Sophokles [3 ed.]


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Sophokles [3 ed.]

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KARL REINHARDT

SOPHOKLES

KARL REINHARDT

SOPHOKLES

• DRITTE

vrrroRIO

KLOSTERMANN

AUF-LAGE

• FRANKFURT

AM MAIN

Lizenz Nr.14 / Vittorio Klostermann / Alle Rechte, insbesondere das der 'Obersetzung vorbehalten / Auflage 5000 / Verfasser Karl Reinhardt 14. II. 1886 Det• mold / Druck: Werkdruckerei der Frinkischen Landeszeitung GmbH., Ambach Printed in Germany 19,7

KURT

RIEZLER

GEWIDMET

INHALT

Einführung

9

Aias

18

Trachinierinnen

42

Antigone

73

Ödipus Tyrannus

105

Elektra

145

Philoktet

172

Ödipus auf Kolonos

202

Fragmente

233

Anmerkungen

241

VORWORT

Dies Buch ist nicht dazu bestimmt, sich neben jüngere und jüngste Darstellungen der drei alten Tragiker zu dringen. Auch soll Sophokles von keinem Programm-Humanisten hier gefeiert werden. Was versucht wird, ist, eine vergleichende Betrachtungsweise durchzuführen, um die Dichtung den geläufigen verdeckenden Erklärungsformen zu entreißen. Kritische Anmerkungen sind in Auswahl beigefügt, iur solche, die die Summe dessen, was sich unterscheidet und was nicht, gern auch spezifiziert sehen möchten. Eingelegte Obersetzungsproben sollen nichts als Notbehelfe sein und sind nur iur die Interpretation gedacht. Im Januar und Juli 1933 Reinhardt

Von wenigen Glättungen und Berichtigungen abgesehen, unter• acheidet sich im Text die zweite Auflage nicht von der ersten. Stlrkere Änderungen erfuhren die Anmerkungen, in denen inzwischen erschienene Literatur tunlichst Berücksichtigung fand. Hinzugeiü.gt wurde ein Index, wie der Eigennamen so der Leitgedanken, der die Oberschau über die achtfach aufgeteilte Ein• heit dieses Buches erleichtern möge. Im Oktober 1941 Reinhardt

In der dritten Außage ist, was die zweite unterdrückte,

wiederhergestellt, die Widmung und die Anmerkung zu S. 203. Sonst sind nur Kleinigkeiten in Übersetzungen und Anmerkungen gelndert. An wichtiger Literatur erschien seitdem: C. M. Bowra, Sophoclean Tragedy, Oxford 1945. Im Juni 1947 Rsinhariü

EINFÜHRUNG

Seit der Klassik ist uns Sophokles ein großer Name, aber nur noch von geringer und- unsicherer Wirkung. Daß vollends von Kennern und Gelehrten viel getan wäre, um ihn uns zu gewinnen, läßt sich schwer behaupten. Seinen Mitbewerbern in der Kunst waren die Zeiten eher noch günstig. Die Ära der Reichsgründung, gebietshungrig, sachfreudig und persönlichkeitsgeschwellt, hat, wie den Hellenismus, so auch seinen Vorläufer, Euripides, gewußt, sich anzueignen und ihm ein nach ihrem Sinn gezeichnetes Gesicht zu geben. Dem Aischylos kam dann die beginnende Entdeckung des Archaischen, in Sprache und bildender Kunst, zugute. Sophokles blieb noch der große Name,aberzwischendiesen wie in einer Lücke, und in welchen Formeln man ihn auch zu fassen suchte, sei es als den Klassischen, Harmonischen, den 'Eukolos', sei es als den virtuosen Szenen-Architekten, sei es als den altgläubigen, priesterlichen und orakelfrommen Künder der göttlichen Allmacht und. menschlichen Nichtigkeit: so überwog doch bei allen Bemühungen, sobald sie die vorhandenen Texte zu erklären suchten, auffallend das Negative. Man gewahrte mehr, was er, mit anderer Vorzügen verglichen, nicht habe - daß er sich weder um die Logik des Geschehens noch um die Einheit des Charakters kümmere usw.-, als daß es gelungen wäre, sein Gesetz der Form als gültig, seinen Mythos als sinnbildlich zu begreifen. Und die neueren V ersuche, diesen Widerspruch zu überwinden, blieben entweder nur gut ge• meint, oder gerieten problematisch 1 • Hier nun wird man von nichts anderem gehandelt finden als von Sophokleischen Situationen, oder, wenn man einen anderen Ausdruck datdr will, vom Sophokleischen Verhältnis zwischen Mensch und Gott und zwischen Mensch und Mensch, und zwar, wie es Szene für Szene, Stück tür Stück, Stufe um Stufe sich entwickelt. Denn da das Verhältnis zwischen Mensch und Mensch aus dem Verhältnis zwischen Mensch und Gott allmählich erst

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in seiner Sonderart hervorgeht, macht es für die Frühzeit fast noch keinen Unterschied, ob ich von tragischer Situation rede oder vom Menschlichen und Göttlichen. Bei anderen Dichtern mag man seinen Ausgang anders wählen, vom Erlebnis, von der Inner• lichkeit, oder von der leitenden Idee oder vom Spiel der Charaktere als Spiegeln der Welt und Trägern ihres äußeren oder inneren Schicksals usw. So mag ma~ bei Shakespeare die Welt seiner Charaktere nach Verwandtschaften, Rängen und Graden wie zu einem Welttheater vor den Richterstuhl des Genius stellen: da steht der Charakter seinesgleichen und dem Weltlauf gegenüber, es gibt nichts dazwischen noch darüber. Bei Sophokles würde man, wenn man in gleicher Weise zugriffe, bald nichts mehr in der Hand behalten. Nicht als ob es etwas wie Charaktertragik nicht auch bei ihm gäbe - denn auch das hat man bestritten-, doch steht es an Rang auf zweiter Stufe: als das Gültigere erhebt sich darüber etwas Menschlich-Allgemeines, aber nicht als jenes Typische, wie es die Klassik sich gedacht hat, sondern als das Sterbliche, umrändert und umzogen von den Linien seiner Sterblichkeit gegen den Hintergrund der Gottheit . . Die Götter des Sophokles bringen dem Menschen keine Tröstung, und wenn sie sein Schicksal lenken, daß er sich erkenne, so erfaßt er sich als Mensch doch erst in seinem Preisgegeben- und VerlassenSein. Erst im Zerbrechen scheint sein Wesen, rein werdend, aus seiner Dissonanz den Zustand einer Harmonie mit der göttlichen Ordnung zu gewinnen. Darum sind die Tragischen des Sophokles Vereinzelte, von ihren Wurzeln Losgerissene, Ausgeworfene: tJ,OVOU• f-UVOr., 1ff1J idv~a.Ttpix:. • .), doch ohne daß die eine Rede au{ die andere hinwiese noch ihre Widerlegung wäre; beide kommen nicht zusammen, führen nicht einmal zu einem Pro und Contra, sie bedeuten ein konträres In-der-Welt-Stehen, das sich aus verschiedenen Mitten explizierend voneinander abgrenzt. Statt aller Entgegnung befiehlt Aias, ihm den Sohn zu bringen 1 • Weshalb hielt man ihn entfernt? Da er erfährt, aus Angst, daß er in seinem Rasen sich nicht noch an ihm vergreife, findet er (V. 534) : Das wäre wahrlich meines Dämons würdig!

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Und doch, da der Kleine zu ihm hingebracht wird, ist ftir diesen Augenblick vergessen, daß der Held nicht zwischen toten Feinden, sondern zwischen toten Rindern steht, der Heldenabschied ist, als flnde er auf einem Schlachtfeld statt, die Dissonanz von Held und Schicksal, Seele und Begebenheit, kann ungeheuerlicher nicht die Situation bedingen (V. 545 f.):

.A.iasHeb ihn mir her! Er wird sich nicht entsetzen, Des frisch vergoßnen Blutes Mord zu schauen, So wahr er vaterseits der meine ist! 0 Kind, sei deinem Vater einst an Glück Voraus, im andern gleich, so wirst du recht! usw. Die Mutter hält er sich vom Leib. Die Sorge um den Sohn, als Erben seines Heldentum~ bleibt einzig das, wodurch er über seinen schicksalhaften Umkreis, über jene Grenzen, die sein ~Dämon' um ihn zieht, hinaustritt 1 • Doch als ob damit zuviel schon dem Gefühl geopfert wire, ruft er umso ungeduldiger, kaum daß er seine Innigkeit verströmt hat, die Zelttür zu schließen, um sich schweigend wieder in sich selbst zu hüllen. An dem, was bevorsteht, ist nicht mehr zu zweifeln. Wie in ein Klagelied um den bereits Verfallenen endigt der abschließende Gesang des Chors: wie wird die Mutter Wehe rufen und die Brüste schlagen, wenn sie die Zerstörung ihres Kinds erfährt! Besser im Hades birgt sich, wer auszog aus seiner Väter Haus als der Achäer Bester, und so abseits irrt ... Aber da tritt im nächsten Epeisodion Aias als Verwandelter aus seinem Zelt. Und nun hilft., um das Folgende nicht zu mißdeuten, nichts als der Vergleich2. Nur wenn sie sich der Form bemächtigt, kann die Interpretation sich vor moderner Willkür hüten, und zur Form führt einzig der Vergleich. Ist die Verwandlung echt? Kann Aias lügen? Und wenn Aias lügt, weshalb ? Oder schlägt seine Lüge in die Wahrheit um ? Es gibt hier der Erklärungen so viel, wie es der Möglichkeiten gibt. Aber bevor man sich hier seinen Mutmaßungen überlißt, hat man zuerst zu wissen, daß dieselben

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Dinge in dem zeitlich nlchsten Stück, in den Trachinierinnen sich noch einmal wiederholen, V. 436 f. So sei denn auch die Erklärung vorerst so gehalten, daß sie für den Aias wie für die Trachinierinnen gilt. Trugreden, sichtlich zur Täuschung einer anderen Person gesprochen, sind die beiden Reden in der Tat, wie die des Aias so auch die der Deianeira; beide sind gleich unerwartet aus dem Munde eines Menschen, der bisher, so oft er immer stand, sprach oder sang, gleich starr in seiner schicksalhaft umgrenzten Welt befangen blieb, anscheinend keiner Umkehr, keines anderen Gebarens fähig. Beide Reden sind gleich plötzlich ausbrechend, durch keine Überlegung vorbereitet, noch auf ein zuvor gestecktes Ziel gerichtet. Beide unterscheiden sich dadurch gleich sehr von jeder Form einer, sei's äußeren, durch die Umstände verursachten, sei's seelischen Intrige. Aber kann dann noch von ei_nem Trug die Rede sein ? So h'at man in der Tat geschlossen. Und doch wird er beide Male sichtbar durch den Umschwung, der im folgenden das wahre Wesen dem Scheinwesen gegenüberstellt. In beiden Fällen ist der Umschwung in die Wahrheit wiederum gleich unvermittelt, stoßhaft und erschütternd in die Chöre ausschwingend, wie kurz zuvor der Umschwung in den Schein. Doch beide Reden wurzeln in einer noch tieferen Verwandtschaft. Beide täuschen nicht nur eine Wahrheit vor, sondern entfalten, trotz des offenbaren Truges, schon durch die Wucht ihrer Bilder etwas fü.r das Ohr so Überzeugendes, daß die betrügerische Absicht nicht ausreicht, ihr 'Pathos' zu begründen. Hier erkennt wahrhaftig der Vereinsamte, Herausgelöste das All der Zusammenhänge, wie es ist, nicht nur als gültig für eine Gemeinschaft, mit der er nicht mehr verbunden ist, sondern als Wesen der Natur, gültig im Himmel und auf Erden. So löst er sich als Herausgeschleuderter, freiwillig unter seinem Zwang, nicht nur aus der gesellschaftlichen Ordnung, sondern aus der Ordnung alles Seins 1 • Dem Aias öffnen plötzlich sich die Augen, er erkennt die Welt, doch nicht, um als Erkennender sich in sie einzufügen, nicht um ihrer Ordnung sich zu beugen, dem 'Erkenne dich selbst' zu folgen,

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sondern um in ihr das Fremde, Gegenteilige zu sehen, woran er nur teilhaben könnte, wenn er nicht mehr Aias wäre: wellte ich mich dieser Welt und ihren Göttern fügen, die kein Äußerstes, Beharren• des, kein letztes Ja und Nein vertragen, so dürfte kein Feind mir mehr so feind sein, daß er nicht mein Freund sein könnte - nach dem Spruch des Bias -, und ~ein Freund so freund, um nicht mein Feind ZU sein! .•. Nicht nur, weil er aus seiner heldischen Umgebung sich gelöst hat, muß er untergehen - das war sein Schicksal schon im Epos -, sondern weil er in die Welt nicht mehr hineingeht. Seine kosmi,chen Vergleiche sind mehr als ein Redeschmuck,tück, drücken mehr aus als tragischen Pomp. Indem sie auf den Wechsel deuten als Gesetz der Welt, dem alle Reiche, wie des Makrokosmos so des Mikrokosmos, unterstehen, bezeugen sie ein Weltgefühl beinah wie das des Heraklit: ,, Gott ist Sommer und Winter, Tag und Nacht ... " Aber inAias'Munde schwingt durch den erhabenen Preis der Seinsordnung ein Unterton der Abkehr, fast des Hohns auf diese Weisheit, die die Weisheit dieser Welt ist (V.646f.):

Aias All Ding gebiert die ungemeßne Zeit, All Nichts zum Licht, Geburt zurück in's Nichts. Das Unverhoffte siegt: gebrochen wird Der Eide Schauer und der Herzen Trot,:. Auch ich, der unerschüttert widerstand, Ward biegsam, wie in Wasser's Bad der Stahl. Weich durch dies Weib ...

So werden wir in Zukunft vor den Göttern Zur Demut uns verstehn und Ehrfurcht lernen Vor den Atriden: sind sie doch die Herren! Da tut willfahren not - was ist dabei ? Willfihrt nicht auch das Starke, Überstarke Der Ordnung über ihm ? Des Winters Schnee Weicht vor dem Segen sommePlichen Felds; Es weicht das finstere Himmelsrund der Nacht 3

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Dem lichten Brand des weißen Taggespanns; Des Sturmes Rasen wiegt das Meer zur Ruh, Und Schlaf, der allgewaltige, löst wieder Und hält auf ewig fest nicht, was er band. Wie sollten wir der Einsicht uns verschließen ? Ja, jetzt begreif ich, auch der Feind ist nicht So ewig feind uns, daß nicht eines Tages Ihm unsre Liebe ziemte, und dem Freunde Gehöre meine Treue mit der Vorsicht Fortan, daß er mein Freund nicht immer sei! Hier wächst der Trug aus einer tieferen Schicht der Ironie als der, die wir gewohntermaßen als die 'tragische' bezeichnen: hier entsteht die Ironie aus dämmernder Erkenntnis eines ewigen Zerwürfnisses des Helden mit dem Lauf der Welt 1 • Die Trugrede der Trachinierinnen hat zwar nicht die gleiche Fülle kosmischer Vergleiche, aber hüllt sich um nichts weniger in eine täuschende, weil nicht verpflichtende Erkenntnis und Verherrlichung einer die Menschen wie die Götter wie die Welt lenkenden Macht. Und ist die Macht verschieden, so steht doch auch sie zur unabänderlichen Art der liebenden Deianeira in demselben Gegensatz wie das Gesetz des Wechsels zur Unbeugsamkeit des Aias. Was Deianeira trügerisch erkennt - d. h. erkennt als geltend für die Welt, nicht für sie selbst - ist das Gesetz des Wechsels auf den Teil der Welt beschränkt, der ihre Welt ausmacht - die Liebe. Wie Deianeira sich ihrer Erkenntnis rühmt (emO"t'«o-&ixt ocv&pw1ttt0t) da, wo diese Erkenntnis sie am wenigsten durchdrin~ scheint Aias das Gebot, 'nach Menschenmaß gesinnt zu sein' (x.ix't''ä.v&pw1tov :r zur Bejahung dessen, was erst als das Fremdeste, Unsinnigste und Unerträg· lichste erschien. Hier hat die Schicksalsform, darin der Tragiker in seiner frühen Zeit befangen war, über die Sage obgesiegt.

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ANTI GONE

Da die SophokleischeTragik in der Lagerung menschlicher Mitten und deren Exzentrizität zur Mitte der göttlichen oder - was dasselbe ist - dämonischen Zusammenhänge ihren Ursprung hat: so kann dieselbe tragische Unstimmigkeit nun entweder durch eine einzige, gewaltige Abschleuderung und zerstörende Vereinzelung zum Drama werden-so ist es im Aias und im 'König Ödipus' -; oder es können zwei menschliche Zentren, mitsamt ihren Welten, beide gleich exzentrisch, um dieselbe unsichtbare Mitte sich bewegen, jede gleich sehr um ihr Gleichgewicht und Maß gebracht und aus der Bahn geworfen. Die Einheit des Vorgangs zeigt sich dann nicht mehr in der Vereinzelung des Einen, sondern in der Lage beider zueinander und beider Bezug zur unsichtbaren, nur erratbaren, durch Zeichen andeutbaren Mitte des dämonischen Zusammenhangs. Dies zweite ergibt die Grundform für jene Tragödien, die man unter den gemeinsamen Begriff des Doppel-Schicksals bringen kann, wie der Trachinierinnen so auch der Antigone. Dagegen sind die üblichen Begriffe und Kategorien, mit denen man seit Hegel sich bemüht hat, an das Wesen der Antigone heranzudringen - die siegreiche und die unterliegende Sache, Spiel und Gegenspiel, Recht gegen Recht, Idee gegen Idee, Familie gegen Staa~ tragische Schuld und Sühne, Freiheit der Persönlichkeit und Schicksal, Individuum und Gemeinschaft (Staat, Polis)- von der klassizistischen oder nachklassizistischen Ästhetik abgezogen und entweder so allgemein, daß sie auch auf das deutsche. Drama anwendbar sind - und folglich sind sie zu weit; oder sie scheinen zur Antigone zu stimmen, stimmen dafür aber schon nicht mehr zur nächsten besten der erhaltenen Sophokleischen Tragödien - und folgli~h sind sie zu eng. Es geht nicht an, für die Antigone sich eine Formel auszusinnen, die fiir alles Übrige versagt 1• Der Unterschied zwischen Tracbinierinnen und Antigone, als Doppeluntergangs-Tragödien, ist nun freilich der, daß in dem

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ersteren Stück der Gegensatz der zwei menschlichen Mitten auf die Sphäre des Vital-Heroischen beschränkt bleibt: Herd und Fremde, Haus und Abenteuer, Weibliches und Männliches ••. , während in der Antigone die Gegensätze dergestalt erweitert und vertieft sind, daß jetzt auf die eine Seite etwas für unsere Begrift'e so Vielfältiges zu stehen kommt, wie: Blut, Kult, Liebe zum Bruder, göttliches Gebot, Jugend und Selbsthingabe bis zum Selbstopfer, und auf der anderen Seite: Herrscherwille, Staatsmaxime, 'Polis'-Moral, Kleinheit, Starrheit, Engherzigkeit, Altersblindheit, Selbstbehauptung im Titel des Rechts bis zur Verletzung göttlichen Gebots. Bei einem solchen Reichtum der Entfaltung ist es wohl begreiflich, wenn man dies für uns Vielfältige aus einer Einheit, aus einer Idee, und zwar aus der eines Ideen-Kampfes, glaubte ableiten zu müssen: aus einem Konflikt zweier an sich berechtigter Prinzipien, als ob Sophokles ein Tragiker wie Schiller, Kleist und Goethe wäre 1 • Und doch ist, was sich in diesem Drama gegenübersteht, in der Person Antigones und Kreons, in sich selbst konßiktlos, bleibt vom anderen in sich selbst unangefochten, setzt die andere Art, das andere Gesetz, Idee oder Moral, nicht in die eigene um - wie Tasso, Prinz von Homburg, Wallenstein - ; für Kreon ist Antigone kein Opfer, das er um der Staatsraison willen sich abzuringen hätte, noch auch bat Antigone ihr Selbstopfer ihrer Natur und angeborenen NeiguDg zum Gehorsam abzµringen. Geschweige, daß Kreon zur Erkenntnis dessen käme, daß er in Antigone ein fremdes, ihm entgegentretendes Gesetz mißachtet hätte. So stürzt er auch letzten Endes nicht, weil die Verflechtung des Geschehens gerecht wäre (nach menschlichen Begriffen), auch nicht um der Sühne willen des von ihm vergossenen Bluts, sondern weil er aus eigener Blindheit, alles Maß verlierend, in die Hybris treibt. Auch die Antigone ist der Idee nach kein Konflikt der Normen, sondern die Tragödie zweier, im Wesen getrennter, dämonisch verbundener, im Sinne des Gegenbilds einander folgender menschlicher Untergänge 2 • Und doch hat das dialektische Bedürfnis nicht ganz ohne Anhalt sich an diesem Stück seit je befriedigt. Statt daß die menschlichen Weisen oder Daseins-Mitten auseinandertreten, aneinander leiden, ohne sich zu ahnen sich zugrunde richten, fremd und sich ver-

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kennend - wie Aias Tekmessa, Herakles Deianeira -, entwickelt sich einzig und allein in der Antigone ein Kampf, richtet sich eine Art gegen die andere, entfaltet ihr Für und Wider, und zugleich sind die Bereiche, die sich gegenübertreten, umfänglicher, wesenhafter, weiter reichend, in die Tiefe wie in die Höhe, und ihr Widerstreit rührt an den Unterscheid von menschlichem und göttlichem Gebot, bedingter Satzung und ewiger Norm. So läuft es denn dabei zum Schluß auf eine Art von 'Dialektik' doch wieder hinaus, doch diese ist nicht vorgegeben, sondern folgt aus der besonderen Art und Lage beider Mitten. Nun muß man von unserer ausgeleierten Theaterpraxis einmal absehen, um gewahr zu werden, ein wie neues Phänomen des attischen Theaters dieser Kampf ist: kein 'Agon' mehr, wie das stationäre Wortgefecht im Aias, sondern ein fortschreitendes, fortwährend aus der einen Lage in die andere schwenkendes, hinüber und herüber wechselndes und auf ein dunkles Ziel hintreibendes Zusammenprallen, nicht mehr Haltung gegen Haltung, Schicksal gegen Schicksal, sondern Wille gegen Wille, Kraft gegen ihr Widerspiel, Tat gegen Tat. Verglichen mit dem Aias mitsamt den Trachinierinnen, zeigt sich die Antigone mitsamt dem König Ödipus und was ihm folgt~ auf ihre Szenenform betrachtet, als Werk einer neuen Stufe. Nimmt man von nun an aus irgend einem Drama irgend eine Szene und vergleicht sie mit einer beliebigen der beiden früheren oder irgend eines früheren überhaupt, so zeigt sie ein verlndertes Gesicht, verrät eine veränderte Struktur: erst jetzt wird aus dem Drama älteren Stils ein Spiel im uns geläufigen Begriff. Erst jetzt entsteht aus einer kontrastierenden eine entwickelnde Dramatik und bemächtigt sich des Ganzen wie desEinzelnen, der großen Szenenfolgen wie der kleinen Übergänge von Entgegnung zu Entgegnung. Entwickelnd: das heißt, daß es da nicht nur, wie seit Aischylos, ein Auf und Ab und Hin und Wider gibt, Hoffen und Angst, Ankündigung und Eintritt des Gefürchteten, Zaudern und endlichen Entschluß, sondern ein gleitendes Hindurchschreiten von Position zu Position, bei immerwährender Verwandlung der dramatischen Konstellation, von Akt zu Akt, Szene zu Szene, und vom Anfang jeder Szene bis zu ihrem Ende.

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Bis auf's letzte von der neuen Form durchdrungen 'ist der 'König Odipus', doch wird schon die Antigone mit Heftigkeit von ihr erfaßt. Denn was im neueren Drama zu einem Rezept der Szenen• führung wird, ist hier noch ganz der Ausßuß einer religiösen und poetischen Ergriffenheit. Der neue Szenenstil entsteht daraus, daß der dämonische Zusammenhang anfängt, die Selbstverfangenheit des Menschenwesens zu ironisieren. Das Bewegende, den Wechsel Schaffende, die Mitten umeinander Treibende ist nicht der wirkungssiehere Kunstgriff eines dichterischen Stückemachers, auch nicht die verkörpernde Entfaltung eines inneren Widerspruchs der an sieh selbst oder der Welt leidenden Seele, t.ondem die Erfahrung jenes Spiels, wodurch das Göttliche das Menschliche als menschlich offenbar zu machen und Absieht und Zweck in Schicksal und Verhängnis zu verwandeln liebt 1 • Ein Spiel der Umkehr lenkt bereits das Vorspiel des Prologs. Mit einer Harmonie beginnt es, wie sie inniger nicht sein kann (von. Hölderlin übersetzt): Antigone Gemeinsam schwesterliches, o Ismenens Haupt! .

Die Kunde vom V erbot des neuen Herrschers kleidet sich in eine Frage voll Erwartung, in die sich ein ungeheures Hoffen auf Gemeinschaft und letzte Bereitschaft dringt: 'Weißt du es schon?' ... Doch desto ungestümer fährt aus der erhofften Einigkeit der Zwiespalt, desto schroffer folgt die Trennung zweier ganzer Daseinsweisen: dessen, der in Treue am Gewohnten hingt, und dessen, der sich rur ein Äußerstes und Letztes hingibt. Was hier Wahn• sinn heißt, heißt dort V emunft: ]1mene O Törichte, wenn Kreon es verbot? Antigone Er darf mich von den Meinen doch nicht reißen! ...

Die Berührung mit der fremden Art, sobald sie nur begriffen ist, genügt auch schon, um Glut in Kilte, Werbung in Abkehr zu wandeln. Je sanfter die liebreiche V erstindnislosigkeit des schwester• lichen Du ihm zuredet, desto schroff er sieht sich das ungestüme Ich

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zurückgeworfen. Und das Spiel der Umkehr ist umsobezaubemder, als es zwischen so jungen Midchen spielt (V. 69): Antigone Dich weder bitten mag ich, noch, wirst du Selbst willens, hieß ich dich dabei willkommen! Bleib du dir weise, wie du kannst! Doch ihn Begrab ich! Dann zu sterben, ist nur schön! Dann lieg ich lieh zur Seite ihm, dem Lieben, In frommer Schuld, denn längere Zeit muß ich Den Unteren als den Lebenden gefallen. Durch die schwesterlichen Einreden steigert sich nur die Abkehr Grad um Grad, bis 1$iemit einem "Weh' auf ihren Gipfel kommt (V. 82 f.): lsmene 0, was ich, Arme, fürchten muß um dich! Antigone Um mich sei unbesorgt, denk an dein Heil! lsmene V errat dich aber dann nur keinem andern! Halt dich versteckt damit, und ich mit dir! Antigone Weh! Schrei's heraus! Ich haß dich nur noch mehr, Schweigst du und rufst es nicht durch alle Gassen!

Am Ende wird in der Umkehr statt Antigone Ismene zur vergeblich W erbenden ... Und dennoch klingt der Schluß, nach der Zerreißung, wie mit einer leisen Harmonie: lsmene . So geh, wenn du nicht anders kannst. Doch wisse: Verirrt bist du, doch in der Liebe recht. Doch mit dem Spiel der Götter spürbar sich zu tüllen fingt die neue Szenenform erst an mit dem Auftritt des Kreon. Wenn der neue Inhaber der Macht den Hluptem der Gemeinde gegenübertritt, so sind die Sitze und Sentenzen seiner Selbstvorstellung weder klingende Gemeinplitze noch Darstellung eines moralischen oder politischen Prinzips. Kreon ist weder lediglich ein Beispiel aufgeblasener Tyrannenhybris1, noch Repräsentant der Staatsraison

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noch der Vertreter des 'Polis'-Gedankens gegen Individuum und Geschlecht. Nicht ein Prinzip, Moral oder Idee, redet durch seinen Mund, er ist ein Mensch in seinen Kreis gebannt und seinen Grenzen bis zur Blindheit unterworfen 1 • Doch der Ring, in dem er sich bewegt, ist, wie von keinem höheren Prinzip durchhellt, auch nicht von Anfang an nur leerer Wahn: er ist uns als politische Realität aus der Geschichtsschreibung des sechsten und fünften Jahrhunderts wohlbekannt. In Kreons Welt hat Polyneikes' Rachefeldzug nicht mehr die Bedeutung jener alten Bruderfehde wie im Epos 2, sondern ist das Unternehmen einer feindlichen Partei politischer Verbannter. Und wie es dabei die Regel ist, so scheint es auch hier nicht an heimlichen Verbindungen des Landesfeindes mit einer geheimen Fronde in der Stadt zu fehlen. Aber nun gilt es, nach siegreicher Verteidigung, im Innern den versteckten Anhang der Geschlagenen zu treffen; wenn nicht zu vernichten, so doch so in Furcht zu halten, daß kein künftiger V ersuch einer Erhebung auf'kommt. Von sich selber fängt er an, doch so, daß man aus jedem Wort die Folgerung für sich zu ziehen hat. Sein Bekenntnis ist Verhüllung seiner Drohung: 'Unmöglich ist es, des Menschen Seele, Denken und Gesinnung zu erkennen, wenn er in Gesetz und Amt sich nicht zuvor bewies'. Gilt dies zunächst von ihm, so stehen ihm doch die Häupter der Gemeinde in der gleichen Lage gegenüber: dies bin ich - und was seid ihr ? Und schrittweis, wie sich sein V er• dacht entwickelt, so entwickelt er sich selbst. Erst noch verhüllt hinter der Führergeste und -Parole, schält sich mehr und mehr her• aus, worauf er zielt, wie, was er ist. Denn er gehört zu denen, die nicht das sind, was sie von sich aussagen, er wird daran erkannt, in welcher Weise, welcher Lage er sich aussagt 3 • Aus den erst ver• locp(t.r"t'V hüllten allgemeinen Wendungen, 'besten Entscheidungen' springt plötzlich die bestimmte Drohung des Poli~ouAtu11-oc"t'wv) tikers heraus, dessen, der die Situation, vor die er sich gestellt sieht, diagnostiziert hat. Unter edel staatsmännischem Wort erklingt als Unterton: 'Glaubt nur nicht, ich kennte euch nicht'! Wie er von Anfang an als Überlegenen sich fühlt, so wird er später seine Überlegenheit, wo sie in's Wanken kommt, um jeden Preis behaupten. 78

Was er jetzt beidrehtet, schon bald als erwiesen ansieht und zu treft'en trachtet, ist ein Zweifaches, die Hehlerei und die geheime oder offene Unterstützung der Partei, die vor den Toren unterlegen ist (V. 185 f.):

Kreon Denn ich - das wisse Zeus, der alles sieht -· Ich schwiege niemals, säh ich, wie das Unheil Auf meine Bürger rückte statt des Heils! Noch trüg ich meine Freundschaft solchen an, Die meine Stadt befeinden! Denn ich weiß, Nur sie ist, die uns rettet; hält nur sie Den Kurs, so fährt erst unser Freundschaft recht. Indem das Gebot der Ehrung und der Schändung, das an den gefallenen Brüdern zu vollziehen ist, in diese Verbindung rückt, verändert sich sein Sinn gegen das Epos; jetzt wird es zu einem Prüfstein der politischen Gesinnung. Was den Toten angetan wird. soll Maßstab und Richtmaß itir die 'Strafen„ und 'Belohnungen• sein, deren sich die Lebenden vom Herrscher zu versehen haben (V. 207 f.):

Kre~n So walt ich meines Amts: was ich vermag, Geht mir der Schlechte nicht vor dem Gerechten. Doch wer des Landes Freund ist, der empfange Von mir den Lohn im Leben und im Tod! hier das Heil /t.iff.):

Elilara Gibt es des Leidens ein Maß denn? So sag mir, Soll zu vergessen der Toten Gebot sein? In welchem Menschen keimte das auf? Schließe mich deren Ehre nicht ein! Noch mag ich ihr Criedlicher Insaß sein, Trüg ich nicht der Erzeuger Ehre Au{ Schwingen gellender Klage! Denn liegt der Tote, Staub und ein Nichts, ·Elendig, und Mordes Vergeltung Gilt nicht mehr, so fiihr' aller Sterblichen Glaube und Ehnurcht von hinnen. Beide Geschwister sind im Anlang, ihrem Sein und Fühlen nach, wie durch Welten getrennt.Und doch bitten sie beide, der von außen Kommende, Crisch auf den Sieg Bedachte und die Leidende, Cast schon im Anfang sich berührt - wie denn dies Spiel wechselnder Spannungen zwischen der Nlhe und der Ferne reich an solchem 'Fast' ist (nur wieder der Philoktet kommt ihm auch darin nahe): schon hört er die ersten Töne ihrer morgendlichen Klage, möchte lausehen, tragt schon: 'Ist dies nicht Elektra_ ?' - doch da reißt der Eiter des alten Erziehers, in dem nicht umsonst die 'Siegbe-

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gierde' eines 'alten Rennpferdes' erwacht, den Cast Erkenaenden hinweg ... Der Höhepunkt der Eingangsszene ist eine Zäsur. Erst durch die Trennung und Berührung wird die Situation, d. h. die Spannung zwischen.,Seele und Begebenheit, geschaff'en1 • Erst die unerwartete Zerreißung gibt nun auch der Hinwendung zum Bruder am Ende der schwesterlichen Monodie den Sinn des Widerspiels von Nah und Fern (V. 110 ff'.):

Elektra O Hades und Persephones Haus, 0 Hermes der Tiefe und Herrin des Fluches, Und Töchter der Götter, Erinyen, Erhabene, Ungerecht Sterbender Hüterinnen, Eilt, rettet, rächl; unseres Vaters Blut Und schickt mir den Bruder, denn mir allein Schwinden die Kräfte, Des Leidens Gewichte zu halten! Hier spielt in der Situation nicht mehr die Gottheit mit den Menschen wie in der Antigone oder im König Ödipus,. hier spielt nur noch der Dichter mit seinen Geschöpfen. Elektra klagend vor dem Chor, redend gegen die Schwester, dann streitend gegen die Mutter: das ergibt zwei sich steigernde Kampfszenen als erste Epeisodien. Aber das sind keine Kämpfe mehr wie die in der Antigone, geschweige wie die Streitszenen des Aias: nicht Schwarz gegen Weiß, wie die verbrämte Kleinheit gegen die bewiesene Größe, im Aias, noch wie die verworfene 'Torheit' gegen die sich opfernde in der Antigone, noch haben diese Klagen mit den 'Monologen' der archaischen Schicksals-Pathetik noch etwas gemein: in der Elektra stürzen die Reden hervor, jetzt endlich, nach langer Zurückhaltung, oder jetzt endlich doch, bei dieser sich bietenden Gelegenheit, da einmal ausgeschüttet werden muß, und gleich wie ausgeschüttet! was das Herz belädt. Ägisth ist heute f'ort, Elektra darf sich frei ergehen, darf aus dem Haus, darf aus sich selbst, darf reden zu den Frauen. Doch nicht weniger dringt es dazu die Mutter, selbst die Schwester; alles, was sich angesam• melt hat, muß in Vorwurf, Verteidigung, Rechtfertigung heraus.

