f.) – d. h. die Herstellung der Gerechtigkeit im Sinne des Zeus – sowie seinen persönlichen Gewinn (1428–1430); von einer Leistung für das gesamte griechische Heer spricht auch er nicht, wie überhaupt dieser Aspekt im bisherigen Handlungsgeschehen nicht als das entscheidende Argument eingesetzt wurde (vgl. Einf. S. 24 Anm. 72 und zu 64–69; 1346). 1422 ‚Leiden‘: Im Griechischen dasselbe Wort (ponoi), das Herakles in Bezug auf sich verwendete (1419), aber während bei Herakles seine mühevollen Taten gemeint sind, so hier das, was Philoktet in langen Jahren erdulden musste (vgl. auch 508; 761). Der zu erwartende Ruhm soll offenbar als Kompensation für Philoktets bisheriges Leid dienen (‚diese [deiktisch] … Leiden‘). Die fokussierte Parallelisierung der Mühen des Herakles und der Leiden Philoktets hat zur Folge, dass spezifische Aspekte der Philoktet-Geschichte nicht in den Blick genommen werden. „Von dem Unrecht, das an Philoktet geschehen, wird nichts zurückgenommen, …“ (Reinhardt 1947, 200). Auch die Situation vor Troia, wenn Philoktet mit seinen ‚Feinden‘ zusammentreffen wird – eine Vorstellung, die bisher seine ablehnende Haltung bestimmt hat (vgl. 1354– 1357) – wird bei dieser Nobilitierung durch Herakles nicht thematisiert. 1423 ‚diesem Mann‘: Herakles deutet auf Neoptolemos. 1424 ‚befreit werden von … Krankheit‘: Die sachlich notwendige Voraussetzung, dass Philoktet Troia erobern kann, die Heilung, nennt Herakles zuerst. Er selbst wird den Gott Asklepios als Arzt schicken (1437 f.). 1425 ‚wegen deines Wertes‘: D. h. aufgrund seiner aretē, womit hier wohl ‚Bestheit‘ in Bezug auf seine Werthaftigkeit als solche oder auch speziell seine Tüchtigkeit und Tapferkeit als Bogenschütze gemeint ist. Jedenfalls wird Philoktet nach göttlicher Aussage wegen des ihm inhärenten Wertes, nicht nur, weil er gebraucht wird oder eine Aufgabe erfüllen soll, diese Auszeichnung erlangen, mit der er seinen alten Rang wiedererhält und darüber hinaus über die anderen erhoben wird. Vgl. zu 997. – aretē wird in diesem Drama nur in Bezug auf Neoptolemos, als (der getäuschte) Philoktet ihn für würdig hält, den Bogen in die Hand zu nehmen (669), von Herakles über sich selbst (1420) und hier für Philoktet verwendet, jeweils mit unterschiedlichen Akzentuierungen.

410

Exodos: 1426–1432

wirst du Paris, der dieses ganze Elend verschuldet hat, mit meinem Bogen seines Lebens berauben und wirst Troia zerstören und Beute in dein Haus schicken, die du als Preis der Tapferkeit vom Heer bekommst, für deinen Vater Poias zum Hochland des heimatlichen Öta. Und von der Beute, die du von diesem Heer erhältst, bringe etwas zur Erinnerung an meines Bogens Wirkung zu Πάριν µέν, ὃς τῶνδ’ αἴτιος κακῶν ἔφυ, τόξοισι τοῖς ἐµοῖσι νοσφιεῖς βίου, πέρσεις τε Τροίαν, σκῦλά τ’ ἐς µέλαθρα σὰ πέµψεις, ἀριστεῖ’ ἐκλαβὼν στρατεύµατος, Ποίαντι πατρὶ πρὸς πάτρας Οἴτης πλάκα. ἃ δ’ ἂν λάβῃς σὺ σκῦλα τοῦδε τοῦ στρατοῦ, τόξων ἐµῶν µνηµεῖα πρὸς πυρὰν ἐµὴν

1430

1430

1427 νοσφιεῖς : νοσφίσεις – νοσφιεῖς ist das attische Futur. 1429 ἐκλαβὼν +Turnebus : ἐκβαλὼν (Hss.) : ἐκλαχὼν Valckenaer – vgl. Jebb. | ἀριστεῖ’] prädikativ zu σκῦλα (1428), sie bestehen in den σκῦλα, vgl. auch Hdt. 8,123,1 ἀριστήια δώσοντες τῷ ἀξιωτάτῳ γενοµένῳ Ἑλλήνων ἀνὰ τὸν πόλεµον τοῦτον. 1430 πλάκα (Hss.) : πλάκας – vgl. Ai. 1220 πλάκα Σουνίου, Eur. Ion 1267 Παρνασοῦ πλάκες. Letzteres könnte bei einem größeren Gebirge wie dem Öta für die Variante πλάκας sprechen: ‚die (besiedelbaren) Hochflächen des heimatlichen Öta‘. 1431 ἃ … σκῦλα] ~ τούτων τῶν σκύλων, ἃ …, vgl. auch zu 1162. | στρατοῦ Hss. : στόλου Hermann : † τοῦδε τοῦ στρατοῦ † Dawe (der auch σκῦλα verdächtigt) – τοῦδε verweist auf στρατεύµατος (1429) zurück; vgl. zu 1046 (τήνδ᾿) sowie Kamerbeek.

Kommentar

411

1426 ‚Paris‘: Die Schuld dieses (auch Alexandros genannten) Sohnes des Priamos besteht in der Entführung von Menelaos’ Gattin Helena nach Troia, was zum Auslöser des Krieges wurde. Das dadurch verursachte ‚Elend‘ wird als so gegenwärtig vorgestellt, dass mit einem deiktischen Pronomen darauf verwiesen wird, möglicherweise unterstrichen durch ein Hindeuten des Herakles auf Philoktet. Dessen Zustand kann auch als eine Folge der Tat des Paris verstanden werden (vgl. auch Schein). Das Detail der Tötung des Paris hatte Sophokles weder den ‚Kaufmann‘ noch Neoptolemos bei ihrer Wiedergabe der Helenos-Weissagung berichten lassen, für Herakles aber ist es wichtig, weil sein Bogen eingesetzt werden soll, um Unrecht in göttlichem Auftrag zu ahnden; vgl. auch Ussher. 1427 Philoktets Monomachie mit Paris (Alexandros) war in der Kleinen Ilias dargestellt (Argumentum 1, p. 74,8 Bernabé = pp. 122 f. West 2003) und wahrscheinlich auch ein Gegenstand von Sophokles’ nicht erhaltener Tragödie Philoktet in Troia (vgl. Radt, TrGF IV2, p. 482). – An dieser Stelle geht Herakles erstmals auf die Bedeutung seines Bogens ein, der eben nicht nur eine treffsichere Waffe ist, sondern als göttlicher Gegenstand wesentlicher Teil der Herakles-Geschichte und des vorherbestimmten Schicksals der Stadt Troia (vgl. 1432; 1449 f.). Indem auch der Verursacher des Krieges mit diesem Bogen von Philoktet getötet werden soll, erleidet er eine gottgewollte Strafe und Philoktet erfährt eine Genugtuung für das, was er erlitten hat. 1428–1433 a Herakles verlangt, dass Philoktet, der einen seiner besonderen Leistung entsprechenden Anteil an der Siegesbeute bekommen wird, diesen nach Hause zu Poias schicken soll, einen Teil davon jedoch zum Gedenken an den mit den Bogen des Herakles vollbrachten Erfolg zum Ort von Herakles’ Scheiterhaufen, den Philoktet entzündet hatte, wofür er den Bogen bekam; vgl. zu 801–803. Zum Heroenkult an Herakles’ Scheiterhaufen vgl. Nilsson 1922/1951; Holt 1986, 305 f. Auch sonst kommt in Tragödien zur Sprache, dass Beutestücke den Göttern geweiht wurden; vgl. Aisch. Ag. 577–579; Eur. IT 74; 1000. Zugleich ist durch diese Ankündigung impliziert, dass Philoktet nach Hause kommen wird. Seine Wunschvorstellung (Heimat) und seine Bestimmung (Troia) werden durch Herakles verbunden; vgl. Taplin 1987, 75. 1430 ‚Poias‘: Hier erhält Philoktet, der seinen Vater auch schon tot wähnte, Gewissheit, dass er noch lebt. Vgl. zu 1211. ‚Hochland‘: Das griechische Wort (plax) kann ebenso Tiefebene wie ein Plateau auf einem Berg bezeichnen. Überliefert ist auch der Plural (vgl. TS). Gemeint sein könnte dann Philoktets heimatliches Öta-Gebirge mit seinen (bewohnbaren) Hochflächen. Zum Öta vgl. zu 4–5; 453. 1432 ‚Bogens Wirkung‘: Im Griechischen steht nur ‚Bogen‘ als prägnanter Ausdruck dafür, was mit dem Bogen geleistet wird.

412

Exodos: 1433–1438

meinem Scheiterhaufen. Und dir, Sohn Achills, gebe ich diesen Rat: Weder bist du ohne diesen stark genug, Troia einzunehmen, noch dieser ohne dich; sondern wie ein Paar von Löwen sollt ihr achtgeben, dieser auf dich und du auf diesen. Und ich werde Asklepios nach Ilion schicken, deiner Krankheit ein Ende zu machen. κόµιζε. καὶ σοὶ ταῦτ’, Ἀχιλλέως τέκνον, παρῄνεσ’· οὔτε γὰρ σὺ τοῦδ’ ἄτερ σθένεις ἑλεῖν τὸ Τροίας πεδίον οὔθ’ οὗτος σέθεν· ἀλλ’ ὡς λέοντε συννόµω φυλάσσετον οὗτος σὲ καὶ σὺ τόνδ’. ἐγὼ δ’ Ἀσκληπιὸν παυστῆρα πέµψω σῆς νόσου πρὸς Ἴλιον.

1435

1435

1433 σοὶ : σὺ – σὺ kann nur als Verschreibung erklärt werden. | ταῦτ᾿ Hss. : ταὔτ’ Heath (Ll.-J./W.) – Herakles gibt nicht ‚denselben Rat‘ (vgl. Kamerbeek; die Kritik von Ll.-J./W.1 ist nicht treffend), ταῦτ᾿ bezieht sich auf das Folgende (wie τοῦτο, 1121; 1440). 1434  παρῄνεσ’] Aorist im Sinne von ‚will ich dir angeraten haben‘ (K.-G. I 164 f.). | γὰρ] vgl. zu 331. 1437 οὗτος … τόνδ’] mit den beiden unterschiedlichen Pronomina ist dieselbe Person gemeint (K.-G. I 644 f.).

Kommentar

413

1433 a ‚Scheiterhaufen‘: Gemeint ist wahrscheinlich die Kultstätte im ÖtaGebirge, die sich am Ort des Scheiterhaufens (griechisch pyra) befand. In der Nähe des heutigen Dorfes Pavliani hat man einen Aschenaltar und einen kleinen dorischen Tempel aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. gefunden (Lenk 1937, 2296). Der römische Historiker Livius berichtet, dass der Konsul Manius Acilius Glabrio im Krieg gegen Antiochos (191 v. Chr.) zum Öta aufgestiegen sei und Herakles an einem Pyra genannten Ort (weil Herakles dort verbrannt worden sei) geopfert habe (36,30,3). 1433 b–1437 ‚Und dir, Sohn Achills‘: Herakles schiebt einen Rat an Neoptolemos ein und wendet sich dann (1438) wieder Philoktet zu (ab 1440 spricht er zu beiden). Mit seinem Rat bestätigt Herakles, was auch Inhalt der Helenos-Weissagung war (1335), dass es für die Eroberung Troias auf beide vereint ankommen wird, im Unterschied zu dem, was Neoptolemos, als man ihn nach Troia holte, wider besseres Wissen suggeriert wurde. Vgl. 114 f. 1435 ‚Troia‘: vgl. zu 920. 1436 ‚wie ein Paar von Löwen‘: Der Vergleich mit einem Löwenpaar stammt aus der Ilias (5,554; 10,297; 13,198), wo damit jeweils zwei mutige Männer, die in gemeinsamem Kampf eng verbunden agieren, gekennzeichnet werden. Vgl. auch Aisch. Cho. 938; Eur. Or. 1402 (Orest und Pylades). – Mit ‚Paar‘ wurde (über die Dualform hinaus) das Adjektiv synnomos übersetzt, das eigentlich ‚gemeinsam weidend‘ heißt, aber übertragen ein partnerschaftliches Verhältnis bedeuten kann (vgl. auch El. 600, Aigisth als ‚Partner‘ der Klytaimestra). Dass das Bild „also suggests a savage, anti-social quality“ (so Schein z. St. mit Verweis auf Wolff 1979 und Ilias 5,554–560; 13,198–202; vgl. auch Schein, S. 24 f.), liegt angesichts der auf die gegenseitige Hilfestellung bei der gemeinsamen Aktion fokussierten Aussage der Stelle nicht nahe. Die Warnung vor Hybris nach der Eroberung (1440 b ff.) ist jedenfalls nicht in diesen Zusammenhang zu bringen, zumal sie auch nicht unmittelbar folgt. Vielmehr wird durch die Worte des Herakles klargestellt, dass bei aller Auszeichnung Philoktet ohne Neoptolemos nicht erfolgreich sein kann, dieser an Kampfqualität gleichwertig ist (1434 f.); es werden also vor Troia nicht nur ‚Schlechte‘ übriggeblieben sein (426–430; 446–452); vgl. Easterling 1978, 37. 1437 ‚Asklepios‘: Neoptolemos hatte als Heiler die Söhne des Asklepios genannt (1333 f.). Vorstellbar ist, dass er damit Helenos’ Weissagung wiedergab oder bei der verheißenen Heilung selbstverständlich an die beiden dort anwesenden Ärzte dachte. Dass Asklepios selbst von Herakles geschickt wird, macht die Heilung gewiss (Visser 1998, 257). – Die Heilung war sicher auch ein Gegenstand von Sophokles’ Philoktet in Troia; wer Philoktet dort heilte, ist unbekannt. Jedenfalls war die Wunde ein Thema (vgl. F 697–699 Radt2). Asklepios, eigentlich als Sohn Apollons und einer Sterblichen selbst sterblich und damit ein ‚Heros‘, wurde faktisch als Gott verehrt (vgl. Burkert 2011, 327 ff.), wie er auch hier als Gott zu verstehen ist. Vgl. auch zu 827–832.

414

Exodos: 1439–1444

Denn es ist bestimmt, dass es zum zweiten Mal durch meinen Bogen eingenommen wird. Daran aber denkt, wenn 1440 ihr das Land zerstört, fromme Scheu gegen die Götter zu wahren; denn alles Übrige steht an zweiter Stelle für Vater Zeus. (Ein Ruf, erworben durch) fromme Scheu, stirbt nämlich nicht zusammen mit den Menschen; ob sie leben oder gestorben sind, er geht nicht zugrunde. τὸ δεύτερον γὰρ τοῖς ἐµοῖς αὐτὴν χρεὼν τόξοις ἁλῶναι. τοῦτο δ’ ἐννοεῖθ’, ὅταν πορθῆτε γαῖαν, εὐσεβεῖν τὰ πρὸς θεούς· ὡς τἄλλα πάντα δεύτερ’ ἡγεῖται πατὴρ Ζεύς. οὐ γὰρ εὐσέβεια συνθνῄσκει βροτοῖς· κἂν ζῶσι κἂν θάνωσιν, οὐκ ἀπόλλυται.

1440

1439 αὐτὴν] da bei den Tragikern regelmäßig τὸ Ἴλιον gebraucht wird (vgl. 454; nur Eur. Andr. 103 ἡ Ἴλιος), kann αὐτὴν nicht direkt auf Ἴλιον (1438) zurückbezogen sein, sondern auf ein zu ergänzendes Τροία (1435) oder πόλις. 1440 τοῦτο] sc. εὐσεβεῖν, vgl. zu 310. | ἐννοεῖθ’ Elmsley : ἐννοεῖσθ’ (Hss.) : ἐννοεῖς – ἐννοεῖν wird bei Sophokles sonst nur im Aktiv gebraucht (vgl. 28), im Attischen ist aber ebenso Medium möglich (z. B. bei Euripides). 1441 εὐσεβεῖν τὰ πρὸς θεούς] vgl. zur Wendung τὰ πρὸς θεούς z. B. Aischines, fr. 87 (II, p. 623 Giannantoni) sowie K.-G. I 309 f. Anm. 5. | θεούς Hss. : θεόν Suda s. v. εὐσεβεῖν. 1442–1444 {…} Dindorf (1443–1444 F. Peters) – die Verse wurden überzeugend verteidigt von Linforth (vgl. Komm.); vgl. auch Kamerbeek und Ll.-J./W.1. 1443 οὐ Gataker : ἡ Hss. – οὐ ist angesichts von v. 1444 notwendig, ἡ gäbe zusammen mit v. 1444 allenfalls einen Sinn, wenn ἡ γὰρ εὐσέβεια συνθνῄσκει heißen könnte ‚die εὐσέβεια geht mit in das jenseitige Leben‘, was aber keine übliche Bedeutung wäre (vgl. im Einzelnen Jebb). | εὐσέβεια Hss. : ηὑσέβεια Dawes – der Artikel muss nicht stehen (K.-G. I 606 i); gerade bei Tugenden und Lastern kann er fehlen, z. B. Eur. F 734,1 f. Kannicht ἀρετὴ δὲ κἂν θάνῃ τις οὐκ ἀπόλλυται, / ζῇ δ᾿ οὐκέτ᾿ ὄντος σώµατος.

