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German Pages 292 [293] Year 2023
Virtual Reality, Augmented Reality und Serious Games als Educational Technologies in der beruflichen Bildung Herausgegeben von Bernd Zinn
Franz Steiner Verlag
VIRTUAL REALITY, AUGMENTED REALITY UND SERIOUS GAMES ALS EDUCATIONAL TECHNOLOGIES IN DER BERUFLICHEN BILDUNG Herausgegeben von Bernd Zinn
Franz Steiner Verlag
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Inhaltsverzeichnis
BERND ZINN
Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil 1 Theoretisch-konzeptionelle Beiträge MAXIMILIAN C. FINK / VOLKER EISENLAUER / DENIS FRISCHBIER / BERNHARD ERTL
Zentrale Merkmale immersiver VR-Lernumgebungen
Eine Taxonomie veranschaulicht anhand von drei Beispielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 KATHARINA KUNZ
360°-Unterrichtsvideos in Virtual Reality in der beruflichen Lehrpersonenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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RUPERT HEINDL / DANIEL PITTICH
Virtuelle Fachräume
Zugänge, didaktische Ansätze und Benefits für einen beruflichen Kompetenzerwerb . . . 73 CHARLOTTE KNORR
Lerntheorien im Game Design digitaler Lernspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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SEBASTIAN RIGLING / CHARLOTTE KNORR / BERND ZINN / MICHAEL SEDLMAIR
Early Majority
Studierende entwickeln Virtual Reality, Augmented Reality und Mixed Reality Anwendungen in ihrem fachspezifischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . 117
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Inhaltsverzeichnis
Teil 2 Forschung zu virtuellen, erweiterten und spielbasierten Lernumgebungen CHRISTINA HIHN
360 Grad-Videos in virtueller Realität zur Vorbereitung auf Jobinterviews
ViJo360, eine Studie zur Akzeptanz, Immersion und Präsenzerleben mit Personen im Autismus-Spektrum, vergleichend zu einer neurotypischen Personengruppe . . . . . . . 139 CAMILLA WEHNERT / JULIA FRANZ
Interdisziplinäre Perspektiven auf Lernen mit Mixed Reality
Empirische Erkenntnisse und theoretische Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 EVELYN ISABELLE HOFFARTH / BERND ZINN
Eine Interviewstudie zu den Unterstützungsbedarfen und -potenzialen von Virtual Reality für Personen im Autismus-Spektrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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PHOEBE PERLWITZ / PIA SPANGENBERGER / JENNIFER STEMMANN
Serious Games
Effektive spielbasierte Lernanwendungen zur Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung in technischen Kontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 ANDREAS DENGEL / PETRA JESKE / WALTER KRUG
TPACK in der Beruflichen Rehabilitation
Eine Studie für die Ausbildung in Berufsbildungswerken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 PIA SPANGENBERGER / NADINE MATTHES / FELIX KAPP / LINDA KRUSE / IKEN DRAEGER / MARKUS KYBART / KRISTINA SCHMIDT
MARLA
Entwicklung, Evaluation und Implementierung einer spielbasierten, immersiven VR-Lernanwendung in der gewerblich-technischen Ausbildung . . . . . . . . . . 269 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
Editorial
BERND ZINN
Wie viele andere Gesellschaftsbereiche auch befindet sich der Bildungsbereich derzeit in einem digitalen Transformationsprozess. Digitale Bildungstechnologien beziehungsweise Educational Technologies stehen mit ihrer doppelten Bedeutung im Mittelpunkt der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Digitale Technik und Digitalisierung stellen einen Lerngegenstand dar, gleichzeitig nehmen sie eine methodischdidaktische Bedeutung in der Lehre ein. Mit Educational Technologies (EdTech) werden vielfältige positive (disruptive) Aspekte für Lehrpersonen, Lernende und den Lehr- und Lernprozess im Allgemeinen verbunden. Zu den tatsächlichen Wirkungen der Nutzung von neuen EdTech in beruflichen Lehr- und Lernarrangements liegen bislang noch wenige empirische Befunde vor. Auch für die unterrichtliche Nutzung von Virtual Reality, Augmented Reality und Mixed Reality sowie von Serious Games in der beruflichen Aus- und Weiterbildung sind die theoretisch-konzeptuellen Grundlagen sowie der empirische Forschungsstand überschaubar und mit vielfältigen Forschungsdesideraten verbunden. So stellen sich beispielsweise Fragen zur Entwicklung der Lern- und Arbeitsumgebungen. Was ist didaktisch zu beachten und in welchen Lernbereichen können diese Technologien kompetenzfördernd wirken und damit den Erwerb beruflicher Handlungskompetenz unterstützen? In Bezug auf die doppelte Bedeutung von EdTech in der beruflichen Bildung stellt sich die Frage, wie das Lernen mit digitalen Medien bzw. technology-enhanced learning und das Lehren mit digitalen Medien bzw. technology-enhanced teaching sinnvoll miteinander verknüpft werden kann. Der vorliegende Sammelband geht diesen und anderen Fragestellungen nach und soll den Leserinnen und Lesern einen Einblick in aktuelle theoretisch-konzeptuelle Grundlagen sowie die rezenten Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zu Virtual Reality, Augmented Reality, Mixed Reality und Serious Games geben. Die Autorinnen und Autoren der Beiträge betrachten hierzu im Kontext der einzelnen Technologie und der spezifischen Anwendung verschiedene Schwerpunkte, berichten von indivi-
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Bernd Zinn
duellen Entwicklungs- und Forschungsarbeiten und beschreiben Forschungsdesiderate im Bezugsfeld von neuen EdTech in der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Die theoretisch-konzeptionellen Beiträge im ersten Teil und die empirischen Beiträge im zweiten Teil des Sammelbandes adressieren ein zentrales Handlungsfeld im digitalen Transformationsprozess, liefern Ansatzpunkte für die berufliche Aus- und Weiterbildungspraxis und die wissenschaftliche Erforschung technologiebasierter Erfahrungswelten. Der vorliegende Sammelband soll damit fruchtbare Impulse für die technikdidaktische Forschung in der beruflichen Aus- und Weiterbildung, der berufliche Lehrpersonenbildung und der Hochschuldidaktik bereitstellen. Darüberhinausgehend können die einzelnen Beiträge auch die domänenübergreifende Forschung zu Virtual Reality, Augmented Reality, Mixed Reality und Serious Games mit ihren spezifischen Ausrichtungen ergänzen. Der Sammelband ist in zwei Abschnitte gegliedert. Im ersten Teil beschäftigen sich die Autorinnen und Autoren in ihren theoretisch-konzeptionellen Beiträgen mit den zentralen Merkmalen computergenerierter virtueller Lernumgebungen, der Entwicklung von 360 Grad Unterrichtsvideos in Virtual Reality, den didaktischen Ansätzen für virtuelle Fachräume, dem Game Design digitaler Lernspiele sowie der Implementierung einer hochschulischen Lehrveranstaltung zu Virtual Reality, Augmented Reality und Mixed Reality. Der zweite Teil des Sammelbandes umfasst empirische Beiträge. Bei den Beiträgen handelt es sich um qualitative und quantitative Studien, wobei verschiedene Personengruppen wie etwa Lehrpersonen, Ausbilderinnen und Ausbilder, Schülerinnen und Schüler, neurodiverse und neurotypische Personen im Kontext der spezifischen Fragestellungen und der jeweils fokussierten Technologie betrachtet werden.
Teil 1: Theoretisch-konzeptionelle Beiträge
Im ersten Beitrag des ersten Teils, mit dem Titel „Zentrale Merkmale immersiver VRLernumgebungen: Eine Taxonomie illustriert anhand von drei Beispielen“ von Maximilian C. Fink, Volker Eisenlauer, Denis Frischbier und Bernhard Ertl wird eine Klassifikation zur Beschreibung und zum Vergleich von virtuellen Lernumgebungen vorgestellt, die die konzeptuelle Entwicklung von VR-Anwendungen unterstützen können. Katharina Kunz berichtet in ihrem Beitrag mit dem Titel „360°-Unterrichtsvideos in Virtual Reality der beruflichen Lehrpersonenbildung“ vom theoretischen und empirischen Hintergrund zum Lehren und Lernen mit Unterrichtsvideos in VR. Darüber hinaus werden zwei Konzepte zum Einbezug von VR-Technologie in Lehr-Lernsettings dargestellt und hinsichtlich der Nutzungspotenziale für den Einsatz von 360°-Unterrichtsvideos in der beruflichen Lehrpersonenbildung betrachtet. Rupert Heindl und Daniel Pittich beschäftigen sich in dem Beitrag „Virtuelle Fachräume – Zugänge, didaktische Ansätze und Benefits für einen beruflichen Kompetenzerwerb“ mit einem didaktisch-ausgerichteten Entwicklungsansatz für die Implemen-
Editorial
tierung von Extended Reality (XR) Lernumgebungen. Neben der Konzeptvorstellung präsentieren die Autoren erste Umsetzungserfahrungen zum Projekt „Virtuelle Fachräume“. Im Beitrag mit dem Titel „Lerntheorien im Game Design digitaler Lernspiele“ von Charlotte Knorr geht es um eine lerntheoretische Fundierung zum Game Design digitaler Lernspiele und dem Digital Game-Based Learning. Ausgehend von der Präsentation des theoretischen Hintergrunds und mehrerer Lernspiele entwickelt die Autorin eine Lerntheorie-Genre-Matrix, welche Entwicklerinnen und Entwickler bei den Entscheidungsprozessen zur Konfiguration von Game-Genres unterstützen kann. Sebastian Rigling, Charlotte Knorr, Bernd Zinn und Michael Sedlmair berichten unter dem Beitragstitel „Early Majority – Studierende entwickeln Virtual Reality, Augmented Reality und Mixed Reality Anwendungen in ihrem fachspezifischen Kontext“ von einem Lernmodul, bei dem Studierende aus verschiedenen Studiengängen ohne Voraussetzungen zu VR, AR und MR, im Rahmen einer fachübergreifenden Schlüsselqualifikation selbst eine Anwendung konzipieren und erproben.
Teil 2: Forschung zu virtuellen, erweiterten und spielbasierten Lernumgebungen
Der erste empirische Beitrag stammt von Christina Hihn. Mit dem Haupttitel „360 GradVideos in virtueller Realität zur Vorbereitung auf Jobinterviews“ berichtet die Autorin von einer quasi-experimentellen Studie mit Personen im Autismus-Spektrum und einer neurotypischen Personengruppe. Untersuchungsgegenstand ist die vergleichende Betrachtung der Akzeptanz, der wahrgenommenen Immersion und des Präsenzerleben der beiden Subgruppen sowie die Analyse von schwierigkeitsbestimmenden Merkmalen der VR Anwendung. Mit dem Titel „Interdisziplinäre Perspektiven auf Lernen mit Mixed Reality – Empirische Erkenntnisse und theoretische Reflexionen“ berichten Camilla Wehnert und Julia Franz von einer durchgeführten qualitativen Studie, in der Potenziale und Herausforderungen im Kontext einer betrieblichen Aus- und Weiterbildung im Maschinenund Anlagenbau betrachtet werden. Im Zentrum der Studie steht dabei die Analyse von fördernden und hemmenden Aspekten zur interdisziplinären Zusammenarbeit im Bereich der Entwicklung von Mixed-Reality Simulationsmodellen. Evelyn Hoffarth und Bernd Zinn beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit dem Titel „Eine Interviewstudie zu den Unterstützungsbedarfen und -potenzialen von Virtual Reality für Personen im Autismus-Spektrum“ mit potenziellen VR Use Cases für neurodiverse und -typische Personen. Die qualitativen Befunde der Befragung von Expertinnen und Experten belegen, dass vor allem in Use Cases zur Förderung der Flexibilitäts-, Inhibitions- und Kommunikationsfähigkeit Potenziale gesehen werden,
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Bernd Zinn
um ein wechselseitiges Verständnis zwischen Personen im Autismus-Spektrum und neurotypischen Personen zu unterstützen. Im Beitrag von Phoebe Perlwitz, Pia Spangenberger und Jennifer Stemmann „Serious Games – Effektive spielbasierte Lernanwendungen zur Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung in technischen Kontexten“ werden zwei Serious Games präsentiert. In ihren Studien betrachten die Autorinnen die Wirkungseffekte bei Schülerinnen und Schülern im Kontext der Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung und der beruflichen Orientierung in technischen Disziplinen. Andreas Dengel, Petra Jeske und Walter Krug beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit dem Titel „TPACK in der Beruflichen Rehabilitation: Eine Studie für die Ausbildung in Berufsbildungswerken“ zuerst mit der Analyse des digitalisierungsbezogenen Wissens von Ausbilderinnen und Ausbildern, die in der beruflichen Rehabilitation tätig sind. Aufbauend darauf, stellen sie ein Konzept eines Zertifikatkurses für die Befragten vor, bei dem VR als methodisch-didaktisches Ausbildungselement vorgesehen ist. Der Beitrag mit dem Titel „MARLA. Entwicklung, Evaluation und Implementierung einer spielbasierten, immersiven VR-Lernanwendung in der gewerblich-technischen Ausbildung“ ist von Pia Spangenberger, Nadine Matthes, Felix Kapp, Linda Kruse, Iken Draeger, Markus Kybart und Kristina Schmidt. Neben der Beschreibung der VR Spieleumgebung, berichten die Autorinnen und Autoren von empirischen Erkenntnissen, die Hinweise für die Gestaltung von VR Lernumgebungen liefern sowie zu den kognitiven, motivationalen und affektiven Effekten der Nutzung der im Mittelpunkt stehenden Spielumgebung. Abschließend bedanke ich mich bei allen Autorinnen und Autoren für die vorliegenden Beiträge. Mein besonderer Dank gilt meiner VR-Forschungsgruppe in der Abteilung Berufspädagogik mit Schwerpunkt Technikdidaktik am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Stuttgart. Mein Dank gilt dabei insbesondere Katharina Kunz für redaktionellen Arbeiten am Sammelband. Zudem bedanke ich mich bei Maria Zinn für das Lektorat.
Teil 1 Theoretisch-konzeptionelle Beiträge
Zentrale Merkmale immersiver VR-Lernumgebungen Eine Taxonomie veranschaulicht anhand von drei Beispielen
M AXIMILIAN C. FINK / VOLKER EISENL AUER / DENIS FRISCHBIER / BERNHARD ERTL
Zusammenfassung: Virtual Reality (VR) findet verstärkt Verbreitung und wird zunehmend eine
größere Rolle in der Aus- und Weiterbildung spielen. Der vorliegende Beitrag leitet zentrale Merkmale immersiver VR-Lernumgebungen aus der Literatur ab und stellt eine Taxonomie vor, die anhand von drei Beispiel-Lernumgebungen veranschaulicht wird. Daraufhin werden Gemeinsamkeiten und Besonderheiten der Lernumgebungen besprochen und die Bedeutung ihrer zentralen Merkmale diskutiert. Die herausgearbeitete Taxonomie kann für die Beschreibung und den Vergleich von Lernumgebungen genutzt werden, Entwicklungsprozesse unterstützen und Forschenden neue Anregungen bieten. Schlüsselwörter: Virtuelle Realität, Instruktionsdesign, Gestaltungsmerkmale, Taxonomie Key Features of Immersive VR Learning Environments A Taxonomy Illustrated Based on Three Examples Abstract: Virtual Reality (VR) is gaining popularity and will increasingly play a greater role in train-
ing and development. This contribution derives key features of immersive VR learning environments from the literature and presents a taxonomy illustrated by three example learning environments. Then, the commonalities and peculiarities of the learning environments are reviewed, and the significance of their key features is discussed. The taxonomy can be used to describe and compare learning environments, support development processes, and provide researchers with new ideas. Keywords: Virtual reality, instructional design, design features, taxonomy
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Maximilian C. Fink / Volker Eisenlauer / Denis Frischbier / Bernhard Ertl
1 Einleitung
Virtual Reality (VR) bezeichnet „die Wahrnehmung in einer nicht-physischen Welt präsent zu sein“ (Freina & Ott, 2015, S. 133) sowie die Technologien selbst, die diese Wahrnehmung erzeugen (Kavanagh, Luxton-Reilly, Wuensche & Plimmer, 2017). VR wird in den nächsten Jahren für die berufliche Aus- und Weiterbildung immer mehr an Bedeutung gewinnen. Die Anzahl an Studien und wissenschaftlichen Publikationen, die sich mit dem Lernen in der VR beschäftigen, hat in der Vergangenheit stark zugenommen (Pellas, Dengel & Christopoulos, 2020) und dürfte ebenfalls weiter ansteigen. Es fällt jedoch auf, dass nur wenige Publikationen aus dem Bildungsbereich die Gestaltungsmerkmale von VR-Lernumgebungen differenziert bestimmen und untersuchen (Pellas, Mystakidis & Kazanidis, 2021; Radianti, Majchrzak, Fromm & Wohlgenannt, 2020). Eine nähere Bestimmung zentraler Merkmale von VR-Lernumgebungen bildet jedoch eine wichtige Grundlage für die Ermittlung von pädagogischdidaktischen Mehrwerten (Radianti et al., 2020). Sie kann einen theoretischen Beitrag leisten, wenn Aspekte von ihr in Literaturreviews, Metaanalysen und theoretische Modelle aufgenommen oder gezielt in längeren empirischen Studienprogrammen variiert werden. Darüber hinaus ist die Herausarbeitung von zentralen Merkmalen hilfreich für die Praxis, da sie den gezielten Vergleich von VR-Lernumgebungen ermöglichen und Entwicklungsprozesse unterstützen kann. Für die Aus- und Weiterbildung bietet immersive VR vielfältige Anwendungszwecke. Erstens können in der VR wichtige Arbeitstätigkeiten eingeübt werden, deren Schulung in der Aus- und Weiterbildung bisher mit einem hohen Planungs-, Ressourcen- und Personalaufwand verbunden ist (Schuster et al., 2016; Zinn, 2020). Zweitens können durch VR-Lernumgebungen relevante emotionale Erfahrungen gemacht werden, die sonst nur durch Exkursionen oder Praktika vermittelt werden können (Schuster et al., 2016). Drittens können VRLernumgebungen die Funktionsweise von (technischen) Systemen so abbilden, dass tiefgreifende Einsichten in Systemprozesse und -merkmale ermöglicht werden (Zinn, 2020). Hierbei können Systeme innerhalb der VR sogar in ihrer Komplexität reduziert und mit lehrreichem Material angereichert werden (Zinn, 2019). Außerdem können hierdurch vorbereitungs- oder kostenintensive Laborexperimente, die einen wichtigen Stellenwert in einigen Aus- und Weiterbildungsbereichen einnehmen, ersetzt oder ergänzt werden (Schuster et al., 2016). Im Folgenden wird zunächst auf VR als Technologie eingegangen, bevor zentrale Merkmale von VR-Lernumgebungen aus der Literatur abgeleitet und in einer Taxonomie zusammengetragen werden. Anschließend werden drei VR-Lernumgebungen anhand dieser Taxonomie vorgestellt. Im Resümee werden weitere wichtige Charakteristika diskutiert, die in ausführlichere Taxonomien der Merkmale von VR-Lernumgebungen aufgenommen werden können. Außerdem werden Implikationen der vorgestellten Taxonomie diskutiert.
Zentrale Merkmale immersiver VR-Lernumgebungen
1.1
VR als Technologie für Lern- und Bildungszwecke
VR wird als Technologie durch ein Zusammenspiel spezieller Hard- und Software ermöglicht. Auf der Hardwareseite lässt sich nicht-immersive VR von immersiver VR unterscheiden (Freina & Ott, 2015). Unter nicht-immersiver VR wird die Ausführung von VR-Applikationen auf einem Desktop-PC oder Laptop mit einem gewöhnlichen Bildschirm verstanden. Diese Art von VR ist typischerweise mit einer geringen Präsenzwahrnehmung verbunden. Als immersive VR werden zwei Arten von Hardwaresystemen bezeichnet: Cave Automatic Virtual Environments (CAVE) und VR-Brillen. Bei CAVE-Systemen werden mehrere Bildschirme und Bewegungstracker in einem Raum fest installiert, sodass sie den Betrachter umgeben. Diese Art von Hardware erzielt hohe Immersion, ist aber mit einem beträchtlichen Kosten- und Wartungsaufwand verbunden. In den letzten Jahren wurden bei der Entwicklung von VR-Brillen große technische Fortschritte erzielt. Zum einen sind heutzutage VR-Brillen mit besonders hochauflösenden Displays verfügbar, die kabelgebunden an einem leistungsstarken Rechner betrieben werden. Zum anderen gibt es bereits Standalone-VR-Brillen mit scharfen Displays, die über genaues Tracking ohne externe Bewegungstracker verfügen und durch ihre leistungsstarken Prozessoren und Grafikchips autark betrieben werden können. Da diese Standalone-VR-Brillen zudem immer leichter und komfortabler werden, ist damit zu rechnen, dass sie innerhalb der nächsten Jahre immer besser in Aus- und Weiterbildungskontexte integriert werden können. Als Software kommen auf den genannten VR-Hardwaresystemen für Lern- und Bildungszwecke insbesondere Simulationen, Serious Games, und 360-Grad-Lehrfilme zum Einsatz. Simulationen bezeichnen Software, in der Systeme oder Phänomene abgebildet werden, die durch Manipulation verändert werden können (Plass & Schwartz, 2014); hierdurch kann die Auswirkung von Prozessen oder Vorgängen betrachtet und nachvollzogen werden. Serious Games sind Computerspiele, die mit einem didaktischen Ziel erstellt und eingesetzt werden. Sie verfügen über spielerische Merkmale, wie Belohnungssysteme (Plass & Schwartz, 2014). Ebenso können 360-Grad-Lehrfilme, die aus sphärischen Videos bestehen, mit einem didaktischen Ziel erstellt und eingesetzt werden (Eisenlauer & Sosa, 2022). Die verschiedenen, genannten VR-Softwarearten, die Lern- und Bildungszwecke verfolgen, sollten als relativ grobe Kategorien verstanden werden. Der folgende Beitrag wird zeigen, dass in ihnen mehrere zentrale Merkmale enthalten sind, die stark variieren können. 1.2
Zentrale Merkmale von VR-Lernumgebungen
Als nächstes werden einige Begriffe beschrieben, die mit zentralen Merkmalen von VR-Lernumgebungen zu tun haben. Die Begriffe Designmerkmale, Designelemente, Design Features, Gestaltungsprinzipien und Gestaltungsmerkmale sind im Instructio-
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Maximilian C. Fink / Volker Eisenlauer / Denis Frischbier / Bernhard Ertl
nal Design, der Lehr-Lernforschung und der Mediendidaktik geläufig (z. B. McKenney & Reeves, 2019; Radianti et al., 2020). In diesen Kontexten werden sie genutzt, um die Natur und Essenz von computerbasierten Lernumgebungen genauer abzubilden. Der ähnliche Terminus pädagogische Affordanzen ist in der Mediendidaktik und den Bildungswissenschaften verbreitet. Unter pädagogischen Affordanzen werden wichtige Eigenschaften von Umwelten oder den darin enthaltenen Objekten verstanden, die bestimmte Nutzungsinteraktionen oder -erlebnisse ermöglichen (Dickey, 2003). Um zentrale Merkmale zu ermitteln, die VR-Lernumgebungen systematisch abbilden und dabei ihre Eigenheiten beachten, haben wir zwei Arten von Publikationen berücksichtigt: Texte, die sich auf computerbasierte Lernumgebungen beziehen, sowie Texte, die sich explizit mit VR-Lernumgebungen beschäftigen. In unsere Sichtung von zentralen Merkmalen gingen Metaanalysen, Literaturreviews, Theoriemodelle, technische Berichte sowie Texte aus dem Instructional Design und der Mediendidaktik ein. Im Folgenden werden inhaltliche, didaktische, entwicklungsmethodische und interaktive Merkmale beschrieben, die eine Taxonomie bilden (siehe Tab. 1) und in den später vorgestellten VR-Lernumgebungen variieren. Verweise auf Quellen, aus denen die vorgestellten Merkmale abgeleitet wurden, finden sich bei den Merkmalen selbst. 1.3
Inhaltliche Merkmale von VR-Lernumgebungen
Thema und Gegenstand stellen wichtige Merkmale von VR-Lernumgebungen dar. Das Thema beschreibt, welche Aspekte und Aufträge im Vordergrund der VR-Lernumgebung stehen (Cook et al., 2013; Huwendiek et al., 2009). Ein Beispiel für ein Thema wäre das Arzt-Patienten-Gespräch, das in einer medizinischen VR-Lernumgebung im Mittelpunkt stehen kann. Das genannte Thema weist bereits auf die Aufträge der Lernenden hin, diagnostisch tätig zu sein und mit dem Patienten zu kommunizieren. Bezüglich des Gegenstands können VR-Lernumgebungen zum einen Situationen abbilden und repräsentieren. Gerade in Domänen wie der Medizin werden berufliche Anforderungssituationen in ihrem Ablauf abgebildet. Hierfür werden diese Situationen durch sogenannte Szenarios näher bestimmt, welche die zeitlichen Verläufe, Handlungs- und Interaktionsmöglichkeiten, sowie Rollen für beteiligte (virtuelle) Personen spezifizieren (Holland, Sadler & Nunn, 2008). Zum anderen können VR-Applikationen auch Systeme abbilden und repräsentieren (Dörner, Broll, Jung, Grimm & Göbel, 2019). Simulierte Systeme finden sich insbesondere in VR-Applikationen für den MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik). In diesem Bereich nimmt die Abbildung technischer oder natürlicher Phänomene beziehungsweise das Experimentieren eine wichtige Rolle ein (Hofstein & Lunetta, 2004; Linn, 2003). Darüber hinaus können VR-Applikationen auch die Abbildung und Reprä sentation eines Objekts in den Mittelpunkt stellen (Dörner et al., 2019). Ein Bereich, in dem diesem Schwerpunkt eine große Bedeutung zukommt, ist zum Beispiel die
Zentrale Merkmale immersiver VR-Lernumgebungen
Architektur, in der die Betrachtung von Gebäuden und Landschaften aus verschiedenen Blickwinkeln wichtig ist. Komplexe Lernumgebungen können selbstverständlich mehrere der genannten Abbildungen und Repräsentationen von Gegenständen enthalten und miteinander vereinen. Ein weiteres wichtiges inhaltliches Merkmal sind die Stoffeigenschaften. Zuerst muss betrachtet werden, welchen Umfang der Stoff hat. Der Umfang des Stoffes kann beispielsweise in der Dauer der VR-Applikation oder der Anzahl der Textseiten der Stoffvorlage angegeben werden. Auch die Stoff- und Aufgabenschwierigkeit sollte berücksichtigt werden. Die Schwierigkeit konkreter Inhalte zu beschreiben ist kein einfaches Unterfangen. Sie ergibt sich im Zusammenspiel der Fähigkeiten der Lernenden (z. B. Vorwissen, Intelligenz, Motivation) und den vielfältigen Anforderungen, die Stoff und Kontext stellen (Bloom, 1976). Unter diese Anforderungen fallen Eigenschaften wie die Stoffmenge, Stoffkomplexität, Aufgabenstellungen, und das Prüfungsformat. Eine Angabe des Schwierigkeitsgrads durch die Entwickelnden der VR-Lernumgebung für eine bestimmte Zielgruppe kann eine sinnvolle erste Orientierung bieten, auch wenn sie nicht all diese Faktoren vollumfänglich und systematisch berücksichtigt und nicht auf empirischen Daten basiert. Darüber hinaus ist interessant, wie der Stoff gegliedert beziehungsweise strukturiert ist (Meyer, 2003). Da VR-Lernumgebungen auf verschiedenen didaktischen Rationalen basieren können (Luo, Li, Feng, Yang & Zuo, 2021), kann der Stoff unter anderem in thematische Einheiten, einzelne oder mehrere (Experimentier- und Beobachtungs-) Stationen, sowie einzelne oder mehrere zu bearbeitende Fälle untergliedert sein. Interessant ist hierbei auch, ob die Bestandteile des Stoffes aufeinander aufbauen oder voneinander unabhängig sind. Relevant sind Stoffeigenschaften wie Umfang, Schwierigkeit und Gliederung, weil sie auf Navigationsverhalten einwirken und kognitiv-affektive Lernprozesse beeinflussen könnten, die in Rahmenmodellen des Lernens in der VR (z. B. Makransky & Petersen, 2021) eine wichtige Rolle einnehmen. VR-Lernumgebungen werden außerdem beim Einsatz in der Praxis häufig durch begleitende Materialien ergänzt und strukturiert (Mulders, Buchner & Kerres, 2022). Zur Vor- und Nachbereitung kommen hierfür sogenannte Briefings, Tutorials und Debriefings zum Einsatz. In Briefings werden vorrangig die Lernziele und Aufgaben erläutert. Tutorials dienen zur Einführung in die Steuerung und zur Orientierung der Lernenden. Debriefings werden vor allem dazu genutzt, über die Leistung bei der Teilnahme zu reflektieren. In konkreten Aus- und Weiterbildungskontexten wäre es außerdem erstrebenswert, dass sowohl Sequenzpläne zur Planung zusammenhängender thematischer Einheiten als auch eine Planung für Einzelstunden vorliegen. Sequenzpläne und Planungen für Einzelstunden können weitere Aktivitäten des Lernens und Lehrens bestimmen und die Rolle und Funktion der VR-Lernumgebung in größeren Kontexten spezifizieren.
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Maximilian C. Fink / Volker Eisenlauer / Denis Frischbier / Bernhard Ertl
1.4
Didaktische Merkmale von VR-Lernumgebungen
Innerhalb der didaktischen Merkmale spielt das didaktische Rational eine zentrale Rolle. Mehrere Metaanalysen und Literaturreviews nehmen dieses Merkmal auf, welches die verfolgten pädagogischen Ansätze der Entwickelnden beschreibt (z. B. Luo et al., 2021; Radianti et al., 2020). Es ist davon auszugehen, dass das intendierte didaktische Rational kognitive und affektive Prozesse anstoßen und viele kleinere Entscheidungen im Entwicklungsprozess beeinflussen kann. Beispiele für ein didaktisches Rational sind entdeckendes Lernen sowie fallbasiertes Lernen. Auch pädagogische Ansätze und Modelle mit einem engeren VR-Bezug, wie der Verweis auf das Extended Model of Immersive Learning in Virtual Reality (Vogt, 2021), können hier angeführt werden. Aus diesen Beispielen wird bereits ersichtlich, dass sich das didaktische Rational auf übergreifende Sammelbegriffe und einzelne Theorien mit weiterem oder engerem VR-Bezug richten kann. Beim gleichzeitigen Bestehen von mehreren didaktischen Rationalen empfiehlt es sich jedoch, diese einzeln zu nennen, um eine klare Beschreibung zu erreichen. Lernziele spielen bei der Erstellung und Planung von VR-Lernumgebungen ebenfalls eine wichtige Rolle. Bloom et al. (1956) unterscheiden in einer bekannten Taxonomie zwischen den sechs kognitiven Lernzielen Wissen, Verstehen, Anwendung, Analyse, Synthese und Evaluation. Zusätzlich zu diesen kognitiven Lernzielen können die affektiven Lernziele in VR-Lernumgebungen auch mit Taxonomien beschrieben werden (Krathwohl, Bloom & Masia, 1964). Bei der vergleichenden Beschreibung von VR-Lernumgebungen in Literaturreviews werden Lernziele aber häufig nicht anhand detaillierter Taxonomien angegeben, sondern mit breiteren, allgemein-verständlichen Begriffen benannt (Kavanagh, Luxton-Reilly, Wuensche & Plimmer, 2017; Radianti et al., 2020). Beispielsweise stellen einige VRLernumgebungen Wissensvermittlung in den Vordergrund, während andere einen Schwerpunkt auf emotional-motivationale Förderung oder die Förderung kommunikativer Kompetenzen legen (Kavanagh et al., 2017; Radianti et al., 2020). Neben den beschriebenen Merkmalen sind in VR-Lernumgebungen auch Unterstützungsmaßnahmen eingebettet (Luo et al., 2021; Vogt, 2021). Diese Unterstützungsmaßnahmen wirken als Scaffolding und ermöglichen den Lernenden die erfolgreiche Bewältigung anspruchsvoller Aufgaben (Wood, Bruner & Ross, 1976): Sie vereinfachen die Schwierigkeit von Aufgaben so, dass Lernende die gesamte Aufgabe ausführen können, und lenken die Aufmerksamkeit auf relevante Aufgabenmerkmale oder -inhalte, die die Bearbeitung erleichtern (Reiser, 2004). Prompts und Feedback können als Ausprägungsbeispiele solcher Unterstützungsmaßnahmen gesehen werden (Belland, 2014). Zudem können Lernumgebungen den Einsatz bestimmter Lernstrategien anregen (Mulders, Buchner & Kerres, 2020). So können bestimmte generative Strategien induziert werden, indem Aufgaben zu einer tieferen Auseinandersetzung mit dem Lernstoff gestellt oder Lernprodukte erstellt werden (Fiorella & Mayer, 2016). Ein Beispiel hierfür ist das Verfassen kurzer mündlicher Zusammenfassungen, das in VR-Lernum-
Zentrale Merkmale immersiver VR-Lernumgebungen
gebungen integriert werden kann (Mulders et al., 2020). Die Betrachtung explizit- angeregter Lernstrategien ist auch deshalb interessant und vielversprechend, da viele klassische Lernstrategien in VR-Lernumgebungen durch das Tragen einer VR-Brille nur eingeschränkt oder gar nicht möglich sind. 1.5
Entwicklungsmethodische Merkmale von VR-Lernumgebungen
Ein wichtiges entwicklungsmethodisches Merkmal liegt in der Entwicklungsart, mit der die technische und konzeptionelle Entwicklung der Software stattfindet. Erstens kann es dazu kommen, dass keine Entwicklung stattfindet. So existieren für einige Themen bereits professionelle Serious VR Games oder Simulationen. Solche Applikationen könnten für bestimmte Zwecke in der Aus- und Weiterbildung ohne Anpassung verwendet werden. Zweitens kann eine Eigenentwicklung stattfinden. Die technische und konzeptionelle Entwicklung wird dann von Personen geleistet, die am Einsatz der VR-Lernumgebungen in der Praxis beteiligt sind. Drittens kann eine Fremdentwicklung erfolgen. Hierbei steuern die am Einsatz der VR-Lernumgebung beteiligten Personen häufig inhaltliches Wissen bei und helfen bei der Planung. Die technische Entwicklung findet dann durch externe Partner statt. Das Entwicklungsvorgehen muss ebenfalls betrachtet werden. Eine Möglichkeit VR-Applikationen zu entwickeln, liegt in der Modifizierung vorhandener Software. Hierbei werden zum Beispiel Texturen oder Objekte in Lernumgebungen eingesetzt, oder Level selbst gestaltet (de Freitas, 2006). Auch durch die Nutzung von Videoschnittprogrammen und Autorentools können VR-Lernumgebungen erstellt werden. Videoschnittprogramme wie Adobe Premier Pro ermöglichen es aus 360-Grad-Einzelvideos zusammenhängende Filme zu erstellen und Inhalte, wie visuelle Hervorhebungen, in diese einzufügen. Autorentools erlauben eine schnelle und komfortable Entwicklung von VR-Lernumgebungen ohne zu programmieren. Diese Programme stellen Standardfunktionen, wie die räumliche Navigation durch Teleportation, bereit und erlauben kleinere Anpassungen über einen Editor. Ein bekanntes Autorentool für die Erstellung von 360-Grad-Video-Touren ist 3DVista Für die Erstellung von VR-Applikationen, die Computerspielen ähneln und aus 3D-Leveln bestehen, ist Mozilla Hubs ein bekanntes Autorentool. Darüber hinaus können VR-Applikationen auch durch Programmierung mit Game Engines entwickelt werden. Der Vorteil von Game Engines liegt darin, dass System-Simulationen und individuelle Anpassungen möglich sind. Der Nachteil von Game Engines besteht darin, dass die Entwicklung relativ viel Zeit und tiefergehende Kenntnisse erfordert. Die verbreitetsten Game Engines für die Erstellung von VR-Applikationen sind aktuell die Unreal Engine und die Unity Engine. Für beide Game Engines gibt es Bibliotheken, Pakete und Add-ons, die die Entwicklung erleichtern. Auch die Art der Objekte in der Lernumgebung kann sich zwischen VR-Lernumgebungen unterscheiden. Je nach gewähltem technischem Vorgehen kommen hier 360-Grad-Videos, mit Grafikpro-
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Maximilian C. Fink / Volker Eisenlauer / Denis Frischbier / Bernhard Ertl
grammen erstellte 3D-Modelle, und durch Photogrammmetrie sowie Laserscanning erstellte 3D-Modelle vor. Unter 360-Grad-Videos werden sphärische Videos verstanden. Diese Art von Videos kann für Aus- und Weiterbildungskontexte erzeugt werden, indem Handlungen und Situationen basierend auf didaktischen Überlegungen gezielt ausgewählt werden und dann Drehbücher erstellt werden. Anschließend werden die Videos mit Schauspielern, Komparsen und Requisiten verfilmt und geschnitten (Eisenlauer & Sosa, 2022). Durch Grafikprogramme erstellte 3D-Modelle finden sich in vielen Serious VR Games und Simulationen. Für die Erstellung dieser Objekte kommt Software wie blender zum Einsatz, mit der 3D-Gittermodelle, Texturen und Animationen erstellt werden. Durch Photogrammetrie und Laserscanning werden 3D-Objekte automatisch aus Sensordaten von Kameras beziehungsweise Laserscannern erzeugt. Computerprogramme wie RealityCapture ermitteln dann mit Algorithmen die Übereinstimmungen verschiedener Aufnahmen und erzeugen ein kohärentes 3D-Modell. Die hierbei erzeugten 3D-Gittermodelle und -texturen versprechen einen hohen Grad an Realitätstreue und Authentizität (Nebel, Beege, Schneider & Rey, 2020) und werden in den nächsten Jahren immer mehr Eingang in VR-Lernumgebungen finden (Fink, Sosa, Eisenlauer & Ertl, 2023). 1.6
Interaktive Merkmale von VR-Lernumgebungen
Ein wichtiges interaktives Merkmal ist die Bearbeitungsart. In dieser Hinsicht muss zwischen einem individuellen und kollaborativen Bearbeitungsmodus unterschieden werden. Bei einer individuellen Bearbeitung nehmen einzelne Lernende an der VRApplikation teil, bei einer kollaborativen Bearbeitung mehrere. Diese Unterscheidung der Bearbeitungsmodi hat große Relevanz, da beim kollaborativen computerunterstützten Lernen zusätzliche und andere Lernprozesse, wie der Austausch von Informationen, auftreten, die beim individuellen Lernen nicht anzutreffen sind (Vogel & Fischer, 2020). In (kollaborativen) Bearbeitungssituationen können zudem verschiedene Zielstrukturen vorherrschen (Deutsch, 2011). Ist die Zielerreichung der Lernenden voneinander unabhängig, liegt eine individualistische Zielstruktur vor. Wenn alle Lernenden die Möglichkeit haben ein Ziel zu erreichen, und sich hierbei unterstützen können, spricht man von einer kooperierenden Zielstruktur (Deutsch, 2011). Ähnlich dazu ist die kollaborative Zielstruktur, bei der eine gleichzeitige Zusammenarbeit zur Zielerreichung notwendig ist. Kann hingegen nur ein Teil der Lernenden ein Ziel erreichen, ist von einer kompetitiven Zielstruktur die Rede (Deutsch, 2011). Diese Zielstrukturen beeinflussen maßgeblich Zusammenarbeitsprozesse, aber auch Emotionen der Lernenden. Auch die Interaktionspartner in den VR-Lernumgebungen müssen näher betrachtet werden. Individuelle Lernumgebungen können – aber müssen nicht – einen großen Fokus auf die Betrachtung von Objekten oder Systemen legen. In solchen Fällen kann es sein, dass Lernumgebungen keine Partner enthalten.
Zentrale Merkmale immersiver VR-Lernumgebungen
Zudem können individuelle und kollaborative Lernumgebungen virtuelle Agenten enthalten (Merchant, Goetz, Cifuentes, Keeney-Kennicutt & Davis, 2014). Diese virtuellen Agenten können unter Verwendung von Avataren oder Videoclips Personen und ihre Handlungen simulieren. In kollaborativen Lernumgebungen können zudem Personen eingebunden sein. Hierbei ist es möglich, dass die Personen im Sinne eines Multiplayer-Modus gemeinsam an der Bearbeitung von Aufgaben teilnehmen, oder – zum Beispiel per Videochat – miteinander kommunizieren. Eine weiteres interaktives Merkmal ist die räumliche Navigation (Schmeil, Eppler & de Freitas, 2012). Es gibt VR-Lernumgebungen, in denen eine limitierte räumliche Navigation möglich ist. Ein Beispiel hierfür sind 360-Grad-Lehrfilme, die mit einer VR-Brille dargeboten werden und ohne umfangreichere Nutzerinteraktionen abgespielt werden. Teilnehmende können sich hier nicht an andere Orte fortbewegen, aber ihre eigene Perspektive am aktuellen Ort verändern. Ein anderes Beispiel hierfür sind VR-Applikationen, in denen 3D-Modelle und Animationen betrachten werden, ohne dass sich Teilnehmende räumlich fortbewegen. Darüber hinaus kann die limitierte räumliche Navigation (temporär) vorliegen, wenn Videoclips und Zwischensequenzen gezeigt werden. In anderen VR-Lernumgebungen findet eine räumliche Navigation durch Teleportation oder eine Auswahl über Menüs statt. In diesen VR-Lernumgebungen kann an eine determinierte, aber eingeschränkte Auswahl an Orten navigiert werden. Wieder andere VR-Lernumgebungen ermöglichen eine Navigation durch freies Bewegen (Schmeil et al., 2012). Das freie Bewegen im Raum kann zu mehr Simulationsübelkeit führen als die anderen Navigationsmöglichkeiten, erlaubt es aber an viele Orte in der Lernumgebung zu gelangen und diese aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Als letztes muss die inhaltliche Navigation als interaktives Merkmal genauer angesehen werden (Huwendiek et al., 2009). Unter diesem Begriff werden die inhaltlichen Pfade durch die Lernumgebung verstanden. Eine lineare Navigation erlaubt es Nutzenden sich entlang eines Pfades von Inhalten in einer vorgegebenen Reihenfolge zu bewegen. Rückwärtsbewegungen können hierbei zum Teil eingeschränkt werden. Am Ende des Pfades befindet sich ein fixer Endpunkt, der besucht werden soll. Eine verzweigende Navigation gestattet es Nutzenden, sich an bestimmten oder allen Punkten frei von Punkt zu Punkt zu begeben. Obwohl es eine größere Freiheit als bei der linearen Navigation gibt, können Pfade auch durch getätigte Eingaben, Systemzustände oder die Bearbeitungszeit eingeschränkt werden. Am Ende der verzweigenden Navigation können mehrere, unterschiedliche Endpunkte stehen. Natürlich kann es in VR-Lernumgebungen auch zu Mischformen dieser Navigationsarten kommen. Beispielsweise kann in einem Abschnitt einer VR-Lernumgebung eine lineare Navigation, in einem anderen Abschnitt aber eine verzweigende Navigation vorliegen.
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Tab. 1 Taxonomie der zentralen Merkmale von VR-Lernumgebungen Merkmal
Definition
Ausprägungen und Beispiele
Inhaltliche Merkmale Thema und Gegenstand
Beschreibung des Themas und des Gegenstandes, der im Mittelpunkt der VR-Lernumgebung steht.
– Beschreibung des Themas – Arzt-Patienten-Gespräch – Gegenstand – Situation – Objekt – System
Stoffeigenschaften
Umfang, Schwierigkeit und Glie derung des Stoffes.
– Stoffumfang – Dauer – Textseiten der Stoffvorlage – Stoff- und Aufgabenschwierigkeit für die Zielgruppe – Stoffgliederung – Einheiten – Stationen – Fälle
Begleitende Materialien
Vor- und Nachbereitungsinhalte, die zusätzlich zur VR-Lernumgebung bei der Nutzung zum Einsatz kommen sowie Materialien, die den Einsatz strukturieren.
– Briefing – Tutorial – Debriefing – Planungen für Einzelstunden – Sequenzpläne
Didaktische Merkmale Didaktisches Rational
Pädagogische Ansätze, auf die sich die Entwickelnden berufen und die die Entwicklungsentscheidungen beeinflussten.
– Entdeckendes Lernen – Fallbasiertes Lernen – Extended Model of Immersive Learning in Virtual Reality
Lernziele
Für die Zielgruppe angestrebte Veränderungen nach der Teilnahme an der VR-Lernumgebung.
– Wissensvermittlung – Emotional-motivationale Förderung – Förderung kommunikativer Kompetenzen
Unterstützungsmaßnahmen und Anregung von Lernstrategien
Scaffoldingmaßnahmen sowie Maßnahmen zur gezielten Anregung bestimmter Lernstrategien.
– Scaffoldingmaßnahmen – Prompts – Feedback – Anregung von Lernstrategien – Mündliche Zusammenfassungen
Zentrale Merkmale immersiver VR-Lernumgebungen
Merkmal
Definition
Ausprägungen und Beispiele
Entwicklungsmethodische Merkmale Entwicklungsart
Art der technischen und konzeptionellen Entwicklung der VR-Lernumgebung.
– Keine Entwicklung – Eigenentwicklung – Fremdentwicklung
Entwicklungs vorgehen
Eingesetztes Vorgehen zur Entwicklung der VR-Lernumgebung.
– Modifizierung vorhandener Software – Nutzung eines Videoschnittprogramms – Nutzung eines Autorentools – Programmierung mit einer Game Engine
Art der Objekte in der Lern umgebung
Art der in der Lernumgebung enthaltenen Objekte unter Einbeziehung des wählten technischen Vorgehens.
– 360-Grad-Videos – Durch Grafikprogramme erstellte 3D-Modelle – Durch Photogrammetrie erstellte 3D-Modelle – Durch Laserscanning erstellte 3D-Modelle
Interaktive Merkmale Bearbeitungsart
Bearbeitungsmodus, Zielstruktur, sowie Interaktionspartner.
– Bearbeitungsmodus – Individuell – Kollaborativ – Zielstruktur – Individualistisch – Kooperativ – Kollaborativ – Kompetitiv – Interaktionspartner – Keine Partner – Virtuelle Agenten – Personen
Räumliche Navigation
Räumliche Fortbewegung in der Lernumgebung.
– Limitierte räumliche Navigation – Navigation durch Teleportation/ Menüs – Navigation durch freies Bewegen
Inhaltliche Navigation
Inhaltlich Pfade durch die Lernumgebung.
– Lineare Navigation – Verzweigende Navigation
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Veranschaulichung ausgewählter Lernumgebungen
Im Folgenden werden drei ausgewählte Lernumgebungen anhand der geschilderten inhaltlichen, didaktischen, entwicklungsmethodischen und interaktiven Merkmale dargestellt.
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2.1 VR-Kläranlage
Kläranlagen dienen zur Wiederaufbereitung von Abwasser und sind daher ein integraler Teil der kritischen Infrastruktur. Für diesen Teil der kritischen Infrastruktur werden Ingenieurinnen und Ingenieure mit einer Spezialisierung auf Wasserwesen sowie Fachkräfte für Abwassertechnik ausgebildet. Die praxisnahe Ausbildung beider Personengruppen steht vor der Herausforderung, dass Besuche auf echten Kläranlagen nur schwer in den Studien- oder Berufsalltag integrierbar sind. Dazu kommt, dass Kläranlagen nicht ohne weiteres in kritische Zustände wie Störfälle versetzt werden können, ohne ihren regulären Betriebsablauf zu beeinträchtigen (Chalupczok et al., 2021). Vor diesem Hintergrund entwickeln wir derzeit eine VR-Kläranlage für Studierende der Umweltingenieurswissenschaften und Betriebspersonal, die für Lehr-, Forschungs-, und Fortbildungszwecke gedacht ist. 2.1.1
Inhaltliche Merkmale
Die VR-Kläranlage beschäftigt sich thematisch mit dem Aufbau konventioneller Kläranlagen und den Vorgängen und Reinigungsverfahren bei der Abwasserbehandlung. Teilnehmende begeben sich auf eine virtuelle Führung, auf der sie dem Weg des Abwassers über mehrere, ausgewählte Becken folgen (siehe Abb. 1 – A). Bei dieser Führung werden das Gelände und die Anlagen der Kläranlage genau dargestellt. Da nicht näher auf Systemzustände der Kläranlage eingegangen wird, kommt es zu einer Abbildung und Repräsentation von Objekten. Die Dauer der VR-Kläranlage beträgt eine fixe Zeit von ca. 30 Minuten. Aus diesem Grund werden als Stoff nur sorgfältig ausgewählte Inhalte aus einer Einführungsvorlesung zum Wasserwesen behandelt. Die Stoff- und Aufgabenschwierigkeit ist für die Zielgruppe von Studierenden der Umweltingenieurswissenschaften und Betriebspersonal als gering anzusehen. Die Aufgabe besteht darin, die verschiedenen Becken zu betrachten und Wissen darüber zu erwerben. Untergliedert wird der Stoff in der VR-Lernumgebung in Stationen, die als Anlagen der Kläranlage unterschiedliche Funktionen erfüllen. Als begleitende Materialien kommen ein Briefing inklusive fachlicher Vorbereitung, ein Tutorial zur Bedienung und ein Debriefing zur Reflexion zum Einsatz. Hierdurch wird die VRKläranlage in eine Sitzung eingebettet, die einer echten Exkursion im Aus- und Weiterbildungskontext nahekommt. 2.1.2
Didaktische Merkmale
Das didaktisches Rational der VR-Kläranlage ist der virtual field trip. Bei einem virtual field trip wird eine virtuelle Exkursion unternommen, bei der Lernende verschiedene
Zentrale Merkmale immersiver VR-Lernumgebungen
Stationen besuchen, Erläuterungen erhalten und Anschauungsobjekte oder -materia lien betrachten (Woerner, 1999). Darüber hinaus basiert die VR-Kläranlage auf Annahmen des Extended Model of Immersive Learning in Virtual Reality (Vogt, 2021), nach dem Scaffolding durch Visualisierungen effektive kognitive Lernprozesse anregt. Als Visualisierungen kommen sogenannte Annotationen zum Einsatz, bei denen Grafiken durch textuelle Hinweise, die unter anderem die Orientierung verbessern, leichter verständlich gemacht werden (Vogt, 2021). Unterstützt werden Teilnehmende bei der Bearbeitung auch durch ein Quiz aus Single-Choice-Fragen, Lückentexte sowie die Aufnahme eigener mündlicher Zusammenfassungen. Diese Unterstützungsmaßnahmen werden auf einer interaktiven Konsole am Ende der Stationen zur Verständnisüberprüfung angezeigt (siehe Abb. 1 – B). Ausgewählt wurden die Unterstützungsmaßnahmen vorrangig, weil sie die effektive Lernstrategie sich selbst zu testen (Dunlosky, Rawson, Marsh, Nathan & Willingham, 2013) anregen und zu einer höheren Aktivierung der Teilnehmenden beitragen können. 2.1.3
Entwicklungsmethodische Merkmale
Die VR-Kläranlage ist eine Eigenentwicklung durch ein Team an Bildungswissenschaftlern mit VR-Schwerpunkt sowie einer Professur für Siedlungswasserwirtschaft und Abfalltechnik. Das Team an Bildungswissenschaftlern führte die technische Entwicklung durch, die fachlichen Inhalte wurden von der Professur für Siedlungswasserwirtschaft und Abfalltechnik ausgearbeitet. Didaktische Entscheidungen wurden gemeinsam getroffen. Als Entwicklungsvorgehen wurde die Programmierung mit einer Game Engine gewählt. Konkret wurde die Game Engine Unity genutzt um 360-Grad-Videos abzuspielen, Nutzungshandlungen zu erfassen, und um eine Konsole in die 360-Grad-Videos einzufügen. Mithilfe der Konsole können Teilnehmende Fragen stellen, die dann durch die Wiedergabe von Audiodateien und Einblendungen von Grafiken und Texten beantwortet werden. In der Lernumgebung finden sich als Objekte hauptsächlich 360-Grad-Videos. Diese sphärischen Videos wurden mit einer speziellen Kamera (Insta 360 One X) an den verschiedenen Becken der Kläranlage aufgenommen und im Videoschnitt mit zusätzlichen Tonaufnahmen der Beckengeräusche zusammengefügt. 2.1.4
Interaktive Merkmale
Bearbeitet wird die VR-Kläranlage individuell. Es herrscht eine individualistische Zielstruktur vor, bei der Teilnehmende unabhängig von Anderen ihre Ziele erreichen können. Interaktionspartner sind in der VR-Kläranlage nicht vorhanden. Räumlich navigiert wird über ein Menü. Hierbei kommt ein Laserpointer zum Einsatz, mit dem
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Auswahlen getroffen werden. Die Orte, die über das Menü besucht werden können, sind durch die aufgenommenen und verfügbaren 360-Grad-Videos bestimmt. An den einzelnen Stationen kann jedoch der Blick geschwenkt werden. Die inhaltliche Navigation verläuft linear, da Teilnehmende von ihrer aktuellen Station zur vorherigen und zur nächsten springen können. Diese lineare Navigation wurde ausgewählt, da Teilnehmende dem Pfad des Abwassers von Becken zu Becken folgen sollen. 2.1.5
Erkenntnisse aus der Entwicklung und Implementierung
Der Entwicklungsprozess zeigte auf, dass mithilfe von 360-Grad-Videos große Anlagen, auf denen die Bewegung von Anlagenteilen eine Rolle spielt, detailgetreu und komfortabel digitalisiert werden können. Die Game Engine Unity ermöglichte es, die erstellten 360-Grad-Videos in ihrer Interaktivität anzureichern. Unter Einbindung einer Konsole wurden Inhalte und Materialien in die Lernumgebung integriert, die zum Zeitpunkt der Aufnahme der 360-Grad-Videos noch nicht zur Verfügung standen. Alles in allem war die Entwicklung mit einem hohen Aufwand verbunden. Erste Erkenntnisse zur Implementierung können ebenfalls berichtet werden. Die VR-Kläranlage läuft flüssig auf Standalone-VR-Brillen und soll bald in einer Forschungsstudie untersucht werden. Anschließend soll sie zur zeitlich flexiblen Nutzung in einem Lernlabor für Wasserbauingenieurinnen und -ingenieure zur Verfügung gestellt werden (Abb. 1). 2.2
VR-FipS – Führung in praxisorientierten Situationen
Das kompetente und selbstbewusste Führen einer Gruppe in risikoreichen Situationen zählt in den deutschen Streitkräften als Kernstück militärischer Führungstätigkeit. Die Gruppenführerin oder der Gruppenführer erteilt Handlungsanweisungen, welchen die unterstellten Soldatinnen und Soldaten für eine erfolgreiche Auftragserfüllung Folge zu leisten haben. In der regulären Ausbildung trainieren angehende Führungskräfte diese Kompetenzen und sammeln gleichzeitig Erfahrungen in unübersichtlichen und sich plötzlich verändernden militärischen Lagen. Das erstmalige Agieren als Gruppenführerin oder Gruppenführer verursacht unter den zukünftigen Entscheidungsträgern häufig Nervosität, Anspannung und Unsicherheit. Unter Zeitdruck werden diese Affekte verstärkt. Die Anwendung „VR-FipS – Führung in praxisorientierten Situationen“ greift diese Problematiken auf. Die auszubildenden Soldatinnen und Soldaten erleben mittels einer VR-Lernumgebung, die auf 360-Grad-Videos basiert, die üblichen Abläufe von militärischen Übungsszenarien und partizipieren an verschiedenen Phasen der Ausbildung. Das Durchlaufen der einzelnen Ausbildungsphasen in einer virtuellen Lernumgebung gibt den angehenden Führungskräften die
Zentrale Merkmale immersiver VR-Lernumgebungen
Abb. 1 Überblick zur VR-Kläranlage
Gelegenheit, authentische militärische Übungen nachzuerleben und ihre Reaktionen auf führungstypische Impulse zu reflektieren. 2.2.1
Inhaltliche Merkmale
In der Lernumgebung VR-FipS werden als Thema Handlungsabläufe militärischer Führungsprozesse behandelt. Die Nutzenden partizipieren an einem exemplarisch demonstrierten Ablauf einer militärischen Übungslage von der Einweisung in das Gelände über plötzliche Auftragsänderungen bis zur Versorgung von Verletzten. Somit kommt es zu einer Abbildung und Repräsentation von mehreren Situationen. Bezüg-
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lich des Stoffes wurden zentrale Schemata und Handlungseinheiten aus jeder Ausbildungsphase ausgewählt und anschließend zur Konstruktion der Lernumgebung auf insgesamt sieben Minuten gekürzt. VR-FipS besteht aus den folgenden vier Stationen (siehe Abb. 2 – A): 1. das Camp der Einsatzgruppen, in welchem die Gruppenführerin oder der Gruppenführer Soldatinnen und Soldaten in die Aufträge einweist, 2. Die Auftragsänderung aufgrund eines erneuten Funkspruchs, 3. die Hubschrauber- Absturzstelle, die das Bergen eines verunglückten Piloten thematisiert, und 4. die Versorgung verletzter Personen. Die Aufgabe besteht zum einen darin, die verschiedenen Ausbildungsphasen zu betrachten und sich in die militärischen Führungssituationen hineinzuversetzen (geringe Aufgabenschwierigkeit). Zum anderen geht es bei wiederholter Betrachtung darum, Handlungsmuster zu erkennen und zu internalisieren, um diese auf neue Kontexte zu übertragen (mittlere Aufgabenschwierigkeit). Begleitende Materialien, wie Tutorials, liegen derzeit nicht vor. 2.2.2
Didaktische Merkmale
Das didaktische Rational von VR-FipS ist eine realistische und an Lernenden orientierte Vorbereitung auf militärische Übungslagen. In Anlehnung an die pädagogischdidaktische Methode des entdeckenden Lernens (Bruner, 1976) üben die Nutzenden durch die visuellen und auditorischen Stimuli das Wahrnehmen und Identifizieren in Einsatzsituationen: Sie verstehen die typischen Muster von militärischen Anwendungsbereichen und erwerben Handlungskompetenzen. Darüber hinaus sollten die Soldatinnen und Soldaten im Sinne des Modelllernens (Bandura, 1979) einen Führungsprozess exemplarisch als sphärische Lernumgebung erleben können. Hierdurch sollten gerade unerfahrene Soldatinnen und Soldaten langsam mit dem Führen von Unterstellten vertraut gemacht werden. Lernziel von VR-FipS ist die Vermittlung militärischer Schemata sowie die Aneignung spezifischer Verhaltensmuster in unübersichtlichen Lagen. Der emotional-motvationalen Förderung entsprechend werden durch die Exploration authentischer und bedeutsamer Situationen Gefühlsregungen stimuliert. Momentan sind keine Unterstützungsmaßnahmen wie Visualisierungen bzw. visual prompts in der Lernumgebung enthalten. Lernstrategien werden ebenfalls nicht bewusst angeregt. 2.2.3
Entwicklungsmethodische Merkmale
VR-FipS ist eine Eigenentwicklung von Bildungswissenschaftlern mit dem Forschungsschwerpunkt von 360-Grad-Medien in Kooperation mit einem militärischen Ausbildungsstandort. Die technischen und didaktischen Entscheidungen wurden von der akademischen Seite getroffen, während die Choreografie der Handlungssituatio-
Zentrale Merkmale immersiver VR-Lernumgebungen
nen und der zugehörigen Inhalte gemeinsam mit einem Ausbilder konzipiert wurde. Zur Nachbearbeitung der 360-Grad-Aufnahmen wurden die Videoschnittprogramme Adobe Photoshop und Premiere Pro genutzt. Photoshop diente dem Retuschieren des Stativs als auch der Korrektur und Adaption der Bildqualität und Farbgestaltung. Adobe Premiere Pro wurde verwendet, um die Videosequenzen der einzelnen Stationen zu bearbeiten, zu verkürzen und einen linearen Zusammenhang der Stationen zu entwerfen. Die Objekte in der Lernumgebung sind 360-Grad-Videos, die mit einer Insta 360 One X Kamera an den verschiedenen Stationen aufgenommen wurden. Fundamental war die Positionierung der Kamera. Hierbei beachteten die Entwickelnden folgende Maxime omnisphärischer Inszenierungen (Eisenlauer & Sosa, 2022; Feyder & Rath-Wiggins, 2018; Wohl, 2019): 1. Die Stitching-Linie darf sich nicht über die zentralen Handlungen erstrecken, 2. Die Höhe der Kamera muss möglichst mit der Augenlinie der Rezipienten übereinstimmen, 3. Über subtile Hinweise bzw. Signale werden Nutzenden Bezugspunkte suggeriert, 4. Periphere Handlungen steigern die Authentizität der 360-Grad-Aufnahmen. Angezeigt wird die Lernumgebung auf einer VR-Brille (siehe Abb. 2 – B). 2.2.4
Interaktive Merkmale
VR-FipS wird individuell bearbeitet. Hierbei können die Teilnehmenden ihre Ziele im Sinne einer individualistischen Zielstruktur unabhängig von anderen Personen oder deren Bearbeitungen erfüllen. Partner sind in der VR-Lernumgebung als 360-GradAufnahmen von Schauspielern vorhanden, auch wenn nicht direkt mit ihnen interagiert werden kann. Aufgrund der Umsetzung als 360-Grad-Film erfolgte eine limitierte räumliche Navigation. Die Teilnehmenden durchlaufen die verschiedenen Phasen der militärischen Übung in einer vorgegebenen Abfolge an verschiedenen Orten. Durch Kopfbewegungen können sie individuell zwischen verschiedenen Blickrichtungen in der Umgebung wechseln. Inhaltlich kann die Navigation als linear betrachtet werden, da es nur einen vorgegebenen und vorstrukturierten Pfad durch die Lernumgebung gibt, durch den verschiedene Inhalte präsentiert werden. 2.2.5
Erkenntnisse aus der Entwicklung und Implementierung
Die Entwicklung und Implementierung offenbaren nützliche Zugänge sphärischer Umgebungen für praktische Ausbildungen. 360-Grad-Film basierte Lernumgebungen können eine ortsunabhängige und kostengünstige Ergänzung theoretischer Ausbildungsabschnitte sein. Wie die Entwicklung von VR-FipS gezeigt hat, ist ein vertieftes Verständnis der Technik sowie der jeweiligen Produktions- und Rezeptionsbedingungen grundlegend, um authentische immersive Lernerfahrungen zu ermöglichen. Die
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Konstruktion von VR-FipS ist ein Anstoß zur Implementierung VR gestützter Systeme in deutschen Streitkräften und soll nach derzeit angestrebten Weiterentwicklungen umfassend evaluiert werden und anschließend Soldatinnen und Soldaten in der Ausbildung zur Verfügung stehen.
Abb. 2 Überblick zu VR-FipS
Zentrale Merkmale immersiver VR-Lernumgebungen
2.3 VR-Eisenbahnbrücke
Studierende des Bauingenieurswesens erwerben in Fächern wie Massiv- oder Stahlbau Kenntnisse zur Brückenplanung und -konstruktion. In diesen Fächern besteht das Problem, dass Bauwerke nur schwer in der Lehre zugänglich gemacht werden können. Zeichnungen und Fotos werden eingesetzt, um Wissen zu vermitteln und das Verständnis zu schulen, bilden die Komplexität von Bauwerken aber nicht vollumfänglich und aus allen wichtigen Perspektiven ab. Vorhandene 3D-Modelle, die sich im Internet finden, basieren häufig nicht auf Bauplänen oder echten Strukturen und sind somit für die Lehre nicht sinnvoll nutzbar. In Anbetracht dieser Situation wurde eine VR-Eisenbahnbrücke erstellt, in der das Bauwerk aus dem Hörsaal besucht und aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden kann. Gleichzeitig strebte das Projekt die Erprobung und Nutzbarmachung von Laserscanning-Verfahren zur Objektdigitalisierung an, damit 3D-Modelle mit realen Maßen und Strukturen in die Lernumgebung aufgenommen werden können. Die aktuelle Lernumgebung setzt einen Forschungsschwerpunkt und richtet sich an Studierende der Bildungswissenschaften und Psychologie. Anhand dieser Zielgruppe werden Themen wie Authentizitätswahrnehmung, Interessenerwerb und Usability untersucht (Fink et al., 2023). In Zukunft soll die Lernumgebung so modifiziert werden, dass sie auch für die Ausbildung der Studierenden des Bauingenieurswesens genutzt werden kann. 2.3.1
Inhaltliche Merkmale
Hauptthema der VR-Eisenbahnbrücke sind Aufbau und Eigenschaften von Brückenbauwerken. Darüber hinaus soll ein Brückenbauwerk aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Gegenstand der Lernumgebung ist folglich die Abbildung und Repräsentation eines Objekts. Die Lernumgebung hat eine fixe Dauer von sieben Minuten. Der Umfang des Stoffes ist relativ gering. Konkret werden Baupläne der Brücke sowie grundlegende Eigenschaften von Brücken, wie das verwendete Baumaterial und die Tragfähigkeit, vermittelt. Diese Materialien haben eine Textlänge von wenigen Folien. Die Stoff- und Aufgabenschwierigkeit ist für die Zielgruppe als gering bis mittel anzusehen, da vereinfachte fachfremde Inhalte betrachtet werden. Untergliedert ist die VR-Eisenbahnbrücke in verschiedene Stationen, die thematisch unabhängigen Einheiten entsprechen. Als begleitendes Material kommt ein virtuelles Tutorial zum Einsatz, in dem sich Teilnehmende mit der Steuerung vertraut machen. Weitere begleitende Materialien, wie Briefings und Debriefings, liegen nicht vor.
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2.3.2
Didaktische Merkmale
Das zugrunde liegende didaktische Rational der Lernumgebung ist der virtual field trip (Woerner, 1999). Diesem Rational folgend wird ein Ort virtuell besucht und lehrreiche Informationen werden nebenbei anhand anschaulicher Materialien vermittelt. Die teilnehmenden Studierenden der Bildungswissenschaften und Psychologie machen sich mit fachfremden, technischen Inhalten vertraut und erleben ein Bauwerk innerhalb einer konkreten Landschaft. Hierdurch soll als Lernziel Interesse im Sinne einer emotional-motivationalen Förderung geweckt werden. Zur Unterstützung der Teilnehmenden kommen keine Scaffoldingmaßnahmen zum Einsatz. Ebenso werden keine Lernstrategien bewusst angeregt. 2.3.3
Entwicklungsmethodische Merkmale
Die Erstellung der VR-Eisenbahnbrücke erfolgte als Eigenentwicklung. Hieran beteiligt waren Bildungswissenschaftlerinnen und Bildungswissenschaftler mit VR-Schwerpunkt und Bauingenieure. Die technische Entwicklung wurde von den Bildungswissenschaftlerinnen und Bildungswissenschaftlern durchgeführt, die Bauingenieure erzeugten die Inhalte. Didaktische Fragen wurden gemeinsam entschieden. Entwickelt wurde die Lernumgebung durch Programmierung mit einer Game Engine. Zum Einsatz kam hierbei die Game Engine Unity. Unity verfügt über einen Terraineditor, mit dem die Landschaft, in welche die Brückenobjekte eingebettet wurden, komfortabel erstellt werden konnte. Die Mehrzahl der enthaltenen Objekte in der Lernumgebung, wie Bäume und Teleportationsplattformen, stammte aus der Game Engine und ihrem zugehörigen Asset Store. Diese Objekte sind 3D-Modelle, die mit Grafikprogrammen erzeugt wurden. Im Zentrum der Lernumgebung stand jedoch eine Eisenbahnbrücke. Für diese Eisenbahnbrücke lagen zwei Objektarten vor: Ein 3D-Modell, das durch die Kombination von Laserscanning und Photogrammetrie mit dem Programm RealityCapture erzeugt wurde (siehe Abb. 3 – A) sowie ein weiteres 3D-Modell, das mit dem Grafikprogramm blender erstellt wurde (siehe Abb. 3 – B). Das durch Laserscanning und Photogrammetrie erzeugte 3D-Modell bildete realitätsnah die Struktur und das Material der aufgenommenen echten Eisenbahnbrücke ab. 2.3.4
Interaktive Merkmale
Die VR-Eisenbahnbrücke wird individuell bearbeitet. Hierbei können Teilnehmende im Sinne einer individualistischen Zielstruktur ohne Abhängigkeit von anderen Personen ihre Ziele erfüllen. Interaktionspartner befinden sich nicht in der Lernumgebung, da diese ausschließlich aus Gelände, Teleportationsplattformen, Anzeigebildschirmen
Zentrale Merkmale immersiver VR-Lernumgebungen
und einem Brückenobjekt besteht. Die räumliche Navigation erfolgt über Teleportation. Zu diesem Zweck zeigen Teilnehmende mit einem Laserpointer auf Teleportationsplattformen, an die sie sich fortbewegen wollen. Die Orte, an die sich Teilnehmende bewegen können, sind also durch die verfügbaren Teleportationsplattformen begrenzt. Auf den Plattformen können die Teilnehmenden ihren Blick frei steuern. Inhaltlich liegt in der gesamten VR-Eisenbahnbrücke eine sich verzweigende Navigation vor, da Teilnehmende jederzeit alle Pfade besuchen können und mehrere mögliche Endpunkte vorhanden sind. 2.3.5
Erkenntnisse aus der Entwicklung und Implementierung
Im Entwicklungsprozess wurde deutlich, dass sich Laserscanning und Photogrammetrie besonders gut eignen, um große Bauwerke wie Brücken zu digitalisieren. Unity bewährte sich darin, zwei hoch-vergleichbare Versionen der Lernumgebung mit derselben Landschaft für den Forschungskontext zu erzeugen. Insgesamt benötigte die Entwicklung der Lernumgebung einiges an Zeit und Aufwand. Hinsichtlich der Implementierung gibt es ebenfalls einige Punkte zu berichten. Die VR-Eisenbahnbrücke wurde genutzt, um eine empirische Studie mit Studierenden der Bildungswissenschaften und der Psychologie durchzuführen. Diese Studie untersuchte vorrangig die wahrgenommene Authentizität der 3D-Modelle und die Interessentwicklung der Teilnehmenden (Fink et al., 2023). In der Lernumgebung der Kontrollgruppe wurde ein gewöhnliches 3D-Modell der Eisenbahnbrücke verwendet. In die Lernumgebung der Interventionsgruppe wurde das durch Laserscanning und Photogrammetrie erzeugte 3D-Modell eingebettet. Ausgeführt wurde die VR-Lernumgebung auf einer HTC Vive VR-Brille über einen Gaming Laptop. Bei der Durchführung von über 60 Testungen kam es nur zu sehr wenigen und wenig-schwerwiegenden Bugs und Problemen. Eine zusätzliche steckbriefartige Darstellung der VR-Eisenbahnbrücke auf Basis der vorgestellten Taxonomie findet sich in Abb. 4.
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Abb. 3 Überblick zur VR-Eisenbahnbrücke (adaptiert von Fink et al., 2023)
Zentrale Merkmale immersiver VR-Lernumgebungen
Inhaltliche Merkmale
Didaktische Merkmale
Kategorie
Konkrete Ausprägung(en)
Kategorie
Konkrete Ausprägung(en)
Thema und Gegenstand
– Thema: Aufbau und Eigenschaften von Brücken – Gegenstand: Objekt
Didaktisches Rational
– Virtual field trip
Stoffeigenschaften
– Stoffumfang – Dauer: 7 Minuten – Textseiten: wenige Folien – Stoff- und Aufgabenschwierigkeit: gering bis mittel – Stoffgliederung – Mehrere Stationen
Lernziele
– Emotional-motivationale Förderung
Begleitende Materialien
– Tutorial
Unterstützungsmaßnahmen und Lernstrategien
– Scaffoldingmaßnamen – Keine – Anregung von Lern strategien – Keine
Entwicklungsmethodische Merkmale
Interaktive Merkmale
Kategorie
Konkrete Ausprägung(en)
Kategorie
Konkrete Ausprägung(en)
Entwicklungsart
– Eigenentwicklung
Bearbeitungsart
– Bearbeitungsmodus – Individuell – Zielstruktur – Individualistisch – Interaktionspartner – Keine Partner
Entwicklungsvorgehen
– Programmierung mit einer Game Engine
Räumliche Navigation
– Navigation durch Teleportation
Objekte in der Lernumgebung
– Durch Photogrammetrie und Laserscanning erstelltes 3D-Modell – Durch Grafikprogramme erstellte 3D-Modelle
Inhaltliche Navigation
– Verzweigende Navigation
Abb. 4 Taxonomie ausgefüllt für die VR-Eisenbahnbrücke
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3 Resümee
Zunächst fallen einige Gemeinsamkeiten der beschriebenen VR-Lernumgebungen auf. Sie wurden durch Eigenentwicklung erstellt und werden im Hochschulkontext genutzt. Ihre Entwicklung ist teilweise noch nicht ganz abgeschlossen und eine vollwertige Nutzung in der Aus- und Weiterbildung liegt noch nicht vor, wird aber angestrebt. Alle drei VR-Lernumgebungen konnten außerdem nur individuell bearbeitet werden, eine kollaborative Zusammenarbeit war in diesen Lernumgebungen nicht möglich. Diesen drei Lernumgebungen lagen pädagogische Ansätze wie der virtual field trip und das Beobachtungslernen zugrunde, die keine hohe Interaktion und Aktivität der Teilnehmenden verlangen. Die Stoffmenge und Aufgabenschwierigkeit sind in den drei VR-Lernumgebungen als gering bis mittel anzusehen. Besonderheiten der Lernumgebungen konnten ebenfalls beobachtet werden. Die Lernumgebung VR-FipS enthielt eine Abbildung und Repräsentation von Führungssituationen und erreichte diese mit 360-Grad-Videos. Aufnahmen von Schauspielerinnen und Schauspielern dienten in den 360-Grad-Videos als agentenbasierte Interaktionspartner. Die beiden anderen Lernumgebungen enthielten Abbildungen von Objekten und keine Interaktionspartner. Die VR-Eisenbahnbrücke unterschied sich von den beiden anderen Lernumgebungen vor allem bezüglich der Art der Objekte in der Lernumgebung. Hier kam als zentrales Objekt in einer Version der Lernumgebung ein durch Laserscanning und Photogrammetrie erzeugtes 3D-Modell zum Einsatz. Die VR-Kläranlage verdeutlichte, dass sich 360-Grad-Videos gut dazu eignen große Gelände und Anlagen realistisch abzubilden, und dass Interaktionsmöglichkeiten und Scaffolding in 360-GradVideos durch die Verwendung einer Game Engine eingebettet werden können. Die Beschreibung der VR-Lernumgebungen anhand der vorgestellten Taxonomie zeigte auf, dass sich noch große Möglichkeiten zur Weiterentwicklung bieten. Insbesondere in naturwissenschaftlichen Lernumgebungen, wie der VR-Kläranlage oder der VREisenbahnbrücke, würde es sich anbieten, Aspekte eines Systems darzustellen und zu repräsentieren. Im Sinne eines digitalen Zwillings könnten zum Beispiel Sensordaten von echten Bauwerken oder Betriebsdaten von Anlagen eingebunden werden (Geuer, Lauer, Kuhn, Wehn & Ulber, 2023). Eine andere Möglichkeit wäre es (vereinfachte) Simulationen von physikalischen, chemischen oder biologischen Prozessen in die VR einzubetten. Diese Simulationen könnten dann, wie in einem Experiment, beobachtet und systematisch verändert werden. Lernumgebungen wie VR-FipS, in denen eine berufliche Situation dargestellt wird, und in denen es auf komplexe Fertigkeiten und Kommunikation ankommt, könnten von einer Erweiterung zu kollaborativen Lernumgebungen profitieren.
Zentrale Merkmale immersiver VR-Lernumgebungen
3.1
Resümee zu den zentralen Merkmalen von VR-Lernumgebungen
Die vorgestellte Taxonomie zentraler Merkmale von VR-Lernumgebungen (siehe Tab. 1) ist vorläufig und bildet in der aktuellen Form noch nicht alle möglichen Charakteristika vollständig ab. Erweitert werden könnte sie insbesondere mit folgenden Merkmalen: spielerische Elemente, narrative Elemente, Interaktionsmöglichkeiten mit Objekten, Kommunikationsarten, Anzeigegeräte, Aspekte digitaler Zwillinge, und Abhängigkeit von anderen Software- und Hardwaresystemen (Geuer et al., 2023; Huwendiek et al., 2009; Radianti et al., 2020; Schmeil et al., 2012). Einige der genannten Merkmale, die nicht in diese Form der Taxonomie aufgenommen wurden, sind generelle Merkmale von computerbasierten Lernumgebungen. Andere bilden eher spezifische Arten von VR-Lernumgebungen, wie VR Serious Games, ab oder fokussieren sich auf einen bestimmten Einsatzkontext. Dieser Punkt verdeutlicht auch eine Einschränkung solcher Taxonomien: Sie sollen eine bestimmte Allgemeingültigkeit für ein Format aufweisen, können aber gleichzeitig nicht allen Erfordernissen besonderer Formate und Kontexte vollumfänglich gerecht werden. Trotz dieser Einschränkung glauben wir, dass die vorgestellte Taxonomie einen großen Anteil an VR-Lernumgebungen aus verschiedenen Domänen systematisch beschreiben kann. Die Veranschaulichung der drei VR-Lernumgebungen mit der Taxonomie legt zudem nahe, dass einige zentrale Merkmale voneinander abhängig sind. Beispielsweise haben aus unserer Sicht der Gegenstand einer VR-Lernumgebung, ihr didaktisches Rational und die gewünschten Lernziele miteinander zu tun. In VR-Lernumgebungen, in denen Situationen als Gegenstand abgebildet und repräsentiert sind, werden sich beispielsweise eher Bezüge zum fallbasierten Lernen als didaktisches Rational und zum Wissenserwerb als Lernziel finden. Für VR-Lernumgebungen, die Objekte als Gegenstand haben, erscheinen andere didaktische Rationale, wie der VR field trip, und andere Lernziele, wie eine emotional-motivationale Förderung, relevant. Auch die Art der Objekte in der Lernumgebung scheint assoziiert mit gewissen Merkmalen. Wenn 360-Grad- Videos die Hauptobjekte in einer VR-Lernumgebung bilden, ergibt sich entweder eine limitierte Navigation oder eine räumliche Navigation über Teleportation und Menüs. Wenn hingegen eine Lernumgebung vorrangig aus 3D-Modellen besteht, kann eine Navigation über freies Bewegen umgesetzt werden, durch die viele Orte zugänglich werden. Die vorgestellte Taxonomie von zentralen Merkmalen hat mindestens drei wichtige Zwecke. Erstens beeinflussen solche Taxonomien die Forschung zum Thema VR und den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn. In Metaanalysen und Literaturreviews gehen zentrale Merkmale beispielsweise häufig in Kodierschemata ein, wodurch Unterschiede zwischen verschiedenen Lernumgebungen näher beleuchtet werden. Zweitens kann die Taxonomie die Entwicklung von VR-Lernumgebungen unterstützen. Sie kann zu einer sinnvollen Prioritätensetzung beitragen, da sie verdeutlicht, dass neben bekannten technischen Merkmalen (z. B. Qualität der VR-Brille) auch andere Merkmale berücksichtigt werden müssen. Darüber hinaus kann die Taxonomie ge-
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nutzt werden, um den Austausch zwischen Projektbeteiligten mit verschiedenen beruflichen Hintergründen und Kenntnissen zu verbessern. Sie bietet eine Sammlung wichtiger Begriffe an, die in einem Team mit verschiedenen beruflichen Hintergründen und Kenntnissen für eine genaue Kommunikation genutzt werden kann. Ebenso kann die Taxonomie zur Planung innerhalb von Projekten beitragen. Sie kann verwendet werden um Aufgaben zu vergeben und Planungslücken zu erkennen. Drittens ist die Taxonomie relevant, wenn es um die Einbindung von VR-Lernumgebungen in Unterrichts- sowie Aus- und Weiterbildungsangebote geht. Ein Grund dafür ist, dass die Merkmale verwendeter Medien eine wichtige Rolle bei Unterrichtsplanungen und -vorbereitungen spielen (Aprea, 2018). Die Taxonomie kann diese Merkmale, zum Beispiel anhand der Kategorien Stoffeigenschaften und begleitende Materialien, genau beschreiben. Hierdurch kann eine Einbindung von VR-Lernumgebungen in Unterrichts- sowie Aus- und Weiterbildungsangebote unterstützt werden. 3.2
Ein kurzer Blick in die Zukunft von VR-Umgebungen
Es ist unbestritten, dass die Entwicklung von VR-Lernumgebungen ein aufwendiger Prozess ist. Aus diesem Grund sollen in Zukunft Internetplattformen erstellt werden, die eine kurartierte Übersicht über vorhandene VR-Lernumgebungen mit fachlicher Eignung geben. Aufgenommen werden können in solche Übersichten kostenfreie sowie kostenpflichtige VR-Lernumgebungen, die bereits über Stores (z. B. von VRHardwareherstellern wie Meta sowie hardwareunabhängige Vertriebsplattformen wie Steam-VR) zur Verfügung stehen und installiert werden können. Die Merkmale aus unserer Taxonomie und anderer Literatur können dann zum Einsatz kommen, um VR-Lernumgebungen in kuratierten Übersichten theoretisch fundiert zu klassifizieren. Somit können Lehrende und Lernende schnell und einfach passende Lernumgebungen für Schulungen oder Fortbildungen finden, die bestimmte Merkmale aufweisen und hohen Qualitätsansprüchen genügen. Obwohl dieses Vorhaben aktuell in vielen Bildungsbereichen und insbesondere für VR noch in weiter Ferne steht, existieren in Fächern wie der Medizin bereits ähnliche Internetplattformen mit kuratierten Übersichten. Diese ähnlichen Internetplattformen spezifizieren schon heute die Inhalte von computerbasierten Lernumgebungen genau mit Bezug zum Lehrplan verschiedener Länder (Mayer et al., 2022). Mit dem Ausbau und der Verankerung von VR-Lernumgebungen in der Aus- und Weiterbildung sollte langfristig auch die Einführung von VR-Prüfumgebungen einhergehen. VR-Umgebungen bieten sich aus verschiedenen Gründen für Prüfungen an: Mit ihnen können Problemlösen und praktische Fertigkeiten erfasst werden, sie ermöglichen es (berufliche) Anforderungssituationen nachzustellen, und sie können (technische) Systeme beobachtbar und manipulierbar machen. Darüber hinaus bieten VR-Prüfumgebungen die Vorteile, dass sie hoch-standardisiert sind, Kosten reduzieren und andere Ressourcen schonen
Zentrale Merkmale immersiver VR-Lernumgebungen
können. Seit vielen Jahren herrscht in der Aus- und Weiterbildung Einigkeit darüber, dass Lernziele, Lerngelegenheiten und Prüfungen eng aufeinander abgestimmt sein sollen (Biggs, 1996). Wenn VR-Lernumgebungen in Zukunft verstärkt in der Aus- und Weiterbildung genutzt werden, muss daher auch das Angebot passender VR-Prüfumgebungen ausgebaut werden. Ähnlich zu den oben skizzierten Internetplattformen für VR-Lernumgebungen, könnten eines Tages Internetplattformen geschaffen werden, die VR-Prüfumgebungen für verschiedene Aus- und Weiterbildungskontexte anbieten. Die oben genannten Ziele sind ambitioniert, aber nicht unerreichbar, wenn viele beteiligte Personen sie gemeinsam verfolgen. Entwickelnde müssen mit Inhaltsexpertinnen und -experten VR-Lernumgebungen schaffen, die einen echten Mehrwert in der Aus- und Weiterbildung bieten. Curriculumsplanende müssen die Mittel für solche Entwicklungsprojekte bereitstellen und eine Integration von Lern- und Prüfumgebungen in die Lehrpläne vorantreiben. Praktikerinnen und Praktiker müssen so unterstützt werden, dass die Einbindung von VR Lern- und Prüfumgebungen in Aus- und Weiterbildungskontexte eines Tages so einfach gelingt, wie die Vorführung eines Films. Forschende können viele dieser Schritte wissenschaftlich vorbereiten und begleiten. 3.3 Fazit
In diesem Beitrag wurde eine Taxonomie zu zentralen Merkmalen von VR-Lernumgebungen geschildert. Die Veranschaulichung von drei VR-Lernumgebungen anhand der Taxonomie ergab einige Gemeinsamkeiten. Alle drei VR-Lernumgebungen wurden in Eigenentwicklung erzeugt, konnten rein individuell bearbeitet werden, und waren noch nicht voll in die Aus- und Weiterbildung integriert. Die Vorstellung der VR-Lernumgebungen ergab außerdem, dass die Projekte mit hohem Aufwand verbunden waren und neue Technologien, wie 360-Grad-Videos und Laserscanning, Mehrwerte in die Entwicklung einbrachten. Die vorgestellte Taxonomie erfüllt etliche Zwecke: Sie kann dafür verwendet werden, VR-Lernumgebungen zu beschreiben und miteinander zu vergleichen. Mit der weiteren Verbreitung von VR-Lernumgebungen wird dieser Zweck zunehmend an Bedeutung gewinnen. Die Taxonomie kann darüber hinaus Entwicklungsprozesse unterstützen, indem Sie Prioritäten verdeutlicht und Entwickelnden und Inhaltsexpertinnen und -experten mit verschiedenen beruflichen Hintergründen und Kenntnissen eine gemeinsame Sprache gibt. Zu guter Letzt enthält die Taxonomie Anregungen für Forschende. Einige aufgeführte Merkmale – wie die Art der Objekte in der Lernumgebung – wurden in der Literatur bisher nur selten angeführt und können nun in ihren Wirkungen genauer untersucht werden.