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Eine Entladungsseligkeit ist ausgebrochen und macht sich in einer Sprache Luf~ die mit der früheren zu verwechseln ein Ding der Unmöglichkeit ist, und die auf der anderen Seite für 'Rhetorik' und euripideische Manier zu halten nur die philologische Schwerhörigkeit hat fertig bringen können, die statt von dem inneren Anstoß, der das Wort bewegt, vom lußeren Schema, vom 'Epicheirem' ausging und ihren Formbegriff in Inhaltsanalysen buchte. Wenn z. B. jetzt die ~dende von ihrer Scheu anfängt, so ist das nicht mehr jene Haltung einer Abwehr gegen das nicht Ziemende oder dämonisch Drohende, jetzt wird von dieser Scheu die Rede eingefaßt und eingedämmt gleich einem Strom, der seine Ufer überspült (V. 254): Elektra Wohl schäm ich mich, ihr Fraun, vor euch zu scheinen, Als weid' ich mich an Klagen ohne Maß; Und dennoch zwingt Gewalt mich so zu tun Verzeiht' ..• Verschwunden die archaische Geschlossenheit, und statt der schicksalhaft pathetischen Bewußtseins-Haltung, statt der Anrufe, der Gnomen, der pathetischen Berichte, statt der feierlichen Vorankündigungen wie: 'ich sag euch', 'euch sei's gesagt' und wie die Formeln lauten 1, statt all dessen ein Sich-Auslassen, das in die zuhörende Seele ein- und übergreift (V. 266):

E'lektra Und dann, wie, glaubst du, gehn mir meine Tage hin, Mitanzusehn, wie auf dem Thron Ägisth, Des Vaters Thron sitzt, ihn zu sehn mit Kleidern Des Vaters angetan, und auf den Herd Die Spende gießen, wo er ihn erschlug! •.. (Und Klytaimestra -) Wie um die Tat auch noch mit Hohn zu krönen, Ersieht sie sich denselben Tag im Mond, Da sie den Vater meuchelnd überfiel, Zu Reigen-Tl:nzen und zu Schafeschlachten, Zum Opferfest für ihre Retter-Götter. Und ich im Haus, in meinem Jammer, muß,

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Das sehn und weine, weine •.. und bejammre Des Vaters armes so geheißenes Mahl, Mit mir allein, denn nicht einmal zu weinen Lt mir erlaubt nach meines Herzens Lust ... Daß das Erlittene zu hörenden Ohren hingesagt ist, von fühlender Seele aufgenommen wird, ist für den Gang, den Klang, den Takt so wesentlich, daß der Gedanke def pathetischen 'Berichts' nicht mehr dagegen aufkommt. Ein Reden von dieser Heftigkeit des Hindringens kommt in dem ganzen Aischylos nicht vor, aber es fehlt auch noch im Aias und in den Trachinierinnen. Selbst gegen die Sprachgewalt des 'König Ödipus' gehalten ist es neu. Und daß man es hierbei nicht nur mit einem Ausnahme-Charakter, nicht nur mit dem Sonderfall der ausgestoßenen Königstochter, sondern daß man es mit einer neuen Stilstufe zu tun hat, zeigt die Wiederkehr derselben Sprache in dem zeitlich nicht sehr femen Philoktet, auch dort dies Sich-Entladen, diese Fülle hindringender, vorrückender, zu Gemüt führender Rede-Formen; wie hier das 'wie, glaubst du ... ', so dort (V. 276):

Philo'/aeiWas glaubst du wohl, mein Kind, war das für ein Erwachen! Ich wachte auf, und alle waren fort! Was hab ich nicht geweint, was nicht gejammert! ... Der ausgesagte Inhalt steht nicht mehr, wie in der früheren Be•richtsform, als etwas für sich Bestehendes, gleich einem festen Eiland, •vom 'Pathos' umbrandet, sondern wird vom Fluß des Mitteilungsergusses fortgetragen. Daß die Redende so und nicht anders, als wie es ihr um das Herz ist, von den Hörenden verstanden werde, wird so dringlich, daß - ein unerhörter Fall - die Sprache mimisch wird; mimisch nicht nur wie jede Rede des Theaters, sondern mimisch aus der inneren sprachlichen Bewegung; damit das Erlittene ~ichGehör verschaffe, muß die Mimik der verhaßten Stimme einsetzen (V .287):

Ele'lara Denn sie, dem Namen nach die Hochgemute, Tut ihren Mund zu solchem Schelten auf:

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Du gottverfluchtes Greuel„ du allein Verlorst den Vater, trauern kann kein andrer! Hol dich das Elend! Daß die Todesgötter Aus deinem Jamm.er nimmer dich erlösen! So geifert sie . . . Gewiß ist die Pathetik früheren Stils, in ihrer Abgeschlossenheit nach au.Ben, vornehmer, erhabener. Aber daflir ist diese beweglicher, aktiver, und statt vom hereinbrechenden Schicksal ihre Lagen zu empfangen, schafft und zeugt sie vielmehr diese im ständigen Wechsel aus sich selbst und aus ihrem Verhältnis zum hörenden Gegenüber. Es ist liir die Stufe der Elektra und des Philoktet bezeichnend, daß sie beide im Bezug des Ich zum Du, im Haß wie in der Liebe, in den Lauten aus dem Herzen wie in denen aus derGalle, bisher unerhörte Tonlagen erreichen. Wie zu Antigone Ismene trat, so tritt zu Elektra Chrysothemis, die Schwester. Wieder steht die 'Unvernunft' (ißoul.C«,V. 398) V. 394) des Komdes Unbedingten gegen die 'Vernunft' (q,pov&:!v, promisses, das Nicht-Lassen vo~ den 'Lieben' gegen das 'Nachgeben' vor der Macht 'der Herrschenden' _(V.395 f.). Doch wieviel flüssiger sind jetzt die Reden, wieviel wortreicher die Gegensätze! Statt der früheren Zauber des Verschlossenen, Harten, Herben, statt so unerhörter Dinge, wie es jener Mädchenstreit war um die beiden Arten schwesterlicher Hingabe, tritt jetzt in ganzer Breite eine Antithetik, die wohl dazu hat verleiten können, kurz und falsch sie mit dem Kennzeichen 'euripideisch' abzutun. Und doch bedarf es dieser Form, nicht um Prinzip gegen Prinzip zu setzen - aber auch nicht wie in der Antigone, um Wille gegen Wille -, sondern damit sich ein ganzer Leidens-'Bios' ('Leben') abhebe, in seiner Selbstbehauptung, von den anderen 'Bios'-Möglichkeiten, die seine Gefahr, Entstellung, Anfechtung und Gegnerschaft bedeuten. In dem Maße, wie Elektra die Verstoßene, Harte, U nerbittliche ist, ist Chrysothemis die Leichte und Bequeme; sie lebt wie eine· Prinzessin, Elektra wie eine Sklavin, und brauchte doch nur ein Wort zu sagen, um es ebenso zu haben. Um des 'Bios' willen geht die Antithetik so weit über die Antigone hinaus. Wie sich die 153

ganze Breite eines Daseins in die Sprache dringt - aber nicht mit der Haltung der Trachinierinnen zu verwechseln! -, zeigt sich die Elektra wiederum als artverwandt dem Philoktet. Das einmal Erreichte ist so wenig in der Dichtung wie im Leben wiederholbar. In den Ausdrucksmitteln ist der Gegensatz Chrysothemis - Elektra fortgeschrittener und entwickelter. Wie karg, wie fest, wie in sich selbst beharrend war nicht jedes Wort im Munde der Antigone! Was nicht zu ihr und ihrem Tun geh6rte, störte und war feindlich. Daß sie in der Schwester auch· nur auf Bedenken stieß, genügte ihr schon, um nichts mehr von ihr zu wollen (Ant. 69). Und nicht anders war auch ihre Sprache: tren• •nend, abgrenzend, von einer unnachahmlich adligen V erschlossenheit: • Anfigone. Denk nicht an mich! Besorg dein eigen Heil! (V. 83)

Sorg für dich selbst! Ich gönn dir dein Entrinnen! (V. 553) Du wolltest auch das Leben, ich den Tod! (V. 555) Und wie die knappen Worte alle hießen. Und dagegen jetzt wie üb ergreif end, in den anderen sich versetzend, ihn vergleichend, enthüllend, vernichtend sind Elektras Anklagen! Sie bricht gen, u da los, wo sich Antigone verschloß. Und wie gefüllt ist alles mit hindringenden Figuren (V. 345) 1 :

Eleklra Du hast die Wahl: gib deine Klugheit auf, Wo nich~, vergiß in Klugheit deiner Lieben! Und sprachst noch eben: ja gewännst du nur Die Macht, du zeigtest ihnen deinen Haß! Doch, der des Vaters Rache alles gilt, Mir hilfst du· nicht, mich bringst du aus der Bahn! Häuft das zum Elend nicht auch noch die Schmach? So lehr mich doch! Wenn nicht, lern du von mir: Was nützte mir's, gäb_ich mein Klagen auf? Leb ich nicht? Schli~m, ich weiß! Doch mir genug! 154

Diesen zum Ärger - so ehr ich den Toten, So wahr dorthin noch eine Liebe dringt. Doch du, mit deinem Haß, hassest mit Worten, Mit Werken bist du mit des Vaters Mördern ... . . • dir stehe Der reiche Tisch gedeckt, dir ströme Fülle! Was einzig mich erquickt, sei, nicht mir selbst Untreu zu sein .•. Aber auch die Gegenrede der Chrysothemis trifft heftiger, tut weher, da das tür die andere Ungeheuerste nicht einmal einen Eindruck auf sie macht (V. 372): Chrysothemis Ich bin, ihr Frauen, ihr Gered gewohnt, Auch kümmerte mich's wenig, hitt ich nicht Von einem Äußersten, das sie bedroht, Gehört •.• Und wieder wird das für die andere Schlimmste, was Chrysothemis beschwörend nennt - Einsperrung in ein unterirdisches V erließ - nur desto höhnischer herausgefordert und begehrt: deshalb möge Ägisth nur kommen, denn dann werdet - ihr mir aus den Augen sein! Kein noch so hartes Wort in der Antigone wird so verletzend aufgespart und ausgezahlt. Das dort nur distanzi-erende Verhiltnis wird in der Elektra aggressiv. Das Nicht-V erstehen rundet sich nicht mehr um die beiden Mitten zu sich selbst hin, sondern wendet sich nach außen, lädt aus, breitet feindlich oder freundlich sich entgegen. Was sich in der Sprache anzeigt, ist der gleiche Wandel, der die Szenenform verändert. Nun kann man dasselbe zwar auch aus den 'Charakteren' ab- · leiten. Gewiß, daß es bei Sophokles so etwas gehe, wünschen wir am wenigsten zu leugnen. Elektra ist nicht Antigone, lsmene nicht Chrysothemis. Und doch, stellt man den Aias, die Antigone und die Trachinierinnen auf die eine Seite, auf die andere die Elektra und den Philoktet, so wird man über den Charakterunterschied hinaus auf einen Unterschied der Haltung und Bewegung aufmerksam. In jener früheren Gruppe ist der Mensch in seinem 'Pathos'

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auf sich selbst gestellt. Es gibt im letzten Sinn kein Geben und kein Nehmen, im Guten so wenig wie im Bösen. Wieder gilt das von der Sprache ebenso wie von der Handlung. Selbst in Streit geraten die Personen jener früheren Dramen mehr, indem sie sich durch ihre eigene Selbstheit, Adel, Blindheit reizen, als indem sie sieh mit dem geschärften Wissen voneinander, mit dem Blick für die Verwundbarkeit des andern, wehe tun. Die Kämpfe der Elektra wären dort, von allen Unterschieden in den Charakteren abgesehen, um ihrer Art und Haltung willen ebenso unmöglich wie die Überschwenglichkeiten ihrer auChlühendenLiebe,lnnigkeit und Hingabe. Die Szenen selbst sind nicht mehr einheitliche Reaktionen eines 'Pathos' auf einheitliche Schicksals-Lagen, meist haben sie in der Mitte einen Drehpunkt und neigen dazu, ihr Thema zu verdoppeln 1• Wie das Duldertum, in dem Elektra schwelgt, in dem Chrysothemis nicht atmen kann, die beiden auseinanderriß, genügt der erste Hoffnungsschimmer - Klytaimestras· böser Traum-, um sie nach wachsendem Zerwürfnis einander wieder anzunähern. (Die Drehung setzt ein mit V. 405). Um die Dissonanz der ersten Szenenhälfte zu versöhnen, hebt die zweite an mit einem Führen und sich Fügen und schließt mit der Eintracht beider zum gemeinsamen Beschluß des Opfers und Gebets:

Elektra Streu's in den Wind, vergrab's im tiefsten Sand, Daß nur davon nichts zu des Vaters Lager Hindringe ... Die fromme, arme Gabe aus liebendem Herzen soll die prunkende der Mörderin ersetzen. Während in der Orestie des Aischylos der Zug der Frauen, das Opfer und der Traum zu einem einzigen, geschwellten Melodram vereinigt waren, gestaltet die Ökonomie des Sophokles aus Opfer und Gebet zwei sich steigernde Szenen:Totenopfer und Totenbeschwörung, statt wie in der Orestie mit magischer Gewalt die Bühne gegenwärtig zu erfüllen, wird zum Dialog, zur Bitte, zum Befehl, zum hindringenden Wort 2 • Statt daß Elektra, wie bei Aischylos, um der Beschwörung willen da ist, ist hier der Gedanke der Beschwörung um Elektras willen da: um sie in ihrer

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Arm.u~ ihrem Adel, ihrer Größe, ihrer Ohnmacht machen. Mit dem Sinn verindert sich der Klang alles das von Aischylos (V. 450):

Elektra

oft'enbar zu wie f'em ist

... so arm es ist, Gib, was ich hab, mein ungesalbtes Haar, Und meinen Gürtel ihm, kein Prachtgewirk ...

Das Wort von der 'Verstümmelung' (tfJ-cxaxci>..~ V. 4'5), bei Aischylos spomender Ruf zur Rache, richtet sich jetzt nicht einmal an Orest, sondem fügt sich als eine Antithese mehr zu den Bitten der Schwester an die Schwester. Wie matt gegen Aischylos 1 ! Aber der Abstand beider zeigt nur umso deutlicher, wie es hier nicht mehr auf Opfer, Schicksal und waltende Mächte ankommt, sondem auf Gemütslagen, Töne des Herzens und Kontraste menschlichen Verhaltens zueinander. Wieder fiiidet in der Streitszene, im Kampf der. Tochter mit der Mutter, eine Umkehr statt, wie das seit der Antigone nicht anders zu erwarten ist 1 • So ist V. 556:

KIJtaimeslTa Ich bitte, rede! Hätt'st du immer so Begonnen, hört ich dich nicht mit Verdruß! die Vorbereitung auf die Umkehr in V. 622:

Klytaimeslra O schändliches Geschöpf! Ich, was ich sage, Und was ich tu, macht dich allzu beredt! Indessen ist die Steigerung nicht mehr so jäh, die Umkehr weniger gewaltig als in der Antigone oder im Ödipus Tyrannus. Stattdessen wird jetzt für die Form der Streitreden von umso größerer Bedeutung etwas anderes: an die Stelle jener Schleuderkraft, jener Gewalt der Abstoßung, die für die frühere Art bezeichnend war, tritt eine Kraft feindlicher Anziehung. Das kämpferische Wort flngt gleichsam an, Fangarme auszustrecken. Es saugt in sich, läßt nichts übrig. Auch die böse Ironie ist solch ein Saugen. Was man

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als Rhetorik zu bezeichnen pflegt, isi hier zumeist nichts anderee als diese Kraft der Anziehung und Einbeziehung einer anderen Existenz in eine eigene, subjektive Gültigkeit, die, je falscher sie ist, sich um so heftiger verteidigt und umschanzt; z.B. V. 526 ft'.:

Klyiaimestra

Durch mich- das weiß ich, liegt mir fern zu leugnen: Das Recht hat ihn erschlagen - nicht nur ich! Für das du kämpfen solltest, wärst du klug! Denn dieser ewig dir beklagte Vater Hat, unter Griechen einzig, deine Schwester Geopfert ... Wohlan, belehr mich doch, für wen ? Wozu ? Um der Argiver willen, willst du sagen ? Was war ihr Recht auf meines Kindes Tod ? Vielleicht für seinen Bruder Menelaos? •.• Verspürte wohl der Hades stärkere Gier, Meine als seine Kinder zu verschlingen ? Oder erkaltete dies Vater-Schandherz Für mein Kind, um tur Menelaos zu erglühen ? Ist das kein Tor, kein Schalk von einem Vater? Mich dünkt wohl so, wenn dir's auch anders scheint!

Aber die böse Art des Ühergreifens ist nicht nur den Klytaimestra-Reden eigentümlich, die Kampfreden der Elektra stehen der Form nach ihnen nicht viel nach: sie zieht die Feindin aus ihrem Versteck, zerrt sie ans Licht .•. Die Rechtsfrage zu lösen, dient statt alles anderen die Legende (V. 563):

Elektra Frag du die Jägerin Artemis, wofür zur Strafe Sie alle Winde niederhielt in Aulis! Oder ich sag's dir - sie darfst du nicht fragen: Mein Vater trieb, hab ich gehört, einmal Sein Spiel durch ihren Hain, da sprang ein Hirsch Vor seinen Füßen auf ... Die Gottheit fragen wäre Übertretung,

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')•j fJi;i.t; •••

Doch im

... menschlichen Bereich verwickelt sich das Recht in seinen eigenen Widerspruch: · Elelara

Denn töten wir den einen für den andem, Stirbst du nach deinem eigenen Recht zuerst! ·Doch sieh, ob das kein schaler Vorwand sei! Denn, magst du, lehr mich doch, wes zum Entgelt Du jetzt dies Schändlichste von allem treibst! ...

Jetzt wird die falsche Menschlichkeit hervorgezogen, wie ein sich striubendes Tier aus seinem Schlupfwinkel. Ein solches sieb Einkrallen in ein fremdes Wesen, ein solches Verfolgen bis in alle Winkel, das hatte bisher kein Dialog gebracht ..• 1 Doch auch dies Epeiso~ion dreht sich wieder, erst vom Streit der .Mutter mit der Tochter zum Gebet der Klytaimestra, dann von diesem zu der Meldung vom Tode Orests. Nachdem der Zwist auf seiner Höhe ist, Elektra Siegerin geblieben ist, folgt erst, über die Kränkung des in seinem Stolz beleidigten Gemüts, ein Übergang - ähnlicher Art wie der im 'König Ödipus' vom Streit der Schwiger zur Eröffnung zwischen Sohn und Mutter (V. 630)1 :

Klytaimestra

Mußt du auch noch mein Opfer stören, weil ich Alles herauszusagen dir erlaubt?

Elektro

Ich laß dich, bitt dich, opfre! Schieb die Schuld Nicht meinem Mund zu, ich verstumme gem !

Und wieder gewinnt dadurch die Szene jene inneren Sperrungen und gegenläufigen Bewegungen, wie sie zum ersten Mal im König Ödipus das Spiel vervielfachten 3• Der Streit, ~enn auch zu Ende, schwingt, zittert doch im Gemüt noch nach, und seine fortlaufenden Wellen wogen in das abseitig gesprochene Gebet hinüber.- Die stumme, aber umso triumphierendere Gegenwart der Siegerin und ihr Triumph ist umso größer, als sie nur der Mutterzugehorchen scheint, auf ihr Geheiß begonnen hat, auf ihr Geheiß v_er• stummt - dieser Triumph bewirkt, daß das Gebet der Schuldigen noch weniger sich frei entfalten kann, als es aus dem verstellten,

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sieh nicht wahr habenden Herzen obnedas vielleicht noch k6nnte (V. 637 ff.):

Klytaimestra

So höre, Phoibos, Hüter du des Tores, Mein heimliches Geraun, denn unter Freunden Darf ich nicht reden, noch ist alles schicklich In ihrer Nlhe an das Licht zu breiten, Daß nicht ihr Neid und yielzüngig Geschrei Mit leerem LArm die ganze Stadt besle ..•

So muß sie, was sie sich wünscht, doppelt verhüllen: vor sich selb,t und vor der drohend Gegenwärtigen:

Klytaimestra

Gewähr uns gnädig alles, was wir flehen Das Weitere, und ruh es auch im Schweigen, Dir, Gott, vertrau ich, daß du alle, weißt!

Denn sich nicht wahr zu haben, vor sich Recht zu haben, wäre das nicht ihr tiefstes Verlangen, hätte sie nicht erst die Tochter reden heißen. So streitet sich in ihrem Gebet Verhehltes und Verratenes, Furcht und Hoffnung, Schein und Sein, Geständnis und der b6se Wunsch; indem sie sich verhüllt, macht sie sich offenbar als falsch gemischte, vor sich selbst verdeckte, bös gewordene Seele. Aber die Verhüllung ist, von ihrer Bosheit abgesehen, nicht mehr wie die im Aias und in den Trachinierinnen 'monologisch', sondern steht als Teil in einem Ganzen gegensätzlicher Verhaltungsweisen. Eine solche Szene wie dies zweite Epeisodion hat nicht nur ein Ziel und einen Anfang. Wie im König Ödipus, in der Entdeckungsszene, Iokastens Aufstieg zum Triumph und Niedergang dem Niedergang und Aufstieg zum Triumph des Ödipus entgegenlief, wie die Figuren einer zweistimmigen Fuge, so ist auch Elektras Aufstieg und Triumph und Niedergang zum Niedergang und Aufstieg Klytaimestras gegenstimmig durchfugiert. Und wenn jetzt das Bewegende im Auf und Ab nicht mehr das Schicksal noch die Götter sind, wenn nur noch menschlich trügerisches Hoffen und Verzweifeln zum Opfer und Spiel einer nur noch poeti•

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sehen Regie und Willkür durch ein grausam täuschendes Zusammentre1Fen wird, so gibt es dafür umso mannigfaltigere Haßund Liebes-, Streit- und Herzenstöne, da nur noch die Seelenund Gefühlswellen gegeneinander schwingen. Die doppelte Stimmführung im sich · drehenden Spiel lißt durch den Dialog gleichsam symphonische Kontraste und Reprisen sich herausbilden (V. 613)1 :

Pfle8er Elektra Klytaimestra Pfte&er Elektra Klytaimestra

Orest ist tot! So dring ich 's in ein Wort. 0 weh, wie macht mich dieser Tag zunichte! Was? Fremdling ?Wassagstdu ?Hörnichtaufdiesel Tot ist Orest, so sag ich noch einmal. Verloren bin ich, Arme, bin zunichts ! Du kümmre dich um dich! Mir, Fremdling, mir Sag du die Wahrheit ...

Auch die Unterbrechung des Gebets durch den hereintretenden Boten, der es unverzüglich, als hätten die Götter es erhört, durch seine Meldung zu erfüllen scheint, ist eine Wiederholung aus dem 'König Ödipus': die Wiederholung jener Schein-Erhörung, die dort dem Gebet der lokaste folgte. Aber jetzt spielt statt des Schicksals und der Götter nur noch die Intrige. Und der Schein ist kein menschliches Sinnbild mehr, sondern nur noch Gelingen einer List ..• Die Zuspitzung der Situation llßt wohl den bühnensicheren Griff erkennen, aber auch nicht mehr. Nur im Gebet der Klytaimestra ist noch Schicksal und Sinnbildlichkeit. Doch diese würde auch bestehen, wenn nicht der Bote die Erfüllung brächte. Und wieder folgt die Erfüllung, mehr um daraufhin die Hintergründigkeit einer in Schuld verstrickten Seele offenbar zu machen als den Trug und die Zerbrechlichkeit menschlichen Daseins. Was einst Sinn in sich war, wird zum Mittel. • Auch die Todesbotschaft ist in ihrer Breite, in der schwelgenden Pathetik ihrer Sprache, nicht viel mehr als ein Virtuosenstück. Das 'alte Rennpferd' läuft sein Rennen nur zu gut. Seiner Intrige hat es Sophokles erlaubt, zu reden, wie er selbst, als Tragiker, im Emst wohl längst nicht mehr gewohnt ist. Es ist, als ob er selbst II

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mit seiner eigenen friiheren Tragödienform sein Spiel triebe. Abel das Spiel ist grausam. Denn das Herz der Leidenden muß brechen~ damit seine Stärke sich bewähre, seine Schönheit sich entfalte. Auch ist dieser wohl nicht zufällig der längste aller Sophokleischen Berichte: damit auch die Qual am längsten dauere. Was an Mitteln z. B. in der Euripideischen Erzählung von dem Todesrennen des Hippolytos zur Darstellung der Wahrheit aufgewandt wurde, wird jetzt verwandt auf die Ausschmückung des herzbrechenden, das Böse zum Triumph lockenden falschen Scheines. Die gespielte Tragik übertreibt (V. 686 ff.) :

Pfte8er Gleich seiner Kraft war seines Laufes Endkampf, Des Siegs gepriesene Krone ward sein Teil . . . . Doch wenn ein Gott Auf Schaden sinnt, kann keine Kraft bestehen. Des Tags darauf, als in der ersten Sonne Der schnelle Kampf der Wagen sich entspann, Trat er mit vielen Lenkern in die Bahn; Der war Achäer, der von Sparta, zwei Aus Libyen, des Jochs erfahrene Meister, Er mit thessalischem Gespann der Fünfte Der Reihe, mit Goldtlichsen kam der Sechste, Ein Ätoler, der Siebte war Magnete ... In der Genauigkeit, im Pomp der Vorbereitung, in der Kunst der Spannungen, im Glanz der Redemittel und in allem, was dem Griechen Peitho heißt, drängt sich der Trug so unverhohlen auf, daß man weder· von einem Stil noch einem Ton noch einer Schauspielkunst etwas begriffen haben muß, um nicht den Schein herauszuhören 1 • Als äußeres Zeichen für die spielerische Anwen· dung der alten Form tritt noch hinzu, daß der Bericht von seinem ursprünglichen Ort, vom Ende der Tragödie, nach der Mitte hin gerückt ist. Und doch muß auch dieser falsche, totgemeldete, von Glanz, Sieg, Spiel umgebene Orest etwas vom wahren haben: denn der wahre wie der totgemeldete sind von Elektras Leiden gleich

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entlemt und denken, von der ·Not der Schwester unberührt, an Sieg und Ruhm. Die Botschaft ist verklungen, doch die Wirkung ist kein Jubelschrei der Siegerin: aus zweifelndem Beginn muß der Triumph sich erst entringen und steigernd entwickeln. Wieder findet eine Wendung, eine Drehung statt. Und die Gefühle, das der Mutter um den toten Sohn, und das der Schuldigen um der behobenen Angst willen, liegen im Widerstreit, bis der Triumph über die Feindin über alles andere siegt (V. 766 if.): Kly,aime&tra

O Zeus, was ist das? Nenn' ich das ein Glück? Oder Verhingnis, und doch nützlich ? W eiche Qual, Wenn nichts mich rettet als mein eignes Leid ? Doch jetzt - vorüber ist mit eins die Furcht Vor ihm und ihr, denn sie, an meinem Hals, Die schlimm're Seuche, sog mir unaufhörlich Das Herzblut aus . . .

Der Übergang, das S~hwanken, der Durchbruch des Kerns durch die hüllenden Schichten löst die frühere, stetige Pathetik ab und läßt die Widersprüchlichkeit der Seele sich entfalten. Das gestaute und sich Bahn brechende 'Pathos' wird von jetzt ab als das stärkere empfunden, ebenso im Bösen wie im Guten 1 • Die lange, reich•bewegte Szene läuft in einen Epilog aas, in dem Klang und Bild, Sprache und Bühne sich verschmelzen, wie das selbst bei Sophokles nicht oft gelingt. Das Tor des Hauses schließt sich, triumphierend läßt die Königin den Boten zu sich ein. Elektra bleibt. Ihr Monolog, die Sprache der Vereinsamten mit ihrem Her und Hin ist wiederum ein Drama für sich selbst an innerer Bewegung. (Wie fem davon waren die Trachinierinnen und der Aias !) :

Elektro· •. • 0 nein, lachend ging sie davon! Ich Arme, Orest, du tot, o liebster, wie du mich zerbrichst! Du gingst, und nahmst mit dir aus meinem Herzen

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Das Letzte, was von Hoffnung mir verblieb! ••• Wohin mich wenden ? Allein hin ich, geraubt mir nun auch du, Zum Vater! Wieder muß ich denen dienen ... Doch linger unter einem Dach mit ihr Bleib ich nicht, vor dies Tor will ich mich werfen, So liebverlassen, aufgegeben liegen! Mag mich beiseite schaffen, wen's hellstigt Da drinnen! ... Das Bild der Bühne wird zum Bild des Schicksals, die Torschwelle der Kulisse zum Sinnbild der Schwelle zwischen der einsam V er• zweifelnden und einem fremd herüberklingenden Frohlocken. Elektra könnte danach tief genug gebeugt scheinen, genug, da• mit der Totgeglauhte mit der Urne vor sie hinträte und ihre Klage die Entdeckung brächte. In der Tat, für die Abwicklung des dramatischen Geschehens könnte das Zwischenstehende, der lange Streit der Schwestern, wohl auch fehlen. Doch wäre damit des Spiels noch nicht genug: noch einmal müssen Trug ~d Wahrheit sich vertauschen, muß Elektra streiten, überreden, eifern, noch einmal muß Peitho's Macht gegen die sanfte Halbheit aufgeboten werden, und als das mißlingt, muß gar Elektra, um die Tat allein auf sich zu nehmen, das Unmögliche -versuchen: fast schon droht sie aus der Leidenden, zu unsrer Angst, zur Handelnden zu werden, da endlich kommt gnädig die Erlösung. Denn das Spiel muß nun einmal so weit getrieben werden, bis das Drama selbst darüber zu zerbrechen droht; so liegt es in der Konsequenz sowohl der Widersprüche der Gestalt wie auch der spielerischen Grundform, aus der alles hier getrieben wird: es ist dieselbe Grundform, aus der auch der Philoktet gebildet ist, aus der allein auch der .deus ex machina im Philoktet sein Recht empfängt: denn auch das Ende der Elektra ist kaum etwas anderes, wenn auch nicht der Bühnengott, sondern an seiner Stelle die vom Gott befohlene Tat rettend den Abschluß bringt. Im Aufbau ist auch diese Szene wieder zweigeteilt, indem zuerst um Schein und Wahrheit, danach um die Tat gekämpft wird.

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Wieder dreht das Spiel vom einen Thema zum anderen hinüber. Aber diesmal hat die Drehung nichts mehr von dem Untergründigen und Schicksalhaften wie im König Ödipus. Es wird mit sicherer Hand gelenkt mehr als der ungeheuren'Eingebung gehorcht. Wenn erst, mit der freudigen Entdeckung des Grabopfers, das Orest gebracht hatte, die Wahrheit aufzudimmern schien, so wird sie durch den Trug, als ob er Wahrheit wäre, gar noch erst als Trug entlarvt:

Elektra Bist du von Sinnen, armes Kind; daß du Dein eigen Leid und meins auch noch verlachst? ..• Das Hin- und Widerschwanken aus der einmal hergestellten kippenden Situation wird fortgesetzt und ausgekostet, hier wieder nicht anders als im Philoktet. Chrysothemis muß erst das ganze Glück ihrer Entdeckung ausbreiten, bis sie erfährt: Orest ist tot! Man darf nicht fragen, weshalb denn Elektra das nicht gleich ihr sage, mag man es immer begründet finden: es ist doch zugleich ein Spiel, wie auch, so sehr man es begründet finden mag, es doch zugleich ein Spiel ist, wenn Orest die Schwester erst so lange um ihn klagen llßt, bis er sich ihr entdeckt. Doch das, dem zuliebe sich dies alles in 80 spielerischer Form herauszubilden scheint, ist und bleibt die seit jeher, zumal auch von Goethe1 80 bewunderte Erkennungsszene, durch die einzig und für immer die 'Wiedererkennung' aus einer Theaterkunstform, die sie mehr und mehr geworden, wieder zur beseelten Sprache und Gebärde sich belebt hat. Aber auch hier darf man über allem Rührenden das Spiel der Täuschung nicht vergessen 2 ! Der Eintritt Orests - ein Diener folgt ihm, der die Urne trägtist nicht umeonst so feierlich. Er setzte die Worte so, daß sie zugleich im Sinne des Betruges und der Wahrheit zu verstehen sind, daß sie zugleich drohen und verheißen, und seltsam verhüllt, fremd und vieldeutig, in die Welt der schwesterlichen Leiden vorstoßen 3 :

Ore!I

Ihr Frau 'n, hat man uns recht Bescheid gegeben, Sind wir auf rechtem Weg, wohin wir gehen ?

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Führerin des Chors Auf welcher Spur bist du? Was treibt dich her? Orest Wo wohnt Ägisth, frag ich den ganzen Weg? Chor So kommst du recht, es log nicht, der dich wies. Wer von euch geht und sagt wohl denen drinnen Orest Vereinten Schritts ersehntes Nahen an ? Chor (auf Elektra zeigend) Wenn es der nächste melden soll, die hier 1 So ist sein Wort so doppeldeutig wie seine Erscheinung, die des Lebenden, der sich als Toten bringt. Und so muß denn die größte aller Klagen, in der nicht ein Chor, sondern nur noch ein einzelner, verlassener Mensch sich ausschüttet, ihr Ziel verfehlen, um es erst verfehlend ganz zu treffen (V. 1126ff.):

0, liebsten aller Menschen, übrig Mal Des lebenden Orest, wie anders Als den ich hoffend sandte, mir Jetzt halt' ich dich, ein Nichts, Und wie war, Kind, dein Glanz,

kehrst du, zurück 1 in meinen Händen, · als ich dich ließ!

