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German Pages [225] Year 2016
Katja Maria Vogt
Skepsis und Lebenspraxis Das pyrrhonische Leben ohne Meinungen
ALBER SYMPOSION
https://doi.org/10.5771/9783495807958
.
B
ALBER SYMPOSION
A
https://doi.org/10.5771/9783495807958 .
Zu diesem Buch: Der pyrrhonische Skeptiker nach Sextus Empiricus verzichtet auf Meinungen, er enthält sich jeglichen Urteils. Es stellen sich Fragen der Konsistenz: Wie kann der Skeptiker sprechen? Wie kann er sich verhalten, ein normales Leben führen? In der Darstellung seiner Philosophie muß der Pyrrhoneer sich mit der scharfsinnigen Kritik seiner stoischen Gegner auseinandersetzen. Die Untersuchung analysiert Sextus’ Entwurf einer Sprache ohne Behauptungscharakter sowie eines Lebens »nach den Erscheinungen« unter Berücksichtigung der jüngsten Forschung zur Stoa. According to Sextus Empiricus the Pyrrhonian Sceptic has no beliefs, he suspends judgment on all questions. Problems of consistency arise: How can the Sceptic speak? How can he act, lead a normal life? In explaining his philosophy, the Pyrrhonist must deal with the penetrating criticism of his Stoic opponents. The study analyzes Sextus’ exposition of the Sceptics’ non-assertoric language and his way of life »adhering to appearances« with consideration given to recent research on Stoicism.
Die Autorin: Katja Maria Vogt hat 1996 mit dieser Arbeit an der Hochschule für Philosophie in München promoviert. Nach Post-doc-Jahren in Göttingen lehrte sie an der HU Berlin. Seit 2002 forscht und unterrichtet sie an der Columbia University, New York, wo sie seit 2011 das Classical Studies Program leitet. Sie ist Autorin mehrerer Bücher zur antiken Philosophie und vieler Aufsätze zur antiken Philosophie, Ethik und normativen Erkenntnistheorie.
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Katja Maria Vogt Skepsis und Lebenspraxis
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SYMPOSION PHILOSOPHISCHE SCHRIFTENREIHE BEGRÜNDET VON MAX MÜLLER, BERNHARD WELTE, ERIK WOLF HERAUSGEGEBEN VON MAXIMILIAN FORSCHNER, LUDGER HONNEFELDER Band 111
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Katja Maria Vogt
Skepsis und Lebenspraxis Das pyrrhonische Leben ohne Meinungen
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495807958 .
2. Auflage 2015 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 1998, 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48730-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80795-8
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Inhalt
. . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Vorbemerkungen zu Sextus’ Werk . . . . . . . . . . . . . . .
15
Der Verzicht auf Dogmata . . . . . . . . . . . . . . . .
19
1.1. Dogmata
19
1.1.1. 1.1.2. 1.1.3. 1.1.4. 1.1.5.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Dogma« in alltäglichen und philosophischen Kontexten Meinung und Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . Die Abwertung der Doxa . . . . . . . . . . . . . . Die Epoche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19 21 23 29 36
1.2. Die Diskussion über die Meinungen des Skeptikers . . . .
51
Verzeichnis der Abkürzungen
1.
. . . .
51 55 59 66
Das pyrrhonische Sprechen . . . . . . . . . . . . . . . .
72
. . . . . . . . . . . . . .
72
2.1.1. Die Fainetai-Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2. Die sprachliche Form pyrrhonischer Rede . . . . . . . 2.1.2.1. Zuordnung der pyrrhonischen Verwendungsweise von fainesthai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2.2. Die elliptische Verwendung von (2a) . . . . . . . . . 2.1.2.3. Nicht-spezifisch pyrrhonische Verwendungen von fainesthai bei Sextus . . . . . . . . . . . . . 2.1.2.4. Die Verwendungsweisen (2c) und (2d) . . . . . . . .
72 77
1.2.1. 1.2.2. 1.2.3. 1.2.4.
2.
PH 1.13: Der Skeptiker dogmatisiert nicht . . . . . Die Gegenstände der Wissenschaft . . . . . . . . . Die pyrrhonische Zustimmung . . . . . . . . . . . Der entscheidende Vorbehalt im Verzicht auf Dogmata
2.1. Das pyrrhonische »fainesthai«
79 82 86 89
7 https://doi.org/10.5771/9783495807958 .
2.1.3. 2.1.4.
Der mißbräuchliche Gebrauch von Sprache . . . . . . Das Kundtun von Fainomena und Aussagen über Fainomena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93 97
2.2. Das Kundtun von Fainomena . . . . . . . . . . . . . . . 105 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3. 2.2.4. 2.2.5.
3.
Das Kundtun dessen, was man erlebt . . . . . . . . . Die stoische Unterscheidung der Redeformen . . . . . »X scheint mir jetzt F« . . . . . . . . . . . . . . . Kyrenaische und pyrrhonische Rede . . . . . . . . . Ein Vergleich mit Äußerungen im Sinne Wittgensteins .
105 111 114 119 124
Die pyrrhonische Lebensweise . . . . . . . . . . . . . . 129
3.1. Die Orientierung an den Fainomena . . . . . . . . . . . . 129 3.1.1. 3.1.2. 3.1.3. 3.1.4. 3.1.5. 3.1.6. 3.1.7. 3.1.8.
Der Vorwurf der Untätigkeit . . . . . . . . . . Die vierteilige Lebenserfahrung . . . . . . . . Die stoische Theorie des Impulses . . . . . . . Die erzwungene Zustimmung . . . . . . . . . Aufgezwungene Erlebnisse . . . . . . . . . . Das pyrrhonische Verhalten in sozialen Kontexten Die Führung durch die Natur . . . . . . . . . Was der Skeptiker nur teilweise verwirft . . . .
. . . . .
. . . . . . . . . .
. . . . . . . .
129 132 136 141 149 154 157 166
3.2. Die philosophische Betätigung des Pyrrhoneers . . . . . . 173 3.2.1. 3.2.2. 3.2.3. 3.2.4.
Kann der Skeptiker ein Ziel haben? . . . . . . . . . Die Gleichgewichtigkeit der Argumente . . . . . . Die philosophischen Untersuchungen des Pyrrhoneers Das therapeutische Anliegen des Pyrrhonismus . . .
Bibliographie Nachwort
. . . .
173 178 185 189
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
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Verzeichnis der Abkçrzungen
DL Huelser L&S M 1±11 PH 1±3 SVF
Diogenes Laertius, Lives of Eminent Philosophers Vol. 1 und 2, Cambridge Mass., London 1991. Karlheinz Huelser, Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker. Neue Sammlung der Texte mit Ûbersetzung und Kommentar, Stuttgart, Bad Cannstatt Bd. 1±3 1987, Bd. 4 1988. A. A. Long und D. N. Sedley, The Hellenistic Philosophers, Vol. 1 und 2, Cambridge 1992. Sextus Empiricus, Adversus Mathematicos Sextus Empiricus, Purroneion Hupotuposeon [Grundriû der pyrrhonischen Skepsis] Johannes von Arnim, Stoicorum Veterum Fragmenta Vol. 1±4, Leipzig 1903±1924 [zitiert nach Band und Fragment]
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Vorbemerkungen
Thema der vorliegenden Untersuchung ist der Pyrrhonismus, wie Sextus Empiricus ihn vorstellt. Es soll versucht werden, Sextus' Darstellung der pyrrhonischen Philosophie mit Bezug auf drei Fragen zu rekonstruieren: (1) Wie ist der skeptische Verzicht auf Dogmata 1 zu verstehen? (2) Kann der Skeptiker 2 sprechen, ohne eine assertorische Sprache zu gebrauchen? (3) Wie kann er auf den Vorwurf der Untåtigkeit antworten? Die drei Fragen hången eng zusammen. Dem Verzicht auf Dogmata entspricht auf der Ebene der Sprache der Verzicht auf eine assertorische Rede und im Bereich des Verhaltens der Verzicht auf Handlungen im vollen Sinne. Die grundlegende Frage, ob dem Skeptiker Meinungen zugeschrieben werden mçssen, werde ich negativ beantworten. Der Pyrrhoneer, wie Sextus ihn vorstellt, enthålt sich in dem Sinn uneingeschrånkt aller Meinungen, daû er sich uneingeschrånkt des Urteils enthålt. In der Erklårung des pyrrhonischen Verzichts auf Meinungen (PH 1.13) bereitet Sextus jedoch schon die Antwort auf die Kritik vor, mit der der Skeptiker rechnen muû: der Vorwurf der Apraxia. Vorausblickend auf seine Ausfçhrungen zum pyrrhonischen Verhalten råumt er ein, daû der Pyrrhoneer erzwungenermaûen zustimmt. Bevor in Kapitel 3 diese Argumentation diskutiert wird, wird in Kapitel 2 gefragt, wie der Verzicht auf Meinungen auf der Ebene der Sprache zu verstehen ist: Um nicht inkonsistent zu werden, muû der Pyrrhoneer eine nicht-assertorische Sprache entwickeln. In der Interpretation soll die These entwickelt werden, daû der Versuch, das pyrrhonische Sprechen als nicht-assertorisch zu zeigen, glçckt. Einige zentrale Begriffe des Pyrrhonismus werde ich unçbersetzt verwenden. Sextus spricht, wenn er den pyrrhonischen Skeptiker meint, meist einfach vom Skeptiker. Diesen Sprachgebrauch werde ich çbernehmen. In Zusammenhången, die eine Abgrenzung von den akademischen Skeptikern erforderlich machen, spreche ich von pyrrhonischen Skeptikern.
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Es mçssen zwei pyrrhonische Redeweisen unterschieden werden: In seinen Diskussionen dogmatischer Thesen und Theorien mit dem Ziel der Isosthenie referiert Sextus teilweise ausfçhrlich die Lehren der Dogmatiker. Hier hat seine Rede den Charakter des Anfçhrens: Er fçhrt Propositionen an, ohne eine propositionale Einstellung zu ihnen einzunehmen. Fçr die anderen Bereiche der pyrrhonischen Rede gilt die Fainetai-Regel: Der Skeptiker will so verstanden werden, als seien alle seine Øuûerungen mit »mir scheint« formuliert. Sextus erklårt die pyrrhonische Rede als ein Kundtun von fainomena und expliziert dieses als ein Kundtun von Erlebnissen (pathe). In Såtzen der Form »X scheint mir jetzt F« tut der Pyrrhoneer seine Erlebnisse kund. In dieser Redeweise werden keine Propositionen geåuûert; »mir scheint« ist kein Operator vor einer Proposition, sondern ein Erlebnisausdruck. Der Pyrrhoneer legt Erlebnisse offen. In Kapitel 3 komme ich zurçck zur skeptischen Antwort auf den Apraxia-Vorwurf. Es soll die These vertreten werden, daû Sextus nicht die Handlungsfåhigkeit, sondern die Fåhigkeit, sich zu verhalten, fçr den Pyrrhoneer darstellen will. Sextus argumentiert nicht, der Pyrrhoneer kænne trotz des Verzichts auf Meinungen im vollen Sinne handeln. Statt dessen zeigt er, wie dieser sich in einer Orientierung an den Fainomena in unterschiedlichen Bereichen des Lebens verhalten kann. An dieser Stelle werden die erzwungenen Zustimmungen relevant: Durch das Eingeståndnis erzwungener und undogmatischer Zustimmungen gelingt es Sextus, in einer Argumentation, die in der adhominem-Einstellung mit stoischen Begriffen arbeitet, zu zeigen, daû der Pyrrhoneer sich an den Erscheinungen im Sinne von Eindrçcken ausrichtet. Die Interpretation der pyrrhonischen Philosophie, fçr die ich argumentieren werde, arbeitet mit der These, daû Sextus in der Darstellung der pyrrhonischen Philosophie teilweise dogmatische Begriffe verwendet, ohne sich auf deren Definitionen festzulegen. So macht er z. B. in der Erklårung, inwiefern der Skeptiker keine Dogmata habe, darauf aufmerksam, daû der Skeptiker sich verschiedener Bestimmungen von »dogma« bedient. Es werden zwei Definitionen genannt, die jeweils nicht vom Skeptiker selbst vertreten werden; mit Bezug auf eine der Definitionen hat der Skeptiker Dogmata, mit Bezug auf die andere nicht. 3 3
PH 1.13.
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Die These ist jedoch nicht unproblematisch. Wenn der Pyrrhoneer Begriffe verwendet, ohne sich auf deren Bestimmungen festzulegen, so scheint es, daû er sich jeglicher begrifflichen Genauigkeit entziehen kann. In diesem Fall kænnte ihm nie vorgeworfen werden, er widerspreche sich selbst. Sextus' Bemçhen, eine konsistente Philosophie zu beschreiben, zeigt, daû dieses Bild nicht zutrifft. Die These muû daher differenziert werden: Zwar legt sich Sextus nie auf eine Definition eines Begriffs oder eine mit ihm verbundene Theorie fest; er verwendet die Begriffe in der ad-hominem-Einstellung, indem er in der Argumentation gegen den Dogmatiker dessen Bestimmungen der Begriffe gegen ihn verwertet. Sextus macht jedoch deutlich, in welchem Kontext er welche Bestimmung eines Begriffs unterstellt. So sagt er z. B., gemåû welchem Begriff von Dogma der Pyrrhoneer Dogmata hat, und gemåû welchem nicht. 4 Hierauf muû er sich festlegen lassen. In der Interpretation soll mit einer zweiten These gearbeitet werden: In der Darstellung der pyrrhonischen Philosophie spielen die Stoiker vor allen anderen philosophischen Gegnern eine besonders wichtige Rolle. Dies ergibt sich vor allem daraus, daû die stoische Urteilsanalyse mehr als jede andere dogmatische Theorie bedeutsam fçr den Pyrrhonismus ist. Sextus nennt in PH 1.65 die Stoiker als die gegenwårtigen Gegner der Pyrrhoneer. 5 Dies kann m. E. so gedeutet werden, daû unter den philosophischen Schulen in der Zeit seit Pyrrhon und Zenon die Stoiker das wichtigste Ziel der skeptischen Kritik waren. Sextus kann die Stoiker ± obgleich die entscheidende stoische Kritik vor seiner Zeit vorgetragen wurde ± deshalb mit Recht als die wesentlichen Kontrahenten bezeichnen, weil er nicht eine Philosophie vortrågt, die er eigenståndig entwirft, sondern vielmehr eine, die vor ihm von einer Reihe von Philosophen in Auseinandersetzung mit den stoischen Kontrahenten entwickelt wurde. Es ist wichtig, die These von der besonderen Bedeutung der Stoiker zu pråzisieren, da nicht der Eindruck entstehen darf, der Pyrrhonismus sei eine Philosophie, die sich insofern von der Stoa abhångig macht, als sie nur in einer ad-hominem-Argumentation gegen diese vertreten PH 1.13. Dazu, daû hieraus nicht folgt, daû Sextus zur Blçtezeit der Stoa schreibt, wie teilweise in dem Versuch, Sextus' Schriften zu datieren, vertreten wurde, vgl. D. K. House, The Life of Sextus Empiricus, Classical Quarterly 30 (1980) 227±38.
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werden kann. Die Gefahren, die eine Konzentration auf einen einzelnen philosophischen Kontrahenten birgt, waren angesichts der akademischen Skepsis bekannt. Aenesidem kritisiert die Akademiker dahingehend, daû teilweise der Eindruck entstçnde, hier wçrde ein Stoiker mit einem Stoiker kåmpfen. 6 Die Schwierigkeit besteht also darin, daû in einer ad-hominem-Argumentation gegen einen bestimmten Kontrahenten undurchsichtig werden kann, ob der Skeptiker die dogmatischen Thesen, die er in der ad-hominem-Argumentation voraussetzt, nicht am Ende auch selbst vertritt. Mit Blick auf die Tropen ist deutlich, daû der Pyrrhonismus dieser Gefahr entkommt. Die Tropen arbeiten nicht mit den zentralen Termini einer bestimmten dogmatischen Philosophie, sondern haben einen weit allgemeineren Charakter. Wenn Sextus Thesen und Theorien der Dogmatiker diskutiert, so spielen stoische Annahmen keine besondere Rolle. In der Darstellung der pyrrhonischen Philosophie ist der Bezug auf die stoische Philosophie schwieriger einzuschåtzen. Einerseits ist der wichtige Begriff des fainomenon bzw. die pyrrhonische Verwendung von fainesthai keiner dogmatischen Philosophie entliehen. Andererseits verweist der Begriff der Urteilsenthaltung auf die stoische Philosophie: Der Begriff der epoche setzt, wie unten genauer ausgefçhrt wird, eine Urteilsanalyse wie die stoische voraus, nach der ein Urteil durch die Zustimmung (sunkatathesis) zu einem Eindruck (fantasia) zustandekommt. Sextus legt sich zwar nicht darauf fest, die Urteilsenthaltung als Zurçckhaltung der Zustimmung zu Eindrçcken im stoischen Sinne zu definieren; er beschreibt sie an den einzelnen Stellen unterschiedlich. Doch auch die Beschreibungen, die nicht mit stoischen Begriffen arbeiten, mçssen eine åhnliche Konzeption voraussetzen. Mit dem Begriff der Urteilsenthaltung gelangt ein wesentlicher Teil der stoischen Erkenntnistheorie in den Blick. In der Interpretation soll versucht werden, seine Bedeutung fçr die pyrrhonische Philosophie zu bestimmen.
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Photius 170 a 14±17 L&S 71C.
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Vorbemerkungen zu Sextus' Werk
Die Skepsis, wie sie sich in den Schriften des Sextus Empiricus findet, baut auf frçhere Versionen des Pyrrhonismus auf, deren Geschichte nur in groben Zçgen rekonstruiert werden kann. 1 Ûber das Leben des Pyrrhon von Elis (ca. 365±275 v. Chr.) berichtet Diogenes Laertius. 2 Aus Anekdoten entsteht ein Bild von Pyrrhon als einem Mann, der durch sein ungewæhnliches Verhalten zur moralischen Leitfigur wurde. Mit seinem Schçler Timon von Phleius (ca. 325±235 v. Chr.) scheint ein genaueres Bemçhen um die Formulierung einer konsistenten skeptischen Philosophie eingesetzt zu haben. 3 Ûber Aenesidem, dessen Lebensdaten nur vage auf die Zeit zwischen 80 v. Chr. und 130 n. Chr. festgelegt werden kænnen, ist sehr wenig bekannt. Seine Formulierung von zehn skeptischen Weisen zu argumentieren (Tropen) verweist darauf, daû sein Beitrag zur Weiterentwicklung und Differenzierung des Pyrrhonismus von græûter Bedeutung ist. Aenesidem war zunåchst Mitglied des Akademie, von der er sich mit Kritik an dem groûen Einfluû der Stoa abwandte. Er begrçndete den Pyrrhonismus gewissermaûen neu und scheint ein umfassendes Werk mit dem Titel »Pyrrhonische Argumente (logoi)« verfaût zu haben. 4 Sextus begegnet seinen Vorgångern mit Distanz. Zwar nehmen die Tropen des Aenesidem einen wichtigen Raum im ersten Buch des Vgl. Victor Brochard, Les Sceptiques Grecs, Paris 1923; Friedo Ricken, Antike Skeptiker, Mçnchen 1994; R. J. Hankinson, The Sceptics, London und New York 1995. 2 DL 2.61±108. 3 Die Frage, inwiefern die wenigen çberlieferten Øuûerungen Pyrrhons dogmatischen Charakter haben, wird kontrovers diskutiert. Vgl. v. a. M. Couche, Pyrrhon et l'apparance, Paris 19942 ; M. R. Stopper, Schizzi Pirroniani, Phronesis 28 1983, 265±297; Richard Bett, What did Pyrrho think about »The Nature of the Divine and the Good«?, in: Phronesis 34 No.3 1994, 303±37. 4 M 8.215. DL 9.106, 116. Andere Titel, von denen nicht sicher ist, ob sie je unterschiedliche oder z. T. dieselben Werke bezeichnen, finden sich bei Diogenes Laertius (9.106, 78), bei Aristocles (Eusebius, Praep. Ev. XIV, 18.11 und 16), sowie bei Sextus (M 10.216). 1
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Grundrisses ein. Doch trotzdem ist die Akzeptanz zwiespåltig: Sextus referiert die Argumentformen nicht, ohne sie entscheidend zu modifizieren. 5 Sextus ist der letzte groûe Vertreter des Pyrrhonismus. Auch seine Lebensdaten sind nur ungenau zu rekonstruieren; sie werden in den Zeitraum zwischen 150 und 250 n. Chr. gelegt. Ûber seine Person und sein Leben ist beinahe nichts bekannt. 6 In seinen çberlieferten Schriften, den Purroneion Hupotuposeon (Grundriû der pyrrhonischen Skepsis) und Adversus Mathematicos (Gegen die Gelehrten), leistet Sextus die bei weitem ausfçhrlichste Darstellung des Pyrrhonismus, die uns bekannt ist. Der Grundriû (PH) ist vermutlich das frçhere Werk. 7 Sextus unterscheidet dort die allgemeinen Argumente (logoi) des Skeptikers, die die Darstellung seiner Haltung, die Abgrenzung zu den der pyrrhonischen Skepsis nahestehenden Philosophien, die Tropen und die Schlagworte der Skeptiker umfassen, von den speziellen Argumenten. Letztere befassen sich mit einzelnen dogmatischen Thesen und Theorien. 8 Der allgemeine Teil nimmt das erste von drei Bçchern ein (PH 1). PH 2 und 3 kritisieren die logischen, naturphilosophischen und ethischen Lehren der Dogmatiker. Vgl. die Interpretation von J. Annas und J. Barnes, The Modes of Scepticism, Cambridge 1985. Zur Unterscheidung von Sextus' Version des Pyrrhonismus zu frçheren Versionen vgl. auch Paul Woodruff, Aporetic Pyrrhonism, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy Vol. VI (1988), 139±168. 6 D. K. House (1980) kommt in seinem Artikel zu Sextus' Biographie zu dem Schluû, man mçsse sich bezçglich beinahe jedes Details in Sextus' Leben des Urteils enthalten (S. 238). Bezçglich Sextus' Lebensdaten argumentiert House gegen die Annahme, Sextus mçsse zu einer Zeit gelebt haben, die zugleich eine Blçtezeit der stoischen Philosophie war. So weitet er den Zeitraum, innerhalb dessen Sextus' Leben anzusiedeln ist, von der zweiten Hålfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. als spåtest mægliche Datierung auf die erste Hålfte des 3. Jahrhunderts aus. House' Studie zu Sextus' Biographie, die erste seit W. Vollgraf (La vie des Sextus Empiricus, Revue de la Philologie (1902) 195±210), setzt sich mit den grundlegenden ålteren Studien (E. Pappenheim, Lebensverhåltnisse des Sextus Empiricus, Berlin 1887; M. M. Patrick, Sextus Empiricus and Greek Scepticism, Cambridge 1899; M. Haas, Leben des Sextus Empiricus, Burghausen 1882; A. Goedeckemeyer, Die Geschichte des griechischen Skeptizismus, Leipzig 1905, Nachdruck Darmstadt 1968) auseinander und çberzeugt in ihrer Schluûfolgerung. 7 Bezçglich der relativen Chronologie stçtze ich mich auf die Untersuchungen von Karel Jancek. »Though the matter of M 7±11 is principally the same, compared with PH it is more perfect in form and language, but at the same time it is more elementary as regards the matter itself«. K. Jancek, Prolegomena to Sextus Empiricus, Olomous 1949, S. 63. Vgl. auch K. Jancek, Sextus' skeptical methods, Prague 1972. 8 PH 1.5±6. 5
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Unter dem Titel Adversus Mathematicos (M) sind 11 Bçcher zusammengefaût. M 1±6 richten sich gegen die Vertreter der »artes liberales«, ± Grammatik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik. M 7±11 stellen eine detailliertere Version von PH 2±3 dar. Logik, Physik und Ethik der dogmatischen Philosophien werden ausfçhrlicher diskutiert. 9 In Adverus Mathematicos findet sich keine Entsprechung zu dem allgemeinen Teil des Grundrisses. Fçr die Untersuchung der skeptischen Selbstdarstellung sind wir daher leider auf nur eine Version angewiesen.
In M 7.201 erwåhnt Sextus ein Werk, die Iatrika hupomnemata (Ørztliche Erinnerungen), das uns nicht çberliefert ist.
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1. Der Verzicht auf Dogmata
1.1. Dogmata 1.1.1. Das Problem Der Skeptiker hat keine Meinungen. Er enthålt sich des Urteils und erlangt so die Seelenruhe. Die Urteilsenthaltung wird hervorgerufen, wenn Thesen und Theorien mit dem Ziel der Isosthenie ± des Gleichgewichts mehrerer Seiten eines Dissenses ± diskutiert werden. So beschåftigt sich der Skeptiker mit der Philosophie. Er fçhrt aber auch ein normales Leben, sprich, hat einen Beruf, Beziehungen zu anderen Menschen, eine Religion etc. Hier folgt der Skeptiker den Erfahrungen des Alltags, dem »Leben«. Sowohl in seiner Beschåftigung mit der Philosophie wie in seinem Alltagsleben spricht der Skeptiker. Seine Redeweise beschreibt er, da er im Einklang mit dem Verzicht auf Meinungen auf eine assertorische Sprache verzichten muû, als ein Kundtun von Erlebnissen. So kænnte der Pyrrhoneer beschrieben werden ± in seinem Verzicht auf Meinungen (dogmata), der Urteilsenthaltung (epoche), seinem Ziel der Seelenruhe (ataraxia), seinem philosophischen Untersuchen (zetein), dem Kundtun (apangellein) als Form der sprachlichen Øuûerung, seinem Leben nach dem, was ihm scheint (fainomena) 1 . Eines der Konsistenzprobleme, die im Versuch einer Verbindung dieser Elemente entstehen, wird traditionell als »Apraxia-Problem« Die Standardçbersetzung von »fainomenon« ist Erscheinung. Die englische Standardçbersetzung ist »appearance« (Bury, A. A. Long und D. Sedley, The Hellenistic Philosophers, Cambridge 1992). Barnes und Annas (1985) çbersetzen zwar fainesthai mit »to appear«, setzen »appearance« jedoch als Ûbersetzung von »fantasia« an. Die Fainomena seien wærtlich çbersetzt »what appears« oder »what is apparent« (S. 23). In Kapitel 2 werden unterschiedliche Verwendungsweisen von fainesthai und fainomenon bei Sextus diskutiert werden. Da bezçglich der Orientierung an den fainomena ein bestimmtes Verståndnis von »fainomena« angenommen werden muû, werde ich den Begriff zunåchst unçbersetzt lassen oder durch »das, was scheint« umschreiben. 1
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bezeichnet: Wenn der Skeptiker keine Meinungen hat, wie kann er dann ein normales Leben fçhren? Ist er nicht vielmehr zur Handlungsunfåhigkeit (apraxia) verurteilt? Eine Beantwortung dieser Frage muû zwei Bereiche klåren. Sie muû erstens verstehen, was mit dem Verzicht auf Meinungen gemeint ist. Zweitens muû sie ein Bild dessen entwerfen, wie das skeptische Leben nach den Fainomena vorgestellt werden kann. Die Behandlung der Frage nach den Meinungen des Skeptikers muû der nach seiner Handlungsfåhigkeit vorangehen. Das Bild, das vom Leben des Skeptikers gezeichnet werden kann, hångt entscheidend davon ab, wie der skeptische Verzicht auf Dogmata zu verstehen ist. So stellen sich die folgenden Fragen: Enthålt sich der Skeptiker aller oder nur bestimmter Urteile? Hat der Skeptiker in keiner Weise Meinungen, oder hat er nur çber bestimmte Gegenstånde bzw. nur auf eine bestimmte Weise Meinungen? Zwei Begriffe, die Barnes bei Galen findet, machen die Alternative plastisch: Ist der Pyrrhoneer ein urbanus, ein Stådter, der nur in einem eingeschrånkten Sinn keine Meinungen hat? Oder ist er ein rusticus, der Bauer unter den Skeptikern, der ohne jede Einschrånkung auf Meinungen verzichtet? 2 Die Frage nach den Meinungen des Skeptikers spaltet die Interpreten des Pyrrhonismus. Die Schwierigkeit des Problems liegt zuallererst darin, daû nicht klar ist, was Sextus genau unter einem Dogma versteht, wenn er den skeptischen Verzicht auf Dogmata verkçndet. Weiter besteht sie in der Frage, wie es mit dem Verzicht auf Dogmata zu vereinbaren ist, daû Sextus Dogmata in einem zweiten Sinn ± im Sinn von erzwungenen Zustimmungen ± einråumt. Die Diskussion der Frage nach den Meinungen des Skeptikers kann in drei Abschnitte zerlegt werden. Erstens muû untersucht werden, mit welchem Begriff der Meinung die Skeptiker (und ihre antiken Kritiker) arbeiten. Das Ergebnis dieser Ûberlegungen wird in der Begrçndung der These bestehen, daû dem Pyrrhoneer kein Dogma, das als Meinung bzw. Urteil verstanden wird, zugeschrieben werden kann (Kapitel 1). Im Anschluû hieran stellt sich das Problem, wie der skeptische Versuch, in Entsprechung zum Verzicht auf Meinungen eine nicht-assertorische Form der Rede zu finden, verstanden werden kann (Kapitel 2). Schlieûlich muû die Rolle der Dogmata im Sinne erzwun-
Jonathan Barnes, The Beliefs of a Pyrrhonist, in: Proceedings of the Cambridge Philological Society No. 208 (1982), 1±29, S. 2.
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gener Zustimmungen in der pyrrhonischen Philosophie geklårt werden (Kapitel 3). Bevor im folgenden çberlegt wird, wie genau der Text, in dem Sextus sagt, der Skeptiker dogmatisiere nicht, interpretiert werden kann (1.2.), sollen einige Ûberlegungen angestellt werden, die den Hintergrund dieser Aussage erhellen. In einem ersten Schritt soll kurz dargestellt werden, welches der Sprachgebrauch von »dogma« ist, auf den der Skeptiker zurçckgreifen kann (1.1.2.). Zweitens wird der Versuch gemacht, den skeptischen Begriff des Dogmas auf die Dichotomie von Doxa und Episteme zu beziehen (1.1.3.). Weiter soll çberlegt werden, welche philosophischen Ûberzeugungen der Skeptiker bei seinen Kontrahenten vorfindet, die der dialektischen Argumentation fçr einen Verzicht auf Dogmata entgegenkommen (1.1.4.). In einem vierten Punkt soll der skeptische Begriff der Urteilsenthaltung, der die zweite Beschreibung fçr den Verzicht auf Dogmata leistet, untersucht werden. In diesem Zusammenhang wird eine kurze Darstellung der Aspekte der stoischen Erkenntnistheorie, die fçr die Interpretation des Pyrrhonismus relevant sind, erfolgen (1.1.5.). 1.1.2. »Dogma« in alltåglichen und philosophischen Kontexten »Dogma« stammt, wie »doxa«, ethymologisch von »dokein«. 3 Auûerhalb der Philosophie wurde »dogma« vor allem in æffentlichen, juristischen, politischen oder moralischen Kontexten verwendet. 4 Dogmata waren z. T. so etwas wie Dekrete 5 , festgeschriebene Maûgaben fçr Verhalten, z. T. Lehrmeinungen darçber, was richtig und was falsch ist. Damit sind Dogmata tendenziell Aussagen von Personen, die in dem Feld ihrer Øuûerung eine spezifische Kompetenz in Anspruch
Da in der Literatur sehr gute philologische Studien zum Begriff »dogma« vorliegen, soll hier nur auf wichtige Ergebnisse verwiesen werden. Vgl. v. a. Barnes (1982) S. 6±12 und Harold Tarrant, Scepticism or Platonism? The Philosophy of the Fourth Academy, Cambridge 1985, S. 28±33. Barnes untersucht die verschiedenen Gebrauchsweisen des Wortes vor und bei Sextus. Tarrant konzentriert sich auf die Verwendung des Begriffs in der Akademie. 4 Vgl. hierzu Barnes, der eine Reihe von Texten untersucht (1982). 5 Cicero çbersetzt »decreta«. Vgl. Acad. pr. 9,29, wo er explizit auf diese Ûbersetzung aufmerksam macht. 3
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nehmen, ± Aussagen von Juristen, Politikern, Experten in Fragen der Moral ± nicht von normalen¬ Leuten. Neben dieser allgemeinen Verwendung von »dogma« ist es interessant, die Funktion des Begriffs in philosophischen Diskursen zu betrachten. Das Prådikat »dogmatisch« spielt in den akademischen Diskussionen um die richtige Interpretation der Werke Platons eine zentrale Rolle. Zur Debatte steht, ob Platon Dogmata vertreten hat oder nicht. 6 Diogenes çberliefert eine Definition von Dogma, die mit groûer Wahrscheinlichkeit aus dem frçhen 1. Jahrhundert v. Chr. stammt 7 : Der, der dogmatisiert, stellt Dogmata auf, so wie der, der Gesetze gibt, Gesetze aufstellt. 8 Es ist deutlich, daû diese Bestimmung des Begriffs »dogma« in philosophischen Kontexten eng an die oben beschriebene alltågliche Verwendung anschlieût. Der Bericht fåhrt in offensichtlich hellenistischem Vokabular fort: Wo Platon etwas erfaût (kateilefen), legt er es dar, und widerlegt die falsche Ansicht. Ûber das Verborgene (ton adelon) enthålt er sich des Urteils (epechei). 9 Platons Dialoge wurden in der Diskussion çber den Charakter seiner Philosophie unterschiedlich kategorisiert. So çberliefert Diogenes nicht nur die Unterscheidung zwischen dogmatischen und undogmatischen Werken, sondern auch die Einteilung der Dialoge in »untersuchend« (zetetikos) und »belehrend« (hufegetikos). 10 Sextus referiert innerhalb der Abgrenzung der Skepsis von der Akademie eine Klassifikation, nach der zwischen aporetischen und dogmatischen Texten bei Platon unterschieden wird. 11 Die dogmatischen Dialoge charakterisiert er åhnlich wie Diogenes, indem er auf Figuren hinweist, die Platon als Sprachrohr seiner eigenen Ansichten verwendet habe. 12 Es ist wahrscheinlich, daû das akademische Interesse an der Frage, ob Platon positive Lehren vertreten hat, den Begriff des Dogmas in seiner Anwendung auf philosophische Aussagen im Vokabular der hellenistischen Schulen gefestigt hat. Ein Dogmatiker ist hier jemand, der in der Vgl. DL 3.51. »Und weil es eine groûe Uneinigkeit zwischen denen, die behaupten, Plato habe dogmatisiert, und denen, die sagen, er habe es nicht getan, gibt (¼). Zu dogmatisieren (to dogmatizein) also heiût, Dogmata aufzustellen ¼«. 7 Vgl. Tarrant (1985) S. 27 ff. 8 DL 3.51. 9 DL 3.52. 10 DL 3.49. Der ersten Einteilung folgt eine genauere Unterscheidung, die beide Gruppen in Untergruppen aufgliedert. Vgl. 58±61. 11 PH 1.221. 12 PH 1.221, DL 3.52. Beide Texte nennen Timaios und Sokrates, Diogenes auûerdem den Fremden aus Athen und den Fremden aus Elea. 6
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Philosophie positive Lehren vertritt. Diesem Verståndnis entspricht Sextus' Gebrauch der Bezeichnung »hoi dogmatikoi«: Gemeint sind eindeutig Philosophen und Wissenschaftler. Aus alltåglichen und philosophischen Diskursen kann Sextus also einen Begriff des Dogmas çbernehmen, der nicht den erkenntnistheoretischen Status von dogmatischen Aussagen bestimmt (d. h. nichts darçber sagt, ob Dogmata Meinungen oder Erkenntnisse sind), sondern die Weise beschreibt, wie Dogmata vertreten werden. Der Begriff des Dogmas ist verbunden mit Deklaration, Assertivitåt, Affirmation. Die Charakteristika eines Dogmas beziehen sich vor allem auf den Akt des Behauptens, ± ein Dogma setzt etwas fest, formuliert eine philosophische Position. Der skeptische Begriff des Dogmas ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Sextus allerdings scheint unter einem Dogma nicht nur philosophische oder wissenschaftliche Aussagen zu verstehen. In diesem Fall wåre seine Position weitaus weniger spektakulår; es wåre unverståndlich, warum er dem Vorwurf der Handlungsunfåhigkeit begegnet, in dem davon ausgegangen wird, daû der Skeptiker in seinem Verzicht auf Dogmata auf ein zentrales Element des alltåglichen Lebens verzichtet. Der skeptische Begriff des Dogmas muû in einiger Hinsicht von dem vorliegenden Gebrauch abweichen, damit der Konflikt zwischen dem Verzicht auf Dogmata und der Handlungsfåhigkeit verståndlich ist. 1.1.3. Meinung und Erkenntnis Aus moderner Perspektive scheint bezçglich der Skepsis zumindest eines klar zu sein: Skepsis ist ein philosophisches Thema, in welchem es um die Mæglichkeit von Erkenntnis geht. Diese Annahme erweist sich im Bezug auf die pyrrhonische Skepsis nur als bedingt richtig. Die skeptische Einstellung ist eine Einstellung zu dogmata, nicht eine Einstellung zu Erkenntnis. Der pyrrhonische Skeptiker sagt einiges, was in der Moderne mit der Skepsis assoziiert wird, nicht. 13 So sagt er nicht: »Ich bezweifle die Daû der Skeptiker die Frage nach der Auûenwelt nicht stellt, ist ein eigener Punkt. Zu den fehlenden Voraussetzungen dieser Problematik vgl. M. Burnyeat, Idealism and Greek Philosophy: What Descartes Saw and Berkeley Missed, in: G. N. A. Vesey (Hg.), Idealism Past and Present, Cambridge 1982, 19±50 und Stephen Everson, The objective appearance of Pyrrhonism, in: ders. (Hg.), Companions to Ancient Thought 2, Psychology, Cambridge 1991, 121±147. Eversons grundlegendes Argument, daû die Pyrrhoneer die kausale Theo-
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Mæglichkeit von Erkenntnis« oder »Man kann alles bezweifeln, nichts ist gewiû« 14 . Auch die Aussage des Atomisten Metrodoros, »Wir wissen nichts, auch das wissen wir nicht«, paût nicht zur Haltung des Pyrrhoneers. 15 Statt dessen sagt der pyrrhonische Skeptiker, daû er sich des Urteils enthålt (epechein), daû er nicht zustimmt (sunkatathesthai), daû er keine Meinungen vertritt (dogmatizein). In diesen Øuûerungen des Skeptikers kommt der Begriff der Erkenntnis nicht vor. Julia Annas und Jonathan Barnes schreiben: »The ancient sceptics did not attack knowledge: they attacked belief« 16 . Diese These benennt einen zentralen Aspekt der pyrrhonischen Skepsis, und doch fçhrt sie in dieser unkommentierten Weise in die rie der Wahrnehmung der hellenistischen Philosophien nicht hinterfragten, und so bei jedem Sinneseindruck davon ausgingen, daû er von einem Objekt der Auûenwelt ausgelæst wurde, wird in Kapitel 2 kritisiert. Fçr Everson folgt aus dieser These, daû die pyrrhonische Argumentation sich darauf richtet, wie die Welt ist, nicht, ob sie ist. Eversons Schluûbemerkung (S. 146±7) lautet, eine Infragestellung der Auûenwelt wåre den Pyrrhoneern dennoch mæglich gewesen und ihr Ausbleiben sei als ein Versagen zu werten. M. E. kann die Frage, warum die Pyrrhoneer in ihren Untersuchungen die Existenz der Auûenwelt nicht thematisierten, aus einer ganz anderen Perspektive angegangen werden: Die pyrrhonische Skepsis ist nicht von dem Versuch, alles, was sich bezweifelt låût, zu bezweifeln, getragen. Ausgangspunkt der pyrrhonischen Untersuchungen sind immer Thesen und Theorien, die von Dogmatikern vertreten wurden. Da niemand fçr die Existenz der Auûenwelt argumentierte, kam der Skeptiker nicht in die Situation, hinsichtlich dieser Frage zur Urteilsenthaltung gelangen zu mçssen. 14 Das gesamte »Sprachspiel« des Zweifelns kommt in der pyrrhonischen Skepsis nicht vor. Zwar macht der Pyrrhoneer durch seine Argumentationen sich widersprechende Thesen gleich glaubwçrdig, was wohl dem Zweifel durchaus nahekommt. Seinen inneren Zustand beschreibt er jedoch als Urteilsenthaltung bzw. Balance (arrepsia, PH 1.190) zwischen den beiden Seiten des Dissenses, nicht als Zweifel. Da der Begriff des Zweifels so zentral fçr die moderne Skepsis ist, und das Prådikat »(un)glaubwçrdig« eine feste Rolle im skeptischen Vokabular hat, soll die Rede vom Zweifel hier vermieden werden; der Skeptiker nimmt die Haltung des Epoche, nicht die des Zweifels ein. Auf den Unterschied zwischen dem Zweifel und der pyrrhonischen Haltung macht auch Benson Mates aufmerksam (The Sceptic Way. Sextus Empiricus's Outlines of Pyrrhonism, New York, Oxford 1996, S. 30±32). Nach Mates ist der entscheidende Unterschied zwischen dem Zweifel und der pyrrhonischen Aporie, daû fçr den Zweifel ein Verståndnis dessen, was bezweifelt wird, nætig ist, wåhrend der Pyrrhoneer, der angesichts der Argumente fçr mehrere Seiten in die Aporie geråt, die Thesen der Dogmatiker nicht verstehen muû. 15 Metrodoros B 1 (Cic. erste Acad. II, XXIII, 73). 16 Annas/ Barnes (1985) S. 8. Barnes und Annas formulieren in der zitierten Aussage »the ancient sceptics«. Da sich ihre Untersuchung mit dem Pyrrhonismus bzw. den Tropen des Aenesidem beschåftigt, soll hier nicht vermutet werden, daû die Akademiker in der gleichen Weise gemeint sind wie die Pyrrhoneer.
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Irre. Denn es ist problematisch, im Zusammenhang mit dem Pyrrhonismus so mit den Begriffen »knowledge« und »belief« 17 umzugehen, wie es in anderen philosophischen Kontexten çblich ist. Die Dichotomie von Meinung und Erkenntnis zeigt sich, wenn man es mit der griechischen Philosophie zu tun hat, als Dichotomie von doxa und episteme. 18 Sofern dies der Fall ist, leitet die Frage, ob der Pyrrhonismus mit Erkenntnis oder Meinungen befaût ist, in die Irre. Denn die »dogmata«, von denen Sextus Empiricus spricht, und die in den Ûbersetzungen als »Meinungen« bzw. »beliefs« auftauchen, kænnen sowohl als doxai wie als Erkenntnisse charakterisiert werden. Aus der Perspektive des Dogmatikers kann ein und derselbe Satz der Doxa oder der Episteme zuzuordnen sein. Unter welchen Bedingungen das eine oder das andere zutrifft, wird von seiner Theorie der Erkenntnis abhången. Er kann z. B. sagen, der Satz »Reichtum ist kein Gut« sei dann eine Erkenntnis, wenn er auf der unverrçckbaren Zustimmung zu einem erfassenden Eindruck beruht (ein dogmatisches Wahrheitskriterium erfçllt), oder, wenn er durch eine Theorie der Gçter und Ûbel begrçndet werden kann (ein Beweis vorliegt). Eine Meinung kann er den Satz entsprechend dann nennen, wenn er auf einer Zustimmung zu einem nicht-erfassenden Eindruck beruht (ein dogmatisches Wahrheitskriterium nicht erfçllt wird), oder ohne jedes Argument vorgetragen wird (kein Beweis vorliegt). Der Skeptiker aber wird weder vom Philosophen sagen, seine These, Reichtum sei kein Gut, sei eine Erkenntnis, noch wird er vom Nichtphilosophen behaupten, seine gleichlautende These sei eine Meinung. Vielmehr wird der Skeptiker beiden Personen ein Dogma zuschreiben. Aus der Perspektive des Skeptikers ist es unwichtig, daû die beiden Thesen in der Sicht des nichtskeptischen Philosophen einen unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Status haben. Der wichtigste Unterschied, der in den nicht-skeptischen Philosophien zwischen Doxa und Episteme gesehen wird, liegt in der Frage der Begrçndung. 19 Meinungen im Sinne der Doxa sind nicht notwendig falsch, sie kænnen sowohl wahr wie falsch sein. Aber auch wenn sie Der deutsche Begriff Meinung ist noch unschårfer als der englische »belief«. Denn hier kann zwischen »opinion«, was eine stårkere Tendenz in Richtung auf »falsche Meinung« hat, und »belief« unterschieden werden. 18 Die verchiedenen Theorien werden im folgenden in einer bewuûten Vereinfachung herangezogen, da nur einige zentrale Charakteristika der Begriffe »doxa« und »episteme« entscheidend fçr den Gedankengang sind. 19 Exemplarisch kann hier auf die berçhmten Definitionsversuche in Platons Theaitetos 17
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falsch sind ± sie werden ohne Begrçndung oder ohne Beweis vertreten. Fçr Erkenntnisse dagegen werden Begrçndungen, Argumente, Beweise angeboten. 20 Nimmt man an dieser Stelle die skeptische Haltung im Bezug auf Beweis und Kriterium einmal unkritisch hin, so stellt sich heraus, warum es sich bei den »dogmata« nicht um »doxai« handeln kann: Wenn die entscheidenden Qualitåten, durch die Philosophen versucht haben, die Erkenntnis vor der Meinung auszuzeichnen, fallen, so fållt auch die Dichotomie von Erkenntnis und Meinung. Die Erkenntnisse der Philosophen und Wissenschaftler stellen sich als vermeintliche heraus; sie haben den gleichen Status wie die gleichlautenden Thesen der Nichtphilosophen. Der Unterschied zwischen Erkenntnis und Meinung, der in philosophischen Theorien der Erkenntnis im Vordergrund steht, ist somit fçr den Skeptiker irrelevant. Warum werden aus der Sicht des Skeptikers aus den Aussagen der Philosophen und Nichtphilosophen jedoch nicht einfach Meinungen, doxai? Denn einen wichtigen Aspekt haben Doxai und Dogmata gemeinsam ± es werden jeweils Behauptungen aufgestellt. Mir scheint, daû der Begriff der Doxa sich fçr den pyrrhonischen Sprachgebrauch deshalb nicht anbietet, weil er Teil einer Dichotomie ± zwischen Episteme und Doxa ± ist, welche als ganze fållt, wenn Beweis und Kriterium in Frage stehen. Wenn die Meinung in Abgrenzung zur Erkenntnis definiert und der Begriff der Erkenntnis nicht haltbar ist, so erledigt sich mit diesem auch der Begriff der Meinung. Nun ist die These, der Skeptiker sei mit Erkenntnis befaût, ebenso wie die These, er sei mit Meinungen befaût, durchaus aus einer gewissen Perspektive richtig. Denn insofern die meisten Aussagen, die der Skeptiker untersucht, mit Begrçndungen vorgetragen werden, und als hingewiesen werden, in welchen Erkenntnis im dritten Vorschlag als wahre Doxa »meta logou« gefaût werden (Th. 201 c 9 ff.). 20 Ein weiterer Unterschied zwischen doxa und episteme, den Platon macht, liegt in der Zuweisung verschiedener Gegenstandsbereiche. Vgl. Tim. 27 d 6±28 a 4: »Was ist das stets Seiende und kein Entstehen Habende und was das stets Werdende, aber nimmerdar Seiende; das eine ist durch verstandesmåûiges Denken zu erfassen, ist stets sich selbst gleich, das andere dagegen ist durch bloûes mit vernunftloser Sinneswahrnehmung verbundenes Meinen zu vermuten, ist werdend und vergehend, nie aber wirklich seiend«. (Ûbers. H. Mçller und F. Schleiermacher). Im Timaios findet sich weiter die Bestimmung, Erkenntnis entstçnde durch Belehrung, wahre Meinung dagegen durch Ûberredung; erstere ist durch Ûberredung nicht zu erschçttern, letztere kann umgestimmt werden (Tim. 51 d 2±e 5, vgl. Gorg. 454 c 7 ff.).
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Erkenntnisse deklariert sind, ist der Skeptiker in einem sehr groûen Maûe mit Erkenntnis befaût. Er kritisiert nicht nur einzelne Såtze, die als Erkenntnisse verteten werden, sondern vor allem das, was diese Såtze zu solchen machen soll: Beweis und Kriterium. Mit Meinungen ist der Skeptiker aus derselben Perspektive immer dann befaût, wenn er unbegrçndete Aussagen darçber, wie etwas in Wirklichkeit ist, zum Gegenstand seiner Untersuchungen macht. Diese Perspektive allerdings baut, wie oben gezeigt wurde, auf einen Gegensatz zwischen Meinung und Erkenntnis auf, den nur dogmatische Philosophen, nicht die Skeptiker sehen. Es scheint also, als mçûte der Skeptiker einen Ausdruck fçr Behauptungen mit und ohne Begrçndung suchen, der nicht mit Bezug auf Begriffe wie »Beweis« oder »Begrçndung« bestimmt ist. Dieser Ausdruck muû weiter das Kriterium erfçllen, alle Aussagen abzudecken, die mit dem Anspruch, etwas çber die Wirklichkeit zu sagen, gemacht werden. Denn dies haben die Øuûerungen von Philosophen und Nichtphilosophen gemeinsam ± sie sind nicht eingeschrånkt in ihrem Wahrheitsanspruch. Die Bezeichnung, die der Skeptiker wåhlt, ist »dogma«. 21 Die Nåhe der Begriffe »dogma« und »doxa«, die darin besteht, daû es sich in beiden Fållen um Akte des Behauptens handelt, erlaubt es dem Skeptiker allerdings, von »doxa« abgeleitete Begriffe zu verwenden. Sextus beschreibt den Skeptiker mehrfach als »adoxastos«. 22 Interessant ist, daû dieser Begriff nur im Grundriû, nicht in Adversus Mathematicos, auftaucht. 23 Angesichts der relativen Chronologie der Werke bedeutet dies, daû Sextus den Begriff nur in seinem frçheren Werk verwendet und spåter aufgegeben hat. 24 Ein Ersatz, der eindeutig an die Stelle von »adoxastos« tritt, ist nicht ersichtlich. Dieser Sprachgebrauch scheint durchaus mit den oben angestellten Ûberlegungen vereinbar zu sein. Im Grundriû bezeichnet »adoxastos« Den beschriebenen Unterschied zwischen den Begriffen der Doxa und des Dogmas çbergeht Mates, wenn er meint, aus der Interpretation von PH 1.13 ergebe sich, daû eine Meinung zu haben und zu dogmatisieren dasselbe sei (1996, S. 61). 22 Vgl. PH 1.15, 23, 226, 240; 2.102, 246, 254, 258; 3.2, 151. Jancek zåhlt 15 Verwendungen. Jancek (1972) S. 61±2. 23 Jancek (1972) vergleicht parallele Passagen in PH und M. Wåhrend es z. B. in PH 2.102 heiût, der Skeptiker stimme »adoxastos« zu, beschreibt Sextus in M 8.158 das Verhalten des Skeptikers als Orientierung am alltåglichen Leben. 24 Diese Beobachtung trifft unter der Voraussetzung zu, daû Janceks zeitliche Anordnung von Sextus' Schriften (PH und M) richtig ist. 21
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eine Haltung, die als »ohne zu dogmatisieren« beschrieben werden kann. Sextus bildet das Adverb von doxa statt von dogma. Ein Grund kænnte sein, daû er hier auf einen bestehenden Sprachgebrauch zurçckgreifen kann, wåhrend adogmatikos¬ wohl eine Neubildung wåre. 25 Die Ûberlegungen, die den Begriff des Dogmas fçr den Skeptiker passender machen als den der Doxa, treten hier scheinbar in den Hintergrund. In der ausgearbeiteteren Form der Darstellung in Adversus Mathematicos scheinen sie allerdings auch an dieser Stelle durchschlagend zu sein, so daû Sextus auf »adoxastos« verzichtet, obwohl er keinen wirklichen Ersatz fçr das Adverb hat. Zurçck zum Begriff des Dogmas. Seine Ûbersetzung als Meinung erweist sich insofern als irrefçhrend, als der Begriff der Meinung traditionell epistemisch charakterisiert ist. Eine andere Ûbersetzung findet sich jedoch deshalb nicht, weil die Klasse der Dogmata unhomogen ist. Manche Dogmata sind Lehrsåtze, manche sind Wahrnehmungsurteile, andere Werturteile, und wieder andere sind Ûberzeugungen, fçr die nicht argumentiert wird. 26 Daher soll auf eine Ûbersetzung verzichtet werden. Da in der Literatur jedoch »Meinung« die Standardçbersetzung fçr »Dogma« ist, wird es sich nicht vermeiden lassen, teilweise auch den Begriff der Meinung zu verwenden, wenn von Dogmata die Rede ist. Obwohl es streng genommen also weder zutrifft, daû der Skeptiker mit Erkenntnis befaût ist, noch, daû es ihm um Meinungen geht, haben Annas und Barnes durchaus einen guten Grund fçr die Behauptung, der Skeptiker sei nicht mit Erkenntnis sondern mit Meinungen befaût. Dieser besteht darin, daû die gegenteilige These ein grobes Miûverståndnis des Pyrrhonismus initiieren kann. Gerade der Umstand, daû es in der Skepsis der Neuzeit um Erkenntnis geht, erklårt, warum die Skepsis hier bezogen auf die Lebenspraxis eines Philosophen keine so radikale Position ist, wie sie es in der Antike war. Obwohl es schwer vorstellbar ist, daû jemand in keiner Hinsicht auf etwas zurçckgreift, das er in irgendeiner Weise weiû, ist es nicht offenkundig unmæglich, ohne Erkenntnisse zu leben. Es scheint jedoch den antiken Gegnern der Skeptiker und den modernen Kritikern dieser Position sehr deutlich zu sein, daû man ohne Meinungen nicht handeln und nicht leben kann. Es findet sich keine Eintragung im Liddle/ Scott/ Jones (abgekçrzt LSJ in Abgrenzung L&S fçr die Fragmentsammlung von Long und Sedley). 26 Dieser Umstand wird in mehreren Zusammenhången erærtert werden. 25
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Solange mit der These, in der pyrrhonischen Skepsis gehe es um Meinungen, angezeigt werden soll, daû es sowohl philosophische wie alltågliche Ûberzeugungen sind, von denen der Skeptiker sich distanziert, weist sie auf einen zentralen Punkt hin. Wçrde man leugnen, daû es in der pyrrhonischen Skepsis in diesem Sinne um Meinungen geht, so wçrde man sie ihrer eigentlichen Pointe berauben. So allerdings ist schon ein Ergebnis der Interpretation vorweggenommen, die erst geleistet werden muû. Daû der Skeptiker keine alltåglichen Meinungen hat, ist in der Diskussion nicht unumstritten, obgleich ohne diese Annahme nicht verståndlich ist, warum er mit dem Vorwurf der Apraxia konfrontiert wird und diesen ernst nimmt. 1.1.4. Die Abwertung der Doxa Die hellenistische Philosophie ist auf eine Weise mit Meinungen (doxai) befaût, die gegençber den Diskussionen bei Platon und Aristoteles einen neuen Charakter hat. Es scheint mir interessant, daû der skeptische Verzicht auf Dogmata im Kontext von Philosophien stattfindet, die den Verzicht auf doxai zu einer wichtigen Angelegenheit machen. Die pyrrhonischen Untersuchungen zu Beweis und Kriterium sind als ganze darauf angewiesen, daû der Dogmatiker die Urteilsenthaltung den Meinungen vorzieht, ± und dieses Vorziehen ist letztlich nicht rein erkenntnistheoretisch zu motivieren. Wçrde der Dogmatiker die Meinung nicht entschieden negativ bewerten, so kænnte er sich darauf zurçckziehen, daû ein Leben mit Meinungen immer noch besser ist als ein Leben der Urteilsenthaltung. Durch die fçr den Pyrrhonismus zentrale Kritik an Beweis und Kriterium kann sich nur dann ein Grund fçr eine umfassende Urteilsenthaltung ergeben, wenn nicht damit gerechnet werden muû, daû der Dogmatiker, der die Erkenntnis in Frage gestellt sieht, Meinungen der Urteilsenthaltung vorzieht. Sextus argumentiert nun nicht gegen den Dogmatiker, indem er die pyrrhonische Urteilsenthaltung als Verzicht auf doxai beschreibt. Er bleibt durchweg bei der Charakterisierung als Verzicht auf dogmata. Zwar bezeichnet er den Pyrrhoneer im Grundriû als adoxastos 27, womit offenbar nichts anderes gemeint sein soll als »ohne Dogmata«. Doch hier handelt es sich, wie bereits bemerkt wurde, vermutlich um einen sprachlichen Kompromiû. 27
PH 1.15, 23, 226, 240; 2.102, 246, 254, 258; 3.2, 151.
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Wçrde die pyrrhonische Urteilsenthaltung als Verzicht auf Meinungen bestimmt, so wçrde sich gegen den Dogmatiker, der Meinungen negativ bewertet, folgende Argumentation bieten: Der Dogmatiker will keine Meinungen (doxai); der Skeptiker zeigt ihm, daû seine Bestimmungen von Beweis und Kriterium der Kritik nicht standhalten, und so aus all seinen vermeintlichen Erkenntnissen Meinungen (doxai) werden. Diese aber will der Dogmatiker nicht. Er muû auf seine Behauptungen, die erst als Erkenntnisse auftraten und dann als Meinungen erschienen, verzichten. Wåhrend der pyrrhonische Skeptiker konsistenterweise nicht durch eine Kritik an Kriterium und Beweis zu der These kommt, es gebe keine Erkenntnis, vertreten die Akademiker (zumindest nach Sextus' Bericht) die These von der Unerkennbarkeit der Dinge. Ausgehend von dieser These kænnen sie den Dogmatiker in die allgemeine Urteilsenthaltung fçhren: Da nun wegen der Nichtexistenz des stoischen Kriteriums alle Dinge unerkennbar (akatalepton 28 ) sind, hat der Weise eine Meinung, wenn er zustimmt. Denn wenn nichts erkennbar ist, stimmt er, wenn er zustimmt, etwas Unerkennbarem zu. Die Zustimmung zu etwas Unerkennbaren aber ist eine Meinung (doxa). Wenn also der Weise unter denen ist, die zustimmen, so ist der Weise unter denen, die Meinungen haben (doxaston). Keinesfalls aber ist der Weise unter denen, die Meinungen haben, denn nach ihrer Ansicht [der Stoiker] ist das Unvernunft und eine Ursache von Fehlern; der Weise also ist nicht unter denen, die zustimmen. Und wenn das so ist, wird er im Bezug auf alles die Zustimmung verweigern mçssen. Die Zustimmung zu verweigen ist aber nichts anderes, als sich des Urteils zu enthalten. Der Weise wird sich also in allen Dingen des Urteils enthalten. (M 7.157) 29
Da der Pyrrhoneer nicht die These vertritt, alles sei unerkennbar, kann er das Argument nicht in eigener Person verwenden. Die Argumentation scheint mir jedoch interessant, weil sie ein Moment zeigt, das sowohl fçr akademische wie fçr pyrrhonische Skeptiker dem Dogmatiker gegençber unentbehrlich ist: Beide mçssen, wenn sie den Dogmatiker in die Urteilsenthaltung fçhren wollen, dessen negative Bewertung von Meinungen argumentativ verwerten. An die Stelle des Das Prådikat ist schwierig zu çbersetzen, da es entweder als »unerkannt« oder als »unerkennbar« gedeutet werden kann. Die Læsung dieses Problems ist jedoch fçr die Interpretation der vorliegenden Selle nicht von Bedeutung. 29 In der Ûbersetzung der Zitate aus dem Grundriû orientiere ich mich teilweise an Hossenfelder, die Stellen aus M gebe ich jeweils in meiner eigenen Ûbersetzung an. Sextus referiert hier eine Argumentation von Arkesilaos (315±240 v. Chr.) 28
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ersten Schritts in dem akademischen Argument, das die Nichtexistenz des stoischen Kriteriums behauptet und aus ihr die Unerkennbarkeit aller Dinge folgert, muû in der pyrrhonischen Argumentation allerdings eine Diskussion jeder einzelnen Frage mit dem Ziel des Gleichgewichts fçr mehrere Seiten eines Dissenses treten. Der Pyrrhoneer, der sich auch vor einem negativen Dogmatismus 30 hçtet, kann dem Dogmatiker nicht erklåren, daû die Urteilsenthaltung allgemein (d. h. mit Bezug auf jegliche Frage) geboten ist. Er muû in jedem einzelnen Fall mit Hilfe der Tropen die Isosthenie herstellen. Somit bringt er den Dogmatiker in die Situation, entweder trotz des unaufgelæsten Dissenses und des Gleichgewichts der Seiten Stellung zu beziehen, was in diesem Fall nicht den Status der Erkenntnis haben, sondern nur als Meinung erfolgen kann, oder sich des Urteils zu enthalten. Der Pyrrhoneer will sich, wenn er seine eigene Urteilsenthaltung beschreibt, nicht darauf festlegen lassen, daû er genau auf das verzichtet, was die Stoiker unter doxai verstehen. Trotzdem muû er voraussetzen, daû der stoische Kontrahent sich unter dem Verzicht auf dogmata einen Verzicht auf doxai vorstellt, da andernfalls nicht klar wåre, wieso fçr diesen aus den Argumenten bezçglich Kriterium und Beweis die Urteilsenthaltung folgen sollte (statt einer Akzeptanz von dogmata anstelle von Erkenntnissen). Nur wenn fçr den stoischen Kontrahenten dogmata in eben der Weise negativ zu bewerten sind wie doxai, kann der Pyrrhoneer versuchen, erfolgreich gegen ihn zu argumentieren. So hångt nicht nur die akademische, sondern auch die pyrrhonische Argumentation stark davon ab, daû Meinungen bei den Stoikern negativ bewertet wurden. Im folgenden soll kurz skizziert werden, welche Ûberlegungen der stoischen Ethik und Erkenntnistheorie eine Rolle fçr die Abwertung der Doxa spielen. 31 Thesen wie die von der Unerkennbarkeit der Dinge werden in der Literatur als »negativer Dogmatismus« bezeichnet. 31 Vgl. zu den folgenden Ausfçhrungen Tarrant (1985) und v. a. Anna Maria Ioppolo, Opinione e Scienza. Il dibattito tra Stoizi e Accademici nel III e nel II a. C., Bibliopolis 1986. Ioppolo betont m. E. zu einseitig die moralische Komponente in der Abwertung der Meinung, wobei sie Ûberlegungen zur Erkenntnistheorie vernachlåssigt. Vgl. zu dieser Kritik Carlos Lvy, Le concept de doxa des Stoiciens Philon d'Alexandrie: essai d'tude diachronique, in: Passions and Perceptions. Studies in Hellenistic Philosophy of Mind, Proceedings of the Fifth Symposium Hellenisticum, Hg. Jacques Brunschwig und Martha Nussbaum, Cambridge 1993, 250±84, v. a. S. 256. 30
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Durch die Diskussionen zwischen Arkesilaos und Zenon 32 ist eine Abwertung der Meinung (doxa) erfolgt, die von anderer Natur ist als die Abwertung, die durch die traditionelle Opposition von Meinung und Erkenntnis impliziert ist. Hier steht die Erkenntnis zwar çber der Meinung, die Kriterien dieser Ûberlegenheit werden jedoch vor allem erkenntnistheoretisch festgemacht: Erkenntnis ist çberlegen im Hinblick auf Begrçndung oder die Objekte, mit denen sie befaût ist. Der Gegensatz von Meinung und Erkenntnis, wie er sich bei Platon und Aristoteles findet, impliziert nicht, daû der, der Erkenntnis hat, keine Meinungen haben dçrfe. In der Diskussion çber Erkenntnis geht es nicht darum, die Erkenntnis einer idealen Person so zu bestimmen, daû Meinungen ausgeschlossen werden. Nach der stoischen Philosophie ist die Meinung jedoch nicht nur erkenntnistheoretisch der Wissenschaft unterlegen, sondern auch moralisch gefåhrlich. Ansatzpunkt fçr die akademische Argumentation ist der stoische Lehrsatz, der Weise habe keine Meinungen. Diogenes Laertius berichtet, daû Zenon, der Grçnder der Stoa (geb. 340 v. Chr.) ihm ausgesprochene Wichtigkeit zumaû. 33 Der Weise ist »adoxastos« 34 ; ihm scheint nichts¬ (oude dokein auto ti). 35 Der erkenntnistheoretische Hintergrund in der Stoa kann wie folgt beschrieben werden: Die episteme ist bestimmt als sicheres und durch den Verstand unverånderliches Erfassen (katalepsis) 36 , sowie als ein System von Erfaûtem (ek katalepseon) 37 . Der stoische Begriff der Epi-
Zenon und Arkesilaos waren beide Schçler des Polemon; in der Zeit ihres gemeinsamen Studiums scheint der Streit begonnen zu haben (vgl. Eusebius, Praep. Evang. XIV 5,11 sq. und 6, 9±13 (ex Numenio), Huelser 110 und 114), den zuerst Zenons Schçler Ariston, ein unorthodoxer Stoiker, gegen Arkesilaos fortsetzte (DL 7.162±3). Die beiden wichtigsten spåteren Figuren der Debatte sind Karneades auf der Seite der Akademie (214±129 v. Chr.) und Chrysipp auf der Seite der Stoa (ca. 280±206 v. Chr.). 33 DL 7.162. 34 DL 7.1. 35 Stobaeus, Ecl. 2. 7,11m, p. 113., Huelser 89. Vgl. Papyrus Hercul. 1020, Huelser 88. 36 Zu den Definitionen der Episteme vgl. Stobaeus, Ec. 2.73, 16±74, 3 (SVF 3.112) L&S 41H. 37 PH 3.251, M 7.109, M 2.10. Stobaeus, der die zitierte Definition der episteme als sicheres und unverånderliches Erfassen çberliefert, fåhrt fort, sie sei zudem ein System solcher epistemai. Dies ist schwierig zu deuten: Ist Erkenntnis ein System, oder bilden erst mehrere Erkenntnisse ein System, das dann wiederum Erkenntnis genannt wird? M. E. weist die Definition bei Sextus darauf hin, daû ersteres der Fall ist: Erkenntnis soll so bestimmt werden, daû sie nicht in einem einzigen Satz bestehen kann, sondern ein System ist. Dies paût zur Bestimmung der Erkenntnis als Haltung des Weisen (s. u.), die sich 32
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steme wird daher meist durch »Wissenschaft« çbersetzt. 38 Das Erfassen eines wahren Satzes kann in dieser Konzeption nicht als Erkenntnis bezeichnet werden. Erst aus einem ganzen System solcher Såtze entsteht Erkenntnis. Der Besitz der Wissenschaft, den nur der Weise hat, ist charakterisiert durch Stabilitåt und Unverånderlichkeit 39 ; wie die Tugenden ist er eine diathesis, eine Haltung, die kein mehr oder weniger erlaubt. 40 In der stoischen Terminologie ist die diathesis der hexis insofern çberlegen, als hier nicht von Graden gesprochen werden kann. 41 Entweder jemand hat die Haltung der Tugend oder nicht, er kann sie nicht in einem bestimmten Maûe haben; ebenso verhålt es sich mit der Wissenschaft. Aufgrund dieser Haltung sind alle Aussagen des Weisen wahr; sie werden zwar nicht als einzelne Aussagen als Wissenschaft bezeichnet, gehæren jedoch zur Wissenschaft, insofern diese die Haltung des Weisen ist. Schon eine einzige Meinung wçrde das Ideal zerstæren. Wichtig ist, daû dieses Ideal innerhalb der stoischen Philosopie nicht als unerreichbarer Traum erscheint, sondern prinzipiell als einlæsbar gelten konnte. Die stoische Konzeption des Kosmos kennt keinen Gegenstandsbereich, hinsichtlich dessen fçr den Menschen Erkenntnis unmæglich wåre, so daû er sich mit Meinungen oder einem platonischen eikos logos bescheiden mçûte. Der gesamte Kosmos ist prinzipiell erkennbar. Es ist eine wesentliche Voraussetzung der Abwertung der Meinung in der stoischen Philosophie, daû der Doxa kein eigener Objektbereich zugeordnet wird. 42 Der Weise hat deshalb keine Meinungen, weil Meinungen innerhalb der dichotomischen Unterscheidung zwischen Erkenntnis (episteme) nicht auf einen einzelnen erkannten Satz beziehen kann, sondern auf eine Haltung im Bezug auf die Zustimmung allgemein. 38 Die Charakterisierung der Episteme als ein System von erkannten Såtzen ist nicht wirklich neu. Aristoteles bestimmt die Wissenschaft schlechthin (haplos) als das Wissen von geordneten Såtzen. Trotz dieser Bestimmung ist hier jedoch nicht davon die Rede, daû derjenige, der im Besitz der Wissenschaft ist, nicht auch Meinungen haben kænnte. 39 Galen nennt die Wissenschaft eine unverånderliche Haltung (hexis ametaptosis). Galenus, definitiones medicae 7, Vol.XIX p. 350 Kçhn (Huelser F 386). 40 Vgl. Stobaeus, Ecl. 2.73, 16±74, 3 (SVF 3.112) L&S 41H. 41 Das Standardbeispiel fçr eine diathesis ist die Geradheit eines Stockes: auch wenn der Stock verbogen werden kann, so ist er doch gerade; es macht keinen Sinn, etwas gerader oder weniger gerade zu nennen. Vgl. Simplikios, In Ar. Cat. 237.25±238,20 (SVF 2.393) L&S 47S. 42 Vgl. Carlos Lvy (1993), S. 252: »L'univers stoicien, de par la rationalit immanente aux choses, n'a rien en lui qui rende impossible une science parfait«.
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und Unwissenheit (agnoia) in die Kategorie der Unwissenheit fallen. Eine Meinung zu haben, bedeutet unwissend zu sein, und dies ist fçr den Weisen nicht mæglich. 43 Aus der Perspektive der Ethik bedeutet es, einen moralischen Fehler zu begehen. 44 Unwissenheit ist moralisch charakterisiert als das Laster, das im Gegensatz zur Besonnenheit steht. 45 Vermutung, Nicht-Wissen, Zweifel und was dem verwandt ist, ist schlecht (faula). 46 Ein stoischer Lehrsatz sagt: »Der Schlechte (faulos) ist çber alles in Unkenntnis«. 47 Ein Fehler im Denken ist nach der stoischen Theorie ein moralisches Vergehen. 48 Meinungen sind ein Zeichen des Unverstands (afrosune) und eine Quelle von Fehlern (ton hamartematon aition). 49 Beide Komponenten sind hier moralisch zu verstehen. Denn die afrosune ist das Gegenteil der Tugend, und Fehler im Sinne von »hamartema« sind keine Irrtçmer in Fragen des Wissens, sondern bezeichnen schlechtes Verhalten. 50 Der Weise, so berichtet Sextus, wird als gættlich betrachtet, weil er nie eine Meinung hat (doxazein); denn eine Meinung zu haben ist der Gipfel des Unglçcks (akra kakodaimonia) und das Verderben der Narren. 51 Daû der Weise gættlich genannt wird, verweist auf einen wichtigen Punkt. Die Skeptiker hatten in den Stoikern keineswegs Gegner mit einem einfachen Erkenntnisoptimismus, der eine extreme Gegenposition herausgefordert håtte. Ganz im Gegenteil ist es gerade die Konzeption des Weisen, die verbunden mit dem Zusatz, daû die Stoiker keinen Weisen aufzuzeigen vermochten, darauf hinweist, daû die Stoiker selbst Erkenntnis zwar fçr mæglich aber fçr ausgesprochen selten hielten. 52 Stobaeus, Ecl. 2.111, 18.112,8 (SVF 3.548) L&S 41G. Cicero, Acad. 2.59 L&S 69F. 45 Stobaeus, Ecl. 2.68,18±23 (SVF 3.663) L&S 41I. 46 Papyrus Hercul. 1020, Huelser 88. 47 M 7.434. 48 Clemens Alex., Paedag. I 13 § 101, 2.p. 151 St., Huelser 3. 49 M 7.157. Vgl. auch PH 1.233. Sextus referiert, nach Arkesilaos seien Zustimmungen »kaka«, Urteilsenthaltungen »agatha«. 50 Vgl. zu dieser Interpretation Ioppolo (1985, S. 27): »La connotazione primaria di doxa, (¼) quindi morale e non gnoseologica. Infatti l'afrosune annoverata da Zenone tra i mali. In senso stretto cio che gli Stoici e Zenone stesso chiamavano ignoranza, perch il vizio contrario alla fronesis.« 51 M 7.423. 52 M. Frede, Stoics and Sceptics on Clear and Distinct Impressions (1983), in: The Sceptical Tradition, Hg. Myles Burnyeat, Berkeley, Los Angeles, New York, London (1983) 65± 93, S. 86. »The Stoics claim is not that they have attained the knowledge Socrates tried to find, but rather that the knowledge Socrates was after is attainable by human beings. (¼) 43 44
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Sowohl in der Stoa wie in der Akademie wird fçr den Weisen eine Haltung konzipiert, in der er keine Position bezieht. 53 Arkesilaos und Zenon stimmen çberein, daû die stårkste Kraft des Weisen darin bestehe, sich nicht einfangen zu lassen¬, und zuzusehen, daû er nicht getåuscht wird. 54 Wåhrend der akademische Weise sich generell des Urteils enthålt, verweigert der stoische Weise in genau spezifizierten Fållen seine Zustimmung. In beiden Konzeptionen wird vor der propeteia gewarnt, der Voreiligkeit in der Zustimmung. 55 Durch voreilige Zustimmungen entstehen Meinungen. Eine der spezifischen Tugenden, die in der Tugend der Dialektik nach den Stoikern enthalten sind, ist die Freiheit von Voreiligkeit (aproptosian). Sie ist definiert als das Wissen, wann man zustimmen mçsse und wann nicht. 56 In Verbindung mit dem Begriff der Voreiligkeit verwendet Sextus den Begriff des Dçnkels (oiesis). 57 Der Begriff verweist auf das sokratische Ideal, kein Wissen in Anspruch zu nehmen, çber welches man nicht tatsåchlich verfçgt, das in der akademischen und der stoischen Philosophie wirksam war. 58 Diese Andeutungen geben einen Eindruck von der Art der Abwertung von Meinungen, mit der die Skeptiker auf der Seite der Dogmatiker rechnen dçrfen. Meinungen sind der Erkenntnis nicht nur im Hinblick auf Begrçndung und Kriterium unterlegen, sondern haben zudem keinen eigenen Bereich, dem sie zugeordnet sind. So fallen sie in eins mit der Unwissenheit, und diese korrumpiert Personen. Dieser Gedankengang ist es, der die Urteilsenthaltung attraktiver macht als die Meinung.