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Danksagung
Die Autoren [Projekt RISK.twin] bedanken sich für die Förderung bei dtec.bw – Zentrum für Digitalisierungs- und Technologieforschung der Bundeswehr. dtec.bw wird von der Europäischen Union – NextGenerationEU finanziert. Dank gebührt ebenso der Forschungsinitiative Individuum und Organisation in der digitalisierten Gesellschaft (INDOR) der Universität der Bundes-
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wehr München, die durch neue Ideen diesen Beitrag bereichert hat. Ganz besonders danken wird der Professur für Siedlungswasserwirtschaft und Abfalltechnik der Universität der Bundeswehr München für die Zusammenarbeit bei der Erstellung der VR-Kläranlage. Ohne die Inhalte und Beratung von Prof. Christian Schaum, Nora Pankow, M. Sc. und Dr.-Ing. Sebastian Chalupczok wäre die Erstellung der VR-Kläranlage nicht möglich. Unser Dank gilt gleichermaßen dem Kommunalunternehmen Gemeindliche Einrichtungen und Abwasser (GEA) Holzkirchen. Diesem Kommunalunternehmen und insbesondere Herrn Spallek danken wir für den Zutritt und die gute Betreuung auf der Kläranlage. Unsere Wertschätzung möchten wir ebenfalls gegenüber den Professuren für Massiv- und Stahlbau der Universität der Bundeswehr München ausdrücken. Prof. Thomas Braml, Prof. Max Spannaus, Johannes Wimmer, M.Eng., und Fabian Seitz, M. Sc. haben die Erstellung der VR-Eisenbahnbrücke ermöglicht und unterstützt. Darüber hinaus danken wir Lukas Hart für seine tatkräftige Unterstützung bei der Überarbeitung dieses Beitrags. Der Erstautor dankt Dr. Larissa Kaltefleiter für spannende Diskussionen und hilfreiche Anregungen.
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360°-Unterrichtsvideos in Virtual Reality in der beruflichen Lehrpersonenbildung*
KATHARINA KUNZ
Zusammenfassung: 360°-Videos in Virtual Reality ermöglichen eine veränderte Nutzung von Un-
terrichtsaufzeichnungen in der Ausbildung von Lehrpersonen im beruflichen Sektor. Neben einer Beschreibung der verschiedenen Technologien, die in diesem Kontext zum Einsatz kommen, soll der konzeptionelle Beitrag relevante theoretische Aspekte zum Lernen mit der 360°-Technologie aufzeigen. Nach einem Überblick über den aktuellen Forschungsstand im Bezugsfeld werden zwei bestehende Modelle zur Konzeptionierung und zum Einbezug der Technologie in Lehr-Lernsettings in der beruflichen Lehrpersonenbildung betrachtet und verglichen. Abschließend wird ein integratives Modell mit zukünftigen Nutzungsperspektiven beschrieben und das Desiderat einer evidenzbasierten Untersuchung des Einsatzes der Technologie in der beruflichen Lehrpersonenbildung formuliert. Schlüsselwörter: 360°-Videos, Virtual Reality, Unterrichtsvideos, Lehrpersonenbildung 360°-Classroom Videos in Virtual Reality in Vocational Teacher Education Abstract: 360° videos in virtual reality enable a changed use of classroom videos in teacher training
not only for vocational education. In addition to a description of the various technologies used in this context, relevant aspects of the theoretical background of learning with the 360° technology are highlighted within this conceptual paper. After an overview of the current state of research in the field, two existing models for conceptualizing and incorporating technology into teaching and learning settings in vocational teacher education are described and compared. Finally, an integrative
* Das
diesem Artikel zugrundeliegende Vorhaben „Lehrerbildung an berufsbildenden Schulen 2“ (LEBUS 2) wird im Rahmen der gemeinsamen „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01JA1902 gefördert.
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Katharina Kunz
model with future perspectives of use is described and the desideratum of an evidence-based investigation of the use of technology in vocational teacher education is presented. Keywords: 360°-Videos, Virtual Reality, Classroom Videos, Teacher Education
1 Einleitung
Lernen durch und mit Videos ist in der Lehrpersonenbildung seit langer Zeit etabliert und nachweislich wirksam für das Kompetenztraining (Blomberg et al. 2011; Gaudin & Charliès 2015; Gold et al. 2016; Krammer et al. 2016; Seidel & Thiel 2017; Seidel & Stürmer 2014; van Es & Sherin 2008). Videos von Unterricht, sei es der eigene oder fremder Unterricht oder gestellte Sequenzen, ermöglichen die standardisierte, wiederholbare Reflexion und Bewertung von Unterrichtsgeschehen mit dem Ziel, das Handeln der Lehrpersonen im Unterricht theoriegeleiteten zu analysieren (Syring et al. 2015). Im besten Fall kann die Auseinandersetzung mit Unterrichtsvideos eine Verbesserung des wissensgeleiteten professionellen Handelns im Unterricht ermöglichen. Videos können somit einen Beitrag zur geforderten vertieften Theorie-Praxis-Verzahnung in der Lehrpersonenbildung leisten (vgl. Gaudin & Charliès 2015; Gröschner & Hascher 2019). Der Einbezug digitaler Technologien in Form von 360°-Unterrichtsvideos in Virtual Reality (VR) erschließt im Kontext der Theorie-Praxis-Verzahnung Potenziale hinsichtlich des aktiven Trainierens von unterrichtlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten (vgl. Buchner et al. 2022; Zender et al. 2020). Die Digitalisierung spielt spätestens seit der Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ der Kultusministerkonferenz eine bedeutsame Rolle im Kontext des Lehrens und Lernens im berufsbildenden Sektor, wobei durch das Handlungsfeld Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrenden auch der hochschulische Sektor von Bedeutung ist (KMK 2016). Dort soll auch das Lehramtsstudium weiterentwickelt werden, um die notwendigen digitalen Kompetenzen zukünftiger Lehrpersonen zu ermöglichen (KMK 2019). Dies scheint angezeigt, da sich laut aktuellen Erhebungen die wahrgenommenen digitalisierungsbezogenen Kompetenzen im Verlauf des Lehramtsstudiums nicht zu steigern scheinen, ganz im Gegensatz zu den fachlichen Kompetenzen (Zinn et al. 2022). Im Kontext des technologyenhanced learnings (TEL, ebd.) bietet sich z. B. durch den Einsatz von 360°-Videos in VR in Lehrveranstaltungen der beruflichen Lehramtsstudiengängen die Möglichkeit, Professionalisierungsarbeit auf mehreren Ebenen zu verknüpfen. So können fachdidaktische oder pädagogisch-psychologische Inhalte mit digitalisierungsbezogenen Komponenten verknüpft werden, indem Studierende selbst lernen, Lernsettings zu erstellen. Bezogen auf das fachliche Lernen lassen sich ebenfalls erste Konzeptualisierungen zum Einsatz von 360°-Videos in VR finden, wie Snelson und Hu (2020) in ihrem Review in den Bereichen Meeresbiologie (Choi et al. 2018), Medizin ( Johnson et al. 2020; Yoganathan et al. 2018), Sport (Panchuk et al. 2018) aber auch in der Lehrpersonenbildung (Dolgunsöz et al. 2018; Walshe & Driver 2019) zeigen. Der Einsatz
360°-Unterrichtsvideos in Virtual Reality in der beruflichen Lehrpersonenbildun
von 360°-Unterrichtsvideos im Kontext der Lehrpersonenbildung wird seit wenigen Jahren beforscht und stellt zum einen die Erweiterung der Nutzung klassischer Unterrichtsvideos dar und zum anderen eine niederschwellige und vergleichsweise einfache Möglichkeit des Einbezugs von VR-Umgebungen in die Ausbildung von Lehrpersonen. Schwerpunkte der Forschung im Bereich 360°-Unterrichtsvideos in VR befinden sich hinsichtlich der eingesetzten Technologie in den Bereichen Technologieeignung (z. B. Technologieakzeptanz; vgl. Kunz & Zinn 2022), Technologievergleich (z. B. traditionelles vs. 360°-Unterrichtsvideos, Vergleich von Rezeptionsmedien; vgl. Gold & Windscheid 2020) Immersion und Präsenzerleben (vgl. Ferdig & Kosko 2020) sowie hinsichtlich Unterrichtsreflexion, Bewertung der Unterrichtsqualität und verschiedenen Ansätzen zur Erfassung und des Trainings der professionellen Unterrichtswahrnehmung (vgl. Balzaretti et al. 2019; Ferdig & Kosko 2020; Gold & Windscheid 2020, Heisler & Kosko 2019). Auch der Theorie der Embodied Cognition kommt beim Lernen mit 360°-Unterrichtsvideos Bedeutung zu. Diese beschreibt, wie sich Wissen durch die Interaktion von Geist und Körper auf sensomotorische Routinen und Erfahrungen gründet (Barsalou 2008; Lakoff & Johnson 1999; Shapiro & Stolz 2019). Hierbei wäre eine Betrachtung der sensomotorischen Erfahrungen, die eine Person im 360°-Klassenraum macht, übertragen auf reale Unterrichtssituationen interessant. Der vorliegende konzeptionelle Beitrag gibt im zweiten Kapitel zunächst einen Einblick in den theoretischen Hintergrund (2). Darauffolgend wird im dritten Kapitel der Forschungsstand skizziert (3), um im vierten Kapitel (4) zwei bestehende Modelle zur Gestaltung von Lehr-Lernsettings in VR bzw. mit 360°-Videos vergleichend zu beschreiben. Ziel ist es, die Modelle hinsichtlich ihrer Einsatzpotenziale für den Usecase berufliche Lehrpersonenbildung mit 360°-Videos in VR zu bewerten und zu einer abschließenden Empfehlung für die die integrative Nutzung der Modelle für die Gestaltung von zukünftigen Lernsettings mit 360°-Unterrichtsvideos in VR im berufsbildenden Bereich zu gelangen (5). 2
Theoretischer Hintergrund
Um ein grundlegendes Verständnis zum Lernen mit 360°-Unterrichtsvideos in VR in der beruflichen Lehrpersonenbildung zu schaffen, wird in diesem Kapitel zunächst auf die genutzte Technologie Bezug genommen (2.1) und im nächsten Schritt die eta blierte videobasierte Fallarbeit in der Lehrpersonenbildung skizziert (2.2). Im dritten Schritt werden die relevanten Konstrukte Präsenzerleben und Immersion eingeführt (2.3) und im vierten Schritt lerntheoretische Ansätze der Embodied Cognition und des Situierten Lernens für den Einsatz von 360°-Unterrichtvideos als Lernmedium in der Lehrpersonenbildung aufgezeigt (2.4).
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Katharina Kunz
2.1
360°-Videos und Virtual Reality
Die Eigenschaften von 360°-Videos in VR lassen sich in Abgrenzung zu (1) traditionellen Videos sowie zu (2) herkömmlichen VR-Umgebungen beschreiben. So bildet ein 360°-Video im Vergleich zu (1) traditionellen Videos den gesamten Raum um die Kamera ab, wodurch es keinen Bereich hinter der Kamera mehr gibt und die Auswahl eines Kamerazuschnitts und eines Fokus wegfallen (Feurstein & Neumann 2022; Kunz & Zinn 2022; Hebbel-Seeger 2018). Da Menschen aus diesem 360°-Bild des Videos jeweils nur den Ausschnitt entsprechend des Blickfelds wahrnehmen können, ermöglicht ein Bewegen des 360°-Bildes entsprechend des Rezeptionsmediums (mit Maus, Touchscreen oder Kopfbewegung im Head-Mounted-Display bzw. Cardboard) die Veränderung der Blickrichtung. Im Gegensatz zu traditionellen Videos ermöglichen 360°-Videos also die freie Wahl der Perspektive im Videobild. Aus der Perspektive des Standpunkts der 360°-Kamera heraus kann der gesamte Raum gesehen werden, jedoch immer nur der Ausschnitt, den das Blickfeld des menschlichen Auges sowie das Display zulassen. Die 360°-Videotechnologie ermöglicht es den Nutzenden in der Egoperspektive Teil des Videogeschehens zu werden, indem das 360°-Video über ein Head-Mounted-Display (HMD) betrachtet wird (Feurstein & Neumann 2022). 360°-Videos in VR grenzen sich auf der anderen Seite zu (2) herkömmlicher VR als komplett computergenerierte Echtzeitdarstellung von Umgebungen, die fiktiv oder real nachgebaut sind, ab. VR als Wissenschaftsgebiet entwickelt sich noch immer relativ schnell, da wissenschaftliche Erkenntnisse meist an technologische Entwicklungen der Hardware gebunden sind. Aus diesem Grund besteht bislang auch keine einheitliche Definition von VR, jedoch können übereinstimmend definierende Merkmale von VR gefunden werden (Dörner et al. 2019, S. 13). Nähert man sich der Definition von einer technologiebezogenen Seite, dann ist die Definition von Cruz-Neira aus dem Jahr 1993 noch immer passend: „Virtual Reality refers to immersive, interactive, multisensory, viewer-centered, three-dimensional computer-generated environments and the combination of technologies required to build these environments.“ (Cruz-Neira, SIGGRAPH ’93 Course Notes „Virtual Reality Overview“). Basierend auf diesem Versuch einer ganzheitlichen Beschreibung, fallen 360°-Videos vermittelt über HMDs streng genommen nicht in die Kategorie der VR. Weitere Aspekte, die VR in Abgrenzung zu 3D-Computegraphiken definieren, sind die multimodale Präsentation über mehrere Sinneseindrücke, die Echtzeitdarstellung, die Präsentation abhängig von den Betrachtenden, Echtzeitinteraktion- und Simulation, 3D-Interaktion über z. B. Körperbewegungen (Head-Tracking der Kopfbewegung) sowie eine immersive Präsentation. Wenn gilt, „[i]f I turn my head and nothing happens, it ain’t VR!“ (Bryson in Dörner et al. 2019, S. 14), dann können 360°-Videos vermittelt über HMDs als Teilbereich der VR betrachtet werden. VR beschreibt also verschiedene technologische Möglichkeiten, mit welchen virtuelle Umgebungen erlebbar gemacht werden und in welchen Nutzende mit Objekten bzw. der Umgebung interagieren können (vgl. Zinn & Ariali
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2020). VR kann eine Analogie der Realität sein, in der Sinneseindrücke vermittelt werden (vgl. Dörner et al. 2019). Eine natürliche Nutzendenschnittstelle stellt bspw. die Möglichkeit dar, die Kopfbewegung über Sensoren zu tracken und damit das Gefühl zu vermitteln, den Kopf tatsächlich auch innerhalb der virtuellen Umgebung zu bewegen. Auf diesem Weg kann bei den Nutzenden das Gefühl der Immersion entstehen, also dass Gefühl an einem anderen, virtuellen Ort zu sein. Je nach Grad der Einbindung über die Benutzungsschnittstellen lässt sich ein Kontinuum von nicht-interaktiven und nicht-immersiven hin zu interaktiven, multisensorischen vollimmersiven Umgebungen zeichnen (Korgel 2017; Zinn & Ariali 2020). 360°-Videos, die über ein HMD vermittelt werden, stellen eine spezielle Form der VR dar, da einige definierende Aspekte (Interaktion mit Gegenständen/Personen innerhalb der Umgebung, Bewegungsfreiheit, etc.) nicht oder nur eingeschränkt vorhanden sind. Jedoch ist die zentrale Nutzungserfahrung, das Gefühl, an einem anderen Ort zu sein, gegeben. Dies zeigt sich auch in Studien durch einen hohen Immersionsgrad sowie ausgeprägtes räumliches Präsenzerleben (Balzaretti et al. 2019; Ferdig & Kosko 2020; Gandolfi et al. 2021; Kunz & Zinn 2022). 360°-Videos ermöglichen die einfache Erstellung von Szenarien in VR. Fiktive, computerbasierte VR-Umgebungen müssen zeit- und dadurch meist kostenaufwändig erstellt werden, ermöglichen dann aber eine größere Möglichkeit zur Interaktion mit Objekten und Personen als 360°-Videos bislang. Möglichkeiten von 360°-Videos im Vergleich zu traditionellen Videos beim Lernen sind u. a. die individuelle Raumaneignung (die Möglichkeit, den Bildausschnitt selbstbestimmt zu wählen), die hohe Immersion sowie mögliche Vorteile des Videoerlebens entsprechend der Theorie der Embodied Cognition bei Lernprozessen (Hebbel-Seeger 2018; Kunz & Zinn 2022; Walshe & Driver 2019). 2.2
Videobasiertes Lernen in der Lehrpersonenbildung
Die Lehramtsausbildung an der Hochschule soll Studierende dazu befähigen, den Vorbereitungsdienst und den schulischen Alltag professionell zu bewältigen. Dafür sind neben wissenschaftlichem Wissen in den Fachbereichen, den Fachdidaktiken, der Pädagogik und der pädagogischen Psychologie auch handlungsnahe Kompetenzen in Form prozeduralen Wissens als Verbindung von Wissen und Können für die Schulpraxis von Bedeutung (vgl. Kunter 2011; Lersch 2006). Effektives, kompetentes Handeln von Lehrpersonen zeichnet sich unter anderem dadurch aus, unterrichtliche Situationen angemessen zu bewerten, Handlungsalternativen zu eruieren oder schnell und situationsadäquat zu reagieren. Hierfür sind gut vernetzte und umfangreiche Strukturen konzeptionellen Wissen erforderlich, die auf einer breit angelegten theoretischen Wissensbasis fußen (vgl. Kunter 2011; Hiebert & Lefevre 1986; Schön 1987). Häufig wird ein Mehr an Praxisanteilen im Rahmen der Ausbildung mit dem Ausbau solch gut vernetzter Wissensstrukturen in Verbindung gebracht, um prozedurales Wis-
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sen zur Unterrichtspraxis aufzubauen. So wurden beispielsweise in den meisten Bundesländern in Deutschland verpflichtende und längere Schulpraktika im Verlauf der Lehramtsstudiums eingeführt (vgl. Ulrich et al. 2020; Gröschner et al. 2015). Aus der empirischen Lehr-Lern-Forschung ist bekannt, dass die reine Praxis im aktiven Tun so dominant werden kann, dass weniger Ressourcen für die kognitiven Prozesse genutzt werden können, diese aber notwendig sind für den Aufbau vernetzter Wissensstrukturen (Kunter 2011; Kirschner et al. 2006; Mayer 2004). Hier anschließend können Überlegungen zur Vorentlastung der bestehenden Praxisphasen angestellt werden, um diese effektiver in die Kompetenzentwicklung im Studienverlauf zu integrieren. So bieten sich Lerngelegenheiten beispielsweise in Lehrveranstaltungen durch Falldiskussionen zur Anwendung erlernter methodischer und theoretischer Konzepte, Bearbeitung von Fallvignetten, Rollenspielen oder durch den Einsatz von Unterrichtsvideos an (vgl. Krammer 2014; Syring et al. 2016). Videobasiertes Lernen in der Lehrpersonenbildung bedeutet, dass Videos als Ressourcen systematisch in Lehr- und Lernkontexten eingesetzt werden (vgl. Feurstein & Neumann 2022; Giannakos et al. 2014). Mit dem Wort systematisch geht einher, dass das Medium Video bei den Lehr- und Lernprozessen von Anfang an in inhaltliche und didaktische Überlegungen miteinbezogen werden muss. Aus diesem Grund bedarf es einer Analyse von sinnvollen Anwendungs- und Einsatzkontexten im Bereich der Lehrpersonenbildung, denn dort finden Videos (insbesondere von Unterricht) Anwendung in der Fallbearbeitung zu fremdem oder eigenem Unterricht, da dieses komplexe Geschehen durch Videos realitätsnah nachempfunden und reflexive analysiert werden kann (Gold et al. 2016; Kunz & Zinn 2022). Unterrichtsvideos werden zum Beispiel mit Schwerpunktsetzungen im Kontext der Professionellen Unterrichtswahrnehmung (Blomberg et al. 2011) mit Fokus auf dem Umgang mit Heterogenität und Inklusion (Koschel & Weyland 2020; Seidel & Stürmer 2014) oder zum Feedbacktraining bei Studierenden eingesetzt (Baumgartner 2018). Positive Effekt des fallbasierten Lernens zeigen sich hinsichtlich der Kompetenzentwicklung in den Bereichen Analyse- und Entscheidungsfähigkeit, Überzeugungen zum Lehren und Lernen, epistemologische und soziale Entwicklungen sowie des Praxiswissens und der Metakognition (Gold et al. 2016; Zumbach et al. 2008). In der videobasierten Lehr-Lern-Forschung lassen sich drei Hauptrichtungen identifizieren: „Optimierung der prozessbezogenen Erfassung des Lehr-Lern-Geschehens, Effekte videobasierter Interventionen zur Verbesserung der Lehrerbildung [und] Entwicklung von videobasierten Tests in der Erfassung von Lehrerkompetenzen“ (vgl. Seidel & Thiel 2017, S. 7). Empirische Daten zeigen, dass der Einsatz von Unterrichtsvideos positive Effekte auf Kompetenzen zur Analyse und Beurteilung von Unterrichtssituationen (Blomberg et al. 2013; Boling 2007; Santagata et al. 2007; Zhang et al. 2011), auf das Verständnis der Denkprozesse der Schüler*innen (Santagata & Guarino 2011) und auf die Perspektivübernahme von Schüler*innen (Kumschick et al. 2018) haben kann. Ausgehend von einer Forderung nach mehr Theorie-Praxis-Verzahnung bereits in der ersten Phase der Lehrpersonenausbildung und dem Wissen um die hohe kognitive Belastung durch ers-
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te Unterrichtserfahrungen in Praxissemestern bieten Unterrichtsvideos als Lern- und Lehrmedium eine Möglichkeit die Praxisphasen vorzuentlasten. Auch ist dieser Ansatz interessant, wenn Praxisphasen aufgrund äußerer Umstände (z. B. Corona-Pandemie) kaum möglich sind. Hier können 360°-Unterrichtsvideos in VR eine realitätsnahe und authentische Alternative zur Präsenz bieten. Windscheid und Gold bezeichnen diese als „Digitale Hospitanz“ (2022, S. 167). 360°-Unterrichtsvideos können in diesem Kontext als Ergänzung zum klassischen Video gesehen werden, welche durch die VR-Technologie zusätzlich ein hohes Präsenzerleben ermöglichen und dadurch potenziell lernförderlich eingesetzt werden können. 2.3
Immersion und Präsenzerleben
Ein häufig genanntes Potenzial von 360°-Unterrichtsvideos in VR ist die Immersion durch HMDs (Ferdig & Kosko 2020; Feurstein & Neumann 2022; Kunz & Zinn 2022). Um dessen Implikationen für den Einsatz von 360°-Unterrichtsvideos in VR abzuleiten, bedarf es im ersten Schritt einer Definition sowie den Versuch einer Abgrenzung zum Konstrukt des Präsenzerlebens. Um Immersion zu charakterisieren, werden zwei gegensätzliche Erklärungsbereiche (technische Eigenschaft vs. mentale Qualität) genutzt. So wird einerseits physikalische Immersion der mentalen Immersion (Sherman & Craig 2018) oder auch physiologische der psychologischen Immersion gegenübergestellt (Sadowsky & Stanney 2002). Immersion gründet sich als technischen Eigenschaften der Ausgabegeräte auf folgende vier Bereiche: 1) die Sinneseindrücke sollen nach Möglichkeit ausschließlich durch das Ausgabegeräte generiert werden. Nutzende sollen von der realen Umgebung isoliert werden; 2) das Ansprechen möglichst vieler Sinne; 3) die Ausgabegeräte umgeben die Nutzenden komplett. Kein enges Sichtfeld; 4) Ausgabegeräte ermöglichen „lebendige“ Darstellung (z. B. hohe Auflösung, Farbqualität). Immersion ist ein graduelles Merkmal, das von verschiedenen Displays in unterschiedlichem Maße umgesetzt wird (Dörner er al. 2019; Slater und Wilbur 1997). Vollständige Immersion kann durch heutige VR-Ausgabegräte weitgehend umgesetzt werden im Sinne einer immersiven VR basierend auf HMDs. Desktopbasierte Systeme werden hingegen als nicht-immersive VR bezeichnet (Dörner et al. 2019). Neben der Definition von Immersion als technische Eigenschaft der Ausgabegeräte bezeichnet Immersion auch eine mentale Qualität beim Erleben von VR (Witmer & Singer 1998). So wird Immersion durch ein fehlendes Zeitbewusstsein, den Verlust des Bewusstseins für die reale Welt und das Gefühl, sich in der Umgebung zu befinden, beschrieben ( Jennett et al. 2008). Ramalho und Chambel (2013) sehen Immersion als einen wichtigen Aspekt beim Betrachten von 360°-Videos, da diese die Emotionen und das Präsenzerleben beeinflusst. Rupp et al. (2016) nennen 360°-Videos hochgradig immersiv, da ein Gefühl der Präsenz ausgelöst werden kann. Nutzenden wird es durch das Gefühl, physisch Teil der Umgebung zu sein, ermöglicht, sich besser
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auf den Inhalt zu konzentrieren. Eine Betrachtung der Immersion beim Einsatz von 360°-Videos in VR im Kontext der Lehrpersonenbildung scheint aufgrund der Unterscheidung zu traditionellen Videos interessant. In einem Versuch der Abgrenzung zur Immersion definieren Jennett et al. Präsenzerleben als „only a small part of the […] experience: whereas presence is often viewed as a state of mind, we argue that immersion is an experience in time“ (2008, S. 643). Eine einheitliche Definition für das Konstrukt Präsenzerleben besteht ähnlich wie bei der Immersion nicht. Eine gängige Beschreibung von Präsenzerleben sieht es als „subjective experience of being in one place or environment, even when one is physically situated in another“ (Witmer & Singer 1998, S. 225) oder als „psychological state in which the virtuality of experience is unnoticed“ (Lee 2004, S. 3) und damit als zentrales Element aller mediatisierter Erlebnisse. Präsenzerleben ist das „Phänomen […] bei der Mediennutzung für Momente zu vergessen, dass die rezipierten Inhalte medienvermittelt sind“, was auch als Phänomen der Non-Mediation verstanden werden kann (2008, S. 71; Lombard & Ditton 1997). Bezogen auf den Zusammenhang zwischen Präsenz und Immersion konnten verschiedene Untersuchungen zeigen, dass Präsenz insbesondere dann eintritt, wenn ein hoher Grad an Immersion erreicht wird. Unterschiedliche Parameter (ein großer Sichtbereich, Head-Tracking, reales Gehen) von virtuellen Umgebungen haben das Potential, die Präsenz zu erhöhen (Hendrix & Barfield 1996). Das Präsenzerleben kann durch verschiedene Fragebögen (Witmer & Singer 1998) oder anhand von physiologischen Daten erfasst werden. Nutzende mit einem hohen Grad von Präsenz in VR reagieren körperlich (z. B. mit höherer Hautleitfähigkeit oder Herzfequenz) bei scheinbaren Gefahrensituationen oder unter Stress (Egan et al. 2016). 2.4
Embodied Cognition und Situiertes Lernen
Arbeiten zu VR befassen sich unter anderem auch mit der Theorie der Embodied Cognition in Bezug auf das Lernen (vgl. Costa et al. 2013; Makransky & Petersen 2021). Die Theorie stammt aus den Kognitionswissenschaft und sieht den Körper als zentrale Komponente der Kognition und bei kognitiven Prozessen (Costa et al. 2013; Shapiro & Stolz 2019). Da Menschen die Welt nur durch und mit ihrem Körper erfahren können, ‚produziert‘ der Körper für sie die Welt (Macrine & Fugate 2022, S. 17). Verschiedene Theorien zur Embodied Cognition sind sich einig, dass der Körper als ein Bestandteil des Geistes fungiert. Zwei Merkmale sind zentral in den meisten Theorien zur Embodied Cognition. Zum einen, dass Körper und Umwelt wesentliche Bestandteile sind, um Wissen zu formen, einzubetten und abzurufen und dass Wissen situiert ist in Interaktionen zwischen Individuen und der Umwelt. Zum anderen, dass Wissen simuliert wird, indem das Abrufen von Informationen dem Wiedererleben eines körperlichen Zustands zum Zeitpunkt des Wissenserwerbs gleicht (Barsalou 2008; Leitan & Chaffey 2014; Shapiro 2007; Macirne & Fugate 2022). Laut der Theorie der
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Embodied Cognition besteht also eine Verbindung zwischen motorischen und visuellen Prozessen des Körpers und je stärker die Verbindung zwischen beiden ist, desto besser das Lernen. So belegen Studienergebnisse, dass eine motorische Komponente während eines Lernprozesses mehr neuronale Pfade aktiviert, wodurch mehr Lernen und mehr Erinnerungspfade entstehen. Ebenso konnte gezeigt werden, dass Lernen unterstützt wird, wenn körperliche Interaktionen und visuelle Merkmale eines zu lernenden Konzepts koordiniert werden, und zwar so, dass die körperliche Aktivität bedeutsam für das erworbene Wissen ist (vgl. Goldin-Meadow 2011; Jang et al. 2017; Makransky & Petersen 2021). Embodied Cognition scheint insbesondere für die Entwicklung prozeduralen Wissens bedeutsam, jedoch gibt es Anzeichen dafür, dass auch deklaratives Wissen oder Konzeptwissen durch verstärkte neuronale Verbindungen profitieren können (Makranksy & Petersen 2021). Erste Forschungsarbeiten im Bereich der 360°-Unterrichtsvideos in VR beziehen die Theorie im Bereich der Lehrpersonenbildung ein, indem das körperliche Erleben von fremdem oder eigenem Unterricht in der 360°-Perspektive (vermittelt über ein HMD) als förderlich für die Reflexion des eigenen Unterrichts gesehen wird (Ferdig & Kosko 2020; Feurstein & Neumann 2022) oder gar das aktive Handeln in kurzen Unterrichtssituationen der 360°-Videos als Embodied Experience die Verknüpfung von handlungsbezogenem Wissen von Lehramtsstudierenden fördern könnte (Kunz & Zinn 2022). Empirisch müssen diese theoretischen Überlegungen hinsichtlich des Lernerfolgs noch geprüft werden. In Verknüpfung mit der Embodied Cognition, welche den Körper als zentrales Element der Kognition betrachtet, ist auch der lerntheoretische Ansatz des Situierten Lernens für den Einsatz von 360°-Unterrichtsvideos in VR von Interesse, da durch die Realitätsnähe des Videoerlebens in VR die Lernsituation der realen Unterrichtssituation versucht, möglichst nahe zu kommen. Die Authentizität ist zentrales Merkmal des Situierten Lernens, da Wissen dann am besten angewendet werden kann, wenn Lern- und Anwendungssituation sich möglichst wenig unterscheiden (vgl. Dubs 1995; Duffy & Jonassen 1992; Fölling-Albers et al. 2004). Die Lehrpersonenbildung wird als geeignetes Anwendungsfeld für Ansätze des Situierten Lernens gesehen aufgrund der hohen Komplexität des Aufgabengengebietes, welches im Rahmen des Studiums nur ansatzweise abgebildet werden kann (vgl. Labudde 2002). Aus diesem Grund erscheinen Situierte Lernansätze im Lehramtsstudium passend, um „den Aufbau von notwendigen Handlungsmustern zu fördern, indem die Studierenden in möglichst authentischen und daher komplexen Lernsituationen Gelegenheit erhalten, typische unterrichtliche Problemlösungen zu erarbeiten, zu diskutieren und zu reflektieren“ (Fölling-Albers et al. 2004, S. 730). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass 360°-Videos in VR eine Sonderform der rein computergenerierten VR darstellen. Spezifische Vorteile der Technologie für die Lehrpersonenbildung lassen sich auf Seiten der Erstellung von Lernszenarien in der relativ einfachen Produktion von immersiven VR-Videoumgebungen festmachen, für welche eine 360°-Kamera und ein Standard-HMD notwendig sind. Zudem ermöglicht
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die Technologie ein Eintauchen in Unterrichtssequenzen und ein Erleben derselben, was im Kontext der Embodied Cognition von Relevanz für das Situierte Lernen sein kann und sich in dieser Weise von traditionellen Unterrichtsvideos abgrenzt. Um diese Spezifika von 360°-Unterrichtsvideos zu untersuchen und zu bewerten, sind die eingeführten Konstrukte und Theorien (Präsenzerleben, Immersion, Embodied Cognition, Situtiertes Lernen) von Bedeutung. Nach dieser Einführung zu Konstrukten und Theorien, die in Forschungsvorhaben zu 360°-Videos in VR betrachtet werden, wird im nächsten Kapitel (3) ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand gegeben. 3
Forschungsstand zu 360°-Videos in VR in der (beruflichen) Lehrpersonenbildung
Überblicksarbeiten zu Forschungsvorhaben zu 360°-Videos in VR im Bildungsbereich zeigen eine Bandbreite an inhaltlichen Gebieten, in welchen die Technologie bereits eingesetzt wird. Dominant sind die Bereiche der Medizin sowie der Psychologie aber auch Meeresbiologie, Sport oder Religionslehre sind neben der Lehrpersonenbildung vertreten (Senslon & Hsu 2019). Reviews fokussieren die Potenziale der 360°-VR und echter VR im Kontext der Bildung und konnten Vorteile hinsichtlich der Leistung von Schüler*innen, der Motivation und des Wissensabrufs finden. Die personenspezifischen Faktoren Präsenz, Wahrnehmung, Engagement, Emotionen und Empathie weisen weitere positive Effekte auf (Pirker & Dengel 2021). Hierbei liegt der Fokus meist auf dem Einsatz der Technologie zum Lehren und Lernen in unterrichtlichen Settings. Hinsichtlich des Zuschnitts dieses Beitrags wird der Fokus im folgenden Überblick auf dem Einsatz in der Lehrpersonenbildung in Form von 360°-Unterrichtsvideos in VR gelegt. In der Lehrpersonenbildung erspannen sich Vorhaben inhaltlich von der Selbstreflexion des eigenen Unterrichts über den Aspekt der Professionellen Unterrichtswahrnehmungen hin zu Bewertungen der Videotechnologie hinsichtlich Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben. Walshe und Driver (2019) untersuchen Effekte von 360°-Unterrichtsvideos auf die Selbstreflexion und Entwicklung von Lehramtsstudierenden. Im Rahmen einer interpretativen Fallstudie mit Studierenden der Grundschulpädagogik (N = 4) werden Think-Aloud-Protokolle und Interviews genutzt, um die Frage zu beantworten, wie die Nutzung von 360°-Unterrichtsvideos die Reflexion sogenannter Microteachingprozesse unterstützen kann. Die Testpersonen werden mit einer 360°-Kamera aus einer ‚birds-eye‘-Position in der Klassenmitte videografiert, während sie 10-minütige Unterrichtsproben in einer Grundschulklasse halten. Fünf Tage später wurden die Testpersonen in einer halbstrukturierten Reflexion befragt, wie die kurze Unterrichtsprobe verlaufen war. Im nächsten Schritt sollen sie nochmals die eigene Unterrichtseinheit in Form von Think-aloud Protokollen reflektieren, während sie ein HMD tragen und den eigenen Unterricht nochmals erleben. Abschließend werden alle Testpersonen mittels halbstrukturierten Interviews
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zu den Erfahrungen bei der Nutzung der 360°-Videos und zum Einfluss auf die Reflexion sowie das eigene Unterrichtshandeln befragt. Die Forschenden stellen fest, dass die „embodied experience“ der Selbstreflexion ein nuancierteres Verständnis von Microteachingprozessen ermöglicht und die Selbstwirksamkeitserwartung hinsichtlich des Unterrichtens unterstützt wird (ebd. S. 97). Feurstein (2019) untersucht anhand einer interpretativen Fallstudie (N = 16) die wahrgenommene Nützlichkeit verschiedener Rezeptionsmedien (HMD, Cardboard oder onlinebasierter Player am PC) von 360°-Videos zur Reflexion des eigenen Unterrichts von Lehramtsstudierenden der Wirtschaft. Die Testpersonen betrachten die 360°-Videos des eigenen Unterrichts mehrfach und beantworteten Fragen zu Didaktik, Inhalt und Leistung. Es folgen Fragen zur Nützlichkeit für videobasierte Selbstreflexion. Die 360°-Unterrichtvideos werden insgesamt nützlicher als traditionelle Videos für die Reflexion von Unterricht bewertet. Je nach Beobachtungsziel (z. B. Reflexion des eigenen Unterrichts oder Bewertung fremden Unterrichts) wird die Kameraposition unterschiedlich bewertet. Studierende mit dem Ziel der Selbstreflexion des eigenen Unterrichts bevorzugten einen Kamerastandpunkt mehr im Geschehen, um eine höhere Immersion zu erreichen. Lehrende, die das Ziel hatten, den Unterricht der Studierenden zu bewerten, bevorzugten eher eine Perspektive außerhalb des Geschehens. Das Cardboard wird als schlechteste Option beschrieben. Die Varianten HMD und online Player am PC werden als nützlich beschrieben. Die Skalierbarkeit der Videos im Einsatz in der Lehre wurde als Herausforderung identifiziert, da die eingesetzte Kamera ein Aufzeichnungsmaximum von 25 Minuten hatte, was für die Aufzeichnung einer Unterrichtseinheit in der Regel nicht ausreicht. In einer qualitativen Studie von Balzaretti et al. (2019) reflektieren Studierende im Lehramt den eigenen und fremden Unterricht, welcher mittels 360°-Kameras aufgezeichnet wurde. Die Testpersonen (N = 28) sind Studierende einer Lehrveranstaltung, in dessen Rahmen erste eigene Unterrichtsproben in Mathematik gehalten werden. Anschließend findet ein Feedback durch Peers und Lehrende statt und die Studierenden verfassen eine schriftliche Reflexion zur eigenen Unterrichtseinheit. Im Nachgang betrachteten die Studierenden die Videoaufzeichnungen der Unterrichtsproben und kommentieren diese. Zusätzlich werden sie in einer Online-Umfrage zur Nutzung der 360°-Unterrichtsvideos und Präsenz, Interaktion und Erklärungen befragt. Ergebnisse sind Erkenntnisse zum Einsatzpotential von 360°-Videos in der Lehramtsausbildung bezogen auf kollaboratives Anschauen und Annotieren von eigenen Videos durch Studierende. So könnte ein vertieftes Verständnis der eigenen Lern- und Lehrprozesse erzeugt werden, welche Kompetenzen im Bereich Noticing weiterentwickelt und somit einen Schritt weg vom „naiven“ Betrachten von Videos hin zu einer vertieften Reflexion durch 360°-Videos führen kann. Theelen et al. (2019) betrachten die Professionelle Unterrichtswahrnehmung von Lehramtsstudierenden (N = 141) mit einem Fokus auf „professionelle interpersonelle Unterrichtswahrnehmung“ bezogen auf unterrichtliche Ereignisse in 360°-Videos. Ziel des Mixed-Methods Ansatzes ist es, herauszufinden, wie
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virtueller Unterricht (über 360°-Videos) das Level der Interpretation von wahrgenommenen Ereignissen im Unterricht verbessern kann. Zudem evaluierten die Lehramtsstudierenden den virtuellen Klassenraum hinsichtlich technologischer Möglichkeiten und den Möglichkeiten für die Bildung. Beim Betrachten der 360°-Unterrichtsvideos werden die Testpersonen dazu angehalten, systematisch auf relevante Unterrichtssituationen zu achten (noticing) und das dazugehörige Wissen zur interpersonal teacher beaviour zu aktivieren. Anschließend werden die Interpretationen zu den Unterrichtsbeobachten in Gruppen diskutiert. Im Posttest werden nochmals traditionelle Videos von Unterricht eingesetzt, in welchen die Testpersonen Videofragmente markieren sollen. Zudem wird ein Fragebogen zu den Möglichkeiten der Videotechnologie ausgefüllt. Zwölf Testpersonen werden zusätzlich zu den Möglichkeiten der 360°-Video befragt. Insgesamt lässt sich feststellen, dass sich die Professionelle Wahrnehmung unterrichtlicher Ereignisse der Lehramtsstudierenden durch die Intervention zu verbessern scheint. Die qualitativen Daten zeigen, dass die Testpersonen mehr theoretische Terminologie zur Beschreibung des Verhaltens der Lehrperson nutzen. Für die Verbindung zwischen wahrgenommenen unterrichtlichen Situationen und Theorie für die Interpretation ist dies relevant. Die technologischen Möglichkeiten der eingesetzten Videos werden hinsichtlich Nutzendenfreundlichkeit negativ bewertet (z. B. Schwindel beim Tragen, Probleme mit dem Smartphone, etc.). Studierende im Grundschullehramt Mathematik sind die Zielgruppe einer Studie von Ferdig und Kosko (2020), welche sich mit den positiven und negativen Implikationen der Nutzung von 360°Unterrichtsvideos zur Verbindung von Theorie und Praxis in der Lehramtsausbildung befasst. Die Testpersonen (N = 34) werden zufällig in eine der drei Untersuchungsdesigns (traditionelles Video auf Laptop, 360°-Video auf Laptop, 360°-Video auf HMD) aufgeteilt und erhalten die Aufgabe, entscheidende Momente derselben 7-minütigen Unterrichtssequenz zum Kommutativprinzip der Multiplikation zu markieren. Es könnten signifikante Unterschiede sich für das Präsenzerleben und die Immersion zwischen den Untersuchungsdesigns festgestellt werden. Die Kontrollgruppe mit traditionellen Videos zeigt durchgängig geringere Bewertungen. Zusätzlich ist das Noticing der zentralen Momente der Videosequenz in der Gruppe mit 360°-Videos via HMD, bezogen auf pädagogisches Handeln im Mathematikunterricht, deutlich ausgeprägter. In einer explorativen quasi-experimentellen Studie betrachten Kunz und Zinn (2022) inwiefern sich 360°-Unterrichtsvideos in VR zum Einsatz im Lehramtsstudium Technikpädagogik bzw. der Berufspädagogik eignen hinsichtlich der Professionalisierung für den Unterricht. Hierfür erlebten die Testpersonen (N = 57) 360°-Unterrichtsszenarien in VR über Head-Mounted-Displays aus der Ego-Perspektive und reagierten als Lehrperson in typischen kurzen Unterrichtssituationen. Die Eignungseinschätzung zeigt hohe Bewertungen hinsichtlich Technologieakzeptanz (Facetten Nützlichkeit, Benutzerfreundlichkeit und Nutzungsintention) sowie des Präsenzerleben und der Immersion. Die qualitativen Daten deuten eine positive Bewertung der Videosequenzen für den Einsatz zur Professionalisierung von angehenden Lehrpersonen an, wobei das
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realitätsnahe Erleben und Interagieren mit Unterrichtssituationen als durchweg positiv bewertet wurde. Ein Mehrwert wurde auch hinsichtlich der Reflexion des eigenen unterrichtlichen Handelns gesehen. Entwicklungspotenziale lassen sich in der Ermöglichung von angeleiteten Reflexionen im Nachgang finden sowie in der erweiterten Möglichkeit, Interaktionen in die 360°-Unterrichtsvideos zu integrieren. Zudem kann ein Gruppenunterschied hinsichtlich der Bewertung der Aspekte Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben bei Personen mit und ohne unterrichtliche Praxiserfahrung (Praxissemester o. Ä.) identifiziert werden, welcher auf einen Einsatz der Videos in der Ausbildung vor Praxisanteilen zu empfehlen scheint. Gold und Wind scheid (2022) betrachten in einer explorativen Studie mit Fokus auf zwei zentrale Wirkmechanismen des Lernens mit 360°-Videos das Präsenzerleben und die kognitive Belastung bei der Videorezeption sowie Unterschiede entsprechend des Beobachtungsschwerpunkts. Videotyp (360° und 16:9) als auch der Beobachtungsschwerpunkt (Klassenführung vs. Arbeitsverhalten einer Schülerin) werden variiert. Die Testpersonen (N = 59; Lehramtsstudierende) werden zufällig in vier Gruppen aufgeteilt, und durchlaufen dann die verschiedenen Videoszenarien in den beiden Modi. Es zeigen sich ein signifikant höheres Präsenzerleben bei den Videos im 360°-Format, jedoch nicht hinsichtlich Beobachtungsschwerpunkt. Hinsichtlich der kognitiven Belastung ist der Beobachtungsschwerpunkt Klassenführung belastender als der Schwerpunkt Arbeitsverhalten. Zu untersuchen bleibt, welche Effekte das Lernen mit der 360°-Videos auf die Kompetenzentwicklung von Lehramtsstudierenden hat. Gandolfi et al. (2021) befassen sich mit einem Fragebogeninstrument zur Erfassung des Präsenzerlebens bei der 360°-Videonutzung im Lehramtsstudium. Bestehende Skalen zum Präsenzerleben wurden für die Zielgruppe der Lehramtsstudierenden adaptiert und in Form der extended Reality Presence Scale (XRPS) basierend auf einer Rasch-Analyse validiert. Weitere Zielsetzung der Untersuchung ist es, das Konstrukt Präsenzerleben basierend auf der XRP-Validierung zu verstehen (z. B. was sind die Parameter des immersiven Präsenzerlebens im Kontext?) sowie die Blickrichtungsmuster der Testpersonen in Korrelation mit den Scores des Präsenzerlebens zu analysieren (z. B. korreliert das Präsenzerleben mit einem spezifischen Beobachtungsmuster?). Die Stichprobe besteht aus Lehramtsstudierenden (N = 44), die im Rahmen einer Lehrveranstaltung zu Educational Technologies ein 360°-Video eines Mathematikunterrichts über das HMD Oculus Go betrachteten. Die Ergebnisse liefern Hinweise, welche die Validität der XRPS-Skala unterstützen, durch einerseits die Analyse kognitiver Interviews und der Analyse von Twitches (entspricht einem unregelmäßig veränderten Blickfokus einer Person) in Korrelation mit XPRS-Scores. Zudem zeigt die psychometrische Analyse Hinweise auf Unidimensionalität und Person-Iten-Reliabilität der XRPS sowie Hinweise darauf, dass die Skala kontinuierlich von geringem („withdrawn“) bis hohem („mesmeric“) Präsenzerleben beim Betrachten von 360°-Unterrichtsvideos verläuft. Der wahrgenommene emotionale Bezug und ein Gefühl der Handlungsfähigkeit der Testpersonen sind Anzeichen eines höheren Präsenzerlebens.
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Zusammenfassend zeigt sich, dass beim Einsatz von 360°-Unterrichtsvideos in VR in der Lehrpersonenbildung meist die reflexive Fallarbeit bei der Unterrichtsbeobachtung mit Fokus auf das Konstrukt Professionelle Unterrichtswahrnehmung im Zentrum steht. Darüber hinaus werden die Konstrukte Präsenzerleben und Immersion sowie kognitive Belastung und Technologieakzeptanz betrachtet. Erkenntnisse dazu, wie und in welcher Weise 360°-Unterrichtsvideos in VR im Bereich der Lehrpersonenbildung zur Kompetenzentwicklung beitragen, liegen nur in Ansätzen vor. Aus diesem Grund ist ein Vergleich auf dieser Ebene mit etablierten Videoformaten (noch) nicht möglich. Einige Forschungsvorhaben versuchen einen Technologievergleich. Ansätze im beruflichen Sektor sind kaum vertreten und ein Zuschnitt auf fachliche bzw. fachdidaktische Fragestellungen im beruflichen Bereich fehlen vollkommen. Insgesamt wird die 360°-Technologie beim Einsatz in der Lehrpersonenbildung weitegehend positiv bewertet und die Einsatzpotenziale sind, trotz möglicher technischer und finanzieller Hürden in der Umsetzung, vielfältig. Zu speziell auf den berufsbildenden Bereich zugeschnittenen Forschungsvorhaben zur Nutzung von 360°-Unterrichtsvideos in VR liegen bisher kaum empirischen Befunde vor. 4
Gestaltung von Lehr-Lernsettings mit 360°-Unterrichtsvideos in VR
Die Erkenntnisse der verschiedenen und bislang unsystematisch bestehenden Ansätze zum Einsatz von 360°-Unterrichtsvideos in VR in der Lehrpersonenbildung sollen im folgenden Kapitel gebündelt werden, indem ein exemplarisches Lehr-Lernsettings anhand zweier bestehender Modelle zum Einbezug herkömmlicher VR (Zinn et al. 2020b) bzw. 360°-Videos in der Hochschullehre (Feurstein & Neumann 2022) vergleichend beschrieben wird. Ziel ist es, die Modelle hinsichtlich ihrer Passung zu bewerten und durch den Vergleich der Modelle zu einer abschließenden Empfehlung für die die Gestaltung von zukünftigen Lehr-Lernsettings mit 360°-Unterrichtsvideos in VR im berufsbildenden Bereich zu erstellen. Basierend auf einer Recherche im Bezugsfeld, konnten neben Reviews zum Einsatz von VR für das Lernen (Lee & Wong 2008), Designguidlines für die Erstellung von VR-Lernanwendungen (Vergara et al. 2017) oder den Lernmöglichkeiten in virtuellen 3D-Umgebungen (Dalgarno & Lee 2010) auch zwei Modelle zur Gestaltung identifiziert werden, die Aufgrund ihrer Ausrichtung zum Einsatz von 360°-Unterrichtsvideos in der beruflichen Lehrpersonenbildung passen. Einerseits ein Baukastenmodell zur Konzeptionierung von VR-Lehrund Lernszenarios in der beruflichen Aus- und Weiterbildung (Zinn et al. 2020b) und andererseits ein konzeptionelles Modell zur Gestaltung von 360°-Video Lehr-Lernszenarien im Kontext der Hochschullehre (Feurstein & Neumann 2022). Beide Modelle schließen jeweils eines der beiden zentralen Elemente a) VR im berufsbildenden Sektor oder b) 360°-Videos für Lehr- und Lernkontexte ein. Aus diesem Grund erscheint keines der beiden Modelle für sich ausreichend für die Ableitung von Empfehlungen
360°-Unterrichtsvideos in Virtual Reality in der beruflichen Lehrpersonenbildun
für die Erstellung von Lehr-Lernszenarien mit 360°-Unterrichtsvideos in VR in der beruflichen Lehrpersonenbildung. 4.1
Modelle zum Einbezug der Technologie in Lehr-Lernsetting
Im Folgenden werden zwei Modelle zum Einbezug von VR-Technologie bzw. 360°-Videos in Lehr-Lernsettings dargestellt (4.1.1 & 4.1.2). Tab.1 Vergleichende Darstellung der Modelle von Zinn et al. (2020b) und Feurstein & Neumann (2022). Modelle
Rahmenmodell zur Konzeptionierung von VR-Szenarien in der beruflichen Aus- und Weiterbildung (Zinn et al. 2020b)
Modell zur Gestaltung von 360°-Video Lehr-Lernszenarien in der Hochschul lehre (Feurstein & Neumann 2022)
Zielgruppe
Personen, die Lehr- Lernszenarien in VR für die berufliche Aus- und Weiterbildung konzeptionieren und einsetzen
Hochschullehrende in der Wirtschaftsinformatik, die 360°-Video Lehr-Lernszenarien konzeptionieren und einsetzen
Einsatzmöglichkeiten
industrieller Dienstleistungsbereich Kontexte der beruflichen Aus- und Weiterbildung
Hochschullehre in der Wirtschaftsinformatik Hochschullehre allgemein
Basiert auf
zentralen lehr- und lerntheoretischer Erkenntnisse und methodisch-didaktischen Entscheidungen Befunden zur Konzeptionierung virtueller Umgebungen
TPACK-Modell mit den Bereichen: Pedagogy (P), Content (C) und Technology (T) Format eines UML (Unified Modeling Language) Klassendiagramm nach Haendler und Neumann (2019; 2020)
Kernelemente
Zielgruppe Kompetenzebene/ -niveau: Fachkompetenz, Sozialkompetenz, Personalkompetenz Lerninhalt (Usecase) VR-Technologie: VR nicht-immersiv, VR teil-immersiv, VR immersiv, AR Lerntheoretische Ansätze: Kognitivistisches & konstruktivistisches Lernen, z. B. Situiertes Lernen Sozialform: Einzelarbeit, Gruppenarbeit, mit tutorieller Anweisung Schulungsform
Educational Objective (P): Auswahl von Lernzielen anhand kognitiver und wissensbasierter Dimensionen Learning Objects (C): Strukturierung der Inhaltskomponenten anhand von vorgegebenen Typen und Ausprägungen CSCL-Skript (T): Beschreibung der technischen Integration und Strukturierung im Kontext einer (Video-)Lernumgebung Video-Based Learning (T): Definition von Interaktionen, Zeitmarken, Highlights des Videos 360°-Video Technology (T): Abgrenzung der Dimensionen der Immersion. Festlegung des benötigten Projektionsmediums und Beschreibung der verwendeten Perspektiven
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Modelle
Rahmenmodell zur Konzeptionierung von VR-Szenarien in der beruflichen Aus- und Weiterbildung (Zinn et al. 2020b)
Modell zur Gestaltung von 360°-Video Lehr-Lernszenarien in der Hochschul lehre (Feurstein & Neumann 2022)
Zielsetzung
Theoretisch und empirisch begründete Anregungen zur spezifischen Ausgestaltung von virtuellen Lernund Arbeitsumgebungen geben (Zinn et al. 2020b, S. 181)
Grundlage zur systematischen Gestaltung von 360°-Video Lehr-Lernszenarien
Implikationen
Evidenzbasierten Nutzung der VR-Technologie auf allen Entscheidungsebenen. Keine Aussage über Wirksamkeit der Komponenten.
Evidenzbasierte Nutzung auf allen Entscheidungsebenen wünschenswert. Keine Aussage über Wirksamkeit der Komponenten.
Gestaltung von LehrLernsetting (360°-Unterrichtsvideos)
alle Kernelemente anwendbar VR-Technologie a priori festgelegt: 360°-Videos über teil-immersiven HMDs in VR
alle Kernelemente anwendbar a priori Zuschnitt auf 360°-Videos
4.1.1
Rahmenmodell zur Konzeptionierung von VR-Lernszenarien in der beruflichen Aus- und Weiterbildung (Zinn et al. 2020b)
Ein bestehendes Rahmenmodell zur Konzeptionierung von VR-Lernszenarien, welches aus dem Maschinen- und Anlagenbau stammt von Zinn et al. (2020b, S. 177 f.) kann als „[m]ethodisch-didaktischer Baukasten für die Gestaltung virtueller Lernumgebungen“ betrachtet werden. Um ein Lernszenario zu gestalten, müssen zunächst grundlegende Entscheidungen getroffen werden: Festlegung der 1. Zielgruppe, 2. Kom petenzebene/-niveau, 3. Lerninhalten (Use Cases) und 4. VR-Technologie, 5. Lerntheoretische Ansätze, 6. Sozialform sowie 7. Schulungsform. Auf jeder Ebene bestehen verschiedene Optionen, die sich nicht ausschließen müssen und zwischen den Ebenen bestehen ebenfalls Abhängigkeiten (ebd.). Dekliniert man die Möglichkeiten des Baukastens (siehe Tab. 1) an einem exemplarischen Lernsetting zum Einbezug von 360°-Unterrichtsvideos in VR in der beruflichen Lehrpersonenbildung durch, so könnte sich folgendes Beispiel ergeben: (1) Zielgruppe: Studierenden im Lehramt für berufliche Schulen, welche sich im Bachelorstudium (2. Semester, verschiedene gewerblich-technische Fachrichtungen) befinden und keine bis wenig Praxiserfahrung haben. (2) Kompetenzebene: professionelle Handlungskompetenz von Lehrpersonen. (3) Lerninhalt (Usecase): Use Case ist eine typische, reale Unterrichtssequenz aus dem Alltag an einer berufsbildenden Schule. Es treten Ereignisse auf, bei welchen die Schüler*innen Leistungsheterogenität im Bereich mathemati-
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(5)
(6) (7)
4.1.2
scher Basiskompetenzen aufweisen und die Lehrperson reagieren muss. Der Lerninhalt der Studierenden befindet sich im Bereich der Professionellen Unterrichtswahrnehmung (mit den Bereichen Beschreiben, Erklären, Vorhersagen) zum Umgang mit Leistungsheterogenität. Die Analyse der Lernausgangslage ergibt, dass die Studierenden sich im Studium bislang nicht mit der Thematik auseinandergesetzt haben. VR-Technologie: In einem nächsten Schritt wird die Entscheidung hinsichtlich der genutzten Technologie basierend auf einer Kosten-Nutzen-Analyse durchgeführt. Die Entscheidung fällt auf die Nutzung eines teil-immersiven 360°-Videos Settings vermittelt über HMDs (z. B. Meta Quest 2 oder Pico 4), da die spezifischen Eigenschaften der Videos in Abgrenzung zu traditionellen Videos durch die Möglichkeit der Perspektivaneignung durch Kopfbewegung und Eintauchen in die Videoumgebung ermöglicht werden. Desktopbasierte Anwendungen oder immersive HMDs mit Sechs-Stufen-Tracking (6DoF) werden nicht genutzt, da am Desktop das Potenzial der 360°-Unterrichtsvideos nicht genutzt werden kann und immersive HMDs nicht in vollem Umfang genutzt werden können, da 360°-Videos maximal 3DoF ermöglichen, jedoch keine freie Bewegung im Raum durch Tracking. Lerntheoretische Ansätze: Es handelt sich um eine Form des Situierten Lernens, da durch die 360°-Perspektive das Erleben von Unterricht authentisch ist und somit eine realitätsnahe Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand ermöglichen kann. Sozialform: Lernen in Einzelarbeit, da die Studierenden die Unterrichtsvideos nur einzeln betrachten und durchlaufen können. Anschließend theoriegeleitete Reflexion der Videos in der Seminargruppe. Schulungsform: Das Lehr-Lernsetting befindet sich im Bereich einer immersiven VR-Schulung, welches eingebettet in eine pädagogische Lehrveranstaltung (Seminar) stattfindet. Modell zur Gestaltung von 360°-Video Lehr-Lernszenarien in der Hochschullehre (Feurstein & Neumann 2022)
Ein zweites Modell zur Gestaltung von 360°-Video Lehr-Lernszenarien in der Hochschullehre aus dem Bereich Wirtschaftsinformatik stammt von Feurstein und Neumann (2022). Es basiert auf dem TPACK Modell und „verknüpft Educational Objectives, Learning Objects und CSCL-Scripts mit 360°-Video-Based Learning“ (Feurstein & Neumann 2022, S. 65). Es geht der Frage nach, welche Konzepte die Gestaltung eines 360°-Videos Lehr-Lernszenarios beeinflussen, indem eine Untergliederung in drei Teilbereiche entsprechend des TPACK Frameworks nach Koehler und Mishra (2005) erfolgt: Technology, Pedagogy und Content. Das Modell inkorpo-
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riert Mechanismen von CSCL-Skripts (Computer-Supported Collaborative Learning Scripts; Kobbe et al. 2007), Entwurfsmuster für Videoumgebungen (Seidel 2018) und die Klassifikation von 360°-Videos entsprechen der Darstellungsmedien (Zobel et al. 2018) als technologische Einflussfaktoren im Teilbereich Technology des Modells. Die pädagogischen Einflussfaktoren im Teilbereich Pedagogy basieren im konzeptuellen Modell auf einer erweiterten Taxonomie Tabelle der Lernziele, die den Inhalt und die lerntheoretische Anwendung dessen um die Dimension des Wissens erweitert zur Berücksichtigung bei der methodisch-didaktischen Gestaltung bei 360°-Lehr-Lernszenarios (Krathwohl 2002). Im dritten Teilbereich, Content, wird das ALOCOM Modell (Abstract Learning Object Content Model; Verbert & Duval 2008) für die Gestaltung von 360°-Lehr-Lernszenarien genutzt, da dieses übergreifende Modell unterschiedliche Ansätze zur Definition von Inhalten verbindet. Inhalte werden untergliedert in „Content Fragments“ (unterste Ebene: Video, Audio, Text). Diese kombiniert ergeben „Content Objects“ (Ressourcentypen: Demonstration, Experiment Definition), welche Teile von „Learning Objects“ sind. Diese können mit Lernzielen verbunden werden (Feuerstein & Neumann 2022, S. 84 f.). Auf Basis des komplexen Modells von Feuerstein und Neumann können 360°-Video Lehr-Lernszenarien in fünf Stufen klassifiziert und dokumentiert werden (2022, S. 90) (vgl. Tab. 1). (1) Educational Objective: Auswahl von Lernzielen anhand kognitiver und wissensbasierter Dimensionen. Zentral ist der Einsatz von 360°-Unterrichtsvideos in VR in der Lehrpersonenbildung zum Lernen im Kompetenzbereich der Professionellen Unterrichtswahrnehmung zum Training der professionellen Handlungskompetenz. Das Educational Objective ist das Training der Professionellen Unterrichtswahrnehmung (die Wahrnehmung relevanter Ereignisse im Unterricht, das theoriegeleitete Erklären der Ereignisse und das anschließende wissensgeleitete Vorhersagen von Konsequenzen oder Handlungsalternativen) als Teil der Professionellen Handlungskompetenz. (2) Learning Object: Strukturierung der Inhaltskomponenten anhand von vorgegebenen Typen und Ausprägungen. Das Content Object besteht aus den 360°-Videos von Unterricht, die eingesetzt werden und mit welchen direkt interaktiv gearbeitet wird. Die Lernenden erleben typische, reale Unterrichtssequenzen aus einer berufsbildenden Schule, in welcher Ereignisse auftreten, bei der die Schüler*innen Leistungsheterogenität der mathematischen Basiskompetenzen aufweisen und die Lehrkraft entsprechend reagieren muss. (3) CSCL-Script: Beschreibung der technischen Integration und Strukturierung im Kontext einer (Video-) Lernumgebung. Das CSCL-Script besteht aus mehreren Video-Interventionen im Rahmen einer Lehrveranstaltung im Bereich des pädagogischen Begleitstudiums im 2. Bachelorsemester des Lehramtsstudiums. Angeleitet werden diese durch die Lehrperson im Seminar, wobei die einzelnen Lerneinheiten auf einzelne Videos und anschließende Reflexionsphasen aufgeteilt werden.
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(5)
4.1.3
Video-Based Learning: wird eingesetzt, indem mehrere, aufeinander aufbauende kurze Videos mit Fragen zur professionellen Wahrnehmung des Geschehens verknüpft werden. So werden anhand jedes Videos Aufgaben zur Wahrnehmung, Erklärung und abschließend Vorhersagen des Geschehens in die Videos eingebaut. Basierend auf den Antworten folgen weitere verlinkte Videos, bevor das Lehr-Lernsetting in der Gruppe theoriegeleitet reflektiert wird. 360°-Video Technology (T): Setting in der Dimension Mobile Immersion und nutzt als Projektionsmedium nicht kabelgebundene HMDs (z. B. Pico 4 oder Meta Quest 2). In den unterschiedlichen Videos werden die Perspektiven der Lehrperson (Main Content Zone) an unterschiedlichen Stellen im Klassenraum dargestellt. Vergleich der Modelle und Empfehlung für die Gestaltung von Lehr-Lernsettings
Die beiden Modelle (4.1.1 & 4.1.2) wurden ausgewählt, um eine Empfehlung für einen Ansatz zur Analyse und systematischen Konzeptionierung von Lehr-Lernsettings mit 360°-Unterrichtsvideos in Lehr-Lernsettings zu schaffen. Die beiden Modelle eigenen sich aufgrund ihres Zuschnitts einerseits auf VR-Lehr-Lernsettings im Kontext der Berufsbildung (4.1.1) und aufgrund des Einbezugs von 360°-Videos in der Hochschullehre (4.1.2). Bislang besteht nach aktuellem Recherchestand kein Modell, welches beide Teilbereiche einbezieht. Da die Verwendung einer Technologie keinen Selbstzweck für das Lernen darstellt, sollte ein Rahmen für die Erstellung und zielführende Nutzung der 360°-Videotechnologie in der beruflichen Lehrpersonenbildung geschaffen werden. Grundsätzlich sind beide Modelle nutzbar für die Konzeptionierung von Lehr-Lernsettings im Bezugsfeld, da alle Kernelemente angewendet werden können. Überschneidungen lassen sich hinsichtlich der Komptenzebene/-niveau (1. Modell) und Eudcational Objective (2. Modell) sowie hinsichtlich des Lerninhalts (1. Modell) und des Learning Objects (2. Modell) finden. Ein Hauptunterschied lässt sich in der Fokussierung des 2. Modells auf 360°-Videos als eingesetzte Technologie in Abgrenzung zu allen Varianten von VR-Lernumgebungen im 2. Modell erkennen. Daraus resultiert eine stärkere Differenzierung hinsichtlich des Video-Based-Learnings und der Nutzung von CSCL-Scripts, was für die Konzeptionierung von Lehr-Lernsettings in der Hochschulbildung von Lehrpersonen praktisch anwendbar ist und zur stärkeren Systematisierung beiträgt. Ein weiterer Unterschied findet sich in der stärkeren Betonung des Lernsettings bzw. der lerntheoretischen Ansätze des 1. Modells. Hier finden Sozial- und Schulungsform und die dazugehörige Lerntehorie bei der Erstellung der Lehr-Lernszenarien eine größere Rolle. Dies mag der größeren Bandbreite an möglichen Formen der Lehr-Lehrkonzepte geschuldet sein, die es in der beruflichen
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Aus- und Weiterbildung im Vergleich zur Hochschullehre der Wirtschaftsinformatik (2. Modell) gibt. Anschließend an den Vergleich der beiden Modelle soll eine Empfehlung zur Nutzung der beiden für die Konzeptionierung oder Systematisierung von Lehr-Lernsettings mit 360°-Unterrichtsvideos erfolgen. Da beide Modelle eine leicht unterschiedliche Schwerpunktsetzung haben, jedoch beide grundsätzlich anwendbar sind, scheint die Integration der Lernsettings und Lerntheoretischen Ansätze des 1. Modells in das 2. Modell mit spezifischem Zuschnitt auf 360°-Videos möglich. Somit kann ein integratives Modell mit Schwerpunktsetzung auf eine ausgewählte Technologie (360°-Videos in VR; 2. Modell) bei gleichzeitiger Betonung der Bedeutsamkeit der Beachtung von aus der Theorie und aus empirischen Befunden abgeleiteten Gestaltungsaspekten zur Lerntheorie sowie Lernsettings (aus dem 1. Modell) entstehen. 5
Zusammenfassung und Ausblick
Der Beitrag soll einen Überblick zum bisherigen Stand des Einsatzes und der Forschung von 360°-Unterrichtsvideos in VR in der Lehrpersonenbildung liefern. Zudem wurden zwei bestehende Modelle zum Einsatz von VR-Technologien bzw. 360°-Videos in Lehr-Lernsettings beschrieben und verglichen sowie eine Empfehlung für deren integrativer Einsatz zur Konzeptionierung und Systematisierung von Lehr-Lernsettings in der beruflichen Lehrpersonenbildung abzuleiten. Abschließen sollen nun die Ansatzpunkte für den weiteren Einsatz von 360°-Unterrichtsvideos in VR in der Lehrpersonenbildung zusammengefasst werden für einen systematischen Einsatz in der Lehrpersonenbildung. Forschungsvorhaben im Bereich der 360°-Unterrichtsvideos in VR befinden sich bislang im explorativen Bereich und legen die Basis für systematische Untersuchung der Effekte der Videonutzung für die Kompetenzerweiterung von Lehramtsstudierenden. Der Einsatzbereich erstreckt sich weitgehend auf das Erleben von Unterricht über HMDs mit anschließender Reflexion (Balzaretti et al 2019). Das Konstrukt der Professionellen Unterrichtswahrnehmung wird häufig betrachtet, wie es auch der Fall ist bei Forschungsvorhaben zum Einsatz traditioneller Videos in der Lehrpersonenbildung (vgl. Windscheid & Gold 2022; Seidel & Thiel 2017; Theelen et al. 2019). Die Konstrukte Präsenzerleben und Immersion sowie Aspekte der Technologieakzeptanz wurden betrachtet und es lassen sich positive Aussagen zur eingesetzten Technologie treffen. Die beiden vorgestellten Modelle können in einer integrativen Form hilfreich sein, um zukünftige Lehr-Lernsettings in der beruflichen Lehrpersonenbildung zu entwickeln und systematisiert zu untersuchen. Die Auseinandersetzung mit Modellen zur Konzeptionierung von Lehr-Lernsettings bei gleichzeitiger Betrachtung von Forschungsergebnissen im Bereich sollen einen Schritt hin zur systematischen und evidenzbasierten Integration der 360°-Unterrichtsvideos in die berufliche Lehrpersonenbildung anstoßen. Denn „merely introducing technology to the educational process is not enough to ensure technology integration“ (Koeh-
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ler & Mishra 2005, S. 132). Ein zentrales Desiderat im Kontext ist, empirische Evidenz zu finden, ob in einem Situierten Lernsetting durch 360°-Unterrichtsvideo in VR der Erwerb professioneller Handlungskompetenz von Lehramtsstudierenden ermöglicht werden kann. Der Aufwand beim Einsatz der 360°-Videotechnologie in der Lehre ist niedrig, wodurch bestehende Praxisräume ohne direkten Schulkontakt ergänzt werden können. Für den Einsatz in der universitären Lehrpersonenausbildung können die beiden beschriebenen Modelle in integrativer Form einen Strukturierungsrahmen bieten. Forschungsvorhaben insbesondere für den berufsbildenden Bereich fehlen bislang jedoch weitgehend. Hier sollten die notwendigen Bedarfe identifiziert und modellhafte Lehr-Lernsettings zu verschiedenen beruflichen Fachbereichen entsprechend der Kernelemente des integrativen Modells entwickelt und erprobt werden. Literatur
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360°-Unterrichtsvideos in Virtual Reality in der beruflichen Lehrpersonenbildun
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Virtuelle Fachräume Zugänge, didaktische Ansätze und Benefits für einen beruflichen Kompetenzerwerb
RUPERT HEINDL / DANIEL PITTICH
Zusammenfassung: Technologisch ist im Bereich erweiterter Realitäten (kurz: XR) bereits viel
möglich. XR-Technologien verbreiten sich dabei zunehmend und finden auch in der beruflichen Bildung Anwendung. Über die Zukunftspotenziale von XR für das berufliche Lernen besteht weitestgehend Konsens. Die wenigen aktuell vorhandenen Studien deuten jedoch auch an, dass die lernbezogenen Mehrwerte von XR stark davon abhängen, wie die XR-Technologien zur Unterstützung und Verbesserung des Lernens eingesetzt werden. Damit erscheint auch aus technik- und fachdidaktischer Sicht die Frage nach dem didaktisch sinnvollen Einsatz von XR-Technologien im beruflichen Unterricht zentral und die Auseinandersetzung mit didaktisch-ausgerichteten Ansätzen zur Implementierung XR-Technologien in beruflichen Lehr-Lernprozessen eine Zukunftsaufgabe. Der vorliegende Beitrag lässt sich diesem Zukunftsthema technik- und fachdidaktischer Forschung und Praxis zuordnen. Ausgehend von Potenzialen der XR-Technologie wird ein didaktisch-ausgerichteter Entwicklungsansatz für die Implementierung in beruflichen XR-Lernumgebungen skizziert. Hierbei werden die Prozesse von Technologieentwicklung und Unterrichtsentwicklung aufeinander bezogen, konzeptionelle Anknüpfungspunkte und Synergien herausgearbeitet sowie erste Umsetzungserfahrungen aus dem laufenden Projekt „Virtuelle Fachräume“ diskutiert. Schlüsselwörter: XR, berufliches Lernen, didaktischer Entwicklungsansatz, Technologieentwicklung und Unterrichtsentwicklung “Virtual Classrooms” Access, Teaching and Learning Approaches and Benefits for Competence Development in TVET ABSTRACT: Technology already offers a wide range of possibilities in extended realities (XR). XR
technologies are increasingly spreading and finding applications in vocational education. There is a consensus regarding the future potential of XR for vocational learning. However, the few existing
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Rupert Heindl / Daniel Pittich
studies on the topic also indicate that the learning-related added value of XR largely depends on how these XR technologies are used to support and enhance learning. Thus, from a technical and subject-didactic point of view, the question of the didactically meaningful use of XR technologies in vocational education and training is central. The discussion of didactically oriented approaches to the implementation of XR technologies in vocational teaching-learning processes appears to be an essential task for the future. This paper contributes to technological and subject-specific didactic research and application in this future-oriented topic. Starting from the potentials of XR technology, we outline a didactically-oriented development approach for implementation in vocational XR learning environments. This approach establishes connections between technological- and teaching and learning developments and identifies conceptual points of reference and synergies. Finally, we discuss experiences from the initial implementation of the ongoing “Virtual Classrooms” project. Keywords: XR, Vocational Learning, didactically-oriented development approach, technologicaland teaching and learning development
1
Ausgangssituation, Potenziale und aktuelle Verwendung von XR in der beruflichen Kompetenzentwicklung
1.1
Ausgangssituation und Potenziale
Virtual und Augmented Reality Anwendungen lassen sich unter dem Begriff XR subsummieren (u. a. Doolani et al., 2020, S. 4) und finden, wie u. a. dieser Sammelband belegt, auch in beruflichen Lernprozessen zunehmend Anwendung. Dabei besteht über die grundlegende Eignung und die vielfältigen Potentiale dieser Technologie weitestgehend Konsens. Fest steht jedoch, dass neue Technologien im Kontext des beruflichen Lernens keinen Selbstzweck erfüllen, sondern berufliches Lernen methodisch und medial unterstützen, bereichern oder auch verbessern sollen. Mit dieser Prämisse rückt entsprechend auch eine didaktische Perspektive in den Fokus. Für das berufliche Lernen erscheint also folgende Frage zentral: Wie kann der Einsatz von XR-Technologien die angestrebte Entwicklung beruflicher Kompetenz unterstützen? In den diesbezüglichen Auseinandersetzungen ist es zwingend erforderlich, technologische, didaktische, methodisch-mediale und inhaltliche Aspekte des beruflichen Lernens zu betrachten und diese schlüssig in entsprechende Lernumgebungen zu integrieren. Damit ist die Erstellung von lernförderlichen XR-Lernumgebungen eine Zukunftsaufgabe technik- und fachdidaktischer Forschung und Praxis. Aus technologischer Sicht werden unter XR- Technologien Kombinationen von virtuellen und realen Umgebungen, in denen Interaktionen zwischen Menschen und Maschinen durch Computertechnologie und Hardware erfolgen, verstanden. XR umfasst damit virtual reality (VR), mixed reality (MR) und augmented reality (AR) (Doolani et al., 2020, S. 4). In Deutschland nimmt die Nutzung von XR-Technologien innerhalb und außerhalb des Bildungsbereichs stetig zu (Bitkom e. V., 2022, S. 14–18). Laut Bitkom-Studie nutzen
Virtuelle Fachräume
18 % der deutschen Bevölkerung ab 16 Jahren bereits VR-Headsets. Zusammen mit den Menschen, die vorhaben eine VR-Brille in Zukunft zu nutzen oder sich dies zumindest vorstellen können, sind 53 % der deutschen Bevölkerung zur Nutzung von VR bereit. Unter den Personen, die bereits jetzt VR nutzen, verwenden 20 % VR im Bereich von Bildungs- und Lernprojekten (Bitkom e. V., 2022, S. 14–15). AR haben bereits 17 % der deutschen Bevölkerung ab 16 Jahren genutzt und 30 % sind bereit, es in der Zukunft zu nutzen. Von den Menschen, die AR bereits genutzt haben, verwendeten es 39 % für Bildungs- und Lernprojekte (Bitkom e. V., 2022, S. 15–18). Diese Zahlen zeigen zum einen, dass ein großer Teil der Bevölkerung zur Nutzung von XR-Technologien bereit ist. Zum anderen ist erkennbar, dass der Bereich Bildung und Lernen mit 20 % im Segment VR und 39 % im Segment AR einer der relevantesten Anwendungsbereiche von XR-Technologien ist. XR-Anwendungen gehören damit zu den Zukunftstechnologien im Bildungsbereich. Dies lässt sich u. a. mit den vielfältigen Potenzialzuschreibungen von XR-Technologien für und im Lernen begründen. Slater und Sanches-Vives (2016, S. 14) führen verschiedene Potenziale an: (1) Die Möglichkeit „das Abstrakte in konkretes zu verwandeln“, beispielsweise bei der Vermittlung von geometrischen Konzepten. (2) Die Möglichkeit der Interaktion mit dem Medium und damit konkretes Handeln der Lernenden anstelle einer reinen Beobachtung. (3) Die Möglichkeit Lernaktivitäten umzusetzen, die in der Realität zwar möglich aber u. a. aus zeitlichen oder räumlichen Gründen nicht umsetzbar sind. (4) Die Möglichkeit die Realität anzupassen z. B. das Aussetzen der Schwerkraft. Überträgt man diese eher übergreifenden und technologischen Potenziale von XR auf die Spezifika und Herausforderungen beruflicher Kompetenzentwicklung, lassen sich wiederum konkrete Potenziale für den Einsatz in beruflichen Lehr- und Lernprozessen ableiten. Aus Aspekt 1 ergibt sich die Möglichkeit, abstrakte Konzepte sichtbar zu machen, wie bspw. Visualisierungen von Magnetfeldlinien oder Temperaturbereichen. Niegemann und Niegemann (2018, S. 41) nennen passend dazu die Möglichkeit, „die inneren Teile einer Maschine sichtbar und erfahrbar zu machen“. Neben Komponenten von Maschinen, die im realen Betrieb nicht sichtbar sind, ist auch die Visualisierung von tatsächlich unsichtbaren Dingen denkbar. Allerdings gilt es zu zeigen, wo der Mehrwert gegenüber einer Simulation in 2D liegt. Aus Aspekt 3 ergeben sich gerade für gewerblich-technische und medizinische Berufe relevante Potenziale. Systeme, die zwar real existieren, aber durch ihre Knappheit nicht oder nur selten für Schulungszwecke zur Verfügung stehen, können durch XR in den Lernprozess einbezogen werden. Die Möglichkeit, die Realität anzupassen, eröffnet gemäß Aspekt 4 weitere Potenziale für den beruflichen Lernprozess. Denkbar ist die Reduktion auf die für die Ziele des Lernprozesses relevanten Inhalte und Vorgänge. Möglichkeiten, wie das Aussetzen der Schwerkraft oder das „Verschwinden lassen“ einzelner Bauteile eröffnen weitere Möglichkeiten. Das entscheidende Potenzial von XR im Vergleich zu
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Rupert Heindl / Daniel Pittich
anderen digitalen Medien scheint in der Interaktion der Lernenden mit der XR-Umgebung durch ein konkretes Handeln und Tun zu liegen und damit auf Aspekt 2) der Aufzählung. Auch Radianti et al. (2020, S. 23) sehen gerade in diesem Bereich einen entscheidenden Vorteil von XR. Während die Digitalisierung von Texten und nicht handlungsbezogenen Lernaufgaben bspw. durch die Verwendung von Lernplattformen mit relativ geringem Aufwand möglich ist, stellt die Digitalisierung von beruflichen Handlungen im berufsschulischen Lernen aktuell eine Herausforderung dar. Hier können XR-Technologien absehbar einen bedeutsamen Beitrag leisten, da hier praktische Handlungen auch im digitalen Raum ausgeführt werden können. Gerade für berufliches Lernen scheint hier ein großes Potenzial zu liegen. Denn die Berücksichtigung berufsrelevanter Handlungskontexte spielt im auf Kompetenzen ausgerichteten Lernen eine wichtige Rolle (Tenberg et al, 2019, S. 193–194). Neben der Zielperspektive beruflicher Kompetenzen ist das Prinzip der Handlungsorientierung im Lernfeldkonzept gesetzt (u. a. KMK, 2021; Tenberg et al., 2020, S. 41–42). Eine der Grundprämissen ist, dass die Lernenden in ihrem Lernen „berufsrelevante Handlungen selbst [ausführen][…], oder sie zumindest gedanklich nachvollziehen“ (Riedl, 2011, S. 161). Die Schüler*innen sollen also im beruflichen Unterricht „berufliche Problemstellungen theoretisch reflektiert umsetzen“ (Tenberg et al., 2020, S. 69–70) können. Diese methodische Grundprämisse korrespondiert mit der Zielperspektive von Kompetenz als reflektiertes und verstandenes Handeln in komplexen beruflichen Anforderungssituationen (Tenberg et al., 2020, S. 57–59). Um diesem Anspruch einer beruflich-kontextualisierten Kompetenzentwicklung gerecht zu werden, braucht es beruflich authentische Problemstellungen, Abläufe und Geräte. Hier stoßen berufliche Schulen jedoch auch räumlich sowie infrastrukturell an ihre Grenzen. Berufliche Schulen sind eben keine Betriebe, mit der Folge das betriebliche Prozesse (häufig) nur „simuliert“ werden (können) und der angestrebte Handlungs- und Praxisbezug in einem berufsschulischen Unterricht eben ein nur teilweise erfüllbarer Anspruch ist. Ein schlüssig kontextualisierter kompetenz- und handlungsorientierter Lernfeldunterricht ist damit eine Entwicklungsaufgabe der Berufsschule, bei der es gilt, die notwendige „Theorie – Kompetenz“ in einen beruflich-betrieblichen Lernkontext eingebettet für die Lernenden nutzbar zu machen, ohne diese aufzugeben bzw. für eine nicht erreichbare „Praxis-Kompetenz“ aufzugeben. An dieser Stelle wird erkennbar, welchen Beitrag XR-Technologien im und für das berufliche Lehren und Lernen leisten können: XR-Technologien eröffnen aufgrund der Spezifika des berufsschulischen Lernens – neben den allgemein diskutieren Perspektiven einer räumlichen und zeitlichen Entgrenzung – Möglichkeiten und Chancen, betriebliche Kontexte und berufsbezogene Handlung für kontextualisierte Lernprozesse nutzbar zu machen.