Kommentar

415

1439–1440 a ‚Denn es ist bestimmt‘: Die Begründung für die Heilung ist bezeichnend: Philoktet wird geheilt, damit der Bogen des Herakles in der Hand des neuen Besitzers seine Bestimmung erfüllen kann. Zwar soll Philoktet eine Kompensation für sein Leid erhalten (1421 f.), aber letztlich ist er mit all seinem Leid, dessen lange Dauer sich aus dem von den Göttern vorgegebenen Zeitpunkt der Eroberung und Zerstörung Troias ergibt (197 f.; 312; 1340), ein Werkzeug innerhalb eines göttlich beschlossenen Ablaufs. ‚zum zweiten Mal‘: Laomedon (Sohn des Ilos und Vater des Priamos) hatte Herakles um den für die Rettung seiner Tochter Hesione vor einem Meeresungeheuer versprochenen Lohn betrogen: Herakles rächte sich durch die (erste) Zerstörung Troias. Vgl. u. a. Hellanikos, FGrHist / BNJ 4 F 26 b; Homer, Ilias 5,638–642; Pindar, Isthmien 5,35–38 sowie Gantz 1993, 400–402. 1440 b–1441 ‚Daran aber denkt‘: Ohne spezielle Anrede wird nur aus der Pluralform ersichtlich, dass Herakles seine abschließende Ermahnung, den Bereich der Götter nicht zu verletzen, an beide richtet, die damit als in gleicher Weise verantwortlich in die Pflicht genommen werden. ‚das Land zerstört‘: Vorzustellen ist die Situation nach der durch göttliche Vorbestimmung gewissen Eroberung der Stadt. ‚fromme Scheu gegen die Götter‘: Zum gedanklichen Hintergrund des angemahnten religiösen Respekts (eusebeia) vgl. Aisch. Ag. 338–340: „Wenn sie fromme Scheu haben vor den stadterhaltenden Göttern des eingenommenen Landes und vor den Sitzen der Götter, dann werden sie wohl nach ihrem Sieg nicht wieder selbst besiegt.“ – Bei der Ermahnung des Herakles geht es aber wohl nicht nur darum zu vermitteln, dass frevelhaftes Verhalten von den Göttern bestraft werden kann. Aufgrund ihrer Mythoskenntnisse können die Zuschauer bei der Warnung etwa an Neoptolemos’ Tötung des alten Priamos am Altar des Zeus Herkeios, des Schützers des Hofes, oder an des lokrischen Aias’ Frevel an der Seherin Kassandra und an Athenas hölzerner Statue denken (Iliou persis, Argumentum, pp. 88,13 f. u. 89,15 f. Bernabé = pp. 144 f.; 146 f. West 2003; Pindar, Paian 6,113–115; Eur. Tro. 70; Scholion zu Phil. 1441). Anspielungen auf Künftiges gibt es auch in anderen Tragödien des Sophokles, vgl. El. 1498; OC 1769 ff. (Easterling 1978, 39). Die Figur des Neoptolemos, die in der Handlung des Dramas als die eines edelmütigen Sohns des Achill konzipiert ist, wird durch diese Anspielung wieder in den eher traditionellen, für ihn weniger rühmlichen Sagenkontext eingebunden. 1442–1444 Die Ermahnung wird zweifach begründet. (1) Der erste Grund ist aus der Perspektive des obersten Gottes formuliert: Zeus kennt nichts Wichtigeres als die fromme Scheu vor allem, was die Götter betrifft; schon deswegen muss man sie üben. Mögliche Konsequenzen bei einer Zuwiderhandlung nennt Herakles allerdings nicht. (2) In der zweiten Begründung wird der Begriff der ‚frommen Scheu‘ (1443) wieder aufgenommen, indem Herakles in einer abschließenden Gnome darlegt, was die Menschen von der von ihm geforderten Haltung haben: Sie erwerben damit einen Ruf, der nicht mit denen stirbt, die sich diesen Ruf erworben haben, sondern unabhängig davon, ob diese leben oder tot sind, bestehen bleibt. Philoktet und Neoptolemos sollen

416 Ph. Ne. He. Φι. Νε. Ηρ.

Exodos: 1445–1449

O der du mich den ersehnten Klang deiner Stimme hören lässt und mir nach langer Zeit erscheinst, ich werde nicht unfolgsam sein gegenüber deinen Worten. Auch ich entscheide so. Nun zaudert nicht lange zu handeln!

1445

ὦ φθέγµα ποθεινὸν ἐµοὶ πέµψας χρόνιός τε φανείς, οὐκ ἀπιθήσω τοῖς σοῖς µύθοις. κἀγὼ γνώµην ταύτῃ τίθεµαι. µή νυν χρόνιοι µέλλετε πράσσειν.

1445

1445–1446 πέµψας … φανείς] Hysteron proteron; der Aorist dürfte am ehesten komplexiv aufzufassen sein. 1447 οὐκ ἀπιθήσω] vgl. die homerische Formel οὐδ’ ἀπίθησε (Homer, Ilias 1,220 und weitere 25 Stellen). 1448 γνώµην Lambinus : γνώµῃ Hss. | ταύτῃ Hss. : ταὐτῇ Dobree – γνώµῃ ταύτῃ würde die (sinngemäße) Ergänzung von ψῆφον erfordern, wozu es keine Parallele zu geben scheint, zumal γνώµη auch unmittelbar von τίθεσθαι abhängig sein kann (vgl. Aristophanes, Ekklesiazusen 658 κἀγὼ ταύτῃ [Toup, ταύτην codd.] γνώµην ἐθέµην); vgl. z. B. Lysias, or. 24,23 ταύτῃ θῆσθε τὴν ψῆφον. Alternativ wäre allenfalls γνώµην ταύτην möglich. 1449 πράσσειν Brunck : πράττειν Hss. – in der attischen Tragödie wird durchweg die Form πράσσειν gebraucht.

Kommentar

417

also motiviert sein, sich (bei der Zerstörung von Troia) durch ein entsprechendes Verhalten gegenüber den Göttern einen solchen Ruf zu erwerben. Vgl. Linforth 1956, 149 Anm. 30. – Im Griechischen steht nur ‚fromme Scheu‘; darauf beruht der Ruf wie auf Herakles’ aretē der darauf beruhende Ruhm, vgl. zu 1420. Vgl. auch aretē in Eur. F 734,1 Kannicht (Zitat TS). 1445–1447 In Anapästen, die bereits den Abgang von der Bühne signalisieren, antwortet Philoktet wie jemand, der (allzu-)lange nichts von seinem Freund gehört hat (vgl. zur Formulierung 234 f.; Ussher). Eine entsprechende emotionale Hingabe war bei Herakles nicht zu erkennen, sodass das Freundschaftsempfinden asymmetrisch erscheint, wenn auch nicht so deutlich wie in Euripides’ Hippolytos zwischen Hippolytos und Artemis (vgl. Eur. Hipp. 1395 f.; 1403 f.; 1440 f.). Ohne jeden Einwand lenkt Philoktet ein, es gehört allerdings zum Genre, dass über die Worte eines deus ex machina nicht diskutiert wird (vgl. Eur. Hipp. 1442 f.; Or. 1679–1681; El. 1238 ff.; Thévenet 2008, 54–56). Philoktet gibt am Ende selbst an, was ihn zur Fahrt nach Troia bewegt: Schicksal (Moira), Rat der Freunde – er wird an Neoptolemos und Herakles denken – und die allesbezwingende Gottheit, deren Bestimmung er sich nun fügt (1466–1468 mit Komm.), woraus man ersehen kann, wie die Rede des Herakles auf ihn gewirkt hat. Dabei mag es eine besondere Rolle spielen, dass Herakles, der als alter Freund (so, wie Philoktet es sieht) ihm gegenüber völlig unbelastet ist, den Willen des Zeus überbringt. Insofern Philoktet den Ausführungen des Herakles folgt (1447), ist das Kriterium der Überzeugung durch Worte (612) erfüllt, und indem Philoktet sogleich ohne Wenn und Aber zustimmt, wohl auch das der Freiwilligkeit (1332); vgl. auch Buxton 1982, 129. – Das ungelöste Problem, wie Philoktet denen gegenübertreten soll, die ihn ‚vernichtet‘ haben (1354–1357), kam vielleicht in Sophokles’ (nicht erhaltenem) Philoktet in Troia (vgl. Radt, TrGF IV2, p. 482) zur Sprache. 1447 ‚deinen Worten‘: Was die Worte (logoi, 1350 f.) des Neoptolemos noch nicht vermochten, erreichen die mit größerer Autorität und unbezweifelbarer Wahrheit geäußerten Worte (mythoi, vgl. 1410; 1417) des Herakles. Sophokles lässt im Philoktet nur Herakles für Worte bzw. Rede mythoi verwenden; vgl. Podlecki 1966, 244 f.; Martin 1989, 12; 66. Außerdem kann Philoktet gegenüber Herakles zustimmen, ohne das Gefühl haben zu müssen, durch seine Einwilligung direkt oder indirekt den ,Schlechten‘ Hilfe zu leisten (vgl. seine Bedenken 1372 f.). – Philoktets Zustimmungsworte (vgl. TS) sollen vielleicht an die Reaktion Achills gegenüber Athena erinnern (Homer, Ilias 1,220 f. „und war dem Wort Athenas nicht ungehorsam“). Ob dadurch allerdings Philoktets Heroismus vergrößert wird (so Schein), ist fraglich. 1448 ‚Auch ich entscheide so‘: Neoptolemos schließt sich mit einer knappen Einwilligung dem Votum Philoktets an, den Worten des Herakles folgen zu wollen, d. h., er wird mit Philoktet nach Troia fahren, wie er es – auch im Auftrag des Heeres – längst vorhatte. Für ihn lösen sich alle seine Probleme, obwohl auch sein Verhältnis zu Odysseus schwierig werden könnte. 1449 ‚zaudert nicht‘: Ähnlich hatte Philoktet zum sofortigen Aufbruch aufgefordert, nachdem eine Entscheidung gefallen war (1400; vgl. auch 526).

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Exodos: 1450–1455

Denn sieh, es drängt die günstige Gelegenheit zu segeln (mit Wind) am Heck.

1450

Herakles entschwindet wieder. Philoktet, Neoptolemos und der Chor bewegen sich zum Seiteneingang in Richtung Schiffsankerplatz. Ph.

Auf denn, da ich nun gehe, will ich dem Land meinen Gruß entbieten: Leb wohl, meine Behausung, die du mit mir gewacht, und ihr Wassernymphen in den Wiesen und du, tiefdröhnendes Tosen an der Klippe im Meer – ὅδ’ ἐπείγει γὰρ καιρὸς καὶ πλοῦς κατὰ πρύµναν.

Φι.

φέρε νυν στείχων χώραν καλέσω. χαῖρ’, ὦ µέλαθρον ξύµφρουρον ἐµοί, Νύµφαι τ’ ἔνυδροι λειµωνιάδες, καὶ κτύπος ἄρσην πόντου προβολῆς,

1455 1450

1455

1450–1451 ὅδ’ ἐπείγει γὰρ καιρὸς καὶ πλοῦς Burges : καιρὸς καὶ πλοῦς ὅδ’ ἐπείγει γὰρ Hss. – im überlieferten Text nach ὅδ’ zu interpungieren (z. B. Radermacher 1911; Kamerbeek), um die im klassischen Griechisch singuläre späte Stellung von γὰρ (vgl. GP 96) zu vermeiden, ist keine plausible Lösung, da vom Sinn her die Aufforderung, nicht zu zögern (1449), begründet werden soll und nicht καιρὸς καὶ πλοῦς ὅδ’ (die Gründe für die Aufforderung); so bleibt nur die Umstellung. Der Grund des Befundes könnte sein, dass ein ganzes anapästisches Kolon an falscher Stelle nachgetragen wurde. 1450 ὅδ’] gebraucht wie bei Auftritten einer Person in der Tragödie (K.-G. I 642). 1451 καιρὸς καὶ πλοῦς] Hendiadyoin; zu πλοῦς vgl. 641 und Eur. Hek. 898–901 (Webster). | πρύµναν Hss. : πρύµνην Hermann – πρύµνᾰν ist die attische Form; zwar ist für v. 482 πρύµνην aus metrischen Gründen die einfachste Lösung, doch zwingt der dortige Befund hier nicht zu einer Änderung. 1452 νυν Trikl. : νῦν (Hss.) – vgl. zu 123. | καλέσω] Konjunktiv Aorist, nicht die später mögliche Futurform; vgl. auch Moorhouse 222 f. „either a request … or self-exhortation“. 1453   ξύµφρουρον] vgl. zur Bedeutung LSJ + Suppl. s. v. σύµφρουρος II. 1455 ἄρσην] ionische Bildung (attisch ἄρρην), die aber in der attischen Tragödie öfter vorkommt. | προβολῆς Hermann : προβολὴς : προβλὴς (Hss.) : προβλής θ᾿ Musgrave – προβλὴς (936 als Substantiv gebraucht) kann nicht sinnvoll adjektivisch auf κτύπος bezogen werden. Ein bloßes προβλής θ᾿ ist neben κτύπος … πόντου wenig wirkungsvoll. Daher ist προβολῆς vorzuziehen; es ist zwar erst spät in dieser Bedeutung (‚Klippe‘) belegt (Polybios 1,53,10; Quintus Smyrnaeus, Posthomerica 9,378 ἐπὶ προβολῇσι πολυκλύστοιο θαλάσσης), kommt aber zur Bezeichnung von etwas Hervortretendem bereits im Corpus Hippocraticum vor.

Kommentar

419

1450–1451 ‚drängt die günstige Gelegenheit‘: Der kairos drängt wie eine handelnde Person (vgl. auch 466). Herakles beruft sich zur Begründung seines Drängens zur Eile, womit er sich verabschiedet, gleichsam auf etwas objektiv Bestehendes, inhaltlich die günstige Bedingung für die Schifffahrt. ‚zu segeln … am Heck‘: Wenn das Schiff in Richtung Troia gelenkt wird, hat es den dafür günstigen Fahrtwind vom Heck her. Vgl. zur Windrichtung auch 639 f. und 855 (mit Komm. zu 639–646 und 855). – Nach diesen entschiedenen Worten wird Herakles von der Bühne verschwunden sein, entweder wieder mit Hilfe des Bühnenkrans oder auch indem er auf dem Dach des Bühnenhauses nach hinten geht (vgl. zu 1409–1417). 1452–1468 Innerhalb der Handlung sind die Marschanapäste der Abschiedsworte Philoktets ein Zeichen für den Aufbruch zum Schiff, dramaturgisch leiten sie den Auszug aus dem Theater ein. Trotz der Leiden, die Philoktet dort durchmachen musste, sind Lemnos und seine Behausung im Felsen doch eine Art Heimat für ihn gewesen, von der er als etwas Vertrautem Abschied nimmt. Das Leid ist nicht vergessen (1460), aber Philoktet sieht seine Umwelt jetzt gnädiger, mit einer gewissen Wehmut. Vgl. auch Feder 1963, 40; anders Schadewaldt 1926, 68, wonach Philoktet mit den Anrufen an seine Umwelt stets das eigene Leid meint. Dass Philoktet, wie er sagt, nie zu hoffen gewagt habe, die Insel verlassen zu können (1463), lässt erahnen, wie sehr er sich gerade das gewünscht hat, aber nun ist es die vertraute Insel, die er um Schutz bittet für eine Fahrt, deren Ziel er nicht selbst gesetzt hat. 1452 ‚Gruß entbieten‘: Es ist eher ein ‚anrufen‘ wie bei einer Gottheit. 1453 Vgl. zur Apostrophe an seine Behausung 1081–1089. Wenn Philoktet seine Wohnstatt melathron nennt, muss das nicht heißen, dass er sie jetzt (anders als 1081 ff.) zu einem normalen Haus hochstilisiert (so aber Schein, S. 28 und z. St.), denn das Bedeutungsspektrum von melathron ist weiter. Es bedeutet eigentlich ‚Dach‘ oder allgemein ‚Haus‘, kann aber auch von der temporären Unterkunft Achills im Schiffslager vor Troia (Homer, Ilias 9,640) oder von der Felsenhöhle des Kyklopen (Eur. Cycl. 491) gebraucht werden; vgl. 147 (falls echt). Neoptolemos hatte die unwohnliche Höhle Philoktets sogar als ‚Haus‘ (oikos, 159) bezeichnet. Vgl. auch zu 16. ‚die du mit mir gewacht‘, d. h. meine Schlaflosigkeit geteilt hast. Zwar versteht das Scholion das nur an dieser Stelle in einem klassischen literarischen Text belegte Wort xymphrouros als ‚die du mich beschützt hast‘, aber die Bildung des Wortes und eine inschriftliche Parallele weisen auf die übersetzte Bedeutung. 1454 ‚Wassernymphen in den Wiesen‘: Zu Nymphen vgl. zu 725. Das griechische Wort nymphai ist durch zwei unverbundene Adjektive näher bestimmt, (1) ‚im Wasser lebend‘, (2) ‚zur Wiese gehörig‘. Gedacht ist offenbar an Nymphen in wasserreichen Wiesen. Philoktet verwendet hier ein angesichts seines bisherigen Lebens unerwartet liebliches Bild und betrachtet seine Umwelt erstmals als göttlich belebt (Segal 1981, 353 f.). 1455 ‚tiefdröhnendes‘: Das griechische Wort (arsēn) heißt eigentlich

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Exodos: 1456–1461

wo oft mein Haupt regennass wurde ganz drinnen in der Höhle durch die Stöße des Südwinds und vielfach von meiner Stimme der Berg des Hermes mir als Widerhall zurücksandte das Stöhnen, wenn ich (von Schmerzen) umstürmt wurde. Jetzt aber, ihr Quellen, und du, Lykischer Trank, οὗ πολλάκι δὴ τοὐµὸν ἐτέγχθη κρᾶτ’ ἐνδόµυχον πληγῆσι νότου, πολλὰ δὲ φωνῆς τῆς ἡµετέρας Ἑρµαῖον ὄρος παρέπεµψεν ἐµοὶ στόνον ἀντίτυπον χειµαζοµένῳ. νῦν δ’, ὦ κρῆναι Λύκιόν τε ποτόν,

1460

1460

1456 πολλάκι] vgl. Aisch. Sept. 227; Hik. 131; bei Sophokles nur hier. | δὴ] betont πολλάκι (GP 206 [2][ii]). | Nach diesem Vers setzt Dawe eine Lücke an; bei dem im Komm. dargelegten Verständnis muss man jedoch keine Lücke postulieren. 1457 ἐνδόµυχον] das Adjektiv ist wie τοὐµὸν (1456) auf κρᾶτ’ (nur hier im Nominativ Neutrum) bezogen; vgl. (zur Stellung) zu 393. | πληγῆσι Hss. : πληγαῖσι Dindorf – die ionische Form kommt sonst in der attischen Tragödie nicht vor, aber da Sophokles gelegentlich ionische Formen verwendet (zuletzt ἄρσην, 1455), besteht kein Zwang zur Normalisierung; zur Vorstellung vgl. Lukrez 5,957 verbera ventorum. 1459 Ἑρµαῖον +Eustathios III 554,8 van der Valk : Ἕρµαιον – vgl. LSJ s. v. | παρέπεµψεν] zum Gebrauch von der Stimme vgl. LSJ s. v. II. a und 1445 φθέγµα … πέµψας. 1460 χειµαζοµένῳ] vgl. 1194 f.; [Aisch.] PV 563 χαλινοῖς ἐν πετρίνοισιν χειµαζόµενον. 1461 Λύκιόν Korrektur in Hs. L und Scholion : γλύκιον (Hss.) – ‚Süßwasser‘ ergibt neben κρῆναι keinen Sinn, zumal in Bezug auf ‚Wasser‘ üblicherweise γλυκύς und nicht γλύκιος gebraucht wird.

