Semantische und diskurstraditionelle Komplexität: Linguistische Interpretationen zur französischen Kurzprosa 9783110655063, 9783110653830

Starting from two premises, that texts are “greater than the sum of their parts,” and that text semantics and discourse

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German Pages 610 Year 2020

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1. Einleitung
2. Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs
3. Textsemantische und diskurstraditionelle Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte
4. Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen und annotierten Novellen
5. Schlussbetrachtungen und Ausblick
Bibliographie
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Semantische und diskurstraditionelle Komplexität: Linguistische Interpretationen zur französischen Kurzprosa
 9783110655063, 9783110653830

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Kerstin Meier Semantische und diskurstraditionelle Komplexität

Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie

Herausgegeben von Éva Buchi, Claudia Polzin-Haumann, Elton Prifti und Wolfgang Schweickard

Band 439

Kerstin Meier

Semantische und diskurstraditionelle Komplexität Linguistische Interpretationen zur französischen Kurzprosa

Eingereicht als Dissertation an der Universität Kassel, Fachbereich Geistes- und Kulturwissenschaften. Datum der Disputation: 11. Oktober 2018.

ISBN 978-3-11-065383-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-065506-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-065395-3 ISSN 0084-5396 Library of Congress Control Number: 2019946183 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Im Herbst 2010 hatte ich nach den ersten fünf Berufsjahren als Lehrerin für Französisch und Mathematik an einem Oberstufengymnasium das Bedürfnis, mich wieder intensiver mit Sprachwissenschaft zu beschäftigen, Neues zu lernen und zu forschen, und so habe ich mit Prof. Dr. Angela Schrott vom Institut für Romanistik der Universität Kassel Kontakt aufgenommen. Nach einem ersten Gespräch war sie sofort bereit, mich auf dem Weg einer Dissertation zu betreuen, und sie war mir von der Themenfindung bis zur Einreichung des Manuskriptes eine unverzichtbare Ratgeberin. Deshalb gilt mein Dank an erster Stelle meiner Betreuerin und Erstgutachterin Prof. Dr. Angela Schrott. Ohne ihr Interesse an meinem Thema, ihre wertvollen Ratschläge, ihre enorme Verlässlichkeit und vor allem ihre konstruktiven und aufbauenden Rückmeldungen zu allen Etappen meiner Arbeit hätte dieses Dissertationsprojekt nicht zum Erfolg geführt werden können. Ich habe viel von ihr gelernt, sie hat mir neue Einblicke in die Textsemantik und Diskurstraditionenforschung verschafft und ich habe die Arbeit mit ihr sehr geschätzt. Prof. Dr. Andreas Gardt danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens sowie die hilfreichen und ermutigenden Kommentare zu meiner Arbeit im Rahmen der Tagungen des Promotionskollegs GeKKo, das gerade für mich als externe Doktorandin eine wichtige Einrichtung war, die mir die Möglichkeit zur Vorstellung meines Dissertationsprojekts und zum Austausch mit anderen Wissenschaftlern gegeben hat. Außerdem möchte ich mich sowohl bei Prof. Dr. Angela Schrott als auch Prof. Dr. Andreas Gardt für wertvolle Hinweise bedanken, die in die Druckfassung eingegangen sind und die Klarheit der Darstellung an einigen Stellen unterstützt haben. Bedanken möchte ich mich auch bei den zwei weiteren Mitgliedern meiner Promotionskommission, Prof. Dr. Vilmos Ágel (Sprachwissenschaft/ Systemorientierte Linguistik) und Dr. Johanna Wolf (Medien-/Kulturwissenschaft, Sprachwissenschaft), für die angenehme und anregende Diskussion während und nach meiner Disputation. Den Herausgebern der Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie, Prof. Dr. Claudia Polzin-Haumann und Prof. Dr. Dres. h.c. Wolfgang Schweickard, danke ich für die Aufnahme in die Reihe, Dr. Christine Henschel vom Verlag De Gruyter für die freundliche und geduldige Beantwortung all meiner Fragen rund um die Drucklegung dieses Bandes. Mein besonderer Dank gilt schließlich meiner Familie, die mir immer Mut gemacht hat und mir mit Rat und Tat zur Seite stand. Meine Schwester Dr. Doreen Meier und mein Partner Daniel Obermeyer haben mir geholfen, wenn meine https://doi.org/10.1515/9783110655063-202

VI

Vorwort

Computer-Kenntnisse an ihre Grenzen stießen, dank meiner Tochter Clara haben sich meine Prioritäten verändert und mein Zeitmanagement verbessert, und mein Vater Heinz Meier hat mich durch Korrekturlesen, Betreuung seiner Enkeltochter und technischen Support sehr entlastet. Für seine unablässige, bedingungslose Hilfe bin ich zutiefst dankbar.

Inhalt Vorwort

V

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Einleitung

2

Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs 9 Diskurstraditionen und diskurstraditionelle Komplexität 9 Diskurstraditionen und ihr Einfluss auf textsemantische Merkmale 9 Diskurstraditionen, Textgattungen, Textsorten und Texttypen – Zusammenhang und Abgrenzungen 17 Der Entlastungsfaktor von Diskurstraditionen, Textsorten und Textgattungen 21 Diskurstraditionelle Komplexität 23 Besonderheiten literarischer Texte und ihrer diskurstraditionellen Komplexität 34 Zusammenfassung 40 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Merkmale und ihrer Komplexität 42 Texte als übersummative Größen 43 Die Textrezeption – ein konstruktiver Vorgang 50 Kohärenz – inhärente Texteigenschaft oder Ergebnis kognitiver Prozesse? 52 Relevante Kontexte zur Erschließung des Textsinns 56 Die nicht-sprachliche Situation und ihre verbale Kompensation 61 Der positive und negative Rede- bzw. Diskurskontext 63 Der subjektive Kontext – das Wissen des Rezipienten 69 Gibt es eine objektive Bedeutung literarischer Texte? 74 Zusammenfassung 79 Semantische Komplexität 82 Komplexität innerhalb Roelckes Modell kommunikativer Effizienz 83 Diskussion der Komplexitätsdefinitionen nach Roelcke 86 Frame-Semantik und Textverstehen 89 Das Sprach- und Kommunikationsmodell der FrameSemantik 90 Charakteristika und Struktur von Frames 93

2.1 2.1.1 2.1.1.1 2.1.1.2 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.2.1 2.2.3 2.2.3.1 2.2.3.2 2.2.3.3 2.2.4 2.2.5 2.3 2.3.1 2.3.1.1 2.3.2 2.3.2.1 2.3.2.2

1

VIII

2.3.2.3 2.3.2.4 2.3.2.5

2.3.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.5 2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.5.4

3

Inhalt

Frame-Systeme 102 Frame-gestütztes Textverstehen 105 Präzisierung des Komplexitätsbegriffs Roelckes mittels frame-semantischer Modelle und der implizite Komplexitätsbegriff der Frame-Semantik 111 Zusammenfassung 116 Semantik und Diskurstraditionen 118 Die Maximen des Grice’schen Kooperationsprinzips und ihr Zusammenhang mit diskurstraditioneller Komplexität 120 Konversationelle Implikaturen und semantische Komplexität 128 Weitere Konzepte des Impliziten 137 Zusammenfassung 146 Diskurstraditionelle und semantische Komplexität: ein Modell für die linguistische Textanalyse 148 Definition und Synthese 148 Komplexitätskategorien 153 Beschreibung maximaler Einfachheit in Bezug auf die 14 Komplexitätskategorien 167 Beurteilung des Komplexitätsgrades in Bezug auf die einzelnen Kategorien 172

Textsemantische und diskurstraditionelle Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte 181 3.1 Exemplarisches Komplexitätsprofil: Guy de Maupassant, La Main 188 3.1.1 Diskurstraditionelle Charakterisierung und Résumé der Erzählung 188 3.1.2 Komplexitätsprofil von La Main 194 3.2 Diskurstraditionell bedingte Unterschiede im Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung und ihre Auswirkungen auf die Komplexität 224 3.2.1 Die explizite Variante des 19. Jahrhunderts: Émile Zola, Naïs Micoulin 231 3.2.2 Die impliziteren Varianten des 20. Jahrhunderts 247 3.2.2.1 Die Auswirkungen von interner Fokalisierung und Dynamisierung des Textbeginns auf die Komplexität der suppletiven Kontextbildung 252 3.2.2.2 Die extrem verzögerte Variante der suppletiven Kontextbildung in nouvelles à chute 269

IX

Inhalt

3.2.2.3 3.2.3 3.3 3.3.1

3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.4 3.4.1 3.4.1.1 3.4.1.2 3.4.2 3.4.2.1 3.4.2.2 3.4.2.3 3.4.3 4 4.1 4.2

4.3 4.4 4.4.1

Reduktion, Desorientierung und Ambiguität: suppletive Kontextbildung in einer surrealistischen Novelle 275 Zusammenfassung 290 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik 291 Ambiguität und Überraschungseffekt: gebündelte textsemantische Strategien in Happy Meal von Anna Gavalda 308 Erzeugung von Ambiguität durch Frame-Brüche 325 Erzeugung von Ambiguität durch Evokation und die Verquickung zweier Textsorten 345 Zusammenfassung 373 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität 377 Diskurstraditionen mit komplexitätsreduzierender Wirkung 379 Die Textgattung als kognitiver Entlastungsfaktor 380 Die auktoriale Erzählsituation als Quelle von Einfachheit Diskurstraditionell bedingtes Ausstrahlen von Komplexität 405 Charakteristische Ausprägungen von Komplexität in moderner mimetisch erzählender Kurzprosa 405 Typische Komplexitätsmuster in nouvelles à chute 420 Typische Komplexitätsmuster in nicht-mimetisch erzählenden Novellen 432 Zusammenfassung 451 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen und annotierten Novellen 457 Adaptionsmaßnahmen der Easy-Readers-Fassungen 460 Angriffspunkte und Adaptionsstrategien auf der Ebene der Wortsemantik und ihre Auswirkungen auf die Komplexität 462 Reduktion von Abweichungen und Wissensanforderungen 476 Reduktion von kontextabhängiger Implizitheit und Wissensanforderungen 481 Reduktion von kontextabhängiger Implizitheit auf satzsemantischer und lokaler Ebene 481

394

X

Inhalt

4.4.2

Reduktion von kontextabhängiger Implizitheit auf textsemantischer Ebene 487 Reduktion von Ambiguität und Wissensanforderungen 496 Reduktion von Ambiguität auf wortsemantischer Ebene 497 Reduktion von Ambiguität auf satzsemantischer Ebene 501 Reduktion von Ambiguität auf textsemantischer Ebene 504 Rückschluss auf komplexe Aspekte des einzelsprachlichen und lebensweltlichen Wissens aus den Vereinfachungen und Annotationen 527 Bewertung der Easy-Readers-Versionen 546

4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.6

4.7 5 5.1 5.2 5.3

Schlussbetrachtungen und Ausblick 553 Genese, Struktur und Bewertung des Modells der Textkomplexität 553 Ergebnisse der Korpusanalyse und praktischer Nutzen des Modells 561 Dahinter steckt ein kluger Kopf – zum Umgang mit Komplexität 565

Bibliographie Register

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1 Einleitung Über den hohen Stellenwert des Lesens und die immense Bedeutung einer umfassenden Lese- und Textkompetenz für ein erfolgreiches privates, berufliches und gesellschaftliches Leben in unserer heutigen Wissens- und Mediengesellschaft besteht wohl nicht der geringste Zweifel. Hartung (2017) bezeichnet in seinem Artikel Lesen, nur lesen! ebendiese Tätigkeit als die «wichtigste Kulturtechnik», die wir Menschen haben, weil sie uns die Welt erschließe (cf. Hartung 2017, 1), und das deutsche PISAKonsortium deklariert das Lesen zur «kulturelle[n] Schlüsselqualifikation», da es die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eröffne und die Möglichkeit zur zielorientierten und flexiblen Wissensaneignung biete (cf. Artelt et al. 2001, 70). Groeben (2004, 24) präzisiert und erweitert diese Sichtweisen durch die Angabe von mittelbaren Funktionen des Lesens u.a. auf personaler Ebene, zu denen er textsortenübergreifend die «Entwicklung von ästhetischer Sensibilität und sprachlicher Differenziertheit» sowie die «Reflexion über mögliche (vs. reale) Welten» zählt. Darüber hinaus stärke das Lesen fiktionaler Texte Empathie, Moralbewusstsein sowie die Anerkennung von Alterität, während das Lesen von Sachtexten der Wissensvertiefung, politischer Meinungsbildung und kognitiver Orientierung diene (cf. Groeben 2004, 24; Garbe 2009, 17s.). Vor dem Hintergrund dieser weitreichenden Funktionen des Lesens erklärt sich der Schock, den das schlechte Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler im Bereich des Leseverstehens bei der PISA-Studie der OECD 2000 ausgelöst hat. Dieser sogenannte PISA-Schock führte zur Verordnung von Ergebnisbzw. Output-Orientierung im deutschen Bildungswesen und zur Einführung von bundesweit geltenden Bildungsstandards. Diese legen die von den Schülerinnen und Schülern zu erreichenden Kompetenzen verbindlich fest (cf. Schröder/Tesch/ Nold 2017, 15; Garbe 2009, 36) und orientieren sich im Bereich der modernen Fremdsprachen in weiten Teilen am Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001), der unterschiedliche Facetten fremdsprachlichen Könnens auf sechs aufeinander aufbauenden Kompetenzniveaus (A1–C2) beschreibt (cf. Schröder/Tesch/Nold 2017, 15). Die Bildungsstandards für die Fächer Französisch/Englisch und Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife beinhalten nun an mehreren Stellen den Verweis auf komplexe Texte, anhand derer die Schülerinnen und Schüler die in einer Wissensgesellschaft so zentrale Textkompetenz in umfassender Weise aufbauen sollen. Komplexität wird sogar als erstes von drei Textmerkmalen (neben Abstraktheit und Anspruchsniveau) genannt, an denen sich die Differenzierung der geforderten Kompetenzen zwischen grundlegendem (Grund- und Leistungskurs)

https://doi.org/10.1515/9783110655063-001

2

1 Einleitung

und erhöhtem Niveau (Leistungskurs) orientiert (cf. KMK 2012b, 14). So sehen die Bildungsstandards für die Fächer Englisch und Französisch im Bereich des Leseverstehens auf erhöhtem Niveau vor, dass die Lernenden «die inhaltliche Struktur von komplexen Texten erkennen und dabei Gestaltungsmerkmale in ihrer Funktion und Wirkung analysieren» (ib., 16) können, und im Bereich der Text- und Medienkompetenz wird gefordert, dass die Lernenden «sprachlich und inhaltlich komplexe, literarische und nicht-literarische Texte verstehen und strukturiert zusammenfassen» (ib., 20) können. In den Bildungsstandards für das Fach Deutsch finden sich Verweise auf komplexe Texte insbesondere im Bereich der Schreibkompetenz, wo verlangt wird, dass «[d]ie Schülerinnen und Schüler [. . .] Schreibstrategien für die Produktion komplexer informierender, erklärender und argumentierender sowie gestaltender Textformen selbstständig und aufgabenbezogen [nutzen]» (KMK 2012a, 17), und hinsichtlich der Lesekompetenz sollen sie «den komplexen Zusammenhang zwischen Teilaspekten und dem Textganzen erschließen» (ib., 18) können. Auch für das Fach Deutsch wird hinsichtlich der Differenzierung zwischen grundlegendem und erhöhtem Niveau auf die Komplexität der zu behandelnden Texte verwiesen: «Je nach Voraussetzungsreichtum, sprachlicher Komplexität und Informationsdichte der Texte variiert der Grad an Kenntnissen, Selbstständigkeit und Reflexionsvermögen, den Schülerinnen und Schüler auf grundlegendem oder erhöhtem Anforderungsniveau benötigen» (ib., 15).

Was genau einen komplexen Text auszeichnet bzw. woran Komplexität in Bezug auf Texte festzumachen ist, präzisieren die Bildungsstandards jedoch nicht. Aus den zitierten Kompetenzbeschreibungen kann wohl gefolgert werden, dass Textkomplexität etwas mit Informationsdichte und Voraussetzungsreichtum sowie den Relationen zwischen dem Textganzen und seinen Teilen zu tun hat. Andere Standards etablieren Unterschiede zwischen expliziten und impliziten Aussagen von Texten, verweisen auf Gestaltungsmerkmale, die in ihrer Wirkung erfasst werden sollen (cf. KMK 2012b, 15), und unterstreichen die Rolle von Kontext-, Fach- und Weltwissen, das herangezogen werden muss, um «Verstehensbarrieren zu überwinden» oder «das Textverständnis zu vertiefen» (KMK 2012a, 18). Dass die genannten Aspekte die Komplexität eines Textes beeinflussen, erscheint nicht zuletzt aufgrund der persönlichen Leseerfahrung äußerst plausibel, dennoch bleiben sie zu vage und unsystematisch, um eine präzise Beschreibung von Textkomplexität zu ergeben. Die Unklarheiten in diesem Bereich werden weiterhin deutlich, wenn man die seit einigen Jahren gängige Praxis der Verlage betrachtet, fremdsprachliche

1 Einleitung

3

Lektüren mit der Angabe der Niveaustufe des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens (GeR) für Sprachen zu versehen. Diese soll Lehrenden und Lernenden vermitteln, für welche erreichte Kompetenzstufe im Bereich des Lesens ein bestimmter Text geeignet ist. Wenn allerdings ein äußerst voraussetzungsvoller Text wie Voltaires Candide (1759) von den Redakteuren der entsprechenden Klett-Ausgabe (Voltaire 1993) auf Niveau B1+ verortet wird, dann kommen schnell Zweifel an dieser Einschätzung auf. Schließlich verlangt das adäquate Verständnis von Voltaires Text Gattungswissen zur conte philosophique und zur Utopie (cf. die Kapitel zu Eldorado), erfordert historisches Wissen zur absoluten Monarchie im Frankreich des 18. Jahrhunderts, philosophisches Wissen zu Leibniz, der bekanntermaßen in der Figur des Pangloss parodiert wird, und stellt weiterhin als hochironischer Text des 18. Jahrhunderts hohe Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen heutiger Leser. Noch größer wird die Verwunderung, wenn man feststellt, dass die Redakteure von Reclams Roter Reihe den Jugendroman Il faut sauver Saïd von Brigitte Smadja (2008), der sich durch einzelsprachliche Einfachheit (der Erzähler ist ein 11-jähriger Junge!) und eine klare Botschaft auszeichnet, auf dem höheren Niveau B2 ansiedeln und diesen Text somit für komplexer oder schwerer verständlich halten als die Verantwortlichen des Klett-Verlages Candide bewerten. Es könnten problemlos weitere Beispiele genannt werden, die illustrieren, dass es offensichtlich schwierig ist, die Komplexität eines Textes und die Anforderungen, die er an die Lesekompetenz stellt, richtig einzuschätzen. Hinzu kommt, dass eine einzelne Kenngröße wie B1 oder C1 natürlich auch kein differenziertes Bild von den Bereichen abgeben kann, in denen sich ein Text als besonders komplex erweist. Ziel dieser Arbeit ist es, größere Klarheit zu schaffen hinsichtlich des Begriffs der Textkomplexität, die hier als Merkmal von Texten und als mehrdimensionale Größe verstanden wird. Dazu soll zunächst eine linguistisch fundierte Definition von semantischer und diskurstraditioneller Komplexität formuliert werden und ein Modell für die Textanalyse entwickelt werden, das plausible und verlässliche Einschätzungen der Komplexität eines Textes und der Bereiche, in denen sie sich manifestiert, ermöglicht. Dabei bewegen sich theoretisch-deduktives Vorgehen und Empirie in einem hermeneutischen Zirkel und werden Komplexitätsfaktoren und -kategorien, die aus linguistischen Theorien ableitbar sind, immer auch am Korpus auf ihre Relevanz und Praktikabilität hin untersucht und für auffallend komplexe Textphänomene werden theoretische Begründungen ermittelt. Im Folgenden wird das so entstandene Modell genutzt, um die Komplexität von Texten aus dem Bereich der französischen Kurzprosa zu analysieren und um weiterführende Erkenntnisse über Komplexitätsausprägungen in literarischen Texten zu erlangen. Wie die Verfasser der Bildungsstandards es bereits tun, ist davon auszugehen, dass die Komplexität eines Textes, die bei der Materialität der Texte

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1 Einleitung

ansetzt, mit der Verständlichkeit eines Textes, die vornehmlich den Verstehensprozess des Rezipienten in den Blick nimmt (cf. Bußmann 2008, 779), korreliert und somit ein hochkomplexer Text auch sehr hohe Anforderungen an die Lese- bzw. Textkompetenz seiner Rezipienten stellt. Folglich können tiefere Erkenntnisse zur Komplexität von Texten auch eine wichtige Grundlage für weitere Forschungen im Bereich der Lese- und Textkompetenz darstellen. Nicht zuletzt vermögen verlässliche Angaben zur Komplexität eines Textes in der Praxis die adäquate Auswahl von Texten für bestimmte Rezipientengruppen zu erleichtern. Vorarbeiten in diesem Bereich gibt es auf Seiten der pädagogischen, psychologischen bzw. psycholinguistischen Forschung, die allerdings mit anderer Schwerpunktsetzung und anderer Methodik erfolgen. Die ältere Lesbarkeitsforschung hat sich auf die Wort- und Satzschwierigkeit konzentriert, die mit quantifizierbaren Textmerkmalen wie Wortlänge in Silben, Satzlänge in Wörtern oder Worthäufigkeit «gemessen» werden sollte (cf. Bußmann 2008, 779). Das Resultat waren unterschiedliche Lesbarkeitsindizes wie beispielsweise der Flesch-ReadingEase.1 Diese Lesbarkeitsformeln berücksichtigen allerdings lediglich oberflächliche Textmerkmale und ignorieren Inhalt und Textsinn völlig, was dazu führen kann, dass auf ihrer Grundlage auch völlig inkohärente Texte als leicht lesbar eingestuft werden. Neuere kognitions- oder psycholinguistisch ausgerichtete Untersuchungen im Bereich der Textverständlichkeitsforschung wie beispielsweise das empirisch-induktiv begründete «Hamburger Modell» von Langer et al. (1974/ 2006) oder das sprachpsychologisch und lerntheoretisch fundierte Konzept von Groeben (1972/1978) nehmen auch inhaltliche und motivationale Merkmale von Texten in den Blick (cf. Bußmann 2008, 779) und verfolgen das Ziel, «auf möglichst breiter Ebene verständlichkeitsfördernde Textmerkmale zu identifizieren» (Christmann/Groeben 1999/2006, 180). Die beiden genannten Verständlichkeitsansätze gelangten auf unterschiedlichem Weg – Langer et al. (1974/2006) beispielsweise auf der Grundlage von Expertenurteilen zu unterschiedlich schwierigen Texten – zu sehr ähnlichen Ergebnissen, so dass man nach Einschätzung von Christmann/Groeben (1999/2006) heute davon

1 Die Flesch-Formel lautet folgendermaßen: FI = 206,835 – 86,6 · WL – 1,015 · SL (FI = Flesch-Index für Leseleichtigkeit (Reading Ease), WL = durchschnittliche Wortlänge in Silben, SL = durchschnittliche Satzlänge in Wörtern). Die Formel wurde von Rudolf Flesch (1911–1986) für die englische Sprache entwickelt und beruht auf der Annahme, dass kurze Wörter und Sätze leichter verständlich sind als lange, wobei die Wortlänge entscheidender ist als die Satzlänge. Der Flesch-Index liefert in der Regel Werte zwischen 0 und 100 und je höher der Wert für einen gegebenen Text ist, desto leichter sollte er verständlich sein (cf. Bachmann 2009).

1 Einleitung

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ausgehen kann, dass es sich bei den Merkmalen «Sprachliche Einfachheit», «Kognitive Gliederung/Ordnung», «Kürze/Prägnanz» und «Motivationale Stimulanz» um die bedeutsamsten Dimensionen der Textverständlichkeit handelt (cf. ib., 182). Fehlen diese Merkmale, zeichnet ein Text sich also im Gegenteil durch sprachliche Kompliziertheit, mangelnde Gliederung, Weitschweifigkeit und völlige Nüchternheit aus, so würde er gemäß Langer et al. (1974/2006) und Groeben (1972/1978) als schwer verständlich gelten. In der Textlinguistik, Textsemantik, Hermeneutik, Stilforschung und Übersetzungstheorie werden Texte per se als komplexe bzw. übersummative Größen betrachtet, weil «die Bedeutung des komplexen Zeichens [Text] mehr umfasst als die Summe der Bedeutungen der Einzelzeichen» (Gansel/Jürgens 2009, 19). Dem Text wird ein «kommunikative[r] Mehrwert» gegenüber der konventionellen Bedeutung der ihn konstituierenden Sprachzeichen beigemessen, was bedeutet, dass ein großer Teil des Textsinns im Impliziten liegt (cf. Linke/ Nussbaumer 2000a, 435s.). Folglich stellt sich die Textrezeption als aktiver Prozess der Bedeutungskonstruktion dar (cf. Christmann/Groeben 1996, 1536), im Zuge dessen der Leser neben der Systembedeutung der verwendeten Zeichen die sinnbildenden Kontexte (Situation, Redekontext, Wissen) berücksichtigen muss (cf. Coseriu 1980/2007, 143), Beziehungen zwischen allen potentiell bedeutungstragenden Elementen eines Textes (lexikalische Elemente, grammatische Formen, lautliche Phänomene etc.) herstellen (cf. Gardt 2008a, 1202) und verschiedene Arten von Hintergrundwissen aktivieren muss. Diese Charakterisierung des Textsinns und seiner Konstruktion durch den Rezipienten erklärt zwar, warum Texte als komplexe oder übersummative Größen aufgefasst werden, vermag aber noch keine Komplexitätsunterschiede zwischen verschiedenen Texten aufzudecken. Tatsächlich gibt es im Umfeld der Textlinguistik bislang kein umfassendes Modell zur Untersuchung der Ausprägung von Textkomplexität. Konsultiert man einschlägige Wörterbücher der Sprachwissenschaft (z.B. Bußmann 2008; Glück 2010), so findet man unter dem Eintrag Komplexität in der Regel die aus der Informatik stammende Definition derselben, so z.B. in Bußmann (2008): «Komplexität [. . .] In wand bei der Analyse es, zu einem Problem teln» (Bußmann 2008,

der Datenverarbeitung und Informatik Maß für den Rechenaufvon Algorithmen in Relation zu Zeit und Speicherplatz. Ziel ist den Algorithmus mit dem geringsten Rechenaufwand zu ermit351).