Virtuelle Fachräume
1.2
Aktuelle Anwendungsbeispiele, perspektivischer Nutzen und Prämissen von XR in der beruflichen Kompetenzentwicklung
Im vorliegenden Sammelband finden sich unterschiedliche Beiträge, die sich mit konkreten Anwendungsbeispielen oder auch perspektivischen Nutzungsmöglichkeiten von XR-Technologien im beruflichen Lehren und Lernen beschäftigen (Verweise des Sammelbandes). Als weiteres Anwendungsbeispiel lässt sich das Augmented Reality System WeldPlus1 nennen. Die Anwendung ermöglicht es, Schweißübungen mit einer virtuell simulierten Schweißflamme durchzuführen. Die Auszubildenden tragen dabei ein AR-Headset und verwenden einen Controller, was der realen Schweißausrüstung (Schweißvisier, Schweißbrenner etc.) nachempfunden ist. Das Handling des „Schweißgeräts“ wird über Sensoren erfasst und die Software simuliert den individuellen Verlauf des Schweißvorgangs. Die Auszubildenden erhalten auf Grundlage der erhobenen Daten ein detailliertes Feedback zu ihrer Schweißübung. „Die Ausbildung an echten Schweißgeräten soll hierbei nicht ersetzt, sondern vorbereitet werden. Wenn die Auszubildenden sich an den virtuellen Arbeitsplätzen bewährt haben, können Sie an die realen wechseln“ (Prange 2021, S. 237–238). Eine vergleichbare Anwendung mit ähnlicher Ausrichtung ist das Projekt HandLeVR. In dem Projekt führen Fahrzeuglackierer*innen in Ausbildung Übungen in einer virtuellen Lackierwerkstatt durch. Wie auch im System WeldPlus ist der Controller dem realen Werkzeug, in diesem Fall einer Lackierpistole, nachempfunden. Die VR-Lackierwerkstatt umfasst ein Autorenwerkzeug zur Einstellung konkreter Lerneinheiten durch die Ausbildenden, eine VR-Trainingsanwendung, in der die berufliche Handlung selbst sowie die Qualitätskontrolle der Arbeitsergebnisse stattfindet und eine Reflexionsanwendung, welche die Auswertung der Lernhandlungen ermöglicht. Die hier beschriebene prototypische Umsetzung der VR-Lackierwerkstatt wurde in einer interdisziplinären Kooperation von Universitäten und Partnern aus der beruflichen Ausbildung erstellt und zielt auf eine Anwendung in Ausbildungsbetrieben ab (Zender & Weise, 2020, S. 26–27). Als weitere aktuelle Anwendung von XR im beruflichen Unterricht ist das Projekt Marla zu nennen. Ausgehend von der Feststellung, „dass sowohl eine systematische Konstruktion passend zu den jeweiligen Lernzielen als auch ein geplanter Einsatz der VR Lernumgebung entscheidenden Einfluss auf den Erfolg des Einsatzes hat“ (Kapp et al., 2022, S. 194), stellen die Entwickler von Marla die konkreten Lernziele und die daraus resultierenden Lernaufgaben in den Fokus. Das intendierte Lernziel ist die systematische Fehlerdiagnose. Diese Fehlerdiagnose trainieren die Lernenden in der VR-Umgebung an einer virtuellen Offshore-Windkraftanlage. Kapp et al. (2022, S. 195) intendieren mit der Anwendung zudem die Vermittlung von „grundlegendem Wissen zur
1 Weiterführende
Informationen zur Trainingsanwendung WeldPlus finden sich unter https://weldplus. de/ (Zuletzt überprüft am 28.02.23).
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Funktionsweise der WKA und im spezifischen des hydraulischen Bremssystems der WKA“. Damit spiegelt die VR-Anwendung die berufliche Realität der Arbeit an einer Offshore-Windkraftanlage wider. Die im Projekt Marla als Prototyp erstellte VR-Anwendung hat eine Spielzeit von ca. 45 min. Dabei findet nicht nur die Fehlerdiagnose selbst im virtuellen Raum statt. Die Erklärung der Situation auf dem Betriebsgelände des Windparks sowie die Überfahrt zur betroffenen Windkraftanlage per Boot finden ebenfalls im virtuellen Raum statt (Kapp et al., 2022, S. 197–198). Damit unterscheidet sich der Umfang der XR-Lernlandschaft im Projekt Marla stark von den vorher genannten Beispielen. Während die Anwendungen Weldplus und HandLeVR sich auf die Simulation von bestimmten beruflichen Handlungen im Sinne eines wiederholenden Trainings fokussieren, wird im Projekt Marla eine ganze Lernsituation virtualisiert. Weldplus und HandLeVR adressieren durch die dem realen Werkzeug nachempfundenen Controller spezielle motorische Fertigkeiten. Die beiden Trainingsanwendungen sind damit vor allem für die betriebliche Ausbildung relevant und wurden gemeinsam mit Stakeholdern der betrieblichen Ausbildung entwickelt. Der Sammelband und diese exemplarisch dargestellten Anwendungsbeispiele zeigen, dass XR-Anwendungen in unterschiedlichen Ausprägungen, mit unterschied lichen Zielstellungen, in verschiedenen beruflichen Segmenten zunehmend Verwendung finden. Dabei werden verschiedene Potenziale für das berufliche Lernen ausgewiesen. Ob sich diese theoretischen Potenziale allerdings auch im berufsschulischen Alltag einstellen und tatsächlich die umfassend erwartenden Mehrwerte bieten, bleibt abzuwarten. Wie vorab skizziert erfüllen XR-Technologien – wie alle anderen methodisch-medialen Innovationen – im beruflichen Lernen keinen Selbstzweck, sondern sollen „lediglich“ einen Beitrag leisten, das Lernen zu unterstützen, zu bereichern oder auch zu verbessern. Damit beziehen sich die Mehrwerte von Medien wie XR-Technologien auf deren Beiträge zur Erreichung der angestrebten Lernziele – also den beruflichen Handlungskompetenzen. Die Studien- und Befundlage kann hier als eher schmal bezeichnet werden. In der Studie von Pletz und Zinn (2020), welche sich u .a. auf performative Aspekte bezieht, zeigte sich, dass „die meisten der erlernten Schritte zum Entfernen des Zylinders in der immersiven virtuellen Umgebung erfolgreich auf die reale Maschine übertragen werden konnten“ (S. 2174; übersetzt aus dem Englischen). Es sei jedoch daraufhin gewiesen, dass hier keine weiterführenden Vergleiche zwischen der Unterweisung in VR und anderen Unterweisungsansätzen erfolgt sind. Eine Vergleichsstudie von Parong und Mayer (2018) liefert diesbezüglich erste Aussagen, die auch hinsichtlich der hier skizzierten, didaktischen Perspektive erste Rückschlüsse zulässt. In einer experimentell angelegten (Vergleichs-)Studie konnten sie zeigen, dass immersive VR-Lernumgebungen nicht automatisch zu einer Verbesserung des Lernerfolgs führen. In ihrer Studie verglichen die Forscher den Lernzuwachs von zwei Lerngruppen zum Thema Blutzellen. Einer Lerngruppe wurden die Inhalte durch eine VR-Anwendung präsentiert, während die andere Gruppe die Informationen durch eine PowerPoint-Präsentation erhielt. Die
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VR-Gruppe zeigte signifikant positivere Selbsteinschätzungen bezüglich Interesses, Motivation, Engagement und affektivem Zustand während des Lernprozesses als die PowerPoint-Gruppe. Allerdings war der Lernzuwachs der VR-Gruppe signifikant geringer als in der PowerPoint-Gruppe – insbesondere im Bereich des Faktenwissens. Dazu kommt, dass die PowerPoint-Gruppe weniger Zeit benötigte (Parong & Mayer, 2018, S. 792–793). Mögliche Ursachen für den geringeren Lernerfolg sehen Parong und Mayer in bestimmten Eigenschaften der verwendeten VR-Umgebung. Eine Annahme ist, dass die Lernenden durch 3D-animierte Objekte, die nicht zwingend relevant für den Lerninhalt sind, von den relevanten Inhalten abgelenkt wurden. Die Erklärung wäre der höhere Cognitive Load in der VR-Umgebung, welcher den erwünschten Lernzuwachs negativ beeinflusst. Eine weitere Annahme bezieht sich auf das Maß an Kontrolle, welches die Lernenden über den Prozess hatten. Die Lernenden in der VRUmgebung konnten die Geschwindigkeit nicht kontrollieren, während die Lernenden der PowerPoint-Gruppe ihr Lerntempo durch das Weiterschalten der Folien selbst bestimmen konnten (Parong & Mayer, 2018, S. 792–793). Des Weiteren konnten Parong und Mayer in ihrer Studie zeigen, dass durch die Kombination der VR-Umgebung mit Lernstrategien des analogen Lernens eine signifikante Steigerung des Lernerfolgs gegenüber reinen VR-Szenarien erreicht werden kann. Konkret zeigten sie den höheren Lernerfolg bei Lernenden, welche die VR-Sequenz immer wieder unterbrachen und die neuen Inhalte zusammenfassten. Diese Lernenden erreichten einen ähnlichen Lernzuwachs wie die PowerPoint-Gruppe (Parong & Mayer, 2018, S. 793). Diese Befunde deuten an, dass die Prämisse für den Einsatz von XR im Unterricht nicht die Möglichkeit der Immersion ist, sondern der Beitrag zur Verbesserung des Lernprozesses und der Lernwirkungen – also des Kompetenzerwerbs und den Kompetenzen selbst. Dies wird gestützt durch Ergebnisse von Radianti et al., die verschiedene Lessons Learned herausstellen. Konkret wird die Notwendigkeit beschrieben, bei der Erstellung von XR-Lernumgebungen neben der technischen Handhabbarkeit vor allem auch den Lernzuwachs der Schüler*innen durch XR-Lernumgebungen in den Fokus zu nehmen. Zudem betonen die Autoren, dass die Bedarfe und Ansprüche von Lehrkräften und Lernenden in der Erstellung von VR-Anwendungen einbezogen werden müssen (Radianti et al., 2020, S. 22). Entwicklungsansätze von XR-Lernumgebungen für eine berufliche Kompetenzentwicklung sollten somit die Expertisen von Lehrkräften in Bezug auf die Unterrichtspraxis einbeziehen. Lehrkräfte bringen Erfahrungen aus bestehenden Unterrichtskonzeptionen mit. Konkret lassen sich diese Erfahrungen nutzbar machen, um u. a. herauszuarbeiten, an welcher Stelle der Einsatz von XR-Technologie didaktisch und methodisch sinnvoll erscheint und die Lernprozesse unterstützt oder auch verbessert. Damit rückt auch der Lernprozess der Lernenden in das Zentrum. Diese lernerzentrierte Perspektive ist zwar durch den Kompetenzanspruch gesetzt, es erscheint aber fraglich ob und inwieweit diese immer konsequent in den beruflichen Unterrichtskonzepten umgesetzt wird. Letztlich werden jedoch diese Perspektive bzw. die in Lernumgebungen initiierten Lernprozesse und die hier
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erzielten Lernwirkungen – also beruflichen Kompetenzen – der zentrale Faktor für didaktisch-methodische Entscheidungen sein. Zusammenfassend lässt sich mit Blick auf die vorliegenden Studien und Anwendungsbeispiele feststellen, dass bei XR-Lernumgebungen und Lernumgebungen technologisch bereits sehr viel möglich ist. Die technologischen Möglichkeiten reichen von einfachen Simulationen bis hin zu komplexen interaktiven Szenarien. Die Anwendungsbeispiele der beruflichen Bildung reichen von der Visualisierung von 3DModellen bis hin zu komplett virtualisierten Lernsituationen, die den Charakter von VR-Spielen haben. Die bisher nur vereinzelt erkennbaren Studien deuten jedoch an, dass der Einsatz einer XR-Technologie selbst nicht automatisch zu einer Verbesserung oder Bereicherung des Lernprozesses führt. Auch Kerres et al. (2022, S. 324) formulieren sehr deutlich, dass „ein «mehr» an Immersion nicht automatisch mit einer höheren Qualität des Lernprozesses einhergeht“. In Summe legt dies den Schluss nahe, dass XR-Anwendungen im (beruflichen) Lernen nur dann einen Mehrwert bieten, wenn sie zielgerichtet mit Blick auf die Lernziele und -zuwächse eingesetzt werden. Damit zusammenhängend gilt auch für XR-Technologien bzw. XR-Lernumgebungen, dass diese nicht ohne erkennbare Intention eingesetzt werden, sondern klar definierte didaktische oder methodisch-mediale Funktionen innerhalb der Unterrichtskonzeption erfüllen. Dieser Argumentation folgend sollte für XR-Lernumgebungen bzw. die Verwendung von XR-Technologien im Kontext des (beruflichen) Lernens nicht das leitend sein, was technologisch möglich ist, sondern vielmehr das, was didaktisch sinnvoll und für das Lernen zielführend ist – also welche didaktische sowie methodisch-mediale Funktionen die XR-Lernumgebungen innerhalb des Lernens und der Erreichung der Lernziele einnehmen. Nimmt man diese unterrichtsnahe Fokussierung ernst, rückt auch zwangsläufig bei der Auseinandersetzung mit XR-Lernumgebungen der Unterrichtsentwicklungsprozess in den Fokus. Denn hier erfolgen sämtliche Überlegungen wie Lernzielkonkretisierungen, methodische Ausgestaltungen der Lernprozesse sowie Interaktionen und Lernfeedbacks. In Verbindung mit der technologischen Umsetzung – also insb. der Programmierung und Virtualisierung – von XR-Lernumgebungen ist damit eine der zentralen Fragestellungen und Leitideen in der didaktisch-ausgerichteten Entwicklung von XR-Lernumgebungen, wie Ansätze und Instrumente einer systematischen Unterrichtsentwicklung auch für die technologische Entwicklung genutzt werden können. 2
Didaktisch-ausgerichtete Ansätze zur Implementierung von XR-Technologien in beruflichen Lehr- Lernprozessen
Die zukünftige Nutzung von XR-Technologien und deren Potenziale im Kontext beruflichen Lernens wird – wie vorab skizziert – u. a. davon abhängen, ob es gelingt, diese Technologien schlüssig und nachvollziehbar, aber auch mit ansprechenden Aufwän-
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den in konkrete Lernumgebungen der beruflichen Bildungspraxis zu implementieren. Mit Blick auf die beruflichen Schulen – insbesondere die Berufsschulen – sind dies in erster Linie kompetenz- und handlungsorientierte Unterrichte im Lernfeldkonzept. Um diese didaktisch-methodische und technologisch-informatische Herausforderung zu handhaben, gilt es die beiden Entwicklungslinien der Unterrichtsentwicklung und Technologieentwicklung synergetisch auf einander zu beziehen. Ausgangspunkt ist hierbei – wie eingangs skizziert – die Unterrichtsentwicklung, in der ganz konkret die Lernziele und Lernwege inkl. aller methodischen und medialen Elemente beschrieben werden. Bevor in 2.2 Instrumente und Tools der Unterrichtsentwicklung dargestellt werden, sollen in Kapitel 2.1 der Prozess der Technologieentwicklung und die hier verwendeten Ansätze im Fokus stehen. So lassen sich schlüssige und nachvollziehbare Schnittmengen und konzeptionelle Brücken zwischen Unterrichtsentwicklung und Technologieentwicklung bauen, die nicht nur in der Entwicklung, sondern auch mit Blick auf die Weiterentwicklung von XR-Lernumgebungen für und durch die berufliche Bildungspraxis bedeutsam sind. 2.1
Technologieentwicklung – Prozesse und Ansätze
Die technologische Entwicklung von XR-Lernumgebungen lässt sich dem Segment der bild- und modellbasierten Informatik oder auch des Visual Computings zuordnen. In der informatischen Erarbeitung oder Optimierung von XR-Technologien, Verfahren oder auch Produkten haben sich spezifische Ansätze entwickelt, mit denen alle für eine Virtualisierung benötigten Informationen entlang der Bedarfe der Kunden bzw. (End-)User generiert und dokumentiert werden. Im Zentrum stehen zumeist sogenannte Use-Case Beschreibungen. Über die Use-Cases soll eine genaue Beschreibung der gewünschten Umgebungen, der virtualisierten Inhalte und den virtuellen Funktionen erfolgen. Damit umfassen die Use-Cases neben den Beschreibungen von Gegenständen und deren Funktionalitäten mitunter auch ein Drehbuch. Drehbücher von XR-Umgebungen umfassen dabei Rahmungen oder auch Kontexte einzelner XRSequenzen oder gesamter Umgebungen und konkretisieren die zu virtualisierenden Handlungsabläufe. Dabei werden unter anderem auch Rollen, Aufgaben, Hindernisse, mögliche Vereinfachungen und Handlungsalternativen beschrieben. Die gesamte UseCase Präzisierung verläuft – im Sinne eines agilen Ansatzes – über iterative Schleifen. Dabei gilt: Je differenzierter und konkreter die XR-Umgebungen und deren vorgesehener Einsatz beschrieben ist, umso tragfähiger wird letztlich auch die Virtualisierung und Programmierung sein. Denn die Use-Case Beschreibungen sind Ausgangspunkt und Grundlage für die informatischen Arbeiten und bilden zugleich eine Kommunikationsgrundlage zwischen den XR-Entwickler*innen und dem Kunden bzw. (End-) User. In Vorbereitung und Umsetzung der Programmierung wird entlang der Use- Cases auch geklärt, ob und wo bereits vorhandene Anwendungen, Simulationen oder
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auch 3D-Daten von Maschinen, Geräten oder Gegenständen sich nutzen lassen oder ob die komplette XR-Umgebung neu zu entwickeln ist. Im Zuge dessen kann u. a. auch das Thema der Weiterentwicklung und Anpassung der XR-Umgebungen durch Kunden bzw. (End-)User – den sog. Autorensystemen – berücksichtigt werden. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die technologischen Entwicklungsprozesse klar definierte Vorgaben und Beschreibungen zu den Funktionen und Eigenschaften der XR-Lernumgebungen voraussetzen. Diese folgen einer entsprechenden Logik und stützen sich auf umfassende Beschreibungen von Handlungssituationen im Sinne von Use-Cases. Diese Use-Cases weisen dabei konkrete thematisch-inhaltliche und konzeptionelle Bezüge zu Ansätzen der Entwicklung beruflicher Lernumgebungen auf. 2.2
Unterrichtsentwicklung im Lernfeldkonzept
Eine schlüssige und konsistente Unterrichtsentwicklung im Lernfeldfeldkonzept, die den Ansprüchen einer Kompetenz- und Handlungsorientierung gerecht wird, ist eine Herausforderung. Sie setzt fachlich-inhaltliche, didaktisch-methodische und pädagogische Kompetenzen auf Seiten der Lehrkräfte voraus. Denkt man nun in Richtung eines digital angereichten Unterrichts – in dem bspw. XR-Features genutzt werden sollen – kommen technologisch-informatische Kompetenzen hinzu. Der Unterrichtsentwicklungsprozess wird dabei von Konzepten und Tools getragen, welche die Lehrkräfte im gesamten Unterrichtsentwicklungsprozess – also vom Lernfeld bis zur methodisch-medialen Ausgestaltung des Unterrichts – unterstützten. Im vorliegenden Ansatz wird der Unterrichtsentwicklungsprozess als Teil des Lehrprozesses in Unterrichtsplanung und Unterrichtskonzeption unterteilt. Daran schließen die eigentliche Unterrichtsdurchführung – also der Unterricht selbst – und die Unterrichtsevaluation an. In der Unterrichtsplanung werden kompetenzorientierte Lernziele und davon ausgehend konkrete berufliche Kontexte konkretisiert. Diese Lernkontexte markieren dabei den Übergang zu den methodischen Präzisierungen des Unterrichts. Darauf aufbauend werden in der Unterrichtskonzeption die angestrebten Lernprozesse festgelegt. Entsprechend gilt es hier den möglichen Einsatz von XR-Lernumgebungen zur Anreicherung des Lernprozesses zu berücksichtigen, was ein gewisses Maß an KnowHow im Bereich XR-Technologien voraussetzt. Diese Darstellungen deuten bereits an, dass zwischen den Ansätzen der Unterrichtsentwicklung und Technologieentwicklung erkennbare Schnittmengen und Überlappungsbereiche existieren, welche sich in der didaktisch-ausgerichteten Implementierung von XR-Technologien in beruflichen Lehr-Lernprozessen nutzen lassen (Abb. 1).
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Abb. 1 Verknüpfung von Unterrichtsentwicklung und Technologieentwicklung in der Erarbeitung von XR-Lernumgebungen für berufliche Kompetenzentwicklung.
2.2.1
Ergebnisse der Unterrichtsplanung als inhaltliche Rahmung von XR-Lernumgebungen
Ausgangspunkt für die Unterrichtsentwicklung ist die Unterrichtplanung (Tenberg et al., 2019, 201–206). Ergebnis der Unterrichtplanung sind die intendierten Lernziele – in einem Lernfeldunterricht also die beruflichen Kompetenzen (u. a. KMK, 2021; Tenberg et al., 2019). Da die beruflichen Kompetenzen in den einzelnen Lernfeldern der Rahmenlehrpläne nur unzureichend beschrieben sind, sind in den planerischen Arbeiten der Lehrkräfte(-teams) entsprechende Konkretisierungen erforderlich. Hierbei gilt es ausgehend von den einzelnen Lernfeldbeschreibungen berufliche Kompetenzen als konkret erreichbare und überprüfbare Lernziele abzuleiten und zu dokumentieren. Im vorliegenden Ansatz – dem TRIX-Ansatz – erfolgt dies über sogenannte Lernfeldmatrizen. In einer Lernfeldmatrix werden einzelnen beruflichen Handlungen das handlungs- und kompetenzrelevante Wissen und Verständnis zugeordnet (Trix, 2023). Die Lernfeldmatrix bezieht sich dabei auf fachliche Berufskompetenzen und ist als strukturelles Abbild des dispositionalen Kompetenzverständnisses (Pittich, 2013; 2014) – vereinfacht ausgedrückt: Kompetent ist, wer verstanden hat, was er/sie tut – zu sehen (Tab. 1).
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Tab. 1 Grundidee und Auszug einer Lernfeldmatrix
Die Konkretisierung der kompetenzorientierten Lernziele erfolgt dabei in den Wissenskategorien Sach-, Prozess- und Reflexionswissen (Pittich, 2013; 2014). Diese Wissenskategorien sind nicht nur unterschiedliche Ausprägungen eines berufsbezogenen Wissens, sondern weisen auch klar erkennbare Implikationen für die diesbezüglichen Erschließungs- und Lernprozesse auf. Prozesswissen bezieht sich entsprechend auf konkrete berufliche Prozesse und Abläufe und kann folglich nur dann erlernt werden, wenn die Lernenden erproben, handeln, anwenden oder auch tun. Es wird operativfunktional erworben. Das Sachwissen hingegen, als ein Wissen über Dinge, Gegenstände, Geräte oder auch Systeme, bedingt eher „klassische Lernzugänge“, in denen Lernende sich die Dinge anschauen und memorieren. Über die reine Lernzielkonkretisierung hinaus leisten die Lernfeldmatrizen damit auch einen erkennbaren Beitrag zu methodischen Entscheidungen, hier die angestrebten Virtualisierungen im Rahmen der XR-Technologieentwicklung. Die Lernfeldmatrix benennt die für eine Virtualisierung relevanten beruflich-betrieblichen Handlungen (Spalte berufliche Handlung), Gegenstände (Spalte Sachwissen) und Handlungsabläufe (Spalte Prozesswissen). Diese Informationen korrespondieren unmittelbar mit den in der Technologieentwicklung verwendeten Use-Case Beschreibungen. So werden über die beruflichen Handlungen sowie das Sach- und Prozesswissen der Lernfeldmatrix auch die Rahmenbedingungen der Use-Cases abgesteckt und für die Technologieentwicklung nutzbar gemacht. Damit liegen durch die Lernfeldmatrizen nicht nur konkrete Lernziele für die XR-Lernumgebungen vor, sondern auch eine fundierte Grundlage für didaktisch-ausgerichtete Virtualisierungsentscheidungen. Folglich kann auf Basis der Lernfeldmatrix bzw. der in den einzelnen Zeilen konkretisierten Kompetenzen, bestehend aus Wissen und Handeln oder auch Denken und Tun, begründet und nachvollziehbar entschieden werden, bei welchen Kompetenzen und Kompetenzfacetten die anvisierten XR-Technologien für das Lernen hilfreich und zielführend sind und Virtualisierungen dann auch technologisch umgesetzt werden sollen. Über diese eher konzeptionelle Schnittstelle zwischen „Didaktik“ und „Technologie“ hinaus zeigt sich ein weiterer bedeutsamer Aspekt, nämlich die Berücksichtigung der unterrichtspraktischen sowie fachlich-inhaltlichen Expertisen der beruflichen Lehrkräfte. Berufliche Lehrkräfte sind Expert*innen für eine didaktische begründete Auswahl an Unter-
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richtsinhalten, die sie über entsprechende Konzepte in den Unterricht einbringen. Mit der Lernfeldmatrix wird hierfür ein strukturierter Rahmen geschaffen, über den bisherige Themen, Wissensaspekte und Anwendungskontexte vor dem Hintergrund kompetenzorientierter Lernziele reflektiert, analysiert und dokumentiert werden. Die bestehenden Expertisen der Lehrkräfte, das Wissen aus betrieblichen Unterlagen, bestehenden Unterrichtskonzeptionen oder auch fachlichen Fortbildungen gehen dabei nicht verloren, sondern werden systematisch für didaktische und technologische Entwicklungsprozesse aufbereitet und nutzbar gemacht. 2.2.2
Beschreibungen von kontextualisierten Lernsituationen als Präzisierung von XR-Lernumgebungen
Die Kontextualisierung – also die Berücksichtigung beruflich-betrieblicher Kontexte, Problemstellungen oder Szenarien – ist ein weiteres bedeutsames Element in der Entwicklung eines Lernfeldunterrichts. Hier haben sich in den beruflichen Schulen ansatzübergreifend sogenannte Lernsituationen etabliert (u. a. Bader, 2004; Buschfeld, 2003, S. 1–2). Die Lernsituation ist entsprechend auch ein Kernelement des vorliegenden Ansatzes. Lernsituationen erfüllen in TRIX2 zwei zentrale Funktionen: 1) Sie bündeln die Kompetenzen – in unserem Fall konkretisiert in den Lernfeldmatrizen – zu praxisnahen und damit schlüssigen Kompetenzbündeln. 2) Sie tragen die beruflichen Kontexte in den Unterricht und das Lernen hinein. Damit stehen Lernsituationen am Übergang von didaktisch-planerischen und methodisch-konzeptionellen Arbeiten bzw. Überlegungen. Sie verbinden und integrieren diese und bauen eine Brücke zwischen den Zielen und Kontexten der Unterrichtsplanung sowie den Wegen, Methoden und Medien des beruflichen Lernens, welche Kern der Unterrichtskonzeption sind. Lernsituationen und deren berufliche Kontexte gehen aus Sicht der Lernenden mit motivationalen Zugewinnen einher. Aus Sicht der Lehrkräfte strukturieren bzw. sequenzieren sie den Unterricht entlang einer konkreten beruflichen Problemstellung. Hierbei werden konzeptionelle Schnittmengen zur Grundidee der „Vollständigen Handlung“ und eine Orientierungsleistung im Kontext der Setzung von „Handlungsorientierung“ deutlich. Gerade diese Handlungsorientierung bzw. die Kontexte zeigen sich für die angestrebten Virtualisierungen und die Intentionen der 2 TRIX
ist ein berufsdidaktischer Ansatz zur systematischen Planung, Konzeption, Umsetzung und Reflexion bzw. Evaluation eines kompetenz- und handlungsorientierten Lernfeldunterrichts. Ausgangspunkt von TRIX sind die Lernfeldbeschreibungen der Lehrpläne. Aus diesen werden zunächst kompetenzorientierte Lernziele konkretisiert, formuliert und dokumentiert. Diese Lernziele werden in einem weiteren Schritt des TRIX-Ansatzes in Lernsituationen gebündelt und als beruflich-kontextualisierte Problemstellungen unterrichtsnah aufbereitet. Im letzten konzeptionellen Entwicklungsschritt des TRIX-Ansatzes erfolgt die konkrete methodische Ausgestaltung des Lernfeldunterrichts inkl. der Erstellung von Aufgaben, Medien und Materialien.
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Use-Case Beschreibungen im Zuge der Technologieentwicklung als hochgradig anschlussfähig. So liefert die Lernsituation ein differenziertes und konkretes „Drehbuch“ eines Use-Cases. Gegenstände und Handlungsabläufe werden in einer Lernsituationsbeschreibung nicht nur benannt, sondern auch zueinander in Verbindung gesetzt. Es werden operative Aufgaben, Rollen und Vorbedingungen definiert. Aus den Beschreibungen der beruflichen Kontexte lassen sich zugleich gestalterische Vorgaben zur Ausarbeitung der XR-Umgebung ableiten. Auch an dieser Stelle eröffnet sich ein ganz konkreter Raum für die Berücksichtigung und Nutzbarmachung der unterrichtlichen Expertisen der Lehrkräfte. Die Erarbeitung von kontextualisierten Lernsituationen ist seit der Einführung der Lernfeldlehrpläne ein Kernaspekt der beruflichen Unterrichtsentwicklung. In den beruflichen Schulen liegen dementsprechend Erfahrungen und auch Konzepte vor, in denen beruflich-betriebliche Realitäten mit schulischen Ausstattungen und den Vorgaben des Lernfeldlehrplans zusammengebracht sind. Die unterrichtlich erprobten Lernsituationen lassen sich folglich auch in der Präzisierung von XR-Lernumgebungen nutzen und weiterentwickeln. 2.2.3
Unterrichtskonzeption als methodische Präzisierung von XR-Umgebungen
Nachdem die Ziele und Kontexte eines Lernfeldunterrichts in Form von Lernfeld matrizen und Lernsituationen beschrieben sind, gilt es nun Wege, Methoden und Medien des beruflichen Lernens zu erarbeiten – also das, was zur Erreichung der Lernziele benötigt wird. Im vorliegenden Ansatz erfolgt dies im Schritt der Unterrichtskonzeption. In der Unterrichtskonzeption findet das Tool der sogenannten „Konzeptionsmatrix“ Verwendung. Für jede Lernsituation wird eine Konzeptionsmatrix erstellt, in der die Lernziele (linke Seite) und der Lernweg (rechte Seite) konsequent aufeinander bezogen werden (Tab. 2) Tab 2 Elemente der Konzeptionsmatrix zur schlüssigen Verbindung von Lernzielen und „Lernwegen“
Auf der linken Seite der Konzeptionsmatrix stehen die Lernziele, also das, „Was“ gelernt werden soll. Diese werden direkt aus der Lernfeldmatrix übernommen und sind entsprechend der Problemstellung der Lernsituation angeordnet bzw. sequenziert. Ausgehend von diesen Kompetenz- bzw. Wissensfacetten erfolgen nun die methodi-
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schen Überlegungen. Dabei werden – wie bereits im Rahmen der Lernfeldmatrix skizziert – die unterschiedlichen Charakteristika und Lernimplikationen des Sach-, Prozess-, und Reflexionswissens aufgegriffen3 und entsprechende Lernprozesse auf der rechten Seite der Konzeptionsmatrix methodisch präzisiert. Im vorliegenden Ansatz erfolgt die methodische Präzisierung über die Elemente „Lernaktivitäten“ (Was sollen die Lernenden tun?), „Lernprodukte“ (Was soll dabei entstehen?), „Medien und Materialien“ (Womit soll gelernt werden?) und „Reflexion und Kontrolle“ (Wie erhalten die Lernenden Rückmeldung?). Diese methodischen Elemente zeigen sehr deutliche Schnittmengen zu den Ansätzen und Informationen, die für die technologische Entwicklung von XR-Umgebung erforderlich sind (2.1). Aus den Lernaktivitäten lassen sich Rollen, Handlungsabläufe und -optionen, aber auch Handgriffe in operativen Lernsequenzen sowie mögliche Hindernisse und Vereinfachungen der virtuellen Umgebung ableiten und in die Use-Case Beschreibungen bzw. Drehbücher überführen. Damit zusammenhängend lassen sich auch Lernprodukte als faktische Ergebnisse der Lernaktivitäten handhaben. Deren Beitrag ist gegenüber den Lernaktivitäten für UseCase Beschreibungen jedoch als nachrangig zu betrachten, da diese von den Lernenden selbst in ihren Lernprozessen erstellt werden und entsprechend nicht oder nur eingeschränkt virtualisiert werden können. Denkbar wären hier u. a. Funktionen der XR-Lernumgebungen, die es erlauben, Bilder und Videos aufzunehmen, zu exportieren und in den Unterlagen der Lernenden zu dokumentieren. Materialien – wie bspw. Leittexte – stützen und tragen die Lernwege. Damit bilden sie die Grundlage für die Lern- und Handlungsanweisungen einer XR-Lernumgebung. Die in der Konzeptionsmatrix ausgewiesenen Materialien lassen sich damit auch unmittelbar in den Use-Case Beschreibungen berücksichtigen und virtuell umsetzten. Medien liefern den inhaltlichen Input, also die Informationen, die die Lernenden benötigen. Dies können im beruflichen Lernen bspw. Texte, Zeichnungen, Diagramme, Herstellerunterlagen, aber auch Videos oder XR-Features sein. XR-Features, die sich Medien zuordnen lassen, erfüllen also eine andere didaktische Funktion als jene, die sich auf die Lernaktivitäten beziehen. Sie sind informativ, erklärend, erläuternd ausgerichtet und hinterlegen oder ergänzen die Handlungen im virtuellen Raum. Dies können bspw. Schalt- oder Arbeitspläne bei Wartungstätigkeiten sein. Über die Kontroll- und Reflexionselemente lassen sich die in XR-Lernumgebungen erforderlichen Lehr-Lernfeedbacks präzisieren. Dies können klassische Rückmeldungen, wie z. B. Checks, Quizze, Fragen etc. sein. Die XR-basierte Umsetzung von adaptiven Lernrückmeldungen weist zukünftig große Potenziale auf. Auch wenn hier bereits erste Arbeiten vorliegen, gilt es den vorliegenden Ansatz an dieser Stelle weiterzuentwickeln. Wie diese Darstellungen jedoch andeuten, liefern die einzelnen Elemente der Konzeptionsmatrix spezifische Beiträge und Ansatzpunkte für Vertiefungen der XR-Use-Case Beschreibungen. Zugleich wird
3 Eine differenziertere Darstellung dieser Zusammenhänge findet sich Tenberg et al., 2020 sowie Trix, 2023.
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mit der Konzeptionsmatrix eine bedeutsame Brücke in die unterrichtliche Praxis gebaut. Zum einen können die beruflichen Lehrkräfte auch hier ihre bestehenden Konzepte, Ideen, Unterlagen und Erfahrungen einbringen, reflektieren und ggf. auch weiterentwickeln. Zum anderen wird mit der Konzeptionsmatrix sichergestellt, dass die XR-Lernumgebungen in ein schlüssiges Unterrichtskonzept eingebettet sind. Damit ist die Konzeptionsmatrix nicht nur eine Grundlage für die didaktisch schlüssige Implementierung von umfassenden XR-Lernumgebungen im beruflichen Lernen, sondern auch ein tragfähiger Ausgangspunkt für digital-angereicherte – hybride – Unterrichtskonzepte (u. a. Pittich und Tenberg, 2020; Gromer und Pittich, 2021), in denen die Mehrwerte von XR punktuell in vereinzelten Unterrichts- und Lernsequenzen nutzbar gemacht werden. In Ergänzung dessen lassen sich XR-Lernumgebungen über die Konzeptionsmatrix bzw. die darin enthaltenen didaktisch-methodischen Elemente konsequent weiterentwickeln. 2.2.4
Weiterentwicklung von XR-Lernumgebungen
Nimmt man den Anspruch einer fortlaufenden Optimierung und Weiterentwicklung von Unterricht ernst, bedeutet dies, dass auch die Unterrichtskonzepte fortlaufend angepasst werden müssen. Dies ist bereits für „klassische analoge“ Unterrichtkonzepte eine erkennbare Herausforderung, welche sich bei digitalen und in XR-Lernumgebungen noch einmal deutlich verschärft. Denn die Optimierung und Anpassung von didaktischen oder methodisch-medialen Aspekten einer Lernumgebung führt letztlich auch zu Anpassungsbedarfen an den Virtualisierungen. Mit Blick auf eine langfristige und nachhaltige Verwendung von XR-Lernumgebungen in den beruflichen Schulen, können diese – mitunter kleinen – Anpassungen aus Kosten- und Aufwandsgründen nicht immer durch externe Entwickler*innen erfolgen. Damit diese notwendigen Weiterentwicklungen, wie auch alle anderen methodisch-medialen Anpassungen an den Unterrichtskonzepten, unmittelbar in den beruflichen Schulen vorgenommen werden können, erscheint die Berücksichtigung von sog. Autorensystemen zielführend. Denn über für Anwender*innen einfach handhabbare Autorensysteme können Lehrkräfte selbstständig und ohne große Aufwände die XR-Lernumgebungen entsprechend ihres unterrichtlichen Einsatzes anpassen. Wird dieser Aspekt einer unterrichtsnahen Weiterentwicklung von XR-Lernumgebungen nicht oder nur eingeschränkt berücksichtigt, erscheint auch eine langfristige und nachhaltige Verwendung von XR-Lernumgebungen im beruflichen Unterricht fraglich.
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Konkrete Umsetzung des integrativen und didaktisch-ausgerichteten Entwicklungsansatzes
Der skizzierte Entwicklungsansatz wird aktuell im vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus initiierten Projekt „Unterricht im virtuellen Fachraum“ umgesetzt und erprobt. Dabei arbeiten berufliche Lehrkräfte des Bereichs Gesundheit und Pflege sowie der Kfz-Technik an Unterrichtskonzepten für konkrete XR-Lernumgebungen. Unterstützt werden sie dabei von der ALP Dillingen und der Professur für Technikdidaktik der TU München, die zugleich die wissenschaftliche Begleitung übernommen hat. Für die Technologieentwicklung ist ein externer Partner vorgesehen. In der Projektumsetzung wurde auch aufgrund der unterschiedlichen – u. a. organisatorischen, infrastrukturellen und curricularen – Rahmenbedingungen, Herausforderungen und Zielstellungen der gewerblich-technische Berufe und Gesundheitsberufe der skizzierte Entwicklungsansatz adaptiv gehandhabt. Die vorgestellten Tools der beruflichen Unterrichtsentwicklung (2.2) finden in beiden Arbeitsgruppen Verwendung. In diesem Beitrag wird nachfolgend insbesondere das Vorgehen der „Kfz-Arbeitsgruppe“, die aus sieben Lehrkräften von vier beruflichen Schulen besteht, skizziert. Der organisatorische Rahmen wurde durch die ALP in Form von Redaktionssitzungen und bedarfsgerechten Fortbildungen bereitgestellt. So wurden explizite Zeiträume für Inputs, konzeptionelle Arbeiten und Abstimmungen im Team geschaffen. Ohne diese organisatorische Rahmung und diese zeitlichen Ressourcen wäre eine schulübergreifende Zusammenarbeit nur schwer umsetzbar gewesen und hätte auch nicht zu den bisherigen Ergebnissen rund um den Entwicklungsansatz geführt. In Ergänzung dessen konnten so die themenbezogenen Expertisen der ALP für das Vorhaben genutzt werden. Ausgangspunkt der konzeptionellen Arbeit waren wie vorab beschrieben die Lernfelder des Lehrplans im Beruf Kfz-Mechatroniker*in. In einem ersten Schritt wurden alle Lernfelder vor dem Hintergrund der lernbezogenen Potenziale eines Einsatzes von XR-Technologien gesichtet und analysiert. Um dies zu ermöglichen wurde das gesamte Projektteam durch externe Expert*innen an die technologischen Möglichkeiten herangeführt. Die Analyse bezog sich demnach auf einen reflexiven Abgleich von Zielen und Ausrichtungen der Handlungs- bzw. Lernfelder, technologischen Möglichkeiten und den Unterrichtserfahrungen der Lehrkräfte. In letztgenannten fanden in erster Linie die in bisherigen Unterrichtskonzepten erkennbaren Lern- und Verständnishürden der Lernenden Berücksichtigung. Hinzu kamen organisatorische und infrastrukturelle Aspekte. Ausgehend von dieser Analyse wurde dem Bereich der Hochvolttechnik das größte Potenzial zugeschrieben. Zentrale Argumente sind Gefahren im Umgang mit Hochvoltsystemen und die daraus resultierenden Vorschriften, die eine unterrichtliche Handhabung dieser Systeme in klassischen Lernumgebungen erschweren. Hinzu kommt, dass die Hochvolt-Technik als eine zentrale Zukunftstechnologie im Rahmen der Elektromobilität gilt. Die Hochvolttechnik wird in der Berufsausbildung der Kfz-Mechatroniker*in vor allem in den aufeinander
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aufbauenden Lernfeldern 3, 6 und 12 und damit in allen Ausbildungsjahren adressiert. Nach der Auswahl der Lernfelder erstellten die Lehrkräfte die entsprechenden Lernfeldmatrizen. In dieser Erstellung kamen Expertisen der praktischen Arbeiten in und mit der Hochvolttechnik zum Tragen. Die Lehrkräfte besuchten im Projektverlauf hierzu weitere Fachfortbildungen zum aktuellen Stand der Hochvolt-Technik und den damit verbundenen betrieblichen Abläufen im Kfz-Handwerk. Diese Expertisen wurden insbesondere im Bereich der beruflichen Handlungen nutzbar gemacht. Bereits an dieser Stelle wurde der Mehrwert des beschriebenen Entwicklungsansatzes deutlich. Der Ansatz zeigte sich einerseits anschlussfähig für bereits vorhandene Expertisen und machte andererseits transparent, an welcher Stelle zusätzliche fachliche Expertisen – durch zielgerichtete Fortbildungen – aufzubauen sind. Die Lernfeldmatrizen fungierten zudem als tragfähige Kommunikationsgrundlage, die Basis für eine schulübergreifende Zusammenarbeit der Lehrkräfte ist. In Summe sind die gemeinsam erarbeiteten Lernfeldmatrizen also auch ein schulübergreifendes Committment der Lernziele für die anvisierten XR-Lernumgebungen. Anhand der Lernzielpräzisierungen konnten die ex post-identifizierten Potenziale für den lernbezogenen Einsatz von XR-Technologie nochmals differenzierter analysiert und herausgearbeitet werden. Damit konnte auf Grundlage der planerischen Überlegungen fundiert entschieden werden, welche Lernziele eines Lernfeldes über XR-Technologien erreicht werden sollen. In einem nächsten Schritt wurden die kompetenzorientierten Lernziele von den Lehrkräften zu Lernsituation gebündelt. Hierbei wurden Lernsituationen entworfen, die sowohl XRAnteile als auch „analoge“ Elemente enthalten, und schlüssig miteinander verknüpfen. Die Lernsituationen, in denen XR-Technologien Verwendung finden, beziehen sich auf betriebliche Kontexte und berufliche Problemstellungen wie den Tausch einer defekten Hochvoltkomponente (Lernfeld 6) oder die Handhabung eines verunfallten Hochvoltfahrzeugs (Lernfeld 12). In den Lernsituationen wurden die beruflichen Handlungsabläufe an den Hochvoltfahrzeugen, inklusive der notwendigen Betriebsstoffe, Werkzeuge und weiterer Ausrüstungsgegenstände detailliert beschrieben. Dafür wurde die Logik der Use-Case Beschreibungen (2.1) direkt berücksichtigt, sodass die Anschlussfähigkeit an den Technologieentwicklungsprozess von Anfang an mitgedacht ist. Hierzu fanden bereits Abstimmungen mit Technologieexpert*innen statt. Die beschriebenen Lernsituationen sollen gleichzeitig auch als Drehbuch-Draft und Grundlage für den Use-Case dienen und enthalten daher auch entsprechende Rollen, Vorbedingungen etc. Diese Darstellungen für die Technologieentwicklung wurden im Laufe der Unterrichtsentwicklung in der Konzeptionsmatrix weiter präzisiert. Dabei wurden die virtuellen Systeme und Werkzeuge, deren Eigenschaften aber auch Möglichkeiten lernbezogener Interaktion beschrieben und dokumentiert. Hierbei zeigten sich bereits vorhandene Unterrichtskonzeptionen als gewinnbringend. Methodische Elemente, die auch für die XR-Lernumgebungen passend waren, wurden aufgegriffen und integriert. Zentral waren jedoch neue Materialien und Medien zur Arbeit an Hochvoltsystemen, welche auf Basis von fachlichen Fortbildungen erarbeitet oder durch
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Kontakt mit den Fahrzeugherstellern und Handwerksbetrieben akquiriert und in die Konzeption eingebunden wurden. Damit sind aktuell die unterrichtsmethodischen Überlegungen umfassend erfolgt und unter Berücksichtigung der „Use-Case-Idee“ in Lernsituationen und Konzeptionsmatrizen dokumentiert. In weiteren Projektschritten gilt es nun die erstellten Konzeptunterlagen in gemeinsamen Abstimmungen mit Entwickler*innen hinsichtlich der Bedarfe einer Virtualisierung zu ergänzen. Diese Arbeiten werden einen Schwerpunkt in den wissenschaftlichen Arbeiten markieren, da hier die direkte Schnittstelle zwischen Unterrichts- und Technologieentwicklung liegt. Nach technologischer Fertigstellung der XR-Lernumgebungen werden die entwickelten Unterrichtskonzeptionen in den beteiligten Schulen umgesetzt und erprobt. Dabei sollen didaktisch-methodische und technologische Optimierungspotenziale der XR-Lernumgebungen herausgearbeitet werden. Parallel dazu gilt es zu klären, ob sich die schlüssige und praxisnahe Verschränkung von Unterrichts- und Technologieentwicklung mit dem skizzierten Ansatz adressieren und konzeptionell hinterlegen lässt. 3
Fazit der aktuelle Umsetzungserfahrungen und perspektivische Weiterarbeit
Der in diesem Beitrag vorgestellte und diskutierte Entwicklungsansatz zur didaktischausgerichteten Implementierung von XR-Technologie in beruflichen Lehr-Lernprozessen wird aktuell im Projekt „Virtuelle Fachräume“ erprobt, weiterentwickelt und wissenschaftlich fundiert. Die referierten Umsetzungserfahrungen beziehen sich auf den aktuellen Projektstand und damit insb. auf die konzeptionellen Arbeiten der Unterrichtsentwicklung unter Verwendung der in Kapitel 2.2 skizzierten Tools. Hierbei hat sich angedeutet, dass der Entwicklungsansatz – angelehnt an den TRIX-Ansatz – vor allem durch die Nähe zur unterrichtlichen Praxis sowie vorhandenen analogen Unterrichtskonzeptionen und deren Weiterentwicklung in Richtung XR-Technologien anschlussfähig und praktikabel erscheint. Nach intensiven Einführungen und Einarbeitungen in den Entwicklungsansatz und dessen Tools konnten die involvierten Lehrkräfte ihre Expertisen und konzeptionellen Ideen zielführend in das Vorhaben einbringen und für die Entwicklung von XR-Lernumgebungen nutzbar machen. Die Arbeiten an und mit den Lernfeldmatrizen waren hierbei besonders herausfordernd, da die Präzisierung von kompetenzorientierten Lernzielen konzeptionelle, aber auch fachlich-inhaltliche Expertisen und Kompetenzen auf Seiten der Lehrkräfte voraussetzt. Zugleich werden den Lernfeldmatrizen – im Projekt aber auch darüber hinaus – große Potenziale und Mehrwerte für die (Weiter-)Entwicklung von innovativen beruflichen Unterrichtsansätzen und Lernumgebungen zugeschrieben. Die wahrgenommenen Benefits beziehen sich zum einen auf die Konkretisierung und die damit zusammenhängende Klarheit der Ziele beruflichen Lernens im Allgemeinen. Zum an-
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deren wurden die Lernfeldmatrizen als praktikable Grundlage für eine professionelle Zusammenarbeit und Kommunikation im Team – auch schulübergreifend – wahrgenommen. Vor dem Hintergrund der angestrebten Virtualisierungen fungieren die Beschreibungen der beruflichen Handlungen und des Wissens als tragfähige Grundlagen für die Analyse und letztlich die Entscheidung, welche Kompetenzen über XR-Technologien (didaktisch sinnvoll) erworben werden sollen. Hierfür waren neben den unterrichtspraktischen Erfahrungen auch die fachlichen Expertisen der Lehrkräfte nutzbar. Eine besondere Bedeutung kommt hier den beruflich-betrieblichen Handlungen und Prozessen zu, da sich durch diese die Rahmung der XR-Lernumgebungen ergibt. Die Lernsituationen sowie die Konzeptionsmatrix greifen diese Rahmung auf und präzisieren sie. Die Beschreibung von Lernsituationen als berufliche Problemstellungen ist in der berufsschulischen Praxis weit verbreitet und hat sich daher auch im vorliegenden Projekt als eingängig erwiesen. Die Anbindung an die Lernfeldmatrizen zum Abgleich und zur Analyse des Lerngehalts einer Lernsituation zeigt sich dabei als interessante Ergänzung der bisherigen Handhabung. Zusammenfassend zeigt sich, dass sich die Projektarbeiten an den Stellen zielführend und effizient gestalteten, an denen die Lehrkräfte ihre vorhandenen Expertisen, Kompetenzen und Ansätze einbringen konnten. Dies war insb. in den methodischen Arbeiten mit Lernsituationen und Unterrichtskonzepten – hier dem TRIX-Tool der Konzeptionsmatrix – feststellbar. Neue Ansätze und Tools, wie die Konzeptionsmatrix, besonders dann hilfreich, wenn sie anschlussfähig, schlüssig und praktikabel sind. Damit hat sich die konsequente Berücksichtigung von unterrichtsnahen- und praktischen Expertisen auch im Gesamtprozess der Entwicklung von XR-Lernumgebungen als bedeutsamer Faktor erwiesen. Die größten Mehrwerte lassen sich dabei feststellen, wenn eine Anschlussfähigkeit zwischen Unterrichtskonzept und Use-Case Beschreibungen der Technologieentwicklung besteht, da sich so nicht nur Aufwände reduzieren lassen, sondern auch konzeptionelle Sicherheit und Klarheit bei den Lehrkräften besteht. Auf Projektebene deuten die bisherigen Umsetzungserfahrungen an, dass sich das hier diskutierte und auf die XR-Lernumgebungen angepasste Konzept für eine systematische Unterrichtsentwicklung im Lernfeldkonzept auch als tragfähige Grundlage für eine professionelle und effiziente Zusammenarbeit und Kommunikation von (schulübergreifenden) Lehrkräfteteams bewährt hat. Diese Aussagen stützen zudem Erfahrungen aus anderen Projektkontexten, bspw. in der Erarbeitung von Umsetzungshilfen und Handreichungen in den Strukturen von Bayern und Hessen (u. a. Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung, 2022, Hessisches Kultusministerium, 2023). Parallel und in Ergänzung zu den Arbeiten der Unterrichtsentwicklung wurden von Projektleitung, ALP Dillingen und wissenschaftlicher Begleitung die Anschlussfähigkeit und Nutzbarmachung der TRIX-Tools für die Kollaboration mit Technologieexpert*innen sondiert. Zentral war hier die Frage, ob und wie die Konzepte der Unterrichtsentwicklung auch für die technologische Entwicklung von XR-Lernumgebungen im Sinne von Use-Case Beschreibungen genutzt werden können und wo
Virtuelle Fachräume
Anpassungen notwendig sind. Durch die Rückmeldungen sind erste Anpassungen und Präzisierungen insbesondere in den Beschreibungen und dem Auflösungsgrad der Lernsituationen berücksichtigt worden. In den weiteren Schritten des Projektes „Virtuelle Fachräume“ wird gerade dieses Thema – nämlich die Schnittstelle von Unterrichts- und Technologieentwicklung – im Fokus der weiteren Arbeiten und der wissenschaftlichen Begleitung stehen. Hier lassen sich neben Umsetzungserfahrungen auch eigenständige wissenschaftliche Befunde erwarten, die den unterrichtspraktischen und wissenschaftlichen Stand erweitern und Aussagen zum konsistenten Bezug von Unterrichts- und Technologieentwicklung als ein Kernelement und Gelingensbedingung in der didaktisch ausgerichteten Implementierung von XR-Technologien in beruflichen Lehr-Lernprozessen liefern. Denn nur wenn dies absehbar gelingt, lassen sich die lernbezogenen Potenziale von XR-Technologien ausschöpfen und XR-Technologien auch zielführend und nachhaltig in den beruflichen Schulen und der beruflichen Kompetenzentwicklung verankern. 4 Literatur
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Rupert Heindl / Daniel Pittich
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Lerntheorien im Game Design digitaler Lernspiele
CHARLOTTE KNORR
Zusammenfassung: Dieser konzeptionelle Beitrag gibt einen Überblick über klassische und weitere
Lerntheorien, die für das Game Design digitaler Lernspiele und das Digital Game-Based Learning von Bedeutung sind. Der derzeitige Einsatz der Lerntheorien im Game Design von Lernspielen und Serious Games wird mit Beispielen illustriert. Die strukturierte Zusammenstellung im Hinblick auf Game-Design-Elemente und -Konventionen in Form von Game-Genres führen zur Entwicklung der Lerntheorie-Genre-Matrix, die funktional geclusterte Game-Genres zu den gängigen lerntheoretischen Ansätzen zuordnet und den Entscheidungsprozess für ein Game-Genre auf Basis des lerntheoretischen Ansatzes unterstützen kann. Schlüsselwörter: Digital Game-Based Learning, Serious Games, Lerntheorien, digitale Lernspiele Learning Theories in the Game Design of Digital Learning Games Abstract: This conceptual contribution provides an overview of classical and additional learning
theories that are relevant for the game design of digital educational games and Digital Game-Based Learning. The current application of learning theories in the game design of educational games and serious games is illustrated with examples. The structured compilation with regard to game design elements and conventions in the form of game genres also leads to the development of the Learning Theory-Genre Matrix, which assigns functionally clustered game genres to the common learning-theoretical approaches and can support the decision-making process for a game genre based on the learning-theoretical approach. Keywords: Digital Game-Based Learning, Serious Games, Learning Theories, Digital Learning Games
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Charlotte Knorr
1 Einleitung
Bei heutiger Betrachtung des Game-Designs zur Geburtsstunde der digitalen Lernspiele in den 1970-Jahren – damals auch Edutainment (Games) (Egenfeldt-Nielsen et al. et al., 2019, S. 252) genannt – haben diese nicht nur die Auswirkungen der technischen Limitationen gemeinsam. Viel mehr fallen bei Titeln wie Math Blaster! (Davidson & Associates,1983), Number Munchers (MECC, 1986) oder auch Reader Rabbit (The Learning Company, 1983) erhebliche Gemeinsamkeiten im Gameplay auf: Repetitive Fragen des Spielsystems, das in den Spielsituationen nur eine (richtige) Antwort einfordert. Humoristische Elemente sowie buntes UI- und Charakterdesign soll der Motivation dienen oder zumindest von der Repetition ablenken. Teilweise findet das Spiel nur in den vom Lernkontext losgelösten, simplen Minigames bzw. exogenen Game-Mechaniken (Egenfeldt-Nielsen et al., 2019, S. 253) statt, die selbst die Belohnung zum eigentlichen Lernen darstellen sollen. Gründe dafür sind die einfach zu programmierenden, repetitiven Game-Mechaniken, sparsames audiovisuelles Design und damit verbundenes kommerzielles Potenzial. Zudem bestand mit dem Einzug der Computer in die Haushalte und Schulen ein regelrechter Hype um Edutainment. (Egenfeldt-Nielsen et al., 2019). Zuletzt ist aber der behavioristische Ansatz in der Gestaltung von (digitalen) Lernsituationen ein wesentlicher Grund für die o. g. Gemeinsamkeiten. Demgegenüber stehen eine nicht zu vernachlässigende Anzahl an Lernspielen, die darüber hinaus – den damaligen Best-Practice-Ansätzen des Lehrens und Lernens folgend – mit offenen Spielausgängen und Game- bzw. Lernmechaniken zur aktiven Wissensgenerierung, dem Interesse, der Exploration und Partizipation im konstruktivistischen Sinne dienen konnten (Egenfeldt-Nielsen et al., 2019; Homer et al., 2020). Die wesentliche Bedeutung der Lerntheorien im Game Design digitaler Lernspiele folgt dementsprechend bereits einer langen Tradition (Loftus & Loftus, 1983). Über die Verfolgung eines lerntheoretischen Ansatzes hinaus werden durch deren Einsatz auch epistemologische Überzeugungen und das Verständnis vom Lernen der Game-Designer*innen selbst deutlich (Klopfer & Thompson, 2020). Lerntheorien sind nicht nur ein wichtiges Forschungsgebiet der Lern- und Kognitionspsychologie, sie sind auch ein wichtiger Aspekt in medienpsychologischen Betrachtungen von Lernmedien (z. B. digitale Spiele) und Lernformen (z. B. Digital Game-Based Learn ing) im Allgemeinen ( Jadin, 2018). Dabei verfolgen sie das Ziel, Lernprozesse effektiver zu gestalten (Bakan & Bakan, 2018). Ferner ist das den Lerntheorien zugrunde liegende Verständnis von Lernen nicht nur historisch, kulturell und gesellschaftlich geprägt, sondern auch von der individuellen Lernbiografie und den Lernerfahrungen der Individuen abhängig, die Lernszenarien entwickeln (Spies, 2022). Dieser konzeptionelle Beitrag befasst sich mit den lerntheoretischen Ansätzen, die für die Gestaltung und Entwicklung digitaler Lernspiele relevant sind. Über die deskriptive Darstellung hinaus offeriert er eine Zuordnung zu konkreten Game-Design-Elementen und deren Kombinationen in Form von Game-Genres. Da digitale Lernspiele komplexe Syste-
Lerntheorien im Game Design digitaler Lernspiele
me bestehend aus einer Vielzahl dieser Elemente und unterschiedlicher lerntheoretischer bzw. lernpsychologischer Vorüberlegungen darstellen, sind klare Zuordnungen zu Lerntheorien selten auf ganzer Linie möglich. Dennoch kann die systematische Darstellung der Lerntheorien und Umsetzungsmöglichkeiten Game-Designer*innen von Lernspielen sowie Forschenden aus den Bereichen der digitalen Lernspiele und Serious Games bei der grundlegenden Ausgestaltung dienen. Die bewusste Entscheidung für einen lerntheoretischen Ansatz wirkt sich nicht nur auf die Konzeption und Entwicklung der Game- und Lernmechaniken eines digitalen Spiels aus. Auch weitere Bereiche, wie das audiovisuelle Design, Storytelling etc., sind maßgeblich von dieser Ausrichtung beeinflusst. Zudem schafft der systematische Einsatz einer Lerntheorie – im gesamten Game oder in bestimmten Teilen – ein gemeinsames Verständnis des Entwicklungsteams für den Umgang mit den Bedürfnissen der Spielenden bzw. Lernenden und kann in wichtigen Designentscheidungen als leitendes Element genutzt werden. Hierzu wird im Beitrag1 zunächst an den Einsatz von Lerntheorien in Serious Games und digitalen Lernspielen herangeführt sowie verschiedene Lerntheorien und ihre Implikationen für das Game Design herausgearbeitet (Kap. 2). Darauf folgen Beispiele zu digitalen Lernspielen, die den Einsatz dieser Lerntheorien in der Konzeption und Umsetzung von spielbasierten Interventionen illustrieren (Kap. 3). Aus theoretischen Bezugspunkten, den Anwendungsbeispielen und der Analyse der relevanten Learning Game Mechanics (Plass et al., 2020) unterschiedlicher gängiger Game-Genre wird eine Lerntheorie-Genre-Matrix für digitale Lernspiele entwickelt. Diese kann im Game Design von Serious Games und Lernspielen und bei der Entscheidung für ein bestimmtes Game-Genre im Rahmen eines gewählten lerntheoretischen Ansatzes oder vice versa unterstützen. (Kap. 4). 2
Lerntheoretische Ansätze im Kontext des Game-Based Learning
Im Kontext der Serious Games, die nicht primär der Unterhaltung dienen und digitale Lernspiele einschließen, und des Digital Game-Based Learning (DGBL), bei dem die affektiven, motivationalen, kognitiven und sozio-kulturellen Aspekte und das Engagement im Design digitaler Spiele berücksichtigt werden (Plass et al., 2020), stehen die drei relevanten Hauptströmungen des Behaviorismus, des Kognitivismus und des Konstruktivismus im Vordergrund. Im Folgenden werden diese lerntheoretischen Ansätze eingehend definiert und besonders hervorzuhebende Ausdifferenzierungen des Bezugsfeldes angeführt. Zusätzlich zu diesen lerntheoretischen Ansätzen werden 1 Das
diesem Artikel zugrundeliegende Vorhaben „Lehrerbildung an berufsbildenden Schulen 2“ (LEBUS 2) wird im Rahmen der gemeinsamen „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01JA1902 gefördert.
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moderne Ansätze (z. B. Konnektivismus) und auch Ansätze erwähnt, die im Kontext des digitalen, spielbasierten Lernens weniger geläufig sind. Da Lerntheorien spezifische Stärken und Schwächen hinsichtlich der Erlangung unterschiedlicher Wissensarten bereithalten, sind kombinatorische Ansätze in Lernspielen durchaus verbreitet und – je nach Zielperspektive – auch angeraten. Die Vielseitigkeit der Ausgestaltung und Zielsetzungen digitaler Lernspiele spiegeln sich auch in der möglichen Kombination der Lerntheorien wider. Oftmals wird ein lerntheoretischer Ansatz in der Grundstruktur des Games verankert. Dann werden Elemente anderer Lerntheorien bei Bedarf und nach Art des zu erlangenden Wissens in Teilen der Games hinzugenommen. Somit können komplexe, abwechslungsreiche Spielerfahrungen offeriert und mehrere Lernziele und -formen adressiert werden. 2.1 Behaviorismus
Im Behaviorismus wird Lernen in Form der lernpsychologischen Verhaltensänderung durch Kontrolle realisiert, indem im Stimulus-Response-Ansatz durch Reize gezielt Reaktionen hervorgerufen werden ( Jadin, 2018, S. 370). In diesem Kontext ist die klassische Konditionierung (Pavlov, 1902) und vor allem die operante Konditionierung (Skinner, 1971) von Bedeutung, bei der erwünschtes Verhalten durch Belohnung verstärkt und ungewünschtes Verhalten durch Bestrafung reduziert wird ( Jadin, 2018). In behavioristischen Lernsituationen und damit auch den digitalen Lernspielen, entspricht der Stimulus einer konkreten Fragestellung, auf die Lernende mit einer (eindeutigen) Antwort reagieren, zu der dann unmittelbares Feedback gegeben wird. B. F. Skinner entwickelte hierzu die Teaching Machine (Skinner, 1957), ein mechanischer Apparat, mit dem Schüler*innen individuell Antworten zu kleinen Aufgaben geben konnten. Die Aufgaben waren auf einer Rolle oder Scheibe aufgebracht, wurden zunächst selbst eingetragen und konnten dann durch Betätigung eines Hebels unmittelbar mit der richtigen Antwort verglichen werden. Der ursprüngliche Erfinder der Teaching Machines, Sidney L. Pressey, hatte dies 1925 mit Multiple-Choice-Fragen realisiert, die für die Anzeige der nächsten Frage richtig beantwortet sein mussten (Benjamin, 1988). Die Teaching Machines gelten als Vorläufer der Edutainment Games und heutigen – überwiegend mobilen – Lernanwendungen, die dem Drill-and-Practice folgen (Egenfeldt-Nielsen et al., 2019; Jadin, 2018). Nicht zuletzt wegen der repetitiven Aufgaben und Interaktionen und der starren Automatisierung des Lernens sind nicht nur der Behaviorismus selbst, sondern auch Drill-and-Practice-Lernanwendungen, Edutainment und Gamification bereits seit Langem großer Kritik ausgesetzt (u. a. Bogost, 2015; Egenfeldt-Nielsen et al., 2019; Jadin, 2018; Heinz & Fischer, 2020). Dass der lernende Mensch die metaphorische Blackbox darstellt, dessen interne mentale Prozesse sowie Vorwissen, Präferenzen und Motivation nicht nur unverstanden, sondern auch unberücksichtigt bleiben, fällt hierbei besonders ins Gewicht ( Jadin, 2018).
Lerntheorien im Game Design digitaler Lernspiele
Gamification, die den Einsatz von einzelnen Game-Design-Elementen in spielfremden Kontexten und Anwendungen (überwiegend Unternehmenssoftware, Web- und Mobile-Anwendungen) wie z. B. Beruf, Marketing oder Fitness beschreibt, folgt bei Lernzwecken überwiegend behavioristischen Ansätzen. Es gibt allerdings auch zahlreiche Gamification Apps, die weitere Lerntheorien in den Designprozess integrieren. Lernanwendungen des behavioristischen Ansatzes wird zudem die Kritik der Nichtbeachtung der individuellen Lernvoraussetzungen und -bedingungen (Spies, 2022), des geringen Engagements, dem ausschließlichem Fokus auf extrinsische Motivation, der exogenen Game-Mechaniken und der limitierten Player Agency zuteil (EgenfeldtNielsen et al., 2019; Facer et al., 2003; Leyland, 1996). Die konkrete Umsetzung des behavioristischen Ansatzes im Game Design kann bei Belohnungen in Lernspielen vielfältiger Natur sein: Levelaufstiege, ein fortschreitendes Narrativ, Belohnungsitems oder Trophäen sind nur einige der möglichen Umsetzungen im Game Design (Homer et al., 2020). Teilweise kommt auch ein Punkteanstieg bzw. ein Zugewinn an Ressourcen/In-Game-Währungen oder Badges – wie bei der Gamification – zum Einsatz. Bestrafung kann in digitalen (Lern-)Spielen durch eine Verhinderung des Vorankommens im Spiel, seltener auch durch Verlust von Punkten/Ressourcen/Währungseinheiten umgesetzt werden. Eine den digitalen Spielen immanente Eigenschaft ist das unmittelbare Feedback auf Interaktionen von Spielenden, die die Umsetzung behavioristischer Ansätze begünstigt (Homer et al., 2020). Zusätzlich sind unterschiedliche Verstärkungspläne bzw. Reinforcement Schedules der operanten Konditionierung, wie die kontinuierliche und die intermittierende Verstärkung, gleichermaßen in Lernspiele integrierbar und sollen die Motivation, Spieldauer und Rückkehr zu den Lerneinheiten erhöhen (ebd.). Die Debatte um Exploitative Game Design wird auch im Rahmen des Einsatzes von behavioristischen Ansätzen in Form der Verstärkungspläne der operanten Konditionierung geführt. Gerade der Verstärkungsplan mit variabler Quote – Variable Ratio (VR) – bei dem den Spieler*innen unklar ist, wie viel Arbeit für den Erhalt einer Belohnung erforderlich ist, ruft besonders hohe Reaktionsraten hervor (Ferster et al. 1957; Linehan et al., 2015). Fernab der Kritik kann mit behavioristischen Lernsituationen effektiv Faktenwissen erlangt werden ( Jadin, 2018; Spies, 2022). Dennoch trifft dies nur für Lernaufgaben zu, die hinsichtlich ihrer Lösung eindeutig sind (ebd.). Der Aufbau spezifischen, detaillierten Faktenwissens und das Erlenen von Sprachen und Regelsystemen ist hierfür prädestiniert. 2.2 Kognitivismus
Kognitivistische Ansätze konzentrieren sich auf die menschliche Informationsverarbeitung und das Gedächtnis der Lernenden. Lernen erfolgt hier aktiv im Prozess der Problemlösung, wobei Lösungswege exploriert und so neue Informationen in bestehende kognitive Strukturen integriert werden (Brünken & Seufert, 2006; Jadin,
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2018; Spies, 2022). Prägend für diesen lerntheoretischen Ansatz und die Begrifflichkeit des Schemas ist unter anderem Piagets Forschung im Bereich der Entwicklungspsychologie. Verhaltensschemata und kognitive Schemata stellen organisierte Verhaltensund Wissensmuster dar. Diese werden durch Akkommodation, der Anpassung oder Erweiterung der bestehenden Schemata an die Umwelt, gebildet oder erweitert und Assimilation, der Erfahrungsintegration in bestehende Schemata, eingeordnet (Lefrançois, 2014). Hinzu kommt die Betrachtung des Gedächtnisses, das nach dem DreiSpeicher-Modell (Atkinson & Shiffrin, 1968) das sensorische Gedächtnis sowie das Arbeits- und Langzeitgedächtnis abbildet. Die Informationsaufnahme und -selektion (sensorisches Gedächtnis oder Register), Informationsbearbeitung und -verarbeitung (Arbeits- bzw. Kurzzeitgedächtnis), sowie die langfristige Abspeicherung von Informationen (Langzeitgedächtnis) gehen hierbei ineinander über (Atkinson & Shiffrin, 1968; Jadin, 2018). Das Arbeitsgedächtnis ist wiederum in die Bereiche der akustischen bzw. sprachlichen (phonologische Schleife) und visuellen Informationsendcodierung (visuell-räumlicher Notizblock) aufgeteilt (Baddeley, 1992). Hierbei werden die begrenzten Kapazitäten der Subsysteme durch die zentrale Exekutive kontrolliert; der episodische Puffer fungiert als temporärer, multimodaler Zwischenspeicher der Subsysteme (Baddeley et al., 2011; Homer et al., 2020). Das Langzeitgedächtnis enthält im expliziten Bereich deklaratives Wissen – wie Erlebnisse, Erinnerungen, Faktenwissen, semantisches Wissen – und im impliziten Gedächtnis prozedurales Wissen – wie Handlungswissen, Fertigkeiten und Konditionierungen ( Jadin, 2018). Maßgeblich für die Informationsverarbeitung, das Lernen im kognitivistischen Sinne und die Entwicklung mentaler Modelle sowie die Adaption der Schemata ist auch die Informationsrepräsentation in Lernmedien. Gerade das Game Design digitaler (Lern-)Spiele setzt die Aufbereitung und Reduktion komplexer Systeme auf das Wesentliche voraus. Dies bietet Lernenden den Vorteil, bereits kondensierte und oftmals explizite Informationsstrukturen vorzufinden, die sie ideal bei der Entwicklung mentaler Modelle unterstützen (Ke, 2009). Basierend auf dem Arbeitsgedächtnismodell von Baddeley (1992) entwickelte Mayer (2002) die Lerntheorie zum Lernen mit digitalen Medien bzw. die Cognitive Theory of Multimedia Learning. Aus dieser und der Cognitive Load Theory (Sweller et al., 2011) hat Mayer (2020, S. 88) die folgende Cognitive Theory of Game-Based Learning (Abb. 1) entwickelt.
Abb. 1 Cognitive Theory of Game-Based Learning (Mayer, 2020, S 88)
Lerntheorien im Game Design digitaler Lernspiele
Digitale Lernspiele dieses lerntheoretischen Ansatzes bieten meist mehrere Lernszenarien in Form von Levels oder Episoden an, die das Lernen über einen längeren Zeitraum und Wiederholungen ermöglichen und damit die Retention erhöhen (Brown et al., 2014, Klopfer et al., 2020). Im Vergleich zum Behaviorismus, ist über das Faktenwissen hinaus eine Förderung von Handlungswissen und Konzeptwissen sowie von Fähigkeiten und Fertigkeiten möglich, die im Kontext der konkreten fachlichen oder überfachlichen Problemstellung im Spiel adressiert werden. Durch einen offenen Spielausgang wird die Entwicklung unterschiedlicher Lösungsstrategien begünstigt (Klopfer et al., 2020). Außerdem sind die Lerninhalte, die Problemstellung und -lösung typischerweise in das Storytelling eingebettet (Hense & Mandl, 2012). Nach dem Trial-and-Error-Prinzip werden Lernende größtenteils dazu angehalten, Problemlösungen selbstständig zu erarbeiten. Diese Freiheit birgt die Gefahr des Cognitive Overload (Spies, 2022), weshalb die Beachtung des Cognitive Load der Lernenden ein wichtiger Aspekt beim Einsatz kognitivistischer Lerntheorien – wie der Cognitive Theory of Game-Based Learning (Mayer, 2020) – und Lernspiele ist. Hinsichtlich der Reduzierung des Cognitive Load passen sich einige Lernspiele durch Personalisierungsmöglichkeiten und adaptive Game-Design-Elemente an die Voraussetzungen, das Vorwissen, die Lernziele und -stile der Lernenden an. Auch hier können adaptive oder intelligente tutorielle Lernsysteme eingesetzt werden, um den Lernfortschritt auf Basis der gewonnenen Nutzungsdaten auszuwerten und angepasste Lernwege anzubieten. Von simplen Hinweisfunktionen über diegetische Assistenten in Form von NPCs (Non-Player Characters) bis zu stetig angepassten Schwierigkeitsparametern und zugeschnittenen Problemstellungen werden tutorielle Elemente auf vielfältige Weisen eingesetzt. 2.3 Konstruktivismus
Konstruktivistische Ansätze beschreiben eine individuelle Wissenskonstruktion, die u. a. von persönlichem Vorwissen, Erfahrungen, Einstellungen und Motivation beeinflusst wird ( Jadin, 2018) und dementsprechend für das Individuum eine größere Bedeutung erlangt (Egenfeldt-Nielsen et al., 2019). Vygotsky (1978) argumentiert als wichtiger Wegbereiter des Konstruktivismus, dass Lernen im sozio-kulturellen Kontext und durch Interaktion mit anderen stattfindet. Aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive definiert er die Zone der nächsten Entwicklung (Vygotsky, 1978, S. 86) des Lernens. Dies beschreibt einen Bereich zwischen dem aktuellen Entwicklungsstand eines Individuums, der durch selbstständiges Problemlösen beschrieben ist, und dem Entwicklungspotenzial, dem Problemlösen mithilfe von Personen mit umfassenderem Wissen (Erwachsene, ältere Kinder oder Gleichaltrige mit größerer Problemlösekompetenz). Lernende entdecken und explorieren in diesem Bereich das Wissen und Setzen Lerninhalte deshalb stets in einen persönlich bedeutsamen Kon-
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text (Perkins, 1999). Informationen zur Problemlösung werden lediglich bereitgestellt und eine freie und individuelle Wissenskonstruktion ermöglicht (Spies, 2022). Das Erreichen festgelegter Lernziele ist hingegen nicht immer möglich oder notwendig (Spies, 2022). Ähnlich wie im Kognitivismus können im Konstruktivismus komplexe Systeme und Problemstellungen abgebildet werden; aber auch hier besteht das Risiko des Cognitive Overload. Da es um die Erfahrung von und das Lernen in authentischen Situationen geht, sind problemorientiertes, kontextbezogenes und situiertes Lernen und die Einnahme unterschiedlicher Perspektiven ( Jadin, 2018) sowie die Exploration integrale Bestandteile konstruktivistischer Ansätze. Ebenso sind Multiplayer-Lernspiele, die Formen des kooperativen oder kollaborativen Lernens umsetzen, gerade für konstruktivistische Games bedeutsam. Das Game Design konstruktivistischer digitaler Lernspiele folgt unterschiedlichen Perspektiven, vielfältigen Interaktionsmöglichkeiten und der Zieldimension des tiefergehenden Verständnisses komplexer Probleme und Prozesse (Egenfeldt-Nielsen et al., 2019). Digitale Lernspiele, die dem Konstruktivismus folgen, sind häufig dem Genre der Rollenspiele (Spies, 2022) oder Simulationsspiele (Hense & Mandl, 2012, Jadin, 2018) zuzuordnen und umfassen einen offenen Spielausgang oder sog. Microworlds (Egenfeldt-Nielsen et al., 2019; Jadin, 2018). Microworlds sind virtuelle Welten, die Eigenschaften einer bestimmten Domäne in kondensierter Form modellieren (Egenfeldt-Nielsen et al., 2019). Diese kleinen Welten sind vereinfachte Simulationen komplexer Systeme. Durch die in Microworlds enthaltenen Objekte und Interaktionen mit diesen Objekten erhalten Spielende einen Einblick in die Eigenschaften, die Anwendungsbereiche und das Zusammenspiel der Bestandteile dieser Systeme (Egenfeldt-Nielsen et al., 2019). Auch Strategiespiele eignen sich in einigen Fällen für das Lernen im konstruktivistischen Sinne (Hense & Mandl, 2012). Authentizität ist eine Bedingung für konstruktivistische Lernspiele ( Jadin, 2018). Dabei ist dies nicht zwangsläufig über ein realistisches audiovisuelles Setting zu realisieren, sondern kann sich auch in authentischen Interaktionen widerspiegeln. Insbesondere bei der Förderung des Handlungswissens ist dies eine wichtige Voraussetzung. Zudem können in Simulationen authentisch komplexe Probleme dargestellt (Paechter, 2007) und von den Spielenden analysiert sowie mit ihnen interagiert werden. Im Vergleich zu den bisher genannten Theorien stehen durch die genannten Genres auch Strategie- und Zugriffswissen sowie soziale Kompetenzen im Problemlösen und Lernen mit Mitspieler*innen im Fokus. Über die Umsetzung konstruktivistischer Ansätze in digitalen Spielen hinaus, kann die gemeinsame Kon struktion und Erarbeitung der Lerninhalte durch die Erstellung von digitalen Spielen gefördert werden (Egenfeldt-Nielsen et al., 2019; Spangenberger et al., 2022).