Kommentar

421

‚männlich‘. Es kann übertragen tiefe Klänge bezeichnen (vgl. Belege bei Schein). Vielleicht ist aber auch die Stärke des Tosens gemeint. 1456 ‚wo‘: Die nähere Bestimmung der ‚Klippe im Meer‘ (1455) in den vv. 1456 f. macht es unwahrscheinlich, dass damit nur ein ins Meer ragender Felsensporn gemeint ist (so Schein), sondern eher der gesamte ans Meer grenzende felsige Bereich (vgl. Jebb), zu dem auch die Höhle gehört. 1457 ‚Südwinds‘: Es handelt sich um den notos, der im Winter als Regensturm gefürchtet ist. Vgl. Capelle 1936, 1117 (mit Belegen). Vgl. auch Einf. S. 19. 1459 ‚Berg des Hermes‘: Diese Erhebung auf Lemnos wird nur noch Aisch. Ag. 283 f. genannt; vgl. zur Lokalisierung Einf. S. 19. – Das Scholion erklärt allerdings, dass alle Berge als zu Hermes gehörig bezeichnet werden konnten, weil Hermes ein Hirten- und Berggott sei. 1459–1460 Zur Resonanz seines Klagens vgl. 188–190; 693. 1460 ‚(von Schmerzen) umstürmt‘: Im Griechischen steht nur ‚umstürmt‘, was aber wohl nicht wörtlich gemeint ist, vielmehr als Metapher den Sturm der Natur (1456 f.) auf Philoktets Leid überträgt (vgl. auch 1194 f.), das er herausstöhnt. Vgl. auch Kamerbeek. 1461 Jetzt, in der positiven Stimmung des Abschieds, ist nicht mehr von der Mühe der Wasserbeschaffung die Rede (vgl. 292; 716 f. [vgl. aber zu 715– 717]), im Gegenteil: es werden gleich mehrere Quellen und (wörtl.) ein ‚Lykischer Trank‘ apostrophiert. Mit diesem ‚Trank‘ dürfte eine Quelle gemeint sein, die wohl nach Apollon Lykios benannt ist. Sophokles lässt sie ohne weitere Erläuterungen anführen, er ging also davon aus, dass die athenischen Zuschauer sie kannten, vielleicht weil es eine solche Quelle auf Lemnos gab oder weil sie etwa in früheren Bearbeitungen des Philoktet-Stoffes eine Rolle spielte. In Hadrianischer Zeit nennt Zenobios, Centuria 4,99 (CPG I, p. 114) unter dem Stichwort ‚Lykischer Trank‘ (ohne Lemnos zu erwähnen) zwei Quellen, eine von Wein, eine von Honig, an denen sich Vögel niederließen und erlegt werden konnten. Aber es ist kaum anzunehmen, dass Sophokles mit der Wendung ‚Lykischer Trank‘ Philoktets Berichte von seinen schwierigen Jagdbedingungen (287–292) im Nachhinein unglaubwürdig machen wollte, es könnte aber sein, dass er Philoktet in seiner Euphorie die Qualität seines Tranks durch diese Benennung hochstilisieren lassen möchte. Lykios ist als Beiname Apollons vielleicht mit Lykien (= ‚Herr Lykiens‘) zu verbinden (Bezug zu Lykien möglicherweise bei Homer, Ilias 4,101); der Beiname wird aber auch als der ‚wölfische‘ (lykos = Wolf) verstanden. In der Elektra (6 f.) stellt Sophokles einen Zusammenhang zwischen Lykeios und ‚Wolfstöter‘ her, als Helfer in der Not wird Apollon Lykeios z. B. OT 203; 919 angerufen. Zu den beiden Deutungen des Namens vgl. Burkert 1997/2007, 190–193. Der Kult des Apollon Lykeios könnte auch auf Lemnos verbreitet gewesen sein (Jebb).

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Exodos: 1462–1466

verlasse ich euch, verlasse euch nunmehr, obwohl ich das niemals zu hoffen gewagt. Leb wohl, mein Lemnos, meerumströmtes Land, und schicke mich in guter Fahrt wohlbehalten dorthin, wohin mich das mächtige Schicksal bringt, λείποµεν ὑµᾶς, λείποµεν ἤδη, δόξης οὔ ποτε τῆσδ’ ἐπιβάντες. χαῖρ’, ὦ Λήµνου πέδον ἀµφίαλον, καί µ’ εὐπλοίᾳ πέµψον ἀµέµπτως, ἔνθ’ ἡ µεγάλη Μοῖρα κοµίζει

1465

1465

1463 δόξης (Hss.) : δόξης δ᾿ – das Partizip kann nicht mit δέ angeschlossen werden. | ἐπιβάντες] zum metaphorischen Gebrauch vgl. LSJ s. v. A. I. 4. 1464 Λήµνου πέδον] vgl. zu 2. 1465 εὐπλοίᾳ πέµψον (Hss.) : εὐπλοίαν πέµψατ᾿ – εὐπλοίᾳ ist dat. modi, vgl. OT 51.

Kommentar

423

1462–1463 ,ich‘: Während in der übrigen Rede Philoktet von sich im Singular spricht, verwendet er nun die Pluralform. Dem Kontext nach muss er aber jeweils nur sich selbst meinen. 1462 ‚verlasse … verlasse‘: Die Wiederholung signalisiert die innere Bewegung Philoktets angesichts dieser Tatsache. 1463 ‚niemals zu hoffen gewagt‘, wörtl. ‚obwohl wir niemals an Bord dieser Erwartung gingen‘: Das von Philoktet metaphorisch verwendete Verb (epibainein) bezeichnet das Besteigen eines Schiffes. 1464 ‚meerumströmtes‘: vgl. v. 1. Das homerische Wort (amphihalos) wird in der Odyssee in Bezug Ithaka gebraucht (z. B. 1,386). Vgl. 1 f. 1465 ‚wohlbehalten‘, wörtl. ‚ohne Tadel‘: Einige Interpreten glauben, dass Philoktet die Insel bittet, ihn nicht zu tadeln, weil er sie nun verlässt. Wahrscheinlicher ist doch wohl, dass Philoktet wünscht, so anzukommen, dass er keinen Grund zur Klage hat, wie er auch schon v. 986 Lemnos als eine ihn beschützende Macht angerufen hatte. ‚dorthin‘: Das konkrete Ziel ist nur aus dem anschließenden ‚wohin‘ (enth[a], 1466) zu erschließen. Philoktet benennt Troia auch jetzt noch nicht mit Namen, dessen Nennung früher sofort eine Abwehrreaktion ausgelöst hatte (Visser 1998, 263; vgl. auch zu 915–916). 1466–1468 Das Verhältnis der drei Faktoren, die Philoktet dazu bewogen haben, (trotz seiner ursprünglichen Weigerung) nach Troia zu gehen, ist nicht ganz einfach zu klären. Das Nebeneinander von ‚mächtigem Schicksal‘ (Moira, 1466) und ‚alles bezwingender Gottheit‘ (1467 f.) ist eigentlich eine Überbestimmung, weil jede dieser Mächte schicksalsentscheidend ist, aber die Formulierungen sollen wohl besagen, dass der Wille der Gottheit im Einklang steht mit dem, was ohnehin als Faktum festgelegt ist (vgl. zu 1466). – Vgl. zu diesem Nebeneinander Aisch. Eum. 1045 f.; Eur. El. 1247 f. – Im Verhältnis zu diesen mächtigen Faktoren ist als Drittes der Einfluss der Freunde (1467, es müssen Neoptolemos und Herakles sein) nicht von vergleichbarer Gewichtigkeit. Neoptolemos hat sich nicht durchgesetzt, und das Vorbild Herakles verdankt seine Wirkung nicht zuletzt seiner Funktion als Überbringer der Nachricht vom Ratschluss des Zeus, der sehr wahrscheinlich mit der ‚Gottheit‘ (daimōn) zu identifizieren ist (vgl. 1415; zum Nebeneinander der Bezeichnungen daimōn und Zeus vgl. Budelmann 2000, 148 ff.). Der Macht des allesbezwingenden Zeus (vgl. auch Ant. 604 ff.) kann und will auch Philoktet nicht widerstehen. „It is not incumbent upon a mortal to confirm divine foreknowledge, but the wise man recognizes that he has no option“ (WinningtonIngram 1980, 300). Philoktet verhält sich, wie es (in späterer Zeit) einem Stoiker gemäß wäre (vgl. auch Dorati 2015, 187). 1466 ‚Schicksal‘: Durch den Zusatz ‚mächtig‘ ist das Schicksal personifiziert, daher ist Moira im griechischen Text großgeschrieben. „Moîra … ist ein Faktum: Das Wort heißt ‚Teil‘ und sagt aus, dass die Welt verteilt ist, dass Grenzen gezogen sind nach Raum und Zeit. Die wichtigste, schmerzlichste Grenze für den Menschen ist der Tod: Dies ist sein begrenztes ‚Teil‘ “ (Burkert 2011, 204). Aber auch der Weg dahin ist ‚zugeteilt‘.

424

Ch.

Χο.

Exodos: 1467–1471

der Rat der Freunde und die alles bezwingende Gottheit, die das so gefügt hat. Wir wollen uns nun alle zusammen auf die Fahrt begeben, nachdem wir zu den Nymphen des Meeres gebetet haben, dass sie als Beschützerinnen unserer Rückkehr kommen. γνώµη τε φίλων χὠ πανδαµάτωρ δαίµων, ὃς ταῦτ’ ἐπέκρανεν. χωρῶµεν δὴ πάντες ἀολλεῖς, Νύµφαις ἁλίαισιν ἐπευξάµενοι νόστου σωτῆρας ἱκέσθαι.

1470

1470

1467 πανδαµάτωρ] sonst vom Schlaf und von der Zeit gebraucht; vgl. LSJ s. v. 1468 ἐπέκρανεν] eigtl. ‚vollenden‘, ‚in Erfüllung gehen lassen‘. Vgl. aber Eur. El. 1247 f. τἀντεῦθεν δὲ χρὴ / πράσσειν ἃ Μοῖρα Ζεύς τ᾿ ἔκρανε σοῦ πέρι. Die Stelle belegt jedenfalls für das Simplex auch die Bedeutung ‚anordnen‘, ‚bestimmen‘, die hier zumindest mitschwingen dürfte; denn es geht darum, was Zeus beschlossen hat (1415). Vgl. auch Kamerbeek. 1469–1471 {…} Ritter – vgl. die überzeugende Rechtfertigung der Verse durch Jebb. 1469 δὴ Glosse bei Trikl., Hermann : νυν Trikl. : ἰδοῦ : ἤδη – für δὴ spricht, dass ἰδοῦ und ἤδη als Erklärungen von δὴ zu verstehen sind. δή ist bei iussivem Konjunktiv selten, aber nicht unmöglich. Vgl. Ll.-J./W.1; GP 218 (iv); anders Dawe 1978, 62. | ἀολλεῖς : ἀολλέες – die kontrahierte Form ist die im Attischen übliche. 1471 σωτῆρας] bezieht sich auf Νύµφαις (keine Attraktion; vgl. K.-G. II 24; 26 Anm. 2); zur Beziehung eines maskulinen Substantivs auf ein feminines vgl. OT 80 f.

Kommentar

425

1467 ‚Rat‘: Gemeint ist das auf Einsicht beruhende Urteil (gnōmē). 1468 ‚Gottheit‘: Sehr wahrscheinlich denkt Philoktet hier an den ‚Ratschluss des Zeus‘; vgl. zu 1466–1468. ‚die das so gefügt hat‘: Der Ablauf im Einzelnen (etwa das Eingreifen des Herakles und die vorgegebenen Bedingungen für die Eroberung Troias), das ist das Werk der Gottheit, wie Philoktet jetzt anerkennt. 1469–1471 Griechische Tragödien enden häufig mit Schlussbemerkungen des Chors, die in Anapästen gefasst sind (bei Sophokles alle erhaltenen Stücke mit der fraglichen Ausnahme der Trachinierinnen, wo die Handschriften die letzten Verse teils Hyllos, teils dem Chor zuweisen, und des König Ödipus, wo die vv. 1524–1530 [Trochäen] wahrscheinlich unecht sind). Entsprechend ihrer Rolle als Seeleute beten die Choreuten um eine sichere Fahrt nach Troia. 1469–1470 ‚auf die Fahrt begeben‘: Es ist wohl eher die Abreise nach Troia als der Gang zum Schiff gemeint (was der Text auch bedeuten könnte), da das Gebet für die Abfahrt angekündigt wird. 1469 ‚alle zusammen‘: Die noch Anwesenden (gemeint sein müssen Philoktet; Neoptolemos; Chor). Herakles ist nach v. 1451 entschwunden, Odysseus kann nicht mehr anwesend sein, er spielt keine Rolle mehr (vgl. Schein). Dass er aus der Handlung verschwindet, nicht mehr über ihn und seine Rolle im bisherigen Geschehen gesprochen wird, macht die Vergeblichkeit seiner Aktivitäten sinnfällig. 1470 ‚Nymphen des Meeres‘: Die Nereïden, die 50 Töchter des Meergottes Nereus, die das Meer günstig beeinflussen und Menschen vor Seenot bewahren können. Vgl. Hesiod, Theogonie 240–264, bes. 252–254; Sappho bittet die Nereïden um unversehrte Ankunft ihres Bruders (fr. 5,1 f. Voigt). 1471 ‚Rückkehr‘: Aus der Sicht der Seeleute, die von Troia gekommen sind, ist die jetzt anstehende Fahrt eine Rückkehr zu ihrem Ausgangspunkt, wo der siegreich zu beendende Kampf um Troia weitergehen wird. Dass sie an ihre endgültige Rückkehr nach Hause denken (so Taplin 1987, 75), ist angesichts der Situation weniger wahrscheinlich.

Anhang

Abweichungen vom Text der Edition von H. Lloyd-Jones / N. G. Wilson, Sophoclis fabulae, Oxford 1990 (Nachdruck o. J. [1992]) Aufgeführt sind Unterschiede in Textgestaltung und sinntangierender Interpunktion. – Die Stellen in der Textgestaltung dieser Ausgabe, die mit Entscheidungen übereinstimmen, für die H. Lloyd-Jones und N. G. Wilson – abweichend von ihrer Ausgabe – in Sophocles: Second Thoughts (1997) plädieren oder die sie wenigstens für diskutabel halten, sind in der linken Spalte mit ‚(Ll.-J./W.2)‘ gekennzeichnet.

7 22 23 42 43 47 105 108 116 123 147 166 189 f. 208 209 218 236 256 272 276 315 {321}

Diese Ausgabe

Lloyd-Jones / Wilson

πόδα, σήµαιν’ (Ll.-J./W.2) πρὸς αὐτὸν (Ll.-J./W.2) ποσὶ βαίη νόστον (Ll.-J./W.2) ἕλοιτό µ᾿ ἰοὺς τὰ ψευδῆ λέγειν θηρατέ’ οὖν νυν {δεινὸς ὁδίτης τῶνδ’ ἐκ µελάθρων} oder δεινὸς † ὁδίτης τῶνδ’ ἐκ µελάθρων † στυγερὸν στυγερῶς πικρᾶς οἰµωγᾶς ὕπο κλαίει. βαρεῖ᾿ ἃ γαρύει τι γὰρ δεινόν προσέσχε (Ll.-J./W.2) πω εὕδοντ’, ἐπ’ ἀκτῆς ἐν κατηρεφεῖ πέτρᾳ σὺ οἷ᾿

πόδα· †σήµαιν’† τὸν αὐτὸν προστείχοι µαστὺν ἕλοιτ᾿ ἔµ᾿ ἰούς ⟨γ’⟩ τὸ ψευδῆ λέγειν θηρατέ’ ⟨ἂν⟩ νῦν δεινὸς ὁδίτης τῶνδ’ οὑκ µελάθρων σµυγερὸν σµυγερῶς πικραῖς οἰµωγαῖς ὑπακούει. βαρεῖα θρηνεῖ {γάρ} τι δεινόν κατέσχε που εὕδοντ’ ἐπ’ ἀκτῆς ἐν κατηρεφεῖ πέτρᾳ, οὗ οἷς 321

430

Anhang

361 371 381 421 422 452 481 482

προσφιλῶς κυρεῖ ἐς ⟨φεῦ·⟩ τί δ’; ὁ παλαιὸς τάχ᾿ ἂν ἐπαθρῶν ἐµβαλοῦ ἐς (3x) πρύµναν †, ὅπου χωλόςͅ. τὰ θἄτερα µόνον σταθῶµεν πλέω ὡς ⟨δ’⟩ συννεναυστοληκότες δὲ τἄργ᾿ ἅλεξας αὖ δὲ ἐγὼ µὲν αὑτοῖς αἵπερ δόλοις 637–638 µόνῳ ⟨σφετέρων⟩ ποτὲ {Διὸς Ἰξίονα} δροµάδ᾿ ⟨Ἅιδου⟩ ⟨µὰν⟩ ⟨σπασµὸς⟩ εἴ τις ἐµπέσοι ἑλών σῆς – ὦ θεοί. Νε. τί τοὺς θεοὺς ὧδ᾿ ἀπαππαπαῖ, παπᾶ παπᾶ παπᾶ παπαῖ. δεινόν αὐτὴ πλάνης ἐξεπλήσθη, νόσος. Νε. ἰὼ φθόνον ἆ ἆ ἆ ἆ. (781a) / δέδοικα ⟨δ’⟩, ὦ παῖ, µὴ ἀτελὴς εὐχὴ ⟨τύχῃ⟩·

πρὸς φίλους κύρει εἰς τί δ᾿; ὃς παλαιὸς (Ll.-J./W.2) τά γε ἐπαινῶν εἰσβαλοῦ εἰς (3x) πρύµνην, ὅποι 486 χωλόςͅ; 497 τὸ 503 θἀτέρᾳ 536 µόνην 539 µάθωµεν 547 πλέων 549 ὡς 550 οἱ νεναυστοληκότες 559 δ᾿ ἅ γ᾿ ἔργ᾿ ἔλεξας 572 ἂν 578 µε 585 ἐγώ εἰµ᾿ Ἀτρείδαις 602 οἵπερ 608 δόλιος {637–638} 669 µόνον 677f. ποτὲ τῶν Διὸς {Ἰξίονα} 678 δροµάδα 687 ⟨δ᾿ αὖ⟩ 699 εἴ τις ἐµπέσοι ⟨πόθος⟩ 700 ἑλεῖν 734 τῆς 736 ἰὼ θεοί. 737 τί τοὺς θεοὺς οὕτως 746

ἀπαπαπαῖ.