Es erscheint zwar durchaus plausibel, diese Definition so auf Texte zu übertragen, dass deren Komplexität mit dem Zeit- und Kompetenzaufwand, der für ihre Bedeutungskonstruktion erforderlich ist, korreliert, doch liefert dies immer noch keinen Aufschluss über die Textmerkmale, die den Zeit- und Kompetenzaufwand in die

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1 Einleitung

Höhe treiben. Roelcke (2002, 67) wird im Rahmen seines Modells kommunikativer Effizienz etwas konkreter, wenn er Textkomplexität folgendermaßen definiert: «[Die Textkomplexität eines Kommunikats ist] durch das Verhältnis der textuellen Intension mit Proposition und Illokution als Kommunikationsergebnis einerseits und der textuellen Extension mit einzelnen Wörtern und deren Kombination zu komplexen sprachlichen Zeichen wie Sätzen oder größeren Textteilen andererseits darzustellen, wobei eine relativ hohe textuelle Intension eine hohe Textkomplexität und eine relativ hohe textuelle Extension eine niedrige Textkomplexität mit sich bringen».

Aus dieser Definition kann man die ebenfalls sehr erwartbare Erkenntnis ziehen, dass das Maß an Informationsdichte bzw. das Maß an Implizitheit die Komplexität eines Textes bestimmt, was aber immernoch äußerst vage bleibt und allenfalls eine weitere Idee für den Aufbau eines umfassenden Modells für die Analyse von Textkomplexität liefert, was Ziel dieser Arbeit ist. Dazu werden semantische, pragmatische und textlinguistische Theorien, die die Sichtweise von Texten als übersummative Größen, die aktive Bedeutungskonstruktion durch den Rezipienten sowie die sinnkonstituierende Funktion der Kontexte ins Zentrum ihrer Modellierungen stellen, in Hinblick auf potentiell komplexitätssteigernde Faktoren ausgewertet. Zu diesen Theorien gehören das Modell der Sprachkompetenz nach Coseriu (1988/2007), das präzisiert, welche Wissensbestände in die Produktion und Rezeption von Texten eingehen, Coserius (1980/2007) Theorie der Umfelder, die von Aschenberg (1999) für Textanalysen handhabbarer gemacht wird, und vor allem die FrameSemantik, die mit dem leistungsfähigen Instrument des Frames Bedeutungsund Komplexitätsanalysen erleichert, indem sie präzisiert, wie Wissen gespeichert und in den Verstehensprozess eingebracht wird. Insbesondere für die Differenzierung der Komplexitätsgrade des Impliziten erweist sich die Theorie der Grice’schen Maximen und der verschiedenen Typen von Implikaturen (cf. Grice 1989) als unverzichtbar; äußerst erhellend sind weiterhin die Überlegungen von Linke/Nussbaumer (2000a) zu den unterschiedlichen Qualitäten des Impliziten. Die Auswertung der genannten Theorien und Modelle erlaubt zum einen die Identifikation von Faktoren, die die Komplexität eines Textes beeinflussen, zum anderen die Etablierung von Kategorien, bezüglich derer die Komplexität eines gegebenen Textes variieren kann. Zahlreiche dieser Kategorien wie z.B. «Komplexität in Bezug auf Kohäsion & lokale Kohärenz», «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» oder «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen der Rezipienten» sind mit Sicherheit für Texte aller Gattungen und Textsorten anzusetzen, andere müssen auf Sachtexte oder literarische Texte und innerhalb dieses Diskursuniversums wohl auch auf epische, dramatische oder lyrische Texte angepasst werden. Da

1 Einleitung

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dem empirischen Teil dieser Arbeit ein Korpus aus 15 Texten zugrunde liegt, die allesamt dem Bereich der Kurzprosa angehören, wird die Entwicklung einiger weniger Komplexitätskategorien den Charakteristika dieser Texte angepasst. Neben der Prämisse, dass Texte per se komplexe Größen sind, liegt dem in dieser Arbeit aufzubauenden Komplexitätsmodell die These zugrunde, dass die semantische Komplexität eines Textes in weiten Teilen von den Diskurstraditionen determiniert wird, die den jeweiligen Text prägen, und semantische Komplexität somit nicht losgelöst von diskurstraditioneller Komplexität untersucht werden kann. Da Diskurstraditionen «die Selegierung sprachlicher Elemente und deren Arrangement zu einer Textgestalt anleiten» (Schrott 2015, 83) und «den Kommunizierenden mehr oder weniger feste Orientierungen für die Produktion und Rezeption von Texten geben» (Brinker 1985/2010, 125), ist ihr Einfluss auf die Sinnbildung in Texten von allergrößter Bedeutung. Somit können Diskurstraditionen aber auch Ursprung von semantischer Einfachheit oder Komplexität sein und folglich müssen sich diskurstraditionelle Komplexitätskategorien in einem Modell für die Analyse von Textkomplexität an prominenter Stelle wiederfinden. In Kapitel 2 dieser Arbeit wird also der soeben kurz umrissene Weg zur Entwicklung einer Definition semantischer und diskurstraditioneller Komplexität sowie eines Modells für die Analyse dieser Art von Komplexität beschritten. Am Ende dieses Weges steht ein Modell, das ein Analyseraster aus 14 Komplexitätskategorien enthält und das Wirken von drei zentralen sowie weiteren notwendigen Komplexitätsfaktoren aufzeigt. Der Rückgriff auf diese Komplexitätsfaktoren soll qualitative Einschätzungen der Ausprägung von Komplexität in Bezug auf jede der 14 Komplexitätskategorien ermöglichen und zu einem differenzierten Bild der Gesamtkomplexität eines gegebenen (narrativen) Textes beitragen. In Kapitel 3 wird dieses Komplexitätsmodell auf ein Korpus bestehend aus 15 Texten aus dem Bereich der Kurzprosa, die zwischen 1866 und 2001 erschienen sind, angewandt, wobei drei Erkenntnisinteressen die Analysen leiten. Zunächst wird die auf einer linguistischen Bedeutungsanalyse basierende Arbeit mit dem Komplexitätsmodell demonstriert und die Effektivität des Modells in Hinblick auf die Generierung plausibler Komplexitätsprofile narrativer Texte belegt. Des Weiteren wird die in Kapitel 2 theoretisch begründete Verflechtung von Diskurstraditionen und semantischer Komplexität auch empirisch bestätigt, indem u.a. Komplexitätsmuster solcher Texte ermittelt werden, die in prototypischer Weise gemäß bestimmter Diskurstraditionen – z.B. einer spezifischen Erzählsituation oder einer literarischen Gattung – gestaltet wurden. In Anbetracht der Tatsache, dass Ambiguität häufig als Beleg für die Schwerverständlichkeit literarischer Texte im Allgemeinen bzw. für die Literatur der Moderne im Besonderen angeführt wird (cf. Bode 1988, 379), wird schließlich

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1 Einleitung

der Zusammenhang zwischen dem hier entwickelten Komplexitätsbegriff und literarischer Ambiguität, die sich flächig auf der ersten und/oder zweiten semiotischen Ebene manifestiert, untersucht. Kapitel 4 widmet sich den erwartbaren Überschneidungen zwischen unserem textlinguistisch fundierten und bei der Materialität der Texte ansetzenden Komplexitätsbegriff und einem Schwierigkeitsbegriff, der eher die kognitiven und emotiven Voraussetzungen einer spezifischen Rezipientengruppe und deren Interaktion mit bestimmten Textmerkmalen (cf. Bußmann 2008, 780) in den Blick nimmt. Ein solcher Schwierigkeitsbegriff liegt implizit den Adaptionen zugrunde, die die Redakteure der bekannten Easy-Readers-Versionen den Originalfassungen literarischer Werke angedeihen lassen, um diese für den Einsatz im Fremdsprachenunterricht praktikabler zu machen. Durch den Vergleich von sieben Korpustexten mit ihren in der Easy-Readers-Reihe vorliegenden Adaptionen wird aufgezeigt, dass die auf der sprachlichen Oberfläche ansetzenden Kürzungen, Ersetzungen und Umformulierungen zweifelsohne einige der in dieser Arbeit identifizierten Komplexitätsfaktoren aushebeln können, während andere solchen Eingriffen in die Textstruktur nicht zugänglich sind. Diese Reduktion von Komplexität mitsamt ihren Auswirkungen auf Ästhetik und Sinn literarischer Texte wird anschließend kritisch reflektiert, um der Frage nachzugehen, wie in Zeiten einer durch die Erfordernisse der Wissensgesellschaft begründeten Kompetenzorientierung im Bildungssystem mit Textkomplexität sinnvoll umzugehen ist.

2 Grundlagen eines semantischdiskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs 2.1 Diskurstraditionen und diskurstraditionelle Komplexität In diesem Kapitel soll zunächst das Konzept der Diskurstraditionen erklärt werden. Dieses bezieht seine sprachtheoretische Fundierung aus dem Modell der Sprachkompetenz von Coseriu (1988/2007), welches das diskurstraditionelle Wissen, «das sich darauf bezieht, wie man in bestimmten Situationen spricht», und «das der Gestaltung von Texten zugrundeliegt» (Coseriu 1988/2007, 87), unter dem Begriff des expressiven Wissens subsumiert. Des Weiteren werden die Historizität der Diskurstraditionen, ihre Abgrenzung von den einzelsprachlichen Traditionen und ihre Trägergruppen thematisiert, bevor darauf eingegangen wird, wie Diskurstraditionen beschaffen sind und wo und wie sie sich in Texten zeigen. Da Diskurstraditionen «die Selegierung sprachlicher Elemente und deren Arrangement zu einer Textgestalt anleiten» (Schrott 2015, 83), beeinflussen sie auch semantische Merkmale eines Textes und deren Komplexität. Eben aufgrund dieser Verzahnung beschäftigt sich die vorliegende Arbeit mit semantischer und diskurstraditioneller Komplexität, denn häufig sind es spezifische Diskurstraditionen, die für eine hohe oder geringe Komplexität in Bezug auf bestimmte semantische Merkmale verantwortlich sind. Weiterhin soll das Konzept der Diskurstraditionen den textlinguistischen Konzepten von Textsorte und Textgattung gegenübergestellt und sein Mehrwert aufgezeigt werden sowie der mit allen drei Konzepten verbundene «kognitive Entlastungsfaktor» begründet werden. Schließlich werden Kriterien für die Beschreibung diskurstraditioneller Komplexität im Allgemeinen angeführt, bevor auf Besonderheiten literarischer Texte und ihrer Komplexität eingegangen wird, die es erfordern, die Komplexitätskriterien für das literarische Diskursuniversum in einigen Fällen zu modifizieren.

2.1.1 Diskurstraditionen und ihr Einfluss auf textsemantische Merkmale Will man die semantische und diskurstraditionelle Komplexität von Texten beschreiben, muss man sich zuallererst klarmachen, dass jeder Text in Traditionen steht und präzisen Normen unterworfen ist. Zum einen muss sich jeder Text oder Diskurs einer historisch gewachsenen Einzelsprache bedienen und er steht ebenso unausweichlich in bestimmten Diskurstraditionen, befolgt also z.B. die Regeln einer bestimmten Textgattung (cf. Coseriu 1988/2007, 73s.; Koch 1997, 46; https://doi.org/10.1515/9783110655063-002

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Wilhelm 2001, 467). So verwenden die in Kapitel 3 dieser Arbeit analysierten Texte allesamt die französische Sprache und in Bezug auf die Gattungen finden sich unter anderem eine conte fantastique, zwei naturalistische Novellen, eine Prosaballade und drei nouvelles à chute. Menschliches Sprechen und Schreiben ist grundsätzlich regelgeleitetes Handeln und es sind insgesamt drei unterschiedliche Typen von Regeln bzw. Traditionen, die dabei zur Anwendung kommen: allgemein-universelle Regeln und Prinzipien des Sprechens (Coserius «elokutionelles Wissen»), die Regeln bzw. Traditionen einer historischen Einzelsprache (Coserius «idiomatisches Wissen») und die Diskurstraditionen (Coserius «expressives Wissen») (cf. Coseriu 1988/2007, 74s.; Koch 1997, 46). Diese Differenzierung entstammt der von Coseriu entwickelten Theorie der Sprachkompetenz, in deren Rahmen er das Sprechen definiert als «eine universelle allgemein-menschliche Tätigkeit, die jeweils von individuellen Sprechern als Vertretern von Sprachgemeinschaften mit gemeinschaftlichen Traditionen des Sprechenkönnens individuell in bestimmten Situationen realisiert wird» (Coseriu 1988/2007, 70). Diese Definition betont, dass sich in der kulturellen Form des Sprechens drei Ebenen unterscheiden lassen, nämlich die universelle Ebene des Sprechens im Allgemeinen, die historische Ebene der Einzelsprache und die individuelle Ebene des Diskurses bzw. Textes (cf. ib., 72). Jede dieser drei Ebenen des Sprechens weist eine besondere Form des sprachlichen Inhalts und spezifische Normen bzw. Regeln auf, mit denen auf Seiten der Sprecher eine spezifische Art des sprachlichen Wissens korrespondiert. Wenn nun weiterhin das Sprechen auch unter drei verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet wird – als Tätigkeit selbst, als das Wissen, das der Tätigkeit zugrundeliegt, und als das Produkt, das durch die Tätigkeit geschaffen wird, – und diese drei Gesichtspunkte mit den drei Ebenen des Sprachlichen verbunden werden, so ergibt sich das bekannte Drei-Ebenen-Modell Coserius:

Tab. 1: Coserius Modell der Sprachkompetenz (nach Coseriu 1988/2007, 75). Ebene

Gesichtspunkt Tätigkeit

Wissen

Produkt

Universelle Ebene

Sprechen im Allgemeinen

elokutionelles Wissen

Totalität der Äußerungen

Historische Ebene

konkrete Einzelsprache

idiomatisches Wissen

(abstrakte Einzelsprache)

Individuelle Ebene

Diskurs

expressives Wissen

Text

2.1 Diskurstraditionen und diskurstraditionelle Komplexität

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Die hier interessierende diskursive bzw. diskurstraditionelle Kompetenz der Sprecher fasst Coseriu in den Begriff des expressiven Wissens, «das dem individuellen Sprechen entspricht und das sich darauf bezieht, wie man Texte in bestimmten Situationen konstruiert» (ib., 74), und den Sprechern folglich Urteile über die Angemessenheit eines Textes in einer bestimmten Situation erlaubt (cf. ib., 87). Coseriu weist explizit darauf hin, dass «[a]uch die individuelle Ebene [. . .] ihre Geschichte [hat], weil Texte ihre historischen Traditionen haben» (ib., 86), und benennt Normen für Textgattungen und Textsorten, die offensichtlich historisch wandelbar sind, als Gegenstände des expressiven Wissens (cf. ib., 161). Diese Historizität der Text- oder Diskursnormen geht allerdings nicht unmittelbar aus dem obigen Schema hervor, wo (scheinbar) nur den jeweiligen Einzelsprachen eine geschichtliche Dimension beigemessen wird. Aus diesem Grund und weil er der Meinung ist, dass der individuellen Ebene des Diskurses «logischerweise» kein eigener Regel- bzw. Normtyp zugeordnet werden könne (cf. Koch 1997, 46), schlägt Koch (1997, 45) eine Ergänzung von Coserius Modell um einen weiteren historisch gegebenen, aber nicht einzelsprachlichen Typ von Traditionen des Sprechens vor und trägt damit zur Prägung des Begriffs der Diskurstraditionen2 bei: «Ich halte es also für unerläßlich, Coserius Modell auf der historischen Ebene zu doppeln. Neben oder besser gesagt: quer zu den einzelsprachlichen Traditionen bzw. Normen sind hier die Texttraditionen oder – wie ich es nenne – die Diskurstraditionen bzw. Diskursnormen anzusetzen. Damit ergibt sich nun insgesamt folgendes Bild der Hinsichten auf Sprachliches:

Ebene

Bereich

Normtyp

Regeltyp

universal

Sprechtätigkeit

(vgl. Anm.  und )

Sprechregeln

historisch

Einzelsprache

Sprachnormen

Sprachregeln

historisch

Diskurstradition

Diskursnormen

Diskursregeln

individuell/aktuell

Diskurs

[. . .]».

2 Der Begriff der Texttradition wird bereits in Coserius Textlinguistik (1980) umfassend erläutert (cf. Coseriu 1980/2007, 49ss.). Weitere wichtige Beiträge zur Prägung und Definition des Begriffs Diskurstradition leisten vor allem Brigitte Schlieben-Lange (1983) in Traditionen des Sprechens sowie Koch (1997), Oesterreicher (1997) und Lebsanft (2005).

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Lebsanft (2005) kritisiert diese Modifikation des Coseriu’schen Modells durch Koch allerdings scharf, da sie seiner Ansicht nach auf einer «oberflächlichen Interpretation der beiden Coseriu’schen Begriffe des ‹Individuellen› und des ‹Historischen›» (Lebsanft 2005, 31) beruhe. Er weist darauf hin, dass das Individuelle bei Coseriu in einer dreifachen Opposition stehe, nämlich zum «Universellen», zum «Choralen» und zum «Historischen». Coseriu denke das Historische «in der Kategorie des durch die Einzelsprache definierten Nationalen, sei es als Kultur- oder Staatsnation» (ib., 32) und in diesem Sinne sei das individuelle Sprechen für ihn nicht historisch, da es eben «keine Gemeinschaft konstituiert, die in der Geschichte wirksam geworden ist» (ib., 32). Coseriu (1988/2007, 86) selbst macht den Unterschied zwischen der sehr wohl vorhandenen Historizität der individuellen Ebene des Diskurses bzw. der Texte und der Historizität der Einzelsprachen folgendermaßen deutlich: «Die Ebene der Texte ist jedoch nicht in dem Sinn historisch wie die Ebene der Einzelsprachen. Die Sprachgemeinschaften gelten nämlich gerade wegen des Sprachlichen als Gemeinschaften, z.B. die deutsche oder die französische Sprachgemeinschaft. Es gibt zwar auch bei Texten oder Textsorten Gemeinschaften. Sie sind es aber nicht deshalb, weil sie bestimmte Texte oder Textsorten verwenden. Es ist gerade umgekehrt: Sie sind zuerst Gemeinschaften, und eben deshalb verwenden sie diese oder jene Texte».

Somit erweist sich also zunächst Kochs Addition einer weiteren historischen Ebene der Diskurstraditionen in Coserius Schema als überflüssig und die Aussage, dass der individuellen Ebene der Texte keine Regeln oder Normen zugeordnet werden können, als Trugschluss aus der Fehleinschätzung, dass auf der individuellen Ebene die drei Regeltypen Sprech-, Sprach- und Diskursregeln lediglich angewendet würden (cf. Koch 1997, 46). Lebsanft (2005, 31) macht deutlich, dass das Sprechen als individuelle Tätigkeit vielmehr der Ort sei, «an dem im Hinblick auf den Anderen der Sprecher bestehenden Regeln folgt oder neue Regeln zur Übernahme vorschlägt». Es sei der Ort, an dem der Sprecher «Neues durch Anknüpfen an Bekanntes» schaffe, was das Vorhandensein von expressivem oder textbezogenem Wissen, das mit anderen geteilt wird, voraussetze (cf. ib., 32). So untermauert Lebsanft (2005) also sein Plädoyer für eine Rückbesinnung auf das Coseriu’sche Modell der Sprachkompetenz, das auf der individuellen Ebene der Diskurse und des ihnen zugrundeliegenden expressiven Wissens die von Koch (1997) hinzugefügten Diskurstraditionen bereits enthält, und erklärt abschließend: «Das, was an individuellen ‹Diskursen› ‹traditionell› ist, macht also – in Kochs Diktion – die ‹Diskurstraditionen› aus, und es besteht aus nichts anderem als der Gesamtheit der ‹Normen› und ‹Regeln›, die deren Gestaltung zugrunde liegen» (Lebsanft 2005, 32).

2.1 Diskurstraditionen und diskurstraditionelle Komplexität

13

Diese eindeutige Verortung der Diskurstraditionen in Coserius Modell der Sprachkompetenz ermöglicht nun auch eine entsprechende Charakterisierung dieses Wissenstyps, die seine Autonomie gegenüber den beiden anderen Typen von Regeln und Traditionen unterstreicht. Zunächst handelt es sich bei allen drei Wissenstypen, die dem Sprechen als kultureller Tätigkeit zugrunde liegen, um Wissensbestände, die gemeinsam eine kulturelle Kompetenz bilden (cf. Coseriu 1988/2007, 65). Sie unterscheiden sich aber bezüglich ihrer Historizität bzw. Universalität und bezüglich ihrer Relation zu Sprache und Sprechen (cf. Schrott 2014, 8). Die allgemein-universellen Regeln und Prinzipien des Sprechens zeichnen sich durch Universalität aus, weil sie dem Sprechen in allen Sprachen und Kulturen zugrunde liegen und somit weder kulturspezifisch noch historisch veränderlich sind (cf. ib., 9). Darin unterscheiden sie sich von den Diskurstraditionen und den idiomatischen bzw. einzelsprachlichen3 Traditionen, die – wie soeben gezeigt wurde – dem historischen Wandel unterliegen. Während das einzelsprachliche Wissen als Beherrschung einer konkreten Einzelsprache ausschließlich rein sprachliche Fakten regelt, sind die allgemein-universellen Regeln und Prinzipien des Sprechens sowie die Diskurstraditionen lediglich sprach- bzw. textbezogen.4 Dieses Kriterium der Sprachbezogenheit meint, dass die Regeln bzw. Traditionen das Sprechen anleiten und somit einen engen Bezug zu Sprache und Sprachgebrauch aufweisen, ohne aber selbst ein genuin sprachliches Wissen zu repräsentieren (cf. Schrott 2014, 9). Zusammenfassend können die Diskurstraditionen also durch die Merkmale der Kulturalität, Historizität und Sprachbezogenheit beschrieben werden und Schrott (2014, 9) greift auf eben diese drei Merkmale in ihrer klaren Charakterisierung dieses Wissenstyps zurück: «Der zweite historisch gebundene Wissenstyp sind die Diskurstraditionen als kultureller Leitfaden, dem die Sprecher folgen, um in einer konkreten Situation eine kommunikative Aufgabe erfolgreich zu bewältigen. Diskurstraditionen sind ein kultureller Wissensbestand, der auf das Sprechen bezogen ist, jedoch selbst kein sprachliches Wissen darstellt und von den idiomatischen Traditionen deutlich abzugrenzen ist. Die Diskurstraditionen

3 Aufgrund der Mehrdeutigkeit des deutschen Begriffs idiomatisch werden wir im Folgenden zur Bezeichnung des sprachlichen Wissens, das auf der historischen Ebene angesiedelt ist und dem entspricht, was Einzelsprache oder langue genannt wird (cf. Coseriu 1988/2007, 132), den Ausdruck einzelsprachliches Wissen verwenden. 4 Coseriu (1988) verwendet den Begriff der Textbezogenheit, um die einzelsprachliche Kompetenz von der diskursiven – also den Diskurstraditionen – abzugrenzen: «Trotz solcher Grenzfälle ist es bei den meisten Normen der Textkonstitution eindeutig, daß sie nicht zur Einzelsprache gehören. Die entsprechende Kompetenz ist darum nicht einzelsprachlich, sondern textbezogen» (Coseriu 1988/2007, 174).

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

bilden daher einen eigenen Typ von Traditionalität, dem die Sprecher folgen, wenn sie aus ihrem sprachlichen Repertoire einzelne Strukturen und Verfahren auswählen und zu einem (graphischen oder phonischen) Text arrangieren».

Die Abgrenzung zwischen den beiden historischen Wissensbeständen – den einzelsprachlichen Traditionen und den Diskurstraditionen –, die sich in ihrer Relation zu Sprache und Sprechen unterscheiden, macht Koch (1997, 45) nochmals sehr klar, indem er charakteristische Gegenstände aufzählt, die jeweils unter die beiden Wissenstypen fallen: «Der Unterschied zwischen dem einzelsprachlichen und dem diskurstraditionellen Bereich liegt klar auf der Hand: unter einzelsprachlichem Aspekt beschäftigen wir uns mit historischen Sprachen und ihren Varietäten wie z.B. Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, Moselfränkisch, Cockney, Argot usw.; unter diskurstraditionellem Aspekt beschäftigen wir uns mit Textsorten, Gattungen, Stilen, rhetorischen Genera, Gesprächsformen, Sprechakten usw. wie z.B. Beipackzettel, Sonett, Manierismus, Prunkrede, Talkshow, Lehnseid usw.».

Kochs Auflistung der Phänomene, die unter den Begriff des diskurstraditionellen Wissens subsumiert werden können, illustriert zugleich die Weite und Offenheit dieses Konzepts, die Schrott (2015, 88) in erster Linie als Stärke auslegt, weil sie die Erkenntnis ermögliche, dass auf den ersten Blick sehr verschiedene Techniken des Sprechens und Schreibens letztlich doch zu ein und demselben Wissenstyp gehören: «So können kommunikative Routinen wie das Eröffnen eines Gesprächs oder die Formulierung einer Bitte, aber auch eine (literarische) Textgattung als diskurstraditionelles Wissen identifiziert werden. Denn sowohl kommunikative Routinen als auch Textsorten und Textgattungen rekurrieren auf ein kulturelles Wissen, das die Aktanten darin anleitet, sprachliche Strukturen so einzusetzen, dass eine kommunikative Aufgabe – sei es die Eröffnung eines Gesprächs, sei es die Schaffung eines literarischen Kunstwerks – angemessen erfüllt werden kann» (Schrott 2015, 88).