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Weitere lerntheoretische Ansätze
Neben den viel zitierten drei Lerntheorien, die zuvor beschrieben wurden, gibt es im Kontext noch weitere nennenswerte lerntheoretische Ansätze bzw. Ansätze aus der Lernpsychologie. Da diese sich teilweise aus den zuvor genannten entwickelt haben oder auch Sonderformen darstellen, sind klare Abgrenzungen in manchen Fällen schwierig. Über die im Folgenden aufgeführten Ansätze gibt es auch weitere Theorien, die für das Design und die Umsetzung von digitalen Lernspielen relevant sein können. In Anlehnung an konstruktivistische Ansätze formuliert Siemens (2005) den Konnektivismus, der sich im Wesentlichen auf das Lernen in Netzwerken im Rahmen der Digitalisierung konzentriert. Siemens (2005) basiert seinen Konnektivismus auf den Chaos-, Netzwerk-, Komplexitäts- und Selbstorganisationstheorien. Lernen obliegt hierbei nicht ausschließlich dem Individuum, sondern komplexen Netzwerken aus menschlichen und nichtmenschlichen Knotenpunkten. Es umfasst vielmehr das Knüpfen von Verbindungen zwischen diesen und weiteren Informationsquellen (Siemens, 2005). Verbindungen, die eine Fülle an neuen Lernmöglichkeiten auftun, sind in diesem Ansatz der konkreten Wissenserweiterung vorzuziehen. Zudem geht es um hochaktuelle Informationen und sich schnell verändernde Netzwerke und die Fähigkeit, bisheriges Wissen neu zu verknüpfen (Siemens, 2005). Lernende sind dazu angehalten, diese Verbindungen zu schaffen, die Informationsquellen hinsichtlich ihrer Qualität zu bewerten und vorhandene Netzwerkstrukturen zu überarbeiten (Spies, 2022). Die Entscheidungsfindung und Priorisierung neuen Wissens unterliegt selbst einem ständigen Wandel und wird in diesem Ansatz ebenfalls als Lernprozess definiert (Siemens, 2005). Die Voraussetzungen für diesen lerntheoretischen Ansatz bestehen erst seit dem Einzug des Web 2.0. Multiplayer-Lernspiele, bei denen kooperiert oder kollaboriert wird und verschiedene Informationsquellen bzw. Ressourcen zur Verfügung stehen, eignen sich in besonderem Maße für diesen lerntheoretischen Ansatz. Kritisch zu hinterfragen ist jedoch die „Überbewertung von Ressourcen“ (Spies, 2022, S. 33), die Gleichsetzung von Informationen in Netzwerken mit Wissen, die geringe Beachtung des Aufbaus von Wissen durch Lernende sowie die mögliche Überforderung der Lernenden in der Einschätzung der Informationsqualität und Neuorganisation der Netzwerke. Der Konnektivismus konnte bisher noch nicht empirisch als eigenständige Lerntheorie belegt werden ( Jadin, 2018) und eine saubere Abgrenzung vom Konstruktivismus oder dem interaktionistischen Konstruktivismus von Reich (1998) ist nicht in Gänze möglich. Eine Unterform des Konstruktivismus, der Sozialkonstruktivismus, konzentriert sich in besonderem Maße auf die gemeinsame Wissenskonstruktion. Obwohl gemeinsames Lernen und soziale Interaktionen für die individuelle Wissenskonstruktion bereits im Konstruktivismus vorgesehen sind, rückt dieser Aspekt im Sozialkonstruktivismus stärker in den Fokus. Dieser lerntheoretische Ansatz konzentriert sich im Kontext der digitalen Lernspiele auf die verbale und nonverbale Kommunikation (Hense & Mandl, 2012) und Interaktion zwischen Lernen-
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den über das Spiel oder über externe Kommunikationstools wie Instant Messenger oder Konferenzsoftware. Hierfür eignen sich ausschließlich Multiplayer-Lernspiele, die einen starken Austausch und eine hohe Gewichtung der Interaktion innerhalb der Community voraussetzen. Insbesondere Rollenspiele, deren Aufgaben ausschließlich in der Gruppe und durch intensive Kommunikation und Informationsaustausch bewältigbar sind, bieten adäquate Voraussetzungen für die Umsetzung dieses Ansatzes. Ebenso ist der kollaborative Aspekt hierfür prädestiniert, bei dem Ressourcen, Informationsquellen, Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten nur von einem spezifischen Individuum bzw. einer Teilgruppe zur Verfügung stehen. Online-Rollenspiele und die Variante der Massively Multiplayer Online Role-Playing Games (MMORPG) und auch Multiplayer Online Battle Arena (MOBA) und Action Real-Time Strategy (ARTS) Games sind nur einige der möglichen Game-Genres bzw. Spielarten. Durch ihre Komplexität, oftmals stetige Erweiterung und (in Teilen) kompetitive Struktur ist eine intensive Kommunikation in Teams vorausgesetzt. Zudem wird über das Spiel hinaus über die Kommunikation per Voice Chat und zahlreiche Online-Communitys wie Foren, Blogs, Discord, Twitch und YouTube ständig gemeinsames Wissen konstruiert. Taktiken, Strategien, die kombinatorische Wahl von Charaktereigenschaften, -fähigkeiten und Items, geheime Orte mit Belohnungen, Lösugen etc. bilden einen stetig wachsenden Wissensstand, der weit über die vom Spiel bereitgestellten Informationen hinausgeht. Humanistische Ansätze stellen verstärkt das Individuum mit seinem Wachstumspotenzial, der Selbstverwirklichung und der persönlichen Entwicklung in den Vordergrund (Maslow, 1970; Rogers, 1983). Hierfür eignen sich Formen des selbstgesteuerten Lernens (Madani et al., 2017), bei denen Lernende die Gestaltung und Ausübung eines Lernvorhabens selbstbestimmt vornehmen können und ihnen die Erreichung individuell angepasster Lernziele geboten wird. Der Humanismus in digitalen Lernspielen ist bisher nur selten thematisiert. Die konkrete Umsetzung in digitalen Lernspielen, die individuelle Bedürfnisse und Vorlieben der Lernenden einschließt, setzt jedoch ein adaptives Verhalten des Spielsystems im Hinblick auf die Individualisierbarkeit voraus. Diese ist durch anpassbare Schwierigkeiten, Lernpfade, Spezialisierungen etc. möglich. Die Flexibilität in der Gestaltung der Spielerfahrung durch Spielende ist vorrangig aus Rollenspielen und Open-World-Games mit vielen Möglichkeiten zur Anpassung der Spielweise oder auch nichtlinearen Storytelling bekannt. Analog zum Aufbau der Fähigkeiten und der Wahl der Charakteristika von Avataren im Spielkontext sollte auch die individuelle Gestaltung der Lernerfahrung – beispielsweise durch das Einschlagen bestimmter Lernpfade oder Questreihen, die Lernziele verfolgen – ermöglicht werden.
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Lerntheorien digitaler Lernspiele und Serious Games
Dem behavioristischen Ansatz folgend gibt es viele erfolgreiche Gamification Apps. Da es sich bei diesen Apps definitionsgemäß (Deterding et al., 2011) nicht um Serious Games handelt, werden diese jedoch nicht weiter ausgeführt. Behavioristische Ansätze und Game-Elemente des Behaviorismus – wie Punktesysteme, Leaderboards, Fortschrittsbalken etc. – werden bei Serious Games in der Regel im Rahmen eines Mix aus mehreren lerntheoretischen Ansätzen eingesetzt. Rein behavioristische Serious Games kamen in der Ära des Edutainments (Egenfeldt-Nielsen et al., 2019) zum Einsatz und wurden bereits angesprochen. Diese sind jedoch für derzeitige Bildungsvorhaben nicht mehr relevant. Viele Serious Games setzen gerade wegen der großen Kritik am Behaviorismus eher auf andere Lerntheorien oder auf die Kombination lerntheoretischer Ansätze. Es gibt jedoch eine größere Anzahl an Serious Games, die behavioristische Ansätze als Stilmittel oder im Rahmen prozeduraler Rhetorik (Bogost, 2007) nutzen, um die Systeme zu kritisieren, die Methoden des Behaviorismus einsetzen. Derartige Serious Games bzw. Lernspiele mit Zielen der politischen Bildung provozieren die Spielenden mit überzeichneten behavioristischen Elementen, um eine reflexive Auseinandersetzung mit dem System anzustoßen oder die Spielenden zum (Spiel-)Regelbruch, Deep oder Dark Play herauszufordern. Zu diesen Spielen, die behavioristische Elemente intensiv einsetzen – aber aufgrund ihres entscheidungsbasierten, nichtlinearen Storytellings und dem Fokus auf vielfältigen Informationsquellen dem Kognitivismus zuzuordnen sind –zählen unter anderem die Spiele der Orwell- (Osmotic Studios, 2016, 2018) und Beholder-Reihen (Warm Lamp Games, 2016, 2018; Paintbucket Games, 2022) sowie Papers, Please (Pope, 2013). Die von den Werken George Orwells inspirierten Games der Orwell- und Beholder-Reihen thematisieren die systematische Überwachung der Bevölkerung durch die Spielenden. Hierbei werden Entscheidungen, die im Sinne der Überwacher oder des totalitären Staates in Beholder und Beholder 2 (Warm Lamp Games, 2016, 2018) getroffen werden, unmittelbar belohnt und Abweichungen von Vorschriften bestraft. Derselbe Mechanismus greift bei Papers, Please (Pope, 2013), der mit den unmittelbaren finanziellen und gesundheitlichen Auswirkungen auf die Familie des zu spielenden Grenzschutzbeamten und der Auswirkung auf den Spielausgang Entscheidungen stets mit tiefgreifenden verhaltenssteuernden und emotionalen Folgen versieht. Spielende befinden sich in den genannten Spielen – aufgrund der Transparenz und Unmittelbarkeit der negativen Folgen ihrer Handlungen im Sinne des thematisierten Systems – unentwegt in moralischen Dilemmata und werden damit auch zu Abweichungen vom erwünschten Verhalten motiviert. Somit wird nicht nur die politische Aussage transportiert, sondern implizit auch mit Themen der politischen Psychologie gespielt, wie der kritischen Auseinandersetzung mit sozialen Normen, Moralvorstellungen und Massenpsychologie. Punktesysteme und Fortschrittsanzeigen werden im behavioristischen Sinne auch bei Bad News (DROG & University of Cambridge, 2018) verwendet, dass sich
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mit Desinformation und Fake News auseinandersetzt. Hierbei erfolgt eine starke Reduktion auf wenige Aspekte wie die Followerzahl und Glaubwürdigkeit, die beispielsweise durch gezielte (Desinformations-)Posts durch Spielende erhöht werden sollen. Dies geschieht ausschließlich durch einen imaginären Dialog mit dem Spielsystem, bei dem immer zwischen zwei Optionen im Stil eines Text Adventures gewählt werden kann. Auch Fake it to make it (Warner, 2017) setzt sich mit Fake News und Desinformation auseinander. Hierbei wird wieder aus der Perspektive der Personen gespielt, die Desinformationen verbreiten. Bei Fake it to make it (Warner, 2017) müssen mehrere Werte, etwa Likes, Einkünfte und Vertrauenswürdigkeit maximiert werden. Dies enthält zwar behavioristische Komponenten, ist wegen seiner Grundstruktur, dem Management von Ressourcen in stark angeleiteter Weise, mit vielen Hinweisen, aber eher dem kognitivistischen Ansatz zuzuordnen. Vermittelt werden hierdurch die Methoden, die sich Ausführende von Desinformationsvorhaben im Internet zunutze machen. Auch Decount (Bloodirony et al., 2020) befasst sich mit politischer Bildung und insbesondere der Radikalisierung von Jugendlichen im Rahmen von extremistischen Gruppierungen. Dazu sind einige behavioristische Elemente in den Minigames vorzufinden, aber grundlegend führen hier die Konsequenzen der Entscheidungen und vielfältige Informationskanäle (Social Media, Nachrichten, Videos, Zwischensequenzen) im nichtlinearen Storytelling zu einer Lernerfahrung im kognitivistischen Sinne. CoronaQuest ist ein Kartenspiel (Abb. 2), dass vom Departement für Bildung, Jugend und Kultur (DFJC) des Kantons Waadt in der Schweiz und DNA Studios (2020) zum Zeitpunkt der Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts nach dem Lockdown herausgegeben wurde. Spielende bzw. Schülerinnen und Schüler treten im Duell gegen das Coronavirus im Stil eines Sammelkartenspiels an. Hierfür werden Figurenkarten für Angriffe auf das Coronavirus, Machtkarten mit karteninduzierten Bonus-/Schwächungseffekten (sog. Buffs/Debuffs) für beschworene Figuren und Verteidigungskarten für Reaktionen auf feindliche Machtkarten ausgespielt. Bei Letzteren gibt es immer eine richtige Reaktionsweise durch das Spielen einer bestimmten Verteidigungskarte auf bestimmte Machtkarten des Coronavirus. Hierbei kann durch (Vor-)Wissen zur richtigen Verhaltensweise in der Pandemie ein spielrelevanter Vorteil erzeugt werden. Jedoch kann dies auch durch Trial-and-Error und die Beobachtung der Konsequenzen ausgespielter Spielkarten erlernt werden. Das Kontern der Machtkarten ist eine Kernfunktionalität im Spiel, da sie sowohl das Lernziel im kognitivistischen Sinne vorantreibt als auch entscheidend für den Spielausgang ist.
Lerntheorien im Game Design digitaler Lernspiele
Abb. 2 CoronaQuest Spielfeld (links), gegnerischer Machtzauber (Mitte), gespielter Verteidigungszauber (rechts).
Bridge Constructor Portal (ClockStone, 2017) ist nicht nur ein Mix aus den zwei namensgebenden Spielen Bridge Constructor und Portal, es kombiniert ebenso das Puzzle Game mit Elementen der Physik- bzw. Ingenieurssimulation. Diese Kombination spiegelt sich auch in den lerntheoretischen Ansätzen des Kognitivismus und Konstruktivismus wider. Hierfür müssen Brücken durch komplexe Terrains nach physikalischen bzw. statischen Gesichtspunkten konstruiert und dabei die Game-Mechanik der Portale bedacht und genutzt werden. Aus der vielfachen Kombination der für sich genommen einfachen Game-Design-Elemente entsteht in diesem Spiel eine große Dynamik, die durch viele unterschiedliche Levels und Map Layouts immer komplexere und herausfordernde Lösungswege erfordert. Sandbox Games sind für die Umsetzung des Konstruktivismus prädestiniert und damit auch die Bildungsvariante eines seiner erfolgreichsten Vertreter, Minecraft Education (Mojang Studios et al., 2016). Diese wird bereits vielfach und weltweit an Schulen im Rahmen eines schulspezifischen Lizenzmodells eingesetzt. Hierbei sind die klassischen Aufbau- und CraftingMechaniken des Grundspiels bereits hinreichend komplex, werden aber zusätzlich um verschiedene Lernmodule bzw. Lektionen, spezielle Welten zu Lernzwecken, Laborgegenstände und -interaktionen, NPCs und Spielerweiterungen – wie dem Code Builder für erste Programmiererfahrungen – ergänzt. Minecraft (Mojang Studios, 2009) wäre für sich genommen, als Sandbox Game eher dem Konstruktivismus zuzuordnen und dies ist auch für die Education Edition der Fall, jedoch haben mit zusätzlichen Komponenten, wie den Lektionen und NPCs, kognitivistische Ansätze ebenfalls Einzug genommen. In Anbetracht einer stärkeren Anleitung der Schülerinnen und Schü-
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ler durch das Spiel ist der Spielausgang und die Nutzung zielgerichteter. Dies unterbindet zwar in mancher Hinsicht den konstruktivistischen Gedanken der Sandbox im Hinblick auf die Exploration und freie Wissenskonstruktion, folgt demnach aber der Lernzielorientierung dieser Bildungsvariante. InCoLearn (Knorr, 2021) folgt einem konstruktivistischen bzw. sozialkonstruktivistischen Ansatz (Knorr & Zinn, 2022) und fokussiert darüber hinaus die Lernformen des kollaborativen, situierten und erfahrungsbasierten Lernens im dreidimensionalen Raum als Online Multiplayer Game. Das Rollenspiel mit Unterrichtssimulationselementen (Knorr, 2023) kann aus der Perspektive eines Schüler- oder Lehrer*innencharakters erlebt werden (Abb. 3). In verschiedenen Lernszenarien soll implizit Fachwissen und handlungsbezogenes Wissen zu Inklusion und Heterogenität durch das nichtlineare Storytelling und die Durchführung von Quests und Dialogen mit den anderen Spielenden erworben werden. Da aus jeder Perspektive unterschiedliche Questreihen, Dialoge und Interaktionen erlebt werden, ist mit jedem Spieldurchlauf und in jeder Gruppe von Spielenden eine neue Dynamik und veränderte Wissenskonstruktion möglich.
Abb. 3 InCoLearn aus einer Schülerperspek tive auf dem Pausenhof im Dialog mit einem Mitschüler.
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Lerntheorie-Genre-Matrix für digitale Lernspiele
Da spezifische Game-Genres für die Umsetzung bestimmter lerntheoretischer Ansätze im Forschungskontext zu Lernspielen und Serious Games als geeignet identifiziert wurden (Kap. 2), erscheint eine strukturierte Betrachtung dieser Zuordnung hilfreich für die Ausrichtung des Game-Designs nach lerntheoretischen Ansätzen. Die Ausgestaltung digitaler Lernspiele kann u. a. durch die Vereinigung unterschiedlicher gestalterischer, informationstechnischer und psychologischer Aspekte in einem interdisziplinären Ansatz in vielerlei Hinsicht als vielseitig und komplex bezeichnet werden. Die zuvor genannten Beispiele (Kap. 3) für den kombinatorischen Einsatz von Game-Design-Elementen, die aus verschiedenen lerntheoretischen Ansätzen stammen, zeigen einen Auszug des hohen Aufkommens dieser Mischformen. Dennoch ist
Lerntheorien im Game Design digitaler Lernspiele
in den meisten Fällen eine Lerntheorie in der Gestaltung des Gameplays dominant. Eine Zuordnung von Lerntheorien zu Game-Genres kann demnach eine erste Stoßrichtung für die Entscheidung für ein Game-Genre oder auch einen lerntheoretischen Ansatz bedeuten. Die Lerntheorie-Genre-Matrix (Abb. 4) gibt einen Überblick über die drei Hauptströmungen der lerntheoretischen Ansätze und Umsetzungsmöglichkeiten in Game-Genres. Sie soll Game-Designer*innen und Forschenden im Bereich der Serious Games oder digitalen Lernspiele die grundsätzlichen Kombinationspotenziale und -grenzen bei der Entscheidung für Game-Genres und/oder Lerntheorien aufzeigen und bei der ersten Konzeptionierung unterstützen. Zunächst muss jedoch eine basale Klassifikation von grundlegenden Game-Genres für die Matrix festgelegt werden. Die Unterhaltungsbranche hat eine Vielzahl an Game-Genres hervorgebracht, die zum Teil – auch bedingt durch die Vermarktung der Produkte – nur sehr feine Unterschiede aufweisen. Trotzdem ist eine verständliche Klassifizierung nicht nur für die Forschung, sondern vor allem für den Vertrieb über den Einzelhandel und Online-Plattformen wie Steam, Microsoft Store, Playstation Store notwendig, damit Spieler*innen für sie inhaltlich relevante Titel finden, die ihren Vorlieben entsprechen. Dementsprechend bieten derartige Plattformen einen guten Überblick über die zahlreichen, verfügbaren Game-Genres. Vargas-Iglesias (2020) hat in einem formalistischen Ansatz aus dieser Fülle an Genres und Subgenres vier Hauptgenres definiert, zu denen sich alle weiteren Genres zuordnen lassen: Action, Strategy, Puzzle und RPG. Die Eigenschaften dieser Genres – in diesem Zusammenhang auch als „Functions“ bezeichnet (Vargas-Iglesias, 2020, S. 6) – sind in Tab. 1 dargestellt. Tab. 1 Eigenschaften der vier Game Genres. In Anlehnung an Vargas-Iglesias, 2020, S. 7. Genre (Function)
Beispiele
Regel
Benötigte Fähigkeiten/ Fertigkeiten
Funktion
Action Game (Action)
CRT Amusement Device (Goldsmith & Mann, 1947)
Physische Konfron tation
sensomotorisch
intuitiv
Strategiespiel (Strategy)
OXO (Douglas, 1952)
Mentale Konfrontation
kognitiv
formal
Rollenspiel (RPG)
pedit5 / The Dungeon (Rutherford, 1975)
Herausforderung Problemlösung
überwiegend sensomotorisch
deduktiv
Rätselspiel (Puzzle)
Videocart-8: Magic Numbers (Fairchild, 1977)
Herausforderung Charakterverbesserung
überwiegend kognitiv
induktiv
Anmerkungen: Der Begriff der „Function“ wird sowohl synonym zu Genre als auch Funktion nach Piaget’s (1991) Entwicklungsstufenmodell verwendet. Die ersten Games aus dem Ursprungsjahr des Genres (Vargas-Iglesias, 2020) wurden hinzugefügt.
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Obwohl diese Klassifikation weitestgehend mit anderen Klassifikationen übereinstimmt, die sich verstärkt auf Game-Mechaniken als Unterscheidungskriterium konzentrieren, sind weitere wichtige Game-Genres wie Adventures oder Simulationsspiele nicht als Functions (Tab. 1) vorzufinden. Diese sind teilweise im Modell von Vargas-Iglesias (2020) als Subgenres in den vier definierten Hauptgenres integriert. Vargas-Iglesias (2020) trägt jedoch auch Mischformen/hybriden Game-Genres Rechnung. Beispielsweise stellen (moderne) Adventure Games oftmals Mischformen aus Action, Rollen- und Rätselspielen; Simulationsspiele eher Unterformen bestimmter Hauptgenres (Functions aus Tab. 1) dar. Wird auf die Eigenschaften von Games nun die Perspektive des lerntheoretischen Ansatzes gelegt, ergibt sich die LerntheorieGenre-Matrix (Abb. 4).
Abb. 4 Lerntheorie-Genre-Matrix mit den vier Game-Genres nach Vargas-Iglesias (2020)
Vargas-Iglesias (2020) schreibt Strategiespielen und Rollenspielen Emergenz und das Potenzial der Unendlichkeit zu. Da MMORPGs und ein Großteil der Open-WorldGames im Rollenspiel-Genre angesiedelt sind und auch Strategiespiele oftmals eine Vielzahl von (erstellbaren) Karten und Levels mit Umfängen über Kontinente oder ganze Planeten bereitstellen, besteht in diesen Genres ein höheres Maß an Emergenz als in Action oder Puzzle Games. Letztere sind meist auf einen begrenzten Umfang an fortschreitenden Levels beschränkt. Für die Zuordnung der Genres zu Lerntheorien sind zudem benötigte Fähigkeiten und Fertigkeiten der Spielenden bzw. Lernenden (Tab. 1) ausschlaggebend, die von den Game-Mechaniken für die Erfüllung
Lerntheorien im Game Design digitaler Lernspiele
von Aufgaben und das Fortschreiten im Spiel notwendig sind. Die Mechanik ist bei Rätselspielen und Strategiespielen primär – aber nicht ausschließlich – auf Kognition ausgelegt; bei Action Games und Rollenspielen überwiegend auf sensomotorische Fähigkeiten. Dennoch gibt es nicht nur innerhalb der Genres digitale Spiele, die davon abweichen. Insbesondere hybriden Formen ist ein kombinatorischer Ansatz inhärent. Die verschiedenen Unterformen von Simulationsspielen folgen in der Regel ebenfalls unterschiedlichen lerntheoretischen Ansätzen. Da Rätsel- und Strategiespiele in ihrer Game-Mechanik vornehmlich auf kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten abzielen, können kognitivistische Ansätze von diesen Genres bedient werden. Dennoch gibt es auch Lernspiele mit einem Fokus auf dem Behaviorismus, die simple Rätselmechaniken enthalten. Komplexere Rätselspiele folgen aufgrund der komplexen Lösungsstrategien und vielfältigen Lösungswege eher dem Kognitivismus. Zudem sind Action Games, bei denen eine schnelle und korrekte Reaktion gefordert ist, in behavioristischen Ansätzen zu verorten. Besonders frei in der Gestaltung des Spielerlebnisses und der Lernerfahrung sind Spielende in Rollenspielen und Online-Rollenspielen. Das gemeinsame Lernen in Microworlds mit emergenten Eigenschaften und großen, lebendigen Online-Communitys schafft optimale Rahmenbedingungen für das Explorieren und Lernen im konstruktivistischen Sinne. Ebenso sind Simulationen, die sowohl Rollenspielelemente in Form der Lebenssimulationen oder Strategiespielelemente bei Managementsimulationen enthalten, sehr authentische Repräsentationen realer Prozesse und komplexer Problemstellungen. Diese initiale Lerntheorie-Genre-Matrix ist durchaus noch erweiterbar; bspw. um Online-Genres (MMORPG etc.) und Lerntheorien, die nur im Online- oder Multiplayer-Format umgesetzt werden können (z. B. Konnektivismus und Sozialkonstruktivismus). Auch ist eine Erweiterung der basalen Genres um Subgenres denkbar. 5 Fazit
Das Game Design digitaler Lernspiele auf Basis von Lerntheorien reicht bis zu den Anfängen des Edutainments und digitaler Lernspiele und blickt damit auf eine lange Tradition. Bildungseinrichtungen, aber vor allem Firmen erkannten früh die Potenziale ihres Einsatzes, vorrangig in der Bildung von Kindern und Jugendlichen. Obwohl behavioristische Ansätze bereits in dieser Zeit Kritik ausgesetzt waren – dies wurde bereits in Kap. 2.1 diskutiert – war die Versuchung aufgrund wirtschaftlicher Interessen dennoch groß. Mit überschaubarem zeitlichem und monetärem Entwicklungsaufwand und altbekannten Drill-and-Practice-Mechaniken konnten die Eltern der Spielenden zum Kauf bewegt und relativ hohe Gewinne erzielt werden. Zu dieser Zeit gab es bereits Games, die mit immersivem Storytelling, komplexeren Game-Mechaniken und einem differenzierten Art Style (z. B. The Oregon Trail (Rawitsch et al., 1971)) aufwarten konnten. Diese stellen Wegbereiter der heutigen Serious Games dar, die
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vordergründig aus kognitivistischen (Kap. 2.2) und konstruktivistischen (Kap. 2.3) Auffassungen des Lernens und oft auch Kombination dieser entstehen. Neben den Hauptströmungen gibt es weitere Lerntheorien – darunter auch solche, die erst noch empirisch belegt werden müssen (siehe Konnektivismus; Kap. 2.4), die für Serious Games und Lernspiele relevant sind oder sein können. Zudem wurden Beispiele digitaler Lernspiele und Serious Games benannt und einer Betrachtung auf Basis lerntheoretischer Aspekte der Hauptströmungen unterzogen (Kap. 3). Auch bei diesen sind überwiegend kognitivistische und konstruktivistische Umsetzungen vorzufinden. Der Behaviorismus wird fernab der Gamification in den heutigen Serious Games in seiner Umsetzung in der Game- bzw. Lern-Mechanik (Plass et al., 2020) überwiegend als rhetorisches oder satirisches Stilmittel und als Anstoß zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Spielinhalt genutzt. Für manche Lerntheorien sind bestimmte spielbasierte Medienformate prädestiniert – insbesondere Gamification und Drill-and-Practice Games im Behaviorismus. Auch bestimmte Game-Genres, die hauptsächlich durch die vordergründige Game-Mechanik, aber auch durch das Theming, Level Design etc. bestimmt sind, können als passende Optionen für die Umsetzung bestimmter Lerntheorien identifiziert werden. Hierfür wurden verschiedene Game-Genres und ihre Eigenschaften mit den drei vordergründigen lerntheoretischen Ansätzen zusammengestellt und unter Zuhilfenahme und Erweiterung des Genre-Verständnisses nach Vargas-Iglesias (2020) systematisch in einer Lerntheorie-Genre-Matrix (Kap. 4) zugeordnet. Diese kann Game-Designer*innen und Forschenden im Bereich der Serious Games und Lernspiele als konzeptioneller Einstieg in die Gestaltung von Lernspielen dienen und auf Potenziale und Limitationen bei der Vereinbarkeit gewählter GameGenres oder Lerntheorien aufmerksam machen. Trotzdem soll die Matrix nicht einschränkend, sondern vielmehr als richtungsweisendes Hilfsmittel bei der initialen Ausarbeitung von Game-Design-Konzepten für digitale Lernspiele nutzbar sein. Nicht zuletzt ist die Wahl einer geeigneten Lerntheorie für ein digitales Lernspiel immer an Lernzielen, Zieldomänen, zu vermittelnden Kompetenzen und zugrundeliegenden Problemstellungen des Bezugsfeldes auszurichten. Hierbei ist die Wahl des GameGenres essenziell, da diese Auswirkungen auf die grundlegende Game-Mechanik, die Art des Storytellings und die audiovisuelle Gestaltung haben kann. Spielende finden sich leichter in den Konventionen ihnen bekannter Game-Genres bezüglich Struktur und Interaktionen zurecht, da mit den Genres auch gewisse Erwartungen bezüglich der Fähigkeiten und Fertigkeiten für den Spielerfolg kommuniziert werden. Dennoch bieten Abweichungen von den Game-Genres oder Cross-Genre-Games innovative Konzepte. Auch für diese Games ist die Kombination lerntheoretischer Ansätze ein probates Mittel zur Zielerreichung und Adressierung spezifischer Bedürfnisse der Zielgruppe.
Lerntheorien im Game Design digitaler Lernspiele
Literatur
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Lerntheorien im Game Design digitaler Lernspiele
Digitale Spiele
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Early Majority Studierende entwickeln Virtual Reality, Augmented Reality und Mixed Reality Anwendungen in ihrem fachspezifischen Kontext
S EBASTIAN RIGLING / CHARLOTTE KNORR / BERND ZINN / MICHAEL SEDLMAIR
Zusammenfassung: Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) und Mixed Reality (MR) ha-
ben an Hochschulen in den letzten Jahren vor allem im Rahmen von Forschungs- und Entwicklungsprojekten sowie in informations- und medientechnischen Studiengängen an Bedeutung gewonnen. Trotz der damit gestiegenen hochschulischen Relevanz der Technologien, stehen diese nicht allen Lehrenden und Lernenden zur Verfügung. Zur Konzeption und Entwicklung von VR-, AR- und MR-Anwendungen durch Studierende jeglicher Studienrichtungen liegen nach den uns vorliegenden Daten wenige Erkenntnisse zur Umsetzung vor. Der vorliegende Beitrag berichtet von einem Lernmodul, bei dem Studierende aus verschiedenen Studiengängen ohne Voraussetzungen zu VR, AR und MR, im Rahmen einer fachübergreifenden Schlüsselqualifikation selbst eine Anwendung konzipieren und erproben. Durch Anleitung eines interdisziplinären Lehrteams entwickeln und erproben die Studierenden Anwendungen im studiengangspezifischem und -übergreifenden Kontext, die durch die Unity Engine, Toolkits wie MRTK sowie das eigens dafür entwickelte EdXR im Laufe eines Semesters ohne Programmierkenntnisse realisierbar sind. Im Lernmodul sollen die Studierenden damit ein grundlegendes Wissen und Fähigkeiten erwerben, um die Potenziale der Technologien für Anwendungsfälle in ihrer und angrenzenden Disziplinen einschätzen zu können sowie anschlussfähige Kompetenzen zur Entwicklung entsprechender Anwendungen erwerben. Sie können hiermit digitale Kompetenzen zu den technologiebasierten Erfahrungswelten aufbauen und erhalten einen anwendungsorientierten Einblick in die einschlägige Technik, Forschung und Möglichkeiten der Technologien. Schlüsselwörter: Virtual Reality, Augmented Reality, Mixed Reality, Hochschullehre, technologiebasierte Erfahrungswelten
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Early Majority Students Develop VR, AR and MR Applications in Their Subject-Specific Context Abstract: Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) and Mixed Reality (MR) have become
increasingly important at universities in recent years, particularly in the context of research and development projects and in information and media technology courses. Despite the increased relevance of these technologies in higher education, they are not available to all teachers and learners. To the best of our knowledge, there are few findings on the conception and development of VR, AR and MR applications by students of all fields of study. This paper reports on a learning module in which students from different disciplines without prerequisites for VR, AR and MR design and test an application themselves as part of the interdisciplinary key qualification. Under the guidance of an interdisciplinary team of teachers, the students develop and test applications with a course-specific context. This project is realized in the course of a semester without any programming knowledge thanks to leveraging the Unity Engine, toolkits such as MRTK, as well as EdXR, which was developed specifically for this purpose. In the learning module, the students should acquire a basic knowledge and skills to be able to assess the potential of the technologies for use cases in their specific discipline, and to acquire competences for the development of corresponding applications. They will be able to build up digital competencies for the technology-based worlds of experience and gain an application-oriented insight into the relevant technology, research, and the possibilities of the technologies. Keywords: Virtual Reality, Augmented Reality, Mixed Reality, University Teaching, Technology- based Experiential Worlds
1 Einleitung
Virtuelle, erweiterte und gemischte Realitäten (Virtual, Augmented und Mixed Reality) eröffnen neuartige Möglichkeiten für Lern- und Arbeitsumgebungen. Mit der Nutzung von VR, AR und MR werden vielfältige Potenziale verbunden. Die Technologien werden bereits in einzelnen Bildungsbereichen eingesetzt und erste Studien belegen Akzeptanz und Effekte der Nutzung dieser Technologien (vgl. z. B. Pletz 2021a). Bislang liegt jedoch keine breitenwirksame Nutzung von VR, AR und MR in der hochschulischen Lehre vor. In einer Übersichtsstudie zu VR/AR in der hochschulischen Lehre wird bspw. konstatiert, dass VR und AR noch nicht im Lehralltag angekommen sind und es den befragten Studierenden zu den Technologien an Anwendungserfahrungen mangelt (Niedermeier & Müller-Kreiner, 2019). Obgleich die technologische Weiterentwicklung als auch die Nutzung von VR, AR und MR seit langem an Hochschulen im Rahmen von Forschungs- und Entwicklungsprogrammen im Fokus stehen, so erscheint die Nutzung dieser Technologien im Rahmen der hochschulischen Lehre auf einzelne Studiengänge (u. a. Medizinstudium, z. B. Kuhn et al., 2021) sowie auf Forschungs- und Entwicklungsprojekte (u. a. zum Lehramtsstudium z. B. Huang
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et al., 2022; Kunz & Zinn 2022; Ingenieurstudium, z. B. Maier et al., 2022; Geographiestudium, z. B. Mohring & Brendel, 2020) beschränkt. Das verwundert, denn VR und AR werden neben Artificial Intelligence (AI) im Kontext der Diskussion zu Educational Technologies disruptive Potenziale für den Bildungsmarkt zugesagt. Im globalen Bildungsmarkt werden für die drei Technologien hohe Wachstumsraten prognostiziert und mit einer „Wende zu technologiegestützter Hochschulbildung“ und „Hochschule 5.0“ verbunden (Falk & Welpe, 2023, S. 189). Nicht zuletzt aufgrund der rasanten technologischen Entwicklung sind VR, AR und MR mittlerweile für einen breiten (inter-)disziplinären Einsatz im Rahmen der Hochschullehre auch grundsätzlich geeignet und werden darüber hinaus auch in der Berufs- und Arbeitswelt von Hochschulabsolvent*innen eingesetzt (z. B. Pletz, 2021b). Ausgehend davon und der Annahme, dass virtuelle und physische Lern- und Arbeitswelten weitergehend verschmelzen, entsteht ein Bedarf zur Förderung digitaler Kompetenzen von Lernenden und Lehrenden zur Entwicklung, Nutzung und Bewertung hybrider Lern- und Arbeitsumgebungen sowie der breitenwirksamen Förderung der Rezeptionswahrscheinlichkeit von VR, AR und MR in der hochschulischen Lehre. Der vorliegende Beitrag thematisiert die Konzeptionierung und Erprobung einer breitenwirksamen, hybrid aufgebauten Lehrveranstaltung für Studierende aller Studiengänge an der Universität Stuttgart zur Entwicklung und Nutzung von VR-, AR- und MR-Anwendungen. Die Studierenden erwerben in der Lehrveranstaltung grundlegende Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, um selbst Anwendungen im (inter-)disziplinären Kontext ihrer Studiengänge zu entwickeln und zu erproben. Hierbei sollen die Teilnehmenden auch Kompetenzen zur gesellschaftlich-kulturellen und ethischen Bewertung des Lernens und Arbeitens in und mit technologiebasierten Erfahrungswelten entwickeln. Das Lehrangebot1, welches im Rahmen der fachübergreifenden Schlüsselqualifikationen angeboten wird, ist interoperabel angelegt und adressiert Studierende ohne Vorkenntnisse sowohl aus naturwissenschaftlichen, ingenieurwissenschaftlichen als auch geistes- und sozialwissenschaftlichen Studienrichtungen. Als Teil der Early Majority im Innovations-Diffusions-Prozess zur hochschulischen Nutzung der drei Technologien sollen die Studierenden in diesem Lehrangebot die einzelnen Technologien auf der Entwicklungs- und Anwendungsebene sowie in der kontextuellen Einbettung eines fachspezifischen Inhaltes ihres Studiengangs kennen und bewerten lernen. Dabei wird unterstellt, dass die Studierende als sog. ‚Early Majority‘ angesehen werden können: Eine Gruppe, von der ausgegangen wird, dass sie keine (Lehr‑)Entscheidungsfunktion bezüglich der Einführung und Verbreitung der Technologie besitzen, vergleichbar wie die Early Adpoters, jedoch ihre zwischenmenschlichen Netzwerke (z. B. in ihrem Studiengang) wichtig für den Innovation-Diffusion-Prozess sind (vgl. z. B. Rogers 2003). 1 Das diesem Artikel zugrundeliegende Vorhaben „Digitales Lehren und Lernen an der Universität Stutt-
gart BOOST.SKILLS.SUPPORT.“ (digit@L) wird im Rahmen der Förderbekanntmachung „Hochschullehre durch Digitalisierung stärken“ mit Mitteln der Stiftung Innovation in der Hochschullehre gefördert.
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Theoretischer Hintergrund und Forschungsstand
VR, AR und MR werden in hochschulischen Lernformaten eingesetzt, um Studierenden eine zusätzliche Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit dem vermittelten Fachwissen oder direkt den Erwerb von Handlungswissen im dreidimensionalen Raum zu ermöglichen (Zimmermann et al., 2022). Die Aufgabe der Hochschulen ist hierbei, Studierende mit der wachsenden Bedeutung dieser Technologien für zahlreiche Arbeits- und Bildungsbereiche vertraut zu machen und hinsichtlich der beruflichen Anforderungen zur Nutzung zu professionalisieren (Bucher et al., 2020). Veranstaltungen, die sich nicht nur mit den Einsatzmöglichkeiten und den Potenzialen dieser Technologien auseinandersetzen, sind zwar selten, dennoch gibt es bereits Vorlesungen, Seminare und Labore, die die Konzeption und Erstellung von Software für diese Plattformen und deren Einsatz beinhalten (Klimova et al., 2018). Der Vorteil derartiger Veranstaltungen, die dem Design-based Learning (DBL, Kamal & Junaini, 2019) folgen, liegen zum einen im Aufbau eines tiefergehenden Verständnisses der Technologien und im Aufbau digitaler Kompetenzen, die über die Anwendung hinaus in der Entwicklung dieser liegen. Zum anderen werden bspw. kollaborative Problemlösekompetenzen (Fuad et al., 2019), Innovationsfähigkeiten und Entrepreneurship sowie Teamfähigkeiten und Fähigkeiten zum Projekt-, Informations- und Selbstmanagement aufgebaut (Klimova et al., 2018; Won et al., 2015). Zudem wird der Transfer des theoretischen Wissens in die Praxis unter Anwendung des DBL-Ansatzes begünstigt (Zhang et al., 2015). An Hochschulen angebotene Lernmodule zu VR-, AR- und MR-Technologien richten sich übergreifend an alle Studierende (u. a. Marks & Thomas, 2022); oder aber auch an Studierende aus spezifischen Studiengängen oder nur bestimmten Studiengängen (Bucher et al., 2020). Dazu zählen überwiegend informationstechnische Studiengänge (u. a. Nguyen et al., 2019), jedoch auch ingenieurswissenschaftliche Studiengänge (u. a. Marks & Thomas, 2022) und Lehramt (u. a. Semerikov et al., 2021) sowie bspw. die Studiengänge Geografie (Mohring & Brendel, 2020). Es gibt Module zu VR und/oder AR, Simulationen und 360°-Videos in Kurs-, Seminar- und Laborformaten. Diese setzen den Schwerpunkt entweder auf die Entwicklung mittels einer Game Engine bzw. Content-Creation-Plattform für VR oder AR (u. a. Marks & Thomas, 2022; Nguyen et al., 2019; Semerikov et al., 2021), die Videographie von 360°-Videos für VR-Brillen (u. a. Marks & Thomas, 2022; Mohring & Brendel, 2020) oder die Content-Erstellung durch Nutzung einer immersiven Anwendung auf dem Endgerät (z. B. Zimmermann et al., 2022). Bei Letzterem entspricht die Anwendung eher einem Authoring Tool, bei dem aus vordefinierten Objekten neue Räumlichkeiten zusammengestellt werden können. Zur Entwicklung fachlicher Kompetenzen der Studierenden in einer VR-Lehrveranstaltung im Bezugsfeld der Nachhaltigkeit sind bei der Gestaltung von Lehr-Lern-Arrangements folgende Aspekte relevant, die sich auch auf andere Domänen und überfachliche Kompetenzen anwenden lassen (Rieckmann et al., 2017; Zimmermann et al., 2022, S. 145): Lernen durch (a) Handlungen, (b) Er-
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fahrungen, (c) Reflexion, (d) Interaktivität, (e) Lerner:innenzentrierung, (f) Selbststeuerung, (g) Partizipation, (h) Kollaboration, (i) Problemorientierung, (j) Interund Transdisziplinarität. Die genannten Aspekte finden sich zum überwiegenden Teil auch in Lernformen wieder, die im Kontext des Lernens mit VR, AR und MR oft in Kombination Anwendung finden und ebenfalls eigene Forschungsbereiche unter Einsatz dieser Technologien darstellen; z. B. erfahrungsbasiertes Lernen, selbstgesteuertes Lernen, kollaboratives Lernen, problembasiertes Lernen (vgl. z. B. Zinn & Ariali 2020). Bucher et al. (2020) haben im Kontext der Nutzung von VR und AR in der Hochschullehre drei Konzeptionierungsansätze identifiziert, die im Folgenden näher vorgestellt werden: Der Learning-Technology-by-Design-Ansatz (Mishra & Koehler, 2003; Koehler & Mishra, 2005), bei dem eigene Softwareprodukte – in diesem Fall durch Lehrende für den Unterricht – sowie Unterrichtsstunden erstellt und gestaltet werden. Der Ansatz der handlungs- und entwicklungsorientierten Didaktik, bei dem konstruktivistische Lerntheorien unterstellt werden (Tulodziecki et al., 2017) und der Lehr-/Lernprozess in acht Phasen strukturiert und damit komplexen Problemstellungen mit „Entscheidungs-, Gestaltungs- und Beurteilungsaufgaben“ begegnet (Bucher et al., 2020, S. 229). Der interdisziplinäre Ansatz zur Konzeptionierung unter Einbezug wissenschaftlicher Erkenntnisse aus der Medienpädagogik und Human-Computer Interaction (HCI) vereint zudem technologische und pädagogische Kompetenzen in enger Kollaboration der Lehrenden. Im zuletzt genannten Ansatz wirkt sich ein interdisziplinäres Team mit Lehrpersonen aus Technik und Technikdidaktik positiv auf den Lehr- und Lernprozess aus (Bucher & Grafe, 2018). Der Stand der Forschung zur Hochschullehre mit VR, AR und MR ist derzeit dünn besetzt; ebenso die Erkenntnisse zur Wirksamkeit (Müser & Fehling, 2022; Niedermeier & Müller-Kreiner, 2019). Hierfür nennen Müser und Fehling (2022) technische Herausforderungen, mangelnde Kompatibilität zwischen Systemen (bzw. Plattformen) und wenig verfügbare Open-Source-Anwendungen sowie die benötigte Expertise bei Hochschullehrenden zur Erstellung derartiger Medien, bedingt durch die vielfältig notwendigen Kompetenzen; u. a. zur 3D-Visualisierung, Programmierung etc. Zudem sind die VR-, ARund MR-Brillen sowie die Hardware zur Erstellung von Anwendungen für diese Technologien nach wie vor kostspielig (u. a. Nguyen et al., 2019). Jedoch spielen hohe Anschaffungskosten und mangelnde Performanz zum heutigen Tag nur noch eine untergeordnete Rolle in der Umsetzung von Hands-On-Lehrangeboten (u. a. Müser & Fehling, 2022). Es gibt bisher vereinzelte Leuchtturmprojekte, wie die Initiative „AR/VR.nrw“, die Hochschulen durch die Bereitstellung von Autorenumgebungen (z. B. Figments.nrw) unterstützen. Ohne tiefergehende informationstechnische oder gestalterische Kompetenzen können diese Tools genutzt werden, um mit reduziertem Aufwand für Lehrende und Lernende Anwendungen zu den Schlüsseltechnologien VR und AR zu entwickeln (Müser & Fehling, 2022). Da die Lehre zu VR, AR und MR oftmals noch im Rahmen von Leuchtturmprojekten umgesetzt wird (Niedermeier, 2019) liegen nur wenige Studien vor. Kamal und Junaini (2019) haben im Rahmen ih-
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res übergreifenden „ICT Competency Course“ (S. 2727), für den AR-Anwendungen von Studierenden zu verschiedenen MINT-Bereichen erstellt wurden, Post-Tests zu Lower-Order Thinking Skills (LOTS) und Higher-Order Thinking Skills (HOTS) sowie den Instructional Materials Motivation Survey (IMMS) basierend auf dem ARCSModel mit 280 Studierenden durchgeführt. In der Studie wurden ein signifikanter Anstieg der LOTS und HOTS sowie überdurchschnittlich gute Werte zu Motivation und Interesse festgestellt. Nguyen et al. (2019) befragten 38 Informatikstudierende nach einem sehr praxisorientierten „Virtual Reality course“ (S. 213), aus dem 63 VR-Anwendungen entstanden. Hierbei konnten die Studierenden teilweise frei wählen, welche Entwicklungstools genutzt werden sollten. Vor allem WebVR-Tools, z. B. A-Frame oder ThreeJS, schienen für Studierende mit Vorkenntnissen in der Webentwicklung einfacher in der Nutzung zu sein. Die Freiheit, die Tools selbst zu wählen, und die 3DContent-Generierung empfanden die Studierenden allerdings als herausfordernd, wenn keine Vorkenntnisse bestanden. Deshalb hat ein Viertel der Studierenden vorgefertigte Assets verwendet. Rund ein Fünftel der Studierenden musste sich eingehend mit Informationsquellen und Dokumentationen aus dem Internet auseinandersetzen, da die Kursinhalte nicht zur Erstellung ausreichten. Insbesondere die Unity Engine war die Software der Wahl für einen Großteil der Projekte (88.5 %) und wurde von den Studierenden generell für die Erstellung von VR-Software präferiert (94.1 %). Darüber hinaus ergeben sich auf qualitativer Ebene die fünf Herausforderungen für die Durchführung derartiger Lernmodule: (1.) Kollaborationsoptionen in den Studierendenteams (z. B. über Git; Unity Collaborate), (2.) API- bzw. Softwareinkompatibilität, (3.) hohe Hardwareanforderungen an die Workstations, (4.) steile Lernkurve (v. a. in der Programmierung) und (5.) Modelle (hinsichtlich Erstellungsaufwand) sowie Interaktionen (Unterschiede auf verschiedenen Endgeräten). Marks und Thomas (2022) haben N = 295 Studierende von Ingenieursstudiengängen zur Nutzung des Virtual Reality Labors befragt. Rund ein Viertel der Studierenden (71.5 %) waren Noviz*innen in der VR-Nutzung; ebenso viele empfanden die VR-Einführung als zuträglich für den Lernerfolg in ihrem Modul. Gut ein Drittel (36.3 %) der Studierenden haben sich bei der Nutzung unwohl gefühlt; darunter Kopfschmerzen, Schwindel, unscharfes Sehen, zu hohes Gewicht am Kopf und keine Anpassungsmöglichkeit an die Brille. Über zwei Drittel (68.5 %) würden die Technologie in weiteren Lernmodulen einsetzen. Semerikov et al. (2021) haben 23 Studierende in ihrem Kurs „Development of Virtual and Augmented Reality Software“, der für Lehramtsstudierende des MINT-Bereichs ausgelegt ist, befragt. Auch hier sind 83 % der Studierenden Noviz*innen. Zwei Drittel haben die Absicht, ihre Kompetenzen zu diesen Technologien weiter auszubauen (65 %) und gut die Hälfte (52 %) der Befragten wollen diese auch professionell einsetzen. Auch wenn die Evidenz zur Entwicklung und Nutzung der drei Technologien in hochschulischen Lehrveranstaltungen sich noch dünn darstellt, so liefern die vorliegenden Befunde dennoch erste Ansatzpunkte für die Entwicklung entsprechender Lehrveranstaltungen.
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Lernmodul für Studierende
Im Rahmen des Projekt digit@L sollen Studierende und Lehrende zielgruppengerecht ihre digitalen Kompetenzen zu VR-, AR- und MR-Anwendungen in digitalen und hybriden Lehr-Lern-Settings erweitern. Zudem sollen neue technik- und mediendidaktische Ansätze zu einer digitalen Innovationskultur an der Hochschule beitragen. Die Entwicklungsmaßnahme, die im Weiteren vorgestellt wird, ist im Teilprojekt SKILLS angesiedelt. Darin sollen die digitalen Kompetenzen von Studierenden und Lehrenden durch die Entwicklung und das Angebot von entsprechenden Schlüsselqualifikationen und Weiterbildungsmodulen gefördert werden. Im Kontext dessen wurden Ende 2021 Lernmodule für Lehrende und Studierende konzipiert. Das Lernmodul für Studierende wurde Anfang 2022 in einer ersten Version im Rahmen von internen Workshops und einer bestehenden Lehrveranstaltung für Berufs- und Technikpädagog*innen in gekürzter Fassung umgesetzt (Pilotphase). Das Feedback aus diesen Veranstaltungen führte zur Überarbeitung des Lehrmoduls; parallel wurde das EdXR-Toolkit (Kap. b)) entwickelt. Die überarbeitete und erweiterte Veranstaltung wurde im Rahmen der fachübergreifenden Schlüsselqualifikation „Einführung in die Technologie und Umsetzung von VR-, AR- und MR-Anwendungen“ im Wintersemester 2022/23 am Institut für Erziehungswissenschaft und in Kooperation mit dem Visualisierungsinstitut an der Universität Stuttgart umgesetzt. Folgend wird auf die Ziele, wesentliche Aspekte des Konzepts und den zeitlichen Ablauf (Kap. 1), die verwendete bzw. bereitgestellte Hardware als Teil der hybriden Laboreinheiten (Kap. 1st) und die genutzte Software zur Erstellung der VR-, AR- und MR-Anwendungen der Studierenden (Kap. 2nd) eingegangen. 3.1
Zielsetzung, Konzept und zeitlicher Ablauf
Die primäre Zielsetzung der fachübergreifenden Schlüsselqualifikation (FÜSQ) für Studierende ist der Aufbau von Wissen und Fähigkeiten der Studierenden zur Erstellung technologiebasierter Erfahrungswelten. Die Lehrveranstaltung wird für Studierende aller Fakultäten und Studiengänge der Universität Stuttgart angeboten. Die Kursgröße ist auf 10 Personen begrenzt, da für alle Studierenden ausreichend Hardware in Form von Gaming-Notebooks und VR- bzw. AR-/MR-Brillen zur Verfügung stehen muss. Für die Notebooks und VR-Brillen wurde eine Ausleihe an die Studierenden über die Semesterdauer vorgesehen. Die Pilotierung hatte gezeigt, dass sehr heterogene Voraussetzungen bezüglich verwendeter Betriebssysteme und HardwarePerformanz unter den Studierenden bestanden und somit die Bereitstellung vorinstallierter und konfigurierter Workstations unerlässlich für die erfolgreiche Durchführung der Lehrveranstaltung ist. Das Lernmodul erhebt nicht den Anspruch, Fertigkeiten im Zusammenhang mit den Entwicklungswerkzeugen, der 3D-Modellierung oder
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Programmierung in C# zu fördern. Allerdings werden Studierende mit Vorerfahrung, Fähigkeiten und Fertigkeiten in diesen Bereichen und Studierende, die die wöchentlichen Aufgaben in der Unity-Einführungsphase bearbeiten auch digitale Fertigkeiten im Zusammenhang mit Content Creation oder Softwareentwicklung entwickeln bzw. erweitern können. Im Fokus stehen grundlegendes Fachwissen zu den Technologien, handlungsbezogenes Wissen und Fähigkeiten zur Entwicklung in der Unity Engine (Kap. a)), welche in Abb. 1 weiter aufgeschlüsselt sind und im Wesentlichen die Kerninhalte der Präsentationen (Fachwissen), der Seminar- und Trainingstermine sowie der Projektarbeit der Studierenden (Handlungswissen, Fähigkeiten) umfassen.
Abb. 1 Fachbezogene Kompetenzen des Lernmoduls für Studierende
In projektbasierter Arbeit sollen sich die Studierenden in kleinen Teams zusammenfinden. Im Wintersemester 22/23 fanden sich bspw. mehrere Studierende der Architektur zu einem Team und zwei interdisziplinäre Teams aus den Ingenieurs-, Geistes- und Sozialwissenschaften zusammen. Es konnte aus vier Projektaufgaben gewählt werden. Für die Implementierung dieser Aufgaben wurde auch das speziell entwickelte EdXRProjekt (Kap. b)) in Form eines vollständig vorkonfigurierten Unity-Projekt mit Beispielszenen bereitgestellt und vorab um Skripte erweitert, die die notwendigen Komponenten und Interaktionen für die Umsetzung der Projektaufgaben enthalten. Die Projektaufgaben adressieren vier mögliche formale Vorgaben, die um die studienfachspezifischen Inhalte durch die Studierenden ergänzt werden, soll: (1.) (Innen-)Architektur, (2.) Showroom oder Museumsausstellung, (3.) Prozessablauf (nur AR/MR) oder (4.) Montageprozess bzw. Assembly (nur VR). Zusätzlich wurden wöchentliche Aufgaben im Rahmen der Unity-Einführung und ein Reader zur Bedienung und Konzepten von Unity und EdXR bereitgestellt. Die Durchführung der Lehrveranstaltung erstreckte sich über ein Semester mit 14 Regelterminen im Wintersemester 22/23; davon 13 in Präsenz. Dies umfasste drei Lehrveranstaltungstermine mit Präsentationen zu den Inhaltsbereichen (Abb. 1), zum Aufbau des Fachwissens zu den adressierten technologiebasierten Erfahrungswelten, vier Lehrveranstaltungstermine zur Einführung in die Nutzung der Unity Engine, einen Lehrveranstaltungstermine zur Vorstellung der wählbaren Projektaufgaben, zwei Lehrveranstaltungstermine für erste Projekt-Pitches und den Austausch zur geplanten Umsetzung, drei Lehrveranstaltungstermine
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zur Unterstützung bei konzeptionellen und technischen Problemen durch die Lehrenden und zwei Lehrveranstaltungstermine für die Projektpräsentationen mit nutzbaren Demonstrationen der entwickelten Anwendungen. 3.2 Hardware
Auf dem Markt haben sich verschiedene VR-Brillen und Technologien durchgesetzt, welche jeweils eigene Vor- und Nachteile bieten. Für die angebotenen Lehrveranstaltungen fiel die Entscheidung auf eine Brille nach dem Microsoft-Technologiestandard Windows Mixed Reality (WMR), da die Teilnehmenden diese ohne großen Einrichtungsaufwand oder Aufbau sowohl im Klassenzimmer als auch zuhause nutzen können und der Aufwand des Deployment-Prozesses der Anwendungen auf die Brillen überschaubar ist: Die Brille ist per Kabel mit dem Computer verbunden und über das Windows Mixed Reality Portal in das Microsoft-Betriebssystem integriert. Beim gewählten Modell handelt es sich um die HP Reverb G2 mit Controllern. Im Hinblick auf AR und MR sind die kommerziell verfügbaren HMD-Technologien weniger vielfältig, sodass die Auswahl beschränkt ist. Gewählt wurde der Industriestandard, die Microsoft HoloLens 2. Da diese und die o. g. VR-Brillen nach WMR-Standard auf der gleichen Microsoft-Technologie basieren, bieten sich in der Entwicklung von Anwendungen für diese Geräte ebenfalls große Überschneidungen. Dies vereinfacht den Einstieg und ermöglicht den (Lern-)Transfer zwischen den Technologien deutlich und ist somit einer der ausschlaggebenden Gründe für die Entscheidung für diese VR- und AR- bzw. MR-Brillen. Da die Software für die anvisierten Plattformen aus technischer Sicht identisch zu 3D-Computerspielen ist, ergeben sich hieraus ähnliche Hardware-Anforderungen an Prozessor- und Grafikkartenleistung. Insbesondere VRInhalte benötigen eine hohe Bildrate, Auflösung und möglichst realistische Darstellungsqualität – etwa mit Physik-, Licht- und Schattenberechnung – und folglich eine mit aktuellen Computerspielen vergleichbare, hohe Rechen- und Grafikleistung. Daher sind moderne, leistungsstarke ‚Gaming-PCs‘ mit dedizierten Grafikkarten grundsätzlich für die Entwicklung und Darstellung von VR-Anwendungen geeignet. In der Pilotphase wurde die Erfahrung gemacht, dass das Erfüllen der grundlegenden Hardware- und Betriebssystemanforderungen – wie etwa ein Gigabyte freier Speicherplatz auf Computern der Teilnehmenden – nicht gewährleistet werden können. Aus diesem Grund fiel die Entscheidung darauf, den Teilnehmenden bei Bedarf auch geeignete Laptops bereitzustellen.
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3.3 Software
Mit der Erfüllung der Hardwareanforderungen für die Nutzung und Entwicklung von Anwendungen soll ein technisch reibungsloser Umgang gewährleistet werden. Nicht zu vernachlässigen ist auch die Softwarebereitstellung. In der Pilotierung hatte sich bereits gezeigt, dass auch die Installation von Unity und zusätzlichen Komponenten sowie Plug-Ins Probleme bei den Studierenden hervorrufen kann. Deshalb wurden diese in vorab festgelegten, kompatiblen Versionen auf den zur Verfügung gestellten Notebooks installiert und konfiguriert. Es werden folgend die wichtigsten Tools vorgestellt. 3.3.1 Unity Bei der verwendeten Entwicklungs- und Laufzeitumgebung handelt es sich um die branchenübliche Unity Game Engine des Unternehmens Unity Software Inc. Während sog. ‚Game Engines‘ wie der Name vermuten lässt ursprünglich für die Darstellung von digitalen Spielen entwickelt wurden, werden sie heutzutage als Grundlage für eine Reihe von interaktiven 3D-Echtzeit-Anwendungen verwendet. Die Game Engine besteht dabei aus zwei Umgebungen: Die Entwicklungsumgebung (Unity Editor) und die Laufzeitumgebung (Unity Player). Der Editor (Abb. 2) wird verwendet, um die Anwendungen zu konfigurieren und zu erstellen. Er bietet eine grafische Oberfläche, um Assets wie 3D-Modelle in das Projekt zu importieren, 3D-Szenen zusammenzu-
Abb. 2 Die Benutzeroberfläche des Unity Editors.
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stellen, den virtuellen Inhalten Programmcode zuzuweisen und die Darstellung für die Zielplattform (z. B. Windows, Android, iOS, etc.) zu konfigurieren. Die so erstellten Inhalte werden mittels des plattformunabhängigen Players auf dem jeweiligen Zielgerät dargestellt. Der überwiegende Teil der in der Lehrveranstaltung vermittelten technologischen Handlungskompetenz befasst sich direkt oder indirekt mit der korrekten und zielorientierten Bedienung des Unity Editors. Bei Bedarf nutzen Teilnehmende zusätzliche Werkzeugen zur Erstellung von Assets für Unity. So kommen – abhängig vom persönlichen Bedarf oder vorhandenen Vorkenntnissen – Tools zur 3D-Modellierung (z. B. Blender) oder CAD-Datenbearbeitung ebenfalls zum Einsatz. 3.3.2
OpenXR und Mixed Reality Toolkit (MRTK)
Die auf dem Markt befindliche VR-/AR-/MR-Hardware ist technologisch heterogen, insbesondere da es sich um eine (auf dem Endkundenmarkt) neue und zugleich komplexe Technologie handelt. Anders als bei mobilen Geräten und herkömmlichen Computer-Peripheriegeräten befinden sich bei den Technologien die Standards an den Schnittstellen noch in Diskussion. Ein Standard, der mittlerweile sowohl von den größten Herstellern von VR-, AR- und MR-Hardware als auch der Unity Game Engine unterstützt wird, ist OpenXR. Dieser Standard ermöglicht eine einheitliche und somit (teilweise) plattformübergreifende Entwicklung für verschiedene Geräte, unabhängig davon, ob die Ausgabe auf einer VR-, AR- oder MR-Brille erfolgt, oder ob für die Eingabe Controller oder Hand-Erkennung verwendet werden. Darüber hinaus hat Microsoft passend zu dem eigenen WMR-Technologiestandard ein Toolkit für die Unity Game Engine veröffentlicht: das Mixed Reality Toolkit (MRTK). Es verfügt über viele vorgefertigte Funktionen, die es ermöglichen sowohl für AR- als auch VR-Geräte einheitliche Benutzeroberflächen und Interaktionskonzepte zu verwenden. Durch den OpenXR-Standard ist es möglich, so erstellte Anwendungen auf Brillen anderer Hersteller zu verwenden. Gleichzeitig ist es durch die Verwendung des MRTK nicht nötig, dass Teilnehmende selbst an der Schnittstelle zu OpenXR oder eines proprietären Hardware-Standards programmieren müssen. Stattdessen sind viele Konfigurationen über grafische Oberflächen oder per Drag-and-Drop im Unity Editor realisierbar. Mithilfe des MRTK lassen sich einfach ansprechende, interaktive AR-, MR- und VR-Anwendungen erstellen. Dennoch wird weiterhin viel Erfahrung im Umgang mit dem Unity Editor vorausgesetzt, sodass es für einen Einstieg ohne entsprechende Vorkenntnisse weniger geeignet ist. Um diese Lücke weiter zu schließen, werden in dem Kurs bereits vorkonfigurierte Unity-Projekte mit den nötigen Plugins bereitgestellt, in denen die grundlegenden Einstellungen für sowohl die AR-, MR- als auch VR-Entwicklung vorgenommen sind. Überdies wurde vorbereitend für die Lehrveranstaltung ein eigenes Toolkit EdXR entwickelt und den Teilnehmenden zur Verfügung gestellt, welches die Entwicklung in Unity für die Studierenden niederschwelliger gestalten soll.
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3.3.3 EdXR Der Kerngedanke hinter dem Education XR (EdXR) Toolkit ist es, vorgefertigte Funktionen und Vorlagen in Unity bereitzustellen, die Lehrende und Lernende benötigen, um selbst mit wenig Vorerfahrung virtuelle Erfahrungswelten aufbauen zu können. EdXR ermöglicht die Einbindung von Text, Bildern, Videos und Interaktionen, ohne dabei tiefere Kenntnisse in der User-Interface-Erstellung oder Programmierung vorauszusetzen. Das Toolkit befindet sich noch in der Entwicklung und Rückmeldungen von den Teilnehmenden fließen ein, um es anhand von realen Bedürfnissen und Anwendungsfällen iterativ in der weiteren Umsetzung der Lehrveranstaltung zu verbessern. Die bislang vorhandenen Vorlagen in EdXR lassen sich grob unterteilen in User Interface (UI) und Interaktion. Im Folgenden werden verschiedene Komponenten des Toolkits näher vorgestellt: EdXR Label ist ein im Raum frei platzierbares UI-Objekt in Form einer Info-Tafel, die die Nutzenden selbst gestalten können. Ein leeres Label lässt sich im Unity Editor über Rechtsklick in der virtuellen Szene erstellen. Für die Gestaltung sind Vorerfahrung im Umgang mit Unitys UI-System oder UI-Design nicht nötig. In den Eigenschaften des Labels können die Nutzenden die Inhalte wie Überschriften, Texte, Bilder, Videos und interaktive Knöpfe über eine Eingabemaske definieren. Das EdXR Label erstellt daraus das UI-Objekt in der Szene und passt das Layout (Platzierung, Größe und Abstände von UI-Elementen) dynamisch und visuell ansprechend an die Inhalte an. Dadurch wird auch ein einheitliches und nutzerfreundliches Design von UI-Objekten gewährleistet. Interactive Object ermöglicht durch Rechtsklick auf ein beliebiges 3D-Objekt in der Szene die Veränderung hin zu einem interaktiven Objekt: Nutzende können diese Objekte somit virtuell aufheben und in die Hand nehmen. Dabei wird dem 3D-Objekt die Interactive-Object-Komponente zugewiesen, welches nähere Einstellungsmöglichkeiten erlaubt; beispielsweise zur Gravitation, d. h. ob das Objekt zu Boden fällt, wenn man es loslässt, oder ob es ‚in der Luft schwebt‘. Den Nutzenden ist auch überlassen, ob um das Objekt ein Transformations-Käfig mit Anfassern angezeigt wird, mit dem sich bei der Interaktion Rotation und Skalierung präziser steuern lassen. Process Description steuert die Anzahl und Reihenfolge von Prozessabläufen und ihrer Schritte (siehe Projektaufgaben (3) und (4), Kap. 1). Ein neuer Prozessablauf lässt sich ebenfalls einfach per Rechtsklick erstellen. Die bereits vorgefertigte UI ermöglicht das Vor- und Zurückschalten der Schritte zur Laufzeit. Pro Schritt werden die entsprechenden 3D-Objekte angezeigt, die die Nutzenden jeweils per Drag-and-Drop im Editor zuweisen. So können mit wenig Aufwand Schritt-für-Schritt-Anleitungen oder Zustandsänderungen in der Szene abgebildet werden. Target Snap dient dazu, einem interaktiven Objekt (s. o.) eine Zielposition und einen Toleranzbereich vorzugeben. Wird das Objekt an die definierte Stelle bewegt, rastet es an dieser ein und eine Aktion, die von den Nutzenden vorgegeben werden kann, wird ausgeführt. So könnte in einer Montageanleitung das Bauteil an der richtigen Stelle einrasten, ein Bestätigungston abgespielt und automatisch beim
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nächsten Schritt in der Anleitung fortgefahren werden. Object Collision ermöglicht die Ausführung einer Aktion bei Kollision zweier Objekte. So könnte bei der Berührung eines Werkzeugs mit einem Bauteil – ähnlich wie im vorigen Beispiel – ebenfalls ein Ton abgespielt oder zum nächsten Schritt in einer Anleitung gegangen werden. Mit den vorgestellten Komponenten des EdXR-Toolkits sind auf vielfältige Weise eine Vielzahl an Inhalten und Anwendungen realisierbar, die für Lehrende und Lernende einen Mehrwert bringen können. 4
Anwendungen der Studierenden
In diesem Kapitel werden exemplarisch drei VR-Anwendungen aus der FÜSQ und eine AR-Anwendung, die von Teilnehmenden im Seminar der Pilotierung entwickelt wurde, thematisch und bezüglich ihrer grundlegenden Nutzung vorgestellt. 4.1
VR-Anwendung: Architektur-Erlebniswelt
Drei Studierende im Studiengang Architektur erstellten eine Architektur-Erlebniswelt. Sie nutzten dabei ihre Vorerfahrung im Umgang mit CAD-Systemen, um eigene 3D-Modelle zu erstellen, und mit weiteren Modellen aus dem Internet und von Google Maps zu ergänzen. In der Szene befinden sich Konsolen mit Knöpfen, über die es möglich ist, zwischen verschiedenen Orten zu wechseln und bedeutende Gebäude –
Abb. 3 Der Blick auf die Freiheitsstatue in Lebensgröße in der VR-Anwendung.
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der Eifelturm in Paris, die Freiheitsstatue auf Liberty Island in New York (Abb. 3) und den Burj Khalifa in Dubai – in realer Größe betrachten zu können. Über die Konsolen können auf Info-Tafeln Videos von Fernsehbeiträgen mit Informationen zu den jeweiligen Architektur-Objekten abgespielt werden. Ebenso fügten die Studierenden ein komplett eigenes Gebäude, das diese in einer anderen Lehrveranstaltung mit CAD entworfen hatten, in die Erlebniswelt ein. Verbunden waren alle Orte über eine Seilbahn mit sich bewegenden Gondeln. 4.2
VR-Anwendung: Sonnensystem
Zwei Teilnehmende aus den Studiengängen Mathematik und Informatik erstellten anhand von NASA-Daten eine Miniatur-Nachbildung unseres Sonnensystems. Die Planeten bewegen sich auf ihren Umlaufbahnen um die Sonne und haben untereinander korrekte Größenverhältnisse. Wenn ein Planet oder die Sonne ausgewählt werden, erhält man in einer Info-Tafel nähere Informationen mit Text und Bildern zur jeweiligen Auswahl (Abb. 4). Ein Menü-Fenster erlaubt zusätzliche Interaktion, wie etwa die Umlaufbahnen als Linien anzuzeigen oder sich zu einem der Planeten zu teleportieren.
Abb. 4 VR-Sonnensystem mit Kontextinformationen zum Merkur.
4.3
VR-Anwendung: Geschichte der Kommunikation
Zwei Studierende der Sozialwissenschaften und Luft- und Raumfahrttechnik erstellten eine Zeitreise, um die Entwicklung der (schriftlichen) Kommunikation zu präsen-
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tieren. In der Anwendung startet man in einem viktorianisch eingerichteten Raum, bei dem auf dem Schreibtisch ein Blatt Papier mit Füller liegt. Wenn der Füller aufgehoben und damit das Papier berührt wird, erscheint nach und nach Schrift auf dem Papier. Auf einer Tafel (Abb. 5) werden Informationen zur Erfindung des Füllfederhalters und zur Kommunikation im viktorianischen Zeitalter dargestellt. An der Wand im Raum befindet sich zudem ein Rätselelement, das als themenbezogenes Quiz umgesetzt ist. Wenn man die Multiple-Choice-Frage korrekt (per Knopfdruck) beantwortet hat, öffnet sich ein Geheimgang in den nächsten Raum. Prägend für diesen Raum aus dem frühen 19. Jahrhundert ist eine Schreibmaschine. Der dritte Raum, der wie ein modernes Café eingerichtet ist, umfasst ein Smartphone sowie Laptops.
Abb. 5 VR-Darstellung von Kommunikation in der viktorianischen Epoche.
4.4
AR-Anwendung: Demontageplan eines Getriebes
Studierende im Lehramt an berufsbildenden Schulen (Technikpädagogik) konstruierten 3D-Modelle und integrierten diese in der AR-Anwendung Jigspace zum Thema Demontage einer Getriebeeinheit für Industriemechaniker*innen im Seminar für einen berufsschulischen Unterricht. Die Bauteile des Getriebes, die die Studierenden selbst mittels CAD erstellten, können um alle drei Achsen rotiert werden. Zudem lassen sich verschiedene Zerlegungsschritte darstellen. Die Studierenden entwickelten eine kleinschrittige Zerlegung innerhalb von sechs Schritten (Abb. 6). Ähnlich wie bei den dargestellten VR-Anwendungen, können die Lernenden die Nutzungsgeschwin-
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digkeit in der AR-Anwendung selbst wählen und mit ihrem eigenen mobilen Endgerät einen begründeten Demontageplan für das Getriebe erstellen.
Abb. 6 AR-Anwendung mit Getriebe in JigSpace.
4.5 Zwischenfazit
Als Zwischenfazit ist zu den von den Studierenden entwickelten VR- und AR-Anwendungen festzustellen, dass diese sowohl wichtige Interaktionsmuster von VR, AR und MR durch die vorgegebenen Projektaufgabenformate kennengelernt und umgesetzt haben als auch exemplarische Themen der wissenschaftlichen Disziplinen ihrer Studiengänge adressierten. Gerade die in den Anwendungen integrierten Bildungsinhalte über Info-Tafeln etc. stellen mehrheitlich deklarative Wissenselemente dar. Der hier gezeigte Auszug an Anwendungen hat zudem stets einen Bildungsanteil, da entweder das Projektformat (z. B. Museum oder Montage) so gewählt war oder ohne Vorgabe die Studierenden selbst Lerninhalte über Kontextinformationen als sinnvolle Ergänzung zu ihren Erfahrungswelten erachtet haben. Hieraus sind u. a. Anwendungen zu den Teilbereichen der Architektur, Astronomie, Geschichte sowie im Bereich der Technikpädagogik zu Getriebelehre, Elektro-, Bau- und Holztechnik sowie zu Kommunikationsmodellen in (inter-)disziplinären Teams entstanden.
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Zusammenfassung, Limitationen und Ausblick
In dem hochschulischen Beitrag zum Projekt digit@L wird die Konzeption und Umsetzung einer breitenwirksamen fachübergreifenden Schlüsselqualifikation „Einführung in die Technologie und Umsetzung von VR-/AR-/MR-Anwendungen“ vorgestellt. Die eingangs berichteten Herausforderungen eines breitenwirksamen Lernangebots für Studierende jeglicher Fachrichtungen zu VR, AR und MR, wie die eingeschränkte informationstechnische Expertise der Lernenden, die begrenzte Kompatibilität zwischen den Systemkomponenten und der hohe Vorbereitungsaufwand für eine Lehrumsetzung (vgl. z. B. Müser & Fehling, 2021) wurden in der Konzeption und Umsetzung proaktiv adressiert. Hierzu wurde ausgehend von den individuellen Design- und Entwicklungserfahrungen der Lehrenden die Hardwarekomponenten (Kap. 1st), die zur Anwendung kommende Software sowie die Standards zur plattform-, endgeräteund auch technologieunabhängigen Entwicklung – wie Unity, MRTK, OpenXR – ausgewählt. Zudem wurde das in Kapitel 3.3 beschriebene Toolkit EdXR entwickelt. In der Zusammensetzung des (interdisziplinären) Lehrpersonenteams und bei der Umsetzung des Lehrmoduls konnte der im zweiten Abschnitt skizzierte interdisziplinärer Ansatz umgesetzt werden. Zu den Erkenntnissen der Umsetzung der Lehrveranstaltung, die zum Zeitpunkt des vorliegenden Projektberichts zweimal durchgeführt wurde, ist folgendes festzustellen: Die in der Pilotierungsphase identifizierten Probleme mit der Hardware und Software konnten in großen Teilen mit der zusätzlichen Bereitstellung dieser in geeigneter und vorkonfigurierter Form (u. a. mit dem verbesserten Toolkit) adressiert werden. Dennoch bestehen hinsichtlich der Nutzung von AR bzw. MR – mit der Microsoft HoloLens 2 – grundlegende Einstiegsbarrieren im Kontext der aufwendigeren Software-Bereitstellung (Deployment). Die Unity Engine ist eine komplexe Software, die viele Funktionalitäten bereithält, und weit über die im EdXR bereitgestellten Komponenten hinausgeht. Sobald die Studierenden weiterführende Komponenten nutzen, (z. B. Terrain Tools, Animator, Timeline) oder selbst Funktionalitäten programmieren, ist dies mit einem Zeitaufwand verbunden, der über die Lehrveranstaltung mit zwei Semesterwochenstunden hinausgeht. Dennoch sind einzelne Studierende im Kontext der Lehrveranstaltung hierzu bereit. Dies deutet daraufhin, dass von der Lehrveranstaltung bzw. den verwendeten Technologien ein situationales Interesse für diese Studierenden ausgeht bzw. bei ihnen bereits ein individuelles Interesse bezüglich der technologiebasierten Erfahrungswelten vorliegt. Die von den Studierenden berichteten Erfahrungen zur Komplexität der Zusammenhänge in der Entwicklung von VR-Anwendungen und die daraus gewonnene Erkenntnis, dass für vermeintlich simple Problemstellungen z. T. aufwändige Lösungswege beschritten werden müssen, hat offensichtliche Auswirkung auf dessen Wissens- und Fähigkeitserwerb im Hinblick auf eine differenziertere und realistischere Einschätzung des Entwicklungsaufwands. Bei den Studierenden hat dies u. a. den Effekt, dass sie sich im Verlauf des Semesters immer eingehender mit der Problemanalyse beschäftigten,
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um dann gezielter nach aufwandsgerechten (programmiertechnischen) Umsetzungsmöglichkeiten zu suchen und Lösungen strukturiert in Teilpaketen auszuarbeiten. Zur Übernahme der Lehrveranstaltung in den Regelbetrieb lässt sich im Ausblick Folgendes berichten: Das Konzept und die Lerninhalte zur Einführung in die Technologien wurden erstellt und mit Studierenden erprobt. Diese können nun in weiteren hochschulischen Bildungsangeboten verwendet, adaptiert und im Bezugsfeld einer formativen Evaluation weitergehend verbessert werden. Das vorgestellte EdXR Toolkit wird als Open-Source-Projekt auf GitHub bereitgestellt und so mit anderen Interessierten geteilt, die über diese Plattform das Toolkit nutzen und auch Feedback zur Verbesserung geben können. Im weiteren Vorgehen innerhalb des Projekts digit@L wird ein Blended-Learning-Format mit Lernvideos erstellt, welches die kompletten Lehrmaterialien (u. a. Präsentation zur Einführung in die Technologie) und die Beschreibung zur Nutzung von Unity und des EdXR Toolkits umfasst. Diese Lehrmaterialien werden als Open Educational Resources (OER) über verschiedene Plattformen (u. a. ZOERR, ILIAS, YouTube) mit Interessierten für ein asynchrones Lernen zur Entwicklung von VR-, AR- und MR-Anwendungen in hochschulischen Kontexten geteilt. Abschließend ist auf der Grundlage einer formativen Evaluation und im Kontext der subjektiven Wahrnehmung zur Umsetzung der Lehrveranstaltung aus Perspektive der Lehrenden festzustellen, dass bei der Beschreibung der gesellschaftlichen Akzeptanz der Technologien die Studierenden gegenüber der Technologienutzung und im Kontext ihres spezifischen Studiengangs aufgeschlossen erscheinen. Die Studierenden, die das Seminar als fachübergreifende Schlüsselqualifikation freiwillig und interessenorientiert belegen, können im Bezugsfeld des Diffusions-Prozesses der Gruppe der Early Majority zugerechnet werden. Die individuell diskutierten themenbezogenen Ideen und die tatsächlich entwickelten Anwendungen der Studierenden deuten darauf hin, dass die Teilnehmenden im Seminar ein handlungsorientierte Lernmöglichkeit haben, um die Potenziale von VR, AR und MR für ihre wissenschaftliche Disziplin und spätere Arbeitswelt abzuschätzen und die Nutzungsmöglichkeiten der Technologien anwendungsbezogen und im Kontext ihrer digitalen Kompetenzen kennenlernen. Wenngleich eine empirische Studie hierzu noch aussteht, so kann auf der Basis der formativen Projektbegleitung davon ausgegangen werden, dass die Studierenden mit ihren zwischenmenschlichen inter- und intragruppenspezifischen Netzwerken wichtig für den Innovation-Diffusion-Prozess zur Nutzung der fokussierten Technologien in der Hochschule und darüber hinaus sind.