Genauer hierzu unter 1.1.5. Cicero, Acad. pr. 20,66, Huelser 94. 55 Sowohl Zenon wie Arkesilaos gebrauchen diesen Begriff. Vgl. Cic. Luc.66; Cic. Varro 42. Fçr Sextus ist die Voreiligkeit ein Merkmal dogmatischer Zustimmungen (vgl. PH 1.20, 277, 205, 212, 237; 2.17, 37; 3.79). 56 DL 7.46. 57 PH 3.281, vgl. DL .23. 58 An anderer Stelle bezeichnet das Adjektiv »eitel« (tufon) dieses Verhalten (PH 1.224). 53 54
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1.1.5. Die Epoche Der Verzicht auf Dogmata ist nur eine Beschreibung der skeptischen Einstellung. Eine zweite Beschreibung sagt, daû der Skeptiker sich des Urteils enthålt. So erscheint es mæglich, daû sich aus der Klårung des Begriffs der Urteilsenthaltung Hinweise fçr das Verståndnis des Verzichts auf Dogmata ergeben. Wird der griechische Terminus epoche durch »Urteilsenthaltung« çbersetzt, so wird er bereits interpretiert. Denn wærtlich çbersetzt heiût epoche nur Zurçckhaltung, Enthaltung. Wenn die Pyrrhoneer ihren Verzicht auf Meinungen mit der Urteilsenthaltung gleichsetzen, so çbernehmen sie einen Begriff aus der akademisch-stoischen Diskussion. In der Interpretation der akademischen Skepsis hat sich eine Kontroverse çber die Herkunft des Begriffs der Epoche entwickelt. Auf der einen Seite steht die Ansicht, Arkesilaos' Rede von der Urteilsenthaltung sei relativ auf die stoische Analyse des Urteils. Die These von der Abhångigkeit des akademischen Begriffs der Epoche von Zenons Erkenntnistheorie gibt zwar zu, daû das Wort »epoche« durch Arkesilaos zu einem Terminus technicus geworden ist. Das Konzept allerdings sei nicht ihm zuzuschreiben, sondern aus der Stoa çbernommen. 59 Diese Interpretation werde ich als »dialektische Interpretation« 60 bezeichnen. Die gegenteilige These vertritt Ioppolo. 61 Die Epoche ist ihrer Ansicht nach eine originåre Konzeption des Arkesilaos. Im folgenden sollen die wichtigsten Aspekte der stoischen Urteilsanalyse vorgestellt werden. Auf dieser Basis werde ich versuchen, die beiden kontråren Positionen zu beurteilen. In einem zweiten Schritt werden dann die pyrrhonischen Beschreibungen der Urteilsenthaltung daraufhin untersucht, ob sie fçr das Verståndnis des Verzichts auf Dogmata entscheidende Hinweise geben. Da ich mit Bezug auf den Begriff der Urteilsenthaltung die dialektische Interpretation vertreten werden, und somit die stoische Theorie auch fçr die Pyrrhoneer, die den Begriff der Epoche von den AkademiDer maûgebliche Aufsatz fçr diese Interpretation stammt von P. Couissin, Le Stoicisme de la nouvelle Acadmie, Revue d'histoire de la Philosophie 3 (1929), 241±276. Ûbersetzt und nachgedruckt in: The Sceptical Tradition, Hg. Myles Burnyeat (1983) 31±63. Dieser Ansicht schlieûen sich Long und Sedley an (L&S Vol. 1, S. 258). 60 Vgl. Ioppolo (1985), die die beschriebene Interpretation als »dialektische Interpretation« oder »Abhångigkeitsthese« beschreibt. 61 Ioppolo (1985) S. 57 ff.; Julia Annas stimmt Ioppolo in ihrer Rezension zu: The Heirs of Socrates, Phronesis 33 (1988), 100±112, S. 106. 59
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kern çbernehmen, von groûer Bedeutung ist, wird die folgende Darstellung und Interpretation der stoischen Urteilsanalyse ± auch wenn sie viele Probleme nicht anspricht oder offenlåût ± relativ ausfçhrlich sein. Die Elemente der stoischen Urteilsanalyse sind (a) der Eindruck (fantasia), und (b) die Zustimmung (sunkatathesis) zu einem Eindruck. Ein Urteil wird gefållt, indem einem Eindruck zugestimmt wird. Die unterschiedlichen Arten des Urteils bzw. der Zustimmung (c) ergeben sich daraus, daû Eindrçcken verschiedener Art auf verschiedene Weise zugestimmt werden kann. Der Begriff der Urteilsanalyse wird im folgenden fçr den Teil der stoischen Erkenntnistheorie verwendet, in dem analysiert wird, wie die Seele zu den Eindrçcken, die von auûen auf sie einwirken, Stellung nimmt. Der Begriff des Urteils ist kein stoischer Terminus technicus. Eigentlich mçûte von einer Zustimmungsenthaltung¬ und einer Analyse der Zustimmung die Rede sein. Von der Urteilsenthaltung bzw. der Urteilsanalyse kann jedoch in dem Sinne gesprochen werden, als die Stoiker die Tåtigkeit des Stellungnehmens zu Eindrçcken als urteilen (krinein) beschreiben. In einem Bericht bei Origines heiût es, rationale Lebewesen håtten zusåtzlich zu ihrer »Eindrucksnatur« (fantastike fusei) Vernunft (logos), die Urteile çber die Eindrçcke fållt (krinonta tas fantasias), indem sie die einen verwirft und die anderen akzeptiert. 62 Øhnlich heiût es in einem Bericht çber Chrysipps Theorie von der Seele, daû die Sinne wie Zweige aus dem leitenden Seelenteil, der wie ein Stamm vorgestellt werden kann, hinausreichen, und ihm die Sinneseindrçcke berichten; der leitende Seelenteil urteilt (iudicat) »wie ein Kænig« çber die Berichte. 63 Daû die Zustimmung als ein Urteilen betrachtet wird, zeigt auch folgender Bericht bei Sextus: Das Erfassen ist nun, wie man bei ihnen hæren kann, die Zustimmung zu einem erfassenden Eindruck, und dieser scheint eine zweiteilige Sache zu sein, nåmlich einerseits etwas Unfreiwilliges zu enthalten und andererseits etwas, was freiwillig ist und im Bereich unseres Urteils (krisei) liegt. (M 8.397)
(a) Die Definition des Eindrucks (fantasia) ist innerhalb der Stoa strittig. Die åltere Bestimmung nennt die fantasia einen Eindruck in der 62 63
Origines, Princ. 3.1.2±3 (SVF 2.988) L&S 53A. Calcidius 220 (SVF 2.879) L&S 53.
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Seele (tuposis en psuche). 64 Chrysipp problematisiert diese Definition. Sie fçhrt in Schwierigkeiten, wenn Erinnerung oder Kunst (techne) erklårt werden sollen, ± nur der jeweils jçngste Eindruck scheint als eingeprågter Eindruck verfçgbar zu sein. 65 Chrysipps Definition soll diese Schwåchen der ålteren Bestimmung auflæsen: Ein Eindruck ist eine Verånderung des Verstandes (heteroiosis tes dianoias). 66 Wichtig an den Diskussionen um einen adåquaten Begriff des Eindrucks ist, daû er so verstanden werden muû, daû gleichzeitig mehrere Eindrçcke in der Seele sein kænnen. 67 Sextus berichtet einen stoischen Vergleich, der dies trotz der Vorstellung von der Seele als kærperliches pneuma, das durch die Eindrçcke modifiziert wird, erklåren soll: »denn wie die Luft, wenn viele Leute zugleich reden, unzåhlig viele Erschçtterungen in eins erfåhrt und dabei sofort auch die Verånderungen in groûer Zahl festhålt, so wird auch das Zentralorgan etwas Analoges erfahren, wenn es vielgestaltige Eindrçcke hat.« 68 Aus diesen Bestimmungen geht ein Punkt hervor, der in den Definitionen nicht explizit erwåhnt wird: Als Abdrçcke oder Verånderungen in der als kærperlich bestimmten Seele sind Eindrçcke kærperlich. 69 Dies wird auch in einer anderen Definition, die fçr Chrysipp çberliefert wird, deutlich. Chrysipp bestimmt hier die fantasia als Affektion (pathos) der Seele, die sich selbst zeigt (endeiknumenon) und das, was sie hervorruft (pepoiekos). 70 Der Terminus technicus fçr dieses Objekt ist »fantaston«. Um trotz dieser Bestimmung des Eindrucks Phantasie und Trugbilder erklåren zu kænnen, fçhrt Chrysipp zwei weitere Be-
M 7.372. M 7.373. Jede Kunst bedarf eines ganzen Systems von Eindrçcken. 66 M 7.376. Vgl. DL 7.50. Sextus diskutiert die Schwierigkeiten der Bestimmung des fantasia-Begriffs in M 7. 227±241 und 372±276. 67 M 7.229. 68 M 7.231. Ûbersetzung groûteils nach Huelser. 69 Vgl. A.-M. Ioppolo, Presentation and Assent. A Physical and Cognitive Problem in Early Stoicism, in: Classical Quarterly 40 (ii) (1990), 433±449. 70 Aetius 4.12.1±5 (SVF 2.54) L&S 39B. Diese Definition scheint der Bestimmung des kataleptischen Eindrucks sehr nahe zu sein, der dem Empfånger unmiûverståndlich garantiert, daû er das, wovon er ein Eindruck ist, klar und deutlich zeigt, und nicht von etwas ausgehen kænnte, das es nicht gibt (vgl. DL 7.46, 7.54, M 7.248). Damit, daû ein Eindruck das zeigt, wovon er ausgeht, ist jedoch noch nicht gesagt, daû er dies klar und deutlich zeigt, noch daû er dies dem Empfånger unmiûverståndlich macht. So unterscheidet sich die allgemeine Bestimmung des Eindrucks von der des kataleptischen Eindrucks maûgeblich. Vgl. den Kommentar von Long und Sedley, L&S Vol. 1, S. 239. 64 65
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griffe ein: fantastikon (Phantasie) und fantasma (Trugbild). Ihnen entspricht kein fantaston. 71 Die Relation zu dem fantaston, das den Eindruck hervorruft, wird illustriert: »Das Wort Eindruck¬ (fantasia) leitet sich ab von Licht¬ (fos); so wie das Licht sich selbst zeigt und das andere, was in seinem Feld liegt, so zeigt der Eindruck sich selbst und das, was ihn hervorruft.« 72 Der Vergleich zeigt etwas an, was fçr die Abgrenzung zu neuzeitlichen empiristischen Theorien çber Sinnesdaten entscheidend ist. Die stoische Theorie geht nicht davon aus, daû sich im Verstand nur der Eindruck zeigt, sondern gemeinsam mit dem Eindruck zeigt sich sein Objekt. Fantasiai sollen nicht als mentale Bilder von Gegenstånden der Auûenwelt vorgestellt werden, deren Verbindung zu diesen Gegenstånden unklar ist. 73 Freilich ist der Vergleich mit dem Licht reichlich metaphorisch. Auch wenn gesehen wird, daû er deutlich machen soll, inwiefern der Empfånger mit den Eindrçcken nicht Sinnesdaten¬ wahrnimmt sondern reale Gegenstånde der Wahrnehmung, erklårt er doch nicht, wodurch diese Wahrnehmung dessen, was ist, gewåhrleistet sein soll. Der Ansatzpunkt fçr den Kritiker, nachzufragen, ob die Relation zwischen den Eindrçcken und den ihnen zugrundeliegenden Gegenstånden derart ist, daû wir wissen kænnen, wie diese Gegenstånde beschaffen sind, ist in jedem Fall gegeben. Diogenes Laertius çberliefert die Unterscheidungen zwischen sinnlichen (aisthetikai) und nicht-sinnlichen, rationalen (logikai) und irrationalen, fachmånnischen (technikai) und unfachmånnischen Eindrçcken. Die sinnlichen Eindrçcke werden durch die Sinnesorgane aufgenommen, die nicht-sinnlichen durch den Verstand. Menschen haben durchweg rationale Eindrçcke, da sie rationale Wesen sind, Tiere haben irrationale Eindrçcke. Eine Statue wird von einem Bildhauer anders, nåmlich fachmånnisch, wahrgenommen als von einem Laien. 74 Die Bezeichnung aller menschlichen Eindrçcke als rational ist sehr wichtig. Wenn in den çberlieferten Definitionen nicht explizit das Gegenteil behauptet wird, kann davon ausgegangen werden, daû unter Aetius 4.12.1±5 (SVF 2.54) L&S 39B. Aetius 4.12.1±5 (SVF 2.54) L&S 39B. 73 Vgl. zu dieser Interpretation den Kommentar von Long und Sedley, L&S Vol. 1, S. 239. C. Lvy (1993, S. 273) weist darauf hin, daû die »monde lumineux« der Stoiker auch in der Metaphorik in einem Gegensatz zur Welt der Finsternis¬ bei Arkesilaos steht. 74 DL 7.51. 71 72
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einer »fantasia« immer eine »fantasia logike« zu verstehen ist. 75 Rationale Eindrçcke werden mit Gedanken (noeseis) gleichgesetzt. 76 Einem rationalen Eindruck entspricht ein lekton (Bedeutung 77 ). »Das Lekton ist das, was sich in Entsprechung zu (kata) einem rationalen Eindruck bildet; und ein rationaler Eindruck ist derjenige, demzufolge es mæglich ist, das Eingedrçckte¬ (to fantasthen) durch Sprache (logo) zu pråsentieren.« 78 Vom Lekton muû der Laut (fone) unterschieden werden. 79 Der Laut wird durch die Stimme hervorgebracht (proferesthai) 80 , »gesagt (legetai) werden aber die Dinge (ta pragmata), und sie sind eigentlich die Lekta«. 81 Der Laut ist kærperlich; das Lekton dagegen ist unkærperlich. Somit werden zwei kærperliche Entitåten, der rationale Eindruck und der Laut, und eine unkærperliche Entitåt, das Lekton, angenommen. 82 Wichtig ist weiter die Unterscheidung zwischen unvollståndigen und vollståndigen Lekta. 83 Unvollståndige Lekta sind die, »deren sprachlicher Ausdruck (ekforan) nicht vollendet ist, wie zum Beispiel schreibt¬«. Bei vollståndigen Lekta dagegen ist der sprachliche Ausdruck vollendet; Beispiel ist »Sokrates schreibt«. Unter die unvollståndigen Lekta fallen die Prådikate, unter die vollståndigen die Axiomata, Syllogismen und zwei Arten der Frage. 84 An diesem Bericht fållt auf, daû in den Definitionen der vollståndigen und unvollståndigen Lekta die Unterscheidung zwischen dem Lekton und seinem sprachlichen Ausdruck berçcksichtigt wird. In den Ausfçhrungen dazu, was unter die vollståndigen und unvollståndigen Lekta fållt, wird die Unterscheidung dagegen vernachlåssigt; es werden Vgl. Jean-Louis Labarr rre, De la nature phantastique¬ des animaux chez les Stoiciens, in: Passions and Perceptions. Studies in Hellenistic Philosophy of Mind, Hg. J. Brunschwig und M. Nussbaum, Cambridge 1993, S. 225±249, S. 233. 76 DL 7.51. Vgl. [Galen], Definitiones medicae 126, Vol XIX p. 381 Kçhn. Zu der Frage, ob unter Gedanken hier nicht-kærperliche sprachliche Entitåten oder kærperliche Prozesse in der Seele verstanden werden, vgl. Ioppolo (1990), S. 444±447. 77 Dies soll als eine vage Ûbersetzung dienen. Auf die Diskussion um den schwierigen Begriff des lekton kann hier nicht eingegangen werden. 78 M 8.70. 79 M 8.11±2. 80 DL 7.57 (SVF 3 Diogenes 20, teils) L&S 33A. 81 DL 7.57. 82 M 8.69. 83 DL 7.63. 84 Im Text (DL 7.63) werden zwei Arten der Frage unterschieden, deren Definitionen (7.66) hier nicht von Belang sind. 75
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nur die sprachlichen Entsprechungen aufgefçhrt. Besonders deutlich wird dies daran, daû als vollståndige Lekta zwei verschiedene Typen der Frage genannt werden, die beide an anderer Stelle unter den Redeformen aufgefçhrt werden. 85 Hieraus ergibt sich fçr den Begriff des Axiomas eine Schwierigkeit, die kurz erwåhnt werden soll, weil sie fçr die Interpretation mehrerer Texte relevant ist. Das Axioma ist definiert als das, was wahr oder falsch ist »oder eine vollståndige Sache (pragma), die behauptet werden kann, soweit dies an ihr liegt«. 86 Diese Definition weist darauf hin, daû das Axioma ein vollståndiges Lekton ist, und nicht die sprachliche Entsprechung zu einem vollståndigen Lekton. Axiomata werden jedoch eindeutig als sprachlich behandelt, wenn es um die Unterscheidung verschiedener Arten von Axiomata geht. So wird z. B. die Bestreitung, ein elementares Axioma, als eine Aussage beschrieben, die aus einer verneinenden Partikel und einem Prådikat besteht. 87 Es scheint also, daû der Begriff in beiden Bedeutungen verwendet wurde. Hierauf verweist auch die Unterscheidung der Redeformen. Dort heiût es zunåchst, ein Axioma sei das, was behauptet und bestritten werden kænne ± es ist also vom Axioma im Sinne eines Lekton die Rede. Dann wird das Axioma von Frage, Befehl, Wunsch etc. unterschieden, woraus deutlich wird, daû der Begriff wie die anderen Begriffe hier eine Form der Rede bezeichnen soll. 88 Die Texte, in denen von Axiomata in dieser Weise die Rede ist, kænnen mæglicherweise als Verkçrzungen verstanden werden. Es muû jedoch festgehalten werden, daû »axioma« nicht einheitlich verwendet wird. Eine andere wichtige Klassifizierung unterscheidet zwischen glaubhaften bzw. çberzeugenden (pithanai) und unglaubhaften bzw. nicht çberzeugenden Eindrçcken. Glaubhaft sind die Eindrçcke, die eine sanfte Bewegung in der Seele hervorrufen. Wenn z. B. gerade Tag ist, verursacht der Eindruck »es ist Tag« eine solche Bewegung. Unglaubhafte Eindrçcke bewirken eine Abneigung gegen die Zustimmung. Ein
DL 7.65±6. Auf die Schwierigkeiten dieser Definition kann hier nicht eingegangen werden. Ich verweise auf Susanne Bobzien, Die stoische Modallogik, Wçrzburg 1986, S. 12. 87 DL 7.69. 88 DL 7.65±6. 85 86
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Beispiel ist der Eindruck, der durch »Wenn es Tag ist, steht die Sonne nicht çber der Erde« sprachlich ausgedrçckt werden kann. 89 Weiter werden wahre und falsche Eindrçcke unterschieden 90 , was eine verkçrzte Redeweise ist, da die Wahrheitsprådikate nicht direkt auf Eindrçcke anwendbar sind, sondern auf ihre sprachlichen Korrelate. 91 Wahr sind die Eindrçcke, die in einer wahren Aussage (axioma) dargestellt werden kænnen, falsch die, denen eine falsche Aussage entspricht. 92 Die letzte wichtige Bestimmung unterscheidet zwischen erfassenden (kataleptikai) und nicht-erfassenden Eindrçcken. 93 Der erfassende Eindruck ist das stoische Wahrheitskriterium. 94 Definiert ist er als Eindruck, der von einem zugrundeliegenden Objekt ausgeht und der Seele Weiter gibt es Eindrçcke, die zugleich glaubhaft und unglaubhaft, sowie Eindrçcke, die weder glaubhaft noch unglaubhaft sind (M 7.242) 90 Die Einteilung »wahr/ falsch« unterteilt nach dem Text die glaubwçrdigen und die unglaubwçrdigen Eindrçcke. Bury, v.Arnim und Mutschmann machen eine Konjektur, die »unglaubhafte« streicht. Long und Sedley belassen den Text, merken jedoch an, es handele sich um eine irrefçhrende Ergånzung durch Sextus oder einen anderen Ûberlieferer. L&S Vol. 1, S. 239. 91 M 7.244. Dies stellt A.-M. Ioppolo (1990) in Frage. Ihre These ist, daû nach Zenon der Eindruck selbst wahr genannt wird, insofern er den Gegenstand wirklichkeitsgetreu abbildet. Sextus çberliefere den Einwand des Arkesilaos, die Zustimmung beziehe sich nicht auf den Eindruck sondern auf ein Axioma (M 7.154), der wohl zu einer Verånderung der Theorie in diese Richtung gefçhrt habe. M. E. ist dies zweifelhaft, da nicht klar ist, ob Arkesilaos nicht vielmehr versucht, mit stoischen Annahmen gegen den Stoiker zu argumentieren. Mæglicherweise hat Zenon die Wahrheitsprådikate auch auf Eindrçcke selbst angewendet. Die Frage der Entwicklung der stoischen Theorie kann hier nicht gestellt werden. Entscheidend ist, daû die Quellen zur Logik und Semantik eindeutig belegen, daû die Wahrheitsprådikate sich nach der Standardtheorie auf Axiomata beziehen. 92 Vgl. M 7.241±248. Die Stoiker unterscheiden zwischen wahren, falschen, weder wahren noch falschen und sowohl wahren wie falschen Eindrçcken. Auf die beiden letzten Mæglichkeiten muû hier nicht eingegangen werden. 93 DL 7.46. Im folgenden wird von der Ûbersetzung »erfassender Eindruck« ausgegangen. In der Literatur wird diskutiert, ob »kataleptike« aktive oder passive Bedeutung hat, die Ûbersetzung also »erfassender Eindruck« oder »Eindruck, der erfaût werden kann« lauten muû. Cicero çbersetzt »comprehendibile«. Vgl. F. H. Sandbach, Phantasia Kataleptike, in: Problems of Stoicism, Hg. A. A. Long, London (1971), 9±21. S. 10; Woldemar Gærler, Asthenes sunkatathesis. Zur stoischen Erkenntnistheorie, Wçrzburger Jahrbçcher fçr die Altertumswissenschaft. Neue Folge Bd. 3 (1977), 83±92, S. 91±2. Gærler argumentiert fçr eine Doppeldeutigkeit, die von den Stoikern bewuût eingesetzt wird. Dies scheint mir gut mæglich. Im Vordergrund steht m. E. jedoch die aktive Bedeutung, d. h. der Aspekt, daû der erfassende Eindruck den zugrundeliegenden Gegenstand erfaût. 94 DL 7.54; 46. Vgl. M 7.257. Eine spåtere Ergånzung lautet »soweit es an ihm liegt«; sie berçcksichtigt den Fall, daû ein erfassender Eindruck aufgrund der åuûeren Umstånde unglaubwçrdig ist (M 7.253). 89
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in exakter Ûbereinstimmung mit dem, was zugrundeliegt, eingeprågt ist 95 ; er kann nicht von etwas, das nicht ist, ausgehen. 96 Der nicht-kataleptische Eindruck dagegen kann entweder von etwas ausgehen, was nicht ist 97 , oder von dem, was ist, aber nicht mit ihm çbereinstimmt; er ist ± im Gegensatz zum kataleptischen Eindruck ± nicht klar (trane) und deutlich (ektupon). 98 Der kataleptische Eindruck weist sich selbst als solcher aus. 99 Der erfassende Eindruck stand im Zentrum der Auseinandersetzung zwischen akademischen Skeptikern und Stoikern. 100 Die Akademiker stellen den Begriff mit Argumenten in Frage, die mit fiktiven Situationen arbeiten, in denen selbst der stoische Weise nicht wissen kænne, ob er einen erfassenden Eindruck hat. 101 Auf diese Diskussion, die zu Modifikationen von Seiten der Stoiker fçhrte und sowohl wahrnehmungstheoretische wie ontologische Themen involviert (v. a. die These, es gebe keine zwei Dinge, die miteinander identisch sind 102 ), braucht hier nicht eingegangen zu werden. Obwohl Sextus den Begriff des erfassenden Eindrucks kritisiert, spielt dieser fçr den Pyrrhonismus keine derart zentrale Rolle. Die pyrrhonische Kritik des Kriteriums ist prinzipieller als eine bloûe Kritik am stoischen Begriff des erfassenden Eindrucks es ist. Zu betonen ist, daû die Stoiker den Eindruck als pathos in der Seele bestimmen. 103 »Und zwar ist der Eindruck ein pathos, das in der Seele entsteht und sowohl auf sich selbst als auch auf das hinweist, das es bewirkt hat. Wenn wir zum Beispiel etwas Weiûes sehen, dann geschieht etwas, was zu einer Verånderung der Seele dessen taugt, der Cic. Luc. 77 (SVF 1.59) (»ex eo quod esset sicut esset impressum et signatum et effictum«). 96 M 7.248; 402. DL 7.46. 97 Die Schwierigkeit, daû diese Alternative mit der Festlegung, jedem Eindruck liege ein Gegenstand zugrunde, konfligiert, kann hier nur aufgezeigt werden. 98 DL 7.46. Long und Sedley weisen darauf hin, daû der Vergleich mit dem Licht, das sich selbst und das Feld, welches es erleuchtet, zeigt, hier weiterhin eine gute Analogie abgibt: Das Licht erhellt manches stårker, macht es deutlicher und klarer, als anderes. L&S Vol. 1, S. 239. Vgl. auch Alexander Aphr., de anima p. 71, 10±13, der die kataleptischen Eindrçcke als prågnant (sfodras), die nicht-kataleptischen dagegen als undeutlich (amudras) bezeichnet (Huelser 332). 99 Cic.. Acad. 1.40±1 (SVF 1.55, 61.60) L&S 40B. 100 Vgl. F. Ricken (1994), S. 34±47. 101 Vgl. etwa Cic. Acad. 2.83±5 L&S 40J und das Granatapfel-Beispiel, das in 1.2.3. vorgestellt wurde. 102 Cic. Acad. 2.83±5 L&S 40J. 103 Vgl. Aetius, Placita IV 12= [Plutarch], De plac. philos. 900D-901A. 95
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affiziert worden ist.« 104 Als Affektion ist der Eindruck ein bloûes Erleiden der Seele bzw. eine Bewegung in ihr (vgl. die referierten Bestimmungen des Glaubhaften und des unglaubhaften Eindrucks). Der erfassende Eindruck »packt uns beinahe bei den Haaren, indem er uns zur Zustimmung drångt.« 105 (b) Zenons berçhmter Vergleich zeigt die Abfolge von Eindruck und Zustimmung: Die offene Handflåche mit ausgestreckten Fingern symbolisiert den Eindruck; werden die Finger etwas zusammengezogen, so stellt dies die Zustimmung (sunkatathesis) dar; formt die Hand eine Faust, entspricht dies dem Erfassen (katalepsis); schlieûlich legt sich die zweite Hand fest um die Faust, ± die Wissenschaft (episteme). 106 Eindruck und Zustimmung erscheinen beide als kærperliche Prozesse in der Seele: Die Seele wird vom Eindruck auf eine bestimmte Weise bewegt und nimmt eine bestimmte Form an (»die Finger ziehen sich zusammen«), wenn sie zustimmt. Wird sie auf die Weise bewegt, wie das bei einem kataleptischen Eindruck der Fall ist, so verformt sie sich stårker, sie »umfaût« den Eindruck wie eine »Faust«. Ist es schlieûlich die Seele eines Weisen, die von einem kataleptischen Eindruck bewegt wird, so umfaût die Seele den Eindruck gewissermaûen noch fester ± die linke Hand umschlieût die rechte Faust. Der Eindruck çbt eine kærperliche Wirkung auf die Seele aus. Trotzdem ist die Zustimmung »in unserer Macht«. Cicero berichtet Chrysipps Erlåuterung 107 : Zu unterscheiden sind prinzipielle Ursachen und Hilfs- bzw. Nebenursachen. Wer einen Zylinder zum Rollen bringt, agiert als Nebenursache. Wåre der Zylinder jedoch nicht rund ± was die prinzipielle Ursache ist ± , so kænnte er ihn nicht zum Rollen bringen. Ebenso verhalte es sich mit Eindruck und Zustimmung. Der Eindruck wirke in der Weise einer Nebenursache von auûen; ohne ihn kann keine Zustimmung erfolgen. Die Zustimmung aber liegt in unserer Macht. Der referierte Text bezieht sich auf die Rolle der Zustimmungen fçr Handlungen (vgl. Kapitel 3). In diesem Zusammenhang [Galen], Hist. philos. 93, p. 636, 8±18 Diels (Huelser 269). M 7.257. 106 Cic. Acad. 2.145 (SVF 1.66) L&S 41A. ± In diesem grundlegenden erkenntnistheoretischen Gleichnis wird deutlich, daû die Doxa in der stoischen Erkenntnistheorie keinen Platz als eine positiv bestimmte Fåhigkeit hat, sondern nur als Fehler innerhalb einer anderen Fåhigkeit, dem Erkennen, bestimmt ist. Vgl. C. Lvy (1993) S. 253 zur Doxa bei Zenon: »il l'a r duite n'tre qu'un processus de dysfonctionnement d'un syst me concu pour tre parfait«. 107 Cicero, De Fato 39±42 (SVF 2.974). 104 105
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ist die Bestimmung der Zustimmung als in unserer Macht relevant fçr die Zuschreibung von Verantwortung. 108 Daû die Zustimmungen nach der stoischen Theorie »ef' hemin« sind (bei uns liegen¬) ist jedoch nicht nur im Kontext der Handlungstheorie belegt, es handelt sich vielmehr um eine grundlegende Bestimmung der Zustimmung. 109 Mit Bezug auf den kataleptischen Eindruck ergibt sich folgende Schwierigkeit: einerseits wird die Bestimmung der Zustimmung als in unserer Macht nirgends eingeschrånkt, andererseits heiût es vom kataleptischen Eindruck, er bewege zur Zustimmung. Diese Schwierigkeit wird in den çberlieferten Quellen nicht reflektiert; es wird nirgends explizit gesagt, daû man einem kataleptischen Eindruck auch nicht zustimmen kann. Sextus berichtet, die Stoiker wçrden sagen, ein kataleptischer Eindruck fasse uns beinahe bei den Haaren und ziehe uns zur Zustimmung. 110 Ein åhnlicher Bericht findet sich bei Cicero. Wie eine Waage nachgeben mçsse, wenn ein Gewicht auf die Waagschale gelegt wird, so mçsse die Seele dem nachgeben, was evident ist. 111 Trotz dieser Bestimmung des kataleptischen Eindrucks wird die Charakterisierung des Zustimmung als ef' hemin nicht eingeschrånkt. (c) Indem man dem Axioma (im Sinne von Lekton) zustimmt, das einem Eindruck entspricht, fållt man ein Urteil. Alle Urteile ordnen sich der strengen Dichotomie von Unwissenheit und Wissenschaft unter: Zenon nannte alles, was kein wissenschaftliches Wissen ist, Unwissenheit; Meinungen fallen in den Bereich der Unwissenheit. 112 Sextus berichtet eine dreigliedrige Unterscheidung zwischen Wissenschaft (episteme), Meinung (doxa) und Erfassen (katalepsis 113 ). 114 Erfassen wird bestimmt als Zustimmung zu einem erfassenden Eindruck. 115 Wissenschaftlich ist ein Erfassen, das sich dadurch aus-
108 Vgl. Gellius, Noctes Atticae XIX 1,4.14±21 (Huelser 366); Cic. De fato 17, 39±19,44 (Huelser 367), M 8.397. 109 Vgl. Clemens Alex., Stromat. II 12 § 54,5±55,1, p. 142 Fr., Huelser 365. 110 M 7.253. Es geht um den kataleptischen Eindruck, bei dem kein åuûeres Hindernis vorliegt. Auf diese Differenzierung muû hier nicht eingegangen werden. 111 Cic. Acad. 2.38; L&S 40O. 112 Cic. Acad. 1.41±2, L&S 41B (SVF 1.160). 113 Der Begriff der Katalepsis wird in der Literatur z. T. mit »Erkenntnis« wiedergegeben, was irrefçhrend ist, wie die zitierte Distinktion zeigt. 114 M 7.151 ff. 115 M 7.151.
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zeichnet, sicher, fest und unverånderlich zu sein. 116 Unwissenheit dagegen ist bestimmt als schwache und verånderliche Zustimmung. 117 Fçr den Begriff der Meinung sind verschiedene Definitionen çberliefert. Meinung wird bestimmt als schwache Zustimmung oder Annahme 118, und als Zustimmung zu einem nicht-kataleptischen Eindruck 119 . Die beiden Definitionen unterscheiden sich darin, daû die Defizienz der Meinung gegençber der Wissenschaft einmal an der Bestimmung des Eindrucks, das andere mal an der Weise der Zustimmung festgemacht wird. Wie kann die Distinktion zwischen Wissenschaft, Meinung und Erfassen auf die Dichotomie von Wissenschaft und Unwissenheit bezogen werden ? Die Stoiker »erklåren, daû von diesen drei die Wissenschaft allein in den Weisen und die Meinung allein in den Dummkæpfen sei, daû dagegen das Erfassen beiden gemeinsam sei«. 120 Hier wird auch dem Dummkopf, der unwissend ist, Erfassen zugesprochen. Es wird derart zwischen zwei Arten der Katalepsis unterschieden, daû eine Art des Erfassens den Status der Meinung hat und so unter die Unwissenheit fållt (einem kataleptischen Eindruck wird schwach zugestimmt), die andere den Status der Wissenschaft. 121 Wie trågt diese Einteilung aber den nicht-erfassenden Eindrçcken Rechnung? Der Weise stimmt nicht-erfassenden Eindrçcken nicht zu. Der Dummkopf dagegen wohl. Er hat zwei Arten der Meinung: Teilweise stimmt er nicht-kataleptischen Eindrçcken zu, andernteils kataleptischen, tut dies aber auf eine schwache Weise. In keinem Fall stimmt er so zu, daû sein Urteil als wissenschaftlich gelten kann. Der Weise dagegen ist im Besitz der Wissenschaft, hat keine Meinungen,
M 7.151 ff., Vgl. Arius Didymus ap. Stobaeus, ecl. 2.73.19±74.3, SVF 1.68; L&S 41H. Stob. 2. 111,18 (SVF 3.548). 118 M 7.151 ff. referiert die Definition der Meinung als schwache und falsche Zustimmung. In der entsprechenden Definition bei Stobaeus (SVF 3.548) findet sich statt »Zustimmung« das griechische Wort »hupolepsis«. Wachsmuth ersetzte das Wort durch »sunkatathesis«, was von v. Arnim çbernommen wurde. Eine Kritik der Konjektur findet sich bei C. Lvy (1993) S. 254. Die Diskussion, inwiefern die Stoiker die Meinung als schwache Zustimmung oder schwache Annahme bestimmt haben, kann hier nicht aufgenommen werden. 119 Plutarch, St.rep. 47, 1056 F (SVF 2.993). 120 M 7.152. 121 Dieser Unterordnung liegt die erste Definition der Meinung (als schwache Zustimmung zu einem erfassenden Eindruck) zugrunde. Zu den Schwierigkeiten der unterschiedlichen Bestimmugen der Meinung vgl. auch Long und Sedley , Vol. 1, S. 257±8. 116 117
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und hat die Art von Erfassen (katalepsis), die sich als Wissenschaft qualifizieren kann; er stimmt immer fest und unverånderlich zu. Ein weiterer wichtiger Punkt fçr das Verståndnis der Zustimmung des Weisen liegt im Verhåltnis der beiden Distinktionen von Eindrçkken als auf der einen Seite wahr oder falsch, auf der anderen Seite kataleptisch oder nicht-kataleptisch. Wahr und falsch sind Eindrçcke insofern, als die Axiomata, die ihnen entsprechen, wahr bzw. falsch sind. Die Pointe der Charakterisierung des kataleptischen Eindrucks liegt dagegen nicht darin, daû er wahr ist, sondern darin, daû er sich selbst als solcher ausweist. 122 Ein kataleptischer Eindruck ist per definitionem wahr und als wahr erkannt; er ist jedoch nicht dadurch kataleptisch, daû er wahr ist. Ein wahrer Eindruck ist nicht immer ein kataleptischer Eindruck. Die Unterscheidungen wahr/ falsch, kataleptisch/ nicht-kataleptisch sind so gegeneinander verschoben, daû sie die Eindrçcke in drei Gruppen gliedern. Da der Weise nicht von allem Wahren einen kataleptischen Eindruck hat, gibt er seine Zustimmung nicht zu allen wahren Eindrçcken, sondern nur zu allen wahren und zugleich kataleptischen Eindrçcken (1). Die beiden anderen Klassen sind (2) wahre und nichtkataleptische und (3) falsche und nicht-kataleptische Eindrçcke. Auf der Basis dieser Ausfçhrungen zur stoischen Erkenntnistheorie kann die Frage, wie der Begriff der Epoche zu verstehen ist, wieder aufgenommen werden. Fçr die These, daû der Begriff von der stoischen Urteilsanalyse abhångig ist, spricht, daû die stoische Theorie ohne ein drittes Konzept neben Affirmation und Negation nicht auskommt. Håtte der Weise nur die Optionen, zuzustimmen oder zu bestreiten, so kænnte er nicht verhindern, gelegentlich Meinungen zu haben. Das Bestreiten nåmlich muû als Zustimmung zur Negation des sprachlichen Korrelats eines Eindrucks (bzw. des entsprechenden Lektons) verstanden werden. Wenn der Eindruck nicht-kataleptisch aber wahr ist, so ergibt sich sowohl aus der Zustimmung wie aus dem Bestreiten eine Meinung. Die Urteilsenthaltung als dritte Option scheint sich damit notwendig aus der Theorie zu ergeben. Ein allgemeineres Argument ist, daû der Ausdruck »sich enthalten« (epechein) einer Ergånzung bedarf. Und auf die Frage, was das Objekt der Enthaltung ist, bietet sich die Antwort an, es handele sich um die Zustimmung. Ohne eine Unterscheidung in Eindrçcke und Zustimmungen zu diesen ist nicht klar, worin die Enthaltung bestehen sollte. 122
Cic. Acad. 1.40±1 (SVF 1.55, 61.60) L&S 40B.
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Wenn die Skeptiker ihr Verhalten also mit dem Verb epechein beschreiben, so mçssen sie eine derartige Theorie voraussetzen, damit ihre Redeweise sinnvoll ist. Ioppolo argumentiert mit der Beobachtung gegen die dialektische Interpretation, daû in den Fragmenten zum zenonischen Weisen nirgends von der Epoche gesprochen wird. Zenon verwendet einen eigenen Terminus: asunkatathitein. 123 Zweitens sei die Urteilsenthaltung des Arkesilaos nicht gleichzusetzen mit der stoischen Verweigerung der Zustimmung, da sie als Zurçckhalten von Affirmationen und Negationen, nicht von Zustimmungen bestimmt sei. 124 Zwischen dem »epechein« und dem »asunkatathitein« bestehe so ein entscheidender Unterschied. Wåhrend sich die stoische Verweigerung der Zustimmung auf Eindrçcke (fantasiai) beziehe, beziehe sich das Zurçckhalten von Affirmation und Negation auf Såtze. Arkesilaos ordne sein Konzept der Urteilsenthaltung nicht ein in die stoische Analyse des Urteils. 125 Die Diskussion der akademischen Skepsis kann hier nicht aufgenommen werden; unabhångig davon kann m. E. jedoch gezeigt werden, daû die Argumente Ioppolos letztlich nicht çberzeugen. Ioppolo scheint die Bedeutung des Unterschieds in der Formulierung zu hoch einzuschåtzen. Entscheidend ist nicht, welche Termini die verschiedenen Schulen gewåhlt haben, sondern welche erkenntnistheoretische Konzeption dem Begriff der Urteilsenthaltung zugrundeliegt. Diese muû derart sein, daû von einem Akt der Stellungnahme ausgegangen wird, der in der Macht desjenigen liegt, der einen Eindruck hat. Der Begriff der Epoche kænnte nur dann originår akademisch sein, wenn die Akademiker eine sich von der stoischen unterscheidende Erkenntnistheorie håtten, die einen derartigen Akt vorsieht, was ihnen als Skeptikern freilich nicht mæglich ist. Auch der von Ioppolo betonte Unterschied, es handele sich einmal um das Zurçckhalten von Affirmationen und Negationen, und das andere mal um die Zurçckhaltung der Zustimmung, ist nicht signifikant. Wenn man sich klarmacht, daû die Zustimmung entweder in der Zustimmung im Sinne von Affirmation oder in der Zustimmung im Sinne von Negation des Eindrucks, Ioppolo (1986) S. 60. Vgl. DL 4.28 ± hier ist nur von Affirmationen (apofaseis) die Rede. 125 Ioppolo (1986) S. 60±65. Ioppolo gesteht allerdings zu, daû Arkesilaos in der ad-hominem-Argumentation gegen die Stoiker auch von der Verweigerung der Zustimmung spricht (vgl. M 7.153±7). Eine weitere Stelle fçr diese Verwendung ist Cic. Luc.67. 123 124
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also in der Negation, besteht, so wird klar, daû hier jeweils dasselbe gemeint ist. 126 Die Pyrrhoneer çbernehmen aus der akademisch-stoischen Diskussion also einen Begriff der Urteilsenthaltung, der die stoische Analyse des Urteils voraussetzt. Betrachten wir nun Sextus' Beschreibungen der pyrrhonischen Epoche. Sextus bietet mehrere Bestimmungen, die die Abhångigkeit von der stoischen Theorie z. T. stårker, z. T. weniger stark deutlich machen. Die Urteilsenthaltung des Pyrrhoneers ist definiert als Stillstand des Verstandes (stasis dianoias). Aufgrund dieses Zustands hebt der Skeptiker weder etwas auf, noch setzt er etwas. 127 Was genau der Gegenstand der Urteilsenthaltung ist, wird hier nicht spezifiziert. Eine zweite Bestimmung der Epoche findet sich an spåterer Stelle, wo Sextus das »ich enthalte mich« als eines der skeptischen Schlagworte vorstellt. Wenn der Skeptiker diese Formel åuûere, so sei das ein Ersatz fçr die ausfçhrlichere Formulierung, er kænne nicht sagen, »welchem von den vorliegenden Gegenstånden (prokeimena) man glauben soll und welchem man nicht glauben soll«. 128 Der Abschnitt endet mit einer Wiederholung der Definition aus § 10. Der Begriff der Urteilsenthaltung beziehe sich darauf, daû der Verstand »zurçckgehalten werde«, so daû er weder etwas aufstellt noch bestreitet. 129 In diesen beiden Bestimmungen ist die Urteilsenthaltung nicht als Verweigerung der »sunkatathesis« zu einer »fantasia« beschrieben. Statt zu erklåren, der Pyrrhoneer kænne nicht sagen, welchem Eindruck er glauben solle, wåhlt Sextus die seltsame Formulierung, er kænne nicht sagen, welchem von den Gegenstånden¬ er glauben solle. Dies stellt m. E. den Versuch dar, die Epoche ohne die Verwendung eines dogmatischen Begriffs in unterminologischen Worten zu beschreiben. An einer anderen fçr die Darstellung der pyrrhonischen Philosophie zentralen Stelle schreibt Sextus, der Skeptiker habe sich an die Philosophie gemacht, um Urteile çber Eindrçcke zu fållen ± darçber, ob diese wahr oder falsch sind. Als er sich dann zwischen sich gegenseitig 126 Vgl. zu dieser Diskussion auch die Ausfçhrungen von Long und Sedley Vol. 1, S. 446±7. 127 PH 1.10. 128 PH 1.196. 129 Die Aussage, der Skeptiker behaupte weder etwas noch bestreite er etwas, fållt auch in der Erlåuterung von drei weiteren Schlagworten ± afasia PH 1.193, ouden horizo PH 1.197 und akatalepto PH 1.201 (vgl. Jancek 1972, S. 54).
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widersprechenden Argumenten von gleichem Gewicht vorfand, stellte sich die Urteilsenthaltung ein. 130 Hier ist der Gegenstand der Urteilsenthaltung durch einen stoischen Terminus technicus bezeichnet. Der Bezug zur stoischen Urteilsanalyse ist insofern expliziter als an den anderen zitierten Stellen, als von Eindrçcken die Rede ist. Der Unterschied ist jedoch nur graduell. Die allgemeineren Formulierungen scheinen mir einen Versuch darzustellen, den Verzicht auf Dogmata so zu beschreiben, daû die stoische Theorie nicht in einem strengen Sinn vorausgesetzt ist: Die pyrrhonische Urteilsenthaltung soll nicht in der Weise abhångig von der stoischen Theorie çber Eindruck und Zustimmung sein, daû jegliche Modifikation der stoischen Theorie den Skeptiker in Verlegenheit bringt, oder der Skeptiker sich auf dogmatische Begriffsbestimmungen festlegt. Der Skeptiker wird nicht sagen, er stimme genau dem nicht zu, was die Stoiker Eindruck nennen. Statt dessen zieht er es teilweise vor, zu sagen, er stimme den »Gegenstånden«, die sich ihm pråsentieren, nicht zu, oder er setze nichts und hebe nichts auf. Beide unspezifischeren Beschreibungen brechen jedoch nicht aus der Grundstruktur aus: Ob es um Eindrçcke oder sich pråsentierende Gegenstånde¬ geht, ist eine Frage der Formulierung; die Verben »setzen« und »aufheben« gehen davon aus, daû schon etwas (ein Eindruck) da ist, das man affirmieren oder bestreiten kann. Den Begriff der Urteilsenthaltung kann Sextus letztlich nicht explizieren, ohne dabei die stoische Urteilsanalyse vorauszusetzen. Sextus charakterisiert den pyrrhonischen Verzicht auf Dogmata in PH 1.13 nicht als epoche; er sagt jedoch, der Skeptiker habe insofern keine Dogmata, als er nicht zustimme, wobei er den stoischen Terminus technicus sunkatathesis verwendet. So verweist die Erklårung des Verzichts auf Dogmata auf die stoische Urteilsanalyse. Obwohl die pyrrhonische Philosophie sich nicht durch eine strikte ad-hominemArgumentation gegen die Stoiker von diesen abhångig macht, bleibt deren Urteilsanalyse entscheidend. Es muû zwar nicht jede einzelne Bestimmung dieser Analyse vorausgesetzt werden; das Grundmodell einer Stellungnahme zu Eindrçcken oder vorliegenden Gegenstånden¬ kann jedoch nicht entfallen.
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PH 1.26.
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1.2. Die Diskussion çber die Meinungen des Skeptikers 1.2.1. PH 1.13: Der Skeptiker dogmatisiert nicht Die Passage, in der Sextus erklårt, was es heiût, daû der Skeptiker nicht dogmatisiert, lautet wie folgt: Wenn wir sagen, daû der Skeptiker nicht dogmatisiere, dann meinen wir nicht jene Bedeutung von Dogma¬, in der einige Dogma¬ ganz allgemein die Billigung (to eudokein) irgendeiner Sache nennen. Denn den als Eindruck (kata fantasian) aufgezwungenen Erlebnissen (pathesi) stimmt der Skeptiker zu (sunkatatithetai). Wenn er z. B. erwårmt oder gekçhlt wird (thermainomenos/ psuchomenos), so wçrde er nicht sagen: »Ich glaube, ich werde nicht erwårmt bzw. gekçhlt (thermainesthai/ psuchesthai).« Vielmehr behaupten wir, nicht zu dogmatisieren in dem Sinne, in dem einige Dogma¬ die Zustimmung (sunkatathesin) zu irgendeiner der in den Wissenschaften untersuchten verborgenen Sachen nennen. (PH 1.13)
Der Text ist in vielerlei Hinsicht schwer zu interpretieren. Es ist von zwei Arten des Dogmas die Rede, deren eine der Skeptiker fçr sich ablehnt. Die andere, im Text erste Art des Dogmas scheint eine Art des Dogmas anzuzeigen, das der Skeptiker nicht aus seinem Leben verbannen will. Sextus råumt ein, daû der Skeptiker in bestimmten Fållen zur Zustimmung gezwungen ist, so daû die generelle These, der Skeptiker stimme nicht zu, nicht ohne Einschrånkung zutreffen kann. Ausgehend von § 13 soll im folgenden die Frage diskutiert werden, ob der Skeptiker Meinungen hat oder nicht. Drei Bemerkungen kænnen sofort gemacht werden. Erstens muû zur Kenntnis genommen werden, daû keine der beiden Dogma-Definitionen vom Skeptiker selbst stammt. Es ist jeweils davon die Rede, daû einige »Dogma« in dem-und-dem Sinne verwenden. Damit ist es ebensogut mæglich, daû Sextus zwei Begriffe verschiedener Provenienz skizziert, wie es mæglich ist, daû er sich auf eine Unterscheidung, die er bei einem Philosophen oder einer philosophischen Schule findet, bezieht. 131 Zweitens muû bemerkt werden, daû Sextus es mit Hilfe von Negatoren vermeidet, uns ein Beispiel fçr ein Dogma in dem Sinn zu geben, fçr den er nicht bestreitet, daû der Pyrrhoneer Dogmata hat. Der Skep131 Bei Galen (Definitiones medicae 13 (19.352±3)) ist von einer åhnlichen Distinktion die Rede. Eine spezielle Bedeutung, in welcher »Dogma« die Zustimmung zu einer verborgenen Sache bezeichnet, wird von einer allgemeinen Bedeutung, mit welcher die Zustimmung zu einer offenkundigen Sache gemeint ist, unterschieden.
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tiker wçrde nicht sagen, er glaube, ihm sei nicht kalt bzw. warm. Statt also ein Beispiel fçr ein Dogma in dem zugestandenen Sinn anzufçhren, gibt Sextus eine gånzlich andere Information. Er sagt uns gewissermaûen nur, daû die Urteilsenthaltung nicht darin besteht, daû der Pyrrhoneer das Gegenteil von dem behauptet, was ihm gerade widerfåhrt. So håtte jedoch ohnehin niemand die skeptische Urteilsenthaltung verstanden. Drittens ist auf die passivischen Formulierungen hinzuweisen. 132 »Thermainomenos« und »psuchomenos« sowie »thermainesthai« und »psuchesthai« sind schwierig zu çbersetzen. Wærtlich çbersetzt geht es darum, daû jemand gewårmt bzw. gekçhlt wird. 133 Sextus wåhlt hier Formen, durch die er die Passivitåt des Pyrrhoneers in den erzwungenen Zustimmungen betont. Soviel zunåchst zur Formulierung von § 13. Der Blick auf zwei weitere Passagen soll die Problematik noch deutlicher machen: Nicht nur lehnt der Skeptiker Dogmata nicht ab, ohne seine Ablehnung zu qualifizieren; ebenso hålt er es in den Fragen, ob er Ûberzeugungen habe, und ob die Skepsis eine »hairesis« sei. Im Kontext der Abgrenzung gegençber anderen Schulen, denen eine gewisse Verwandtschaft mit den Pyrrhoneern nachgesagt wird, beschåftigt sich Sextus mit dem Unterschied zwischen Pyrrhoneern und Akademikern. Auch wenn die Skeptiker so wie die Akademiker von manchen Dingen sagen, daû sie von ihnen çberzeugt werden (peithesthai), ist der Unterschied zwischen diesen Philosophien doch deutlich. Denn das Wort »çberzeugt sein« (peithesthai) wird verschieden gebraucht: einmal bedeutet es, nichts entgegenzuhalten, sondern einfach zu folgen, ohne starke Neigung oder Teilnahme, so wie vom Kind gesagt wird, daû es von seinem Erzieher çberzeugt wird; das andere mal aber bedeutet es das Zustimmen zu etwas aufgrund eines starken Wollens, so wie der Verschwender von dem çberzeugt wird, der ein aufwendiges Leben fçhrt. Da nun aber die Anhånger von Karneades und Kleitomachos sagen, daû, wenn sie von etwas çberzeugt sind oder es glaubhaft nennen, damit eine starke Hinneigung verbunden ist, wåhrend es fçr uns ein einfaches Nachgeben ohne jede emotionale Beteiligung ist, unterscheiden wir uns wohl auch hierin von ihnen. (PH 1.229±230)
Eine dritte Passage, die eine vergleichbare Unterscheidung entwirft, findet sich unter der Ûberschrift »Ob die Skepsis eine Sekte (hairesis) Ein ausfçhrlicher Kommentar zu diesen Verben findet sich bei Frede (1979). Die Ûbersetzungen von Bury und Hossenfelder (»I am hot/ cold« »mir ist warm/ kalt«) geben dies nicht wieder. 132 133
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ist«. Der Begriff »hairesis« ist kaum zu çbersetzen. Eine alternative Ûbersetzung zu »Sekte« wåre »Schule«, wobei allerdings nur eine solche Schule gemeint sein kænnte, die wesentlich durch einen bestimmten Lebensentwurf bestimmt ist. 134 Ebenso verhalten wir uns auch, wenn gefragt wird, ob die Skepsis eine Sekte ist. Denn wenn man unter einer Sekte versteht, daû man vielen Dogmata anhångt, die untereinander und mit den Erscheinungen in einem Folgezusammenhang stehen, und unter »Dogma« die Zustimmung zu etwas Verborgenem versteht, dann sind wir keine Sekte. Wenn man unter Sekte eine Lebensweise versteht, die gemåû dem Scheinenden 135 einer Denkweise (logos) folgt, und diese Denkweise anzeigt, wie man richtig zu leben scheint (wobei »richtig« nicht nur im Bezug auf die Tugend genommen wird, sondern in einem einfacheren Sinn), und wenn sich die Denkweise bis zu der Fåhigkeit, sich des Urteils zu enthalten, erstreckt, dann sagen wir, daû wir eine Sekte sind. (PH 1.16±17)
In allen drei Texten geht es um Dinge, die der Skeptiker in gewissem Sinne tut oder hat, in einem anderen Sinne jedoch von sich weist. Er hat keine Dogmata, und doch scheint es einen Sinn von »Dogma« zu geben, in dem Sextus fçr den Pyrrhoneer Dogmata einråumt. Der Skeptiker hat keine Ûberzeugungen in einem starken Sinne. Trotzdem çberzeugt ihn manches in einem Sinn, der ihm eine groûe innere Distanz zum Inhalt der Ûberzeugung sichert. Und schlieûlich hat die Skepsis keine Lehrmeinungen, wie eine »hairesis« sie gewæhnlich hat: ein System von Dogmata darçber, wie man leben soll. Sie hat jedoch eine Denkweise, an die der Skeptiker sich hålt. Dieser Denkweise verdankt er einerseits Anleitung im praktischen Leben, und andererseits die Urteilsenthaltung. Der skeptische »logos« umfaût nach dieser Bestimmung sowohl das antithetische Argumentieren wie die Orientierung an den Fainomena. Die beiden zusåtzlichen Textstellen ergånzen § 13. Die erste Passage betont die Passivitåt des Skeptikers. Der zweite Text gibt eine kçrzere Formel fçr den Typus von Dogma, den der Skeptiker ablehnt: Dogmata 134 Vgl. Clemens Alex., Stomat. VIII 5 § 16,2, p. 89sq.Fr. (Huelser 359): »Eine Schule (hairesis) besteht darin, daû Lehrsåtze vertreten werden, oder ± wie manche Leute sagen ± darin, einer Vielzahl von Lehrsåtzen beizupflichten, die untereinander in Folgebeziehungen stehen und die die einleuchtenden Dinge umfassen und wobei die Zustimmung sich auf das gute Leben hin orientiert.« (Ûbersetzung Huelser). 135 Die unterschiedliche Ûbersetzung von »fainomenon« in diesem und dem vorangehenden Satz (»Erscheinung«, »Scheindendes«) wird durch die Analyse des skeptischen Gebrauchs von fainesthai in Kapitel 2 erklårt.
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im Sinne von Zustimmungen zu etwas Verborgenem. Der Zusatz »von den Wissenschaften untersucht« ist hier weggefallen. Zudem enthålt der Text den wichtigen Begriff der Lebensweise (agoge). Er weist darauf hin, daû der Skeptiker durchaus ein eigenes Programm hat, welches seinem Leben eine Form gibt. Beide Texte mçssen in der Interpretation des skeptischen Verzichts auf Dogmata im Blick behalten werden. Die Frage nach den Meinungen des Skeptikers kann ausgehend von § 13 in unterschiedlicher Weise gestellt werden. Einmal kann gefragt werden, im Bezug auf welchen Objektbereich der Skeptiker keine Meinungen hat. Diese Fragestellung nimmt an, daû die verschiedenen Formen der Dogmata, von denen in § 13 die Rede ist, sich auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche beziehen. Ein Aspekt des Textes, der diese Herangehensweise stçtzt, ist die Tatsache, daû Sextus die zweite Art der Dogmata zu beschreiben scheint, indem er einen Objektbereich angibt: es soll um die in den Wissenschaften erforschten verborgenen Sachen gehen. Das Problem kann jedoch auch anders verstanden werden. Man kann zweitens davon ausgehen, daû es verschieden starke Formen der Meinung sind, die mit den beiden Definitionen von »dogma« vorgestellt werden sollen. Ein Hinweis, der fçr dieses Verståndnis spricht, ist der Umstand, daû Sextus bei beiden Definitionen die Weise der Zustimmung beschreibt. So kann vermutet werden, daû eine schwåchere und eine stårkere Zustimmung im Spiel sind, wenn die Dogmata der Skeptiker und die Dogmata der Dogmatiker unterschieden werden sollen. Drittens kann der Text daraufhin untersucht werden, ob sich die beiden Begriffe des Dogmas auf unterschiedliche Bereiche der pyrrhonischen Philosophie beziehen. Nachdem in 1.2.2. und 1.2.3. gezeigt werden soll, warum die beiden anderen Ansåtze nicht zu einer zufriedenstellenden Interpretation fçhren, soll fçr diese dritte Mæglichkeit argumentiert werden. Es wird die These vertreten, daû das Eingeståndnis der erzwungenen Zustimmungen nicht eigentlich auf die Erklårung des Verzichts auf Meinungen, sondern vielmehr auf die Verteidigung gegen den Apraxia-Vorwurf zu beziehen ist.
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1.1.2. Die Gegenstånde der Wissenschaft »Vielmehr behaupten wir, nicht zu dogmatisieren in dem Sinne, in dem einige Dogma¬ die Zustimmung zu irgendeiner der in den Wissenschaften untersuchten verborgenen Sachen nennen.« ± Es scheint, daû hier ein Gegenstandsbereich genannt ist, hinsichtlich dessen der Skeptiker keine Meinungen hat. Dogmata scheinen mit wissenschaftlichen bzw. philosophischen Dingen befaût zu sein, die zudem als verborgen qualifiziert sind. Demnach verbleiben nichtwissenschaftliche offenkundige Gegenstånde fçr die andere Art des Dogmas, das Sextus dem Pyrrhoneer zuzuschreiben scheint. Nach dieser Interpretation hat der Skeptiker eine ganze Menge von Meinungen. Er sagt, daû der Honig sçû oder der Wind kalt ist. Ebenso sagt er, daû eine Sache gerecht und eine andere Sache unfair ist. Es sind, so scheint es, allein Aussagen theoretischer Natur, deren er sich enthålt. Daû dieses Bild vom Pyrrhoneer nicht zutreffen kann, ist aus vielen Grçnden offensichtlich. Zunåchst einmal wåre unklar, warum Sextus uns in § 13 ein derartiges Beispiel vorenthålt. Weiter wåren die Tropen des Aensidem, welche Methoden angeben, Wahrnehmungs- und Werturteile mit dem Ziel der Isosthenie und der Urteilsenthaltung zueinander in Gegensatz zu stellen, nicht in Einklang mit dieser Deutung von PH 1.13 zu bringen. Es wåre auch vællig unverståndlich, warum ein zentrales antikes Argument gegen den Pyrrhonismus das der Apraxia ist: Håtte der Skeptiker all die Meinungen, welche ihm die vorgestellte Lesart von § 13 zuschreibt, so wåre er sicherlich nicht handlungsunfåhig. Die Vermutung, daû einfach in die Bereiche der Wissenschaft und des Alltags unterschieden wird, um ersteren als das Feld der abgelehnten Dogmata zu identifizieren, geht nicht auf. Warum aber findet sich dann in § 13 die Angabe, der Skeptiker dogmatisiere insofern nicht, als mit Dogmata Zustimmungen zu verborgenen in der Wissenschaft untersuchten Dingen gemeint sind? PH 1.13 kann nicht interpretiert werden, solange keine Erklårung dafçr gefunden ist, was Sextus unter wissenschaftlich untersuchtem Verborgenem versteht. Im Folgenden soll die These vertreten werden, daû der Ausdruck »in den Wissenschaften untersuchte verborgene Dinge« nur einer von mehreren Ausdrçcken fçr das ist, worçber der Skeptiker sich des Urteils enthålt, und daû sich bei nåherer Untersuchung dieser Ausdrçcke zeigt, inwiefern das wissenschaftlich untersuchte Verborgene nicht die distinkte Klasse ist, als die sie zunåchst erscheint. Die These låuft da55
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rauf hinaus, daû der Skeptiker sich hinsichtlich jeder Aussage, in der von etwas ausgesagt wird, daû es so-und-so ist, des Urteils enthålt. Was sind die Dinge, die gemåû Sextus' Argumentation Gegenstand der Wissenschaft sind? Den entscheidenden Hinweis gibt PH 1.22. Dort heiût es, niemand streite darçber, daû das Zugrundeliegende (hupokeimonon) so oder so scheint, sondern darçber, ob dieses auch so ist, wie es scheint (fainetai). 136 Die Beschaffenheit des Zugrundeliegenden ist Gegenstand der Untersuchung; die Diskussion dreht sich darum, ob eine Sache so ist, wie sie scheint. Wie sie aber scheint, ist nicht Gegenstand der Untersuchung. Dies macht deutlich, daû die Gegenstånde der Wissenschaft keine gesonderte Klasse von Gegenstånden sind: immer dann, wenn çber einen Gegenstand gesagt wird, daû er (in Wirklichkeit) so-und-so ist, handelt es sich um eine wissenschaftliche Aussage. Ein Beispiel: Sagt jemand in einem Alltagskontext »Honig ist sçû«, so ist dies ebenso eine Aussage darçber, wie der Honig ist, als wenn der Naturphilosoph erklårt, inwiefern Honig nicht an sich sçû ist, sondern aus Bestandteilen der-und-der Art besteht, die diese Sinneswahrnehmung auslæsen. Jeder Gegenstand ist insofern ein Gegenstand der Wissenschaft, als çber ihn gesagt werden kann, daû er so-und-so ist. Fçr das erste Element des Ausdrucks »die in den Wissenschaften untersuchen verborgenen Dinge« zeigt sich also, daû es nicht auf einen Gegenstandsbereich verweist. Eine Urteilsenthaltung, die sich auf »die in den Wissenschaften untersuchten Dinge« bezieht, ist demnach eine Urteilsenthaltung, die sich auf alle Aussagen darçber, ob etwas sound-so ist, bezieht. Was trågt nun der Zusatz »verborgen« bei? Wird der Gegenstandsbereich der in den Wissenschaften untersuchten Dinge dadurch eingeschrånkt, daû es sich zusåtzlich um verborgene Dinge handeln soll? Dies ist m. E. nicht der Fall. Das zweite Element des Ausdrucks »die in den Wissenschaften untersuchten verborgenen Dinge«, auf die sich die Urteilsenthaltung beziehen soll, stellt eine Ergånzung dar, die fçr die Interpretation letztlich keinen Unterschied macht. Sextus setzt dogmatische Gegensåtze wie den zwischen Verborgenem und Offenkundigem zwar oft in der ad-hominem-Argumentation voraus, aber er akzeptiert sie keineswegs selbst als epistemologische Einteilungen. Er arbeitet in der Darstellung der pyrrhonischen Position sowie in seinen Diskussionen dogmatischer Theorien mit den Ge136
Vgl. PH 1.19; diese wichtige Stelle wird in Kapitel 2 interpretiert.
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gensåtzen zwischen Offenkundigem (prodelon) bzw. Evidentem (enarges) und Verborgenem (adelon), Erscheindem (fainomenon) und Gedachtem (nooumenon), fainesthai und einai 137 sowie einai und huparchein 138 . Weiter verwendet er die Begriffe hupokeimenon 139 und en fusei und setzt sie in Gegensatz zu den Erscheinungen oder dem Offenkundigen. Die Begriffspaare enthalten eine Reihe von zentralen Termini der griechischen Philosophie. Jeder von ihnen verdient innerhalb der Philosophie, der er entstammt, eingehende Untersuchungen. Von Sextus werden die Ausdrçcke jedoch in der skeptischen ad-hominem-Einstellung verwertet. Vom Zugrundeliegenden (hupokeimenon), dem Sein im emphatischen Sinne bzw. wirklichen Sein (huparchein) und davon, wie etwas in seiner Natur (en fusei) ist, spricht Sextus, ohne einen relevanten Unterschied zwischen den Ausdrçcken zu machen. Es erscheint sogar denkbar, daû das Motiv der Abwechslung eine Rolle spielt, ± wçrde Sextus sich an nur eine Opposition halten, wçrde ihn diese fixe Terminologie in den Verdacht geraten lassen, er vertrete die mit den Begriffen verbundenen dogmatischen Theorien. Betrachten wir einige andere Formulierungen dessen, worauf sich die Urteilsenthaltung bezieht: Der Skeptiker enthålt sich des Urteils darçber, wie etwas seiner Natur nach (en fusei 140 , hos pros ten fusin 141 ) ist, er enthålt sich des Urteils çber die åuûeren zugrundeliegenden Gegenstånde (peri ton ektos hupokeimenon 142 ), çber die Natur der åuûeren zugrundeliegenden Dinge. 143 Aus diesen Formulierungen
137 PH 1.135, 198, 200. M 11.19. Das, »was zu scheinen scheint«, wird auch mit dem kontrastiert, was untersucht wird (ton te fainesthai dokounton kai ton epizetoumenon) PH 1.184. 138 Der Gegensatz zwischen einai und huparchein wird durch seinen Bezug auf den Gegensatz zwischen fainesthai und einai erlåutert: Was ist, steht insofern im Gegensatz zu dem, was in Wirklichkeit ist, als in diesem Fall unter »ist« »scheint« verstanden werden muû. Vgl. PH 1.135, 198 200; M 11.19. 139 Vgl. z. B. die beinahe stereotypen Formulierungen in den Zehn Tropen am Ende der Darstellung dessen, im Bezug worauf der Skeptiker sich des Urteils enthålt. Was der Skeptiker nicht sagen kann ist, wie sich die åuûeren zugrundeliegenden Dinge ihrer wahren Natur nach (peri tes fuseos ton ektos hupokeimnon) oder absolut (apolutos; d. h. nicht relativ auf irgendjemand oder irgendetwas) verhalten. PH 1.118, 135. 140 PH 1.78, 129, 140. 141 PH 1.87, 123. 142 PH 1.99, 144. 143 PH 1.128, 134, 163.
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wird deutlich, daû Sextus all die Begriffe, die in irgendeiner Weise das wirkliche Sein¬ einer Sache bezeichnen, austauschbar verwendet. Teilweise setzt Sextus in der Argumentation den Gegensatz zwischen Verborgenem und Evidentem als gçltig voraus, teilweise zeigt er jedoch ausgehend von dem Gegensatz, daû letztlich alles verborgen ist. Er setzt bei der dogmatischen Bestimmung des Evidenten als das, was durch sich selbst erfaût wird, an und argumentiert, es kænne nichts Evidentes geben, da alles durch Affektionen (ek pathous) erfaût werde. Was aber durch etwas anderes erfaût werde, sei verborgen (adelon). 144 Die Argumentation ergibt, daû alles verborgen und nichts evident ist. Diese Argumentationsweise macht erstens deutlich, daû die epistemologische Einteilung in Verborgenes und Offenkundiges bzw. Evidentes nicht dem Skeptiker selbst zugeschrieben werden kann. So kann nicht davon ausgegangen werden, daû Sextus in § 13 die dogmatische Voraussetzung einer Unterteilung in Verborgenes und Offenkundiges macht. Zweitens zeigt sie, daû aus skeptischer Perspektive mit dem Begriff des Verborgenen kein Gegenstandsbereich ausgewiesen wird. Durch die Ergånzung, bei den Dingen, hinsichtlich derer der Skeptiker sich des Urteils enthålt, handele es sich um verborgene, wird nicht eigentlich eine zusåtzliche Information gegeben. Was in den Wissenschaften untersucht wird, ist das wirkliche Sein einer Sache und eo ipso verborgen. Verborgen im Sinne der dogmatischen Unterscheidung zwischen Evidentem und Verborgenem ist es insofern, als das Evidente nicht Gegenstand von Wissenschaft und Untersuchung ist. 145 Fçr die Interpretation des Ausdrucks »die in den Wissenschaften untersuchten verborgenen Dinge« ergibt sich, daû aus der Sicht des Pyrrhoneers jede Aussage darçber, wie eine Sache ist, eine Aussage çber eine in den Wissenschaften untersuchte verborgene Sache ist. 146 Die Abgrenzung von Objektbereichen zeigt sich so fçr die Interpretation von § 13 als ein verfehlter Schritt. M 7.364±6. Vgl. etwa, daû das Evidente nicht unterrichtet werden kann, da es ohnehin jedermann bekannt ist. PH 3.254, 3.266, M 11.240. 146 Vgl. M. Burnyeat (Can the Skeptic live his Skepticism? in Hg. M. Burnyeat, The Sceptical Tradition, Berkeley, Los Angeles, New York, London 1983, 117±148) S. 178: »I suggest, therefore, that the skeptic contrast between appearance and real existence is a purely formal one, entirely independent on subject matter. (¼) He devides questions into questions about how something appears and questions about how it really and truly is, and both types of question may be asked about anything whatever.« 144 145
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1.2.3. Die pyrrhonische Zustimmung Einen anderen Versuch, in § 13 eine Klasse von Meinungen zu finden, die nicht unter die skeptische Urteilsenthaltung fållt, macht Michael Frede. 147 Er unterscheidet nicht in Gegenstandsbereiche sondern in zwei Weisen der Zustimmung. Gefragt wird hier nicht danach, im Bezug worauf der Skeptiker keine Dogmata hat, sondern welche Art von Dogmata er nicht hat. Frede eræffnete die jçngere Diskussion çber die Meinungen des Skeptikers, indem er sich in seinem ersten Aufsatz zum Thema gegen einen weitgehenden Konsens dahingehend, der Skeptiker habe keine Meinungen, wendete. Obwohl Frede in seinem zweiten Aufsatz eine çberarbeitete Interpretation vorlegt, soll auch der erste Aufsatz kurz zusammengefaût werden, da er die Stoûrichtung von Fredes Argumentation sehr deutlich macht. Insgesamt scheinen mir beide Aufsåtze von dem Interesse gekennzeichnet zu sein, die antike Skepsis vor einer vereinfachenden und miûgçnstigen Interpretation zu verwahren, die den Skeptiker zu schnell als inkonsistent oder handlungsunfåhig abtut und ihm keine differenzierte philosophische Haltung zugesteht. Frede beginnt mit einer Kritik an bisherigen Versuchen, die skeptische Position zu rekonstruieren. Es werde die These vom Skeptiker ohne Meinungen vertreten und die Kritik der Handlungsunfåhigkeit vorgebracht. Dabei werde nicht berçcksichtigt, daû die Skeptiker sich wiederholt gegen den Vorwurf, sie seien durch den Verzicht auf Meinungen handlungsunfåhig, zur Wehr setzen. Wenn ernstgenommen wçrde, daû die Skeptiker sich miûverstanden fçhlten, wçrden sich zwei Mæglichkeiten bieten. Entweder mçsse dem Skeptiker die Ansicht zugeschrieben werden, man kænne auch ohne Meinungen handeln, oder es mçsse die These vom Skeptiker ohne Meinungen aufgegeben werden. Da ersteres dem Skeptiker eine offenkundig dogmatische Position zuschreibe, verbleibe die zweite Option. 148 Fredes Ansatzpunkt fçr die Neuaufnahme der Diskussion um die Meinungen des Skeptikers ist m. E. sehr berechtigt. Jede Interpretation der skeptischen Haltung zu Meinungen wird auch die Frage, wie der 147 Des Skeptikers Meinungen, Neue Hefte fçr Philosophie 15/16, Gættingen 1979, 102± 129; englische Fassung in: ders., Essays in Ancient Philosophy, Oxford 1987, 179±200; The sceptics two kinds of assent and the question of the possibility of knowledge, in: Philosophy in History, Hg. R. Rorty, J. B. Schneewind und Quentin Skinner, Cambridge 1984, 255±278. 148 Frede (1979), S. 103±110.