Von fremder Hand im Tod betreut, du Armer, Kommst du mir schmale Fracht in schmalem Raum 1 Weh mir, o Pßeg' und Müh' von eh, umsonst! Die ich so oft, zu meiner süßen Last, Dir zugewandt I Warst du doch seit jeher Nicht deiner Mutter Liebling so wie meiner! ... Laß denn mich ein zu dir in deine Kammer, Mich Nichts ins Nichts, daß ich von nun mit dir Dort unten wohne, teilte doch auch ich Mit dir, solang du oben warst, drum fleh' ich, Versag' mir, daß ich sterbe, nicht dein Grab! Um zu erkennen, was auch in der Form an dieser Klage neu ist, mag man gegen sie des Teukros Totenklage aus demAias halten (V .992ff.): 166

Teulcros O Anblick: über alle Anblicke Mir schmerzlich, die ich je mit Augen sah! 0 Weg wie keiner aller meiner Wege, In meinem Eingeweide mich verwundend! Den ich nach dir, auf deiner Spur durchfiog, 0 liebster Aias~ da ich deinen Tod Vernahm ... Der 'Weg', der 'Anblick:', die 'Kunde', das 'Eilen', das 'Ver• wundetsein' 'im Eingeweide': alles das sind Zustände des Reden• den; und von dem Toten ausgehend, strömt das Leid in immer neuen Wellen in den Redenden hinein, der durch den Selbstanruf seines A:ß'ek:tsden Schmerz aus sich entläßt. In der Elek:tra ist das 'Mal', das 'übrig' ist 'vom Lebenden\ die 'andere' Rückkehr, das 'Nichts' 'in ihren Händen', das 'Kommen', die 'Pflege', kurz, was angerufen, was ins Wort gebannt wird, alles das sind Schicksale des Toten, und das Leid dringt, von dem eigenen Schmerz ausgehend, in immer neuen Wellen zu dem Toten hin, wie sie am Ende bittet, seihst in seinen Tod mit einzugehen. Im Aias wie in den Trachinierinnen hat der Schmerz, wie überhaupt das 'Pathos', eine Vorliebe, sich in sich selbst zu runden und in monologischer V ollk:ommenheit und Autarkie, unahgelenkt von allem, was es selbst nicht ist, sich auszuklagen. Auch mit der Antigone verhält es sich nicht anders, wenn sie in der Klage um sich selbst ihr Grab anruft und ausspricht, was sie für den Bruder tue. So hat auch die ganze Teuk:ros-Klage ihren Schwerpunkt im klagenden Selbst; in Aias' Tod beklagt Teu• kros sein eigenes Geschick: und darüber hinaus das menschliche Geschick schlechthin. Denn auch das Gnomische trägt dazu bei, die Klage in sich selbst rund und autark zu machen. Doch mit welcher Macht dringt jetzt, in der Elektra, das 'Pathos' zum Du hinüber! Es gibt keinen tönenderen Sturm der schwesterlichen Liebe hin zum Bruder mehr als diesen. Und damit noch nicht genug. Elek:tras Totenklage ist, trotz ihrer Hingabe, wenn man sie nur mit Augen liest, ein Monolog, das heißt, ein von der Gegenwart anderer Personen unabhängiger, vonallem anderen abgewandter, in sich selbst verschlungener Verlauf, also

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scheinbar die Wiederholung der geschlossenen Redeform. von ehedem, ein Monolog jedoch, der sich von allen früheren Monologen, ja von allen Monologen der Weltliteratur dadurch unterscheidet, daß er dennoch, ohne daß die Redende es ahnt, mit solcher Macht zu einem gegenwärtigen, hörenden Du hinstürm.t und -brandet, es ergreift, durchdringt, erschüttert, daß seiner hindringenden Gewalt kein o:fl'enesund bewußtes Hinreden zum anderen gleichkäme. Noch einmal werden Schein und Wahrheit im Geschehen vertauscht, damit die innere Wahrheit, die der Seele, sich erweise, doch jetzt durch kein Ausgestoßen-Sein mehr, sondern durch die weheste und zugleich beglückendste Berührung 1 • Und mit welcher Breite, welchem Reichtum strömt dies neue 'Pathos' hin! Die Stimmen der sich Findenden wechseln und wiederholen sich, bis zum endlichen Sich-Besitzen, in immer neuen Dis• harm.onien und Übergängen, klingen füreinander fremd, und ant• worten einander doch, als ob eine der anderen Echo wlre, klingen aus der nächsten Nähe, und sind doch wie Rufe, die aus einer weiten Feme sich erreichen;- die Spannung zwischen der Ferne und der Nähe hält an, wichst, steigert sich Grad um Grad, bis die Seele zerreißt (V. 11746'.): Orest Elektra Orest Elektra Orest Elektra Orest Elektra Orest

Weh, weh! Was sag' ich? Wo gerat' ich hinIns Weglose! Mir weigert sich die Zunge! Was macht dir Mühe ? Wozu sagst du das? Ist dies Elektras strahlende Gestalt ? Das ist sie, und gedemütigt genug ..•• 0 gottlos, unwürdig entstelltes Haupt! Die hin ich wahrlich, Freund, die du so schmlhst ! 0, elende, unhochzeitliche Pflege! Was ficht dich, Fremder, an, daß du das klagst? Daß nichts von meinem Leide mir geahnt!

Durch ein Spiel immer neu einsetzender Dissonanzen wird die Auflösung von Takt zu Takt hinausgeschoben, ja, fast schon im Augenblick des völligen Besitzes muß erst noch

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der Schein der völligen Beraubung stellen:

Orest Elektra

Orest Elelara

Orest Elektra

schrill sich vor die Lösung

Fort mit dem Krug, und alles sollst du wissen! Nicht, bei den Göttern, Fremder, tu' mir das nicht! Folg' meinem Wort, du wirst es nicht bereuen! Bei deiner Wange, nimm mir nicht mein Liebstes! Das duld ich linger nicht! Weh mir, um dich, Orest, sie rauben, ach, mir deine Asche !

Die äußere, psychologische Wahrscheinlichkeit gilt nichts mehr vor der Wahrheit der seelischen Situation 1 • Welch andere Pathetik als die monologische des Aias oder der Trachinierinnen ! Aber auch welch andere üisung der Intrige als im Drama des Euripides ! Wenn unter einem' Anagnorismos' ein Doppeltes verstanden werden kann, erstens Erkenntnis der Person, zweitens der Seele, so kommt es bei Sophokles, zum Unterschied von der Euripideischen Begebenheitsdramatik, nur nooh auf dies zweite an. Und zwar wird nicht das erste zu des zweiten Vorbedingung, vielmehr wird das erste mit im zweiten einbegriffen, so daß die Erkenntnis der Person Symbol des seelischen Sich-Findens wird. Mit dem, was psychologisch mög• lich sei, kann dies, wie alles große Seelische der Kunst, nur bis zu einem Teil sich decken. Das Erkennen ·wird zum seelischen Ergreifen, das Besitzergreifen wird zum Durchbruch von dem innerlich gehegten Du zum leihhaft gegenüberstehenden. In der Euripideischen Elektra wird im Anagnorismos (V. 570fF.) all.ein das 'Unverhofft' herausgestellt, es drängt sich sogar in den Ausruf der Erkennenden: 'Ich hab dich wider Hoffen' (tx(I)a a.&A1M'(I)~). Das Euripideische Wiedererkennen geht aus von dem Rätsel des fremd Gegenüberstehenden, das es zu raten gilt, es liuft den umgekehrten Weg . . . Bei Sophokles bricht die verschlossene Seele auf und dringt zu ihresgleichen 2 : 0

Elektra

Orest

Er lebt? So wahr ich seihst am Leben bin!

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Elektra Orest Elektra Orest Elektra Orest Elektra Orest

So bist du Er? Sieh diesen Ring vom Vater An meiner Hand, ob ich die Wahrheit sprach !1 0 liebstes Licht! Du liebstes, sag' auch ich! Stimme, du kommst? Durch keinen andern mehr! Hält dich mein Arm ? Für jetzt und alle Zeit!

Denn wie Elektra erst unter dem Zwange des Trugs die Tiefe ihrer Schwesterlichkeit offenbaren kann, muß auch Orest, unter demselben Zwang erst wachsend, aus dem Frischgemuten, Siegesfrohen zum schmerzlich Erfahrenden, Mit -Leidenden werden, damit die geschwisterliche Seele auch in ihm durch die Berührung mit dem Gleichen sich entzünde. Und wie schon einmal das Spiel fast aus den Fugen ging, droht vollends durch das Herzensungestüm und Freudenunmaß, das nic4t anders sich auslassen kann, als indem es ins Lyrische hinüber schwenkt,· das ganze Drama zu zerbrechen, die Intrige, der Plan, alles in ein Nichts zu sinken - böge es nicht mit Gewalt am Ende in die anfängliche Bahn zurück (V. 1288ff.). Jetzt wird Orest der Führende, Befehlende, und die noch eben sich selbst an die Tat gewagt hatte, fügt sich ihm willig, ihn befeuernd, und doch selig wieder in den Schranken ihrer Weiblichkeit. Noch einmal schwillt der schwesterliche Ton in der getragenen Sprache an, dann setzt das äußere Bühnenspiel das Spiel der Seelen nur noch rahmend fort. Mit dem Hervortreten des treuen Pflegers, der hinter dem Torso laDg gewacht hatte, damit nicht ein Verräter die Ergießungen belausche, gewinnt die nur noch abschließende Tat von Anfang an eine willkommene Wendung ins Beherzte, Mutige. Im übrigen ist von dem Ende nicht viel mehr zu sagen, als daß es das Ende ist. Das Schrille, Furchtbare des Muttermordes wird gedämpft 2 , die beiden Morde, als Rache des Toten, als Befreiung aus der Knechtschaft, als Vollzug der göttlichen Gerechtigkeit, werden der Selbstverantwortung der Mordenden entrückt, aber Beseeltes bricht sich nicht mehr Bahn, Handlung und

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Sprache haben ihre Pflicht erfüllt, indem sie dem verlangten Stil, nach Aischylos, Genüge tun. Selbst das dazugehörige Ekkyklema, der Rollenapparat, setzt sich in Tätigkeit 1 , .Ägisth, die aufgebahrte, zugedeckte Leiche Klytaimestras, die sich aus dem Hause schiebt, enthüllend, meinend, es sei die Orests, während die Rächer ihn umstehen, während Elektra ihn umschmeichelt •.. all das ist gewiß nicht unwirksam, allein kein Sinn an sich, und mehr Tragödie des Theaters als der Dichtung. Um dergleichen Bühnenwirkungen zu sehen, kann man sich auch an andere Dichter wenden als an Sophokles. Aber die alte Sage und was ihr Genüge tut, ist hier auch nicht mehr als ein Text zu einer neuen, unerhörten Melodie 1 •

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PHILOKTET

Dion von Prusa hat in einer seiner Reden die drei Philoktete der drei Tragiker verglichen und das edle Maß des Sophokleischen, als Mitte zwischen den Extremen, zwischen die archaische Gewalt des Aischyleischen und die rethorische Buntheit und Vielgestalt des Euripideischen gestellt. Zeitlich betrachtet steht der Sophokleische vielmehr an letzter Stelle - das Datum, 409, ist überliefert, der Dichter war in den Achtzigern, nicht weit davor wird die Elektra anzusetzen sein, jedoch um der Euripideischen Elektra willen vor 413 1 • Sehr viel früher entstanden war der Philoktet des jüngeren Dichters, 431, gleichzeitig mit der Medea. Aber auch stilistisch stand der Philoktet des Sophokles, nach den uns mitgeteilten Proben aus den beiden anderen, eher jenseits der beiden als in deren Mitte. Im Philoktet des Aischylos standen Odysseus und der leidend Grollende allein sich gegenüber, in den Epeisodien überwog die Form des tragischen Berichts, vor einem Chor von Lemniem klagte Philoktet sich aus, Odysseus, unerkannt, log Schändlichkeiten, die er selbst begangen hätte, vor .. Euripides behielt den Chor der Lemnier bei, aber ersetzte den einfachen Gegensatz durch ein ver• schlungenes Spiel: der längst verlassene, kranke Held plötzlich umworben und in ein Intrigen-Netz verwickelt, indem zwei Parteien, eine troische Gesandtschaft und Odysseus, unterstützt von Palamedes, ihn sich streitig machen ... Sophokles erst macht Lemnos zur gänzlich öden Insel, bildet seinen Chor als Schiffsmannschaft, steigert die Einsamkeit und setzt, indem er erst den Neoptolemos hinzuiügt, statt der Antithesen und der Zweizahl die verbindende, . im Kreis bewegte Drei. Dank der Dreizahl seiner Personen entsteht ~rstmals ein wechselndes Zueinander im ständig drehenden Spiel, und die Intrige wird zum Band und Schicksal der verflochtenen Seelen. So ist denn der Philoktet das ausgewogenste und tiefste attische Intrigenstück geworden, die poetische Rechtfertigung der ganzen

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Gattung. Die Intrige, gleich fern von einer politischen Aktion, als die sie bei Euripides erschien, gleich fern von einem spannungsreichen Abenteuer, einer seltsamen Begebenheit, als die sie gleichfalls bei Euripides erschien, gründet sich einzig und allein im Philoktet auf die Notwendigkeit d,es Menschen, wühlt menschliche Willen, Zweifel, Leiden auf, vereint, erschüttert, trennt, ergreift, und nicht nur durch die Seltsamkeit der Umstände, die sie herbeiführt: hier allein erscheint die 'List', der krumme Weg, als ein notwendiger Bestandteil des Erfolges und des Sieges 1 • Sofern Neoptolemos, als Erbe seines Vaters, auf den Sieg gewiesen ist, sofern muß er sich irgendwann und irgendwie auch mit dem krummen Wesen auseinandersetzen, ohne das, in dieser Welt, das Hohe nicht zu haben scheint. Damit wird sein V erhiltnis zur Intrige wesentlich, es bleibt nicht, wie das des Orest in der Elek.tra, zuflllig. Noch weniger ist Philoktet, der leidend Unnachgiebige, nach Art und Schicksal von der 'List' zu trennen, die ihn nutzen will, ohne nach seinem Menschentum zu fragen. Wie in der Elektra die 'Wiedererkennung' aus einer Theater-Kupstform wieder zur Dichtung geworden ist, so die 'Intrige' im Philoktet'. Der 'Prolog', oder die erste Szene bis zum Einzugslied des Chores, lißt, wie eine Ouvertüre, die Motive, die das spätere Spiel bewegen, vorerklingen, doch noch unentfaltet und mit einer vorläufigen umgekehrten Lösung. Schon zeigt sich der Gegensatz zwischen dem einsam Leidenden und dem rechnerisch Nutzenden, doch wird der Leidende an seinen Spuren, Schauplatz und Gerät, nur erst geahnt. Gleichwohl ist das Gespräch zwischen Odysseus, dem vorsichtig Führenden, und N eoptolemos, dem fast noch knabenhaften, folgsam Suchenden, nicht nur in Dialog gebrachte Schilderung, sondern schon Dissonanz der Stimmen und Scheidung der Seelen (V. 26 ff.): Neoptolemos So führt dein Auftrag, Fürst Odyss, nicht weiter, Die Höhle, wie verlangt, glaub' ich zu sehen. Odysseus Gib acht, daß er nicht schlafend drinnen steckt! Neoptolemos Der Bau ist leer, von Menschen keine Spur. Odysseus Auch nichts gesorgt für's hiusliche Behagen?

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Neoptolemos Gehäuftes Laub, als wär's zu einem Lager. Odysseus Sonst alles leer, und nichts mehr unterm Dach? Neopto'lemos Aus rohem Holz, von schwacher Kunst gemeistert, Ein Trinkgeschirr, ein Feuerzeug daneben. Odysseus Sein Eigentum! Da hast du seinen Schatz! Neopto'lemos O ! 0 ! Und. Lumpen liegen dort und trocknen, Von einer bösen Schwärung Eiter voll! Odysseus Dies ist der Ort, hier haust er, das ist klar! Und ist nicht fern! Ein Mensch, an dessen Fuß ·Ein altes Übel frißt, lieht nicht zu wandem. Odysseus ist bereits im Vorspiel der geschmeidig Angepaßte, dessen Mahnung auch an Neoptolemos aus seiner Kenntnis der Person des anderen strömt. Vergleicht man die nicht minder väterlich gemeinten Mahnungen des Kreon an den Sohn in derAntigone: wie war da jeder Satz von der Person des Redenden bestimmt; keine Maxime, an die er nicht glaubte, wie er sich auch drehte ••• Hier dagegen eine Anpassung fast wie eines Erwachsenen, der zu einem Kinde spricht. Gar die V ertröstung auf die Zukunft voller Redlichkeit - als hätten Anstand und Gemeinheit etwas mit der Zeit zu tun - gilt nicht iür ihn, den Redenden ... Dabei wird die Gemeinheit keineswegs bemäntelt. Und der Listige ist in sidl seihst ganz unverstellt, bis in's Ironische. Aber dadurch gerät der väterliche Ton zum Inhalt in ein seltsames Verhältnis:

Odysseus

Und hörst du Dinge, die dir unerhört, Faß an! Hand anzulegen stehst du hier! 1 Neoptolemos Und was befiehlst du? Odysseus Deine Worte mußt du setzen, Daß du in's Herz des Philoktet dich stiehlst .•. Gewahrt er mich, und ihm zur Hand der Bogen, Bin ich verloren, und dich reiß ich mit. Drum eben gilt's die List: sieh, daß zum Dieb Du dich der Waffe machst, der nie besiegten! Ich weiß, mein Sohn, dein Wesen, deine Art 17,4,

Striubt sich vor solcher Rede, solcher Tücke. Und doch, der Sieg ist ein so köstlich Ding Erk~hn dich; nachher sind wir wieder redlich. Nur für dies Bruchteil eines Tages laß dich Zur Schande leiten, und du magst dein Lebtag Als frömmster Mensch in aller Munde sein. Schon ein so unmittelbarer Übergang wie in V. 79 das 'Ich weiß, mein Sohn ... ' kommt in der früheren Zeit nicht vor. Nimmt man zu diesem und dergleichen etwa solche Dinge wie die mimischen Ton.fälle in den Reden der Elektra, so ergibt sich wieder, unbeschadet der f.harakterunterschiede, ein Sprachunterschied im allgemeinen. Ehemals, im Aias und in den Trachinierinnen, hatte selbst die List die Form der Selbstverhüllung, erschien als 'Pathos' des Redenden, als Selbstbewegung, Manifestation des 'Dämons', ohne Übergreifen in ~in Du. Hier aber, wie steht Menschliches auf Menschliches bezogen! Ist Odysseus von den Tatsachen geschlift'en, so sehr Spiegel der Konstellationen, daß sein Heldentum darüber fraglich wird, so wird bei Neoptolemos die Reihung an dem Widerstand der Tatsachen so stark, daß seine Tauglichkeit zur Tat am Ende fraglich wird. Er sieht nicht ein, er irrt sich immer wieder, seine Geradheit läßt ihn falscher als den Falschen werden, bis er glaubt, den Knoten durchhauen zu können ..• So selbständig er zu sein glaubt, so bestimmbar und entzündbar ist er, jugendliches Material, erst in den Händen des Odysseus, dann des Philoktet. Und wieder klingt, wenn auch gedämpft, der spätere Widerstreit bereits im Vorspiel an. Die jugendliche Würde, mit der N eoptolemos beginnt:

Neoptolemos Ich für mein Teil, was mir zu hören peinlich, Sohn des Laertes, haß' ich auch zu tun! dreht und verkehrt sich nur zu bald zu fügsamer Beschwichtigung. Er hat sich beinahe schon ergeben, da er sich zu widersetzen anfingt. Noch einm11:ldurchläuft der Redewechsel den ringsgeschlos-

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senen Ring, doch weniger, um ihn kühn zu durchbrechen, als damit alles getan sei: · Neoptolemos Wenn dem so ist, muß ich ihn wohl erjagen! Odysseus So bist du klug, und tapfer obendrein.

Der Junge, zwischen den beiden alten, fest Gewordenen, hat den Kampf der Gegner in sich auszukämpfen. Er hat teil an beiden, am einen durch seine Lage, Aufgabe und äußere Bedingtheit, am anderen durch seine Artung und sein Herz. So hilt er als verbindende und wiederklingende Gestalt das Schicksal aller drei zusammen. Doch wiewohl in seinem Inneren zu bestehen, ist doch sein Kampf nicht, wie im deutschen Drama, ein Konflikt der Normen, Rechte und Ideen: seine eigene Aufgabe, sein eignes Heldentum, sein Ruhm, sein 'Vatererbe, seine eigene Zukunft, in die er hineinzuwachsen hat, sein eigenes Selbst vor allem, und nicht etwa Staatsraison, Pflicht, höherer Befehl, noch ein jenseitiges Prinzip ist, was ihn in den Kampf mit seiner eingeborenen Art hineintreibt. Odysseus hat recht: so hohe Dinge, wie die Welt nun einmal nach der Götter Willen ist, sind ohne krumme Wege nicht zu haben. Der Konflikt im Hinblick auf das Prinzipielle, der Kampf zwischen Redlichkeit und Trug, Gerechtigkeit und Ruhm ist bald entschieden: denn noch fehlt das Wissen um den Mitmenschen, noch fehlt das Opfer. Der entblößte und in seiner Blöße wahre, der herzhafte und in seiner Größe einseitige Mensch, in seinem Leiden und in seiner Leidenschaft, dies von dem jungen bisher ungekannte Schauspiel, und, mehr als ein Schauspiel, dies Berührtwerden vom Zauber seiner Seele, dies erst führt den eigentlichen Kampf herauf und hebt den inneren Zwist in's schicksalhaft Bedeutsame. Aber das Vorspiel spielt noch unbeschwert, gewicht.slos, wie das der Elektra. In den nur zu leicht errungenen Sieg der 'Klugheit' über die 'Gerechtigkeit', mit dem es endigt, beginnt e,st das U nberechnete, der andere Mensch, zu treten und mit ihm ein neues Ungestüm der Seele wie der Sprache, ein zum andern hin schwingender Ton, vom ersten Laut an, mit dem Sich-Erlaben an.

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dem lang gemißten Glück gesprochenen und vernommenen Worts (Vergleichhares begegnet nur wieder in der Elektra):

..

Philo'/ae1

••• Eure Tracht Ist die der Griechen - meine vielgeliebte! Doch eure Stimme laßt mich hören! Laßt nicht Von meinem wilden Anblick euch entsetzen! Erbarmt euch eines einsam armen Mannes, Der so verlassen, ungeliebt verkommt! So redet doch, ihr kommt als Freunde doch! Antwortet doch I Ihr werdet mir doch dies Nicht schuldig bleiben, wie auch ich nicht euch!

Ein solcher 'Überschwang des mitteilsamen Worts aus Leid und Einsamkeit, im 'Oberströmen in's endlich bescherte Du-wie nichtig steht davor die aufgezwungene Rolle! Die Verlegenheit muß sich damit entschuldigen, daß sie das Ungestüm der Frage nur nach ihrem Wortsinn nimmt (V. 232):

Neopwlemos So hör zuerst, mein fremder Freund, daß wir Hellenen sind - da du dies wissen wolltest. Philo'laef O liebste Stimme! Ach, auch nur den Laut Seit langem solcher Sprache wieder hören! usw. Aber je dürftiger und fraglicher davor der Junge steht, umso ergreifender erklingt des anderen Seele. Eine Grund-Situation, die im Wechsel des hin und her schwankenden Spiels die gleiche bleibt, tritt hier hervor, wie sie, den früheren Dramen unbekannt, zum ersten Male in der Elektra vorgeformt sich findet: eine reziproke Spannung beider Ich zum andern hin und aneinander gleichzeitig vorbei, und umsomehr zum andern hin, je mehr daran vorbei. Je peinlicher verstellt, maskiert, gefälscht, bei wachsender Bewunderung, der eine, um so mehr erschließt im andem sich das bloßgelegte, ohne Rückhalt liebende wie ohne Rückhalt hassende, in seiner Hingabe betrogene Herz. Erst durch den Trug und die Befremdung, die er schafft, kann Philoktet so herzlich überwallen, wie III

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im zweiten Teil ent dadurch, daß am Ende Philoktet den Neopt.olemos verkennt, nun dieser auch_ sein wahres Wesen zeigen dar& Zugleich damit ist ein N uancenreichtum der unmittelbaren und metapherlosen, von der übentrömenden Bewegung nur durchwogten Sprache zu gewahren, wie weit über den pathetischen, sei's gnomischen, sei's bilderreichen Stil der früheren Zeit hinaus!

Philolae1

0 Kind, o des Achilleus Sohn, ich bin's, Ich, vor dir hier - von dem vielleicht du hörtest Als Herakleisch~n Bogens Herrn und Erbe, Bin Sohn des Poias, Philoktet! •••

Wie trägt da das abtönende 'vielleicht' in die ergrifi'ene Selbstvorstellung jene Gegenstrebigkeit von Stolz und Verzicht, die für dies Heldentum bezeichnend ist: des von der Welt Vergessnen, von ihr Ausgestoßnen, der dennoch als einzig wahrer Held noch von ihr übrig ist (V. 260). Die Herzlichkeit des wahren Tons ist um so tiefer, je mißtönender in ihn hinein der nachgemachte, künstliche erklingt, mit dem sich Neoptolemos verschwört· (V. 324):

Neoptolemos Daß meine Faust den Grimm mir löschen könnte, Und Sparta und Mykene spürten, daß Auch Skyros seine Heldensöhne zieht! Der falsche Ton, mit dem das Lügenmlrchen anhebtmühsam, (LOAt;,doppelsinnig hier gesagt - wird, kaum daß es begonnen, auch schon unterbrochen. Der Tod des Achill, iur Neoptolemos der ente Ansatz seines weiteren Ausholens:

Neoptolemos Da den Achill das Schicksal traf' zu sterben ergreift den Hörenden so heftig, daß für einen Augenblick der Schein zerreißt (V. 331):

Philoktet

·O ! Halte ein, nicht weiter, bis ich erst gehört: so ist er tot, des Peleus Sohn? •• 1

...

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Neoptolemos Dir wär, dünkt mich, dein eigner Schmerz genug, Um nicht den fremden auch noch zu beklagen! Indessen geht es nach der Unterbrechung weiter in den lügneri• sehen Ton hinein - die wahre Stimmlage wird, kaum daß sie er• klungen, durch die falsche wieder abgelöst 1 • Gefälscht jedoch wird nicht so sehr der allgemeine Zustand, in dem sich das Heldentum befindet, als die Art, wie N eoptolemos sich selbst in die Helden• gesellschaft als ihr Glied hineinstellt: der nur allzu leicht sich Fügende und seine Geradheit nur zu schnell Preisgebende tritt auf als Ausbund eines Heldentrutzes, der es darauf abgesehen zu haben scheint, den Zom Achills zu überbieten. Wie in der Elektra wird der falsche Vortrag umso überladener, umso reicher an pathetischem Detail - man sehe den ausgiebigen Gebrauch direkter Reden! -, je handgreiflicher die Lüge wird. Sogar die Gnomik stellt sich in den Dienst des falschen Spiels 2 • Der Redende selbst tritt agierend in den eigenen Trug hinein, eein Trieb, dem Vater gleich zu sein, mischt sich in die erzwungene Rolle, in die er schauspielerisch sich findet, daß es Wunder nimmt (V. 367):

Neoptolemos Da spring ich auf, und meinem Aug entstürzen Die Tränen bittren Zorns, und qualvoll sprech ich: Wie, Elender, ihr wagtet ... ? Die aber sprachen, o ! das niederträchtige Wort! •.. Die Intrige wird so weit getrieben, daß der Chor, hineinsingend in die verklingende Trugrede, mit dem feierlichsten Anruf der phrygischen Mutter die Lüge beschwört; wie schon in der Elektra nicht nur das Berichtete, sondern zugleich das Genus des pathetischen Botenberichts zu einem Spiel im Spiel gemacht wurde, nicht anders wird hier die traditionelle Form, das Pathos tragischer Beschwerde, samt einfallender Bekräftigung des Chors, ihres ursprünglichen Sinnes beraubt und in das Widerspiel von Schein und Sein gezogen:

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Chor

Gebirgige du,Allnlhrerin Erde,Mutter du selbst des Zeus, Wohnend auf des Paktolos goldbergendem Gipfel, Heilige Mutter, dich rief ich auch dort -

Die Pridikate, ihre Stellung und Bedeutung, die Ortsangabe, die Berufung auf den früheren Fall der göttlichen Bezeugung1, alles ist vollkommenster altheiliger Gebetsstil. Aber es folgt: Da der Atriden ganzer Hochmut auf ihn rückte, Seines V aten W afl'en übergaben sie - o ! himmlische Reiterin du auf stie•mordenden Löwen! - dem Laertes•Sohn, Die höchste Zier! Der Prizedenzfall, auf den sich der Betende oder den Gott zum Zeugen Rufende (was hier dasselbe ist): nach feierlichem Brauch bezieht, ist eine unverhüllte Lüge, und _die eingeschobene, falsch pathetische Interjektion:! 'o himmlische •.. ' ist eine Wiederholung der falschen Pathetik im Bericht des Neoptolemos (V. 3'62): ,,Die aber sprachen, o ! das niederträchtige Wort ... " Hier nicht anders als in der Elektra haben denn auch die Erklärer, um die Norm zu retten, als Regel des· Szeniken herausgebracht, daß er dem 'Pathos' jedes Augenblicks sich blindlings hingebe, ohne vom Hörer zu erwarten, daß er vorwärts oder rückwirts schaue. Und doch spiegelt sich deutlich genug das Spiel, das mit der Situation getrieben wird, in der gestörten Harmonie der feierlichen Form, indem der weihevolle Anruf keiner Weihe des andächtigen Momentes mehr ent,pricht 2 • o·as Heiligste wird Mittel des Verrats! Die durch den Dialog getrennte Gegenstrophe geht noch weiter: das ganze, so oft mit tragischer Ergriff'enheit geübte Spiel von Bitte, Zögern, Überwindung und Gewährung wird zum trügerischen Schein 3 • Beim Zeus der Bittenden hat Philok.tet den Neoptolemos beschworen (V. 484): 'um der Nemesis der Götter zu entrinnen', dringt der Chor, die Bitte zu gewähren. Der Verrat am Unantastbaren im Menschenwesen scheut sich nichi, sich in die Religion des Unantastbaren zu hüllen (V. 507 ff'.). Wenn der Geist

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der Zeit, der Geist dd letzten Drittels des PeloponnesischenKriegs, auch nicht in tendenziösen Hinweisen, wie bei Euripides, hervor• tritt, so hat doch die heldische Gesellschaft auch bei Sophokles .etwas von diesem Geiste abgefärbt; der Trug ist herrschend, und nicht nur Odysseus ist der Falsche1. Nun aber fangen Trug und Wahrheit an, sich zu verschlingen. Was der Ausgestoßene von den fernen Heldenschicksalen erflhrt, ist wahr. Daß Aias tot ist, aber Diomedes lebt, Patroklos sterben mußte, doch Thersites nicht, die Schlauen und Gemeinen in der Hut de1' Götter stehen, der Tod die Guten und GeJ'echten raubt, daß jetzt Odysseus als der große Mann gefeiert wird, daß die Herrscher den Ton angeben, alles das ist wahr. Die trübe Heldenschau dieses Gesprächs ist keine Wiederholung der archaischen und noch halb epischen Berichtsformen, wie sie, V ergangenes nachholend, in den Trachinierinnen noch so vielen Szenen ihr Gepräge gaben. Was hier ausgebreitet wird, ist Teil und Ausdruck des verlassenen Daseins, nicht weniger als öder Fels und weites Meer: so öffnet sich, von der Küste des Einsamen, der Ausblick auf die Welt der heldischen Gesellschaft, von der sich die Leidensstltte abhebt als von ihrem Hintergrund und Rahmen. Wie d·as Dasein des V erlassenen, wie er schlift und wie er jagt, wie er sich wärmt und wie er friert und die Natur zur Freundin und zur Feindin hat, kurz, wie sein ganzer ·,Bios' sich in einer Breite darstellt, wie dergleichen sonst nur wieder die Elektra bietet, so gehört zu diesem Bios, um ihn zu umreißen, auch sein Widerspruch zu jener Welt, zu deren Auswurf er geworden. Das umweltliche Detail, in der Elektra wie im Philok• tet, ist wesentlich verschieden von den schicksalhaften Teilver• llufen, aus denen das Schicksalsganze der Trachinierinnen sich zusammensetzte. Jene Teilverllufe konnte nur das neuzeitliche Mißverständnis als Umwelt oder 'Milieu' verstehen, doch solche Dinge wie der thronende Ägisth in Agamemnons Kleidern, wie die Opferleiem Klytaimestras oder das prinzeßliche Gehaben der Chryso• themis verhalten sich zum Leiden der Elektra in der Tat kaum anders als die schmerzenden, gemeinen Hintergründe zu den Leiden Philoktets.Als leidend Trotzender steht Philoktet zur Welt, in die er unprünglich gehört, die über ihn jetzt triumphiert, nicht

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anders als Elektra zu der ihren. Und wie dort das fremde Feiern, Urmen und sich Wohlbefinden, so klingt hier der fremde Ruhm der glücklichen Unwürdigen herüber, die in dem jenseits währen• den Weltgewühl sich unter ihresgleichen fühlen.Wenn im Philoktet der Umkreis weiter ist und Fern und Nah, Freundschaft undFeind• schaft und den ganzen Heldenraum umfaßt, in der Elektra sich auf nl~hste Blutgemeinschaft, Haus und Hof und engen Kult beschrlnkt, so liegt der Unterschied im Stoff', nicht in der Art der Spannungen an sich. Doch um das falsche Spiel, das die Gemeinheit mit der Echtheit spielt, noch weiter vorzutreiben, folgt ein Bitten des Betrogenen und darauf ein Dank, so herzbewegend und so strömend, wie der• gleichen wieder kaum zuvor sich findet. Neoptolemos scheint sich zum Gehen zu wenden - wieder ist es, wie in der Elektra, eine Eigentümlichkeit der ulilflnglichen Epeisodien,daß sie von der Mitte ab in eine neue Richtung biegen-: da löst und befreit sich durch den Trug die Lauterkeit einer noch kaum zuvor vernommenen Sprache. Was an diesem Tone neu ist, um wieviel beweglicher, schmuck• loser, darur hingewandter und situationshaltiger diese Sprache ist, llßt sich vielleicht am leichtesten anschaulich machen, wenn man damit eine Bitte nicht geringeren Gewichts aus einem frühen Stück vergleicht, die Rede der Tekmessa aus dem Aias (V. 485 ff'.): dort die Bittende vom 'Pathos' ihres eigenen Bittens, von der Schicksalhaftigkeit der Bitte so enüllt, daß sie als bittende Gestalt fast auch ohne den Hörenden bestünde; gnomisch hebt sie an, nach Art der tragischen Berichte; was sie bittet, wird zum Beispiel eines schicksalhaften Allgemeinen; selbst die Bitte kleidet sich, auf dieser frühen Stufe, in die Form der tragischen Eröfl'nung; sie beguµit nicht von dem her, zu dem sie redet, der Impuls des Worts geht nicht vom andern aus, im weit geschwungenen, um sich selbst gezogenen Bogen ausholend, gelangt sie an ihr Ziel und wieder zu sich hin; in klingenden Parallelismen reiht sie die Gewähren ihres Flehens, die Dreigliederung (V. 506-513) ist dieser Bitte inneres Maß; und wie das Ganze gnomisch anhebt, steigt und schreitend sich bewegt, steigt jeder Satz, erreicht die Höhe seines Tons und neigt sich seinem Ende zu. 182

Im Philoktet dagegen statt des klang- und sinnschweren Gefüges ein stoßweises Andringen, ein stets erneuter Ansturm, statt des weitgezognen Bogens der unmittelbare Weg zum Herzen, wie im Ganzen so in jedem Satz: verschwunden das Gegliederte:· denn was die Bitte trägt und treibt, ist das hindringende Verlangen, im Nichsten den eignen Zustand zu erwecken; anstatt aus dem Ich, empfingt das Wort seine Bewegung aus dem Du; sogar die Gnome, die die Bitte untentützt, schließt sich dieser Bewegung an und wird nach Sinn und Tonfall vom Ethos des andern her bestimmt (V. 4.67):

.