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Teil 2 Forschung zu virtuellen, erweiterten und spielbasierten Lernumgebungen
360 Grad-Videos in virtueller Realität zur Vorbereitung auf Jobinterviews ViJo360, eine Studie zur Akzeptanz, Immersion und Präsenzerleben mit Personen im Autismus-Spektrum, vergleichend zu einer neurotypischen Personengruppe CHRISTINA HIHN
Zusammenfassung: Ausgehend von der Annahme, dass 360 Grad-Videos in virtual Reality (VR)
Lernumgebungen zur Förderung von Personen mit kognitiven, affektiven und motorischen Beeinträchtigungen bieten können, geht der vorliegende Beitrag der Frage nach, inwiefern 360°-Videos geeignet sind, um Jobinterviews in authentischen Situationen für Personen im Autismus-Spektrum abzubilden. Zur Untersuchung der technologie- und zielgruppenbezogenen Eignung wurde hierzu eine 360 Grad-Videoanwendung in VR entwickelt und mit Personen im Autismus-Spektrum und einer neurotypischen Personengruppe in einem quasi-experimentellen Setting (N = 20) getestet. Die deskriptiven Ergebnisse der Studie belegen für beide Gruppen eine hohe Nützlichkeitsbewertung und hohe Akzeptanz gegenüber der Anwendung ViJo360. Es zeigte sich über beide Gruppen hinweg ein mittleres bis hohes Immersions- und Präsenzerleben. Signifikante Unterschiede bestehen hinsichtlich der Einschätzung der konstruierten Schwierigkeitsmerkmale, wohingegen die subjektive Beanspruchung sich signifikant nicht unterscheidet. Die qualitativen Befunde der Studie liefern zudem nutzergruppenbezogene Hinweise für die Nutzung im Kontext der Förderung der Performance in Jobinterviews. Schlüsselwörter: Beeinträchtigungen, Virtual Reality, 360 Grad-Videos, Technologieakzeptanz, Immersion, Präsenzerleben
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Christina Hihn
360° Virtual Reality Videos for Job Interview Preparation ViJo360, a Study of Acceptance, Immersion, and Presence Experience with Individuals on the Autism Spectrum, Compared to a Neurotypical Group of People Abstract: Based on the assumption that 360° videos in virtual reality (VR) can provide learning
environments to support individuals with cognitive, affective, and motor impairments, this paper explores the extent to which 360° videos are suitable to depict job interviews in authentic situations for individuals on the autism spectrum. To investigate the suitability in terms of technology and target group, a 360° video application in VR was developed for this purpose and tested with individuals on the autism spectrum and a neuro-typical group of individuals in a quasi-experimental setting (N = 20). The descriptive results of the study demonstrate a high usefulness rating and high acceptance towards the ViJo360 application for both groups. Both groups showed a medium to high immersion and presence experience. Significant differences exist with regard to the assessment of the constructed difficulty features, whereas the subjective stress does not differ significantly. The qualitative findings of the study also provide user group-related indications for use in the context of promoting performance in job interviews. Keywords: Impairments, virtual reality, 360° videos, technology acceptance, immersion, presence experience
1 Einleitung
Die Forderung nach Inklusion und Gleichberechtigung von Menschen mit kognitiven und physiologischen Beeinträchtigungen ist in den vergangenen Jahren ein wichtiger Gegenstand in der Gesellschaft sowie Politik geworden. Auf der Grundlage der in Deutschland im Jahr 2009 in Kraft getretenen UN Behindertenrechtskonvention ist das Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderungen, welches das Recht auf die Möglichkeit der Arbeit in einem offenen, einbeziehenden und zugänglichen Arbeitsmarkt einschließt (vgl. Art. 27 UN-Behindertenrechtkonvention), durch geeignete staatliche Maßnahmen zu sichern und zu fördern (vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte). Dennoch greift der Grundsatz der Gleichberechtigung nicht vollumfänglich. So ist die Beschäftigungsquote bei Personen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich unausgewogen (vgl. Espelöer et al. 2022), eine hohe Zahl der Erwerbstätigen im Autismus-Spektrum (AS) ist „unzureichend“ beschäftigt, oftmals wird nur einer Teilzeitbeschäftigung nachgegangen oder sie sind für ihre Tätigkeit überqualifiziert (vgl. Baldwin 2014, S. 2445). Kommt eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt oder eine berufliche Ausbildung aufgrund des Krankheitsbildes nicht oder nicht mehr in Frage, landen die Betroffenen häufig in Werkstätten für behinderte Menschen, in denen sie jedoch in vielen Fällen fehlplatziert sind (vgl. Kamp-Becker & Bölte 2021, S. 103; Schreiner 2017). Ergebnisse einer Studie aus dem angloamerikanischen Raum zufolge hatten mehr als 50 % der
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Jugendlichen mit einer Autismus-Spektrum-Störung auch zwei Jahre nach ihrem Collegeabschluss noch keine Teilnahme an einer bezahlten Beschäftigung oder Ausbildung (vgl. Shattuck 2012, S. 1042). Auch bei Erwachsenen im Autismus-Spektrum, ohne gleichzeitige kognitive Beeinträchtigung, zeigen Studien hohe Arbeitslosenquoten von bis zu 60 % (vgl. Frank et al. 2018, S. 2). Doch häufig sind Erwachsene im Autismus-Spektrum (AS) leistungsstark in Bezug auf Schul- und Universitätsabschlüsse und bringen grundsätzlich gute Voraussetzungen für eine angemessene Teilhabe am Arbeitsmarkt mit (vgl. Hedley et al. 2021, S. 4; vgl. Frank et al. 2018; vgl. Maslahati et al. 2021, S. 1069). Ein wesentliches Hindernis für Personen im Autismus-Spektrum, eine Anstellung zu bekommen, stellt angesichts ihrer Beeinträchtigungen in den sich überschneidenden Bereichen der Kommunikation, der sozialen Fähigkeiten und der sozialen Wahrnehmung und Kognition, das Vorstellungsgespräch dar (vgl. Smith et al. 2015, S. 3364; Higgins et al. 2008; Strickland et al. 2013; American Psychiatric Association 2013). Infolge der Beeinträchtigungen wird der Interviewprozess von Personen im Autismus-Spektrum vielfach als angespannt und umständlich empfunden und ist durch große Unsicherheiten gekennzeichnet, beispielsweise wie viele Informationen als Antwort auf Interviewfragen gegeben werden sollen (vgl. Muller et al. 2013). Weitere begrenzende Faktoren für die Arbeitsplatzerreichung stellen mangelnde Fähigkeiten in der nonverbalen Kommunikation dar. So vermeiden Personen im AutismusSpektrum (AS) beispielsweise häufig den Blickkontakt und weisen eine ausdruckslose Mimik auf, was im Vorstellungsgespräch als Desinteresse oder Unaufmerksamkeit gewertet werden kann. Witze, Ironie, Sarkasmus, Redewendungen, Small Talk werden nicht oder erst nach entsprechender Erklärung in ihrer Bedeutung erfasst (vgl. Schuster 2007; Dennis et al. 2001). Aufgrund der beschriebenen Beeinträchtigungen ist es nicht überraschend, dass Personen im Autismus-Spektrum (PiAS) ohne eine intensive Intervention in diesem Bereich erhebliche Schwierigkeiten beim Zugang zum ersten Arbeitsmarkt haben, was die Notwendigkeit einer Förderung (in einem geschützten Rahmen) unterstreicht. Vor dem Hintergrund der skizzierten Ausgangssituation wird in der vorliegenden Studie davon ausgegangen, dass ein technologiebasiertes Training – vermittelt über 360°-Videos in Virtueller Realität (VR) – einen entsprechenden Rahmen liefert und zur Verbesserung der Performance von PiAS in Jobinterviews beitragen kann. Für diese Annahme sind die Tatsachen leitend, dass PiAS eine hohe Affinität zu bildschirmbasierten Medien aufweisen (vgl. Ward und Mazurek, 2018), durch technologiebasierte Trainings im Bezugsfeld von PiAS eine höhere Motivation (vgl. Wallace et al. 2010, S. 200 f.) und ein höheres Aufmerksamkeitsniveau erreicht werden kann und insgesamt bessere Lernresultate erzielt werden können (vgl. Bölte 2011, S. 593 f., vgl. Dechsling et al. 2020, S. 88). Zudem stellen VR-Anwendungen einen geschützten Rahmen für Nutzende dar (Kunz & Zinn 2022) und haben ein hohes Potenzial zur Erzeugung von Immersion (vgl. Hebbel-Seeger 2018, S. 265 ff.). Über die immersive 360°-Technologie kann eine Interaktion erreicht werden, die über eine passive Betrachtung hinaus geht und die ein hohes Motivationspotenzial für eine aktive
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Auseinandersetzung bietet (vgl. Hebbel-Seeger 2018). Der grundsätzliche Unterschied zwischen Virtual-Reality Anwendungen und 360°-Videos besteht darin, dass es sich bei VR-Anwendungen um fiktive, rechnergestützte Konstruktionen von Räumen handelt, wohingegen 360°-Videos reale Räumlichkeiten, Personen und Situationen über alle Ebenen und Richtungen hinweg abbilden (vgl. Hebbel-Seeger 2018, S. 265 ff.) und Nutzer*innen in Abgrenzung zu traditionellen Videos die Möglichkeit bieten, die Perspektive zu verändern, aus der sie die Umgebung betrachten (Dörner et al. 2019). Bei der Rezeption eines 360°-Videos über eine VR-Brille erfolgt die Navigation im Raum über die Kopfbewegung der Nutzenden, wodurch sich unmittelbar der Bildausschnitt verändert und die entsprechende Ansicht des 360°-Raumes gezeigt wird, den das 360°-Video aus der zuvor festgelegten Kameraposition wiedergibt (vgl. Hebbel-Seeger 2018, S. 273). Im Fokus der VR-Technologie steht hauptsächlich die Erfahrung, in eine fremde (virtuelle) Umgebung eintauchen zu können und die Illusion zu erzeugen, sich tatsächlich in der dargestellten virtuellen Welt zu befinden (vgl. Dörner et al. 2019, S. 43; Zinn & Ariali 2020, S. 15). Basierend auf den dargelegten Potentialen technologiebasierter Trainings wird in dieser Studie davon ausgegangen, dass eine Anwendung, umgesetzt als 360°-Video in VR, einen praktischen Erfahrungsraum für PiAS bieten kann, um standardisierte Handlungen und unvorhergesehene soziale Interaktionen im Kontext eines Vorstellungsgespräches zu trainieren. Das Potenzial wird insbesondere in realitätsnahen Szenarien innerhalb eines geschützten virtuellen Raumes verortet, mit der Möglichkeit, die Szenarien beliebig oft zu durchlaufen, verschiedene Varianten eines Jobinterviews kennenzulernen und zu erproben, um die Zielgruppe dadurch auf die reale Anforderungssituation vorzubereiten. Ausgehend davon geht die Arbeit den Fragen nach, (1.) inwiefern 360°-Videos in VR zur Vorbereitung auf Jobinterviews von der Zielgruppe als geeignet bewertet werden, um authentische Situationen eines Jobinterviews abbilden zu können. Die Eignungseinschätzung erfolgt anhand der Konstrukte Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben. Zusätzlich werden (2.) zur Abschätzung des Anspruchsgrades der entwickelten 360°-Videoanwendung in VR die mentale Beanspruchung sowie individuelle Schwierigkeitsmerkmale der Anwendung ViJo360 bei PiAS und einer neurotypischen Personengruppe in einem quasi-experimentellen Setting quantitativ analysiert, um etwaige Unterschiede aufgrund der Wahrnehmungsbesonderheiten von PiAS gegenüber neurotypischen Personen zu identifizieren. Abschließend werden (3.) im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Anwendung ViJo360 die wahrgenommene Nützlichkeit und die subjektiven Optimierungsaspekte der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer erfasst. Hierzu werden im Beitrag zunächst der theoretische Hintergrund und Forschungsstand zur VR-Technologie im Bezugsfeld von Personen im Autismus-Spektrum und im Konkreten zu 360°-Videos (Kapitel 2) präsentiert, sowie zu den in der Studie untersuchten Konstrukten Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben und der mentalen Beanspruchung. Zudem wird an das Autistische Spektrum angenähert. Kapitel 2 zwei schließt mit der Beschreibung der Forschungs-
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fragen der Untersuchung. Im dritten Kapitel erfolgt die Beschreibung der Anlage der Untersuchung. Nachdem im vierten Kapitel die Ergebnisse dargestellt werden, folgt im fünften Kapitel eine Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse. 2
Theoretischer Hintergrund und Forschungsstand
Nachfolgend wird der theoretische Hintergrund und Forschungsstand der VR-Technologie im Bezugsfeld von Personen im Autismus-Spektrum und von 360°-Videos in VR im Konkreten dargestellt mit dem Ziel, das Potenzial und die Bedeutung der fokussierten Technologie für die Zielgruppe zu erörtern. Darauffolgend werden die Konstrukte Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben vorgestellt, mittels derer die Eignungsbewertung der 360°-Videos erfolgen soll. Daran anschließend erfolgt der theoretische Hintergrund zur mentalen Beanspruchung, die zur Abschätzung der Schwierigkeit der Anwendung dient. Kapitel zwei schließt mit einer Annäherung an die Besonderheiten des autistischen Spektrums und der Identifikation von Schwierigkeitsmerkmalen, die mit einem Jobinterview für Personen im Autismus-Spektrum verbunden sind. 2.1
VR-Technologie im Bezugsfeld von Personen im Autismus-Spektrum
Zu der in der Studie verwendeten 360°-Video-Anwendung ViJo360 zum Zweck des Trainings von Personen im Autismus-Spektrum bezüglich eines Jobinterviews liegt noch keine Evidenz vor. Jedoch hat sich die VR-Technologie bei PiAS in den letzten Jahren zu einem vielversprechenden und wirkungsvollen Instrument entwickelt und Studien belegen, dass PiAS den Umgang mit der Technologie schnell erlernen und deutliche Leistungsverbesserungen zeigen (vgl. Strickland et al. 1996). Die meisten Interventionen mit VR im Bereich Autismus zielen auf die Verbesserung sozialer oder emotionaler Fähigkeiten ab und der Einsatz von VR zeigt vielversprechende Behandlungseffekte (vgl. Dechsling et al. 2020, S. 162; Hopkins et al. 2011; Cheng & Ye 2010). Maskey et al. (2014) untersuchten beispielsweise den Einsatz einer VR-Umgebung zur Behandlung von Ängsten bei Kindern. Dabei zeigte sich, dass sich die Kinder erheblich in ihren Fähigkeiten, in realen Lebenssituationen mit ihren Ängsten und Phobien umzugehen, verbessern konnten (vgl. Makropoulus et al. 2018, S. 68). Darüber hinaus haben mehrere Autoren die Nützlichkeit von VR im Kontext der direkten Bewältigung realer Gefahren wie dem Überqueren der Straße ( Josman et al., 2008) und die Evakuierung eines Gebäudes als Reaktion auf einen Feueralarm (Strickland et al., 2007) oder einer Tornado-Warnung (Self et al., 2007) untersucht (vgl. Wallace et al. 2010, S. 200 f.). Porayska-Pomsta et al. (2012) berichten von positiven Effekten des VREinsatzes bei Kindern mit ASS zur Verbesserung der sozialen und kommunikativen
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Fähigkeiten. Die Studienlage macht deutlich, dass sich vielfältige Forschungsarbeiten mit der Frühförderung von Menschen im Autismus-Spektrum (AS) befassen, jedoch mit einem geringen Schwerpunkt auf Forschungsarbeiten, die die Beschäftigungsaussichten bzw. die Unterstützung dieser Personen fokussieren. Untersuchungen hierzu werden hauptsächlich im angloamerikanischen Raum durchgeführt. Eine Studie von Smith et al. (2014) bei Probanden zwischen 18–31 Jahren zielte auf die Vermittlung von Gesprächsfähigkeiten mittels eines virtuellen Vorstellungsgesprächs mit Rollenspielen, Didaktik und Feedback. Dabei konnte für die Interventionsgruppe eine Verbesserung bei der Performance im Vorstellungsgespräch festgestellt werden. Die Forschungsarbeiten von Trepagnier et al. (2005) fokussierten die Vermittlung von Konversationsfähigkeiten durch verbales und nonverbales Feedback durch einen virtuellen Schauspieler und Therapeuten. Dabei konnte zwar keine direkte Verbesserung der Konversationsfähigkeiten festgestellt werden, jedoch schätzten die Teilnehmenden die virtuelle Umgebung als stressarm und nützlich ein (vgl. Trepagnier et al. 2005). Zusammenfassend zeigen die hier präsentierten Befunde vielversprechende Ergebnisse und unterstreichen eine grundsätzliche Eignung virtueller Umgebungen für Personen mit speziellem Förder- und Unterstützungsbedarf. 2.2
360°-Videos in Virtual Reality
360°-Videos in VR können immersives Lernen ermöglichen. Die Einsatzmöglichkeiten von 360°-Videos sind vielfältig und liegen dabei beispielsweise im Bereich der Sportwissenschaften (Rosendahl & Wagner 2021), des Sprachlernens (Nowotny, Plötner & Steinke 2021) und der Lehrpersonenbildung (Kunz & Zinn 2022). Ein Vorteil von 360°-Videos gegenüber der Virtual Reality besteht in der detailgetreuen Abbildung der Realität, sowie einer ökonomisch günstigeren Erstellung im Vergleich zu computergenerierten Umgebungen. Die Rezipient*innen haben innerhalb eines 360°-Videos die Möglichkeit, die Perspektive zu verändern, aus der sie die Umgebung betrachten. Anders als bei traditionellen Videos besteht bei 360°-Videos die Möglichkeit der Abbildung einer Situation über alle Ebenen und Richtungen, woraus sich im Vergleich zu herkömmlichen Videos die Option einer selbstbestimmten Auswahl des Bildausschnitts, ausgehend vom Standpunkt der Kamera, sowie das Potenzial zur Erzeugung von Immersion eröffnet (vgl. Hebbel-Seeger 2018, S. 265 ff.). Bei der Rezeption eines 360°-Videos über ein Head-Mounted-Display (HMD) erfolgt die Navigation im Raum über die Kopfbewegung der Nutzenden. Bewegen diese den Kopf, verändert sich unmittelbar der Bildausschnitt und zeigt die entsprechende Ansicht des 360°-Raumes, den das 360°-Video wiedergibt (vgl. Hebbel-Seeger 2018, S. 273). Nach Hebbel-Seeger (2018) sind 360°-Videos für erfolgreiche Lernprozesse aufgrund der Situierung besonders geeignet, die umso erfolgreicher sind, je stärker die Lernenden in das Geschehen hineingezogen werden, also in die Situation „eintauchen“ (vgl. Hebbel-Seeger
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2018, S. 267). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Immersionspotential eines 360°-Videos im Vergleich zu einem klassischen Video höher ist und wesentlich durch das Ausgabegerät bestimmt wird, über welches das 360°-Video rezipiert wird. Dabei tragen besonders HMDs zu einem immersiven Erlebnis des 360°-Videos bei, da deren Konstruktion die Außenwelt ausschließt und so der Eindruck für den*die Rezipient*in verstärkt wird, sich tatsächlich in der 360°-Umgebung zu befinden (HebbelSeeger, 2017, S. 248). In Hinblick auf die 360°-Videos in VR zeigen Forschungsarbeiten im Bereich der Lehrpersonenbildung Schwerpunkte hinsichtlich der Bewertung der Technologie, der Nützlichkeit, der Immersion und des Präsenzerlebens. Kunz & Zinn (2022) berichten innerhalb einer Untersuchung zur Nutzung von 360°-Videos in VR zur Professionalisierung des Lehrverhaltens angehender Lehrpersonen von einer insgesamt hohen Akzeptanz der Testpersonen gegenüber der Technologie in Hinblick auf die Professionalisierung des eigenen Handelns, zudem wurde ein hohes Immersions- und Präsenzerleben festgestellt. Insbesondere die Nützlichkeit der 360°-Videos, die typische Unterrichtsszenarien abbilden, wurde von angehenden Lehrpersonen ohne unterrichtliche Praxiserfahrung als sehr hoch bewertet. Der Nutzen wird insbesondere in einem geschützten Lern- und Erprobungsraum gesehen (vgl. ebd.). Durch die Möglichkeiten, die sich durch 360°-Videos für die Rezipienten ergeben, lassen sich auch Anknüpfungspunkte für das Training von Personen mit Beeinträchtigungen erschließen. 2.3
Die Konstrukte Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben
Um die im Rahmen der Studie entwickelte 360°-Video-Anwendung ViJo360 für den Einsatz in der Praxis ggf. zu optimieren und die Frage nach der grundsätzlichen Eignung für die Zielgruppe zu klären, ist es unabdingbar, diejenigen Konstrukte zu erfassen, die unmittelbar die Wahrnehmung der Nutzenden innerhalb der Anwendungen beeinflussen können. Daher sind die Konstrukte Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben der entwickelten Anwendung auf den Prüfstand zu stellen: Inwieweit wird ViJo360 durch die Zielgruppe akzeptiert (und in Folge dessen genutzt) und inwiefern erfolgt durch die genutzte Technologie tatsächlich ein Eintauchen in die Situation (Immersion) und ein Gefühl des Präsenzerlebens? Nachfolgend werden die Konstrukte Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben erläutert. 2.3.1 Technologieakzeptanz Bei der Einführung neuer Technologien ist die Technologieakzeptanz durch die Anwendenden eine notwendige Bedingung für die Nutzung dieser. Wenngleich mit der VR-Technologie multiple Potenziale verbunden sind, so wird diese nicht zwangsläufig
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auch von den Nutzenden akzeptiert. Unter Akzeptanz wird in diesem Zusammenhang die positive Annahmeentscheidung einer Innovation durch ihre Anwendenden verstanden (vgl. Simon, 2001). Zur Abschätzung der Bedingungen und Faktoren, die die Einführung und Nutzung von Technologien beeinflussen, wurden mehrere Modelle entwickelt, die bei der Vorhersage der Technologieakzeptanz helfen sollen. Unter diesen Modellen ist das Technology Acceptance Model (TAM) von Davis (1989) das wohl am weitesten verbreitete und am besten validierte Modell. Das Modell erklärt, welche Faktoren die Annahme oder Zurückweisung einer Technologie bestimmen. Nach Davis (1989) wird die Technologieakzeptanz durch zwei Faktoren erklärt. Zum einen durch die wahrgenommene Nützlichkeit (perceived usefulness) und zum anderen durch die Bedienbarkeit (perceived ease of use) (vgl. Davis 1989, S. 323). Die wahrgenommene Nützlichkeit beschreibt die Erwartung einer Person, aus der Anwendung der Technologie einen Nutzen zu ziehen und die Bedienbarkeit beschreibt die Erwartung einer Person, die Technologie ohne größere Anstrengung nutzen zu können. Letztere Einschätzung hat wiederum Einfluss auf die wahrgenommene Nützlichkeit. Demzufolge ist die/der Anwendende am ehesten dazu bereit, ein neues System zu nutzen, je höher sie/er dessen Nutzen einschätzt und je einfacher dessen Bedienbarkeit ist (vgl. Davis, 1989, S. 985). Ferner wird angenommen, dass kausale Beziehungen zwischen der wahrgenommenen Nützlichkeit (Perceived Usefulness), der wahrgenommenen Benutzerfreundlichkeit (Perceived Ease of Use), der Einstellung gegenüber Computern (Attitude Towards usage) und der Verhaltensabsicht, eine Technologie zu nutzen (Behavioral Intention to Use), bestehen. Insbesondere der wahrgenommene Nutzen und die wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit einer Technologie stellen die wichtigsten Prädiktoren für die Absicht der Nutzenden dar, die Technologie tatsächlich anzuwenden (vgl. Pletz & Zinn 2020, S. 65 f.). Anhand des beschriebenen Modells zur Technologieakzeptanz können Aussagen zur Ausprägung der Technologieakzeptanz getroffen werden, konkrete inhaltliche Empfehlungen lassen sich daraus jedoch nicht ableiten (vgl. Kunz & Zinn 2022), weshalb in dieser Studie zusätzlich qualitative Elemente eingebunden werden, um förderliche und hemmende Faktoren der Nutzung von 360°-Videos in VR zu identifizieren. 2.3.2 Immersion Ein weiteres zentrales Merkmal von Virtual Reality ist die Immersion bzw. das Immersionserleben, welches mehr oder weniger intensiv wahrgenommen werden kann und bei dem es sich um einen medial erzeugten Zustand handelt, bei dem die Reize der realphysischen Welt nicht mehr wahrgenommen werden und welches durch den Verlust jeglichen Zeitbewusstseins gekennzeichnet ist (vgl. Frank 2020, S. 264; Jennet et al. 2008, S. 657). Dabei ist eine virtuelle Umgebung, die ein größeres Gefühl des Eintauchens hervorruft, in der Lage, ein höheres Maß an Präsenz zu erzeugen (Rupp
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et al. 2016). Nach Slater & Wilbur (1997) sind Medien umso immersiver, je besser sie in der Lage sind, eine umfassende, umgebende und lebendige Illusion der Realität für die Sinne eines menschlichen Teilnehmers zu liefern (Slater & Wilbur 1997, S. 604). Ramalho und Chambel (2013) erachten in der Immersion einen bedeutenden Faktor beim Betrachten von 360°-Videos, da diese die Emotionen sowie das Präsenzerleben beeinflusst. Aus psychologischer Perspektive wird Immersion als die kognitive und emotionale Eingebundenheit in eine Situation definiert (Georgiou & Kyza, 2017a). Hebbel-Seeger (2018) sieht den Mehrwert eines 360°-Videos ggü. eines traditionellen Videos insbesondere in der Möglichkeit des „Eintauchens“ in eine Handlungssituation, das durch die Rezeption mit einer VR-Brille begünstigt wird. Diese Situierung begünstigt maßgeblich den Lernprozess, welcher umso erfolgreicher ist, je besser es gelingt, Lernende in eine Situation eintauchen zu lassen (vgl. Hebbel-Seeger 2018, S. 267). Um die Eignung der 360°-Videos in VR zur Vorbereitung auf reale Anforderungen eines Jobinterviews einschätzen zu können, wird es als nützlich angesehen, das Immersionserleben der Teilnehmenden zu erfassen, da ein hoher Immersionsgrad auf eine kognitive und emotionale Eingebundenheit in die Situation hindeutet. 2.3.3 Präsenzerleben Verbunden mit der Immersion spielt auch das Präsenzerleben für VR eine bedeutsame Rolle. Präsenz in virtuellen Welten bedeutet, die computersimulierte Umgebung eher wahrzunehmen als die physikalische Örtlichkeit und wird definiert als „the subjective experience of being in one place or environment, even when one is physically situated in another“ (Witmer & Singer 1998, S. 225). Übertragen auf die virtuelle Umgebung ist Präsenz oder Presence demnach das subjektive Gefühl, sich in der virtuellen Welt zu befinden, sogar, wenn man sich körperlich anderswo befindet. Der Grad der Präsenz beschreibt, wie stark Nutzende ihre Aufmerksamkeit auf die virtuelle Umgebung ausrichten und hat Einfluss auf das Ausmaß, mit dem Nutzende in die Umwelt involviert sind (vgl. ebd. S. 225 ff.). Je besser es durch eine Anwendung gelingt, die reale Umwelt auszublenden und in die virtuelle Welt einzutauchen, desto höher ist der Grad des Präsenzerlebens. In der wissenschaftlichen Literatur können mehrere Subtypen von Präsenz identifiziert werden. Lombard & Ditton (1997) unterscheiden zwei Arten von Presence: die räumliche und die soziale Präsenz. Die räumliche Präsenz stellt die geläufigste Form des Präsenzerlebens dar und bezieht sich auf das Gefühl, sich an einem bestimmten Ort zu befinden. Es beschreibt, inwieweit sich eine Person am Ort des medienvermittelten Geschehens (1) physisch anwesend fühlt und (2) innerhalb dessen Handlungsmöglichkeiten erkennt und auf sich selbst bezieht (vgl. Hartmann et al. 2005, S. 23). Die Wahrnehmung der räumlichen Anwesenheit in einer medial entwickelten Umgebung kann auf unterschiedliche Weise eintreten und ist dadurch gekennzeichnet, dass die Nutzenden (zeitweilig) ausblenden, dass das Setting me-
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dial vermittelt ist und sie so unmittelbar in die virtuelle Welt eingetaucht sind und diese miterleben, als wären sie körperlich tatsächlich im Geschehen („feeling of being there“) (vgl. Hartmann et al. 2005, S. 21). Wirth et al. (2007) unterscheiden beim räumlichen Präsenzerleben ferner zwischen den zwei Subdimensionen ‚Selbstlokalisation‘ und ‚Handlungsmöglichkeit‘. Personen, die das Gefühl der räumlichen Präsenz erleben, fühlen sich einerseits in der virtuellen Umgebung anwesend (Subdimension ‚Selbstlokalisation‘) und haben andererseits den Eindruck, mit den Gegenständen dort interagieren zu können (Subdimension ‚Handlungsmöglichkeiten‘) (vgl. Wirth et al., 2007, S. 497). Für die vorliegende Untersuchung zu den entwickelten 360°-Videos in VR erscheint insbesondere die Betrachtung des Konstrukts der räumlichen Präsenz von Bedeutung, um Aussagen darüber treffen zu können, inwieweit sich die Videos dazu eignen, reale Jobinterviews in einem Bürosetting zu simulieren. 2.4
Mentale Beanspruchung (mental workload)
Für die Untersuchung von ViJo360 ist die Betrachtung der erlebten Beanspruchung von Interesse, um Aussagen über etwaige Unterschiede des subjektiven Schwierigkeitsempfindens zwischen den beiden Subgruppen treffen zu können. Entsprechend des Ansatzes der „mental-workload“-Forschung wird die mentale Beanspruchung als kognitive, eher nicht-emotionale Reaktion des menschlichen Informationssystems auf äußere Belastungen verstanden, die durch aufgabenspezifische Faktoren wie Komplexität und Schwierigkeit bestimmt werden (Wieland-Eckelman 1992). Der Grad der Beanspruchung hängt von zwei Komponenten ab. Zum einen von der Komplexität der Aufgabe (Aufgabenanforderung) und zum anderen von den individuellen Leistungsvoraussetzungen (Fähigkeiten, Fertigkeiten, motivationalen Einstellungen). Mentale Beanspruchung kann also als die Folge einer Interaktion zwischen den Merkmalen einer Person und den Anforderungen einer Aufgabe unter dem Aspekt der Motivation verstanden werden (Manzey, 1998). Die durch die Aufgabenbearbeitung entstehende Beanspruchung kann sowohl subjektiv als auch objektiv quantifiziert werden, da sich mentale Beanspruchung in messbaren Zustandsänderungen des menschlichen Körpers äußern. Diese beziehen sich auf physiologische Parameter wie bspw. die Herzfrequenz, die in Folge einer starken Beanspruchung ansteigt, oder die Körpertemperatur, den Blutdruck, etc. (vgl. Schlick et al. 2018, S. 254). Die Erfassung der subjektiv erlebten Schwierigkeit kann mit Hilfe von Fragebögen, Checklisten, Ratingskalen oder Interviews erfolgen. Da eine subjektive Erfassung der Beanspruchung in der Regel nach der Aufgabenbearbeitung erfolgt, sind damit jedoch Einschränkungen verbunden. Eine retrospektive Einschätzung kann zu Verzerrungen führen, wenn die empfundene und berichtete Beanspruchung voneinander abweichen. Objektive Verfahren hingegen werden als nicht willkürlich beeinflussbar angenommen (vgl. Jeschke et al. 2016). In der vorliegenden Studie kommen sowohl subjektive Verfahren als auch
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objektive Verfahren zum Einsatz. Die im Kontext der Beanspruchung durch die Anwendung ViJo360 induzierten Moments of Stress (MOS) der Probanden werden mittels eines Devices zur Erfassung physiologischer Daten erfasst und im Postprocessing analysiert. Die erfassten Daten befinden sich derzeit noch in der Auswertung, daher wird in diesem Beitrag ausschließlich auf die Ergebnisse der subjektiv empfundenen mentalen Beanspruchung referiert. 2.5
Autismus-Spektrum und Schwierigkeitsmerkmale im Kontext eines Jobinterviews
Um einen Einblick in die Beeinträchtigungen, die mit einer Autismus-Spektrum-Störung in den Bereichen der Kommunikation, der sozialen Fähigkeiten und der sozialen Wahrnehmung und Kognition verbunden sind, zu ermöglichen, wird nachfolgend an den theoretischen Hintergrund zum Autistischen Spektrum angenähert. Bei einer Autismus-Spektrum-Störung handelt es sich um eine tiefgreifende Entwicklungsstörung des Gehirns (vgl. Kamp-Becker & Bölte 2014, S. 33). Entsprechend des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM) (American Psychiatric Association 2013), einem Klassifikationssystem, das bei der Diagnose Autismus zum Einsatz kommt, werden zwei Hauptkategorien von Funktionsstörungen unterschieden, die bei allen Autismus-Spektrum-Störungen vorliegen können. Diese werden nachfolgend stichwortartig aufgeführt: (1) anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion sowie (2) eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, stereotyper oder repetitiver Gebrauch von Sprache, exzessives Festhalten an Routine, ausgeprägter Widerstand gegen Veränderungen, stark fixierte und hoch eingeschränkte Interessen und Hyper oder Hypo-ausgeprägtes (Wahrnehmungs-)Verhalten in Hinblick auf sensorische Reize (vgl. APA 2012; sinngemäß übersetzt von der Verfasserin). Aus diesen Auffälligkeiten ergeben sich, übertragen auf den Kontext eines Jobinterviews, spezielle Herausforderungen. In einem Bewerbungsgespräch kommen insbesondere die Sprache und die Mimik als Ausdrucksform der Kommunikation zum Einsatz, ebenso ist die soziale Interaktion sowie das Verhalten der beteiligten Personen von Bedeutung. Daher werden diese Bereiche nachfolgend näher betrachtet, um da raus abgeleitet Schwierigkeitsmerkmale für eine differenzierende Trainingsumgebung zum Jobinterview zu identifizieren. Besonderheiten in der Kommunikation ergeben sich, da Autist*innen Schwierigkeiten haben, Sprache zu verstehen und sich sprachlich auszudrücken, so wie es üblicherweise in Kommunikationssituationen erwartet wird. Hierunter fallen sowohl verbale als auch nonverbale Kommunikationsformen. Im Be-
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reich der sozialen Interaktion fallen bei Menschen im Autismus-Spektrum eine eingeschränkte Körpersprache und mangelhafte Mimik und Gestik auf. Nonverbale Kommunikationsformen werden nicht für die Kommunikation genutzt, diese können von Personen im Autismus-Spektrum überwiegend nicht „verstanden“ werden (vgl. Matzies 2010, S. 14). Häufig ist es für Autist*innen nicht unüblich, dass sie beim Betreten eines Raumes andere Personen nicht begrüßen und keinen Blickkontakt herstellen. Auf die Situation eines Vorstellungsgespräches übertragen, kann es einen irritierenden Eindruck auf die Gesprächsbeteiligten machen, wenn die/der Bewerbende während des Gesprächs oder der Begrüßung auf den Boden, statt in das Gesicht des Gesprächspartners schaut. Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion beziehen sich demnach darauf, typische soziale Interaktionen zu verstehen und mit anderen Personen zu interagieren und werden durch den Theory-of-Mind-Ansatz erklärt, der aus kognitionspsychologischer Sicht ein Modell zur Erklärung der Alltagsproblematiken von PiAS darstellt (vgl. Rudolph 2020, S. 50). Die Theory of Mind wird häufig auch mit Empathie gleichgesetzt, also der Fähigkeit, sich mit einer anderen Person zu identifizieren. Dies betrifft hauptsächlich die Schwierigkeit, die Perspektive anderer einzunehmen und anderen Personen bestimmte Bewusstseinszustände oder -vorgänge (z. B. Wünsche, Intentionen, Überzeugungen, Meinungen) zuzuschreiben oder diese zu erfassen, wodurch das Verhalten anderer vorhergesagt oder erklärt werden kann (vgl. Kamp-Becker & Bölte 2021, S. 39). Sprachliche Besonderheiten treten bei einigen Autist*innen in Form von Echolalie, Neologismen oder durch eine auffällige Intonation auf. Häufig ist es für Autist*innen sehr anstrengend, die Modulation der Stimme adäquat zu beherrschen (vgl. Mukhopadhyay 2005, S. 91). Die Tendenz, Gesagtes wortwörtlich zu interpretieren oder Ironie misszuverstehen, kann zu Verständnisschwierigkeiten führen, eine metaphorische Sprache, Sarkasmus oder bildliche Sprache werden oft nicht oder nur mit entsprechender Erklärung verzögert verstanden (vgl. Matzies 2010, S. 13). In Gesprächssituationen der Anforderung gerecht zu werden, zu sprechen und zeitgleich auf die Blicke, die Mimik und die Gestik der beteiligten Personen zu achten, führt bei Autist*innen oftmals zu Überforderung. Wörter oder Zahlen, die während der Kommunikation wahrgenommen werden, können Personen im AS dazu verleiten, diese unmittelbar als (sensorische) Reize zu Assoziationen, zur Kreation von Strukturen, Reimen oder Gedichten zu verwenden, sodass dem eigentlichen Gespräch nicht mehr gefolgt werden kann (vgl. Mukhopadhyay 2005, S. 37). Ferner bestehen Schwierigkeiten darin, Gespräche zu initiieren und aufrechtzuerhalten. Insbesondere Small-Talk-Situationen sind für Menschen im AS herausfordernd, sie sehen darin keinen tieferen Sinn, weil ihnen die Themen unwichtig erscheinen. Menschen mit einer ASS fällt überdies die Einschätzung schwer, welches Thema sich für ein Gespräch mit dem Gegenüber eignen könnte und über welche Informationen der/die Gesprächspartner*in verfügt (vgl. Spiel et al. 2018, S. 243). Ferner kann eine sogenannte Filterschwäche vorliegen, die bei einer Reizüberflutung dazu führt, diese nicht selektieren zu können. Viele Menschen mit Autismus können infolgedessen
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Reize, die für eine Situation oder einen Zusammenhang irrelevant sind, nicht ausblenden. Vermeintlich unwichtige Dinge verhindern dann die Fokussierung auf die für den Zusammenhang wichtigen Aspekte, da die Nebenreize die Aufmerksamkeit zu sehr beanspruchen. Häufig liegt diese Filterschwäche im akustischen Bereich vor. In diesem Fall nehmen die Betroffenen bspw. sämtliche Laute als gleich laut wahr, sodass sich daraus ein einziges Durcheinander ergibt, aus dem nicht unterschieden werden kann, auf welche Reize geachtet werden soll (vgl. Matzies 2010, S. 17). Viele PiAS können Infomationen auch aufgrund eines mangelhaften intermodalen Transfers nicht angemessen interpretieren. Dabei findet keine Verknüpfung der Informationen von einem Sinneskanal mit den Informationen eines anderen Sinneskanals statt. Hier wird auch von einer mangelhaft ausgeprägten zentralen Kohärenz gesprochen (vgl. KampBecker & Bölte 2021, S. 41). Wird in einer Gesprächssituation bspw. der Fokus auf das Gesprochene gelegt und werden die visuellen Reize ausgeblendet, so entsteht lediglich ein fragmentiertes Bild eines Gesprächs, das große Ganze kann dadurch nicht erfasst werden. Daher neigen Betroffene im AS dazu, eher Details wahrzunehmen und sind häufig nicht in der Lage, den Gesamtzusammenhang zu erfassen (vgl. Schuster 2007, S. 24; vgl. Matzies 2010, S. 17 ff.). Ferner kann der Orientierungssinn beeinträchtigt sein (vgl. Matzies 2010, S. 18) und aufgrund von sensorischen Wahrnehmungsbesonderheiten grelle Lichtverhältnisse, laute Geräusche, starke Gerüche oder Körperberührungen, die mitunter sogar als schmerzhaft empfunden werden können (vgl. Lorenzo et al. 2013, S. 90), das Verhalten von Personen im Autismus-Spektrum maßgeblich beeinflussen. Ein Jobinterview stellt eine nicht planbare Situation mit vielen Anforderungen dar, wie beispielsweise Blickkontakt halten, Höflichkeitsfloskeln kennen, aufmerksam dem Gespräch folgen, Smalltalk halten, Stärken hervorstellen, Schwächen nicht zu sehr betonen, fremden Menschen gegenübersitzen, zügige und gleichsam reflektierende Antworten geben und „zwischen den Zeilen“ lesen. Im Bewusstsein, durch die Autismus-spezifischen Besonderheiten von den gesellschaftlichen „Normen“ abzuweichen, müssen Personen im AS im Zuge eines Jobinterviews in einer für sie fremden Umgebung ihre fachlichen Kenntnisse vor unbekannten Menschen darstellen, was ihnen entsprechend der Beeinträchtigungen nicht oder nicht so gut gelingt. Doch potenzielle Arbeitgeber erwarten im Jobinterview ein wechselseitiges Gespräch, das schnelles Denken und flexibles Antworten auf Fragen erfordert. Es wird autistischen Bewerber*innen in einer solchen Situation daher höchstwahrscheinlich fast unmöglich sein, das zu präsentieren, was sie für den Job qualifiziert. Anhand des beschriebenen theoretischen Hintergrundes lassen sich schwierigkeitsbestimmende Merkmale ableiten, deren Variation bei der Konzeptionierung der Anwendungen unterschiedliche Anspruchsgrade markieren sollen und mit denen sich PiAS in realen Jobinterviews konfrontiert sehen können. Diese beziehen sich auf (1.) auditive Reize, (2.) visuelle Reize (grelle Lichtquellen, Farben), (3.) Aspekte im Bereich der sozialen Interaktion (Sprache, Mimik, Gestik, Formulierungen), (4.) Schwierigkeiten in der räumlichen Orientierung, (5.) Schwierigkeiten hinsichtlich der Gleichzeitigkeit
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von Handlungen, (6.) Schwierigkeiten bedingt durch zeitliche Aspekte (Dauer, Zeitdruck) und (7.) durch Akteure (Anzahl der Personen). Unter der Annahme, dass Videos in 360° in VR, ein immersives Erlebnis schaffen können und die Realität authentisch abzubilden vermögen, wodurch mehr realistische Nuancen innerhalb eines Vorstellungsgespräches vermittelt werden können, wurden die Anwendung des Vorstellungsgespräches als 360°-Videoanwendung in VR konzipiert. Die zentralen Argumente für die Verwendung von 360°-Videos in VR sind auf der Grundlage des dar gelegten theoretischen Hintergrundes und Forschungsstandes zusammenfassend: (1.) die Möglichkeit zur komplexen und authentischen Abbildung des Situationsraums in einem geschützten Lernsetting, der aufgrund der freien Wahl des Bildausschnitts durch die Nutzenden individuell erschlossen werden kann, (2.) das hohe immersive Potenzial, insbesondere unter Verwendung einer VR-Brille, welche die Nutzenden in die Situation „eintauchen“ lässt und damit ein (Präsenz-)Erlebnis schafft, das aufgrund seines Erlebnisgehalts in besonderem Maße geeignet scheint, eine realistische Abbildung eines Vorstellungsgespräches zu erreichen, sowie (3.) die Möglichkeit, Szenarien beliebig oft zu durchlaufen. Bislang liegen keine empirischen Befunde zur Nutzung von 360°-Videos in VR im Bezugsfeld von Personen im Autismus-Spektrum vor. Ebenso liegt keine Evidenz für das Einnehmen einer aktiven Rolle als Bewerbende/r aus der Egoperspektive in 360°-Videos in VR vor, wie es in dieser Untersuchung umgesetzt wurde. Die vorliegende Studie geht diesen Forschungsdesiderata nach und fokussiert die Beantwortung der nachfolgenden Forschungsfragen: Forschungsfrage 1: Wie bewerten Personen im Autismus-Spektrum (PiAS) und vergleichend neurotypische Personen die Technologieakzeptanz, das Präsenzerleben und die Immersion der 360°-Video in VR Anwendung (ViJo360)? (FF1) Forschungsfrage 2: Inwiefern beinhalten die Szenarien innerhalb der 360°-Anwendung (ViJo360) in VR schwierigkeitsbestimmende Merkmale und eignen sich, um unterschiedliche Anforderungssituationen abzubilden und unterscheiden sich die Schwierigkeitsmerkmale zwischen neurotypischen und neurodiversen Personen? (FF2) Forschungsfrage 3: Wie nützlich bewerten Personen im Autismus-Spektrum (PiAS) und neurotypische Personen die 360°-Video in VR Anwendung (ViJo360) zur Vorbereitung auf reale Anforderungssituationen und welche explorativen Entwicklungsperspektiven verbinden sich damit? (FF3)
360 Grad-Videos in virtueller Realität zur Vorbereitung auf Jobinterviews
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Anlage der Untersuchung1
Um den drei Forschungsfragen nachzugehen, wurden quantitative und qualitative Methoden genutzt, um einerseits die Verhaltensmuster der Probanden hinsichtlich Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben sowie die mentale Beanspruchung und schwierigkeitsbestimmende Merkmale zu erfassen (Forschungsfragen 1 und 2) und um andererseits Daten zur Nützlichkeitseinschätzung und Optimierung der Anwendung ViJo360 (Forschungsfrage 3) zu generieren. 3.1
Quasi-experimentelles Setting und Datenerhebung
Es wurden drei Varianten eines Jobinterviews für das quasi-experimentelle Setting entwickelt (Abschn. 4.2). Die Jobinterviewszenarien wurden in unterschiedlichen Büroräumen auf der Basis einer Studie zu Einstellungsinterviews und der Anwendungshäufigkeit einzelner Interviewfragen in der unternehmerischen Praxis konzipiert (vgl. Kanning 2016). Insbesondere Fragen zur Fachlichkeit, der Leistungsmotivation, zur Selbstcharakterisierung, den größten Stärken, den größten Schwächen, den Gründen für die Bewerbung, den Hobbys, dem Umgang mit Misserfolgen und mit Kritik, konnten als häufig vorkommende Interviewfragen identifiziert werden (vgl. Kanning 2016, S. 447). Die Jobinterview-Varianten eins und zwei zeigen eine Interviewende Person, in Variante drei sehen sich die Rezipienten mit drei Interviewenden Personen konfrontiert. Die einzelnen Varianten haben eine Länge von 7, 9 und 11 Minuten, innerhalb derer die Teilnehmenden aus der Egoperspektive in den Varianten eins und zwei jeweils 14 und in der Variante drei 11 typische Jobinterviewfragen beantworten sollen. Die Jobinterviews gliedern sich in die Phasen (1.) Gesprächsbeginn, (2.) Selbstpräsentation, (3.) Selbsteinschätzung, (4.) Zukunftsperspektive und (5.) Gesprächsabschluss. Innerhalb des quasi-experimentellen Settings (Testzeit 70–80 min pro Person) durchliefen die Testpersonen jeweils einzeln und mit standardisiertem Ablauf alle drei 360°-Videos in VR. Zunächst erhielten die Teilnehmenden Informationen zum Ablauf der Studie, eine Einführung zum Umgang mit der VR-Technologie, sowie den Hinweis, jederzeit Fragen zum Testablauf stellen zu können und die Testung ohne Angabe von Gründen und ohne Konsequenzen abbrechen zu können. Unmittelbar danach wurden die Teilnehmenden gebeten, den Prätest mittels online-Fragebogen auszufüllen, welcher der Erfassung allgemeiner Daten, Vorkenntnissen mit der Technologie und Vorerfahrungen mit Vorstellungsgesprächen dient. Im Anschluss daran wurden 1 Das diesem Artikel zugrundeliegende Vorhaben „Einsatz neUrophysiologischer Schnittstellen und taktil
unterstützter virtueller Realität zur Förderung von beruflicher InklusiOn“ (UFO) wird im Rahmen des Forschungsprogramms zur Mensch-Technik-Interaktion: „Technik zum Menschen bringen“ mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 16SV8722 gefördert.
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den Testpersonen nacheinander die drei Vorstellungsgesprächsvarianten über die VR-Brille Occulus Quest 2 präsentiert mit dem Hinweis, die Szenarien aus der Egoperspektive zu betrachten und aktiv die Rolle des/der Bewerbenden einzunehmen. Zwischen den einzelnen Szenarien erfolgte jeweils eine Pause, in der Proband*innen die VR-Brille abziehen konnten, um Schwierigkeitsmerkmale innerhalb des betrachteten Szenarios zu bewerten. Beim Durchlaufen der 360°-Video- Anwendungen in VR wurden die Teilnehmenden videografiert. Nach erfolgtem Durchlaufen der Szenarien wurden die Teilnehmenden dazu aufgerufen, ihre Einschätzung zur Beanspruchungshöhe der Anwendung einzuschätzen und den Postfragebogen auszufüllen, der der Erfassung der Daten zur Einschätzung der Nützlichkeit, der Technologieakzeptanz und der Immersion dient. Anschließend wurden die Teilnehmenden gebeten, die 360°-Anwendung in VR verbal hinsichtlich der allgemeinen Wahrnehmung, der Nützlichkeit und Optimierungspotenzialen zu reflektieren. Das Reflexionsgespräch wurde mit einem Aufnahmegerät aufgenommen. 3.2
Beschreibung der Jobinterviewszenen
Die Varianten der drei Jobinterviews unterscheiden sich dahingehend, dass zunehmend mehr unterstellte schwierigkeitsbestimmende Merkmale eingebunden werden. So wird bspw. die Art der Fragenformulierung komplexer, indem vermehrt offene Fragen, Stressfragen und hypothetische Fragen eingebunden werden und teilweise eine bildhafte Sprache verwendet wird. Es werden sukzessive mehr sensorische Reize (visuell bspw. in Form greller Leuchtstoffröhren und auditiv in Form von Unterbrechungen durch Personen, das Klingeln eines Telefons, oder ein Baustellengeräusch), eingebunden. Zudem wurde die Anzahl der Interviewteilnehmenden innerhalb der drei Varianten variiert, ebenso wie das Geschlecht, um die Nutzer*innen mit unterschiedlichen personenbezogenen Charakteristika zu konfrontieren. Die nachfolgenden Abbildungen zeigen Szenen aus den Jobinterviewvarianten zwei und drei (vgl. Abb. 1 – 2).
360 Grad-Videos in virtueller Realität zur Vorbereitung auf Jobinterviews
Szene aus Jobinterview 2
Szene aus Jobinterview 3 Abb. 1 Beispielszenen aus Jobinterview 2 und 3
Nachfolgend wird ein inhaltlicher Einblick in die Jobinterviewszenarien gegeben (siehe Tab. 1).
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Tab. 1 Beispielfragen aus dem Bereich Teamfähigkeit und Stärken Jobinterview 1
Jobinterview 2
Jobinterview 3
Wie schätzen Sie sich selbst ein, würden Sie sagen, dass Sie gerne im Team arbeiten?
– Was bedeutet Teamarbeit für Sie?
– Angenommen, Sie müssten ab jetzt entweder alleine oder im Team arbeiten. Wofür würden Sie sich entscheiden und warum?
Was sind Ihre Stärken, können Sie sich z. B. gut selbst organisieren?
– In welchen Bereichen sehen Sie Ihre Stärken?
– Was sind Ihrer Meinung nach drei Stärken, in denen Sie sich für sehr gut oder sogar für überlegen halten?
3.3 Instrumente
Es kamen drei Fragebogeninstrumente zu Einsatz. Der Prä-Fragebogen umfasst neben demographischen Daten zur Testperson die Frage nach dem Vorliegen einer Autismus-Spektrum-Diagnose sowie eine Abfrage zu bisherigen Erfahrungen mit der VRTechnologie und 360°-Videos. Der Postfragebogen umfasst Skalen zur Erfassung der wahrgenommenen schwierigkeitsbestimmenden Merkmale je Vorstellungsgesprächsvariante (3x) (Forschungsfrage 2). Darüber hinaus enthält das Fragebogeninstrument Skalen zur Erfassung der Technologieakzeptanz, der Immersion und des Präsenzerlebens (Forschungsfrage 1). Bei den verwendeten Skalen handelt es sich um bereits mehrfach erprobte Skalen mit zufriedenstellenden Reliabilitätswerten, die für das Vorstellungsgespräch adaptiert wurden und durchweg über α = 0,70 liegen (vgl. Kunz & Zinn 2022). Ergänzend enthält der Post-Fragebogen einen offenen Fragenbereich zur wahrgenommenen Nützlichkeit der 360°-Anwendung in VR im Kontext zukünftiger realer und herausfordernder Alltagssituationen (Forschungsfrage 3). Das dritte Fragebogeninstrument diente zur Erfassung der Beanspruchungshöhe der Gesamtanwendung (Forschungsfrage 2) und erfolgte via Paper-Pencil-Version. Die Datenerfassung zur Einschätzung der wahrgenommenen schwierigkeitsbestimmenden Merkmale der einzelnen Szenarios erfolgte unmittelbar im Anschluss an das jeweilige Vorstellungsgesprächs-Szenario (3x) online-basiert, die Erfassung aller weiteren Daten erfolgte in unmittelbarem Anschluss an das letzte Szenario. Nachstehend erfolgt eine Beschreibung der eingesetzten Skalen und des offenen Fragenbereichs. Zur Erhebung der Technologieakzeptanz wurden 3 Skalen zur wahrgenommenen Nützlichkeit, Benutzerfreundlichkeit und Nutzungsintention adaptiert. Die Erfassung der wahrgenommenen Nützlichkeit erfolgte anhand von 6 Items in Anlehnung an Davis et al. (1989) und Davis (1989) auf einer sechsstufigen Likert-Skala. Beispielitem: „360-Grad Videos in VR könnten in der Vorbereitung auf reale Situationen nützlich sein.“ Die Skala zur wahrgenommenen Benutzerfreundlichkeit wurde durch 4 Items und die Skala zur Nutzungsintention anhand von 3 Items in Anlehnung
360 Grad-Videos in virtueller Realität zur Vorbereitung auf Jobinterviews
an Venkatesh et al. (2003) auf einer sechsstufigen Likert-Skala erhoben. Beispielitems: „Der Umgang mit der 360-Grad-Video-Anwendung ist klar und verständlich.“ (Benutzerfreundlichkeit); „Ich habe vor, 360-Grad-Videos in VR so oft wie möglich zum Üben zu nutzen.“ (Nutzungsintention). Zur Erfassung der Immersion wurden 6 Items nach Ferdig & Kosko (2020) adaptiert. Die Items wurden über eine sechsstufige Likert-Skala erhoben. Beispielitem: „Ich war so in das Szenario vertieft, dass ich in einigen Fällen direkt mit den beteiligten Personen interagieren wollte.“ Das Präsenzerleben (allgemein) wurde anhand von 4 Items, ebenfalls nach Ferdig & Kosko (2020) adaptiert und mittels einer sechsstufigen Likert-Skala erfasst. Beispielitem: „Das Video war so authentisch, dass ich manchmal dachte, ich wäre tatsächlich im Büroraum zum Jobinterview.“ Das räumliche Präsenzerleben wurde zusätzlich in zwei Kategorien anhand von jeweils 8 Items anhand einer sechsstufigen Likert-Skala in den beiden Bereichen Selbstlokalisation und Handlungsmöglichkeiten nach Wirth et al. (2008) erhoben. Beispielitem: „Ich hatte das Gefühl, mitten im Geschehen zu sein, anstatt es nur von außen zu verfolgen.“ (Selbstlokalisation); „Ich hatte den Eindruck, dass ich selbst in der dargestellten Umgebung aktiv werden konnte.“ (Handlungsmöglichkeiten). Anhand von sieben Kategorien (Auditiv, Interaktion, Visuell, Orientierung, Verlauf/Prozess/ Gleichzeitigkeit, Zeit, Akteure) wurden schwierigkeitsbestimmende Merkmale innerhalb der drei Varianten der Vorstellungsgespräche anhand einer sechsstufigen LikertSkala (1 = stimme überhaupt nicht zu; 6 = stimme komplett zu) erfasst. Beispielitems (Interaktion):“ Die Art der Formulierung der Fragen stellte für mich eine Schwierigkeit dar.“ und „Mir fiel es schwer, (flexibel) zu reagieren (zu fragen oder antworten) und mich auszudrücken.“ Beispielitem (Zeit): „Ich hatte das Gefühl, sehr unter Zeitdruck zu stehen.“ Um die subjektiv erlebte Beanspruchung durch die 360°-Anwendung in VR zu erfassen, kam der erste Teil der deutschen Version des National Aeronautics and Space Administration-Task Load Index (NASA-TLX) zum Einsatz (Hart 2006). Der NASA-TLX besteht aus den sechs Dimensionen geistige Anforderung, körperliche Anforderung, zeitliche Anforderung, Leistung, Anstrengung und Frustration. Auf einer Skala von 0–20 zum Ankreuzen werden die einzelnen Punktwerte summiert und ergeben den sogenannten Composite Score (vgl. Hart 2006, S. 904). Aus Gründen der einfacheren Handhabbarkeit wurde auf den zweiten Teil des NASA-TLX verzichtet, bei dem der Overall Task-Load Index berechnet wird, anhand dessen je nach subjektiver Einschätzung der Probanden die einzelnen Subskalen paarweise zueinander gewichtet werden (vgl. ebd.). Der Fragebogen kam als Paper-Pencil-Instrument zum Einsatz und wurde unmittelbar nach Durchlaufen der drei 360°-Jobinterviews in VR dargeboten. Um Anhaltspunkte zur Nutzung der 360°-Anwendung in VR zur Vorbereitung auf Jobinterviews und zu deren Weiterentwicklung in Hinblick auf fördernde und hemmende Aspekte der Technologienutzung zu erhalten, wurden zusätzlich Einzelinterviews im Anschluss an die Nutzung der Anwendung durchgeführt. Die offenen Fragen beziehen sich einerseits auf die allgemeine Wahrnehmung der 360°-Videos in VR zur Vorbereitung auf reale Vorstellungsgespräche (positive und negative Aspekte),
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in Anlehnung an die bereits quantitativ erfasste Skala zur Technologieakzeptanz auf die wahrgenommene Nützlichkeit der 360°-Videos in VR zur Vorbereitung auf reale Jobinterviews und andererseits auf Optimierungspotenziale der 360°-Videos in VR. 3.4 Stichprobe
Die Stichprobe des quasi-experimentellen Settings setzt sich zusammen aus insgesamt N = 20 Testpersonen, je n = 10 Probanden neurodiverser (ND) und n = 10 Probanden neurotypischer Ausprägung (NT). Für die Erhebung konnten neurodiverse Testteilnehmende des Paulinenstifts in Winnenden, dem Autismus-Kompetenzzentrum in Stuttgart Wangen und der autista GmbH in Heilbronn gewonnen werden. Für die neurotypische Vergleichsgruppe konnten Studierende der Universität Stuttgart gewonnen werden. Die neurodiverse Stichprobe besteht aus 90 % männlichen und 10 % weiblichen Personen (neurotypisch: 40 % männlich und 60 % weiblich). Im Durchschnitt sind die neurodiversen Testpersonen 21,3 Jahre alt (SD = 4,19; MIN = 15; MAX = 28 Jahre) (neurotypisch: 25,4 Jahre, SD = 7,07; MIN = 20; MAX = 42 Jahre). Unter den Personen im Autismus-Spektrum (ND) befanden sich zum Zeitpunkt der Testung Personen in einer Ausbildung (n=4), Personen machten ihren Schulabschluss (n = 3), eine Person war arbeitssuchend (n=1) und weitere Personen befanden sich zum Zeitpunkt der Erhebung in sonstigen berufsvorbereitenden Maßnahmen (n = 2). In der neurotypischen Vergleichsgruppe (NT) waren n = 9 Personen Studierende, eine Person hatte das Studium abgeschlossen und befand sich auf Arbeitssuche. Zum Zeitpunkt der Untersuchung hatten unter den neurodiversen Personen (ND) bereits 7 Personen Vorerfahrungen mit Jobinterviews, drei Personen verfügen über keine entsprechende Erfahrung ((NT) n = 9 Vorerfahrungen; n = 1 keine Vorerfahrungen). Über Vorerfahrung mit VR verfügen unter den neurodiversen Personen (ND) 100 % (NT, n = 90 %). Eine Person unter den neurodiversen Probanden besitzt privat eine VR-Brille. Hinsichtlich 360°-Videos haben in beiden Gruppen je 40 % der Testpersonen erste Erfahrungen gesammelt. 3.5 Datenauswertung
Die statistische Auswertung der quantitativen Daten erfolgte mit dem Statistikprogramm SPSS 28 (IBM Corpor. Released 2021). Das Auswertungsprogramm MAXQDA 2018.2 (VERBI Software 2019) diente der Auswertung der qualitativen Daten. Das Signifikanzniveau aller statistischen Tests wurde mit einem Alpha-Niveau von 5 % festgelegt (p = 0,05). Die quantitativen Daten wurden zunächst deskriptiv analysiert und anschließend im Hinblick auf Effekte zwischen den Gruppen ausgewertet. Die qualitativen Daten wurden anhand einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring
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(2010) betrachtet und anhand der Fragen aus den Interviews zu Nützlichkeit und Optimierungspotenzial bezogen auf die 360°-Anwendung Hauptkategorien deduktiv gebildet. Im Anschluss daran wurden die Antworten der Probanden mit MAXQDA 2018 (VERBI Software 2017) kodiert und zu den Hauptkategorien induktive Subkategorien gebildet. 4 Ergebnisse 4.1
Ergebnisse zu Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben (FF1)
Bis auf die Skalen Benutzerfreundlichkeit und Präsenzerleben kann mittels ShapiroWilk-Test eine Normalverteilung der Daten festgestellt werden. Die Skala zum Präsenzerleben ist rechtssteil und schmalgipflig (Kurtosis: B = 1.32; Schiefe: B = -1,17; Median = 4,62; SD = 1,27), die Skala zur Benutzerfreundlichkeit ist ebenso rechtsteil und schmalgipflig (Kurtosis: B = 3,36; Schiefe: B = -1,35; Median = 4,62; SD = 0,85). Die Mittelwerte der einzelnen Skalen zeigen, dass die Nützlichkeit (N, M = 4,96; SD = 1,27) auf einer Likert-Skala zwischen 1 und 6 durch die Testpersonen positiv bewertet wurde. Die Immersion (I, M = 4,37; SD = 0,90) und das räumliche Präsenzerleben Selbstlokalisation (RP_S, M = 4,48; SD = 1,11) weisen mittlere bis hohe Werte auf. Die Skalen zum räumlichen Präsenzerleben Handlungsmöglichkeiten (RP_H, M = 3,42; SD = 0,89) und zur Nutzungsintention (NI, M = 3,91; SD = 1,05) hingegen weisen im Vergleich dazu einen niedrigeren Wert auf. 4.1.1
Betrachtung von Subgruppen
Um zu analysieren, ob und welchen Einfluss das Vorliegen einer Autismus-SpektrumDiagnose der Teilnehmenden auf die beobachteten nutzungsbezogenen Konstrukte hat, wurden Gruppenvergleiche für die normalverteilten Daten mittels t – Test durchgeführt. Wenn Voraussetzung verletzt sind, wie z. B. die Normalverteilung der Rohdaten (Shapiro-Wilk p < .05), wird der Mann-Whitney-U-Test verwendet. Für die Gruppenvergleiche wurde eine Gruppierungsvariable gebildet, die das Vorliegen einer Autismus-Diagnose erfragt. Die Ergebnisse berichten keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen, was möglicherweise aber auf die geringe Stichprobengröße der Untersuchung zurückgeführt werden kann.
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4.2
Ergebnisse zu Schwierigkeitsmerkmalen (FF2)
Die Items der Schwierigkeitsmerkmale wurden bei allen Probanden auf einer sechsstufigen Likert-Skala von 1 = stimme überhaupt nicht zu bis 6 = stimme komplett zu, erhoben. Die Bewertung der Schwierigkeitsmerkmale über die Gesamtanwendung (V1, V2, V3) lassen auf deskriptiver Ebene erkennen, dass diese über beide Gruppen (ND, NT) hinweg insgesamt mit einem eher niedrigen Wert (SchwM V1, V2, V3, M = 2,11; Mdn = 1,92; SD = 0,62) angegeben wurde. Bei Betrachtung der einzelnen Schwierigkeitsmerkmale über alle drei Jobinterview-Varianten wird deutlich, dass das Schwierigkeitsmerkmal Interaktion (flexibel reagieren, antworten und sich ausdrücken) am höchsten bewertet wurde (SchwM_Intera_flex, M = 2,91; Mdn = 2,66; SD = 1,38). Die zweithöchsten Werte erreichte das Schwierigkeitsmerkmal Zeitdruck (Schw_Zeitdr., M = 2,56; Mdn = 2,33; SD = 1,29) und darauffolgend das Schwierigkeitsmerkmal auditiv (SchwM_aud, M = 2,45; Mdn = 2,33; SD = 0,96). Als eher unbedeutend hinsichtlich der Schwierigkeit wird über die Gesamtgruppe hinweg der Aspekt der Anzahl der am Jobinterview beteiligten Akteure angegeben (SchwM_Akt, M = 1,51; Mdn = 1,33; SD = 0,57). Bei separater Betrachtung der Schwierigkeitsmerkmale der einzelnen Jobinterviews (V1, V2, V3) zeigt sich, dass die Schwierigkeitsmerkmale von Jobinterview 1 den geringsten Wert aufweisen (SchwMV1, M = 1,75; Mdn = 1,63; SD = 0,62) und die Schwierigkeitsmerkmale von Jobinterview 2 (SchwMV2, M = 2,05; Mdn = 2,00; SD = 0,67) und Jobinterview 3 (SchwMV3, M = 2,58; Mdn = 2,45; SD = 0,62) höhere Werte aufweisen. Demzufolge werden von der Gesamtstichprobe in Jobinterview 1 weniger Schwierigkeitsmerkmale wahrgenommen als in Jobinterview 2 und 3. Jobinterview drei wird hinsichtlich der Schwierigkeitsmerkmale am höchsten bewertet. 4.2.1
Betrachtung von Subgruppen
Um zu analysieren, ob und welchen Einfluss das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Autismus-Spektrum-Diagnose der Teilnehmenden auf die unterstellten Schwierigkeitsmerkmale hat, wurden Gruppierungsvergleiche mittels Mann-Whitney-U-Test durchgeführt. Hierzu wurde eine Gruppierungsvariable gebildet, die das Vorliegen einer Autismus-Diagnose erfragt. Die Ergebnisse berichten für die Betrachtung aller Schwierigkeitsmerkmale über die Gesamtanwendung (V1, V2, V3) signifikante Unterschiede zwischen den neurodiversen und den neurotypischen Probanden (U = 21,00; p = 0,02; Z = -2,19; r2 = 0,01). Demzufolge bewerten neurodiverse Probanden die
2 Wert
für die Effektstärke nach Cohen (1988): |r|≥ 0,10: kleiner Effekt; |r|≥ 0,30: mittlerer Effekt; |r|≥ 0,50: großer Effekt.
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Schwierigkeitsmerkmale innerhalb der Anwendung (V1, 2 und 3) höher als die neurotypische Vergleichsgruppe. Bei Betrachtung der einzelnen wahrgenommenen Gesamtschwierigkeitsmerkmale, differenziert nach Jobinterview 1, 2 und 3, zeigen sich signifikante Unterschiede in der Wahrnehmung der Schwierigkeitsmerkmale bei Jobinterview 1 (U = 7,00; p < .001; Z = -3,25; r = 0,16) zwischen den neurodiversen und den neurotypischen Probanden. Signifikante Unterschiede zeigen sich auch bei der Wahrnehmung der Schwierigkeitsmerkmale bei Jobinterview 2 (U = 20,50; p = 0,04; Z = -2,00; r = 0,10). Für Jobinterview 3 konnten keine signifikanten Unterschiede in der Bewertung der Schwierigkeitsmerkmale festgestellt werden. Demzufolge bewerten neurodiverse Teilnehmende die Schwierigkeitsmerkmale in Jobinterview 1 und 2 höher als die neurotypische Vergleichsgruppe. Differenziert nach den einzelnen Schwierigkeitsmerkmalen, zeigen sich signifikante Unterschiede bei dem Schwierigkeitsmerkmal Interaktion Gesprächseinbindung zwischen neurodiversen und neurotypischen Personen (U = 21,00; p = 0,04; Z = -1,98; r = 0,10). Neurodiverse Probanden empfinden demnach die Art und Weise, wie sie innerhalb der VR-Anwendung in das Gespräch eingebunden wurden, über alle Jobinterviewvarianten hinweg als schwieriger als neurotypische Probanden. Signifikante Unterschiede zeigen sich ebenso bei dem Schwierigkeitsmerkmal Gesamtdauer der Anwendung (U = 12,50; p = 0,004; Z = -2,89; r = 0,14), wonach neurodiverse Personen die Gesamtdauer der Videos insgesamt als schwieriger wahrnehmen als neurotypische Personen. 4.3
Ergebnisse zur mentalen Beanspruchung (FF2)
Die sechs Items des NASA-TLX wurden bei allen Probanden auf einer Skala von 0 – 20 erhoben, wobei „0“ als gering und „20“ als hoch gewertet wird. Für die Skala zur mentalen Beanspruchung wurde mittels Shapiro-Wilk-Test keine Normalverteilung der Daten festgestellt. Die mentale Beanspruchung wird über alle Testpersonen hinweg (Be, M = 7,44; Mdn = 7,00; SD = 2,90) als eher gering bewertet. Bei Betrachtung der einzelnen Dimensionen wurde die geistige Anforderung am höchsten bewertet (Be_geistg, M = 12,10; Mdn = 13,5; SD = 4,27), gefolgt vom Zeitdruck (Be_Z, M = 9,00; Mdn = 9,00; SD = 4,88), der Anstrengung (Be_Anstr, M = 8,75; Mdn = 9,00; SD = 4,87), der Frustration (Be_Fr, M = 7,05; Mdn = 6,00; SD = 5,53) und der Leistung (Be_L, M = 5,95; Mdn = 6,00; SD = 3,12). Den geringsten Wert weist die körperliche Anforderung auf (Be_körp, M = 1,80; Mdn = 1,00; SD = 2,01).
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4.3.1
Betrachtung von Subgruppen
Die Analyse, welchen Einfluss das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein einer Autismus-Spektrum-Diagnose auf die wahrgenommene Beanspruchung hat, zeigte mittels Mann-Whitney-U-Test keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Gruppenzugehörigkeit. 4.4
Explorativer Studienteil zur Nutzung und Weiterentwicklung (FF3)
Die qualitativen Ergebnisse zur Nutzung, Weiterentwicklung und Schwierigkeiten, verbunden mit der 360°-Technologie in VR, umfassen insgesamt N = 78 Codierungen, die sich auf die Frageaspekte (bzw. Hauptkategorien) „subjektive Bewertung zur Nützlichkeit für reale Jobinterviews“ (39 Codes), „Schwierigkeiten verbunden mit der Technologie“ (8 Codes) und „Entwicklungsperspektiven zur Technologienutzung“ (21 Codes) verteilen. Nachfolgend werden ausgewählte Zitate aufgeführt, um die unterschiedlichen Positionen der Befragten darzustellen. Bei den Zitaten werden folgende Informationen zur Erläuterung ergänzend aufgeführt: Neurodivers (ND), Neurotypisch (NT), Geschlecht (m = männlich, w = weiblich) und Alter (in Jahren). 4.4.1
Hauptkategorie Nützlichkeit für reale Jobinterviews (39 Codes)
Zur Nützlichkeit der 360-Videos in VR geben die Testpersonen an, dass die 360°-Videos als Übungsmöglichkeit (18 Codes) zur Vorbereitung auf reale Jobinterviews in einem geschützten virtuellen Bürosetting als förderlich wahrgenommen werden. Dadurch, dass ich noch nie ein klassisches Bewerbungsgespräch hatte, ist es irgendwie ganz cool und ich habe selbst bemerkt, dass ich durch diese drei Durchgänge mehr reingekommen bin und meine Antworten im Kopf gehabt habe. (NTw23) Man kann in einem geschützten Raum trainieren. (NDm25)
Zudem wird das Ermöglichen eines Einblickes über Ablauf und Anforderungen innerhalb eines Jobinterviews (n = 7) als nützlich erachtet. Man kann da auch lernen, welche Fragen es gibt, auf was muss ich mich vorbereiten. (NDm16) Ich finde es auch gut, ein bisschen einschätzen zu können, gerade mit den Pausen dazwischen, was würde der andere eigentlich erwarten, was man antwortet und die Länge, die man dann selbst für sinnvoll erachtet. (NTw22)
360 Grad-Videos in virtueller Realität zur Vorbereitung auf Jobinterviews
Als nützlich wurde auch die Reflexion über die eigenen Fähigkeiten (n = 4) bei der Performance innerhalb der virtuellen 360°-Jobinterviews bewertet. Ich habe da auch feststellen können, welche Fragen mir leichtfallen und welche schwer, wo mir Antworten einfallen und wo nicht. (NDm24) Es ist natürlich gut, wenn man merkt, wie schlecht die eigene Interviewsituation ist. Ich meine, ich habe nicht erwartet, dass ich gut abschneide, aber ich habe nicht erwartet, dass es so schlecht ist. Eine fünf statt einer vier, die ich erwartet hätte, so ungefähr. (NDm28)
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Befragten (n = 6) sich innerhalb der virtuellen Umgebung Interaktionsmöglichkeiten von Seiten der Interviewenden auf ihr Handeln wünschen. Also eine Frage habe ich halt akustisch nicht verstanden und dann konnte ich nichts antworten. Das habe ich auch gefragt „wie war die Frage?“, aber, da kam ja dann natürlich nichts zurück. (NDm24)
Ein geringer Teil der Befragten bewertet die 360°-Jobinterviews als weniger nützlich (n = 3) und stellt fest, dass eine reale Erfahrung eines Jobinterviews dadurch nicht ersetzt werden kann. 4.4.2
Hauptkategorie Schwierigkeiten verbunden mit der Technologie (18 Codes)
In der zweiten Hauptkategorie werden Schwierigkeiten aufgeführt, die aus Sicht der Befragten mit der Technologie verbunden sind. Als Hauptschwierigkeit wurde die zur Verfügung stehende Redezeit für die Antworten genannt (n = 12). Beim Beantworten der Frage bräuchte ich etwas mehr Zeit. Bei manchen Fragen musste ich die Antwort schneller aussprechen, um fertig zu antworten. (NDm20) Ansonsten diese Pausen, die entstehen, wenn die eigene Antwort zu kurz ist oder dass man unterbrochen wird, wenn sie zu lange ist. (NTm35)
Für eine kleine Anzahl war das Gewicht der VR-Brille (n = 2) eine Schwierigkeit, sowie die Anstrengung der Augen (n = 2).