Nachdem nun mehrere Beispiele für unterschiedliche Techniken des Sprechens und Schreibens genannt wurden, die zum diskurstraditionellen Wissen zählen, – kommunikative Routinen wie das Grüßen oder die Formulierung einer Bitte, Textsorten und Textgattungen, Stile und Sprechakte – ergibt sich unmittelbar, dass Diskurstraditionen einzelsprachunabhängig sind. So kann eine literarische Gattung wie das Sonett natürlich von kulturellen Gruppierungen, die unterschiedlichen Sprachgemeinschaften angehören, in ihrer jeweiligen Einzelsprache praktiziert werden (cf. ib., 88). Folglich besteht neben der Differenzierung «sprachlich vs. sprachbezogen» ein weiterer Unterschied zwischen einzelsprachlichen Traditionen und Diskurstraditionen in der Beschaffenheit der Gemeinschaften, die die

2.1 Diskurstraditionen und diskurstraditionelle Komplexität

15

jeweiligen Wissenstypen tragen bzw. konstituieren, was wiederum auf der oben bereits angesprochenen unterschiedlichen Historizität beider Arten von Traditionen beruht. Koch (1997, 49) erklärt, dass die Geltungsbereiche und Trägergruppen von einzelsprachlichen Traditionen und Diskurstraditionen «quer» zueinander liegen und Diskurstraditionen über Sprachgemeinschaften hinweg von kulturellen Gruppen – Berufsgruppen, literarischen Strömungen, politischen Bewegungen etc. – getragen werden, während Sprachregeln bzw. einzelsprachliche Traditionen von Sprachgemeinschaften getragen werden. Coseriu (1988/2007, 86) begründet die unterschiedliche Historizität von Einzelsprachen und Diskurstraditionen ja damit, dass einzelsprachliche Traditionen die entsprechenden Sprachgemeinschaften erst konstituieren, während im Fall der Diskurstraditionen sich zunächst die sie tragende kulturelle Gemeinschaft herausbilde, die dann aufgrund dieser gemeinsamen kulturellen Prägung bestimmte Diskurstraditionen verwende. Diese Coseriu’sche Unterscheidung zwischen den Trägergruppen der beiden historisch wandelbaren Wissensbestände greift Schrott (2014, 32) auf, analysiert die unterschiedliche Beschaffenheit der jeweiligen Gruppierungen näher und prägt schließlich in Opposition zu den «klar abgrenzbaren und historisch manifesten Sprachgemeinschaften» den Begriff der diskurstraditionellen «Konfigurationen»: «Denn während Sprachgemeinschaften historisch manifestierte Makrostrukturen sind, bilden die Aktanten, die eine Diskurstradition [. . .] anwenden, meist kleinräumigere und lockerer verbundene Gruppierungen, die als historische Größen deutlich weniger sichtbar und konturiert sind als Sprachgemeinschaften. Bringt man Sprachgemeinschaften und diskurstraditionelle Gruppierungen zur Deckung, dann überlagern die kulturellen Gruppierungen als Mikrostrukturen die Makrostruktur der Sprachgemeinschaften und durchziehen diese wie ein feines Netz. Um diesen Unterschied auch begrifflich zu verdeutlichen, bezeichne ich diese Gruppierungen – in Absetzung von den Sprachgemeinschaften – als diskurstraditionelle beziehungsweise kulturelle Konfigurationen» (ib., 30).

Nachdem nun geklärt wurde, dass Diskurstraditionen historisch wandelbare, sprach- bzw. textbezogene und einzelsprachübergreifende Größen sind, die von kulturellen Konfigurationen getragen werden und als deren habitualisiertes Wissen in Bezug auf die Produktion, Rezeption, Benennung und Normierung von Diskursen gedeutet werden können (cf. Aschenberg 2003, 7), stellt sich die Frage, wie genau Diskurstraditionen beschaffen sind und wo und wie sie sich in Texten zeigen. In diesem Zusammenhang wird auch unmittelbar deutlich werden, dass Diskurstraditionen semantische Merkmale und deren Komplexität beeinflussen können. Gemäß Koch/Oesterreicher (1990) hat jede Diskurstradition ein bestimmtes mediales Profil, wird also phonisch oder graphisch realisiert, und ist konzeptionell festgelegt, d.h. dass ihr ein Ort auf dem Nähe-Distanz-Kontinuum zugewiesen werden kann (cf. Koch 1997, 56s.). Koch/ Oesterreicher (1990) fassen bekanntlich die Kombination der in der folgenden

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Tabelle aufgeführten Parameterwerte (a) bis (j) in den Begriff der kommunikativen Nähe und die Kombination der Parameterwerte (a’) bis (j’) in den Begriff der kommunikativen Distanz: Tab. 2: Die Pole kommunikative Nähe vs. kommunikative Distanz (Schema nach Oesterreicher 1997, 27). Kommunikative Nähe:

Kommunikative Distanz:

(a) Privatheit

(a’) Öffentlichkeit

(b) Vertrautheit der Partner

(b’) Fremdheit der Partner

(c) Starke emotionale Beteiligung

(c’) Geringe emotionale Beteiligung

(d) Starke Situations- und Handlungseinbettung

(d’) Geringe Situations- und Handlungseinbettung

(e) origo-naher Referenzbezug

(e’) origo-ferner Referenzbezug

(f)

(f’)

Räumliche und zeitliche Nähe der Kommunikationspartner

Räumliche und zeitliche Distanz der Kommunikationspartner

(g) Intensive Kooperation

(g’) Geringe Kooperation

(h) Dialogizität

(h’) Monologizität

(i)

(i’)

Spontaneität

Reflektiertheit

Zwischen diesen Polen extremer Nähe und extremer Distanz existieren jedoch bei jedem einzelnen Parameter eine Vielzahl von Abstufungen. Deshalb sprechen Koch/Oesterreicher von einem konzeptuellen Kontinuum zwischen Nähe und Distanz, in dem sich die Parameterwerte verschiedener Kommunikationsformen bzw. Diskurstraditionen unterschiedlich mischen und so ganz spezifische kommunikative Konzeptionen entstehen lassen (cf. ib., 22). Als typisches Beispiel für kommunikative Nähe nennt Oesterreicher (1997) ein lockeres Gespräch zwischen Freunden im Café, während die Frankfurter Abwasserverordnung ein Beispiel kommunikativer Distanz darstelle (cf. ib., 22s.). Unter Bezugnahme auf das Nähe-Distanz-Modell gelangt Oesterreicher (1997, 25) schließlich zu der folgenden Definition von Diskurstraditionen: «Diskurstraditionen [sind] konventionalisierte Kristallisationskerne von bestimmten Parameterwerten der oben skizzierten Kommunikationsbedingungen und mehr oder minder strikt vorgeprägten Versprachlichungsanforderungen einerseits sowie von bestimmten gesellschaftlich determinierten inhaltlich-thematischen Wissenskomplexen andererseits.

2.1 Diskurstraditionen und diskurstraditionelle Komplexität

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Diskurstraditionen müssen von Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft erworben werden; sie fungieren als Muster für Sinngebungen, die erwartet, angeboten, präzisiert, fortgebildet werden».

Der Verweis auf die mit Diskurstraditionen verbundenen Versprachlichungsanforderungen und inhaltlich-thematischen Wissenskomplexe deutet bereits die oben angekündigte Verquickung von Diskurstraditionen und semantischen Merkmalen eines Textes an, die Oesterreicher (1997, 23) in der folgenden Passage ausführlicher begründet: «Was die den konzeptionellen Profilen von Diskurstraditionen entsprechenden Versprachlichungsstrategien angeht, so leuchtet unmittelbar ein, dass sich in den skizzierten Bündelungen von Kommunikationsbedingungen und den ihnen entsprechenden Diskurstraditionen ganz unterschiedliche Anforderungen etwa bezüglich der Nutzung der verschiedenen Kontextarten, bezüglich der Elaboriertheit und Formalität, bezüglich der Informativität und der Explizitheit von Diskursen stellen».

Verschiedene Formen von Kontextualisierung, sprachliche Elaboriertheit und Formalität sowie eine mehr oder weniger hohe Informativität und Explizitheit von Diskursen sind natürlich semantische Merkmale, die also durch Diskurstraditionen beeinflusst, geformt bzw. selegiert werden und die unmittelbare Auswirkungen auf die Komplexität eines Textes haben. 2.1.1.1 Diskurstraditionen, Textgattungen, Textsorten und Texttypen – Zusammenhang und Abgrenzungen Die sich aus der Sprach- und Textbezogenheit der Diskurstraditionen ergebende Beeinflussung textsemantischer Merkmale und ihrer Komplexität wird in diesem Unterkapitel weiter vertieft. Dies geschieht im Rahmen einer Reflexion über die Verflechtung von Diskurstraditionen mit den in der Textlinguistik verwendeten Begriffen Textsorte, Textgattung und Texttyp sowie den Kriterien zu ihrer Beschreibung. Dafür bedarf es allerdings zunächst einer ungefähren Klärung der genannten textlinguistischen Termini, die sich jedoch als schwierig erweist, weil «von einer terminologischen Eindeutigkeit und Systematik bezüglich der Klassifikation von Texten [. . .] zunächst nicht auszugehen [ist]» (Gansel/Jürgens 2009, 65). So begreift Wilhelm (2001) Textsorten als klassifikatorische Konstrukte, Gattungen hingegen als historisch beschreibbare, im Bewusstsein der Sprecher verankerte Normen und Texttypen als eine Art Oberbegriff für die beiden Verwendungen: «In der literaturwissenschaftlichen Gattungslehre wie auch in der Textlinguistik hat sich die Ansicht herausgebildet, daß deutlich zwischen zwei Texttypenbegriffen unterschieden werden muss: Texttypen können zum einen als klassifikatorische Konstrukte, zum anderen als historisch beschreibbare, im Bewusstsein der Sprecher/Schreiber verankerte Normen aufgefasst werden (cf. Todorov 21976; Isenberg 1983). Im ersten Fall möchte ich

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

von ‹Textsorten›, im zweiten Fall von ‹Gattungen› sprechen. Hervorzuheben ist dabei, daß sowohl der klassifikatorische Textsortenbegriff als auch der historische Gattungsbegriff gleichermaßen auf den literarischen wie den nicht-literarischen Bereich angewendet werden können: In Hinsicht auf ihre Gattungshaftigkeit besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen literarischen und nicht-literarischen Textformen» (Wilhelm 2001, 468s.).

Wilhelms Definition von Texttyp und Textsorte erweist sich allerdings als eher singulär: so verstehen Aschenberg (2003, 4), Heinemann/Viehweger (1991, 144) und Gansel/Jürgens (2009, 69) nicht etwa unter dem Begriff der Textsorte, sondern vielmehr unter dem des Texttyps ein klassifikatorisches bzw. theoretisches Konstrukt.5 Und Textsorten sind nach Brinker (1985/2010, 125) konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche Handlungen, die sich historisch entwickelt haben und zum Alltagswissen der Sprachteilhaber gehören – somit stellt sich sein Textsortenbegriff als synonym zu Wilhelms Gattungsbegriff dar: «Textsorten sind konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche Handlungen und lassen sich als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situativen), kommunikativ-funktionalen und strukturellen (grammatischen und thematischen) Merkmalen beschreiben. Sie haben sich in der Sprachgemeinschaft historisch entwickelt und gehören zum Alltagswissen der Sprachteilhaber; sie besitzen zwar eine normierende Wirkung, erleichtern aber zugleich den kommunikativen Umgang, indem sie den Kommunizierenden mehr oder weniger feste Orientierungen für die Produktion und Rezeption von Texten geben» (ib., 125).

Brinkers weitere Ausführungen zu Textsorten, seine Beispiele (Wetterbericht, Heiratsurkunde, Kochrezept, Zeitungskommentar etc.) und die Tatsache, dass er die Textfunktion als Basiskriterium zur Differenzierung der Textsorten betrachtet (cf. ib., 136), legen die Vermutung nahe, dass er bei Textsorten eher an verschiedene Formen von Gebrauchstexten denkt. Diese Sichtweise vertreten Gansel/Jürgens (2009, 65) explizit und grenzen Textsorten als Klassifikationsterminus für Gebrauchstexte von den literarischen Gattungen ab: «Der Begriff Textsorte hat sich in der jüngeren Vergangenheit als Klassifikationsterminus für Gebrauchstexte weitgehend durchgesetzt und grenzt sich von dem literaturwissenschaftlichen Begriff der künstlerischen Gattung ab. Ob beide Begriffe in ihrer bisherigen inhaltlichen Fassung durch die zwei Disziplinen auf einer Abstraktionsstufe liegen, sei dahingestellt. Zumindest sprechen sie für die gegenständliche Differenzierung von literarischen Texten und Gebrauchstexten».

5 Gansel/Jürgens (2009, 69) definieren Texttypen «als auf linguistischen Kriterien beruhende Zusammenfassungen von Texten, die quer zu Textsorten in verschiedenen Kommunikationsbereichen verlaufen». Und Aschenberg (2003) versteht unter dem Begriff des Texttyps unter Verweis auf Heinemann/Viehweger (1991, 144) «eine theoriebezogene Kategorie zur wissenschaftlichen Klassifikation von Texten» (Aschenberg 2003, 4).

2.1 Diskurstraditionen und diskurstraditionelle Komplexität

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Auch der Literaturwissenschaftler Dammann (2000) bezieht den Begriff der Gattung auf literarische Texte, seine Definition desselben entspricht aber in wesentlichen Zügen – was die Konventionalität und die reale Verankerung im Bewusstsein der Sprecher betrifft – der Textsortendefinition Brinkers: «Historische Gattungen werden in der aktuellen Erörterung weitgehend konzeptualistisch als reale Elemente (vielfach) des literarischen Bewußtseins oder (mindestens aber) der literarischen Kompetenz einer Epoche gefaßt, sie firmieren als Konventionen oder Normen, die sowohl für Autoren wie deren Leser gelten [. . .]» (Dammann 2000, 548).

Auf der Grundlage der angeführten Zitate werden in dieser Arbeit Textgattung als Klassifikationsterminus für literarische Texte und Textsorte als Klassifikationsterminus für Gebrauchstexte begriffen. Und sowohl Textgattungen als auch Textsorten werden in Anlehnung an Brinker (1985/2010, 125), Dammann (2000, 548) und (bzgl. des Gattungsbegriffs) Wilhelm (2001, 469) als Normen bzw. Konventionen für komplexe sprachliche Handlungen verstanden, die sich historisch entwickelt haben und im Bewusstsein der Sprecher verankert sind. Diese Definitionen der beiden textlinguistischen bzw. literaturwissenschaftlichen Begriffe machen deren Nähe zum Konzept der Diskurstraditionen, die als kulturelles, historisches und textbezogenes Wissen ebenfalls die Produktion und Rezeption von Texten anleiten (cf. Aschenberg 2003, 7), unmittelbar deutlich. Bereits Koch (1997, 45) weist ja darauf hin, dass wir uns unter diskurstraditionellem Aspekt unter anderem mit Textsorten und Gattungen beschäftigen. Schrott (2011) führt nun weiter aus, dass Diskurstraditionen meist Teil eines größeren Ganzen sind und dann als für eine Textsorte oder Gattung konstitutive Komponenten fungieren (cf. Schrott 2011, 196ss.; Schrott 2015, 90). Dementsprechend versteht sie Textsorten oder Textgattungen als «historisch verfestigte Konfigurationen von Diskurstraditionen, die holistisch als Textmodell wahrgenommen werden» (Schrott 2015, 90). Wilhelm (2001, 468) macht die Verflechtung von Diskurstraditionen und Gattungen bzw. Textsorten (im Sinne Brinkers!) deutlich, wenn er erklärt, dass es sich dabei um «Diskurstraditionen eines mittleren Komplexitätsgrades handelt», und Kabatek (2011, 99) formuliert den Zusammenhang folgendermaßen: «Alle Gattungen bzw. Genres sind Diskurstraditionen, aber nicht alle Diskurstraditionen sind Gattungen». Wilhelms folgende Definition von Gattungen (verstanden als Diskurstraditionen eines mittleren Komplexitätsgrades) macht einmal mehr den Einfluss von Diskurstraditionen bzw. Gattungen auf die semantischen Merkmale des zugehörigen Textexemplars deutlich und zeigt in Bezug auf die charakteristischen Merkmale bzw. «Dimensionen» erneut starke Parallelen zu Brinkers Textsortendefinition:

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

«Dabei können die einzelnen Gattungen durchaus in sehr unterschiedlichen Dimensionen charakterisiert sein. Unter den Dimensionen, in denen Gattungen ‹definiert› sind, sind vor allem der textexterne, sowie die beiden textinternen Bereiche der Ausdrucks- und der Inhaltsseite zu nennen. Als Beispiele für die rekurrenten Muster in der ausdrucksseitigen Strukturierung sind etwa die Textgliederungsverfahren und die jeweilige Makrostruktur von Bedeutung, im inhaltsseitigen Bereich sind insbesondere die gattungstypischen Erzählmuster und Argumentationsformen von Interesse (cf. Wilhelm 1996: 25–28)» (Wilhelm 2001, 469).

Auch die Kriterien, die zur Charakterisierung bzw. Klassifizierung von Textsorten und Gattungen herangezogen werden – in der Textlinguistik sind dies im Wesentlichen textexterne Merkmale (situativ-kommunikative Aspekte) und textinterne Merkmale (cf. Gansel/Jürgens 2009, 66) – und die Wilhelm (2001) implizit zur Charakterisierung von Diskurstraditionen (als Komponenten von Gattungen) verwendet, illustrieren somit, wie sich Textlinguistik und Diskurstraditionenforschung aufeinander zu bewegen. Schrott (2015, 91) legt im Rahmen ihrer Etablierung von Kategorien diskurstraditionellen Wissens offen, dass aufgrund der Bezogenheit der Diskurstraditionen auf die unterschiedlichen Dimensionen von Textualität die Kriterien zur Beschreibung von Textsorten und Textgattungen eben auch auf Diskurstraditionen angewendet werden können. Sie führt weiter aus: «Texten aller Textsorten und Textgattungen ist zudem gemeinsam, dass sie über interne Strukturen und über externe Bezugsfelder charakterisierbar sind. [. . .] Zur textinternen Struktur zählen mediale Aspekte (Formen der phonischen und graphischen Realisierung), konzeptionelle Aspekte (z.B. Textumfang, Textgegenstand, thematische Disposition), sprachliche Verfahren der Gestaltung in Makro- und Mikrostruktur (z.B. auch Formeln wie ‹Es war einmal . . .›) und die im Text geleisteten Sprechakte. Die externen Bezugsfelder des Textes umfassen die Kommunikationssituation als ego-hic-nunc (insbesondere die Relation der Interaktanten), das Medium der Vermittlung, das Diskursuniversum des Textes, die Funktion des Textes in der sozialen Ordnung der realhistorischen Kontexte und das Verhältnis von Text und Wirklichkeit. Da Diskurstraditionen die Gestaltung von Texten anleiten, sind interne Strukturen und externe Bezugsfelder zugleich auch Parameter des diskurstraditionellen Wissens» (Schrott 2015, 92).

Diese Auflistung der Parameter des diskurstraditionellen Wissens ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit in zweierlei Hinsicht aufschlussreich: zum einen ermöglicht sie für die Korpusanalyse eine präzise Beschreibung der Diskurstraditionen, in denen die zu untersuchenden Texte stehen, sowie eine Analyse diskurstraditioneller Gründe für eine hohe oder geringe Komplexität auf semantischer Ebene (z.B. in Bezug auf Textgegenstand, thematische Disposition, sprachliche Gestaltung in Makro- und Mikrostruktur, zu erwartende Lesartenüberlagerung). Zum anderen nutzt Schrott (2015, 92) selbst diese Parameter des diskurstraditionellen Wissens als Kriterien bzw. Merkmale diskurstraditioneller Komplexität:

2.1 Diskurstraditionen und diskurstraditionelle Komplexität

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«Eine Diskurstradition muss natürlich nicht alle genannten Dimensionen der Textstrukturen und Bezugsfelder enthalten; so ist erwartbar, dass komplexere Diskurstraditionen qualitativ und quantitativ mehr Dimensionen abdecken als weniger komplexe Traditionen des expressiven Wissens. Je mehr Dimensionen von Textualität eine Diskurstradition erfasst, umso komplexer ist sie».

Auf dieses Kriterium diskurstraditioneller Komplexität wird in Abschnitt 2.1.2 zurückzukommen sein. Zuvor stellt sich aber noch die Frage nach dem Mehrwert des Konzeptes der Diskurstraditionen gegenüber den textlinguistischen Konzepten Textsorte und Textgattung, zumal soeben auf die enge Verzahnung der drei Begriffe und der zugehörigen Disziplinen hingewiesen wurde. Gemäß Aschenberg (2003) und Schrott (2015) liegt dieser Mehrwert zum einen in der sprachtheoretischen Fundierung des Konzepts der Diskurstraditionen in Coserius System der Sprachkompetenz (cf. Aschenberg 2003, 4), die die klare Definition dieses Wissenstyps als kulturell, historisch und sprachbezogen und die resultierende Abgrenzung von anderen Wissensbeständen, die in Texte eingehen, erlaubt (cf. Schrott 2015, 105). Diese klare Definition der Diskurstraditionen zeichnet letztere auch gegenüber den textlinguistischen Termini Textsorte, Textgattung und Texttyp aus, über deren Definition und Verwendung – wie soeben demonstriert wurde – keinerlei Einigkeit besteht. Des Weiteren sieht Schrott (2015, 79) gerade in der bereits angesprochenen Weite und Offenheit des Konzepts Diskurstradition einen entscheidenden Vorteil gegenüber der «festeren Begrifflichkeit von Textsorten und Textgattungen». Denn sowohl kulturelle Routinen wie Begrüßungen und Gesprächseröffnungen oder die Formulierung einer höflichen Bitte als auch definitorische Setzungen wie Textsorten und Textgattungen, weiterhin narrative Techniken und Interaktionsstile können so unter dem einigenden Band des kulturellen und historischen Wissens, das Aktanten darin anleitet, eine kommunikative Aufgabe angemessen zu erfüllen, zusammengefasst werden (cf. ib., 87s.). Schrott (2015, 105) gelangt deshalb zu der abschließenden Einschätzung, dass das offene Konzept der Diskurstraditionen den Vorteil bietet, «kulturelle Techniken der Textgestaltung filigraner zu beschreiben als dies in vielen Fällen durch Textsorten und Textgattungen möglich ist». 2.1.1.2 Der Entlastungsfaktor von Diskurstraditionen, Textsorten und Textgattungen Nachdem mehrfach darauf hingewiesen wurde, dass Diskurstraditionen für eine erhöhte Komplexität in Bezug auf semantische Merkmale verantwortlich sein können, muss an dieser Stelle ebenfalls klar herausgestellt werden, dass

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Diskurstraditionen ebenso wie Gattungen und Textsorten sowohl für Textproduzenten als auch für die Rezipienten einen wichtigen kognitiven Entlastungsfaktor darstellen. Dieser Entlastungsfaktor ergibt sich unmittelbar aus dem Wesen der Diskurstraditionen, die «in Texten gestaltend und sinnbildend wirksam» (Schrott 2015, 84) werden, ja letztlich «Muster für Sinngebungen» (Oesterreicher 1997, 25) darstellen. Oesterreicher (1997, 29) präzisiert diesen entlastenden Effekt, indem er darauf hinweist, dass durch Diskurstraditionen Strukturen vorgegeben, Verstehensebenen festgelegt und Interpretationsmöglichkeiten eingeschränkt werden. Raible (1980) beschreibt die kognitive Entlastung, die sich aus der Zugehörigkeit eines Textexemplars zu einer Gattung ergibt, folgendermaßen: «Die Zusatzinformation, die ein Werk als Exemplar einer Gattung gibt, lenkt die – immer noch sehr großen – Interpretationsmöglichkeiten und schränkt sie ein. Man lacht [. . .] über den Tod eines Unschuldigen in einer Burleske, man trauert darüber in der Tragödie; man lacht [. . .] über den geizigen Alten in der Aulularia oder in Molières Avare, man findet ihn tragisch in Eugénie Grandet» (Raible 1980, 334).

Auch Dammann (2000, 549) bestätigt, dass aus Sicht des Lesers Gattungen eine Entlastung beim Umgang mit dem Einzelwerk bewirken: «Die Subsumption eines Werks unter ein bestimmtes Genre durch den Leser wird dessen Verständnis dieses Werks allererst ermöglichen [. . .] bzw. lenken [. . .]». Und Brinkers Definition von Textsorten als «konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche Handlungen» beinhaltet ebenfalls die Einschätzung, dass diese konventionellen Muster den kommunikativen Umgang erleichtern, «indem sie den Kommunizierenden mehr oder weniger feste Orientierungen für die Produktion und Rezeption von Texten geben» (Brinker 1985/2010, 125). Diese diskurstraditionelle Beeinflussung semantischer Merkmale – sei sie komplexitätsreduzierender oder komplexitätssteigernder Natur – bedeutet für die im Rahmen der Untersuchung diskurstraditioneller und semantischer Komplexität unternommene Korpusanalyse, dass für jeden Text zunächst ein diskurstraditionelles Profil zu erstellen ist. Auf dessen Grundlage kann dann ermittelt werden, welche Diskurstraditionen beispielsweise Verstehensebenen festlegen, Lesarten einschränken und zu einer semantischen «Vereindeutigung» führen. Ebenso gut könnten andere Diskurstraditionen für eine spezifische Metaphorik verantwortlich zeichnen oder besondere Strategien in Bezug auf Kontextualisierung, Kohäsion und Kohärenz erfordern, um zum Beispiel einen Überraschungseffekt zu erzeugen. Der zuerst erwähnte Fall würde die Komplexität auf textsemantischer Ebene gering halten, während die zuletzt genannten Phänomene allesamt Indizien für eine erhöhte Komplexität auf wort- und textsemantischer Ebene wären, die aber letztlich diskurstraditionell bedingt ist.