Philo'/aee So brecht ihr auf? ••• 0 denn, bei deinem Vater, Kind, und deiner Mutter, Bei allem, was du Liebes hast daheim, Beschwör ich dich: laß mich nicht hier allein, Verloren nicht all dieser Qual gesellt, Die dir vor Augen steht, zu Ohren dringt! Nimm mich, als führ' ich blind! Beschwer genug, Ich weiß es wohl, ist eine solche Frachtl Doch überwinde dich! Dem Edlen ist Das Schlechte feind, und nur das Gute schön!

. .. Sieh, keinen vollen Tag wlhrt dir die Müh ! Faß dir ein Herz, wirf mich, wohin du willst, Zum Bug, zum Steuer, in den Kielraum, wo Am leichtesten die Mannschaft mich ertrlgt ! Sag ja! Beim Zeus der Bittenden, mein Kind, Gib nach! So sieh mich vor dir knien, so schwach Ich Armer bin, so lahm! V erlaß mich nicht In dieser Öde, die kein Fuß betritt! ••• Zugleich verbindet sich damit eine Gewichtsverteilung zwischen erster und zweiter Person, die, je mehr sie dem Du verleiht, desto bescheidener mit dem Ich verflhrt, in dem entsagenden Bewußt• sein dea verlorenen Werts:

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Philo'ldd

.... In deine Heimat, oder rette mich Nur bis Euböa nach Chalk.edons Höfen, Von dort wird nicht mehr weit zum Ota sein, Zum Fels von Trachis und zu des Spercheios Gewissem; daß mein Vater mich empfangeZwar fürchten muß ich längst, er ging dahin, usw.

Auch von den Tönen dieser leiseren Tragik. wußten noch die früheren Dramen nichts. Noch wußten sie von diesem Schwanken zwischen Stolz und Leidensdemut, noch von diesem Jlangen an der Leidensstltte: die als Wohnstätte und Umwelt so sehr mit dem Menschen eins geworden ist, daß davon sich zu trennen doch zuletzt nicht ohne Ehrfurcht angeht. • Aber was ist der Erfolg der Bitte? Jetzt wird aus der lußeren eine innere Umgamung. Jetzt wird nicht nur ein Mißtrauender durch Lügenmären hintergangen, jetzt erliegt ein rückhaltlole8 Herz, ein ganz sich gebendes Gemüt dem Schein von Seinesgleichen. Wenn ein Guter lügt, so wird es eben allemal viel schlimmer, als wenn nur ein Lügner lügt. Das 'Überwinde dich' wird aufgegrift'en durch ein Spiel des Zögerns, durch den Anschein eines edlen Wettstreits, ein~ Siegs über sich selbst, als gelte es nur dies .•• Und wenn am Ende Neoptolemos mit einer jener Doppeldeutigkeiten schließt, die uns zumal von dem Orest in der Elek.tra her vertraut sind (V. 528), um wieviel verworrener, verschrink.ter ist die Situa• tion im Philok.tet 1 Neoptolemos Wenn nur die Götter fort von dieser Küste Uns retten bis zu unsres Wunsches Ziel!

Da kommt der Bote des Odysseus, als Kaufmann verkleidet, als ob er von Troja auf der Heimfahrt wire. Ein Stück. von jenem Heldentum, das sich dort brüstet, tritt damit als Anschlag und Bedrohung auf die Bühne. Wieder zeigt sich, wie hier die Intrige nicht so sehr mehr ein vereinzeltes Beginnen ist als allgemeiner Welt• Zustand. Zwar was gemeldet wird - zwei Schüfe seien unterwegs,

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das eine, um den N eoptolemos, das andere, um den Philoktet zu langen, ist wieder im einzelnen gelogen, aber nicht gelogen ist der Hintergrund, das Allgemeine, von dem das Besondere sich ablöst. Von dem Heldentum Homers, wie wenig ist davon geblieben! Ruhm und Tat, 80 unzertrennlich ehedem, daß eins rur's andere stand, haben begonnen zu zerfallen. Ein sich Brüsten, Prahlen, Llrmen und Versprechen geht der Tat oder bereits dem Helden• stü(?k, das sich als solches rühmt, voraus. Den Seher Helenos, ver• nehmen wir, den er auf nächtlicher Streife gefangen, führt Odysseus den Achiem triumphierend vor, in Fesseln, als ein 'schönes Wild' (V. 609); und da der Seher prophezeit, daß ohne Philoktet Troja nicht zu erobern sei, verspricht Odysseus auf der Stelle, ihn herbei zu bringen und vor allem Volk zu z e i g e n , folge er nicht willig, so sei's mit Gewalt! Gellng's ihm nicht, so möge jeder erste Beste ihm das Haupt abschlagen! Welches Heldentum! Und der Bedrohte, der dies h6rt und glaubt und um Errettung aus den Ränken des Verfolgers ßeht, liuft diesem selbst, ohne davon zu ahnen, in sein Netz! Die Wahrheit jener Tat, zu welcher Neoptolemos sein aufrichtiges Herz hingibt- ist sie nicht noch viel übter als der Schein und Trug, vor dem das unwissende Opfer voller Ekel ßieht? Bis zu solcher Verdrehung und Verschlingung wird in diesem späten Werk die einst 80 einfache, einst nur pathetische Situation getrieben:

Philolae& Der jeder Rede f'lhig, jeder Tat Und so auch jetzt, ich weiß, er bleibt nicht aus! Drum fort, mein Kind, geschwind, das weite Meer Sei zwischen uns und des Odysseus Schül' !1 Neoptolemos als Retter aus der drohenden Intrige, Neoptolemos, der anders ist als jene Welt dort draußen - und derselbe Neopto• lemos, kraft seines Anders-Seins, Vollstrecker und Vollender des Verrats! 1 Doch wieder nimmt: zum Schluß das Epeisodion eine neue Wen• dung. Der Reichtum an Wendungen kann geradezu als ein Indiz des Alters dienen. Eingeleitet durch ein Zögern, sich Bedenken, Schwanken des noch eben fortbegehrenden Verräters (V. 637 :ff.)

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- ,,Ist der Wind auch günstig?" - ,,Nun denn • ·•. u - ,,Gibt"s nichts mehr zu holen ?" ... , löst sich aus der Falschheit ein Akkord der Herzen, erstes Klingen ihrer Freundschaft • • . Übertönend breitet sich über die List ein Einklang, in Vereinigung des Stolzes und der Ehrfurcht vor dem Erbe eines höheren Heldentums, vor dem Gedächtnis und vor der Verheißung, die sich an die Waffe knüpfen, an den Bogen, den einst Herakles getragen: Neoptolemos So ist's erlaubt, ihn nah zu sehen, zu fassen Und ~in zu beten wie zu einem Gott? Plailoktet Dir, lieber Sohn, sei dies und alles Meine, Was immer dir gefalle, nicht verwehrt.

So schließt der erste Akt mit einer ungelösten Spannung: Wahr und Falsch haben sich, eins das andere, so weit ge.trieben - über ihren Wider,treit in der Elektra um wie weit hinaus! - zu solchem Widerspruch gesteigert, daß der Bruch kaum länger mehr verzögert werden kann. Aber wie in der Elektra wird das Widerspiel zwischen der inneren und der äußeren Lage, zwischen Seele und Begebenheit, weiter und weiter fortgespielt, mit einer Lust an der Dehnung des kippenden Moments, die wieder beide Dramen, unbeschadet ihrer Inhalte, durch ihre Form verbindet. Denn erst die fortwährende Gewaltsamkeit der widersprüchlichen Situation ermöglicht es der Seele, sich in ihrem Schmerz und ihrer Fülle zu entfalten. Zwar folgt jetzt, als nächstes Epeisodion, ein verhiltnismißig kurzer Akt, der wieder eher nach alter Art zu sein scheint: einzig angefüllt mit den pathetischen Ausbrüchen eines Leidenden, während ein Zuhörender die Entfaltungen des Schmerzens-Melos ratlos mitleidend begleitet. So scheint sich derselbe Szenentyp, der uns vom Ende der Trachinierinnen her bekannt ist, hier zu wiederholen: wie Herakles dort zu Hyllos, scheint zu Philoktet hier N eoptolemos tu stehen. Die Übereinstimmung des Inhalts reicht bis in einzelne Wendungen, bis in den Wunsch zu sterben usw. Und doch ist die Ähnlichkeit nicht wesentlich, nicht innerlich, nach Form und Stil sind beide Szenen ebenso geschieden wie die späte Art des Dichters von der frühen.

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In dem frühen Drama wird das körperliche Leiden in seiner dramatischen Gestalt bedingt durch den Kontrast zwischen dem Sinn des Helden und dem Un-Sinn dessen, was mit ihm geschieht; das Überwindertum, die angeborene Art, die Leibeskraft, die Siege werden angerufen, der Unüberwindliche muß 'weinen wie ein Mädchen', der noch jedem Ungeheuer widerstand, besiegt von einem falschen Weib •.. So muß die Selbst-Entfremdung der Erkenntnis des 'Dlmons' vorangehen. Wie bei aller Gegensätzlichkeit doch die Situation, trotz Hyllos, wesentlich die monologisch schicksalhafte bleibt, bewegt sich auch die Sprache in den Bahnen einer schicksalhaften Selbstdarstellung. Je~er Satz ist, letzten Endes, in wechselnder Form des eigenen Dlmons Anruf. Dieser Sprache sind, wie diesem Schicksal, eigentümlich die rollenden Rhythmen, die phathetischen Epitheta, die Fülle der mythischen Bilder: der Schmerz als raffendes Ungeheuer, der Tod als geflügelter Dlmon, Bades als Zeus' ebenbürtiger Bruder ••• Trach. 1024:

Herakles

Wo, Sohn, bist du, wo ? Hier! Hier! Fasse mich! Hebe mich! lo! Dämon! O! Wieder springt sie, springt sie mich an, Die entsetzliche, die mich zerfleischt, Die unnahbare, die reißende Pein! Wieder, o Pallas, es naht sich mit Martem ! 0, Sohn, oh l Laß des Erzeugers dich jammern und zieh' die untad• lige Klinge, SchulterundBrustmirzu treffen, das Rasen zu heilen, Das die Verruchte mir, deine Mutter, gebracht hat! ••• 0 Süßer Hades! Bru der des Zeus Bette mich, bette zur Ruh mich Verlorenen, Auf Todes eilendem Fittich!

Philoktets Leiden dagegen hat nicht mehr den Sinn, daß sich ein M cnsch im Ungeheuerlichen, Fremden als in seinem Eigenen, Zu•

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gehörigen zu finden habe. Wenn dies Leiden Schicksal ist, so ist es doch ein Schicksal anderer Art, wie alles 'Pathos' dieses Dramas, sei es Freundschaft, Sieg oder was immer. Ihm wesentlich ist der Bezug zum andern, ja zum Ganzen hin, an Stelle des Bezugs zum eigenen 'Dlmon'. Aber wie die Spannung zwischen Leidendem und Hörendem, zwischen Empfindung und Schmerz-Äußerung die ungleich reichere dramatische Situation bedingt - denn Philoktet.s Schmerz wird durchkreuzt von seiner Angst, sein Leiden könne ihm den jungen Freund entfremden, während doch das Leiden erst den andern zu ihm hinführt - : so ist auch die Sprache hier im Schmerzensausbruch ungleich freier, dialogischer, zum andern hin bezüglicher, an Schmuck und Bildern ärmer, an schildernder Rede dürftiger, doch dafür innerlicher (denn ein Innerliches gibt es erst im Gegensatz zu einem Fremden, andern), an V erllufen, Ansitzen und Stößen reicher, nüancierter und unmittelbarer: wie zu jenem Schicksalsstil die Mittel der heroischen Pathetik, so gehört zu diesem das Verstummen, Kleinlautwerden, leise Hoffen, Sich-NichtHalten-Können, maßloses Verwünschen, Niedersinken ••. 1

Neoptol.emos Gefllllt's, so gehn wir. Warum wirst du stumm Und stehst, auf einmal, wie vom Blitz gerührt? Philoktet Ab, ah ! . . . Neoptol.emosEs ist doch nicht dein Leiden, das dich plagt?

Philoktet

Nein, nein! Schon, fühl' ich, wird mir wieder leichter. 0 Götter!

Verloren bin ich, Kind, ich kann's nicht länger Verhehlen! Ach! Es geht durch Mark und Bein! Durch Mark und Bein! Ich Armer, Armer! Ach! Verloren, Kind ! Es frißt mich auf! Ach, ach! • • . Bei allen Göttern, Kind, ist dir ein Schwert Zur Hand, schlag' ein auf meinen Fuß! Rasch, hau ihn ab! Und sei's um mich geschehen! Ich bitt' dich, Kind! •.•

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Und dazu noch 'das arme Mißverstindnis, als ob Neoptolemos den Ekel nicht bemeistern könne und nur darum sich bedenke (V. 807):

Philoktee

Mein Kind, verlier nur nicht den Mut! So scharf Das anrückt, so geschwind geht es vorüber.

Man kann diese neuen Dinge, um die es im Philoktet geht, nicht mit den sprachlichen Mitteln der Trachinierinnen ausdrücken, so wenig wie das Schicksal der Trachinierinnen mit denen des Philoktet; wlhrend im Aias nichts ist, was der Sprache der Trachinierinnen widerspräche. Zugleich ist der Schmerz im Philoktet gestufter, innerlich wie äußerlich entfalteter, sich wandelnd und entwickelnd - 'Drama' schon an sich; zugleich zwiespältiger, in Hin- und Widerschwanken zwischen diesseitiger Sorge und jenseitiger Schmerzens-Ekstase ••. Es ist wohl begründet, daß der irre Blick, das ziellose Hinauswollen, der fiebernde Gedanke, das brechende Auge, daß das alles Dinge sind, von denen am leidenden Herakles in den Trachinierinnen noch nichts wahrzunehmen war. Doch hier (V. 814):

Philolctei

Laß mich dahin, dahin So sag, wohin? Neopwlemos

Phi.loktee

Hinauf .•• Neopwkmos Was fieberst du und starrst in's obere Rund? Philolaee Laß, laß mich! Neopwlemos Sag, wohin ? Philolaee Laß mich nur los! Denn was man hier, pragmatischer Erklärungsweise folgend, sich herausgedeutet hat, daß Neoptolemos sich irre, Philoktet nichts anderes als in seine Höhle wolle, findet in den Worten keine Stütze1. Schon das doppelte 'dahin' (ix.tr'It) weist auf kein dieueitiges Ziel mehr. Eben noch die Sorge um den Bogen, die Bitte des Fürchtenden, der Handschlag, plötzlich das Delirium - Neoptolemos um.schlingt ihn fest, llßt ihn dann niedergleiten •• : das hat als Be189

wegung in sich Sinn genug, auch ohne äußeren Zweck. Hinzukommt, daß der Irrtum ja zu gar nichts führen würde. Der Hinaufbegehrende, zum Himmel Blickende ist Gegensatz zum Niedersinkenden: ,,0 Erde, nimm mich totgeweihten Siedler auf! 44 Dergleichen Loslösungen und Verselbständigungen des dramatischen Details sind ohne Zweifel späte, letzte Kunst, das Auslaufen einer Entwicklung, deren Anfangsstadium die Trachinierinnen sind. Es kommt dabei nicht so sehr auf die Frage an, ob Sophokles nicht die Freiheit besessen hätte, auch noch zur Zeit der Elektra und des Philoktet gelegentlich sich seiner früheren Form wieder zu nähern, sondern auf die Frage, ob er auf der Stufe, worauf die Trachinierinnen und der Aias stehen, ein solches Drama wie den Philoktei, ein solches Drama innerer Spannungen im Wechsel zwischen Bindung und Vereinsamung mit solcher Herrschaft über alle Mittel hätte dichten können. Das Entscheidende ist immer nur das neu Erreichte, nicht die Möglichkeit gelegentlicher Rückgriff'e, die an sich nicht geleugnet werden soll, wenn wir auch nichts darüber wissen. Vom erten zum zweiten Epeisodion führt das leise, sogenannte 'Schlaflied', das in Wahrheit aber, trotz der sanften Anrufe des H ypnos, alles andere als ein Schlaßied ist, vielmehr ein Lied der leisen, aber um so stärkeren V erfü.hrung zum Verrat. Phil. V. 827: Chor

Schlaf, o Schmerzens-, Schlaf, o Leidens-Vergesser, Sanft W ebender, komm, Leichteren Lehens Gebieter! Und vor den Augen Erhalte die Heiterkeit, die sie umglänzt! Komm, mein Heiland, komm! Mein Kind, sieh, wie du 's treibest, Wo du bleibest ••. usw.

Die versucherische Stimme ist umso berückender, je sanfter sie dahin tönt. Es ist keineswegs des N eoptolemos moralisches V erdienst, daß er ihr nicht erliegt. Was er zur Abwehr, in Hexametern, als im Orakelmaß, dazwischen singt, zeigt ihn zwar ratlos, aber

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ratlos noch nicht vor der Stimme seines eigenen Herzens, sondem erst vor dem Gebot der Götter: was hülfe auch, nach ihrem Spruch, der Bogen ohne den Helden ? Noch ist er nicht weit genug, die Lüge zu durchbrechen. Der aktschließende Gesang ist hier auf's engste mit dem Spiel verbunden; das lyrische Intermezzo führt erst den ironischen Kontrast zwischen den so verschiedenen, miteinander so verwirrten Sorgen beider auf den Gipfel seiner Spannung. Die Versuchung erst, als Widerspiel zur Dan~stulle des Erwachenden, Erleichterten, macht das Verharren in der Lüge unerträglich {V. 866):

Philoktei

O Schlafes Wende, Licht! 0 über Hofren Getreue Hut, bei solcher Freunde Wacht! Wo bitt' ich, o mein Sohn, mich des versehen, . Daß du mein Leid so fühlend mit mir trügest, So hilfreich und so standhaft in ~eduld ! Das hätten die Atriden nicht so leicht, Die tapfem Feldherrn, über sich gebracht

...

Dem Chor fällt dabei eine doppelte Aufgabe zu: um der Intrige Resonanz zu gehen, hat er die Lügen des Neoptolemos zu unter'! stützen, um die Leiden Philoktets mit seiner Stimme zu begleiten, hat er mitfühlend bei ihnen zu verweilen. Seine Doppelrolle zeigt sich gleichzuAnfang (V.150:fF.).Von dem lyrisch mitschwingenden wird das erste Stasimon gesungen (V. 676 :fF.),und doch hat der'! selbe Chor zuvor nach Kräften mitbetrogen. . • So ist seine Auf'! gabe, bald Resonanz, bald Dissonanz zu sein, bald mitzuklingen, bald melodramatisch entgegenzuwirken. Man hat nicht mehr Recht, von ihm zu fordem, daß er in der gleichen Rolle bleibe, als man ein begleitendes Orchester tadeln kann, daß es je nach d~r Art des Spiels seinen Charakter wechsle .. Über die Hälfte ist bisher da Spiel gediehen, aber noch hat sich, Grad um Grad, die trotz der Wechsel gleiche Spannung nur verstärkt, da folgt, mit der Entdeckung, jih der Bruch. Daß jetzt das Umschwenken vom einen Pathos in das andere Gipfel der Ent• wicklung eines Epeisodions wird, ist für die Stilstufe des Philoktet

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nicht anders zu erwarten. Wie in der Elektra muß ein .Spiel wachsender Mißverständnisse, gleich Dissonanzen vor der Lösung, den Durchbruch der Wahrheit bis zum letzten Augenblick ver• zögern. Aber mehr noch als in der Elektra dient dies Spiel jetzt einer Spannung zwischen einer wahren und entstellten Menschlichkeit, zwischen Entfremdung und Befreundung (V. 899 ff.): Neoptolemos Dahin in meiner Drangsal muß' ich kommen! Philoktei Dich ekelt doch vor meiner Krankheit nicht, Daß mich an Bord zu nehmen dich gereute ? Neoptolemos Alles wird Ekel, wenn man seiner Art Abtrünnig handelt, wie sich nicht geziemt!

Philoktei

Der Mensch, so wahr ich mächtig meiner Sinne, Er gibt .,mich preis, wahrhaftig, flhrt allein!

Doch nun erst bringt das, was auf die Entdeckung folgt, statt einer Lösung nur noch tiefere Verwirrung. Denn vo~ einen Herzens-Mißverhältnis schlägt das Spiel ins andere hinüber. Und kaum, daß das erste Hindernis, der Trug, he•itigt ist, so steht da• hinter, als das erst Unüberwindliche, das zweite: die Verwundung und Erstarrung der zu hart getroffenen Seele. Jetzt ergibt sich: das wahre, aufrichtige Bemühen des Freundes um die Heilung und den Sieg ist in den Augen Philoktets weit schlimmer noch als der Verrat! Je aufrichtiger, je tapferer, je mehr auf den Freund bedacht sich N eoptolemos erzeigt, umso bestürzter, umso maß- und fassungs• loser wächst im anderen die Empörung. Was von dem Kontrast der Stimmen für den König Ödipus und die Elektra galt, das gilt auch für den Philoktet. Der große Mittelakt zumal mit seinen Schwankungen und innerlichen Wechseln gibt dem neuen, erst im Philoktet zu voller Freiheit fortgeführten Stil Gelegenheit, in seinem ganzen Glanz sich zu entfalten. Ein Stück wie die Rede Philoktets V. 927 ff. korrespondiert nicht nur als Antistrophe auf die Rede des Erwachenden, sondern ist auch an und für sich, im Reichtum seiner Drehungen, im Wechsel seiner Stimmlagen und in der Schroffheit seiner Übergänge über alles sonst wohl Ähnliche hinaus ein Drama 192

in sich selbst: ärgste Verwünschung wechselt unvermittelt mit den flehentlichsten Bitten, der Anruf des anderen mit dem Anruf seiner seihst, dies wieder mit dem Anruf der Natur .. , und diese Folge wiederholt sich gar noch mit strophischer Wiederkehr, bis, um den Kreis zu schließen, die Verwünschung wieder durchbricht, mit der es begann~ Wenn sich ein Pathos-Wechsel innerhalb derselben Rede schon in der Elektra fand (vgl. Klytaimestras Siegesrede, Elektra V. 7731., und Elektras Monolog, V. 804.f.), um wieviel weiter wird dies hier geitihrt (V. 927ff.): ·

Philo'ldet O Feuer, du, o Grauen, o aller Rinke Gemeinste Niedertracht, was hast du mir getan! Wie mich betrogen! Und du schlmst dich nicht, Dem heilig Bittenden, mir, in's Gesicht zu sehen? Mein Lehen nahmst du mir mit meinem Bogen! Gib, bitte, bitte, Kind, gib ihn mir wieder! Bei deiner VAter G-6ttem, nimm mein Leben nicht! Weh mir, er schenkt mir nicht einmal ein Wort, Er weigert sich, er kehrt sich von mir ab! 0 Buchten, o ihr Klippen, o Gehege Der Bergestiere, hängendes Gestein! Vor euch muß ich, denn anderes hab ich nicht, Vertraute Zeugen, meine Klage tragen: Was mir getan ward von Achilleus Sohn! ••. usw. Ein solcher Pathos-Wechsel innerhalb derselben Rede ist die Fortsetzung und letzte Folge jener Umschwünge und Wechsel, die vom König Ödipus an mehr und mehr den Epeisodienstil verwandeln. Muster dieses Szenenstils ist auch der Mittelakt des Philok.tet im Ganzen: mit dem Wechsel aus der Lüge in die Wahrheit ist es nicht genug. Schon schwankt, schon zaudert Neoptolemos, schon kann er kaum der Bitte widerstehen, ,in gleicher Wage scheinen die Gewichte sich zu halten - da wird vor dem Ende noch einmal das ganze_ Spiel herumgeworfen. Der Umschwung geschieht durch die Dazwischenkunft des Dritten, des Odysseus. So plötzlich tritt er aus dem Versteck, daß er

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mit seinem ersten Wort den kaum begonnenen Vers durchschneidet wie das kaum gescha1fene Einvernehmen. Das 'Fast', das bereit.s in der Elektra als zu diesem Spieltypus gehörig sich erwies, wird hier zur Brücke zwischen beiden Hälften eines ungemein gebauten Aktes. Was in der Elektra auf verschiedene Epeisodien sich verteilte, die Hcrumwerfung des Spiels vor seinem nahen Ende dort vor dem Erscheinen des Orest - wird hier zusammen mit dem Durchbruch beider Herzen zueinander in denselben Akt gepackt.· Wie Neoptolemos jetzt stumm und stummer wird, von einer Stummheit, die nicht eine Schwächung, sondern Steigerung seiner Präsenz bedeutet 1 , in demselben Maße steigt Odysseus bis zur Höhe seines Rechts und seiner Macht. Er steht am Ende dieses Akts in seinem Siege umso unbestreitbarer, je tiefer ihm im folgenden bestimmt sein wird, von seinem Gipfel, Schritt für Schritt, wieder hinab zu steigen. Er wächst erst noch einmal über sich hinaus, bevor er in der Umkehr hinter sich zurückbleibt. Aber umso spürbarer ist hier sein Wort von jenem Klang, der der Erfüllung Bürgschaft ist; und wenn er sich auf Zeus beruft, geschieht es keineswegs, damit die Situation ironisch der Berufung wider• spräche: Odysse1"

Zeus, wisse, Zeus auch dieses Lands Gebieter, Zeus will es, seines Willens hin ich Diener!

Will man schon als Grundform der Tragödie den Streit zweier gleichberechtigter Prinzipien fordern, so kann man hier viel eher noch diese Forderung erfüllt finden als in der so mißdeuteten Anti• gone: denn hier stehen allerdings einander sinnflllig als gleich• gewichtig gegenüber: in Odysseus das zielende Zupacken, in Phi• loktet die Stimme der verratenen und verletzten Menschlichkeit, beide in ihrem Recht. Zwar Philoktet, da er sich selbst zu töten droht, wird vergewaltigt, und gewiß ergibt die körperliche Ohnmacht mit der seelischen Empörung des Ergrifi'enen einen herz• bewegenden Kontrast, aber mit umso überlegenerer Geste wird der kaum Ergrift'ene von Odysseus wieder freigegeben:

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Odysseus In jedem Feld will ich der Sieger sein Nur über dich nicht; dir nur weich' ich gern/ Die Hände los! Und keiner faß' ihn an! Er geh' frei aus! Wir brauchen dich nicht mehr! Da uns der Bogen bleibt Denn mehr noch als durch körperliche Fesseln steht jetzt der Befreite durch den eignen Groll und Widerstreit gefesselt. Philoktet mag noch so sehr als Leidender im Recht sein, mag im Recht auch sein, wenn er mit Tönen, die bereits den zweiten Ödipus vorausnehmen, den inneren Widerspruch im falschen Schein der Menschlichkeit beschuldigt, die Verzerrung des menschlichen Antlitzes, durch die der schnöde Nutzen sich den Schein der menschlichen Gesinnung gibt (V. 1029; vgl. Öd. Kol. 433 ff.):

Phüoktei Doch jetzt, was holt, was schleppt ihr mich? Zu was? Für euch ein Nichts, mich längst für euch Bcgrabnen ! Weshalb bin ich dir jetzt, du Gottverhaßter, Nicht krank und stinkend ? Wie könnt ihr fortan, Fahr ich mit euch, den Göttern Opfer bringen ? Das war dein Grund doch, um mich auszusetzen? So sehr er als Leidender im Recht ist, so wenig ist er im Recht als Handelnder. Er ist nicht lediglich ein unschuldiges Opfer. Ihn als Handelnden macht die Erbitterung blind (V. 1035):

Philo'ldei Daß ihr zu Schanden werdet! Und ihr werdet's Um dieses Unrechts willen, wenn die Götter Noch rurdas Recht sind! Und ich weiß, sie sind's! Nie wirt ihr sonst zu solchem Abenteuer Nach einem armen Menschen ausgefahren, Wenn euch nicht Gottes Stachel nach mir trieb! Er legt sich in der Leidenschaft des Hasses eine Weltordnung zurecht, die keineswegs die wahre ist 1 • Ja, seine Starrheit rechtfertigt noch hinterdrein die Art und Weise, wie Odysseus, nicht

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wie Neoptolemos mit ihm verfährt. So wird ihm nicht erspart, ansehen zu müssen, wie der kaum gewonnene Freund, mit dem geraubten Bogen dem Odysseus folgend, ihn verläßt. Die beiden rechnen wohl mit einer schnellen Umkehr des jetzt ganz Verlaßnen, Preisgegebenen. Bis zu welchem Grade Preisgegebenen, zeigt als ZwischenaktsGesang das Melodram des Chors mit dem Alleingelassenen. Als Ebbe und Stille der V erzweifiung nach dem Sturm der Schmerzen, als Zäsur vor dem Beginn der letzten Handlung, ist das jener Szene der Elektra zu vergleichen, da Elektra vor das Tor des Hauses sinkt und Klytaimestra triumphierend sie verläßt (EI. 804, ft'.)1 • Aber wie weit über das dort hinaus wird jetzt aus der Verzweiffung des Verlassenen ein Drama für sich! Als 'Kommos' fingt es an, nicht anders, äußerlich betrachtet, als der Kommos der Antigone. Der Chor, als Gegenstimme, weist den Klagenden auf seine eigne Schuld: du selbst, dein eigenes, gottgesandtes Schicksal hat dir das getan, nicht meine List (V. 1095) .•• Dein Leid von dir zu werfen steht bei dir (V. 1166) ... usw. Doch wird jetzt alles fülliger, gelöster, wortreicher. Die einzelnen Bestandteile beginnen sich zu sondern und sich selbständig zu machen. Auch die Klage Philoktets wird von dem allgemeinen Wandel, der sich in der Lyrik dieser Zeit vollzieht, erfaßt, so daß die Sprache nicht mehr so sehr aus sich selber singt -und die Musik sich einverleibt, als sangliche Motive bringt und zum gesungenen Text zu werden anfingt:

Philoktet

Gewölbt Gestein, o meine Flur, In Sommerbrand und Frösten! So komm ich nimmer los von dir, Du bleibst bei mir Und siehst mich noch im Sterben! usw.

Aber bald wird die gewohnte Kommos-Form vollends gesprengt. Als Melodram entfaltet sich nicht mehr die Gegenstrebigkeit verschiedener Menschen, sondern eines Menschen aus sich selbst, indem nicht mehr zwei Stimmen alternieren, sondern eine Stimme, wechselnd zwischen Flehen und Abkehr, in Erweichung und Ver• 196



hlrtung, gegen den sich gleichbleibenden Chor, zu ihrer eigenen Gegenstimme und zu ihrer eigenen Umkehr wird. Um es mit ein paar Zeichen anzudeuten:

Philoklet

Chor Phüoklet

Chor Philoklet Chor Philoklet

V erlaßt mich! ~ • • Lieb, nur lieb ist mir dein Geheiß! Auf, auf, zu Schiff! ... Geht nicht, bei dem Zeus der Verfluchung! Halte Maß! Ihr Freunde, Bei allen Göttern, bleibt! ... Was rufst du? 01 Dämon! Dämon! Fuß, Fuß, o, in meiner Not Hernach, was tu ich dir noch an! Kommt, kommt zurück! . • •

Wohl ruft auch Philoktet noch seinen 'Dämon' an, wie in der llteren Schicksalstragik Aias, Deianeira, Kreon, Odipus, aber sein 'Dämon' ist kein göttliches V erhlngnis mehr, sondern nur noch die willentliche Abkehr und Versperrung vor der eigenen Wahl: nur noch des Menschen Eigenwesen, losgelöst vom übergreifenden Zusammenhang der Dinge. Der Anruf des Dämons ist nicht mehr, _wie ehedem, Erfüllung des Gebots: gnothi sauton, sondern sein Gegen• teil. Und noch einmal dreht sich dasselbe Spiel des Schwankens um sich selbst und endet, wie in ein Finale, dessen Schläge immer stärker und gedrängter werden, in die Bitte des Verzweifelnden um eine W a:ffe, Schwert, Axt, Lanze, um zu sterben. • • Dialog und Lyrik werden von demselben Stilwandel erfaßt. Die neue Form bemächtigt sich bereits in der Elektra beider Gattungen zugleich. Wo die Verlassenheit am größten ist, da steht die Rettung vor der Tür. So kam es wenigstens in der Elek.tra, und so scheint es auch im Philokte-t zu kommen. Im heftigsten Redewechsel eilen Neoptolemos und hinter ihm Odysseus zur Höhle zurück. Der innere Aufruhr des Bereuenden, in dem über das 'Kluge' das 'Gerechte' obgesiegt hat (V. 1246), die Befremdung und zunehmende Bestür-

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sung des noch eben Führenden wirft Vers um Vers die Streitreden einander zu und ,fängt sie ab, noch eh die Sätze ausgesprochen sind. In schnellem Fortgang werden sie bald wort-, bald tatgemein, zwei Bogenschützen, die bereits die Pfeile auf sich richten. Doch da zieht Odysseus sich zurück. Aus seiner Höhle wird der Leidende gerufen. Der glaubt schon an keine Wandlung mehr. Ihn, den Betrogenen, nach der Lüge von der Redlichkeit zu überzeuge°'> kostet Mühe. Er traut seinen Augen kaum: sein Bogen ihm in seine Hand gegeben, seine Ehre, seine Macht, sein Schicksal, seine Wahl und seine Freundschaft, alles hält er auf einmal! So wäre jetzt, nach dem Gesetz des Wechsels wie nach allem, was vom Philoktet des Aischylos wie des Euripides bekannt oder enchließbar ist, nichts anderes als die Umkehr und Versöhnung zu erwarten. Aber Sophokles schlägt dieser Wendung in's Gesicht! Das Erste, was der Freigewordene mit der neuen Freiheit anrangt, ist, daß er auf seinen Feind den Bogen richtet. Nur dank Neoptolemos entgeht Odysseus, der zum letzten Mal hervorgesprungen ist, seinem V erderhen. 'Da schau, wie sie feige sind\ höhnt Philoktet. Und da die Heilung ihm mit allen Bürgschaften verheißen wird- was hier noch an Erzähltem unterläuft, ist nicht mehr tragischer Bericht nach alter Art, sondern Beteuerung und Gewähr-, da ist es ihm, als müsse er verzweifeln wie noch nie (V. 1348): Philoktei

Verhaßtes Leben, wozu hältst du mich ' Im Licht und läßt mich nicht zum Hades fahren ? Weh mir, was tun? Wie kann ich seinen Worten Nicht glauben? .••

Umsonst alle Vorstellungen, umsonst, daß sein menschliches V erhalten ihm in einem Spiegel vorgehalten wird, wie ihn kaum mehr der junge Neoptolcmos, sondern de.t Dichter selbst allein zu zeigen weiß (V. 1316)1 : Neopwlemos

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••• Zu tragen, was die Götter Zum Schicksal geben, ist des Menschen Not. Doch was er sich mit Willen selbst bereitet, Das findet weder Mitleid noch Verzeihen.