755 758

δῆλόν (Ll.-J./W.2) αὕτη πλάνοις ἐξεπλήσθη. Νε. ἰὼ ἰὼ Φθόνον † ἀλλὰ δέδοικ᾿, ὦ παῖ, µή µ᾿ ἀτελὴς εὐχή. †

759 776 782

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Abweichungen von Lloyd-Jones / Wilson

792 797 814 821 f. 834 835 852 853 872 881 957 968 973 1019 1034 1092 1094 1095 1097

ἔχοιτ᾿ Θάνατε, Θάνατε νύν ⟨Χο.⟩ µοι ὁρᾷς ἤδη; ὅ γ᾿ ταύταν γ᾿ αὔτ᾿ εἰς ὑφ᾿ σαυτοῦ τἀµά ’µοι καί σοι

ἴδ’, αἱθέρος ἄνω ἐλῶσιν· οὐκέτ’ ἴσχω. σύ τοι, σύ τοι οὐκ τᾷδ’ 1116 πότµος, ⟨πότµος⟩ 1118 ἁµᾶς 1139 ὅσ᾿ … οὗτος 1149 µ᾿ οὐκέτ᾿ 1150 πελᾶτ᾿ 1161 µηδέν τι 1163 f. εἴ τι σέβῃ, ξένον πέλασσον / εὐνοίᾳ … 1191 f. ἀλλόκοτοι / γνῶµαι … ὧν προὔφαινες; 1208 ἀπὸ πάντα καὶ ἄρθρα 1211 εἰς 1212 γὰρ {ἐστ’} 1214 εἰσίδοιµι σ’, ἄθλιός γ᾿ 1216 ἔβαν ἐχθροῖς 1251 φόβον 1300 µεθῇς 1312 ζώντων θ᾿ {1325} 1337 γὰρ … ἔστιν 1346 εἰς {1358–1361} 1364 οἳ δέ 1366 καί µ᾿ 1395 ὡς ῥᾷστ᾿ ἐµοὶ

ἵκοιτ’ θάνατε θάνατε νῦν Νε. σοι ὁρᾷς ἤδη. ὃν ταὐτᾷ τοῦτ’ ἐς ἀφ᾿ σαυτὸν τἄµ᾿ ἐµοὶ καίτοι {1034} ἴθ᾿ αἱ πρόσθ᾿ ἄνω ἅλωσιν οὐκέτ’ ἴσχω. σύ τοι, κοὐκ ἅδ᾿ πότµος ἐµᾶς ὃς … ἔργων µηκέτ’ ἐλᾶτ᾿ µηδενὸς εἴ τι σέβῃ ξένον, πέλασσον, / εὐνοίᾳ … ἀλλόκοτος / γνώµα … ἃν προφαίνεις. καὶ ἄρθρ’ ἀπὸ πάντα ἐς γάρ ἐστ’ εἰσίδοιµ’ ἄθλιός σ’ ἐχθροῖς ἔβαν στρατόν µὴ ’φῇς ζώντων 1325 παρ’ … ἐστιν ἐς 1358–1361 οἵδε κἄµ’ ὥρα ’στ’ ἐµοὶ

432 1406 Ἡρακλέους 1407 f. σῆς πάτρας. Νε. ἀλλ’ εἰ ⟨⏑ ‒ / ‒ ⏑⟩ † δρᾷς † ταῦθ’, ὥσπερ αὐδᾷς, στεῖχε 1433 ταῦτ’ 1443 εὐσέβεια 1448 ταύτῃ 1452 νυν

Anhang

Ἡρακλέοις {σῆς … αὐδᾷς} Νε. στεῖχε … ταὔτ᾿ ηὑσέβεια ταὐτῇ νῦν

Ergänzende Kommentarbemerkungen (EK) Aus Platzgründen sind einige der umfänglicheren Erörterungen von sachlichen Details und Textproblemen (vor allem von Echtheitsfragen) hier im Anhang zusammengestellt. 133 ‚Hermes‘: Man kann den Gott, der sich schon in frühester Kindheit als Dieb betätigt hat, indem er Apollon eine Rinderherde stahl (Homerischer Hymnus 4 [An Hermes], 18), beim Diebstahl anrufen (Hipponax, frr. 3 a; 32 West). Er ist ‚vielgewandt‘ (Hom. Hymn. 4,439) wie Odysseus (Homer, Odyssee 1,1), wie umgekehrt Odysseus auch der ‚listige‘ ist (Phil. 608); vgl. Pucci. Hermes ist aber auch Bote des Zeus (z. B. Homer, Odyssee 5,28 ff.) und ‚Geleiter‘. So führte er nach der Ilias König Priamos, der seinen toten Sohn Hektor auslösen wollte, aus Troia ins feindliche Lager zu Achill (Homer, Ilias 24,331–465); vgl. auch Aisch. Eum. 91 (‚Geleiter‘). In der Odyssee bringt er die Seelen der getöteten Freier in das Totenreich (Odyssee 24,1–14). Vgl. zum Gott Hermes allgemein Burkert 2011, 241–245. 134 ‚Athena Nike, Stadtbewahrerin‘: Bemerkenswert ist die Art, wie Athena angeredet wird. Zwar ist die Identifikation Athenas mit der Siegesgöttin Nike nicht strikt auf Athen beschränkt (vgl. Pausanias 1,42,4: Megara), aber für den athenischen Zuschauer, der den Tempel der ‚Athena Nike‘ auf der Akropolis kennt, besonders mit Athen verbunden; vgl. auch Eur. Ion 452 ff.; 1529. Entsprechendes gilt für ‚Stadtbewahrerin‘ (Polias), die sie für viele Orte ist, aber in dieser Funktion wurde in Athen auch ein altes Kultbild im Erechtheion auf der Akropolis verehrt (Herodot 5,82,3; Eur. El. 1254; Pausanias 1,26,5 f.; 1,27,1; Schol. zu Demosthenes, or. 22,13 [45,4 f. Dilts]); vgl. zu dieser Göttin Burkert 2011, 217–222. Odysseus redet also so, als sei er Athener. Fraenkel (1977, 46–48) wendet ein, dass nur hier Athena Nike und Athena Polias identifiziert würden, Sophokles habe lediglich Hermes als Gott der Diebe hervorheben wollen. Er spricht sich daher für die Athetese des Verses aus. Aber es ist nicht einzusehen, warum neben Hermes nicht auch die Odysseus besonders gewogene Göttin und diese gleichzeitig in zwei ihrer traditionellen Funktionen angerufen werden sollte. Vgl. auch Kamerbeek; Ll.-J./W.1 sowie Benedetti 2000. 147 Zur Problematik des Verses ‚der furchterregende Wanderer, hier aus seiner Behausung‘: Neoptolemos hat eigentlich kein Motiv, Philoktet als ‚furchterregend‘ oder ‚gefährlich‘ (vgl. zu dieser Bedeutung Sommerstein 1982, 35) zu bezeichnen, hat er doch erfahren, dass Philoktet dies für Odysseus, aber nicht für ihn ist (70–76), außerdem spielt dieser Gesichtspunkt bei

434

Anhang

der Anweisung an den Chor (148 f.) keine Rolle; man kann jedoch nicht völlig ausschließen, dass Sophokles ausdrücken wollte, Neoptolemos solle Philoktet so einschätzen. – Das homerische Wort für ‚Wanderer‘ (hoditēs) ist nicht nur bei den Tragikern (sonst) unbelegt, sondern für einen, der nicht weit gehen kann (41 f.), äußert unpassend (vgl. auch 163 mit Komm.). Die Konjektur ‚Bewohner‘ (hidrytēs, so Dawe 1978, 123–125) könnte in diesem Punkt Abhilfe schaffen, wenn das unbelegte Wort nicht erst für diese Stelle neu gebildet werden müsste. – Nach dem überlieferten Text wird gesagt, dass Philoktet aus seiner Behausung kommt; das kann Neoptolemos nicht wissen, und der Chor könnte nach dieser präzisen Aussage gleich anschließend kaum die Befürchtung äußern, dass ihn Philoktet ‚von irgendwoher‘ (156) überrascht. Aber selbst wenn man durch Konjektur den Anstoß beseitigt, dass Philoktet a u s der Behausung kommt (Linwood, Dawe; vgl. TS), bleibt Neoptolemos’ deiktischer Hinweis auf sie; der verträgt sich nicht mit der Frage des Chors nach Philoktets Wohnsitz (152 f.) und dessen deiktisch betonter Nennung durch Neoptolemos (159). Sommerstein (1982, 34 f.) will daher ‚hier aus seiner Behausung‘ (147) tilgen; das wäre eine tolerable Lösung, wenn es eine plausible Konjektur für ‚Wanderer‘ (hoditēs) gäbe. Sommerstein (ebd. 34) hält Dawes hidrytēs für „a substantial improvement“; vgl. aber dazu Lane (2004, 442), dessen eigene Konjektur alētēs (eigtl. ‚Umherirrender, dann auch: ‚Exilant‘), selbst wenn man die Anwendung des Wortes auf jemanden, der (ortsfest) im Exil lebt, für möglich hält, nicht gut zu ‚furchterregend‘ passt. Im Hinblick auf die den ganzen Vers durchziehenden Anstöße empfiehlt es sich, ihn mindestens ab ‚Wanderer‘ (hoditēs) für korrupt zu erklären oder, besser noch, ihn als ganzen zu streichen, zumal er für den Sinn von Neoptolemos’ Aussage (vgl. zu 144–149) ohne Weiteres fehlen könnte. Der Interpolator wollte wohl, da Philoktet wahrscheinlich wirklich aus der Höhle auftreten wird (vgl. zu 219–390), schon einen Hinweis geben, zerstörte damit aber auch den dramaturgischen Überraschungseffekt. {321} West 1978, 121 – {(da ich ebenso wie du auf schurkische) Männer (traf), die Atreus-Söhne und den mächtigen Odysseus.} – Wenn man den Text so übersetzen könnte wie Lloyd-Jones: „having like you found that the sons of Atreus and Odysseus are evil men“ (ähnlich Schein), ließe sich in der auffälligen weitgehenden Wiederholung von v. 314 vielleicht eine taktische Funktion erkennen, mit der Neoptolemos Philoktet gewinnen will. Aber von der Wortstellung her ist ‚Atreus-Söhne und den mächtigen Odysseus‘ erklärende Apposition zu ‚Männer‘. Eine solche Aussage wäre, wie West zu Recht feststellt, nur sinnvoll, wenn Neoptolemos und Philoktet mit unterschiedlichen moralisch minderwertigen Menschen zu tun hätten. Auch müsste man eine andere Reaktion Philoktets erwarten („why, what have they done to you?“, West a. O.), und es spricht auch gegen die Echtheit von v. 321, dass Philoktet 322 f. Odysseus nicht nennt. Überdies ist das diffuse bloße ‚Übles widerfuhr‘ (320; vgl. OC 1359; Eur. Hek. 1280) für einen Neoptolemos, der sich herantasten und seine Rolle finden muss, psychologisch überzeugender. Vgl. auch TS.

Ergänzende Kommentarbemerkungen (EK)

435

384 ‚vom größten Schurken und Sohn von Schurken, von Odysseus‘: Dawe (2003, 103) will den Vers entweder tilgen (das hätte allerdings Konsequenzen für die anschließenden Verse; vgl. den folgenden Eintrag zu 385– 388) oder – bezogen auf die von Odysseus ausgesprochenen Schmähungen – nach v. 382 einfügen. Letzteres gibt zwar einen guten Sinn, denn Neoptolemos wurde, wie er behauptet, eigentlich von den Atreus-Söhnen der Rüstung Achills beraubt. Aber da es Odysseus war, der angeblich Anspruch auf die Rüstung erhoben hat (372), und Neoptolemos Odysseus als Räuber der Rüstung darstellt (376–381), besteht kein Problem, v. 384 an der überlieferten Stelle zu belassen. {385–388} Nach der Tirade des Neoptolemos gegen Odysseus erscheint dessen Entlastung, die sich an v. 384 anschließt und sein Verhalten und die Kritik daran relativieren soll, unmotiviert, und vor allem lässt sich die Begründung nicht auf Odysseus anwenden: Er ist, wie Neoptolemos gerade gesagt hat (in der überlieferten Versfolge), nicht erst durch die ‚Führer‘ schlecht geworden, sondern bereits durch seine Abstammung schlecht (384). Außerdem soll Odysseus die Rüstung als berechtigten Lohn für seine Tapferkeit angesehen haben, erhebt also selbst Anspruch darauf und folgt nicht der Anweisung eines ‚Lehrers‘ (372 f.). Die Verse stammen mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem Interpolator, der mit (allerdings unpassenden) Mitteln eine Überleitung zu den Atreus-Söhnen (389) herstellen wollte. Dabei hat er verkannt, dass Neoptolemos’ Rede bei der Auseinandersetzung mit ihnen ansetzt (363–370) und mit diesen endet (389 f.), wodurch der Schlagabtausch mit Odysseus gerahmt wird. Vgl. zur Unechtheit dieser Verse (mit teilweise anderen Argumenten) Reeve 1973, 168 f.; Fraenkel 1977, 53–55 (dazu Ll.-J./W.1); Ll.-J./W.1+2. Anders Pucci, Schein, die die Verse beibehalten. 391–392 Während eine Identifikation Kybeles mit Rhea auch sonst ausdrücklich bezeugt ist (Eur. Bacch. 128 f.; Philodem, De pietate, p. 23,11–17 Gomperz [= fr. 764 + 809 PMG; vgl. zum Text Wilamowitz 1898, 521 f.], der sich auf Telestes beruft; Apollonios Rhodios 1,1139), ist die Gleichsetzung mit Gaia wohl hauptsächlich durch die ebenfalls bezeugte Identifikation mit Demeter zu erklären (Philodem, ebd., mit Berufung auf Melanippides), die ihrerseits als ‚Erde‘ verstanden werden konnte (Eur. Bacch. 275 f.). Unmittelbar als Gaiē angeredet wird Kybele in der Anthologia Palatina 6,51,1. Vgl. zu Kybele allgemein (und zu ihrer Verehrung im Metroon auf der Agora in Athen) Versnel 1990, 105–111. Warum wird ausgerechnet Kybele angerufen? Verschiedentlich wird ein Zusammenhang damit gesehen, dass in Bezug auf Lemnos von einer ‚Großen Göttin‘ die Rede ist (Aristophanes, fr. 384 K.-A.; Stephanos von Byzanz s. v. Lemnos), der auch Jungfrauen geopfert worden seien (so Stephanos). Nach Stephanos wurde sie ‚Lemnos‘ genannt. Ihre Identität mit Kybele ist jedoch höchst zweifelhaft (vgl. Wilamowitz 1931, 85 Anm. 1), und der Chor der Seeleute will sagen, dass er auch jetzt, auf den Bericht des Neoptolemos hin, in derselben Empörung über das Verhalten der Atreus-Söhne Kybele anruft wie schon vor Troia (vgl. zu 394); da gab es aber keine Verbindung zu Lemnos.