2.1 Diskurstraditionen und diskurstraditionelle Komplexität

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2.1.2 Diskurstraditionelle Komplexität Aus den vorausgegangenen Überlegungen folgt unmittelbar, dass Diskurstraditionen auf semantische Merkmale und deren Komplexität Einfluss ausüben können. Im Folgenden werden also (gerade im qualitativen Bereich) Komplexitätsmerkmale vorgestellt bzw. entwickelt, die diskurstraditionell bedingt sind, sich aber letztlich auf die textsemantische Komplexität auswirken. Daneben können allerdings auch separate Kriterien für genuin diskurstraditionelle Komplexität angegeben werden. Dabei handelt es sich um quantitative und qualitative Kriterien und solche, die relativ zum Rezipienten der Texte sind. Eine große Fundgrube für Kriterien diskurstraditioneller Komplexität bildet dabei die von Schrott (2015) vorgenommene Kategorisierung diskurstraditionellen Wissens. In deren Rahmen ordnet sie den drei grundlegenden Eigenschaften von Diskurstraditionen – ihrer Kulturalität, ihrer Textbezogenheit bzw. Textualität und ihrer pragmalinguistischen Relation zum Grice’schen Kooperationsprinzip – einige Charakteristika zu, die zunächst eine vergleichend-differenzierende Beschreibung von Diskurstraditionen ermöglichen (cf. Schrott 2015, 94). Schrott betont aber, dass darüber hinaus die Möglichkeit besteht, über die drei zentralen Eigenschaften der Diskurstraditionen die Metakategorie der Komplexität zu legen und die jeweiligen differenzierenden Charakteristika (z.B. definitorische Setzung vs. kommunikative Gewohnheit) als Kriterien diskurstraditioneller Komplexität zu deuten (cf. ib., 105). Quantitative Kriterien Nach Wilhelm (2001) lassen sich bei den Diskurstraditionen im Wesentlichen drei Komplexitätsgrade unterscheiden: die Diskursuniversen, die Text- oder Diskursgattungen und die Formeln. Die Diskursuniversen als «Klassen von Text- oder Diskursgattungen» stellen die umfangreichsten Regelkomplexe dar und lassen sich (zumindest) in die Bereiche der Literatur, des Alltags, der Wissenschaft und der Religion unterscheiden. Diskurstraditionen eines mittleren Komplexitätsgrades sind die Gattungen, die einem bestimmten Diskursuniversum zugeordnet werden können, dem sie gemeinsam mit anderen Gattungen angehören. Den niedrigsten Komplexitätsgrad weisen die textgliedernden Formeln auf wie z.B. der traditionelle Märchenanfang «Es war einmal . . . ». Das jeweils verwendete Formelinventar stellt wiederum eines der wesentlichen Bestimmungsmerkmale einer Gattung dar (cf. Wilhelm 2001, 468). Diese drei Komplexitätsgrade nach Wilhelm (2001) orientieren sich also ganz klar am Umfang der jeweiligen Diskurstradition. Schrott (2015, 90) differenziert dieses erste quantitative Kriterium weiter aus, indem sie zusätzlich unterscheidet, ob eine Diskurstradition eine «isoliert

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

für sich stehende Tradition» oder aber «Teil eines größeren Ganzen» ist. Eine autonom für sich stehende Diskurstradition ist etwa eine Grußformel wie bonjour, «die ihre Funktion ohne weitere Stützung erfüllen kann», während Diskurstraditionen, die Teil eines größeren Ganzen sind, «in der Merkmalskonfiguration einer Gattung auftreten und damit als Komponente einer umfassenderen Textstruktur fungieren». Ein Beispiel für den letztgenannten Fall sind die dem Begriffsfeld des mittelalterlichen Lehnswesens entnommenen Liebes-Metaphern, die an die literarische Gattung der Trobador- und Minnedichtung gebunden sind (cf. Koch 1997, 47s.). Gemäß Schrott (2015, 106) besitzt eine solche Diskurstradition, «die sich als Komponente einer Gattung in eine kulturelle Konfiguration einfügt, aufgrund dieser Teil-Ganzes-Beziehung größere Komplexität als eine für sich stehende Diskurstradition». Bei Zugrundelegung der von Wilhelm (2001) und Schrott (2015) formulierten Kriterien diskurstraditioneller Komplexität ist somit die Gattung Märchen als «Kombination von Diskurstraditionen» (Schrott 2011, 197) aufgrund ihres Umfangs deutlich komplexer als die Formel «Es war einmal . . . ». Diese traditionelle Eröffnungsformel als Teil eines größeren Ganzen, nämlich konstitutives Merkmal der Gattung Märchen, erweist sich aber wiederum als komplexer als eine Grußformel wie bonjour, die autonom für sich steht und «ohne weitere Stützung» (Schrott 2015, 90) funktioniert. Ein drittes und letztes quantitatives Kriterium diskurstraditioneller Komplexität ergibt sich aus der Textbezogenheit der Diskurstraditionen. In Abschnitt 2.1.1.1 wurde bereits darauf hingewiesen, dass interne Strukturen (mediale und konzeptionelle Aspekte, sprachliche Verfahren der Gestaltung in Makro- und Mikrostruktur etc.) und externe Bezugsfelder (Kommunikationssituation, Diskursuniversum des Textes, Textfunktion etc.), die zur Charakterisierung von Texten und Textsorten herangezogen werden, zugleich auch Parameter des diskurstraditionellen Wissens sind (cf. Schrott 2015, 92). Schrott (2015) leitet nun aus der Quantität des Zugriffs auf diese Parameter der Textualität ein Komplexitätskriterium ab und erklärt: «Je mehr interne Strukturen und externe Bezugsfelder eine Diskurstradition formt und beeinflusst, umso komplexer ist sie» (ib., 106). Hinsichtlich dieses Kriteriums erweist sich z.B. die Diskurstradition der direktiven Frage (Könnten Sie mir bitte das Brot reichen?) als vergleichsweise komplex: sie betrifft nämlich in der textinternen Struktur den Sprechakt (ein als höfliche Bitte fungierender Frageakt wird vollzogen) sowie die sprachlichen Verfahren zu dessen Realisierung (interrogative Strukturen) und bei den externen Bezugsfeldern berührt sie die Kommunikationssituation (u.a. Bindung an eine dialogische Situation) und die Äußerungsfunktion in der sozialen Ordnung der realhistorischen Kontexte (die direktive Frage fungiert als ein Verfahren verbaler Höflichkeit) – also immerhin vier der angeführten Textualitätsdimensionen (cf. ib., 104).

2.1 Diskurstraditionen und diskurstraditionelle Komplexität

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Qualitative Kriterien Ein erstes qualitatives Kriterium diskurstraditioneller oder vielmehr diskurstraditionell bedingter semantischer Komplexität betrifft die unterschiedliche Anzahl der Bedeutungsebenen, die Texten aus den von Wilhelm (2001) benannten Diskursuniversen gemeinhin zugesprochen werden. Den geringsten Komplexitätsgrad weisen in diesem Sinne Gebrauchstexte aus dem Redeuniversum des Alltags auf, die in der Regel ganz bestimmte Aufgaben in ganz bestimmten Kommunikationssituationen zu erfüllen haben und deshalb – in den Kategorien Karl Bühlers formuliert – in darstellungsfunktionaler, symptomfunktionaler und in appellfunktionaler Hinsicht weitgehend eindeutig gerichtet sind (cf. Gardt 2002, 117). Somit ist bei Gebrauchstexten die Möglichkeit semantischer Eindeutigkeit gegeben, kann «richtiges» und «falsches» Textverständnis klar unterschieden werden (cf. ib., 116s.) und liegt also eine einzige Bedeutungsebene vor. Deutlich komplexer stellen sich die Texte des literarischen Diskursuniversums dar, für die die meisten literaturwissenschaftlichen Ansätze zwei semiotische Ebenen annehmen (cf. ib., 117): «Den in dem Text vermittelten Inhalten der ersten Ebene wird eine zusätzliche Bedeutung auf einer zweiten Ebene zugesprochen. Diese Bedeutung der zweiten semiotischen Ebene gilt als die eigentliche Bedeutung des Textes, sie zu erschließen ist das Ziel der Interpretation» (ib., 117).

Gardt (2002, 117) illustriert diese literarische Sonderrolle am Beispiel von Kafkas Roman Der Prozeß. Auf der ersten Ebene der Wort- und Satzbedeutungen würden die Einzelheiten der grundlosen Verhaftung des Josef K., die Vorbereitungen auf den Prozess und die Konfrontation des Protagonisten mit einem anonymen Verwaltungs- und Justizapparat geschildert. Mittels dieser Schilderungen würden die Inhalte der zweiten Bedeutungsebene angezeigt: das existentielle Geworfensein des Menschen oder unter soziologischer Perspektive eine Kritik an der Ausgeliefertheit des Einzelnen einem anonym-autoritären Staat gegenüber oder unter biographischer Perspektive die Verarbeitung eines problematischen Verhältnisses zwischen Kafka und seinem von ihm als übermächtig empfundenen Vater etc. Zur Untermauerung der Annahme von zwei Bedeutungsebenen literarischer Texte führt Gardt (2002, 117) an, dass ohne die Existenz einer zweiten semiotischen Ebene eine literaturwissenschaftliche Interpretation unnötig sei, Bedeutetes und «eigentlich Gemeintes» identisch wären. Diskurstraditionell am komplexesten erweisen sich gemäß dem Kriterium der Anzahl der Bedeutungsebenen die Texte des religiösen Diskursuniversums, also z.B. biblische Texte, denen in der Tradition des theologischen Umgangs mit Texten gleich mehrere Bedeutungsebenen zuerkannt werden (cf. ib., 115). Die Unterscheidung dreier Ebenen der übertragenen Bedeutung – sensus allegoricus,

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

sensus moralis und sensus anagogicus –, die über die wörtliche Bedeutung (sensus litteralis) hinausgreifen, ist zwar nach Gardt (2002) innerhalb der Kirchen nicht unumstritten. Dennoch weisen die zahlreichen Verfahren zur Erschließung der Bedeutung der Bibeltexte (historisch-kritische Exegese, sozialgeschichtliche Exegese, tiefenpsychologische Exegese, symbolorientierte Exegese etc.) (cf. ib., 115s.) und die entsprechend zahlreichen, sich aber keinesfalls gegenseitig ausschließenden Auslegungen der Bibeltexte zweifelsohne auf die Existenz mehrerer Bedeutungsebenen hin. Sicherlich stellt die strikte Korrelation einer bestimmten Anzahl von Bedeutungsebenen mit den Texten eines bestimmten Diskursuniversums eine Vereinfachung dar und kann in der Praxis durch Gegenbeispiele in ihrer Gültigkeit eingeschränkt sein. Natürlich finden sich z.B. journalistische Texte aus dem Redeuniversum des Alltags, die semantisch nicht eindeutig sind, und literarische Texte, die wie Bibeltexte «funktionieren» und ebenfalls einen allegorischen und einen moralischen Sinn enthalten oder – wie Kafkas Prozeß – verschiedene Interpretationen zulassen und somit auch über mehrere Ebenen der übertragenen Bedeutung verfügen, also polyvalent sind. Andererseits wird sich jeder Text, der Exemplar einer Textsorte wie Kochrezept, Anzeige, Wetterbericht oder Garantieschein ist, verlässlich durch semantische Eindeutigkeit auszeichnen. Das Vorhandensein von mehr als einer Bedeutungsebene ist in jedem Fall ein Indiz für einen komplexeren Text, wobei hier jedoch der Fall vorliegt, dass diese Art der Komplexität diskurstraditionell bedingt ist, sich aber letztlich semantisch auswirkt. Ein zweites und nicht weniger fundamentales qualitatives Kriterium diskurstraditioneller Komplexität orientiert sich am Umgang einer Diskurstradition bzw. Textgattung mit den Maximen des Grice’schen Kooperationsprinzips. Während in Gebrauchstexten oder wissenschaftlichen Texten in der Regel die Maxime der Klarheit gilt, können gerade literarische Texte diese Quintessenz der Grice’schen Modalitätsmaxime außer Kraft setzen und bewusst eine mehrdeutige oder dunkle Rede gestalten (cf. Knape 2008, 899), was einer bestimmten Funktion dient und aufgrund des entstehenden Deutungsbedarfs zu einer erhöhten Komplexität führt. Auf diesen Aspekt diskurstraditioneller Komplexität, der das Grice’sche Kooperationsprinzip und seine Maximen als orientierende Größen zugrunde legt, wird in Kapitel 2.4 ausführlich eingegangen werden. Ein weiteres qualitatives Kriterium diskurstraditioneller Komplexität liefert die Kongruenz oder Inkongruenz von Textfunktion – Brinkers Basiskriterium für die Differenzierung von Textsorten – und «wahrer Absicht» des Emittenten. Klaus Brinker (1985/2010) hat das Sprechhandlungskonzept auf die Ebene des Textes übertragen und bezeichnet mit dem Konzept der Textfunktion die dominierende Kommunikationsintention (Handlungsabsicht) des Emittenten bzw. die «Anweisung», wie ein Rezipient den Text insgesamt auffassen soll (cf. Brinker

2.1 Diskurstraditionen und diskurstraditionelle Komplexität

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1985/2010, 119). Er unterscheidet fünf textuelle Grundfunktionen: Informationsfunktion, Appellfunktion, Obligationsfunktion, Kontaktfunktion und Deklarationsfunktion, die jeweils für bestimmte Textsorten charakteristisch sind. So ist die Informationsfunktion beispielsweise kennzeichnend für die Textsorten «Nachricht» und «Bericht», die Appellfunktion für Werbeanzeigen und Kommentare und die Obligationsfunktion für Verträge oder Garantiescheine (cf. ib., 98–109). Von der Textfunktion, also der im Text mit bestimmten, konventionell geltenden Mitteln (z.B. explizit performativen Formeln) ausgedrückten Kommunikationsabsicht, unterscheidet Brinker jedoch die «wahre Absicht» des Emittenten. Letztere kann zwar mitunter der Textfunktion entsprechen, muss aber nicht mit dieser übereinstimmen. So ist etwa für eine Zeitungsnachricht die informative Textfunktion charakteristisch, insgeheim kann aber der Journalist zusätzlich eine appellative Absicht verfolgen (cf. ib., 88). Eine solche Inkongruenz zwischen Textfunktion und «wahrer Absicht» des Emittenten und damit auch Abweichung vom diskurstraditionellen Wissen des Rezipienten, der unter einer Nachricht einen Informationstext und keinen Appelltext versteht, wirkt sich natürlich – jetzt aber wieder auf der Ebene der Semantik – komplexitätssteigernd aus. Denn um eine solche «geheime Intention» herauszufinden, muss der Rezipient gezielt nach (nur eventuell vorhandenen) Indizien für diese Intention im Text selbst suchen, zusätzliches Wissen zum Emittenten oder dem jeweiligen Sachverhalt hinzuziehen oder über den Vergleich mit verwandten Texten Anhaltspunkte für die wahre Absicht des Textproduzenten ermitteln (cf. ib., 89). Dieses von Brinker (1985/2010) angeführte Beispiel eines konkreten Exemplars der Textsorte Zeitungsnachricht, in der eine zusätzliche appellative Absicht, die eigentlich kennzeichnend für Kommentare oder Werbetexte ist, neben die textsortentypische Informationsfunktion tritt, deutet bereits ein letztes, aber zentrales qualitatives Merkmal diskurstraditionell bedingter Komplexität an: den Verstoß gegen bzw. die Abweichung von Diskurstraditionen. Sobald sich in bestimmten Bereichen des menschlichen Sprechens und Schreibens Normen, Konventionen bzw. Muster ausgebildet haben, besteht natürlich immer die Möglichkeit der bewussten Abweichung davon und die registrierten Abweichungen weisen ihrerseits überhaupt erst auf das Vorliegen von Normen und Konventionen hin: «Die Normen der Textbildung schließen Abweichungen nicht aus. Vielmehr zeigt sich gerade an den Abweichungen die Norm, denn Abweichungen sind immer Abweichungen von etwas» (Coseriu 1988/2007, 256).

Coseriu (1988/2007, 256) illustriert dies an den bestehenden Verfahren zur Diskurseröffnung bzw. Diskursfortsetzung:

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

«Beginnt nun ein konkreter Text mit einem Verfahren der Diskursfortsetzung, so wird der Sprecher dies als Abweichung erkennen und möglicherweise den ideellen Textanfang für sich rekonstruieren. In der Abweichung zeigt sich so die Norm des Textanfangs».

Solche Abweichungen von Diskurstraditionen und die damit verbundene Komplexität werden innerhalb der Textlinguistik und Literaturwissenschaft insbesondere in Bezug auf die «Diskurstraditionen eines mittleren Komplexitätsgrades» (Wilhelm 2001, 468), also in Bezug auf Gattungen und Textsorten beschrieben und dabei vor allem die Mischung zweier oder mehrerer Textsorten sowie der Textsorten- bzw. Gattungsbruch erörtert. Im ersten Fall mischen sich prototypische Eigenschaften bzw. Muster mehrerer Textsorten in einem Textexemplar, wobei die Identität der eigentlichen Textsorte dennoch klar erkennbar bleibt (cf. Fix 2008, 1312; Gansel/Jürgens 2009, 110). Gansel/Jürgens (2009, 110s.) illustrieren diesen Fall am Beispiel der folgenden Werbeanzeige aus dem STERN (37/ 1993, 93), in die Formeln, modifizierte Formeln und thematische Elemente (in metaphorischer Verwendung) der Gattung Märchen sowie Zitate aus Schneewittchen eingewoben wurden: «Wer ist die Schönste im ganzen Land. Es war einmal eine Zeit, da wurden kleinere Badewannen von den Designern recht stiefmütterlich behandelt. Heute spiegelt sich ein anderer Trend wider: Die Girostar von Kaldewei hat normale Maße und ist trotzdem großartig im Design. [. . .] Ihre feine Oberfläche bleibt in jeder Farbe, ob Weiß wie Schnee oder Schwarz wie Ebenholz, makellos. Denn diese Badewanne ist aus starkem Stahl-Email. Und das ist der Grund für ihre imponierende Mitgift: 30 Jahre Garantie. Wer meint, hier wird ein Märchen erzählt, kann die Wahrheit und nichts als die Wahrheit leicht ergründen. Im Sanitäts-Fachhandel erfahren Sie alle Details über die schöne Girostar [. . .]. Und wenn sie nicht gerade verkauft ist, dann bekommen Sie sie sogar noch heute» (meine Hervorhebung).

Der Sinn und Zweck der Textsorten- bzw. Textmustermischung besteht in diesem Fall darin, «den Werbetext durch einfließende Erzählstrukturen zu kaschieren» (Gansel/Jürgens 2009, 111), sich von der Flut existierender Werbetexte abzusetzen, indem man neue, originelle Lösungen sucht und dadurch Interesse, Spannung, Überraschung sowie andere emotionale und ästhetische Qualitäten erzeugt (cf. Rößler 1999, 173s.) und damit letztlich die Wirksamkeit des Werbetextes erhöht (cf. Gansel/Jürgens 2009, 112). Gansel/Jürgens (2009, 112) weisen darauf hin, dass die Verarbeitung und Deutung solcher Textsortenmischungen vom Leser verlangt, «Aspekte beider Textsortenmuster sowie darüberhinausgehende Wissensbestände miteinander [zu] integrieren», und liefern damit eine Begründung für die erhöhte Komplexität solcher Mischungen bzw. Überlagerungen von Diskurstraditionen. Eine noch deutlich höhere diskurstraditionell bedingte Komplexität wird erzeugt durch einen Textsorten- oder Gattungsbruch. In diesem Fall hat das

2.1 Diskurstraditionen und diskurstraditionelle Komplexität

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entsprechende Textexemplar «Züge eines Textmusters und darüber hinaus Eigenschaften, die sich keinem Muster zuordnen lassen» (Fix 2008, 1312). Da Diskurstraditionen und ihre Bündelung zu Textsorten oder Gattungen «Muster für Sinngebungen» (Oesterreicher 1997, 25) sind und somit Verstehensebenen festlegen und Interpretationsmöglichkeiten einschränken (cf. ib., 29), wird der resultierende kognitiv entlastende Effekt (cf. Abschnitt 2.1.1.2) von solchen Texten, die einen Gattungsbruch inszenieren, bewusst ausgehebelt, was unweigerlich zu einer erhöhten semantischen Komplexität führt. Generell kann man Textsortenbruch und Textsortenmischung – sofern sie nicht irrtümlich erfolgen – zu den «intendierten Abweichungen» zählen, die sich dadurch auszeichnen, dass eine «kommunikative, funktionelle, semantische oder sonstwie geartete Zusatz-Bedeutung» (Dittgen 1989, 18) vermittelt wird. Fricke (1981, 88), der dem Verweis auf die Autorintention, über die man keine genauen Aussagen machen könne, kritisch gegenübersteht, prägt stattdessen den Terminus der «poetischen Abweichung». Diese liegt vor, wenn eine Abweichung von Diskurstraditionen oder sprachlichen Normen eine «intersubjektiv ermittelbare» (ib., 90) Funktion aufweist. Diese Funktion kann dabei sowohl im textinternen als auch im textexternen Bereich liegen. Eine sprachliche Normabweichung hat gemäß Fricke (1981, 100) eine interne Funktion, wenn im betreffenden Text durch sie eine Beziehung der Ähnlichkeit, der Entgegensetzung oder der geordneten Reihung hergestellt wird. Eine externe Funktion liege hingegen vor, wenn durch die Normabweichung der Text zu einem außertextlichen Sachverhalt in Beziehung gesetzt werde. Die durch Abweichungen von sprachlichen bzw. sprachbezogenen Normen oder Traditionen entstehenden internen und externen Funktionen nach Fricke (1981) oder Zusatzbedeutungen nach Dittgen (1989) und der damit verbundene erhöhte Verarbeitungs- bzw. Deutungsaufwand auf Rezipientenseite belegen eindeutig die erhöhte diskurstraditionelle bzw. semantische Komplexität dieser Phänomene. Fricke (1981, 107) empfiehlt zur Ermittlung der Funktionen das Verfahren der «Kommutation und Permutation», das auch unter dem Namen «Weglaß-, Austausch- und Verschiebe-Probe» bekannt geworden sei. Schon die Beschreibung dieses Verfahrens macht deutlich, wie groß die Anforderungen auf der Rezipientenseite sein können, wenn es um die Deutung von registrierten Abweichungen von Diskurstraditionen oder sprachlichen Normen geht: «Die operative Grundfigur dieses Verfahrens ist der Vergleich: um die Funktion einer bestimmten poetischen Abweichung herauszufinden, vergleicht man die im betreffenden Text gewählte Sprachverwendung mit denkbaren anderen. Auf diese Weise erprobt man, wie es sich auf die Beziehungen innerhalb dieses Textes und auf die zu anderen Sachverhalten auswirkt, wenn man die fragliche Sprachverletzung weglässt, anders platziert oder durch andere, normgerechte bzw. normabweichende Sprachelemente ersetzt.

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Dieser methodische Weg ist nicht auf sprachliche Details beschränkt, sondern bei sämtlichen poetischen Abweichungen möglich» (ib., 107).

Dieser mit Abweichungen von Normen, Konventionen, Traditionen oder Mustern verbundene Komplexitätszuwachs, der sich aus der Notwendigkeit der (anspruchsvollen!) Inferenz von resultierenden impliziten Funktionen oder Bedeutungen ergibt, wird im Verlauf dieser Arbeit mehrfach begegnen: im Rahmen der Erörterung des Gehalts von elokutionellem und einzelsprachlichem Wissen (cf. Kapitel 2.2.3.3), in Bezug auf die frame-gestützte Modellierung des Textverstehens (cf. Kapitel 2.3.2.4) und insbesondere im Hinblick auf die Grice’sche Theorie der Maximen und der (scheinbaren) Verstöße gegen diese allgemein-universellen Regeln und Prinzipien des Sprechens (cf. Kapitel 2.4). In Bezug auf die Diskurstraditionen ist an dieser Stelle aber zunächst festzustellen, dass Gattungsmischungen und insbesondere Gattungsbrüche qualitative Kriterien diskurstraditioneller Komplexität darstellen, was durch die resultierenden Zusatzbedeutungen und den entsprechend höheren Verarbeitungsaufwand auf Rezipientenseite zu erklären ist, der im Falle des Gattungsbruches eben auch keinerlei diskurstraditionelle Entlastung erfährt. Einschränkend ist allerdings anzumerken, dass sich natürlich auch Muster der Abweichung etablieren können und damit Inferenzen nicht mehr so ausführlich gezogen werden müssen, wie Fricke (1981, 107) dies beschreibt. Eine Verschleierung der Appellfunktion in Werbetexten, in der Gattungslogik des Fantastischen liegende Verstöße gegen die Grice’sche Modalitätsmaxime oder die mitunter fast restlose Aufgabe der Handlung in Exemplaren des Nouveau Roman sind erwartbare Verstöße gegen Gattungsmerkmale, Grice’sche Maximen oder narrative Schemata, die vom kundigen Hörer oder Leser als solche identifiziert und mitunter ohne größeren kognitiven Aufwand verarbeitet werden. Deshalb muss bei der Bewertung der Komplexität von Abweichungen grundsätzlich ihre Konventionalität bzw. Musterhaftigkeit berücksichtigt werden. Kriterien relativ zum Rezipienten In Abschnitt 2.1.1 wurde bereits darauf hingewiesen, dass Diskurstraditionen im Gegensatz zu Einzelsprachen von «kleinräumigeren» und «lockerer verbundenen» kulturellen Gruppierungen getragen werden, die Mikrostrukturen bilden, welche die Sprachgemeinschaften «wie ein feines Netz durchziehen» (Schrott 2014, 30). Die Größe der kulturellen Konfiguration bzw. die Anzahl der Sprecher, die eine bestimmte Diskurstradition beherrschen, kann somit als ein Kriterium diskurstraditioneller Komplexität dienen, welches mit dem «Grad der kulturellen Spezifizierung» korreliert, der die entsprechende Tradition

2.1 Diskurstraditionen und diskurstraditionelle Komplexität

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auszeichnet (cf. Schrott 2015, 90). Schrott (2015, 90) erklärt, dass Diskurstraditionen, die in einem kleinen kulturellen Kreis verankert sind und nur von wenigen Sprechern ausgeübt werden, zumeist eine stark kulturspezifische Prägung haben. Somit ist es plausibel, eine Diskurstradition als umso komplexer zu betrachten, je spezifischer sie ist und je kleiner die kulturelle Gruppierung ist, die sie beherrscht und ausübt (cf. ib., 105). Ein weiteres Kriterium diskurstraditioneller Komplexität, die relativ zum Rezipienten entsteht, ist das von Schrott (2015, 89) angeführte Charakteristikum der definitorischen Setzung: «So können Diskurstraditionen ein ohne explizite Festlegungen entstandenes Alltagskonzept darstellen ober aber als Tradition auf eine definitorische Norm zurückgehen. Beispiele für ein Alltagskonzept sind kommunikative Routinen und Interaktionsstile wie die ‹Berliner Schnauze› [. . .]. Dagegen stellen literarische Textgattungen, aber auch journalistische Textsorten wie etwa Leitartikel oder Reportage eine definitorische Setzung dar und werden als Normen tradiert».