Der UnteJ"SChied zur Schicksalstragik _der vier ersten Dramen (Aias, Trachinierinnen, Antigone, König Ödipus) wird damit fast formuliert. Jetzt wird das alte griechische Problem des 'willent• lichen', des vom Menschen selbst bestimmten Schicksals bis in seine menschliche Absurditlt verf'olgt 1 • Denn Philoktet wird nicht durch seine falschen Hoffnungen betrogen, wie Ägisth, trotz Götterweisung, sich sein Unglück zuzieht, nach Homer (Od. 1), und wie die kurzsichtigen Menschen, ohne Götterweisung, nach Solon: sondern er sieht das sichere Siechtum auf' der einen Seite; auf der anderen seine Rettung und den göttlichen Zusammenhang der Dinge, und dennoch vermag er nicht, sich seinem Heil zu fügen. So verhaut ist er in seine eigene Welt, daß er auch noch den anderen eines besseren zu belehren glaubt (V. 1362):

Philoktd Des nimmt mich wunder darum auch an dir: Du solltest weder seihst nach Troja ziehen, Noch mir's verstatten! Die zum Hohn dich machten, Du- deines Vaters Kleinod raubten, denen Kommst du zu Hilf' und willst auch mich verführen? Nein, nein, mein Sohn, wie du mir zugeschworen, Bring mich nach Haus, bleib du in deinem Skyros, Und laß, was übel ist, das Übel holen! Sein Irrtum wird nicht einmal mehr von Neoptolemos berichtigt. Wo alle Geduld versagt, was hülfe da auch noch die Aufklärung über den Rest der Lüge? Philoktet und N eoptolemos führen nach Hause, ließen TrojaTroja sein, die schlimmsten Folgen kümmerten sie nicht, des Menschen Seele macht durch alles einen Strich: das wäre, wenn es nach dem Menschen ginge, das Ende des Philoktet. Und als _sollte man die Geduld verlieren, wird der Unsinn dieses Endes noch gar ausgekostet, noch gar hin und her gewendet da erscheint der Gott. Die abschließende Erscheinung eines Gottes ist, als äußere Form betrachtet, eine Nachahmung der längst zu dieser Zeit konv~ntionell gewordenen Bühnentechnik des Euripides. Aber die schon erstarrte Form empfängt noch einmal aus dem Geist, der ihrer sich

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bemichtigt, einen neuen Sinn 1 • Der 'Gott aus der Maschine' zerhaut keinen Knoten einer Handlung, die sonst nicht zu lösen wire, der Gott - es ist Herakles, derselbe, dessen urbildliche Gegenwart schon durch das ganze Drama wahrzunehmen war - erscheint als das sichtbare Maß, woran der Mensch gemessen wird, sein Wort weist auf die göttliche Bestimmung, der ein großer, edler, doch in sich verbohrter, mit der Welt zerfallener Wille sich ent~ge:

Herakles Dir zu liebe stieg ich nieder Von den Wohnungen des Himmels, Zeus' Ratschluß dir zu verkünden Und dich deines Weges fürder Nicht zu lassen 2 • So vernimm! Doch erst laß dir mein eignes Schicksal weisen, Durch wieviel Mühen ich mich hindurch geduldend Die ewige Tugend, die du schaust, errang. Von dem Unrecht, das an Philoktet geschehen, wird nichts zu• rück.genommen, nichts zurück.genommen auch von der V ericht• lichkeit der Heerführer - mit keinem Wort, so nah das läge, wenn die Bosheit der Atriden nur zum Schein bestände, setzt sich Neo• ptolemos am Ende für sie ein -, die Welt, sie ist schon so, wie Philoktet sie sieht. Und dennoch bleibt sein Handeln unzulänglich, denn er sieht sie nur aus seinem Winkel, hat nur Teil an seiner eigenen Sicht, an seinem 'idios kosmos', um mit Heraklit zu reden, statt am Ganzen. Man könnte als Motto vor dies Drama das Wort des Herak.liteers setzen ('Über die Diät' Kap. 11): ,,Was nun die Menschen geordnet haben, das bleibt niemals beständig, weder zu recht noch zu unrecht; was aber die Götter geordnet haben, das ist ewig recht, das Richtige wie das nicht Richtige: so groß ist der Unterschied." Ein Ecce ist auch der Schluß des Philoktet, aber kein Ecce der erschütternden Koinzidenz des Menschen mit dem Götterwillen wie der König Ödipus, sondern ein Ecce der absurden Trennung aus dem Weltverlauf. Der Widerstreit zwischen göttlicher Wahrheit und menschlichem Schein, 'Aletheia' und 'Doxa', philo•

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sophisch und Parmenideisch ausg~drückt, von dem der 'König Odipus' erfüllt war, weicht im Philoktet dem schmerzlichen Verhlltnis zwischen 'Teil' und 'Ganzem', im Sinne des Heraklit. Denn anders als Euripides und Shakespeare steht der Dichter nicht auf Seiten dessen, was sich loslöst, sondern hält es mit den Göttern, die die Welt regieren. Die Verkündigung des ferneren Verlaufs, der nahen Heilung und des Siegs, im engeren Anschluß an Euripideische Manier, sina nur noch iußerer Abschluß und Rundung der Fabel.

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ODIPU

SAUF

KOLONOS

Der Ödipus auf Kolonos wurde aufgeführt als nachgelaseenes Werk, 401. Der Dichter war vier Jahre früher als Neunundachtzigjähriger gestorben. Zwischen Tod und Auftührung fillt Athena Katastrophe. Man hat wohl nicht mit Unrecht dies, in mehr als einem Sinne letzte Werk, nach seiner Stellung zu des Dichters ganzer Welt, mit Shakespeares Sturm verglichen. Das Persönliche geht bis zur Selbstdarstellung, wie im Lied der Greise von Kolonos auf die Traurigkeit des Alters. Gleich dem Dichter steht der greise Ödipus des Dramas auf der Schwelle, die vom einen Reich ins andere tührt, wie Shakespeares Zauberer zwischen dem Reich der Menschen und dem Reich der Geister. Und dennoch, wie anders ist die Götterstimme, die dem Ödipus ruft, als die Geisterstimmen, die der Zauberer um sich versammelt! Shakespeares Zauberer macht sich die Stimmen dienstbar, bannt, beschwört, entläßt sie ••. Die Göttliche Stimme, die zu Ödipus spricht, fordert letzte Folge. Shakespeares Zauberer löst seinen Zauber auf und kehrt zurüc~ um aus der Welt zu gehen. Der Greis des Sophokles kehrt bei den heimatlichen Mächten ein und wird entrückt unter die Schutzgeister des Landes. Heroisierung und Metamorphose als Tragödienschluß war auf dem attischen Theater zwar nichts Ungewohntes-solche Schlüsse kommen auf mit der dramatischen Bearbeitung a,akraler, ortshezogener Stoffe, 'ätiologischer Legenden' - aber hier allein wird die Verwandlung nicht nur prophezeit und nicht nur als phantastisch wunderbarer Abschluß oder Ausblick einem wechselvollen Spiel hinzugefügt wie bei Euripides, hier wird, a~ Ausnahme, das Wunder der Entrückung Ziel und letzter Sinn der ganzen Handlung. Das Spiel auf der Bühne wird damit, zum letzten Mal wieder in diesem letzten Stück, als Spiel zur Kultlegende: sichtbare Gewähr und Anschauung des als Geschichte in ihm dargestellten und in Lied und Tanz gefeierten, fortwirkenden Geheimnisses. '

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So wendet sich die attische Tragödie in gewissem Sinne mit dem zweiten Odipus zuletzt wieder dem Ur-Sinn des kultischen Mimus zu~ Und doch liegt zwische~ dieser Rückwendung und jener Urform nicht nur die ganze Geschichte der Befreiung aller künstlerischen Formen, aller menschlichen Gehalte, sondern auch die ganz individuelle Laufbahn und zumal die letzte Alterswendung eines Dichters, der zugleich ein Priester war. Wenn sich das Ende wieder hin zum Anfang biegt, so ist die Biegung doch nur sehr spiralisch. Ja, wenn man dies letzte Werk als eine Rückwendung begreift, so kann man es nicht weniger als letzten Fortgang und als letzte Stufe sich begreiflich machen. Denn es istso sehr Natur,daß jene Rückwendung nichts von Romantik und Artistik , nichts von einer literarischen Parole, nichts auch von einer Bekehrung hat. Wenn auch Euripides in seinem letzten Drama, in den Bakchen, sich im Stofflichen wieder dem Kultus zuwendet, ist doch dabei die Übereinstimmung mit Sophokles nur äußerlich. Der zweite Ödipus bleibt einzig und allein der Ausdruck dieses einen Menschen, der am Ende seines Lebens so nahe bis an die chthonische Region gelangt war. So hat denn dies Spiel zwei Spitzen: mit der einen reicht es in das Reich der Geister und Heroen, mit der anderen in die wirren Schicksale eines von Leid verfolgten, einmaligen Lebens. Zum Teil nähert es sich in der Form der 'heiligen Handlung', zum Teil ist es voll von den Entladungen einer in Haß und Liehe maßlosen, unheimlichen Greisengestalt. Es fehlt in ihm nicht an der 'ßösheit des mächtigen Alters, dem Schicksal greiser Größe' 1 • Und sofern die Anekdote von der Anstrengung eines Entmündigungsprozesses etwas von der Fremdheit dieses Alters spiegelt, könnte man ihr glauben. Doch mit diesem ersten Gegensatz verbindet sich ein zweiter: deywischen dem stillen Hain mit seinen Weihen und der Welt mit ihren Händeln, Ränken, Blindheiten und Ungerechtigkeiten. Odi• pus kehrt ein aus jener Welt, als ihr Verbannter und Entwurzelter, um eine· Stätte zu gewinnen, da er wieder wurzeln soll. Aber die Handlung ist kein stufenweiser Fortschritt vom Profanen zum Sakralen. Die Nähe des Heiligen, der Ort mit seinen Bäumen, Vögeln, Krügen und Altären stellt sich einleitend zu Anfang dar 203

und abschließend in der Entrückung, aber zwischen den Beginn und die Vollendung drängt sich breit ein Rückschlag: der seiner Bestimmung schon ganz Nahe wird wieder zurück.geworfen und hineingerissen in die Wirren seiner früheren Schicksale; heraufkommende düstere Kämpfe, streitende Parteien dringen sich an ihn heran, und er greift jäh in ihre Hlndel ein. So ist der Anfang~ der 'Prolog', das, was im ganzen Stück dem Schluß am nächsten kommt, während die Mitte immer weiter sich vom Ende wie vom Anfang fortbewegt. Man könnte ohne weiteres das Ende an den Anfang schließen, dann entstünde eine fortschreitende Zeremonie - allerdings kein Drama. Denn Drama bedeutet immer mehr bei Sophokles das Rätsel eines Widerspruchs des Menschen an sich selbst. So steht einander gegenüber auf der einen Seite die menschliche Sonderexistenz, in ihrer Enge und Bedingtheit, in der ungemeinen Selbstbezüglichkeit ihres Bejahens und Verneinens, auf der anderen Seite die Verflechtung mit dem heimatlichen Schicksal, die Gewalt, für alle Zeit zu segnen und zu fluchen, der Beruf, zu hüten und zu wehren. Dieser Gegensätzlichkeit entspringt das Kräftespiel, das die Gestalt des Helden wie die Handlung trägt, und ohne das der Tod des Ödipus kein Stoff für eine Sophokleische Tragödie wäre. Man hat um desselben Widerspruchs willen dies Werk als Alterswerk, aus einem Nachlassen, aus mangelnder Bewältigung seiner Bestandteile, als Reihung einzelner, für sich entstandener Szenen zu verstehen vermeint und hat damit zumal den harten Ansatz wegerklärt, wo böser Fluch und heiliger Hinübergang, zürnende Unversöhnlichkeit und geisterhafte Transparenz am 1 Ende aneinander stoßen • Aber dieser Übergang ist nur die letzte, schroffste Steigerung verwandter Übergänge durch das ganze Drama hin, und Umspringen der Tonart pflegt bei Sophokles kein Zeichen mangelnder Komposition zu sein. • Die Einzigartigkeit enthebt dies Werk jedoch, wie jedes Werk, nicht seiner Zugehörigkeit zu einer äußeren Gattung. Fragt man nach der Gattung, so gehört der zweite Ödipus, gleich der Elektra, zu den Dramen, deren literarische und innere Form sich zueinander in einem gewissen Gegensatz befinden. Er steht nicht, als Gattung, in einer Entwicklung des sakralen Mimus - dergleichen als Gat•

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tung gab es nicht -, sondern gehört zu einer nur dem attischen Theater eigenen Dramenform, von der sich Beispiele erhalten haben von den Hiketiden des Aischylos an bis zu den Hiketiden und den Herakliden des Euripides. Die Bühne als Asyl und Heiligtum, Verfolgte und Bedrohte, die Schutz suchend nahen, Unrecht und Übel'• griff von außen, Hilfe, Aufnahme und Wiederherstellung durch den gerechten Landeskönig, Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung, Wechsel zwischen drohender Gewalt und Dank ttir die Errettung, Kampf und Abwehr als Vorgang hinter der Bühne: dies etwa mögen die gattungsmäßigen Motive sein, die jene Stücke miteinander wie mit diesem hier gemein haben 1 • Doch hat dies Genus schon bei Aischylos über den tänzerisch-pathetischen und kultischmimischen Charakter, auf den es in seinen Hiketiden sich beschränkt, hinaus mit vaterländischer Legende sich entillt - in den verlorenen Äschyleischen Herakliden und Eleusiniern - und dar• über hinaus wieder hat es Euripides zum Instrument für patriotische Tendenz und Geste und zur Widerspiegelung der Tagespolitik gemacht. Die beiden Dramen dieser Gattung, die er schrieb, beide währeud des archidamischen Krieges - die Herakliden um 430, die Hiketiden gegen 421- sind denn auch kaum etwas mehr als vaterländische Gelegenheitsspiele mit rührenden, sentimentalen E pisoden 2 • Übrigens verdanken sie ihre Erhaltung keiner Auswahl, sondern einem Zufall unserer Überlieferung. Es ist _diese,nicht die Altere, sondern jüngere Form, zumal des jüngeren Dichters, welche Sophokles mit neuer Macht erfüllt, sprengt, überwältigt, nicht anders als nicht lange davor die Gattung des Euripideischen Intrigenspiels durch die Gehalte der Elektra und des Philoktet 3 • Wie hier das Einmalige zur Gattung sich verhalte, mag sich insbesondere bei der Ähnlichkeit und Abweichung der Herakliden zeigen. Was bei Sophokles, im Vorspiel, gottgelenktes und geheimnisvolles Finden ist, ist bei Euripides 'Exposition': wir sind in Marathon und sitzen bittend am Altar des Zeus ... (V. 32 f.). Das Einzugslied des Chors in beiden Dramen hat dieselbe Frageform: W ober? Wes Landes? Was ist dein Begehr? (Herakl. 73 ff.; Öd. Col. 203 ff.). Und hier wie. dort folgen die Antworten in einer solchen Reihe, daß der Name des Gefragten erst nach längerem Hin und Her genannt wird.

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Aber bei Euripides geschieht das ohne schmerzliche Enthüllungen: die Parodos der Herakliden ist nur äußerlich dramatisch, die des zweiten Ödipus zugleich ein innerer Kampf. Die Aufnahme und Heimführung der Herakliden (V. 250 f., 873 ff.) entspricht dem V ersprechen der Zurückrührung und Aufnahme des Bittenden im Ödipus (V. 636). Die Einladung des Landeskönigs an den Schutzsuchenden, in sein Haus zu kommen, und dessen Bedenken, den geweihten Boden zu verlassen, findet sich im zweiten Ödipus (V. 643 f.) wie in den Herakliden (V. 340 ff.); aber diesen fehlt dabei die leidenschaftliche, geheimnisvolle Schwingung. Ebenso ist auch der Dank von Argos an Athen, der Preis des hochherzigen Theseussohnes, des 'Erretters', in den Herakliden (V. 309 ff.) wiederum ein Gegenstück zum Preis Athens im Üdipus, zum Dank des Ödipus an Theseus (V.1125 ff.). Doch den Herakliden fehlt dabei die Größe in der Demut. Die Mahnung des Iolaos an das zukünftige Argos, nicht gegen Athen zu ziehen (Herakl. 313 ff.), steht, auf Euripideischem Niveau, an gleicher Stelle wie die Prophetie des Ödipus über den U nbestand menschlicher Bindungen, über den Bruch der Freundschaft zwischen Theben und Athen (V. 607 ff.); doch fehlt den Herakliden die Gewalt der Stimme, die hinwegredet über die Zeiten .•. Ja, am Schluß· der Herakliden mangelt auch die Prophezeiung einer künftigen Heroisierung nicht, es fehlt sogar nicht die Verheißung eines späteren Schutzes: das beerdigte Gebein wird vor dem Tempel der Athena Pallenis, im attischen Gau Pallenc, den Angriff des Feindes abwehren. Nur daß da die Person, die das voraussagt, episodisch und ganz unprophetisch ist und aus dem bitterbösen Feind der Sage, dem verfolgenden Eurystheus, gar zu äußerlich sich in den zukünftigen Landeshort verwandelt (Herakliden 1026 ff.). Und wenn dieser auch von seinem Grabkult redet, so entbehrt dabei die Dichtung doch ganz jeder kultischen Gesinnung. Formen und Motive, die bei Sophokles um mehr als zwanzig Jahre später auferstehen, liegen hier beieinander, aber ohne miteinander zu verwachsen, ohne Odem und Beseelung. Aus dem Genus und aus dem Verhältnis zu Euripides läßt sich der zweite Üdipus als -Alterswerk erst recht erfassen: erst durch Sophokles empfängt die überkommene Spielgattung die religiöse

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Weihe, die Dehnung der Maße, die Erweiterung der Räume, die Vertie,ung und Verinnerlichui;tg der Verhältnisse, erst jetzt wird aus der patriotischen Tendenz eine Verwurzelung und Verwach• sung mit dem Boden, wird aus dem Asyl-Motiv lebendige Land• schalt, wird das 'Lob' Athens zum Kult des heimatlichen Gaues und wird aus dem Schutzsuchenden eine unvergeßliche Gestalt 1 • Das Vorspiel, der Prolog, beschreibt iIQ.kleinen Bogen schon die Kurve, die im großen-das Drama zu wiederholen hat. So ist er, im Verhältnis zum gesamten Spiel, vergleichbar dem Prolog des Philoktet. Wieder beginnt es mit einer Enthüllung, doch im Schritt wieviel gemessener, weihev.oller - mit der schrittweisen Enthüllung keines Schicksals, sondern eines örtlichen Geheimnisses, oder doch eines Schicksals nur, sofern das Ortsgeheimnis zur Bestimmung eines Menschen wird:

Odipus

Des greisen Blinden Kind, Antigone ! In welchem Lande sind wir, welcher Stadt? Wer wird dem Bettler Ödipus die Tür Heut auftun und die karge Gabe reichen? Bescheidner Bitte noch bescheidnere Gewähr zu gönnen, und doch mir genug: Denn hinzunehmen hat mich Leid und Zeit Gelehrt im Bund mit mein~r Art zu dritt. Doch wenn du einen Sitz erspähst, mein Kind, Sei's im Betretenen, sci's geweihter Hain, L~ halten mich und wurzeln: daß wir fragen, Wes Orts wir sind, denn hören liegt uns ob, Fremd unter Bürgern, und der Weisung folgen. Aniigone •.• Zinnen, Die eine Stadt beschirmen, schauen von ferne. Doch dieser Ort muß heilig sein: so quillt er Von Lorbeer, 01 und Wein, und dichten Fluges Durchdringt mit Wohllaut ihn die Nachtigall • • • IJdipus So kannst du mich belehren, wo wir halten? .Amigone Athen, soviel nur weiß ich, nicht die Stätte • Odipus So sagten unterwegs die Wandrer all! 207

Antigone

Doch wa, dies für ein Ort sei, soll ich fragen?



So wichst die innere Unruhe des Suchenden, bis mit dem Eintritt des Einheimischen die Offenharung folgt, mit einer jener uns von der Elektra her bekannten Dissonanzen vor der Lösung. Aber wie wird hier die Dissonanz zum Ausdruck dessen, was der Ort he· deutet!

Ödipus

0 Freund, da sie, die für uns beide sieht,

Mir kündet, daß ein günstiges Begehen Dich uns zum Weiser sende, die wir ratlos Der Koloneer Noch eh du fragst, verlaß den Ort! Den Boden, Darauf du stehst, ist Frevel zu betreten! Ödipus Was ist das für ein Ort? Wer seine Götter? Koloneer Zum Nahen, zum Wohnen nicht, den Fürchterlichen Gehört er, Skotos' Töchtern und der Erde! Ödipus Und wie, mit heiligem Namen, ruf ich sie? Koloneer Die Eumeniden, die Allseherinnen, Heißt sie das Volk, doch Ort um Ort ehrt anders. Empfangen sie den Bittenden in Gnaden I Ödipus Von diesem Erdengrund laß ich nicht mehr. Was heißt das ? Koloneer Meines Schicksals Losungswort! Ödipus Da liegt im kleinen beinahe schon J:s ganze Drama vor. Der 'Chor der Greise aus Kolonos ist ebenso die gesteigerte Wiederholung des einzelnen Koloneers, wie der fernere Kampf um den Besitz des heiligen Orts den ersten Streit • in freilich unver• gleichlich reicherer Entfaltung wiederholt. Das Vorspiel endet (nach der Einführung der Ortskulte und Vor• bereitung auf den Landeskönig), dem Ende des ganzen Dramas präludierend, mit einem Gebet, das sich zum letzten Akt verhllt wie die Bitte zu der Gewährung. Ähnlich wieder wie am Anfang der Trachinierinnen Deianeira von dem nahen Tod des Herakles, so weiß auch Ödipus von seinem Tod durch ein Orakel. Aber das O~akel tritt nicht mehr heraus, steht nicht mehreckig, unbehilflich,

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noch in der Berichtsform und als Vorgeschichte unbewiltigt, wie im Anfang der Trachinierinnen (V. 4,7 u. 156 ff.), dient nicht mehr dazu, die Handlung anzuhebeln, sondern ist nur noch wie eine Welle in dem großen Strom des endhereiten, todesnahen, zu den Göttern hingewandten Geistes. Wenn es fehlte, bliebe das Erahnen, das Ergreifen, das Geheimnis doch das Gleiche:

iJdipus

Ihr Hehren, grimmen Blicks, da ich zuerst Auf eurem Grund in diesem Land gerastet, Kehrt euch nicht fremd von Phoihos ab und mir l Als er der Leiden Fülle mir verhängte, Verhieß er mir dies Ende vieler Jahre. • .

In dem frühen Werk war das Orakel so wenig in die Bewegung des ahnenden Geistes eingegangen, daß davon erzählt ward, wie es wohl verwahrt im Hause liege: 'auf ein Täfelchen geschrieben'. Man bemerkt, wie sich der frühe Sophokles vom späten unterscheidet1. Wiederum ein ganzes Drama in sich selbst, als Melodram zum Teil die Wiederholung der Motive des Prologs, mit reichem Spiel der Wechsel, Übergänge und Kontraste, ist das Einzugslied des Chores. Das Spihen und Fahnden nach dem Übertreter im V er• steck des Haines, das 'Hier hin ich' des heraustretenden schauer• lichen Blinden, die ängstlichen Schritte des Gebrechlichen, des jungen Mädchens Sorge, das ihn stützt und führt, die Zurufe, der Wechsel zwischen 'Weiter, weiter', 'Halt', 'Zurück', die Rast, die Fragen und wieder das Anschwellen der kaum beruhigten Bewegung, unter schmerzlichem Sich-Sträuben die Enthüllung, das gesteigerte Entsetzen bei dem Namen Ödipus, aufs neue die Bedrohung und Beschwörung, bis zur atemlosen Litanei des für• bittenden Mädchens: solche Fülle aufeinanderstoßender Bewegungen geht über das gewohnte Maß der früheren Chöre weit hinaus 1 ;im Einzugslied ist es ein Beispiel für denselben späten Stil, wie ihn im Kommos oder Klagelied, fast einem Intermezzo gleich, das große ~elodram des preisgegebenen Philoktet bezeugte 3• In dergleichen zeigt sich nicht nur, wie man wohl geglaubt hat, ein 14

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Mitllufertum mit den barocken Formen der modemen zeitge• nössischen Musik, da bei Euripides das Musikalische, das unter einem solchen Einfluß steht, ganz anders ausc.Jieht,sondern ebenso ein letzter Formwandel aus eigenem Trieb; denn das Bestreben, gleichsam Dramen innerhalb des Dramas selbst zu bilden, bleibt bei Sophokles nicht auf das Musikalische beschränkt, es greift auf' Dialog und Chöre gleichermaßen über. Das erste Epeisodion ist zuerst die Fortsetzung der Parodos. Der Preis der Gastlichkeit und Frömmigkeit Athens ist zwar dem Dramentyp, zu dem dies Spiel gehört, seit alters eigen (V.260: dieser Vers ist wie ein Hinweis auf das 'Genus'). Aber hier beruft sich auf den alten Ruhm Athens die Stimme eines Menschen, der nicht nur verfolgt wird, wie die Bittenden in diesen Dramen allent• halben, sondern dessen menschliche Natur und dessen Tat und Schicksal auseinanderklaffen wie die wehen Rinder einer Wunde. Seit dem Ödipus Tyrannus welcher Zwiespalt 9tatt der Einheit! Und wie anders auch verhüllt sich in der Sprache jetzt das Schmerzliche (V. 270):

Ödipus

• . • Wie wär ich schlecht von Art und Wesen ? Ich tat, wie ich erlitt! Hitt' ich gewußt, Was ich getan, nie wär ich schlecht geworden. So kam ich ahnungslos, dahin ich kam • • •

Der Widerspruch im Schicksal eines Menschen zwischen Kem und Hülle, die verdeckte Unschuld des nach außen Schuldigen, die höhere Reine des Befleckenden und die verborgene Weihe des Gezeichneten richtet sich auf und iullt die Bitte mit sich steigernder Bewegung (V. 295):

Odipus

• • • Laßt nicht euer Grauen Vor meines Hauptes Anblick mich verwerfen! Ich komme fromm und heilig, und zum Segen Der Stadt ist,' was ich bringe • • •

Aber.auch dem ersten Epeisodion fehlt nicht jener Umbruch, der

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dem Szenenstil seit der Elektra eigentümlich ist. Das einthemige Epeisodion weicht dem zwei- und mehrthemigen. In der Richtung auf' die Heiligung, ,.ur das bevorstehende Nahen des Theseus hat es erst begonnen. Doch da tritt von anderer Seite, unerwartet mit der unerwarteten Person, das Widerspiel der anderen Welt herein - nachdem noch eben die Erwartung, in die sich Gefühl des U n• werts, Scheu und zage Zweifel mischten, wie zu einer eigenen kurzen Szene in der Szene sich gestaltet hatte: Wird er kommen ? . • .Und um meinetwillen ? • . . Keine Sorge! . • .1 Hätten wir ein frühes Stück, es gilbe keine andere Möglichkeit, als daß der so Erwartete erschiene. Doch statt dessen kommt im Reisehut, auf einem Maultier reitend, in der Feme von Antigone zuerst entdeckt, Ismene, und wieder ergibt das eine kleine Szene in der Szene (V. 315):

.Antisone

... Was sag ich? So ist sie's? Ist sie's nicht? Ja, sag ich, sage nein! Und weiß nicht was! lchArmeSie ist's, nur sie! So gllnzt ihr freundlich Auge Mich, wie sie schreitet, an und gibt mir Kunde, Dies sei nichts anderes als lsmenens Haupt!

Während lsmene von dem Maultier steigt, spielt sich ein ganzer Anagnorismos im Kleinen ab, an dessen Schluß der Name der Erkannten steht, wie aus dem Schwanken die Erkenntnis sich befestigt. Und doch ist dies zwar gewiß nicht unbeseelt, doch für das Ganze hat es kaum Gewicht. Es hingt davon nichts ab. Die Dehnung und Beladung des Details und die Verschiebung jener Formen, die ursprünglich sich einmal im Kern befanden, in das Äußere, Peripherische und Beiwerkhafte scheint in einer allgemeinen Richtung dieser Alterwerke überhaupt zu liegen und in neuer Stilgebundenheit im zweiten Ödipus nicht anders sich zu zejgen als in freier Auflösung und Lockerung im Philoktet. So ist es ihnlich sogleich wieder mit der rührenden Begrüßung zwischen Ödipus und seiner zweiten Tochter (V. 327 ff,), wobei die Duett-Form des

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Sich-Wiederfindens aus der großen Wiederfindungsszene tra wiederholt wird:

Odipus lsmene Odipus lmene Odipus lsmene Odipus lsmene Odipus lsmene

der Elek-

Mein Kind, du kommst ? 0, Vater, dich zu schauen! Mein Blut und Samen! Deiner Pflege Jammer! Mein Kind, du bist es ? Mir zur Qual genug! Umarme mich! So faß ich zwei des Elends Mich und sie auch? Und mich mit euch selbdritt! usw.

Aber die greise Tränenseligkeit verwandelt sich in greisen Grimm. Ismene bringt geheimes Wissen, als Enthüllungsbotin ähnlich wie der Bote der Trachinierinnen, damit drohender Betrug bei seinem Eintritt sich entlarve. Zwar lsmene hat kaum mehr Gewicht, ist nur noch Überbringerin, doch auch was sie berichtet, unterscheidet sich von der archaischen Berichtsform dadurch, daß das Mitgeteilte - der Ausbruch des Bruderzwists und beider streitenden Parteien geheimer Plan, des Ödipus als Talismans sich zu versichern wieder nur Gewicht hat, insoweit es Schritt für Schritt, wie es erfragt wird, über Stufen eines schwebenden Erstaunens und entrüsteten Begreifens den geweihten, todhereiten in den zornmütigen Ödipus der bösen Flüche wanddt 1 • So steigern sich erst die Fragen (V. 391 ff.):

Ödipus

Da ich ein Nichts hin, da erst hin ich wert? Kein Alter richtet auf, was jung gestürzt. Und wozu nutzt mein Grab vor ihren Toren ?

So haben nie sie über mich Gewalt!

...

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Und Wird die Erde Thebens auch mich decken? Und ich bin's, von dem Phoibos das verkündet? Und einer meiner Söhne hat's gehört? Und da sie's hörten, die Verruchten, da ging Ihnen ihr Thron über die Vaterliebe ? · -

bis zum Sturm der ausbrechenden Rede (V. 421):

Ödipus

So mögen ihres Streits V erhingnis nie Die ~tter löschen, und in meine Macht Sei dieses Kampfes Sieg und Ziel gegeben, Der sie entbrannt in ihre Speere treibt. • .

Die Rede ist erfüllt von einem bösen Hadern, Rechten und Abrechnen mit den Söhnen. Dieser Ödipus ist nicht mehr nur der Fluchende der Sage; der Vorwurf, den er erhebt, ist nicht nur, daß die Söhne ihren Vater nicht geehrt, sondern daß Tat und Sinn, rechtlicher Schein und wahres Wesen in ihrem V erhalten sich entzweien. Aus ihm protestiert der Mensch des überwallenden, empfindlichen, heftigen, wehen Herzens gegen eine Menschenart und Welt, die davon nichts hat noch in einem andern spürt. In der Empörung gegen eine herrschende Gesinnung, die im . lußeren Schein das wahre Menschliche verhöhnt, zeigt sich der zweite Ödipus dem Philoktet verwandt. Denn auch im zweiten Ödipus sind es die Söhne nicht allein, so wenig wie im Philoktet Odysseus, ist es Kreon und das ganz~ Theben, das an diesem Wesen . teil hat:

Oilipus

.•.

die mich, ihren Erzeuger, Da solche Ächtung mich des Lands verwies, Nicht hielten noch bewahrten, ausgerufen Vor allem Volk sahn sie mich flüchtend ziehen. Und willst du sagen, daß mit Fug die Stadt 213

Nach meinem Wunsch mir dies Geschenk gewährte 0 nein! Am Tag, da meine Seele kochte, Mein Sehnen stand auf Tod und Steinigung, Da war kein Helfer mir zu dieser Sucht. Doch da mein ganzer Kummer mürbe ward, Mir aufging, daß mein ungezügelt Herz Mich bittrer züchtigte denn nach Verschulden, Da, nach geraumer Zeit, stieß mich die Stadt Gewaltsam aus, und die mir helfen konnten, Die Söhne, mir, dem Vater, sie enthielten Sich dieser Tat, um eines Wortes willen Fahr ihnen ich als Bettler durch das Land • • . Damit wird ein Verhalten angeklagt, dessen verschärfte Rüge Akt für Akt, und ebenso gegen den falschen Kreon wie gegen den reumütigen Sohn, sich wiederholt. Der Sinn der angeführten Verse kehrt gesteigert wieder, wie dasselbe Spiel, in immer engerer Kurve, um dieselbe Bahn läuft: so V. 591, V.765 :ff.; 1354 :ff. Aber vor dem Ende nimmt dasselbe Epeisodion nochmals eine neue Wendung: Fluch und Segen, böse Abwehr und heilige Handlung folgen hier schon antithetisch aufeinander (V. 457 f.), wie am Ende des gesamten Dramas in gesteigerter Heraustreibung desselben Gegensatzes: statt der Botschaft und Verfluchung der Abwesenden am Ende Sohn und Vater leibhaftig einander gegenüber, und statt der Einweihung in den Kult der Eumeniden die Erhörung durch den Blitz des Zeus. Es ist für das V erstindnis unerllßlich, daß man spüre, wie bereits dies Ende über diesemAnfang schwebe. So folgt der Verfluchung hier bereits, herausgehoben zu selbständiger Bedeutung, als heilige Handlung in der Handlung die Einführung in den Kult; es gibt kaum einen zweiten Text, aus dem das Wesen einer Opferhandlung, in Geist und Gebärde der klassischen Zeit, so rein hervorginge (V. 465 :ff.):

Chor Ödipus

214

So bring den Mächten ein versöhnend Opfer, Auf deren Grund du gleich im Kommen tratst! Nach welcher Weise, Freunde, wollt mich lehren!