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Skeptiker seine eigene Handlungsfåhigkeit als gegeben betrachten kann, beantworten mçssen (siehe Kapitel 3). Vor diesem Hintergrund interpretiert Frede § 13. Dort sei von einem weiteren und einem engeren Begriff der Meinung die Rede, und der weitere werde vom Skeptiker akzeptiert: Der Skeptiker »hat nåmlich keinerlei Meinung darçber, wie die Dinge wirklich sind; andererseits aber, so mæchte ich behaupten, hat er wohl eine Meinung darçber, wie die Dinge sind, insofern es ihm nåmlich der Fall zu sein scheint, daû die Dinge so-und-so sind.« 149 Kurz darauf schreibt Frede: »Und insofern wird auch der Skeptiker Meinungen darçber haben, wie die Dinge sind, und nicht nur Meinungen darçber, wie die Dinge erscheinen.« 150 Frede bringt eine Reihe von Argumenten fçr diese These, die zu viele unterschiedliche Themen ansprechen, um hier im einzelnen diskutiert werden zu kænnen. Da Frede selbst die Unterscheidung, die er 1979 verteidigt, aufgegeben hat, mæchte ich mich auf die Bemerkung beschrånken, daû es m. E. nicht gelingt, die Unterscheidung zwischen Meinungen darçber, wie die Dinge sind, und Meinungen darçber, wie die Dinge in Wirklichkeit sind, plausibel zu machen. In seinem zweiten Aufsatz zur Frage nach den Meinungen des Skeptikers 1984 modifiziert Frede seine Interpretation. 151 Er bezieht sich in diesem Aufsatz zugleich auf die pyrrhonische Skepsis und die akademische Skepsis des Arkesilaos und Karneades. 152 Zusammenfassend gebraucht er fçr diese Formen der Skepsis den Begriff der klassischen Skepsis im Gegensatz zur dogmatischen Skepsis. Der klassische Skeptiker werde traditionell fehlinterpretiert, indem sein Dementi, er vertrete im Gegensatz zum dogmatischen Skeptiker nicht die Position, daû nichts erkennbar sei, nicht ernstgenommen werde. 153 Fredes These besteht nun darin, daû er einen wesentlichen Unterschied zwischen einer Ansicht (»having a view«) und dem Vertreten einer Position (»taking a position or making a claim«) sieht. 154 Problematisch ist, wie diese Unterscheidung so bestimmt sein kann, daû sie nicht nur auf einen graduellen Unterschied im Behauptungscharakter der jeweiligen Aussagen hinweist. Frede selbst råumt die SchwierigFrede (1979), S. 111. Frede (1979), S. 112. 151 Frede (1984). 152 Ich beschrånke mich auf die Aspekte seiner Diskussion, die auf die pyrrhonische Skepsis zu beziehen sind. 153 Frede (1984), S. 256. 154 Frede (1984), S. 256. 149 150
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keit ein, ist jedoch çberzeugt, daû die Unterscheidung plausibel gemacht werden kann. Dies soll durch eine Unterscheidung zwischen zwei Arten der Zustimmung, die er in der skeptischen Argumentation findet, geleistet werden. 155 Frede argumentiert mit folgender Ûberlegung: Der Skeptiker erscheine inkonsistent, weil er offenbar die Meinung vertritt, man solle sich des Urteils enthalten. Damit macht Frede die Frage, ob der Skeptiker der Meinung ist, man solle sich des Urteils enthalten, oder ob er sich darçber, ob man sich des Urteils enthalten soll, des Urteils enthålt, zum Ausgangspunkt seiner Interpretation. Daû man sich des Urteils enthalten soll, kænne einerseits keine dogmatische Ûberzeugung des Skeptikers sein; es handele sich vielmehr um eine Schluûfolgerung, die der Skeptiker fçr den Dogmatiker aus dessen Pråmissen herleitet, von denen er selbst nicht çberzeugt ist. Andererseits jedoch setze sich der Skeptiker mit der dogmatischen Kritik auseinander, er behaupte inkonsistenterweise, man solle sich des Urteils enthalten. 156 In dieser Reaktion sieht Frede eine gewisse Akzeptanz der Kritik, die er erlåutern will. Frede scheint anzunehmen, daû der Skeptiker sich nicht mit der Kritik auseinandersetzen wçrde, wenn es nicht der Fall wåre, daû er der Ansicht ist, man soll sich des Urteils enthalten: »Thus we must assume that there is a kind of assent, namely the kind of assent the sceptic will withhold, such that having a view does not involve that kind of assent, if we also want to assume that the sceptic does think that one ought to withhold assent and that he does not thereby involve himself in contradiction.« 157 Schon diese einleitende Argumentation fçhrt in Schwierigkeiten: Muû tatsåchlich angenommen werden, daû man auf irgendeine undogmatische Art der Ansicht sein kann, man solle sich des Urteils enthalten, nur weil der Skeptiker sich mit der Kritik auseinandersetzt, er trete inkonsistenterweise fçr die Urteilsenthaltung ein? M. E. muû vielmehr angenommen werden, daû der Skeptiker sich mit dieser Kri-
Frede (1984), S. 261. »What reason, then, do we have to assume that the sceptic thinks that one ought to withhold assent? I think that what may allow us to assume after all that the sceptic has the view that one ought to withhold assent is the fact that his opponents try to refute the sceptic by challenging this view and that the sceptic accepts the challenge,« Frede (1984), S. 260. 157 Frede (1984), S. 260. 155 156
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tik auseinandersetzt, weil er sie als Miûverståndnis seiner Position empfindet. Um zu zeigen, daû von zwei Arten der Zustimmung ausgegangen werden kann, denen wiederum die Unterscheidung zwischen Ansicht und Position entspreche, verweist Frede auf die Stellen, an denen Sextus einråumt, der Skeptiker stimme Eindrçcken zu, die ihn zur Zustimmung zwingen, sowie auf die beiden Verben eudokein und sunkatatithesthai in § 13. Er råumt ein, daû die beiden Verben åquivalent verwendet werden kænnen 158 , macht aber auch auf die Bedeutung von eudokein als passives Hinnehmen aufmerksam. 159 Frede zieht den Schluû, daû zwei Arten der Zustimmung unterschieden werden mçssen: die Zustimmung als willentlicher Akt im Sinne der Stoiker und ein passives Akzeptieren. »One might, having considered matters, just acquiesce in the impression one is left with, resign oneself to it, accept the fact that this is the impression one is left with, without taking the step to accept the impression positively by thinking the further thought that the impression is true.« 160 Dieser Schluû ist m. E. unhaltbar. Das Eingeståndnis des eudokein als erzwungene Zustimmung kann nicht in Fredes Sinne gedeutet werden. Die Interpretation des erzwungenen Zustimmens ist, so soll in 1.2.4. und ausfçhrlicher in Kapitel 3 gezeigt werden, einer der schwierigsten aber wesentlichsten Punkte fçr das Verståndnis der pyrronischen Position. Die Pointe des Eingeståndnisses erzwungener Zustimmungen ist nicht, daû der Skeptiker auf eine passive Art eine Ansicht erwirbt, wåhrend der Dogmatiker aktiv zustimmt. Vielmehr liegt sie darin, daû in erzwungenen Zustimmungen keine Ansichten erworben werden. An Parallelstellen wird der Aspekt des Zwangs so beschrieben, daû der Skeptiker von den Eindrçcken zur Zustimmung gezwungen wird. Diese erzwungene Zustimmung wird nicht, wie Frede annimmt, als ein passives Hinnehmen eines Eindrucks »nachdem man die Sache bedacht hat« beschrieben. Wenn die skeptische Zustimmung erzwungenermaûen erfolgt, so entsteht dadurch kein Urteil, sondern vielmehr wird ein Verhalten ausgelæst. Der Eindruck, daû die Dinge nicht er158 Vgl. Frede (1984) S. 262. Frede verweist darauf, daû die Suida, das Etymologicum Magnum, und die Lexeis Rhetorikai (Anecdota Graeca, I, p. 260, Ed. I. Bekker, Berlin 1814) sunkatatithesthai als Synonym von eudokein angeben. 159 Frede (1984) S. 262. 160 Frede (1984) S. 262.
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kennbar sind oder daû man sich des Urteils enthalten soll, kann nicht als ein Eindruck gesehen werden, dem der Skeptiker in Sextus' Sinne erzwungenermaûen zustimmt. So kann die Stelle, an der Sextus eine erzwungene Zustimmung des Skeptikers einråumt, nicht als Beleg dafçr herangezogen werden, daû der Skeptiker aufgrund einer schwachen Zustimmung die Ansicht hat, man solle nicht zustimmen. Frede schlågt eine weitere Ûberlegung vor. Der Skeptiker kænne gegen den Stoiker argumentieren, daû es eine schwache Weise der Zustimmung gebe, da der Stoiker selbst etwas derartiges annehmen mçsse, um die Handlungsfåhigkeit des Weisen zu sichern. 161 Die stoische Konzeption des Weisen zeige, daû die Stoiker mit genau solchen Fållen gerechnet haben, welche der Skeptiker beanspruchen muû, um nicht am Vorwurf der Apraxia zu scheitern: Er mçsse beanspruchen, daû es Fålle gibt, in denen er handeln kann, ohne in einem starken Sinne zuzustimmen. Ein Problem fçr die stoische Theorie ist, daû der Weise nicht im Bezug auf alles in jedem Moment einen kataleptischen Eindruck hat. Die Option, die der Weise manchmal ergreift, ist die der Urteilsenthaltung bzw. der Verweigerung der Zustimmung. Mit dieser Konzeption stehen die Stoiker vor eben dem Problem, das die græûte Schwierigkeit des Pyrrhonismus zu sein scheint: Sie kænnen Handlungen (nicht alle, wie die Pyrrhoneer, aber einige) vermeintlich nicht erklåren. Wie handelt der Weise dort, wo er keine Episteme hat, wenn er hier nicht (wie wir das bei Nichtweisen annehmen) auf Meinungen zurçckgreift? Die stoische Læsung fçhrt einen Begriff ein: Wo der Weise keine Erkenntnis hat, folgt er dem eulogon, dem Vernçnftigen. 162 Frede interpretiert die Quellen hierzu so, als wçrde dem Weisen eine schwache Art der Zustimmung zugeschrieben, was m. E. nicht der Fall ist. Diogenes Laertius berichtet eine anekdotenhafte Diskussion çber die Frage, ob der Weise Meinungen hat. Ein Student des Kleanthes, Sphairos, der in dieser Geschichte als Weiser auftritt, wird von einem Kænig geprçft. Der pråsentiert ihm Wachsåpfel, tåuschend echte Granatåpfelimitate. Sphairos scheint die Objekte fçr Øpfel zu halten, und der Kænig dçnkt sich als Sieger des Experiments. Der Weise erklårt Frede (1984) S. 263±5. »Eine vernçnftige Aussage ist eine Aussage, die einen græûeren Anspruch hat, wahr zu sein, wie zum Beispiel »Ich werde morgen leben«.« DL 7.76. Der Begriff des eulogon taucht auch in der akademischen Verteidigung gegen den Apraxia-Vorwurf auf. Fçr die Eigenståndigkeit dieses Begriffs im Vergleich zum stoischen argumentiert Ioppolo (1986) S. 121. 161 162
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sein Verhalten aber folgendermaûen: Er habe seine Zustimmung nicht dazu gegeben, daû es sich um Øpfel handele, sondern dazu, daû es vernçnftig (eulogon) sei, anzunehmen, daû es sich um Øpfel handele. 163 Die Figur, die die Stoiker hier entwerfen, rettet den Weisen vor Untåtigkeit in Situationen, in denen seine Zustimmung nicht den Standards von Wissenschaft entsprechen kænnte. Der Stoiker, so Frede, kænne daher nichts gegen eine Unterscheidung zwischen dem Vertreten einer Position und einer Annahme haben. 164 Frede folgert aus diesen Ûberlegungen, daû es fçr die Skeptiker, die an einem ad-hominem-Sieg in der Diskussion interessiert sind, aufgrund dieser stoischen Theorie mæglich gewesen sein muû, eine schwache Art der Zustimmung fçr sich in Anspruch zu nehmen. M. E. ist jedoch der Verweis auf die stoische Konzeption einer Zustimmung zu dem, was vernçnftigerweise angenommen werden kann, in der skeptischen ad-hominem-Argumentation nicht verwertbar. Sphairos stimmt dem Eindruck, daû vernçnftigerweise anzunehmen ist, es handele sich um einen Apfel, auf die gleiche Weise zu, wie er dem Eindruck, es handele sich um einen Apfel, zustimmen wçrde. Gerade hier liegt die Pointe des Beispiels: Wçrde der Weise in einer schwachen Weise zustimmen, håtte er eine Meinung. 165 Der Unterschied zwischen der Zustimmung des Weisen dazu, daû etwas vernçnftigerweise anzunehmen ist, und der Zustimmung dazu, daû etwas der Fall ist, liegt nicht in der Weise der Zustimmung, sondern in dem Eindruck, dem zugestimmt wird. Als Weiser stimmt Sphairos immer auf eine feste und unverånderliche Art zu, da seine Zustimmung aus der inneren Verfassung der Wissenschaft erfolgt. Wenn die Stoiker eine Zustimmung als schwach bestimmen, wie dies in einer Definition der Meinung geschieht 166 , kann sogar davon ausgegangen werden, daû »schwach« hier einen mo163 DL 7.177, L&S 40F (SVF 1.625). Eine analoges Beispiel mit Wachsvægeln findet sich bei Athenaeus VIII 50, 354e-f; Vol.II p. 276 sq. Kaibel (Huelser 380). 164 »Thus one may argue, that the Stoics, given their own theory, can hardly reject the suggestion that there is a difference between having a view and taking a position, between just going by an impression and going by an impression because one takes it to be true, between two kinds of assent, merely passive acceptance and active acceptance as true.« Frede (1984) S. 265. 165 Dies ergibt sich zumindest nach der Definition der Meinung, die Sextus in M 7.151 çberliefert. 166 M 7.151, vgl. die Bestimmung der Unwissenheit Stob.Ecl. 2.111, 20 f.=SVF 1,68c sowie die Definition der Meinung bei Stobaeus als schwache Annahme (hupolepsis) (2,112,2±4).
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ralisch negativ wertenden Beiklang hat. W. Gærler fçhrt aus, daû das Vokabular von Stårke und Schwåche mit Bezug auf die Zustimmung in der stoischen Theorie zwei Aspekte hat. Erkenntnistheoretisch ist mit »schwach« gemeint, daû der Eindruck, dem die Zustimmung gegeben wird, nicht ausreichend geprçft wird, um sicherzustellen, daû es sich um einen kataleptischen Eindruck handelt. Moralisch wertend ist das Prådikat insofern, als eine solche Zustimmung voreilig ist. 167 Diese moralische Komponente zeigt umso deutlicher, warum in keinem Fall davon ausgegangen werden kann, daû die Stoiker so etwas wie eine schwache Zustimmung des Weisen annehmen. Fçr die skeptische Argumentation ergibt sich, daû unter Verweis auf das stoische »eulogon« keine schwache Weise der Zustimmung etabliert werden kann. 168 Interessant ist, daû die Stoiker in einem anderen Kontext eine Art des Nachgebens¬ kennen, das im Gegensatz zur Zustimmung steht, und zwar in der Beschreibung des Verhaltens von Tieren. Tiere reagieren auf bestimmte Eindrçcke mit einem Nachgeben (eixis). 169 Durch einen derartigen Begriff des Nachgebens kann der passive Erwerb von Ansichten, den Frede dem Pyrrhoneer zuschreibt, nicht plausibel gemacht werden. Fçr die Frage, ob der Skeptiker aufgrund einer schwachen Zustimmung Ansichten hat, muû der Schluû gezogen werden, daû die stoische Theorie keinen Ansatzpunkt bietet, um etwas derartiges in der ad-hominem-Argumentation in Anspruch nehmen zu kænnen. Fredes Versuch, die Frage nach den Meinungen des Skeptikers durch eine Unterscheidung in zwei Arten der Zustimmung so zu læsen, daû der Skeptiker in einer passiven Art der Zustimmung Ansichten erwirbt, aber nicht im starken Sinn der Stoiker zustimmt und keine Position vertritt, muû m. E. als undurchfçhrbar aufgegeben werden. Seine Beschreibung der schwachen skeptischen Ansichten als »one's acquiescence in 167 Woldemar Gærler (1977), v. a. S. 89±92. »Es ist offenbar auch gemeint, daû die Zustimmung aus Schwåche gegeben wird, weil der Zustimmende den auf ihn eindrångenden fantasiai und dem eikos nicht genug Widerstand entgegensetzt«. 168 Sextus erwåhnt den Begriff des eulogon nur an einer Stelle (M 7.158). Er schreibt ihn Arkesilaos zu. Diese Stelle kann in keiner Weise dazu dienen, Sextus eine ad-hominemArgumentation gegen die Stoiker, die auf dem Begriff des eulogon beruht, zuzuschreiben. 169 Vgl. DL 7.51. Im Text heiût es, manche Sinneswahrnehmungen wçrden von wirklichen Gegenstånden stammen, und wçrden von Nachgeben oder Zustimmung begleitet sein. Brad Inwood argumentiert çberzeugend, daû mit dem Nachgeben hier nur die Reaktion von Tieren auf die Eindrçcke gemeint sein kann (Ethics and Human Action in Early Stoicism, Oxford 1985, S. 75±6).
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the impression« bzw. »accept the fact that this is the impression that one is being left with« wird m. E. nicht verståndlich. 170 1.2.4. Der entscheidende Vorbehalt im Verzicht auf Dogmata Im Folgenden soll der These vom Skeptiker ohne Dogmata, die v. a. Barnes und Burnyeat in einer Reihe von Veræffentlichungen vertreten, unter einem entscheidenden Vorbehalt zugestimmt werden. Barnes und Burnyeat, Fredes wichtigste Kontrahenten in der Diskussion um die Meinungen des Skeptikers, finden in den Bçchern des Sextus Empiricus die Skepsis eines rusticus, der auf Dogmata aller Art verzichtet. In der Interpretation darf jedoch nicht unterschlagen werden, daû Sextus bezçglich des Verzichts auf Dogmata einen Vorbehalt formuliert: Dogmata im Sinn von erzwungenen Zustimmungen werden akzeptiert. 171 Eine grundlegende Schwierigkeit der Interpretation liegt m. E. darin, daû Sextus zwei Begriffe von »dogma« anfçhrt: Er verwendet einen Begriff von Dogma, um uneingeschrånkt zu sagen, der Skeptiker verzichte auf Dogmata, und einen anderen Begriff von Dogma, um einzuråumen, daû in diesem Sinne auch der Skeptiker Dogmata habe. 170 Obwohl Mates sich, im Gegensatz zu Frede, der These vom Skeptiker ohne Meinungen anschlieût, scheint er in seiner Interpretation des Verzichts auf Meinungen in eine åhnliche Richtung zu gehen wie Frede. Eine Meinung sei relativ stabil çber die Zeit und gegençber Einwånden, nicht nur »any transitory whim or inclination to acquiesce« (1996, S. 60). Er stçtzt seine Interpretation auf Sextus' Gebrauch des Verbs diabebaiousthai. Eine so nahegelegte Unterscheidung zwischen einem starken Behaupten und einem kurzfristigen¬ Meinen ist m. E. ebenso wenig zu verteidigen wie Fredes Interpretation. Der entscheidende Punkt ist, daû der Skeptiker ganz auf Wahrheitsansprçche verzichten muû; dabei ist die Frage der Dauer irrelevant. 171 Barnes und Burnyeat vertreten die These von rusticus mit anderen Vorbehalten, die m. E. aufgegeben werden kænnen. Barnes ist der Ansicht, daû zwar das skeptische Fainomena-Folgen, PH 1.13 und drei Teile dessen, was Sextus als alltågliche Lebenserfahrung bezeichnet, von der der Skeptiker sich leiten lasse (1.23±4), mit der Landversion vereinbar wåren. Der vierte Aspekt dieser Lebenserfahrung, die Sitten und Traditionen, kænne allerdings laut Barnes nicht handlungsleitend sein, ohne daû der Skeptiker in diesem Zusammenhang Meinungen håtte (1982, S. 15). Inwiefern auch der vierte Punkt der Lebenserfahrung interpretiert werden kann, ohne daû dem Skeptiker Meinungen zugeschrieben werden, wird in Kapitel 3 diskutiert. Burnyeat (1983, S. 1313 ff.) ist der Ansicht, daû Aussagen wie »das scheint mir ein gutes Argument« als Dogma angesehen werden mçssen und die Einheitlichkeit der skeptischen Position zerstæren. In Kapitel 2 werde ich zu zeigen versuchen, daû dieser Vorbehalt nicht angebracht ist.
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Vielmehr behaupten wir, nicht zu dogmatisieren in dem Sinne, in dem einige Dogma¬ die Zustimmung (sunkatathesin) zu irgendeiner der in den Wissenschaften untersuchten Sache nennen. (PH 1.13)
In der Interpretation dieses Satzes wurde gezeigt, daû jede Aussage darçber, wie eine Sache ist, als ein Dogma zåhlt, und der Skeptiker jedes Dogma in diesem Sinne ablehnt. Der Begriff des Dogmas, den Sextus in der Erklårung des Verzichts verwendet, erfaût alle assertorischen Aussagen. Dementsprechend låût sich kein Begriff der Meinung finden, anhand dessen dem Skeptiker Meinungen zugeschrieben werden kænnten. Worin aber besteht dann der Vorbehalt in der Erklårung des Verzichts auf Dogmata? Wenn wir sagen, daû der Skeptiker nicht dogmatisiere, dann meinen wir nicht jene Bedeutung von Dogma¬, in der einige Dogma¬ ganz allgemein die Billigung (to eudokein) irgendeiner Sache nennen. Denn den als Eindruck (kata fantasian) aufgezwungenen Erlebnissen (katenagkasmenois pathesi) stimmt der Skeptiker zu (sunkatatithetai). (PH 1.13)
Der hier beschriebene Begriff des Dogmas wird eingefçhrt als ein Verståndnis von »dogma«, welches der Skeptiker nicht annimmt, wenn er sagt, daû der Skeptiker nicht dogmatisiert. Die entscheidende Information, die Sextus gibt, indem er auf diesen Begriff des Dogmas eingeht, besteht darin, daû der Skeptiker »als Eindruck aufgezwungenen Erlebnissen« zustimmt. Was aber ist damit gemeint? Die Formulierung in PH 1.13 macht nicht deutlich, was den Zwang ausçbt und worin dieser besteht. Ein Vergleich mit PH 1.19, wo es heiût, der Skeptiker werfe die erlebnishaften Eindrçcke, die ihn ohne seinen Willen zur Zustimmung fçhren, nicht um, macht die Zusammenhånge deutlich: Der Zwang geht von bestimmten Eindrçcken aus, sie fçhren den Skeptiker ohne sein Zutun oder seinen Willen zur Zustimmung. 172 Wie das genau zu verstehen ist, wird in Kapitel 3 diskutiert. Fçr den Moment gençgt es, festzuhalten, daû der Skeptiker behauptet, von erlebnishaften Eindrçcken zur Zustimmung gezwungen zu werden. Bestimmte Leute nun bezeichnen dieses erzwungene Zustimmen als
172 Vgl. PH 1.193, wo es heiût, daû manche Dinge den Skeptiker erzwungenermaûen (anagkastikos) in die Zustimmung fçhren.
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Dogma. Insofern, als Sextus ein solches erzwungenes Zustimmen fçr den Skeptiker anerkennt, spricht er ihm Dogmata zu. § 13 ist ohne jeden Zweifel fçr sich allein genommen kaum verståndlich. Es muû ausgegriffen werden auf die Darstellung der erzwungenen Zustimmung zu erlebnishaften Eindrçcken, wenn der Paragraph interpretiert werden soll. Warum unterlåût Sextus es aber nicht einfach, an dieser frçhen Stelle des Grundrisses einen vællig ungewæhnlichen Begriff des Dogmas zu erwåhnen und dem Skeptiker erzwungene Zustimmungen zuzuschreiben? Entscheidend scheint mir zu sein, daû der Skeptiker, wenn er seinen Verzicht auf Dogmata erklårt, immer den Apraxia-Einwand im Blick haben muû. Er muû die Kritik, wie er ohne Dogmata handeln kænne, voraussehen und beantworten. Seine Handlungsfåhigkeit aber kann er in der Argumentation gegen die Stoiker, in deren Handlungstheorie die Zustimmung zu Eindrçcken eine wichtige Rolle spielt, nicht verteidigen, ohne einzuråumen, daû er bestimmten Eindrçcken erzwungenermaûen zustimmt. Dieser Punkt wird in Kapitel 3 ausfçhrlich diskutiert werden. Fçr den Moment muû einiges vorweggenommen werden, was erst dort genau begrçndet werden kann. Wenn der Skeptiker in der Antwort auf den Apraxia-Vorwurf eine erzwungene Zustimmung zugibt, so verfremdet er den stoischen Begriff der Zustimmung insofern, als er ihm seine Bestimmung als »in unserer Macht« (»ef hemin« 173 ) nimmt. Die erzwungene Zustimmung hat nichts mit der Zustimmung im Sinne des Urteilens gemein. Sie liegt weder in der Macht des Pyrrhoneers, noch wird in ihr geurteilt, ob etwas der Fall ist oder nicht. Statt dessen wird die Zustimmung als ein unwiderstehlicher Affekt, als eine bloûe psychische Reaktion verstanden. Dies ist der entscheidende Punkt: Indem Sextus fçr den Skeptiker Dogmata im Sinne dieser erzwungenen Zustimmung akzeptiert, ist der Begriff des Dogmas ebenso weit von dem çblichen Begriff des Dogmas entfernt wie der der erzwungenen Zustimmung vom Begriff der Zustimmung im Sinne des Urteilens. Die erzwungenen Zustimmungen werden an keiner anderen Stelle bei Sextus als Dogmata bezeichnet. Zudem kann der Begriff des Dogmas in diesem Verståndnis nicht durch den Begriff der Meinung wiedergegeben werden; ein Dogma im Sinne einer erzwungenen Zustimmung ist keine Meinung. 173 Zu der Bestimmung der Zustimmung als »in unserer Macht« vgl. Clemens Alex., Stromat. II 12 § 54,5±55,1, p. 142 Fr., Huelser 365.
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Wenn also gefragt wird, ob der Skeptiker Meinungen hat, so kann diese Frage ohne Vorbehalt mit Nein beantwortet werden. Die Notwendigkeit eines Vorbehalts ergibt sich nur dann, wenn nach den Dogmata des Skeptikers gefragt wird, da hier zwei Begriffe des Dogmas angesprochen sind. Nachdem Sextus eingeråumt hat, daû der Skeptiker in dem Sinne Dogmata hat, daû manche Leute seine erzwungenen Zustimmungen so nennen wçrden, scheint im Text eine Erlåuterung dieses Zugeståndnisses durch ein Beispiel fçr ein skeptisches Dogma zu folgen. Denn den als Eindruck (kata fantasian) aufgezwungenen Erlebnissen (pathesi) stimmt der Skeptiker zu (sukatatithetai). Wenn er z. B. erwårmt oder gekçhlt wird (thermainomenos/ psuchomenos), so wçrde er nicht sagen: »Ich glaube (doko), ich werde nicht erwårmt bzw. gekçhlt (thermainesthai/ psuchesthai).« (PH 1.13)
Die Pointe in der Interpretation dieses Textabschnitts liegt in der Frage, wofçr Sextus hier eigentlich ein Beispiel gibt. Wenn gefragt wird, ob der Skeptiker nicht Dogmata habe, so wird ausgehend sowohl vom alltåglichen wie vom philosophischen Sprachgebrauch angenommen, daû ein Dogma eine Art von Urteil ist. Es wird weiter unterstellt, daû einem Dogma eine sprachliche Øuûerung entspricht. Beides trifft jedoch fçr das pyrrhonische Dogma¬ nicht zu. In § 13 findet sich kein Beispiel fçr ein Urteil eines Pyrrhoneers. Die erzwungene Zustimmung ist rein passiv: Da der Begriff des Urteils nicht von dem einer aktiven Stellungnahme gelæst werden kann, kann eine erzwungene Zustimmung in keiner Weise als Urteil bezeichnet werden. Ebenso wird die Erwartung, ein Beispiel fçr eine skeptische Øuûerung zu finden, enttåuscht. Sextus gibt kein Beispiel dafçr, was der Skeptiker sagt, sondern eben eines dafçr, was er nicht sagt. Naheliegenderweise wird man in der Interpretation versuchen, daraus, was der Skeptiker nicht sagt, zu schlieûen, was er sagt. Die negative Formulierung des Beispiels ist m. E. jedoch ein ausgesprochen differenzierter Schachzug. 174 Daraus, was der Skeptiker nicht sagt, kann nåmlich keineswegs ersehen werden, was er sagt. Der Umkehrschluû, der Skeptiker wçrde, wenn ihm warm wåre, »Ich glaube, mir ist warm« sagen, ist nicht berechtigt. Spåtere Beispiele fçr pyrrhonische Øuûe174 Barnes (1982, S. 10 ff.) macht auf die negative Formulierung des Beispiels aufmerksam.
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rungen, die mit dem Ziel einer nicht-assertorischen Redeweise mit dem Verb fainesthai arbeiten, zeigen, daû er dies in keinem Fall sagen wçrde. Das vermeintliche Angeben eines Beispiels muû als Verwirrspiel erscheinen: Sextus gibt deshalb kein Beispiel eines pyrrhonischen Dogmas¬ in Form einer sprachlichen Øuûerung, weil den pyrrhonischen Dogmata¬ tatsåchlich gar keine sprachlichen Øuûerungen entsprechen. Dies ist ein ausgesprochen wichtiger Punkt. Die pyrrhonischen Øuûerungen, in denen der Pyrrhoneer kundtut, wie ihm etwas scheint (fainetai), werden nirgends als sprachliche Entsprechungen der Dogmata identifiziert, die Sextus fçr den Pyrrhoneer akzeptiert. Wenn Sextus ein Beispiel fçr die pyrrhonische Rede wie »Der Honig scheint uns zu sçûen« 175 gibt, so gibt er damit kein Beispiel fçr ein pyrrhonisches Dogma¬. Ein Beispiel fçr ein pyrrhonisches Dogma¬ wåre statt dessen, daû der Pyrrhoneer von dem Eindruck, daû er Durst hat, zur Zustimmung gezwungen wird, was nichts anderes heiût, als daû er trinkt. Die Pointe besteht darin, daû die erzwungenen Zustimmungen nicht erklåren, wie der Pyrrhoneer sich sprachlich åuûert, sondern, wie sein Verhalten entsteht. Indem Sextus einråumt, daû der Pyrrhoneer von erlebnishaften Eindrçcken zur Zustimmung gezwungen wird, schafft er in der Erklårung des Verzichts auf Dogmata den Ansatzpunkt zur Verteidigung gegen die Apraxia-Kritik. Genau deshalb, weil die Erarbeitung eines solchen Ansatzpunktes unverzichtbar ist, wenn er in der Kontroverse gegen den Dogmatiker gewinnen will, muû er den Verzicht auf Dogmata auf derart kryptische Weise darstellen. Daû nicht mehr als ein Ansatzpunkt angelegt ist und eine Erklårung ausbleibt, liegt m. E. daran, daû Sextus in den Paragraphen vor § 13 die entscheidende Vorarbeit noch nicht geleistet hat. Die erzwungenen Zustimmungen kænnen erst im Zusammenhang mit der skeptischen Orientierung an den fainomena genauer kommentiert werden. PH 1.13 spricht eigentlich zwei Bereiche der pyrrhonischen Philosophie an: Die Erklårung des Verzichts auf Dogmata (im Sinne von Urteilen) und die Erlåuterung der pyrrhonischen Fåhigkeit, sich zu verhalten. Die beiden Begriffe des Dogmas gehæren diesen unterschiedlichen Bereichen an. Insofern es um die Frage geht, ob der Skeptiker Meinungen hat, muû der Begriff des Dogmas im Sinne des Ur175
PH 1.20.
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teilens herangezogen werden: nach ihm hat der Pyrrhoneer keine Dogmata. Insofern es um die Frage geht, wie der Pyrrhoneer nicht zur Untåtigkeit verbannt ist, ist der andere Begriff des Dogmas relevant: die Dogmata im Sinne von erzwungenen Zustimmungen verwahren den Pyrrhoneer vor der Untåtigkeit. Wenn auf diese Weise verståndlich wird, worin der relevante Vorbehalt im Verzicht auf Dogmata besteht, so kann geschlossen werden, daû die These vom Pyrrhoneer ohne Dogmata grundsåtzlich zutrifft. Sie schlieût an den Sprachgebrauch an, von dem Sextus nur das eine mal abweicht, wenn er erzwungene Zustimmungen als Dogmata bezeichnet; im Sinne von Meinungen bzw. Urteilen hat der Pyrrhoneer keine Dogmata.
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2. Das pyrrhonische Sprechen
2.1. Das pyrrhonische fainesthai 2.1.1. Die Fainetai-Regel Obwohl der Pyrrhoneer bestreitet, Dogmata zu haben, spricht er. Dabei geråt er in offensichtliche Schwierigkeiten: er muû eine nichtassertorische Form der Rede finden. In Kapitel 1 wurde fçr die These argumentiert, der Skeptiker verzichte uneingeschrånkt auf Dogmata. Bevor in Kapitel 3 das ApraxiaProblem diskutiert wird, soll nun zu der Frage çbergegangen werden, wie der Verzicht auf Dogmata auf der Ebene des pyrrhonischen Sprechens vorzustellen ist. Wird ein Dogma sprachlich geåuûert, so hat diese Øuûerung 1 assertorischen Charakter. Statt nach dem Verzicht auf Dogmata soll jetzt also nach dem Verzicht auf eine assertorische Sprache gefragt werden. Gelingt es dem Pyrrhoneer nicht, eine nichtassertorische Form der Rede zu finden, so muû sein Versuch, ohne Dogmata zu leben, als gescheitert betrachtet werden. In der Erlåuterung der skeptischen Epoche wurde deutlich, daû der skeptische Verzicht auf die Zustimmung gleichbedeutend damit ist, daû der Skeptiker weder etwas bejaht noch etwas verneint. Dies muû als grundsåtzlichste skeptische Charakterisierung der eigenen Sprache festgehalten werden: Der Skeptiker will seine Rede derart verstanden wissen, daû sie weder als Affirmation noch als Negation zu deuten ist, d. h. nicht assertorisch ist. In der Erlåuterung des Satzes »Alle Dinge sind relativ«, der sich in Den Begriff der Øuûerung gebrauche ich zunåchst in einem weiten Sinn. In diesem weiten Sinn gebrauche ich »pyrrhonische Øuûerung« gleichbedeutend mit »pyrrhonische Rede«. In 2.2. wird ein Vergleich zwischen dem pyrrhonischen Kundtun und Øuûerungen im Wittgensteinschen Sinne gezogen; dieser spezifische Sinn von »Øuûerung« wird jedoch vor der Diskussion dieses Vergleichs nicht angenommen.
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den Zehn Tropen findet, gibt Sextus folgende Anweisung: »denn man muû wissen, daû wir hier wie anderswo, esti (ist) miûbråuchlich anstelle von fainetai (scheinen) gebrauchen (katachrometha), und daû wir so eigentlich sagen Alle Dinge scheinen relativ¬« 2 . Diese Anweisung werde ich im folgenden als Fainetai-Regel bezeichnen. Im M 11 heiût es, »ist« habe zwei Bedeutungen (duo semainei). Einmal, wie etwas wirklich ist (to hoion huparchei), so wie man am Tag sage, daû jetzt Tag ist, anstatt zu sagen, daû jetzt wirklich Tag ist. Zweitens, wie etwas scheint (to hoion fainetai), so wie manche Mathematiker sagen wçrden, die Distanz zwischen zwei Sternen sei eine Elle, und damit eigentlich das Scheinen und nicht das Sein beschreiben. Denn vielleicht sei die Distanz in Wirklichkeit hundert Stadien, und scheine nur aus der Entfernung eine Elle zu betragen. 3 So sei, wenn der Skeptiker »Von den Dingen sind manche gut, andere schlecht, andere in der Mitte von beidem« sage, »estin« nicht dazu da, anzuzeigen (delotikon), wie es in Wirklichkeit ist, sondern wie es scheint. 4 Øhnlich wird fçr »Alle Dinge sind unbestimmt« gesagt, »ist« sei durch »scheint dem Skeptiker« zu ersetzen. 5 Der Zusatz »dem Skeptiker« ist sehr wichtig: an vielen Stellen ergånzt Sextus »fainetai« so, daû die Ûbersetzung nicht »es scheint«, sondern »mir/ uns/ dem Skeptiker scheint« lauten muû. Dieses Verståndnis des »fainetai« kann auf die Stellen, an denen es nicht explizit gemacht wird, çbertragen werden. Es geht darum, daû eine Sache dem Sprecher so-und-so scheint. 6 Die Fainetai-Regel verlangt also nicht eine einfache Ersetzung von »ist« durch »scheint«; eingesetzt werden soll vielmehr fainetai verbunden mit einer Qualifizierung auf den Sprecher. Eine zweite Qualifizierung macht Sextus in PH 1.4:
PH 1.135. M 11.18. 4 M 11.19. 5 PH 1.198. Vgl. auch PH 1.200. 6 Der Plural »uns« ist so zu verstehen, daû Sextus von den Skeptikern spricht. Wir tun kund, wie uns eine Sache scheint¬ heiût, daû jeder einzelne Skeptiker kundtut, wie es ihm scheint. Vgl. »to fainomenon hemin« PH 1.4, 94, 96, 190, 191, 196, 208, 233, »fainesthai hemin« PH 1.7, »to heauto fainomenon« PH 1.15, 197, »fainesthai auto« PH 1.198, »hos emoi fainetai« PH 1.199, 202, »moi fainetai« PH 1.78, 199, 200, 203. In der Erlåuterung des Schlagworts »Alle Dinge sind unbestimmt« setzt Sextus »wie mir scheint« mit »soweit es mich angeht« (hos pros eme) gleich (PH 1.199). 2 3
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Davor aber wollen wir anmerken, daû wir bei keinem der Dinge, die wir sagen werden, mit Sicherheit behaupten (diabebaioumetha), daû es sich in jedem Fall so verhalte, wie wir sagen, sondern daû wir jeweils nach dem, was uns jetzt scheint, erzåhlend kundtun 7 (kata to nun fainonenon hemin historikos apangellomen). (PH 1.4)
Der Skeptiker »tut erzåhlend kund«, wie ihm etwas jetzt (nun) scheint ± fainetai ist somit nicht nur auf den Sprecher der Øuûerung, sondern auch auf den Zeitpunkt der Øuûerung bezogen. Was der Pyrrhoneer kundtut ist gewissermaûen eine Momentaufnahme. Die zeitliche Qualifizierung kann aufgrund von PH 1.4 dort, wo sie nicht explizit vorgenommen wird, ergånzt werden. Nach der FainetaiRegel muû also ein Satz der Form »X ist F« zu einem Satz der Form »X scheint mir jetzt F« umgeformt werden. Mit der Beschreibung des pyrrhonischen Sprechens in PH 1.4 ist die Verwendung von fainesthai von Beginn des Grundrisses an mit dem Begriff des Kundtuns (apangellein) verbunden 8 : Indem der Pyrrhoneer fainesthai verwendet bzw. seine Rede so verstanden wissen will, als ob er fainsthai verwende, will er eine ganz bestimmte Form der Rede in Anspruch nehmen, die er Kundtun nennt. Diese wird dem »mit Sicherheit Behaupten« gegençbergestellt. Die Abgrenzung des Kundtuns vom Behaupten macht deutlich, daû die Redeform, die der Pyrrhoneer Kundtun nennt, nicht-assertorisch sein soll. In der Unterscheidung zwischen Kundtun und Behaupten verwendet Sextus einen Begriff, der im Deutschen als »sprachlich hervorbringen« wiedergegeben werden kann. In einer Erklårung zu den Schlagworten schreibt er, im Hervorbringen (en toi proferesthai) der Schlagworte dogmatisiere der Skeptiker nicht (PH 1.14). Der Text fåhrt fort: Wenn also der Dogmatisierende das, was er dogmatisch behauptet, als wahr setzt, der Skeptiker dagegen seine Schlagworte in dem Sinn vorbringt (proferetai), daû sie potentiell von sich selbst ausgeschaltet werden 9 , dann wird man wohl nicht sagen, daû er dogmatisiert, wenn er sie vorbringt (en te profora). Das Wichtigste ist aber, daû er im Hervorbringen (en te profora) dieser SchlagHossenfelder çbersetzt an dieser Stelle »erzåhlend berichten«. Da ich es vorziehe, apangellein durchgehend gleich wiederzugeben, wåhle ich die oben gegebene Ûbersetzung. 8 PH 1.4 (vgl. Jancek 1972); vgl. PH 1.15, 19, 200 (2x), 203. 9 Auf den Aspekt der pyrrhonischen Argumentation, der mit dem berçhmten Bild pyrrhonischer Argumente als Abfçhrmittel zusammenhångt, soll hier nicht eingegangen werden. Dieses Moment des Textes ist fçr die folgende Interpretation nicht von Belang. 7
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worte nur sagt, was ihm selbst scheint (to heauto fainomenon), und daû er nur das, was er selbst erlebt (pathos) kundtut. (PH 1.15)
Øhnlich formuliert Sextus spåter mit Bezug auf das Schlagwort »Jedem Argument steht ein gleichwertiges Argument entgegen«: richtig verstanden sei dies kein dogmatisches sprachliches Hervorbringen (proforan ou dogmatiken), »sondern das Kundtun eines menschlichen Pathos«. 10 Interessant ist m. E., daû Sextus in diesem Punkt mæglicherweise an einen stoischen Sprachgebrauch anschlieût. Die Stoiker verwenden das Verb proferesthai, um das Hervorbringen des Lauts (fone) zu beschreiben. In der bereits zitierten Unterscheidung von Laut und Lekton heiût es, der Laut werde hervorgebracht (proferesthai), wohingegen das Lekton gesagt (legetai) werde. 11 Der Laut wird vom Sprechen (lexis) unterschieden: wåhrend auch ein bloûes Geråusch ein Laut ist, ist das Sprechen artikuliert (enarthron). Das Sprechen wiederum wird von der Rede (logos) unterschieden. Die Rede ist immer sinnvoll, wohingegen unter das Sprechen auch z. B. »blituri« fållt. 12 Nach der stoischen Theorie fållt demnach jeder Laut unter den Begriff des Hervorbringens: Auch eine nicht-sinnvolle Øuûerung wie »blituri« wird in diesem Sinn hervorgebracht; sowohl die Øuûerung von vollståndigen wie von nicht-vollståndigen Lekta ist erfaût. Es ist m. E. interessant, daû Sextus zur Unterscheidung von Behaupten und Kundtun proferesthai verwendet. Wçrde er statt dessen legein verwenden, so mçûte er bereit sein, dem stoischen Kritiker zu erklåren, inwiefern die pyrrhonische Rede eine sinnvolle Rede gemåû dem oben erwåhnten Begriff des logos ist. Die Frage, ob die pyrrhonische Rede nach den Maûståben der stoischen Theorie unter den Begriff des logos fållt, thematisiert Sextus jedoch nicht. Die Verwendung von proferesthai ermæglicht es Sextus, Behaupten und Kundtun unter einem Begriff zu subsumieren, ohne sich dabei auf eine nåhere Bestimmung des Kundtuns hinsichtlich der Frage, ob im Kundtun im Sinne der lexis eine artikulierte sprachliche Øuûerung oder eine Rede im Sinne des logos erfolgt, festzulegen. PH 1.203. Vgl. auch PH 1.197. Dort schreibt Sextus zur Erlåuterung von »Ich bestimme nichts«, unter »bestimmen« verstehe er, daû eine verborgene Sache mit Zustimmung vorgebracht werde (proferesthai meta sunkatatheseos). 11 DL 7.57, vgl. Kapitel 1. 12 DL 7.57. 10
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Bevor Sextus' Beschreibung des Kundtuns im einzelnen diskutiert wird, soll die skeptische Verwendung von fainesthai untersucht werden. Die Fainetai-Regel wird von Sextus als allgemeine Anweisung formuliert, wie das pyrrhonische Sprechen verstanden werden soll. Sie gilt, wenn der Pyrrhoneer seine Lebensweise erlåutert (PH 1.4), wenn er eines seiner Schlagworte benutzt (PH 1.198) 13 , und auch, wenn er dogmatische Thesen und Theorien diskutiert (M 11.19). Der dritte Punkt muû differenziert werden: In M 11.19 schreibt Sextus, daû in »Von den Dingen sind manche gut, andere schlecht, andere in der Mitte von beidem« »estin« dazu da sei, anzuzeigen, was dem Skeptiker scheint. Aus dieser Bemerkung kann geschlossen werden, daû der Skeptiker auch dann, wenn er Thesen und Argumente der Dogmatiker anfçhrt, kundtut, was ihm scheint. Dies ist fçr långere Referate einer dogmatischen Theorie kaum vorstellbar. Wenn Sextus etwa in M 7 in den Paragraphen 227 bis 260 die stoische Lehre des Eindrucks darstellt, folgen oft mehrere Såtze aufeinander, die ein reines Referat der stoischen Theorie bilden. Sollen auch diese Såtze so verstanden werden, daû der Pyrrhoneer kundtut, was ihm gerade scheint? Dies scheint mir deshalb unplausibel, weil der Pyrrhoneer glaubhaft machen mçûte, daû ihm wåhrend eines Referats einer dogmatischen Theorie nacheinander genau das scheint, was in den Lehrsåtzen der Theorie aufeinander folgt. Eine andere Deutung ist vorzuziehen: In einem Referat einer dogmatischen Theorie fçhrt der Pyrrhoneer Såtze an. Er nennt die Aussagen der Dogmatiker, ohne zu ihnen Stellung zu nehmen. Die Darstellung der stoischen Theorie des Eindrucks ist jedoch nicht durchgångig als reines Referat zu lesen. So schreibt Sextus etwa in M 7.241, nachdem er unterschiedliche Modifikationen der Theorie von Seiten der Stoiker referiert hat, der Eindruck sei nach den Stoikern also schwer zu bestimmen. Dieser Satz kann nicht im Sinne des Anfçhrens gedeutet werden; hier tut der Pyrrhoneer kund, was ihm scheint. Wie in »Von den Dingen sind manche gut, andere schlecht, andere in der Mitte von beiden« (M 11.19) muû m. E. angenommen werden, daû das »esti« als »fainetai« verstanden werden soll. So ist ein Bereich des pyrrhonischen Sprechens gefunden, der nicht Eine Unterscheidung der Redeweise in den Schlagworten und der Redeweise im Alltag wird in 2.2.1. vorgenommen. Hinsichtlich dessen, daû der Skeptiker kundtut, wie ihm etwas scheint, unterscheiden sich beide Bereiche skeptischen Sprechens jedoch nicht. Deshalb kann auf eine Differenzierung vorerst verzichtet werden.
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als ein Kundtun dessen, was dem Skeptiker scheint, gedeutet werden kann. Die Redeweise, die ich als Anfçhren bezeichne, erscheint mir fçr den Skeptiker jedoch unproblematisch: so wie der Logiker zwar mit Propositionen arbeitet, jedoch keine propositionale Einstellung zu ihnen einnimmt, kann der Skeptiker in seinen auf die Isosthenie ausgerichteten Diskussionen dogmatische Thesen und Theorien anfçhren. Im Zusammenhang mit den Fragen, ob dem Pyrrhoneer eine propositionale Einstellung zugeschrieben werden kann und ob er Propositionen åuûert (2.2.3.), werde ich auf diese Form der Rede zurçckkommen. Zunåchst werde ich die Redeweise des Pyrrhoneers, die nicht als ein Anfçhren zu deuten ist, in den Vordergrund der Untersuchung stellen. Denn erstens handelt es sich um die Redeweise, die sowohl die Alltagsåuûerungen des Pyrrhoneers wie einen Teil seiner Øuûerungen in Diskussionen von Thesen und Theorien ± also vergleichsweise den græûeren Teil seines Sprechens ± einnimmt. Und zweitens scheint mir die Erklårung, eine Redeweise sei insofern nicht-assertorisch, als das, was einem scheint, kundgetan werde, weitaus problematischer als die Deutung des Referierens von Theorien als ein nichtassertorisches Anfçhren. An der Frage, ob die Explikation der Redeweise des Kundtuns gelingt, hångt die Konsistenz des Skeptikers: Wenn er seinen uneingeschrånkten Verzicht auf Dogmata erklårt, muû er darstellen kænnen, wie er im Alltag sprechen kann, ohne in Widerspruch zu diesem Verzicht zu geraten. Die Fainetai-Regel ist damit grundlegend fçr die pyrrhonische Philosophie. 2.1.2. Die sprachliche Form pyrrhonischer Rede Zunåchst sollen nun die Verwendungen von fainesthai bei Sextus gesichtet und unterschieden werden. Dies fçhrt zu der These, daû es neben unterschiedlichen anderen Verwendungen einen spezifisch pyrrhonischen Gebrauch des Verbs gibt, der fçr die Nicht-Assertivitåt pyrrhonischer Rede verantwortlich sein soll. Zweitens ergibt sich fçr die Deutung dieser Øuûerungen, daû sie die Form »X scheint mir [jetzt] F« (z. B. ho autos purgos porrothen men fainetai stroggulos egguthen de tetragonos ± Derselbe Turm scheint aus der Entfernung rund, aus der Nåhe dagegen viereckig 14 ) in Abgrenzung zu der Form 14
PH 1.32.
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»X scheint mir [jetzt] F zu sein« haben. (»Jetzt« fçhre ich deshalb in Klammern an, weil Sextus diese zeitliche Qualifizierung in den Standardbeispielen nicht explizit macht; in der Darstellung der sprachlichen Form einer pyrrhonischen Øuûerung muû sie jedoch berçcksichtigt werden.) Wie diese Form der Rede verstanden werden kann, wenn sie nicht eine elliptische Version der zweiten Form sein soll, wird daraufhin zu diskutieren sein. Es kænnen, ohne daû dabei alle Nuancen berçcksichtigt werden, folgende Verwendungsweisen des Verbs im Griechischen anhand von Beispielen unterschieden werden 15 : (1a) Das Feuer oder die Sonne scheint; (1b) Personen erscheinen bzw. kommen, Ereignisse treten ein 16 ; (2a) etwas scheint so-und-so zu sein (konstruiert mit dem Infinitiv, wobei dieser teilweise wegfållt); (2b) es ist deutlich, daû etwas sound-so ist (konstruiert mit Partizip, das teilweise wegfållt); (2c) den Sinnen so-und-so zu sein scheinen bzw. deutlich sein; (2d) intellektuell so-und-so scheinen bzw. deutlich sein. 17 Da bezçglich der Verwendungen von fainesthai, die sich bei Sextus finden, eine Vielzahl von Aspekten unterschieden werden mçssen, soll dieser Abschnitt in mehrere Teile zerlegt werden. Nach einer ersten Zuordnung der pyrrhonischen Verwendungsweise von fainesthai zu einer der genannten Verwendungsweisen (2.1.2.1.) wird die Form der Såtze, in denen Sextus fainesthai spezifisch pyrrhonisch gebraucht, beschrieben (2.1.2.2.). Nach einer kurzen Diskussion der nicht-spezifisch pyrrhonischen Verwendungen von fainesthai bei Sextus (2.1.2.3.) soll erlåutert werden, inwiefern dem Pyrrhoneer etwas sowohl sinnlich wie intellektuell so-und-so scheint (2.1.2.4.).
Ich çbernehme die Unterscheidungen aus LSJ 1968. Die Platon- und Aristoteles-Stellen, die auf den folgenden Seiten diskutiert werden, werden zum groûen Teil dort angegeben. 16 Im LSJ wird in dieser Rubrik auch das Entstehen von etwas (»come into being«) genannt. 17 Weiter wird die Verwendung zur Bejahung angegeben (die befragten Dialogpartner in Platons Dialogen sagen oft »fainetai« zur Beståtigung); da diese Verwendung fçr die Analyse skeptischer Rede unwichtig ist, lasse ich sie weg. Ebenso vernachlåssige ich die angefçhrte Verwendung der Form »ta fainomena« als »what is to be seen«, da der Ausdruck »ta fainomena« an dieser Stelle noch nicht diskutiert werden soll. 15
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2.1.2.1. Zuordnung der pyrrhonischen Verwendungsweise von fainesthai Wichtig ist, daû Sextus fainesthai nicht einheitlich verwendet. Es finden sich jedoch nur vier Beispiele fçr eine Verwendung im Sinne von (1): Im Zusammenhang mit der Diskussion der Astrologie in M 5 ist eine Stelle m. E. so zu verstehen, daû Sextus sagt, bestimmte Sterne wçrden so scheinen (leuchten), daû sich dabei eine dreieckige bzw. eine viereckige Figur ergibt. 18 Ein zweites Mal verwendet Sextus fainesthai im Sinne von (1) zu Beginn der Diskussion des Kriteriums in M 7. Wenn in der Untersuchung ein Kriterium auftauchen wçrde, dann wçrden die Skeptiker der Voreiligkeit çberfçhrt werden. 19 Die beiden anderen Stellen sind bezeichnend fçr ein bestimmtes Moment der pyrrhonischen Argumentation und werden unten vorgestellt. In Abgrenzung von der Verwendung (1) werde ich fainesthai an den Stellen, an denen Sextus das Verb im pyrrhonischen Sinne verwendet, nicht durch »erscheinen« sondern durch »scheinen« çbersetzen. Alle weiteren Verwendungen von fainesthai bei Sextus fallen unter die Gruppe (2). Zu (2a): Fçr die Interpretation der pyrrhonischen Rede ist es entscheidend, daû im griechischen Sprachgebrauch in der Verwendung von fainesthai mit Infinitiv als »etwas scheint so-und-so zu sein« der Infinitiv oft wegfållt, ohne daû sich die Bedeutung åndert. In Rp.368d sagt Sokrates, es wçrde den Gespråchsteilnehmern ein groûer Fund zu sein scheinen (hermaion an etane), wenn sie erfçhren, daû dieselben Buchstaben, die sie nicht scharf sehen kænnen, anderswo groû zu sehen sind, so daû man erst die groûen betrachten und dann zu den kleineren zurçckgehen kænnte. Diese Stelle kann als Beispiel dafçr dienen, daû das Wegfallen des Infinitivs zu einer elliptischen Verwendung fçhrt, die keine Bedeutungsånderung mit sich bringt. Zu (2b): Wichtig ist weiter der Unterschied zwischen der Konstruktion mit Infinitiv und der Konstruktion mit Partizip (2b). In letzterer bedeutet fainesthai »deutlich sein«, »klar sein«, so daû fainesthai mit Partizip einen stårkeren Behauptungsanspruch ausdrçckt als fainesthai mit Infinitiv. Diese Verwendungsweise findet sich bei Sextus durchaus ± sie entspricht der Verwendung von »fainomena« als »das Offenkundige« im Vergleich zum Verborgenen, zu der unten Stellung
18 19
M 5.39. M 7.27.
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genommen wird ± , allerdings nicht innerhalb der Form der Rede, die er als spezifisch pyrrhonisch vorstellt. Zu (2c) und (2d): die beiden Verwendungsweisen (2c) und (2d) verhalten sich zu (2a) und (2b) so, daû etwas sowohl im Sinn von (2a) sinnlich oder intellektuell so-und-so zu sein scheinen kann, wie auch im Sinn von (2b) den Sinnen oder dem Denken offenkundig sein kann. Bevor diskutiert wird, inwiefern die Skeptiker, wenn sie sagen, daû ihnen etwas so-und-so scheint, ein Scheinen im sinnlichen oder im intellektuellen Sinn meinen, mçssen die pyrrhonischen Øuûerungen deshalb (2a) oder (2b) zugeordnet werden. Die Rede des Pyrrhoneers, in der kundgetan wird, wie dem Sprecher etwas scheint, soll im Gegensatz zu Aussagen darçber stehen, wie etwas ist. So kann es nicht die Bedeutung »es ist offenkundig« (2b) sein, auf die das skeptische »fainesthai« aufbaut, sondern die Bedeutung »es scheint so-und-so zu sein« (2a). Daû es in der pyrrhonischen Rede darum geht, wie eine Sache scheint (2a), wird in PH 1.22 klar. Dort schreibt Sextus, es streite wohl niemand darçber, ob der Gegenstand so oder so scheint (tou fainesthai toion e toion); gestritten werde darçber, ob er so ist, wie er scheint (hopoion fainetai). Was der Skeptiker also zugibt, wenn er akzeptiert, daû der Gegenstand scheint (PH 1.19 ± hoti fainetai), ist, daû er sound-so scheint. In seinen Formulierungen achtet Sextus darauf, nie zu sagen, der Skeptiker berichte, was ihm scheint, sondern immer, wie ihm etwas scheint (vgl. z. B. to hoion huparchei im Gegensatz zu to hoion fainetai in M 11.19). Wiederholt beschreibt Sextus in den Bçchern die skeptische Frage als die, ob die Dinge ihrer Natur nach so sind, wie sie scheinen (hopoia fainetai). 20 Fainesthai im Sinn von (2a) kann auf zwei verschiedene Weisen verstanden werden. Die nicht-elliptische Aussage »X scheint so-undso zu sein« kann entweder einen Gegensatz zu dem, was wirklich ist, ausdrçcken, oder eine Aussage mit einem eingeschrånkten Behauptungsanspruch (eine Vermutung) darçber sein, wie X ist. In Buch X des Staats, in der Diskussion der mimesis, heiût es, am schnellsten wçrde man alle Gegenstånde machen, indem man einen Spiegel herumtrågt; so aber wçrde man die Dinge als scheinende (fai-
Vgl. z. B. M 8.142, 354, 357, 363, 368. Auch die Verwendung von fainesthai, die in den Zitaten des Aenesidem auftaucht, stimmt hiermit çberein. Vgl. M 8.222, 234±243.
20
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nomena), aber nicht in Wahrheit seiende machen. 21 Auch Aristoteles verwendet fainesthai in diesem Sinne. In EN III heiût es, die Lust sei nicht wirklich ein Gut, sondern scheine nur so (ou gar ousa agathon fainetai). 22 Dieses Verståndnis, nach dem das Scheinende das nicht Wirkliche, sondern das Scheinbare, Tåuschende oder Falsche ist, muû von dem unterschieden werden, nach dem eine Vermutung ausgedrçckt werden. Auch hier findet sich ein Beispiel im Staat. 23 Sokrates sagt in der Deutung der drei Gleichnisse: »Gott mag wissen, ob es sich in Wahrheit so verhålt. Was aber mir scheint, scheint mir so (ta d'oun emoi fainomena houtoi fainetai), daû zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mçhe die Idee des Guten erblickt wird¼« Hier soll sicherlich nicht impliziert sein, daû dies Sokrates so scheint im Gegensatz dazu, wie es wirklich ist. Vielmehr geht es darum, daû Sokrates die Idee des Guten so-und-so zu sein scheint, er aber nicht wirklich weiû, ob sein Eindruck zutrifft. Der Pyrrhoneer will nun weder sagen, daû ihm etwas tåuschenderweise so-und-so scheint, noch will er eine Vermutung åuûern. Wenn aber gefragt wird, auf welche Verwendungsweise von fainesthai er seinen Sprachgebrauch parasitår grçndet, so ist deutlich, daû das erste Verståndnis von fainesthai als »tåuschenderweise so-und-so scheinen« nicht in Frage kommt. Wenn der Pyrrhoneer kundtut, wie ihm etwas scheint, will er nichts darçber sagen, ob sich dies wirklich so verhålt; er will nicht unterstellen, daû es tåuschenderweise so-und-so scheint. Das Verståndnis von fainesthai im Sinn von (2a), nach dem das Scheinende das Scheinbare ist, kann nicht das sein, auf das die skeptische Sprechweise aufbaut. Ausgangspunkt muû die Verwendung sein, in der mit fainesthai Vermutungen ausgedrçckt werden. Im folgenden soll gezeigt werden, daû die spezifisch pyrrhonische Verwendung von fainesthai der verkçrzten Verwendung mit dem Infinitiv (2a) in diesem zweiten Sinn entspricht, vom Pyrrhoneer aber nicht elliptisch verstanden wird.
21 22 23
Rp.596 e 4. EN III 1113 a 34±1113 b 1. Rp.517 b 7±9.
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2.1.2.2. Die elliptische Verwendung von (2a) Um zu klåren, wie genau sich die pyrrhonische Verwendung von fainesthai zu der Verwendung (2a) verhålt, sollen nun die Stellen, an denen Sextus das pyrrhonische Sprechen vorstellt bzw. Beispiele fçr den spezifisch pyrrhonischen Gebrauch von fainesthai anfçhrt, interpretiert werden. In PH 1.20 bringt Sextus das im Text erste Beispiel eines Satzes, den der Pyrrhoneer sagt: Zum Beispiel scheint der Honig uns zu sçûen¬ (hoion fainestai hemin glukazein to meli). In der Interpretation von PH 1.13 wurden bereits zwei åhnlich Verbverwendungen kommentiert, erwårmt werden¬ und gekçhlt werden¬. In § 13 werden jedoch keine Beispielsåtze dafçr gegeben, was der Pyrrhoneer sagen wçrde. Sextus erklårt nur, der Pyrrhoneer wçrde, wenn er erwårmt oder gekçhlt werde, nicht sagen, er glaube, er wçrde nicht erwårmt bzw. gekçhlt. In »Der Honig scheint uns zu sçûen« wird, anders als in der Mehrzahl der Beispiele, durch ein Verb, nicht durch ein Adjektiv gesagt, wie der zugrundeliegende Gegenstand scheint. Die Formulierung stellt somit einen Sonderfall dar. Dieser hat seine eigene Schwierigkeit: Wåhrend in Beispielen wie »Der Turm scheint rund« sprachlich (2a) in der elliptischen Verwendung vorliegt, entspricht »Der Honig scheint uns zu sçûen« klar der nicht-elliptischen Verwendung von (2a). Die Diskussion dieses Sonderfalls muû auf 2.2.4. verschoben werden. In der Erlåuterung der dunamis antithetike nennt Sextus das erste Beispiel im Grundriû, das der Formulierung entspricht, die sich auch in allen anderen Beispielen findet: »Derselbe Turm scheint aus der Ferne rund, aus der Nåhe viereckig«. 24 Hier verwendet er fainesthai im Sinn von (2a) ohne Infinitiv. Eine Reihe von weiteren Beispielen findet sich in Sextus' Bericht der Zehn Tropen. Die Formulierung des ersten Beispiels ist sehr interessant. »Die Gelbsçchtigen behaupten, daû die Dinge, die uns weiû scheinen (ta hemin fainomena leuka), gelb sind (ochra fasin einai)«. 25 Sextus konstruiert den Satz so, daû es nicht zu dem Gegensatz sie behaupten, daû die Gegenstånde gelb sind, wåhrend uns scheint, daû die Gegenstånde weiû sind¬ kommt; in Verbindung mit fainesthai vermeidet er den Infinitiv. Diese Formulierung låût vermuten, daû Sextus zwischen 24 25
PH 1.32 PH 1.44.
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einer Verwendung von fainesthai im Sinn von (2a) mit und einer Verwendung ohne Infinitiv unterscheidet. In keinem der weiteren Beispiele in Sextus' Bericht der Tropen findet sich die Ergånzung durch den Infinitiv: »Ferner bewirken die Gaukler, indem sie die Dochte mit Grçnspan von Bronze und Tinte von Tintenfisch çberziehen, daû die Anwesenden bald ehern, bald schwarz scheinen« (§ 46), »wenn wir von der Seite gegen das Auge drçcken, scheinen die Gestalten, Formen und Græûen der sichtbaren Dinge långlich und schmal« (§ 47), »so scheint Salbæl den Menschen sehr angenehm, Mistkåfern und Bienen dagegen unertråglich« (§ 55) usw. 26 Das Honig-Beispiel findet sich in anderer Form: Derselbe Honig scheint mir sçû, dem Gelbsçchtigen bitter. 27 Allen Beispielen ist gemeinsam, daû von einem Gegenstand ausgesagt wird, daû er so-undso scheint. Es findet sich kein einziges Beispiel, in dem es hieûe, daû etwas so-und-so zu sein scheine. Daû Sextus die Ergånzung durch den Infinitiv bewuût unterlåût wird umso deutlicher, wenn seine Verwendung von dokein mit der Verwendung von fainesthai verglichen wird. Sextus benutzt in seinem Bericht der Tropen håufig dokein fçr »scheinen«. In Verbindung mit dokein zægert er nicht, die Såtze vollståndig mit dem Infinitiv zu formulieren. 28 Ein Textabschnitt, in dem die unterschiedliche Verwendung von fainesthai und dokein deutlich wird, findet sich in der Kommentierung des vierten Tropos. Eine andere Ursache ist das Alter. Denn dieselbe Luft scheint den Greisen kalt zu sein (einai dokein), denen im besten Mannesalter dagegen wohltemperiert, und dieselbe Farbe scheint (fainetai) den Ølteren blaû, denen im besten Mannesalter satt, so wie dieselbe Stimme den einen schwach, den anderen gut hærbar zu sein scheint (dokei tugchanein). (PH 1.105)
Wichtig ist, daû Sextus dokein im Grundriû an keiner Stelle gebraucht, um zu sagen, wie etwas dem Pyrrhoneer scheint. Wo er schreibt, »uns« scheint (dokei) X F zu sein, ist unter »uns« immer eine bestimmte Gruppe zu verstehen, zu der der Pyrrhoneer zwar gehært, aber nicht in seiner Eigenschaft als Pyrrhoneer. In PH 1.45 sind die Menschen gemeint, in PH 1.101 die geistig Normalen, in PH 1.141 und PH 1.143 die Angehærigen eines Kulturkreises. 29 26 27 28 29
Vgl. PH 1.59, 92, 102, 105, 107, 109, 110, 118, 119, 120, 125, 126, 129, 130, 135, 143. PH 1.101. PH 1.45, 51, 75, 92, 101, 105, 109, 110, 111, 120, 141, 143, 144. Es sind vier Verwendungen von »dokein« bei Sextus zu unterscheiden: (1) Sextus kom-
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Daû Sextus fainesthai ohne Ergånzung durch den Infinitiv verwendet, zeigt sich auch in den zusammenfassenden Bemerkungen innerhalb der Darstellung der Zehn Tropen. Die Kommentierung des ersten Tropos endet mit folgender Bemerkung: »(¼) werde ich zwar sagen kænnen, wie mir jeder der zugrundeliegenden Gegenstånde scheint, darçber aber, wie er seiner Natur nach ist, werde ich mich wegen des oben Gesagten notwendig des Urteils enthalten mçssen«. 30 Øhnliche Formulierungen finden sich mit Bezug auf den zweiten, vierten, fçnften, achten, neunten und zehnten Tropos. 31 Ein weiteres Beispiel ist die Anweisung zum Verståndnis pyrrhonischer Øuûerungen in der Kommentierung des achten Tropos, die bereits zitiert wurde. Sextus schreibt, in dem Satz »Alle Dinge sind relativ« (panta esti pros ti) wçrde der Pyrrhoneer, wie an anderen Stellen auch »esti« fçr »fainetai« verwenden und damit eigentlich »Alle Dinge scheinen relativ« (pros ti panta fainetai) meinen. 32 Es ist entscheidend, in der Ûbersetzung »pros ti« richtig zu deuten. Fçr »Alle Dinge scheinen relativ« bieten sich zwei unterschiedliche Interpretationen an. Der Satz kænnte die Verkçrzung des Satzes »Alle Dinge scheinen relativ zu sein« sein. Er kænnte aber auch bedeuten: Alle Dinge erscheinen auf eine relative Art. In diesem Fall wçrde er etwas çber die Art aussagen, wie die Dinge erscheinen; fainesthai wçrde also im Sinn von (1) verwendet. Diese Deutung unterstellt dem Pyrrhoneer jedoch eine epistemologische These. In Entsprechung zu den anderen zitierten Stellen muû angenommen werden, daû »Alle Dinge scheinen relativ« die Verkçrzung von »Alle Dinge scheinen relativ zu sein« ist. »Alle Dinge scheinen relativ« hat die Form (2a) und stellt die pyrrhonische Verwendung der elliptischen Verkçrzung von »Alle Dinge scheinen relativ zu sein« dar. Øhnlich muû das Schlagwort »Alle Dinge sind unbestimmt«, in dem mentiert eine Diskussionslage (z. B. PH 1.19: »Diejenigen, die sagen, die Skeptiker hæben die Erscheinungen auf, scheinen mir nicht gehært zu haben¼«, vgl. PH 1.72), åhnlich z. T. oimai (z. B. PH 3.65, M 7.26, M 11.40) und nomizo (PH 2.204); (2) Sextus sagt, wie etwas jemandem scheint (in der Darstellung der Zehn Tropen und in Beispielen im Stil der Zehn Tropen auûerhalb der Darstellung der Tropen); (3) innerhalb skeptischer ad-hominemArgumentationen (»das-und-das soll so sein«); (4) in Såtzen, die sich darauf beziehen, was der Skeptiker nach auûen fçr einen Eindruck macht (»wir wollen nicht so-und-so scheinen« vgl. M 6.6). 30 PH 1.78. 31 PH 1.87 (2. Tropos), 112 (4. Tropos), 123 (5. Tropos), 135±6 und 140 (8. Tropos), 144 (9. Tropos) und 163 (10. Tropos). 32 PH 1.135.
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der Skeptiker »esti« anstelle von »scheinen ihm« verwendet 33 , als pyrrhonische Verwendung der elliptischen Verkçrzung von »Alle Dinge scheinen unbestimmt zu sein« gedeutet werden. 34 Alle weiteren Verwendungen der fainetai-Konstruktion im ersten Buch des Grundrisses stimmen mit der Interpretation çberein, daû Sextus fainesthai in Såtzen der Form »X scheint mir [jetzt] so-undso« gebraucht, ohne eine Ergånzung durch den Infinitiv vorzunehmen. 35 In den anderen Bçchern verwendet Sextus jedoch teilweise fainesthai mit Infinitiv. In M 7.61 heiût es von der berçhmten These des Protagoras, das Maû aller Dinge sei der Mensch, selbst die gegenteilige These scheine sie zu belegen. 36 In M 7.110 schreibt Sextus, Xenophanes scheine nicht jedes Erfassen abzuschaffen, in M 8.188, daû das Zeichen nicht alle auf die gleiche Art zu bewegen scheint, in M 8.292, daû ein Argument Sorge zu bereiten scheint, und in M 8.303, daû eine Schluûfolgerung zu folgen scheint. 37 Diesen Stellen ist gemeinsam, daû nicht durch ein Adjektiv sondern durch ein Verb gesagt wird, wie etwas scheint. In dem Satz, Xenophanes scheine nicht alles Erfassen abzuschaffen, kann nicht wie etwa bei »Der Turm scheint rund zu sein« die Ergånzung durch den Infinitiv gestrichen werden. Diese Schwierigkeit wurde oben bereits mit Bezug auf »Der Honig scheint uns zu sçûen¬« erwåhnt; sie wird in 2.2.4. diskutiert. Der pyrrhonischen Verwendung von fainesthai im Sinn von (2a) ohne Ergånzung durch den Infinitiv entsprechend muû fainomenon dann, wenn es als Partizip in diesem Verståndnis verwendet wird, als »das Scheinende« çbersetzt werden. Das deutsche Wort »Erscheinung« ist irrefçhrend, weil es eher an das Verståndnis (1) anschlieût. So muû z. B. PH 1.4., wo Sextus sagt, der Pyrrhoneer tue »to nun faiPH 1.198. Vgl. auch in PH 1.200 die Erlåuterungen zum Schlagwort »Alle Dinge sind unerfaûbar« und PH 1.202 zu dem Schlagwort »Jedem Argument steht ein gleichwertiges Argument gegençber«, dessen Verståndnis in mehrfacher Hinsicht erlåutert wird; dort heiût es »das wie mir scheint¬ hæren wir mit«. 35 PH 1.167, 190±1, 196, 197, 208, 210, 213, 233. Auch in den anderen Bçchern verwendet Sextus dann, wenn der Sprecher ein Pyrrhoneer ist, fainesthai im Sinn von (2a). Auf die einzelnen Stellen in PH 2±3 und M soll jedoch nicht eingegangen werden. 36 Wenn einer behaupte, das Maû aller Dinge sei nicht der Mensch, behaupte er, was ihm ± einem Menschen ± scheint (M 7.61). 37 Weitere Beispiele finden sich in M 1: M 1.54, M 1.170, M 1.274, M 1.306. 33 34
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nomenon« kund, entweder so çbersetzt werden, daû er kundtut, was ihm jetzt scheint, oder so, daû er das ihm jetzt Scheinende kundtut. 2.1.2.3. Nicht-spezifisch pyrrhonische Verwendungen von fainesthai bei Sextus Bevor die Frage gestellt wird, wie die spezifisch pyrrhonische Verwendung von fainesthai bei Sextus zu deuten ist, sollen die nicht-spezifisch pyrrhonischen Verwendungen sowie die unterschiedlichen Verwendungen des Partizips »fainomena« kurz angefçhrt werden. (i) fainesthai mit Infinitiv: In PH 1 verwendet Sextus fainesthai mit Infinitiv nur einmal (abgesehen von dem zitierten Honig-Beispiel) und bezeichnenderweise handelt es sich hier nicht um ein Beispiel fçr die pyrrhonische Rede: »Wenn man jedoch glauben will, was çber ihn erzåhlt wird, dann schien er, so heiût es, auf den ersten Blick zwar ein Pyrrhoneer zu sein (efaineto einai), war in Wahrheit aber Dogmatiker«. 38 In den anderen Bçchern finden sich einige weitere Stellen, an denen Sextus fçr Aussagen, die nicht Pyrrhoneern in den Mund gelegt werden, fainesthai mit Infinitiv verwendet. 39 (ii) Im Sinne von (2b) verwendet Sextus fainesthai an vier Stellen, wobei einmal nicht er spricht, sondern die stoischen Kontrahenten (M 9.71). In M 8.164 geht es um Zeichen und Bezeichnetes. Wenn eines weggenommen werde, so sei damit auch das andere entfernt, und dies sei offenkundig auch bei rechts und links so (fainetai gignomenon). Hier verwendet Sextus in der ad-hominem-Einstellung ein dogmatisches Argument zur Relativitåt. Als dogmatisches Argument ist es assertorisch; Sextus jedoch fçhrt es nur an, ohne sich darauf festzulegen, wie die Relation zwischen rechts und links zu sehen ist. Anders verhålt es sich in M 11.208 und M 1.126. Dort fçhrt Sextus keine dogmatischen Thesen an, sondern scheint sie vielmehr mit eigenen Ûberlegungen zu kritisieren. Von den Vertretern einer bestimmten These sagt er in M 11.208, sie wçrden offensichtlich nicht die anstehende Frage behandeln. In M 1.126 heiût es, es sei deutlich, daû das, PH 1.234. PH 2.88, PH 3.99, M 7.336; vgl. auch M 1.58, wo Sextus Dionysios referiert, sowie M 1.91, wo er fainesthai mit Infinitiv so verwendet wie an anderen Stellen dokein, um zu sagen, wie ein bestimmter Eindruck im Verfassen der skeptischen Bçcher nicht entstehen soll; weiter M 1.195, wo fainesthai mit Infinitiv dafçr gebraucht wird, was den meisten Leuten der Fall zu sein scheint.
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was von den Grammatikern als »kurze Silbe« bezeichnet wird, einen ersten und einen zweiten Teil hat (fainetai ¼ echousa) und somit nicht kurz sei. 40 Zu diesen beiden Stellen ist m. E. zu sagen, daû Sextus hier wie bei anderen pyrrhonischen Øuûerungen die Fainetai-Regel geltend machen wçrde: Wenn der Pyrrhoneer sagt, daû bestimmte Leute offensichtlich nicht die anstehende Frage behandeln, so meint er eigentlich, daû ihm dies scheint. Ebenso tut er, wenn er bemerkt, daû die vermeintlich kurze Silbe offenbar einen ersten und einen zweiten Teil hat (und somit nicht als kurz gelten darf), kund, wie ihm etwas scheint. Der Verwendung von fainesthai im Sinne von (2b) entspricht das Verståndnis der Fainomena als das Offenkundige. Wåhrend fainesthai in der Verwendung (2b) fçr die pyrrhonische Rede keine besondere Rolle spielt, kommt der Begriff der fainomena im Sinne des Offenkundigen in Sextus' Bçchern oft vor. Er wird dann verwendet, wenn sich in der Argumentation die Mæglichkeit bietet, eine These der Dogmatiker zu widerlegen, indem dogmatische Bestimmungen des Gegensatzes zwischen Offenkundigem und Verborgenem ausgespielt werden. 41 Wenn es zum Beispiel um die Mæglichkeit des Unterrichtens geht, so argumentiert Sextus, der Gegenstand des Lernens kænne entweder offenkundig (fainomenon) oder verborgen sein. Sei er aber offenkundig, so sei kein Unterricht erforderlich. 42 Ein anderes Beispiel: eine Schluûfolgerung kann nicht offenkundig sein, weil sie sonst nicht durch die Pråmissen enthçllt werden mçûte. 43 Diese Argumente sind jeweils der erste Teil einer Diskussion, in deren zweitem Teil gefragt wird, ob denn das Verborgene gelernt werden kænne oder die Schluûfolgerung verborgen sein kænne, was auch als unmæglich gezeigt wird. Aufgrund der dogmatischen Einteilung in Offenkundiges und Verborgenes wird dann geschlossen, daû es keinen Unterricht gibt bzw. Schluûfolgerungen nicht erfaûbar sind. Dem Verståndnis der Fainomena als dem Offenkundigen entspricht auch die Verwendung von fainesthai im Sinne von »sich zeigen« (1), die sich bei Sextus zweimal findet. An der ersten Stelle geht es um die Frage nach einer Kunst des Lebens. Dort heiût es, wenn jede Kunst sich M 1.126. PH 2.88±94, PH 2.124±9, PH 2.177±9. PH 3.254±5, PH 3.258, PH 3.266, M 8.17±31, M 8.62, M 8.171 ff., M 1.14 (vgl. 27), M 1.36, M 2.95, M 3.23, M 3.58. 42 PH 3.254, vgl. PH 3.266 und M 11.240. 43 PH 2.168. 40 41
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durch die ihr eigenen Werke zeige (fainetai), so sei die fronesis keine Kunst, da sie sich nicht durch ein ihr eigentçmliches Werk zeige (fainetai). 44 Hier wird fainesthai im Sinn von (1) gebraucht. 45 An der zweiten Stelle geht es um die Mæglichkeit des Unterrichtens. Was unterrichtet wçrde, gehære entweder einer Kunst an oder nicht. Wenn nicht, so mçsse es nicht unterrichtet werden. Wenn ja, so wçrde es sich entweder von selbst zeigen (autothen fainetai) oder verborgen sein. Wenn es sich aber von selbst zeigt, so ist es keine Kunst und kann nicht unterrichtet werden. 46 Es ist deutlich, daû diese Verwendung von fainesthai dem Verståndnis von fainomena entspricht, anhand dessen argumentiert wird, die fainomena kænnten nicht Gegenstand des Unterrichts sein. (iii) Einen interessanten Sonderfall bilden die Stellen, an denen Sextus ausgehend von der Annahme, bestimmte Dinge wçrden allen gleich scheinen, argumentiert. (a) Unter dem Erscheinenden wird das Offenkundige verstanden und gesagt, es scheine allen gleich (vgl. M 8.280). Die Argumentation geht so vor, daû diese These angenommen wird, dann gesagt wird, etwas scheine nicht allen gleich, und gefolgert wird, es sei nichts Erscheinendes. Die These, die Erscheinungen wçrden allen gleich scheinen, widerspricht offensichtlich dem Grundtenor der Zehn Tropen, dem Konflikt der fainomena, und kann daher nur als ad-hominem-Argumentation gedeutet werden. Sie schlieût an die oben dargestellte Verwertung des dogmatischen Gegensatzes zwischen Verborgenem und Offenkundigen an. Eine derartige Argumentationsweise scheint schon Aenesidem verwendet zu haben (vgl. M 8.215, 234). (b) Feuer, das von Natur aus wårmt, scheint allen wårmend (2a ohne Infinitiv), Schnee, der von Natur aus kçhlt, scheint allen kçhlend, und alles, was von Natur aus bewegt¬, bewegt¬ alle gleich. Diese dogmatische These wird fçr die skeptische Argumentation folgendermaûen genutzt: Da keines der sogenannten Gçter alle Menschen gleich bewegt¬ (allen den Eindruck verursacht, daû es ein Gut ist), kann es, die dogmatische These vorausgesetzt, kein Gut von Natur aus geben. 47 M 11.209. Vgl. auch PH 3.6, 9 und 11, wo Sextus »ex heautou prosepipten« (»wenn er [Gott] uns von sich aus zeigte«) und »ex heautou prodelon« und »ex heautou fainetai« åquivalent gebraucht. 46 M 11.233. 47 PH 3.179±182. Auf eine Diskussion, inwiefern diese These wem zugeschrieben werden kann, wird hier verzichtet. Vgl. allgemein zu derartigen Annahmen M. F. Burnyeat, Con44 45
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Øhnlich wird auch die dogmatische Annahme, das, was in Wirklichkeit existiert, scheine allen gleich, die in der gleichen Verfassung sind, verwertet (M 8.37). Sowohl in (a) wie in (b) wird eine Intuition der Dogmatiker, nach der das Erscheinende im Sinn des Offenkundigen allen gleich scheint bzw. das von Natur aus oder in Wirklichkeit so-und-so Seiende allen gleich scheint, fçr skeptische Zwecke verwertet. 48 Dabei çbernimmt der Skeptiker freilich nicht die Ansicht, das Erscheinende scheine allen gleich. Er gesteht sie zum Zweck der Argumentation zu, um dann fçr etwas, das gerade zur Diskussion steht, durch das Anfçhren von widersprçchlichen Fainomena zu zeigen, daû es nicht allen gleich scheint. Es ist m. E. bezeichnend fçr die pyrrhonische Einstellung, daû Sextus oder seine Quellen in der ad-hominem-Argumentation so weit gehen, auch dogmatische Annahmen, die in krassem Kontrast zum Grundtenor skeptischer Argumentation stehen, aufzugreifen und gegen die Dogmatiker zu einzusetzen. Da die Verwendungen von fainesthai mit Infinitiv oder Partizip nicht als spezifisch pyrrhonisch gedeutet werden kænnen und die Verwendung von »fainomenon« in der Bedeutung »das Offenkundige« deutlich zu den ad-hominem-Verwertungen der dogmatischen Einteilung in Offenkundiges und Verborgenes gehært, kann zusammenfassend gesagt weden, daû die spezifisch pyrrhonische Verwendung von fainesthai sprachlich der elliptischen Form von (2a) entspricht. 2.1.2.4. Die Verwendungsweisen (2c) und (2d) Unter (2c) und (2d) wurden zwei Verwendungsweisen von fainesthai angefçhrt, die bisher noch nicht diskutiert wurden. Als philosophische Verwendungen von fainesthai nennen Liddle, Scott und Jones ein flicting Appearances, Proceedings of the British Academy Vol. 65 (1981), 69±113. Der Vergleich der referierten Stelle mit Epikur ist m. E. naheliegend. Epikur çber die Lust als Telos: Daû die Lust das hæchste Gut ist spçre man, so wie man spçre, daû Feuer heiû, Schnee weiû und Honig sçû ist. Cic. De Fin. I 30. Vgl. Julia Annas, Doing Without Objective Values: Ancient and Modern Strategies, in: The Norms of Nature. Studies in Hellenistic Ethics. Hg. Malcolm Schofield und Gisela Striker, Cambridge 1986, 3±29, S. 8±9 und 14 sowie R. J. Hankinson, Values, Objectivity and Dialectic; The Sceptical Attack on Ethics: its Methods, Aims and Success, Phronesis 1994 Vol. 43/1, 45±68. 48 Burnyeat (1981, S. 74±5) weist darauf hin, daû die These »Wenn etwas an sich/ in Wirklichkeit F ist, dann scheint es allen Beobachtern F« zwar kaum je explizit vertreten, von vielen Philosophen jedoch implizit angenommen worden ist.
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sinnliches (2c) und ein intellektuelles Scheinen (2d). Oben wurde bereits erlåutert, daû (2c) und (2d) sich zu (2a) und (2b) so verhalten, daû etwas sowohl sinnlich/ intellektuell so-und-so zu sein scheinen (2a, d. h. fainesthai mit Infinitiv) wie auch sinnlich/ intellektuell deutlich sein (2b, d. h. fainesthai mit Partizip) kann. Fçr die Interpretation der pyrrhonischen Rede ist die Deutung von (2c) und (2d) relevant, die sich an (2a) anschlieût. Diese kann als (2c±a) ± etwas scheint sinnlich ± bzw. (2d-a) ± etwas scheint intellektuell ± bezeichnet werden. Insofern in der spezifisch pyrrhonisch verkçrzten Verwendung von fainesthai im Sinn von (2a) immer entweder davon die Rede ist, wie ein Gegenstand der Sinneswahrnehmung scheint, oder wie etwas, das nicht Gegenstand der Sinneswahrnehmung ist, scheint, ist jede pyrrhonische Verwendung von fainesthai entweder (2c±a) oder (2d-a) zuzuordnen. Die Verwendungen (2c) und (2d) sind fçr die Interpretation der skeptischen Rede deshalb sehr wichtig, weil in der Literatur m. E. ein gewisse Konfusion besteht, die mit der Frage zusammenhångt, wie die pyrrhonische Sprechweise, die mit fainesthai arbeitet, an den Stellen verstanden werden soll, an denen es nicht um ein sinnliches Scheinen geht (z. B. »Alle Dinge scheinen relativ«). In der Literatur wird mit den Termini phånomenologisch und epistemisch gearbeitet. Es wird diskutiert, ob das skeptische »fainesthai« immer phånomenologisch oder teilweise auch epistemisch zu deuten sei. In dieser Kontroverse entsteht m. E. dadurch einige Unklarheit, daû sowohl »epistemisch« wie »phånomenologisch« nicht auf eindeutige Verwendungen festgelegt werden. Einmal wird die Alternative so verstanden, daû sie durch die Adjektiva »urteilend« 49 und »nicht-urteilend« wiedergegeben werden kann. Solange dieses Verståndnis vorausgesetzt wird, geht es um die Frage, ob die pyrrhonische Sprechweise assertorisch ist oder nicht. Das andere mal wird die Alternative zwischen epistemisch und phånomenologisch so verstanden, daû sie durch »sinnlich« und »nicht-sinnlich« ersetzt werden kann. In diesem Sinne ist »Der Turm scheint mir viereckig« sinnlich (phånomenologisch), wåhrend »Alle Dinge scheinen mir relativ« nicht-sinnlich (epistemisch) ist. Teilweise wird in der Interpretation implizit vorausgesetzt, daû es Barnes und Annas (1985, S. 23±4) verwenden in diesem Sinne eine Unterscheidung zwischen »judgemental« und »phenomenological«, ohne jedoch die Verwirrungen der anderen Unterscheidung, die Barnes (1982) gebraucht, aufzuklåren.
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fçr Øuûerungen darçber, was einem Sprecher sinnlich scheint, plausibler sei, nicht-urteilend (bzw. nicht-assertorisch) zu sein, als fçr Øuûerungen darçber, was ihm sinnlich scheint. Entgegen dieser Annahme muû betont werden, daû ein derartiger Zusammenhang zwischen den Unterscheidungen urteilend ± nicht-urteilend und sinnlich ± nicht-sinnlich nicht besteht. 50 Wegen dieser Unklarheiten soll ganz auf das Begriffspaar epistemisch ± phånomenologisch verzichtet werden. Statt dessen soll gefragt werden, wie es dem Skeptiker mæglich ist, fainesthai sowohl im Sinne von (2c-a) wie von (2d-a) zu verwenden. Diese Frage stellt sich, da Sextus fainesthai sowohl dann auf die spezifisch pyrrhonische Weise gebraucht, wenn es darum geht, daû ein Gegenstand der Sinneswahrnehmung so-und-so scheint, wie auch, wenn es darum geht, daû etwas, das nicht Gegenstand der Sinneswahrnehmung ist, so-und-so scheint. Dem Skeptiker scheinen die Dinge relativ, eine Handlung gut, ein Argument schwach etc. 51 Vgl. Burnyeat (1983) S. 131 ff., der »epistemologisch« und »phånomenologisch« zunåchst im Sinn von »nicht-sinnlich« und »sinnlich« verwendet. Dies zeigt sich in seiner Bemerkung, man komme nicht umhin, Øuûerungen wie »manche Dinge scheinen gut, andere schlecht« (M 11.19) epistemische Bedeutung zuzuschreiben. Gleichzeitig ist Burnyeat jedoch der Meinung, die epistemische Bedeutung mancher Verwendungen von fainesthai stelle entweder seine Interpretation (der Skeptiker ohne Meinungen) oder Sextus' Darstellung der Skepsis in Frage. In dieser Ûberlegung setzt Burnyeat »epistemisch« offensichtlich mit »urteilend« gleich, da sonst nicht klar wåre, warum aus den epistemischen Verwendungen folgen sollte, daû der Skeptiker doch Meinungen hat. Barnes deutet die skeptischen Øuûerungen, die sich nicht auf Wahrnehmungen beziehen, anders. Nach seiner Meinung besteht nicht die Notwendigkeit, Såtzen wie »X scheint mir moralisch gut« epistemische Bedeutung zuzuschreiben. Vielmehr sei es so, daû einem auch solche Dinge auf eine phånomenologische Weise scheinen kænnen. Man kænne auf phånomenologische Weise sagen »Das Argument sieht gut aus, aber laû dich davon nicht tåuschen« (1982, S. 4). Barnes will, wenn ich ihn richtig verstehe, die These vertreten, die skeptischen Øuûerungen seien durchweg nicht-urteilend, und meint, deshalb zeigen zu mçssen, daû eindeutig nicht-sinnliche Eindrçcke (»Das Argument sieht gut aus«) in irgendeinem Sinne doch als sinnlich einzuordnen sind. Dabei wird implizit die Annahme unterstellt, Berichte çber nicht-sinnliche Eindrçcke seien urteilend, Berichte çber sinnliche Eindrçcke dagegen nicht. 51 In diesem Punkt sind sich alle Interpreten einig. Vgl. PH 1.135: »Alle Dinge scheinen relativ«, M 11.19: »Manche Dinge scheinen gut, andere schlecht« und PH 3.281: »schwåcher scheinende Argumente«. Allein Charlotte Stough scheint hier eine andere Ansicht zu vertreten. Sie versucht, den Unterschied zwischen skeptischen Aussagen durch die Begriffe »sense-statement« (»Honig scheint sçû«) und »perceptual statement« (»Honig ist sçû«) zu klåren. Der Skeptiker mache nur »sense-statements«. Diese Explikation des skeptischen »fainetai« berçcksichtigt die skeptischen Øuûerungen, die keine Sinneseindrçcke berichten, nicht (Greek Skepticism, Berkeley, Cal. 1969, S. 21 ff.). 50
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Die genannten Verwendungen von fainesthai (2c) und (2d) belegen, daû nicht erst die Skeptiker »mir scheint« so verwenden, daû damit teilweise »mir scheint intellektuell«, andernteils »mir scheint sinnlich« gemeint ist. Der Pyrrhoneer kann auf einen philosophischen Sprachgebrauch zurçckgreifen, in dem fainesthai sowohl die Verwendung »sinnlich scheinen«, wie auch die Verwendung »intellektuell scheinen« hat. Die Verwendung im Sinne von »intellektuell scheinen« findet sich schon bei Platon und Aristoteles. Oben wurde bereits eine Stelle aus dem siebten Buch des Staats zitiert, an der Sokrates fainesthai im Sinne von »intellektuell scheinen« gebraucht: »Gott mag wissen, ob es sich in Wirklichkeit so verhålt. Was mir aber scheint, scheint mir so (ta d'oun emoi fainomena houto fainetai), daû zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mçhe die Idee des Guten erblickt wird.« 52 Diesen philosophischen Sprachgebrauch kann der Pyrrhoneer aufgreifen und ihn, um der Assertivitåt zu entkommen, als Kundtun von sinnlichen und nicht-sinnlichen fainomena explizieren. So wie der Pyrrhoneer statt »Der Turm scheint mir rund zu sein« die elliptische Form »Der Turm scheint mir rund« verwenden kann, kann er statt »Alle Dinge scheinen mir relativ zu sein« »Alle Dinge scheinen mir relativ« sagen. Mit Bezug auf den zweiten Satz, in dem es nicht um einen Gegenstand der Sinneswahrnehmung geht, stellt sich keine besondere Schwierigkeit; es besteht kein Anlaû, die pyrrhonische Position aufgrund derartiger Beispiele dafçr, was der Pyrrhoneer sagt, inkonsistent werden zu sehen. Das Problem, welches sich tatsåchlich stellt, betrifft sowohl die Verwendung der elliptischen Form von (2c-a) wie die der elliptischen Form von (2d±a). Daû Sextus es dann, wenn ein Pyrrhoneer spricht, vermeidet, die Ergånzung durch den Infinitiv vorzunehmen, deutet darauf hin, daû aus seiner Perspektive zwischen »X scheint mir F« und »X scheint mir F zu sein« ein entscheidenderer Unterschied besteht als nach dem gewæhnlichen Verståndnis, demzufolge der erste Satz einRp. 517 b 7±9. Auch Aristoteles verwendet fainesthai im Sinne von »intellektuell scheinen«. Vgl. Top. 1.100 b 23±5; EN 3.11113 a 16, 20,21±2, 29±31. Vgl. auch den Begriff der fainomena in dem Sinn, den Aristoteles dem Begriff im Zusammenhang mit der in der Topik dargestellten Methode gibt. Wenn es in EN 7.1145 b 2±5 heiût, es mçûten zuerst alle fainomena aufgestellt werden und die Schwierigkeiten durchgearbeitet werden, um so mæglichst die Wahrheit aller Endoxa zu zeigen, so ist klar, daû unter den Erscheinungen, die zusammengestellt werden sollen, theoretische Aussagen zu der zu diskutierenden Frage sind.
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fach eine elliptische Formulierung des zweiten ist. Worin genau kænnte dieser bestehen? Der Verzicht auf den Infinitiv wird nirgends erlåutert; Sextus schreibt an keiner Stelle, der Pyrrhoneer wçrde nicht sagen »Der Turm scheint mir rund zu sein«, sondern statt dessen »Der Turm scheint mir rund«. Er kommentiert den Verzicht auf den Infinitiv nicht. Die Beobachtung, daû die Pyrrhoneer in ihrer Verwendung von fainesthai auf die Ergånzung durch den Infinitiv verzichten, erklårt fçr sich genommen nicht, warum sie annehmen, durch ihre Øuûerungen nichts zu behaupten, sondern allein etwas kundzutun. Sie macht nur darauf aufmerksam, daû »X scheint mir F« offenbar anders interpretiert werden soll als »X scheint mir F zu sein«. Die verkçrzte Form der Ausdrucksweise soll auf eine Art gedeutet werden, die im allgemeinen Sprachgebrauch nicht vorkommt und vom Pyrrhoneer fçr seine Zwekke entworfen wird. Bevor gefragt wird, wie die Interpretation der pyrrhonischen Øuûerungen nach dem Schema »X scheint mir [jetzt] F« lauten kann, soll zunåchst die skeptische Strategie, eine eigene Ausdrucksweise zu schaffen, diskutiert werden. 2.1.3. Der miûbråuchliche Gebrauch von Sprache Die These der Interpretation lautet also, daû der Pyrrhoneer einerseits an die Verwendung (2a) von fainesthai anknçpft: Er setzt voraus, daû es einen Sprachgebrauch gibt, in dem fainesthai dazu verwendet wird, zu sagen, daû etwas jemandem so-und-so scheint, wobei die Ergånzung durch den Infinitiv wegfallen kann. Andererseits soll die skeptische Rede jedoch nicht so gedeutet werden, wie Verwendungen von Aussagen der Form (2a) ohne Ergånzung durch den Infinitiv fçr gewæhnlich verstanden werden, nåmlich elliptisch. Vielmehr soll das Weglassen des Infinitivs darauf hinweisen, daû keine Aussage darçber, wie etwas jemandem scheint, gemacht wird. Diese Interpretation behauptet, daû der Skeptiker eine Sprechweise ± die Verwendung (2a) ohne Infinitiv ± çbernimmt, sie jedoch anders deutet, als dies gewæhnlich geschieht. Die Interpretation wird m. E. dadurch gestçtzt, daû Sextus selbst einråumt, der Skeptiker spreche miûbråuchlich. Zwar expliziert er den pyrrhonischen Gebrauch von fainesthai nicht als miûbråuchliche Verwendung der elliptischen Form von (2a). (In der Formulierung der Fainetai-Regel im achten Tropos 93
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bezieht sich »katachrometha« darauf, daû der Skeptiker »esti« miûbråuchlich verwende, da er eigentlich »fainetai« meine 53 , nicht darauf, daû er fainetai miûbråuchlich verwende.) Die verschiedenen Erlåuterungen dessen, wie der Pyrrhoneer Sprache miûbråuchlich verwendet, zeigen jedoch, daû es ihm mæglich erscheint, gewæhnliche Sprechweisen aufzugreifen und umzudeuten. Hieraus låût sich m. E. schlieûen, daû es der Einstellung des Pyrrhoneers entspricht, seine Verwendung von fainesthai parasitår auf einen bestehenden Gebrauch zu grçnden, diesen aber umzudeuten. Øhnlich wie in der Kommentierung des achten Tropos beschreibt Sextus in der Erlåuterung des Schlagworts »Alle Dinge sind unbestimmt« die skeptische Redeweise: Der Skeptiker verwende »esti« anstelle von »scheint mir«, »alle Dinge« sei eine verkçrzte Ausdrucksweise fçr die verborgenen Dinge, die die Dogmatiker untersuchen und mit denen er sich beschåftigt hat, und »unbestimmt« solle »dem Entgegengesetzten oder çberhaupt Unvertråglichen in Glaubwçrdigkeit oder Unglaubwçrdigkeit nicht çberlegen« bedeuten. So ist jedes Element des Schlagworts erklårungsbedçrftig, da es nur eine Verkçrzung dessen darstellt, was jeweils gemeint sein soll. Weiter schreibt Sextus, daû »Alle Dinge sind unbestimmt« »fçr mich« oder »wie mir scheint« impliziere (sussemainei), so wie der, der »gehe spazieren« sagt, eigentlich sage »ich gehe spazieren«. Was im Zusammenhang mit dem achten Tropos als miûbråuchliche Verwendung beschrieben wird ± daû das »mir scheint« nicht explizit gemacht wird ± wird hier mit alltagssprachlichen verkçrzenden Redeweisen gleichgesetzt. Der offensichtliche Unterschied ist allerdings, so muû m. E. eingewandt werden, daû derartige alltagssprachliche Redewendungen tatsåchlich unvollståndig sind, so daû klar ist, daû sie zu ihrer korrekten Form einer Ergånzung bedçrfen, was bei »Alle Dinge sind unbestimmt« nicht der Fall ist. In der Umgangssprache verkçrzte Redeweisen werden von jedem Sprachbenutzer so verstanden, als wçrden sie in ihrer vollståndigen Form geåuûert, wåhrend »Alle Dinge sind unbestimmt« nicht so verstanden wird, als wåre »Alle Dinge scheinen mir unbestimmt« gemeint. Im Zusammenhang mit dem skeptischen Schlagwort »vielleicht« charakterisiert Sextus die skeptische Sprache als unterschiedslos: Der Skeptiker wolle, wenn er seine Schlagwærter verwende, nicht um Wærter streiten (ou fonomachoumen) und untersuche nicht, ob sie von 53
PH 1.135.
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Natur aus diese Bedeutung haben, sondern gebrauche sie unterschiedslos (adiaforos). 54 Die Bestimmung als unterschiedslos ist so zu verstehen, daû der Skeptiker Unterschiede, die in der Sprache gemacht werden, miûachtet. In der Erlåuterung der skeptischen Formel ou mallon (nicht mehr das eine als das andere) schreibt Sextus, der Skeptiker verwende die beiden Versionen der Formel, »ou mallon« und »ouden mallon«, unterschiedslos (adiaforos). 55 Weiter heiût es, beide Ausdrçcke seien elliptisch (ellipes), so wie man »plateia« (was normalerweise verbunden mit »hodos« verwendet wird, und so »breite Straûe« heiût) sage, aber eigentlich »plateia hodos« meine. Ebenso wçrde der Skeptiker, wenn er »ou mallon« sage, eigentlich sagen »nicht mehr das eine als das andere, wie man es auch wenden mag«. Manche Skeptiker nun wçrden das »nicht« in »ou mallon« als eine Frage nehmen: »Wieso eher dieses als jenes?«. Die Berechtigung dieser Praxis will Sextus damit belegen, daû er behauptet, es sei allgemein çblich, Fragen anstelle von Aussagen und umgekehrt zu gebrauchen, wobei seine Beispiele ausgesprochen wenig çberzeugend sind (z. B. behandelt er eine rhetorische Frage als Aussage, um dann zu zeigen, daû Aussagen anstelle von Fragen verwendet werden). Wenige Zeilen spåter heiût es, daû die Formel »ouden mallon« zwar einen affirmativen oder bestreitenden Charakter habe, der Skeptiker sie aber so nicht gebrauche (ouch houtos aute chrometha), sondern sie in einem unterschiedslosen und miûbråuchlichen Sinn hernehme, entweder anstelle einer Frage oder anstelle von »ich weiû nicht, welchem von beidem man zustimmen muû und welchem nicht«. 56 Denn uns geht es darum, das uns Scheinende zu zeigen (delosai to fainomenon hemin). Was aber das Schlagwort angeht, durch das wir es zeigen, verhalten wir uns so, daû wir çber Unterschiede hinweggehen (adiaforoumen). (PH 1.191)
Die Passage ist interessant, weil hier der Versuch, eine Ausdrucksform fçr das Scheinende bzw. dafçr, wie etwas scheint, zu finden, mit der Gleichgçltigkeit gegençber deren sprachlicher Korrektheit einhergeht. Der Skeptiker will sagen, wie ihm etwas scheint ± ob er damit Unterschiede in der Sprache miûachtet, ist ihm gleichgçltig. Der Text macht 54 55 56
PH 1.195. PH 1.188±9. PH 1.191.
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deutlich, was fçr den Skeptiker Prioritåt hat: Er will zeigen, wie ihm etwas scheint. Daû hierfçr keine sprachliche Form zur Verfçgung steht, die nicht eine miûbråuchliche Verwendung von Sprache wåre, ist fçr ihn sekundår. M. E. zeigen Sextus' Erklårungen zum unterschiedslosen und miûbråuchlichen Sprechen des Pyrrhoneers, daû es geradezu typisch fçr den pyrrhonischen Umgang mit Sprache ist, nicht grammatisch neue Formen zu entwerfen, sondern bestehende Formen aufzugreifen, diese jedoch in eigener Sache umzudeuten. Dem entspricht, was in der vorliegenden Interpretation der pyrrhonischen Rede vertreten wird: Daû der Skeptiker die elliptische Version von Såtzen der Form »X scheint mir F zu sein« miûbråuchlich verwendet, indem er zwar sprachlich entsprechend formuliert (»X scheint mir F«), diese Formulierung aber nicht als elliptisch deutet, sondern eine ganz andere Deutung annimmt. Die miûbråuchliche und unterschiedslose Verwendung der Sprache ist m. E. eine wesentliche Schwachstelle in der pyrrhonischen Philosophie. 57 Sextus erkennt in der Unterscheidung zwischen einem korrekten und einem miûbråuchlichen Sprachgebrauch an, daû es so etwas wie Korrektheit gibt, ± gleichzeitig beschreibt er, wie der Skeptiker sich çber die Regeln und Unterscheidungen hinwegsetzt. Damit jedoch ist der Begriff der Korrektheit oder der Regel auûer Kraft gesetzt; wenn z. B. statt Fragen auch Aussagen verwendet werden kænnen und umgekehrt, und dieser regelwidrige Gebrauch als ebenso mæglich wie der regelkonforme angesehen wird, so ist nicht klar, worin der Sinn einer Regel fçr die Unterscheidung von Fragen und Aussagen bestehen soll. Der Skeptiker versucht, ein Verståndnis seiner Rede zu etablieren, welches nicht dem konventionellen Verståndnis entspricht. Er weiû dies, und formuliert so ausdrçcklich die Anweisung, wie man die skeptische Rede in Abweichung zu verstehen habe. Dabei stellt sich die Frage, ob es gelingen kann, derartige Anweisungen darçber zu geben, was als eigentliche Intention (was der Skeptiker eigentlich sagen will¬) einer Sprechweise anzusehen ist, wenn diese Intention nicht in der Vgl. Ricken (1994) S. 114: »Auf der einen Seite wird zwischen einem eigentlichen und einem miûbråuchlichen Sprachgebrauch unterschieden; es wird festgestellt, daû in der Sprache Unterscheidungen vorgegeben sind. Auf der anderen Seite wird bestritten, daû es Normen fçr den Sprachgebrauch gibt; es wird dem einzelnen oder einer Gruppe freigestellt, wie er oder sie die Ausdrçcke verwenden will.«
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Sprechweise in ihrer gebråuchlichen Form zum Ausdruck kommt. 58 Aus heutiger Perspektive ist klar, daû dies kaum mæglich ist. Der Einzelne kann gewissermaûen »mit seinen Worten nur dasjenige meinen, was die anderen darunter verstehen¬«. 59 Es ist deutlich, daû das skeptische Sprechen sich gegençber dem allgemeinen Sprachgebrauch parasitår verhålt. Der Skeptiker muû Unterscheidungen und Regeln voraussetzen, um von ihnen abweichen zu kænnen. Die skeptische Rede ist insofern parasitår, als der Skeptiker nur deshalb, weil es die elliptische Version von Aussagen des Typs »X scheint mir F zu sein« im allgemeinen Sprachgebrauch gibt, fçr seine Ausdrucksweise eine sprachliche Form wåhlen kann, die fçr den Nichtskeptiker einen gewohnten Klang hat und nicht auf sofortige Ablehnung als grammatikalisch falsch stæût. Nur weil es ein richtiges Verståndnis von »X scheint mir F« gibt, das die Aussage als elliptische Version von »X scheint mir F zu sein« versteht, kann der Skeptiker unangefochten so formulieren. 2.1.4. Das Kundtun von fainomena und Aussagen çber fainomena Wie aber, wenn nicht elliptisch, sollen Øuûerungen der Form »X scheint mir [jetzt] X« im Sinne des Pyrrhoneers gedeutet werden? Was soll mit der Vermeidung der Ergånzung durch den Infinitiv erreicht werden? Die entscheidende Pointe in Sextus' Darstellung der pyrrhonischen Rede ist, daû diese ein Kundtun bzw. Offenlegen von fainomena sein soll. In einer Interpretation von PH 1.19±20 soll nun gezeigt werden, daû Sextus zwischen der pyrrhonischen Weise, fainomena hinzunehmen und sprachlich zu åuûern, und Aussagen çber fainomena unterscheidet. Wenn wir aber untersuchen, ob der zugrundeliegende Gegenstand so beschaffen ist, wie er scheint, dann geben wir das »daû-er-scheint« zu. Unsere Untersuchung ist aber nicht befaût mit dem Scheinenden (peri tou fainomenou), sondern mit dem, was çber das Scheinende (fainomenou) ausgesagt wird, und Die Frage, ob der Einzelne das, was in einer Sprachgemeinschaft festgelegt ist, durch derartige Maûnahmen aufheben kann, ist freilich eine moderne. Vgl. Wolfgang Stegmçller, Hauptstræmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einfçhrung II. 8. Auflage, Stuttgart 1987, S. 80±1. 59 Stegmçller (1987) S. 81. 58
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dies unterscheidet sich von einer Untersuchung çber das Scheinende selbst (autou tou fainomenou). Wie zum Beispiel (hoion), daû uns der Honig zu sçûen scheint (fainetai), råumen wir ein; denn wir werden ja durch die Sinneswahrnehmung gesçût (glukazometha). Ob er aber auch sçû ist, insoweit das eine Sache von Aussagen ist (hoson epi to logo), untersuchen wir. Das aber ist nicht das Scheinende, sondern das, was çber das Scheinende ausgesagt wird (tou fainomenou legomenon). (PH 1.19±20) 60
In § 19 unterscheidet Sextus zwischen den fainomena und den Aussagen, die çber sie gemacht werden. Zu letzteren setzt sich der Skeptiker in der Untersuchung (d. h. in seiner skeptischen Argumentation fçr beide Seiten eines Dissenses) 61 in Distanz, nicht zu dem »Scheinenden selbst«. Die Ûbersetzung »Und dies unterscheidet sich von einer Untersuchung çber das Scheinende selbst (peri autou tou fainomenou)« klingt im Deutschen etwas seltsam. Sie ergibt sich aus dem in 2.1.2.2. erlåuterten Bemçhen, eine Ûbersetzung fçr die Verwendung von fainomenon zu finden, die der spezifisch pyrrhonischen Verwendung von fainesthai entspricht. Der Zusatz »selbst« in »das Scheinende selbst« ist sehr wichtig. Er betont, daû der Pyrrhoneer, wenn er einråumt, wie ihm etwas scheint, dem Scheinenden nichts ± keine Stellungnahme in irgendeinem Sinn ± hinzufçgt. In § 20 nennt Sextus ein Beispiel fçr das pyrrhonische Sprechen: »Daû uns der Honig zu sçûen scheint, råumen wir ein«. Das Beispiel soll offenbar erlåutern, inwiefern der Skeptiker das »daû-es-scheint« zugibt. Dem Hinnehmen des Scheinenden im Gegensatz zur Aussage çber das Scheinende entspricht also eine Form der sprachlichen Øuûerung. In den mit fainesthai gebildeten pyrrhonischen Øuûerungen Das Kapitel zu den fainomena schlieût mit einer schwierigen Passage (§ 20). Sextus råumt ein, der Skeptiker wende sich in Sonderfållen auch gegen die fainomena selbst. Dies tue er aber nur, um die Voreiligkeit der Dogmatiker zu zeigen. (Hier kann »fainomenon« m. E. wieder mit »Erscheinung« wiedergegeben werden, da es sich nicht um den spezifischen Gebrauch handelt, der in der Beschreibung der pyrrhonischen Redeweise vorliegt.) Wenn schon die Erscheinungen problematisch sind, so soll der Dogmatiker wohl folgern, dann a fortiori das Verborgene. 61 Auf die wærtliche Ûbersetzung »Untersuchung« wird hier, obwohl sie leicht irrfçhrend klingen kann, nicht verzichtet, da es m. E. gerade eine Pointe der skeptischen Philosophie ist, daû das Gegençberstellen von Argumenten fçr beide Seiten eines Dissenses als Untersuchung bezeichnet wird (Kapitel 3). 60
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wird demnach nur das »daû-es-scheint« zugegeben ± es wird keine Aussage çber das Scheinende gemacht. Der Pyrrhoneer sagt, daû ihm der Honig zu sçûen scheint. Ob er aber auch sçû ist hoson epi to logo, untersucht er. Diese Frage aber betreffe nicht das Scheinende, sondern das, was çber das Scheinende ausgesagt werde. Gegenstand der pyrrhonischen Untersuchungen ist nicht, wie jemandem etwas scheint (im spezifisch pyrrhonischen Verståndnis), sondern, was darçber, wie jemandem etwas scheint, ausgesagt wird. Die Einschrånkung, die Sextus mit dem Ausdruck »hoson epi to logo« vornimmt, ist schwierig zu deuten. 62 Die Ûbersetzung »insoweit es eine Sache von Aussagen ist« ist unter den Interpreten umstritten. Im Folgenden werde ich versuchen, meine Ûbersetzung zu begrçnden. Dieser Punkt ist deshalb relevant, weil die Ûbersetzung »insoweit es eine Sache von Aussagen ist« besonders deutlich macht, was in der vorgetragenen Interpretation vertreten wird: daû es in §§ 19±20 um den Unterschied zwischen dem pyrrhonischen Umgang mit fainomena und Aussagen çber fainomena geht. An zwei der vier Stellen, an welchen Sextus die Formel verwendet, scheint sich »logo« auf ein Argument aus dem direkten Kontext zu beziehen; der Ausdruck kann mit »Argument« çbersetzt und anaphorisch verstanden werden (Soweit diese Argumentation fçhrt, gibt es
Bury çbersetzt »whether it is also sweet in its essence«, vgl. R. Richter (Die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des griechischen Skeptizismus, in: Philosophische Studien Bd. 20, Leipzig 1902, 246±299, S. 259 Anmerk. 4, Richter setzt den Ausdruck gleich mit »der Natur nach«). Hossenfelder çbersetzt »im Sinne der Aussage«, vgl. H. Fçckiger (Grundriss der pyrrhonischen Skepsis Buch I ± Selektiver Kommentar, Berner Reihe philosophischer Studien, Diss., Bern und Stuttgart 1990) S. 31: »insoweit es um die Aussage geht«. Frede (1979, S. 113) çbersetzt »insoweit das eine Sache der Vernunft ist«. In einer detaillierten Untersuchung des Ausdrucks kritisiert Jacques Brunschwig (La formule hoson epi to logo chez Sextus Empiricus, in: Hg. Voelke (1990) 107±121) diese Vorschlåge. Er setzt an bei der zitierten Passage PH 1.20 (die Formel findet sich weiter in PH 1.227, 3.48 und 3.72), da genau an dieser zentralen Stelle die Ûbersetzung schwierig ist. Brunschwig unterscheidet ein adverbiales (der Skeptiker bezweifelt o.e.t.l., daû der Honig sçû ist; d. h. der Ausdruck modifiziert die Art des Zweifelns) und ein objektbezogenes Verståndnis (der Skeptiker bezweifelt, daû der Honig sçû ist h.e.t.l.; d. h. der Ausdruck modifiziert, inwiefern »Der Honig ist sçû« zur Debatte steht) (S. 109). Zweitens unterscheidet er einen anaphorischen Gebrauch, in dem »to logo« sich auf ein vorhergehendes Argument bezieht, und einen nicht anaphorischen Gebrauch (S. 114). Es ergeben sich vier Mæglichkeiten, PH 1.20 zu interpretieren: nicht-anaphorisch/ adverbial, nicht-anaphorisch/ objektbezogen, anaphorisch/ adverbial, anaphorisch/ objektbezogen (S. 116). 62
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keine Kærper 63 ; was das vorgebrachte Argument angeht, bewegen sich die Teile einer Kugel, die sich um ihre Achse dreht, nicht. 64 ). Hier ist die formelhafte Einschrånkung ein Merkmal der dialektischen Argumentation des Skeptikers, der auf Argumente seiner Kontrahenten Bezug nimmt und fçr den Moment in seiner Verteidigung immer nur so weit geht, wie das gegnerische Argument es verlangt. Der Ausdruck hat so Øhnlichkeit mit den zeitlichen Qualifizierungen (achri nun, pros to paron 65 ) der skeptischen Argumentation ± fçr den augenblicklichen Stand der Diskussion kann dem Dogmatiker ausreichend viel entgegengehalten werden, damit ein Gleichgewicht der Positionen entsteht. Analog zu diesen Stellen mçûte PH 1.20, anders als oben angegeben, etwa so çbersetzt werden: Der Skeptiker untersucht, ob der Honig sçû ist, insofern sich diese Aussage auf eine Argumentation, die im Kontext pråsent ist, bezieht. Diese Interpretation vertritt Jacques Brunschwig. 66 Welches kænnte die Argumentation sein, die im Kontext pråsent ist? In PH 1.19 sagt Sextus, die Skeptiker wçrden untersuchen, ob etwas in Wirklichkeit so ist, wie es scheint. So kann mæglicherweise davon ausgegangen werden, daû im Hintergrund von § 20 die dogmatische These steht, die Dinge seien so, wie sie scheinen. 67 Auf diese These kænnte sich die Formel beziehen. PH 1.20 hieûe dann: Soweit es die These angeht, daû die Dinge so sind wie sie scheinen, untersuchen die Pyrrhoneer die fainomena. Mir scheint nun, daû dies eine zwar denkbare Interpretation ist, daû sie aber einer anderen Deutung an Plausibilitåt unterlegen ist. Denn immerhin muû das Argument aus dem Kontext¬ hier vom Interpreten ergånzt werden; es ist nicht wie in PH 3.48 und 3.72 explizit von einer dogmatischen Argumentation die Rede. Zudem ist der Umstand, daû sich nach Brunschwigs Lesart eine einheitliche Ûbersetzung ergibt, kein çberzeugender Vorteil. Denn auûer an den drei çbersetzten Stellen verwendet Sextus den Ausdruck auch in PH 1.227, wo eine PH 3.48. PH 3.72. 65 Vgl. PH 1.201. 66 Brunschwig (1990). Es handelt sich um die anaphorisch-objektbezogene Deutung. In Frage kåme nach Brunschwig auch die anaphorisch-adverbiale Deutung: Der Skeptiker untersucht, auf der Basis der Argumentation im Kontext, ob der Honig sçû ist. Brunschwig hålt beide Mæglichkeiten fçr gleichermaûen denkbar (S. 120), wåhrend er die nicht-anaphorischen Lesarten ablehnt. 67 So die Lesart von Brunschwig (1990) S. 120. 63 64
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anaphorische Deutung keinen Sinn macht 68 ; eine insgesamt einheitliche Ûbersetzung aller Verwendungen des Ausdrucks ist also ohnehin nicht mæglich. Naheliegender als die Ergånzung eines Arguments aus dem Kontext¬ ist m. E., die sprachliche Nåhe von »logo« zu dem, was der Skeptiker fçr sich ablehnt, zu beachten: Sextus weist im Kontext der schwierigen Stelle zweimal auf die Differenz zwischen fainomena und Aussagen (ho legetai, legomenon) çber fainomena hin 69 ; er betont den Unterschied zwischen dem passiven Hinnehmen eines fainomenon und dem Formulieren einer Aussage çber ein fainomenon. Wie sich der Skeptiker zu der Sçûe des Honigs verhålt, wird als Beispiel (hoion fainetai hemin glukazein ¼) fçr diese Differenz angefçhrt. 70 Unsere Untersuchung ist aber nicht befaût mit dem Scheinenden, sondern mit dem, was çber das Scheinende ausgesagt wird (ho legetai). Und dies unterscheidet sich von einer Untersuchung çber das Scheinende selbst (autou tou fainomenou). Wie zum Beispiel (hoion) daû uns der Honig zu sçûen scheint (fainetai), råumen wir ein; denn wir werden ja durch die Sinneswahrnehmung gesçût (glukazometha). Ob er aber auch sçû ist, insoweit das eine Sache von Aussagen ist (hoson epi to logo), untersuchen wir. Das aber ist nicht das Scheinende, sondern das, was çber das Scheinende behauptet wird (tou fainomenou legomenon). (PH 1.19±20)
Daû hier ein Beispiel fçr eine Differenz gegeben werden soll, gibt m. E. den Ausschlag fçr die Interpretation. Die Differenz (§ 19) besteht zwischen (i) dem »Scheinenden selbst« und (ii) dem Treffen von Aussagen (ho legetai) çber das Scheinende. Parallel zu dieser Unterscheidung besagt das Beispiel mit dem Honig nun folgendes: (i) Der Skeptiker råumt ein, daû ihm der Honig zu sçûen scheint; (ii) ob der Honig jedoch sçû ist, insoweit hier eine Aussage (logo) gemacht wird, untersucht er. 71 Dies erwåhnt auch Brunschwig (1990) S. 116. PH 1.19±20. 70 Die Nåhe von »logos« zu »legein« sieht auch Brunschwig: »il semble que le mot logos, dans la formule h.e.t.l., fasse cho ces occurrences du verbe legein« (1990) S. 116. 71 Brunschwig zieht eine derartige Interpretation durchaus in Betracht und erkennt auch ihre Attraktivitåt an (1990, S. 117 ff.). Er formuliert drei Versionen der Interpretation (b1, b2, b3), von denen b3 mit der oben gegebenen Deutung çbereinstimmt. Brunschwigs Argumente çberzeugen m. E. mit Bezug auf b1 (»logo« çbersetzt als jegliches Reden) und b2 (»logo« çbersetzt als Sprechen çber die åuûeren Gegenstånde), ± b1 beachtet nicht, daû der Skeptiker auf seine Art auch von den fainomena redet; b2 scheitert daran, daû es nicht darum geht, nichts çber die åuûeren Gegenstånde zu sagen (S. 118). Die Argumentation gegen b3 (S. 119) kann, falls ich sie recht verstehe, nicht çberzeugen. Nach Brun68 69
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Einen anderen Interpretationsvorschlag macht Ricken. 72 Er çbersetzt: »ob er aber auch sçû ist, soweit es das Argument betrifft, das fragen wir«. Dabei bezieht er »soweit es das Argument betrifft« nicht wie Brunschwig auf ein im Kontext der Stelle angefçhrtes Argument, sondern auf die Argumente, die der Skeptiker in seinen Diskussionen anfçhrt. Die Urteilsenthaltung bezçglich der Frage, ob der Honig sçû ist, entstehe durch den Eindruck, den die skeptischen Argumente ± vor allem die Tropen ± auf den Pyrrhoneer machen. Ricken gewinnt diese Deutung aus dem Vergleich mit PH 3.48, PH 1.227 und PH 1.215. Hier soll nur PH 1.227 zitiert werden, wo es um die Isosthenie geht: Wir sagen, daû unsere Eindrçcke gleich seien hinsichtlich Glaubhaftigkeit und Unglaubhaftigkeit hoson epi to logo. (PH 1.227)
Ricken çbersetzt auch hier »soweit es das Argument betrifft«, was m. E. an dieser Stelle çberzeugend ist. Die Isosthenie kommt nach dieser Lesart zustande, indem sich widersprechende Eindrçcke von gleicher Glaubwçrdigkeit aufgefçhrt werden. Diese Eindrçcke sind als Eindrçcke zu verstehen, die die Argumente fçr beide Seiten auf den Pyrrhoneer machen. Betrachtet man nun die skeptische untersuchende Tåtigkeit, wie Sextus sie vorfçhrt, so ist deutlich, daû es sich hier um Argumente handelt, die der Pyrrhoneer selbst zusammenstellt, wobei er seine spezifischen skeptischen Instrumentarien (v. a. die Tropen) verwendet. Falls ich den Gedankengang richtig verstehe, interpretiert Ricken ausgehend hiervon die Verwendung von »hoson epi to logo« in PH 1.20. Der Skeptiker enthålt sich darçber, ob der Honig sçû ist, des Urteils, und diese Urteilsenthaltung entsteht dadurch, daû er selbst nach seinen skeptischen Methoden Argumente bezçglich der Sçûe des Honigs anfçhrt. »Diese Urteilsenthaltung ist aber selbst bedingt. Sie beruht auf dem Eindruck, den die entsprechenden Argumente (hier ist vor allem an die Tropen zu denken) auf uns machen.« 73 Diese Interpretationsmæglichkeit ± daû es sich bei den Argumenten nicht um solche handelt, die Dogmatiker anfçhren, sondern um solche, schwig kann »Der Honig ist sçû« nicht deshalb zurçckgewiesen werden, weil hier etwas »sur l'etat interne du sujet« behauptet werde, weil dies schlicht nicht der Fall sei. Dies trifft m. E. nicht zu. Nach Sextus ist »Der Honig ist sçû« eine Aussage darçber, wie der Honig in Wirklichkeit ist. Sie muû von der skeptischen Øuûerung »Honig scheint uns zu sçûen« unterschieden werden. 72 Ricken (1994) S. 124±5. 73 Ricken (1994) S. 125.
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die der Skeptiker selbst zusammenstellt ± wird von Brunschwig nicht berçcksichtigt. (Freilich handelt es sich hier gewissermaûen nur um eine Frage der Sichtweise oder Betonung: die Argumente, die der Skeptiker zusammenstellt, sind ja die Argumente der Dogmatiker, wenn sie auch erst vom Skeptiker in den Zusammenhang gebracht werden, durch den die Isosthenie entsteht.) Rickens Interpretation hat m. E. gegençber der von Brunschwig den Vorteil, daû kein Argument aus dem Kontext¬ ergånzt werden muû. Der entscheidende Unterschied zwischen der oben vorgeschlagenen und Rickens Interpretation liegt in der Gewichtung von Aspekten. Auch Ricken kommt zu dem Schluû, daû der Skeptiker sich der Aussage, der Honig sei sçû, als einer Aussage çber die Wirklichkeit enthålt. Er betont jedoch die Abhångigkeit der Urteilsenthaltung von der spezifisch skeptischen Argumentation. In der von mir vertretenen Interpretation wird der Akzent anders gesetzt: Der Pyrrhoneer enthålt sich des Urteils darçber, ob der Honig sçû ist, insofern diesem sprachlich eine Aussage çber ein fainomenon entspricht und eine Aussage çber ein fainomenon eine Aussage çber die Wirklichkeit ist. Der Umstand, daû die pyrrhonische Urteilsenthaltung die Isosthenie voraussetzt, und diese vom Skeptiker durch das Zusammenstellen von Argumenten hervorgehoben wird, ist m. E. unbestritten. Insofern dies der Fall ist, ist Ricken recht zu geben: Daû der Pyrrhoneer sich des Urteils darçber enthålt (»untersucht«), ob der Honig sçû ist, hångt davon ab, daû er eine Isosthenie herstellt. Dies scheint mir jedoch nicht die entscheidende Pointe der Stelle zu sein, an der ± wie oben zu zeigen versucht wurde ± der Unterschied zwischen den fainomena und Aussagen çber fainomena erarbeitet wird. Es muû m. E. in der Interpretation unbedingt berçcksichtigt werden, daû mit dem Satz, der den Ausdruck hoson epi to logo enthålt, ein Beispiel dafçr gegeben werden soll, daû fainomena zwar hingenommen werden und diesem Hinnehmen eine sprachliche Form entspricht, aber keine Aussagen çber sie gemacht werden. Daû der Pyrrhoneer sich des Urteils darçber enthålt, ob der Honig auch sçû ist hoson epi to logo, verweist so vornehmlich darauf, daû er nicht çber das Scheinende selbst¬ hinausgeht zu einer Aussage çber das Scheinende. Er untersucht, ob der Honig hoson epi to logo sçû ist, »denn das ist nicht das fainomenon, sondern was çber das fainomenon gesagt wird (ho legomenon)« (PH 1.20). Gegen diese Interpretation kænnte eingewandt werden, sie mache den Text redundant: Was nach der vorgetragenen Deutung unter 103
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hoson epi to logo zu verstehen ist, werde bereits in »ob er sçû ist« gesagt (»Ob er aber auch sçû ist, hoson epi to logo, untersuchen wir«). M. E. kann der entscheidende Unterschied zwischen dem Scheinenden selbst¬ und Aussagen çber das Scheinende zwar auch aus »Wie zum Beispiel (hoion) daû uns der Honig zu sçûen scheint (fainetai), råumen wir ein (¼) Ob er aber auch sçû ist, untersuchen wir« erschlossen werden. Der Text kann so gedeutet werden, daû der Urteilsenthaltung bezçglich der Frage, ob der Honig sçû ist, ein Verzicht auf Aussagen darçber, ob er sçû ist, entspricht. Was also fçgt »hoson epi to logo« hinzu? Mir scheint, daû es Sextus an dieser Stelle darum geht, die Unterscheidung zwischen einem fainomenon und dem, was çber ein fainomenon gesagt wird, so deutlich wie mæglich zu machen. »Ob er aber auch sçû ist, untersuchen wir« gibt nicht an, ob hier von einem Verzicht auf Aussagen die Rede ist. Die Formulierung ohne den Ausdruck »hoson epi to logo« weist nicht (oder zumindest nicht explizit) darauf hin, daû der Text auf das pyrrhonische Sprechen zu beziehen ist. So scheint es mir zwar zuzutreffen, daû »Ob er aber sçû ist, untersuchen wir« auch so zu deuten wåre, daû der Skeptiker sich einer Aussage darçber, wie der Honig ist, enthålt. Diese Formulierung wçrde jedoch weniger deutlich darauf verweisen, daû es um den Unterschied zwischen einer Aussage çber das Scheinende und dem Scheinenden selbst¬ geht; sie kann auch so gedeutet werden, daû sie den Unterschied zwischen einem Urteil und der Urteilsenthaltung zum Gegenstand hat. Der Unterschied zwischen einer Aussage çber das Scheinende und dem Scheinenden selbst¬ kann zwar bereits aus dem restlichen Text von §§ 19±20 erschlossen werden; er wird jedoch durch hoson epi to logo noch einmal betont. PH 1.19±20 zeigt nach der vorgetragenen Interpretation, daû die Skeptiker zwischen bloûen¬ Fainomena (dem Scheinenden selbst) und Aussagen çber Fainomena unterscheiden, und ersteren eine Weise des sprachlichen Ausdrucks zuordnen (»Der Honig scheint uns zu sçûen«). Hieraus ergibt sich, daû ein Unterschied zwischen der pyrrhonischen Redeweise (z. B. »Der Honig scheint uns zu sçûen«) und Aussagen çber Fainomena angenommen wird, demzufolge »Der Honig scheint uns zu sçûen« keine Aussage çber ein Fainomenon ist. Die Unterscheidung zwischen dem Scheinenden selbst¬ und Aussagen çber das Scheinende muû auf die Beschreibung des pyrrhonischen Sprechens als Kundtun im Gegensatz zum Behaupten bezogen werden. 104
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2.2. Das Kundtun von Fainomena 2.2.1. Das Kundtun dessen, was man erlebt Wenn der Pyrrhoneer einen Satz wie »Der Honig scheint uns zu sçûen« åuûert, so macht er keine Aussage çber das Fainomenon, sondern tut es kund. Im folgenden soll beschrieben werden, wie Sextus den wichtigen Begriff des Kundtuns bestimmt. Zunåchst mæchte ich zeigen, daû das Kundtun eines Fainomenon das Kundtun dessen sein soll, was man erlebt. Vorab aber mæchte ich bemerken, daû wir von keinem der Dinge, die wir sagen werden, mit Sicherheit behaupten, daû es sich in jedem Fall so verhalte, wie wir sagen, sondern daû wir çber jedes Einzelne nur erzåhlend kundtun (historikos apangellomen), was uns jetzt scheint (kata to nun fainomenon). (PH 1.4) Das Wichtigste ist aber, daû er im Aussprechen (en te profora) dieser Schlagworte nur sagt, was ihm selbst scheint (to heauto fainomenon), und daû er nur das, was er selbst erlebt (pathos), kundtut. (PH 1.15)
In den zitierten und den im folgenden zu nennenden Textstellen çbersetze ich »pathos« bzw. »paschein« als Erlebnis bzw. erleben. Warum diese Ûbersetzung gewåhlt werden muû, werde ich unten ausfçhren. Sextus erklårt in PH 1.4 nicht nåher, was unter dem Kundtun von Fainomena zu verstehen ist. Er sagt nur, der Pyrrhoneer berichte erzåhlend, was ihm jetzt scheint (to nun fainomenon). In PH 1.15 setzt Sextus gleich, daû man das, was einem scheint, sagt, und daû man das, was man erlebt, kundtut. Der Begriff des Fainomenon wird also durch den des Pathos expliziert. Die drei Textstellen, in denen Sextus das pyrrhonische Sprechen als Kundtun (apangellein) beschreibt, finden sich in der Erlåuterung der Schlagworte. 74 An jeder dieser Stellen verbindet Sextus fainesthai mit pathos. Bezçglich des Schlagworts »Alles ist unerkennbar« 75 schreibt er, gemeint sei eigentlich »Alles, was ich von den dogmatisch erforschten verborgenen Dingen untersucht habe, scheint mir unerkennbar (fainetai moi akatalepta)«. Dies nun werde nicht von einem gesagt, der etwas behauptet, sondern von einem, der das, was er erlebt, kundtut (to heautou pathos apangellontos). 74 75
Zur Verwendung von apangellein vgl. PH 1.15, 197, 200 (2x), 203. PH 1.200.
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Øhnlich heiût es in der Erlåuterung des Schlagworts »Jedem Argument steht ein gleichwertiges entgegen« 76 , es sei eigentlich gemeint »Jedem von mir untersuchten Argument, das dogmatisch etwas beweist, scheint mir ein anderes Argument entgegenzustehen (antikeisthai fainetai moi) 77 , das ebenfalls dogmatisch etwas beweist und das dem ersten in Glaubwçrdigkeit und Unglaubwçrdigkeit gleichwertig ist.« 78 Dies wiederum sei keine dogmatische Øuûerung (proforan ou dogmatiken), »sondern das Kundtun eines menschlichen Pathos, und das ist etwas, was dem Erlebenden scheint (all' anthropeiou pathous apangellian, ho esti fainomenon to paschonti)«. Hier ist die Verbindung, die Sextus zwischen den Begriffen Fainomenon und Pathos zieht, am deutlichsten erlåutert: Daû dem Pyrrhoneer etwas so-und-so scheint, heiût, daû er ein bestimmtes Erlebnis hat. Daraus ergibt sich fçr das pyrrhonische Sprechen: Wenn der Pyrrhoneer kundtut, wie ihm etwas scheint, tut er sein Erleben kund. Auch die dritte Stelle zum pyrrhonischen Sprechen in dem Textabschnitt, der die Schlagworte behandelt, stellt eine Verbindung zwischen Fainomenon und Pathos her. Mit Bezug auf das Schlagwort »Ich bestimme nichts« 79 schreibt Sextus, dies sei nicht eine dogmatische Annahme (dogmatike hupolepsis), »sondern das Schlagwort legt unser Pathos offen (fone pathous hemeterou delotike). Es folgt wiederum eine ausfçhrliche Erlåuterung dessen, was mit dem Schlagwort gemeint sei: Mir ergeht es jetzt so (ego houto pepontha nun), daû ich nichts von dem, was Gegenstand dieser Untersuchung ist, dogmatisch setze oder bestreite. Damit sagt er kundtuend (apangeltikos), was ihm mit Bezug auf das Vorliegende scheint (to heauto fainomenon peri ton prokeimenon), nicht, indem er etwas dogmatisch mit Ûberzeugung behauptet, sondern indem er erzåhlt, was er erlebt (ho paschei diegoumenos). (PH 1.197)
Auch hier wird deutlich, daû Sextus zwischen dem Kundtun dessen, wie einem etwas scheint, und dem Kundtun dessen, was man erlebt, keinen Unterschied macht. Die Stelle liefert Alternativen in der Be-
PH 1.202±5, die oben referierte Stelle ist § 203. Hier handelt es sich um eine der Stellen, an denen die elliptische Formulierung nicht gelingen kann, da von einer Sache nicht durch Adjektiva ausgesagt wird, wie sie scheint, sondern durch ein Verb. 78 Ich çbernehme hier, wie bei § 200, Hossenfelders Ûbersetzung unveråndert. 79 PH 1.197. 76 77
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schreibung pyrrhonischen Sprechens 80 : Statt als Kundtun kann es auch als Offenlegen¬ charakterisiert werden, oder als Erzåhlen¬. Der Ausdruck, der Pyrrhoneer lege sein Pathos offen, ist m. E. sehr bildlich. Er verweist darauf, daû im pyrrhonischen Sprechen nur hergezeigt¬ werden soll, was der Pyrrhoneer erlebt. Im Sprechen soll dem, was erlebt wird, nichts hinzugefçgt werden. Die Erlåuterung des pyrrhonischen Sprechens als Kundtun von Erlebnissen ist neben dem spezifisch pyrrhonischen Gebrauch von fainesthai der zweite zentrale Punkt fçr die Interpretation des pyrrhonischen Sprechens. Gegen diese Gewichtung kænnte eingewandt werden, daû sie sich sehr stark auf den Text zu den Schlagworten stçtzt. Alle vier Stellen, die das Kundtun dessen, wie jemandem etwas scheint, als Kundtun seines Pathos explizieren, finden sich im Zusammenhang mit den Schlagworten. Auch in PH 1.15 ist, obwohl der Text sich nicht innerhalb der långeren Darstellung der Schlagworte (PH 1.187±209) findet, von einem Schlagwort (ou mallon) die Rede. Dort heiût es, im Vorbringen seiner Schlagworte sage der Skeptiker, wie ihm etwas scheint und er tue sein Erleben kund. Es kænnte argumentiert werden, dies weise darauf hin, daû der Skeptiker nur in den Schlagworten Pathe kundtue und die Erlåuterung des Kundtuns von Fainomena als Kundtun von Pathe nur auf diese zu beziehen ist. Die Erlebnisse, die in den Schlagworten beschrieben werden, sind jeweils psychische Zustånde, die durch die Isosthenie entstehen: Angesichts gleichstarker Argumente fçr beide oder mehrere Seiten eines Dissenses stellt sich beim Skeptiker der Zustand der afasia, der aoristia etc. ein, den er dann in den Schlagworten kundtut. Es wåre denkbar, daû Sextus nur diesen sehr spezifischen Teil des pyrrhonischen Sprechens als ein Kundtun von Pathe verstanden wissen will. Zunåchst muû eingestanden werden, daû alle fçr die Explikation des Kundtuns von Fainomena als Kundtun von Pathe relevanten Texte mit den Schlagworten befaût sind. Diese Begrenzung ist m. E. jedoch nicht entscheidend: Von fçnf Stellen (PH 1.4, 15, 197, 200 81 , 203), an denen das pyrrhonische Sprechen als Kundtun beschrieben wird, stehen ebenfalls vier im Kontext der Schlagworte bzw. es handelt sich um eben die Stellen, an denen der Begriff des Pathos fållt. Allein in Vgl. hierzu DL 9.104, wo die skeptischen Øuûerungen als »Bekenntnisse« (exomologeseis) bezeichnet werden. 81 Hier wird das Verb apangellein zweimal verwendet. 80
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PH 1.4, wo Sextus allgemein erklårt, daû alles, was er in der Folge vorbringen wird, als Kundtun dessen, was ihm scheint, zu verstehen ist, ist dieser Zusammenhang nicht gegeben. Gerade PH 1.4 macht jedoch deutlich, daû der Begriff des Kundtuns ein zentraler Begriff fçr die pyrrhonische Philosophie ist; das Kundtun wird in einer grundsåtzlichen Erklårung zum pyrrhonischen Sprechen dem Behaupten entgegengestellt. Aufgrund von PH 1.4 verbietet sich die Annahme, daû nur dann, wenn die Schlagworte geåuûert werden, etwas kundgetan wird. Wenn Sextus nun im Zusammenhang mit den Schlagworten erklårt, das Kundtun dessen, wie jemandem etwas scheint, sei zu verstehen als Kundtun eines Erlebnisses, so kann kein Anhaltspunkt dafçr gefunden werden, daû der Skeptiker zwei unterschiedliche Redeweisen kennt ± das Kundtun dessen, was ihm scheint, wenn er gerade kein Schlagwort åuûert, und das Kundtun dessen, was ihm im Sinne eines Erlebnisses scheint, wenn er gerade ein Schlagwort åuûert. Es kann am Text gezeigt werden, daû Sextus sowohl davon, was der Skeptiker in den Schlagworten kundtut, sagt, daû es dem Skeptiker scheint, wie davon, was er nicht in Schlagworten, sondern in anderen mit fainesthai gebildeten Såtzen kundtut. In der Erlåuterung des Schlagworts »ou mallon« schreibt Sextus, der Skeptiker lege ein Pathos offen, »bei dem wir wegen der Gleichgewichtigkeit der gegensåtzlichen Dinge in einer Balance (arrepsia) mçnden« 82 . Unter Gleichgewichtigkeit werde die Gleichheit dessen, was dem Skeptiker glaubhaft scheint (to fainomenon hemin pithanon), verstanden. An dieser Bemerkung ist fçr den Moment wichtig, daû Sextus hier von den einzelnen Argumenten oder Thesen, die mit dem Ziel der Isosthenie vorgetragen werden, sagt, daû sie dem Skeptiker scheinen. Im Text heiût es wenige Zeilen spåter, der Skeptiker wolle mit dem Schlagwort »ou mallon« offenlegen, was ihm scheint (to fainomenon hemin). Was dem Skeptiker scheint, wenn er »ou mallon« sagt, scheint ihm aufgrund davon, daû ihm mehrere Argumente gleichgewichtig scheinen. Sextus verwendet demnach innerhalb weniger Zeilen fainesthai fçr ein Scheinen, dem als Øuûerung kein Schlagwort entspricht, und ein Scheinen, dem als Øuûerung ein Schlagwort entspricht. Diese beiden Arten des Scheinens kænnen als ein Scheinen erster Ordnung und ein Scheinen zweiter Ordnung bezeichnet werden. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, daû das Scheinen zweiter Ordnung erst dann eintreten kann, wenn dem Skeptiker 82
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mehrere Dinge im Sinne des Scheinens erster Ordnung scheinen. Ein zweiter Unterschied besteht darin, daû die Schlagworte jeweils insofern eine bestimmte Art von Erlebnis ausdrçcken, als in ihnen ein intellektuelles Erlebnis kundgetan wird, und zwar insofern, als es ein Erlebnis des Verstandes (dianoias) ist. 83 Wenn dem Skeptiker scheint, daû ihm warm ist, so handelt es sich hier wohl nicht in demselben Sinn um ein Pathos des Verstandes: In den Schlagworten soll so etwas wie ein Erlebnis im Bezug auf das Denken kundgetan werden. Der fçr meine Interpretation entscheidende Punkt ist nun, daû diese Faktoren, die fçr die Unterscheidung eines Scheinens erster Ordnung von einem Scheinen zweiter Ordnung relevant sind, nichts damit zu tun haben, daû nur das Scheinen zweiter Ordnung ein Erlebnis wåre. Zwar kænnen die skeptischen Erlebnisse in den genannten Hinsichten unterschiedlich beschrieben werden; es gibt jedoch keinen Anhaltspunkt dafçr, daû das Scheinen zweiter Ordnung den Charakter eines Erlebnisses hat, wåhrend das Scheinen erster Ordnung diesen Charakter nicht hat. Der entscheidende Beleg im Text, der m. E. zeigt, daû der Skeptiker immer dann, wenn ihm etwas so-und-so scheint, ein Pathos hat, ist PH 1.203. Dort heiût es, das Aussprechen von »Jedem Argument steht ein gleichwertiges Argument entgegen« sei nicht dogmatisch (proforan ou dogmatiken), »sondern das Kundtun eines menschlichen Pathos, und das ist etwas, was dem Erlebenden scheint (all' anthropeiou pathous apangellian, ho esti fainomenon to paschonti)«. ± Ein menschliches Pathos ist nach dieser Textstelle das, was dem, der das Pathos hat, scheint. Aufgrund der hier formulierten Gleichsetzung kann die Interpretation vertreten werden, daû der Skeptiker immer dann, wenn er kundtut, wie ihm etwas scheint, ein Erleben kundtut. Entsprechend dem Scheinen erster und zweiter Ordnung kann in Erlebnisse erster und zweiter Ordnung unterschieden werden. Wenn dem Skeptiker ein Argument gut oder ein Turm rund scheint, so hat er ein Erlebnis erster Ordnung. Wenn sich die Afasia, die Unbestimmtheit oder ein anderes Erlebnis, das in den Schlagworten kundgetan wird, einstellt, so hat er ein Erlebnis zweiter Ordnung. Ausgehend von dem allgemeinen Begriff des Pathos, der Erlebnisse erster und zweiter Ordnung umfaût, kann gesagt werden, daû der Pyrrhoneer in seinen mit fainesthai formulierten Øuûerungen Erlebnisse kundtut. Wenn dem Skeptiker etwas so-und-so scheint, so hat er ein 83
Vgl. PH 1.198,wo es heiût, die Unbestimmtheit sei ein Pathos des Verstandes.
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Erlebnis im Sinne eines Pathos; wenn er kundtut, wie ihm etwas scheint, tut er ein Pathos kund. Die Ûbersetzung von »pathos« im Zusammenhang mit der Erlåuterung des pyrrhonischen Sprechens ist, wie bereits bemerkt, schwierig. 84 Sextus verwendet den Begriff des Pathos derart, daû nicht impliziert wird, das Pathos werde von einer Ursache hervorgerufen. Dies ist entscheidend: Der Begriff des Pathos muû, wenn der Skeptiker ihn verwenden will, von allen ontologischen Implikationen befreit sein. Er darf in der pyrrhonischen Verwendung nicht als ein kausaler Begriff gedeutet werden. So kann nicht çbersetzt werden, der Pyrrhoneer tue sein Erleiden oder seine Affektionen kund: Beide Begriffe beinhalten, daû es etwas gibt, das das Erleiden bzw. die Affektion verursacht. Um in der Ûbersetzung von »pathos« allen derartigen Implikationen auszuweichen, wåhle ich die Ûbersetzung »Erlebnis«. Everson vertritt die These, Sextus kænne in der Erlåuterung des pyrrhonischen Sprechens als Kundtun von Pathe einen Begriff des Pathos aus dogmatischen Theorien der Sinneswahrnehmung aufgreifen. 85 Dem muû widersprochen werden: Ein Begriff des Pathos aus einer Theorie der Sinneswahrnehmung ist, wie Everson auch selbst betont 86 , ein kausaler Begriff; als solchen kann der Pyrrhoneer ihn nicht verwenden. Wenn der Begriff des Pathos von allen ontologischen Implikationen befreit ist, verbleibt allein seine Bestimmung als etwas, das passiv erlebt wird. Der Begriff ist auch dahingehend nicht nåher bestimmt, ob es um ein sinnliches oder ein intellektuelles Erleben geht ± in Sextus' Verwendung umfaût er beides. Der entscheidende Punkt, den die Erklårung des pyrrhonischen Sprechens als Kundtun von Fainomena hinzufçgt, liegt in der Betonung der Passivitåt des Pyrrhoneers. Daû ihm etwas so-und-so scheint, ist ein passives Erleben. Fçr die Interpretation der pyrrhonischen Rede sollen nun folgende Fragen formuliert werden: Entwickelt der Pyrrhoneer eine Redeweise 87, in der er Propositionen åuûert und eine propositionale EinstelVgl. Hossenfelder (1985) in der 5. Anmerkung zu seiner Ûbersetzung S. 301. Auch Hossenfelder wåhlt die Ûbersetzung »Erlebnis«. 85 Everson (1991) S. 132±3. 86 Everson (1991) S. 132. 87 Den Begriff der Redeweise verwende ich in einem weiteren Sinn als den des Sprechakts, so daû nicht impliziert wird, daû eine Proposition geåuûert und eine propositionale Einstellung eingenommen wird. 84
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lung zu ihnen einnimmt? Oder kann ihm keine propositionale Einstellung zugeschrieben werden? Hier ergeben sich zwei Mæglichkeiten: Entweder åuûert der Pyrrhoneer eine Proposition, ohne eine propositionale Einstellung zu ihr einzunehmen, oder er åuûert keine Proposition. In 2.2.3. werde ich fçr die These argumentieren, daû dem Pyrrhoneer keine propositionale Einstellung zugesprochen werden kann und er teilweise Propositionen åuûert, ohne eine propositionale Einstellung zu ihnen einzunehmen, andernteils keine Propositionen åuûert. Es soll gezeigt werden, daû letzteres fçr den græûeren Teil des pyrrhonischen Sprechens ± die Redeweise des Kundtuns ± zutrifft: Nur wenn der Pyrrhoneer, wie oben bereits erwåhnt wurde, dogmatische Lehrsåtze referiert, åuûert er Propositionen. Hier kann seine Rede als ein Anfçhren beschrieben werden. Fçr die Redeweise des Kundtuns soll die These vertreten werden, daû keine Propositionen geåuûert werden. Zunåchst soll jedoch untersucht werden, ob nicht die stoische Theorie eine Mæglichkeit bietet, das Kundtun von Fainomena als nicht-assertorisch zu bezeichnen. 2.2.2. Die stoische Unterscheidung von Redeformen Barnes 88 gibt zu bedenken, daû der Skeptiker seine Øuûerungen mæglicherweise vor dem Hintergrund antiker Klassifizierungen verschiedener Redeformen vorstellt, die zwischen assertorischer (apophantike) und nicht-assertorischer Rede unterscheiden. Der Skeptiker kænnte zu zeigen versuchen, daû das Kundtun einer der nicht-apophantischen Redeweisen vergleichbar ist. Er kænnte dem Dogmatiker gegençber argumentieren, er mçsse die Nicht-Assertivitåt des pyrrhonischen Kundtuns akzeptieren, da er selbst in seiner Theorie eine vergleichbare nicht-assertorische Redeweise vorsieht. Im folgenden soll gezeigt werden, daû dies nicht gelingen kann. In der stoischen Einteilung der Redeformen ist kein Ansatzpunkt fçr eine Argumentation fçr die Nicht-Assertivitåt pyrrhonischer Rede gegeben. Der Skeptiker kann nicht gegen den Stoiker argumentieren, dieser mçsse die Nicht-Assertivitåt der skeptischen Redeweise anerkennen, weil er selbst eine åhnliche Form der Rede kenne. Ob dies fçr andere antike Einteilungen der Redeformen ebenfalls 88
Barnes selbst arbeitet den Vorschlag (1982, S. 5 und 22) nicht im Detail aus.
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der Fall ist, soll hier nicht diskutiert werden. M. E. ist anzunehmen, daû in diesem wie in anderen Aspekten die Stoa ein besonders wichtiger Kontrahent der Pyrrhoneer ist. Falls die pyrrhonische Argumentation in der Explikation der nicht-assertorischen Sprache als Argumentation gegen einen bestimmten Gegner zu interpretieren wåre, so mçûte dieser Gegner die Stoa sein. Eine Argumentation gegen einen weniger bedeutsamen Kontrahenten kann fçr den Pyrrhoneer, falls er seine Einstellung nur erklåren kann, indem er dogmatische Gegner auf ihre eigene Theorie verweist, nicht zufriedenstellend sein. Die Stoiker unterscheiden apophantische (assertorische) und nichtapophantische Redeformen. Der Terminus »axioma« wird in der Unterscheidung der Redeformen im Sinne von Behauptung verwendet. 89 Obwohl nach vielen Quellen allein das Axioma apophantisch ist 90 , bezeichnen andere Quellen auch andere Formen der Rede als apophantisch: Wunsch, Anrede, Schwur, Ekthese (z. B. »Dies da sei eine Gerade«), hypothetische Annahme und Quasiaussage sollen ebenfalls wahrheitsfåhig sein. 91 Wie ist dies zu verstehen? Die relativ ausfçhrlich çberlieferte Diskussion çber das Schwæren zeigt Bemçhungen, die verschiedenen Aspekte des Schwurs ± schwært der Sprecher aufrichtig? Erfçllt er spåter das, was er geschworen hat? ± zu erfassen. Dabei wird der Schwur insofern wahr oder falsch genannt, als er ein Axioma enthålt. Der Schwur »Ich schwære, daû ich kommen werde« enthålt das Axioma »Ich werde kommen«; dieses ist wahr oder falsch. Der Schwur ist wahr oder falsch, da die Person, die »Ich werde kommen« als Schwur geåuûert hat, entweder kommen wird oder nicht kommen wird; kommt sie, so ist das Axioma »Ich werde kommen« wahr, kommt sie dagegen nicht, falsch. Da nach dieser Analyse nicht eigentlich der Schwur wahr oder falsch ist, sondern nur das Axioma, das als Schwur geåuûert wird, kann davon ausgegangen werden, daû die Vereinfachung der Quellen, die allein Axiomata als wahrheitsfåhig bezeichnen, eigentlich den Kern der Sache trifft. Bei Diogenes Laertius heiût es, die Stoiker håtten Axioma, Entscheidungsfrage, Bestimmungsfrage, Befehl, Schwur, Wunsch, hypothetiDL 7.65 (Huelser 874). M 8.73. In Kapitel 1 wurde erlåutert, daû »axioma« offenbar zwei Verwendungen hatte, einmal im Sinne eines Lekton, das andere mal im Sinne von Aussagesatz. 90 Vgl. z. B. [Apuleius], De interpr. p. 176,4±14 (Huelser 879), Cicero, Acad.pr. 29,95 (Huelser 880). 91 Ammonius, In Arist. De interpr. p. 2,9±3,6 (Huelser 897). 89
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sche Annahme, Ekthese, Anrede und Quasiaussage unterschieden, wobei alle Redeformen auûer dem Axioma hier als nicht-apophantisch bezeichnet werden. 92 Ist irgendeine dieser Redeformen ein Kandidat fçr die pyrrhonische Argumentation? Die einzige Bezeichnung, die nicht sofort Aufschluû darçber gibt, was gemeint ist, ist »Quasiaussage«. Aber auch hier zeigt die Erlåuterung, daû der Redetypus fçr den Pyrrhoneer uninteressant ist. 93 Eine Quasiaussage fållt durch das Pathos, welches ein Partikel mit sich bringt, aus der Klasse der Aussagen heraus: »Wie doch der Hirt den Priamossæhnen gleicht« ist ein Beispiel. In der stoischen Unterscheidung nicht-apophantischer Redeformen findet sich also keine Redeform, in der ein indikativischer Satz geåuûert wird, der nicht zumindest in einer eingeschrånkten Weise einen Behauptungsanspruch erhebt. Sextus kann, wenn er das Kundtun als nicht-assertorische Redeweise darstellen will, somit nicht auf eine entsprechende Form der Rede verweisen, die in der stoischen Einteilung genannt wåre. Zwar kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht ausgeschlossen werden, daû der Pyrrhoneer den Gedanken einer Redeform, die dem Kundtun entspricht, aus einer anderen dogmatischen Theorie çbernimmt. Es findet sich jedoch bei Sextus keine Explikation der Redeform des Kundtuns, die hierauf verweisen wçrde. Falls die Pyrrhoneer den Gedanken aus einer anderen Philosophie aufgegriffen haben, so verteidigt Sextus ihn jedenfalls nicht durch eine Bezugnahme auf diese. Es wåre denkbar, daû der Pyrrhoneer das Kundtun unabhångig von einem Bezug auf eine dogmatische Philosophie als einen nicht-assertorischen Sprechakt verstanden wissen will. 94 Fçr diese Interpretation findet sich m. E. nur eine Stelle, die mæglicherweise als Beleg herangezogen werden kænnte. Mit Bezug auf das Schlagwort »ou mallon« erklårt Sextus, manche Pyrrhoneer håtten dieses zur Erlåuterung der Nicht-Assertivitåt als Frage charakterisiert. 95 Damit scheint er mir einen Versuch anzufçhren, das pyrrhonische Sprechen im Sinne eines nicht-assertorischen Sprechakts zu beschreiben. Die Stelle kann jedoch nicht den Ausschlag fçr die Interpretation DL 7.66 (Huelser 874). DL 7.67 (Huelser 874). 94 Dies dçrfte freilich nicht so geschehen, daû der Skeptiker eine dogmatische Liste von Redeformen um eine weitere nicht-assertorische Form der Rede erweitert, da er so ohne Frage dogmatisch wçrde. 95 PH 1.189. 92 93
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geben. Sextus nennt hier eine pyrrhonische Argumentationsweise, die er selbst nicht weiterverfolgt. Er erlåutert diesen Ansatz, indem er anhand von zweifelhaften Beispielen erklårt, es sei durchaus çblich, Fragen anstelle von Aussagen zu verwenden und umgekehrt. Zusammengenommen mit dieser Erlåuterung geht die Strategie der pyrrhonischen Vorgånger sicherlich nicht auf: Wenn ihre Fragen auch als Aussagen gedeutet werden dçrfen, sind sie der Assertivitåt nicht entkommen. Daû Sextus den Erlåuterungsversuch derart kommentiert, macht deutlich, daû er selbst diesen Ansatz nicht auf eine durchdachte Weise fortfçhrt. Wåre das Kundtun als ein nicht-assertorischer Sprechakt zu deuten, so wçrde der Pyrrhoneer eine propositionale Einstellung einnehmen. In 2.2.3. soll gezeigt werden, daû der Pyrrhoneer im Kundtun keine Propositionen åuûert und ihm daher auch keine propositionale Einstellung zugeschrieben werden kann. 2.2.3. »X scheint mir jetzt F« Im folgenden soll dafçr argumentiert werden, daû der pyrrhonische Versuch, eine nicht-assertorische Redeweise zu entwerfen, gelingt. Dabei sollen zwei Thesen vertreten werden: (1) Der Pyrrhoneer verwendet zwei Redeweisen, das Anfçhren und das Kundtun. Fçr beide Redeweisen gilt, daû dem Pyrrhoneer keine propositionale Einstellung zugeschrieben werden kann. (2) In der Interpretation der Øuûerungen, fçr die die Fainetai-Regel gilt, haben wir es mit der Redeweise des Kundtuns zu tun. Wenn der Pyrrhoneer Såtze der Form »X scheint mir jetzt F« ausspricht, åuûert er keine Propositionen. Wenn er dagegen in Referaten dogmatischer Theorien die Redeweise des Anfçhrens wåhlt, åuûert er Propositionen. Zunåchst zur Redeweise des Anfçhrens, die weitaus unproblematischer ist. Sextus geht teilweise von Såtzen, in denen er explizit macht, daû er Dogmatiker zitiert (»nach den Dogmatikern«, »nach dem, was die Dogmatiker darçber sagen«, »wie sie sagen« 96 etc.) zu Referaten çber, in denen er dies nicht fçr jeden einzelnen Satz deutlich macht. So folgt etwa auf einen kurzen Abschnitt (PH 2.104), in dem die stoische Zeichendefinition zitiert wird, ein Abschnitt, in dem eine Explikation dieser Definition angefçhrt wird, ohne daû der Zitiercharakter 96
Die Beispiele entnehme ich PH 2: PH 2.97, 100, 101.