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Gegen diese spricht auch die Hervorhebung von Kybeles lydischer Heimat (393), was eher zu einer Anrufung vor Troia passt. Vielleicht wollte Sophokles die Falschaussage der Seeleute, wo „Das Heiligste … Mittel des Verrats“ wird (Reinhardt 1947, 180), lieber nicht mit einer zentralen griechischen Gottheit verbunden sehen (vgl. auch Gardiner 1987, 24 f.), wo doch der (handlungsinternen) Realität nach alles vom Ratschluss des Zeus abhängt (1415), und ließ den Chor dafür Kybeles Bedeutung umso mehr herausstreichen. – Wenn die Anrufung der Gottheit durch den Chor auch nicht die Qualität eines förmlichen Eides hat (vgl. Stokes 1988, 158 f.), so muss sie doch für Philoktet als Bekräftigung der Lügengeschichte des Neoptolemos wirken. 416 Die Frage, warum Philoktet Diomedes ebenso wie Odysseus negativ beurteilt, ist nicht leicht zu beantworten. Ein Grund könnte sein, dass Sophokles ihn das vor dem Hintergrund der Tradition sagen lässt, dass Odysseus und Diomedes mehrfach gemeinsame Sache gemacht haben. Vgl. den Spähgang in Ilias 10; den Mord an Palamedes (Kypria fr. 30 Bernabé = 27 West 2003); den Raub des Palladions (Ilias Parva, Argumentum 1, p. 75,17 f. Bernabé = pp. 122 f. West 2003). Vielleicht lässt Sophokles ihn aber auch gleichsam die der Figur Philoktet eigentlich unbekannte Tradition über ihn selbst assoziieren. Denn nach der Ilias Parva (Argumentum 1, p. 74,7 Bernabé) hat Diomedes Philoktet von Lemnos nach Troia gebracht, nach Euripides’ Philoktet waren es Odysseus und Diomedes gemeinsam (T iv [c], 13 f. Kannicht). – Die negative Einstellung zu Diomedes ‚bewahrheitet‘ sich in den Ausführungen des ‚Kaufmanns‘ (592), die so dramenintern vorbereitet werden. {1218–1221} Diese Verse sind sehr wahrscheinlich unecht; vgl. Taplin 1971, 39–44. Denn es ist kaum vorstellbar, dass Philoktet die an ihn gerichteten (‚dich‘, 1219) Worte des Chorführers gehört hätte und trotzdem in die Höhle gegangen wäre. Vielmehr hört er sie nicht und rechnet entsprechend, als er wieder aus der Höhle herauskommt, nur mit dem Chor (1263 f.), ist überrascht, Neoptolemos zu sehen (1265 f.), und fragt auch nicht, wo denn der vom Chorführer angekündigte Odysseus sei, der für ihn – später – ebenfalls unerwartet auftaucht (1295 f.). Der Chor kündigt also auf leerer Bühne den Auftritt von Personen an, eine Information, die er normalerweise einem Gegenüber gibt (vgl. z. B. 539–541). Das Publikum ist in der Tragödie nie unmittelbarer Adressat und braucht überdies an dieser Stelle die Information nicht, da es Odysseus und Neoptolemos bereits kennt. Wenn der Verfasser dieser Verse davon ausging, dass Philoktet noch nach v. 1217 auf der Bühne sei (so Taplin a. O. 43), kann er wegen der vv. 1263–1266 und 1295 f. nicht Sophokles gewesen sein. Sollte der Verfasser angenommen haben, dass Philoktet nicht mehr auf der Bühne war, wollte er wohl die Besonderheit überspielen, dass sich die Ankündigung an niemand Anwesenden richtet, und lässt sie Philoktet gewissermaßen hinterherrufen. Aber ein solches Hinterherrufen wäre bei einer trivialen Auftrittsankündigung ganz unüblich (vgl. Taplin a. O. 42 mit Anm. 39). Auch bei dieser Annahme ist Sophokles als Verfasser der Verse unwahrscheinlich. Im Übrigen könnte der Chor auch nicht selbst entscheiden, (endgültig) wegzugehen, da er den Auftrag hat zu bleiben,

Ergänzende Kommentarbemerkungen (EK)

437

bis er gerufen wird (1075–1080). Daher deutet vieles darauf hin, die Verse mit Taplin, Lloyd-Jones / Wilson und Dawe zu athetieren (anders Ussher; Pucci; Schein, die den Text halten). {1358–1361} Dawe (1978, 133 f. u. Ausgabe) hat diese Verse athetiert, und dafür sprechen gute Gründe: Die uneingeschränkte Aussage Philoktets, der Schmerz über das Vergangene quäle (wörtl. ‚beiße‘) ihn nicht, er sorge sich aber in Bezug auf Zukünftiges, steht in Gegensatz zu der Überlegung in den Versen davor und kann diese nicht begründen (wie in den vorangehenden Versen bleibt auch im Folgenden Philoktets Denken für sich und Neoptolemos ganz vergangenheitsbezogen). Denkbar wäre allenfalls (wie häufig auch übersetzt wird) eine einschränkende Fortsetzung in Philoktets Argumentationsgang: ‚Indes, das Vergangene quält mich nicht so sehr wie das zukünftig zu erwartende Leid‘, aber die Verse werden als Begründung eingeführt, und die Negation in Bezug auf das Vergangene ist absolut. Auch die sentenzartige Begründung für das zu erwartende Leid (1360 f.) ergibt in der überlieferten (und so übersetzten) Form keinen wirklich befriedigenden Sinn. Abgesehen von den sprachlichen Problemen (vgl. zu den zahlreichen Konjekturen noch Ll.-J./W.2) müsste man annehmen, dass Philoktet nach dem starken Motiv des befürchteten Ehrverlustes das der Angst vor weiteren Untaten der charakterlich schlechten Atreus-Söhne und Odysseus nachschöbe. Fehlen dagegen die vv. 1358–1361, schließen sich die vv. 1362 ff. nahtlos an die vv. 1354–1357 an: Nachdem Philoktet es für sich als unaushaltbar erklärt hat, mit den AtreusSöhnen und Odysseus, die ihm Unrecht getan haben, zusammen zu sein, sieht er nicht, wie Neoptolemos mit ihnen, die ihm – nach seiner Aussage (363 ff.) – die Rüstung seines Vaters vorenthalten haben, in Troia gemeinsam kämpfen kann und will. 1402–1403 Der Text dieser Verse bereitet einige Probleme: In v. 1402 liegt eine metrische Besonderheit vor (vgl. TS), und in v. 1403 ist die Bedeutung der ersten Hälfte nicht völlig eindeutig zu bestimmen. Die hier gegebene deutsche Übersetzung versteht den Text als Hilfsangebot des Neoptolemos, aber sie ist nicht absolut sicher (vgl. TS). Inhaltlich ist auffällig, dass Neoptolemos, dessen Absicht es doch überhaupt nicht entspricht, Philoktet nach Hause und nicht nach Troia zu bringen, nicht gleich Bedenken äußert, sondern sofort und bedingungslos zustimmt und sich darum kümmert, Philoktet den raschen Aufbruch zu erleichtern, was bei der Aufforderung in v. 1408 dann aber keine Rolle mehr zu spielen scheint. Es ist daher nicht auszuschließen, dass die Verse unecht sind, auch wenn man über die metrische Anomalie hinwegsieht (vgl. Dawe; TS). Denn v. 1404 könnte sich gut an die letzten Worte Philoktets anschließen: Philoktet möchte nach Hause gebracht werden, und Neoptolemos, der das nie ausdrücklich versprochen hatte, reagiert verständlicherweise zunächst darüber besorgt, welche Konsequenzen das für die Sicherheit seines Landes haben werde, um erst, als Philoktet die Bedenken ausgeräumt hat, zuzustimmen – indem er dabei ausdrücklich auf Philoktets Zusicherung als Bedingung verweist (1407 f.).

Ergänzende textkritische und sprachliche Erläuterungen (ETS) Damit auf einigen Seiten die textkritischen und sprachlichen Erklärungen unter dem Text nicht einen allzu großen Raum einnehmen, stehen die Ausführungen zu eingehender zu diskutierenden Textproblemen hier im Anhang. 23 χῶρον πρὸς αὐτὸν τόνδ’ ἔτ’, εἴτ’ ἄλλῃ κυρεῖ, πρὸς αὐτὸν Hss. : τὸν αὐτὸν Blaydes : προσάντη Tournier – Eine genaue Parallele für die Verbindung ἔχει πρός gibt es nicht (vgl. Schein), aber doch ähnliche Ausdrücke (vgl. El. 930 f. τοῦ γὰρ ἀνθρώπων ποτ᾿ ἦν / τὰ πολλὰ πατρὸς πρὸς τάφον κτερίσµατα; Pindar, Pythien 1,72 κατ᾿ οἶκον … ἔχῃ, Herodot 6,39,2 εἶχε κατ᾿ οἴκους), die es nahelegen, die Überlieferung zu halten (vgl. auch Ll.-J./W.2), anders Günther 1996, 122–125. Tourniers προσάντη stellt keinen plausiblen Gegensatz zu αὐτὸν τόνδ’ dar. Blaydes’ τὸν αὐτὸν scheint eine einfache Lösung zu bieten (das überlieferte πρὸς mechanisch von προσελθὼν [22] eingedrungen?), aber der Platz von Philoktets Behausung ist noch nicht identifiziert, und daher kann Odysseus nicht gut fragen, ob sich Philoktet noch an ‚demselben Platz hier‘ aufhalte (die deiktische Funktion von τόνδ’ wäre dann schwierig), sondern eher: an ‚ebendiesem‘ (sc. wie er ihn beschrieben hat; gedankliche, nicht sinnliche Deixis). 42 κῶλον παλαιᾷ κηρὶ ποσὶ βαίη µακράν; ποσὶ βαίη Dawe 2010, 408 (mit Verweis auf LSJ s. v. πούς 2) : προσβαίη Hss. : προστείχοι Herwerden : προσκάζοι Jebb – An προσβαίνω ist sowohl προσ(statt des metrisch nicht möglichen προ-) als auch der fehlende Ortsakkusativ (der durch µακράν nicht ersetzt werden kann) anstößig, vgl. Ll.-J./W.1 (anders Schein). ποσὶ ist zwar neben κῶλον nicht ganz einfach und scheint auch bei Homer meist nicht rein pleonastisch zu Verben der Bewegung hinzugefügt zu werden, aber gerade die Betonung der Probleme, die Philoktet mit dem Gehen hat, könnte den Homerismus rechtfertigen (denkbar wäre auch πόδα, Eur. El. 94; 1173, aber aus ΠΟΣΙ konnte eher ΠΡΟΣ entstehen). Herwerdens προστείχοι gibt zwar einen guten Sinn, jedoch ist nicht leicht zu erklären, wie προστείχοι zu προσβαίη geworden sein soll. 105 ἰοὺς ἀφύκτους καὶ προπέµποντας φόνον. ἰούς Hss. : ἰούς ⟨γ’⟩ Dobree (Dawe; Ll.-J./W.; Schein) – Auch wenn Neoptolemos mit ἰσχύς die körperliche Stärke Philoktets gemeint haben sollte, sieht Odysseus die Stärke durch die Pfeile gegeben. Die Frage ist nur, ob er sagt: ‚Ja (γε, GP 130 f.), er hat unbezwingliche Pfeile‘ oder (ohne γε) lakonisch auf die Macht der Pfeile verweist. Ersteres ist sicher möglich, aber, wie Jebb mit

Ergänzende textkritische und sprachliche Erläuterungen (ETS)

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Recht sagt, ist γε „not indispensable, and by its absence the reply gains a certain abrupt force“. 111 Zu εἰς und ἐς: Die attische Form εἰς ist, wo metrisch passend, ἐς vorzuziehen. Im Folgenden wird daher, wo möglich, immer εἰς gewählt (ausgenommen bei dem in der Dichtung formelhaften ἐς Τροίαν), einhellig überliefertes ἐς jedoch nicht geändert, wenngleich zweifelhaft ist, ob Sophokles diese Form benutzt hat, wenn sie metrisch nicht notwendig ist (vgl. West 1990, XLI). 116 θηρατέ’ οὖν γίγνοιτ’ ἄν, εἴπερ ὧδ’ ἔχει. θηρατέ’ οὖν Trikl. : θηρατέα (Hss.) : θηρατέα γοῦν : θηρατέ’ ⟨ἂν⟩ Elmsley – Bei der Lesart θηρατέα fehlt im Vers eine Länge. Das paläographisch einfachere θηρατέ’ ⟨ἂν⟩ ist möglich (zum zweimaligen ἄν vgl. Diggle 1974, 6; 1981, 47), das ausdrücklich folgernde οὖν wird dem Kontext aber besser gerecht (vgl. auch Jebb; Dawe 1978 III, 51, der sich jedoch in seiner Ausgabe [1996] für θηρατέ’ ⟨ἂν⟩ entscheidet). 147 {δεινὸς ὁδίτης τῶνδ’ ἐκ µελάθρων,} {δεινὸς … µελάθρων} (alternativ: δεινὸς † ὁδίτης τῶνδ’ ἐκ µελάθρων †) Manuwald : δεινὸς ὁδίτης τῶνδ’ ἐκ µελάθρων Hss. : δεινὸς ὁδίτης τῶνδ’ οὑκ µελάθρων Linwood : δεινὸς ἱδρυτὴς τῶνδε µελάθρων Dawe 1978, 23–25 : δεινὸς ἀλήτης τῶνδ’ οὑκ µελάθρων Lane 2004, 442 : δεινὸς ἱδρυτὴς {τῶνδ’ (ἐκ) µελάθρων} Sommerstein 1982, 34 f. – Der Ausdruck (µόλῃ, 146) τῶνδ’ ἐκ µελάθρων ist zwar a l s s o l c h e r nicht anstößig (vgl. Eur. Cycl. 491 χωρεῖ πετρίνων ἔξω µελάθρων [poetischer Plural]), vgl. aber Komm. zur inhaltlichen Problematik des Verses (EK, S. 433 f.). Das Scholion (zu 144) zieht τῶνδ’ ἐκ µελάθρων zum Folgenden: νῦν µέν, φησίν, εἰσελθὼν ὅρα τὸν τόπον ἐπὰν δὲ ἔλθῃ τότε σὺ τῶν µελάθρων ἀποστὰς ὑπηρέτει µοι πρὸς τὴν παροῦσαν χρείαν. Aber abgesehen von der inszenatorischen Unwahrscheinlichkeit, dass die Choreuten an die Höhle herantreten oder gar in sie hineingehen, versteht der Chor offensichtlich Neoptolemos nicht so, dass er die Höhle betreten solle, sondern erkundigt sich gleich danach erst nach den Gegebenheiten (152–158), und τῶνδ’ ἐκ µελάθρων lässt sich nicht sinnvoll mit προχωρῶν (148) verbinden, welches den üblichen Standort des Chors voraussetzt (anders Robinson 1969, 38 f., der die Deutung des Scholions verteidigt). Gegen Linwoods οὑκ hat sich Dawe (1978, 124) mit Recht gewandt: „The language is pedantic (and the word order highly unusual). No other dread wayfarer is in our minds.“ οὑκ ist jedoch von Ll.-J./W. und Schein (zu 146–7) übernommen worden. 166 πτηνοῖς ἰοῖς στυγερὸν στυγερῶς, στυγερὸν στυγερῶς Hss. : σµυγερὸν σµυγερῶς Brunck : µογερὸν µογερῶς Blaydes – στυγερός kann nicht nur ‚verhasst‘ heißen, sondern auch ‚elend‘, ‚unglückselig‘ (vgl. Ant. 144), hier geht es dem Zusammenhang nach um die Mühseligkeit der Nahrungsbeschaffung; σµυγερός (das nicht vor Apollonios Rhodios belegt ist) ~ µογερός hätte kaum vom Scholiasten mit ἐπιµόνως (womit ἐπιπόνως gemeint sein muss) erklärt werden müssen; vgl. auch Jebb, Kamerbeek. Schein, der Bruncks Konjektur (mit gewissem Vorbehalt) übernimmt, verweist auf Tr. 1015 f. (βίου … τοῦ στυγεροῦ), wo der Scholiast die

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Anhang

Umschreibung τοῦ µοχθηροῦ βίου hat. Zur sprachlichen Figur vgl. z. B. 1369 κακῶς … κακούς, OT 479 µέλεος µελέῳ und Bruhn § 223 II. 189–190 Ἀχὼ τηλεφανὴς πικρᾶς / οἰµωγᾶς ὕπο κλαίει. πικρᾶς οἰµωγᾶς Hss. : πικρὰς οἰµωγὰς Musgrave, Irigoin, Willink 2003, 84, u. a. : πικραῖς οἰµωγαῖς Ast | ὕπο κλαίει Manuwald : ὑπόκειται Hss. : ὑποχεῖται Musgrave, Irigoin, Willink 2003, 84 : ἀπόκειται Lane 2004, 442 f. : ὑπακούει Auratus – Das überlieferte πικρᾶς οἰµωγᾶς ὑπόκειται ist nicht haltbar, zumal ὑπόκειµαι „totally unknown in Greek poetry“ (Jackson 1955, 207) ist. Die Emendationsversuche sind zahlreich (vgl. Jebb, S. 236; Jackson, ebd.). Wahrscheinlich ist eine Wendung, die besagt, dass Echo irgendwie auf die Äußerungen Philoktets reagiert. Diese Annahme macht Emendationen wie πικρὰς οἰµωγὰς ὑποχεῖται (Musgrave, Irigoin, Willink 2003, 84) oder ὑποκλαίει (Pflugk) oder ὑποτάκει (Jackson, ebd. 207 f.; vgl. dazu Ll.-J./W.1) oder ὑποτείνει (Viketos 1987, 35; Günther 1996, 129 f.) unwahrscheinlich, bei denen die Nominalphrase als Akkusativ akzentuiert wird und die Lautäußerung jedenfalls dem Wortlaut nach allein von Echo ausgeht (der anscheinend einzige Beleg für mediales ὐποχέοµαι [Oppian, Halieutika 1,740] spricht nicht dafür, dass πικρὰς οἰµωγὰς ὑποχεῖται heißen könnte „ ‘responsively gives forth bitter woe-cries’ “, wie Willink meint). Bei Lanes Konjektur (das Wort bei Sophokles sonst nur OC 1752 in anderer Bedeutung) antwortet dagegen Echo überhaupt nicht („But Echo … is out of the reach of Philoctetes’ bitter lament“); damit wird der Sinn der Stelle verkannt, dass Philoktet statt menschlicher Kommunikation nur (das personifizierte) Echo hat (vgl. 1458–1460). Daher wäre zu erwägen, πικρᾶς οἰµωγᾶς ὕπο κλαίει zu lesen. Vgl. Xenophon, Kyrupädie 5,1,12 κλαίοντας ὐπὸ λύπης, nur dass Echo nicht aufgrund eigener Emotion klagt, sondern ihre Klage indirekt durch den Wehruf Philoktets ausgelöst ist. Wenn man annimmt, dass Sophokles (in scriptura continua) ΟΙΜΩΓΑΣΥΠΟΚΛΑΙΕΙ schrieb, könnte die Zeichenfolge falsch als οἰµωγᾶς ὑποκλαίει umgeschrieben worden sein. ὑποκλαίειν ist ein erst ab dem 4. Jh. n. Chr. belegtes Verb (ὑποκλαίων in Aisch. Ag. 69 ist korrupt und wird zu ὑποκαίων emendiert), das deswegen vielleicht im Laufe der Überlieferung durch ein bekanntes ersetzt wurde. Einen guten Sinn ergibt auch eine Kombination der Emendationen von Ast und Auratus: πικραῖς οἰµωγαῖς ὑπακούει (zur Bedeutung von ὑπακούει vgl. Homer, Odyssee 4,283; 10,83 [Jebb]). Jedoch ist der Eingriff in die Überlieferung recht stark. Das gilt noch mehr für οἰµωγαῖσιν ὑπαχεῖ (Emperius; Avezzù). 206 φθογγά του στίβον κατ’ ἀνάγ- / καν στίβον : στίβου – vgl. 1223 κέλευθον ἕρπεις, K.-G. I 312, 5. Die Lesart στίβου ist eher eine fälschliche Anpassung an του, als dass στίβου von κατ᾿ ἀνάγκαν abhängig wäre („ ‘in the constraint of walking’ “, Kamerbeek). Schein führt als sachliche Erklärung dafür, στίβου von κατ᾿ ἀνάγκαν abhängig zu machen („painful constraint of moving“), die vv. 215 f. πταίων ὑπ᾿ ἀνάγκας an; aber diese Wendung ist gerade ein Argument dafür, κατ᾿ ἀνάγκαν mit dem Verb zu verbinden.