Chor Odipus

Chor Odipus

Chor Odipus

Chor Odipus

Chor lJdipus

Chor lJdipus

Chor Odipus

Owr

Faß ent mit frommer Hand den Krug und schöpfe Das heilige Wasser aus dem ewigen Quell! Und hab ich das zum reinen Guß geholt? Es stehn der Kessel, kundiger Hand Gebilde, Bekrlnz' ihr Haupt, die Henkel beider Schultem 1 Mit Zweigen oder Binden oder wie? Mit eines jungen Lammes frischer Schur! So sei's, doch welchem Ende streb ich zu? Gen Morgen stehend, gieß die Spende aus! Aus diesen Becken sagst du sie zu gießen ? Drei Bronnen, doch den dritten neige ganz! Und was entgieß ich dem? Lehr mich auch das! Wasser und Honig, aber laß den Wein 1 Und nahm die Erde das, im schwarzen Laub? Deck es mit Zweigen, zweimal neun, des Ölbaums Aus beiden Bänden vnd sprich dies Gebet: Danach verlangt mich, denn sein ist die Kraft! Wie sie die Holden heißen, so mit Hulden Den Beter aufzunehmen, ihm zum Heil! So flehe selbst dir oder laß dir flehen, Mit leiser Lippe, nicht erhobner Stil,llllle, Dann geh und sieh dich nicht mehr um! • • •

Auch schon das erste Epeisodion steigt und flllt in keinem andem Rhythmus als das Ganze. Der folgende Chor, ein Kommos wiederum in aufgelöster Frageform, beschließt nicht mehr den ersten Akt, sondem ist Einleitung des- folgenden, als ähnlicher Kontrast, wie es im Philoktet das 'Schlaflied' vor der Szene des Erwachens war 1• Wieder muß Ödipus in seine Qual· zurückgerissen werden, ehe Theseus ihn befreit 1 • Aber die Qual erscheint nicht mehr als gottverhlngt. Wo nach dem enten Od~pus der Name des Apollon und des delphischen Orakels stehen müßte, steht jetzt die 'Stadt' (V. 525 u. 541), und statt der tragischen Bejahung seines 'Dlmons' und des Götterwillens windet sich der Leidende in schmerzlicher Verneinung seiner Schuld. Wie schon in der Elektra und im Philoktet die Ursachen

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des Leidens nur noch menschlich sind, so auch im zweiten Ödipus. Und mehr und mehr, wie vor dem Menschlichen das Göttliche aus der Verursachung des Leidens sich zurückzieht, wird das Göttliche zu etwas, was von oben, weisend und versöhnend, sich zuguterletzt über den Menschen neigt. Wie es das Genus fordert, tritt der Landeskönig zu dem Schutz• suchenden hin. Geht man an diese Szene wieder von der Gattung her heran, so zeigt sich wieder, wie durch Sophokles die Gattung über sich hinaUBgehoben wird. Was nach dem Genus folgen müßte, wäre flehentliches Bitten, Klagen, W eigem • . . In den Herakliden des Euripides bedarf es zu den Bitten erst der langen und geübten Reden bis zum königlichen Richterspruch (Herakl. 236); die sieben Heldenmütter in den Hiketiden müssen sich vor Aithra winden, Adrast bittend Theseus' Knie umschlingen (Eur. Hik. V. 163), und bei Aischylos müssen die Danaiden gar zuletzt mit ihrem Tode drohen, um bei dem König Gehör zu finden (Aischylos Suppl. V. 446). Der Theseus des Sophokles läßt es nicht dahin kommen (V. 556). Daß ein Mensch, im Wissen um das Menschliche, vorfühlend einen anderen seiner Lage überhebt und ihm sein Peinliches erspart, und daß dies so empfunden, so dafür gedankt wird; daß aus einem solchen Kennen und einander Freimachen, im Geben und im Nehmen, eine Szene wird wie diese, ohnePomp und Sturm: das war trotz ihres Reichtums auf der Bühne von Athen noch nicht gesehen. Mag als Gestalt uns Theseus, gegen Ödipus, von schwächerer Zeichnung scheinen, so ist doch kein Zweifel: Theseus ist für Sophokles der höchste Inbegriff des Menschlichen, den zu gestalten er sich unterfangen hat: s e i n Theseus s e i n e s Athens; die große Sicherheit, Ruhe und Wärme über allen Zagnissen und Stürmen dessen, den die Schicksalsmächte sich erkoren haben. Aber nicht nur durch den Ton der hohen Herzlichkeit ist diese Szene von dem Genus der Aufnahme-Szenen unterschieden: Ödipus ist Überbringer einer Gabe, über die er zwar nur andeutend sich äußert, aber doch in einem Ton, daß über ihren Sinn kein Zweifel sein kann: seine Gabe i,t sein Tod und Grab. Denn wie der Tod in andern Fällen ein Zerstieben der Person in's All bedeutet, Rücldluß in die Ursubstanz der Welt, so ist er hier, in.einem nicht 216

ungleichen Sinn, Rückkehr und Eingang zu den heimatlichen Michten, Rückßuß in den Quell des Dauernden, aus dem im Zeitenwandel, mit den künftigen Gefahren eines Volkes, seine Abwehrkräfte strömen. So steht hier, inmitten dieses Epeisodions, ebenso den Lauf der Handlung durch die höhere Weihe unterbrechend wie die Unterweisung am Ende des vorigen, die Prophezeiung einer Zukunft, durch die sich das Landesschicksal mit dem Ödipus-Schicksal verbindet (V. 607):

Odipus

. . . Nur den Göttern Wird ewiglich nicht Altern und nicht Tod. Das andere treibt die Allgewalt der Zeit, Hinsiecht des Landes, siecht des Leibes Blüte, ECJstirbt die Treue und es keimt V errat, Und nimmer weht ein gleicher Wind beständig, Von Freund zu Freund nicht noch von Stadt zu Stadt. D e m allsogleich, dem. andern mit den Jahren Wird Liebes bitter und das Bittre lieb. Mag Theben dieses Segentags genießen Dir treu vereint 1 : gebiert doch Tag' und Nichte In Tausendfalt die tausendfältige Zeit, Da eurer heutigen Begrüßung Einklang Aus kleiner Ursach euer Speer zerteilt. Dann wird mein schlafendes Gebein, geborgen, Das kalte~ trinken jener heißes Blut, Wenn Zeus noch Zeus, und Zeus' Sohn Phoibos wahr! Doch lockt geheimer Sinn zur Sprache wenig • • •

Hier ist weder der altgriechische Heroenglaube, grob magisch verstanden, noch eine aktuelle Gegenwart der letzte Sinn, auf den die Prophezeiung wiese, jener Glaube vielmehr wird zur Stütze, zum Vehikel für das eigentlich Gemeinte - für die Unio mystica (wenn mir dies Wort verstattet wird) der tragischsten Gestalt mit dem geistigen Erbe, den Göttern Athens. Und mochte die Legende, mochte ein Orakel wann immer von einer Niederlage der Thebaner vor dem Grabe des Ödipus erzählt haben, so reicht doch Zeit und

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Anlaß solcher Überlieferungen an das hier Gemeinte nicht heran 1• Die überlieferte Legende wird zur mitteilbaren Hülle des verborgenen Sinns, nicht anders als der Toten- und Heroenglaube 1 • In den Herakliden des Euripides ist die Verkündigung der zukünftigen Abwehr durch das Grab des Heros auf das Jahr datierbar und hat ihren einmaligen Sinn, der mit der augenblicklichen Situation erschöpft ist. Im Odipus bleibt die zeitliche Konstellation, die der Voraussage entspräche, dem Historiker ein Rltsel, denn das prophezeite Schicksal f'lllt jenseits der Zeitgeschichte. Die nach ihrem Umfang größte Szene, die nun folgt, die ganze Mitte dieses Dramas füllend, ist zugleich die äußerlich bewegteste, an äußerer Handlung reichste, zugleich die nach ihrer Anlage am meisten an die Tradition gebundene. Der Eintritt des Widersachen, des Thebaners Kreon, mit zahlreichem reisigen Gefolge, die Bedrohung der Zurück.gelassenen, erst mit Worten, bald mit Taten, die HandgreHlichkeiten der Ge~aft"neten, die Wegschleppung der wehrlosen ·Mädchen, die Rettung aus höchster Not, endlich die Unterwerfung der Gewalt unter das Recht, dank der Entscheidung des gerechten Landeskönigs: all das spielt sich ab, nach seiner lußeren, szenischen Gestalt, kaum anders als auch sonst in den bekannten Hiketidenszenen, schon bei Aischylos. Archaisierend geradezu ist die Herbeiziehung des Retters durch beschwörende Rufe des Chors (V. 884, f.) - man darf dabei nicht daran denken, wie weit jener wohl entfernt sein mochte, hier so wenig wie in der entsprechenden Situation der Hiketiden V. 872f. 3 • Sophokleischer ist schon der lange Atem in der Leidenschaft, die Steigerung und Stufung: erst der Raub des Mädchens aus den Armen des hilflosen Bliriden, mit dem laöhnisch zu ihm hingesprochenen Epilog, mit dem der Auftritt schon zu schließen scheint (V.848ft".), dann unversehens der Wutausbruch des V ergewaltigers über den Einspruch des Chorältesten, und nun das blindwütige Eindringen des einen Greises auf den andern - indem der Parallelismus beider Szenenteile durch mesodische Gesangspartien noch obendrein hervorgehoben wird. Aber auch das mag noch mehr zum Handwerklichen zählen: einzig Sophokleisch ist, daß diese Angriffs-Szene zu einer Entlarvung szene wird. Entlarvungs-Dramatiker ist So218

phokles seit jeher wie kein anderer. Aber was jetzt aus seinem Schein ans Licht gezogen wird, ist keine tragische Verstrickung mehr, sondern der Urschaden des Menschlichen, der kalte Nutzen im Gewand der Billigkeit und Herzlichkeit, al9-Urfeind, gegen den der Ur-Theseus des Sophokleischen Athens schützend die Hand erhebt. Wie dieser in der Konzeption schon etwas Ideelles hat und im Vergleich zu anderen Sophokleischen GeCJtalten sich verhält wie Platons Ur-Athen zu dessen anderen geschichtlichen Gestalten; wie in ihm das Maß sich darstellt, an dem, was Athen sein soll und nicht sein soll,zumessenist: so ist sein Gegenspieler, der verschmitzt vergreiste Kreon, nicht von ungeflhr die widrigste, mit größtem Grimm gezeichnete Gestalt des ganzen Sophokleischen Theaters. Der Tyrann Kreon in der Antigone, obwohl als Mensch verkrümmt, hatte doch wenigstens noch das für sich, daß er verblendet in sein Schicksal rannte. Der Kreon des KönigÖdipus blieb der Untadelige, Schicksallose. Aber dieser ist in seiner Heuchelei von einer Widerwlrtigkeit, daß gegen ihn Odysseus, der Lügner im Philoktet, von offner Vornehmheit, daß Klytaimestra gegen ihn von warmer Menschlichkeit erscheint. In der vollkommensten Maskierung tritt er auf. Und bitten wir vom zweiten Ödipus nichts als dies erste Redestück., als einziges Fragment, dem besten Philologen bliebe keine Wahl, als sich an seinem 'Ethos' zu erbauen (V. 733 f.): Kreon Ein alter Mann bin ich und weiß, die Stadt, Zu der ich komme, hat Gewalt wie eine. Doch diesen alten Mann nur hab' ich Auftrag In Güte heim in's Thebische zu lenken •• 0 du, des Jammers, Ödipus ! Hör auf mich Und komm zurück! Des Kadmos ganzes Volk Ruft dich nach Recht, und über alles ich, Je tiefer, wenn ich nicht der Menschheit Auswurf bin, Mit.Schmerzen mich dein Elend trifft, mein Alter! Dich Armen so zu sehen, in solcher Fremde Ewigen Bettler • • • 0 der unseligen Schmach, durch mich, Elenden, Ob dir und mir und allen uns verhängt! •••

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Es fehlt in dieser Rede nichts, was höchste Achtung, stlrkste Bindung heischt: das Blut, das Recht, die Vaterstadtals'Nährerin' ••• Was alles echt an Theseus ist, erscheint an Kreon als Maske getragen. Die Entlarvung reißt das menschliche Gesicht aus seinem Schein. (Was von der ein- und übergreifenden Manier der Kampfreden für die Elektra galt, gilt auch noch für dies hier, nur daß es noch größer im Ton, als Sinnbild allgemeingültiger ist;-V. 761 fF.):

Ödipus

O Allverschlagner, aller Redlichkeiten Verdreher du zu buntem Lügenwerk! •••

Und mag das aus der Reizbarkeit des auf sich selbst bezogenen Gemüts geschehen, so wird dadurch nicht weniger zugleich ein ganzes öffentliches Wesen und Gebaren an das Licht gezogen: das Unmenschliche im Mantel des Humanen. Was an Ödipus geschehen ist, wird zum Sinnbild der Verletzung des menschlichen Wesens überhaupt (V. 776):

Ödipus

Wie wenn ein Mensch, da flehentlich du bätest, Die Gabe weigerte, sich dir entzöge, Doch wärst du satt, wes du verlangtest, dann Dir schenkte, wenn kein Dank zu Dank mehr wire !

Ein solches Verhältnis, vielmehr die Verdrehung eines menschlichen Verhältnisses wie dies hier, zeugt von einem noch anderen Begriff des Menschlichen als den die früheren Stücke kannten. Da gab es wohl Schwarz und Weiß, Haß, Liebe, Lüge, wohl auch Größe in der Überhebung, Herzli~hkeit .in der Verbohrtheit, Adel in der Wildheit ... aber noch kein Menschliches, das durch den Schein des Menschlichen so quälerisch verletzt würde. Am nächsten kommt auch dem wieder der Philoktet. Aber der Ödipus geht in der Brandmarkung des Falschen weiter. Und da gar der schlaue Kreon, um den Theseus zu düpieren, zu Athens Besten zu handeln heuchelt, da er nur das über alles gottesfürchtige Athen mit seinem heiligen Areopag vor der Befleckung durch den Vatermörder und Blutschänder zu bewahren suche, bricht aus dem gereizten Herzen,

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bricht aus Schmach und Scham, die Hüllen von sich schleudernd - durch die innere Bewegung wieder fast an sich ein Drama der vernichtende Vergleich zwischen dem Tragischen und Widertragischen, als dem Gezeichneten und dem 'Gerechten' mit der Kraft ewiger Abrechnung. Nie wieder ist der Rang des Menschen, der ein auferlegtes Schicksal trägt, so hart emporgerissen worden über jene Art, die nur der anderen Schicksal nutzt, niemals das 'Ich' eines Belasteten so schroff von einem Du des Unbelasteten geschieden (V. 980):

Ödipus

So sei's gesagt, ich hab's nicht mehr zu hehlen, Da dich dein böser Mund so weit gebracht: Geboren hat sie, mich geboren, weh mir 1 Unwissenden unwissend, und geboren Von ihr hab ich in Schanden ihr gezeugt 1 Doch eines weiß ich: du beschimpfst mit Willen So mich wie sie, doch ohne Willen ward ich Ihr Mann und ohne Willen red' ich dieses! ••. 1

Aber wird das 'Genus' durch den Ödipus-Gehalt errtillt bis fast über das Maß dessen, was .es faßt, so droht nach einer anderen Seite derTheseus-Gehalt die Genus-Schranken gleichfalls zu durch• brechen. Der Theseus des Sophokles ist nicht das patriotische Idol, wie die Theseuse des Euripides. Er paradiert weder mit staatlichen Maximen, noch hat er dem Landesfeind gehörig eins zu geben (V. 1143 seiner Rede klingt wie gegen vaterlindisshe Lobrednerei gerichtet). Er steht selbst nicht innerhalb der Gegensitze. Die Ent• rüstung ist sein Teil nicht. (Man vergesse nicht, daß Sophokles den Perikles sehr nah gekannt hatte, von dessen Vornehmheit in der Behandlung seiner Gegner Anekdoten bei Plutarch zu lesen sind.) Er rückt, was aus der Ordnung ist, an seinen Ort und mißt ein jedes Ding nach seinem eigenen Maß, gibt ihm sein eigenes Recht. Soweit das 'Genus' es gestattet, wird sein Tun von diesem Sinn regiert. Die Strafe für den Missetäter wird nic~ts anderes sein, als daß er selbst das Übel, das er angerichtet, wieder gut ·zu machen hat (V. 905 H.). Fast wünscht man diesem Theseus, daß er sich um

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mehr zu kümmern hätte als um die entführten Mädchen; mit den Mädchen kommt fast etwas viel von einem Theatralisch-Rührenden herein. Aber je mehr das Genus und die Handlung ihre Schranken ziehen, muß über ihr Beschränkendes hinaus die Rede tragen. Daß durch Theseus Kreon zwar g e m e s s e n , aber nicht nach seiner Schuld gestraft wird, und gemessen an dem wahren Theben, dessen Art durch ihn gefälscht sei, daß ein Recht, nicht nur das von Athen, sondern das Recht der andern Stadt und jeder anderen Stadt als heilig gilt, und jedes Stadtgebiet für unverletzlich; daß auf solche Art dem Ehrfurcht.slosen der höchst Ehrfürchtige gegenübertritt: schafft erst den Unterschied, auch in der Tonlage und Geste, wie zur niederen Politik des Kreon, so zumal auch zu den stürmischen Gewalten, die den Ödipus regieren. Damit erst entsteht um jeden dieser drei, Kreon, Theseus und Odipus, jeweils ein eigener Kreis und Raum und grenzt sich eins vom anderen ab:

Theseus

Du hast getan, wie weder ich um dich Noch dein Geschlecht noch eigen Land verdient . • . Und doch zog Theben dich zum Schlechten nicht, Gesetzlos Wesen lieht es nicht zu hegen • • •

Dabei muß das geschrieben sein in einer Zeit, da Theben von allen Feinden Athens der erbittertste war. Auf den Antrag Thebens hat Athen 404 die Mauem schleifen müssen. Und in dieser Zeit dies Loh des Feindes? Also wohl gar um der 'Politik' willen ein 'Kompliment' in dieser sonst mit Absicht auf alle Tendenz v~rzichtenden Tragödie ? So hat man geschlossen und damit den Grad, die obere Grenze, das Niveau der Forderung aus dem Zusammenhang der Rede und Gestalt herausgerissen. Wodurch ragte dann noch Theseus über alles andere ? Ist es ml>glich, daß derselbe Theseus, an dem als sein Widerpart der Komplimentemacher Kreon so zunichte wird, zum Mittel würd~ um der Nachbarstadt aus einer Tageskonjunktur heraus ein 'Kompliment' zu machen 1 ? Nach ihrer ursprünglichen Verbindung mit dem Dramentyp der Supplices bei Aischylos kommt so die Frage nach dem Recht zuletzt wieder zu Ehren, allerdings in einem anderen Sinn: wie sich

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die Ursache des Leidens mehr und mehr vermenschlicht hat, so ist das 'ungeschriebene Gesetz' dem alten Sophokles zuletzt zu dieser Rechtsidee geworden. Die Sphäre beschränkt sakralen und partikularen Rechts, woran die Supplices gebunden sind, wird, ohne daß die Handlung dazu nötigte, verlassen und dafür ein allge• meines, aber nicht ein göttliches, sondern humanes Recht ver• kündet - zwar nicht im Stil des Euripides als These in die Welt gesetzt, doch umso einprägsamer an der Art des vorbildlichen Menschen dargetan und über das Gemeinere als das Höhere, über das Unattische als das Attische gestellt. 1 Nach dem aktschließenden Chorlied - das, auf Kampf und Sieg gestimmt, gleichzeitig an die Stelle eines Kampfberichts zu treten hat, da dieser in der ohnehin gesprengten Form des Genus keinen Sinn mehr hitte 2 - wäre, als die Aufgabe d~s. nächsten Epeiso• dions, dem 'Genus' zufolge, Dank und Preis des Retters zu er• warten. Doch das erst aufklingende Dur verfinstert sich in's Tra• gische, denn erst aus drohender Umwölkung kann der Blitz als Zeichen zum Aufbruch in 's andere Sein hemiederfahren. Wenn die Sohnesszene fehlte, so folgte dem Dank unmittelbar das Drama der Heroisierung, so begänne dieses ohne Schauer, und dem helleren Jenseits mangelte der Gegensatz zu einem Diesseits, das in Blind• heit und Verranntheit sich umdüstert. Äußerlich betrachtet ist das nächflte Epeisodion ein Verbindungsglied, als solches aber, nächst dem Vorspiel der Elektra, das extremste Beispiel für die Art des alten Sophokles, eine Zäsur zum Halt, zur Klammer einer zwei• hälftigen und in ihrem Pathos jeweils umgekehrten szenischen Einheit zu machen: väterlicher Fluch und väterliche Liebe, eins so' exzessiv wie's andere, stürzen aus derselben unheimlichen Mitte. Dabei ist die erste Hälfte wieder, durch den Widerspruch von Dank und Scham, derart in sich _geladen, daß der Dank erst bis zum stürmischsten Erguß, bis zur Umarmung, bis zum Kuß des Freundeshauptes sich erhebt, um desto jäher abzubrechen und sich zu erniedem, bis zum scheuen Gruß aus demütiger Feme. Der noch kurz zuvor den Stolz der Unschuld gegen die 'Gerechtigkeit' des Kreon setzte, muß vo.r Theseus' Reine seines Makels sich erinnern, in de.t Ehrfurcht maßlos wie im Zome. Solche Spannungen

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und Brechungen in einer und derselben Rede sind den frühen Dramen fremd und finden sich, dem zweiten Ödipus vergleichbar, nicht vor der Elektra. Doch die Hauptzäsur inmitten dieser Szene entsteht durch ein Außeres Hinzukommen, durch die beiliufige Erwähnung eines Unbekannte~, Bittenden. Wie damit in den Freudenglanz der Liebe und des Danks der erste Schatten fillt und drohend sich verdichtet, Grad um Grad, je enger um den Unbekannten sich der Kreis zu• sammenzieht, bis aus dem finstern Rätsel der Name des Sohns hervortritt: zeigt sich Sophokles noch einmal als der Meister des ent• hüllenden Entwickelns 1 • Aber mit dem König Ödipus verglichen, Bllt dies Spiel jetzt nicht mehr mit dem Sinn der tragischen Gestalt zusammen. Die in's Dunkel reißende Entdeckung, einer musikalischen Figur, einer Kadenz vergleichbar, dringt in's Beiwerk• hafte, dient dem Spiel der Gegensitze und wird wiederholbar. Jetzt erfolgt, durch diesen Zufall eingeleitet, die Umkehr der durch das ganze Spiel seither zwar variierten, doch nicht unter• brochenen Grundsituation (s. V. 1202 !) : derselbe, über den befunden wurde, hat selbst zu befinden; der noch eben in der gleichen Lage sich befand, hat einen Bittenden, zwar einen Schuldigen, doch Reumütigen, seinen eigenen Sohn vor sich, aber da staßt das maßlose, an seine Selbstbezüglichkeit gefesselte Gemüt an seine Schranke •. Wieder muß Antigone fürbitten ·wie zu Anfang, doch jetzt g e g e n Ödipus, und sie hält mit der bittem Wahrheit nicht zurück (V. 1189 f.):

Antigone

... und bitt' er auch das Böseste Dir angetan, du darfst ihm, Vater, doch Mit Bösem nicht vergelten ••.

Es kann keine Rede davon sein, daß Sophokles diese Vergeltung, dieses civ't'~~?iv,'rechtfertige', so wenig hier als wie zuvor (V. 953) 1, als wie in der Elektra (V. 577). Aber dann stimmt o:ffenbar der zweite Ödipus zum Philoktet, sofern sie beide den tragisch Gewal• tigen und Leidenden am Ende als Beschränkten und Gebundenen zeigen. Was sich Ödipus von seiner Tochter sagen lassen muß,

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steht, auC das Ganze hin betrachtet, an der gleichen Stelle, wie was Pbiloktet zuletzt an Wahrheit über sich von N eoptolemos zu hören hat. Der Dichter selber spricht, wie dort durch Neoptolemos 1, hier durch Antigone. Bei aller Nihe rückt am Ende Sophokles von seinem Helden ab, kaum weniger als Goethe von dem seinen am Ende des zweiten Faust. Doch während Philoktet, grollend und leidend, aU8 der falschen Welt heraus und in sein heimatliches Abeeits geht, wallt Ödipus, als unheimlicher Eiferer, aus der ritsel• haften Fülle seine.r Fluchgewalt, in der Welt Hlndel über, und in menschlicher Begrenztheit o:ff'enbart sich, was dämonisch sich ent• bindet 1 • Die elementaren Mächte brechen sich nicht, lösen sich zu keiner letzten Linderung und Stille. Erst der Blitz des Zeus reißt plötzlich aus dem menschlichen V erhingnis den geheimen zukünftigen Sinn-wie am Ende des Philoktet der sichtbar sich zeigende Gott. Die Polyneikes-Szene ist somit nicht dazu da, um nach der einen der beiden um Ödipus sich streitenden "Parteien' aueh noch die andere vorzuführen, vielmehr leitet sie die Spannungen der K.reon• Szene in die fortsetzende Tonart über. Wie derÖdipU8 eine Tragödie ist, die mit dem vollen 'incipit tragoedia' erst in ihrem letzten Teil beginnt, so ist die Polyneikes-Szene, ihrem Typus nach, denn auch keine Entlarvungsszene, sondern Trennungs- und Entscheidungsszene3. Mit Erschütterung bei dem einen, bösem Schweigen bei dem anderen setzt sie ein. Das vlterliche Schweigen bringt das Sohneswort zum Stocken. Zwischen beiden muß Antigone vermittelnd das erstarrte Wort ermutigen„ daß es das väterliche Schwei• gen breche. Die Rede des Bittenden ist wieder kein Bericht mehr wie die tragischen, 'pathetischen' Berichte in den Dramen früheren Stils, sondern ein Reden, Weiter-Reden, ein in d~r Situation ver• lorenes Werben, sich Erklären, sich Verlieren in die Einzelheiten des geplanten Zuges, des erlittenen bitteren Unrechts, des zu hoffenden Erfolgs - während gleichzeitig das Schweigen, immer abgründiger, Satz· für Satz heraufdringend, die Rede gleichsam unterhöhlt und überhingen läßt. Und wie sie mit töricht erhabener Hoff'nung ausklingt, schließt sich hinter ihr dieselbe Stummheit, in die sie hineinstieß - bis der Fluch die Spannung bricht. Hier gibt es Pauen, aber nicht nach lnterpretenwillkür angesetzt, wie in der

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'Trugrede' des Aias, sondern hörbar im gesprochenen Wort; Polyneikes (V. 1271) ,,Was schweigst du? - Sprich, Vater! . , ."; Chor (V.1346): ,,Um dessen willen, der ihm das Geleitgegehen., sprich zu ihm! ••• " Ödipus' Schweigen ist durchdringend und vernichtend; Aias' Schweigen zu Tekmessa war nur von sich selbst begrenzt. Nicht anders das der Deianeira, die die Folgen ihres Tuns erfährt, nicht anders das der lole. Dasselbe gilt von den ,berühmten Schweigenden des Aischylos, Prometheus, Niobe, Achilleus •.. 1 Eher schon hat dies Schweigen Ähnlichkeit mi~ jenem der Elektra während des Gebets der Klytaimestra. Jenes erstere entspricht dem monologisch selbstgenugsamen, pathetisch sich eröffnenden, dies letztere dem bezogenen, übergreifenden„ zum andern hindringenden Szenenstil der Altersdramen. Der verschiedenen Szenenform gemäß weicht auch der Sinn der Polyneikes-Szene von dem Sinn der Kreon-Szene ab. Mit Polyneikes wirbt um Ödipus nicht mehr die herz- und seelenlose Politik, sondern Beschränktheit und Verblendung. Darum das Vergebliche, das Nichtige, die Täuschung, als ginge des Sohns Rache-Plan und Ehrgeiz diesen Vater etwas an; darum die Blindheit im Wahn der Gemeinschaft, als verbände sie das gleiche Schicksal; als sei er„ der Sohn, verbannt wie Ödipus, und als sei Ödipus an seines sieggekrönten Sohnes Seite einziehend in Theben denkbar !1 Auch durch alles Heldische, auch durch die Aufzählung der sieben Recken klingt der Tonfall des Verkehrten. Wenn schon Ödipus., der nicht Verzeihende, menschlich beschränktem Wesen unterworfen ist, so Polyneikes noch viel mehr. Wohl packt die Reue ihn gewaltig, da er sieht, jetz~, wo sein eignes Schicksal auf ihn drück~ was er an seinem Vater getan hat, aber darum kann er sich doch um nichts mehr aus seiner allzu menschlichen Bedingtheit lösen. So beginnt eine Thebais, aber ohne daß ein Fluch-Dämon des untergehenden Geschlechts, ein waltendes Gesetz, ein Götterwille, ein Verhängnis höherer Ordnung sich eriüllte 3 • Wenn am Ende Polyneikes nicht mehr aus der einmal eingeschlagnen Bahn herauskann trotz der Bitten der Antigone, und sehend, doch in seinem Sehen nur desto blinder in sein Schicksal rennt, seine 'Gefährten', die ihm blind verfallnen, mit sich reißend, so hat doch diese Fatalität nichts 226

mehr zu schaffen mit der des Eteokles in den Sieben des Aischylos. Dort das heroische Ertragen eines g ö t t l i c h e n Verhängnisses, hier das vel')Vorrene, in sich selbst verknäulte Unterliegen und Dahinschleifen in der Gewalt m e n s c h l i c h e r Irrnisse, Begrenzthei ten und Fehler. 1 Aus dem Munde dieses Untergehenden erklingt kein Anruf seines 'Dämons', wie doch in den früheren Untergangs-Tragödien stets und schon vor Sophokles in den' Sieben' des Aischylos (V. 653 f. ), sondern statt dessen der Anruf des' Weges', der aus solchem Anfang auf ein solches Ziel zuführe (V. 1399 f.):

Polyneikes

Weh meines Wegs, unseligen Beginnens ! Weh meiner Kriegsgefährten! Welches Ende Ward unsrer Fahrt von Argos ! Weh mir Armen! Davon zu keinem Freund auch nur zu reden Vergönnt ist, noch zur Um.kehr ihn zu treiben •••

Denn erkannt wird hier nur die Zwangsläufigkeit des Untergangs, doch nichts von seinem Sinn; das delphische Gebot wird nirgends so entschieden nicht erfüllt wie hier. Jedoch auch Ödipus erhebt sich nicht über den unheilvollen Bann; als Ödipus von Theben taucht er in's Vergangene, ragt er in's Zukünftige, und eines ist so drückend wie das andere. So gewaltig er die Fluchgeister und Mächte des Verderbens ruft, so ist dabei die Quelle seiner Fluchgewalt doch nicht mehr die, aus der ihn Aischylos kann schöpfen heißen. Er flucht nicht so sehr als menschliches Gefäß der allwaltenden Mächte als kraft seines bitteren und verletzten Herzens. Doch so schwer diese Verletzung wiegt, so tief das Heilige, Ehrfurchtgebietende am Menschen seihst durch das, was ihm geschah, versehrt ist, kann ihn dies doch wiederum als Fluchenden in seiner Wildheit nicht entlasten. So wenig an der Gerechtigkeit der Mächte, die er ruft, zu zweifeln ist, verliert dadurch sein Fluch hinwieder nichts von seiner menschlich fürchterlichen Härte:

Odipus

Da gelten Trinen nicht, ich hab's zu tragen Und heiß dich Mörder bis zum letzten Atem!

... 227

Hinweg, mir Ausgespiener, Vaterloser, Verruchtester, und nimm dir diese Flüche mit! So kann er zugleich als Mensch, nach menschlichen Begriffen, in der Wildheit nicht entschuldigt werden, und ist doch zugleich in seiner Machtfülle der menschlichen Beurteilung entzogen, je mehr gegen Ende, desto rätselhafter zwischen Mensch und Dämon schillemd, und sobald man ihn im einen faßt, in's andere entweichend. 1 Das menschliche Ende der Tragödie reißt in den Beginn einer Tragödie des menschlich bedingten, dämonisch gejagten Treibens in den gottverlassenen Untergang. Aber dies Ende, dies Schauspiel der 'Sieben' als eines Gesamtverhängnisses, bildet den Hinter g rund, den schwarz umzogenen Horizont, vor dein, im Licht des Göttlichen, der Übergang in's andre Sein sich abspielt. 2 Das göttliche Zeichen, das von Anfang an erwartet wurde, trifft da ein, wo menschliches Verhängnis und göttlicher Sinn am weitesten sich voneinander zu entfemen scheinen. Der Weg, den das Menschliche, in seiner Blindheit von sich seihst getrieben, läuft,· führt vo~ dem Göttlichen am Schluß des zweiten Odipus nicht weniger weit ab als am Ende des Philoktet. Ja, die Disharmonie von Fluch und Segen, Schicksal und Verklärung wird un1 ebensoviel offenbarer, al• dadurch die unsichtbare Harmonie, nach Heraklit~ geheimer wird. So ist der Blitz des Zeus so wenig ein Theater-Donner wie der Gott im Philoktet ein Deus ex machina. Einsetzende Chöre hallen wieder von dem Sturm der Mächte, die plötzlich hereindringend den Raum erfiillen. Unheimliche Krifte scheinen im Aufruhr der Elemente aus dem blinden Haupte auszubrechen, ungewiß wohin sie sich entladen. Der blitzende 'Dämon' fährt hernieder, als wie um die Mutter Erde zu versehren, und die Nähe dessen, um den sich die Schicksals- und Naturgewalten sammeln, bringt Gefah.r. 3 Durch die Schreie des Chors, durch das Harren des Todgeweihten wird Theseus herbeigezogen, um als letzten Auftrag das Geheimnis zu empfangen, dessen Träger Odipus von Anfang ist. Aber davon zu reden ist vor anderer Ohren nicht erlaubt. Und wir, als Zuschauer, müssen es uns gefallen lassen, zu den 'Bürgern' zu gehören, von denen es heißt: ,,Vor dieser keinem dürft' ich davon

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sagen, ... " Nur soviel vernehmen wir, es solle auf die feierlichtte Art vererbt werden, vom jeweils Besten auf den Besten. Was mag das füt' ein Geheimnis sein ? Zwar hätte es dergleichen nicht im griechischen Heroenkult gegeben, wofür Zeugnisse nicht fehlen, würde Sophokles für sein Vermächtnis sich nicht dit>ser Form haben bedienen können. (Man hat darauf hingewiesen, daß das Grab der Dirke den Thebanern unbekannt war, auße11ihrem jeweils obersten Beamten, nach Plutarch, de genio Socratis, S. 578 B: „Der Abgehen„e tührt den Antretenden zur Nachtzeit hin, und nach Vollzug gewisser Riten, ohne Feuer, tilgen und verwischen sie die Spuren und gehen auf getrennten Wegen fort, unter dem Schutz der Finsternis.") Aber daraus folgt noch nicht, daß man das Ende der Tragödie in die Religionsgeschichte zu verweisen hltte. 1 Auch ist das sakrale Aition sichtlich mehr die Hülle alt der Kern des Erbe9 (V. 1526 f.) :

Odipru

Doch was verhüllt, mit keinem Wort zu heben, Erfahre du, dorthin gelangt, allein! Du aber wahr' es immerdar, und kommt Dein Ende, gib's allein dem Besten kund, Und der dem nächsten, und so fort und fort. So bleibt Verwüstung deiner Stadt verhütet Von Thebens Saat: der Städte so viel tausend, So wohl gesiedelt, stürzen in den Frevel • • •

Der Heroenglaube wird aue seiner primitiven, magischen Bedeutung in die höhere, geistige und ethische gehoben. Aue der magischen Gewalt wird eine seelische Gewähr. Das Grab desÖdipu& und sein Geheimnis wird Athen, entgegen dem Verderb der abertausend Städte, vor 'Hybris' bewahren. Die Verwüstung durch die Drache1188at würde, wenn sie geschähe, eine Folge seines 'Frevels' sein. Aber wieso hat das Geheimnis diese Kraft? Was kann es sein, um soviel zu vermögen? Lassen wir uns nicht verführen, das Mysterium aufzulösen: so wird es doch eher im ganzen Sinn der Dich t~g su erfassen sein als in etwas Vereinzeltem, noch gar in etwas außer

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ihr. Und was es immer sein mag, jedenfalls gehört dazu das Wissen um den Leidgewaltigen, den Fluchenden und Segnenden, und dessen Einverleibung durch den Kult. So ruht, als Erbe von Theseus der Stadt vermacht, die tragischste Gestalt, die Sophokles gedichtet hat, als aus der Tiefe zeugen~es Gebein, im Boden seines Landes. Aus den Worten des mit blinden Augen sehend seinem Grab Entgegenschreiteaden grüßt Sophokles zum letzten Mal sein Volk:

Odipus

Dorthin! Mir nach! Dorthin, so führen mich Geleiter Hermes und der liefen Königin. 0 Licht, lichtloses, ehe warst du mein! Jetzt tastet dicb zum letzten Mal mein Leib. Schon wandel' ich, des Lebens Ziel zu betgen, Zum Hades hin: 0, meiner Freunde liebster, Du und dein Land und all dir dienend Volk, So segn' ich euch, und in der Gnaden Fülle Gedenkt des Toten, immerdar beglückt!