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explizit gemacht wçrde (PH 2.105). Es ist jedoch offenkundig, daû Sextus hier einfach die stoische Lehre referiert. Sextus åuûert an derartigen Stellen Propositionen, von denen nicht anzunehmen ist, daû die Fainetai-Regel auf sie anzuwenden ist: Der Skeptiker versucht nicht, plausibel zu machen, daû ihm innerhalb von Referaten dogmatischer Theorien die einzelnen Lehrsåtze in ihrer Reihenfolge im spezifisch pyrrhonischen Sinn scheinen. Obwohl Propositionen vorgebracht werden, spricht der Skeptiker nicht assertorisch, da er nur zitiert bzw. anfçhrt. Dies trifft auch auf Stellen zu, an denen die Nåhe der pyrrhonischen Redeweise zum Zitat weniger deutlich ist. So beginnt Sextus etwa das fçnfte Kapitel in PH 3 mit dem Satz »Es ist glaubhaft, daû es Ursachen gibt«. 97 Wenige Paragraphen spåter heiût es: »daû es aber auch glaubwçrdig ist, zu sagen, daû nichts die Ursache von etwas ist, wird deutlich, wenn wir fçr diesmal einige wenige von vielen Argumenten dafçr vorgetragen haben (ekthemenon)«. 98 Sextus nennt Argumente fçr und gegen die Existenz von Ursachen. Obwohl er sie nicht einzeln Dogmatikern zuschreibt, wird aus dem Gesamtaufbau der Argumentation deutlich, daû sowohl dafçr, daû es Ursachen gibt, wie dafçr, daû es keine Ursachen gibt, dogmatische Argumente angefçhrt werden. Die zitierte Bemerkung dazu, daû Argumente fçr die Glaubwçrdigkeit dessen, daû nichts Ursache von etwas ist, vorgetragen werden, zeigt, daû Sextus gewissermaûen aus einem Fundus von Argumenten schæpft, die ihm aus der philosophischen Tradition vorliegen, so daû er sie gegeneinander ausspielen kann. Die Redeweise, die ich als Anfçhren bezeichne, scheint mir damit ausreichend erlåutert zu sein. In ihr werden Propositionen geåuûert, ohne daû eine propositionale Einstellung eingenommen wçrde. Im folgenden soll nun gezeigt werden, daû der Pyrrhoneer in der Redeweise des Kundtuns keine Propositionen åuûert. Hieraus ergibt sich, daû ihm auch im Bezug auf diese Redeweise keine propositionale Einstellung zugeschrieben werden kann. Die Begrçndung der These, daû die pyrrhonischen Øuûerungen dieser Art keine Propositionen enthalten, muû bei der sprachlichen Form der Såtze ansetzen, die geåuûert werden. An diesem Punkt der Interpretation wird es relevant, daû Sextus die Ergånzung durch den Infinitiv bewuût vermeidet. »X scheint mir jetzt F« soll nicht gleichbedeu97 98
PH 3.17. PH 3.20.
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tend mit »X scheint mir jetzt F zu sein« (und damit mit »Mir scheint, daû X F ist«) sein. Das nicht-elliptisch gedeutete Wegfallen der Ergånzung durch den Infinitiv verweist darauf, daû in den pyrrhonischen Øuûerungen »mir scheint« nicht als Operator vor einer Proposition steht. »X scheint mir jetzt F« kann nicht als »Mir scheint jetzt, daû p« (wobei p fçr eine Proposition steht) analysiert werden. Sextus erlåutert das Kundtun von Fainomena als Kundtun von Pathe. 99 Abgesehen davon, daû so die Passivitåt des Pyrrhoneers betont wird, ist die entscheidende Pointe, daû durch »X scheint mir jetzt F« ein Erlebnis kundgetan oder offengelegt werden soll, wobei dieses Kundtun bzw. Offenlegen keine Weise ist, eine Proposition zu åuûern. Wie im folgenden an Textstellen gezeigt werden wird, soll »X scheint mir jetzt F« als »Ich lege das Erlebnis A offen« verstanden werden, wobei A nicht fçr eine Proposition sondern fçr einen singulåren Terminus steht. »Mir scheint« ist damit ein Erlebnisausdruck, kein Operator. 100 Sextus gibt an keiner Stelle ein Beispiel fçr ein Pathos 101, das er so formulieren wçrde, wie die Stoiker Beispiele fçr Eindrçcke bzw. Lekta formulieren ± als Propositionen. 102 Die Kommentierung des Schlagworts »Alle Dinge sind unbestimmt« beginnt mit dem Satz, die Un99 PH 1.15, PH 1.200, PH 1.202±5, PH 1.197. Zur Verwendung von apangellein vgl. PH 1.97, 200 (2x), 203. 100 Eine andere Analyse gibt Mates: Pyrrhonische Øuûerungen haben nach seiner Analyse die Form »It appears to me now that p« (1996, S. 10). »It appears to me now« sei dabei als eine Art modaler Operator zu verstehen, der vor einer Proposition steht (S. 12). Mates scheint mir die Radikalitåt, mit der der Pyrrhoneer auf Assertivitåt verzichten muû, nicht ausreichend zu gewichten. Nach seiner Analyse kommen den pyrrhonischen Øuûerungen insofern Wahrheitswerte zu, als etwas (Wahres oder Falsches) çber den Sprecher und seine Einstellung zu der Proposition gesagt wird, nicht aber insofern, als die Proposition wahr oder falsch wåre. Doch bereits die Assertivitåt, die Mates dem Pyrrhoneer so zuschreibt, ist nicht mit seiner Philosophie vereinbar: Der Skeptiker darf nicht mit Wahrheitsanspruch etwas çber sich selbst¬ sagen. 101 Fçr diesen Punkt sind wiederum die Ûberlegungen relevant, die in 2.2.1. mit Bezug auf die Erlåuterung des Kundtuns von Fainomena als Kundtun von Pathe angestellt wurden: Die Begrenzung auf Texte, die mit den Schlagworten zu tun haben. Aus den oben angefçhrten Grçnden sind die Erklårungen der skeptischen Redeweise, die in diesem Kontext vorgenommen werden, nicht allein auf das Øuûern der Schlagworte zu beziehen; sie betreffen allgemein die Form des pyrrhonischen Sprechens, in der mit fainesthai gearbeitet wird. 102 Zu den stoischen Beispielen vgl. etwa M 7.242±248. Diese Beobachtung steht im Gegensatz zu Mates' These, das fainomenon werde typischerweise in »»that«-clauses« ausgedrçckt (1996, S. 14±5). Mates einziger Einwand dagegen, die pyrrhonischen fainomena
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bestimmtheit (aoristia) sei ein Pathos des Verstandes (pathos dianoias). 103 Øhnlich heiût es mit Bezug auf die afasia, sie sei ein Pathos, aufgrund dessen der Skeptiker sagt, daû er weder etwas setzt noch etwas aufhebt. 104 Die Erlåuterung des Schlagworts »Alles ist unbestimmt« zeigt, wie sich das Pathos und das Øuûern des mit fainesthai gebildeten Satzes zueinander verhalten: Sextus schreibt, das Pathos des Skeptikers sei die Unbestimmtheit (aoristia). 105 Dieses tut er in dem Satz »Alles scheint mir unbestimmt« kund. 106 Øhnlich heiût es von den Schlagworten, die durch »vielleicht« çbersetzt werden kænnen, daû sie die afasia offenlegen (delotikai). 107 Das Pathos wird also nicht (etwa wie ein Lekton) in einer propositionalen Form angefçhrt. Es heiût nicht, der Pyrrhoneer habe das Pathos, daû alles unbestimmt sei, oder er habe das Pathos, daû er weder etwas setze noch aufhebe. Beispiele fçr Pathe, die der Pyrrhoneer erlebt, werden nicht anhand von Propositionen gegeben, sondern anhand von singulåren Termini, die ein bestimmtes Erleben benennen. Der Pyrrhoneer tut nicht das Erleben kund, daû alle Dinge unbestimmt sind, sondern das Erleben der Unbestimmtheit. Das Kundtun oder Offenlegen kann demnach nicht wie etwa das Behaupten als eine Sprechweise bezeichnet werden, in der eine propositionale Einstellung zum Ausdruck kommt. Ihm entspricht nicht die Einstellung des das Erlebnis Habens¬, daû p. »Ich habe jetzt das Erlebnis A« macht also einen Punkt deutlich, der in Verbindung mit »mir scheint jetzt« nur durch die sprachliche Formulierung ± das Weglassen des Infinitivs ± gezeigt werden kann: Daû der Pyrrhoneer keine Propositionen åuûert. Die Sprechweise des Pyrrhoneers kann mit einen nicht-sprachlichen Ausdruck verglichen werden. Wenn der Pyrrhoneer in »Der Honig scheint mir sçû« offenlegt, was er erlebt, so ist dies einem Gesichtsausdruck, der eine angenehme Empfindung zeigt, vergleichbar. Zwar redet der Pyrrhoneer ± er begrenzt sich nicht auf Laute, Gestik und mit Propositionen zu identifizieren, ist, daû der Pyrrhoneer von der Existenz derartiger Entitåten nicht çberzeugt sei (er stellt die stoischen Lekta in Frage) (S. 15). 103 PH 1.198. 104 PH 1.192. 105 PH 1.198. 106 Dieser Satz steht so zwar nicht im Text, låût sich jedoch leicht aus ihm konstruieren. Dort heiût es, in »Alle Dinge sind unbestimmt« verwende der Skeptiker »sind« fçr »scheinen ihm«. PH 1.198. 107 PH 1.195.
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Mimik. Insofern ihm jedoch keine propositionale Einstellung zugeschrieben werden kann und seine Sprechweise als ein Herzeigen von Erlebnissen (pathe)¬ gedeutet werden soll, ist der Vergleich angebracht. Der Pyrrhoneer entwirft eine Form der Rede, die es ihm erlaubt, auch Erlebnisse jeglicher Komplexitåt zu zeigen¬, ohne die Erlebnisse in der Form von Propositionen zu fassen und sich in einer bestimmten Einstellung auf diese zu beziehen. In Sextus' Verwendung ist »pathos« kein kausaler Begriff. Dies ist fçr die Analyse von Øuûerungen der Form »X scheint mir jetzt F« von entscheidender Bedeutung: Die pyrrhonischen Øuûerungen kænnten nicht nur insofern inkonsistent mit dem Verzicht auf Dogmata sein, als sie assertorisch wåren. Sie kænnten dem Verzicht auf Dogmata auch widersprechen, indem sie dogmatische Voraussetzungen machen. Hinsichtlich dieser Gefahr ist es entscheidend, daû X in »X scheint mir jetzt F« nicht fçr einen Gegenstand steht, der das Pathos hervorruft; »X scheint mir jetzt F« darf nicht so interpretiert werden, als sei die Existenz dessen, wofçr X steht, impliziert. Durch die Explikation des Kundtuns von Fainomena als Kundtun von Erlebnissen ist die Referenz eliminiert: Wenn nichts als Erlebnisse kundgetan werden, so wird allein die Existenz dieser Erlebnisse vorausgesetzt. Wie aber kann das Erlebnis benannt werden, das der Skeptiker z. B. in »Der Turm scheint mir rund« kundtut? Bezeichnenderweise gibt Sextus nur mit Bezug auf einige Schlagworte an, worin das Pathos besteht, das in der fainesthai-Konstruktion geåuûert wird: Wåhrend hier einfach gesagt werden kann, das Pathos bestehe z. B. in der Unbestimmtheit, ist eine åhnliche Aussage mit Bezug auf »Der Turm scheint mir rund« nicht mæglich. Wie kann das Pathos benannt werden, das hier kundgetan wird? Dies ist mæglich, indem das nicht-elliptisch zu deutende Wegfallen des Infinitivs als ein Hinweis darauf verstanden wird, daû fainesthai durch adverbiale Bestimmungen ergånzt wird: In dem Satz »Der Turm scheint mir rund« tut der Skeptiker etwas kund, das als »mich rundet¤ mich turmt¬« beschrieben werden kænnte. In 2.2.4. wird ausgefçhrt, daû Sextus eine solche Ausdrucksweise nicht wåhlen kann, weil der Pyrrhoneer ein Interesse haben muû, sich vom Kyrenaiker abzugrenzen. Abgesehen davon ist jedoch deutlich, daû diese Ausdrucksweise die Intention des Skeptikers treffen wçrde. Das Pathos, das in »Etwas scheint mir ein Turm und scheint mir rund« kundgetan wird, kann mæglicherweise als »runder Turm« bezeichnet werden. So wåre in Entsprechung zu Sextus' Erklårung, in 118
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»Alle Dinge scheinen mir unbestimmt« werde die Unbestimmtheit kundgetan, ein singulårer Terminus gefunden, der das Pathos benennt. 2.2.4. Kyrenaische und pyrrhonische Rede Wenn Sextus das pyrrhonische Sprechen als Kundtun von Pathe erlåutert, so scheint hier eine groûe Øhnlichkeit zum kyrenaischen Sprechen zu bestehen. Sextus nennt in der Erlåuterung des Unterschieds zwischen pyrrhonischer und kyrenaischer Philosophie folgenden Punkt als Gemeinsamkeit: »Manche sagen, die kyrenaische Schule sei dasselbe wie die Skepsis, weil auch diese behauptet, daû allein die pathe erfaût werden (katalambanesthai).« 108 Diese Ûbereinstimmung ist jedoch nur unter einem Vorbehalt zu akzeptieren. Die These von der Erfaûbarkeit der Pathe ist ohne Frage dogmatisch. Wenn Sextus nicht, wie bei jeder anderen vermeintlichen Ûbereinstimmung, die er in den Abgrenzungen zwischen Pyrrhonismus und anderen Philosophien anfçhrt, darauf hinweist, daû diese tatsåchlich gar nicht gegeben ist, so kann dies nur als eine Ungenauigkeit oder mangelnde Ausfçhrlichkeit gedeutet werden, die entweder Sextus selbst oder seiner Quelle zur Last gelegt werden muû. An keiner anderen Stelle in Sextus' Bçchern heiût es, die Pathe seien erfaûbar. Es ist vællig zweifelsfrei, daû der Pyrrhoneer die These von der Erfaûbarkeit der Pathe nicht vertritt. Eine Øhnlichkeit zwischen kyrenaischem und pyrrhonischem Sprechen besteht jedoch in der Beschrånkung auf die Pathe. Der Pyrrhoneer fçgt den Fainomena bzw. Erlebnissen nichts hinzu bzw. nimmt in keiner Weise zu ihnen Stellung. So scheint es angebracht, nach dem Unterschied zwischen kyrenaischer und pyrrhonischer Sprechweise zu fragen. Zudem ergibt sich die Frage nach der Abgrenzung dadurch, daû Sextus in seinem ersten Beispiel fçr eine pyrrhonische Øuûerung ein kyrenaisches Verb verwendet: »Zum Beispiel scheint uns der Honig zu sçûen« (PH 1.20). Er verbindet das Verb mit dem skeptischen fainesthai. Das Beispiel ist in den gesamten Schriften von Sextus das einzige seiner Art. Obwohl Sextus eine Reihe von Verbformen verwendet, die dem kyrenaischen Sprachgebrauch entnommen sind (gesçût werden 108 PH 1.215. Die kyrenaische These, nur die Pathe seien erfaûbar, fçhrt Sextus auch in M 7.191 an.
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(glukazesthai) 109 , gewårmt werden (thermainesthai) 110 , gekçhlt werden (psuchesthai) 111 , bitter gemacht werden (pikrazesthai) 112 , weiû gemacht werden (leukainesthai) 113 , geschwårzt werden (melainesthai) 114 , duftend gemacht werden (euodizesthai) 115 ), findet sich kein zweites Beispiel fçr pyrrhonisches Sprechen, in dem ein derartiges Verb verwendet wçrde. 116 Sextus stellt die Kyrenaiker wie folgt vor: Die Kyrenaiker sagen, daû die pathe 117 die Kriterien sind und diese allein erfaût werden und unfehlbar sind, von den Dingen aber, die die pathe verursacht haben (pepoiekoton), sei keines erfaûbar oder unfehlbar. Denn, sagen sie, daû wir weiû gemacht werden (leukainometha) und gesçût werden (glukazometha), kænnen wir unfehlbar und unwiderlegbar sagen. (¼). Wer aber an Schwindel leidet oder Gelbsucht hat, wird von allem gelbmachend bewegt (ochrantikos hupo panton kineitai), wer an einer Augenkrankheit leidet, wird gerætet (eruthainetai), wer sein Auge zur Seite drçckt, wird wie von zwei Dingen bewegt (hos hupo duoin) (¼), und in all diesen Fållen ist es wahr, daû sie das erleben (paschousin), wie etwa gelb gemacht werden (ochrainontai) oder gerætet werden (eruthainontai) oder gedoppelt zu werden (duazontai) ¼ (M 7.191±3) 118
Es ist deutlich, daû die Verben, die die Kyrenaiker in ihrer Beschreibung der Pathe verwenden, nicht dem allgemeinen Sprachgebrauch PH 1.20, M 7.191, M 7.293, M 7.34, M 7.365, M 8.54±5, M 8.211, M 9.139±41. PH 1.13. 111 PH 1.13. 112 M 7.293, M 7.367, M 8.54±5, M 9.139±41. 113 M 7.197, M 7.293. Dieses Verb verwendet Sextus auch in der Darstellung der stoischen Theorie von Eindruck und Zustimmung (M 8.397). 114 M 7.293. 115 M 7.293. 116 In PH 1.13, wo Sextus »erhitzt werden« und »gekçhlt werden« verwendet, formuliert er, wie bereits ausgefçhrt wurde, keine Beispiele fçr pyrrhonische Øuûerungen. 117 Im Zusammenhang mit den Kyrenaikern lasse ich pathos unçbersetzt, da im Rahmen dieser Untersuchung keine adåquate Diskussion der Deutung des Begriffs geleistet werden kann. 118 Vgl. M 7.191±200 und den Bericht bei Plutarch, Adv. Col. 24.1120B-F = fr.218. (E. Mannebach, Aristippi et Cyrenaicorum fragmenta, Leiden, Kæln 1961). Plutarch zitiert das seines Erachtens bæswillige Referat des Kolotes, der meint, die Kyrenaiker håtten auch gesagt, sie wçrden »gemauert«, »gepferdet« und »gemenscht«. So aber håtten die Kyrenaiker ihre Lehre nicht dargestellt. Trotzdem scheint Plutarch davon auszugehen, daû diese Ausdrucksweise sich aus der kyrenaischen Philosophie ergeben wçrde. Zu der Frage, ob durch die kyrenaischen Verben nur Qualitåten ausgedrçckt wurden vgl. Klaus Dæring, Der Sokratesschçler Aristipp und die Kyrenaiker, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 1988 Nr. 1, 3± 70 (zur Erkenntnistheorie der Kyrenaiker S. 8±32), S. 11 und 30. 109 110
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entnommen sind, sondern eine philosophische Kunstsprache darstellen. 119 Zwar werden manche der Verben auch im allgemeinen Sprachgebrauch verwandt; z. B. bedeutet eruthainesthai als mediale Form »sich ræten«. Es ist jedoch offenkundig, daû etwa duazesthai nur als philosophisches Konstrukt gedeutet werden kann. Die oben angegebene Ûbersetzung geht durchweg von der Annahme aus, daû die Verben im Passiv stehen, nicht im Medium. So wurde etwa eruthainesthai durch »gerætet werden«, nicht durch »sich ræten« wiedergegeben. Daû dies die Intention trifft, folgt m. E. aus den Formulierungen »wird von allen ochrantikos bewegt« sowie »daû sie das erleben, wie etwa ochrainontai«. Hier wird deutlich, daû es um Erlebnisse geht. Aus Sextus' Bericht kann entnommen werden, wie die Sprechweise der Kyrenaiker vorzustellen ist: Ein Kyrenaiker sagt »ich werde geweiût« oder »Ich werde gesçût«. Der Kyrenaiker ist nicht nur der Ansicht, daû er die Pathe »erfaût«, sondern sogar, daû er sie unfehlbar erfaût. Aussagen wie »Ich werde geweiût« erheben den Anspruch, unfehlbar und unwiderlegbar zu sein. Aufgrund der Unterscheidung zwischen den Pathe und den Gegenstånden, die sie verursachen, kænnte man vermuten, daû fçr die Kyrenaiker ein zweiter Typus von Øuûerungen angenommen werden muû, in dem sie sich çber die Dinge åuûern, die die Pathe verursachen. Plutarch, der in seiner Schrift Gegen Kolotes dessen Verriû der kyrenaischen Philosophie kritisiert und in diesem Zusammenhang Informationen çber die Lehre der Kyrenaiker gibt, scheint zumindest darauf hinzuweisen. Diese verlegten die pathe und die Eindrçcke in sich hinein und glaubten, daû deren Gewåhr nicht ausreiche, sichere Aussagen çber die Dinge zu machen, sondern wie bei einer Belagerung kapselten sie sich von der Auûenwelt ab und schlossen sich in ihre pathe ein, indem sie sich in Bezug auf die Auûendinge nur des es scheint¬ bedienten, das es ist¬ aber nicht zulieûen. (Plutarch, adv. Col. 24, 1120 B±F = fr.218)
119 Daû diese Ausdrucksweise als philosophische nicht vællig neu ist, zeigt Aristoteles, Physik 7.244 b 7±10: »Wir sagen doch, etwas wird veråndert, wenn es sich erhitzt (thermainomenon), sçû wird (glukainomenon), sich verdichtet (puknoumenon), trocken (xerainomenon) oder weiû wird (leukainomenon), wobei wir das gleichermaûen vom Unbeseelten wie vom Beseelten sagen.« Trotzdem ist die Verwendung, die die Kyrenaiker von derartigen Verbformen machen, ein philosophisches Konstrukt, das genau auf ihr Ziel, die erfaûten pathe sprachlich auszudrçcken, ausgerichtet ist.
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Beispiele fçr die mit »es scheint« gebildeten Såtze finden sich jedoch leider nicht. Auch Sextus erwåhnt weder in seiner Darstellung der kyrenaischen Philosophie in M 7 noch in der Abgrenzung von den Kyrenaikern in PH 1 eine Gemeinsamkeit, die in der Verwendung von fainesthai bestçnde. So kann nicht rekonstruiert werden, ob und in welchen Aspekten die kyrenaische Verwendung von fainesthai der pyrrhonischen gleicht. Ob fçr die Kyrenaiker tatsåchlich mit zwei verschiedenen Typen von Øuûerungen zu rechnen ist, wobei einer mit den Neologismen, der andere mit »es scheint« arbeitet, ist demnach åuûerst unsicher. Deshalb soll fçr den Vergleich mit der pyrrhonischen Rede nur ein Punkt als gesichert festgehalten werden: Die Kyrenaiker verbinden in ihren Øuûerungen die Neologismen nicht mit fainesthai; in den zitierten Øuûerungen mit den Neologismen spielt fainesthai keine Rolle. Allein die neugebildeten Verben sollen darauf verweisen, daû nur die Pathe Gegenstand des Sprechens sind. Die Kyrenaiker fçgen keine Erklårung hinzu, die der pyrrhonischen Unterscheidung entspråche. Zudem halten sie die Erlebnisse fçr erfaûbar. So ist es folgerichtig, daû Sextus als Beispiel pyrrhonischer Rede nicht »Ich werde gesçût« anfçhrt, sondern »Der Honig scheint uns zu sçûen«. Er verbindet glukazein mit dem skeptischen fainesthai. 120 Die entscheidende Last in der Formulierung eines Satzes, den der Pyrrhoneer åuûert, trågt fainesthai ± ob dieses mit einem Verb im Stil der Kyrenaiker verbunden ist oder nicht, ist sekundår. Im pyrrhonischen Sprechen haben nicht besondere Verbformen sondern die spezifisch pyrrhonische Verwendung von fainesthai die Funktion, darauf hinzuweisen, daû ein passives Erleben kundgetan wird. Daû der Pyrrhoneer seine Øuûerungen nicht allein mit Verben im Stil der Kyrenaiker formuliert, sondern statt dessen die Konstruktion mit fainesthai verwendet, scheint mir darin begrçndet zu sein, daû er mægliche Implikationen dieser Verben bezçglich der Erfaûbarkeit von Pathe vermeiden will. Fçr die Interpretation des pyrrhonischen Kundtuns verbleibt ein Problem: In 2.1. wurde bereits erwåhnt, daû in »Der Honig scheint uns zu sçûen« fainesthai nicht im Sinne von (2a) ohne Infinitiv verwendet wird. Da, wo Sextus das Honig-Beispiel andernorts verwendet, 120 Barnes (1982, S. 22, Anmerk.29) vertritt die Auffassung, die kyrenaischen Neologismen seien nichts anderes als Varianten von fainetai moi, weist jedoch darauf hin, daû anders als in den pyrrhonischen Øuûerungen Meinungen ausgedrçckt und Behauptungen gemacht werden.
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formuliert er im Sinne des Schemas: »Und derselbe Honig scheint mir sçû (emoi men fainetai gluku), denen mit Gelbsucht aber bitter«. 121 Weiter wurde erwåhnt, daû sich einige andere Stellen in Sextus' Bçchern finden, an denen Sextus fainesthai in Verbindung mit einem Infinitiv verwendet. In M 7.61 heiût es von der These des Protagoras, das Maû aller Dinge sei der Mensch, selbst die gegenteilige These scheine sie zu belegen. In M 7.110 schreibt Sextus, Xenophanes scheine nicht jedes Erfassen abzuschaffen, in M 8.188, daû das Zeichen nicht alle auf die gleiche Weise zu bewegen scheint, in M 8.292, daû ein Argument Sorge zu bereiten scheint, und in M 8.303, daû eine Schluûfolgerung zu folgen scheint. 122 Wie kænnen diese Beispiele fçr pyrrhonische Øuûerungen mit der vorgetragenen Interpretation vereinbart werden? Das Wegfallen des Infinitivs verweist in beinahe allen Beispielen fçr die pyrrhonische Rede darauf, daû »mir scheint« kein Operator vor einer Proposition sondern ein Erlebnisausdruck ist. Wo dies wie in »Der Honig scheint uns zu sçûen« oder »Xenophanes scheint nicht jedes Erfassen abzuschaffen« sprachlich nicht mæglich ist, ergibt sich fçr den Pyrrhoneer eine Schwierigkeit: Muû hier »mir scheint« nicht als Operator vor einer Proposition gedeutet werden? Die einzige Læsung, die der Pyrrhoneer hier anbieten kann, liegt im Verweis auf die begrenzten sprachlichen Mittel. Wenn er die kyrenaische Redeweise, fçr die sich diese Schwierigkeit nicht stellt, aufgrund mæglicher dogmatischer Implikationen nicht aufnehmen will, muû er jedes Erlebnis in einer Formulierung kundtun, die fainesthai enthålt. So låût sich jedoch nicht vermeiden, daû er teilweise Verben im Infinitiv verwendet. Auf die Verwendung von einai verzichtet Sextus konsistent. Dort, wo dem Pyrrhoneer der Verzicht auf eine Ergånzung durch den Infinitiv sprachlich nicht mæglich ist, mçssen seine Øuûerungen als ein Kompromiû gedeutet werden: Der Skeptiker verwendet »Der Honig scheint mir zu sçûen« gleichwertig mit »Der Honig scheint mir sçû«. Fainesthai soll in beiden Fållen darauf verweisen, daû der Skeptiker kundtut, was ihm scheint, und dies ist in beiden Fållen als Kundtun eines Erlebnisses zu verstehen.
PH 1.101. Weitere Beispiele, wie in 2.1.2.2. bereits angefçhrt, finden sich in M 1: M 1.54, 170, 274, 306. 121 122
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2.2.5. Ein Vergleich mit Øuûerungen im Sinne Wittgensteins In 2.1.3. wurde fçr die Interpretation argumentiert, das Kundtun sei keine Weise, eine Proposition zu åuûern. Vielmehr sei es ein Offenlegen oder Herzeigen¬ von Erlebnissen, das dem nicht-sprachlichen Ausdruck von Erlebnissen vergleichbar ist. Um diesen Punkt der Interpretation genauer zu diskutieren, soll die skeptische Beschreibung der eigenen Sprache als Kundtun von Fainomena im Sinne von Erlebnissen mit dem Wittgensteinschen Begriff der Øuûerung verglichen werden. 123 Der Vorschlag eines derartigen Vergleichs stammt von Barnes. 124 Dabei soll natçrlich nicht der Anspruch erhoben werden, in diesem Rahmen eine adåquate Wittgenstein-Interpretation vorzulegen. Der Vergleich geht vielmehr vereinfachend vor, schon deshalb, weil von einem Wittgensteinschen Begriff der Øuûerung gesprochen wird, den Wittgenstein nirgends definiert. Eine Rekonstruktion des Begriffs aus unterschiedlichen Texten kann hier nur åuûerst fragmentarisch geleistet werden. In Vordergrund steht dabei nicht, die Problemzusammenhånge, in denen Wittgenstein von Øuûerungen spricht, zu verstehen, sondern Aspekte aufzuzeigen, die fçr die Interpretation der pyrrhonischen Rede hilfreich sein kænnen. Einige Zitate und Hinweise sollen gençgen, um die fçr das pyrrhonische Sprechen entscheidenden Punkte herauszustellen. Die Ausfçhrung des Vergleichs ignoriert zudem, daû es dem Pyrrhoneer nicht darum geht, psychologische Såtze in der ersten Person zu untersuchen und von anderen Såtzen abzugrenzen. Sein Anliegen ist in keiner Weise die Analyse. So kann sich der Vergleich zwischen pyrrhonischem Kundtun und Wittgensteinschen Øuûerungen nur ganz punktuell an Eigenschaften halten, die Wittgenstein psychologi123 Der Begriff der Øuûerung wurde bisher in einem unspezifischen Sinn verwendet, um jede Form der Rede zu bezeichnen. Im Folgenden werde ich von Øuûerungen im Sinne Wittgensteins¬ sprechen, um die beiden Begriffe der Øuûerung zu unterscheiden. 124 Barnes (1982, S. 5 und 22) versucht, den Unterschied zwischen den pyrrhonischen Øuûerungen und Behauptungen durch den Verweis auf Wittgensteins Begriff der Øuûerung zu erlåutern. Sein Argument besteht in dem bereits zitierten Verweis auf antike Unterscheidungen zwischen assertorischer und nicht-assertorischer Rede. Diese Unterscheidung håtte der Skeptiker im Sinne einer ad-hominem-Argumentation nutzen kænnen, um so seine eigene Rede als nicht-assertorisch zu kennzeichnen. Die Argumentation von Barnes scheint im einzelnen weniger çberzeugend als der Vorschlag des Vergleichs mit Wittgenstein.
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schen Såtzen in der ersten Person und die Pyrrhoneer ihrer Rede zuschreiben. § 244 der Philosophischen Untersuchungen beginnt mit der Frage »Wie beziehen sich Wærter auf Empfindungen?« und endet mit folgender Bemerkung: »Der Wortausdruck des Schmerzes ersetzt das Schreien und beschreibt es nicht«. Nicht nur das Stæhnen, sondern auch der »Wortausdruck«, der an seine Stelle treten kann, ist keine Beschreibung, sondern eben Ausdruck. Das Wort »beschreiben« hat uns da vielleicht zum besten. Ich sage »Ich beschreibe meinen Seelenzustand« und »Ich beschreibe mein Zimmer«. Man muû sich die Verschiedenheit der Sprachspiele ins Gedåchtnis rufen. (PU § 290)
Hier wird ein erster wichtiger Aspekt angesprochen: Der Wortausdruck des Schmerzes ist ein Ersatz des Schreiens, keine Beschreibung des Schmerzes. 125 Zur Diskussion steht das Bild psychologischer Såtze in der ersten Person als Beschreibung einer inneren Welt¬, die analog zur Beschreibung der åuûeren Welt¬ verstanden wird. Der Deutung als Beschreibung wird die Deutung als Øuûerung entgegengesetzt. 126 Eng hiermit ist ein zweiter Punkt verbunden: Fçr Øuûerungen werden, wie fçr Ausdrucksverhalten, keine Begrçndungen gegeben. Wie Verhalten kænnen Øuûerungen in tåuschender Absicht gespielt werden. Sie kænnen echt oder unecht sein, aber nicht wahr oder falsch. Die Øuûerung der Empfindung eine Behauptung zu nennen, ist dadurch irrefçhrend, daû mit dem Wort »Behauptung« die Prçfung¬, die Begrçndung¬, die Beståtigung¬, die Entkråftung¬ der Behauptung im Sprachspiel verbunden ist. (Zettel § 549) 127
Ein dritter Punkt ist im ersten Punkt angesprochen: Wittgenstein sieht eine Verbindung zwischen sprachlichen Øuûerungen und nichtsprachlichem Ausdrucksverhalten. Der Wortausdruck des Schreiens ersetzt das Schreien. Unter den Begriff der Øuûerung fållt die Øuûerung von Sinnesempfindungen (z. B. Schmerz) sowie Gemçtsbewegungen (z. B. Freude, 125 Vgl. Zettel §§ 53±8 zum Ausdruck der Erwartung. Der Ausdruck der Erwartung beschreibt nicht den seelischen Zustand der Erwartung. »Wer den Ausdruck der Erwartung sieht, sieht, was erwartet wird¬« (§ 56). 126 Ich schlieûe mich hier der Interpretation von P. M. S. Hacker, Wittgenstein. Meaning and Mind. An analytical commentary on the Philosophical Investigations Vol. 3, Oxford 1990, Avowals and Descriptions, S. 187±200, an. Von dort çbernehme ich auch die Umschreibung der Øuûerungen als pychologische Såtze in der ersten Person. 127 Auf diese Stelle stçtzt Barnes seinen Interpretationsvorschlag.
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Entzçcken). Ihnen ist gemeinsam, daû sie ein charakteristisches Ausdrucksbenehmen haben. 128 Wenn ich sage »natçrlich weiû ich, daû das ein Handtuch ist«, so mache ich eine Øuûerung. 129 Ich denke nicht an eine Verifikation. Es ist fçr mich eine unmittelbare Øuûerung. (¼) Ganz so wie ein unmittelbares Zugreifen; wie ich ohne zu zweifeln nach dem Handtuch greife. (ÛG § 510)
Wie kænnte man klassifizieren, was der Sprecher hier åuûert? In einem gewissen Sinn kænnte vielleicht gesagt werden, er åuûere ein Gefçhl der Sicherheit. 130 Der entscheidende Punkt fçr die Verwendung des Begriffs der Øuûerung scheint hier zu sein, daû der Satz mit einem spontanen Handeln ± dem Zugreifen ± vergleichbar ist. Øhnlich verhålt es sich auch bei folgendem Beispiel: »Jetzt weiû ich weiter« ist ein Ausruf; er entspricht einem Naturlaut, einem freudigen Aufzucken. (PU § 323)
Auch hier besteht der entscheidende Punkt in der Verbindung mit einer Reaktion im Verhalten, dem freudigen Aufzucken. Die Charakterisierung als »Naturlaut« verstårkt dieses Moment. Das Ausdrucksverhalten, an das Øuûerungen angebunden sind, ist natçrlich. 131 Ausgehend von dieser Skizze des Wittgensteinschen Begriffs der Øuûerung soll nun Barnes' Vorschlag dikutiert werden: Inwiefern åhneln die pyrrhonischen Øuûerungen Wittgensteins Øuûerungen? Alle drei genannten Punkte machen den Vergleich fruchtbar: Psychologische Såtze in der ersten Person sind als Øuûerung, nicht als Beschreibung zu deuten; sie stehen in einem anderen Verhåltnis zu Zettel § 488. Das Wort ist bei Wittgenstein kursiv gesetzt. 130 Vgl. § 511: »Aber dieses unmittelbare Zugreifen entspricht doch einer Sicherheit, keinem Wissen« (Hervorhebung von Wittgenstein); Zettel § 513: »Man spricht von einem Gefçhl der Ûberzeugung, weil es einen Ton der Ûberzeugung gibt. Ja, das Charakteristikum aller Gefçhle¬ ist, daû es einen Ausdruck, d. i. eine Miene, Gebårde, des Gefçhls gibt«. 131 Øuûerungen çber Empfindungen kænnen einem Schmerzensschrei oder Freudenruf nåher oder entfernter verwandt sein. Es gibt Grenzfålle: »Wenn es in einer Leichenrede heiût: Wir trauern um unseren ¼¬, so soll das doch der Trauer Ausdruck geben, nicht den Anwesenden etwas mitteilen. Aber in einem Gebet am Grabe wåren diese Worte eine Art von Mitteilung.« »Ein Schrei ist keine Beschreibung. Aber es gibt Ûbergånge. Und die Worte ich fçrchte mich¬ kænnen nåher und entfernter von einem Schrei sein.« (beide Zitate PH II.ix.). 128 129
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Wissen und Begrçndungen als andere Såtze; es bestehen wesentliche Øhnlichkeiten zwischen Øuûerungen und Ausdrucksverhalten. 132 Anknçpfend an Wittgensteins Charakterisierung der psychologischen Såtze in der ersten Person als Ausdruck statt als Beschreibung kann der pyrrhonische Versuch etwa so beschrieben werden: Wer sich zu seinen Erlebnissen rein passiv verhålt und sie sprachlich nur kundtut bzw. offenlegt, beschreibt¬ seine innere Welt¬ nicht ± er macht keine Aussagen çber seine Erlebnisse. Die Unterscheidung zwischen Beschreibung und Øuûerung im Sinne Wittgensteins kann in der Interpretation der pyrrhonischen Sprache also herangezogen werden; das Kundtun des Pyrrhoneers entspricht hinsichtlich der Abgrenzung vom Beschreiben dem Øuûern in Wittgensteins Sinne. 133 Auch in der Frage der Begrçndung åhnelt die pyrrhonische Rede Øuûerungen im Sinne Wittgensteins: Der Pyrrhoneer kænnte, wenn er seine Erlebnisse offenlegt, lçgen bzw. sich verstellen. Irren jedoch kann er sich nicht. Wenn der innere Zustand aufgedeckt wird, so kænnen weder Begrçndungen eingefordert noch Irrtum unterstellt werden. Die Frage nach Wahrheit oder Falschheit kann nicht gestellt werden, ± auf die Såtze, die der Pyrrhoneer sprachlich hervorbringt, sind nicht die Wahrheitsprådikate, sondern die Prådikate aufrichtig und unaufrichtig anwendbar (der Pyrrhoneer kænnte vortåuschen, daû er ein bestimmtes Erlebnis hat). 134 Von besonderer Bedeutung fçr die Interpretation ist der Vergleich Barnes (1982, S. 22, Anmerk.30): »in order to defend Sextus' account from a philosophical point of view, we should require a decent analysis of avowing. One element in that analysis would presumably be the claim that the Pyrrhonist's utterances are produces as a direct and natural response to external stimuli ± just as a child's cry is a direct and natural response to the stimulus of pain.« 133 Diesen Punkt betont E. Tugendhat in der Charakterisierung von »Erlebnissåtzen«, als welche die pyrrhonischen Øuûerungen nach der vorgetragenen Interpretation bezeichnet werden kænnen: »Die tatsåchliche Eigentçmlichkeit der Såtze, in denen sich jemand çber seine Erlebniszustånde ausspricht, ist (¼) daû sie (¼) nicht Aussagen çber den Zustand, sondern sein Ausdruck sind, deswegen, einen Zweifel nicht zulassen ¼« (Vorlesungen zur Einfçhrung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt a. M. 1994, 6. Aufl., S. 96±7). Anhand dieser Unterscheidung kann deutlich gemacht werden, inwiefern nach meiner Interpretation die Analyse von Mates fehlgeht: Nach Mates sind die pyrrhonischen Øuûerungen Aussagen çber Zustånde/ Einstellungen (vgl. 1996, S. 10±15), nicht deren Ausdruck. 134 Daû Wittgenstein im Zusammenhang mit Øuûerungen auch die Verwendung von »ich weiû« untersucht, inwiefern dies mit seiner Auseinandersetzung mit der Skepsis zu tun hat, und daû in diesem Zusammenhang eine Unterscheidung zwischen Wissen und Gewiûheit eine Rolle spielt, kann hier nicht diskutiert werden. Eine Limitation des Ver132
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zwischen Øuûerungen im Sinne Wittgensteins und Ausdrucksverhalten. Der sprachliche Ausdruck z. B. von Schmerz und der Ausdruck im Verhalten werden verglichen; eine Øuûerung åhnelt einem spontanen Verhalten. Mir scheint, daû vor allem dieser Punkt in der Interpretation des Kundtuns ergiebig ist: Der Vergleich von Wortausdruck und Ausdrucksverhalten bietet die Mæglichkeit, zu erlåutern, inwiefern das Kundtun zwar sprachlich ist, aber keine Weise, eine Proposition zu åuûern. Im Ausdrucksverhalten sind keine Propositionen oder propositionalen Einstellungen involviert. Es zeigt nur das Erleben dessen, der das Ausdrucksverhalten an den Tag legt. Indem der Wortausdruck das Ausdrucksverhalten nur ersetzt, weicht er in diesen Bestimmungen nicht von ihm ab. Ebenso soll das pyrrhonische Sprechen verstanden werden: Es legt die Erlebnisse des Pyrrhoneers offen. Durch den Vergleich mit Øuûerungen im Sinne Wittgensteins kann deutlich gemacht werden, inwiefern die Annahme von einem nichtassertorischen Sprechen in der ersten Person sinnvoll ist. Das Gedankenexperiment einer Sprache, die ausschlieûlich aus Øuûerungen im Sinne Wittgensteins besteht, verweist darauf, wie man sich das pyrrhonische Sprechen vorstellen kann.
gleichs liegt darin, daû der Pyrrhoneer beim Kundtun seiner Eindrçcke keine Form der Øuûerung sucht, in der er sich auf eine subjektive Gewiûheit berufen kann.
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3. Die pyrrhonische Lebensweise
3.1. Die Orientierung an den Fainomena 3.1.1. Der Vorwurf der Untåtigkeit Von der Frage, wie der Skeptiker sprechen kann, ohne damit in Widerspruch zu seinem Verzicht auf Dogmata zu geraten, soll nun zu der Frage çbergangen werden, wie er sich gegen den Apraxia-Vorwurf verteidigen kann. Der Vorwurf lautet, wer keine Meinungen habe, kænne nicht handeln. Zunåchst muû gefragt werden, was genau mit diesem Vorwurf gemeint ist (3.1.1.). Sextus' Erlåuterung der pyrrhonischen Tåtigkeit soll dann darauf untersucht werden, ob und inwiefern sie auf die stoische Handlungstheorie bezogen ist (3.1.2. und 3.1.3.). Daraufhin wird im Detail zu fragen sein, wie der Pyrrhoneer sich in den unterschiedlichen Bereichen seines Lebens verhalten kann (3.1.4. bis 3.1.8.). Abschlieûend soll diskutiert werden, welche Rolle die philosophische Betåtigung im Leben des Pyrrhoneers spielt (3.2.). Soll dem Pyrrhoneer im Vorwurf der Apraxia jegliche Mæglichkeit des Sich-Verhaltens oder Tåtigseins und damit in letzter Konsequenz die Lebensfåhigkeit abgesprochen werden? Oder ist gemeint, daû der Skeptiker einen bestimmten, allerdings in besonderer Weise relevanten Typus von Verhalten nicht an den Tag legen kann? Der Unterschied zwischen diesen beiden Vorwçrfen besteht darin, daû der Begriff der Handlung einmal weiter und einmal enger gefaût ist. In dem Vorwurf, jemand sei nicht lebensfåhig, sind viele Formen von Verhalten angesprochen. Hier wird auch bezweifelt, ob eine Person trinkt, wenn sie durstig ist. Die Kritik, der Skeptiker sei in einem engeren Sinne nicht handlungsfåhig, arbeitet dagegen mit einem Begriff der Handlung, nach dem nicht jegliches Verhalten als Handlung zåhlt. Der Handlungsbegriff, den die Dogmatiker im Vorwurf der Apraxia 129
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verwenden, scheint wesentlich durch folgende Charakeristika bestimmt zu sein: (a) Handlungen werden nur Menschen, nicht anderen Lebenwesen zugeschrieben, ganz gleich, wie komplex ihr Verhalten sein mag. 1 (b) Handlungen sind auf ein Ziel gerichtet. 2 (c) Jede Handlung setzt eine Zustimmung voraus. (d) Die Zustimmung liegt in der Macht des Einzelnen. Handlungen sind somit unauflæsbar verbunden mit Verantwortung. 3 Wenn der Vorwurf der Apraxia mit einem derartigen Begriff der Handlung arbeitet, so wird dem Skeptiker nicht jegliches Verhalten abgesprochen. Vielmehr geht es um den Vorwurf, er handele nicht wie ein rationales Wesen. Im folgenden soll gezeigt werden, daû der Apraxia-Vorwurf gegen den Pyrrhoneer behauptet, der Pyrrhoneer lebe nicht gemåû seiner menschlichen rationalen Natur. Weiter soll die These vertreten werden, daû Sextus sich nicht eigentlich gegen diesen Vorwurf wehrt, sondern ihn vielmehr gewissermaûen akzeptiert, indem er fçr das skeptische Verhalten Ursachen statt Grçnde verantwortlich macht, und gleichzeitig anhand dieses eingeschrånkten Begriffs des Sich-Verhaltens oder Tåtigseins behauptet, die Kritik an der Skepsis sei unangebracht. 4 Dabei versucht er, das skeptische Verhalten derart zu charakterisieren, daû es in seinen Formen und den Bereichen, in denen es stattfindet, zwar weit çber die bloûe Selbsterhaltung hinausgeht, gleichzeitig aber nie den Charakter rationalen, intentional beschreibbaren Handelns gewinnt. 5 Vgl. Brad Inwood (1985) S. 66±91. Vgl. Stobaeus, Ecl. 2.86. Dort heiût es, was den Impuls in Bewegung setze, werde »fantasia hormetike« genannt (zum Impuls und dieser Art des Eindrucks siehe unten). Der Eindruck sei insofern hormetisch, als er auf etwas verweist, was von Interesse ist. In der Interpretation dieses Textes schlieûe ich mich Inwood (1985) S. 55±6 an. Er çbersetzt »kathekon« hier als »of interest/ relevant« und schlieût aus der Stelle, daû nach der stoischen Theorie alles Handeln zielgerichtet ist. Vgl. hierzu auch DL 7.85, wo Diogenes mit Bezug auf die oikeiosis erklårt, worauf der erste Impuls gerichtet ist (Selbsterhaltung). Hieraus låût sich schlieûen, daû jeder Impuls (also jede Handlung) zielgerichtet ist. 3 Auf eine genauere Analyse der mit Moralitåt verbundenen Aspekte von Handlungen wird hier verzichtet. Vgl. Inwood (1985) S. 83±4. 4 In der Literatur zur Skepsis findet sich diese These nicht. Inwood (1985 S. 86 ff., bzgl. Apraxia S. 86±8) macht in seiner Untersuchung stoischer Handlungstheorie und Ethik darauf aufmerksam, daû mehrere Diskussionen zwischen den Stoikern und ihren philosophischen Kontrahenten ± darunter die um die Apraxia ± darauf beruhen, daû die Kontrahenten die stoische Unterscheidung zwischen menschlichem und nicht-menschlichen bzw. nicht-rationalem Verhalten nicht beachten. 5 Daû die Orientierung an den Fainomena nicht in einer intentionalen Sprache beschreib1 2
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Wenn Sextus die Frage nach der Handlungsfåhigkeit des Skeptikers erærtert, so verwendet er statt »apraxia« »anergesia«. 6 Er scheint sich damit auf einen Begriff des Tåtigseins zurçckzuziehen, der nicht alle Implikationen des dogmatischen Handlungsbegriffs mit sich bringt. Diese Vermutung kann durch den Wortgebrauch, der sich in einer Unterscheidung zwischen menschlichem Verhalten und dem Verhalten der Tiere bei Alexander von Aphrodisias findet, erhårtet werden: »Manche Lebewesen werden nur tåtig sein (energesei), aber rationale Lebewesen werden handeln (praxai)«. 7 Sextus' Pråferenz fçr den Begriff der Anergesia zeigt m. E. eine Tendenz im skeptischen Umgang mit dem Vorwurf der Handlungsunfåhigkeit. Sextus will sich nicht gegen den Vorwurf der Unfåhigkeit des Skeptikers, im vollen Sinne zu handeln, verteidigen, sondern interpretiert den Vorwurf so, als wçrde er dem Skeptiker Verhalten in einem unspezifischeren Sinn absprechen. Der Dogmatiker behauptet, so Sextus, daû der Skeptiker entweder in der Inkonsistenz (aufgrund von involvierten Meinungen) oder in der Inaktivitåt (anergesia) endet. Die Seite der Untåtigkeit illustriert er folgendermaûen: »¼ in die Inaktivitåt deshalb, weil, da das ganze Leben aus Erstreben und Vermeiden besteht, wer weder wåhlt noch meidet, gewissermaûen das Leben negiert und nach Art einer Pflanze verharrt.« 8 Der Kern der skeptischen Antwort auf den Vorwurf, der als Vorwurf der Inaktivitåt (fehl)interpretiert wird, liegt im Verweis auf die skeptische Orientierung an den Fainomena (tois fainomenois prosechomen). Die Kritik, der Skeptiker sei entweder inkonsistent oder untåtig, begreife nicht, daû der Skeptiker sein Leben nicht nach philosophischen Argumenten fçhre. Der Skeptiker lebe nicht nach einem philosophischen logos¬ ± soweit es einen solchen betrifft, sei er untåtig. 9 Er sei aber fåhig, zu wåhlen und zu meiden, indem er sich an der unphilosophischen Lebenserfahrung orientiere (ten afilosofon teresin). 10 bar ist, ist ein åuûerst wichtiger Punkt: Der Skeptiker tut nicht x, weil ihm eine Sache sound-so scheint, sondern er tut x aufgrund von dem-und-dem Fainomenon. Wird dies nicht gesehen, so kann die Frage entstehen, wie sich das Leben nach den Fainomena çberhaupt relevant vom Leben nach Meinungen unterscheiden soll, da in beiden Fållen offenbar eine åhnliche motivationale Kraft im Spiel ist. Diese Frage, die m. E. einen zentralen Punkt çbersieht, stellt Annas, The Morality of Happiness, New York 1993, S. 358. 6 Vgl. M 11.162±3. 7 De Fato, p. 205, SVF 2.1002 (Den Verweis auf diesen Text gibt Inwood 1985, S. 52). 8 M 11.162±3. 9 M 11.165. 10 M 11.165±6.
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In einer gewissen Weise akzeptiert Sextus also den Vorwurf der Untåtigkeit: Wenn Handeln so verstanden wird, wie die Dogmatiker es tun, nåmlich als verbunden mit Begrçndungen, Abwågungen und Verantwortung, so handelt der Skeptiker nicht. Was aus Sicht des Dogmatikers eine Niederlage ist, ist es aus Sicht des Skeptiker jedoch keineswegs. Ganz im Gegenteil sieht dieser im Verweis auf die Fainomena die einzige Mæglichkeit, sein Leben zu erklåren, ohne dabei auf Meinungen Bezug nehmen zu mçssen. Der Skeptiker gebraucht keine intentionale Sprache; statt von Handlungsgrçnden, Motiven und Entscheidungen spricht er davon, daû ihn die Fainomena, die Sextus in diesem Zusammenhang als Eindrçcke (fantasiai) expliziert, auf die eine oder andere Art bewegen. In der Diskussion um die Apraxia scheinen beide Parteien im Recht zu sein. Der Skeptiker kann erfolgreich darstellen, wie er in den allermeisten Situationen des Lebens tåtig ist. Der Dogmatiker dagegen behauptet, daû damit kein Verhalten gegeben ist, welches im vollen Sinne als Handeln bezeichnet werden kænnte. Im folgenden soll rekonstruiert werden, wie die Pyrrhoneer ihre Orientierung an den Fainomena erlåutern kænnen, so daû sie sich einerseits als tåtig zeigen, andererseits aber eine Weise des Tåtigseins beschreiben, in der keine Meinungen involviert sind. 3.1.2. Die vierteilige Lebenserfahrung Der allgemeinste Hinweis, den Sextus fçr das skeptische Verhalten gibt, lautet, daû der Skeptiker sich an den Fainomena orientiert (tois fainomenois prosechomen). 11 Auf der Basis der Untersuchungen zu fainesthai und fainomenon in Kapitel 2 stellt sich hier die Frage, ob die Standardçbersetzung »Orientierung an den Erscheinungen« in diesem Kontext zutreffend ist. Im Zusammenhang mit dem pyrrhonischen Sprechen wurde fainomenon im Anschluû an fainesthai im spezifisch pyrrhonischen Sinne als »das Scheinende« çberetzt. Wenn Sextus sagt, der Pyrrhoneer orientiere sich an den fainomena, so muû ebenfalls dieses Verståndnis angenommen werden: es ist gemeint, daû er sich daran orientiert, wie ihm etwas im pyrrhonischen Sinne scheint bzw. was er erlebt. So ist die Ûbersetzung, der Skeptiker orientiere sich an den Erschei11
PH 1.21.
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nungen, ungenau. Zwar ist im Kontext des pyrrhonischen Verhaltens die spezifisch pyrrhonische Verwendung von fainesthai und fainomenon nicht entscheidend fçr die Interpretation. Trotzdem muû darauf hingewiesen werden, daû der Skeptiker sich an dem, was ihm scheint bzw. dem Scheinenden orientiert. Im folgenden werde ich den Begriff weitgehend unçbersetzt lassen, da »das Scheinende« im Deutschen keine sehr glçckliche Ausdrucksweise ist. Die Fainomena sind das skeptische Kriterium. Zu unterscheiden sind ein Kriterium im Sinne eines Wahrheitskriteriums, welches der Skeptiker nicht hat, und ein Kriterium des Handelns: (¼) sodann das Kriterium des Handelns, an das wir uns im Leben halten, wenn wir das eine tun und das andere lassen. Von diesem spreche ich jetzt. Wir sagen nun, das Kriterium der skeptischen Schule sei das Scheinende, wobei wir eigentlich den Eindruck (fantasian) dessen so nennen; denn da dieser in einem Erleiden (peisei) und darin, daû man ohne seinen Willen affiziert wird (abouleto pathei), liegt, ist er nicht Gegenstand der Untersuchung. (PH 1.21±2) 12
Festzuhalten ist zunåchst, daû der Begriff des Kriteriums hier ohne jede erkenntnistheoretische Konnotation verwendet wird. Die Fainomena sind nicht insofern Kriterium, als sie eine diskriminierende Funktion håtten; sie sagen nicht, ob ein bestimmtes Verhalten richtig oder falsch ist. Vielmehr werden sie insofern als Kriterium bezeichnet, als der Skeptiker sich an ihnen orientiert, sich in seinem Verhalten von ihnen lenken låût. An dieser Stelle werden die Fainomena, anders als im Zusammenhang mit der pyrrhonischen Rede, als Eindrçcke, nicht als Pathe, erlåutert. In 2.2.2. wurde darauf hingewiesen, daû eine derartige Erlåuterung mit Hinblick auf das Kundtun von Fainomena problematisch wåre. Die Explikation von Fainomena als Eindrçcke nimmt Sextus nur im Zusammenhang mit der Darstellung des pyrrhonischen Verhaltens vor. 13 Schwierig ist die Ûbersetzung von »peisei« und »pathei«. Im Zusammenhang mit der pyrrhonischen Rede wurde erlåutert, weshalb der Pyrrhoneer keinen kausalen Begriff des Pathos verwenden darf; »pathos« wurde als »Erlebnis« çbersetzt. Wenn in § 22 von den Eindrçcken gesagt wird, sie wçrden erlitten bzw. man werde von ihnen affiziert, so handelt es sich offenbar um Schon Pyrrhon hat das Kriterium als das, was ihm scheint, bestimmt. Anon., In Plat. theat. 60.48±61±46 L&S 71D. Vgl. Long und Sedley Bd. 1 S. 473. 13 Vgl. PH 1.19. 12
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eine dogmatische Bestimmung des Eindrucks, die Sextus vortrågt. Fçr den Begriff des Eindrucks wird die dogmatische Bestimmung angefçhrt, Eindrçcke wçrden passiv und ohne eigenes Wollen erlitten. 14 Da es sich um eine dogmatische Bestimmung handelt, ist die angegebene Ûbersetzung von »peisei« und »pathei« unproblematisch. Sextus fçhrt den Begriff des Eindrucks, der impliziert, daû der Eindruck von etwas hervorgerufen wird, in der ad-hominem-Einstellung an; er çbernimmt die ontologischen Implikationen nicht. Festzuhalten ist, daû Sextus die Fainomena in der Erlåuterung der pyrrhonischen Orientierung an ihnen als Eindrçcke expliziert. Auf dieser Textbasis werde ich im Zusammenhang mit der Interpretation der pyrrhonischen Antwort auf den Apraxia-Vorwurf gleichbedeutend davon sprechen, daû dem Skeptiker etwas scheint, und daû er einen Eindruck hat. In den folgenden zwei Paragraphen (PH 1.23±4) erlåutert Sextus die Orientierung an den Fainomena. Indem sich der Skeptiker an die Fainomena hålt, lebt er, da er nicht gånzlich untåtig sein kann, undogmatisch (adoxastos) nach der allgemeinen Lebenserfahrung (kata ten biotiken teresin). 15 Hier wird die Ausrichtung an den Fainomena mit dem Leben nach der alltåglichen Erfahrung gleichgesetzt. In einem åhnlichen Ausdruck sagt Sextus, daû der Skeptiker nicht gegen das alltågliche Leben kåmpft. 16 Die Orientierung an den Fainomena soll als Orientierung am Alltag oder am normalen Leben verstanden werden. Durch die Explikation der Orientierung an den Fainomena als Orientierung an der alltåglichen Lebenserfahrung wird die Aussage, der Skeptiker halte sich an die Fainomena im Sinne von Eindrçcken, spezifiziert. Die Eindrçcke der allgemeinen Lebenserfahrung sind nur ein Teil der Eindrçcke, die man hat. Wenn man etwa mit philosophischen Theorien çber Gçter bekannt ist, und daher unterschiedliche Eindrçcke darçber hat, inwiefern z. B. Gesundheit ein Gut ist oder Sextus legt sich nicht auf eine stoische Definition fest (vgl. die Definitionen in Kapitel 1). Die Bestimmung, daû ein Eindruck passiv erlitten wird, kann insofern nicht dem Skeptiker selbst zugeschrieben werden, als dieser nicht voraussetzt, daû das, was ihm so-und-so scheint, von einem åuûeren Gegenstand ausgeht. Der Skeptiker kann nicht sagen, daû er, wenn ihm etwas scheint, affiziert wird oder etwas erleidet; hier ist jeweils ein kausaler Prozeû angesprochen, den der Skeptiker in der Rede davon, daû ihm etwas scheint, nicht implizieren darf. Nur çber die ad-hominem-Verwertung eines dogmatischen Begriffs des Eindrucks kann er sagen, er werde, wenn ihm etwas so-und-so scheint, affiziert bzw. erleide etwas. 15 PH 1.23. 16 M 8.157, 158. 14
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nicht, und zugleich den alltåglichen Eindruck hat, daû Gesundheit ein Gut ist, so gibt die Spezifikation vor, an welchen Eindruck der Skeptiker sich hålt. Die Erlåuterung der skeptischen Orientierung an den Fainomena ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafçr, wie variabel die skeptische Verwendung von Begriffen ist. Eben noch (in § 22) wurde erklårt, mit Fainomena meine der Skeptiker eigentlich Eindrçcke. Dies war geboten, weil Sextus in der Erlåuterung der pyrrhonischen Fåhigkeit, sich zu verhalten, den stoischen Begriff des Eindrucks aufgreift (vgl. 3.1.3.). Nun wird dem Begriff des Fainomenon eine zusåtzliche Fårbung gegeben: Unter den Fainomena wird plætzlich (§ 23) die allgemeine Lebenserfahrung verstanden. Dieser Schritt ist fçr die Darstellung des pyrrhonischen Tåtigseins ebenso entscheidend. Er leitet die Beantwortung der Frage ein, an welche Fainomena der Skeptiker sich hålt. Diese alltågliche Lebenserfahrung scheint vierteilig zu sein, und einmal in der Vorzeichnung durch die Natur (hufegesei fuseos) zu bestehen, einmal in der Notwendigkeit der Erlebnisse (anagke pathon), dann in der Ûberlieferung von Gesetzen und Sitten, und schlieûlich in der Unterweisung in den Kçnsten (didaskalia technon). (PH 1.23)
Eine wesentliche Aufgabe der Unterscheidung von vier Bereichen der Lebenserfahrung und der Erlåuterung, inwiefern sie jeweils das skeptische Verhalten lenken, scheint mir darin zu liegen, die skeptische Selektion unter den Fainomena bzw. Eindrçcken verståndlich zu machen. Wçrde der Pyrrhoneer allen Eindrçcken folgen, wçrde ihn ein neuer Vorwurf der Apraxia treffen: Gelåhmt von der Unmæglichkeit, gleichzeitig widersprçchlichen Eindrçcken zu folgen, wçrde er am Anspruch der Fainomena scheitern. Der Pyrrhoneer kænnte versuchen, sich mit der Aussage, er folge genau dem Eindruck, den er eben jetzt habe, zu retten. 17 Der Dogmatiker wçrde ihm jedoch entgegenhalten, daû man mehrere Eindrçcke gleichzeitig haben kann. Verhalten jedoch kann man sich nur nach einem Eindruck. Der Skeptiker muû also erlåutern, inwiefern seine Orientierung am Scheinenden die notwendige Selektion ermæglicht. In PH 1.4 nimmt Sextus mit Bezug auf das Kundtun der Fainomena die entscheidende zeitliche Qualifizierung vor: Der Skeptiker berichtet, was ihm jetzt (nun) scheint. Dieselbe Einschrånkung kann fçr das Verhalten nach den Fainomena ergånzt werden. In diesem Sinne referiert der anonyme Kommentator des Theaitetos die Aussage, der Skeptiker folge dem, was ihm scheint: Nach Pyrrho sei das Kriterium des Skeptikers, was ihm jetzt (nun) scheint. Anon. In Plat. Theat. 60.48±61.46 (L&S 71D). 17
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Die vier Punkte der alltåglichen Lebenserfahrung werden einzeln kommentiert. 18 Im Text heiût es, die Vorzeichnung durch die Natur sei das, wodurch wir natçrlicherweise die Fåhigkeiten der Sinneswahrnehmung und des Denkens haben. Mit der Notwendigkeit der Erlebnisse sei gemeint, daû Hunger uns zur Nahrung fçhrt und Durst zum Getrånk. Die Ûberlieferung der Gesetze und Sitten bewirke, daû der Skeptiker in der Ausrichtung am alltåglichen Leben Fræmmigkeit als ein Gut, Gottlosigkeit als ein Ûbel annehme. Die Unterweisung in den Kçnsten ermægliche es den Skeptikern, in den Kçnsten nicht inaktiv (anenergetoi) zu sein. In der Abgrenzung der Pyrrhoneer von den empirischen Ørzten wird die Aufzåhlung der vier Bereiche von Fainomena, an die der Skeptiker sich hålt, wiederholt: Denn wir haben bereits gesagt, daû das allgemeine Leben (ho bios ho koinos), an dem der Skeptiker teilhat, vier Teile hat und teils aus Vorzeichnung der Natur, teils aus der Notwendigkeit der Erlebnisse, teils aus der Ûberlieferung von Gesetzen und Sitten, teils aus der Unterweisung in den Kçnsten besteht. (PH 1.237)
Bevor diese vier Bereiche einzeln erærtert werden, mçssen zuerst die Aspekte der pyrrhonischen Antwort auf den Apraxia-Vorwurf diskutiert werden, die alle Bereiche pyrrhonischen Verhaltens betreffen. Zu diesem Zweck soll die stoische Handlungstheorie kurz vorgestellt werden. 3.1.3. Die stoische Theorie des Impulses Nach der stoischen Theorie gehært zu jeder Handlung eine Zustimmung und ein Impuls (horme). 19 Der Begriff der horme ist auûerordentlich schwierig. Grundlegend ist seine Bestimmung als Bewegung, die auf etwas gerichtet ist (epi ti). 20 Die entscheidenden Elemente der stoischen Handlungsanalyse kænnen wie folgt dargestellt werden: Eine Person hat einen Eindruck, der sich dadurch kennzeichnet, daû er zu einer Handlung auffordert, ± eine
PH 1.24. »Impuls« ist in diesem Kontext ein Kunstwort, welches allgemein als Ûbersetzung des schwierigen Begriffs dient. Zur stoischen Handlungstheorie verweise ich insgesamt auf Brad Inwood (1985). Inwood diskutiert den Begriff horme auf S. 45 ff. 20 Stobaeus, Ecl. 2.86, 19, 87, 5 (L&S 53Q) 18 19
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fantasia hormetike. 21 Der hormetische Eindruck unterscheidet sich von anderen Eindrçcken dadurch, daû er auf etwas verweist, das von Interesse ist. 22 Er ruft den Impuls hervor (fantasiai ¼ hormen prokaloumenai) 23 bzw. setzt den Impuls in Bewegung (kinoun). 24 Durch den Eindruck entsteht jedoch nicht automatisch ein Impuls; der Impuls erfolgt nur dann, wenn die Person dem Eindruck zustimmt. 25 Ob die Person zustimmt, liegt in ihrer Macht. 26 Der Impuls verursacht die Handlung; als sein Gegenteil wird die Abstoûung genannt. 27 Insofern als der Impuls die Handlung auslæst, kann er nicht als Entscheidung oder Intention gedeutet werden. 28 Sowohl rationale wie nicht-rationale Wesen haben Impulse. 29 Stobaeus çberliefert die Definition des rationalen Impulses als Bewegung des Denkens auf etwas zu in der Sphåre des Handelns (en to prattein). 30 Chrysipp soll den Impuls als »logos prostaktikos auto tou poiein«, als Verstand, der einem das Handeln vorschreibt, bestimmt haben. 31 Diese Definitionen machen deutlich, daû der Impuls keineswegs, wie die deutsche Ûbersetzung vielleicht vermuten låût, ein 21 Der einzige etwas långere Text, der zu dem schwierigen Thema der horme çberliefert ist, ist Stobaeus, Ecl. Kap. 9, S. 86±88. Ein Eindruck ist insofern hormetisch¬, als er die Gegenwart von etwas, das von Interresse ist, anzeigt. Ich folge der Interpretation des Textes bei Inwood (1985) S. 56. 22 Stobaeus, Ecl. 2.86. Vgl. Inwood (1985) S. 55±6. 23 Origines, De Princ. 3.1.2. 24 Stobaeus, Ecl. 2.86, 17. 25 Vgl. Clemens Alex., Stromat. VI 8 § 69,1,p. 466 Fr. (Huelser 298), wo der Impuls als Bewegung infolge einer bestimmten Zustimmung beschrieben ist. Dazu, daû Impuls und Handlung immer nach einer Zustimmung erfolgen vgl. Plutarch, St.Rep. 1057a (SVF 3.177) L&S 53S. 26 Vgl. hierzu Cicero, De Fato 39±43 (SVF 2.974) L&S 62C, wo der Zusammenhang von Zustimmung und moralischer Verantwortung diskutiert wird. Die Stoiker unterscheiden prinzipielle Ursachen und Nebenursachen. Die Zustimmung liegt in unserer Macht und ist prinzipielle Ursache fçr den Impuls, wåhrend der Eindruck nur Neben- bzw. Antecedensursache ist. 27 Stobaeus, Ecl. 2.86,17±87,6 (SVF 3.169) L&S 53Q. Das griechische »afhorme« muû unterschieden werden von einem zweiten Gebrauch des Begriffs, der so etwas wie natçrliche Neigungen bezeichnet (vgl. DL 7.89 und Inwood 1985, S. 45). 28 Daû in der stoischen Handlungstheorie der Begriff der Entscheidung keine Rolle spielt, ist m. E. sehr interessant. Vgl. Inwood (1985) S. 53: » An impulse is a little more than an intention¬, act of will¬, decision¬ or Entschluû, because its role as the cause of action. But like these other terms of art, horme isolates the ethically significant aspects of action.« 29 Stobaeus, Ecl. 2.86,20±87,1 (L&S 53Q). 30 Stobaeus, ecl. 2.87,4±5 (L&S 53Q). 31 Plutarch, St. rep. 1037F (SVF 3.175) L&S 53R.
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irrationales Element des Handelns ist, sondern vielmehr als rational bestimmt ist. Die stoische Unterscheidung menschlichen Handelns von anderen Arten der Bewegung çberliefert Origines. 32 Von den Dingen, die sich bewegen, haben die einen die Ursache der Bewegung in sich selbst (en heautois), die anderen (Steine etc.) werden von auûen bewegt. Tiere, Pflanzen und Metalle haben die Ursache der Bewegung in sich selbst. Von diesen werden einige ± die Unbeseelten ± aus sich selbst (ex heauton)¬, die anderen ± die Beseelten ± durch sich selbst¬ (af' heauton) bewegt. Beseelte Lebewesen werden durch sich selbst¬ (af' heauton) in Bewegung gesetzt, wenn ein Eindruck einen Impuls hervorruft. Zusåtzlich zu seiner Eindrucksnatur¬ hat der Mensch Vernunft. Seine Bewegung unterscheidet sich von der anderer Lebewesen, die sich auch af' heauton bewegen, dadurch, daû die Vernunft çber die Eindrçcke urteilt (krinonta), die einen verwirft (apodokimazonta), die anderen akzeptiert (paradechomenon), »so daû das Lebewesen entsprechend gefçhrt werde«. Tiere haben auch Eindrçcke und Impulse, die sich allerdings darin von menschlichen Eindrçcken und Impulsen unterscheiden, daû sie nicht rational sind. 33 Auch sie bewegen sich af' heauton, insofern sie Eindrçcke und Impulse haben, urteilen aber nicht çber die Eindrçcke. Menschliche Bewegung, d. h. Handeln, geht genau in diesem Punkt çber die Bewegung der Tiere hinaus. Die Zustimmung ist gewissermaûen eine Kontrolle çber die hormetischen Eindrçcke; so læst nicht jeder hormetische Eindruck einen Impuls und damit eine Handlung aus, sondern nur der, dem zugestimmt wird. Ein entsprechender Bericht zu den unterschiedlichen Arten der Bewegung bei Simplikios beståtigt die oben formulierte Annahme, daû der Begriff des prattein fçr ein spezifisch menschliches Handeln verwendet wurde. Simplikios berichtet, daû das Verhalten, das von einem rationalen Impuls ausgeht, auch prattein genannt werde. 34 Schwierig zu deuten ist der Begriff der Zustimmung im Zusammenhang mit der Handlungsanalyse. Oben wurde angefçhrt, daû nicht alle Origines, Princ. 3.1.2±3 (SVF 2.988) L&S 53A (4) (die folgenden Unterscheidungen sind insgesamt dieser Quelle entnommen); vgl. Philon, Leg. alleg. 1.30 (SVF 2.844) L&S 53P. 33 Die Eindrçcke haben kein sprachliches Korrelat und die Impulse setzen keine Zustimmung zu diesen voraus. Zu diesen Unterschieden vgl. Inwood (1985) S. 22 ff. und 66 ff. 34 Simplikios, In Arist. Categ. S. 306 (Hg. Carolus Kalbfleisch, Berlin 1907). 32
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Eindrçcke, sondern hormetische Eindrçcke (d. h. Eindrçcke mit einem bestimmten Aufforderungscharakter) das erste Element in der Analyse der Handlung sind. Wenn also hormetischen Eindrçcken zugestimmt wird, so ist die Frage, was diesen Eindrçcken sprachlich entspricht. Bei Stobaeus heiût es, daû der hormetische Eindruck die Gegenwart von etwas, das von Interesse ist, anzeigt. Ein hormetischer Eindruck zeigt etwas, das fçr das Handeln des Empfångers relevant ist. Dieser Aufforderungscharakter muû auch in den sprachlichen Entsprechungen zu hormetischen Eindrçcken zum Ausdruck kommen. Inwood bezeichnet die sprachlichen Entsprechungen als praktische Propositionen. Als Beispiel fçr eine praktische Proposition nennt er: »It is fitting for me to eat this cake«. 35 Leider ist im Kontext der Berichte zum Impuls kein Beispiel fçr die sprachliche Entsprechung zu einem hormetischen Eindruck çberliefert. Der fçr die Diskussion des Pyrrhonismus entscheidende Punkt kann jedoch einer Stelle bei Stobaeus entnommen werden: »Sie [die Stoiker] sagen, daû alle Impulse Zustimmungen sind, und die praktischen Impulse haben auch eine motivierende Kraft. Aber die Zustimmungen haben ein anderes Objekt als die Impulse: Axiomata (axiomasi) sind die Objekte von Zustimmungen, Impulse dagegen sind auf Prådikate gerichtet, die gewissermaûen in den Axiomata enthalten sind«. 36 Hier heiût es, die Zustimmung ± wobei aufgrund des Kontexts die Zustimmung zu einem hormetischen Eindruck gemeint sein muû ± sei auf ein Axioma gerichtet, der Impuls dagegen auf ein Prådikat. Das Objekt der Zustimmung ist demnach ein vollståndiges Lekton, das des Impulses ein unvollståndiges. 37 Als Beispiele fçr vollståndige Lekta werden die sprachlichen Entsprechungen der Lekta genannt: Axiomata im Sinne von Aussagesåtzen, Syllogismen und Fragen. 38 Hieraus wird deutlich, daû der Zustimmung zu einem Axioma, die als Element der
Hieraus ergibt sich als Beispiel fçr ein Prådikat »eating this cake«. Inwood argumentiert nun fçr folgende Analyse: Dem hormetischen Eindruck entspricht sowohl eine Proposition wie »it is fitting¼« als auch ein Imperativ. Die Proposition und der Imperativ haben das Prådikat gemeinsam. Der Impuls als Ursache der Handlung werde in grammatischer Hinsicht als Befehl, den die Person an sich selbst richtet und befolgt, konstruiert. Vgl. Inwood (1985), S. 60±66 sowie Long und Sedley Bd. 1, S. 202. 36 Stobaeus 2.88,2±6 (SVF 3.171) L&S 33I. 37 Zur Unterscheidung der vollståndigen und unvollståndigen Lekta vgl. DL 7.63. 38 DL 7.63. 35
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Handlungsanalyse genannt wird, sprachlich ein assertorischer Satz entspricht. Einen Anhaltspunkt dafçr, wie die Ausrichtung des Impulses auf ein Prådikat zu verstehen ist, bietet eine Stelle bei Stobaeus. Aus ihr geht hervor, daû die Impulse sich insofern auf Prådikate beziehen, als wir z. B. »sich-klug-Verhalten« wåhlen, was ein Prådikat sei; Wåhlen und Meiden wird mit dem Impuls verglichen: beides beziehe sich auf Prådikate. 39 Es ergibt sich also folgende Analyse: Zugestimmt wird einem hormetischen Eindruck bzw. einem Satz mit Aufforderungscharakter; dieser Satz enthålt ein Prådikat, auf welches sich der Impuls insofern richtet, als er die Handlung, die in dem Prådikat ausgedrçckt wird, auslæst. Fçr die Interpretation der pyrrhonischen Antwort auf den ApraxiaVorwurf ist entscheidend, daû nach der stoischen Handlungsanalyse in der Zustimmung zu einem hormetischen Eindruck ebenso ein Urteil gefållt wird wie in der Zustimmung zu einem nicht-hormetischen Eindruck. Es wird einem Axioma zugestimmt, dem sprachlich ein assertorischer Satz entspricht. Ein anderer Kontext, in dem sich eine wichtige Information zur Rolle der Zustimmung in Handlungen findet, ist die DeterminismusProblematik. Cicero berichtet, daû Chrysipp zwischen prinzipiellen Ursachen und Neben- bzw. Hilfsursachen unterschieden hat. 40 Aus der Lehre vom Fatum folge nicht, daû auch die prinzipiellen Ursachen determiniert sind. Zustimmung und Impuls als prinzipielle Ursache fçr eine Handlung seien in unserer Macht. Chrysipp gibt ein Beispiel: Wer einen Zylinder anstæût, bringt ihn ins Rollen (Hilfsursache), verleiht ihm aber nicht die Fåhigkeit zu rollen (prinzipielle Ursache). Ebenso verhalte es sich mit Eindruck und Zustimmung. Der Eindruck kommt zwar von auûen und wirkt auf die Seele, die Zustimmung aber ist in unserer Macht. Die Einzelheiten und Schwierigkeiten dieser Theorie sollen hier nicht diskutiert werden. Entscheidend fçr den augenblicklichen Zusammenhang ist, daû der Begriff der Zustimmung, der in der stoischen Handlungstheorie zur Anwendung kommt, ebenso wie der bisher vorgestellte Begriff der Zustimmung so bestimmt wird, daû diese in unserer Macht liegt. Stobaeus 2.97,15±98,6 (SVF 3.91) L&S 33J. Cicero, De Fato 39±43 (SVF 2.974) L&S 62C. Die Lehre wurde in Kapitel 1 bereits referiert.
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3.1.4. Die erzwungene Zustimmung Sextus nimmt in der Darstellung des pyrrhonischen Tåtigseins den Begriff des Impulses nicht auf. 41 Dies ist angesichts dessen, wie zentral der Begriff des Impulses fçr die Handlungstheorie und Ethik der Stoiker ist, bemerkenswert. Die Erlåuterung pyrrhonischen Verhaltens arbeitet nur mit den Begriffen des Eindrucks (der den Begriff des Fainomenon bzw. Scheinenden erlåutert) und der Zustimmung. Sextus greift in der Darstellung der pyrrhonischen Orientierung an den Fainomena einen Begriff des Eindrucks auf, fçr den er dogmatische Bestimmungen anfçhrt (er bestehe in »einem Erleiden« und darin, daû man »ohne sein Wollen affiziert wird«), die im Einklang mit dem stoischen Begriff des Eindrucks stehen. In M 8 schreibt Sextus in einem Referat der stoischen Theorie des erfassenden Eindrucks: Das Erfassen ist nun (¼) die Zustimmung zu einem erfassenden Eindruck, und das scheint eine zweiteilige Sache zu sein, nåmlich einerseits etwas Unfreiwilliges zu enthalten und andererseits etwas, was freiwillig ist und im Bereich unseres Urteils (krisei) liegt. Denn von Eindrçcken çberkommen zu werden ist ungewollt (abouleton) und steht nicht in der Macht dessen, der es erleidet (to paschonti); sondern von dem, was die Eindrçcke erzeugt, hångt es ab, daû er auf diese Weise affiziert worden ist (¼). Dieser Bewegung zuzustimmen, das hingegen steht in der Macht dessen, der den Eindruck empfangen hat. (M 8.397)
Wenn Sextus die Fainomena als Eindrçcke in dem Sinn bestimmt, daû Eindrçcke ungewollt erlitten werden, so entspricht dies der stoischen Theorie. Daû er im Zusammenhang mit dem so bestimmten Begriff des Eindrucks den Begriff der Zustimmung verwendet, macht zudem deutlich, daû er sich in der Darstellung der skeptischen Tåtigkeit auf die stoische Philosophie bezieht. So scheint es, daû die Erlåuterung der pyrrhonischen Fåhigkeit, sich zu verhalten, einen stårkeren ad-hominem-Bezug auf die Stoiker hat als die Darstellung der nicht-assertorischen Rede. Wåhrend die fçr die Explikation der pyrrhonischen Rede zentralen Begriffe des fainesthai im spezifisch pyrrhonischen Sinne und des Kundtuns keiner dogmatischen Theorie entnommen sind 42 , spielt die Verwertung stoischer Begriffe in der Antwort auf den Apraxia-Vorwurf eine zentrale Rolle. Anders die Akademiker: Vgl. Plutarch, St. rep. 1057A (SVF 3.177) L&S 53S; Plutarch, Adv. Col. 1122A-F L&S 69A. 42 Sextus erklårt nirgends, das Kundtun eines Fainomenon sei das Kundtun eines Ein41
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Der Pyrrhoneer versucht nicht, seinen Kontrahenten gegençber zu behaupten, die Eindrçcke allein wçrden sein Verhalten auslæsen. Vielmehr ist die Erklårung, der Pyrrhoneer halte sich an die Fainomena, mit dem Eingeståndnis von noch nåher zu beschreibenden Zustimmungen verbunden. Dies ist åuûerst wichtig, da es die Konsistenz der pyrrhonischen Position sichert: Wçrde Sextus die Fainomena als Eindrçcke erlåutern und behaupten, diese allein kænnten Verhalten auslæsen, so wçrde er dogmatisch argumentieren. Um sein Tåtigsein gegen den stoischen Gegner darstellen zu kænnen, muû der Pyrrhoneer mit dessen Annahmen arbeiten, ohne sie korrigieren zu wollen. Die Behauptung, Eindrçcke kænnten, ohne daû ihnen zugestimmt werde, Verhalten auslæsen, wçrde genau das tun ± sie wçrde dogmatisch gegen die Stoiker Stellung beziehen. Statt dessen råumt Sextus ein, daû der Skeptiker bestimmten Eindrçcken auf eine bestimmte Weise zustimmt. Im Folgenden soll untersucht werden, um welche Eindrçcke es sich hier handelt und wie genau Sextus die pyrrhonische Zustimmung beschreibt. ¼ denn den Dingen, die uns erlebnishaft (pathetikos) bewegen und erzwungenermaûen (anagkastikos) in die Zustimmung fçhren, geben wie nach (eikomen). (PH 1.193)
Hier verwendet Sextus »anagkastikos«, um die Weise zu beschreiben, wie der Pyrrhoneer in die Zustimmung gefçhrt wird. Auf diese Textstelle kann die Interpretation sich in der Rede von erzwungenen Zustimmungen stçtzen. Was aber ist unter den Dingen zu verstehen, die den Skeptiker erlebnishaft¬ bewegen? Bewegen ihn nicht alle Eindrçcke erlebnishaft¬, so daû er allen Eindrçcken zustimmen mçûte? Diese Frage låût sich nicht allein anhand von PH 1.193 klåren. ± In PH 1.19 schreibt Sextus: Denn das, was uns als erlebnishafter Eindruck (kata fantasian pathetiken) ohne unser Wollen (abouletos) in die Zustimmung fçhrt, stellen wir nicht auf den Kopf, wie wir schon vorher gesagt haben. Das aber sind die Fainomena. (PH 1.19)
Hier findet sich eine alternative Formulierung dazu, daû die Erlebnisse zur Zustimmung zwingen: Die Erlebnisse fçhren den Skeptiker ohne sein Wollen in die Zustimmung. drucks; der Begriff der fantasia fållt im Zusammenhang mit der pyrrhonischen Rede nicht.
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Die erklårte Schwierigkeit stellt sich bei PH 1.19 in der Ûbersetzung des Ausdrucks »kata fantasian pathetiken«. 43 Wird »pathetiken« als allgemeine Bestimmung von Eindrçcken angefçhrt, so daû der Pyrrhoneer nach dem Text von Eindrçcken, insofern diese erlebnishaft sind, in die Zustimmung gefçhrt wird? Oder greift das Prådikat eine bestimmte Klasse von Eindrçcken heraus, die den Pyrrhoneer ohne sein Wollen in die Zustimmung fçhren? Der entscheidende Punkt scheint mir zu sein, daû Sextus unmæglich so verstanden werden kann, als wçrden alle Eindrçcke den Skeptiker in die Zustimmung fçhren. Wçrde der Skeptiker von allen seinen Eindrçcken zur Zustimmung gezwungen, so wçrde ihn, wie bereits erlåutert, ein neuer Vorwurf der Untåtigkeit treffen. PH 1.19 kann nur so interpretiert werden, daû Sextus eine ganz bestimmte Klasse von Pathe anspricht. Entweder verwendet er »pathetiken« in einem engeren Sinn als an anderen Stellen, oder, und dies erscheint mir wahrscheinlicher, er låût eine genaue Bestimmung der Erlebnisse weg, die zur Zustimmung fçhren, die er an anderen Stellen nennt. PH 1.19 und PH 1.193, wo sich fçr den Ausdruck »Dinge, die erlebnishaft bewegen« dasselbe Problem stellt, mçûten in diesem Fall durch andere Textstellen, die sich auf denselben oder mit ihm verknçpfte Punkte in der Darstellung der pyrrhonischen Philosophie beziehen, verståndlich gemacht werden. Dies ist durch PH 1.13 und die beiden Beschreibungen der vierteiligen Lebenserfahrung mæglich: In PH 1.13 werden die Erlebnisse, denen der Pyrrhoneer zustimmt, als aufgezwungen charakterisiert, mit Bezug auf die vierteilige Lebenserfahrung als notwendig. Denn den als Eindruck aufgezwungenen Erlebnissen (kata fantasian katenagkasmenois pathesi) stimmt der Skeptiker zu (sunkatatithetai). (PH 1.13)
Den schwierigen Ausdruck »als Eindruck aufgezwungene Erlebnisse 44 « habe ich in Kapitel 1 unkommentiert gelassen. Er kann m. E. nur im Zusammenhang mit der vierteiligen Lebenserfahrung interpretiert werden. In PH 1.24 nennt Sextus als einen der vier Bereiche der Fainomena, an denen der Skeptiker sich orientiert, die Notwendig-
Denselben Ausdruck gebraucht Sextus in PH 2.10. Ich wåhle sowohl hier wie in PH 1.19 und im Zusammenhang mit der vierteiligen Lebenserfahrung die Ûbersetzung »Erlebnis« fçr »pathos«. Anders als in PH 1.22 verwendet Sextus den Begriff hier nicht, indem er eine dogmatische Definition anfçhrt.
43 44
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keit der Erlebnisse (anagke pathon). Diese sei insofern ein Teil der Orientierung an den Fainomena, als der Hunger den Skeptiker zur Nahrung und der Durst ihn zum Getrånk fçhre. Auch in PH 1.237 nennt Sextus die Notwendigkeit der Erlebnisse als einen der vier Bereiche. Der Text fåhrt fort: Wie also der Skeptiker aufgrund der Notwendigkeit der Erlebnisse (kata ten anagken ton pathon) vom Durst zum Getrånk, vom Hunger zur Nahrung usw. gefçhrt wird¼ (PH 1.238)
Aus diesen Texten wird deutlich, daû Sextus einen bestimmten Typ von Erlebnis als aufgezwungen bzw. notwendig bezeichnet und von diesem Typ des Erlebnisses sagt, es fçhre den Skeptiker zur Zustimmung. Aus den Beispielen von Hunger und Durst ergibt sich, daû es sich um in dem Sinn notwendige Erlebnisse handelt, als diese eine Art existentiellen Charakter haben. (In PH 1.13 ist mit »aufgezwungen« nicht gemeint, daû die Erlebnisse zur Zustimmung zwingend¬ sind. Daû der Skeptiker dann, wenn er »aufgezwungenen Erlebnissen« ± d. h. Erlebnissen mit Notwendigkeitscharakter ± zustimmt, erzwungenermaûen zustimmt, ergibt sich streng genommen erst aus PH 1.19). Durch Sextus' Ausfçhrungen zur vierteiligen Lebenserfahrung werden PH 1.19 und PH 1.193 verståndlich: Der Skeptiker wird nicht von Eindrçcken, insofern sie erlebnishaft sind, ohne sein Wollen zur Zustimmung gefçhrt bzw. gezwungen. Die Bestimmung »pathetiken« muû in einem engeren Sinn gedeutet werden; sie verweist auf die notwendigen Erlebnisse. Weder in PH 1.19 noch in PH 1.193 ergibt es Sinn, »pathetikos« als erlebnishaft in dem weiten Sinn zu deuten, nach dem alles, was dem Pyrrhoneer scheint, bzw. alle seine Eindrçcke von ihm erlebt werden. Es muû angenommen werden, daû die Erlebnisse angesprochen werden, die sich wie Hunger und Durst durch eine Notwendigkeit im Sinne einer Notwendigkeit fçr das Leben des Skeptikers auszeichnen. Dies soll als eine vorlåufige Bestimmung der notwendigen bzw. aufgezwungenen Erlebnisse festgehalten weden: Sie scheinen sich durch einen existentiellen Charakter bzw. eine Relevanz fçr die Selbsterhaltung des Skeptikers auszuzeichnen. So scheint es, daû zusammenfassend von zwei Aspekten des Zwangs oder der Notwendigkeit gesprochen werden muû: Erstens gibt es einen Typ des Erlebnisses, der notwendig bzw. aufgezwungen ist, insofern das Erlebnis relevant fçr die Selbsterhaltung ist. Und zweitens ist die 144
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Art, wie der Skeptiker von den »aufgezwungenen Erlebnissen« zur Zustimmung gefçhrt wird, durch Zwang gekennzeichnet. Durch das Eingeståndnis der erzwungenen Zustimmung liefert Sextus fçr den Bereich der aufgezwungenen Erlebnisse eine Beschreibung, die zwei wesentliche Elemente der stoischen Handlungsanalyse aufnimmt: Der Pyrrhoneer hat einen Eindruck und stimmt ihm zu. Daû Sextus den Impuls gewissermaûen auslåût, macht dem Stoiker gegençber eher einen strategischen Unterschied (der Pyrrhoneer braucht diesen schwierigen theoretischen Begriff nicht unbedingt fçr die Darstellung seiner Philosophie und tut daher gut daran, ihn nicht aufzunehmen) als einen sachlichen. Indem Sextus eine pyrrhonische Zustimmung einråumt, macht er nicht den Versuch, zu argumentieren, daû allein der Eindruck das Verhalten auslæst. Daû dieser Versuch den Stoikern gegençber nur eine dogmatische Form annehmen kænnte und somit unvereinbar mit dem Pyrrhonismus ist, wurde bereits erwåhnt. Darçber, wie der Prozeû des Auslæsens von Verhalten vorzustellen ist ± ob ein Impuls erfolgt oder der Vorgang anders beschrieben werden muû ± åuûert Sextus sich konsistenterweise nicht. Daû der Pyrrhoneer Eindruck und Zustimmung als Elemente der Beschreibung seines Verhaltens aufgreift, heiût jedoch nicht, daû er sein Verhalten als Handeln im stoischen Sinne versteht. Seine Zustimmungen sollen ohne sein Wollen erfolgen bzw. erzwungen sein ± mit dieser Bestimmung verwahrt der Pyrrhoneer sich vor einem verantwortlichen und intentional beschreibbaren Handeln. Wie aber kann Sextus es wagen, angesichts der stoischen These, die Zustimmungen seien in unserer Macht, die pyrrhonischen Zustimmungen als ungewollt und erzwungen zu beschreiben? Sein wichtigster Ansatzpunkt ist m. E. die Vorstellung von einem Einwirken auf die Seele, die er in der stoischen Philosophie vorfindet. Die Stoiker warnen vor der »Ûberzeugungskraft der Dinge« (pragmateion pithanotetas), die den, der noch nicht weise ist, auf den falschen Weg bringen kann. 45 In der Definition des glaubwçrdigen (pithanon) Eindrucks ist davon die Rede, daû er eine sanfte Bewegung in der Seele hervorruft. 46 Die skeptische Idee von den Eindrçcken, die die Zustimmung ohne eigenes Wollen erzwingen, scheint die stoische Annahme von der kausalen Wirkung der Eindrçcke auf die Seele auszubeuten. 47 45 46 47
DL 7.89. M 7.242. Die Idee, in den kataleptischen Eindrçcken als zur Zustimmung zwingend das Element
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Durch die Charakterisierung der pyrrhonischen Zustimmung als ungewollt und erzwungen ist der zugrundeliegende stoische Begriff in seinen fçr die Handlungsanalyse wesentlichsten Aspekten vollkommen verfremdet. Eine ungewollte und erzwungene Zustimmung ist nicht die prinzipielle Ursache 48 fçr verantwortete Handlungen, sie ergibt kein Verhalten, das aus Grçnden oder Ûberlegungen erfolgt, sondern einen bloû kausierten Affekt. In einer erzwungenen Zustimmung wird nicht das Urteil gefållt, daû etwas so-und-so ist, da der Begriff des Urteilens untrennbar mit der Vorstellung von Abwågung and aktiver Stellungnahme verbunden ist. So gelingt es Sextus, einerseits insofern nicht dogmatisch zu werden, als er gegen die Stoiker die These aufstellen wçrde, auch ohne Zustimmung kænne ein Eindruck Verhalten auslæsen, und andererseits pyrrhonisches Verhalten frei von Meinungen zu halten. In der Interpretation von § 13 wurde bereits bemerkt, daû die erzwungene Zustimmung zu dem Eindruck, gekçhlt zu werden, nicht in einer Meinung (»Mir ist kalt«) besteht, sondern in einem Verhalten (z. B. dem Anziehen des Mantels). Die erzwungene Zustimmung ist nichts als ein Antrieb zu Verhalten; in ihr wird nicht geurteilt, daû etwas so-und-so ist. So ist es konsistent, daû Sextus trotz des Zugeståndnisses, aufgezwungenen Erlebnissen werde erzwungenermaûen zugestimmt, nicht einråumt, der Skeptiker wçrde z. B. »mir ist kalt« sagen. Anders als im Eingeståndnis der erzwungenen Zustimmungen wçrde er hier zugestehen, daû der Skeptiker urteilt. Vielmehr hat sich gezeigt, daû der Skeptiker auch dann, wenn er Erlebnisse kundtut, die fçr die Selbsterhaltung relevant sind, mit fainesthai im spezifisch pyrrhonischen Sinn formuliert. Die Strategie, bezçglich des skeptischen Verhaltens erzwungene Zustimmungen zuzugeben, verfolgt Sextus in den zitierten Texten (PH 1.13, 19, 193, 238) nur bezçglich der Eindrçcke, die in irgendeiner Weise existentiellen Charakter haben. Fçr das Verhalten, das die Selbsterhaltung betrifft, antwortet der Pyrrhoneer dem stoischen Krider stoischen Lehre zu sehen, auf das die Skeptiker in der ad-hominem-Einstellung Bezug nehmen konnten, muû verworfen werden. Denn erstens sind die Quellen zu der Frage, wie die Zustimmung auf den kataleptischen Eindruck folgt, nicht eindeutig. Zweitens ± hier schlieûe ich mich Inwood (1985, S. 76) an ± erscheint es nicht denkbar, daû die Stoiker das Charakteristikum der Zustimmung, sie liege in unserer Macht¬ aufgegeben haben, ganz gleich, ob und in welcher Form sie behaupten, ein kataleptischer Eindruck ermutige zur Zustimmung oder rufe sie hervor. 48 Zur Unterscheidung der Ursachen vgl. Cicero, De Fato 39±43 L&S 62C.
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tiker, daû aus den Eindrçcken Verhalten folgt, ohne daû dabei zu diesen Stellung genommen wird: die Eindrçcke zwingen zur Zustimmung. Wie aber kommt Verhalten zustande, wenn der Pyrrhoneer Eindrçcke hat, die nicht als notwendig oder aufgezwungen beschrieben werden kænnen? 49 Oben wurde der wichtige Punkt erlåutert, daû eine Darstellung des pyrrhonischen Verhaltens, die behaupten wçrde, daû allein die Eindrçcke das Verhalten bewirken, insofern dogmatisch wåre, als der Skeptiker hier der stoischen Handlungstheorie eine eigene Theorie gegençberstellen wçrde. Dies gilt nicht nur fçr den Bereich der Selbsterhaltung. Mir scheint nun, daû an die Stelle der erzwungenen und ungewollten Zustimmung, die Sextus fçr die im engeren Sinne erlebnishaften Eindrçcke anfçhrt, mit Bezug auf die Eindrçcke im Bereich der Konventionen, Kçnste etc. eine Zustimmung tritt, die er »undogmatisch« nennt, ohne dies genauer zu erklåren. Im Kontext der Paragraphen PH 1.21±4, die die Orientierung an den Fainomena erlåutern, ist von dieser undogmatischen Zustimmung zwar nicht die Rede. Im Zusammenhang mit der Diskussion des Zeichens sagt Sextus jedoch, den kommemorativen Zeichen werde im normalen Leben vertraut; da der Skeptiker nicht nur nicht gegen das normale Leben kåmpfe, sondern es sogar unterstçtze, stimme er den Dingen, denen es vertraut, undogmatisch zu (adoxastos sunkatatithemenoi). 50 Wieso aber sagt Sextus nicht mit Bezug auf alle vier Bereiche der allgemeinen Lebenserfahrung, daû die Eindrçcke den Pyrrhoneer zur Zustimmung zwingen? Warum arbeitet er mit zwei Begriffen, der erzwungenen und der undogmatischen Zustimmung? Diese Frage kann m. E. nur einigermaûen spekulativ beantwortet werden. Mæglicherweise nimmt Sextus an, daû der dogmatische Kontrahent es zwar einleuchtend findet, notwendigen Eindrçcken eine derart groûe Macht Ein åhnliches Problem, das die Passivitåt des Pyrrhoneers in Frage stellt, liegt mit Bezug auf das Sprechen vor. Zwar kann der Pyrrhoneer darstellen, inwiefern seine Øuûerungen ein bloûes Kundtun von Eindrçcken sind. Wie es aber kommt, daû er manche Eindrçcke kundtut und andere nicht (ansonsten mçûte er ununterbrochen und bei gleichzeitig mehreren Eindrçcken wirr sprechen), ist nicht klar. Insofern das Øuûern von Eindrçcken ein Verhalten ist, mçûte eine Art undogmatische Zustimmung zu dem Eindruck, daû es angebracht ist, einen bestimmten Eindruck zu åuûern (bei gleichzeitiger Urteilsenthaltung bezçglich des Gehalts des Eindrucks), erfolgen. Hierzu nimmt Sextus jedoch nicht Stellung. 50 PH 2.102. 49
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çber die Seele zuzuschreiben, diese fçr andere Eindrçcke jedoch bestreiten wçrde. Wie ist nun der Begriff der undogmatischen Zustimmung zu deuten? Undogmatisch ist eine Zustimmung, die nicht als ein Urteilen gedeutet werden kann. Da nun der Begriff des Urteilens nicht davon gelæst werden kann, daû aktiv Stellung genommen wird, ist eine Zustimmung, in der dies nicht geschieht, nicht-urteilend und damit undogmatisch. Mir scheint, daû das gemeinsame und fundamentale Element beider Arten der eingestandenen Zustimmung in der Passivitåt liegt. Sowohl die erzwungenen wie die undogmatischen Zustimmungen sind passiv und insofern undogmatisch. Die Zustimmungen zu notwendigen Erlebnissen kænnen insofern als passiv beschrieben werden, als sie ohne das Wollen des Skeptikers erfolgen und erzwungen sind. Inwiefern auch die Zustimmungen zu den Eindrçcken in den Bereichen der Konventionen, Kçnste etc. passiv sind, obgleich sie nicht als erzwungen beschrieben werden, kann m. E. aus einer Textstelle im Ansatz erschlossen werden. Akademiker und Pyrrhoneer råumen ein, daû sie von manchen Dingen çberzeugt werden. Wåhrend erstere darunter eine aktive Stellungnahme verstehen, beschreibt Sextus das pyrrhonische Ûberzeugtwerden wie folgt: als Nichts-Entgegenhalten (me antiteinein) und bloûes Folgeleisten (haplos hepesthai) ohne starke Neigung oder Teilnahme (propatheias), so wie von einem Kind gesagt wird, daû es von seinem Erzieher çberzeugt wird. 51 Das skeptische Ûberzeugtwerden sei ein reines Folgen (eikein) ohne Teilnahme (prospatheias). 52 Dieser Text scheint mir, was die Beschreibung des pyrrhonischen Ûberzeugtwerdens angeht, auf den Bereich des Verhaltens bezogen zu sein; es geht offenbar nicht darum, daû der Pyrrhoneer in einem gewissen Sinn Ûberzeugungen erwirbt, sondern darum, daû Eindrçkke ihn in dem Sinn çberzeugen kænnen, als er ihnen in seinem Verhalten Folge leistet. Die undogmatischen Zustimmungen scheinen, obwohl sie nicht erzwungen sind, deshalb zu erfolgen, weil der Skeptiker ihnen »nichts entgegensetzt«. Sextus zeichnet ein Bild vom Pyrrhoneer als unmçndigem Kind, das nicht selbst fçr seine Handlungen verantwortlich ist. Die Fainomena fçhren¬ den Pyrrhoneer wie ein Lehrer. Sie zwingen 51 52
PH 1.229±30. PH 1.230.
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ihn nicht zur Zustimmung; die undogmatische Zustimmung zu den Fainomena besteht darin, daû der Pyrrhoneer sich ihnen ausliefert, bewuût keine kritische Haltung zu ihnen einnimmt. In PH 1.193 beschreibt Sextus die erzwungenen Zustimmungen sehr åhnlich wie die undogmatischen: »¼ denn den Dingen, die uns erlebnishaft (pathetikos) bewegen und erzwungenermaûen in die Zustimmung fçhren, geben wir nach (eikomen) 53 .« Die Stelle kann m. E. als Beleg dafçr gelten, daû das gemeinsame Charakteristikum von erzwungener und undogmatischer Zustimmung die Passivitåt des Pyrrhoneers ist. Indem der Pyrrhoneer seine Weise der Zustimmung als rein passiv erlåutert, beschreibt er sowohl mit Bezug auf die erlebnishaften Eindrçcke, die zur Zustimmung zwingen, wie auch mit Bezug auf die Eindrçcke in den anderen Bereichen der Lebenserfahrung, denen er sich unkritisch ausliefert, ein Verhalten, das nicht als Handeln im vollen Sinne gelten kann. In diesem Sinne trifft der Apraxia-Vorwurf zu. Insofern aber, als der Pyrrhoneer diesen als einen Vorwurf der Untåtigkeit (anergesia) versteht, und zeigen kann, daû er in vielfåltigen Lebensbereichen durchaus tåtig ist, hat er den Vorwurf zu seiner Zufriedenheit beantwortet. 3.1.5. Aufgezwungene Erlebnisse Die aufgezwungenen Erlebnisse spielen nicht nur in der Erlåuterung des pyrrhonischen Verhaltens, sondern auch in der des pyrrhonischen Telos eine Rolle: Das pyrrhonische Ideal der Metriopatheia, der gemåûigten Erlebnisintensitåt, erklårt sich daraus, daû der Pyrrhoneer einen Teil der Erlebnisse fçr aufgezwungen hålt: von den »aufgezwungenen Dingen« (ton katenagkasmenon) wird er belåstigt (PH 1.29± 30). Daû Sextus in PH 1.29±30 von den »aufgezwungenen Dingen« spricht, verweist darauf, daû das Ideal der Metriopatheia die Dinge betrifft, von denen es in PH 1.13 heiût, ihnen wçrde der Pyrrhoneer zustimmen. Oben wurden diese unter Verweis auf die Erlåuterungen der »allgemeinen Lebenserfahrung« als notwendige Erlebnisse wie Dieses Verb (vgl. oben PH 1.230) war mæglicherweise in der stoischen Beschreibung des Verhaltens von Tieren terminologisch. Vgl. zu dieser Frage Inwood (1985) S. 75±6. Inwood verweist darauf, daû Sextus den Begriff des Nachgebens fçr die skeptische Reaktion auf Eindrçcke verwendet (S. 76).
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Hunger, Durst, Kålte identifiziert. 54 Anhand der Texte zur Metriopatheia kann noch klarer gemacht werden, wodurch sich die Erlebnisse, denen der Skeptiker erzwungenermaûen zustimmt, von anderen Erlebnissen unterscheiden. Sextus stellt die Metriopatheia wie folgt vor: Wir sagen nun, bis jetzt (achri nun) sei das Ziel des Skeptikers die Seelenruhe im Bezug auf die Meinung (kata doxan) und die gemåûigte Erlebnisintensitåt (metriopatheian) in den aufgezwungenen Dingen. (PH 1.25)
Auf die Ataraxia wird in 3.2. im Zusammenhang mit der pyrrhonischen Tåtigkeit des philosophischen Untersuchens eingegangen. Das zweite Element der skeptischen Telosbestimmung ist die metriopatheia 55 , die gemåûigte Intensitåt der Erlebnisse. Wir glauben aber nicht, daû der Skeptiker gånzlich unbelåstigt bleibe, sondern wir sagen, daû er von den aufgezwungenen Dingen, (ton katenagkasmenon) belåstigt werde. Denn wir råumen ein, daû er manchmal friere und Durst habe und åhnliche Dinge erlebe. Aber selbst in diesen Dingen werden die gewæhnlichen Leute von doppelten Næten bedrångt, von den Erlebnissen selbst und, in keinem schwåcheren Maûe, dadurch, daû sie diese Næte fçr von Natur aus schlecht halten. Der Skeptiker dagegen råumt den zusåtzlichen Glauben, daû jedes dieser Dinge von Natur çbel sei, beiseite und kommt daher selbst in diesen Dingen måûiger davon. Deswegen also nennen wir das Ziel des Skeptikers in den Dingen der Meinung (tois doxastois) Seelenruhe und in den aufgezwungenen Dingen (tois katenagkasmenois) die gemåûigte Erlebnisintensitåt. (PH 1.29±30)
Sowohl die Selenruhe wie die gemåûigte Erlebnisintensitåt ergeben sich aus der Urteilsenthaltung. Der Skeptiker ist genau deshalb nur in geringerem Maûe von den Erlebnissen belåstigt, weil er sich des Urteils enthålt. Wçrde er zustimmen, d. h. Dogmata haben, so wçrde er Hunger fçr unangenehm und Krankheit fçr ein Ûbel halten. Daû Meinungen unser Erleben håufig stårker beeinflussen als das eigentliche Leiden will Sextus an dem Beispiel eines Kranken, der operiert wird, zeigen: oft fallen die Umstehenden in Ohnmacht, wåhrend der Patient die Operation durchsteht. 56 PH 1.23. Der Begriff findet sich auch auûerhalb des Pyrrhonismus. Vgl. Gisela Striker, Following Nature: A Study in Stoic Ethics. Oxford Studies in Ancient Philosophy Vol. IX (1991), 1± 73, S. 69. Die Peripatetiker verwandten den Ausdruck fçr emotionale Reaktionen, die nicht çber eine angemessene Intensitåt hinausgehen. 56 PH 3.236±7. 54 55
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Es scheint mir wichtig, zwei Aspekte zu unterscheiden: Der Skeptiker leidet unter den notwendigen Erlebnissen gemåûigt, weil er keine Urteile fållt, in denen er sie bewertet. Er stimmt den notwendigen Erlebnissen in dem Sinne nicht zu, als er nicht çber sie urteilt. Im Sinne der erzwungenen Zustimmgun stimmt er ihnen jedoch zu; so læsen die notwendigen Erlebnisse Verhalten aus. Es wurde bereits erwåhnt, daû hier zwei unterschiedliche Momente des Zwangs im Spiel sind: Erstens kann sich der Skeptiker den aufgezwungenen Erlebnissen nicht entziehen; er kann nicht ebenso vermeiden, Schmerzen zu haben, wie er vermeiden kann, der Meinung zu sein, daû Schmerzen schlecht sind. Der Zwang besteht in der Unausweichlichkeit der Erlebnisse. Zweitens gibt es den Zwang zur Zustimmung. Insofern, als der Pyrrhoneer zwar nicht der Ansicht ist, daû es schlimm ist, unter Durst zu leiden, sein Durst ihn aber dennoch zum Getrånk fçhrt, stimmt er dem aufgezwungenen Erlebnis zu. Zu der Frage, wie die Erlebnisse vorzustellen sind, denen der Skeptiker erzwungenermaûen zustimmt, finden sich in den Texten zur Metriopatheia vier Hinweise: (i) Sextus grenzt die aufgezwungenen Erlebnisse von den Erlebnissen ab, die durch Meinungen zustandekommen. Aufgezwungene Erlebnisse sind Erlebnisse, die durch die Urteilsenthaltung nicht beeinfluût werden kænnen: Der Skeptiker, der also diese Ungleichfærmigkeit der Dinge sieht, enthålt sich des Urteils darçber, ob etwas von Natur her gut oder schlecht ist oder allgemein zu tun ist oder nicht und distanziert sich dadurch von der dogmatischen Voreiligkeit. Dagegen folgt er undogmatisch der alltåglichen Lebenserfahrung und dadurch bleibt er in den Dingen der Meinung ohne Erlebnisse (apathes), in den aufgezwungenen Dingen aber erlebt er maûvoll (metriopathei). (PH 3.235±6)
Kapitel 5 von M 11 behandelt die Frage, ob der, der sich çber von Natur aus Gutes und Schlechtes des Urteils enthålt, in jeder Hinsicht (kata panta) glçcklich ist. Das Kapitel beginnt mit einer grundlegenden Unterscheidung zwischen Gçtern kata doxan und Gçtern kat' anagken. 57 Beispiele fçr Gçter und Ûbel kat' anagken sind Schmerz und Lust; sie befallen einen durch eine natçrliche Notwendigkeit (fusike tis anagke). Wåhrend es fçr den Skeptiker nur die Gçter und Ûbel kat' anagken gibt, hat der Dogmatiker Meinungen darçber, was Gçter und
57
M 11.141.
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Ûbel von Natur aus (fusei) sind. 58 Nach diesem Text ist der Begriff der Notwendigkeit der Gegenbegriff zu dem, was sich durch Meinungen beeinflussen låût. (ii) Zweitens macht Sextus die Tatsache, daû der Skeptiker ein sinnlich empfindender Mensch ist, fçr die Unausweichlichkeit der aufgezwungenen Erlebnisse verantwortlich. Denn als sinnlich empfindener (aisthetikos) Mensch leider er zwar, weil er aber nicht zusåtzlich meint, daû das, was er erleidet, von Natur her schlecht ist, leidet er måûig. (PH 3.235±6)
Die Notwendigkeit der aufgezwungenen Erlebnisse liegt also darin begrçndet, daû der Skeptiker sinnlich empfindet. Dies wird auch in M 11.48 deutlich. Mit Bezug auf die Gçter und Ûbel kata doxan ist der Skeptiker vollkommen glçcklich, mit Bezug auf die aber, die durch die Sinne und vernunftlose Bewegung (kat' aisthesin kai alogois kinemasin) zustandekommen, leidet er gemåûigt. Die Dinge, die durch das unfreiwillige Erlebnis der Sinne (kata akousion tes aistheseos pathos) entstehen, kann der Skeptiker durch seine Argumente nicht loswerden. 59 (iii) Eng verbunden hiermit ist die Bestimmung der aufgezwungenen Erlebnisse als natçrlich. In M 11 folgt auf den referierten Text eine Argumentation, die mit der Bemerkung endet, daû dann, wenn das Leiden groû sein sollte, nicht dem die Schuld gegeben werden darf, der unfreiwillig und aus Notwendigkeit leidet, »sondern der Natur«. 60 Die Natur bezeichnet in Sextus' Darstellung des Pyrrhonismus m. E. in den Argumentationen, die mit der Metriopatheia befaût sind, den Gegenpol zu dem, was von Meinungen beeinfluût werden kann. Im Rahmen der Abgrenzung von den Akademikern charakterisiert Sextus die Erlebnisse, die er an anderen Stellen als aufgezwungen bestimmt, als natçrlich: ¼ leben wir undogmatisch, indem wir den Gesetzen, den Sitten und den natçrlichen Affektionen (fusikois pathesin) folgen. (PH 1.232)
Hossenfelder çbersetzt fusikois pathesin als »physische Erlebnisse«. Insofern, als der Bereich der aufgezwungenen Erlebnisse sich in den Beispielen zumeist als der Bereich der physischen Selbsterhaltung zeigt, in dem es um Hunger, Durst, Kålte etc. geht, scheint die Ûber58 59 60
M 11.142±147. M 11.148. M 11.156.
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setzung naheliegend. M. E. ist es jedoch nicht sehr wahrscheinlich, daû der Text so richtig gedeutet ist. Erstens spricht das in (iv) zu nennende Beispiel der Freude gegen die diese Interpretation. 61 Zweitens scheint mir, daû fçr den Bereich des Physischen im Gegensatz zum Psychischen eher das griechische Wort »somatikos« zu erwarten wåre. So muû m. E. die Ûbersetzung »natçrlich« gewåhlt werden. Mir scheint, daû diese Bestimmung der aufgezwungenen Erlebnisse verståndlich wird, wenn sie in Zusammenhang damit gestellt wird, daû die Erlebnisse fçr den Skeptiker als sinnlich empfindenden Menschen unausweichlich sind. Die Erlebnisse sind insofern natçrlich, als sie durch die Natur, und zwar durch die menschliche Natur vorgegeben sind. (iv) Die Beispiele, die im Text folgen, verweisen darauf, daû die aufgezwungenen Erlebnisse nicht notwendig in einem kærperlichen Erleben bestehen: Wer Hunger erlebt, kann nicht vom Gegenteil çberzeugt werden, und wer von Freude durchstræmt wird, weil er von seinen Leiden befreit wird, kann nicht dazu gebracht werden, daû er glaubt, sich nicht zu freuen. 62 Das Beispiel der Freude ist m. E. fçr die Frage, wie genau die aufgezwungenen Erlebnisse vorzustellen sind, sehr wichtig: Wåhrend die anderen Beispiele (Hunger, Durst, Schmerzen) ein kærperliches Leiden beschreiben, wird hier das Beispiel einer Emotion gegeben, die von Meinungen nicht beeinfluût werden kann. Zwar wird als Grund fçr die Freude angefçhrt, daû jemand von Leiden befreit wird. Die Freude scheint also durch die kærperliche Empfindung der Befreiung von Schmerz, Hunger oder Durst ausgelæst. Trotzdem scheint mir der Text ein Hinweis darauf zu sein, daû nicht nur die Erlebnisse, die insofern relevant fçr die Selbsterhaltung sind, als sie zu den grundlegenden Verhaltensweisen der Selbsterhaltung fçhren (Essen, Schutz vor Kålte, Hitze etc.) unter die aufgezwungenen Erlebnisse fallen. Zusammenfassend kænnen die aufgezwungenen Erlebnisse wie folgt beschrieben werden: Der Skeptiker enthålt sich im Bezug auf die aufgezwungenen Erlebnisse (wie im Bezug auf alle anderen Erlebnisse) des Urteils und leidet deshalb gemåûigt; er stimmt ihnen erzwungenermaûen zu, und wird dadurch von ihnen in seinem Verhalten geleitet. Die aufgezwungenen Erlebnisse sind Erlebnisse, die insofern natçrlich und notwendig sind, als sie sinnlich erlebt werden, und der Skeptiker, 61 62
Vgl. M 11.148±9. M 11.148±9.
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da er Sinne hat, sinnliche Erlebnisse hat. Beinahe alle Beispiele betreffen die Selbsterhaltung (Durst, Hunger etc.). Die aufgezwungenen Erlebnisse sind jedoch nicht im engeren Sinn kærperlich, da auch eine Emotion wie Freude durch ein sinnliches Erleben wie die Befreiung von Schmerz entstehen kann. 3.1.6. Das skeptische Verhalten in sozialen Kontexten Die skeptische Orientierung an Gesetzen und Sitten sowie der Unterweisung in den Kçnsten hat den Zweck, das Verhalten des Skeptikers derart zu leiten, daû er nicht als ein Wesen erscheint, welches sich auf die Reaktion auf aufgezwungene Erlebnisse beschrånkt. Mir scheint, daû Sextus hieran ein groûes Interesse haben muû. Denn obwohl der Skeptiker sich nicht aufgrund von Ûberzeugungen und Handlungsgrçnden verhålt, nimmt er doch fçr sich in Anspruch, ein »normales« Leben zu fçhren und muû somit eine Vielzahl von Verhaltensweisen in seine Selbstdarstellung integrieren kænnen. Die vierteilige allgemeine Lebenserfahrung weitet das Spektrum skeptischen Verhaltens auf soziale Kontexte aus. Die beiden Bereiche der Lebenserfahrung, die Beruf und privates Leben betreffen, leisten diese Erweiterung und helfen, das Problem der Selektion zu læsen. Die Ausfçhrungen zu beruflicher Tåtigkeit und Verhalten in moralischen Kontexten erlåutern die Fålle, in denen ein Verhalten nicht mæglich ist, ohne daû der Skeptiker manchen Fainomena nicht folgt. Zunåchst zur Darstellung der beruflichen Tåtigkeit des Skeptikers. Es ist Bestandteil der alltåglichen Lebenserfahrung, daû man ein Handwerk oder eine Kunst ausçbt. Man kann also, so ist die Behauptung, Arzt sein, ohne Meinungen darçber zu haben, wie es sich mit Gesundheit und den Krankheiten in Wirklichkeit verhålt, was in welchem Fall die richtige Behandlung ist etc. Der Skeptiker scheint die Unterweisung, die er in einer Kunst erhålt, als ein Weitergeben von praktischen Fåhigkeiten und Techniken zu verstehen. Durch die Einweisung in eine Profession ist dem Skeptiker ein Kriterium fçr sein berufliches Verhalten gegeben. Wenn ein Patient Fieber hat, und dem Skeptiker verschiedene Verfahrensweisen in derartigen Fållen als Fainomena pråsent sind, so wåhlt er unter diesen, ohne einem Fainomenon dogmatisch (d. h. im Sinne eines Urteils) zuzustimmen. Er folgt der Verfahrensweise, die seine Lehrer ihm beige154
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bracht haben. In diesem Sinne kann man sich zum Arzt ausbilden lassen, ohne dabei irgendwelche Ûberzeugungen anzunehmen. Solange der Skeptiker nicht fçr die Verbreitung einer richtigen¬ medizinischen Theorie oder Behandlungsmethode kåmpfen will, kann er seinem Beruf nachgehen. Der dritte Aspekt der skeptischen Ausrichtung an der Lebenserfahrung bezieht sich darauf, daû der Skeptiker Werte und Normen seiner Kultur in dem Sinn çbernimmt, als er nach ihnen lebt. Die Orientierung am Ûberlieferten zeigt, an welche Eindrçcke bzw. Fainomena sich der Skeptiker in Wertfragen hålt. Er folgt dem, was ihm gemåû den Gebråuchen seines sozialen Umfelds scheint. Durch dieses Kriterium wird die notwendige Selektion unter dem Scheindenden in sozialen Kontexten getroffen. In der Diskussion eines Problemfalls, der von Kritikern gegen die Skeptiker vorgebracht wurde, setzt Sextus die Ausrichtung an den so bestimmten Fainomena mit dem Zufall gleich. 63 Der Skeptiker ist Untergebener eines Tyrannen und wird unter Androhung von Folter gezwungen, etwas Furchtbares zu tun. In dieser Situation wird er entweder den Befehl ausfçhren und damit der Folter entkommen oder den Tod wåhlen. Der Skeptiker, so das Argument in Sextus' Bericht, kann nicht anders, als das eine zu tun und das andere nicht zu tun. 64 Aus der Perspektive der Dogmatiker verhålt er sich also wie einer, der »erstrebt« bzw. »vermeidet«. Aus seiner eigenen Perspektive erklårt sich das skeptische Verhalten anders. Aufgrund der Ausrichtung an der unphilosophischen Lebenserfahrung 65 ist der Skeptiker fåhig, das eine zu erstreben und das andere zu vermeiden. In der beschriebenen bedrohlichen Situation wird er zufållig (tuchon) die eine Verhaltensweise wåhlen und die andere vermeiden, entsprechend dem Vorbegriff (prolepsei), den er gemåû der våterlichen Gesetze und Sitten hat. Anhand dieses Falls wird dem Skeptiker vorgeworfen, daû nichts ihn von schlechten Handlungen abhalten kænne. Was hielte den Skeptiker davon ab, etwas Schreckliches zu tun? Daû er Angst vor Strafe oder dem Gesetz hat, kann nicht angenommen werden. Aristocles ap. Eusebius, Praep. Ev. XIV 761 d 5±762 a 0. 64 Sextus setzt sich an dieser Stelle mit der stoischen Annahme, das ganze Leben bestehe aus erstreben und vermeiden, und Timons Ausspruch, der Skeptiker sei »nicht-erstrebend« und »nicht-vermeidend« auseinander. Es geht darum, im Sinne Timons zu zeigen, daû der Skeptiker sich nicht in der Weise fçr einen Handlungskurs entscheidet, als er ihn erstrebt. 65 PH 1.165: kata ten afilosofon teresin. 63
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Hier wird eine zweifache Beschreibung dessen gegeben, was das skeptische Verhalten bestimmt, wobei die beiden Beschreibungen offenbar das gleiche ausdrçcken sollen: das Verhalten ist »tuchon«, zufållig, und es richtet sich aus an den Wertvorstellungen der Familie. Dadurch wird deutlich, welcher Begriff der Zufålligkeit hier im Spiel ist. Der Zufall besteht darin, in welche Wertvorstellungen und Ûberzeugungen der Skeptiker hineingewachsen ist, so daû diese nun als Eindruck auf ihn wirken. Der Skeptiker verhålt sich zufållig nicht im Sinne einer statistischen Wahrscheinlichkeit fçr verschiedene Verhaltensvarianten, sondern insofern, als er sich nicht aufgrund von Grçnden verhålt. Daû der Skeptiker sich zufållig verhålt heiût, daû er sich aufgrund von kontingenten Ursachen ± er ist in eine bestimmte Familie, Kultur, Religionsgemeinschaft hineingeboren ± verhålt. 66 In der Frage der Selektion ergeben sich jedoch Schwierigkeiten. Solange der Skeptiker unter den konfligierenden Eindrçcken in Eindrçkke gemåû der eigenen Kultur, Erziehung und Unterrichtung und Eindrçcke gemåû fremder Vorstellungen unterscheiden kann, entsteht kein Problem. Eine derart klare Option fçr einen Eindruck ist jedoch nicht immer mæglich. Ûbernommene Ûberzeugungen kænnen unvereinbar sein; innerhalb einer kulturellen oder sozialen Gruppe kænnen kontroverse Einstellungen vertreten werden; der Skeptiker kann zwei Gruppen (z. B. den methodischen Ørzten und einer Religionsgemeinschaft) angehæren, deren Ûberzeugungen sich nicht decken. Die Orientierung an erlernten und çbernommenen Eindrçcken reicht auch dann nicht als Kriterium, wenn der Skeptiker mit einer ihm unbekannten Handlungssituation konfrontiert ist, in der er nicht nach çbernommenen Werten handeln kann. Es scheint, daû das Verhalten des Skeptikers in diesen Fållen, wenn nicht doch Handlungsgrçnde ins Spiel kommen sollen, nur zufållig sein kann. Versteht man in Analogie zum Tyrannen-Beispiel unter Zufall auch hier, daû kontingente Ursachen wirksam werden, so mçssen zusåtzlich zur Geburt in eine bestimmte Familie, Kultur etc. weiEine andere Interpretation von »tuchon« gibt Mates (1996, S. 71). Anstelle der oben angesetzten Ûbersetzung durch »zufållig« argumentiert er fçr die Ûbersetzung »perchance« bzw. »I suppose« und vergleicht die Rolle von »tuchon« mit der Rolle von Wærtern wie tacha, oimai und isos. Diese Ûbersetzung ist m. E. deshalb nicht angebracht, weil die skeptischen Ausdrçcke fçr »vielleicht« die skeptische Urteilsenthaltung ausdrçcken sollen, »tuchon« dagegen anzeigen soll, aufgrund wovon der Pyrrhoneer sich verhålt.
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tere kontingente Faktoren angesetzt werden, die den Skeptiker in der einzelnen Handlungssituation beeinflussen (daû jemand ihn zu einer Verhaltensweise antreibt, daû er sich dem Verhalten eines Freundes anschlieûen kann, daû ein bestimmtes Verhalten gerade en vogue ist o. å.). Sextus bietet keinen Ansatz, der skeptisches Verhalten in den skizzierten Situationstypen erlåutern wçrde, ohne daû derartige zusåtzliche bestimmende Faktoren angenommen werden mçûten. Was also leisten die beiden Bereiche Beruf und privates Leben aus der vierteiligen Lebenserfahrung, um das skeptische Verhalten zu erklåren? Es muû zugestanden werden, daû das Selektionsproblem ein gutes Stçck weit gelæst wird; es wird angegeben, welches die Fainomena sind, an die der Skeptiker sich hålt. Fçr Fålle, in denen mehrere Fainomena konkurrieren, wird geklårt, welchem Fainomenon der Skeptiker folgt. Allein die Sonderfålle, in denen entweder kein einziges bereits bekanntes Fainomenon auftritt oder verschiedene Fainomena in gleicher Weise zu dem gehæren, was der Skeptiker aus seinem Umfeld çbernimmt, deckt die Darstellung nicht ab. Zur Verteidigung der skeptischen Argumentation muû betont werden, daû die grundsåtzliche Læsung des Selektionsproblems im Vergleich zu den speziellen Problemfållen ein groûer Schritt ist. Zudem scheint nichts prinzipiell dagegen zu sprechen, daû der Skeptiker fçr sein Verhalten in diesen Fållen zusåtzliche kontingente Faktoren verantwortlich machen wçrde. Hieraus wçrden sich keine Schwierigkeiten fçr die skeptische Position ergeben. 3.1.7. Die Fçhrung durch die Natur Der verbleibende Punkt der alltåglichen Lebenserfahrung, die »Fçhrung durch die Natur«, ist åuûerst schwierig zu deuten. Der Text sagt: Es ist aufgrund der Fçhrung der Natur, daû wir der Wahrnehmung und des Denkens fåhig sind. Hier ist zunåchst unklar, warum der Skeptiker sich in der Situation sieht, seine Fåhigkeit der Wahrnehmung und des Denkens kommentieren zu mçssen. Warum soll er diese Fåhigkeiten erlåutern, anstatt einfach von ihnen auszugehen? Weiter ist die Passage deshalb schwierig, weil sie keine Relevanz fçr den Rest der skeptischen Selbstdarstellung zu haben scheint. Von einer Fçhrung durch die Natur, die das Denken und die Wahrnehmung ermæglicht, ist an keiner anderen Stelle die Rede. Daû es nicht einfach ist, die Passage sinnvoll auf irgendetwas zu 157
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beziehen, zeigt sich m. E. auch in Barnes' Interpretation. 67 Barnes diskutiert zur Deutung der »Fçhrung durch die Natur« die Frage, ob die skeptische Akzeptanz der kommemorativen Zeichen mit der Interpretation, nach der der Skeptiker keine Meinungen hat, vereinbar ist. Warum allerdings diese Frage eine Klårung der schwierigen Stelle herbeifçhren soll, wird m. E. nicht deutlich. Zwar besteht ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen der skeptischen Akzeptanz bestimmter Zeichen und der Darstellung der vierteiligen Lebenserfahrung: beide dienen der Explikation der skeptischen Orientierung an den Fainomena. 68 Es findet sich jedoch kein Anhaltspunkt fçr die Annahme, daû innerhalb der vielen Aspekte dieser Orientierung gerade die Akzeptanz kommemorativer Zeichen besonders eng mit der Leitung durch die Natur verbunden sein soll. Bei dieser Annahme bleibt der Text, nach dem durch die Leitung der Natur nicht irgendwelches Verhalten erfolgen, sondern die Fåhigkeiten des Denkens und sinnlichen Wahrnehmens natçrlicherweise gegeben sein sollen, unberçcksichtigt. 69 Im Folgenden soll ein anderer Interpretationsvorschlag gemacht werden, der zugegebenermaûen bis zu einem gewissen Grad spekulativ ist. Dies scheint mir jedoch angesichts der Texte, die keinerlei eindeutigen Anhaltspunkt liefern, unvermeidbar. Wenn der Skeptiker die Natur fçr einen Teil seines Verhaltens verantwortlich macht, so liegt es im Sinne des grundlegenden Interpretationsansatzes der vorliegenden Arbeit nahe, an die Rolle der Natur und somit vor allem die oikeiosis in der stoischen Ethik zu denken. 70 Sextus bezieht sich jedoch nicht auf die Theorie der oikeiosis. Durch die FçhBarnes (1982) S. 16±7. Auch Nussbaum geht davon aus (The Therapy of Desire: Theory and Practice in Hellenistic Ethics, Princeton 1994, S. 293), daû hier die kommemorativen Zeichen angesprochen sind. Ihre Erlåuterung der »Leitung durch die Natur« (»It would be artificial to close our eyes, to shut off the perception of a tree, the thought of food and drink; so we go on as is most natural«) kann m. E. nicht çberzeugen. 68 Ausfçhrlicher hierzu unter 3.1.8. 69 Obwohl nach Mates' Ûbersetzung das Problem deutlich bestehen bleibt, gibt er eine Paraphrase, die die Schwierigkeit nicht sichtbar werden låût: »first, there are the sensations and thoughts that come to him naturally, that is, arise without any positive mental activity on his part« (1996, S. 70). Diese Explikation wird dem Text m. E. nicht gerecht. Dort heiût es, durch die Leitung der Natur seien die Fåhigkeiten der Wahrnehmung und des Denkens gegeben; es geht nicht darum, daû dem Skeptiker einzelne Gedanken und Wahrnehmungen natçrlich¬ im Sinne von ohne sein Zutun¬ kommen. 70 Die Leitung durch die Natur hat in der stoischen Theorie die Aufgabe, die Person ausgehend von dem ersten Impuls der Selbsterhaltung zur Tugend zu fçhren (vgl. hierzu G. Striker 1991). 67
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rung der Natur soll der Skeptiker keine inhaltlichen Vorstellungen vom richtigen Handeln, sondern die Fåhigkeiten der Sinneswahrnehmung und des Denkens haben. So kann, wenn eine ad-hominem-Ausrichtung des ersten Punkts der vierteiligen Lebenserfahrung unterstellt wird 71 , nur angenommen werden, daû Sextus einen anderen Teil dessen herausgreift, was nach der stoischen Philosophie der Leitung durch die Natur zuzuschreiben ist. Innerhalb der stoischen Ethik und Erkenntnistheorie ist eine Theorie çber die individuelle Entwicklung des Menschen von Bedeutung. Der Mensch kommt nicht als ein rationales Wesen auf die Welt. In der ersten Phase eines Menschenlebens hat die Natur unter anderem die wichtige Funktion, den Menschen im Erwerb der Rationalitåt zu leiten. Die Stoiker gehen davon aus, daû die Entwicklung zum rationalen Wesen nach den ersten vierzehn Lebensjahren vollendet ist. 72 Der entscheidende Prozeû wird als der Erwerb von Begriffen beschrieben. Die Seele nimmt Eindrçcke (fantasiai) auf; diese Eindrçcke werden erinnert; aus mehreren Eindrçcken åhnlicher Art wird Erfahrung. Ein Begriff ist eine Art Eindruck, so etwas wie die Summe eingelagerter Gedanken. 73 Die Begriffe, welche wir auf natçrliche Art (fusikos), d. h. ohne unser eigenes absichtliches Zutun, erwerben, nennen die Stoiker »prolepseis«, Vorbegriffe. Rationalitåt entsteht und vollendet sich mit dem Erwerb der Vorbegriffe. 74 So ist es die Aufgabe der Natur, den einzelnen Menschen zu einem denkenden Wesen zu machen. Hier wird ein entscheidend anderer Begriff der Vernunft verwendet, als wir ihn heute haben. Die Vernçnftigkeit eines Menschen bedeutet, daû er sich in der Welt zurechtfindet, daû er einen ungefåhren Begriff davon hat, wie die Dinge sind. Sextus kann also davon ausgehen, daû seine Gegner eine grundlegende inhaltliche Bestimmung der Vernunft fçr ein Produkt natçrlicher Prozesse halten. Dies ist fçr den Skeptiker, der an einer Selbstdarstellung seines Lebens und Philosophierens interessiert ist, die ihn Dies erscheint mir notwendig, da auf keinen Fall angenommen werden kann, der Skeptiker mache eine Theorie çber die Rolle der Natur fçr die Fåhigkeiten des Denkens und der Sinneswahrnehmung. 72 Stobaeus, Ecl. ( 48,8, p. 317 (ex Jamblicho) (Huelser 492C). In Abweichung hiervon heiût es bei Aetius 4.11. 1±4 L&S 39E (SVF 2.83), dieser Prozeû sei mit dem siebten Lebensjahr abgeschlossen. 73 Plutarch, Comm. not. 1084F-1085A L&S 39F (SVF 2.847). 74 Aetius 4.11.1±4 L&S 39E (SVF 2.83). 71
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nicht dem Vorwurf des Dogmatismus aussetzt, eine interessante Annahme. Denn fçr seine Untersuchungen çber die unterschiedlichen Thesen der Dogmatiker ist er darauf angewiesen, trotz der Urteilsenthaltung bestimmte Begriffe ± Vorbegriffe ± davon zu haben, was man etwa unter einem Gut, einer Ursache, dem Leeren etc. versteht. Der Skeptiker muû angesichts der stoischen Gegner erklåren, wie er konsistenterweise denken und dabei Begriffe benutzen kann, und kann hierzu deren eigene Theorie verwenden. Daû der Skeptiker Vorbegriffe hat und diese als Grundvoraussetzung jeglicher Untersuchung betrachtet, macht Sextus an anderer Stelle deutlich. 75 Warum Sextus auch die Wahrnehmung der Anleitung durch die Natur zuschreibt, låût sich ebenso durch den Bezug auf die Begriffe erklåren. Auch in der sprachlichen Entsprechung zu einem sinnlichen Eindruck sind Begriffe involviert. 76 Ein sinnlicher Eindruck, so berichtet Sextus, setzt nach den Stoikern unter anderem den Verstand (dianoia) voraus. 77 Nach der stoischen Theorie kann ich das Wahrnehmungsurteil »Das ist ein Fisch« nur fållen, wenn ich einen Begriff des Fisches habe. Auch die Fåhigkeit der Wahrnehmung ist also insofern erworben, als ohne Begriffe kein Wahrnehmungsurteil gefållt werden kann. Die »Vorzeichnung durch die Natur« wird unter den vier Teilen der allgemeinen Lebenserfahrung als erster genannt und spielt offenbar eine grundlegende Rolle. Durch die Fçhrung der Natur wird der Skeptiker nicht in einem bestimmten Lebensbereich geleitet, diesem oder jenem Fainomenon zu folgen. Vielmehr ist die Leitung durch die Natur verantwortlich dafçr, daû der Skeptiker çberhaupt der Sinneswahrnehmung und des Denkens fåhig ist, d. h. seine kognitiven Fåhigkeiten ausgebildet sind. Dies ist Voraussetzung fçr sein Verhalten in den drei folgenden Lebensbereichen; andernfalls kænnte der Skeptiker nicht sprechen, nicht wahrnehmen, nicht philosophisch argumentieren. Julia Annas geht im Rahmen einer Diskussion der Rolle der Natur fçr die pyrrhonische Philosophie auf die schwierige Stelle ein. 78 Sie ist der Ansicht, daû der Pyrrhonismus wesentlich dadurch bestimmt ist, M 8.331a. Vgl. hierzu Cicero, Acad. pr. 7,21 sq (Huelser 346). Etwas wie Jenes ist weiû, dieses ist sçû¬ werde nur in gewisser Weise durch die Sinne erfaût; der Geist sei bereits involviert. 77 M 7.424. Fçr einen sinnlichen Eindruck mçssen fçnf Dinge gegeben sein; das Sinnesorgan, der Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung, der Ort, das Wie und der Verstand. 78 Julia Annas, The Morality of Happiness, New York, Oxford 1993, S. 207±213. 75 76
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daû der Skeptiker sich natçrlich verhålt. Ihr Gedankengang kann wie folgt zusammengefaût werden. 79 Annas bringt zunåchst zum Ausdruck, daû die Darstellung der alltåglichen Lebenserfahrung ganz unverståndlich erscheine: Die Fçhrung durch die Natur sollte ihrer Meinung nach eigentlich alle Aspekte der alltåglichen Erfahrung umfassen; daû der Text anders lautet, erscheine unlogisch. Zudem sei es seltsam, daû die Natur mit der Notwendigkeit unserer Erlebnisse kontrastiert werde, da fçr gewæhnlich das natçrlich genannt werde, was wir nicht vermeiden kænnen. 80 Trotz dieser Kritik nimmt Annas den Text als Anhaltspunkt dafçr, daû die Orientierung an den Fainomena als Fçhrung durch die Natur verstanden werden muû. Um zu zeigen, daû die Fçhrung durch die Natur eigentlich alle Lebensbereiche des Skeptikers erfaût, setzt sie bei ihrer Beobachtung an, daû fçr gewæhnlich Natur und die Notwendigkeit der Erlebnisse nicht kontrastiert, sondern verbunden werden. Hierzu beruft sie sich auf die gemåûigte Erlebnisintensitåt. In der Frage, wie stark ein Erlebnis die Seelenruhe zerstæren kann, unterscheidet Sextus in ein notwendiges und ein durch Dogmata verstårktes Maû. Aufgrund der oben zitierten Stelle M 11.156, an der Sextus sagt, nicht dem Leidenden solle die Schuld gegeben werden, sondern der Natur (sofern der Leidende seine Schmerzen nicht durch Meinungen çber diese verstårkt), setzt Annas das Notwendige mit dem Natçrlichen gleich. 81 Somit deutet sie den Verzicht auf Meinungen als ein Zurçckgeworfensein auf die Natur, da die Natur das sei, was an uns notwendig ist. 82 Wer sich des Urteils enthålt, dem verbleibe das Natçrliche¬. Die obige Zusammenfassung kann nicht alle Details der Argumentation und vor allem nicht die vielen Verknçpfungen zu dem umfassenden Interesse von Annas' Buch »The Morality of Happiness« diskutieren. Die Kritik beschrånkt sich allein auf den zentralen Aspekt, der Pyrrhoneer verhalte sich natçrlich. 80 »It is puzzling that nature is given as only one of the four aspects of everyday observances (biotike teresis); and this seems illogical. Why is nature responsible for our perceiving and thinking, but not for handling down customs and teaching skills? It is also odd for nature to be contrasted with the necessitation¬ of feelings, since nature is standardly what we cannot avoid rather than what we can«. Annas (1993) S. 208. 81 M 11.156. Annas behauptet nicht, daû allein diese Stelle ihre These stçtze; sie sei jedoch besonders deutlich. 82 »The sceptic relies on nature to guide her in the absence of commitment to beliefs, precisely because what is natural is just those aspects of us which are unaffected by our beliefs.« Annas (1993) S. 209. 79
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Ausgehend von ihrer Argumentation entwirft Annas folgendes Bild vom Pyrrhoneer: Wer sich des Urteils enthålt und keine Meinungen hat, werde nicht auf die Natur in einem undifferenzierten Sinn zurçckgeworfen, denn indem er auf die Natur zurçckgeworfen werde, sei er auf seine Eindrçcke zurçckgeworfen. Der Gehalt (»content« 83 ) der Meinungen bleibe trotz Epoche erhalten, wobei er als etwas akzeptiert werde, was sich aufdrångt, nicht als etwas, das rational bejaht wird. Der Pyrrhoneer gehe durch den Verzicht auf Meinungen gar keiner Inhalte verlustig, er gewinne nur eine andere Haltung zu ihnen. 84 Aus dieser Interpretation folgt auch, daû der Skeptiker konsistenterweise aktiv dafçr eintreten kann, welche philosophische Einstellung er hat (denn das ist die natçrliche Reaktion) ± es ist fçr Menschen nicht natçrlich, sich in Distanz zu dem zu begeben, was ihnen scheint, sondern vielmehr danach zu leben. 85 So werde klar, warum Sextus sagen kann, der Skeptiker wolle aus Liebe zu den Menschen andere von der Voreiligkeit kurieren. 86 Es sei natçrlich, so Annas, auch fçr seine Ûberzeugungen einzutreten, andere zu der Lebensweise, die einen selbst glçcklich macht, bekehren zu wollen. Annas macht darauf aufmerksam, daû ihre Deutung des Pyrrhonismus das Leben nach den Fainomena ziemlich genau so beschreibt, wie man sich gewæhnlich ein Leben nach Meinungen vorstellt. Der Skeptiker lebt normal in dem Sinne, als es fçr ihn natçrlich¬ ist, nach dem zu handeln, was ihm scheint. Auch wenn nach dieser Interpretation von der Distanziertheit des Skeptiker nicht viel, und dieses nicht in leicht verståndlicher Form, verbleibe, finde sich eine Beståtigung im Text: Sextus stellt den Skeptiker als Verfechter des normalen Lebens dar. 87 Mir scheint, daû diese Interpretation des Pyrrhonimsus in mehreren Punkten problematisch ist. Im folgenden werde ich mich auf Annas' Deutung der »Leitung durch die Natur« konzentrieren. Ein erster Annas (1993) S. 209. »Thus when loosing commitment to beliefs throws us back to nature, as being what is necessitated about us, we are left not with a cognitively impoverished set of attitudes, but rather with a different, detached state of mind towards the attitudes that we had before.« Annas (1993) S. 209. Annas selbst weist darauf hin, daû sie ihre Interpretation des Pyrrhonismus (vgl. Annas, Doing without objective values: ancient and modern strategies, in: The Norms of Nature. Studies in Hellenistic Ethics, Hg. Malcolm Schofield und Gisela Striker, Cambridge 1986, 3±29) grundlegend geåndert hat (S. 211, Anmerk. 39). 85 Annas (1993) S. 211. 86 PH 3.280. 87 Annas (1993) S. 211±2. 83 84
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schwieriger Punkt liegt m. E. in Annas' Identifizierung des Notwendigen mit dem Natçrlichen. Wie oben ausfçhrlich diskutiert wurde, scheint diese Gleichsetzung fçr die Interpretation der notwendigen Erlebnisse zuzutreffen: Der Pyrrhoneer stimmt den aufgezwungenen Erlebnissen zu, die als notwendige und als natçrliche Erlebnisse bezeichnet werden. Mir scheint jedoch, daû diese Gleichsetzung nicht den Begriff der Natur erklårt, den Sextus verwendet, wenn er von der Leitung durch die Natur spricht. Eine derartig unterschiedliche Verwendung von Begriffen ist fçr Sextus nicht untypisch; so kann nicht darauf verwiesen werden, daû Sextus dann, wenn er im Zusammenhang mit den Erlebnissen, die zur Zustimmung zwingen, das Natçrliche und das Notwendige gleichsetzt, auch in dem Ausdruck »Leitung durch die Natur« von der Natur als dem Notwendigen sprechen mçsse. Annas macht darauf aufmerksam, daû er erstaunlich ist, daû die Leitung durch die Natur und die Notwendigkeit der Erlebnisse als zwei unterschiedliche Punkte genannt werden. M. E. kann hierçber, zumal die Liste der vier Bereiche der Lebenserfahrung sich an den beiden relevanten Textstellen in dieser Hinsicht genau entspricht, nicht hinweggegangen werden. Wçrde mit der Leitung durch die Natur eine Leitung durch das Notwendige gemeint sein, so wåre nicht klar, worin der Unterschied zwischen der Leitung durch das Notwendige und dem zweiten Punkt, der Notwendigkeit der Erlebnisse, bestehen soll. Wenn ich Annas richtig verstehen, so gewichtet sie den ersten Punkt der vierteiligen Lebenserfahrung stårker als die drei weiteren. Es kænnte argumeniert werden, die Gleichsetzung des ersten und zweiten Punkts stelle insofern keine ernsthafte Kritik an ihrer Interpretation dar, als der zweite Punkt dem ersten untergeordnet und als eine Explikation zu deuten sei. Wie aber kænnten die beiden letzten Punkte der vierteiligen Lebenserfahrung unter diesen Voraussetzungen verstanden werden? Wenn das Zurçckgeworfensein auf die Natur die allgemeine Grundlage des skeptischen Lebens ist, und hierunter das Zurçckgeworfensein auf das Notwendige verstanden wird, ist dann die Ausrichtung an Sitten und Konventionen auch eine Ausrichtung am Notwendigen? Mir scheint, daû dies so nicht zutrifft. Zwar erlåutert Annas das Notwendige als das, was dem Skeptiker trotz Urteilenthaltung verbleibt; ausgehend von Sextus' Ausfçhrungen zur Metriopatheia betrachtet sie das, was durch Meiungen nicht beeinfluût werden kann, und in diesem Sinne notwendig bzw. natçrlich ist, als Orientierungs163
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punkt fçr skeptisches Verhalten. Auch die Fainomena im Bereich der Konventionen und Kçnste verbleiben dem Skeptiker trotz Urteilsenthaltung. Dennoch bezeichnet Sextus diese Fainomena an keiner Stelle als notwendig. Es kann m. E. nicht vernachlåssigt werden, daû Sextus in der vierteiligen Lebenserfahrung nur einen Bereich durch den Begriff der Notwendigkeit kennzeichnet. Der entscheidende Unterschied zwischen der Orientierung an der Notwendigkeit der Erlebnisse und der Orientierung an Fainomena im Bereich der Konventionen und Kçnste besteht m. E. vielmehr darin, daû nur mit Bezug auf erstere von Notwendigkeit und in Verbindung hiermit von erzwungenen Zustimmungen die Rede ist. Die Fainomena im Bereich der Konventionen und Kçnste sind zwar fçr den Skeptiker auch in der Weise notwendig, als sie ihm trotz Urteilsenthaltung gegeben sind. Dies trifft jedoch gewissermaûen fçr alle Fainomena zu ± auch fçr die, an denen der Skeptiker sich nicht orientiert. Die Fainomena im Bereich der Konventionen und Kçnste sind jedoch nicht in der Weise notwendig, wie die notwendigen Erlebnisse: Der Skeptiker orientiert sich nicht deshalb an ihnen, weil er ein Mensch ist und daher sinnlich empfindet. Vielmehr hålt er sich aufgrund von kontingenten Ursachen an sie: er ist in eine bestimmte Familie, Religion, Kultur etc. hineingeboren. Dem Skeptiker in Athen scheinen nicht, insofern er ein Mensch ist, Athens Gesetze, so daû er sich an ihnen orientiert. Athens Gesetze scheinen ihm, insofern er Athener ist. Obwohl Annas ihre These vom Zurçckgeworfensein auf die Natur aus Sextus' Rede von der Notwendigkeit der Erlebnisse gewinnt, behålt der Begriff des Natçrlichen in ihrer Interpretation nicht durchweg den Sinn des Notwendigen. Annas argumentiert, es sei natçrlich, sich çber Ungerechtigkeiten zu empæren, ja sogar, es sei natçrlich, Meinungen darçber zu haben, was gut und was schlecht ist. Aber gerade das tut der Skeptiker nicht. Es verhålt sich aufgrund seiner Urteilsenthaltung in vielen Kontexten eigentlich unnatçrlich¬: er geråt nicht in Wut çber eine Gemeinheit etc. Wåre die pyrrhonische Position tatsåchlich richtig beschrieben als eine, die sich, statt eine philosophische Lebensweise zu sein, einfach auf natçrliche¬ Einstellungen besinnt, so håtte der Pyrrhoneer ohne Frage Meinungen. Jeder Mensch, der nicht durch einen komplexen Prozeû der Auseinandersetzung mit philosophischen Positionen zur Skepsis gelangt ist, hat Meinungen. In Annas' Deutung der Leitung durch die Natur wird gånzlich vernachlåssigt, wie Sextus selbst diese Leitung erlåutert: durch sie sei der Pyrrhoneer der Wahrnehmung und des Denkens fåhig. Obwohl 164
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Sextus keine nåheren Erlåuterungen dieser Aussage gibt, ist m. E. deutlich, daû hier der Leitung durch die Natur eine ganz spezifische Rolle fçr das Leben des Skeptikers zugeteilt wird. Obwohl die oben vertretene Interpretation, nach der der Skeptiker in der ad-hominemEinstellung gegen die Stoiker versucht, seine kognitiven Fåhigkeiten zu erklåren, aufgrund der knappen Ausfçhrungen nicht wirklich bewiesen werden kann, scheint sie mir zumindest den Vorteil zu haben, die einzige Information, die Sextus gibt, zur Grundlage zu haben. Die Pointe der pyrrhonischen Lebensweise scheint mir zu sein, daû der Skeptiker mit der Orientierung an den Fainomena die einzige Mæglichkeit gefunden hat, sein Verhalten durch die ad-hominem-Anlehung an die stoische Theorie des Eindrucks erklåren zu kænnen. Der entscheidende Punkt hierbei, daû die Beschrånkung auf die Fainomena als Beschrånkung auf Eindrçcke unter Verzicht auf eine Stellungnahme zu diesen zu deuten ist, geht in Annas' Interpretation verloren. Ein Skeptiker, der mit der Orientierung an den Fainomena ein natçrliches Verhalten¬ meinen wçrde, håtte keine Erklårung dafçr, wieso hier keine Meinungen involviert sein sollten. 88
Mates gibt eine Interpretation des pyrrhonischen Fainomena-Folgens, die ebenfalls das pyrrhonische Leben als dem normalen¬ Leben sehr åhnlich darstellt. In der Tat wçrden sich alle an die Erscheinungen halten: »The nub of the matter is that we all »go by the appearances«anyway; indeed, it is hardly more than a truism to say that the best we can do in life is to make our decisions rationally on the basis of what seems to us, all things considered, to be the case. Nothing more can be expected« (1996, S. 73). Der Skeptiker selbst realisiere allerdings nicht, daû er sich bereits vor seiner Konversion zur Skepsis nur an die Fainomena gehalten habe (S. 76). Hierzu ist zu sagen, daû es zwar eine (im Sinne der Pyrrhoneer dogmatische) philosophische Ûberzeugung sein mag, daû Menschen im allgemeinen nichts als die Erscheinungen¬ haben, woran sie sich halten kænnen. Dennoch unterscheidet sich das Leben der Nicht-Skeptiker deutlich von dem des Skeptikers: Der Skeptiker trifft nicht, nachdem er all das, was ihm scheint, bedacht hat, eine Entscheidung, was zu tun sei. Ganz im Gegenteil beinhaltet seine Orientierung an den Erscheinungen gerade keine Entscheidung. Der Umstand, daû der Pyrrhoneer sich zum normalen Leben¬ bekennt und darçberhinaus Verhalten in den unterschiedlichsten Lebensbereichen in seine Haltung integrieren kann, darf nicht darçber hinwegtåuschen, daû das skeptische Leben sich radikal von dem des Nicht-Skeptikers unterscheidet. Daû der Skeptiker in den meisten Lebensbereichen nicht als solcher auffallen wird, spricht nicht gegen diese Interpretation.