Ergänzende textkritische und sprachliche Erläuterungen (ETS)

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209 τρυσάνωρ διάσηµα γαρύει. γαρύει (ῡ wie [Aisch.] PV 78) Willink 2003, 85 : γὰρ θροεῖ (Hss.) : γὰρ θρηνεῖ Dindorf : θροεῖ γάρ Trikl. : {γὰρ} θρηνεῖ Ll.-J./W. – Die überlieferten Enden der vv. 209 -µα γὰρ θροεῖ (⏑ ‒ ⏑ ‒) und 218 γάρ τι δεινόν (‒ ⏑ ‒ ‒) respondieren nicht, und die Versuche mit einer Änderung in nur einem Vers auszukommen, erweisen sich als sachlich unpassend (Lachmanns αἴλινον in v. 218; anders Schein zu 218) oder sind metrisch bedenklich. Trikl.’ -µᾱ θροεῖ γάρ (akzeptiert von Kamerbeek) erfordert eine Längung vor anlautender Muta + Liquida, was zumindest in lyrischen Vermaßen bei Sophokles zweifelhaft ist. Wunders τι γὰρ ergibt Responsion, wenn man am Versende die Responsionsfreiheit ‒ ⏓ ‒ für zulässig hält. So Stinton 1977, 132, dessen Beleg Eur. Med. 159 ~ 183 aber in v. 159 die (zwar zumeist überlieferte) Lesart εὐνέταν (‒ ⏑ ‒) voraussetzt; dort liest jedoch Mastronarde 2002, 197 mit Verweis auf Itsumi 1984, 78–80 εὐνάταν (‒ ‒ ‒). Von den Konjekturen, die in beide Verse eingreifen, ist Ll.-J./W.s (vgl. auch Ll.-J./W.1) -µα {γὰρ} θρηνεῖ und τι {γὰρ} δεινόν metrisch überzeugend (es entsteht ein Hipponakteus, dem eine Länge vorausgeht), aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass gleich an zwei sich entsprechenden Stellen ein γάρ eingedrungen sein sollte. Sehr erwägenswert ist Willinks γαρύει in Verbindung mit Wunders τι γὰρ (218); zu γῆρυς für unartikuliertes Wehgeschrei vgl. OT 187; Eur. El. 754. Mit βαρεῖ᾿ ἃ statt βαρεῖα (vgl. TS zu 208) ergibt sich eine glatte Syntax. Die überlieferte Wortfolge γάρ τι (218) könnte aus dem Bemühen entstanden sein, die gewöhnliche Position von γάρ im Satz (GP 95) herzustellen. Alternativ kommt eine Kombination der Konjekturen von Dindorf und Wunder, -µα γὰρ θρηνεῖ (209) und τι γὰρ δεινόν (218) in Betracht (so Dawe). Ai. 582 ist θροεῖν als Variante für θρηνεῖν überliefert, und θροεῖ hier könnte überdies durch προβοᾷ (218) induziert sein. 285 ὁ µὲν χρόνος νυν διὰ χρόνου προὔβαινέ µοι, χρόνου Hss. : πόνου Nauck – Zu χρόνος … διὰ χρόνου vgl. βασιλέα δ᾿ ἐκ τοῦδε χρὴ / ἄλλον δι᾿ ἄλλου (‚einer nach dem anderen‘) διαπερᾶν Μολοσσίας / εὐδαιµονοῦντας (Eur. Andr. 1247–1249), wodurch hier die Bedeutung ‚eine Zeit(phase) nach der anderen‘ gestützt wird; vgl. Ll.-J./W.1, die für die Bedeutung ‚Zeitspanne‘ u.a. auf OT 561 u. 1137 verweisen. Jedoch changiert in v. 285 die Bedeutung zwischen ‚Zeit‘ und ‚Zeitspanne‘; χρόνος … προὔβαινε allein legt eher die Bedeutung ‚Zeit‘ nahe, der Aspekt ‚Zeitspanne‘ kommt erst durch die Erweiterung διὰ χρόνου hinein (ebenso Schein mit Verweis auf v. 758). 699 κατευνάσειεν, εἴ τις ἐµπέσοι ⟨πόθος⟩ εἴ τις ἐµπέσοι ⟨πόθος⟩ Jackson : εἴ τις ἐµπέσοι (Hss.) : οὐδ᾿ εἴ τις ἐµπέσοι : ⟨σπασµὸς⟩ oder ⟨σεισµὸς⟩ εἴ τις ἐµπέσοι Dawe – Wenn in v. 684 ein iambischer Trimeter vorliegt, fehlen im überlieferten Text vom korrespondierenden v. 699 zwei Silben. Außerdem erfordert τις eine nähere Bestimmung. Da ἐµπίπτειν sowohl generell in Bezug auf Übel (bes. Krankheiten) als auch in Bezug auf psychische Affektionen, die einen befallen bzw. überkommen, gebraucht werden kann (LSJ s. v. 3), sind Jacksons und Dawes Konjekturen

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Anhang

gleichermaßen plausibel. Aber folgt man Dawe, ist die weitere Konjektur ἑλών (700) unausweichlich, weil dann nur eine Aktion des hypothetischen Helfers in Betracht kommt. Gleichzeitig ergibt sich ein harter Subjektswechsel: ἑλών bezieht sich auf den Helfer, das unmittelbar folgende εἷρπε (701) auf Philoktet. Das lässt sich vermeiden, wenn man ⟨πόθος⟩ … ἑλεῖν liest, weil dann das zu denkende Subjekt bereits Philoktet ist. Vgl. auch Komm. zu 699–705. 746 ἀπαπαπαῖ Manuwald : ἀπα· παπᾶ· παπᾶ· παπᾶ· παπᾶ· παπαῖ oder ähnlich Hss. : ἀπαππαπαῖ, παπᾶ παπᾶ παπᾶ παπαῖ Hermann : παπαῖ, παπαῖ Dawe (beispielshalber) – Es ist denkbar, dass in ἀπα· παπᾶ· der Ausruf ἀπαπαπαῖ (vgl. Soph. F **411 a 8 Radt) steckt. Ob aber ein ganzer Vers mit Ausrufen (wobei παπᾶ als Ausruf sonst nicht belegt ist) gefüllt war, hat Dawe (1978, 128) mit Recht bezweifelt. Statt seines dreimaligen παπαῖ (745 f.) – es kommt an anderen Stellen nur einfach oder verdoppelt vor (792 f.; Aisch. Pers. 1031; 1114) – ist vielleicht wahrscheinlicher, dass παπαῖ (745) durch ein bloßes ἀπαπαπαῖ (746) gesteigert wurde (weitere Steigerung in 754). Die Herstellung eines iambischen Metrums (ἀπαππαπαῖ) ist nicht notwendig (vgl. 732; 739; 750). 748 ξίφος χεροῖν, πάταξον εἰς ἄκρον πόδα· ἄκρον πόδα] Die Wendung bedeutet gewöhnlich ‚Fußspitze‘ (vgl. z. B. Eur. Ion 1166; Platon, Laches 183 b 4; Hippokrates, De affectionibus 14), könnte aber auch (analog zu ποδοῖν ἀκµάς, OT 1034) das Ende des Beins, d. h. den Fuß, bezeichnen. Dass das obere ‚Ende‘ des Fußes, d. h. der Knöchel, gemeint sein sollte (so Finglass 2009, 223 f.), wird durch Eur. Cycl. 400 (τένοντος ἁρπάσας ἄκρου ποδός) nicht gesichert, da auch hier von der Sehne am Ende des Beins, d. h. am Fuß, die Rede sein kann. Generell gibt ἄκρος einen Extrempunkt an und nicht die Abgrenzung eines Abschnitts in einem Kontinuum. Daher kommt nur ‚Fußspitze‘ (im Sinne des vorderen Teils des Fußes) oder ‚Fuß‘ in Frage. 748 und 824 sind mit beiden Deutungen vereinbar, aber ‚Fußspitze‘ ist näherliegend. 1134 ἀλλ’ ἐν µεταλλαγᾷ ⟨χεροῖν⟩ ἀλλ’ Hss. : ἄλλου δ᾿ Hermann | ⟨χεροῖν⟩ Stinton (nach Hartung) – In der überlieferten Form korrespondieren die vv. 1134 und 1157 nicht, sodass an einer oder an beiden Stellen geändert werden muss. Meist wird in v. 1134 ἄλλου δ᾿ (Hermann) gelesen, aber es ist sehr zweifelhaft, ob ἄλλου δ᾿ ἐν µεταλλαγᾷ heißen kann ‚im/durch den Wechsel zu einem anderen‘ und ob die Responsion ‒ ‒ ‒ (1134) / ⏑ ‒ ‒ (1157) zulässig ist, ganz abgesehen von der Konstruktion von ἐρέσσῃ (1135) ‚im/durch den Wechsel zu einem anderen … wirst du geführt‘ (vgl. Stinton 1977, 137). Demgegenüber ist ⟨χεροῖν⟩ zusammen mit ⟨γε⟩ in 1157 zwar die größere Änderung, ergibt aber einen ungleich sinnvolleren Text; außerdem ist die scharfe Entgegensetzung οὐκέτι (1133) – ἀλλ’ (1134) dem Gedankengang angemessen und wirkt daher ursprünglich. 1251 ξὺν τῷ δικαίῳ τὸν σὸν οὐ ταρβῶ φόβον. φόβον Hss : † φόβον † Dawe : στρατόν Hermann (mit Annahme einer Lücke danach) : ψόφον Fröhlich – zu φόβος „object or cause of terror“ (LSJ s. v. II. 2) vgl. OT 917; OC 1652. Zwar ist es denkbar, dass στρατόν durch Zeilensprung

Ergänzende textkritische und sprachliche Erläuterungen (ETS)

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ausgefallen wäre und φόβον an das Ende eines nach 1251 ausgefallenen Verses gehört (so Jackson 1955, 242 D.), aber das Heer der Achaier als ‚dein Heer‘ zu bezeichnen ist weniger passend als zu sagen, ‚das, womit du mir Schrecken einjagen willst, fürchte ich nicht‘. – Da nach v. 1251 weder eine Unterbrechung der Stichomythie zu erwarten ist, noch – im überlieferten Text – Odysseus Gewalt von eigener Hand angedroht hatte, auf die Neoptolemos mit v. 1252 reagieren könnte, darf die Annahme einer Lücke als sicher gelten. Sehr gut ist denkbar, dass der ausgefallene Vers etwa lautete ξὺν τῷ δικαίῳ χεὶρ ἐµή σ᾿ ἀναγκάσει, sodass Odysseus mit seinem Begriff von Gerechtigkeit replizierte und der identische Versanfang den Ausfall erklärte (Jebb). Gronewald (1982, 249 f.; vgl. auch Stokes 1990, 20–23) möchte ohne Lücke nach v. 1251 auskommen und ordnet die Verse in der Folge 1251, 1253, 1254, 1252, 1255, wobei 1255 a die durch 1252 unterbrochene Aussage des Odysseus in 1254 b fortsetzt. χειρὶ in 1252 beziehe sich auf Odysseus’ Drohung mit dem Heer in 1251. Aber das ist nach dem bei Gronewald in v. 1252 vorausgehenden χεῖρα δ ε ξ ι ὰ ν ganz unwahrscheinlich. Außerdem schließt sich v. 1253 besser an v. 1252 als an v. 1251 an.

Metrische Analysen Im Folgenden wird eine Übersicht über die vorkommenden Metren und Versmaße gegeben sowie eine Analyse der chorischen Partien. Zu grundsätzlichen Fragen der Metrik und zu detaillierteren Erläuterungen der einzelnen Versmaße vgl. West 1982. Zeichen lange Silbe (kann in vielen Fällen durch ⏑⏑ ersetzt werden) kurze Silbe syllaba anceps, lange oder kurze Silbe brevis in longo, kurze Silbe am Ende einer Periode, wo das Metrum 𝄑 an sich eine Länge erfordert1 ◯◯ Aeolische Basis: ‒ ‒ oder ⏑ ‒ oder ‒ ⏑, aber nicht ⏑ ⏑ ̭ fehlendes Element am Anfang (Akephalie) oder Ende (Katalexe) einer Periode sync synkopiert: ein Element im Inneren fehlt ÷ Anaklasis (Austausch von langen und kurzen Elementen in einem Metrum oder Kolon) ¨ bezeichnet bei Anaklasis die frühere oder spätere Stellung der Doppelkürze 2, 3 … Dimeter, Trimeter … ⁝,: übliche Zäsurstellen, d. h. Stellen, an denen Wortende erstrebt ist (nach dem Grad der Häufigkeit differenziert) ͡ Brücke (zwischen zwei so bezeichneten Elementen normalerweise kein Wortende) | gefordertes Wortende ‖ Periodenende (Angaben ausschließlich nach metrisch-prosodischen Kriterien, wie brevis in longo oder Hiat) ||| Strophenende ‒ ⏑ ×

1

Wenn die kurze Endsilbe geschlossen ist, wird im Folgenden bei Strophenende oder Sprecherwechsel eine Länge notiert; vgl. vv. 158; 218; 690b; 864; 1139; 1176; 1190.

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Metrische Analysen

Sprechverse 3 ia × ‒ ⏑ ‒ × ⁝ ‒ ⏑ : ‒ ⏒͡ ‒ ⏑ ‒ ‖

Iambischer Trimeter mit den üblichen (nach Häufigkeit unterschiedenen) Zäsurstellen; gelegentlich kommt Mittelzäsur vor 4 tr ̭ ‒ ⏑ ‒ ⏒͡ ‒ ⏑ ‒ ×|‒ ⏑ ‒ ⏒͡ ‒ ⏑ ‒ ‖ Katalektischer Trochäischer Tetrameter mit Mitteldihärese Das Versmaß der Sprechverse im Philoktet ist durchweg der Iambische Trimeter, nur die vv. 1402–1408 weisen Trochäische Tetrameter auf. In beiden Sprechversmaßen können mit bestimmten Einschränkungen Längen durch zwei Kürzen ersetzt werden (das ist bei Sophokles im Iambischen Trimeter in ca. jedem 20. Vers der Fall) und kann im letzten langen Element eine kurze Silbe stehen (brevis in longo). Bauelemente der Chorpartien Metren ia tr da sp an cr ba ion cho mol

×‒⏑‒ ‒⏑‒× ‒⏔ ‒‒ ⏔⏕⏔⏕ ‒⏑‒ ⏑‒‒ ⏑⏑‒‒ ‒ ⏑⏑ ‒ ‒‒‒

Iambus Trochäus Daktylus Spondeus Anapäst Creticus Bakcheus Ionikus Choriambus Molossus

‚Äolische‘ Maße2 gl ◯◯ ‒ ⏑⏑ ‒ ⏑ ‒ ‖ Glykoneus3 ¨gl ‒ ⏑⏑ ‒ × ‒⏑ ‒ ‖ anaklastischer Glykoneus4 2 3 4

Hier sind nur die Maße aufgeführt, die den charakterischen Chroriambus enthalten; zu weiteren Formen vgl. West 1982, 30 f. Einige aus seiner Aufstellung sind weiter unten unter ‚Aus Iamben, Ionikern und Anapästen abgeleitete Maße‘ eingeordnet. Am Ende des Kolons kann statt ‒ ⏑ ‒ auch ‒ ‒ ‒ vorkommen. Vgl. West 1982, 19; 116 („drag“). Vgl. vv. 1128 / 1151. Das gilt auch für Asklepiadeen (vgl. vv. 706ff. / 718ff.) und Dodrans (vgl. 713 / 725); vgl. auch 1192. Choriamben mit vier weiteren Elementen danach (¨gl) oder davor (gl¨) werden vielfach als ‚choriambische Dimeter‘ bezeichnet. Der Ausdruck ist unglücklich, da es sich nicht um Dimeter handelt; vgl. Snell 1982, 37. Charakteristisch für diese Kola ist eher die den Glykoneus kennzeichnende Asymmetrie. Sie werden daher hier als anaklastische Glykoneen notiert; vgl. West 1982, 193 (s. v. Choriamb); 195 (s. v. Glyconic). Der Einfachheit halber wird unter ¨gl auch die Form ‒ ⏑ ⏑ ‒ ‒ ⏑ ‒ ‒ (1181) subsumiert.