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4.4.3
Hauptkategorie Entwicklungsperspektiven zur Technologienutzung (21 Codes)
In der dritten Hauptkategorie nannten die Befragten Möglichkeiten zur Optmierung der Anwendung. Als Hauptaspekt zur Verbesserung wurden adaptive Antwortphasen genannt (n = 6). Ich finde es schwer, was diese Pausen angeht, die man immer lässt. Was die Dauer angeht, ob man da irgendwie noch selber was ändern kann oder ob es irgendwie noch so eine Möglichkeit gibt, quasi einzuschreiten, dass dann irgendwie noch so ein zweites vorprogrammiertes Gespräch irgendwie abläuft oder so. (NTw20)
Das Ermöglichen von Reaktionen oder Interaktion mit dem Video (n = 5) wurde als weitere Möglichkeit zur Verbesserung aufgeführt. Wenn es die Möglichkeit gäbe, dass eine Interaktion ermöglicht. Also, dass dann über eine KI Antwortalternativen aufgezeigt werden. (NTm42)
Weitere Personen nannten Entwicklungsperspektiven hinsichtlich der Erweiterung der Szenarien der Anwendung (n = 10). Wenn man noch reinlaufen würde, das würde es glaube ich noch verbessern, wenn man nicht nur dasitzt. (NTw22) Dass man vielleicht auch mal etwas wirklich Stressiges reinpackt ( Job Speed-Dating) und vielleicht irgendwo einen Timer oder irgendwas in der Richtung. (NDm18)
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Zusammenfassung und Diskussion
Bislang lagen nach den uns vorliegenden Daten keine Befunde zur Nutzung der beschriebenen 360°-Technologie in der Egoperspektive für Personen im Autismus-Spektrum (PiAS) für die Situation eines Vorstellungsgespräches vor. Im Rahmen der Pilotierungsstudie zu ViJo360 werden erste Befunde zur grundsätzlichen Eignung von 360°-Videos in VR (Nutzung als Bewerbende/r in der Egoperspektive) zur Vorbereitung auf Vorstellungsgespräche für PiAS und einer neurotypischen Vergleichsgruppe präsentiert und Optimierungspotenziale der Anwendung identifiziert. Dabei steht die Beantwortung der Fragen im Fokus, wie Personen im Autismus-Spektrum die Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben von 360°-Videos im Kontext der Verbesserung der individuellen Jobinterviewperformance bewerten (Forschungsfrage 1). Zweitens interessiert, ob aufgrund der Wahrnehmungsbesonderheiten Unterschiede in der Wahrnehmung der mentalen Beanspruchung der Anwendung sowie der Bewertung der Schwierigkeitsmerkmale innerhalb der Videos zwischen neurodiversen und neurotypischen Probanden bestehen (Forschungsfrage 2). Drittens wurde der Frage
360 Grad-Videos in virtueller Realität zur Vorbereitung auf Jobinterviews
nachgegangen, wie nützlich PiAS 360°-Videos in VR in Hinblick auf die Verbesserung der Performance in realen Jobinterviews bewerten und welches Optimierungspotenzial sich damit verbindet (Forschungsfrage 3). Nachfolgend werden die zentralen Ergebnisse, Limitationen der Studie und die Befunde im Hinblick auf Forschungsdesiderata diskutiert. 5.1
Zentrale Ergebnisse
In Bezug auf die Ergebnisse der ersten Forschungsfrage ist zu konstatieren, dass die Skalenwerte zur Technologieakzeptanz, Immersion und Präsenzerleben eine im Durchschnitt mittlere bis hohe Bewertung durch die Befragten aufweisen. Daraus resultiert, dass neurodiverse und neurotypische Personen die 360°-Video in VR Anwendung als positiv wahrnehmen. Die hohen Werte bei der Nützlichkeit lassen den Rückschluss zu, dass die Anwendung ViJo360 zum Zweck der Vorbereitung auf reale Anforderungssituationen als hilfreich durch die Probanden bewertet wird. Die Ergebnisse der Subgruppenvergleiche zeigen keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich eines Einflusses der Autismus-Spektrum-Diagnose auf die Bewertung der nutzungsbezogenen Konstrukte. Dieses Ergebnis könnte jedoch auch auf die geringe Stichprobengröße zurückgeführt werden. In Hinblick auf die Schwierigkeitsmerkmale innerhalb der Anwendung wird das Schwierigkeitsmerkmal Interaktion (Es fiel mir schwer, flexibel zu reagieren, zu antworten und mich auszudrücken) mit den höchsten Werten angegeben, gefolgt vom Zeitdruck. Die Ergebnisse der Betrachtung der Schwierigkeitsmerkmale der einzelnen Videos belegen, dass Jobinterview eins hinsichtlich der enthaltenen Schwierigkeitsmerkmale als am einfachsten und Jobinterview drei als am schwierigsten durch die Probanden bewertet wurde. Jobinterview eins ist eher informell gehalten, ohne zusätzliche Stimuli und mit vorwiegend geschlossenen Fragen oder mit solchen, die Antwortalternativen enthalten. In Jobinterview zwei wurden sukzessive mehr Reize eingebunden (Interviewende Person kommt zu spät, Unterbrechung durch das Klingeln eines Telefons) und enthält vermehrt offene Fragestellungen. In Interview drei sehen sich die potenziellen Bewerbenden drei am Gespräch beteiligten Personen gegenübersitzend, es enthält sowohl Stress-, hypothetische- und offene Fragen und partiell eine bildhafte Sprache. Zusätzlich wird das Gespräch durch auditive Reize (Baustellengeräusch) und eine in den Raum kommende Person unterbrochen. Die Ergebnisse der Subgruppenvergleiche zeigen, dass neurodiverse Probanden die Schwierigkeitsmerkmale innerhalb der Gesamtanwendung (V1, V2 und V3) insgesamt höher bewerten als die neurotypische Vergleichsgruppe. Insbesondere die Schwierigkeitsmerkmale in Jobinterview 1 und 2 wurden durch die neurodiversen Teilnehmenden als schwieriger bewertet. Vor allem die Gesprächseinbindung (Wie ich in das Gespräch im Szenario eingebunden wurde, empfand ich als schwierig) stellt für die neurodiversen Personen eine größere Schwierigkeit dar als für die neuroty-
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pischen Probanden. Auch die Gesamtdauer der Anwendung (Die Gesamtdauer des Szenarios stellte für mich eine Schwierigkeit dar) erweist sich für die neurodiversen Probanden als schwieriger als für die neurotypischen Teilnehmenden. Die Ergebnisse zur mentalen Beanspruchung weisen keine signifikanten Unterschiede zwischen den Subgruppen auf. Insgesamt wird die Beanspruchung durch die Anwendung als niedrig angegeben. Die Ergebnisse zur zweiten Forschungsfrage belegen resümierend einerseits, dass die unterstellten und implementierten Schwierigkeitsmerkmale geeignet erscheinen, um unterschiedliche Anforderungssituationen abzubilden und dass Unterschiede in der Wahrnehmung zwischen neurodiversen und neurotypischen Personen hinsichtlich der Schwierigkeitsmerkmale feststellbar sind. Zum Zweck der Validierung der auf der Basis von subjektiven Verfahren gewonnenen Ergebnisse und um die Anzahl der Stressmomente innerhalb der Gruppen zu ermitteln und Stressauslösende Faktoren zu identifizieren, wurden zusätzlich objektive Daten erfasst. Diese Daten befinden sich derzeit noch in der Auswertung und sind bei der Ergebnispräsentation zu berücksichtigen. Für Forschungsfrage zwei (FF2) kann somit resümiert werden, dass sich die Schwierigkeitsmerkmale der Anwendung ViJo360 eignen, um unterschiedliche Anforderungssituationen abzubilden und dass Unterschiede in der Wahrnehmung der Schwierigkeitsmerkmale zwischen neurotypischen und neurodiversen Personen bestehen. Die Ergebnisse zur dritten Forschungsfrage belegen, dass die befragten Personen die virtuellen Jobinterviews als Übungsmöglichkeit zur Vorbereitung auf reale Jobinterviews in einem geschützten Bürosetting als nützlich wahrnehmen. Zudem wird das Ermöglichen eines Einblickes über den möglichen Ablauf und die Anforderungen innerhalb eines Jobinterviews als nützlich erachtet. Positiv wurde auch die Möglichkeit zur Reflexion über die eigenen Fähigkeiten durch die virtuelle Anwendung erachtet, um bspw. Artikulationshemmnisse zu identifizieren oder Fragen, auf die ad hoc keine schnelle Antwort geliefert werden kann. Resümierend deuten die Ergebnisse der Pilotierungsstudie darauf hin, dass die Testteilnehmenden gegenüber der fokussierte VR-Anwendung zur Nutzung im Kontext der Vorbereitung auf reale Jobinterviews aufgeschlossen sind und diese als nützlich erachten. Da die Nützlichkeit der Anwendung auch von den neurotypischen Personen hoch bewertet wurde, wäre durchaus denkbar, diese im schulischen Kontext, bspw. in Abschlussklassen zur Vorbereitung auf reale Jobinterviews einzubeziehen. Insbesondere für Personen, die bis dato noch kein Jobinterview hatten, könnte die ViJo360 nützlich sein. 5.2
Limitationen und kritische Reflexion
Einschränkungen in der vorliegenden Forschungsarbeit sind in zweierlei Hinsicht in Hinblick auf die Zielgruppe zu konstatieren. Zum einen ist die Aussagekraft der Befunde aufgrund des generierten Stichprobenumfanges begrenzt, zum anderen stellt sich das Geschlechterverhältnis als unausgewogen heraus. Vor dem Hintergrund der he-
360 Grad-Videos in virtueller Realität zur Vorbereitung auf Jobinterviews
terogenen Stichprobe wurden die Jobinterviewszenarien berufsunspezifisch und sehr allgemein in Hinblick auf die Anstellungsart konzipiert, sodass fachbezogene Inhalte nicht berücksichtigt werden konnten. In einer Bewerbungssituation sind diese möglicherweise jedoch relevant. Denkbar wäre, die Anwendung, um Szenarien zu erweitern, die auf spezifische Berufsfelder oder Tätigkeiten zugeschnitten sind und in denen die zusätzliche Anforderung besteht, auch Fragen fachlicher Art zu beantworten. 5.3 Ausblick
Die Befunde der Pilotierungsstudie zeigen Entwicklungspotenzial hinsichtlich des Ausbaues von Interaktionsmöglichkeiten, adaptiven Antwortphasen und einer Reak tion von Seiten der Interviewenden auf das Handeln der Bewerbenden Personen. Denkbar wäre, mittels Spracherkennung oder einer KI-Applikation die Antwortphasen zu regulieren. Jedoch besteht dann die Gefahr, dass die Personen zu ausschweifende oder zu knappe Antworten auf die Interviewfragen liefern. Die in dieser Arbeit beschriebene Untersuchung liefert Anhaltspunkte für zukünftige Forschungsarbeiten. Im Rahmen einer Interventionsstudie mit einem pädagogischen Konzept wäre es interessant zu untersuchen, inwiefern durch eine professionelle Betreuung und eine Reflexion der Verhaltensweisen und der Antworten tatsächlich eine Verbesserung der Performance von PiAS mit Hilfe der 360°-Lernumgebung erzielt werden kann und inwiefern, verbunden damit, Artikulationshemmnisse tatsächlich bewältigt, Handlungsabläufe trainiert, Ängste vor der Bewerbungssituation verringert und potentiell schwierige Fragestellungen identifiziert und verständlicher gemacht werden können. Literatur
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Interdisziplinäre Perspektiven auf Lernen mit Mixed Reality Empirische Erkenntnisse und theoretische Reflexionen
CAMILL A WEHNERT / JULIA FRANZ
Zusammenfassung: Im Rahmen eines BMBF geförderten Forschungsprojekts sind häufig unter-
schiedliche Kooperationspartner aus Wissenschaft und Praxis beteiligt. Im Rahmen des Forschungsprojekts MRiLS* wird ein digitales Schulungskonzept für Schulungen im Maschinen- und Anlagenbau in Beteiligung verschiedener Projektpartner und Fachdisziplinen entwickelt. Vor diesem Hintergrund stellt der Beitrag eine qualitative Bedarfsanalyse vor, in der u. a. die spezifischen Potenziale und Herausforderungen eines digitalen Schulungskonzepts unter Berücksichtigung der jeweiligen organisationalen und disziplinären Hintergründe ausgewertet und theoretisch reflektiert werden. Schlüsselwörter: Mixed Reality, Schulungsszenarien, Interdisziplinarität, interdisziplinäre Zusammenarbeit Interdisciplinary Perspectives on Learning with Mixed Reality Empirical Findings and Theoretical Reflections Abstract: Within the framework of a BMBF-funded research project, different cooperation part-
ners from science and practice are often involved. In the MRiLS research project, a digital training concept for training in mechanical and plant engineering is being developed with the participation * Das
Verbundprojekt „Hybrides Interaktionskonzept für Schulungen mittels Mixed Reality in the Loop Simulation“ (MRiLS) wird in Kooperation mit den industriellen Projektpartnern der ISG Industrielle Steuerungstechnik GmbH (Koordinator) und dem Ingenieurbüro Roth GmbH & Co. KG und den wissenschaftlichen Projektpartnern Otto-Friedrich Universität Bamberg, Professur für Erwachsenenbildung und Weiterbildung, der Universität Stuttgart, Institut für Steuerungstechnik der Werkzeugmaschinen und Fertigungseinrichtungen (ISW) und der Hochschule Esslingen, Virtual Automation Lab (VAL) durchgeführt. Das diesem Bericht zugrundeliegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 16SV8344 bis 16SV8348 gefördert. Wir danken dem BMBF für diese Förderung. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autorinnen.
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of various project partners and disciplines. Against this background, the article presents a qualitative needs analysis in which, among other things, the specific potentials and challenges of a digital training concept are evaluated and theoretically reflected, taking into account the respective organizational and disciplinary backgrounds. Keywords: Mixed Reality, training scenarios, interdisciplinarity, interdisciplinary collaboration
1 Einleitung
Gesellschaftliche Wandlungsprozesse sind derzeit in aller Munde. Neben den verschiedenen herausfordernden Krisen hinsichtlich des Klimawandels oder des Krieges wird Digitalisierung – nicht erst seit der Pandemie, aber durchaus durch sie befördert – intensiv diskutiert. Sie gilt als sogenannter gesellschaftlicher Megatrend (vgl. z. B. Bosse & Zink 2019). Das bedeutet, dass das entsprechende Phänomen dauerhaft relevant und weltweit beobachtbar ist, einen hohen Grad an Komplexität aufweist und alle Lebensbereiche betrifft. Digitalisierung bezieht sich in erheblichem Maße auch auf die Bereiche Bildung und Lernen und die damit verbundenen Institutionen. Neben der Entwicklung im klassischen Schul- und Hochschulbereich erscheinen Digitalisierungsprozesse für eine betriebliche Weiterbildung im Kontext einer sogenannten Industrie 4.0 von besonderer Relevanz (vgl. z. B. Andelfinger & Hänisch 2017; Botthof & Hartmann 2015). Hier steht weniger der didaktisch sinnvolle Einsatz von digitalen Tools und Learning-Managementsystemen im Mittelpunkt, sondern vielmehr die Relation und Interaktion von Mensch, Maschine und Technik. Dabei wird aktuell insbesondere der Blick auf den Einsatz von Mixed Reality-Technologien im Kontext der betrieblichen Weiterbildung gerichtet. So können hier durch den Einsatz Digitaler Zwillinge von realen Maschinen neue Formen der Visualisierung für Schulungszwecke entwickelt (vgl. z. B. Link & Hamann 2019; Winkler, Schumann & Klimant 2019) oder weitere Mixed Reality Devices in produzierenden Betrieben z. B. im Maschinen- und Fahrzeugbau genutzt werden (vgl. z. B. Gensicke et al. 2016; Häßlich & Dyrna 2019; Jadin 2017; Sirakaya & Alsancak 2018). Ein konkreter Blick auf den Forschungsstand zum Einsatz von und Lernen mit Mixed Reality zeigt zunächst, dass das Interesse an virtuellen Lernanwendungen im (betrieblichen wie auch beruflichen) Bildungsbereich insgesamt groß zu sein scheint und mit vielfältigen Potenzialen verbunden wird. So wird beim Lernen in einer Mixed Reality-Lernumgebung beispielsweise eine Verbesserung von Handlungskompetenzen und theoretischem Wissen im Hinblick auf komplexe Systeme prognostiziert und Vorteile in der Visualisierung und Simulation von schwer zugänglichen Objekten und verschiedener Anwendungssituationen verbunden (vgl. z. B. Guo 2015; Bruns 2003). Auch zeigt eine Literaturanalyse von Radianti et al. (2020), dass immersive VR-Technologien als vielversprechendes Werkzeug für die Hochschulbildung betrachtet werden. Allerdings erfolge der Einsatz bisher eher experimentell und punktuell. Anwendungsevaluierungen bezogen sich dabei vornehmlich
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auf Aspekte der Nutzerfreundlichkeit (vgl. Radianti et al. 2020, S. 26). So wird von den Autor*innen u. a. empfohlen, bei Evaluationen von künftigen VR-Anwendungen den Wissens- und Kompetenzzuwachs der Lernenden zu berücksichtigen sowie neben der technischen Machbarkeit auch die Lernergebnisse aus einer pädagogischen Perspektive mit einzubeziehen (vgl. ebd., S. 22). So kommt auch Prange (2021, S. 235) zur Schlussfolgerung, dass der Lernzuwachs noch nicht systematisch erforscht worden sei. Daneben werden aber auch immer wieder auf die technischen sowie pädagogischen Herausforderungen beim Lernen in der Mixed Reality verwiesen (vgl. Guo 2015). So wird beispielsweise betont, dass die Erstellung von Mixed Reality-Lernumgebungen mit einem hohen Entwicklungsaufwand verbunden sind und Lernszenarien häufig ohne spezifische, komplexe Interaktionsmöglichkeiten oberflächlich bleiben (vgl. Prange 2021). In einer Vergleichsstudie von Parong & Mayer (2018), in der die Wirksamkeit einer VR-Lernumgebung mit einer Powerpoint-Präsentation zur Vermittlung von naturwissenschaftlichem Wissen mit zwei Lerngruppen verglichen wurde, konnte gezeigt werden, dass der Einsatz von immersiven VR-Lernumgebungen nicht automatisch zu einem höheren Lernzuwachs führt. So sei dieser bei der Lerngruppe, bei der die wissenschaftlichen Informationen über eine VR-Anwendung vermittelt wurden, signifikant geringer als bei der Gruppe, der Inhalte über eine Powerpoint-Präsentation präsentiert wurden (vgl. Parong & Mayer, s. ausführlicher auch Heindl & Pittich in diesem Band). Neben diesen Erkenntnissen zeigt sich, dass auch im Prozess der Ausbildung und Arbeit Lernmöglichkeiten von virtuellen Technologien entwickelt und erprobt werden, wie z. B. die Entwicklung von Augmented Reality-Lernanwendungen für einen Betrieb der Druckindustrie (vgl. Fehling 2017 „Social Augmented Learning“) sowie die Entwicklung eines Aus- und Weiterbildungskonzepts für den Einsatz von Datenbrillen (vgl. Thomas et al. 2018 „GLASSROMM“). Dabei zeigt sich, dass in bisherigen Studien zu immersiven Technologien häufig die Usability, das Immersionserleben oder Motivationsaspekte (vgl. u. a. Kerres et al. 2021, Bacca et al. 2014) oder die Bereitstellung von Creatoroberflächen und Autorentools für die Gestaltung und Vermittlung von Inhalten (z. B. Fehling 2017; Thomas et al. 2018) fokussiert werden. Entsprechend wird u. a. auch hier darauf verwiesen, dass Lernen nicht automatisch allein mit dem Eintauchen in virtuell angereicherte Welten bzw. mit einem höheren Grad an Immersion (vgl. Buchner 2022) erfolgt und es mediendidaktischer Konzepte und Kompetenzen bedarf (vgl. u. a. Fehling 2017; Thomas et al. 2018; Kerres 2018; Buchner & Aretz 2020). Zusammenfassend zeigt sich, dass gerade im Bereich der betrieblichen Weiterbildung in der Industrie virtuellen Lernumgebungen vielfältige Potenziale zugeschrieben werden, da realitätsnahe und gefahrlose Lernhandlungen ermöglicht oder der Transfer von komplexen Fertigkeiten begünstigt werden könnten (vgl. Hochberg et al. 2017; Dunleavy & Dede 2014; Wehnert et al. 2021). Gleichzeitig wird auch auf Hemmnisse verwiesen, was beispielsweise fehlende Ausstattung, technische Hürden oder didaktische Herausforderungen betrifft (vgl. u. a. Niegemann & Niegemann 2018; Prange
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2021), die auch auf die Bedeutung der Kontextualisierung von Mixed Reality-Elementen in konkreten Lehr- und Lernsettings verweisen. Gerade damit gewinnt in der Forschung zu und Entwicklung von Lehr-und Lernszenarien ein interdisziplinäres Zusammenarbeiten zwischen Technik und Pädagogik eine besondere Relevanz, da letztlich eine funktionale Notwendigkeit zur Interdisziplinarität entsteht. Schließlich haben Ingenieur*innen, Mechatroniker*innen und Maschinenbauer*innen in der Regel wenig Wissen über die fachlich versierte Gestaltung von Lernumgebungen. Umgekehrt verfügen Pädagog*innen tendenziell über rudimentäres technologisches Wissen. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wird interdisziplinäre Zusammenarbeit wissenschaftlich (vgl. Wissenschaftsrat 2020) und gesellschaftlich (vgl. Euler 2005) eingefordert. Interdisziplinarität wird in Diskursen häufig konzeptionell beschrieben und beispielsweise von einer nebeneinander herlaufenden Multidisziplinarität abgegrenzt (vgl. Jungert 2010; Sukopp 2010). Gleichwohl zeigt sich in den entsprechenden Debatten auch, dass Interdisziplinarität bzw. konkretes interdisziplinäres Arbeiten mit zahlreichen Herausforderungen einhergeht, von denen immer wieder der hohe Kommunikationsaufwand betont wird (vgl. z. B. Vollmer 2010; Defila & Di Giulio 1998). Konkrete Forschungen zum Erleben von Interdisziplinarität in Projekten, in denen beispielsweise technologische und pädagogische Perspektiven zusammentreffen, exis tieren jedoch kaum. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Rolle verschiedene disziplinäre Perspektiven in der Entwicklung von Mixed Reality-Lernszenarien im Kontext von interdisziplinären Entwicklungsprojekten spielen. Um sich dieser Frage in diesem Beitrag anzunähern, wird Bezug auf die Begleitforschung eines interdisziplinären BMBF-Projekts mit Beteiligten aus den Bereichen Wissenschaft, Industrie und Bildung genommen, bei dem auf Basis Digitaler Zwillinge Schulungsszenarien mit Mixed Reality-Elementen entwickelt werden sollen. In der Begleitforschung wurde – neben einer formativen Evaluation der Zusammenarbeit – zu Beginn eine qualitative Bedarfsanalyse durchgeführt, mit der die recht offene Fragestellung verfolgt wurde, welche Potenziale und Herausforderungen Akteur*innen aus den organisationalen und disziplinären Bereichen der beteiligten Projektpartner mit der Entwicklung entsprechender Schulungsmöglichkeiten verbinden. In den Ergebnissen dieser Bedarfsanalyse und den Beobachtungen der begleitenden formativen Evaluation wurden nicht nur die adressierten Potenziale und Herausforderungen sichtbar. Vielmehr wurde es möglich, auch die Bedeutung der unterschiedlichen disziplinären und organisationalen Perspektiven zu reflektieren. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden zunächst das methodische Vorgehen der Bedarfsanalyse (2) und anschließend die Ergebnisse der empirischen Erhebung (3) vorgestellt. Daran anknüpfend erfolgt eine theoretische Reflexion der zentralen Ergebnisse (4), bevor der Beitrag mit einem Ausblick (5) abgerundet wird.
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Methodisches Vorgehen
Im Folgenden wird das methodische Vorgehen beschrieben, indem zunächst der Forschungskontext (2.1) und daran anschließend das Forschungsdesign (2.2) dargestellt werden. 2.1 Forschungskontext
Den Forschungskontext bildet das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt „Mixed Reality in the loop Simulation“, kurz „MRiLS“, in dem es darum geht, in Kooperation von technologischer Wissenschaft, KMU aus der Industrie und pädagogisch-didaktischer Wissenschaft und Praxis ein Schulungskonzept zur Aus- und Weiterbildung von technischen Fachkräften zu entwickeln. Ziel des Verbundprojekts ist es, auf Basis konkreter Anwendungsfälle der KMU-Partner, Mixed Reality-Lernszenarios zu Schulungszwecken im Maschinen- und Anlagenbau zu entwickeln. Dabei soll die Interaktion zwischen Mensch und Maschine in Lernsituationen erforscht werden, um das didaktische Potenzial von Augmented und Virtual Reality für betriebliche Lehr- und Lernsituationen zu reflektieren. Die Innovation des Projekts besteht darin, dass die Lernenden sowohl mit der realen Hardware, also z. B. dem realen Bedienfeld einer Maschine, als auch mit dem virtuellen Simulationsmodell interagieren. Die Reaktion auf diese Interaktion erlebt der Mensch dann über eine Visualisierung mittels der Mixed Reality-Verfahren, d. h. dass die Lernenden die realen Anlagen ansteuern und dabei eine virtuelle Simulation der realen Reaktion der Maschine erhalten.1 Als beispielhafter Anwendungsfall wird dabei das Automatisierungssystem „Schulungslader“, bestehend aus einem Linienportal mit zwei translatorischen Achsen und einem pneumatischen Greifer, umgesetzt. Der Schulungslader wurde als Lerngegenstand ausgewählt, da er als Beispiel einer einfachen Standardanwendung fungiert und auf verschiedene Anwendungen übertragbar ist. Mit dem Modell können einfache Programmübungen durchgeführt werden. Gleichzeitig kann das Portal um beliebige Komponenten (wie z. B. einen Roboter) erweitert werden, wodurch verschiedene Interaktionen zwischen realen und virtuellen Komponenten kombiniert werden können. Der Schulungslader (s. Abb. 1) bildet die Grundlage für das Lernszenario und die Struktur des Schulungsprozesses.
1 Vgl. dazu ausführlicher die Projektpublikationen Hönig et al. 2021; Hönig et al. 2022; Franz & Wehnert
2020; Wehnert et al. 2021.
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Abb. 1 Beispielhafter Einsatz des Schulungsladers in Virtual Reality (vgl. Hönig et al. 2022).2
Die Abbildung zeigt einen beispielhaften Einsatz der Simulation des Schulungsladers in Virtual Reality. Über eine Virtual Reality-Brille können Lernende mit dem virtuellen Simulationsmodell interagieren. Eine Interaktion ist ebenso mit Tablets, Smartphones oder Augmented Reality Devices möglich. 2.2 Forschungsdesign
Durch die pädagogisch-didaktisch orientierte Begleitforschung wurde zu Projektbeginn eine Bedarfsanalyse durchgeführt, um die unterschiedlichen Perspektiven von Akteur*innen aus den Kreisen der beteiligten Felder (technologische Wissenschaft, KMU aus Industrie, berufspädagogische Praxis) zu erfassen. Dabei wurde die offene Fragestellung verfolgt, welche Potenziale und Herausforderungen die unterschiedlichen Akteur*innen mit der Entwicklung von Mixed Reality-Lernszenarien verbinden und welche Rolle dabei die unterschiedlichen disziplinären Perspektiven spielen. Die Datenerhebung erfolgte dabei durch leitfadengestützte Interviews (vgl. Helfferich 2019). Basierend auf Erkenntnissen des Forschungsstandes zur Integration von Elementen der Augmented und Virtual Reality in Lernumgebungen (vgl. Dunleavy & Dede 2014; Thomas et al. 2018; Jadin 2017) wurden systematisch Leitfragen zu den Herausforderungen und Potenzialen, zu den Anforderungen an die inhaltliche und methodische Entwicklung entsprechender Schulungsformate, zur Bedeutung der Interaktion im Lernprozess sowie zu möglichen Zielgruppen entwickelt und zur Strukturierung der Gespräche genutzt. Die Interviews wurden im Zeitraum von Juli bis Oktober 2020 – aufgrund der Corona-Pandemie – virtuell über die Plattformen Teams
2 Zu den technologischen Spezifikationen siehe auch die technische Projektveröffentlichung Hönig et al.
2021.
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und Zoom durchgeführt und dauerten jeweils zwischen ca. 35 und 126 Minuten. Das Sample setzt sich aus zehn Akteur*innen aus den Bereichen technologische Wissenschaft, KMU aus Industrie und berufspädagogischer Praxis zusammen (s. Tab. 1). Tab. 1 Das Sample im Überblick Akteur*innen des MRiLS-Projekts
Disziplinäre Verortung (Ausbildung/ fachliche Expertise)
Organisationale Verortung
Interview MRiLS_1
Ingenieurswissenschaft & Mechatronik
Technologische Wissenschaft
Interview MRiLS_2
Ingenieurswissenschaft & Maschinenbau
Technologische Wissenschaft
Interview MRiLS_3
Technikpädagogik
Technologische Wissenschaft
Interview MRiLS_4
Ingenieurswissenschaft & Steuerungstechnik
KMU-Industrie
Interview MRiLS_5
Ingenieurswissenschaft & Steuerungstechnik
KMU-Industrie
Interview MRiLS_6
Ingenieurswissenschaft & Steuerungstechnik
KMU-Industrie
Interview MRiLS_7
Ingenieurswissenschaft & Steuerungstechnik
KMU-Industrie
Interview MRiLS_8
Ingenieurswissenschaft & Steuerungstechnik
KMU-Industrie
Interview MRiLS_9
Berufliche Bildung mit Fachrichtung Elektrotechnik & Metalltechnik
Beruflicher Bildungsbereich
Interview MRiLS_10
Ingenieurswissenschaft & Steuerungstechnik
Technologische Wissenschaft
Quelle: Eigene Erstellung
Die Übersicht über das Sample zeigt, dass hier eine disziplinäre Perspektive der Ingenieurswissenschaften im Bereich Steuerungstechnik überwiegt, während eine (technik)pädagogische Perspektive nur durch zwei Interviewpartner*innen repräsentiert wird. Die Datenauswertung erfolgte mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Flick 2011; Kuckartz 2012), deren Ziel in der Systematisierung und Strukturierung expliziter Wissensbestände besteht. Entsprechend wurden vor der Auswertung alle Audio-Aufzeichnungen in Anlehnung an die Transkriptionsregeln nach Kuckartz (2012) transkribiert und anonymisiert. Im zweiten Schritt erfolgte die systematische Codierung der Transkripte, um thematische Kategorien zu bilden und Kernthemen des gesamten empirischen Materials zu bündeln. Dieser Prozess erfolgte in mehreren Schleifen und wurde intersubjektiv durch die Besprechung der Zwischenergebnisse in einer Interpretationsgruppe an der Universität Bamberg abgesichert, um so auch den Gütekriterien qualitativer Sozialforschung nach intersubjektiver Nachvollziehbarkeit (vgl. Steinke 2015) gerecht werden zu können. In der inhaltsanalytischen Auswertung der Interviews konnten insgesamt sieben Hauptkategorien herausgearbeitet werden, die
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sich in verschiedene Subkategorien sowie weitere Sub-Subkategorien3 ausdifferenzieren (s. Abb. 2).
Abb. 2 Überblick Kategoriensystem, eigene Erstellung
So wurde das Material im Hinblick auf die Potenziale und Herausforderungen, die mit der Entwicklung des digitalen Schulungskonzepts verbunden werden, systematisiert. Weiterhin wurde ausgewertet, wie sich die Projektbeteiligten die didaktische und technologische Gestaltung der Lernumgebung sowie die Interaktionsprozesse vorstellen. Die Ergebnisse zeigen außerdem, welche Anforderungen die Beteiligten an das Konzept stellen, wie die Lerninhalte strukturiert werden können und welche Bedeutung für die unterschiedlichen Zielgruppen der Schulung abgeleitet werden. Neben der Bedarfsanalyse erfolgte durch die Begleitforschung auch eine arrondierende formative Evaluation der interdisziplinären Zusammenarbeit. Einerseits wurden dabei schriftliche Befragungen aller Beteiligten zu unterschiedlichen Projektzeitpunkten durchgeführt. Zum anderen wurden kontinuierliche Reflexionen der (in)for mellen Arbeitstreffen dokumentiert. Dabei konnte herausgearbeitet werden, dass das Kennenlernen unterschiedlicher Organisations- und Arbeitsstrukturen sowie Einblicke in fachfremde Disziplinen als bereichernd, gleichzeitig aber das Zusammendenken aller Perspektiven im Gesamtkontext des Projekts als herausfordernd betrachtet
3 Zur Übersichtlichkeit wurde auf die Darstellung der Sub-Subkategorien verzichtet.
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wurde. Die Herausforderung bestand beispielsweise auch darin, die technologischen Möglichkeiten in den Kontext pädagogischer Settings und Zielperspektiven zu kontextualisieren (vgl. auch Heindl & Pittich in diesem Band). 3
Ergebnisse der Analyse
In der inhaltsanalytischen Auswertung der Interviews aus der Bedarfsanalyse konnten insgesamt sieben Hauptkategorien systematisiert werden. In diesem Kapitel werden zunächst Aussagen der Interviewpartner*innen im Hinblick auf die Potenziale des Schulungskonzepts (3.1), die Herausforderungen an das Schulungskonzept (3.2) und die technologischen und didaktischen Gestaltungsvorstellungen der Lernumgebung (3.3) vorgestellt, bevor die kategorisierten Aussagen zur Interaktion im Lernprozess (3.4) detailliert beschrieben werden. Anschließend werden die Anforderungen an das Schulungskonzept (3.5) dargestellt, die Strukturierung der Schulungsinhalte (3.6) betrachtet und schließlich die Zielgruppen der Schulung beleuchtet (3.7). Dazu werden diese sieben Hauptkategorien nachfolgend gebündelt und anhand ausgewählter und für die Fragestellung relevanter Subkategorien beschrieben. 3.1
Potenziale des Schulungskonzepts
In der Analyse wurde zunächst deutlich, dass die Befragten hinsichtlich des digitalen Schulungsmodells zahlreiche Potenziale sehen. Als erste Subkategorie konnte hier die Möglichkeit der Entwicklung eines nachhaltigen und wettbewerbsfähigen Geschäftsmodells herausgearbeitet werden. So wird ein wichtiges Potenzial darin gesehen, dass das Simulationsmodell für die Schulung nicht neu erschaffen werden müsse: „[…] aber ich fange nicht immer bei Null an, sondern ich nehme Modelle mit, die schon mal entstanden sind. Und wenn doch schon in der VIBN dort ein Zwilling entsteht, warum nehme ich dann den nicht einfach für eine Schulung? […] dann ist eben der Aspekt da, schon wenn der Kunde sein Angebot abgibt oder sein Angebot bekommt, hat sich eigentlich das Schulungskatalog schon direkt zusammengeschaltet. Man hat dort keine Aufwände mehr, den Schulungs- man hat nur immer modulweise, wenn ich ein neues Modul in meine Produktpalette nehme, dann muss ich halt, habe ich den Initialaufwand für dieses Modul eben auch eine Schulung zu hinterlegen. Aber das setzt sich automatisch zusammen. Ich glaube, das ist ein riesen Vorteil“ (Interview MRiLS_4, Z. 1161–1174).
In diesem Zitat eines Befragten aus dem Bereich Steuerungstechnik/KMU-Industrie zeigt sich die Vorstellung, dass bereits entwickelte Produkte – z. B. der Digitale Zwilling aus der virtuellen Inbetriebnahme – einen zusätzlichen Verwendungszweck erhalten, indem sie als Grundlage für Schulungen genutzt werden sollen. Insbesondere die
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Befragten mit industriellem organisationalem Hintergrund sehen darin die Möglichkeit, ein Geschäftsmodell zu etablieren, da den Kunden nicht nur Digitale Zwillinge, sondern auch Schulungsmaterialen zur Verfügung gestellt werden könnten. Ein weiteres Potenzial wird mit der Subkategorie der realistischen Simulation beschrieben. So wird betont, dass sich das Simulationsmodell durch die Mixed Reality so bewege und verhalte, wie die reale Anlage (vgl. Interview MRiLS_1, Z. 76 f.). Hervorgehoben wird von einem Befragten aus dem Bereich Technikpädagogik/Technologische Wissenschaft die damit verbundene Möglichkeit der direkten Abbildung der realen Anlage: „Und eben was auch super ist, dass irgendwie doch die reale Maschine direkt gezeigt wird, also diese einzelnen Komponenten eins zu eins so dargestellt werden in dieser Virtualität, wie es halt in der realen, in der Realität auch eben ist. Und das ist der große Vorteil von diesem digitalen Zwilling, der da nachher auch verwendet wird. Also, dass da auch Arbeitsprozesse, die an der realen Maschine ablaufen, genauso an diesem, an der Simulation dann nachher laufen. So quasi eine eins zu eins Abbildung von, von, von der echten Maschine, die aber keine größeren Probleme dann macht immer, wenn man irgendwas falsch macht“ (Interview MRiLS_3, Z. 816–824).
Daraus geht hervor, dass der Aufbau von komplexen Anlagen eins zu eins virtuell abgebildet werden könnte. In der Subkategorie der Mensch-Maschine-Interaktion werden außerdem neue Interaktionsmöglichkeiten zwischen Mensch und Maschine als chancenreich betrachtet. So könne durch neue Technologien wie Virtual, Augmented und Mixed Reality eine Interaktion über Gesten und Tracking hergestellt werden, wodurch es möglich sei, die Maschine von allen Seiten genau zu betrachten und in sie eingreifen zu können (vgl. Interview MRiLS_10, Z. 68–78). Aus Sicht der befragten Person aus dem Bereich Maschinenbau/Technologische Wissenschaft wird durch Mixed RealityTechnologien eine interaktive Durchdringung von Anlagen und Maschinen ermöglicht, die bislang noch nicht systematisch realisiert werden, konnte. Entsprechend könnten mit virtuellen Objekten realistische Gefahrensituationen, wie Fehlerfälle oder CrashSituationen nachgestellt werden, ohne dass dabei Personen- oder Maschinenschäden verursacht würden. Dadurch könnten zudem Berührungsängste abgebaut werden: „Und wenn der Roboter eben auseinanderfliegt, ja gut, dann probiere ich es eben nochmal. Also die Berührungsängste, das ist vielleicht auch noch so ein Punkt, was wir erlebt haben, sinken. Man kennt das, wenn man mit zehn Leuten an einem realen System, an einem realen Laborversuch irgendwas machen will, dann gibt es vielleicht die zwei, drei, die das toll finden, die da vorne weggehen. Die anderen haben vielleicht Berührungsängste und das ist auch etwas, was wir erlebt haben, dass man das damit vielleicht oder glauben wir, zu nem Stückgrad heilen kann, weil da die, auf jeden Fall mal die jungen Leute auch gar keine Berührungsängste haben“ (Interview MRiLS_2, Z. 301–309).
Im Zitat wird also davon ausgegangen, dass Berührungsängste abgebaut und Lernende ermutigt werden können, den Lerngegenstand experimentell zu erproben. Zusätzlich
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konnte als Subkategorie die verbesserte Berufsausbildung ausgearbeitet werden, was aus der Perspektive der befragten Person aus dem Bereich der technischen beruflichen Bildung eingebracht wird. So wird im Einsatz von Mixed Reality-Technologien das Potenzial darin gesehen, die Berufsausbildung verbessern zu können. Interessant erscheint hier, dass mit einer Bildungsperspektive ein weiteres Potenzial ins Blickfeld rückt. So werden mit dem Einsatz der neuen Technologien Chancen dahingehend abgeleitet, dass Schüler*innen durch eine qualitativ hochwertige Ausbildung gesellschaftsfähig gemacht werden könnten: „Und das was wir jetzt machen, hier, ja so ein Projekt aufstellen mit Hightech, Ultra-Hightech und sich Gedanken machen, wie kann ich es einsetzen, dient ja einzig und allein dem Zweck, eine bessere Ausbildung zu erzielen oder zumindest, besser ist immer so eine relative Geschichte, weil es geht ja um die Zeit in der ich bin, eine Ausbildung zu erzielen, die genügend ist für das, was ich gerne nachher erreichen möchte. Also den, den Jugendlichen, den auch den Erwachsenen soweit zu qualifizieren, jetzt sage ich es einfach mal übergeordnet, sein Leben weiter so leben zu können, erfolgreich innerhalb einer Gesellschaft“ (Interview MRiLS_9, Z. 758–765).
Deutlich wird in diesem Zitat, das von der befragten Person aus dem Bereich der technischen beruflichen Bildung der Einsatz der Technologie hier einem gesellschaftlichen Bildungsziel untergeordnet wird. Der Einsatz der Technologie dient der Verbesserung der Ausbildung und im weiteren Sinne der erfolgreichen Integration in die Gesellschaft. Zusätzlich zu den ausführlich vorgestellten Subkategorien konnten im Datenmaterial noch weitere Potenziale ausdifferenziert werden, die auch den gängigen Argumentationsfiguren des Diskurses um Digitalisierung entsprechen. So sehen v. a. die Befragten aus dem Bereich Steuerungstechnik/KMU-Industrie zum einen in der Subkategorie Zeit- und Kostenersparnis die Chance, Zeit und Kosten bei der Produktion zu sparen, da die virtuelle Schulung bereits vor der eigentlichen Inbetriebnahme der Maschine stattfinden könne (vgl. Interview MRiLS_4, Z. 170–174). Zum anderen betonen sie mit der Subkategorie flexible Schulungen die Möglichkeit eines zeit- und ortsunabhängigen Lernens, was sich durch die Schulung am virtuellen Modell ergebe (vgl. Interview MRiLS _7, Z. 98–101). Neben den herausgearbeiteten Potenzialen, die sich insbesondere auf die verbundenen Flexibilisierungsmöglichkeiten von Schulungen, neuen Formen der Interaktion und verbesserten Veranschaulichungsmöglichkeiten beziehen, werden mit dem Einsatz von Mixed Reality-Technologien zu Schulungszwecken auch eine Reihe von Herausforderungen verbunden. Diese werden nachfolgend dargestellt.
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Herausforderungen des Schulungskonzepts
In der Analyse des Datenmaterials zeigt sich, dass die Befragten auch einige Herausforderungen benennen, die das Gegenstück zu den herausgearbeiteten Potenzialen markieren. In der Subkategorie der Rolle der Lehrenden wird von den befragten Personen die Qualifizierung des Schulungspersonals als Herausforderung thematisiert. So wird von einem Befragten aus dem Bereich technische berufliche Bildung im Hinblick auf die Lehrenden einerseits die Notwendigkeit von „Spezialisten“ angesprochen, um „an den Geräten zu unterrichten“ (Interview MRiLS_9, Z. 260 f.), andererseits wird aber auch der Mangel an qualifiziertem Personal angeführt: „Also das wird sicherlich auch eine Betrachtung sein müssen, wie qualifiziert man Menschen mit sowas umzugehen, ja. Oder wie macht man es einfach damit man das nutzen kann. Das sind, das ist ein großer, ein großes Problem, weil auch bei uns ist es so, dass wir sehr abhängig davon sind, dass manche Kollegen ein inneres Interesse da dran haben. Also sehr viel Zeit hineinstecken, also eigentlich viel mehr Zeit als ihnen über ihren Job zur Verfügung steht. Gott sei Dank haben wir welche, aber eigentlich noch zu wenige“ (Interview MRiLS_9, Z. 262–269).
Hier wird deutlich gemacht, dass der Einsatz entsprechender Technologien von der Zeitinvestition und dem persönlichen Interesse der Lehrenden abhängig ist. Im Gegensatz dazu stellt für die Akteur*innen aus dem Bereich der Steuerungstechnik/ KMU-Industrie eine mangelnde pädagogische Qualifizierung des Schulungspersonals eine zentrale Herausforderung dar. So bezeichnet es auch einer der Befragten mit Schulungsleitererfahrung aus dem Bereich Steuerungstechnik/KMU-Industrie als persönliche Anforderung, zu lernen, „wie ich eben Wissen vermittle, weil ich habe das nicht gelernt“ (Interview MRiLS_7, Z. 1541 f.). Von einem weiteren Befragten aus diesem Bereich wird dazu ergänzt, dass es die technischen Experten seien – „vom Hintergrund auch Maschinenbauer“ (Interview MRiLS_4, Z. 128) – die die Schulungen durchführen würden. Zusätzlich wird die Rolle der Schulungsleitung insofern problematisiert, als es einer entsprechenden Begleitung bedarf, „weil man natürlich in der virtuellen Welt auch schnell Dinge anstellen kann, die vielleicht dann, ja, zurückgebaut werden müssen, oder also sozusagen wieder ein valider Zustand hergestellt werden muss“ (Interview MRiLS_2, Z. 354–364). Diese Begleitung des Schulungsprozesses sei auf einer übergeordneten Ebene zudem noch mit offenen Fragen verbunden: „Und wie leite ich so jemanden überhaupt an, ja?“ (Interview MRiLS_2, Z. 362 f.). So wird die Begleitung des Schulungsprozesses v. a. aus technikpädagogischer Perspektive problematisiert. Eine zusätzliche Herausforderung wird in der Subkategorie der technologischen Realisierbarkeit der simulativen Darstellung von realen Anlagen und Prozessen gesehen. So äußert einer der Befragten aus dem Bereich KMU-Industrie mit Schulungserfahrung im Gebiet der Steuerungstechnik beispielsweise Zweifel bezüglich der realistischen Darstellung von detaillierten Prozessen in Simulationen:
Interdisziplinäre Perspektiven auf Lernen mit Mixed Reality
„da ist jetzt so ein, irgendein Gerät defekt, das, da muss ich drei Abdeckungen runtermachen von der Maschine und zwei anderen Geräte vielleicht weg schrauben. Krieg ich das alles in der Simulation hin? […] Damit irgendwelche Klappen aufmachen muss, muss ich ja das, was dahinter ist viel besser simulativ abbilden als wenn die Klappe zubleibt, dann interessiert mich nicht, was hinter der Klappe ist. Dann, ja, ich sage mal, auf jeden Fall. Oder wie, was ich auch mal, was auch, ich hier Schwierigkeiten sehe, der schließt jetzt das Bauteil an und schließt es falsch rum an. Er vertauscht zwei Pneumatikschläuche. Reagiert das Gerät ja ganz anders, das reale Gerät. Oder das, der, die Bewegung, die auszuführende Bewegung. Krieg ich das alles so simulativ abgebildet ohne dass ich in der Software viel machen muss? Weiß ich nicht, ob das, wie einfach das ist“ (Interview MRiLS_8, Z. 656 f.; 674–682).
Hier wird vor allem auf die Komplexität hingewiesen, einerseits technologische Details der Anlagen und andererseits spezielle Fehlerfälle in der Simulation realitätsnah darzustellen. Zudem impliziert dies für Lehrende ein hohes Maß an didaktischem Know-How. Daneben konnte als Subkategorie die Eingewöhnung in die Lernumgebung ausgearbeitet werden. Hier sehen die Befragten eine Herausforderung darin, dass Lernende sich an die virtuelle Lernumgebung gewöhnen und darin orientieren müssten. Insbesondere in Bezug auf den Umgang mit VR-Brillen wird aus technologischwissenschaftlicher Perspektive thematisiert, dass reale Objekte oder Personen in der Umgebung nicht mehr wahrgenommen werden würden (vgl. Interview MRiLS_1, Z. 135 f.) und die Nutzung gewöhnungsbedürftig sei: „Also die Schwierigkeit glaube ich ist, das hängt natürlich mit der Bedienung zusammen, aber auch um diesen Neuheitsgrad zu heilen. D. h. dass die, dass die Person, die in der virtuellen Welt, das jetzt nicht einfach nur rum guckt und das einfach toll findet, dass sie jetzt in einer virtuellen Halle ist, sondern eine gewisse Eingewöhnungszeit hat, um sich auf diese Lehrinhalte zu konzentrieren und das ist sicherlich bisschen die Schwierigkeit“ (Interview MRiLS_2, Z. 348–353).
Damit zeigt sich, dass es einer Eingewöhnungszeit bedarf, um sich mit den virtuellen oder augmentierten Lernumgebungen vertraut zu machen und darin Orientierung zu finden. In einer weiteren Subkategorie werden die Herausforderungen einer Modellierung von Fehlerfällen und komplexen Anlagen beschrieben. So werden durch eine Modellvereinfachung in der Simulation z. B. Gefahrenpotenziale dahingehend befürchtet, dass durch eine zu große Abstraktion vom realen System abweichende Inhalte vermittelt werden würden (vgl. Interview MRiLS_2, Z. 598 f.; 1432 f.; 670 ff.). Insgesamt wird dabei deutlich, dass beim Einsatz von Mixed Reality-Technologien Herausforderungen v. a. darin gesehen werden, die Komplexität der Anlagen detailgetreu abzubilden und das Schulungspersonal entsprechend (pädagogisch) zu qualifizieren. Somit zeigen sich bis dahin neben vielen Potenzialen auch einige Herausforderungen in Bezug auf die Entwicklung des digitalen Schulungskonzepts. Dabei lassen sich beide
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Perspektiven auch in den Vorstellungen der Befragten darüber erkennen, wie die konkrete Einbindung von Mixed Reality-Elementen in Schulungen aussehen könnte. Entsprechend werden die technologischen und didaktischen Gestaltungsvorstellungen der Lernumgebung in der folgenden Kategorie dargelegt. 3.3
Technologische und didaktische Gestaltungsvorstellungen der Lernumgebung
Im empirischen Material zeigt sich ferner, dass die Befragten spezielle technologische und didaktische Gestaltungsvorstellungen der Lernumgebung haben. In der Subkategorie der fotorealistischen Darstellung wird sichtbar, dass sich die Befragten die Lernumgebung als (foto)realistische Darstellung der Anlagen und Modelle vorstellen. Hier wird betont, dass das virtuelle Modell nicht nur ein realitätsgetreues Abbild der realen Anlage darstellen, sondern sich ebenfalls wie die reale Anlage verhalten solle. Dazu sei es aus der wissenschaftlich-technologischen Perspektive notwendig, alle relevanten Elemente der Anlage realitätsnah abzubilden (vgl. Interview MRiLS_1, Z. 326–334). Daneben wird auch die Relevanz einer „eins zu eins“-Abbildung von Bedienung, Steuertafel und Bedienoberfläche sowie des mechanischen Aufbaus betont, „d. h. das mechanische Modell oder Simulationsmodell in der letztendlich auch aufgebauten Funktionsweise“ (Interview MRiLS_8, Z. 405–407). Zwar betonen die Befragten aus wissenschaftlich-technologischer Perspektive immer wieder die Bedeutung einer realitätsnahen Darstellung der virtuellen Modelle, gleichzeitig verweisen sie aber auch auf die eingeschränkten Möglichkeiten der Umsetzung einer fotorealistischen Darstellung, da sich die Komplexität der Anlagen, der mechanische Aufbau oder spezielle Verhaltensprozesse (wie Fehlerfälle) nicht automatisch abbilden lassen, sondern jeweils für die Schulung modelliert werden müssen. In diesem Zusammenhang wird in einer zusätzlichen Subkategorie die Gestaltung mit immersiven Elementen beschrieben. So wird deutlich, dass vor allem die Interviewpartner*innen mit wissenschaftlich-technologischer Perspektive das Gefühl der Immersion – des Eintauchens in die virtuelle Welt – als bedeutsam für die Gestaltung der Lernumgebung erachten. So könne durch Immersion eine Diskrepanz in der Wahrnehmung beispielsweise dadurch verhindert werden, dass Lernende auch in der VR-Welt Objekte mit den Händen so wie in der realen Welt greifen könnten. Eine der befragten Personen betont diesbezüglich, „dass man das Ganze so implementiert, dass es entsprechend der realen Welt zu interagieren ist. So dass man da einfach keine große Adaption in seinem Verhalten braucht“ (Interview MRiLS_1, Z. 212–214). Auch in der erweiterten Realität bedeute ein immersives Erleben, die virtuelle Maschine auf einen Tisch platzieren zu können, was realistischer sei, „als wenn er in der Luft rumfliegt“ (Interview MRiLS_1, Z. 162). Daran wird die Vorstellung deutlich, dass sich sowohl die virtuelle Welt als auch die erweiterte Realität als möglichst real und in sich logisch anfühlen
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sollte. Vor diesem Hintergrund werden auch Risiken durch Immersion thematisiert, die aus Perspektive der technischen beruflichen Bildung beispielsweise in einem „Versinken“ und „sich verlieren“ in der virtuellen Welt (Interview MRiLS_9, Z. 844) oder aus wissenschaftlich-technologischer Perspektive im Auftreten von Übelkeit in der virtuellen Welt – „Motion Sickness“ – gesehen werden (Interview MRiLS_10, Z. 405). Entsprechend wird die spezielle technologische Anforderung für ein immersives Erleben formuliert, dass es bestimmte Interaktionsmodi brauche, um ein Gefühl von Immersion in der virtuellen Welt herstellen zu können. So wird in diesem Zusammenhang auch von der Bedeutsamkeit der „Wirkprinzipien, dass ich Dinge auch anfassen kann“ (Interview MRiLS_2, Z. 435) sowie der Bewegungsmodalität in der virtuellen Welt gesprochen. Beides sei mit speziellen Anforderungen und Herausforderungen verbunden, was ein Benutzerkonzept voraussetze, „das echt gut durchdacht sein muss“ (Interview MRiLS_10, Z. 422). Darüber hinaus wurden hinsichtlich der Gestaltungsvorstellungen einige weitere Subkategorien ausdifferenziert. Zum einen werden in der Subkategorie der reproduzierbaren Szenarien auch didaktische Gestaltungsvorstellungen geäußert und betont, dass Lernszenarien wiederhol- und reproduzierbar sein sollten. So wird der Vorteil aus wissenschaftlich-technologischer Perspektive darin gesehen, einerseits „das exakt gleiche Szenario nochmal zu üben“ (Interview MRiLS_10, Z. 176 f.) und andererseits den Lernerfolg somit überprüfbar machen zu können. Zum zweiten werden didaktische Gestaltungsvorstellungen ebenso in der Subkategorie kooperatives Lernen beschrieben. So stellt sich die befragte Person aus dem Bereich der Technikpädagogik/Technologische Wissenschaft vor, dass der Lernprozess interaktiv, dialogisch und in „kooperativen Settings“ (Interview MRilS_3, Z. 411) gestaltet sein soll und die Schulungsteilnehmenden im Austausch miteinander lernen sollen. Und schließlich zeigt sich in der Subkategorie der Lernbegleitung, dass die Befragten Möglichkeiten der Lernbegleitung und -unterstützung durch Interaktion und Feedback beschreiben. Diesbezüglich wird der Rolle der lehrenden Person im Sinne einer Steuerung des Lernprozesses bzw. eines sinnvollen, lernunterstützenden Medieneinsatzes für eine entsprechende Lernwirkung besondere Bedeutung beigemessen. Daraus wird deutlich, dass der Einbezug unterschiedlicher Mixed Reality-Elemente für die technologische und didaktische Gestaltung der Lernumgebung bedeutsam erscheint und durchaus gegensätzliche Positionen zwischen visionären Vorstellungen und pädagogischen Anforderungen und Risiken mit sich zieht. Dies zeigt sich ebenso in den Aussagen über die Interaktionsprozesse, die nachfolgend beschrieben werden. 3.4
Interaktion im Lernprozess
Diese Hauptkategorie fasst Aussagen über die Gestaltung der Interaktion im Lernprozess zusammen. Die Interaktion umfasst dabei allgemein die Kommunikation zwischen den Lernenden und den digitalen Entitäten. Wie sich die Befragten diese Art der
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Kommunikation vorstellen und wie diese gestaltet werden kann, wird im Folgenden dargestellt. So enthält die erste Subkategorie Aussagen über die unterschiedlichen Arten der Interaktion. Dabei wird sichtbar, dass die Befragten unterschiedliche Vorstellungen der Gestaltung von Interaktionsprozessen haben. So nennen sie verschiedene Arten der Interaktion, wie beispielsweise die Interaktion mit Endgeräten, Teilnehmenden oder dem Digitalen Zwilling. So gehe es aus Sicht der Interviewpartner*innen aus dem Bereich Steuerungstechnik/KMU-Industrie bei der Schulung mit dem Digitalen Zwilling weniger um die Interaktion mit der realen Steuerung von Maschinen, sondern um die Interaktion mit dem „virtuellen 3-dimensionalen Modell seiner realen Anlage“ (Interview MRiLS_7, Z. 688), d. h. um „Interaktion mit der virtuellen Welt“ (Interview MRiLS_4, Z. 385). Die zweite abgeleitete Subkategorie der digitalen Umsetzung beschreibt unterschiedliche Möglichkeiten, die Interaktion im Digitalen technologisch umzusetzen. Entsprechend wird von wissenschaftlich-technologischer Seite die Möglichkeit des „Finger-Trackings“ (Interview MRiLS_10, Z. 104) als eine Methode genannt, wie mit den virtuellen Elementen interagiert werden könne. Daneben führen die Befragten ebenfalls mit wissenschaftlich-technologischer Verortung die Interaktion per VR und Shared Experience auf, bei der sich die Lernenden vollständig in der virtuellen Welt befinden und gemeinsam in dieser Welt interagieren könnten. So wird bezüglich der Shared Experience die Möglichkeit betont, „dass man beispielsweise auf einen anderen Teilnehmer klickt und dann seine Position übernehmen kann, so dass man da eine Synchronisierung hat“ (Interview MRiLS_1, Z. 609–611). Dabei zeigt sich, dass die Interaktion wiederum vielschichtig aufgegriffen wird, da sie sich einerseits auf das Interagieren der Lernenden mit der virtuellen Lernwelt bezieht und andererseits auch die Kollaboration von mehreren Lernenden in einer synchronisierten Lernumgebung intendiert. In einer weiteren Subkategorie werden die Anforderungen deutlich, die im Hinblick auf die Gestaltung von interaktiven Prozessen einhergehen. So sprechen die Befragten mit wissenschaftlich-technologischer Verortung z. B. von einem Verhaltensmonitoring, das sich darauf bezieht, das Verhalten der Lernenden in digitalen Schulungssituationen unter Abwesenheit einer Schulungsleitung beobachten zu können, um speziell in Gefahrensituationen „korrigieren“ oder „eingreifen“ zu können (Interview MRiLS_10, Z. 160). Kontrastierend dazu wird aus einer technikpädagogischen Perspektive die Lernbegleitung durch eine Lehrperson allerdings auch als Anforderung zur Gestaltung von Interaktionsprozessen betrachtet. So sei es sinnvoll, „dass die Interaktionen zwischen den Lernenden durch einen Moderator oder Lernbegleiter, Lehrer, Dozent, wie auch immer, moderiert werden“ (Interview MRiLS_3, Z. 873 f.). Das realistische Verhalten des Simulationsmodells und eine intuitive, einfache und flexibel gestaltete Interaktion werden weiterhin als Anforderungen artikuliert. Außerdem werden in einer zusätzlichen Subkategorie die Potenziale aufgeführt, die in Bezug auf die Interaktionsmöglichkeiten im Schulungskonzept erwartet werden. So sehen die Befragten aus dem technischen beruflichen Bildungsbereich ein Poten-
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zial darin, über die Interaktion mit dem Digitalen Zwilling ein tieferes Verständnis für den Lerngegenstand und die Inhalte generieren zu können. Dies ergebe sich aus der Möglichkeit, die Lerninhalte am Digitalen Zwilling zeigen zu können und zusätzliche Anknüpfungspunkte zu schaffen, die das Lernen erleichtern sollen (vgl. Interview MRiLS_9, Z. 881–887). Daneben wird durch Interviewpartner*innen aus dem Bereich Steuerungstechnik/KMU-Industrie das Bereitstellen von Zusatzinformationen insofern als Potenzial gesehen, als es die Arbeit und Interaktion an der Anlage unterstützt: „man kann einfach Informationen bereitstellen, die halt aktuell nicht verfügbar sind. Ich meine unsere Anlagen, die sind zum Teil sehr groß, also wir haben Anlagen gehabt, die waren mehrere Fußballfelder groß, jetzt merkt man irgendwann ich bin am einen Ende der Anlage, und mir fehlt irgendeine Information z. B. Wenn ich es jetzt aber geschafft habe, diese Anlage irgendwo in die virtuelle Welt zu holen und ich schaue mir jetzt praktisch diesen Bereich ganz hinten an mit einer AR Brille, VR Brille, wie auch immer oder scanne eben diesen, jetzt mal übertrieben gesagt, diese Baugruppe über einen QR-Code, ja, da müsste ich nicht extra diese 300 Meter zurücklaufen, sondern könnte an Ort und Stelle vielleicht auf Informationen zugreifen und vielleicht auch eine gewisse Interaktion durchführen“ (Interview MRiLS_5, Z. 753–763).
In diesem Zitat wird der Vorteil insbesondere in Bezug auf große Anlagen gesehen, da hier über die Interaktion mit dem Digitalen Zwilling der Anlage per Endgerät fehlende Informationen schnell und unkompliziert angezeigt werden können. Damit zeigt sich die Vorstellung, die reale Welt mit der virtuellen Welt zu „verheiraten“ (Interview MRiLS_7, Z. 1363) und beispielsweise zusätzliche technische Komponenten, die für den Lernprozess wichtig sind, zu veranschaulichen. Außerdem sehen es die Befragten aus dem Bereich Steuerungstechnik/KMU-Industrie als Potenzial, das reale Anlagenverhalten durch die Interaktion mit dem Lerngegenstand sichtbar machen zu können, da sich hinter dem Simulationsmodell ein implementiertes Verhaltensmodell befinde. Auch verweisen die Befragten auf die Vorteile für die Teilnehmenden, selbstgesteuert zu lernen und den Lerngegenstand individuell ausprobieren zu können. Entsprechend wird das selbstständige Problemlösen als wichtige und nachhaltige Form des Lernens erachtet und dem „Selbermachen“ (Interview MRiLS_7, Z.1389) eine hohe Bedeutung beigemessen. In der letzten Subkategorie werden hingegen die Problematiken zusammengefasst, die mit der interaktiven Gestaltung der Schulung verbunden werden. So problematisieren die Befragten mit wissenschaftlich-technologischer Sichtweise besonders die technische Realisierbarkeit in Bezug auf die Gestaltung der Interaktion. Hierbei wird die Nutzung sowohl der vielfältigen Endgeräte als auch der multimodalen Interaktionskanäle als herausfordernd gesehen. Entsprechend wird die Realisierbarkeit als eingeschränkt betrachtet (vgl. Interview MRiLS_10, Z. 265 f.). Einer der Befragten aus dem Bereich Steuerungstechnik/KMU-Industrie bezeichnet in diesem Zusammenhang auch das Funktionieren der verschiedenen Interaktionsmodi als problematisch:
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„Es bringt nichts, wenn ich 25 mal klicken muss, damit überhaupt mal irgendwas passiert. Dann man müsste drauf achten, dass wenn ich die Maus oder die Fingergeste was mache, dass es auch erkannt wird, dass es groß genug ist, wo ich drauf klicke, aber auch wieder so viel Abstand zwischen drin, dass ich nicht 25, dass ich was drücken will und das Falsche drücke“ (Interview MRiLS_8, Z. 1048–1052).
Hierbei zeigt sich die zugrundeliegende Bedingung, dass Interaktionen einfach und verlässlich funktionieren müssten, um den Lernprozess unterstützen zu können. Weiterhin werden zusätzlich Problematiken zwischen Mensch und Technik thematisiert und die technische Hürde als „Stolperfalle“ (Interview MRiLS_5, Z. 770) erwartet. Zum einen wird diesbezüglich die Schwierigkeit darin gesehen, „erstmal diesen Zugang zu schaffen, dass derjenige mit dem Gerät arbeiten kann“ (Interview MRiLS_5, Z. 771 f.). Zum anderen wird die Möglichkeit einer Fehlbedienung problematisiert, wenn Ungenauigkeiten in der technischen Abbildung des Modells vorliegen. Damit einhergehend werden Risiken erwartet, „weil es ja bei den Anlagen jetzt nicht immer so ist, dass das unbedenklich ist der Umgang. Also da kann dann schon auch, ja, bestehen schon auch ein Verletzungsrisiko, wenn man da irgendwo zwar virtuell das Ganze unterstützt bekommt, aber dann doch den realen Prozess falsch ausführt, ja“ (Interview MRiLS_5, Z. 778–781). So verweisen die angeführten Beispiele aus Perspektive der Steuerungstechnik/KMU-Industrie insbesondere auf die (technischen) Hürden, die mit der Gestaltung von Interaktionsprozessen in der virtuellen Lernumgebung einhergehen. Somit kann konkludiert werden, dass sich die Interaktion im Lernprozess von den Befragten vielschichtig vorgestellt wird und dass sie eine zentrale Funktion einnimmt, mit der vor dem Hintergrund von Potenzialen und Problematiken auch Komplexität und Ambivalenzen verknüpft sind. Welche Anforderungen vor diesem Hintergrund an das digitale Schulungskonzept gestellt werden, wird nachfolgend beleuchtet. 3.5
Anforderungen an das Schulungskonzept
Im empirischen Material wird darüber hinaus sichtbar, dass die Befragten verschiedene Anforderungen an eine Schulung mit Mixed Reality-Elementen ableiten. So werden in der ersten Subkategorie die Nutzungsanforderungen zusammengefasst, die im Hinblick auf die Anforderungen an das Schulungskonzept formuliert werden. Hierbei artikulieren die Befragten unabhängig von ihren disziplinären oder organisationalen Verortungen verschiedene Faktoren, die sich maßgeblich auf die Benutzerfreundlichkeit – Usability – des Schulungskonzepts beziehen. So wird betont, dass es innerhalb der virtuellen Welt „einfach und intuitiv“ (Interview MRiLS_1, Z. 300) sein müsse, es eine „Übersichtlichkeit in der Navigation“ (Interview MRiLS_3, Z. 670) und eine „sehr einfache Oberfläche, reduziert auf das Wesentliche“ (Interview MRiLS_4,
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Z. 682) geben solle. Unter dem Begriff der Nutzerfreundlichkeit wird weiterhin der Grundgedanke gefasst, die Oberfläche und Bedienung „so komplex wie nötig, so einfach wie möglich“ (Interview MRiLS_4, Z. 688 f.) und die virtuelle 3D-Welt „so realistisch wie möglich“ (Interview MRiLS_10, Z. 377) zu gestalten. Im Hinblick auf die virtuelle Welt betonen die Befragten zudem die Notwendigkeit, dass Lernende schnell und einfach aus den virtuellen Szenarien aussteigen können sollten, um auf „Motion Sickness“ – oder „Platzangst“ (Interview MRiLS_10, Z. 405; 408) reagieren zu können. Im Zusammenhang damit wird allerdings auch die Perspektive der Lehrenden berücksichtigt. Entsprechend wird es als zentrale Bedingung gesehen, sowohl den Teilnehmenden als auch den Schulungsleitungen die Möglichkeit zu geben, die Schulungswelt gestalten und beeinflussen zu können (vgl. Interview MRiLS_2, Z. 1450). So gehe es nicht nur um ein Abarbeiten von Inhalten, sondern um die flexible und offene Gestaltung des Lernprozesses. In der folgenden abgeleiteten Subkategorie werden die Anforderungen an eine Wirtschaftlichkeit und Standardisierung des Schulungskonzepts sichtbar. In Bezug auf den Faktor der Wirtschaftlichkeit wird von den Befragten aus dem Bereich Steuerungstechnik/KMU-Industrie vornehmlich davon gesprochen, dass sich das digitale Konzept wirtschaftlich rentieren müsse, um langfristig zum Einsatz zu kommen: „Es muss egal wie diese didaktische Lösung aussieht, die digitale, sie muss auf jeden Fall, lassen wir mal eine Anlaufkurve wegfallen, unterm Strich sich rentieren. Ohne das wird es sich nicht durchsetzen“ (Interview MRiLS_6, Z. 1209–1211).
Eng damit verbunden ist ebenso die Anforderung an eine Standardisierung des Schulungskonzeptes, die von den Befragten aus dem Bereich Steuerungstechnik/KMU-Industrie thematisiert wird. So wird die digitale Form als „Umbruch“ bezeichnet, der wiederum mit der Aufgabe verknüpft ist, einen „Standard zu kreieren“ (Interview MRiLS_6, Z. 1212; 1213). Vor diesem Hintergrund wird wiederum aus Perspektive der technischen beruflichen Bildung problematisiert, dass die Technologie bzw. die Inbetriebnahme der Technologie zu stark in den Vordergrund rückt und es zur Durchführung der Schulung Spezialisten bedürfe. So wird der Aspekt der Standardisierung nochmals wie folgt bekräftigt: „Also bis diese Technologie läuft, muss ich so viele Dinge beachten, d. h. eigentlich brauche ich einen Spezialisten, der mir das herrichtet und dann kann ich den Unterricht machen. So sieht´s momentan aus. Also es muss irgendein Standard werden, sodass man bestimmte Dinge vereinfacht, d. h. dass man sich auf Inhalte konzentrieren kann und nicht die Technologie in Schwung bringen muss, ne“ (Interview MRiLS_9, Z. 369–374).
In der Zusammenschau werden die bereits erwähnten widerstrebenden Positionen hier ebenfalls deutlich. So zielen die Anforderungen an eine digitale Schulung mit Mixed Reality-Elementen einerseits darauf ab, dass die Nutzung und Bedienung des Schulungstools möglichst einfach, intuitiv und flexibel gestaltet sein sollte. Anderer-
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seits werden Anforderungen auch in Bezug auf die Wirtschaftlichkeit betont, womit der Fokus eher auf die industriellen Betriebe sowie darauf gerichtet ist, dass das Schulungskonzept für die Betriebe schließlich rentabel ist. Diesbezüglich werden Anforderungen vor allem im Hinblick auf standardisierte und wiederverwendbare Lösungen formuliert. Im Folgenden wird nun explizit der damit verbundene Aufbau der Schulungsinhalte betrachtet. 3.6
Strukturierung der Schulungsinhalte
Das Material enthält darüber hinaus Aussagen über die Strukturierung der Schulungsinhalte. So wird in der ersten Subkategorie deutlich, dass ein modularer Aufbau der Schulungsinhalte als ein sinnvolles Strukturierungselement gesehen wird. In diesem Zusammenhang stellen sich insbesondere die Befragten aus dem Bereich Steuerungstechnik/KMU-Industrie ein „modulares Konzept […] für die Schulungsinhalte“ (Interview MRiLS_7, Z. 473) vor, bei welchem das System automatisch eine Schulung aus unterschiedlichen Komponenten zusammenstellen könne. Dabei wird auf den Aspekt der individuellen Schulung verwiesen: „[…] wir sprechen die Schulungsinhalte immer individuell mit dem Kunden ab und wenn der mir jetzt sagt, ich hätte aber noch gern hier geschult Komponententausch oder ich hätte gerne geschult die Hardware im Schaltschrank, dass ich mir diese Komponente rausziehe und das System mir eine Schulung daraus erstellt, ne“ (Interview MRiLS_7, Z. 472–477).
Daraus geht hervor, dass ein modularer Aufbau für die Strukturierung der Lerninhalte als sinnvoll erachtet wird. Auch zeigt sich hier, dass die Befragten individuell gestaltete Schulungen für bedeutsam erachten. Darüber hinaus wird in der Subkategorie Online- Kontrollen der Einsatz von Feedback- und Kontrollwerkzeugen zur Strukturierung des Schulungsprozesses thematisiert, um der Schulungsleitung einen Überblick über den Wissenstand der Teilnehmenden zu geben. Dies sei aus der Perspektive eines Befragten aus dem Bereich Steuerungstechnik/KMU-Industrie insofern relevant, als es für die Schulungsleitung hilfreiche Aufschlüsse über den Lernfortschritt mitbringe (vgl. Interview MRiLS_6, Z. 738–744). In diesem Zusammenhang wird weiterhin die Möglichkeit eines „Feedback-Bogens in digitaler Form“ thematisiert, bei dem die Schulungsleitung „quasi als Qualitätskontrolle“ (Interview MRiLS_6, Z. 1190–1193; 1193 f.) ein Feedback über die Teilnahme und Beschäftigung mit den Lerngegenständen erhält. Daraus geht hervor, dass diese Form der Strukturierung vor allem für die Schulungsleitung hilfreich sein kann, da sie den Lernfortschritt anzeigt und für einen Überblick sorgt. Resümierend zeigt sich, dass mit den Lerninhalten verschiedene Formen der Strukturierung sinnvoll für den Lernprozess sein können und sich auf übergeordnete, den Lernprozess unterstützende Faktoren beziehen. Abschließend wird das Augenmerk auf die unterschiedlichen Zielgruppen der digitalen Schulung gerichtet.
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Zielgruppen der Schulung
Schließlich werden im Detail auch verschiedenen Zielgruppen der Maschinenbediener*innen, Instandhalter*innen, Programmierer*innen und Berufsschüler*innen ins Blickfeld gerückt. Innerhalb dieser vier Subkategorien werden Aussagen zur Charakterisierung der jeweiligen Zielgruppen getroffen und mit erwarteten Lernpräferenzen, Herausforderungen und Anforderungen für das Schulungskonzept in Verbindung gebracht. Zusammenfassend zeigt sich dabei, dass mit den verschiedenen Zielgruppen der digitalen Schulung sowohl heterogene Wissensstände als auch unterschiedlich hohe bzw. niedrige Akzeptanzlevel erwartet werden können. Damit sind neben einer divergierenden Tiefe an Schulungsinhalten auch Unterschiede in der virtuellen Abbildungsgenauigkeit der Maschinen und Prozesse verbunden. Als problematisch deutet sich hierbei an, dass insbesondere bei der Zielgruppe der Maschinenbediener*innen sowie in Teilen auch der Instandhalter*innen eher wenig Berührungspunkte mit virtuellen Lernumwelten erwartet werden, was die Etablierung digitaler Schulungen erschweren kann. Hingegen deutet sich im Hinblick auf die Programmierschulung an, dass hier abstraktere Inhalte und Prozesse virtuell dargestellt werden müssen, was gleichermaßen Herausforderungen für die digitale Konzeptionierung mit sich bringt. Insgesamt kann konkludiert werden, dass für die unterschiedlichen Zielgruppen stark differenzierende didaktische Anforderungen verbunden sind. In der Zusammenschau der Ergebnisse zeigt sich, dass von den Befragten vielfältige Potenziale ebenso wie Herausforderungen abgeleitet werden, die wiederum mit verschiedenen Anforderungen an das digitale Schulungssystem verknüpft werden. Dabei fällt auf, dass sich aus den unterschiedlichen Perspektiven zum Teil gegensätzliche Positionen herauskristallisieren. Im Folgenden werden die zentralen Ergebnisse interpretativ verdichtet und vor dem Hintergrund der interdisziplinären Perspektive reflektiert. 4
Reflexion der Ergebnisse: Interdisziplinäre Ambivalenzen
In den herausgearbeiteten Kategorien aus der Bedarfsanalyse sowie den weiteren Beobachtungen aus der formativen Evaluation deutet sich ein Muster an, nach dem der Einsatz von Mixed Reality-Elementen in Lehr- und Lernsettings in einem Spannungsfeld beschrieben wird, bei dem sich große Potenziale und Herausforderungen gegenüberstehen. Dabei erscheinen zumindest teilweise die interdisziplinären Sichtweisen der Befragten von Relevanz zu sein. Nach einer verdichteten Betrachtung konnten drei zentrale Spannungsfelder identifiziert werden, die im Folgenden vorgestellt werden (4.1). Im Anschluss daran wird der Versuch unternommen, diese empirischen Spannungsfelder vor dem Hintergrund unterschiedlicher organisationaler und disziplinärer Verortungen der Akteur*innen zu interpretieren und theoriegeleitet als Phänomen interdisziplinärer Ambivalenz zu beschreiben (4.2).
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4.1
Ambivalente Spannungsfelder
Aus den herausgearbeiteten Kategorien lassen sich drei zentrale ambivalente Spannungsfelder verdichten. So wird eine Ambivalenz zwischen der technologischen Vision und den pragmatischen Umsetzungsmöglichkeiten ebenso sichtbar, wie ein Span nungsfeld zwischen dem Wunsch nach Standardisierung und des Erfordernisses der Individualisierung in der Konzeption von Schulungen. Schließlich wird in der Thematisierung der Rolle von Schulungsleitungen eine konträre Sichtweise der Akteur*innen deutlich. Auf der einen Seite „verschwindet“ die Lehrperson im Datenmaterial, auf der anderen Seite wird – wenn über sie gesprochen wird – die Anforderung einer individuellen Lernbegleitung thematisiert. Im Folgenden werden diese drei Spannungsfelder vorgestellt und im Anschluss theoriegeleitet interpretiert. Zwischen technologischen Visionen und pragmatischen Umsetzungsmöglichkeiten: Im Datenmaterial wird insbesondere in der Gegenüberstellung der Potenziale und Herausforderungen sowie in der Kategorie der Gestaltungsvorstellungen der Lernumgebung eine klare Differenz zwischen der technologischen Vision einerseits und den pragmatischen Möglichkeiten der Umsetzbarkeit andererseits sichtbar. Diese Differenz wird von allen Befragten – unabhängig von ihrer disziplinären oder organisationalen Verortung – thematisiert. Der Pol der technologischen Vision ist dabei dadurch gekennzeichnet, dass davon ausgegangen wird, dass es durch fotorealistische Simulationen von Anlagen und den Einsatz von immersiven Mixed Reality-Elementen möglich wird, Schulungen an realen Maschinen nicht nur sinnvoll zu ergänzen, sondern zukünftig auch zu ersetzen und damit auch zeit- und ortsunabhängige Lernmöglichkeiten zu schaffen. Der Pol der pragmatischen Umsetzungsmöglichkeiten findet sich im Datenmaterial in den kategorisierten Herausforderungen, in denen betont wird, dass für die Entwicklung entsprechender Schulungsszenarien enorme Ressourcen benötigt werden. Dies betrifft die Modellierung von komplexen Anlagen mit entsprechendem fotorealistischen Detaillierungsgrad, die aufwendige Simulation spezifischer Fehlerfälle und die konkrete Begleitung der Lernenden. Insbesondere die Befragten mit industriellem Hintergrund betonen hier, dass gegenwärtig dafür kaum personale Ressourcen vorhanden wären. Zwischen Standardisierung und Individualisierung: Im empirischen Material wird – insbesondere von den Befragten mit industriellem organisationalen Hintergrund – der Wunsch formuliert, aus bestehenden Simulationsmodellen und Digitalen Zwillingen heraus automatisiert Schulungsszenarien zu generieren. Damit verbunden ist der Gedanke, ein wirtschaftlich rentables Schulungskonzept zu entwickeln, bei dem Kunden neben der Bereitstellung eines Digitalen Zwillings für ihre Anlage auch ein entsprechendes Schulungsangebot mit erwerben können. Dadurch würden auch die ohnehin kaum vorhandenen personalen Ressourcen für Schulungen in Industriebetrieben geschont werden. Diese Perspektive deutet auf den Wunsch nach einer wirtschaftlich rentablen Standardisierung der Schulungspraxis hin, die sich auch als effizientes Ge-
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schäftsmodell etablieren soll. Diesem Argumentationspol gegenüber stehen im Datenmaterial Aussagen, in denen auf die Notwendigkeit einer auf Kundenwünsche individualisierten Schulungspraxis verwiesen wird. Dabei geht es zum einen darum, für individuelle Kundenwünsche auch schlüsselfertige Lösungen, d. h. individuelle und didaktisch durchdachte Schulungskonzepte für nicht standardisierte Anlagen zu entwickeln. Zum anderen wird aber auch in der Beschreibung von Schulungsszenarien aus einer (technik)pädagogischen Perspektive auf die Bedeutung der individuellen didaktischen Begleitung von Anlagenschulungen mit Mixed Reality-Elementen verwiesen. Somit offenbaren sich widersprüchliche Überlegungen insofern, als einerseits Schulungen bzw. Schulungsmodelle zusammen mit dem Digitalen Zwilling der Anlage in einer Art Automatismus generiert, d. h. standardisiert und vor dem Hintergrund einer betriebswirtschaftlichen Begründungslogik, d. h. Effizienz ausgerichtet werden. Demgegenüber steht die pädagogisch-didaktische Einschätzung, dass insbesondere die didaktische Entwicklung von Lernszenarien an individuellen Anlagen äußerst aufwendig erscheint, wenn ein hoher Grad an Usability erreicht werden soll. Zudem müssten Schulungsleitungen die Lernenden im konkreten Lernsetting auch individuell begleiten. Zur Rolle von Schulungsleitungen: In Bezug auf die Lehrperson wird im Datenmaterial zunächst sichtbar, dass deren Rolle im Schulungsprozess nur marginal thematisiert wird. Vielmehr „verschwindet“ die Lehrperson, oder wird nicht systematisch mitgedacht, wenn über die Lernszenarien gesprochen wird. An anderen Stellen im Datenmaterial wird die Rolle der Schulungsleitung vornehmlich aus (technik)pädagogischer Perspektive im Modus der Problematisierung thematisiert. Dabei zeigt sich, dass Lehrpersonen für die Durchführung digitaler Schulungen mit Mixed Reality-Elementen sowohl in synchroner als auch in asynchroner Form zusätzliche Kompetenzen brauchen und eine didaktisch aufwändige Form der Schulungsbegleitung notwendig erscheint. Zudem wird aus der Perspektive der industriellen Interviewpartner*innen aus den KMU auf die gegenwärtige Situation von Schulungsleitungen in industriellen Betrieben verwiesen: So werden diese von technischen Fachexperten – zusätzlich zu ihren eigentlichen Projekten – als Dienstleistung für Kunden durchgeführt. Entsprechend stehen hier für die didaktische Vorbereitung kaum Zeitkontingente (und in der Regel auch keine besondere Wertschätzung) zur Verfügung. Die Argumentationen im Material springen daher zwischen den Polen einer verschwindenden Lehrperson und einer Perspektive, bei der der Lehrperson letztlich eine zunehmende Bedeutung zugeschrieben wird, hin und her. Mit den drei ambivalenten Spannungsfeldern wird deutlich, dass insbesondere zu Beginn des Projekts gleichzeitig recht konträre Sichtweisen auf die Entwicklungsmöglichkeiten, die Zielperspektiven und die Lehrenden in Schulungsszenarien mit Mixed Reality-Elementen vorzuliegen scheinen. Diese Erkenntnisse werden im Folgenden theoretisch reflektiert.
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4.2
Organisationstheoretische Reflexion und Ambivalenzen interdisziplinärer Zusammenarbeit
Die in der Verdichtung der Bedarfsanalyse herausgearbeiteten Spannungsfelder wurden in einem weiteren Schritt theoretisch reflektiert. Leitend war dabei die Beobachtung, dass die Pole der Spannungsfelder nicht im Modus des Kontrasts durch ein „entweder-oder“ gekennzeichnet erscheinen, sondern im Modus der Gleichzeitigkeit in Form eines „sowohl-als auch“. Anschlussfähig an dieser Beobachtung erschien dabei das soziologische Konzept der Ambivalenz. Ambivalenzen bezeichnen in der soziologischen Forschung „Erfahrungen des Vaszillierens zwischen entgegengesetzten Polen des Fühlens, Denkens, Wollens und sozialer Strukturen“ (Lüscher 2016, S. 124). Während in der ursprünglichen Konzeption des Konstrukts der Ambivalenz vornehmlich deren Beziehung zu Identität herausgearbeitet wird, beziehen sich die im Datenmaterial identifizierten Polaritäten auf „die Sache“, auf den Gegenstand, im Projekt ein Mixed Reality-Schulungskonzept zu entwickeln. Wenn man danach fragt, inwiefern diese abstrahierten Ambivalenzen im Datenmaterial interpretiert werden können bzw. vor welchem Hintergrund diese entstehen, kann zunächst auf die unterschiedlichen interdisziplinären und organisationalen Hintergründe der Befragten im Sample verwiesen werden. Die befragten Personen kommen aus den Bereichen technologische Wissenschaft, KMU-Industrie und pädagogisch didaktische Wissenschaft und Praxis. Sie sind demnach in unterschiedlichen Organisationen verortet und haben differenzierte disziplinäre Sichtweisen auf die Konzeption von Schulungsszenarien mit Mixed Reality-Elementen. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden die im Material sichtbar werdenden Differenzen organisationstheoretisch reflektiert und als Phänomen interdisziplinärer Zusammenarbeit diskutiert. Organisationstheoretisch betrachtet kann zunächst argumentiert werden, dass Organisationen, für die die Befragten tätig sind, jeweils unterschiedliche Organisationszwecke verfolgen und ihr Handeln dementsprechend ausrichten (vgl. Kühl 2011; Luhmann 2006). Industrielle Organisationen sind Teil des Wirtschaftssystems und verfolgen mit ihrem organisationalen Handeln den Zweck, wirtschaftlich effizient zu handeln, wettbewerbsfähig zu bleiben und langfristig Gewinne zu erwirtschaften. Die wissenschaftlichen Organisationen aus den technischen Bereichen richten ihr organisationales Handeln auf den Zweck aus, Erkenntnisse zu generieren und Phänomene zu erforschen und zu entwickeln. Hier geht es beispielsweise um Erkenntnisse zu Möglichkeiten und Grenzen der Visualisierung von Simulationsmodellen oder der Erforschung und Entwicklung von Augmented, Virtual und Mixed Reality-Methoden für die Produktion. Die assoziierten Partner aus dem Bildungsbereich richten ihr organisationales Handeln hingegen normativ auf die Ermöglichung von Lern- und Bildungsprozessen aus. Hier steht weniger die technologische Innovation oder mögliche Rentabilität eines Schulungsmodells im Mittelpunkt, sondern eher die subjektorientierte
Interdisziplinäre Perspektiven auf Lernen mit Mixed Reality
Frage danach, wie Lernen durch digitale Technologien ermöglicht und gegebenenfalls verbessert werden kann. Die im Datenmaterial sichtbar werdenden Ambivalenzen lassen sich zum zweiten auch mit Blick auf die im Projekt inhärente Interdisziplinarität deuten. So sind im Projektzusammenhang nicht nur Personen aus unterschiedlichen Organisationen tätig. Vielmehr prägen auch deren disziplinäre Hintergründe den Blick auf den Gegenstand der Schulungsszenarien. Die Befragten aus dem wissenschaftlich technologischen Bereich blicken dementsprechend auf die technologischen Möglichkeiten, während die Befragten aus der Industrie mit disziplinären Hintergründen aus der Ingenieurwissenschaft oder der Steuerungstechnik die Relation von realen und virtuellen Steuerungselementen sowie die Interaktion mit potenziellen Kunden im Blick haben. Die Befragten mit (technik)pädagogischen Hintergrund fokussieren stärker die möglichen Interaktionen im Schulungssetting und die Rolle von Lehrenden und Lernenden als Interaktionspartner. Die sichtbar werdende Interdisziplinarität war und ist der Ausgangspunkt des MRiLS-Projekts, mit dem auf gesellschaftliche Entwicklungen – wie die Digitalisierung im Bildungsbereich – reagiert wird. Die Notwendigkeit zum interdisziplinären Arbeiten ergibt sich im Projekt – analog zu den theoretischen Beschreibungen zu Interdisziplinarität – aus dem Defizit einer singulär agierenden Disziplinären Perspektive (vgl. Kocka 1987), nach der eine Disziplin alleine an eine Entwicklungs- oder Erkenntnisgrenze (vgl. Mittelstraß 1987) stößt. Für das MRiLS-Projekt besteht das Defizit darin, dass die Entwicklung von Schulungsszenarien mit Mixed Reality-Elementen von keiner der beteiligten Disziplinen allein realisiert werden kann. Vielmehr braucht es die technologisch wissenschaftliche Sichtweise, um virtuelle und argumentierte Realität zu modellieren. Es braucht die Perspektive der Entwicklungsingenieure, um die reale Steuerung von Anlagen mit der virtuellen zu koppeln. Schließlich braucht es (technik)pädagogische Perspektiven, um zu überlegen, wie aus den technologischen Simulationen eine anregende Lernumgebung entstehen kann, in der Lernende mit unterschiedlichen Devices miteinander und mit der Lehrperson interagieren können. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit basiert daher im Projekt auf einer funktionalen Notwendigkeit (vgl. Euler 2005), verschiedene disziplinäre und organisationale Hintergründe zu beteiligen. Diese Form der Zusammenarbeit impliziert bekannte He rausforderungen von Interdisziplinarität, die auch im Datenmaterial beobachtbar sind: „Diese Forschung stellt hohe Ansprüche an die Beteiligten: intensive Kommunikation und Kooperation bilden die Voraussetzung zu einer tatsächlichen Integration und damit Problemlösung, ebenso wie eine gemeinsame Problemsicht und Sprache. Gleichzeitig muss das erworbene Wissen handlungswirksam werden, d. h. ein Transfer in die Öffentlichkeit in die Praxis muss gewährleistet sein“ (Defila & Di Giulio 1998, S. 118).
In diesem Zitat werden die Herausforderungen interdisziplinärer Zusammenarbeit benannt, die insbesondere zu Beginn bei interdisziplinären Projekten auftreten. In der
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empirischen Forschung wird deutlich, dass sich zu Beginn der interdisziplinären Zusammenarbeit noch kein gemeinsames Problembewusstsein oder keine gemeinsame Sprache etabliert hat. Vielmehr wird vor dem Hintergrund der eigenen disziplinären Perspektive argumentiert, wodurch sich gleichzeitig recht widerstreitende Positionen im Material zeigen. Entsprechend werden ambivalente Positionierungen deutlich, nach der beispielsweise sowohl auf Standardisierung als auch auf Individualisierung abgezielt werden. Wenn diese Kontraste – wie wir es hier versuchen – theoretisch als Ambivalenzen verstanden werden, können die in der Forschung thematisierten Kommunikationsanforderungen in der interdisziplinären Zusammenarbeit etwas präzisier interpretiert werden. Interdisziplinäre Ambivalenzen können dann als strukturelles Phänomen interdisziplinärer Zusammenarbeit verstanden werden, die nicht aufgelöst, aber durch gezielte Kommunikations- und Verstehensprozesse bearbeitet werden können. 5 Ausblick
Aus den aufgezeigten Ambivalenzen lassen sich erste Implikationen für die interdisziplinäre Projektzusammenarbeit ableiten. So besteht die Chance, verschiedene Perspektiven in den Entwicklungsprozess einfließen zu lassen und damit einen mehrperspektivischen Zugang zur Entwicklung von innovativen Schulungsszenarien bereitzustellen. Gleichzeitig sind damit auch Herausforderungen verbunden, da die disziplinären Hintergründe der jeweiligen Projektpartner mit differenzierten Handlungs- und Denkstrukturen verknüpft sind, die wiederum in der Zusammenarbeit offengelegt und gegebenenfalls auch übersetzt werden müssen. Damit verbunden ist eine durchaus konstruktive, aber auch kognitiv herausfordernde Kommunikation, in der manche Aspekte, wie z. B. das jeweilige Bildungsverständnis und die dahinterliegenden Ziele selten explizit zum Thema werden. Entsprechend wichtig ist dabei eine explizite Thematisierung von ambivalenten Positionen und Zielsetzungen, um das gegenseitige Verständnis für die jeweiligen Interessen zu fördern und Entscheidungen aus den unterschiedlichen Perspektiven heraus fällen bzw. begründen zu können. Dazu ist eine transparente, metaperspektivische Kommunikation zu den jeweiligen Überlegungen und Entscheidungen notwendig. Für die interdisziplinäre Zusammenarbeit lässt sich daraus schließen: „Es ist wichtig, immer wieder auf einer Metaebene die beteiligten Akteur*innen […] daran zu erinnern, welches Verständnis von Interdisziplinarität jeweils zugrunde liegt und welche Chancen und Grenzen mit diesem verbunden sind. Ein solches Reflektieren ist dabei nicht nur ein wichtiges Instrument zur Beteiligung und Einbindung aller Personen, sondern es unterstützt über eine begriffliche, methodische und inhaltliche Auseinandersetzung das Suchen und Finden eines eigenen professionell-interdisziplinären (Selbst-) Verständnisses“ (Lerch 2021, S. 18).
Interdisziplinäre Perspektiven auf Lernen mit Mixed Reality
Somit können regelmäßige Metakommunikation und Reflexion für weitere interdisziplinäre Zusammenarbeiten nutzbar gemacht werden. Für die wissenschaftliche Forschung hält dies erkenntnisreiche Potenziale bereit. Literatur
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201
Eine Interviewstudie zu den Unterstützungsbedarfen und -potenzialen von Virtual Reality für Personen im Autismus-Spektrum*
EVELYN ISABELLE HOFFARTH / BERND ZINN
Zusammenfassung: Das Verständnis einer Person für die Gefühle des Gegenübers kann herausfor-
dernde zwischenmenschliche Situationen positiv beeinflussen. Im Beitrag wird davon ausgegangen, dass ein besseres wechselseitiges Verständnis zu den Gefühlen von Personen im Autismus-Spektrum (PiAS) und nicht-autistischen Menschen helfen kann, sozial-emotionale Schwierigkeiten zwischen den beiden Personengruppen zu minimieren. Zudem wird die Annahme getroffen, dass virtuelle Umgebungen (Virtual Reality, VR) geschützte Lern- und Erfahrungsräume bieten können, um ein besseres Verständnis in alltäglichen Situationen zu trainieren. Im Kontext dessen geht die vorliegende Interviewstudie (N = 22) den spezifischen Ausgangslagen von PiAS und Unterstützungspotenzialen nach. Die qualitativen Befunde liefern ein systematisches Beschreibungswissen zur Konzeptionierung von VR-Use Cases. Die Ergebnisse zeigen auf, dass ein Bedarf an adaptiven Use Cases für PiAS besteht, in denen sich wiederholende Handlungsabläufe mit Interaktion und Kommunikation als Routinen und unvorhergesehenen Situationen trainiert werden können, um Hemmnisse zu reduzieren, das Sozialverhalten zu verbessern und ein wechselseitiges Verständnis zu den Emotionen von Personen zu trainieren. Schlüsselwörter: Autismus-Spektrum, virtuelle Realität, Probleme von Personen im AS, emotionale Situation, Unterstützung.
* Das
diesem Artikel zugrundeliegende Vorhaben „Einsatz neurophysiologischer Schnittstellen und taktil unterstützter virtueller Realität zur Förderung von beruflicher Inklusion“ (UFO) wird im Rahmen des Forschungsprogramms zur Mensch-Technik-Interaktion „Technik zum Menschen bringen“ mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 16SV8722 gefördert.
204
Evelyn Isabelle Hoffarth / Bernd Zinn
An Interview Study of the Support Needs and Potential of Virtual Reality (VR) for Individuals on the Autism Spectrum Abstract: A person’s understanding of the other person’s feelings can positively influence challeng-
ing interpersonal situations. In this article, we assume that a better mutual understanding of the feelings of persons on the autism spectrum (PiAS) and non-autistic persons can help to minimize social-emotional difficulties between the two groups of persons. In addition, we hypothesize that virtual reality (VR) environments can provide protected learning and experiential spaces to practice better understanding in everyday situations. In the context of this, the present interview study (N = 22) explores the specific starting points of PiAS and support potentials. The qualitative findings provide a systematic descriptive knowledge for conceptualizing VR use cases. The findings indicate that there is a need for adaptive use cases for PiAS in which repetitive action sequences with interaction and communication can be trained as routines and unanticipated situations to reduce inhibitions, improve social behavior, and train reciprocal understanding to people’s feelings. Keywords: autism spectrum, virtual reality, problems of persons in the AS, emotional situation, support.
1 Einleitung
Mit virtuellen Lern- und Arbeitsumgebungen lässt sich ein vernetztes kollaboratives und gleichzeitig individuelles, räumlich und zeitlich flexibles Lernen und Arbeiten in einem geschützten Raum ermöglichen. Neue Interaktionsformen mittels natürlicher Interaktionsschnittstellen für Visualisierung, Interaktion und Fortbewegung können, im Vergleich zu traditionellen computergestützten Settings, durch die direkte Steuerung eine authentische Lern- und Arbeitserfahrung ermöglichen. Dies kann den Wissenstransfer des Gelernten auf spätere Anwendungssituationen erleichtern. Mit der Einbindung von immersiver virtueller Realität (VR) in Förderarrangements werden Potenziale zur Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen und einer individuellen Diagnostik und Förderung von lernbeeinträchtigten Menschen verbunden. Zudem können therapeutische Interventionen mit VR zur Verbesserung der autistischen Kernsymptome und täglicher lebenspraktischer Fertigkeiten bei Personen im Autismus-Spektrum (PiAS) beitragen (vgl. Karami et al., 2021; Lorenzo et al., 2018; Robles et al., 2022; Zinn, 2017; Zinn et al. 2020). Der Beitrag möchte ebenfalls zum besseren Verständnis im Miteinander von Personen im Autismus-Spektrum und nicht autistischen Personen beitragen. Die Autorin und der Autor haben sich deshalb für die Formulierung PiAS und nicht den medizinischen Fachausdruck „Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung“ entschieden. PiAS umfasst alle autistischen Personen, die die Diagnosekriterien für eine Autismus-Spektrum-Störung (definiert in „Internationale Klassifikation der Krankheiten“) erfüllen, wobei nicht die autistische Störung im Vordergrund stehen soll, was zur Entstigmatisierung der Personengruppe beitra-
Eine Interviewstudie zu den Unterstützungsbedarfen und -potenzialen von Virtual Reality
gen kann. Auch wenn davon ausgegangen wird, dass VR das Potenzial zur Förderung von Menschen mit besonderen visuellen, auditiven und taktilen Bedürfnissen hat (vgl. Karami et al., 2021), so bestehen nach den vorliegenden Studien bisher wenige Anwendungen und Hinweise zur Konzeptionierung dieser sowie relevante Use Cases zur Unterstützung und Förderung von PiAS. Obwohl VR einen geschützten Lernraum ermöglichen kann, ist der Entwicklungs- und Forschungsstand übersichtlich und stellt ein Forschungsdesiderat dar. Im Kontext dessen und aufbauend auf dem noch detailliert darzustellenden Forschungsstand beschäftigt sich der vorliegende Beitrag, im Rahmen einer explorativen qualitativen Studie, mit der Analyse potentieller Unterstützungsmöglichkeiten und -bedarfe sowie der bedarfs- und zielgruppenbezogenen Ableitung von Use Cases für adaptive VR-Anwendungen zur Förderung von PiAS und Kontaktpersonen. Im Beitrag werden die Besonderheiten, die bei der Entwicklung von VR-Anwendungen, in Bezug auf die Zielgruppe und ihrer spezifischen Probleme, Ängste und Verhaltensweisen, auftreten können, aufgezeigt. Hierzu werden im Beitrag der theoretische Hintergrund zu Autismus-Spektrum-Störung (ASS) und VR im Überblick dargestellt sowie der Forschungsstand zur Förderung von PiAS im Kontext von VR beschrieben (Kapitel 2). Im Anschluss werden das Studiendesign (Kapitel 3) und die Ergebnisse der Interviewstudie dargestellt (Kapitel 4). Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung der gewonnen Erkenntnisse sowie deren Implikationen für die Konzeptionierung von VR-Förderumgebungen für PiAS (Kapitel 5) ab. 2
Theoretischer Hintergrund und Forschungsstand
2.1
Begriffsbestimmung und Bedeutung von Autismus-Spektrum-Störung
Im wissenschaftlichen Kontext beschrieben erstmals Leo Kanner (1943) den „frühkindlichen Autismus“ und Hans Asperger (1944) eine Variante des Autismus, das nach ihm benannte „Asperger-Syndrom“. Sie erkannten, dass diese Störung angeboren ist bzw. in früher Kindheit entsteht. Die beschriebenen Auffälligkeiten haben bis heute Gültigkeit. Während sich wissenschaftliche Studien der Vergangenheit Betroffenen des frühkindlichen Autismus mit überwiegend deutlicher kognitiver Beeinträchtigung widmeten, wurde heute dazu übergegangen, die „kategoriale“ Definition zugunsten der Beschreibung eines „Spektrums“ zu verlassen und innerhalb dessen unterschiedliche Schweregrade und zusätzliche Probleme (intellektuelle Beeinträchtigung, Sprachentwicklungsstörungen, Anfallsleiden, etc.) zu kodieren (vgl. KampBecker & Bölte, 2021). Nach der Klassifikation der International Classification of Diseases (ICD), der Weltgesundheitsorganisation, ist die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) in die neuronalen Entwicklungsstörungen eingruppiert. Der Begriff Spektrum wird dabei verwendet, um auf das breite Spektrum an intellektuellen Funktionen und Sprachfähigkeiten der Personen, die diesem angehören, zu verweisen (vgl. ICD-11,
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Evelyn Isabelle Hoffarth / Bernd Zinn
WHO, bfarm, 2022). Historische Entwicklungen zum Thema Autismus und die weiterhin andauernden Diskussionen zur Definition machen deutlich, dass es sich um ein heterogenes Störungsbild mit vielfältigen Facetten handelt. Kennzeichnend für eine ASS sind anhaltende Defizite in der Fähigkeit, wechselseitige soziale Interaktion und soziale Kommunikation zu initiieren, aufrechtzuerhalten und ebenso (z. B. hinsichtlich Mimik, Gestik und Gefühlen des Gegenübers) zu verstehen. Zur Symptomatik zählen zudem eingeschränkte, sich wiederholende und unflexible Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, einschließlich des stereotypen oder repetitiven Gebrauches von Objekten und Sprache, die für das Alter und den soziokulturellen Kontext der Person eindeutig untypisch oder exzessiv sind. Die Defizite führen meist zu Beeinträchtigungen in persönlichen, beruflichen oder anderen gesellschaftlichen Bereichen und sind charakterisiert durch Probleme bei der sozialen Kommunikation und Interaktion. Diese Symptome können sich im Lauf der Entwicklung hinsichtlich ihrer individuellen Ausprägung verändern, die grundlegenden Defizite und daraus entstehenden Probleme bestehen jedoch in der Regel lebenslang (vgl. Baker & Blacher, 2021; ICD-11, WHO, bfarm 2022; Kamp-Becker & Bölte, 2021). In Bezug auf den Grad der Beeinträchtigung sowie hinsichtlich der kognitiven, verbalen, motorischen, sozialen sowie adaptiven Fähigkeiten ist die individuelle Variabilität der Betroffenen hoch. Die ASS ist damit eine früh beginnende, neurologisch-psychiatrische und mehrere Alltagsfunktionen beeinträchtigende, überdauernde Störung, deren Abgrenzung von anderen Störungsbildern (z. B. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS), Angst-, Zwangsstörungen, etc.) schwierig sein kann. Entsprechend der Einteilung wird spezifiziert, ob die ASS mit oder ohne begleitende intellektuelle oder sprachliche Beeinträchtigung, in Verbindung mit einer bekannten körperlichen Erkrankung, genetischen Prädispositionen oder Umweltbedingung (z. B. Epilepsie, Frühgeburt) oder in Verbindung mit anderen Störungen, vorliegt (z. B. Aufmerksamkeitsstörung). Zur Symptomatik von ASS zählen erkennbare Auffälligkeiten wie bspw., dass der Blickkontakt auffällig nicht sozial moduliert ist oder Mimik und Gestik nicht eingesetzt werden, um die soziale Interaktion sinnentsprechend zu begleiten und Aufmerksamkeit zu lenken. Die Ausprägung kann von einem Unvermögen auf soziale Interaktion zu reagieren bzw. diese zu initiieren, bis zu einer abnormen sozialen Kontaktaufnahme und wechselseitiger Konversation, bei der Emotionen und soziale Situationen missverstanden werden sowie einem verminderten Austausch von Interessen, Gefühlen und Affekten variieren (vgl. Kamp-Becker & Bölte, 2021). Die Auswirkungen von ASS sind oftmals dauerhafte Arbeitslosigkeit (vgl. Hedley et al., 2017), soziale Isolation und Unfähigkeit, selbständig leben zu können (vgl. Orsmond et al., 2013). Der Beginn der Störung liegt typischerweise in der frühen Kindheit, aber die Symptome können sich ebenfalls erst später vollständig manifestieren, wenn die sozialen Anforderungen die begrenzten Fähigkeiten übersteigen. Der Übergang von verschiedenen Entwicklungs- und Lebensphasen ist von Bedeutung (z. B. Schuleintritt, Pubertät, Übergang von Schule zur Berufsausbildung, Berufseinstieg). Diese Phasen
Eine Interviewstudie zu den Unterstützungsbedarfen und -potenzialen von Virtual Reality
gehen mit einer erhöhten Vulnerabilität für komorbide Erkrankungen, aber auch mit der Möglichkeit einher, in dieser Lebensphase Resilienzfaktoren (z. B. lebenspraktische Fertigkeiten, Perspektiven, Eigenständigkeit) aufzubauen (vgl. Kamp-Becker & Bölte, 2021). Geschätzt wird, dass weltweit eines von 100 Kindern eine ASS hat (vgl. Zeidan et al., 2022). Diese Schätzung stellt eine durchschnittliche Zahl dar, bei der die berichtete Prävalenz erheblich zwischen den Studien variiert und in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen unbekannt ist (vgl. WHO, 2022). Die Prävalenz von ASS hat nach einigen Studien zugenommen und wird derzeit zwischen 0,9 % und 1,5 % angegeben (vgl. Fombonne, 2020). 2.2
Technologie der virtuellen Realitäten
Unter dem Begriff der Virtual Reality bzw. virtuellen Realität (VR) werden technologische Möglichkeiten zusammengefasst, mit denen virtuelle Umgebungen erfahrbar gemacht werden können. Grundlage virtueller Umgebungen bilden computergenerierte Echtzeitdarstellungen von realen oder fiktiven Umgebungen, in die Personen, die diese nutzen, eintreten und in denen sie über diverse Interaktionsschnittstellen mit weiteren Personen darin interagieren können (vgl. Zinn & Ariali, 2020). Die Sinneseindrücke der nutzenden Person werden in einer VR über künstliche und natürliche Interaktionsschnittstellen übertragen. Insbesondere natürliche Interaktionsschnittstellen ermöglichen für die Visualisierung eine realitätsbezogene Navigation und Interaktion und können damit eine authentischere Erfahrung realisieren. Neben dem dreidimensionalen visuellen Eindruck von immersiven VR-Technologien bzw. -Anwendungen, wird bei VR ebenso ein auditives und taktiles Feedback vermittelt und dadurch ein räumliches Szenario geschaffen, das in der Summe der Wahrnehmungskanäle den Eindruck erwecken kann, sich in einer digitalen Welt zu befinden, die vollständig von der realen Außenwelt isoliert existiert (vgl. Jung & Vitzthum, 2014; ebd.). Wie einleitend beschrieben, können VR das Erleben von Immersion aus der Egoperspektive begünstigen und ermöglichen vielfältige Interaktionen, Flexibilität und das Gefühl von Präsenz, das motivierend und förderlich für die aktive Partizipation der nutzenden Person sein kann (vgl. Soler et al., 2017). Im Folgenden wird näher auf die unterstellten Vorteile und den empirischen Forschungsstand im Bezugsfeld eingegangen. 2.3
Virtuelle Realitäten und ihr Forschungsstand im Bezugsfeld von PiAS
Aufbauend auf Pionierarbeiten von Strickland (1996 et al.; 1997) und Trepagnier (1999), wurde festgestellt, dass VR ein nützliches technologisches Medium für PiAS zur Vorbereitung, als Ergänzung und als Ersatz für das Erlernen von Konzepten und Fähigkeiten in realen Umgebungen sein kann (vgl. Garzotto et al., 2017; Parsons 2016;
207
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Parsons & Mitchell, 2002; Parsons et al., 2004, 2013; Rizzo et al., 2006). Die Gruppe der Autorinnen und Autoren Bozgeyikli et al. (2018) sowie Kientz et al. (2020) fassen Vorteile, Risiken und Bedenken von VR und Gesichtspunkte zum Design zusammen. Als Vorteile von VR-Umgebungen werden dabei u. a. gesehen: die Anpassung der Inhalte an die individuellen Bedürfnisse (vgl. Lorenzo et al., 2018), Kombinationsoptionen und Anpassungsfähigkeit sowie Replikationsmöglichkeiten als „ideale“ klinische Testfelder für Bewertungen und Verhaltenstests (vgl. Duffield et al., 2018). Ein Vorteil wird zudem darin gesehen, dass die Reize primär visuell ausgebracht werden; unter der Annahme, dass PiAS von visuell dargestellten Informationen stärker profitieren können und bessere Lernergebnisse erzielt werden (vgl. Garzotto et al., 2017). VR schaffen geschützte Umgebungen für Rollenspiele und ermöglichen die aktive Teilnahme in repräsentativen Situationen aus verschiedenen Perspektiven (vgl. Parsons & Mitchell, 2002). Die Komplexität der Umgebung oder störender und konkurrierender Stimuli können reduziert werden, um die Aufmerksamkeit zu erhöhen (vgl. Goldsmith et al., 2004; Parsons & Mitchell, 2002; Rizzo, 2006). Im Rahmen therapeutischer Behandlungen können VR-Anwendungen gestoppt und mehrfach durchlaufen werden (vgl. Garzotto et al., 2017). Zudem wird davon ausgegangen, dass VR geeignet erscheint, um das Verhalten von PiAS zu erforschen (vgl. Rajendran, 2013). Trotz aller Vorteile werden von Gesundheitsexpert*innen, Lehrpersonen, Eltern und PiAS gleichfalls Risiken und Bedenken in der Nutzung von VR gesehen (vgl. Markopoulos, 2018). Risiken ergeben sich für PiAS bei der Nutzung von VR-Systemen im Hinblick auf sensorische Überstimulation, VR-induzierte Symptome wie Motion Sickness und Irritationen durch die am Kopf getragenen Displays (Wallace et al., 2010). Auch über die tatsächlichen Wahrnehmungsauswirkungen ist bisher wenig bekannt, weshalb die Desktopcomputervariante als Alternative zu virtuellen Szenarien vorgeschlagen wird (vgl. Saadatzi, 2021). Obwohl die Erfahrungen der nutzenden Personen von VR-Anwendung überwiegend positiv sind, gilt es die vereinzelten Abbrüche, wenn die VR-Anwendung von den PiAS-Nutzenden nicht fortgesetzt wurde, zu berücksichtigen. Aufmerksamkeit ist ebenso der Umsetzung der Sicherheit und Ethik, wie der Länge und Häufigkeit der Exposition der Headset- oder Head-Mounted Display (HMD)-basierten VR, im Speziellen für PiAS, zu widmen (vgl. Newbutt et al., 2016). Bedenken bestehen hinsichtlich der Sicherheit (z. B. Stolpern und Stürze). Zudem können Angst und Wahrnehmungsstörungen auftreten und gesteigert werden (vgl. Kellmeyer, 2018). Hinsichtlich der Nutzung von HMD-basierter VR durch PiAS liegen, nach den uns vorliegenden Daten, keine Leitlinien für vorteilhaftes Design und Hardwareempfehlung vor (vgl. Schmidt et al., 2021). Studien zu Effekten der Nutzung von VR durch Schüler*innen im AS betrachten unterschiedliche Anwendungsgebiete, sind meistens durch kleine Stichprobengrößen charakterisiert, ohne Kontrollgruppe und interaktive Aktivitäten und fokussieren vorwiegend soziale Kompetenzen (vgl. Lorenzo et al., 2018). Nach der Reviewstudie von Lorenzo et al. (ebd.), in der zwölf Studien im Zeitraum von 1990– 2017 einbezogen sind, wurden folgende Forschungsschwerpunkte fokussiert: soziale
Eine Interviewstudie zu den Unterstützungsbedarfen und -potenzialen von Virtual Reality
Kompetenzen (vgl. Matsentidou & Poullis, 2014; Tzanavari et al., 2015), emotionale Kompetenzen (vgl. Horace et al., 2016; Lorenzo et al., 2016) und nonverbale Kommunikation als Teilfacette der Kommunikationskompetenz (vgl. Cai et al., 2013). Die in den zwölf Studien einbezogenen Kontexte beziehen sich vorwiegend auf typische Schul- und Alltagssituationen von Kindern und Jugendlichen. Übergreifend ist festzustellen, dass die wahrgenommene Immersion in den Studien durch die Testpersonen durchgängig positiv eingeschätzt wird und etwaige Befürchtungen durch Risiken von VR für die Zielgruppe durch Studien nicht gestützt werden (vgl. Lorenzo et al., 2018). Zudem wird in der Reviewstudie konstatiert, dass sich die einbezogenen Schüler*innen im AS aufgrund der realistischen Darstellung der Szenen und des Strukturierungsgrades der VR-Umgebungen in den studienspezifisch beobachteten Merkmalen (u. a. das Planen von Aufgaben und sich mit ihnen vertraut machen und die exekutiven Funktionen und sozialen Fähigkeiten) verbesserten. Das Forschungsteam hebt kritische Aspekte zu den vorliegenden Studien im Hinblick auf die geringe Stichprobengröße, die Verallgemeinerung der Erkenntnisse auf andere Kontexte und deren Transferfähigkeit in die Realität hervor (vgl. Lorenzo et al.; ebd.). Anknüpfend an Standen und Brown (2005) und den Forschungstand ist festzustellen, dass die betrachteten VR-Anwendungen mehrheitlich berufliche oder alltagsbezogene Kontexte beinhalten und verschiedene Kompetenzfacetten, meistens in Förderkontexten, adressieren. Nach den uns vorliegenden Daten liegen keine virtuellen Trainingsanwendungen vor, die gleichzeitig von PiAS und nicht-autistischen Personen genutzt werden, um das gegenseitige Verständnis füreinander zu fördern. Die Nutzung entsprechender virtueller Anwendungen in bildungsbezogenen, beruflichen oder sonstigen gesellschaftlichen Bereichen könnte jedoch dazu beitragen, ein besseres gegenseitiges Verständnis zu fördern. So könnten VR-Umgebungen in einem geschützten Rahmen von beiden Personengruppen genutzt werden, um über die individuelle Wahrnehmung aus der Perspektive von PiAS und von nicht autistischen Personen zu sprechen und zu einer besseren Perspektivenübernahme führen. 3
Anlage der empirischen Studie
3.1
Forschungsziel und Forschungsfragen
Das Ziel der Studie liegt erstens in der Exploration alltäglicher Problemsituationen von PiAS sowie darauf basierend zweitens die Ableitung von begründeten Use Cases für VR-Trainingsszenarien für PiAS und deren Kontaktpersonen. Aufbauend auf den beiden Zielsetzungen werden folgende Forschungsfragen aufgestellt: Forschungsfrage 1: Welche VR-Szenarien lassen sich aus den alltäglichen Herausforderungen von PiAS ableiten? (F1)
209
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Evelyn Isabelle Hoffarth / Bernd Zinn
Forschungsfrage 2: Inwiefern kann VR für PiAS und Kontaktpersonen als Förderbzw. Trainingsangebot herangezogen werden? (F2) Forschungsfrage 3: Was ist für die kontextuelle und inhaltliche Gestaltung von virtuellen Trainingsanwendungen für die Gruppe der PiAS spezifisch zu beachten? (F3) 3.2 Methode
Zur Beantwortung der explorativen Forschungsfragen wurde ein qualitativer Ansatz mit leitfragengestützten halbstrukturierten Interviews gewählt. Der Interviewleitfaden wurde auf Basis des im zweiten Abschnitt dargestellten theoretischen Hintergrunds und dem Forschungsziel erstellt. Der Interviewleitfaden beinhaltet vier Leitfragenbereiche (bzw. Auswertungskategorien): (1.) Problemsituationen (K1), (2.) emotionale Aspekte (K2), (3.) Unterstützungsangebote (K3) und (4.) Unterstützungsbedarfe (K4). Zu K1 wurden die Interviewpersonen gefragt, welche Problemsituationen sie identifizieren bzw. mit welchen Problemen PiAS an sie herantreten, was diese als überfordernde Situationen wahrnehmen und wie sich dies bei PiAS äußert. Zu K2 wurden die Interviewten zu Situationen mit negativen sowie mit positiven Gefühlen von PiAS befragt, ebenfalls aus der Außenansicht wiedergegeben. Während K3 die bereits bestehenden Angebote für PiAS umfasst, wird in K4 auf die Bedarfe eingegangen und der Frage nachgegangen, inwiefern PiAS aus Sichtweise ihrer Kontaktpersonen (mit VR-Anwendungen) unterstützt werden können. Die Stichprobe umfasst eine Personengruppe, die professionell oder im familiären Bereich regelmäßig mit PiAS in Kontakt treten. Leitend für die Zusammenstellung dieses Samples war die Annahme, dass PiAS aus ihrer subjektiven Sichtweise über ihre einzelnen Bedarfe berichten, während nicht autistische Personen über verschiedenste Ausprägungen des AS aufgrund ihres Fach- oder Erfahrungswissens berichten können. Für die Auswahl der Interviewpersonen (IP) wurden ferner folgende drei Kriterien festgelegt: (1.) Zusammenarbeit der Person mit PiAS seit mindestens einem Jahr. (2.) Nicht autistische Person, d. h. diese gehört selbst nicht dem AS an. (3.) Person ist folgenden Bereichen zuzuordnen: Beratungstätigkeit, Therapieren, Unterrichten, Zusammenarbeiten, Alltagsbegleitung, Zusammenleben, in Form einer beruflichen bzw. ehrenamtlichen Tätigkeit und/oder in familiärem Verband oder privatem Umfeld. An der Interviewstudie nahmen N = 22 Personen im Zeitraum 10.2021–02.2022 teil. Die befragten Personen waren im Alter zwischen 24 und 76 Jahren (M = 49.5 Jahre; SD = 15.0 Jahre). Eine ausführliche Beschreibung der interviewten Personen ist der Übersicht von Tab. 1 zu entnehmen. Die Zusammensetzung des Sampling stellt sich wie folgt dar: (psychologische) Beratung (n = 14), Selbsthilfegruppen (n = 8), Angehörige von PiAS (n = 7), Psychiater*innen (n = 3), Lehr- und Schulbegleitperson (n = 6), Forschende zu PiAS (n = 2) und Jobcoaches für PiAS (n = 2). Die meisten interviewten Personen arbeiten professionell
Eine Interviewstudie zu den Unterstützungsbedarfen und -potenzialen von Virtual Reality
mit PiAS. Alle teilnehmenden Personen wurden über das Ziel und den Ablauf der Studie informiert und gaben ihr schriftliches Einverständnis zur Aufzeichnung sowie wissenschaftlichen Verwendung der Interviews. Die Interviews wurden coronabedingt mehrheitlich telefonisch durchgeführt und die durchschnittliche Interviewdauer betrug rund 50 Minuten (SD = 23.9 min.). Die inhaltliche Sättigung (vgl. z. B. Glaser & Strauss, 1998) trat nach 22 Interviews ein. Die Interviews wurden nach den Regeln von Rädiker und Kuckartz (2019) transkribiert, geglättet und Angaben, die einen Rückschluss auf eine befragte Person gaben, anonymisiert. Die Transkription erfolgte automatisiert durch die Spracherkennungssoftware f4x, durchlief eine Überarbeitung durch eine wissenschaftliche Hilfskraft und abschließend eine zusätzliche Kontrolle. Die Datenauswertung erfolgte auf Basis der strukturierten Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) mit der Software MAXQDA (Version 20). Die Kategorienbildung fand in einem iterativen Prozess sowohl deduktiv konzeptgesteuert auf Basis des Interviewleitfadens als auch induktiv datengesteuert auf Basis der Aussagen der Interviews statt (vgl. Rädiker & Kuckartz, 2019; Schreier, 2012). Zur Überprüfung der Interrater-Übereinstimmung wurden die Antworten von zwei unabhängigen Personen kodiert und Cohens Kappa nach Brennan und Prediger (1981) berechnet. Die Interrater-Reliabilität in den einzelnen Kategorien ist mit sehr gut (Cohen’s Kappa-Koeffizient für κ1: 0.84, κ2: 0.82, κ3: 0.82, κ4: 0.85) zu bezeichnen (vgl. Cicchetti, 1994). 4 Ergebnisse
Im Rahmen der inhaltsanalytischen Auswertung der Interviewdaten wurden 1.526 Codes entsprechend des Kategoriensystems kodiert. Die Codes der 26 Fragekategorien wurden zur Stichprobe beschreibenden Kategorie und den vier Kategorien (K1 bis K4 mit 283 Unterkategorien (UK)), vergeben. Die Kategorien in differenzierter Form mit Ausprägungen zu allen UK werden im Beitrag bei den Ergebnissen nur ausschnittsweise in Bezug auf relevante Schlüsselkategorien der Forschungsfrage näher erläutert. Im Rahmen der Ergebnisdarstellung finden zudem ausgewählte Zitate Verwendung, um die unterschiedlichen Positionen der Befragten zu illustrieren. Exemplarisch wurden Ausprägungen ausgewählt und mit Beispielen belegt, die für VR als relevant erachtet werden und zu denen, unter Berücksichtigung der technischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, VR-Szenarien abgeleitet werden könnten. 4.1
Ergebnisse in der Kategorie 1: Problemsituationen (n = 357 Codes)
In der Kategorie der Problemsituationen (K1) wurden von den interviewten Personen Probleme von PiAS im Kontext von sozialen und strukturellen Aspekten, den Wahrnehmungsbesonderheiten sowie von kognitiven, psychischen und physischen Aspek-
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ten genannt. Die sozialen Aspekte (n = 112 Codes) betreffen vor allem die Steuerung von exekutiven Funktionen (kognitive Kontrolle) bei zwischenmenschlichen Interaktionen. Ausprägungen zeigen sich in mangelnder Kommunikationsfähigkeit, eher wenigen persönlichen Kontakten und einer oftmals mit einhergehenden Sprachverständnisschwäche. Ein Großteil der interviewten Personen (n = 16) sieht in den sozialen Defiziten grundlegende Probleme für PiAS. Eine Lehrperson berichtet beispielsweise, dass private Gespräche beim Mittagessen grundlegende Kommunikationsdefizite bereiten. Oft leben sie so ein bisschen in ihrer eigenen Welt und sprechen darüber, was sie gerade belastet und gehen nicht so auf ihr Gegenüber ein, auf ihre Mitschüler (P1). Wenn wir als Familie Abendessen oder Freunde dabeihaben, dann ist er meistens um zehn Uhr im Bett. Einfach, weil er sich davon auch erholen muss und so ein bisschen Angst hat und auch nicht wirklich weiß, was die Schönheiten sind, am sozialen Partizipieren (P16).
Vor allem Situationen mit mehreren Personen erweisen sich für PiAS oftmals als schwierig, da nach Meinung der Interviewten höhere Anforderungen an das soziale Miteinander gestellt werden als in Situationen mit Einzelpersonen. Dies betrifft sowohl private als auch berufliche Bereiche. Sind die individuell notwendigen Rahmenbedingungen für PiAS im Berufsleben nicht vorhanden, können PiAS oftmals keinen ganzen Tag arbeiten. Sie sind durch die ständige Anpassungsleistung, weil es intuitiv nicht erfasst werden kann, schnell erschöpft. Wenn man sich vorstellt, dass der ganze Alltag so aussieht im Kopf, dann kann man sich vorstellen, wie belastend das sein kann, in einer normalen sozialen Welt klarzukommen als Autist (P12).
Interviewpersonen stellen zudem fest, dass Kommunikations-, und Interaktionsdefizite ebenso die Gefahr bergen, dass PiAS, aufgrund ihrer „sozialen Naivität“ und Einschränkungen wie den Sprachverständnisstörungen, ausgenutzt werden können. Schüler*innen im AS sind sprachlich oftmals sehr genau und verbessern u. a. auch Lehrpersonen, wenn sie einen „falschen“ Ausdruck benutzen. Ein beschwichtigendes „Du musst doch nicht alles auf die Goldwaage legen“ kann darüber hinaus zusätzlich bei PiAS für Verwirrung sorgen. Bei der Verwendung von Sprichwörtern oder nicht präzisen Aussagen (z. B. „Komm vor dem Unterricht / ne, komm vor Mathe zur Beratung zu mir“.) von nicht autistischen Personen treten bei PiAS häufig Missverständnisse auf. Nach Meinung von Interviewten kann eine entsprechende Aussage PiAS einen ganzen Tag lang so beschäftigen, dass sie nicht mehr arbeiten können. Entsprechende Kommunikationsprobleme bestehen auch im Schriftlichen, bei wenig eindeutig verfassten E-Mails. Oft sind für sie ebenfalls Metaphern, Doppeldeutigkeiten, Ironie, Humor, Witze, Satire und Sarkasmus nicht oder nur schwer angemessen zu interpretieren. Die genannten strukturellen Probleme (n = 63 Codes) beziehen sich auf fehlen-
Eine Interviewstudie zu den Unterstützungsbedarfen und -potenzialen von Virtual Reality
de oder mangelhafte infrastrukturelle Unterstützungsstrukturen in der Gesellschaft. Sie betreffen strukturelle Irregularitäten, AS-Informationsdefizite am Arbeitsplatz, mangelnde Toleranz- und Integrationsfreudigkeit und zu wenig therapeutische Angebote. Den strukturellen Irregularitäten zuzuordnende Beispiele sind Vertretung bei Erkrankungen von ausbildenden Personen oder Lehrpersonen, spontane Raumwechsel oder Verlegung des Unterrichts auf eine andere Stunde. Dies sind nach Meinung der Interviewten weitere Stressfaktoren und Zusatzbelastungen. Zugreisen und damit einhergehende Herausforderungen wie geänderte Abfahrtszeiten, Verspätungen, Zugausfälle, etc. können ebenfalls für PiAS weitere Stressfaktoren darstellen. Die Wahrnehmungsbesonderheiten (n = 56 Codes) adressieren die vielfältigen neurologischen Einschränkungen und Besonderheiten von PiAS. Da die damit einhergehenden Probleme autismusspezifisch sind und keine offensichtlich identifizierbare psychische oder physische Ursache haben, wurden sie als Wahrnehmungsbesonderheiten kodiert. D. h. der Seh-, Hör-, Geruchs- und Tastsinn kann intakt sein und dennoch kann es zu Problemen wie einer Überempfindlichkeit (Hyperreaktivität) oder Unterempfindlichkeit (Hyporeaktivität) gegenüber Reizen oder einer Reizüberflutung bei gleichzeitigem Zusammenspiel aller Sinneseindrücke für PiAS kommen. Das Gehirn einer nicht-autistischen Person filtert normalerweise automatisch, z. B. beim Zuhören, in einer Umgebung, in der sie sich aufhält, was relevant ist und was nicht. Bei PiAS funktioniert das Filtern in einigen Fällen nicht und es wird stattdessen alles gleichermaßen und teilweise sämtliche Sinnesreize betreffend wahrgenommen und verarbeitet. Während die pro Sekunde eingehende große Anzahl von Reizen von nicht-autistischen Personen zu Reizgruppen gebündelt, zusammengefasst und Muster gebildet werden, um ein Bild zu erkennen, findet dies bei PiAS nicht statt. Bei ihnen führt die Reizoffenheit zu einer Überreizung, ohne dass daraus eine bedeutungsvolle Information gefiltert werden kann. Aufgrund der (Reiz-)Filterschwäche kommt es infolgedessen zu einer Unterreizung, auch wenn ursprünglich durch die hohe Sensibilität in allen Wahrnehmungsbereichen überreizt wurde. Um neurologisch nicht ununterbrochen überreizt zu sein, müssen PiAS entweder einen Wahrnehmungsbereich unbewusst abschalten oder sie schalten alles aus. Zu viele Eindrücke und Stress können kurzfristig zu Verhaltensauffälligkeiten/-störungen oder langfristig zur Folgeerkrankung einer Depression führen. Reizarme Räume schaffen nur bedingt Abhilfe. Für einzelne mag das, was bringen, für andere aber, ist das das absolut fatalste, weil dann kein Rahmen, überhaupt keine Referenz mehr besteht, auf das sich konzentriert werden kann oder was irgendwie sinnvoll erscheint (P7).
Dass die Wahrnehmung im Spektrum verschieden sein kann, belegt das Beispiel, dass die eigene Tochter im AS bei einem Missgeschick eines ausgeschütteten Waschmittels geflüchtet sei, wohingegen die autistische Pflegetochter von dem starken Geruch angezogen wurde und sagte, dass es hier gut rieche. Als kognitive Probleme (n = 53 Codes) werden Schwierigkeiten betrachtet, die die kognitiven Fähigkeiten, wie das Denken,
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Erinnern und Lernen betreffen. Zu den kognitiven Problemen zählen demnach die eingeschränkte Transferleistung/Exekutivfunktionen, der Perfektionismus, der an sozialer Teilhabe und beim Entscheiden hindert und das Kennenlernen der eigenen Probleme verursachender AS-Ausprägung. Entscheidungen zu treffen, fällt vielen PiAS schwer, da sie detailorientiert sind. Ein Beispiel dazu liefert ein Hula-Hoop-Workshop. Die Analyse, also wenn es dann um den Hula-Hoop-Reifen geht, welchen Reifen man kauft / die nicht-Autisten, die drücken dann einfach bei Amazon / kaufen den Erstbesten. Jetzt die zwei Autisten, die dabei sind, da gibt es ein unheimlich genaues Auswahlverfahren. Da werden alle Vor- und Nachteile aufgelistet und da geht man sehr vorsichtig und sehr detailorientiert vor und es wird alles abgewogen. Es ist auch sehr schwierig, zu einer Entscheidung zu kommen, welcher Reifen jetzt der richtige ist, weil der Fokus auf die Details dann wieder so stark ist, wo wir dann als Jobcoaches unterstützen müssen (P10).
Eine überfordernde Situation kann eine Entscheidungsskala von null bis zehn sein, bei der PiAS bevorzugt die Mittelzahl wählen und sich fast nie für die Extreme entscheiden. Eine mangelnde Reflektion kann durch einen Hyper-Fokus begünstigt werden, bei dem keine Pausen eingelegt werden und sie teilweise nicht mehr korrigieren, ob sie im Job noch zielgerichtet die Vorgabe eines Auftrags der Kundschaft verfolgen oder sich in einem Detail verfangen haben. PiAS haben ein starkes Qualitätsbewusstsein und -ansprüche. In Projekten der Kundschaft kommt es häufig vor, dass Softwaretestpersonen im AS höhere Ansprüche an die Korrektheit und Qualität stellen als die Entwickler oder die Kundschaft. Der Perfektionismus beeinflusst gleichfalls die Entscheidungsfindung, weshalb nie ein Punkt erreicht wird, bei dem sie sich bereit für etwas fühlen oder sich mit einem „es geht dann schon irgendwie“ abfinden wollen. Selbst nach guter Vorbereitung auf eine Prüfung melden sie sich nicht dafür an. Der Perfektionismus bedingt auch, dass sie es allen recht machen möchten. In der Unterkategorie psychische Probleme (n = 50 Codes) wurden Aussagen der psychischen Komorbiditäten wie Depression, Zwangs- oder Angststörung, Decidophobie (Flexibilitätseinschränkungen, die Angst vor Veränderung) zugeordnet, bei denen die Ursache vordergründig psychisch ist, auch wenn sie sich im sozialen Miteinander äußern. Als allgemeine Probleme (n = 17 Codes) wurde die Problematik bei nicht-sprechenden PiAS, das diverse Geschlecht und kein Problembewusstsein der Zielgruppe klassifiziert. Zudem wurden von den Befragten physische Probleme (n = 6 Code) angeführt, die sich auf körperliche Beeinträchtigungen des menschlichen Körpers, wie Blindheit, in Kombination mit ASS als physische Komorbiditäten, beziehen. 4.2
Ergebnisse der Kategorie 2: Emotionale Situation (n = 192 Codes)
K2 gibt Situationen des Unwohlseins und Situationen mit positiven Emotionen wieder, die bei ratsuchenden Auszubildenden oder Kindern im AS u. v. a. m. wahrgenom-
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men oder die ihnen gegenüber in der Vergangenheit mitgeteilt wurden. Aussagen der UK der negativen Emotionen (n = 70 Codes) decken sich zu Teilen mit den Problemsituationen aus K1. (Strukturelle) Irregularitäten und Sprachverständnisschwäche wurden sowohl in K1 als auch in K2 häufig genannt. Negative Gefühle treten bei PiAS demnach im Umgang mit Stress und Konflikt oder Aggression, (strukturellen) Irregularitäten, auditiver Belastung und durch die Sprachverständnisschwäche auf. Geäußerte negative Gefühle über PiAS in K2 sind teilweise, auf die in K1 genannten Probleme, zurückzuführen. Die „eingeschränkte Transferleistung/Exekutivfunktionen“ als kognitives Problem, können in negativer Emotion, in Form von „Schamgefühle bei Transfer-Leistungsproblematik“ münden. Auch dem „Erwartungsdruck“ in Situationen mit sozialen Anforderungen nicht gerecht werden zu können, kann belastend sein und Ängste auslösen. In neuen Situationen, die mit Unsicherheiten einhergehen können und unklar ist, was von einem verlangt wird, versteifen oder erstarren PiAS häufig und ihnen wird unterstellt, vorsätzlich zu handeln. Bei PiAS mit durchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten erzeugt die Beeinträchtigung große Schamgefühle. Wird die PiAS dazu aufgefordert, eine für sie fremde Spülmaschine zum ersten Mal auszuräumen und sie reagiert nicht, wird ihr oft entgegnet, sie sei faul, egoistisch, ließe die anderen immer alles machen oder sie sei dumm. Eine PiAS braucht dann zunächst ein großes Vertrauen, damit sie sich zutraut, zuzugeben, dass Schwierigkeiten bestehen. Meistens haben sie Fähigkeiten entwickelt, damit das nicht ersichtlich wird. Sie werden dann oft von Personen, die mit ihnen arbeiten, nicht ernst genommen und aufgrund ihrer Beeinträchtigung und ihrer Vermutung, dass es mit „Absicht nicht gemacht wird“, gekränkt. Den einen Tag können sie etwas ausführen und am nächsten Tag können sie es in einer anderen Situation nicht. Ihnen ist es oft klar, aber sie können an der Situation in dem Moment nichts ändern. Der Umgang mit Stress und Konflikten (Aggression) wird im Kontext negativer Emotionen angeführt (n = 15 Aussagen). Stress und Konflikte können nach Angaben der Befragten durch Drucksituationen bei erfolgloser Jobsuche, der Berufstätigkeit oder wenn sich PiAS bei Aggressionen anderer nicht verstanden fühlen, entstehen. Bedingt sein kann dies durch soziale und strukturelle Probleme oder durch psychische Ursachen. Unbehagen haben sie in Konfliktsituationen, wenn sich Eltern streiten oder sie Teil einer Situation sind, in der zwei befreundete Personen streiten und es fällt ihnen schwer, zu verstehen und sich vorzustellen, was im Anderen vorgeht, um im Konflikt reagieren zu können (vgl. Theory of Mind, Premack & Woodruff, 1978). Deshalb können sie Konflikte oft nicht proaktiv lösen und ziehen sich aus der Situation heraus. Konflikte, in denen sich PiAS befinden, sind für Außenstehende oft nicht als offensichtliche Probleme erkenn- und nachvollziehbar. Einer Studentin im AS wurde eine Frage gestellt, auf die sie nicht antwortete und schwieg. Grund dafür kann sein, dass ihr die Frage in einem vorherigen Kontext eines anderen Treffens bereits gestellt wurde und sie die Antwort darauf schon gegeben hatte. Das kann für sie ein unangenehmer Moment sein, wenn etwas Ähnliches oder Gleiches nochmal gefragt wird, weil sie davon ausgeht, dass das Gegenüber wissen müsse,
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dass sie darauf schon geantwortet hat. Analog dazu verhält es sich für PiAS beim Ausfüllen von sich ähnelnden Dokumentfeldern von Anträgen beim Amt. Aussagen, die sich bei Bloßstellung, Benachteiligung, Mobbingangst und fehlender Akzeptanz einordnen lassen, wurden von fünf Interviewten als Anlass negativer Gefühle genannt. Akzeptiert zu werden, trotz ihrer Einschränkungen, ist PiAS ein bedeutendes An liegen. Bereits Erlebtes oder in der Gruppe, Ausbildung oder im Betrieb Erfahrenes oder wiederkehrendes Mobbing bereiten PiAS Angst. Negative Emotionen kommen auf, wenn sie sich benachteiligt, nicht wertgeschätzt, bloßgestellt oder sie sich nicht zugehörig fühlen und sie erkennen, dass andere im Gegensatz zu ihnen ständig im Austausch und sie isoliert sind. Die auditive Belastung wird ebenso mit negativen Emotionen assoziiert: Berufsverkehr in einer überfüllten S-Bahn, wenn alle durcheinanderreden, Verkehrslärm, ein verbaler Konflikt oder laute Stimmen. Geräusche und Situationen mit großen unüberschaubaren Menschenmengen können überfordern, wenn alle Gespräche gleich laut oder gleichzeitig zu hören sind. Im bildungsbezogenen Bereich können negative Gefühle auftreten, wenn Gruppenarbeit oder Teamarbeit verlangt wird. Negative Gefühle von PiAS, dies wurde in neun Aussagen der Interviewpersonen betont, können individuell äußerst verschieden sein, weshalb die Auflistung im Beitrag ausschließlich eine kleine Auswahl darstellt und nicht für alle PiAS als Individuen verallgemeinert werden darf. Aussagen zu „Situationen mit positiven Gefühlen“ (n = 122 Codes) wurden differenziert in: Sonderinteressen, Visuelles, Routinen, Wissen aus Gaming, Erfolgserlebnisse, Lob und Anerkennung, trotz andersartiger Erwartung akzeptiert zu werden oder Auditives (Mediales). Neun weitere positive Emotionen werden im Beitrag nicht weiter ausgeführt. Als größte Häufigkeit kodierter Segmente sind die Sonderinteressen aufgeführt. Im Rahmen ihrer Sonder-Spezialinteressen wenden sich PiAS Interessen zu, die häufig außergewöhnlich sind, mit denen sich nicht die breite Mehrheit beschäftigt und wenig mit nicht autistischen Hobbys zu tun haben. Die Sonderinteressen und die Auseinandersetzung mit diesen oder auch der Austausch mit anderen Menschen darüber können bei der Zielgruppe ein Wohlbefinden auslösen, Glücksgefühle hervorrufen und entspannend wirken. Auch Wissen anhäufen, strukturieren, zur Ruhe kommen, dem Alltag entfliehen, kann ihnen Sicherheit geben oder Angst minimieren. Außerdem unterhalten sich PiAS gerne über ihre Sonderinteressen. Diese können sein: über die Kometenbewegungen der letzten 20 Jahre zu referieren oder Planeten, Dinosaurier, zu denen ein Faktenwissen wiedergegeben werden kann. Unter den PiAS gibt es auf Fahrpläne spezialisierte Personen oder welche, die sich an einem Zug erfreuen, den sie sehen. In Großbritannien hat das „Trainspotting“ eine lange Tradition. Die Faszination besteht z. B. für das U-BahnNetz und für die Übersichtlichkeit der Karten Londoner U-Bahnen oder Londoner Busse. Öffentliche Verkehrsmittel werden gerne genutzt, wenn auf einer vorhersehbaren Route gefahren wird und es keine Abweichungen von dieser gibt. Auch startende und landende Flugzeuge werden beobachtet und alle Details aufgezeichnet. Positiven Emotionen sind ebenso Aussagen zuzuordnen, die sich in der UK „Wissen aus Ga-
Eine Interviewstudie zu den Unterstützungsbedarfen und -potenzialen von Virtual Reality
ming“ das geteilt und erweitert wird und mitunter beim Schließen von Freundschaften oder dem Erproben in Rollenspielen zusammenfassen lassen. Gerne beschäftigt wird sich mit dem Computer sowie YouTube-Videos oder (Online-)Gaming, um sich zurückzuziehen oder um abschalten zu können. Rollenspiele im Internet könne bedeuten, Rollen anzunehmen, die im echten Leben aufgrund von fehlendem Mut nie gespielt werden würden. Online würde die Rolle „XY“ verkörpert. Dabei kann sich mit Mut in etwas erprobt werden und die PiAS kann so sein, wie sie möchte. Gleichzeitig haben PiAS die Kontrolle und können, wenn es ihnen zu viel wird, den Computer jederzeit ausstellen. Die stundenlange Auseinandersetzung und das Spielen der PiAS löste bei einer Bezugsperson Erstaunen aus. Eine Menge an Wissen über ein Thema angehäuft zu haben, bereitet PiAS große Freude und kann dem Kind, über das die Interviewperson spricht, über das Sonderinteresse helfen, ebenfalls offline Freundschaften zu schließen. Ein starkes Interesse in einem Bereich, in dem sich eine PiAS sicher fühlt und ihr Wissen erweitern kann, kann glücklich machen und sich in einer größeren Zufriedenheit in sozialen Situationen auswirken. Begünstigt wird das Auftreten positiver Gefühle für die Zielgruppe durch eine „Balance aus Unterforderung und Überforderung“. Dieser Grat ist meist schmal. Eine Aufgabe, die zunächst unterfordernd ist, kann bei weiter hinzukommenden Anforderungen zu einer Überstimulation und infolgedessen zu autistischer Wut oder anderen Zeichen von Überforderung führen, weshalb es entscheidend ist, die richtige Balance aus Langeweile und Überforderung zu finden. Gut dosiert, sukzessive, sodass der Autist immer in seiner Lernzone bleiben kann. Die Lernzone ist einfach sehr schmal und in der Komfortzone ist es langweilig und dahinter kommt Panik (P8).
Positive Gefühle entwickeln PiAS durch Routinen und bekannte Strukturen, die sie kennen und die sie haben. Mustererkennung, Fehler finden, klare Struktur und Ansagen sowie Sammeln äußert sich positiv. Dabei kann die Tätigkeit auch innerhalb einer größeren Gruppe erfolgen, sofern diese ruhig ist oder Strukturen aufweist, wie bspw. in einem Chor oder Orchester. Lob und Anerkennung oder eine positive Rückmeldung können sich positiv auf Gefühle auswirken und es kann Freude bei der Zielgruppe beobachtet werden. Besonders stolz macht es PiAS, wenn ihre Arbeit im Speziellen hervorgehoben wird und sie gelobt werden, weil sie eine gute Leistung erbracht haben oder wenn sie mit ihrem Fachwissen oder Sonderinteresse gut ankommen und Gehör finden. Auch wenn es sich um triviale Handlungen, wie alleine einkaufen, tanken oder den ersten Arbeitstag ohne Begleitperson absolvieren, handelt, werden Erfolgserlebnisse, in denen die PiAS Verantwortung übernehmen, als positiv bewertet und es vermittelt ihnen ein Gefühl von Normalität, Kontrolle und Alltag. Ein Erfolgserlebnis für eine PiAS kann sein, Blickkontakt zu halten und zu realisieren, dass wenn dieser während Konversationen erfolgreich aufrechterhalten wird, besonders bei Menschen, die sie zum ersten Mal sehen, Freundschaften zu schließen einfacher fällt. In die UK
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„Auditives (Mediales)“ lassen sich Begriffe wie Musik, Hörspiele oder Hörbücher einordnen, an denen PiAS Gefallen finden können. Noch häufiger wird „Visuelles“ genannt, für das sie sich begeistern lassen wie Fotografieren, Karten, Filme, bevorzugt Trickfilme, wie die von Disney mit vereinfachter Mimik oder Action-Superheldenfilme, Zeichnen in den Ruhepausen, um das Gesehene zu verarbeiten, Kunst oder die seit Kindheit an vertrauten Lieblingsbilder zu betrachten, bspw. bestimmte Blumenbilder von Erich Nolde. 4.3
Ergebnisse der Kategorie 3: Unterstützungsangebote (n = 344 Codes)
Die interviewten Personen gaben an, dass sie oder ihre Arbeitsstelle, Interessierte, PiAS oder deren Angehörige über ASS durch Kanäle wie das Internet/Mailverteiler/ Telefonberatung, die Vernetzung durch das Autismus-Kompetenznetzwerk, Verbände oder die Agentur für Arbeit/Reha-Beratung informieren. Bei den Unterstützungsangeboten durch Unternehmen/Verband fielen die meisten Aussagen in den Bereich der UK „Allgemeine Anlaufstellen“, gefolgt vom Sektor „Bildung“, der „Interaktion & allg. Unterstützung“, der „Arbeit“, Unterstützung durch „Hardware“, dem „Übergangsmanagement (Arbeitsplatzvorbereitung/-eingliederung)“, dem „Einsatz VR/Software/ App“, Angeboten für „Kinder“ und Unterstützungsangebote für die „Freizeit“. Seltener wurden Aussagen getroffen, die sich Unterstützungsangeboten wie „Juristische“, „Medizinische“ und „Mediale Infokanäle“ zuordnen ließen. Ausgewählte Ausprägungen der Unterstützungsangebote, die die Interaktion und allgemeine Unterstützung betreffen, sind das Sozialkompetenztraining, Sonderregelungen bzgl. Ablauf, Strukturierung, Gesundheit (Bewegung, Ernährung, Ergotherapie), die Psycho-Edukation, Krisenprävention, -intervention, -bewältigung, der geschlechterspezifische Umgang/ Bedarfe, die Stärkung durch Familie sowie die Kommunikation und das Outing. Der Meinung von P9 nach sollen Sozialkompetenztrainings als Unterstützungsangebot schwerpunktmäßig PiAS ansprechen, aber es müsse ebenso für andere angeboten werden, die in diesem Bereich Defizite bei sich sehen oder etwas hinzulernen wollen. Die PiAS soll dabei nicht „umgepolt“ werden, sondern das Angebot soll den teilnehmenden Personen helfen, im Leben besser klarzukommen. Hardware, die unterstützend angeboten und eingesetzt wird, ist kategorisiert in die visuelle Arbeitserleichterung durch die Gebäude-/Raumgestaltung/Rückzugsort, den auditiven und visuellen Schutz und die auditive Entspannung. Die UK Einsatz VR/Software/App, auf die am Ende dieses Kapitels genauer eingegangen wird, fielen Aussagen zu den Ausprägungen des virtuellen Coachings am Bildschirm, den (VR) Lernprogrammen, dem Einsatz von VR in der Diagnostik und für Ausbildungsberufe, den Apps zur Stresserkennung und der Organisation sowie der Videoaufzeichnung zur Verhaltensbeobachtung (Marte-Meo). Die Interviews zeigen, dass Unterstützungsangebote genutzt werden, wobei sich der Umfang (Regelmäßigkeit) der Angebotsnutzung auf „wöchentliche oder vierzehntä-
Eine Interviewstudie zu den Unterstützungsbedarfen und -potenzialen von Virtual Reality
gige“ Sitzungen (7) und in Absprache je „nach Bedarf “ (10) darstellt. Der Umfang ist „ein Jahr oder mehr mit meist zeitlicher Begrenzung“ (13), „lebenslanger Anspruch“ (2) und nur eine Interviewperson sprach von „weniger als einem Jahr“. Die Unterstützungsangebote durch den Einsatz von VR/Software/App (n = 18 Codes) werden ausführlicher beschrieben. Als Unterstützungsangebot wurde VR von den Befragten selten genannt. Tiefergehende Fragen zeigten, dass es sich bei VR ihrer Ansicht nach nicht immer um die im Beitrag verfolgte VR (mit Head-Mounted Display) handelte. Der Begriff „VR“ wurde von einer Interviewperson auch beim Coaching über den Bildschirm verwendet. Der Einsatz von VR beschränkte sich meist auf erste Erfahrungen, die extern auf einer Messe gemacht wurden, wie die dort gezeigte VR zum Fachkompetenzerwerb im Logistik-Ausbildungsbereich zum Erlernen der Kommissionierung im Lager. Ein Mehrwert durch VR wird erkannt, ist aber bislang nicht massentauglich in den Einrichtungsbetrieben für Auszubildende im AS zu verwenden oder finanziell leistbar, so deren Meinung. Im Einzelnen wurde in dem Zusammenhang folgendes festgestellt: VR-Lernprogramme sind nach Meinung der Befragten vielfach noch nicht ausgereift und vollumfänglich einsatzfähig, wie die beschriebenen VR-Anwendungen aus einem Schulprojekt zeigen. Als Lern-Computerprogramme oder -spiele für PiAS wird hierbei das englischsprachige Programm Teacch genannt, dass vor dem Hintergrund sprachlicher Barrieren nur begrenzt von PiAS genutzt wird. Das VR-Programm Floreo VR wird im Kontext der Ausbildung genannt. Durch seine Trickfilm- und Cartoon-Art-Gestaltung wird es als ansprechend bewertet, ist jedoch nicht in deutscher Sprache verfügbar. Unterstützung bietet auch ein Projekt zu VR für PiAS, bei dem in einer Lernumgebung der Ein- und Ausbau von Einzelteilen bei einer Druckmaschine virtuell geübt werden kann. Berichtet wurde zudem von einem virtuellen CoachingAngebot via Desktopcomputer für PiAS. Das Programm mit Kennenlernen, aneinander gewöhnen der Gruppenmitglieder sowie die Kommunikation finden virtuell über Internetplattformen statt und es wird Mimik und Gestik virtuell geübt, beschrieben und beobachtet. Apps zu Stresserkennung und Organisation, als digitale Helfer und individuelle Unterstützung werden bereits für PiAS eingesetzt. Beispielsweise Apps für digitale To-Do-, oder Prioritätenlisten zur Selbstorganisation oder Apps zur Stresserkennung, die den Stresszustand und -verlauf eines Tages sichtbar machen. Als Unterstützungsangebot wird zudem die Videoaufzeichnung zur Verhaltensbeobachtung der Marte-Meo-Methode genannt, die zum Lernen in der Erziehungsberatung eingesetzt wird und ursprünglich bei Kindern mit Entwicklungsverzögerung erprobt wurde. Der Gesichtsausdruck und das Körperbild werden dabei auch mit dem Spiegel angeschaut und abgezeichnet. Bei größeren Kindern wird als Wahrnehmungstraining mehr mit Videos und Fotos gearbeitet, bspw. für die Körperhaltung, -spannung und das Gangbild, die gefilmt und besprochen werden. Zudem werden der Blickkontakt und die Spannungsregulation mit angemessenem Händedruck trainiert. VR wird nach Angaben der Befragten bereits in der Diagnostik zu ASS eingesetzt. Bei der VR handelt es sich um ein assistierendes Werkzeug im Screening und Diagnoseprozess. Durch einen
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virtuellen Verkäufer in einer standardisierten Einkaufssituation, die in VR simuliert wird, werden anhand von Eye-Tracking die Unterschiede (z. B. die nonverbalen Verhaltensweisen der Blick-, Kopf-, und Körperbewegungen sowie der Fokus des Auges) zwischen PiAS und einer nicht-autistischen Person durch maschinelles Lernen analysiert und festgestellt. Das Forschungsteam Robles et al. (2022) konnte mit großer Genauigkeit, Sensitivität und Spezifität in der Pilotstudie zur ASS-Diagnose sowohl autistische Reaktionsmuster klassifizieren als auch andere Kommunikations- und soziale Störungen einschätzen (vgl. Robles et al., 2022). 4.4
Ergebnisse der Kategorie 4: Unterstützungsbedarfe (n = 243 Codes)
K4 beschäftigt sich mit den aktuellen Bedarfen von Kindern, Jugendlichen, Studierenden, Promovierenden, beschäftigten Personen der Universität, Auszubildenden, Verbandsmitgliedern oder weiteren PiAS und wie diese besser unterstützt werden könnten, jeweils aus Sichtweise der Bezugsperson des AS. 243 Aussagen wurden für relevant erachtet, die der K4 zugeordnet wurden. In K4 differenzieren sich die Antworten der 22 Interviewpersonen stark und alle Aussagen zu Vorschlägen zur Konzeptionierung, Entwicklung und Auswahl einer VR-Anwendung wurden mitberücksichtigt. VR-Training (n = 81 Codes) als Unterstützungsbedarf wurde meist nicht von selbst und oft erst auf Nachfrage erwähnt. Erfragt wurden vorstellbare ungewohnte Standardsituationen in VR für die AS-Zielgruppe. 21 Aussagen der interviewten Personen zur UK VR-Training entfielen auf „konkrete Situationen“ des Bahnszenarios mit Ticketkauf, anpassbar an den Lernfortschritt und das Individuum, den Erstkontakt mit Kundschaft oder das Vorstellungsgespräch, soziale Events und Menschenmengen, Sprichwörter, Differenzierung in Höflichkeit vs. dem Kontern/Ablehnen bei unbekannter Person, dem Besuch in einer medizinischen Praxis, dem Beseitigen einer kaputt gegangenen vollen Milchflasche sowie dem Feueralarm. Als Ausprägung von konkreten Situationen wurde das Bahnszenario, bei dem die PiAS ermutigt wird, an einem Automaten selbstständig ein Ticket zu kaufen, am häufigsten genannt. Die VR-Anwendung müsse hierbei anpassbar an den Lernfortschritt des Individuums sein. Denkbare Situationen seien in diesem Szenario, auf eine Person zuzugehen, um danach zu fragen, in welche Richtung und wohin die Bahn fahre. Für PiAS müsse implementiert werden, sie auf visueller und auditiver Ebene zu stimulieren und für Verwirrung, Erschwernisse und Herausforderungen in der Umgebung zu sorgen. Es könne nützlich sein, die VR-Anwendung zu Beginn so reizarm wie möglich zu gestalten und sukzessive mehr Lärm und mehr Menschen in dem Szenario auftauchen zu lassen. Die Umgebung könne komplex gestaltet sein, um das Filtern der PiAS zu trainieren und zu analysieren, wie sie damit zurechtkommt und wie sie sich auf den Auftrag der VR-Anwendung konzentriert. Die VR-Anwendung müsse mehrmals wiederholt werden. Das Vorstellungsgespräch oder ein Erstkontakt mit Kundschaft ist für die Interviewten als Szenario in VR denkbar, da
Eine Interviewstudie zu den Unterstützungsbedarfen und -potenzialen von Virtual Reality
es eine enorme Hürde darstelle. Der Weg zu den Parkplätzen, zum Gebäude und der Ablauf des „Informationsgespräches“ bei Neubewerbungen wird als sinnvoll erachtet, um es der bewerbenden Person im Voraus zum Ausprobieren anbieten zu können. Der Begriff „Informationsgespräch“ wird anstelle eines „Bewerbungsgespräch“ im Unternehmen, in dem ausschließlich PiAS beschäftigt sind, verwendet. Wird die ungewohnte stressige Situation virtuell geübt, gelingt es in der Realität möglicherweise, damit besser zurecht zu kommen. Das VR-Szenario könne die Angst vor dem Informationsgespräch durch eine Auswahl zu erwartender Fragen nehmen. Die VR-Nutzenden müsse im Idealfall verschiedene Varianten erfahren können. Für bereits eingestellte AS-Mitarbeitende könne das Erproben der Interaktion oder die Teilnahme an Meetings bei der Kundschaft hilfreich sein. Unabhängig vom Bewerbungsszenario wurde ein Begrüßungsszenario gewünscht. Ein Besuch in einer medizinischen Praxis, als weitere ungewohnte Örtlichkeit, könne sich ebenfalls für eine VR-Anwendung eignen. Bei der Differenzierung zwischen „Wann ist Höflichkeit angebracht und wann darf gekontert oder abgelehnt werden“ und bei Entscheidungen zwischen wichtig und unwichtig, wird Üben in VR als hilfreich angenommen. Geübt werden, könne die Reaktion auf ein angesprochen werden. Beispielsweise, sich mitzuteilen und sich an soziale Regeln zu halten. „Nein danke“ oder dass die PiAS jetzt nicht sprechen möchte. Das würde vorbeugen, dass die PiAS sich einfach umdreht und weitergeht. Häufig wurden insbesondere „Soziale und berufliche Routinen zu trainieren“ als Möglichkeit des immersiven virtuellen Trainings genannt. Beispielsweise kommt eine Ansprechperson auf die PiAS zu und es gilt, eine angemessene Antwort aus drei Antwortmöglichkeiten auszuwählen. […] der Autist ist den Flur entlang gegangen, da ging eine Tür auf und dann kam eine junge Frau raus und hat gesagt: Oh hallo, hast du Lust mit mir einen Kaffee zu trinken? Und dann gab es einfach drei Ausweichmöglichkeiten: 1. Nein, habe keine Zeit, 2. Ja, komme gerne mit, 3. Oh nein, so einer bin ich nicht (P8).
Der Vorteil wäre, dass VR nicht ungeduldig wird, sich nicht ärgert und beliebig oft durchprobiert werden kann, um zuverlässig bestimmte Reaktionen zu erleben. Abgeleitet aus der Psychotherapie müsse versucht werden, in VR so zu trainieren, dass mehr (Handlungs-)Flexibilität erreicht und damit ein größeres Handlungsrepertoire aufgebaut wird – beispielsweise in standardisierten sozialen Interaktionen. Eine weitere Idee zur Umsetzung in VR wird durch Verbildlichen der Interaktion geliefert: Blickkontakt und verbale Interaktion zu üben mit einem Dreieck. Man spricht einen an, dann antwortet man zurück, das ist die Basis. Dann macht man eine Zusatzfrage, und ich habe die Idee und dann geht man wieder zurück. Und was denkst du dazu? Also eine einfache, verbale Interaktion als Dreiecksbewegung dargestellt, dass die merken, dass sie eben nicht Fachvortrag, mein Thema, eine halbe Stunde und kein Plan, ob der andere gerade interessiert ist oder nicht. Also wie so ein Strickmuster einer Interaktion (P19).
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Neben der Aufzählung konkreter Situationen für VR wurden zur Frage der allgemeinen vorstellbaren Unterstützung durch VR Aussagen getätigt, um die sozialen und beruflichen Routinen zu trainieren, dass PiAS (nicht) Spiele oder VR-affin sind, das Einüben von Reaktionen auf überfordernde Situationen, die Irregularitäten/Flexibilität, der Einsatz von VR in Therapieergänzung und Transferbegleitung und zum Entspannen, die Innenansicht der AS-Charakteristik für nicht-autistische Personen durch VR erfahrbar zu machen, dass VR motivierend sein kann, sofern es das Sonderinteresse triggert, die psychischen Komorbiditäten mit VR zu reduzieren, da das Gehirn flexibel und formbar ist sowie VR beim Fachkompetenzerwerb einzusetzen. Als Vorschlag wird die Handlungsplanung angeführt, die virtuell geübt werden müsse. Ist die PiAS deutlich eingeschränkt, können einfache Handlungen nicht ausgeführt werden. Reißt die Handlung ab, braucht es eine Aktivation von außen, die durch VR abgefangen werden könnte. Das Outing, sich im AS zu befinden und dies für verschiedene Lebensstationen, wie die Schule, im Studium oder der Berufstätigkeit zu erproben und dabei anhand gelungener Outings Hilfestellung zu bekommen, ließe sich ebenfalls in VR simulieren. Ein Aspekt einer möglichen VR-Anwendung, bei der die Innenansicht der AS-Charakteristik für nicht-autistische Personen erfahrbar gemacht werden könne, wurde von drei Interviewpersonen als bedeutsam erachtet. Nicht-autistische Personen solle durch VR ermöglicht werden, alles annähernd wie die PiAS wahrzunehmen. Beispielsweise die äußerst intensive Wahrnehmung bestimmter Bereiche und dass andere Bereiche der Reize nicht ankommen. Es könne erfahrbar gemacht werden, dass manche Geräusche für PiAS einem Presslufthammer gleichzusetzen sind und der Schulstoff dann nur schwer zu verfolgen ist. Wenn diejenigen Menschen, mit denen der Autist zu tun hat, dass der die Sichtweise, also die Wahrnehmung des Alltages oder des Autisten mal spüren kann. Ich glaube das wäre das Größte. Weil wir versuchen jetzt immer, den Autisten auf unser Leben zurechtzubiegen. Was ja ein bisschen Sinn macht, weil, was auch immer, 98 Prozent nicht-Autisten auf dieser Welt sind und zwei Prozent Autisten, drum ist halt die Welt von nicht-Autisten geschaffen. Aber für die Empathie dieser 98 Prozent, wenn man da mehr Empathie und Verständnis aufbauen kann für Autisten, dann wäre es auch für die Autisten viel einfacher. Und das für die ganzen HR-Leute, die mit Autisten zu tun haben, also auch Jobcoaches zum Beispiel, oder für die Kunden dann oder die neuen Teammitglieder, die mit dem Autisten zusammenarbeiten, das wäre total wertvoll (P10).
In den Interviews werden als primäre Zielgruppe aus AS (n = 5 Codes) vor allem PiAS ohne intellektuelle Beeinträchtigung genannt, da sie nach Meinung der Befragten am meisten Interesse hätten und grundsätzlich motiviert wären. Fokussiert werden müsse sich auf sprechende PiAS. Gleichzeitig sollten die Angebote, damit sie förderlich sind, sowohl an das Individuum angepasst werden als auch allgemeine Beeinträchtigungen adressieren, da in einer Förderschule in den Schulklassen meist Kinder und Jugendliche mit diversen Beeinträchtigungen sind. Reine Autismus-Klassen seien eher die
Eine Interviewstudie zu den Unterstützungsbedarfen und -potenzialen von Virtual Reality
Seltenheit. Es wurde zudem der Wunsch geäußert, diejenigen Personen anzusprechen, die nicht dem „Durchschnitt“ entsprechen, wenngleich für sie die Angebote anders strukturiert werden müssten, da es oft Mischformen wie sprechende und nicht-sprechende PiAS gibt. Nach Aussagen der Kontaktpersonen sprechen manche sehr gut, sind aber in ihrer Selbstversorgung und ihrer Fähigkeit, mit der Umwelt generell klarzukommen, schwer eingeschränkt. Die Befragten sehen insbesondere für die zweite Personengruppe förderliche Potentiale im Bezugsfeld einer räumlich geschützten VRAnwendung. 5
Zusammenfassung und Diskussion
Die Interviewstudie mit Bezugspersonen von PiAS (N = 22) wurde durchgeführt, um ein systematisch erhobenes Beschreibungswissen zu den spezifischen Ausgangslagen von PiAS zu erhalten und anschlussfähige Hinweise zur Konzeptionierung von VRAnwendungen bzw. Use Cases für die PiAS und deren Kontaktpersonen abzuleiten. Die Zielsetzung ist mit drei Forschungsfragen verbunden, auf deren Ergebnisse im nachfolgenden eingegangen wird. Die Forschungsfrage 1 beschäftigte sich mit dem explorativen Aspekt, welche unterstützenden VR-Szenarien für PiAS grundsätzlich bedeutungsvoll sein könnten. Interessante Use Cases in VR zur Förderung der Zielgruppe stellen demnach vor allem Handlungsabläufe der Interaktion und Kommunikation des privaten, (aus-/weiter-) bildungsbezogenen und beruflichen Umfeldes dar. Entsprechende Handlungsabläufe und Interaktionsfelder könnten von PiAS als Routinen eingeübt werden, um (angstbesetzte) Hemmnisse zu reduzieren. Diese sollten anpassbar an den Lernfortschritt und das Individuum sein. Konkrete Beispiele hierfür, die von Interviewpersonen genannt wurden, sind ein Bahnszenario mit Ticketkauf am Automaten, das Jobinterview, der Erstkontakt mit Kundschaft, der Besuch in einer Praxis für Allgemeinmedizin und sonstige soziale Events sowie Menschenansammlungen. Insbesondere der Use Case des Besuchs einer Praxis für Allgemeinmedizin und das Jobinterview stellt nach Meinung der Befragten förderorientierte Fallvarianten dar. Sowohl im Kontext eines VRPraxisbesuchs als auch mit einem VR-Jobinterview hätten die PiAS die Möglichkeit, in verschiedenen Schwierigkeitslevels (von einer reizarmen bis reizstarken Umgebung) in einem geschützten Raum (ggf. mit randomisierten Hilfestellungen) zu trainieren und könnten hierdurch bestehende Hemmungen und Ängste abbauen. Bestenfalls können durch Hilfestellungen ebenfalls die Transferleistung gesteigert und die Einschränkungen der Exekutivfunktionen von PiAS, die nach Aussage der Befragten mehrheitlich im Sozialen in Erscheinung treten, vermindert werden. Weitere unterstützende Szenarien für VR lassen sich aus den genannten Situationen ableiten. Da es eine Vielzahl unvorhergesehener Situationen in diversen Ausprägungen gibt, erscheinen vor allem VR-Szenarien für PiAS mit Mehrwert behaftet, wenn sich der individu-
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elle Use Case durch eine Transfer- und Skalierungskomponente auf weitere Szenarien übertragen lässt. Mögliche Kontexte sind: (1.) Das Outing als PiAS. (2.) Das Bitten um klare Anweisung in einer Interaktion mit einer nicht-autistischen Person. (3.) Das Problemlösen: Rückfragen, sobald etwas unklar ist, bspw. bei Sprichwörtern, Redewendungen oder Missverständnissen. (4.) Die Kommunikation generell, wenn etwas als störend empfunden wird. (5.) Die Förderung der inhibitorischen Kontrolle von PiAS, als Fähigkeit, impulsive (oder automatische) Reaktionen zu kontrollieren oder zu hemmen, um durch logisches Denken und Aufmerksamkeit Antworten zu finden. Geübt werden könnte dies durch VR-Szenarien, bei denen mehrere Sinne gleichzeitig angesprochen werden oder einzelne Reize bewusst unterdrückt werden müssen. Dabei könnte das sich in Situationen schnell entscheiden müssen, die soziale Interaktion und das Fokussieren, auf das in dem Moment relevante und richtige in wiederholenden Szenarien eingeübt werden. Mit diesem Ansatz für VR könnte sowohl die Reizfilterschwäche als auch die Inhibition und kognitive Flexibilität wie der Adaptionsprozess aus Assimilation und Akkommodation auf der motorischen, aufmerksamkeits- und verhaltensbezogenen Ebene trainiert werden. (6.) Die Stressregulation: d. h. situativer Umgang mit negativen Emotionen erlernen bzw. Ausbau der Frustrationstoleranz und Aufbau von eigenen Schutzmechanismen. Die Kategorien der emotionalen Situation bieten ein großes kontextuelles Potenzial für VR-Szenarien. Ergebnisse der Interviewstudie bestätigen eine eingeschränkte Sensibilität der PiAS, die bei auditiven oder visuellen Reizen (vgl. P21; Kamp-Becker & Bölte, 2021), gegenüber Gerüchen (olfaktorisch), Temperatur (Thermozeption) oder Schmerz (Nozizeption) auftreten, dabei aber auch personenbezogen variieren. Äußern kann sich die Hyper- oder Hyporeaktivität durch ungewöhnliches oder exzessives Interesse an Umweltreizen oder einer scheinbaren Gleichgültigkeit gegenüber diesen. PiAS haben nach Angaben der Befragten eine Wahrnehmung, die sich deutlich von nicht-autistischen Personen unterscheiden kann. Dabei werden die gleichen Reize wahrgenommen, jedoch erheblich anders gefiltert, verarbeitet und interpretiert (vgl. P3, 7, 13, 17; Theunissen, 2016). Um nicht-autistischen Personen einen Einblick in diese Reizmuster geben zu können, erscheint eine VR-Umgebung mit Variation der akustischen, visuellen und taktilen Reize denkbar. VR-Umgebungen können die Wahrnehmungsbesonderheiten der PiAS, bspw. der Reizfilterschwäche, Über- Untersensibilität oder das fehlende Erkennen und Zeigen von Mimik, für nicht-autistische Personen erlebbar machen. Zum Realisieren von VR-Anwendungen, könnte sich besonders die Probleme verursachende auditive und visuelle AS-Wahrnehmung der PiAS eignen, für welche die Reizfilterschwäche oder die Hyper- oder Hyporeaktivität auf sensorische Reize Erklärungsansätze sind. Dadurch könnte die individuelle Reizverarbeitung des objektiv wahrgenommen Reizes, der durch die PiAS subjektiv anders interpretiert wird und eine andere oder keine Reaktion (Verhalten) auf diesen Reiz bedingt, besser nachvollzogen werden. Ein denkbarer Anwendungsfall für VR betrifft die Irregularitäten. Hervorzuheben ist, dass in drei Kategorien Aussagen getroffen wurden, die den „Irregularitäten“ zugeordnet
Eine Interviewstudie zu den Unterstützungsbedarfen und -potenzialen von Virtual Reality
werden können. In K1 traten sie bei den Problemsituationen in der UK Strukturelle der strukturellen Irregularitäten (11), bei Sozialem durch die „Überforderung in Schwellensituationen“ (5) und beim Psychischen durch Decidophobie (12) auf. Aussagen in K2 der Situationen des Unwohlseins bezogen sich ebenfalls auf die strukturellen Irregularitäten. In Form von Aussagen zu Irregularitäten/Flexibilität (5) ließen sie sich außerdem zur K4 der Unterstützungsbedarf durch VR-Training einordnen. In der Summe wurden der Irregularität n = 33 Aussagen zugeordnet. Das deutet daraufhin, dass ein Bedarf besteht, sich dieser Thematik anzunehmen. Aus den durch die Interviewten berichteten wahrgenommenen Problemen und Emotionen von PiAS lassen sich mit den genannten positiven Emotionen entspannende Szenarien in VR entwickeln. Vertraute Lieblingsbilder wie Blumenbilder, die von P17 genannt wurden oder die von P21 genannten ein- und ausfahrende Züge und Busse der Sonderinteressen von PiAS, sind zur Entspannung in VR vorstellbar. Mit VR könnte nach Meinung der Befragten erreicht werden, dass eine Entlastung und Entspannung eintritt und ein positives Gefühl im Training hervorgerufen wird. VR könnte zudem zum Erwerb der Sozialkompetenzen mit Wissenstransfer oder stufenweise und durch kontrollierte anpassbare Konfrontation mit Ängsten eingesetzt werden. Ableitbare Szenarien ergeben sich auch aus den genannten Problemen der Wahrnehmungsbesonderheiten, die die Hyper-, oder Hyposensibilität betreffen. Die Forschungsfrage 2 beschäftigt sich mit den bereits vorliegenden Unterstützungsangeboten für PiAS und den von den Interviewpersonen gesehenen Bedarfen. Demnach besteht vor allem ein Bedarf an individuellen Förderumgebungen im Kontext des jeweiligen Bedarfs, bspw. Lebenslage und Umfang. Die Interviewten sind der Meinung, es müsse mehr zu AS aufgeklärt und ein Fachwissen zu AS bei Bezugspersonen von AS vermittelt werden. Die Ergebnisse der Studie belegen, dass VR in der Therapie von PiAS bisher selten eingesetzt wird. Von vielen wird VR aber auch nicht vermisst, da sie die Potenziale selbst nicht einschätzen können, keine nutzerbezogenen Erfahrungen dazu gesammelt haben und gleichfalls kein Zugang zur VR-Technologie besteht. Diejenigen, die mit VR schon erste Erfahrungen gesammelt hatten, sehen Potenzial in der Technologienutzung durch PiAS und deren Kontaktpersonen. Die Forschungsfrage 3 betrachtet, was beim Entwickeln oder Auswählen von immersiven virtuellen Trainingsanwendungen (3D- oder 360°-Video) für PiAS grundlegend zu beachten ist. Berücksichtigt werden sollte demnach, dass bei der Zielgruppe vielfach auch Komorbiditäten (Begleitsymptome) bspw. Aufmerksamkeitsstörungen (ADS, ADHS), Depression oder Epilepsie vorliegen können. Sowohl eine nach Diagnosestellung stattgefundene Psychoedukation (das Wissen um eigene Stärken, aber auch Beeinträchtigungen), als auch der Einsatz eines Stressfragebogens vor dem VRTraining und das therapeutische Begleiten werden im Umgang und zur gezielteren Förderung als sinnvoll angenommen. Grund für Implikationen der Gestaltung stellt die begrenzte Generalisierbarkeit einer VR-Anwendung (durch Kosten, Entwicklungszeit und hohem technologischem Aufwand) dar, bei der nicht alle Fallvarianten
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auf jedes Individuum im AS abgestimmt werden können. Des Weiteren ist aus Sichtweise der Interviewpersonen bei der Entwicklung der Aufbau der VR-Anwendung zu berücksichtigen. Ein kleinschrittig steigendes Anforderungsniveau mit klaren oder ohne Anweisungen, entsprechend individuellen Limitationen und Lerngeschwindigkeit, könnte u. a. Rückzug, Panik oder andere Symptome von Überforderung bei PiAS vermeiden. Außerdem sollte die Zielgruppe selbst insofern bei der Konzeptionierung berücksichtigt werden, da sich diese durch das Spektrum des Autismus stark ausdifferenziert, was die Aussage von drei Interviewten über PiAS in dieser oder ähnlicher Form belegt: „Kennst du eine oder einen, kennst du genau eine oder einen“. Auch die Organisation „Autism speaks“ hat zahlreiche Aussagen wie „What Is Autism? There is no one type of autism, but many“ (Autism Speaks, 2022). Der Vorschlag, die Innenansicht von AS-Charakteristik für nicht-autistische Personen wie Kontaktpersonen von PiAS erfahrbar durch VR-Szenarien zu machen, stellt u. E. nach, einen interessanten Ansatz dar, um die AS-Sichtweise in VR kennenzulernen und darauf basierend ggf. ein „besseres“ Verständnis für PiAS zu entwickeln. Auch Handlungsroutinen und Varianten in VR in einem geschützten Raum zu üben, könnte PiAS für das Agieren mit ihrer Umwelt in der reellen Welt helfen. Die von den nicht-autistischen Menschen als Norm definierte Welt unterscheidet sich, wie im Beitrag bereits beschrieben, von der Wahrnehmung der PiAS zum Teil deutlich. Für PiAS kann es ein schmaler Grat zwischen eigene Identität durch Adaption aufgeben sein, bei der das eigene Verhalten an die Umwelt angepasst wird (Akkommodation), um möglichst gut ins Gefüge zu passen und der ihrer Individualität zu bewahren, indem die Umwelt an die eigenen Bedürfnisse angepasst wird (Assimilation). Anderssein und Andersdenken kann die Menschheit bereichern, indem Empathie und Verständnis gegenüber der Sichtweise der Wahrnehmung der Neurodiversen, wozu PiAS zählen, aufgebracht wird (vgl. P10, 12). Die eigenen Ergebnisse zur Charakteristik von PiAS werden durch den Forschungsstand aus dem medizinischen Bereich bestätigt (vgl. Theunissen, 2020; Kamp-Becker & Bölte, 2021) und erweitern diese im Hinblick auf die Konzeptionierung immersiver virtueller Anwendungen für PiAS und nicht-autistischer Personen. 6 Abkürzungsverzeichnis
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Eine Interviewstudie zu den Unterstützungsbedarfen und -potenzialen von Virtual Reality
ICD-11 Internationale Klassifikation der Krankheiten 11. Revision für Mortalitätsund Morbiditätsstatistiken IP oder P Interviewperson(en), Interviewten VR immersive virtuelle Realität(en), immersive Virtual Reality, HMD-basierte VR PiAS Person(en) im Autismus-Spektrum UK Unterkategorie VR Virtuelle Realität(en) Literatur
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229
230
Evelyn Isabelle Hoffarth / Bernd Zinn
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Lehrperson der Berufsschule zur sonderpädagogischen Förderung.