Während die ohne definitorische Setzung entstandenen kommunikativen Routinen meist implizit vermittelt werden und die sie formende Traditionalität den Sprechern kaum bewusst ist, handelt es sich bei definitorisch gesetzten Diskurstraditionen in der Regel um explizite Anleitungen, die gelehrt und gelernt werden und den Sprechern somit als normhafte Tradition gegenwärtig sind (cf. ib., 89s.). Schrott (2015, 90) erklärt, «dass definitorisch gesetzte Diskurstraditionen einen engeren Gebrauchsradius haben als kommunikative Gewohnheiten, die als Teil der kommunikativen Kompetenz mit dem Sprechen erlernt werden». Den engen Gebrauchsradius teilen die definitorischen Setzungen somit mit den Diskurstraditionen, die eine starke kulturspezifische Prägung haben. Folglich ist es plausibel, definitorisch gesetzte Diskurstraditionen als komplexer zu betrachten als solche, die sich ohne explizite Definition als Gewohnheiten im sprachlichen Alltag entwickelt haben (cf. ib., 105). Und weiterhin ergibt sich diskurstraditionelle Komplexität relativ zum Rezipienten aus der zentralen Eigenschaft der Historizität der Diskurstraditionen, die Regelkomplexe mit geschichtlichem Charakter und somit historisch-wandelbare Phänomene sind (cf. Koch 1997, 59). Koch (1997, 59) weist darauf hin, dass Gattungsbenennungen in der Regel eine relativ hohe Stabilität aufweisen, während die sich dahinter verbergende Gattungsrealität instabil und in der Zeit veränderlich ist. Dies illustriert er in Anlehnung an Strube (1989, 43) mit Hilfe des folgenden Schemas, «wobei die Großbuchstuben für Gattungsmerkmale und die Folgen von Großbuchstaben für Ausprägungen und Untertypen der betreffenden Gattung innerhalb der Zeit (t) stehen» (Koch 1997, 60):

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

A

B

C

D

B

C

D

E

C

D

E

D

F

E

F

G

E

F

G

H

…………………....... t Schema 1: Änderung der Gattungsrealität in der Zeit (nach Koch 1997, 60).

Am Ende einer Filiation kann also eine völlig andere diskurstraditionelle Realität stehen (z.B. E F G H) als am Anfang (z.B. A B C D), «obwohl die historische Kontinuität über den Zeitraum t hinweg stets wirksam war» (ib., 60), und dieser zeitliche Wandel der Diskurstraditionen kann sich relativ zum Rezipienten ebenfalls komplexitätssteigernd auswirken. Wenn ein heutiger Leser nämlich ein Textexemplar aus dem 18. Jahrhundert zur Hand nimmt, das Vertreter einer heute noch existierenden Gattung (z.B. Roman, Novelle) ist, dann kann sich die historische Wandlung der Gattungsrealität für den Rezipienten, der eventuell nur mit den zeitgenössischen Normen der Gattung vertraut ist, komplexitätssteigernd auswirken. Der wesentliche Unterschied zwischen den hier aufgeführten Kriterien und den zuvor erläuterten quantitativen und qualitativen Kriterien diskurstraditioneller Komplexität liegt in ihrer Bezogenheit auf den Rezipienten. Natürlich verändert sich ein Roman des 18. Jahrhunderts in seiner diskurstraditionellen Komplexität nicht, wenn ein Leser des 21. Jahrhunderts ihn zur Hand nimmt. Für den Rezipienten jedoch erzeugt eben der historisch bedingte Wandel der entsprechenden Diskurstradition Komplexität, insofern er hohe Anforderungen an sein diskurstraditionelles Wissen stellt. Das Gleiche gilt für definitorische Setzungen, die quantitativ und qualitativ vielleicht nicht weniger komplex sind als eine kommunikative Routine oder ein Interaktionsstil. Aber die definitorische Setzung muss der Sprecher bewusst lernen und sie ist ihm als Norm gegenwärtig, während er die kommunikative Routine implizit mit dem Sprechen erwirbt und automatisch anwendet (cf. Schrott 2015, 90). Aus diesem Unterschied ergibt sich in der Wahrnehmung des Sprechers die Komplexität der definitorischen Setzung. Und ähnlich verhält es sich auch mit dem Grad der kulturellen Spezifizierung einer Diskurstradition und ihrer damit korrelierenden Verbreitung. Die Gattungen Tragödie und surrealistischer Roman mögen in Bezug auf die Quantität und Qualität der Merkmale, die sie auszeichnen, ähnlich komplex sein, doch werden ungleich mehr Sprecher über explizierbares Wissen zur Tragödie – trauriges Ende, hoher Stil, der

2.1 Diskurstraditionen und diskurstraditionelle Komplexität

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Oberschicht angehörende Protagonisten etc. (cf. Zimmermann 2009, 722) – verfügen als zum surrealistischen Roman. Bei letzterem kommt noch erschwerend hinzu, dass sein Sinn ohne entsprechendes diskurstraditionelles Wissen – écriture automatique, Rolle des Traumes als Königsweg zum Unbewussten (cf. Teschke 1998, 32) – kaum adäquat zu erschließen ist. Die Notwendigkeit der Verfügbarkeit über diskurstraditionelles Wissen für das Verständnis und die Deutung eines bestimmten Textes und die Wahrscheinlichkeit, dass ein durchschnittlich gebildeter zeitgenössischer Rezipient über dieses Wissen verfügt, müssen also – bei aller Schwierigkeit der Einschätzung – eine Rolle bei der Bemessung der diskurstraditionellen Komplexität des betreffenden Textes spielen. Und dazu können eben die Kriterien «definitorische Setzung vs. kommunikative Routine», «Grad der kulturellen Spezifizierung » und «Verbreitung einer Diskurstradition» sowie «historische Distanz» herangezogen werden. Im Kontext dieser relativ zum Rezipienten feststellbaren diskurstraditionellen Komplexität soll anhand eines Beispiels darauf hingewiesen werden, wie einerseits der mit Diskurstraditionen verbundene Entlastungsfaktor und andererseits die entsprechenden Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen der Rezipienten auf die globale Komplexität eines Textes einwirken. Wenn ein deutscher oder französischer Leser z.B. mit einer Fabel konfrontiert wird, so muss er über entsprechendes diskurstraditionelles Wissen verfügen, um die seinem Alltagswissen widersprechende Tatsache einordnen zu können, dass hier «nichtmenschliche Akteure (Pflanzen, unbelebte Gegenstände, meist aber Tiere) so handeln, als verfügten sie über menschliche Denk- und Verhaltensmuster» (Schweikle/Hoheisel 2007, 226). Auch muss er wissen, dass die Fabel zum Bereich der Lehrdichtung gehört, in ihr ein Einzelfall als anschauliches Beispiel für eine daraus ableitbare Regel der Moral dargestellt wird (cf. ib., 226) und die erzählte Geschichte als ganze metaphorisch zu verstehen ist und in eine «eigentliche» Bedeutung übertragen werden muss (cf. Zymner 2009, 235). Die Wahrscheinlichkeit, dass er über dieses Wissen verfügt, ist aber sehr hoch, weil ein Leser, der eine deutsche oder französische Schule besucht hat, mit Sicherheit mit den Fabeln von Äsop oder La Fontaine in Berührung gekommen ist. Da diskurstraditionelles Wissen für die Interpretation einer Fabel unverzichtbar und von nicht unerheblichem Umfang ist, dieses Wissen aber (in Deutschland und Frankreich) als weit verbreitet gelten kann, kommt dem Komplexitätsmerkmal «Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen des Rezipienten» also ein mittlerer Wert zu. Demgegenüber erhält aber das Komplexitätsmerkmal «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» (cf. Abschnitt 2.1.3) einen eher geringeren Wert, da aufgrund der hohen Normierung der Fabel a priori festgelegt ist, dass der Rezipient die dargestellte Begebenheit metaphorisch zu verstehen und ihre didaktische Funktion zu ermitteln hat. Eventuell ist die der Handlung zu entnehmende Lehre der Erzählung sogar

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

angefügt oder sie wird einer Figur in den Mund gelegt – dann ist der Interpretationsaufwand besonders gering – oder aber der Rezipient muss sie selbst suchen und aus dem exemplarischen Einzelfall eine allgemeine moralische oder praktische Lehre ableiten, was dann den Komplexitätswert für das Merkmal «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» etwas steigern würde. Somit erweist sich also eine Lesartenüberlagerung (z.B. wörtliche + metaphorische + didaktische Lesart), die natürlich auch Quelle für Komplexität sein kann, als weniger komplex, wenn sie aufgrund der Gattung bzw. Diskurstradition (z.B. Fabel) zu erwarten ist. Dieses Beispiel zeigt bereits, dass man bei der Untersuchung semantischer und diskurstraditioneller Komplexität häufig mit Wechselwirkungen in Bezug auf die Komplexität einzelner Merkmale rechnen muss. Wie soeben dargestellt kann eben eine vergleichsweise hohe Maßzahl für die Komplexität in Bezug auf die «Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen» die Komplexität in Bezug auf den «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» zum Teil kompensieren.

2.1.3 Besonderheiten literarischer Texte und ihrer diskurstraditionellen Komplexität In Abschnitt 2.1.2 wurden verschiedene Kriterien für die Beurteilung diskurstraditioneller Komplexität vorgestellt, die sich für Texte aller denkbaren Diskursuniversen anbieten. Da die im Rahmen dieser Arbeit durchgeführte Korpusanalyse sich jedoch ausschließlich auf literarische Texte bezieht, müssen auch in Hinblick auf das zu entwickelnde Bewertungsraster die für diese Art von Texten relevanten Kriterien diskurstraditioneller Komplexität von den eher irrelevanten unterschieden werden und einige Anpassungen vorgenommen werden. So muss den literarischen Texten nämlich in Bezug auf bestimmte Kriterien a priori ein höherer Komplexitätswert beigemessen werden. Dies gilt in erster Linie für das oben angesprochene qualitative Kriterium der Anzahl der Bedeutungsebenen. Da literarische Texte grundsätzlich zwei semiotische Ebenen beinhalten und Bedeutetes und «eigentlich Gemeintes» nicht identisch sind (cf. Gardt 2002, 117), werden sie in Bezug auf diesen Aspekt automatisch als komplex eingestuft. Es bietet sich also an, dieses Kriterium diskurstraditionell bedingter Komplexität für die Untersuchung literarischer Texte zu modifizieren, es an die besondere Kommunikationssituation fiktionaler Texte anzupassen und somit letztlich semantische Komplexitätsunterschiede innerhalb der Gruppe der fiktionalen Texte beschreibbar zu machen. Dafür muss das «doppelte semiotische Verhältnis» (Coseriu 1980/2007, 66) in Texten, das im Fall literarischer Texte besonders augenfällig ist, allerdings noch eingehender beschrieben werden.

2.1 Diskurstraditionen und diskurstraditionelle Komplexität

35

In Abschnitt 2.1.1 wurde bereits erwähnt, dass Coseriu drei Ebenen der Sprache unterscheidet und jede dieser Ebenen eine besondere Form des sprachlichen Inhalts aufweist. Der allgemeinen Ebene des Sprechens entspricht die Bezeichnung des Außersprachlichen bzw. die Referenz, der historischen Ebene der Einzelsprache die Bedeutung, also die Gesamtheit dessen, was allein durch eine bestimmte Sprache verstanden wird, und der individuellen Ebene des Textes entspricht der Sinn, also die Gesamtheit dessen, was nur durch den Text verstanden wird (cf. ib., 63). Gemäß Coseriu (1980/2007, 64s.) besteht nun folgende Beziehung zwischen diesen drei Formen des sprachlichen Inhalts: «Bezeichnung und Bedeutung, d.h. das, was die sprachlichen Zeichen benennen und das, was sie durch eine Einzelsprache allein bedeuten, bilden – zusammengenommen – im Text den Ausdruck für eine Inhaltseinheit höherer, komplexerer Art, eben für den Sinn. Analog zur Saussureschen Unterscheidung zwischen signifiant und signifié, die für das sprachliche Zeichen gilt, wollen wir beim Textzeichen ebenfalls zwischen signifiant und signifié unterscheiden: Bedeutung und Bezeichnung konstituieren zusammen das signifiant, der Sinn hingegen das signifié der Textzeichen».

Diese Beziehung zwischen Bezeichnung, Bedeutung und Sinn und die daraus resultierende Unterscheidung von signifiant und signifié auf der Ebene des Textes erklärt also das Vorhandensein zweier semiotischer Ebenen: «Sprachliche Zeichen haben Bedeutungen, mittels derer sie etwas Außersprachliches bezeichnen. Dieser komplexe Sachverhalt stellt auf einer höheren semiotischen Ebene wieder den Ausdruck für eine Inhaltseinheit höherer Art dar, den Sinn. [. . .] Was in einem Text, insbes. in einem literarischen Text, bezeichnet wird, ist wiederum Ausdruck, Symbol für einen bestimmten Sinn. Alles, was in einem Text geschieht, was als Geschehendes geschildert wird, hat einen ‹Sinn›, der in der Regel nicht unmittelbar mit dem Geschilderten selbst zusammenfällt, sondern den man erst herausfinden muß» (ib., 65).

Eben die Tatsache, dass der Rezipient literarischer Texte ihren Sinn erst herausfinden muss, dass er das auf der ersten semiotischen Ebene Geschilderte interpretieren muss, ist verantwortlich für die höhere Komplexität, die man Texten des literarischen Diskursuniversums beimessen muss.6 Nun ist natürlich der

6 Gemäß Coseriu (1980/2007, 66) kennzeichnet das doppelte semiotische Verhältnis Texte aller Diskursuniversen und haben alle Texte Sinn, allerdings kann dieser bei Gebrauchstexten im Gegensatz zu literarischen Texten mit Bedeutung und Bezeichnung zusammenfallen: «Alle Texte haben Sinn, natürlich auch die Texte, die im alltäglichen Leben verwendet werden. Denn auch dieses Sich-einfach-auf-eine-empirische-Wirklichkeit-Beziehen, dieses Keinen-darüber-hinausgehenden-fiktiven-Sinn-Haben, ist eine Art von Sinn. Auch diese Textzeichen werden auf ihren Sinn hin interpretiert, meist dahingehend, daß der Sinn in solchen Fällen einfach objektiv ist [. . .]».

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Aufwand, den der Rezipient beim Auffinden des Sinns betreiben muss, sind die semantischen, grammatischen und stilistischen Aspekte, die er zu berücksichtigen hat, und das Wissen, über das er verfügen muss, um die nötigen Inferenzen herzustellen, bei unterschiedlichen literarischen Texten unterschiedlich groß bzw. umfangreich. Deshalb ist der «Aufwand zur Erschließung des Sinns/der Bedeutung der zweiten semiotischen Ebene» als wichtiges diskurstraditionell bedingtes, aber wesenhaft semantisches Komplexitätskriterium zu betrachten. Dieses wird bei polyvalenten Texten, die z.B. eine soziologische, eine symbolische und eine biographische Interpretation gleichermaßen zulassen, einen besonders hohen Wert erhalten und bei Texten, deren Interpretationsmöglichkeiten aufgrund ihrer Gattungszugehörigkeit eingeschränkt oder gar festgelegt sind, einen entsprechend niedrigeren Komplexitätswert erhalten. Das in Abschnitt 2.1.2 aufgeführte zweite qualitative Kriterium diskurstraditioneller Komplexität, nämlich der «Umgang mit den Grice’schen Maximen», sowie das vierte Kriterium, «Gattungsmischung und Gattungsbruch», spielen im Kontext literarischer Texte eine große Rolle. Für Fricke (2000, 55) stellen funktionstragende Normabweichungen schließlich ein konstitutives Element von Kunst und Literatur schlechthin dar und gemäß Luckscheiter (2008, 2070) steht die Erzählliteratur bis heute unter dem Erwartungsdruck, innovativ zu sein und von der Alltagssprache abzuweichen. Folglich müssen die oben genannten und auf Abweichungen entweder von Diskurstraditionen oder den Grice’schen Maximen abzielenden Komplexitätskriterien ihren Platz in einem Analyseraster für die Komplexität literarischer Texte erhalten. Das dritte Kriterium, die Kongruenz bzw. Inkongruenz von Textfunktion und «wahrer Absicht» des Emittenten, muss hingegen im Bereich literarischer Texte als irrelevant gelten, wenn man die Auffassung vertritt, dass in der Literatur die «sprecherzentrierte Funktion»7 von Sprache im Mittelpunkt steht und nicht die kommunikative. Gardt (1995, 163) referiert die verbreitete Sichtweise, dass Literatur aus dem Wunsch nach Versprachlichung individueller Gedanken und Gefühle entstehe und somit der prädestinierte Ort für die sprecherzentrierte Funktion von Sprache sei: «Fast möchte man meinen, daß hier der Gedanke der Sprecherzentrierung seinen eigentlichen Ort hat, da die Behauptung, Literatur verdanke sich hauptsächlich dem nur unmaßgeblich durch einen kommunikativen Anspruch geleiteten, primär aber durch einen

7 Gemäß Gardt (1995, 153) umfasst die sprecherzentrierte Funktion von Sprache zumindest drei Varianten: «eine kognitive Variante der Strukturierung des Denkens des Sprechers, eine mnemotechnische Variante der Speicherung von Informationen im Bewußtsein des Sprechers [sowie] eine kathartische Variante der psychischen Regeneration des Sprechers».

2.1 Diskurstraditionen und diskurstraditionelle Komplexität

37

Wunsch nach Versprachlichung ureigener Gedanken und Gefühle getragenen Schaffensdrang eines Autors geradezu topischen Charakter im Reden über Literatur besitzt».

Diese Auffassung belegt Gardt (1995, 164) durch mehrere Aussagen von Schriftstellern, die als Grund für ihr Schreiben «die Orientierung am eigenen Ich» und die kathartische Funktion von Sprache anführen. Er fügt aber relativierend hinzu, dass sich die gegenteilige Auffassung von der eher kommunikativen Auffassung von Literatur ebenfalls durch Äußerungen von Verfassern einer gesellschaftlich-politisch orientierten Literatur stützen ließe. Daraus ergibt sich, dass – zumindest in bestimmten literarischen Gattungen – die kommunikative Funktion neben die sprecherzentrierte treten kann. Raible (1980, 326) hingegen spricht literarischen Texten eine kommunikative Ausrichtung und somit eine eindeutig formulierbare Textfunktion in der Regel ab und begründet dies mit Verweis auf die indirekte Kommunikationssituation zwischen Autor und Leser: «Die Rückkopplung zwischen Autor und Leser, die in einer Kommunikationssituation mit anwesenden Rezipienten gegeben ist, ist zwischen einem Autor und seinen Lesern nur äußerst mittelbar. Vor allem: die Funktion, die ein literarisches Werk aus der Sicht des Autors hat oder haben soll, ist oft nur sehr vage formuliert oder formulierbar; ‹prodesse et delectare› ist in solchen Fällen noch eine recht präzise Angabe. Das literarische Werk ist also aus den strengen Zwängen der direkten und funktionell bestimmten Kommunikationssituation zu entlassen. [. . .] Komplexe sprachliche Zeichen aus dem Bereich der Literatur sind also [. . .] als geschriebene Werke durch die indirekte Kommunikationssituation zwischen Autor und Leser sowie durch das oftmalige Fehlen einer eindeutig formulierbaren Funktion in der Regel weniger textextern determiniert als andere Texte».

Nun ist es nicht nur so, dass die Funktion eines literarischen Werkes nur «sehr vage formulierbar» ist, sondern einige der Brinker’schen Textfunktionen wie z.B. die Kontakt-, Obligations- und Deklarationsfunktion sind aufgrund der nur «mittelbaren Rückkopplung» zwischen Autor und Leser in literarischen Texten überhaupt nicht realisierbar. Aber auch Brinkers Begriff der «wahren Absicht» des Emittenten ist nur mit Vorsicht auf literarische Texte anzuwenden. Sicherlich kann ein Vertreter der littérature engagée in seinem Werk durch die Darstellung einer fiktiven Welt mit ihren fiktiven Gegebenheiten indirekt Kritik an bestimmten gesellschaftlichen Strukturen der realen Welt äußern – dies könnte man dann durchaus als seine «wahre Absicht» bezeichnen. Jeschs (2009, 62ss.) Modell des Textverstehens klammert allerdings – in Analogie zu zahlreichen text- und leserzentrierten Interpretationstheorien8 der Literaturwissenschaft – den empirischen Autor und

8 Bekanntlich gab und gibt es in der Literaturwissenschaft stark divergierende Ansichten über die Rolle des Autors für die Interpretation literarischer Texte. Gemäß Jannidis et al.

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

seine Absicht völlig aus und spricht stattdessen von einer auf der Grundlage des Textes zu rekonstruierenden Autorinstanz. Dieses Konzept ist in der Literaturwissenschaft unter dem Namen des impliziten Autors bekannt (cf. Booth, The Rhetoric of Fiction, 1961), «das eine dritte Instanz zwischen dem empirischen Autor und dem Erzähler bezeichnet» (Polaschegg 2011, 38). Jesch (2009, 62) verwendet das Konzept der rekonstruierten Autorinstanz sowohl für faktuale als auch für fiktionale graphisch realisierte Texte, da in beiden Fällen der Sender beim Empfang der Mitteilung nicht leibhaftig anwesend sei und somit nur durch die rekonstruktive Verstehensleistung des Lesers Gestalt gewinne. Im Fall fiktionaler Texte, die sich durch «kommunizierte Kommunikation» (Janik 1973/1985, 12) auszeichnen, gestaltet sich gemäß Jesch (2009, 76) die Textrezeption in recht komplexer Weise als Rekonstruktion einer Autorinstanz, «welche eine indirekte Mitteilung über reale Gegebenheiten zu verstehen gibt, indem sie eine fiktive Welt darstellt, zu der eine fiktive Äußerungsinstanz, ein fiktiver Adressat sowie die geäußerte Welt mit ihren fiktiven Gegebenheiten gehört». Die rekonstruierte Autorinstanz stellt sich dabei als Konzept dar, das «ein Leser zur Zuschreibung von Textinformationen verwendet und verwenden muss» (Jannidis 2002, 547s.), wobei diese Zuschreibungen auf der Grundlage des Textes und konventionalisierten Kommunikationsstrategien wie z.B. den Grice’schen Maximen beruhen (cf. Jesch 2009, 63). Die Intention des realen Autors, die gemäß der an Schleiermacher orientierten hermeneutischen Tradition aus biographischen Zeugnissen und Selbstaussagen des Autors rekonstruiert werden könne (cf. Jannidis et al. 2000, 12), spielt somit im Modell des Textverstehens nach Jesch (2009) überhaupt keine Rolle mehr. Auch Gardt (2002, 118) weist darauf hin, dass literarische Texte nicht ausschließlich als Ausdruck einer Autorenabsicht verstanden werden können, sondern der Autor nur noch als ein Leser unter vielen gelte: «Ein Roman, ein Drama oder ein Gedicht werden in aller Regel nicht ausschließlich als Ausdruck einer Autorenabsicht verstanden, Textbedeutung und Autorenintention werden nicht einfach miteinander identifiziert. Im Gegenteil wird dem Text in modernen Literaturtheorien zunehmend eine semantische Eigendynamik zugestanden, gilt der Autor nur als ein Leser seines Textes unter vielen [. . .]».

(2000, 11) treten neben die Positionen, die den «realen oder empirischen Autor als wichtigste Größe für die Interpretation literarischer Texte ansehen», zwei konträre Denkrichtungen, die auf den realen Autor als Verstehensnorm verzichten. Erstere versucht, den Text als zentralen Bezugspunkt der Interpretation zu etablieren und erklärt, «dass die Bedeutung eines literarischen Werkes von der Intention seines Urhebers unabhängig und allein aus dem Text zu erschließen sei» (ib., 16s.). Die zweite autorkritische theoretische Ausrichtung stellt den Leser in den Mittelpunkt und billigt dem Text nur «eine sekundäre Rolle beim Zustandekommen einer Textbedeutung» zu: er diene «als Auslöser für die Sinnkonstrukte des Lesers» (ib., 21).

2.1 Diskurstraditionen und diskurstraditionelle Komplexität

39

Sehr prägnant wird diese semantische Eigendynamik auch von Gadamer beschrieben: «Nicht nur gelegentlich, sondern immer übertrifft der Sinn eines Textes seinen Autor» (Gadamer 1986, 301).

Diese Besonderheiten literarischer Texte – die häufige Dominanz der sprecherzentrierten Funktion von Sprache und die «semantische Eigendynamik» bzw. Autonomie der Textbedeutung gegenüber dem realen Autor – erklären also, dass die Begriffe der Textfunktion und der «wahren Absicht» des Autors auf Texte des literarischen Diskursuniversums nur eingeschränkt anwendbar sind. Deshalb wird das oben entwickelte Komplexitätsmerkmal der Kongruenz bzw. Inkongruenz von Textfunktion und «wahrer Absicht» des Emittenten bei der Analyse der semantischen Komplexität literarischer Texte nicht zugrundegelegt. Formen von Inkongruenz bzw. Indirektheit, die durch dieses Merkmal auf funktionaler Ebene beschrieben werden, finden sich in literarischen Texten aber natürlich auf thematisch-inhaltlicher Ebene zu Hauf: man denke nur an Ironie, Parodie, Satire u.ä. Auch diese Sprech- und Schreibweisen bzw. Gattungen zeichnen sich durch Indirektheit aus, dadurch dass der Erzähler bzw. der implizite Autor das Gegenteil dessen sagt, was er meint, Techniken der Entstellung oder Verzerrung benutzt, seine Distanzierung von der parodierten Vorlage durch Unter- oder Übererfüllung der für diese Textsorte geltenden Textnorm ausdrückt etc. (cf. Lamping 2009, 570ss.). Diese Verfahren führen natürlich auch zu erhöhter diskurstraditioneller bzw. semantischer Komplexität, die in dem hier zu entwickelnden Bewertungsraster aber erfasst wird durch hohe Komplexitätswerte in Bezug auf die Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene, den Umgang mit den Grice’schen Maximen (Verletzung der Qualitätsmaxime) sowie die Voraussetzungen an das diskurstraditionelle und lebensweltliche Wissen der Rezipienten (dieser muss wissen, dass Ironie oder Parodie für bestimmte Textgattungen charakteristisch sind und z.B. die parodierten Texte kennen). Und auch wenn man zumindest der gesellschaftlich-politischen Literatur doch eine Textfunktion wie z.B. die Appellfunktion zugestehen will und diese aber in einem gegebenen Text nicht direkt ausgedrückt wird, kann man auf das Merkmal «Inkongruenz von Textfunktion und ‹wahrer Absicht› des Emittenten» verzichten und die resultierende Komplexität mit Bezug auf die Grice’schen Maximen der Qualität und der Modalität beschreiben und bewerten, was in Kapitel 2.4 näher erläutert wird. Die in Abschnitt 2.1.2 angeführten quantitativen Kriterien diskurstraditioneller Komplexität und diejenigen Kriterien, die relativ zum Rezipienten zu betrachten sind, haben uneingeschränkt Gültigkeit für literarische Texte. Sie werden allerdings im Interesse der Praktikabilität für das zu entwickelnde Bewertungsraster allesamt unter das Kriterium «Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

des Rezipienten» subsumiert. Dessen Komplexitätswert kann dann unter Berücksichtigung der drei quantitativen und der drei relativ zum Rezipienten vorliegenden diskurstraditionellen Komplexitätskriterien hinreichend gut und verlässlich bestimmt werden. Wenn nämlich eine Gattung durch besonders viele Merkmale konstituiert ist und zahlreiche Dimensionen von Textualität beeinflusst, eine Diskurstradition definitorisch gesetzt und somit gelehrt und gelernt werden muss und aufgrund eines hohen Grades an kultureller Spezifizierung nur von sehr wenigen Sprechern getragen wird, dann erhöhen alle diese Gegebenheiten die Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen des Rezipienten, so dass dieses Komplexitätskriterium folglich einen entsprechend hohen Wert erhält. 2.1.4 Zusammenfassung In diesem Kapitel wurde deutlich gemacht, dass sich jeder Text oder Diskurs einer historischen Einzelsprache bedienen muss und ebenso zwingend in bestimmten Diskurstraditionen steht, also u.a. nach den Regeln einer bestimmten Textsorte bzw. Gattung konstruiert ist (cf. Wilhelm 2001, 467). Die Diskurstraditionen unterliegen ebenso wie einzelsprachliche Traditionen dem historischen Wandel und stellen einen kulturellen Wissenstyp dar. Bei ersteren handelt es sich aber um ein auf das Sprechen bezogenes Wissen, das als kultureller Leitfaden für die Bewältigung kommunikativer Aufgaben dient, indem es die Sprecher darin anleitet, aus dem einzelsprachlichen Repertoire geeignete Mittel auszuwählen (cf. Schrott 2015, 86). Somit haben die Diskurstraditionen entscheidenden Anteil an der Sinnbildung im Text (cf. ib., 92) und fungieren sowohl für den Produzenten als auch für den Rezipienten als «kognitiver Entlastungsfaktor» beim Umgang mit Texten, da sie Strukturen vorgeben, Verstehensebenen festlegen und Interpretationsmöglichkeiten einschränken (cf. Oesterreicher 1997, 29). Diskurstraditionen sind einzelsprachübergreifend und werden von kulturellen Gruppierungen getragen, die die Makrostruktur der Sprachgemeinschaften wie ein feines Netz durchziehen (cf. Schrott 2014, 30). Weiterhin haben Diskurstraditionen ein bestimmtes mediales (phonisch vs. graphisch) und konzeptuelles Profil, ihnen kann also ein Ort auf dem Nähe-Distanz-Kontinuum nach Koch/Oesterreicher (1990) zugewiesen werden (cf. Koch 1997, 56s.). So sind etwa für einen ZEIT-Artikel u.a. die Parameterwerte Öffentlichkeit, Fremdheit der Partner und Reflektiertheit sowie eine geringe Situations- und Handlungseinbettung und ein origo-ferner Referenzbezug gültig. Diese Kommunikationsbedingungen implizieren selbstverständlich bestimmte Versprachlichungsanforderungen und erzeugen rekurrente Muster z.B. hinsichtlich der Nutzung der verschiedenen Kontextarten und des

2.1 Diskurstraditionen und diskurstraditionelle Komplexität

41

Einsatzes von Deiktika, hinsichtlich der Textgliederung, Elaboriertheit und Formalität und bezüglich der Informativität und Explizitheit von Diskursen (cf. Oesterreicher 1997, 23). Somit werden die semantisch-pragmatischen Parameter eines Textes und ebenso ihre Komplexität zwingend durch die Diskurstraditionen beeinflusst, in denen er steht, und erweist es sich als sinnvoll, diskurstraditionelle und semantische Komplexität gemeinsam zu untersuchen. Unter Rückgriff auf Überlegungen von Wilhelm (2001), Aschenberg (2003), Gardt (2002), Grice (1989), Knape (2008), Brinker (1985/2010), Schrott (2015), Fix (2008) und Gansel/Jürgens (2009) wurden die folgenden allgemeinen Kriterien für diskurstraditionelle Komplexität zusammengetragen:

Tab. 3: Allgemeine Kriterien für diskurstraditionelle Komplexität. Quantitative Kriterien

Qualitative Kriterien

Kriterien relativ zum Rezipienten

I.

Die Orientierung am Umfang einer Diskurstradition führt zu folgender Relation: Formeln  Text- und Diskursgattungen  Diskursuniversen (geordnet nach aufsteigendem Komplexitätsgrad)

I.

autonom für sich stehende Diskurstradition [einfach] vs. Tradition, die Teil einer größeren diskurstraditionellen Konfiguration ist [komplex(er)]

I.

Quantität des Zugriffs einer Diskurstradition auf die Dimensionen von Textualität (textinterne Strukturen und textexterne Bezugsfelder)

II.

Anzahl der Bedeutungsebenen

II.

Umgang mit den Grice’schen Maximen (Befolgen vs. Beugen/ Verletzen)

II.

Kongruenz vs. Inkongruenz von Textfunktion und «wahrer Absicht» des Emittenten

II.

Gattungsmischung und Gattungsbruch

III. Grad der kulturellen Spezifizierung einer Diskurstradition bzw. Größe der kulturellen Gruppierung, die die entsprechende Diskurstradition trägt III. Definitorische Setzung vs. ohne Setzung entwickelte kommunikative Alltagsgewohnheit III. Konstanz der Gattungsbenennung vs. historischer Wandel der sich dahinter verbergenden Gattungsrealität → großer zeitlicher Abstand der Entstehung eines Textexemplars zum Rezipienten kann sich für diesen komplexitätssteigernd auswirken

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Zentrale Besonderheiten literarischer Texte und ihrer Komplexität erfordern jedoch die Modifikation einiger dieser Kriterien, wenn es um die Entwicklung eines auf literarische Texte anwendbaren Bewertungsrasters semantischer und diskurstraditioneller Komplexität geht. Bei diesen Besonderheiten handelt es sich um das grundsätzliche Vorhandensein zweier semiotischer Ebenen in literarischen Texten, die indirekte Kommunikationssituation zwischen Autor und Leser und das oftmalige Fehlen einer eindeutig formulierbaren Textfunktion (cf. Raible 1980, 326) sowie die Tatsache, dass der Sinn eines literarischen Textes über die Autorintention hinausgeht (cf. Gardt 2002, 118). Für ein adäquates und ebenfalls überschaubares und handhabbares Bewertungsraster der semantischen und diskurstraditionellen Komplexität literarischer Texte bieten sich deshalb – aus den soeben kurz rekapitulierten und in Abschnitt 2.1.3 genauer dargestellten Gründen – die folgenden vier Kriterien an: Tab. 4: Gebündelte Kriterien diskurstraditioneller Komplexität. . Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen der Rezipienten . Gattungsmischung und Gattungsbruch . Umgang mit den Grice’schen Maximen . Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene

Diese Kriterien stellen die Hauptfaktoren für eine hohe oder geringe diskurstraditionelle bzw. diskurstraditionell bedingte semantische Komplexität dar und sie ermöglichen es zudem, Wechselwirkungen hinsichtlich der Ausprägung der Komplexität in Bezug auf einzelne Merkmale aufzuzeigen, wie sie sich z.B. bei stark normierten Gattungen, deren Geflecht aus Diskurstraditionen auch kognitiv entlastend wirkt, zwischen den Kriterien 1 und 4 ergeben.

2.2 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Merkmale und ihrer Komplexität In der hier angestrebten Analyse semantischer und diskurstraditioneller Komplexität wird die Auffassung zugrunde gelegt, dass es sich bei Texten um komplexe Größen handelt, die sich durch Übersummativität bzw. Emergenz und somit vielfältige Relationen zwischen den Textkonstituenten untereinander sowie zwischen dem Textganzen und seinen Teilen auszeichnen. Die Quintessenz dieser

2.2 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Komplexität

43

Annahme ist, dass der Sinn bzw. die Textbedeutung9 nicht als bloße Summe der Bedeutungen der Textbestandteile beschrieben werden kann. Welche Faktoren – neben der Systembedeutung der verwendeten Wörter und den syntaktischen und textgrammatischen Regeln – zum Entstehen der Textbedeutung beitragen, soll Thema dieses Kapitels sein. Im Wesentlichen sind dies situationelle, kontextuelle und subjektive Faktoren, wobei es sich bei letzteren um kognitive Voraussetzungen und verfügbares Wissen seitens der Rezipienten handelt. In Anbetracht der Tatsache, dass diese Aspekte ganz wesentlich die Bedeutung eines Textes bestimmen, müssen sie natürlich auch zentrale Beschreibungsdimensionen semantischer Komplexität werden, was im Folgenden aufgezeigt und präzisiert wird. Am Ende dieses Kapitels, in dessen Verlauf die Textrezeption als konstruktiver Akt des Bedeutungsaufbaus vorgestellt wird, steht die Erörterung der Frage, ob es unter dieser Voraussetzung so etwas wie eine objektive, feste Bedeutung von (literarischen) Texten geben kann – eine Frage, deren Beantwortung natürlich Konsequenzen für die Analyse semantischer Komplexität haben wird.

2.2.1 Texte als übersummative Größen Die Auffassung, dass es sich bei Texten per se um komplexe Größen handelt, dürfte in der Linguistik unbestritten sein. Für Coseriu (1980/2007, 45) stellt der Text «eine außerordentlich komplexe Erscheinung» dar, ja «die komplexeste Ebene des Sprachlichen überhaupt». Das liegt zum einen an dem in Kapitel 2.1.3 bereits erläuterten doppelten semiotischen Verhältnis in Texten, wo Bezeichnung und Bedeutung der verwendeten Zeichen gemeinsam den Ausdruck für eine Inhaltseinheit höherer, komplexerer Art, nämlich den Sinn bilden (cf. ib., 65s.). Weiterhin begründet Coseriu die Komplexität von Texten durch die Gegenüberstellung und anschließende Kombination der im Folgenden aufgeführten beiden Schemata. Das erste weist den Text als Produkt einer zweifachen Determinierung aus, im Zuge derer das Sprechen im Allgemeinen durch eine bestimmte einzelsprachliche Tradition determiniert und weiterhin durch Diskurstraditionen angeleitet wird (cf. ib., 11). Das zweite Schema präsentiert den Text als «eine nach den Regeln der Einzelsprache konstruierbare Ebene» (ib., 45):

9 Das, was Coseriu (1980/2007) als Sinn bezeichnet (also «das signifié der Textzeichen», ib., 65, «die Gesamtheit dessen, was gerade durch den Text und nur durch den Text verstanden wird», ib., 63), wird in der germanistischen Textsemantik und Textlinguistik, deren Vertreter im Folgenden mehrfach zitiert werden, in der Regel unter die Begriffe Textbedeutung (cf. Busse 1992; Gardt 2008a; Gardt 2013) oder Textsinn (cf. Linke/Nussbaumer 2000a) subsumiert. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werden diese Begriffe synonym verwendet.

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2. Schema:

Sprechen (bzw. Sprache) im allgemeinen

Text

Einzelsprache, historische Tradition des Sprechens Text

Fortschreitende Determinierung

1. Schema:

Stufen der Kombinatorik

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Satz «Klausel» Wortgruppe Wort Minimale Elemente10

Schema 2: Die Ebene des Textes unter zwei verschiedenen Blickwinkeln (nach Coseriu 1980/2007, 45).

Gemäß Coseriu «[lässt] eine Kombination der beiden Schemata [. . .] die Ebene des Textes in ihrer ganzen Komplexität erscheinen und entspricht damit der Wirklichkeit etwas besser» (ib., 45). Diese Kombination visualisiert er folgendermaßen:

− −

Sprechen im allgemeinen Einzelsprache (mit ihren verschiedenen Ebenen) …………………

− − − − −

minimale Elemente, ………………………........... ………………………........... Satz…………………......... Text ………………............

− − −

α β γ

αÞ Sprechen können, über elokutionelles Wissen verfügen. βÞ Einen Text aufgrund des idiomatischen Wissens, d.h. nach den Regeln einer historischen Sprache konstruieren können. γÞ Einen Text aufgrund der Kenntnis einer besonderen Texttradition (‹Sonett›, ‹Roman›) und aufgrund einer einmaligen Intuition als Gefüge von individuellen Redeakten produzieren. Schema 3: Kombination der beiden Schemata (nach Coseriu 1980/2007, 46).

10 Mit dem Kursivdruck von Minimale Elemente und Satz macht Coseriu deutlich, dass es sich hierbei um notwendigerweise universelle Ebenen der einzelsprachlichen Strukturierung handelt: «Es muss etwas geben, das kombiniert werden kann, und es muß ein Resultat dieser Operation da sein, etwas Kombiniertes als minimale Einheit der Rede, und diese Einheit ist eben das, was man ‹Satz› nennt» (Coseriu 1980/2007, 32).

2.2 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Komplexität

45

Die durch dieses kombinierte Schema illustrierte Komplexität von Texten ergibt sich also daraus, dass sich in den konkreten Texten das Wissen und die Normen/Regeln bzw. Traditionen aller drei Ebenen des Sprechens manifestieren. Somit hängt nach Coseriu die Komplexität eines Textes also auch entscheidend mit der Sprachkompetenz zusammen, die für seine Produktion und somit auch für seine Rezeption notwendig ist. Diese fundamentale Beeinflussung der Textkomplexität durch die Qualität des verstehensnotwendigen Wissens wird in den folgenden Zitaten zur Übersummativität der Texte noch häufiger begegnen und in den Kapiteln 2.2.3 und 2.3.2 präzisiert werden, um dann in entsprechende Komplexitätskategorien zu münden. Gansel/Jürgens (2009, 19) rekurrieren explizit auf die Überlegungen Coserius (1980/2007), betrachten den Text ebenfalls als aus einfachen Zeichen zusammengesetztes komplexes und interpretationsbedürftiges Zeichen und liefern eine prägnante Beschreibung der Übersummativität von Texten: «In Bezug auf den (Satz und auf den) Text ist von einem komplexen Zeichen zu sprechen, das freilich aus einfachen Zeichen zusammengesetzt ist, wobei die Bedeutung des komplexen Zeichens mehr umfasst als die Summe der Bedeutungen der Einzelzeichen (vgl. K.-E. Sommerfeldt/G. Starke 1992, S. 1f.)».

Diese häufig unter die Begriffe der Übersummativität oder Emergenz11 gefasste Erkenntnis des Mehrwerts des Textes gegenüber der «Summe der Bedeutungen der Einzelzeichen» (ib., 19) soll im Folgenden genauer betrachtet und auf Konsequenzen für die Analyse textsemantischer Komplexität hin untersucht werden. Die entsprechende Auffassung findet sich bereits in der frühen hermeneutischen Tradition (z.B. Schleiermacher 1836/1977, 329), wurde von der Gestaltpsychologie12 (z.B. Katz 1948, 51s.) erneut formuliert und begegnet in den verschiedensten

11 Wir verwenden die Begriffe der Übersummativität und Emergenz hier synonym und verstehen darunter eben das Auftreten neuer Bedeutungen eines Textes, die nicht aus der Summe der Bedeutungen seiner Bestandteile (Einzelzeichen) hergeleitet werden können. Skirl (2009) hingegen schlägt für die kognitive Semantik einen engeren Emergenz-Begriff vor, der nur auf solche Bedeutungsbestandteile anwendbar ist, die die Rezipienten aus dem Kontext – verstanden als «spezifisches konzeptuelles Weltwissen und Textsorten- und Diskurswissen» (Skirl 2009, 165) – inferieren. Er definiert: «Der Emergenz-Begriff bezieht sich auf konzeptuelle Merkmale der Äußerungsbedeutung, die von Rezipienten im Sprachrezeptionsprozess durch elaborative Inferenzen konstruiert werden. Sie sind emergent, weil sie weder Teil der kombinierten Wortbedeutungen noch der an sie gekoppelten Konzepte sind. Beim Textverstehen sind diese Merkmale außerdem emergent gegenüber den semantischen Informationen der Textbasis» (ib., 174). Auf derartige Qualitätsunterschiede hinsichtlich der vom Rezipienten zu leistenden Inferenzen werden wir in den Kapiteln 2.3.2, 2.4.2 und 2.4.3 eingehen. 12 Gemäß Fix (1996, 314s.) ist der «grundlegende, sowohl für optische, haptische, akustische Wahrnehmungen als auch für Sozialpsychologisches geltende Gedanke der Gestaltpsychologie

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Arbeiten zur Textlinguistik, Textsemantik, Stilforschung und Übersetzungstheorie (cf. Stolze 1982, 153). Busse (1992, 63) beispielsweise bekräftigt die Erfahrung der Übersummativität von Texten durch Hinweis auf das Versagen der gegenteiligen «Kompositionalitätsthese» bei der Erklärung des Funktionierens sprachgebundener Kommunikationsprozesse. Deren Analyse zeige nämlich immer wieder, dass es einige Elemente gebe, die zur Verständigung beitragen, «welche nicht durch das Modell ‹lexikalische Wortbedeutungen + syntaktische Regeln› allein erklärt werden können». Folglich muss es «Eigenschaften des Ganzen (Textes) [geben], die nicht zugleich auch Eigenschaften seiner Teile (Wörter, Satzteile) sind» (ib., 94s.). Auch die semantisch relevante Kategorie des Stils, die u.a. «Informationen vermittelndes und Sinn herstellendes [. . .] Handeln ist» (Fix 1996, 311), wird als übersummatives Ganzes betrachtet (cf. Abraham 2008, 1348; Fix 1996, 321). Abraham (2008, 1351) erläutert die Gestalthaftigkeit und Übersummativität des Stils unter Verweis auf Fix (1996) folgendermaßen und überträgt sie schließlich auch auf den Text als Ganzes: «So, wie eine visuell erfasste Gestalt in der Malerei mehr ist als die Summe aller Teile, so ist auch Stil mehr als die Summe der vom Autor benutzten rhetorischen Figuren, stillagenspezifischen Vokabeln oder dergleichen. Damit haben Texte ‹andere Eigenschaften, als sie sich aus der Summe der Eigenschaften ihrer Teile ergäben› (Fix 1996, 314s.)».

Als letzter Beleg für die Einschätzung, dass Texte emergente und somit komplexe Größen darstellen, soll die in der Textlinguistik verbreitete und von Linke/Nussbaumer (2000a, 435s.) sehr plastisch analysierte «Eisbergmetapher» angeführt werden: «Texte [. . .] sind wie Eisberge: Nur ein kleiner Teil davon ragt über die Wasseroberfläche, der größte Teil aber ist darunter verborgen, nicht unmittelbar evident und doch da. Wer so spricht, spricht nicht vom Text als einem sprachlichen Ausdruck, sondern vielmehr vom Text als Sinnkomplex. Vom Text als Sinnkomplex sei nur ein kleiner Teil an der Oberfläche sichtbar. Nennen wir dies den expliziten Teil. Der größere Teil des Textsinns liege unter der Oberfläche verborgen, sei implizit. [. . .] Wenn man einen Text versteht, versteht man mehr, und man versteht etwas anderes als einfach die Bedeutung der sprachlichen Zeichen. Man kann von einem ‹kommunikativen Mehrwert› [. . .] des Textes gegenüber der konventionellen, festen Bedeutung sprechen. So gibt es eine Erklärungslücke zwischen der angenommenen festen Bedeutung der Sprachzeichen, die den Text konstituieren, und dem Textsinn».

[. . .] die Auffassung, daß Ganzheiten andere Eigenschaften haben, als sie sich aus der Summe der Eigenschaften ihrer Teile ergäben».

2.2 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Komplexität

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Diese überzeugende, letztlich alternativlose und durch die angeführten Zitate hinreichend begründete Sichtweise vom Text als übersummativem Ganzen bzw. emergenter Größe wird in der hier unternommenen Analyse semantischer Komplexität zugrundegelegt. Sie wirft aber natürlich die Frage nach der Quelle für den «kommunikativen Mehrwert» des Textes gegenüber der konventionellen Bedeutung der ihn konstituierenden Sprachzeichen auf. Diese von Linke/Nussbaumer (2000a) angesprochene «Erklärungslücke» schließt Busse (1992, 99) knapp und präzise, wenn er erklärt: «[. . .] Wortbedeutung und Textbedeutung [müssen sich] wechselseitig stützen; sie können sich nur durch den gesamten, in Situation und Kontexte eingebauten Verstehensakt konstituieren».

Es sind also die Interdependenz zwischen Wort- und Textbedeutung, die außersprachliche Situation, der sprachliche Kotext und der von den verwendeten Zeichen evozierte und von den Rezipienten im Verstehensakt zu aktivierende Wissenskontext, die den verborgenen Teil des Textsinns ausmachen. Diese situationellen, kontextuellen und subjektiven Faktoren müssen folglich auch bei der Beschreibung der semantischen Komplexität eines Textes eine zentrale Rolle spielen, was in Kapitel 2.2.3 näher untersucht werden wird. Auch Linke/Nussbaumer (2000a) selbst schließen die konstatierte «Erklärungslücke» zwischen der Bedeutung der verwendeten Sprachzeichen und der übersummativen Textbedeutung unter Verweis auf die soeben hervorgehobenen Faktoren. Zusätzlich betonen sie, dass es der Rezipient ist, der auf der Basis von Kontext und Wissen die nötigen Inferenzen herstellen muss, um die Textbedeutung zu generieren. Dies liefert einen weiteren Beleg für die Notwendigkeit, bei der Analyse von semantischer und diskurstraditioneller Komplexität die Anforderungen zu berücksichtigen, die die Interpretation eines Textes an seine Rezipienten stellt: «[. . .] das Verstehen [besteht] aber auch darin, dass der Rezipient abduktive Schlüsse zieht (Keller 1995, 132 ff.), Hypothesen über einen möglichen Sinn bildet, und dies auf der Basis der verwendeten Zeichen und ihrer festen Bedeutung, aber auch auf der Basis der Verwendungssituation, des Kontextes, der Kenntnis über die Sprecherin usw. Und dies alles unter Verwendung von Sprachwissen, aber vor allem auch von Weltwissen und Handlungswissen. Im Bild vom Textsinn als Eisberg gefasst: Der kleine Teil, der über die Wasseroberfläche ragt, der für alle unmittelbar evident ist, das wäre die konventionelle, feste Bedeutung der verwendeten Sprachzeichen. All das, was für die umfassende Deutung [. . .] des Textes an zusätzlicher Interpretationsleistung, an zusätzlichen Inferenzen aufgewendet werden muss, das wäre der größere Teil des Eisberges unter der Oberfläche» (ib., 436).

Nimmt man das Bild vom Textsinn als Eisberg ernst, so folgt daraus, dass auch die semantische Komplexität eines Textes zum größten Teil im Impliziten zu

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

suchen ist, das der Rezipient auf der Basis der Textoberfläche und situationeller sowie kontextueller Faktoren inferieren muss. Dem Impliziten widmen sich die Kapitel 2.3.2 zur Frame-Semantik sowie das Kapitel 2.4 zu den Grice’schen Maximen und den darauf aufbauenden konversationellen Implikaturen. In diesen Kapiteln wird auch zu klären sein, welche Formen des Impliziten komplex sind – denn mit Sicherheit kommt dem Impliziten nicht automatisch das Charakteristikum der Komplexität zu. Das Implizite bzw. der verborgene Teil des Textsinns resultiert weiterhin aus den Bezügen und Wechselwirkungen zwischen dem Textganzen und seinen Teilen bzw. zwischen den Textkomponenten untereinander, die ebenfalls charakteristisch für emergente Größen sind. Diese Verzahnung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen hat bereits Schleiermacher (1836/1977, 329) als «unbestreitbaren Grundsatz» bezeichnet und formuliert, «daß, wie freilich das Ganze aus dem einzelnen verstanden wird, so doch auch das Einzelne nur aus dem Ganzen verstanden werden könne». Diese Interdependenz konkretisiert Busse (1992, 66) unter Verweis auf Schmidt (1971, 31) am Beispiel der oben bereits angesprochenen wechselseitigen Stützung von Wortbedeutung und Textbedeutung im Verstehensakt: «Ein Wort muß in eine konkrete textuelle Umgebung integriert werden, um aus der Fülle seiner Verwendungsmöglichkeiten überhaupt eine Bedeutung herausgrenzen zu können; andererseits ist eine Satz- (oder Text-) Bedeutung selbst integrativ aufzufassen als Ergebnis einer Komplexion von Ausdrucksmitteln, die nur durch die wechselseitige Verschränkung der Elemente eine Bedeutung erhält, welche aus den Elementen allein nicht erklärt werden kann».

Auch Gardt (2013, 32) führt die wechselseitige Verschränkung der Textelemente bzw. ihre gegenseitige Semantisierung explizit als Beleg für die Emergenz der Texte an und präzisiert sie folgendermaßen: «Vielmehr semantisieren [die einzelnen bedeutungskonstituierenden Elemente eines Textes, K.M.] sich gegenseitig, stehen in Relationen, die auf außerordentlich komplexe Weise die Textbedeutung im Blick des Betrachters entstehen lassen. In diesem Sinne sind Texte ganzheitliche oder übersummative oder auch emergente Größen [. . .]».

Diese Wechselwirkungen zwischen den bedeutungskonstituierenden Textelementen legen natürlich die Vermutung nahe, dass z.B. ein hoher Komplexitätswert in Bezug auf eine bestimmte Komplexitätsdimension auch in Wechselwirkung mit der Komplexität anderer Dimensionen steht. So ist es beispielsweise gut vorstellbar, dass eine durch (kontextuell nicht behebbare) Ambiguität zentraler Lexeme ausgelöste wortsemantische Komplexität auf textsemantische Dimensionen wie die Etablierung der Themen oder die Herstellung von Kohärenz ausstrahlt. Im Rahmen der Korpusanalyse wird also auch zu untersuchen sein, welche Wechselwirkungen zwischen hoher oder geringer Komplexität

2.2 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Komplexität

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bezüglich verschiedener semantischer und diskurstraditioneller Kategorien bzw. Merkmale entstehen können. Die grundsätzlich vorhandene Komplexität von Texten wird noch zusätzlich erhöht durch die Tatsache, dass die festgestellten bedeutungskonstituierenden Bezüge und Wechselwirkungen nicht nur zwischen den verwendeten Wörtern untereinander und ihren sprachlichen und kognitiven Kontexten bestehen, sondern auch zwischen letzteren und syntaktischen, argumentativen, lautlichen und sonstigen Merkmalen, die eben auch bedeutungsrelevant sein können. Gardt (2008a, 1202) subsumiert alle diese «potentiell bedeutungstragenden» Größen unter dem Begriff des Stils und macht deutlich, dass Bedeutung sich eben auch durch Stil konstituiere und dass sowohl Bedeutung als auch Stil «flächige Phänomene» seien: «Bedeutung in Texten ist ein flächiges Phänomen, das hat sie mit Stil gemein. Sie entsteht – was hier immer zu lesen ist im Sinne von: wird vom Leser gebildet – natürlich ganz entscheidend durch die punktuelle Präsenz einzelner Wörter und Aussagen [. . .]. Aber sie entsteht auch zwischen den Wörtern und Aussagen, durch die Art und Weise ihrer Kombination. Manfred Frank spricht vom Wort als einer bloßen ‹Zeichenhülse› (1980, 154), als die es im Text zunächst anwesend ist. Ihre semantische Füllung durch den Leser geschieht vor dem Hintergrund des Wissens um die Systembedeutung des Wortes und durch das intuitive In-Bezug-Setzen des Wortes zu seiner sprachlichen Umgebung. Dabei gilt, dass alles an einem Text potentiell bedeutungstragend ist, seine lexikalischen Elemente, seine grammatischen Formen und alle Gestaltungsmittel, die Elemente und Formen in Beziehung setzen, einschließlich der Strukturen des Textes als ganzem, d.h. seines Aufbaus, der argumentativen Verknüpfung seiner Segmente usw. In ihrem Ensemble bilden diese Größen den Stil des Textes».

Ein überzeugendes Beispiel für den flächigen Charakter der Bedeutungsbildung in Texten, der auf Bezügen und Wechselwirkungen zwischen genuin semantischen, aber auch argumentativen und grammatischen Textkonstituenten beruht, liefert Gardt (2008a, 1205s.) mit der Etablierung der Denkfigur von Offenheit und Dynamik in vielen Texten Roger Buergels, des künstlerischen Leiters der documenta 12. Diese Denkfigur komme durch die Verwendung lexikalischer Ausdrücke, aber auch durch antithetische Konstruktionen (die documenta soll sich mit der «Zukunft der Menschheit» befassen und zugleich mit der «Existenz jedes Einzelnen»), Hypostasierungen, Deagentivierungen («Es ist der Anspruch von documenta [. . .]») und Verwendung inchoativer Verben etc. zustande. Der auf «komplexen innertextuellen semantischen Bezügen» (ib., 1204) beruhende flächige Charakter der Bedeutungsbildung und die damit verbundene Tatsache, dass auch Stil bedeutungskonstituierend ist, muss natürlich auch in der Analyse semantischer und diskurstraditioneller Komplexität ihren Niederschlag finden. Denn der durch stilistische Aspekte vermittelte Sinn ist häufig in

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

besonderer Weise komplex, was sich unmittelbar aus der Einschätzung Abrahams (2008, 1349s.) ergibt, dass man Stil nicht lesen könne wie Texte, sondern ihn wahrnehmen müsse und diese Wahrnehmung grundsätzlich selektiv und ohne Textanalyse bzw. Interpretation nicht möglich sei. Da aber «[g]rundsätzlich [. . .] jede sprachliche Erscheinung mit Formulierungsalternativen eine stilistische Funktion erhalten [kann]» (Bußmann 2008, 684), muss die Komplexität von durch Stilelemente erzeugter Bedeutung innerhalb verschiedener Komplexitätskategorien berücksichtigt werden: in Bezug auf das in Kapitel 2.2.3 zu begründende Merkmal «Andeutungen/Evokationen», aber natürlich auch innerhalb der Kategorien «Satzsemantik» (man denke an Satzfiguren wie rhetorische Frage, Chiasmus oder Anakoluth etc.) und «Wortsemantik» (man denke an rhetorische Figuren oder sich vom dominanten Textstil abhebende und damit stilistisch markierte Vulgarismen, Regionalismen, Archaismen etc.). Der flächige Charakter der Bedeutungsbildung, der auf Bezügen und Wechselwirkungen zwischen den verschiedensten Textkonstituenten beruht, kann ein Kriterium zur Bewertung der Ausprägung von Komplexität hinsichtlich mehrerer Komplexitätskategorien bilden, was in Kapitel 2.5.4 erläutert wird. Die Auffassung von Texten als emergente Größen, deren Bedeutung also nicht als bloße Summe der Bedeutungen der Textbestandteile beschreibbar ist, hat einige wichtige Aspekte aufgeworfen, die bei der Analyse semantischer Komplexität unbedingt berücksichtigt werden müssen: Implizites als Quelle von Komplexität, flächige und durch stilistische Elemente konstituierte Bedeutungsbildung, kontextuelle und situationelle Bedeutungsfaktoren, vom Leser zu leistende Inferenzen etc. All diese Punkte werden in den folgenden Abschnitten und Kapiteln wiederaufgegriffen werden und zum einen in eine überschaubare Anzahl von Komplexitätsmerkmalen bzw. -kategorien münden, zum anderen Bewertungskriterien für die Ausprägung von Komplexität konstituieren. Außerdem hat die Einsicht in die Wechselwirkungen und Bezüge zwischen den Textkonstituenten untereinander sowie zwischen dem Textganzen und seinen Elementen die Hypothese aufgeworfen, dass solche Wechselwirkungen (ob es sich nun um gegenseitige Verstärkung, Kompensation oder anderes handelt) auch zwischen den Komplexitätswerten in Bezug auf bestimmte Merkmale bzw. Kategorien bestehen, was im Rahmen der Korpusanalyse zu untersuchen sein wird.

2.2.2 Die Textrezeption – ein konstruktiver Vorgang Die Eigenschaft der Übersummativität der Textbedeutung und die damit verbundene Vorstellung vom Textsinn als Eisberg erfordern vom Rezipienten

2.2 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Komplexität

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notwendigerweise Inferenz- und Interpretationsleistungen. Somit muss die Textrezeption eine konstruktive Leistung darstellen, was im Folgenden erläutert werden soll. Nach Einschätzung von Vater (2001, 152) sind sich «Text- und Psycholinguisten weitgehend einig darin, dass Textverstehen einen Prozess darstellt, in dem der Textrezipient nicht passiv ist, sondern sich aktiv bemüht, eine Interpretation des [. . .] Gelesenen herzustellen». Gardt (2002, 129) betont, dass Textbedeutungen nicht einfach «entstehen», sondern «dass die Bedeutungen am Text stets durch den Leser geschaffen werden». Diese Kernannahme der kognitiven Konstruktivität des sprachverarbeitenden Subjekts identifizieren Christmann/Groeben (1996, 1536) als Ausgangspunkt für Theoriebildung und Forschung im Bereich der psychologischen Textrezeption. Gardt (2002, 124) sieht den kognitiven Konstruktivismus aber auch in der philologischen und philosophischen (hermeneutischen) Textdiskussion vertreten und findet ihn zehn Jahre später als «Konsens in nahezu allen neueren Arbeiten zur Textanalyse» (Gardt 2013, 34) wieder. Gemäß der Konstruktivitätshypothese «[. . .] ist die Rezeption schriftlichen Materials kein passiver Vorgang der Bedeutungsabbildung, sondern ein aktiver Prozess der Bedeutungskonstruktion, bei dem die Rezipienten auf der Grundlage ihrer inhaltlichen Vorkenntnisse und ihres Wissens von Welt die Textinformation aktiv-konstruktiv in ihre Wissensstruktur einfügen» (Christmann/Groeben 1996, 1536).

Diesen konstruktiven Prozess des Einfügens der Textinformation in die eigene Wissensstruktur bringt Gardt (2013, 32) in unmittelbare Verbindung mit der oben erläuterten Emergenz der Textbedeutung, die entscheidend aus der wechselseitigen Verschränkung von Textteilen und Ganzem resultiert: «Wie die Teile des Textes nicht bloß additiv das Ganze bilden, so vollzieht sich das Verstehen als eine Bewegung, bei der die einzelnen semantischen Konstituenten vor dem Hintergrund eines kognitiven Entwurfs des Textganzen ihren Ort im Gesamtbild erhalten, und dieser Entwurf des Textganzen wiederum erst durch die einzelnen Konstituenten seine Konturen gewinnt».

Diesen Verstehensvorgang bezeichnet die Hermeneutik bekanntlich als hermeneutischen Zirkel (cf. ib., 32) und Gardt (2013, 33) weist darauf hin, dass er sich mit den Darstellungen der kognitiven Linguistik deckt, «wo der Verstehensvorgang als Bewegung bottom up (d.h. vom Text zum Bewusstsein, also von den Textteilen zum kognitiven Entwurf des Textganzen) und top down (von diesem Entwurf der Gesamtbedeutung zu den Textteilen; z.B. van Dijk/Kintsch (1983)) und unter expliziter Berufung auf die Gestalttheorie als ‹holistic›/holistisch beschrieben wird [. . .] (Ungerer/Schmid 2006, 36)».

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Dass der so modellierte Prozess der Bedeutungskonstruktion nur unter Hinzuziehung von inhaltlichen Vorkenntnissen gelingen kann – wie sollte dem Rezipienten sonst während des Lektürevorgangs ein «kognitiver Entwurf des Textganzen» gelingen? – ist unmittelbar klar und wurde ja bereits in Kapitel 2.2.1 im Zusammenhang mit den Überlegungen zur Übersummativität und zur Metapher vom Textsinn als Eisberg herausgestellt. Insbesondere für das Verstehen fiktionaler Erzähltexte erachten Martínez/Scheffel (1999/2012, 161) die Kenntnisse und Erfahrungen des Lesers und seine konstruktive Aktivität als unverzichtbar: «Das Verstehen fiktiver Welten und Handlungen wird nicht allein vom Text gesteuert, sondern auch vom Kontext und von Erfahrungen, Kenntnissen, Dispositionen und kognitiven Strukturen des Lesers. Ohne die konstruktive Aktivität des Lesers, lediglich auf der Basis seiner Sprachkenntnis, würden narrative Texte vermutlich sinnlos erscheinen».

Die Kenntnisse bzw. Wissenskontexte, die zur Erschließung der Textbedeutung nötig sind, werden in Abschnitt 2.2.3 eingehender untersucht werden. Zuvor soll aber in Bezug auf die Herstellung von Kohärenz präzisiert und illustriert werden, in welchen semantisch-inhaltlichen Bereichen und durch welche textuellen Auslöser aktive und konstruktive Leistungen des Rezipienten beim Verstehen und Interpretieren von Texten nötig werden – Verstehensleistungen, die bei der Bewertung der semantischen Komplexität eines Textes offensichtlich eine prominente Rolle spielen müssen. 2.2.2.1 Kohärenz – inhärente Texteigenschaft oder Ergebnis kognitiver Prozesse? Insbesondere der Begriff der Kohärenz, den zahlreiche Textlinguisten als das wesentliche Textualitäts-Kriterium betrachten,13 wird nicht mehr nur als Eigenschaft von wohlgeformten Texten, sondern auch als Ergebnis der Aktivität von Rezipienten verstanden. So definiert Bußmann Kohärenz als «semantischkognitiven Sinnzusammenhang eines Textes» (Bußmann 2008, 343; meine Hervorhebung) und führt weiter aus:

13 So enthält der in der Textlinguistik häufig zugrundegelegte Textbegriff Brinkers die Forderung nach Kohärenz: «Der Terminus ‹Text› bezeichnet eine begrenzte Folge von sprachlichen Zeichen, die in sich kohärent ist und die als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert» (Brinker 1985/2010, 17). Nach kritischer Überprüfung der sieben TextualitätsKriterien von de Beaugrande/Dressler (1981) kommt Vater (2001, 54) zu folgendem Schluss: «Kohärenz stellt offenbar das dominierende Textualitäts-Kriterium dar; sie ist zentral für das Zustandekommen eines Textes: Auch wenn alle anderen von de Beaugrande/Dressler (1981) postulierten Kriterien nicht erfüllt sind, kann es sich, solange Kohärenz vorliegt, um einen Text handeln».

2.2 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Komplexität

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«Kohärenz ist eine notwendige Bedingung für die Textualität einer Satzfolge, kann aber nicht als bloße inhärente Eigenschaft des sprachlichen Gebildes ‹Text› konzipiert werden. Sie ist vielmehr Basis und Produkt der Verarbeitungsprozesse bei der Textproduktion und der Textverarbeitung. Die Textgegenstände werden dabei mit vorausgesetzten, z.B. in einem Schema gespeicherten (und bei der Rezeption durch Inferenz rekonstruierbaren) Wissensbeständen verknüpft und in eine mentale ‹Textwelt› eingeordnet» (ib., 343).

Auch Elisabeth Stark (2001, 636) betont in ihrem Grundlagen-Artikel über Textkohäsion und Textkohärenz mehrfach die Notwendigkeit, Kohärenz als Textund Rezipienten-bezogenen Begriff aufzufassen. So macht sie deutlich, dass die Rezipienten einem Text in der Regel Kohärenz unterstellen und bei schwer zugänglichen Texten bemüht sind, unter Rückgriff auf ihr Wissen, einen möglichen «Verstehenskontext» oder eine «Einordnungsinstanz» zu konstruieren. Dies könne allerdings nur auf der Basis von lexikalischen und grammatischen Indikatoren erfolgen, die natürlich der Text selbst bereitstellt: «Die Wahrnehmung von Kohärenz in Texten ist eine sehr komplexe (als Kohärenz der beschriebenen Sachverhalte, der Senderintention, der Versprachlichung usw.), die bei Relevanzproblemen oder Kohäsionsbrüchen aufgrund von Widersprüchen zwischen der zunächst dekodierten Textbedeutung oder –funktion und bestehenden Wissensstrukturen über Implikaturen und Inferenzen jederzeit herzustellen versucht wird. [. . .] Wird Text als Kommunikationsprozeß aufgefaßt, ist Kohärenz das Verhandlungsergebnis kommunikativer und mentaler Vorgänge auf der Basis von grammatischen und lexikalischen Indikatoren und Wissens- bzw. Gedächtnisstrukturen» (ib., 649).

Die Phänomene, die gemeinhin zur Extension des Begriffes Kohärenz gezählt werden, – Koreferenz, also das wiederholte Bezugnehmen auf denselben «Gegenstand» (cf. Bußmann 2008, 343), verschiedene intra-propositionale und interpropositionale logische, thematische und konzeptionelle Relationen, generell die außersprachliche Verbundenheit der thematisierten Sachverhalte sowie Isotopie (cf. Stark 2001, 637s.) – können auf der sprachlichen Oberfläche durch Kohäsionsindikatoren wie Konnektoren, Tempuskonstanz, Pro-Formen oder lexikalische Wiederholungen (cf. Bußmann 2008, 343) angezeigt werden. In diesen Fällen ist natürlich die konstruktive Aktivität des Rezipienten weniger stark gefordert, aber bereits das Erkennen von (partiellen oder totalen) Koreferenzrelationen sowie Isotopien verlangt das Aktivieren von lexikalischem und enzyklopädischem Wissen, was die beiden folgenden Beispiele zeigen: «Picasso hat Paris verlassen. Der Maler begab sich in sein Atelier an der Mittelmeerküste. Er hält sich dort auf» (Stark 2001, 648 zit. nach Bellert 1970). «Die Familie meiner Freundin ist furchtbar. Nur der Bruder ist nett» (Linke/Nussbaumer 2000b, 306).

Stark (2001, 648) bemerkt mit Bezug auf Bellert (1970), dass die Kenntnis der Tatsache, dass Picasso Maler war, zwar keine notwendige Bedingung für eine

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

koreferentielle Lesart der drei Subjekt-NPn darstelle (sie könne z.B. auch aus dem Interpretationsprinzip der thematischen Kontinuität inferiert werden), diese allerdings enorm erleichtere. Nach Linke/Nussbaumer (2000b, 307) signalisiert der bestimmte Artikel in erster Linie die Herstellbarkeit von Referenz in der aktuellen Diskurswelt, wobei es Aufgabe des Textrezipienten sei herauszufinden, ob dies einen Rückverweis auf ein bereits eingeführtes Textelement impliziere oder nicht. Im oben zitierten Beispiel ist es also Aufgabe des Rezipienten, FrameWissen (cf. Kapitel 2.3.2) zum Thema Familie aufzurufen, das es dann erlaubt, den definiten Artikel in der Bruder adäquat zu deuten und zu erkennen, dass der Referent dieser Nominalphrase der Bruder der Freundin ist. Ungleich anspruchsvoller sind die Konstruktionsleistungen zur Herstellung von Kohärenz sicherlich, wenn es z.B. darum geht, kompositionelle oder funktionale Relationen zwischen einzelnen Textelementen herzustellen, die zueinander in Beziehungen der Erläuterung, Illustration, Evaluation, Generalisierung, Spezifizierung, Ursache-Folge etc. stehen können (cf. Stark 2001, 644). Gerade in literarischen Texten gestaltet sich das Erfassen des Sinnzusammenhangs oft als besonders voraussetzungsvoll. Einerseits ist es nämlich ein allgemeines Merkmal «wohlgestalteter narrativer Texte» (Martínez/Scheffel 1999/2012, 122), «[d]ass der Zusammenhang einer Geschichte durch die motivationale Verkettung der dargestellten Ereignisse hergestellt wird» (ib., 121), andererseits wird die Motivation14 der Ereignisse selten in der Erzähler- oder Figurensprache expliziert, sondern gehört zu den Unbestimmtheitsstellen des Textes, die durch den Leser konkretisiert werden müssen (cf. ib., 115). Diese Konkretisierung der Motivierung der Handlung gelingt wiederum nur durch das Aktivieren von mehr oder weniger spezifischem diskurstraditionellen und lebensweltlichen Wissen (insbesondere historisch-kultureller, empirischpraktischer oder alltagspsychologischer Art, cf. ib., 146), was Elisabeth Stark (2001, 645) folgendermaßen zusammenfasst: «Für die Kohärenz von Erzähltexten wesentlich ist dabei entweder die textsortenspezifische Anwesenheit von Elementen wie setting, plot usw. oder eine allgemeine, in der Regel kausale Ereigniskette, die bei der Rezeption in Rekurs auf wissensbasierte Inferenzen rekonstruiert wird».

14 Martínez/Scheffel (1999/2012) unterscheiden drei Arten von narrativer Motivierung: die kausale, die finale und die kompositorische Motivierung. Die ersten beiden gehören der erzählten Welt fiktionaler Texte an (cf. ib, 114), die dritte folgt künstlerischen Kriterien und umfasst die Funktion der Ereignisse im Rahmen der Gesamtkomposition (cf. ib., 117). Die kausale Motivierung «erklärt ein Ereignis, indem sie es als Wirkung in einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang einbettet, der als empirisch wahrscheinlich oder zumindest möglich gilt» (ib., 114), während die Handlung final motivierter Texte von Beginn an festgelegt ist und sich als Fügung göttlicher Allmacht enthüllt (cf. ib., 115).

2.2 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Komplexität

55

Weitere anspruchsvolle Konstruktionsleistungen des Rezipienten können bei der Ermittlung des Textthemas erforderlich werden. Der thematische Textzusammenhang ist wiederum wesentlich für das Vorliegen globaler Kohärenz, was Stark (2001, 644) unter Verwendung eines sehr anschaulichen Beispiels von Lang (1973, 302) deutlich macht: «Über die Existenz lokaler formaler oder semantischer Relationen zwischen einzelnen Textteilen hinaus ist immer auch die einheitliche thematische Orientierung eines Textes als grundlegend für seine Kohärenz angesehen worden [. . .]. [. . .] Die Notwendigkeit einer einheitlichen thematischen Orientierung von Einzelsätzen eines Textes weist bereits Ewald Lang 1973 und 1977 nach, indem er die Unabhängigkeit der Textkohärenz von expliziten Kohäsionsmarkern zeigt, solange eine ‹gemeinsame Einordnungsinstanz› angenommen werden kann: Peter lernt Französisch, Susi wäscht ab und Rudi sitzt vorm Fernseher. Die Kinder sind IM MOMENT BESCHÄFTIGT».

Brinker (1985/2010, 49) definiert das Textthema als «Kern des Textinhalts» und präzisiert in Hinblick auf (faktuale) Erzähltexte, dass es sich dabei um ein «abgeschlossenes singuläres Ereignis» handele, das ein «Interessantheitskriterium» (van Dijk 1980) bzw. «gewisse Minimalbedingungen von Ungewöhnlichkeit» (Quasthoff 1980) erfülle (cf. Brinker 1985/2010, 63). Gemäß Brinker (1985/2010, 49s.) kann das Textthema explizit in einem Textsegment genannt sein, oder aber es muss vom Rezipienten aus dem Textinhalt abstrahiert werden. Da es dafür nach Brinkers Einschätzung keine «mechanische» Prozedur gibt, erfordert diese Abstraktion vom Leser wiederum eine mehr oder weniger große kognitive Anstrengung: «Das Textthema (als Inhaltskern) ist entweder in einem bestimmten Textsegment (etwa in der Überschrift oder einem bestimmten Satz) realisiert, oder wir müssen es aus dem Textinhalt abstrahieren, und zwar durch das Verfahren der zusammenfassenden (verkürzenden) Paraphrase. Das Textthema stellt dann die größtmögliche Kurzfassung des Textinhalts dar. [. . .] Man muss sich überhaupt darüber im Klaren sein, dass die textanalytische Bestimmung des Themas primär auf interpretativen Verfahren beruht; es kann hier keine ‹mechanische› Prozedur geben, die nach endlich vielen Schritten automatisch zur ‹richtigen› Themenformulierung führt. Die Bestimmung des Themas ist vielmehr abhängig von dem Gesamtverständnis, das der jeweilige Leser von dem Text gewinnt».

Brinkers Erläuterungen zur Ermittlung des Textthemas sowie die vorangegangenen Ausführungen lassen somit nur eine Beantwortung der Frage zu, die als Titel dieses Abschnitts gewählt wurde: lokale und globale Kohärenz mitsamt narrativer Motivierung und der thematischen Orientierung eines Textes sind sowohl textinhärente Eigenschaften als auch Ergebnis der Interpretationsleistung des Rezipienten. Und damit illustriert das Phänomen der Kohärenz in besonderer Weise die These, dass Textrezeption kein «passiver Vorgang der Bedeutungsabbildung»

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

(Christmann/Groeben 1996, 1536) ist, sondern ein aktiver und mitunter gar kreativer Akt der Bedeutungskonstruktion, der die Verfügbarkeit verschiedenster Wissensdomänen voraussetzt. Da Kohärenz als «kognitiv-semantischer Sinnzusammenhang eines Textes» (Bußmann 2008, 343) und das Vorhandensein eines Textthemas als Ausdruck seiner globalen Kohärenz wesentliche semantische Phänomene sind, müssen diese selbstverständlich Berücksichtigung bei der Bewertung der semantischen Komplexität finden. Wenn der semantische Textzusammenhang auf der Textoberfläche durch Kohäsionsmarker wie Konnektoren, Elemente der Textdeixis oder lexikalische Wiederholungen angezeigt wird oder das Textthema explizit in der Überschrift oder einem anderen Textsegment benannt wird, ist die Komplexität in Bezug auf diese beiden Dimensionen natürlich als eher gering zu bewerten. Weitere Komplexitätsunterschiede hinsichtlich der Kohärenz lassen sich gut mit den Mitteln der Frame-Semantik herausarbeiten. Frames bzw. Wissensrahmen oder Schemata spielen offensichtlich auch nach Einschätzung von Bußmann (2008) und Stark (2001) eine große Rolle bei der Herstellung von Kohärenz. So erklärt erstere, dass dabei die Textgegenstände «mit vorausgesetzten, z.B. in einem Schema gespeicherten [. . .] Wissensbeständen verknüpft» (Bußmann 2008, 343; meine Hervorhebung) würden, und letztere, dass die Herstellung von Kohärenz «auf der Basis von grammatischen und lexikalischen Indikatoren und Wissens- bzw. Gedächtnisstrukturen» (Stark 2001, 649; meine Hervorhebung) erfolge. Die Komplexitätskategorien «Kohäsion & lokale Kohärenz» und «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» (nähere Ausführungen folgen in Kapitel 2.3.2.3) werden also im Zusammenhang mit der Erläuterung der Ideen und Konzepte der Frame-Semantik nochmals aufgegriffen werden müssen und mögliche Abstufungen hinsichtlich ihrer Komplexität unter Rückgriff auf dieselben zu erläutern sein.

2.2.3 Relevante Kontexte zur Erschließung des Textsinns Im Zusammenhang mit diskurstraditioneller Komplexität sowie im Rahmen der Begründung der Übersummativität der Textbedeutung und der Analyse der Textrezeption als aktivem Prozess der Bedeutungskonstruktion wurde bereits wiederholt auf die fundamentale Rolle von Sprach- und Weltwissen sowie diskurstraditionellem Wissen hingewiesen, welche Heidi Aschenberg (1999, 139) unter den Begriff des «subjektiven Kontextes» subsumiert. Aber ebenso unverzichtbar für das Textverstehen bzw. die Konstitution von Sinn und natürlich die referentielle Funktion der Sprachzeichen (man denke nur an alle Phänomene der Deixis) sind der sprachliche Kontext bzw. Redekontext und die außersprachliche Situation, wie Coseriu (1980/2007) und Aschenberg (1999) hervorheben:

2.2 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Komplexität

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«Eben deshalb ist der Kontext für jeden Text so wichtig, denn nur durch ihn, sei es durch den sprachlichen, sei es durch den außersprachlichen Kontext, erhält der Text seinen Sinn» (Coseriu 1980/2007, 143). «[. . .] ohne die elementaren Kontexte, d.h. ohne Situation, ohne Sprach- bzw. Redekontext und ohne Wissen vermag die Sprache die sie definierenden Funktionen der Erschließung von Welt und von fremder Subjektivität nicht zu erfüllen. Die elementaren Kontexte sind insoweit notwendige Bedingungen allen Sprechens, Kommunizierens und Verstehens» (Aschenberg 1999, 4).