Der Kult des 'Heros Dexion' - des Günstigen oder Gastlichen - den Athen, neben dem älteren Kult des 'Helfenden', Amynos., seinem Tragiker nach seinem Tod geweiht hat, läßt vielleicht, von Seiten der Aufnehmenden, noch etwas von dem Geiste merken, aus welchem dies Werk und sein geheimes Erbe hinterlassen worden. Auf den Abschied folgt ein Lied- ein sanfter Bitt• und Zaubersang zum Bann der Hades-Schrecken, das sich zum Bericht des Endes wiederum verhält wie ein Gebet zu seiner unerwarteten Erfüllung. Mit den Klagen der zurückgelassenen Töchter klingt das Drama aus. Doch durch das Widerspiel menschlicher Trauer und göttlichen Wunders, zwischen diesseitiger Mahnung und jenseitiger Verklärung, wird das Nachspiel bis zum letzten Threnos wiederum der Sphäre der pathetischen Entladungen im früheren Katastro• phenstil entrückt. In der Vielfältigkeit der gegenstrebigen Bewegungen, im Hin und Her der aufgelösten Fragen und im Wechsel zwischen nächster Sorge um die Zukunft und erinnerndem Gedenken, zwischen Kummer und V ertröstung wird der Schlu.Bchor noch einmal zu einem rahmenden Musikstück von Umfang _und 230

Art des Einzugslieds. 1 Und wenn dabei die Totenklage am Trag6• dienende nicht mehr mit der alten Schrille klingt, so wird sie um so mehr zu einem Drama anderer Art, von dem als Wirkung nicht mehr so sehr Furcht und Mitleid ausgeht als Weisung und Hindeutung. Auch der Bericht des letzten Boten fügt sich dieser Haltung ein; durch die Erzählungsform hindurch wird aus dem Ende eine Art von Handlung, durch die sich das Spiel der 'Oberglnge zwischen den zwei Sphiren um den Blinden fortsetzt: wie er auf der Schwelle steht, an dem geheimnisvollen Ort des Hains, da sich die obere Welt zur unteren öff'net, auf der Schwelle aber auch zugleich des Seins, zwischen den Rufen aus dem Diesseits und dem Jenseits, zwischen letztem liebenden, von Liebe strömenden Umfangen und Aufbruch in's andere .•• So drängen, durchflechten und durchbrechen sich die letzten Szenen auch noch im Bericht: die Waschung, dann die Klage, dann·die Stille und in sie hinein die jenseitige Stimme, letzte Sorge um die Töchter, eilige Entlassung und am Ende Theseus, allein übrig, der das Auge mit der Hand beschattend zu Himmel und Erde betet • • • Der Bericht des Boten ist· nach seinem religiösen 'Genus' ein Wunderbericht, und wenn man nur darin das Genus sucht, so wiederholen sich in ihm auch sonst verbreitete Motive. Aber einzig eigentümlich letzter Alters-Art des -Sophokles ist, wie aus ihrer Dissonanz die Harmonie von Gott und Mensch zuguterletzt sich löst:

Bote

• •• . Doch da de, Jammers Genug war und die Klage sich gelegt, Da ward es still umher - als eine Stimme Zu ihm erscholl, daß uns, vor jähem Schrecken, Allsamt das Haar in Angst zu Berge stand. Denn einmal über's andere ruh der Gott: '0 du! Du! Ödipus ! Was zaudern wir Zu gehn? Du säumst zu lang an deinem Teil' • • .

Der Plural dieses Einverständnisses, von einer schreckenden und dennoch zarten Art Vertraulichkeit, von halbem Inne-Sein

231

und doch geheimnisvollem Außen-Sein, hat im Konzert g6ttlicher Stimmen, die durch Zeitalter und Religionen vom Himmel herab zu gottbegnadet Sterbenden geredet haben, nichts Vergleichbares. Da ist nichts von der Majestät alttestamentlicher Visionen, nichts vom Kampf der irdischen und himmlischen Gewalten, kein kosmisches Drama einer Himmelfahrt, kein Niedersinken jenseitiger Glorien, kein verkllrtes Auge - der Gott geht zur Seite, spricht als 'wir', lldt ein - er wartet, aber bald wird es zu lang . . Im Material des Worts kehrt darin etwas wieder von den Linien des Neapler Orpheus- und Eurydik:e-Reliefs. Der Tod des Ödipus, so viel Pers6nliches in ihm Gestalt gewinnt, bleibt doch die reinste Form der klassischen Entrückung. In dem Frühwerk der Trachinierinnen bitte wohl der Sagenstoff', der Flammentod des Herakles, Gelegenheit geboten, sich an einem Drama ähnlicher Art zu versuchen. Doch da geht, wie die Sorge des Helden, so die Dichtung noch ganz auf das Diesseits. Der Tod, wenn auch Oberwindung letzter Leiden, ist doch nur ein Ende (7.atvA~x.ocx.wv, -re1eun; Ulj't':X.T"fi), kein Hinübergang. Das Jenseitige fehlt und mit ihm das geheime Spiel der Sphiren, das im Ödipus den Tod erst eigentlich zum Drama macht. Der Tod im Aias und in der Antigone war ein freiwillig-schmerzliches Entrissen-Werden, im einen aus Heldentµm. und Ruhm, im andem aus Jugend und Blutsgemeinschaft. Doch das liegt zurück. Sophokles hat dem Tod Gestalt gegeben, im Fortgang der Zeit, je nach der Stufe seiner Selbstvollendung.

232

FRAGMENTE

~ Nachdem

die erhaltenen Tragödien sich in eine relative Chrono• logie gefügt haben, die zwar nicht die Geschichte eines Menschen, aber doch verschiedene Zeitstufen, Frühes und Reifes, letzte Form• erfüllung und Ausbildung eines Spltstils unterscheiden llßt, erglbe sich daraus die Aufgabe, dieselben Stufen nun auch in der Maue der Fragmente nachzuweisen. Aber da tritt hindernd in den Weg, daß die Zitate gar zu wenig von der Situation verraten, durch die erst ein Wort dramatisch wird. Gleichwohl bestätigt sich. die aufgestellte Ordnung wenigstens insofern, als die chronologischen Indizien, die aus anderen Daten sich ergeben, unseren Schlüssen aus der Sprach• und Szenenform, soweit davon noch etwa, zu erkennen ist, nicht widersprechen. Mag das wenigstens an ein paar Beispielen gezeigt sein. 1 Den Trachinierinnen und dem Aias nächst verwandt sind die FragmentedesEurypylos,bekanntseitdemPapyrusfundvon 1912. Aus den verstümmelten Zeilen desAnfangs llßt sich eben noch das Warnungszeichen ablesen, das den Tragödientyp verrAt: hier ein Rabengekrichze, dessen unheilvolle Vorbedeutung in erregter Aus• einandersetzung in den Wind geschlagen wird. Größere Stücke sind erhalten aus dem folgenden Botenbericht, handelnd vom Kampf, durch den Eurypylos, der junge Sohn desTelephos, Priamos'Neff'e, Troias letzte Hoff'nung, dem jungen Achilleus- Sohne Neoptolemos erliegt. Man spürt, wie der Bericht fast noch der Höhepunkt des ganzen Dramas ist. Um ihn zu steigern, werden lyrische Partien • in ihn hinein geschoben, als würde ein Kommos-Stück vorweggenommen. Dazu stimmt der Inhalt. Wie Aias und Hektor durch dieselben Waff'en umkamen,' die sie einst miteinander tauschten, nach dem Aias (s. oben S. 39): so triff't Neoptolemos den Sohn des Telephos hier mit demselben Speer, mit dem Achilleus einst den Telephos geheilt hat. Und wie dies Zusammentreff'en zeigt, in welcher Schicksalsform das Spiel verlluft, so klagt Astyoche, die 233

Mutter des Erschlagenen, wie Deianeira ihren 'Dämon', ihre Torheit (ii~oul(~), ihre Schuld an: denn sie war es, die, durch ihren Bruder Priamos bestochen, ihren Sohn hat in den Kampf ziehen lassen. Daß auch hier die Überhebung so zu Fall komme, wird angedeutet (Fr. 94). So ist auch der Chor noch von der alten Art, lediglich Resonanz, ja über die bekannten frühen Formen noch hinaus hallendes Echo, wie im Kommos der Perser des Aiscbylos. Von einem Dreigesprlch, von einer schwankenden Situation noch nirgends eine Spur. Und wieder zeigt sich, wie notwendig mit der Szenenform die Sprachform übereinstimmt. Denn hier ist die Sprache in ihrer besonderen Formung noch ganz anders PathosTrlger als im splteren Spiel der wechselnden Bezüge. An pathetischen Vergleichen fehlt es hier so wenig wie im Aias und in den Trachinierinnen. Und das Prachtvollste erscheint noch im Bericht:

Bote

Doch über Brust und Wunden hingeworfen, Nicht Vater, doch mit Vaterwortes Klage, W eint Priam um das sohnesgleiche Blut, Um den an Jünglings, Greises, Mannes statt, Nicht Myser, nicht des Telephos ihn heißend, Er ruft ihn als sein eigen Kind: o Sohn, Der Phryger höchstes Hoffen, letzten Hort, Das brachtest du und machtest es zu schanden !

Verhlltnismlßig früher Zeit müssen wohl auch die Kolcherinnen angehören, da Euripides in der Medea - aufgeführt 431 - ihrer Fabel folgt, indem er die. Zerstückelung des Apsyrtos, statt auf der Flucht, noch im Hause des Kolcherkönigs selbst geschehen sein läJ3t. Medea, dem J ason geneigt, verrit ihm die Geheimnisse der Aufgaben, die er zum Raub des goldenen Fließes zu bestehen hat, und läßt sich von ihm den Dank zuschwören. Zum Schutz gegen den Anhauch des Drachen gibt sie ihm die Salbe des Prometheus, was zu einem längeren Bericht von dessen Schicksal führte. J asons Sieg über die Drachensaat wurde von einem Boten dem König gemeldet. Nach den Proben war die Sprache schwer, ge· dringt, geschmückt, metapherreich, der fernen Wunderwelt gemlß 234

Cast lschyleisch. Man würde auch ohne den gesicherten Terminus ante quem gem glauben, daß dies Stück nicht in die Spätzeit fiel. Auf noch früherer Stufe scheint der Thamyris zu stehen. Der Held war ein thrakischer König, Sänger und Kithara-Spieler, der sich rühmte, durch sein Spiel die Musen zu besiegen. Die Musen machten ihn blind und des Gesangs beraubt. So hat ihn Polygnot auf seinem delphischen U nterweltsbild gemalt, als den Geblendeten, mit wirrem Haar und Bart, gebeugt, die Lyra ihm zu Füßen, zerbrochen der Steg und die Saiten zerrissen. Die berühmteste Szene der Sophokleischen Tragödie hat ihn in dem gleichen Pathos dargestellt. Das Drama muß zur selben Gattung der Zerschmetterungstragödien wie ~er Aias und die Niobe des Aischylos gehört haben. Nur hat es hier des Lyrischen wohl noch viel mehr gegeben. Man spürt selbst durch die Zitate noch etwas von der Erschütterung zittern. Da der Dichter bei der Aufführung sich durch sein Kitharspiel berühmt gemacht hat, muß dies gleichfalls in die Frühzeit fallen. Beispiel einer frühen Spielform ist auch die Nausikaa oder 'Die Wlscherinnen'. Auch das Ballspiel, mit dem sich der Dichter in der Hauptrolle hat sehen lassen, erhielt sich im Gedächtnis. Ein paar Bruchstücke verraten noch, wie eng der Anschluß an die Odyssee war; wenigstens in seinem ersten Teil mag das dem Goetheschen Entwurf gar nicht so unähnlich gesehen haben. Ob freilich das eine 'Tragödie' nach der Regel gab, ist mehr als zweiCelhaft; es war wohl nur ein anmutiges Spiel, aus Lust am Darstellen, an der Gebärde und am Tanz hervorgegangen. Es ist möglich, ja wahrscheinlich, daß ein ganzes 'Genus' leichterer Schauspiele, die unter den Tragödien standen, bis auf unkenntliche Reste uns verloren ist: Spiele der Anmut, der gefälligen Dramatisierung eines Mythos, ohne die Gewalt und Größe der erhaltenen, doch auch ohne darauf Anspruch zu erheben. Wie denn bei einem solchen Gesamtwerk neben dem, was durch Jahre gereift ist, auch rasch Hingeworfenes sich befinden mußte. Um so glücklicher darf man sich aber schätzen, daß man von dem spielenden, dem frühen Sophokles noch etwas zu Gesicht

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bekommt durch den Papyrusfund des Satyrspiels: Ichneutai. 'Spürhunde', wie Wilamowitz diesen Titel übersetzt hat 1 , deutet aul die mimische Hauptleistung des tanzenden Chors. Und wieviel Tanz ist hier das ganze Spiel! Einen Begriff von dieser Gattung konnte man sich vordem nur nach dem Euripideischen Kyklopen machen. Doch da wiederholten sich fast nur bereits bekannte Spannungen und Lagen dieses Dichters, allerdings in einem reizend heiteren Ton. Erst seit dem Funde der lchneuten hat man eine Probe von den Satyrspielen eines Tragiker&, für den die Götter noch nicht Menschensatzung sind. Und man entdeckt, um wieviel ausgelassener Sophokles mit seinen Göttern als Euripides mit seinen Helden spielt; je mehr er an sie glaubt, mit um so größerer Freiheit kann er seinen Spaß an ihnen haben. Konnte man darauf gefaßt sein, im Prolog einer Tragödie einen Gott in seiner Herrlichkeit strafend und richtend auftreten zu sehen: so tritt hier der Allwis!ende, der Sehergott Apollon auf, doch in welcher Verlegenheit! Er muß sieh diesmal an die anderen wenden, und an was für andere! Bis hinunter zu den Bauern, Hirten, Köhlern, Geistern des Gebirges. Denn er ist bestohlen worden und ahnt nicht, von wem. Der Gott setzt eine Summe aus:

Apollon

Den Göttern und den Menschen tu ich kund: Die Bullen und die euterfetten Kühe, Der Kälber und der Färsen junge Pracht, Spurlos verschwunden! .•. Nie bitt ich das geglaubt, Daß unter Göttern, unter Menschen einer So dreisten Sinns sich dieser Tat erfrechte. • . . Erchreck.t, entsetzt, Spür, lauf ich, ruf's allgültig in die Welt, Göttern und Sterblichen kund und zu wissen!

So zieht er als sein eigener Ausrufer durchs Land. Wie im Triptolemos Demeter die künftige Reise ihres Heros, oder wie Dionysos in den Euripideisehen Bak.ehen die Stationen seines Kommens 236

herzihlt, zählt Apollon auf, was er umsonst durchsucht hat: Thessalien, Böotien - denn er kommt von Norden-, die dorischen Lande, bis in's unzugängliche Gebirge der Kyllene. Aber da kommt auf den 'lauten Heroldsruf' herbeigeeilt Silen, der Führer seines Chors, in Herzlichkeit bereit, als Phoibos' 'lieber Wohltlter' 'dies Ding ihm zu erjagen'. Das Geschlftliche muß zwar geordnet sein. Aber bei Phoibos hat das keine Not. Der Tanz beginnt: ein Springen, Hüpfen, Kauern, Hocken, Schnalzen: die Bewegungen sind durch die Worte noch zu spüren. Im Gebaren· der Halbtiere geht etwas Naturisches, Elementari• sches und etwas von der Ausgelassenheit attischer Jugend eine unbeschreibliche V erhindung ein; man kann sich keinen schöneren . Begleittext zu den Satyrn auf den V asenhildem wünschen. Silen, da der Gott gegangen, geht zu Werk mit einem beinahe lschyleischen Gebetsanruf: 'Göttin Tyche und Daimon-Lenker'. Da auf seine Wiederholung des göttlichen Aufrufs - offenbar ist er als nachgeordnete Instanz sich dieses schuldig - wieder nichts erfolgt, sucht er die Satyrn auf die Spur zu bringen. In Kolonnen gehen sie vor, der Tiefe zu:

A. Mit Gott, mit Gott, mit Gott, mit Gott, ab, ah ! Die hätten wir! Halt, keinen Schritt mehr weiter! B. Das sind wahrhaftig schon der Rinder Fährten! A. Sei still! Ein Gott führt unsere Kolonie.

. . .

B. Lauf einer stracks . • . Oh nicht schon ihr Gebrüll zu Ohr ihm dringe! Aber die ganze Schwierigkeit der Aufgabe stellt sich jetzt erst heraus. Die List des Diebs, der die Spuren verwirrt hat, wie der Hermes-Hymnus es erzlhlt, setzt sich in eine Tanzfigur um: plötzliche Bestürzung und Verlegenheit: Chor

Was ist da los? Wo bleibt denn hier die Regel? Nach hinten dreht das Vordere sich herum, Und eins bekriegt sich feindlich mit dem andern! Ein schwerer Wirrwarr überfiel den Treiber I

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Aber die Verwirrung bei den Spürenden scheint nicht geringer • . So etwas an Stellungen hat seihst Silen noch nicht erlebt: was sind das für Manieren! Liegen da wie Igel in dem Nest! Strecken den Steiß wie Aft'en, welche . . . Was fuhr in sie ? Doch als Antwort tönt nur ein entsetztes: Ü, ü, ü, ü! Die Lyra des verborgenen Gottes fingt leise zu klingen an. Silen spottet: die sehen Gespenster ! Wollt ihr meinen Stock? - Still! Hör doch nur! Wie soll ich hören, wenn ich nichts ~on einer Stimme höre? Lausche nur ein wenig! Das hat noch kein Sterblicher vemommen ! Doch Silen, noch immer taub, hält ihnen eine Standrede, stellt ihre Feigheit gegen seine frühere Helden-Jugend, die durch sie geschändet werde, da ein Spaßvogel von einem Hirten sie mit einem Tonin'sBockshom jage ... Wieder eine neue Tanznummer: Hundedressur. Der Alte prüft; die Jungen laufen an, durch Pfift'e, Zu.rufe ermuntert, um die Reihe, aber einer nach dem anderen drückt sich an dem Ziel vorbei. Zuletzt hört endlich auch Silen den unerhörten Ton - und nimmt Reißaus. Der Chor ermutigt sich, um durch sein Springen und Gestampf den Dieb aus dem Versteck im Boden an das Tageslicht zu zwingen - da entsteigt vor ihm, wie eine auffahrende Erdgöttin, die Nymphe des Gebirgs, Kyllene.

K ylle-ne

Ihr Tiere, was müßt ihr des waldigen Gebirges Wildrevier mit solchem Lärm erfiillen? Weich Wesen! Weich ein Abfall von dem Fleiße, Der euch befeuerte, dem Herrn zulieb: Der immer nur das Rehfell um die Schultem, Den leichten Thyrsos wiegend in der Hand, Im Schwarm bisher um seinen Gott gejauchzt, Mit seiner Nymphen, seiner Söhne Hauf? Und jetzt, nicht kenn ich euch mehr! Wo hinaus Dies neue Rasen? Hört ich doch ein Pfeifen · Wie das von Jägern um ein Wild im Busch!

Die Rede, voll erhabenen Tons, steigt auf, so würdevoll wie die Gestalt der Göttin inmitten der ungezogenen Schar. Doch kaum beschwichtigt, so vertraut sie schon dem Haufen ihr G~heimnis an:

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daß sie die Amme eines Götterkindes ist. • . Zugleich gibt sie das Instrument, von dem die Klänge kommen, durch ein Rätselspiel zu raten auf. Aber da f'lllt dem Chor auf einmal ein: der Kleine ist der Dieb! Kyllenes Würde und Distanz weiß sich kaum mehr zu fassen: welche Zumutung! Dies Kind! Bei solcher Abstammung! Stiehlt Zeus? Stiehlt Maia, seine Mutter? Sind hier nicht die würdigsten Verhältnisse? Ist Hunger hier zuhaus? Aber da meldet das gestohlene Vieh sich selbst bereits! Untrüglich ist der Mist und das Geheimnis ist nicht mehr zu halten . • • Wenn der Rest auch fehlt, und mit ihm die Versöhnung zwischen beiden Göttern, mit dem Tausch der Lyra gegen die gestohlene Herde, so bleibt doch das Spiel im ganzen, seinem Typus nach, eine Enthüllung. Und wie bei der tragischen Enthüllung, deren Meister Sophokles ist, fehlt es auch hier nicht an Hindernissen, Spannungen und Überraschungen. Die Wahrheit freilich kommt hier an den Tag nicht durch ~as Spiel der Götter mit den Mensche~ sondem durch ein Spiel des Dichters mit den Göttern. Und doch sind die Götter, als Gebieter solchen Spiels, damit auch ihrer eigenen Spielform Urheber; Urheber also auch der Umkehr, die sie mit sich bringt. Denn statt in's tragische Erkennen fuhrt hier die Entdeckung in's göttliche Wunder: durch den Diebstahl wird Apollon Herr der Leier, und das Instrument, das Hermes und Apollon miteinander tauschen, das im Anfang m,ltspielt und begleitet, wird zuletzt, als Sinnbild dieses leichteren Geistes, der sich hier verherrlicht, in der Hand des Gottes schön genug ge• klungen haben. Stelle man sich vor, daß so etwas dem König Ödipus als Satyrspiel gefolgt sein kann! Daß d e r Apollon„ dem Silen zu Hilfe kommt, die Ablösung jener Gestalt des Gottes sein konnte, die dem Geblendeten erschien: 'Das war Apollon, Freunde!' •.. Um das Tragischste zu dichten, hat ein Geist so spielen können.

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ANMERKUNGEN

EINFÜHRUNG

So geschrieben vor vierzehn Jahren. An monographischen Würdigungen sind inzwischen zwei erschienen, deren Gemeinsames bei aller Gegensätzlichkeit doch darin zu erblicken ist,da8 beide von gewissen 'Sichten' kommen: H.W einstock,Sophokles, 1931, inzwischen in zweiter verkürzter Aufl., und A. v. Blumenthal, Sophokles, 1938; das erste durch Heideggers Philosophie bestimmt (die 2. Aufl. hat allerdings das Systematische z. T. nicht wiederholt), das zweite seine He.rkunft aus dem Kreise um George nicht verleugnend. Ferner W. Schadewaldt, Sophokles und Athen, Leipziger Antritts.rede 1935 (bei Klostermann, Wissenschaft und Gegenwart 11); handelt vom biographischen Problem im höchsten Sinne, von Soph. als 'klassischem Nationalautor' (Goethe). An Würdigungen der drei Tragiker zusammen sind zu nennen, an erster Ste1le: Max Pohlenz, D~e griech. Tragödie, 1930, mit einem Band Erläuterungen; vielseitiger philologischer Ratgeber; E. Howald, Die griech. Tragödie, 1930, abrückend, analytisch, das geschichtlich, psychologisch und gesellschaftlich Bedingte, gattungshaft Beschränkte der Tragödie stat-k•hervorkehrend; P. Friedländer, Die Antike I (1925) S. 295 ff'. Im folgenden wird auf diese letzteren drei, wie in der ersten Auflage, nur mit den Verfassernamen hinge" iesen. Hinzu kommt von italienischer Seite: Enrico Turolla, Saggio sulla poesia di Sophocle, Bari 1934; von schöner Begeisterung getragen; von englischer Seite: T. B. L. Webster, lntroduction to Sophocles, 1936; kriterien- und tatsachenfreudig nüchtern. Für die übrige Literatur sei hingewiesen auf Bursians Jahresbericht über difl Fortschritte der k.lass. Altertumswiss. 1938 S. 67 ff'. von A. v. Blumenthal. E. Wolft', Neue Jahrbücher f. Wiss. u. Jugendbildung 1931 S. 393 f. bleibt nachzutragen. Wiederholt behandelt wurde in der letzten Zeit das chronologische Problem, worüber Näheres in den Anmerkungen zu den Trachinierinnen. Seite 10. 1 Hinweis auf die Einsamkeit um die tragischen Helden des Sophokles bei Friedländer, S. 303. Seile 9.

242

1

Seile 14. 10. Regenbogen, Schmerz und Tod in den Tragödien Senecas, Vorträge der Bibliothek Warburg, 1930. Seiu 16. 1 Monologisch wird hie.c also auch nicht im Sinne von 'Selbst• äußerung' verstanden, wie bei W. Schadewaldt, Monolog und Selbstgespräch, Neue Philol. Unters. 1926, 'die überall da auftritt, wo eine Person fühlendCl' Träger eines eindrucksvoll waltenden Schicksals wird' (S. 36), vielmehr ergibt das Monologische sich aus der Kräftelagerung der Szene. Patheti~e 'Selbstäußerung• z. B. und Bericht sind theoretisch, p~ycho• logisch und stilistisch zwar verschiedene Formen, aber gehen in Praiis ineinander über. Beiden eigentümlich ist, daß sie an sieb nicht 'dialogisch' sind, will sagen, vom Standp1mkt der Szene nicht zum anderen hin bezogen. Mag eine Person dabeistehen, den Bericht zu hören, so wird darum doch die Szene nicht auf dieses Hören hin gerichtet. Andererseits kann es zu einer höchst pathetischen 'Selbstäußerung• kommen, wie im Anagnorismos des Ödipus und der Elektra, die dennoch nicht monologisch, sondem von der Szene aus höchst dialogisch ist, indem die Spannung zwischen zwei Personen die Szene beherrscht, auch da, wo die aff'ektgeladene Rede in sich selbst verharrt und, psychologisch angesehen, 'Selbstäußerung' bleibt. Nicht anders kann etwas anscheinend Dialogisches in Wahrheit 'monologisch• sein, indem ein Inhalt an verschiedene Redende verteilt wird und die Reden voneinander abgesetzt, nicht wie zwei Pole aufeinander hingerichtet werden. Wiederum. kann ebenso ein scheinbares, z. B. pychologisches Nebeneinander von der Szene aus betrachtet zum gespannten Gegeneinander werden, usw.

AIAS

Seite 18.

1

'Was wir eine dramatische Handlung nennen, kann in diesem Stücke niemand finden, der nicht vorher schon weiß, daß er sie finden muß', Tycho v. Wilamow:itz-Moellendorff, Die dramatische Technik des Sophokles (1917) S. 51. . Seite 19. 1 So Pohlenz S.186 u. Erläut. zu S. 174. Seite 20. 1 Zur Datierungsfrage. Aias V 1295, da Teukros dem Menelaos den Fehltritt seiner Mutter vorwirft, ist zur Datierung

243

nicht zu verwenden. Die Geschichte ist sehr peloponnesisch: ein böser Liebeshandel der A~rope mit einem Sklave~ ehe sie Mutter des Agamemnon und Menelaos wird. 438 hat sie Euri• pides in seinen Kreterinnen ·in extenso dargestellt. Daß die Eu.ripideische und Sophokleische Genealogie je nach der Einführung oder Ausschaltung des Pleisthenes nicht ganz übereinstimmt, zeigt Pohlenz, Gr: Trag. Erläut., S. 51. Wilamowitz, Berl. Klassike.ctexte V 2, 71, glaubte zwar, Sophokles deute damit auf das Euripideische Drama. Aber wenn wir denn schon forde~ daß di&. auf eine Tragödie weise, so hat Sophokles doch auch selbst einen Atreus und nicht weniger als zwei Thyeste g,schrieben., in denen derglefohen beiläufig ges,anden haben kann. Und das Problem des v68o;fe'ilt auch sonst nicht bei ihm, z. B. Aleadai Fr. 83 u. 84. Berühmt und viel zitiert war der Streit beider Könige in Argos vor der Fahrt nach Troia, womit der Euripideische .Telephos begann (F1. 723 N.): x.dv71v x.6ap.&L, 't'IXC 3eMux.'Y)v~ ~"fAg. c~~pniv &ACX."J.~, Aber weshalb dieser Euripideische Vers das Vorbild sein müsse, der Sophokleische, Aias 1102, die Nachahmung, kann nicht einleuchten. Im Aias lautet das Entsprechende: Cmipni~ civocaawv -n).8e:~, OU"'J.. ~p.wvx.pct.'t'W'\I. Und so spricht Teukros als Athener. Cu:1.ii-~7..0; ist 'Bündner'. So ist Aias nicht gezogen! Daher die Vokabelfülle in dieser Umgebung zur Bezeichnung der Befehlsgewalt: &~6~ civocaae:w, x.o).oc~e:tv • • und so auch x.oa11-e:rv. Die Art, wie durch den Salaminischen Nothos das hochadlige Königs• geschlecht von Sparta in seiner Überheblichkeit zurecJ1tgewiesen wird, streift an das Politische. Sparta hat über das, was es nichts angeht, nicht zu befinden. Die. Souveränität des Salaminiers Aias ist nicht geringer als die des spartanischen Königs. Vor 446 war die Integrität der attischen Herrschaft durch Sparta bedroht, Sparta mischte sich ein. Durch den Frieden von 446 waren die Machtsphären voneinander ahi;e• grenzt, und gegen Ende der Friedensperiode war es nicht Athen, das sieb über die Eigenmächtigkeit Spartas zu beklagen hatte, sondern umgekehrt. Den Aias gar erst in die Zeit des peloponnesischen Krieges zu rücken ist um seines Stils willen unmöglich.

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Ebenso ist das auf Zustände der Gegenwart bezügliche Chorlied V. 1185 mit der Verfluchung aller Kriege und der Gegenüberstellung der friedlichen Freuden in Athen, der Kränze, Becher, Flöten, Liebesnächte, des Eros - Freuden des attischen Aristokraten - und der Öde nassP,r Feldlager, ausklingend in die Sehnsucht, aus der Ferne kehrend Sunion wieder zu erblicken, eher in einer Zeit verständlich, da das den Verhältnissen entsprach, als in der langen Friedenszeit nach den vierziger Jahren. W. Buchwald, Studien zur Chronologie der attischen Tragödie, Diss. Königsberg 1939 S. 49, sucht mit neuer Be• g.ründung den Euripideischen Telephos von 438 als terminns post quem für den Aias zu erweisen. Es könne kein Zweifel sein, daß Sopboklefl zu seinem Rede-Agon (Streit zwischen den Atriden und Teukros), der bis an die Grenzen des Erträglichen gehe, angeregt worden sei durch den Euripideischell Telephos. Auch zugegeben, daß man zu Unerträglichem gem angeregt wird, so entspann sieh doch im Telephos der Streit zwischen den beiden Heerführern. Im Aias sind sich die Atriden einig. Und der Streit, den Teukros im Namen dM Toten gegen die Atriden ausficht, war, wenn etwas, durch das Epos vorgezeichnet. Wenn die Ökonomie des Dramas nicht erlaubte, daß er, wie im Epos, dem Selbstmord vorausging, so wird doch auf die Atridenf eindschaft durch das ganze Drama hingewiesen, der Konflikt also doch vorbereitet. Nichts davon im Telephos. Vom Wesen vollends des Euripideischen politischen Gezänks im Aias keine Spur. Es fehlt die Frage: Frieden oder Krieg?, es fehlt das ganze Euripideische Streitobjekt. Und da soll Sophokles den Aias, wenn nicht angeregt durch den Telephos, nicht haben dichten können ? Seite 21. 1 Die Frage nach der sprechenden Person ist lebhaft diskutiert worden, zumal nach ihrer Beantwortung z. T. sich die Ergänzungen richten. Als Rede der Niobe betrachtet die erhaltenen Verse der erste Herausgeber Vitelli und zuletzt A.Lesky, Wiener Studien 52 S. 1 ff.; als Zwiegespräch einer Vertrauten mit dem Chorführer u. a. W. Schadewaldt, Die Niobe des Aischylos, Sitzungsber. der Hcidelherger · Akad. 1934 (mit reichem Kommentar). Meine Auffassung, daß Leto rede, habe ich in der ersten Auflage und ausführlicher Hermes 69 ( 1934)

245

Seite 22.

Seite 23. Seite 24.