Psychologin
Leiterin der Erwachsenenbildung und des Referats Berufsbildung.
Sozialpädagogin
Psychologin, Berufsberaterin, Leiterin Fachteam Autismusberatung.
Job Coach bei IT-Dienstleistungsunternehmen für IT-Consultant im AS. Ergotherapeutin.
P1
P2
P3
P4
P5
P6
B (12) als Ergotherapeutin (Körperwahrnehmung & Umgang mit taktilen Reizen) (12), Job coach (4,5).
B (25), B (2) (Reha-)Teamleiterin.
B (13) AS-Erwachsenen-Coaching. Arbeitsamt-/Arbeitgeberbegleitung, leitet SHG.
B (3,5) Erwachsenenbildung > 20 Jahre Erfahrung.
B (< 1) begleitete PiAS2 im disziplinären Team.
B (2)
AS-Bezug (P = Privat, E = Ehrenamt, B = Beruflich), Erfahrungsjahre (Beruf im Bereich Autismus oder Alter des AS-Angehörigen) Arbeitsland D
D
D
CY
F
D
Geschlecht w
w
w
w
w
m
Alter IP 33
54
40
43
31
31
45
61
14
9
26
32
Dauer [min]
Dienstleistungsunternehmen, beschäftigt ausschl. PiAS als IT-Consultant.
Autismusgerechtes BBW.
AZ. Netzwerkaufbau „Autismus und Arbeit“.
Zentrum für Forschung & Bildung mit Erwachsenenbildung, u. a. PiAS.
NPO
SBBZ
Autismusbezug1
(BBW), Berufsvorbereitungswerk (BAW), Fachdienst (FD), Firma, Nicht gewinnorientierte Organisation (NPO), Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum (SBBZ), Selbsthilfegruppe (SHG), Selbsthilfeverband (SHV), Schule zur indiv. Lernförderung (ILF). 2 PiAS: Person(en) im Autismus-Spektrum.
1 Autismusbezug durch Anlaufstelle, Firma, Institution, Verein, Verband z. B. Autismus Kompetenzzentrum (Akn), Autismus Zentrum (AZ), Berufsbildungswerk
Berufsbezeichnung
Nr.
Tab. 1 Informationen zu Interviewten und ihrem AS-Bezug
Eine Interviewstudie zu den Unterstützungsbedarfen und -potenzialen von Virtual Reality
231
Fachreferent bei Autismusverband. Heilerziehungspfleger, Erziehungswissenschaftler.
Psychologin.
Geschäftsführerin von ADHS-Verein. DZP3-Angehörigenvertreterin.
Job Coach bei Dienstleistungsunternehmen für Mitarbeitende im AS. Selbständig im Bereich individuelle Stärken, positive Psychologie.
Gründungsmitglied von SHG für Eltern volljähriger PiAS.
Therapeut
P7
P8
P9
P10
P11
P12
B (10), E (7), Schulbegleitung PiAS. B (4), B (1) Studienassistenzleistung.
P (29)*, E (8) * Sohn, 29 Jahre, mit 17 AS-diagnostiziert. Mit 20 Tagen Aufnahme als Pflegekind.
B (6) B (2) als Job Coach, B (6) Stärken-coaching (AS, ADHS, ohne Diagnose).
B (12), E (30), P (27)* * Hat Sohn im AS und einen Sohn mit ADHS.
B (17) Coaching v. Schulbegleitungen.
B (20), bei Autismusverband (2,5) Autismusspez.: aktuelle Promotion, freiberufl. Referent. Einzelfallbegl.
AS-Bezug (P = Privat, E = Ehrenamt, B = Beruflich), Erfahrungsjahre (Beruf im Bereich Autismus oder Alter des AS-Angehörigen)
3 Deutsches Zentrum für Psychische Gesundheit (DZP).
Berufsbezeichnung
Nr. Arbeitsland D
D
D
D
D
D
Geschlecht m
m
w
w
w
m
Alter IP 32
59
50
55
50
40
70
80
68
50
48
53
Dauer [min] Akn
Eltern-SHG Autismus
Dienstleistungsunternehmen, beschäftigt ausschl. PiAS als IT-Consultant.
ADHS-SHV. 5 % der Aktiven haben zudem AS-Diagnose.
BBW, BAW.
Autismusverband
Autismusbezug1
232 Evelyn Isabelle Hoffarth / Bernd Zinn
Vorsitz Autismusverein (E), Lehrerin am SBBZ. Projektleitung Fach- und Koordinierungsstelle Autismus für Kinder/ Jugendliche.
Prof. Dr. med. FA für Psychiatrie/ Psychotherapie. Ärztl. Direktor psychia trischer Klinik. Fachberater für ASS im Erwachsenenalter. Vorstandsvorsitzender Autismus-Netzwerk. Beteiligt an Autismus-Strategie.
War Moderator in Autismus-Strategie (Eltern/Angehöriger v. PiAS).
Studentin hat Bruder im AS.
P13
P14
P15
P16
P (22)* * Bruder wurde vor 2. Lebensjahr in USA AS-diagnostiziert, lebt in geförderter WG mit Ausbildungsbereich. Schreiner.
P (43)*, E (3) *Sohn im AS, GdB5 von 100, Pflegegrad 3 von 5. Mit 3 Jahren AS-diagnostiziert.
B (44), E (35) FA, Zusatzquali. Verkehrsmedizin. Bis heute Beratertätigkeit zu AS. E (35) Erwachsenenpsychiater im wiss. Beirat von Autismusverband. Mitentwicklung von Leitlinien. Diagnostik/Therapie.
B (30), E (14), P (20)* * Bekannter im AS seit 20 Jahren, häufiger Kontakt. Fach- & Koordinierungsstelle Autismus. E (10) Coaching Schulbegleitungen.
AS-Bezug (P = Privat, E = Ehrenamt, B = Beruflich), Erfahrungsjahre (Beruf im Bereich Autismus oder Alter des AS-Angehörigen) Arbeitsland D
D
D
D
Geschlecht w
m
m
w
Alter IP 24
76
72
68
72
53
64
95
Dauer [min] Autismus-Strategie für ein Bundesland zur Gesetzesvorlage die Leben von PiAS erleichtern soll.
Psychiatrische Klinik. Autismus-Netzwerk4
Autismusverein
Autismusbezug1
4 Autismus-Netzwerk darunter Leistungserbringer, Ärzteverbände, Psychologenverbände. 5 GdB = Grad der Behinderung, GB = Geistige Behinderung, GdB mit Merkzeichen G (erhebliche Gehbehinderung), B (Begleitperson), H (Hilflosigkeit).
Berufsbezeichnung
Nr.
Eine Interviewstudie zu den Unterstützungsbedarfen und -potenzialen von Virtual Reality
233
Mitglied in Autismus SHV. Leitet Asperger PiAS WG im Verband.
Prof., Erwachsenenpsychiatrie an Uniklinik, diagnostische Ambulanz. DFG-Mitglied.
Dr. med, FÄ für Psychotherapie.
Senior Bildungspsychologe / educational psychologist Stadt-/Gemeindeverwaltung.
Sonderpädagogin, Teilkoordinatorin. Ehem. Seminarleitung, derzeit stellv. Leitung eines Integrationszentrums.
Fachreferentin Autismus in Reha-Akademie & extern.
P17
P18
P19
P20
P21
P22
B (21) Einzelförderung von PiAS.
P (39*), B (14) * Bruder aus Spektrum GB², kompl. Versorgung & Pflege Begl. PiAS beim Wohnen und der Ausbildung.
B (19)
B (32)
B (13) Beratung und Diagnostik (ADOS-Testung).
P (45)*, E (33), B (30) * Tochter im AS ist 45 Jahre, Dipl. Math., GdB 100. G, B, H. E (33) beratend für Akn, Ehem. Akn-Vorsitzende. Berät PiAS im Studium/bei reg. Ausbildung. B (30) berät Institutionen.
AS-Bezug (P = Privat, E = Ehrenamt, B = Beruflich), Erfahrungsjahre (Beruf im Bereich Autismus oder Alter des AS-Angehörigen)
6 gfi = Gesellschaft zur Förderung beruflicher und sozialer Integration.
Berufsbezeichnung
Nr. Arbeitsland D
D
UK
D
D
D
Geschlecht w
w
m
w
w
w
Alter IP 58
45
55
57
41
75
60
81
68
36
36
101
Dauer [min]
Autismus FD im BBW. Schule zur ILF.
Autismus Integrationszentrum der gfi6. Angebot ausschl. für PiAS. Reha-Ausbildungseinrichtung
Abt. Kinderbetreuung eines Stadtbezirkes.
Praxis für Kinder-/Jugendpsychiatrie.
Klinik für Psychiatrie & Psychotherapie.
SHV Autismus. Akn.
Autismusbezug1
234 Evelyn Isabelle Hoffarth / Bernd Zinn
Serious Games Effektive spielbasierte Lernanwendungen zur Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung in technischen Kontexten
P HOEBE PERLWITZ / PIA SPANGENBERGER / JENNIFER STEMMANN
Zusammenfassung: Frauen sind in technischen Berufen auch heute noch unterrepräsentiert. Selbst-
konzept und Selbstwirksamkeitserwartung spielen bei der Berufswahl eine Rolle, aber während das Selbstkonzept als stabil gilt, kann die Selbstwirksamkeitserwartung möglicherweise durch Interventionen wie z. B. die in diesem Kapitel vorgestellten Serious Games gefördert werden. In Serena Supergreen werden technische Berufe im Arbeitsfeld erneuerbarer Energien und in Lights Out die Grundlagen der Elektrotechnik thematisiert. Die Spiele wurden bei 13–15-jährigen Schüler*innen in Sekundarschulen eingesetzt und es konnten Verbesserungen in der Selbstwirksamkeitserwartung, der intrinsischen Motivation und der wahrgenommenen Kompetenz der jungen Frauen ermittelt werden. Die Bedeutung dieser Ergebnisse wird diskutiert. Schlüsselwörter: Serious Games, Selbstwirksamkeitserwartung, Berufsorientierung, technische Berufe, Geschlecht Serious games Game-Based Learning Tools that Develop Self-Efficacy in the Realm of Technology Abstract: Women are still underrepresented in technical professions today. Self-concept and self-
efficacy expectancy play a role in career choice, but while self-concept is considered stable, self- efficacy can possibly be promoted through interventions such as the serious games presented in this chapter. Serena Supergreen focuses on technical professions in the field of renewable energy and Lights Out on the basics of electrical engineering. The games were used with 13 to 15 year old students in secondary schools and improvements in self-efficacy, intrinsic motivation and perceived competence of the young women could be determined. The relevance of these results is discussed. Keywords: Serious Games, Self-Efficacy, Vocational Orientation, Technical Occupations, Gender
236
Phoebe Perlwitz / Pia Spangenberger / Jennifer Stemmann
1 Einleitung
Nach wie vor werden Unterschiede in den persönlichen Interessen und Aktivitäten durch soziale und traditionelle Geschlechterrollen geprägt und führen zur Entwicklung von Geschlechterstereotypen in Berufen (Perry‐Jenkins & Gerstel 2020). So werden technische Berufe häufig als typisch männlich konnotiert, bei denen allein getüftelt und wenig sozial wirksam gehandelt wird (Pflugradt & Janneck 2012). Frauen identifizieren sich mit diesem Berufsbild häufig kaum und schreiben sich entsprechende Berufe nicht zu (ebd.). Dies spiegelt sich in den Neuabschlüssen dualer Ausbildungsberufe wider. So waren unter den Auszubildenden neu abgeschlossener Ausbildungsverträge in den sogenannten MINT-Berufen im Jahr 2021 nur 11 % weiblich (BIBB 2022). Ein Frauenanteil, der sich seit 20 Jahren kaum verändert hat – im Jahr 1998 lag dieser bei 10 % in den MINT-Berufen. Noch geringer ist der Anteil von Frauen in den Fachrichtungen des Berufs Elektroniker*in mit einem Frauenanteil von 2,7 % im Jahr 2021 (ebd.). Frauen geben an, häufig Berufe zu wählen, von denen sie glauben, dass sie mit geregelten Arbeitszeiten einhergehen, um die Verantwortung für den Haushalt und die Familie zu übernehmen (Perry‐Jenkins & Gerstel 2020). Die gewählten Berufe haben außerdem oft einen geringen Status oder Prestige, sind häufiger sozialer Natur, verbunden mit der Vorstellung, anderen Menschen zu helfen (Achatz 2005). Auch im technischen Bereich wählen Frauen eher Berufe, wenn diese einen sozialen Beitrag leisten (Cech 2015; Spangenberger, Kruse & Kapp 2019). So finden sich in technischen Ausbildungsberufen im medizinischen Bereich wie der/dem Zahntechniker*in ein Frauenanteil in den neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen im Jahr 2021 von knapp 97 % (BIBB 2022). Eine Konsequenz der Berufswahl von Frauen in Deutschland ist, dass sie häufiger in Berufen beschäftigt sind, die mit einem geringen Durchschnittslohn einhergehen (BMFSFJ 2023). Maßnahmen zur Bewältigung des geringen Frauenanteils müssen möglichst früh ansetzen, um stereotypischen Entwicklungen bei der Berufswahl entgegenzuwirken (Ertl, Luttenberger & Paechter 2014). Neben außerschulischen Möglichkeiten (bspw. Berufspraktika, Teilnahme am GirlsDay), finden auch im Schulunterricht Beratungen zur Berufsorientierung statt (Dedering 1996). Die Professionalität der Lehrkraft hat dabei einen Einfluss auf die Tätigkeiten des Beratens oder Vermittelns von Praktika und Ausbildungsplätzen und hierdurch eine hohe Bedeutung bei der Herausarbeitung der berufsspezifischen Laufbahnentwicklung von Schülerinnen (Brämer 2019). Als Unterstützung können Lehrkräfte im Rahmen der Berufsorientierung im Unterricht digitale Spiele einsetzen, die ein konkretes Bildungsziel verfolgen. Sie bieten jungen Frauen innovative Möglichkeiten, sich im geschützten Raum auszuprobieren und sich frei von Vorurteilen mit Berufsbildern auseinanderzusetzen (Spangenberger et al. 2017; Spangenberger, Kruse & Kapp 2019). Im vorliegenden Beitrag wird aufgezeigt, wie es mithilfe von Serious Games gelingen kann, die Selbstwirksamkeitserwartung von jungen Frauen im Bereich Technik zu fördern und so langfristig auch das Selbstkonzept herauszuarbeiten. Dazu werden
Serious Games
exemplarisch zwei Beispiele herangezogen und anschließend die Gelingensbedingungen diskutiert. 2
Einflussfaktoren auf die Berufswahl
Die Persönlichkeitsentwicklung ist in verschiedenen Phasen des Lebens von Werten und Erkenntnissen durch das soziale Umfeld geprägt, durch die der Berufswahlprozess immer konkreter wird (Brown 2003; Makarova & Herzog 2015). In der Kindheit werden Individuen mögliche Berufsmerkmale bekannt und hinsichtlich der Passung mit den eigenen Selbstkonzepten geprüft (Super 1963). Das Selbstkonzept beschreibt, wie eine Person sich selbst sieht und beinhaltet Überzeugungen und Annahmen, die eine Person über sich selbst hat (Shavelson, Hubner & Stanton 1976; Shavelson & Bolus 1982). Das Selbstkonzept wird als multidimensionales Konstrukt beschrieben, welches verschiedene bereichs- und situationsspezifische Teil-Selbstkonzepte beinhaltet (ebd.). Das Selbstkonzept in Bezug auf die eigenen Berufsvorstellungen wird im Laufe des Lebens durch die Umwelt, die soziale Interaktion und den Vergleich mit Eltern, Geschwistern, Lehrkräften und Peers geformt (Super 1963). Die Eltern spielen dabei eine wichtige Rolle im Berufswahlprozess, vor allem der Frauen (Šimunović & Babarović 2020). Durch sie entwickeln Kinder eine Einordnung von z. B. Prestige und Geschlechtstypik und beginnen bereits im frühen Kindesalter einzelne Berufe männlich und weiblich zu konnotieren (Steffens & Ebert 2016). Im späteren Verlauf der Entwicklung beeinflussen auch Peers den Berufswahlprozess (Kiontke 2018). Insbesondere nehmen beste Freundinnen und Freunde desselben Geschlechts durch ihre eigenen Erfolgserfahrungen ebenfalls Einfluss auf die Berufswahl, indem sie (oft unterbewusst) Meinungen und Wissen zu bestimmten Bereichen einbringen (ebd.). Gottfredson (2002) spricht von einer kognitiven Karte der Berufe (aus dem Engl. Cognitive map of occupations), auf der zunächst noch alle beruflichen Optionen offen sind. Das berufliche Selbstkonzept bildet sich heraus, indem in den verschiedenen Phasen des Lebens Berufe mit geringer Passung von der kognitiven Karte entfernt werden (ebd.). Beratungen während der Schulzeit ändern am beruflichen Selbstkonzept wenig, da zu diesem Zeitpunkt die kognitive Karte bereits zu sehr eingeschränkt wurde. Auch durch gute Leistungen in technischen Fächern werden entsprechende Berufe nicht zu subjektiv akzeptablen Berufsalternativen (ebd.). Aspekte, die dem Individuum nicht zugänglich sind, bleiben im Berufsorientierungsprozess unberücksichtigt und Berufsfelder ohne Passung werden nicht mehr als Optionen in Betracht gezogen (Ratschinski 2011). Um technische Berufe auf der kognitiven Karte wieder sichtbar zu machen, muss Mädchen und jungen Frauen die Gelegenheit für positive technische Handlungserfahrungen ermöglicht werden (Hannover & Bettge 1993). Durch solche Erfahrungen glauben sie möglicherweise auch in Zukunft technikbezogene Aufgaben erfolgreich bewältigen zu können. Diese Überzeugung, zukünftige Handlungen kompetent und
237
238
Phoebe Perlwitz / Pia Spangenberger / Jennifer Stemmann
organisiert durchführen zu können, wird durch die Selbstwirksamkeitserwartung beschrieben, der Schlüsselkomponente in Banduras (1977) sozialkognitiver Theorie. Die Selbstwirksamkeitserwartung ist neben dem Selbstkonzept ein bestimmendes Kon strukt im Berufsorientierungsprozess. Die Selbstwirksamkeitserwartung kann nicht global, sondern nur in Bezug auf eine bestimmte Aufgabe oder eine Situation wahrgenommen werden (ebd.). Demnach bilden Lernerfahrungen die Grundlage für die Herausbildung der beruflichen Selbstwirksamkeitserwartung (Abele, Stief & Andrä 2000). Beispielsweise haben Frauen in ihrer Kindheit weniger Möglichkeiten, sich mit Technik auseinanderzusetzen und können ihre Kompetenzen in diesem Bereich nicht entwickeln (Hirsch 2002). Da Personen Dinge meiden, in denen sie sich nicht kompetent fühlen, nimmt das Interesse ab und die Unsicherheit über die Passung mit einem Beruf, der zu anspruchsvoll erscheint, wächst. Sie verfügen über eine niedrige Selbstwirksamkeitserwartung, die in der späteren Nicht-Wahl technischer Berufe endet (Falco & Summers 2019). Obwohl beiden Selbst-Konstrukten (Selbstkonzept und Selbstwirksamkeitserwartung) eine hohe Bedeutung hinsichtlich ihrer prädiktiven Eigenschaften bezüglich Motivation, Leistungen und Berufswahl zukommt, sind sie doch zu unterscheiden. Das Selbstkonzept wird, zumindest was seinen theoretischen Inhalt betrifft, als umfassender eingeschätzt, da es ein großes Spektrum an deskriptiven und evaluativen/affektiven Eigenschaften umfasst (Bong & Clark 1999). Während das Selbstkonzept als guter Prädiktor für Angst, Besorgnis aber auch für die Motivation, eine Karriere in der Zukunft anzustreben gilt, kann die Selbstwirksamkeitserwartung die Leistungsfähigkeit in MINT-Fächern möglicherweise besser vorhersagen, da sie die früheren Erfahrungen mit der Bewältigung spezifischer Aufgaben stärker fokussiert ( Jansen, Scherer & Schroeders 2015). Während Forschungsarbeiten zeigen konnten, dass das Selbstkonzept mit dem Alter stabiler wird und nur noch schwer zu beeinflussen ist (Shavelson & Bolus 1982), wird vermutet, dass sich die Selbstwirksamkeitserwartung durch gezielte Maßnahmen verbessern lässt und so berufliche Unentschiedenheiten reduziert werden können (z. B. Falco & Summers 2019). In neueren Metaanalysen für den MINT-Bereich konnten Lent et al. (2018) zeigen, dass Selbstwirksamkeitserwartungen signifikant die Interessen und damit die Berufswahl voraussagen können. 3
Maßnahmen zur Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung
Bandura (1977) identifiziert vier Quellen, die die Selbstwirksamkeitserwartung einer Person beeinflussen und damit potenziell für Fördermaßnahmen genutzt werden können: (1) Erfolgserlebnisse: Durch Erfolg bei der Bewältigung schwieriger Aufgaben kann der Glaube an die eigene Kompetenz wachsen. Personen mit einer ho-
Serious Games
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hen Selbstwirksamkeitserwartung haben auch eine hohe Frustrationstoleranz. Stellvertretende Erfahrungen: Auch die Erfahrung von Menschen mit ähnlichen Fähigkeiten kann stellvertretend helfen, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu steigern. Verbale Überzeugung: Ein weiterer Faktor ist die verbale Ermutigung durch Lehrkräfte, Eltern und Peers. Menschen, denen gut zugeredet wird, glauben mehr an sich. Emotionale Verfassung: Zuletzt spielt auch die Wahrnehmung der eigenen Gefühle eine entscheidende Rolle. Eine Angstentwicklung in bestimmten Situationen führt zu einer Herabsetzung der Kompetenzerwartung (Bandura 1977).
Erfolgserlebnisse bei praktischen Erfahrungen in technischen Berufen können helfen, den Glauben in die eigene Kompetenz zu stärken. Aber auch durch weibliche Vorbilder, die in technischen Bereichen erfolgreich sind, glauben Frauen möglicherweise eher, dass auch sie in diesen Berufen erfolgreich sein können (ebd.). Ebenso hilft positives Feedback und Ermutigung, Frauen in ihren Fähigkeiten zu bestärken (Paechter, Luttenberger & Ertl 2020). Eine hohe technikbezogene Selbstwirksamkeitserwartung könnte so das technische Berufsfeld im Berufsorientierungsprozess zu einer Alternative machen. Für die Aufgabe, die Selbstwirksamkeitserwartung junger Frauen zu stärken, kommt speziell der Schule eine wichtige Bedeutung zu. In einer Studie von Falco & Summers (2019) wurde die Förderung der Selbstwirksamkeitserwartungen bei Berufsentscheidungen und in MINT-Fächern bei jungen Frauen untersucht. In einer 9-wöchigen Intervention, die speziell die vier Quellen der Selbstwirksamkeitserwartung berücksichtigte, konnten signifikante Verbesserungen der Selbstwirksamkeitserwartung ermittelt werden sowie eine positive Einstellung in Bezug auf berufliche Entscheidungen im MINT-Bereich (ebd.). Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch McWhirter, Crothers & Rasheed (2000), die Verbesserungen auch in einem späteren Folgetest noch feststellen. Mit zunehmender Digitalisierung entwickeln sich auch Medien zu einer starken Ressource der Berufsorientierung. Es gibt eine Vielzahl von Angeboten (z. B. planet-beruf.de 2023), mit denen Jugendliche sich individuelle Informationen beschaffen und diese unabhängig von Personen und Institutionen reflektieren können. Die Berufsorientierung im Unterricht kann durch Elemente der Digitalisierung ergänzt werden, um Lernende für technische Berufe zu sensibilisieren (Thurnherr, Schönenberger & Brühwiler 2013). Beispielsweise bietet das Bundesinstitut für berufliche Bildung Informationen zu Einsatzmöglichkeiten verschiedener Simulationen und Serious Games (Blötz 2015). Ein Beispiel für eine gezielte Unterstützung des Berufswahlprozesses bietet das Spiel like2be, bei dem Spielende verschiedene Berufe kennenlernen können (Keller, Makarova & Döring 2021). Darüber hinaus
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können Serious Games dabei unterstützen, gezielt auf die Selbstwirksamkeitserwartungen Einfluss zu nehmen (Sitzmann 2011). 4
Mit Serious Games die Selbstwirksamkeitserwartung fördern
Serious Games bieten eine Option, die Selbstwirksamkeitserwartung zu beeinflussen, indem sie die vier von Bandura ermittelten, einflussnehmenden Quellen berücksichtigen. Spielende haben Gelegenheit, Aufgaben in einer risikofreien Umgebung zu bearbeiten (z. B. Jarvis & Freitas 2009). Durch implementierte Aufgaben im steigenden Schwierigkeitsgrad und dem Erreichen von nahen Zielen sind Erfolgserlebnisse möglich (Bergey et al. 2015). Die stellvertretende Erfahrung durch einen Avatar kann möglicherweise ebenfalls die Selbstwirksamkeitserwartung beeinflussen (Fox & Bailenson 2009; Bandura 1977). So kann den Spielenden vermittelt werden, dass auch sie mit harter Arbeit und Hingabe erfolgreich sein können (Alserri, Zin & Wook 2018; Beier et al. 2012). Eine weitere Quelle der Selbstwirksamkeitserwartung wird in Serious Games durch verschiedene Weisen Feedback zu geben ermöglicht. So können Spielende im Spielverlauf einerseits durch Fortschrittsbalken, Badges und Belohnungen, aber auch durch Interaktionen beispielsweise mit Nicht-Spieler-Charakteren, Rückmeldungen zu ihrem Fortschritt erhalten (Paechter, Luttenberger & Ertl 2020; Peifer et al. 2020). Feedback ist nicht nur eine Möglichkeit, die Selbstwirksamkeitserwartung der Schülerinnen und Schüler zu stärken. Ursachenzuschreibungen wie die Rückmeldung, dass Erfolg auf die eigene harte Arbeit zurückzuführen ist, werden auch mit Motivationskonstrukten, wie dem Flow-Erleben (Csikszentmihalyi 2014) in Verbindung gebracht. Dabei handelt es sich um einen Zustand völlig selbstvergessener Konzentration bei einer Tätigkeit (ebd.). Die Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung durch digitale Spielumgebungen wurde in verschiedenen Studien bestätigt (z. B. Hardin, Looney & Fuller 2014; Sitzmann 2011; Pavlas 2010). So konnte ermittelt werden, dass der Spielspaß beim Spielen von Serious Games zu einer höheren Selbstwirksamkeitserwartung führt (Pavlas 2010). Eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung wiederum ermöglicht, die Motivation der Spielenden aufrechtzuerhalten, sich weiter mit den Inhalten des Serious Games auseinanderzusetzen (Bandura 1977). So kann von einer gegenseitigen Einflussnahme ausgegangen werden, die durch passende, die Selbstwirksamkeitserwartung fördernde Elemente aufrechterhalten werden sollte (Pavlas 2010). Spielende neigen gegebenenfalls zunächst dazu, bestimmte Spiele nur zu spielen, wenn sie wissen, dass sie darin erfolgreich sein werden, sodass die Motivation zu spielen von der Selbstwirksamkeitserwartung beeinflusst wird (Vorderer & Bryant 2006). Eine geringe Selbstwirksamkeitserwartung kann folglich zunächst mit Frustrationsgefühlen beim Spielen einhergehen (Rachmatullah et al. 2021). Daher ist die Einbindung der Lehrkraft ein notwendiger Schritt. Sie kann durch geeignetes Feedback und Hilfestellungen den Spielenden den Einstieg in das Serious Game ermöglichen (Lamb et al.
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2018). In ihrer Studie konnte Ketelhut (2007) zeigen, dass sich Spielende mit einer niedrigen Selbstwirksamkeitserwartung nach einiger Zeit gleich intensiv mit den Inhalten eines Serious Games auseinandersetzen, wie Spielende mit einer hohen Selbstwirksamkeitserwartung und begründete dies unter anderem mit den motivierenden Elementen des Serious Games (ebd.). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die erfolgreiche Bewältigung von Aufgaben innerhalb des Serious Games möglicherweise auf die reale Welt übertragen (Hardin, Looney & Fuller 2014) und so durch passende Serious Games die Selbstwirksamkeitserwartung von jungen Frauen erhöht werden kann (Lu & Lien 2020). Serious Games stellen ein wertvolles Instrument dar, Frauen zu ermutigen, Berufe in technischen Bereichen zu verfolgen, indem sie praktische Lernerfahrungen, Möglichkeiten zur Problemlösung, positives Feedback und Unterhaltung bieten. Bei der Entwicklung von Serious Games wird in der Regel zwischen einem Bildungs- und Spielziel unterschieden. Während die Spieleigenschaften (z. B., Narrativ, Aufgaben, Feedback) so ausgewählt werden, dass sie das Bildungsziel fördern, hat das Spiel selbst ein eigenständiges Spielziel (z. B. Punkteerwerb, Rätsel lösen, finales Level meistern). Das Bildungsziel kann wiederum entsprechend operationalisiert werden, um konkrete Lernziele quantitativ messbar zu machen. Das Serious Game Serena Supergreen verfolgt das vorrangige Bildungsziel, das Wissen junger Frauen über technische Ausbildungsberufe zu fördern (Kapp et al. 2019) und damit einen Beitrag zur Berufsorientierung zu leisten. Als konkretes Lernziel wurde daher die Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung im Bereich technischer Aufgaben im Spiel adressiert: Nach dem Spielen des Spiels sollen sich Spielende technische Aufgaben eher zutrauen. Auch praktische Lernerfahrungen können Frauen helfen, technische Fähigkeiten zu entwickeln und Vertrauen in ihre Fähigkeiten aufzubauen. Im Serious Game Lights Out (Perlwitz et al. 2022) stellt das Wissen über die Grundlagen der Elektrotechnik sowie ihre Anwendung das Bildungsziel dar. Frauen können in einer risikofreien Umgebung elektrotechnische Versuche durchführen und erste Erfolge in diesem Bereich erleben und damit Ängste und Hemmungen im Umgang mit elektrischer Energie abbauen. Diese beiden Spiele und ihr möglicher Einfluss auf die Selbstwirksamkeitserwartung werden im Folgenden vorgestellt. Während die empirischen Ergebnisse bereits durchgeführter Studien zum Serious Game Serena Supergreen zusammenfassend dargestellt werden, wird beim Serious Game Lights Out explizit eine Studie besonders hervorgehoben.
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Serena Supergreen
Abb. 1 Screenshot aus dem Spiel „Serena Supergreen“ Quelle: Projekt Serena/the Good Evil 2017
Spielziel und Spieldauer: Das Serious Game Serena Supergreen soll Jugendliche zwischen 12 und 16 Jahren für technische Ausbildungsberufe begeistern, die besonders junge Frauen kaum in ihrer Berufswahl berücksichtigen (Spangenberger et al. 2022). Das Anwendungsfeld der technischen Aufgaben im Spiel sind Erneuerbare Energien (E-Mobilität, Solar- und Windenergie). In etwa 3 bis 5 Stunden Spieldauer erzählt das Point&Click-Adventure die lebensnahe Abenteuergeschichte der Hauptfigur Serena. Als Spielende gilt es, im Spiel einen Aushilfsjob im Einkaufszentrum zu finden, um ausreichend Geld zu verdienen, damit die Hauptfigur mit ihren zwei besten Freundinnen in den Schulferien verreisen kann. Angekommen am Urlaubsort, gilt es technische Aufgaben erfolgreich zu meistern, um damit das Spielziel (Spielende) zu erreichen. Lerninhalte: Grundlage für die Spielentwicklung war ein methodisch-didaktisches Konzept, das in gemeinsamer Zusammenarbeit von Fachdidaktiker*innen, Lernpsycholog*innen, Game-Designer*innen und Berufspädagog*innen sowie unter Einbindung der Zielgruppe erarbeitet wurde. Auf dem Weg zu ihrem Ziel muss Serena technische Aufgaben aus dem Arbeitsfeld der Erneuerbaren Energien spielerisch lösen. Dazu gehören zum Beispiel das Abseilen von einer Windenergieanlage, das Löten eines Solarladegeräts und das Reparieren von technischen Geräten. Insgesamt müssen im Spiel 25 technikbasierte Aufgaben (Quests) gemeistert werden, welche fünf Themenfeldern der Erneuerbaren Energien zugeordnet sind: LED-Lumen-Leistung, Solarstrom, Solarwärme, Windenergie, Elektromobilität und Energiesparen. Die Lerninhalte wurden mit einem Nachhaltigkeitsbezug verknüpft. Ein Nachhaltigkeitsbezug
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von Technik kann insbesondere Frauen motivieren, einen technischen Beruf eher in Betracht zu ziehen. Die Umsetzung der technischen Aufgaben im Spiel erfolgte daher im Anwendungsfeld der Erneuerbaren Energien (Spangenberger et al. 2017). Begleitend zum Spiel steht didaktisches Begleitmaterial zur Verfügung, das sowohl Unterrichtskonzepte und Experimente zur Vertiefung von Wissen im Bereich Technik als auch zur Reflexion der Berufsorientierung beinhaltet. Elemente zur Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung: Die Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung junger Frauen im Bereich technischer Aufgaben ist das zentrale Lernziel des Spiels. Das Spielkonzept beinhaltet daher eine Feedbackstrategie, welche Spielenden dabei hilft, ihre Selbsteinschätzung im Bereich technischer Kompetenzen zu stärken (Narciss 2017). Die Aufgabenkonstruktion orientiert sich an den vier Quellen der Selbstwirksamkeit nach Bandura (1977). Die Unterstützung der Spielenden beim Lösen der, im Spiel implementierten technischen Aufgaben führt zu Erfolgserleben und damit zu einer Steigerung des Spielspaßes (Kapp et al. 2019). Die Auswahl und Gestaltung eines Avatars zur Erhöhung der Identifikationsmöglichkeiten wurde bei der Erstellung ebenfalls berücksichtigt (Mitra & Golz 2016). Des Weiteren soll die Implementierung von Rollenvorbildern zur Erhöhung der Identifikationsmöglichkeiten besonders von Frauen in technischen Berufen die Selbstwirksamkeitserwartung fördern. Während des Spiels steht die Protagonistin mit ihren Freundinnen über einen Instant-Messenger in Kontakt, womit ein Gefühl der sozialen Einbindung möglich wird, das einen vermuteten Einfluss auf die Stärkung der Selbstwirksamkeitserwartung hat (Andrews, Borrego & Boklage 2021). Evaluation: Serena Supergreen ist im Rahmen von mehreren empirischen Untersuchungen evaluiert worden (z. B. Kapp et al. 2019; Spangenberger et al. 2018). Es zeigte sich in einer ersten Pilotstudie mit 49 Schüler*innen eines Gymnasiums im Alter von 13–15 Jahren, dass das Spiel das Interesse an technischen Aufgaben von Mädchen steigern kann (Spangenberger et al. 2018). Die Ergebnisse von zwei weiteren Untersuchungen mit insgesamt 93 Schüler*innen von zwei Realschulen zeigten, dass die wahrgenommene technische Kompetenz und das Selbstkonzept in Bezug auf technische Fähigkeiten sowie die intrinsische Motivation in Bezug auf technische Aufgaben durch das Serious Game gefördert werden (Kapp et al. 2019). Im Rahmen einer der Untersuchungen wurde auch das konkrete Spielverhalten der Mädchen (n = 37) in Bezug auf die wahrgenommene Kompetenz im Bereich Technik und das Selbstkonzept ihrer technischen Fähigkeiten analysiert (ebd.). So konnte u. a. gezeigt werden, dass die Anzahl an Interaktionen mit den Feedback-gebenden Charakteren im Spiel einen Einfluss auf den Anstieg der von Mädchen wahrgenommenen technischen Kompetenz sowie Fähigkeiten im Bereich Technik hatte (ebd.). In einer weiteren Studie mit 83 Schüler*innen einer Sekundarschule wurden wiederum kurz- und mittelfristige Effekte des Spiels auf kognitives Wissen in Bezug auf Erneuerbare Energien genauer untersucht (Spangenberger et al. 2020). In dieser Studie konnte u. a. gezeigt werden, dass der Einsatz des Spiels dazu führt, dass berufsbezogenes Wissen über technische
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Aspekte des Arbeitsfelds erneuerbare Energien aus dem Spiel auch nach 11 Monaten von den Spielenden noch erinnert wurde (ebd.). 4.2
Lights Out
Abb. 2 Belohnungen, Infotexte, Aufgaben und Versuche in Lights Out
Spielziel und Spieldauer: In Lights Out werden die Spielenden mit einem Stromausfall in ihrem Haus konfrontiert, der die Planung und Konstruktion einer Beleuchtung notwendig macht. Das Spiel bietet die Möglichkeit, sich an interaktiven, praktischen Lernaktivitäten zu beteiligen, die reale Aufgaben und Herausforderungen im Bereich der Elektrotechnik simulieren. Die Aufgaben sind im steigenden Schwierigkeitsgrad auf vier Level aufgeteilt, wobei ein Level einer Schulstunde entspricht. Das Spiel endet, wenn alle Aufgaben und Versuche erfolgreich durchgeführt wurden und das Haus wieder leuchtet. Lerninhalte: Um das Spielziel zu erreichen, müssen in verschiedenen Räumen verschiedene Aktivitäten ausgeführt werden. Auf dem Dachboden sind Versuche zu den Grundlagen der Elektrizitätslehre durchzuführen, für die im Wohnzimmer passende Infotexte mit Animationen zur Verfügung stehen. Im Kinderzimmer erfolgt die Aufgabenbearbeitung. Dabei kann die Reihenfolge der Räume frei gewählt und so nach und nach die Grundlagen der Elektrotechnik erarbeitet werden. Begonnen mit dem einfachen elektrischen Stromkreis, erarbeiten sich die Spielenden die Grundlagen
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der physikalischen Größen elektrische Stromstärke und elektrische Spannung, lernen Schaltzeichen und schließlich die Kirchhoffschen Gesetze kennen. Durch die Nähe zum Bildungsplan (MKJS 2015) und die Einteilung in einzelne Kapitel, mit Übungsund Experimentiergelegenheiten lässt sich das Spiel direkt im Unterricht einsetzen. Die darin enthaltenen Experimente können im Anschluss mit realen elektronischen Bauteilen im Unterricht durchgeführt werden. Die Übung im Spiel kann möglicherweise die Hemmschwelle im Umgang mit technischen Geräten senken (Schwarzer & Tschauko 2010). Elemente zur Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung: Bei der Erstellung des Spiels wurden insbesondere die vier Quellen der Selbstwirksamkeitserwartung nach Bandura (1977): Erfolgserlebnisse, stellvertretende Erfahrung, verbale Überzeugung und emotionale Verfassung, berücksichtigt (Perlwitz & Stemmann 2022; Perlwitz et al. 2022). Die Spielenden schließen Aufgaben im aufsteigenden Schwierigkeitsgrad ab und erleben so fortlaufend Erfolg, ein Fortschrittsbalken gibt Aufschluss über die bisher gemeisterten Aufgaben. Ein individuell gestalteter Avatar gibt den Spielenden unmittelbares Feedback. Dieses erhalten sie außerdem durch eine Belohnung bei erfolgreich abgeschlossenen Aufgaben mit Sternen, Badges und freigeschalteten Gegenständen. Während des Spielens haben die Spielenden die Möglichkeit in einem Chat miteinander zu kommunizieren und sich möglicherweise Hilfestellungen zu geben. Zur Erklärung der Motivation beim Spielen des Serious Games Lights Out wird die Flow-Theorie verwendet. Aufgrund der prädiktiven Eigenschaften des Selbstkonzepts ist zu vermuten, dass ein Zusammenhang zwischen diesem und dem Flow-Erleben besteht. Ein hohes computerbezogenes Selbstkonzept sollte sich in einer höheren Ausdauer, Persistenz und Motivation beim Spielen des Serious Games auswirken und sich in hohen Flow-Werten widerspiegeln. Auch Selbstwirksamkeitserwartungen werden mit wichtigen Motivationskonstrukten in Zusammenhang gebracht, die den Umfang der für eine Tätigkeit aufgewendeten Anstrengungen und die Ausdauer dieser Anstrengungen beeinflussen (Bandura 1994). Banduras Quellen der Selbstwirksamkeitserwartung (s. Abschnitt 3) stehen auch im Zusammenhang mit den Voraussetzungen des Flow-Erlebens (Nakamura und Csikszentmihalyi, 2014) und signalisieren den Lernenden, dass ihr Erfolg auf eigene harte Arbeit zurückzuführen ist. Evaluation: Die Wirkungen von Lights Out auf die physikbezogene Selbstwirksamkeitserwartung wurden in einer randomisiert kontrollierten Interventionsstudie mit 111 Schülerinnen und Schülern (46 % weiblich) der 8. Klassen an Gymnasien und Realschulen in Baden-Württemberg durchgeführt (Perlwitz & Stemmann 2022). Die Schüler*innen haben die Themen der Elektrizitätslehre zuvor nicht im Unterricht behandelt (ebd.). In dieser Studie sollte, ausgehend von der Vermutung, dass ein hohes computerbezogenes Selbstkonzept auch mit einem höheren Flow-Erleben zusammenhängen, eine mögliche Rolle des computerbezogenen Selbstkonzepts ( Janneck, Vincent-Höper & Ehrhardt 2012) und des Flow-Erlebens (Csikszentmihalyi 2014) bei der Veränderung der Selbstwirksamkeitserwartung untersucht werden. Die Zu-
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weisung der Schüler*innen in zwei Gruppen erfolgte randomisiert. Die Experimentalgruppe spielte das Serious Game Lights Out, die Kontrollgruppe erhielt die gleichen Lerninhalte als Arbeitsblätter, Versuchsmaterialien mit Glühlampen und Batterien sowie Infotexten. Vor der dreistündigen Intervention wurde in beiden Gruppen das computerbezogene Selbstkonzept ( Janneck, Vincent-Höper & Ehrhardt 2012) erhoben sowie vor und nach der Intervention die schulische Selbstwirksamkeitserwartung (Schwarzer & Jerusalem 1999), sowie das Flow-Erleben mit der Flow-Kurz-Skala (Rheinberg, Vollmeyer & Engeser 2019). Es konnte in der Experimentalgruppe eine signifikante Verbesserung (z = 3.12, p = .002, r = .40) der Selbstwirksamkeitserwartung durch Lights Out ermittelt werden. Obwohl die Schüler ein signifikant höheres computerbezogenes Selbstkonzept aufwiesen (U = 251.00, Z = 2.96, p = .003) und signifikant mehr Flow erlebten (U = 301.00, Z = -2.2, p = .028) als die Schülerinnen, konnte zwischen den Geschlechtern kein Unterschied bei der Veränderung der Selbstwirksamkeitserwartung festgestellt werden (U = 423.00, Z = -.41, p = .685). Möglicherweise waren in der Untersuchung weder ein hohes Selbstkonzept im Umgang mit Computern noch intrinsische Motivation wichtig, damit Frauen bezüglich der Selbstwirksamkeitserwartung von Lights Out profitierten. Es wird vermutet, dass die Umsetzung der von Bandura ermittelten Quellen der Selbstwirksamkeitserwartung den größeren Einfluss haben (Perlwitz & Stemmann 2022). 5
Diskussion und Fazit
Serious Games haben das Potenzial, junge Frauen für technische Berufe zu begeistern, indem sie sie in ihrer Vorstellung bestärken, in diesem Bereich erfolgreich sein zu können. Eine Möglichkeit stellt dabei die Berücksichtigung der Quellen der Selbstwirksamkeitserwartung im Spieldesign dar (Bandura 1977). Erfolgserlebnisse werden durch die Bewältigung von Aufgaben und Problemen aus dem technischen Berufsfeld ermöglicht (Rachmatullah et al. 2021). Spielende können beispielsweise technische Aufgaben durchführen, ohne Angst zu haben, etwas zu zerstören und so das Gefühl erleben, kompetent zu sein. Sofortiges Feedback und Belohnungen motivieren Spielende, schwerere Aufgaben zu bearbeiten und so schrittweise Fähigkeiten und Selbstvertrauen zu erlangen (Bergey et al. 2015; Peifer et al. 2020). Mit Avataren in Serious Games lassen sich stellvertretend Erfahrungen, wie die angstfreie und erfolgreiche Bewältigung von technischen Problemen, sammeln (Alserri, Zin & Wook 2018). Beide hier vorgestellten Spiele haben bereits in der Spielentwicklung die Selbstwirksamkeitsquellen nach Bandura berücksichtigt. Es lässt sich daher vermuten, dass ein Erfolgsfaktor für Serious Games zur Förderung des technischen Berufsinteresses von Mädchen, die strategische Einbettung von Selbstwirksamkeitsquellen und entsprechenden Feedbackformaten ist. Allerdings sind noch viele Mechanismen unklar, die einen Einfluss auf die Selbstwirksamkeitserwartung haben. Beispielsweise ist unklar,
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ob die Kombination der, von Bandura ermittelten, Selbstwirksamkeitsquellen einen Einfluss hat und welche der, von Bandura beschriebenen, Quellen (siehe Abschnitt 3) das größte Potential zur Steigerung der Selbstwirksamkeitserwartung beinhaltet (Kapp et al. 2019). Ausgehend von bisherigen Ergebnissen ist die verbale Überzeugung der wichtigste Faktor, während für die stellvertretende Erfahrung kein Effekt ermittelt werden konnte (Wright, O’Halloran & Stukas 2016). Auch sollte in künftigen Forschungsarbeiten der langfristige Effekt auf die Selbstwirksamkeitserwartung und das Selbstkonzept untersucht werden und welche Interaktionen im Spiel dabei einen großen Einfluss haben. Um Serious Games gewinnbringend für die berufliche Orientierung und Beratung einzusetzen, spielt auch die Einbindung der Lehrkraft eine Rolle. Insbesondere Jugendliche mit geringer Passung zwischen Selbst und Beruf fühlen sich von Eltern und Peers wenig unterstützt, gerade hier sind kompetente Lehrkräfte wichtig, um die Stärken zu erkennen und herauszuarbeiten (Luttenberger et al. 2014). Jedoch setzen Lehrkräfte Serious Games aufgrund von mangelndem Wissen und fehlender Unterstützung bei der Auswahl von Spielen wenig im Unterricht ein. Durch den Erkenntnisgewinn aus der Forschung mit Serious Games werden immer stärker an das Schulcurriulum angepasste Serious Games entwickelt. Lehrkräfte können die Inhalte der Serious Games gemeinsam mit den Spielenden herausarbeiten, das gewonnene Wissen wiederholen und so langfristig sichern (Alserri, Zin & Wook 2018) und spielen so eine unverzichtbare Rolle in der Berufsorientierung. In Zukunft könnten Lehrkräfte daher die Vorteile von Serious Games zur Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung im Bereich Technik noch stärker nutzen. Literatur
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TPACK in der Beruflichen Rehabilitation Eine Studie für die Ausbildung in Berufsbildungswerken
ANDREAS DENGEL / PETRA JESKE / WALTER KRUG
Zusammenfassung: Die Pandemiesituation hat den Einsatz digitaler Medien nicht nur in der schu-
lischen, sondern auch in der beruflichen Bildung erfordert und gefördert. Gerade in der beruflichen Rehabilitation treten hier zusätzliche Herausforderungen auf. Im Rahmen einer breit angelegten Studie zu medienbezogenen Kompetenzen in der beruflichen Rehabilitation wurden 76 Ausbilder:innen nach dem TPACK-Modell zu ihren technologischen, pädagogischen und inhaltlichen Kompetenzen befragt. Die Ergebnisse zeigen eine heterogene Verteilung der Selbsteinschätzungen zum Lehren mit digitalen Medien bei gleichzeitig hohen Korrelationen zwischen den Faktoren des TPACK-Rahmenmodells. Zukünftige Fortbildungsangebote für die berufliche Rehabilitation sollten daher nicht nur zwischen verschiedenen anwendungsbezogenen Vorkenntnissen differenzieren, sondern auch mediendidaktische Mehrwerte digitaler Medien für die Ausbildung junger Menschen mit Beeinträchtigungen aufzeigen. Schlüsselwörter: Berufliche Rehabilitation, Digitale Medien, Berufliche Bildung, Medienkompetenz, TPACK TPACK in Vocational Rehabilitation A Study for Training in Vocational Training Centers Abstract: The pandemic situation has required and encouraged the use of digital media not only in
school education, but also in vocational training. Particularly in vocational rehabilitation, additional challenges arise here. As part of a broad-based study on media-related competencies in vocational rehabilitation, 76 trainers were questioned about their technological, pedagogical and content- related competencies according to the TPACK model. The results show a heterogeneous distribution of self-assessments on teaching with digital media with high correlations between the factors of the TPACK framework. Future training programs for vocational rehabilitation should therefore not
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Andreas Dengel / Petra Jeske / Walter Krug
only differentiate between different application-related skills, but also demonstrate the added value of digital media for the training of young people with disabilities. Keywords: Vocational Rehabilitation, Digital Media, Vocational Education, Media Literacy, TPACK
1
Die Berufliche Rehabilitation und Corona
Kommunikation und sozialer Austausch zwischen Ausbilder*innen und Auszubildenden spielen in der beruflichen Rehabilitation eine zentrale Rolle. In der Pandemiezeit mussten diese Kommunikationsprozesse digital substituiert werden, was die Frage aufwarf: Wie kann der kognitive, affektive und psychomotorische Austausch zwischen Ausbilder*innen und Auszubildenden auch im digitalen Raum verwirklicht werden? Auch wenn im Zuge der Pandemie ein „Quantensprung in Sachen Digitalisierung“ in der beruflichen Rehabilitation stattgefunden habe, bestehen aktuell weder einheitliche Konzepte noch ist ein umfassender Digitalpakt für den Bereich der beruflichen Rehabilitation geplant (Bundesarbeitsgemeinschaft Berufsbildungswerke, 2022). In vielen Ausbildungsberufen spielen digitale Medien nur eine untergeordnete Rolle im späteren Berufsalltag, weswegen bei Ausbilder*innen nicht zwangsläufig von entsprechenden technologischen und mediendidaktischen Kompetenzen ausgegangen werden kann. Für eine Substitution oder Erweiterung der Präsenzausbildung können diese aber als zwingend erforderlich angesehen werden. Gleichzeitig sollen im Umgang mit Jugendlichen mit verschiedenen Beeinträchtigungen nicht nur kognitive und psychomotorische Fähigkeiten und Fertigkeiten gefördert werden: So soll etwa gemäß § 5 Nr. 2 SGB IX auch die soziale Teilhabe gefördert werden, wodurch auch die Beziehungsarbeit mit den Jugendlichen in den virtuellen Raum übertragen werden müsste. Der Beitrag arbeitet theoretische Rahmenbedingungen für diese Erfordernisse aus und präsentiert die Ergebnisse einer Studie zu TPACK-Kompetenzen von Ausbilder*innen. Während der Beitrag einen breiteren Blick auf digitale Medien einnimmt und hierbei alle mit Computersystemen versehenen Medien einschließt, können die Implikationen auch auf den Themenschwerpunkt des Sammelbandes „Virtual-, Augmented-, Cross Reality und Serious Games in der beruflichen Aus- und Weiterbildung“ übertragen werden: So zeigt die Forschung zum Immersiven Lernen, dass das Vorwissen der Lehrpersonen sowie deren Einstellungen zur Mediennutzung einen zentralen Prädiktor von Lernleistung in immersiven Lernerfahrungen darstellen (Dengel & Mägdefrau, 2018; 2020).
TPACK in der Beruflichen Rehabilitatio
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Digitale Medien in der Beruflichen Rehabilitation: Potenziale und Herausforderungen
Die berufliche Rehabilitation stellt ein gesetzlich verankertes Angebot dar, mit Aufgaben, „die das Erwerbsleben behinderter Arbeitnehmer betreffen und Umschulung, Weiterbildung, bei ‚Ungelernten‘ ggf. auch eine nachträgliche Erstausbildung beinhalten“ (Biermann 2007). Für Jugendliche setzt die berufliche Rehabilitation im Sinne eines Rehabilitationsprozesses eine künftige Teilhabe am Arbeitsleben in den Fokus. Dies soll durch eine unterstützte Erstausbildung und die mit ihr verbundenen beruflichen Sozialisationserfahrungen erfolgen (ebd.). Pfannstiel, Da Cruz und Mehlich (2019) beschreiben bereits vor der Pandemiesituation das Voranschreiten der Digitalisierung im Bereich der Rehabilitation. Dabei weisen sie gleichzeitig darauf hin, dass digitale Lösungen nur dann konstruktiv eingesetzt werden können, wenn diese sich bedürfnisorientiert an der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit der betroffenen Rehabilitanden ausrichten (ebd.). Junge Menschen mit verschiedenen psychischen Beeinträchtigungen stellen die Klientel im B. B. W. St. Franziskus Abensberg dar. Diese Zielgruppe wird hier auf ihrem Weg in den ersten Arbeitsmarkt unterstützt. Zu den häufig vorliegenden Störungsbildern zählen Autismus, AD(H)S, Borderline, Depressionen, Essstörungen, Angststörungen und Lernstörungen. Gerade für diese besondere Zielgruppe wäre es zu kurz gegriffen, eine Unterstützung im Lernprozess auf Wissensvermittlung im Sinne beruflichen Fachwissens zu beschränken. Virtuelle Lernprozesse müssen als Konsequenz auch die Reproduktion von Beziehungsarbeit, Motivationsprozessen, Stabilität und Struktur sowie haptischen Erfahrungen und Lernen am Modell in den Mittelpunkt stellen. Somit ist eine grundlegende Betrachtung der Virtualisierung von Lehr-Lern-Prozessen in der und für die berufliche Rehabilitation erforderlich. Der Anspruch, auf eine digitalisierte Arbeitswelt vorbereitet zu werden, scheint auf Grundlage der vorgestellten Projekte veränderte Qualifikationsprofile und mediale Handlungskompetenzen vorauszusetzen. Verschiedene Projekte betrachteten diese Herausforderung aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Das Projekt DIGI-ComLAB fokussierte sich vor allem auf die Entwicklung und Erprobung virtueller und analoger Lerneinheiten für Menschen mit Behinderungen anhand eines iterativen Entwicklungsprozesses (Lorenz et al. 2020). Entsprechende Einheiten wurden für die Bereiche kaufmännische Beruf/Verkauf, Lagerwirtschaft/Transport und Fertigung/Montag im Metall- und Kunststoffbereich sowie für einen überfachlichen Themenbereich entwickelt. Dabei sollte vorrangig das Ziel verfolgt werden, eine Steigerung von Fach-, Medien- und Anwendungskompetenz bei jungen Menschen mit Lern- oder seelischen Behinderungen zu erreichen (ebd.). Ein anderes Beispiel zeigt sich im Projekt „MeKo@Reha“. Hierbei steht die Zusammenführung von Praxis und Wissenschaft im Fokus: Wie kann eine Implementierung einer digitalen Lernkultur und eine Stärkung rehabilitationsspezifischer Medienkompetenz und medienpädagogischer Kompetenzen bei Ausbildenden in der beruflichen Rehabilitation erfolgen
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Andreas Dengel / Petra Jeske / Walter Krug
(Kohl et al. 2019)? Als Ausgangslage wurde angemahnt, dass es zu diesem Zeitpunkt noch keine ganzheitlichen Ansätze für virtuelles Lernen in Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation gab. Das Forschungsteam wollte dieser Problematik durch eine Kooperation zwischen dem f-bb (Forschungsinstitut Betriebliche Bildung, 2017), zwei Berufsbildungswerken und zwei Bildungsdienstleistern begegnen. Im ersten Schritt wurde in Zusammenarbeit mit den Praxispartnern der Status Quo erhoben. Aus den Ergebnissen wurden förderliche Rahmenbedingungen auf organisationaler Ebene entwickelt. Sowohl strukturelle Bedingungen als auch die individuellen Bedarfe und Voraussetzungen bei den Ausbildenden fanden hier Berücksichtigung. Abschließend entstand ein Rahmenkonzept, im Rahmen dessen bei den vier Praxispartnern zum einen eine digitale Lernkultur implementiert wurde, sowie andererseits rehabilitationsspezifische (medien-)pädagogische Kompetenz beim Fachpersonal gestärkt werden sollten. Abschließend konnte das Projekt als praxisbezogenes Ergebnis einen Leitfaden zur Organisationsentwicklung als Orientierungshilfe bei der Implementierung digitaler Lernkulturen sowie den „Meko-OrgaCheck“ vorlegen. Anhand des MekoOrgaChecks können Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation überprüfen, inwieweit sie bereits für die Digitalisierung gerüstet sind. (Lorenz et al. 2020). Abschließend soll auf das Forschungsprojekt „IDiT – INCLUDING.DIGITAL.TWINS“ Bezug genommen werden. Hier bestand das Ziel darin, zu erheben, „wie Rehabilitand:innen und Auszubildende digitale Expertise und mediale Kompetenz erwerben können, die für einen erfolgreichen beruflichen (Wieder-)Einstieg unabdingbar sind“ (Gühnemann und Zorn 2021, S. 5). Durch die Initiierung inklusiver Tandems zwischen Rehabilitand*innen und betrieblichen Auszubildenden sollten gemeinsam passgenaue Lernmedien entwickelt und eine Online Community zum Austausch über Ausbildungsinhalte aufgebaut werden. Die Erhebung anhand einer Befragung von Lehrenden zeigte auf, dass diese eindeutig positiven Aspekte durch Einsatz digitaler Medien in der beruflichen Ausbildung bzw. beruflichen Rehabilitation benannten. Neben der individuell orientierten und zeitlich unabhängigen Nutzung wurde vor allem auf den Mehrwert durch mehr Spaß, Abwechslung und Interaktion durch den Einsatz verschiedener digitaler Ansätze hingewiesen. Mittelbar hat dies einen positiven Effekt auf den individuellen Lernerfolg. Allerdings müsse beachtet werden, dass der Einsatz der digitalen Medien auf den jeweiligen Unterrichtsinhalt angepasst werden müsse. Ergänzend wird auf das Potenzial digitaler Medien für die Förderung von Zugänglichkeit und Barrierefreiheit hingewiesen (ebd.). 3
Nutzung, Kompetenzen und Einstellungen zu digitalen Medien bei Ausbilder:innen der Beruflichen Rehabilitation
Aufgrund der oben beschriebenen Potentiale wird die Relevanz der Nutzung digitaler Medien in der beruflichen Rehabilitation offensichtlich. Eine entsprechende Imple-
TPACK in der Beruflichen Rehabilitatio
mentierung geht jedoch mit der Herausforderung einher, dass medienbezogene Kompetenzen bei den Lehrenden ausgebildet und weiterentwickelt werden; ohne diesen Schritt ist weder die eine Vermittlung von Medienkompetenz an Auszubildende noch konstruktives digitales Lehren möglich (Gühnemann und Zorn 2021). Gleichzeitig muss bedacht werden, dass die entsprechenden medienpädagogischen Kompetenzen – die auch dem technologischen Fortschritt gerecht werden – meist von den Lehrenden nicht im Rahmen ihrer eigenen ursprünglichen Ausbildung erlernt wurden (ebd.). Lorenz et al. (2020) weisen darauf hin, dass in der beruflichen Rehabilitation vor allem die technischen Voraussetzungen (Hard- und Software) fehlen. Wie bereits angedeutet, verfügen die Lehrenden in einigen Fällen nicht über die erforderliche Medienkompetenz, um virtuelle Lernsettings zu nutzen und jungen Rehabilitand*innen den kompetenten Umgang mit Medien zu vermitteln. Laut Biermann (2007) wird die Umsetzung von Integration und Teilhabe für Rehabilitand*innen vor allem durch die vorliegenden Kompetenzen des Fachpersonals beeinflusst. Somit ist für den Bereich der beruflichen Rehabilitation ein dringender Handlungsbedarf im Hinblick auf die Ausbildung von Medienkompetenz und Medienvermittlungskompetenz bei Ausbildenden zu erkennen (Kohl et al. 2019, S. 25). Die erforderlichen medienpädagogischen Kompetenzen von Lehrenden in der beruflichen Ausbildung und Rehabilitation nahmen Gühnemann und Zorn (2021) im Rahmen ihres Projektes „IDiT – Including. Digital.Twins“ ganz gezielt in den Blick. Ein erstes und wichtiges Ergebnis stellte die Erkenntnis dar, dass kein einheitliches Medienkompetenzverständnis vorhanden ist, sowohl unter den Ausbildenden als auch in den Einrichtungen. Dieses sollte jedoch eine Grundlage für die mediendidaktische Auseinandersetzung sein, ein gemeinsamer Nenner würde Sicherheit bieten und pädagogische Entscheidungen begründen. Allerdings besteht Einigkeit darüber, dass Medienkompetenz mehr umfasst als nur die technische Anwendung. Die Beschreibung der mediendidaktischen Kompetenz umfasst die Fähigkeit, Medien im Rahmen der Unterrichtsgestaltung einerseits sinnvoll auszuwählen, und andererseits eine sinnvolle Unterrichtsgestaltung unter Zuhilfenahme von Medien zu entwickeln. Grundsätzlich besitzen Ausbildende die Kompetenz, didaktisch sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Sie wünschen sich jedoch noch mehr Wissen im Bereich der Medienkompetenzvermittlung, um „kluge mediendidaktische Entscheidungen treffen zu können“ (ebd., S. 33). Heterogene Wissensstände innerhalb des Kollegiums – abhängig von der jeweiligen Bildungsbiografie – erschweren die Entwicklung einer Basis an mediendidaktischer Kompetenz. Dem stehe die Anforderung zur ständigen Aktualisierung gegenüber, die die Digitalisierung mit sich bringt. Grundsätzlich besteht der Wunsch der Lehrenden nach einer Verbesserung des Lehrens und Lernens durch den Einsatz digitaler Medien im Unterricht. Ergänzend wurden Bedürfnisse nach Praxisbezug sowie in Bezug Sicherheit durch Datenschutz, Datensicherheit und Urheberrecht spezifiziert. Zusammenfassend entsteht Sicherheit mitunter durch ein Begriffs- und Handlungsmodell für Medienkompetenz und Medienkompetenzvermittlung (ebd.). Weiterführend erfragte diese Studie Probleme und
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Andreas Dengel / Petra Jeske / Walter Krug
Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Medienkompetenz, mit folgenden Ergebnissen (ebd.): Die Auseinandersetzung mit der Thematik wird durch begrenzte zeitliche Ressourcen und die Anforderungen des Arbeitsalltages erschwert; hinzu kommt die fehlende Motivation im Kollegium. Beides hemmt einen hilfreichen kollegialen Austausch. Des Weiteren zeigten sich Schwierigkeiten in der Relevanz der Unterrichtsinhalte. Häufig ist das Praxiswissen nicht aktuell, oder das Wissen über Datenschutz und Urheberrecht sind nicht ausreichend. Gühnemann und Zorn (2021) berichten von einem zumeist noch stark intuitiven Medieneinsatz der Lehrenden. Den Ausbildenden fehle ein einheitliches Verständnis von Medienkompetenz, und damit auch „Handlungssicherheit im Bereich der Medienkompetenzvermittlung allgemein“ (ebd., S. 50; Hervorhebung im Original). Als Konsequenz aus diesen Ergebnissen entsteht die Forderung nach der Entwicklung „eines fundierten Konzepts als Basis für erfolgreiche Medienkompetenzvermittlung“ (Gühnemann & Zorn 2021, S. 7) im Sinne eines Handlungsmodells für den Einsatz digitaler Medien in der beruflichen Ausbildung und Rehabilitation. Ein solches ganzheitliches Konzept ist das Ziel des Projektes „Medien. Gestalten.Perspektiven“. Die Entwicklung basiert auf einer Bedarfsanalyse bei Ausbildenden und Auszubildenden. Das im Kontext der Lehrer*innenbildung etablierte TPACK-Modell (u. a. Zinn et al., 2022) zur Verbindung von technologischen, pädagogischen und inhaltlichen Kompetenzen kann hier als eine Grundlage dienen. Die theoretische Grundlage für diesen Beitrag besteht in einer angepassten Version des Modells für den Kontext der beruflichen Rehabilitation. Das TPACK-Rahmenmodell unterteilt drei Wissensbereiche von Lehrpersonen, insbesondere zum Unterrichten mit digitalen Medien: Das pädagogische Wissen (Pedagogical Knowledge) beinhaltet alle pädagogischen, speziell zielgruppenbezogene Kompetenzen. Das inhaltliche Wissen (Content Knowledge) umfasst alles fachbezogene Wissen sowie die zugehörigen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die Verbindung dieser beiden Wissensbereiche wird als Pedagogical Content Knowledge, das fachdidaktische Wissen, beschrieben. Als neuen Bereich führt das TPACK-Modell das technologische Wissen (Technological Knowledge) ein. Während dieses zunächst insbesondere die Handhabung und das Verständnis digitaler Geräte und Technologien umfasst, ergeben durch die Verbindung mit den pädagogischen und inhaltlichen Wissensdomänen weitere Kompetenzbereiche: Das Technological Pedagogical Knowledge beschreibt die Verbindung aus technologischen Anforderungen und Rahmenbedingungen der Zielgruppe (Vorerfahrungen zur Nutzung, Fähigkeiten der Zielgruppe und Einflüsse auf diese).
TPACK in der Beruflichen Rehabilitatio
Abb. 1 Das TPACK-Modell (Koehler und Mishra, 2009)
Das Technological Content Knowledge fasst u. a. alle mit dem Inhaltsbereich zusammenhängenden technologischen Nutzungs- und Visualisierungs-möglichkeiten zusammen. Als Verbindung aller drei Wissensbereiche führt der Intersektionsbereich „TPACK“ (Technological Pedagogical, and Content Knowledge) die technologischen, pädagogischen und inhaltsbezogenen Fähigkeiten der Lehrperson zusammen und fokussiert so einen sinnstiftenden, medienunterstützten Unterricht eines bestimmten Inhalts für eine bestimmte Zielgruppe (Koehler und Mishra, 2009). Obwohl das TPACK-Modell insbesondere für die schulische Bildung entwickelt wurde, finden sich in der beruflichen Bildung gleichermaßen verschiedene Anwendungsbereiche: In einer Literaturanalyse zur Verwendung von TPACK in der beruflichen Lehrer*innenbildung schlussfolgern Fahrurozi, Budiyanto und Roemintoyo (2019), dass das Seminare entlang des TPACK-Modells positive Effekte auf die Professionalisierung von zukünftigen Berufsschullehrer*innen haben. Die TPACK-Bereiche weisen Parallelen zum Analyse-Modell medienpädagogischer Kompetenzen nach Sailer und Annen (2021) auf: Eine Aufteilung nach individueller Medienkompetenz, mediendidaktischer Kompetenz, medienerzieherischer Kompetenz und medienintegrativer Kompetenz erweist sich als zielführend für die berufliche Bildung. Durch die Nähe zur betrieblichen Praxis und zu den veränderten Anforderungen sind hier insbesondere die Ausbilder*innen in der Pflicht, diese Kompetenzen zu erwerben (Härtel et al., 2018). Zur Schaffung solcher Professionalisierungsangebote am Berufsbildungswerk B. B. W. St. Franziskus Abensberg wurde zunächst eine Vorab-Erhebung durchgeführt. Diese orientieren sich an den folgenden Forschungsfragen:
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1. 2.
3.
Wie oft nutzen Ausbilder*innen digitale Medien in ihrer Lehre? Wie schätzen Ausbilder*innen a) ihre medienbezogenen Einstellungen, b) ihr technologisches Wissen, c) ihr technologisch-pädagogisches Wissen, d) ihr technologisch-inhaltliches Wissen und e) ihr technologisch-pädagogisch-inhaltliches Wissen ein? Welche Zusammenhänge gibt es zwischen der Mediennutzungsfrequenz, den medienbezogenen Einstellungen und den Selbsteinschätzungen in den TPACK-Bereichen bei den Ausbilder*innen?
Die Ergebnisse werden im Folgenden vorgestellt. Die sich hieraus ergebenden Implikationen für die Fortbildungsgestaltung werden im Anschluss diskutiert. 4
Anlage der Untersuchung
4.1
Teilnehmende und Durchführung
76 Ausbilder*innen vom Berufsbildungswerk B. B. W. St. Franziskus Abensberg nahmen an der Erhebung teil (21 weiblich, 44 männlich, 1 divers, 12 fehlende Angaben). Die Altersspanne betrug 24 bis 61 Jahre (M = 45,30; SD = 9,19). Von den Teilnehmenden waren die meisten direkt in der Ausbildung tätig, andere Tätigkeitsbereiche umfassen die Berufsvorbereitung, Förderschule, Schulleitung und IT-Support (Abb. 1). Für den Fragebogen wurde eine mögliche Bearbeitungszeit von zwei Wochen veranschlagt. Dieser wurde im Mai 2021 über einen E-Mail-Verteiler an alle Ausbilder*innen versandt.
Abb. 2 Stichprobe der Fragebogenstudie
TPACK in der Beruflichen Rehabilitatio
4.2 Instrumente
Nach Informationen zum Datenschutz und zur Datenverwertung wurde im ersten Teil des Fragebogens ein individueller Code zur anonymen Zuordnung der Daten in Folgeerhebungen abgefragt. Zudem wurden demographische Daten wie Alter, Geschlechtsidentifikation und Tätigkeitsbereich erhoben. Im zweiten Teil des Fragebogens wurden die Ausbilder*innen zur bisherigen Mediennutzungsfrequenz in der Präsenzlehre befragt sowie zur aktuellen Mediennutzung in der Präsenz- und Onlinelehre. Außerdem sollten die Ausbilder*innen allgemeine Nutzungsbereichen digitaler Medien in Präsenz- und Onlinelehre angeben. Der dritte Teil umfasst einen TPACK-Fragebogen mit Selbsteinschätzungen zu technologischem, technologischpädagogischem, technologisch-inhaltlichem und technologisch-pädagogisch-inhaltlichen Wissensbereichen gemäß dem TPACK-Modell (Mishra und Koehler, 2009). Ein etablierter TPACK-Fragebogen nach Endberg (2019) wurde auf je zwei Items der genannten Wissensbereiche aufgrund der Fragebogenlänge und der begrenzt verfügbaren Zeit für Fragebogenstudien im Arbeitsalltag gekürzt und sprachlich an die Tätigkeitsfelder im B. B. W. angepasst. Die Aussagen der Items wurden von den Teilnehmenden wie im Originalfragebogen auf fünfstufigen Likert-Skalen bewertet. Trotz der Anpassung zeigen alle Wissensbereiche (technologisch: α=.85; technologisch-inhaltlich: α=.89; technologisch-pädagogisch: α=.77; technologisch-pädagogisch-inhaltlich: α=.80) akzeptable bis gute Skalenreliabilitäten. Der vierte Teil erhebt Einstellungen von Ausbilder*innen zur Mediennutzung in der Ausbildung (Media-Related Beliefs). Hierfür wurde der M3K-Fragebogen (Herzig et al., 2015) mit einer vierstufigen LikertSkala integriert. Auch hier zeigt sich eine gute Skalenreliabilität (α=.89). Im fünften Teil können durch offene Nennungen besuchte Fortbildungen und Fortbildungsbedarfe genannt werden. Zudem werden im fünften Teil die genutzten Prozesse des Präsenzunterrichts (z. B. Wissensvermittlung, Vormachen/Nachmachen, Beziehungsgestaltung, etc.) und die Meinung zu aus dem Präsenzunterricht vermissten Prozessen und Möglichkeiten erfragt.
Abb. 3 Mediennutzungs frequenz der Ausbilder*innen
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4.3 Ergebnisse
Im Folgenden sollen die Ergebnisse der quantitativen Auswertung vorgestellt werden. Der größte Anteil der Befragten nutzt digitale Medien (fast) täglich im Kontext der Ausbildung und Berufsschule. Etwas weniger Personen nutzen digitale Medien lediglich einmal pro Woche. Außerdem konnten in der Selbsteinschätzung auch Gruppen identifiziert werden, deren Mediennutzungsfrequenz bei „ca. einmal im Monat“ oder „gar nicht“ liegt. Auf der anderen Seite gaben etwa ein Fünftel der Befragten an, (fast) stündlich digitale Medien zu verwenden. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Ausbilder*innen teilweise aus mediengestützten Berufsfeldern (z. B. IT, Bürokaufmann/frau) kamen. Außerdem wurden die medienbezogenen Einstellungen (M3K) sowie im Rahmen des TPACK-Fragebogens die Wissensbereiche Technologisches Wissen (TK), Technologisch-Inhaltliches Wissen (TPK), Technologisch-Pädagogisches Wissen (TPK) und Technologisch-Pädagogisch-Inhaltliches Wissen (TPCK) erhoben. Tab. 1 Deskriptive Statistik der medienbezogenen Einstellung sowie der TPACK-Faktoren Mittelwert
Standardabweichung
Minimalwert; Maximalwert
N
Medienbezogene Einstellungen (M3K)
2.81
0.68
1; 4
69
Technologisches Wissen (TK)
3.08
1.20
1; 5
70
Technologisch-Inhaltliches Wissen (TCK)
3.50
1.12
1; 5
70
Technologisch-Pädagogisches Wissen (TPK)
3.46
1.04
1; 5
70
Technologisch-Pädagogisch- Inhaltliches Wissen (TPACK)
2.96
1.03
1; 5
70
Tab. 2 Korrelationen zwischen der Mediennutzungsfrequenz, der medienbezogenen Einstellung und den TPACK-Faktoren M3K
TK
TCK
TPK
TPACK
Mediennutzungsfrequenz
.27*
.32**
.54**
.45**
.46**
M3K
.67**
.67**
.56**
.63**
TK
.73**
.69**
.79**
TCK
.80**
.85**
TPK
.76**
Signifikanzniveaus: *p