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3.1.8. Was der Skeptiker nur teilweise verwirft Um sich verhalten zu kænnen, muû der Skeptiker eine bestimmte Art der Zustimmung (die dem stoischen Begriff der Zustimmung weitestgehend entfremdet ist) in sein Leben aufnehmen. Dieses Muster ist fçr die pyrrhonische Selbstdarstellung charakteristisch. Es gibt einige Dinge, die der Skeptiker fçr seine Haltung ablehnt, in einem gewissen Sinn jedoch zugestehen muû, um seine Einstellung erlåutern zu kænnen. Zwei weitere Aspekte ergånzen das Bild der skeptischen Orientierung an den Fainomena. Der Skeptiker orientiert sich auch insofern an den Fainomena, als er dem allgemeinen Sprachgebrauch (a) und einer bestimmten Art von Zeichen (b) folgt. (a) In den Bçchern zu den »artes liberales« (M 1±6) wird deutlich, daû Sextus nicht jede Kunst mit derselben Ausschlieûlichkeit verwerfen will. Bei Grammatik und Astrologie nimmt er Einschrånkungen vor, bei Rhetorik, Arithmetik, Geometrie und Musik dagegen nicht. Die differenzierte Haltung hinsichtlich der zwei erstgenannten Fåcher ist auf die skeptische Orientierung an den Fainomena zu beziehen. Sextus steht dort vor der besonderen Schwierigkeit, einen Teil der betreffenden Kunst zur Erlåuterung des skeptischen Verhaltens zu benætigen und zugleich den Rest der Kunst skeptischen Untersuchungen unterziehen zu wollen. 89 Freilich ist die Astrologie kein unverzichtbarer Bestandteil eines Francoise Debordes (Le scepticisme et les »arts liberaux«: une etude de Sextus Empiricus, Adv. Math. I-VI, in Hg. Voelke (1990) 167±179) vertritt die These, Sextus wçrde in den Bçchern zu Astrologie, Rhetorik und Grammatik deutlich anders argumentieren als in den Bçchern zu den anderen Disziplinen. Zunåchst muû hiergegen eingewandt werden, daû Sextus mit Bezug auf die Rhetorik keine Unterscheidung einfçhrt, nach der die Rhetorik fçr den Skeptiker in einem bestimmten Sinne akzeptabel wåre. Einige Anklånge an die Argumentation aus dem Buch zur Grammatik, die den allgemeinen Gebrauch der Sprache mit der Sprechweise der Rhetoriker kontrastieren (M 3.52±3, 58±9, 77), mægen hier irrefçhrend sein. Weiter vertritt Debordes die These, Sextus argumentiere bezçglich Arithmetik, Geometrie und Musik in der »orthodoxen« skeptischen Weise; die Urteilsenthaltung werde deutlich betont. Grammatik, Rhetorik und Astrologie dagegen wçrden verdammt, wobei Sextus in einer rein negativen Argumentation Stellung zu beziehen scheine (v. a. S. 177). Ohne auf die Texte im einzelnen eingehen zu wollen, mæchte ich dies bestreiten. Mit scheint, daû sich die Unterschiede zwischen den Bçchern einerseits aus inhaltlichen Aspekten ergeben (die Geometrie etwa legt eine Diskussion der hypothetischen Methode nahe), und andererseits aus persænlichen Sympathie- und Antipathie-Einstellungen bei Sextus (so ist etwa deutlich, daû Sextus die Arithmetiker ernster nimmt als die Astrologen).
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Lebens. Hier geht es in der Einschrånkung dessen, was Gegenstand der skeptischen Kritik sein soll, darum, daû in der Astrologie ein Umgang mit Zeichen zur Anwendung kommt, der aus dem tåglichen Leben nicht wegzudenken ist. Insofern die Astrologie vergleichbar mit der Landwirtschaft ist, und aufgrund bestimmter Beobachtungen bestimmte Vorhersagen macht, soll sie nicht skeptisch traktiert werden. 90 So sind es nicht eigentlich astrologische Aussagen, denen der Skeptiker in seinem Leben Raum geben will. Er bezieht vielmehr Position fçr einen Umgang mit Zeichen, der in der Alltagserfahrung verwurzelt ist und unter (b) diskutiert werden wird. Interessanter ist die Diskussion der Grammatik. Sextus unterscheidet einen allgemeinen und einen speziellen Sinn von »Grammatik«. Allgemein bezeichnet der Begriff eine Kenntnis der Buchstaben. Der spezielle Sinn bezeichnet die Kunst der Grammatik; sie geht çber die Kenntnis der Buchstaben hinaus. 91 Die Grammatik im allgemeinen Sinn soll nicht kritisiert werden. Sie heilt Vergeûlichkeit, macht Erinnerung mæglich, und so hångt die Mæglichkeit des Lernens von ihr ab. 92 Der Skeptiker ist auf die einfache Kunst der Buchstaben angewiesen, wenn er argumentieren will. Wçrde er es unternehmen, ihre Nutzlosigkeit zeigen zu wollen, so wçrde sie sich darin gleichzeitig als nçtzlich erweisen. Denn die verwendeten Argumente kænnten ohne sie nicht erinnert oder çbermittelt werden. 93 Sextus unterscheidet weiter zwei Arten der Kunst der griechischen Sprache. 94 Die dogmatische Kunst benutzt zur Ermittlung der sprachlichen Richtigkeit die Methode der Analogie: Wenn das Wort D, welches relevante Eigenschaften mit dem Wort F gemeinsam hat, auf »s« endet, so muû auch das Wort F auf »s« enden. Der Skeptiker dagegen nimmt als Orientierungspunkt fçr seine Kunst der griechischen Sprache den allgemeinen Gebrauch (sunetheia). 95 Insofern der Skeptiker selbst auf die Verwendung der Sprache angewiesen ist, will er sie nicht zum Gegenstand der Untersuchung machen. Bemerkenswert ist, daû die Orientierung am allgemeinen Sprachgebrauch auch eine normative Komponente hat. Wer gut 90 91 92 93 94 95
M 5.2. M 1.41, 44. M 1.49, 52. M 1.53. M 1.176. Vgl. M 1.172, 193, 206, 218, 229, 233; M 2.52±3, 58±9.
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spricht, verdreht nicht den allgemeinen Sprachgebrauch. 96 Die Orientierung am allgemeinen Sprachgebrauch wird mit Klarheit und Knappheit assoziiert. 97 Øhnlich wie mit Bezug auf die Begriffe verwendet Sextus mit Bezug auf die Grammatik die Form des Widersprucharguments, die an anderen Stellen gegen ihn selbst gerichtet wird. 98 Ohne Vorbegriffe und ohne Grammatik kænnte der Skeptiker nicht argumentieren ± auch nicht gegen die Existenz der Vorbegriffe oder grammatischer Regeln ± , ohne dabei Vorbegriffe oder grammatikalische Regeln zur Anwendung zu bringen. Die Schwierigkeit, diese Anerkennung der grammatischen Regeln mit der unterschiedslosen und miûbråuchlichen Verwendung von Sprache zu vereinbaren, die in Kapitel 2 diskutiert wurde, ist offenkundig. Die sunetheia, der allgemeine Gebrauch, kann als eine Gruppe der Fainomena zåhlen, an denen der Skeptiker sich orientiert. Insofern als sein Sprechen ein Verhalten ist ± ein Verwenden von Regeln ± leistet er hier den Fainomena Folge. Dabei sind die Fainomena das, was ihm als çbliches Sprechverhalten begegnet. (b) Die skeptische Diskussion çber das Zeichen ist schwierig zu rekonstruieren. In den folgenden Ûberlegungen wird nicht der Anspruch erhoben, die vielen Probleme der stoischen, epikureischen und medizinischen Zeichenbegriffe, die den Hintergrund fçr die skeptische Argumentation bilden, zu erfassen. Ebensowenig sollen die Texte zum Zeichen im Detail analysiert werden. 99 Es soll lediglich gezeigt werden, inwiefern der Skeptiker eine bestimmte Art des Zeichens als Orientierungspunkt fçr sein Verhalten akzeptiert. In dem relevanten Abschnitt des Grundrisses (PH 2.97±133) beginnt Sextus mit der dogmatischen Unterscheidung zwischen Offenkundigem und Verborgenem. Das Verborgene wird dann weiter eingeteilt in vollståndig Verborgenes, zeitweise Verborgenes, und von Natur her Verborgenes. Vollståndig verborgen ist das, was von seiner Natur her nicht so ist, daû es in unser Erfassen fållt, wie etwa, daû die M 2.52. M 1.194±5, M 2.57. 98 Ein wichtiges Argument aus der Umwendung (peritrope) wird gegen den Skeptiker gerichtet, wenn er die Existenz des Beweises mit dem Ziel der Urteilsenthaltung diskutiert. Im Argumentieren, das hier als ein Beweisen gedeutet ist, setze er bereits voraus, daû der Beweis existiert. Vgl. PH 2.185 und M 8.479. 99 Hierzu verweise ich auf David Glidden, Sceptical Semiotics, Phronesis Vol. 28 1983, 213±255. 96 97
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Anzahl der Sterne gerade ist. Zeitweise verborgen ist, was zwar von seiner Natur her nicht verborgen ist, sich uns unter bestimmten Umstånden aber zeitweise verbirgt (z. B. ist mir gerade jetzt die Stadt Athen verborgen). Von Natur her verborgen sind solche Dinge, die nicht unter unsere Evidenz (enargeian) fallen kænnen, z. B. die gedachten (d. h. die durch das Denken erschlossenen) Poren. 100 Die offenkundigen Dinge bedçrfen keiner Zeichen, da sie durch sich selbst erfaût werden. Ebensowenig die vollkommen verborgenen, da sie çberhaupt nicht erfaût werden. Aber die Dinge, die zeitweise oder ihrer Natur nach verborgen sind, werden durch Zeichen erfaût, erstere durch kommemorative Zeichen (hupomnestika), letztere durch anzeigende. Unter dem kommemorativen Zeichen werde ein Zeichen verstanden, das gemeinsam mit dem Bezeichneten in Evidenz beobachtet wurde und uns deshalb, wenn es uns begegnet, wåhrend das Bezeichnete verborgen ist, zur Erinnerung (hupomnesin) dessen fçhrt, was zusammen mit ihm gesehen wurde und uns jetzt nicht als evident (enargos) begegnet, wie das bei Rauch und Feuer ist. Das anzeigende Zeichen dagegen wurde nicht mit dem Bezeichneten zusammen beobachtet. Es bezeichnet dieses aufgrund seiner besonderen Natur und Beschaffenheit, wie z. B. die Bewegungen des Kærpers Zeichen fçr die Seele sind. 101 Es werde auch wie folgt definiert: »Ein anzeigendes Zeichen ist eine Aussage (axioma), die in einer gçltigen Implikation vorangeht und den Nachsatz enthçllt« 102 (d. h. das anzeigende Zeichen wird mit dem Vordersatz einer Implikation identifiziert; es zeigt¬ das an¬, was der Nachsatz besagt). Der Skeptiker argumentiere nur gegen das anzeigende Zeichen, das offenbar eine Erfindung der Dogmatiker sei. Dem kommemorativen Zeichen dagegen vertraue das alltågliche Leben. Somit kåmpft der Skeptiker nicht nur nicht gegen das Leben an, sondern unterstçtzt es sogar, indem er dem undogmatisch zustimmt, worauf es vertraut. 103 Die Diskussion des Zeichens in M 8 beginnt mit einer Einteilung der Zeichen in allgemeine und besondere, wobei das allgemeine Zeichen in etwa dem kommemorativen entspricht: es dient der Auffrischung¬ (ananosin) dessen, was gemeinsam mit ihm beobachtet wurde. 104 Die100 101 102 103 104
PH 2.97±8; vgl. M 8.145±8. PH 2.100±1. PH 2.101. PH 2.102; vgl. M 8.156. M 8.143. Insgesamt befaût sich M 8.141±299 mit der Zeichentheorie.
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ser Beginn der Diskussion ist einem langen Text vorgeschaltet, der die Einteilung in allgemeine und besondere Zeichen zugunsten der bereits referierten Einteilung zwischen kommemorativen und anzeigenden Zeichen aufgibt. Die Formulierung der Beispiele macht deutlich, wie die Deutung von etwas als Zeichen fçr etwas anderes vorzustellen ist: Wenn der Skeptiker eine Narbe sieht, erneuert sich¬ in ihm das Bild von der Wunde, aufgrund eines Herzsymptoms sieht er den Tod voraus¬. 105 Eine Ergånzung zum Grundriû bringt die Bemerkung, daû kommemorative Zeichen fçr verschiedene Personen eine unterschiedliche Bedeutung haben kænnen. 106 Wenn eine Fahne gehiût wird, zeigt das fçr den einen die Ankunft der Feinde, fçr den anderen die der Freunde an. Diese Ausfçhrung verweist noch einmal auf die Entstehung der kommemorativen Zeichen: Durch die gemeinsame Beobachtung von zwei Dingen wird das eine zum Zeichen fçr das andere. Die unterschiedliche Entstehungsweise der Zeichen ist zentral fçr deren Unterscheidung. 107 Das kommemorative Zeichen beruht auf alltåglichen Beobachtungen und gebråuchlichen Assoziationen; das indikative Zeichen dagegen soll allein aufgrund seiner Eigenschaften auf das Bezeichnete verweisen. Der lange Abschnitt zum Zeichen endet mit einer Diskussion des dogmatischen Einwands gegen den Skeptiker, der mit der »peritrope«, dem Argument aus der Umwendung, arbeitet: Die Existenz von Zeichen kann nicht in Frage gestellt werden, ohne daû dabei Zeichen zur Anwendung kommen. 108 An diesem Text ist fçr den augenblicklichen Zusammenhang wichtig, daû Sextus die skeptische Position durch den Einwand, der Skeptiker unterwerfe ja nicht alle Zeichen der skeptischen Untersuchung, verteidigen will. 109 Hier zeigt sich die Bedeutung der Diskussion um das Zeichen fçr das skeptische Sprechen: Um çberhaupt sprechen zu kænnen, muû der Skeptiker Zeichen in einem bestimmten Sinn akzeptieren. 110 Die Dogmatiker fragen, ob die Wærter, die gegen die Existenz des Zeichens geåuûert werden, etwas bedeuten oder nicht. Sextus råumt ein, daû
M 8.153. M 8.193. 107 Vgl. Glidden (1983) S. 217±8. 108 M 8.281±297. Vgl. die viel kçrzere Diskussion in PH 2.130±133. 109 M 8.290. 110 Im Griechischen ist die Verbindung der Themen sprachlich offensichtlich, da Zeichen semeion, bedeuten semainein heiût. 105 106
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sie dann, wenn der Skeptiker alle Arten des Zeichens kritisieren wçrde, bedeutungslos wåren. Die Schwierigkeiten, Sextus' Diskussion bezçglich der Unterscheidung zwischen anzeigendem und kommemorativem Zeichen einerseits und der im Text verwobenen Elemente der stoischen und epikureischen Zeichentheorien zu klåren, sind seit langem bekannt. 111 Unter den Interpreten ist jedoch unumstritten, daû die Unterscheidung zwischen kommemorativen und anzeigenden Zeichen von den empirischen Medizinern stammt. 112 Frede verweist in seinem Aufsatz çber die medizinische Richtung des Memorismus auf die Bedeutung, die der Erinnerung bzw. dem Gedåchtnis in der empirischen Tradition fçr das Denken gegeben wurde. 113 Er macht darauf aufmerksam, daû dieser Aspekt griechischen Denkens bisher kaum erforscht ist. Mir scheint, daû Sextus in der Unterscheidung zwischen dem kommemorativen und dem anzeigenden Zeichen auf derartige Annahmen aus der empirischen Tradition zurçckgreift. Nicht nur nennt er die Zeichen, die der Skeptiker akzeptiert, erinnernd. Er verwendet auch in der Beschreibung, wie diese Zeichen vom Skeptiker gebraucht werden, ein Vokabular, welches stark auf das Gedåchtnis bezogen ist. Durch das Verb »ananeoomai« ± »im Gedåchtnis wieder auffrischen« ± zeigt Sextus an, wie die Zeichenrelation vorzustellen ist. Der Skeptiker schlieût nicht aus dem Zeichen auf etwas anderes, sondern das Zeichen bringt das andere erneut ins Gedåchtnis. Auf die Theorien çber das Gedåchtnis, die im Hintergrund von Sextus' Ausfçhrungen stehen mægen, kann hier nicht eingegangen werden. Wichtig scheint mir zu sein, daû Sextus an dieser Stelle auf ganz andere dogmatische Theorien zurçckgreift als in den meisten anVgl. Glidden (1983). Vgl. die Fragmente 78±81 bei K. Deichgråber, Die griechische Empirikerschule. Sammlung der Fragmente und Darstellung der Lehre, Berlin 1930, 2. Auflage 1965 sowie David Glidden (1983). Zur empirischen Schule in der Medizin vgl. R. J. Hankinson, Causes and Empiricism: A problem in the interpretation of later Greek medical method, Phronesis XXXII 1987, 329±348. Hankinson behandelt das Problem, daû aufgrund einiger Quellen der Eindruck entsteht, die Empiriker wçrden von vorausgehenden Ursachen von Krankheiten sprechen. Er kommt zu dem Ergebnis, daû dies in sehr åhnlicher Weise zu deuten ist, wie die pyrrhonische Orientierung am allgemeinen Sprachgebrauch; der Empiriker nennt den Dorn insofern die Ursache der Wunde, als man dies im normalen Sprachgebrauch tut (S. 345±7). Vgl. auch Michael Frede, An empiricist view of knowledge: memorism, in: Companions to Ancient Thought: I. Epistemology, Cambridge 1990, 225±250. 113 Frede (1990). 111 112
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deren Zusammenhången. Um seinen Umgang mit Zeichen erklåren zu kænnen, kann er sich nicht in der ad-hominem-Einstellung auf die stoische Theorie beziehen, die in diesem Fall keinen Ansatzpunkt bietet. Es scheint, als fånde an dieser Stelle die Tradition der empirischen Medizin, die historisch mit der pyrrhonischen Tradition zumindest durch Personen verbunden war, Eingang in Sextus' Darstellung. Wenn Fredes Ûberlegungen zutreffen, so birgt diese Tradition Gedanken, die dem Gedåchtnis Leistungen zuschreiben, die fçr den Skeptiker interessant sind. Frede versucht eine Annåherung daran, wie eine Art Schluû, der allerdings kein logischer Schluû ist, sondern allein durch das Gedåchtnis geleistet wird, vorgestellt werden kann: Wer bestimmte Erfahrungen hat, kann allein aufgrund dieser erinnerten Erfahrungen bestimmte Erwartungen haben, z. B. angesichts einer bestimmten Hautfarbe erwarten, daû die betreffende Person zu lange in der Sonne war (zu beachten ist, daû dieses Erwarten, oder auch das Auffrischen sich nicht eigentlich auf die Zukunft beziehen muû). 114 Derartige Anzeichen hieûen bei den emiprischen Ørzten kommemorative Zeichen. Auf die Unterscheidung zwischen kommemorativen und anzeigenden Zeichen ist der Skeptiker vor allem in zwei Bereichen angewiesen ± seinem Sprechen und seiner beruflichen Tåtigkeit bzw. bei im weitesten Sinne technischen Tåtigkeiten, die auch auûerhalb des Berufs zur Anwendung kommen kænnen (z. B. kochen, gårtnern). Daû er ohne die Annahme des Zeichen- bzw. Bedeutungscharakters der Sprache nicht argumentieren kænnte, wurde oben ausgefçhrt. Inwiefern die Akzeptanz der erinnernden Zeichen die Darstellung der beruflichen Tåtigkeit, wie sie im Rahmen der vierteiligen Lebenserfahrung gegeben wird, erlåutert, dçrfte durch die Beispiele aus dem medizinischen Bereich bereits deutlich sein. Die erinnernden Zeichen erklåren das Wissen¬ des Lehrers, das eine Einweisung des Schçlers mæglich macht. Sie ermæglichen eine Weiterentwicklung der Kçnste, indem sie den Eingang neuer Erfahrungen in eine Ausçbung der Kçnste ermæglichen, ohne daû dies der skeptischen Urteilsenthaltung widersprechen wçrde.
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Frede (1990) S. 245±7.
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3.2. Die philosophische Betåtigung des Pyrrhoneers 3.2.1. Kann der Skeptiker ein Ziel haben? In 3.1. wurde zu zeigen versucht, wie der Skeptiker sich in den unterschiedlichen Bereichen des Lebens verhalten kann, ohne daû dabei Meinungen ins Spiel kommen. Ein wichtiger Bereich seines Lebens ist dabei jedoch noch nicht erfaût: Die Ausçbung der »Fåhigkeit des Gegençberstellens« (dunamis antithetike), als die Sextus in PH 1.8 den Pyrrhonismus bezeichnet. Diese Tåtigkeit bestimmt das Leben des Pyrrhoneers entscheidend. Der Pyrrhoneer kann die Urteilsenthaltung insofern nicht ein-fçr-allemal zu seiner Einstellung machen, als er sich nicht aus Grçnden fçr sie entscheiden kann, ohne inkonsistent zu werden. Um die Urteilsenthaltung dauerhaft einzunehmen, muû er sich immer wieder mit Argumenten fçr mehrere Seiten eines Dissenses auseinandersetzen, deren Gleichgewicht die Urteilsenthaltung herbeifçhrt. Zwar erscheint es mæglich, daû der Skeptiker die Urteilsenthaltung aufgrund dessen, daû er in wesentlichen Fragen durch die Herstellung der Isosthenie zur Urteilsenthaltung gelangt ist, zu seiner grundlegenden Einstellung macht. Trotzdem ist die dunamis antithetike nicht aus seinem Leben wegzudenken. Wçrde er das Argumentieren fçr beide Seiten ganz aufgeben, so wçrde er zurçckfallen in den Dogmatismus. Das Argumentieren fçr beide Seiten als ein Bereich des skeptischen Lebens birgt besondere Schwierigkeiten. In der Ausçbung der dunamis antithetike stellt der Skeptiker ein Gleichgewicht fçr mehrere Seiten eines Dissenses her, aus dem sich die Urteilsenthaltung und mit ihr die Seelenruhe ergibt. Es stellt sich erstens die Frage, wie der Skeptiker dieser Tåtigkeit nachgehen kann, ohne dabei dogmatische Voraussetzungen bezçglich der Frage, ob die Urteilsenthaltung erstrebenswert ist, zu machen (3.2.1.). Zweitens ergibt sich die Schwierigkeit, wie der Skeptiker von einer Gleichgewichtigkeit der Argumente fçr zwei oder mehrere Seiten sprechen kann (3.2.2.). Ein drittes Problem besteht darin, daû die Pyrrhoneer sich als Suchende im Sinne philosophischer Untersuchung verstehen. Wie ist dies mit der Ausçbung der dunamis antithetike, die auf die Isosthenie ausgerichtet ist, zu vereinbaren (3.2.3.)? Ein viertes Thema hinsichtlich des Argumentierens als einem wichtigen Teil des pyrrhonischen Lebens ist schlieûlich die Frage nach dem therapeutischen Anliegen des Skeptikers. Inwiefern sind die skep173
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tischen Diskussionen als der Versuch zu verstehen, den Dogmatiker zu therapieren (3.2.4.)? Der Begriff der Ataraxia gehært zu den Elementen des Pyrrhonismus, die sich schon bei Pyrrhon finden. 115 Auf die historische Entwicklung des Begriffs sowie mægliche Einflçsse aus der indischen Philosophie auf Pyrrhon 116 werde ich nicht eingehen. 117 Pyrrhons Schçler Timon scheint seinen Lehrer dahingehend interpretiert zu haben, daû die Abwesenheit von Verwirrung als innere Ruhe zu deuten ist. Er prågte das Bild der Windstille çber dem Meer, des glatten unbewegten Meeres, der »galene«. Wer »atarachos« lebt, so Timon, lebt in Ruhe (hesuchia) und Stille (galene): Denn ganz und gar herrscht Windstille. (M 11.141) 118
Bevor Sextus eine Beschreibung des skeptischen Ziels gibt, nennt er zwei gångige Telos-Definitionen, die der Leser wohl als Alternativen verstehen soll: »dasjenige, um dessentwillen alles andere getan oder gedacht wird, es selbst dagegen um keines anderen willen« und »das Øuûerste alles Erstrebten«. 119 Durch die Alternative soll offenbar angezeigt sein, daû kein spezieller Sinn von »telos« vorausgesetzt wird ± daû keine philosophische These çber das Ziel vertreten wird ±, wenn vom Ziel der Skepsis die Rede ist. Wir sagen nun, bis jetzt (achri nun) sei das Ziel des Skeptikers die Seelenruhe im Bezug auf die Meinung (kata doxan) 120 und das maûvolle Erleben (metrioAristocles (Eusebius 14.18.1±5; Caizzi 53) L&S 1F. Zu Pyrrhons Haltung, die auch als Indifferenz (adiafora) beschrieben wird, vgl. DL 9.61±70. 117 Hierzu verweise ich auf Everard Flintoff, Pyrrhon and India, Phronesis Vol. 25 1980, 88±108; David Sedley, The Motivation of Greek Scepticism, in: Hg. M. Burnyeat (1983) 9±29., v. a. S. 15; Gisela Striker, Ataraxia: Happiness as Tranquillity, The Monist Vol. 73 1990, 97±110. Die deutsche Ûbersetzung durch »Seelenruhe«, die dem lateinischen Begriff der tranquillitas folgt, verdeckt wie dieser den privativen Charakter, den der Begriff der Ataraxia im Griechischen hat. Zu Aenesidem, der das Ziel çberraschenderweise als Lust (hedone) bestimmt, vgl. Aristocles (Eusebius, Pr.ev.14.18.1±5; Caizzi 53) L&S 1F. Zur Deutung dieser Quelle vgl. Brochard (1923) S. 271 sowie Ulrich Burkhard, Die angebliche Heraklit-Nachfolge des Skeptikers Aenesidem, Bonn 1973, S. 14. 118 Sextus zitiert wenige Zeilen spåter einen åhnlichen Ausspruch, der die beiden Wærter »galene« und »nenemia« enthålt. Vgl. weiter DL 9.65; M 1.305 (Timon fr.814, Caizzi 61). 119 (Ûbersetzung von Hossenfelder) PH 1.25. 120 Hossenfelder çbersetzt »in den auf dogmatischem Glauben beruhenden Dingen«, Bury »in respect of matters of opinion«. 115 116
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patheian) in den aufgezwungenen Dingen. Denn der Skeptiker begann zu philosophieren, um çber die Eindrçcke urteilen zu kænnen und zu erfassen (katalabein), welche wahr sind und welche falsch, damit er Ruhe finde (ataraktesei). Dabei geriet er in den gleichgewichtigen Widerstreit, und weil er im Bezug auf diesen zu keinem Urteil kommen konnte, hielt er inne. Als er aber innehielt, folgte ihm zufållig (tuchikos) die Seelenruhe im Bezug auf die Dinge der Meinung. 121 (PH 1.25±27)
Die Seelenruhe ist ein Erlebnis, das sich mit der Urteilsenthaltung einstellt. Problematisch ist, daû Sextus die Ataraxia als Telos bezeichnet. Aus den oben referierten Erlåuterungen des Telosbegriffs ergibt sich, daû Sextus unter der inneren Ruhe etwas verstehen muû, das das Øuûerste alles Erstrebten ist. Denn obgleich er zwei alternative Definitionen angibt, und sich so nicht auf eine Theorie des Telos festlegt, gleichen die Definitionen sich doch so stark, daû dies gesagt werden kann. In M 11.141 schreibt Sextus: Glçcklich (eudaimon) ist der, der ohne Verwirrung (atarachos) lebt. Im Grundriû verzichtet Sextus durchweg auf den Begriff des Glçcks (eudaimonia), den er im Zusammenhang mit der Diskussion der Rolle von Ûberzeugungen bezçglich Gçtern und Ûbeln in M 11 gebraucht. Dies scheint mir jedoch keinen wesentlichen Unterschied zu machen; ob es heiût, die Ataraxia sei das Telos, worunter das verstanden wird, um dessentwillen alles andere erstrebt wird, oder es sei das Glçck, ist in der Sache nicht entscheidend. Der Skeptiker muû in jedem Fall erklåren, wie er die Ruhe als das identifizieren kann, was das Telos respektive das Glçck ist, ohne dabei dogmatisch zu werden, d. h. eine Meinung darçber zu haben, ob die Ruhe tatsåchlich dieser Zustand der Seele ist. 122 In der Diskussion dieses Problems mçssen m. E. zwei Aspekte unterschieden werden: (a) Die Argumente des Skeptikers bezçglich Glçck und Unglçck und (b) das Verhalten des Skeptikers, d. h. sein Verfolgen des Ziels der Seelenruhe. (a) Wenn Sextus die Ruhe als Ziel oder Glçck bezeichnet, so fallen 121 Vgl. PH 1.12. In PH 1.30 referiert Sextus eine andere Telos-Bestimmung: Das Ziel ist die Urteilsenthaltung in den Untersuchungen. 122 Eine andere Frage, die Striker (1990) betont, liegt darin, ob ein derartiger Begriff des Glçcks akzeptabel ist. Wåhrend andere Philosophen in der eudaimonia eine Verfassung anstreben, in der man gute Grçnde hat, glçcklich zu sein, ist dies im Pyrrhonismus nicht der Fall. Auf diesen Unterschied macht Striker wiederholt aufmerksam, um entschieden fçr einen Begriff des Glçcks zu plådieren, der Glçck nicht allein als einen psychischen Zustand betrachtet (v. a. S. 97 und 107±8). Die Seelenruhe ist, so kænnte man argumentieren, nicht wesentlich von dem Zustand zu unterscheiden, den ein kontinuierlich eingenommenes Sedativ erzeugen wçrde.
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diese Øuûerungen unter die Fainetai-Regel. Dasselbe gilt fçr M 11, wo Sextus çber Glçck und Unglçck von Dogmatiker und Skeptiker diskutiert: Der Skeptiker vertritt nicht die These, daû Meinungen unglçcklich machen; es scheint ihm jedoch, daû die Urteilsenthaltung glçcklich macht, d. h. er hat das Erlebnis des Glçcks bei der Urteilsenthaltung. Wenn Sextus schreibt, das Telos des Skeptikers sei die Seelenruhe, so legt er dieses Erlebnis offen. (b) Die zweite Schwierigkeit, die das skeptische Verhalten betrifft, ist græûer: Es ist nicht klar, wie der Skeptiker ein Ziel haben kann, wenn dies bedeutet, daû man etwas willentlich anstrebt und sein Erreichen fçr wichtig hålt. 123 Wie kann der Skeptiker, der sich an den Fainomena orientiert, der zielgerichteten Tåtigkeit des Gegençberstellens von Argumenten nachgehen? Das in der Biographie eines Skeptikers erste Erlebnis mit der Seelenruhe kann Sextus so darstellen, daû es sich konsistent in die skeptische Position fçgt. Er illustriert die skeptische Entdeckung der Seelenruhe durch eine Geschichte: Es erging dem Skeptiker wie dem Maler Appeles. Dieser malte ein Pferd und wollte den Schaum vor dem Maul des Tieres darstellen. Dabei was er so erfolglos, daû er aus Verzweiflung den Schwamm, an dem er sonst seine Pinsel såuberte, gegen das Gemålde warf. Dieses hinterlieû auf der Leinwand einen Abdruck, der genau den Effekt hatte, den Appeles ursprçnglich angestrebt hatte. Das Pferd hatte Schaum vor dem Maul. 124 Die Parallelitåt mit der Situation des Skeptikers wird im Text erlåutert. Der Skeptiker hoffte zunåchst, die Seelenruhe zu erreichen, indem er çber die Ungleichfærmigkeit (anomalia) der Fainomena und der Gedanken urteilte. Auch er ist erfolglos, und enthålt sich des Urteils. In diesem Moment stellt sich »wie durch Zufall« die Ruhe ein. Sie folgt der Epoche wie ein Schatten dem Gegenstand. 125 Die Seelenruhe stellt sich unbeabsichtigt, durch Zufall, ein. Die Relation von Urteilsenthaltung und Seelenruhe ist zweifach charakterisiert: Die Seelenruhe folgt der Epoche »wie zufållig« und wie ein 123 Nussbaums Antwort auf diese Frage (1994, S. 290±1) kann m. E. nicht çberzeugen. Ein Ziel anzugeben, nach dem man strebt, sei ein Rezept fçr Verwirrung. Aber der Skeptiker habe gar kein Ziel angegeben, das mit den Zielen der anderen Philosophen konkurriere, sondern vielmehr den Begriff des Ziels unterminiert. »What is the end of human life? Oh, just life, the way it actually goes on ± if you don't mess up its flow by introducing beliefs.« ± Diese Læsung çbersieht, daû Sextus durchaus ein Ziel angibt und damit rechnet, daû der Skeptiker es auf seine Weise anstrebt. 124 PH 1.28.
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Schatten dem Gegenstand. Diese Bestimmungen scheinen sich zu widersprechen, denn der Schatten folgt dem Gegenstand nicht zufållig sondern zwangslåufig. 126 Sie sind m. E. so zu verstehen, daû jeweils nur ein Moment der Ataraxia beleuchtet wird: Zufållig ist die Seelenruhe, insofern sie vom Skeptiker nicht direkt intendiert werden kann; wie ein Schatten der Epoche ist sie, indem sie mit Regelmåûigkeit mit dieser verbunden ist. So ergibt sich, daû der Skeptiker nicht eigentlich sein Telos anstrebt ± er muû das anstreben, worauf sein Telos folgt. 127 Dadurch ist das Problem jedoch nur verschoben: Wie kann der Skeptiker die Urteilsenthaltung anstreben? Daû die Seelenruhe ein Erlebnis ist, das nicht intendiert wird, kann durch die Entdeckungsgeschichte nur fçr den Fall gezeigt werden, in dem die Ataraxia sich das erste mal einstellt. Was Sextus fçr die Entdeckung der Seelenruhe erklåren kann, bleibt mit Blick auf die kontinuierliche argumentative Betåtigung des Skeptikers problematisch. Es ist kein Zufall, daû der Skeptiker immer wieder die Isosthenie herstellt. Ganz im Gegenteil beherrscht er ein argumentatives Instrumentarium (vor allem die Tropen), welches genau auf dieses Ziel ausgerichtet ist. Daû er und seine Vorgånger dieses ausgebildet haben, ohne dabei seinen Zweck im Auge zu haben, ist nicht vorstellbar. Auch wenn das erste Erlebnis mit Urteilsenthaltung und Seelenruhe zufållig eintrat, scheinen doch alle weiteren Erlebnisse intendiert zu sein. Wie aber ist das Verfolgen des Ziels der Urteilsenthaltung mit der skeptischen Einstellung vereinbar? 128 Die einzige Mæglichkeit, den Pyrrhoneer in diesem Punkt vor der Kritik zu bewahren, scheint mir im Verweis auf die Orientierung an der allgemeinen Lebenserfahrung zu liegen. Das Anstreben der Urteilsenthaltung und der Seelenruhe kann als eine Orientierung an den Fainomena interpretiert werden. Wenn der Pyrrhoneer in der Ûberzeugung, daû die innere Ruhe etwas Gutes und Erstrebenswertes ist, erzogen wurde, so kann er sich PH 1.29. Annas (1993, S. 352) weist darauf hin, daû ohne die Schattenmetapher die Ataraxia als ein seltener Erfolg des Argumentierens fçr beide Seiten erscheinen mçûte. 127 Vgl. Annas (1993) S. 352: »The only odd result is that the sceptic's aim is one that she cannot persue directly«. 128 Nussbaum schlågt als skeptische Antwort vor, es sei eine natçrliche Neigung, nach dem Ziel der Ruhe zu streben (1994, S. 305). Obwohl dies mæglicherweise die implizite Annahme des Skeptikers trifft, kænnte er sicherlich keine solche Aussage machen, ohne dogmatisch zu werden. 125 126
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in seinem Leben als Skeptiker daran halten, daû ihm dies im spezifisch pyrrhonischen Sinne scheint. So wie er sich danach verhålt, was ihm bezçglich anderer Bereiche des Verhaltens scheint, kann er sich auch hier an einem Fainomenon orientieren. Der Skeptiker kann den Eindruck haben, daû die Ataraxia erstrebenswert ist und durch das Gleichgewicht mehrerer Seiten eines Dissenses entsteht. Es muû zwischen einer dogmatischen Weise, ein Ziel zu verfolgen, und einer undogmatischen Weise unterschieden werden. In ersterer ist das Verfolgen des Ziels mit der Meinung verbunden, daû es wichtig und gut ist, das-und-das zu erreichen. In letzterer dagegen ergibt sich das Verfolgen des Ziels daraus, daû das Erreichen des Ziels erstrebenswert scheint. An dieses Fainomenon kann der Skeptiker sich ebenso halten wie etwa daran, daû ihm aufgrund seiner Einweisung in die Medizin fçr eine bestimmte Art der Verletzung die-und-die Behandlung angebracht scheint. 3.2.2. Die Gleichgewichtigkeit der Argumente Die Skepsis ist, so sagt Sextus, nichts anderes als die Fåhigkeit, gegensåtzliche Argumentationen einander gegençberzustellen ± die dunamis antithetike. 129 Die Skepsis ist die Fåhigkeit, Erscheinungen (fainomenon) und Gedachtes (nooumenon) auf jede erdenkliche Weise einander entgegenzusetzen (dunamis antithetike), mit der wir durch das Gleichgewicht (isostheneian) der in Gegensatz zueinander gestellten Dinge und Argumente zuerst zur Urteilsenthaltung (epoche), und dann zur Seelenruhe (ataraxia) gelangen. »Fåhigkeit« aber nennen wir sie nicht in irgendeinem ausgeklçgelten Sinne, sondern einfach im Sinne von »kænnen« (dunasthai). Unter »Erscheinungen« verstehen wir hier die Gegenstånde der Sinneswahrnehmung (ta aistheta), weshalb wir ihnen die Gegenstånde des Denkens (ta noeta) gegençberstellen. Das »auf jede erdenkliche Weise« kann sowohl auf die Fåhigkeit (dunamei) bezogen werden, um auszudrçcken, daû wir das Wort »Fåhigkeit«, wie gesagt, in einem einfachen Sinn verwenden, als auch auf »Erscheinungen und Gedachtes entgegenzusetzen«; denn da wir diese auf vielfåltige Art entgegensetzen, entweder den Erscheinungen Erscheinungen oder dem Gedachten Gedachtes oder wechselweise einander [d. h. Erscheinungen Gedachtes], sagen wir »auf jede erdenkliche Weise«, um alle diese Entgegensetzungen zu umfassen. Oder man liest »auf jede mægliche Weise Erscheinendes und Gedachtes«, um auszudrçcken, daû 129
PH 1.8.
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wir nicht untersuchen, wie die Erscheinungen erscheinen und wie das Gedachte gedacht wird, sondern diese Begriffe in einem einfachen Sinn verwenden. (PH 1.8±9) 130
Zunåchst zu dem Begriff der Fainomena, den Sextus hier verwendet: es handelt sich offenbar nicht um Fainomena im Sinne des Scheindenden (d. h. »fainomena« als Partizip von fainesthai in der spezifisch pyrrhonischen Verwendung), sondern um Fainomena im Sinne von Aussagen, die aufgrund von sinnlicher Wahrnehmung gemacht werden ± aistheta werden noeta gegençbergestellt. Entscheidend ist, was Sextus damit meint, daû sinnliche fainomena und nooumena »auf jede erdenkliche Weise« zueinander in Gegensatz gestellt werden. Gemeint ist nicht nur, daû in der Produktion von Gegensåtzen jede Kombination mæglich ist: fainomenon versus nooumenon, fainomenon versus fainomenon und nooumenon versus nooumenon. Sextus erlåutert, daû die Qualifizierung noch einen zweiten Sinn hat (PH 1.9): Der Ausdruck kænne auch auf »Fainomena und Gedachtes« bezogen werden, so daû der Skeptiker es offenlåût, wie die Begriffe des Fainomenon und des Gedachten bestimmt sind. Der Zusatz warnt den Leser davor, die Begriffe bei Sextus so interpretieren zu wollen, als håtte Sextus eine Theorie der Erscheinung oder des Denkens. Ein Beispiel fçr das Entgegensetzen im Sinne von PH 1.8±9, das als ein Entgegensetzen von Aussagen aufgrund von sinnlichen fainomena und theoretischen Aussagen gedeutet werden kann, findet sich in der Diskussion der Bewegung: Sextus stellt der These, es gebe keine Bewegung, die These, es gebe Bewegung, gegençber. 131 Erstere beruht darauf, was aufgrund philosophischer Argumente, die zweite darauf, was aufgrund der fainomena scheint. Es ist deutlich, daû »fainomena« hier wie in §§ 8±9 im Sinne von aistheta verwendet wird: Aufgrund dessen, was sinnlich wahrgenommen wird, scheint es Bewegung zu geben. 132 In der Beschreibung der dunamis antithetike heiût es, aufgrund dieser Fåhigkeit gelange der Skeptiker, dank des Gleichgewichts (isostheneia) zwischen den einander entgegengesetzten Fainomena und Gedanken, zur Urteilsenthaltung und zur Seelenruhe. 133 In PH 1.12 heiût es: »Das fundamentalste Prinzip der Skepsis aber ist, daû jedem Argument ein gleichwertiges Argument (logon ison) 130 131
Vgl. PH 1.31±3. PH 3.65.
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entgegensteht«. Definiert wird der Begriff der Isosthenie in der Kommentierung der dunamis antithetike: Gleichgewicht (isostheneia) gebrauchen wir gleichermaûen mit Bezug auf die Glaubwçrdigkeit (pistin) wie auf die Unglaubwçrdigkeit (apistian), so daû keines der unvertråglichen Argumente das andere als glaubwçrdiger çberragt. (PH 1.10)
Das Gleichgewicht zwischen den Argumenten ist von einem Maûstab der Glaubwçrdigkeit abhångig. Wie kann der Pyrrhoneer einen solchen Maûstab verwenden? Diese Frage ist auûerordentlich schwierig: Er muû vermeiden, so interpretiert zu werden, als verstehe er unter der Glaubwçrdigkeit eines Arguments, es sei glaubwçrdig, daû das Argument wahr oder richtig sei. Dies wåre ohne Frage eine Meinung. Eine Mæglichkeit, die Rede von glaubwçrdigen und unglaubwçrdigen Argumenten als undogmatisch zu interpretieren, liegt in der Annahme eines ad-hominem-Bezugs auf einen dogmatischen Begriff des Glaubwçrdigen, der nicht epistemisch sondern psychologisch bestimmt ist. Die Verwertung einer Terminologie, nach der das Glaubwçrdige sich durch eine bestimmte Wirkung auf die Seele auszeichnet, wçrde den Pyrrhoneer vor dem Vorwurf des Dogmatismus verwahren. Die zweite Mæglichkeit fçr den Pyrrhoneer, undogmatisch von glaubwçrdigen und unglaubwçrdigen Argumenten zu sprechen, liegt in der Anwendung der Fainetai-Regel. Wenn unter einem glaubwçrdigen Argument ein Argument zu verstehen ist, das dem Pyrrhoneer glaubwçrdig scheint, so ergibt sich kein Konsistenzproblem. Im folgenden soll, indem zunåchst der ersten Mæglichkeit nachgegangen wird, gezeigt werden, daû die zweite Interpretationsthese çberzeugender ist. Sowohl die Stoa wie die Akademie kennt einen Begriff des Glaubwçrdigen. Sextus beschreibt die Vertreter der Neuen Akademie¬ als negative Dogmatiker. Sie behaupten, daû alle Dinge unerkennbar (akatalepta) sind. Und weiter, so Sextus, unterscheiden sie sich von den Pyrrhoneern in ihrem Urteil çber Gçter und Ûbel. Sie nennen 132 Entsprechend verwendet Sextus an den Stellen, an denen er durch eine derartige Gegençberstellung die Isosthenie herzustellen sucht, nicht das pyrrhonische fainesthai in Verbindung mit fainomenon. Statt dessen verwendet er dokein und nimmt die Ergånzung durch einai vor (PH 3.65 und 3.136). Daû hier nicht fainesthai in der elliptischen Verwendung von (2a) gebraucht wird, weist darauf hin, daû eine Aussage çber ein Fainomenon vorliegt. 133 PH 1.8.
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eine Sache gut oder schlecht mit der Ûberzeugung (meta tou pepeisthai), daû es glaubwçrdiger (pithanon esti mallon) ist, daû das, was sie gut nennen, in Wirklichkeit gut ist, als daû das Gegenteil der Fall ist. Der Pyrrhoneer dagegen, der eine Sache gut oder schlecht nennt, hålt sich undogmatisch an das Leben. Er meint nicht, daû das, was er sagt, glaubwçrdig (pithanon) ist. 134 Sextus çberliefert mehrere Charakteristika, die die Akademiker Eindrçcken (fantasiai) zusprechen. Entweder ein Eindruck ist nur glaubwçrdig, oder er ist zudem erprobt (diexodeumena), oder er ist glaubwçrdig, erprobt und unverrçckbar (aperispastous). 135 Die Akademiker urteilen, es sei glaubwçrdig, daû eine Sache, die ihnen gut scheint, auch gut ist. Ihre Formulierung »Es ist glaubwçrdig, daû X so ist, wie X scheint« ist dogmatisch. Darçberhinaus wird eine ontologische These vertreten. Der Akademiker macht eine Aussage çber die Relation von Erscheinung und Wirklichkeit. Er sagt, daû es glaubwçrdig ist, daû die Dinge so sind, wie sie scheinen. 136 Diese Verwendung des Prådikats »glaubwçrdig« bietet keinen Ansatzpunkt fçr den Pyrrhoneer. Der Pyrrhoneer muû vermeiden, in der Rede von glaubwçrdigen und unglaubwçrdigen Argumenten Aussagen darçber zu machen, ob es glaubwçrdig ist, daû ein Argument wahr oder falsch ist. In der stoischen Theorie wird die Eigenschaft »glaubwçrdig« Eindrçcken zugeschrieben. Eindrçcke kænnen glaubwçrdig oder unglaubwçrdig sein. 137 Ein glaubwçrdiger Eindruck wird durch zwei CharaktePH 1.226. PH 1.227. Ein Beispiel: Fçr den, der plætzlich in einen dunklen Raum mit einem ausgerollten Seil kommt, ist es glaubwçrdig anzunehmen, daû da eine Schlange ist; wer den Gegenstand aber in Ruhe untersucht hat, wird den glaubwçrdigen und geprçften Eindruck haben, daû es sich um ein Seil handelt. Ein Beispiel fçr einen unverrçckbaren Eindruck: Nachdem Admetus wuûte, daû Alcestis gestorben war, glaubte er dem glaubwçrdigen und geprçften Eindruck, sie sei am Leben, der entstand, als Herakles sie aus der Unterwelt holte, nicht. Zu ergånzen ist wohl, daû der Eindruck von ihrem Tod unverrçckbar war. 136 A.-J. Voelke (Soigner par le logos: La thrapeutique de Sextus Empiricus, in: Hg. Voelke (1990) 181±194, S. 181±2) diskutiert anlåûlich des Schluûkapitels des Grundrisses, in dem Sextus die unterschiedliche Stårke skeptischer Argumente dadurch rechtfertigt, daû er dem Skeptiker ein therapeutisches Anliegen zuschreibt, das Problem, das fçr den Pyrrhoneer durch die Rede von schwachen bzw. starken Argumenten entsteht. Voelke schlågt vor, daû Sextus' Unterscheidung in verschiedene Grade von Ûberzeugungskraft durch die Lehre des Karneades inspiriert sei, die er in M 7.171±2 referiert. Karneades unterscheidet Eindrçcke, die wahr zu sein scheinen, in unklare (amudra) und stark scheinende. Voelke sieht eine sprachliche Nåhe in Sextus' Ausdrucksweise zu diesen Charakterisierungen. 134 135
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ristika gekennzeichnet: Er verursacht eine sanfte Bewegung in der Seele (leion kinema peri psuche); er hat eine gewisse Offensichtlichkeit (perifaneia). Ein Beispiel ist die Aussage »Es ist Tag«, wenn es Tag ist. Unglaubwçrdige Aussagen wenden uns weg von der Zustimmung, wie z. B. »Wenn es Tag ist, steht die Sonne nicht çber der Erde«. Interessant an diesen Bestimmungen ist, daû die Eindrçcke nicht durch epistemische Eigenschaften beschrieben werden. Die Unterscheidung zwischen glaubwçrdigen und unglaubwçrdigen Eindrçcken arbeitet damit, welche Wirkung der Eindruck auf die Seele hat. Die Glaubwçrdigkeit ist keine Eigenschaft, die etwas darçber aussagt, wie die Relation von Eindruck und dem Gegenstand, der den Eindruck hervorruft, aussieht. Manche der glaubwçrdigen Eindrçcke sind wahr, andere falsch, manche wahr und falsch, und wieder andere weder wahr noch falsch. 138 Von den wahren Eindrçcken ist wiederum ein Teil kataleptisch. Der Umstand aber, daû ein Eindruck glaubwçrdig ist, låût nichts darçber vermuten, ob er wahr oder ob er kataleptisch ist. Er ist allein dadurch bestimmt, welche Bewegung er in der Seele auslæst. So scheint es, daû die stoische Distinktion zwischen glaubhaften (pithanon) und unglaubhaften Eindrçcken fçr die skeptische Rede von glaubwçrdigen (piston/ pithanon 139 ) und unglaubwçrdigen Argumenten von Bedeutung sein kænnte. Es wåre mæglich, daû der Pyrrhoneer dem Stoiker gegençber argumentiert, er sage in der Klassifizierung eines Arguments als glaubwçrdig nichts darçber, ob es glaubwçrdig sei, daû das Argument wahr ist; er sage nur etwas çber die Wirkung des Arguments auf seine Seele. Die Schwierigkeit dieser Interpretation besteht jedoch darin, daû der Skeptiker, auch wenn er auf jede Aussage çber die Richtigkeit einer Argumentation verzichten muû, nicht darauf verzichten kann, den Begriff der Glaubwçrdigkeit zumindest auch epistemisch zu deuten. Un137 Vgl. Sextus' Referat der stoischen Theorie des Eindrucks M 7.242 ff. Die beiden weiteren Mæglichkeiten, daû Eindrçcke zugleich glaubwçrdig und unglaubwçrdig oder weder glaubwçrdig noch unglaubwçrdig sind, kænnen hier vernachlåssigt werden. 138 M 7.244. Diese Theorie ist mit dem Prinzip der Zweiwertigkeit insofern zu vereinbaren, als sich die Bestimmungen »wahr und falsch« sowie »weder wahr noch falsch« nicht auf die Aussagen, die den Eindrçcken korrespondieren, çbertragen. 139 Sextus verwendet sowohl piston wie pithanon fçr »glaubwçrdig«; beispielhaft macht PH 3.17±29 deutlich, daû Sextus zwischen beiden Bestimmungen keinen Unterschied macht. Der Text beginnt mit der Bemerkung (17), es sei glaubwçrdig (pithanon), daû es Ursachen gibt. In § 19 heiût es, wer das-und-das sage, sei nicht glaubwçrdig (apistos). Abschlieûend (29) schreibt Sextus dann, die Argumente fçr beide Seiten seien pithanoi (2x).
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ter einem glaubwçrdigen Argument kann, wie im folgenden gezeigt werden soll, nicht nur ein Argument verstanden werden, das eine bestimmte psychologische Wirkung hat. Im Zusammenstellen von Argumenten fçr beide Seiten geht es darum, die Vertreter von Thesen und Theorien zu kritisieren. Dabei wird nicht Rhetorik eingesetzt, um eine bestimmte Wirkung bei den Dogmatikern zu erzielen, sondern versucht, mit Argumenten die Unhaltbarkeit der Theorien zu zeigen. Um von einem Argument zu sagen, daû es sich fçr diese Kritik eignet, gençgen psychologische Kriterien nicht; es muû in dem Sinn ein gutes Argument¬ sein, als es eine philosophische Kritik darstellt. Sextus muû, wenn er ein Argument glaubwçrdig nennt, die philosophische Schlagkraft des Arguments meinen. Es kænnen m. E. zwei Perspektiven unterschieden werden. Insofern es dem Skeptiker darum geht, daû aus dem Gleichgewicht der Argumente fçr mehrere Seiten seine Urteilsenthaltung und Seelenruhe folgt, kænnte eine psychologische Charakterisierung des Prådikats »glaubwçrdig« gençgen. Fçr den Pyrrhoneer selbst stellt sich die Urteilsenthaltung ein, wenn Argumente fçr unterschiedliche Positionen ihn in einem psychologischen Sinn gleich stark bewegen. Insofern die pyrrhonische Argumentation jedoch auf den Dogmatiker bezogen ist, der Argumente nicht nach ihrer psychologischen Wirkung sondern nach ihrer Schlçssigkeit bewertet, kann diese Charakterisierung nicht ausreichen. Damit aus der Sicht des Dogmatikers gleich starke Argumente vorliegen, muû unter einem glaubwçrdigen Argument ein Argument verstanden werden, das glaubwçrdigerweise richtig ist. Die skeptische Rede von glaubwçrdigen und unglaubwçrdigen Argumenten ist demnach nicht deshalb undogmatisch, weil mit diesen Prådikaten allein Wirkungen auf die Seele bezeichnet werden. Sextus muû sie auch in einem nicht-psychologischen Sinn verwenden. So kann die Rede von glaubwçrdigen bzw. unglaubwçrdigen Argumenten nur dann als undogmatisch verstanden werden, wenn alle Øuûerungen darçber, daû Argumente glaubwçrdig oder unglaubwçrdig sind, unter die Fainetai-Regel fallen, d. h. so zu verstehen sind, daû der Skeptiker kundtut, was ihm scheint. Innerhalb der Rede, die mit der spezifisch pyrrhonischen Verwendung von fainesthai arbeitet, kann der Skeptiker auch sagen, daû ihm ein Argument glaubwçrdig im Sinne von schlçssig scheint. In der Erlåuterung der Isosthenie macht Sextus dies nicht deutlich. Als Beleg kann jedoch PH 3.281 angefçhrt werden. 183
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Daher scheut sich der Anhånger der Skepsis nicht, bald in ihrer Ûberzeugungskraft (pithanotesin) schwerwiegendere, bald aber auch schwåcher 140 scheinende (fainomenous) Argumente aufzustellen, und zwar absichtlich, weil sie ihm håufig zur Erreichung seines Ziels gençgen. (PH 3.281)
Dieser Text, der im Zusammenhang mit dem therapeutischen Anliegen des Skeptikers steht, wird in 3.2.4. interpretiert. Fçr den Moment ist entscheidend, daû Sextus hier von in ihrer Ûberzeugungskraft stårker oder schwåcher scheinenden Argumenten spricht. Er verwendet also in Øuûerungen darçber, ob Øuûerungen in ihrer Ûberzeugungskraft stårker oder schwåcher sind, was damit gleichgesetzt werden kann, daû sie mehr oder weniger glaubhaft sind, das skeptische fainesthai. Diese Stelle kann m. E. zur Grundlage der Interpretation der skeptischen Gewichtung von Argumenten gemacht werden: Der Skeptiker meint, wenn er Argumente als glaubwçrdig, unglaubwçrdig, schwach oder stark bezeichnet, daû ihm dies so scheint. 141 Trotzdem ist es relevant, daû Sextus in diesem Zusammenhang von der Ûberzeugungskraft (pithanotes) und dem Glaubwçrdigen (piston/ pithanon) spricht. Wçrde er den Aspekt einer psychologischen oder rhetorischen Wirkung der Argumente nicht in seine Darstellung der Isosthenie aufnehmen wollen, so kænnte er von schlçssigen oder unschlçssigen Argumenten sprechen, indem er seine Øuûerungen unter den Vorbehalt der Fainetai-Regel stellt. Die Øuûerung, ein Argument scheine (in der spezifisch pyrrhonischen Verwendung von fainesthai) schlçssig, ist ebenso undogmatisch wie die Øuûerung, es scheine in seiner Ûberzeugungskraft stark. Sextus zieht jedoch die Rede von glaubwçrdigen Argumenten vor. M. E. sichert er sich gewissermaûen zweifach gegen eine dogmatische Deutung seiner Ausfçhrungen ab: Obwohl das skeptische fainesthai ihn in jedem Fall vor dem Dogmatismus verwahrt, mag es dem Skep140 Im Text steht »amauroterous«. Vgl. zur Ûbersetzung Andr-Jean Voelke (1990) S. 181. »Amauros« ist ein Øquivalent zu »amudros«, wodurch in der Ûberschrift des Kapitels die schwåcheren Argumente beschrieben wurden. Beide Adjektiva kænnen als »obskur, indistinkt, schwach sichtbar« wiedergegeben werden und bilden den Gegensatz zu saphes (klar) und enarges (evident). 141 Dabei wird implizit vorausgesetzt, daû die Argumente, die dem Skeptiker stark oder schwach scheinen, auch aus Sicht des Dogmatikers stark oder schwach sind. Dies darf zwar in keinem Fall so interpretiert werden, daû der Umstand, daû sie dem Skeptiker stark oder schwach scheinen, bedeutet, daû sie tatsåchlich stark oder schwach sind. Vielmehr muû angenommen werden, daû dem Skeptiker ein Argument teilweise deshalb stark scheint, weil er die Erfahrung hat, daû es den Dogmatiker zu ernsthaftem Ûberlegen, wie er dagegen argumentieren kann, bringt (bzw. schwach, weil der Dogmatiker es sofort abtut).
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tiker doch unverfånglicher scheinen, von glaubwçrdigen als von schlçssigen Argumenten zu sprechen. Obwohl er, wenn er fçr den dogmatischen Kontrahenten ein Gleichgewicht der Argumente herstellen will, letztlich nicht darauf verzichten kann, epistemische Kriterien auf Argumente anzuwenden, und diese Kriterien auch in der Rede von glaubwçrdigen Argumenten erfaût sind, erweckt diese doch zunåchst einen unverfånglicheren Eindruck. Es ist m. E. ein fçr den Skeptiker typisches Verhalten, sich auf mehreren Ebenen gegen Kritik abzusichern: Der weniger scharfsinnige Kritiker wird sich damit zufriedengeben, daû der Skeptiker insofern undogmatisch ist, als er Argumente durch die Prådikate »glaubwçrdig/ unglaubwçrdig« nur mit Bezug auf ihre Wirkung auf die Seele charakterisiert; erst auf die genauere Nachfrage muû der Pyrrhoneer einråumen, daû dies so nicht zutrifft, und diese Charakterisierungen nicht in einem rein psychologischen Sinn zu deuten sind, so daû letztlich erst die Verwendung von fainesthai den Skeptiker vor dem Dogmatismus verwahrt. Daû der Pyrrhoneer stårkere und schwåchere Argumente fçr unterschiedlich scharfsinnige Gegner zur Anwendung bringt, erklårt er im Zusammenhang mit seinem therapeutischen Anliegen (vgl. 3.2.4.). 3.2.3. Die philosophischen Untersuchungen des Pyrrhoneers Sextus beschreibt den Pyrrhonismus nicht nur durch den Verweis auf die dunamis antithetike, sondern auch als eine Lebensweise, die durch ein philosophisches Untersuchen geprågt ist. Aus jeder Untersuchung einer Sache ergibt sich, daû die Untersuchenden sie finden, oder daû sie leugnen, sie kænne gefunden werden und ihre Unerfaûbarkeit eingestehen, oder daû sie in der Untersuchung verweilen (epimonen zeteseos). (PH 1.1)
Diejenigen, die in der Suche bleiben, sind die Pyrrhoneer. Sie grenzen sich dadurch von den Dogmatikern und den negativen Dogmatikern ab, die die ersten beiden Gruppen bilden, daû sie die Untersuchung fortfçhren. Sextus nennt eine Reihe von Namen fçr die pyrrhonische Philosophie: Die skeptische Lebensweise werde auch »zetetike«, »efektike« (die zurçckhaltende), »aporetike«, und »die pyrrhonische« genannt. 142 »Zetetike« heiût die Skepsis wegen des »zetein« und des »skeptesthai«. Diese Erlåuterung ist offenkundig zirkulår: Die Skeptiker sind 185
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die Untersucher¬, weil sie untersuchen und prçfen. Als Philosophie der Zurçckhaltung wird die Skepsis wegen der Erlebnisse bezeichnet, die die Suche (zetesin) im Prçfenden (skeptomenos) erzeugt. Das Prådikat aporetisch schlieûlich bezieht sich auf die Tåtigkeit des »aporein« und das Suchen (zetein). 143 Diogenes bringt in seinem Referat der Namen der Skepsis eine ausfçhrlichere Erlåuterung. Der Name »Suchende« beziehe sich darauf, daû die Skeptiker immer (pantote) nach der Wahrheit suchen; der Name »Skeptiker« darauf, daû der Skeptiker immer prçft und sucht (skeptesthai aei) und niemals findet. 144 Diese Erlåuterung entspricht dem, was Sextus in den Anfangsparagraphen des Grundrisses sagt: Die Pyrrhoneer verharren in der Suche. Der Pyrrhoneer untersucht einen Gegenstand, und nachdem sich die Epoche eingestellt hat, untersucht er ihn weiter. Zunåchst nimmt er sich eine Theorie vor, z. B. die stoische Theorie çber das Leere. Er diskutiert diese Theorie, bis sich ein Gleichgewicht von Argumenten fçr und gegen diese einstellt. Die Urteilsenthaltung entsteht. Wie sieht das Weitersuchen aus? Die pyrrhonische Untersuchung ist insofern prinzipiell unabgeschlossen, als der Pyrrhoneer auch in einer einzelnen Frage die Haltung der Epoche nicht ein-fçr-allemal einnehmen kann. Oben wurde bereits darauf verwiesen, daû die skeptische Urteilsenthaltung auch dann, wenn sie dem Skeptiker zu einer Grundeinstellung wird, darauf angewiesen bleibt, immer erneut angesichts des Gleichgewichts von Argumenten fçr mehrere Seiten zu entstehen. Zwar kann der Skeptiker sich erinnern, wenn er sich mit Bezug auf die Frage nach dem Leeren des Urteils enthalten hat. Er muû jedoch, falls das Gespråch erneut auf diese Frage kommt, die Untersuchung wieder aufnehmen. Sextus verwendet an vielen Stellen zeitliche Vorbehalte. Selbst dort, wo er das Telos beschreibt, spricht er unter der zeitlichen Einschrånkung, »bis jetzt« (achri nun) wçrde der Skeptiker darunter das-unddas verstehen. 145 Der Skeptiker muû immer darauf gefaût sein, daû PH 1.7. Es scheint, daû die Skeptiker sich erst ab einem Zeitpunkt nach Aenesidem »skeptikoi«, also Skeptiker, genannt haben. Vgl. Tarrant (1985) S. 24. Vorher wurde »skeptikos« in einem neutralen Sinn verwendet, in dem es das Prçfen oder Untersuchen einer Sache bedeutet, oder mit einer Konnotation, nach der die skeptikoi so etwas wie die Sophisten waren. Diese Verwendung findet sich bei Philodemus (Rhet.1.191 (Sudhaus)) und bei Philon von Alexandrien (LA 3.238, Ebr.98, 202, her.247, 279), vgl. Tarrant S. 23±7. 144 DL 9.70. 142 143
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von irgendeiner Seite neue Argumente vorgebracht werden, zu denen wiederum ein Gleichgewicht hergestellt werden muû. Ganz gleich, wie oft er sich mit der Frage nach dem Leeren befaût, muû er jedesmal auf einen mæglicherweise verånderten Diskussionsstand reagieren. Die eigentliche Schwierigkeit der Bestimmung, die Pyrrhoneer wçrden in der Suche verharren, liegt in der Frage, inwiefern das pyrrhonische Argumentieren als ein Untersuchen (zetein) gedeutet werden kann. Unter »zetein« wird traditionell ein philosophisches Suchen verstanden. Als exemplarisch kann hier Sokrates' berçhmte Formulierung im Menon zitiert werden: »Daû nåmlich ein Mensch unmæglich suchen (zetein) kann, weder was er weiû, noch was er nicht weiû«. 146 Sextus kann den Pyrrhoneer nicht als einen Suchenden im Sinne des zetein bezeichnen, ohne zu implizieren, daû er auf eine philosophische Weise untersucht. Eine philosophische Suche, ganz gleich, welcher Methode sie sich bedient, ist auf Wahrheit ausgerichtet. Hier zeigt sich die Schwierigkeit: Kann die Ausçbung der dunamis antithetike mit dem Ziel der Isosthenie und der Urteilsenthaltung als eine philosophische Suche verstanden werden? Die Anwendung der Fåhigkeit des Gegençberstellens erscheint als das Ausçben einer logischen Technik, die mit einem bestimmten Instrumentarium ± v. a. den Tropen ± arbeitet. Sie ist auf das Ziel des Gleichgewichts und damit der Urteilsenthaltung ausgerichtet. Damit eine Untersuchung jedoch als eine Suche im Sinne des zetein gelten kann, muû das Ziel in der Erkenntnis der Wahrheit bzw. im Auffinden einer konsistenten Læsung des Problems liegen. M. E. besteht dieser Widerspruch aus der Sicht des Skeptikers deshalb nicht, weil ihm aufgrund seiner Diskussion zu Beweis und Kriterium jegliche Læsung eines Problems als eine vermeintliche erscheint. Die Ausrichtung auf Erkenntnis besteht fçr den Skeptiker, so scheint mir, gewissermaûen in einer strengen Orientierung an dem sokratischen Ideal, kein vermeintliches Wissen in Anspruch zu nehmen. Ein Anstreben der Wahrheit im Untersuchen, das im Formulieren einer Antwort auf ein Problem mçndet, ist aus Sicht des Skeptikers eine Aufgabe dieses Strebens ± da jede Antwort aus seiner Sicht voreilig ist, kann sie, ganz gleich, ob sie zufållig die Wahrheit trifft oder nicht,
PH 1.25. Platon, Men. 80 e 2±3. Ûbersetzung von Friedrich Schleiermacher, bearbeitet von Heinz Hofmann. 145 146
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nicht den Anspruch einer mit Grçnden ausweisbaren Erkenntnis erfçllen. Das Gegençberstellen von Argumenten fçr mehrere Seiten eines Dissenses kann als eine Weise gedeutet werden, in jedem Fall ein voreiliges Zustimmen zu vermeiden. In diesem Sinne wird in den Untersuchungen, die in der Ausçbung der dunamis antithethike bestehen, in einem echten Sinn untersucht¬: Der Pyrrhoneer versucht, vermeintliches Wissen zu vermeiden. Eine zweite Schwierigkeit im Zusammenhang mit den philosophischen Untersuchungen des Skeptikers stellt sich bezçglich seiner inneren Ruhe: Ist die skeptische Untersuchung nicht notwendig mit einer inneren Unruhe verbunden? 147 In einer Untersuchung, die als solche ernstgenommen wird, kann nicht von vorneherein ausgeschlossen werden, daû sich ein Ungleichgewicht der Seiten ergibt. Muû der Skeptiker diesen Fall nicht fçrchten? Dies scheint mir wiederum aus der Perspektive des Skeptikers nicht zuzutreffen. So wie die Urteilsenthaltung dem Skeptiker zu einer Grundeinstellung wird, scheint mir auch die wiederholte Erfahrung des gleichgewichtigen Widerstreits eine dauerhafte innere Verfassung des Skeptikers herzustellen: Obgleich er prinzipiell offen dafçr sein muû, daû sich ein Ungleichgewicht einstellt, lebt er nicht in der nervæsen Erwartung, mit dem Gleichgewicht kænnte seine innere Ruhe verloren gehen. In seinen Vorbemerkungen zu den Zehn Tropen erweitert Sextus die frçhere Erlåuterung der dunamis antithetike durch den Zusatz, es werde nicht nur Gegenwårtiges mit Gegenwårtigem konfrontiert, sondern auch mit Vergangenem und Zukçnftigem. 148 Daû unterschiedlich alte Argumente ± etwa Argumente von Platon und den Stoikern ± gegeneinandergestellt werden, ist aus dem speziellen Teil von Sextus' Schriften hinlånglich bekannt. Interessant ist der Ausblick auf die Zukunft: Vgl. Burnyeat (1983) S. 139: »The skeptic goes on seeking not in the sense that he has an active programm of reasearch, but in the sense that he continues to regard it an open question whether p or not-p is the case (¼). But this should not mean that he is left in a state of actually wondering whether p or not-p is the case, for that might induce anxiety. Still less should he be wondering whether, in general, contrary claims are equally balanced. For if it is a real possibility to him that they are not, that means that is is a real possibility that there are answers to be found; and it will be an immense worry to him, as it was at the beginning of his skeptical education, that he does not know what those answers are.« 147
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Wenn uns zum Beispiel jemand ein Argument vorlegt, das wir nicht entkråften kænnen, dann sagen wir ihm: »So wie vor der Geburt des Stifters der Lehrmeinung, der du anhångst, das ihr entsprechende Argument noch nicht richtig zu sein schien, jedoch seiner Natur nach schon existierte, so ist es ebenso mæglich, daû auch das Argument, das dem von dir jetzt vorgelegten entgegensteht, der Natur nach zwar schon existiert, uns aber noch nicht scheint, so daû wir deinem Argument, das jetzt stichhaltig zu sein scheint, doch noch nicht zustimmen mçssen. (PH 1.33±4)
Der Pyrrhoneer verwertet fçr seine Argumentation mit dem Ziel der Isosthenie also die Erfahrung, daû Argumente insofern zeitlich sind, als jedes Argument zu einem bestimmten Zeitpunkt vorgetragen wird. Durch seine philosophischen Untersuchungen hat sich eine Einstellung herausgebildet, die von der Erfahrung des Dissenses geprågt ist. Auch die Mæglichkeit, daû zu einem bestimmten Zeitpunkt kein Gleichgewicht bestehen kænnte, bringt den Skeptiker nicht aus der Ruhe. Einem gegenwårtigen Argument kann auch ein zukçnftiges entgegenstehen und so mit ihm das Gleichgewicht bilden. 3.2.4. Das therapeutische Anliegen des Pyrrhonismus In seinem Argumentieren ist der Pyrrhoneer nicht allein auf das Herstellen der Isosthenie zur Erlangung seiner Seelenruhe ausgerichtet. Daû Sextus versucht, die pyrrhonische Philosophie konsistent darzustellen, verweist auf ein Bemçhen, den Dogmatiker zu çberzeugen. Diese Ausrichtung am Dogmatiker ist zweifach. Einmal geht es darum, den Pyrrhonismus insgesamt als eine konsistente Philosophie darzustellen. Zudem geht es jedoch auch bei jeder einzelnen Frage, die Sextus im speziellen Teil seiner Schriften mit dem Ziel der Isosthenie diskutiert, darum, auch den Dogmatiker mit einem Gleichgewicht glaubwçrdiger Argumente fçr verschiedene Positionen zu konfrontieren. Allein dadurch, daû der Skeptiker zeigen kann, daû er trotz Urteilsenthaltung sprechen und sich in den unterschiedlichen Bereichen des Lebens verhalten kann, wird der Dogmatiker nicht vom Pyrrhonismus çberzeugt. Auf diese Weise kann er nur zu dem Eingeståndnis gebracht werden, daû die Lebensweise des Skeptikers nicht inkonsistent ist. Zusåtzlich muû der Dogmatiker jedoch in einzelnen Fragen zur 148
PH 1.33±4.