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S. 233 ff. begründet. A. Körte, der im Hermes 68 S. 252 ff. an Niobe als Sprecherin dachte, ist im Archiv für Papyr0t.• forschung 9 (1935) S. 24.9meiner Meinung beigetreten. Letzte Behandlung Karl-Ernst Fritsch, Diss. Hamburg 1936 und A. v. Blumenthal im Jahresbericht über Sophokles 1938 S.134. Zu Vers 11 x6:i.,o-Tpix (s. Lesky S. 12) möge bemerkt aain, daß die ganze Handlung dieses Dramas in der Tat ja nur in den vergeblichen Versuchen bestehen ~d, Niobe vom Grabe ihrer Kinder, auf dem sie hinsiecht und zuletzt in Stein sich wandelt, fortzuholen. W esha)b 'die Kinder heimzuholen wären. ist nicht einzusehen. 1 Sophokles ,scheint selbst erst, abweichend vom Epos, aus dem Wahnsinn eine List der Schutzgöttin gemacht zu haben. Im Epos konnte Athene den ausbrechenden W abnsinn auf die Herden ablenken. Dagegen beginnt bei Sophokles der Wahnsinn erst mit jener Sinnestäuschung, durch welche die Göttin die Griechen be~chützt (V. 51). Der Racheplan an sich ist noch kein Wahnsinn, wird auch nicht bereut. Auch das offenbar, um den Helden noch mehr zu belasten. 1 Col.~·sq>Ce:i.~,: sonst sagt man im Gebet youvoG11-ix,, ).(aO"O~ u. dgl. Da zeigt sich dieselbe Haltungx.611-iro; -, wie V. 774. 1 Über die Vorgeschichte der Aias-Gestalt als der des Riesen, des Sohnes des 'Riesen' Te]amon, s. Von der Mühll, Der große Aias, Basler Rektoratsprogramm 1932. 1 Ganz anders die Einzugslieder späten Stils im Philoktet und Ödipus Coloneus: zwei Stimmen, musikalisch abgetönt, in wahrhaft rhythmischer Bewegung alternierend. So im Philoktet, wo das Verhältnis zwischen Held und Mannen ähnlich scheinen kann, einZu-Wissen-Begehren wechselnd mit El"läutern, ein Beklagen mit Aufklären, ein Sich-Wundern mit Verweisen auf die Zukunft, endlich als Finale, mit starker Bewegungssteigerung, die Unterbrechung des Wechselge,angs durch die vernommenen Schritte des Herankommenden und zugleich die Umkehr im Wechse] von Fragendem und Ant• wortendem. Von dergleichen hier noch nichts. 2 Auch das homerisch; zu vgl. das Rufen der Athene, da Achilleus an den Graben eilt. - Daß der Aias auch in der Sprache von allen Sophokleischen Dramen dem Epos am nächsten steht, zeigt Jebb, Kommentar LII; dazu Pohlenz,

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Seile 32.

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Die griech, Tragödie, Erläuter. S. 50. - Nicht zu verwechseln mit pathetischen Vergleichen ist EI. V. 25, Vergleich des guten alten Et-ziehers mit einem alten Rennpferd: das erinnert an die aristokratische Umgangsform, die aus Platons Symposion, Aristophanes u. a. bekannt ist. 1 Die Kommentare haben seit dem Altertum die .Ahnlichkeit und z. T. auch etwas vom Unterschied notiert und leiten diesen davon ab, daß Tekmessa die Sklavin, Andromache die rechtmäßige Frau sei. Aber wie kann das genilgen? Als ob Einverständnis m.it einer geliebten Sklavin sieb verböte 1 1 Er hat bereits aus dem verachloßnen Zelt nach ihm gerufen. also ist das nicht etwa die Folge von Tekmesaaa Bitte. 1 Auch hier ist es bezeichnend, daß er von des Sohnes zu. künftigem Heldenschicksal redet; der Vergleich zwischen Jugend und Alter, V. 554 W., ist in seiner Gnomik ähnlich wie in den Trach. V. 144 f. 1 Ober die 'Trugrede' Wolfgang Schadewaldt, Neue Wege zur Antik~ VIII (1929) S. 70 f., Wilamowitz, Hermes 59 (1924) S. 249 f., Welcker, Kl. Schriften II, S. 264 und die Kom• mentare. 1 Ähnlich ist auch der Schluß der Reden, Aias 684 ft'. und Trach 467 f. Aias: 'Doch dafür wird in Zukunft wohl gesorgt sein. (Will sagen für seine zukünftigen Freund- und Feindschaften).' Du aber geh hinein und bitte die Götter um Gewährung desaen, was mein Herz sich wünscht.' Ebenso ,.Trach. 467: 'Doch das fahre mit günstigem Winde.' 'Du aber merke: magst du zu anderen lügen, zu mir hast du wahr zu sein!' An beiden Stellen ist nicht nur die äußere Form die gleiche: die scheinbar günstige Verheißung bedeutet in Wahrheit das Gegenteil: gut wird für meine Freund- und Feindschaften gesorgt sein, wenn ich tot bin. Ebenso im anderen · Fall: 'das fahre mit günstigem Winde', indem die Gefahr des neuen Bündnisses, das sie so friedlich hinzunehmen scheint, durch sie beschworen werde. ('Mit günstigem Winde': die Erklärung Radermacliers scheint~ nicht zu halten; 'günstig" ist der Fahrwind auch Äschyl. Sieben, V. 690: günstig für den Untergang, denn dahin drängt der Gott.) 1 Höchst seltsam Wilamowitz, Hermes 25 (1924) S. 249 ft'. Aiaa' kosmische Vergleiche sind ihm Dichts, das Tragische des

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Tons wird überhört, nach ihm wäre das alles nichts als 'eine allgemeine Regel', de..-en'Anwend~' Aias zu 'machen', vorhätte, aber auf einmal, nachdem sich ihm erst noch eine 'neue Begründung vorgeschoben' hätte, in Gestalt der Gnome des Bias über die Freundschaft, 'bringe er die Lüge nicht mehr über die Lippen, daß er klein beigäbe, sondem helfe sich mit einer vieldeutigen Wendung . • • ' 'Der Zwang zu täuschen ekelt ihn', so daß er 'recht bald das Täuschen aufgibt' wcw. Also ein Umbruch. Man.stelle sich de)\ Schauspieler vor, der plötzlich seinem Ekel Ausdruck gibt und nicht recht -weiter kann, aber damit der Ekel auch herauskomme - da davon nichts im Texte steht - so wird er eine Ekel-Pause mit stummem Gehärdenspiel einlegen, vermutlich auch noch andere Nuancen anbringen •• .Man stelle übrigens sich vor: daß es einen, der gehen will, sich das Leben zu nehmen, 'ekelt' vor der 'Lüge' daß er ausgehen wolle! Zu den Vergleichen s. auch W. Schadewaldt, Monolog und Selbstgespräch (1926) S. 87. 1 Seite 36. Wilamowitz, Hermes 59 (1924) S. 250, verweist, um Aias' Verhalten zu erklären, auf Pollux VIII, 120: 'Diese Unglückswaffe trägt also die Schuld, vergleichbar der athenischeJ1 Gerichtsverhandlung gegen die «lfUX. oc,und wird verscharrt, wie jene von den Phylenkönigen außer Landes gebracht W1Uden.' Ähnliches in Radermachers Kommentar. Aber es wäre doch Verkennung des tragischen Tones, hörte man a~ ihm n111die 0 Beschreibung eines Ritus und wirksamen Zaubers, als plausiblen Grund daf'tir, daß Aias sich entfernen müsse. Der Zauber f'tlgt sich erst dadurch in den tragischen Zusammenhang, daß er auf Aias hindeutet, daß er nicht mehr als Zauber auftritt, sondern als Gebärde, d. h. als Verhüllung. Die Abwaschung des Makels ist zugleich die 'Probe', die 'zu suchen' ist~ damit er zeige, daß er nicht aus seines Vaters Art ge• schlagen ist, V. 4 72. Seite 37. 1 Man nimmt meist an, daß die Bühne eine Weile leer bleibe, dann Aias durch die Parodos oder hinter einem bishe1 unbemerkten Strauchwerk seitlich eintrete, sein Schwert in die Erde grabe, schweigend, nach getaner Arbeit, sich davor stelle und anfange zu reden. Um von der Unmöglichkeit des langen

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Wegs, des stummen Spiels zu schweigen, hätte dies Arrangement zur Folge. daß die Haupt-Schauszene, das tragische Ecce, statt die Mitte einzunehmen, zur Seite geschoben würde. Das Befremdlichste bliebe der Schluß. Kein klagendes Geleit, kein Leichenzug verläßt die Bühne. In Gruppen nach beiden Seiten verzieht sich der Chor; Teukros und der Knabe bleiben allein bei der Leiche, richten sie auf. Dies das Ende. Aber wie soll sich die Bühne leeren? Wie die Gruppe um den Toten den Schauplatz verlassen ? Soll auch dazu das Gebüsch herhalten? Schließlich müßten sie ihn d~ch hinaustragen. Aber sie könnten ihn nur schleppen! Teukros mit dem Knaben! Und kein Vorhang senkt sich rettend. Das Ekkyklema löst alle Schwierigkeiten. Bei der Breite dieses Apparates mochten zugleich die Kulissen, das Gelände und die Requisiten, deren man bedurfte, fertig aus der Hinterwand hervorgeschoben werden, Aias Rede an sein Schwert konnte im selben Augen• blick beginnen, da der neue Schauplatz sich hervorscbob. Als Enthüllungsmittel konnte das Ekkyklema~ statt ein Hausinneres zu zeigen, wohl auch einmal einen fernen Schauplatz sichtbar machen. Das Ekkyklema sucht zu beseitigen E. Bethe, Rhein.Mus. 1934 S. 21 ff'. Aber es gibt dafür der Argu~ente allzaviele, nicht nur bei den Komikern, sondern auch aus den Spuren in den Texten selbst.· Die Frage wäre reif für eine inter• pretierende Monographie. Sei.te 38. 1 Vgl. Radermachers Kommentar mit den Nach weisen.

TRACHINIERINNEN

Seite 42.

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v. Wilamowitz, Griech. Trag. IV, S. 357: 'Dieser Herakles mag sich seiner Siege über Drachen und Kentauren riihmen, mit denen gehört er in dieselbe Märchen we]t, nicht zu der Frau, die Sophokles aus dem Leben seiner Tage nahm. In seinem Athen saß so manche Ehefrau' usw. Danach fallen die Trachinierinnen in zwei gänzlich heterogene Teile auseinander. Wie sich Herakles und Deianeira nicht vertragen, so müssen sie auch verschiedenen Ursprungs sein: Deianeira aus des Dichters gegenwärtiger Umgebung, Herakles aus der Sagen•

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weit. 'Die heroische Stilisierung hat er (im ersten Teile) beibehalten, was die Dissonanz des ·zweiten Tdiles doch nicht aufhebt, aber er ist auf den Wegen des Euripides, dessen Einfluß hier überhaupt stark ist, denn Deianeira ist eine Athenerin:' Die pflegten nUD zwar nicht von Flußgöttern gefreit, von Kentauren entführt zu werden, Herolde zu. hintergehen. aber • • • Was aber ? Wilamowitz meint: zu Liebeszauber zu greifen: 'Wir kennen selbst noch einen Fall, in dem die vernachlässigte Frau ahnungslos ihrem Gatten vergifteten Wein reichen ließ.' Aber der Liebeszauber stammt bei Sophokles doch gerade aus dem Märchen! Wie kann man das also trennen? Die Frühdatierung der Trachinierinnen stößt auf Widerspruch; -1gl. Schadewaldt, Deutsche Li1.eraturzeit. 1937 Sp. 999. Indes datiert sie immerhin Johanna Heinz, Hermes 1937 S. 270 ff., zwischen Alkestis und Medea, also zwisch~n 438 und 431. Vgl. hierzu die Anm. zu S. 66. Webster, Introduction to Sophocles S. 145 f. und Hermes 71 (1936) S .. 268 periodisiert nach sprachlichen Beobachtungen zum poetischen Wortschatz folgendermaßen: "Sopbocles' plays can be dividet stilistically into two groups, an early group comprising the Ajax, Autigone and Trachiniae, and a later group comp.rising the Electra, Philoctetes and Coloneus, with the Tyi·annus between the two. The early style is smooth and highly coloured; many words are borrowed from Aeschylus and Homer; compound adjectives, privatives, agents and variations of form are com.moner than in the later plays." Das stimmt im ganzen überein mit meinen Sammlungen zu Sophokles' poetischem Vokabular, auf Grund deren ich urteilte; vgl. S. 17 f., S. 27, S. 236, S. 60 unten S. 70, S. 155, S. 169, S. 180, S. 184 dieses Buches. Zu demselben Ergebnis führten die Vergleiche der verschiedenen Dialog• und Szenenformen. Ein Buch über Sophokles zu schreiben, das nicht Untersuchung wäre, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Aber da der Stil nie aufhört, auf die Dichtung hinzuführen, konnte ich beim Stil im rein formalen Sinn nicht stehen bleiben. Wortstil hängt mit Szenenstil zusammen ••. Daß Schlußfolgerungen aus der Dialog- und Szenenform nicht gültig seien, ist mir wiederholt versichert -worden, allerdings, so viel ich sehe, ohne nähere Begründung.

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Die Perioden, die sich mir elgaben, unterscheiden sich von denen W ebsters nur insofern, als sich Aias und Trachinierinnen als entschieden früh, Elekn-a, Philoktet und Coloneus als entschieden spät erwiesen, zwischen beiden als ein Mittleres der Ödipus Tyrannus, und als Übergang zu ihm hin die Antigone. Vergessen sollte man iibrigens nicht ganz, daß die Gewähr des Datums der Antigone. 441, doch nur die Anekdote ist die noch dazu, auf dieses Jahr datiert, unmöglich stimmen kann - und keine didaskalische Notiz. ·Denn Sieger war in diesem Jahl' Euripides. ,,So muß man leider zugeben, daß ein festes Datum für die Antigone nicht vorhanden ist." Wilamowitz, Aristoteles und Athen II (1893) S. 298. Der Sinn der Anekdote ist: als Dichter wurde er zum Strategen gewählt, so waren die Athener, so begeisterte sie die Antigone. Der das erzählte, wußte jedenfalls von Sophokles' politischer Karriere nichts, weder von seinem Amt als Hellenotamias 443-442 noch von seinen übrigen Strategien - die samische war aus der Literatut bekannt - geschweige von Beziehungen zu dem bereits 443 exostrakisierten Thukydides. Die Anekdote verteidigen, indem man das propter hoc aus einem post hoc ableitet (das aber dann, ihrem Sinn zuwider, ein nach oben nicht beg...enztes post hoc sein miißle), heißt eine chrono• logische Gewissenhaftigkeit in ilir voraussetzen, die sich mit solchem Nichtwissen nicht eben gut verträgt. Gegen ein allzufrühes Datum der Antigone spricht auch die vielberedete Entlehnung aus dem Herodot, Ant. 904 f. Entlehnungen aus Herodot begegnen sonst denn auch nur in den späteren Stücken, Öd. Tyr. 981, EI. 62, 421, Phil. 1207, Öd. Kol. 337. Hypothesen, um dieser Schwierigkeit zu entgehen, bietet Webster S. 53. 1 Der Vergleich mit der Medea ist nicht zwingend, denn man kann bei Deianeiras Worten ebensogut, wenn nicht viel hesett noch an Aischylos' Agamemnon denken: der Held, langerwartet, endlich siegreich heimkehrend - mit einer kriege• gefangenen Kebse, deren Aufnahme er seiner Frau, der treuen Hausbesorgerin (otxou?o;)zumutet, die Fremde ihr an's Herz legend • . • Um wieviel ferner liegt, damit verglichen, die Situation in der Euripideischen Medea !

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Seite 43.

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Den Stil zu verkennen scheint mir Pohlenz, Griech. Tragödie (1930) S. 208 f. 'Ganz persönliches Leben er,üllt Deianeira ••• Da kommt ihr mit einem Male zum Bewußtsein, daß sie eine alternde, verblühte Frau ist, da wagt sie den Verzweiflungskampf • • . 'usw. Was bei Sophokles ein objektives Schicksal ist, wird damit in die subjektive Sphäre der Empfindungen verlegt; Pohlenz interpretiert, als wäre Deianeira eine Eleonora Duse. Wenn Deianei.ra selbst ihr Schicksal aussprich~ so ist diese Form nicht zu verwechseln mit unseren Eßll)fin• dungs-Monologen. 'Wie fein und lebenswahr ist es, daß sie erst den vertrauten Mädchen gegenüber den Schleier wegzieht, den sie vor Lichas über die geheimsten Empfindungen ihres Herzens breiten mußte l' usw. In Wahrheit 'zieht' sie keinen 'Schleier von den geheimsten Empfindungen ihres Herzens weg' - dergleichen müßte von ganz anderer dramatischer Gestalt sein, - sondern spricht von ihrer F u r c h t , Wld spricht damit die Wahrheit, nachdem sie sich erst verstellt hat, als ob sie nichts fürchte, sondern alles auf das freudigste begrüße. Auch Tycho v. Wilamowitz S. 145 meint: 'daß es kaum noch eine Person bei Sophokles gibt, die dem so nahe käme, was wir unter einem Charakter verstehen. Sicher wird man auch hier an den Einfluß des Euripides denken dürfen.• Meint dann freilich, er habe diesen Charakter, 'von dem die Sage nichts enthielt', 'nicht frei erfunden; sondern der Penelope der Niptra entlehnt, wo er vom Epos gegeben war/ 1 Seite 45 So z. B. F. Leo, Der Monolog im D,ama (1908) S. 14: 'Die Ausführung ist doch augenscheinlich durch Euripides' erzählende Prologe beeinflußt.' Wenn er ferner meint: •Es ist kein Monolog, denn die alte Dienerin ist zugegen und ant• wortet; es ist kein Dialog, denn die Anrede fehlt .• ' usw., so braucht nicht gesagt zu werden, daß hier zwischen Monolog und Dialog nicht nach 'Anrede', 'Antwort' und dgl. unter• schieden wird, sondern nach Haltung und Bewegung. Aber ganz und gar abwegig ist Leos Erklärung: 'Sie - Deianeira ist gewohnt, in deren (der Vertrauten) Gegenwart mit sich selbst zu reden und zu klagen und immer wieder in ihren Erinnerungen zu wühlen': erstens, weil da an die Stelle des Dämonisch-Schicksalhaften ein Stück naturalistischer Seelen•

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schilderei gesetzt wird, zweitens, weil es für 'ein Reden mit sich seihst', d. h. für eine Spaltung, Reflexion (wehn dabei denn ein Sinn sein soll) im ganzen Sophokles kein zweites Beispiel gibt. - Ein Monolog, als Gegenstück zu der Ensemble-Szene, wie im neueren Drama, kommt im attischen, wie kaum bemerkt zu werden braucht, nicht vor. Monologischer Beginn, hinzutretende zwefte Person im sicher frühen Satyrspiel lchneuten. Daß die Euripideische Prologmanier die Stilisierung eines älteren Usus ist, folgert mit Recht Walter Nestle, Die Struktur des Eingangs etc., Tübinger Be.iträge 1930. Seiie 46. 1 Das Chorlied 497 ff. ist im ganzen Sophokles ein Unicum, von balladesk erzählender, heraldisch stilisierter Art, fast, wie W. Kranz, Stasimon, S. 254 f. bemerkt, desselben Genus wie die Dithyramben des Bakchylides. Doch ist es deshalb kein selbständiges Musikstück, keine Einlage, wie die Balladen in den spätesten Tragödien des Euripides, denn es 1ührt aus, was Deianeira selbst zuvor verkündet hat, der Liebe Macht über die Götter und die Menschen, V. 443, so daß die Erzählung vom Kampfe des Herakles und Acheloos zum mythischen Beispiel jener Gnome wird. Zugleich wird damit nachgeholt, was im Prolog, V. 22, nicht hat berichtet werden können (worauf hingewiesen wird V. 526). Daß ferner im selben Augenblick, wo sich herausstellt, daß Deianeira die Liebe des Herakles verlor, geschildert wird, wie Herakles sie einst gewann, macht aus dem Lied ein Glied in der V erkettung der Verhängnisse. So liegt es näher, an ältere äschyleische Erzählungen in Liedf orm anzuknüpfen als an SpätEuripideisches. Die Lied-Erzählung geht mit den noch zahlreichen Erzählungen des ganzen Dramas Hand in Hand. Seite 47. 1 Dieser Vers (25) wird athetiert (zuletzt von Kranz, Sokrates. 1921, S. 32), weil man sich mit der Spruchform nicht befreunden kann, mit der die Rede doch bereits beginnt, und die für die Trachinierinnen überhaupt bezeichnend ist. Vgl. V. 297 usw. Man fürchtet hier, das 'Pathos' werde mißverstanden und zerstört. Aber ist das der Fall? Der Kampf geht um Lehen und Tod. Deianeira sitzt 'betäubt vor Furcht' - um den Geliebten: Furcht, daß Herakles um ihretwillen, also ihrer 'Schönheit' willen, unterliegen wiirde. Aber statt

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des Einmaligen und Besonderen wird die gnomische Figur, das schicksalhaltigere Allgemeine eingesetzt, das mehr ihr Leiden andeutet als ausspricht. Ihre Liebe wird damit verhüllt, der Sinn wird damit besser, als wenn, dank der Athetese, wie man sich zu wünschen scheint, dabei herauskommt: 'denn ich war als Mädchen nicht robust genug, um so etwas zu sehen'. Aucl:t die Entgegensetzung in •d).o~ gibt der 'Furcht' zum Inhalt offenbar doch die Erwartung eines unglücklichen A u sg an g s, was wieder nur durch den athetierten Vers allein zum Ausdruck kommt. Seite 50. 1 Eben darum fehlt in den Trachinierinnen auch noch das Gespräch zu dritt, es kommt nicht einmal im Verhör dazu, da Deianeira in demselben Augenblick zu reden aufhört (V.402), wo die beiden Boten sich einander gegenüberstehen, um wieder einzusetzen, nachdem Lichas sich an sie gewandt hat (V.436); doch da ist der zweite Bote wie nicht mehr vorhanden. Seite 52. 1 Aus der 'dramatischen Wirku»g' interpretiert die Szene Tycho v. Wilamowitz-Moellendorff, S. 145, nicht ganz hinreichend.

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Seite 53.

Also kein 'Selbstgespräch' mit 'psychologisch feinem Ober• gang', wie Radermachers Kommentar das auffaßt.

Seite 54.

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Seite 56.

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Die Rede ist in ihrem Anfang wieder gnomisch, aus dem Allgemeinen exemplifizierend auf ihren besonderen Fall; das Gnomische steht ebenso vereinigt bei Anakreon, Fr. 27 u. 28 (Diehl). Ebenso bediente Aias sich in seiner 'Trugrede' der Gnome des Bias. 1

Aber mit 'Intrige' und Intrigenspiel, als Mittel zu dramati• schen Komplikationen, hat das nichts gemein: 'Intrige' kommt aus wohlbedachter Überlegung, aber nicht aus kläg• licher Betörung, richtet sich nicht gegen ihren Urheber vernichtend, hat nicht den Charakter dieser Schicksalhaftigkeit, die sich vollendet, indem sie sich zu entrinnen trachtet. Auch 't'Oüpyov (V. 585) keineswegs die bezeichnet das fl-&fl-'nX.«V"l)'t'IX.L Art des Spiels, sondern geht auf den Liebeszauber, und der ist gegeben durch die Sage, hat also nicht etwa als 'Intrige' teil am Drama wie die 'List' in der Elektra und im Philoktet. DieMgegen Fr. Solmsen, Philologus 1932, S. 10 f., der um der 'Intrige' willen die Trachinierinnen zu dem Typ Euripidei•

scher Intrigenspiele stellt, wie er sich nach den zwanziger Jahren herausbildet. 1 Beides als Thema formuliert V. 534 f., wie wieder der Bericht V. 554, nach einer später aufgegebenen Manier. Denn El.560, 565, 577 usw. sind anders zu beurteilen; s. unten. 3 Eine Exegese, die sich selber widerlegt, ist die von Pohlenz, S. 205: 'Sophokles selber ist schwerlich ein Mann von langen Überlegungen gewesen, und sein eigenes Wesen teilt er auch seinen Personen mit. So tritt Deianeira plötzlich mit einem fertigen Entschlusse wieder vor die Mädchen hin.' Man müßte mit demselben Rechte folgem, daß gleichzeitig Sophokles ein Mann doch auch von recht beträchtlichen Überlegungen usw. usw. gewesen sein müsse. - Aias und Trachinierinnen sind unter den Sophokleischen Dramen darin einzig, daß sie überhaupt ein Reifen der Entschlüsse als dramatische Bewegung noch nicht kennen, daß sie alles Werden der Gedanken, alle Umschwünge hinter die Schauplätze verlegen. Nach der Stilstufe liegt das unzweifelhaft vor der Medea. Seite 60. 1 Auch das ist archaisch, so folgt z.B. in den Persern auf das vordeutende Traumbild der Atossa unmittelbar, in demselben Epeisodion, durch den hereintretenden Boten und dessen Bericht die Erfullung. Sei,e 61. 1 Denn V. 940 ist hierfür nicht zu verwerten, da wird nur verneint, daß sie die F o I g e n ihrer Tat gewollt hat: Deianeira ist nicht die Verbrecherin, für die sie Hyllos hielt. Aber das heißt nicht, daß ihr Untergang eine äußere, von ihrer seelischen Verfassung unabhängige Kausalverkettung sei. Seite 62. 1 Das zur Mutter Hingesprochene folgt mit eckigem, markiertem Übergang V. 807 auf das zur Allgemeinheit hin Berichtete. Man vergleiche, um sich zu bestätigen, daß dies archaisch ist, wie anders in der späteren Elektra der Bericht des Pädagogen zu der Hörenden gesprochen ist: V. 688, 690, 761. In den Trachinierinnen heißt es V. 806: 'Ihr werdet ihn sehen', nicht 'du wirst ihn sehen', denn der Bericht richtet sich an die .Zuschauer. In der traditionellen Exangelosrolle hat sich das noch später erhalten. 2 Vgl. S. 103 und S. 136. Der schweigende Abgang Deianeiras ist zwar Schuldbekenntnis als Bekenntnis ihres 'Daimons', wird aber als Schuldbekenntnis im ganz anderen Sinne miß.

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deutet, als Geständnis der verbrecherischen Absicht. Der schweigende Abgang ist ein notwendiges Glied der tragischen Handlung selbst, des H yllos Irrtum wiederholt sich noch einmal gesteigert im Irrtum des Herakles. Dem schweigenden Abgang der Eurydike in der Antigone fehlt dieser Sinn. Handlung und ·Tragik dieses Dramas würde, wenn Eurydike, statt schweigend, laut anklagend ginge, keine andere sein. Ja ebendas, w-as sie verschweigt, nämlich die Klagen gegen K.reon, verschweigt sie doch auf de.r Bühne nur, um hinterher, wie der Bericht erklärt, den Schuldigen nur desto furchtbarer durch ihren Fluch zu treffen. Der Fluch einer Sterbenden hat mehr Gewalt noch, klagt noch stärker an. Der Sinn des Schweigens beschränkt sich auf diesen Gegensatz: erst dunkel drohender, dann offenbarer Selbstmord, zugleich aus Verzweiflung, zugleich mit dem Ziele der V erßuchung. Ist daraus zu folgern, in der früheren Tragödie, nämlich der Antigone, habe der Dichter ein Motiv nur 'angeschlagen\ das erst später, nämlich in den Trachinierqmen, 'voll erklingen 4 werde? So Johanna Heinz, Hermes 1937 S. 278. Aus einer EurydikeTragik hätte sich die Deianeira-Tragik als aus ihrem Keime · entfaltet ? Ferner: Deianeiras Schweigen entspringt ihrem tiefsten Wesen. Sie schweigt nicht nur hier; vgl.V. 22,490; sie ist die Stille, an sich Haltende, Eurydike ist eher das Gegenteil. Ist solch ein Schweigen aus dem Wesen der Gestalt zum ersten Male für die nebensächliche Eurydike erfunden worden ? Hat hier ein Motiv sich weiter fortentwickelt bis zu seinet' reifsten Anwendung in den Trachinierinnen? Drittens: eine Verkennung folgt dem stummen Abgang auch der Iokaste im Tyrannus, wie in den Trachinie1·innen. Aber auch das führt zu keiner Entwicklungsreihe: Eurydike, Deianeira, Iokaste. Zur Verkennung, und das heißt doch, um sie irgendwie als irrend, hoff end, schuldig, teilhabend am tragischen Geschehen zu zeigen, ist di~ Rolle der Eurydike viel zu gering. Auch hier ist diese Rolle nicht der ert1te Wurf, der Keim, aus dem die Iokaste-Tragik sich hätte entfalten können. Seite 63. 1 Man wird anzunehmen haben, daß sie durch den Hof, in dem die Dienerschaft versammelt ist, geht, um im Haus 'sich

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zu verbergen'. Bei der Athetese von V.' 901-903 (Tycho v. Wilamowitz S. 160, Pohlenz Erl. S. 60) bleibt bereits das p.6v11 in V. 900 ohne Stütze.-Ob die Bahre, auf der Herakles hereingetragen wird, die gleiche sei, wie die von Hyllos ihm bereitete, die Frage zu entscheiden b)eibe jenen Geistern vorbehalten, die sich dafür interessieren. Hyllos kann trotz dieser Verse immer noch dem Vater aus dem Haus entgegenkommen. 1 Seite 64. Meist glaubt man, daß Sophokles sich die Euripideische Alkestis (aufgeführt 438) zum Vorbild genommen hätte; so u. a. Leo Weher, Euripides Alkestis (1930), S. 108, und zuletzt J. Heinz, Hermes 1937 S. 299 f. Und doch ist in der Alkestis der Abschied vom Lager keineswegs das Letzte, usw. Trach. 900 ff. im Berichte der Amme innere Widersprüche entdecken zu wollen, die aus der Ühemahme des gleichen Motivs aus der Alkestis zu erklären wären (J. Heinz S. 299), ist Verkennung des Sinnganzen. Sofern hier tlberhaupt von einem Widerspruch geredet werden kann, ist er gegeben durch die tragische Situation; der König Ödipus verhält sich in der ähnlichen Situation noch sehr viel 'widersprüchlicher'. Der letzte Weg der Armen, die der Dämon treibt, führt über drei sich steigemde Stationen: 1. sich Verbergen, Jammem vor dem Hausaltar und Hausgerät, 2. Irren durch das Haus und Weinen bei dem Anblick der Vertrauten vom Gesinde; 3. V. 912, scharf abgesetzt, der Abschied von dem Lager. Hier will sie allein sein, glaubt sie sich allein. Zu fordern, daß sie auf dem Wege dahin nicht einmal ein Gesicht mehr ansehen dürfe (Heinz S. 299), heißt doch wohl den Dichter schulmeistern. Alles ist gerad und unzweideutig. Kein stärkeres Zeugnis iür ihre Verlassenheit als ihr Abschied vom Lager. Ja, wäre die Amme nicht heimlich ihr nachgegangen, Deianeiras Tod erschiene gar noch als Geständnis ihrer Schuld. So wenig liegt ihr noch daran, sich zu rechtfertigen. Ihr schweigender Abgang und ihr Tod sind eins. Die gerade Linieniührung ist das, was dem Abschied der Alkestis in bemerkenswerter Weise fehlt. Der Umschwung, auf den alles angelegt ist, setzt ein mit V. 175. Bis dahin hat sie sich in der Gewalt, ist 'sophrosyne' in Person, trifft alle Vorbereitungen, schmückt die Altäre . • • Doch jetzt kommt es über sie, da sie zum Lager stürzt : ivT(lüO~3'tl••• Dann Irren 1'/

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durch das Haus und wieder Rückkehr zu dem Lager, das nunmehr jedoch ihr Krankenlager wird, an dem der tränen• reiche Abschied von den Kindem und von dem Gesinde sich begibt. Erst hierdurch zeigt sich, welche Uberwin,dung unter ihrer 'sophrosyne' sich verbarg. So wird der Abschied von dem Lager bei Euripides in einen psychologischen Kontrast hineingestellt, von dem bei Sophokles nichts zu bemerken ist. Je reicher bei Euripides und sentimentaler das Detail, je mehr befremdet, daß der Gatte nicht vorhanden scheint. Wenn man erklärt, dem sei so, weil der Abschied· von dem Gatten dem Spiel auf der Bühne vorbehalten bleibe, so ist das nicht einmal in sieh stichhaltig, denn von den Kindem nimmt sie auch noch einmal auf der Bühne Abschied. Aber unmöglich kann dieser bewegte Abschied von dem Lager und ein gleich bewegter Abschied von dem Gatten in demselben. Bericht dicht nebeneinander stehen. Der Abschied von dem Lager steht also auch hier an Stelle eines Abschieds von dem Gatten selbst. Doch während dies bei Sophokles natürlich und notwendig i_st, wird es im andern Fall fast künstlich und gesucht. Natürlich macht ein Dichter aus der Not stets wieder eine Tugend. So auch hier. Der Chor V. 199: 'und -wie verhält sieh denn Admet dazu?' 'Admet, ja freilich ••. ' Mit Admet ist es ja freilich eine eigene Sache. So wenig wie Johanna Heinz hat mich A. Lesky überzeugt, Phil. Wochenschrift 1935 S. 484 f. Seite.66 1 Nach Tycho v. Wilamowitz-Moellendorff (Dramatische Technik des Sophokles, S. 92) wäre der Schlaf nach einem WahnsinnsanfaJl das Natürliche, der Schlaf bei einem Leiden, wie dem des sterbenden Herakles, das weniger Natürliche. Man müßte schon die Mediziner fragen - wenn das NessosGift nicht ihrer Praxis sich entzöge. - Auf die äußere Schwierigkeit, den Herakles hereinzubringen, wenn er gleich zu Anfang, statt zu schlafen, schrie und tobte, deutet Pohlenz 7 Die Griech. Trag. Erl. S. 57 f. Seite 67. 1 Das Umgekehrte ist, nach A. Dieterich und Wilamowit~ Vater und Sohn, noch immer die gewohnte Annahme. Das Richtige bei Pohlenz. Als Beispiel f'ür das Methodische dieue das folgende. T.v. Wilamowitz-Moellendorff (S. 95) hatte er-nx.w(V. 983) bei Sophokles sei weniger aus der klärt, 1ro! yoc~

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Situation als bei Euripides 1eoü1eo-r'@v«!1•1lX/XVW (1105), da bei Euripides der Herakles im Wahn sich in die Unterwelt gekommen glaube. Aber Vorbild ist bereits für Sophokles die Odyssee 13, 200; der Herakles det Sophokles gebraucht die Eingangsformel des an einem fremden Ort Erwachenden. Hätte Sophokles die Szene aus dem Herakles so einfach übernommen, wie man glaubt ('als Bühneneffekt entlehnt\ 'in den Zusammenhang seiner Handlung gar nicht wirklich verßochte~ sondern als eingelegten Fremdkörper noch auszulösen\ • nach T. v. Wilamowitz), so hätte er bei aller Ähnlichkeit doch gerade das Schaurig-Phantastische aus seiner Nachahmung mit auffallender Folgerichtigkeit ausgeschlossen. Doch auf einen solchen Ausschluß deutet nicht ein Zug. Euripides dagegen liebt die bis zu Halluzinationen gesteigerten Erregungen, man sehe die Alkestis, den Hippolytos (Phädra), die Bakchen (Agaue und Pentheus), Troerinnen (Kassandra) usw. Und so ist es immer noch wahrscheinlicher, daß bei Euripides aus einem Sophokleischen 1eo!yfi.r;-nx.weine jener Sinnesver-wirrungsszenen sich entwickelt habe, als daß umgekehrt das Sophokleische m! yfi.; -nx.wals kümmerliches Rudiment der umfangreichen Halluzinations-Szene des Herakles übrig ge• blieben wäre. (Vgl. auch E. Kroeker, Der Herakles des Euripides, Diss. Leipzig 1938, S. 78.) Eine besondere RoJle spielt in dieser Frage noch die Konkordanz Eur. Herc. V. 1353: x.cxJ. ')'IXP 1e6vwv3ii 11-up(wv t1tua1x-11-1lv, gleich Trach. 1101: