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German Pages 474 Year 2014
Gundolf S. Freyermuth, Lisa Gotto, Fabian Wallenfels (Hg.) Serious Games, Exergames, Exerlearning
Bild und Bit. Studien zur digitalen Medienkultur | Band 2
Editorial Die interdisziplinäre Reihe Bild und Bit versammelt Positionen zu einem neuen Forschungsfeld: den medientheoretischen und medienästhetischen Konsequenzen digitaler Produktion, Distribution und Rezeption audiovisueller Werke. Im Zentrum des Interesses stehen dabei zwei Prozesse, die den aktuellen Medienwandel dominieren: einerseits die Ausbildung neuer nonlinearer (oder zumindest nicht-so-linearer) Formen audiovisueller Narration, wie sie sich vor allem in Computer- oder Videospielen vollzieht, andererseits die parallele digitale Transformation linearen audiovisuellen Erzählens, insbesondere in den Bereichen Spielfilm und Fernsehserie. Gerade in ihrem spannungsreichen Mit-, Gegen- und Zueinander prägen beide Prozesse den epochalen Übergang von industrieller zu digitaler Medienkultur. Kulturelle Formen werden dabei nicht nur dar-, sondern überhaupt erst hergestellt – in einem komplexen Wechselspiel technologischer und sozialer, ästhetischer und epistemologischer Faktoren. Neben dem ästhetischen Wandel audiovisuellen Erzählens umfasst das inhaltliche Spektrum der Reihe die konstitutive Beteiligung digitaler Medienkultur an der Herausbildung neuer künstlerischer Formen und Praxen. Wichtige Themen sind u.a. Fragen der Autorenschaft, die sich aus der Demokratisierung der audiovisuellen Produktionsmittel und Distributionsmöglichkeiten ergeben, die Audiovisualisierung nonfiktionalen Wissenstransfers, medientechnologische Innovation sowie die medienästhetisch instruktive Eskalation von Inter- und Transmedialität. Der skizzierte Wandel kulminiert gegenwärtig in der Emergenz einer historisch neuen Medienkultur, die in nahezu allen Bereichen audiovisueller Produktion die Reevaluierung etablierter Praktiken und medientechnische wie medienästhetische Neuorientierung einleitet. Die schwierige Aufgabe, diesen tiefgreifenden Wandel audiovisueller Kultur gewissermaßen in statu nascendi zu begreifen, kann und soll wesentlich durch die Verbindung wissenschaftlicher und künstlerischer Perspektiven und Forschungsergebnisse gelingen. Die Reihe wird herausgegeben von Gundolf S. Freyermuth und Lisa Gotto.
Gundolf S. Freyermuth, Lisa Gotto, Fabian Wallenfels (Hg.)
Serious Games, Exergames, Exerlearning Zur Transmedialisierung und Gamification des Wissenstransfers
Diese Publikation ist an der ifs internationale filmschule köln entstanden und wurde durch ihre Unterstützung ermöglicht.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Gundolf S. Freyermuth, Lisa Gotto, Lino Rettinger, Fabian Wallenfels Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2166-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 9
I TRANSMEDIALISIERUNG DES WISSENSTRANSFERS Einleitung Gundolf S. Freyermuth | 15 Bildung neu gedacht. Spiel, Simulation, Performanz, Transmedia-Navigation Henry Jenkins et al. | 23 Lernen mit digitalen Medien. Zur Gestaltung der Lernszenarien Isabel Zorn | 49 Philogenie des Spiels. Zur evolutionären Verbindung von Lernen und spielerischer Motorik Chris Crawford | 75 Zwischen Planspiel und Trainingssimulator. Oder: Was man von Computerspielen (nicht) über den Krieg lernen kann Benjamin Beil | 91 Fallstudie 1: New Horizon – Das Spiel mit der Geschichte. Historische Narration in Dokumentarfilm und Game Dominik Wessely | 123
II SERIOUS GAMES Einleitung Lisa Gotto | 139
Die ersten zehn Jahre der Serious Games-Bewegung. Zehn Lektionen Simon Egenfeldt-Nielsen | 145 Serious Games – Ernstes Spielen. Über das Problem von Spielen, Lernen und Wissenstranfer Sonja Ganguin und Anna Hoblitz | 165 Fallstudie 2: Game of Drones. Ein persuasives Spiel zur kritischen Reflexion des anbrechenden Drohnenzeitalter Marcus Bösch | 185 Fallstudie 3: Tablet-Adventuregame zum Zweitspracherwerb bei Vorschulkindern. Ein Konzept inklusive Bär und Eichhörnchen Linda Kruse | 197 Fallstudie 4: Das V ITA -Konzept. Game-Based Learning zur Transferüberprüfung in einem integrierten Ansatz Thorsten Unger | 215
III EXERGAMES UND EXER -LEARNING GAMES Einleitung Fabian Wallenfels | 227 Exergames. Rhetoriken und soziale Rituale Ian Bogost | 233 Interface Control Meaning. Eine typologische Gegenstandssichtung des Phänomens Exergames Tobias Kopka | 265
Wie viel Sport steckt wirklich in digitalen Spielen? Entwurf einer Taxonomie Jörg Müller-Lietzkow | 289 Bewegung und Lernen. Lernpotenziale im Spannungsfeld motorischen und kognitiven Lernens Rolf Kretschmann | 323 »Rhythmusarbeit«. Revisited Rolf F. Nohr | 351 Computerspiele als Therapie. Zur Wirksamkeit von »Games for Health« Linda Breitlauch | 387 Fallstudie 5: H OPSCOTCH – Exer-Learning Games. Digitales Bewegungslernen in Schulen Martina Lucht, Daniel Joerg und Kati Breitbarth | 399
Nachwort: Serious Game(s) Studies. Schismen und Desiderate Gundolf S. Freyermuth | 421
Autorinnen und Autoren | 465
Vorwort G UNDOLF S. F REYERMUTH , L ISA G OTTO UND F ABIAN WALLENFELS
Die enge Verbindung von Spielen und Lernen geht evolutionsgeschichtlich der Ausbildung hominiden Lebens voraus. Im Prozess medialer Digitalisierung erreicht sie eine neue Qualität: Zum einen entwickelten sich Computerspiele – mit ihrer narrativen Wende seit den siebziger Jahren und ihrer hyperrealistischen Wende seit den neunziger Jahren – zu einem Medium, das mehr als rein ludische Erfahrungen zu vermitteln vermag und daher in Konkurrenz zu den älteren narrativ-audiovisuellen Medien Theater, Film und Fernsehen tritt. Zum zweiten initiierte im vergangenen Jahrzehnt eine dritte, die kinetische Wende digitaler Spiele über die Ergänzung des Graphical User Interface (GUI) durch Natural User Interfaces (NUIs), insbesondere durch Touch- und Gestensteuerung, eine Verkörperlichung interaktiver Spiel- und damit auch Erzähl- und Lernerfahrungen. Der vorliegende Band reflektiert diesen Wandel aus einer Vielzahl medientheoretischer und medienpraktischer Perspektiven. Er versammelt internationale Forschungsergebnisse im Bereich der Game Studies und präsentiert aktuelle Fallstudien zu Serious Games. Zu den Autoren zählen Medienhistoriker, Medienpädagogen und Medienökonomen, Bildungsforscher und Sportwissenschaftler, Game Designer und Filmemacher. Gegliedert sind die Beiträge in drei interdisziplinär organisierte Kapitel zu den Themen »Transmedialisierung des Wissenstransfers«, »Serious Games« sowie »Exergames und Exerlearning Games«. Das erste Kapitel analysiert drei historische Tendenzen, die Bildung und Ausbildung nachhaltig verändern: das Entstehen eines neuen digitalen Wissensraums, die Medialisierung bzw. Transmedialisierung des Wissenstransfers sowie den Prozess der zweifachen »Gamification«, geprägt zum einen von der Durchsetzung von Serious Games, zum zweiten von der Nutzung einzelner Verfahren des Game Designs zur Vermittlung von Wissen und zum Trainieren von Fähigkeiten in anderen Kontexten. Henry Jenkins untersucht diesen Prozess aus bil-
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dungswissenschaftlicher, Isabel Zorn aus medienpädagogischer Perspektive, Chris Crawford entwirft eine evolutionsgeschichtliche Sicht, Benjamin Beil eine medienwissenschaftliche. In der ersten Fallstudie des Bandes vergleicht schließlich der Filmemacher Dominik Wessely am Beispiel einer aktuellen Produktion die Vermittlung historischen Wissens in Dokumentarfilm und Serious Game. Das zweite Kapitel verdeutlicht, dass sich Serious Games nicht auf eine einzelne Funktion reduzieren lassen. Erst im Zusammenspiel von technologischen Faktoren, ästhetischen Formationen und gesellschaftlichen Institutionen zeigt sich die ganze Bandbreite dessen, was sie für die Umgestaltung von Wissensordnungen zu leisten vermögen. Während Simon Egenfeldt-Nielsen rückblickend von der Konstitutionsphase der Serious Games berichtet und aus den gewonnenen Erkenntnissen Prognosen für ihre Zukunft ableitet, konzentrieren sich Sonja Ganguin und Anna Hoblitz auf eine Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Einsatzes von Serious Games. Als praktisch agierende Spiele-Entwickler wählen Marcus Bösch und Linda Kruse einen anwendungsbezogenen Zugang. Ihre Fallstudien fokussieren weniger die Evaluation fertiger Spiele als vielmehr die Konzeption möglicher Spiele – ihre komplexe Anordnung ebenso wie ihr reflexives Potenzial. Abschließend stellt Thorsten Ungers Beitrag ein Konzept für die Informationsvermittlung durch praxisnahe spielerische Simulation vor. Das dritte Kapitel nähert sich »Exergames und Exerlearning Games« aus den Perspektiven der Game Studies, der Sportwissenschaften und des Game Designs: Ian Bogost und Tobias Kopka beschäftigen sich in ihren Beiträgen mit den vielfältigen Zusammenhängen von digitalen Spielen und motorischer Bewegung und der Frage, wie sich Exergames genau definieren lassen. Jörg Müller Lietzkow fragt grundsätzlich danach, wie viel Sport sich in digitalen Spielen findet, Rolf Kretschmann setzt sich mit dem Stand sportwissenschaftlicher Forschung zu Exergames auseinander, und Rolf F. Nohr betrachtet das Verhältnis von Rhythmus, Arbeit, Computer und Spiel aus diskursarchäologischer Sicht. Die Beiträge von Linda Breitlauch sowie Martina Lucht, Daniel Joerg und Kati Breitbarth verfolgen schließlich einen praxisnahen Ansatz: Sie demonstrieren die Wirksamkeit von digitalen Spielen – zu therapeutischen Zwecken wie im schulischen Einsatz. Jedem Kapitel ist eine gesonderte Einleitung vorangestellt, die das jeweilige Themenfeld skizziert und die einzelnen Beiträge vorstellt. Abgerundet wird der Band durch ein ausführliches Nachwort, das die Auseinandersetzung mit Serious Games in der Geschichte der Game Studies kontextualisiert und die Diversität der Ansätze medientheoretisch reflektiert. Die Anfänge des vorliegenden Bandes gehen auf das von Medien.NRW geförderte Forschungsprojekt »ssl-sportlich spielend lernen« zurück, geleitet von
V ORWORT
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Gundolf S. Freyermuth und Dominik Wessely. Für die hervorragende Unterstützung und Zusammenarbeit danken wir Rainer Weiland von der Staatskanzlei des Landes NRW sowie der Verwaltung der ifs internationale filmschule köln unter der Leitung von Gabi Reil für den unermüdlichen Kampf mit den Widrigkeiten der Förderungsbürokratie. Den Abschluss fand das Forschungsprojekt im März 2011 mit der zweitägigen Fachkonferenz »Sportlich spielend lernen: Lehren und Lernen mit Exergames?«. Wir danken der Geschäftsführerin der Film- und Medienstiftung NRW Petra Müller für die Förderung der Konferenz, Tobias Kopka und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der ifs für die professionelle Ausrichtung, Miriam Edinger und Uljana Thaetner für die Pressearbeit. Die Referenten sowie die Teilnehmer aus Wissenschaft, Industrie, Politik, Bildung und Ausbildung haben durch ihre Vorträge und Anregungen wesentlich zur inhaltlichen Ausrichtung des Sammelbandes beigetragen. Wir danken unseren Autoren für die Textarbeit, den ifs-Geschäftsführern Simone Stewens und Martin Schneider für die Förderung der Publikation sowie unserem studentischen Mitarbeiter Lino Rettinger für seinen Einsatz bei der Erstellung der Druckvorlage. Weitere Informationen zu diesem Band und der Schriftenreihe »Bild und Bit. Studien zur digitalen Medienkultur« finden sich unter www.bildundbit.de.
Transmedialisierung des Wissenstransfers
Einleitung G UNDOLF S. F REYERMUTH
Jede Epoche konstruiert ihren eigenen Wissensraum. In den jeweils gültigen Verfahren, Informationen zu sammeln, zu ordnen, zu tradieren und zu lehren, reflektiert sich der zivilisatorische Stand. Vorindustriell pflegte Wissensvermittlung zwischen den Polen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu schwanken, wenn auch zwischen Antike und Renaissance oder Renaissance und Aufklärung in höchst unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen. An dieser grundsätzlichen epistemologischen Struktur abendländischer Wissensvermittlung änderte sich mit der einsetzenden Industrialisierung zunächst nur wenig. Dennoch kam es im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einschneidenden Umbrüchen. Zum einen verschoben Massenalphabetisierung und die Einführung diverser Massendruckverfahren sukzessive die Dominanz mündlicher Instruktion zugunsten schriftlicher Vermittlung. Dieser Prozess lässt sich auch als Verschriftlichung und damit Verwissenschaftlichung einer wachsenden Zahl von gesellschaftlichen Bereichen begreifen, die zuvor überwiegend auf mündlicher Kommunikation und Tradierung basierten, auf vorbildhaften Anlernverfahren, Meister-Schüler-Verhältnissen, persönlichen Interaktionen zwischen Lehrenden und Lernenden. Zum zweiten wurden elaborierte Verfahren zur arbeitsteilig-hierarchischen Bewältigung materieller Produktion entwickelt. Deren Erfolg führte zu ihrer Übernahme auch in andere gesellschaftliche Bereiche, etwa in die Verwaltung der industriellen Massen, die (massen-) kulturelle Produktion, die organisierte wissenschaftliche Forschung sowie schließlich in die schulische und universitäre Lehre. Die industrielle Ordnung des Wissens, die sich so zwischen Aufklärung und Postmoderne etablierte, gründete auf der Taylorisierung der Produktion von Wissen wie seiner weitgehend über das Medium der Schrift standardisierten Vermittlung.
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Spätestens allerdings seit Beginn des 20. Jahrhunderts – in der zweiten und dritten Phase der Industrialisierung – arbeiteten diesem Prozess der Verschriftlichung eine Vielzahl von Anstrengungen entgegen, die monomediale Konzentration der Wissensvermittlung durch Hinzuziehung neuer industrieller Medien zu konterkarieren. An nahezu jedes von ihnen – Fotografie, Telefon und Schallplatte, Film und Mikrofiche, Radio, Fernsehen und Video – knüpften sich zeitgenössisch denn auch große, im Nachhinein höchst übertriebene Bildungs-Hoffnungen. Dass sie sich nicht erfüllten, hatte vielfältige Gründe, kulturelle und soziale, vor allem aber technische und ökonomische: Die diversen analogen Verfahren der Ton- und Bildaufzeichnung sowie die Distribution von Tönen und Bildern blieben in der Herstellung und Handhabung zu technisch-umständlich und arbeitsteilig-aufwändig, um im Alltag von Forschung und Lehre genutzt zu werden, ob nun von Forschenden und Lehrenden oder von den Lernenden. Scheiterte unter den Bedingungen industrieller Technologie also der Versuch einer Multimedialisierung des Wissenstransfers weitgehend, so scheint sich nun dessen Transmedialisierung mit digitalen Mitteln zu realisieren. Diesen aktuellen Wandel, den nach der Industrialisierung zweiten großen Bruch in der Produktion und Tradierung von Wissen, befördert dreierlei. Erstens die doppelte Demokratisierung der Verfügung über die technischen Mittel zur transmedialen – textuellen, auditiven, visuellen und audiovisuellen – Produktion, d. h. ihre drastische Verbilligung und Vereinfachung. Zweitens die ebenso doppelte Demokratisierung der Verfügung über die technischen Mittel zur globalen Distribution transmedialer Wissensspeicher.1 Drittens und wohl entscheidend der Umstand, dass die Methoden der Massenbildung, entwickelt für die Bedürfnisse der Industriegesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts, zunehmend vor den individualisierten Anforderungen einer digitalen Wissensökonomie versagen. Was aber einerseits als Bruch erscheint – etwa mit der Textbasierung des Wissens oder seiner druckbasierten Standardisierung –, setzt andererseits eine Tendenz fort, die in der industriellen Kultur von Anbeginn wirkte: Medialisierung, d.h. das Zurückdrängen nicht-technisch vermittelter Kommunikation wie in Arbeit und Alltag auch in der Vermittlung von Wissen. Diese Kontinuität
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Beide Demokratisierungen legen die Grundlage für die von Henry Jenkins zuerst beschriebene »participatory culture«: »A participatory culture is a culture with relatively low barriers to artistic expression and civic engagement, strong support for creating and sharing creations, and some type of informal mentorship whereby experienced participants pass along knowledge to novices.« (Jenkins, Henry et. al.: Confronting the Challenges of Participatory Culture. Media Education for the 21st Century, Chicago: The MacArthur Foundation 2009, S. 3)
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zeigt sich nicht zuletzt darin, dass seit einigen Jahren erneut große BildungsHoffnungen aufkommen, nun erwartungsvoll auf die neuen digitalen Medien gerichtet. Von den gegenwärtigen Anstrengungen, diese erkannten oder erspürten Potenziale zu verwirklichen, handeln die fünf Beiträge dieses Kapitels. Dabei untersuchen die ersten beiden grundsätzlich die Frage, wie sich die neuen digitalen Medien zur Vermittlung von Wissen innerhalb der überkommenen Institutionen Schule und Universität einsetzen lassen, während die folgenden drei sich auf die Rolle konzentrieren, die Spielen in der digitalen Kultur zufallen könnte bzw. sollte. Henry Jenkins zentrales Anliegen ist es, das aus der industriellen Epoche überkommene Ausbildungssystem an die Bedürfnisse der Gegenwart und zukünftiger Generationen anzupassen. Dabei betont er, dass es nicht darum gehen kann, traditionelle Elemente von Bildung – wie etwa Lese- und Schreibfähigkeit – durch neue mediale Kompetenzen wie Performanz oder Transmedia-Navigation zu ersetzen. Vielmehr müssen die neuen die alten Fähigkeiten ergänzen, nicht zuletzt auch, weil beide von gänzlich anderer Qualität sind: »Eine NeueMedien-Kompetenz sollte als soziale Fähigkeit verstanden werden, als Möglichkeit der Interaktion innerhalb einer größeren Öffentlichkeit, und nicht einfach als eine individuelle Fähigkeit, die nur für den persönlichen Ausdruck geeignet ist.«2 (»Bildung neu gedacht. Spiel, Simulation, Performanz, Transmedia-Navigation«) Ausgehend von der provokanten These: »Durch mediale Lernangebote wird per se weder Effizienz- noch Effektivitätssteigerung erreicht«3, untersucht Isabel Zorn dann aus medienpädagogischer Perspektive den Einfluss der digitalen Medien auf Lernprozesse. Wie schon unter analogen sei nun auch unter digitalen Bedingungen nicht der Einsatz bestimmter technischer Hilfsmittel entscheidend für den Lernerfolg, sondern die stimmige Gestaltung von Lernszenarien. Der Aufsatz schließt mit einer Reihe von Beispielen für solch gelungenes »Zusammenwirken aus Mensch, Medium, Raum und Inhalt.«4 (»Lernen mit digitalen Medien. Zur Gestaltung der Lernszenarien«) Eine andere Kontinuität im Übergang zur digitalen Kultur sieht Chris Crawford im Bereich des Spiels. Sein Essay beschreibt vier evolutionsgeschichtliche Meilensteine, die den bis heute engen Konnex von Lernen und Spielen herstellten, von der Ausbildung eines komplexen Nervensystems, dem Spielen als Zu-
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In diesem Band S. 26.
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S. 50.
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S. 71.
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fallsgenerator für seine Verknüpfungen diente, über Jagd- und Steinwurfspiele hin zu manipulativem Spiel, in dem sich erstmals motorische und kognitive Elemente mischen. Dabei stellt er die konstitutive Bedeutung der Motorik für das menschliche Lernen heraus: »Der Geist lernt beim Spielen durch den Körper, und wir müssen dieser Tatsache Rechnung tragen, wenn wir unser Erziehungswesen verbessern wollen.«5 (»Die Phylogenese des Spielens«) Wenn aber, wie Crawford schreibt, »Spielen und Lernen zwei Seiten derselben evolutionären Medaille sind«,6 stellt sich unmittelbar die Frage, was sich – jenseits von Serious Games, die ausdrücklich zu Zwecken der Wissensvermittlung geschaffen wurden – schon beim »ganz normalen« Spielen lernen lässt. Am Beispiel von populären Unterhaltungsspielen und in dem Bemühen, Forschungsansätze des Game-Based Learning mit medienkulturwissenschaftlichen bzw. medienästhetischen zu verknüpfen, untersucht Benjamin Beil, welches Wissen Computerkriegsspiele vermitteln. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass einerseits die analysierten Spiele weder militärisches Training im Sinne von Exergames bieten noch wirklich historisches Wissen oder gar Ideologien transportieren. Andererseits jedoch kann er zeigen, dass gerade massenwirksame AAA-Titel wie CALL OF DUTY: BLACK OPS in ihrer ästhetischen Gestaltung »eine kritische oder zumindest selbstreflexive Auseinandersetzung mit der medialen Formatierung des Krieges« inszenieren.7 (»Zwischen Planspiel und Trainingssimulator. Oder: Was man von Computerspielen [nicht] über den Krieg lernen kann«) Ein medienpraktisch orientiertes Komplement zu Beils Erkundung spielerischer Wissensvermittlung liefert Dominik Wessely in der ersten Fallstudie des Bandes. Ausgehend von dem Anspruch historischer Authentizität, den aufwändig produzierte Spiele des Genres History Adventure zunehmend erheben, vergleicht er die Strategien der Wissensvermittlung in linearen und nonlinearen Audiovisionen: »Welche Themen bzw. welche Formen der Vermittlung eignen sich für eine Darstellung im Dokumentarfilm? Welche als Szenario für ein Game?«8 Im nächsten Schritt stellt er dann die zwischen Film und Game divergierenden inhaltlichen und ästhetischen Strategien am Beispiel des transmedialen 360°Projektes NEW HORIZON dar, das ein zweiteiliges Dokudrama über die Geheimmissionen der Seefahrer Ferdinand Magellan und Francis Drake mit einer Webapplikation und einem Serious Game kombiniert (Fallstudie 1: »NEW HORIZON –
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S. 90.
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S. 79.
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S. 115.
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S. 124.
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Das Spiel mit der Geschichte. Historische Narration in Dokumentarfilm und Game«) In ihrer Summe belegen und analysieren die Beiträge dieses ersten Kapitels zwei historische Tendenzen bzw. Umbrüche im Bereich des kulturellen Wissenstransfers. Zum einen setzt sich die mit dem Buchdruck subkutan beginnende und mit dem industriellen Massendruck massenwirksam werdende Tendenz zur Medialisierung der Vermittlung von Wissen fort und eskaliert zur Transmedialisierung. Auf diesen Prozess reagiert Henry Jenkins’ Desiderat der Transmedia-Navigation ebenso wie Isabel Zorns Aufforderung, Lernszenarien für die digitalen Medien zu entwickeln. Die Wissensvermittlung in AAA-Titeln, die Benjamin Beil untersucht, findet dabei im Kontext intensiver Transmedialität statt – als Verschmelzung der Medien innerhalb eines ästhetischen Produkts. Das 360°Projekt hingegen, das Dominik Wessely beispielhaft präsentiert, operiert mit extensiver Transmedialität – der Distribution der zu vermittelnden Inhalte über mehrere Medien.9 Zum zweiten setzt mit der Digitalisierung eine stete gamification oder Spielefizierung des Wissenstransfers ein. Der Begriff ist freilich gegenwärtig doppelt belastet: durch das hohe Maß von »Hype« und übertriebenen Ansprüchen und Erwartungen, die Proponenten der gamification wie etwa Jesse Schell10 oder Gabe Zichermann und Christopher Cunningham11 geweckt haben, und wesentlicher noch durch das verengende Verständnis des Begriffs leider auch im akademischen Umfeld, das unter gamification lediglich die gezielte Applikation von Elementen digitaler Spiele – etwa von Feedback-Mechanismen, Wettbewerbsund Belohnungssystemen – in nicht-spielerischen Bereichen wie Marketing oder Ausbildung meint.12
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Zur Definition und Differenz intensiver und extensiver Transmedialität vgl. Freyermuth, Gundolf S.: »Der Big Bang digitaler Bildlichkeit. Zwölf Thesen und zwei Fragen.« In: Ders./Lisa Gotto (Hg.), Bildwerte. Visualität in der digitalen Medienkultur, Bielefeld: transcript 2013, S. 287-328; hier S. 315f.
10 Vgl. z.B. Schell, Jesse: Keynote »Future of Games«, Dice 2010 http://www.ga mification.org/wiki/Jesse_Schell_DICE 11 Vgl. Zichermann, Gabe/Christopher Cunningham: Gamification by Design. Implementing Game Mechanics in Web and Mobile Apps. Sebastopol, Calif.: O'Reilly Media 2011. 12 Die Grundlage für dieses Verständnis legte Nick Pelling 2002, als er mit gamification die Übernahme von Game ähnlichen Software-Interfaces für elektronische Apparate wie Geldautomaten empfahl »to make electronic transactions both enjoyable and
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Älter und nachhaltiger jedoch als die professionalisierte »Zweckentfremdung« von Spielelementen ist der historische Prozess ungesteuerter und weitgehend unintentionaler Subversion industrieller Normen und Verhaltensweisen durch das Eindringen von – analogen wie digitalen – Spielen in immer weitere soziale Bereiche. Nicht zufällig begann dieser Wandel im Kontext von Lernen und Lehren: Als MIT-Studenten 1962 SPACEWAR! entwarfen, das erste und für lange Zeit einzige Computerspiel, überwanden sie im Umgang mit Computern, wie Allucquere Rosanne Stone feststellte, mittels der Umfunktionierung knapper, teurer und für »ernsthafte« Zwecke gedachter Rechen-Ressourcen die Arbeitsethik zugunsten einer neuen Spielethik und damit das ökonomische Effizienzprinzip der kollektiven Organisationen zugunsten des luxurierenden Lustprinzips des Individuums.13 Pointiert formuliert: Wo zuvor industrielle Rationalität und Drill vorherrschten, begann der Einzug des Spielerischen in der konkreten Gestalt von Spielen. Allein die Veränderungen, die im vergangenen halben Jahrhundert wenn nicht die Ausbildung, so doch zumindest deren Ideale in den fortgeschrittenen westlichen Ländern betrafen, bezeugen diesen Prozess einer steten Spielefizierung durch den Einsatz von Spielen. Mit ihr verändert sich sowohl die Produktion von Wissen wie auch vor allem seine zivilisatorische Kommunikation und Tradierung, der Transfer zwischen Individuen und Generationen. Insofern scheint es sinnvoll, zwischen zwei Spielarten von gamification zu unterscheiden: •
•
einer invasiven, die seit den 1960er Jahren von einer weitgehend »naturwüchsigen« Popularisierung analoger wie digitaler Spiele und ihrem Eindringen in Lebensbereiche getrieben wird, die zuvor anderen Medien und Verhaltensweisen vorbehalten waren; und einer pervasiven, die seit einem knappen Jahrzehnt gezielt und zunehmender professionalisiert versucht, Elemente digitaler Spiele für gänzlich spielfremde (Arbeits-) Bereiche und Zwecke zu exaptieren.
fast.« (Pelling, Nick: »The [Short] Prehistory of Gamification …,« http://nano dome.wordpress.com/2011/08/09/the-short-prehistory-of-gamification/) 13 Stone, Allucquere Rosanne: The War of Desire and Technology at the Close of the Mechanical Age. Cambridge, Mass.: MIT Press 1995, S. 13f.
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Von jener zweiten Variante, der pervasiven Gamifikation, ist in diesem Kapitel gar nicht und im Rest des Bandes nur gelegentlich die Rede.14 Erst die Zukunft wird zeigen, ob sich die hohen Erwartungen, die auch Teile der akademischen Forschung und Lehre auf gamification als methodisches Verfahren setzen, erfüllen werden und sie tatsächlich eine historisch nachhaltige, der invasiven Gamifikation vergleichbare Bedeutung erlangen wird.15 Sie aber, das Eindringen von Spielen in eine Vielzahl kultureller Bereiche und vor allem in den Wissenstransfer, steht im Zentrum dieses Bandes und insbesondere des nachfolgenden Kapitels. Henry Jenkins etwa behauptet Spielen, das Experimentieren mit der eigenen Umgebung, als zentrale Medienkompetenz. Isabel Zorn beschreibt, wie Spielen »gehirnfreundliche« Lernprozesse initiiere. Und Chris Crawford vertritt die These, Spielen ohne Lernen existiere nicht, während der immer noch allgegenwärtige umgekehrte Versuch Lehr- bzw. Lernerfolge unnötig behindere.
L ITERATUR Freyermuth, Gundolf S.: »Der Big Bang digitaler Bildlichkeit. Zwölf Thesen und zwei Fragen.«, in: Ders./Lisa Gotto (Hg.), Bildwerte. Visualität in der digitalen Medienkultur, Bielefeld: transcript 2013, S. 287-328. Jenkins, Henry et. al.: Confronting the Challenges of Participatory Culture. Media Education for the 21st Century, Chicago: The MacArthur Foundation 2009. Meinschäfer, Victoria: »Erstmals an einer deutschen Hochschule: Gamification und interaktive Textadventures«, 12. Juli 2013, http://www.uni-duessel dorf.de/home/startseite/news-detailansicht/article/erstmals-an-einer-deutsche
14 Vgl. dazu insbesondere den Beitrag von Rolf F. Nohr im dritten Teil dieses Bandes, der Gamifikation als »die konsequente Verkoppelung des Subjekts mit einer naturalisierten Form von Regierung« beschreibt (S. 381). 15 Zu den eher rudimentären Ansätzen zu Forschung und Anwendung im deutschsprachigen Bereich vgl. z.B. den Blog des Gamification Lab an der Leuphana Universität Lüneburg: http://projects.digital-cultures.net/gamification/ oder den Bericht zur Gamifizierung einer Lehrveranstaltung an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf: Meinschäfer, Victoria: »Erstmals an einer deutschen Hochschule: Gamification und interaktive Textadventures«, 12. Juli 2013, http://www.uni-duesseldorf.de/home/start seite/news-detailansicht/article/erstmals-an-einer-deutschen-hochschule-gamificationund-interaktive-textadventures.html?cHash=5df4581a1f9cad0913c3bdafeeab64e6)
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n-hochschule-gamification-und-interaktive-textadventures.html?cHash=5df4 581a1f9cad0913c3bdafeeab64e6 Pelling, Nick: »The (Short) Prehistory of Gamification …«, http://nanodome .wordpress.com/2011/08/09/the-short-prehistory-of-gamification/ Stone, Allucquere Rosanne: The War of Desire and Technology at the Close of the Mechanical Age, Cambridge, Mass.: MIT Press 1995. Zichermann, Gabe/Christopher Cunningham: Gamification by Design. Implementing Game Mechanics in Web and Mobile Apps. Sebastopol, Calif.: O'Reilly Media 2011.
C LIPS Schell, Jesse: Keynote »Future of Games«, Dice 2010, http://www.gamifi cation.org/wiki/Jesse_Schell_DICE
Bildung neu gedacht Spiel, Simulation, Performanz, Transmedia-Navigation 1 H ENRY J ENKINS , IN
Z USAMMENARBEIT MIT K ATI C LINTON , R AVI P URUSHOTMA ,
A LICE J. R OBISON UND M ARGARET W EIGEL
»Adolescents need to learn how to integrate knowledge from multiple sources, including music, video, online databases, and other media«, schreibt Bertram C. Bruce und fährt fort: »They need to think critically about information that can be found nearly instantaneously through out the world. They need to participate in the kinds of collaboration that new communication and information technologies enable, but increasingly demand. Considerations of globalization lead us toward the importance of understanding the perspective of others, developing a historical grounding, and seeing the interconnectedness of economic and ecological systems.«
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Der nachstehende Beitrag ist eine Übersetzung von Jenkins, Henry, with Ravi Purushotma, Margaret Weigel, Katie Clinton, and Alice J. Robison, Confronting the Challenges of Participatory Culture: Media Education for the 21st Century, pp. excerpts from »What Should We Teach?«, »Core Media Literacy Skills«, »Transmedia Navigation«, © 2009 Massachusetts Institute of Technology, by permission of The MIT Press.
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Bruce, Bertram C.: »Diversity and Critical Social Engagement. How Changing Technologies Enable New Modes of Literacy in Changing Circumstances«, in: Donna E. Alvermann (Hg.), Adolescents and Literacies in a Digital World, New York: Peter Lang 2002, S. 1-18.
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Bildung3 im 21. Jahrhundert sei, diese Definition schlägt das »New Media Consortium« vor, »eine Kombination von Fähigkeiten und Begabungen, bei denen sich auditive-, visuelle- und digitale Bildung überschneiden. Dazu zählt auch die Fähigkeit, die Macht von Bildern und Tönen zu erkennen, diese zu verstehen und zu gebrauchen, digitale Medien zu bearbeiten und transformieren, sie zu verbreiten und an neue Formen anzupassen«.4 Wir sollten diese Definition in zweierlei Hinsicht modifizieren. Erstens bleiben Lesen und Schreiben zentrale Fähigkeiten im 21. Jahrhundert, die Schüler erwerben müssen, bevor sie an der neuen Interaktionskultur teilhaben können. Jugendliche müssen die Bandbreite ihrer Kompetenzen erweitern und dürfen dabei nicht die bisher benötigten Fähigkeiten vernachlässigen, um Raum für die neuen zu schaffen. Zweitens sollte Bildung im Bereich neuer Medien als soziale Kompetenz verstanden werden. Bildung in den neuen Medien beinhaltet sowohl Kompetenzen im Bereich traditioneller gedruckter Texte als auch in den neueren Formen digitaler Massenmedien. Viele Abhandlungen zur Bildung im 21. Jahrhundert gehen scheinbar davon aus, dass die Kommunikation über visuelle, digitale oder audiovisuelle Medien Lesen und Schreiben verdrängen werde. Wir widersprechen dem entschieden. Bevor Schüler an der neuen Interaktionskultur teilhaben können, müssen sie dazu in der Lage sein, zu lesen und zu schreiben. Genau wie das Aufkommen der Schriftsprache die Tradition mündlicher Überlieferung und das Aufkommen des Buchdrucks unsere Beziehung zur geschriebenen Sprache änderte, wandelt nun das Aufkommen neuer, digitaler Ausdrucksformen unsere Beziehung zum gedruckten Text. In mancher Hinsicht, so argumentieren Wis-
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Anm. der Hg.: Im Original heißt es hier »literacy«, ein Begriff der sich nicht eins zu eins übersetzen lässt, da er im angelsächsischen Sprachgebrauch über »Lese- und Schreibfähigkeit« hinaus auch kulturelle Kompetenzen meint, die im Deutschen unter »Bildung« gefasst werden. Im akademischen Diskurs konnotieren »literacy« beziehungsweise »literacies« zudem die Forschungsgebiete der »new literacy studies« (NLS), befasst mit Lesen und Schreiben als soziokulturellem Phänomen; der »new literacies studies«, befasst mit den kulturellen Kompetenzen im eher passiven Umgang mit den auditiven, visuellen und audiovisuellen (Massen-)Medien sowie der »new media literacy studies« (NMLS), befasst mit den Kompetenzen im eher aktiven Umgang mit den neuen digitalen Medien, z.B. »game literacy«. (Vgl. dazu Gee, James Paul: New Digital Media and Learning as an Emerging Area and ›Worked Examples‹ as One Way Forward. Cambridge, Mass.: The MIT Press 2010) – Im Folgenden wird »literacy« daher kontextabhängig mit »Bildung« oder »Medienkompetenz« übersetzt.
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New Media Consortium: A Global Imperative. The Report of the 21st Century Literacy Summit 2005, o. O.: The New Media Consortium 2005, S. 8.
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senschaftler wie Black5 und Jenkins6, hilft die neue, digitale Kultur den Jugendlichen sogar dabei, ihre Fähigkeiten als Leser wie auch Autoren zu verbessern. Blogs oder soziale Netzwerke ermöglichen es Jugendlichen, Feedback auf ihre Texte zu erhalten und Erfahrungen in der Kommunikation mit einer größeren Öffentlichkeit zu sammeln – Erfahrungen, die früher allenfalls Schülerzeitungen bieten konnten. Auch traditionelle Konzepte von Bildung müssen angepasst werden, um dem aktuellen Medienwandel gerecht zu werden. Jugendliche müssen die Bandbreite ihrer Kompetenzen erweitern und sollten nicht alte durch neue Kompetenzen ersetzen. Über die grundsätzliche Fähigkeit des Lesens und Schreibens hinaus müssen Schüler und Studierende recherchieren können. Unter anderem müssen sie dazu in der Lage sein, Bücher und Artikel in Bibliotheken zu finden; Notizen zu machen und Sekundärquellen einzubeziehen; die Glaubwürdigkeit von Informationen zu beurteilen; Karten und Diagramme zu lesen; wissenschaftliche Visualisierungen zu verstehen; zu begreifen, welche Arten von Information verschiedene Repräsentationssysteme abdecken; zwischen Fakt und Fiktion, Fakt und Meinung unterscheiden zu können; Diskussionen- und Beweisketten zu führen. Diese Fähigkeiten gewinnen noch an Bedeutung, wenn Schüler sich aus dem Bereich sorgfältig kuratierter Bibliotheken in das offene Feld des Internets wagen. Einige dieser Fähigkeiten wurden bislang von Bibliothekaren vermittelt, die gegenwärtig ihre Rolle neu definieren: weg von Verwaltern begrenzter Sammlungen hin zu Vermittlern, die Nutzern online wie offline dabei helfen, benötigte Informationen zu finden, und Strategien für die Materialsuche zu entwickeln. Darüber hinaus müssen Schüler technische Fähigkeiten erwerben. Sie müssen eine Vielzahl von Programmen benutzen können, Kameras bedienen und Bilder bearbeiten können, über grundlegende Programmierkenntnisse verfügen und so weiter. Bildung im Bereich der neuen Medien aber auf technische Fähigkeiten zu reduzieren, wäre ein Fehler von der Art, Kalligraphie mit Dichtung zu verwechseln. Da Technologie einem derart schnellen Wandel unterliegt, ist es wahrscheinlich unmöglich festzulegen, welche Technologien oder Techniken Schüler beherrschen sollten.
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Black, Rebecca W.: »Online Fanfiction. What Technology and Popular Culture Can Teach Us about Writing and Literacy Instruction«, in: New Horizons for Learning Online Journal (11/2) 2005. http://education.jhu.edu/PD/newhorizons/strategies/top ics/literacy/articles/online-fanfiction/index.html
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Jenkins, Henry: Convergence Culture. Where Old and New Media Collide, New York: New York University Press 2006.
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Wie Befürworter der Medienbildung in den vergangenen Jahrzehnten gefordert haben, müssen Schüler auch ein grundlegendes Verständnis dafür entwickeln, wie mediale Repräsentationen unsere Wahrnehmung der Welt strukturieren; für die ökonomischen und kulturellen Bedingungen, unter denen Massenmedien produziert und verbreitet werden; für die Motive und Interessen, die die Medien beeinflussen, und für alternative Konzepte außerhalb des kommerziellen Mainstreams. Denselben Kreisen entstammt auch die Forderung, Schulen sollten ein kritisches Verständnis dafür fördern, dass Medien eine der mächtigsten sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Institutionen unserer Ära sind. Was wir hier als Neue-Medien-Kompetenz bezeichnen, sollte als Erweiterung und nicht als Ersatz einer Massenmedien-Kompetenz verstanden werden.
Welche neuen Fähigkeiten sind wichtig? Neue soziale Fähigkeiten und kulturelle Kompetenzen Alle genannten Fähigkeiten sind wichtig, sogar essenziell, aber nicht ausreichend. Das führt uns zur zweiten Modifikation der Vorstellung von Bildung im 21. Jahrhundert: Eine Neue-Medien-Kompetenz sollte als soziale Fähigkeit verstanden werden, als Möglichkeit der Interaktion innerhalb einer größeren Öffentlichkeit, und nicht einfach als eine individuelle Fähigkeit, die nur für den persönlichen Ausdruck geeignet ist. Die soziale Dimension von Bildung wird im Bericht des New Media Consortium7 nur mit Blick auf die Distribution von Medieninhalten angesprochen. Das müssen wir ausbauen, indem wir anerkennen, dass in den Neuen Medien Bedeutung kollektiv und kollaborativ produziert wird und wie anders Kreativität in einer Kultur funktioniert, die auf den Open-SourcePrinzipien des Sampling, der Transformation, Wiederverwendung und Zweckentfremdung basiert. Die soziale Produktion von Bedeutung ist mehr als die Multiplikation von individuellen Interpretationen; sie unterscheidet sich qualitativ in der Art, wie wir kulturelle Erfahrungen beurteilen. So gesehen repräsentiert sie einen nachhaltigen Wandel dessen, was wir als Bildung verstehen. In diesem Umfeld brauchen Jugendliche die Fähigkeiten, in sozialen Netzwerken zu arbeiten, ihr Wissen mit der Schwarmintelligenz zu verbinden, unabhängig von kulturellen Unterschieden zu agieren, die die Leitbilder verschiedener Gemeinschaften prägen, und widersprüchliche Informationen in Einklang zu bringen, um ein kohärentes Bild von der Welt zu entwickeln, die sie umgibt.
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New Media Consortium: A Global Imperative.
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Wir müssen diese neue Wissenskultur in unsere Schulen integrieren, nicht nur durch einfache Gruppenarbeit, sondern auch durch Fern-Kooperationen zwischen unterschiedlichen Lerngemeinschaften. Schüler und Studierende sollten die Erfahrung machen, ihre eigene Expertise in einen Prozess einzubringen, der die Erfahrungen vieler involviert. Dieser Prozess ist durch Bloggen oder die Teilnahme an Fan-Foren leicht zugänglich. Wahrscheinlich sind diese unterschiedlichen Formen der Kollaboration der radikalste Wandel in der neuen Bildung: Sie ermöglichen die Zusammenarbeit und den Austausch von Wissen innerhalb größerer Gruppen, die möglicherweise niemals persönlich interagieren. Schulen lehren noch immer das autonome Lösen von Problemen, während die Schüler, sobald sie in den Arbeitsmarkt eintreten, zunehmend dazu aufgefordert sind, in Teams zu arbeiten, verschiedene Felder der Expertise einzubeziehen und gemeinsam Probleme zu lösen. Änderungen in der medialen Umwelt verändern unser Verständnis von Bildung und erfordern neue Gewohnheiten und Denkweisen, neue Wege der Kulturproduktion und des Umgangs mit der Welt um uns herum. Wir beginnen gerade erst, die entstehenden Felder sozialer Fähigkeiten und kultureller Kompetenzen zu erkennen und zu beurteilen. Wir haben nur eine vage Vorstellung davon, welche Kompetenzen gefragt sein werden, wenn die heutige Jugend von der Welt des Spiels und der Schule in die Erwachsenenwelt der Arbeit und Gesellschaft wechselt. Es folgt eine provisorische Liste von elf Schlüsselkompetenzen, die nötig sind, um sich innerhalb der Landschaft neuer Medien zurechtzufinden. Diese Fähigkeiten haben wir den Ergebnissen bestehender Forschungen zur Bildung im Bereich der Neuen Medien entnommen sowie in der Beobachtung jener informellen Lernformen identifiziert, die sich in der partizipatorischen Kultur des Internet entwickelt haben. Wie bereits weiter oben erwähnt, ist der Erwerb dieser Fähigkeiten ein wichtiger Schritt, um junge Menschen darauf vorzubereiten, »am öffentlichen, gesellschaftlichen, [kreativen] und ökonomischen Leben teilzunehmen«.8 Kurz gesagt handelt es sich um Fähigkeiten, die viele Jugendliche in der partizipatorischen Kultur der Netze erlernen, die aber alle lernen müssen, um gleichberechtigte Teilnehmer an der Welt von morgen zu sein. Wir identifizieren eine Auswahl von Aktivitäten, die in Schulen oder Arbeitsgemeinschaften eingesetzt werden könnten und die ein ganzes Feld an Themen und Fächern abdecken, die die sozialen Fähigkeiten und kulturellen Kompetenzen unterstützen. Diese Liste von Aktivitäten ist in keiner Weise vollständig, sondern
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New London Group: »A Pedagogy of Multiliteracies. Designing Social Futures«, in: Bill Cope/Mary Kalantzis (Hg.), Multiliteracies. Literacy Learning and the Design of Social Futures, London: Routledge 2000, S. 9.
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zeigt nur einige Beispiele für die Arbeit, die in den verschiedenen Bereichen bereits geleistet wurde. Ein Ziel des Berichts ist es, diejenigen, die die Verantwortung tragen unsere Jugend zu unterrichten, dazu anzuregen, systematischer und kreativer mit der Frage umzugehen, wie sich diese Fähigkeiten in ihre tägliche Arbeit einbinden lassen, und zwar auf Weisen, die den Inhalten gerecht werden, die sie unterrichten.
Z ENTRALE M EDIENKOMPETENZEN Spielen: Experimentieren mit der eigenen Umgebung als ein Weg zur Problemlösung Spielen, das wissen Psychologen und Anthropologen schon lange, ist ein entscheidender Faktor, wenn es darum geht das Verhältnis von Kindern zu ihrem Körper, zur Gesellschaft, Umwelt und Wissen zu formen. Die frühesten Erfahrungen machen Kinder beim Spielen mit den Dingen in ihrer direkten Umgebung. Spielend erproben Kinder soziale Rollen, experimentieren mit zentralen kulturellen Prozessen, manipulieren Basisressourcen und erkunden ihre Umwelt. Wenn sie älter werden, kann Spielen andere Formen des Lernens motivieren. Pratt beschreibt, was ihr Sohn und ein Freund durch das Sammeln von Baseballkarten gelernt haben: »Sam und Willie haben damals viel über Phonetik gelernt, indem sie versuchten, die Nachnamen auf Baseballkarten zu entziffern. Außerdem lernten sie Städte und Staaten kennen, Größen- und Gewichtseinheiten, Geburtsorte und andere Stationen im Leben … Und dann öffneten Baseballkarten die Tür für Baseballbücher und ganze Enzyklopädien, Magazine, Chroniken, Biographien, Romane, Witzebücher, Anekdoten, Comics und sogar Gedichte … Bildung hat für Sam mit den Namen auf Sammelkarten begonnen und brachte ihm die breiteste, vielfältigste, erfüllendste und ganzheitlichste Erfahrung seines 13jährigen Lebens.«
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Pratts Darstellung zeigt, dass das spielerische Verhalten ihres Sohnes drei grundverschiedene Erfahrungen anregte. Erstens erforderte das Spiel selbst bestimmte Fähigkeiten, die einen klaren schulischen Nutzen hatten. Die Berechnung von Trefferstatistiken beispielsweise bot Sam die Gelegenheit, seine Mathematikkenntnisse zu trainieren; das Sortieren seiner Karten machte ihn mit
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Pratt, Mary Louise: »Arts of the Contact Zone«, in: Profession (1991), S. 33-34.
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dem Prinzip der Klassifikation vertraut; und das Diskutieren der Karten gab ihm Gelegenheit, an seinen kommunikativen Fähigkeiten zu arbeiten. Auf einer weiteren Ebene boten die Karten eine Basis, die ihn motivierte, anderes schulisches Wissen zu erwerben und anzuwenden. Die Sammelkarten inspirierten Sam, sich über die Städte Gedanken zu machen, in denen die Teams ansässig waren, und dabei die Fähigkeit zu erwerben, Karten zu lesen. Die Geschichte des Baseballs lieferte einen Kontext, um die Geschichte Amerikas im 20. Jahrhundert zu verstehen. Das Interesse an den Stadien bot eine Einführung in die Grundlagen der Architektur. Drittens entwickelte Sam ein Gespür für sich selbst beim Lernen: »Er lernte, was Expertise bedeutet, über etwas gut genug Bescheid zu wissen, um mit einem Fremden ein Gespräch darüber zu beginnen und sich dabei zu behaupten.«10 Gamedesigner Scott Osterweill (THE LOGICAL JOURNEY OF THE ZOOMBINIS) hat die mentale Verfassung beim Spielen als überaus förderlich für das Lernen beschrieben: »Wenn Kinder ins Spiel vertieft sind, bringen sie eine Leidenschaft und Konzentration auf, mit der wir sie gerne die Hausaufgaben erledigen sehen würden. Doch interessanterweise wird ein Kind, egal wie zielstrebig und fokussiert, womöglich sogar verbissen, es beim Spielen ist, hinterher immer antworten, Spaß gehabt zu haben. Spielspaß ist also nicht gleichbedeutend mit Heiterkeit, sondern eher mit einer beanspruchenden Aufmerksamkeit, die einem viel abverlangt, die einen für die Mühe aber auch belohnt. Ich glaube, dass viele gute Lehrer verstanden haben, dass Lernen in der Schule im besten Fall dieselbe Art von Spaß bringt. Spiel ist der Moment, wenn ein Kind diese Kombination im Überfluss erlebt, wenn es konzentriert und zielstrebig ist, hart arbeitet und gleichzeitig Spaß hat.«
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Hier lässt sich eine Schwerpunktverlagerung feststellen, vom Spaß (der in unserer manchmal noch immer puritanischen Kultur als das Gegenteil von Ernsthaftigkeit definiert wird) hin zur Hingabe. Wenn Menschen spielen, empfinden sie in dem Moment häufig gar keinen Spaß, es kann geradezu anstrengend sein, ähnlich wie Hausaufgaben. Die Anstrengung ermöglicht es Menschen, Fähigkeiten zu erwerben, Material zu sammeln oder Dinge an ihren richtigen Platz zu bringen, in der Vorfreude auf die Belohnung. Der Schlüssel dazu ist, dass die Tätig-
10 Ebd., S. 34. 11 Jenkins, Henry: »Fun vs. Engagement. The Case of the Zoobinis« in: Confessions of an Aca-Fan vom 23. Juni 2006. http://www.henryjenkins.org/2006/06/fun_vs_engage ment_the_case_of.html
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keit zutiefst motiviert ist. Der Einzelne ist bereit dazu, die Mühe auf sich zu nehmen, weil es ein Ziel oder einen Zweck gibt, die ihm wichtig sind. Wenn das passiert, lassen sich Menschen begeistern, egal ob das die Begeisterung für den Beruf ist, fürs Lernen oder eben die Begeisterung, die manche beim Spielen finden. Für die jetzige Generation könnten Spiele der einfachste Weg sein, diesen Sinn für Begeisterung mit dem Lernen zu verbinden. Während in der Diskussion um Spiele und Bildung bisher Spiele vor allem als ein Werkzeug behandelt wurden, um andere Inhalte zu vermitteln (Pratts Schritt von Baseballkarten zur Geographie), wird zunehmend erkannt, dass Spielen als Mittel des Forschens, zur Verarbeitung von Wissen und zur Problemlösung selbst eine wertvolle Fähigkeit sein könnte, die Kinder als Vorbereitung auf ihre zukünftigen Rollen und Verantwortungen in der Erwachsenenwelt erwerben sollten. Teil dessen, was Spielen als Ansatz der Problemlösung und des Lernens nützlich macht, ist die Tatsache, dass es die emotionale Hürde des Scheiterns verringert: Spieler sind angehalten, die Konsequenzen zu vergessen, die ihre symbolischen Handlungen in der echten Welt bedeuten, Risiken einzugehen und durch »Trial and Error« zu lernen. Die Logik dahinter ist die von Hinfallen und wieder Aufstehen. Wie Gee12 bemerkt hat, fühlen sich Kinder oft durch die unpersönliche und abstrakte Sprache aus der Welt ausgeschlossen, die ihre Schulbücher beschreiben. Spiele dagegen erschaffen einladende Welten, durch die sich die Spieler selbst bewegen. Spieler fühlen sich als Teil dieser Welten und haben ein eigenes Interesse an den sich entwickelnden Ereignissen. Spiele liefern nicht bloß Argumente fürs Lernen: Was Spieler lernen, können sie direkt anwenden, um Probleme zu lösen, die in der Welt des Spiels echte Konsequenzen haben. Gamedesigner Will Wright (SIMCITY, THE SIMS) meint dazu: »In mancherlei Hinsicht ist ein Spiel nichts als eine Kombination von Problemen. So gesehen verkaufen wir den Menschen Probleme für 40 Dollar das Stück … Und die interessanteren Spiele sind meiner Meinung nach die mit mehr Lösungsmöglichkeiten. Anders ausgedrückt gibt es nicht bloß einen bestimmten Weg, um ein Rätsel zu lösen, sondern tatsächlich gibt es unendlich viele Lösungen. Die Welt des Spiels wird zum äußerlichen Artefakt der internen Repräsentation des Problemfeldes.«
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12 Gee, James Paul: What Video Games Can Teach Us About Literacy and Learning. New York: Palgrave-McMillan 2003. 13 Zitiert nach Jenkins, Henry: »Buy These Problems Because They’re Fun to Solve! A Conversation with Will Wright«, in: Telemedium. The Journal of Media Literacy 52/1-2 (2005), S. 21.
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Für Wright ist es also das Verlangen des Spielers nach Herausforderungen und Komplexität, das ihn dazu bringt, das Spiel überhaupt auszuwählen. Spiele erfordern etwas, das dem wissenschaftlichen Prozess ähnelt. Spieler sind aufgefordert, eigene Entdeckungen zu machen und dann das Gelernte auf neue Kontexte anzuwenden. Ein Spieler betritt die Welt des Spiels nicht, bevor er die grundlegenden Regeln verstanden und die Probleme erkannt hat, die es zu lösen gilt. Auf Basis der verfügbaren Informationen stellt der Spieler eine Hypothese darüber auf, wie die Welt funktioniert und wie sich ihre Eigenschaften unter Kontrolle bringen lassen. Der Spieler überprüft und verfeinert diese Hypothese durch seine Spiel-Aktionen, die entweder scheitern oder gelingen. So verfeinert der Spieler sein Modell der Welt im Laufe der Zeit. Anspruchsvollere Spiele lassen dem Spieler dabei mehr Freiheiten, mit den Bestandteilen der Welt zu experimentieren, neue Möglichkeiten zu entdecken, dabei wichtige Variablen zu verändern und zu sehen, was passiert. Meta-Gaming, der Diskurs rund um Spiele, erlaubt es Spielern, darüber nachzudenken und zu artikulieren, was sie beim Spielen gelernt haben. So zum Beispiel beschreibt Kurt Squire das Meta-Gaming bei CIVILIZATION III: »Spieler werden zu Fortgeschrittenen, nachdem sie Dutzende oder gar Hunderte von Stunden mit einem Spiel verbracht haben und seine Grundregeln beherrschen. Wenn Spieler dann anfangen, Lücken zu entdecken, verändern sie die Regeln, entwickeln bessere Strategien und sogar ganz neue Regelsysteme, inklusive eigener Veränderungen an der Geschichte.«
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Häufig wurde angezweifelt, dass Schulen das Spielen lehren können oder sollten. Dieser Widerstand spiegelt die Verwechslung zwischen Spielen zum reinen Spaß und Spielen als Form von Engagement. Spielen ist im hier beschriebenen Kontext ein Modus aktiver Begeisterung, der Experimente und Risikobereitschaft fördert, der den Prozess der Problemlösung gleichwertig behandelt mit der Antwort selbst, der klar definierte Ziele und Rollen bietet und starke Identifizierung und emotionale Bindung begünstigt. Diese Art des Spielens ist eng verwandt mit zwei anderen wichtigen Fähigkeiten: Simulation und Performanz. Was sich tun lässt Pädagogen (innerhalb und außerhalb von Schulen) nutzen Spielen als Fähigkeit, wenn sie zum freien Experimentieren und ergebnisoffenem Denken auffordern.
14 Squire, Kurt: »Videogame Literacy: A Literacy of Expertise«, in: Julie Coiro ete al. (Hg.), Handbook of Research on New Literacies, New York: MacMillan 2011, S. 656.
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Geschichtslehrer bitten ihre Schüler, alternative historische Szenarien zu entwerfen und dabei zu überlegen was passiert wäre, hätte Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen oder die amerikanischen Ureinwohner Europa kolonialisiert. Derartige Fragen können zu tiefen Einblicken führen, wie und warum es zu bestimmten Ereignissen kam und welche Wirkung diese hatten. Derartige Fragen haben außerdem keine richtigen oder falschen Antworten; sie unterstützen kreatives Denken und nicht bloß die Fähigkeit auswendig zu lernen; sie erlauben es, sich auf verschiedenen Ebenen einzubringen; sie schüchtern Schüler nicht durch das Fachwissen Erwachsener ein; sie eignen sich als Grundlage für Diskussionen und Beweisführungen. Kunst- und Designstudenten werden mit alltäglichen Materialien konfrontiert und sollen diese benutzen, um bestimmte Designprobleme zu lösen. Solche Aktivitäten ermutigen Studierende, vertraute Materialien und Alltagsgegenstände aus neuen Blickwinkeln zu entdecken, gängige Probleme aus verschiedenen Perspektiven zu durchdenken und zu respektieren, dass Herausforderungen auf verschiedenem Wege begegnet werden kann. Dieser Ansatz ist eng verbunden mit der innovativen Designarbeit von Ideo, einem in Palo Alto ansässigen Beratungsunternehmen, findet sich aber auch in zahlreichen Reality-TV-Sendungen wie PROJECT RUNWAY oder THE IRON CHEF, bei denen den Teilnehmern abverlangt wird, mehrere sehr verschiedene Ansätze zur Lösung des selben Problems zu erproben. Spiele bieten das Potenzial, durch eine neue Art direkter Erfahrung zu lernen. Physiklehrer nutzen das Spiel SUPERCHARGED, das als Teil der MIT Initiative »Games-to-Teach« entwickelt wurde, um Schülern die Grundprinzipien des Elektromagnetismus zu vermitteln. Um die Regeln des Elektromagnetismus selbst zu erfahren, navigieren die Schüler durch ein Labyrinth, indem sie gezielt elektrische Ladungen verteilen, die ihre Fahrzeuge anziehen oder abstoßen. Auf dieses intuitive und auf eigener Erfahrung basierende Lernen können Lehrer dann im Klassenzimmer aufbauen, können Gleichungen, Diagramme und Visualisierungen einführen, die den Schülern dabei helfen, die zugrundeliegenden Prinzipien zu verstehen und dann beim erneuten Spielen ihr Ergebnis zu verbessern.
Simulation – die Fähigkeit, dynamische Modelle realer Prozesse zu interpretieren und zu konstruieren Neue Medien eröffnen neue Wege, um Informationen zu repräsentieren und zu verarbeiten. Neue Formen der Simulation erweitern unsere kognitiven Fähigkei-
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ten, erlauben uns, größere Datenmengen zu verarbeiten, mit komplexeren Datenstrukturen zu experimentieren, Hypothesen schnell zu formulieren und diese in Echtzeit gegen verschiedene Variablen zu testen. Die Systemtheorie ist parallel zum Aufkommen von digitalen Simulationen entstanden. In einer Vielzahl von akademischen und professionellen Bereichen sind Simulationen ein effektives Mittel, um bekanntes Wissen zu repräsentieren oder aufkommende Theorien zu überprüfen. Weil Simulationen dynamisch sind und weil sie durch den gezielten Einsatz zugrundeliegender Annahmen gesteuert werden, können sie ein Mittel der Forschung sein, indem Wissenschaftler die emergierenden Eigenschaften der simulierten Welten untersuchen. Simulationen lassen uns nach dem Trial-andError-Prinzip lernen: Neue Beobachtungen lassen Forscher ihre Modelle verfeinern, bestimmte Variablen anpassen und verschiedene Eventualitäten ausprobieren. Pädagogen wissen seit langem, dass Schüler und Studenten mehr durch eigene Beobachtungen lernen als durch das Lesen in Schulbüchern oder Zuhören in Vorlesungen. Simulationen machen Erfahrungen möglich, die in der realen Welt undenkbar wären. Zeitgenössische Videospiele erlauben es Jugendlichen, mit anspruchsvollen Simulationen zu spielen und ganz nebenbei ein intuitives Verständnis dafür zu entwickeln, wie sich Simulationen nutzen lassen, um unsere Annahmen über die Welt zu überprüfen. John Seely Brown15, ehemaliger Leiter des Xerox Parc, beschreibt die Geschichte des 16-jährigen Colin, dessen Verständnis der Antike durch das Spiel CAESAR III geprägt wurde: »Colin sagte: ›Ich habe keine Lust, römische Geschichte in der Schule zu behandeln. Ich baue Rom jeden Tag in meinem Online-Spiel.‹ Natürlich ließe sich die Spielerzählung als irrelevant abtun, aber etwas später diskutierte er mit seinem Vater über die Bedeutung von Klassenunterschieden – Unterschicht, Mittelklasse usw. Als sein Vater fragte, was er unter Klassen überhaupt versteht, antwortete Colin: ›Es hat damit zu tun, wie nahe man sich dem Senat befindet.‹ ›Wo hast du das gelernt, Colin?‹ ›Je näher man sich physisch dem Senat befindet, den Plätzen, Gärten oder dem Triumphbogen, desto begehrter ist das Land, und danach richtet sich, welcher Klasse man angehört und ob man zu den Bürgern zählt. Im Spiel [CAESAR III] basiert alles auf der einfachen Tatsache, wie weit man von physischen Objekten entfernt ist.‹ Und dann fügte er hinzu: ›Ich weiß, dass es in der Realität eher darum geht, wie nahe man den Senatoren selbst steht – das ist es, was die Klasse definiert. Aber es ist im Grunde das Selbe.‹«
15 Kahan, Seth: »John Seely Brown«, vom 10. Februar 2003. http://www.sethkahan .com/Resources_03BrownJohnSeely.html
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Colins Geschichte verdeutlicht zwei Aspekte von Simulationen beim Lernen. Erstens finden Schüler Simulationen wesentlich reizvoller als traditionellere Methoden der Wissensabbildung; dementsprechend verbringen sie mehr Zeit mit ihnen und lernen auch mehr. Zweitens nehmen Schüler als eigene Entdeckung wahr, was sie durch Simulationen gelernt haben. Simulationen eröffnen Spielern neue Möglichkeiten, die Welt wahrzunehmen und motivieren sie, sich auf einen Prozess der Modellentwicklung einzulassen, wie er für die moderne Wissenschaft zentral ist. Viele zeitgenössische Spiele – RAILROAD TYCOON zum Beispiel – beinhalten Tabellen, Karten, Graphen und Diagramme, die die Schüler zu benutzen lernen müssen, um das Spiel spielen zu können. Schüler sind daher motiviert, sich innerhalb dieses komplexen und integrierten Informationssystems hin- und her- zu bewegen, und innerhalb einer simulierten Umgebung auf Basis von Informationen zu handeln, die aus einer Vielzahl verschiedener Quellen gewonnen wurden. Wie der Spieleforscher Eric Klopfer warnt, verbessern Simulationen das Lernen allerdings nur, wenn sie richtig eingesetzt werden. »Da Simulationen uns über nahezu alles Auskunft geben, von der globalen Erwärmung, über die Zugrichtung von Hurricanes bis zur inneren Sicherheit, müssen wir wissen, wie die Informationen zu interpretieren sind. Wenn wir uns bewusst sind, dass Simulationen über Wahrscheinlichkeiten informieren, können wir auf dieser Grundlage bessere Entscheidungen treffen. Wenn wir die Annahmen verstehen, die in Simulationen einfließen, können wir die Aussagen besser beurteilen und uns entsprechend verhalten. Das trifft natürlich auch auf die Entscheidungsträger zu, die sich nach den Informationen richten müssen (die Polizei, Regierung, Versicherungen etc.); außerdem ist es wichtig, dass jeder Mensch selbst angemessene Entscheidungen auf Grundlage der Informationen treffen kann. Gegenwärtig werden solche Daten von der Öffentlichkeit entweder als Fakten wahrgenommen oder im Gegenteil als erfunden, weil einer Agenda dienend. Keine dieser Sichtweisen ist zutreffend, und stattdessen ist eine gewisse Fähigkeit nötig, solche Indizien zu analysieren und zu beurteilen. Simulationen sind immer nur so gut wie das zugrunde liegende Modell. In einer Welt konkurrierender Simulationen müssen wir die Verlässlichkeit und Glaubhaftigkeit der verschiedenen Modelle, die die Welt um uns herum repräsentieren, kritisch beurteilen können.«
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Schüler und Studierende, die beim Lernen Simulationen verwenden, zeigen mehr Flexibilität dabei, Modelle anzupassen und Daten zu bearbeiten, um Fragen zu beantworten, die ihr Interesse geweckt haben. Es besteht nur ein schmaler Grad zwischen dem Auswerten von Simulationen (wozu gehört, Variablen zu verän-
16 Persönliche Mitteilung.
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dern und Ergebnisse zu überprüfen) und dem Entwickeln von Simulationen. Durch die Verfügbarkeit neuer Technologien zur Modellentwicklung und die leichtere Bedienbarkeit der nötigen Werkzeuge ergibt sich für Schüler die Möglichkeit, eigene Simulationen zu entwickeln. Bogost17 erklärt, dass Computerspiele das unterstützen, was er prozedurale Bildung nennt, die Fähigkeit, Wissen neu zu strukturieren und konfigurieren, um Probleme aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und durch diesen Prozess ein besseres systematisches Verständnis der Regeln und Prozesse zu entwickeln, die unser Alltagserleben prägen. Bogost schreibt, »eine echte prozedurale Bildung zu entwickeln bedeutet, eine Vielzahl an Möglichkeiten für Lernende zu schaffen – sowohl für Kinder als auch Erwachsene –, um die Grundlagen der Dinge zu verstehen und mit ihnen zu experimentieren.«18 Jugendliche lernen durch Spiele, mit Simulationen umzugehen, und Schulen sollten auf dieses Wissen aufbauen, um ihnen dabei zu helfen, kritische Betrachter und fähige Entwickler von Simulationen und Modellierungs-Werkzeugen zu werden. Ihnen muss ein kritisches Vokabular an die Hand gegeben werden, um die Art von Gedankenexperimenten zu verstehen, die in Simulationen durchgeführt werden, und um zu begreifen, wie die neuen digitalen Ressourcen die Forschung in einer Vielzahl von Disziplinen informieren. Was sich tun lässt Schüler müssen lernen, bestehende Simulationen anzupassen, zu interpretieren und ihre eigenen dynamischen Modelle realer Prozesse zu entwickeln. •
Lehrer im Wirtschaftsunterricht fordern ihre Schüler auf, imaginäre Investitionen an der Börse zu tätigen und dann tatsächliche Geschäftsberichte zu lesen, um ihre »Gewinne« und »Verluste« zu verfolgen. Diese an vielen Schulen übliche Praxis spiegelt das Verhalten Jugendlicher, wenn sie Mannschaften und Spielklassen im Sport erfinden, so genannte Fantasy Leagues, und dann die Leistungen tatsächlicher Spieler verfolgen, um ihre Ergebnisse zu übertragen und imaginäre Spieler-Tauschgeschäfte durchführen, um ihren Tabellenstand zu verbessern. Beide Praktiken haben die Verbindung von imaginären Szenarien (behauptete Investitionen oder Teams) mit realen Daten gemeinsam. Die simulierten Handlungen führen die Schüler in die Logik ein, nach der ihre Gegenüber in der echten Welt handeln, sowie in echte Datensätze, Rechercheprozesse und Informationsquellen.
17 Bogost, Ian: »Procedural Literacy: Problem Solving with Programming, Systems and Play«, in Telemedium: The Journal of Media Literacy 52/1-2 (2005), S. 32-36. 18 Ebd., S. 36.
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Firmen wie OnRampArts in Los Angeles, Urban Games Academy in Baltimore und Atlanta oder Global Kids in New York City binden Kinder in die Spieleentwicklung ein. Diese Firmen halten es für wertvoll, Wissensbestände – über die Besiedlung der Neuen Welt im Fall von OnRampArts’ TROPICAL AMERICA – von Jugendlichen in die Handlung und Ikonografie von Spielen übersetzen zu lassen. Schüler werden aufgefordert, auf alternative Weise Wissen anzuwenden und zu lernen, das Vokabular der Spieleentwicklung zu verwenden, um zentrale Aspekte ihrer Umwelt zu repräsentieren. Simulationsspiele wie SIMCITY liefern den Kontext, um eine Fähigkeit zu erlernen, die Clark »Embracing Co-Control« nennt.19 Im Spiel muss durch verschiedene Formen indirekter Einflussnahme eine Stadt gebaut und instand gehalten werden. Statt durch das Top-down-Prinzip eine florierende Stadt zu erschaffen, muss der Spieler nach dem Bottom-up-Prinzip vorgehen, indem er durch die Veränderung von Variablen wie Bebauungsplänen und Grundstückspreisen die Stadt wachsen lässt. Nur durch wachsende Vertrautheit mit allen Einzelteilen des Systems und das Wissen, wie diese miteinander zusammenhängen, kann der Spieler die Abläufe auf eine Weise steuern, die diese Abläufe auch respektiert. Solch eine Fähigkeit kann verstanden werden als ein Prozess des »Zurechtkommens mit einer dezentral wachsenden Ordnung«20; eine Voraussetzung, um komplexe Systeme zu verstehen. Schüler in New Mexico, die miterleben mussten, wie einen Sommer lang Waldbrände in ihrem Heimatstaat wüteten, verwendeten Simulationen, um zu verstehen, wie sich Feuer ausbreitet. Durch Anpassungen an Faktoren wie die Dichte der Bäume, Wind und Regen konnten die Schüler beobachten, wie selbst minimale Veränderungen der Umwelt massive Auswirkungen auf die Verbreitung des Feuers haben. Dadurch konnte die Wirksamkeit gängiger Maßnahmen wie das Ausdünnen von Wäldern und kontrollierte Brände verständlich gemacht werden.
Performanz – die Fähigkeit, alternative Identitäten zum Zweck der Improvisation und Recherche anzunehmen Bisher haben wir uns auf Spielen als eine Methode der Problemlösung konzentriert, die das Modellieren von Welten und das Umgehen mit diesen Model-
19 Clark, Andy: Natural-Born Cyborgs. Minds, Technologies, and the Future of Human Intelligence, Oxford: Oxford University Press 2003, S. 160. 20 Ebd., S. 160.
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len beinhaltet. Spiele sind allerdings auch ein Teil der zeitgenössischen Jugendkultur, der dazu motiviert, fiktive Identitäten anzunehmen und durch diesen Prozess ein umfangreicheres Verständnis von sich selbst und den eigenen sozialen Rollen zu entwickeln. In »What Video Games Have to Teach Us About Learning and Literacy«21 prägt Gee den Begriff »Projective Identity«, um das Verschmelzen von Spielern mit ihren Avataren zu bezeichnen, den Rollen, die sie im Spiel annehmen. Gee verweist hier auf die zwei Bedeutungen des Wortes »project«: »die eigenen Werte und Wünsche auf den virtuellen Charakter projizieren« und »den virtuellen Charakter als ein Projekt im Entstehen begreifen«.22 Diese projizierte Identität erlaubt dem Spieler eine starke Identifikation und somit ein immersives Erlebnis im Spiel zu haben und gleichzeitig den Charakter als Spiegel zu benutzen, um die eigenen Werte und Entscheidungen zu reflektieren. Als er das Lernspiel REVOLUTION mit Schülern der Mittelstufe ausprobierte, fand Francis einige interessante Beispiele dafür, dass sich die Projektion von Identitäten für die Teilnehmer auszahlte. Zum Beispiel war Margaret, ein Mädchen, das einen Loyalisten im kolonialen Williamsburg am Vorabend des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs spielte, entsetzt darüber, dass sie während eines Straßenaufstands von Angehörigen der britischen Armee angeschossen wurde: »Die Bewohner der Stadt waren außer sich vor Wut. Sie stürmten zum Angriff auf Anwesen des Gouverneurs. Ich unterstütze die britische Armee, aber sie schossen auf mich und nahmen mich schließlich in Haft. Ich war entsetzt, dass sie mir so etwas antaten. Ich lehne Gewalt ab. Ich frage mich, was mit mir passieren wird. Ich betreibe das Gasthaus und habe keine Familie. Werde ich nach England zurück geschickt, oder werde ich hier bleiben können?«
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Das Mädchen hatte sich als Unterstützerin der britischen Truppen gesehen und schlimmstenfalls als unbeteiligte Zuschauerin, aber sie konnte aus der Erfahrung wichtige Erkenntnisse über politische Gewalt gewinnen. Francis baute auf diesen Prozess der Selbstbeobachtung und -projektion auf, indem er die Schüler darum bat, aus der Sicht ihrer Charaktere Tagebücher zu schreiben oder Kurzfilme über die Ereignisse zu produzieren, die sich im Spiel
21 J.P. Gee: What Video Games Have to Teach Us About Learning and Literacy. 22 Ebd., S. 55. 23 Francis, Russell: »Towards a Theory of a Games Based Pedagogy« Paper presented at the Innovating e-Learning 2006. Transforming Learning Experiences, JISC Online Conference, UK, 27.-31. März 2006.
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entwickelt hatten. Durch die Konstruktion der virtuellen Charaktere und die Identifikation mit ihnen sammelten die Teilnehmer Wissen aus verschiedenen Quellen, verbanden es mit Dingen, die sie in anderen Kontexten gelesen oder erfahren hatten, mit Informationen, die im Spiel enthalten waren, und mit ihren eigenen Lebenserfahrungen, um Charaktere zu kreieren, die interessanter für sie waren als die einfachen Avatare, die die Spieleentwickler erdacht hatten. Man kann sich den Prozess ähnlich vorstellen, wie wenn Schauspieler sich auf eine Rolle vorbereiten. Ein afroamerikanisches Mädchen beschreibt zum Beispiel ihre Erfahrungen beim Spielen einer Haussklavin so (die Erklärung geht weit über das hinaus, was im Spiel tatsächlich dargestellt wird; das Mädchen erfindet sogar Aktionen für nichtspielbare Charaktere, um sich ihren Platz in der abgebildeten Welt zu erklären): »Man bekommt nicht die erhoffte Unterstützung, und nur weil man als Haussklavin etwas hellere Haut hat, beschimpfen sie einen – denn eigentlich ist man das Kind des Herren … Ich musste Wege finden um damit klar zu kommen, denn es war hart. Einerseits will man den Herrn nicht verärgern, weil er einen schlagen kann. Auf der anderen Seite machen sich die Sklaven über einen lustig und sind gemein.«
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Kinder erwerben eine grundlegende Bildung und Kompetenzen, indem sie lernen, mit Kulturgütern umzugehen. In The Braid of Literature: Children’s World of Reading spüren Wolf und Heath den Formen von Spiel nach, die das Verhältnis von Wolfs beiden Töchtern im Vorschulalter zur »Welt der Worte« und Geschichten prägten.25 Wolf und Heath sind interessiert daran, wie Kinder Charaktere, Situationen, allgemeine Regeln und sogar bestimmte Redewendungen durch ihr soziolinguistisches Spiel zum Ausdruck bringen. Kinder lesen nicht einfach bloß oder hören sich Geschichten an; sie spielen die Narrationen nach und verändern sie dabei, und in diesem Prozess, so argumentieren die Autoren, demonstrieren Kinder, dass sie wirklich verstehen, was sie gelesen haben. Das Spielen hilft ihnen, sich durch die Welt der Geschichten zu bewegen, und gleichzeitig helfen ihnen die Geschichte, sich in realen Situationen zu recht zu finden. Kinder lernen durch diese Darstellungen, ihre Erfahrungen beim Lesen zu artikulieren und entwickeln dabei die analytische Fähigkeit, um Literatur und ihre Kenntnisse von ihr zu beurteilen.
24 Ebd. 25 Wolf, Shelby Anne/Heath, Shirley Brice: The Braid of Literature. Children’s Worlds of Reading, Cambridge, MA: Harvard University Press 1992.
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Dysons Writing Superheroes: Contemporary Childhood, Popular Culture, and Classroom Literacy26 erweitert diese Analyse der Verbindung von Performanz und Bildung um den Kontext der Schule und erforscht dabei, wie Pädagogen Dramatisierungen nutzen, um Kindern beizubringen, ihre Wahrnehmung von Geschichten intensiver zu reflektieren. Wolf und Heath beschreiben individuelles Spielen im Kontext des Zuhauses; Dyson beschreibt soziales Spiel unter Gleichaltrigen. In beiden Fällen starten Kinder mit einem gemeinsamen Bezugssystem – Geschichten die sie kennen, Genres, die sie verstehen – um sicherzugehen, dass sie die Spiel-Rollen und die Regeln der Interaktion verstehen. Die Darstellung dieser gemeinsamen Fantasien (wie zum Beispiel Szenarien aus Superhelden-Comics) lässt Kinder besser verstehen, wer sie sind und wie sie sich den Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung mitteilen können. Rollenspiele sind unter zeitgenössischen Jugendlichen sehr populär, sei es das Cos-Play junger Anime Fans (Kostümierungen basierend auf den Charakteren japanischer Anime Filme), das Verschmelzen mit digitalen Avataren in Computerspielen, Fantasy-Rollenspiele oder das Erschaffen alternativer Rollen in Subkulturen wie den Gothics. Solche Spiele wurden lange als Ausprobieren möglicher Identitäten und Erkunden verschiedener sozialer Räume verstanden. Stern betont dabei die auf den Websites und Blogs von Teenagern ersichtlichen Formen der Selbstdarstellung: »Die Möglichkeit, sich wiederholt selbst neu zu erfinden ist besonders attraktiv, da Homepages und Blogs beliebig oft aktualisiert werden und darüber hinaus anonym veröffentlicht werden können.« 27 Die ausgefeilten und komplexeren Formen des Rollenspiels können außerdem den Zugang zu einer breiteren Wissenssphäre ermöglichen. Dazu beispielsweise folgendes Interview mit einer siebzehnjährigen Amerikanerin: »Seit der sechsten Klasse bin ich an japanischer Kultur interessiert. In der siebten Klasse fing ich damit an, Japanisch zu lernen. Als ich in die High School kam, habe ich angefangen, Japanischkurse zu belegen. Zum Verkleiden kam ich durch Animes, die überhaupt erst mein Interesse an Japan geweckt hatten. So habe ich mir selbst das Nähen beigebracht. […] Ich bin eine Rampensau. Ich liebe die Aufmerksamkeit und Bestätigung. Ich liebe das Schauspiel und Theater. Der größte Lohn beim Cos-Play ist es, zu den Kongressen zu gehen, wo andere Menschen sind, die deine Kostümierung erkennen und die die Mühe zu würdigen wissen. Als ich das erste Mal an ein so einem Kongress teilnahm, ha-
26 Dyson, Anne Haas: Writing Superheroes: Contemporary Childhood, Popular Culture, and Classroom Literacy, New York: The Teachers College Press 1997. 27 Stern, Susannah: »Growing Up Online«, in: Telemedium. The Journal of Media Literacy 52/1-2 (2005), S. 55-58, hier S. 57.
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ben bestimmt 50 Leute Fotos von mir gemacht und mindestens 10 davon kamen zu mir und umarmten mich. Als wer auch immer man sich verkleidet, es ist als würde man für einen Tag lang zu der Person werden […] Nach den Kongressen laden die Leute die Bilder auf ihre Websites. Dann kann man nach Fotos von sich selbst suchen. und wenn man Glück hat, findet man sogar fünf oder zehn.«
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Indem sie die Rolle eines Charakters der japanischen Popkultur annahm, stellte das Mädchen ihr Wissen um die zugehörigen Kontexte unter Beweis. Diese neue Identität anzunehmen, erfordert eine intensive Beschäftigung mit den Originaltexten, Genrekonventionen, sozialen Rollen und sprachlichen Codes. Sie musste tief in die Geschichten eintauchen, um ihren Platz in dieser Welt zu finden. In diesem Fall musste sie sogar die Kultur ausblenden, die sie unmittelbar umgibt, um sich einen Text zu eigen zu machen, der einer vollkommen anderen kulturellen Tradition entstammt. Sie suchte nach weiteren Informationen über asiatische Popkultur. Dabei hat sie ihre Beziehung zur Welt neu erfunden – als Teil einer internationalen Fankultur, die tief verwurzelt ist im japanischen Alltagsleben. Die Suche nach weiteren Informationen drückt sich in einer ganzen Spannbreite von Medien aus: die Videos oder DVDs von japanischen Animes, die sie schaut, die Aufnahmen japanischer Popmusik in Form von MP3 oder CDs, Informationen, die sie und andere Fans über ihre Aktivitäten im Internet austauschen, ihre selbstgemachten Kostüme, genau wie die Fotos ihrer Kostüme, die Magazine und Comics, die sie liest, um mehr über japanische Popkultur zu lernen, und ihre direkten Kontakte mit anderen Fans. Diese Aktivitäten rund um die Popkultur bringen wiederum andere Formen des Lernens hervor. Als Schülerin der Mittelstufe begann sie zunächst, sich die japanische Sprache und Kultur selbst zu erarbeiten, später setzte sie ihre Studien am College fort. Rollenspiele sollten als wichtige Fähigkeit verstanden werden, die in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen Anwendung findet. Bisher haben wir ihre Bedeutung für Geschichte, Sprachen und Geographie angedeutet. Damit kratzen wir allerdings erst an der Oberfläche. Seien es Kinder auf dem Spielplatz, die das komplexe Universum von POKÉMON durchspielen und entschlüsseln, oder Orville Wright, der vorgibt ein Bussard zu sein, der über Dünen gleitet, oder Einstein, der sich vorstellt als Photon über die Erde zu rasen: Rollenspiele ermöglichen uns, neue Welten zu imaginieren und kollektiv darüber nachzudenken, wie sich diese verändern lassen. Wir sollten zum Beispiel bedenken, wie Rollenspiele zeitgenössische Produktentwicklungsprozesse beeinflussen.
28 Bertozzi, Vanessa/Jenkins, Henry: Young Artists, New York: Routledge. Im Erscheinen.
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Zunehmend erfinden Entwickler imaginäre Nutzer, die verschiedene Anwendungsfälle und Ansprüche an das Produkt verkörpern. Diese Figuren werden dann in fiktive Kontexte versetzt, die es den Entwicklern erlauben, die Brauchbarkeit ihrer Arbeit zu überprüfen und ob diese den verschiedenen Bedürfnissen gerecht wird. In einigen Fällen beinhaltet der Prozess, dass die Entwickler selbst verschiedene Rollen spielen, um dadurch die Stärken und Schwächen ihrer Ansätze zu identifizieren. Improvisation stellt damit eine wichtige Fähigkeit im Leben dar, die eine Balance zwischen Problemlösungen und kreativem Ausdruck herstellt, die uns dazu einlädt, uns selbst und die Welt zu überdenken, und die es uns erlaubt, Probleme aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Pädagogen haben Rollenspiele lange nur als Mittel zum Zweck verstanden – eine unterhaltsame Art, andere Inhalte zu vermitteln –, wir sind jedoch der Ansicht, dass Rollenspiele ihren eigenen Wert haben und immer wichtiger für das Funktionieren auch der Institutionen der Erwachsenenwelt werden. Das Darstellen anderer Figuren führt zu der Fähigkeit, Probleme anders betrachten zu können, Informationen aufzunehmen, Wissen über wichtige Kulturgüter zu erlangen, und dank Improvisation auf die sich ändernde Umwelt reagieren zu können. Genau wie in Spiel und Simulation führt die Performanz zu einer anderen Gewichtung von Lernprozessen – mehr »wie« wir lernen, weniger »was« wir lernen. Solche Lernprozesse unterstützen aller Wahrscheinlichkeit nach Wachstum und Lernen weit über die Schulzeit hinaus.
Was sich tun lässt Performanz findet Eingang in die Bildung, wenn Schüler dazu aufgefordert werden, fiktive Rollen anzunehmen und aus deren Perspektive bestimmte Szenarien durchzuspielen. Diese Rollen können der realen oder virtuellen Welt entstammen. •
Die »Model-United-Nations«, ein bekanntes Lehrprojekt, bringt Schüler aus vielen unterschiedlichen Schulen zusammen, wobei jede Schule Delegationen aus verschiedenen Mitgliederstaaten repräsentiert. Im Laufe eines Wochenendes arbeiten die Teilnehmer an aktuellen Debatten der Außenpolitik und simulieren die tatsächlichen Vorgänge und Strategien der internationalen Organisation. Die Schüler bereiten sich auf die Model United Nations vor, indem sie Bibliotheksrecherchen betreiben, zu Vorlesungen gehen und an Gruppendiskussionen teilnehmen. Nach ihrer Rückkehr berichten sie ihren Klassenkameraden in Form von Referaten und Aufsätzen von ihren Erfahrungen.
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Das »Savannah Project« wurde von Forschern der University of Bristol gegründet. Kinder sollen dabei in realen Umgebungen wie dem Schulhof die Rolle von Löwen übernehmen, die ihre Beute jagen. Die fiktiven Daten erhalten sie über Handheld-Geräte. Dieser Ansatz sorgt dafür, dass Schüler das komplexe Ökosystem der Steppe von innen heraus kennenlernen – sie erfahren von den Bedingungen, die die Überlebenschancen des Löwen beeinflussen, und sie erwerben die Fähigkeiten, die sie zum Beute machen benötigen. Lehrer verschiedener Fächer können anwenden, was Shaffer als »epistemische Spiele« bezeichnet.29 In diesen wird der soziale Kontext eines Berufsfeldes (wie zum Beispiel Städteplanung) simuliert. Indem sich die Spieler mit realistischen, wenn auch simulierten Problemen befassen, lernen sie Handlungsweisen und Interaktionsformen, die notwendig sind, um sich in einem professionellen Umfeld bewegen zu können. Tatsächlich lernen die Spieler durch ihr Rollenspiel als Städteplaner, Anwälte, Ärzte, Ingenieure, Schreiner, Historiker, Lehrer oder Physiker zu denken wie Vertreter dieser Berufe, statt nur Fakten und Formeln auswendig zu lernen. Bei »Medieval Space«, einem MySpace-Klon, der von Lehrern der Byrd Middle School ins Leben gerufen wurde, sollten Schüler Online-Profile der zahlreichen historischen Figuren erstellen, die sie im Unterricht kennengelernt haben. Statt Figuren wie Richard III., Heinrich VI. oder Königin Elisabeth als isolierte Persönlichkeiten zu verstehen, untersuchten die Schüler die komplexen sozialen Beziehungen zwischen ihnen, indem sie sich vorstellten, wie diese interagiert hätten, wenn es im 15. Jahrhundert bereits soziale Netzwerke gegeben hätte. Beispielsweise wurden die Schüler dazu aufgefordert, zu überlegen, welchen Song ihr Charakter gehört hätte. So wurde bei Richard III »Only God Can Judge Me Now« von 2Pac gelistet.30
Transmedia-Navigation – die Fähigkeit, mit dem Fluss von Geschichten und Informationen durch multiple Modalitäten umzugehen Im Zeitalter der Konvergenz werden Konsumenten zu Jägern und Sammlern, die Informationen aus verschiedenen Quellen zusammenführen, um daraus neue
29 Shaffer, David W.: »Epistemic Frames for Epistemic Games«, in: Computers and Education 46 (2006), S. 223-234. Verfügbar unter http://coweb.wcer.wisc.edu/cv/papers/ Shaffer_cae_2005.pdf 30 Siehe http://www.incsub.org/wpmu/bionicteacher/?p=142 für weitere Informationen.
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Synthesen zu bilden.31 Dieses Potenzial lässt sich für transmediale Erzählungen nutzen. In der Werbung spricht man von Markenkommunikation über verschiedene Berührungspunkte; Fernsehsender wollen ihre proprietären Produktionen auf möglichst vielen verschiedenen Kanälen auswerten. Und während sie das tun, begegnen uns dieselben Informationen, die selben Geschichten, die selben Charaktere und Welten in den verschiedensten Darstellungsformen. Transmediale Geschichten sind, einfach ausgedrückt, solche, die über mehrere Mediengattungen hinweg erzählt werden. Die wichtigsten Geschichten unserer Zeit pflegen über eine Vielzahl von Medienplattformen verbreitet zu werden. Ein Beispiel dafür ist das POKÉMON-Phänomen. Buckingham und SeftonGreen erklären, dass »POKÉMON eine Tätigkeit ist und nicht bloß etwas, das man liest, anschaut oder konsumiert.«32 Es existieren mehrere hundert verschiedene POKÉMON-Arten, alle in unterschiedlichen evolutionären Ausprägungen und mit komplexen Gefügen aus Rivalitäten und Beziehungen. Den einen Text, der über die verschiedenen Arten informiert, gibt es nicht. Stattdessen sammeln die Kinder Informationen durch verschiedene Medien, wodurch jedes Kind etwas weiß, das seine Freunde nicht wissen. Als Folge können die Kinder ihr Wissen untereinander austauschen. Wie Buckingham und Sefton-Green erklären, »schauen Kinder zum Beispiel die Fernsehserie, um Informationen zu sammeln, die sie später beim Spielen des Computerspiels oder Tauschen der Sammelkarten verwenden können und umgekehrt. Die Tatsache, dass Informationen zwischen den verschiedenen Medien (und Plattformen) übertragen werden können, verstärkt den Eindruck, dass POKÉMON
allgegenwärtig ist. Um das Spiel zu meistern, muss man sich alle unterschiedlichen
Manifestationen ›schnappen‹.«
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Solche Informationen fließen dann in soziale Interaktionen ein34, sowohl im direkten Umfeld als auch mit weiter verstreuten Kontakten, die online gepflegt werden. Diese Stoffe für Kinder ermöglichen den Einstieg in mehreren Medien,
31 H. Jenkins: Convergence Culture. 32 Buckingham, David/Sefton-Green, Julian: »Structure, Agency, and Pedagogy in Children’s Media Culture«, in: Joseph Tobin (Hg.), Pikachu’s Global Adventure. The Rise and Fall of Pokémon, Durham, NC: Duke University Press 2004. 33 Ebd., S. 22. 34 Ito, Mizuko: »Technologies of the Childhood Imagination. Yugioh, Media Mixes and Everyday Cultural Production«, in: Joe Karaganis/Natalie Jeremijenko (Hg.), Network/Netplay. Structures of Participation in Digital Culture, Durham, NC: Duke University Press 2005, S. 31-34.
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erlauben viele unterschiedliche Formen der Partizipation und stoßen auf das Interesse vieler Konsumenten. Ein Aspekt dieses Phänomens führt uns zurück zur Schwarmintelligenz, vorausgesetzt, dass das entsteht, was Ito »Hypergeselligkeit«35 nennt, wenn Kinder Gedanken und Gegenstände tauschen, die mit ihren Lieblingsserien zu tun haben. Ein zweiter Aspekt des Phänomens führt uns zu dem, was Kress Multimodalität nennt.36 Dazu ein einfaches Beispiel. Dieselbe Figur (zum Beispiel Spider-Man) kann in einem Zeichentrickfilm ganz anders aussehen als im Computerspiel, im Comicheft, als Action-Figur aus Plastik oder im Spielfilm. Wie also erkennt das Publikum die Figur in all diesen Medien wieder? Wie bringen die Zuschauer das, was sie in einem Kontext über die Figur erfahren haben, mit dem zusammen, was sie aus einem ganz anderen Medium wissen? Wie stellen sie fest, welche diese Repräsentationen zusammen gehören (weil sie Teil derselben Interpretation der Figur sind) und welche unabhängig voneinander sind (weil es sich um verschiedene, für sich stehende Versionen der Figur handelt)? Das sind die konzeptuellen Probleme, mit denen es Jugendliche regelmäßig zu tun haben, wenn sie sich mit den aktuellen Medien-Franchises beschäftigen. Kress betont, dass moderne Bildung die Fähigkeit erfordert, Ideen über eine ganze Bandbreite von Repräsentations- und Bedeutungssystemen zu artikulieren (darunter »gesprochene und geschriebene Worte; bewegte und unbewegte Bilder; Musik… 3D-Modelle…«).37 Jedes Medium hat seine eigenen Anforderungen, seine eigenen Repräsentationssysteme, seine eigenen Strategien, um Wissen zu produzieren und zu organisieren. Wer an der neuen Medienlandschaft teilnimmt, lernt diese verschiedenen und manchmal widersprüchlichen Repräsentationsformen zu nutzen und angemessene Entscheidungen zu treffen, wenn es darum geht die eigenen Ideen in verschiedenen Kontexten auszudrücken. All das hört sich komplizierter an, als es ist. Wie der Report des New Media Consortium zur Bildung im 21. Jahrhundert nahelegt, »scheinen Jugendliche, die darin geübt sind, Klänge, Musik, bewegte und unbewegte Bildern und interaktive Elemente zu interpretieren, nicht nur in der Lage, Botschaften zu verarbeiten, die gleichzeitig mehrere Kanäle in Anspruch nehmen, sondern sie ziehen solche Botschaften oft sogar vor.«38 Kress argumentiert, dass die Tendenz zur Multimodalität die Art und Weise verändert, wie wir die Komposition von Botschaften vermitteln, weil Schüler
35 Ebd., S. 31. 36 Kress, Gunther: Literacy in the New Media Age, New York: Routledge 2003. 37 Ebd. 38 New Media Consortium: A Global Imperative, S. 3.
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lernen müssen, eine ganze Bandbreite an möglichen Ausdrucksformen zu beherrschen, zu entscheiden, welche davon am effektivsten ist, um das Publikum zu erreichen und ihre Botschaft zu vermitteln, und zu erfassen, welche Techniken und Kanäle am besten geeignet sind, um Informationen zu übertragen. Kress empfiehlt, vom Lehren, wie geschriebene Botschaften komponiert werden, fortzuschreiten zum Lehren von Designkompetenz als der grundlegenden Ausdrucksfähigkeit unserer Zeit. Dieser Wandel ersetzt nicht gedruckten Text durch Bilder, wie einige Verfechter einer visuellen Bildung nahegelegt haben. Stattdessen geht es um die Entwicklung eines komplexeren Vokabulars, um Ideen zu kommunizieren, das von den Schülern erfordert, gleichermaßen versiert im Verstehen wie Produzieren von Bildern, Texten, Tönen und Simulationen zu sein. Der Filmemacher George Lucas liefert eine ähnlich weitreichende Definition davon, was Bildung heutzutage bedeuten könnte: »Wir müssen Kommunikation umfassend und in allen ihren Formen lehren. Heutzutage arbeiten wir mit dem geschriebenen oder gesprochenen Wort als primärer Kommunikationsform. Aber wir müssen auch die Bedeutung von Grafik, Musik und Film anerkennen, die genauso mächtig und in mancher Hinsicht noch stärker mit der Jugendkultur verbunden sind. Wir leben und arbeiten in einer visuell hochentwickelten Welt, deshalb müssen wir entsprechend gewandt im Umgang mit allen Kommunikationsformen sein, nicht bloß mit dem geschriebenen Wort.«
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Kurz gesagt, beinhaltet eine Neue-Medienbildung die Fähigkeit, medienübergreifend zu denken, sei es auf der Ebene reinen (Wieder-) Erkennens (Identifizieren des selben Inhalts, wenn er zwischen den verschiedenen Repräsentationsformen übersetzt wurde), auf der Ebene narrativer Logik (Verstehen der Verbindungen einzelner Elemente einer Geschichte, die über verschiedene Medien erzählt wird) oder auf der Ebene der Rhetorik (Lernen, Ideen innerhalb eines einzelnen Mediums oder über die ganze Spannbreite der Medien auszudrücken). Transmedia-Navigation beinhaltet sowohl die Verarbeitung neuer Formen von Geschichten und Argumenten, die innerhalb einer Konvergenzkultur entstehen, als auch den Ausdruck von Ideen auf Weisen, die den Möglichkeiten und Erfordernissen der neuen Medienlandschaft entsprechen. Anders formuliert beinhaltet sie die Fähigkeit, alle verfügbaren Ausdrucksformen sowohl verstehen als auch produzieren zu können.
39 Daly, James: »Life on the Screen« Los Angeles: Edutopia, The George Lucas Educational Foundation 2004. http://www.edutopia.org/lucas-visual-literacy
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Was sich tun lässt Schüler üben sich in Multimodalität und Transmedia-Navigation, indem sie beobachten, wie Geschichten sich verändern, wenn sie sich zwischen verschiedenen Kontexten der Produktion und Rezeption bewegen, indem sie abwägen, welche Erfordernisse und Konventionen die verschiedenen Medien aufweisen, und indem sie lernen, mit den verschiedenen medialen Werkzeugen kreativ zu arbeiten. •
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Schüler werden in Literaturkursen aufgefordert zu untersuchen, wie ein bekanntes Märchen, eine Sage oder Legende in verschiedenen Medien, historischen Epochen und nationalen Kontexten neu erzählt wurde. Die Schüler suchen sowohl nach wiederkehrenden Elementen als auch nach den Änderungen, die auftauchen, wenn die Geschichte in einem anderen Kontext neu erzählt wird. Schüler eines Französischkurses in New York bilden Figuren aus der französischen Literatur im beliebten Videospiel THE SIMS 2 nach. Die Schüler erzählen dann neue Geschichten, indem sie innerhalb der Welt des Spiels Interaktionen zwischen den Figuren durchspielen. Das Ganze wird auf eine Leinwand im Klassenzimmer projiziert, damit die Schüler mit ihren Figuren Live-Vorstellungen geben können.40 Während einer Übung, die vom MIT Projekt »New Media Literacies« entwickelt wurde, sollen Schüler dieselbe Geschichte in verschiedenen Medien erzählen.41 Zum Beispiel schreiben sie einen Dialog mithilfe von Instant Messager, sie entwerfen Storyboards mit Powerpoint und Bildern aus dem Internet; später können sie ihre Geschichte nachspielen und mit einer Kamera aufzeichnen, oder sie können sie illustrieren, indem sie Bilder malen. Während sie das tun, werden sie aufgefordert darüber nachdenken, wie jedes neue Ausdrucksmittel zum Gesamtbild der Geschichte beiträgt, und was erhalten bleiben muss, damit die Zuschauer dieselben Figuren und Situationen innerhalb der verschiedenen Medien wiedererkennen.
L ITERATUR Bertozzi, Vanessa/Jenkins, Henry: Young Artists, New York: Routledge. Im Erscheinen.
40 Siehe http://www.mylenecatel.com 41 H. Jenkins: »Fun vs. Engagement«.
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C OMPUTERSPIELE CAESAR III (Sierra Entertainment 1998, O: Impressions Games) CIVILIZATION III (Infogrames 2001, O: Firaxis Games/Westlake Interactive) POKÉMON (Nintendo, seit 1996) RAILROAD TYCOON (MicroProse 1990, O: MicroProse) SIMCITY (Maxis/Electronic Arts, seit 1989) THE LOGICAL JOURNEY OF THE ZOOMBINIS (Brøderbund Software 1996, O: Brøderbund Software) THE SIMS (Electronic Arts 2000, O: Maxis)
Lernen mit digitalen Medien Zur Gestaltung der Lernszenarien
I SABEL Z ORN
E INLEITUNG Die Entwicklung der digitalen Medien und ihre Verbreitung führen zu tief greifenden Veränderungen in Gesellschaft, in Berufs- und Alltagskontexten und auch in Lernkontexten. Ihre Allgegenwärtigkeit durch Mobile Computing, ihre Implementierung in Gebrauchsgegenstände im Ubiquitous Computing, neue Recherche- und Kommunikationsmöglichkeiten, die Verknüpfung von Informationen durch das Semantic Web, neuartige Verknüpfungen zwischen Menschen und Informationen durch Social Software im Web 2.0 ermöglichen neue Situationen und Möglichkeiten des Lernens. In der Forschung, z.B. der Medienpädagogik, der Mediendidaktik und der E-Learning-Forschung, befasst man sich derzeit damit, welche Einflüsse digitale Medien auf Lernprozesse haben können: • • • •
• •
Wie verändern sich Wissensvermittlungen und Wissenskonstruktionen? Wie verändern sich Formen der Kooperation? Was bedeutet das für Lernen? Für Lehrformen? Für die Entwicklung von medienunterstützen Lernszenarien? Welche Ansprüche erwachsen daraus auch an die Entwicklung neuer Lehrkulturen und neuer Rollenverteilungen von Lehrenden? Wie ändern sich Formen von Freiwilligkeit versus Kontrolle? Wie verändern sich Ansprüche der Lernenden an ihren Lernprozess? Welcher Umgang mit den Risiken und Datenschutzfragen wird erforderlich?
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Die letzte Frage hat gerade in formalen Lernkontexten eine hohe Bedeutung, und die täglich in der Presse nachzulesenden Skandale über Sicherheitslücken bei Software, Spielekonsolen, EC- und Kreditkarten etc. zeigen die hohe Brisanz dieser Frage, doch würde sie den Umfang dieses Artikels sprengen. Oft wird die Frage gestellt: Wie lässt es sich gut mit digitalen Medien lernen? Obwohl uns die Antwort dieser Frage sehr interessieren würde, möchte ich sie gleich zu Anfang aus diesem Artikel verbannen, denn es gibt hier keine generell gültigen Antworten. Stattdessen starte ich also mit einer provokativen und bedeutsamen These: Durch mediale Lernangebote wird per se weder Effizienz- noch Effektivitätssteigerung erreicht! Lernprozesse hängen auch weiterhin vom Lernszenario ab. Es gilt, jeweils didaktisch geschickt aufgebaute Lernszenarien zu gestalten, und zwar jeweils der Situation entsprechend, dem Thema entsprechend, dem Lernziel entsprechend und an der jeweiligen Zielgruppe orientiert. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Frage nach den wechselseitigen Einflüssen von Medienentwicklungen und Lernprozessen sowie mit didaktischen Gestaltungskriterien für Lernkontexte mit digitalen Medien. Ich werde daher zunächst die Ist-Situation der Mediennutzung darstellen und dabei auf junge Menschen fokussieren. Die Mediennutzung ist eng gekoppelt mit dem Angebot an Medien. Welche davon für Lernsituationen fruchtbar gemacht werden könnten, analysiert regelmäßig der Horizon-Report1, eine Experten-Studie, die anschließend vorgestellt wird. Wir werfen dann unseren Blick auf Erkenntnisse über Lernprozesse im Allgemeinen und besonders auf Lernprozesse mit ausgewählten digitalen Medien in spezifischen Lernsettings, um daraus Anhaltspunkte für die Gestaltung von Lernszenarien zu gewinnen. Beispielhafte Möglichkeiten, die sich als Konsequenz aus den Darstellungen ergeben, werden im abschließenden Teil vorgestellt. Ein wertvolles Mittel, um einen Überblick über Mediennutzungsweisen und deren Veränderungen bei jungen Menschen zu erhalten, bieten die jährlich vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest (MPFS) erhobenen Daten der JIM-Studie »Jugend, Information, (Multi-) Media«. Jugendliche im Alter von 13-19 Jahren werden zu ihrem Mediennutzungsverhalten in Telefoninterviews befragt. Hier zeigt sich, dass die Quote der Haushalte, in denen Jugendliche leben, die mit Computern, Internet und Handys ausgestattet sind, in den vergangenen 11 Jahren seit Beginn der Erhebung von einem einstelligen Prozentbetrag auf über 90% gestiegen ist. Diese fast flächendeckende Versorgung mit In-
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Johnson, Larry et al.: The 2011 Horizon Report, Austin, Texas: The New Media Consortium 2011. http://www.nmc.org/pdf/2011-Horizon-Report.pdf
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formationstechnologie in so kurzer Zeit ist enorm und lässt Vermutungen über ähnliche zukünftige Entwicklungen zu. Entsprechend ist auch die Nutzung medialer Angebote durch Internet und Handy bei den Jugendlichen stark angestiegen. Dies führt jedoch (erstaunlicherweise?) nicht zu einer Abnahme der Nutzung herkömmlicher Medien wie Bücher, Tageszeitungen, TV (alle Angaben stammen aus MPFS 2010)2. Diese Erkenntnisse sind relevant, weil sie darauf hinweisen, dass digitale Medien im Alltag der Jugendlichen ebenso verankert sind wie herkömmliche Medien und dass sich damit auch jugendliche Erwartungen bzw. Ansprüche an die Verankerung digitaler Medien in Lernszenarien verändern. Es entwickeln sich neue Medienkulturen, die bedient werden wollen, auch wenn sich möglicherweise die Medienkulturen von Erwachsenen (beispielsweise Lehrern) von denen der Jugendlichen (z.B. ihren Schülern) noch eine Zeitlang unterscheiden werden. Es gilt daher, geeignete Lernszenarien zu entwickeln, die für Jugendliche motivierend und relevant sind. Passende digitale Medien zu integrieren, könnte dies unterstützen.
D AS
KONSTRUKTIVISTISCHE
L ERNMODELL
Lernszenarien liegt (ob bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt) jeweils ein spezifisches Bild von erwünschten Lernvorgängen zugrunde, welche durch die didaktische Gestaltung des Lernsettings gefördert werden sollen. Die Lernforschung hat verschiedene Modelle von Lernvorgängen entwickelt. Bekannte Modelle3 sind: • das behavioristische Modell, • das kognitivistische Modell, • und das konstruktivistische Modell.
Die Gestaltung von mit digitalen Medien unterstützten Lernszenarien ist davon abhängig, welche Lernformen damit unterstützt werden sollen. Wo auf ein stär-
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Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: JIM-Studie 210. Jugend, Information, (Multi-)Media; Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19jähriger, Baden-Baden: MPFS 2010. http://www.mpfs.de/fileadmin/JIM-pdf10/JIM-Studie20 10.pdf vom 11.08.2011.
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Für eine ausführlichere Darstellung vgl. z.B. Kron, Friedrich Wilhelm/Sofos, Alivisos: Mediendidaktik. Neue Medien in Lehr- und Lernprozessen; mit 6 Tabellen, München [u.a.]: Reinhardt 2003, S. 87ff.
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ker Input-Output-orientiertes Lernen abgezielt wird, also eher dem behavioristischen Modell gefolgt wird, werden andere Medien und andere Gestaltungsmittel einzusetzen sein, als wenn ein eher explorierendes Lernen ermöglicht werden soll, bei dem sich Lernende stärker durch eine abwägende kritische Haltung mit einem Thema auseinandersetzen sollen. Letztere entspricht eher dem konstruktivistischen Modell. Im konstruktivistischen Modell von Lernen wird davon ausgegangen, dass Lernen ein konstruktiver Prozess ist. Lernende lernen auf Grundlage ihrer Erfahrungen. Sie setzen eigene Werte, Überzeugungen und entwickelte Erkenntnisse ein. Lernen als Konstruktion kritisiert dabei die Illusionen des Aneignungs- und Abbildungs-Lernens, denn es geht davon aus, dass Wahrnehmung und Erkenntnis von außen nicht steuernd beeinflusst werden können. Interaktionen mit anderen sind ausschlaggebend, wie das zu Lernende angenommen, weitergeführt, entwickelt wird. Entscheidend ist dabei, eine eigene Perspektive auf sein Lernen einzunehmen, sich zu motivieren, sein Lernen selbst zu organisieren, sich seiner Muster und Schematisierungen bewusst zu werden und diese handlungsorientiert zu entwickeln4. Es gilt demnach, durch geeignete Lernszenarien eine Disposition oder Haltung zu schaffen und zu fördern, welche die Fähigkeiten zur Entscheidungsfindung, Innovation und Problemlösung steigert. Im Folgenden werden konstruktivistisch orientierte Lernszenarien vorgestellt, weil diese besonders gut aktuelle mediale Entwicklungen im Web 2.0 und deren Einflüsse auf Haltungen und Mediennutzungsweisen der Nutzer des Web 2.0 unterstützen.
E NTWICKLUNGEN
IM
W EB 2.0
Die inzwischen allgegenwärtige und viele Lebens-, Alltags- und Lernsituationen durchdringende Internetnutzung hat sich im Laufe der vergangenen Jahre dahingehend verändert, dass nicht mehr nur Informationen gesucht werden, sondern sehr stark Interaktionen mit anderen Nutzern darüber gestaltet werden. Auch die Inhalte entstehen in starkem Maße aufgrund solcher konstruktiven Interaktionen.
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Vgl. zum konstruktivistischen Lernen z.B. Gerstenmaier, Jochen/Mandl, Heinz: »Wissenserwerb unter konstruktivistischer Perspektive«, in: Zeitschrift für Pädagogik 41/6 (1995), S. 867-888; Reinmann-Rothmeier, Gabi/Mandl, Heinz: »Implementation konstruktivistischer Lernumgebungen – Revolutionärer Wandel oder evolutionäre Veränderung?«, in: Herta-Elisabeth Renk (Hg), Lernen und Leben aus der Welt im Kopf. Konstruktivismus in der Schule, Neuwied: Luchterhand 1999, S. 61-78.
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Das größte Lexikon der Welt – uns allen als Wikipedia bekannt – oder Facebook, Hotelempfehlungsseiten, Radtourbeschreibungen, Weblogs, ja selbst Kinofilm-Piraterie-Seiten etc. – sie alle wären mehr oder weniger nicht vorhanden bzw. leer, wenn dort nicht die Benutzer Inhalte einstellten! Diese interaktiven Contentproduktionen werden unter dem nicht scharf definierten Begriff »Web 2.0« gefasst. Die Nutzungsweisen des Web 1.0, als sich vorrangig Organisationen und Betriebe mit eigenem Content auf ihrer eigenen Seite präsentierten, können mit den Stichwörtern Recherche, Ressourcen, Repräsentation etwas plakativ umschrieben werden. Im Gegensatz dazu ist das soziale Web 2.0 von Interaktionen geprägt und zeichnet sich (zumindest im Englischen) durch die 6 »C«s aus: Cooperation, Community, Co-Authoring, Construction, Connection, Communication. Selbst werbende, sich präsentierende Firmen legen derzeit bewusst Foren und interaktive Kommunikationsangebote auf ihren Webseiten an – auch mit dem Ziel der Kundenbindung durch deren Teilhabe an produktorientierten sozialen Gemeinschaften, weil sie erkennen, dass sie durch reine Repräsentation ohne Integration von einigen »C«s im Web-2.0-Zeitalter unattraktiv werden. Hier lässt sich der Bogen zum Lernverhalten schlagen. Zum einen erleben Menschen durch ihre alltäglichen Internetnutzungsgewohnheiten die Möglichkeiten des gemeinschaftlichen Austauschs. Sie erwächst damit gewissermaßen zu einem Standard. Kaum noch ein Schüler, der sich zum Schreiben der Hausaufgabe einer Gedichtinterpretation alleine hinsetzt oder sich nur ein Werk der Sekundärliteratur besorgt. Die Tendenz geht dahin, sich aus dem Internet verschiedene bereits vorhandene Gedichtinterpretationen zu besorgen und mit diesem Material die eigene zu erstellen. Eine gewisse Gewöhnung an neue Vorgehensweisen mag man hier erkennen können. Zum anderen können durch die gemeinschaftliche Besprechung eines Sachverhalts die Informationsmenge und die Präzisierung eines Themas umfangreicher und aussagekräftiger werden, dies zeigt sich an Beispielen wie Wikipedia oder Hotelempfehlungen. Ob sich hier eine kollektive Intelligenz bildet (oder ob nicht viele Köche den Brei verderben), wird diskutiert. Wer sich heutzutage auf die glatten Hotelbeschreibungen des Reisekatalogs verlässt, verschenkt jedenfalls die Chance, im Internet durch vorherige Touristen auf die aktuelle Baustellen- und Müllsituation am Hotel hingewiesen zu werden. Der Wandel vom Web 1.0 zum Web 2.0 kann demnach als ein Wandel zu neuen Austauschgewohnheiten gesehen werden. Ändert sich in ähnlicher Weise auch das Lehr- und Lernverhalten an Bildungseinrichtungen? Sollte nicht auch beim Lernen ein Wandel vom Lernen 1.0 (der Lehrende hat und repräsentiert das Wissen, das von den Lernenden zu einem durch Lehrpläne definierten Zeitpunkt X aufgenommen werden muss) hin zu einem Lernen 2.0 erfolgen? Einem Ler-
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nen, bei dem viele Menschen zu einem Thema unterschiedliche Perspektiven und Kenntnisstände austauschen? Einem Lernen, bei dem Partizipation und Zugriff asynchron dann erfolgen, wenn sie benötigt werden? Derartige Möglichkeiten eines sogenannten Lernens 2.0 werden derzeit diskutiert (vgl. z.B. Selwyn 2008). Es überwiegen häufig noch Modelle des Lernens 1.0, bei dem die Lehrenden den Lernenden Material bereitstellen, mit dem diese zu lernen haben. Dies zeigt sich selbst an Hochschulen beispielsweise in der Dominanz, mit der Lehrende in E-Learning-Systemen besonders und oft fast ausschließlich die Möglichkeit nutzen, den Lernenden Lernmaterialien zum Download anzubieten (86%) und auf interaktive Austauschformen verzichten (nur zu 35% an deutschen Hochschulen angeboten).5 Studierende in den neuen Bachelor-Studiengängen bemängeln nach meiner Erfahrung derzeit die Häufung des von ihnen so genannten »Bulimie-Lernens«: Sie lernen intensiv aus Skripten und Büchern für eine von Lehrenden definierte Klausur und haben das meiste davon nach erfolgter Klausur schon wieder vergessen. Sie wünschen sich stattdessen eine stärkere Beteiligung bei der Auswahl der für sie relevanten Lerninhalte und aktivitätsfördernde Formen der Erarbeitung.
B EISPIELE NEUER F ORMEN DES MOBILEN IT- GESTÜTZTEN L ERNENS Für die Gestalter von neuen Lernszenarien mit digitalen Medien stellt sich daher die Frage danach, welche Konsequenzen wir aus diesen im vorangehenden Abschnitt dargestellten Aspekten für die Gestaltung von ansprechenden Lernprozessen mit digitalen Medien und besonders mit Geräten des Mobile Computing ziehen können. Der jährlich vom New Media Consortium – einem Gremium aus US-amerikanischen Geräteherstellern, Bildungswissenschaftlern und Personalentwicklern – erstellte Horizon-Report geht diesen und ähnlichen Fragen nach und entwickelt daraus Hypothesen über die zukünftige Nutzung von Technologien für Lernkontexte. Er unterteilt diese Visionen in kurzfristigere und längerfristigere Zeithorizonte. Im Horizon-Report 2011 (Johnson, Smith et al. 2011) wird für die nächs-
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Kleimann, Bernd/Özkilic, Murat/Göcks, Marc: Studieren im Web 2.0 – Studienbezogene Web2.0 und E-Learning-Dienste. HISBUS Kurzinformation Nr. 21. HIS Hochschul-Informations System GmbH 2008, http://www.mmkh.de/upload/dokumente/ Studieren_im_Web_2.0_HISBUS-Kurzbericht21.pdf
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ten ein bis drei Jahre eine stärkere Integration von elektronischen Büchern, aber auch von Augmented-Reality-Applikationen und von spielbasiertem Lernen vorhergesagt. Im folgenden Abschnitt werden einige Beispiele von neuen Formen des mobilen IT-gestützten Lernens vorgestellt. Ein Beispiel für spielbasiertes Lernen in einem formalen Lernkontext ist die Nutzung von kleinen mobilen Endgeräten, wie z.B. Smartphones, PDAs, etc. im Schulunterricht. In einem Lernprojekt über die Ureinwohner Amerikas für den Geschichtsunterricht erhalten Schüler solche Geräte und gehen mit diesen ins Feld. In dem explorierten Landstrich erhalten sie dann auf dem Gerät Aufgaben, um das Leben der Ureinwohner zu erforschen und nachzuvollziehen. Dabei müssen die Aufgaben teilweise auf dem Gerät beantwortet werden. Über GPS können sie die relevanten Örtlichkeiten finden, sie machen Fotoaufnahmen, kommunizieren mit ihren Gruppenmitgliedern, spielen Videofilme ab, oder hören indianische Musik an alten rituellen Plätzen.6 Lernen findet hier nicht abstrahiert im Klassenzimmer, sondern kontextualisiert statt. Die Lernenden sind in stärkerem Maße als im Klassenzimmer aktiv an der Gestaltung ihres Lernprozesses beteiligt. Zudem können unterschiedliche Aktivitätsformen integriert werden z.B. kommunikativer Austausch, Bewegung wie Gehen oder Tanzen, Fotografieren, Suchen, etc. Besonders auch für informelle Lernsituationen werden digitale Medien genutzt. Zu den bekannteren Formen gehört das Nachschlagen von Begriffen im Lexikon Wikipedia, die Informationssuche in Gesundheitsforen bei Krankheiten oder die Nutzung von Trainingsprogrammen (z.B. Gehirnjogging etc.). Mobile Endgeräte ermöglichen eher als gedruckte Medien das Learning-onDemand, also ein Lernen, das dann erfolgen kann, wenn es benötigt wird. Durch ständig verfügbare Informationen auf einem mit dem Internet verbundenen Smartphone können situationsspezifisch fremdsprachige Vokabeln oder Landkarten abgerufen werden, neue Fahrradrouten konzipiert werden, touristische oder historische Informationen zu fremden Orten besorgt oder Sternbilder bestimmt werden. Wer sich an zu Schulzeiten gelernte Details z.. über die Grenzen des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation nicht mehr erinnern kann, kann sie abrufen, während er oder sie am Limes spazieren geht. Und wer sich in Astronomie die Sternbilder nie merken konnte, aber bei einer romantischen Verabredung die Angebetete beeindrucken möchte, hält das Smartphone mit der Sternbild-Applikation Google Sky Map auf den Nachthimmel, und das Programm ermittelt aus dem Foto das jeweilige Sternbild.7 Ähnliches ist bei virtuel-
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http://gameslab.radford.edu/ROAR/games/buffalo-hunt.html
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Anschaulicher Videofilm dazu auf: http://www.youtube.com/watch?v=p6znyx0gjb4
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len Stadtrundgängen auch für Stadtgebäude verfügbar: Das Smartphone wird auf ein Gebäude gerichtet, und die automatische Bildverarbeitung im Hintergrund erkennt das Gebäude und ermittelt die benötigten Informationen dazu.8 Teilweise werden solche Informationen auch nach dem Wiki-Prinzip von Mitnutzern freiwillig ins Netz gestellt und erweitert. Die letzten Beispiele führen bereits in das Anwendungsfeld der Augmented Reality, also der Anreicherung der Umwelt mit verarbeitbaren Daten. Dieses Feld wird von vielen Forschern als wichtiger Zukunftsbereich der IT-Entwicklungen aber auch des Lernens gesehen: Der zukünftige Trend geht weg von Computerkästen auf dem Schreibtisch und hin zu kleinen mobilen Geräten, mit denen vor Ort mit der Umwelt kommuniziert werden kann.
E RKENNTNISSE AUS DER S PIELFORSCHUNG ZU W ORLD
OF
W ARCRAFT
Die Entwicklung mittels digitaler Medien unterstützter Lernszenarien bringt häufig genug interessante Lernanwendungen hervor, die aber in der Praxis dennoch wenig von den angesprochenen Nutzern genutzt werden. Ein Ziel bei der Entwicklung von Lernangeboten muss es daher sein, Motivation und Interesse der Nutzer besser zu treffen und zu stimulieren. Hilfreich kann dafür ein Blick auf erfolgreiche interaktive Anwendungen sein. Zu diesem Zweck werfen wir hier einen Blick auf das weltweit bekannte Online-Game WORLD OF WARCRAFT (Blizzard Entertainment 2004, O: Rob Pardo, Jeff Kaplan, Tom Chilton). Dieses Spiel wird weltweit von über 10 Millionen Spielerinnen und vorrangig Spielern gespielt. Dabei werden seitens der Spielenden sehr viel Geld, Ideen und Lernzeiten investiert, die wöchentliche durchschnittliche Spielzeit wird von unterschiedlichen Quellen zwischen 10-20 Stunden angegeben.9 Für Lernkontexte ist hier eine spannende Frage, warum Menschen freiwillig so viel Zeit und Energie in die Auseinandersetzung in diese interaktive Umgebung investieren und was davon für die Entwicklung IT-gestützter Lernkontexte gelernt werden kann. Die beiden Wissenschaftler Hagel und Brown untersuchten
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Z.B. http://www.onlinewelten.com/games/world-of-warcraft-cataclysm/news/spielerdurchschnittlich-21-stunden-spielzeit-tag-gesichtet-95053/ oder http://www.faz.net/ artikel/C31306/spiele-world-of-warcraft-dominiert-30097658.html
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http://www.onlinewelten.com/games/world-of-warcraft-cataclysm/news/spieler-durch schnittlich-21-stunden-spielzeit-tag-gesichtet-95053/ oder http://www.faz.net/artikel/ C31306/spiele-world-of-warcraft-dominiert-30097658.html).
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zur Klärung dieser Frage den Aufbau des Spiels und seine Motivationsfaktoren.10 •
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Geringe Einstiegsbarrieren und schnelle Verbesserungen: Ein wesentlicher Motivationsfaktor des Spiels ist demnach die Implementierung des frühen Erfolgs. Wer erstmalig mit dem Spiel beginnt, erlebt einen relativ einfachen Einstieg, bei dem er oder sie früh Erfolg erlebt, sich schnell verbessert und Aufgaben erfolgreich löst. Anwendung klarer und reichhaltiger Maßstäbe zur Messung des Spielerfolgs; Kontinuierliche Erhöhung des Schwierigkeitsgrades. Förderung von intrinsischer Motivation und von unbewusstem Wissen (tacit knowledge) bei gleichzeitiger Förderung von explizitem Wissensaustausch. Gestaltung von Möglichkeiten für selbstorganisierte Teambildungen zur Erreichung von Aufgabenzielen. Häufiges und deutliches Feedback zu eigenem Spielverhalten. Entwicklung einer Umgebung, die neue Verhaltensweisen belohnt.
Bekannterweise ist der Suchtfaktor von Spielen wie WORLD OF WARCRAFT relativ hoch. Für die Entwicklung von Abhängigkeiten bedarf es zwar auch spezifischer persönlicher Dispositionen, dennoch lässt sich leicht erkennen, dass auch die Strukturen des Spiels dazu beitragen, immer weiter spielen zu wollen. Viele dieser Gestaltungsmethoden versprechen Benefits auch für die Gestaltung von medialen Lernkontexten, z.B. die Bereitstellung klarer Maßstäbe für den Lernerfolg, das reichhaltige Feedback zum eigenen Lernerfolg, die Bereitstellung von lösbaren Lernaufgaben, deren Schwierigkeitsgrad entsprechend des eigenen Erfolgs variiert und steigt, die Auseinandersetzung mit anderen Lernenden zur Förderung des Wissensaustausches bei der Bewältigung gemeinsamer Teamaufgaben, und die Belohnung der Anwendung neuer Sicht- und Verhaltensweisen. Zu häufig wird auf eine solche didaktisch geeignete Planung verzichtet. Besonders deutlich wird dies an den so genannten E-Learning-Anwendungen an deutschen Hochschulen, die derzeit noch zum größten Teil von der Bereitstellung
10 Hagel, John/Seely Brown, John: »How World of Warcraft Promotes Innovation – This video game demonstrates in its structure and scoring some fundamental principles for training employees to think creatively«, in: Businessweek vom 14. Januar 2009,
http://www.businessweek.com/stories/2009-01-14/how-world-of-warcraft-pro
motes-innovationbusinessweek-business-news-stock-market-and-financial-advice
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von Lernmaterial zum Download auf E-Learning-Plattformen besteht.11 Vielversprechender sieht dagegen die derzeitige Entwicklung von so genannten »Serious Games« aus, die es sich zur Aufgabe stellt, durch die Nachahmung von z.B. Abenteuerspielen den spielerischen Erwerb von Wissen und Kompetenzen zu fördern. Interesse- und lernförderliche Strukturen für die Gestaltung von Lernen und Spielen lassen sich auch aus Erkenntnissen der Hirnforschung ableiten. Einige bedeutsame Ergebnisse sollen daher im Folgenden vorgestellt werden.
E RKENNTNISSE AUS DER H IRN - UND G EDÄCHTNISFORSCHUNG Lernen ist ein äußerst komplexer Vorgang, der ganz sicher nicht mit der einen oder anderen Erkenntnis vollständig erklärt, geschweige denn darauf aufbauend gestaltet werden kann. Die Diskurse darüber, wie Lernen (und Schule!) zu organisieren sei, werden jedenfalls aus unterschiedlichen Perspektiven befruchtet. Auch die Hirn- und Gedächtnisforschung hat in den letzten Jahrzehnten wertvolle Erkenntnisse geliefert über Abläufe im lernenden Gehirn. Unter anderem deshalb, weil diese so komplex sind, bleibt die Frage weiterhin spannend, wie sinnvolles Lernen umzusetzen ist. Viele Ergebnisse der Neuroforschung jedoch erstaunen erfahrene Pädagogen nicht, weil sie Ähnliches erfahrungsbasiert ohnehin in ihrem Lehr- und Lernalltag beobachten und entsprechend gestalten. So beschreibt auch Ulrich Herrmann im Einführungsteil zu seinem Buch über Neurodidaktik, dass viele der neuen Erkenntnisse bereits den Pädagogen des 18. Jahrhunderts bekannt waren:12 • •
Lernen braucht eine praktische Herausforderung, die subjektiv Sinn macht und bewältigbar erscheint. Der Versuch, ein Problem zu lösen (auch bei nützlichen Misserfolgen) muss von positiven Gefühlen begleitet sein.
11 Kleimann, Bernd/Özkilic, Murat/Göcks, Marc: Studieren im Web 2.0 – Studienbezogene Web2.0 und E-Learning-Dienste. HISBUS Kurzinformation Nr. 21. HIS HochschulInformations System GmbH 2008, http://www.mmkh.de/upload/dokumente /Studieren_im_Web_2.0_HISBUS-Kurzbericht21.pdf 12 Herrmann, Ulrich (Hg.): Neurodidaktik. Grundlagen und Vorschläge für gehirngerechtes Lehren und Lernen. Weinheim u.a.: Beltz Pädagogik 2006.
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Es werden viele Gelegenheiten zum Lernen und Üben benötigt, um Sicherheit und Erfolgszuversicht zu erwerben, denn »Üben macht den Meister«. Individuelle Anforderungen sind hilfreich, weil Unterforderung Langeweile und Überforderung durch Druck Lernunwilligkeit erzeugen.
Aus diesen Erkenntnissen wurden viele der bis heute lebendigen reformpädagogischen Ansätze inspiriert. Viele dieser Ansätze betonen die Projektarbeit, bei der – oft nach selbstgewählten Themen, oft in Gruppen und mit hohen Kommunikationsanteilen – Aufgaben bearbeitet und gelöst werden. Dass mit solchen Projektarbeiten gehirngerechtes Lernen gestaltet werden kann, geht auch aus Erkenntnissen der Neuroforschung hervor, die Herrmann in folgenden Punkten ausführt und zusammenfasst: •
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• •
Lernen geht bis zum langfristigen Behalten langsam vor sich. Es braucht Zeit, damit das Gelernte ins Langzeitgedächtnis übergeht. Damit dies nicht mit allem geschieht und das Gedächtnis überlastet, trifft das Gehirn Auswahlprozesse: spätere Verwendungszwecke müssen erkennbar sein. Motivation und Interessen müssen entwickelt werden. Es gilt, das Belohnungserleben zu aktivieren, wie es beispielsweise durch Erfolgserlebnisse geschieht. Ein Gefühl der Selbstentwicklung, mit dem sich das Gehirn selber lobt, motiviert zu weiteren Lernwünschen. Gelernt wird, wo Emotionen beteiligt sind.
An diesen ausgewählten Erkenntnissen zeigt sich bereits, dass ein Wissen darüber, was lernförderlich ist, noch kein Wissen darüber ist, wie in einer konkreten Situation und bei einem konkreten Thema der Lernprozess gestaltet werden sollte. Die jeweils konkrete Umsetzung dieser Erkenntnisse muss daher auch von den Entwicklern von Spielumgebungen in Computer- oder Lernspielen geleistet werden. Spiele – das zeigen unter anderem die Verhaltensforschung und die Neurobiologie – sind dabei sehr förderlich für die Initiierung von »gehirnfreundlichen« Lernprozessen. Sachser führt aus, dass alle hoch entwickelten Säugetierformen und Primaten gerne spielen, so auch der Mensch. Neugier ist dabei eine nicht zu unterschätzende Triebfeder. Allerdings benötigen Neugier, Spiel und Lernen ein so genanntes »entspanntes Feld«13 , das sowohl Anregung als auch Si-
13 Sachser, Norbert: »Neugier, Spiel und Lernen. Verhaltensbiologische Anmerkungen zur Kindheit.« Paralleltitel: »Curiosity, Playing, and Learning. Behavioural-Biological Annotations on Childhood«, in: Zeitschrift für Pädagogik, 50/4 (2004), S. 475-486.
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cherheit bietet. In einem solchen entspannten Feld wird intrinsische Lernmotivation gefördert. Wenn in Lernkontexten möglichst viele entspannte Felder bereitgestellt würden, bedürfe es, so Sachser, nicht so stark der externen Motivierung durch Erzieher. Übertragen auf die Frage nach der Gestaltung von Lernmedien könnte Sachsers Idee des »entspannten Feldes« beispielsweise bedeuten, dass darauf geachtet werden muss, nicht zu viel Unsicherheit durch überkomplexe technische Features oder vorausgesetztes Bedienungswissen zu erzeugen. In eine ähnliche Richtung verweisen auch die Erkenntnisse der Gedächtnisforschung. Obwohl diese teilweise recht lange bekannt sind, ist es doch verwunderlich, wie häufig dagegen gerade bei der Gestaltung von technischen Lernumgebungen, aber auch (wie es vermutlich ein jeder aus langen ermüdenden Vorträgen kennt) in Lehrsituationen verstoßen wird. Das Gedächtnis speichert und verarbeitet Wissen und Informationen in verschiedenen Bereichen. Zentral sind dabei das Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis sowie das Langzeitgedächtnis. Für Lernprozesse ist besonders die Verarbeitung von Informationen im Arbeitsgedächtnis von relevant. Die Cognitive Load Theory14 beschreibt die verschiedenen Belastungen (= Load) im Arbeitsgedächtnis: Sie unterscheidet in intrinsic, extrinsic und germane cognitive load:15 •
• •
Intrinsic load: die Arbeitsaufgabe, der zu lernende Inhalt. Für den Grad der Belastung sind u.a. die Aufgabenschwierigkeit und -komplexität verantwortlich sowie der Umfang der Lernaufgabe. Extrinsic load: die Lernumgebung. Für die Belastung sind u.a. die Präsentation, die Strukturierung, die Arbeitsschritte eines Lerninhalts relevant. Germane load: die freie Arbeitskapazität. Sie wird für die Verarbeitung der Lerninhalte genutzt, zum Aufbau und der Veränderung von Schemata. Hier findet das eigentliche Lernen statt.
Die kognitive Belastung ist die Summe dieser drei Lasten. Für eine günstige Gestaltung eines Lernprozesses muss demnach gelten, genügend freie Arbeitskapazität (germane load) zur Verarbeitung des Lerninhaltes zu ermöglichen. Eine ganz besondere Rolle spielt dabei die Gestaltung der Präsentation und der Strukturierung, also der extrinsic load. Benötigt diese sehr viel Kapazität, so bleibt
14 Chandler, Paul/Sweller, John: »Cognitive load theory and the format of instruction«, in: Cognition and Instruction 8/4 (1991), S. 293-332. 15 Für eine übersichtliche Zusammenfassung dieser Theorie und ihrer Anwendung bei der Gestaltung von Medien siehe Niegemann, Helmut M.: Kompendium multimediales Lernen, Berlin/Heidelberg: Springer 2008, Kapitel 3, S. 41-64.
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nicht genügend freie Arbeitskapazität im Arbeitsgedächtnis. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die nicht zum direkten Lerninhalt gehörenden Anforderungen zu hoch sind, wenn also z.B. die Art der Strukturierung unübersichtlich ist und so dem Arbeitsgedächtnis bereits viel Leistung durch ein Verstehen der Strukturierung abverlangt wird. Für digitale Lernumgebungen ist dies insbesondere bei der Navigationsgestaltung relevant. Wer dreimal herumklicken musste, um zum letzten wichtigen Aspekt zurückzufinden, hat möglicherweise schon wieder vergessen, worüber er/sie gerade nachgedacht hat, weil das Arbeitsgedächtnis bei der Navigation bereits überlastet wurde. Aber auch sehr komplexe Spielinhalte, bei denen sehr viel Verarbeitungskapazität für eigentlich Nebensächliches benötigt wird, können vom eigentlichen Lerninhalt ablenken. Ähnliches gilt im Übrigen für (Lehr-)Vorträge, bei denen man aufgrund verwirrender oder fehlender oder zu komplexer Strukturierung nicht mehr weiß, worum es dem Sprechenden eigentlich ging. Bevor mir dieser Fehler auch bei diesem Text unterläuft, möchte ich daher den Abschnitt zu den Forschungserkenntnissen über Lernprozesse abschließen und zum eigentlichen Kern des Textes überleiten: Was gilt es bei der Gestaltung von Lernumgebungen mit digitalen Medien zu beachten?
K ONSEQUENZEN FÜR DIE G ESTALTUNG VON L ERNSZENARIEN MIT D IGITALEN M EDIEN In den vorhergehenden Abschnitten wurden zunächst kurz verschiedene Vorstellungen vom Lernen und dabei insbesondere das konstruktivistische Lernmodell skizziert, bei dem das Lernen anhand eigener Handlungen und Erfahrungen und deren Verarbeitung im Mittelpunkt steht. Aktuelle technische Entwicklungen im Web 2.0 und die damit verbundenen Lern- und Verarbeitungsweisen wurden dargestellt, um die sich daraus ergebenden Lernmöglichkeiten als konstruktivistische Lernhandlungen zu verstehen. Die verstärkte Nutzung von Web-2.0Angeboten kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass sich Nutzungsgewohnheiten verändern, die auch Lerngewohnheiten beeinflussen und damit neue Anforderungen an Lernsituationen stellen könnten. Wie solche neuen Lernsituationen mit neuen digitalen Medien aussehen können, wurde beispielhaft im Abschnitt über das mobile IT-gestützte Lernen erläutert. Wie viel Zeit und Lernenergie Menschen einsetzen, wenn ihnen etwas wirklich Spaß macht, zeigte der Exkurs über das sehr intensiv gespielte Computerspiel WORLD OF WARCRAFT. Die Analyse der Charakteristika im Aufbau des Spiels wies auf wesentliche motivationsförderliche »Bausteine« hin, deren Sinnhaftigkeit und Relevanz auch
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durch die dann im letzten Abschnitt gefolgten generellen Erkenntnisse über Lernen, Motivation und Gedächtnis bestätigt werden können. Im folgenden Abschnitt sollen nun, auf den vorangegangenen Schilderungen aufbauend, Hinweise gegeben werden, wie diese Erkenntnisse in der Gestaltung von Lernumgebungen mit digitalen Medien umgesetzt werden können. Dabei werde ich auf drei Gestaltungsdimensionen eingehen: Die Gestaltungen der Medien, der Lernräume und der Lernsituationen. Die geneigte Leserschaft bemerkt an dieser Stelle, dass ich hier versuche, durch eine deutliche Strukturierung die extraneous load zu verringern, um für intrinsic load und germane load mehr Kapazität zu schaffen. Mediengestaltung Ein bekannter Spruch besagt: »Ein Bild sagt mehr als 1000 Wörter« – aber ist das tatsächlich so? Mediengestaltende sollten sich von solchen Binsenwahrheiten nicht leiten lassen, sondern stattdessen auf belegte Untersuchungsergebnisse zurückgreifen. Die Antwort aus psychologischen Untersuchungen lautet, dass das Verhältnis zwischen Bild und Text sehr differenziert gestaltet werden muss, damit es zu positiven Lerneffekten kommen kann. Mit Wörtern und Bildern können wir im besten Fall besser lernen als mit nur einem dieser Medien, falsch eingesetzt kann die Kombination unser Lernen jedoch sogar behindern!16 Wertvolle Hinweise aus der Psychologieforschung hat Helmut Niegemann in seinem Kompendium multimedialen Lernens zusammengestellt.17 Ich werde im Folgenden eine wesentliche Auswahl davon präsentieren, die auf den oben dargestellten Erkenntnissen der Arbeitsweise des Arbeitsgedächtnisses basieren. Mit seinem instruktionspsychologischen Modell der Kognitiven Theorie multimedialen Lernens versucht Mayer18 menschliche Informationsverarbeitung zu erklären. Dabei weist er auf wichtige Designprinzipien19 hin, die es zu berücksichtigen gilt. Dies sind z.B.: •
Das Kontiguitätsprinzip: Text und Bild sollten nah beieinander präsentiert werden (räumlich und zeitlich), so dass beide miteinander verarbeitet werden
16 Vgl. Mayer, Richard E.: Multimedia Learning, Cambridge: Cambridge University Press 2001. 17 Vgl. Niegemann 2008. 18 Richard E. Mayer: Multimedia Learning; Mayer, Richard E.: The Cambridge handbook of Multimedia Learning, Cambridge: Cambridge University Press 2005. 19 Richard E. Mayer: Multimedia Learning.
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können und nicht bei späterer Präsentation derselbe Gedankengang wiederholt werden muss. Das Kohärenzprinzip: Der wesentliche Lerninhalt soll nicht durch weitere interessante – aber unwesentliche – Information verwischt werden, da sonst das Arbeitsgedächtnis unnötig blockiert wird. In der Umsetzung könnte dies z.B. auf zusätzliche Bilder oder Cartoons zutreffen – wobei natürlich auch die Frage der Motivationsförderung zu berücksichtigen ist.
In vielen Experimenten unterschiedlicher Forschungsgruppen zur Informationsverarbeitung konnten weitere Effekte zur Förderung und Blockierung des Lernens durch die Präsentation von Bild und Text erkannt und Gestaltungshinweise entwickelt werden, die bei Niegemann ausführlich beschrieben werden. So ist es zwar sinnvoll, mit Bild und Text und Gesprochenem sowohl den auditiven als auch den visuellen Kanal des Arbeitsgedächtnisses zu nutzen, statt nur einen davon zu überlasten.20 Allerdings sollte dann der »redundancy effect«21 vermieden werden. Dieser besagt, dass ein gleicher (= redundanter) Informationsgehalt über den auditiven und visuellen Kanal meist nicht förderlich ist, da dann die Kanäle ohne zusätzlichen Informationsgehalt unnötig belastet werden. Von hoher Relevanz ist die Kenntnis darüber, ob die Lernenden bereits Vorwissen haben oder nicht, da dies Einfluss auf die Gestaltung hat. Mit dem »expertise reversal effect«22 wird beschrieben, dass Menschen mit wenig Vorwissen von vielen Erläuterungen z.B. durch Text, Bild, Animation etc. profitieren. Für jene mit hohem Vorwissen dagegen ist dies störend, da das Arbeitsgedächtnis dann blockiert wird durch Erläuterungen, die für ihren Verstehensprozess überflüssig sind. Mit dem »worked examples effect«23 wird beschrieben, dass die Präsentation einer fertig gelösten Aufgabe (z.B. Mathematikaufgabe) hilfreicher dafür sein
20 Gilt als »modality effect« nach Tindall-Ford, Sharon/Chandler, Paul/Sweller, John: »When two sensory modes are better than one«, in: Journal of Experimental Psychology: Applied 3/4 (1997), S. 257-287. Zitiert nach Niegemann 2008. 21 Sweller, John/Chandler, Paul: »Evidence for Cognitive Load Theory«, in: Cognition and Instruction 8/4 (1991), S. 351-362. 22 Kalyuga, Slava et al.: »The Expertise Reversal Effect.« in Educational Psychologist 38/1 (2003), S. 23-31. 23 Renkl, Alexander: »Worked-Out Examples. Instructional Explanations Support Learning by Self-Explanations«, in: Learning and Instruction 12/5 (2002), S. 529-556; Renkl, Alexander: »The Worked-Out Examples Principle in Multimedia Learning«,
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kann, den Arbeitsweg zu verstehen, als wenn Lernende aufgefordert werden, sich den Arbeitsweg selbst zu suchen, da im letzten Fall das Arbeitsgedächtnis umfassend damit beschäftigt wird, viele vergebliche Arbeitswege zu entwickeln, zu testen und zu verwerfen. Allerdings vermute ich, dass es durchaus Lernkontexte gibt, in denen die eigenständige Lösungssuche sinnvoll ist, da dabei Motivation, Emotion, und der Anreiz des Übertrags ins Langzeitgedächtnis stärker ausfallen können. Für das von Renkl dargestellte Beispiel im »worked example« (also beim Lösen einer Mathematikaufgabe zunächst die Struktur des Rechenprozesses durchzuarbeiten), erscheint es aber sinnvoll, wenn danach die Lernenden eigenständig mit der durchgearbeiteten Methode Aufgaben lösen sollen. Situationsgestaltung Die oben dargestellten Gestaltungshinweise, die in der Psychologie-Forschung aufgrund von Erkenntnissen über Arbeitsweisen des Gehirns entstanden sind, reichen natürlich für eine pädagogische Gestaltung von Lernmedien nicht aus. Sie scheinen mir insgesamt einen dominanten Fokus auf die Gestaltung von instruktionistischen Lernmaterialien zu tragen, wie sie beispielsweise bei kognitivistischen Lernmodellen produziert würden. Bei der Gestaltung von eher konstruktivistisch angelegten Lernsituationen müssen diese Erkenntnisse natürlich ebenfalls berücksichtigt werden. Jedoch sollte bei letzteren noch stärker auf die Gestaltung von Lernanlässen geachtet werden, in denen besonders die Kooperation, die Kommunikation mit anderen Lernenden und Lehrenden sowie die eigenständige Entwicklung von Projekten und Lösungen gefordert werden. Hier kommt es weniger als bei kognitivistisch angelegten Lernmaterialien darauf an, dass die zeitlich und inhaltlich und grafisch wohl strukturierten Lernmaterialien durchgearbeitet werden, um Wissen zu erwerben, sondern noch stärker darauf, dass Motivation geweckt werden kann, sich eigenständig und aktiv-handelnd mit dem Erwerb von Wissen zu befassen, indem anregende aktivierende Arbeitsaufgaben gestellt werden oder entwickelt werden können, zu deren Durchführung, Verständnis und/oder Umsetzung der Erwerb von Wissen Voraussetzung ist und als sinnvoll erlebt werden kann. Ähnlich wie bei WORLD OF WARCRAFT, bei dem vermutlich die wenigsten Spieler die (möglicherweise wohlstrukturierten) Anleitungen als Selbstzweck auswendig lernen, sondern diese heranziehen, wenn sie individuell zur Lösung einer
in: Richard E. Mayer (Hg), The Cambridge Handbook of Multimedia Learning, Cambridge: Cambridge University Press 2005, S. 229-245.
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Spielaufgabe benötigt werden, gilt es, anregende, motivierende, interesseweckende Lernsituationen zu schaffen. Seymour Papert, der lange Jahre über Lerntechnologien am Media Lab des MIT forschte, entwickelte dazu Lernanlässe, bei denen die Lernenden durch aktives Ausprobieren und Konstruieren neugierig werden auf abstraktere Zusammenhänge. Er ließ z.B. Kinder am Computer die Bewegungen von Schildkröten auf dem Bildschirm (und später auch als dingliche Schildkröten-Roboter) programmieren. Dadurch begannen die Kinder ein Verständnis von Winkelgrößen zu entwickeln und sich mit der Bedeutung von vollen, gestreckten und rechten Winkeln und den jeweiligen Gradzahlen (z.B. 90) zu beschäftigen. Die Auseinandersetzung damit erfolgte nicht mit dem Durcharbeiten fertiger Lernmaterialien, sondern durch das eigenständige Konstruieren (Programmieren) von Laufwegen der Schildkröten. Papert nannte diese Art von Lernen in Anlehnung an die konstruktivistische Lerntheorie daher »Konstruktionismus«.24 In ähnlicher Weise ist auch das oben vorgestellte mobile Lernsetting des Explorierens der Ureinwohner Amerikas durch die Schüler mithilfe der PDAs oder Smartphones angelegt. Hier werden Lernaufgaben gestellt, bei denen die Kinder angeleitet und angeregt werden, selbstständig den Landstrich nach Informationen zu durchforsten, diese zusammenzutragen, (durch Text-, Ton-, Bildaufnahmen) zu dokumentieren, zu zusammenhängenden Informationen zu ordnen etc. Die Entwicklung und Gestaltung konstruktivistischer Lernsituationen mit digitalen Medien bedarf sehr viel stärker der pädagogischen Kreativität der Entwickler (sowohl der Pädagogen als auch der Techniker) als die Gestaltung lernstoffvermittelnder Lernmaterialien. Dies spiegelt auch die aktuelle Auswahl an Lernsoftware wider. Hier dominieren nicht nur in den Angeboten der Schulbuchverlage die CDs, bei denen Lerninhalte dargestellt werden und dann in immer wieder ähnlichen Übungen geübt werden sollen. Obwohl diese Übungen teilweise spielerisch und witzig aufbereitet sind, dominiert bislang eine stark behavioristische Anlage: Die Aufgabe wird gestellt, eine Lösung wird erwartet, und die richtige Lösung wird direkt belohnt, während die falsche gemaßregelt wird (z.B. durch Wiederholungen oder Punktabzug oder Verweigerung des Wei-
24 Harel, Idit/Papert, Seymour: Constructionism. Research reports and essays, 19851990. Massachusetts Institute of Technology. Epistemology & Learning Research Group & Media Laboratory. Epistemology & Learning Research Group. Norwood, N.J: Ablex Publishing 1991; Papert, Seymour: Revolution des Lernens: Kinder, Computer, Schule in einer digitalen Welt, Hannover: Heise 1994.
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terkommens).25 Gründe für diese stark behavioristisch orientierte Struktur ist vermutlich die Technik: Die Entwicklung von Richtig-Falsch-Aufgaben ist aus informatischer Sicht einfach zu programmieren, sie ist aber aus pädagogischer Sicht nicht immer die lehrreichste und motivierendste Lernsituation. Eher konstruktivistische Lernprozesse ermöglichen bekannte Lernspiele wie SIMS (Electronic Arts 2000, O: Will Wright and Maxis Software Inc.), WORLD OF WARCRAFT oder sogar FARMVILLE (Zynga 2009, O: Zynga). Hier erleben die Spieler durch eigene Aktivitäten (z.B. die Wahl eines bestimmten Berufes oder die Entscheidung für Familie und gegen Beruf oder die Absprache zu einer Aufgabe im Team oder durch Nachteile bei unpünktlichem Erscheinen zu einer Schlacht oder durch die Entscheidung zum Einsatz von Düngemitteln für Pflanzen usw.) die Konsequenzen ihrer Entscheidungen im Spielverlauf. Dadurch werden Zusammenhänge erlebbar und verstehbar, und der Fokus liegt nicht auf dem Abprüfen von Wissenserwerb. Diese Beispiele zeigen: Bei der Gestaltung von Lernsituationen mit digitalen Medien gilt, was auch bei der Gestaltung von herkömmlichen Lernsituationen immer galt: Nicht das Medium soll das Lernen steuern, sondern das richtige Medium soll für den geeigneten Zweck eingesetzt und gestaltet werden. Die Gestaltung muss sich danach orientieren, welches Ziel angestrebt wird und welche Lernmethode dafür geeignet erscheint. Das kann in unterschiedlichen Kontexten Auswendiglernen und Wissensüberprüfung sein und in anderen Kontexten selbständige Projektarbeit und Erfahrungslernen. Raumgestaltung Für die Gestaltung der Lernräume gilt ähnliches, was auch für die Gestaltung der Lernsituationen gilt: Auch die Lernräume sollten an dem Lernziel, der Lernmethode und der zugrunde liegenden Lerntheorie ausgerichtet sein und nicht zuvorderst an technischen Gesichtspunkten. Für Lernmethoden, die der Kommunikation, Kooperation, Gruppenarbeit, Konstruktion eigener Ideen bedürfen, werden Lernräume benötigt, die solches fördern. Mag diese Feststellung auch banal und einleuchtend klingen, finden sich jedoch in der Praxis häufig Computerräume, die solches Lernen schlechtestenfalls sogar behindern.
25 Weitere Beispiele für Lernsoftware entlang der unterschiedlichen Lerntheorien finden sich z.B. bei Thissen, Frank: »Lerntheorien und ihre Umsetzung in multimedialen Lernprogrammen – Analyse und Bewertung«, in: BIBB Multimedia Guide, Berlin 1999. Obwohl der Text schon älter ist, wird hier anschaulich beschrieben, auf welch unterschiedlichen Lerntheorien verschiedene Softwareelemente beruhen.
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Wem sind sie nicht bekannt, die Computerräume, in denen Tische und Computer in frontal ausgerichteten Reihen angeordnet sind? Der Blick der Lernenden ist auf die Lehrperson ausgerichtet. Die Mitlernenden werden von den zuvorderst sitzenden Lernenden gar nicht, von den hinten sitzenden nur von hinten gesehen. Gesichter sieht also nur die Lehrperson, wenn sie nicht vor allem die Rückseiten der Monitore im Blickfeld hat, hinter denen sich die Gesichter verstecken. Dafür sieht sie nicht, was die Lernenden eigentlich tun – und oft tun diese so einiges (z.B. Internetsurfen), nur nicht das, was die Lehrperson beabsichtigt. Kommunikation findet vor allem in einer Richtung statt, nämlich von der Lehrperson zur Gruppe. Untereinander wird wenig kommuniziert, der fehlende Gesichtskontakt mag einer der Gründe für eine geringe Motivation dazu sein. Gruppenarbeiten sind sehr schwer durchführbar, weil sich schon die Gruppen aufgrund der engen Reihen kaum zueinander setzen können und die Computer und Monitore meist den Kontakt behindern. Die Lehrperson kommt kaum zwischen den Tischreihen und Stühlen hindurch, um unterstützend zu einzelnen Lernenden zu gelangen, und weil es so aufwändig ist, wird es meist auch kaum mehr versucht. Abbildung 1: Computerraum mit frontalen Sitzreihen
Quelle: Bernhard Wilmes, Fachhochschule Köln
Welche anderen Verhaltensweisen erlaubt und evoziert doch eine Anordnung, in der die Tische mit den Computern an den Raumwänden entlang angeordnet werden und die Lernenden in der Raummitte vor den Tischen sitzen.
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Abbildung 2: Computerraum mit offener Anordnung
Quelle: Bernhard Wilmes, Fachhochschule Köln
Die Raummitte bleibt dadurch frei für Bewegung und für Gruppengespräche. Die Monitor-Displays sind für alle einschließlich der Lehrperson einsehbar, so dass sie jederzeit sehen kann, woran die einzelnen gerade arbeiten. Auch die Lernenden können untereinander sehen, wer woran arbeitet, und können sich schnell zu Hilfe eilen, ein Peer-unterstütztes Lernen wird so gefördert. Eine Gruppe kann sich leicht vor einem oder zwei Computern hinsetzen, um gemeinsam etwas zu besprechen und zu erarbeiten, jede Person gelangt aber auch in wenigen kurzen Schritten wieder an jeden anderen beliebigen Punkt im Raum, beispielsweise an den eigenen Platz, wenn sie dort etwas vergessen hat. Während die oben beschriebene frontale Anordnung eher für stille Einzelarbeit mit Ausrichtung auf die Lehrperson förderlich ist, ermutigt und ermöglicht die Wandanordnung eher Kooperation, Gruppenarbeit, gegenseitige Hilfe. Meiner Erfahrung nach werden jedoch Computerräume selten bewusst nach pädagogisch-didaktischen Kriterien geplant, sondern es werden häufig technische Kriterien (z.B. Kabellänge, Steckdosenanschlüsse etc.) in den Vordergrund der Planung gestellt. Hier zeigt sich der Bedarf an Kooperationen zwischen Technikern und Pädagogen, um innovative Lösungen zu entwickeln. Unter »Lernräumen« sollten wir jedoch nicht nur Gebäudezimmer verstehen, sondern auch virtuelle Räume und ideelle Räume.26 Hier gilt ähnliches. Wer Kommunikation und Kooperation und Erfahrungsaustausch beim Peer-Lernen fördern möchte, muss dafür die geeigneten Räume und Mittel bereitstellen. Dies kann z.B. bedeuten, in einer virtuellen Umgebung geeignete Kommunikationstools bereitzustellen und diese auch didaktisch klug einzuführen, so dass ihre
26 Vgl. Sesink, Werner: »Raum und Lernen«, in: Education Permanente. Schweizerische Zeitschrift für Weiterbildung 41/1 (2007), S. 16-18.
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Benutzung für die Lernenden nicht Zusatzaufwand bedeutet, sondern einen erkennbaren Sinn ergibt. Es könnte bedeuten, die Mitlernenden in einer virtuellen Umgebung durch geeignete Tools stärker sichtbar zu machen. Helge Städtler weist in seiner E-Learning-Studie eindrücklich auf das Problem des Fehlens von Kontext, Präsenz und Kommunikation in virtuellen Lernumgebungen hin. Er zeigt, dass in einer virtuellen Umgebung die graphische Sichtbarkeit von Mitlernenden und die sichtbar gemachte »Nähe« der Mitlernenden (er bezeichnet dies als »virtuelle Proxemik«) durch ein von ihm entwickeltes Tool (Proximeter, vgl. Abb. 3) die Kontaktaufnahme, die Kommunikation und die Lernzufriedenheit erhöhen können.27 Abbildung 3: Proximeter: Personen P und C befassen sich aktuell in meiner Nähe mit ähnlichem Lernstoff
Quelle: Städtler 2008, S. 123
Z USAMMENFASSUNG
UND
A USBLICK
Der vorliegende Beitrag erläuterte, wie sich Lernsituationen mit DM gegenüber traditionellen Lernsettings verändern können und zeigte im Detail, welche Potenziale diverse digitale Medien bieten, wenn die Gestaltung des Medieneinsatzes, der Situation und des Lernraumes entsprechend dem visionierten Lernkontext geplant werden. Trotz der problematischen Messbarkeit veränderter Lernerfolge, die eingangs skizziert wurde, kann aufgrund der neuartigen Interaktions-, Dokumentations- und Kooperationsmöglichkeiten von veränderten Lernweisen ausgegangen werden – wenn diese neuen Möglichkeiten konzeptuell integriert werden. Die Erläuterungen der Konzepte bestimmter Computerspiele oder Web-2.0Anwendungen zeigten, wie durch die Gestaltung des Spiel- oder Kommunikationsprinzips auch Motivation, Kommunikation und Interaktionsformen beeinflusst werden können. Die Konzepte für das Lernen mit digitalen Medien müssen durch Abstimmung von Erkenntnissen aus verschiedenen Forschungsberei-
27 Städtler, Helge: Virtuelle Proxemik: Konzeption, Implementierung und Evaluation einer Komponente zur Bereitstellung proxemischer Information im E-Learning. Dissertation. Bremen: Universität Bremen 2008.
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chen, z.B. der Psychologie, der Gedächtnisforschung, der Lehr-Lernforschung, der Informatik und der Medienforschung realisiert werden. Als wesentliche Planungsbereiche wurden die Mediengestaltung, die Situationsgestaltung und die Raumgestaltung ausgewiesen. Diese waren und sind auch für die Gestaltung von bekannten, (durchaus guten und sinnvollen) Lernsituationen mit traditionellen Medien wichtige Planungsbereiche. Auf welche spezifischen Aspekte beim Einsatz digitaler Medien in diesen Planungsbereichen geachtet werden muss, wurde detailliert beschrieben. Die passende Auswahl neuer digitaler Medien sowie ihr spezifisches Arrangement in einem konkreten Einsatzbereich können jedoch auch neue Wissensprodukte und Wissenserstellungsprozesse hervorbringen und somit gewohnte Konventionen in Frage stellen. Dies zeigen die folgenden Ausblicke auf künftige Fragestellungen anhand von drei Beispielen: Das Lehrbuch für Lehren und Lernen mit Technologien28 , an dem über 130 Wissenschaftler aus dem deutschsprachigen Raum als Autoren mitgewirkt und gemeinsam Artikel verfasst oder begutachtet haben, teilweise ohne sich zu kennen und ohne sich jemals gesehen zu haben. Dies erfolgte unter Zuhilfenahme von für den jeweiligen Kontext geeigneten Medienwerkzeugen wie z.B. Etherpad-Software für die gemeinsame Texterstellung oder Videochat für die Textdiskussion. Das Buch ist als Druckversion (seit Gutenberg möglich und bewährt) und als Open-Access-Version in verschiedenen digitalen Formaten (erst seit dem Aufkommen digitaler Medien möglich) kostenlos im Internet erhältlich. Dies befeuert auch die politische Diskussion über Open Educational Resources (OER), also über die kostenfreie Bereitstellung von Bildungsmitteln. b) Zu verschiedenen weiterbildungsrelevanten Themen werden derzeit – insbesondere im englischsprachigen Kontext – kostenlose, freie Online-Kurse für hohe Teilnehmerzahlen (MOOCs – Massive Online Open Courses) entwickelt und angeboten. Hier lernen Tausende von Menschen in einem Kurs miteinander und voneinander. Sie erwerben und tauschen Wissen zu einem für sie aus unterschiedlichen Gründen relevanten Thema. Der Benefit der Teilnahme liegt für viele Teilnehmende gerade darin, von solch vielen unterschiedlichen Menschen und Erfahrungen lernen zu können – eine Möglichkeit, die ohne die vernetzten Medien nicht denkbar wäre und eine Lerna)
28 Schön, Sandra/Ebner, Martin (Hg.): L3T – Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien, 2010. http://l3t.tugraz.at vom 11.08.2011.
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form, die sich offensichtlich von den Möglichkeiten eines traditionellen Volkshochschulkurses unterscheidet. Wer produziert und archiviert Wissen? Bei dem bekannten Lexikon Wikipedia wird Information mithilfe eines neuen Softwaretools (WikiSoftware) in gemeinschaftlicher Arbeit produziert. Jeder Interessierte erhält die Möglichkeit, Wissen zu beschreiben und in diskursiven Prozessen zu präzisieren. Es avancierte dadurch zum größten Lexikon. Die Herstellungsweise dieses Lexikons befeuert eine Diskussion darüber, wer die Definitionsmacht über Wissen hat – renommierte Verlage (z.B. Brockhaus) oder die Allgemeinheit? Private IT-Konzerne wie z.B. Google archivieren digitale Daten auf riesigen Serverlandschaften – und übernehmen somit Entscheidungen darüber, was als aufhebenswert gilt und was nicht. Bislang oblag die Archivierung von (gedrucktem) Wissen der Aufgabe von (öffentlichen) Bibliotheken: ändern sich auch hier Machtverhältnisse und Informationsmonopole?
Die Beispiele zeigen, dass der Einsatz von digitalen Medien in Lernkontexten weit über die reine Wissensvermittlung zu einem Lernthema hinaus führen kann. Es lassen sich hier deutlich veränderte Formen von Wissenskonstruktionen und von Kooperation erkennen. Die Rollen von Wissensvermittlern und Lernenden wandeln sich mit den Möglichkeiten, die das Medium bietet, ebenso wie das Verhältnis zwischen Freiwilligkeit und Kontrolle. Neue Optionen tauchen auf, aber auch neue Fragen und Rechtslagen müssen geklärt werden – sie inspirieren zu neuen Architekturen von Wissen und Lernen. Somit wird deutlich, dass es nicht das technische Medium allein ist, das Innovationen im Lehr- und Lernbereich hervor bringt, sondern das Zusammenwirken aus Mensch, Medium, Raum und Inhalt. Dies ist sicherlich nicht immer im Detail planbar, aber mit didaktischen Planungen solche Innovationen zu fördern, könnte das Ziel beim Lehren und Lernen mit digitalen Medien sein!
D ANKSAGUNG Herrn Bernhard Wilmes von der Fachhochschule Köln danke ich für die Erstellung der Grafiken zur Darstellung der unterschiedlichen Computerraumanordnungen.
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C OMPUTERSPIELE WORLD OF WARCRAFT (Blizzard Entertainment 2004, O: Rob Pardo, Jeff Kaplan, Tom Chilton) THE SIMS (Electronic Arts 2000, O: Will Wright and Maxis Software Inc.) FARMVILLE (Zynga 2009, O: Zynga)
Die Phylogenese des Spielens Zur evolutionären Verbindung von Lernen und spielerischer Motorik C HRIS C RAWFORD 1
Spielen ist ein universelles menschliches Verhalten. Menschen haben schon immer gespielt, und bis heute nimmt Spielen im Alltag eine wichtige Rolle ein. Abbildung 1: Spielen in der Kulturgeschichte
Wie weit müssen wir in die Vergangenheit zurückblicken, um die Ursprünge des Spiels zu finden? Die Antwort mag überraschen.
1
Der nachstehende Beitrag ist die Übersetzung eines Vortrags, den Chris Crawford am 17. Mai 2011 am Cologne Game Lab der Fachhochschule Köln hielt. Ein Videomitschnitt findet sich unter http://www.youtube.com/watch?v=5LoMmcJA2JY. Für eine englische Textfassung siehe http://www.erasmatazz.com/library/science/the-phyloge ny-of-play.html
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D IE U RSPRÜNGE
DES
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Der Ausgangspunkt unserer Untersuchung ist die Entstehung von Wirbeltieren, in Form von Fischen, vor fast 500 Millionen Jahren. Fische schwimmen, indem sie ihre Wirbelsäule abwechselnd nach links und rechts krümmen. Als die ersten Fische/Amphibien dann an Land krochen, benutzten sie eine ähnliche Technik zum Kriechen: Sie krümmten ihre Wirbelsäule nach links, setzten ihren rechten Vorderfuß ab, dann krümmten sie ihre Wirbelsäule nach rechts, den linken Vorderfuß dabei nach vorne bewegend. Abbildung 2: Vom Schwimmen zum Kriechen
Allerdings ist Kriechen langsam und ineffizient, weil viel Energie dabei verloren geht, den Bauch über den Boden zu schleifen. Der nächste Schritt war es daher, die Füße von den Seiten auf die Unterseite des Körpers zu verlagern; Landtiere machten damit den Schritt vom Kriechen zum Laufen.
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ERSTE
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Ein Tier mit vier Füßen kann noch mehr als nur laufen; es kann die Reihenfolge und Geschwindigkeit ändern, mit der es seine Füße bewegt. Die verschiedenen Arten seine Beine zu bewegen werden Gangarten genannt. Und es gibt viele mögliche Kombinationen von Beinbewegungen, weshalb es auch viele verschiedene Gangarten gibt. Dennoch sind es nur ein paar wenige Grundtypen des Gehens, bei Pferden etwa Schritt, Trab, Galopp. Ein großes Problem entsteht bei der Kombination der verschiedenen Gangarten: Wie können all die Neuronen, die es braucht, um die Muskeln zu kontrollieren, verknüpft werden? Diese Verknüpfungen sind sehr kompliziert. Es ist noch relativ einfach, die Verbindungen zum Kriechen weiterzugeben. Diese Verbindungen können direkt in die DNA programmiert werden, so dass das Lebewesen
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unmittelbar nach der Geburt kriechen kann. Aber einem Tier, sagen wir, vier verschiedenen Gangarten zu vererben, führt zu einem wesentlich komplexeren Problem. Jedes Neuron muss so verknüpft werden, dass es, abhängig von der Gangart, die das Tier gerade gewählt hat, relativ zu den übrigen Neuronen in anderer Frequenz feuert. Das erfordert das Hinzufügen zusätzlicher Neuronen zur Steuerung, um das Feuern der verschiedenen Neuronen je nach Gangart auszulösen oder zu verzögern. Das kann sehr kompliziert werden. Um das zu bewerkstelligen, entstand eine besondere, spinal pattern generators genannte Funktion im Rückgrat aller Wirbeltiere (und mancher wirbelloser Tiere). Sie generiert präzise getaktete Signale, die zur Kontrolle der Muskeln gebraucht werden. Selbstverständlich haben die spinal pattern generators von Tieren mit mehreren Gangarten mehr Neuronen als die von Tieren mit nur einer Gangart. Mehr noch: Gehen ist die langsamste Gangart. Andere, Rennen zum Beispiel, sind schneller und erfordern deshalb ein noch präziseres Timing der Neuronen. Das Video eines rennenden Geparden veranschaulicht das2: Die Vorderpfoten des Geparden treffen im Abstand von nur 10 Millisekunden auf den Boden. Es ist wohl offensichtlich, dass bei einer Verschiebung des Muskel-Timings um nur eine Millisekunde die Pfoten falsch aufträfen und der Gepard ins Stolpern geriete. Anders formuliert: das Gesamt-Timing der Nervenzellen des Geparden muss bis auf eine Millisekunde genau sein. Das stellt uns vor ein weiteres Problem: Das durchschnittliche Neuron feuert mit einer Präzision von nur 11 Millisekunden. Es gibt aber eine Möglichkeit, das Problem zu umgehen. Mehrere Neuronen werden gebündelt, und ein Mittelwert ihrer Signale wird gebildet. Je mehr Neuronen hinzugefügt werden, desto präziser wird der Mittelwert ihrer Signale. Zum besseren Verständnis lässt sich ein kleines Experiment vorstellen: Wir wollen mit hoher Präzision die exakte Zeit ermitteln, zu der ein Läufer die Ziellinie überquert, haben aber außer mehreren Stoppuhren kein elektronisches Equipment. Wir könnten einen Beobachter die Zeit stoppen lassen, wenn er den Läufer die Ziellinie übertreten sieht, der Beobachter könnte aber etwas zu früh oder zu spät drücken. Angenommen stattdessen ständen Hunderte von Beobachtern zusammengedrängt an der Ziellinie, und jeder würde den Knopf seiner Stoppuhr in dem Moment drücken, in dem er den Läufer die Linie übertreten sähe. Manche der Beobachter wären einen Tick zu früh und manche einen Tick zu spät, aber nimmt man den Mittelwert aller ihrer Messungen, kommt etwas dabei heraus, das sehr viel genauer ist als die Messung eines einzelnen Beobachters.
2
http://www.youtube.com/watch?v=u3kTZ_K3ytQ (der relevante Teil ist von 0:57 bis 1:23).
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Ersetzen wir Leute, die Knöpfe von Stoppuhren drücken, durch feuernde Neuronen, haben wir das Prinzip verstanden. Wir müssen also nicht nur einen Weg finden, um Muskelimpulse je nach Gangart in verschiedenem Timing und in verschiedener Reihenfolge auszulösen, wir brauchen dazu auch noch eine ungeheure Menge an Neuronen, die all das in einer Geschwindigkeit ermöglichen, die zum schnellen Rennen ausreicht. Wir brauchen also einen komplizierten Schaltplan für das Nervensystem jedes Tieres, das sich in unterschiedlichen Gangarten bewegen soll. Der naheliegende Weg, dem Tier diesen Schaltplan mitzugeben, wäre es, ihn in seine Gene zu kodieren. Diese Lösung ist aber zum Scheitern verurteilt: Die Menge an DNA, die benötigt wird, um all diese Informationen zu kodieren, ist viel zu groß. Es bräuchte sehr viele zusätzliche Chromosomen, um ein derartiges System zu handhaben. Schlimmer noch, es bräuchte viel Zeit, bis die Evolution all diese Verknüpfungen richtig eingepegelt hätte. Aber dann passierte irgendwann etwas Bemerkenswertes. Ein neues System, basierend auf drei Komponenten, tauchte auf. Ich weiß nicht, wie es entstanden ist oder was seine Ursachen waren, aber ich vermute, dass die drei Schlüsselkomponenten erstmals vor etwa 150 Millionen Jahren zusammentrafen. Die erste Komponente war die Entwicklung eines neuen und verbesserten Neurons. Dieses Neuron konnte sowohl Signale aussenden, als auch auf zahlreiche eingehende Signale reagieren, genau wie seine neuronalen Vorfahren. Dieses neue Neuron hatte aber noch eine weitere Fähigkeit: Es konnte seine Reaktionen situationsbedingt eingehenden Signalen anpassen. Es konnte die Gewichtung ändern, die es verschiedenen Signalen beimaß, manchen dabei mehr Bedeutung zuerkennen und andere komplett ignorieren. In anderen Worten, es konnte seine Verknüpfungen ändern, nachdem das Lebewesen geboren wurde. Die zweite Komponente war die Entwicklung eines neuen Verhaltens, basierend auf einem zufälligen Trial-and-Error-Prinzip. Tiere bewegten ihre Gliedmaßen auf die merkwürdigsten Weisen. Dieses neue Verhalten ermöglichte es den Tieren, alle möglichen Aktionen auszuprobieren, von denen die meisten eher spastischer Natur waren, einige wenige sich aber als nützlich erwiesen. Die dritte Komponente war ein neues System, um Neuronen zu einem Nervensystem zu verknüpfen. Statt jede Verbindung im Voraus festzulegen, programmierte die DNA die Neuronen einfach darauf, sich mit so ziemlich allem zu verbinden, was sie erreichen konnten. Tiere kamen also mit einem komplex verknüpften Nervensystem zur Welt. Für die ersten beiden Komponenten haben wir Namen: Lernen und Spielen. Beim Spielen konnten sich Tiere, während sie sich bewegten, selbst beibringen zu rennen, zu gehen, zu galoppieren, zu traben und so weiter. Lernen und Spie-
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len wurden gleichzeitig als zwei Teile derselben Entwicklung erfunden. Es ist die reinste Ironie, dass wir gegenwärtig darüber nachdenken, ob man Spiele unterstützend beim Lernen einsetzen kann, wo doch tatsächlich Spielen und Lernen zwei Seiten derselben evolutionären Medaille sind. Nebenbei: Diese Sicht auf das Lernen und Spielen ist gar nicht mal so unorthodox – es handelt sich nur um eine neuronale Analogie zu dem, was Gene durch natürliche Selektion tun. Zufällige Mutationen generieren Variationen in den Genen, und diese werden gegen die Anforderungen der Umwelt getestet. Die Variationen, die sich nicht als nützlich erweisen, werden aussortiert, während die hilfreichen Mutationen weitergegeben werden. In der neuronalen Analogie dieses Prozesses generiert das Spielen Variationen im lokomotorischen Verhalten, die dann nicht gegen die Umwelt per se, sondern gegen die Erwartungen von effizienter und schneller Bewegung des Tieres getestet werden. Spielen ist der Zufallsgenerator, der gebraucht wird, um die Verbindungen des Nervensystems zu verfeinern. Die Hauptunterschiede zwischen den beiden Systemen sind erstens, dass der genetische Evolutionsprozess viele Generationen braucht, um zu funktionieren, während der neuronale Evolutionsprozess – das, was wir Lernen nennen – in einem Zeitrahmen von Tagen bis Monaten stattfindet; und zweitens, dass die Evaluation der Effektivität im Falle der Gene extern geschieht (durch die Umwelt), im Falle der Neuronen jedoch intern – es findet ein interner Evaluationsprozess statt, der darüber entscheidet, ob sich das Lebewesen adäquat bewegt. Das war der erste wichtige phylogenetische Meilenstein für das menschliche Spielen.
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ZWEITE
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Der zweite wichtige Meilenstein wurde im Kontext des Jagens erreicht. Reptilien jagen aus dem Hinterhalt, was nur drei Schritte benötigt: erstens darauf warten, dass sich die Beute nähert; zweitens darauf zustürzen; drittens zugreifen und töten. Säugetiere entwickelten ein komplexeres System, bestehend aus fünf Schritten. Der erste ist das Lauern (aktiv, aber versteckt nach Beute suchen). Der zweite Schritt ist das Heranpirschen: sich aus dem Hinterhalt der Beute nähern. Das erfordert ein besonderes Geschick: die Fähigkeit, sich in die Lage der Beute zu versetzen und zu berechnen, was sie aus ihrer Position sieht. Das erlaubt dem Jäger, sich noch weiter zu nähern, ohne gesehen zu werden.
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Abbildung 3: Lauern und Heranpirschen
Der dritte Schritt ist das Zuschlagen, was ebenfalls einige Fähigkeiten erfordert, um die größtmögliche Beschleunigung beim Zuspringen auf die Beute zu erzielen. Der vierte Schritt – vorausgesetzt, der Jäger hatte nicht das Glück, die Beute schon im Sprung zu erwischen – ist die Jagd. Das Jagdverhalten von Säugetieren ist ausgesprochen komplex, denn die Beute kennt die Taktik des Zickzacklaufens, was, sofern das Timing stimmt, den Jäger aus der Bahn werfen kann. Natürlich kann der Jäger das Zickzack vorhersehen und entsprechend ausgleichen. Abbildung 4: Angreifen und Jagen
Der fünfte Schritt ist das Kämpfen und Töten der Beute. Auch das erfordert wieder besondere Fähigkeiten, denn meistens zeigt die Beute irgendeine Form von Gegenwehr: mit Hörnern oder Tritten kann sie beim Gerangel mit dem Angreifer mit etwas Glück dessen Augen verletzen. Zur Erinnerung: Das Auge ist der verletzlichste Teil des Körpers, und es ist nur wenige Zentimeter von den Zähnen entfernt, welche entblößt werden müssen, wenn der Jäger ansetzt, um seine Beute zu töten. Wie benutzt man seine Zähne zum Töten, ohne die Augen zu gefährden? Mit größter Vorsicht. Wie lernen Raubtiere diese Fähigkeiten? Die fünf Grundschritte werden instinktiv beherrscht, aber die Details der Ausführung werden durch ausgiebiges Spielen erlernt. Raubtiere widmen den größten Teil ihrer Frühphase dem Spie-
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len; es ist überlebenswichtig für sie, sobald sie allein sind. Man kann dieses Verhalten leicht bei Hauskatzen beobachten: Abbildung 5: Spielend Lernen – Anpirschen, Lauern, Angreifen
Dieses Verhalten in der freien Wildbahn zu beobachten, ist schwieriger, aber alle fleischfressenden Säugetiere spielen. Und auch für Pflanzenfresser ist Spielen wichtig: Sie müssen lernen, den Angriffen von Raubtieren zu entgehen. Ihr Spielen beinhaltet daher zu rennen, Haken zu schlagen und zu springen. Diese Art zu spielen nennt man Tollen: Jagdspiele waren also der zweite Meilenstein in der Phylogenese des Spielens.
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DRITTE
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Der dritte Meilenstein wurde erst später erreicht: Irgendwann in den letzten fünf Millionen Jahren. Um diese Form des Spielens zu verstehen, muss ich erst ein paar Hintergrundinformationen zur Evolution des Menschen liefern. Die Linie der Menschenaffen trennte sich von der Linie der Schimpansen vor etwa sechs Millionen Jahren, als die Menschenaffen damit begannen, als Jäger und Sammler zu leben. Das Grundprinzip funktionierte folgendermaßen: Die umherziehenden Humanoiden fanden sich in Gruppen zusammen, bestehend aus einigen Dutzend Individuen. Wenn eine Gruppe sich an einem neuen Ort niederließ, baute sie ein Lager auf. Die Alten blieben im Lager, wo sie die Kinder versorgten und sich um häusliche Angelegenheiten kümmerten. Gesunde Frauen schwärmten in der näheren Umgebung aus, um diese nach Wurzeln, Nüssen, Beeren, Früchten und sonstigem Essbaren zu durchsuchen. Weit entfernten sie sich dabei nie vom Lager. Die Männer brachen dagegen auf der Suche nach Fleisch zu wesentlich weitläufigeren Jagdzügen auf. Anfänglich beschränkten sie sich dabei noch auf Aas, also die Reste dessen, was Raubtiere übrig ließen. Allerdings herrschte ein scharfer Konkurrenzkampf um diese Überreste, und häufig mussten Hyänen und andere Aasfresser verscheucht werden. Irgendwann began-
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nen die Männer daher, Steine nach ihren Konkurrenten zu werfen, was äußerst gut funktionierte. Es dauerte nicht lange, bis irgendwer feststellte, dass sich Steine nicht nur zum Verjagen der Hyänen verwenden ließen, sondern ebenso gut auch zum Töten. Steine taugten zwar nicht sonderlich gut für diese Aufgabe, aber die Menschenaffen entwickelten ein System, um die Defizite auszugleichen. Das funktionierte folgendermaßen: 1. 2. 3.
4.
5.
Anpirschen: Der Jäger bewegt sich in einem ausgedehnten Areal, um nach leichter Beute zu suchen. Lauern: Sobald ein potenzielles Opfer entdeckt wird, schleicht sich der Jäger so nah wie möglich heran. Auf das Opfer zustürzen und dabei werfen: Der Jäger springt hervor und schleudert einen Stein so fest und zielgenau wie möglich. Der Stein trifft das Tier und verursacht dabei eine leichte Verwundung, die nur selten zum Töten, meistens aber zur Verlangsamung des Tieres ausreicht. Verfolgen: Der hominide Jäger kann niemals so schnell rennen wie seine Beute, aber mit Ausdauer und speziellen Anpassungen, um seine Körpertemperatur niedrig zu halten, kann er eine lange, langsame Jagd durchhalten. Er folgt der verwundeten Beute und nähert sich ihr wieder. Dann wiederholt er die Schritte zwei bis vier, bis seine Beute so verwundet oder verausgabt ist, dass es ihm gelingt, sie einzuholen. Zugreifen und Töten: Das war der einfachste Teil der Jagd; ein verwundetes Tier ist leicht zur Strecke zu bringen.
Wir müssen bedenken, dass dabei weder Pfeil und Bogen noch Speere zum Einsatz kamen; derartige Werkzeuge wurden erst wesentlich später erfunden. Es wurden ausschließlich Steine verwendet. Deshalb musste der Jäger dazu in der Lage sein, die Steine mit viel Kraft und sehr präzise zu werfen, um bei der Jagd erfolgreich zu sein. Menschen sind bekanntlich körperlich recht schwach. Wir haben winzige Zähne, keine Krallen, wir laufen nicht sonderlich schnell, unser Sehvermögen ist erbärmlich, einen toten Fisch können wir niemals auf 20 Meter Entfernung riechen, wir hören schlecht, wir haben keinen Panzer und so weiter. Allein unsere Intelligenz gab uns die nötige Überlegenheit, um die Natur zu beherrschen. Das stimmt, ist aber nicht die ganze Wahrheit, denn es gibt eine körperliche Fähigkeit, die Menschen auszeichnet: Steine werfen. Darin übertreffen wir jedes andere Lebewesen auf Erden, und zwar nicht nur ein wenig – der uns naheste Konkurrent, der Schimpanse, könnte kein Scheunentor treffen, wenn sein Leben da-
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von abhinge. Diese Fähigkeit, Steine zu werfen, basiert auf zwei Faktoren. Zum einen ist unsere Muskulatur für das Werfen optimiert. Hier ein paar Bilder von Männern, die wir als Superhelden ansehen: Abbildung 6: Superhelden
Die Muskulatur demonstriert es: Ausgeprägt sind besonders Brustmuskeln und Bizeps. Das sind die Muskeln, die beim Werfen in erster Linie eingesetzt werden, und je ausgeprägter diese sind, desto kraftvoller können Steine geworfen werden. Diese Muskeln verleihen also die Fähigkeit, große Mengen an Fleisch zu erbeuten. Der Wert von Fleisch war dabei nicht nur der einer schmackhaften Mahlzeit oder Nahrung: Fleisch war das, was die weiblichen Hominiden anzog, denn fleischliche Proteine sind für das Wachstum von Kleinkindern essenziell. Derjenige mit den ausgeprägtesten Brustmuskeln, der am meisten Fleisch zu verteilen hatte, wurde auch von den meisten Frauen umworben. Und einige Jahre später liefen viele Nachkommen mit ebenso ausgeprägten Brustmuskeln durch das Lager. Das ist der Grund dafür, dass Brustmuskeln und Bizeps noch immer als Zeichen von Männlichkeit angesehen werden. Aber noch ein zweiter Faktor ist nötig, um kraftvoll und präzise zu werfen: Geschick. Jeder Baseballspieler kann bestätigen, wie schwer es ist, die Strike Zone zu treffen. Wie aber entwickelt man diese Geschicklichkeit? Die Antwort liegt auf der Hand: durch Spielen. Werfen ist von klein auf eine männliche Obsession. Männer verlieren niemals ihre Begeisterung für das Werfen heraus; nur die Art der Geschosse variiert mit dem Alter:
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Abbildung 7: Baseball, Boccia, Basketball, Schneeballwerfen
Männer lieben es, Dinge zu werfen. Diese Liebe ist tief in der männlichen Psyche verankert, weshalb Männer mit Begeisterung jede Art von Ballsport betreiben. Aus dieser Begeisterung wachsen sie nie heraus – Ballspiele betreiben sie ihr ganzes Leben lang. Diese Art des Spielens ist der dritte Meilenstein in der Phylogenese des menschlichen Spielens.
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Der vierte wichtige Meilenstein in der Phylogenese des Spielens wurde erst in der jüngeren Vergangenheit erreicht. Vielleicht tauchten erste Anzeichen schon vor ein paar Millionen Jahren auf, aber die entscheidende Entwicklung vollzog sich erst vor 50 000 Jahren. Dieser Meilenstein ist sowohl der wichtigste als auch der am schwersten zu verstehende.
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Es ist belegt, dass frühe Steinwerkzeuge erstmals vor drei Millionen Jahren aufkamen. Bemerkenswert an diesen Werkzeugen ist ihre Ähnlichkeit. Im Prinzip nur ein Grundmodell, der Faustkeil, das über Jahrtausende unverändert blieb. Vor etwa einer Millionen Jahren entwickelten sich erstmals verschiedene Typen von Steinwerkzeugen, aber danach ist noch eine hohe Gleichförmigkeit des Designs über Epochen und Orte hinweg festzustellen. Es scheint, als hätte jede Kultur ihren Standardsatz an Steinwerkzeugen besessen und niemand sei davon abgewichen. Das ist überraschend, denn man sollte erwarten, dass Menschen mit ihren Werkzeugen experimentieren und zahlreiche Varianten ausprobieren. Doch offenbar spielten Menschen nicht mit den Steinen, während sie Werkzeuge bauten. Dieser Mangel an Kreativität wurde innerhalb der letzten Million Jahre langsam überwunden. Erstmals sehen wir größere Innovationen und Vielfalt bei den Werkzeugen der Hominiden. Menschen begannen, Steine zu bearbeiten, ihre Formen zu analysieren und darüber nachzudenken, wie sich diese Formen beeinflussen ließen. Menschen begannen, beim Werkzeugbau zu spielen. Das war ein enormer Schritt, denn er erforderte einen extremen Bruch mit der Vergangenheit. Alle vorherigen Formen des Spielens hatten ihre fundamentale Triebkraft in der Natur. Die erste Form des Spielens, Rennen und Springen, um verschiedene Gangarten zu erlernen, war auf Bewegung des Körpers beschränkt und erforderte keine Interaktion mit der Umwelt. Die zweite Form des Spielens, das Jagen bei den Säugetieren, betraf ebenfalls weitgehend die Bewegung, obwohl bereits eine gewisse Interaktion mit der Beute stattfand und somit erstmals auch ein kognitives Element ins Spiel kam. Die dritte Form des Spielens, Steinewerfen, war im Kern ebenfalls motorischer Natur, aber sie war eingebettet in komplexe Verhaltensweisen, die größere kognitive Anstrengungen erforderten. Erst die vierte Form des Spielens, die ich »manipulatives Spielen« nenne, weil sie den Gebrauch der Hände involviert, war von fundamental kognitiver Natur. Ja, sie war auf die Hände angewiesen, um die Dinge zu manipulieren, mit denen gespielt wurde. Aber bei dieser Art zu spielen passierte viel mehr als kognitive Aktion. Die Menschen begannen, darüber nachzudenken, was sie taten. Und dieses Denken vollzog sich auf eine spielerische Weise. Vor etwa 50 000 Jahren kam es zu einem bemerkenswerten Wandel im menschlichen Verhalten. Die archäologischen Befunde quellen plötzlich über vor Bildern, die an Höhlenwände gemalt wurden, Tonfiguren, abstrakten Zeichnungen in Knochen und Felsen und allen möglichen anderen Neuheiten. Es scheint, als hätte die Menschheit plötzlich ihr kreatives Potenzial entdeckt. Es gibt viele Hypothesen, um diesen sprunghaften Anstieg der kognitiven Fähigkeiten zu erklären; ich persönlich bevorzuge die Hypothese, dass die Sprachent-
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wicklung den Ausschlag gab. Ich bin aber auch davon überzeugt, dass das Spielen nicht ganz unbeteiligt daran war. Insbesondere glaube ich, dass die Erkenntnis dazu beigetragen hat, dass das Herumspielen mit Dingen sich als nützlich erweisen kann. Menschen nahmen Objekte in ihre Hände und erprobten sie auf neue und spielerische Weise. Sobald sich dieses spielerische Verhaltensmuster verfestigt hatte, befand sich die Menschheit auf direktem Weg zur Erfindung des Videospiels.
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UND
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Betrachten wir die folgende Grafik als abstrakte Repräsentation der Phylogenese des menschlichen Spielens. Obwohl die Darstellung stark vereinfacht ist, verdeutlicht sie, dass das Spielen anfangs rein motorischer Natur war und erst mit der Zeit das kognitive Element an Bedeutung gewann, während sich das motorische Element immer weiter verringerte. Der größte Teil dieser Entwicklung fand erst in der jüngeren Vergangenheit statt, und das motorische Element ist keineswegs verschwunden. Abbildung 8: Phylogenese des Spielens – Motorik und Kognition
An dieser Stelle wird es Zeit, einem neuen Denkansatz zu folgen. Das werden wir auch gleich tun, aber zuvor möchte ich Ernst Haeckel vorstellen: Haeckel war ein Biologe des späten 19. Jahrhunderts. Auf ihn geht eine der faszinierendsten Ideen zurück, die die Geistesgeschichte hervorbrachte: Haeckels biogenetische Grundregel, die sich zum Satz »Ontogenese rekapituliert Phylogenese« zusammenfassen lässt. Um diese Grundregel zu verstehen, bedarf es nur zweier Begriffe: Ontogenese und Phylogenese. Ontogenese bezeichnet den Prozess der Entwicklung eines neuen Lebewesens in einem Ei oder im Mutterleib. Es ist die Abfolge der Entwicklungsstadien,
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die das Lebewesen zwischen der Empfängnis bis hin zum Erwachsenenalter durchläuft. Phylogenese dagegen bezeichnet die evolutionäre Entwicklung einer ganzen Spezies. Während das Gesamtbild der Evolution des Lebens auf Erden einem Baum mit unendlich verästelten Zweigen gleicht, ist der Pfad, der zu einer einzelnen Spezies führt, linear. Man nennt diesen Pfad die Phylogenese der Spezies. Haeckels biogenetische Grundregel besagt, dass die Entwicklung eines neu gezeugten Lebewesens den gesamten evolutionären Prozess nachvollzieht, der seine Spezies hervorbrachte. Diese Regel gefällt mir sehr, weil sie ein so umfassendes Konzept in lediglich drei Worten zusammenfasst. Es gibt nur ein winziges Problem mit Haeckels Grundregel: Sie ist falsch. Nicht völlig falsch, aber doch in vielerlei Hinsicht. Es stimmt, dass es grobe Übereinstimmungen gibt zwischen einigen Stadien der ontogenetischen Entwicklung und einigen evolutionären Stadien der phylogenetischen Entwicklung der jeweiligen Spezies. Zum Beispiel geht jedes Lebewesen aus einer befruchteten Eizelle hervor, einer einzigen Zelle, genau wie das Leben als solches aus einzelligen Lebewesen hervorging. Während einer Phase der menschlichen Ontogenese entwickelt der Fötus Kiemen wie ein Fisch. Außerdem besitzt der menschliche Fötus eine ganze Weile einen Schwanz. Es gibt also durchaus bemerkenswerte Parallelen, gerade genug, um Haeckels Grundregel zu einem interessanten Nebenstrang der Biologie zu machen. Es gibt allerdings auch massive Diskrepanzen. Ich möchte Haeckels Grundregel ganz grob auf das menschliche Spielen übertragen. Ich behaupte, dass eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Ontogenese und der Phylogenese des menschlichen Spielens besteht. Obwohl meine Behauptung einige offensichtliche Schwächen hat, enthält sie doch auch einen nicht zu leugnenden wahren Kern. Denn zuerst lernt das menschliche Kleinkind das Krabbeln – genau wie die Gattung der Tiktaalik, die vor Millionen von Jahren aus dem Meer an Land krabbelte. Dann lernt das Kleinkind zu laufen und kurz darauf beim Spielen auch die anderen Arten des Gehens: Rennen, Springen und so weiter. Und was ist mit dem zweiten Meilenstein der menschlichen Phylogenese, den Jagdspielen? Im menschlichen Verhalten sind sie von eher untergeordneter Bedeutung (weil unsere Entwicklung von der der Raubtiere vor langer Zeit abwich), aber definitiv sind Überbleibsel von Jagdspielen erkennbar. Zum Beispiel spielen Kinder Verstecken mit Freunden oder Eltern. Ebenfalls spielen Kinder häufig Fangen oder Ringen. Ich vermute, dass diese Spiele letzte Überbleibsel unseres Jagdspiel-Verhaltens sind. Der dritte Meilenstein – Steinewerfen – taucht definitiv in der menschlichen Entwicklung schon früh auf. Insofern es sich um eine späte evolutionäre Ent-
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wicklung handelt, bleibt der Impuls, Dinge zu werfen, Männern ein Leben lang erhalten. Zuletzt kommt der vierte Meilenstein: manipulatives Spielen. Diese Form des Spielens taucht schon relativ früh in der Entwicklung eines Kindes auf, gewinnt aber erst später an Bedeutung. Die Ontogenese des menschlichen Spielens folgt also der Phylogenese nicht Schritt für Schritt; die Phasen sind vielmehr ineinander verwoben. Doch lässt sich die generelle Tendenz beobachten, dass phylogenetisch späteres Spielverhalten auch ontogenetisch später in Erscheinung tritt.
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DER
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Betrachten wir also die Konsequenzen und blicken noch einmal zurück auf den Unterschied zwischen dem motorischen Inhalt und der kognitiven Komponente des Spielens. Abbildung 9: Die Ontogenese des Spielens – Motorik und Kognition
Kurz gesagt, das menschliche Spielen ist anfangs rein motorischer Natur, aber sobald das Kind wächst, verringert sich der motorische Anteil und die kognitive Komponente wächst. Das bringt mich zurück zu meiner These, dass Lernen und Spielen zwei Seiten desselben Phänomens sind. Sie bedeutet, dass Spielen und Lernen eng miteinander verbunden sind. Daraus können wir etwas sehr wichtiges über Früherziehung erfahren: Unsere Bemühungen müssen vor allem auf motorische Elemente bauen. Sich ausschließlich auf kognitive Aspekte bei der Erziehung von Kindern zu konzentrieren, hieße die evolutionäre Entwicklung zu verleugnen. Zugegebenermaßen sind die Fähigkeiten, die wir Kindern vermitteln wollen, im Wesentlichen kognitiver Natur, aber der kognitive Aspekt muss huckepack mit dem motorischen Aspekt mitgeliefert werden. Das motorische Element muss als Vehikel
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verwendet werden, um kognitive Inhalte zu vermitteln. Wie es auf diesem Bild zu sehen ist, sollten Kindern gerade nicht unterrichtet werden: Abbildung 10: Sedentäres Lernen in der industriellen Epoche
Falsch an dieser Methode ist, dass sie Kinder in einen rein kognitiven Modus zwingt und keinerlei motorische Aktivität beinhaltet. Kinder sind dafür noch nicht bereit. Der Fehler liegt im Reden und Zeigen. Schüler sollten zum Beispiel Mathematik auf eine Weise lernen, die sie den Prozess in den Muskeln spüren lässt. Sie sollten Beutel mit verschieden vielen Murmeln tragen, verschieden viele Schritte laufen, schwerere und leichtere Dinge heben, um mathematische Konzepte wirklich auf der motorischen Ebene zu erleben. Warum war man bisher blind gegenüber dieser Tatsache? Warum wurden diese Ideen bisher nicht umgesetzt? Dafür verantwortlich ist René Descartes, der bekanntermaßen das »Leib-Seele-Problem« formuliert hat: die Annahme, dass Leib und Seele zwei getrennte und mitunter konkurrierende Teile des Menschen sind. Um ehrlich zu sein, ich benutze Descartes als Sündenbock, denn die Idee tauchte noch in jeder Kultur auf. Ihr Ursprung ist der Konflikt zwischen Gesetz und Verhalten. In jeder Gesellschaft gibt es Gesetze gegen Diebstahl, Mord und so weiter. Dennoch haben Menschen durch die gesamte Geschichte hindurch gestohlen, getötet und andere Verbrechen begangen – auch wenn die Strafen dafür die Vorteile weit überwogen. In jeder Gesellschaft und zu jeder Zeit musste man verrückt sein, um ein Verbrechen zu begehen. Dennoch begingen die Menschen zahllose Verbrechen. Wie können so viele Menschen so verrückt sein? Da jede Gemeinschaft wünscht, Verbrechen zu verhindern, wurde viel über dieses Problem nachgedacht und meistens kam dabei eine Antwort nach dem folgenden Schema heraus: Jeder Mensch weiß, dass Kriminalität nicht nur böse, sondern auch selbstzerstörerisch ist. Aber jeder Mensch hat auch einen Körper mit eigenen Bedürfnissen und Trieben, die nur schwer zu kontrollieren sind. Insofern trägt jeder von uns permanent einen Kampf zwischen Geist und Körper aus. Der Geist ver-
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steht die Lage, aber der Drang des Körpers ignoriert die möglichen Strafen. Deshalb wird uns beigebracht, dass der Geist den Kampf gewinnen muss, damit der Körper keine selbstzerstörerischen Verbrechen begeht. Der Geist muss den Körper besiegen! Diese Annahme prägt so tief unser Denken, dass wir unsere Körper als prinzipiell dem Geist unterlegen begreifen, als gefährliche Barbaren, die unbedingt unter Kontrolle gehalten werden müssen. Wir glorifizieren den Geist auf Kosten des Körpers. All das ist sicher sinnvoll, wenn wir neue Mitglieder unserer Gesellschaft sozialisieren und zivilisieren. Aber sobald dieses Denken unser gesamtes Erziehungssystem durchzieht, richtet es Schaden an. Wir verwenden stumpfsinnige Strategien, die der Natur der Schüler, die wir unterrichten wollen, unangemessen sind. Deshalb müssen wir diese besondere Ausnahme von unserer generellen Auffassung des Leib-Seele-Problems immer im Hinterkopf behalten. Die meisten Menschen haben eine derart tiefsitzende Abneigung gegen diese Vorstellung, dass ich etwas weiter ausholen möchte, um den Punkt zu erläutern. Bilder aus dem Bereich des Körpers dominieren unser Denken – auch als Erwachsene – in einem Maße, das den meisten gar nicht bewusst ist. Ein Beispiel gibt die Art und Weise, wie wir – im Englischen – Bezeichnungen für Körperteile verwenden, um komplexe Sachverhalte auszudrücken: Abbildung 11: Körper-Metaphern
Abschließend lässt sich festhalten: Wir haben der Rolle, die der Körper im Prozess der Wahrnehmung spielt, bislang zu wenig Beachtung geschenkt. Der grundlegende Modus des Lernens war für alle Tiere das Spielen, welches, bis vor 50 000 Jahren, fast ausschließlich motorischer Natur war. Der Geist lernt beim Spielen durch den Körper, und wir müssen dieser Tatsache Rechnung tragen, wenn wir unser Erziehungswesen verbessern wollen.
Zwischen Planspiel und Trainingssimulator Oder: Was man von Computerspielen (nicht) über den Krieg lernen kann
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E INLEITUNG Obwohl sich das Thema Krieg auf den ersten Blick wie kaum ein anderer Bereich gegen (zweckfreie) spielerische Handlungen zu verwehren scheint, sind Computerspiele seit Beginn ihrer Entwicklungsgeschichte von einer tiefen Faszination für kriegerische Konflikte geprägt. Oder in den Worten Martin Warnkes: »Der Begriff des Kriegs-Spiels lässt sich an Obszönität kaum überbieten, bedeutet das Eine doch Gewalt, Tod und entsetzlicher Schrecken, das Andere die freie Entfaltung nach lustvoller eigener Vorgabe. Doch gerade an diesem Paradox entfaltet sich seit Jahrtausenden eine Kultur, die das Schreckliche bannt, verdrängt, symbolisiert, darstellt und in Technik umwandelt.«1
Obgleich schon »vor der Computerära Kriegsspiele der Unterhaltung und Unterhaltungsspiele dem Krieg [dienten]«2, hat das Kriegsspiel vor allem mit der Aus1
Warnke, Martin: »Computer-Kriegs-Spiele. Oder: eine Kultur der Gewalt«, in: Hermann Nöring et al. (Hg.), Bilderschlachten. 2000 Jahre Nachrichten aus dem Krieg. Technik – Medien – Kunst, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 380.
2
Lischka, Konrad: »Schöne Spiele, falsche Freunde. Theorie und Praxis des Kriegs in Computerspielen«, in: Florian Rötzer (Hg.), Virtuelle Welten – reale Gewalt, Hannover: Heise 2003, S. 63.
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breitung der Computertechnik Einzug in den zivilen (oder besser: massenmedialen) Bereich gehalten3 – nicht zuletzt auch weil das Militär aus Kostengründen inzwischen selbst auf Technologien der Spieleindustrie zurückgreift.4 Die Verflechtung aus Krieg und Spiel manifestiert sich dabei gleichermaßen in populären Unterhaltungsspielen5 wie auch im Bereich der Serious Games6 – und gerade weil diese Verflechtung gleichermaßen ›obszön‹ wie vertraut ist, zählt sie zu den bevorzugten Angriffsflächen eines gesellschaftlichen Misstrauens gegen Computerspiele. So wird der Begriff der sogenannten ›Killerspiele‹ – eine Bezeichnung die sich leider als Schlagwort im Game Studies-Diskurs verfestigen konnte – häufig synonym mit Spielen verwendet, die (mehr oder weniger fiktional verfremdete) militärische Konfliktsituationen abbilden. Ohne den in den meisten Fällen äußerst fragwürdigen Forschungsdesigns der verschiedenen ›Killerspiel‹-Studien hier weitere Beachtung schenken zu wollen,7 soll die Auf-
3
Vgl. u.a. Woznicki, Krystian: »Das globale Übungsdorf. Wie militärische Kriegsspiele die Bühnen der zivilen Öffentlichkeit formatieren«, in: Florian Rötzer (Hg.), Virtuelle Welten – reale Gewalt, Hannover: Heise 2003, S. 68-79; Lenoir, Timothy/ Lowood, Henry: »Kriegstheater. Der Militär-Unterhaltungs-Komplex«, in: Helmar Schramm et al. (Hg.), Kunstkammer, Laboratorium, Bühne: Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert, Berlin u.a.: de Gruyter 2003, S. 432-464.
4
Vgl. Ehmann, Antje/Farocki, Harun: »Ernste Spiele. Eine Einführung«, in: Ralf Beil/Antje Ehmann (Hg.), Serious Games. Krieg, Medien, Kunst, Ostfildern: Hatje Cantz 2011, S. 22-24; Schaub, Harald/Bucher, Lukas: »Trainieren für den Einsatz: Serious Games als Trainings-, Ausbildungs- und Lernmedium im Umfeld Verteidigung und Sicherheit«, in: Maren Metz/ Fabienne Theis (Hg.), Digitale Lernwelt – Serious Games, Bielefeld: Bertelsmann 2011, S. 109-116.
5
Sogenannte kommerzielle ›off-the-shelf‹ Games. Neben Spielreihen wie BATTLEFIELD,
CRYSIS, METAL GEAR SOLID und COMMAND & CONQUER, um hier nur einige
wenige zu nennen, hat vor allem die erfolgreiche CALL OF DUTY-Reihe die Schlachtfelder des zeitgenössischen Computerspiels geprägt. 6
Zu nennen ist hier insbesondere das berühmte (wie berüchtigte) Beispiel AMERICA’S
7
Zwar erscheint es durchaus denkwürdig, dass im öffentlichen Diskurs Computerspiele
ARMY. immer noch häufig als gefährlich oder zumindest problematisch eingestuft werden, doch sind die entsprechenden Studien, die eine angebliche gewaltfördernde Wirkung von Computerspielen ›nachweisen‹, in der Regel weder quantitativ noch qualitativ belastbar. Vgl. Venus, Jochen: »Du sollst nicht töten spielen. Medienmorphologische Anmerkungen zur Killerspiel-Debatte«, in: Lili 37/146 (2007), S. 67-90. Jochen Venus formuliert hier pointiert: »Die hysterische Reaktion auf Killerspiele beruht im
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merksamkeit vielmehr auf die seltsam zwiespältige Begründung der vermeintlich problematischen Aspekte der Computerkriegsspiele gelenkt werden: Denn die Kriegsspiele werden einerseits für eine Verharmlosung des Krieges kritisiert, für eine Transformation des Kriegsgeschehens in ein abstraktes Planspiel, was zu einer »Entmenschlichung des Gegners«8 führe. Andererseits stehen sie im Verdacht, durch ihre immersive, viszerale Bildästhetik Kriegsdarstellungen auf ein blutiges Effektspektakel zu reduzieren.9 Die häufige Verschränkung dieser im Grunde gegensätzlichen Argumente ist – so die argumentative Leitlinie dieses Beitrags – im Wesentlichen durch die ›ernsten Vorfahren‹ der Computerkriegsspiele, die frühen Planspiele und Trainingssimulatoren, begründet. Denn obgleich gerade die zeitgenössischen Computerkriegsspiele längst ein ›pop(ulär)kulturelles Eigenleben‹ entwickelt haben10, das sie weit über den Status als »Mißbrauch von Heeresgerät«11 hinaushebt, sind diese Unterhaltungsspiele – und die sie umgebenden Diskurse – doch immer noch deutlich durch die ›Lernspiel-Wurzeln‹ des Genres geprägt. Dieser tiefgehenden ›Verschachtelung‹ aus Unterhaltungsspiel und Serious Game Rechnung tragend, verorten sich die folgenden Überlegungen zu Computerkriegsspielen im Grenzbereich zwischen zwei Forschungsströmungen der Game Studies. Sie stellen einen Versuch dar, Arbeiten zum Game-Based Learning12 mit medienkulturwissenschaftlichen bzw. medienästhetischen13 Ansätzen14
Wesentlichen auf einem Mangel an konkreter Erfahrung mit dem neuen Medium« (ebd.: S. 70). 8
Gieselmann, Hartmut: »Aktion ›Sauberer Bildschirm‹. Wie der Krieg hinter seinem virtuellen Abbild verschwindet«, in: Florian Rötzer (Hg.), Virtuelle Welten – reale Gewalt, Hannover: Heise 2003, S. 54.
9
Vgl. z.B. Süselbeck, Jan: »Kampf als inneres Erlebnis? Zur emotionalen Wirkung der Kriegsdarstellung in Computerspielen und ihren Vorbildern«, in: kjl&m 10/2 (2010), S. 14-24.
10 Nicht zuletzt aufgrund des enormen finanziellen Erfolgs der CALL OF DUTY-Reihe mit bislang über 100 Millionen verkauften Kopien. 11 Kittler, Friedrich: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin: Brinkmann und Bose 1986, S. 149. 12 Kaminski, Winfred/Lorber, Martin (Hg.): Gamebased Learning, München: kopaed 2012. 13 Dabei werden insbesondere auch bildästhetische Aspekte des Computerspiels eine Rolle spielen. Der vorliegende Beitrag knüpft somit an Thomas Hensels Überlegungen zur Bildlichkeit des Computerspiels an, der im vorangegangenen Band der Bild und Bit-Reihe erschienen ist. (Hensel, Thomas: »Uncharted. Überlegungen zur Bild-
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zu verknüpfen. Dabei soll der Schwerpunkt gerade nicht auf ›typischen‹ militärischen Anwendungsbeispielen wie AMERICA’S ARMY15 liegen. Die Geschichte des Kriegsspiels – als Planspiel wie als Trainingssimulator – ist bereits mehrfach detailliert aufgearbeitet worden, etwa in der »bis heute luzideste[n] (Nicht-)Geschichte des Videospiels«16, Claus Pias’ Computer Spiel Welten.17 Im Mittelpunkt – obgleich es sich auch hier um eine schlaglichtartige Analyse von einigen wenigen Beispielen handelt – stehen vielmehr die populären Variationen des Computerkriegsspiels. Dass auch diese Unterhaltungsspiele durch eine »›Infiltration‹ von vorgeblich rein ludischen Praktiken«18 geprägt sein können, ist in der Forschung zum Game-Based Learning vielfach betont worden19, etwa im Hin-
lichkeit des Computerspiels«, in: Gundolf S. Freyermuth/Lisa Gotto (Hg.), Bildwerte. Visualität in der digitalen Medienkultur, Bielefeld: transcript 2013, S. 209-235.) Vgl. außerdem Schwingeler, Stephan: Die Raummaschine. Raum und Perspektive im Computerspiel, Boizenburg: vwh 2008; Günzel, Stephan: Egoshooter. Das Raumbild des Computerspiels, Frankfurt a.M.: Campus 2012; Beil, Benjamin: Avatarbilder. Zur Bildlichkeit des zeitgenössischen Computerspiels, Bielefeld: transcript 2012. 14 Vgl. auch GamesCoop (Hg.): Theorien des Computerspiels. Zur Einführung, Hamburg: Junius 2012. 15 Zwar wird es den unvermeidlichen Absatz zu AMERICA’S ARMY geben, jedoch soll dieses umstrittene Serious Game gerade nicht als reines Lernprogramm betrachtet werden. Es geht nicht in erster Linie um die Frage, ob AMERICA’S ARMY ein ernstzunehmendes Soldatentrainingstool ist (– die knappe Antwort ist: nein, aber dazu später mehr). Es geht vielmehr um eine Analyse von AMERICA’S ARMY im diskursiven Spannungsfeld eines Military-Entertainment Complex (vgl. Lenoir, Timothy/Lowood, Henry: »Kriegstheater. Der Militär-Unterhaltungs-Komplex«, in: Helmar Schramm et al. (Hg.), Kunstkammer, Laboratorium, Bühne: Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert, Berlin u.a.: de Gruyter 2003, S. 432-464). 16 Detering, Sebastian: »Wohnzimmerkriege. Vom Brettspiel zum Computerspiel«, in: Rolf F. Nohr/Serjoscha Wiemer (Hg.), Strategie Spielen. Medialität, Geschichte und Politik des Strategiespiels, Münster: Lit, 2008, S. 87. 17 Pias, Claus: Computer Spiel Welten, München: Sequenzia 2002. 18 Nohr, Rolf F./Wiemer, Serjoscha (Hg.): »Strategie Spielen. Zur Kontur eines Forschungsprojekts«, in: Dies. (Hg.), Strategie Spielen. Medialität, Geschichte und Politik des Strategiespiels, Münster: Lit 2008, S. 19. 19 Für eine Übersicht zu dieser Debatte vgl. Breitlauch, Linda: »Spielfreude als erfolgreiche Lern- und Therapiemethode«, in: Rudolf Thomas Inderst/Peter Just: Build ‘em Up – Shoot ‘em Down: Körperlichkeit in digitalen Spielen, Boizenburg: vwh 2013, S. 179-191, sowie Breuer, Johannes: »Brocolli-Coated Chocolate? The Educational
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blick auf die Vermittlung von Problemlösungs-20, Rahmungs-21 und Sozialkompetenz22 oder auch bei der konkreten Anwendung in Schulungssituationen.23 Linda Breitlauch24 schlägt vor, im Fall der Betrachtung des Wissenstransfers durch Unterhaltungsspiele nicht von Serious Games, sondern von Applied Games25 zu sprechen. Ohnehin soll es im Folgenden keineswegs um eine Ausweitung der Kategorie Serious Games gehen – etwa im Sinne von Sawyers und Smith’ Diktum: »All games are serious!«26 –, sondern ›lediglich‹ um (insbeson-
Potential of Entertainment Games«, in: Winfred Kaminski/Martin Lorber (Hg.), Gamebased Learning, München: kopaed 2012, S. 87-96. Für verschiedene anschauliche ›Serious Game-‹ bzw. ›Applied Game-Analysen‹ von Unterhaltungsspielen vgl. z.B. zu CIVILIZATION Reichert, Ramón: »Government-Games und Gouverntainment. Das Globalstrategiespiel Civilization von Sid Meier«, in: Rolf F. Nohr/Serjoscha Wiemer (Hg.), Strategie Spielen. Medialität, Geschichte und Politik des Strategiespiels, Münster: Lit 2008, S. 189-212; bzw. vgl. zu METAL GEAR SOLID 2 Higgin, Tanner: »›Turn the Game Console off Right Now!‹ War, Subjectivity, and Control in Metal Gear Solid 2«, in: Nina B. Huntemann/Matthew Thomas Payne (Hg.), Joystick Soldiers. The Politics of Play in Military Video Games, New York/London: Routledge 2010, S. 252-271. 20 Vgl. Ohler, Peter: »Was lässt sich beim Computerspielen lernen? Kognitions- und spielpsychologische Überlegungen«, in: Rudolf Kammerl (Hg.), Computerunterstütztes Lernen, München: Oldenbourg 2000, S. 188-215. 21 Vgl. Fritz, Jürgen: »Spielen in virtuellen Gemeinschaften«, in: Thorsten Quandt/ Jeffrey Wimmer/Jens Wolling (Hg.), Die Computerspieler: Studien zur Nutzung von Computergames, Wiesbaden: VS Verlag 2008, S. 135-148. 22 Vgl. Tapscott, Don: Grown Up Digital. How the Net Generation Is Changing Your World, New York: McGraw-Hill 2008. 23 Monogenis, Harry: »Valve Brings Portal 2 to Schools ›Teach with Portals‹« 2012, http://www.destructoid.com/valve-brings-portal-2-to-schools-via-teach-with-portals-229865.phtml 24 L. Breitlauch: »Spielfreude als erfolgreiche Lern- und Therapiemethode«, S. 179-191. 25 »Geht man davon aus, dass auch Unterhaltungsspiele Kompetenzen fördern, also das Spielen an sich bereits intelligenter machen kann, lässt sich die Definition ergänzen und mit einem treffenderen Begriff, dem der Applied Games, bezeichnen: Mit Applied Games werden spezielle Kompetenzen gefördert, die sich auf bestimmte Anwendungsfelder gezielt übertragen und evaluieren lassen« (ebd.: S. 181). 26 Sawyer, Ben/Smith Peter: »Serious Games Taxonomy«, 2008 http://www.dmill.com /presentations/serious-games-taxonomy-2008.pdf Vgl. auch Jantke, Klaus P.: »Poten-
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dere reflexive) Potenziale von kommerziellen Titeln, die über ein rein unterhaltendes, zweckfreies Spiel hinausweisen. Vor diesem Hintergrund erscheinen gerade die populären Computerkriegsspiele ein interessantes Untersuchungsobjekt, weil sie – wie im Folgenden gezeigt werden soll – sozusagen aus dem Mainstream heraus das ›obszöne‹ Verhältnis von Krieg und Spiel reflektieren können. Damit ›mutieren‹ diese Spiele zwar nicht zu populären ›Anti-Kriegsspielen‹ (siehe Zweiter Disclaimer), sie stellen jedoch (bild-)ästhetische Details aus, die in ihrer medialen Spezifik die ›Lernspiel-Wurzeln‹ populärer Computerspiele zu hinterfragen vermögen. Es geht somit um einen Übergang von Serious Games zu Serious Gaming27, d.h. um Strategien, die den Wissenstransfer im Computerspiel nicht einfach als digitalisierte Form ›klassischer‹ Lernmaterialien verstehen – als »substitute for the textbook«28 –, sondern den Blick auf computerspielspezifische Vermittlungsformen eines »meta-gaming«29 lenken.
E RSTER D ISCLAIMER – W AS MAN NICHT ÜBER DEN K RIEG
LERNEN KANN
Obgleich im Folgenden eine diskursive Betrachtung verschiedener Computerkriegsspiele stattfinden soll, wird keine grundlegende Auseinandersetzung mit dem schwierigen gesellschaftspolitischen Status der »Bilder des Krieges« und dem ebenso kritisch zu sehenden »Krieg der Bilder«30 stattfinden können. Den Ausgangs- wie Schlusspunkt bildet vielmehr die Beobachtung, »dass sich sowohl der industrialisierte Krieg der Vergangenheit wie der elektronische Krieg der Gegenwart letztlich der bildlichen Repräsentation entzieht«.31 Anders formuliert: Die modernen visuellen Medien sorgen zwar für eine »allgegenwärtige
ziale und Grenzen des spielerischen Lernens«, in: Maren Metz/Fabienne Theis (Hg.), Digitale Lernwelt – Serious Games, Bielefeld: Bertelsmann 2011, S. 77-84. 27 Jenkins, Henry et al.: »From Serious Games to Serious Gaming«, in: Ute Ritterfeld/Michael J. Cody/Peter Vorderer (Hg.), Serious Games. Mechanisms and Effects, London/New York: Routledge 2009, S. 448-468. 28 Ebd.: S. 449. 29 Ebd.; Vgl. auch J. Breuer: »Brocolli-Coated Chocolate? The Educational Potential of Entertainment Games«, S. 87-96. 30 Paul, Gerhard: Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, München: Fink 2004. 31 Ebd.: S. 11.
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Präsenz des Krieges«32, aber stets in einer gefilterten und stilisierten Form. Der Krieg wird massenmedial aufbereitet und einerseits zum »Medienschauplatz erster Güte«33, andererseits aber »zum alltäglichen Ereignis um[geschrieben]«.34 Die modernen Kriegsbilder sind somit trotz immer ›aufwändigerer‹ Varianten von Live-Berichterstattungen keineswegs ›authentischer‹ geworden, vielmehr haben sie »[m]it einer spezifischen Ikonographie und besonderen Modellierungsstrategien […] dazu beigetragen, das Element des Krieges immer wieder durch Überzeichnungen zu verhüllen, dem Grauen durch Ästhetisierung seinen Schrecken und seine Körperlichkeit zu nehmen, das Chaos des Terrors zu ordnen und die Empörung niedrig zu halten.«35
Mehr noch: »In Ermangelung eines tatsächlichen Zugriffs auf die militärischen Ereignisse infolge von Zensurmaßnahmen und anderen Restriktionen begannen die elektronischen Medien ihre eigene Realität des Krieges zu konstruieren, die sowohl fernsehtypische Elemente der Show als auch filmtypische Elemente des Spielfilms – vor allem die der Entertainisierung des Krieges als Spektakel und Spiel – enthielt.«36
Die medialen Darstellungen des Krieges »schaffen eine eigene Welt«, sind oftmals gar »zu Spielformaten generiert«37 – und um diese ›eigene Welt‹ von Spielformaten, die sich einerseits aus den medialen Stilisierungen der Kriegsbilder speist und andererseits durch Spiel(regel)systeme geprägt ist, soll es im Folgenden gehen.
32 Roeder, Caroline: »›Klick‹! Krieg ins Bild gefasst: Ein Blick auf Tendenzen in aktueller Kinder- und Jugendliteratur«, in: kjl&m 10/2 (2010), S. 64-70. 33 Beil, Ralf: »Der Krieg jenseits von Wikileaks und Tagesschau«, in: Ders./Antje Ehmann (Hg.), Serious Games. Krieg, Medien, Kunst, Ostfildern: Hatje Cantz 2011, S. 7. 34 C. Roeder: »›Klick‹! Krieg ins Bild gefasst: Ein Blick auf Tendenzen in aktueller Kinder- und Jugendliteratur«, S. 66. 35 G. Paul: Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, S. 46. 36 Ebd.: S. 476. 37 C. Roeder: »›Klick‹! Krieg ins Bild gefasst: Ein Blick auf Tendenzen in aktueller Kinder- und Jugendliteratur«, S. 65.
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K RIEGSSPIELE I: VOM H ELLWIG -S PIEL
ZU
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Die spielerische Simulation kriegerischer Auseinandersetzungen lässt sich über mehr als 2000 Jahre zurückverfolgen38 – »Sandflächen, später topografische Karten simulieren das Terrain, Holzklötze und Metallfiguren die Einheiten«.39 1780 entwickelt der Braunschweiger Mathematiker Johann C. L. Hellwig das nach ihm benannte Hellwig-Spiel.40 Berühmtheit erlangt das Kriegsspiel aber vor allem im frühen 19. Jahrhundert an den preußischen Militärakademien, wo es intensiv zum Training und zur Planung von Militäroperationen genutzt und stetig weiterentwickelt wird. Auf Hellwigs Spiel aufbauend konzipiert der preußische Kriegsrat Georg Leopold von Reiswitz für Friedrich Wilhelm III. im Jahr 1812 einen umfangreichen Spieltisch mit Karten, Figuren und detaillierter Anleitung. Bezeichnend ist bereits in dieser frühen Phase die Überlagerung, ja geradezu die ›Umdeutung‹ von spielerischen hin zu ›ernsten‹ Implikationen. So stellt etwa der Offizier Karl von Müffling zu von Reisswitz’ Kriegsspiel fest: »Das ist ja kein Spiel […], das ist eine Kriegsschule«.41
38 Vgl. Detering, Sebastian: »Living Room Wars. Remediation, Boardgames, and the Early History of Video Wargaming«, in: Nina B. Huntemann/Matthew Thomas Payne (Hg.), Joystick Soldiers. The Politics of Play in Military Video Games, New York/ London: Routledge 2010, S. 21-38: »War, games, and simulation have always been closely intertwined. The oldest known boardgame surviving in its original shape, the Chinese Go, represents troop formations and has been used as strategic training for more than two millennia« (21). Vgl. auch Halter, Ed: From Sun Tzu to Xbox. War and Video Games, New York: Thunder’s Mouth Press 2006; Smith, Roger: »The Long History of Gaming in Military Training«, in: Simulation & Gaming 41/6 (2010), S. 7-19. 39 K. Lischka: »Schöne Spiele, falsche Freunde. Theorie und Praxis des Kriegs in Computerspielen«, S. 60. 40 Vgl. Nohr, Rolf F.: »Krieg auf dem Fußboden, am grünen Tisch und in den Städten. Vom Diskurs des Strategischen im Spiel«, in: Ders./Serjoscha Wiemer (Hg.), Strategie Spielen. Medialität, Geschichte und Politik des Strategiespiels, Münster: Lit 2008, S. 31-35 und Sandkühler, Gunnar: »Die philanthropische Versinnlichung. Hellwigs Kriegsspiel als pädagogisches und immersives Erziehungsmodell«, in: Rolf F. Nohr/Serjoscha Wiemer (Hg.), Strategie Spielen. Medialität, Geschichte und Politik des Strategiespiels, Münster: Lit 2008, S. 69-86. 41 Zit. n. C. Pias: Computer Spiel Welten, S. 175. Vgl. hierzu auch Rolf Nohrs Ausführungen zu Hellwigs Kriegsspiel: »Keineswegs jedoch ist diese angenehme Unterhal-
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Spätestens seit dem Ersten Weltkrieg gehören komplexe Kriegsspiele zum Repertoire aller Armeen. Nach dem Zweiten Weltkrieg durchläuft das Kriegsspiel einen einschneidenden Wandel: Es wird computerisiert, z.B. in Form des 1958 in Betrieb genommenen Navy Electronic Warfare Simulators – »die Regeln über Bewegungsradius, Waffenreichweite und Schaden der einzelnen Einheiten wandte hier erstmals ein Computer an«.42 Im Kalten Krieg werden Computersimulationen, die nukleare Auseinandersetzungen ›durchspielen‹, schließlich unabdingbar und besiegeln so die Verschmelzung von Krieg, Spiel und Computertechnik – »Computer [sorgen] dafür, dass der Krieg und seine Spiele selbst sich verändern, was man Fortschritt nennen könnte, wenn man unbedingt wollte«.43 Das sonderbare Wechselverhältnis zwischen Krieg und Spiel nimmt dabei im nuklearen Zeitalter geradezu groteske Züge an, indem das Kriegsspiel – als militärisches Planspiel – in Gestalt abstrakter Kartenansichten zum Sinnbild einer ›endzeitlichen Prophezeiung‹ mutiert.44 Im Zuge der Computerisierung entwickelt sich neben dem militärischen Planspiel eine zweite Variante militärischer Nutzung spielerischer Szenarien: Trainingssimulatoren. Unter diesen in der Entwicklungslinie von Flugsimulato-
tung als ›sinnfreies Tun‹ disqualifiziert, vielmehr grenzt sich Hellwig deutlich gegen andere Zerstreuungsspiele ab. Vielmehr geht es ihm um die ›Versinnlichung‹ der Regeln der Kriegskunst« (R. Nohr: »Krieg auf dem Fußboden, am grünen Tisch und in den Städten. Vom Diskurs des Strategischen im Spiel«, S. 32). 42 K. Lischka: »Schöne Spiele, falsche Freunde. Theorie und Praxis des Kriegs in Computerspielen«, S. 61. 43 M. Warnke: »Computer-Kriegs-Spiele. Oder: eine Kultur der Gewalt«, S. 380. 44 Vgl. hierzu auch Höltgen, Stefan: »Spielen (in) der atomaren Situation. Atomkriegszenarien im 8- und 16-bit-Computerspiel«, in: Rudolf Thomas Inderst/Peter Just (Hg.), Contact – Conflict – Combat. Zur Tradition des Konfliktes in digitalen Spielen, Boizenburg: vwh 2011, S. 73-92: »In der Reduktion des komplexen politischen Geschehens in der Epoche des Kalten Krieges auf Einzelaktionen und militärische und ideologische Strukturen spiegelt sich zwar vielleicht nicht ›die Wirklichkeit‹, jedoch vollzieht gerade die Reduktion in der Virtualität des Computerspiels jene Reduktion in den Gehirnen der Ideologen und Kalten Krieger nach, die zu den Absurditäten jenes 45 Jahre schwelenden Konflikts geführt hat. Die Absurditäten sind sozusagen im Programmcode festgehalten und können als ›lebendige Artefakte‹ jederzeit spielerisch nachvollzogen werden. Und je abstruser die darin lancierten Spielszenarien den heutigen Spielern erscheinen, desto sicherer ist dies ein Indiz dafür, dass wir es mit Geschichte zu tun haben« (Ebd.: S. 90-91).
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ren stehenden Programmen45 hat insbesondere die Panzersimulation BRADLEY TRAINER (1980) Berühmtheit erlangt. Nicht nur ist der BRADLEY TRAINER eines der ersten Beispiele für »Military Modding«46 – das Programm ist eine Modifikation des Arcade-Klassikers BATTLEZONE –, der BRADLEY TRAINER markiert gleichzeitig einen ersten Fall von »video game war resistance«47, da der AtariMitarbeiter und BATTLEZONE-Programmierer Ed Rodberg lautstark Protest gegen eine militärische Nutzung seines Spiels äußerte.48 Den vorläufigen ›Höhepunkt‹ einer Verflechtung von militärischen und zivilen Kriegsspielen stellt schließlich AMERICA’S ARMY dar, ein von der US Army entwickelter Team-Based First-Person Shooter, der als kostenloses Online-Spiel angeboten wird. In dem 2002 veröffentlichten (und seitdem kontinuierlich weiterentwickelten) Programm treten auf virtuellen Kriegsschauplätzen zwei Teams in verschiedenen Spielmodi (z.B. die Eroberung bzw. Verteidigung eines Waffenlagers) gegeneinander an – wobei bereits bei der Teamwahl AMERICA’S ARMY seinen Status als Rekrutierungstool entlarvt, indem es ein geradezu paradoxes System präsentiert. Denn egal für welches Team sich der Spieler entscheidet, er spielt in jedem Fall einen US-amerikanischen Soldaten. Oder genauer: das eigene Team wird (auf dem eigenen Bildschirm) grafisch stets als ein US-Team dargestellt, das gegnerische Team stets als nicht-amerikanische Gruppierung – und umgekehrt. AMERICA’S ARMY wird häufig als ›realistischere‹ Variante von populären Kriegsspielen wie CALL OF DUTY gesehen. Doch auch wenn der ›Realismusgrad‹ (etwa bei der Waffenauswahl) höher als bei vielen Unterhaltungsspielen ausfallen mag, verfehlt diese Einschätzung doch letztlich den Status von AMERICAS’S ARMY als Serious Game. Wie etwa Anders Sundnes Løvlie49 in sei-
45 Vgl. C. Pias: Computer Spiel Welten, S. 62-66, sowie weiterführend Reisman, Ron: »Eine kurze Einführung in die Kunst der Flugsimulation«, in: Gottfried Hattinger et al. (Hg.), Ars Electronica. Bd. II: Virtuelle Welten, Linz: Veritas 1990, S. 159-169; Schröter, Jens: Das Netz und die virtuelle Realität. Zur Selbstprogrammierung der Gesellschaft durch die universelle Maschine, Bielefeld: transcript 2004, S. 152-276. 46 Huntemann, Nina B./Payne, Matthew Thomas: »Introduction«, in: Dies. (Hg.), Joystick Soldiers. The Politics of Play in Military Video Games, New York/ London: Routledge 2010, S. 8. 47 Bogost, Ian: »Foreword«, in: Nina B. Huntemann/Matthew Thomas Payne (Hg.), Joystick Soldiers. The Politics of Play in Military Video Games, New York/London: Routledge 2010, S. xiii. 48 Vgl. ebd.. 49 Løvlie, Anders Sundnes: »The Rhetoric of Persuasive Games. Freedom and Discipline in America’s Army«, in: Stephan Günzel/Michael Liebe/Dieter Mersch (Hg.), Confer-
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ner aufschlussreichen Analyse aufzeigt, ist AMERICA’S ARMY weit entfernt davon, eine ›realistische‹ Simulation zu sein, etwa im Hinblick auf eine ›unnatürlich‹ schnelle Fortbewegungsgeschwindigkeit der Avatarfigur.50 Das Problematische an AMERICA’S ARMY ist somit weniger die Eignung des Programms als ›Schlachtfeld-Simulator‹ – allein schon die Steuerung per Tastatur und Maus, die im Bewegungsablauf wenig mit einem tatsächlichen Waffengebrauch gemeinsam hat, macht es zu einem schlechten Exergame. Vielmehr muss das Spiel vor allem deshalb kritisch angesehen werden, weil es eine weitgehend ›realistische‹ Simulation militärischer Hierarchien darstellt. Neben einer – für militärische Anwendungen typischen – geringen (narrativen) Kontextualisierung der Handlungsanweisungen für die einzelnen Missionen51, manifestiert sich dies insbesondere in einem ausgeprägten System von Sanktionen (z.B. langen RespawnZeiten), die bei Verstößen gegen die Spielregeln – sozusagen bei Befehlsverweigerungen – auftreten. »What further separates the rule system of AMERICA’S ARMY from similar games is that in AMERICA’S ARMY the rules are not just rules, they are also representations of something else: the rules by which the real US Army operates. This representation portrays the army as a strictly law-abiding institution.«52
In seiner Funktion als Software zur Rekrutierung53 geht es bei AMERICA’S ARMY also letztlich weniger um ein Training von motorischen Reflexen, sondern viel-
ence Proceedings of the Philosophy of Computer Games 2008, Potsdam: Potsdam University Press 2008, S. 70-90. 50 Vgl. ebd. S. 78-80. 51 Vgl. Korn, Oliver: »Potenziale und Fallstricke bei der spielerischen Kontextualisierung von Lernangeboten«, in: Maren Metz/Fabienne Theis (Hg.), Digitale Lernwelt – Serious Games, Bielefeld: Bertelsmann 2011, S. 16. 52 A. S. Løvlie: »The Rhetoric of Persuasive Games. Freedom and Discipline in America’s Army«, S. 83. 53 Besonders erfolgreiche Spieler werden von der US Army zwecks Anwerbung kontaktiert. Vgl. Huntemann, Nina B.: »Interview with Colonel Casey Wardynski«, in: Dies./ Matthew Thomas Payne (Hg.), Joystick Soldiers. The Politics of Play in Military Video Games, New York/London: Routledge 2010, S. 178-188; Payne, Matthew Thomas: »Interview with Rachel Hardwick«, in: Nina B. Huntemann/Ders. (Hg.), Joystick Soldiers. The Politics of Play in Military Video Games, New York/London: Routledge 2010, S. 122-128.
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mehr um eine »doctrinal procedural rhetoric«54 im Hinblick auf militärische Ordnungen.55 AMERICA’S ARMY sollte somit – wie es u.a. Randy Nichols vorgeschlagen hat – eher als Advergame denn als ›typisches‹ Serious Game gesehen werden: »Serious games are used to teach skills and responses to situations; advergames focus these gaming responses to create a positive view of the brand«.56 Auch wenn AMERICA’S ARMY gerne als Beispiel für die starke Verschränkung von Computerspiel und Krieg – oder besser: von Computerspiel- und Militärindustrie – angeführt wird, sollte somit nicht übersehen werden, dass sich dieses Rekrutierungswerkzeug in Spielform deutlich von erfolgreichen Mainstreamtiteln wie CALL OF DUTY unterscheidet – nicht nur wegen seines problematischen ideologischen Hintergrunds, sondern gerade auch aufgrund seines ›spezifischen‹ Simulationscharakters.
Z WEITER D ISCLAIMER – W AS MAN VON C OMPUTERSPIELEN K RIEG LERNEN KANN
NICHT ÜBER DEN
Ein Blick auf die Geschichte der militärischen Nutzung spielerischer Szenarien zeigt, dass es im Wesentlichen »zwei Traditionslinien«57 gibt, die »noch heute [bestimmen], wie Krieg als abstraktes Konzept in manchen Spielen behandelt und wie Krieg in anderen ganz einfach gespielt wird«.58 Diese unterschiedlichen Entwicklungslinien sollen im Folgenden aufgegriffen werden, indem im Hinblick auf populäre Unterhaltungsspiele einerseits von Strategie-Kriegsspielen
54 N. B. Huntemann/M. T. Payne: »Introduction«, S. 7. 55 Vgl. Nieborg, David B.: »Empower Yourself, Defend Freedom! Playing Games During Times of War«, in: Marianne van den Boomen et al. (Hg.), Digital Material. Anchoring New Media in Daily Life and Technology, Amsterdam: Amsterdam University Press 2009, S. 35-48; Singer, Peter W.: »Meet the Sims ... and Shoot Them« 2011, http://www.brookings.edu/articles/2010/0222_video_game_warfare_sin ger.aspx. 56 Nichols, Randy: »Target Acquired. America’s Army and the Video Games Industry«, in: Nina B. Huntemann/Matthew Thomas Payne (Hg.), Joystick Soldiers. The Politics of Play in Military Video Games, New York/London: Routledge 2010, S. 45. 57 K. Lischka: »Schöne Spiele, falsche Freunde. Theorie und Praxis des Kriegs in Computerspielen«, S. 59. 58 Ebd..
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und andererseits von Action-Kriegsspielen gesprochen wird.59 Die unterschiedlichen Attraktionsmomente der Strategie- und Action-Kriegsspiele lassen sich – neben den verschiedenen Spiellogiken – dabei vor allem anhand der Bildästhetiken der beiden Genres veranschaulichen. Während Strategie-Kriegsspiele – wie ihre an Kartenansichten entwickelten Vorgänger – ihre Spielwelten in der Regel aus einer Übersichtsperspektive zeigen, die die Schlachtfeldansicht abstrahiert60, geht es in Action-Kriegsspielen um eine möglichst immersive Darstellung. Der Spieler tauscht – wie im Fall der Trainingssimulatoren – die ›Feldherrenperspektive‹ mit einer figurengebundenen Darstellung, agiert mit einem First-Personoder Third-Person-Avatar ›mitten im Kriegsgeschehen‹. Sowohl die Strategie- wie auch die Action-Kriegsspiele werden – wie einleitend dargelegt – im öffentlichen Diskurs nicht selten als gefährlich oder problematisch eingestuft. Dass dabei die Vorwürfe zwischen einer vermeintlich distanzierenden Abstraktion und einer gewaltverherrlichenden Spektakelhaftigkeit oszillieren, kann mit Hilfe der geschilderten Entwicklungsgeschichte der Kriegsspiele erklärt werden. Sebastian Detering merkt im Hinblick auf diese zwei Formen von Computerkriegsspielen an: »Das Actionspiel muss darstellen, was es nicht ist – körperliche Interaktion […] Das Strategiespiel dagegen ist, was es darstellt: die Interaktion mit Darstellungen. Das vermutete Erleben des modernen Feldherren, wie es uns von Kindesbeinen an durch Zeitschriften, Romane, Kriegsfilme, Strategiespiel und TV-Serien vermittelt wird, unterscheidet sich in nichts vom faktischen Erleben des Strategiespielers: Man starrt auf Karten.«61
Gerade die an Planspiele angelehnten Strategie-Kriegsspiele müssen somit gewissermaßen als ›Sonderfall‹ gesehen werden. So geht es hier nicht – wie es bei Serious Games häufig der Fall ist – einfach um die Abbildung einer nicht-
59 Obgleich sich zeigen muss, dass diese (heuristische) Zweiteilung gerade in zeitgenössischen Computerspielen durch stete Hybridbildungen (etwa in Form von TaktikShootern) stetig unschärfer wird. Vgl. Klevjer, Rune: »The Way of the Gun. Die Ästhetik des Singleplayer First-Person-Shooters«, in: Benjamin Beil et al. (Hg.), It’s all in the Game. Computerspiele zwischen Spiel und Erzählung, Marburg: Schüren 2009, S. 53-72. 60 Zu den verschiedenen Varianten dieser Übersichtsperspektiven, insbesondere in Form parallelperspektivischer Darstellungen, vgl. Beil, Benjamin/Schröter, Jens: »Die Parallelperspektive im Digitalen Bild«, in: ZfM. Zeitschrift für Medienwissenschaft 4/1 (2011), S. 133-137. 61 S. Detering: »Wohnzimmerkriege. Vom Brettspiel zum Computerspiel«, S. 108.
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spielerischen ›ernsten‹ Anwendung innerhalb eines spielerischen Kontextes. Vielmehr ist das Strategie-Kriegsspiel als Unterhaltungsspiel die ›Simulation einer Simulation‹, die populäre Variante eines bereits in abstrakte Spielregelwerke gegossenen Vorbilds.62 Auch wenn der Vorwurf einer Verharmlosung des Krieges durch Planspiele vor diesem Hintergrund keineswegs entkräftet werden soll, so sollte doch berücksichtigt werden, dass die ›Obszönität‹ einer abstraktverspielten Kriegsdarstellung keine ›Erfindung‹ der populären Computerspiele ist. Wenn etwa Hartmut Gieselmann63 argumentiert, dass »in diesen Simulationen die Opfer fast vollständig ausgeblendet« würden und dass »eine Entmenschlichung des Gegners« stattfände, »wodurch moralische Bedenken, ihn zu töten, abgebaut« würden64, so darf hier fraglich erscheinen, ob eine (massen-)medial weit verbreitete ›Kulturtechnik Planspiel‹ wirklich derart wirkmächtig ist. Während bei Strategie-Kriegsspielen die (zu) große Distanz zum Schlachtfeld kritisch gesehen werden kann, scheint bei Action-Kriegsspielen gerade das Fehlen dieser Distanz problematisch. So findet sich der Spieler durch eine Avatar-Steuerung sozusagen direkt im Kriegsgeschehen wieder, oft in der FirstPerson-Perspektive, die durch die Kopplung von Spieler- und Avatarblick eine größtmögliche Steigerung des immersiven Spielraumerlebens zu realisieren versucht.65 Da gerade dieser immersive Charakter in vielen zeitgenössischen Spielen durch einen Trend zum Fotorealismus noch verstärkt wird, führe er, so die Verfechter der ›Killerspiel‹-These, zu einer Abstumpfung und zum Verlust der kritischen Distanz zum Kriegsgeschehen durch »permanent[e] symbolisch[e] Gewaltakt[e]«.66 Allerdings zeigt sich bei genauerer Betrachtung der ActionKriegsspiele ein gleichsam ambivalenter ›Realismusgrad‹, der den tatsächlichen Simulationscharakter dieser Spiele fraglich erscheinen lässt. So ermöglicht die immer leistungsfähigere Hardware zwar inzwischen eine physikalisch korrekte Zerlegung des gegnerischen Kriegsgeräts mit fotorealistisch modellierten Waffen – doch wird dieser gesteigerte ›Realismus‹ spielmechanisch nur sehr begrenzt aufgegriffen oder gar konterkariert. So können die Avatare der meisten
62 Vgl. hierzu wiederum insbesondere die pointierten Ausführungen Stefan Höltgens zu nuklearen Planspielen (siehe Fußnote 44). 63 H. Gieselmann: »Aktion ›Sauberer Bildschirm‹. Wie der Krieg hinter seinem virtuellen Abbild verschwindet«, S. 50-58. 64 Ebd.: S. 54. 65 Vgl. Beil, Benjamin: First Person Perspectives. Point of View und figurenzentrierte Erzählformen im Film und im Computerspiel, Münster: Lit 2010, S. 78-105. 66 J. Süselbeck: »Kampf als inneres Erlebnis? Zur emotionalen Wirkung der Kriegsdarstellung in Computerspielen und ihren Vorbildern«, S. 16.
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Action-Kriegsspiele auch nach mehreren Dutzend Treffern noch munter über das Schlachtfeld rennen oder sich zumindest in Deckung begeben, um sich binnen weniger Sekunden per Health-Pack oder automatischer Regeneration auf wundersame Art und Weise zu heilen. Natürlich sind die Action-Kriegsspiele deswegen keineswegs als unproblematisch anzusehen. Allerdings sperrt sich ein solcher von CALL OF DUTY und anderen erfolgreichen Spielreihen zelebrierter ›Spektakel-Realismus‹ deutlich gegen vermeintlich einfache Ursache-WirkungZuschreibungen – denn als ›Trainingssimulator für Gewaltakte‹ sind die ActionComputerspiele denkbar ungeeignet. Was kann man also von Computerspielen über den Krieg lernen? Als Exergames erscheinen die Action-Kriegsspiele – wie bereits für das Advergame AMERICA’S ARMY argumentiert wurde – nur sehr eingeschränkt brauchbar, obgleich natürlich (wie generell bei den meisten Action-Spielen) Verbesserungen der Motorik sowie – dies gilt dann ebenso für Strategie-Kriegsspiele – eine Steigerung der Konzentrations- und Aufmerksamkeitsfähigkeit möglich sind.67 Darüber hinaus ist ein gerade in den letzten Jahren vermehrt diskutierter Bereich die Vermittlung von geschichtlichem Wissen durch populäre Kriegsspiele68, werden doch die meisten virtuellen Schlachten vor ›historischen Hintergründen‹ ausgetragen.69 Johannes Breuer70 weist allerdings darauf hin, dass sol-
67 L. Breitlauch: »Spielfreude als erfolgreiche Lern- und Therapiemethode«, S. 183. 68 Vgl. Schwarz, Angela: »Computerspiele – ein Thema für die Geschichtswissenschaft?«, in: Dies. (Hg.), ›Wollten Sie auch immer schon einmal pestverseuchte Kühe auf ihre Gegner werfen?‹ Eine fachwissenschaftliche Annäherung an Geschichte im Computerspiel, Münster: Lit 2010, S. 7-28; Bender, Steffen: Virtuelles Erinnern. Kriege des 20. Jahrhunderts in Computerspielen, Bielefeld: transcript 2012; Heinze, Carl: Mittelalter Computer Spiele: Zur Darstellung und Modellierung von Geschichte im populären Computerspiel, Bielefeld: transcript 2012; Appel, Daniel et al. (Hg.): Welt|Kriegs|Shooter: Computerspiele als realistische Erinnerungsmedien?, Boizenburg: vwh 2012. 69 Schauplätze sind meist der Zweite Weltkrieg und der Vietnamkrieg (vgl. A. Schwarz: »Computerspiele – ein Thema für die Geschichtswissenschaft?«, S. 10-13). Militärische Konflikte der jüngeren Geschichte wie etwa die Kriege im Irak oder in Afghanistan werden seltener als Schauplatz genutzt und meist durch fiktive Szenarien ersetzt – etwa im Form eines Dritten Weltkriegs in der CALL OF DUTY: MODERN WARFAREReihe. 70 J. Breuer: »Brocolli-Coated Chocolate? The Educational Potential of Entertainment Games«, S. 87-96.
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che »references to historical events or characters, places and objects«71 in der Regel nur als Methode eines Tangential Learning funktionieren, d.h. als Anstoß oder Motivation für eine weiterführende Auseinandersetzung mit den jeweiligen Themen in anderen (Lern-)Medien. Ein dritte Form des Wissenstransfers durch Computerkriegsspiele, die hier genannt werden soll – und die wiederum auch in der ›Killerspiel‹-Debatte vielfach aufgegriffen wird –, stellt schließlich die (gewollte oder ungewollte) Vermittlung bestimmter politischer bzw. ideologischer Positionen dar. Für AMERICA’S ARMY wurde diese durchaus problematische Facette des Kriegsspiels bereits benannt – und auch wenn die populären Computerkriegsspiele ihre narrativen Szenarien nicht selten ironisch brechen, lässt sich nicht bestreiten, dass eine Vielzahl von Titeln den Typus des tapferen Soldaten glorifiziert – oder etwas weniger problematisierend formuliert: Ein massenmedial erfolg- wie einflussreiches ›Anti-Kriegsspiel‹ hat die Computerspielindustrie bislang noch nicht hervorgebracht. Und so finden auf dem Spielemarkt zwar genretypische Trash-Produktionen mit solch vielsagenden Namen wie SNIPER ELITE: NAZI ZOMBIE ARMY (2013), innovative Projekte, wie beispielsweise die Kriegsreporter-Simulation WARCO (201372), kommen hingegen häufig nicht über einen Prototypen-Status hinaus. Zwar zeigen auch kommerziell erfolgreiche Spiele wie HOMEFRONT73 und insbesondere die METAL GEAR SOLID-Reihe74 (zumindest in ihren Zwischensequenzen) durchaus eine kritische, differenzierte Haltung gegenüber kriegerischen Konflikten. Allerdings handelt es sich letztlich nur um leise subversive Untertöne, die vereinzelt zwischen den vom audiovisuellen Spektakel beherrschten interaktiven Action-Sequenzen auszumachen sind. Doch auch wenn die spielerische Antwort auf einen Film wie APOCALYPSE NOW (USA 1979, R: Francis Ford Coppola) noch auf sich warten lässt, muss auch hier die Frage, welche konkreten Formen der Wissens- und Kompetenzvermittlung nun tatsächlich stattfinden, wiederum stets für den jeweiligen Ein-
71 Ebd. S. 88. 72 WARCO lässt den Spieler in die Rolle eines Kriegsreporters schlüpfen, der Berichte aus einem Krisengebiet liefern soll. Die genretypische Waffe wird hier durch die Kamera, die kämpferische Auseinandersetzung durch die ›kritische‹ Dokumentation ersetzt. Das mit Unterstützung des Journalisten Tony Maniaty entwickelte Programm wurde bereits 2011 angekündigt (vgl. http://www.bbc. co.uk/news/technology-1516 6663), allerdings bis heute nicht veröffentlicht. 73 Ernst, Nina: »Spiel mir das Lied vom Krieg« 2011, http://www.taz.de/!67356/ 74 Vgl. T. Higgin: »›Turn the Game Console off Right Now!‹ War, Subjectivity, and Control in Metal Gear Solid 2«, S. 252-271.
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zelfall genauer untersucht werden. Denn so ›ideologisch fragwürdig‹ viele Kriegsspiel-Narrationen sein mögen, so belanglos sind sie häufig auch. Was bleibt, ist somit in vielen Fällen weniger ein gesteigertes Interesse des Spielers an der ›konkreten Konfliktsituation‹, sondern vielmehr eine gewisse Faszination für spektakulär inszenierte Kriegstechnik, wie etwa Andreas Rosenfelder anschaulich beschreibt: »All die am Bildschirm geführten Sternenkriege, Panzerschlachten, Mann-gegen-MannNahkämpfe mit Messer, Revolver oder Flammenwerfer bürgen dafür, dass auch große Teile einer scheinbar vollkommen hedonistischen Spaßgeneration in elektronischen Stahlgewittern gestählt wurden. So kommt es, dass sich Leute, die in ihrer Wehrdienstverweigerung unter Berufung auf Mahatma Gandhi oder Erich Maria Remarque den Dienst an der Waffe ablehnten, sich ziemlich genau mit russischen Scharfschützengewehren, Bazookas und Eierhandgranaten auskennen.«75
Vor diesem Hintergrund kann es kaum überraschen, dass eine kürzlich an der Universität Hohenheim durchgeführte empirische Studie im Fazit verkündet: »Shooter-Spieler sind keine Militaristen!« So konnte kein nennenswerter Zusammenhang zwischen dem Spielen von Kriegsspielen und der Einstellung zum Militär nachgewiesen werden, vielmehr waren Faktoren wie Alter oder Bildung ausschlaggebend.76
K RIEGSSPIELE II: S ERIOUS G AMING Die ›Traditionslinien‹ von Strategie- und Action-Kriegsspiel aufgreifend, identifiziert Sebastian Detering – unter Rückgriff auf das Intermedialitätskonzept von Bolter und Grusin77 – drei ästhetische Strategien des populären Computerkriegsspiels: •
Erstens, eine Form der Remediation, die die Traditionslinie der Planspiele weiterführt. »Das Computerspiel repräsentiert (und rahmt, schachtelt dabei)
75 Rosenfelder, Andreas: Digitale Paradiese. Von der schrecklichen Schönheit der Computerspiele, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008, S. 103. 76 Vgl. https://www.uni-hohenheim.de/thema.html?&tx_ttnews%5Btt_news%5D= 1022 0&cHash=2b49fe2c7139 ff28a065478bed613c51 77 Bolter, Jay David/Grusin, Richard: Remediation. Understanding New Media, Cambridge, Mass.: MIT Press 1999.
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das Brettspiel eins zu eins samt virtuellen Spielbrettern, Spielern, Figuren und sogar Würfeln (so bei vielen Risiko-Klonen)«.78 Zweitens, eine Betonung der immersiven Potenziale (Immediacy) der Simulation des Kriegsgeschehens in der Tradition der Trainingssimulatoren. »Das Computerspiel macht sein Interface durchsichtig; Sound und Grafik streben ein intensiv-unmittelbares Erleben des Schlachtfeldes an«.79 Drittens, eine Strategie der Hypermediacy – »[d]as Computerspiel betont und goutiert seine Medialität; Menüs und Displays versuchen die materiellen und ästhetischen Qualitäten der Medien der simulierten Epoche zu imitieren«.80
Während die stärker abstrahierenden sowie die immersiven Aspekte des zeitgenössischen Computerkriegsspiels bereits diskutiert wurden, soll sich der abschließende Teil dieses Beitrags den ästhetischen Strategien einer Hypermediacy zuwenden, insbesondere deren reflexiven Potenzialen (im Sinne eines einleitend beschriebenen Serious Gaming bzw. Meta-Gaming). Anders als bei den vorangegangenen Betrachtungen soll hierbei eine schlaglichtartige, materialnahe Analyse von drei Fallbeispielen im Vordergrund stehen, einerseits vom StrategieKriegsspiel (R.U.S.E., TOY SOLDIERS: COLD WAR), andererseits vom ActionKriegsspiel (CALL OF DUTY: BLACK OPS) ausgehend.
Z WISCHEN D ISTANZ UND A FFEKT I: R.U.S.E. UND T OY S OLDIERS : C OLD W AR Die Kritik an der Übersichtsperspektive der Strategie-Kriegsspiele bezieht sich vor allem auf eine (buchstäblich) distanzierende Sicht auf das Kriegsgeschehen. Oder wie es Andreas Rosenfelder formuliert: »Aus der Draufsicht wirken alle Kriegsgeräte wie Abarten von Kinderkriegsspielzeug«.81 Die Darstellungen schaffen die »Illusion [e]iner Plan- und Kalkulierbarkeit«82, die mehr mit einer Partie Schiffeversenken oder Risiko vergleichbar scheint als mit tatsächlichen
78 S. Detering: »Wohnzimmerkriege. Vom Brettspiel zum Computerspiel«, S. 98. 79 Ebd.. 80 Ebd.. 81 A. Rosenfelder: Digitale Paradiese. Von der schrecklichen Schönheit der Computerspiele, S. 115. 82 G. Paul: Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, S. 11.
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kriegerischen Auseinandersetzungen – auch wenn diese Illusion im Computerspiel meist durch digitale Effektspektakel angereichert wird. Ein solcher Vorwurf mag auf den ersten Blick auch auf das StrategieKriegsspiel R.U.S.E. zutreffen, das sein Spielgeschehen aus der typischen GodView-Übersichtsperspektive83 eines entkörperlichten, über dem Schlachtfeld schwebenden Blickpunkts zeigt. Die Spielansicht präsentiert aufwändig inszenierte Schlachtzüge in Landschaftspanoramen, die zwar einerseits ›realistisch‹ genug sind, um das zerstörerische Spektakel der kriegerischen Auseinandersetzungen zu vermitteln, andererseits aber durch die Vogelperspektive genug Distanz zum blutigen Geschehen auf dem Schlachtfeld bieten. Abbildung 1: R.U.S.E.
Quelle: Screenshots des Autors
Was nun allerdings an R.U.S.E. bemerkenswert ist, zeigt sich gerade nicht in den Panoramen, sondern in einer Art Hinterschreiten dieser Perspektive. Denn wenn der Spieler die Kamera weiter aus der Standardansicht heraus zoomt, wird nicht etwa ein entsprechend vergrößertes Landschaftspanorama dargestellt, sondern die vermeintliche God View entpuppt sich als Blick auf den Kartentisch einer militärischen Operationsbasis. Das Szenario ist bildlich paradox und das Spiel 83 In sogenannten God Games, wie POPULUS oder BLACK & WHITE, nimmt der Spieler nicht die Rolle einer Avatarfigur ein, sondern steuert aus einer entkörperlichten Übersichtsperspektive das Schicksal ›seiner‹ Spielfiguren. »Die Übersichtsperspektive korrespondiert mit den Handlungsmöglichkeiten des Spielers. […] Der Spieler lenkt nicht mehr die Geschicke eines einzelnen, es werden vielmehr die Handlungen eines Schöpfers übernommen, indem eine Welt gestaltet wird« (Neitzel, Britta: »Die Frage nach Gott oder: Warum spielen wir eigentlich so gerne Computerspiele?«, in: Alf Mentzer/Ulrich Sonnenschein (Hg.), Die Welt der Geschichten. Kunst und Technik des Erzählens, Frankfurt a.M.: Fischer 2007, S. 318; vgl. hierzu auch Adams, Ernest: »What’s Next for God Games?« 2008, http://www.designersnotebook.com/Lectu res/God_Games/-god_games.htm).
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versucht erst gar nicht, den ›lebendigen Kartentisch‹ durch futuristische Technologie zu erklären. Vielmehr wird über die sonderbare Verschränkung zwischen Kartentisch und God View gerade die kritische Grenze zwischen virtuellem Schlachtfeld und immersiven Kriegsdarstellungen bildästhetisch verhandelt. Die hyperrealistische Fiktion der Spielwelt wirft sozusagen einen Blick auf ihre eigenen Darstellungsabstraktionen, indem der ›Realismusgrad‹ der Spielwelt zu einer Frage der Zoomstufe wird. Die strategische Perspektive auf das Schlachtfeld wird somit nicht durch ihre Zusammenschau mit (vermeintlich) ›realitätsnäheren‹ Kriegsbildern kritisiert, sie entlarvt sich vielmehr selbst durch den paradoxen Rückfall von einem ›PseudoSpektakel-Realismus‹ in den gänzlich abstrakten Kartenmodus. Eine ironische Überhöhung eines solchen Spiels mit abstrahierenden und hyperrealistischen Ansichten findet sich auch im Spiel TOY SOLDIERS: COLD WAR, das eine ähnliche bildästhetische Strategie nutzt, jedoch ›klassische‹ Kriegsspieldarstellungen nicht anhand des Motivs des Kartentisches, sondern vielmehr anhand der dazugehörigen ›Einheiten‹ reflektiert – durchaus in der Tradition von H.G. Wells berühmten Kriegsspiel-Baukasten Little Wars.84 In der Übersichtsperspektive des Spiels wirken Kampfeinheiten nicht nur wie Kinderspielzeug, sie sind Kinderspielzeug – das jedoch wiederum durch (mehr oder weniger) ›realistische‹ Animationen ›belebt‹ wird. So ist das Szenario von Anfang an wesentlich stärker verfremdet, doch auch hier wird je nach Zoomstufe die tatsächliche Umgebung – diesmal ein Kinderzimmer – ausgeblendet Abbildung 2: T OY SOLDIERS: COLD WAR
Quelle: Screenshots des Autors
Zwar kann eine Form der Verharmlosung des Kriegsgeschehens sowohl im Falle von R.U.S.E. wie auch bei TOY SOLDIERS: COLD WAR nicht bestritten werden – oder anders formuliert: Beide Titel sind weit davon entfernt, ›Anti-Kriegsspiele‹
84 Vgl. R. F. Nohr: »Krieg auf dem Fußboden, am grünen Tisch und in den Städten. Vom Diskurs des Strategischen im Spiel«, S. 36-39.
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zu sein.85 Was R.U.S.E. wie auch TOY SOLDIERS: COLD WAR jedoch auszeichnet, ist ein bildästhetisches Bewusstsein für den ›obszönen‹ Status ihrer künstlichen, abstrakten Spielfeldansichten – ein Bewusstsein, das sich zwar nicht in einer subversiven Form, aber zumindest in einer selbstreflexiven Oszillation zwischen Schlachtfeldpanorama und Karten- bzw. Spielfeldansicht manifestiert.
Z WISCHEN D ISTANZ UND A FFEKT II: C ALL OF D UTY : B LACK O PS Die interaktive Sequenz des elften Levels von CALL OF DUTY: BLACK OPS, die Mission »WMD« (Weapons of Mass Destruction), beginnt mit einer für einen First-Person-Shooter höchst ›untypischen‹ Ansicht: dem Bild eines Überwachungsmonitors an Bord eines Aufklärungsflugzeugs. Die monochrome, flimmernde Anzeige in der Bildmitte ist gesäumt von Schaltern und Kontrollanzeigen, sichtbar sind zudem die beiden behandschuhten Hände des First-PersonAvatars, die die Regler und Knöpfe der Apparatur bedienen. Der Monitor zeigt aus der Vogelperspektive einen Trupp Soldaten, der eine bergige Waldlandschaft durchquert, wobei eine Art Nachtsicht-Modus die Menschen, Fahrzeuge und Teile der Vegetation weiß strahlend hervorhebt. Zudem ist die Darstellung durch verschiedene HUD-Elemente86 überlagert, u.a. ein Fadenkreuz und eine Anzeige des Zoomfaktors der Aufklärungskamera. Die Aufgabe des Spielers besteht nun darin, die Gruppe der Soldaten durch das von feindlichen Einheiten kontrollierte Gebiet zu lotsen. Hierzu werden mit dem Fadenkreuz Wegpunkte oder Angriffsziele markiert. Kommt es zu Kampfhandlungen, findet jedoch ein abrupter Wechsel der Spieldarstellung statt. Eingeleitet wird dieser Übergang durch eine kurze Sequenz, bei der die Kamera durch die Wolkendecke fliegt und mit enormer Geschwindigkeit in die bis dahin nur auf dem Monitor präsente Berglandschaft hinabstößt – um schließlich in der Sicht eines zweiten First-Person-Avatars dieses Levels zu landen. Diese Perspektive entspricht im Wesentlichen bekannten Dar-
85 Dies ist wiederum im besonderen Maße auch der narrativen Dimension beider Spiele geschuldet. So präsentiert R.U.S.E. eine zwischen Einfalls- und Belanglosigkeit driftende Spionage-Story, die nie über angestaubte Genre-Standardsituationen hinausführt. TOY SOLDIERS: COLD WAR verzichtet gleich ganz auf eine Hintergrundgeschichte. 86 Als Head-Up-Display werden im Computerspiel Interface- oder Statusanzeigen bezeichnet, die über die Darstellung des virtuellen Raums gelegt sind.
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stellungskonventionen des zeitgenössischen First-Person-Shooters. Am unteren Bildschirmrand ragt mittig eine Waffe ins Bild, zudem sind die linke Hand und ein Teil des Unterarms sichtbar. Die HUD-Elemente – eine Munitionsanzeige und eine Minimap (rechts unten) – sind sparsam eingesetzt und in ihrer grafischen Gestaltung schlicht gehalten. Aus dieser Standardansicht kann zum besseren Zielen in eine zweite Darstellungsvariante umgeschaltet werden, die den Blick näher an das Zielfernrohr der Waffe führt. Die Waffendarstellung wird dabei zur Silhouette stilisiert, die die Ansicht auf dem Fluchtpunkt – dem Angriffsziel – zusammenzieht. Sind alle feindlichen Einheiten ausgeschaltet, springt die Darstellung zurück in die ›Cockpit-Ansicht‹. Das Wechselspiel von Truppenkoordination aus der Luft und Shooter-Gameplay am Boden beginnt von Neuem. Abbildung 3: C ALL OF DUTY: BLACK OPS
Quelle: Screenshots des Autors
Auch wenn das WMD-Level von BLACK OPS scheinbar schlicht den Wechsel von zwei First-Person-Perspektiven präsentiert, könnte die bildliche Wirkung der Luft- und Bodeneinsätze kaum unterschiedlicher ausfallen. Die Darstellung der
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Kampfhandlungen am Boden bedient sich etablierter Stilmittel des Shooters. Die First-Person-Perspektive funktioniert hier vor allem als »through-the-gunsights perspective«87 – in der Standard-Ansicht noch mit der Möglichkeit zur Navigation der Spielfigur, in der Zielfernrohr-Ansicht schließlich ganz den Tiefensog des Bildes zelebrierend. Die ›Cockpit-Perspektive‹ hingegen tilgt diese Attraktionsmomente des First-Person-Shooters weitgehend. Die Ansicht des Kampfgeschehens wird durch die Regler und Statusanzeigen von links und rechts eingeengt auf ein kleines, flimmerndes Monitorbild, dessen Darstellung einerseits aufgrund der Vogelperspektive, andererseits durch den stilisierten Nachtsicht-Modus wenig Tiefenreize bietet. Die Darstellung verflacht, der Tiefensog prallt geradezu an der virtuellen Monitorscheibe ab. BLACK OPS gelingt es im WMD-Level zwei Ästhetiken zeitgenössischer Kriegsbilder88 auf ungewöhnliche Weise zu verflechten – eine Verknüpfung, die gerade durch die durchgängige (oder vielmehr wiederkehrende) First-PersonPerspektive an Prägnanz gewinnt. Auf der einen Seite präsentiert sich die Kriegshandlung als blutiges Tiefensog-Bild, das die kämpferischen Auseinandersetzungen als viszerale Erfahrung inszeniert.89 Auf der anderen Seite findet sich eine verflachte und stilisierte ›Cockpit-Perspektive‹, die den Krieg als technisch mehrfach gefiltertes, depersonalisiertes – aber durch die First-Person-Perspektive dennoch seltsam figurengebundenes – Ereignis zeigt. BLACK OPS erzeugt somit in einer selbstreflexiven Bildmontage einen bemerkenswerten Kurzschluss zwischen distanzierenden und immersiven medialen Perspektiven der Kriegsbilder. Die Sequenz verweist damit nicht nur auf die unterschiedlichen Wurzeln des medialen Kriegsspiels, indem sie die Vogelperspektive des Planspiels mit der First-Person-View des Trainingssimulatoren verbindet, sie zitiert darüber hinaus insbesondere auch massenmediale Bildpraktiken. So ist die FirstPerson-Perspektive an die ›Embedded Cameras‹, die im ersten Irak-Krieg Berühmtheit erlangten, angelehnt; die ›Cockpit-Perspektive‹ hingegen verweist auf die ebenfalls durch den Irak-Krieg bekannten Bilder der Flugaufklärung, die
87 Jenkins, Henry/Squire, Kurt: »The Art of Contested Spaces«, in: Lucien King (Hg.), Game On. The History and Culture of Videogames, London: Laurence King 2002, S. 64. 88 Zwar spielt die Handlung in den 1960er Jahren, jedoch nutzt BLACK OPS die damals vorhandene Militärtechnik geschickt, um heutige Bildästhetiken der Kriegsberichterstattung (leicht verfremdet) zu emulieren. 89 Vgl. Curtis, Robin: »Embedded Images: Der Kriegsfilm als Viszerale Erfahrung«, in: Nach dem Film 7 (2005), http://www.nachdemfilm.de/content/embedded-images
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schon damals »jedem Fernsehzuschauer eine Feldherren-Perspektive«90 boten. Mit der durch die Wolkendecke stoßenden Kamera findet sich sogar noch ein drittes Zitat, das die ›Perspektive‹ einer smart bomb, einer »filmenden Bombe«91 aufgreift. Gerade durch die interaktive Verknüpfung dieser verschiedenen Bildansichten entlarvt BLACK OPS – trotz oder vielleicht gerade aufgrund seiner Spektakelhaftigkeit – diese bekannten Formen von Kriegsdarstellungen gewissermaßen in ihrer medialen Konstruiertheit.
E PILOG Wenn jede Konfliktsituation unmittelbar als Ausdruck militärischer oder gar gewaltverherrlichender Ideologien interpretiert wird, kann leicht übersehen werden, dass, »wenn man von lustigen Fingerübungen wie TETRIS einmal absieht, […] Computerspiele seit ihren Anfängen von der Ausschaltung des Gegners [handeln]. Verbessert haben sich lediglich die Konturen des Feindes – anfangs bloß ein armseliges Pixelhäufchen – und das Arsenal der Waffen.«92
Der Vorwurf an die meisten zeitgenössischen Computerkriegsspiele kann so allenfalls lauten, dass sie es bislang noch nicht vermocht haben, über die simplen Dramaturgien und Effekt-Spektakel ihrer medialen Vorbilder hinauszugehen, indem sie die distanzierende Bildästhetik des Kriegsspiels im Wesentlichen unreflektiert übernommen haben. Computerspiele mögen hinsichtlich ihrer nicht selten den militärischen Konflikt zelebrierenden Narrationen alles andere als unproblematisch sein. Jedoch erscheinen sie damit letztlich nicht bedenklicher als die Hollywood-Blockbuster, denen sie ihre banalen Narrationen und spektakulären Kulissen verdanken. Die insbesondere im Rahmen einer leidigen ›Killerspiel‹-Debatte häufig geäußerte Kritik an Kriegsspielen entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als übertrieben – und vor allem in den meisten Fällen als viel zu unspezifisch, denn sie übersieht die grundlegend verschiedenen Traditionslinien, die sich in zeitge-
90 A. Ehmann /H. Farocki: »Ernste Spiele. Eine Einführung«, S. 23. 91 Theweleit zit. n. A. Ehmann /H. Farocki: »Ernste Spiele. Eine Einführung«, S. 23. 92 A. Rosenfelder: Digitale Paradiese. Von der schrecklichen Schönheit der Computerspiele, S. 112.
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nössischen Computerkriegsspielen durch ihre historische Verflechtung mit militärischen Lern- und Trainingsprogrammen manifestieren. Im »medialen Abklatsch«93 des Krieges im Computerspiel zeigt sich somit vor allem eine Art grundlegenderes Problem insbesondere der fiktionalen Darstellungen des Krieges: »Vielleicht ist das, was am Krieg nachspielbar ist, tatsächlich nur genau das, was sich in der mündlichen Überlieferung mitteilen lässt – also der unerschöpfliche Vorrat an abenteuerlichen Plots und waffentechnischen Anekdoten.«94
Die in den vorangegangenen Zeilen diskutierten Kriegsschauplätze des zeitgenössischen Computerspiels zeigen, dass abseits von diesen Abenteuern und Anekdoten durchaus eine kritische oder zumindest selbstreflexive Auseinandersetzung mit der medialen Formatierung des Krieges stattfindet – auch wenn diese bislang eher im Detail zu finden ist: Indem abstrakte Übersichtsperspektiven mit immersiven Schlachtfelddarstellungen interaktiv verkoppelt werden, wird ein neuer – im besten Fall kritischer – Blick auf scheinbar vertraute Bildpraktiken des Krieges ermöglicht. Diese hier herausgearbeiteten ›kritischen Details‹ veranschaulichen die Notwendigkeit der zu Beginn dieses Textes geforderten Verschränkung von Arbeiten zum Game-Based Learning mit medienkulturwissenschaftlichen Ansätzen damit gleich in dreifacher Weise: erstens schlicht im Hinblick auf die Untersuchungsobjekte (›Unterhaltungsspiele als Lernspiele‹); zweitens zeigt sich eine historische Verflechtung von Planspielen und Simulatoren als Trainings- wie als Unterhaltungsmedien; und drittens schließlich betrifft die Verknüpfung die Analysemethoden selbst, denn während die Herausarbeitung der (audiovisuellen) Details im Wesentlichen durch medienästhetische Analysewerkzeuge geschieht, betrifft die weiterführende Interpretation der Ergebnisse Konzepte des Wissenstransfers durch Computerspiele. Zwar revolutionieren Spiele wie CALL OF DUTY: BLACK OPS, R.U.S.E. oder TOY SOLDIERS: COLD WAR populäre Kriegsdarstellungen letztlich nicht, es gelingt ihnen jedoch, bekannte Bildästhetiken – wenn auch nur punktuell – medi-
93 Paul, Gerhard: Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, München: Fink 2004, S. 477. 94 Ebd.; Vgl. hierzu auch die ›virtuellen Kriegstagebücher‹ im Sammelband Welt| Kriegs |Shooter. Z.B. Winkler, Philipp: »Geringer Widerstand«, in: Daniel Appel et al. (Hg.), Welt|Kriegs|Shooter: Computerspiele als realistische Erinnerungsmedien?, Boizenburg: vwh 2012, S. 20-23.
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enspezifisch zu hinterfragen. Solche Details mögen auf den ersten Blick unbedeutend erscheinen, doch wenn man sie ernst nimmt, mag man daraus durchaus etwas über den Krieg lernen.
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F ILME APOCALYPSE NOW (USA 1979, R: Francis Ford Coppola)
C OMPUTERSPIELE AMERICA’S ARMY (Reihe, US Army 2002-2011) BATTLEFIELD (Reihe, Electronic Arts 2002-2013, O: EA Digital Illusions CE) BATTLEZONE (Atari 1980, O: Ed Rodberg) BLACK & WHITE (Electronic Arts 2005, O: Lionhead Studios) CALL OF DUTY (Reihe, Activision 2003-2013, O: Infinity Ward/Treyarch) CALL OF DUTY: BLACK OPS (Activision 2010, O: Treyarch) CIVILIZATION (Micropose 1991, O: Sid Meier) COMMAND & CONQUER (Reihe, Electronic Arts 1995-2010, O: Westwood Studios) CRYSIS (Reihe, Electronic Arts 2007-2013, O: Crytek) HOMEFRONT (THQ 2011, O: Kaos Studios) METAL GEAR SOLID (Reihe, Konami 1998-2013, O: Kojima Productions) METAL GEAR SOLID 2: SONS OF LIBERTY (Konami 2001, O: Kojima Productions) POPULUS (Electronic Arts 1989, O: Bullfrog) R.U.S.E. (Ubisoft 2010, O: Eugen Systems) SNIPER ELITE: NAZI ZOMBIE ARMY (Rebellion Developments Ltd. 2013) TOY SOLDIERS: COLD WAR (Microsoft 2011, O: Signal Studios) WARCO (Defiant Development 2013)
Fallstudie 1: New Horizon – Das Spiel mit der Geschichte Historische Narration in Dokumentarfilm und Game
D OMINIK W ESSELY »History is our playground. Join us.« UBISOFT-CLAIM
History sells. Nach einem inzwischen zwei Jahrzehnte währenden Boom historischer Themen im Fernsehen hat nun auch die Games-Industrie die Vergangenheit für sich entdeckt. Die Ubisoft Adventure-Reihe ASSASSIN’S CREED, in der ein Mann namens Desmond Miles (der Avatar des Players) mit Hilfe eines Computers die genetischen Erinnerungen seiner Vorfahren durchläuft, dabei durch verschiedene Epochen reist und historisch verbürgten Persönlichkeiten wie Richard Löwenherz oder Leonardo da Vinci begegnet, ist mit fast 40 Millionen verkauften Exemplaren einer der größten kommerziellen Erfolge der vergangenen Jahre. Zum Spielspaß kommt für den Gamer nun also auch die Möglichkeit, gewissermaßen im Vorübergehen noch allerlei Wissenswertes über die Vergangenheit zu erfahren. Jedenfalls bewarb Ubisoft den zweiten Teil der ASSASSIN’S CREED-Reihe dezidiert mit dem Argument akribischer Recherche bei der Entwicklung des Games: So seien die Game Designer extra in die Städte Florenz, Venedig und Rom gereist, um vor Ort Maße und Aussehen der Stadtarchitekturen zu studieren und damit für ein Höchstmaß an Authentizität in der Gestaltung des Spieluniversums zu sorgen.1
1
Hausar, Gernot: »Der Stadt ihre Spieler. Historische Metropolen in Assassin’s Creed I und II«, http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/geschichte/lehrstuehle/viii-geschichte -der-fruehen-neuzeit/forschung/tagungen/fnz-videogames/vorl-prog/gernot-hausar/
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Natürlich hat es auch schon in früheren Jahren Games in historischen Settings gegeben, wie etwa die SIEDLER- oder die ANNO-Reihe. Mit ASSASSIN’S CREED aber wurde sowohl durch den Realismus der grafischen Darstellung als auch durch die Verknüpfung des Spieluniversums mit historischer Faktizität ein Maß an Immersion erreicht, das Gaming zum Zeitreise-Erlebnis zu machen verspricht. Es sind also wesentliche Fragen der Vermittlung historischen Wissens berührt, die nicht nur Gamer und Game-Developer betreffen, sondern auch die angestammten Felder der Medienproduktion, namentlich den Dokumentarfilm. Tatsächlich schien der Dokumentarfilm in den vergangenen beiden Jahrzehnten in der Aufarbeitung und Aufbereitung historischer Themen ein originäres Betätigungsfeld gefunden zu haben, das mitverantwortlich war für den Boom nonfiktionaler Formate vor allem im Fernsehen: Von Ägypten über die hellenistische zur römischen Antike, von der Zeit der Völkerwanderung über die Wikinger bis zu Karl dem Großen und den Staufern – der Erste und Zweite Weltkrieg seien hier bewusst ausgeklammert –, es gibt praktisch keine Epoche und keine historische Persönlichkeit, die in den letzten 20 Jahren nicht Gegenstand einer filmischen Dokumentation geworden ist. Sender wie die BBC in England oder ARD/ZDF in Deutschland haben Historie in Geschichten übersetzt, in Filmerzählungen, die die Vergangenheit massenattraktiv und für ein großes Fernsehpublikum aufbereiten. Dabei ist über die Jahre hinweg eine konsequente Annäherung des Dokumentarischen an fiktionale Erzählformen zu beobachten. Sie hält bis heute an. Der nun durch Serials wie ASSASSIN’S CREED ausgelöste Boom des Genres »History Adventure« wirft wesentliche Fragen auf sowohl hinsichtlich des Geschichtsverständnisses ihrer Macher als auch im Hinblick auf Fragen der Vermittlung von historischen Themen. Im Folgenden soll es deshalb darum gehen, die unterschiedlichen Strategien der Wissensvermittlung bei Developern von (Serious) Games wie bei Dokumentarfilmern zu analysieren, um anschließend den Versuch einer qualitativen Bewertung vorzunehmen: Welche Themen bzw. welche Formen der Vermittlung eignen sich für eine Darstellung im Dokumentarfilm? Welche als Szenario für ein Game? Exemplarisch dargestellt wird die Problematik anhand eines 360°-Projektes der Berliner Filmproduktion Filmtank, die derzeit unter dem Titel NEW HORIZON ein aufwändiges zweiteiliges Dokudrama und parallel dazu ein Single-Player-Game über die Geheimmissionen der Seefahrer Ferdinand Magellan und Francis Drake entwickelt.
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1 D OKUMENTARFILM »Der Film hat dieses Prinzip der alten räumlichen Künste – die Distanz und die abgesonderte Geschlossenheit des Kunstwerkes – zerstört. (…) Ich gehe mit, ich fahre mit, ich stürze mit – obwohl ich körperlich auf demselben Platz sitzen bleibe«.2 Mit diesen Worten beschrieb der ungarische Filmtheoretiker und Regisseur Béla Balász im Jahr 1938 die besondere Wirkungsmacht des Films auf den Zuschauer – in Abgrenzung zu den traditionellen Kunstformen wie beispielsweise dem Tafelbild oder dem Theater. Das grundsätzlich Neue am Film war für Balász der hohe Grad an Immersion, die »Vereinnahmung der Sinne« des Zuschauers durch das Gesamtkunstwerk Film, das in sich alle anderen bestehenden Künste (darstellende Kunst, Literatur, Musik, Architektur, Fotografie) aufgenommen und diese amalgamisiert hatte. Heute, 75 Jahre später, verliert Balászs Gedanke nichts von seiner Gültigkeit, wenn wir den Begriff »Film« durch den Begriff »Game« ersetzen: Tatsächlich ist dem Film in den vergangenen 25 Jahren durch das Aufkommen der Games nichts anderes widerfahren als den angestammten Künsten 100 Jahre zuvor durch das Aufkommen des Kinematographen. Wie einst der Film so hat auch das Game die bestehenden Künste in sich aufgenommen, um sie dann um eine nur ihm eigene Qualität zu bereichern: die Interaktion. Die viel zitierte immersive Kraft der Games liegt genau hierin begründet: in der Möglichkeit der Interaktion zwischen dem Spieler und dem Spiel. Dies ist tatsächlich der fundamentale Unterschied zwischen Game und Kino. Zwar versuchte das Kino in den vergangenen Jahrzehnten mit diversen technischen »Aufrüstungsrunden« – von Cinemascope über Dolby Surround bis 3D – das immersive Filmerlebnis zu perfektionieren. Seinem Wesen nach aber bleibt der Film eine lineare, in sich abgeschlossene Narration, die vom Zuschauer mehr oder weniger passiv rezipiert wird. Eine Spielart des Films, der Dokumentarfilm, hat sich aber auch schon vor dem Aufkommen der Games schwer getan, die immersive Kraft des Kinos mit voller Wucht zu entfalten, und das, obwohl gerade am Anfang des Dokumentarfilms genau so ein Überwältigungsmoment gestanden haben soll: Die Legende berichtet, dass Zuschauer panisch schreiend aus dem Saal gestürzt seien, als die Brüder Lumière im Jahre 1895 ihre ersten dokumentarischen SchwarzweißBilder eines einfahrenden Zuges über die Leinwand flimmern ließen. Dass der Dokumentarfilm dennoch über Jahrzehnte hinweg im Ruf stand, seine Sujets eher reflektierend und aus einer Position der kritischen Distanz zu
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Balász, Béla: »Zur Kunstphilosophie des Films«, in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam Verlag 1995, S. 204-226.
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erzählen, dafür gibt es – allemal in Deutschland – historische Gründe: Der Schrecken über den Missbrauch dokumentarischer Bilder durch die Propaganda des NS-Regimes, aber auch über die unleugbare Faszination, die von der Überwältigungsästhetik Riefenstahlscher Prägung ausgehen kann – er steckte den Nachkriegs-Dokumentaristen noch in den Gliedern. So hat sich, verkürzt gesprochen, mindestens in Deutschland nach 1945 eine Form des Dokumentarfilms durchgesetzt, die den Möglichkeiten filmischer Wirkung durch eine starke Emotionalisierung des Publikums misstraute. Diese von Skepsis geprägte Art der Wirklichkeitsvermittlung hatte Auswirkungen auch auf die Themenwahl der Filmemacher: Soweit es um historische Sujets ging, handelte es sich in den 1960er und 1970er-Jahren überwiegend um Filme zur Geschichte des Nationalsozialismus. Dies kann einerseits als Ausdruck der Notwendigkeit verstanden werden, in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft einen überfälligen, weil lange Jahre verdrängten Diskurs über das Dritte Reich zu führen. Es hat aber auch zu tun mit der ästhetischen, kulturellen und politischen Sozialisation vieler Akteure dieser Generation: Filmemachern wie Peter Nestler, Eberhard Fechner oder Klaus Wildenhahn wäre es im Traum nicht eingefallen, ihre dokumentarischen Sujets mit Hilfe von gecasteten Protagonisten, Special Effects, Reenactments oder scoreartiger Filmmusik ans Publikum zu bringen. In Bezug auf die Wahl historischer Sujets bedeutete die selbstauferlegte Beschränkung auf streng dokumentarische Verfahren wie Zeitzeugeninterviews oder die »teilnehmende Beobachtung« aber auch eine thematische (Selbst-)Beschränkung: Denn wo es keine Bilder (mehr) gibt, und keine lebenden Zeitzeugen, da lässt sich mit den klassischen dokumentarischen Mitteln nichts mehr ausrichten. In Abwandlung eines Wittgenstein-Satzes ließe sich auch sagen: »Wovon man nichts zeigen kann, darüber kann man auch nichts erzählen.« Es war vor allem das öffentlich-rechtliche Fernsehen, das diese Haltung durchbrach und allmählich damit begann, andere historische Sujets (und damit auch neue Erzählformen) zu etablieren: Wolfang Menge (Buch) und Ulrich Schamoni (Regie) realisierten im Jahre 1979 in einer Mischform aus Spielszenen, Dokumentation und Musik-Revue die 50er-Jahre-Rückschau WAS WÄREN WIR OHNE UNS?, 1984 folgte die fünfteilige Reihe SO LEBTEN SIE ALLE TAGE, in der sie ein historisches Sujet in einer Mischform aus Dokumentar- und Spielfilmteilen aufbereiteten (in diesem Fall die Geschichte Preußens) – sehr zum
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Missfallen der damaligen Kritik.3 Es sollte noch einmal einige Jahre dauern, ehe diese Erzählform auch im Mainstream der Programme ankam. Die Sendereihe ZDF EXPEDITION brachte mit Unterreihen wie IMPERIUM und SPHINX ab Ende der Achtziger-Jahre aufwändig produzierte Episoden der Antike, des Mittelalters und der frühen Neuzeit auf den Bildschirm; hier wurde Geschichte massenattraktiv für ein Primetime-Publikum aufbereitet. Die Frage nach der filmischen Darstellbarkeit von Sachverhalten einer Zeit, aus der es meist nur wenige Bildzeugnisse und Quellen, ganz sicher aber keine laufenden Bilder oder Zeitzeugen gibt, sie wurde von den Programmmachern beantwortet, indem man – auch mit Hilfe der neu aufkommenden digitalen Techniken – ungeniert Anleihen beim Spielfilm nahm: Die Verwendung von Spielfilmausschnitten oder eigens inszenierten Spielszenen zur Illustration historischer Ereignisse (Reenactments), Computeranimationen, Castings auch für Protagonisten aus dem so genannten »wirklichen Leben«, der Einsatz komplexer und aufwändiger Filmtechnik zum Zwecke der konsequenten audiovisuellen Durchgestaltung nonfiktionaler Narrationen – all dies gilt inzwischen auch im Bereich der so genannten Doku-Formate als erzählerischer Standard. Von Dokumentarfilm im eigentlichen Sinne kann hier schon lange nicht mehr gesprochen werden. Vielmehr scheint es, als wollten heute viele Filmemacher ihr Publikum vergessen machen, dass es Dokumentarfilme sieht. Die zunehmende Fiktionalisierung historischer Dokumentationen, die Überführung von Geschichtsdarstellung in Historienerzählung wirft einige gewichtige Fragen auf: Wie stark ist unser Bild von bestimmten historischen Epochen durch fiktionale Bilder geprägt? Wie ist es um die »Authentizität« dieser fiktionalen Bilder bestellt? Das Phänomen ist nicht neu: Bereits in früheren Jahren fanden Spielfilmbilder unkommentiert Eingang in historische Dokumentationen, beispielsweise über Ereignisse des Ersten Weltkriegs: Der Sturm der Revolutionäre auf das Winterpalais während der Oktoberrevolution 1917 wurde in sowjetischen Lehrfilmen mit Aufnahmen aus Eisensteins OKTOBER von 1928 illustriert4, Schlachtgeschehen an der Westfront des Jahres 1918 mit Aufnahmen aus dem amerikanischen Spielfilm ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT aus dem Jahr 1930.5 Doch die inzwischen selbstverständliche und im Alltag nicht mehr hinter-
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Schoeps, Julius H.: »So lebten die Preußen alle Tage?«, in: Die Zeit vom 24.08.1984, http://www.zeit.de/1984/35/so-lebten-die-preussen-alle-tage; N.N.: »Bei Preußens«, in: Der Spiegel vom 12.03.1984, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13509011.html
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Waschik, Klaus: »Virtual Reality. Sowjetische Bild- und Zensurpolitik als Erinnerungskontrolle in den 1930er-Jahren«, http://www.zeithistorische-forschungen.de/site /40208991/default.aspx
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Chapman, James: War and Film, London: Reaktion Books LTD 2008, S. 49f.
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fragte Praxis, vergangene Epochen mit Hilfe fiktionaler Bilder im Rahmen von Geschichtserzählungen zu visualisieren, führt zu einer Kollektivierung des Geschichtsbildes, die nicht zu unterschätzen ist. Der Historiker Thomas Scharff weist darauf hin, dass das gegenwärtig vorherrschende Mittelalterbild wesentlich durch Spielfilme wie BRAVEHEART von Mel Gibson (1995) oder DER NAME DER ROSE von Jean-Jacques Annaud (1986) geprägt worden ist, die bestimmte, vom Publikum als archetypisch und authentisch wahrgenommene Mittelalter-Chiffren etabliert haben: archaische Brutalität (im Falle von BRAVEHEART), oder Dreck (im Falle von DER NAME DER ROSE).6 Häufig wird bei der Herstellung fiktionaler »historischer« Bilder darauf verwiesen, dass sich die Macher für die Richtigkeit der in ihren Bildern dargestellten Realitäten verbürgen. Tatsächlich haben sowohl Annaud7 als auch Gibson8 mit genau diesem Argument die »Authentizität« ihrer Filme zu betonen versucht: Historiker hätten bei der Recherche beratend zur Seite gestanden und auf die Korrektheit der Details wie Kleidung, Waffen etc. geachtet. Was dabei aus dem Blickfeld gerät, ist die schlichte Wahrheit, dass am Ende jeder, auch der bestens recherchierte Mittelalter-Film, nichts anderes ist als eine Interpretation des Mittelalters, also eine Wirklichkeitskonstruktion. Diese Selbstverständlichkeit zu betonen erscheint notwendiger denn je.
2 H ISTORY G AME Einem vergleichbaren Legitimationsdruck wie die der (historischen) Wahrheit verpflichteten Dokumentarfilmer waren und sind Game-Designer und Developer in ihren Produktionen bislang nicht ausgesetzt: Qua definitionem ging (und geht) es bei der Entwicklung von Games primär um Fragen der Anwendbarkeit im Sinne des Spielspaßes und nicht um Wahrung der Faktizität. Selbst dort, wo dezidiert realitätsbezogene Games entwickelt wurden, wo Games serious geworden sind – beispielsweise in den Simulationsspielen der US Army –, ist die Authentizität des Settings nur in Bezug auf den Spielzweck relevant (die wirklichkeitsna-
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Scharff, Thomas: »Wann wird es richtig mittelalterlich. Zur Rekonstruktion des Mittelalters im Film«, in: Mischa Meier/Simona Slanika (Hg.), Antike und Mittelalter im Film. Konstruktion – Dokumentation – Projektion, Köln: Böhlau Verlag 2007, S. 63-84.
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Annaud, Jean-Jacques: »Die Abtei des Verbrechens. Making Of ›Der Name der
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N.N.: »Braveheart. Wallace’s Father and Maternal Grandfather«, http://www.baro
Rose‹«, Warner Bros.: Special Edition DVD. Bestell-Nr. 3447695. nage.co.uk/bphtm-01/wallace1.html
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he Trainingssituation im Flugsimulator beispielsweise), nicht aber im Sinne eines journalistischen code of conduct. Dass nun ein Major wie Ubisoft bei der Veröffentlichung des eingangs schon erwähnten Serials ASSASSIN’S CREED das Argument der Authentizität ins Feld führt, kann getrost als Teil der Marketingstrategie verstanden werden. Es mag aber auch ein Indiz dafür sein, dass sich innerhalb der Computerspiel-Industrie ein Bewusstsein dafür entwickelt hat, »dass die entworfenen virtuellen Räume eine Arena bilden, innerhalb der auch ernste Themen behandelt werden, wie beispielsweise religiöse Konflikte oder Ansprüche der Geschichtsschreibung.«9 Eine Vermutung, die durch Aussagen der Produzentin von ASSASSIN’S CREED, Jade Raymond, scheinbar bestätigt wird: »One of our main objectives was to – of course – make the art direction as realistic and as close to the historical references that we found; but the difficulty about – you know – having a subject where guys walk around in armour and look like knights and stuff like that is that it tends to be associated with fantasy. And one of the important things to us was making sure, that the game and the feeling and the location was really relevant to people.«10
Die Sorge, dass ASSASSIN’S CREED versehentlich als Fantasy-Titel wahrgenommen werden könnte, dass also der Anspruch der Macher an die historische Authentizität des Spieluniversums von den Usern unterlaufen, oder schlimmer noch: gar nicht erst erkannt werden könnte, diese Sorge scheint in der Tat ein neues Phänomen in der Computerspiel-Industrie zu sein. Gleichzeitig zeigt Raymonds Aussage aber auch, dass die Orientierung an der historischen Faktizität ein selbstgestellter Anspruch ist, der sich primär nicht der Geschichtsschreibung verpflichtet sieht, sondern der Erwartungshaltung potentieller User: »One of the important things to us was making sure, that the game and the feeling and the location was really relevant to people.« Diese Doppelstrategie – das Aufrufen der Historie zum Zwecke der (Selbst-)Legitimierung und ihr gleichzeitiges Unterlaufen, wenn es im Sinne des Spielspaßes geboten erscheint, führt in der konkreten Ausgestaltung des Spiels zu einem Mash Up, zu einem »historischen Puzzle«11,
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Huber, Simon: Spiel um historische Authentizität. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Wien 2013, S. 8-9.
10 N.N.: »Assassin’s Creed. Jade Raymond. Frag Dolls Interview«, http://www. gametrailers.com/videos/cslkka/assassin-s-creed-jade-raymond---frag-dolls-interview 11 G. Hausar: »Der Stadt ihre Spieler. Historische Metropolen in Assassin’s Creed I und II«.
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in dem sich korrekte historische Details mit den Phantasien der Game-Designer verbinden. So steht beispielsweise im Jerusalem des 12. Jahrhunderts der Felsendom in seiner heutigen Gestalt. Unter den Waffen, die der Gamer im Spielverlauf erwerben kann, befinden sich einerseits Wurf- und Stichwaffen, die konkreten historischen Waffen nachgebildet worden sind, andererseits aber auch eine Art »Geheimpistole«, die es niemals gegeben hat. Um sie innerhalb des GameKontextes zu »authentifizieren«, findet der Spieler ihre Bauanleitung auf einem Blatt, das einer Zeichnung von Leonardo da Vinci nachempfunden ist. Wir haben es also mit einem »Spiel um historische Authentizität«12 zu tun, nicht aber mit einem Game, das den Ansprüchen der Historiographie gerecht wird. Angestrebt wird eben nicht die Nähe zu Quellen und Zeugen, angestrebt wird in erster Linie die Nähe zur Vergangenheit.13 Darauf verweist auch der Disclaimer im Startbildschirm von ASSASSIN’S CREED: »Inspired by historical events. This work of fiction was designed, developed and produced by a multicultural team of various religious faiths and believes.« Ganz geheuer scheint den Machern von Assassin’s Creed ihr spielerischer Umgang mit der Geschichte dann doch nicht zu sein – warum sonst haben sie die Notwendigkeit gesehen, an prominenter Stelle darauf hinzuweisen, dass dieses Game das Ergebnis einer interkulturellen, interreligiösen Teamarbeit ist? Wie weit also lässt sich dieses Spiel mit der Geschichte treiben? Wie würden wohl die Produzenten von ASSASSIN’S CREED vorgehen, würde man das Setting auf Epochen ausdehnen, deren Quellen sehr viel besser dokumentiert sind? Was wäre, wenn Desmond Miles nicht nur bis in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, sondern auch noch weiter ins Dritte Reich reisen würde? Müsste das Ergebnis notwendigerweise ein tarantineskes sein, in dem der Assassine durch die Flure der Reichskanzlei schleicht, den Dolche im Gewande? Müsste er sich auf die Wachtürme von Auschwitz-Birkenau schwingen, um SS-Schergen die Kehle durchzuschneiden? Ist Historie also der uneingeschränkte playground der Gamer, der Spielplatz, zu dem Ubisoft die Gaming-Gemeinde einlädt? Oder gibt es angesichts der historischen Faktizität auch Grenzen des Spiels?
12 S. Huber: Spiel um historische Authentizität. 13 Ebd., S. 15.
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3 N EW H ORIZON Mit ähnlich gelagerten Fragen beschäftigen sich derzeit die Macher von NEW HORIZON. Von Anfang an als so genanntes 360°-Projekt geplant, also als Parallelentwicklung von Fernsehdokumentation und Game, erzählt NEW HORIZON die Geschichte der geheimen Missionen hinter den Weltumsegelungen von Ferdinand Magellan und Francis Drake. Produziert wird NEW HORIZON von der Berliner Produktionsfirma Filmtank, die sich mit diesem Projekt erstmals von ihrem angestammten Geschäftsfeld der Dokumentarfilmproduktion in den Bereich der interaktiven Medien begibt. Unter Leitung des Produzenten Michael Grotenhoff arbeiten zwei Entwicklerteams parallel an der Umsetzung der TV-Dokumentation (2 mal 45 Minuten) und des Single-Player-Games. Eine zentrale Frage der Projektentwicklung, so Michael Grotenhoff, sei die Definition der beiden Projektteile gewesen: Was kann, was soll die TV-Dokumentation leisten, was das Game? An welchem Punkt ergänzen sich die beiden Medien? Wo gehen Game und Dokumentation gewissermaßen getrennte Wege in der Publikums- bzw. User-Ansprache? 14 Die Struktur der TV-Dokumentation stand in den Grundzügen relativ früh fest: Jeweils eine Folge beschäftigt sich mit den Weltumsegelungen Magellans (1519–1522) und Sir Francis Drakes (1577–1580). Vor allem zu den Seereisen Magellans sind in jüngerer Vergangenheit wesentliche neue Forschungsergebnisse veröffentlicht worden.15 Auf der Gegenwartsebene der TV-Dokumentation begleitet der Film mehrere Geschichtsforscher bei ihren Recherchen und erzählt so von den historischen Hintergründen der Reisen. Auf einer zweiten Handlungsebene werden in einer Art Rückblendendramaturgie einzelne Momente des historischen Geschehens in Spielszenen visualisiert. Der Problematik der »Bebilderung« von Geschichte sind sich die Produzenten dabei bewusst: »Spielszenen in historischen Dokumentationen geben immer vor, dass sich die Ereignisse tatsächlich wie gezeigt zugetragen haben. Die historische Wirklichkeit wird gesetzt; dabei wird nicht hinterfragt, ob sich die Ereignisse nicht vielleicht auch ganz anders zugetragen haben könnten, dass die handelnden Personen womöglich ganz anders waren.«16
14 Michael Grotenhoff im Gespräch mit Dominik Wessely, Interview vom 5. April 2013. 15 Pohle, Jürgen: Deutschland und die überseeische Expansion Portugals im 15. und 16. Jahrhundert, LIT-Verlag Münster 2000. 16 Michael Grotenhoff im Gespräch mit Dominik Wessely, Interview vom 5. April 2013.
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Aus diesem Grund haben sich die Macher von NEW HORIZON für eine neuartige Form der Visualisierung entschieden: Die Spielhandlungen werden mit Schauspielern in einer Green Box mit Hilfe des Motion Capture-Verfahren gefilmt. Diese Rohdaten werden anschließend weiterbearbeitet, wobei Bildhintergründe (Schiffsarchitektur, Landschaft, Meer) eingefügt werden; darüber hinaus werden die Bilder aber auch »zeichnerisch überarbeitet«, d.h. es findet faktisch eine Übermalung statt, die den Look in Richtung einer graphic novel verändert, dabei aber die lebendige Mimik und Emotionalität des schauspielerischen Ausdrucks bewahrt. Abbildung 1: NEW HORIZON
Quelle: Filmtank GmbH
Annäherung an Historie findet hier also nicht auf dem Wege des detailverliebten Nachinszenierens von Vergangenheit statt; vielmehr wird ganz bewusst der Weg in die visuelle Abstraktion gewählt: Weg von einem vorgeblichen, meist allzu schlichten Realismus – hin zur Bilderwelt der Comics und Games. Die Bilder behaupten nicht mehr: »So ist es gewesen!«, vielmehr weisen sie sich in ihrer Künstlichkeit und Kunstfertigkeit als Artefakte aus. Sie dienen nicht der Illustration von Geschichte, vielmehr versuchen sie diese zu deuten. Das Entwicklerteam des NEW HORIZON-Games stand dagegen vor ganz anderen Herausforderungen. Markiert üblicherweise die Entwicklung der Spielmechanik den Anfang des Entwicklungsprozesses, so verlief der Weg hier umgekehrt: Die Designer um Games-Director Michael Scheuerl mussten die Spielidee ausgehend von einer konkreten historischen Situation entwickeln, ein ungewohnter Prozess. »Wir mussten erst lernen, die historische Welt als eine Quelle von
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Inspiration zu begreifen, nicht als eine Anhäufung von Beschränkungen.«17 So recherchierte das Entwicklerteam zunächst einmal intensiv und eignete sich allerhand Wissen zur Seefahrt des 16. Jahrhunderts im Allgemeinen und zu den Reisen Magellans und Drakes im Besonderen an. Erst nach Abschluss dieser Recherchephase begann die eigentliche Entwicklungsarbeit am Game-Design. Die einzelnen Konzeptionsphasen des Games nachzuzeichnen, würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen – im Rahmen von NEW HORIZON entstehen nun zwei interaktive Anwendungen: Zum einen ein browserbasiertes Strategiespiel, in dem der Spieler die Welt der Entdecker aus der Perspektive eines spanischen Admirals erleben kann. Der Spieler ist für das Zusammenstellen und das Manövrieren der Flotte über die Weltmeere verantwortlich, ebenso für das Leben an Bord, die Vorratshaltung usw. Strategisches Ziel ist die Etablierung und Bewahrung eines weltweiten Handelsnetzes. Eine zweite interaktive, multimediale Anwendung firmiert derzeit noch unter dem Arbeitstitel »Logbücher«: Auf einer interaktiven Weltkarte kann der Nutzer über die Weltmeere schweifen und sich dabei vertiefende Informationen zu Magellan und Drake und zum Verlauf ihrer Reisen erschließen. Hier findet er historische Textquellen, aber auch kurze Videos und Audioinhalte. Das Konzept der Online-Logbücher ist auch das Ergebnis der im Entwicklungsprozess von NEW HORIZON gesammelten Erfahrungen. Es zeigte sich nämlich, dass die Überfrachtung des Single-Player-Games mit historischen Informationen am Ende dem Gameplay im Wege stand: Ein Spiel kann bis zu einem Wissen Grad historisches Basiswissen vermitteln. Wird es aber konzeptionell überfrachtet, wird aus dem Spiel früher oder später eine interaktive Lernanwendung – auf Kosten des Spielspaßes.18
R ESÜMEE Wie kann Historie in Zukunft mit Hilfe audiovisueller Medien also vermittelt werden? Die Erfahrung der Geschichte ist immer auch die Erfahrung ihrer Interpretation, insoweit handelt es sich um einen offenen Prozess. Die »historische Dokumentation« als eine an Fakten orientierte, auf Abgeschlossenheit drängende, weil in sich selbst abgeschlossene lineare filmische Erzählung scheint in den
17 Scheuerl, Michael: »Das Crossmedia-Projekt New Horizon« in: Making Games Magazin 3 (2012), S. 66-69. 18 Michael Scheuerl und André Blechschmidt im Gespräch mit Dominik Wessely; Interview vom 27. März 2013.
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gegenwärtig bestehenden Formen in ihren Entwicklungsmöglichkeiten weitgehend ausgereizt. Gehört also den History Games die Zukunft der Geschichtsvermittlung? Auch das darf bezweifelt werden. Games wie ASSASSIN’S CREED verraten uns relativ wenig über das Mittelalter. Sie verraten uns allerdings sehr viel über die Art und Weise, wie sich Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Welt des Mittelalters vorgestellt haben. Insofern werden sie selbst zum geschichtlichen Dokument. Der Medienhistoriker Claus Pias plädiert ohnehin dafür, Spielinhalte nicht überzubewerten: »Computerspiele handeln nicht von japanischen Niedlichkeiten oder indiziertem Splatter, sondern von usability – und damit von Computerspielen selbst.«19 Inhalte (auch historische) können vom Spieler nur in dem Maße »erfahren« werden, in dem sie durch Hard- und Softwarekonfigurationen vorstrukturiert worden sind. Insoweit erzählen History Games weniger von Geschichte als davon, wie Geschichtliches berechenbar und damit spielbar gemacht worden ist.20 Vor diesem Hintergrund scheint die Frage, wie wir ein kritisches Instrumentarium zur Methodik der Vermittlung historischen Wissens entwickeln können nicht weniger wichtig als die Frage der Kanonisierung dieses Wissens selbst.
L ITERATUR Annaud, Jean-Jacques: »Die Abtei des Verbrechens. Making Of ›Der Name der Rose‹«, Warner Bros.: Special Edition DVD. Bestell-Nr. 3447695. Balász, Béla: »Zur Kunstphilosophie des Films«, in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam Verlag 1995, S. 204226. Chapman, James: War and Film, London: Reaktion Books LTD 2008. Hausar, Gernot: »Der Stadt ihre Spieler. Historische Metropolen in Assassin’s Creed I und II«, http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/geschichte/lehrstueh le/viii-geschichte-der-fruehen-neuzeit/forschung/tagungen/fnz-videogames/v orl-prog/gernot-hausar/ Huber, Simon: Spiel um historische Authentizität, unveröffentlichte Diplomarbeit, Wien 2013.
19 Pias, Claus: Computer Spiel Welten, Zürich: Diaphanes Verlag 2010, S. 307. 20 S. Huber: Spiel um historische Authentizität, S. 10.
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N.N.: »Assassin’s Creed. Jade Raymond. Frag Dolls Interview«, http://www. gametrailers.com/videos/cslkka/assassin-s-creed-jade-raymond---frag-dollsinterview N.N.: »Bei Preußens«, in: Der Spiegel vom 12.03.1984, http://www.spiegel. de/spiegel/print/d-13509011.html N.N.: »Braveheart. Wallace's Father and Maternal Grandfather«, http://www.ba ronage.co.uk/bphtm-01/wallace1.html Pias, Claus: Computer Spiel Welten, Zürich: Diaphanes Verlag 2010. Scharff, Thomas: »Wann wird es richtig mittelalterlich. Zur Rekonstruktion des Mittelalters im Film«, in: Mischa Meier/Simona Slanika (Hg.), Antike und Mittelalter im Film. Konstruktion – Dokumentation – Projektion, Köln: Böhlau Verlag 2007, S. 63-84. Scheuerl, Michael: »Das Crossmedia-Projekt New Horizon« in: Making Games Magazin 3 (2012), S. 66-69. Schoeps, Julius H.: »So lebten die Preußen alle Tage?«, in: Die Zeit vom 24.08.1984, http://www.zeit.de/1984/35/so-lebten-die-preussen-alle-tage Waschik, Klaus: »Virtual Reality.Sowjetische Bild- und Zensurpolitik als Erinnerungskontrolle in den 1930er-Jahren«, http://www.zeithistorischeforschungen.de/site/40208991/default.aspx
F ILME ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT (USA 1930, R: Lewis Milestone) BRAVEHEART (USA 1995, R: Mel Gibson) DER NAME DER ROSE (D/F/I 1986, R: Jean-Jacques Annaud) OKTOBER (UDSSR 1928, R: Sergei M. Eisenstein)
TV-S ENDUNGEN SO LEBTEN SIE ALLE TAGE (D 1984, R: Ulrich Schamoni) WAS WÄREN WIR OHNE UNS? (D 1979, R: Ulrich Schamoni) ZDF EXPEDITION (D seit 1982)
C OMPUTERSPIELE ANNO 1404 (Ubisoft 2009, O: Related Designs/Blue Byte Software)
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ASSASSIN’S CREED (Ubisoft 2007, O: Ubisoft Montreal) DIE SIEDLER (Blue Byte 1993, O: Blue Byte) NEW HORIZON (Filmtank 2013, O: Michael Scheuerl)
II Serious Games
Einleitung L ISA G OTTO
Die Entwicklung der Serious Games blickt auf eine vergleichsweise junge Geschichte zurück. Der Begriff Serious Games wurde erstmals 1970 von Clark C. Abt in seinem gleichnamigen Buch zur Definition von Simulations-, Rechenund Planspielen verwendet1. Bekannter und durchsetzungsfähiger wurde die Bezeichnung jedoch durch die Veröffentlichung des Online-Computerspiels AMERICA'S ARMY durch die US-Armee im Jahr 2002. Fast zeitgleich publizierte Ben Sawyer ein White Paper zum Thema Serious Games und gründete zusammen mit David Rejeski die Serious Games Initiative im Woodrow Wilson International Center in Washington D.C., wodurch der Begriff fest etabliert wurde2. Seitdem haben sich sowohl die Entwicklung der Spiele als auch die Erprobung und Erforschung ihrer Anwendungsmöglichkeiten erweitert und ausdifferenziert. Serious Games werden in verschiedenen Bereichen und mit diversen Zielsetzungen eingesetzt: zum Training in Militär und Medizin, zur Rekrutierung in Unternehmen und Politik, zur Kommunikation in Kunst und Kultur, zur Bildung in Schulen und Universitäten3. Serious Games zeichnen sich zunächst durch ihren Zweck und Gebrauch aus. Ihr »Ernst« besteht darin, dass durch sie und mit ihnen etwas erreicht, trainiert und gelernt werden soll. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Probehand-
1
Abt, Clark C.: Serious Games, New York: Viking Press 1970.
2
Sawyer, Ben/Rejeski, David: Serious Games: Improving Public Policy Through Game-based Learning and Simulation. Washington: Woodrow Wilson International Center for Scholars 2002.
3
Zu den Ursprüngen und Anwendungsbereichen der Serious Games vgl. Djaouti, Damien et al.: »Origins of Serious Games«, http://www.ludoscience.com/files/ressour ces/origins_of_serious_games.pdf
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lung4. Serious Games bieten experimentelle Zugänge zu Wissenskonstellationen und Bildungszusammenhängen. Sie gehen nicht von invarianten Wissensständen aus, sondern befassen sich mit der Frage, wie durch spielerische Verfahren Lernprozesse in Gang gesetzt werden können. Dabei konstituiert sich das Wissen, das Serious Games produzieren und distribuieren, prozessual und performativ: Erst indem man spielt, realisiert sich das Spiel und mit ihm der Lerneffekt. Serious Games sind Instrumente und Mittel der Erkenntnis zugleich. Sie zeigen, was es heißt, Spiel und Wissen nicht als Ausschluss- sondern als Bedingungsverhältnis zu verstehen. Damit ermöglichen sie nicht nur die Vermittlung von Inhalten und Informationen, sondern auch und vor allem deren Anwendung und Weiterverarbeitung. Die spezifische Leistung der Serious Games besteht also darin, Wissen nicht nur repetitiv zu festigen, sondern durch spielerische Abläufe überhaupt erst zu generieren. Diesem Feld widmen sich die fünf Beiträge dieses Abschnitts in zwei Schritten. Während die ersten beiden einen Überblick über zentrale Erkenntnisse der Serious Games-Forschung bieten und ihre Probleme und ihr Potenzial kritisch diskutieren, präsentieren die drei folgenden als Fallstudien die Erprobung von einzelnen Anwendungen, Konzepten und Verwendungsmöglichkeiten. Einleitend wirft Simon Egenfeldt-Nielsen einen Blick zurück auf die ersten zehn Jahre der Serious Games-Bewegung und erörtert die Erfahrungen, die er bei der Erforschung und Entwicklung und von Serious Games gesammelt hat. Dabei konzentriert er sich auf den Bildungsbereich und die Frage des Einsatzes von Serious Games in Schulen und Unterrichtskontexten. »Bei Spielen«, so Egenfeldt-Nielsen, »geht es um die Entstehung von optimalen Reaktionsmustern und einem Belohnungssystem innerhalb eines mächtigen, sicheren virtuellen Universums, in dem man verschiedene Sichtweisen auf die Welt erproben kann«.5 Dieses spielerische Potential auszuschöpfen ist sowohl die größte Herausforderung als auch die faszinierendste Möglichkeit der Gestaltung von Lernprozessen durch Serious Games (»Die ersten zehn Jahre der Serious GamesBewegung. Zehn Lektionen«).
4
Zur Spezifik der erlebten Handlung vgl. Venus, Jochen: »Erlebtes Handeln in Computerspielen«, in: GamesCoop: Theorien des Computerspiels zur Einführung, Hamburg: Junis 2012, S. 104-127; zur Diskussion der Probehandlung im Kontext der Serious Games vgl. Jenkins, Henry et al.: »From Serious Games to Serious Gaming«, in: Ute Ritterfeld/Michael Cody/Peter Vorderer (Hg.), Serious Games. Mechanisms and Effects, New York: Routledge 2009, S. 448-468.
5
In diesem Band S. 147.
E INLEITUNG : S ERIOUS G AMES
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Ausgehend von der Vielseitigkeit und Komplexität des Begriffs Serious Games fragen Sonja Ganguin und Anja Hoblitz nach dem Wechselspiel von Ernst und Spaß in formalen Lernkontexten und institutionalisierten Bildungszusammenhängen. Besondere Bedeutung kommt dabei der ungezwungenen Erlebnisdimension der Spiel-Lernhandlung zu: »So sehen wir als einen ausschlaggebenden Punkt, wann ein Serious Games zu Lerneffekten und zu einem Wissenstransfer führen kann, das Spielmerkmal der Freiwilligkeit«.6 Die Motivation des Spielens und die (pädagogisch intendierten) Folgen der Spielhandlung werden erst unter Berücksichtigung des situativen Kontextes erfass- und erklärbar. (»Serious Games – Ernstes Spielen? Über das Problem von Spielen, Lernen und Wissenstransfer«). Mit der Frage, wie Serious Games für »die Vermittlung gesellschaftlich relevanter Inhalte ohne zunächst direkt erkennbaren pädagogischen Impetus«7 nutzbar gemacht werden können, setzt sich Marcus Bösch auseinander. Seine Fallstudie stellt das Konzept einer Anwendung vor, die es ermöglicht, aktuelle Tendenzen von Überwachungstechnologien und drohnengesteuerter Kriegsführung mittels Spielmechaniken kritisch zu reflektieren. Durch die Einbindung von Elementen eines prozessualen Alternate Reality Games werden die Nutzer zu aktiven Teilnehmern und Gestaltern von politischen Bildungsprozessen (»Game of Drones. Ein persuasives Spiel zur kritischen Reflexion des anbrechenden Drohnenzeitalters«). Linda Kruses Beitrag präsentiert das Konzept eines digitalen Lernspiels zum Zweitspracherwerb bei Vorschulkindern. »Um eine erfolgsversprechende und geeignete Umgebung für den Zweitspracherwerb herzustellen, muss eine Vielzahl einzelner Faktoren […] innerhalb eines Spielsystems bedacht werden«.8 Dazu gehören, so Kruse, die Entwicklung einer interaktiven Geschichte mit ansprechenden Charakteren, die kindgerechte Bedienung über eine leicht zugängliche Benutzeroberfläche sowie das direkte Feedback zur Frustrationsvermeidung. Die Bündelung dieser Elemente in einem Tablet-Adventuregame zeigt exemplarisch, wie das spielerische Erlernen einer Zweitsprache durch gamebasierte Interaktivität und Affektivität gefördert werden kann (»Tablet-Adventuregame zum Zweitspracherwerb bei Vorschulkindern. Ein Konzept inklusive Bär und Eichhörnchen«). Mit den didaktischen Prinzipien des Game-Based Learning sowie der Frage, wie sie in entsprechenden Anwendungen umgesetzt werden können, beschäftigt
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S. 179.
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S. 186.
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S. 205.
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sich Thorsten Unger. Seine Fallstudie stellt einen integrativen Ansatz vor, der die Kombination von Informationsvermittlung und Wissensvertiefung durch praxisnahe spielerische Simulation ermöglicht. Dabei besteht der Vorzug der Zusammenführung von komplexen Inhalten und virtuellen Lernszenarien in der Steigerung von Effektivität und Effizienz des Wissenstransfers: »Spielerische Lernplattformen können […] einen Beitrag leisten, inhomogene Lernstände auf ein durchgängig höheres Qualitätsniveau zu bringen«.9 (»Das VITA-Konzept. Game-Based Learning zur Transferüberprüfung in einem integrativen Ansatz«). Serious Games reorganisieren Bildungsprozesse. Sie eröffnen neue Möglichkeiten des Wissenserwerbs – sowohl praktisch als auch theoretisch. Mit der Digitalisierung wandeln sich nicht nur die Inhalte und Formen von Spielen, sondern auch die Fragen, die an sie gerichtet werden können. Serious Games, das verdeutlichen alle hier versammelten Beiträge auf je unterschiedlicher Ebene, fordern traditionelle Kulturmodelle und gängige Erklärungsansätze zum Verhältnis von Spielen und Lernen heraus. Sie regen dazu an, die Produktion und Zirkulation von Bildung und Wissen in ihren Leitkategorien zu überdenken. Serious Games proklamieren kein festes Wissen, sondern bringen es prozesshaft in Bewegung. Eine zentrale Rolle spielt dabei ihr performativer Charakter. Was gelernt werden kann, muss »testend, experimentierend, wiederholend und neu ansetzend usw. vollzogen werden«10. Zu den besonderen Eigenschaften der Serious Games gehört weiterhin ihr Anspruch, die Trennung von Wissenssubjekt und Wissensobjekt aufzuheben. Spezifisch digitale Möglichkeiten der Interaktion und Immersion verändern Wahrnehmungs- und Aneignungsformen des zu Lernenden. Anwendung und Anwender sind nicht länger streng separiert, sondern wirken aufeinander ein – gerade dann, wenn sie den begrenzten Raums des Klassenzimmers und die begrenzte Zeit der Unterrichtsstunde verlassen. Digitale Lernspiele sind daher weit mehr als ein verbessertes Tool zur Vermittlung von Bildungsinhalten. Sie passen sich nicht nur veränderten Bedingungen an, sie bringen selbst Veränderungen hervor. Zu diesen Veränderungen gehören vor allem die Überlagerung und Überformung der Realitätswahrnehmung durch digitale Spielformen, die die Geschlossenheit des begrenzten Spielfelds und des stationären Spielmediums überwinden. Darauf deutet sowohl die Entwicklung der Spielgeräte (portable Medien, TouchBedienung, Sprach- und Gestensteuerung) als auch die der Spielanwendungen
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S. 224.
10 Mersch, Dieter: »Logik und Medialität des Computerspiels«, in: Jan Distelmeyer/Christine Hanke/Dieter Mersch (Hg.), Game over!? Perspektiven des Computerspiels, Bielefeld: transcript 2008, S. 19-42, hier: S. 32.
E INLEITUNG : S ERIOUS G AMES
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(wirklichkeitsnahe Spielsituationen, Betonung der Unmittelbarkeitserfahrung). Serious Games sind auch deshalb ernste Spiele, weil sie zwischen Medien und Realität nicht kategorial unterscheiden. Sie produzieren und transferieren Wissen jenseits einer feststehenden Ordnung oder unveränderlichen Vorgabe. Genau darin besteht ihr medienpraktisches und medientheoretisches Potenzial: Keimzelle einer neuen Dynamik der Wissensgenerierung zu sein.
L ITERATUR Abt, Clark S.: Serious Games, New York: Viking 1970. Djaouti, Damien et al.: »Origins of Serious Games«, http://www.ludoscien ce.com/files/ressources/origins_of_serious_games.pdf Jenkins, Henry et al.: »From Serious Games to Serious Gaming«, in: Ute Ritterfeld/Michael Cody/Peter Vorderer (Hg.): Serious Games. Mechanisms and Effects, New York: Routledge 2009, S. 448-468. Mersch, Dieter: »Logik und Medialität des Computerspiels« In: Jan Distelmeyer/Christine Hanke/Dieter Mersch (Hg.), Game over!? Perspektiven des Computerspiels, Bielefeld: transcript 2008, S. 19-42. Sawyer, Ben/Rejeski, David: Serious Games: Improving Public Policy Through Game-based Learning and Simulation. Washington: Woodrow Wilson International Center for Scholars 2002. Venus, Jochen: »Erlebtes Handeln in Computerspielen«, in: GamesCoop (Hg.), Theorien des Computerspiels zur Einführung, Hamburg: Junis 2012, S. 104-127.
C OMPUTERSPIELE AMERICA’S ARMY (Reihe, US Army 2002-2011)
Die ersten zehn Jahre der Serious Games-Bewegung Zehn Lektionen
S IMON E GENFELDT -N IELSEN
Diese Abhandlung basiert auf einer Präsentation, es handelt sich also eher um einen Denk- und Diskussionsanstoß als um eine wissenschaftliche Arbeit. Sie handelt von den Erfahrungen, die ich bei der Forschung und Entwicklung von Serious Games gesammelt habe. Ich werde versuchen, rückblickend einige der wichtigen Einsichten aus meinen ersten zehn Jahren im Bereich der Serious Games zu formulieren. Das Konzept der Serious Games entstand noch vor Computerspielen. Der Ausdruck wurde 1970 von Clark C. Abt in seinem Werk Serious Games1 geprägt. Allerdings beschloss das »Woodrow Wilson International Center for Scholars« im Jahr 2001, der Serious-Games-Initiative einen Zuschuss zu gewähren, was zu einer Wiederbelebung von Serious Games führte. Der neueste Trend auf diesem Gebiet nennt sich »Gamification« und weist eine gewisse Ähnlichkeit zu Serious Games auf, obwohl es auch deutliche Unterschiede gibt. Alles in allem ist der Ansatz von Gamification kommerzieller geprägt, der Fokus richtet sich eher auf die grundlegenden Mechaniken von Spielen und weniger auf die Entwicklung von Spielen an sich. Gamification nutzt mehr die Wirkungsweise von Spielen, um bestehende Strukturen, Seiten, Service-Angebote, Produkte oder Erfahrungen zu verbessern. Diese flexiblere Herangehensweise führte zu einer breiten Durchsetzung von Gamification, da einige Unternehmen sofort einsetzbare Lösungen anbieten. Allerdings existiert Gamification erst seit kurzer Zeit, deswegen wird sich diese Abhandlung auf das Thema der Serious Games beschränken. Es handelt sich dabei nicht um eine
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Abt, Clark C.: Serious Games, New York: Viking Press 1970.
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vollständige Übersicht, sondern eher um eine persönliche Sicht auf wichtige Lektionen, die ich gelernt habe. Die grundlegende Frage lautet in der Tat: »Warum werden Spiele nicht stärker im Bildungsbereich eingesetzt?« Da dieser Aufsatz auf meiner eigenen Perspektive und meinem eigenen Erfahrungen beruht, bezieht er sich auf den Bildungsbereich mit einem Fokus auf Schulen anstatt zum Beispiel auf den Gesundheits- oder Militärbereich, obwohl diese Bereiche ebenfalls sehr interessant sind.
D IE G RUNDLAGE
FÜR
S ERIOUS G AMES
Die Spiele-Industrie wächst ständig. Früher ging es vor allem um Unterhaltung, aber inzwischen geht es um viel mehr als nur Spaß. Der Bereich der Serious Games hat von der fast bedrohlichen Popularität von Computerspielen profitiert, aber er hat diese Popularität auch gefördert, indem gezeigt wurde, dass Games viel mehr sein können als Ballerspiele für pickelige Teenager. Während der letzten zwanzig Jahre steigerte sich der Gewinn der Spiele-Industrie von 15 Milliarden Euro auf 75 Milliarden Euro, und jede Woche verbringen Menschen ungefähr drei Milliarden Stunden mit diesen Spielen. Es gibt eine ganze Reihe verschiedener Möglichkeiten, man kann auf dem Handy spielen oder auf Facebook, man kann den Fernsehapparat nutzen oder vielfältige Seiten im Internet. Das Angebot an Plattformen, Kanälen und Genres für verschiedene Spieler-Typen ist enorm, und die Spiele-Industrie scheint herausgefunden zu haben, wie man aus Spielen ein Angebot für die breite Masse macht. Im Rückblick auf die letzten zehn Jahre erkennt man, dass Spiele heute ganz anders wahrgenommen werden. An welche Spiele denkt man zuerst, wenn man über dieses Thema spricht? Vor zehn Jahren war es wahrscheinlich COUNTER STRIKE. Doch heute existiert eine viel größere Vielfalt an Spielen – viele Leute denken vielleicht an ANGRY BIRDS, ein Spiel mit viel größerem Reiz für das breite Publikum. In dieser Hinsicht haben Serious Games eine wichtige Rolle gespielt, und ich bin der Meinung, dass dieser Einfluss auf den Markt für Computerspiele immer größer werden wird. Vor allem, da es immer noch sehr schwierig ist, die Hürden für eine weitere Verbreitung zu überwinden. Mit dem langsamen Schwinden dieser Schwierigkeiten wird der Markt immer schneller wachsen. Marktforschungsunternehmen wie Gartner2 und IDATE sagen einen enormen Zuwachs voraus. IDATE prognostizieren in ihrem Bericht ein jährli-
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http://www.gartner.com/it/page.jsp?id=1629214
D IE ERSTEN ZEHN J AHRE DER S ERIOUS G AMES -B EWEGUNG
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ches Wachstum von 1,5 Milliarden Euro im Jahr 2010 auf 10,2 Milliarden Euro im Jahr 2015.3
D IE P OPULARITÄT
VON
S ERIOUS G AMES
Warum macht man sich überhaupt Gedanken über das Konzept von Serious Games? Im Grunde weiß man, dass Spiele früher etwas für Kinder waren, aber heute interessieren sich Menschen aller Altersgruppen für sie. Früher hat man Games eher heimlich gespielt, aber deren Popularität sorgt nun nicht unbedingt dafür, dass man seine Zeit vernünftig investiert. Der oft genannte wichtigste Punkt ist das extreme Engagement der Spieler – etwas, das in anderen Lebensbereichen durchaus für begrüßenswert gehalten wird. Diese Anziehungskraft begleitet uns seit mehr als 40 Jahren in verschiedenen Formen und mit fast allen Mitteln. Die Spiele-Industrie verwendet unzählige Tricks, um das Wachstum anzukurbeln, darunter anspruchsvolles visuelles Design, technische Anreize und vor allem eine genaue Kenntnis der psychologischen Motivation der Menschen. Bei Spielen geht es um die Entstehung von optimalen Reaktionsmustern und einem Belohnungssystem innerhalb eines mächtigen, sicheren virtuellen Universums, in dem man verschiedene Sichtweisen auf die Welt erproben kann. Auf all diesen Gebieten setzen Spiele weltweit die Maßstäbe. Games werden zu einer kraftvollen universellen Sprache, die in der Lage ist, ein Publikum über alle Grenzen hinweg zu bewegen.
D IE
ZEHN
L EKTIONEN
Der vorliegende Artikel kann nicht vollständig auf alle Erkenntnisse eingehen, aber er bietet hoffentlich genug Orientierung für die Leser, die sich intensiver mit diesem Thema befassen wollen.4
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IDATE: Serious games. 2nd edition. Digital Home & Entertainment. IDATE, Juli 2010.
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Auf meinem Blog www.egenfeldt.eu findet man zahlreiche Einträge, Artikel und Bücher für weitere Informationen.
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1. Lektion: Es gibt verschiedene Anwendungen Die erste Erkenntnis ist die Tatsache, dass Serious Games sehr unterschiedlich sind. Sie erscheinen wie eine Schlange mit vielen Köpfen. Sie über einen Kamm zu scheren, würde jede Form der Erkenntnis unmöglich machen. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, Spiele im Bildungswesen einzusetzen. Für eine aktuelle Studie haben wir GLOBAL CONFLICTS in Großbritannien, Dänemark, Norwegen und Finnland getestet. Alle Lehrer verwendeten das Spiel auf unterschiedliche Weise, und dieses Ergebnis wurde auch von anderen Forschern auf Konferenzen bestätigt. Es gibt also riesige Unterschiede in der Anwendung von Spielen, nicht nur in Bezug auf ein einzelnes Spiel, sondern auch in Bezug auf verschiedene Spiele-Kategorien. Die unterschiedlichen Herangehensweisen sind ziemlich fundamental, sie zeigen die Sicht des jeweiligen Lehrers auf die Welt und darauf, wie man Theorien lernen kann, welche Lehrmethoden sinnvoll sind und wie man die Lernerfahrung strukturiert. Weiter unten lege ich die drei hauptsächlichen Varianten dar, aber selbst innerhalb dieser Varianten verwendeten Lehrer dasselbe Spiel in denselben Fächern auf unterschiedliche Weise. Einsatz zur direkten Vermittlung von Unterrichtsinhalten Diese Anwendung kennen wahrscheinlich die meisten. Man benutzt Spiele, um bestimmte Unterrichtsstoffe zu vermitteln. Die Kinder spielen das Game und lernen gleichzeitig etwas über das entsprechende Thema. In einer aktuellen Untersuchung, die wir durchführten, wurde deutlich, dass dies die mit Abstand beliebteste Methode ist, Spiele einzusetzen. Diese Anwendung setzt sich vor allem im Unterricht der unteren Klassenstufen durch, wo es um die Vermittlung grundlegender Fähigkeiten wie Rechtschreibung und Zahlen geht.5 Entwicklung von Spielen für relevante Unterrichtsinhalte Dennoch konzentriert sich das Interesse in der Forschung vor allem auf Spiele, die es den Nutzern erlauben, Wissen aktiv im Spiel zu erwerben. Das bedeutet im Grunde, dass man Spiele entwickelt, die Inhalte, Fähigkeiten oder Einstellungen kreativ ausdrücken. Wenn man also geschichtliches Wissen vermitteln möchte, dann entwirft man ein Geschichts-Quizz oder ein kleines historisches
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Egenfeldt-Nielsen, Simon: »Game-based Learning’s Struggle for Adaptation. – International Survey on the Experience and Perception Among Teachers«, in: Simon Egenfeldt-Nielsen/Bente Meyer/Birgitte H. Sørensen (Hg.): Serious Games in Education. A Global Perspective, Aarhus: Aarhus University Press 2011, S. 187-203.
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Strategiespiel. Darüber wird viel gesprochen, gerade in Großbritannien ist dieser Ansatz sehr populär, vor allem durch Produkte von Caspian Learning und Immersive Education. Einbindung zur Anreicherung bestehender curricularer Inhalte Bei dieser letzten Anwendung geht es im Sinne von Medienkompetenz darum, Spiele auf bessere oder schlechtere Weise als eine Art Gewürz einzusetzen, das Lehrinhalte schmackhafter macht. Anstatt »Sherlock Holmes« oder ein anderes älteres literarisches Werk zu analysieren, interpretiert man halt ein Spiel. Alle diese Einsatzweisen sind sehr unterschiedlich. Bei der einen geht es eher um Konstruktivismus und soziales Lernen oder aktiven Wissenserwerb in einem gemeinsamen Raum, bei dem anderen um eher traditionelle Lehrbuch-Anwendungen. Leider gibt es immer noch eine größere Nachfrage nach Spielen, die auf traditionelle Weise eingesetzt werden, wobei kaum das volle Potenzial des Mediums ausgeschöpft wird. Manchen sind diese unterschiedlichen Ansätze im Umgang mit Spielen bekannt, aber sie blieben bislang eher unreflektiert. Diejenigen, die sich über Spiele unterhielten, sie erforschten oder untersuchten, taten das daher auf äußerst unterschiedliche Art und Weise. 2. Lektion: Viele Lehrer verwenden Serious Games Die zweite Lektion erinnert uns daran, dass viele Lehrer bereits Serious Games verwenden. Ich bezweifelte das, bevor ich eine eigene Studie durchführte. Inzwischen konnten zahlreiche Untersuchungen nachweisen, dass mindestens 60 Prozent aller Lehrer schon auf irgendeine Weise Spiele eingesetzt haben. Nur sehr wenige Lehrer lehnen Serious Games vollständig ab und möchten nicht wenigstens einen Versuch wagen. Die Tatsache, dass die meisten Lehrer in Europa damit schon Erfahrungen gesammelt haben, ist sehr interessant. Die Mehrzahl der Lehrer hat sogar positive Erfahrung mit Spielen gemacht, aber mit den Begleitumständen haben sie auch sehr schlechte Erfahrungen gemacht.6 Fast die gesamte Integration von Spielen in den Unterricht geschieht im Rahmen der Vermittlung curricularer Inhalte in den unteren Jahrgangsstufen. Es handelt sich also um sehr spezifische Arten von Spielen und sehr spezifische
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S. Egenfeldt-Nielsen: »Game-based Learning’s struggle for Adaptation – International Survey on the Experience and Perception Among Teachers«.
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Lerninhalte. Gegenwärtig entwickelt sich also nur ein kleiner Bereich, während der große Rest noch immer in vielerlei Hinsicht unerforscht geblieben ist. 3. Lektion: Wir müssen immer weiter lernen Ich habe mir verschieden Studien angesehen, um herauszufinden, auf welchem Wissensstand wir uns befinden. Was funktioniert, und was müssen wir bedenken, wenn wir ein Spiel für effektives Lernen entwickeln möchten? Der erste Punkt, auf den oft eingegangen wird, ist die aktive Handlung bei Spielen. Man nutzt sein Wissen, um im Spiel Fortschritte zu erzielen, und das macht Spiele im Vergleich zu anderen Medien einzigartig. Wenn man ein Buch liest, blättert man einfach die Seite um. Bei einem Spiel sieht das ganz anders aus. Nachdem man die erste Seite gelesen hat, muss man einige Entscheidungen treffen und das erworbene Wissen nutzen, um Erfolg zu haben, erst dann gelangt man auf die nächste Seite. Der Lerneffekt bei Spielen ist vollkommen anders als bei Büchern, dem Fernsehen oder anderen weniger interaktiven Medienformen. Deswegen ist es sehr wichtig, diese Spiel-Mechanik zu beachten, wenn wir Serious Games entwickeln.7 Der nächste Punkt wird etwas kontrovers diskutiert, und Wissenschaftler sind sich nicht immer einig, aber es gibt viele Studien, die belegen, dass der Lerneffekt viel kleiner ist, wenn man den Fokus bei Spielen nicht auf den Lernprozess selbst setzt. Es ist also wichtig, ganz deutlich ein Lernziel zu setzen. Der Ansatz, dass Wissen unbewusst vermittelt wird, ist problematisch. Dennoch hängt es davon ab, in welchem Wissensgebiet man sich bewegt. Für Spiele, bei denen es nicht auf bestimmte Fähigkeiten ankommt, ist es extrem wichtig, den Lernkontext ausdrücklich zu benennen. Bei Spielen hingegen, in denen es grundsätzlich um eine bestimmte Fähigkeit, einen Bewegungsablauf oder eine Übung geht, spielt das keine so große Rolle. Zudem ist schon lange bekannt, dass es essentiell ist, das Lernen mit spielerischen Erfahrungen zu kombinieren, um das bestmögliche Resultat durch das Spiel zu erzielen.8 Es genügt nicht, eine künstliche Verbindung zwischen dem
7
Egenfeldt-Nielsen, Simon: The Educational Potential of Computer Games, London:
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Malone, Thomas W./Lepper, Mark R.: »Intrinsic Motivation and Instructional Effec-
Continuum Press 2007. tiveness in Computer-based Education«, in: John Snow/William Farr (Hg.): Aptitude Learning, and Instruction, London: Lawrence Erlbaum Associates Publishers 1987, S. 255-286. Malone, Thomas W./Lepper, Mark R.: »Making Learning Fun: A Taxonomy of Intrinsic Motivation for Learning«, in: John Snow/William Farr (Hg.), Apti-
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Spiel und der Lernerfahrung herzustellen. Zum Beispiel gibt es viele Spiele, bei denen man Fragen beantworten muss, bevor man dann zehn Minuten spielen kann. Viele Spiele sind auf mehr oder weniger subtile Weise ähnlich strukturiert. Wir wissen inzwischen, dass dies nicht der effektivste Weg ist. Man sollte sicherstellen, dass die Lernerfahrung und die Spielerfahrung gleichzeitig stattfinden und dass die Lernziele den Spielzielen entsprechen. Wenn man ein Quiz spielt, bei dem man Fragen richtig beantworten muss und danach PAC-MAN, bei dem man möglichst viele Gespenster töten muss, dann decken sich die Ziele nicht wirklich. Ein weiterer wichtiger Punkt bei der Entwicklung von Lernspielen ist der Fokus. Unterhaltungsspiele wie AGE OF EMPIRES oder TOTAL WAR, die ein interessantes historisches Umfeld bieten, sind sehr beliebt. Man kann argumentieren, dass man mit geschichtlichen Fakten konfrontiert wird und sie somit besser lernt. Tatsächlich aber liegt der Fokus nicht auf diesen Fakten. Man kann es mit einer Theateraufführung vergleichen, wo es Requisiten, eine Bühne, ein Bühnenbild und eine Hintergrundgeschichte gibt und dann die Bühnenhandlung. Eventuell kann man Informationen aus dem Kontext ziehen, aber der Fokus liegt auf dem sich entwickelnden Schauspiel. Dasselbe trifft auf ein Spiel zu, bei dem die Einführung, die Hintergrundhandlung und die visuellen Elemente oft sehr schnell sekundär werden. Der Spieler konzentriert sich auf die Hauptelemente des Spiels. Wenn man also ein echtes Strategiespiel wie AGE OF EMPIRES spielt, muss man sich mit vielen Hintergrundinformationen auseinandersetzen, aber dann ist es im Prinzip ein Spiel wie Papier, Stein, Schere und darauf konzentriert sich der Spielende. Das heißt nicht, dass man bei diesen Spielen nichts lernt, aber man muss sich darüber klar werden, was man tatsächlich lernt und in welchem Teil des Spiels das geschieht. Andernfalls besitzen wir nur vage Vorstellungen davon, was man bei Spielen lernen kann und welche Wirkungen sie hervorrufen. Der letzte wichtige Punkt im Hinblick auf den Lerneffekt ist die Nachbesprechung. Ohne sie kann man nicht das volle Potential eines Lernspiels ausschöpfen. Eine Nachbesprechung befördert nach dem Ende des Spiels die Erkenntnis, was gelernt wurde. Es muss eine Evaluation stattfinden. Man muss den Spieler herausfordern. Man sollte mehrere Lernziele etablieren und dafür sorgen, dass die Spieler bereit sind zu lernen. Wahrscheinlich würden sie auch zufällig etwas
tude Learning, and Instruction, London: Lawrence Erlbaum Associates Publishers 1987, S. 233-253.
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lernen, aber das wäre nicht sehr effektiv, deswegen sollte es eine Art Kontrolle geben, bestimmte Richtungsvorgaben.9 Diese Lektion zeigt auch, wieso es eine so große Herausforderung ist, Spiele, die zu Unterhaltungszwecken entwickelt wurden, nachträglich für die Vermittlung von Lernerfahrungen anzupassen. Das Problem besteht in der Integration und dem Fokus, denn diese Spiele wurden nicht im Hinblick auf die Lerninhalte und Lernziele konzipiert, um die es uns geht, deswegen sind sie sehr ineffizient. 4. Lektion: Spieler müssen bei der Stange gehalten werden Es ist sehr wichtig, dass Spiele Konsequenzen haben und klares Feedback geben. Das erst führt dazu, dass Spieler weitermachen, und ist damit für den Lerneffekt ausschlaggebend. Bei GLOBAL CONFLICTS haben wir zudem herausgefunden, dass es nicht wirklich sinnvoll ist, visuell attraktive 3D Serious Games zu entwickeln, vergleichbar mit Unterhaltungsspielen wie GRAND THEFT AUTO oder WORLD OF WARCRAFT. Erstens verfügen Schulen nicht über die die entsprechende Hardware, zweitens gibt es dafür keine entsprechenden Budgets, und drittens ist es auch nicht wirklich notwendig. Es ist viel besser, die Visual Effects an casual games zu orientieren und damit ein sehr gutes Ergebnis zu erzielen, als zu versuchen, ein grafisch sehr hochwertiges Spiel zu entwickeln. Man möchte nicht, dass Lehrer und Schüler das eigene Serious Game mit hochwertigen Spielen vergleichen. Es ist viel sinnvoller, ein Spiel anzubieten, das Schüler und Lehrer mit FARMVILLE vergleichen, und nicht mit WORLD OF WARCRAFT. Weitere wichtige Punkte in Bezug auf Spiele sind die Relevanz und die Authentizität. Es hängt von der Art der Spiele ab, in welcher Form man diese Punkte berücksichtigen kann. Spiele eignen sich sehr gut dafür, sogenannte virtuelle Welten zu erschaffen, in denen man fast reale Erlebnisse hat und bedeutsame Erfahrungen sammeln kann. Oft verläuft Unterricht so, dass ein Gegenstand zuerst abstrahiert wird, damit der Lehrer ihn vermitteln kann, woraufhin der Schüler das Abstrakte wieder zu einem Ganzen zusammensetzen muss, damit er das Gelernte vielleicht fünf Jahre später anwenden kann. Das ist für Schüler ein sehr schwieriger Transformationsprozess, der zudem auch sehr ineffektiv ist. In Spielen lassen sich sehr gut Probleme in virtuellen Welten so gestalten, dass man sich mit ihnen in einer relevanten und authentischen Umgebung auf eine Art und Weise auseinandersetzen kann, die bedeutungsvoll ist. Anstatt einfach zu fragen, was macht eins plus eins, kann man auch zwei Bananen in einem Geschäft kau-
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fen, die ich meinem hungrigen Kind zum Essen gebe, das mir dafür dankbar ist. Diese Relevanz und Authentizität sind wirkungsvolle Instrumente, um die Schüler in diesen virtuellen Welten bei der Stange zu halten. Schließlich gibt es noch die extrinsische und die intrinsische Motivation. Es ist sehr einfach, eine extrinsische – äußere – Motivation zu schaffen. Dabei geht es im Grunde nur darum, wie viele Punkte man erreicht hat. Man kann die erreichte Punktzahl seinen Freunden zeigen, zum Beispiel bei Facebook. Das ist sehr instrumental, es geht um das Erreichen bestimmter Punkte, und das wird stark kritisiert. Die Spieler von WORLD OF WARCRAFT z.B. haben keine Lust mehr auf die ständige Plackerei in der Spielwelt – dass sie, um weiterzukommen, immer wieder dieselben Dinge tun müssen, die keinen Spaß machen. Dieses äußerliche Belohnungssystem ist nicht Teil der eigentlichen Spielerfahrung. Man sollte es aber einbauen, weil es leicht, einfach und auf kurze Sicht ziemlich effektiv ist. Wenn man allerdings das Beste aus einem Spiel holen möchte, sollte man sich auf die intrinsische – innere – Motivation konzentrieren. Das Spielen sollte auf jeden Fall Spaß machen. Bei COUNTER STRIKE geht es darum, herumzulaufen und Leute zu erschießen. Das ist eine Herausforderung, die den Spieler involviert. Jenseits aller Kontroversen ist das eine Tatsache. Bei COUNTER STRIKE existiert auch eine äußerliche Motivation, nämlich die Frage, wie viele Menschen man erschossen hat. Punkte zu sammeln ist einfach, aber es ist wirklich schwer, für ein Spiel eine innere, motivierende, interessante Aktivität zu entwerfen, die zudem herausfordernd und bedeutungsvoll ist. Noch sehr viel schwieriger ist es allerdings, Lernziele und Spielziele zur Deckung zu bringen. 5. Lektion: Spieleentwicklung – einfach halten Schaut man sich heute die Branche der Serious Games an, kann man etwas über die Entwicklung der Spiele lernen. Generell sind Serious Games erfolgreicher, wenn eine Standardtechnologie verwendet wird, wenn komplexe Lösungen vermieden werden, wenn bestehende technische Systeme integriert werden, und wenn man sich auf casual gaming konzentriert. Diese Elemente mögen einfach erscheinen, aber oft wird die Anpassung von Spielen an bestehende ICT-Strukturen im Bildungssystem überraschend komplex. Wenn man sich an die oben genannten Punkte hält, erspart man sich viel Mühe und am Ende auch den Bildungseinrichtungen und Unternehmen. Auch dann entstehen noch genug Probleme, aber generell ist dies nach meiner Erfahrung die beste Lösung.
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Wir sehen, es gibt so viele potentielle Barrieren, bevor wir mit unseren Spielen die Schüler erreichen können, dass man alles so einfach wie nur möglich gestalten sollte. 6. Lektion: Der Vertrieb – wenige Möglichkeiten Die größte Herausforderung im Bereich der Serious Games besteht darin, dass man die Spiele nirgendwo kaufen kann. Es gibt keine wirksamen Vertriebswege, auf denen wir Lehrer, Eltern oder andere Nutzer erreichen können. Während der letzten zehn Jahre war das eine extreme Herausforderung. Es ist einfacher geworden, seit man die Spiele direkt im Browser anbietet anstatt auf CD-ROMs oder eine Möglichkeit zum Download schafft, aber die meisten Leute wissen immer noch nicht, wo sie diese Spiele finden können. Die Entwickler – hinter denen meist keine großen Firmen stehen –müssen die Vermarktung selbst übernehmen, und das ist alles andere als effektiv. Aber es gibt noch weitere Probleme: Wenn man Unterhaltungsspiele entwickelt, dann macht man das für den globalen Markt. Diese Spiele können dann überall in der westlichen Welt oder sogar in Asien und dem Rest der Welt gespielt werden. Wenn man jedoch ein Lernspiel entwickelt, bewegt man sich in einem viel lokaleren Rahmen, was es schwierig macht, Budgets auf einem Niveau zu bekommen, auf dem man Spiele entwickeln kann, die den qualitativen Anforderungen genügen. Der Umstand, dass Bildung wenig global ist, behindert die Distribution. Schon zwischen Nachbarländern wie Schweden und Dänemark bestehen in dieser Hinsicht große Unterschiede und Hindernisse. Außerdem mussten wir erkennen, dass der herkömmliche Weg über Publisher auch nicht funktioniert. Publisher haben kein Verständnis für diese Branche, sie eignen sich nicht für den Vertrieb. Wahrscheinlich werden sich in nicht allzu ferner Zukunft andere Vertriebswege entwickeln. Im Moment jedoch existieren nicht viele Verkaufsmöglichkeiten für Serious Games. Es gibt einige Initiativen und einige erste Versuche, die nicht gerade ideal sind. Aber die Etablierung eines Vertriebsweges wird für die Evolution des gesamten Sektors essenziell sein. 7. Lektion: Oft sind es nicht die Spiele, die ihren Einsatz erschweren, sondern die IT-Technologie Die meisten Studien belegen, dass Serious Games an sich kein Hindernis für ihren Einsatz darstellen. Das Hindernis ist der Gebrauch eines Computers, die IT. Wenn man Lehrer fragt, warum sie keine Spiele verwenden, antworten sie, dass
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es an den Computer und den Peripheriegeräten liegt, an der Installation und an mangelndem IT-Wissen. Es ist zu schwierig. Das ist ein wirkliches Problem, weil die Serious-Games-Branche selbst keinen Einfluss darauf hat. Wir können nur hoffen, dass diese Hindernisse im Laufe der Zeit kleiner werden, aber das kann lange dauern. Dieser Punkt hat auch Auswirkungen auf die bisher genannten Erkenntnisse und belegt noch einmal, dass man alles so unkompliziert wie möglich gestalten sollte: Gefordert sind einfache, standardisierte Lösungen, die von Lehrern leicht verwendet werden können, weil es wesentlich an dem technischen Drumherum liegt, wenn Lehrer keine Spiele einsetzen. 8. Lektion: Man muss die Menschen überzeugen Wie können wir andere Menschen davon überzeugen, dass Serious Games eine gute Idee sind? Ich beschäftige mich schon seit ein paar Jahren damit und spreche mit Lehrern, Politikern, Schülern, Forschern und Journalisten. Die meisten Menschen haben eine positive Einstellung. Ich habe noch nie erlebt, dass wir Lehrer bei einer Lehrer-Konferenz nicht überzeugen konnten, wenn wir ihnen erklärt haben, wie alles funktioniert. Wenn man Lehrern also erklärt, wie Serious Games funktionieren, sind sie eigentlich immer davon angetan. Das bedeutet nicht unbedingt, dass sie gleich mit dem Einsatz von Spielen beginnen, weil es nicht sicher ist, dass es an ihrer Schule auch funktionierende Computer und die notwendigen Strukturen gibt, aber wenigstens sind sie für die Sache gewonnen. Zum zweiten sollten wir unseren Fokus auf Seminare legen. Anstatt ganze Bildungssysteme zu verändern, sollten wir mit Lehrer-Seminaren beginnen. Dort könnte man IT Kenntnisse vermitteln und die Möglichkeiten der Spiele vorstellen. Ein drittes sehr wichtiges Moment sind positive Erfahrungen von anderen Lehrern. Das ist der überzeugendste Faktor. Lehrer hören nicht auf Spieleentwickler, sie hören auch nicht auf Journalisten. Sie hören auf niemand anderen als auf Lehrer. Die Gemeinschaft der Lehrer denkt sehr eng in dieser Hinsicht. Das sagt wahrscheinlich einiges über das Bildungssystem aus. Alle Veränderungen sind ein sehr langsamer Prozess. Ungefähr 60 bis 70 Prozent der Lehrer geben an, dass sie hauptsächlich von anderen Lehrern dazu inspiriert wurden, den Einsatz von Spielen einmal auszuprobieren. Es spielt keine Rolle, wie viel Pressearbeit oder Marketing man investiert. Allerdings haben wir gute Erfahrungen damit gemacht, Lehrer in die Entwicklung von Lernspielen zu involvieren. Sie identifizieren sich dann damit und beginnen, die Spiele in verschiedenen Umfeldern einzuführen, was zu guten Re-
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aktionen von anderen Lehrern führt. Auf diese Weise werden Lehrer zu Befürwortern der Spiele. 9. Lektion: Finanzierung ist eine Herausforderung Wir mussten auch erfahren, dass die Finanzierung von Serious Games eine große Herausforderung darstellt, was ziemlich deprimierend ist, weil sich an dieser Situation seit Jahren nichts geändert hat. Risikokapital gibt es auf diesem Gebiet kaum. Schulen haben ebenfalls keine finanziellen Mittel. Aber eine gute Finanzierung ist für einen Erfolg natürlich essentiell. Im Moment geschieht vieles zufällig, es gibt keine spezielle Bildungspolitik dafür, außerdem variiert die Situation von Land zu Land. Ich bezweifle, dass es viele Entwickler gibt, die mit Spielen für den Schulmarkt Geld verdient haben. Es gibt ohnehin sehr wenige Entwickler, und die können am Ende nur dann einen kleinen Gewinn machen, wenn sie Fördergelder bekommen. 10. Lektion: Aber es funktioniert! Wir haben genug Beweise dafür, dass Spiele genauso gut sind wie andere Lernformen. Ganz besonders wichtig ist, dass das mit ihnen vermittelte Wissen besser behalten wird. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob man mit Spielen mehr lernt, aber wir wissen, dass man sich besser an das erinnert, was man gelernt hat. Ich sage Lehrern oft, dass sie einfach so weitermachen sollen wie bisher, wenn es ihnen egal ist, ob ihre Schüler das, was sie lernen, auch erinnern und nutzen können. Wenn man aber möchte, dass sie sich an etwas erinnern und es auch noch 12 Monate, zwei Jahre oder viel später im Leben anwenden können, dann sollte man Spiele einsetzen. Diese Erkenntnis haben wir schon länger, und es gibt immer mehr Beweise dafür. Wir wissen auch, dass Schüler motivierter beim Lernen sind und dass sie sich intensiver mit den Inhalten befassen. Die Schüler merken selbst, dass sie mehr lernen, das steigert ihr Interesse, so dass sie noch mehr lernen möchten und spüren, dass sie einen Lernerfolg erzielen. Zudem haben wir von Lehrern erfahren, dass über Serious Games auch schwierige oder unruhige Schüler gut erreicht werden können.10
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B ILDUNGSSYSTEM
Mit all diesen Erkenntnissen im Hinterkopf stellt sich die Frage, wie groß die Chancen sind, dass das Bildungssystem tatsächlich einmal Spiele einsetzt. Damit kommen wir zum letzten Teil meiner Überlegungen. Das Thema beschäftigt mich sehr: Warum setzen sich Spiele nicht durch? Warum werden sie an Schulen nicht häufiger eingesetzt? Erklärung suchte ich bei Rogers Theorie zur »Verbreitung von Innovationen«11, die sich mit verschiedenen Industriezweigen und Generationen befasst, um herauszufinden, welche Faktoren dafür sorgen, dass Menschen eine Innovation erfolgreich annehmen. Seine Studie besagt, dass es fünf Bereiche gibt, mit denen man 49 bis 87 Prozent der Varianten der Durchsetzung von Innovationen erklären kann. Seine Theorie erklärt nicht alles, aber dennoch ziemlich viel. Besonders wichtig ist, dass es vor allem um Wahrnehmung geht. Für die »Verbreitung von Innovationen« spielt es keine Rolle, wie viel Forschung man betrieben hat und wie viele Belege für die Qualität der Innovation man vorweisen kann. Entscheidend ist die Wahrnehmung. Es kommt nicht darauf an, ob man in komplexen Studien in wissenschaftlichen Zeitschriften darlegt, dass die Sache eine gute Idee ist. Wenn es nicht offensichtlich als eine gute Idee wahrgenommen wird, mit der Lehrer gut arbeiten können, dann werden sie es erst gar nicht versuchen. Der erste Punkt ist »relativer Vorteil«, was bedeutet: Nimmt man Spiele als etwas wahr, das das Leben einfacher macht? Der nächste Punkt ist »Kompatibilität«, das heißt: Wie gut lassen sich Spiele in bereits bestehende Normen, Ansprüche, Erwartungen und frühere Erfahrungen einbinden? Der dritte Punkt ist »Komplexität«: Kann man Spiele gut verstehen? Wie leicht ist ihr Einsatz? Der vierte »Beobachtbarkeit«: Wie einfach ist es, andere davon zu überzeugen, dass ein Spiel gut funktioniert? Der letzte Punkt ist »Testbarkeit«: Kann man das Spiel einfach ausprobieren? Wie viel Risiko verbindet sich damit? Natürlich erkennt der schlaue Leser, dass viele Innovationen einen schweren Stand im Bildungssystem hätten. Deswegen wird das Bildungssystem wahrscheinlich auch oft als recht konservativ bezeichnet. Tatsächlich ist die Herausforderung für Computerspiele sogar noch größer als für andere Innovationen. In vielen Untersuchungen wurden Lehrer gefragt: Was ist der Vorteil von Computerspielen? Die Antworten zeigen, dass sich die Lehrer nicht einig sind. Für manche ist es die Motivation, für andere ist es eine Mischung von verschiedenen Aspekten. Motivation spielt jedoch eine große Rolle. 25 Prozent der Leh-
11 E. M. Rogers: Diffusion of Innovations.
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rer geben an, dass Schüler durch Spiele motivierter sind.12 Wichtig ist dabei, dass Motivation für Lehrer keine besondere Priorität hat. Vielen Lehrern ist es egal, ob ihre Schüler motiviert sind. Sie haben ganz andere Probleme, zum Beispiel zu wenig Zeit für die Vorbereitung und lärmende Schüler. Es gibt eine indirekte Verbindung zur Motivation, aber vielen Lehrern ist das nicht klar. Die Wahrnehmung eines »relativen Vorteils« existiert bei Lehrern, aber sie ist nicht sehr ausgeprägt. Nun zur Kompatibilität. Das ist ein schwieriger Bereich. Lehrer haben keine Ahnung von Spielen, sie kennen sich mit IT nicht aus, sie können Spiele kaum einschätzen. Insofern passen Spiele nicht zu der normalen Vorgehensweise. Hinzu kommt die Subkategorie: Werte und Überzeugungen, frühere Vorstellungen und tatsächliche Bedürfnisse. Die Vorstellung, dass Spiele »böse« seien, verschwindet wohl langsam unter Lehrern in Dänemark, Großbritannien und den USA. Für Deutschland bin ich mir nicht so sicher. Dort gibt es wahrscheinlich immer noch viele Lehrer, die das ablehnen. In unseren Untersuchungen bekommen wir immer noch Rückmeldungen von Lehrern, die angeben, dass sie Spiele nicht einsetzen können, weil sie Gewalt verherrlichen und anstößige Inhalte haben. Nach der Logik dürfte man auch keine Bücher verwenden, weil es American Psycho gibt. Es existieren also immer noch seltsame Ansichten in Bezug auf Werte und Überzeugungen. Lehrer haben manchmal eine ganz falsche Vorstellung von Spielen. Das ist natürlich eine Herausforderung. Das größere Problem besteht aber wahrscheinlich darin, dass Lehrer denken, andere Lehrer würden Spiele ablehnen. Deswegen verwenden sie keine Spiele, weil sie glauben, andere lehnen Spiele ab. Außerdem existieren »vorherige Ideen«, das heißt, wie sehen Lehrer sich selbst? Wie unterrichten sie? Welcher Didaktik folgen sie? Auf welche Weise betrachten sie den Vorgang des Lernens? Viele Spiele, die im Bildungssystem erfolgreich sind, entsprechen einer traditionellen Lehrform. Meistens geht es um ganz grundsätzliche Dinge wie Rechtschreibung und Mathematik. Das ist etwas, das Lehrer verstehen können. Aber sobald man versucht, die Vorteile von Spielen intensiver zu nutzen, hat man ein Problem. Man fordert damit die Denkweise von Lehrern in Bezug auf Didaktik heraus, in Bezug auf Lerntheorien, auf ihre Rolle als Lehrer, wie sich Schüler verhalten sollten , wie das Bildungssystem strukturiert ist, wie wir Dinge bewerten etc. Dann geht es darum, das praktische Verhalten der Beteiligten zu verändern.
12 S. Egenfeldt-Nielsen: »Game-Based Learning’s Struggle for Adaptation – International Survey on the Experience and Perception Among Teachers«.
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»Kompatibilität von Bedürfnissen« ist die nächste Frage. Erreicht GameBased Learning wirklich die vom Bildungssystem gewünschten Ziele? Bei vielen Spielen ist das nicht der Fall. Die Reihen GLOBAL CONFLICTS und PLAYING HISTORY, die wir veröffentlicht haben, beziehen sich nicht auf zentrale Bildungsinhalte, sie legen keinen großen Wert auf die wichtigsten Probleme der Lehrer. Sie existieren eher am Rande des Bildungssystems, und deswegen haben sie für Lehrer keine Priorität, weder bezüglich des Zeitaufwands noch hinsichtlich des finanziellen Aufwands. Was sie an freien Ressourcen haben, nutzen sie einfach nicht für diese Spiele. Allerdings sind diese eher randständigen Spiele oft die besten Lehrmittel, weil sie keine Rücksicht auf die Einschränkungen des Bildungssystems nehmen müssen, die es so schwierig machen, das volle Potential von Computerspielen auszuschöpfen. Der nächste Punkt ist »Komplexität«. Spiele müssen nicht komplex sein, aber Lehrer denken, Serious Games seien komplex. Es spielt keine Rolle, ob wir meinen, die Spiele seien einfach oder ob sie tatsächlich einfach sind. Da Lehrer Spiele für schwierig halten, sträuben sie sich dagegen, sie zu verwenden. Zudem sind viele Spiele tatsächlich komplex, wie wir schmerzhaft gelernt haben. Man muss ein Gerät einschalten, sich einloggen, man muss etwas installieren, Grafiktreiber updaten, und es gibt verschiedene Genres mit teilweise steilen Lernkurven. Man kann auf sehr vielfältige Weise bei der Entwicklung von Lernspielen versagen. Beim Gedanken an Computerspiele stellen sich Lehrer oft vor, wie 28 Schüler vor ihnen sitzen, auf einen leeren Bildschirm starren und fragen, was sie jetzt machen sollen. Das gefällt Lehrern nicht besonders, und anderen Menschen auch nicht. Ein generelles Problem an Schulen ist die »Beobachtbarkeit«. Lehrer haben ihre eigenen Methoden. In den Klassenzimmern probieren sie die Computer aus, beobachten, wie die Schüler mit den Spielen umgehen, dann versuchen sie etwas anderes, und niemand in der Schule weiß irgendetwas darüber. Dadurch werden Innovationen kaum verbreitet, worunter auch die Durchsetzung von Spielen leidet. Dadurch dauert es, bis sich die Ergebnisse verbreiten. Bei Handys funktioniert es zum Beispiel so: Ich probiere es aus, ich rufe jemanden an, ich spreche mit jemandem am anderen Ende der Welt, während ich jogge. In diesem Fall ist die Beobachtung eines Resultats sehr einfach. Im Falle eines Unterrichts sieht es so aus: Lehrer verwenden veraltete oder ineffiziente Lehrmittel, und in zwanzig Jahren werden ihrer Schüler unter höherer Arbeitslosigkeit leiden. Es dauert sehr lange, bis sich die Auswirkungen zeigen. Natürlich kann man mit Überprüfungen und Evaluationen arbeiten, aber Methoden dafür sind in Schulen nicht sehr elegant und definitiv nicht dazu gemacht, Lernen mithilfe von Spielen zu favorisieren.
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Der letzte Punkt ist »Testbarkeit«. Es wird leichter, Spiele auszuprobieren, aber wenn 28 Schüler ein Spiel ausprobieren, wird es sehr teuer, falls der Versuch nicht erfolgreich ist. Man muss mindestens 30 Stunden Zeit investieren, dazu kommt die Vorbereitung durch den Lehrer. Deswegen sucht man sehr sorgfältig aus, was man ausprobieren will. Wenn dieser Vorgang zu komplex ist und die Vorteile nicht klar erkennbar sind, dann werden Lehrer wahrscheinlich keinen Versuch unternehmen. Man muss berücksichtigen, dass Spiele ein ganz neues Format darstellen. Man kann das nicht mit dem Ausprobieren eines neuen Schulbuchs oder neuen Materials aus dem Web vergleichen. Es handelt sich um eine neue Form des Unterrichtens. Deshalb sind Versuche schwieriger, und Lehrer brauchen mehr Zeit zur Vorbereitung, bis sie sich damit anfreunden.
D REI B EISPIELE FÜR H ERAUSFORDERUNGEN
BEI
L ERNSPIELEN
Im Folgenden werde ich drei Beispiele aus der Praxis aufführen, um zu demonstrieren, wie sich Lernspiele auf dem Markt behaupten und wie sie im Verhältnis zu den Punkten von Rogers Innovations-Theorie abgeschnitten haben. Alle Spiele sind preisgekrönt und seit ein paar Jahren auf dem Markt. Die Tests verliefen für alle Spiele gut, die Grafik ist auch zufriedenstellend, aber sie gehören zu verschiedenen Genres und behandeln unterschiedliche Themen. MAKING HISTORY ist ein historisches Spiel über den Zweiten Weltkrieg, das von Muzzy Lane entwickelt wurde. GLOBAL CONFLICTS behandelt crossdisziplinär Fragen von Nationalität und Staatsbürgerschaft. DIMENSION M ist ein Mathematikspiel, das unterschiedliche Spielgenres mit Action- und PuzzleElementen kombiniert. Alle Titel haben immer noch damit zu kämpfen, dass sie nicht wirklich erfolgreich sind. Die Spiele sind unterschiedlich teuer und werden unterschiedlich vermarktet, aber da laut der Theorie der »Verbreitung von Innovationen« Marketing und Preis nur eine geringe Rolle spielen, ignorieren wir diese Differenzen. Denn Rogers13 ist der Meinung, dass Preis und Marketing hauptsächlich beeinflussen, wie schnell eine Innovation angenommen wird. Wenn sie zu teuer ist und nicht vermarktet wird, dauert es halt länger, als wenn man Geld in das Marketing investiert.
13 Rogers, Everett M.: Diffusion of Innovations, New York: Free Press 2003.
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Wahrscheinlich ist DIMENSION M das erfolgreichste Produkt, was daran liegen dürfte, dass es sich um ein Action- und Puzzle-Spiel handelt. Es ist vertrauter, und Schülern macht es Spaß – man muss Aufgaben lösen und dabei Matheantworten abschießen. Wichtiger ist aber, dass DIMENSION M darauf achtet, dass die Verbindung zum Lehrstoff deutlich wird. Im Vergleich zu anderen Spielen fällt es Lehrern relativ leicht zu erkennen, dass nicht nur die Schüler dieses Spiel gut finden, sondern dass es auch zum Curriculum passt. Die anderen Spiele sind nicht so eindeutig einzuordnen. DIMENSION M kommt meiner Meinung nach einem Schulbuch viel näher als einem Spiel. Natürlich gibt es unterschiedliche subjektive Meinungen dazu, wie man Spiele zum Lernen einsetzen kann. Aber DIMENSION M wird auf seine Weise wahrscheinlich mehr Erfolg auf dem Markt und bei den Lehrern haben. Im Hinblick auf das Thema »Komplexität« ist MAKING HISTORY sehr komplex, GLOBAL CONFLICTS bewegt sich im Mittelfeld, und DIMENSION M ist am einfachsten. Bei DIMENSION M kann man viel schneller anfangen zu spielen als bei GLOBAL CONFLICTS und MAKING HISTORY; das Spiel macht es sowohl den Lehrern als auch den Schülern einfacher. Die »Testbarkeit« ist für alle Spiele ungefähr gleich, wenn auch MAKING HISTORY sich etwas schwieriger herunterladen und installieren lässt. Was die »Beobachtbarkeit« angeht, haben GLOBAL CONFLICTS und MAKING HISTORY ein paar Nachteile. DIMENSION M bietet eine sehr gute Funktion: Es gibt Online Wettbewerbe mit anderen Schulen; man kann also sehen, welche Schulen es auch verwenden. Auf diese Weise kommuniziert man den Schulen: »Ihr seid nicht alleine, auch andere Leute spielen dieses Spiel.« Damit bestärkt man die Lehrer, die das Spiel einsetzen. Es gibt also wenigstens eine virtuelle »Beobachtbarkeit« in diesem System. DIMENSION M schneidet also im Hinblick auf die Theorie der »Verbreitung von Innovationen« etwas besser ab als die beiden anderen Spiele.
S CHLUSSFOLGERUNG Ich hoffe sehr, dass die kritische Herangehensweise an dieses Thema nicht dazu führt, dass Politiker dies als Entschuldigung dafür nutzen, nichts zu unternehmen. Das Bildungssystem benötigt eine funktionierende IT-Infrastruktur – nicht nur, um das Potential von Serious Games auszuschöpfen, sondern auch, um auf vielen anderen Gebieten davon zu profitieren. Im Moment herrscht eine Situation, in der wir mit einer dysfunktionalen IT-Struktur arbeiten müssen, was zu hohen Kosten und Frustration führt. Das zerstört die Motivation der Lehrer, diese Technologien zu nutzen. Die Zukunft von Serious Games im Bildungssystem
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hängt davon ab, dass das Bildungssystem endlich einen Weg findet, eine funktionierende Infrastruktur aufzubauen. Sobald eine Infrastruktur existiert, wird es auch eine steigende Anzahl von Lehrern geben, die den Mut und die Energie aufbringen, etwas auszuprobieren, obwohl sie sich über den Ausgang noch nicht ganz sicher sind. Manche Lehrer denken vielleicht, dass es keine Entfaltungsmöglichkeiten mehr für sie gibt, wenn sie Lernspiele einsetzen. Wenn man ein Schulbuch verwendet, erklärt der Lehrer den Schülern den Inhalt, das ist seine Aufgabe, dafür ist er ausgebildet, wohingegen Spiele eher als geschlossene Systeme erscheinen. Das ist die Sichtweise mancher Lehrer, ich glaube jedoch nicht, dass sie der Realität entspricht. Dennoch müssen Lehrer erkennen, dass sie beim Einsatz von Serious Games eine andere Rolle spielen werden. Sie wären immer noch genauso wichtig wie in jeder anderen Lehrsituation. Aber diese andere Rolle zu finden und auszufüllen, ist nicht ganz so einfach.
L ITERATUR Abt, Clark C.: Serious Games, New York: Viking Press 1970. Egenfeldt-Nielsen, Simon: »Game-Based Learning’s Struggle for Adaptation – International Survey on the Experience and Perception among Teachers«, in: Simon Egenfeldt-Nielsen/Bente Meyer/Birgitte. H. Sørensen (Hg.), Serious Games in Education. A Global Perspective, Aarhus: Aarhus University Press 2011, S. 187-203. Egenfeldt-Nielsen, Simon: The Educational Potential of Computer Games, London: Continuum Press 2007. IDATE: Serious Games. 2nd edition. Digital Home & Entertainment. IDATE, Juli 2010. Malone, Thomas W./Lepper, Mark R.: »Intrinsic Motivation and Instructional Effectiveness in Computer-based Education«, in: John Snow/William Farr (Hg.), Aptitude Learning, and Instruction, London: Lawrence Erlbaum Associates Publishers 1987, S. 255-286. Malone, Thomas W./Lepper, Mark R.: »Making Learning Fun: A Taxonomy of Intrinsic Motivation for Learning«, in: John Snow/William Farr (Hg.), Aptitude Learning, and Instruction, London: Lawrence Erlbaum Associates Publishers 1987, S. 233-253. Rogers, Everett M.: Diffusion of Innovations, New York: Free Press 2003.
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C OMPUTERSPIELE AGE OF EMPIRES (Microsoft 1997, O: Ensemble Studios) ANGRY BIRDS (Rovio Entertainment Ltd. 2009, O: Rovio Entertainment Ltd.) COUNTER STRIKE (Electronic Arts 1999, O: Valve) DIMENSION M (N.N.) FARMVILLE (Zynga 2009, O: Zynga) GLOBAL CONFLICTS (Gamers Gate/Manifesto Games/Macgamestore 2007, O: Serious Games) GRAND THEFT AUTO (BMG Interactive/ASC Games 1997, O: DMA Design/Tarantula Studios) MAKING HISTORY (Publisher 2007, O: Muzzy Lane Software) PAC-MAN (Namco Midway 1980, O: Namco) PLAYING HISTORY (N.N.) TOTAL WAR (Electronic Arts 2000, O: The Creative Assembly) WORLD OF WARCRAFT (Vivendi/Activision Blizzard 2004, O: Blizzard Entertainment)
Serious Games – Ernstes Spielen? Über das Problem von Spielen, Lernen und Wissenstransfer
S ONJA G ANGUIN UND A NNA H OBLITZ
»Das Spiel stellt sich jenem Ernste gegenüber. In diesem Unterschiede besteht sein eigenthümliches Wesen« 1
KARL AUGUST SCHALLER
E INLEITUNG Obwohl der Begriff »Serious Games« im Kontext von Computerspielen erst zu Beginn dieses Jahrtausends Verwendung findet, ist er nicht ganz neu. Bereits 1970 schrieb Clark C. Abt ein Buch mit dem Titel »Serious Games«. Die deutsche Ausgabe erschien 1971 unter dem Titel »Ernste Spiele«. Abt versteht hierunter solche, die »einen ausdrücklichen und sorgfältig durchdachten Bildungszweck verfolgen und nicht in erster Linie zur Unterhaltung gedacht sind«.2 Betrachtet man allerdings die semantische, historische und sozialwissenschaftliche Bedeutungsebene des Terminus »Serious Games«, so erscheint dieser Begriff
1
Schaller, Karl August: Ueber die Moralität des gewöhnlichen Spiels und insbesondere über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit desselben für den Predigerstand, Magdeburg: Creutz 1810.
2
Abt, Clark C.: Ernste Spiele. Lernen durch gespielte Wirklichkeit, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1971, S. 26.
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paradox und widersprüchlich.3 Um aufzuschlüsseln, welche Lernpotenziale Serious Games entfalten – hier mit dem Fokus auf der Wissensvermittlung und dem Wissenstransfer –, ist es zunächst aufschlussreich, ihren Charakter nachzuzeichnen, also gerade dieses Wechselspiel von Ernst und Spaß.
S ERIOUS G AMES – E RNSTE S PIELE ? Betrachtet man die Wortschöpfung »Serious Game«, dann läuft hier ein Subtext mit, der die archetypische Dialektik von Spiel und Ernst im Wort vereint. Der Ernst, ein traditioneller Gegenbegriff zum Spiel, der hier auf einen bestimmten Zweck, nämlich ein Lernziel verweist, soll sich mit dem Spiel verbinden. Interessanterweise weist Abt in Bezug auf die Dialektik von Spiel und Ernst explizit »die puritanische Vorstellung zurück, nach der ernsthafte und tugendhafte Tätigkeiten nicht Spaß machen können«.4 Die dem Wort »ernst« angelastete »Bürde von Frömmigkeit und Feierlichkeit« wird von ihm in diesem Kontext negiert. Ernste Spiele können nach Abt gleichzeitig absichtsvoll und schwierig sowie auch humorvoll sein, ohne den Spieler zu entmutigen. Dies gilt es zunächst im Folgenden kritisch zu hinterfragen. Definitionsversuche von Spiel und Ernst Vergegenwärtigt man sich die unterschiedlichen normativen Bedeutungsebenen der Termini »Spiel« und »Ernst«, so findet man erstens in der gesellschaftshistorischen Auffassung, dass das Spiel im Vergleich zum Ernst als belanglos gedeutet und daher diskriminiert wird.5 Das Spiel, so Fink, erscheint uns nämlich »als ein Randphänomen in der menschlichen Lebenslandschaft, die in entscheidender Weise durch ernstere Phänomene bestimmt und geprägt wird«.6 Dem Spiel hafte daher etwas Minderwertiges an, das aus einer Überhöhung des Ernstes resultiert, und dies ist entscheidend für die Suche nach einer Definition von Spiel: »Man
3
Vgl. Ganguin, Sonja: Computerspiele und lebenslanges Lernen. Eine Synthese von Gegensätzen, Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwissenschaften 2010.
4
C. C. Abt: Ernste Spiele, S. 26.
5
Vgl. Schottmayer, Georg/Christmann, Renate: »Der Abenteuerspielplatz«, in: Zeitschrift für Pädagogik. Forschung und Theorie (Thema Spiel) 3 (1975), S. 390f.; für eine ausführliche Darstellung siehe S. Ganguin: Computerspiele und lebenslanges Lernen, S. 145ff.
6
Fink, Eugen: Spiel als Weltsymbol, Stuttgart: Kohlhammer 1960, S. 9.
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geht also von der relevanten Kategorie ›Ernst‹ aus und bestimmt den Begriff Spiel per viam negationis«.7 Es handelt sich hier folglich um den methodischen Weg einer Negativ-Definition von Spiel mithilfe des Gegenbegriffes Ernst. Demgegenüber wird aber auch genau der umgekehrte Pfad eingeschlagen, den Huizinga als die einzig gangbare Definitionsrichtung ansieht. So erklärt er zwar ebenfalls, dass die Begriffe Spiel und Ernst nicht gleichwertig seien, er bestimmt das Spiel jedoch als eine Kategorie höherer Ordnung und beurteilt das Begriffspaar wie folgt: »Spiel ist der positive, Ernst der negative« Terminus,8 womit das Spiel für Huizinga die geschichtlich grundlegendere, allgemeinere Kategorie bildet. Einerseits erscheint die Argumentation Huizingas in seiner Theorie des Spiels als Urphänomen, als Kulturfaktor und Kategorie höherer Ordnung in sich schlüssig, andererseits steht sie in eklatantem Widerspruch zur gesellschaftlichen Sprachwirklichkeit. Betrachtet man nämlich die Wortgeschichte von Spiel ab dem Mittelalter im okzidentalem Raum, dann zeigt sich, dass der Ernst in der Regel als das Wichtige, Notwendige angesehen wurde, während dem Spiel vor allem negativ konnotierte Inhalte wie Ablenkung, Zerstreuung, Laster zugesprochen wurden9. Dem Spiel wird aufgrund einer bestimmten moralisierenden Ideologie, die über die Jahrhunderte Bestand hatte und vor allem ihre soziale Wirkungsmächtigkeit zur Zeit der Reformation fand, im Vergleich zum Ernst Minderwertigkeit attestiert. Durch diese negative Konnotierung erfolgt eine Verengung des Spielbegriffs auf den Bereich des Minderwertigen und Marginalen. Während nun der Begriff Ernst sensu Huizinga das Spiel ausschließt – denn der Bedeutungsinhalt von Ernst sei mit der Verneinung von Spiel erschöpft und dadurch bestimmt –, kann das Spiel dagegen Ernst durchaus einschließen, »Spiel ist etwas Eigenes«.10 In diesem Sinn sind also auch Serious Games bildungsrelevant. Allerdings lässt sich hier kritisch anführen, dass so »natürlich Alles zum Spiel«11 wird, was auch dem Spielbegriff keinen Dienst erweist. Eine solche Argumentation zugunsten des Spiels als Kategorie höherer Ordnung ist insgesamt aus erfahrungswissen-
7
Hering, Wolfgang: Spieltheorie und pädagogische Praxis, Düsseldorf: Schwann 1979,
8
Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek: Ro-
9
Eichler, Gert: Spiel und Arbeit. Zur Theorie der Freizeit. Bad Cannstatt: Frommann-
S. 78. wohlt 1997, S. 56, Herv. i. O. Holzboog 1979, S. 23. 10 Ebd. 11 Giesz, Ludwig: »Über Spiel und Ernst«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1 (2003), S. 100-114, hier S. 102, Herv. i. O.
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schaftlicher Sicht allein ein Spiel mit Worten: »Entweder sind beide Wirklichkeiten, wie auch immer operationalisiert, vereinbar – dann nicht a priori eine zu Lasten der anderen. Oder sie sind nicht vereinbar – dann aber auch wirklich nicht«.12 Versuchen wir also, uns dem Problem zu stellen. Lassen sich Ernst und Spiel vereinen? Eine Ernsthaftigkeit im Spiel ist kaum zu leugnen.13 Trotzdem ist der Ernstbegriff zum Antonym zu Spiel avanciert. So könnte argumentiert werden, dass Spielen nur in einer paradoxen Situation möglich sei: »Einerseits setzt es voraus, dass zwischen dem, was Spiel ist, und dem, was Nicht-Spiel ist, unterschieden werden kann. Andererseits ist Spiel erst wirklich Spiel, wenn der Spieler davon ergriffen wird, wenn er ›ernsthaft‹ spielt«.14 Spiel- und Ernsthandlung Analysiert man die Unterschiedlichkeit von Spiel und Ernst auf der Handlungsebene, dann zeichnen sich »vollständige« Handlungen nach Oerter, die er auch als »Ernsthandlungen« begreift, durch (a) das Ziel, (b) die Handlung, (c) das Ergebnis und (d) die Folge aus.15 Oerter, der sich in seinen Überlegungen an das Handlungsmodell von Heinz Heckhausen16 anlehnt, versucht nun, die Handlungsstruktur von Spiel und Ernst miteinander zu vergleichen. In diesem Zusammenhang hebt er zunächst das Merkmal der Zweckfreiheit im Spiel hervor. Diese Zweckfreiheit führe dazu, dass im Gegensatz zur Ernsthandlung die Handlungsfolge in der Handlungsstruktur des Spiels fehle, denn das Spiel werde um seiner selbst willen ausgeübt. Ernsthafte Handlungen zeichnen sich, laut Oerter, durch ihre beabsichtigten Folgen aus, die außerhalb der Handlung selbst liegen. Oerter vertritt folglich eine psychologisch-handlungstheoretische Sichtweise auf das Spiel. Die Folge im Handlungsmodell ist allerdings das wichtigste Kennzeichen fast aller Handlun-
12 G. Eichler: Spiel und Arbeit. Zur Theorie der Freizeit, S. 44. 13 Vgl. W. Hering: Spieltheorie und pädagogische Praxis, S. 79f.; G. Eichler: Spiel und Arbeit, S. 44. 14 Baatz, Ursula: »Das Spiel ist Ernst, der Ernst ist Spiel. Ein Versuch über unendliche Spiele«, in: Dies./Wolfgang Müller-Funk (Hg.), Vom Ernst des Spiels. Über Spiel und Spieltheorie, Berlin: Dietrich Reimer 1993, S. 5-20, hier S. 5. 15 Oerter, Rolf: Psychologie des Spiels. Ein handlungstheoretischer Ansatz, München: Quintessenz 1993, S. 5. 16 Heckhausen, Heinz: Motivation und Handeln, Berlin: Springer 1989.
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gen. Als prototypische Tätigkeit nennt Oerter deshalb die Arbeit. Rücken die Folgen beim Spiel »ins Blickfeld, dann wandelt sich das Spiel in die Arbeit«.17 Abbildung 1: Gegenüberstellung der Handlungsstruktur von Spiel und Ernsthandlung (Oerter) Handlungsstruktur von »Ernsthandlungen«: Ziel
Handlung
Ergebnis
Folge
Handlungsstruktur des Spiels: Ziel
Handlung
Ergebnis
Quelle: Oerter, Rolf, Psychologie des Spiels, S. 6.
Also ist nach Oerter eine Vereinbarkeit von Spiel und Ernst auf der Handlungsebene aufgrund der aufgezeigten unterschiedlichen Handlungsstrukturen nicht möglich. Ernst als ›psychischer Existenzbegriff‹ steht im Gegensatz zur Zweckfreiheit des Spiels, der zufolge keine intentionalen Folgen beabsichtigt werden. Somit entscheidet hier die psychische Gestimmtheit des Handelnden, die Absicht oder Nicht-Absicht seines Tuns, was Spiel und was Ernst ist. Aus dieser handlungsorientierten psychologischen Sichtweise sind Spiel und Ernst nicht miteinander vereinbar, denn das Spiel unterliegt keinem Zweck, während der Ernst gerade mit einer beabsichtigten Handlungsfolge verknüpft ist. Folgt man der Argumentation Oerters, dann ist eine Verknüpfung von Spiel und Ernst in Serious Games eigentlich nicht vereinbar bzw. es ist vom Spieler abhängig, wie er seine Spiel-Handlung betrachtet: Möchte er mit dem Serious Game lediglich spielen, dann würde im Sinne Oerters keine Handlungsfolge eintreten und das Spiel wäre zweckfrei. Das hieße, dass mit Serious Games nicht intentional vom Subjekt aus gelernt werden kann. Das Lernen wäre nicht bewusst, und dies erschwert den Wissenstransfer des Gelernten in die Realität. Der Spieler kann das Spiel jedoch auch mit der Intention nutzen, etwas lernen zu wollen. Das beabsichtigte Lernen wäre die Folge des ›vermeintlichen‹ Spiels. Somit wäre ein Transfer im Sinne einer Ernsthandlung möglich, jedoch würde Oerter dann nicht mehr von »Spiel« sprechen, sondern von einer Ernsthandlung, da die Zweckfreiheit nicht gegeben wäre.
17 R. Oerter: Psychologie des Spiels. Ein handlungstheoretischer Ansatz, S. 5.
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Das Postulat der Zweckfreiheit Die Zweckfreiheit im Spiel als vornehmliches, konsensfähiges Spielmerkmal, das in fast allen spieltheoretischen Überlegungen auftaucht, scheint auf der Grundlage der vorherigen Ausführungen das entscheidende Merkmal zu sein, das zwischen Spiel und Ernst trennt. So weisen z.B. auch Kant und Schiller auf das besondere Merkmal der Zweckfreiheit hin: Kant sieht das Spiel als eine zweckfreie Tätigkeit an; es unterliegt, im Gegensatz zur Arbeit, keiner Absicht, die funktionalen Charakter besitzt.18 Schiller stellt Spiel der Arbeit bzw. dem Ernst gegenüber und sieht die Freiheit von Zwecken als unabdingbares Spielmerkmal an.19 Hier ließen sich noch zahlreiche weitere Autoren benennen, die die Zweckfreiheit am Spiel hervorheben. Alle genannten Autoren erklären, was Spiel nicht ist: Es ist nicht zweckgebunden. Auch Scheuerl versucht, auf Basis der Zweckfreiheit des Spiels eine Schematisierung vorzunehmen. Im Gegensatz zur Zweckhandlung steht beim Spiel nach Scheuerl die Handlung selbst im Vordergrund: »Hält man sich rein an das phänomenal Gegebene, so erscheint das Spiel nicht als Weg, sich von Notdurft zu befreien, sondern als jubelnder Ausdruck dafür, dass man von ihr schon befreit ist«.20 Diese Argumentation ist entscheidend, denn aus phänomenologischer Sicht ist laut Scheuerl zwischen Spielgeschehen und Spieltätigkeit zu trennen. Die Spielhandlung bzw. Spieltätigkeit als solche sieht er nicht als zweckfrei an: »Eine zwecklose Handlung wäre eine contradictio in adjecto; denn eine Handlung ist dadurch definiert, daß sie […] darauf gerichtet ist, etwas hervorzubringen«.21 Was Scheuerl mit Zweckfreiheit des Spiels meint, ist das eigentliche Spielgeschehen: Sobald das Spiel gespielt wird, entsteht das im Spiel Unterhaltende, das unabhängig von Bedürfnissen und Zwecken gedacht wird. Nicht das Bedürfnis des Spielers – z.B. seine Lust am Spiel oder sein Motiv, Langeweile zu überbrücken, also die kausale Entstehungsgrundlage des Spielens – bestimmt aus phänomenologischer Sicht die Zweckfreiheit, sondern die konkrete Erscheinung, die durch die Verbindung objektiver Kriterien (frei, unendlich, scheinhaft, ambivalent, geschlossen und ge-
18 Vgl. Kant, Immanuel: Über die Pädagogik, Hermann Holstein (Hg.), Bochum: Kamp 1968 [Originalausgabe 1803], Abs. 66: S. 56f. 19 Vgl. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart: Reclam 1993, 15. Brief., S. 64ff. 20 Scheuerl, Hans: Das Spiel. Untersuchungen über sein Wesen, seine pädagogischen Möglichkeiten und seinen Grenzen, Weinheim/Basel: Beltz 1979, S. 74; Herv. i. O. 21 Ebd., S. 191.
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genwärtig) bestimmt ist.22 Im Gegensatz zur erklärenden Psychologie ist »echtes« Spiel unabhängig von psychischen Bedürfnissen, Motiven, Haltungen des Spielenden, »ebenso wie eine Arbeit objektiv Arbeit bleibt unabhängig davon, ob der Arbeitende sie freudig oder mißmutig, angestrengt oder leicht vollbringt, ob er sie um der Pflicht, um des Lohnes oder um der Sache selbst willen tut«.23 Folglich sind nach Scheuerl Ernst und Spiel vereinbar, Arbeit und Spiel allerdings nicht. Für Serious Games bedeutet Scheuerls Argumentation, dass die Spieltätigkeit einem Zweck – dem Lernen – unterliegen darf. Die Spieltätigkeit, das eigentliche Spielgeschehen, sollte seiner Auffassung nach jedoch das Zweckfreie sein. Anders ausgedrückt: Im Spiel wird unabhängig von den Zuwendungsmotiven und anderen Rahmenbedingungen gespielt, aber – so ließe sich kritisch anmerken – eben nicht gelernt. Wenn jedoch die Spielziele und Lernziele übereinstimmen und damit die Spieltätigkeit gleichzeitig eine Lerntätigkeit ist, dann kann mit Computerspielen theoretisch gelernt werden. Offen bleibt an dieser Stelle, ob das auf diese Weise Gelernte im Spiel verbleibt oder in die Realität transferiert werden kann. Zusammenfassend hängt es folglich von der jeweiligen wissenschaftlichen Perspektive ab, ob Ernst und Spiel vereinbar sind: Ist die innere Haltung des Handelnden bestimmend und diese mit einem Zweck verbunden, mit einer Absicht hinsichtlich der Folge seines Tuns, kann dies kein Spiel sein, sondern es handelt sich um eine Ernsthandlung. Dies ist eine psychologisch-handlungsorientierte Sichtweise. Ist dagegen das Spiel phänomenologisch als Urphänomen bestimmt, dann schließt es den Ernst nicht aus. Für den vorliegenden Beitrag ergibt sich daraus die Frage, was dieses Wechselspiel von Spiel und Ernst für Serious Games bedeutet? Wie kann mit ihnen gelernt werden?
W AS WIRD GELERNT ? S ERIOUS G AMES , L ERNKONTEXTE UND W ISSENSTRANSFER Grundsätzlich wird in der Forschung davon ausgegangen, dass mit Serious Games und digitalen Spielen im Allgemeinen etwas gelernt werden kann.24 So er-
22 Vgl. ebd., S. 192. 23 Ebd., S. 108. 24 Vgl. Dipietro, Meredith et al.: »Towards a Framework for Understanding Electronic Educational Games«, in: Journal of Educational Multimedia and Hypermedia 3
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klärt Klimmt, dass die »starke Aufgabenorientierung und die Bereitschaft der Spieler/innen, sich auf Herausforderungen im Grenzbereich ihres Leistungsvermögens einzulassen, […] beispielsweise für große Lehr-/Lern-Potenziale sorgen [dürften]. Inhaltlich lässt sich vermuten, dass ganz unterschiedliche Kompetenzbereiche durch das Computerspielen geschult werden können«.25 Doch um welche Kompetenzdimensionen handelt es sich, die durch Computerspiele, speziell durch Serious Games gefördert werden können? Betrachtet man den heutigen Stand der Forschung über Kompetenzdimensionen von Computerspielen, dann bieten die Forschungsarbeiten von Gebel, Gurt und Wagner einen ersten aktuellen Überblick.26 Die Autoren schlagen in diesem Zusammenhang eine Differenzierung vor, die die Kompetenzdimensionen von Computerspielen in fünf Bereiche gliedert: kognitive Kompetenzen, soziale Kompetenzen, personale bzw. persönlichkeitsbezogene Kompetenzen, Medienkompetenz und Sensomotorik. Aufgrund ähnlich zugeschriebener Charakteristika zwischen Spielen und Lernen wird angenommen, dass Serious Games sowie digitale Spiele generell das Lernen fördern können.27 Als wichtige Faktoren, welche das Lernen begüns-
(2007), S. 225-248, hier S. 226. Siehe auch: Freitas, Sara de: »Learning in Immersive Worlds: A review of Game-Based Learning«, Prepared for the JISC e-Learning Programme 2006, S. 17. Wilson, Katherine A. et al.: »Relationships between Game Attributes and Learning Outcomes. Review and Research Proposals«, in: Simulation & Gaming 2 (2009), S. 217-266, hier S. 219. Wouters, Pieter/van der Spek, Erik D./van Oostendorp, Herre: »Current Practices in Serious Games Research. A Review from a Learning Outcomes Perspective«, in: Thomas Connolly/Mark Stansfield/Liz Boyle (Hg.), Games-Based Learning Advancements for Multi-Sensory Human Computer Interfaces. Techniques and Effective Practices, Hershey, PA: Information Science Reference 2009, S. 232-250, hier S. 238. 25 Klimmt, Christoph: »Der Nutzen von Computerspielen – ein optimistischer Blick auf interaktive Unterhaltung«, in: medien + erziehung (merz). Zeitschrift für Medienpädagogik 3 (2004), S. 7-11, hier S. 10. 26 Vgl. Gebel, Christa/Gurt, Michael/Wagner, Ulrike: »Kompetenzbezogene Analyse von Computerspielen. Herausgegeben von Arbeitsgemeinschaft Betriebliche Weiterbildungsforschung«, in: QUEM Bulletin 3 (2004), S. 12-15. Siehe auch S. Ganguin: Computerspiele und lebenslanges Lernen, S. 190ff. 27 Vgl. Gee, James Paul.: What Video Games Have to Teach Us About Learning and Literacy. New York: Palgrave Macmillan 2007; Prensky, Marc: Digital Game-Based Learning, St. Paul, Minn.: Paragon House 2007.
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tigen, werden hier z.B. klare Zielvorgaben, Konzentration, Herausforderung, direktes Feedback, Interaktivität und Immersion von Spielen genannt.28 Garzotto weist zudem darauf hin, dass Serious Games besonders vier Eigenschaften aufweisen müssen, damit sie effektiv Lerninhalte vermitteln können: So müsse der Inhalt zum Wissensstand des Spielers und dem Nutzungskontext passen. Der Lerninhalt sollte so in das Spiel integriert werden, dass zum Spielen das zu lernende Wissen eingesetzt werden muss. Das Spiel muss dem Spieler Rückmeldung über falsche Spielhandlungen geben und anregen, weiterzuspielen. Schließlich sollte das Spiel Anknüpfungspunkte für eine weitere Auseinandersetzung mit dem Thema außerhalb des Spiels bieten.29 Wenn wir jetzt die Trennung zwischen zweckhafter Spieltätigkeit und dem zweckfreien Spielgeschehen, wie Scheuerl sie vorschlägt, wieder aufgreifen, dann wird deutlich, dass die von Garzotto angeführten Punkte die Basiskomponenten eines Serious Games darstellen, das ein zweckfreies Spielgeschehen mit Lernelementen verbindet. Jedoch kann angenommen werden, dass allein die im Spiel eröffneten lernförderlichen Komponenten nicht ausreichen, damit ein Serious Game in formalen Lernkontexten als Spiel erlebt wird und gleichzeitig den Wissenstransfer fördert. Vielmehr muss auch der Spieler die Lernangebote aufgreifen und für sich erschließen. Die Perspektive auf den Lerner und Spieler bringt wieder die Unterscheidung zwischen Spiel- und Ernsthandlung nach Oerter in den Vordergrund und damit die kritische Frage, ob durch Serious Games etwas gelernt wird – und zwar genau das, was intentional angedacht ist? Mit den Worten Müller-Lietzkows könnte man fragen: Wird gelernt, was gelernt werden soll?30
28 Vgl. Charsky, Dennis: »From Edutainment to Serious Games: A Change in the Use of Game Characteristics«, in: Games and Culture 2 (2010), S. 177–198; Lieberman, Debra A.: »What Can We Learn From Playing Interactive Games?«, in: Peter Vorderer und Jennings Bryant (Hg.), Playing Video Games. Motives, Responses, and Consequences, Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum 2006, S. 379-397. 29 Garzotto, Franca: »Investigating the Educational Effectiveness of Multiplayer Online Games for Children«, in: Proceedings of the 6th International Conference on Interaction Design and Children. IDC '07, New York: ACM Press 2007, S. 29-36; siehe auch Fisch, Shalom M.: »Making Educational Computer Games ›Educational‹«, in: IDC 2005, June 8-10, Boulder, Colorado 2005. 30 Müller-Lietzkow, Jörg: »Digitale Spiele und Lernen – Überlegungen zu einem nicht trivialen Problem. Essay«, in: Spiel- & Software pädagogisch beurteilt 18 (2008), S. 6–9, hier S. 6.
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Um Antworten auf diese Frage zu finden, ist es zunächst hilfreich, Serious Games genauer zu klassifizieren, denn unterschiedliche Spiele können ganz verschiedene Bildungsintentionen in ganz unterschiedlichen Lernkontexten verfolgen. Serious Games – Klassifizierung Ratan und Ritterfeld haben in ihrer – viel zitierten – Einstufung von 612 Serious Games herausgefunden, dass 48% der Spiele »practicing skills«, also das Trainieren bestimmter Fähig- und Fertigkeiten, als hauptsächliches Lernziel haben.31 24% der Spiele stellen das kognitive Problem-Lösen in den Vordergrund und weitere 21% den Wissenserwerb durch Ausprobieren. Dabei ordnen Ratan und Ritterfeld 63% der untersuchten Serious Games dem Bereich »Education« zu – also der allgemeinen Bildung. Weitere Felder sind Weiterbildung, Gesundheit, Militär sowie Gesellschaftsveränderungen. Diese Klassifizierung veranschaulicht den Schwerpunkt aktueller Serious Games im Bereich der Bildung. Diese Spiele werden auch als Educational Games bezeichnet. Laut de Freitas sind Educational Games Anwendungen, die die klassischen Merkmale eines Spiels aufweisen und gleichzeitig eine immersive Lernerfahrung fördern, um bestimmte Lernziele und -ergebnisse zu vermitteln.32 Diese Definition und der allgemeine Gebrauch des Begriffs weisen jedoch einige Ungenauigkeiten auf. So werden Serious Games, die sich mit gesundheitlichen Aspekten auseinandersetzen, als Health Games bezeichnet, doch auch sie vermitteln bestimme Lernziele und wären damit ebenso Educational Games. Um dieses ›Begriffs-Wirrwarr‹ aufzulösen, haben Müller-Lietzkow und Jacobs ein Zwei-Stufen-Modell zur Klassifizierung von Serious Games entwickelt.33 Interessant ist für den vorliegenden Beitrag besonders die zweite Stufe, die im Kern eine Trennung zwischen freizeitlicher Nutzung und dem Einsatz in institutionell-professionellen Bildungskontexten vorschlägt. Im Sinne der vorherigen Ausführungen zu Oerter könnte man darin auch eine Trennung zwischen Spiel- und Ernsthandlung sehen. Serious Games in informellen Lernkontexten
31 Ratan, Rabindra/Ritterfeld, Ute: »Classifying Serious Games«, in: Ute Ritterfeld/Michael Cody/Peter Vorderer (Hg.), Serious Games. Mechanisms and Effects. London: Routledge 2009, S. 10–24. 32 S. de Freitas: Learning in Immersive Worlds, S. 10. 33 Müller-Lietzkow, Jörg/Jacobs, Steve: »Serious Games – Theory and Reality«, in: Serious Games – Theory, Technology & Practice. Proceedings GameDays 2011 (12.-13. September), S. 147–156.
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reichen demnach von Edutainmentspielen bis hin zu Gamification-Anwendungen, welche eher inzidentelles Lernen fördern und damit die von Gebel, Gurt und Wagner skizzierten Kompetenzfelder ansprechen.34 Der weitaus größere Teil der Serious Games ist, wie auch die Einstufung von Ratan und Ritterfeld belegt, explizit verbunden mit dem Lernen und Trainieren bestimmter Fertig- und Fähigkeiten. Serious Games, die diesem Feld zuzurechnen sind, bezeichnen wir deshalb nachfolgend als Educational Games. Wenn wir nun die eingangs formulierte Fragestellung wieder aufgreifen, kann diese wie folgt präzisiert werden: Was bedeutet das Wechselspiel von Ernst und Spiel für Educational Games und wird mit ihnen das intendierte Lernziel erreicht? Diese Eingrenzung auf Educational Games scheint sinnvoll, da besonders Spiele in formalen Lernkontexten den aufgezeigten Widerspruch von Ernst und Spiel in sich vereinen. Ob Educational Games insbesondere die Vermittlung von Wissen ermöglichen und den Transfer fördern, soll im Folgenden anhand unterschiedlicher Studienergebnisse kritisch geprüft werden.
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W ISSENSTRANSFER
Schrader differenziert mögliche kognitive Lernziele in Anlehnung an Klauer (1975) in triviale und nicht-triviale Lernergebnisse.35 Triviale Lernergebnisse können laut Schrader einige Studien anhand von besseren Behaltensleistungen Lernspielen nachweisen. Jedoch sind die Ergebnisse differenziert zu betrachten. So zeigt eine Studie von Wong et al., dass im Vergleich unterschiedlicher Materialien – Serious Games, Film (der Spielverlauf des Serious Games wurde gefilmt), Hypertext sowie Text –, die sich hinsichtlich des Interaktivitätsgrades und der Media Richness unterscheiden, Serious Games nicht, wie vermutet, ein signifikant besseres Lernergebnis bei den Probanden bewirken.36 Vielmehr zeigen sich ähnliche Ergebnisse für das Spiel, den Film und den Hypertext; allein die Textgruppe hat die geringsten Lerneffekte. Demnach scheint es grundsätzlich
34 Vgl. auch Hoblitz, Anna/Müller-Lietzkow, Jörg: »Mobile Gaming und Serious Games – eine verkannte Synthese?«, in: Winfred Kaminski/Martin Lorber (Hg.): Gamebased Learning. Clash of Realities 2012, München: kopaed 2012, S. 185-200. 35 Vgl. Schrader, Claudia: »Computerbasierte Lernspiele – Stand der Forschung«, in: Sonja Ganguin/Bernward Hoffmann (Hg.), Digitale Spielkultur, München: kopaed 2010, S. 179-190, hier S. 183. 36 Vgl. Wong, Wee Ling et al.: »Serious Video Game Effectiveness«, Paper präsentiert im Rahmen der ACE'07: Salzburg 2007, S. 53.
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möglich, dass Educational Games einen Wissenstransfer im Bereich der trivialen Lernergebnisse ermöglichen. Jedoch – und das ist enttäuschend angesichts der Annahme, besonders die Interaktivität von Spielen ermögliche Lernpotenziale– bieten Educational Games keinen Vorteil gegenüber Filmen oder Webseiten. Ähnliche Ergebnisse zeigt auch eine Studie von Blunt, in der drei verschiedene Educational Games untersucht wurden. Hierbei erzielte die Gruppe der spielenden Studierenden im Durchschnitt eine wesentlich bessere Leistung als die nichtspielende Kontrollgruppe.37 Ebenfalls deckten Squire et al. eine bessere Vorstellungskraft und Transferleistung der Spielgruppe gegenüber der Kontrollgruppe mit traditionellem Unterricht auf.38 Auffällig ist dabei, dass die Motivation der Schüler – entgegen der These, Spiele förderten in besonderer Weise die Motivation zum Lernen – bereits nach dem ersten Untersuchungstag nachließ. Allerdings stellt sich der Forschungsstand zurzeit noch sehr heterogen dar. So kann Ke die herausgestellte Überlegenheit gegenüber dem Textangebot nicht nachweisen, denn ihre Studie zeigt im Fach Mathematik keine bessere Leistung der spielenden Schüler im Vergleich zu nicht interaktiven Lernformen.39 Kiili und Lainema können ebenfalls keinen Lerneffekt bei Studierenden (n=92) mit einem Wirtschaftssimulationsspiel nachweisen.40 Und Stege, van Lankveld und Spronck finden eine interessante Geschlechterdifferenz: Insgesamt gibt die Gamegruppe in einem Post-Test zu den vermittelten Inhalten mehr korrekte Antworten als die Textgruppe, aber vor allem die Schüler erzielen bessere Ergebnisse. Bei den Schülerinnen zeigen die Testergebnisse dagegen keine signifikanten Unterschiede zwischen Spiel- und Textgruppe. Zudem war die Textgruppe –
37 Vgl. Blunt, Richard: »Does Game-Based Learning Work? Results from Three Recent Studies« (2007), http://www.defencegaming.org/index2.php?option=com_docman& task=doc_view&gid=15&Itemid=54. 38 Squire, Kurt et al.: »Electromagnetism Supercharged! Learning Physics with Digital Simulation Games«, in: Proceedings of the 6th International Conference on Learning Science 2004, Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum 2004. 39 Vgl. Ke, Fengfeng: »Computer Games Application within Alternative Classroom Goal Structures. Cognitive, Metacognitive, and Affective Evaluation«, in: Educational Technology Research/Development 5/6 (2008), S. 539–556. 40 Vgl. Kiili, Kristian/Lainema, Timo: »Foundation of Measuring Engagement in Educational Games«, in: Journal of Interactive Learning Research 3 (2008), S. 469–488.
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entgegen dem vermuteten motivierenden Potenzial von Spielen – motivierter als die Spielgruppe.41 Die unterschiedlichen Ergebnisse der Studien sind zum Teil auch den sehr verschiedenen Erhebungsmethoden geschuldet. So wird der Lerneffekt in einigen Studien, wie bei Kiili und Lainema, durch Selbstauskunft der befragten Schüler und Studierenden erhoben. Damit wird die Selbstwahrnehmung und -einschätzung der Untersuchten berücksichtigt, welche sich wiederum auf die Lerneffekt auswirken kann. Andere Studien wie Wong et al. oder Stege, van Lankveld und Spronck ermitteln den Lerneffekt durch einen Wissenstest (sowohl mit Prä- und Post-Test oder nur Post-Test im Kontrollgruppen-Design). Der so objektiv gemessene Wissenszuwachs kann jedoch auch nur bedingt auf das Spiel allein zurückgeführt werden, denn die Einstellung der Spieler zum Lernen und Spielen wird nicht berücksichtigt. Deshalb wendet beispielsweise Ke ein multidimensionales Messverfahren an, in dem jeweils die kognitiven Fähigkeiten in Mathematik, die metakognitive Wahrnehmung des Lernens sowie die Motivation erhoben werden.42 Diese Kombination aus Selbstauskunft (metakognitive Wahrnehmung) und objektiver Messung der Lernergebnisse durch Prä- und Post-Test ist ein vielversprechender Ansatz für die differenzierte Evaluation möglicher Lerneffekte. Zusätzliche qualitative Interviews, wie z.B. Squire et al. sie vorgenommen haben,43 können die Lerneffekte zudem detailliert hinsichtlich einzelner Aspekte untersuchen. Interessant ist dazu auch der Ansatz von Wastiau, Kearney und van den Berghe, die Lehrer hinsichtlich ihres Eindrucks zu befragen, da diese im Schulalltag die Leistung der Schüler aufgrund von Tests, aber auch von mündlichen Noten bewerten. Die befragten Lehrer konnten zwar eine erhöhte Konzentration und bessere soziale Fähigkeiten bei den Schülern erkennen. Für die konkrete Wissensaneignung sahen sie allerdings keine Effekte.44 Eine qualitative Herangehensweise scheint besonders dann vielversprechend, wenn die von Schrader angesprochenen nicht-trivialen Lernergebnisse unter-
41 Vgl. Stege, Linda/van Lankveld, Giel/Spronck, Pieter: »Serious Games in Education«, in: Serious Games – Theory, Technology & Practice. Proceedings GameDays 2011 (12.-13. September). 42 Vgl. F. Ke: »Computer Games Application within Alternative Classroom Goal Structures«, S. 543f. 43 Vgl. Squire et al.: »Electromagnetism Supercharged!« 44 Vgl. Wastiau, Patricia/Kearney, Caroline/van den Berghe, Wouter: How are Digital Games Used in Schools? Complete Results of the Study. Hg. v. European Schoolnet, ISFE 2009.
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sucht werden sollen. Unter komplexen Lernzielen versteht Schrader die »Anwendung von neuem Wissen in ähnlichen oder gänzlich neuen Situationen«,45 also den Wissenstransfer. Obwohl gerade Transfereffekte in Bezug auf digitale Spiele im Allgemeinen bereits untersucht worden sind,46 liegen für den Bereich der Educational Games nur wenige Ergebnisse vor.47 Die Studien, in denen durch das Spielen bessere Lernergebnisse erzielt werden konnten, deuten darauf hin, dass entsprechende Transfereffekte stattfinden können. Damit Transfereffekte jedoch zum Tragen kommen können, ist zudem wichtig, unbewusste Lernprozesse wieder explizit zu machen, z.B. durch entsprechende Instruktionen des Lehrers.48 Gerade bei Serious Games, die es schaffen wollen, ein Spiel- sowie auch ein Lernerlebnis zu erzeugen, scheint dies ein sehr relevanter Aspekt, um nicht träges Wissen zu produzieren. So zeigt sich träges Wissen49 darin, dass es, obwohl scheinbar vorhanden, nicht im Alltag eingesetzt werden kann, wenn anstehende Probleme zu lösen sind. Gründe dafür können sein, dass metakognitive Steuerungsprozesse defizitär sind (Metaprozesserklärung), das Wissen nicht in einer anwendbaren Form vorhanden ist (Strukturdefiziterklärung) oder Wissen situativ gebunden ist (Situiertheitserklärung). In diesem Sinn gilt es, das zweckfreie Spielgeschehen im Nachhinein wieder bewusst zu machen, zu diskutieren und auf die Praxis zu übertragen, um somit den Wissenstransfer zu fördern. Dagegen spricht zugleich jedoch die These, dass dies eventuell aus Sicht der Schulkinder zu einer ›ExPost-Verzweckung‹ führt, die einmal durchschaut, zur Abkehr von in der Schule dargebotenen Spielen führt.
45 C. Schrader: »Computerbasierte Lernspiele – Stand der Forschung«, S. 183. 46 Vgl. Witting, Tanja: Wie Computerspiele uns beeinflussen. Transferprozesse beim Bildschirmspiel im Erleben der User, München: kopaed 2007. 47 Vgl. C. Schrader: »Computerbasierte Lernspiele – Stand der Forschung«, S. 183. 48 Vgl. Ulicsak, Mary: »Games in Education: Serious Games«, Unter Mitarbeit von Martha Wright. Hg. v. Futurelab (2010). Online verfügbar unter http://www2.futurelab.org .uk/resources/publications-reports-articles/literature-reviews/Literature-Review1788 49 Vgl. Renkl, Alexander: »Träges Wissen. Die ›unerklärliche‹ Kluft zwischen Wissen und Handeln«, in: Forschungsbericht Nr. 41, München: Ludwig-Maximilians-Universität, Lehrstuhl für Empirische Pädagogik und Pädagogische Psychologie 1994.
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F AZIT
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A USBLICK
Insgesamt ist das Interesse an Serious Games in den letzten Jahren gestiegen. Dies zeigt sich an der Anzahl der auf dem Markt erhältlichen Produkte wie auch am wachsenden Interesse der Wissenschaft mit einer zunehmenden Anzahl von Forschungsvorhaben. Das Problem, das wir allerdings hierbei sehen, ist, dass die bisherigen Serious Games daran scheitern, die passende Kombination zwischen Spielspaß und Lerninhalt zu finden. So ist der zu vermittelnde Inhalt noch allzu häufig nicht in das Spielziel integriert. Der Spieler spielt, wird dann aus dem Spiel herausgerissen, um etwa umfangreiche Textbausteine durchzulesen oder Fragen zu beantworten. Spiel und ernster Inhalt bilden keine Einheit, sodass die Spiel-Ernst-Handlung nicht zum Tragen kommt. In diesem Sinn wird das Potential von Serious Games nicht ausgeschöpft. Und so zeigt zwar der Forschungsstand, dass Lerneffekte möglich sind, allerdings sind die Bedingungen noch unklar, unter denen sie entstehen. In diesem Kontext kann auch die Frage nach der Effektivität von Serious Games bzw. Educational Games sowie die Möglichkeit des Wissenstransfers in andere Situationen nicht abschließend beantwortet werden, denn es »fehlen bisher klare Erkenntnisse zur Effektivität computerbasierter Lernspiele«.50 Spiel und Lernen grenzen sich traditionell nicht nur durch ihre begriffliche Wirklichkeitsdimension voneinander ab, sondern auch im Erleben. Es bleibt offen, ob die Spieler das Erlebte eher als Ernst- oder als Spielhandlung auffassen, wobei es in diesem Kontext besonders relevant erscheint, ob sie die SpielLernhandlung freiwillig ausführen. So sehen wir als einen ausschlaggebenden Punkt, wann ein Serious Games zu Lerneffekten und zu einem Wissenstransfer führen kann, das Spielmerkmal der Freiwilligkeit. Ein Spiel, das gespielt werden muss, raubt dem Spiel seinen eigentümlichen Charakter. In diesem Kontext ist besonders interessant, dass manche Studien nicht so eine hohe Motivation wie erwartet aufdecken konnten, was andeutet, dass die Spieler die Kombination von Spielen und Lernen nicht ohne weiteres als positive Spielhandlung auffassen. Demnach sind Serious Games bzw. die Untersuchung der Verbindung von Spie-
50 Vgl. C. Schrader: »Computerbasierte Lernspiele – Stand der Forschung«; siehe auch: O’Neil, Harold F./Wainess, Richard/Baker, Eva L.: »Classification of Learning Outcomes. Evidence from the Computer Games Literature«, in: The Curriculum Journal 4 (2005), S. 455 – 474; S. de Freitas: »Learning in Immersive Worlds«; Brom, Cyril/Šisler, Vit/Slavík, Radovan: »Implementing Digital Game-Based Learning in Schools. Augmented Learning Environment of ›Europe 2045‹«, in: Multimedia Systems 1 (2010), S. 23–41.
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len und Lernen im Bereich formaler Bildung weiter ein Forschungsdesiderat. Benötigt werden Serious Games, die ein positives Lern- und Spielerlebnis ermöglichen. Zum anderen müssen weitere Studien durchgeführt werden, die genau diese Kombination untersuchen und einen Mehrwert zeigen. Abschließend ist zu reflektieren, dass spielerisches Lernen in formalisierter Form in der deutschen Tradition im Schulwesen keine bedeutende Rolle gespielt hat oder spielt. Dies ist insofern nicht verwunderlich, können doch historisch sedimentierte Bedeutungen und Semantiken nicht schlagartig negiert werden. Die aufgeführten Studien, die keine klare Aussage über die Effektivität von digitalen Spielen im Unterricht belegen, sowie die bislang noch dominierende gesellschaftliche Konstruktion des Spielbegriffs als Tand, als Gegenpol zum Ernst des Lebens führen zu einem eher ernüchternden Fazit. Im Gegensatz dazu steht, dass derzeit eine Neujustierung der menschlichen Lebensverhältnisse stattfindet. Wir befinden uns gerade mitten in einem Prozess, in dessen Verlauf sich das Verständnis von Spiel und Lernen womöglich grundlegend verändert. Es stellt sich nun die Frage, in welche Richtung in den nächsten Jahren die historische gewachsene Dialektik zwischen der Sphäre des Ernsten und der des Spiels tendieren wird. Um diesen Veränderungsprozess zu begreifen, werden allerdings umfassende, klare Forschungsergebnisse benötigt, die einen erfolgreichen Transfer des erworbenen Wissens bzw. Kompetenz von Serious Games in andere Kontexte nachweisen.
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Fallstudie 2: Game of Drones Ein persuasives Spiel zur kritischen Reflexion des anbrechenden Drohnenzeitalters
M ARCUS B ÖSCH »The true watersheds in human affairs are seldom spotted amid the tumult of headlines broadcast on the hour.« P.W. SINGER1 »We’re entering the Drone Age.« CHRIS ANDERSON2
E INFÜHRUNG Was geschieht, wenn die Technologie, die uns umgibt, immer einfacher zu bedienen ist? So einfach, dass Bürger komplexe Aufgaben mittels computer-basierter Automation und einfacher Interfaces lösen können? Wenn man alle bereits verfügbaren Möglichkeiten der Überwachung mit den Möglichkeiten vernetzter Smartphones kombiniert? Und staatliche Akteure nicht mehr die einzigen sind, die für Verteidigung zuständig sind? Was wäre, wenn Menschen weltweit bewaffnete Drohnen ganz einfach mit ihren Smartphones steuern und Terroristen aus der Ferne liquidieren könnten?
1
Singer, P.W: Wired for War. The Robotics Revolution and Conflict in the 21st century, New York: Penguin 2009, Kindle-Position 257.
2
Anderson, Chris: »How I Accidentally Kickstarted the Domestic Drone Boom«, in: Wired.com vom 22.6.2012. http://www.wired.com/dangerroom/2012/06/ff_drones/all/
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Ein dystopisches Zukunftsszenario, das technisch durchaus möglich, wenn auch nicht unbedingt wahrscheinlich ist. Als Denkmodell erscheint es aber geeignet, um gegenwärtige Trends und Entwicklungen im Kontext unbemannter Flugsysteme, Überwachung und Kriegsführung der Zukunft mit Hilfe von Spielmechaniken kritisch zu reflektieren. Spiele und Simulationen sind mächtige Instrumente, um Zukunftsszenarien erfahrbar zu machen. Aus diesem Grund nutzt das Militär sie seit Jahrhunderten zu Trainingszwecken, taktischen Analysen und der Vorbereitung von Einsätzen. Angepasst haben die Militärs dabei die verwendeten Hilfsmittel. Vorbei ist die Zeit der Sandkastensimulation und der Brettspiele. Inzwischen gibt es mobil optimierte Training-Apps für das Smartphone.3 Als Game Designer arbeite ich derzeit an einer App, die es ermöglichen soll, eine moderne Version der militärischen »Such und Zerstöre«-Strategie auf dem Smartphone zu spielen. Die Anwendung mit dem Arbeitstitel TERRORHUNTER4 erlaubt es dem Nutzer zumindest fiktional, Terroristen in der afghanisch-pakistanischen Grenzregion zu eliminieren, während er oder sie gerade in der Straßenbahn beispielsweise zur Uni fährt.5 Das Ziel von TERRORHUNTER ist die Vermittlung gesellschaftlich relevanter Inhalte ohne zunächst direkt erkennbaren pädagogischen Impetus. Das eigene Erleben einer Situation, die den Spieler mit einer moralisch-ethischen Entscheidung konfrontiert, verbunden mit passenden thematischen Informationen soll den kritischen Diskurs stärken. Meine Darstellung ist in die Themenbereiche »Drones« und »Games« unterteilt, die im Anschluss als »Game of Drones« zusammengeführt und verbunden werden.
3
Vgl. Martin, Andrew/Lin, Thomas: »Keyboards First. Then Grenades.«, in: New York Times vom 01.05.2011. http://www.nytimes.com/2011/05/02/technolog /02wargames. html?pagewanted=all&_r=0
4
Die Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen hat das Konzept er-
5
Eine mit dem Smartphone steuerbare Drohne kann man übrigens seit einigen Jahren
worben und einzelne Module der Anwendung finanziert. im Elektrofachhandel für rund 300 Euro erwerben. Die aktuelle Version der sogenannten AR.Drone 2.0 ist mit einer HD-Kamera ausgestattet und kann mit einer Akkuladung bis zu zwölf Minuten so weit fliegen, wie es die drahtlose Funkverbindung zwischen Telefon und Fluggerät erlaubt. Technisch möglich wäre es natürlich, ähnliche Drohnen zu bewaffnen und am anderen Ende der Welt via Funknetz vor Ort zu steuern.
F ALLSTUDIE 2: G AME OF D RONES
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D RONES In Enzyklopädien6 des 20. Jahrhunderts tauchen Drohnen nahezu ausschließlich als männliche Bienen auf, deren einziger Lebenszweck die Begattung von Bienenköniginnen ist. Drohnen sind im Bienenstaat die einzigen, die keinen Stechapparat haben, das heißt sie sind unbewaffnet und wehrlos.7 Erst seit einigen Jahren wird der Begriff Drohne als umgangssprachliche Beschreibung eines unbemannten Luftfahrzeugs genutzt. In Anlehnung an Petermann/Grünwald8 werden Drohnen hier als unbemannte Systeme definiert, die autonom oder ferngesteuert militärische oder zivile Missionen durchführen. Das Größenspektrum reicht dabei von libellengroßen Kleinstaufklärern bis zu strategischen Aufklärungsflugsystemen in den Dimensionen eines Verkehrsflugzeugs. Vor 2005 hatten das englische Pendant Drone nicht einmal genug »search volume«, um überhaupt bei Google Trends9 gelistet zu werden. Seitdem ist ein deutlicher Anstieg in den globalen Suchabfragen erkennbar, und doch sind es im Moment eher Randnotizen, die Relevanz andeuten. Zum Beispiel ein einzelner Satz aus einem unveröffentlichten Bericht des deutschen Bundesverkehrsministerium, der der Tageszeitung taz vorliegt: »Angesichts der in den letzten Jahren erfolgten weitreichenden technischen Entwicklung erscheint es in naher Zukunft nicht mehr ausgeschlossen, dass bemannte und unbemannte Luftfahrtgeräte gleichberechtigt am Luftverkehr teilnehmen«.10
6
Vgl. N.N.: Brockhaus Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden, Band 9, 19. Auflage,
7
Simon, Gunhild: Drohne — Metapher für einen Flugroboter http://www.blog1.
8
Petermann, Thomas/Grünwald, Reinhard: »Stand und Perspektiven der militärischen
Mannheim: F.A. Brockhaus 1989. institut1.de/drohne-metapher-fur-einen-flugroboter/ vom 19.3.2011. Nutzung unbemannter Systeme«, in: TAB-Arbeitsbericht 144, Berlin: 2011. http:// www.tab-beim-bundestag.de/de/publikationen/berichte/ab144.html 9
Google Trends ist ein Service der Google Inc., der Informationen darüber bereitstellt, welche Suchbegriffe von Nutzern der Suchmaschine Google wie oft eingegeben wurden. Die Ergebnisse werden in Relation zum totalen Suchaufkommen gesetzt und sind in wöchentlicher Auflösung seit Anfang 2004 für die gesamte Welt oder einzelne Regionen verfügbar. Es handelt sich hier zwar nicht um ein wissenschaftliches Analysetool, dennoch lässt sich die Popularität einzelner Begriffe im Zeitablauf analysieren, was Rückschlüsse auf sich formierende Trends in der Gesellschaft erlaubt.
10 Schmidt, Wolf: »Versteckte Kamera«, in: die tageszeitung vom 21.06.2012, S. 3.
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Seit 2005 werden Predator-Drohnen des Militärs genutzt, um die US-Grenzen zu überwachen und der Polizei im Inland bei der Fahndung zu helfen.11 Im Himmel über den USA könnten 2020 rund 30.000 Drohnen fliegen, sagt Trevor Timm von der Electronic Frontier Foundation.12 Die Amercian Civil Liberties Union warnt, dass Drohnen den »character of public life« tiefgreifend verändern. Denn frei verkäuflich sind Drohnen, die mit einer High Definition fähigen Kamera ausgestattet sind und Videos auf das eigene Smartphone streamen. Noch sind sowohl Flugzeit, Reichweite und potentielle Transportfähigkeit beschränkt. Aber hier handelt es sich nur noch um eine Frage der Zeit, sagt Chris Anderson, ehemaliger Chefredakteur der Zeitschrift Wired und Gründer des Roboterherstellers 3DRobotics, und vergleicht die Entwicklung und die Verbreitung von Drohnen mit der des Personal Computers: »Just as the 1970s saw the birth and rise of the personal computer, this decade will see the ascendance of the personal drone.«13 Die technische Grundlage von Drohnen, die Menschen überwachen und töten, Häuser bauen oder spektakuläre Bilder aus Nachbars Garten liefern, sind im Grunde gleich. Welche Folgen dieser »dual use«14 haben könnte, skizziert David Eaves in einem Blogposting mit dem Titel »Attack of the Drones«15: »We may find ourselves in a surveillance society not because the state demands it, but because we want the tools for our own useful and/or selfish ends«.
G AMES Spiele erlauben die Simulation, das Ausprobieren und Erleben von Handlungsoptionen. Diese Möglichkeiten wurden und werden sowohl von militärischen als
11 Vgl. N.N.: »The drone over your backyard: A guide«, in: Theweek.com, http:// theweek.com/article/index/228830/the-drone-over-your-backyard-a-guide 12 N.N.: »Drone Industry Becomes a Booming Business« in: RT.com vom 22.6.2012. http://rt.com/usa/news/drone-business-defense-million-422/ 13 C. Anderson: How I Accidentally Kickstarted the Domestic Drone Boom, S. 1. 14 »Dual Use« kennzeichnet die prinzipielle Verwendbarkeit eines Wirtschaftsgutes (z.B. einer Maschine, aber auch von Software und Technologie) sowohl zu zivilen als auch militärischen Zwecken. 15 Eaves, David: Attack of the Drones – How Surveillance May Change our Culture vom 7. März 2012, http://eaves.ca/2012/03/07/attack-of-the-drones-how-surveillance-maychange-our-culture/
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auch von zivilen Akteuren genutzt. Vor allem das US-Militär hat den Einsatz von Spielen und Simulationen16 seit ersten einfachen Planspielen perfektioniert.17 So lernen nicht nur Soldaten in und mit Spielen der US-Armee, sondern auch angehende und zukünftig am Beruf des Soldaten Interessierte. Sie bekommen nicht nur die richtige Denkweise (»associate pleasure with human death and suffering«18) vermittelt, sondern auch notwendige Skills wie die Steigerung der situativen Reflex- und Reaktionsschnelligkeit durch die Bedienung von Game Controllern und Joysticks, wie sie für Drohnenpiloten unerlässlich sind. So lässt sich ein kostenloses Online-Spiel wie AMERICA’S ARMY19 nicht nur als Rekrutierungstool interpretieren, sondern in Ergänzung zum »training on the job« auch als eine Art »training before the job«. Im Gegensatz dazu bietet das vor allem durch Ian Bogost bekannt gewordene Konzept der so genannten »persuasive games«20 auf zivilgesellschaftlicher Seite ein Instrumentarium zur kritischen Reflexion. Zum Verständnis des Begriffs »persuasive game« ist eine Klärung des Konzepts der »procedural rhetoric« nötig. Bogost versteht darunter »the practice of authoring arguments through processes«.21 Argumente werden in diesem Kontext nicht durch die Konstruktion und Kombination von Wörtern oder Bildern geliefert, sondern durch die Autorenschaft von Verhaltensregeln, die auf Computercode basieren, und die Konstruktion eines dynamischen Modells durch den Prozess der Programmierung. Persuasive Games sind demnach Videospiele »that mount procedural rhetorics effectively.«22 Persuasive Games ermöglichen es nach Bogost »[to] make claims that speak past or against the fixed worldviews of institutions like governments
16 Zum schwierigen Abgrenzungsverhältnis von Spiel und Simulation vgl. Prensky, Marc: »›Simulations‹: Are They Games?«, in: Digital Game-Based Learning, New York: McGraw-Hill, 2001, http://www.marcprensky.com/writing/prensky%20-%20si mulations-are%20they%20games.pdf 17 Vgl. Smith, Roger: »The Long History of Gaming in Military Training«, in: Simulation and Gaming 41, 1 (2010), S. 6-19. 18 Leonard, David: »Unsettling the Military Complex: Video Games and a Pedagogy of Peace«, in: Studies in Media & Information Literacy Education 4 4 (2004), S. 1-8, hier S. 6. 19 AMERICA’S ARMY http://www.americasarmy.com/ 20 Vgl. Bogost, Ian: Persuasive Games. The Expressive Power of Videogames, Cambridge, MA: MIT Press 2007. 21 Ebd. S. 29. 22 Ebd. S. 47.
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or corporations.«23 Damit sind sie strikt von Serious Games abzugrenzen, die nach Bogost geschaffen wurden und werden, um »existing and established interests of political, corporate, and social institutions«24 zu unterstützen. Ob dies in jedem Einzelfall so ist, muss an anderer Stelle diskutiert werden. Das Ausprobieren des Begriffs von Bogost dient hier der inhaltlichen Schärfung, um ein Spiel kreieren zu können, das »arguments about the way systems work in the material world« ermöglicht.25 Bogost stellt klar, dass Bedeutung in Videospielen nicht durch die »recreation of the world«26 erreicht werden kann, sondern durch das selektive Modellieren von geeigneten Elementen. Verdeutlicht werden soll dies anhand des sehr kleinen, recht unbekannten Flash-Spiels SYRIAN REVOLT.27 Abbildung 1: You will be killed by the tyrant
Quelle: Screenshot S YRIAN REVOLT Mini Game28
Die einzelnen Bestandteile des Spiels sind ein Demonstrant mit einem Schild (Protagonist) und ein Panzer, in dem Präsident Baschar al-Assad sitzt (Antagonist). Der räumliche Kontext beschränkt sich auf eine angedeutete asphaltierte Straße und eine neutral gehaltene Fassade. Hier steht nicht die möglich wirklichkeitsgetreue Repräsentation einer syrischen Stadt im Vordergrund, sondern die Konzentration auf so wenige, dafür aber relevante Objekte wie möglich.
23 Ebd. S. 57. 24 Ebd. 25 Ebd. S. 47. 26 Ebd. S. 46. 27 SYRIAN REVOLT http://en.ourminigames.com/minigames/SyrianRevolt/8992.html 28 Ebd.
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Als Spieler kann man nun nicht mehr tun, als den Kugeln auszuweichen, die al-Assad abschießt. Laut Bogost ist dies im Sinne des Persuasive-Game-Designs absolut legitim, denn »the total number and credibility of user actions is not necessarily important, rather the relevance of the interaction in the context of the representational goal of the system is paramount.«29 Das Ziel des Spiels ist schnell erläutert: Es gibt kein wirkliches Ziel auf der direkten spielerischen Ebene. Je länger man den Kugeln ausweicht, desto mehr so genannte »bravery points« erhält man. Während man selber diese Erfahrung macht, erreicht das Spiel sein eigentliches Ziel. Durch den »try again«-Button spielt man das Spiel wieder und wieder. In zunehmendem Maße wird man als Spieler aggressiv, enttäuscht und wünscht sich eine Waffe. Auf einer Metaebene ist damit ein Ziel im Sinne des Persuasive-Game-Designs erfüllt. Denn dieses Spiel – so schlicht es auch ist – »make[s] an argument about the way systems work in the material world«30: Es ist nicht möglich, allein und unbewaffnet einen militarisierten Staatsapparat zu überwinden. Das mag einleuchtend klingen, vergessen werden darf aber nicht, dass die Macht der eigenen Erfahrung diesen Sachverhalt hier nachdrücklich vermittelt. Auch geht es nicht um die Geschichte (»story«) eines Einzelnen, denn der Demonstrant hat außer einem Schild, einem Bart und einem türkisfarbenen Pullover kein Attribut, das ihn weitergehend kennzeichnet. Es geht um das System, in dem sich verallgemeinernd viele ähnliche Geschichten abspielen.31 Die im Spiel angewendete Mechanik nennt Bogost »rhetoric of failure«. Unter den vorgegebenen Bedingungen kann man das Spiel nicht gewinnen. »These games make a statement about those rules, arguing that they are insufficient for the task to which they are currently being put«.32 Das kleine Flash-Spiel diskutiert also die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Bewaffnung der Demonstranten, was in weiterer Konsequenz zur Überlegung führt, woher diese Waffen kommen könnten – eine Frage, die seit der Entstehung des Spiels am 22. September 2011 politische Relevanz hat und immer noch unbeantwortet ist. Bogost selbst weist auf die Begrenztheit der »rhetoric of failure« als »precious technique that might risk wearing itself out«33 hin. Dies wäre auch aus Sicht
29 I. Bogost: Persuasive Games, S. 46. 30 Ebd. S. 47. 31 Vgl. weiterführend: Trippenbach, Philip: Stop Telling Stories http://trippenbach. com/2010/12/16/stop-telling-stories/ 32 Bogost, Ian: Review of I Can End Deportation http://www.bogost.com/watercoolerga mes/archives/review_of_i_can.shtml 33 Ebd.
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des Verfassers die Kritik, die man an dem Spiel üben müsste. Die Implementierung der »rhetoric of failure« ist recht offensichtlich und schwach umgesetzt und – seit Gonzalo Frascas »September 12«34 –zudem bereits Grundlage zahlloser Spiele. Auch wenn fundamentale Einstellungen und Überzeugungen durch das kleine Syrien-Spiel sicher nicht erschüttert werden, bietet es trotzdem ein gutes Beispiel für ein erstes Verständnis des Konzepts Persuasive Games. Diese schaffen es mit verhältnismäßig einfachen Mitteln bisweilen sehr gut, eine nachdrückliche Botschaft zu transportieren. Ob Persuasive Games allerdings wirklich erfolgreich im Erreichen der angestrebten Zielgruppen und im Einschmuggeln von Botschaften sind oder sein werden, muss sich zeigen. Das McDonalds-Spiel des italienischen Game Designers Paolo Pedercini beweist, was möglich ist. Mit dem Ziel »eine ernsthafte Diskussion über die politischen Implikationen von Videospielen zu starten [und] ... um eine politische Botschaft zu verbreiten«35, begann Game Designer Paolo Pedercini 2003 mit der Produktion von subversiven digitalen Spielen. Das 2006 entstandene MCDONALDS-SPIEL36 »handelt nicht nur von McDonalds, sondern von der gesamten Fast-Food-Industrie. Es ist eine Simulation der versteckten Prozesse, die der Fast-Food-Industrie inhärent sind. Der Spieler muss die Firma leiten und zwischen einer Menge Möglichkeiten auswählen um die Herstellung der McDonalds-Produkte vom Weideland bis zu ihrem Markenimage zu kontrollieren. Unser Ziel war es, die Folgen aufzuzeigen, die die industrielle Produktion von Nahrung auf Umwelt und Gesellschaft hat«.37
Das nur vordergründig harmlose Spiel mit eindeutig politischer Agenda wird, da es einem vermeintlich offiziellen Spiel des McDonalds-Spiel zum Verwechseln ähnlich sieht, nicht nur von der vergleichsweise kleinen Gruppe interessierter In-
34 Der französische Gamedesigner Florent Maurin schlägt in den Kommentaren zu einem Blogposting des Verfassers (http://www.newsgaming.de/2011/09/how-to-killthe-tyrant/) folgende Verbesserung des Spiels vor: »Maybe the designers could have set a cumulative ›bravery point‹ score, let’s say a million points, and challenged users all over the world to play the game and reach this ›tipping point‹ together, cumulating their scores and sacrificing characters to finally overthrow the Syrian regime…«. 35 N.N.: »Interview mit Paolo Pedercini«, in: Culture Jamming http://www.culturejamming.de/interviewVII.html 36 »Anti-advergame highlighting the unethical practices of the fast food company.« siehe Website von Molleindustria http://www.molleindustria.org/paolo/paolo_pedercini.ht ml#works 37 Siehe Fußnote 35.
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diegamer rezipiert. Bei einem persönlichen Gespräch bei der Veranstaltung Spielesalon in Kassel am 14. Juli 2011 erzählte Pedercini, dass es eine offizielle Anfrage einer Agentur gab, die das Spiel im Rahmen einer PR-Aktion für McDonalds auf Desktop-PCs in verschiedenen McDonalds-Filialen anbieten wollte – offenbar in völliger Unkenntnis des Spielinhalts. Auch wenn es letztlich nicht zu einer Umsetzung kam, kann man sich doch sehr schön die potentielle Verwirrung von Kunden und Verkäufern vorstellen. Wer weiß, ob sich nicht der eine oder andere durch die Erfahrung einer »procedural rhetoric about the necessity of corruption in the global fast food business, and the overwhelming temptation of greed, which leads to more corruption«38, verpackt in ein lustiges und unterhaltsam zu spielendes kleines popkulturelles Erlebnis, zu einem Überdenken von bislang »fixed worldviews«39 hätte anregen lassen.
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Ausgehend von diesen Vorüberlegungen entwickelt die von Linda Kruse und mir im Herbst 2012 gegründete Firma »the Good Evil GmbH« das Projekt TERRORHUNTER. Um eine immersive Erfahrung jenseits des begrenzten Rahmens eines digitalen Spiels gewährleisten zu können, haben wir uns entschieden, Elemente eines prozessualen ARGs40 zu nutzen. Die spielerische Anwendung ist in die Geschichte eines Start-Up-Unternehmens verwoben. Dieses fiktive Unternehmen besitzt nicht nur eine eigene Webrepräsentanz, sondern ebenfalls drei komplett ausgearbeitete Charaktere, die die Firma betreiben und im Social Web via Twitter, Facebook und LinkedIn täuschend lebensecht agieren.41 »Unsere Mission ist eine crowdbasierte Lösung des globalen Sicherheitsproblems im 21. Jahrhundert«, so steht es auf der Website der Agentur, die sich von der Erscheinung und Aufmachung nicht von bereits existierenden Websites zahlloser anderer Start-Ups unterscheidet. Ermöglicht werden soll so eine Auseinandersetzung mit der oben beschriebenen Thematik, die für die Zielgruppe
38 I. Bogost: Persuasive Games, S. 31. 39 Ebd. S. 57. 40 Als Alternate Reality Game (Kurzform: ARG) bezeichnet man ein auf verschiedene Medien zurückgreifendes Spiel, bei dem die Grenze zwischen fiktiven Ereignissen und realen Erlebnissen bewusst verwischt werden. 41 Durch die Hilfe eines investigativen Journalisten, der auf verdeckte Recherchen im Social Web spezialisiert ist, können wir gewährleisten, dass die Personen einer ersten journalistischen Prüfung auf Echtheit standhalten.
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junger bis mitteljunger webaffiner Menschen nicht durch die Positionierung im Kontext eines klassischen Bildungsangebots per se negativ besetzt ist. Der Slogan »Sicherheit durch Schwarmintelligenz« soll an den im Web positiv konnotierten Ansatz des gemeinschaftlichen Arbeitens appellieren. In der Tat wird es auch möglich sein, via Social Web durch Tipps, Hinweise und allgemeinen Austausch am Entstehungsprozess der App zu partizipieren. Erreicht werden soll damit eine Steigerung der Immersion. Aus Nutzersicht wird es sich nicht bloß um ein Spiel handeln, sondern um die Interaktion mit scheinbar wirklichen Menschen, die scheinbar wirklich an einem Produkt arbeiten, das neugierig macht, Erwartungen, Ängste und Befürchtungen weckt. Durch einen dramaturgisch ausgearbeiteten prozessualen Ablauf und die ständige Kommunikation im Social Web wird der Anschein erweckt, dass man als Nutzer einem real existierenden Prozess beiwohnt. So wird erst schrittweise klar, dass es sich bei dem Produkt der Agentur um ein onlinebasiertes Programm handelt, das es mit ergänzender Hardware ermöglicht, dezentral, autark und mobil unbemannte Fluggeräte weltweit zu steuern, um Verdächtige auszuspähen und diese im Bedarfsfall nach Rückversicherung gar zu liquidieren. Nach einer ersten Phase der Etablierung der Website und der Akteure und einer Reichweitenvergrößerung durch ein Imagevideo mit Screenshots der Anwendung in Phase zwei, wird in Phase drei eine erste interaktive Version des Online-Prototypen präsentiert. Erst an diesem Punkt stellt sich die entscheidende ethisch-moralische Frage: Würdest Du, wenn Du die Möglichkeit dazu hättest, einen Terrorverdächtigen töten wollen oder gar töten können? In einer medial übersättigten Gesellschaft, die durch ständige Reizüberflutung und ein Überangebot von Informationen geprägt ist, sehen wir das eigene Erleben, und sei es in einer Teil-Simulation, als stärkstes Mittel zum Zweck – um einen Denkprozess anzustoßen bzw. um nach Bogost »arguments about the way systems work in the material world« zu liefern.42 Dafür notwendig ist nicht die »re-creation of the world«43, aber, wie oben bereits skizziert, das selektive Modellieren von geeigneten Elementen. In diesem Fall befinden sich diese in der spielerischen Anwendung, die sich eingebettet in der zwar fiktional angereicherten, aber tatsächlichen Welt abspielt, also nicht eigens neu erschaffen werden muss. Wichtig für das Gesamtkonzept ist der zweite Entwicklungsstrang. Während auf der Agenturwebsite das Produktvideo gelauncht wird, startet die Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen als Auftraggeber eine Informa-
42 I. Bogost: Persuasive Games, S. 46. 43 Ebd. S. 46.
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tionsseite zum Themenkomplex Drohnen, Überwachung und Zukunft der Kriegsführung, die völlig unabhängig von der Agenturwebsite besteht. Zeitgleich zu Phase drei (spielbarer Prototyp) wird eine Video-Reihe mit Experteninterviews auf der thematischen Informationsseite gestartet. Hier soll das erste Mal Bezug auf das vermeintlich echte und umstrittene Start-Up genommen werden. In Phase vier werden die beiden Stränge abschließend verbunden. Eine Info-Veranstaltung von Agentur und Landeszentrale führt zur Aufklärung und Erklärung des Projekts, verbunden mit einer thematischen Podiumsdiskussion. Die modulare Vorgehensweise ermöglicht es, im gesamten Prozess flexibel, spontan und agil auf Rückmeldungen aus der Community zu reagieren, diese einzuarbeiten und in den bestehenden Erzählstrang einzuflechten. Der Ansatz, Inhalte im Kontext politischer Bildungsarbeit in Form eines Alternate Reality Games zu transportieren, ist meines Wissens in dieser Form bislang noch nicht angeboten worden. Der Leitgedanke bei der Entwicklung dieses durchaus verschachtelten, komplexen und aufwendigen Experiments entstammt den »Digital Game-Based Learning Principles« nach Prensky: »Is this game fun enough that someone who is not in its target audience would want to play it (and would learn from it)?«44 Vielleicht zeigt sich hier ein gangbarer Weg, den kritischen Diskurs anzustoßen.
L ITERATUR Anderson, Chris: »How I Accidentally Kickstarted the Domestic Drone Boom«, in: Wired.com vom 22. Juni 2012, http://www.wired.com/dangerroom/ 2012/06/ff_drones/all/ Bogost, Ian: Persuasive Games. The Expressive Power of Videogames, Cambridge, MA: MIT Press 2007. Bogost, Ian: Review of I can end deportation. http://www.bogost.com/water coolergames/archives/review_of_i_can.shtml Eaves, David: Attack of the Drones – How Surveillance May Change our Culture http://eaves.ca/2012/03/07/attack-of-the-drones-how-surveillance-maychange-our-culture/ Leonard, David: »Unsettling the Military Complex: Video Games and a Pedagogy of Peace«, in: Studies in Media & Information Literacy Education 4, 4 (2004), S. 1-8.
44 Prensky, Marc: Digital Game-Based Learning, New York: McGraw-Hill 2001, S. 179.
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Martin, Andrew/Lin, Thomas: »Keyboards First. Then Grenades.«, in: The New York Times vom 1. Mai 2011, http://www.nytimes.com/2011/05/02/techno logy/02wargames.html?pagewanted=all&_r=0 N.N.: »Drone Industry Becomes a Booming Business« in: RT.com vom 22. Juni 2012, http://rt.com/usa/news/drone-business-defense-million-422/ N.N.: »Interview mit Paolo Pedercini«, in: Culture Jamming http://www. culture-jamming.de/interviewVII.html N.N.: »The Drone Over Your Backyard: A Guide«, in: Theweek.com http://the week.com/article/index/228830/the-drone-over-your-backyard-a-guide N.N.: Brockhaus Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden, Band 9, 19. Auflage, Mannheim: F.A. Brockhaus 1989. Petermann, Thomas/Grünwald, Reinhard: »Stand und Perspektiven der militärischen Nutzung unbemannter Systeme«, in: TAB-Arbeitsbericht Nr. 144, Berlin: 2011. http://www.tab-beim-bundestag.de/de/ publikationen/berichte/ab 144.html Prensky, Marc: Digital Game-Based Learning, New York: McGraw-Hill 2001. Prensky, Marc: »›Simulations‹: Are They Games?«, in: Ders.: Digital GameBased Learning. http://www.marcprensky.com/writing/prensky%20-%20si mulations-are%20they%20games.pdf Schmidt, Wolf: »Versteckte Kamera«, in: die tageszeitung vom 21.06.2012, S. 3. Simon, Gunhild: Drohne — Metapher für einen Flugroboter http://www.blog 1.institut1.de/drohne-metapher-fur-einen-flugroboter/ Singer, P.W: Wired for War. The Robotics Revolution and Conflict in the 21st century, New York: Penguin 2009, Kindle-Position 257. Smith, Roger: »The Long History of Gaming in Military Training«, in: Simulation and Gaming 41 1 (2010), S. 6-19. Trippenbach, Philip: Stop Telling Stories http://trippenbach.com/2010/12/16 /stop-telling-stories/
C OMPUTERSPIELE AMERICA'S ARMY (United States Army 2002, O: US Army) MCDONALDS-SPIEL (Molleindustria 2006, O: Paolo Pedercini) SYRIAN REVOLT (Our-Minigames.com 2011, O: N.N.)
Fallstudie 3: Tablet-Adventuregame zum Zweitspracherwerb bei Vorschulkindern Ein Konzept inklusive Bär und Eichhörnchen
L INDA K RUSE »Bär, warum sind die Bienen krank? Können wir sie retten?« DAS EICHHÖRNCHEN
Auf der Basis des Digital Game-Based Learning (DGBL)1 habe ich das Konzept zu einem Serious Game entwickelt, das Kindern im Alter von 3 bis 6 Jahren die Möglichkeit bieten soll, spielerisch eine erste Fremdsprache zu erlernen. Das Spiel soll einen tieferen und länger anhaltenden Spielspaß gewährleisten als z.B. ein interaktiver Vokabeltrainer und sich dabei nicht als Lernspiel anfühlen. Vermutete positive Effekte des Zweitspracherwerbs durch DGBL bei Vorschulkindern betreffen: • die intrinsische Motivation2, • die Qualität der Sprachausprägung3 und • die Erschaffung einer Sprachumgebung.4
1
Vgl. Prensky, Marc: Digital Game-Based Learning, New York: McGraw-Hill 2001.
2
Vgl. Breitlauch, Linda: »Conceptual Design for Serious Games Regarding Didactical and Playfully Requirements«, in: Jeffrey Wimmer/Konstantin Mitgutsch/Herbert Rosenstingl (Hg.), Applied Playfullness. Proceedings of the Vienna Games Conference 2011. Future and Reality of Gaming, Wien: Braumüller 2012, S. 94.
3
Vgl. Asher, James J./García, Ramiro: »The Optimal Age to Learn a Foreign Language«, in: The Modern Language Journal 53/5 (1969), S. 334-341.
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In den folgenden Kapiteln stelle ich die Erkenntnisse meiner Recherche dar, von der Evolution der Sprache über Fragen der Entwicklungspsychologie und des Sprach- und Zweitspracherwerbs beim Kind bis zu Spieltheorien und den Methoden des DGBL, auf dessen Grundlage das Konzept zu SQUIRREL&BÄR entstand.
D IE E NTWICKLUNGSPSYCHOLOGIE
DES
K INDES
Die Sprachentwicklung der Menschheit – mit der die Voraussetzungen für die Sprachentwicklung jedes Kindes geschaffen wurden – beginnt vor rund 50.000 Jahren. Kevin Kelly5 beschreibt mit Bezug auf Richard G. Klein6 die Entwicklung von Sprache und Sprechen durch eine »Punktmutation« des Gehirns.7 Die Sprache ermöglichte fortan die Organisation in Lebensgemeinschaften, das gezielte Jagen und die Selbstreflexion. Dies führte zur Erhöhung der menschlichen Lebensspanne und ermöglichte die Weitergabe von Wissen und Erfahrungen durch die Älteren an die nächste Generation.8 Als Informationsträger wurden hauptsächlich Geschichten und zwar Heldengeschichten benutzt.9 Die Helden dienten und dienen als Identifikationsfiguren, mit denen Zuhörer und Leser mitfühlen, die sie zu eigenem Tun bewegen und die es ihnen erlauben, zu einem »modernen Individuum« zu wachsen.10 Mit diesem Heranwachsen befasst sich die Entwicklungspsychologie. Als Entwicklung wird dabei die Veränderung eines Organismus in Bezug auf das Entstehen von neuen Fähigkeiten, Funktionen
4
Vgl. Butzkamm, Wolfgang/Butzkamm, Jürgen: Wie Kinder sprechen lernen. Kindliche Entwicklung und die Sprachlichkeit des Menschen, Tübingen: Francke 2004, S. 56.
5
Vgl. Kelly, Kevin: What Technology Wants, New York: Viking 2010, S. 26.
6
Siehe Klein, Richard G.: »Behavioral and Biological Origins of Modern Humans«, California Academy of Sciences/BioForum 2002. http://www.accessexcellence.org/ BF/bf02/klein/
7 8
Vgl. ebd. Vgl. Caspari, Rachel/Lee, Sang-Hee: »Older Age Becomes Common Late in Human Evolution«, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 101/30 (2004), S. 10898.
9
Vgl. »Mnemotechniken«, »assoziative Verbindungen«, »Loci-Methode« in Sperber, Horst G.: Mnemotechniken Im Fremdsprachenerwerb, München: Iudicium 1989.
10 Vgl. Campbell, Joseph: The Hero with a Thousand Faces, Novato, CA: New World Library 2008, hier S. 337.
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und Verhaltensweisen beschrieben, während die Psychologie das menschlichen Verhalten und Denken erforscht.11 Entwicklung Die Ursachen für die individuelle Entwicklung lassen sich in drei Faktoren unterteilen: endogene, exogene und autogene Faktoren. Die inneren (endogenen) Bedingungen sind angeborene/vererbte Faktoren. Bei der Geburt liegen bereits über 100 Mrd. Nervenzellen (Neuronen) vor.12 Die »synaptischen Verbindungen« (Kontaktstellen der Neuronen) bilden in den ersten drei Jahren »[neuronale] Regelkreise, die […] unsere sensorischen, motorischen und kognitiven Fertigkeiten unterstützen und [...] unser gesamtes Verhalten steuern«.13 Äußere (exogene) Bedingungen beziehen sich auf den Einfluss der Außenwelt. Der Mensch wird durch Erfahrungen und Reize »geprägt«.14 Von den endo- und exogenen Faktoren hängt die sensorische, motorische und Kompetenzentwicklung eines Kindes ab. Dabei verläuft die motorische Entwicklung beim Neugeborenen vom Kopf abwärts zu den Füßen, von einer symmetrischen zur asymmetrischen Bewegung der Gliedmaßen. Mit etwa fünf Monaten greift das Kind zum ersten Mal gezielt nach einem Gegenstand, mit zwei Jahren kann es laufen und beide Hände koordinieren. Mit etwa fünf Jahren sind die feinmotorischen Leistungen zum Erlernen des Schreibens ausreichend stark ausgeprägt.15 Die sensorische Entwicklung (Wahrnehmungsentwicklung) formt sich langsam, von der rein optischen Hell-
11 Vgl. Lefrançois, Guy R.: Psychologie des Lernens, Heidelberg: Springer 2006, S. 4. 12 Vgl. ebd, hier S. 139. 13 Bruer, John T.: The Myth of the First Three Years. A New Understanding of Early Brain Development and Lifelong Learning, Berlin: Beltz 2000, hier S. 92; Vgl. auch Kasten, Hartmut: »Die Bedeutung der ersten Lebensjahre. Ein Blick über den Entwicklungspsychologischen Tellerrand hinaus«, in: Wassilios E. Fthenakis (Hg.), Elementarpädagogik nach Pisa. Wie aus Kindertagesstätten Bildungseinrichtungen werden können, Freiburg/Basel/Berlin: Herder 2003, S. 58f.; Vgl. auch Singer, Wolf: »Was kann ein Mensch wann lernen? Ein Beitrag aus der Sicht der Hirnforschung«, in: Wassilios E. Fthenakis (Hg.), Elementarpädagogik nach Pisa. Wie aus Kindertagesstätten Bildungseinrichtungen werden, Freiburg: Herder 2003, S. 67-77. 14 Kasten, Hartmut: »0-3jährige. Entwicklungspsychologische Grundlagen«, Vorlesung im Schloss, http://www.youtube.com/watch?v=paGGGugWKXs vom 06.06.2012. 15 Vgl. Kasten, Hartmut: 4-6 Jahre. Entwicklungspsychologische Grundlagen, Weinheim und Basel: Beltz 2005, S. 32-43.
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Dunkel-Wahrnehmung zum Erkennen von Schemen. Mit zwei Jahren kann ein Kind dann unterschiedliche Objekte erkennen sowie »Mein« und »Dein« benennen. Mit drei Jahren wird ein Verständnis für den Raum, die Zeit und Zahlen entwickelt und mit vier Jahren findet die Dezentrierung der eigenen Perspektive statt.16 Sozioökonomische Faktoren prägen die Kompetenzentwicklung und das Sozialverhalten des Kindes. »Die Qualität der Lernumgebung in der Familie hat substanziellen Einfluss auf die frühe kognitive und soziale Entwicklung von Kindern«.17 Dazu zählen auch die jeweiligen Interessen der Eltern. Beispielsweise können Mütter viel eher bei ihren Kindern Interesse für Mathematik wecken, wenn sie selbst entsprechende Interessen haben und zeigen18. Familie und soziale Gruppen prägen ab dem zweiten bis vierten Lebensjahr auch das soziale Verhalten (Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit, Kooperation, Empathie, den Umgang mit Regeln und Konflikten und Gruppenfähigkeit). Kinder tasten sich so langsam an die gesellschaftlichen Verhaltensmodelle heran und lernen situationsbezogen.19 Die aktiv selbstbestimmten (autogenen) Bedingungen beschreiben aktives Handeln von Individuen, um die eigene Entwicklung selbst zu fördern (»Lernen«).20 Spielen bietet Kindern dabei die optimale Möglichkeit zur aktiven Aus-
16 Vgl. ebd, S. 32-43. 17 Anders, Yvonne: »Kompetenzentwicklung im Lebenslauf«, Vorlesung im Schloss, http://www.youtube.com/watch?v=B20mLRWtfCg vom 06.06.2012, hier Minute 11:10.; Vgl. auch Blevins-Knabe, Belinda/Musun-Miller, Linda: »Number Use at Home by Children and Their Parents and Its Relationship to Early Mathematical Performance«, in: Early Development and Parenting 5/1 (1996), S. 35-45; Vgl. auch Anders, Yvonne et al.: »Home and Preschool Learning Environments and Their Relations to the Development of Early Numeracy Skills«, in: Early Childhood Research Quarterly 27/2 (2012), S. 231-244. 18 Blevins-Knabe, Belinda/Austin, Ann Berghout/Musun, Linda, et al.: »Family Home Care Providers’ and Parents’ Beliefs and Practices Concerning Mathematics with Young Children«, in: Early Child Development and Care 165 (2000), S. 41-58; Vgl. auch Wygotskis psychologische Theorie der »Zone des proximalen Wachstums« in G.R. Lefrançois: Psychologie des Lernens, S. 224-227. 19 Vgl. Metzinger, Adalbert: Entwicklungspsychologie kompakt, Köln: Bildungsverlag EINS 2011, S. 59-63. 20 H. Kasten: »0-3jährige«, hier Minute 10:00.
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einandersetzung. Sie können etwas erlernen.21 Auch wenn der Lernaspekt für das Kind nie im Vordergrund seiner Entscheidung steht, spielt er unbewusst für den Gewinn von Erfahrungen eine große Rolle: Das Kind wird zum »Mitgestalter seiner eigenen Entwicklung«.22 Psychologie Das Denken ist eine Form der selbstbestimmten Handlung. Die Kognitionspsychologie untersucht diese höheren mentalen Prozesse. Die Stufentheorie von Piaget beschreibt dabei, wie sich Kinder erst mit zunehmendem Alter den Denkweisen von Erwachsenen annähern.23 Wygotski hat eine Methode für optimales Lernen entwickelt: Scaffolding (Gerüstbau). Sie beruht auf der Theorie der Zone proximalen Wachstums, in der ein Kind Entwicklungspotenzial entfalten kann, wenn es in einer anregungsreichen Umgebung eine Aufgabe bearbeitet. Diese anregungsreiche Umgebung kann z.B. durch Anwesenheit eines Elternteils geschaffen werden. Die Eltern können dem Kind bei Problemen über Hilfestellungen ein Gerüst zur Lösung bauen. Über dieses Gerüst kann das Kind die Aufgabe bewältigen und wird befähigt, weitere Aufgaben eigenständig zu lösen.24 Eine Aufgabe stellt ein Ziel dar. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir handeln. Laut Lefrançois bewegt die Motivation eines Menschen ihn zum Handeln.25 Csikszentmihalyi spricht von einem Flow-Zustand, der erreicht wird, wenn einem Menschen eine Aufgabe gestellt wird, die er mit seinen persönlichen Fähigkeiten bearbeiten und lösen kann. Wichtig ist, dass die Aufgabe nicht zu schwer (»anxiety«) oder zu leicht (»boredom«) sein darf. Wird die optimale Balance zwischen »anxiety« und »boredom« erreicht und gehalten, befindet sich die Person im Flow. In diesem Zustand erlebt man ein Gefühl des Glücks, welches zu einer intrinsischen Motivation führen kann.26 Wigfield et al. formulieren:
21 Vgl. Lernen als »Änderung des Verhaltenspotenzials« in G.R. Lefrançois: Psychologie des Lernens, S. 7. 22 H. Kasten: »0-3jährige«, hier Minute 08:40. 23 Vgl. »transduktives« und »intuitives Denken« in G.R. Lefrançois: Psychologie des Lernens, S. 210-220; Piaget, Jean: Psychologie der Intelligenz, Stuttgart: Klett-Cotta 2000, S. 135-175; Piaget, Jean: Das Weltbild des Kindes, Basel/Stuttgart: Klett-Cotta 1978, S. 297-306. 24 Vgl. G.R. Lefrançois: Psychologie des Lernens, S. 223-227. 25 Vgl. ebd., S. 284. 26 Vgl. Csikszentmihalyi, Mihaly: Flow. The Psychology of Optimal Experience, New York: Harper&Row 1990, S. 59; Vgl. auch »pleasantly frustrating« in Gee, James
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»When individuals are intrinsically motivated, they do activities for their own sake and out of interest in the activity. When extrinsically motivated, individuals do activities for instrumental or other reasons, such as receiving a reward«.27
Extrinsische Motivation meint, dass wir »externe Ziele« haben. Wir versuchen etwas zu erreichen, etwa eine Belohnung (Lob, Geld). Diese Belohnung ist zwar nicht von Dauer, kann aber durch mögliche folgende Gefühle wie Zufriedenheit und Stolz dazu führen, dass wir intrinsisch motiviert werden, diese Gefühle wieder erlangen zu wollen. Lefrançois mahnt vor dem übermäßigen Einsatz von »externer Belohnung«, sie kann das Interesse an der Aktivität schwächen.28 Intrinsische Motivation heißt dementsprechend, dass wir aus dem Tun der Sache selbst heraus motiviert werden, sie fortzuführen, und keiner Belohnung bedürfen. Die reine Aktivität ist ausreichend. Boyle et al. sprechen diese intrinsische Motivation vor allem dem Spieltrieb von Kindern zu, die mit freiem Willen ihre Welt entdecken wollen.29
S PRACHE Bei 80% der Menschen liegt das Sprachzentrum der Muttersprache in der linken Hemisphäre des Gehirns.30 Für den Spracherwerb sind somit eine intakte Gehirnstruktur, aber auch ein intaktes Gehör und eine ungestörte auditive und optische Wahrnehmung nötig.31 Des Weiteren braucht das Kind eine Umgebung, die Sprachanreize bietet. Dies können sprachliche Reize der Eltern sein. Unter normalen Bedingungen beherrscht das anderthalbjährige Kind etwa 50 wortartige Ausdrücke, mit zwei Jahren umfasst der Wortschatz etwa 300 Wörter. Mit drei
Paul: What Video Games Have to Teach Us about Learning and Literacy, New York: Palgrave Macmillan 2007, S. 3. 27 Wigfield, Allan/Eccles, Jacquelynne S./Roesner, Robert W., et al.: »Development of Achievement Motivation«, in: William Damon/Richard M. Lerner (Hg.), Child and Adolescent Development. An Advanced Course, Hoboken, NJ: Wiley 2008, S. 409. 28 Vgl. G.R. Lefrançois: Psychologie des Lernens, hier S. 300. 29 Vgl. Boyle, Elizabeth/Connolly, Thomas M./Hainey, Thomas: »The Role of Psychology in Understanding the Impact of Computer Games«, in: Entertainment Computing 2/2 (2011), S. 69-74, hier S. 71. 30 Vgl. Bradshaw, John L.: Hemispheric Specialization and Psychological Function, Chichester, NY: Wiley 1989. 31 Vgl. W. Butzkamm/J. Butzkamm: Wie Kinder sprechen lernen, S. 56-61.
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Jahren etwa 700 aktive und 3000 passive und mit sechs Jahren dann 5000 aktive und 25 000 passive Begriffe.32 Um eine Zweitsprache erfolgreich zu erlernen, muss man sich kontinuierlich mit ihr auseinandersetzen und sie verwenden. Kleinkinder haben hier einen zeitlichen Vorteil gegenüber Vorschulkindern, denn sie können sich den ganzen Tag mit dem Spracherwerb befassen. Der Alltag von Vorschulkindern hingegen wird durch andere Aktivitäten beeinflusst. Außerdem schrecken Kleinkinder nicht vor Fehlern bei der Aussprache und dem Ausprobieren von Satz- und Wortkonstruktionen zurück.33 Sie lernen spielend, schneller und beiläufig34; es fällt ihnen viel leichter, eine bessere Aussprache und Intonation auszubilden. Asher und García legen dabei das beste Alter zur Produktion von »near-native sound« (akzentfreiem Sprechen) auf die Spanne zwischen ein und sechs Jahren.35 Oksaar spricht außerdem von einem verbesserten Sprachverständnis der Muttersprache durch die Rückschlüsse der Kinder auf die Verschiedenheiten der Sprachen.36 Auch die Lernumgebung spielt eine wichtige Rolle. So sind die Eltern die besseren Lehrer, weil sie nur teilweise Grammatik verbessern und hauptsächlich auf Verständlichkeit achten. Kinder erlernen ihre Muttersprache in »selbstbestimmten Etappen« und nicht zu definierten »Lernzeiten«. Im Gegensatz zum geordneten Unterricht herrscht beim Kind »kreative Unordnung«.37
S PIELE , S PIELE , S PIELE Für Huizinga ist der Mensch ein »Homo ludens«, ein spielender Mensch, der über das Spiel »ein Gefühl der Spannung und Freude« erfährt.38 Für Mogel ist
32 Vgl. ebd., S. 60, 64 und 105. 33 Vgl. ebd., S. 50, 231f und S. 115f.; Vgl. auch Oksaar, Els: Zweitspracherwerb. Wege zur Mehrsprachigkeit und zur interkulturellen Verständigung, Stuttgart: Kohlhammer 2003, S. 55f. 34 Vgl. Stern, Hans Heinrich: Foreign Languages in Primary Education. The Teaching of Foreign or Second Languages to Younger Children. Language and Language Learning, London: Oxford U.P. 1967, S. 83. 35 Vgl. J. Asher/R. García: »The Optimal Age to Learn a Foreign Language«, S. 334341. 36 Vgl. E. Oksaar: Zweitspracherwerb, S. 59. 37 Vgl. W. Butzkamm/J. Butzkamm: Wie Kinder sprechen lernen, S. 56. 38 Vgl. Huizinga, Johan: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg: Rowohlt 1956, S. 34.
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Spielen »die zentrale Tätigkeitsform des kindlichen Lebens [denn] nirgendwo strengen sich Kinder mehr und ausdauernder an, um ein eigenes Ziel zu erreichen«39. Marc Prensky ordnet die Menschen in die zwei Kategorien digital natives und digital immigrants ein und erläutert, warum spielerisches Lernen durch Video-/Computerspiele für die (neue) Generation von Kindern eine optimale Methode sei.40 Zum Lernen brauche man Motivation und Begeisterung. Stets schon waren Lehrer, denen es gelang, ihren Unterrichtsstoff mit Spaß zu vermitteln, besonders effektiv und erreichten eine höhere Motivation und damit auch Lernbereitschaft bei ihren Schülern.41 Spiele fördern aber nicht nur Spaß. Sie finden innerhalb eines geschlossenen Systems (Spielraum) statt und lassen die Spieler an einem künstlichen Konflikt (oder einer Herausforderung) teilhaben. Dieser Konflikt kann gelöst werden, in dem unter Einhaltung von klar definierten Regeln die abgesteckten Ziele (»tasks«) erreicht werden. Dabei sind Spiele interaktiv. Sie verarbeiten die Handlungseingaben des Spielers und geben eine direkte Rückmeldung (»instant feedback«).42 Begibt sich der Spieler in den Spielraum (Zauberkreis / Magic Circle) und folgt seinen Regeln, so entfaltet sich eine Magie (Anziehungskraft). Diese Magie drückt sich durch Spielfreude aus. Sie kann im optimalen Fall aber auch bis zum Erreichen des Flow-Zustands führen und die intrinsische Motivation für das Spiel eröffnen.43 Diese intrinsische Motivation führt nach Salen und Zimmerman zu »meaningful play«, da der Spieler für sich selbst im Spiel Bedeutung schaffen kann.44 Des Weiteren erlauben Spiele das Erlernen durch Scheitern, welches in Spielen oft positiv dargestellt wird und somit zum Ausprobieren (»trial and error«)
39 Mogel, Hans: Psychologie des Kinderspiels. Die Bedeutung des Spiels als Lebensform des Kindes, seine Funktion und Wirksamkeit für die kindliche Entwicklung, Heidelberg: Springer 2008, S. 9. 40 Vgl. »Digital Natives« und »Digital Immigrants« in M. Prensky: Digital Game-Based Learning, S. 46f. 41 Vgl. ebd., S. 100. 42 Vgl. ebd., S. 119-123; Vgl. auch »goal-oriented/goal-based learning«, »guided discovery«, »task-based learning«, in ebd. S. 159-161. 43 Vgl. H. Mogel: Psychologie des Kinderspiels, S. 177ff., J. Huizinga: Homo ludens, S. 17., Schell, Jesse: The Art of Game Design. A Book of Lenses, Amsterdam/Boston: Elsevier/Morgan Kaufmann 2008, S. 34 und S. 130, M. Csikszentmihalyi: Flow; Salen, Katie/Zimmerman, Eric: Rules of Play. Game Design Fundamentals, Cambridge, MA: MIT Press 2004, S. 93-99. 44 Vgl. ebd., S. 333.
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einlädt.45 Dabei sind gefahrloses/angstfreies Scheitern und der Umgang mit Fehlern nicht nur wichtig für den Lernprozess, sondern ermöglichen auch die Entfaltung von Kreativität.46 Prensky beschreibt außerdem »discovery learning« bzw. »guided discovery« als erfolgreiches Lernmittel in DGBL-Spielen. Dabei findet der Spieler durch eine klare Anleitung bzw. Aufgabenstellung selbst die richtige Lösung/Erkenntnis.47 Ein NUI (Natural User Inferface), wie es etwa Touchscreen Devices (Tablets) anbieten, erlaubt es dem Spieler, unmittelbar und intuitiv mit dem Spielsystem zu interagieren.48 Der Spieler muss sich keine Gedanken über die Steuerung machen. In der Konsequenz kann eine höhere Immersion erreicht werden.
E RGEBNISSE Um eine erfolgsversprechende und geeignete Umgebung für den Zweitspracherwerb herzustellen, muss eine Vielzahl einzelner Faktoren zusammenkommen, also entweder durch die Entwicklung der Kinder mitgebracht, aus ihrem sozialen Umfeld bedingt oder vor allem innerhalb eines Spielsystems bedacht werden. Geschichten sind dabei ein Kernelement zur Weitergabe von menschlichen Verhaltensweisen, Wissen und Erkenntnissen. Sie lehren Kinder Konzepte und Systeme unserer Welt und sind damit eine hervorragende Basis für ein Spiel und ermöglichen Lernen durch »guided discovery«. Eine interaktive Geschichte soll deshalb die Grundlage meines Spiels SQUIRREL&BÄR bilden, dessen Haupthelden/Spielcharaktere ein Eichhörnchen (Squirrel) und ein Bär sein werden. Die Entwicklung eines Kindes verläuft auf mehreren Ebenen. Unterhalb von drei Jahren sind für den Zweitspracherwerb wichtige Fertigkeiten noch nicht vollständig ausgebildet. Mit sechs Jahren wird ein großer Teil des Alltags durch die Einschulung/Schule fremdbestimmt. Ab ca. drei Jahren besitzt ein Kind allerdings ausreichend grobmotorische Fähigkeiten, einen soliden Grundwortschatz in seiner Muttersprache, genügend Zeit und die Fähigkeit, ohne Mühe ei-
45 Vgl. »Learning from Mistakes« in M. Prensky: Digital Game-Based Learning, S. 159. 46 Vgl. Robinson, Ken: »Ken Robinson Says Schools Kill Creativity«, Ted Talk, http:// www.ted.com/talks/ken_robinson_says_schools_kill_creativity.html vom 25. Juni 2012, Minute 5:29 und 5:40. 47 Vgl. »Discovery Learning« in M. Prensky: Digital Game-Based Learning, S. 160. 48 Vgl. »intuitives Handlungsschema: OSIT« in Henseler, Wolfgang: »NUI Usability. Zur Gestaltung des Nichts«, Webinale 2011 Session. http://www.youtube.com/watch ?v=97U3h9-ixrc vom 28.06.2012, Minute 38:00.
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ne weitere Sprache (mit muttersprachlichen Qualitäten) zu erlernen. Somit ist das Vorschulalter (ca. 3 bis 6 Jahre) das perfekte Alter zum Erlernen einer Zweitsprache. Durch die großen Entwicklungsunterschiede der Kinder sind allerdings mehrere Lernstufen bzw. Schwierigkeitsgrade nötig; ein Umstand, der bei der Konzeption eines Spiels unbedingt berücksichtig werden muss. Spiele stellen eine gute Form der Wissensvermittlung für heranwachsende Generationen dar49, sie sind interaktiv und erlauben das Erlernen und Experimentieren durch das »Trial and Error«-Prinzip. Dabei spielt das Feedback zur Frustrationsvermeidung eine große Rolle. Lerninhalte, wie z.B. Vokabeln, können so durch Interaktionen bzw. assoziative Verbindungen im Spiel besser vermittelt und memoriert werden. Den Vorschulkindern kommt der ohnehin vorhandene ungebremste Spieltrieb entgegen. Er verspricht eine intrinsische Motivation über Erreichen des Flow-Zustands und ermöglicht freudvolles Lernen. Um diesen Flow-Zustand zu begünstigen, müssen die Lerninhalte über eine ansteigende Lernkurve vermittelt werden. Ein Spiel und seine Geschichte werden gerne wiederholt gespielt/gelesen, dies ermöglicht eine Festigung des Wissens/der Vokabeln bzw. der Verhaltensmuster und erfüllt somit eine elementare Voraussetzung für nachhaltiges Lernen. Verstärkender Faktor kann hier ein sympathischer Protagonist/Held sein, zu dem der Spieler eine emotionale Bindung aufbaut. Aufgrund des jungen Alters der Kinder ermöglichen Touchscreen Devices durch ihr NUI eine einfache Bedienung über ihre zugängliche Benutzeroberfläche, verstärken die Immersion und erlauben direkte Rückmeldungen (Feedback). All diese Erkenntnisse sind in das Konzept von SQUIRREL&BÄR eingeflossen, welches ich im folgenden Kapitel darstelle.
D AS K ONZEPT
VON
SQUIRREL&BÄR
SQUIRREL&BÄR ist ein 2D-Touch&Swipe-Adventure für Touch Devices. Die Spielcharaktere werden mit natürlichen Gesten durch ein Abenteuer gesteuert und müssen verschiedene Aufgaben bewältigen, bei denen eine Zweitsprache/ Fremdsprache vermittelt wird. Ein Fokus bei der Entwicklung liegt auf der Steuerung der Charaktere unter Berücksichtigung des emotionalen und rationalen Verhaltens der Kinder gegenüber Squirrel und Bär, um eine optimale und nutzer-
49 G.R. Lefrançois: Psychologie des Lernens, S. 7.; Vgl. auch M. Prensky: Digital Game-Based Learning; Vgl. auch J.P. Gee: What Video Games Have to Teach Us about Learning and Literacy.
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freundliche Bedienung auf Tablets und anderen mobilen Geräten zu bieten. Somit können die Kinder nach einem kurzen spielbaren Tutorial in ihr Abenteuer starten. Abbildung 1: Screenshot SQUIRREL&BÄR: Im Wald
Quelle: © the Good Evil GmbH, 2013
Squirrel und Bär lassen sich über einfache Gesten (»swipe«) steuern, die Kamera passt sich dabei automatisch an die Bewegungen der Figuren an. Jeder Charakter kann einzeln über Gesten durch die verschiedenen Welten gesteuert werden. Das Kind hat somit die Kontrolle über den Verlauf und Ablauf des Abenteuers. Mit einer zeitlichen Abfrage wird außerdem sichergestellt, dass das Kind jederzeit weiß, was es tun kann, und erneute Hinweise bekommt, um die Aufgabe zu lösen, oder motiviert wird, weiter zu spielen. Ziele Dabei muss der Spieler Squirrel und Bär helfen, die kranken Bienen im heimischen Wald zu retten. Hierfür wird eine Heilpflanze benötigt, die es nur im Bergland gibt, wo allerdings eine andere Sprache gesprochen wird. Somit ist das offensichtliche Ziel des Spiels, die Heilpflanze zu finden und mit ihr Bienen und Wald zu retten. Das unterschwellige Ziel ist es, die fremde Sprache zu erlernen.
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Im Spielverlauf begegnet der Spieler anderen Tieren, die Squirrel und Bär Aufgaben stellen. Diese Aufgaben beinhalten ein langsames Heranführen an die fremde Sprache und stellen diverse Vokabeln oder Sätze bereit (insgesamt ca. 400 aktive und 800 passive Begriffe). Jedes Tier kann jeweils mehr Worte in der Fremdsprache sprechen oder gegen Ende des Abenteuers sogar nur die Fremdsprache. Weitere Aspekte, die über den Spracherwerb hinaus in SQUIRREL&BÄR im Rahmen eines ganzheitlichen Lernens eingebunden werden, sind die Vermittlung von Informationen über die Waldbewohner, den Schutz der heimischen Umwelt, allgemeine Verhaltensweisen und den Umgang mit bzw. das Verhalten gegenüber den verschiedenen Tieren. Abbildung 2: Screenshot SQUIRREL&BÄR: Fremde treffen sich
Quelle: © the Good Evil GmbH, 2013
Inhalt Ihre Heimat ist der Wald, doch der ist bedroht, denn das Volk der Bienen ist bedroht. Squirrel und Bär wissen, dass die Bienen ein wichtiger Teil des Ökosystems Wald sind. Die Bienen sammeln Blütenpollen, um Honig zu produzieren, dabei bestäuben sie die Blüten verschiedener Pflanzen und Bäume. Der Bär liebt Honig, das Squirrel liebt Nüsse, also müssen sie die Bienen retten! Eine Heil-
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pflanze aus dem Land in den Bergen verspricht Rettung. Diese wird allerdings von einem bösen Luchs bewacht. Squirrel und Bär machen sich auf den Weg. Insgesamt gibt es fünf Welten mit verschiedenen Levels, die erkundet werden müssen. Jedes Level ist Lebensraum eines anderen Tiers. Die einzelnen Aufgaben der Tiere führen den Spieler langsam an das neue Vokabular bzw. die neuen Sätze heran. Jedes Level hat eine inhaltliche Ausrichtung auf einen Vokabelbereich (Zahlen, Familie, etc.). Hinter jedem Tier, welches man entdeckt/ trifft, verbirgt sich eine Tierkarte, die wie ein Steckbrief mehr über dessen Lebensweise und Lebensraum verrät. Selbstverständlich müssen sich Squirrel und Bär regelmäßig auf ihrer Reise stärken. Der Bär am liebsten mit Honig und das Squirrel mit Nüssen. Jede der einzelnen Figuren im Spiel hat einen eigenen Charakter. So ist das Squirrel ein flinkes, cleveres Tier mit einer Schwäche für Nüsse. Es ist außerdem gut im Zählen und ein Meister im Klettern. Der Bär bildet den Gegensatz, er sieht gefährlich aus, ist aber eigentlich ganz handzahm und liebt Honig. Mit seiner großen Statur fällt es ihm leicht, Gegenstände zu bewegen oder zu öffnen. Squirrel und Bär begegnen so u.a. einem alten Dachs, einem misstrauischen Bieber, einer Horde Ratten, einem Hirsch mit prächtigem Geweih und dem bösen Luchs. Abbildung 3: Screenshot SQUIRREL&BÄR: Am Fluss
Quelle: © the Good Evil GmbH, 2013
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Die Geschichte als Mittel zum Spracherwerb In SQUIRREL&BÄR sind die Sprachausgabe und Töne das Kernelement, welches auch als Feedback fungiert, da Kinder zwischen drei und sechs Jahren entweder noch gar nicht oder nur sehr langsam lesen können. Durch den Verlauf der Geschichte werden die unterschiedlichen Vokabeln oft wiederholt und sind kontextuell eingebettet, d.h. z.B. Vokabeln, welche sich auf Lebensmittel beziehen, werden in einer Küche gespielt. Die meisten Vokabeln werden zusätzlich noch durch Bewegungen oder direkt in Satzbeispielen verwendet, damit sie leichter eingeprägt und wieder abgerufen werden können. Dabei nehmen die Hinweise und Hilfestellungen durch die Muttersprache im Verlauf des Spiels ab, so dass der Spieler auf sein neu erworbenes Wissen zurückgreifen muss und das erneute Abrufen der Vokabeln üben und festigen kann. Die Geschichte hilft dabei, sich die Vokabeln anhand der Reise zu merken, motiviert die Spieler, das Spiel zu Ende zu spielen und schafft eine emotionale Bindung zu den Charakteren, die gleichzeitig die Motivation und Auseinandersetzung mit Sprache und Spiel steigern soll. Beispiel-Level Als abschließendes Beispiel folgt ein Einblick in das Level »Biberdamm« aus der Fluss-Welt. Squirrel und Bär kommen am Fluss an. Ihnen fällt ein riesiger Berg Müll auf, der von einem Damm aus Büschen, Ästen und Laub zusammengehalten wird. Der misstrauische Biber tritt hervor. Er mag keine Fremden. Squirrel und Bär dürfen nicht passieren. Nach einigen Erklärungen lässt er sich dann aber doch von ihrer Mission erweichen und ist bereit, den beiden zu helfen, wenn sie ihm den Müll aus seinem Damm holen. Der Spieler muss nun mit dem flinken Squirrel die einzelnen, von Menschen weggeworfenen Gegenstände (z.B. Schuh, Ball, Dose etc.), die auf dem Damm liegen, einsammeln. Squirrel wirft den Gegenstand zum Bär, der Biber spricht die jeweilige Vokabel in der Fremdsprache aus. Beim Fangen wiederholt der Bär in der Muttersprache und Squirrel wiederholt die Vokabel erneut in der Fremdsprache. Nach dem Aufräumen dürfen Squirrel und Bär passieren und haben ihre ersten Vokabeln gelernt. Entwicklungsplanung SQUIRREL&BÄR wird eine Spielzeit von 3-4 Stunden haben und befindet sich derzeit in Entwicklung für iOS und Android Systeme. Auf dem deutschen Markt wird es voraussichtlich Ende 2013 mit Englisch als Lernsprache erscheinen.
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L ITERATUR Anders, Yvonne: »Kompetenzentwicklung im Lebenslauf«, Vorlesung im Schloss, http://www.youtube.com/watch?v=B20mLRWtfCg vom 6. Juni 2012. Anders, Yvonne et al.: »Home and Preschool Learning Environments and their Relations to the Development of Early Numeracy Skills«, in: Early Childhood Research Quarterly 27/2 (2012), S. 231-244. Asher, James J./García, Ramiro: »The Optimal Age to Learn a Foreign Language«, in: The Modern Language Journal 53/5 (1969), S. 334-341. Blevins-Knabe, Belinda et al.: »Family Home Care Providers’ and Parents’ Beliefs and Practices Concerning Mathematics with Young Children«, in: Early Child Development and Care 165 (2000), S. 41-58. Blevins-Knabe, Belinda/Musun-Miller, Linda: »Number Use at Home by Children and their Parents and its Relationship to Early Mathematical Performance«, in: Early Development and Parenting 5/1 (1996), S. 35-45. Boyle, Elizabeth/Connolly, Thomas M./Hainey, Thomas: »The Role of Psychology in Understanding the Impact of Computer Games«, in: Entertainment Computing 2/2 (2011), S. 69-74. Bradshaw, John L.: Hemispheric Specialization and Psychological Function, Chichester, NY: Wiley 1989. Breitlauch, Linda: »Conceptual Design for Serious Games Regarding Didactical and Playfully Requirements«, in: Jeffrey Wimmer/Konstantin Mitgutsch/ Herbert Rosenstingl (Hg.), Applied Playfullness. Proceedings of the Vienna Games Conference 2011. Future and Reality of Gaming, Wien: Braumüller 2012, S. 91-97. Bruer, John T.: The Myth of the First Three Years. A New Understanding of Early Brain Development and Lifelong Learning, Berlin: Beltz 2000. Butzkamm, Wolfgang/Butzkamm, Jürgen: Wie Kinder sprechen lernen. Kindliche Entwicklung und die Sprachlichkeit des Menschen, Tübingen: Francke 2004. Campbell, Joseph: The Hero with a Thousand Faces. Bollingen Series xvii, Novato, CA: New World Library 2008. Caspari, Rachel/Lee, Sang-Hee: »Older Age Becomes Common Late in Human Evolution«, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 101/30 (2004), S. 10895-10900. Csikszentmihalyi, Mihaly: Flow. The Psychology of Optimal Experience, New York: Harper&Row 1990.
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Fallstudie 4: Das VITA-Konzept Game-Based Learning zur Transferüberprüfung in einem integrierten Ansatz
T HORSTEN U NGER
Das Potenzial von spielerischen Anwendungen zur Informations- und Wissensvermittlung ist in der wissenschaftlichen Literatur umfangreich dokumentiert.1 Dessen Überführung in die Praxis stellt jedoch eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar. Der vorliegende Beitrag gibt zunächst einen Überblick über die didaktischen Grundüberlegungen von Game-Based Learning sowie praktische Hinweise zur Planung und Umsetzung entsprechender Anwendungen. Mit dem vom Autor entwickelten VITA-Konzept liegt zudem ein pragmatischer Umsetzungsansatz vor, der im Rahmen dieser Publikation erstmalig vorgestellt wird.
D IDAKTISCHE G RUNDÜBERLEGUNGEN Zur begrifflichen Einordung ist es erforderlich, die in diesem Zusammenhang verwendeten Begriffe Game-Based-Learning, Serious Games und Gamification zu definieren und deren Kernnutzen voneinander abzugrenzen. Game-Based Learning im engeren Sinne beschreibt die Verwendung von Spielmechaniken im Sinne der darin enthaltenen Lern- und Motivationspotentiale zur Vermittlung und Überprüfung von Informationen, die für die Lösung der
1
Vgl. u.a. Maren Metz/Fabienne Theis: Digitale Lernwelt – Serious Games, Bielefeld: Bertelsmann 2011.
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innerhalb der Anwendung gestellten Aufgabe relevant sind.2 Es handelt sich bei ihnen im Sinne des E-Learning um Module, welche in ein größeres Gesamtkonzept integriert werden. Game-Based Learning-Anwendungen sind keine vollumfänglichen Spiele, sondern reduzierte Varianten, welche in einen erweiterten Lernkontext, etwa in eine virtuelle Lernumgebung oder einen Blended-LearningAnsatz, als Teilmodule eingebettet sind. Sie verfügen nicht zwangsläufig über ein vollumfängliches Regelwerk von Gewinn- und Verlustbedingungen. Ein neutrales Bearbeiten erlaubt jedoch trotzdem einen motivatorischen Effekt durch Erfolg innerhalb der Anwendung. Serious Games dagegen sind vergleichbar mit vollumfänglichen, meist kommerziell ausgewerteten Spielen. Sie verstehen sich als Spielangebote, jedoch dienen sie nicht primär oder ausschließlich der Unterhaltung. Ihnen wohnt eine immersive Didaktik inne, welche darauf abstellt, im Kontext eines Spiels Wissen zu erfahren und unmittelbar im Kontext der Handlung einsetzen zu müssen. Ein authentisches und glaubwürdiges, aber auch unterhaltendes Lernerlebnis steht im Mittelpunkt des Interesses. Gamification schließlich beschreibt die Nutzung von Motivationskonzepten zur Steigerung der Nutzungsintensität und zur Erreichung von Zielen außerhalb eines konkreten Spiels. Damit stellt Gamification eher eine Philosophie und eine komponentenübergreifende Konzeptionsgröße dar, die aufeinander aufbauende Ergebnisse miteinander verkettet und im Sinne der Zielerreichung abbildet. Game-Based Learning ist im Kontext der Vermittlung von Wissen besonders hervorzuheben, da es aufgrund seines modularen Charakters und seines unmittelbaren Nutzwertes mit anderen Informationsträgern und Medienformen kombinierbar ist, ohne jedoch selbst für sich allein genommen nicht ebenfalls einen Nutzen zu stiften. Damit lässt sich Game-Based Learning in umfangreichere, sich über mehrere Medien erstreckende Konzepte integrieren. Es erfüllt damit notwendige Voraussetzungen für einen instrumentalisierten Einsatz und kann in medienkonvergenten Konzepten als Option berücksichtigt werden. Spiele bestehen aus Regeln unter der Maßgabe eines übergeordneten Ziels. Dieses Wirkungsnetz aus Bedingungen hilft dabei, Kompetenzen zu vermitteln und zu überprüfen. Die Darstellung und didaktische Aufbereitung von Faktenwissen tritt in der gegenwärtigen Informationsgesellschaft ohnehin in den Hintergrund.3 Heute ist nicht der Besitz einer Information entscheidend. Wesentlich
2
Vgl. auch Prensky, Marc: Digital Game Based Learning, St. Paul: Paragon House
3
Vgl. auch Laur-Ernst, Ute. »Informelles Lernen in der Arbeitswelt«, in: Berufsbildung
Publishing 2008. in Wissenschaft und Praxis 27/4 (1998), S. 44-47.
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ist vielmehr die Kenntnis, wie Informationen beschafft und bewertet werden. Dabei kommt der Übertragung der Information in einen realen Kontext mit entsprechendem realem Nutzwert eine zentrale Bedeutung zu. Dieser damit erzielbare Wissensaufbau kann innerhalb von veränderlichen Lernszenarien, etwa durch Veränderung einzelner Parameter, in unterschiedliche, an die Realität angenäherte Situationen übertragen werden. Das didaktische Konzept begünstigt das Austesten verschiedener Formen des Wissenseinsatzes und führt damit unmittelbar zu Erkenntnissen durch Anwendung. Scheitern innerhalb des bereitgestellten Regelwerkes ermöglicht bei gegebenen Feedbackmechanismen Erkenntnis. Die Bewertung verschiedener Varianten von Erfolg und Misserfolg generiert damit echten Kompetenzaufbau. Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Faktor ist die Wirkung von spielerischen Anwendungen auf die intrinsische Motivation. Spiele sind Aktion. Kein Spiel kann durch Passivität und bloßes Betrachten zu einem positiven Ergebnis geführt werden. Spiele erfordern und fordern ein hohes Maß an Aufmerksamkeit. Spielen ist ein Zusammenspiel aus beobachten, bewerten und beeinflussen. Eine durchgeführte Aktion generiert eine dem Regelwerk entsprechende Reaktion. Deren Analyse führt zu neuerlicher Aktion und der Prozess beginnt mit dem Beobachten von neuem. Dabei erfährt der Anwender eine Bewertung seiner Leistung. Sein Handeln verändert den aktuellen Status in Bezug auf den Zielerreichungsgrad der gestellten Aufgabe. Bei gelungener Konzeption des Spielszenarios und des damit verbundenen Regelwerkes motivieren sowohl Misserfolg als auch Fortschritt. Durch die Aktivierung von Spieltrieb, Herausforderung, Selbstverwirklichung und Ehrgeiz kann ein Zustand der Immersion4 erreicht werden. Dieser zuerst in den 1930er Jahren für audiovisuelle Medien beschriebene Prozess des aktiven Eintauchens in eine Rolle stellt ein hohes Maß an Aufmerksamkeit sicher. Das Bewusstsein des Anwenders ist im Hier und Jetzt der spielerischen Handlung verortet. Mehr noch, akzeptiert der Nutzer erst einmal seine ihm zugedachte Rolle, schaffen es digitale Spiele wie kaum ein anderes Medium, dass Menschen den Zustand des Unwissenden – im Kontext des Spiels – akzeptieren.5 Durch Handeln innerhalb der Anwendung ist der Spieler bemüht, Wissen zu erwerben, um erfolgreich bestehen zu können.
4
Béla Balázs: Zur Kunstphilosophie des Films (*1938), in: Franz-Josef Albersmeier
5
Vgl. Baumeister, Roy/Tierney, John: Die Macht der Disziplin, Frankfurt a.M.: Cam-
(Hg.): Theorie des Films. Reclam, Stuttgart 1995, S. 204–226, hier S. 215. pus Verlag 2012, S. 243.
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Spiele sind in ihrer ureigenen Form ein Lernmedium. Denn diese müssen zunächst erlernt werden. Ohne das Befolgen der Regeln ist die Nutzung sinnlos. Spiele erfordern damit Disziplin bei gleichzeitiger Akzeptanz von Misserfolg. Dies ist eine Kombination, welche in anderen Lernformen auf Widerstände stoßen dürfte. Spiele sind gelebtes Scheitern – und bieten gleichzeitig Ansporn, es immer wieder aufs Neue zu probieren. Denn die Analyse des eigenen Rückschlags und der damit verbundene Antrieb nach Verbesserung motiviert, sich der gleichen Aufgabenstellung erneut zu stellen. Aus didaktischer Sicht verbinden Spiele damit bei entsprechender Konzepti on auf effiziente Art und Weise Sequenzierung und Flow-Effekt. Denn nur wenn es gelingt, den Lerninhalt im Sinne der Aufgabenstellung in das jeweilige Lernszenario zu übertragen und zu adaptieren, steht dem Erfolg im Spiel nichts mehr im Wege. Die Variation des Lerninhalts wird durch nachvollziehbare Parameter und Wirkungszusammenhänge sichergestellt und erlaubt die Übertragung des Inhalts in die Realität. Game-Based Learning erfüllt damit eine Brückenfunktion: Es greift auf vermitteltes oder abzurufendes Wissen zurück, überprüft dabei die erworbene Kompetenz, vertieft diese durch Variationen und leistet auf diesem Wege einen Beitrag zum tatsächlichen Kompetenzerwerb.
P LANUNG
UND U MSETZUNG VON SPIELERISCHEN L ERNANWENDUNGEN Durch selbsttätiges Handeln, Beobachten und Schlussfolgern wird ein Erkenntnisgewinn im Sinne konstruktivistischer Didaktik ermöglicht. Der Anwender setzt sich durch eigenes Handeln unmittelbar und intensiv mit den ihm angebotenen Inhalten und Leitlinien auseinander und kommt dadurch zu neuen und tiefgreifenderen Erkenntnissen, als es durch bereitgestellte lineare Informationsmedien wie beispielsweise PowerPoint-Präsentationen, Texte oder IntranetApplikationen möglich wäre. Soll ein spielerisch getriebenes Projekt gelingen, bedarf es jedoch einer grundlegenden Analyse und intensiven Aufbereitung der zu vermittelnden Inhalte und der mit ihnen verbundenen Lernziele. Der Lerninhalt folgt dabei grundsätzlich nicht der Spielmechanik, sondern definiert die Rahmenbedingungen zur
6 Vgl. Csikszentmihalyi, Mihaly: Das Flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile im Tun aufgehen, Stuttgart: Klett-Cotta 2000, S. 6 ff..
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Entwicklung eines auf Grundmechaniken basierenden Layouts an Spielregeln und damit Wirkungszusammenhängen. Dabei kommt der Dokumentation der konkreten Aufgabenstellung und Ausgangssituation eine Schlüsselrolle zu. Diese sollte die unterschiedlichen Lerntypen einbeziehen und Alternativen je nach Lernkultur anbieten. Hier können Experteninterviews und Gespräche mit der Zielgruppe sehr hilfreich sein. Eine intensive Auseinandersetzung mit den potentiellen Nutzern ist in jedem Fall eine nicht zu unterschätzende Planungskomponente. Game-Based Learning erfordert die Einbringung von Wissen zur Bewältigung einer gestellten Aufgabe. Für die Spielmechanik selbst ist es zunächst unerheblich, wie die entsprechenden Informationen in das Lernmedium eingebracht werden. Denkbar sind Prüfungsszenarien, in welchem der Anwendungsumfang dahingehend variiert wird, dass unterschiedliche Prüfszenarien nach Abschluss der Lernphase aufgerufen werden. Diese stellen auf lediglich einige der in Frage kommenden Inhalte ab. Eine solche Anwendung liefert Feedback auf das eigene Handeln. Auf diese Weise kann der Proband sein Verhalten bei nochmaliger Abprüfung anpassen und so zu neuen Erkenntnissen gelangen. Dies ist auch aus lern- und kommunikationspsychologischer Sicht interessant, da es das Abbilden von Analogien zur tatsächlichen Arbeitswelt erlaubt, so dass simulativ bereits eigene, positive Erfahrungen von beruflich relevanten Abläufen gemacht werden können. Dies ersetzt zwar nicht die Realität, es begünstigt jedoch die Bewertung entsprechender Aufgabenstellungen.
D AS VITA-K ONZEPT : V ERMITTELN , INFORMIEREN ,
TRAINIEREN , ANWENDEN
Auf Basis von Erkenntnissen aus langjähriger Beratungs-, Konzeptions- und Umsetzungserfahrung hat der Autor mit dem VITA-Konzept einen grundlegenden Ansatz entwickelt, der sich praxisnah und inhaltsübergreifend anwenden lässt. Er ermöglicht eine Gesamtkonzeption, die klassische Lernformen wie digitale Trainings (E-Learning) oder informelle Angebote (Produktblätter, Videos, Betriebshandbücher u.a.) mit virtuellen und spielerischen Lernszenarien kombiniert. Game-Based Learning-Elemente werden dabei zum Wissenstransfer und zur Transferüberprüfung herangezogen. Bei einem solch multiplen Ansatz der Informationsvermittlung und -überprüfung ist eine hohe Anzahl an Methoden und didaktischen Konzepten abbildbar, auch um den einzelnen Lerntypen entsprechende Nutzungsangebote machen zu können.
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VITA steht dabei, stellvertretend für die vier elementaren Grundbausteine Vermitteln, Informieren, Trainieren und Anwenden. Abbildung 1: Das Vita-Konzept
Quelle: © 2013 Thorsten Unger
Grundsätzlich handelt es sich bei dem VITA-Konzept um die Bereitstellung einer Lernplattform, in welcher die Inhalte – einer schrittweise aufbauenden Didaktik folgend – in einem Sinnkontext und dem Prozess entsprechend verfügbar gemacht und überprüft werden können. Die vier Bausteine formen einen grundlegenden Prozess. Inhalte werden zunächst vermittelt, dann trainiert und schließlich im engen Praxisbezug angewendet. Das Konzept folgt der Grundannahme, dass Wissen entweder aktiv beschafft oder informell vorliegen muss. Zur Vertiefung und Generierung von echtem Verständnis ist das Trainieren und Anwenden unabdingbar. Mit den Überbegriffen »Trainieren« und »Anwenden« lassen sich zwei Interaktionsangebote mittels Game-Based Learning abbilden. Es obliegt dabei dem Planer, ob die Inhalte einer Dramaturgie folgend in Abhängigkeit voneinander zugänglich gemacht werden sollen oder ob diese unmittelbar zur Verfügung stehen. Das VITA-Konzept stellt somit eine interessante und pragmatische Kombination aus klassischen digitalen Lernansätzen dar. Darüber hinaus werden herkömmliche wie spielerische Elemente innerhalb eines ganzheitlichen konzeptionellen Ansatzes verbunden. In der Praxis werden die Lerninhalte auf einer graphischen Oberfläche verortet. Dies kann eine Bankfiliale im Finanzsektor, eine Apotheke in der Schulung
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von pharmazeutisch-technischen Angestellten oder, wie in Abbildung 2, ein virtuelles Reisezentrum zur Qualifizierung von Mitarbeitern einer Eisenbahngesellschaft sein, das Inhalte zur Fahrgastbetreuung in einem für den Nutzer nachvollziehbaren und praxisnahen Rahmen zusammenfasst. Die visuelle Verortung dient dabei der Dokumentation des Realitätsbezugs und begünstigt die Akzeptanz des Lernmediums durch Visualisierung der betrieblichen Relevanz der angebotenen Inhalte. Abbildung 2: Graphische Oberfläche – das »virtuelle Reisezentrum«
Quelle: Grafik aus Kundenprojekt der Zone 2 Connect GmbH für Deutsche Bahn AG
Das Konzept kommt auch dem Grundsatz entgegen, dass Wissen in drei unterschiedlichen Systemen innerhalb unseres Gehirns abgelegt wird. Unterschieden wird explizites Wissen, welches als Fakten unmittelbar, wie beispielsweise bei einem Quiz, abgerufen werden kann. Weiter legen wir Informationen indirekt und nicht bewusst als implizites Wissen ab. Damit sind Kompetenzen und Wissen gemeint, welche aufgrund von Erfahrungen und Rekombinationen von expliziten Wissen erworben werden. Schlussendlich hilft uns in Bezug auf das Abrufen von Informationen die dritte Wissensquelle, das bildhafte Wissen. Damit ist das Erinnern von Bildern gemeint, welche wir dann in unserem Gehirn mit
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anderen Informationen verknüpfen, um auf diese Weise Erinnerungsvermögen bereitzustellen.7 Zusammenfassend ergeben sich zwei übergeordnete Lernteile, bestehend aus »Wissen« mit den Komponenten »Vermitteln« und »Informieren«, sowie aus »Transfer«, bestehend aus den Teilen »Trainieren« und »Anwenden«. Vermitteln In einem mehr oder minder klassischen Lernteil können dem Probanden Inhalte des zu vermittelnden Stoffes angeboten werden. Diese üblichen E-Learning-Elemente stellen eine Art didaktisch aufbereiteten Grundlagenwissenspool dar. Das Wissen wird dann in den Bausteinen »Trainieren« und »Anwenden« überprüft. Dabei ist eine fragmentierte, aufeinander aufbauende Struktur anzuraten. Die Konditionierung in sogenannte »Micro-Learnings« von einer Dauer von 3-6 Minuten erweitert die Einsatzmöglichkeiten. Der sich verändernden Mediennutzung hin zu kürzeren Aufmerksamkeitsspannen und dem zunehmenden Einsatz von mobilen Endgeräten (»Mobile Learning«) wird hierbei Rechnung getragen. Bereits absolvierte Lerneinheiten stehen als Bibliothek zur Verfügung. Informieren Relevante Informationen werden katalogartig auf der Lernoberfläche verortet. Dabei kann es sich um PDFs, Videos, Checklisten, Argumentationshilfen, Telefonleitfäden, Schaubildern oder andere Informationen handeln. Diese können seitens des Projektinitiators und konform zum vermittelnden Thema bereits vorliegen oder explizit im Rahmen der Projekterstellung generiert werden. Die Informationsangebote können immer dann genutzt werden, wenn deren Wissen an anderer Stelle abgefordert wird, aber nicht durch den Lernenden abgerufen werden kann. Trainieren In den Trainingsanwendungen geht es darum, das Wissen im Sinnkontext anhand von Kognitionsaufgaben (Logik- und Gedächtnistraining) zu aktivieren. Die passiv konsumierten Informationen aus den Bausteinen »Vermitteln« und »Informieren« werden somit bildlich gesprochen auf eine Bühne geholt und
7
Vgl. Pöppel, Ernst/Wagner, Beatrice: Von Natur aus Kreativ, München: Carl Hanser Verlag 2012.
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müssen mit anderen Informationen agieren. Auf diese Weise wird die Bildung von trägem Wissen vermieden und die Einordnung der Inhalte im Sinnkontext begünstigt Anwenden Um den Transfer in die Realität zu erleichtern, ist die Integration von praxisnahen Simulationen sinnvoll. Dies kann beispielsweise durch technische Simulationen anhand von konkreten Baugruppen oder über an den beruflichen Alltag angelehnte Rollenspiele erfolgen, die das Wissen in einer für den Lernenden nachvollziehbaren Situation überprüfen. Abbildung 3: Rollenspiele zur Überprüfung von Wissen
Quelle: Deutsche Bahn
In einer spielerischen Herausforderung muss der Proband den Kunden professionell beraten und auf diese Weise eine möglichst hohe Kundenzufriedenheit generieren. Dabei können einzelne Themen des betrieblichen Prozesses nochmals in einen Sinnzusammenhang gesetzt werden. Durch die spielerische Herausforderung der Simulation oder das Erfüllen des Gesprächsziels im Rollenspiel wird die Identifikation mit der jeweiligen Situation begünstigt. Von Vorteil kann dabei das Auswerten des Handelns auf Basis der bestehenden Datenlage sein. Es erlaubt, Wissensdefizite im Sinne des Anwenders transparent zu machen und Hilfestellung für Verbesserungspotenzial zu geben.
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F AZIT Zur Sicherstellung einer möglichst hohen Lernqualität im Sinne des tatsächlichen Kompetenzerwerbs reicht es nicht aus, Inhalte verständlich aufzubereiten und mit den Lernzielen als übergeordneter Metaebene in Einklang zu bringen. Es bedarf intuitiv bedienbarer, verständlicher Prüfmechanismen, die nicht als solche im Sinne einer »Über«-Prüfung wahrgenommen werden. Das VITA-Konzept formuliert dabei einen praxisorientierten Ansatz, Inhalte auf unterschiedliche Art und Weise didaktisch aufzubereiten und im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes erfahrbar zu machen. Die Vermischung von klassischem E-Learning, informellen Lernangeboten und spielerischen Elementen ermöglicht den Vierklang aus der Vermittlung von Information, der Integration von Informationen, der Möglichkeit zur Wissensvertiefung durch kombinatorische Lernspielaufgaben und der unmittelbaren Reflektion des Wissens im Kontext einer praxisnahen spielerischen Simulation. Spielerische Lernplattformen können analog zu dem skizzierten Konzeptansatz einen Beitrag leisten, inhomogene Lernstände auf ein durchgängig höheres Qualitätsniveau zu bringen.
L ITERATUR Béla Balázs: Zur Kunstphilosophie des Films (*1938), in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.): Theorie des Films. Reclam, Stuttgart 1995, S. 204–226. Baumeister, Roy/Tierney, John: Die Macht der Disziplin, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2012. Csikszentmihalyi, Mihaly: Das Flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile im Tun aufgehen, Stuttgart: Klett-Cotta 2000. Laur-Ernst, Ute: »Informelles Lernen in der Arbeitswelt«, in: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis 27/4 (1998), S. 44-47. Metz, Maren/Theis, Fabienne: Digitale Lernwelt – Serious Games, Bielefeld: Bertelsmann 2011. Pöppel, Ernst/Wagner, Beatrice: Von Natur aus Kreativ, München: Carl Hanser 2012. Prensky, Marc: Digital Game Based Learning, St. Paul: Paragon House Publishing 2008.
III Exergames und Exer-Learning Games
Einleitung F ABIAN W ALLENFELS
Das dritte und letzte Kapitel des vorliegenden Bandes beschäftigt sich mit Exergames, also mit digitalen Spielen, die durch Körperbewegung gesteuert werden und deren primärer Zweck in der körperlichen Ertüchtigung liegt. Das Phänomen ist nicht neu: Bereits in den 1980er Jahren waren in den damals populären Arcade-Spielhallen Automaten verbreitet, die einen massiven körperlichen Einsatz voraussetzten. Doch auch im heimischen Wohnzimmer ließ der Einzug bewegungsgesteuerter Spiele nicht lange auf sich warten: Sowohl für Atari 2600 als auch Nintendo NES waren ab Ende der 1980er Jahre spezielle Eingabegeräte verfügbar, die eine Steuerung unter vollem Körpereinsatz erlaubten oder besser gesagt erforderten. Ihnen war allerdings nur mäßiger Erfolg beschieden. Erst in den 1990er Jahren konnte das Konzept mit der Veröffentlichung von DANCE DANCE REVOLUTION, das mithilfe einer speziellen Tanzmatte gesteuert wurde, ein größeres Publikum ansprechen. In der Folge überboten sich Hardund Softwarehersteller mit Erfindungen neuartiger Eingabegeräte: von Rasseln (Sega), über Bongo-Trommeln (Nintendo) bis zur Videokamera EyeToy (Sony). Dabei lässt sich beobachten, dass die Eingabegeräte zunehmend auch unabhängige Entwickler zu neuen Spielen inspirierten. Der Hype um bewegungsgesteuerte Spiele fand einen vorläufigen Höhepunkt im überraschenden Erfolg der Nintendo Wii mit ihrer neuartigen Wii Remote und schließlich, wenn auch nur bedingt in kommerzieller, so doch in technischer Hinsicht mit Microsofts Kinect, die dank eines Systems aus Kameras gänzlich auf einen Controller verzichten kann und stattdessen den Körper des Spielers zum Eingabegerät macht. Neben diesen technischen Fortschritten war es die konstante Zunahme sogenannter Zivilisationskrankheiten, die die Möglichkeit, körperliche Fitness mittels digitaler Spiele zu steigern, weiter in den Fokus des öffentlichen Diskurses rückte. Das besondere Potenzial der Exergames liegt dabei in den Motivationsstrate-
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gien, die digitale Spiele seit ihren Pioniertagen immer weiter perfektioniert haben: Ging es früher darum, den Spieler zum Nachwerfen weiterer Münzen zu motivieren, wird der Exergamer eben zum Trainieren motiviert. Im Spannungsfeld zwischen Technik und Kultur bewegen sich auch die folgenden sieben Beiträge. Das Kapitel nähert sich dem Phänomen Exergames dabei aus vier Perspektiven: von den Game Studies und Game Design über die Sportwissenschaften zu einer Fallstudie, die zeigt, dass durchaus Überschneidungen zwischen Exergames und Serious Games existieren. In einem historischen Überblick zeigt Ian Bogost, dass Computerspiele schon lange vor dem Aufkommen des Begriffs »Exergames« körperliche Bewegung involviert haben. Doch erst in den vergangenen zehn Jahren ist das Interesse an der motivationsfördernden Wirkung digitaler Spiele gestiegen. War Bewegung allerdings in der menschlichen Frühgeschichte noch ganz selbstverständlicher Teil des Alltags und hatte sie in der Antike rituelle Funktionen, so droht sie heute, zu einem notwendigen Übel zu verkommen, das es auf ein Mindestmaß zu reduzieren gilt. Exergames bieten nun das Potenzial, diese Entwicklung umzukehren. Daher sollte, so empfiehlt Bogost, »[w]er sich für Exergames interessiert, […] vor allem der Einführung neuer ritueller Praktiken Aufmerksamkeit schenken, die nur bei Videospielen möglich sind.«1 (»Exergames. Rhetoriken und soziale Rituale«) Tobias Kopka identifiziert Exergames als ein Meta-Genre, das sich prinzipiell der Konventionen aller Spielgenres bedienen kann. Behelfsmäßig können Exergames über den Bezug der Spielhandlung zur körperlichen Bewegung definiert werden. Charakteristisch ist, dass die Steuerung weniger abstrakt erfolgt, als es bei herkömmlichen digitalen Spielen der Fall ist. Allerdings sind Exergames damit noch nicht hinlänglich definiert. Daher schlägt Kopka die Einführung eines zweiten Kriteriums vor: Die Bewegung müsse eine »substantielle Bedeutung innerhalb des Spiels besitzen und damit konstitutiv für das Gamedesign sein«.2 Kopka stellt fest, dass bisher nur wenige Exergames Erfolg am Markt hatten, die von Drittentwicklern und nicht von den Hardwareherstellern selbst produziert wurden. Dennoch bescheinigt er Exergames eine »glänzende Zukunft«, da sie sich in den »Kontext der Selbst-Disziplinierung« einordnen lassen (»Interface Control Meaning. Eine typologische Gegenstandssichtung des Phänomens Exergames«). Jörg Müller-Lietzkow entwickelt in seinem Beitrag eine Taxonomie, die eine analytische Herangehensweise an die titelgebende Frage erlaubt, wie viel Sport
1
In diesem Band S. 261.
2
S. 283.
E INLEITUNG : E XERGAMES UND E XER -L EARNING G AMES
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in digitalen Spielen steckt. Prinzipiell unterscheidet er zwischen den beiden Kategorien der Sportsimulationen und der Exergames. Erstere beruhen auf populären Sportarten und sind häufig offizielle Lizenzprodukte tatsächlicher Sportligen, verwenden aber zumeist keinerlei physische Steuerung. Letztere dagegen setzen den Fokus auf körperliche Ertüchtigung und somit eine Steuerung unter Einbeziehung des ganzen Körpers, müssen thematisch aber nichts mit Sport zu tun haben. Beide Kategorien beinhalten einen Teilaspekt des weiten Feldes Sport. Ist im Fall von Sportsimulationen eher der kulturelle Aspekt repräsentiert, so bei Exergames der Trainingscharakter. Doch »zeigt sich, dass die Beantwortung der Frage, wie viel Sport wirklich in digitalen Spielen steckt, letzten Endes vom Auge des Betrachters abhängt«3 (»Wie viel Sport steckt wirklich in digitalen Spielen?«). Dem Phänomen der Exergames nähert sich Rolf Kretschmann konsequenterweise aus der doppelten Perspektive von Game Studies und Sportwissenschaften. Bei den Game Studies sieht er zwar das Lernpotenzial digitaler Spiele erkannt, vermerkt aber Defizite noch im Bereich der Empirie. Differenziertere Ergebnisse findet er bei den Sportwissenschaften, deren Forschungen zu Exergames jedoch zumeist medizinisch ausgerichtet sind und die hauptsächlich den Energieumsatz ermitteln. Das Potenzial der Exergames liegt ihm zufolge aber vor allem in der Motorik: einem Sonderfall in der Lerntheorie, der sich mit dem Erlernen von Bewegungen befasst. Exergames seien damit ein »legitimes motorisches Lernfeld«, auch wenn der Autor bewusst die Frage offen lässt, »[o]b nun das Erlernte pädagogisch wertvoll ist oder in welchem Kontext eine pädagogische Auseinandersetzung persönlichkeits- und entwicklungsförderlich ist«4 (»Bewegung und Lernen. Lernpotenziale im Spannungsfeld motorischen und kognitiven Lernens«). Rolf F. Nohr untersucht die komplexen Zusammenhänge zwischen Rhythmus und Arbeit in Zeiten der Industrialisierung und wie diese in digitalen Spielen bis in die Gegenwart weiterwirken. Sich auf die Arbeitswissenschaften des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts beziehend, identifiziert er Rhythmus als Mittel zur Optimierung von Bewegungsabläufen. In der postindustriellen Gesellschaft hat sich diese repressive Form der Disziplinierung zugunsten eines internalisierten »Self-Management« verschoben, eine Naturalisierung des (Arbeits)Rhythmus ist nötig geworden. »Und da das (Herum-)Spiel(en) dem Computer von Anbeginn an als Implement beigegeben ist, ist die Vermutung, dass das
3
S. 315.
4
S. 344.
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Spiel ein privilegierter Ort ist, um uns an das Arbeitsgerät zu akkommodieren und es zu naturalisieren, legitim.«5 (»›Rhythmusarbeit‹. Revisited«). Dass Computerspiele zu therapeutischen Zwecken einsetzbar sind, steht für Linda Breitlauch außer Frage. So zitiert sie einleitend mehrere Studien, die die überlegene Wirkung von Serious Games oder »Games for Health« gegenüber traditionellen Lernmedien belegen. Dabei stellt sie fest, dass selbst Spiele, die zu Unterhaltungszwecken konzipiert wurden, bestimmte Kompetenzen vermitteln können. Dennoch stehen Serious Games nicht in Konkurrenz zu Unterhaltungsspielen, sondern zu klassischen Lernmedien. Kernfrage des Beitrags ist dementsprechend, warum Spiele in der Wirkung so viel effektiver sind als andere Medien. Als Ursache dafür macht Breitlauch den Spielspaß aus: Da dieser »ein entscheidendes Merkmal für die intrinsische Motivation darstellt und diese die Qualität des Lernens hinsichtlich seiner Nachhaltigkeit verbessert, liegt der Schluss nahe, dass die Vorgänge des Lernens mit der Entstehung von Spielspaß identisch sein könnten«6 (»Computerspiele als Therapie«). »Exer-Learning Games« lautet der Begriff, den Martina Lucht, Daniel Joerg und Kati Breitbarth für die Verbindung der Bereiche Bewegung, Spielen und Lernen vorschlagen. In ihrem Beitrag zeigen sie, wie sinnvoll der Einsatz digitaler Spiele im schulischen Kontext sein kann, da schon »[d]as frühkindliche Spiel [...] strukturell in engem Zusammenhang mit verschiedenen Lernprozessen [steht]«.7 Am konkreten Beispiel des von Fraunhofer IDMT entwickelten Spiels HOPSCOTCH demonstrieren die Autoren, dass die Ergebnisse beim Lernen mit digitalen Spielen traditionellen Methoden vergleichbar sind, Motivation und Spaß jedoch deutlich höher ausfallen (»Exer-Learning Games. Digitales Bewegungslernen in Schulen«). Trotz seiner nun annähernd 30 Jahre andauernden Geschichte befindet sich das Feld der Exergames noch in seiner Experimentierphase. Zwar wurde mit der Markteinführung von Microsoft Kinect auf Hardwareseite ein gewisser Reifegrad erreicht, doch müssen auf Seiten der Software noch einige Weichen für die Zukunft gestellt werden. Wie Tobias Kopka in seinem Beitrag zeigt, ist noch gar nicht klar, wie viel Raum auf dem Markt überhaupt für Exergames besteht: Da die Motivation zum Spielen zumeist in der Steigerung der körperlichen Fitness und damit außerhalb des Games liegt, ist der Anreiz zum Kauf zweiter oder dritter Titel relativ gering. Der eher enttäuschende Marktstart des Wii-Nachfolgers Wii U im Winter 2012 hat dies deutlich gezeigt: Offenbar besteht unter Besit-
5
S. 374.
6
S. 395f.
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S. 400.
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zern der Vorgängergeneration wenig Bereitschaft zum Upgrade, das trifft auf Software genau wie auf Hardware zu. Dennoch dürften in Zukunft im Bereich der Exergames einige interessante Entwicklungen bevorstehen: Auf dem Feld mobiler Devices und den zugehörigen Software-Plattformen sind Exergames noch erstaunlich unterrepräsentiert. So ergab eine stichprobenartige Suche nach »Exergame« im Apple App Store gerade einmal sechs Treffer – wovon zwei Titel als Free- und Paid-Version doppelt gelistet sind.8 Doch besteht gerade hier großes Potenzial. Erstens sind aktuelle Smartphones mit einer Vielzahl an Sensoren ausgestattet, die völlig neue Weisen der Interaktion erlauben. So können per GPS und Gyroskop Position und Schrittfrequenz bestimmt werden, und die eingebaute Kamera ermöglicht es, vollautomatisch den Nährwert von Lebensmitteln zu erfassen. Zweitens bieten mobile Devices dem Spieler den Vorteil, nicht an einen bestimmten Ort gebunden zu sein. Die Vermutung liegt daher nahe, dass in Zukunft ein Auszug der Exergames aus den Wohnzimmern auf die Straßen, in Parks und auf Sportplätze zu beobachten sein wird. Und da es sich beim Computerspielen – oder besser gesagt: beim computergestützten Spielen – im Freien noch weitgehend um soziales Neuland handelt, könnte in genau diesem Kontext die von Ian Bogost geforderte »Kultur der Exergames« entstehen.
8
Stand Ende Juli 2013.
Exergames Rhetoriken und soziale Rituale1
I AN B OGOST
In den vergangenen Jahren ist das Interesse an Exergames (virtuellen FitnessSpielen) gewachsen, was zum großen Teil darauf zurückzuführen ist, dass sie sedentäre durch aktive Freizeitbeschäftigungen ersetzen können. Statt untätig vor dem Fernseher zu sitzen – und mit offenem Mund darüber nachzudenken, was wir an RAYMOND lieben oder an DR. HOUSE hassen –, können wir zur Musik von DANCE DANCE REVOLUTION steppen oder mit dem Eye Toy herumspringen. Die meisten der Spiele, die wir gut finden, weil wir mit ihnen Sport treiben können, begeistern uns und bieten gute Unterhaltung, was uns gleichzeitig zu körperlicher Aktivität anspornt (oder, besser gesagt, diese von uns fordert). Studien haben das Spielen von Exergames mit messbaren körperlichen Reaktionen in Zusammenhang gebracht, vom bloßen Gewichtsverlust bis hin zu positiven Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System. Solche Studien könnten hilfreich sein, die Berechtigung des Mediums Spiel in einer mehr und mehr ge1
Anmerkung der Herausgeber: Dieser Beitrag kombiniert zwei englischsprachige Texte. Zum einen »The Rhetoric of Exergaming«, präsentiert im Dezember 2005 bei der »Digital Arts and Cultures«-Konferenz in Kopenhagen. Dieser Text wurde von Bogost zu dem Kapitel »Exercise« in seinem Buch Persuasive Games. The Expressive Power of Videogames umgearbeitet (Cambridge, MA: MIT Press 2007, S. 293-316). Die wichtigsten Ergänzungen und Aktualisierungen wurden für diese deutsche Fassung übernommen. Zum zweiten »The Missing Rituals of Exergames«, veröffentlicht am 31. Januar 2007 in Ian Bogosts »Persuasive Games«-Kolumne in Gamasutra. – Insgesamt reflektiert dieser Text Exergames daher aus der Sicht der Jahre 2005-7. Die historische Darstellung und vor allem die theoretischen Einsichten allerdings sind von unverminderter Aktualität.
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schmähten Spielebranche und angesichts einer zunehmend übergewichtigen Bevölkerung zu betonen. Doch verraten uns all diese Exergames und die sie lobenden Studien nur wenig darüber, wie diese Spiele versuchen, uns zu körperlicher Aktivität zu motivieren. Stattdessen preisen sie ihr entsprechendes Potenzial in einem Zusammenhang, der aus dem kulturellen Kontext herausgelöst wurde, in dem sportliche Bewegung üblicherweise stattfindet – eine Trennung, die für dieses sich entwickelnde Genre eine wirkliche Gefahr darstellt. Wenn Exergames nicht beginnen, körperliche Betätigung in glaubhafte soziale Erlebnisse einzubinden, sind sie bald so armselig und der Aufmerksamkeit nicht wert wie eine jede Trainingseinheit auf dem Trimmrad oder Laufband. Dieser Beitrag bietet eine historische Übersicht über die Exergames, von den frühen Spielhallen- oder Arcade-Spielen über die Konsole Atari 2600 bis zu heutigen Konsolenspielen, und auch eine theoretische Analyse der unterschiedlichen Rhetoriken, die solche Spiele aufbieten, um Spieler physisch aktiv werden zu lassen. Ziel dieses Aufsatzes ist es, Exergames und andere Beispiele von Körpereinsatz erfordernden Spielen einer genauen Befragung zu unterziehen, um die unterschiedlichen Methoden zu ermitteln, mit denen sie durch Spielen zu körperlicher Aktivität ermutigen. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung geht es mir nicht um die physiologischen Auswirkungen dieser Spiele – oder darum, welche Spiele »gesundheitsfördernder« sind als andere. Vielmehr versuche ich, die Arten und Weisen zu verstehen, in denen sie die Spielenden motivieren, körperlich aktiv zu werden.
E INE V ORGESCHICHTE
DES
E XERGAMING
Die Tatsache, dass Videospiele und das extreme Übergewicht vieler Menschen (als isolierte, aber auch miteinander verbundene Erscheinungen) immer mehr Aufmerksamkeit in den Medien finden und einen immer größeren Markt darstellen, hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass Exergames sowohl öffentliches als auch kommerzielles Interesse erregen. Die umfassende Medienberichterstattung lässt glauben, dass Exergaming ein neues Phänomen ist, doch sind die ersten Spiele dieser Art mindestens 25 Jahre alt. Eine kurze Vorgeschichte der Videospiele, die zu körperlicher Aktivität anspornen oder sie erfordern, wird bei der Orientierung über ältere und aktuelle Exergames hilfreich sein. Heute sind wir daran gewöhnt, dass das Spielen von Videospielen eine Aktivität ist, der man, wie beim Fernsehen, sitzend im Wohnzimmer nachgeht. Doch in den Spielhallen mit Videospielen der 1970er- und 1980er-Jahre (Arcade Games) war es bei jedem Spiel – von PAC-MAN bis POLE POSITION – so, dass man
E XERGAMES
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vor dem Spielautomaten stand und erheblichen Körpereinsatz einbrachte. Mit der Ausnahme von Tisch-Spielautomaten, an die man sich setzen konnte, erforderten diese Videospiele eine völlig aufrechte Körperhaltung. Eine besonders erfolgreiche Runde von GALAXIAN war etwa mit geschlagenen 30 Minuten energischen Rempelns und Stoßens verbunden. Darüber hinaus war der Ort für diese Arcade-Games ein eigener sozialer Raum, an den Jugendliche ohne Führerschein nur zu Fuß oder mit dem Fahrrad gelangen konnten. Gezielte Körperbewegungen in einer Spielhallen-Session auszuführen ist nicht dasselbe wie kilometerweit zu joggen, doch selbst wenn ein Joystick benutzt wurde, boten Arcade Games die Gelegenheit zu beträchtlicher körperlicher Interaktion. Ob man eine solche Aktivität für Sport halten kann, lässt sich bezweifeln, doch deutet sie auf eine enge Verbindung zwischen körperlicher Bewegung – insbesondere rhythmischen, sich wiederholenden Bewegungen – und dem Spielen selbst hin. Das Spielen von Videospielen ist etwas Partizipatives, und die körperliche Verbindung zum Spiel verschwand nicht völlig, als sich die Spieler auf ihren Wohnzimmer-Sofas niederließen, um auf dem Atari, der ColecoVision, dem NES (Nintendo Entertain System) oder der PlayStation zu spielen. Bei den ersten Spielkonsolen für den Hausgebrauch stand die körperliche Bindung zwischen Spieler und Bildschirm noch immer recht stark im Vordergrund. Der Atari 2006 funktionierte (wie auch einige weniger verbreitete Konsolen) sowohl mit einem Joystick als auch mit einem Steuerknüppel, und alle Spielekassetten für das System waren mit dem Hinweis versehen, welchen Controller man benutzen sollte – »Use joystick controller« (Joystick verwenden). Obwohl diese Schnittstelle zwischen Mensch und Computer so viel Aufmerksamkeit erhielt, erkannten die auf einem Stuhl oder Sofa herumlümmelnden Spieler schnell, dass der in der Hand gehaltene Joystick oder das Joypad Bewegung eher verhinderten als förderten. Mit der Zeit schien das Spielen von Videospielen mit kaum mehr körperlicher Aktivität verbunden zu sein als das Fernsehen, und leider kam noch hinzu, dass die monotonen Bewegungen ein RSI-Syndrom auslösen konnten. Eine beachtenswerte Ausnahme war die Spielreihe DANCE DANCE REVOLUTION (allgemein als DDR bezeichnet), Tanzsimulationen, die von Bemani entwickelt wurden, der Sparte für Musikspiele der Firma Konami. DDR wurde 1998 zunächst als Arcade Game herausgebracht und hat im Laufe der Zeit fast 100 Updates erhalten, auch in Form von Videospiel-Versionen für Spielkonsolen wie Sony Playstation2, Sony Playstation 23, Sega Dreamcast4, Nintendo 645, Microsoft Xbox6 und Nintendeo GameCube7.
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DANCE DANCE REVOLUTION (Konami 1999, O: Konami Computer Entertainment Tokyo).
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DDR ist ein Rhythmus-Spiel, bei dem man im Takt der Musik auf die Sensoren einer drucksensitiven Tanzmatte tritt. Auf dem Bildschirm zeigen Pfeile dem Spieler den richtigen Moment für seine Schritte an, und hinter diesen Pfeilen sind optisch ansprechende animierte Hintergründe zu sehen, die gut zu der für das Spiel typischen elektronischen Tanzmusik passen. Die Konsolen-Versionen ermöglichen ein Spielen mittels der Richtungstasten des Steuerkreuzes, die mit dem Körper zu »bedienende« Schnittstelle der Arcade-Version machte aus DDR hingegen ein Podium für öffentliche Darbietungen8 – die zudem noch körperlich anstrengend sind. Dann erschien Tanzmatten-Zubehör für zuhause verwendete Spielkonsolen, wodurch ein zwangloseres Spielen als an den Arcade-Versionen möglich wurde, ganz abgesehen davon, dass es diejenigen vor einer öffentlichen DDR-Präsentation bewahrte, die daran nicht interessiert (oder nicht darauf vorbereitet) waren. Im Sommer 2004 stellte RedOctane, ein Produzent von hochwertigem Tanzmatten-Zubehör, GetUpMove.com9 ins Netz, eine Werbe- und Informationszwecken dienende Website, welche Tanzmatten und die PlayStation-Version von DANCE DANCE REVOLUTION als Mittel zur Gewichtsabnahme präsentierte. Wie viele Abnehm-Werbekampagnen stellte GetUpMove die erstaunlichsten Erfolgsgeschichten in den Mittelpunkt. Eine davon handelte von einer jungen Frau, die mit DDR mehr als 40 Kilogramm verloren hatte. Die Behauptungen von GetUpMove.com lösten ein enormes Medienecho aus, inklusive Berichten bei Fox News10, USA Today11, CNN12 und Good Morn-
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DDRMAX DANCE DANCE REVOLUTION 6THMIX (Konami 2002, O: Konami Computer Entertainment Tokyo).
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DANCE DANCE REVOLUTION 2NDMIX (Konami 2000, O: Konami Computer Entertainment Tokyo).
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DANCE DANCE REVOLUTION DISNEY DANCING MUSEUM (Konami 2000, O: Bemani)
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DANCE DANCE REVOLUTION ULTRAMIX (Konami 2003, O: Konami Computer Entertainment Tokyo).
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DANCE DANCE REVOLUTION MARIO MIX (Nintendo 2005, O: Konami Computer Entertainment Tokyo).
8
N.N.: »Tournament Performance and Strategy«, in: DDR Freak vom 3. Februar 2002. http://www.ddrfreak.com/library/contributor-article.php?postID=7890162
9
RedOctane: GetUpMove.com (Werbe-Website). http://www.getupmove.com von 2004.
10 Donaldson-Evans, Catherine: »Players Break a Sweat With Video Games«, in: Fox News Channel vom 9. Juli 2004.
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ing America13. Folge des stark gestiegenen Bekanntheitsgrades waren auf Hörensagen basierende – wissenschaftlich nicht überprüfte – Marktberichte, die nahelegten, dass Verbraucher PlayStations, Tanzmatten-Zubehör und das Spiel DDR nur deshalb kauften, um sich Bewegung zu verschaffen. Dieser neue Trend wurde von den Medien schnell als »Exergaming« etikettiert, da die Spiele eine »Kombination von körperlicher Bewegung [engl. exercise] und Videospielen [engl. video games]« darstellten.14 Auf der Consumer Electronics Show (CES) des Jahres 2005 stellte sich ein halbes Dutzend von Exergames-Anbietern vor, und man begann die ersten Studien zu den Auswirkungen, die solche Spiele auf Gesundheit und Selbstbewusstsein hatten.15 Seit 2006 versucht die VideospielKonsole Wii von Nintendo, die über eine spezifische körperorientierte Schnittstelle mit reichlich Bewegungssensoren verfügt, körperliche Bewegung in Videospiele für den Heimmarkt zu integrieren.
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L AUFENS
Ende der 1980er-Jahre erholte sich die Spieleindustrie von ihrem Zusammenbruch im Jahr 1983, und Nintendo erweckte die Branche mit dem beliebten Nintendo Entertainment System (NES) zu neuem Leben. Spätestens mit dieser zweiten Welle von Videospiel-Konsolen wurde ein ausgeprägtes Interesse an Alternativen zum Medienkonsum im Sitzen selbstverständlicher. In diesem Umfeld kamen Spiele heraus, die ausdrücklich dafür entwickelt worden waren, körperliche Bewegung zu fördern oder zu fordern. 1987 brachte Exus die Gamecontroller-Matte Foot Craz für den Atari 2600 heraus, den ersten Vorläufer der uns heute vertrauten Tanzmatten im Stil von DANCE DANCE REVOLUTION. Bei dem Foot Craz handelte es sich um eine kleine Matte mit fünf farbigen Knöpfen, die auf Berührung reagierten. Zusammen mit dieser Matte bot Exus zwei Spiele an – die einzigen beiden der Firma für den
11 Associated Press: »Video Game Fans Dance off Extra Pounds«, in: USA Today vom 23. März 2004. 12 Chang, A.: »Video Game Helps Players Lose Weight«, in: CNN vom 24. Mai 2004. 13 N.N.: »Toys to Get Kids off the Couch«, in: ABC News Good Morning America vom 15. Dezember 2004. 14 Lawrence, Star: »Exercise, Lose Weight With Exergaming«, in: Fox News vom 18. Januar 2005. 15 Red Octane: Dance Video Game Supports Academic Success, GetUpMove.comForschungsbericht vom 29. Juni 2005.
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Atari 2600. Sie erschienen zu einem späten Zeitpunkt im Produkt-Lebenszyklus der Konsole, so dass Foot Craz und die dazugehörigen Spiele heute zu den seltensten Sammelobjekten für den Atari 2600 gehören. Ein Jahr später brachte Nintendo eine Neuauflage seines NES mit einem als Power Pad bezeichneten Controller-Zubehörteil in Form einer Matte auf den Markt.16 Das Power Pad war wesentlich größer und komplexer als das Foot Craz und hatte zwei Seiten – die eine mit zwölf berührungsempfindlichen Kreisen in einem Raster, die andere mit acht, einen Stern bildenden Kreisen. Für das Power Pad brachten Nintendo und Drittentwickler Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre zahlreiche Spiele heraus. Die überwiegende Mehrzahl dieser frühen Exergames thematisierte sportliche Aktivitäten für die Einzelperson, meistens Laufsportarten und andere leichtathletische Disziplinen. Bei ihnen geht es entweder um Geschwindigkeit oder um Ausdauer, wobei Laufwettkämpfe in der Regel die Geschwindigkeit in den Vordergrund stellen. Angesichts der technischen Qualitäten der Matten eigneten sich Laufspiele gut, für sie adaptiert zu werden. Ein in den frühen 1980er-Jahren beliebtes Spielhallen-Spiel war TRACK & FIELD, das es den Spielern ermöglicht, in sechs olympischen Disziplinen zu konkurrieren. Es war das erste Spiel mit Steuerelementen in Form von Knöpfen, auf die man einhämmern muss. Bei den einfachsten Aufgaben steuert der Spieler einen Läufer durch zwei Knöpfe am Spielautomaten. Der eine stellt den linken Fuß des Läufers dar, der andere den rechten. Um den Läufer in Bewegung zu setzen, drückt der Spieler abwechselnd und in schneller Folge den linken und den rechten Knopf, und je schneller er drückt, desto schneller läuft der Läufer. Die Schwierigkeit besteht darin, die Knöpfe in der richtigen Reihenfolge zu drücken, denn einfach auf sie einzuhämmern, führt zu nur mittelmäßigen Ergebnissen.17 TRACK & FIELD kam (mit einem speziellen Eingabegerät) auch für den Atari 2600 heraus18, doch weder die Arcade- noch die Konsolen-Version des Spiels erforderte nennenswerte körper-
16 In Europa wurde das Power Pad unter dem Namen Family Fun Fitness angeboten. 17 Einige clevere TRACK & FIELD-Spieler fanden einen Weg, dies auszunutzen: Wenn man ein Lineal aus Plastik auf die Knöpfe des Automaten legte und dann zwischen den Knöpfen mit einem Bleistift oder Kuli auf das Lineal drückte, konnte der Spieler, allein dadurch, dass er die Hand oder Faust auf dem Lineal auf und ab bewegte, wesentlich bessere Ergebnisse erzielen. Spätere Versionen des Spielautomaten fassten die Knöpfe mit abgeschrägten, höheren Leisten ein, um diese Art von Spiel zu verhindern, die man als sozial unakzeptabel und als Übervorteilung des Spielhallenbetreibers empfand. 18 TRACK & FIELD (Konami/Atari 1983, O: Konami).
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liche Fähigkeiten (wenn man einmal davon absieht, dass man eine gewisse Unempfindlichkeit gegenüber dem Einhämmern auf harte Plastikknöpfe mitbringen musste). Viele für das Foot Craz und das Power Pad entwickelte Spiele machten sich diesen grundsätzlichen Spielmechanismus ebenfalls zu eigen und ersetzten die Finger durch die Füße. Als Nintendo 1988 das Power Pad herausbrachte, boten sie auch ein Paket mit der Bezeichnung PowerPack an, zu dem die Videospiel-Konsole Nintendo Entertainment System (NES), ein Lightgun als Eingabegerät, ein Power Pad und drei Spiele gehörten – SUPER MARIO BROS., DUCK HUNT und WORLD CLASS TRACK MEET19, im Grunde eine Nachahmung von TRACK & FIELD zur Nutzung mit dem Power Pad. Die Spieler konnten sich in vier verschiedenen Disziplinen messen – in 110-Meter-Hürdenlauf, Weitsprung, 100-Meter-Lauf und Dreisprung. Zusammen mit dem Power Pad wurde das Spiel zur Laufbahn- und Sportstadion-Simulation. Das Spielen der einzelnen Wettkämpfe erforderte eher Schnelligkeit als Ausdauer, und World Track Meet imitierte auf diese Weise den Spielmechanismus von TRACK & FIELD – je schneller die Spieler rennen, desto besser ist ihre Leistung. Diese Spieler müssen allerdings – da die Matte nur die Berührung der eigenen Sensoren registriert – auf der Stelle rennen, was selbst ohne eine lästige Matte so gut wie unmöglich ist. TRACK & FIELD hat durch das abwechselnde Drücken von Knöpfen das Laufen abstrahiert; dieses schnelle Betätigen von Knöpfen ist eine prozedurale Darstellungsweise, etwas, was ich an anderer Stelle als »unit operation« (Blockoperation) bezeichnet habe.20 Das schnelle Betätigen der Knöpfe durch die Finger soll die schnellen Beinbewegungen eines Profiläufers simulieren. Spiele, die, um zu Bewegung zu motivieren, sich vorrangig die Rhetoriken des Sprints zunutze machen, haben einfach das Modell »Knopf-Eindrücken gleicht Sprint« übernommen und es auf die Füße des Spielers übertragen. Einen solchen Ansatz können wir als Rhetorik des Laufens bezeichnen. Das Trainingsprogramm richtiger Laufsportler beschränkt sich nicht darauf, schnelles Laufen zu üben. In der Regel umfassen ihre Trainingspläne auch plyometrische Übungen, um Kraft aufzubauen, das Laufen von Mittelstrecken, um Ausdauer und Flexibilität zu trainieren, und Leiterläufe, um sich auf bestimmte Wettkämpfe vorzubereiten. Und tatsächlich gilt der schnelle Start in ei-
19 Bandai hatte 1987 Stadium Events herausgebracht; bei World Class Track Meet von 1988 handelte es sich um Nintendos Neuausgabe desselben Spiels, mit einem neuen Markennamen und abgewandelt für das Power Pad. 20 Bogost, Ian: Unit Operations. An Approach to Videogame Criticism, Cambridge, MA: MIT Press 2006.
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nen Sprint als eine der schädlichsten Bewegungsarten schlechthin, vor allem für Personen, die nicht regel- und planmäßig trainieren. Noch nachteiliger wird dieses Exergame-Modell durch die Beschaffenheit der Matte selbst – Tanzmatten in der Art von Foot Craz, Power Pad und DDR haben eine glatte Unterseite, wodurch sie unter den Füßen des Spielers verrutschen oder sogar wegrutschen können. Man würde zwar gerne annehmen, dass ein solches Spieldesign noch unausgereift und im Zusammenhang mit neuen Eingabegeräten eher Bestandteil eines Experiments ist, doch verwendet selbst das Olympiasport-Spiel, ATHENS 2004 für die PlayStation 2 (das mit der Tanzmatte gespielt wird), eine identische prozedurale Rhetorik.
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A GILITÄT
Einige Exergames haben die Rhetorik des schnellen Laufs modifiziert. Typischerweise unterbrechen sie den Vorgang des Sprints mit einer hierzu rechtwinklig ablaufenden Aktivität. So zwingen sie den Spieler dazu, zu einer anderen Körperbewegung überzugehen, was zum Beispiel auch bei aerobischen Übungen geschieht. Die Basis-Version des unterbrochenen Sprints ist sogar in Spielen wie WORLD CLASS TRACK MEET und ATHENS 2004 enthalten, und zwar in Form von Sprung-Events wie dem Weitsprung oder Hürdenlauf. Bei diesen darf der Spieler die Sensoren auf der Matte in einem bestimmten Moment nicht berühren (oder muss andere Sensoren berühren), um einen Sprung auszuführen. Doch wird die Kraft dieser Sprünge – und somit auch ihre Weite bzw. Höhe und die sich ergebende Punktezahl – durch die Geschwindigkeit des Läufers vor dem Sprung bestimmt, weshalb die Unterbrechung weit weniger stark im Vordergrund steht als der Sprint selbst. Andere Spiele bieten eine ausgewogenere Lauf-Rhetorik. Dies ist zum Beispiel bei VIDEO JOGGER der Fall, einem der beiden Titel, den Exus für das Foot Craz entwickelte. Bei diesem Spiel erscheinen auf dem Bildschirm zwei elliptische Bahnen, eine oberhalb der anderen. Auf jeder dieser beiden Bahnen taucht eine feindliche Figur (in Form eines Kreises) auf. Ziel des Spiels ist es, auf der Matte die Laufbahn schnell zu umrunden und dabei den Feinden aus dem Weg zu gehen. Hierfür muss der Spieler gelegentlich die Bahn wechseln, und das geschieht, indem er einen anderen Knopf auf dem Foot Craz berührt. Das NES Power Pad entwickelte dieses Spielprinzip mit ATHLETIC WORLD noch weiter. Dabei handelt es sich um eine Art Amateur-Sportevent, wobei zwei der fünf Einzelevents auf einer Lauf-Rhetorik basieren, die anderen aber vom Spieler verlangen, dass er eine nur kurze Strecke rennt oder sogar stehenbleibt und sich
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dann auf anderen Stellen der Matte bewegt, welche eine in die Höhe gerichtete Aktivität darstellen. Das Einzelevent Hop a Log verlangt zum Beispiel vom Spieler, auf einem Holzstamm entlangzulaufen und dann mit dem rechten oder linken Fuß auf zwei seitliche Stämme zu hüpfen. Im Event Rafting treibt die den Spieler verkörpernde Figur mit einem Floß einen Fluss hinunter, und der Spieler tritt, um Hindernissen auszuweichen, langsam von der einen Seite auf die andere. Gelegentlich muss er auch hochspringen oder sich ducken, um weiteren Holzstämmen auszuweichen, die über den Fluss ragen (um sich zu ducken, ist es nötig, sich hinunter zu beugen und die beiden vorderen Sensoren der Matte zu drücken, doch dürfen die Füße des Spielers dabei nicht die mittleren Sensoren verlassen). Spiele, die auf mehreren, im rechten Winkel zur Längsstrecke auszuführenden Körperbewegungen basieren, wobei sich die Bewegungen gegenseitig unterbrechen, kann man als Spiele bezeichnen, die eine Rhetorik der Agilität verfolgen. ATHLETIC WORLD könnte man auch als eine Simulation von FerienlagerSpielen bezeichnen, denn seine Events ähneln den zwanglosen Aktivitäten, die Kinder in Ferienlagern begeistern oder während eines Ausflugs am Ende des Schuljahrs. Von daher wird die Rhetorik des Sprints durch etwas abgelöst, das der Rhetorik der Agilität entspricht: Die Spielregeln verlangen, dass man geschmeidig und vorsichtig – manchmal schnell und manchmal langsam – zwischen dem einen körperlichen Zustand und einem anderen wechselt. In VIDEO JOGGER – einem eher einfachen Beispiel für die Rhetorik der Agilität – muss der Spieler von Zeit zu Zeit sein Tempo drosseln, um den Feinden auf seiner Bahn aus dem Weg zu gehen. Um die Bahnen zu wechseln, muss er ganz anhalten. In ATHLETIC WORLD wechselt der Spieler sehr viel häufiger zwischen Joggen, Schreiten, Knien und Springen hin und her. Diese Spiele belohnen die Spieler mehr für ihre Gewandtheit als für ihre Schnelligkeit. Und da die Spieler die relativ kleinen und nahe beieinanderliegenden Sensoren auf dem Power Pad mit dem Körper berühren müssen, ist Präzision hier wohl wichtiger als bei einigen Aktivitäten des wirklichen Lebens. Das ungewöhnlichste mit Körpereinsatz operierende Spiel, das die Rhetorik der Agilität nutzte, war wohl STREET COP, eine weitere Entwicklung für das NES Power Pad. Hier schlüpft der Spieler in die Rolle eines Polizisten, der seine Runden dreht und nach Gangstern und Ganoven Ausschau hält. Das Ganze findet auf einer horizontalen Straße mit drei »Spuren« statt, die der Spieler und andere Spielfiguren benutzen können. Um den Polizisten zu steuern, geht, joggt oder rennt der Spieler in der Mitte seiner Matte. Um die Spur zu wechseln, tritt er nach rechts oder links und geht dann wie vorher weiter. Um die Richtung zu ändern, muss er einen anderen Sensor auf dem Power Pad berühren, und einen
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weiteren, um einen Gangster zu fassen. Im Rahmen einer interessanten hybriden Steuermethode kann der Spieler, um eine der letzten beiden Aktionen durchzuführen, auch Knöpfe auf dem herkömmlichen NES-Gamecontroller betätigen. STREET COP war ein eindeutiger Versuch, das Power Pad für ein Spiel zu nutzen, das keinen Laufsport zum Thema hat. Ein an das Spiel DEFENDER erinnernder Radar auf dem Bildschirm zeigt dem Spieler, wo er auf der Straße die Gangster findet, und diese muss er gehend oder joggend erreichen, ohne an ihnen vorbeizurennen und ohne auf unschuldige Schaulustige zu treffen. Zwar gibt es keine eindeutige Entsprechung zwischen körperlicher Agilität und dem Rundendrehen eines Polizisten, doch ermutigt das Spiel zum bewussten Wechsel zwischen Laufschritten, Schritten zur Seite und schrägen Schritten, um Aktionen durchzuführen. WORLD CLASS TRACK MEET verwandelte eine bewusste Einschränkung des Spielens in der Spielhalle in die Grundlage eines Spiels mit dem Körper. Eine ungewöhnlichere Methode, die Rhetorik der Agilität wirksam werden zu lassen, besteht darin, Spiele zusammen mit einem anderen körpergesteuerten Eingabegerät zu verwenden. Zuerst versuchte dies Amiga mit dem Joyboard, einer Standfläche, auf der der Spieler – statt die üblichen Joystick-Bewegungen auszuführen – sich in verschiedene Richtungen lehnte. Beim Joyboard musste also anstelle des Joysticks der ganze Körper bewegt werden. Im Lieferumfang enthalten war die eigens für das Joyboard entwickelte Skilauf-Simulation MOGUL MANIAC. Die seitlichen Bewegungen des Abfahrtlaufes waren für das Joyboard ideal, wenn es auch im alltäglichen Gebrauch nicht sehr gut reagierte. Amiga entwickelte dann noch die Prototypen für zwei weitere Joyboard-Spiele, die jedoch nicht auf den Markt gelangten. OFF YOUR ROCKER war ein dem amerikanischen Kinderspiel Simon Says ähnliches Spiel, in dem sich der Spieler in die richtige Richtung lehnen musste, um Farben- und Tonsignale auf dem Bildschirm nachzuahmen. Bei dem Surfspiel SURF’S UP musste der Spieler vorsichtig ein Surfbrett navigieren, um nicht von den Wellen verschlungen zu werden. Auch wenn nur wenige Spiele eigens für das Joyboard entwickelt wurden, konnte dieses ebenso als Standard-Eingabegerät für die Konsole Atari 2600 dienen. Deshalb konnte jeder, der ein Joyboard besaß, versuchen, es zusammen mit einem der Hunderten von Spielen in Ataris VCS-Bibliothek zu verwenden. Das war zwar nicht unbedingt mit Erfolg verbunden, da das Gerät nicht so genau arbeitete wie ein Standard-Joystick, doch lag ein solcher Agilitätstest im Bereich des Möglichen. Später brachte LJN den Roll & Rocker für das NES heraus, ein Peripheriegerät, das dem Joyboard sehr ähnelte. Auf diesem Gerät (das dem damals beliebten Pogo-Ball ähnelte) stand der Spieler und lehnte sich von der einen Seite auf die andere, nach vorne und nach hinten, um eine Figur auf dem
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Bildschirm zu steuern. An einer Seite des Roll & Rocker konnte man auch ein Nintendo-Standard-Eingabegerät einstöpseln, wodurch das Spiel auch mit einer Tastensteuerung zu bedienen war. Im Gegensatz zum Joyboard war der Roll & Rocker nicht für bestimmte Spiele entwickelt worden; er wurde als allgemein einsetzbares Zubehör verkauft, das mit den meisten NES-Spielen verwendet werden konnte. Und anders als ATHLETIC WORLD und STREET COP verhalf der Roll & Rocker einer abstrakten Auffassung von Agilität zum Durchbruch, indem er sich das allgemeine Bedürfnis nach schnellen Steuerelement-Bewegungen, die für die meisten NES-Spiele erforderlich waren, zu eigen machte und die entsprechenden Aktionen vom Daumen auf den ganzen Körper übertrug. Wie WORLD CLASS TRACK MEET basierte der Roll & Rocker auf der Eins-zu-eins-Übertragung der Standardeingabe von Steuerbefehlen auf die Eingabe mittels körperbasierter Steuerung. Damit entsprach er der Funktionsweise von beliebten NESSpielen wie SUPER MARIO BROS. oder CONTRA, die ein flinkes Herumfingern mit der Standardsteuerung erforderten. In solchen Spielen ergibt sich der Erfolg aus dem schnellen Drücken der richtigen Tasten; der Roll & Rocker bemühte sich, die sorgfältig festgelegten Agilitäts-Grenzen von herkömmlichen Videospielen mit den entsprechenden Grenzen des Körpers in Verbindung zu setzen. Wirtschaftlich gesehen war das Gerät ein Misserfolg, was vielleicht beweist, dass bereits existierende Spiele sich nur schwer auf körperbasierte Eingabe umstellen lassen. Es sollte erwähnt werden, dass nichts den Spieler hindert, eine Tanzmatte wie etwa die von DANCE DANCE REVOLUTION als Standard-Eingabegerät für die PlayStation 2 oder Xbox zu verwenden. Eine solche Matte verfügt über vier Richtungstasten und mindestens zwei weitere Steuerknöpfe. Wenn man ein Spiel wie GRAN TURISMO mit der Tanzmatte spielt, fühlt sich das so an, als ob man surfen würde. Die fehlgeschlagenen Versuche, allgemein nutzbare körperbasierte Eingabegeräte wie den Roll & Rocker oder den Nintendo PowerGlove zu entwickeln, haben die Hersteller der heute aktuellen Tanzmatten möglicherweise davon abgehalten, deren Verwendung mit Spielen anderer Art vorzuschlagen.
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DES
R EFLEXES
Ich habe bereits erläutert, dass Spielhallen-Spiele ganz allgemein als Vorläufer von Exergames gelten können. Doch noch wegweisender waren Spielhallen- und Jahrmarktspiele ohne Bildschirm. Zu den häufigsten Vertretern dieses Typus gehört Whac-a-Mole, bei dem man mit einem großen Holzhammer auf kleine Tiere (Maulwürfe) einschlägt, die ihren Kopf aus Löchern im Spielautomaten stecken.
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Die Wurzeln dieses Spiels sind in Jahrmarktspielen wie dem SchießbudenSchießen und Ballwerfen zu finden, bei denen man in begrenzter Zeit oder mit begrenzten Mitteln versuchen muss, eine bestimmte Anzahl von Zielen zu treffen. In den 1990er-Jahren, als sich die einst allgemein beliebten VideospielArcades auf jüngere Zielgruppen verlagerten, kamen mehr und mehr Varianten dieser Spiele auf. Eine heute populäre Whac-a-Mole-Weiterentwicklung ist Spider Stompin’. Das Spiel findet sich meist in den kindgerechten Bereichen von Familien-Spielcentern wie Chuck E. Cheese und hat eine achteckige Standfläche mit einer spinnennetzartigen Grafik. In diesem Spinnennetz finden sich verstreut Knöpfe, die man drücken kann. Diese Knöpfe werden meist von Spinnenbildern gerahmt, so dass der Spieler, der auf sie drauftritt, das Gefühl hat, Spinnen zu zerquetschen. Eine große Tafel zeigt den Punktestand anz. Während des Spiels leuchten die Spinnenknöpfe auf, und der Spieler muss mit seinen Füßen den jeweiligen Knopf betätigen, bevor das Licht wieder erlischt. In den unterschiedlichen Levels des Spiels verändern sich die Zahl der Spinnen und die Geschwindigkeit, mit der sie wieder verschwinden. Spiele wie Whac-a-Mole oder Spider Stompin’ erfordern keine ständige körperliche Aktivität wie WORLD CLASS TRACK MEET oder VIDEO JOGGER, stattdessen aber Reaktionen auf externe Reize (meistens visueller Art) zum genau richtigen Zeitpunkt. Man könnte diese Spiele, die einen auf zeitabhängigen Reaktionen basierenden Körpereinsatz erfordern, als Spiele bezeichnen, die der Rhetorik des Reflexes folgen. Solche Videospiele sind ebenso alt wie die Exergames selbst. Eines der Spiele, die Exus zusammen mit dem Foot Craz herausbrachte, trug den Namen VIDEO REFLEX und war eine sehr abstrakte Version von Spider Stompin’. Auf dem Bildschirm sind fünf farbige Felder zu sehen, die jeweils mit einem der fünf farbigen Sensoren auf dem Foot Craz korrespondieren. Während des Spieles erscheinen Käfer in diesen Farbfeldern, und um sie zu zerquetschen, drückt der Spieler die entsprechenden Sensoren (woraufhin im entsprechenden Farbfeld auf dem Bildschirm ein Fußabdruck erscheint). Nintendo entwickelte mit EGGSPLODE ebenfalls ein Whac-a-Mole-Imitat für das Power Pad. Hier halten sich Hühner in einem Raster aus 3 x 4 Feldern auf, die der 12-Sensoren-Seite des Power Pad entsprechen. Um unter die Hühner gelegte Bomben zu entschärfen, bevor sie explodieren, muss der Spieler den geeigneten Sensor betätigen. Darin ist EGGSPLODE eine exakte Nachbildung von Whac-a-Mole oder Spider Stompin’. Auch spätere Exergames machen sich die Rhetorik des Reflexes zunutze. Die EyeToy-Kamera, ein Zusatzgerät für die Sony PlayStation 2, wurde zunächst mit einem Satz sogenannter Microgames ausgeliefert, der die Sammelbezeichnung EYETOY: PLAY trug. Viele der kleinen Spiele setzen die Rhetorik des Reflexes
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ein. So verlangt beispielsweise KUNG FOO vom Spieler, dass er Ninjas und Affen, die auf dem Bildschirm umherfliegen, unschädlich macht; und bei PLATE SPINNER muss verhindert werden, dass sich auf Stäben drehende Teller herunterfallen. Beide Spiele erfordern sporadische, aber entscheidende Reaktionen auf Bildschirmreize, jedoch keine konstanten und in einer bestimmten Reihenfolge ablaufenden Bewegungen wie WORLD CLASS TRACK MEET und auch keine konstanten, aber immer wieder unterbrochenen Bewegungen wie ATHLETIC GAMES. Interessanterweise wird EYETOY: PLAY für den Einzelspieler häufig geschmäht, für Gruppen aber als ideales Partyspiel angesehen. Weil die EyeToyKamera nicht die Signale einer begrenzten Anzahl von Sensoren registriert, die sich unterhalb eines einzelnen Spielers auf dem Boden befinden, sondern die Signale in einem großen Sensorbereich aufnimmt – dem »Gesichtsfeld« der Kamera –, können viele Spieler gleichzeitig aktiv sein und mit beliebigen Körperteilen Ereignisse auf dem Bildschirm auslösen. Technisch gesehen handelt es sich dabei um einen »exploit«, das Ausnutzen einer Software-Schwäche, denn das Spiel verlangt vor Spielbeginn die Konfiguration auf einen einzelnen Spieler Dieses regelwidrige Spielverhalten erinnert an vergleichbares Verhalten bei Arcade- oder Jahrmarktspielen, wenn mehrere Spieler zusammen Whac-a-Mole oder Spider Stompin’ spielen und dann zwangsläufig sehr viel erfolgreicher sind als ein Einzelspieler. Während das Ergebnis von Spielen, die auf der Lauf- oder der Agilitäts-Rhetorik basieren, anhand der verwendeten Zeit ermittelt wird (wie auch der Erfolg bei vielen Leichtathletik-Sportarten), wird es bei Spielen, welche die Rhetorik des Reflexes nutzen, typischerweise durch Punkte gemessen – so gibt es beispielsweise für jedes zertretene Insekt einen Punkt. Und während bei ATHLETIC WORLD die Spieler natürlich um die kürzeste Laufzeit wetteifern können, gibt ein Punktesystem konkretere Anhaltspunkte für einen Wettkampf oder ein Zusammenspiel. Bei Spielhallen-Spielen wie Whac-a-Mole oder Spider Stompin’ erhält man häufig Belege über den erreichten Punktestand (wie auch bei dem Jahrmarktspiel Skee Ball). Diese Belege können gesammelt und gegen Spielzeug eingetauscht werden – ein Anreiz, länger und häufiger zu spielen. Exergames, welche die Rhetorik des Reflexes nutzen, mögen daher geselliger und wettkampforientierter sein als andere Arten von Exergames.
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T RAININGS
Die vielleicht nächstliegende Anwendung von Exergames ist die Verbesserung herkömmlicher Workout-Methoden durch Videospiele. Einen ersten solchen Versuch machte Bandai im Jahr 1988 mit DANCE AEROBICS für das NES Power
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Pad, das von dem Spiel als Eingabegerät zur Steuerung gängiger aerobischer Übungen genutzt wurde. Berichten zufolge erhoffte sich Bandai, mit dem Titel eine weibliche Käuferschaft anzusprechen. Sowohl im Spiel als auch bei seiner Vermarktung waren ausschließlich Frauen zu sehen. Anders als alle bisher beschriebenen Videospiele versuchte DANCE AEROBICS nicht, das Eingabegerät zu einer Art Fenster zu machen, durch das der Spieler mit dem Spiel interagiert, sondern stellte vielmehr klar heraus, dass das Power Pad als Messinstrument für den sportlichen Fortschritt der Spielerin fungieren sollte. Bei DANCE AEROBICS erscheint als Spielcharakter eine Aerobic-Lehrerin auf dem Bildschirm, vergleichbar einer Trainerin, die in einem wirklichen AerobicKurs oder einem Heimvideo eine Gruppe von Menschen anleitet. Unter dieser Lehrerin ist auf dem Bildschirm sogar ein Power Pad zu sehen, um dem Spieler zu helfen, seine Aktionen auf die abzustimmen, die der Computer zeigt. Während des Spiels demonstriert die Bildschirm-Lehrerin zunächst mehrfach eine bestimmte aerobische Übung wie Schritte zur Seite oder das Berühren der Zehen. Nach einem Countdown muss der Spieler die Übung synchron mit der Bildschirm-Trainerin ausführen, und um das Workout wirkungsvoller zu gestalten, muss er bei jeder Bewegung eine bestimmte Sensoren-Kombination auf dem Power Pad berühren. Hartnäckig zeigt sich auf einer Seite des Bildschirms ein Kasten, in dem das sich ständig verringernde Punkteguthaben zu sehen ist, denn wenn man eine Übung nicht korrekt ausführt, wird sogleich ein Fehler verbucht. DANCE AEROBICS geht von der Annahme aus, dass, wenn das Punkteguthaben aufgebraucht ist, der Spieler die Übung nicht vollständig ausgeführt hat, und folglich wird die jeweilige Session beendet. Doch tatsächlich ist es, wie auch bei vielen Lauf-Exergames, recht schwierig, die richtigen Sensoren zu berühren – oder sicherzugehen, dass nicht versehentlich die falschen betätigt werden. Auf den ersten Blick erscheint es absurd, bei einem Trainingsplan das Befolgen bestimmter Regeln zu erzwingen – denn eine nicht präzise ausgeführte Beinstreckung ist auf alle Fälle sinnvoller, als wenn man überhaupt nichts tut. Doch stellen die durch das Spiel erzwungenen präzisen Sensoren-Kontakte die sehr rudimentäre Blockoperation für einen Aerobic-Trainer dar. In einem wirklichen Sportstudio kann der Kursleiter oder Trainer im Raum umherblicken und die Leistung jeder Person beurteilen. Er kann allgemein ermutigen (»Weiter so!«) oder eine einzelne Person ermahnen (»Komm schon, Sally, die Füße weiter nach oben«). Eine solche Art von »weichem Feedback« ist in DANCE AEROBICS nicht möglich, da das Spiel vom Spieler nur rudimentäres Feedback erhält – durch das Berühren der digitalen Sensoren des Power Pad. Trotz dieser Einschränkungen unterscheidet sich DANCE AEROBICS deutlich von den oben genannten Exergame-Typen. Es könnte auch als ein Reflex-
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Rhetorik-Spiel verstanden werden, denn der Spieler muss in einem bestimmten Zeitfenster bestimmte Sensoren berühren. Doch anders als VIDEO JOGGER oder EGGSPLODE stützt sich DANCE AEROBICS, um seinen Regeln Struktur zu verleihen, nicht auf ein abstraktes System, sondern auf einen spielexternen kulturellen Bezugsrahmen: den persönlichen Trainer. Das ist in der Regel ein Experte, der von einer einzelnen Person oder Gruppe engagiert wird, einen Trainingsplan maßzuschneidern. Als Tutor und Ratgeber gibt der Trainer Anleitungen, die sowohl auf das Detail als auch auf das große Ganze eingehen; er empfiehlt die richtigen Übungen und stellt sicher, dass sein Kunde diese auch richtig ausführt – möglichst effektiv und ohne sich zu verletzen. DANCE AEROBICS bedient sich genau dieser Rhetorik, wenn auch zugegebenermaßen nur ansatzweise. Auf einer Reflex-Rhetorik basierende Exergames verlangen nur nach einer körperlichen Reaktion auf gewisse, häufig zufällig vom Computer generierte Ereignisse. In einem Spiel mit einer Trainings-Rhetorik sind die Bewegungen und auch die Pausen dazwischen gleich relevant. Spieler von DANCE AEROBICS werden sich schnell des ganz gezielt gewählten Tempos der aerobischen Bewegungsfolgen bewusst, und dieser Rhythmus wirkt sich sogar auf die stakkatoartige Figurenanimation aus, die dem Taktzählen der Übungen entspricht. Der größte Hemmschuh für DANCE AEROBICS war technischer Art – 17 Jahre nach seinem Erscheinen hatte sich das Eingabegerät nicht nennenswert geändert, die Computergrafik aber schon. So versuchte sich im Jahr 2004 ResponDesign an einem Personal-Training-Spiel. YOURSELF! FITNESS wurde für die viel moderneren Konsolen Xbox und PlayStation 2 entwickelt und auch für den PC. Die Firma ResponDesign, gegründet von Führungskräften der Fitness- und Sportschuhbranche, wurde zum ersten unabhängigen Entwickler bzw. Herausgeber von Fitness-Spielen. Sitz ist Portland in Oregon, ganz in der Nähe von Nike, mit dem das Unternehmen eine Partnerschaft einging, um von Nikes ausgefeilter Verbraucherorientiertheit und seinen Sportexperten zu profitieren. ResponDesigns erster Titel, YOURSELF! FITNESS, war der Versuch, das Fitness-Heimvideo in Form eines Videospiels neu zu erfinden. Hauptfigur des Spiels ist Maya, eine bis ins Detail durchgestaltete, durch motion capture animierte »virtuelle persönliche Trainerin«, die als Moderatorin und wichtigste Schnittstelle des Spiels dient. Schon Maya selbst ist faszinierend – sie ist so etwas wie eine anonyme Mischung kultureller und ethnischer Merkmale und könnte als Weiße, Perserin oder Latina durchgehen. Sie erscheint stark, ist aber nicht bedrohlich; sie wirkt straff durchtrainiert, aber zugleich auch freundlich und entgegenkommend.21
21 Diese Beobachtung verdanke ich Vish Unnithan.
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Im Gegensatz zu allen zuvor erwähnten Spielen verlangt YOURSELF! FITNESS überhaupt keine Eingabe von Steuerbefehlen, wenn man einmal von der weniger wichtigen Verwendung der Standard-Steuerung absieht, mit denen Menüpunkte angewählt werden. Trotz der gewaltigen computertechnischen Neuerungen in den 20 Jahren, seit DANCE AEROBICS auf den Markt kam, blieb die Art der Eingabe von Steuerbefehlen mehr oder weniger dieselbe geblieben: Spielkonsolen sind in der Lage, einen digitalen Knopfdruck zu identifizieren, und neuere Konsolen erfassen auch die Stärke des Drucks, der auf analoge Steuerknüppel ausgeübt wird. Doch statt zu versuchen, die grundlegende Technologie der Spielsteuerung durch den Menschen voranzubringen, entschied sich ResponDesign, diesen selbst den Großteil der Informationseingabe leisten zu lassen. Der Spieler erstellt ein Profil mit seiner Größe, seinem Gewicht, Angaben zu seinen Vitalparametern und seinen Trainingszielen. Maya entwirft dann ein persönlich zugeschnittenes Trainingsprogramm, dessen Durchführung in der Regel weniger als 30 Minuten pro Tag erfordert. Die Mehrzahl der Übungen entspricht herkömmlichen aerobischen Übungen. Anders als das auf elementaren 8-Bit basierende DANCE AEROBICS bietet YOURSELF! FITNESS eine geschmeidige Animation der Übungsschritte. Mit dieser verbesserten Grafik geht vielleicht das Risiko einher, dass die strenge Kontrolliertheit der Übungen weniger gut zum Ausdruck kommt, doch ändert sich durch das Spiel auch Mayas Verhalten. Die von ihr vorgeschlagenen Übungen, ihre Stimme und das Tempo ihrer Aktivitäten werden anhand der physiologischen Angaben des Spielers generiert. Vor dem Beginn einer Trainingseinheit bittet Maya den Spieler, seinen Puls zu messen und fragt, wie es ihm geht. Wenn der Spieler sich einem Workout nicht gewachsen fühlt, kann es sein, dass sie an diesem Tag nicht darauf besteht. Es ist dem Spieler überlassen, seine tatsächliche Leistung bei den Übungen zu kontrollieren, und es gibt keine Fehler-Verbuchung wie bei DANCE AEROBICS. Statt ein aerobisches Workout auf der Detailebene zu überwachen, indem die ständigen Zurufe eines stereotypen Aerobic-Lehrers simuliert werden, imitiert YOURSELF! FITNESS die Von-Person-zu-Person-Befragung eines persönlichen Trainers. Während DANCE AEROBICS versucht, den Spieler auf demselben Stand zu halten wie die imaginäre Klasse, die von der Trainerfigur auf dem Bildschirm angeleitet wird, bemüht sich YOURSELF! FITNESS, den Spieler zur Wahrnehmung der eigenen körperlichen Befindlichkeit anzuleiten und die aktuellen und künftigen Trainingseinheiten so anzupassen, dass sie sowohl seiner Kondition als auch seinen Fitness-Zielen entsprechen. In der Absicht, ein ganzheitliches Fitness-Programm zu bieten, enthält das Spiel auch Pläne und Rezepte für gesunde Ernährung. Das ist zwar gut gemeint, doch zeigt die Ernährungsplan-Funktion, wie verzweifelt sich das Spiel bemüht,
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das Verhalten des Spielers in Zahlen zu fassen. Maya bittet den Spieler, die Kalorienmenge einzugeben, die er jeden Tag verbrauchen möchte, und erstellt anhand dieser und anderer gespeicherter Angaben einen Ernährungsplan. Angesichts der Rechenkapazität der Konsole ist es erstaunlich, dass der Spieler gezwungen wird, etwas so einfach zu Berechnendes wie Kalorienverbrauch selbst zu erfassen. Diese Funktion würde den Bereich mit den Übungsanleitungen sinnvoller ergänzen, wenn sie dem Spieler helfen würde, ein Ernährungsprofil zu erstellen, das die geeignete tägliche Kalorienaufnahme berechnen und dementsprechende Ernährungspläne zur Verfügung stellen würde. Als Teil der Neuerfindung des Trainingsvideos versucht YOURSELF! FITNESS, der durch das Medium zwangsläufig hervorgerufenen Langeweile abzuhelfen – das, was Phin Barnes, der Schöpfer des Spiels, mit den Worten umschrieb, »dieselbe Frau, die am selben Strand dasselbe sagt, während im selben Augenblick Tag für Tag dieselbe Welle an den Strand gespült wird«.22 Um diese Langeweile zu bekämpfen, werden dem Spieler neue Übungs-»Arenen« und neue Musik freigegeben – ähnlich wie Spielern von Schnelligkeits-Spielen neue Rennstrecken freigegeben werden. Während ein Fahrsimulator wie GRAN TURISMO oder ein Sportspiel wie ATHENS 2004 die Leistung belohnen – den Platz, den der Spieler im Rennen erreicht hat –, belohnt YOURSELF! FITNESS das Durchhaltevermögen – die Anzahl von Workouts, die absolviert wurden, ohne einen zu verpassen. Bei der in YOURSELF! FITNESS verwendeten Version von TrainingsRhetorik ersetzen neu zu erschließende Inhalte das nach und nach schwieriger werdende Betätigen der Sensoren in DANCE AEROBICS. Während das letztere Spiel uneinheitliche Leistung mit einem »Game over« bestraft – eine wahrlich seltsame Art, zu Bewegung zu ermutigen –, belohnt das erstgenannte die regelmäßige sportliche Betätigung durch einen Szenenwechsel. Doch muss die Frage offen bleiben, ob das Erschließen neuer Umgebungen als Motivation für regelmäßige sportliche Betätigung ausreicht.
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YOURSELF! FITNESS liegt ein raffiniertes Geschäftskonzept zugrunde, aktualisiert das Spiel doch das veraltete Fitness-Video für die Videospiel-Konsole. Dass es ResponDesign gelang, die finanziellen Mittel an Land zu ziehen, um das Spiel überhaupt erst zu entwickeln, scheint mit einer entsprechenden Marktverschie-
22 Barnes, Phineas: A Fitness Game for Xbox and PC, Madison, WI: Games for Health Conference 2004.
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bung einherzugehen – man wollte dieselbe Idee, doch in einem anderen Medium. Offensichtlich hofft das Unternehmen, dass seine den Fitness-Markt dominierende weibliche Zielgruppe zur Xbox des Sohnes greift, wenn dieser im Bett liegt. In seiner einfallsreichen Vertriebspartnerschaft mit dem gehobenen Mode-Kaufhaus Nordstrom und der Research- und Marketingpartnerschaft mit Nike hat ResponDesign, was die Verbreitung von Videospielen auf dem Markt betrifft, tatsächlich neues Terrain erkundet. Doch stützen sich Spiele wie DANCE AEROBICS und YOURSELF! FITNESS noch immer auf die herkömmliche Rhetorik sportlicher Übungen: Ihre Zielperson muss selbst motiviert sein, um den Trainingsplan zu beginnen und ihn auch fortzusetzen. Beide Spiele versuchen, den Spieler mit individuellen Aerobic-Einheiten zu mehr Erfolg zu verhelfen, und das letztgenannte bemüht sich auch, ihn zu ermutigen, regelmäßig Sport zu treiben. Doch zugleich stützen sich beide auf herkömmliche und recht abgenutzte Methoden der Förderung körperlicher Aktivität. Weiter oben habe ich erwähnt, dass auf einer Reflex-Rhetorik basierende Spiele wie Whac-a-Mole und EGGSPLODE häufig einen abstrakten, numerischen Punktestand als Motivation für das Weiterspielen verwenden. Eine solche Motivation kommt aber erst mit dem Ende des Spiels zur Wirkung: Der Spieler sieht sich den erreichten Punktestand an und entscheidet dann, ob er versucht, diesen zu übertreffen, oder aufhört zu spielen. Die neueren Exergames lösen sich von dieser herkömmlichen Trainings-Methodik und konzentrieren sich stattdessen auf abstraktere Arten und Weisen, körperliche Bewegung im Rahmen eines Spieles und während einzelner Spieleinheiten selbst zu fördern und aufrechtzuerhalten. Man könnte sagen, dass solche Spiele eine Rhetorik des Ansporns verfolgen: Jede Bewegung des Spielers oder im Spiel ist darauf angelegt, zu einer weiteren körperlichen Reaktion anzuregen. Wie Spiele, die auf der Rhetorik des Laufens basieren, können solche Exergames zu langen Phasen körperlicher Aktivität motivieren, doch wie Spiele, die auf der Rhetorik des Reflexes oder der Agilität beruhen, beachten sie auch Unterbrechungen der Bewegung und nutzen diese, um die Körperbewegungen des Spielers zu verändern und zu variieren. Ein einfaches Beispiel für die Rhetorik des Ansporns ist das Spiel SHORT ORDER, das in einem Paket mit EGGSPLODE für das Power Pad ausgeliefert wurde und bei dem es sich um eine Kreuzung zwischen dem Kinderspiel Hüpfekästchen und dem klassischen Arcade-Game BURGERTIME23 handelt. Es geht es darum, Hamburger herzustellen, die aus einer kleinen Auswahl von Zutaten – Brötchen, Frikadelle, Salatblatt, Tomaten, Käse – auf Bestellung kombiniert werden. Im Spiel wird der gewünschte Hamburger angezeigt, der, je nach Höhe (die der
23 C. Donaldson-Evans: »Players Break a Sweat With Video Games«.
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Anzahl von Zutaten entspricht), unterschiedlich schwierig herzustellen ist. Der Spieler sieht diesen fertigen Burger nur für einen Moment und muss ihn dann aus der Erinnerung reproduzieren. Um eine Zutat auszuwählen, muss er springen und auf den beiden richtigen benachbarten Sensoren auf der Raster-Seite des Power Pad landen. Anders als bei einem Reflex-Spiel gibt es kein Zeitlimit, doch ein falscher Schritt beendet die Spieleinheit und kostet den Spieler ein Leben. SHORT ORDER zwingt ihn, seinen nächsten Hüpfsprung sorgfältig zu planen und auszuführen, damit auch sicher die gewünschte Hamburger-Zutat ausgewählt wird. Wenn diese eingearbeitet worden ist, muss sich der Spieler sogleich auf die nächste konzentrieren, bis der Burger fertig ist. Nach Beendigung der Aufgabe wird das Spiel mit einem größeren und schwieriger zuzubereitenden Burger fortgesetzt. SHORT ORDER ist ein einfaches Spiel, das als Eingabe nur eine einzige Aktion des Körpers ermöglicht, doch ist jede Bewegung auf dem Power Pad so strukturiert, dass auch wirklich jede dieser Aktionen im Spiel eine Folge hat. Auch wenn die Art des Punktgewinns den durch Reflexhandlungen erzielten Punkten in EGGSPLODE ähnelt, stellt SHORT ORDER jede Körperbewegung in einen bestimmten Kontext, verleiht ihr eine konkrete Bedeutung: Ganz instinktiv kann der Spieler verstehen, was es heißt, einen Hamburger zusammenzustellen. Es ist eine alltägliche Aktivität mit einem bekannten und messbaren Ergebnis, und der Spieler kann sie direkt nachvollziehen. Im Vergleich hierzu hat das Absolvieren einer der diversen Hampelmann-Runden in YOURSELF! FITNESS nur im Kontext der körperlichen Fitness eine Bedeutung. DANCE DANCE REVOLUTION – das beliebteste Exergame, mit dem ich diesen Text eingeleitet habe – ist ein hervorragendes Beispiel für die Rhetorik des Ansporns. Um bei YOURSELF! FITNESS effektiv zu sein, muss der Spieler schon selbst die Motivation erbringen, einen Trainingsplan zu beginnen und fortzusetzen. Bei DDR wird die Bewegung im Spielen selbst erzeugt. Der Kernmechanismus des Spiels – ein Schritt auf der Tanzmatte muss zum Beat der Musik und im Einklang mit einem Pfeil auf dem Bildschirm ausgeführt werden – hat eine gewisse Ähnlichkeit mit den aerobischen Übungen von YOURSELF! FITNESS. Aerobic-Übungen werden häufig im Takt von Musik durchgeführt, und die FitnessVariante Jazzercise kombiniert Aerobic-Übungen ganz eindeutig mit Jazztanz. Doch rufen diese und verwandte Workouts trotz der Attraktivität und Beliebtheit ihrer Hintergrundmusik bei den Teilnehmern nicht das dringende Bedürfnis hervor, ihre körperliche Aktivität während einer Trainingseinheit oder danach fortzusetzen. Die wesentliche Neuerung, die DDR in die Rhetorik der Exergames einbrachte, verfolgt das Ziel, diesen Mangel herkömmlicher Fitness-Spiele zu beheben.
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Bei DDR lässt sich der Spielstand auf zweierlei Weise erzielen: Einerseits muss sich der Spieler bemühen, einen Energiezähler im positiven Bereich zu halten. Für jeden Pfeil, den er verpasst, verschwindet etwas von dieser Energie, und wenn man sie ganz verloren hat, ist das Spiel zu Ende – ähnlich wie beim Fehlermachen in SHORT ORDER oder dem durch Fehler herbeigeführten Verlust des Guthabens bei DANCE AEROBICS. Der Energiezähler vermittelt dem Spieler eine negative Motivation, indem er ihn davon abhält, sofort mit dem Spielen aufzuhören. Andererseits gibt es für jeden einzelnen Schritt, den der Spieler macht, Feedback. Je nach der Präzision seiner Fußbewegungen erscheint auf dem Bildschirm nach jedem Schritt eine Antwort: »perfekt«, »großartig«, »super«, »fast« oder »buh«. Anders als DANCE AEROBICS oder die diversen oben erwähnten Laufspiele unterscheidet DDR also Grade des Erfolgs für die einzelnen Schritte, je nach dem Zeitverzug zwischen den perfekten und den tatsächlich ausgeführten Schritten. Noch wichtiger ist, dass es in diesem Spiel Erfolgs-»Ketten« gibt, die auf den jeweiligen durch Schritte erzielten Punkten aufbauen. Mehrere direkt hintereinander erzielte »Perfekt«- oder »Super«-Ergebnisse verketten sich zu einer Combo, und die Zahl der Gesamtpunkte erscheint groß in der Bildschirmmitte. Diese schrittweise anwachsenden Punkte sind die DDR-Entsprechung des Lobs durch den persönlichen Trainer nach einer Übung; sie bestärken den Spieler nicht nur in seinen einzelnen Bewegungen, sondern auch in seinem allgemeinen Rhythmus. Und da der Combo-Spielstand in Zahlen ausgedrückt wird, wird der Spieler ermutigt, das aktuelle Aktivitätslevel so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Um das Feedback durch Zahlen zu verstärken, gibt zudem eine Tonspur mit einer Art Trainerstimme in wichtigen Momenten ermutigende Zurufe, mit Wendungen wie »Das machst du super«. Anders als Maya in YOURSELF! FITNESS, die über die vom einzelnen Spieler ausgeführten Bewegungen gar nichts weiß, erzeugt DDR auf prozedurale Weise verbales Feedback über das allgemeine Energieniveau des Spielers und seine jeweiligen Combo-Muster. Dies ermöglicht es dem Spiel, Lob oder Ermutigung aufgrund der im jeweiligen Moment erbrachten Leistung auszusprechen und nicht aufgrund des letzten und vom Spieler schon abgeschlossenen Satzes von Übungen. Trotz der Ähnlichkeit zwischen dem stimmenähnlichen Feedback bei DANCE DANCE REVOLUTION und dem verbalen Feedback, das einem Trainer möglich ist, mechanisiert das Spiel das Trainerkonzept und dehnt es nahtlos auf den Körper des Spielers aus. Indem DDR bei jeder Bewegung knappes motivierendes Feedback gibt, überträgt es den persönlichen Trainer auf die Wahrnehmung des Spielers. Man könnte DDR mit einer Blickfeldanzeige für Jogger vergleichen, wel-
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che die richtige Schrittfolge auf das Pflaster projizieren und dann sofort konstruktives Feedback zu den Schritten des Läufers liefern würde. Viele der frühen Games für das EyeToy ermöglichten Reflex-Spiel, doch der neueste Titel, EYETOY: ANTIGRAV, hat dieses Zubehör zu einem Werkzeug für ein motivierendes Exergame weiterentwickelt. Während die bisherigen EyeToySpiele eine Kamera verwendeten, um das Bild des Spielers auf den Bildschirm zu projizieren, nutzt ANTIGRAV die Kamera ausschließlich als Eingabegerät, um eine Figur auf dem Bildschirm zu steuern, welche die Bewegungen des Spielers in der wirklichen Welt reproduziert. ANTIGRAV verweist zurück auf das Amiga Joyboard und ist ein Hoverboard-Spiel. Auf dem schwebenden Brett reitet die Spieler-Figur durch eine komplexe dreidimensionale Welt, sie wechselt die Richtung und weicht Hindernissen aus, indem der Spieler sich umdreht, sich duckt oder springt. Zwar ähnelt ANTIGRAV prinzipiell einem einfachen AgilitätsSpiel wie ATHLETIC WORLD, aber es nutzt die fließenderen Bewegungen, die durch die EyeToy-Sensoren erfasst werden können. ANTIGRAV hat viele Gemeinsamkeiten mit Rennspielen, und der Punktestand ergibt sich aus der Zeit, die benötigt wird, den Parcours zu bewältigen – ganz ähnlich wie bei WORLD CLASS TRACK MEET. Doch erhalten die Spieler innerhalb der Level Kräftigungsund Zusatzpunkte, indem sie überall auf dem Parcours Bonusobjekte einsammeln. Die Levels sind so ausgefeilt, dass der Gewinn dieser Objekte nur möglich ist, wenn Kopf und Arme ständig und präzise in verschiedene Richtungen bewegt werden. Beispielsweise muss ein Spieler auf einer hügeligen Bahn einen Arm zur Seite strecken, ihn langsam nach oben führen und dann, wenn er durch die Kurve rast, in einem Bogen wieder nach unten. ANTIGRAV bietet zwar keine so starken inkrementellen Ermutigungen wie DDR, doch verschafft jeder kurze Moment dem Spieler ein neues Kurzzeitziel wie zum Beispiel das Einsammeln des nächsten Bonusobjektes. Durch den schrittweise gesteigerten Anreiz soll der Spieler motiviert werden, weiterhin den vom Spiel geforderten ganzen Körpereinsatz zu erbringen, auch wenn er schon müde ist. Generische Eingabegeräte, die sich durch Körperbewegungen steuern lassen, können ebenfalls zu andauernder körperlicher Aktivität anspornen. Ich habe weiter oben den Roll & Rocker als Beispiel für eine Steuerung erwähnt, die nicht in der Lage war, die im Spiel erforderlichen Reflexe zuverlässig von Fingern und Steuertasten auf das mit den Füßen zu steuernde Balance Board zu übertragen. Vor kurzem hat Powergrid Fitness einen komplexeren Versuch der Entwicklung eines allgemein einsetzbaren Steuergerätes gestartet – das Kilowatt, das sowohl körperliche Anstrengung erfordert als diese auch mit jedem beliebigen Konsolenspiel verknüpft. Das Kilowatt ist ein großes Gerät, das isometrisches Training erleichtert. Es hat keine beweglichen Teile, sondern nutzt vielmehr Kraft-
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Sensoren, um den Druck, den ein Spieler auf eine Lenkstange ausübt, in Spielbewegungen zu übertragen. Die meisten bisher beschriebenen Exergames beinhalten aerobische Übungen, isometrische Übungen hingegen sind anaerob und bauen in ähnlicher Weise Kraft auf wie das Stemmen von Gewichten. Das Training mit dem Kilowatt unterscheidet sich im Prinzip nicht von dem mit dem Roll & Rocker – die internen Motivationsstrukturen eines jeden Videospiels werden wirksam eingesetzt, um den Spieler dazu zu bringen, seinen ganzen Körper und nicht nur seine Daumen einzusetzen. Doch anders als der Roll & Rocker bietet das Kilowatt einen für die meisten Spiele einigermaßen wirkungsvollen analogen Steuermechanismus. Auch treibt es den Spieler dadurch zur Fortsetzung des Spiel und des Trainings an, als isometrische Übungen eine ganz bestimmte Eigenschaft haben: Sie schmerzen! Anders als aerobische Übungen, die den Spieler in Schweiß ausbrechen lassen oder seinen Puls beschleunigen, sind isometrische Übungen sofort im Oberkörper zu spüren. Das Gefühl, »zu wissen, dass es funktioniert«, bestärkt den Spieler sowohl in seinen Spiel- wie seinen Trainingszielen. Auch in einem Vor-Wii-Experiment Nintendos mit ausgefallenem Zubehör – dem Bongo-Controller für den GameCube – wird eine Rhetorik des Ansporns wirksam, die zu einer Interaktion durch Körpereinsatz motiviert. Dieses Eingabegerät hat zwei berührungsempfindliche Sensoren, einen auf jeder Trommeloberfläche, und direkt über ihnen sitzt ein Mikrofon als Sensor, der ein Klatschen mit beiden Händen erkennen soll. Der Bongo-Controller wurde zusammen mit dem Musik- und Rhythmus-Spiel DONKEY KONGA ausgeliefert, das in seiner Spielweise DDR und Namcos Heim-Version eines japanischen Taiko-TrommelSimulators, TAIKO DRUM MASTER, imitiert. In seiner Rhetorik gleicht DONKEY KONGA ebenfalls DDR, wenn sich auch das Schlagen auf Trommeloberflächen als viel weniger strapaziös erwiesen hat als der Einsatz des ganzen Körpers auf der Tanzmatte. Doch verlangt das zweite mit dem Bongo-Controller kompatible Spiel, DONKEY KONG JUNGLE BEAT, vom Spieler, den Bongo-Controller als Eingabegerät für ein Kampfspiel zu verwenden. Ein Schlag auf die rechte Bongotrommel bewegt Donkey Kong nach rechts, ein Schlag auf die linke Trommel schiebt ihn nach links, und zwei gleichzeitige Schläge lassen ihn in die Höhe springen. Wird geklatscht, greift er sich in der Nähe hängende Bananen, die man benötigt, um das nächste Level zu erreichen. Am Ende eines Levels wird der Spieler auch mit Medaillen belohnt, abhängig davon, wie viele Bananen er gesammelt hat. Wie bei DANCE DANCE REVOLUTION werden bei DONKEY KONG JUNGLE BEAT Punkte verteilt, von denen schrittweise immer mehr erzielt werden können, was den Spieler ermutigt, erfolgreiche Aktionen so lange wie möglich fortzuset-
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zen. In JUNGLE BEAT ergibt das Einsammeln einer Banane durch Klatschen doppelt so viele Punkte, als wenn man auf sie tritt. Und wenn man durch die Luft fliegt und dabei viele Bananen ergattert, wird die Punktzahl um einen noch größeren Faktor multipliziert. Außerdem muss der Spieler am Ende eines Levels immer mit kleinen Feinden und großen Bossen kämpfen, wobei regelmäßig Stellungsmanöver und, in der Art von TRACK & FIELD, auch abwechselnde Schläge auf die linke und die rechte Trommel erforderlich sind. Und wenn das Bearbeiten einer Plastiktrommel auch eher für wunde Hände als einen wohlgeformten Trizeps sorgen mag, nutzt das Spiel seine Belohnungsregeln dazu, zu weiteren körperlichen Aktivitäten anzuspornen, selbst wenn diese Aktivität schon fast einer Qual gleichkommt. YOURSELF! FITNESS versucht, die Spieler durch freizuschaltende Hintergründe und Musik zu motivieren, Inhalte, die eine nur lose Verbindung zu den aeroben Übungen im Spiel haben. Exergames, die wie DANCE DANCE REVOLUTION und ANTIGRAV auf der Rhetorik des Ansporns basieren, tendieren wiederum dazu, die Idee körperlicher Anstrengung zu kontextualisieren, indem sie wiederholt Anreize schaffen, diese Anstrengung fortzusetzen. Dennoch vermag YOURSELF! FITNESS, das ja bewährte sportliche Übungen verwendet, eine sehr viel konsequentere, formalere Art von aerobem Training zu bieten. Doch sollte der physiologische Nutzen von Exergames nicht uneingeschränkt gesteigert werden; denn konsistente körperliche Aktivität auf einem niedrigeren Niveau mag auf längere Zeit gesehen Vorteile haben. Die Stärke von Spielen wie DDR liegt gerade darin, dass es ihnen gelingt, durch Spiel zu körperlicher Aktivität zu animieren, ohne dass der Spieler ein komplexes Verständnis von Fitness entwickeln muss. Diese vergleichsweise raffinierte prozedurale Rhetorik des Trainings operationalisiert eher die wesentlichen Merkmale des Trainers – als jemand, der zu einer konstanten Kette richtig ausgeführter körperlicher Bewegungen anspornt –, als dass sie sein körperliches Erscheinungsbild verwendet.
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Bisher ist es in diesem Beitrag darum gegangen, auf welche Art und Weise eine Vielzahl von Exergame-Varianten den Spielverlauf und Eingabegeräte nutzt, um zu körperlicher Aktivität zu ermuntern. Doch wäre eine solche Analyse nicht vollständig, wenn man nicht berücksichtigte, in welcher Umgebung diese Spiele überhaupt verwendet werden. Die meisten der heute verkauften Exergames werden auf Videospiel-Konsolen gespielt (und nicht am PC). Diese Konsolen müssen mit Fernsehern verbunden werden, und diese sind meistens große, unbeweg-
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liche Geräte, die vom gesamten Haushalt genutzt werden. Der Fernseher steht meistens im Wohnzimmer oder in einem Freizeitraum, wo er von Sesseln und Sofas umgeben ist; und in vielen dieser Räume gibt es zwischen Sofas und Fernseher auch einen Couchtisch oder andere große Möbelstücke. Insbesondere in den Vereinigten Staaten ist es üblich, während des Fernsehens zu essen und zu trinken, weshalb auf dem Couchtisch Kaffee, Bier, Softdrinks und allerlei Essen zu finden ist, während man sich zur besten Sendezeit Komödien, am Wochenende Sportereignisse oder am Abend die Nachrichten ansieht. Das Wohnzimmer ist in der Regel ein wenig dynamischer, statischer Raum mit schweren Möbelstücken, die einen großen offenen Raum in viele kleinere abgeschlossene Zonen teilen. Jedes der in diesem Beitrag erwähnten Exergames benötigt, wenn man es erfolgreich und ohne Verletzungsgefahr spielen möchte, relativ viel Platz. Bei allen Spielen – vom EyeToy und den Bongo-Trommeln abgesehen – muss unter dem Spieler ein Gegenstand auf den Boden gelegt werden. Und mit Ausnahme der Bongo benötigt der Spieler bei allen Spielen Bewegungsfreiheit, wozu auch Platz auf allen Seiten gehört, um sich nicht bei einem falschen Schritt zu verletzen. Wenn man sich aber das Durchschnittswohnzimmer ansieht, scheint es, dass viele Familien Möbel – und vor allem Couchtische – aus dem Weg räumen müssen, um Exergames überhaupt richtig spielen zu können. Ein Gerät wie das Kilowatt von Powergrid ist schwer, nur unter Schwierigkeiten hin und her zu bewegen und beansprucht ebenso viel Platz wie ein großes Trimmrad oder ein Krafttrainer. In einer Analyse des Exergaming kann nicht einfach angenommen werden, dass diese Geräte für einen solchen Einsatz geeignet sind. Selbst eine Tanzmatte für DANCE DANCE REVOLUTION ist ein sperriger Gegenstand, der unter ein Möbelstück geschoben oder aufwendig in einem Schrank verstaut werden muss. Und bei großem Zubehör wie Bongotrommeln und Joyboards handelt es sich kaum um Dekorationsgegenstände, die das Auge erfreuen. Werbung und Medien zeigen diese Dinge typischerweise in einer leeren Umgebung, etwa einem Galerie-ähnlichen weißen Raum, wo außer dem Spielen von Exergames keinerlei Aktivitäten stattfinden. Diese Umgebungen sind sogar noch realitätsfremder als die idealisierten Räume in Möbelkatalogen. Hinderlich für das Spielen von Exergames sind auch logistische und technische Begrenzungen. Meistens werden Sitzgelegenheiten im Wohnzimmer so platziert, dass man von einer optimalen Position und in optimalem Abstand zum TV-Gerät bequem Fernsehen kann, während man auf einem Sessel oder Sofa sitzt oder liegt. Und auch wenn kein Couchtisch oder sonstiges Hindernis dem angehenden Exergamer im Weg steht, wird er sich wahrscheinlich mindestens einen Meter näher am Fernsehgerät aufhalten als üblich und deshalb den Bild-
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schirm nicht so gut sehen können. Das Spiel auf dem PC ist zwar möglich, bringt jedoch ebenso große, wenn nicht größere Probleme mit sich. YOURSELF! FITNESS ist für den PC, die Xbox und die PlayStation 2 erhältlich. Seine Zielgruppe entspricht nicht der demografischen Gruppe, bei der Videokonsolen-Spiele beliebt sind, und so wurde die PC-Version vermutlich herausgebracht, um Spielern gerecht zu werden, die keine Konsole besitzen oder kaufen möchten. Doch verfügen die meisten Familien nicht über ein aufgeräumtes Büro mit dem nötigen Platz, um körperlich aktiv zu werden, und haben auch keinen Computer-Monitor in der Größe eines Fernsehbildschirms, der aus sicherer Entfernung geeignetes visuelles Feedback ermöglichen würde. Diese Grenzen des Einsatzes von Exergames sind in einem spezifischen Zusammenhang zu sehen. In amerikanischen Haushalten hat in den letzten 60 Jahren die Einrichtung der Wohnzimmer auf gewisse Annahmen über den Lebensstil ihrer Bewohner reagiert. Es wird erwartet, dass früh am Morgen einer oder mehrere Erwachsene aufstehen, duschen, sich rasieren, frühstücken und zur Arbeit fahren. Um rechtzeitig zur Schule zu kommen, müssen die Kinder das Haus sogar noch früher verlassen, und so steht es die meiste Zeit des Tages leer. Wenn die Mitglieder des Haushalts oder der Familie nach der Arbeit oder Schule wieder nach Hause kommen (und wenn es sich erfreulicherweise nicht um eine dysfunktionale Familie handelt), essen sie vielleicht gemeinsam, bevor sie vor dem Fernseher entspannen wollen – und nicht schweißtreibenden Aktivitäten widmen. Auch gibt es immer mehr Menschen, die von zu Hause aus arbeiten, und einige Berufstätige haben ihre liebe Not, sich daheim einen geeigneten Arbeitsplatz einzurichten. Dadurch reduziert sich der Platz für außerberufliche Aktivitäten wie Fernsehen, Lesen und Spielen weiter – ganz zu schweigen vom Platz für gesundheitsbewusste Aktivitäten wie Aerobic, das Training mit Geräten oder das Spielen von Exergames. Bedauerlicherweise ist die große Mehrzahl amerikanischer Vorstadt-Haushalte, die über die Zeit und das Geld für Konsolenspiele verfügen und die für Exergames nötige Soft- und Hardware anschaffen können, schlicht und einfach nicht so eingerichtet, diese auch zu spielen. Körperliche Anstrengung ist etwas, das auf die Bürgersteige der Wohnviertel verbannt wurde oder in das lokale Fitness-Studio oder das – in den meisten Fällen – nirgendwo stattfindet. Die vielleicht beklemmendste Rhetorik des Exergaming verbindet sich mit den ideologischen Strukturen, die uns zwingen, mehr zu arbeiten und uns weniger zu bewegen. Die nach dem Krieg entstandene Arbeitsethik, die wir vereinfacht als den amerikanischen Traum bezeichnen, und der leichte Zugang zu langfristigen Kredite hat Familien ermuntert, Häuser zu kaufen, die sie sich nur leisten können, wenn sie mehr und mehr Zeit bei der Arbeit verbringen. Der
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Wunsch nach größeren Häusern zwingt uns, weiter hinaus in die Vorstädte zu ziehen, was zur Folge hat, dass wir immer länger und durch immer überfülltere städtische Ballungszentren zu unseren Arbeitsstätten pendeln müssen. Unsere Arbeit und der Weg dorthin verringern die Zeit, die wir für uns und unsere Familien haben, und so ist auch die Abwärtsspirale eingeleitet, dass wir uns immer weniger irgendeiner Art körperlicher Aktivität widmen. Ungeachtet also der Effektivität der verschiedenen Exergame-Rhetoriken ist die uns eigentlich beherrschende Rhetorik womöglich in den komplexen sozialen, politischen und materiellen Strukturen verankert, welche unsere Lebensräume bestimmen. Exergames enthüllen die Unvereinbarkeit von Arbeit und körperlicher Bewegung oder Freizeit wie auch die Dominanz der ideologischen Strukturen, die uns drängen, mehr zu arbeiten und uns weniger zu bewegen.
K ÖRPERLICHE B EWEGUNG : VOM N EBENPRODUKT ÜBER DAS R ITUAL ZUR LÄSTIGEN P FLICHT Früher einmal mussten wir nicht so viel über Bewegung nachdenken. Wir bestellten unsere eigenen Felder und schlachteten unsere eigenen Schweine und Hühner, wir machten unsere eigene Butter und ernteten unsere Kürbisse, Zwiebeln und Kartoffeln. Allein gut durch den Winter zu kommen war als körperliche Herausforderung völlig ausreichend, und wir machten uns größere Sorgen über Krankheiten als über unsere Fitness. Körperliche Betätigung war ein Nebenprodukt notwendiger Tätigkeiten. In entwickelten Gesellschaften sind heute die meisten Menschen nicht mehr gezwungen, tagtäglich genug Nahrung für den nächsten Tag oder die nächste Woche zu sammeln. Einerseits sind wir in der Lage, diese Zeit anderswo zu investieren, indem wir intellektuelle, spirituelle oder materielle Ziele verfolgen. Andererseits bewahrten sich selbst frühe Ballungsraum-Gesellschaften ihre körperliche Fitness, und zwar als wichtiges und eng mit dem täglichen Leben verbundenes Element: Der Sport war eines der Mittel, mit dem geordnete Gesellschaften die körperlichen Eigenschaften ihrer Menschen weiterentwickelten, und in der Antike war der Sport häufig an das Ritual und an soziale Werte gebunden wie das Opfer, den Krieg und den Individualismus. Das Kräftemessen beim Bogenschießen oder im Wettlauf konnte ebenso sehr ein Bestandteil von Trauerfeierlichkeiten wie von Machtkämpfen sein. Noch immer war Bewegung ein Nebenprodukt der nur begrenzten Automatisierung des täglichen Lebens, doch war sie zugleich eine rituelle Handlung. In unserer heutigen Gesellschaft denken wir beim Begriff Sport meistens an Zuschauer-Sportarten wie Fußball oder Boxkämpfe. Solche Aktivitäten ähneln
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wahrscheinlich mehr früheren Ereignissen in Arenen – wie den römischen Gladiatorenkämpfen oder Wettkämpfen zur Karnevalszeit wie dem Shrovetide Football, der im England des Mittelalters an den drei Tagen vor Aschermittwoch gespielt wurde – als alltäglichen Ritualen. Solche Sportarten dienten in erster Linie der Unterhaltung und dem Schauspiel, und diese Rolle spielen sie immer noch. Dass aber Bewegung heute ein ganz wesentliches Thema ist, verdanken wir den sogenannten Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Herzleiden und Fettleibigkeit. Wir verstehen Bewegung als Mittel, um unsere wachsende Nutzung von Autos, unsere wachsende Freizeit und unsere immer größere Inaktivität am Arbeitsplatz zu kompensieren. Insofern ist körperliche Bewegung zur Reparaturmaßnahme geworden. Mit dem Joggen am Morgen und dem nachmittäglichen Aufenthalt im Fitness-Studio gleichen wir Tage am Computer und Abende vor dem Fernseher aus. Diese Art von körperlicher Bewegung ist der zeremoniellen und kulturellen Merkmale beraubt, die einst den Sport definierten. Wie bei so vielen Aspekten unserer Industriegesellschaft haben wir Mittel und Wege gefunden, unsere körperliche Betätigung so zu bemessen, dass wir die Leistung maximieren und die benötigte Zeit minimieren. Vielleicht gibt es noch in irgendeinem Unternehmen Kollegen, die die am Tag getätigten Geschäfte beim Squashspiel Revue passieren lassen, doch in der Regel strampeln wir alleine auf unseren Trimmrädern, die Stöpsel des iPod im Ohr, und warten darauf, dass der Timer endlich so barmherzig ist zu piepen und wir aufhören können. Bewegung ist zu einer lästigen Pflicht geworden, die wir irgendwie in unseren hektischen Tagesablauf quetschen müssen.
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VON E XERGAMES IN KULTURELLER UND SOZIALER H INSICHT Die Besessenheit mit körperlicher Bewegung als zu berechnende individuelle körperliche Leistung ist inzwischen so weit verbreitet, dass sich selbst die Spieler von Exergames körperliche Leistung als primäre Bewertungskategorie für den Erfolg dieser Spiele zu eigen gemacht haben. Mickey DeLorenzo, der ein ganz normaler Spieler und kein Forscher ist, absolvierte ein »Wii-Sportexperiment«, indem er täglich 30 Minuten lang ein Wii-Sportspiel spielte und dabei über sechs Wochen sein Gewicht, seinen Body-Mass-Index, seinen Ruhepuls, die verbrauchten Kalorien und seinen Körperfett-Anteil notierte.24 DeLorenzos
24 DeLorenzo, Mickey: »Wii Sports Experiment, Results!«, in: NintendoFuse vom 15. Januar 2007. http://wiinintendo.net/2007/01/15/wii-sports-experiment-results/
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Experiment ist ein Beleg dafür, dass die Wii-Konsole, die vor allem Körperbewegungen erfasst, sich in erster Linie für Exergames ausgezeichnet hat. Nintendos frühe Werbespots für das System zeigen Spieler jeden Alters, die vor ihren Fernsehern herumspringen und genau die Art zwangloser körperlicher Bewegung vollführen, die Befürworter von Exergames loben. Als jemand, der sich für Videospiele als kulturelle Artefakte interessiert, muss ich gestehen, dass ich mich weniger dafür interessiere, dass uns Videospiele beim Kalorienzählen helfen können, als dafür, dass sie in der Lage sind, die Art und Weise zu verändern, in der wir unsere Welt erleben oder über sie nachdenken. Deshalb war ich nicht gerade wenig amüsiert, als ich bei WARIO WARE: SMOOTH MOVES – die Wii-Konzession einer beliebten Microgame-Serie – das Bewegungs-Level freischaltete. Hier enthüllt Dr. Crygor, der verrückte Wissenschaftler der Serie, seine neueste Erfindung: eine Maschine zum Dünnerwerden. Zu Beginn des Spiels betritt eine Version von mir selbst in einem Fatsuit (mit dem richtigen Kopf des Mii, meines Avatars, den ich gespeichert hatte) diese Apparatur und das Spiel beginnt. Anders als bei den normalen Wario-WareSpielen darf der Spieler immer 20 Mikrospiele absolvieren, ganz gleich wie er abschneidet, wobei das indirekte Ziel eines jeden Spiels ist, sich so viel wie möglich zu bewegen. Die Leistung wird in einer fiktiven Energie-Einheit, der »Kelorie«, gemessen, und je mehr oder härter oder schneller der Spieler in jedem Mikrospiel arbeitet, desto mehr »Kelories« verbrennt er. Es ist nicht bekannt, ob Nintendo das Diätspiel des Dr. Crygor als seriösen Beitrag zum Thema Bewegung anbieten wollte – ich habe es als bissige Satire auf sportliche Bewegung allgemein und auf das Bewegen im Rahmen von Videospielen insbesondere empfunden: Jede absurde Bewegungsart, vom Aufblasen von Luftballons bis zum Popeln in der Nase wird in den fiktiven Einheiten gemessen. Nachdem der Spieler die 20 Mikrospiele beendet hat, wird er aus Crygors Gerät herausgeworfen und die Luft aus seinem Fatsuit gemäß der Anzahl der verbrannten »Kelories« herausgelassen. In all dem zeigt sich die Unmenschlichkeit von Exergames dieser Art: Die von Videospielen herbeigeführten Bewegungen sind im Grunde nicht aufregender als die Bewegungen, die man auf Trimmrädern oder einem StairMaster macht. Zwar sind die Wario-WareMicrogames ganz niedlich und unkonventionell, doch lässt der Reiz des Neuen schnell nach und das typische gackernde Lachen von Wario am Ende jeder Spielphase wird zum freundlichen Weckruf einer neuen Art von CountdownGerät. Vergleichen wir diese Erfahrung mit einem anderen beliebten Videospiel, bei dem man ebenfalls körperlich aktiv werden muss: GUITAR HERO. Sicherlich ist die körperliche Anstrengung, die man für das Schrammeln auf einer Plastikgitar-
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re aufbringen muss, sehr viel geringer als die, die man beim Herumspringen und -fuchteln mit einem Wii-Controller benötigt – doch allein die Tatsache, dass GUITAR HERO die Spieler vom Sofa bekommt, gilt als eine seiner größten Errungenschaften. Der Erfolg des Spiels ist größtenteils darauf zurückzuführen, dass es so hervorragend Jam Sessions, Garage-Band-Shows und die Performances von Rock-Superstars simuliert. Wenn ein Freund mitspielt, kann man gegeneinander oder zusammenarbeiten. Durch die Simulation einer rituellen Aktivität wie der Jam Sesson wird GUITAR HERO auch zu einer abstrakten Form dieses Rituals selbst. Wenn es ohne Pulsmessgeräte, Waagen und BMI-Berechnungstabellen gespielt wird, vermittelt WII SPORTS ein ähnliches Erlebnis. Die Rituale des Sports als wettkampforientierter sozialer Praxis sind bei Amateursportlern, die »richtig« Golf oder Tennis spielen, boxen oder bowlen, noch immer stark vorhanden. Natürlich gehen einige von uns auf den Golf- oder Tennisplatz, in den Boxring oder die Bowlingbahn, um sich Bewegung zu verschaffen, doch wir kehren deshalb an diese Orte zurück, weil sie von sozialen Ritualen gerahmt werden: von den Sticheleien in der Umkleidekabine bis zu dem auf der Scorecard notierten Handicap. Wenn wir mit einem oder zwei Freunden oder Familienmitgliedern WIISPORT treiben, schaffen wir Mikroumgebungen, die den Golfplatz oder die Bowlingbahn nachahmen. Eine Sache, die mir beim Spielen solcher Spiele besonders auffällt, ist, wie ich die Zeit ausfülle, bis ich wieder an der Reihe bin: Manchmal sehe ich anderen zu, doch ebenso oft lese ich oder schreibe E-Mails oder rede mit den anderen Leuten im Raum, bis ich frage, ob ich schon wieder dran bin. Diese Art von sozialer Umgebung ähnelt derjenigen auf dem Basketballfeld, dem Golfplatz oder in der Bowlingbahn unseres Viertels. Wer sich für Exergames interessiert, sollte vor allem der Einführung neuer ritueller Praktiken Aufmerksamkeit schenken, die nur bei Videospielen möglich sind. GUITAR HERO und WII SPORTS sind erfolgreiche Beispiele für Videospiele, die ritualgebundene Bewegung ermöglichen. Diese Rituale aber entlehnen sie ausschließlich anderen Bereichen. Selbst erfolgreiche Exergames wie DANCE DANCE REVOLUTION bieten nur vorläufige Beispiele für entwickeltere Videospiel-Bewegungsrituale: Die Heimkonsolen-Variante von DDR bringt die komplexen performativen Praktiken sozialen Tanzens, die das Spielhallen-Spiel auszeichnen, völlig zum Verschwinden. Auf physische Bewegungen reagierende Game Controller gibt es seit 25 Jahren, doch haben sie immer nur Randbereiche des Marktes erobert: von dem nie auf den Markt gelangten Trimmrad-Controller von Atari namens Puffer über Amigas Joyboard von 1982 bis zu LJNs Roll & Rocker aus dem Jahr 1988. Als die Beliebtheit solcher physischen Eingabegeräte die Marktfähigkeit von Exer-
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games zu steigern begann, war die Annahme verlockend, dass das Spielen von Videospielen automatisch mit mehr Aktivität verbunden sein würde und deshalb sinnvoller, wenn es darum geht, sich Bewegung zu verschaffen. Doch nun, da der Reiz des Neuen allmählich verfliegt, teste ich schon die Grenzen meiner WiiKonsole aus, und tatsächlich lässt sie mehr Trägheit zu als ihre Konkurrenten mit herkömmlichem Controllern (THE LEGEND OF ZELDA: TWILIGHT PRINCESS) kann man spielen, während man auf dem Sofa herumlümmelt und die Hände neben sich gelegt hat. Um das Schwert zu schwingen, muss man nur ein bisschen mit der Hand wackeln, die die Wii-Fernbedienung hält). Um zu wirklich wirksamer und motivierter körperlicher Aktivität anzuspornen, werden Exergames mehr leisten müssen, als lediglich physische Gesten zu verlangen, mit denen sich latent körperliches Training verbindet. Sie werden vielmehr auch die sozialen Rituale simulieren und erschaffen müssen, die in uns den Wunsch nach körperlicher Aktivität wecken, ob nun nach individueller Bewegung oder nach Training im Verein mit anderen.
L ITERATUR Barnes, Phineas: A Fitness Game for Xbox and PC, Madison, WI: Games for Health Conference 2004. Bogost, Ian: Unit Operations. An Approach to Videogame Criticism, Cambridge, MA: MIT Press 2006. Ders.: Persuasive Games. The Expressive Power of Videogames, Cambridge, MA: MIT Press 2007. Ders.: »The Missing Rituals of Exergames«, in: Gamasutra, 31. Januar 2007, http://www.bogost.com/writing/the_missing_rituals_of_exergam.shtml Chang, A.: »Video Game Helps Players Lose Weight«, in: CNN vom 24. Mai 2004. DeLorenzo, Mickey: »Wii Sports Experiment, Results!«, in: NintendoFuse vom 15. Januar 2007. http://wiinintendo.net/2007/01/15/wii-sports-experimentresults/ Donaldson-Evans, Catherine: »Players Break a Sweat With Video Games«, in: Fox News Channel vom 9. Juli 2004. Lawrence, Star: »Exercise, Lose Weight With Exergaming«, in: Fox News vom 18. Januar 2005. N.N.: »Tournament Performance and Strategy«, in: DDR Freak vom 3. Februar 2002. http://www.ddrfreak.com/library/contributor-article.php?postID=7890 162
E XERGAMES
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N.N.: »Video Game Fans Dance off Extra Pounds«, in: USA Today vom 23. März 2004. N.N.: »Toys to Get Kids off the Couch«, in: ABC News Good Morning America vom 15. Dezember 2004. Red Octane: Dance Video Game Supports Academic Success. GetUpMove.comForschungsbericht vom 29. Juni 2005. Red Octane: GetUpMove.com (Werbe-Website). http://www.getupmove.com von 2004.
C OMPUTERSPIELE ATHENS 2004 (SCEA 2004, O: Eurocom) ATHLETIC WORLD (Bandai/Nintendo 1986, O: Bandai Co., Ltd.) CONTRA (Konami 1988, O: Konami) DANCE AEROBICS (Bandai 1987, O: Human Entertainment) DANCE DANCE REVOLUTION (Konami 1999, O: Konami Computer Entertainment Tokyo) DANCE DANCE REVOLUTION 2NDMIX (Konami 2002, O: Konami Computer Entertainment Tokyo) DANCE DANCE REVOLUTION DISNEY DANCING MUSEUM (Konami 2000, O: Bemani) DANCE DANCE REVOLUTION MARIO MIX (Nintendo 2005, O: Konami Compu-ter Entertainment Tokyo) DANCE DANCE REVOLUTION ULTRAMIX (Konami 2003, O: Konami Computer Entertainment Tokyo) DDRMAX DANCE DANCE REVOLUTION 6THMIX (Konami 2002, O: Konami Computer Entertainment Tokyo) DEFENDER (Williams Electronics 1980, O: Williams Electronics) DONKEY KONG JUNGLE BEAT (Nintendo 2005, O: Nintendo EAD Tokyo Group No. 1) DONKEY KONGA (Nintendo 2004, O: Namco) DUCK HUNT (Nintendo 1985, O: Nintendo R&D) EGGSPLODE (Nintendo 1990, O: Tose Co., Ltd.) EYE TOY: ANTIGRAV (Sony Computer Entertainment 2004, O: Harmonix Music Systems) EYE TOY: PLAY (Sony Computer Entertainment Europe 2003, O: SCE London Studio) GALAXIAN (Namco/Midway Games 1979, O: Namco)
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GRAN TURISMO (Sony Computer Entertainment 1997, O: Polyphony Digital/Cyberhead) GUITAR HERO (RedOctane/Activision 2005-2010, O: Harmonix/Neversoft/Budcat Creations/Vicarious Visions) MOGUL MANIAC (Amiga 1983, O: Amiga Corporation) OFF YOUR ROCKER (unveröffentlicht, O: Amiga Corporation) PAC-MAN (Namco/Midway Games 1980, O: Namco) POLE POSITION (Namco/Atari 1983, O: Namco) SHORT ORDER (Nintendo 1990, O: Tose Co., Ltd.) STREET COP (Bandai 1987, O: Bandai Co., Ltd.) SURF’S UP (unveröffentlicht, O: Amiga Corporation) SUPER MARIO BROS. (Nintento 1985, O: Nintendo Creative Department) TAIKO DRUM MASTER (Namco 2004, O: Namco) THE LEGEND OF ZELDA: TWILIGHT PRINCESS (Nintendo 2006, O: Nintendo EAD Group No. 3) TRACK & FIELD (Konami 1982, O: Konami) TRACK & FIELD (Konami/Atari 1983, O: Konami) VIDEO JOGGER (Exus 1987, O: Exus Corporation) VIDEO REFLEX (Exus 1987, O: Exus Corporation) WARIO WARE: SMOOTH MOVES (Nintendo 2007, O: Nintendo SPD Group No. 1/Intelligent Systems) WORLD CLASS TRACK MEET (Bandai 1988, O: Bandai Co., Ltd.) YOURSELF! FITNESS (ResponDesign 2004, O: ResponDesign)
Interface Control Meaning Eine typologische Gegenstandssichtung des Phänomens Exergames
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E INLEITUNG Was sind Exergames? Die landläufige Antwort ist, dass es sich um Spiele handelt, bei denen die Spieler sich bewegen müssen, um etwas zu erreichen. Das ist richtig, doch reicht dieser Ansatz aus, um Exergames sinnvoll und ausreichend zu beschreiben? Sind Exergames ein klar umrissenes Genre mit eindeutigen Zugehörigkeitskriterien, Anwendungssituationen und eindeutigen Erwartungen der Spieler an das Genre – oder handelt es sich nicht vielmehr um einen Sammelbegriff für eine Vielzahl von Typen vermittelter Spielerfahrung? Und wenn ja, was folgt daraus? Diese Fragen sollen derart untersucht werden, dass Exergame-Genres unterschieden und anhand einer Sichtung ihrer Spezifika allgemeine Kriterien entwickelt werden, anhand derer sich Exergames definieren lassen. Dazu werden zuerst in der Einleitung Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich Exergames verorten lassen, angerissen, dann die Spezifika der Interfaces zwischen Spiel und Spieler verdeutlicht und zuletzt im Hauptteil Exergame-Genres und deren Exponenten exemplarisch aufgegriffen, um im Schlussteil die aufgefundenen Definitionskriterien zusammenzufassen.
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E RSTE A NNÄHERUNG AN DAS P HÄNOMEN E XERGAMES Etymologisch handelt es sich bei dem Wort Exergames um eine Wortneuschöpfung aus Exercise – Englisch für »Ausführung, Übung, Training« – und Game für »regelbasiertes Spiel«. Der Schwerpunkt der eigentlichen Wortbedeutung liegt dabei auf dem semantischen Feld von Übung und Training. Wenn man diese Definition allerdings mit den meisten Exergames vergleicht, die auf dem Markt erhältlich sind, wird schnell deutlich, dass Exergames Trainingsspiele sein können, es aber nicht sein müssen. Real steht in den meisten Kontexten die Bedeutung der Bewegung bei Exergames an erster Stelle. So ist es sinnvoller, den Begriff Exergame eher als »Bewegungsspiel« zu übersetzen, anstatt dem eigentlichen Wortsinn des »Trainingsspiels« zu folgen.1 Auch beim Blick ins Feld konkreter körperbasierter Bewegungsspiele wird schnell deutlich, dass die Grenzen und Formen von Exergames fließend sind und die Genrezugehörigkeit hinsichtlich der Bewegung nur selten trennscharf abgegrenzt wird. Sport-, Tanz und Fitnessspiele – die hier im weiteren als primäre Exergames-Genres bezeichnet werden – gehören, wie weiter unten ausgeführt wird, mit Sicherheit dazu. Aber möglicherweise muss man auch Spielgenres und -formate wie Action-Adventures, Geschicklichkeitsspiele, Location-Based Games und das sog. Geocaching dazuzählen, denn sie bringen Spielformen hervor, die ebenfalls als Exergames deklariert werden können. Diese werden im Weiteren daher als sekundäre Exergame-Genres zusammengefasst. Ab wie viel Bewegung ein Exergame ein Exergame ist, macht dabei nur eine der Entscheidungsebenen aus. Bereits vorab kann daher festgestellt werden, dass der Begriff des Exergames, mit dem allen Exergames gemeinsamen Aspekt der Bewegung, ein Metagenre innerhalb aller digitalen Spiele bezeichnet, das sich behelfsmäßig durch
1
Interessanterweise werden Trainingsspiele im Gegenzug oftmals eher als Serious Games oder Simulationen bezeichnet, ein Umstand, der hier nur erwähnt sein soll. Die Emphase auf dem Trainings- und Übungsbegriff ist dabei im Wesentlichen Marketingstrategien des Genres geschuldet, schließlich werden die meisten Exergames mit Argumenten des Körpertrainings und der Körperoptimierung beworben. Inwiefern diese in der Realität entscheidend sind oder ob nicht eher das Novum des Interfaces den Ausschlag für die Nutzung gegeben hat, muss hier ebenfalls offengelassen werden.
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einen engen Bezug der Spielhandlung2 zur körperlichen Bewegung der Spieler kennzeichnen lässt, sofern dieses zur Kennzeichnung eines Genres schon ausreichend ist – was nicht der Fall ist. Zur genaueren Analyse der Verhältnisse wird im Folgenden das Metagenre Exergames daraufhin untersucht, was die inkludierten Spieltypen von Sport-, Adventure- oder Geschicklichkeits-Exergames et al. ausmacht und welche Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Bezüge, Techniken und historischen Kontexte man zwischen ihnen herstellen kann. Ergänzend dienen Tabellen mit Verkaufszahlen der Exergames im jeweiligen Genre der Orientierung hinsichtlich der Relevanz eines Genres.
T ECHNOSOZIALE R AHMENBEDINGUNGEN In den vergangenen Jahren haben wir eine stetige Ausdifferenzierung der digitalen Medien erlebt, sei es durch die Miniaturisierung der Hardware oder die Mobilisierung der Nutzungsformen. Neue Geschäftsmodelle und Vertriebswege entstanden, die durch Vernetzung einerseits sowie Virtualisierung andererseits ermöglicht wurden. Der Aufstieg der sogenannten sozialen Netze hat diesen Entwicklungen zusätzlich Vorschub geleistet. Darüber hinaus läutet mit dem technischen Fortschritt die zunehmende Verbreitung einer Vielzahl von Sensoren und Interfaces, mittels derer wir mit der digitalen Welt interagieren können, endgültig die Alltäglichkeit des Umgangs mit digitalen Medien ein. All diese Prozesse, die nur exemplarisch angerissen sein sollen, haben ihren Niederschlag auch in der »Als-Ob-Sphäre« des Spielens gefunden, denn jede der genannten Entwicklungen hatte und hat einen starken Einfluss und Effekt darauf, wie wir jetzt spielen und in Zukunft spielen werden. Auf Exergames bezogen sind dabei in der jüngeren Vergangenheit zwei Prozesse näher zu bedenken. Einerseits ist da die Entwicklung und massenhafte Verbreitung neuer Interfaces, mittels derer die Spieler mit den Spielwelten interagieren können. Beispielhaft dafür ist die Durchsetzung der Nintendo Wii, die durch neue Interfaces für eine Verbreitung des digitalen Spielens in Nutzergruppen sorgte, die bis dato mit digitalen Medien insgesamt und digitalen Spielen insbesondere keine oder wenig Berührungspunkte hatten, wie z.B. Alten oder auch Frauen. Zudem ist die kameragesteuerte Konsolen-Erweiterung Microsoft Kinect zu nennen sowie die zunehmende Durchsetzung von Touch-Steuerungen
2
Spielhandlung wird hier verstanden als das eigentliche Ausführen von Handlung im Spiel, nicht als Story.
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bei Smartphones durch das Apple iPhone oder die zunehmende Verbreitung von Touch-Gesten bei der Steuerung von interaktiven Systemen wie Pads, Laptops oder in Form von Microsoft Surface. All diesen technischen Interface-Neuerungen ist gemein, dass sie die Interaktion mit und mittels digitaler Medien wesentlich vereinfachen, indem die Steuerung grafischer Nutzerumgebungen durch Körperäußerungen unmittelbarer funktioniert als die hergebrachten symbolischen Interface-Operationen durch Maus, Tastatur und andere Controller herkömmlicher Bauart. Neben der Durchsetzung neuer Unmittelbarkeit und eines neuen userzentrierten Paradigmas im Anwendungs- und Interfacedesign spricht dieses zusätzliche Nutzergruppen an, die bisher nur widerstrebend von digitalen Medien, sei es spielerischer oder nicht-spielerischer Art, Gebrauch gemacht haben. Die Durchsetzung von Exergames wird dabei zweitens von einem gänzlich anders gearteten Prozess unterstützt, der abstrakt zu formulieren ist: der zunehmenden Selbst-Disziplinierung des Individuums als vorherrschende Machttechnik der Steuerung von Individuen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. In Anlehnung an den von Michel Foucault in Überwachen und Strafen beschriebenen Trend der kapitalistischen Gesellschaft zur Disziplinierung als vorherrschender Form der Steuerung des Individuums (im Gegensatz zu der vor dem 18. Jahrhundert dominierenden Machttechnik der Repression)3 könnte man argumentieren, dass dieser Prozess sich in der postmaterialistischen Gesellschaft in einer zunehmenden Selbst-Disziplinierung fortsetzt, die durch technische Gerätschaften ideal verstärkt wird. Denn wie immer wieder argumentiert wird, bedürfen die postmoderne Gesellschaft und deren wissenszentrierte Arbeit selbstmotivierter, sich selbststeuernder Individuen – und für diese Selbst-Steuerung im Sinne eines Selbst-Monitorings und Selbst-Controllings eignen sich die neuen digitalen Alltagsbegleiter zur zunehmenden Selbst-Optimierung und SelbstÜberwachung ideal. Digitale mobile Systeme wie Armbanduhren, Smartphones, Apps, mobile Websites und Wearable Devices geben uns Auskunft über uns selbst und unseren Status: Wie viele Schritte wir täglich laufen, wie es um unsere Kalorienzufuhr bestellt ist oder wie sich der BMI täglich verändert. Im Spielebereich helfen uns Spielsysteme wie Wii Fit oder EA Sports Active bei der täglichen spielerischen Selbststeuerung, Selbstoptimierung und Selbstdisziplinierung.4
3
Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993.
4
Zum Einstieg ins Thema sei die Seite www.quantifiedself.com empfohlen.
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Aus der Perspektive der Optimierung und Selbstkontrolle betrachtet wird deutlich, dass man es bei Exergames nicht mit einem akzidentiellen Randphänomen zu tun hat, sondern pars pro toto die Artefakte zentraler Prozesse untersucht werden, die die derzeitigen Umwälzungen am Ende der industriellen Kultur ausmachen. Freilich sollten diese beiden Prozesse hier nur zur Verdeutlichung des Kontextes der gegenwärtigen Entwicklungen angerissen werden. Eine weitergehende Untersuchung der Interface-Implikationen bzw. der Entwicklung der Selbst-Disziplinierung hinsichtlich von Exergaming und verwandten Phänomenen muss als Desiderat bezeichnet werden und wäre noch an anderer Stelle zu leisten. Was ist also der Fall? Im Folgenden wird zuerst eine Begriffsannäherung versucht, daraufhin werden Exergame-Genres unterschieden und beispielhaft deren Exponenten vorgestellt. Zuletzt wird darauf aufbauend untersucht, wie sich die eingangs erwähnte Definition von Exergames sind Bewegungsspiele mittels eines Kriterienrasters verfeinern ließe. Dazu wird ein entsprechender Vorschlag gemacht.
W AS
E XERGAMES ? Z WEITE A NNÄHERUNG P HÄNOMEN UND B EGRIFFSBILDUNG
SIND
AN DAS
Hilfsweise sollen an dieser Stelle Exergames als digitale Spiele bezeichnet werden, die zentrale Spielelemente enthalten, die durch signifikante Körperbewegungen gesteuert werden. Zentral bedeutet dabei, dass die Spielelemente nicht nur nebensächliche Funktionen für das Spiel erfüllen und auf anderen Wegen erreicht werden könnten. Signifikant bedeutet, dass die Bewegungsausübungen über die mindestnotwendigen Fingerbewegungen bei der Nutzung eines Controllers jedweder Art – Maus, Tastatur, Gamepad, Gitarre, Joystick oder Touchpad – hinausgehen müssen, damit nicht jegliche Fingerbewegung schon als Bewegung gewertet werden kann und damit alle Spiele Exergames wären. Das bedeutet in der Spielpraxis beispielsweise, dass durch die Beschleunigungskräfte, denen der Controller bei einer Spielerbewegung ausgesetzt werden muss, die Intensität einer Spielbewegung innerhalb des digitalen Spiels bestimmt wird – etwa die Schlagkraft und der Effét eines Balls beim Aufschlag im TennisSpiel durch signifikante Beschleunigungskräfte gesteuert wird. In Exergames werden die Spielhandlungen also weniger abstrakt bzw. symbolisch gesteuert, als das bei herkömmlichen digitalen Spielen der Fall ist, und das Interface wird
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ganz oder teilweise »natürlich«5. Denn bei normalen digitalen Spielen lösen symbolisch-abstrakte Handlungen wie »Drücke Taste Kreuz«, »Benutze rechte Maustaste« oder »Drücke Button B« eine konkrete Spielhandlung wie »Spring nach oben« aus. Das folgende Schema verdeutlicht die Relationen: Abbildung 1: Drei Typen von Spielsteuerungen
Wie aus der Grafik deutlich wird, ergeben sich drei Unterscheidungsausprägungen, wie Spiele derzeit gesteuert werden: Zuerst sind dabei die klassisch gesteuerten Spiele zu nennen, die bei weitem den größten Anteil an Spielsteuerungen im Markt ausmachen. Hierbei wird das Spiel durch symbolische InterfaceOperationen gesteuert, also Tastendrucke oder vergleichbare Operationen wie Touch-Gesten. Als zweites sind die bewegungsinduzierten Spielsteuerungen zu nennen, bei denen das Spiel durch die Bewegungs-Sensoren innerhalb eines Controllers gesteuert wird. Und die dritte Ausprägung finden wir bei den vollständig durch Körperbewegungen des Spielers gesteuerten Spielen; Das Sensorium zur Messung und Bewertung der Bewegungen des Spielers liegt hier nicht mehr im Controller, sondern besteht in einem System aus Kameras, Infrarot- oder Radar-Tiefensensoren, die den Raum vermessen und dadurch die Bewegungen der (Spieler-) Körper in ihm tracken und zur Spielsteuerung nutzen können. Sind damit aber alle Spiele Exergames benannt, die durch räumliche Controllerbewegungen oder Spielerbewegungen gesteuert werden? Ja, aber die Unter-
5
Vgl.: Freyermuth, Gundolf S.: »Der Big Bang digitaler Bildlichkeit. Zwölf Thesen und zwei Fragen.«, in: Ders./Lisa Gotto (Hg.), Bildwerte. Visualität in der digitalen Medienkultur, Bielefeld: transcript 2013, S. 287-333.
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scheidung reicht nicht aus. Denn dass man bei controllerbewegten Spielen nur von Exergames sprechen kann, wenn wir es mit sportlich ausgerichteten Bewegungen wie bei WII TENNIS6 zu tun haben, greift ebenfalls zu kurz, denn dann fielen alle weiter unten beschriebenen Adventure-, Action- oder Geschicklichkeitsspiele, die mindestens Exergame-Komponenten enthalten, ebenfalls aus dem Raster. Wie gezeigt werden wird, sind für die Feststellung, ob wir es mit einem Exergame zu tun haben, mehrere Kriterien sinnvoll und notwendig: So muss es sich mindestens um ein Spiel handeln, das alternativlos räumlich bewegungsinduzierte Spieloperationen beinhaltet, und die durch Bewegungen ausgelösten Spieloperationen müssen eine substantielle Bedeutung innerhalb des Spiels haben und damit konstitutiv für das Gamedesign sein. Dieses wird im Folgenden weiter ausgeführt.
E XERGAME -G ENRES Computerspiele-Genres werden in der Regel wenig trennscharf unterschieden: Mal definieren Genres sich auf inhaltlicher Ebene, z.B. bei Horror- oder SportSpielen, mal sind sie durch ihren Zweck bestimmt, z.B. bei Fitness-Spielen und Serious Games. Manchmal werden sie nach den primären Herausforderungsarten an die Fähigkeiten der Spieler zusammengefasst, z.B. bei Geschicklichkeits- oder Denkspielen. In anderen Fällen wird die Genrezugehörigkeit nach Prinzipien des Gamedesigns festgelegt, z.B. bei Strategie-, Action-, Jump&Run- und Platform-Games. Abbildung 2: Exergame-Genres mit Spiel-Beispielen
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Im Rahmen von WII SPORTS vertrieben, vgl: WII SPORTS, Nintendo EAD/Nintendo, 2006.
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Wie die Abbildung verdeutlicht, gibt es Exergames in nahezu allen Computerspiel-Genres. Exergames sind damit ein Metagenre, das ähnlich wie Serious Games7 funktioniert – beide können sich jedes Spielgenres bedienen, um die spezielle Form der Herausforderung und Vermittlung zu kommunizieren, die das jeweilige Metagenre ausmacht. Primäre Exergame-Genres Tanzspiele Tanzspiele sind neben Sport- und Fitness-Spielen eines der wichtigsten Exergame-Genres. Bevor sie durch Wii, Kinect und Move massenhaft in die Wohnzimmer einzogen, wurden sie meist mit eigens entworfener Hardware in Spielhallen gespielt. Seit 1998 und in einer Vielzahl von Nachfolgern und Weiterentwicklungen bis heute sind Dance Dance Revolution-Automaten in Spielhallen und Arcades essentieller Bestandteil des Unterhaltungsangebots. Bei Tanzspielen besteht die Herausforderung für die Spieler darin, sich möglichst passend zu einer eingespielten Musik zu bewegen. Um sich »passend« bewegen zu können, bekommen die Spieler visuelle Anweisungen auf dem Bildschirm angezeigt, die entsprechend einer festgelegten Choreographie vorgeben, welche Bewegungen auszuführen sind. Zudem werden in manchen Spielen die Bewegungen der Spieler visuell durch die Bewegungen der Spielfigur rückgekoppelt. Die Spieler spielen also das Spiel und sehen sich selbst als Avatar, während sie versuchen, zur Choreographie passend zu tanzen. So kontrolliert das Spiel den Spieler durch den zeitlichen Ablauf der angegebenen Anweisungen für die Dauer der Musik, und der Spieler steuert den Avatar durch seine Bewegungsformen und seinen Rhythmus und kontrolliert so die Spielausführung. Je nachdem, wie sehr die gegenseitige Kontrolle zueinander passt, sprich: wie gut der Spieler seine Bewegungen den Anweisungen der Choreographie anpasst, bekommt er mehr oder weniger Punkte gutgeschrieben. Inhaltlich kommt es bei Tanzspielen also meist darauf an, dass die Spieler im Takt und Rhythmus eine Choreographie an Bewegungsfolgen nachvollziehen müssen. Je genauer die Vorgaben nachvollzogen werden, desto schneller bzw. weiter können sie im Spiel fortschreiten, indem sie beispielsweise neue Musikstücke oder Tanzformen freischalten.
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Die Analogie ist zu verstehen, wenn man Serious Games hilfsweise als Metagenre definiert, in dem sich die Zugehörigkeit dadurch bestimmt, dass die Spiele neben ihrer spielerischen Grundstruktur zusätzlich einem weiteren Zweck wie der Vermittlung von Inhalten dienen.
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Als Sensoren fungieren im Wesentlichen Kameras mit visueller Bewegungserkennung und Tiefensensoren, die die Position des Spielers im Raum bestimmen. Hinzu kommen häufig Bodenkontaktflächen mit Druck- und Beschleunigungssensoren, die eine Steuerung durch Tanzbewegungen auch ohne ein visuelles Erkennungssystem ermöglichen. Als Drittes werden in einigen ExergameSystemen zusätzliche Bewegungsinformationen durch einen in der Hand gehaltenen Controller erfasst, der die Bewegungs-Raumrichtungen, Drehimpulse oder besondere Beschleunigungen ans Gamesystem übermittelt, so bei der Nintendo Wii oder Sony Playstation Move. Bei einem Blick in die Aufstellung der populärsten Spiele im diesem Genre8 fällt auf, dass sich verhältnismäßig wenige Hersteller die Top-Plätze teilen: Abbildung 3: Bestseller Tanzspiele
Man mag es bezeichnend finden, dass Tanzspiele vor dem heimischen Monitor anstatt in der Öffentlichkeit stattfinden und damit einen häufig bemühten Topos der Kritik an Computerspielen reproduzieren (»Spiele sind Eskapismus-Maschinen«) – man kann aber im Gegenteil auch argumentieren, dass Spiele nicht als Substitute, sondern Verlängerungen realweltlicher Erfahrungsschemata dienen: So suchen sich Tanzbegeisterte Tanzspiele aus, da sie ihr Interesse reflektieren und verlängern – so wie sich Sportinteressierte seit jeher zur Verlängerung ihrer Leidenschaft auch mit Sportspielen auseinandersetzen. Sportspiele Sportspiele haben eine überaus lange Genregeschichte und existieren seit Beginn der Geschichte elektronischer Spiele mit TENNIS FOR TWO (1958) als ihrem ers-
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Zu allen Daten und Spielen vgl: www.vgchartz.com, Stand: 9. Mai 2012.
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ten Exponent. Sportspiele definieren sich an erster Stelle durch ihr Sujet. Da sich das Genre thematisch definiert, beinhaltet es potentiell alle Spiele, die sich mit Sportarten jedweder Art auseinandersetzen – sei es Fußball, Basketball, Tennis, Golf oder Radball. Sportspiele sind im Gegensatz zu Tanzspielen nicht generell bewegungsgetriggert und in ihrer Geschichte in überwiegendem Maße keine Exergames gewesen. Es seien an dieser Stelle nur einige der Klassiker in den beliebtesten Sportarten erwähnt: TRACK&FIELD (Leichtathletik, Konami 1983), LEADERBOARD (Golf, Access Software 1986), SUMMER GAMES (Sommerolympiade, Epyx 1984), WINTER GAMES (Winterolympiade, Epyx 1985), KICK OFF (Fußball, Anco 1989), SENSIBLE SOCCER (Fußball, Sensible Software 1992), FIFA INTERNATIONAL SOCCER (Fußball, EA Sports 1993), GREAT COURTS 2 (Tennis, Blue Byte 1991), GRAND PRIX CIRCUIT (Autorennen, Accolade 1988) u.v.m. Bei den bewegungsgesteuerten Sportspielen werden, ähnlich wie bei Tanzspielen, die räumlichen Bewegungen des Controllers bzw. die Körperbewegungen des Spielers auf die Bewegungen des Avatars übertragen. Je nach Gamedesign der digital adaptierten Sportart sind die primären Herausforderungen für den Spieler unterschiedlich aufgebaut: So sind bei Tennisspielen oft der Rhythmus und die Präzision des Spiels relevant, wohingegen bei Golfspielen die kinetische Präzision sowie die Einschätzung der Umweltparameter und die Wahl passender Mittel entscheidend für ein erfolgreiches Spiel sind. Beim Boxen wiederum ist oft die körperliche Kondition des Spielers wichtig, da er permanent ruckartige Bewegungen vollziehen muss, welche Schlagfolgen simulieren – beim Skifahren wird hingegen die Balance-Kraft-Relation und Reaktionsfähigkeit des Spielers ausschlaggebend herausgefordert. Sportspiele motivieren, unabhängig vom Exergame-Design eines spezifischen Spiels, durch ihren Fokus auf den Wettkampf. Durch die Gewinnabsicht optimieren die Spieler iterativ ihre Fähigkeiten und verbessern die spieltaktischen Züge sowie die übergreifenden Strategien im Team. Das Zusammen- bzw. Gegeneinander-Spiel macht einen Großteil des Reizes von Sportspielen aus. Gegenwärtig zeichnet sich ab, dass Sport-Exergames sich eher auf Einzelsportarten wie Tennis, Golf, Fechten oder Bogenschießen konzentrieren und Mannschaftssportarten wie Fußball, Handball oder Basketball wohl aus Komplexitätsgründen den klassisch durch Tastendruck kontrollieren digitalen Spielen überlassen bleiben – wenn man von optionalen Bewegungs-Kontrollen wie bei FIFA 13 via Move einmal absieht. Sportspiele werden oft in Form von Minigame-Sammlungen vertrieben, beispielshaft erwähnt sei KINECT ADVENTURES, das als Bundle mit der KinectErweiterung für die Xbox 360 vertrieben wird, sowie das überaus erfolgreiche
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WII-SPORTS, das mit jeder verkauften Wii ausgeliefert wurde. Diese MinispielSammlungen enthalten meist mehrere, zeitlich wenig aufwändige sog. CasualGames, die untereinander inhaltlich und vom Gamedesign her nur lose miteinander verknüpft sind. Spielziele sind jeweils das Erreichen von möglichst vielen Punkten im Vergleich zu anderen Spielern und die sukzessive Verbesserung der eigenen Leistungen. Abbildung 4: Eine Auswahl der populärsten Sportspiele (Stand Mai 2013)
So spiegeln Sport-Exergames besonders den eingangs erwähnten gesellschaftlichen Trend zur Selbst-Herausforderung und Selbst-Optimierung wider – sind dabei aber gleichzeitig Simulakren analoger Betätigungsformen. Ebenfalls erwähnt werden muss, dass Sportspiele in der Form von sogenannten HealthGames, die meist dem Meta-Genre der Serious Games zugeordnet werden, in der Therapie oder Rehabilitation eine immer wichtigere Rolle einnehmen. Fitness-Spiele Der primäre Zweck von Fitness-Spielen besteht in der körperlichen Ertüchtigung des Spielers. Der Zweck des Spiels liegt damit außerhalb des Spieles selbst – das Spiel wird zum Trigger, Motivator und Kontrolleur für die Optimierung der körperlichen Funktionen und Fähigkeiten des Spielers. Es ist natürlich nicht so, dass ein Sportspiel nicht auch ein Fitness-Spiel sein kann, es soll hier nur anhand des primären Movens, das ein Genre konstituiert, unterschieden werden. Digitale Fitness-Spiele spiegeln den Trend zur sogenannten Gamification vieler Lebensbereiche und der externen Funktionalisierung spielerischer Strukturen wider. Bei Tanzspielen liegt der Fokus auf der zur Musik synchronisierten Bewegung, bei Sportspielen in der kompetitiven Auseinandersetzung und bei Fitness-Spielen in der körperlichen Ertüchtigung des Spielers. Bei FitnessSpielen wird der nebensächliche Charakter des Spiels durch die gamifizierten interaktiven Formate am deutlichsten: Das Spiel dient mit seinen Motivationsstrukturen von Regeln, Punkten und Feedback zur Strukturierung einer ansonsten nicht im gleichen Maße motivierenden Handlung – im konkreten Fall der
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Kompensation von intrinsischer Motivation zur sportlichen Betätigung durch extrinsische Motivatoren wie Punkte, Scores und Leistungskurven im Spiel. 9 Das Setup ist ähnlich wie bei Sport- und Tanzspielen: Controller, Kamera und Sensoren nehmen Bewegungen des Spielers auf und setzen diese im interaktiven Fitness-System visuell durch den Avatar in Spiel-Handlungen und Bewegungen um. Je nachdem, ob der Spieler Balance, Kraft, Präzision oder Ausdauer trainiert, sind die Aufgaben unterschiedlich gestaltet. Generell gilt: Je besser die Übungen absolviert werden, desto mehr Punkte gibt es. Leistungskurven, persönliche Bestleistungen und der (Online-) Vergleich mit anderen Fitness-Treibenden motivieren zusätzlich. Beispielhaft genannt seien EA SPORTS ACTIVE (Electronic Arts 2009), MOVE FITNESS (Playstation 3, Sony 2011) oder als Location-Based Game die soziale Lauf-App AROOKO (iPhone 2011).10 Abbildung 5: Eine Auswahl beliebter Fitness-Exergames
Häufig genannte Zwecke sind hierbei die Verbesserung der Reaktionsschnelligkeit, der Aufbau von Muskelkraft, Fettverbrennung, sowie die allgemeine Verbesserung von Konzentration und Kondition. Immer wieder werden zudem die besondere Beziehung von körperlicher und geistiger Fitness herausgestellt: Nur am Rande erwähnt sei der zeitlich parallel stattfindende Erfolg der Kognitionsund Rechentrainer in den vergangenen Jahren (allen voran von DR. KAWASHI-
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Dieser Trend ist unter Spiele-Entwicklern wie Theoretikern durchaus umstritten und wird teilweise heftig kritisiert.
10 AROKOO (Apple 2011, O: RDA/Vivity Labs) zu finden unter: www.arookoo .com/
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MAS GEHIRN JOGGING), die die sogenannte mentale Fitness der Spieler fördern wollen. Die »Spitze« der körperlichen und geistigen Optimierung wird bei Formaten erreicht, die Körper und Geist gleichzeitig trainieren wollen. Dabei entstehen teilweise so groteske Formate wie das BRAINBIKE11 – ein Fitnesstrainer, bei dem die Sportler während des Fahrradfahrens auf dem Fitnessbike gleichzeitig Mathematik- und Denkaufgaben via Touchscreen zu lösen haben. Es wird dabei eine wechselseitige positive Verstärkung der Trainingseffizienz behauptet, mittels derer es möglich sei, die körperliche wie mentale Fitness gleichzeitig zu trainieren und dadurch Zeit durch die Zusammenlegung von üblicherweise getrennt stattfindenden Tätigkeiten zu sparen. Es muss nicht weiter erwähnt werden, dass das primäre Movens bei einer solchen Entwicklung in der Selbst-Optimierung und damit in der Selbst-Disziplinierung zu suchen ist – ein Umstand, der in einer kultur-kritischen Analyse auf seine Effekte hin weiter zu untersuchen bzw. beobachten wäre.
Sekundäre Exergame-Genres Die bisher behandelten Exergame-Genres der Fitness- Sport- und Tanzspiele umfassen das, was derzeit meist unter Exergames aufgefasst wird. Bewegungssteuerungen finden sich jedoch nicht nur hier. Auch in einer Vielzahl anderer Genres wird mit Bewegungssteuerungen experimentiert oder diese ersetzen bereits gänzlich die herkömmliche Maus, Tastatur bzw. Gamepad-Steuerung. Action-Adventures Bei den sekundären Exergame-Formen wie Adventures und Action-Adventures werden oftmals Bewegungssteuerungen in überwiegend mittels Tastendruck kontrollierten Spiele eingeführt und beispielsweise in einer Sonder-Edition auf den Markt gebracht. Ein bekanntes Beispiel für diese Vorgehensweise ist die Move Edition von HEAVY RAIN (2010. Das Spiel war von Anfang an als MoveSpiel konzipiert, ist dann allerdings aus Termin- und Budgetgründen entgegen der ursprünglichen Intention zuerst mit klassischer Tastensteuerung via PS3Controller veröffentlich worden. Bereits in der herkömmlichen Version des Spiels ist die Steuerung nicht vollständig »gewöhnlich«, denn viele der Spielszenen werden durch Tastenbewegungen geleitet, die Bewegungsschemata von realen Handlungen nachempfinden und simulieren sollen. So müssen beispielsweise Faustschläge durch das »nach vorne/oben Schieben« des Steuerkreuzes ausgelöst
11 Online zu besichtigen unter: www.thebrainbike.com/
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werden, oder das Öffnen einer Tür benötigt eine Tastenbewegungsfolge, die vage an das Herunterdrücken einer Klinke erinnert (»Erst nach rechts unten drücken und dann in einem Bogen nach unten bzw. hinten ziehen«). Diese bereits in der normalen Edition vollzogenen Erweiterungen einer klassisch-symbolischen Action-Adventure-Steuerung werden in der später erschienenen sog. Move-Edition durch räumliche Controller-Bewegungen ergänzt bzw. ersetzt. So werden der Faustkampf oder das Öffnen einer Tür nicht mehr durch Bewegungsmuster des analogen rechten Steuerkreuzes ausgelöst, sondern durch die räumlichen Bewegungsmuster des Move-Controllers gesteuert, der Position und Bewegungsrichtung der Spielerhand oder -hände ans Sony-System überträgt. Ob und inwiefern diese Erweiterung von den Spielern geschätzt wurde, ist nicht eindeutig zu belegen. Die überwiegend guten bis sehr guten Beurteilungen des Hauptspiels (Metacritic-Score von 87)12 wurden tendenziell auch auf die Move-Edition übertragen (die allerdings nur einen Metacritic-Score von 72 erreicht).13 So überwog gegenüber der Move-Edition in den meisten Rezensionen freundliches Wohlwollen, im Sinne eines »Warum nicht?«, die Verkaufszahlen sprechen allerdings eine andere Sprache: Die normale Edition wurde bis Ende 2012 mehr als zwei Millionen mal verkauft14, die Move-Edition kam im Gegensatz dazu nur auf ca. 40000 Auslieferungen.15 Zudem muss erwähnt werden, dass optionale oder obligatorische ExergameKomponenten besonders zum Verkaufsstart der beiden 2010 auf dem Massenmarkt erschienenen Exergame-Systeme Sony Playstation Move und Microsoft Kinect im Marketing der Spiele betont worden sind. Es zeichnet sich jedoch ab, dass die klassischen Game-Genres aus Gamedesign- und Usability-Gründen (z.B. Nutzungsbequemlichkeit, hakelige Steuerung, fehlerhafte Positionserkennung der Spieler etc.) weiterhin tastendruckkontrolliert bleiben werden. Ein anderes Beispiel der Nutzung von Controller-Bewegungen zur punktuellen Kontrolle von Game-Elementen in einem ansonsten herkömmlich gesteuerten Spiel ist das mit großem Aufwand zum Verkaufsstart der PS3 produzierte HEAVENLY SWORD (2007).16 In diesem actionbetonten Hack&Slay Action-
12 http://www.metacritic.com/game/playstation-3/heavy-rain 13 http://www.metacritic.com/game/playstation-3/heavy-rain-move-edition 14 www.vgchartz.com/game/7703/heavy-rain/ 15 www.vgchartz.com/game/47467/heavy-rain-move-edition/ 16 Die Hauptrolle des Antagonisten übernahm als Motion-Capture-Schauspieler der aus Peter Jacksons THE LORD OF THE RINGS bekannte Gollum-Darsteller Andy Serkis. Vgl.: HEAVENLY SWORD (Sony CE 2007, O: Ninja Theory).
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Adventure, das zu 95% herkömmlich gesteuert wird, sind Passagen enthalten, in denen der Spieler Flugobjekte (Artilleriegeschosse, Bogenpfeile, Armbrustpfeile) vermittels der Neigung des Controllers bzw. dessen Neigungsgrad ins Ziel lenkt. Ähnliche Steuerungs-Gimmicks oder Prä-Exergame-Elemente lassen sich auch in GRAND THEFT AUTO IV beobachten: Hier richtet der Spieler durch Neigung des Controllers die Balance von Motorrädern oder BMX-Bikes aus. Komplizierter ist die Steuerung eines Hubschraubers, die in allen Raumrichtungen zu vollziehen ist – wie in der realen Welt ist die Steuerung eines Hubschraubers auch im Spiel durch Exergame-Komponenten eine gehobene Aufgabe. Diese Beispiele verdeutlichen, dass es – abgesehen vom Ausmaß der Einbindung in die Spielmechanik – keinen prinzipiellen Unterschied gibt zwischen der Bewegungssteuerung eines Sport-Exergames, wie bei WII-SPORTS z.B. beim Tennis-Aufschlag, und der Steuerung eines Hubschraubers in GTA IV, dem Decken eines Tischs in HEAVY RAIN oder der Lenkung eines Kanonenschusses in HEAVENLY SWORD. In allen Fällen geben Neigung, Raumrichtung und Beschleunigung sowie möglicherweise Drehimpulse die Ausführung der Aktion vor. Diese neuen Steuerungen, die über das Ausmessen von Controllerbewegungen durch Beschleunigungs- und Gyrosensoren der derzeit (noch) aktuellen Konsolengeneration die ersten Implementationen von Bewegungssteuerungen im aktuellen Massenmarkt bildeten, dienten dem Erfahrungsaufbau von Game-Designern und Hardware-Entwicklern und wurden in den genannten Spielen wie GTA IV oder HEAVENLY SWORD noch eher vorsichtig eingesetzt. Man kann anhand dieser Beispiele wohl behaupten, dass der Einsatz der Bewegungssteuerung eher eine indirekte inhaltliche Entsprechung im Spiel hatte (»ausbalancieren«), bei HEAVY RAIN hingegen die Bewegungsrichtungen schon wesentlich direkter den Bewegungen der Spielfigur entsprechen (»Tisch decken«, »Zuschlagen«). Dieser Logik folgend ist es womöglich sinnvoll zu unterscheiden, welchen Grad einer inhaltlichen Entsprechung das Bewegungsmuster innerhalb des Spiels hat – dazu weiter unten mehr. Wenngleich davon auszugehen ist, dass Action-Adventures in überwiegendem Maße klassisch gesteuert bleiben werden, ist deutlich, dass es immer mehr Versuche gibt, die herkömmliche Steuerung zu ergänzen. Ein letztes Beispiel einer Grenzüberschreitung nicht nur hinsichtlich der üblichen Steuerung im Genre, sondern auch hinsichtlich geschmacklicher Konventionen und gewaltästhetischer Bedenken stellt das in Deutschland nicht erschienene, gut via Bewegungssteuerung zu spielende MADWORLD dar.17 Es sei nur angedeutet, dass die Umsetzung der Bewegung des Spielkontrollers ähnlich wie
17 Let’s Play unter: www.youtube.com/watch?v=VjPrLq6sUWI
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bei HEAVY RAIN direkterer Natur ist: Die Bewegungsrichtungen der Spielerbewegungen werden in direkte Entsprechungen der Avatarbewegungen übersetzt, so beim virtuellen Austeilen von Upper-Cuts oder beim Zersägen von Gegnern mittels Motorsäge. Action-Spiele Action-Spiele definieren sich im Wesentlichen dadurch, dass die primäre Handlungsfigur in virtueller Gewaltausübung besteht. Unter Gamedesign-Aspekten betrachtet besteht das grundlegende Handlungsmuster im Zielen auf etwas oder jemanden, gefolgt von vernichtender Interaktion meist ballistischer Art. Dieses einfache Muster des Selektierens und Eliminierens von bestimmten Zielen ist im Laufe der Games-Geschichte immer wieder durch Bewegungssteuerungen unterstützt worden. So wurden die Ziel-Funktionen (Fadenkreuz o.ä. auf das Ziel bewegen/aus verschiedenen Gegnern selektieren) auf eine controllerbasierte Bewegungssteuerung übertragen, beispielsweise auf LightGuns in Spielhallen. Mittels LightGuns konnten, in der Ära der auf Braunschen Röhren basierenden Fernsehgeräte und Monitore, bewegungsbasierte Zielsysteme gebaut werden, die in vielen Spielhallen und Arcades standen. Im Heimbereich hingegen ist das Action-Genre nach wie vor eines der am klassischsten kontrollierten Spiel-Genres. Unmittelbarkeit, Präzision und Reaktionsschnelligkeit der Steuerung sind im Action-Genre (und Echtzeit-Strategiespielen) ausschlaggebend für den Erfolg der Spieler. Die meisten Action-Spiele werden daher weiterhin überwiegend mit Maus, Gamepad, Controller, Tastatur und früher einmal Joysticks gespielt. Auf Exergames bezogen bedeutet das meistens, dass analog zu den frühen Spielerfahrungen räumliche Controllerbewegungen zum Zielen, Schießen, Fechten, Nachladen und ggf. zur Bewegung der Spielfigur genutzt werden. Im Fall von Kinect-Spielen geht das so weit, dass die gesamten Spielerkörper abgetastet werden und die Spieler in Echtzeit durch reine Arm- und Handbewegungen die Erfassung und Auswahl der Gegner vornehmen – so zu erfahren beispielweise beim 2011 erschienenen, visuell herausragenden CHILD OF EDEN auf der Xbox 360 mit Kinect-Steuerung. Es wird also selten die gesamte Spielsteuerung bei Exergame-Actionspielen auf körperliche Bewegung appliziert – sondern zumeist nur eine Komponente des Gamedesigns auf körperbezogene Steuerungen ausgerichtet. Geschicklichkeitsspiele Geschicklichkeitsspiele werden seit Beginn der Geschichte digitaler Spiele auf allen Spieleplattformen gespielt. Zentrale Herausforderung für die Spieler ist
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hier meistens die Feinjustierung und das exakte Timing der Avatarbewegungen durch wohltarierten Einsatz der grob- oder feinmotorischen Körperkräfte des Spielers. Geschicklichkeitsspiele haben eine lange Genregeschichte, so mussten bereits auf dem C64 Kugeln und Kreisel durch Labyrinthe manövriert werden; beispielhaft genannt seien MARBLE MADNESS und SPINDIZZY. Da sich Geschicklichkeit und Feinmotorik der Spieler durch jedes Interface herausfordern lassen – ganz gleich, ob durch Joystick, Maus, Tastatur oder Touchscreen –, ist dieses Grundmuster zu allen Zeiten der Geschichte ein Gestaltungselement digitaler Spiele gewesen. Allerdings: Je variabler die Interfaces geworden sind, desto herausfordernder sind auch die Möglichkeiten, Geschicklichkeitsspiele zu entwerfen. Geschicklichkeitsspiele erleben durch die verhältnismäßig neuen mobilen oder pseudomobilen18 Plattformen der Smartphones und Tablets einen Aufschwung. So haben die neuen massenhaft verbauten Neigungs- und Orientierungssensoren es ermöglicht, dass die Spieler bei Geschicklichkeitsspielen wesentlich unmittelbarer ihre feinmotorischen Fähigkeiten testen können, als dies bei klassischen, knopfdruckbasierten Interfaces der Fall war. Ein paradigmatisches Beispiel für Geschicklichkeitsspiele generell ist das physische Kugeltablettspiel LABYRINTH, das seine digitale Entsprechung ideal auf dem iPad fand, oder, etwas anders umgesetzt, im KUGELBALLETT der Balancespiele von WII FIT. Umgekehrt betrachtet vereinfachen die neueren Bewegungs-, Beschleunigungs-, Touch- und Neigungssensoren auch den Zugang zu Geschicklichkeitsspielen, da der Spieler seine Bewegungs- und Koordinations-Fähigkeiten unmittelbar unter Beweis stellen kann und nicht erst den Controller und die durch ihn vermittelte Steuerung des Spiels meistern muss, bevor er sich der eigentlichen Herausforderung des Geschicklichkeitsspiels stellen kann. Sukzessiv werden die Herausforderungen bewegungsgesteuerter Spiele so unmittelbar wie jene ihrer materiellen Vorbilder, der Holzspielzeuge – sie sind dabei aber durch die Softwarebasiertheit ungleich variabler in ihren Möglichkeiten, Herausforderungen für die Spieler bereitzustellen. In Geschicklichkeitsspielen steht also meistens keine schweißtreibende, grobmotorische Körperbewegung im Zentrum der Spielsteuerung, sondern im
18 Mit pseudomobil soll darauf hingewiesen werden, dass viele sogenannten mobilen Endgeräte wie Tablets oder Smartphones interessanterweise sehr häufig in stationären Kontexten genutzt werden, wie auf dem Sofa zu Hause. Der Begriff der mobilen Plattformen täuscht über diesen Fakt hinweg und suggeriert eine überwiegend mobile Nutzungsweise unterwegs und draußen.
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Gegenteil die minimalen, leichten, vorsichtig tarierten Veränderungen von beispielsweise Gleichgewichtszuständen. Es stellt sich an dieser Stelle erneut die Frage, ob nur ein Spiel ein Exergame sei, bei dem vermittels des gesamten Körpers das Gleichgewicht austariert wird wie beim KUGELTABLETT – oder ob auch eine Ausbalancierung eines iPhones auf dem Schoß ausreicht , das Spiel als Exergame bezeichnen zu können. Das Problems einer Grenzziehung zwischen Exergames und Nicht-Exergames Am Beispiel eines der ersten kommerziell vertriebenen Augmented-RealityGames, dem sogenannten EYEPET, soll weiter verdeutlicht werden, dass die Grenze zwischen Exergames und anderen bewegungsgesteuerten Formaten auf weiteren Ebenen fließend verläuft. Bei EYEPET besteht die Aufgabe des Spielers darin ein virtuelles, nicht eindeutig zu identifizierendes Kleintier (ähnlich einem sogenannten Monchichi) zu pflegen, streicheln, füttern, waschen, pflegen – ähnlich bekannt von LITTLE COMPUTER PEOPLE auf dem C64, TAMAGOTCHI auf dedizierter Hardware oder NINTENDOGS auf dem Nintendo DS. Was EYEPET von den vorgenannten wesentlich unterscheidet, ist, dass die Interaktion mit dem virtuellen Zögling mittels einer Zubehör-Video-Kamera der PS3 stattfindet (dem sogenannten Eyetoy, daher leitet sich der Spielname ab). Über Pappkarten, die mit grafischen Mustern bedruckt sind, interagiert der Spieler mit dem Spiel. Wenn er beispielsweise eine mit einem Dreieck bedruckte Codekarte in die Kamera hält, sieht er innerhalb des Spiels, dass sie einen Napf mit Futter, eine Seife oder einen Kamm repräsentiert. Je nach Spielkontext kann der Inhalt bei gleichem Symbol variieren und umgekehrt können auch unterschiedliche Symbole ähnliche Inhalte repräsentieren. Diese Hybridform aus Pseudokontroller und Spielerbewegung interagiert also deutlich durch körperliche Bewegungen mit dem Spiel, die innerhalb des Spiels Bedeutung erhalten – von einem Exergame würde man aber dennoch nicht sprechen, selbst wenn die Bewegungssteuerung alternativlos ist und nicht umgangen werden kann. Auf der Gegenseite festzustellen, dass man bei controllerbewegten Spielen nur dann von Exergames sprechen kann, wenn wir es mit sportlich ausgerichteten Bewegungen wie bei WII TENNIS zu tun haben, greift ebenfalls zu kurz, denn dann fielen alle vorher beschriebenen Adventure-, Action- oder Geschicklichkeitsspiele ebenfalls aus dem Raster. Warum aber sind beide Zuordnungen nicht richtig? Spätestens hier wird deutlich, dass für die Feststellung, ob wir es mit einem Exergame zu tun haben, mindestens zwei Kriterien sinnvoll und notwendig sind: Es muss sich einerseits
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um ein Spiel handeln, das alternativlos räumlich bewegungsinduzierte Spieloperationen beinhaltet, und andererseits müssen die durch Bewegungen ausgelösten Spieloperationen eine substantielle Bedeutung innerhalb des Spiels besitzen und damit konstitutiv für das Gamedesign sein. Auf EYEPET bezogen bedeutet das, dass man es eher mit einem alternativen Interface zu tun hat, das wegen seines damaligen Neuheitswerts eines kamerakontrollierten Augmented-Reality-Spiels bekannt wurde. Die Bewegung vor der Kamera als solche hatte aber innerhalb des Spiels keine weitere bedeutsame Entsprechung; es handelt sich also eher um ein Gimmick als ein relevantes Exergame.
Z USAMMENFASSUNG
UND
B EGRIFFSEINGRENZUNG
Sind also alle Spiele Exergames, die durch räumliche Controller- oder Spielerbewegungen gesteuert werden? Ja, aber die Unterscheidung reicht nicht aus. Wie gezeigt wurde, muss für eine genaue Abgrenzung einbezogen werden, ob Alternativen zur bewegungsinduzierten Interface-Operation angeboten werden. Die Frage, ob der Controller selbst bzw. der Spielerkörper bewegt werden muss oder es Alternativen gibt, ohne räumliche Bewegung im Spiel agieren zu können, entscheidet zumindest darüber, ob das Spiel darauf ausgelegt ist, primär als Exergame wahrgenommen zu werden oder nur optionale Exergame-Komponenten ins Spieldesign aufgenommen wurden. Zudem ist als drittes relevant, welche Bedeutung die ausgelöste Spieloperation im Gesamtkontext des Spiels einnimmt. Zu untersuchen ist dabei, ob die Bewegung eine substantielle Spieloperation oder akzidentielle, nebensächliche Elemente für den inhaltlichen Fortgang des Spiels auslöst, gewissermaßen nur eine nette Dreingabe für das Gamedesign bedeutet. Entscheidend dabei ist gerade das Kriterium des inhaltlichen Bezugs; aber auch die Frage der Relevanz der Bewegungssteuerung kann nur im Vergleich mit anderen Spielen, im Kontext der Genrekonventionen und der damit verbundenen Erwartungen der Spieler beantwortet werden. Sie sind damit historisch veränderlich – erst zusammengenommen entscheidet sich fallweise und zeitpunktbezogen, ob es sich jeweils um ein Exergame handelt oder nicht. Wie deutlich wurde, bilden Exergames kein eigenes Computerspielgenre, sondern eine Kategorie von Spielen, die nicht zwingend deckungsgleich mit
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Game-Genres wie Adventures, Sportspielen oder Jump&Runs sind19, sondern sich durch die Art des Interfaces sowie durch die inhaltliche Einbettung der Bewegungen im Spiel auszeichnen.
F AZIT
UND
A USBLICK
In diesem Aufsatz ist deutlich geworden, dass Exergames ein Metagenre von digitalen Spielen bilden, das sich durch mehrere Kriterien auszeichnet. Dementsprechend kann nur fallweise entschieden werden, was genau das Exergame ausmacht oder nicht. Es gibt mehrere Fragen, mit denen man trennscharf eine Unterscheidung von Exergames und Nicht-Exergames vornehmen kann. So müssen mindestens die ersten drei Kriterien erfüllt sein, um ein Spiel als Exergame bezeichnen zu können: 1. Notwendigkeits-Kriterium: Es handelt sich bei der Spielsteuerung um eine alternativlos räumlich-bewegungsinduzierte Spieloperation. 2. Bewegungsqualitäts-Kriterium: Das angestrebte Ausmaß der für das Spiel benötigten Bewegungen ist die maximale Aktion. 3. Signifikanz-Kriterium: Die durch die Bewegungen ausgelösten Spieloperationen haben eine substantielle Bedeutung innerhalb des Spiels und sind damit konstitutiv für das Gamedesign und Spielerleben. 4. Semantisches Kriterium (optionales Qualitäts-Kriterium): Es gibt einen semantischen Konnex zwischen der Bewegung und ihrer Bedeutung: Die Bewegungsmuster funktionieren im Spiel analog zu realen Bewegungshandlungen oder die Bewegungsmuster haben im Spiel zumindest eine indirekte Entsprechung und sind nicht nur arbiträre sensorische Trigger. Zudem wurden Exergames in den größeren Zusammenhang einer zunehmenden Selbst-Disziplinierung der Gesellschaft und darin als beispielhafter Exponent betrachtet.
19 Analog zur Kritik von Irmela Schneider an Genre-Begriffen im Film und TV wäre eine Kritik an den Genre-Konventionen digitaler Spiele ebenfalls zu applizieren. (Vgl. Schneider, Irmela: »Genre, Gender, Medien. Eine historische Skizze und ein beobachtungstheoretischer Vorschlag«, in: Claudia Liebrand/Ines Steiner (Hg.), Hollywood hybrid. Genre und Gender im zeitgenössischen Mainstream-Film, Marburg: Schüren 2004, S. 16-28.) Von einer solchen Kritik des Genrebegriffs wird hier jedoch aus Platzgründen abgesehen.
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Wenn man also über die Zukunft von Exergame-Formaten nachdenken möchte, bieten sich mehrere Perspektiven an. Auf der rein marktanalytischen Ebene machen die Verkaufszahlen der Wii (96 Millionen weltweit), von Playstation Move (mehr als 10,5 Millionen) und Microsoft Kinect (mehr als 18 Millionen)20 deutlich, dass nicht nur ein Bedarf an bewegungsinduziertem Spielen und neuen Interfaces bestanden hat bzw. geweckt wurde, sondern dass dieser Trend substantielle Verkaufszahlen nach sich ziehen konnte. Sobald man allerdings genauer hinschaut und die Verkaufszahlen der Hardware mit den Verkaufszahlen der für diese Exergame-Hardware veröffentlichten Spiele vergleicht, wird deutlich, dass die Plattformhalter, also die Hardwarehersteller, die erfolgreichsten Spiele im Wesentlichen selber geliefert haben – und das oft sogar im Bundle mit der verkauften Hardware. Auf dem Massen-Markt sind Exergames also, abgesehen von den durch Plattform-Halter veröffentlichten Spielen, nicht überaus erfolgreich gewesen, insbesondere wenn man von Tanzspielen absieht. Zweitens ist zu konstatieren, dass vor allem der Bereich der Sport- und Fitnessspiele seit einiger Zeit einen Boom auf den mobilen Plattformen erlebt – der skizzierte Trend des »Self-Monitoring« greift dabei den Marketing- und PRBotschaften der Branche unter die Arme, und es entstehen hybride Formate auf mobilen Plattformen, die mittels Smartphone, Pad, mobiler Konsole oder Laptop-Second-Screen-Apps zu mobilen Lebens- und Körperoptimatoren werden, die wir mit uns herumgetragen. Dabei ist die spielerische Anwendung nur eine weitere Facette, die der Wirklichkeit des Self-Monitoring abgewonnen wird. Um die Perspektive zu weiten: In Zukunft hätte Forschung über Exergames zwingend mobile Formate einzubeziehen. Denn durch körperliche Bewegung entstehen auch Spielsituationen, wenn der Körper nicht an einem fest definierten Ort – zu Hause oder in einer Institution – vor oder auf einer sensorischen Apparatur zur Spielsteuerung steht. Bewegung findet in diesem Fall mit der Apparatur zusammen in der Umwelt statt. Angesprochen sind damit die zehntausende Apps, Location-Based Games, Pervasive Games oder deren historische Vorformen digital basierter Outdoor-Games, wie beispielsweise das sogenannte Geocaching. Hier besteht das Exergaming darin, dass die Spieler sich in der realen Welt bewegen, sich womöglich sogar verausgaben und dabei ihre Bewegungen getrackt werden: Alle vorgenannten Kriterien eines digitalen Exergames sind erfüllt – und der Analytiker freut sich über neue Möglichkeiten. Vor diesem Hintergrund scheint die Marktbegrenzung nicht nur durch die Plattformhalter künstlich hervorgebracht, sondern auch systemimmanent zu be-
20 Alle hier genannten Marktzahlen basieren auf www.vgchartz.com, Stand: 9. Mai 2012.
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stehen. Denn entsprechend dem Bedürfnis, das mit Exergames gestillt wird, ist es nicht zwingend notwendig, eine unendliche Anzahl an Fitness-Exergames zu besitzen – womit der Markt deutlich begrenzt ist. Da der primäre Zweck von Fitness-Exergames außerhalb des Spieles in der Kontrolle der körperlichen Fitness (und damit der Kontrolle des Körpers) besteht, ist schnell klar, dass dafür ein oder zwei Produkte ausreichen. Das schlichte Argument lautet: Körperkontrolle nutzt sich nicht ab, der Wiederspielwert bleibt hoch, weil der Körper ein »widerspenstig Ding« ist und bleibt. Aus Gamedesign-Perspektive betrachtet ist der Körper ein prozedurales und generatives Hindernis – aus Spielerperspektive nutzt sich diese Hürde jedoch als ehemals neue und repetitive Herausforderungsinstanz auch langsam ab. In den weiteren Kontext der Selbst-Disziplinierung und dazu passender digitaler Formate lassen sich Exergames jedoch ohne weiteres einordnen; es ist also davon auszugehen, dass dazu passenden Formaten insbesondere in mobiler Form eine glänzende Zukunft bevorsteht.
L ITERATUR Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993. Freyermuth, Gundolf S.: »Der Big Bang digitaler Bildlichkeit. Zwölf Thesen und zwei Fragen«, in: Ders./Lisa Gotto (Hg.), Bildwerte. Visualität in der digitalen Medienkultur, Bielefeld: transcript 2013, S. 287-333. Schneider, Irmela: »Genre, Gender, Medien. Eine historische Skizze und ein beobachtungstheoretischer Vorschlag«, in: Claudia Liebrand/Ines Steiner (Hg.), Hollywood hybrid. Genre und Gender im zeitgenössischen Mainstream-Film, Marburg: Schüren 2004, S. 16-28.
F ILME LORD OF THE RINGS (USA 2001, R: Peter Jackson)
C OMPUTERSPIELE AROKOO (Apple 2011, O: RDA/Vivity Labs) CHILD OF EDEN (Ubisoft 2011, O: Q Entertainment)
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DANCE CENTRAL (MTV Games, Microsoft Game Studios 2010, O: Harmonix Music Systems) DANCE DANCE REVOLUTION (Konami 1998, O: Konami) DANCE DANCE REVOLUTION EXTREME (Konami 2009, O: Konami) DANCE DANCE REVOLUTION: HOTTEST PARTY (Konami 2007, O: Konami) DANCE DANCE REVOLUTION X2 (Konami 2009, O: Konami) DR. KAWASHIMAS GEHIRN-JOGGING (Nintendo 2005, O: Nintendo) EA SPORTS ACTIVE (EA Sports 2009, O: EA Canada) EA SPORTS ACTIVE 2 (EA Sports 2010, O: EA Canada) EYETOY KINETIC (Sony CE 2005, O: Sony CE London/Nike Motionworks) EYEPET (Sony CE 2009, O: Sony Worldwide Studios) FIFA INTERNATIONAL SOCCER (EA Sports 1993, O: EA Sports) FIFA 13 (Electronic Arts 2012, O: EA Canada) GET FIT WITH MEL B (Deep Silver/ Black Bean Games 2010, O: Lightning Fish) GRAND PRIX CIRCUIT (Accolade 1988, O: Random Access /Distinctive Software) GRAND THEFT AUTO IV (Rockstar Games 2008, O: Rockstar North) GREAT COURTS 2 (Ubisoft 1991, O: Blue Byte) HEAVY RAIN MOVE EDITION (Sony CE 2010, O: Quantic Dream) HEAVENLY SWORD (Sony CE 2007, O: Ninja Theory) INGRESS (Google 2012, O: NianticLabs@Google) JUST DANCE (Ubisoft 2009, O: Ubisoft Paris) JUST DANCE 2 (Ubisoft 2010, O: Ubisoft Paris) JUST DANCE 3 (Ubisoft 2011, O: Ubisoft Paris) JUST DANCE KIDS (Ubisoft 2010, O: Land Ho) KICK OFF (Anco/Imageneer 1989, O: Dino Dini) KINECT ADVENTURES (Microsoft Game Studios 2010, O: Good Science Studio) KINECT SPORTS (Microsoft Game Studios 2010, O: Rare) LEADERBOARD (Access Software 1986, O: Bruce Carver, Roger Carver) LITTLE COMPUTER PEOPLE (Activison 1985, O: Activision) MARIO & SONIC AT THE OLYMPIC GAMES (Nintendo/Sega 2007, O: Sega Sports R&D) MARBLE MADNESS (Atari 1984, O: Atari Games) MADWORLD (Sega 2009, O: Platinum Games) MOVE FITNESS (Sony CE 2011, O: Coldwood Interactive) NINTENDOGS (Nintendo 2005, O: Nintendo EAD) SENSIBLE SOCCER (Renegade 1992, O: Sensible Software) SUMMER GAMES (U.S. Gold 1984, O: Epyx) SPINDIZZY (Activision 1986, O: Electric Dreams Software) TAMAGOTCHI (Bandai 1996, O: Aki Maita)
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TRACK&FIELD (Konami 1983, O: Konami) WII FIT (Nintendo 2007, O: Nintendo EAD) WII FIT PLUS (Nintendo 2009, O: Nintendo EAD) WII SPORTS (Nintendo 2006, O: Nintendo EAD) WII SPORTS RESORT (Nintendo 2009, O: Nintendo EAD) WINTER GAMES (U.S. Gold 1985, O: Epyx) ZUMBA FITNESS (Majesco Entertainment/505 Games 2010, O: Pipeworks Software)
B RETTSPIELE HOLZ LABYRINTH DELUXE (The Toy Company 2004)
Wie viel Sport steckt wirklich in digitalen Spielen? Entwurf einer Taxonomie1
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1 A BSTRACT »Sport« ist eine gesellschaftlich hoch geschätzte Aktivität. Mit dem Sport verbinden viele Menschen Gesundheit, Vitalität, Attraktivität, Gemeinschaft oder auch Leistung, je nach Ausprägung und Fasson. Vor dem Hintergrund eines umfänglichen, breiten und positiv konnotierten Ansatzes von Sport versteht sich, dass viele Industrien oder Institutionen z.B. über Werbung oder andere Imagetransferansätze vom Sport profitieren wollen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei auch die medial vermittelte Aufmerksamkeit auf und durch den (Leistungs-) Sport, wie im Jahr 2012 sowohl die Fußballeuropameisterschaft als auch die olympischen Spiele in London belegten. Umgekehrt wird weitestgehend nicht untersucht, welche Rolle Sport als interaktiver Inhalt eigentlich im Zusammenhang mit neuen Medien spielt (Internet, Mobile Media, digitale Spiele), womit nicht der Vergleich einzelner realer und virtueller Sportarten gemeint ist, sondern eine generellere Einordnung insbesondere mit dem Ausblick auf die Gestaltung digitaler Sportspiele. Dieser Aufsatz stellt die ganz konkrete Frage: Wie viel Sport steckt eigentlich in digitalen Spielen? Anhand von konkreten Beispielen sowie einer generellen Marktbeschreibung wird dazu eine Taxonomie entwickelt, die eine analytische Herangehens-
1
Der Text ist aus dem Englischen übersetzte, stark überarbeitete und umfänglich erweiterte Fassung von Müller-Lietzkow, Jörg: »How much Sport is in Sports Games?«, in: Conference Proceedings IGIC-Conference Rochester New York, September 2012 dar.
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weise an diese Fragestellung erlaubt. Es zeigt sich dabei, dass aufgrund dieser Taxonomie die Antwort auf die Leitfrage deutlich gemischter ausfällt, als ein erster Gedanke vermuten ließe. Die impulsive Antwort würde vermutlich negieren, dass digitale Spiele »Sport« im landläufigen Sinne physischer Ertüchtigung beinhalten. Dies kann aber klar widerlegt werden. Auf Basis einer marktbetrachtenden Analyse werden weitere, dezidierte Forschungsfragen als Ergebnis entwickelt, die diesem wachsenden Phänomen gerecht werden. Darüber hinaus wird ein kurzer Ausblick auf mögliche praktische Konsequenzen für die Entwicklung digitaler Spiele in diesem Zusammenhang präsentiert, der u.a. die wachsende Kategorie der Exergames2 berücksichtigt.
2 E INLEITUNG : V ON G AME N ERDS UND DEM S ELBSTBILD DER I NDUSTRIE 1984; Samstag 18:30; Flimmern im Kinderzimmer; plötzlicher Torjubel einer ersten Stimme, dann, wenige Minuten später, einer anderen Stimme. Eine erste Vermutung, dass zwei Fans ein Spiel ihrer beiden Lieblingsmannschaften, die in der Bundesliga aufeinandertreffen, in der Sportschau ansehen, wäre durchaus plausibel in den 1980er-Jahren. In Wahrheit aber saßen zwei Freunde dort mit einem Competition Pro Joystick3 ausgestattet und spielten weiße gegen rote Kicker (für München und Schalke) bei INTERNATIONAL SOCCER auf dem Fernseher mit einem C64. Und wenn die zehnte Partie immer noch kein Ergebnis zufriedenstellender Natur lieferte, wurde die Schlacht auf SUMMER GAMES ausgeweitet, bis die Microswitches der Joysticks im Zweifel kapitulierten. Offenkundig musste man kein Spitzenathlet sein, um bei den virtuellen olympischen Spielen damals Goldmedaillen zu gewinnen oder Meister in der Fußball-Liga zu werden. Heute würde man uns vielleicht als Nerds bezeichnen, damals waren wir Pioniere. Geblieben ist aber, gut 30 Jahre später, die große Begeisterung der Computerund Videospieler für jegliche Form von Sportspielen. Allerdings sind durch neue Controller-Systeme und Plattformen zusätzlich viele neue Spielformen entstanden, die im Wesentlichen in dem Sport nahestehende Spielformen (z.B. MY FITNESS COACH) oder Casual und Partygames (z.B. ZUMBA FITNESS) unterschieden
2
Der Begriff Exergames stellt eine Wortkombination aus Exercise und Games dar und soll ausdrücken, dass hier digitale Spiele mit einer physisch geprägten sportlichen Handlung verknüpft werden. Vgl. in diesem Band Bogost, Ian: »Exergames. Rhetoriken und soziale Rituale«, S. 233-264.
3
http://www.c64-wiki.de/index.php/Competition_Pro
W IEVIEL S PORT STECKT WIRKLICH IN DIGITALEN S PIELEN ?
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werden können. Doch bevor eine genaue Analyse des Status Quo zur Entwicklung einer neuen Taxonomie von Sportspielen4 genutzt werden soll, zunächst einmal einige weitere einführende Gedanken. Game-Nerds – ein unberechtigt negatives Stereotyp Die übliche Vorstellung von »Game-Nerds« ist bis heute vielfach ein stereotypes, negativ geprägtes Vorurteil, angeheizt durch Diskussionen über digitale Spiele insgesamt als negatives Übel.5 Überspitzt: Der Game-Nerd ist dick, sitzt mit Chips und Cola vor dem Computer (fettleibig), ist abgetaucht in »seine« Welt (Eskapismus) und vermeidet körperliche Ertüchtigung. Dieses Klischeebild wurde nicht zuletzt immer wieder von Gegnern digitaler Spiele (insbesondere im Rahmen der so genannten Killerspieldebatte6) gepflegt und kultiviert. Insbesondere wurde dabei Wert darauf gelegt, ein unsympathisches Bild zu zeichnen, welches den Spieler als unsportlich, nicht fit stigmatisiert. »Sport« spielt in dieser Welt, die häufig mit den Titeln COUNTERSTRIKE oder WORLD OF WARCRAFT kombiniert als die Ursache vieler Übel beschrieben wird; z.B. jüngst wieder im Zusammenhang mit dem Amoklauf von Newtown 20127 fordern US-amerikanische Spitzenpolitiker wie Joe Biden, John Rockefeller oder Joe Liberman8 neue Studien; keine Rolle; wobei gerade bei COUNTERSTRIKE als populärem eSport-Titel die Diskussion sicherlich offen wäre9. Es wurde lange Zeit geradezu absichtlich ein stigmatisierendes Bild entwickelt, welches als totale Abkehr von Sport und den ihm gesellschaftlich zugewiesenen (meist positiven) Attributen gesehen werden kann. Ziel derjenigen, die dieses Bild lange aufrecht erhalten, ist eine Diskreditierung der gesamten Computer- und Videospielindustrie, nicht selten aus rein ideologischen Gründen, die vornehmlich durch Journalisten (TV und
4
Vgl. J. Müller-Lietzkow: »How much Sport is in Sports Games?«
5
Zum Beispiel Spitzer, Manfred: Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um
6
Gemeint ist die Debatte über reale und virtuelle Gewalt sowie bestehende Transfers
7
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-12/newtown-grundschule-
8
http://www.lfpress.com/2012/12/19/videogames-under-fire-hollywood-lays-low-after-
9
Vgl. auch Stoll, Alexander: »Killerspiele« oder E-Sport? Funktionalität von Gewalt
den Verstand bringen, München: Droemer 2012. inklusive entsprechender Wirkung. amoklauf-obama school-shooting und die Rolle des Körpers in Multiplayer-Ego-Shootern, Boizenburg: Hülsbusch 2009.
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Presse) und populärwissenschaftlich verbreitet wurde. Verkürzt formuliert: Digitale Spiele sind das glatte Gegenteil von (positivem) Sport. »Fitness« als Legitimation Umgekehrt sind und waren es nicht zuletzt die Anbieter von digitalen Spielen, die innerhalb der vergangenen Dekade (2000-2010) immer stärker auf körperliche Attribute und »Fitness-Spiele« (Exergames) in Werbung und Positionierung im Sinne der PR gesetzt haben (unabhängig von den zahlreichen anderen »Sportspielen«, die es gibt). Dabei wurden insbesondere auch die neuen, körperlich stark aktiven Steuerungssysteme genutzt (Wii/WiiU, Kinect und Move). Die jungen, dynamisch aussehenden Models (nicht selten Sportprofis) der WerbeFotostrecken wurden in Sportkleidung und aktiver Ertüchtigung mit unterschiedlichsten Spielgerätschaften gezeigt. Auch hat die Industrie auf typische Testimonialwerbung mit Sportprominenz zurückgegriffen.10 Dabei sucht die Computerund Videospielindustrie die Nähe zum realen Sport. Damit soll von dessen gesellschaftlicher Akzeptanz profitiert und somit das Image insgesamt aufgebessert werden. Hierbei ist allerdings in manchen Fällen durchaus fraglich, ob es sich nicht (auch) um eine Reflexreaktion auf die erste hier beschriebene Position handelt. Wie viel Sport steckt in digitalen Spielen? Nimmt man nun den »übergewichtigen und unansehnlichen Game Nerd« oder andererseits die »fitten Spieler«, so scheinen beide Bilder unstimmig und kaum deckungsgleich mit der Realität. Sicherlich wird es auch diese Randphänomene geben, ohne dass sie maßgeblich für eine solche Betrachtung in der Breite sein können. Umgekehrt ist die Frage durchaus legitim, wenn Sport als Inhalt in digitalen Spielen oder auch im Kontext der Werbung eine große Rolle spielt: Wie viel Sport steckt wirklich in digitalen Spielen?11 Offenkundig stimmt weder die
10 Umfänglich hierzu Schaaf, Daniela: Testimonialwerbung mit Sportprominenz, Köln: von Halem 2010. 11 Damit einher gehen natürlich weitere Definitionsfragen. Allein schon der Begriff »viel« lässt einen breiten Spekulationsraum. Mit viel ist hier zunächst der Anteil am Gesamtinhalt gemeint. Viel meint in einem breiteren Verständnis aber auch den relativen Abgleich des präsentierten Sports mit seinen realen Vorbildern. Weitere Fragen wären z.B., ob die Fragestellung impliziert, dass Sport ein Inhalt oder eine Haltung (im Sinne der Spielhandlung) ist. Die Antwort hierauf ist im Kontext zu sehen. eSport,
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eine noch die andere Position mit der Realität überein, berücksichtigt man allein die Anzahl der Nutzer von digitalen Spielen insgesamt, nach neueren Schätzungen über 25-26 Mio. allein in Deutschland.12 Die Frage betrifft dabei a priori zwei Ebenen. Zum einen handelt es sich um eine inhaltliche Fragestellung, die durchaus über die narrative, regelbasierte13 oder spielerische Ebene hinausgeht. Nicht selten verbindet sich damit auch die Frage der physischen Kontrolle digitaler Spiele. Die zweite Ebene betrifft eher den Imagetransfer, also die Frage, ob vermeintlich sportive Elemente einzelner Angebote auch tatsächlich wie suggeriert auftreten (bezogen auf Exergames). Da aber die zweite Ebene nicht ohne eine strukturelle Analyse der ersten Ebene betrachtet werden kann, konzentriert sich dieser Aufsatz auf die erste Ebene. Damit grenzt sich diese Analyse auch deutlich von Klink et al.14 ab, die empirisch Jugendliche nach Sport in virtuellen und realen Welten befragt, nicht aber daraus differenziert analytisch digitale Spiele klassifiziert haben. Dennoch finden sich
welcher hier am Rande behandelt wird, ist sicherlich eher der Haltung zuzurechnen, die Analyse aber bezieht sich primär auf Inhalte. Auch kann man fragen, ob die Bestimmung eines Anteilgrades überhaupt notwendig ist. Dies ergibt sich aus zwei Antworten, die erarbeitet werden. Zum einen aus der Sonderstellung der Exergames, welche jenseits des Spielemarktes in Zukunft große Bedeutung erlangen dürften, und zum anderen kommt es sicherlich auch zu der Frage, wie bessere Angebote entstehen können. Der Anteilsgrad muss dabei gar nicht in Prozentwerten dem Optimum von 100% angenähert werden, schon aber scheinen in nahezu allen Sportspielen Steigerungspotenziale vorhanden. Eine letzte Frage, die hier direkt abgeleitet werden könnte, ist, ob das alleinige Sporttreiben nicht schon Indikator genug für einen hohen Sportanteil wäre. Dazu wird das vorliegende Attributschema die Antwort geben. Es kommt in der Tat auf den Blickwinkel an, bei dem die Perspektive des einzelnen Nutzers sicherlich andere Antworten bietet als die strukturelle Betrachtung in einem gesellschaftlichen Zusammenhang. 12 Gesellschaft für Konsumforschung (GFK)/Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware e.V. (BIU): Anzahl der Computerspieler in verschiedenen Altersgruppen in Deutschland im Jahr 2011 (in Millionen), http://de.statista.com/statistik/daten/stu die/198202/umfrage/altersverteilung-von-gamern-in-deutschland-in-absoluten-zahlen/ 13 Vgl. Juul, Jesper: Half-real. Video Games between Real Rules and Fictional Worlds, Cambridge: MIT Press 2005, S. 163 ff. 14 Klink, Alice/Marcolesco, Michael/Siemens, Sönke/Wolling, Jens: »Sport in virtuellen und realen Welten. Eine Befragung unter Jugendlichen«, in: Thorsten Quandt/Jeffrey Wimmer/Jens Wolling (Hg.), Die Computerspieler. Studien zur Nutzung von Computergames, Wiesbaden: VS Verlag 2008, S. 263-278.
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einige interessante Anhaltspunkte, wie z.B. die Frage nach Möglichkeiten, durch digitale Spiele eine größere Vielfalt des Sports kennen zu lernen.15 Ebenfalls kann gezeigt werden, dass die Wahl virtueller Sportarten (Sportspielangebote) signifikant mit real ausgeübten Sportarten korreliert (also z.B. nutzen bekanntermaßen viele Fußballspieler auch FIFA oder PRO EVOLUTION SOCCCER auf Konsolen16). Besonders häufig vertreten waren dabei die Sportarten Fußball, Snowboarden, BMX-Fahren, Boxen, Basketball und Kampfsport. Die Signifikanz erklärt sich aber durchaus auch umgekehrt aus dem breiten Angebot anspruchsvoller Spiele in diesem Bereich. Auch dies wird bei der Entwicklung der Taxonomie insofern zu berücksichtigen sein, als die Refinanzierungsmöglichkeiten solcher Spiele erheblichen Einfluss auf deren qualitative Gestaltung nehmen können. Eine letzte interessante Erkenntnis der vorliegenden Analyse ist, dass es kaum Verdrängungseffekte gibt. D.h. dass das virtuelle Sportspiel nicht das reale Sporttreiben ersetzt.17 Zurück zu dem hier gewählten Vorgehen: In einem analytischen Ansatz wird anhand aussagekräftiger Beispiele eine Taxonomie des Zusammenhangs von Sport und digitalen Spielen entwickelt, die vor dem Hintergrund geltender Sportdefinitionen verglichen werden. Dabei werden alle bekannten Facetten von Sport und digitalen Spielen, inklusive der Bedeutung des Spiels für den Sport betrachtet.18 Somit entfaltet sich ein Kontinuum für digitale Spiele und deren Bewertung im Kontext des Sports, welches auf jeden Fall präziser und umfänglicher als die bisher skizzierte Bipolarität in Extremen (Sportspiel oder nur Spiel) ausfällt. Struktur der Analyse Um sich dieser Taxonomie anzunähern, bedarf es einer engeren Eingrenzung, was eigentlich unter Sport, auch jenseits des reinen Bewegungskultes, zu verstehen ist. In einem zweiten Schritt werden, nachdem kurz der Markt der digitalen Spiele gerahmt wird, einige Beispiele im historischen Zusammenhang mit den unterschiedlichen Ausprägungen von Sport skizziert. Daran anschließend wird eine Gliederungslogik in Form einer Taxonomie entwickelt, die eine zukünftige Einordnung digitaler Spiele im Zusammenhang mit postuliertem oder realem
15 Ebd., S. 272. 16 Vgl. ebd., S. 273. 17 Vgl. ebd., S. 276. 18 Vgl. Hagedorn, Günter: »Philosophie des Spiels«, in: Herbert Haag (Hg.), Sportphilosophie. Ein Handbuch, Schorndorf: Hofmann 1996, S. 146 ff.
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Sport ermöglicht. Der Schlussabschnitt untersucht dann auf Basis des in diesem Aufsatz entwickelten Ansatzes die Eingangsfrage erneut und breit: Wie viel Sport steckt wirklich in digitalen Spielen? Das Fazit und der Forschungsausblick runden die Betrachtung insofern ab, als dass jetzt schon klar sein dürfte, dass sich mit zunehmender Ausdifferenzierung des Marktes für digitale Spiele auch die Konnektion von Sport und digitalen Spielen gezielterer Untersuchungen bedarf. Ebenso entwickeln sich daraus zwangsläufig Designanforderungen an digitale Sport-Spiele. Ein besonderes Augenmerk ist dabei auch auf die Motivations- bzw. Bedeutungslage zu werfen.19 Handelt es sich bei den digitalen Spielen um reine Unterhaltungsmedienprodukte oder sind es Angebote, die heute eher unter dem Label »Serious Games« positioniert werden? Die »Wellness-Games«, »Self-Improvement-Games« und vor allem »Exergames«, welche gemeint sind, werden dabei viel zu selten kritisch im Hinblick auf die Folgen der Nutzung aus sportmedizinischer Sicht hinterfragt. Der Aufsatz endet hier bewusst offen, da davon auszugehen ist, dass eine Diskussion angestoßen, keinesfalls aber vollumfänglich abgeschlossen wird.
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UND WAS MAN DARUNTER VERSTEHEN KÖNNTE !
Sport ist ein »sehr breites Feld«, wie es der Deutsche Olympische Sportbund selbst beschreibt und somit einer verbindlichen Definition wissentlich ausweicht.20 Allgemein assoziieren viele Menschen mit Sport zumeist körperliche Ertüchtigung in Training und Wettkampf, bei dem es um ein messbares oder bewertbares Leistungs- oder Spielziel geht. Auch einige kompositorische oder vergleichende Sportarten (Sportgymnastik, Turnen, Boxen etc.) fallen hierunter, da die Beurteilung von Leistungen über »Bewertungsmaßstäbe von Experten« (Kampfrichter, Jury etc.) analog behandelt wird. Damit gehen im Sport zahllose Prozesse einher, die rund um diese Basisidee körperlicher Ertüchtigung gestaltet und organisiert sind. Problematisch an dieser vereinfachten Sichtweise ist, dass die Facetten des Sports in seiner gesellschaftlichen Ausdifferenzierung eigent-
19 Hung, Aaron Chia Yuan: The Work of Play. Meaning-Making in Videogames, New York: Peter Lang 2011. 20 DOSB: Definition »Sport« von 2012b. http://www.dosb.de/de/organisation/philoso phie/sportdefinition/.
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lich viel breiter anzusetzen sind.21 Es spielen Strukturen, Anerkennung und gesellschaftliche Verortung ebenso wie die körperlich-physischen Attribute eine große Rolle bei der Definition des Sports, will man ihn in seiner ganzen Varietät beschreiben. Daneben steht indirekt auch die Frage, welche Rolle die mediale Vermittlung von Sport in unserem Gesellschaftsverständnis heute spielt. Gerade die durch Stars und Show geprägten Sportarten Fußball, Tennis oder Boxen sind sicherlich anders als Randsportarten in ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung und Akzeptanz zu bewerten. Im Zusammenhang mit digitalen Spielen hat dies eine duale Wirkung. Einerseits sind es gerade die medial stark positionierten Sportarten, welche durch Spieleentwickler aufgegriffen und als Games umgesetzt werden (auch in der Hoffnung auf entsprechende Umsätze), andererseits stellen diese Umsetzungen nur Partialrealitäten dar (sprich: deutliche Verkürzungen und Einengungen auf Einzelaspekte, wie z.B. eine Fußballmanagersimulation). Auf diese Problematik wird noch näher im Kontext der Darstellung der Taxonomie einzugehen sein Acht Attribute von Sport und eSport Aufgrund einer fehlenden allgemeingültigen Definition gilt es präzise zu klären, welche Art von Sport bzw. von Sportverständnis als Arbeitsgrundlage der Taxonomie dient. Es geht dabei eben nicht um die einfache Formel Leistungssport versus Breitensport. Von daher bedarf es einer feineren Analyse, was unter »Sport« verstanden werden könnte. Es wird dabei zunächst auf eine eigene ältere Arbeit zurückgegriffen.22 Im Kontext dieser Untersuchung wurde die Frage gestellt, ob es sich bei eSport23 um Sport handeln könnte. Dazu wurden sieben Attribute aus der Literatur extrahiert, die als Vergleichsgrundlage dienten. Diese waren: Physiologie (körperliche Leistung), Psychologie (geistige Leistung), Strukturen (Organisation des Sports), Wettkampfsysteme (Messbarkeit, Gesellschaft (Bewertung), Medialisierung (Präsentation) und Technisierung (Sportwerkzeug). Die nachfolgende Analysetabelle zeigt den Vergleich von eSport (al-
21 Darauf weist selbst der Deutsch Olympische Sportbund (DOSB) mit den Worten: »Die Frage ›Was ist Sport?‹ ist nicht einfach zu beantworten« hin, abgerufen unter www.dosb.de 25.7.2012b 22 Müller-Lietzkow, Jörg: »Sport im Jahr 2050: E-Sport! Oder: Ist E-sport Sport?«, in: MERZ Wissenschaft. Sport und Medien 50/6 (2006), S. 107. 23 Vgl. auch Breuer, Markus: E-Sport. eine Markt- und ordnungsökonomische Analyse, Boizenburg: Hülsbusch 2011, S. 17 f.
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so Sport mittels digitaler Spiele) und Sport als Bewertungsmuster auf Basis von zehn explorativen Experteninterviews mit Vertretern des eSports. Vor diesem Hintergrund lag die Vermutung nahe, dass es sich bei eSport um Sport im originären Sinne handeln könnte, womit zumindest die Eingangsfrage insofern beantwortet wäre, als dass nicht unbedingt der Inhalt definiert, ob in Spielen Sport steckt, wohl aber die Spielhandlung im eSport eine Form von Sport darstellt. Abbildung 1: Sport und eSport als Vergleich.
Physiologie
Psychologie
Strukturen
E-Sport
Sport
Trend
Präzisions- und Reaktionsfähigkeit Konzentrationsfähigkeit, Psychoregulation Bundesverband, (int.) Ligen, Clans
Körperliche Leistungsfähigkeit Mentales Training, Stressbeherrschung IOC, Weltverbände, Bundesverbände, Vereine, Profisport Turniersport, Ligasysteme Politische Verankerung, Gesellschaftliche Akzeptanz Starke Fernsehfixierung Regional und lokal starke Pressefixierung Technologie beeinflusst bei vielen Sportarten die Weiterentwicklung
- 0 +Ambivalent
Wettkampfsysteme Gesellschaft
Turniersport, Ligasysteme »Randgebiet«, schlechte Akzeptanz
Medialisierung
Starker Fokus auf »neue Medien« Hohe Internetpräsenz Stark technologiegetrieben (Spiele) – Technologie als Grundvoraussetzung
Technisierung
Quelle: Müller-Lietzkow 2006, S. 107.
0 »Unbekanntes Land« für den eSport + bis ++ Strukturell kompatibel ++ Sehr starke Übereinstimmung 0 E-Sport wird nicht als Sport wahrgenommen ++ In unterschiedlichen Medien großes Angebot + Ohne Technik kein eSport
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Auf Basis dieser Analyse wurde im Anschluss in einer umfänglichen empirischen Befragung von 500 eSportlern deren »Sport- und Trainingsverständnisses« ermittelt. Die Ergebnisse fielen – anders, als es die analytische Herangehensweise hätte erwarten lassen – ernüchternd aus. Zwar konnten die eSportler (befragt über Europas größten Anbieter die ESL/Turtle Entertainment) die Sportattribute einer inhaltlichen Bedeutung zuordnen, es zeigte sich aber, dass deren Transfer bzw. deren Umsetzung in den eSport weitestgehend scheiterte. Insbesondere die Überlegungen zu einem strukturierten Training offenbarten, dass eSportler kaum reflektierten, sondern lediglich nach dem Prinzip »viel hilft viel« sehr viel Zeit in ihr Hobby investierten. Als achtes Attribut wurde – trotz des Ergebnisses der Befragung – der Sportbetrieb im Sinne des Trainings (strukturierter Sportprozess) mit aufgenommen, denn erst durch den strukturierten Verbesserungsprozess des Trainings erscheinen die anderen sieben Attribute miteinander enger verbunden. Die acht identifizierten Attribute sollen nun auch die Grundlage des anzusetzenden Sportverständnisses bilden, welches vor allem auf Basis der Arbeiten von Tiedemann24, Röthig25, Grupe & Krüger26 und dem Ansatz des DOSB27 entwickelt wurde. Dem Leitbild des Sports nach dem DOSB ist zu entnehmen: »Zum Sportverständnis gehören die Freude an körperlicher Leistung, das Bedürfnis nach Vergleich und die für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft identitätsstiftende Wirkung des Wettkampfsports.«28 Gemein ist nahezu allen beschreibenden Ansätzen, dass unter Sport eine soziale wie kulturelle Handlung verstanden wird29, die sowohl das Individuum als psychophysisches Subjekt als auch Kollektive betrifft. Auch wenn Röthig30 feststellt: »Was im allgemeinen unter Sport verstanden wird, ist weniger eine Frage wissenschaftlicher Dimensionen, sondern wird weit mehr vom alltagstheoreti-
24 Tiedemann, Claus: »›Sport‹. Vorschlag einer Definition«, Universität Kiel 2011. http://www.sportwissenschaft.unihamburg.de/tiedemann/documents/sportdefinition.ht ml basierend auf einem Vortragspapier von 2010; Stand 23.2.2013. 25 Röthig, Peter: »Sport«, in: Ders. et al. (Hg.), Sportwissenschaftliches Lexikon, 6. Auflage, Schorndorf: Hofmann 1992, S. 420-422. 26 Grupe, Ommo/Krüger, Michael: »Sport«, in: Ommo Grupe/Dietmar Mieth (Hg.), Lexikon der Ethik im Sport. Herausgegeben im Auftrag des Bundesinstituts für Sportwissenschaft. 2. Auflage, Schorndorf: Hofmann 1998, S. 478-484. 27 DOSB: Definition »Sport«. 28 Ebd., S. 2. 29 O. Grupe/M. Krüger: »Sport«, S. 478. 30 P. Röthig: »Sport«, S. 420.
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schen Gebrauch sowie von historisch gewachsenen und tradierten Einbindungen in soziale, ökonomische, politische und rechtliche Gegebenheiten bestimmt«, wird hier die Auffassung vertreten, dass die präsentierten Attribute einen präzisen Rahmen geben, der sich auch im Vergleich mit denen bei Röthig wie Tiedemann31 beschriebenen Dimensionen anwenden lassen kann. Sport wird demnach als mehrdimensionales Phänomen betrachtet, welches von der allgemeinen Interpretation als psychisch-physische Anstrengung insofern abweicht, als die strukturellen, gesellschaftlichen, medialen, technischen und (wettkampfbasiert) vergleichenden Attribute gekoppelt über das achte Attribut des Trainings mit erfasst werden. Für die weitere Analyse bedeutet das, dass digitale Spiele mit dem Anspruch der Zuordnung zum Sport zumindest in einigen (mindestens einer) dieser Strukturdimensionen wiederzufinden sein sollten. Wesentlich ist in dem Zusammenhang auch, dass es letztlich zu weiteren Ausdifferenzierungen durch die Unterteilung in einzelne Sportarten kommt32, auf die aber hier nicht weiter eingegangen werden kann. Digitale Spiele und Sportwissenschaft? Nach der Feststellung, welches Sportverständnis den nachfolgenden Ausführungen zugrunde liegt, stellt sich darüber hinaus die Frage, warum die Sportwissenschaft sich selber nur sehr wenig mit Sportspielen auseinandersetzt, sieht man doch umgekehrt, dass der Zusammenhang von (Spitzen-) Sport und Informatik bzw. die Technisierung heute geradezu elementar für den Sport geworden ist. Einen grundlegenden Aufsatz hierzu hat Wiemeyer33 verfasst, der die Frage stellt, ob digitale Spiele »(K)ein Thema für die Sportswissenschaft?!« seien. Dabei fragt Wiemeyer zu recht, ob bei einem ungefähren Marktvolumen von 15% bei den datenträgergebundenen Spielen (rechnet man Renn- und Tanzspiele hinzu, erhöht sich dieser Anteil nochmals signifikant auf bis zu 25%; Stand 2007/2008) die mediale Inszenierung von »virtuellem Sport« nicht genauer untersucht werden müsste. Hierzu zählt er gleich ein ganzes Bündel von möglichen Untersuchungsfeldern (u.a. Motivationsgrundlagen, Verdrängungs- und Kompensationseffekte, Zielgruppenansprache34) und Transferpotenzialen (sensomo-
31 C. Tiedemann: »›Sport‹. Vorschlag einer Definition«. 32 Vgl. O. Grupe/M. Krüger: »Sport«, S. 478. 33 Wiemeyer, Josef: »Digitale Spiele. (K)ein Thema für die Sportwissenschaft«, in: Sportwissenschaft 39 (2009), S. 120-128. 34 Ebd., S. 121.
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torische bzw. perzeptive und kognitive35) auf. Hinsichtlich der Verdrängungseffekte bestätigt Wiemeyer die schon von Klink et al.36 gewonnene Erkenntnis, dass die Nutzung von digitalen (Sport)Spielen in der Lebenswelt Jugendlicher nicht zu signifikanten Veränderungen führt (u.a. auf Basis der JIM-Studien, welche seit 12 Jahren kontinuierlich das Verhalten von Jugendlichen im Umgang mit Medien untersuchen). Wiemeyer geht aber noch weiter und sucht Evidenzen im europäischen Raum, die nahelegen, dass es sich auch nicht um ein typisches deutsches Phänomen handelt. Sowohl die EA-Studie aus 2006 (Großbritannien, Frankreich und Deutschland) als auch Untersuchungen aus den Niederlanden bestätigen diese Vermutung. Eine weitere Vermutung, die Wiemeyer abschlägig belegen kann, ist höchst interessant: Im Gegensatz zu den Gegnern und Kritikern von digitalen Spielen zeigt er, dass die pauschale Behauptung einer generellen negativen Wirkung nur äußerst schwach ausgeprägt nachweisbar erscheint und dies bei einer heterogenen Befundlage, die sich vor allem auf Kinder und Jugendliche bezieht, dabei aber andere erklärende Variablen kaum berücksichtigt.37 Damit ist allerdings noch nicht die Frage beantwortet, ob es positive Wirkungen im Sinne des Sports zu beobachten gibt (z.B. präventive oder rehabilitative Wirkungen). Er kommt zu einer weiteren interessanten Einsicht: Ausgehend von mehreren Studien aus den Jahren 2007 und 2008 kann gezeigt werden, dass selbst bewegungsintensive Spiele mit der Spielkonsole Wii oder auch anderer Zusatzhardware nicht den gewünschten Effekt erzielen, da die allgemein empfohlene Schwelle der Kalorienverbrennung, die ca. 1000 kcal pro Woche beträgt, nicht erreicht wird. Zwar können kurzfristige Effekte (z.B. Motivation) durch hochintensive Nutzung erzielt werden, dann aber flachen diese ab und die schrumpfenden Nutzungszeiten lassen kaum noch positive Wirkungen zu.38 Anders sieht es Wiemeyer für den Bereich des Rehabilitationssports, wobei hier verstärkt auf eine Verhaltensänderung bei den Nutzern eingegangen werden soll und somit nicht die physiologischen Aspekte im Vordergrund stehen (persuasive Wirkung von Spielen). Auf Wiemeyers Ausführungen im Zusammenhang mit Serious Games und Sport wird noch eingegangen, da in der Kombination von Forschung und Entwicklung hohe Potenziale vermutet werden. Dies deckt sich auch mit dem hier präsentierten Grundverständnis von Sport. Wiemeyer endet mit einem klar positiven Bekenntnis zur Frage, ob digitale Spiele im Kontext der
35 Ebd., S. 123. 36 A. Klink/M. Marcolesco/S. Siemens/J. Wolling: »Sport in virtuellen und realen Welten.« 37 J. Wiemeyer: »Digitale Spiele«, S. 125. 38 J. Wiemeyer: »Digitale Spiele«, S. 126.
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Sportwissenschaft untersucht werden sollen.39 Umgekehrt enthält diese präzise Analyse allerdings kaum Anhaltspunkte, welche Arten von digitalen Spielen gemeint sind. Dies bestätigt die Notwendigkeit der Erstellung einer Taxonomie, die dann im Abgleich mit dem jeweiligen Forschungsgegenstand einen vereinfachten Erkenntnisgewinn erlaubt. Diesen Abschnitt schließend soll festgehalten werden, dass Sport als ein breites Phänomen verstanden wird, welches sowohl das psychophysische Subjekt als auch seine sozio-ökonomische Umwelt betrifft und tiefe kulturelle und historische Wurzeln ausweist. Digitale Spiele können diese Momente natürlich nur begrenzt und im Sinne einer Zuspitzung auf einzelne bzw. gruppierte Sportarten abbilden.
4 DIGITALE SPIELE UND SPORT – ERSTE ANNÄHERUNG Die Beschreibung der Strukturdimensionen dessen, was hier unter Sport verstanden wird, ermöglicht nun in einem zweiten Schritt zu überprüfen, wie sich der Markt für digitale Spiele diesen Strukturen annähert. Dabei soll zunächst an einigen Beispielen gezeigt werden, welche der beschriebenen Kriterien, die eine Einordnung als »Sport« erlauben, im Rahmen eines Transformationsprozesses für die Fragestellung fruchtbar gemacht werden können. Um aber überhaupt zu den Beispielen gelangen zu können, muss zunächst der Markt für digitale Spiele umrissen werden. Grundsätzlich zeigt sich seit einigen Jahren eine – auch durch das Gesamtmarktwachstum – verstärkte Tendenz zu einer Verschiebung der Konsumentenpräferenz. Wurde noch in den 80er und 90er Jahren vorrangig für diejenigen entwickelt, die heute als »Core-Gamer« gelten würden, entstehen spätestens seit Anfang der letzten Dekade (2000-2010) vollkommen andere Spielkonzepte, die auf ein viel breiteres, disperses Massenpublikum (oder besser gesagt Massennutzerspektrum) zielen. Dabei haben sich nicht nur Präferenzen verschoben, sondern der Markt ist insgesamt deutlich breiter geworden. In der nachfolgenden Abbildung 2 wird versucht, dieser Tendenz durch eine Einordnung in »alte« und »neue« Märkte gerecht zu werden (die nicht zuletzt auch durch Entwicklungen im Web nachhaltig geprägt sind. Diese Marktausweitung ist mit einer massiven Ausweitung der Gesamtumsätze einhergegangen. Heute werden ca. 65 Mrd. US-$ mit Spielesoftware global erwirtschaftet, wobei weder die Onlineumsätze für die verschiedenen Nutzungs-
39 Ebd., S. 127.
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gebühren und virtuellen Gegenstände als auch die Erträge durch Werbung auf großen Portalen zutreffend erfasst werden.40 Abbildung 2: Der (neue) Markt für digitale Spiele
Um den Gesamtmarkt zu ermitteln, hilft eine branchenübliche Rechnung, die ungefähr vom 2-2,5 fachen Umsatz im Gesamtmarkt (inkl. Hardwareinduktionen
40 Diese Marktgröße lässt sich aus unterschiedlichen Pressemitteilungen der Beratungsgesellschaften DFC Intelligence, PWC oder auch Nielsen ableiten. Auch Portale, wie VGChartz beziffern ähnliche Größenordnungen. Allerdings, das zeigen Daten der Marktforschungsgesellschaft Newzoo aus den Niederlanden, unterliegen nahezu alle Daten einem großen Bias, da sehr unterschiedliche Berechnungsmethoden die Ergebnisse verzerren. Auch nicht klar ist das Gesamtvolumen des Marktes hinsichtlich der Hardware. Selbst ungefähre Schätzungen sind dabei recht schwierig, denn kann man noch im Bereich der (reinen) Spielkonsolen die verkauften Einheiten pro Jahr bewerten, so scheitert eine solche Klassifizierung im Bereich der Computerhardware ebenso, wie auch auf dem gesamten Markt der Smartphones und Tablets, welche als Spielplattformen dienen, da nicht bestimmt werden kann, wie viel Anteil die Spielenutzung an diesem Marktsegment für sich beanspruchen kann. Außerdem ist auch hier die Erfassung der Umsätze mit Software nur bedingt möglich, da weder Apple noch Google (als führende Anbieter der Marktplätze) die Zahlen aggregiert veröffentlichen (vgl. Müller-Lietzkow, Jörg: Wir in Europa. Studie für das Land Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf und Paderborn 2010).
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sowie Derivate) ausgeht. Marktforschungsunternehmen, wie Newzoo aus den Niederlanden, arbeiten mit solchen Faktoren. Damit wäre der Computer- und Videospielmarkt (inkl. der Sekundärmärkte) mit ca. 120-150 Mrd. US-$ zu taxieren. Signifikante Veränderungen konnten in den vergangenen fünf Jahren durch folgende – stichwortartig zusammengefasste – Trends beobachtet werden41: •
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Ausweitung des Onlinegaming: Das »neue« Angebot hat vielfältige und andere Spielformen an den Markt gebracht. Wesentlich für den Erfolg ist dabei das so genannte »Free-to-play«-Geschäftsmodell, welches eine schnelle Marktpenetration der einzelnen Titel bei hinreichend kritisch-großen Massen erlaubt. Neue Spielsteuerungskonzepte: Durch Bewegungssensoren sind gänzlich neue Spielformen entstanden. Nicht mehr die reine Auge-Hand-Koordination ist zentral. Der Körper an sich wird zum Steuerungsinstrument. Neue Community-Modelle: Die Spieler werden immer stärker zum gemeinsamen Spielen motiviert, was zu Vergemeinschaftungsmodellen und LockIn-Effekten (soziale längerfristige Bindungen) führt. Social Media Gaming: Social Gaming erlaubt mit einfachen Spielprinzipien einen schnellen Eintritt in die Welt digitaler Spiele. Diese werden im Normalfall mit dem »Free-to-Play«-Geschäftsmodell gekoppelt und über soziale Netzwerkplattformen genutzt. Mobile Gaming: Von stark zunehmender Bedeutung ist die wachsende Palette an Spielen für mobile Endgeräte, allen voran Smartphones und Tablets, aber auch Kleinkonsolen. Dabei verbinden sich immer mehr Spielkonzepte mit den technischen Fähigkeiten der Endgeräte (z.B. Bewegungs- oder Beschleunigungssensoren).
Die aktuelle Marktgröße (gemessen nach Umsatz und Anzahl der Spieler) konnte nur durch diese Erweiterungen erreicht werden. In diesem Kontext spielen sowohl »neue Zielgruppen« als auch »neue Spielkonzepte« eine erhebliche Rolle. Diese Veränderungen drückt die oben stehende Abbildung 2 aus. Die Öffnung und Erweiterung des Marktes hat dabei vor allem auch neue Begriffe ge-
41 Komplett ausgespart werden an dieser Stelle Überlegungen zum Online-Gambling. Dieser milliardenschwere Markt ist allerdings ein großer Treiber. Die dort angebotenen Glücksspiele sollen nicht weiter berücksichtigt werden, obschon unstrittig ist, dass gerade Online-Sportwetten, gepaart mit Spieleelementen, eines der größten Segmente des Online-Gambling-Marktes überhaupt sind.
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prägt, die nicht nur einfach als Genres erfassbar sind. Die betreffenden Veränderungen bzw. erweiterten Angebote sollen im folgenden Abschnitt definiert werden. Zuvor gilt es aber noch den Gegenstand »Sportspiele« zu rahmen. Hierzu wird auf eine treffende Definition der amerikanischen Wikipedia-Plattform zurückgegriffen. »A sports game is a video game that simulates the practice of traditional sports. Most sports have been recreated with a game, including team sports, athletics and extreme sports. Some games emphasize actually playing the sport (such as the Madden NFL series), whilst others emphasize strategy and organization (such as Championship Manager). Some, such as Arch Rivals or Punch-Out!!, satirize the sport for comic effect. This genre has been popular throughout the history of video games and is competitive, just like realworld sports. A number of game series features the names and characteristics of real teams 42
and players, and are updated annually to reflect real-world changes.«
In weiten Teilen beschreibt diese Definition zentrale Charakteristika, die vor allem für diejenigen Produkte gelten, welche eben nicht durch Bewegungs- oder Gestensteuerung bedient werden. Darüber hinaus erfasst die Definition auch die Serialität (weiterentwickelte Neuauflagen), welche bei Sportspielen eine große Rolle spielt. Dennoch reicht diese Umschreibung sowohl für eine erweiterte wissenschaftliche Diskussion als auch die Frage der Ableitung weiterer Handlungsempfehlungen im Sinne der Gestaltung und Produktion von Sportspielen nicht aus. Darüber hinaus werden Aspekte des Serious Gaming43 vernachlässigt. Schließlich würde man auch allein auf Basis einer solchen Definition eben nicht die Eingangsfrage beantworten können, da eine ganze Reihe von Spielen durch die enge Fassung exkludiert sind (z.B. Bewegungskulturspiele etc.). Wellness-, Self-Improvement, Skill based Games oder Exergames? Ein Blick auf die oben in Abbildung 2 beschriebenen Trends offenbart schon, dass vor allem Bewegungskonzepte über Sensorik und neue Controller Eingang in die Welt der digitalen Spiele gefunden haben. Auch sonstige auf »Leistungsverbesserung« abzielende Konzepte sind derzeit starke Trends, allerdings eher
42 http://en.wikipedia.org/wiki/Sports_game, Abgerufen 7.8.12 43 Vgl. Müller-Lietzkow, Jörg/Jacobs, Stephen: »Serious Games. Theory and Reality«, in: International Journal of Computer Science in Sport, Ed. 1 (Special Edition) 11 (2012), S. 42-50.
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im Kontext kognitiver Leistungen. Vier zentrale Begriffe sollen erläutert werden: Wellness-, Self Improvement-, Skill-Based-Games und Exergaming, wobei schon hier anzumerken ist, dass nicht alle Begriffe komplett trennscharf voneinander zu definieren sind. Wellness Games können gut mit der allgemeinen Wellness-Welle verglichen werden. Spieler nutzen diese Form von Spielen mit schwach ansteigenden Leistungsanforderungen, die also gut zu bewältigen sind, aber entsprechend durch positive Motivationsverstärker gratifiziert werden (sich besser fühlen). Spielspaß wie dem Flowgedanken kommt in diesen Konzepten eine erhebliche Rolle zu. Im Kontext der Sportspiele sind hier vor allem Wii-Spiele zu nennen, welche als Sportspiele deklarierte Spaßspiele sind (z.B. WII SPORTS, WII SPORTS RESORT, MARIO SPORTS MIX etc.). Self-Improvement Games sind solche, bei denen die individuelle Verbesserung basierend auf virtuellen Anreizen im Mittelpunkt steht. Dabei kann es durchaus auch um komplexere Sachverhalte wie in Managementsimulationen gehen.44 Aktuell wird dies viel unter dem Stichwort Gamification45 diskutiert. Auf den Sport bzw. Sportspiele übertragen ist zu überlegen, welche Anreizwirkung z.B. von virtuellen Belohnungen ausgeht. Skill-Based Games stellen sicherlich eine den organisatorischen Vorstellungen von Sport sehr nahekommende digitale Spielform dar. Gemeint sind Spiele, bei denen es auf die Reaktionsfähigkeit und Geschicklichkeit oder die Fähigkeit zum logischen bzw. strategischen Denken bzw. Allgemeinwissen ankommt. Dabei muss man allerdings berücksichtigen, dass zumeist auch um realen Geldeinsatz gespielt wird, was hier eben nicht als Sport gewertet wird (z.B. OnlinePoker-Spiele).46 Exergames sind Spiele, bei denen der Spieler die Spielaufgaben in Form physischer Aktivität löst. Exergames werden dabei häufig in Kombination mit technologischen Entwicklungen (z.B. neue Controller) in der inhaltlichen Nutzung und/oder Präsentation digitaler Spiele gekoppelt, welche gerade in den letz-
44 Reevves, Byron/Read, J. Leighton: Total Engagement. Using Games and Virtual Worlds to Change the Way People Work and Businessess Compete, Boston: Harvard Business Press 2009. 45 Vgl. Radoff, Jon: Game On. Energize your Business with Social Media Games, Indianapolis: Wiley 2011; Zichermann, Gabe/Linder, Joslin: Gamebased Marketing, Hoboken: Wiley 2010. 46 Aus diesem Grund werden Skill Games auch hier nur begrenzt behandelt. Der Autor distanziert sich von jeglicher Form des Online Glückspiels, welches auch nicht im Sinne des Sports hier zu verstehen ist.
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ten Jahren signifikant erweitert worden sind. Es geht dabei um einen aktiven, körperbetonten Spieletypus, der der landläufigen Meinung über Sport als Bewegungskultur sehr nahe kommt. Auch basieren Exergames häufig auf der Idee des sportlichen Trainings als kontinuierlichem Verbesserungsprozess. Alle vier Begriffe stehen in mittelbarem Verdacht, Antworten auf die Leitfrage bieten zu können. Mit Blick auf das bisher skizzierte Sportverständnis scheint schnell klar, dass es vor allem die Exergames, aber auch die SelfImprovement Games sind, auf die man besonderes Augenmerk richten sollte. Umgekehrt zeigen die Definitionen aber auch, wie schnell eine stark einengende Perspektive angenommen werden kann. Von daher skizziert der nächste Abschnitt zunächst anhand von aussagekräftigen Beispielen die sehr viel breitere Verbindung von Sport und digitalen Spielen. Die besondere Rolle neuer Steuerungssysteme Neben den in historisch einzuordnenden Spielen sind gerade mit der veränderten Steuerungslogik bei den Großkonsolen von Nintendo, Microsoft und Sony auch die Spielkonzepte verändert worden. Exemplarisch soll hier näher auf die Firma Nintendo eingegangen werden, der man zu Recht in diesem Kontext eine Pionierfunktion zusprechen muss. Nintendo hat mit der Veröffentlichung der Großkonsole Wii (Nintendo 2006) – gegen die Branchenusancen – anstelle gesteigerter Grafik- und Prozessorleistung mit einem vollkommen neuen Spielsteuerungssystem aufgewartet. Statt des üblichen »Gamepads«, welches sich bei den Mitbewerbern zu dem Zeitpunkt finden ließ, setzte Nintendo auf eine Gesten- und Körpersteuerung durch die Wii-Remote. Auch wenn Mitbewerber Sony schon mit seiner Eye-Toy-Kamera eine Gesten- und Bewegungssteuerung von einfachen Spielen zugelassen hatte, ist es doch Nintendo zu verdanken, dass diese Form der körperlich aktiven Nutzung von digitalen Spielen den Massenmarkt erreicht hat. Die Produkte der Mitbewerber (Kinect von Microsoft und Move von Sony) haben dabei bis heute nicht die Wirkung und den Erfolg von Nintendo erreichen können. Sieben Jahre nach Verkaufsstart und mit knapp 100 Millionen abgesetzten Einheiten hat Nintendo damit maßgeblich vor allem den Markt der Wellness Games aber auch der Exergames gestärkt und, nicht zuletzt, da die Konkurrenz mit ähnlichen Konzepten nachgezogen hat, stärkere physische Attribute in die Welt der digitalen Spiele getragen. Mit der Nachfolgekonsole WiiU hat Nintendo 2012 zudem technologisch zu den Mitbewerbern aufgeschlossen und durch den neu gestalteten Tablet-Controller neue Optionen geschaffen. Auch die Ankündigung des Sony Con-
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trollers für die im Jahr 2013 erscheinende Spielkonsole Playstation 4 deutet auf verstärkte Bewegungskonzepte hin.47
5 S PORT
UND DIGITALE S PIELE EINE ZWEITE A NNÄHERUNG
–
Die erste Rahmung basierte auf einer Definition von Sportspielen im engeren Sinne, wobei vor allem die großen Plattformspiele und Serien erfasst wurden. Nimmt man die im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Wellness- und Exergames hinzu und schaut vertiefend auch in die Historie48 von Sportspielen, wird schnell klar, dass die Antwort der Forschungsfrage entsprechend umfänglicher ausfallen muss. Frühe digitale Sportspiele (1972-2000) »Two things made Intellivision good. (…) The second thing was the lineup of sports games. Baseball, football, hockey, soccer, backgammon, bowling, Mattel wanted to have every single sport under the sun, all licensed from the right organizations, from the American Backgammon Players Association, to the U.S. Chess Federation, to Major League Baseball. Sport really brought new players to video games.«
49
Sportspiele haben eine lange Tradition und sind seit Anbeginn der Computerund Videospielgeschichte ein zentraler Inhalt. Selbst wenn die meisten Spiele
47 Zur Sony Pressekonferenz am 20.2.13: http://www.gamestrend.de/articles/v/c9013b 00-e31e-4634-96b3-9b714d334691/PlayStation-4---Kommentar-und-Analyse 48 U.a. wurde zu Recherchezwecken auf Mott, Tony (Hg.): 1001 Video Games You Must Play Before You Die, London: Universe 2010, und Byron, Simon/Curran, Ste/McCarthy, David: Game On! From Pong to Oblivion, London: Headline 2006 zurückgegriffen, im kulturhistorischen Kontext auf Donovan, Tristan: Replay. The History of Video Games, East Sussex: Yellow Ant 2010, S. 225 ff. und S. 281 ff. 49 Al Nilsen, zitiert nach Kent, Steven L.: The Ultimate History of Video Games, New York: Three Rivers Press 2001, S. 194; weiterhin zu historischen Aspekten von Sportspielen vgl. Loguidice, Bill/Barton, Matt: Vintage Games, Amsterdam: Focal Press 2009, S. 123 ff., Demaria, Rusel/Wilson, Johnny L.: High Score. 2nd Ed, Emeryville: McGraw-Hill/Osborne 2004; Goldberg, Harold: All Your Base are Belong to Us. How Fifty Years of Videogames Conquered Pop Culture, New York: Three Rivers Press 2011, S. 96 ff. und T. Donovan: Replay.
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der 1970er Jahre eher durch Imagination und Interpretation als Sportspiele zu bezeichnen sind, kann man sich trefflich darüber streiten, ob nicht schon TENNIS FOR TWO als Sportspiel zu betrachten war. Bei den ersten Sportspielen handelt es sich primär um Sportsimulationen bei denen mit Tastatur, Maus, Joystick, Drehregler oder Gamepad entsprechende Sportaktivitäten nachempfunden wurden. Unvergessen sind dabei sicherlich die Sportspiele SUMMER GAMES oder DALEY THOMPSON'S DECATHLON der 1980er Jahre, denn hier mussten Spieler vor allem bei den Sprintdisziplinen den Anlauf durch heftiges Bewegen meistens des Joysticks erreichen. Für den nordamerikanischen Raum waren es wohl die Basketball- und Baseball-Simulationen, die den Durchbruch der Sportspiele ausmachten. Obschon Eishockey und Fußball auch in den 1980er Jahren als Spiele zu finden sind, sind es aber doch die 1990er Jahre, in denen bis heute laufende Serien wie FIFA, NBA, NHL oder auch MADDEN (vormals NFL) durch Electronic Arts (EA Sports) extrem populär gemacht wurden. Dabei wurde nicht zuletzt auf Lizensierung und somit Imagetransfer gesetzt. Auch die populäre 3DGrafikdarstellung nahm dabei erheblichen Einfluss auf die Darstellungsmöglichkeiten beim virtuellen Sport. Ebenso spielten über die Jahre Rennspiele (wobei bis heute strittig ist, inwieweit diese überhaupt den Sportspielen zuzurechnen sind) eine zunehmend zentrale Rolle, zumal mit den Hardware-Lenkrädern der Zeit auch entsprechend realistischere Erlebnisse nahe am Rennsport vermittelt werden konnten. In den 1990ern wurden ebenfalls erste Experimente mit Bewegungssensoren gewagt. Dennoch würde man vor dem Hintergrund der Alltagssportdefinition nicht zwingend bei nahezu all diesen Spielen von Sport sprechen. Blickt man aber mit den vorgestellten acht Attributen auf das Angebot, so finden sich bei nahezu allen Sportspiele entsprechende Ansatzpunkte. Kritisch in diesem Zusammenhang bleibt aber, dass bei diesen Spielen – egal, ob es sich um actionbasierte Spiele oder Simulationen handelt – im Kern eine hohe Komplexitätsreduktion nicht zuletzt aufgrund der technisch beschränkten Möglichkeiten stattfindet. Zwar sind Testimonials wie bei ONE-ON-ONE von Larry Bird und James Erving genutzt worden, aber es sind wenige Erkenntnisse über Sport in die Spiele eingeflossen. Digitale Sportspiele der letzten Dekade (2000-2010) Innerhalb der letzten zehn Jahre sind es vor allem Konzepte, die Bewegungselemente beinhalten, die die Sportspiellandschaft geprägt und auch verändert haben. Ergänzende Hardware wie das Wii Balance Board, aber auch andere Spezialhardware bedeuten, dass theoretisch physisch anspruchsvolles Sporttreiben möglich geworden ist. Man darf aber nicht unterschätzen, dass die großen Produkti-
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onsbudgets nach wie vor in die langfristigen Serien, dominiert durch EA Sports und partiell 2K Games, geflossen sind. Die meisten der Wii-Spiele, welche auch später als Adaptionen für Move oder Kinect entwickelt wurden, mussten mit geringeren Budgets auskommen oder nutzen nur sehr bedingt die Möglichkeiten neuer Steuerungsmechanismen. Dies führt zu einer durchaus paradoxen Situation. Einerseits ist das Angebot an (Action-)Sportspielen, welche nicht auf physische Steuerungen zurückgreifen, durch Serien geprägt und konzentriert auf medial erfolgreiche Sportarten (Fußball, Tennis, Basketball, Baseball, American Football, Boxen, Golf, Eishockey, Wrestling, Rennsport und jeweils zu den olympischen Winter- und Sommerspielen entsprechende Sammlungen einzelner Sportarten), wobei auch entsprechende Managementsimulationen zu finden sind und sogar einzelne Nischenprodukte existieren (z.B. Radsport, Handball). Andererseits wächst aber das Angebot von Spielen, die zwar Sportelemente im Sinne der Bewegungskultur und der FunSportkultur beinhalten (im Sinne der weiter oben beschriebenen WellnessGames), aber nicht als Sportspiele von Sportwissenschaftlern oder Sportexperten bezeichnet würden (z.B. WII-SPORTS, synonym für kleine Sportspielsammlungen, Minigolf, Skateboardspiele, Reitspiele, Segeln, Fitness, Fischen etc.). Auch gibt es Abwandlungen und Randprodukte wie z.B. SPORTS ACTIVE oder YOUR SHAPE, welche zusätzlich Hardware benötigen und eigentlich nicht mehr in die Kategorie klassischer Computer- und Videospiele, sondern weit eher in die Kategorie der Serious Games durch Exergaming (s.u.) fallen. Insgesamt sind aus der Sicht des Sports die letzten zehn Jahre für die nachfolgende Taxonomie weit maßgeblicher als die ersten dreißig Jahre der Industrie, da sie letztlich für die technischen Voraussetzungen und auch die gesellschaftliche Akzeptanz des Einsatzes digitaler Spiele im Rahmen einer Bewegungskultur maßgeblich prägend gewesen sind.
6 N EUE T AXONOMIE
VON
S PORT
UND DIGITALEN
S PIELEN
»When people learn to play video games, they are learning a new literacy!«
50
Aus der Darstellung der vorangegangenen Beispiele wird klar, dass es ein ganzes Spektrum an Spielangeboten im Zusammenhang von digitalen Spielen und Sport
50 Gee, James Paul: What Video Games Have to Teach Us About Learning and Literacy, New York: Palgrave 2007, S. 17.
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zu beobachten gibt. Damit ist auch gemeint, dass die strukturellen Merkmale des Sports umfänglicher in einem weiten Sinne berücksichtigt werden sollten. Es geht sowohl um Inhalte (im Sinne der Bedeutung51) als auch um tatsächliche physiologische Erfahrungen. Die nachfolgende Taxonomie stellt auf dieser Basis einen Ordnungsrahmen zur Verfügung, der es dann in einer kritischen Analyse erlaubt, die Eingangsfrage zu erörtern. Dass die Antwort auf sie nicht eindeutig ausfallen können wird, dürften schon die Beispiele sowie die historische Entwicklung deutlich gemacht haben. Die Taxonomie nimmt ihren Ausgangspunkt von der Überlegung, ob eine Grundausrichtung zu identifizieren ist und wenn ja, welche.52 Entwurf einer (neuen) Taxonomie Die nachfolgenden Überlegungen stellen einen ersten Ansatz zu einer neuen Taxonomie von Sportspielen dar. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht das anhand von acht Attributen beschriebene Sportverständnis. Dabei kristallisieren sich vier Hauptkategorien heraus. Sport als (zentraler) Spielinhalt: Bei dieser Art von Spielen steht die mediale interaktive Präsentation einer Sportart bzw. von Sportarten im Mittelpunkt. Diese Spiele richten sich an eine spezifische Zielgruppe (Fans) und basieren u.a. auf Lizenzen und Testimonials. Gerade bei erfolgreichen Sportspielen wird dann häufig eine Serie aufgebaut. Exemplarisch zeigt sich schon bei der FIFA-Serie, dass jährlich der Hersteller sowohl aktualisierte (lizensierte) Daten, aber auch Verbesserungen und Innovationen einpflegt. Partiell werden auch diese Spiele durch neue Steuerungsmöglichkeiten erweitert. Spiele mit Sportelementen (Sport als Teilinhalt integriert in digitale Spiele): Wenn Sport nicht der zentrale Inhalt digitaler Spiele ist, ist es dennoch nicht a priori ausgeschlossen, dass zahlreiche Elemente eines Sports Eingang finden. Diese Spiele mit Sportelementen bieten – analog zum weiten Rahmen des hier präsentierten Sportverständnisses – durchaus Sport. Zum Beispiel sind hier Tanzspiele oder auch Spiele zu nennen, bei denen Sport nur eine Teilaufgabe des Gesamtspiels ist (z.B. integriert als Minispiele). Sport ist dabei kulturell akzeptierter, integraler Bestandteil, nicht aber Kern des Angebotes. Hauptmotivationsgrund bei diesen Spielen ist der Spaß.
51 A.C.Y. Hung: The Work of Play. 52 Vgl. Mortensen, Torill Elvira: Perceiving Play. The Art and Study of Computer Games, New York: Peter Lang 2009, S. 9 ff.
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Sportsimulationsspiele und Managementspiele: Bei den Simulationsspielen53 steht häufig der so genannte Managementmodus mit sehr hoher Authentizität im Mittelpunkt. Hierbei sind es insbesondere die Organisationsstrukturen des Sports, die eine unmittelbare Verbindung zum Sport herstellen. Diese werden immer realistischer, und häufig lassen sich die Produzenten durch Profis beraten. Fun-Simulationen, die in den 1990er- und 2000er-Jahren noch häufig am Markt zu finden waren (z.B. der Fußballmanager ANSTOSS), sind inzwischen weitestgehend vom Markt verdrängt. An Spezialhardware gekoppelte Sportangebote mit digitalen Spielen: Die meisten Sportspielangebote werden mit der Standardhardware der jeweiligen Plattformen genutzt. Bei Konsolen sind dies heute im Normalfall Gamepads und bei der Bewegungssteuerung der Wii und Playstation die Controller und bei der Xbox die Gestensteuerung (Kinect). Darüber hinaus gibt es aber eine ganze Reihe von Spezialhardware (Balance Board, Fahrräder, Tanzmatten etc.), die vor allem im Bereich der Self Improvement-Games oder Exergames ganz spezifische »Übungen« erlauben. Hinzu kommen aber auch Einzelangebote, wie z.B. das Cyberbike (Bigben Interactive 200954). Anhand dieser Kategorien und der schon weiter oben beschriebenen acht Attribute des Sports lassen sich in einer exemplarischen Kreuztabelle55 (Abb. 3) präzise Einordnungen und Positionierungen entwickeln, wobei immer die zentrale Eigenschaft der Spiele im Mittelpunkt steht (was auch bedeutet, dass zahlreiche Sportspiele mehr als nur eine Sporteigenschaft haben können). Serious Games mit Sportelementen oder Exergames? Eine Sonderstellung im Vergleich zu den weiter oben beschriebenen kommerziellen digitalen Spielen nehmen diejenigen Exergames ein, die nicht im Kontext des Computer- und Videospielmarktes positioniert, sondern vor dem Hintergrund der Rehabilitation oder in anderen medizinischen, therapeutischen Zusammenhängen entwickelt werden.56
53 Nicht gemeint sind hier Flug- oder Segelsimulatoren. 54 http://www.geek.com/articles/games/bigben-to-ship-exercise-bike-with-wii-gamecyberbike-20091014/ 55 Aufgrund der Vielzahl der Spiele wird in der Tabelle (Abb.2) auf Einzelquellennachweise verzichtet. 56 Vgl. Wiemeyer, Josef: »Gesundheit auf dem Spiel? Serious Games in Prävention und Rehabilitation«, in: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 61/11 (2010), S. 252-257.
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Abbildung 3: Kreuztabelle der Einordnung digitaler Sportspiele mit exemplarischen Beispielen (Primäreinordnung) Sport als Spielinhalt
Spiele mit Sportelementen
Fokus
1 Exergames 2 Wellness Games
1 Wellness Games 2 Self Improvement
Physiologie
1 Virtua Tennis 2 Rockstar Table Tennis
1 Tony Hawk´s Pro Skater 2 Shaun White Snowboarding 2 Exerbeat 3 Dance Central 4 Shaun White Skateboarding
Psychologie
1 Tiger Woods
1 Yoga 2 Deepak Chopra Leela 3 Daisy Fuentes Pilates
1 Fitness Coach Wii 2 Kinect Sports 3 Your Shape 4 UFC
Sportangebote mit SpezialHardware 1 Self Improvement 2 Exergames 1 Active – Personal Trainer 2 EA Sports Active Stepper 3 Zumba Fitness 4 Tony Hawk RIDE (mit Board)
1 Radsportmanager
Strukturen Training
Sportsimulationsspiele / Management 1 Skill based Games 2 Self Improvement
1 Fifa Fußballmanager (Trainingssteuerung)
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Sport als Spielinhalt
Spiele mit Sportelementen
Sportsimulationsspiele / Management
Sportangebote mit SpezialHardware
Personal Trainer 5 Fitness First Personal Trainer 6 Nike+ Kincet Training 7 Adidas MiCoach Wettkampfsysteme
1 NBA 2 Fifa 3 NHL 4 PES 5 IHF 6 Major League Baseball 7 Fight Night
Gesellschaft
1 London 2012 2 Vancouver 2010 3 Champion Jockey
1 Alle Neune 2 Pro Bowling 3 Rapala Fishing 4 PDC Darts
Medialisierung
1 Summer Athletics 2 Michael Phelps Push the Limit
1 Sponge Bob Surf & Skate Tour
Technisierung
1 Fifa Fußballmanager (Ligamodus)
1 Rapala Pro Bass Fishing (Bundle)
1 Anstoss
1 SegelSimulator
1 CyberBike
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In diesem Zusammenhang spricht man von Serious Games, denen in den letzten fünf Jahren ein reges Forschungsinteresse entgegengebracht wird.57 Hierzu haben sowohl Sawyer & Smith58, Ratan & Ritterfeld59 als auch Müller-Lietzkow & Jacobs60 entsprechende Taxonomien bzw. Klassifizierungsvorschläge gemacht, die allerdings im spezifischen Fall des Sports zu breit erscheinen. Dies gilt ebenso für Applikationen, die im Zusammenhang mit dem leistungssportlichen Training entwickelt werden. In ihrem Grundgedanken weichen sie stark von den im Handel erhältlichen Spielen ab, die für einen kommerziellen Freizeitmarkt entwickelt wurden. Wie weiter oben beschrieben soll hier noch einmal auf die Gedanken von Wiemeyer61 geschaut werden. Er verortet digitale Spiele im Sinne der Ausbildungs- und Lerninstrumente. Serious Games, die explizit im Kontext der Prävention und Rehabilitation sowohl zu physischen auch psychischen Zwecken eingesetzt werden, sollen als Exergames definiert werden (auch im Sinne Bogosts62). Deren Ziel ist es, über adaptive Trainingsprozesse Zustände entweder zu verbessern (im leistungsorientierten Sport) oder wieder auf ein bestimmtes Niveau im Rahmen rehabilitativer Maßnahmen zu heben. Nicht selten wird hierbei auf Spezialhardware bzw. spezifische Hardwarekonstruktionen aufgesetzt (z.B. ein Rennrad kombiniert mit einem Radtourenprogramm). Vor dem Hintergrund des vorliegenden Textes spielen diese Angebote eine gesonderte Rolle und sollen im Kontext der Beantwortung der Kernfragestellung (ebenso wie der eSport) zwar nicht weiter vertieft berücksichtigt werden, aber es soll dafür sensibilisiert werden, dass dieses Thema weiterer Forschung bzw. Beobachtung der Entwicklung u.a. in sportmedizinischen Kontexten bedarf. Das Gesamtbild zeigt, dass vor allem die Komponenten physischer Ertüchtigung versus Strukturbedeutung eine große Rolle spielen. Letzten Endes wird damit implizit auf die Frage der Gewichtung des Grundverständnisses von Sport verwiesen. Sieht man im Sport eher die eigene körperliche Ertüchtigung vor dem
57 Vgl. grundlegend Ratan, Rabindra/Ritterfeld, Ute: »Classifying Serious Games«, in: Ute Ritterfeld/Michael Cody/Peter Vorderer (Hg.), Serious Games. Mechanisms and Effects, London: Routledge 2009, S. 10-24; Ganguin, Sonja: Computerspiele und lebenslanges Lernen. Eine Synthese von Gegensätzen, VS Verlag: Wiesbaden 2010. 58 Sawyer, Ben/Smith, Peter: Serious Games Taxonomy. Serious Games Initiative, 2008. http://www.seriousgames.org/ Stand 24.2.2013. 59 R. Ratan/U. Ritterfeld »Classifying Serious Games«. 60 J. Müller-Lietzkow/S. Jacobs: »Serious Games«. 61 J. Wiemeyer: »Digitale Spiele«, S. 126 f. 62 I. Bogost: »Exergames«.
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Hintergrund eines zielgerichteten Handelns in einem durch ein Regelwerk festgelegten Rahmen, sind es prinzipiell die Exergames, welche hier als prototypisch und sich zunehmend vom reinen Spielemarkt wegbewegend angesehen werden können. Geht es eher um die gesellschaftliche Einbindung unter Berücksichtigung struktureller, ökonomischer und wissensspezifischer Aspekte, sind gerade Simulationen bzw. Sportspielserien als Lizenzprodukte durchaus im Sinne der Eingangsfrage prototypisch. Gäbe es nur diese beiden Klassen, über die zu sprechen wäre, lautet die Beantwortung der Eingangsfrage: In allen digitalen Spielen, die postulieren etwas mit Sport zu tun zu haben, ist Sport enthalten. Dass dem nicht so ist, zeigte die Feindifferenzierung. Daher widmet sich der letzte Abschnitt einer detailreicheren Schlussbetrachtung der Leitfrage.
7 F AZIT
UND
F ORSCHUNGSAUSBLICK
Wie viel Sport steckt (nun) wirklich in digitalen Spielen? Sport, wie schon die Herleitung der acht Attribute zeigte, hat viele Facetten. Zusätzlich ist er kulturell geprägt. Somit ist letzten Endes die hier vorliegende Bewertung prinzipiell durch das kulturelle Bias des zugrundeliegenden nationalen deutschen Sportsystemverständnisses geprägt. Dies vorweg geschickt, zeigt sich, dass die Beantwortung der Frage, wie viel Sport wirklich in digitalen Spielen steckt, letzten Endes vom Auge des Betrachters abhängt. Zum Beispiel kann eine Fußballsimulation wie der FIFA Manager, bei der es den Machern auf eine sehr hohe Authentizität ankommt, sehr wohl als »Sportinhalt« verstanden werden. Eine weitere Frage ist, ob der Nutzer auch »Sport« treibt, wenn er das Spiel nutzt. Die Antwort bei diesem Beispiel würde, basierend auf der vorgestellten Taxonomie, eher ambivalent ausfallen. Zwar nutzt der Spieler eine an der Realität angelehnte Sportsimulation und wird daher mit nahezu realen Herausforderungen des Sports konfrontiert, aber seine Handlungen bleiben ohne reale Konsequenzen, und es stellt sich auch die Frage, ob die Spielhandlung in der Eigenwahrnehmung als Sport verstanden wird. Auch das Moment des gesellschaftlichen Aspekts der Gemeinschaftsbildung bleibt, selbst bei Berücksichtigung von »Online-Features« und Spielgemeinschaften, zunächst außen vor. Umgekehrt kann durchaus festgestellt werden, dass, nutzt ein Spieler physisch extrem belastende Spiele bzw. Spiele mit Spezialhardware, die auch noch ein erhebliches und nachhaltiges Training erfordern, hier sehr wohl von Sport im originären Sinne gesprochen werden kann. Der Leistungsvergleich mit Dritten ist möglich und auch die Ausbildung von Techniken, Handlungsstrategien etc.
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sinnvoll. Weniger aber bilden sich die dem Sport zugehörigen Strukturen und bekannten Muster und Ausprägungen ab. Auch hier stellt sich dann wieder die Frage, ob man tatsächlich von Sport sprechen kann oder ob die vorgestellten Begriffe Self-Improvement, Exer- oder Wellness-Games nicht zutreffender wären. Was leistet das Modell nicht? Die hier entwickelte Taxonomie bzw. die Kreuztabelle erlauben es, einzelne Spiele zu klassifizieren und im Markt zu positionieren. Damit wird sowohl auf wissenschaftlicher als auch auf pragmatischer Ebene ein Fortschritt insofern erzielt, als eine präzisere Einordnung im Umkehrschluss auch ein besseres Verständnis erlaubt. Dennoch fehlen einige zentrale Erkenntnisse, um vor allem Wiemeyers Anstoß folgen zu können. Zwar ist eine Verortung nun möglich, aber über den Ausprägungsgrad der einzelnen Spiele im Sinne des Sportanteils ist nur bedingt eine Aussage möglich. Zum Beispiel kann ein physisch sehr anstrengendes Exergame sicherlich deutlich anders bewertet werden als ein entspanntes Wellness-Game mit Sportelementen. Bei keinem von beiden aber wird die Wirkungsdimension (auch im Vergleich zu realem Sport) sofort deutlich. Es fehlt schlichtweg an Messparametern. Nimmt man die acht vorgestellten Attribute, bliebe es einer Einzelprüfung von Spielen vorbehalten zu sehen, wie viele dieser Attribute tatsächlich in welcher Intensität tangiert werden. Auch ist die Kombination und deren verstärkende Wirkung zu hinterfragen. Zum Beispiel könnte ein Spiel mit Spezialhardware sowohl im Sinne der Technisierung als auch der physischen Erfahrung ein deutlich realistischeres Sporterlebnis ermöglichen als dasselbe Spiel, wenn es durch eine herkömmliche Gamepad-Steuerung geprägt wäre.63 Die Taxonomie kann auch noch keinen Beitrag zur Frage der Rezeption leisten. Es ist durchaus denkbar, dass Sportspiele, die sowohl allein als auch gemeinsam genutzt werden können, unterschiedliche Rezeptionsmodalitäten aufweisen. Zum Beispiel kann die einzelne Partie Eishockey gegen die künstliche Intelligenz des Spiels zu vollkommen anderen kognitiv-psychischen Erfahrungen führen als die gemeinschaftliche Nutzung durch menschliche Spieler. Zudem ist
63 Auch kann in diesem Kontext gefragt werden, ob z.B. die Präzision, die im realen Sport von großer Bedeutung ist, auch im virtuellen Sport tatsächlich mit heute existierenden Technologien erreicht werden kann.
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unklar, ob diese kognitiv-emotionalen Reaktionen mit denjenigen im realen Sport vergleichbar sind.64 Vor allem fehlen klare Indikatoren zum achten Attribut, dem Training. Es wurde ja schon dessen verbindender Charakter für die anderen sieben Attribute betont. Es stellt sich die Frage, ob ein strukturiertes Training mit digitalen Spielen dieselben Ergebnisse möglich macht wie beim realen Sporttreiben (Stichwort: Trainingslehre). Hierzu fehlt es auch bislang an Langzeitstudien im Bereich der Sportwissenschaft, die über den rein medizinischen Rahmen hinausgehen. Die Liste wäre an dieser Stelle sicherlich noch stark erweiterbar. Wesentlicher ist aber die Erkenntnis, dass mit der vorgeschlagenen Taxonomie und dem hier verwendeten Sportverständnis zunächst die Grundlage eines analytischen Zugangs geschaffen wurde, der nun vertiefende Einzelstudien verlangt. Eine besondere Bedeutung muss hier den Exergames zugemessen werden, da deren Anspruch im Vergleich zu herkömmlichen Sportspielen ein anderer jenseits des reinen Spielemarktes ist bzw. sein sollte.65 Ableitungen für die Forschung Sport und digitale Spiele stehen heute – vierzig Jahre nach Gründung der Computer- und Videospielindustrie – in einem ambivalenten Verhältnis zueinander. Auch wenn auf analytischer Ebene durch die Taxonomie gezeigt werden konnte, dass der Grad variiert, mit dem Sport in digitalen Spielen vertreten ist, bleibt natürlich offen, ob ein so grobes Raster auch eine genauere Bestimmung dieser Verbindung erlaubt. Daraus resultieren folgende Erkenntnisse: Erstens leitete sich vor diesem Hintergrund die erste zukünftige Forschungsaufgabe ab, in der es nun auf Basis der Taxonomie und des präsentierten Grundverständnisses von Sport gilt, ein Bestimmungsinstrument zu entwickeln, welches eine präzise Aussage über den Anteils- bzw. Intensitätsgrad von Sport in einzelnen digitalen Spielen erlaubt. Die Vorteile solcher Klassifizierungsansätze liegen auf der Hand, da sowohl wissenschaftliche Forschung als auch entsprechende Entwicklungsansätze deutlich klarer und zielorientierter gestaltet werden
64 Ist z.B. der Frust über ein verlorenes Videospiel tatsächlich so stark wie z.B. bei einer verlorenen regionalen Meisterschaft in derselben Sportart? 65 Es wäre an dieser Stelle zu umfangreich, in einer Synopsis erste sportphysiologische und sportmedizinische Untersuchungen zu erfassen. Diese Anforderung besteht aber für die weitere Forschung.
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sowie gleichzeitig Hinweise auf das Design und die Entwicklung der Produkte gegeben werden können. Zweitens wurde, wenn auch nicht vertieft, das Thema Serious Games (Exergames) angesprochen. Hier ist klar, dass der präsentierte Rahmen nur skizziert, wie eng zukünftig genau dieses Feld in Zusammenhang mit dem Gesamtthema steht. Ein kurzes Beispiel illustriert dies: Wird ein Spiel zur Regeneration nach einer Schulterverletzung entwickelt und dieses wird zu Rehabilitationszwecken (z.B. anstelle von klassischer Krankengymnastik) eingesetzt, aber die Qualität in der Bewegungsausführung oder auch in der Trainingssteuerung weicht erheblich von den realen Anforderungen ab, kann es zu unbeabsichtigten Folgeschäden kommen, die das Grundübel sogar noch verschlimmern könnten. Dies mag bei einem einfachen mechanischen Problem noch behebbar sein, kann aber sowohl längerfristig zu Dysbalancen oder gar chronischen Schäden führen. Vor diesem Hintergrund sind es gerade die physischen Exergames, denen besondere Aufmerksamkeit sowohl im Hinblick auf deren Produktion als auch die Begleitforschung zuteil werden sollte. Drittens ist über die Sonderrolle des eSports nachzudenken. Die vorgestellte Taxonomie erlaubt nur schwerlich die Einordnung von eSport, wobei hier nicht nur die Ligasysteme oder die bisher genutzten Spiele gemeint sind, sondern auch mögliche Weiterentwicklungen hinsichtlich eher physisch orientierter Systeme. Hierzu kann auf einige ältere Aufsätze verwiesen werden.66 Die Forschungsaufgabe 2013 würde aber durchaus erfordern, dass man sich mit den Entwicklungen, die seit der letzten Erhebung stattgefunden haben, näher auseinandersetzt. Konklusionen für das Game Design und Development Digitale Spiele, die sich in Richtung der Sportspiele bewegen, sollten vor allem ihre Zielgruppen nicht ignorieren. Sowohl ultrarealistische als allzu stark abstrahierte Darstellungen werden häufig nicht dem Anspruch gerecht. Darüber hinaus sind es die schon erwähnten Probleme, die sich bei unsachgemäßer Anwendung im physischen Bereich einstellen können. Bei den Simulationen hingegen ist die Sachlage einfacher zu bewerten. Dennoch wird es auch hier zukünftig darauf ankommen, dass die Balance zwischen Spielbarkeit und Realismus gewahrt bleibt (notwendige Komplexitätsreduktion). Aus Designsicht sicherlich problematisch bleibt die Frage des Umgangs mit reinen Fun- und Action-Spielen. Pragmatisch kann vor allem bei Spielen, die physiologisch intensiv sind (spezifisch die Exergames), nur dazu geraten werden, dass zukünftig im Rahmen der Entwick-
66 Ders.: »Sport im Jahr 2050«.
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lung auch eine sportwissenschaftliche Begleitforschung genutzt wird, damit die erwünschten Effekte erzielt werden können. Denn gerade dann könnte die Eingangsfrage, wie viel Sport tatsächlich in digitalen Spielen steckt, mit dem Wort »viel« beantwortet werden.
L ITERATUR Bogost, Ian: »Exergames. Strategien und soziale Rituale«, in: Gundolf S. Freyermuth/Lisa Gotto/Fabian Wallenfels (Hg.), Serious Games, Exergames, Exerlearning, Bielefeld: transcript 2013, S. 233-264. Breuer, Markus: E-Sport. eine Markt- und ordnungsökonomische Analyse, Boizenburg: Hülsbusch 2011. Byron, Simon/Curran, Ste/McCarthy, David: Game On! From Pong to Oblivion, London: Headline 2006. Demaria, Rusel/Wilson, Johnny L.: High Score. 2nd Ed, Emeryville: McGrawHill/Osborne 2004. Donovan, Tristan: Replay. The History of Video Games, East Sussex: Yellow Ant 2010. DOSB: Deutscher Sportsbund. Einheit in der Vielfalt, Positionspapier des Bundestages des DSB vom 9.12.2000. Hannover 2012a. DOSB: Definition »Sport« von 2012b. http://www.dosb.de/de/organisation/phi losophie/sportdefinition/ Ganguin, Sonja: Computerspiele und lebenslanges Lernen. Eine Synthese von Gegensätzen, VS Verlag: Wiesbaden 2010. Gee, James Paul: What Video Games Have to Teach us about Learning and Literacy, New York: Palgrave 2007. Gesellschaft für Konsumforschung (GFK)/Bundesverband Interaktiver Unterhaltungssoftware (BIU): Anzahl der Computerspieler in verschiedenen Altersgruppen in Deutschland im Jahr 2011 (in Millionen), http://de.statista.com/ statistik/daten/studie/198202/umfrage/altersverteilung-von-gamern-in-deut schland-in-absoluten-zahlen Goldberg, Harold: All Your Base are Belong to Us. How Fifty Years of Videogames Conquered Pop Culture, New York: Three Rivers Press 2011. Grupe, Ommo/Krüger, Michael: »Sport«, in: Ommo Grupe/Dietmar Mieth (Hg.), Lexikon der Ethik im Sport. Herausgegeben im Auftrag des Bundesinstituts für Sportwissenschaft. 2. Auflage, Schorndorf: Hofmann 1998, S. 478-484. Hagedorn, Günter: »Philosophie des Spiels«, in: Herbert Haag (Hg.), Sportphilosophie. Ein Handbuch, Schorndorf: Hofmann 1996, S. 145-172.
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W IEVIEL S PORT STECKT WIRKLICH IN DIGITALEN S PIELEN ?
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Bewegung und Lernen Lernpotenziale im Spannungsfeld motorischen und kognitiven Lernens
R OLF K RETSCHMANN
E INLEITUNG »A common sense view would be that learning, like breathing, is something everyone does all the time, – ›you are never too old to learn‹ – even if they do not realize that they are doing it.«1 Die pädagogische Leitidee des lebenslangen Lernens findet sich mittlerweile nicht nur geradezu selbstverständlich in der pädagogischen Theoriebildung und in teils politisierten ökonomischen Kontexten der sogenannten Berufswelt wieder, sondern hat für die erfolgreiche Lebensgestaltung des Alltags bzw. der Freizeit wohl eine zentrale Bedeutung erlangt. Im Fokus der ebenso zentralen Freizeitbeschäftigung mit den Bildschirmmedien Computer- und Videospiel ist dem pädagogischen Augenmerk sehr wohl die Unterscheidung von informellem und formellem (zielgerichtetem) Bereich des Lernens nicht entgangen. Wir lernen also, ohne überhaupt Lernprozesse intendiert zu haben. Wissens- und Erkenntnisinhalte eignen wir uns also bewusst oder unbewusst nicht nur im Alltag, sondern auch beim Spielen digitaler Spiele an. Gameplay, Spielwelt, -regeln, -prinzip und -strategien gehören zum selbstverständlichen »Lerninhalt« digitaler Spiele2 – und ebenso ergo Exergames als deren Unterklas-
1
Tight, Malcom: Key Concepts in Adult Education and Training, London: Falmer
2
Gee, James Paul: What Video-Games Have to Teach Us About Learning and Literacy,
2002. New York: Palgrave Macmillan 2003.
324 | R OLF K RETSCHMANN
se. Allerdings liegt das Besondere und Spezifische von Exergames – so wie es die Betitelung auch verdeutlicht – auf der Bewegung.3 Anthropologisch wohnen menschlichen Bewegungen diverse Bedeutungen inne. Bewegungsverhalten und -handeln hat instrumentelle, explorativ-erkundende, soziale und/oder personale Bedeutung.4 Die Basis des erfolgreichen Vollzugs motorischer Handlungen liegt in der Ausprägung und Ansteuerung motorischer Fähig- und Fertigkeiten, die es, sowohl in formellen also auch informellen Kontexten, zu trainieren gilt, um die Funktionen und Bedeutungen menschlicher Bewegung auszufüllen. Technologie- bzw. (digitaler) Medieneinsatz kann den Lernprozess im Bereich des Bewegungslernens durchaus unterstützen.5 Im Fall Exergames, in dem Hard- und Software selbst Medium des Lernens und der Bewegung stellen, bleibt die Frage, welche Lernpotenziale Exergaming inhärent seien, erst einmal als annähernde Überlegungen offen im Raum. Augenscheinlich bilden Exergames Lernpotenziale des gesamten Feldes (digitalen) Spielens und durch das bewegungsinduzierte Interface auch des Feldes motorischen Lernens ab. Aus sportwissenschaftlicher Perspektive sollen nun im inter- bzw. transdisziplinären Feld Exergames Lernpotenziale identifiziert werden. Hierzu werden zuerst Lernmodelle für digitales Spielen systematisiert, um den theoretischen Rahmen für die weitere Beschäftigung zu schaffen. Anschließend werden die empirischen Befunde zum Exergaming aufgearbeitet. Nach einem Exkurs in die Theorie(n) des motorischen Lernens erfolgt schließlich eine Synopse, die Lernpotenziale des Exergamings im Lichte des motorischen Lernens zu synthetisieren versucht.
L ERNMODELLE »D IGITAL G AMES « In den sogenannten Game Studies finden sich vielfältige, aber durchaus zahlreiche, Publikationen und Konzepte, die »Serious«-Lernen durch das Spielen
3
Vgl. u.a. Bogost, Ian: »The Rhetoric of Exergaming«, Paper presented at the Digital Arts and Cultures conference, Copenhagen Denmark, December 2005.
4
Grupe, Ommo: Bewegung, Spiel und Leistung im Sport. Grundthemen der Sportanthropologie, Schorndorf: Hofmann 1982.
5
Vgl. u.a. Kretschmann, Rolf: »Physical Education 2.0«, in: Martin Ebner/Mandy Schiefner (Hg.), Looking Toward the Future of Technology-Enhanced Education. Ubiquitous Learning and the Digital Native, Hershey, PA: IGI Publishing 2010, S. 432-454.
B EWEGUNG UND L ERNEN
| 325
(kommerzieller) digitaler Spiele propagieren und argumentativ untermauern.6 Die jeweiligen Abhandlungen sind unspezifischer Natur, da sie sozusagen einen »Rundumschlag« mehrerer Genres, Spieletypen und Spielen vornehmen. Systematisierungen in Form eines Lernmodells sind jedoch recht rar. Das (im deutschsprachigen Raum) dominante Transferebenenmodell nach Fritz7 beschreibt den »komplexen Austauschprozess zwischen Spiel und Spieler einerseits und zwischen virtueller Welt und anderen Welten andererseits«.8 Im Fritz’schen Modell lassen sich Fact-, Skript-, Print-, metaphorische und sozialdynamische Ebene des intra- und intermondialen Transfers unterscheiden (s. Abb. 1). Abbildung 1: Transferebenenmodell bei Computerspielen
Quelle: J. Fritz: Wie virtuelle Welten wirken, S. 22.
6
J.P. Gee: What Video-Games Have to Teach Us About Learning and Literacy; Prensky, Marc: Digital Game-Based Learning, New York: McGraw-Hill 2001; Shafter, David W.: How Computer Games Help Children Learn, New York: Palgrave Macmillan 2003.
7
U.a. Fritz, Jürgen: Wie virtuelle Welten wirken. Über die Struktur von Transfers aus der medialen in die reale Welt, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2005. http://www.bpb.de/themen/OI6VDV.html
8
Ebd., S. 2.
326 | R OLF K RETSCHMANN
Der Grundgedanke des Transfermodells besteht in der Verschränkung und Austauschbeziehung der verschiedenen Welten, unter denen die virtuelle Welt durch sogenannte Schemata, die sich in Handlungsmustern manifestieren, mit der realen Welt transferiert und umgekehrt (s. Abb. 2). Die Bedingungen der Begünstigung des Transfers liegen allerdings, so Fritz9, im Bereich einer bislang unbeantworteten Forschungsfrage. Abbildung 2: Kognitive Drehbühne für Transferprozess
Quelle: J. Fritz: Wie virtuelle Welten wirken, S. 22.
In einer kompetenzorientierten Betrachtungsweise gibt Wiemeyer10 einen »Überblick über Kompetenzbereiche, die durch digitale Spiele beeinflusst werden können«. Im Modell werden die Bereiche Kognition, Emotion / Volition, Persönlichkeitsbezogene Kompetenz, Sensomotorik, Soziale Kompetenz und Medienkompetenz unterschieden und ausdifferenziert (s. Abb. 3).
9
Ebd., S. 24.
10 Wiemeyer, Josef: »Digitale Spiele. (K)ein Thema für die Sportwissenschaft?!«, in: Sportwissenschaft 39/2 (2009), S. 122; mod. nach Gebel, Christa/Gurt, Michael/Wagner, Ulrike: »Kompetenzförderliche Potenziale populärer Computerspiele«, in: Arbeitsgemeinschaft betriebliche Weiterbildungsforschung (Hg.), E-Lernen. Hybride Lernformen, Online-Communities, Spiele, Berlin: Arbeitsgemeinschaft betriebliche Weiterbildungsforschung 2005, S. 262.
B EWEGUNG UND L ERNEN
| 327
Abbildung 3: Kompetenzbereiche, die durch digitale Spiele beeinflusst werden können
Quelle: J. Wiemeyer: »Digitale Spiele«, S. 122; mod. nach C. Gebel/M. Gurt/ U. Wagner: »Kompetenzförderliche Potenziale populärer Computerspiele«, S. 262.
Die hier präsentierten Ansätze des Transfer- und Kompetenzmodells sind durchaus nicht die einzigen im mannigfaltigen und pluralen Feld der Game Studies. Es wird also kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Auffällig ist jedoch, dass allgemeine Modelle ohne Spezifizierung auf und Genese aus spezifische/n Genres und Spieltypisierungen dominieren. Eine Forderung nach einem Genre-spezifischen Kompetenzmodells findet sich bei Kretschmann11 (s. Abb. 4).
11 Kretschmann, Rolf: »Development of Competencies by Playing Digital SportsGames?!«, in: Thomas Conolly/Mark Stansfield (Hg.), Proceedings of the 2nd European Conference on Games-Based Learning, Reading: Academic Publishing Limited 2008, S. 243-250; Kretschmann, Rolf: »Developing Competencies by Playing Digital Sports-Games«, in: US-China Education Review 7/2 (2010), S. 67-75.
328 | R OLF K RETSCHMANN
Abbildung 4: Dimensions of Competencies in Digital Sports Games
Quelle: R. Kretschmann »Development of Competencies by Playing Digital Sports-Games?!«, S. 247; ders.: »Developing Competencies by Playing Digital Sports-Games«, S. 70.
Als Zwischenfazit lässt sich nun festhalten, dass das Lernpotenzial im digitalen Spiel erkannt ist, die empirische Modellentwicklung und der Bezug auf empirische Befunde bei der Modellentwicklung jedoch eher dürftig ausfallen. Die Modelle liefern aber durchaus einen theoretischen Fluchtpunkt für anknüpfende Empirie und eine argumentative Legitimationsbasis. Durch die große Reichweite der Modelle können Exergames ohne Weiteres als deren Anwendungsfall deklariert werden.
E MPIRISCHE B EFUNDE Die empirischen Befunde in den Game Studies zu Lerneffekten sind eher unüberschaubar und sehr fragmentiert. Teils sind die Methoden diffus und münden u.a. in undifferenzierte Befunde. Allerdings lassen sich vielfältige »nicht-empirische« Fundstellen, sozusagen Indizien, für Lerneffekte aufspüren. U.a. werden Effekte bezüglich der Verbesserung von Sozialkompetenz (»social skills«12), kognitiver Entwicklung und Schulerfolg (»school achievement, cognitive abili-
12 McFarlane, Angela/Sparrowhawk, Anne/Heald, Ysanne: Report on the Educational Use of Games, Cambridge: TEEM (Teachers Evaluating Educational Multimedia) 2002. http://www.teem.org.uk/publications/teem_gamesined_full.pdf
B EWEGUNG UND L ERNEN
| 329
ties and motivation towards learning«13), Aufmerksamkeit und Konzentration sowie komplexem und strategischem Denken (»attention and concentration, complex thinking and strategic planning«14), Informationsbeschaffung (»information retrieval and multi-disciplinary skills«15), logischem Denken und Problemlösen (»logical thinking and problem solving skills«16), Kollaboration (»collaboration with others«17) und meta-kognitiven Kompetenzen (»meta-cognition skills and strategic decision making skills«18) propagiert. Der »bunte Strauß« ist allerdings wieder recht unspezifisch und erinnert eher an den oben bereits erwähnten »Rundumschlag«. Sportwissenschaftliche Forschung Die sportwissenschaftlich-affine Forschung, die Bewegungsphänomene und Sportarten als Gegenstand aufweist, liefert differenzierte Ergebnisse. Im Bereich der räumlichen Wahrnehmung beobachteten Green/Bavelier unspezifische
13 Rosas, Ricardo et al.: »Beyond Nintendo: Design and Assessment of Educational Video Games for First and Second Grade Students«, in: Computers and Education 40/1 (2003), S. 71-94. 14 Kirriemuir, John: »A Survey of COTS Games«, Paper read at the Serious Games Summit within the Game Developers Conference, San Francisco, March 2005. http:// www.bris.ac.uk/education/research/networks/gern/gdc05.ppt 15 Mitchell, Alice/Savill-Smith, Carol: The Use of Computer and Video Games for Learning: A Review of the Literature, Cambridge: Learning and Skills Development Agency 2004. http://www.lsda.org.uk/files/PDF/1529.pdf 16 Inkpen, Kori et al.: »The Effect of Turn-Taking Protocols for Mouse-Driven Collaborative Environments«, in: Wayne A. Davis/Richard Bartels (Hg.), Proceedings of Graphics Interface’97, British Columbia/San Francisco: Morgan Kaufmann Publisher 1997, S. 138-145; Higgins, Steve: »ICT and Teaching for Understanding«, in: Evaluation and Research in Education 15/3 (2001), S. 164-171; Whitebread, David: »Developing Children’s Problem-Solving. The Educational Uses of Adventure Games«, in: Angela McFarlane (Hg.), Information Technology and Authentic Learning, London: Routledge 1997, S. 13-39. 17 Williamson, Ben/Facer, Keri: »More Than Just a Game. The Implications for Schools of Children’s Computer Games Communities«, in: Education, Communication and Information 4, 2/3 (2003), S. 253-268. 18 Bonk, Curtis J./Dennen, Vanessa P.: Massive Multiplayer Online Gaming. A Research Framework for Military Training and Education, Office of the Under Secretary of Defense for Personnel & Readiness 2005.
330 | R OLF K RETSCHMANN
Transferwirkungen.19 Lager/Bremberg berichten eine Verbesserung der räumlichen Wahrnehmungsfähigkeit (als auch der Reaktionsfähigkeit).20 Im Bereich Präzision verwendeten Fery/Ponserre eine Golfsimulation, um die Präzision beim Putten zu trainieren.21 Sie konnten bei Konzentration auf die symbolische Repräsentation der Schwungbewegung (durch eine dynamische Balkengrafik) positive Transfereffekte auf die reale Puttpräzision nachweisen. Die Konzentration auf die animierte Schwungbewegung selbst erzeugte keine Effekte. Im Bereich des kognitiven Transfers wies Hebbel-Seeger mit Hilfe einer Segelsimulation einen positiven Transfer vom virtuellen zum realen Segeln nach.22 Ein positiver Verhaltenseffekt der Spielgruppe im Vergleich zu einer Kontrollgruppe bei Segelanfängern war zu beobachten. Während 10 der 11 Probanden der Spielgruppe die reale Segelaufgabe erfolgreich meistern konnten, gelang dies nur 2 von 10 Probanden der Kontrollgruppe. Im Bereich Balance/Gleichgewicht konnten Brumels et al.23 mit den Spielen DANCE DANCE REVOLUTION und WII FIT selektive Trainingseffekte im Vergleich zu konventionellem Gleichgewichtstraining erreichen. Die traditionell trainierende Gruppe konnte sich ein einem Gleichgewichtstest (Sterntest) verbessern. Die Spielgruppen hingegen erreichten eine Reduzierung der Gesamtschwankungen im aufrechten Stand und hatten Vorteile im subjektiven Erleben (Schwierigkeit, Engagement und Spaß). Spezifischen Transfer konnte Sohnsmeyer24 bezüglich der Sportart Tischtennis (Nintendo Wii) feststellen. Er konnte sowohl einen positiven Effekt auf das Tischtenniswissen als auch eine Verbesserung der tischtennisspezifischen Reaktions- bzw. Antizipationsleistungen nachweisen. Einen ebenfalls spezifischen
19 Green, C. Shawn/Bavelier, Daphne: »Action-Video-Game Experience Alters the Spatial Resolution of Vision«, in: Psychological Science 18/1 (2007), S. 88-94. 20 Lager, Aston/Bremberg, Sven: Health Effects of Video and Computer Game Playing. A Systematic Review, Stockholm: Swedish National Institute of Public Health 2005. www.fhi.se/PageFiles/4170/R200518_video_computer_game(1).pdf 21 Fery, Yves-Andre/Ponserre, Sylvain: »Enhancing the Control of Force in Putting by Video Game Training«, in: Ergonomics 44/12 (2001), S. 1025-1037. 22 Hebbel-Seeger, Andreas: »Videospiel und Sportpraxis – (K)ein Widerspruch«, in: Zeitschrift für E-Learning, 4/3 (2008), S. 9-20. 23 Brumels, Kirk A. et al: »Comparison of Efficacy Between Traditional and Video Game Based Balance Programs«, in: Clinical Kinesiology. Journal of the American Kinesiotherapy Association 62/4 (2008), S. 26-31. 24 Sohnsmeyer, Jan: Virtuelles Spiel und realer Sport. Über Transferpotenziale digitaler Sportspiele am Beispiel von Tischtennis, Hamburg: Czwalina 2011.
B EWEGUNG UND L ERNEN
| 331
Transfereffekt berichten Esser/Witting aus der Sportart Basketball. Sie interviewten Spieler, die von Transfererlebnissen berichteten: »Einen Spielzug, den fand ich absolut gut am Computer. Da hab ich dann mal ausprobiert, das selber zu machen, als ich mal richtig gespielt hab. Das war so eine bestimmte Art, einen Gegenspieler zu umgehen. Die zeigen bei den Basketballspielen immer richtig gute Demos von der NBA.«25 »Da sind ja immer beim Basketball… da wird ja mittlerweile durch Stimmen alles möglich gemacht. Wenn man spezielle Würfe macht, dann schreien die auch so, und wenn man dann mal draußen spielt, dann merkt man auch an der ganzen Runde, dass das doch alles beeinflusst. Wenn man dann so einen Wurf macht, dann macht man die Stimme nach. Also das kommt doch vor … Nachher weiß ich immer, wer welches Spiel zu Hause spielt.«26
•
•
In einem internationalen Review sammelte Papastergiou27 Forschungsergebnisse bezüglich digitaler Spiele im Bereich Gesundheitserziehung und Sportunterricht, darunter auch einige Exergames28. Abb. 5 gibt einen guten Überblick der bisherigen Forschungsleistungen in diesem Bereich. Für Transfereffekte im Bereich Bewegung/Sport ist Wiemeyer zuzustimmen: »Die bisherigen Befunde legen die Vermutung nahe, dass Transfereffekte im Sport primär auf zwei Ebenen zu erwarten sind: •
sensomotorische bzw. perzeptive Ebene (elementare Leistungen)
•
kognitive Ebene (Wissen, Entscheidung und Strategie)«
29
25 Esser, Heike/Witting, Tanja: »Transferprozesse beim Computerspiel. Was aus der Welt des Computerspiels übertragen wird«, in: Jürgen Fritz/Wolfgang Fehr (Hg.), Handbuch Medien. Computerspiele. Theorie, Forschung, Praxis, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1997, S. 247–261, hier S. 254. 26 Ebd. 27 Papastergiou, Marina: »Exploring the Potential of Computer and Video Games for Health and Physical Education. A Literature Review«, in: Computers & Education 53/3 (2009), S. 603-622. 28 Z.B. Tan, Benedict et al.: »Aerobic Demands of the Dance Simulation Game«, in: International Journal of Sports Medicine 23 (2002), S. 125-129; Unnithan, Vish B. et al.: »Evaluation of the Energy Cost of Playing a Dance Simulation Video Game in Overweight and Non-Overweight Children and Adolescents«, in: International Journal of Sports Medicine 27 (2006), S. 804-809. 29 J. Wiemeyer: »Digitale Spiele. (K)ein Thema für die Sportwissenschaft?!«, S. 123
332 | R OLF K RETSCHMANN
Abbildung 5: Summary of Research Articles Concerning Electronic Games in HE and PE 30 Type of Learning
Author(s)
Outcomes
Bartholomew et al.
31
Type of Learners
Conclusion on Effectiveness
Knowledge,
Children,
Game was effec-
Behaviours,
Adolescents
tive (particularly
Quality of Life
for older participants and those with lower disease severeness)
Beale et al.
32
Knowledge
Adolescents,
Game was effec-
Adults
tive (no individual differences)
Cullen et al.
33
Behaviours
Children
Game was effective (no individual differences)
Munguba et al.
34
Knowledge,
Children
Game was at least
Metacognition,
as effective as
Intrinsic
board game in
Motivation
terms of knowledge and motivation, but less effec-
30 Vgl. M. Papastergiou: »Exploring the Potential of Computer and Video Games for Health and Physical Education«, S. 607. 31 Bartholomew, Lay K. et al.: »Watch, Discover, Think, and Act. Evaluation of Computer-Assisted Instruction to Improve Asthma Self-Management in Inner-City Children«, in: Patient Education and Counseling 39, 2/3 (2000), S. 269-280. 32 Beale, Ivan L. et al.: »Improvement in Cancer-Related Knowledge Following Use of a Psychoeducational Video Game for Adolescents and Young Adults With Cancer«, in: Journal of Adolescent Health 41/3 (2007), S. 263-270. 33 Cullen, Karen W. et al.: »Squire’s Quest: Intervention Changes Occurred at Lunch and Snack Meals«, in: Appetite 45/2 (2005), S. 148-151. 34 Munguba, Marilene C. et al.: »The Application of an Occupational Therapy Nutrition Education Programme for Children Who are Obese«, in: Occupational Therapy International 15/1 (2008), S. 56-70.
B EWEGUNG UND L ERNEN
Type of Learning
Author(s)
Outcomes
| 333
Conclusion on
Type of Learners
Effectiveness tive in terms of metacognition
Tan et al.
35
Fitness
Adults
Game was marginally effective (no individual differences)
36
Unnithan et al.
Fitness
Children,
Game was effec-
Adolescents
tive (particularly with overweight participants)
Energieumsatz (»Energy Expenditure«) Wer sich mit empirischer Forschung im Bereich Exergaming auseinandersetzt, stößt unweigerlich auf eine eher medizinisch ausgerichtete Forschungsrichtung, die sich mit dem Energieumsatz von bestimmten Tätigkeiten, in diesem Fall Exergaming, auseinandersetzt. Abbildung 6 illustriert die vielfältigen Ansätze, Methoden und Ergebnisse, erhebt aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Abbildung 6: Studien zu Exergames und Energieumsatz Autor
Zielgruppe 37
Bailey/McInnis
System/ Spiel
Effekt/ Ergebnis
39 boys and girls
Wii, Dance Dance
Moderate or vigor-
(mean age: 11.5
Revolution, Light-
ous intensity
years)
Space, Xavix, Cybex Trazer, Sportwal
35 B. Tan et al.: »Aerobic Demands of the Dance Simulation Game«. 36 V.B. Unnithan et al.: »Evaluation of the Energy Cost of Playing a Dance Simulation Video Game in Overweight and Non-Overweight Children and Adolescents« 37 Bailey, Bruce W./McInnis, Kyle: »Energy Cost of Exergaming. A Comparison of the Energy Cost of 6 Forms of Exergaming«, in: Archives of Pediatrics & Adolescent Medicine 165/7 (2011), S. 597-602.
334 | R OLF K RETSCHMANN
Autor 38
Bonetti et al.
Zielgruppe
System/ Spiel
Male subjects (n =
Isometric exergam-
Significant in-
32) equally divided
ing device
crease in VO2 and
into experimental
Effekt/ Ergebnis
EE
or control group Graves et al.
39
Six boys and five
Wii Sports
Predicted energy
girls aged 13-15
expenditure was
years
greater when playing active rather than sedentary games.
Graves et al.
40
14 adolescents, 15
Wii Fit
Wii Aerobics elic-
young adults, and
ited moderate in-
13 older adults
tensity activity in adolescents, young adults, and older adults.
Jordan et al.
41
Healthy male vol-
Playstation 2 (PS 2
PS 2 (limb) met
unteers (n = 15)
(hand)), Nintendo
ACSM guidelines
Wii boxing, walk
for cardiovascular
at 5.6 km h(-1), cy-
fitness; however,
cle at 120 W
current Wii technology failed.
38 Bonetti, Anthony J. et al: »Comparison of Acute Exercise Responses Between Conventional Video Gaming and Isometric Resistance Exergaming«, in: Journal of Strength and Conditional Research 24/7 (2010), S. 1799-1803. 39 Graves, Lee F. et al.: »The Contribution of Upper Limb and Total Body Movement to Adolescents' Energy Expenditure Whilst Playing Nintendo Wii«, in: European Journal of Applied Physiology 104/4 (2008), S. 617-623. 40 Graves, Lee F. et al.: »The Physiological Cost and Enjoyment of Wii Fit in Adolescents, Young Adults, and Older Adults«, in: Journal of Physical Activity & Health 7/3 (2010), S. 93-401. 41 Jordan, Mark/Donne, Bernard/Fletcher, David: »Only Lower Limb Controlled Interactive Computer Gaming Enables an Effective Increase in Energy Expenditure«, in: European Journal of Applied Physiology 111/7 (2010), S. 1465-1472.
B EWEGUNG UND L ERNEN
Autor
Zielgruppe
42
Siegel et al.
43,
Graf et al.
Graves et al. Guderian
44,
45
Effekt/ Ergebnis
13 male and female
(1) moving and
Caloric expendi-
participants 26.6 +
striking lighted
ture during the 30-
5.7 years of age
pads, (2) riding a
minute exercise
bike to increase the
session (226.07 +
pace of a race car,
48.68) is within the
and (3) boxing
ACSM recommen-
against a video
dations for daily
simulated opponent
physical activity.
Small (convenient)
Various platforms
Various measures
focus groups sam-
and games
and outcomes
ples
Hurkmans et al. Worley et al.
System/ Spiel
| 335
46
47
Exemplarisch sei auf drei Studien verwiesen, die einen positiven Befund im Hinblick auf den Energieumsatz beim Exergaming hervorbringen. Sie verdeutlichen ebenso die Vielfalt der Zugänge sowie die Attraktivität des Forschungsfeldes:
42 Siegel, Shannon R. et al.: »Active Video/Arcade Games (Exergaming) and Energy Expenditure in College Students«, in: International Journal of Exercise Science 2/3 (2009), S. 165-174. 43 Graf, Diana L. et al.: »Playing Active Video Games Increases Energy Expenditure in Children«, in: Pediatrics 124/2 (2009), S. 534-540. 44 Graves, Lee F. et al.: »Comparison of Energy Expenditure in Adolescents When Playing New Generation and Sedentary Computer Games: Cross Sectional Study«, in: British Medical Journal 335/7633 (2007), S. 1282-1284. 45 Guderian, Brandon et al.: »The Cardiovascular and Metabolic Responses to Wii Fit Video Game Playing in Middle-Aged and Older Adults«, in: Journal of Sports Medicine and Physical Fitness 50/4 (2010), S. 436-442. 46 Hurkmans, Henri L.: »Energy Expenditure in Chronic Stroke Patients Playing Wii Sports: A Pilot Study«, in: Journal of NeuroEngeneering and Rehabilitation 8/38 (2011), http://www.jneuroengrehab.com/content/8/1/38 47 Worley, Jennifer R. et al.: »Metabolic Responses to Wii Fit Video Games at Different Game Levels«, in: Journal of Strength & Conditioning Research 25/3 (2011), S. 689-693.
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•
•
•
Bailey/McInnis48 untersuchten den Energieumsatz beim Spielen mehrerer Konsolen (Wii, DANCE DANCE REVOLUTION, LIGHTSPACE, XAVIX, CYBEX TRAZER, SPORTWALL) und berichteten eine moderate bis starke Intensität der Bewegungsaktivität (»moderate to vigorous intensity«). Bonetti et al.49 fanden heraus, dass Exergaming einen wesentlich höheren Energieumsatz erzeugt als konventionelles Spielen im Sitzen. Die gefühlte/wahrgenommene körperliche Anstrengung erhöhte sich allerdings nicht. Graves et al.50 berichteten eine moderate Aktivität bei Jugendlichen, jüngeren und älteren Erwachsenen beim Spielen der Nintendo Wii. Das »Group enjoyment rating« beim Wii-Spielen war wesentlich höher als beim herkömmlichen Laufband-Training.
Im Großen und Ganzen sind die Befunde zwar unterschiedlich, haben aber eine eindeutige Tendenz zum Positiven, d.h. Exergaming ist durchaus anstrengend und erfüllt in den meisten Fällen das Kriterium des positiven kardiovaskulären Effekts. In einer aktuellen Metaanalyse kommen Peng/Lin/Crouse51 ebenfalls zu einem positiven Ergebnis, so dass der moderate Aktivitätslevel beim Exergaming wohl mittlerweile als geteiltes Professionswissen anzuerkennen ist. Interventionen Aus der eher gesundheitspsychologischen (Disseminations-)Forschung stammt der Ansatz, eine bestimmte Maßnahme, in diesem Fall Exergaming, zur Bekämpfung eines unerwünschten Verhaltens und eines daraus resultierenden Status (z.B. psychische oder physische Krankheiten) einzusetzen. Auch klinischtherapeutische Studien mit dieser Zielsetzung folgen dem Interventionsparadigma. Rosenberg et al.52 setzten die Nintendo Wii zur Bekämpfung von subsyndromaler Depression (SSD) bei Älteren ein. Die an SSD erkrankten Älteren nahmen
48 B.W. Bailey/K. McInnis: »Energy Cost of Exergaming. A Comparison of the Energy Cost of 6 Forms of Exergaming«, S. 597-602. 49 A.J. Bonetti et al.: »Comparison of Acute Exercise Responses Between Conventional Video Gaming and Isometric Resistance Exergaming«, S. 1799-1803. 50 L.F. Graves/ et al.: »The Physiological Cost and Enjoyment of Wii Fit in Adolescents, Young Adults, and Older Adults«, S. 93-401. 51 W. Peng/J.-H. Lin/J. Crouse: »Is Playing Exergames Exercising? «. 52 Rosenberg, Dori et al.: »Exergames for Subsyndromal Depression in Older Adults. A Pilot Study of a Novel Intervention«, in: The American Journal of Geriatric Psychiatry 18/3 (2010), S. 221-226.
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an einer 12-wöchigen Pilotstudie teil (Follow-up: 20-24 Wochen), in der sie drei 35-minütige Spieleinheiten pro Woche absolvierten. Als Ergebnis kann ein signifikanter Rückgang der Depressionssymptome, eine Zunahme der »mental health-related quality of life« (QoL) sowie eine Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit festgehalten werden. Allerdings gab es keine signifikante Steigerung der »physical health-related quality of life« (QoL). Fitzgerald et al.53 konnten bei Einsatz eines therapeutischen Exergaming-Systems bezüglich der dynamischen posturalen Stabilität (»dynamic postural stability«) ähnliche Effekte feststellen wie bei herkömmlichem Gleichgewichtstraining. Jedoch war ein verglichen mit der traditionell trainierenden Gruppe größeres Maß an Interesse und Freude (»interest and enjoyment«) beobachtbar. Nicht nur Ältere und Erkrankte sind Gegenstand des Interventionsansatzes, sondern auch die Zielgruppe Kinder steht im Fokus von Exergaming-Interventionen. Daley54 fasst die bisher marginal vorhandenen Studien zusammen (siehe Abb. 7). Insgesamt lässt sich feststellen, dass verhältnismäßig wenige Interventionsstudien mit Exergames vorliegen. Hierin könnte ein Hauptfokus der zukünftigen empirischen Forschung mit Exergames liegen.55 Abbildung 7: Interventionen – Kinder Autor Madsen et al.
Zielgruppe 56
System/ Spiel
Effekt/ Ergebnis
30 children
Use of DDR
2 children used DDR at least
aged 9–18
assessed by
twice p/w in 3 and 6, only 2
years with a
self-report and
children used DDR twice or
BMI of 95th
game memory
more p/w the initial 3-mo
percentile,
card; change in
period; between months and use
recruited from
BMI assessed
declined over time; DDR use
53 Fitzgerald, Diarmaid et al.: »Effects of a Wobble Board-Based Therapeutic Exergaming System for Balance Training on Dynamic Postural Stability and Intrinsic Motivation Levels«, in: The Journal of Orthopaedic and Sports Physical Therapy 40/1 (2010), S. 11-19. 54 Daley, Amanda J.: »Can Exergaming Contribute to Improving Physical Activity Levels and Health Outcomes in Children?«, in: Pediatrics 124/2 (2009), S. 763-771. 55 Yang, Stephen et al.: »Healthy Video Gaming. Oxymoron or Possibility?«, in: Journal of Online Education 4/4 (2008), S. 86-92. 56 Madsen, Kristine et al.: »Feasibility of a Dance Videogame To Promote Weight Loss Among Overweight Children and Adolescents«, in: Archives of Pediatric Adolescsence Medicine 161/1 (2007), S. 105-107.
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Autor
Zielgruppe obesity clinic
System/ Spiel by nurses
Effekt/ Ergebnis was not associated with change in BMI at follow-up; 13 children reported finding DDR boring as early as 4 wk into the intervention
Ni Mhurchu et 57
al.
Children
Objectively de-
Physical activity (accelerome-
(n=20) aged
termined phys-
tery) was significantly higher in
10–14 years
ical activity
the active video group than in
were recruited
(accelerome-
the control group at both
and randomly
tery) self re-
follow-ups; there were no sig-
assigned; par-
ported physical
nificant group differences in
ticipants had to
activity and
time spent in moderate and vig-
own a
video-game
orous physical activities as
PlayStation 2
play (active
measured by accelerometry;
console to be
and non ac-
there was a trend for reduction
eligible
tive), BMI and
in weight and waist circumfer-
waist circum-
ence in the active video group
ference
at 12 wk (mean group difference: -0.13 kg and -1.4 cm, respectively)
Chin et al.
58
Least fit chil-
Self-reported
Of 27 children randomly
dren aged 9–12
playing time of
assigned, 11 dropped out, leav-
years from 4
IDSVG,
ing 16 completers; the multi-
primary
fitness,
player group played more (non-
schools (n=29)
body weight,
significant) than the comparison
BMI, thickness
group (901 vs 376 min, respec-
of 4 skinfolds,
tively); focus group revealed
physical activi-
that children found the IDSVG
ty, sedentary
boring after a while, although 7
behavior, and
children bought the IDSVG
57 Ni Mhurchu, Cliona et al.: »Couch Potatoes to Jumping Beans: A Pilot Study of the Effects of Active Video Games on Physical Activity in Children«, in: International Journal of Behavioral Nutririon and Physical Activity 5/1 (2008), S. 8. 58 Chin A. Paw: »The Motivation of Children to Play an Active Video Game«, in: Journal of Science and Medicine in Sport 11/2 (2008), S. 163-166.
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Autor
Zielgruppe
System/ Spiel
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Effekt/ Ergebnis
perceived
after completing the study; data
competence in
on other outcomes
sports
Quelle: vgl. A.J. Daley: »Can Exergaming Contribute to Improving Physical Activity Levels and Health Outcomes in Children?«, S. 767.
Motorisches Lernen Was ist nun gemeint mit »motorischem Lernen«? Was verbirgt sich hinter dieser Begrifflichkeit? Die Begriffe »Motorik« und »Lernen« scheinen hier miteinander verknüpft. Zuerst soll der Blick auf die »Motorik«-Komponente fallen: Aus ontologischer Perspektive findet man besagte Begrifflichkeit im Kollokationsfeld von Bewegung, Sport (enger vs. weiter Sportbegriff) und Spiel. Ausprägungen einer motorischen Komponente finden sich in den Konstrukten und Forschungsfeldern der körperlichen Aktivität (»physical activity«), der sportlichen Aktivität und dem »sedentarischen«, sitzenden Lebensstil (»sedentariness«). In der Motorikforschung finden sich dann schließlich Begriffe wie »Motorische Entwicklung«, »Motorische Kompetenz«, »Motorische Kontrolle« (»motor control«) und das »Motorische Lernen«.59 Im Bereich des Lernens lassen sich zunächst die allgemeinen Lerntheorien aufzählen, wie sie ideen- und theoriegeschichtlich Einschlägigkeit gefunden haben: • • •
R-R- bzw. Signallernen60: Reiz-Reaktions-Theorie, bedingte (konditionierte) Reflexe, klassisches Konditionieren Lernen durch Verstärkung61: Operantes (instrumentelles) Konditionieren, positiv/ negativ, Versuch und Irrtum Lernen am Modell62: Lernen durch Beobachten und Nachahmen, Imitationslernen, Beobachtungslernen (im Sport ein verbreitetes Modell: Vormachen – Nachmachen)
59 Edwards, William H.: An Introduction to Motor Learning and Motor Control, Wadworth: Cengage Learning 2011. 60 Pawlow, Iwan P.: Conditioned Reflexes, London: Oxford University Press 1927; Pawlow, Iwan P.: Sämtliche Werke (Bd. 1-4), Berlin: Akademie-Verlag 1953. 61 Thorndike, Edward L.: Animal Intelligence, New York: Macmillan 1911; Thorndike, Edward L.: Human Learning, New York: Century 1931; Skinner, Burrhus F.: About Behaviorism, NewYork: Knopf 1974.
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• • • •
Lernen durch Einsicht63: Erfahrungsfelder neu organisieren und strukturieren, per Probehandeln, »Aha-Effekt«, Lernauffassung der Gestalttheorie Hierarchisches Lernmodell64: Niedere und höhere Lerntypen, acht Lerntypen, integrative Theorie (international sehr populär) Konstruktivismus65: Eigenkonstruktion der Wirklichkeit Situiertes Lernen66
Die gelisteten Lerntheorien sind weitestgehend prinzipiell gehalten und beschreiben eher das Lernen im Allgemeinen. Domänenspezifische Applikationen, in diesem Fall Sport/Bewegung/Motorik, werden eher nicht fokussiert. Der offenbar mit Sonderfall-Status ausgestattete Fall des motorischen Lernens bedarf wohl einer gesonderten Betrachtung aus der domänenspezifischen, fachwissenschaftlichen Perspektive. Bereits 1964 versuchte Fitts67 das Bewegungslernen »qualitativ« zu beschreiben und postulierte ein Drei-Phasen-Modell des motorischen Lernens: • •
Kognitive Phase: Bewusste, verbale Repräsentation der Bewegung. Fremdund Selbstinstruktion sind besonders wirksam. Assoziative Phase: Einzelne Bewegungskomponenten werden mit Erfolg und Misserfolg assoziiert und entsprechend beibehalten oder modifiziert. Besonders wichtig: Feedback.
62 Bandura, Albert: Lernen am Modell, Stuttgart: Klett 1976; Bandura, Albert: Sozialkognitive Lerntheorie, Stuttgart: Klett-Cotta 1979. 63 Köhler, Wolfgang: Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, Berlin: Springer 1917/ 1963; Wertheimer, Max: Kreatives Denken (2. Auflage), Frankfurt a.M.: Kramer 1964. 64 Gagné, Robert M.: The Conditions of Learning (2nd edition), New York: Holt, Rinehart and Winston 1970. 65 Piaget, Jean: Theorien und Methoden der modernen Erziehung, Frankfurt a.M.: Fischer-Taschenbücher 1974; Dewey, Brandon: »Democracy and Education«, in: Brandon Dewey: The Middle Works, 1899-1924, Vol. 9, Carbondale/Edwardsville: Southern Illinois University Press 1985; Wygotski, Lew: Ausgewählte Schriften. Band 2: Arbeiten zur psychischen Entwicklung der Persönlichkeit, Köln: Pahl-Rugenstein 1987. 66 Lave, Jean/Wenger, Etienne: Situated Learning. Legitimate Peripheral Participation, Cambridge: Cambridge University Press 1991. 67 Fitts, Paul M.: »Perceptual Motor Skill Learning«, in: Arthur W. Melton (Hg.), Categories of Human Learning, New York: Academic Press 1964, S. 243-285.
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•
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Automatische Phase: Keine bewusste Kontrolle mehr erforderlich. Keine verbale Repräsentation der Bewegung.
Aktuell ist wohl eine Modellvielfalt konstatierbar, die ein kaum noch überschaubares, plurales Bild der motorischen Lerntheorien offenbart. Die affinen sportwissenschaftlichen Teildisziplinen der Sportpsychologie, Trainingswissenschaft, Sportdidaktik und Bewegungswissenschaft werden zunehmend bereichert von neurowissenschaftlichen Erkenntnissen.68 Eine umfassende, differenzierte Darstellung ist aus Umfangsgründen hier nicht möglich. Einen Überblick über motorische Lerntheorien findet sich beispielsweise bei Olivier/Rockmann.69 Dennoch soll exemplarisch ein wirkmächtiges und gängiges Modell skizziert werden, um eine Vorstellung einschlägiger Modellierung zu vermitteln: Schnabel70 hat aus der Perspektive der Trainingswissenschaft ein Modell des Bewegungslernens entwickelt (s. Abb. 8). Das Modell umfasst einen inneren und äußeren Regelkreis und berücksichtigt Störgrößen sowie Umwelteinflüsse. Ebenso werden Elemente der Programmtheorie sowie der Speicherung im motorischen Gedächtnis integriert. Zentral ist auch der Sollwert-Istwert-Vergleich, der das motorische Programm maßgeblich beeinflusst. Grundsätzlich wird der Prozess des Erlernens einer motorischen Fertigkeit bzw. sportlichen Technik in drei Phasen eingeteilt71: • • •
Phase 1: Entwicklung der Grobkoordination; Phase 2: Entwicklung der Feinkoordination; Phase 3: Festigung der Feinkoordination, Entwicklung der variablen Verfügbarkeit.
Wichtig für die weiteren Überlegungen ist die Tatsache, dass Bewegungslernen sozusagen eine Art Mischung aus (rein) motorischem und kognitivem Lernen
68 Jansen-Osmann, Petra: »Der Einfluss der Neurowissenschaften auf die Sportwissenschaft«, in: Sportwissenschaft 38/1 (2008), S. 24-35. 69 Olivier, Norbert/Rockmann, Ulrike: »Theoretische Ansätze des sportmotorischen Lernens«, in: Norbert Olivier/Ulrike Rockmann (Hg.), Grundlagen der Bewegungswissenschaft und -lehre, Schorndorf: Hofmann 2003, S. 155-179. 70 Schnabel, Günter: »Allgemeine Bewegungsmerkmale als Ausdruck der Bewegungskoordination«, in: Kurt Meinel/Günter Schnabel (Hg.), Bewegungslehre – Sportmotorik, Berlin: Sportverlag 1998, S. 33-73. 71 Meinel, Kurt/Schnabel, Günter (Hg.): Bewegungslehre – Sportmotorik, Berlin: Sportverlag 1998.
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darstellt. Oder anders formuliert: Motorisches Lernen hat eine starke kognitive Komponente. Abbildung 8: Trainingswissenschaftliche Grundlagen des Bewegungslernens
Quelle: G. Schnabel: »Allgemeine Bewegungsmerkmale als Ausdruck der Bewegungskoordination«, S. 42.
S YNOPSE : L ERNPOTENZIALE »D IGITAL G AMES « Analysiert man nun motorische Fertigkeiten in Exergames, lässt sich schnell feststellen, dass Exergames sehr wohl ein motorisches Anforderungsprofil haben. Bloßes »Daddeln«, das jeder kann, ist mit einem erfolgreichen Spielen nicht überein zu bringen. Genauso wie ein sportlicher Anfänger, der das erste Mal Tennis spielt, wird ein Exergaming-Anfänger, der das erste Mal ein Exergame spielt, keine Chance gegen den fortgeschrittenen Computer- oder realen Gegner haben. Ein einzelnes, spezifisches Exergame ist also äquivalent zu einer Sportart
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zu betrachten, insofern die Spielmechanik eine ausreichend große Varianz in Anzahl und Komplexität motorischer Fertigkeiten bietet. Das motorische Anforderungsprofil eines (spezifischen) Exergames umfasst folglich spezifische Bewegungsumfänge (Groß- vs. Feinmotorik), Bewegungsintensitäten (Anstrengung, Energieumsatz) und Bewegungshäufigkeiten (Wiederholung).72 Zudem werden spezifische konditionelle und koordinative Fähigkeiten verlangt. Zu den konditionellen Fähigkeiten gehören Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit und Beweglichkeit, zu den koordinativen Fähigkeiten (räumliche) Orientierungsfähigkeit, Gleichgewichtsfähigkeit, (kinästhetische) Differenzierungsfähigkeit, Reaktionsfähigkeit und Rhythmusfähigkeit. Das Anforderungsprofil eines Exergames ist somit ein Set aus spezifischen motorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Exergames bieten folglich ein legitimes motorisches Lernfeld, in dem sowohl motorische Lerntheorien als auch Kompetenz-/Transfertheorien Anwendung finden. Exergames als Applikationsfeld für motorische Lerntheorien werden jedoch bisher eher großmotorisch akzentuiert. Technische Leitbilder durch das Game-Play/Interface stehen (noch) nicht im Mittelpunkt der Betrachtung. Im Bereich der Bewegungssensoren und auch der Aktuatorik werden hier zukünftige Entwicklungen für eine Komplexitätszunahme feinmotorischerer Technikleitbilder sorgen. Exergames als Applikationsfeld für Kompetenz-/Transfertheorien lassen die Richtung des Transfers durchweg offen. Das Applikationsfeld kann reversibel geteilt und gewechselt werden. So kann zum einen Exergaming als Applikationsfeld (Virtualität Realität), zum anderen »Sport« (und Bewegung) als Applikationsfeld (Realität Virtualität) dienen. Zur Illustration der unterschiedlichen motorischen Lösungen für die virtuelle Spielaufgabe reicht es durchaus aus, einen geübten Spieler mit einem Anfänger zu beobachten. Auch dem ungeübten Beobachter mit basaler motorisch-diagnostischer Kompetenz wird der Unterschied deutlich auffallen. Körperhaltung, Bewegungsfluss, Groß- und Feinmotorik sowie Bewegungskoordination weichen deutlich voneinander ab. Anfänger und Fortgeschrittener sind – ebenso wie in den tradierten Sportarten – schnell und eindeutig identifizierbar. Dass sich motorisches Lernen abspielt (ob nun formell oder informell, wobei der reale, lebensweltliche Akzent deutlich auf der informellen Seite liegt), ist nicht bezweifelbar. Ebenso ist die Optimierung besagter Lernprozesse mit dem technologischen (Anwendungs-)Wissen sportwissenschaftlicher Provenienz ef-
72 Kretschmann, Rolf et al.: »Nintendo Wii Sports Boxing. A Pilot Study According to Energy Expenditure, Observed Motion, and Sport Science Students’ Perceptions«, in: International Quarterly of Sport Science 1 (2012), S. 19-30.
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fektiv und effizient leistbar (Clans im Bereich des E-Sports übernehmen hier schon entsprechende Methoden des Trainingslagers). Ob nun das erlernte pädagogisch wertvoll ist oder in welchem Kontext eine pädagogische Auseinandersetzung persönlichkeits- und entwicklungsförderlich ist, kann und soll hier nicht verhandelt werden, wird aber weiterhin im Fokus der weiteren Beschäftigung in der öffentlichen und wissenschaftlichen Exergames-Debatte stehen. Als Quintessenz der Betrachtung lässt sich feststellen, dass Exergames genauso wie sportliche Bewegung selbst – oder gar als Klasse oder Applikation sportlicher Bewegung – »serious« Bewegungslernen ermöglichen, für erfolgreiche Zielhandlungen sportlicher Bewegung bedürfen und ihren berechtigten Platz als Anwendungsfeld besagten Bewegungslernens finden. Exergaming bietet letztendlich mannigfaltige Lernpotenziale, die sich im Spannungsfeld motorischen und kognitiven Lernens verorten lassen. Nichts desto trotz dürfen die klaffenden Forschungslücken weiter als Baustellen begriffen werden. Die Forschung hinkt sozusagen immer wieder den technischen Neuerungen der Spieleindustrie und Spieleentwickler hinterher. Vornehmlich sind Bewegung und Lernen (im Fall Exergaming) – sowie auch die Sportwissenschaft selbst – ein interdisziplinäres Unterfangen.
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»Rhythmusarbeit« Revisited
R OLF F. N OHR »Marx insists on the transformation of brute nature through human work, through technology and interventions, through labour and consciousness. Yet he doesn´t discover rhythms …« HENRI LEFEBVRE1
Der hier vorgelegte Text geht fast ein Jahrzehnt zurück. Ursprünglich wurde er als Vortrag auf der Tagung »Megaphon und Mikrophon: Der Sound der Politik« 2004 in Hattingen gehalten.2 Damit gilt er – zumindest im Kontext der sich rasch entwickelnden Game Studies – eigentlich als überaltert; zumal nicht nur die Theorieschreibung vorangeschritten ist, sondern sich auch der Gegenstand, um den es gehen soll, substantiell verändert hat. Die Entscheidung, den Text nun in einer veränderten und aktualisierten Fassung wieder zu veröffentlichen, fußt aber auf der Überzeugung, dass die schon 2004 erarbeiteten Perspektiven auf spezifische Strukturen des Games unverändert und vielleicht aktuell erst in voller Blüte
1
Lefebvre, Henri: Rhythmanalysis. Space, Time, and Everyday Life, London/New York: Continuum 2004 (1992), S. 7.
2
Er wurde dann 2006 in dem Band Das Spiel mit dem Medium Partizipation – Immersion – Interaktion (Britta Neitzel/Rolf F. Nohr (Hg.), Marburg: Schüren, S. 223–243) veröffentlicht. Gleichzeitig lieferte das ursprüngliche Manuskript die Grundlage für ein Kapitel in Nohr, Rolf F.: Die Natürlichkeit des Spielens. Vom Verschwinden des Gemachten im Spiel, Münster: LIT 2008.
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zu betrachten sind. Insbesondere nimmt der Text einige zentrale Positionen und Fragen einer kritischen Beschäftigung mit gamification vorweg. Am Beispiel des Rhythmus’ im Spiel versucht der Text spezifische Interpellation (durchaus auch im Althusserschen Sinn) herauszuarbeiten – Subjektstrategien, die das spielende Subjekt zurichten und es in gouvernementale Selbstregierungsformen überführen. Der Ausgangspunkt des Textes ist die Immersions-Diskussion, die sich 2013 sicherlich anders darstellt und weitaus kritischer gelesen werden sollte. Immersion scheint mir heute, ähnlich wie ›Interaktivität‹ ein aufgeheiztes Konzept zu sein, das mehr als Wunschkonstellation, ›Marketing-Sprech‹ oder unterkomplexes Erklärungsmuster, nicht aber als sinnvolle medientheoretische Position zu verhandeln wäre. Die Tatsache, dass im digitalen Medium die dominante ›Sender-Empfänger-Linearität‹ ›alter‹ Medien suspendiert scheint, dass also der Nutzer und Rezipient dieser ›neuen‹ Medien über einen starken Rückkanal wirkmächtig und signifikant in die Dynamik des Medienangebots eingreifen kann, gilt oftmals schon als schlagkräftiges Argument für das Postulat einer starken Immersionswirkung. Angesichts immer noch stark gescripteter und letztlich linear ablaufender Entscheidungsbaumlogiken der Programme wäre aber zu fragen, inwieweit die technisch generierte Partizipationsform des Digitalen schon als ›echte Interaktivität‹ (als Ausgangsbedingung für Immersion) gefeiert werden kann. Lässt sich Immersion tatsächlich als eine Option des technisch Möglichen begreifen? Ist die Interaktivität eines Shooters kategorial überhaupt vergleichbar mit der eines Online-Rollenspiels? Nach meinem Dafürhalten muss die Suche nach dem Immersiven an einer anderen Stelle als der des Technischen ansetzen. Immersion im Computerspiel kann unter anderem auch als etwas konzeptualisiert werden, das durch spezifische Formen der Repräsentation hergestellt wird. Prominent muss hier auf Momente der Bildperspektive hingewiesen werden: Der zentralperspektivische ›Rausch‹ eines First-Person-Shooters oder eines Rennspiels mag hier analog zu den Immersionstechniken des Kinos (also der subjektiven Einstellung der Kinokamera) diskutiert werden.3 Ebenso wäre hier der Avatar (als Verlängerung oder Stellvertreter des Spielers) ein wichtiges Element, mit dessen Hilfe aus den handlungs- und textbezogenen Konzepten des Spiels
3
Vgl. bspw. Distelmeyer, Jan: »›… unterwegs zur Abteilung Spieltheorie‹. Überlegungen zum Verhältnis zwischen Videospielen und dem populären Kino«, in: Britta Neitzel/Rolf F. Nohr (Hg.), Das Spiel mit dem Medium. Partizipation – Immersion – Interaktion. Zur Teilhabe an den Medien von Kunst bis Computerspiel, Marburg: Schüren 2006, S. 187-207.
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die Sicherstellung von immersiven Effekten betrieben wird.4 Gerade die verschiedenen Ebenen der »Synchronisierungen« des Spielers mit seinem Stellvertreter, wie sie beispielsweise Fritz5 typologisiert, wären zur Diskussion der Immersion zwar kritisch in ihrer Konkretheit und ›Taxonomieverliebtheit‹ zu befragen, aber grundsätzlich heranziehbar. Als entscheidend muss jedoch der Hinweis Neitzels6 gewertet werden, das Konzept der Immersion durch den Begriff der ›Involvierung‹ zu ersetzen. Eine weitere Möglichkeit, den Begriff der Immersion (durchaus auch in seiner Verwendung als Involvierung) in Bezug auf das Spiel und die gamification tragfähig zu machen, besteht sicherlich darin, Immersion als eine Subjekttechnologie im Sinne Foucaults zu begreifen. Die Herstellung des »unternehmerischen Selbst«7 setzt eine ganz eigene Dynamik des ›Hineingezogen-Werdens‹ frei. Insofern kann Immersion auch als Effekt des Dispositivs Computerspiel begriffen werden – ein Effekt, der weniger auf das Narrative oder Repräsentationale des Spiels abzielt, sondern eher das Selbst-Management am Arbeitsgerät Computer im und durch das Spiel betont.8 Pointiert argumentiert hier beispielsweise Huhtamo9 – er versteht eine solche Zugriffsweise als den Versuch, die (Vor-)Geschichte des Spiels als eine Geschichte der Automatisierung und der Koppelung von Mensch und Maschine zu schreiben:
4
Vgl. bspw. Neitzel, Britta: »Wer bin ich? Thesen zur Avatar-Spieler Bindung«, in: Dies./Matthias Bopp/Rolf F. Nohr (Hg.), »See? I´m real... « Multidisziplinäre Zugänge zum Computerspiel am Beispiel von Silent Hill, Münster: Lit 2004, S. 58-73.
5
Fritz, Jürgen: »Macht, Herrschaft und Kontrolle im Computerspiel«, in: Ders./Wolfgang Fehr (Hg.), Handbuch Medien. Computerspiele, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1997, S. 183-196.
6
Neitzel, Britta: »Medienrezeption und Spiel«, in: Jan Distelmeyer/Christine Hanke/ Dieter Mersch (Hg.), Game over!? Perspektiven des Computerspiels, Bielefeld: transcript 2008, S. 95-115.
7
Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungs-
8
Vgl. Neitzel, Britta/Nohr, Rolf F./Wiemer, Serjoscha: »Benutzerführung und Technik-
form, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. Enkulturation. Leitmediale Funktionen von Computerspielen«, in: Daniel Müller/Annemone Ligensa/Peter Gendolla (Hg.), Leitmedien. Konzepte – Relevanz – Geschichte (Band 2), Bielefeld: transcript 2009, S. 231-256. 9
Huhtamo, Erkki: »Neues Spiel, neues Glück. Eine Archäologie des elektronischen Spiels«, in: Christian Holtorf/Claus Pias (Hg.), Escape! Computerspiele als Kulturtechnik, Köln: Böhlau 2007, S. 15-44.
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»Die Vorstellung, daß eine enge, nahezu symbiotische Beziehung zwischen Mensch und Maschine besteht, wird oft als das Ergebnis der Gegenwartskultur betrachtet, die reich an allen möglichen beweglichen und unbeweglichen Geräten ist. Als zweifellos am weitesten verbreitete Anwendung interaktiver Medien mögen elektronische Spiele als ultimative Verwirklichung dieser Vorstellung erscheinen, sowohl im Guten wie im Schlechten. Der Diskurs über die Verbindung von Mensch und Maschine reicht jedoch weiter in die Vergangenheit zurück«.10
Huhtamo stellt im Folgenden die Veränderung der Arbeit Ende des 18. Jahrhunderts und die beginnende Automatisierungs- und Automatenkultur als ein solches Referenzsystem vor. Folgen wir einem solchen Argument, dann wird erkennbar, dass das Computerspiel ein diskursives ideologisches System darstellt, das keineswegs eine spielerische Appropriation des Arbeitsgerät Computer ist, sondern vielmehr eine Variante arbeitswissenschaftlicher Zurichtung. *** Immersion beschreibt das Hineingezogenwerden eines Zuschauers, Lesers oder Benutzers in die Sphäre des Medienangebots. Die Medien entwickeln hierfür verschiedene Techniken, die darauf abzielen, ihre Gemachtheit zu verschleiern, um ihre Rezipienten in eine solchermaßen naturalisierte Welt aus Texten, Bildern oder Handlungsmöglichkeiten einzubinden. Gerade am Computerspiel lassen sich diese Naturalisierungsstrategien sehr deutlich aufzeigen, vermengen und überschneiden sich doch hier das ›Spiel‹ und ›die Technik‹, die ›Freizeit‹ und das ›Arbeitsgerät‹, das ›Produkt‹ wie die ›Dissidenz‹. Meine Vermutung ist es, dass innerhalb der immersiven Aspekte von Computerspielen (und obwohl gerade das Handeln am Computer ein offensives Agieren an Techniken darstellt) sehr komplexe Transparenzeffekte diskursiver Natur zu beobachten sind, die nicht zuletzt (medientheoretische) Rückschlüsse auch auf den Computer und die ›digitale Kultur‹ selbst ermöglichen: »Es ist das Phänomen des Spiels, welches unseren Umgang mit der neuen Technologie bestimmt«.11 Das übergeordnete Erkenntnisinteresse ließe sich also so zusammenfassen, dass sich am Computerspiel meines Erachtens eine merkwürdige Ambivalenz der gleichzeitigen Anwie auch Abwesenheit der Technik beobachten lässt, eine dialektische Ver-
10 Ebd., S. 21. 11 Adamowsky, Natascha: Spielfiguren in virtuellen Welten, Frankfurt a.M./New York: Campus 2000, S. 18.
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schränkung des Verschwindens von Techniken durch ihre offensive Zurschaustellung. Zu Beginn gilt es die Thesenlage vorzustellen, die unter dieser Oberprämisse diskutiert werden soll. Exemplarisch möchte ich ausführen, wie sich die Koppelung von Rhythmus, Arbeit und Disziplin, wie sie in (vor)modernen Konzeptionen angetroffen wird, über die Industrialisierung und die Veränderung eines Arbeitsbegriffes in das Computerspiel selbst einschreibt. Daraus folgend wäre die hier vertretene Vermutung, dass sich eine solche Koppelung auch am naturalisierten Modell einer Immersion als Effekt der Disziplin und des Selbstmanagements an das Arbeitsgerät Computer fortsetzt.12 Computer- und Konsolentanzspiele wie SAMBA DE AMIGO oder Eye-Toy-gestützte Bewegungsspiele bringen die Körper am Arbeitsgerät Computer ›zum Tanzen‹. Denn eine solche Koppelung findet nicht nur an einer ›offensichtlichen‹ Stelle wie dem dezidierten Tanz oder Bewegungsspielen statt. Eine Vertiefung meiner These wäre, dass an solchen exzessiven Momenten des Bewegens etwas an sich Unsichtbares, nämlich die Koppelung von Rhythmus an das Arbeitsgerät Computer sichtbar wird. Unsichtbar und eher ›subliminal‹ aber ist das Rhythmische ›immer da gewesen‹, es gehört zum Arbeits- und Schreibgerät Computer dazu. Und da das Spielen am Computer kein anderes, differentes Handeln gegenüber der Maschine darstellt, müsste sich das Rhythmische auch im Spiel nachweisen lassen. Die Frage ist, an welchen Stellen und wie sich aktuell die Koppelung von rhythmisch diszipliniertem und erwerbsökonomisch gestaltetem Arbeitskörper an Medientechniken beschreiben lässt. Claus Pias hat in seinen Ausführungen zum Computerspiel wiederholt darauf hingewiesen, dass der Rechner aus dem Diskurs der Arbeitswissenschaften und Experimentalpsychologie heraus eine Normalisierung seines Users betreibt, also eine Akkommodation des Menschen an die Maschine unter der Prämisse der Rationalisierung und Steigerung der Arbeitsfähigkeit (die sich beim Computer natürlich maßgeblich durch die Prozessierung von Text darstellt).13 Ausgehend von dieser präzisen Rückbindung von Computerentwicklung und -gebrauch an die Arbeitswissenschaften will ich im Folgenden versuchen, eine ›kleinteiligere‹ Reflexion arbeitswissenschaftlicher Ökonomisierung von Körper und Arbeit nachzuzeichnen, nämlich den Begriff und die Funktion des Rhythmischen im Com-
12 Vgl. bspw. Tietel, Erhard: »Prächtige Schriftsätze, makellose Bescheide, vollendete Formulare«, in: Christina Schachtner (Hg.), Technik und Subjektivität. Das Wechselverhältnis zwischen Mensch und Computer aus interdisziplinärer Sicht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 86-105. 13 Pias, Claus: Computer – Spiel – Welten, München: Sequenzia 2002.
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puterspiel. Wo Pias vorrangig den Begriff des Interface betont, werde ich an dieser Stelle die Frage nach dem Immersiven aufwerfen; getragen von einer Perspektive, die nach der Naturalisierung des Technischen fragt und dabei die Internalisierungsstrategien der Arbeitswissenschaft als ideologische Effekte für die ›Herstellung‹ von Immersion begreift. In einer skizzenhaften Verkürzung will ich vor allem anhand der Ausführungen Karl Büchers und der arbeitswissenschaftlichen Studien Frank W. Gilbreths einen Zusammenhang von Arbeit und Rhythmus (in einem erweiterten Sinne) darstellen, der sich zusammengefasst wie folgt formulieren lässt: 1. 2. 3.
Rhythmus ist Distinktion – Distinktion ist Disziplin. Distinktion greift auf den Körper zu – solange der Körper arbeitet, diszipliniert der Rhythmus die Arbeit. Wenn der Körper aus der Arbeit heraustritt, greift der Rhythmus an anderer Stelle als Disziplinierung in die Arbeit ein.
Diese Thesen sollen letztlich dazu dienen, vorrangig am Beispiel des Computerspiels ein Nachdenken über die Implikationen des Rhythmischen zu ermöglichen und die Korrelationen von Arbeit, deren Internalisierung und die Idee der Disziplinierung als Selbstmanagement durch Frequenz zu reflektieren.
R HYTHMUS
UND
D ISTINKTION
Zu Beginn einer Suche nach Diskursen und Dispositiven des Rhythmischen müssen eine Definition und die Frage nach einem ›Nullpunkt‹ stehen. Eine erste Annäherung an den Begriff kann mit dem Ordnungsprinzip der Distinktion vorgenommen werden. Das Rhythmische (und mit ihm die Frequenz, der Takt, das Metrische usf.) – also alle Phänomene innerhalb des Feldes des ›Klanglichen‹ als Organisations- und Ordnungsprinzip – lässt sich meines Erachtens auf die Frage zurückführen, wie die Einteilung in sie eingeschrieben wird: Rhythmus ist Distinktion.14 Und diese erste Annäherung führt auch zu einer Perspektive, einen Kulminationspunkt dieser Distinktionsstiftung benennen zu können. Betrachten wir das Rhythmische als eine Struktur des Einteilens, dann wird deutlich, dass sich das
14 Der Duden definiert ›Rhythmus‹ als »Gleichmaß, gleichmäßig gegliederte Bewegung; periodischer Wechsel, regelmäßige Wiederkehr« und ›distinkt‹ als »klar und deutlich abgegrenzt«. http://www.duden.de/rechtschreibung/Rhythmus.
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Augenmerk auf die Verbindung von Einteilung und »everyday life« richten muss, also auf die Punkte, an denen die Distinktion ihren Weg in die soziale Praktik findet. Mit Gendolla15 oder Beck16 wäre ein solcher Moment im mittelalterlichen Kloster benennbar.17 Mit der Einteilung des Tages in distinkte Einzelteile, die jeweils innerhalb eines festen Ordnungsrasters von Arbeit und Gebet stehen, ist die Ordnung des klösterlichen Lebens möglicherweise einer der Punkte, an dem das Raster des Rhythmischen etabliert wird. Die Überführung dieses Rasters in die gesellschaftliche Ordnung würde dann übernommen werden vom Schlag der Zeit, also Glockengeläuten und Kirchenuhren, die die Tagesrasterung des Klösterlichen in das Alltagsleben überführen.18 Hier etabliert sich (in einer sehr reduktiven und metaphorischen Betrachtungsweise) sinnfällig Arbeit, Zeit und Rhythmisierung von Zeit zu einem Ordnungssystem. Ende des 13. Jahrhunderts findet also eine (erste) Einführung der Linearisierung und Distinktion im Erleben der Zeit an einem Ort der Ordnungsmacht statt.
15 Gendolla, Peter: Zeit. Zur Geschichte der Zeiterfahrung, Köln: DuMont 1992, S. 35ff. 16 Beck, Klaus: Medien und die soziale Konstruktion von Zeit. Über die Vermittlung von gesellschaftlicher Zeitordnung und sozialem Zeitbewusstsein, Opladen: WDV 1994, S. 128ff. 17 Ähnlich – wenngleich nicht in Bezug auf das Mittelalter, sondern auf die Moderne – argumentiert Hartmut Winkler für eine Strukturbildung der Simultanität und Redundanz im Sinne der Medien: »Die Stimme aus dem Volksempfänger oder die 20-UhrTagesschau synchronisieren (zeitlich) und koordinieren (sachlich-semantisch) eine ganze Nation, wie auch immer die Inhalte von den einzelnen aufgenommen werden; ähnlich übrigens wie die Uhr selbst, die als eine räumlich verteilte Technologie die verstreuten Individuen auf einen annähernd gleichen Taktschlag bringt« (Winkler, Hartmut: Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 32). 18 Noch präziser ließe sich der Nullpunkt der Distinktionsgeschichte durch die Erfindung der Ankerhemmung bestimmen (vgl. P. Gendolla: Zeit – Zur Geschichte der Zeiterfahrung). Diese ermöglicht die ›Erfindung‹ des präzisen Uhr- und Glockenwerks und damit die Möglichkeit der ›Sendung‹ der Rhythmusinformation vom Kloster in den Alltag. »Die Hemmung definiert das Schema, nach dem die Zeit gerichtet, linearisiert und beschleunigt wurde, zur Zeit an sich«. (ebd., S. 40) Natürlich ist eine solche Definition von historischen Beginnpunkten in einer diskurstheoretischen Überlegung relativ sinnlos; es soll an dieser Stelle vielmehr mit der Darlegung des klösterlichen Zeitverständnisses eine diskursive Verschiebung eines Ordnungsrasters benannt werden und weniger ein ›distinkter‹ historiographischer Punkt.
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Der somit etablierte distinkte Rhythmus ›erfindet‹ die (effektive und hier noch hegemonial-repressive) Arbeit. Ein von ›außen‹ aufgesetzter Takt reglementiert und ordnet die Arbeit des Subjekts wie auch der Gesellschaft: »Everyday life is modelled on abstract, quantitative time, the time of watches and clocks. This time was introduced bit by bit in the west after the invention of watches, in the course of their entry into social practice. This homogeneous and desacralised time has emerged victorious since it supplied the measure of the time of work«.19
Somit ließe sich das eingeführte Verständnis des Rhythmischen als Distinktion noch ergänzen um die Kernaussage, dass Distinktion offensichtlich mit Disziplin einhergeht.
K ARL B ÜCHER : A RBEIT
UND
R HYTHMUS
1896 erscheint in Leipzig das Buch Arbeit und Rhythmus von Karl Bücher. Bis 1924 in sechs Auflagen nachgedruckt, ist es ein zeitgenössisches, populäres und in seinem Kontext breit rezipiertes einflussreiches Buch. In einem psychologischen, sozialen, politischen und kulturellen Zusammenhang fällt es in eine Phase intensiver Auseinandersetzung mit dem Rhythmus in experimenteller und theoretischer Natur.20 Bücher argumentiert auf der Basis eines teilweise eher ›unterkomplexen‹ Verständnisses von Ethnologie und Anthropologie und unter Zuhilfenahme teilweise bürgerlich-nationaler geopolitischer und ›rassenbegrifflicher‹ Argumentationen für eine enge Verzahnung von Rhythmus und Arbeit. Er begreift den Rhythmus als dem menschlichen Körper inhärent und damit als Organisationsprinzip für die (dem Menschen ebenso inhärent innewohnende) Arbeit. Ausgehend von der Beobachtung »primitiver Naturvölker« und des dort konstatierten engen Zusammenhangs von Gesang, Tanz und körperlicher Arbeit formuliert Bücher zum Ende seiner Auseinandersetzung eine Theorie, die den »Rhythmus als ökonomisches Entwicklungsprinzip« innerhalb des ›sozialen Evolutionsprozesses‹ der komplexer werdenden Arbeit begreift.21
19 H. Lefebvre: Rhythmanalysis, S. 73. 20 Golston, Michael: »›Im Anfang war der Rhythmus‹. Rhythmic Incubations in Discourses of Mind, Body, and Race from 1850-1944«, in: Stanford Humanities Review (SEHR), Vol. 5; Supplement: »Cultural and Technical Incubations of Facism«, 17. Dezember 1996, www.stanford.edu/group/SHR/5-supp/text/golston.html 21 Bücher, Karl: Arbeit und Rhythmus, Leipzig: Reinicke 1924 (1896), S. 458ff .
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»Damit hätten wir das auszeichnendste Merkmal des Tanzes, den Rhythmus auch als durchgehende Eigentümlichkeit primitiver Arbeitsweise erkannt. Zunächst handelt es sich bloß um instinktive Erregung von Lustgefühlen an einer Stelle, wo der Mensch ihrer am meisten bedarf, um die Mühe des Arbeitskampfes auf sich zu nehmen.«22
Bücher weiter folgend setzt innerhalb dieses Entwicklungsprozesses eine Transformation des Metrischen ein. Die »instinktive Erregung« durch den Rhythmus ›intellektualisiert‹ sich. Zunächst als Taktgeber für die handwerkliche, dann die industrialisierte körperliche Arbeit, schließlich hin zur geistigen Arbeit. »Man beobachte das Stricken, das Mähen mit der Hand, das Säen, das Heuwenden, das Schneiden des Korns mit der Sichel, das Umgraben des Bodens mit dem Spaten, das Falzen der Bögen in einer Buchbinderei, das Ablegen des Satzes in einer Druckerei, das Geldzählen des Kassierers in einem Bankgeschäft – überall wird man das Gleichmaß der Bewegung, überall das Streben erkennen, komplizierte oder längere Bewegungen in kurze oder einfache Abschnitte zu zerlegen und die aufgewendete Kraft der geforderten Leistung genau anzupassen. Selbst wenn wir eine Reihe gleicher Buchstaben oder Ziffern schreiben, verfallen wir unwillkürlich in diesen Rhythmus der Bewegung, und auch die Leistungen unserer Hand werden damit immer gleichartiger«.23
Es entsteht der Eindruck, dass im Zuge der Industrialisierung das RhythmischDistinkte für Bücher zu einem ›Schmiermittel‹ der körperlichen Arbeit gerinnt. Der inhärente Rhythmus menschlicher Arbeit wird zum Produktions-(hilfs-)mittel, so »…wie das aufgegossene Öl den Gang der Maschinen steuert«.24 Entscheidend ist bei Bücher die Idee, dass der Rhythmus ein ›Anderes‹ darstellt. Er kommt ›von außen‹ über den Körper in das geistige Subjekt und damit in die Arbeit und wird dort ›naturalisiert‹.25
22 Ebd., S. 37. 23 Ebd., S. 30. 24 Ebd. S. 443. Vgl. auch: »For Bücher, the entire domain of work, from the micro-level human body to the macro-level industrial corporation, is structured by the rhythms which fundamentally inform twentieth-century ›machine-age‹ social fabrics, and which facilitate labor like ›lubrications keeps machine going‹« (M. Golston: »Im Anfang war der Rhythmus«). 25 »Das Rhythmische Element wohnt weder der Musik noch der Sprache ursprünglich inne; es kommt von außen und entstammt der Körperbewegung« (K. Bücher: Arbeit und Rhythmus, S. 412). Hier postuliert Bücher eine dezidierte Gegenposition bei-
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Hier zeigt sich eine mehrfache Abgrenzung und Positionierung zu anderen Denkweisen ähnlich gelagerter Natur: Denn die Frage nach der Internalisierung einer ›Metrik‹ der Arbeit muss fast zwangsläufig auf die Frage kondensiert werden, inwieweit diese Metrik ›von außen‹ – also eine externe Setzung – oder ›von innen‹ heraus – also im Sinne einer immanenten Disposition – auf das arbeitende Subjekt kommt. Konkreter also die Frage, ob die Rhythmisierung von Arbeit sich auf ein ›a priori‹ stützen kann oder durch ein a posteriori zugeführtes Element stabilisierend auf die Arbeit wirkt. Vereinfacht ausgedrückt geht es hier um die Auseinandersetzung, ob der Rhythmus der Arbeit durch einen ›externen‹ Takt gesteuert wird (im Sinne eines hegemonialen und repressiven Projekts) oder durch eine ›interne‹ Steuerung naturalisiert wird (im Sinne eines selbstdisziplinatorischen Projekts). Eine solche Fragestellung ist in der Nachfolge Büchers vor allem im Werk Ludwig Klages verhandelt worden. In dessen Ausführungen von 1922 (die 1934 unter dem Titel Vom Wesen des Rhythmus zur Veröffentlichung kommen) findet sich die Kernthese »Der Takt wiederholt, der Rhythmus erneuert«.26 Klages unterscheidet den Takt vom ›Rhythmus‹, der als allgemeine Lebenserscheinung auf der Polarität von Leib und Seele beruht. Dessen Wesenhaftigkeit ist die Erneuerung des Ähnlichen im Bereich der »erscheinenden Gestalten«. Dem gegenüber stammt der ›Takt‹ als eine Äußerung des menschlichen Geistes und Willens aus dem Dualismus von Geist und Leben (wobei das ›Leben‹ als eine leib-seelische Polarität anzunehmen sei). Das Wesen des Taktes ist die Wiederholung des Gleichen im Bereich der geistigen Akte.27 »Wiederholte der Takt das Gleiche, so muß es vom Rhythmus lauten, es wiederkehre mit ihm das Aehnliche; und da nun die Wiederkehr eines Aehnlichen im Verhältnis zum Ver-
spielsweise zu Nietzsche, welcher den Weg von Körper und Rhythmus zur Poesie umgekehrt sieht (»...und noch jetzt, nach Jahrtausende langer Arbeit in der Bekämpfung solchen Aberglaubens, wird auch der Weiseste von uns gelegentlich zum Narren des Rhythmus, sei es auch nur darin, dass er einen Gedanken als wahrer empfindet, wenn er eine metrische Form hat und mit einem göttlichen Hopsasa daher kommt« (Nietzsche, Friedrich: Die Fröhliche Wissenschaft, in: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Friedrich Nietzsche Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (Band 3), §84, 1988). Dem gegenüber wiederum Büchner: »Der Ursprung der Poesie ist in der Arbeit zu suchen« (Ders: Arbeit und Rhythmus, S. 386). 26 Klages, Ludwig: Vom Wesen des Rhythmus, Bonn: Bouvier 2000, S. 32. 27 Vgl. Blasius, Wilhelm: »Rhythmus und Takt«, in: Hans Kasdorf (Hg.), Rhythmus und Takt, Mensch und Umwelt. Vorträge und Aufsätze, Bonn: Bouvier 1983, S. 52.
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flossenen dessen Erneuerung vorstellt, so dürfen wir kürzer sagen: der Takt wiederholt, der Rhythmus erneuert«.28
Im Fokus meines Nachdenkens sehe ich dabei das von Klages mit ›Takt‹ beschriebene Phänomen. Takt wird bei ihm charakterisiert als eine Frequenz, die sich über Repetition, Distinktion, Wiederholung usf. definiert und das ›Rhythmische‹ von außen in das Subjekt inkorporiert. […]29
M ETASOUND DES R HYTHMUS – G ILBRETHSCHE A RBEITSWISSENSCHAFTEN Greifen wir noch einmal auf Bücher zurück: »Gerade die Einförmigkeit der Arbeit ist die größte Wohltat für den Menschen, so lange er das Tempo seiner Körperbewegung selbst bestimmen und beliebig aufhören kann«.30 Hier findet sich der Ansatzpunkt für eine Funktionalisierung des Nachdenkens über den Rhythmus der Arbeit hin zu einer Verwissenschaftlichung und Normierung unter den Gesichtspunkten industriellen und rationellen Arbeitens. Ausgehend von dieser These der engen Verzahnung von Arbeit und Rhythmus als Internalisierung (im Sinne eines ›Klangs der Arbeit‹) sollen Analogien zu den verschiedenen Ausprägungen der Arbeitswissenschaft angedeutet werden.31 Dabei geht es mir darum aufzuzeigen, in welchem Sinne dieser ›Klang der Arbeit‹ ein funktionaler Teil des disziplinatorischen Projekts ist.
28 L. Klages: Vom Wesen des Rhythmus, S. 52 – Zur weiterführenden Differenz von Gleichem und Ähnlichem noch einmal Klages: »Das Gleiche ist ein Gedankending, das, wenn auch niemals exakt genau, so doch annähernd genau im Anschauungsstoff verwirklicht wird durch menschliches Machen; das Aehnliche ist ein unabhängig von der Tätigkeit unseres Geistes stattfindender Erlebnisinhalt, auf den unser Denken nur hinweist, ohne jemals imstande zu sein, ihn sich anzueignen durch Begreifen und Messen«. (ebd., S. 53). 29 In der älteren Textfassung (S. 228) erfolgt hier eine Präzisierung des von einem Rhythmischen vor dem Diskursiven, Geregelten oder Disziplinatorischen in Auseinandersetzung mit den Positionen Levebfres, Klages und Büchers, die für diese Wiederveröffentlichung entbehrlich erscheint. 30 K. Bücher: Arbeit und Rhythmus, S. 429. 31 Wenngleich Bücher selbst sich eher distanziert über den Taylorismus äußert, da er in dieser Form der Arbeitsorganisation die ›Tiefe‹ des eigenen Rhythmusbegriffes nicht wiedergespiegelt sieht (ebd., S. 461f).
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Die Distinktion des Rhythmus greift auf den Körper zu – solange der Körper arbeitet, diszipliniert der Rhythmus die Arbeit. Dass eine solche Verbindung geeignet ist, sich im Rahmen des Taylorismus, Fordismus und der Psychotechniken als Konsequenz der industriellen Revolution zu entfalten, scheint augenfällig. Interessanter allerdings scheint es noch, die Analyse der Verbindung von Rhythmus und Arbeit über diesen Beginn der ›Verwissenschaftlichung‹ der Arbeit hinaus zu verfolgen. Denn gleichfalls entsteht hier eine ›neue‹ Denkweise der Organisation eines Selbst-Wissens: »Die normalisierende Funktionsweise der Psychotechnik steht für eine neuartige Produktion von Wissen über Individuen, welches für die Individuen zugleich auch als Wissen über sich fungiert.«32 Abbildung 1: »Arbeitswissenschaftliche Rhythmusstudien – Optimierung der Anschlaggeschwindigkeit beim Schreibmaschine-Schreiben«
Quelle: Screenshot aus: The Original Films of Frank B. Gilbreth, R: James S. Perkins, Mitarbeit: Lilian M. Gilbreth / Ralph M. Barns (USA, o.J., event. 1944)
Von den Taylorschen Arbeitsstudien (die hauptsächlich als Zeitstudien zu begreifen sind) hin zu den erweiterten Arbeitswissenschaften als Bewegungsstudien, Psychotechniken und Rationalisierungsstudien vollzieht sich eine Perspek-
32 Schrage, Dominik: Psychotechnik und Radiophonie. Subjektkonstruktion in artifiziellen Wirklichkeiten 1918-1932, München: Fink 2001, S. 111.
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tivenänderung, die von einem Verständnis der Arbeit als zu ›beschleunigendem‹ Gut hin zu einem Verständnis von Arbeit als effektivierbarem und steuerbarem Diskurs umschlägt.33 Gleichzeitig stabilisiert sich in diesem Übergang aber auch der Begriff der ›strategischen Verwissenschaftlichbarkeit‹ von Arbeit selbst: »Erkenntnisse über die menschliche Arbeit, ihre Rahmenbedingungen und ihre Organisation haben nicht von sich aus Geltung, sondern müssen erst durch Macht oder Konsens in Geltung gesetzt werden. Die fehlende Determination der Erkenntnisanwendung durch den Erkenntnisinhalt gilt für einschlägiges Alltagswissen ebenso wie für Kenntnisse, die mit wissenschaftlichen Methoden erarbeitet worden sind.«34
Nach dem ersten Weltkrieg entwickelt sich die Arbeitswissenschaft unter den Perspektiven jeweilig nationalstaatlicher und wissenschaftlicher Perspektiven und Paradigmen weiter. An vielen Stellen und Orten wird mit unterschiedlichsten Erkenntnisinteressen an einer Szientifizierung (größtenteils als Prozess der Effektivierung) der Arbeit geforscht. So sind beispielsweise in den Bewegungsstudien Alekseij Gastevs35 in St. Petersburg (die sich wiederum stark inspiriert zeigen von den Untersuchungen des ›Berliner Instituts zur Erforschung der Arbeit‹ unter Wilhelm Braune und Otto Fischer) nicht nur eine deutliche Nähe zu den fotografischen Bewegungsstudien Mareys zu erkennen,36 sondern vor allem das Diktum der Suche nach den rhythmischen Komponenten der Arbeit. Dabei findet (zumeist in den Arbeiten der sowjetischen Arbeitswissenschaften) auch ein Anklang der futuristischen
33 Ebd., S. 39-151. 34 Hoffmann, Rainer W.: »Die Verwissenschaftlichung der Produktion und das Wissen der Arbeiter«, in: Gernot Böhme/Michael v. Engelhardt (Hg.), Entfremdete Wissenschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 239. 35 Gastev, Alekseij: Wie man arbeiten soll!, Petersburg: o.A. 1966. 36 Auf die unter medienwissenschaftlicher Perspektive vielfach hingewiesen worden ist – vgl. exemp. Zielinski, Siegfried: Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hören und Sehens, Reinbeck b. Hamburg: Rowohlt 2002; Novak, Lars: »Motion Study/Moving Picture. Die Anfänge des tayloristischen Arbeitsstudienfilms bei Frank B. und Lillian M. Gilbreth«, in: Frank Kessler/Sabine Lenk/Martin Loiperdinger (Hg.), Kintop. Jahrbuch zur Erforschung des frühen Films. Lokale Kinogeschichten (Band 9), Frankfurt a.M./Basel: Stroemfeld/Roter Stern 2000, S. 131-149; Reichert, Ramón: »Film und die Rationalisierung der ›Arbeitskraft‹ 1880-1918«, in: Ferrum. Nachrichten aus der Eisenbibliothek 76 (2004), S. 38-42.
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Idee der Synthese von Maschinenrhythmus und menschlichem Arbeitsrhythmus Niederschlag.37 Interessant ist hier der Bericht Ernst Tollers aus dem (Gastevschen) Zentralinstitut der Technik (ZIT) in Moskau, dem zu entnehmen ist, wie der sowjetische Arbeiter in Strukturen der Disziplinierung durch Akkommodation überführt wird: Es geht um die Erreichung der ›naturalen Arbeit‹ in der Schulung. Der Arbeiter solle den Rhythmus der Arbeit soweit internalisieren wie möglich; dies gelingt, weil der Rhythmus von der Natur kommt. Toller wörtlich: »[…] ein Apparat lehrt die richtige Stellung beim Hämmern. Der Arm des Arbeiters ist angeriemt an einen sich mechanisch bewegenden Hammer, der die Hand packt. Eine halbe Stunde lang muß der Arm die Bewegung des Hämmerns mitmachen, bis sein mechanischer Rhythmus auf ihn sich überträgt«.38
Vor allem aber an den arbeitsökonomischen Untersuchungen Lilian und Frank W. Gilbreths lässt sich eine Argumentationslinie aufzeigen, die die erwerbsökonomische (und vornehmlich körperliche) Arbeit mit dem Rhythmus analogisiert und zu einem ›Klang der Arbeit‹ überformt. Dieser ›Klang der Arbeit‹ meint dabei die Synthetisierung des körperlich an die Arbeit angedockten Rhythmus mit Mechanismen der (hier noch sehr hegemonial gedachten und konzeptualisierten) Internalisierung des Arbeitsrhythmus zu einer Strategie der Disziplinierung und (zukünftig) Selbstdisziplinierung des arbeitenden Köpers und Geistes – als wichtigstes Abgrenzungskriterium aber unter Verzicht der ›Anriemung‹ des Arbeiters. Im Kern des Gilbrethschen Projekts stehen die Bewegungs- und Ermüdungsstudien, die zwei wesentliche Komponenten der Arbeit untersuchen und nach Effektivierungen suchen.
37 »Der Rhythmus der Maschinen ist den Rhythmen der menschlichen Arbeit analog« (A. Gastev, zit. nach Z. Zielinski: Archäologie der Medien, S. 265); »Wir Futuristen wollen, [...] 3. dass man unter dem Wesen der Maschine ihre Kräfte, ihren Rhythmus und die unendlich vielen Analogien versteht, die die Maschine suggeriert; 4. dass die so verstandene Maschine die Inspirationsquelle für die Entfaltung und die Entwicklung der bildenden Kunst wird« Prampolini Enrico/Pannaggi Ivo/Paladini Vinico: Die mechanische Kunst/Futuristisches Manifest (1922) (zit. nach Schmidt-Bergmann, Hansgeorg: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbeck b. Hamburg: Rowohlt 1993, S. 112). 38 Toller zit. nach Herrmann, Hans Christian von: Der Sang der Maschinen. Brechts Medienästhetik, München: Wilhelm Fink 1996, S. 136ff, hier: S. 155.
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Die Bewegungsstudien erheben den Moment der Bewegung zum Kern der (körperlichen) Arbeit – Ziel der Bewegungsstudien ist es, die Bewegungsabläufe zu effektivieren, in dem man sie minimiert. Dabei wird der Rhythmus als eines der zentralen Mittel erkannt, um Bewegungen als Energie ökonomisch in effektive Arbeit umzuwandeln: »Jede Bewegung muß die notwendige Folge der vorausgehenden und die richtige Vorbereitung der nächsten sein. Nur dann kann von einem Rhythmus der Bewegung gesprochen werden. Tote Punkte darf es nicht geben«.39 Kernpunkt der (frühen) Studien Frank Gilbreths ist also die Frage, wie die Bewegung in Distinktionen eingeteilt werden kann, und in welchem Sinne diese Bewegungen frequenziert werden müssen, um das tayloristische Ideal der vollen Ausschöpfung körperlicher Arbeitskraft zu erreichen – wobei das Spezifikum dieser Psychotechnik augenfällig nicht in der Herstellung ›flexibler Normalismen‹40 oder der ›Einschließung der Individuen in die Norm‹41 zu denken ist.42 So kann innerhalb der Bewegungsstudien nicht nur von einer Effektivierung der Bewegung selbst gesprochen werden (die sich sichtbar in den fotografischen und filmischen Bewegungsstudien ausdrückt), sondern auch von einer Notation der Bewegung als rhythmischer ›Partitur‹ (vgl. Abb. 2). Rhythmus ist hier also (wie erwartet) eine Form der Arbeitsdisziplinierung, Arbeit selbst ist in ihrem
39 Gilbreth, Frank B.: Bewegungsstudien. Vorschläge zur Steigerung der Leistungsfähigkeit des Arbeiters, Berlin: Springer 1921, S. 6. 40 Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 2. aktualisierte und erw. Aufl., Opladen: Westdeutscher 1999. 41 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. 42 »Das Taylor-Verfahren greift so im Gegensatz zur Disziplin nicht am individuellen Körper an, sondern agiert unter der Voraussetzung ›allgemein-menschlicher Bewegungsabläufe‹.[...] In der Koppelung des Lohns an die Stückzahl wird aber zugleich auch ein weiterer Unterschied des Taylor-Verfahrens zur Disziplin im Sinne Foucaults deutlich: Die Disziplin arbeitet nach dem Modell des Einschlusses von Individuen, die außerhalb des Normalen angesiedelt sind; die Disziplinierung hat das Ziel, sie in ›normale‹ Individuen zu verwandeln. Taylor dagegen sieht in den von seinem Verfahren betroffenen Arbeitern rational handelnde ›normale‹ Individuen, die durch die Abhängigkeit der Lohnhöhe von der Stückzahl dazu motiviert werden sollen, die ihnen ›objektiv‹ mögliche Produktivität tatsächlich zu erreichen und ›Trödelei‹ zu vermeiden. [...] – das Taylor-Verfahren bleibt durch seine Fixierung an vorausgesetzten ›objektiven‹ Optimalnormen ein Verfahren der Normierung« (D. Schrage: Psychotechnik und Radiophonie, S. 88f.).
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Kern rhythmische Bewegung. Als erster Kernpunkt kann also die Frequenzierung und Distinktion der Bewegung als These der Arbeitswissenschaft benannt werden. Die Bewegungsstudien führen in Konsequenz zu den Ermüdungsstudien. Jenseits der zwangsläufigen Ermüdung durch Arbeit (»nötige Ermüdung«) führt ineffektive und unökonomische Bewegung zu vorzeitiger Ermüdung (»unnötige Ermüdung«43), einer Verschwendung von Produktionskapital. Daher kommt dem Bewegungsrhythmus eine entscheidende Funktion zu. Er ist der Indikator der Ermüdung: Verlangsamt sich die Arbeitsbewegung, gerät sie aus dem Takt, die Arbeit wird ineffektiver, insofern ein Rhythmus nur dann die Arbeit zu stabilisieren in der Lage ist, wenn er gleichmäßig ist. Beginnt die Arbeitsbewegung innerhalb ihrer Frequenzierung also zu schnell, so führt sie zwangsläufig über die körpereingeschriebene Ermüdung zur Verlangsamung. Abbildung 2: »Frequenzierung und Distinktion der Bewegung – Maß und Wiederholung als Rhythmisierung der Arbeit. Frank Gilbreth, ›Bricklaying System‹«
Quelle: F.B. Gilbreth: Bewegungsstudien, S. 43.
43 Gilberth, Frank B./Gilbreth, Lillian M.: Ermüdungsstudien. Eine Einführung in das Gebiet des Bewegungsstudiums, Berlin: Verlag des Vereins deutscher Ingenieure 1921, S. 12.
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Es gilt also über Bewegungs- und Ermüdungsstudien einen Rhythmus zu finden, der ›durchgehalten‹ werden kann, der durch effektive Pausen durchsetzt ist und somit eine Arbeits-Rhythmus-Bewegung stabilisiert. Es geht um den zweiten Kernpunkt der Arbeitswissenschaft, also um Ermüdungsausmerzung.44 Hier entsteht der Begriff einer Frequenz der Arbeit, die sich aus der aufbauenden Ermüdung als eine »natürliche Verlangsamung« des Arbeitsrhythmus darstellt.45 Entscheidend ist hierbei folgendes: Der Arbeiter weiß über die Frequenz seiner Arbeit Bescheid. Er wird sich ›natürlich‹ in dieses Absinken und damit in die Stabilität einer effektiv gesteigerten Produktivität fügen. Er muss, als dritter Punkt der Arbeitswissenschaft, die Frequenz der Arbeit internalisieren. Ein Hilfsmittel dieser Internalisierung ist zunächst der Wettbewerb, welcher als Mittel dem Arbeiter als intuitiv vertraut unterstellt wird. Der Wettbewerb ist eine effektive Möglichkeit, die Arbeitsfrequenz singulär zu steigern. Effektivierung durch Wettbewerb stellt somit einen weiteren Kernpunkt der Arbeitswissenschaft dar: »Ein gelegentlicher Wettkampf dagegen schadet nichts. Man hat im Gegenteil erlebt, daß die Arbeiter an solchen Wettkämpfen viel Spaß hatten und ihnen der Wettkampftag direkt ein Tag der Freude wurde, der rascher vorüber ging und dabei noch mehr einbrachte als ein gewöhnlicher Arbeitstag. Übertrieben werden dürfen solche Kämpfe allerdings nicht. Dafür sorgt jedoch schon der natürliche Instinkt des Arbeiters selbst«.46
Signifikant ist darüber hinaus, dass die Arbeits- und Bewegungsstudien der Gilbreths massiv auf den externen Beobachter setzen. »Die Fähigkeit, genau beobachten zu können, ist ein Haupterfordernis. Der Beobachter muß nicht nur in der Lage sein, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind, sondern auch imstande sein das, was er sieht, in klarer deutlicher Sprache so zu beschreiben und festzuhalten, dass andere ohne weiteres seinen Aufzeichnungen folgen können.«47
44 Ebd. 45 Im Rückgriff auf Taylor definiert Gilbreth, dass 12,5% der Arbeitszeit als Erholungszeit gedacht werden müssen; d.h. auf 8 Stunden Arbeit muss eine Stunde Erholung erfolgen (Gilbreth, Frank B.: Das ABC der wissenschaftlichen Betriebsführung, Berlin: Springer 1920, S. 64). 46 Ebd., S. 65. 47 F. Gilbreth/ L. Gilbreth: Ermüdungsstudien. Eine Einführung in das Gebiet des Bewegungsstudiums, S. 14.
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Der Beobachter muss hier nicht ausschließlich der Arbeitswissenschaftler sein, diese Position kann auch durch den Betriebsbesitzer, einen neuen (unvoreingenommenen) Betriebsangehörigen, einen externen Arbeiter etc. vorgenommen werden.48 Deutlich ist natürlich, dass innerhalb der Gilbrethschen Studien dieser Beobachter insofern externalisiert und mechanisch verobjektiviert wird, als die fotografischen und filmischen Techniken in diesem Zusammenhang an Bedeutung gewannen. Dennoch ist hier auch die Konstruktion eines selbstdisziplinatorischen (und nachgerade panoptischen) Blicks des arbeitenden Subjekts auf sich und seinen Körper erahnbar. Die Selbstbeobachtung ist also als letzter Kernpunkt der Arbeitswissenschaft beziehungsweise im Projekt der Internalisierung des ›Klangs der Arbeit‹ benennbar. Entscheidend ist aber zunächst, dass in der Weiterentwicklung der Arbeitswissenschaften der externe Beobachter wegfällt, dass also ein Dispositiv der Selbstdisziplinierung zu greifen scheint. Am Ende dieser Entwicklung (sowohl im Sinne der historischen Weiterentwicklung der Arbeitswissenschaften als auch im Sinne einer Konsequenz des Vorgetragenen) steht dann eine Entkörperlichung beziehungsweise eine Entkoppelung von körperlicher Arbeit und Rhythmisierung der Arbeit.49
S CHREIB -M ASCHINE Mit der Entkörperlichung der Arbeit vom industriellen Prozess hin zum dienstleistenden Gewerbe, so kann eine bekannte Thesenlagen subsumiert werden, setzt ebenso eine Verschiebung der Wahrnehmung des Rhythmischen und des an ihn ›angeschlossenen‹ Körpers ein. Die ›ornamentale Masse‹ der Tillergirls50, die Analogisierung von Akkordarbeit, Rhythmus und Arbeiterbewegung zum Fließband als umgangssprachlichem »Jazz-Band«51, Ruby Keelers und Lee
48 Ebd., S. 14ff. 49 Erwähnung finden muss an dieser Stelle auch die sich steigernde Medialisierung des Arbeitsrhythmus. Dieser Punkt ist (oftmals analog zum Mediengebrauch der Arbeitswissenschaften selbst) mehrfach ausgearbeitet worden. Daher mag in Andeutungen nur das Zitat Walter Benjamins zum »Chock von Rhythmus und Rezeption« genügen: »Was beim Fließband den Rhythmus der Produktion bestimmt, liegt beim Film dem der Rezeption zugrunde« (zit. nach H. C. v. Herrmann: Der Sang der Maschinen, S. 168). 50 Kracauer, Siegfried: »Das Ornament der Masse«, in: Ders. (Hg.), Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 50f. 51 H. C. v. Hermann: Der Sang der Maschinen, S. 132.
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Dixons Tanz auf der Schreibmaschine (Abb. 3) – all dies könnte als Ausdruck für eine Veränderung der Wahrnehmung von Körper, Arbeit und Vergnügen über eine Medialisierung des Rhythmusdispositivs beschrieben werden. Reflektiert werden soll an dieser Stelle aber zunächst die Veränderung des ›Rhythmuskörpers‹ durch die Veränderung der Arbeit. Dass dies ein übergreifender Prozess ist, der in weiterem Sinne ein gesellschaftliches wie subjektives Dispositiv verändert, ist mehrfach ausgeführt worden.52 Im Grunde soll an dieser Stelle nur der Wandel von der körperlichen zur mentalen Arbeit als eine Struktur der ›Entkoppelung‹ von Interesse sein. Abbildung 3: »›Too Marvelous for Words‹«
Quelle: Ruby Keeler/Lee Dixon in: READY, WILLING AND ABLE, USA 1937, R: Ray Enright
Wenn also der Körper aus der Arbeit heraustritt, so scheint sich aber der Rhythmus an anderer Stelle als Disziplinierung in die Arbeit einzuschreiben. Das externe Körpermoment wird inkorporiert und zu Arbeitsdisziplin überformt. Der Rhythmus verlässt die Fließband- und massenindustrielle Arbeit, die Arbeit ändert sich, die Idee des in der Arbeit choreografierten Körpers tritt vorgeblich aus dem Fokus. Und nicht zuletzt scheint die Arbeitswissenschaft ihre Effektivität zu verlieren. Meine These lautet, dass sich die Rhythmisierung der Erwerbsarbeit
52 Prost, Antonine: »Grenzen und Zonen des Privaten«, in: Ders./Gérard Vincent (Hg.), Die Geschichte des Privaten Lebens. Vom Ersten Weltkrieg zur Gegenwart (Band 5), Augsburg: Bechtermünz 1999, S. 23-112.
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aber sowohl in arbeitsökonomischen wie auch in ›selbst-technologischen‹ Diskursen weiter auch an eine ›entkörperlichte‹ Arbeit anbindet: »Über das Manuelle hinaus werden auch seelische Dispositionen durch psychotechnische Eignungsprüfungen zu erreichen gesucht. Das Massenornament ist der ästhetische Reflex der vom herrschenden Wirtschafssystem erstrebten Rationalität«.53
Ein ›Weg‹ der Argumentation könnte es sein, mit der Veränderung der Arbeit auch von einer Veränderung der diskursiven Steuerung der Arbeit auszugehen: Dann würde die klassische (Gilbrethsche) Arbeitswissenschaft möglicherweise als von der jungen Disziplin der Kybernetik ersetzt zu betrachten sein. Eine andere Perspektive wäre es aber, an dieser historischen Stelle dem Weg des disziplinierenden Diskurses selbst zu folgen. In dieser Perspektive scheint die (moderne) Dienstleistungsarbeit den Körper vorgeblich von seiner rhythmischen Disziplin zu befreien. Aber schon der Kafkasche Versicherungsangestellte nimmt im monotonen Kratzen der Feder auf dem Papier und in dem Gleichklang der mechanischen Rechenmaschinen des Großraumbüros etwas vorweg, was sich in der neoliberalen Arbeit54 vollendet: der überformte Metasound als Selbstdisziplinierung – und die Überführung des Arbeitsrhythmus von der Arbeit in die Freizeit. Denn dass diese ›Neudefinition‹ des Psychotechnischen eine Art ›ästhetischen‹ Überschuss erzeugt, zeigt sich nicht nur bei Kracauers Gedanken zum Ornament, es ist in deutlicher Weise im neusachlichen Schreiben zu entdecken,
53 S. Kracauer: »Das Ornament der Masse«, S. 54; Ähnlich argumentiert Huhtamo (Huhtamo, Erkki: »Neues Spiel, neues Glück. Eine Archäologie des elektronischen Spiels«, in: Christian Holtorf/Claus Pias (Hg.), Escape! Computerspiele als Kulturtechnik, Köln: Böhlau 2007, S. 23): »Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mußten auch Büroangestellte in zunehmendem Maß den Prinzipien der Mechanisierung gehorchen. Sie wurden gezwungen, ihre Arbeitszeit an neue Büromaschinen ›gefesselt‹ zu verbringen – ihre mechanischen Rechenmaschinen, ›Electric Pens‹ und Schreibmaschinen, Kopiergeräte (oder ›Mimeographen‹), Diktiergeräte, Telefonvermittlungen«. 54 In enger Anlehnung an Foucaults Konzept der gouvernementalité definieren Bröckling, Krasman und Lemke ein verändertes arbeitsökonomisches Paradigma als ein Charakteristikum der Neoliberalität. »Das Ökonomische ist in dieser Perspektive nicht ein fest umrissener und eingegrenzter Bereich menschlicher Existenz, sondern umfasst prinzipiell alle Formen menschlichen Verhaltens« (Bröckling, Ulrich/Krassmann, Susanne/Lemke, Thomas: »Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologie. Eine Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 16).
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wenn die Disziplinierung des Rhythmus nicht nur in der Schreibmaschinenarbeit des Tippmädchens Gilgi thematisiert wird, sondern zugleich auch zum Formprinzip der Autorin Irmgard Keun selbst wird: »Tick-tick-tick – rrrrrrrr – bezugnehmend auf Ihr Schreiben vom 18. des … tick-tick-tick – rrrrrrrr… einliegend überreichen wir Ihnen… tick-tick-tick … im Anschluß an unser gestriges Telefongespräch teilen wir Ihnen mit… Die Stenotypistin Gilgi schreibt den neunten Brief für die Firma Reuter & Weber, Strumpfwaren und Trikotagen en gros. Sie schreibt schnell, sauber und fehlerfrei. Ihre braunen, kleinen Hände mit den braven kurznäglig getippten Zeigefingern gehören zu der Maschine, und die Maschine gehört zu ihnen«.55
Aus dem ›rhythmus-disziplinierten‹ Körper des Arbeiters formt sich das ›Management des Selbst‹ wie es vielleicht am frühesten noch James Burnham 1941 mit seinem Buch The Managerial Revolution kritisch reflektiert. Die (repressive) Form der externen Steuerung durch Rhythmisierung geht über in eine (selbstdisziplinatorische) Form des internalisierten self-managements. »Schließlich wurden im Falle des humanen Faktors, des arbeitenden Körpers, beide Funktionen auf diesen selbst übertragen, und zwar in zwei Schritten: Auf eine hierarchische Disziplinierung in der Gruppe folgte die individuelle Selbstdisziplinierung. Bezüglich ihrer Effekte fielen Beobachtung und Normierung auseinander. Ersterer ging es darum, ihre in einer anonymen und amorphen Anhäufung gegebenen Gegenstände zu differenzieren und zu individuieren. Letztere aber applizierte auf die nunmehr identifizierten Gegenstände die Verfahren der Selektion, der Allokation und der Homogenisierung, der Reduktion aller Varianten auf den one best way, der allerdings unendlich optimierbar blieb«.56
Eine ›Spur‹, die dieser Diskurs zeichnet, ist die der Schrift bzw. des Schreibens als produktiver Arbeit. Das Schreiben (oder ›Aufschreiben‹) als ökonomische und produktive Tätigkeit gewinnt an dem Ort an Bedeutung, an dem die körperliche Arbeit und ihre Rhythmisierung zurücktreten. Gleichzeitig scheint genau am Ort der Schrift eine Disziplinierung einzusetzen, die strukturell und funktional der Organisation der körperlichen Arbeit analog erscheint: eine Effektivierung durch Selbstdisziplinierung (wie sie im oben angeführten Bücher-Zitat schon deutlich wird: »… und auch die Leistungen unserer Hand werden damit
55 Keun, Irmgard: Gilgi – eine von uns, Hildesheim: Claassen 1993, S. 16. 56 L. Novak: Motion Study/Moving Picture, S. 132.
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immer gleichartiger«57) und eine gleichzeitige ›Maschinisierung‹ des Aufschreibens von der Schreibmaschine und den angekoppelten ›Schreibmädchen‹ hin zum Computer als dem vorläufig effizientestem Arbeit/Freizeit-Werkzeug der ›Textverarbeitung‹. Somit lässt sich also zunächst das Fortbestehen des Körperlichen im Prozess der (dienstleistenden) Arbeit vermuten; also eine weiterbestehende Präsenz des Physischen und Körperlichen. Nur dass es in diesem ›Übertrag‹ des Klangs der Arbeit nicht mehr um die Effektivität und Rationalisierung der körperlichen Bewegung geht.58 Vielmehr steht nun in dieser ›neuen‹ Form der rhythmisierten Arbeit die Naturalisierung und Internalisierung des Rhythmischen selbst als ein reglementierendes und normierendes Prinzip im Vordergrund. Im Sinne einer Flexibilisierung des Rhythmischen (beispielsweise betrachtet durch die Perspektive des Linkschen Normalismus) scheint sich nunmehr das große Projekt der Moderne (das Selbstmanagement) auch hier in den arbeitenden und effektiven Körper wie auch sein Subjekt einzubetten.59 Die Betrachtung des selbstdisziplinatorischen Projekts der Internalisierung und Naturalisierung des Arbeitsrhythmus bedarf einer kritischen Theorie – der von Lucien Lefebvre vorgeschlagenen »rhythmanalysis«.
R HYTHMSCIENCE Bei Lefebvre findet sich eine Beschreibung des Rhythmus als eine Organisationsform und disziplinatorische Funktion, die Rhythmus als durch Maß und Wiederholung charakterisiert60 – Messung und Wiederholung subsumieren zur Frequenz, die wiederum auf den Körper zugreift. Die Körper und ihre Subjekte werden zu Objekten.61 So entsteht bei Lefebvre für die Moderne ein Verständnis von Rhythmus als ›Dressur‹, als eine Formation von Selbstdisziplinierung und Internalisierung. Die originelle Wendung Lefebvres ist es, den Rhythmus somit
57 Ebd., S. 30. 58 ...und ebenso wenig um die bis dato leitgebende Metapher des Körperlichen wie bspw. die Anspielung von Herzschlag oder Blutzirkulation (vgl. M. Golston: »›Im Anfang war der Rhythmus‹«). 59 Zur genauen Darlegung des Rhythmischen in der Gesellschaft als Kompensation für die Entkörperlichung der Arbeit vgl. auch: Meyer-Kalkus, Reinhardt: »Arbeit, Tanz und Rhythmus – Überlegungen im Anschluß an Karl Bücher«, in: Kulturrevolution Nr.48 (2/2004), S. 65-70. 60 H. Lefebvre: Rhythmanalysis, S. 7. 61 Ebd., S. 10.
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als dispositive Organisationsform zu verstehen, die den Körper über die Koppelungsstelle der Disziplin selbst wieder ›ins Spiel‹ bringt: Denn die Frage nach dem Rhythmus-Dispositiv bringt das Körperliche insofern in Anschlag, als Dispositive der Macht den Körper selten außen vor lassen.62 Die Rückführung des Rhythmischen bei Lefebvre auf die Frequenz (als Maß und Wiederholung) verweist auf eine Betrachtungsweise, die Normalisierung in Koppelung an Körper und Arbeit gleichermaßen durch Ähnlichkeit der rhythmischen Bewegung begreift. So finden sich die Begriffe von Distinktion und Frequenz als Modellwerte eben nicht nur in der Arbeitswissenschaft, 63 sondern auch in der abstrakten Beschreibung eines disziplinatorischen Dispositivs, das zunächst ohne den Körper angenommen wird. Aber es ist Lefebvres Verdienst, deutlich zu machen, dass das Rhythmische hier gerade ›an anderer Stelle‹ an den Körper als eine ›verunsichtbarte‹ Form des Distinkten, Frequentierten und Bemessenden zurückkoppelt: Es ist dies eine Naturalisierung am Ort des Handelns – des Gebrauchens.64 Einer dieser Orte des Handelns ließe sich, wie bereits angedeutet, meines Erachtens mit dem Computerspiel benennen. Dies scheint mir ein signifikanter Ort, an dem sich in deutlicher Weise aktuell die Diskurse des Arbeitens, Schreibens, aber auch des Freizeitverhaltens unter der Perspektive der Instatiierung deutlich verdichten. In pessimistischer Beobachtung japanischer Spielhallen und pachinko-Spieler65 fragt sich Günther Anders, »ob nicht heute ein Großteil unserer emotionalen Energie unseren Apparaten gilt. Erforderlich wäre also eine spezielle, der Sozialpsychologie entsprechende und dieser ebenbürtige psychologische Sonderdisziplin, deren erste Aufgabe darin zu bestehen hätte, unsere Beziehung zu unserer Ding-, namentlich zu unserer Apparatewelt zu erforschen; wozu
62 Ebd., S. 67. 63 »The object of rhythm training is to regulate the natural rhythms of the body and, by their automatisation, to create definite rhythmic images in the brain« (JacquesDalcroze, Emile: Rhythm, Music and Education, Harold F. Rubinstein (Hg.), New York/London: Putnams 1921, S. 265). 64 H. Lefebvre: Rhythmanalysis, S. 69. 65 »Warum steht der Mann schon wieder dort? Oder noch? Warum schlägt ihm keine Stunde? Welcher sex appeal zieht ihn in die Arme der verchromten Sirene? Welche magnetische Macht verhindert ihn, sich ihr zu entwinden?« (Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten Industriellen Revolution (Band 2), München: Beck 1988, S. 59). Für den Hinweis auf Günter Anders danke ich Dominik Schrage.
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auch die Beziehung der Dinge zu uns gehören würde – womit freilich nur gemeint sein kann: die Art, in der wir uns von unseren Dingen behandelt vorkommen«.66
Entkleiden wir den Vorschlag Günther Anders seiner kultur- und technikpessimistischen Grundhaltung, dann ist mit der von ihm vorgeschlagenen Untersuchung der ›Art, wie wir die Dinge sehen und die Dinge uns behandeln‹ eine doppelte Perspektive auf die technischen Medien gewonnen. In unserem Falle wäre es die Frage nach der Medientechnik, der (Rhythmus-)Arbeit und der Herauslösung eines ›Dings‹ (des Computerspiels) in einem Bereich von Freizeit, der dennoch ›erwerbsökonomisch‹ und ›maschinell-produktiv‹ verstanden und thematisiert werden kann. Die monotone und ›somnambule‹ Form der von Anders beobachteten SpielSpieler-Koppelung lässt sich mühelos auch auf eine bestimmte Wahrnehmung von Computerspiel-Spielern aktueller Ausprägung übertragen. Claus Pias’ Untersuchungen zum Computerspiel67 haben deutlich gemacht, wie sehr der Computer und seine Spiele aus dem Geist der Arbeitswissenschaft und der KöperArbeit-Effektivierung abstammen. Und diese These ist von einer überzeugenden Stringenz: Der Computer ist ein (wenn nicht gar das) Arbeitsgerät der Nachmoderne und steht hier in einer logischen und konsequenten Fortsetzung zu Schreibmaschine u.ä. Der Computer ist das entscheidende arbeitsorientierte ›Maschinenäquivalent‹ unserer Kultur; und es steht zu vermuten, dass das Dispositiv der Arbeitsökonomisierung über Frequenzierung und Rhythmisierung hier auch seine rationalisierenden und disziplinierenden Kräfte entfaltet. Und da das (Herum-) Spiel(en) dem Computer von Anbeginn an als Implement beigegeben ist, ist die Vermutung, dass das Spiel ein privilegierter Ort ist, um uns an das Arbeitsgerät zu akkommodieren und es zu naturalisieren, legitim. Dabei stellt sich aber zunächst eine viel grundlegendere Frage: Wie kann das Spielen am Computer unter der Perspektive des (Selbst-) Disziplinatorischen besprochen werden, wenn es doch zutiefst mit dem Ludischen konnotiert ist? […]68 Disziplinierung wäre (verkürzt dargestellt) möglicherweise die Überführung von paidia in ludus.69 Damit wäre also auch eine Überführung und Differenzie-
66 Ebd., S. 60. 67 C. Pias: Computer – Spiel – Welten. 68 In der ursprünglichen Textfassung (S. 239f) erfolgt hier ein Überblick über den Spielbegriff bei Huizinga und Caillois, der aus heutiger Perspektive redundant wirkt. 69 Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen – Maske und Rausch, Stuttgart: Schwab 1960 unterscheidet in die unterschiedlichen Trieberfüllungsfunktionen von »paidia« und »ludus«. Paidia steht hier für die spielerische Grundkategorie, die sich durch
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rung des anthropologischen Begriffes des Ludischen angedeutet, die (eher soziologisch orientiert) auf den Übergang vom ›Herumspielen‹ zum zielorientierten, (arbeits-)ökonomischen Spielen und in Folge zur Akkommodation an die Frequenz auf die Naturalisierung und Internalisierung des Arbeitsgerätes hinweisen. Eine ›Reglementierung‹ des ludus würde dann eben auch die Disziplinierung sein und in Konsequenz zur Konturierung eines Arbeitsdispositivs unter der Fragestellung des Rhythmischen führen.70 Konkret fußt eine solche Überlegung auch auf der Beobachtung, dass eine sehr hohe Anzahl von Spielen mit dezidiert rhythmischen Elementen versehen ist.71 Es geht mir dabei aber noch nicht einmal ausschließlich um das ganz konkrete Bewegen, Tanzen und rhythmische Musizieren – vielmehr scheint das Rhythmische selbst sehr vielen Spielapplikationen in weitaus weniger signifikanter ›Sichtbarkeit‹ beigegeben zu sein. Die Genres beispielsweise des Jump´n´Run oder des Kampfspiels scheinen darauf angelegt, bestimmte Bewegungsmodi des Avatars über die frequenzierte und zielgenaue Betätigung des Interfaces (bspw. in Form von Controler oder Pfeiltasten der Tastatur) zu steuern. Das je nach Grad der Beteiligung im Spiel variable ›Haptische‹ dieses Interfacesteuerns verweist dabei aber eben nicht nur auf die unterschwellige körperliche
Übermut, Exzess, kindliches Spiel als ›glücklicher Überschwang‹ – kurz: das Ungeregelte – charakterisieren lässt. Ludus charakterisiert demgegenüber die Regelung und Übung, das organisierte und reglementierte Spielen. 70 Ein Beispiel für diese Überführung von paida in ludus wäre eben im Spielen am Computer als Problemlösungsverfahren gegeben. In der Weise, wie uns das Computerspiel an den Rechner selbst auf eine spielerische Art heranführt, etablieren wir auch Problemlösungsverfahren für nicht-spielerische Rechnerprobleme. Eine unbekannte Software oder eine unbekannte Applikation wird von vielen geübten Computerbenutzern durch ›Herumspielen‹ im Rahmen einer generellen Umgehensfähigkeit mit einer konventionalisierten ›usability‹ von Software erarbeitet. 71 Eine Umfrage auf der Mailingliste spielkultur.net im März 2004 ergab als erste (willkürliche) Auswahl die Liste folgender dezidiert rhythmisch orientiert wahrgenommener Computer- und Konsolenspiele: DANCE DANCE REVOLUTION ULTRAMIX (2003), AEROBICS REVOLUTION (2003), BEATMANIA (1998), GITADORA! GUITAR FREAK 4TH MIX AND DRUMMANIA (2002), GUITAR FREAKS (1999), SAMBA DE AMIGO (2000), PARAPPA THE RAPPER (1997), UM JAMMER LAMMY (1999), VIB RIBBON (2000), MOJIB RIBBON (2003), TAIKO NO TATSUJIN (2002), DEUTSCHLAND SUCHT DEN
SUPERSTAR (2003), KARAOKE REVOLUTION (2003), Rez (2001), P.N.03 (2002),
SPACE CHANNEL 5 (2000), DISNEYS DSCHUNGELBUCH (2001), MAD MAESTRO (2002), BARBIE TANZSTUDIO (o.J.), EYE TOY GROOVE (2004).
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Beteiligung am Spiel (»button smashing«), sondern auch auf Koppelungen an Spielsituationen, die durch Regelungstechniken von Distinktion, Maß, Frequenz und Wiederholung beschreibbar sind – also den Kategorien des Rhythmischen. Das arbeitswissenschaftliche Moment der Distinktion von Körperarbeitsbewegung (oben als einer der Kernpunkte der Arbeitswissenschaft charakterisiert) über das Rhythmische scheint hier wieder auffindbar. 72 Die mit Lefebvre gefundene Beschreibung des Rhythmusdispositivs, geregelt durch die Diskurse von ›Messung‹ und ›Wiederholung‹ etc., findet sich insofern als ein in fast jedem Spiel nachweisbares Moment. In diesem Sinne möchte ich nun kurz noch einmal die wesentlichen Momente der Arbeitswissenschaft rekapitulieren, die im Bezug auf die Organisation des Rhythmischen bestimmt wurden, und sie auf ihre ›Kompatibilität‹ in der Anschauung von Computerspielen überprüfen. Die zweite postulierte Kernthese der Arbeitswissenschaft wurde mit dem Schlagwort der Ermüdungsausmerzung markiert. Ebenso wie in der wissenschaftlichen Rationalisierung der körperlichen Arbeit scheint die Vermeidung der körperlichen (wie mentalen) Ermüdung im Spiel ein essentielles Kriterium der Effektivität des Spiels darzustellen. Gerade die ›immersiven‹ Effekte des Spiels stabilisieren die ›Verbleibedauer‹ am Spiel. Je länger ermüdungsfrei gespielt wird, desto effektiver koppelt das Spiel seinen Spieler an sich. Dies mag einerseits ein durch Narrationen und Dramaturgien, visuelle wie spielerische Attraktionen gesteuertes Zeitmanagement sein, ist aber – wie auch schon bei der körperlichen Arbeit – sicherlich auch (hier allerdings variabel nach Spielgenre)
72 Ein anderer Zugriff der basalen Einschreibung des Rhythmus in das Spiel wäre der Begriff der Distinktion selbst. Das zeitkritische Moment des Computerspiels entsteht (auch historisch betrachtet) in der Einführung der diskreten Schritte des Zuges. Das temporalisierte Weiterschreiten von Zug zu Zug stellt für das Spiel eine entscheidende Komponente dar. So wie das mit Hilfe einer Uhr ›zeitkritisch gewordene‹ Schachspiel ist auch das Computerspiel durch die Zeitbegrenzung des Zugs mit einem (nicht nur »chronotopischen«) Narrativ überformt worden, sondern erweist sich auch als adaptierbar an das Diskurssystem des (Arbeits-) Rhythmischen. Als nicht unbedingt naheliegendes Beispiel mag das von John Horton Comway 1970 entworfene ›Game of Life‹ (vgl. Gardner, Martin: »Mathematical Games. The fantastic combinations of John Conway's new solitaire game ›Life‹«, in: Scientific American 223 (October 1970), S. 120-123) gelten. Dieser zelluläre Automat entfaltet seine Spezifik gerade durch die diskrete und distinkte Taktung des ›zugbasierten‹ Voranschreitens und gewinnt seine Popularität und seinen ästhetischen und epistemologischen Charakter gerade durch seine daraus resultierende Überformung vom Algorithmus zur (zeitlichrhythmisch entfalteten) Narrativität.
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eine Frage der rhythmischen Akkommodation an das Spiel. Das heißt die Ermüdungsausmerzung im Spiel geht eng mit der dritten arbeitswissenschaftlichen Kernthese einher, der Internalisierung der Arbeit / des Spielerischen. Diese Internalisierung wäre beim Computerspiel beispielsweise beschreibbar durch Akkommodation oder Assimilation an die technische Frequenz. Pias spricht (am Beispiel von PONG) von der »Akkommodation am Rhythmus« des Spiels durch den Spieler73, der den Weg frei macht für das Spiel in die Wohnzimmer. »Die Akkommodation an den fremden Rhythmus des Spiels ist schlicht proportional dem Grad der Entkoppelung des Zweiten vom Ersten Selbst und bricht demnach den Bann des Subjekts«.74
Interessanter ist jedoch noch die Auseinandersetzung mit den Begriffen der Assimilation und Akkommodation nach Jean Piaget. Nach Pias kehren sich hier die Begriffe Piagets Pädagogik um: »Die Akkommodation heißt jetzt Spiel und die Assimilation nach dem Tod des Spiels heißt Arbeit«.75 Die Aufnahme des Spielrhythmus, die Akkommodation des Rhythmischen ist aber beileibe nicht das Ende des Rhythmus-Dispositivs; es stellt vielleicht vielmehr die Grundbedingung dieser ›immersiven‹ Handlung-an-der-Technik dar. Stabilisierend auf diese Koppelung wirkt sich sicherlich auch der Moment der Effektivierung durch Wettbewerb aus. Wettbewerb als Grundbedingung des Spiels (als ludus) scheint dem Computerspiel per se beigegeben. Im Computerspiel kehrt aber vor allem der Gedanke des freiwilligen Wettbewerbs wieder. Der ›Computer-Arbeiter‹ tritt gegen seine eigene Leistungsgrenze an (ggf. über den Zwischenschritt des Computergegners), das angestrebte und wiederholte Er-
73 C. Pias: Computer – Spiel – Welten, S. 113. 74 Ebd., S. 116. – Wobei dieses ›zweite Selbst‹ hier als eine Art der unterbewussten, esoterisch angehauchten Reflexivität des (Freudschen) ›Es‹ gelten mag, das einem rationalen Subjekt gegenübersteht. Es gilt also in dieser Lesweise von Akkommodation, das Denken zu unterdrücken und intuitiv zu handeln (Pias bezieht sich hier auf ein Lehrbuch des Tennisprofils Timothy Gallwey). 75 Ebd., S. 117 – Die ›Radikalität‹ dieser Ausführungen Pias’ sind seinem Technikbezug in der Untersuchung des Spiels geschuldet; eine Perspektive, die ich nicht teile. Entkleiden wir die Darstellung der Piagetschen Pädagogik von den behavioristischen Anklängen, bleibt aber die in der Tat interessante Frage, ob wir (rhythmusgestützt) im Spiel (›one-way Immersion‹) aufgehen oder ob eine Verschmelzung zum ›Spiel‹ aus Spiel, Spiel/Arbeits-Dispositiv und Spieltechnik stattfindet (›evokative Immersion‹); die englischsprachige Unterscheidung von ›game‹ und ›play‹ klingt an.
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reichen des Highscores ist die Plansollübererfüllung; ein permanenter Stachanow-Wettbewerb. Dabei geht es aber im Spiel nicht mehr um die Erhöhung der Frequenz bis zur Schmerzgrenze (zumindest nicht im singulären Wettbewerb), sondern um das Halten der Frequenz (Jump´n´Run) beziehungsweise um ein kalkuliertes ›Hochtakten‹ der Spielfrequenz bis zum erwarteten Scheitern als gezieltem ›Hinausschieben‹ der Übertaktung (SPACE INVADERS, TETRIS etc.). Die Stabilisierung all dieser Immersionen in das Rhythmus-Arbeits-Dispositiv wird über ein breites Repertoire an Selbstkontoll- und Selbstmanagementtechniken bereitgestellt. Die arbeitswissenschaftliche Selbstbeobachtung als Regelkreis der Internalisierung und Stabilisierung schlägt im Spiel voll durch. Ein breites Setting von Techniken und Kriterien steht hier zur Verfügung, um die Selbstbeobachtung zu ermöglichen: Zielereichung, Zwischenzieldefinitionen, Highscoreing, Rankings, Replays, etc. Der Vorarbeiter bzw. der Selbstbeobachter als Beobachter arbeitswissenschaftlich korrekten Handelns wird im Computerspiel vom Gegenüber zum Selbst: Die Maschine kontrolliert die arbeitswissenschaftlich ›korrekte‹ Frequenzierung des Arbeitens an der Maschine. Belohnung und Bestrafung finden nicht mehr in der Leistungslohnbesoldung ihren Ausdruck, sondern in der Highscore-Elite. Einführend habe ich das Rhythmische als das Distinkte charakterisiert. Mit dem Distinkten als Kern des Arbeitsrhythmus schließt sich nun aber (über das Spielerische am Computer) auch der Kreis zum Rechner und den um ihn zirkulierenden Wunschkonstellationen. Denn der Rechner hat das Distinkte zum Strukturprinzip seiner selbst gemacht: »Zerlegung, Ordnung und Distinktion; das entscheidende Potential der ›universellen diskreten Maschine‹ scheint in ihrer trennenden Kraft zu liegen. Sofort aber wird man relativieren müssen: die vielbeschworene ›0 und 1‹ nämlich mag die Basis aller Folge-Trennungen sein, im Konkreten weit wichtiger sind die Festlegungen einer distinktiven Logik, die finite Zustände in neuerliche finite Zustände überführt und nur solche Transformationen zulässt, die ihrerseits finit, transparent und – zumindest dem Prinzip nach – nachvollziehbar sind«76.
Nicht nur dass also mit einer solchen Parallelsetzung von rhythmischer Distinktion, arbeitswissenschaftlicher Effektivierung und Computerspiel als ›Einübung‹ des effektiven Arbeitens am Rechner der (leidigen) Entkörperlichungsdebatte digitaler Medien ein starkes Argument entgegengesetzt wäre, die aufgezeigte
76 Winkler, Hartmut: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, München: Boer 1997, S. 224.
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›Verkörperlichung‹ als Akkommodation, Assimilation oder Immersion der Technik als Arbeitsgerät an den Körper und die Wahrnehmung des Subjekts ließe sich hiermit auch (am Beispiel des Rhythmischen) als sehr effektiv charakterisieren. Bei Gastev war es nicht mehr jeder Arbeiter, der sich dieser Rhythmusdisziplin unterwirft, sondern nur noch die Elite der Arbeiter, die in der Lage sind, die »Akkommodation durch die Maschinen« auszuhalten.77 Im Computerspiel setzt sich nunmehr eine ›Liberalisierung‹ der Rhythmusarbeit durch, die ihre subjektive wie gesellschaftliche Akkommodation in einer breiten Varietät von Koppelungsangeboten und Immersionen herstellt. Dabei gilt es nun nur noch, die gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber dem ›neuen‹ Arbeitsmedium zu überwinden: Aber auch hier ist Abhilfe zu schaffen. Am 24. Mai 2004 berichtet CNNonline über die gesundheitssteigernde Wirkung von Bewegungscomputerspielen (»Video game fans dance off extra pounds«), zwei Jahre vorher bereits hatte Computerbild den Kalorienverbrauch ausgewählter Spiele berechnet.78 *** Es mag so scheinen, als wäre der Entstehungszusammenhang des Artikels von technologischen Entwicklungen überholt worden. Gerade im Bereich der Körper-Interfaces hat sich seit der EyeToy-Steuerung der Playstation Substantielles
77 »…die Maschine steuert lebendige Menschen. Die Maschinen sind nicht länger Objekte der Steuerung, sondern ihre Subjekte« (zit. nach S. Zielinski: Archäologie der Medien, S. 265). 78 Energieverbrauch pro Stunde: AGE OF EMPIRES: 127 Kcal; HALF LIFE – BLUE SHIFT: 128 Kcal; GRAND PRIX 3 (mit Lenkrad u. Pedalen): 126 Kcal; SEGA MARINE FISHING (mit Angelinterface): 305 Kcal; SAMBA DE AMIGO (mit Rasseln): 317 Kcal; INTERNATIONAL
TRACK & FIELD (Pad): 414 Kcal; DSCHUNGELBUCH GROOVE PARTY
(Tanzmatte): 577 Kcal.– Eine lange Reihe weiterer Untersuchungen hat sich in den letzten Jahren über ähnliche Zusammenhänge Gedanken gemacht; wie nicht zuletzt auch 2007 das renommierte British Medical Journal testierte: »Playing new generation active computer games uses significantly more energy than playing sedentary computer games but not as much energy as playing the sport itself. The energy used when playing active Wii Sports games was not of high enough intensity to contribute towards the recommended daily amount of exercise in children.« (Graves, Lee/Stratton, Gareth/Ridgers, N. D./Cable, N. T.: »Energy Expenditure in Adolescents Playing New Generation Computer Games«, in: British Medical Journal 335 (2007), S. 1282-1284).
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verändert: Wii oder Kinect suspendieren scheinbar mühelos die Beschränkungen der spezifischen spielerischen Anordnung von Monitor und Controller hin zur ›freien‹ Bewegung im Raum und der Steuerung des Spiels mittels des Körpers. Eine solche Perspektive übersieht jedoch, dass Konsolentanzspiele und Controller-Spiele wie DANCE DANCE REVOLUTION (1998) oder SAMBA DE AMIGO (1999) – aktuell beide auch als Wii-Implementierung erhältlich – in ähnlicher Weise bereits körpergesteuert waren und dass zudem dem Wii- und Kinect-Konzept eine ganze Generation neuer Bewegungs- und Rhythmusspiele beiseite steht, die (neben dem Rhythmus) den Controller wieder zum Spielkonzept erheben: SINGSTAR (2004) oder GUITAR HERO (2005) und ähnliche Konzepte setzen gerade auf die relativ freie Bewegung vor dem Spielgerät, integrieren aber über Mikrofon oder Plastikgitarre ein Interface-Device ins Spielkonzept. Die Akkommodation an das Spiel und die Spielgeräte scheint also heute, angesichts von Wii und Kinect, aber auch angesichts der Ankündigung der großen Hardware-Hersteller, welche mit neuen Interfaces und Schnittstellen zukünftig den Markt der Konsolen gegen die handheld-Devices sichern sollen, noch zügiger voran zu schreiten als um 2004 in der ersten Fassung dieses Textes angenommen. Gleichzeitig können wir heute (unter Umständen) präziser umfassen, wie in der Gemengelage von Immersion, Evokation, der Koppelung von Wissenstypen und dem Rekurs auf den basalen common sense sich auch weniger offensichtliche Naturalisierungen von Wissens- und Herrschaftstypen in das Handeln am Spiel einschreiben. Der (operationale wie funktionale) Prozess der gamification als gesamtgesellschaftlicher Prozess der Adaption und Akkommodation von Handlungs- und Steuerungswissen wird (ursprünglich noch eher ›abtastend‹ veranschlagt) gegenwärtig als deutlich gouvernemental geprägte Subjektpolitik erkennbar. Der untersuchte Typus von Wissen über Rhythmus und die Akkommodation der Arbeit an das ›Arbeitsgerät‹ zeigt in Ansätzen, wie sich Wissenstypen auch jenseits einer materiellen, verkörperten enunziativen Instanz in das Spiel eintragen – und dass der Effekt der Immersion oder Teilhabe hierbei wesentlich zur Effektivität dieser Akkommodation beiträgt. Entscheidender Punkt einer solchen Akkommodation ist sicherlich die Unsichtbarkeit des Werkzeuges. Der Hammer Gastevs oder die Ziegelsteine Gilbreths bleiben für den Arbeiter sichtbar. Der Gebrauch einer Plastikgitarre in GUITAR HERO (2005) und ROCK BAND (2008) oder des eigenen Körpers als Controller geschieht im Intuitiven, im Unsichtbaren. Sie bilden die immersiven Konstellationen, innerhalb derer sich das disziplinatorische Wissen in die spielende Rhythmusarbeit einlagern kann. Das Monitoring (im Sinne einer fast schon pan-
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optischen Selbstregierung79) des Rhythmus-Spiels ist keine Subjekttechnologie mehr, die dem Spielenden ein dominantes Wissen zur Internalisierung anbietet, sondern eine, in der sich das Wissen unterschwellig und nicht mehr als eine (möglicherweise erkennbare) Enunziation darstellt. Die rhythmische Subjekt/Körperarbeit an und im Exergame wird als Biopolitik erkennbar. 80 Ähnlich beschreibt dies auch Brad Millington in seiner Auseinandersetzung mit der Wii: »In summary, active video games are commonly referred to as such for their ability to activate the human body. […] the Wii is active in that it is endowed with the ability to shift the meanings associated with video game consumption, invoking and fortifying governmental and post-disciplinary forms of control. In addition, the Wii can operate as an autonomous quasi-object expert, one which can unlock knowledge of the body to assess and alleviate personal risks. Given these sophisticated features, researchers should continue to explore the social, political and economic impacts of active technologies«.81
Insofern scheint es mir nur sinnvoll, den in der Rhythmusarbeit vorgeschlagenen Ansatz weiter auszubauen, und eben nicht nur den ›arbeitenden Körper‹, sondern auch das ›arbeitende Subjekt‹ in toto als eingespannt in ein Netzwerk von Diskursen, Akkommodationen und performanten Handlungstypen zu begreifen – und daraus die mögliche Grundlage für eine substantielle Beschäftigung mit der gamification abzuleiten. Gamification ist – so verstanden – die konsequente Verkoppelung des Subjekts mit einer naturalisierten Form von Regierung.
L ITERATUR Adamowsky, Natascha: Spielfiguren in virtuellen Welten, Frankfurt a.M./New York: Campus 2000.
79 Vgl. dazu auch R.F. Nohr: Die Natürlichkeit des Spielens. 80 Vgl. bspw. auch Boyer, Steven: Jane Fonda's Wii Fit. Continuity, Contingency, and Concordance in Fitness Gaming. Conference Paper: Think Design Play. The Fifth International Conference of the Digital Research Association (DIGRA) 2011. http:// www.digra.org/dl/display_html?chid=11313.09453.pdf 81 Millington, Brad: »Wii Has Never Been Modern. ›Active‹ Video Games and the ›Conduct of Conduct‹«, in: New Media and Society 11 (2009), S. 637.
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Winkler, Hartmut: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, München: Boer 1997. Zielinski, Siegfried: Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hören und Sehens, Reinbeck b. Hamburg: Rowohlt 2002.
C OMPUTERSPIELE AEROBICS REVOLUTION (Konami 2003, O: Konami) AGE OF EMPIRES (Microsoft Studios 1997, O: Ensemble Studios) BARBIE TANZSTUDIO (TLC 1996) BEATMANIA (Konami 1998, O: Konami) DANCE DANCE REVOLUTION (Konami 1998, O: Konami) DANCE DANCE REVOLUTION ULTRAMIX (Konami 2003, O: Konami) DEUTSCHLAND SUCHT DEN SUPERSTAR (Codemasters 2003, O: Codemasters) DISNEYS DSCHUNGELBUCH (Ubisoft 2001, O: Ubisoft) DSCHUNGELBUCH GROOVE PARTY (Ubisoft 2001, O: Disney Interactive) EYE TOY GROOVE (SCEE 2004, O: SCE London Studio) GITADORA! GUITAR FREAK 4TH MIX AND DRUMMANIA (Konami 2002, O: Konami) GRAND PRIX 3 (Hasbro Interactive 2000, O: Atari) GUITAR FREAKS (Konami 1999, O: Konami) GUITAR HERO (Red Octane 2005, O: Harmonix Music Systems) HALF LIFE – BLUE SHIFT (Sierra Entertainment 2001, O: Gearbox Software) INTERNATIONAL TRACK & FIELD (Konami 2000, O: KCET) KARAOKE REVOLUTION (Konami 2003, O: Harmonix Music Systems) MAD MAESTRO (Eidos 2002, O: Desert Productions) MOJIB RIBBON (SCEI 2003, O: NanaOn-Sha) P.N.03 (Capcom 2002, O: Capcom) PARAPPA THE RAPPER (SCEA 1997, O: NanaOn-Sha) PONG (Atari 1972, O: Atari) REZ (Sega 2001, O: United Game Artists) ROCK BAND (MTV Games 2007, O: Harmonix Music Systems) SAMBA DE AMIGO (Sega 2000, O: Sonic Team) SEGA MARINE FISHING (Sega 2000, O: Wow Entertainment) SINGSTAR (SCEE 2004, O: SCEE ) SPACE CHANNEL 5 (Sega 2000, O: United Game Artists) SPACE INVADERS (Taito 1978, O: Taito) TAIKO NO TATSUJIN (Namco 2002, O: Namco)
386 | R OLF F. N OHR
TETRIS (Nintendo 1989, O: Alexey Pajitnov) UM JAMMER LAMMY (SCEA 1999, O: NanaOn-Sha) VIB RIBBON (Sony 2000, O: NanaOn-Sha)
Computerspiele als Therapie Zur Wirksamkeit von »Games for Health«
L INDA B REITLAUCH
E INLEITUNG Die Tätigkeit des Spielens fördert Intelligenz und Kompetenzen. Als Konsens gilt dies unter Pädagogen zumindest bei kindlichem »analogem« Spiel. Ob dieselben positiven Wirkungen auch für Computerspiele anzunehmen sind, darüber herrscht in der Fachwelt wie in der gesellschaftlichen Wahrnehmung noch Uneinigkeit. Jedoch existieren inzwischen insbesondere für so genannte »Games for Health« – also Computerspiele, die im therapeutischen und im klinischen Bereich eingesetzt werden – relevante Studien, die die positive Wirksamkeit auch für digitale Spiele bestätigen. Im Vergleich zu reinen Unterhaltungsspielen erfordert die Entwicklung von so genannten »Serious Games«, die bestimmte gewünschte Effekte beim Spieler auslösen sollen, eine höhere Qualität bei der Konzeption und Umsetzung sowie der Evaluation dieser Effekte. Als solche müssen »Games for Health« beim Einsatz im Gesundheitsbereich evaluiert werden, um mögliche schädigende Wirkungen auszuschließen und positive Wirkungen – insbesondere im Vergleich zu herkömmlichen bzw. alternativen Therapiemethoden – belegen zu können. Studien in vielfältigen Anwendungsbereichen zeigen die unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten, die Potenziale und auch Effektivität und Effizienz von »Games for Health«.
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Ü BERTRAGUNG VON S CHLÜSSELQUALIFIKATIONEN DES S PIELENS AUF ANDERE L EBENSBEREICHE Was beim Spielen tatsächlich trainiert werden kann und was nicht, hängt selten mit der Thematik oder der Genrebezeichnung zusammen. Bei einem Jump 'n' Run muss der Spieler nicht springen, bei einem Rennspiel nicht Autofahren und bei einem Shooter nicht schießen. Vielmehr übersetzt das Interface die Herausforderungen an den Spieler in Aktionen der Spielfigur – das so genannte Gameplay. So wird »Gehen« zu einem Tastendruck auf der Tastatur oder »Rennen« zu einem Knopfdruck auf dem Joystick. In den meisten Spielen unterscheidet sich daher die Art der Kompetenzvermittlung sehr deutlich vom Genre bzw. der Thematik des Spiels. Einerseits ist dies der Grund dafür, dass auch reine Unterhaltungsspiele, die nicht explizit zur Kompetenzvermittlung konzipiert wurden, dennoch dafür geeignet sind. So konnten bei regelmäßigen Spielern von Unterhaltungsspielen zum Teil signifikante Verbesserungen beobachtet werden, z.B. von HandAugen-Koordination1, Problemlösungskompetenz2, Sozialkompetenz, Koordination und Kooperation; die Aushandlung, Einhaltung und Durchsetzung von Regeln sowie die Regulierung von Konflikten3, Sprachkompetenz4 oder Situationsbewusstsein.5 Zudem zeigt sich, dass Unterhaltungsspiele Intelligenz fördern können. Eine neurologische Studie aus dem Jahr 2011 belegt, dass Vielspieler
1
Li, Renjie et al.: »Enhancing the Contrast Sensitivity Function Through Action Video
2
Ohler, Peter. N.: »Was lässt sich beim Computerspielen lernen? Kognitions- und
Game Training«, in: Nature Neuroscience 12 (2009), S. 549-551. spielpsychologische Überlegungen«, in: Rudolf Kammerl (Hg.), Computerunterstütztes Lernen, München: Oldenbourg Verlag. 2000, S. 188-215. 3
Vgl. Castranova, Edward: Synthetic Worlds. The Business and Culture of Online Games, Chicago: University Of Chicago Press 2005 und Gebel, Christa: »Lernen und Kompetenzerwerb mit Computerspielen«, in: Tobias Bevc/Holger Zapf (Hg.), Wie wir spielen, was wir werden. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2009, S. 77-94.
4
Vgl. Jahresbericht der Initiative D21, 2008, http://www.initiatived21.de/wp-content /uploads/2008/11/d21-jahresband2008.pdf und Henning, Peter/Breitlauch, Linda: Gamekomp – Antrag im Programm Empirische Bildungsforschung – Chancengleichheit und Teilhabe – sozialer Wandel und Strategien der Förderung. Karlsruhe 2010.
5
Tapscott, Don: Grown Up Digital: How the Net Generation is Changing Your World. New York: McGraw-Hill 2008.
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über erhöhte Kompetenzen in bestimmten Bereichen verfügen und einen höheren Intelligenzquotienten aufweisen als die Vergleichsgruppe aus Nichtspielern.6 Für die Produzenten von Unterhaltungsspielen hat die Vermittlung von Kompetenzen häufig keine Bedeutung. Der Spielspaß soll den wirtschaftlichen Erfolg garantieren. Doch dass es offenbar einen Zusammenhang zwischen Spielspaß und Lernerfolg gibt, haben einige Spielehersteller bereits erkannt – wie beispielsweise die Firma Valve, die ihr Unterhaltungsspiel PORTAL 2 inklusive Leveleditor allen interessierten Schulen zur Verfügung stellt und Lehrer explizit auffordert, es im Unterricht zu nutzen.7 In erster Linie kann das immanente Belohnungssystem von Spielherausforderungen dazu genutzt werden, um Motivation und Nachhaltigkeit beim Lernen zu erreichen. Durch die intrinsische Motivation werden beispielsweise Verhaltensänderungen, Wissenserweiterung oder Verbesserung motorischer Fähigkeiten gefördert.
S ERIOUS G AMES
FOR
H EALTH
Spiele, die jenseits des Unterhaltungswerts Wissens- und Kompetenzvermittlung sowie verhaltensändernde Wirkung gezielt fördern wollen, werden als »Serious Games« oder auch als »Game-Based Learning« bezeichnet. Auch wenn um eine allgemeingültige Definition noch gerungen wird, spricht man dabei von Spielen, die in erster Linie Lerninhalte vermitteln können8, welche sich auf das »wirkliche« Leben übertragen lassen. Der Gründer des »Games for Health Center« Ben Sawyer plädiert für die folgende Definition: »Any computerized game whose
6
Vgl. IMAGEN Consortium: The Neural Basis of Video Gaming, 2011, http://www. nature.com/tp/journal/v1/n11/fig_tab/ tp201153f1.html#figure-title
7
Vgl. Monogenis, Harry: »Valve Brings Portal 2 to Schools via ›Teach with Portals‹«, in: Destructoid.com (2012), http://www.destructoid.com/valve-brings-portal-2-toschools-via-teach-with-portals--229865.phtml
8
Lampert, Claudia et al.: »Der gespielte Ernst des Lebens: Bestandsaufnahme und Potenziale von Serious Games (for Health).«, in: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung. Computerspiele und Videogames in formellen und informellen Bildungskontexten 15/16 (2009), http://www.medienpaed.com/Documents/medienpaed /15-16/lampert0903.pdf
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chief mission is not entertainment and all entertainment games which can be reapplied to a different mission other than entertainment«.9 Geht man nun davon aus, dass auch Unterhaltungsspiele Kompetenzen fördern, also dass Spielen an sich bereits intelligenter machen kann, lässt sich die Definition ergänzen: Mit Serious Games werden spezielle Kompetenzen gefördert, die sich auf bestimmte Anwendungsfelder gezielt übertragen und evaluieren lassen. Ein möglicher Hinweis auf die Wirkung von Serious Games im Vergleich zu anderen Lernmitteln zeigt beispielsweise eine pädagogische Studie mit zwei unterschiedlich unterrichteten Schulklassen: Die eine lernt durch konventionellen Frontalunterricht, die andere mit einem speziell für den vorgesehenen Lernstoff konzipierten Computerspiel. Nach Ablauf von sechs Wochen konnte bei der Testgruppe Videospiele »eine Steigerung des logischen Denkvermögens von im Schnitt 90 IQ-Punkten vor dem Training auf 101 Punkte danach«10 festgestellt werden, während sich bei der Vergleichsgruppe keine signifikanten Verbesserungen zeigten. Wie in diesem Beispiel stehen Serious Games hinsichtlich ihrer Aneignung üblicherweise nicht in direkter Konkurrenz zu Unterhaltungsspielen, sondern ersetzen oder ergänzen andere Lernmedien. Sie werden häufig für spezielle Anforderungen konzipiert und in Lernumgebungen eingesetzt. Dies gilt auch für »Games for Health«, die speziell für die Anwendung im medizinisch-therapeutischen Umfeld entwickelt werden. Zum einen können gewünschte Verhaltens- bzw. Einstellungsänderungen bei Patienten erzielt werden, wie beispielsweise Umstellungen der Ernährung oder die Notwendigkeit regelmäßiger Medikamenteneinnahme.11 Zu dieser Kategorie Spiele zählen auch die so genannten »Exergames«, welche körperliche Aktivitäten anregen und trainieren. Die Wirksamkeit von Serious Games konnte darüber hinaus auch nachgewiesen werden als effektive Unterstützung im Umgang mit seelischen oder körperlichen Leiden, welche nicht notwendigerweise einen Lernerfolg bestätigen, wie beispielsweise in der
9
Sawyer, Ben: »The Serious Games Landscape«, 2007, S. 5, http://internet2.rutgers. edu/pres/speaker6-sawyer-final.ppt
10 Lenhard, Alexandra/Lenhard, Wolfgang: »Computerbasierte Intelligenzförderung mit den ›Denkspielen mit Elfe und Mathis‹ – Vorstellung und Evaluation eines Computerprogramms für Vor- und Grundschüler«, in: Empirische Sonderpädagogik 2 (2011), S. 114. 11 Vgl. Baranowski, Tom et al.: »Playing for Real: Video Games and Stories for HealthRelated Behavior Change«, in: American Journal of Preventive Medicine 34/1 (2008), S. 74–82, http://www.ajpmonline.org/article/PIIS0749379707006472/abstract
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Schmerztherapie. Aufgrund der Anforderungen im medizinischen Bereich lässt sich die Wirkung von »Games for Health« im Vergleich zu anderen Einsatzbereichen durch Studien gut nachvollziehen. Um zu klären, warum Computerspiele in bestimmten Kontexten eine höhere Wirkung als andere Lernmittel erreichen, soll die Konzeption von Lernvorgängen untersucht und die Entfaltung ihrer Wirkung durch die Nutzung von Spielmechaniken betrachtet werden. Daraus können Methoden für die Konzeption und Evaluation von Serious Games abgeleitet werden.
K ONZEPTION VON L ERNVORGÄNGEN
UND
S PIELMECHANIKEN
Anders als bei reinen Unterhaltungsspielen lässt sich der Erfolg eines Serious Games nicht allein durch Verkaufszahlen messen. Relevant ist, ob die vom Hersteller oder Auftraggeber benannten Wirkungen wie Verhaltensänderung, erfolgreiche Wissens- oder Kompetenzvermittlung oder die Verbesserung motorischer und kognitiver Fähigkeiten auch tatsächlich erzielt werden. Es existieren Spiele für unterschiedliche Therapiebereiche, beispielsweise zur: • • • • • •
Verbesserung der Motorik, so genannte »Exergames«, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsschulung, Verhaltensänderung und psychologischen Unterstützung sowie Ergänzung von Entzugsbehandlungen Unterstützung der Akzeptanz von therapeutischen Methoden und positiven Beeinflussung der Selbstheilungskräfte bis hin zur Selbstmordprävention, Schmerztherapie, Traumatherapie.
Die Wirkung von Exergames, die nicht immer explizit zur Verbesserung der Motorik entwickelt, jedoch in diesem Bereich eingesetzt werden, ist gut untersucht. Studien konnten die Wirksamkeit bei der Verbesserung der motorischen Verhaltensweisen der Spieler nachweisen.12 Ein weiterer therapeutischer Aspekt ist die gewünschte Verhaltensänderung, beispielsweise bei Diabetespatienten. Insbesondere bei Betroffenen des Diabetes
12 Vgl. Wittman, Grace: »Video Gaming Increases Physical Activity«, in: Journal of Extension 48/2 (2010), http://www.joe.org/joe/
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Typ 1, der derzeit nicht heilbar ist, geht es um den täglichen Umgang mit der Krankheit sowie um die Veränderung der Lebensgewohnheiten. Die wissenschaftliche Evaluation des Spiels PACKY & MARLON für jugendliche Betroffene zeigte, dass die Zahl der krankheitsbezogenen Notaufnahmen um 77 Prozent reduziert werden konnte.13 Die vielfältigen Möglichkeiten der psychologischen Unterstützung werden beispielsweise bei der Behandlung von Depressionen deutlich. Mit dem Fantasierollenspiel SPARX konnten 44 Prozent der Spieler, die einen Großteil der gestellten Aufgaben lösen konnten, völlig geheilt werden, während es bei der Vergleichsgruppe nur 26 Prozent waren.14 Eines der am besten evaluierten Spiele zur Unterstützung der Akzeptanz von therapeutischen Methoden und der positiven Beeinflussung der Selbstheilungskräfte ist sicher RE-MISSION15, ein Spiel für krebskranke Kinder. Es konnte eine signifikant höhere Konzentration von krankheitsrelevanten Medikamenten und Chemotherapie-Präparaten im Blut des Patienten nachgewiesen werden sowie bei den Kindern eine Steigerung des krebsbezogenen Wissens und der Selbstwirksamkeitserwartung und ein Anstieg der subjektiven Einschätzung der Lebensqualität.16 Psychologische Effekte durch Computerspiele lassen sich auch in der Schmerztherapie einsetzen. Das Spiel SNOW WORLD hilft Verbrennungsopfern, ihre Schmerzen besser zu ertragen. Das subjektive Schmerzempfinden kann um 30 bis 50 Prozent reduziert werden. Der Patient schießt dabei mit Schneebällen auf unterschiedliche Objekte:
13 Lieberman, Debra. A.: Health Education Video Games for Children and Adolescents: Theory, Design and Research Findings. Jerusalem: Paper presented at the Annual Meeting of the International Communication Association 1998. 14 Insgesamt haben 187 Jugendliche mit im Alter von 12-19 Jahren mit Symptomen von Depressionen an der Studie teilgenommen, 94 in der SPARX-Gruppe, 93 wurden klassisch therapiert, d.h. überwiegend Einzel- sowie Gruppentherapien, die von ausgebildeten Psychologen durchgeführt wurden. Vgl. Merry, Sally N. et al.: »The Effectiveness of SPARX, a Computerised Self Help Intervention for Adolescents Seeking Help for Depression: Randomised Controlled Noninferiority Trial«, in: British Medical Journal (2012), http://www.bmj.com/content/344/bmj.e2598 15 RE-MISSION (Hope Lap Foundation 2008, O: Realtime Associates) 16 Kato, Pamela. M. et al.: »A Video Game Improves Behavioral Outcomes in Adolescents and Young Adults With Cancer: A Randomized Trial«, in: Pediatrics 122 (2008), S. 305-317.
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»Durch die kühle Ästhetik in Blautönen und die Ablenkung durch das Spielen weisen die fünf Hirnregionen, die für die Verarbeitung von Schmerzempfinden zuständig sind, eine beachtlich geringere Aktivität auf. Damit wirkt das Serious Game SNOW WORLD bei der Schmerztherapie von Verbrennungsopfern wie ein Opiat«.
17
Auch Spiele, die nicht eigens für den therapeutischen Bereich entwickelt wurden, lassen sich wirksam einsetzen. Vereinzelte Studien zeigen Effekte bei der Behandlung von Phobien oder in der Trauma-Therapie, zum Beispiel mit TETRIS: Das Spielen direkt nach einer traumatischen Situation senkt die Zahl flashbackartiger Erinnerungen.18 Insgesamt lässt sich feststellen, dass mit gut konzipierten Serious Games nicht nur Äquivalente zu traditionellen Therapiemethoden, sondern zum Teil deutlich verbesserte Wirkungen erzielt werden können. Bei allen positiven Effekten wird in vielen Studien aber auch betont, dass das richtige Spielprinzip wichtig für den Erfolg der Anwendung ist. In der letztgenannten Studie, die TETRIS erfolgreich bei der Trauma-Therapie nutzte, wurden auch andere Spiele getestet. Es stellte sich heraus, dass einige Spiele überhaupt keine Wirkung zeigten. Das deutet darauf hin, dass ein hinsichtlich seiner Wirksamkeit unter falschen Prämissen entwickeltes Spiel den gewünschten Effekt nicht erzielt, denkbar wäre sogar eine gegenteilige Wirkung. Vor allem im Bereich der therapeutischen Spiele ist eine Evaluation deshalb dringend geboten. Allerdings zeigen sich aufgrund der zu entwickelnden Evaluierungskriterien bereits in der Umsetzung eines Spieles Probleme, die der Neurologe und Entwickler von Hirntrainingsprogrammen Henry Mahne bei der Produktion eines Spiels für ADHS-Patienten wie folgt beschreibt: »Natürlich wäre es schön, wenn die Übungen auch Spaß machen würden, aber wegen der vielen Restriktionen für therapeutische Anwendungen ist es viel schwieriger, ein unterhaltsames und erfolgreiches Spiel zu entwickeln, als unter normalen Umständen.«19
17 N.N.: Das therapeutische Spiel: Snow World, 2011, http://www.seriousgamesberlin.de/archiv/2011/10-11/therapeutisches-spiel.html 18 Vgl. Holmes, Emily A. et al. »Can Playing the Computer Game ›Tetris‹ Reduce the Build-Up of Flashbacks for Trauma?«, in: A Proposal from Cognitive Science PLoS ONE 4/1 (2010), http://www.plosone.org/article/info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal. pone.0004153 19 Henry Mahne zitiert nach Zha, Weixin: »Computerspiele als Heilmittel: Playstation statt Ritalin gegen ADHS«, in: Financial Times (2012), http://www.ftd.de/panorama/ vermischtes/outofoffice/:computerspiele-als-heilmittel-playstation-statt-ritalin-gegenadhs/70079584.html
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Da es schwierig ist, die Wechselwirkung von Spielfreude und sinnvollem Lerneffekt zu erreichen, könnte angenommen werden, dass sich dies auf die Sinnhaftigkeit von Evaluationskriterien auswirkt. Wenn sich Spielfreude nicht herstellen lässt, kann zwar ein Effekt mit der entsprechenden Anwendung erreicht werden. Dieser lässt sich dann aber nicht auf den Spielanteil zurückführen. Es empfiehlt sich daher, die Evaluation bei Serious Games zweistufig durchzuführen: Zuerst sollte die reine Spielanwendung hinsichtlich ihrer spielerischen Wirksamkeit untersucht werden. Hierbei wird die empfundene Spielfreude bei Teilnehmern der entsprechenden Zielgruppe untersucht (so genannte Fokusgruppentests). Danach sollte die Veränderung der gewünschten Wirkung gemessen werden. Wenn das Spiel zwar Freude bereitet, jedoch der gewünschte Lern- oder Therapieerfolg nicht erzielt wurde, unterstützt die Anwendung möglicherweise einen falschen Effekt. Wenn beispielsweise das Gamedesign statt der Konzentrationsfähigkeit die Hand-Augen-Koordination adressiert, kann das gewünschte Ergebnis nicht erzielt werden. Die Wahl der geeigneten Spielmechaniken ist deshalb essenziell für die Wirksamkeit eines Serious Game. Aber auch bei der Wahl der adäquaten Spielmechanik kann es zu unerwarteten Effekten kommen, beispielsweise dann, wenn die psychologische Wirkung aufgrund fehlender oder unzureichender medizinischer Erkenntnisse schwer einzuschätzen ist. Wie sich die Potenziale im Spiel entfalten, lässt sich am besten beim Spielen von reinen Unterhaltungsspielen beobachten, da auch hier erlernt wird, wie das Spiel gemeistert werden kann: Aspekt der Probehandlung Im Spiel muss der Lerninhalt abstrahiert werden. Soll beispielsweise eine Kompetenzsteigerung im Bereich des räumlichen Vorstellungsvermögens erfolgen, kann dies in fiktiven virtuellen Welten erfolgen, die nicht unbedingt den Regeln der realen Welt entsprechen. Der Spieler kann sich freiwillig auf eine fiktive Spielsituation einlassen und erwarten, dass sein Handeln nur innerhalb des Spielkontextes, nicht jedoch im wirklichen Leben bewertet wird. Aspekt der Selbstwirksamkeit Spielsituationen stellen Spieler vor Entscheidungen. Der Spieler führt eine oder unterschiedliche Handlungen aus und beobachtet, wie diese sich jeweils auf den Spielzustand auswirken. Aufgrund der Beobachtungen stellt er eine These über Bedingungen und Ziel des Spiels oder der Spielsituation auf. Schließlich entdeckt er grundlegende Muster und Systeme, die er immer wieder variieren und
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auf andere Situationen übertragen kann. Dabei werden die Herausforderungen kombiniert, so dass sich aufbauend auf den bereits vorhandenen Kompetenzen neue entwickeln können. Die Lernziele reichen von Aneignung durch Entdecken und Einübung über Erwerb von Problemlösungskompetenz – beim kritisch-konstruktiven Ansatz bis zur Ausbildung von Transferqualifikation.
B ELOHNUNGSSYSTEME , S PIELSPASS
UND
L ERNEN
Bei einem Serious Game steht der zu vermittelte Lerninhalt an erster Stelle. Um Spielprinzipien zu den entsprechenden mediendidaktischen Konzepten zu finden, werden idealerweise die immanenten Belohnungsprinzipien den Anforderungen angepasst: • •
• •
»Lernen durch Einübung« kann im Spiel durch zeitbasierte und mit »Highscores« gekoppelte Frequenzen der Interaktion hergestellt werden; Problemlösungskompetenz wird in allen Spielprinzipien gefördert, die Interaktionsmöglichkeiten variieren und alternative Entscheidungs- und Lösungsmöglichkeiten anbieten; Entdecken und Konstruieren bieten offene Spielumgebungen, die verschiedene Strategien als Lösungswege ermöglichen; und schließlich kann mit Softwarewerkzeugen ein Spieler die Spielwelt selbst nach immanenten Regeln ausgestalten.
Der Spaß beim Spiel entwickelt sich aus den über das Gameplay abgebildeten Spielherausforderungen, deren Bewältigung eine Belohnung darstellt. Belohnungen im Spiel werden als solche wahrgenommen, wenn sie dem Spieler einen Vorteil bringen. Da der Spielspaß ein entscheidendes Merkmal für die intrinsische Motivation darstellt und diese die Qualität des Lernens hinsichtlich seiner Nachhaltigkeit verbessert, liegt der Schluss nahe, dass die Vorgänge des Lernens mit der Entstehung von Spielspaß identisch sein könnten. Spielspaß entsteht folglich dann, wenn gelernt wird.
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F AZIT Die explizit für die Gesundheitsversorgung entwickelten Serious Games sowie Spiele, die zwar nicht ursprünglich dafür gedacht, aber dennoch im medizinischtherapeutischen Bereich eingesetzt werden können – so genannte »Games for Health« –, müssen aufgrund ihres Einsatzgebietes hinsichtlich ihrer Wirksamkeit evaluiert werden. Die Ergebnisse der bisherigen Studien zeigen, dass sinnvoll konzipierte Spiele positive Effekte auf die Gesundheit der Nutzer haben. Einige Studien lassen den Schluss zu, dass in bestimmten therapeutischen Bereichen der Einsatz von Computerspielen sogar eine signifikant bessere Wirkung erzielen kann als herkömmliche Therapiemethoden. Der Grund für die Wirksamkeit von »Games for Health« liegt in den spielimmanenten Motivationsanreizen, welche sich aus den Aspekten Probehandlung und Selbstwirksamkeit generieren. Aufgrund der positiven Effekte von »Games for Health«, die wegen der Notwendigkeit von Evaluationen gut belegt sind, zeigen sich Potenziale für die Entwicklung weiterer Computerspiele für den medizinischen wie auch für andere Bereiche. Insbesondere für die gesellschaftlichen Herausforderungen in der Ausund Weiterbildung bietet es sich an, hochwertige Serious Games – zumindest zusätzlich zu anderen Lernmitteln – zu entwickeln und zu evaluieren.
L ITERATUR Baranowski, Tom et al.: »Playing for Real: Video Games and Stories for HealthRelated Behavior Change«, in: American Journal of Preventive Medicine 34/1 (2008), S. 74–82, http://www.ajpmonline.org/article/PIIS074937970700 6472/abstract Castranova, Edward: Synthetic Worlds. The Business and Culture of Online Games, Chicago: University Of Chicago Press 2005. IMAGEN Consortium: The Neural Basis of Video Gaming, 2011, http:// www.nature.com/tp/journal/v1/n11/fig_tab/tp201153f1.html#figure-title Gebel, Christa: »Lernen und Kompetenzerwerb mit Computerspielen«, in: Tobias Bevc/Holger Zapf (Hg.), Wie wir spielen, was wir werden. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2009, S. 77-94. Henning, Peter/Breitlauch, Linda: Gamekomp – Antrag im Programm Empirische Bildungsforschung – Chancengleichheit und Teilhabe – sozialer Wandel und Strategien der Förderung, Karlsruhe 2010
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Holmes, Emily A. et al.: »Can Playing the Computer Game ›Tetris‹ Reduce the Build-Up of Flashbacks for Trauma?«, in: A Proposal from Cognitive Science PLoS ONE 4/1 (2010), http://www.plosone.org/article/info%3Adoi%2F 10.1371%2Fjournal.pone.0004153 Kato, Pamela. M. et al.: »A Video Game Improves Behavioral Outcomes in Adolescents and Young Adults With Cancer: A Randomized Trial«, in: Pediatrics 122 (2008), S. 305-317. Lampert, Claudia/Schwinge, Christiane/Tolks, Daniel: »Der gespielte Ernst des Lebens: Bestandsaufnahme und Potenziale von Serious Games (for Health).«, in: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung. Computerspiele und Videogames in formellen und informellen Bildungskontexten 15/16 (2009), http://www.medienpaed.com/Documents/medienpaed/15-16/ lampert0903.pdf Lenhard, Alexandra/Lenhard, Wolfgang: »Computerbasierte Intelligenzförderung mit den ›Denkspielen mit Elfe und Mathis‹ – Vorstellung und Evaluation eines Computerprogramms für Vor- und Grundschüler«, in: Empirische Sonderpädagogik 2 (2011), S. 105–120. Lieberman, Debra. A.: Health Education Video Games for Children and Adolescents: Theory, Design and Research Findings. Jerusalem: Paper presented at the Annual Meeting of the International Communication Association 1998. Merry, Sally N. et al.: »The Effectiveness of SPARX, a Computerised Self Help Intervention for Adolescents Seeking Help for Depression: Randomised Controlled Noninferiority Trial«, in: British Medical Journal (2012), http:// www.bmj.com/content/344/bmj.e2598 Monogenis, Harry: »Valve brings Portal 2 to Schools via ›Teach with Portals‹«, in: Destructoid.com (2012), http://www.destructoid.com/valve-brings-portal2-to-schools-via-teach-with-portals--229865.phtml N.N.: Das therapeutische Spiel: Snow World, 2011, http://www.seriousgamesberlin.de/archiv/2011/10-11/therapeutisches-spiel.html Ohler, Peter. N.: »Was lässt sich beim Computerspielen lernen? Kognitions- und spielpsychologische Überlegungen«, in: Rudolf Kammerl (Hg.), Computerunterstütztes Lernen, München: Oldenbourg Verlag 2000, S. 188-215. Li, Renjie et al.: »Enhancing the Contrast Sensitivity Function Through Action Video Game Training«, in: Nature Neuroscience 12 (2009), S. 549-551. Sawyer, Ben: »The Serious Games Landscape«, 2007, http://internet2.rutgers. edu/pres/speaker6-sawyer-final.ppt Tapscott, Don: Grown Up Digital: How the Net Generation is Changing Your World. New York: McGraw-Hill 2008.
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Wittman, Grace: »Video Gaming Increases Physical Activity«, in: Journal of Extension 48/2 (2010), http://www.joe.org/joe/ Zha, Weixin: »Computerspiele als Heilmittel: Playstation statt Ritalin gegen ADHS«, in: Financial Times (2012), http://www.ftd.de/panorama/vermisch tes/outofoffice/:computerspiele-als-heilmittel-playstation-statt-ritalin-gegenadhs/70079584.html
C OMPUTERSPIELE PACKY & MARLON (Raya Systems 1995, O: WaveQuest) PORTAL 2 (Valve/Electronic Arts 2011, O: Valve Software) RE-MISSION (Hope Lap Foundation 2008, O: Realtime Associates) SNOW WORLD (Loyola University Chicago Stritch School of Medicine 2008, O: David Patterson/Hunter Hoffman) SPARX (LinkedWellness 2009, O: Metia Interactive/University of Auckland) TETRIS (Nintendo 1989, O: Alexey Pajitnov)
Fallstudie 5: HOPSCOTCH – Exer-Learning Games Digitales Bewegungslernen in Schulen
M ARTINA L UCHT , D ANIEL J OERG UND K ATI B REITBARTH »Aus jeder Bewegung entsteht eine Verbindung zum Lernen und zur Verarbeitung von Gedanken«. CARLA HANNAFORD
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E INFÜHRUNG Spielerisches Lernen für den anhaltenden und freudvollen Wissenserwerb nutzbar zu machen und gleichzeitig die Vorteile der digitalen Medien zu integrieren, ist das Ziel des Game-Based Learning. Aus Gründen empirischer Prägnanz grenzen wir für vorliegende Untersuchungen den Bereich des Lernens auf den Wissenserwerb von schulischen Inhalten im Schulalltag ein. Wir diskutieren verschiedene Lernaspekte, die während eines Spiels relevant werden, vor allem welchen Einfluss körperliche Bewegungen auf Lernprozesse haben können, wenn diese ein Teil des Spiels darstellen. Mit der Verbindung der drei Dimensionen Bewegung, Lernen und Spielen führen wir einen neuen Begriff in den Diskurs der digitalen Lernspiele ein: digitale Bewegungslernspiele / Exer-Learning Games. Vermutete positive Effekte von Exer-Learning Games betreffen vor allem die Ausdauer, Konzentration und Bereitschaft zum Lernen und somit die Qualität des Prozesses des Wissenserwerbs. Das am Fraunhofer IDMT entwickelte
1
Hannford, Carla: Bewegung. Das Tor zum Lernen, Kirchzarten: VAK-Verlag 2008, S. 143.
400 | M ARTINA L UCHT , D ANIEL J OERG UND K ATI B REITBARTH
Lernkonzept HOPSCOTCH folgt diesem Prinzip. Mit HOPSCOTCH werden z.B. Englisch-Vokabeln während des Hüpfens auf einer Sensormatte gelernt, d.h. eine körperlich aktive Form des Erwerbs von Faktenwissen wird ermöglicht. Erste Studien mit HOPSCOTCH an Thüringer Schulen zeigten positive Ergebnisse in Bezug auf Lernerfolg, Lernspaß und Einstellung der Schüler zum Lernen.
B EWEGUNG
UND
S PIELEN
Das frühkindliche Spiel steht strukturell in engem Zusammenhang mit verschiedenen Lernprozessen: Kinder erkunden ihre Welt im Spiel. So erweitern sie ihre Fähigkeiten und Kompetenzen und experimentieren mit verschiedenen Rollen und Identitäten. Erst zu einem späteren Zeitpunkt, etwa während der Grundschulzeit, beginnt sich das Spielerische vom Lernen abzulösen, so dass ältere Kinder mit gewisser Wahrscheinlichkeit Spielen nicht mit Lernen assoziieren und viele sogenannte Lernsituationen für sie einen unerfreulichen Beigeschmack haben.2 Formales Lernen scheint weitestgehend mit dem Sitzen an einem Schreibtisch assoziiert zu werden, so wie es an Schulen exerziert und z.B. durch die Erledigung der Hausaufgaben gefordert wird.3 Wenn wir davon ausgehen, dass vor allem bei Kindern im Grundschulalter ein natürlicher Bewegungsdrang besteht, ist es nur naheliegend, dass dieser genutzt werden kann, um positive Konnotationen zum Lernen zu generieren. Während noch vor ein paar Jahrzehnten die kindlichen Freizeitaktivitäten nach der Schule vornehmlich im Freien stattfanden, sind diese Beschäftigungen im Medienzeitalter stärker an den Bildschirm gebunden und dadurch in erhöhtem Maße bewegungsarm. Die Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) bemerkt hierzu, »[…] dass bei Jungen wie Mädchen die Chance auf körperlich-sportliche Inaktivität in der Alterspanne elf bis 17 Jahre mit jedem Lebensjahr im Durchschnitt um etwa 30% zunimmt«.4 Die
2
Ritterfeld, Ute/Cody, Michael J./Vorderer, Peter: Serious Games. Mechanisms and Ef-
3
Wiesemann, Jutta: »Was ist schulisches Lernen?«, in: Georg Breidenstein/Fritz Schüt-
fects, New York: Routledge 2009. ze (Hg.), Paradoxien in der Schulreform, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008. 4
Lampert, Thomas et al.: Körperlich-sportliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KIGGS) 2007, http://www.kiggs.de/experten/downloads/Basispublikation/Lampert_sportl._Ak tivitaet.pdf
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Tendenz zum längeren Rezipieren von Medieninhalten auf Kosten des Spielens im Freien wird auch durch andere Studien bestätigt.5 Diese Tendenz kann weitreichende Implikationen für die mentale, körperliche und soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen haben, da physische Bewegung nicht lediglich der körperlichen Fitness zuträglich ist. »Neben positiven Effekten auf die organische und motorische Entwicklung ist auf die Bedeutung für das psychosoziale Wohlbefinden, die Persönlichkeitsentwicklung und das Erlernen sozialer Kompetenzen zu verweisen.«6 Mangelnde Bewegung ist also nicht nur problematisch für die körperliche Gesundheit junger Menschen, sie betrifft auch psychologische und soziale Aspekte ihrer Entwicklung. Die für die vorliegenden Überlegungen wesentlichste Komponente der menschlichen Bewegung ist, dass diese positiven Einfluss auf Lernprozesse nehmen kann. Langzeitstudien in Schulen zeigten, dass Zeit, die zusätzlich für Sportunterricht aufgewendet wird, den Leistungsstand der Klasse nicht beeinträchtigt. Vielmehr berichten drei von vier groß angelegten Studien signifikante Verbesserungen bei Schulleistungen von Schülern, wenn diese mehr Zeit mit Sport verbrachten.7 Reynolds und Nicolson8 entwickelten ein sechsmonatiges Bewegungsprogramm für Kinder mit Risiko auf Dyslexie, welches zu Hause
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Z.B. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: JIM-Studie 2008. Jugend, Information, (Multi-)Media. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger http://www.mpfs.de/fileadmin/JIM-pdf08/JIM-Studie_2008.pdf; Ders.: KIM-Studie 2008. Kinder + Medien, Computer + Internet. Basisuntersuchungen zum Medienumgang 6- bis 13-Jähriger, http://www.mpfs.de/fileadmin/KIM-pdf08/KIM2008.pdf
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T. Lampert et al.: Körperlich-sportliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen in
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Dwyer, T. et al.: »An Investigation of the Effects of Daily Physical Activity on the
Deutschland, S. 634. Health of Primary School Students in South Australia«, in: International Journal of Epidemiology 12 (1983), S. 308-313; Sallis, James F. et al.: »Effects of HealthRelated Physical Education on Academic Achievement: Project SPARK«, in: Research Quarterly for Exercise & Sport 70/2 (1999), S. 127-134; Shephard, Roy J.: »Curricular Physical Activity and Academic Performance«, in: Pediatric Exercise Science 9 (1999), S. 113-126; Shephard, R.J. et al.: »Academic Skills and Required Physical Education. The Trois Rivières Experience«, in: CAHPER Res. Suppl. 1/1 (1994), S. 1-12; Sibley, Benjamin A./Etnier, Jennifer L.: »The Relationship Between Physical Activity and Cognition in Children. A Meta-Analysis«, in: Pediatric Exercise Science 15 (2003), S. 243-256. 8
Reynolds, D./Nicolson, R.I.: »Follow-Up of an Exercise-Based Treatment for Children with Reading Difficulties«, in: Dyslexia 13/2 (2007), S. 78-96.
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ausgeübt werden konnte. Es zeigten sich u.a. Verbesserungen in Aussprache/ Sprache, Phonologie, motorischen Fähigkeiten und ein Rückgang unaufmerksamen Verhaltens. Metastudien über Zusammenhänge von physischer Aktivität und kognitiven Leistungen zeigten positive Zusammenhänge mit Effektstärken von 0,259 und 0,3210. Die Effekte traten bei unterschiedlichsten Bewegungsarten auf (z.B. Sportunterricht, Aerobic, perzeptives-motorisches Training) und wurden im Rahmen verschiedener Untersuchungen erhoben (sprachliche und mathematische Tests, IQ, Kreativität, Konzentration, etc.; die einzige Ausnahme bildeten Merkfähigkeitstests).11 Bewegung und Spielen haben für die kindliche Entwicklung hohe Relevanz und genießen bei den meisten jungen Menschen hohe Attraktivität. Daher sind diese beiden Aspekte beim Fraunhofer IDMT auch in die Entwicklung digitaler Lernanwendungen eingegangen. Exergames Bei einem so genannten Exercise Game (Exergame) fungieren die Bewegungen des ganzen Körpers als Eingabe, der Einflussgrad einzelner Fingerbewegungen ist dabei eher gering. Zur präzisen Transformation der Körperbewegungen in digitale Informationen dienen spezielle Eingabegeräte, die mit bewegungssensiblen Druck- und Beschleunigungssensoren ausgestattet sind. Die ersten marktrelevant positionierten Exergames wurden Ende der 90er Jahre mit den Spielen DANCE DANCE REVOLUTION (Konami Computer Entertainment 1998, O: Konami), IN THE GROOVE (Roxor Games 2004, O: Roxor Games) und STEPMANIA (MIT 2001, O: Chris Danford) vertrieben. Deren Anwendungsprinzip basiert auf Sensormatten, deren Felder mit dem Fuß betätigt werden. Die jeweilige Aufgabe besteht im reaktionsschnellen Berühren des richtigen Sensorfeldes, das passend zu dem auf dem Bildschirm angezeigten Pfeil betätigt werden muss. Ende 2006 gelang Nintendo mit der Spielkonsole Wii ein erfolgreiches Exergame für die Eingabe mit Hand- bzw. Armbewegungen. Die Spieler sitzen nicht einfach vor einem Computerbildschirm, sondern ›kegeln‹, ›schlagen‹ oder ›werfen‹ mit dem Eingabegerät, wobei ihre Bewegungen sensor-
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Etnier, Jennifer L. et al.: »The Influence of Physical Fitness and Exercise Upon Cognitive Functioning. A Meta-Analysis«, in: Journal of Sport & Exercise Psychology 19 (1997), S. 249-277.
10 B. A. Sibley/J. L. Etnier: »The Relationship Between Physical Activity and Cognition in Children«, S. 243-256. 11 Ebd.
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basiert visualisiert werden. Den neuesten Trend in diesem Bereich setzt die von Microsoft und PrimeSense entwickelte Kinect. Diese kamerabasierte Technologie ermöglicht die Spielsteuerung ganz ohne Controller – die Navigation übernimmt der gesamte menschliche Körper. Aus wissenschaftlicher Perspektive sind Exergames vor allem hinsichtlich ihres gesundheitlichen Mehrwerts untersucht worden.12 Neben der Gesundheitsförderung, die aufgrund der bewegungsarmen Freizeitgestaltung von Kindern und Jugendlichen zunehmend relevanter zu sein scheint, können, wie oben dargestellt, die kognitiven Leistungen von Schülern durch Bewegungsspiele unterstützt werden. Wünschenswert wäre es, die Attraktivität von Exergames für neue Ansätze spielerischen Lernens zu nutzen, wie dies im Rahmen des digital GameBased Learning erforscht wird. Digital Game-Based Learning Die Begriffe ›Serious Games‹, ›Game-Based Learning‹ und ›digitale Lernspiele‹ kennzeichnen das wissenschaftlich motivierte Vorhaben, digitale Spiele auch für Lehr- und Lernzwecke nutzbar zu machen.13 Solche Ansätze versuchen, freudvolles Spielen mit Lernen zu vereinen, d.h. mit einem Vorgang des intentionalen Wissenserwerbs, der durch Übung und Training entsteht. Es ist also weniger der ›Spaßfaktor‹, der beim Game-Based Learning von Bedeutung ist, sondern die lernunterstützenden Begleiterscheinungen des freudvollen Spiels, z.B. für die Steigerung der intrinsischen Motivation zum Zweck des Wissenserwerbs.14 Intrinsische Motivation entsteht aus tätigkeitsspezifischen Anreizen, die im Normalfall durch Spiele, aber nicht notwendigerweise durch Lernaktivitäten gewähr-
12 Vgl. dazu u.a. Unnithan, V.B./Houser, W./Fernhall, B.: »Evaluation of the Energy Cost of Playing a Dance Simulation Video Game in Overweight and Non-Overweight Children on Adolescents« in: International Journal of Sports Medicine 26 (2005), S. 1-11; Newsvote: Computer Games ›burn up calories‹. http://newsvote.bbc.co.uk/ 2/hi/health/6376637.stm 13 Vgl. z.B. Brannigan, Chris/Owen, Angela: Game Based Learning or Learning Based Games? A Case Study, Karlsruhe: Universitätsverlag 2006; Gee, James Paul: What Video Games Have to Teach Us About Learning and Literacy, New York: Palgrave MacMillan 2007; Prensky, Marc: Digital Game-Based Learning, St. Paul, MN: Paragon House 2007; U. Ritterfeld/M.J. Cody/P. Vorderer: Serious Games. 14 Goldstein, Jeffrey H./Buckingham, David/Brougère, Gilles: »Introduction«, in: Dies. (Hg.), Toys, Games, and Media, Mahwah, NJ: Erlbaum 2004; Dumbleton, Timothy/ Kirriemuir, John: Understanding Digital Games, London: Sage Publications 2006.
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leistet werden.15 Gelernt wird häufig, um vorher definierte Ziele zu erreichen (z.B. gute Zensuren etc.). Konventionelle (schulische) Lernkonzepte arbeiten daher häufig mit extrinsisch verstärkter Motivation.16 Der spielbasierte Lernansatz beabsichtigt dagegen, intrinsische Lernmotivation zu erzeugen. Dies wird durch mit dem Spiel verbundene Aktivitäten ermöglicht, die aktivitätsspezifisch durch Anreize verstärkt werden. Aktuelle spielbasierte Lernansätze fokussieren eher vertiefendes Lernen und umfassendere Fragestellungen im Bereich der informellen außerschulischen Bildung17 als den Erwerb von Faktenwissen. Die derzeitige Entwicklung und Erforschung von Computerspielen und Simulationen wird nicht umfänglich in die Lehrpraxis der Klassenräume transportiert18, wobei schon erste Schritte gewagt wurden, digitale spielbasierte Lernansätze in den Schulunterricht zu integrieren.19
15 Vorderer, Peter/Steen, Francis/Chan, Elaine: »Motivation«, in: Jennings Bryant/Peter Vorderer (Hg.), The Psychology of Entertainment, Mahwah, NJ: Erlbaum 2006. 16 Rheinberg, Falko/Vollmeyer, Regina/Burns, Bruce D.: »Motivation and Self-Regulated Learning«, in: Jutta Heckhausen (Hg.), Motivational Psychology of Human Development, Amsterdam: Elsevier 2000, S. 81-108. 17 Gee, James Paul: What Video Games Have to Teach Us About Learning and Literacy, New York: Palgrave MacMillan 2007; Ders.: Good Video Games and Good Learning: Collected Essays on Video Games, Learning and Literacy, New York: Lang 2007; Kline, Stephen: »Learners, Spectators, or Gamers? An Investigation of the Impact of Digital Media in the Media-Saturated Household«, in: Jeffrey H. Goldstein/David Buckingham/Gilles Brougère (Hg.), Toys, Games, and Media, S. 131-156; Linderoth, Jonas/Lindström, Berner/Alexandersson, Mikael: »Learning with Computer Games«, in: Jeffrey H. Goldstein/David Buckingham/Gilles Brougère (Hg.), Toys, Games, and Media, S. 157-176; U. Ritterfeld/M.J. Cody/P. Vorderer: Serious Games. 18 Simpson, Elizabeth/Stansberry, Susan: »Video Games and Teacher Development. Bridging the Gap in the Classroom«, in: Christopher Thomas Miller (Hg.), Games. Purpose and Potential in Education, New York: Springer 2008, S. 163-183. 19 Squire, Kurt: Replaying History. Learning World History through Playing Civilization III, Dissertation 2004, http://website.education.wisc.edu/kdsquire/dissertation.html; Hawlitschek, Anja: »Spielend lernen aber wie? Zum didaktischen Design von Serious Games für die Schule«, in: Andreas Schwill/Nicolas Apostolopoulos (Hg.), Lernen im Digitalen Zeitalter. Dokumentation der Pre-Conference zur DeLFI2009, Berlin 2009, S. 119-126.
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Zwischenfazit Die Kombination von Lernen und Spielen verspricht neue lust- und freudvolle Möglichkeiten des Wissenserwerbs. Gute Ergebnisse wurden z.B. mit Simulationsspielen zum Erwerb von Zusammenhangswissen erreicht, jedoch meist im außerschulischen Bereich. Das spielerische Vermitteln von Faktenwissen mit Hilfe von digitalen Medien im Rahmen des Schulunterrichts ist bisher kaum gelungen. Der Aspekt der körperlichen Bewegung wurde dabei in der digitalen Lernspielforschung weitgehend ausgespart. Ein Zusammenhang zwischen den Dimensionen Spielen, Lernen und Bewegung scheint jedoch offensichtlich zu sein, weshalb sich die Frage stellt, ob die gleichzeitige, direkte Kombination dieser Aspekte neue Möglichkeiten für den Wissenserwerb eröffnen könnte. Daher schlagen die Autoren ein neues Genre für Lernspiele vor: digitale Bewegungslernspiele / Exer-Learning Games.
E XER -L EARNING G AMES Die Erforschung des bildungsrelevanten Aspektes des Wissenserwerbs bei digitalen Bewegungsspielen / Exergames scheint ein Desiderat zu sein. Welche verschiedenen lernpraktischen Vorteile eine Kombination von Lernen und Bewegung haben kann, wird in unterschiedlichen Disziplinen untersucht. Theorien aus der Bewegungs- und Sportpädagogik beschreiben beispielsweise, dass die Entwicklung und Differenzierung psychomotorischer Verhaltensmuster mit kognitiven und persönlichkeitspsychologischen Elementen verbunden ist.20 So ist Bewegungslernen im engen Zusammenhang mit einer Strukturierungsleistung des Gehirns zu sehen und gleichzeitig ein Prozess, in dem das Selbstvertrauen des Lernenden gestärkt wird.21 Wie oben bereits dargelegt, gibt es hinreichend Evidenz dafür, dass körperliche Bewegung mit besseren kognitiven Leistungen und einer konzentrationssteigernden Wirkung einhergeht. Diese Effekte basieren je-
20 Zimmer, Renate/Hunger, Ina: Wahrnehmen, Bewegen, Lernen – Kindheit in Bewegung, Schorndorf: Hofmann 2004; Bietz, Jörg/Laging, Ralf/Roscher, Monika: Bildungstheoretische Grundlagen der Bewegungs- und Sportpädagogik, Baltmannswieler: Schneider Verlag 2005. 21 Balgo, Rolf: »Der Bereich der Wahrnehmung und Bewegung als sonderpädagogischer Förderbedarf«, in: Rolf Werning (Hg.), Sonderpädagogik, München: Oldenbourg 2002, S. 284-318.
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doch auf einer getrennten Abfolge von Bewegung und Lernen und nicht auf der direkten Integration des Lernens in den Bewegungsprozess. Empirische Daten aus pädagogischen und psychologischen Erhebungen zeigen, dass bereits minimale körperliche Bewegungen während des Lernens den Lernprozess unterstützen können – aktiv bearbeitete Aufgabenstellungen können besser erinnert werden als passiv aufgenommene Informationen.22 Im aktuellen Game-Based Learning-Diskurs werden diese Ergebnisse aufgenommen und weiter verwertet. Tabbers23 zeigte, dass im Gegensatz zur passiven Rezeption einer Animation diese dann besser erinnert werden kann, wenn die Lernenden die Bewegungen mit einer Maus nachvollziehen durften. Bei Exer-Learning Games ist die zentrale Frage, ob die Bewegung während des Lernprozesses dazu führen kann, dass (Fakten-)Wissen effizienter gelernt werden kann. Der sogenannte Tu-Effekt proklamiert diesbezüglich einen positiven Zusammenhang. Laut diesem werden Handlungen, die man selbst ausgeführt hat, »[…] sehr viel besser erinnert als Handlungen, über die man nur gehört hat«.24 Handlungen leisten also einen eigenen Beitrag zur Erinnerung an die Handlungen selbst und der damit verbundenen Konzepte. Zu erklären sei dieser Effekt durch (1) die automatisch ablaufende Enkodierung, die durch Bewegung
22 Z.B. Engelkamp, Johannes/Zimmer, Hubert D.: The Human Memory: A Multi-Modal Approach, Seattle: Hogrefe & Huber 1994; Engelkamp, Johannes: Das Erinnern eigener Handlungen, Göttingen: Hogrefe 1997; Grabowski, Barbara L.: »Generative Learning. Past, Present, and Future«, in: David H. Jonassen (Hg.), Handbook of Research for Educational Communications and Technology. A Project of the Association for Educational Communications and Technology. New York: Macmillan 1996, S. 897-918; Wittrock, Merlin C.: »Generative Learning Processes of the Brain«, in: Educational Psychologist 27/4 (1992), S. 531-541. 23 Tabbers, Huib: »Enhancing Learning from Dynamic Visualizations. An Embodied Perspective«, Paper presented at the Biennial Conference of the European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI), August 25th – 29th, Amsterdam, Netherlands, 2009. 24 J. Engelkamp: Das Erinnern eigener Handlungen, S. 12; vgl. McKinnon Sonstroem, Anne: »Über die Invarianz von festen Gegenständen«, in: Jerome S. Bruner/Rose R. Olver/Patricia Marks Greenfield (Hg.), Studien zur kognitiven Entwicklung. Eine kooperative Untersuchung am »Center for Cognitive Studies« der Harvard-Universität, Stuttgart: Klett-Cotta 1988, S. 251-261; vgl. Senkfor, Ava J./Van Petten, Cyma/Kutas, Marta: »Episodic Action Memory for Real Objects. An ERP Investigation With Perform, Watch, and Imagine Action Encoding Tasks Versus a Non-Action Encoding Task«, in: Journal of Cognitive Neuroscience 14/3 (2002), S. 404f.
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möglich ist, (2) die Multimodalität von Handlungen: »Merkmale wie Farbe, Textur, Form und Geräusche«25 bieten einen »Reichtum«26 an Wahrnehmungsmodalitäten, und (3), die kognitionstheoretische Annahme, dass eine Handlung bei der Genese spezifisch motorischer Repräsentationsformen beteiligt ist, die weder durch das pure Vorstellen noch durch das Hören dieser Handlung abgerufen werden. Es ist daher »[…] wahrscheinlich, dass diese spezifisch motorische Information auch das Behalten beeinflusst«27; d.h. der Tu-Effekt würde vorwiegend auf motorischen Informationen beruhen.28 In diesem Zusammenhang stellt sich also die Frage, ob durch die Integration der Motorik in Lernprozesse zusätzliche Informationen zur Verfügung gestellt werden, die die kognitive Belastung eben nicht erhöhen, sondern das Lernen erleichtern. Auch die Neurowissenschaft kommt zu vergleichbaren Annahmen, wenn sie davon spricht, dass die Gehirnareale, die der Sprache und der Bewegung zugeordnet werden, eng miteinander verbunden sind. Körperliche Aktivitäten während des Lernprozesses können zu zusätzlichen Verknüpfungen führen, die das Abrufen der gelernten Informationen erleichtern.29 Kritisch ist dabei zu berücksichtigen, dass eine umfassende Einbeziehung verschiedener Bewegungen während des Lernprozesses die kognitive Belastung erhöhen kann, so dass die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses zusätzlich belastet wird und die Lerneffizienz darunter leiden könnte. Mit zunehmender Bewegungs-Praxis sollte jedoch die Bewältigung der spezifischen Aufgaben (mit den erforderlichen Bewegungen) so automatisiert sein, dass kaum zusätzliche Arbeitsspeicher-Ressourcen beansprucht werden.30 Die Herausforderung für die Konzeption von Exer-Learning Games besteht daher einerseits in der sinnvollen Integration von Bewegung in den Lernprozess und andererseits in dem Design eines spielerischen Ansatzes, der das Bewe-
25 J. Engelkamp: Das Erinnern eigener Handlungen, S. 38. 26 Ebd. 27 J. Engelkamp: Das Erinnern eigener Handlungen, S. 50 28 Vgl. ebd. 29 Vgl. z.B. Hurley, Susan: »The Shared Circuits Model (SCM): How Control, Mirroring, and Simulation Can Enable Imitation, Deliberation, and Mind Reading«, in: Behavioral and Brain Sciences 31 (2008), S. 1-58; Stevanoni, Elizabeth/Salmon, Karen: »Replaying History. Learning World History Through Playing «, in: Journal of Nonverbal Behavior 29 (2005), S. 217-233. 30 Schnotz, Wolfgang/Kürschner, Christian: »A Reconsideration of Cognitive Load Theory«, in: Educational Psychology Review 19 (2007), S. 469-508; J. Engelkamp: Das Erinnern eigener Handlungen.
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gungslernen umrahmt. Dabei sollte die Körperbewegung ein wesentliches Element des Spiels sein und nicht nur ein funktionales Beiwerk.
H OPSCOTCH – E IN K ONZEPT FÜR E XER -L EARNING G AMES Die Inspiration für das am Fraunhofer Institut für Digitale Medientechnologie entwickelte Lernkonzept HOPSCOTCH kam von einem der beliebtesten Kinderspiele, welches weltweit auf Straßen und Schulhöfen gespielt wird: Himmel und Hölle (engl.: Hopscotch). Abbildung 1: Spielfeld für »Himmel und Hölle«, H OPSCOTCH
Quelle: Fraunhofer IDMT
Das Spielprinzip von Himmel und Hölle (Abb. 1) macht sich HOPSCOTCH zunutze. Mit Hilfe von Software werden dem Spieler verschiedene Fragen gestellt, deren Antwort hüpfend, auf einer in neun Felder unterteilten Sensormatte eingegeben werden. Die Felder erinnern an die Tastatur eines Mobiltelefons (Abb. 2) und sind ebenso multidimensional: Bedient man ein Feld einmal, zweimal oder dreimal, wird der dementsprechende Buchstabe auf einem Monitor visualisiert (z.B. auf Feld 2: A, B, C) vergleichbar mit dem Schreiben einer SMS. Die spielerische Komponente von HOPSCOTCH besteht darin, den Körper so schnell wie möglich zu bewegen und gezielt die richtigen Felder in der vorgegebenen Reihenfolge zu berühren. Die Lernaufgabe ist der Anlass, mit dem das Spiel beginnt: Welche Felder sollen in welcher Reihenfolge berührt werden? Der zu erzielende Highscore soll dabei die Spielmotivation steigern. Dieser errechnet sich entsprechend der benötigten Eingabezeit und Genauigkeit der Eingabe. Bei der Lösungseingabe wird stets ausschließlich die korrekte Eingabe vom System
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akzeptiert. So erhält der Spieler ein direktes Feedback und kann durch Ausprobieren die richtige Antwort explorieren, wenn er diese nicht sofort weiß. Das Nichtwissen der Antwort geht jedoch zu Lasten der Zeit und damit des Highscores. Abbildung 2: HOPSCOTCH-Anwendung
Quelle: Fraunhofer IDMT
Nur die perfekte Zusammenarbeit von Bewegung (Körper) und Wissen (Geist) führt zu neuen Höchstpunktzahlen. Darüber hinaus ermöglicht HOPSCOTCH einen Single- und Multiplayer Modus. Es wurden bereits einige prototypische Lernanwendungen für HOPSCOTCH konzipiert und umgesetzt, wie beispielsweise das Trainieren von Englisch-Vokabeln (z.B. »Übersetze das Wort ‘Pflaume‘ ins Englische«), das Lösen mathematischer Rechenaufgaben (z.B. »6 x 3 = ?«) oder das Üben der deutschen Rechtschreibung (z.B. »Tippe das folgende Wort: Bild eines Buchs«). Erste Rückmeldungen zu HOPSCOTCH wurden auf der Kindermesse ›Kinderkult‹ in Erfurt gesammelt. Hier wurden mittels Fragebögen Schulkinder (N = 276), Eltern (N = 133) und Lehrer (N = 33) befragt, nachdem sie ca. zehn Minuten gespielt hatten. HOPSCOTCH wurde von der großen Mehrheit sehr positiv bewertet. Auf einer Skala von 1 (»sehr gut«) bis 5 (»sehr schlecht«) gaben 95,6% der Schulkinder, 99,2% der Eltern und 100% der Lehrer ihren ersten Eindruck von dem Konzept als »gut« oder »sehr gut« an.31 :
31 Lucht, Martina/Domagk, Steffi/Mohring, Martin: »Exer-Learning Games Transfering Hopscotch from the Schoolyard to the Classroom«, in: Max Bramer (Hg.), Artificial Intelligence in Theory and Practice III, Berlin: Springer 2010, S. 25-34.
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HOPSCOTCH wurde als Lernspiel eingestuft (87,2%) – was den Aspekt des intentionalen Lernens unterstützt, der Spielspaß wurde sehr hoch empfunden und 62,5% der Schulkinder können sich vorstellen, mit HOPSCOTCH zu lernen. Die Lehrer sehen ein hohes bis sehr hohes Potential für das Lernen mit HOPSCOTCH (87,6%) und auch für den Einsatz im Schulunterricht (58,1%).
E VALUATION DES DIGITALEN B EWEGUNGSLERNENS IN DER S CHULE Mit dem HOPSCOTCH-Konzept ist es gelungen, spielerische Bewegung und Lernen auf Basis digitaler Technologie miteinander zu verbinden. Die Rückmeldungen von Schulkindern und Lehrern waren positiv und auch der Einsatz in der Schule wurde befürwortet. Wie oben herausgearbeitet, scheint das Bewegungslernen eine vielversprechende ergänzende Lernform zu sein. Um diese Annahme empirisch zu untersuchen, wurden drei Pilotstudien durchgeführt, die Vergleiche zwischen herkömmlichem Unterricht und HOPSCOTCH-Unterricht herstellten. Da der Bewegungsdrang von Grundschulkindern besonders hoch ist, wurden zunächst Studien in einer Grundschule in Weimar durchgeführt. Dabei wurde HOPSCOTCH für das Üben von Englisch-Vokabeln im Schulunterricht eingesetzt. Im Fokus der Studien standen die Attraktivität des Bewegungslernspiels, die Einstellung zum Lernen und der Lernerfolg mit HOPSCOTCH im Vergleich zum lehrerzentrieren Unterricht. Zunächst wurde eine HOPSCOTCH-Anwendung für das Üben von EnglischVokabeln erstellt, in welcher der anstehende Schulstoff eingepflegt wurde. Im Rahmen des Themas »at school« hatten die Schüler insgesamt 26 EnglischVokabeln zu lernen. Diese wurden geteilt, sodass 13 Vokabeln im herkömmlichen, lehrerzentrierten Unterricht gelernt wurden und die verbleibenden 13 Vokabeln mittels HOPSCOTCH. Für beide Einheiten wurde jeweils eine Schulstunde (45 Minuten) vorgesehen. Drei Klassen (N = 55) der vierten Jahrgangsstufe nahmen an der Untersuchung teil, diese wurden alle von derselben Lehrerin unterrichtet. Die Schüler waren im Mittel 10,73 Jahre (SD = ,34) alt. In der lehrerzentrierten Stunde wurden die Vokabeln mittels eines Plakates einzeln vorgestellt. Zusätzlich zeigte die Lehrerin Gegenstände, welche im Raum vorhanden waren (z.B. Federmappe, Kuli, Bleistift), wiederholte mehrfach das englische Wort, fragte nach den Begriffen und ließ die Schüler die Vokabel wiederholen. Danach schrieben alle Schüler die Vokabeln in ihr Heft. In der HOPSCOTCH-Stunde wurden die Vokabeln mit dem digitalen Lernbewegungskonzept gelernt. Insgesamt wurden vier Matten in einem Raum aufgebaut, pro Matte
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spielten durchschnittlich vier Kinder. Zusätzlich hing das Plakat mit allen Englisch-Vokabeln im Raum, um als ›Spickzettel‹ zu dienen. Da für diese Stunde der Raum gewechselt werden musste und es eine kurze Einführung in das Spielkonzept gab, betrug die tatsächliche Lernzeit in den Klassen lediglich zwischen 31,3 und 33,6 Minuten. Dadurch konnte jede der 13 Vokabeln nur etwa fünf Mal pro Gruppe eingegeben werden. In der nächsten Englischstunde wurde die Erinnerungsleistung mittels eines Vokabeltests geprüft, bei dem alle Vokabeln in randomisierter Reihenfolge abgefragt und von den Schülern schriftlich wiedergegeben werden mussten. Danach wurde den Kindern ein Fragebogen zur Beantwortung vorgelegt, in dem ihre Meinung über HOPSCOTCH und über den Englischunterricht erfragt wurde. Die wesentlichen Ergebnisse zeigten, dass 94,5% der Schüler das Lernen mit HOPSCOTCH Spaß gemacht hat und sie gerne weiterhin damit lernen möchten. Zusätzlich bestätigten 88,6%, dass sie das Lernen mit HOPSCOTCH besser finden als mit alternativen Medien wie z.B. CDs oder Büchern. Die überwiegende Anzahl (89,1 %) bestätigte, dass HOPSCOTCH leicht zu bedienen sei, nur vier von 55 Schülern berichteten über Probleme im Umgang mit der Sensormatte. Die Kinder waren nach eigenen Angaben über die gesamte Unterrichtsstunde von den Lerninhalten gebannt (94,5 %) und fühlten sich nicht gelangweilt. Im Hinblick auf die Lernleistungen der Kinder zeigte sich kein Unterschied zwischen dem lehrerzentrierten und dem HOPSCOTCH Unterricht (t(54) = ,66; p = ,51). Für die zweite Studie wurde die Anzahl der Vokabeln, die zu erlernen waren, reduziert. Dies war dem Umstand geschuldet, dass den Schülern keine vollen 45 Minuten einer gewöhnlichen Unterrichtsstunde zum Üben zur Verfügung standen, da das Spiel und dessen Regeln zu Beginn vom Lehrer vorgestellt wurden. Die Schüler der dritten Klasse (N = 58) lernten zehn Vokabeln im traditionellen Unterricht und weitere zehn Vokabeln mit HOPSCOTCH. Die Wiederholungsrate der Vokabeln konnte dadurch auf 7,8 Wiederholungen gesteigert werden. Weiterhin wurde das Design leicht angepasst. Zunächst lernten die Schüler zehn Vokabeln im herkömmlichen Unterricht. Drei Tage später, in der nächsten Englischstunde, wurde ein Vokabeltest mit diesen zehn Vokabeln durchgeführt und mittels Fragebogen die Einstellungen zur Schule und zur englischen Sprache abgefragt. In der darauf folgenden Woche wurde der HOPSCOTCH-Unterricht durchgeführt, dem sich wiederum drei Tage später ein Vokabeltest und ein Fragebogen zu den Einstellungen der Schüler anschlossen. Der Vokabeltest selbst wurde für die Drittklässler ebenfalls angepasst. So wurden fünf Vokabeln mit einer Wiedererkennungsaufgabe abgefragt, wobei diese entsprechenden Bildern zugeordnet werden mussten. Fünf Vokabeln wurden in Form von Erinnerungsleistungen abgefragt (Abb. 3).
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Abbildung 3: Vokabeltest Wiedererkennung, Erinnerungsleistung
Quelle: Fraunhofer IDMT
Im Gegensatz zur ersten Studie ergaben sich Veränderungen bei der Erinnerungsleistung mit HOPSCOTCH im Vergleich zum lehrerzentrierten Unterricht (t(53) = 2,89; p = ,006; d = ,46). Nach dem Spielen mit dem Bewegungslernspiel konnten sich die Schüler besser an die neuen Vokabeln erinnern (t(53) = -2,74; p = ,008; d = ,45) und diese korrekter schreiben (t(53) = -2,17; p = ,034; d = ,36). Besonders interessant waren die Vergleiche zwischen den einzelnen Klassen dieser Jahrgangsstufe beim Vokabeltest. Nach dem lehrerzentrierten Unterricht zeigte sich, dass die Klasse 3c einen signifikant höheren Leistungsstand hatte als die 3a (Z(20) = -2,183; p = ,027) und die 3b (Z(20) = -2,643; p = ,008). Dieser Unterschied war nach dem HOPSCOTCH-Unterricht nicht mehr festzustellen, sowohl die 3b (Z(20) = -,212; p = ,832), als auch die 3a (Z = -,179; p = ,858) waren zu dem hohen Niveau der 3c gelangt. Neben den Lernerfolgen waren für den Ansatz des Game-Based Learning auch die Ergebnisse bezüglich der Einstellung der Kinder zum Lernen relevant. Durch HOPSCOTCH verbesserte sich die Einstellung der Schüler zum Englischlernen deutlich. Die Ergebnisse zeigen einen signifikanten Unterschied zwischen der Einstellung nach dem lehrerzentrierten Unterricht und der Einstellung nach dem HOPSCOTCH-Unterricht (t(51) = -3,00; p = ,004; d = ,44). Bei allen Ergebnissen ist einschränkend darauf hinzuweisen, dass die Messwerte lediglich zwei Einzelstunden vergleichen. In Bezug auf die Einstellung der Schüler ist sicher der Neuigkeitswert von HOPSCOTCH eine große Intervention, welche die Lernergebnisse vermutlich beeinflusst hat. Dagegen muss festgehalten werden, dass die HOPSCOTCH-Anwendung sehr einfach gestaltet war und keinerlei didaktische Aufbereitung der Inhalte erfolgte (z.B. eine häufigere Wiederholung von Vokabeln, die schlecht erinnert wurden). Jedoch konnten mit Hilfe beider Studien erste Hypothesen gebildet werden, in welchen Zusammenhängen der Einsatz von HOPSCOTCH besonders sinnvoll
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sein kann: Die Ergebnisse zu den Einstellungsveränderungen der Schüler deuten darauf hin, dass HOPSCOTCH eine sinnvolle Ergänzung sein kann, die Abwechslung in den Schulalltag bringen kann. Zudem deuten die Unterschiede im Vokabeltest zwischen den Klassen der Jahrgangstufe drei darauf hin, dass gerade schwächere Schüler von dem digitalen Bewegungslernen profitieren können. Deshalb wurde das Lernbewegungskonzept in den Unterricht von Kindern mit Lernschwierigkeiten integriert und die Erhebungsdauer deutlich erhöht.32 Die Klassenstufen drei und vier einer Förderschule sollten innerhalb von vier Wochen ihre Fähigkeiten im Bereich Rechtschreibung verbessern. Ähnlich wie in den Studien zuvor wurde hierfür HOPSCOTCH mit einer herkömmlichen Lernmethode der Förderschule verglichen, diesmal jedoch mit einer Lernmethode, die ebenfalls Bewegung beinhaltet. Neben dem Lernerfolg stand der Lernspaß im Fokus der Untersuchung. Insgesamt nahmen 30 Schüler im Alter von neun bis elf Jahren (M = 10,40; SD = ,62) an der Studie teil; 77% waren Jungen und 23% Mädchen. Diese sollten in acht Lerneinheiten (zwei pro Woche) die richtige Schreibweise von 34 Wörtern trainieren. Dabei wurde die Hälfte mit HOPSCOTCH geübt, die restlichen mit der herkömmlichen Unterrichtmethode Laufdiktat. Bei dieser Lernmethode werden im Klassenraum Wörter auf Karten gedruckt und verteilt. Die Schüler laufen zu diesen Wortkarten, merken sich das Wort, gehen zurück zum Platz und schreiben es auf. Dieser Ablauf wird für alle Karten so oft wiederholt, bis jedes Kind alle Begriffe schriftlich erfasst hat. Zuletzt werden die notierten Wörter vom Lehrer kontrolliert. Um den Schwierigkeitsgrad der einzelnen Wörter zu variieren, wurden den Schülern bei beiden Lernmethoden einige Wörter in ausgeschriebener Form vorgelegt und die restlichen als Bilder dargestellt. Nach jeder Übungswoche wurde ein Diktat geschrieben, welches Wörter aus beiden Unterrichtsmethoden beinhaltete. Zusätzlich wurde die Stimmung nach jeder Lerneinheit mittels Fragebogen für HOPSCOTCH und Laufdiktat abgefragt. Der Vergleich beider Lernmethoden zeigte, dass die Schüler mit HOPSCOTCH (84,38 % korrekte Schreibweise) einen genauso hohen Lernerfolg hatten, wie mit der herkömmlichen Unterrichtsmethode (85,34% korrekte Schreibweise). Dabei hatten die Schüler jedoch signifikant mehr Lernspaß beim Üben mit HOPSCOTCH (Z(30) = -1,65; p = ,05; d = ,23). Die Datenanalyse zeigte überdies, dass Wörter mit einem höheren Schwierigkeitsgrad (Wortbilder) signifikant besser
32 Vgl. Kraußer, Kati/Lucht, Martina: »Integration of Exer-Learning Games in School. The Evaluation of HOPSCOTCH as Teaching Aid in Specialised School«, in: The Fourth International Conference on Mobile, Hybrid, and On-line Learning, 2012, S. 57-64.
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behalten wurden als leichtere (Schreibweise vorgegeben), unabhängig davon, mit welcher Lernmethode sie geübt wurden (t(30) = -2,565; p = ,00; d = ,35). Schlussfolgernd scheint eine besonders hohe Anforderung der Lernaufgaben in diesem Fall zu einer besseren Behaltensleistung geführt zu haben. Vergleicht man alle drei Studien, lassen sich große Übereinstimmungen feststellen: Der Lernerfolg mit HOPSCOTCH kann mit den Ergebnissen herkömmlicher Unterrichtsmethoden verglichen werden, auch bei Methoden die ebenfalls Bewegung in den Lernprozess integrieren. Darüber hinaus ist der Lernspaß mit HOPSCOTCH höher. Zudem scheinen höhere Anforderungen bessere Lernergebnisse zu erzielen, das genauere Maß ist noch zu erforschen.
D ISKUSSION
UND
F AZIT
Die bisherigen Studien zeigen einen ersten Ansatz für die Einbindung von ExerLearning Games im Schulunterricht. Aufgrund der positiven Abläufe der HOPSCOTCH -Unterrichtsstunden und der Begeisterung der teilnehmenden Lehrerinnen kann festgehalten werden, dass HOPSCOTCH im Schulalltag funktioniert und von den Lehrern sehr gut angenommen wird. Erste Ergebnisse zeigen, dass eine Integration solcher Bewegungslernspiele in den Schullalltag durchaus denkbar ist, da die Lernergebnisse mit HOPSCOTCH das gleiche Niveau erreichen wie der herkömmliche, lehrerzentrierte Unterricht. Lernspaß beim Üben mit dem digitalen Bewegungslernspiel und Einstellung zum Schulfach verbessern sich sogar. Da HOPSCOTCH auf einer digitalen Plattform basiert, bietet es zahlreiche Vorteile: beispielsweise die Möglichkeit zur Integration adaptiver und individualisierter Inhalte sowie das selbstständige, spaßvolle Üben ohne die permanente Anleitung von Lehrern. Dadurch würde eine individuelle Förderung innerhalb großer Klassenstärken möglich. Überdies könnte HOPSCOTCH eine Ergänzung sein, die Lehrern neue Optionen bietet, ihren Unterricht interessant und abwechslungsreich zu gestalten. In weiteren Forschungsarbeiten sollen soziale Aspekte von HOPSCOTCH untersucht werden; beispielsweise inwiefern HOPSCOTCH das gemeinschaftliche und kooperative Lernen verbessern kann.
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Nachwort
Serious Game(s) Studies Schismen und Desiderate
G UNDOLF S. F REYERMUTH
Die Forschungsergebnisse, die dieser Band versammelt, geben einigen Anlass zur Hoffnung, dass digitale Medien und insbesondere Games wesentlich dazu beitragen können, Lehren und Lernen, Wissenstransfer und fachliches Training aus den tradierten, der industriellen Epoche entstammenden Gewohnheiten und Verfahren zu lösen. Vergessen werden darf bei allem Optimismus jedoch nicht, dass sich seit Aufklärung und Industrialisierung an nahezu alle aufblühenden oder technisch neu entstehenden Medien Bildungsutopien knüpften – von der Bühne als moralischer Anstalt bis zu Funk und Fernsehen als Mittel sowohl der allgemeinen Volksbildung wie einer auditiven und audiovisuellen Erneuerung institutionalisierter Unterrichtung. Bislang stellten sich solche Hoffnungen, Wissensvermittlung und Ausbildung könnten gewissermaßen huckepack mit Medien populärer Unterhaltung reisen, im Nachhinein noch immer als weit übertrieben heraus.1 Dennoch müssen die Erwartungen, die sich gegenwärtig an die neuen digitalen Medien und speziell Games richten, keineswegs falsch sein, da digitale Medialität im Vergleich zu analoger über entschieden andere Qualitäten verfügt – insbesondere über den Vorteil des Rückkanals und damit potentieller Interaktivität sowie die Befähigung zur Virtualisierung verschiedener analoger Medien und damit zu potentieller Transmedialität. Beide medialen bzw. transmedialen Qualitäten ermöglichten es, die Cha-
1
Vgl. dazu auch in diesem Band S. 16ff.
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rakteristika analoger Spiele adäquat zu virtualisieren und darüber hinaus digitales Spielen audiovisuell aufzurüsten. Games haben sich so im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte illustrative, dokumentierende und narrative Eigenschaften erschlossen, wie sie zuvor den linearen Audiovisionen Film und Fernsehen vorbehalten waren. Im Kontext wachsender kultureller Akzeptanz digitaler Spiele wird daher mit einer gewissen Zwangsläufigkeit auch ihr Bildungspotential zunehmend behauptet und erforscht. Indem die Beiträge dieses Bandes aus einer Vielzahl von Perspektiven untersuchen, wie sich Serious Games, Exergames und Exerlearning-Games in verschiedenen Arbeitsbereichen für Ausbildung, Training und generell zu Wissenstransfer nutzen lassen, dokumentieren sie freilich zugleich im Guten wie im Schlechten den Status Quo der wissenschaftlichen Beschäftigung mit digitalen Spielen. Die Game Studies sind unter den Disziplinen, die sich mit einzelnen Medien und Künsten beschäftigen, die jüngste. Ihre Forschungsansätze entstammen einer recht bunten Mischung älterer Disziplinen, u.a. der Bildungsforschung, Medienpädagogik, Psychologie, Designtheorie, Sport-, Sozial-, Literatur-, Kunst und Medienwissenschaft. Positiv kann diese Vielfalt als Interdisziplinarität wahrgenommen werden, negativ als ein Mangel an theoretischer Kohärenz und damit an einer Disziplinarität, wie sie als gemeinsame Plattform allererst die Voraussetzung für interdisziplinäres Forschen herstellen könnte. Gegenwärtig ist es denn auch keineswegs unstrittig, dass die Game Studies – bereits – den Status einer Disziplin für sich behaupten können.2 Was etwa Mark Butler vor einigen Jahren konstatierte: »Die bisherigen Arbeiten über Computerspiele leiden größtenteils an zu engen Fachhorizonten«, stimmt weitgehend noch: »Die Computerspiele fallen in die Zuständigkeitsbereiche einer Vielzahl von Disziplinen, die entweder gar nichts mit ihnen zu tun haben wollen oder sie für sich zu vereinnahmen suchen.«3 Butlers institutionelle Perspektive – in welchen Disziplinen sind die Wis-
2
Vgl. z.B.: »[T]here are scholars who would not grant it [i.e. den Game Studies, GSF] the name of ›discipline‹ at all and would rather prefer to talk about a multidisciplinary research field that is focusing on games«. Mäyrä, Frans: An Introduction to Game Studies: Games in Culture, London: Sage (Kindle Edition) 2008, loc. 110.
3
Butler, Mark: Would you like to play a game? Die Kultur des Computerspielens, Berlin: Kadmos 2007, S. 8.
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senschaftler verortet, die sich mit digitalen Spielen beschäftigen –, korreliert Frans Mäyräs inhaltlich orientierter Blick auf die Arbeiten, welche das selbst gegenwärtig institutionell noch kaum etablierte Feld der Game Studies ausmachen: dass nämlich »scholars [...] bring with them the methodologies typical for their original disciplines«.4 Ebenso stellen Simon Egenfeldt-Nielsen, Jonas Heide Smith und Susana Pajares Tosca fest: »[G]ame researchers are an eclectic bunch with a multidisciplinary background. Humanist scholars with film or literature backgrounds constitute the largest single group, but game research conferences are also attended by social scientists (mostly sociologists) and, very importantly, game designers. [...] Most researchers, at least at present, choose to adopt methods and approaches from their primary fields. Ethnographers tend to observe players. Those trained in film studies tend to analyze the games themselves and communication scholars tend to analyze interactions between players.«
5
Diesen gegenwärtigen Stand der Game Studies und speziell der Forschung zu Serious Games, Exergames und Exerlearning-Games will ich historisch kontextualisieren – als doppeltes Schisma, wie es typisch scheint für die einsetzende wissenschaftliche Beschäftigung mit neuen Medien – und dabei mit Perspektive auf die anstehende Überwindung der Schismen zentrale Gebiete für die weitere Forschung zu Serious Games und zum Verhältnis von Spielen und Lernen bestimmen. Zunächst skizziere ich deshalb aus medienhistorischer Perspektive und wesentlich am Beispiel von Film und Filmwissenschaft, wie sich neuzeitlich mit dem Aufkommen neuer Medien und Kunstformen deren theoretische Reflexion auszubilden pflegt (1 Von der Theorie der Praktiker zur Theorie der Theoretiker). Das zweite Kapitel bietet dann eine kurze Geschichte theoretischer Reflexionen zu analogen Spielen (2 Zur Vorgeschichte der Game Studies). Die Kapitel drei bis sechs beschreiben die aktuelle Situation: das doppelte Schisma der Game Studies und Optionen, wie es sich überwinden ließe (3 Theorien erster Ordnung: Game Design; 4 Theorien zweiter Ordnung: sozialwissenschaftliche Forschung; 5 Theorien zweiter Ordnung: geisteswissenschaftliche Forschung;
4
F. Mäyrä: An Introduction to Game Studies, loc. 2333.
5
Egenfeldt-Nielsen, Simon et al.: Understanding Video Games: The Essential Introduction, New York: Routledge 2008, loc. 351 und loc. 360.
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6 Die Schismen und ihre Überwindung). Das siebte Kapitel entwirft im Rekurs auf die medienhistorische Perspektive, die im Prolog entfaltet wurde, den Ausblick auf eine eigenständige Disziplin Game Studies (7 Theorien dritter Ordnung: Game Studies), das achte konkretisiert diese Zukunft der Game Studies durch die Identifizierung von fünf Forschungsfeldern, die – zumindest aus medienwissenschaftlicher Sicht – für die Entwicklung der Game Studies als eigenständige Disziplin von nachhaltiger Bedeutung scheinen (8 Forschungsfelder: die Tetrade plus eins). Abschließend versuche ich, was für die Game Studies generell erkannt wurde, für die weitere Erforschung von Serious Games, Exergames und Exerlearning Games zu spezifizieren (9 Elemente einer historischen Theorie der Serious Games).
1 V ON ZUR
DER T HEORIE DER P RAKTIKER T HEORIE DER T HEORETIKER
Nicht nur Medien und Künste entwickeln sich im Laufe der Zeit, auch die theoretische Auseinandersetzung mit ihnen hat ihre Geschichte.6 Insofern differiert ihre Bedeutung in Genesis und Geltung. Historisch entstand, jedenfalls in der westlichen Moderne, die theoretische Reflexion der Künste – von Leon Battista Albertis De Pictura (1435)7 bis zur jüngsten Videogametheorie, etwa Jesse Schells einflussreicher Schrift The Art of Game Design (2008)8 – wesentlich als Niederschlag von Praxen, das heißt als deren Analyse und kodifizierende Verschriftlichung in ansteigenden Graden der Abstraktion.
6
Der Prolog erweitert und systematisiert Überlegungen, die ich zuerst im Kontext der Filmausbildung anstellte. Vgl. Freyermuth, Gundolf S.: »Angewandte Medienwissenschaften. Integration künstlerischer und wissenschaftlicher Perspektiven in Lehre und Forschung«, in: Ottersbach, Beatrice/Schadt, Thomas (Hg.), Filmlehren. Ein undogmatischer Leitfaden für Studierende, Berlin: Bertz + Fischer 2013, S. 263-278.
7
Alberti, Leon Battista/Bätschmann, Oskar: Über die Malkunst, Darmstadt:
8
Schell, Jesse: The Art of Game Design: A Book of Lenses, Amsterdam und
WBG 2010. Boston: Elsevier/Morgan Kaufmann (Kindle Edition) 2008.
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Diesen Umstand, dass kunsttheoretisches Denken als sedimentierte Praxis beginnt, um sich von praktisch orientierten Theorien zu theoretisch orientierten Theorien fortzuentwickeln, demonstriert zum Beispiel neben der theoretischen Beschäftigung mit der Fotografie auch die Filmtheorie, die Auseinandersetzung also mit dem audiovisuellen Leitmedium industrieller Kultur. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert setzte sie mit dem ein, was ich die Theorie der Praktiker nenne, mit Schriften von Filmemachern wie Sergei Eisenstein oder Vsevolod Pudovkin, die wesentlich Verfahren und Zielsetzungen des Filmemachens reflektierten – unter der Perspektive: »Wie lässt sich der Film als Kunst entwickeln?«9 Ihnen erst folgte die Theorie der Theoretiker nach. Deren frühe Protagonisten rekrutierten sich – nicht anders als zuvor in der Auseinandersetzung mit der Fotografie und heute wieder in der Auseinandersetzung mit Videogames – zunächst aus den älteren etablierten Wissenschaften, etwa aus der Philosophie, Kunstwissenschaft, Literaturwissenschaft, Soziologie, Psychologie. Ihre Schriften blieben denn auch den Perspektiven dieser Disziplinen in hohem Maße verpflichtet. Die beiden dafür in jeder Hinsicht besten Beispiele gaben in den 1930er-Jahren Rudolf Arnheims Film als Kunst10 und Walter Benjamins Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«.11 Diese erste Phase theoretisch orientierter Reflexion des Films aus gewissermaßen externen Perspektiven lässt sich – mit einem Begriff der Evolutionstheorie – als Exaptation begreifen: als Zweckentfremdung und Umfunktionierung von theoretischen Denkweisen
9
Vgl. z. B. die deutschen Ausgaben: jzenštejn, Sergej Michajlovi/Gotto, Lisa: Eisenstein-Reader: Die wichtigsten Schriften zum Film, Leipzig: Henschel 2011. Pudovkin, Vsevolod Illarionovi: Die Zeit in Grossaufnahme: Aufsätze, Erinnerungen, Werkstattnotizen, Berlin [-Ost]: Henschel 1983. Beide Autoren standen in Verbindung mit der weltweit ersten Filmhochschule, 1919 in Moskau gegründet; Pudovkin studierte dort ab 1920, Eisenstein wurde 1928 Professor. (Für diesen Hinweis habe ich Lisa Gotto zu danken.)
10
Arnheim, Rudolf: Film als Kunst, München: Hanser 1975 (*1932).
11
Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Erste Fassung«, in: Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser, Hermann (Hg.), Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991 (*1936), S. 431-469.
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und Praktiken, die ursprünglich in einem anderen Kontext und für andere Forschungsgegenstände entwickelt wurden. In einem nächsten Schritt formte sich dann nach der Jahrhundertmitte und vor allem von der Filmkritik ausgehend eine genuine Filmtheorie – hier ist vor allem an André Bazins Qu'est-ce que le cinéma?12 und Siegfried Kracauers Theory of Film: The Redemption of Physical Reality13 zu denken. Im Gefolge dieser Theorien der Filmtheoretiker etablierte sich dann im letzten Jahrhundertdrittel die akademisierte Filmwissenschaft. Diese dritte Phase theoretisch orientierter Reflexion des Films aus gewissermaßen internen Perspektiven lässt sich wiederum mit einem Begriff aus der Evolutionstheorie verstehen: als erfolgreiche Adaptation theoretischer Denkweisen und Praktiken an ihren neuen Gegenstand. Der Prozess, in dem neue Medien und Künste theoretisch erfasst und erforscht werden, teilt sich somit in drei qualitative Stufen: Zunächst kommt es in theoretisch orientierten Schriften erfahrener Praktiker zu einer Sedimentierung, zum abstrahierenden Niederschlag der neuen künstlerischen Verfahren. Bei diesen Schriften handelt es sich um Abstraktionen erster Ordnung. Die nächste Stufe bildet die Exaptation existierender Theorien und wissenschaftlicher Praktiken für ein theoretisches Verständnis des neuen Feldes. Diesen Abstraktionen zweiter Ordnung folgen schließlich in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit den neuen Medien und Künsten Abstraktionen dritter Ordnung: die adaptative Ausbildung originärer Theorien des Forschungsfeldes und damit die Etablierung einer neuen wissenschaftlichen Disziplin. Meine Grundthese in Bezug auf die Genesis und Geltung der Game Studies lautet insofern: Bei den existierenden Theorien des Game Designs handelt es sich um Abstraktionen erster Ordnung, Theorien der Praktiker, welche die künstlerische Arbeit systematisch begreifen und damit zuverlässiger anleiten wollen. Die Game Studies proper hingegen operieren gegenwärtig noch primär mit Abstraktionen zweiter Ordnung, mit aus anderen Disziplinen exaptierten Theorien der Theoretiker, welche eine wissenschaftliche Analyse des neuen Gegenstands digitaler Spiele initiieren. Die
12
Deutschsprachige Ausgabe: Bazin, André/Fischer, Robert: Was ist Film?, Ber-
13
Deutschsprachige Ausgabe: Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Erret-
lin: Alexander Verlag 2009 (*1958-1962). tung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1973 (*1960).
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Ausbildung adaptativer Abstraktionen dritter Ordnung, Theorien der Videogame-Theoretiker also, welche in der historisch-theoretischen Auseinandersetzung mit digitalen Spielen entstehen, sie sui generis beschreiben und begreifen, steht weitgehend noch aus. Die Rahmenbedingungen für einen solchen Übergang von exaptativen zu adaptativen Theorien zu beschreiben, ist daher eine wesentliche Absicht der nächsten Kapitel.
2 Z UR V ORGESCHICHTE
DER
G AME S TUDIES
Eine Geschichte der Game Studies als wissenschaftliche Disziplin, die sich mit digitalen Spielen beschäftigt, hat mit ihrer langen Vorgeschichte zu beginnen. Da Spiele bei ihrer Digitalisierung einen kategorialen Medienwechsel durchlaufen – vergleichbar dem industriellen Übergang visueller Repräsentation von Malerei zu Fotografie oder audiovisueller Darstellung vom Theater zu Film –, zweiteilt sich auch die theoretische Auseinandersetzung mit ihnen.14 Theorien analoger Spiele haben aus medientheoretischer Perspektive für digitale so wenig oder so viel Gültigkeit wie etwa Theorien des Theaters für den Film.15 Theoretische Auseinandersetzungen mit menschlichem Spielen finden sich in der westlichen Kultur seit der Antike. »In fact, it seems that almost every well-known philosopher has theorized on play«, heißt es in dem Grundlagenwerk Understanding Video Games.16 Besonders einflussreich im Kontext der Game Studies sind die Überlegungen, die Leibniz17, Schil-
14
Vgl. das Kapitel »Die doppelte Alterität digitaler Spiele«, in: Freyermuth, Gundolf S.: »Game Design und Game Studies«, in: Thon, Klaus Sachs-Hombach/ Jan-Noël (Hg.), Game Studies. Aktuelle Ansätze der Computerspielforschung, Köln: Herbert von Halem 2014, im Druck.
15
Im Falle des Beispiels besteht bei aller Differenz einige Gültigkeit; zumindest im Bereich der Theorien der Praktiker – von den Spuren aristotelischer Poetik in den Theorien des Drehbuchschreibens bis zu den Lehren der Schauspielführung.
16 17
S. Egenfeldt-Nielsen et al.: Understanding Video Games, loc. 935. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Leipzig: Meiner 1926 (*1765), http://de.scribd.com/doc/48944305/Leib niz-Neue-Abhandlungen-uber-den-menschlichen-Verstand
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ler18, Nietzsche19, Wittgenstein20 und Gadamer21 anstellten.22 Als im Gefolge von Aufklärung und Industrialisierung die Ausdifferenzierung der Wissenschaften einsetzte und sich u.a. die Disziplinen der Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Ethnologie und Anthropologie formierten, wurden auch ihnen Spiele und Spielen zum Gegenstand. Zu den bahnbrechenden Arbeiten zählen Herbert Spencers The Principles of Psychology (1855-1880)23, George Herbert Meads Mind, Self, and Society From the Standpoint of a Social Behaviorist (1934)24, Johan Huizingas Homo Ludens (1939)25, Roger Caillois’ Les jeux et les homes (1958)26, Erving Goffmanns The Presenta-
18
Schiller, Friedrich: »Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen«, (1795), http://gutenberg.spiegel.de/buch/3355/1.
19
Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Leipzig: Fritzsch 1872, http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/nietzsche_tra goedie_1872
20
Wittgenstein, Ludwig/Schulte, Joachim: Philosophische Untersuchungen. Kri-
21
Gadamer, Hans-Georg: Die Aktualität des Schönen: Kunst als Spiel, Symbol
tisch-genetische Edition, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001 (*1953). und Fest, Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage. Gesammelte Werke Band 9, Tübingen: Mohr 1985. 22
Zur philosophisch-theoretischen Vorgeschichte digitaler Spiele gehört freilich nicht nur die Auseinandersetzung mit analogen Spielen, sondern auch die mit anderen populären Formen spielerischer Unterhaltung, wie sie etwa in der Neuzeit Jahrmärkte – Fahr- und Schießvergnügen, Spiegelkabinette etc. –, Panoramen und Dioramen, Spielautomatenhallen und Themenparks boten.
23
Spencer, Herbert: The Principles of Psychology, London etc.: Williams and Norgate
1855-1880,
http://archive.org/details/principlesofpsyc022412mbp.
Deutschsprachige Ausgabe Die Principien der Psychologie, System der synthetischen Philosophie, Stuttgart: Schweizerbart'sche Verlagshaus 1882. 24
Deutschsprachige Ausgabe Mead, George Herbert/Morris, Charles William: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000.
25
Deutschsprachige Ausgabe Huizinga, Johan: Homo Ludens: Vom Ursprung der
26
Deutschsprachige Ausgabe Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen:
Kultur im Spiel, Rowohlts Enzyklopädie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006. Maske und Rausch, Frankfurt a.M.: Ullstein 1982.
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tion of Self in Everyday Life (1959)27, Gregory Batesons Steps to an Ecology of Mind (1972)28 und Brian Sutton-Smiths The Study of Games (1971, mit Elliot Avedon) und The Ambiguity of Play (1997)29. Zu diesen philosophischen sowie sozial- und geisteswissenschaftlichen Vorläufern der Game Studies traten seit den 1920er Jahren Forschungen im Umkreis der Kybernetik zur Spieltheorie30, dann um 1960 Forschungen, die sich mit erst analoger, dann digitaler Simulation beschäftigten31, sowie um 1970 mit der beginnenden Popularisierung digitaler Spiele essayistische und journalistische Reflektionen, beginnend mit Stewart Brands derweil klassischem Rolling-Stone-Artikel »Spacewar: Fanatic Life and Symbolic Death Among the Computer Bums« (1972).32 Erst in den achtziger Jahren
27
Deutschsprachige Ausgabe Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater: Die
28
Deutschsprachige Ausgabe: Bateson, Gregory: »Eine Theorie des Spiels und
Selbstdarstellung im Alltag, Serie Piper, München: Piper 2008. der Phantasie«, in: Ders.: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 241-261. 29
Avedon, Elliott M./Sutton-Smith, Brian: The Study of Games, New York: J. Wiley 1971; Sutton-Smith, Brian: The Ambiguity of Play, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1997.
30
Die Frage, welche Bedeutung die von John von Neumann begründete »game theory« als mathematische Analyse von Konfliktsituationen und Entscheidungsprozessen für die Game Studies oder gar für das Game Design haben könnte, wird seit langem und kontrovers diskutiert. Zur Einführung vgl. den Vortrag, den Frank Lantz dazu bei der GDC 2013 in San Francisco hielt (25. März 2013). In ihm untersucht er die »game theory from historical, conceptual, and philosophical perspectives to reveal the points of contact between the abstract equations and rational actors of game theory and the mysterious pleasures and elusive meanings of game design as a creative form«. (Zitiert aus der Ankündigung unter http://schedule.gdconf.com/. Die Videoaufzeichnung findet sich kostenpflichtig im GDC Vault, http://www.gdcvault.com/).
31
Vgl. z. B. F. Mäyrä: An Introduction to Game Studies, loc. 154; S. EgenfeldtNielsen et al.: Understanding Video Games, loc. 450.
32
Brand, Stewart: »Spacewar: Fanatic Life and Symbolic Death Among the Computer Bums«, Rolling Stone, 7. Dezember 1972, http://www.wheels.org/ spacewar/stone/rolling_stone.html
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erschienen dann Schriften, die sich systematisch auch mit digitalen Spielen beschäftigten und damit bereits in den Kontext der Game Studies gehören. Bis heute lassen sich diese theoretischen Auseinandersetzungen in die drei Perspektiven teilen, die Katrin Salen und Eric Zimmerman 2003 darlegten: »Rules, Play, Culture«, wobei der Blick auf die »Regeln« die »organization of the designed system« meint, der Blick auf das »Spiel« die »human experience of that system« und »Kultur« die »larger contexts engaged with and inhabited by the system«.33 Die Dreiteilung weist auf das gegenwärtige Schisma der Game Studies, wenn sie sich auch mit dem Verlauf der aktuellen Trennungslinien nicht exakt deckt. Mit »Kultur«, das heißt den »weiteren Kontexten«, beschäftigt sich weitgehend die geisteswissenschaftliche Forschung, auf »Spiel«, das heißt die menschliche Erfahrung, konzentrieren sich die sozialwissenschaftlichen Ansätze, und »Regeln«, das heißt die Organisationsprinzipien von Spielen, sind die Domäne der Game-Design-theoretischen Schriften. Mit ihnen setzte auch um 1980 die Geschichte dessen ein, was heute Game Studies heißt.
3 T HEORIEN
ERSTER
O RDNUNG : G AME D ESIGN
Das Design von Software und speziell das Game Design sind in der digitalen Kultur zentrale künstlerisch-wissenschaftliche Praktiken. Der Einfluss ihrer Prinzipien und Verfahren reicht weit über ihre eigenen Gebiete heraus. So drangen Elemente der Open-Source-Praxis aus der Software- in die Hardware-Entwicklung34. Ebenso wurde das Game-Design-Prinzip des Weltenbaus in die avancierte Filmproduktion übernommen.35 Ein besonders aktuelles und vieldiskutiertes Beispiel gibt die so genannte »gamification«, die Anwendung von Game-Design-Prinzipien in Marketing oder Wissens-
33
Salen, Katie/Zimmerman, Eric: Rules of Play: Game Design Fundamentals, Cambridge, Mass.: MIT Press (Kindle Edition) 2003, loc. 186.
34
Vgl. z.B. die Wikipedia-»List of Open-Source Hardware Projects«: http://en. wikipedia.org/wiki/List_of_open-source_hardware_projects
35
Vgl. z.B. Freyermuth, Gundolf S.: »Der Big Bang digitaler Bildlichkeit: Zwölf Thesen und zwei Fragen«, in: Freyermuth, Gundolf S./Gotto, Lisa (Hg.), Bildwerte: Visualität in der digitalen Medienkultur, Bielefeld: transcript 2013, S. 287-333, hier S. 293 ff.
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vermittlung.36 Jane McGonigal, Game Designerin und zugleich Game-Design-Theoretikerin, behauptet gar: »Game design isn’t just a technological craft. It’s a twenty-first-century way of thinking and leading.«37 In seinen praktischen Anfängen, den frühen siebziger Jahren, orientierte sich das Design digitaler Spiele zum einen an den – selbst allenfalls leidlich etablierten – Verfahren des Software Designs, andererseits am Vorbild analogen Designs, etwa den einander opponierenden Verfahren des rationalen und des agilen Designs mit ihren zentralen Elementen des Prototyping und der inkrementellen Iteration.38 Mit der zunehmenden medialen Komplexität digitaler Spiele bildeten sich dann seit den frühen 1980er Jahren Spezialisierungen aus. Der ursprünglich ganzheitliche Game-Design-Prozess, der von Einzelnen oder kleinen Gruppen geleistet wurde, wandelte sich zu einer arbeitsteiligen Produktion, die sich in einer Triade – Mechanics, Dynamics, Aesthetics (MDA)39 – oder besser noch in einer Tetrade fassen lässt – Mechanics, Story, Aesthetics, Technology.40 Diese Ausdifferenzierung im Hinblick auf die Optimierung von Praxis und deren Tradierung zu beschreiben und systematisieren, wurde folgerichtig zu einem wesentlichen Interesse der Game-Design-Theorie. Ausgangs- wie Zielpunkt aller Game-Design-theoretischen Ansätze war und ist die künstlerische Praxis, i.e. die Doppelfrage: »Was macht ein gutes
36
Vgl. z.B. Zichermann, Gabe/Cunningham, Christopher: Gamification by Design: Implementing Game Mechanics in Web and Mobile Apps, Sebastopol, Calif.: O'Reilly Media 2011.
37
McGonigal, Jane: Reality Is Broken: Why Games Make Us Better and How They Can Change the World, New York: Penguin Press (Kindle Edition) 2011, loc. 298.
38
Programmierung im engeren Sinne erfordert Game Design zumindest in seinen ersten Phasen denn auch bis heute nicht. Vgl. z.B. »Both the initial game concept document and the first experiments in core game mechanics can be designed with pen and paper.« (F. Mäyrä: An Introduction to Game Studies, loc. 2457.)
39
Vgl. Hunicke, Robin et al.: »MDA: A Formal Approach to Game Design and Game Research«, Proceedings of the Challenges in Games AI Workshop, Nineteenth National Conference of Artificial Intelligence (2004), http://www. zubek.net/robert//publications/MDA.pdf.
40
Vgl. J. Schell: The Art of Game Design, loc. 1200 ff.
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Spiel aus?« und »Wie macht man ein gutes Spiel?« In der Geschichte der Game-Design-Theorie fallen die Antworten im Detail selbstredend unterschiedlich aus – von der ersten bedeutenden Publikation, Chris Crawfords The Art of Computer Game Design (1984)41, bis zu dem Trio der gegenwärtig in der Game-Design-Ausbildung maßgeblichen Schriften, Katrin Salens und Eric Zimmermans Rules of Play: Game Design Fundamentals (2003)42, Jesse Schells The Art of Game Design: A Book of Lenses (2008)43 und Tracy Fullertons Game Design Workshop: A Playcentric Approach to Creating Innovative Games (2008)44. Jenseits der Unterschiede ihrer Analysen und der aus ihnen abgeleiteten Design-Verfahren und Regeln ist aller Game-Design-Theorie gemeinsam, dass sie als Theorie erster Ordnung nicht primär auf ihre eigene Verbesserung zielt: also nicht auf wissenschaftliche oder auch künstlerisch-wissenschaftliche Forschung,45 sondern auf die ihres Gegenstands: also künstlerische oder auch kommerziell erfolgreiche Produktion – ein »simple formula that shows us how to make good games«.46 Zentral für die angestrebte Kodifizierung von Game-Design-Praktiken scheint den meisten Autoren zweierlei: eine systematisierende Analyse und Begründung der Vorgehensweisen, die sich ungeplant und weitgehend unreflektiert hergestellt haben, und die Entwicklung einer möglichst klaren und verbindlichen Begrifflichkeit, einer zuverlässigen Fachsprache für eine künstlerische oder kommerzielle Praxis, die vor diesen Anstrengungen in Produktion wie Rezeption und Kritik weitgehend sprachlos operierte.47 Die
41
Crawford, Chris: The Art of Computer Game Design, Berkeley, Calif.:
42
K. Salen/E. Zimmerman: Rules of Play: Game Design Fundamentals.
Osborne/McGraw-Hill 1984. 43
J. Schell: The Art of Game Design.
44
Fullerton, Tracy et al.: Game Design Workshop: Designing, Prototyping and
45
Vgl. »[T]he main emphasis in game design is on producing games rather than
Playtesting Games, San Francisco, Calif.: CMP 2004. research papers.« (F. Mäyrä: An Introduction to Game Studies, loc. 2430). 46
J. Schell: The Art of Game Design, loc. 298.
47
Diese Sprachlosigkeit dauert in weiten Bereichen der Auseinandersetzung mit digitalen Spielen und vor allem in der Videogame-Kritik bis heute an. Vgl. z.B.: »In the past 30 years, video games have become more beautiful, more intricate and more intense - but we still lack a critical language to evaluate them.«
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Conditio sine qua non solcher Begrifflichkeit freilich ist Theoretisierung, eine abstrahierende Transzendierung der konkreten Praktiken, wie sie die praxisorientierten Autoren und erst recht die meisten Leser von Handbüchern des Game Design eigentlich vermeiden wollen. Von daher stellt sich Game-Design-Theorie in großen Teilen als akzidentielle Theorie dar, die in vielerlei Hinsicht weder ihren eigenen Ansprüchen noch denen etablierter Wissenschaft genügen kann. Aus der Perspektive ästhetischer Theorie etwa tendieren noch die besten Game-Design-theoretischen Schriften, insofern sie die Antworten auf ihre doppelte Fragestellung unter der Perspektive praktischer Handreichung suchen – im Sinne rezeptartiger »Vorschriften« oder zumindest Faustregeln –, zu einer Kombination von Deskriptivität und Normativität, wie sie einst Aristoteles wirkungsmächtig in seiner Poetik etablierte, wie sie aber spätestens seit der Begründung historischer Ästhetik durch Hegel grundsätzlich in Frage gestellt ist: Avancierte künstlerische Produktion in der Moderne stellt sich, nachdem sie die Fesseln von Religion und Tradition abgeworfen hat, den Widersprüchen ihrer Zeit immer wieder neu und kennt daher kaum mustergültige Regeln und Rezepte. Während dieser theoretische »Rückstand« der Game-Design-Theorie aufgrund ihres Erkenntnisziels, Praxis zu kodifizieren, von prinzipieller Natur und daher kaum aufhebbar scheint, resultieren andere Defizite, beispielsweise in der Analyse individueller wie sozialer Nutzung, aus einer allenfalls eklektischen Aufarbeitung der jeweiligen Forschungsstände, d.h. aus unzureichendem Kontakt mit anderen Bereichen der Game Studies. Jesse Schell etwa erkennt diesen Mangel, wenn er schreibt, »there is no ›unified theory of game design‹«.48 Da er jedoch von der Hoffnung auf ein »simple formula that shows us how to make good games« nicht abrücken mag,49 setzt er seine Hoffnungen nicht auf geistes- oder sozialwissenschaftliche Forschung, wie sie andere Bereiche der Game Studies unternehmen, sondern auf die Entdeckung einer idealiter zeitlosen Regelhaftigkeit, wie sie einzig die Naturwissenschaften zu leisten vermögen:
(Lewis, Helen: »Why Are We still so Bad at Talking about Video Games?,« New Statesman, 20. November 2012, http://www.newstatesman.com/culture/ 2012/11/why-are-we-still-so-bad-talking-about-video-games) 48
J. Schell: The Art of Game Design, loc. 298.
49
Ebd.
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»Game designers await their Mendeleev. At this point we have no periodic table. We have our own patchwork of principles and rules, which, less than perfect, allows us to get the job done.«
50
Diese deutliche Distanz zwischen Game-Design-Theorie und dem Rest der Game Studies scheint zwar – noch? – gering im Vergleich zu vielen älteren Medien und Künsten, etwa der Ferne zwischen Literatur und Literaturwissenschaft oder Film und Filmwissenschaft, wo »the distance between scholars and practitioners can loom large, and it seems at times that the two groups barely speak the same language.«51 Dennoch markiert die Separierung der Game-Design-Theorie das erste Schisma der Game Studies. Ein zweites, nicht minder tiefes besteht, darauf hat bereits vor einigen Jahren Dmitri Williams hingewiesen, zwischen sozial- und geisteswissenschaftlichen Ansätzen.52
4 T HEORIEN
ZWEITER O RDNUNG : SOZIALWISSENSCHAFTLICHE F ORSCHUNG
Im Zentrum der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit digitalen Spielen steht die Frage: »Welche Wirkung(en) haben Games?«53 – auf die einzelnen Spieler wie auf die Gesellschaft, in der sie zu einem wichtigen Medium, wenn nicht zum kulturellen Leitmedium werden. Aus der thematischen Ausrichtung ergibt sich als generelle Forschungsperspektive für diesen Teil der Game Studies die Untersuchung möglicher Transfers zwischen Spielsituation und Realität. Thematisch stehen seit vielen Jahren im Zentrum des Forschungsinteresses einerseits befürchtete Wirkungen auf sozial unerwünschtes Verhalten – insbesondere Gewalttätigkeit –, andererseits erhoffte Wirkungen auf sozial erwünschtes Verhalten – insbesondere Lernen.
50
Ebd., loc. 302.
51
S. Egenfeldt-Nielsen et al.: Understanding Video Games, loc. 355. Vgl. dazu auch meinen Erfahrungsbericht G. S. Freyermuth: »Angewandte Medienwissenschaften«, insbes. S. 263f.
52
Williams, Dmitri: »Bridging the Methodological Divide in Game Research«,
53
Ebd., S. 1.
Simulation and Gaming 36, 4 (2005).
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Im ersten Bereich hat eine Vielzahl von Untersuchungen, die psychologische, soziologische und (medien-)pädagogische Methoden in die Game Studies importierten, zu konkurrierenden Theorien der Inhibition, Stimulation, Habitualisierung und Katharsis geführt. Als aktuelle Tendenz lässt sich eine allmähliche Abkehr von allzu einfachen Ursache-Wirkungs-Schemata erkennen, die einen wie auch immer direkten Bezug zwischen medialem und Alltagsverhalten herstellen wollen – ein Wandel, der zwangsläufig Konsequenzen auch für den zweiten Bereich der Transfer-Forschung zeitigt. Zu den wichtigsten Publikationen, die sich mit Digital Game-Based Learning oder Digital Media Learning auseinandersetzten, zählten in den vergangenen Jahren Marc Prenskys Digital Game-Based Learning (2001) und Don’t Bother Me Mom – I’m Learning (2006)54 sowie James Paul Gees What Video Games Have to Teach Us About Learning and Literacy (2003)55. Dass sie, vereinfacht formuliert, bei (Lern-) Spielen relativ direkte Transfereffekte unterstellen, die anderen Untersuchungen zufolge bei anderen Spielen – oder anderem Spielen – sich so direkt nicht einstellen sollen, gehört zu den ungelösten Widersprüchen der sozialwissenschaftlich orientierten Game Studies. Eine Ursache ihrer widerstreitenden Ergebnisse liegt wesentlich in den Methoden begründet, die sie importieren: quantitative und in geringerem Maße auch qualitative Datenerhebung durch mehr oder weniger strukturierte Interviews sowie direkte, bisweilen auch partizipative Beobachtung, in der Regel unter laborähnlichen Bedingungen. Die Problematik solch empirischer Forschung ist spätestens seit dem Positivismusstreit der 1960er Jahre bekannt und reicht von der notorischen Unzuverlässigkeit erhobener Auskünfte bis zur kaum gesicherten Verallgemeinerung von Ergebnissen, die in kontrollierten Kleingruppenexperimenten gewonnen wurden. Die immer stärkere Verknüpfung von quantitativen mit
54
Prensky, Marc: »Don’t Bother Me Mom, I’m Learning!«: How Computer and Video Games Are Preparing Your Kids for Twenty-First Century Success and How You Can Help, St. Paul, Minn.: Paragon House 2006; Ders.: Digital Game-Based Learning, New York: McGraw-Hill 2001.
55
Gee, James Paul: What Video Games Have to Teach Us About Learning and Literacy, New York: Palgrave Macmillan 2003.
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qualitativen Methoden scheint durchaus hilfreich, vermag jedoch die grundsätzliche Problematik beider Ansätze nicht wirklich aufzulösen.56 Weitere wichtige Bereiche der sozialwissenschaftlichen Erforschung von Games bilden ethnographisch orientierte Studien, die – der Tradition dieser Disziplin folgend – mit anteilnehmender Selbsterfahrung in der Realität selbst und biographischer Dokumentation operieren und für die Sherry Turkles Life on the Screen: Identity in the Age of the Internet (1995)57 die Maßstäbe setzte, sowie die sozioökonomische Erforschung digitaler Spielwelten, die seit 2001 wesentlich durch Arbeiten von Edward Castronova begründet wurde.58 Insofern die sozialwissenschaftlichen Game Studies in Übernahme der Zielsetzungen und Verfahren der Herkunftsdisziplinen – Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Ethnologie, Ökonomie – sich überwiegend auf die Spieler als Individuen oder Kollektive konzentrieren, auf beobachtbare
56
Die Unzulänglichkeit der vorliegenden Forschung ist den meisten Autoren bewusst. In diesem Band schreiben etwa Ganguin und Hoblitz: »Demnach sind Serious Games bzw. die Untersuchung der Verbindung von Spielen und Lernen im Bereich formaler Bildung weiter ein Forschungsdesiderat« (S. 179f.). Und Egenfeldt-Nielsen bietet eine Begründung für die unterschiedlichen LernEffekte an: »[...] es gibt viele Studien, die belegen, dass der Lerneffekt viel kleiner ist, wenn man den Fokus bei Spielen nicht auf den Lernprozess selbst setzt. Es ist also wichtig, ganz deutlich ein Lernziel zu setzen.« (S. 150) Ebenso sei eine Nachbesprechung notwendig, um das Lernergebnis abzusichern (S. 151).
57
Turkle, Sherry: Life on the Screen: Identity in the Age of the Internet, New York: Simon & Schuster 1995. Vgl. auch Dies.: Alone Together: Why We Expect More From Technology and Less From Each Other, New York: Basic Books 2011. In einem Blurb zu dem Buch nennt MIT-Kollege Mitchel Resnick sie »the Margaret Mead of digital culture«. Vgl. z. B. http://www.amazon. de/Alone-Together-Sherry-Turkle/dp/0465010210?tag=651998669-21
58
Castronova, Edward: »Virtual Worlds: A First-Hand Account of Market and Society on the Cyberian Frontier«, CESifo Working Paper Series 618 (2001). Vgl. auch Ders.: Synthetic Worlds: The Business and Culture of Online Games, Chicago: University of Chicago Press 2005; Ders.: Exodus to the Virtual World: How Online Fun is Changing Reality, New York: Palgrave Macmillan 2007.
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Verhaltensmuster und Erfahrungen, geben ihre Studien kaum Auskunft über die Spiele selbst. Deren Inhalte und Formen sind das Forschungsfeld der zweiten Gruppe importierter Theorien.
5 T HEORIEN
ZWEITER O RDNUNG : GEISTESWISSENSCHAFTLICHE F ORSCHUNG
Im Zentrum der geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Games steht ihr Charakter als ästhetische und kulturelle Artefakte und damit die Doppelfrage: »Welche ästhetische(n) Bedeutung(en) besitzen und transportieren digitale Spiele?« und »Welche kulturelle(n) Bedeutung(en) besitzen und erzeugen digitale Spiele?«59 Vorrangiges Ziel der Forschung sind Studien in den – importierten – Traditionen von Literatur-, Kunst- und Filmwissenschaft, die Games als expressive (Medien-) Texte begreifen und sie im Kontext anderer Medientexte sowie ihrer kulturellen Nutzung zu verorten suchen. Zwei Methoden dominieren dabei. Zum einen befragen hermeneutische Auslegungen einzelne digitale Spiele oder Spielgenres auf ihre innere ästhetische Gestalt, indem sie konstitutive Elemente und die Regeln ihrer Kombination zu ermitteln suchen. Zum zweiten untersuchen kritische Analysen einzelne Spiele oder Spielgenres auf ihre kulturelle Bedeutung, indem sie aus diversen Perspektiven – u.a. der Ideologiekritik, der Psychoanalyse, des (Post-) Strukturalismus, der Diskurstheorie, der Gendertheorie, der Rezeptionsästhetik – die vielfältigen Verbindungen zwischen der inneren Gestalt der Artefakte, ihrer Entstehung, ihrer sozialen Nutzung sowie der kulturellen Situation zu erfassen suchen, in der Spiele und Genres entstehen, die sie repräsentieren und auf die sie gewollt oder ungewollt einwirken. Die ersten Schlüsseltexte der geisteswissenschaftlichen Game Studies erschienen im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Von nachhaltiger Wirkung waren vor allem Brenda Laurels Computer as Theatre (1991)60,
59 60
Vgl. D. Williams: »Bridging the Methodological Divide in Game Research«. Laurel, Brenda: Computers as Theatre, Reading Mass.: Addison-Wesley Pub. Co. 1993 (*1991).
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Espen Aarseths Cybertext: Perspectives of Ergodic Literature (1997)61 und Janet H. Murrays Hamlet on the Holodeck: The Future of Narrative in Cyberspace (1998)62. Deutlich orientieren sich diese Werke bei ihrer Analyse digitaler Spiele noch am Vorbild älterer Medien, an Theater, Film und Fernsehen63, aber auch an (hyper-)textueller Narration und natürlich an analogen Spielen. Während allerdings Aarseth eine »typology of cybertexts« entwickelt, die erzählerische Medien wie Literatur, Theater oder Film, die Interpretation erfordern, kategorial von digitalen Spielen trennt, da sie Konfiguration erfordern64, begreift Murray den Computer – das digitale Transmedium – dank seiner vier besonderen Eigenschaften, prozedural, partizipatorisch, räumlich und enzyklopädisch zu sein, als ein genuin repräsentierendes und erzählerisches Medium.65 Diesen Gegensatz, der sich 1997/98 in der Auseinandersetzung mit digitalen Spielen charakteristischerweise zwischen zwei Literaturwissenschaftlern auftat, hat Frans Mäyrä als Urkonstellation der LudologieNarratologie-Debatte beschrieben.66 Entfalten sollte sie sich dann als weiteres, sozusagen internes Schisma der geisteswissenschaftlichen Game Studies, nachdem Gonzalo Frasca 1999 den Terminus »Ludologie« für »the yet non-existent ›discipline that studies game and play activities‹« vor-
61
Aarseth, Espen J.: Cybertext: Perspectives on Ergodic Literature, Baltimore Md.: Johns Hopkins University Press 1997.
62
Murray, Janet Horowitz: Hamlet on the Holodeck: The Future of Narrative in Cyberspace, New York: Free Press 1997.
63
Vgl. z. B.: »Much of the scholarship within game studies has been dedicated for understanding the similarities and differences of games to literature, cinema or other forms of storytelling. This is helpful to a certain degree, as it can help us to situate games in the ways narratives are redefined or challenged by the interactive character of games.« F. Mäyrä: An Introduction to Game Studies, loc. 270.
64
E. Aarseth: Cybertext, S. 62-65.
65
J.M. Murray: Hamlet on the Holodeck, S. 71 ff.
66
»Together, these two works also function as symbols for the two alternative approaches which collided in the first major debate animating the young game studies community a few years later.« (F. Mäyrä: An Introduction to Game Studies, loc. 180.)
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schlug67 und Jesper Juul in seiner Masterarbeit A Clash Between Game and Narrative die weitgehende Unvereinbarkeit von Spiel und Narration behauptete: »Computer games are not narratives, but phenomena whose qualities are in exploration and repeatability.«68 Wenn die Entwicklung digitaler Spiele im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts auch deutlich machen sollte, dass Spiel und Narration so unvereinbar nicht sind, wie die Ludologen zunächst meinten, so zeigt das ludologische Konzept im Rückblick jedoch, wie Egenfeldt-Nielsen et al. schreiben, seine historische Funktion »to define the new discipline of game studies, beyond the dominant paradigms – the hypertextual (Landow, 1992) and the cinematic (Manovich, 2001)«.69 Der Konflikt einer Perspektive, die primär in der Auseinandersetzung mit analogen Spielen wurzelte, mit einer Perspektive, die primär in der Auseinandersetzung mit analogen Erzählmedien wurzelte, leitete so die Einsicht in die Alterität des digitalen Transmediums und vor allem digitaler Spiele ein. Die Jahre nach der Jahrhundertwende können denn auch als die Entstehungszeit der geisteswissenschaftlichen Game Studies gelten.70 Neben einer
67
Frasca, Gonzalo: »Ludology Meets Narratology: Similitude and Differences Between (Video)Games and Narrative«, ludology.org (o. J., *1999), http:// www.ludology.org/articles/ludology.htm
68
Juul, Jesper: »A Clash Between Game and Narrative: A Thesis on Computer Games and Interactive Fiction«, (1999), http://www.jesperjuul.net/thesis/
69
S. Egenfeldt-Nielsen et al.: Understanding Video Games, loc. 4965. Der Verweis auf Landow bezieht sich auf Landow, George P.: Hypertext: The Convergence of Contemporary Critical Theory and Technology, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1992. Der Verweis auf Manovich bezieht sich auf Manovich, Lev: The Language of New Media, Cambridge Mass.: MIT Press 2000. – Vgl. ebenso: »Ludology as a novel concept also helped to highlight how games, when considered in their own terms as forms of art and culture, were in some sense unique, and in need of their own theories and methodologies of research.« (F. Mäyrä: An Introduction to Game Studies, loc. 192.)
70
Vgl. z.B. S. Egenfeldt-Nielsen et al.: Understanding Video Games, loc. 340: »2001 can be seen as the Year One of Computer Game Studies as an emerging, viable, international, academic field.«
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steigenden Zahl von Buch- und Zeitschriften-Publikationen71, die von der zunehmenden Breite der Forschung zeugen, setzte an den Universitäten – zunächst den angelsächsischen und skandinavischen – die allmähliche institutionelle Etablierung in Gestalt von Studiengängen, Promotionsmöglichkeiten und Game-Studies-Professuren ein.72 Parallel dazu entschärfte sich der Konflikt zwischen Ludologen und Narratologen, nicht zuletzt unter dem Einfluss von Henry Jenkins’ diversen Konzeptionen narrativer Architektur und transmedialen Geschichtenerzählens.73
6 D IE S CHISMEN
UND IHRE
Ü BERWINDUNG
Ungeachtet dieser Fortschritte und Erfolge der Game Studies bleibt als Ungenügen ihr doppeltes Schisma bestehen: zum einen die weitgehende Separation der sozialwissenschaftlich orientierten Forschung von der geisteswissenschaftlichen sowie zum zweiten – und vielleicht wesentlicher noch – die wachsende Separation dieser diversen Theorien zweiter Ordnung von den praxisorientierten Theorien erster Ordnung, den Theorien des Game Designs. Als erster wohl machte Dmitri Williams 2005 den Vorschlag einer Versöhnung durch Interdisziplinarität:
71
Die Digital Games Research Association (DIGRA, http://www.digra.org/) wurde 2003 gegründet, die Game Studies publizieren seit 2001 (http://game studies.org), Games and Culture seit 2006 (http://gac.sagepub.com/).
72
Deutschland hinkt dieser Entwicklung insbesondere im Hinblick auf die Institutionalisierung von Ausbildungsgängen in Game Design und Game-Studies um ca. fünf bis zehn Jahre hinterher.
73
Vgl. S. Egenfeldt-Nielsen et al.: Understanding Video Games, loc 4811. Und vor allem Jenkins, Henry: »Game Design as Narrative Architecture«, in: Wardrip-Fruin, Noah/Harrigan, Pat (Hg.), First Person: New Media as Story, Performance, and Game, Cambridge, Mass.: MIT Press 2004, S. 119-129; Ders.: »Transmedia Storytelling: Moving Characters From Books to Films to Video Games Can Make Them Stronger and More Compelling«, Technology Review, 15. Januar 2003, http://www.technologyreview.com/news/401760/trans media-storytelling/
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»There is a solution: social science needs context, and humanists need generalizability. Modern scholarship is filled with calls for interdisciplinary work, with moderate success. We are scholars of a new medium and we need to think differently.«
74
Aufgenommen wurde dieser Vorschlag kaum, und ohnehin galt er ja nur den Theorien zweiter Ordnung. Die beiden wichtigsten Übersichtsdarstellungen der Game Studies - Understanding Video Games (2008) von Egenfeldt-Nielsen et al. und An Introduction to Game Studies (2008) von Frans Mäyrä – allerdings wiederholten die Hoffnung auf eine multidisziplinäre Synthese. Mäyra etwa schreibt: »The vision of game studies informing this book can be described as multidisciplinary and dialectical; if and when we understand anything, it is by making connections that open up new directions for thinking about games. Bringing into contact existing but previously separate ideas, concepts, and frames of thought, we can proceed to create a synthesis of them, and see our grasp of things evolve.«
75
Vor der Überlegung, ob ein solches »synthesizing the work that has been done so far in game studies«76 möglich ist, stellt sich freilich die Frage, ob es sich bei dieser Absicht überhaupt um ein sinnvolles Unternehmen und wünschenswertes Ziel handelt. Vor allem zwischen den Theorien erster und zweiter Ordnung beziehungsweise ihren Vertretern liegt eine Kluft von Missachtung und Misstrauen. Sozial- wie geisteswissenschaftlich orientierte Forscher betrachten die Theorien des Game Designs aufgrund ihres geringen Abstraktionsgrads nicht selten mit einer gewissen Herablassung. Umgekehrt ist aus der Sicht vieler Game Designer und Game-DesignTheoretiker der »Wert« beziehungsweise »Nutzwert« der Theorien der Theoretiker keineswegs ausgemacht. Mag die Distanz zwischen beiden Gruppen in Deutschland auch noch etwas größer sein als in anderen Ländern, deren Bildungssysteme wie etwa in den USA keine so strikte Trennung zwischen theoretischer und künstlerisch-praktischer Instruktion ken-
74
D. Williams: »Bridging the Methodological Divide in Game Research«, S. 10.
75
F. Mäyrä: An Introduction to Game Studies, loc. 86.
76
S. Egenfeldt-Nielsen et al.: Understanding Video Games, loc. 310.
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nen77 – spürbar ist sie weltweit. Denn sie liegt wesentlich in den unterschiedlichen Erkenntnisinteressen der Theorien erster und zweiter Ordnung begründet. Während die Theorien der Praktiker, wie der Begriff anzeigt, von der künstlerischen Praxis ausgehen, dicht an ihr entlang operieren und sie letztlich direkt beeinflussen, in sie eingreifen wollen, setzt mit den Theorien der Theoretiker ein steter Prozess der Abstraktion ein. Er entfernt einerseits die theoretische Reflexion von der künstlerischen Praxis und insbesondere von ihrem jeweiligen Stand und ihren tagesaktuellen Problemen. Darin liegen andererseits aber auch die Vorteile »theoretischer Theorien« beschlossen, ihre besondere Leistungsfähigkeit: Die Lösung von den unmittelbaren Anforderungen künstlerischer Praxis erlaubt Einsichten, die sowohl historisch weiter reichen – also die Gegenwart des jeweiligen Mediums mit seiner wie generell der Vergangenheit aller künstlerischen Produktion verbinden – als auch die Grenzen des Mediums wie des Medialen überhaupt transzendieren – also das Wissen über einzelne Medien mit anderen Wissensbereichen verbinden, etwa von den anderen Medien, von eigenen und anderen Kulturen, von der Gesellschaft, Wirtschaft, den Naturwissenschaften usf. Beides aber, die historische Verortung wie der Anschluss an andere Felder theoretischer Reflexion, ist für avancierte ästhetische Produktion, für ein künstlerisches Schaffen, das über die gewerbliche Wiederholung des Bekannten und leidlich Erfolgreichen hinausgehen will, spätestens seit dem Eintritt in postmoderne Verhältnisse unabdingbar. Gerade im Prozess der Digitalisierung, beim Übergang von überkommenen zu neuen Praxen, die allererst »just in time« zu erfinden und erproben sind, kommen theoretischer Reflexion und historischem Wissen besondere Bedeutung zu. Erst eine gründliche Kenntnis der Verfahren und Strukturen tradierter visueller, auditiver und audiovisueller Narrationen – die Vertrautheit mit den Erzählund Darstellungsweisen, die sich in Literatur, Bildender Kunst, Theater, Film, Fernsehen, Video sowie insbesondere analogen und digitalen Spielen
77
Die Autoren der genannten drei »kanonischen« Game-Design-Theorien (s. o. S. 432) lehren Game Design nicht an Kunst- oder Fachhochschulen, wie es in Deutschland allein möglich wäre, sondern an Universitäten: Tracy Fullerton an der University of Southern California (USC), Jesse Schell an der Carnegie Mellon University (CMU), Eric Zimmerman an der New York University (NYU).
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historisch ausgebildet haben – erlaubt die eigene souveräne künstlerische Produktion im Bewusstsein von tradierten Mustern und in der Absicht, sie unter den gewandelten Bedingungen und gesteigerten Möglichkeiten digitaler und zunehmend transmedialer Medienproduktion kreativ zu modifizieren. Insofern lassen sich »Wert« wie »Nutzwert« theoretischen Wissens für die kreative Praxis leicht demonstrieren. Umgekehrt bedarf allerdings auch jede Theorie, die sich mit ästhetischen Artefakten und Prozessen auseinandersetzt, wesentlich der Information durch die künstlerische Praxis. In der Distanz der sozialwissenschaftlichen wie der geisteswissenschaftlichen Erforschung digitaler Spiele zur Game-Design-Theorie, so lässt sich vermuten, liegt nicht nur ein Grund dafür, dass viele der bisherigen Resultate nicht immer zu überzeugen vermögen. Der Abstand zur ästhetischen Praxis dürfte darüber hinaus auch den vielfach beklagten Mangel an Synthese zwischen den verschiedenen, aus anderen Disziplinen importierten theoretischen Ansätzen mitverantworten.
7 T HEORIEN
DRITTER
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»[R]elying too heavily on existing theories will make us forget what makes games games«, schrieb Jesper Juul vor über einem Jahrzehnt: »It is the unique parts that we need to study now.«78 Juul ging es dabei um eine Begründung der ludologischen Perspektive. Dennoch hat seine Insistenz auf einer Lösung von importierten Theorien bis heute Gültigkeit: Die Game Studies müssen, um digitale Spiele gültig begreifen und damit zur selbständigen Disziplin werden zu können, von Theorien zweiter Ordnung zu solchen dritter Ordnung fortschreiten. Dafür ist das in der Game-Design-Theorie entwickelte und geborgene Wissen unerlässlich, denn genuine Theorien ästhetischer Artefakte – das demonstriert die Geschichte der Literatur-, Kunst- und Filmwissenschaften – lassen sich nur in der intensiven Auseinandersetzung mit den jeweiligen Medien und Werken selbst gewinnen. Während die gegenwärtige Situation – das tendenzielle Nebeneinander von Game-Design-Theorien erster Ordnung sowie sozialwissenschaftlich
78
Juul, Jesper: »Games Telling Stories? A Brief Note on Games and Narratives«, Game Studies 1 Juli (2001), http://www.gamestudies.org/0101/juul-gts/
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und geisteswissenschaftlich geprägten Theorien zweiter Ordnung – es nahelegt, von den Game Studies als einem sich konturierenden Forschungsfeld zu sprechen, sollte der Übergang zu Theorien dritter Ordnung es erlauben, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit digitalen Spielen als eigene Disziplin zu etablieren. Ein historisches Vorbild für die Ausbildung einer Disziplin im Gefolge der Durchsetzung eines neuen Mediums ist wie erwähnt die Filmwissenschaft: Im Gefolge der ersten Theorien dritter Ordnung gelang es seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, einen disziplinären »common ground« zu legen, das heißt eine verbindliche Begrifflichkeit, akzeptierte Methoden der Forschung und eine leidlich verbindliche Perspektive auf den eigenen Gegenstand zu entwickeln. Eine vergleichbare Kohärenz durch die – zwangsläufig immer neu zu treffende – Bestimmung dessen, was innerhalb und was außerhalb der Disziplin liegt, muss auch die Game Studies in ihrer nächsten Phase auszeichnen.79 Die Orientierung an den Wissenschaften von älteren – analogen – Medien sollte freilich ihre Grenzen an zweierlei Umständen finden. Zum einen geben die etablierten Disziplinen ein eher schlechtes Beispiel für die Verbindung und Vermittlung von wissenschaftlicher Forschung und Lehre mit künstlerischer Praxis. Die Begriffe und Denkweisen, die Perspektiven und das Herangehen sind – nach meiner eigenen Erfahrung – nicht nur äußerst verschieden, sie verhalten sich zueinander bisweilen geradezu gegensätzlich und feindlich.80 Als junge, sich gerade erst ausbildende Wissenschaft haben die Game Studies die Chance, ausgehend von der Game-DesignTheorie die wünschenswerte Integration künstlerischer Perspektiven von Anfang an als Teil der neuen Disziplin zu konzipieren. Die zweite Chance, den alten Disziplinen nicht zu folgen, sondern stattdessen in Forschung und Lehre in andere Richtungen zu führen, ergibt sich aus dem Umstand, dass sich mit der Digitalisierung für Forschung wie Lehre gänzlich neue Potenziale erschließen. Frans Mäyrä hat bemerkt, dass »deep down, science and scholarship are much like games«81. Allerdings:
79
Die Bildung von Schulen, wie sie in den Game Studies noch weitgehend aussteht – vgl. F. Mäyrä: An Introduction to Game Studies, loc. 206. – , wäre einer solchen Kohärenz keineswegs abträglich.
80 81
Vgl. G. S. Freyermuth: »Angewandte Medienwissenschaften«. F. Mäyrä: An Introduction to Game Studies, loc. 100. Vgl. ebenso Henry Jenkins: »Games follow something akin to the scientific process.« (Jenkins,
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»[R]ather than just playing a ready-made game, the work of a scholar is actually much more like that of a game designer, who must develop and implement a systematic structure for new ideas and then see how the creation is ›played with‹ by members of the academic community.«
82
Jenseits des Einsatzes digitaler Spiele für den Wissenstransfer, von dem dieser Band handelt und den in der eigenen Lehre einzuführen die Game Studies geradezu die Verpflichtung haben, stellt sich die Aufgabe, die beobachtete Parallelität zwischen Game Design und wissenschaftlicher Forschung für die Game Studies nutzbar zu machen. James Paul Gee hat jüngst für das emergierende Gebiet des New Digital Media Learning (NDML) vorgeschlagen, das Entstehen sogenannter »worked examples« – also mustergültiger Forschungsarbeiten, um die herum sich Disziplinen zu gruppieren pflegen – spielerisch zu forcieren: »Rather than waiting for the natural process to take its course, we could create ›play exemplars‹ that we could use as tools for thought and debate. 84
be like a game.
83
[…] Thus, it would
[…] Maybe this game would work to accelerate the growth of a
new area, but it would be a fine enough outcome if it merely served to create collaboration and the emergence of common ground through interaction and debate, and not just through the fiats of funders and established disciplinary journals.«
85
Gees Vorschlag, wissenschaftliche Forschung als eine Art Pervasive Game oder Alternate Reality Game zu simulieren und damit auch voranzutreiben,
Henry: Confronting the Challenges of Participatory Culture: Media Education for the 21st Century, The John D. and Catherine T. MacArthur Foundation Reports on Digital Media and Learning, Cambridge, MA: The MIT Press 2009, S. 24, http://mitpress.mit.edu/sites/default/files/titles/free_download/97802625 13623_Confronting_the_Challenges.pdf) 82 83
F. Mäyrä: An Introduction to Game Studies, loc. 106. Gee, James Paul: New Digital Media and Learning as an Emerging Area and ›Worked Examples‹ as One Way Forward, The John D. and Catherine T. MacArthur Foundation Reports on Digital Media and Learning, Cambridge, Mass.: The MIT Press 2010, loc. 385.
84
Ebd., loc. 422.
85
Ebd., loc. 438.
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könnte den Game Studies den Weg weisen – und dies umso mehr, wenn sie sich nicht allein als wissenschaftliche, sondern über die Integration der Game-Design-Theorie als künstlerisch-wissenschaftliche Disziplin begreifen. Denn während sich seit dem 19. Jahrhundert gesicherte Prozeduren und Praktiken wissenschaftlicher Forschung durchsetzten, wurde künstlerische Forschung – wie sie zwischen Renaissance und Aufklärung florierte – zunehmend marginalisiert, da sie ihrer Natur nach nicht den Standards detaillierter Vorplanung, Taylorisierung in der Durchführung und zuverlässiger Standardisierung in der Vermittlung entsprechen konnte, die sich mit der Industrialisierung der wissenschaftlichen und kommerziellen Forschung etablierten. Kennzeichen künstlerischer Forschung sind dagegen Experimente mit offenem Ausgang, kreatives Stochern im Unbekannten, eigensinnige Versuchsanordnungen, die den Zufall zulassen, Resultate, die ästhetischen Kriterien genügen. Aus heutiger Sicht verlangt daher künstlerisch-wissenschaftliche Forschung generell geradezu nach »Gamification«, ob nun im Sinne von Gees Vorschlag oder anderen denkbaren Varianten. Wer wenn nicht die Game Studies wäre dazu berufen, die Probe aufs Exempel zu machen und die Integration wissenschaftlicher und künstlerischer, theoretischer und praktischer Methoden und Verfahren, Perspektiven und Ziele zu realisieren? Noch immer ist aktuell, was Egenfeldt-Nielsen et al. vor einigen Jahren feststellten: »At present, video game studies may have more questions than answers, more doubts than certainties. The rules are still being formed; the orthodoxies have not yet been established. And for the curious researcher, there are many worlds in need of exploration. Of course, this is part of why the field is so thrilling. In other words, the discipline welcomes you; there is much to be done.«
8 F ORSCHUNGSFELDER :
DIE
86
T ETRADE
PLUS EINS
Fünf Forschungsfelder, die mir aus medienwissenschaftlicher Sicht für die Konstitution der Game Studies als Theorie dritter Ordnung wie als institutionelle Disziplin von besonderem Rang scheinen, möchte ich abschließend
86
S. Egenfeldt-Nielsen et al.: Understanding Video Games, loc. 311.
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skizzieren. Dabei folge ich der von Jesse Schell beschriebenen Tetrade des Game Designs und komme dann fünftens zum übergreifenden Problem der Positionierung von Games im Kontext des sich ausbildenden digitalen Mediendispositivs. Erstens: Mechanics. Sie markieren inhärente Grenzen: das, was in einem digitalen Spiel erzähl- und handlungstechnisch möglich ist. Aus medientechnologischer Sicht tun sich Parallelen zu Betriebssystemen auf, aus medienästhetischer Sicht zu den Genrekonventionen analoger Medien. Ein erstes vielversprechendes Forschungsfeld der Game Studies stellt daher das Verhältnis der Game-Mechanics, wie sie häufig in Engines kodiert sind, zu Game-Genres dar. Die in den populären Medien kursierenden Genre-Abgrenzungen sind widersprüchlich und offenbaren darin ihre Arbitrarität. Auch die Game Studies sind bislang zu keinen überzeugenden Genre-Definitionen gelangt.87 Aus der Auseinandersetzung mit Literatur- und Filmgenres wissen wir aber, dass ein entscheidendes Maß künstlerischer Qualität die Freiheit und Originalität sind, mit der Genre-Konventionen und die Erwartungen, die sich seitens der Leser oder Zuschauer auf sie richten, selektiert, kombiniert, modifiziert, adaptiert oder eben exaptiert, zerschlagen und neu zusammengesetzt, parodiert, destruiert werden. Anders als in Literatur oder Film, deren Genres primär ästhetische Konstrukte sind, basieren Games-Genres allerdings wesentlich auf kodierten Mechanics. Marshall McLuhan konkretisierte einst seine Behauptung, dass jedes Medium seine eigene Botschaft vermittle, mit der Bemerkung, Medien unterschieden sich primär durch »scale, pace, pattern«.88 Die Mechanics eines Spiels bergen genau diese Qualitäten. Eine Genre-Theorie der Game Studies hat sie daher nicht nur als zentrale Kategorie für ein Verständnis so-
87
S. Egenfeldt-Nielsen et al. schlagen eine Genre-Einteilung nach den Qualitäten der geforderten Spieler-Interaktionen vor und kommen so zu der Vierteilung in Action Games (motorische Fähigkeiten, Hand-Augen-Koordination), Adventure Games (logisches Denken, Geduld), Strategy Games (Kalkulieren von Variablen und des Verhaltens anderer Spieler, bei continuous-time strategy games kombiniert mit Reaktionsschnelligkeit) sowie Process-Oriented Games (Verständnis von Systemen und deren Manipulation). Siehe ebd., loc. 1229 ff.
88
»For the ›message‹ of any medium or technology is the change of scale or pace or pattern that it introduces into human affairs.« (McLuhan, Marshall: Understanding Media: The Extensions of Man, New York: Signet Books 1964, S. 8.)
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wohl der Produktion wie der Rezeption von digitalen Spielen zu verstehen, sondern ihre spezifische Überdeterminiertheit im Spannungsfeld zwischen Medienästhetik und Medientechnik zu reflektieren. Zweitens: Story. Henry Jenkins hat darauf hingewiesen, dass der Streit um das Erzählen in Spielen wesentlich auf einem Mangel an Differenzierung des medienübergreifenden Begriffs der Narration beruht.89 Denn Erzählen vollzieht sich bereits in jedem analog-linearen Medium radikal anders – etwa in Literatur, Theater, Film – und in jeder der medienspezifischen Gattungen – etwa in Roman oder Kurzgeschichte, Mehr- oder Einakter, Lang- oder Kurzfilm. Mit der Erweiterung des Erzählens von analoger Linearität zu digitaler Non- oder Nicht-so-Linearität stellen sich erneut andere narrative Qualitäten her. Um sie zu begreifen, verweist Jenkins auf den für spielerisches Erzählen zentralen Aspekt der Räumlichkeit und plädiert dafür, Game Designer »less as storytellers and more as narrative architects« anzusehen, die nicht Geschichten, sondern narrative Welten mit alternativen Handlungsmöglichkeiten entwerfen.90 Eine Erzähl-Theorie der Game Studies hat daher als zentrale Kategorien interaktiv-nonlinearen Erzählens einerseits die Strukturen räumlicher Narration, wie sie schon analog in Themenpark-Installationen oder den Erlebnisräumen der Unterhaltungsarchitektur erprobt wurden91, und andererseits die strukturellen Qualitäten alternativ organisierter Erzähl- und Interaktionsstränge zu fokussieren.92 Drittens: Aesthetics. Das Verhältnis (audio-) visueller Darstellungen zur Realität wird seit der Frühzeit industrieller Medialität diskutiert, seit dem Übergang vom imitativen malerischen Realismus, in dessen Kontext Au-
89
H. Jenkins: »Game Design as Narrative Architecture«.
90
Ebd., S. 121.
91
Vgl. z.B. Freyermuth, Gundolf S.: »Holodeck heute«, in: c't - magazin für computertechnik, 30. August 1999, S. 72-77 http://freyermuth.com/reprints/archiv 2008/reprintJMar2008/Holodeck_heute.html; Ders.: »Vegas, Virtuelle Stadt«, in: Telepolis, 9. März 2000, http://freyermuth.com/reprints/Archiv2011/reprint_ Sep_Dez_2011.html/vegas.html
92
Vgl. dazu auch: »What does it mean, for instance, when a person’s self-expression moves away from linear representations, such as books and films, and they find more meaning in interactive, non-linear systems where outcomes depend on player choices?« (S. Egenfeldt-Nielsen et al.: Understanding Video Games, loc. 327).
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thentizität die Echtheit der Herkunft, also Autorenschaft meint, zum technisch reproduzierenden Fotorealismus, in dessen Kontext Authentizität sich jenseits von Autorenschaft auf die Echtheit der Bildinhalte bezieht. Mit digitalen Spielen figuriert sich die Problemkonstellation nun gänzlich neu. Verantwortlich dafür ist zweierlei: zum einen, dass Spiele zunehmend »realistischer« werden, zum zweiten, dass sie in immer engere Beziehung zur »Realität« treten. Das erste Moment verdanken sie ihren besonderen audiovisuellen Qualitäten. Ein zentrales Element des emergierenden digitalen Mediendispositivs ist eine hyperrealistische – also non-indexikalische – Bildproduktion, von deren drei Varianten Hybridisierung, Animation und Echtzeit-Generierung letztere das besondere Potenzial digitaler Spiele zu Simulation und 3D-Weltenbau ausmacht.93 Games können aber nicht nur seit einigen Jahren fotorealistisch Welten und Lebewesen in Echtzeit produzieren, denen kein Äquivalent in der Realität korreliert. Sie dringen auch immer tiefer in die Alltagswirklichkeit ein. Während analoge und auch digitale Spiele traditionell jenseits des Alltags zu existieren schienen – in Huizingas »magischem Kreis« –, schicken sie sich mit ihrer digitalen Vernetzung und Mobilisierung an, die Realität selbst zum magischen Kreis zu machen. Insbesondere mit mobilen Games, Alternate Reality Games und Augmented Reality Games tritt an die einst strikte Trennung von Spiel und Wirklichkeit, wie Edward Castronova schreibt, eine »membrane [that] is actually quite porous«.94 Eine Theorie der Authentizität digitaler Spiele, wie sie die Game Studies zu entwickeln haben, muss daher den Fokus auf diesen doppelten »Realismuseffekt« richten: einerseits die Durchsetzung eines simulativen Hyperrealismus in den Spielen, andererseits die Überlagerung und Augmentierung der Realität durch digitale Spiele, ihre Mechaniken, ihre Narrationen, ihre Ästhetik und ihre technologischen Interfaces. Viertens: Technology. Der Begriff meint innerhalb Schells Tetrade »any materials and interactions that make your game possible« – von den Figuren oder Würfeln analoger Brettspiele bis zur High-Technology digitaler Spiele.95 Für ihr Design wie für ihre Nutzung waren stets schon die techni-
93 94
Vgl. G. S. Freyermuth: »Der Big Bang digitaler Bildlichkeit«, S. 294. E. Castronova: Synthetic Worlds: The Business and Culture of Online Games, S. 147.
95
J. Schell: The Art of Game Design, loc. 123.
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schen Interfaces zentral, da sich über sie die spielerischen Interaktionen vermitteln.96 Chris Crawford hat digitale Interaktivität – die Kommunikation zwischen Spieler und Spiel – einmal mit einem Dauergespräch verglichen, das in distinkten zyklischen Schritten verlaufe, nachvollziehbar am Beispiel einer Konversation zwischen Fred und Joe: »Step One: Fred listens to what Joe has to say. […] Step Two: Fred thinks about what Joe said. […] Step Three: Fred expresses his response back to Joe. […] Now the tables are turned; the ball is in Joe’s court. Joe must listen to what Fred says; Joe must think about it and develop a reaction; then he must express his reaction back to 97
Fred.This process goes back and forth until the participants terminate it.«
Bis in die Gegenwart war Zuhören und Antworten auf Seiten des Spiels rein metaphorisch zu verstehen. Gegenwärtig vollzieht sich jedoch eine erneute Interface-Wende – dem überkommenen Graphical User Interface (GUI) treten sogenannte Natural User Interfaces (NUIs) zur Seite. Mit dieser Implementierung einfacherer, weil im weitesten Sinne »natürlicher« Interaktionsweisen – durch Gesten- und Berührungssteuerung, aber eben auch Sprachsteuerung – eröffnet sich ein neuer, noch immersiverer Umgang mit digitalen Spielen.98 Jesse Schell z.B. sieht darin die nächste Entwicklungsstufe der Games: Wie der Film erst dem Theater wirklich ebenbürtig wer-
96
Vgl. z.B. in diesem Band Ian Bogosts Geschichte der Exergames-Interfaces (ab
97
Die Grundidee präsentierte Chris Crawford zuerst 1989 bei der von ihm be-
S. 233). gründeten Games Developers Conference, siehe den Videomitschnitt unter: http://www.erasmatazz.com/personal/videos/fundamentals-of-interactivi.html. Die zitierte Druckfassung erschien vier Jahre später: Crawford, Chris: »Fundamentals of Interactivity«, The Journal of Computer Game Design 7 (1993/94), http://www.erasmatazz.com/library/the-journal-of-computer/jcgd-volume-7/fun damentals-of-interactivi.html 98
Zur Immersion im digitalen Transmedium vgl. G. S. Freyermuth: »Der Big Bang digitaler Bildlichkeit«, S. 319 ff. – Rolf F. Nohr begreift Immersion gar »als Effekt des Dispositivs Computerspiel [...] – ein Effekt, der weniger auf das Narrative oder Repräsentationale des Spiels abzielt, sondern eher das SelbstManagement am Arbeitsgerät Computer im und durch das Spiel betont« (in diesem Band S. 353).
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den konnte, als er sich vom Stumm- zum Tonfilm wandelte, so können Schells Ansicht nach Spiele erst ihr wirkliches mediales Potential entfalten, wenn sie von NPCs, die lediglich ein wenig sprechen können, fortschreiten zu AI-Charakteren, die auch beobachten und zuhören können und tatsächlich verstehen, was wir zu ihnen sagen.99 Eine Theorie der Interaktion in und mit digitalen Spielen als ein zentrales Desiderat der Game Studies muss sie in ihrer je historischen Bedingtheit von gleichermaßen medienästhetischen Interessen und medientechnologischen Vorgaben erkennen. Fünftens: Transmedialität. Im Übergang von der industriellen zur digitalen Kultur schwinden die zuvor technisch gesetzten Grenzen zwischen den Medien.100 Was analog schon durch die Inkompatibilität der Speicherund Distributionsmedien getrennt war – Film, Fernsehen, Rundfunk sowie Print mit seinen medialen Varianten Buch, Zeitung, Magazin – verschmilzt digital in Produktion, Distribution und Rezeption, sowohl untereinander als auch mit neuen digitalen Ausdrucks- und Darstellungsformen, die – wie vor allem Games – in sich selbst bereits genuin transmedial strukturiert sind. Insofern lassen sich zwei Arten von Transmedialität unterscheiden: intensive Transmedialität, die Herstellung eines fiktionalen oder non-fiktionalen Containers, der mehrere Medien enthält, also in seinem Inneren die tradierten Mediengrenzen transzendiert, sowie extensive Transmedialität, das variantenreiche Auserzählen ein und derselben Geschichte über mehrere Medien hinweg.
99
Persönliche Aufzeichnungen zu Jesse Schells Präsentation »The Future of Storytelling: How Medium Shapes Story,« Game Developers Conference, San Francisco, March 26, 2013. Vgl. auch: »According to Schell, these narrative weaknesses were best summed up by USC Games Institute’s Chris Swain: ›Film wasn't taken seriously as a medium until it learned to talk. Games are waiting to learn to listen. I suspect he is dead-on right.‹ … Schell then ran through a series of technologies that he thought could offer games the chance to ›learn to listen,‹ from using player facial-tracking features to read a player’s emotional state, voice recognition and natural language parsing tech for conversations …« (Patrick Miller, »Jesse Schell's Search for the Shakespeare of Video Games,« Gamasutra, March 27, 2013, http://www.gamasutra.com/view/news/ 189370/)
100 Vgl. zum Folgenden G. S. Freyermuth: »Der Big Bang digitaler Bildlichkeit«, S. 312ff.
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Da Games nun nicht nur in sich selbst transmedial operieren, indem sie sowohl eine Vielzahl von Medien zu ihrer eigenen Gestaltung einsetzen 101 als auch komplette Werke anderer Medien in sich bergen können – von Gemälden über Radiosendungen bis zu Spielfilmen 102 –, sondern in der Regel zudem vielfältig in extensive transmediale Kontexte eingebunden sind, ist es für die Game Studies zentral, einen theoretischen Begriff vom Spiel als einem »transmedialen Gesamtkunstwerk« zu gewinnen.
101 Eine der auffälligsten Differenzen zwischen linearer und nonlinearer Audiovisualität ist die Durchdringung des Bildraums digitaler Spiele mit diegetischem wie non-diegetischem Text, während er aus Spielfilmen seit dem Ende des Stummfilms gerade als uncinematisch weitgehend verbannt wurde. – Dagegen ließe sich einwenden, dass es in post-industrieller linearer Audiovisualität – Film wie Fernsehen – zu einer gewissen Rückkehr diegetischer wie non-diegetischer Texte im laufenden Bild zu kommen scheint. (Diesen Hinweis verdanke ich Lisa Gotto.) Die Gründe dafür sind m. E. jedoch recht unterschiedlich und lassen noch keine Rückschlüsse auf ästhetische Veränderungen zu. Denn zum einen stellt sich Text im Filmbild oft schlicht technisch her; wie z.B. im Falle von Untertiteln in verschiedenen Sprachen, die sich bei DVDs oder Downloads nach Belieben ein- und ausblenden lassen. Die digitalen Dateien bergen gewissermaßen verschiedene Fassungen, die unter analogen Bedingungen getrennt erworben werden mussten (– oder, wenn der jeweilige Markt für Untertitelungen zu klein war, gar nicht erst hergestellt wurden). Zum zweiten lässt sich zwar seit den späten neunziger Jahren auffälliger Einsatz von Text zur Etablierung neuer Handlungs- oder Reflexionsebenen beobachten – von den Schrifteinblendungen in FIGHT CLUB (USA 1999, R: David Fincher) zu den »Gedankenblasen« in SHERLOCK (GB 2010 ff., I: Mark Gattis, Steven Moffat). Hier liegt der Gedanke nahe, dass sich lineare Audiovisualität unter dem Einfluss digitaler Medien und speziell digitaler Spiele verändere. Doch so auffällig mancher Schrifteinsatz in neueren Spielfilmen und TV-Serien ist, so vereinzelt bleibt er. Insofern scheint es sich – bislang – weniger um einen Stilwandel als um Transgressionen zu handeln, wie sie die Filmgeschichte stets kannte; von HELLZAPOPPIN’ (USA 1941, R: H. C. Potter) bis ANNIE HALL (USA 1977, R: Woody Allen), um nur zwei der prominenteren Beispiele zu nennen. 102 Vgl. J. Schell: The Art of Game Design, loc. 1326-29.
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9 E LEMENTE
EINER
T HEORIE
DER
S ERIOUS G AMES
Seit ihren Anfängen kreist die Auseinandersetzung mit digitalen Spielen um Versuche zu definieren, was ein Spiel sei.103 Auch Spiele, die nicht – nur – unterhalten, sondern dabei oder darüber hinaus Wissen oder Fähigkeiten vermitteln wollen, blieben von diesen Anstrengungen nicht ausgenommen. Allerdings ging es in ihrem Fall nicht nur darum, den Begriff Serious Games selbst zu bestimmen. Vielmehr wurden ihm wiederholt andere entgegengestellt, etwa »persuasive games«104 oder »games for change«105 . So wichtig und folgenreich solche Versuche der Definition oder Umdefinition unter kultur- wie wissenschaftspolitischen Gesichtspunkten sind106 , aus der Perspektive ästhetischer Theorie scheinen sie in ihrer utilitaristischen Suche nach ahistorischer Normativität vormodernen Poetiken verpflichtet und insofern gleichermaßen rückständig wie vergeblich.107 Fruchtbarer für die Erforschung des Wissenstransfers in digitalen Spielen scheint mir zweierlei: zum einen die Spezifizierung der im vorigen Kapitel beschriebenen Forschungsfelder im Hinblick auf Serious Games, Exergames und Exerlearning Games; zum zweiten eine Verortung der Serious Games sowohl in der Geschichte digitaler Spiele wie in der Kultur- und Mediengeschichte. Beides will ich zum Abschluss zumindest ansatzweise versuchen.
103 Vgl. die systematischen Zusammenstellungen bei K. Salen/E. Zimmerman: Rules of Play: Game Design Fundamentals, loc. 1270, sowie J. Schell: The Art of Game Design, loc. 1078. 104 Bogost, Ian: Persuasive Games: The Expressive Power of Videogames, Cambridge, MA: MIT Press 2007. 105 Vgl. http://www.gamesforchange.org sowie http://www.g4ceurope.eu 106 Vgl. z. B. »Defining anything is a highly political project. Define games as narrative and the research grants are likely to end up with departments devoted to film or literature studies. Define games as a subcultural teenage phenomenon and studies of games are less likely to be funded by ministries of culture, to reach the pages of the »serious« press, or to be available in public or research libraries.« (S. Egenfeldt-Nielsen et al.: Understanding Video Games, loc. 738.) 107 Vgl. dazu oben S. 433 sowie G. S. Freyermuth: »Game Design und Game Studies«.
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Erstens: Mechanics. Im Rahmen einer Genre-Theorie der Game Studies, die der Interdependenz von Genre-Ästhetik und Mechanics nachgeht, ergibt sich mit Blick auf Serious Games – jenseits der Überlegung, welche Genres sie ausbilden oder ob es sich bei ihnen selbst um ein Genre handelt108 – vor allem die Forschungsfrage, inwieweit die »message« der jeweiligen Mechanics, die ja nicht selten Unterhaltungsspielen entstammen, die Ausdrucksmöglichkeiten limitieren, vielleicht präfigurieren, vielleicht konterkarieren. Zweitens: Story. Einer Erzähl-Theorie der Game Studies, in deren Fokus die Doppelstruktur aus Räumlichkeit und virtueller Gleichzeitigkeit alternativer Handlungs- und Erzählstränge steht, stellt sich für Serious Games die wichtige Forschungsfrage, welches spezifische Wissen bzw. welche spezifischen Wissensformen räumlich-alternativ strukturiertes Erzählen besonders gut oder überhaupt aufzubereiten und zu vermitteln vermag – gerade auch im Vergleich zur traditionellen linearer textuellen oder audiovisuellen Gestaltung konstruktiver Lernprozesse. Drittens: Aesthetics. Serious Games, die ja anders als das Gros der Unterhaltungsspiele in einer simulativen oder auch repräsentierenden Beziehung zur Realität stehen und reales Verhalten beeinflussen wollen, bilden den Kernbereich einer Theorie der Authentizität digitaler Spiele. Im Hinblick auf deren doppelten »Realismuseffekt« ist – auch im Vergleich zu verwandten didaktischen oder dokumentarischen Ausdrucksformen in Literatur, Theater und Film – zu klären, was an und in ihnen noch Fakt und Fiktion ist, was Dokument und was Konstruktion.109 Denn grundsätzlich bergen sie in ihrem Inneren, wie Lisa Gotto in ihrer Einleitung zum Serious Games-Kapitel dieses Bandes schreibt, den historischen Stand des Verhältnisses von audiovisueller Medialität und Realität: »Serious Games sind auch deshalb ernste Spiele, weil sie zwischen Medien und Realität nicht kategorial unterscheiden. Sie produzieren und transferieren Wissen jen-
108 Ian Bogost schlägt etwa für Exergames diverse »Rhetoriken« vor (des Laufens, der Agilität, des Reflexes, des Trainings, des Ansporns); vgl. in diesem Band S. 233 ff.; Tobias Kopka hingegen identifiziert Exergames als ein Meta-Genre, das sich prinzipiell der Konventionen aller Spielgenres bedienen kann, vgl. in diesem Band S. 265 ff. 109 Vgl. auch in diesem Band Henry Jenkins Beitrag, S. 25.
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seits einer feststehenden Ordnung oder unveränderlichen Vorgabe. Genau darin besteht ihr medienpraktisches und medientheoretisches Potenzial: Keimzelle einer neuen Dynamik der Wissensgenerierung zu sein.«
110
Die genauen Mechanismen freilich sowohl der Wissensvermittlung wie Wissensproduktion im Kontext von Serious Games und ihrer doppelt vermittelten Beziehung zur Realität sind allererst noch zu erforschen.111 Viertens: Technology. Insofern Wissensvermittlung und Lernen von der Reduzierung der »extrinsic load« abhängen112, leistet das Design der über Interfaces vermittelten Interaktionsmöglichkeiten einen wesentlichen Beitrag zum Lernerfolg. Eine Theorie der Interaktion im Spannungsfeld zwischen Medienästhetik und Medientechnologie muss – nicht nur, aber besonders im Kontext von Exergames und Exerlearning Games – darauf gerichtet sein, die ästhetischen wie praktischen Konsequenzen der in jeder Simulation notwendigen Reduzierung dessen, was Benjamin Beil in seinem Beitrag »Handlungsrealismus«113 nennt, für den Wissenstransfer beziehungsweise den Transfer des Erfahrenen, Erlernten oder Geübten in die Realität zu bestimmen. Fünftens: Transmedialität. Da Serious Games direkter als Unterhaltungsspiele in soziale und kulturelle Prozesse eingebunden sind – des Lernens und Trainierens, aber auch des Konsumverhaltens oder der politischen Meinungsbildung – erfordern sie beziehungsweise erfordern ihr Design wie ihre Erforschung auch in einem höheren Maße zum einen das Design und die Erforschung der Strukturen extensiver Transmedialität und zum zweiten die Integration von medienpraktischen und medientheoretischen Kenntnis-
110 In diesem Band S. 143. 111 Benjamin Beil untersucht in seinem Beitrag u.a. die »tiefgehende ›Verschachtelung‹ aus Unterhaltungsspiel und Serious Game« (S. 93); Dominik Wessely geht in seiner Fallstudie den » unterschiedlichen Strategien der Wissensvermittlung bei Developern von (Serious) Games wie bei Dokumentarfilmern« (S. 124) nach und befindet: »Einem vergleichbaren Legitimationsdruck wie die der (historischen) Wahrheit verpflichteten Dokumentarfilmer waren und sind Game-Designer und Developer in ihren Produktionen bislang nicht ausgesetzt«. (S. 128) 112 Vgl. den Beitrag Isabel Zorns in diesem Band, S. 60. 113 Vgl. S. 104.
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sen. In diesem Bereich könnten die Game Studies mehr noch als in anderen ein Beispiel für die Überwindung der Schismen zwischen Game Design, sozial- und geisteswissenschaftlichen Expertisen mit dem Ziel der Verschmelzung künstlerisch-praktischer und wissenschaftlich-theoretischer Arbeit setzen.114 Als ein zentraler Forschungsschwerpunkt der Game Studies empfehlen sich Serious Games in ihren verschiedenen Varianten gegenwärtig aber auch deshalb, weil ihr Aufkommen während des vergangenen Jahrzehnts einen nachhaltigen Wandel in der Geschichte digitaler Spiele wie in der Kulturgeschichte der Digitalisierung insgesamt markiert. Denn seit der Frühzeit technischer wie kultureller Digitalisierung schien sich mit ihrem Grundprinzip der Virtualisierung, das heißt der Ersetzung von Hard- durch Software, einerseits ein schleichender Verlust an »Realem« zu verbinden – »The Murder of the Real«115 –, andererseits eine nicht minder nachhaltige Aufgabe von Körperlichkeit, verhandelt im sogenannten »disembodiment discourse«.116 Für beide, primär negativ empfundenen Tendenzen standen in besonderem Maße digitale Spiele ein. Sie beförderten vor allem bei Kindern und Jugendlichen – so der Vorwurf, erhoben häufig im Vergleich zum »natürlichen« Spielen im Freien – den Rückzug aus Natur und Öffentlichkeit in Privatheit und Phantasiewelten und behinderten zudem durch ihren sedentären Charakter die Ausbildung altersgemäßer körperlicher Kompetenzen bis hin zur Auslösung von Fettleibigkeit.117
114 Ansätze dazu finden sich in dem Erfahrungsbericht Egenfeldt-Nielsens (S. 145ff.) sowie in allen fünf Fallstudien dieses Bandes. 115 Baudrillard, Jean: »The Murder of the Real«, in: Baudrillard, Jean/Witwer, Julia (Hg.), The Vital Illusion, New York: Columbia University Press 2000, S. 59-83. Vgl. ebenso die dromologische Begründung des Verschwindens von Realität: Virilio, Paul/Beitchman, Philip: The Aesthetics of Disappearance, New York N.Y.: Semiotext(e) 1991. 116 Vgl. dazu z. B. Hayles, N. Katherine: How We Became Posthuman: Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics, Chicago Ill.: University of Chicago Press 1999. 117 Die wissenschaftliche wie die öffentliche Diskussion ist zu vielfältig und widersprüchlich, um sie hier nachzuvollziehen. Einen populären und leidlich aktuellen Überblick über die Obesity-Diskussion gibt z. B. Sanghavi, Darshak: »Are TV and Video Games Making Kids Fat? The Effects of ›Screen Time‹ on
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Serious Games, Exergames und Exerlearning zielen nun gerade auf das Gegenteil und scheinen damit diese beiden Gewissheiten der Digitalisierung: die Realitätsferne des Virtuellen und den Prozess der Entkörperlichung im Umgang mit der Welt der Daten, gewissermaßen vom Kopf auf die Füße zu stellen. In ihren unterschiedlichen Varianten – von Spielen, die schulisches Wissen vermitteln sollen, bis zu Spielen, die politische Aufklärung betreiben oder bestrebt sind, die ästhetische Wahrnehmung zu verändern – wollen sie der Realität nicht entkommen, sondern sie über die Vermittlung von Wissen und Erfahrungen positiv verändern. Was beim mehr oder minder realitätsfernen Spielen, wie es traditionell unter dem Generalverdacht des Eskapismus steht, erlebt, eingeübt und gelernt wird, soll aus dem »magischen Kreis« der Spiele in die Realität transferiert werden. Ebenso schicken sich Exergames und Exerlearning-Games an, digitales Spielen von etwas, das analoge Bewegungsabläufe virtualisiert und im Sitzen mit ein paar Fingern gesteuert wird, über NUIs zu einer Angelegenheit des ganzen Körpers zu machen. Diesen Prozess positionieren drei Beiträge dieses Bandes kritisch in sozialhistorischen beziehungsweise ideologischen Kontexten: Ian Bogost demonstriert, dass Exergames »die Unvereinbarkeit von Arbeit und körperlicher Bewegung oder Freizeit [enthüllen] wie auch die Dominanz der ideologischen Strukturen, die uns drängen, mehr zu arbeiten und uns weniger zu bewegen«.118 Tobias Kopka verweist auf die aktuelle Quantified-Self-Bewegung und auf die Rolle von Exergames »bei der täglichen spielerischen Selbststeuerung, Selbstoptimierung und Selbstdisziplinierung«.119 Rolf F. Nohr schließlich gelingt es, in einer historisch fundierten Analyse das Moment der Verkörperlichung digitaler Spiele als Fortsetzung einer in der Frühzeit der Industrialisierung einsetzenden »Akkommodation, Assimilation oder Immersion der Technik als Arbeitsgerät an den Körper und die Wahrnehmung des Subjekts« zu erkennen« beziehungsweise als Auswei-
Childhood Obesity«, in: Slate, 13. April 2012, http://www.slate.com/articles/ health_and_science/medical_examiner/2012/04/are_video_games_making_kids _fat_screen_time_and_childhood_obesity_.html. Vgl. darüber hinaus auch in diesem Band das Kapitel »Bewegung und Spielen« in Martina Lucht et al., »Fallstudie 5: HOPSCOTCH – Exer-Learning Games«, S. 400-402. 118 S. 258. 119 S. 268.
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tung dieser Kolonisierung vom »›arbeitenden Körper‹« auf das »›arbeitende Subjekt‹«, welches nunmehr »eingespannt [werde] in ein Netzwerk von Diskursen, Akkommodationen und performanten Handlungstypen«120 . Diesen Analysen ist eine nur scheinbar gegenteilige Beobachtung ergänzend beizustellen: dass mit Games und gerade auch der Konzeption von utopisch-kritischen Spielen, die helfen sollten, die Welt zu verbessern, vor einem halben Jahrhundert der Übergang von der industriellen in die postindustrielle beziehungsweise digitale Kultur begann. Das allmähliche Aufbrechen der Fixierung auf industrielle Arbeit und ihre Ethik, für das Allucquere Rosanne Stone als frühes Indiz die Zweckentfremdung teurer Rechenzeit für das erste digitale Spiel sieht121, zeigt sich in der Kultur der sechziger Jahre vielfach als Popularisierung des Spielerischen, von Eric Bernes Bestseller Games People Play: The Psychology of Human Relationships (1964)122 über Joe South’ davon inspirierten Hitsong Games People Play (1968) und Clark C. Abts Buch Serious Games (1970) 123 zum populären New-Games-Movement, das Stewart Brand in den späten sechziger Jahren im Dunstkreis der Hippie-Kultur San Franciscos initiierte.124 Neben der Traditionslinie, die Games mit der Logik des (Post-)Industrialismus verbindet, begann damals eine zweite, die ebenfalls bis heute fortwirkt und die digitale Spiele und vor allem Serious Games – Spiele, die Wissen vermitteln und Bewusstsein bilden wollen – in gleichsam spielerische Opposition stellt zu eben diesem Industrialismus, seiner Logik wie seiner Ethik.
120 S. 379 und S. 381. 121 Stone, Stone, Allucquere Rosanne: The War of Desire and Technology at the Close of the Mechanical Age, Cambridge, Mass.: MIT Press 1995, S. 13f. Vgl. auch in diesem Band S. 20. 122 Berne, Eric: Games People Play: The Psychology of Human Relationships, New York: Grove Press 1964. 123 Abt, Clark C.: Serious Games, New York,: Viking Press 1970. 124 Vgl. dazu Berlinger, Yehuda. »The History of the New Games Foundation: Play Hard. Play Fair. Nobody Hurt«, 14. Februar 2008, http://jergames. blogspot.com/2008/02/history-of-new-games-foundation.html. Siehe auch New Games Foundation/Fluegelman, Andrew: The New Games Book, Garden City, N.Y.: Dolphin Books 1976.
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Zichermann, Gabe/Christopher Cunningham:. Gamification by Design: Implementing Game Mechanics in Web and Mobile Apps. Sebastopol, Calif.: O'Reilly Media 2011.
F ILME ANNIE HALL (USA 1977, R: Woody Allen), FIGHT CLUB (USA 1999, R: David Fincher) HELLZAPOPPIN’ (USA 1941, R: H.C. Potter)
TV-S ENDUNGEN SHERLOCK (GB 2010 ff, I: Mark Gattis, Steven Moffat)
Autorinnen und Autoren
Beil, Benjamin, Jun.-Professor für Medienwissenschaft mit Schwerpunkt Digitalkulturen am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Game Studies, Digitaler Film, Fernsehserien, Prosumentenkulturen, Inter- und Transmedialität. Publikationen u.a.: First Person Perspectives. Point of View und figurenzentrierte Erzählformen im Film und im Computerspiel (Münster: Lit, 2010); Avatarbilder. Zur Bildlichkeit des zeitgenössischen Computerspiels (Bielefeld: transcript, 2012); Game Studies. Eine Einführung (Münster: Lit, 2013). Homepage: www.mekuwi.phil-fak.uni-koeln.de/12429.html Bogost, Ian, Ivan Allen College Distinguished Chair in Media Studies und Professor of Interactive Computing am Georgia Institute of Technology und Gamedesigner. 2003 Gründungsmitglied des Gamedesign-Studios Persuasive Games. Games u.a.: Social Game-Satire COW CLICKER (2010); MY FIRST COW CLICKER (2011); SIMONY (2012). Publikationen u.a.: Persuasive Games. The Expressive Power of Videogames (Cambridge: MIT Press, 2010); How to Do Things with Videogames (Minneapolis: University of Minnesota Press, 2011); Alien Phenomenology. Or What It's Like to Be a Thing (Minneapolis: University of Minnesota Press, 2012). Homepage: www.bogost.com Bösch, Marcus, Gamedesigner und Autor. Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Informationsverarbeitung in Köln und Cambridge (Magister Artium), danach Studium Game Development and Research am Cologne Game Lab (Master of Arts). Nach einem Volontariat bei der Deutschen Welle Tätigkeit als freier Redakteur, Autor und Dozent in den The-
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menfeldern Mobile Journalism, Social Media und Newsgames u.a. für ARD-Hauptstadtstudio, WDR, NDR, RBB, RTL, Bundespresseamt, Goethe Institut München, Indira Gandhi University Delhi und an der Istanbul University. Seit Herbst 2012 Geschäftsführer von the Good Evil GmbH, einem Game Studio, das sich auf die Konzeption und Umsetzung von Serious Games spezialisiert hat. Publikationen u.a.: Hg. (mit Ramón GarciaZiemsen et al.): Kill Your Darlings. Handbuch für die Journalistenausbildung (Münster: Lit, 2012). Homepage: http://www.thegoodevil.com, http://www.marcus-boesch.de Breitbarth, Kati (geb. Kraußer), wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fraunhofer Institut für Digitale Medientechnologie (IDMT). Studium der Angewandten Medienwissenschaft in Ilmenau (Bachelor of Arts). Spezialisierung auf Kinder- und Jugendmedien, Masterarbeit an der Universität Erfurt zu kognitiven und motivationalen Lerneffekten durch HOPSCOTCH innerhalb des Förderschulunterrichts. Publikationen u.a.: »Liebe im Zeichentrick. Die Liebesbeziehung von Mann und Frau am Beispiel der Animationsserie ›WINX CLUB‹« (mit Katrin Egging, Universität Erfurt, 2010, http://www.db-thueringen.de/servlets/DocumentServlet?id=17191); »Skandale deutscher TV-Formate. Eine Analyse anhand der gesellschaftlichen Werteorientierungen« (mit Katrin Egging und Anja Willenberg, Universität Erfurt, 2010, http://www.db-thueringen.de/servlets/DocumentServlet?id=17 014). Breitlauch, Linda, Professorin für Game Design an der GA Hochschule der digitalen Gesellschaft (i.G.) in Berlin, vorher an der Mediadesign Hochschule in Düsseldorf. Promotion an der Humboldt-Universität Berlin / Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam zur Dramaturgie in Computerspielen. Schwerpunkte in Lehre und Forschung: interactive und transmedia storytelling, Serious Games und Gamification. Publikationen u.a.: »Conceptual Design for Serious Games Regarding Didactical and Playfully Requirements«, in: Jeffrey Wimmer/Konstantin Mitgutsch/Herbert Rosenstingl (Hg.), Applied Playfulness, Proceedings of the Vienna Games Conference 2011: Future and Reality of Gaming. (Wien: Braumüller Verlag, 2012), S. 91-97; »Spielfreude als erfolgreiche Lern- und Therapiemethode«, in: Rudolf Thomas Inderst/Peter Just (Hg.), Build ’em Up - Shoot 'em
A UTORINNEN UND A UTOREN | 467
Down: Körperlichkeit in digitalen Spielen (Boizenburg: vwh 2013) S. 179191. Homepage: http://www.li-bre.de Crawford, Chris, Gamedesigner und Autor. Studium der Physik an der University of Missouri, Lehrtätigkeit an verschiedenen US-Universitäten, ab 1979 Gamedesigner für Atari, Leiter der »Games Research Group«. 1987 Gründer des »Journal of Computer Game Design« , 1988 Gründer der »Computer Game Developers’ Conference«. Games u.a.: TANKTICS (1978), EXCALIBUR (1983), TRUST & BETRAYAL. THE LEGACY OF SIBOOT (1987). Publikationen u.a.: The Art of Computer Game Design (New York: McGraw-Hill Osborne Media 1982); Chris Crawford on Game Design (Upper Saddle River, NJ: New Riders Press 2003); Chris Crawford on Interactive Storytelling (Upper Saddle River, NJ: New Riders Press 2004). Homepage: http://www.erasmatazz.com Egenfeldt-Nielsen, Simon, Gamedesigner und wissenschaftlicher Mitarbeiter des »Center for Computer Games Research« an der IT University in Kopenhagen. Master in Psychologie, Promotion in Videogames Studies an der Universität Kopenhagen. 2006 Gründung der Firma Serious Games Interactive. Forschungsschwerpunkte: Serious Games, Spiele und Lernen. Games u.a.: GLOBAL CONFLICT: PALESTINE (Gamers Gate, Manifesto Games & Macgamestore 2007, O: Serious Games Interactive). Publikationen u.a.: The Educational Potential of Computer Games (London: Continuum Press 2007); Understanding VideoGames. The Essential Introduction (mit Jonas Smith und Susana Tosca, London: Routledge 2008); Serious Games in Education. A Global Perspective (mit Birgitte Holm Sørensen und Bente Meyer, Aarhus: Aarhus Universitetsforlag 2011). Homepage: http://egenfeldt.eu Freyermuth, Gundolf S., Professor für Angewandte Medienwissenschaften an der ifs internationale filmschule köln und Ko-Gründungsdirektor des Cologne Game Lab. Zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin, Redakteur und freier Autor (Romane, Sachbücher, Essays, Reportagen, Arbeiten für Hörfunk, Film, Fernsehen). Forschungsschwerpunkte: Audiovisualität, Transmedialität, Games, Netzwerkkultur. Publikationen u.a.: »Ursprünge der Indie-Praxis«, in: Winfred Kaminski/Martin Lorber (Hg.), Gamebased Learning. Clash of Realities 2012
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(München: kopaed Verlag 2012) S. 313-326; »Der Big Bang digitaler Bildlichkeit«, in: Gundolf S. Freyermuth/Lisa Gotto (Hg.), Bildwerte. Visualität in der digitalen Medienkultur (Bielefeld: transcript 2013) S. 287-333; »Angewandte Medienwissenschaften«, in: Beatrice Ottersbach/Thomas Schadt (Hg.), Filmlehren. Ein undogmatischer Leitfaden für Studierende (Berlin: Bertz + Fischer 2013) S. 263-27. Homepage: www.filmschule.de/Seiten/ lehrende-prof-frey.aspx; www.freyermuth.com Ganguin, Sonja, Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn. Mitglied im Vorstand der GMK. Forschungsschwerpunkte: Medienkompetenz, Computerspiele, mobile Medien. Publikationen u.a.: Computerspiele und lebenslanges Lernen (Wiesbaden: Springer VS 2010); Bildung durch E-Learning aus der Subjektperspektive (mit K.P. Treumann & M. Arens, Wiesbaden: Springer VS 2012); Hg.: Digital native oder digital naiv? Medienpädagogik der Generationen (mit Dorothee Meister, Bielefeld: kopaed 2012). Homepage: http://www.sonja ganguin.de Gotto, Lisa, Professorin für Filmgeschichte und Filmanalyse an der ifs internationale filmschule köln. Zuvor wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bauhaus-Universität Weimar und der Hochschule für Fernsehen und Film München, Akademische Rätin an der Universität Regensburg, Vertretungsprofessorin an der Universität Mannheim, Gastprofessorin an der Leuphana-Universität Lüneburg. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie des Films, Bildästhetik, Digitale Medienkultur. Publikationen u.a.: Traum und Trauma in Schwarz-Weiß. Ethnische Grenzgänge im amerikanischen Film (Konstanz: UVK 2006); Hg.: Eisenstein-Reader. Die wichtigsten Schriften zum Film (Leipzig: Henschel 2011), Hg.: Bildwerte. Visualität in der digitalen Medienkultur (mit Gundolf S. Freyermuth, Bielefeld: transcript 2012). Homepage: www.filmschule.de/Seiten/lehrende-prof-got to.aspx Hoblitz, Anna, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn. Studium der Medienwissenschaften in Paderborn. Forschungsschwerpunkte: Serious Games und Game-Based Learning, Lernen mit neuen Medien, Mobile Medien. Homepage: http://kw. uni-paderborn.de/institute-einrichtungen/mewi/mitarbeiterinnen/
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Jenkins, Henry, Provost Professor of Communication, Journalism, and Cinematic Arts an der University of Southern California. Zuvor Direktor des Comparative Media Studies Program am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Jenkins ist Leiter des von der MacArthur Digital Media and Learning Initiative unterstützten »Project New Media Literacies« (NML). Publikationen u.a.: Convergence Culture. Where Old and New Media Collide (New York: New York University Press, 2006); Fans, Bloggers, and Gamers: Exploring Participatory Culture (New York: New York University Press, 2006); Spreadable Media: Creating Value and Meaning in a Networked Culture (mit Sam Ford und Joshua Green), New York: New York University Press 2013). Homepage: http://henryjenkins.org Joerg, Daniel, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer Institut für Digitale Medientechnologie (IDMT). Studium der Kulturpädagogik an der HS-Niederrhein, der Medienkultur an der Bauhaus Universität Weimar, der Kinder- und Jugendmedien an der Universität Erfurt, Masterarbeit zur Rolle der haptischen Wahrnehmung für Lern- und Erlebensprozesse. Kopka, Tobias, Lehrbeauftragter an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und der Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation (Köln) sowie Konzepter und Informationsarchitekt bei der Kölner Medienagentur Birch Cove. Zuvor Studium der Theater-, Film-und Fernsehwissenschaften an der Universität zu Köln (Magister) und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exergame-Forschungsprojekt »Sportlich spielend lernen« der ifs internationale filmschule köln. Lehrgebiete: Interaktive Medien, Digitale Spiele und Kultur, Communities, Demoszene. Regelmäßige Vortragstätigkeit, u. a. Universität Siegen, Next Level Conference, Museumsquartier Wien. Publikationen u.a.: »Community-Craft. Community-Strategien im Bereich digitaler Spiele als Anregungen für den Kulturbereich« (mit AnnaCarolin Weber), in: Karin Janner/Christian Holst/Axel Kopp (Hg.), Social Media im Kulturmanagement (Heidelberg: mitp 2011) S. 115-146. Homepage: http://www.tobias-kopka.de Kretschmann, Rolf, Professor für Sport- und Bewegungswissenschaft und Leiter der Sportlehrkräfteausbildung an der Universität von Texas in El Paso (UTEP), vorher am Institut für Sport- und Bewegungswissenschaft der Universität Stuttgart und FernUniversität Hagen in den Lehrgebieten Bil-
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dungstechnologie/Empirische Bildungsforschung und Computer Supported Collaborative Learning (CSCL). Arbeits- und Forschungsinteressen: Sportund Bewegungspädagogik, Sportunterricht und -didaktik, Gesundheitserziehung und körperliche Aktivität, Medienpädagogik und -didaktik, Sportphilosophie und -ethik. Publikationen u.a.: »Physical Education 2.0«, in: Martin Ebner/Mandy Schiefner (Hg.), Looking Toward the Future of Technology-Enhanced Education: Ubiquitous Learning and the Digital Native (Hershey, PA: IGI Publishing, 2010) S. 432-454; »Nintendo Wii Sports Boxing. A Pilot Study According to Energy Expenditure, Observed Motion, and Sport Science Students’ Perceptions«, in: International Quarterly of Sport Science Vol. 1 (2012), S. 19-30; »What Do Physical Education Teachers Think about Integrating Technology in Physical Education?«, in: European Journal of Social Sciences, 27/3 (2011) S. 444-448. Homepage: http://www.rolf-kretschmann.info Kruse, Linda, Gamedesignerin und Filmproduzentin, Studium Film mit Schwerpunkt Kreativ Produzieren an der ifs internationale filmschule köln (Bachelor of Arts), danach Studium Game Development and Research am Cologne Game Lab der Fachhochschule Köln (Master of Arts). Im Rahmen ihrer Masterarbeit entstand das Spielkonzept zu SQUIRREL&BÄR. Ende 2012 zusammen mit Marcus Bösch Gründung des Serious Games-Studio the Good Evil GmbH. Auszeichnung als Kultur- und Kreativpilot Deutschland 2013 durch die Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft. Homepage: http://thegoodevil.com Lucht, Martina, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fraunhofer Institut für Digitale Medientechnologie (IDMT). Studium der Angewandten Medienwissenschaften an der TU Ilmenau. Im Rahmen der Diplomarbeit 2003 Realisierung einer interaktiven Dokumentation beim ZDF. 2007 Promotion an der Universität Erfurt auf Basis eines Stipendiums des Landes Thüringen zu den Chancen politischer Berichterstattung durch multiperspektivische Darstellung. Publikationen u.a.: »Exer-Learning Games: Transfering Hopscotch from the Schoolyard to the Classroom« (mit Steffi Domagk und Martin Mohring), in: Max Bramer (Hg.), Artificial Intelligence in Theory and Practice III (Berlin: Springer 2010) S. 25-34.
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Müller-Lietzkow, Jörg, Professor für Medienökonomie und Medienmanagement an der Universität Paderborn und Leiter des GamesLab Paderborn. Studium der Wirtschaftswissenschaften in Wuppertal und Sport an der deutschen Trainerakademie in Köln, Promotion in Betriebswirtschaftslehre an der Otto-Friedrich Universität Bamberg. Publikationen u.a.: Hg.: Ökonomie, Qualität und Management von Unterhaltungsmedien (BadenBaden: Nomos 2012); »Serious Games. Theory and Reality« (mit Stephan Jacobs), in: International Journal of Computer Science in Sport, 11/1 (2012) S. 42-50; »Digital Games in the Context of Adolescent Media Behavior« (mit Dorothee M. Meister, Eckhard Burkatzki und Sonja Kröger), in: Johannes Fromme/Alexander Unger (Hg.), Computer Games and New Media Cultures. A Handbook on the State and Perspectives of Digital Game Studies (Heidelberg: Springer 2012) S. 295-317. Homepage: http:// kw.uni-paderborn.de/institute-einrichtungen/mewi/arbeitsschwerpunkte/pro f-dr-joerg-mueller-lietzkow/teamkontakt/ Nohr, Rolf F., Professor für Medienästhetik/Medienkultur an der HBK Braunschweig, vorher am SFB Medien und kulturelle Kommunikation Köln. Promotion an der Ruhr-Universität Bochum. Herausgeber der Schriftenreihe Medien’Welten. Braunschweiger Schriften zur Medienkultur (Münster: Lit), Leiter des Forschungsprojekts »Kulturtechnik Unternehmensplanspiel«. Forschungsschwerpunkte: Game Studies, Evidenztheorie, kritische Diskursanalyse, instantane Bilder und Metal Studies. Publikationen u.a.: Die Natürlichkeit des Spielens. Vom Verschwinden des Gemachten im Computerspiel (Münster: Lit 2008); Hg.: Sortieren, Sammeln, Suchen, Spielen. Die Datenbank als mediale Praxis (mit Serjoscha Wiemer und Stefan Böhme, Münster: Lit 2012). Homepage: www.nützliche-bilder.de, www.strategiespielen.de Unger, Thorsten, Betriebswirt (VWA), Geschäftsführer des G.A.M.E Bundesverband der Entwickler von Computerspielen für den Bereich Politik. Mitgründer der Zone 2 Connect GmbH, deren Geschäftsführer er bis Juni 2013 war. Teilnehmer an zahlreichen Podiumsdiskussionen zum Thema Game-Based Learning, u.a. für die ifs internationale filmschule köln, Medienakademie Köln, Munich Gaming, den Verband BITKOM. Publikationen u.a.: »Game-Based Learning mit SimuCoach als integriertes Trainingstool zur Transferüberprüfung« und »Der Vodafone Code«, in: Maren
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Metz/Fabienne Theiß (Hg.), Digitale Lernwelt – Serious Games. Einsatz in der beruflichen Weiterbildung (Bielefeld: Bertelsmann, 2011) S. 173-180 und 197-202. Homepage: www.zone2connect.de Wallenfels, Fabian, Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen (Bachelor of Arts), derzeit Studium Kreativ Produzieren an der ifs internationale filmschule köln. Filmografie (Auswahl): ANTI-AGING ERNA (2012, Drehbuch und Produktion), LIKE BIRD (2012, Drehbuch, Regie und Produktion), ALTER EGON (Arbeitstitel, derzeit in Postproduktion, Drehbuch und Produktion). Wessely, Dominik, freier Autor und Regisseur, überwiegend von Dokumentarfilmen. 2008-2013 Professor für Dokumentarfilmregie an der ifs internationale filmschule köln. 2009-2011 Forschungsprojekt »ssl – sportlich spielend lernen« an der ifs (gemeinsam mit Gundolf S. Freyermuth und Tobias Kopka). Filme (Auswahl): GEORG KREISLER GIBT ES GAR NICHT (TV, 2013), GEGENSCHUSS – AUFBRUCH DER FILMEMACHER (Kino, 2008), GEHEILIGTES GEBEIN (TV, 2008), DIE UNZERBRECHLICHEN (Kino, 2006), WINDSTÄRKE 8 – DAS AUSWANDERERSCHIFF 1855 (TV, 2005), GOTTES PLAN UND MENSCHEN HAND (TV, 2004), BROADWAY BRUCHSAL (TV, 2001), DIE BLUME DER HAUSFRAU (Kino, 1998) Publikationen u.a.: Unternehmen statt unterlassen (Berlin: Econ, 2006), »Der Dokumentarfilm und die ›Süßstoff-Offensive‹«, in: Peter Zimmermann/Kay Hoffmann (Hg.), Dokumentarfilm im Umbruch. Kino – Fernsehen – Neue Medien. (Konstanz: UVK, 2006) S. 281-286; »Vom Glück des Loslassens«, in: Béatrice Ottersbach/Thomas Schadt (Hg.), Filmlehren. Ein undogmatischer Leitfaden für Studierende (Berlin: Bertz+Fischer-Verlag, 2013) S. 123-130. Zorn, Isabel, Professorin für Medienpädagogik am Institut für Medienforschung und Medienpädagogik an der FH Köln. Zuvor Stationen an der Universität Bremen, Fachbereich Informatik, sowie am Interuniversitären Forschungszentrum Technik, Arbeit, Kultur in Graz/Österreich und an der Universität Koblenz-Landau, wo sie in der Lehramtsausbildung tätig war. Forschungsschwerpunkte: Mediendidaktik und Medienbildung mit Schwerpunkt Digitale Medien, Bildungsfragen und Technologieentwicklung, ELearning, Social Software (Web 2.0), Robotik. Publikationen u.a.: Konstruktionstätigkeit mit Digitalen Medien. Eine qualitative Studie als Beitrag
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zur Medienbildung. (Boizenburg: Hülsbusch 2012); »Educasting. Wie Podcasts in Bildungskontexten Anwendung finden« (mit Andreas Auwärter, Marc Krüger und Heike Seehagen-Marx), in: Sandra Schön/Martin Ebner (Hg.), L3T. Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien (2011), http://l3t.tugraz.at/index.php/LehrbuchEbner10/article/view/20; »Medienkompetenz und Medienbildung mit Fokus auf Digitale Medien«, in: Heinz Moser/Petra Grell/Horst Niesyto (Hg.), Medienbildung und Medienkompetenz. Beiträge zu Schlüsselbegriffen der Medienpädagogik (München: kopaed, 2011), S. 175-209. Homepage: http://www.f01.fh-koeln.de/fakulta et/personen/profs/isabel.zorn/
Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Nacim Ghanbari, Marcus Hahn (Hg.)
Reinigungsarbeit Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2013
Juni 2013, 216 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2353-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 13 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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