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Urteilsenthaltung gebracht werden, wenn er seinen eigenen Dogmatismus aufgeben soll. Zwar muû er nicht in jeder einzelnen Frage, die in seiner Philosophie thematisiert wird, mit einem Gleichgewicht der Argumente konfrontiert werden. Er muû jedoch in einigen Punkten, die fçr seine dogmatische Philosophie von besonderer Bedeutung sind, in die Epoche gefçhrt werden. Das Bemçhen, den Dogmatiker fçr den Pyrrhonismus zu gewinnen, beschreibt Sextus als Therapie ± der Dogmatiker ist an Voreiligkeit erkrankt. Der Skeptiker will, weil er ein Freund der Menschen (filanthropos) ist, den Dçnkel und die Voreiligkeit der Dogmatiker so gut er kann durch Argumente heilen (iasthai). Wie nun die Ørzte fçr die kærperlichen Leiden verschieden starke Medikamente haben und den Schwerkranken die schweren verabreichen, den Leichterkrankten die leichteren, so stellt auch der Skeptiker verschieden starke Argumente auf, und benutzt die schwerwiegenderen, die die Krankheit der Dogmatiker, den Dçnkel, mit Macht zerstæren kænnen, bei denen, die stark vom Ûbel der Voreiligkeit befallen sind, die leichteren dagegen bei denen, deren Erkrankung am Dçnkel nur oberflåchlich und leicht heilbar ist und von leichteren Ûberzeugungsmitteln behoben werden kann. Daher scheut sich der Anhånger der Skepsis nicht, bald in ihrer Ûberzeugungskraft (pithanotesin) schwerwiegendere, bald aber auch schwåcher 149 scheindende Argumente aufzustellen, und zwar absichtlich, weil sie ihm håufig zur Erreichung seines Ziels gençgen. (PH 3.280±1)
Die Argumente der Skeptiker sollen von der Krankheit des Dçnkels und der Voreiligkeit heilen, mit der einer stårker, der andere weniger stark befallen ist. Inwiefern jeder Dogmatiker in dieser Hinsicht als krank bezeichnet werden kann, ist nur verståndlich, wenn gesehen wird, daû aus skeptischer Perspektive letztlich jedes Urteil voreilig ist. 150 Die Vorwçrfe des Dçnkels und der Voreiligkeit bezeichnen nichts anderes, als daû eine Person nach positiven Antworten auf ihre Fragen sucht, und bereit ist, zuzustimmen, falls sie eine Antwort çberzeugend findet. Der zitierte Abschnitt, der mit der Frage »Warum der Skeptiker manchmal Argumente mit schwacher Ûberzeugungskraft aufstellt« çberschrieben ist, schlieût den Grundriû ab. Er stellt damit sowohl den allgemeinen wie den speziellen Teil des Werks unter die Perspektive eines Interesses, den Dogmatiker von seiner Voreiligkeit zu heilen. 149 150
Im Text steht »amauroterous«. Vgl. zur Ûbersetzung Voelke (1990) S. 181. Vgl. Voelke (1990) S. 185.
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Mir scheint, daû in der Therapie des Dogmatikers vor allem zwei Gebiete von Bedeutung sind: Die Urteilsenthaltung bezçglich Beweis und Kriterium einerseits und die Urteilsenthaltung bezçglich der Gçter und Ûbel andererseits. Zu Beginn von M 7 erlåutert Sextus die Bedeutung der Logik fçr den speziellen Teil seiner Bçcher: Das aber sagen wir, daû, wenn in allen Teilen der Philosophie die Wahrheit zu suchen ist, man vor allem anderen glaubwçrdige Prinzipien (archas) und Argumentationsmethoden (tropous) haben muû, um sie zu erkennen. Das Gebiet der Logik aber enthålt die Lehre von Kriterium und Beweis. Deshalb mçssen wir von dort unseren Anfang nehmen. (M 7.24)
Sextus argumentiert im folgenden dialektisch anhand einer dogmatischen Einteilung: Das Offenkundige (ta enarge) werde durch Kriterien erfaût, das Verborgene (ta adela) dagegen durch Beweise. Wenn sowohl Kriterium wie Beweis verworfen wåren, wird es nicht långer fraglich sein, daû man sich des Urteils enthalten muû (dein epechein). 151 Diese Argumentation geht davon aus, daû aus Sicht der Dogmatiker die Einteilung in Offenkundiges und Verborgenes vollståndig ist. Wenn weder das Offenkundige durch ein Kriterium noch das Verborgene durch einen Beweis erfaût werden kann, so folgt die Urteilsenthaltung bezçglich jeder mæglichen Frage. Der Dogmatiker, der hier zur Urteilsenthaltung gefçhrt wird, ist vollståndig von seinem Dogmatismus geheilt. So spielen Beweis und Kriterium eine grundlegende Rolle fçr den Versuch, ihn aus seiner dogmatischen Einstellung zu befreien. Auf eine andere Weise erscheint mir Sextus' Diskussion der Gçter und Ûbel in den Bçchern zur Ethik grundlegend. Wåhrend die Urteilsenthaltung bezçglich Kriterium und Beweis insofern fundamental ist, als sich aus ihr die Urteilsenthaltung in jeder mæglichen Frage ergibt, ist dieser zweite Bereich wesentlich fçr die Motivation der Skepsis: es sind in ganz besonderer Weise die Ansichten çber Gçter und Ûbel, die fçr innere Unruhe und Verwirrung sorgen. Denn wer der Meinung ist, daû etwas von Natur aus gut oder schlecht ist, wird fortwåhrend beunruhigt sein: Denn wenn er das, was er fçr Gçter hålt, nicht hat, glaubt er, er werde von den natçrlichen Ûbeln heimgesucht und jagt nach den Gçtern, wie er glaubt; hat er diese erworben, verfållt er in noch græûere Sorgen, weil er sich wider die Vernunft und unmåûig aufregt, und in der Furcht 151
M 7.25±6.
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vor einem Umschwung alles tut, damit er das, was er fçr die Gçter hålt, nicht verliert. Wer aber unbestimmt ist (ho aoriston) hinsichtlich der natçrlichen Gçter und Ûbel, der meidet oder verfolgt nichts mit Eifer; und deshalb ist er ruhig. (PH 1.27±8)
Die Bedeutung der Frage nach Gçtern und Ûbeln fçr die Seelenruhe diskutiert Sextus in PH 3.235±238 und M 11.110±167. Der groûe Raum, den das Thema der Gçter und Ûbel in den Texten zur Ethik einnimmt, belegt, daû es hier um eine fçr die Skepsis besonders wichtige Frage geht. In M 11 fragt Sextus, ob es mæglich ist, glçcklich zu leben, wenn man annimmt, es gebe Gçter und Ûbel, und, ob der, der sich çber von Natur aus Gutes und Schlechtes des Urteils enthålt, in jeder Hinsicht glçcklich ist. 152 Es geht in beiden Fållen darum, die Seelenruhe dessen, der sich in der Frage von Gçtern und Ûbeln des Urteils enthålt, als glçcklichen Zustand (eudaimonia) zu erweisen. Sextus leitet seine Argumentation wie folgt ein: Alles Unglçck (kakadaimonia) entsteht aus der Verwirrung (tarachen); jede Verwirrung aber entsteht entweder aus eifrigem (suntonos) Erstreben oder eifrigem Vermeiden; so entsteht alles Unglçck aus dem Erstreben der Gçter als gut und dem Meiden der Ûbel als schlecht. 153 Der Dogmatiker wird nie glçcklich werden. Sextus zieht folgenden Schluû: dem, der in Unruhe ist, muû klar gemacht werden, daû es nichts Gutes und Schlechtes von Natur aus gibt; das ist die Aufgabe des Skeptikers, weshalb es ihm zukommt, das glçckliche Leben zu schaffen. 154 Wer z. B. erklårt, Reichtum sei ein Gut, Armut ein Ûbel, wird auf zwei Arten verwirrt, wenn er arm ist, und auf drei Arten, wenn er reich ist. 155 Im ersten Fall sind die Stærfaktoren der Mangel an dem Gut und die Jagd nach ihm. Im zweiten Fall sind es die unmåûige Freude çber das Gut, die Sorge um seine Erhaltung, und die schreckliche Gefahr des Verlustes, die die dreifache Stærung ausmachen. Wer dagegen Reichtum weder unter die Gçter noch unter die Ûbel zåhle, sondern den Standpunkt des »nicht mehr das eine als das andere« (ou mallon) einnehme, wird von der Abwesenheit des Reichtums nicht gestært, noch freut ihn dessen Anwesenheit besonders. So bleibt er, was auch geschieht, in ruhiger Verfassung (146±7). 156 152 153 154
So die Ûberschriften von Kapitel IV und V. M 11.112. M 11.140.
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Es ist ein Grundproblem verschiedener hellenistischer Ethiken, daû man das, was man als Gut erkannt hat, erstrebt und Angst hat vor seinem Verlust. 157 Ganz gleich, ob man gerade im Besitz der Gçter ist oder nicht, es besteht Anlaû zu Sorge und Unruhe. Wer die Gçter vermiût, ist unglçcklich, versucht alles, um sie zu erlangen, und wird mæglicherweise in diesem Bestreben frustriert. Wer die Gçter besitzt, ist nicht weniger in Unruhe. Er lebt in der ståndigen Sorge, sie zu verlieren. So kann auch der, der eigentlich die Voraussetzungen dazu erfçllen sollte, nicht glçcklich werden. Daû das vollendete Glçck das dauerhafte Glçck ist, verschårft das Problem. 158 Der Umgang mit Gçtern und Ûbeln wird dadurch erschwert, daû immer die Perspektive auf die Zukunft gegeben ist. Diese Schwierigkeit, die Thema einiger sehr detaillierter jçngerer Untersuchungen ist, kann hier nicht diskutiert werden. 159 Festgehalten werden kann, daû Sextus' Argumentation in einem philosophischen Umfeld angesiedelt ist, das die Sorge um Gçter und Ûbel zu einem wichtigen Thema machte. Der Pyrrhoneer kann bei seinen Kontrahenten die Annahme voraussetzen, daû die Suche nach den Gçtern und Ûbeln in die Unruhe fçhrt. 160 Wenn es ihm gelingt, dem Dogmatiker zu zeigen, daû keine positive Antwort auf die Frage nach Gçtern und Ûbeln die innere Ruhe herstellen kann, und ihn in dieser Frage in die Urteilsenthaltung zu fçhren, so befreit er ihn von einer wesentlichen Quelle der inneren Unruhe. 155 Striker (1990, S. 103±4) weist mit Recht darauf hin, daû Sextus so argumentiert, als wçrden die Dogmatiker Dinge, die nicht in der Macht des einzelnen stehen (Reichtum, Gesundheit etc.), als Gçter bezeichnen, was weder fçr die Stoiker noch fçr die Epikureer zutrifft. 156 Daû die Stoiker hier entgegnen wçrden, die Tugend, das einzige Gut, kænne nicht verloren werden, so daû diese Argumentation nicht zutreffe, berçcksichtigt Sextus in M 11 nicht. In PH 3.238 bemerkt er, die These erledige sich fçr den Skeptiker ob der Uneinigkeit (diafonia), die in der Frage besteht. 157 In gewissem Rahmen findet es sich schon bei Aristoteles. Vgl. T. H. Irwin, Stoic and Aristotelian Conceptions of Happiness, in: Hg. Schofield, Striker 1986, 205±244. Vgl. etwa Aristoteles' Beschreibung des hochgesinnten Mannes (spoudaios) in EN 1125 a 14± 16, der sich durch seine innere Unabhångigkeit auszeichnet. Nur wer weniges wirklich ernst nimmt, geråt nicht leicht in Hast (ou speustikos); wer nichts als »groû« ansieht, empfindet keine innere Spannung (oude suntonos). ± Dasselbe Vokabular gebraucht Sextus. Wer eifrig (suntonos) und ungestçm (meta sfodrou) das erstrebt, was er fçr gut hålt, wird unglçcklich (M 11.121). Der Skeptiker sei ruhig, weil er nichts suntonos verfolge (PH 1.28, M 11.112). Zu »suntonos« vgl. Nussbaum (1994) S. 270. 158 Vgl. etwa Aristoteles, EN 1101 a 14 ff. Epikur læst das Problem, indem er die Dauer des Vergnçgens fçr irrelevant erklårt. DL 10.145; DL 10, 70±3; M 10.219.
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Die Urteilsenthaltung bezçglich der Gçter und Ûbel ist nicht in der Weise ausschlaggebend fçr eine Urteilsenthaltung in allen Fragen, wie dies bei der Epoche bezçglich Kriterium und Beweis der Fall ist. Daraus, daû hinsichtlich der Gçter und Ûbel gleichstarke Argumente fçr mehrere Seiten vorliegen, folgt nicht, daû dies in anderen Fragen ebenso der Fall ist. Die Bedeutung liegt vielmehr darin, daû die Suche nach Gçtern und Ûbeln, die als Suche nach dem richtigen Leben verstanden werden kann, ein wesentlicher Beweggrund fçr die Beschåftigung mit der Philosophie ist. Wenn der Skeptiker beim Dogmatiker die praktische Einstellung zur Philosophie unterstellt, die er selbst hat, so kann er der Urteilsenthaltung bezçglich der Gçter und Ûbel eine wichtige Rolle in der Ûberzeugung des Dogmatikers fçr die Skepsis bzw. fçr seine Heilung vom Dogmatismus einråumen. Sextus stellt die Skepsis nicht als eine Therapie unter anderen vor, sondern als den einzigen Weg zu innerer Ruhe. In M 11 erklårt er im Zusammenhang mit der Frage nach Gçtern und Ûbeln die Ûberlegenheit der skeptischen Therapie gegençber einer dogmatischen Therapie¬ 161 : Wenn die Dogmatiker an die Stelle einer Antwort auf die Frage nach Gçtern und Ûbeln eine andere setzen, so verschieben sie die Krankheit nur; die Argumentation des Philosophen setzt eine Krankheit an die Stelle einer anderen (noson anti noson). Der Dogmatiker kann nicht argumentieren, daû er die Verwirrung zumindest lindere: Der Verstærte¬ hat dieselbe Art der Ûberzeugung bezçglich der neuen Antwort, die er bezçglich der vorigen hatte. Er verfolgt jeweils mit Macht das, was er fçr gut hålt. 162 Sorge und Unruhe aber kann man nur vermeiden, wenn man nichts als gut verfolgt oder als schlecht meidet. 159 Vgl. Annas (1993) und Nussbaum (1994). Zu den Stoikern vgl. G. Striker (1990, S. 99). Zu den Epikureern vgl. Philip Mitsis, Epicurus' Ethical Theory. The Pleasures of Invulnerability, Ithaka, New York 1988. 160 Annas ist der Ansicht, daû Sextus fçr die fundamentale Annahme, mit jeder Ûberzeugung bezçglich Gçtern und Ûbeln sei Unruhe verbunden, keinerlei Argumente aufweist. Sie fragt, warum nicht vielmehr davon ausgegangen werde, daû die Anerkennung objektiver Werte ein Gefçhl der Sicherheit erzeuge (1986, S. 18 und 23±4). In einer åhnlichen Argumentation bei R. J. Hankinson zeigt sich ein Moment, welches m. E. das moderne Unverståndnis fçr die Vorstellung, in der Urteilsenthaltung entstehe innere Ruhe, erklårt: Obwohl die antiken Texte dafçr keinen Anlaû geben, wird die Epoche immer wieder als Zweifel¬, die Einstellung der neuzeitlichen Skepsis, aufgefaût. »Doubt is plausibly associated with uncertainty; and uncertainty is rarely comfortable«. Values, Objectivity and Dialectic; The Sceptical Attack on Ethics: ist Methods, Aims, and Success, Phronesis 1994 Vol. 34/1, 45±68. S. 53.
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Die therapeutische Metapher von der Heilung des dogmatischen Dçnkels durch Argumente, die Sextus in der Beschreibung der dunamis antithetike verwendet 163 , birgt jedoch auch Schwierigkeiten: die Bestimmung des Gesichtspunkts, nach dem sich Stårke und Schwåche der pyrrhonischen Argumentation ausrichten soll, scheint dem Grundsatz der Isosthenie zu widersprechen. Aus diesem wçrde sich ergeben, daû der Skeptiker zu in ihrer Ûberzeugungskraft stårkeren Argumenten greift, wenn die Argumente des Kontrahenten in eben dieser Hinsicht stark sind. Wird diese fundamentale Regel durch den Schluû des Grundrisses auûer Kraft gesetzt, demzufolge der Skeptiker die Stårke seiner Argumente nicht an der Stårke der dogmatischen Argumente, sondern an dem Ausmaû der dogmatischen Krankheit auf Seiten seines Gespråchspartners ausrichtet? Dies erscheint kaum mæglich. Sextus scheint mir davon ausgehen zu mçssen, daû derjenige, der stårker mit dem Dogmatismus infiziert ist, auch die stårkeren Argumente vorbringt. Philosophische Ausbildung und Neigung zu Voreiligkeit mçssen jedoch nicht Hand und Hand gehen. Aus Sextus' Bçchern ist nicht zu entnehmen, wie der Pyrrhoneer sich einer Person gegençber, die eine starke Neigung zu Voreiligkeit hat, ohne philosophisch geschult und scharfsinnig zu sein, verhalten wçrde. PH 3.280±1 ergibt, daû er sie, auch wenn sie selbst nur schwache Argumente vorbringt, mir starken Gegenargumenten von ihrer Voreiligkeit heilen mçûte. Die pyrrhonischen Argumente wçrden demnach kein Gleichgewicht mit denen des Gespråchspartners bilden. Sie wçrden vielmehr versuchen, eine ausgeprågte Tendenz zum Dogmatismus zu heilen, indem sie in ihrer Stårke dieser Tendenz entsprechen. Eine gewisse Spannung zwischen dem Maûstab der Glaubwçrdigkeit und dem Maûstab der Schwere der dogmatischen Erkrankung M 11.134±140. M 11.136±7. 163 Diese therapeutische Methapher ist zu unterscheiden von der Metapher der Abfçhrmittel, die auch als therapeutisch bzw. medizinisch bezeichnet werden kann: Im Zusammenhang mit der Diskussion der Widerspruchsargumente (d. h. der Argumente aus der Umwendung ± peritrope) verwendet Sextus dieses Bild, um die skeptischen Argumente, die vom Dogmatiker umgewendet¬ werden, zu beschreiben. Zwar sind auch diese Argumente insofern wie Heilmittel, als sie in dem Versuch, den Dogmatiker zur Skepsis zu bekehren, eingesetzt werden. Ihre genaue Rolle kann jedoch nur in einer detaillierten Untersuchung der Argumente aus der peritrope ermittelt werden, die hier nicht geleistet werden kann. Vgl. Mark L. McPherran, Skeptical Homeopathy and Self-Refutation, Phronesis Vol XXXII/3 (1987), 290±327. 161 162
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kann m. E. fçr Fålle, in denen philosophische Ausbildung und Neigung zu Voreiligkeit sich nicht entsprechen, nicht ausgeschlossen werden. Eine zweite Schwierigkeit besteht in der Frage, wie der Skeptiker ein echtes Interesse fçr andere in seine Haltung integrieren kann (Sextus beschreibt den Skeptiker als filanthropos PH 3.280). 164 Dies muû er, wenn sein Argumentieren wesentlich als eine Therapie derer, die mit dem Dogmatismus infiziert sind, verstanden werden soll. 165 Ein Interesse an der Therapie des Dogmatikers bringt den Skeptiker in die Gefahr der Inkonsistenz: Ist es ihm wichtig, daû der Dogmatiker geheilt wird, sorgt er sich um ihn? Mir scheint, daû der Skeptiker sein Interesse am Dogmatiker nur durch seine Ausrichtung an der allgemeinen Lebenserfahrung erklåren kann. Um ein therapeutisches Anliegen haben zu kænnen, muû er zu einem Interesse am Wohlergehen der anderen erzogen sein, an das er sich undogmatisch hålt. In seiner Eigenschaft als Philosoph folgt er diesem Fainomenon, indem er seine philosophische Einstellung als konsistent darstellen und andere zu ihr bekehren will. Es wåre allerdings vorstellbar, daû eine Person zum Skeptiker wird, die nicht zu einem Interesse am Wohlergehen anderer erzogen ist. Dieser Skeptiker kænnte, so scheint mir, die dunamis antithetike nur zur Erlangung seiner eigenen Seelenruhe ausçben; der therapeutische Aspekt pyrrhonischen Argumentierens scheint mir fçr ihn nicht zuzutreffen.
Diese Frage diskutiert Julia Annas (1993) S. 244±48 und Voelke (1990) S. 183. Nussbaum nimmt dem Skeptiker seine Liebe zu den Menschen nicht ab. »The claim of the teacher to be philantropos, and to heal on this account, is nothing she [die Studentin] can stably rely on. (¼) and if there is an end to which he is committed, it is his own ataraxia, not hers.« (1994, S. 306). 164 165
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Namenregister
Aensidem 14, 15, 55, 80, 88, 174, 186 Annas, J. 16, 19, 24, 28, 36, 89±90, 131, 160±164, 177, 194, 196 Aristoteles 29, 32±33, 78, 81, 92, 121, 193 Ariston 32 Arkesilaos 30, 32, 34±36, 38±39, 42, 48, 60, 65 Barnes, J. 16, 19±21, 24, 28, 66, 69, 90, 111, 122, 124, 126±127, 158 Bett, R. 15 Bobzien, S. 41 Brochard, V. 15, 174 Brunschwig, J. 99±103 Burkhard, U. 174 Burnyeat, M. F. 23, 58, 66, 88±89, 91,188 Cicero, M. T. 21, 42 Chrysipp 32, 37±38, 44, 140 Couche, M. 15 Couissin, P. 36
Haas, M. 16 Hacker, P. M. S. 125 Hankinson, R. J. 15, 89, 171, 194 House, D. K. 13, 16 Inwood, B. 65, 130, 136±137, 139, 146, 149 Ioppolo, A. M. 31, 34, 36, 38, 40, 42, 48, 63 Irwin, T. H. 193 Jancek, K. 16, 27, 49, 74 Karneades 32, 52, 60, 181 Kleanthes 63 Kleitomachos 52 Labar rre, J.-L. 40 Lvy, C. 31, 33, 38, 44, 46 Long, A. A. 19, 36, 38±39, 42±43, 46, 49, 133, 139
Debordes, F. 166 Deichgråber, K. 171 Dæring, K. 120
Mannebach, E. M. 120 Mates, B. 24, 27, 66, 116±117, 127, 156, 158, 165 McPherran, M. 195 Metrodorus 24 Mitsis, P. 194
Epikur 89, 193 Everson, S. 23, 110
Nussbaum, M. C. 158, 176±177, 193±194, 196
Flintoff, E. 174 Fçckiger, H. 99 Frede, M. 34, 52, 59, 64, 66, 99, 171±172
Pappenheim, E. 16 Patrick, M. M. 16 Platon 22, 25±26, 29, 32±33, 78, 80±81, 92, 187 Polemon 32 Pyrrhon 13, 15, 135, 174
Galenus, C. 20, 33, 51 Glidden, D. 168, 170±171 Goedeckemeyer, A. 16 Gærler, W. 42, 65
Richter, R. 99 Ricken, F. 15, 43, 96, 102±103
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Sandbach, F. H. 42 Sedley, D. 19, 36, 38±39, 42±43, 46, 49, 133, 139, 174 Sextus Empiricus 11±17, 19±20, 23, 27, 29±30, 32, 35, 37±38, 45, 49±58, 62±63, 65±71, 73±80, 82±89, 91±102, 104±110, 113±123, 129±136, 141±152, 155, 158± 196 Stegmçller, W. 97 Stopper, M. R. 15 Stough, C. 91 Striker, G. 150, 158, 174, 193±194
Tarrant, H. 21±22, 31, 186 Timon 15, 155, 174 Tugendhat, E. 127 Voelke, A.-J. 181, 184, 190, 196 Vollgraf, W. 16 Wittgenstein, L. 124±128 Woodruff, P. 16 Zenon 13, 32, 34±36, 42, 44±45, 48
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Nachwort
Das vorliegende Buch behandelt drei Fragen: Haben Skeptiker, so wie Sextus Empiricus sie darstellt, Meinungen? Können sie handeln? Können sie sprechen? In diesem Nachwort fasse ich zusammen, wie sich die Forschung und meine eigenen Ansichten in den sechzehn Jahren seit der Veröffentlichung des Buches weiterentwickelt haben. In aller Kürze: Die Sichtweise, die ich 1998 vertreten habe, scheint mir weiterhin die beste Lesart. Trotzdem habe ich Neues hinzuzufügen, zu den ursprünglichen Fragen und zu einer weiteren Frage, deren Bedeutung mir zunehmend klargeworden ist: Können Skeptiker denken? Der folgende Text hat entsprechend vier Abschnitte: (1) Meinungen, (2) Handlung, (3) Sprache, (4) Denken. 1
1.
Meinungen
Meine (1998) vertretene Lesart reagiert auf zwei unterschiedliche Positionen, die ich hier entsprechend ihrer prominentesten Vertreter F (Michael Frede) und B (Jonathan Barnes und Myles Burnyeat) nennen möchte. 2
Eine Gesamtdarstellung der Forschung zur antiken Skepsis – d. h. nicht nur der Skepsis, die Sextus Empiricus darlegt, sondern verschiedener Versionen antiker Skepsis – biete ich in K. M. Vogt, Ancient Skepticism, in: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2010 edition), revidiert und erweitert Spring 2014, URL = hhttp://plato.stanford.edu/entries/skepticism-ancient/i. 2 Die Benennung von Positionen als »F«, »B« und »S« (für Gisela Striker) soll signalisieren, dass ich die Positionen schematisch skizziere. Dabei geht es mir um Typen von Positionen, nicht im Detail um die Argumentationslinien in einer Reihe von Veröffentlichungen. 1
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F1: Wenn einem Skeptiker etwas so-und-so scheint, so ist das ein Gedanke. F2: Wenn einem Skeptiker X immer wieder Y erscheint, hat dieser Gedanke eine stabile Präsenz für ihn. F3: Dieser Gedanke erfüllt in Denken und Motivation die Rollen, die für gewöhnlich Meinungen erfüllen. F4: In diesem Sinne kann man Skeptikern Meinungen zuschreiben. B1: In einer Meinung hält man etwas für wahr. B2: Meinungen sind das mentale Korrelat von assertorischen Äußerungen. B3: Skeptiker vermeiden Für-wahr-Halten durch ihre Untersuchungen und die resultierende Urteilsenthaltung. Ich akzeptiere alle diese Prämissen außer F4. 3 Der in F1–3 beschriebene mentale Zustand, so mein Argument, ist von erheblichem philosophischen Interesse. Er ist das mentale Korrelat der Hypothese. Etwas scheint wiederholt so-und-so. Der Gedanke verweilt gewissermaßen und gewinnt durch seine Anwesenheit im Geiste des Skeptikers eine handlungsleitende Rolle. Wenn ihm zum Beispiel Honig wieder und wieder geeignet erscheint, löffelweise in heißen Tee gegeben zu werden und die Beschwerden einer Erkältung zu lindern, dann wird der Skeptiker Tee mit Honig trinken, wenn er eine Erkältung hat. Hält er es für wahr, oder, mit anderen Worten, stimmt er der Vorstellung zu, daß Tee mit Honig die richtige Medizin für eine bestimmte Krankheit ist? Nein. Aber er trinkt Tee mit Honig. Fredes Verdienst, so meine heutige M. Burnyeat und M. Frede (Hg.), The Original Sceptics, Indianapolis und Cambridge, Mass. 1997. M. Frede, Des Skeptikers Meinungen, in: Neue Hefte für Philosophie 15/16 (1979), 102–29. Ins Englische übersetzt als Ders., The Sceptic’s Beliefs, in: Burnyeat and Frede (1997), 1–24. M. Frede, The Sceptic’s Two Kinds of Assent and the Question of the Possibility of Knowledge, in: R. Rorty, J. B. Schneewind, und Q. Skinner (Hg.), Philosophy in History, Cambridge 1984, 255–78. Wieder abgedruckt in Burnyeat und Frede (1997), 127–151. J. Barnes, The Beliefs of a Pyrrhonist, in: Proceedings of the Cambridge Philological Society No. 28 (1982), 1–29. Wieder abgedruckt in M. Burnyeat und M. Frede (1997), 58–91. M. Burnyeat, Can the sceptic live his scepticism?, in: M. Schofield, M. Burnyeat und J. Barnes (Hg.), Doubt and Dogmatism: Studies in Hellenistic Epistemology, Oxford 1980, 20–53. Wieder abgedruckt in Burnyeat und Frede (1997), 25–57. M. Burnyeat, The sceptic in his place and time, in: R. Rorty, J. B. Schneewind, und Q. Skinner (Hg.), Philosophy in History, Cambridge 1984, 225–254. Wieder abgedruckt in Burnyeat und Frede (1997), 92–126.
3
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Einschätzung, liegt darin, auf die Komplexität des relevanten Geisteszustands aufmerksam gemacht zu haben. Mehr noch: Frede argumentiert überzeugend, dieser Zustand sei höchst wiedererkennbar aus dem Alltag. Vermutlich trinken viele von uns Tee mit Honig wenn wir eine Erkältung haben, basierend auf dem Eindruck, daß dies oft oder zumindest gelegentlich mehr oder weniger hilft. Fredes nächster Schritt, einen solchen Geisteszustand als Meinung zu bezeichnen, verschleiert allerdings, wie hilfreich seine vorherigen Schritte waren. Indem man diesen Geisteszustand nicht Meinung nennt, öffnet man die Tür für die Analyse hypothetischen Denkens. Dies scheint mir eines der wichtigsten Projekte der philosophischen Beschäftigung mit antiker Skepsis. Hypothesen werden üblicherweise in der Wissenschaftstheorie analysiert. Die antike Skepsis macht einen anderen Vorschlag, nämlich daß viel von unserem alltäglichen Denken, Handeln, und Sprechen mit hypothetischen Einstellungen auskommt – oder, um es mit anderen Worten auszudrücken, mit doxastischen Einstellungen, die mit weniger als 1.0 »credence« einhergehen. Diese Denkweisen und ihre Rolle in Sprechen und Handeln zu verstehen ist aus meiner Sicht ein langfristiges und vielversprechendes Projekt in der Philosophie des Geistes sowie der Erkenntnis- und Handlungstheorie. In einem Aufsatz von 2001 vertritt Gisela Striker eine Sichtweise, die hier weiterhilft. Nennen wir Strikers Position S. 4 S1: Es ist eine Frage der persönlichen Präferenz, wie man den Begriff der Meinung (belief) versteht. S2: Der Begriff kann so verstanden werden, daß F4 adäquat ist. S3: Der Begriff kann so verstanden werden, daß F4 inadäquat ist und statt dessen B1–3 zutreffen. S4: Die Frage »Haben Skeptiker Meinungen?« ist entsprechend sinnlos; die Forschungsliteratur, die bei dieser Frage ansetzt, ist schlicht ermüdend. Diese Prämissen sind provokant. Aber sind sie auch überzeugend? Nennen wir meine Position V. 5 G. Striker, Scepticism as a Kind of Philosophy, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 83 (2001), 113–129. 5 Im Verlauf dieses Nachworts werde ich eine Reihe von Prämissen – V1, 2, etc. – auf4
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V1: Der Begriff der Meinung kann unterschiedlich verstanden werden. V2: Wie man den Begriff der Meinung versteht, ist eine Frage der philosophischen Analyse und Theoriebildung. V3: Für die Rekonstruktion von Sextus’ Version der Skepsis ist der Meinungsbegriff relevant, den die dogmatischen Kontrahenten der Skeptiker anwenden. Strikers Provokation verweist auf eine Lücke in der B-Argumentation. Barnes und Burnyeat hätten nicht ohne weiteres behaupten sollen, daß Meinungen (beliefs) doxastische Einstellungen des Für-wahr-Haltens sind, analog zu assertorischen Sprechakten. Der Meinungsbegriff, den B voraussetzt, erfaßt nicht ›was Meinungen wirklich sind‹. Er erfaßt, was Meinungen in dem relevanten Diskussionszusammenhang sind. In der hellenistischen Diskussion zwischen Skeptikern und nicht-skeptischen Philosophen sind Meinungen doxastische Einstellungen des Fürwahr-Haltens, analog zu assertorischen Sprechakten. In (1998) mache ich einige Bemerkungen in diese Richtung. Die vollständige These entwickele ich in Replik auf Striker in einem Aufsatz von (2012), »Appearances and Assent: Skeptical Belief Reconsidered«. 6 Dort arbeite ich im Detail aus, wie Stoiker und Epikureer doxa, den relevanten Begriff von Meinung, verstehen. Dabei trage ich zu einer weiteren Korrektur bei, über die auch Malcolm Schofield geschrieben hat: Nicht nur die Auseinandersetzung mit Stoikern prägt die Ausformulierung der skeptischen Philosophie, sondern auch die Diskussion mit Epikureern. 7 Sowohl Stoiker wie Epikureer verstehen doxa als das Akzeptieren von oder die Zustimmung zu einer Vorstellung. 8 Die entsprechende Schlußfolgerung lautet:
listen, die meine gegenwärtige Sichtweise skizzieren. Diese Sichtweise habe ich in verschiedenen Publikationen entwickelt, und mein Ziel kann hier nicht sein, sie im Detail zu begründen. Statt dessen geht es mir um eine schematische Zusammenfassung. 6 K. M. Vogt, Appearances and Assent: Skeptical Belief Reconsidered, in: Classical Quarterly 62 (2012), 648–663. Im Folgenden kurz zitiert als »Skeptical Belief Reconsidered«. 7 M. Schofield, Aenesidemus: Pyrrhonist and ›Heraclitean‹, in: A. M. Ioppolo und D. N. Sedley (Hg.), Pyrrhonists, Patricians, Platonizers. Hellenistic Philosophy in the Period 155–86 BC. Tenth Symposium Hellenisticum, Neapel 2007, 269–338. 8 Gail Fine greift in ihrer Skepsis-Rekonstruktion den Begriff des Akzeptierens auf, den Robert Stalnaker verwendet. Dies erscheint irreführend. »Akzeptieren« in der hellenistischen Diskussion ist »zustimmen«; bei Stalnaker ist Akzeptieren eine schwächere
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V4: Sextus’ Skeptiker haben keine Meinungen in dem Sinn, der in der skeptisch-dogmatischen Diskussion vorausgesetzt wird. V5: Meinungen in dem vorausgesetzten Sinn sind doxastische Einstellungen der Zustimmung zu einer Vorstellung, des Für-wahrHaltens, und das mentale Korrelat zu assertorischen Sprechakten. Strikers Beitrag ist eine Einladung, weiter über ein philosophisch zentrales Thema nachzudenken. Was sind Meinungen? Der Interpret von antiken Diskussionen versucht zu rekonstruieren, wie ein philosophischer Ansatz oder eine Theorie einen bestimmten Begriff versteht. Wenn wir die antike Skepsis als philosophische Option ernst nehmen, dann haben wir zusätzlich Grund, uns selbst zu überlegen, welcher Begriff von Meinung überzeugend ist. Mit dieser Frage befasse ich mich in Belief and Truth (2012). Ich nehme Sokrates’ Abwertung von doxa als Unwissenheit ernst: doxa ist eine Einstellung, in der man sich auf die Wahrheit von etwas festlegt, was man nicht weiß. Das sollte man nicht. Warum? Weil es wichtig ist, was man für wahr hält; schließlich basieren die eigenen Handlungen und das eigene Leben darauf. Demzufolge sollte man nichts für wahr halten, was der weiteren Untersuchung bedarf. Doxa beendet das Fragen und Untersuchen. Deshalb kommt der ideale Denker ohne doxa aus. Die Stoiker, und mit ihnen die Skeptiker, scheinen mir die sokratische Festlegung auf ein der Untersuchung gewidmetes Leben zu teilen. Die Stoiker gehen in ihrer Abwertung von doxa soweit, doxa nicht als wahr und falsch zu bewerten. 9 Die Wahrheitsprädikate werden auf lekta (von den Stoikern konzipierte Vorläufer unserer Propositionen) angewandt. Doxa dagegen wird nie mit dem Prädikat »wahr« geehrt: eine Meinung wahr zu nennen wäre bereits zuviel des Guten. Doxa ist instabil. Egal, was man im Sinne von doxa denkt, man wird seine Meinung wieder ändern; oder man hängt einer Meinung irrational an und ändert entsprechend andere Meinungen, um sie zu integrieren, wobei man gewissermaßen seinen kognitiven Gesamtzustand ›nach unten korrigiert‹. Fredes erste Aufsätze zum Thema, »Des Skeptikers Meinungen« doxastische Einstellung. G. Fine, Sceptical Dogmata: Outlines of Pyrrhonism I 13, in: Methexis 13 (2000), 81–105. 9 Diese extreme Position ist Thema von Kapitel 7 »Why Beliefs are Never True: A Reconstruction of Stoic Epistemology« in K. M. Vogt, Belief and Truth, New York: Oxford University Press, 2012, 158–182.
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(1979) und »Two Kinds of Assent« (1984), gleichen der Arbeit eines Bildhauers, der ganz am Anfang steht. Die skeptische Philosophie wurde vor Fredes Arbeiten einfach abgeurteilt. Das ›letzte Wort‹ hatte Hegel gesprochen; eine gegenwärtige Auseinandersetzung mit antiker Skepsis gab es quasi nicht. Frede geht entsprechend in einer Weise vor, die heute als zu wenig differenziert erscheint. Er diskutiert die Akademische und Pyrrhonische Skepsis gemeinsam, mit wenig Aufmerksamkeit für die Unterschiede. Gleichzeitig schafft er mit diesen frühen Veröffentlichungen die Prämissen für mehrere Jahrzehnte Exegese. Eine dieser Prämissen habe ich bisher nicht genannt: F5: Die Textstelle, an der ›alles hängt‹, ist PH 1.13. F5, so mein Argument in »Skeptical Belief Reconsidered,« ist falsch. PH 1.13 spricht über dogmata, nicht über Meinungen im Sinne von doxa. Mehr noch, in wesentlichen Textstellen, die das Denken der Skeptiker beschreiben, ist weder von dogma noch von doxa die Rede. Statt dessen spricht Sextus von skeptischen Einstellungen zu Erscheinungen, phainomena. Dem Skeptiker scheint etwas so-und-so. Er sagt was ihm jetzt so-und-so scheint. Aber er stimmt dem, was ihm scheint, nicht zu. Bereits in (1998) basiert meine Analyse wesentlich auf Sextus’ Aussagen über Erscheinungen.10 Trotzdem gehe ich in (1998) noch davon aus, daß PH 1.13 zentral ist für die Frage, welche kognitiven oder mentalen Einstellungen Skeptikern zugeschrieben werden sollen. In »Skeptical Belief Reconsidered« wende ich mich noch einmal PH 1.13 zu, um zu zeigen, daß die Stelle grundlegend anders einzuordnen ist. Sextus reagiert hier nicht auf den Vorwurf, die Skeptiker hätten, entgegen ihrer Selbstbeschreibung, Meinungen. Er reagiert auf den Vorwurf, daß die Skeptiker ›dogmatisieren‹ – und das heißt, Theorien aufstellen und Thesen darüber formulieren, wie die Dinge in Wirklichkeit sind – obwohl sie behaupten, dies nicht zu tun. Frede reißt PH 1.13 aus dem Zusammenhang. Aber dieser Zusammenhang ist wichtig. In PH 1.13–15 geht es spezifisch um die Frage, ob die skeptischen Formeln – z. B. »nicht mehr das eine als das andere (ou mallon)« – ein Stück Theoriebildung sind. In Antwort auf diese Kritik erklärt Sextus, inwiefern diese Ausdrücke nur offenlegen, was den Skeptikern scheint. EntspreEin früher Beitrag, der den Begriff der Erscheinung näher betrachtet, ist R. Barney, Impressions and Appearances, in: Phronesis 37 No. 3 (1992), 283–313.
10
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chend sollte PH 1.13 als locus classicus für die Interpretation der skeptischen Formeln gelten. Über die Jahre bin ich mehr und mehr zu der Ansicht gelangt, daß Fredes Frage nach des Skeptikers Meinungen besser zur Akademischen Skepsis paßt als zur Pyrrhonischen Skepsis. 11 Die Präokkupation mit doxa ist zutiefst sokratisch. Sie lebt fort in der Akademie. Die Pyrrhoneer greifen statt dessen eine noch ältere Tradition in der griechischen Philosophie auf, nämlich die Frage, wie sich Erscheinungen zur Wirklichkeit verhalten. In dem zweitwichtigsten Text über die Pyrrhonische Skepsis, Diogenes Laertius’ Bericht, wird dieser Aspekt noch deutlicher. Hier kommen Worte für Meinung so gut wie gar nicht vor. Dies überrascht nach dreieinhalb Jahrzehnten Diskussion darüber, in welchem Sinne Pyrrhoneer Meinungen haben oder nicht haben. Fredes grundlegende Arbeiten zur Skepsis haben uns, einschließlich meiner Lesart von (1998), in einer wesentlichen Hinsicht auf die falsche Fährte geführt. Entsprechend setzte ich V6 und V7 an die Stelle von F5: V6: Die Analyse der doxastischen Einstellungen, die Sextus’ Skeptikern zugeschrieben werden, muß bei dessen Relation zu Erscheinungen ansetzen. V7: Statt zu fragen, ob Pyrrhonische Skeptiker Meinungen haben, muß gefragt werden, ob Pyrrhonische Skeptiker Erscheinungen zustimmen. Die Antwort auf diese Frage ist »nein«. In einem zweiten Schritt, nämlich insofern Stoiker und Epikureer Zustimmungen zu Erscheinungen als Meinung oder Urteil klassifizieren, bedeutet dies, daß Sextus’ Skeptiker im Sinne ihrer Antagonisten keine Meinungen haben.
2.
Handlung
Frede formuliert allerdings eine Aufforderung, die bis heute überzeugt. Die Skeptiker argumentieren, daß sie ein aktives Leben führen können. Diese Argumente sollten ernst genommen werden. Mehr noch: sie enthalten viel von der Subtilität, mit der Skeptiker erklären, Andere Unterschiede zwischen Akademischer und Pyrrhonischer Skepsis diskutiert G. Striker, Academics Versus Pyrrhonists, Reconsidered, in: R. Bett (Hg.), The Cambridge Companion to Ancient Scepticism, Cambridge 2010, 195–207.
11
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was in ihrem Denken vorgeht. Mit Bezug auf skeptisches Handeln habe ich meine in (1998) vertretene Sichtweise nicht geändert. Knapp ausgedrückt lautet die These wie folgt: V8: Sextus’ Skeptiker nehmen nicht in Anspruch, im Sinne des dogmatischen Handlungsbegriffs zu handeln; sie nehmen in Anspruch, tätig zu sein. V9: Skeptiker sind aktiv, indem sie Erscheinungen (phainomena) folgen bzw. sich von ihnen leiten lassen. In einem Aufsatz »Skepticism and Action« (2010) unterscheide ich zwischen Versionen bzw. Aspekten des sogenannten Apraxia-Vorwurfs, demzufolge Skeptiker, insofern sie nicht zustimmen, nicht handeln können. 12 Hier ist, leicht adaptiert, meine Liste: Selbstzerstörung: Urteilsenthaltung führt zu Selbstzerstörung. Tier: Handlung ohne Zustimmung ist bestenfalls Verhalten eines nicht-rationalen Tiers, nicht das Handeln eines rationalen Wesens. Pflanze: Ohne Zustimmung sind Skeptiker auf die Inaktivität von Pflanzen zurückgeworfen. Inkonsistenz: Egal wie die Skeptiker sich selbst beschreiben, sie stimmen zumindest manchmal zu. Paralysis: Wenn man als Skeptiker nicht über ein Handlungskriterium verfügt, ist man nicht in der Lage, bestimmte Handlungen zu wählen; man kann sich nicht zwischen mehreren inkompatiblen Handlungen entscheiden. Eudaimonia: Skeptiker können kein gutes Leben leben. Mit Blick auf den letztgenannten Aspekt des anti-skeptischen Einwands hat sich meine Sichtweise weiterentwickelt. Ich muß – leider – zugeben, daß hier die Akademische Antwort auf den Apraxia-Vorwurf überzeugender sein mag als die Pyrrhonische. Ich schreibe »leider«, weil mir die extremere Version antiker Skepsis, nämlich die Pyrrhonische Skepsis, in anderen Hinsichten theoretisch attraktiver erscheint. Mit den sogenannten Tropen (den Fünf Tropen von Agrippa und den In R. Bett (Hg.), The Cambridge Companion to Ancient Greek Scepticism, Cambridge 2010, 165–180.
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Zehn Tropen von Aenesidemus, aber auch den weniger erforschten Tropen zu Kausalaussagen) leisten die Pyrrhoneer einen wesentlichen Beitrag zur Theorie von Argumentation, Beweis und Begründung. Mit ihrer Exploration von Erscheinungen sind sie zudem Teil einer metaphysischen Tradition, die das vielleicht grundlegendste Problem von Erkenntnis formuliert: Wie verhält sich das, was mir (oder uns) sound-so erscheint, zur Realität? Was die ethische Seite skeptischen Handelns angeht, stehen die Pyrrhoneer möglicherweise schlechter da. Sie können erklären, inwiefern sie ein tätiges Leben führen. Aber Hegels Verdikt, daß sie im Ergebnis konservativ sind, weil sie sich von Konventionen und Üblichkeiten leiten lassen, ist nur schwer zu entkräften. 13 In dieser Hinsicht scheint die Akademische Skepsis überlegen. Die Akademiker haben ein rationales Handlungskriterium. Sie argumentieren, daß man sich davon leiten lassen kann, was zu einem gegebenen Zeitpunkt überzeugend erscheint. 14 Angenommen, ein Akademiker untersucht eine Frage, sieht Argumente auf mehreren Seiten und enthält sich des Urteils; er kann gleichzeitig sein Handeln danach ausrichten, was zu dem gegebenen Zeitpunkt am plausibelsten erscheint. In vielen Kontexten – z. B. beim Klimaschutz – verhalten wir uns heute genau so. Viele Menschen stimmen darin überein, daß die relevante Forschung ›work in progress‹ ist und daß wir auch da, wo bereits Forschungsdaten vorliegen, oft nicht wissen, was die beste Handlungsweise ist. Es erscheint aber wichtig, aus dieser kognitiven Situation nicht den Schluß zu ziehen, daß wir nichts haben, was in überzeugender Weise unser Handeln leiten könnte. Wir haben immerhin den derzeitigen Forschungs- und Diskussionsstand. Hypothesen können handlungsleitend sein, auch wenn sie ›nur‹ Hypothesen sind und weiter GeSextus Empiricus, Against the Ethicists (Adversus Mathematicos XI), herausgegeben, übersetzt und mit einem Kommentar versehen von R. Bett, Oxford 1997; sowie R. Bett, Scepticism and Ethics, in: Ders. (2010), 181–194; und R. Bett, How Ethical Can an Ancient Sceptic Be?, in: Diego Machuca (Hg.), Pyrrhonism in Ancient, Modern, and Contemporary Philosophy, Dordrecht 2011, 3–17. Hegels Einwand findet sich z. B. in G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (= Werke Bd. 3), Frankfurt a. M. 1986, S. 161–2. 14 Die Übersetzung der relevanten griechischen Begriffe, eulogon und pithanon, ist kontrovers. Eine Darstellung verschiedener Argumentationsweisen in der Akademischen Skepsis biete ich in K. M. Vogt, The Hellenistic Academy, in: F. Sheffield und J. Warren (Hg.), Routledge Companion to Ancient Philosophy, New York und London 2013, 482–495. 13
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genstand von Untersuchung bleiben. Können Pyrrhonische Skeptiker ähnlich vorgehen? Wenn allein die Textstelle beachtet wird, in der Sextus direkt auf den Apraxia-Vorwurf antwortet (PH 1.21–24), können sie das nicht. Sie handeln entsprechend von Üblichkeiten und Konventionen, die Teil der Erscheinungen sind, von denen sie sich leiten lassen. Wenn dagegen Sextus’ allgemeinere Beschreibungen des skeptischen Denkens, Sprechens, und Untersuchens herangezogen werden, mag ein Pyrrhoneer ähnlich gut dastehen wie ein Akademiker. Man läßt sich von dem leiten, was einem zu einem gegebenen Zeitpunkt scheint. Dies wird weitgehend auf Untersuchungen beruhen, in denen man stetig Fragen durchdenkt, zu denen verschiedene Sichtweisen eingenommen werden können. Mit Bezug auf andere Aspekte des Apraxia-Vorwurfs – insbesondere die, die ich Tier und Pflanze nenne – machen die Pyrrhoneer ihrem Ansehen alle Ehre: sie stellen radikale philosophische Fragen über menschliches Handeln. Die Rekonstruktion, die ich in (1998) darlege, bezieht sich beinahe ausschließlich auf Sextus Empiricus’ Version von Skepsis. In den letzten Jahren habe ich mich stärker mit dem Bericht bei Diogenes Laertius befaßt. Meine Ergebnisse sowie Essays von einer Reihe von Experten sind 2015 in einer Griechisch-Englischen Textausgabe mit dem Titel Pyrrhonian Skepticism in Diogenes Laertius erschienen. 15 Diogenes zufolge formulieren die Pyrrhonischen Skeptiker Argumente, die sich bei Sextus nicht finden, obwohl sie kompatibel mit Sextus’ Skepsis sind. Diese Argumente versuchen nicht, innerhalb der dogmatischen Handlungstheorien Raum für skeptisches Verhalten zu machen. Statt dessen drehen sie den Spieß um. Sie hinterfragen, ob der dogmatische Handlungsbegriff, demzufolge Handeln von Zustimmungen zu Vorstellungen geleitet ist, plausibel ist. In heutiger Terminologie: sie hinterfragen, ob Motivation zentral darin besteht, ein Urteil darüber zu fällen, was gut ist oder was zu tun ist. Diogenes’ Skeptiker zitieren Homer und andere frühgriechische Texte, denen zufolge Menschen sich zu viel auf ihre Rationalität einbilden. Diese Zitate entwerfen ein radikales Szenario: Handlungen sind nichts anderes als Naturereignisse, basierend auf Ursachen statt auf Gründen. Der Apraxia(Greek-English) with Commentary and Essays, edited with a philosophical introduction by Katja Maria Vogt, SAPERE Vol. XXV, Mohr Siebeck: Tübingen 2015. Contributors: Richard Bett, Lorenzo Corti, Christiana Olfert, Elisabeth Scharffenberger, David Sedley, Katja Maria Vogt, James Warren.
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Vorwurf setzt voraus, daß Handeln wesentlich Urteile involviert. Was, so fragen Diogenes’ Pyrrhoneer, wenn das grundlegend falsch ist? Vielleicht ist es nur eine Illusion, wenn Menschen glauben, basierend auf ihrer eigenen Überlegung zu handeln (DL 9.61–73). Diese Fragestellung, die ich in meiner Einleitung zu der Diogenes-Ausgabe skizziere, verdient aus meiner Sicht weitere Forschungsarbeit.16 Sie betrifft weitreichende philosophische Probleme, u. a., ob Freiheit und vernunftgeleitetes Handeln bloße Verblendung sind und Menschen wie Bäume oder Bienen natürliche Lebewesen in einer Welt von Bewegung (statt Handlung) und Ursachen (statt Gründen) sind. Entsprechend füge ich der Skizze meiner Position noch eine Prämisse hinzu: V10: Einige Pyrrhonische Argumente versuchen nicht zu zeigen, daß Skeptiker im Sinne dogmatischer Prämissen tätig sein können. Statt dessen stellen sie Grundannahmen dogmatischer Handlungstheorie in Frage.
3.
Sprache
Meine Rekonstruktion der Pyrrhonischen Skepsis in (1998) legt viel Wert auf die Frage, wie Skeptiker sprechen können. Dieser Fokus ist in der Debatte nicht üblich. Ich halte ihn weiterhin für einen der wichtigsten Beiträge des vorliegenden Buchs. Meine These läßt sich wie folgt zusammenfassen: V11: Skeptische Sprache ist das Korrelat zu mentalen Einstellungen, in denen dem Skeptiker etwas so-und-so scheint. V12: Skeptische Äußerungen haben die elliptische Form »X scheint mir jetzt F«. V13: Skeptische Äußerungen sind nicht-assertorisch. Folgende Aspekte von V12 sind wesentlich. Eine skeptische Äußerung verweist auf Sprecher und Zeitpunkt. Sie verzichtet auf die normalsprachlich übliche und grammatikalisch korrekte Ergänzung »X scheint mir jetzt F zu sein«. Die Skeptiker verlassen sich darauf, daß ihre Form K. M. Vogt, Introduction: Skepticism and Metaphysics in Diogenes Laertius, in: Dies. (Hg.), Pyrrhonian Skepticism, 2015.
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der Äußerung verständlich ist und damit der Kommunikation dienen kann. Gleichzeitig vermeiden sie durch das Weglassen von »zu sein«, Aussagen über die Wirklichkeit zu machen. Die Äußerung ist als Kundtun der Erscheinung intendiert, nicht mehr und nicht weniger. Inzwischen ist eine Monographie zur skeptischen Sprache erschienen, Lorenzo Cortis Scepticisme et langage. 17 Corti teilt viele meiner Prämissen und ist, wie ich, von Barnes beeinflußt. Ein Unterschied zwischen Cortis und meiner Analyse liegt in der Frage, ob und in welchem Sinne man skeptisches Sprechen als Handeln auffassen sollte. Corti betont die Handlungsdimension von Sprechen. Meine Auffassung ist zurückhaltender. Viele Probleme, die mit Bezug auf Handeln relevant sind – wie die Motivationen der Skeptiker zu verstehen sind, so daß sie nicht inert sind; ob die Skeptiker ein Kriterium haben, dementsprechend sie so oder so handeln; etc. –, werden von Sextus mit Bezug auf skeptische Sprache nicht erwähnt. Natürlich gibt es Fälle, in denen ein Sprecher hin und her überlegt, ob er etwas sagen soll: ob er überhaupt etwas sagen oder lieber schweigen soll; ob er diese oder jene Aussage machen soll; etc. Ein Beispiel hierfür wäre, wenn jemand sich fragt, ob er oder sie in einer gegebenen Situation die volle Wahrheit sagen soll, etwa vor Gericht. Der Typus von Äußerung, den Sextus in den Vordergrund stellt, ist dagegen alltäglicher. Ein Beispiel wäre: »Der Honig scheint mir jetzt süß«. Hier ist Sprechen in einem schwachen Sinn Handeln: Skeptiker teilen etwas mit. Sprechen hat eine Handlungsdimension, insofern dieses Kundtun wesentlich für die Interaktion mit anderen ist. Trotzdem wird Sprechen primär als Korrelat zu einem mentalen Zustand beschrieben, in dem etwas so-und-so erscheint. Fügen wir entsprechend noch eine Prämisse zu meiner Analyse skeptischer Sprache hinzu: V14: Skeptisches Sprechen ist das Offenlegen von mentalen Zuständen. Eine weitere Hinsicht, in der die Forschung vergleichsweise am Anfang steht, bezieht sich auf die gerade genannte radikale Infragestellung menschlicher Rationalität. Wenn unsere Selbstsicht irreführend ist und wir nicht aufgrund unseres eigenen Denkens und Urteilens handeln, trifft möglicherweise Ähnliches auf menschliches Sprechen zu. 17
Paris 2009.
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Die Skeptiker, von denen Diogenes Laertius berichtet, vergleichen Menschen mit Wespen, Vögeln und anderen Tieren (DL 9.67). Sprache gehört hier gewissermaßen zu den Lauten der Natur. Falls dies Standardargumente aus dem Pyrrhonischen Arsenal sind, liefern sie weitere Bestätigung für V13. Skeptisches Sprechen ist alles andere als assertorisch. Es ist eine Art Ausdrucksverhalten, ein Lautgeben von Zuständen, nicht ein Austausch von Informationen darüber, wie die Welt ist. Die Frage, ob Skeptiker sprechen können – d. h., ob es möglich ist, an der menschlichen Kommunikation teilzunehmen, wenn man auf assertorische Aussagen verzichtet – beantworte ich in (1998) mit einem qualifizierten »Ja«. Ich verteidige Sextus’ Strategie insofern, als skeptische Äußerungen verständlich sind und damit der Kommunikation dienen können. Allerdings weise ich auf das Problem hin, daß die elliptische Art des Sprechens parasitär erscheinen mag. Ein Skeptiker kann »… zu sein« weglassen und verkürzt »X scheint mir jetzt Y« sagen, ohne damit allzu kryptisch oder sonderlich zu reden; in der Alltagssprache fallen solche Formulierungen kaum auf. Aber er könnte dies nicht, wenn andere ihn nicht im Ergebnis mißverstünden: andere nehmen an, daß die elliptische Sprechweise eben dies ist, elliptisch, statt als eigene Sprachform absichtlich den Bezug auf die Wirklichkeit auszulassen. Diese Situation ist nicht zufriedenstellend. Wenn ein Skeptiker nur als Ausnahme existieren kann, ist der Versuch, andere zu Skeptikern zu konvertieren, zum Scheitern verurteilt. In dieser Frage rettet möglicherweise die radikalere Strategie, die Diogenes Laertius berichtet, die Skeptiker. Falls Menschen normalerweise sprechen, ohne Aussagen über die Wirklichkeit zu machen, sind die Skeptiker in guter Gesellschaft. Doch auch hier sind Fragen offen: schließlich ist vieles, was ein Skeptiker sagt, Teil philosophischer Untersuchung. Hier wäre es vernichtend, wenn der Anspruch an Rationalität derart weitgehend aufgegeben würde, wie der Bericht bei Diogenes es scheinen läßt. V15: Ob skeptisches Sprechen in einem problematischen Sinn parasitär ist, hängt davon ab, was als ›normales‹ Sprechen gilt.
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4.
Denken
Angenommen PH 1 enthält subtile Argumente, die die Skeptiker vor zwei Vorwürfen schützen: daß sie nicht handeln können und daß sie nicht sprechen können. Beide Vorwürfe und die skeptischen Repliken betreffen letztlich die Frage, was im Denken eines Skeptikers vorgeht. Entsprechend liegt eine weitere Frage nahe: Können Skeptiker denken? Diese Frage wurde traditionell übersehen. Der Einwand, ein Skeptiker könne nicht denken, kommt in PH 1 nicht vor. Insofern PH 1 Sextus’ Gesamtdarstellung der Pyrrhonischen Skepsis ist, könnte man annehmen, dieser Vorwurf sei nicht formuliert worden, vielleicht zum Vorteil der Skeptiker. PH 2 beginnt jedoch mit genau diesem Einwand und mit dem Hinweis, daß die Dogmatiker ihn mit großem Nachdruck vorbringen. Ergo: ob und wie Skeptiker denken können sollte als Standardproblem gelten, das in der Rekonstruktion der Skepsis behandelt werden muß. Diese Ansicht habe ich zunächst in (2006) vertreten und dann in weiterentwickelter Form in Belief and Truth (2012). 18 V16: Der Vorwurf, daß Skeptiker nicht denken können, ist ein Standardvorwurf. Die Fähigkeit zu denken wird in der antiken Philosophie nicht als eine formale Fähigkeit verstanden. Der Vernunftbegriff der antiken Philosophen ist inhaltlich. 19 Dies bedeutet, daß man die Fähigkeit zu denken erwirbt, indem man Begriffe erwirbt. Wenn man z. B. den Begriff von Baum und den Begriff von Busch hat, dann kann man fragen: »Ist X ein Baum oder ein Busch?«. Um diese Frage zu stellen, braucht man keine Ausbildung in Biologie oder Botanik. Ungefähre Begriffe (von den Stoikern als Vorbegriffe bezeichnet) sind genug. Ohne sie jedoch könnte man sich nicht in einer Weise auf die Welt beziehen, die für
K. M. Vogt, Skeptische Suche und das Verstehen von Begriffen, in: Christof Rapp und Tim Wagner (Hg.), Wissen und Bildung in der antiken Philosophie, Erster Kongress der Gesellschaft fu¨r antike Philosophie, Stuttgart 2006, 325–339. Auch Dies., Skepticism and Concepts: Can the Skeptic Think?, in: Vogt (2012), 140–157. Die relevanten Texte sind PH 2.1–11 und M 8.337–336a. Vgl. auch Corti (2009) zum Zusammenhang zwischen Sprechen und Verstehen. 19 Eine vielzitierte Rekonstruktion dieses Vernunftbegriffs ist M. Frede, Introduction, in: M. Frede und G. Striker (Hg.), Rationality in Greek Thought, Oxford 1996, 1–28. 18
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Menschen typisch ist. Man könnte nicht denken und nicht sprechen. Entsprechend müssen die Skeptiker auf den folgenden Einwand reagieren: Wer Fragen stellt und untersucht, was Skeptiker vermeintlich tun, verwendet Begriffe. Wer Begriffe verwendet, macht Annahmen darüber, was z. B. ein Baum oder ein Busch ist. Die Skeptiker aber behaupten, keine Annahmen über die Wirklichkeit zu machen. Wenn diese Selbstbeschreibung wahr ist, können sie nicht denken. In (1998) diskutiere ich die relevanten Prämissen über den Erwerb von Vernunft. Ich beziehe mich dabei auf Sextus’ Antwort auf den Apraxia-Vorwurf. Die Skeptiker sind aktiv, insofern sie sich von Erscheinungen leiten lassen. Diese Orientierung an Erscheinungen hat vier Komponenten, deren erste darin besteht, daß die Natur die Skeptiker zum Wahrnehmen und Denken befähigt (PH 1.23–24). Dies ist die einzige Stelle in PH 1, an der Sextus die skeptische Fähigkeit zu denken anspricht – wie gesagt allerdings, ohne den Einwand, Skeptiker könnten nicht denken, explizit zu machen. Ihre Bedeutung wird erst klar, wenn der in PH 2 als Standardeinwand klassifizierte Vorwurf berücksichtigt wird. Meine Analyse der skeptischen Replik in (2006) und (2012) ist konsistent mit meiner (1998) Interpretation von PH 1.23–24. Ich argumentiere, daß die Skeptiker dogmatische Theorien über den Erwerb von Vernunft dialektisch voraussetzen können. Nach Auffassung der Stoiker und Epikureer erwirbt man Begriffe nicht durch Zustimmung, sondern durch einen naturgeleiteten Prozeß. Entsprechend können Skeptiker begrifflich denken, was Annahmen über die Wirklichkeit involviert (z. B. darüber, was Bäume sind), ohne jemals zugestimmt zu haben. Die Konsistenz der skeptischen Philosophie, die nach Sextus’ Beschreibung ohne Zustimmung auskommt, bleibt damit gewahrt. V17: Die Skeptiker verteidigen ihre Fähigkeit zu denken, indem sie dialektisch stoische und epikureische Prämissen über den Erwerb von Begriffen voraussetzen; dieser Erwerb involviert keine Zustimmung. Die skeptische Fähigkeit zu denken ist grundlegend für alles, was Sextus über das skeptische Leben zu sagen hat. Ohne sie kann ein Skeptiker den Honig, der entweder süß oder bitter schmeckt, weder schmekken noch sehen. Er würde das, was er sieht, nicht als Honig sehen. Seine Vorstellungen – was ihm so-und-so erscheint – wären nicht lin217 https://doi.org/10.5771/9783495807958 .
guistisch und begrifflich. Und dies bedeutet: als Skeptiker könnte man nicht untersuchen, wie der Honig ist. Das griechische Wort skepsis bedeutet Untersuchung. Die Skeptiker sind, was auch immer sonst sie sind, Untersuchende. So beschreibt Sextus die Skepsis im ersten Paragraphen von PH 1. Manche Philosophen beenden die Suche, indem sie Antworten finden. Andere gelangen zu der These, Antworten seien nicht zu finden. Die Skeptiker sind eine dritte Gruppe: sie untersuchen weiter. Mein Nachwort endet mit zwei Betrachtungen zur skeptischen Selbstsicht als Untersuchende. Striker (2001) führt eine weitere Prämisse in die Diskussion der antiken Skepsis ein. S5: Es ist das Wesen von Untersuchung, auf die Entdeckung von Wahrheit ausgerichtet zu sein. Wer S5 vertritt, mag Sextus’ Stil der skeptischen Untersuchung kritisch sehen. Jede einzelne Untersuchung führt zur Urteilsenthaltung. Die Methoden der Untersuchung, einschließlich der Anwendung der sog. Tropen, scheint genau hierauf ausgerichtet zu sein. Das heißt, skeptische Untersuchung scheint auf Urteilsenthaltung statt auf die Entdeckung der Wahrheit zu zielen. Diese Diagnose stellt das gesamte skeptische Projekt in Frage: Was als der Kern der Skepsis gilt, nämlich das Untersuchen, qualifiziert sich scheinbar nicht als Untersuchung. Können die Skeptiker gegen diesen Einwand, der auf Striker – und nicht auf antike Kritik an der Skepsis – zurückgeht, verteidigt werden? S5 ist, so argumentiere ich in »The Aims of Skeptical Investigation« (2011 und Kapitel 5 in 2012), zu einfach. Man braucht nur an die frühen Sokratischen Dialoge zu denken, um zu sehen, daß Untersuchung sich auf verschiedene Weise am Wert von Wahrheit orientieren kann. Sokrates, so wie Platon ihn darstellt, ist dem Wert von Wahrheit verpflichtet. Seine Methode der Untersuchung ist allerdings in vielen Hinsichten negativ. Eine Frage wird aufgeworfen. Verschiedene Antworten von Gesprächspartnern werden untersucht und zeigen sich als problematisch. Am Ende der Unterhaltung ist die Frage weiter offen. Das heißt nicht, daß die Untersuchung nicht einen Fortschritt für den kognitiven Zustand der Gesprächsteilnehmer darstellt. Unterscheidungen werden getroffen, Positionen werden auf ihre Implikationen geprüft, Verwirrungen zumindest graduell aufgeklärt usw. Am Ende hat man viel gelernt. So sind sich etwa die Gesprächsteilnehmer im 218 https://doi.org/10.5771/9783495807958 .
Menon, um nur ein Beispiel zu nennen, darüber klar geworden, daß man eine Reihe von weiteren Annahmen akzeptieren muß, wenn man die Position vertritt, Tugend sei lehrbar. Entsprechende Schritte finden sich nicht nur in Sokratischen Dialogen, sondern in vielen Zusammenhängen, in denen Philosophen heute verschiedene Ansätze zu einer Frage durchdenken. Entsprechend kann S5 das Spektrum von unterschiedlichen Methoden der Untersuchungen nicht erfassen. Untersuchung zielt auch auf den Wert von Wahrheit ab, wenn ihre Methode auf das Ausräumen von Falschheiten gerichtet ist. In diesem Sinne setze ich folgende Thesen an die Stelle von S5: V18: Es ist das Wesen von Untersuchung, am Wert von Wahrheit ausgerichtet zu sein. V19: Untersuchung, die am Wert von Wahrheit ausgerichtet ist, zielt auf das Finden von Wahrheiten und das Vermeiden von Falschheiten. Im Lichte von V18 und V19 erscheint Sextus’ Stil skeptischer Untersuchung als echte Untersuchung. Sie priorisiert das Vermeiden von Falschheiten – und das bedeutet, das Vermeiden von Einstellungen, in denen man Falsches für wahr hält –, indem sie überall dort, wo es Gegenargumente und Gegenbeispiele für eine These gibt, zur Urteilsenthaltung führt. Aus Sextus’ Sicht sind Skeptiker in einer kognitiv besseren Lage als Nicht-Skeptiker. Sie hängen keinen Annahmen an, zu denen Gegenargumente formuliert werden können. Aus diesen Überlegungen ergibt sich folgende Charakterisierung: V20: Untersuchung ist das Wesen der antiken Skepsis. V20 bezieht sich absichtlich nicht allein auf Sextus’ Version der Skepsis und nicht allein auf den Pyrrhonismus, sondern auch auf die Akademische Skepsis. V20 stellt die Zusammenfassung meiner Arbeiten zur Skepsis über mehr als fünfzehn Jahre dar. Warum ist V20 eine These und nicht eine Selbstverständlichkeit? Je länger ich zur Skepsis gearbeitet habe, desto klarer ist mir geworden, wie stark die frühe Forschungsliteratur (aus den 1980er und 90er Jahren, und noch ausgeprägter vor den 1980er Jahren) von einem Cartesischen Bild der Skepsis geprägt war. In einem einflußreichen Aufsatz von 1982 fragt Burnyeat beispielsweise, warum die antiken Skeptiker die Bedrohung 219 https://doi.org/10.5771/9783495807958 .
der Außenweltskepsis nicht gesehen haben. 20 Diese Frage würde heute so nicht mehr gestellt werden. Damals erschien es noch, als ob antike und moderne Skeptiker ungefähr dieselben Themen ansprechen und Probleme aufwerfen. In diesem Sinne konnte man fragen: Warum gehen die modernen ›weiter‹ als die antiken Skeptiker? Diese Frage ist irreführend und geht am Wesen der antiken Skepsis vorbei. Die antike Skepsis ist – und dies ist wiederum eine Einsicht, die Striker über die Jahre entwickelt hat – heutiger Wissenschaft und Philosophie verwandt. Viele Forscher heute finden es unproblematisch, mit Hypothesen und Modellen zu arbeiten, deren Stärken und Schwächen sie kennen. Sie verpflichten sich nicht auf die Wahrheit einer Theorie oder eines Modells, obwohl sie innerhalb dieser Theorien und Modelle forschen. Ähnlich geht es vielen Philosophen, die über grundlegende Probleme wie Freiheit und Determinismus oder Physikalismus in der Philosophie des Geistes arbeiten. Nach Jahren der Forschung hat man die theoretischen Optionen in vielfacher Hinsicht durchdacht. Man sieht die Stärke von Argumenten auf verschiedenen Seiten. Wenn man einem Pyrrhonischen Skeptiker ähnelt, dann enthält man sich z. B. des Urteils darüber, ob es Freiheit gibt oder ob Physikalismus die wahre Theorie der Wirklichkeit ist. Wenn man einem Akademiker ähnelt, dann mag man an der Ausarbeitung von Positionen zu diesen Problemen arbeiten, in einer Weise, die vorübergehend kaum skeptisch erscheint. Carneades, einer der einflußreichsten Akademiker, hat einer Anekdote zufolge auf einer Reise nach Rom sein dortiges Publikum frustriert. 21 Er hielt eine Rede über das Wesen von Gerechtigkeit, mit großem Erfolg. Am nächsten Tag hielt er eine Rede, in der er in Frage stellte, ob es so etwas wie Gerechtigkeit überhaupt gibt. Diese Geschichte illustriert, daß ein Akademiker konstruktiver vorgehen kann als ein Pyrrhoneer und für eine Weile eine Theorie oder ein Modell ausbauen mag – um dann allerdings die Stärke von Gegenargumenten genauso ernsthaft zu untersuchen. Philosophen, die so vorgehen, untersuchen in Sextus’ Worten »weiter«: Sie haben weder die Wahrheit gefunden, noch sind sie zu der Ansicht gelangt, daß die Wahrheit un-
M. Burnyeat, Idealism and Greek Philosophy: What Descartes Saw and Berkeley Missed, in: Philosophical Review 91 (1982), 3–40. 21 Lactantius, Epitome 55.8, LS 68M. 20
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auffindbar ist. Mehr noch: nichts an ihrer Beschäftigung führt auch nur in die Nähe von moderner Außenweltskepsis. Die Anekdote von Carneades’ Reise nach Rom ist zudem in einer anderen Hinsicht bemerkenswert: Carneades war als Roms Botschafter unterwegs. Wer würde einem Außenweltskeptiker (falls es so jemanden tatsächlich gäbe) ein wichtiges politisches Amt anvertrauen? Daß jemand, der Skeptiker im Akademischen Sinne ist, dafür sehr wohl in Frage kommt, ist eine wesentliche Einsicht über antike Skepsis. Antike Skeptiker sind nicht durchweg ›negativ‹, wie es Hegel schien. 22 Ihre Verpflichtung auf Untersuchung – genauer gesagt, auf das Weiter-Untersuchen – ist vereinbar damit, in ethischen und politischen Kontexten eine konstruktive Rolle zu spielen. Was zu tun ist, ist eine Frage unserer besten gegenwärtigen Überlegung. Die Idee dagegen, daß wir ›wissen‹, was gut und schlecht und falsch und richtig ist, erscheint naiv: Warum wir? Gibt es nicht andere, die auch nachdenken und doch nicht mit uns übereinstimmen? Blicken wir nicht zurück auf mehrere tausend Jahre Geschichte, in denen Menschen ihre Ansichten geändert haben? Ist es nicht außerordentlich naheliegend, daß auch wir weiterdenken und forschen werden? Gleichzeitig haben wir, wenn wir wie antike Skeptiker sind (und insbesondere, wenn wir wie Akademische Skeptiker sind), eine Grundlage zum Handeln: Wir können ›nach bestem Wissen‹ handeln, wohl wissend, daß dies kein Wissen im Sinne der Dogmatiker ist. Jemand, der wie ein antiker Skeptiker denkt, übersieht nichts, wenn er nie auf Außenweltskepsis zu sprechen kommt. Bestenfalls liefert sie ein Gedankenexperiment, bei dessen Exploration man etwas über menschliches Denken lernen könnte. Wer im Sinne der antiken Skeptiker untersucht, der will herauszufinden, wie die Welt in bestimmten Hinsichten ist. Die anti-dogmatische Provokation liegt demnach nicht in der Frage, ob menschliches Denken und Wahrnehmen Zugang zur sogenannten ›Außenwelt‹ hat. Sie besteht in der Kritik an denen, die Untersuchungen für abgeschlossen halten und dogmatisch Thesen vortragen, zu denen es Gegenargumente gibt. Wer so forscht, will z. B. herausfinden, welches Medikament bei einer bestimmten Krankheit hilft; wie zerstörerische Kriege verhindert werden können; wie sich bestimmte Verhaltensweisen oder Abkommen auf die WeltZum Beispiel in G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II (= Werke Bd. 19), Frankfurt a. M. 1986, 360.
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wirtschaft auswirken werden; warum Arten von Lebewesen entstehen oder aussterben; wie menschliches Denken und Handeln funktionieren; und so fort. Dies ist, in etwa, die Perspektive der antiken Skepsis – die Perspektive von jemandem, der nicht aufgegeben hat, diese und ähnliche Dinge herausfinden zu wollen, motiviert von der Bedeutung dieser Fragen für das menschliche Leben und den menschlichen Alltag. Es ist, so mein Vorschlag, eine ausgesprochen attraktive Perspektive für Philosophen, Wissenschaftler, Akteure in Politik und Wirtschaft, und – was vielleicht noch grundlegender ist – für die, die ein gutes Leben führen wollen. 23
Ich danke dem Alber Verlag und insbesondere Lukas Trabert für seine Unterstützung bei der Vorbereitung dieser Studienausgabe. Jens Haas hat mehrere Versionen dieses Nachworts bearbeitet; wie bei meinen anderen Veröffentlichungen zur Skepsis in den letzten Jahren waren seine Kommentare von höchstem Wert. Thimo Heisenberg danke ich für die bestmögliche Mitarbeit als research assistant.
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