446

Anhang

◯◯ ‒ × ‒ ⏑⏑ ‒ ‖ anaklastischer Glykoneus (Wilamowitzianus)5 ◯◯ ‒ ⏑⏑ ‒ ‒ ⏑⏑ ‒ ⏑ ‒ ‖ Asklepiadeus minor (= gl erw. durch cho) ◯◯ ‒ ⏑⏑ ‒ ‒ ⏑⏑ ‒ ‒ ⏑⏑ ‒ ⏑ ‒ ‖ Asklepiadeus maior (= gl erw. durch 2 cho) hipp ◯◯ ‒ ⏑⏑ ‒ ⏑ ‒ ‒ ‖ Hipponakteus (= gl ‒) hipp¨ ◯◯ ‒ × ‒ ⏑⏑ ‒ ‒ ‖ anaklastischer Hipponakteus (= gl¨ ‒) hag × ‒ ⏑⏑ ‒ ⏑ ‒ ‒ ‖ Hagesichoreus (= ̭hipp), vgl. West 1982, 30 hag¨ × ‒ ⏑ ‒ ⏑⏑ ‒ ‒ ‖ anaklastischer Hagesichoreus (= ̭hipp¨) pher ◯◯ ‒ ⏑⏑ ‒ ‒ ‖ Pherekrateus (= gl ̭) tl × ‒ ⏑⏑ ‒ ⏑ ‒ ‖ Tellesileus (= ̭gl) reiz × ‒ ⏑⏑ ‒ ‒ ‖ Reizianum (= ̭gl ̭) dod ‒ ⏑⏑ ‒ ⏑ ‒ ‖ Dodrans (= ̭ ̭gl) ar ‒ ⏑⏑ ‒ ⏑ ‒ ‒ ‖ Aristophaneus (= ¨gl ̭) phal ◯◯ ‒ ⏑⏑ ‒ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ‒ ‖ Phalaekeus (= gl + ia ̭) gl¨ glc gl2c

Daktyloepitriten D ‒ ⏑⏑ ‒ ⏑⏑ ‒ e ‒⏑‒ E ‒⏑‒×‒⏑‒ d1 ‒ ⏑⏑ ‒

= ‚Hemiepes‘: daktylischer Hexameter bis zur Zäsur Penthemimeres (kann auch um einen Daktylus erweitert sein: D2) =  Creticus = e×e Choriambus, gilt bei Daktyloepitriten aber als Kurzform von D

Anapäste 2 an ⏔ ⏕ ⏔ ⏕ | ⏔ ⏕ ⏔ ⏕ ‖ ‚Marschanapäste‘, die rezitiert werden und im attischen Dialekt gehalten sind. Aus Iamben, Ionikern und Anapästen abgeleitete Maße lek ‒ ⏑ ‒ × ‒ ⏑ ‒ Lekythion (= Teil eines Iamb. Trimeters [ab der zweiten Zäsurstelle]) ith ⏕ ⏑ ⏕ ⏑ ‒ × Ithyphallikus (kann als katalektische zweite Hälfte eines Iamb. Trimeters verstanden werden; zu Auflösungen vgl. West 1982, 97) pe × ‒ ⏑ ‒ ‒ Penthemimer ana c ⏑ ⏑ ‒ ⏒ ‒ ⏑ ‒ ‒ ‖ Anacreonteus (= 2 io÷) par ⏒⏑⏒ ‒ ⏔ ‒ ⏑⏑ ‒ ‒ ‖ Parömiakus Dochmien δ ⏑‒‒⏑‒ hδ ‒ ⏑ ‒ ⏑ ‒ kδ × ‒ ⏑ ‒ ⏑ ‒

5

S. Anm. 4.

Dochmius (Grundform, jedoch kann ‚⏑‘ durch ‚‒‘ und ‚‒‘ durch ‚⏑⏑‘ ersetzt werden) Hypodochmius Dochmius kaibelianus

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Metrische Analysen

Analyse der Chorlieder Für die Chorlieder gilt, dass jeweils Strophe (στρ.) und Gegenstrophe (ἀντ.) zwar einen unterschiedlichen Text, aber dieselbe Melodie und Metrik haben. Wegen der (sogenannten) Responsionsfreiheiten kann da, wo es die jeweiligen Versmaße zulassen, z. B. in der Strophe eine Länge stehen, in der Gegenstrophe dafür zwei Kürzen (z. B. 1131/1154) oder in der Strophe eine Kürze, in der Gegenstrophe eine Länge (z. B. 136/151). Parodos (135–218) 135/150 136/151 137/152 137-8/152-3 138-9/153-4 140/155 141/156 142/157 143/158

⏑‒⏑‒ ⏑‒⏑‒ ⏑‒ ⏑‒ ⏒‒‒⏑⏑‒⏑‒ ⏑‒‒ ‒⏑‒ ⏑‒‒⏒‒⏑⏑‒ ‒‒ ‒‒‒⏑⏑‒⏑‒‒ ⏑‒‒⏑⏑‒⏑‒ ⏒ ‒⏑‒⏑⏑‒⏑‒ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ‒ |||

144–148 149

2 an par

159 160 161–166 167 168

2 an an 2 an an par

169/180 170/181 171/182 172/183 173/184 174/185 175-6/186-7 177/188 178/189 179/190

‒‒‒⏑⏑‒⏑‒ ‒‒‒⏑⏑‒⏑‒ ‒⏒‒⏑⏑‒⏑‒ ‒‒‒⏑⏑‒‒ ⏒‒ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ 𝄑̲ ‖ ⏒‒‒⏑⏑‒⏑‒ ‒‒‒⏑⏑‒‒⏑⏑‒‒⏑⏑‒⏑‒‖ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ 𝄑̲ ‖ ‒‒‒⏑⏑‒⏑‒ ‒ ‒ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ‒ |||

191–199 200

2 an 2 an ̭

στρ. αʹ + ἀντ. αʹ 3 ia phal (gl + ia ̭) cr gl¨ sp + hipp gl × + gl 4 da 2 ia ̭

στρ. βʹ + ἀντ. βʹ gl gl gl pher gl gl gl2c dod gl pher

448

201-2/210-1 203/212 204/213 205/214 206/215 207/216 208/217 + 209/218

Anhang

‒ ⏑⏑ ⏑ ‒ ⏑⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ‒‒‒⏑⏑‒‒⏑⏑‒‒ ‒‒‒‒‒⏑⏑‒ ‒‒‒‒⏑⏑‒ ‒‒‒⏒‒⏑⏑‒ ‒⏓‒⏒‒⏑⏑‒‒ ⏒‒⏑‒⏑⏑‒‒ ‒ ‒ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ‒ ‒ |||

στρ. γʹ + ἀντ. γʹ ia + lec glc ̭ gl¨ ̭gl¨ gl¨ hipp¨ (gl¨‒) ̭gl¨ + × + gl + sp

205/214 – 209/218 Zur Kolometrie und zur Auffassung der vv. 208 f. und 217 f. als Dikolon vgl. Willink 2003, 84 f. 209/218 vgl. zu diesem ‚verlängerten‘ Glykoneus (gl + sp) Itsumi 1984, 78f. Chorlied (391–402; 507–518) 391/507 392/508 393/509 394-5/510-1 396/512 397/513 398-9/514-5 400/516 401/517 402/518

⏒‒⏑‒ ‒‒⏑‒ ‒ ⏑ ‒ ‒ ⏑ 𝄑̅ ‖ ‒‒⏑‒ ‒‒⏑‒ ⏓‒⏑‒ ⏒⏕‒⏓‒ ⏒⏔‒‒‒ ⏑‒‒ ⏑‒‒ ⏑‒‒ ⏑‒‒‖ ⏑ ⏑⏑ ⏑⏑ ⏑ ‒ ⏑ ⏑⏑ ⏑⏑ ⏑ 𝄑 ‖ ⏑‒⏑‒ ⏑‒‒⏑‒ ⏑‒‒⏑‒ ⏑‒‒⏑‒ ⏑ ⏑⏑ ‒ ⏑ 𝄑̅ |||

στρ. + ἀντ. 2 ia 2 cr 3 ia 2δ 2 ba 2 ba 2δ ia + δ 2δ δ

517 Vgl. TS zu diesem Vers. Stasimon (676–729) 676/691 677/692 678/693 679/694 680/695 681-2/696-7 683/698 684/699 685/700 686/701

⏑‒⏑‒ ⏓‒⏑‒ ⏑‒⏑𝄑‖ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ‒ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ 𝄑̲ ‖ ⏑ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ⏑ 𝄑̅ ‖ ‒⏑⏑‒⏑⏑‒ ‒ ⏑ ‒ ⏑ ‒ 𝄑̲ ‖ ‒‒‒⏑⏑‒‒⏑⏑‒‒⏑⏑‒‒ ‒ ‒‒‒⏑⏑‒⏑‒ ⏑‒‒ ⏑‒⏑‒ ⏓‒⏑‒ ⏑‒⏑‒ ‒⏑⏔⏑‒⏑‒ ‒⏑‒⏑‒⏑‒

στρ. αʹ + ἀντ. αʹ 3 ia cho + tl ( ̭gl) ⏑+D D ith gl2c phal (gl + ia ̭) 3 ia lek lek

449

Metrische Analysen

687/702 688/703 689/704 690a/705 a 690b/705 b

⏑⏑‒‒⏑⏑‒ ‒⏑⏑‒⏑‒⏑‒ ‒⏑⏑‒⏑‒⏑‒ ‒⏑⏑‒⏑‒⏑‒ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ‒ |||

̭gl¨ ¨gl ¨gl ¨gl ar (¨gl ̭)

677/692 Für v. 692 böte sich eine Analyse in 4 da an, doch nach der Tilgung von Ἰξίονα (678) wird die zweite Silbe von Διὸς (677) positionslang, was nicht mit der Schlusssilbe von κακογείτονα (692) respondiert; daher ist Periodenende anzunehmen (Διὸς ⏑ ‒, geschlossene Endsilbe; die letzte Silbe von κακογείτονα brevis in longo) und das Kolon wahrscheinlich in der o.g. Weise zu analysieren. 684 Die zweite Länge des ersten Metrums kommt durch ein lang gemessenes τῑ zustande; vgl. TS zu v. 684. 685 Das Lekythion hat eine auf zwei Wörter geteilte aufgelöste Länge; vgl. Aisch. Sept. 235 ~ 241 (Willink 2003, 87, der jedoch für einen anderen Text eintritt); ferner Ll.J./W.1, S. 197, mit Verweis auf Parker 1968, 243 f. (El. 153 f. ~ 173 f.). 688– 690/703–705 So die Aufteilung bei Dawe. Anders Ll.-J./W. und Schein (S. 230 f.), die hier Worttrennung am Ende dieser metrischen Einheiten vermeiden. Jedoch sprechen die so gewonnenen durchgehend äolischen Einheiten für die vorgelegte Analyse. Der Chor wird den ab vv. 687/702 syntaktisch zusammenhängenden Text ohnehin ohne fühlbare Koloneinschnitte gesungen haben (es liegen Fälle von „Dovetailing“ vor; vgl. West 1982, 194). Die drucktechnische Darbietung ist dabei ohne Belang. 697 ἑλκ͜έων: Synizese.

706-7/718-9 708-9/720-1 710-1/722-3 711-2/723-4 713/725 714-5/726-7 716/728 717/729

‒‒‒⏑⏑‒‒⏑⏑‒‒‒ ‒‒‒⏑⏑‒‒⏑⏑‒‒‒ ‒‒‒⏑⏑‒‒⏑⏑‒‒‒ ‒‒‒⏑⏑‒⏑‒ ⏑‒‒ ‒⏑⏑‒‒‒‖ ‒‒‒⏑⏑‒‒⏑⏑‒‒⏑⏑‒⏑‒ ‒‒⏑‒ ‒‒⏑ ⏑‒⏑‒ ‒ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ‒ |||

706–717 Vgl. West 1982, 118.

στρ. βʹ + ἀντ. βʹ glc glc glc phal (gl+ia ̭) dod ̭ gl2c ia + tl reiz ( ̭gl ̭)

713/714 ψυχά | ὅς Hiat.

Chorlied (827–864) 827/843 828/844 829/845-6 830-1/847

‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑‒⏑‒‖ ‒‒‒‒‒ ‒‒‒‒‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ⏑⏑ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ⏑⏑ ‒ ⏑ ‒

στρ. + ἀντ. D2 × ‒ 2δ 2δ mol + δ

450

Anhang

832/848 833/849 834/850 835/851 836/852 837/853 838/854

⏑ ⏑⏑ ⏑ ‒ ‒ ‒ ‒ ⏑⏑ ⏑ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒⏑‒ ‒ ‒⏑‒ ‒‒‒ ‒ ⏑⏑ ⏑ ‒ ‒ ‒ ‒ ⏑⏑ ⏑ ‒ ‒ ‒ ‖ ‒‒‒ ‒‒‒ ‒‒‒ ⏑ ⏑⏑ ⏑⏑ ⏑ ⏑⏑ ⏒ ⏑⏑ ‒ ⏑ ‒ |||

839–842

6 da

855 856-7 858 {859 860 861 862 863 a 863 b 864

‒‒‒⏑⏑‒⏑‒ ‒⏑‒⏑⏑‒⏑‒ ⏑‒‒ ‒⏑⏑‒⏑⏑𝄑‖ ⏑⏑‒⏒⏑‒⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒‒ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ⏑‒⏑‒ ‒⏑𝄑‖ ‒‒⏑⏑‒⏑⏑‒‒ ‒⏑⏑‒⏑⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ‒ |||

ia + sp ia + mol cr + × + cr (E) + mol ia + sp ia + sp 3 mol 2δ

ἐπ. gl phal (gl+ia ̭) D ?} 4 da 4 da ⏑ e e (oder 2 ia sync) ‒D‒ 2 da 2 ia sync

827/843 Zur Analyse der Verse vgl. Willink 2003, 89. Anders Schein, der 4 da annimmt, wozu man ἀλγ͜έων (827) mit Synizese lesen und bei ὄψεται (843) Hiatkürzung (‒ ⏑⏑, es folgt ὧν) annehmen muss; eher liegt hier Periodenende vor. 838/854 Es ist auch nicht auszuschließen, dass 838 πόδᾱ κράτος zu lesen ist, also bei den vv. 838 und 854 die Responsionsfreiheit nicht ausgenutzt ist. Zur Möglichkeit der Längung vor anlautender Muta + Liquida vgl. Barrett 1964 zu Eur. Hipp. 760. 854 Dass das letzte Wort eines Dochmius mit einer langen Silbe auf den nächsten Dochmius übergreift (πυκι⁞νοῖς und ggf. 838 πό⁞δᾱ, s.o.), ist bei Sophokles sonst nicht belegt, kommt aber bei den anderen Tragikern vor; vgl. Dawe 1978, 56. 862–863 b vgl. Willink 2003, 92. Kommos (1081–1217) 1081/1102 1082/1103 1083/1104 1084/1105 1085/1106 1086/1107 1087/1108 1088/1109

‒‒‒‒‒⏑⏑‒ ‒‒‒⏒⏒⏓⏑‒ ‒ ⏑ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ 𝄑̲ ‖ ‒‒‒⏑⏑‒⏑‒ ‒‒‒⏑⏑‒‒‖ ‒ ‒ ‒ ‒ oder ‒ ‒ ‒ / ‒ ‒ ‒ ‒ ‒‒‒⏑⏑‒⏑‒ ‒‒‒⏑⏑‒⏑‒

στρ. αʹ + ἀντ. αʹ gl¨ gl/gl¨ gl gl pher extra metrum gl gl

451

Metrische Analysen

1089/1110 1090/1111 1091/1112 1092/1113 1093/1114 1094/1115 1095-6/1116-7 1097-8/1118-9 1099/1019-20 1100-1/1121-2

⏓‒‒⏑⏑‒⏑‒‒ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ 𝄑̲ ‖ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ⏑‒⏔⏑‒ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ⏑‒⏑‒ ⏑‒ ‒ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ⏑ ⏑⏑ ⏕ ‒ ⏑⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ 𝄑 ‖ ‒ ⏑⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ‒ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ‒ |||

hipp dod 4 da δ 4 da 2 ia ̭ 3 ia ⏕ + ia + gl 2 ia ̭ 2 cho + ar

1082/1103 Zur Responsion gl / gl¨ vgl. analog Tr. 960 / 969 und West 1982, 117. 1086 Vgl. TS zu diesem Ausruf. 1111 µοῐ ἄσκοπα Hiatkürzung.

1123/1146 1124/1147 1125/1148 1126/1149 1127/1150 1128/1151 1129/1152 1130/1153 1131/1154 1132-3/1155-6 1134/1157 1135/1158 1136/1159 1137/1160 1138/1161 1139/1162 1140/1163 1141/1164 1142/1165 1143/1166 1144/1167 1145/1168

στρ. βʹ + ἀντ. βʹ ‒‒‒‒‒⏑⏑‒ gl¨ ‒‒‒⏒⏒⏓⏑‒ gl/gl¨ ⏒‒‒⏑⏑‒‒ pher ⏓⏒‒⏑⏑‒⏑‒ gl gl ⏓ ‒ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ 𝄑̅ ‖ ‒‒‒⏑⏑‒⏒‒ gl gl ‒ ‒ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ 𝄑̅ ‖ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑‖ 4 da 2 ia ̭ ⏒ ⏕ ⏑ ‒ ⏑ ‒ 𝄑̅ ‖ ‒⏑⏑‒⏑⏑‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ 6 da ⏓‒⏑‒ ⏑‒⏑‒ 2 ia ⏑⏑‒⏑⏑‒⏑⏑‒‒‖ par ⏑‒⏑‒‒⏑⏑‒ gl¨ ⏓‒⏑‒‒⏑⏑‒ gl¨ ‒⏑⏑‒ ‒⏑⏑‒ 2 cho ̭ ̭hippc (2 cho + ia sync) ‒ ⏑ ⏑ ‒ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ 𝄑̲ ‖ phal (gl+ia ̭) ‒ ‒ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ⏑ ‒ 𝄑̲ ‖ ‒‒‒⏒‒⏑⏑‒ gl¨ ‒‒‒‒‒⏑⏑‒ gl¨ ‒⏓‒⏑⏑‒‒ pher ‒‒‒⏒‒⏑⏑‒ gl¨ ⏓ ‒ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ‒ ||| phal (gl+ia ̭)

1124/1147 Zur Responsion der Verse vgl. zu 1082/1103. 1128/1151 Zur Responsion der Kolon-Enden der vv. 1128 (‒ ⏑ ‒) und 1151 (‒ ‒ ‒) vgl. West, 1982, 117 mit Anm. 3. 1132-3 σοῐ οὐκέτι Hiatkürzung. 1163 θ͜εῶν Synizese.

452

1169 1170 1171 1172 1173-4 1175 1176 1177 1178 1179 1180 1181 1182 1183-4 1184 1185 1186 1186-7 1188 1189 1190 1191 1192 1193 1194 1195 1196 1197 1198 1199 1200 1201 1202 1203 1204 1205 1206-7 1207-8 1209 1210 1211 1212 1213 1214

Anhang

⏑‒⏑‒ ⏑‒⏑‒ ‒⏑‒ ‒⏑ ‒ ‒⏑‒⏑‒⏑‒ ⏑‒⏑‒ ⏑‒⏑‒ ⏑‒⏑‒⏑ ‒⏑‒⏑‒ ⏑⏑‒‒ ⏑⏑‒‒ ⏑⏑‒‒ ⏑⏑‒⏑‒⏑‒‒‖ ⏑⏑‒⏑‒⏑‒‒ ⏑⏑‒ ⏑⏑‒ ⏑⏑‒‒ ⏑⏑‒ ⏑⏑‒‒ ⏑‒⏑⏑‒‒ ‒⏑⏑‒‒⏑‒‒ ‒⏑⏑‒ ‒⏑⏑‒ ‒⏑⏑‒ ‒⏑⏑‒ ‒⏑‒ ‒⏑⏑‒ ‒⏑⏑‒ ‒‒ ‒‒ ‒‒‒‒ ⏑⏑‒⏑⏑‒ ‒‒‒⏑⏑‒⏑‒ ‒‒‒⏑⏑‒⏑‒ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒‒ ‖ ⏑‒‒⏑‒⏑⏑‒ ‒‒‒⏑⏑‒‒‒𝄑‖ ‒‒⏑⏑‒𝄑‖ ⏑‒‒⏑‒⏑⏑‒ ‒‒‒⏑⏑‒⏑‒ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒‒‒ ⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒‒ ‒‒ ‒‒ ‒⏑⏑ ‒‒ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒‒ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒‒‖ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒‒ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ‒⏑⏑ ⏑‒⏑ ‒⏑⏑‒‒ ⏑ ⏑⏑ ⏑ ⏑⏑ ⏑ ‒ ‒ ‒‒‒‒‒‖ ‒⏑‒⏑‒⏑𝄑‖ ‒⏑‒⏑‒⏑⏑‒ ‒⏑‒⏑‒⏑‒ ⏑‒⏑‒

ἐπ. 2 ia 2 cr lek 2 ia pe + hδ 3 ion anacr (2 io÷) anacr (2 io÷) 3 ion sync 2 ion sync reiz ( ̭gl ̭) ¨gl 2 cho 2 cho cr 2 cho 2 sp 2 an gl gl 4 da gl¨ hipp (?) reiz ( ̭gl ̭) gl¨ gl 4 da 4 da 4 da 4 da 4 da 4 da 2 da 4 da 4 da 4 da 4 da 4 da hag¨ ( ̭hipp¨) 2 ia ̭ δ lek gl¨ lek + ia (oder ̭3 ia)

453

Metrische Analysen

1215 1216 1217

‒⏑‒⏑‒⏑⏑‒ ⏑ ⏑⏑ ‒ ‒ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ ⏑ ⏑ ‒ ⏑ ‒ 𝄑 |||

gl¨ gl¨ hag (= ̭hipp)

1169–1217 Vgl. West 1982, 136 (mit z. T. anderer Analyse). 1173-4 vgl. Stinton 1965, 145; West 1982, 111; Ll.-J./W.1 1181 vgl. o. S. 445, Anm. 4. 1185 θ͜εῶν Synizese. 1192 Hipponakteus, der auf ‒ ‒ ‒ statt auf ⏑ ‒ ‒ endet (?), vgl. o. Anm. 3; zum Text vgl. TS. 1205–1206 προπέµψατε. | ὡς Hiat (Sprecherwechsel). 1211 vgl. Willink 2003, 94. 1215–1217 vgl. Willink 2003, 94 f. Struktur der ‚Marschanapäste‘ (1409–1417; 1445–1471) 1409–1413 1414 1415–1416 1417

2 an an 2 an 2 an ̭

(1418–1444

3 ia)

1445 1446 1447–1449 1450 1451 1452–1467 1468 1469–1470 1471

2 an an 2 an an 2 an ̭ 2 an 2 an ̭ 2 an 2 an ̭

Hypotheseis zum Philoktet Inhaltsangabe zum ‚Philoktet‘ (Hypothesis I) Auf Chryse gibt es einen aufgeschichteten Altar der Athena; an dem sollten nach einem Orakel die Achaier opfern, nur der Sohn des Poias kannte ihn, weil er einst mit Herakles dort war. Als er ihn (den Teilnehmern) der Heeresflotte zeigen wollte, wurde er von einer Schlange gebissen und auf Lemnos krank zurückgelassen. Helenos sagte den Achaiern, Ilion werde eingenommen durch den Bogen des Herakles und den Sohn Achills. Der Bogen war bei Philoktet, bei keinem andern. Odysseus wurde ausgesandt und führte beide zugleich (nach Troia).

5

ΦΙΛΟΚΤΗΤΟΥ ΥΠΟΘΕΣΙΣ Ἐν Χρύσῃ Ἀθηνᾶς βωµὸν ἐπικεχωσµένον, ἐφ᾿ οὗπερ Ἀχαιοῖς χρησθὲν ἦν θῦσαι, µόνος Ποίαντος ἤδει παῖς ποθ᾿ Ἡρακλεῖ ξυνών. ζητῶν δὲ τοῦτον ναυβάτῃ δεῖξαι στόλῳ, πληγεὶς ὑπ᾿ ἔχεως, ἐλίπετ᾿ ἐν Λήµνῳ νοσῶν. Ἕλενος δ᾿ Ἀχαιοῖς εἶφ᾿ ἁλώσεσθ᾿ Ἴλιον τοῖς Ἡρακλέους τόξοισι παιδί τ᾿ Ἀχιλλέως. τὰ τόξ᾿ ὑπῆρχε παρὰ Φιλοκτήτῃ µόνῳ· πεµφθεὶς δ᾿ Ὀδυσσεὺς ἀµφοτέρους συνήγαγεν.

5

Text und Apparat nach der Ausgabe von Dain / Mazon, S. 7, und nach Schein, S. 65. 1 Ἐν Χρύσῃ Ἀθηνᾶς : Ἐν Χρύσῃ Ἀθηνᾷ : Χρύσης Ἀθηνᾶς Brunck | Χρύσῃ Ἀθηνᾶς] Χρύσῃ mit Hiatkürzung (‒ ⏑), die obligatorische Kürze des ersten Metrums ist in zwei Kürzen aufgelöst, die auf zwei Wörter verteilt sind (‒ ‒ ⏑ ⏑ ‒), analog in v. 2. | ἐπικεχωσµένον : ἐπικοσµηµένον 2 οὗπερ : ἧπερ : οὗ παρ᾿ | µόνος : µόνη 3 ποθ᾿ Trikl. : τοθ᾿ : τότε | ξυνών : ζωῶν 4 ζητῶν] zum abhängigen Infinitiv (δεῖξαι) vgl. LSJ s. v. II. 2. | τοῦτον : Ø | ναυβάτῃ : ναυάτη | στόλῳ Turnebus : στόλον Hss. 5 πληγεὶς : πληγεὶς δὲ | ἐλίπετ᾿ : ἐλείπετ᾿ : ἐλείπετο | νοσῶν : νήσῳ 6 ἁλώσεσθ᾿ : ἁλώσασθ᾿αι | Ἴλιον : τὴν Ἴλιον 7 Ἡρακλέους : ἡρακλείοις | τοῖς Ἡρακλέους] ‒ ‒ ⏑ ‒, -κλ͜έους ist als eine Silbe zu lesen (Synizese). | τόξοισι : τόξοις | τ᾿ Ἀχιλλέως : τε Ἀχιλλέως 8 τόξ᾿ : τόξα | Φιλοκτήτῃ : τῷ Φιλοκτήτῃ 9 δ᾿ : δὲ | -σεὺς ἀµφοτέρους] ‒ ‒ ⏑ ⏑ ‒ auch hier (vgl. 1 u. 2) ist die obligatorische Kürze aufgelöst.

Hypotheseis

455

Die zwei sogenannten Hypotheseis (‚Inhaltsangaben‘ / ‚Einleitungen‘) finden sich in Handschriften, die den Philoktet enthalten. Ihre Entstehungszeit ist nicht genau zu bestimmen. Hypothesis I.  Die in etwas holprigen Iambischen Trimetern (vgl. im Einzelnen Schein, S. 113f., und TS) abgefasste metrische Hypothesis gehörte sicherlich ursprünglich zum Philoktet des Euripides (Corssen 1907, 354; Müller 2000, 222). Schein (S. 113) hält es auch für möglich, dass es der Philoktet des Aischylos war, doch dagegen sprechen die ausdrücklich für Euripides’ Philoktet bezeugten Angaben in den vv. 2f. (vgl. zu vv. 2–3). Die Hypothesis hat lediglich dadurch ein möglicherweise dem Stück des Sophokles zuzuordnendes Element, dass auch der Sohn Achills als Gegenstand der Helenos-Weissagung genannt ist (vgl. zu v. 7). 1 Dass der (aufgeschichtete) Altar auf Chryse nicht der gleichnamigen Göttin, sondern Athena gehörte, sagt auch das Scholion zu Lykophron, Alexandra 911,15f., während das ‚Didymos‘-Scholion zu Homer, Ilias 2,722 (I, p. 329,76f. Erbse [voller Text in I, p. 127 Dindorf]) die Versionen in der Weise verbindet, dass es von der Chryse genannten Athena spricht. Bei Euripides ist nur von Chryse und ihrem Altar die Rede (F 789 d [9] Kannicht), bei Sophokles nur von ihr und ihrem Bezirk (Phil. 1327f.). Zu schlichten, aus Steinen oder großen, aus Asche und Knochenresten aufgeschichteten Altären vgl. Burkert 2011, 139. 2–3 Zum Opfer in der Version des Euripides und zur Aufgabe Philoktets dabei vgl. Komm. zu 194. An diesem Altar hatte einst Herakles geopfert (Schol. Soph. Phil. 194), und Philoktet als Gefährte des Herakles kannte ihn (Philostrat [iun.], Imagines 17 [II, pp. 419,19f.; 420,2f. Kayser]). 7 Im Philoktet des Sophokles bezieht sich die Weissagung des Helenos wie in der Hypothesis auf Philoktet (mit dem Bogen des Herakles) und auf Neoptolemos; vgl. Phil. 1329–1342. Nach einer anderen Mythenversion sagt Helenos allerdings nichts über die Waffen des Herakles, sondern erklärt es für die Eroberung Troias (u.a.) als notwendig, Neoptolemos herbeizuholen, während zuvor schon Kalchas verkündet hatte, man brauche dafür die Waffen des Herakles (Ps.-Apollodor, Epitome 5,8–11). 9 Mit ‚beide‘ sind sicher Philoktet und Neoptolemos gemeint. Vielleicht sind in dieser merkwürdigen Angabe die getrennten Vorgänge der Expedition nach Lemnos und der Abholung des Neoptolemos von Skyros (vgl. Komm. zu 344) zusammengezogen. Nach den meisten Zeugnissen war Odysseus in beiden Fällen nicht allein tätig, in Lemnos jedenfalls weder nach der Version des Euripides noch nach der des Sophokles.

456

Anhang

Eine andere Version (Hypothesis II) Wegführung Philoktets von Lemnos nach Troia durch Neoptolemos und Odysseus gemäß der Weissagung des Helenos; ihm wurde auf die Weissagung des Kalchas hin, da er Orakel kannte, die zur Einnahme Troias führen sollten, von Odysseus nachts aufgelauert, und er wurde gefesselt zu den Griechen gebracht. Der Schauplatz liegt auf Lemnos, der Chor besteht aus Greisen, die mit Neoptolemos (zur See) mitfuhren. Der Tragödienstoff findet sich auch bei Aischylos. Das Drama wurde aufgeführt unter dem Archontat des Glaukippos, den ersten Platz errang Sophokles.

5

ΑΛΛΩΣ Ἀπαγωγὴ Φιλοκτήτου ἐκ Λήµνου εἰς Τροίαν ὑπὸ Νεοπτολέµου καὶ Ὀδυσσέως καθ᾿ Ἑλένου µαντείαν, ὃς κατὰ µαντείαν Κάλχαντος, ὡς εἰδὼς χρησµοὺς συντελοῦντας πρὸς τὴν τῆς Τροίας ἅλωσιν, ὑπὸ Ὀδυσσέως νύκτωρ ἐνεδρευθείς, δέσµιος ἤχθη τοῖς Ἕλλησιν. ἡ δὲ σκηνὴ ἐν Λήµνῳ, ὁ δὲ χορὸς ἐκ γερόντων τῶν τῷ Νεοπτολέµῳ συµπλεόντων. κεῖται καὶ παρ᾿ Αἰσχύλῳ ἡ µυθοποιία. ἐδιδάχθη ἐπὶ Γλαυκίππου. πρῶτος ἦν Σοφοκλῆς.

5

Text und Apparat nach der Ausgabe von Avezzù, S. 10. Überschrift ἄλλως : Ø : ὑπόθεσις Φιλοκτήτου : ὑπόθεσις τοῦ δράµατος Trikl. (ein Teil der Hss. führt diese Hypothesis vor Hypothesis I auf, ein anderer Teil bietet nur diese Hypothesis). 5  τῶν τῷ : τῷ oder τῶν (Hss.) 6–7 κεῖται … Σοφοκλῆς : Ø | πρῶτος ἦν Σοφοκλῆς : Ø (fehlt in zwei Hss. ganz, in zwei anderen nur πρῶτος) 6 καὶ παρ᾿ : ὡς παρ᾿

Hypotheseis

457

Hypothesis II. Diese in Prosa verfasste Inhaltsangabe gehört zum Typus der Hypotheseis des Aristophanes von Byzanz (3./2. Jh. v. Chr.), ohne jedoch deren Niveau zu erreichen. Aristophanes’ Hypotheseis „behandelten den Hauptgegenstand des Stückes (…) sehr kurz und streiften die Behandlung desselben Stoffes durch andere Dramatiker; dann benannten sie die Szene, die Identität des Chors und des Prologsprechers, endlich gaben sie die Zeit der ersten Aufführung an, die Titel der anderen Stücke, die vom selben Autor gleichzeitig zur Aufführung gebracht wurden, die Namen der Mitbewerber samt dem Ergebnis des Wettbewerbs, … und eine kritische Beurteilung“ (Pfeiffer 1978, 239). Die Hypothesis enthält Angaben, die nicht oder nicht gut zum Inhalt des sophokleischen Philoktet passen. Möglicherweise liegt auch bei dieser Hypothesis eine Umarbeitung einer ursprünglich für den Philoktet des Euripides bestimmten Hypothesis vor (Müller 2000, 222f.). Dafür spricht vor allem, dass unter den anderen Bearbeitern des Stoffes nur Aischylos, nicht aber Euripides genannt wird. Und die Bezeichnung ‚Greise‘ wäre für den Chor aus Lemniern in Euripides’ Version eher passend als für den aus Leuten der Schiffsmannschaft des Neoptolemos. Die Überlegung, dass die Altersangabe darauf beruht, dass der Chor aus Seeleuten Neoptolemos auch mit ‚Sohn‘ anreden kann (Schein, S. 113), führt nicht eigentlich weiter, weil Neoptolemos von anderen Figuren (Odysseus, Philoktet und ‚Kaufmann‘) ebenfalls so angeredet wird, die dadurch nicht als ‚Greise‘ markiert sind. Es stimmt auch nicht zu Sophokles’ Stück, dass Philoktet von Neoptolemos und Odysseus nach Troia gebracht wurde. Ob bei dieser Angabe ein Einfluss einer Hypothesis zum Philoktet des Euripides vorliegt (Diomedes durch Neoptolemos ersetzt) oder der Autor von der Ausgangssituation des sophokleischen Philoktet ausging, muss offenbleiben. Bei den Weissagungen hat der Autor Kalchas eine Funktion zugeteilt, die weder bei Euripides (F 789 b [2] Kannicht) noch bei Sophokles (Phil. 604– 613; 1329–1341) vorkommt. Sie mag durch eine Vermengung mit einer Version zustande gekommen sein, wonach Kalchas, nachdem bereits auf s e i n e Weissagung hin Philoktet mit dem Bogen des Herakles nach Troia gekommen war (Ps.-Apollodor, Epitome 5,8; vgl. auch Quintus Smyrnaeus, Posthomerica 9,325ff.), verkündet, Helenos kenne Orakel, die Troia vor dem Untergang bewahrten (Ps.-Apollodor, Epitome 5,9f.). Diese haben aber nichts mit den Waffen des Herakles zu tun. Die vorliegende Hypothesis hat für den Philoktet des Sophokles nur durch den letzten Satz einen Wert, aus dem das Aufführungsdatum und der Rang hervorgeht, den Sophokles mit seiner Tetralogie erzielte. Diese Angaben werden allgemein für zuverlässig gehalten. Das Archontat des Glaukippos lässt sich auf das Jahr 410/409 v. Chr. datieren (Develin 1989, 165). Da das Amtsjahr der Archonten nach unserem Kalender jeweils Mitte Juli begann, fielen die Großen Dionysien, an denen der Philoktet aufgeführt wurde, in das Frühjahr 409 v. Chr. Vgl. auch DID a. 409 (TrGF I2, p. 10).

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