Diese sinnbildende Funktion vermögen die Kontexte u.a. deshalb zu erfüllen, weil sie so etwas wie «Monosemierung», also «semantische und pragmatische Vereindeutigung von sprachlichen Zeichen und Äußerungen» bewirken können (cf. Aschenberg 1999, 3). Insbesondere literarische Texte können diese zentrale Funktion der Kontexte allerdings auch bewusst aushebeln, um Ambiguität bzw. Polyvalenz zu erzeugen, was die Korpusanalyse in Teil 3 dieser Arbeit an mehreren Beispielen zeigen wird. Heidi Aschenberg, die sich im Rahmen ihrer Habilitation umfassend mit verschiedenen philosophischen, sprachtheoretischen und sprachwissenschaftlichen Kontext- bzw. Umfeldtheorien auseinandergesetzt hat, bewertet Coserius textlinguistische Umfeldtheorie als das «differenzierteste Spektrum» (ib., 88) und entwickelt darauf aufbauend ihre eigene Typologie der Kontexte. In der Textlinguistik präsentiert Coseriu (1980/2007, 92ss.) seine Konzeption der Umfelder im Zusammenhang mit den Relationen, durch die das Zeichen im Redeakt funktioniert (z.B. Relationen mit anderen Zeichen, Relationen mit Zeichen in anderen Texten etc. – sie werden an späterer Stelle näher erläutert), und die allesamt zur Konstitution des Textsinns beitragen. Seiner Ansicht nach sind sowohl die übliche Unterscheidung von Kontext als rein sprachlicher Umgebung des Zeichens im Text und (Sprech)situation als nicht-sprachlicher Umgebung des Zeichens ebenso wie die etwas differenziertere Unterscheidung Bühlers von sympraktischem, symphysischem und synsemantischem15 Umfeld für «ein umfassendes Verständnis des Funktionierens der Zeichen in Texten» unzureichend (cf. ib., 124–126). Coseriu schlägt deshalb das folgende Schema vor, das zunächst die vier übergeordneten

15 Coseriu (1980, 125) erläutert Bühlers Umfeldtypen folgendermaßen: «Unter ‹synsemantischem Umfeld› ist dabei der eigentlich sprachliche Kontext zu verstehen, also der Kontext im üblichen Sinn, während das sympraktische Umfeld ungefähr der ‹Situation› im herkömmlichen Verständnis entspricht [. . .]. Das eigentlich Neue bei Bühler ist das symphysische Umfeld, das teilweise dem entspricht, was ich im folgenden den physikalischen Kontext nennen werde: Wenn z.B. auf einem Buch die sprachlichen Zeichen Der Löwe erscheinen oder auf einem Wegweiser Tübingen steht, so funktionieren diese Zeichen in Relation zur ‹Sachkenntnis› des Zeicheninterpreten».

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Umfelder Situation, Region, Kontext und Redeuniversum unterscheidet, die dann zum Teil noch umfangreiche Ausdifferenzierungen erfahren: Tab. 5: Umfelder des Sprechens (nach Coseriu 1980/2007, 127).

UMFELDER I

SITUATION

– –

unmittelbar mittelbar

II

REGION

– – –

Zone Bereich Umgebung

III KONTEXT

a) b)

einzelsprachlicher Kontext Rede-Kontext

mittelbar

unmittelbar positiv negativ

c) Außer-Rede-Kontext 1. physikalisch 2. empirisch 3. natürlich 4. praktisch oder okkasionell 5. historisch

partikulär

universell aktuell vergangen

6. kulturell IV REDEUNIVERSUM

Unter der Situation versteht Coseriu abweichend von der üblichen Begriffsextension lediglich «das Umfeld, durch das ich und du, hier und dort, jetzt und damals entstehen, das Raum-Zeit-Kontinuum, das durch den Redeakt um den Sprecher herum aufgebaut wird» und durch das die Referenz der Deiktika festgelegt wird (cf. ib., 126). Unmittelbar ist die Situation, «wenn ich als Sprecher am Ort und zum Zeitpunkt des Sprechens ich, hier und jetzt sage» (ib., 128), mittelbar, wenn «dieser Bezugspunkt ‹nach außen hin› verschoben ist» wie z.B. in Erzähltexten (cf. ib., 128). Der zweite Umfeldtyp, die Region, bezeichnet «den Raum, der ein in bestimmten Bedeutungssystemen funktionierendes Zeichen einschließt» und dessen Grenzen einerseits durch die Tradition des Sprechens, andererseits durch

2.2 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Komplexität

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die Kenntnisse der Sprecher von den bedeuteten Sachverhalten definiert sind (cf. ib., 121). Der Begriff der Zone kennzeichnet den Raum, in dem «ein Zeichen bekannt ist und üblicherweise verwendet wird» und der somit häufig mit einer historischen Sprache zusammenfällt. Innerhalb des Bereichs gehört das Bezeichnete zur alltäglichen Lebenswelt der Sprecher und somit sind dessen Grenzen kulturell gegeben. Die Umgebung ist «eine sozial oder kulturell bestimmte Region, wie z.B. die Familie, die Schule oder die Berufsgemeinschaft», die gruppenspezifische Zeichen für verschiedene Gegenstände verwendet (cf. ib., 121). Der dritte Umfeldtyp, der Kontext, erfährt die detaillierteste Untergliederung. Der einzelsprachliche Kontext ergibt sich aus der verwendeten Sprache und der resultierenden Relation in absentia, in der die aktualisierten Zeichen mit anderen Zeichen derselben Sprache stehen (cf. ib., 128). Der Redekontext besteht aus den sprachlichen Zeichen, die einem betrachteten Textsegment unmittelbar oder mittelbar (also in größerer Entfernung) vorausgehen oder folgen. Der positive Redekontext ergibt sich aus dem explizit Gesagten, der negative aus dem «NichtGesagten», dem «Ausgesparten», welches der Textinterpret «als Präsupposition des Gesagten» erkennen, ausfüllen und bei der Sinnzuweisung berücksichtigen muss (cf. ib., 129). Im Gegensatz zum einzelsprachlichen und zum Redekontext wird der Außer-Rede-Kontext «durch alle nicht-sprachlichen Umstände konstituiert, die von den Sprechern entweder direkt wahrgenommen werden oder ihnen bekannt sind» (ib., 128). Den physikalischen Außer-Rede-Kontext «bilden die Dinge, denen das Zeichen unmittelbar anhaftet» und der empirische AußerRede-Kontext wird durch die Gegenstände und Sachverhalte konstituiert, die den Kommunikationspartnern zum Zeitpunkt und am Ort des Sprechens bekannt sind, weil sie sie beispielsweise unmittelbar vor Augen haben (cf. ib., 130). Der praktische oder okkasionelle Außer-Rede-Kontext entspricht nach Coserius Einschätzung dem, was andere Autoren unter «Situation» verstehen oder mitverstehen. Er wird bestimmt «durch die Gesprächspartner und die genauen räumlichen und zeitlichen Umstände des Sprechens, die es uns erlauben, uns ‹elliptisch› auszudrücken» (ib., 132). Die drei weiteren Ausdifferenzierungen des Außer-Rede-Kontextes, der natürliche, historische und kulturelle, bezeichnen Segmente des Weltwissens: Kenntnisse der uns umgebenden Natur und unserer eigenen körperlichen Beschaffenheit, die Gesamtheit der historischen Umstände, die den Sprechern bekannt sind, und die kulturellen Traditionen einer Gemeinschaft (cf. ib., 130–133). Coseriu hält die beiden zuletzt erläuterten Kontexttypen, also den Rede-Kontext und den Außer-Rede-Kontext, für besonders wichtig für das Verständnis der Entstehung des Sinnes in den Texten (cf. ib., 128). Den vierten und letzten Umfeldtyp, das Redeuniversum, definiert Coseriu als «das universelle System von Bedeutungen, zu dem ein Text gehört und durch das er seine Gültigkeit und seinen Sinn erhält» (ib., 134). Als Beispiele

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

für verschiedene Redeuniversen werden Mythologie, Mathematik, Literatur, Wissenschaft und die praktische Lebenswelt angeführt (cf. ib., 134). In Anbetracht der fundamentalen Bedeutung der Kontexte für die Entstehung von Sinn in Texten müssen sie auch eine wichtige Rolle bei der Beurteilung ihrer semantischen Komplexität spielen – darauf wurde in Bezug auf die subjektiven Wissenskontexte schon mehrfach hingewiesen. Einige der Coseriu’schen Umfelder wie z.B. die unmittelbare Situation sowie der physikalische und der empirische Außer-Rede-Kontext werden allerdings bei der Analyse schriftlicher und zumal literarischer Texte überhaupt keine Rolle spielen. Aber auch die Umgebung oder gewisse Segmente des Weltwissens wie der natürliche oder historische Außer-RedeKontext können im Einzelfall für die Bedeutungskonstruktion eines bestimmten literarischen Textes irrelevant sein. Somit erweist sich eine Berücksichtigung von Coserius detaillierter Ausdifferenzierung der Umfelder für das Ziel einer operationalisierbaren Beurteilung semantischer Komplexität als ungeeignet. Die Tendenz zu überbordender Untergliederung der bedeutungs- und verstehensrelevanten Umfelder, insbesondere auch des Außer-Rede-Kontextes, ist jedoch bei vielen Autoren festzustellen. So schlägt Busse (1992, 149s.) in seiner Textinterpretation beispielsweise 13 Typen des verstehensrelevanten Wissens vor, die sich z. T. mit Coserius Kategorien decken, und fügt dieser «Grobgliederung» hinzu, dass «sie nicht als abgeschlossene Aufzählung, sondern als ergänzungsfähig verstanden werden sollte». All diese Kontexttheorien und Kategorisierungen des verstehensrelevanten Wissens zeigen natürlich, wie komplex das Gebilde Text und die Konstitution des Textsinns sind. Wenn in dieser Arbeit allerdings der Versuch unternommen wird, semantische Komplexität beschreibbar und analysierbar zu machen, muss eine Reduktion auf die wesentlichen Kontexte und Umfelder erfolgen, die auch für alle (literarischen) Texte relevant sind. Eine solche Reduktion leistet Aschenberg (1999, 74), indem sie zunächst auf überzeugende Art nachweist, dass der hohe Grad an Ausdifferenzierung der Coseriu’schen Umfeldtheorie mitverantwortlich für die störende «Heterogenität der Typbegriffe» ist: «Ein einziger Typ, der Kontext, soll sowohl Sprachliches wie Außersprachliches enthalten. Der Außer-Rede-Kontext soll als physikalischer das ‹symphysische Umfeld›, als praktischer die Situation (im herkömmlichen Sinn) und dazu noch die unterschiedlich gearteten Wissensbestände der Sprecher umfassen; hier wäre es einleuchtender gewesen, von differenten Typen auszugehen. Des weiteren ergeben sich aus der unterschiedlichen Perspektivierung der einzelnen Begriffe partielle Überschneidungen: Zu erwägen wäre, ob der Typus der Region nicht ohne allzu großen Verlust aufgelöst und seine Bestimmungen [. . .] in anderen Fächern untergebracht werden könnten. Zone und Umgebung ließen sich einem neu zu definierenden einzelsprachlichen Kontext zuordnen, und der Bereich wäre dem kulturellen Außer-Rede-Kontext hinzuzufügen. Schließlich ließe sich das Redeuniversum problemlos den Wissensbeständen integrieren».

2.2 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Komplexität

61

Indem sie ihre Kritik an Coserius Umfeldtheorie und ihre Verbesserungsvorschläge auf dessen Modell anwendet, entwickelt Aschenberg (1999) eine eigene überschaubare und somit für Textanalysen handhabbare Typologie der Kontexte, die gegenüber derjenigen Coserius den Vorteil hat, «drei elementare, d.h. funktional erforderliche und aufeinander nicht rückführbare Typen» (ib., 75) zu beinhalten:

Tab. 6: Die Typologie der Kontexte (Schema nach Aschenberg 1999, 75).

. Die nicht-sprachliche Situation (im ‹herkömmlichen› Sinn) einschließlich der für die soziale Situation essentiellen Determinanten Raum, Zeit und Personen; . der Rede- bzw. Diskurskontext (‹positiv› und ‹negativ›, d.h. in seinen explizit artikulierten wie in seinen implizit angedeuteten oder gar verschwiegenen oder kaschierten Relationen); . das Wissen (mit den für sprachliche Zusammenhänge erforderlichen Komponenten (a) der sprachlichen Kompetenz, also als ‹elokutionelles›, ‹idiomatisches› und ‹expressives› Wissen, und (b) des lebensweltlichen Wissens in seiner ganzen Vielfalt, also gemäß den Bestimmungen des Außer-Rede-Kontextes, und (c) des Redeuniversums).

Im Einklang mit Heidi Aschenberg werden diese drei Kontexttypen im Folgenden als «notwendige Bedingungen textueller Sinnbildung» (ib., 75) betrachtet, die die weiteren Überlegungen zu relevanten Kategorien semantischer Komplexität leiten werden. Gerade der erste Kontexttyp, die nicht-sprachliche Situation, verdient im Rahmen der Untersuchung von semantischer und diskurstraditioneller Komplexität eines Korpus von literarischen Texten besondere Berücksichtigung. Das ist der Tatsache geschuldet, dass die nicht-sprachliche Situation in literarischen Texten nur mittelbar gegeben ist, die Art ihres verbalen Aufbaus stark von der Textgattung abhängt und Quelle von Komplexität sein kann. 2.2.3.1 Die nicht-sprachliche Situation und ihre verbale Kompensation Zunächst ist festzustellen, dass die Verfügbarkeit der nicht-sprachlichen Situation sich für das mündlich realisierte «Nähesprechen» und das schriftlich realisierte «Distanzsprechen», zu dem natürlich auch narrative literarische Texte zählen, völlig anders darstellt. Während in der Situation der Mündlichkeit zentrale Determinanten wie Raum, Zeit, Personen, Gegenstände, Umstände des Kommunikationsgeschehens (cf. Aschenberg 1999, 169), die u.a. die Referenz der deiktischen Ausdrücke festlegen und «elliptische» Ausdrucksweise ermöglichen (cf. Coseriu 1980/2007, 132), unmittelbar gegeben sind, muss der geschriebene literarische Text diese erst noch «verbal aufbauen» (Aschenberg 1999, 169). Diese «verbale Kompensation der in der Situation der Mündlichkeit unmittelbar verfügbaren und

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

deshalb nicht verbalisierungsbedürftigen nonverbalen Informationselemente» bezeichnet Aschenberg als «suppletive Kontextbildung» (ib., 179) und erläutert sie im Rückgriff auf das Nähe-Distanz-Modell von Koch & Oesterreicher (1990, 12) folgendermaßen: «In Orientierung an Koch & Oesterreicher [. . .] stellt sich für uns die suppletive Kontextbildung von Umfeldern im geschriebenen Text als sozusagen kompensatorische sprachliche Vermittlung jener Bezugsgrößen dar, die im ‹Distanzsprechen› aufgrund seiner ‹Situations- und Handlungsentbindung› – im Gegensatz zum ‹Nähesprechen› – referentiell nicht verfügbar sind. Die in der Situation der Mündlichkeit durch die Präsenz der Kommunizierenden festgelegte origo des Sprechens (cf. Bühler 1934/1965: 102 ff.), ihre zeitliche, räumliche und personale Fixierung, in welcher wiederum weitere temporale, lokale und personale Bezüge ihren Ursprung haben, muß der geschriebene Text durch entsprechende Angaben erst noch sprachlich aufbauen und sichern» (ib., 174).

Weiterhin betrachtet Aschenberg Personen, Raum und Zeit als die wesentlichen Parameter der Situation, die ein literarischer Text verbal restituieren muss, da «nur vor dem Hintergrund bestimmter Personenkonstellationen und eines bestimmten Raum/Zeit-Systems [. . .] Kommunikation und Handlung denkbar und literarisch darzustellen [sind]» (ib., 182). Bei der Art der Restitution dieser Situationskoordinaten bestehen große Unterschiede zwischen lyrischen, epischen und dramatischen Texten. Während in narrativen Texten das «Wann, Wo und Wer doch einigermaßen klargestellt sein [muss], bevor die Geschichte anheben kann» (Staiger 1946/1968, 44), muss der Autor des Bühnenstücks den Schauplatz verbal nicht oder nur eingeschränkt aufbauen – schließlich sind Schauplatz und Akteure dem visuell und akustisch wahrnehmbaren Bühnengeschehen zu entnehmen. Und die Lyrik schließlich verzichtet zumeist auf die eindeutige Festlegung von Raum, Zeit und Personen, da diese, wie Aschenberg unter Bezug auf Staiger (1946/1968, 44ss.) erklärt, für die lyrische Aussage nicht bedeutsam seien (cf. Aschenberg 1999, 185ss.). Aber auch innerhalb der Gruppe der narrativen Texte, für die die suppletive Kontextbildung zur Orientierung des Lesers besonders wichtig ist, sind nicht zuletzt aus diskurstraditionellen Gründen große Unterschiede hinsichtlich der Restitution der Situation feststellbar. In Kapitel 3 dieser Arbeit wird gezeigt werden, dass naturalistische Texte aufgrund ihres Anspruchs, die Wirklichkeit möglichst exakt abzubilden und die Determinierung des Menschen durch sein soziales Milieu aufzuzeigen, Raum, Zeit und Personen ganz anders verbal aufbauen als beispielsweise zeitgenössische nouvelles à chute, die einen finalen Überraschungseffekt vorbereiten. Deshalb soll die suppletive Kontextbildung, also die verbale Restitution der Situation, sowohl aus diskurstraditionellen als auch aus semantischen Gründen als weitere Komplexitätskategorie berücksichtigt werden. Heidi Aschenberg weist deutlich darauf hin, dass in Bezug auf die suppletive Kontextbildung Komplexitätsunterschiede bestehen,

2.2 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Komplexität

63

wenn die am Textanfang zu erwartende Orientierung durch die Einführung von Figuren, Raum und Zeit als Akteure bzw. Dimensionen der fiktiven Welt (cf. ib., 203) ausbleibt und stattdessen die personale, lokale und temporale Referentialisierung des Geschehens nicht linear und eindeutig erfolgt, sondern durch «erzähltechnische Raffinessen mannigfaltig perspektiviert, bloß angedeutet oder gar ausgeblendet» wird (cf. ib., 187). Bei der suppletiven Kontextbildung in narrativen Texten muss zudem berücksichtigt werden, dass diese Gattung sogar zwei unterschiedliche Situationen verbal aufbauen muss: die Erzählsituation und die erzählte Situation (cf. ib., 188). Die Erzählsituation besteht aus der Relation zwischen Erzähler und narrataire und gibt als «interne Kommunikationssituation» die Erzählstrategie vor (cf. ib., 188 unter Verweis auf Janik 1973/1985, 13s.), während die erzählte Situation durch die wesentlichen Parameter Raum, Zeit und Personen der erzählten Welt gegeben ist. Bei der Bewertung der Komplexität in Bezug auf die suppletive Kontextbildung wird es also darum gehen müssen zu entscheiden, ob und bis zu welchem Grad der Aufbau der erzählten Situation dem Rezipienten im fiktionalen Universum Orientierung verschafft und ob bzw. inwiefern die Art der Restitution der Erzählsituation sich für dieses Mehr oder Weniger an Orientierungsfunktion verantwortlich zeigt. Nachdem nun deutlich geworden ist, warum die Art und Weise der suppletiven Kontextbildung bei der Analyse semantischer und diskurstraditioneller Komplexität Berücksichtigung finden muss, soll auf die Rolle des zweiten Umfeldtyps, des Rede- bzw. Diskurskontextes, für die Bewertung der Textkomplexität eingegangen werden. 2.2.3.2 Der positive und negative Rede- bzw. Diskurskontext Es steht außer Frage, dass der sprachliche Kontext natürlich für die Bedeutungskonstitution jedes Textes, ob einfach oder komplex, eine bzw. die zentrale Rolle spielt. Dies gilt aber, wie sowohl Coseriu (1980/2007) als auch Aschenberg (1999) deutlich machen, sowohl für den «positiven», also explizit verbalisierten Kontext, als auch für den «negativen» Kontext, der sich aus dem implizit Angedeuteten und dem Verschwiegenen bzw. «Ausgesparten» (cf. Coseriu 1980/2007, 129) ergibt. In dieser Unterscheidung liegt offensichtlich ein Komplexitätsunterschied begründet, da Anspielungen vom Rezipienten erkannt und Aussparungen von ihm gefüllt werden müssen, was wiederum nur unter Rückgriff auf die «subjektiven Kontexte» gelingen kann. Hiermit kommen wir also auf das in der Übersummativität bzw. dem Bild vom Textsinn als Eisberg begründete Implizite als potentielle Quelle von Komplexität zurück. Gerade für literarische Texte spielt natürlich der «negative Kontext» eine zentrale Rolle, was in Kapitel 2.2.2.1 im Zusammenhang mit der Herstellung von Kohärenz in Erzähltexten bereits erwähnt

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

wurde. So weisen Martínez/Scheffel (1999/2012, 115) darauf hin, dass z.B. die Motivierung der erzählten Handlung oftmals zu den «Unbestimmtheitsstellen» des Textes gehört, und Aschenberg (1999, 148s.) bezeichnet unter Verweis auf Schmidt (1972, 67) Phänomene wie «Polyfunktionalität der Textkonstituenten», «Leerstellen» und «Unbestimmtheiten» als definitorisch für literarische Texte. Gemäß Iser (1971, 16) ist es der «Leerstellenbetrag, der den Auslegungsspielraum und die verschiedenartige Adaptierbarkeit des Textes überhaupt erst [ermöglicht]». So verstandene Leerstellen, die auf verschiedenen Ebenen eines Textes auftreten können, häufig aber in Bezug auf die Motivierung und Bewertung der geschilderten Ereignisse zu konstatieren sind (cf. Köppe 2007, 424), gehen deutlich über den generell festzustellenden elliptischen Charakter sprachlicher Kommunikation (cf. Kapitel 2.3.2.1) hinaus. Ihre Ausfüllung fordert den Leser zu bewussten, wissensbasierten Interpretationsleistungen heraus, provoziert ihn «zur Mitarbeit an dessen Sinnkonstitution» (ib., 424) und somit müssen Leerstellen bzw. Aussparungen als zentrales semantisches Komplexitätsmerkmal betrachtet werden. Mit einer ähnlichen Begründung müssen auch die implizit angedeuteten bzw. konnotativen oder evokativen Kontexte als Komplexitätsmerkmal berücksichtigt werden. Gerade literarische Texte machen vielfach Gebrauch von der evokativen Funktion der Sprache, die die Möglichkeit bietet, «sich mit Hilfe von Sprache auf etwas zu beziehen, ohne eigentlich davon zu sprechen» (Coseriu 1980/2007, 137). Heidi Aschenberg (1999, 152ss.) bewertet im Rahmen ihrer Überlegungen zu diesem Phänomen Coserius Definition von Evokation16 als besonders erhellend, weil sie zum einen ausdrücklich im Hinblick auf die Textebene entwickelt wurde und zum anderen durch explizite Auflistung der diversen textuellen Zeichenrelationen den Vorzug bietet, «konkrete methodologische Aspekte für die deskriptive Analyse der impliziten Bedeutungsbeziehungen des Textes zu erschließen». Wie bereits angeführt, erhält gemäß Coseriu (1980) der Text seinen Sinn aus seinem sprachlichen und außersprachlichen Kontext (cf. Coseriu 1980/2007, 143) sowie aus der Kombination der Bühler’schen Funktionen17 (Darstellung, Kundgabe und Appell) 16 Coserius Begriff der Evokation entspricht zum Teil dem Begriff der Konnotation. Er will sich mit diesem Begriff und seiner klaren Aufstellung der unter ihn fallenden Zeichenrelationen aber bewusst sowohl von dem «terminologischen Chaos auf dem Gebiet der Konnotation» als auch von dem Konnotationsbegriff Hjelmslevs – der nur einen Teil dessen umfasst, was Coseriu unter Evokation versteht, nämlich die Relationen mit ganzen Zeichensystemen – abgrenzen (cf. Coseriu 1980/2007, 99). 17 Coseriu (1980/2007, 91) geht in dieser Definition allerdings von seiner Modifizierung des Bühler’schen Organon-Modells aus, bei der die Darstellung (die Bedeutung) zum Zeichen gehört. Dieses vollständige Zeichen erfüllt dann im konkreten Redeakt die Funktionen der Bezeichnung der «Sachen», der Kundgabe und des Appells.

2.2 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Komplexität

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mit der Evokation (cf. ib., 137). Unter Evokation versteht Coseriu (1980) nun die Gesamtheit der Zeichenfunktionen, die sich nicht direkt auf die Darstellungsfunktion reduzieren lassen, die besonders viel zum Reichtum der Sprache beitragen (cf. ib., 137) und folglich in voller Aktualisierung in der dichterischen Sprache zu finden sind (cf. ib., 147). Konkret benennt und erläutert Coseriu die in der folgenden Tabelle aufgeführten Relationen, durch die das Zeichen im Redeakt funktioniert und die zur offenen Liste der Erscheinungsformen von Evokation zählen. Sie werden unter Rückgriff auf Coserius (1980) und Aschenbergs (1991) Erläuterungen vorgestellt und mit Hilfe der Coseriu’schen sowie eigener Beispiele illustriert:

Tab. 7: Offene Liste der Erscheinungsformen von Evokation im Sinne Coserius. I.

RELATIONEN MIT ANDEREN ZEICHEN Diese bestehen zwischen einem aktualisierten Zeichen im Text und anderen nichtaktualisierten Zeichen (cf. Coseriu /, ).

I.



I.

. in materieller Hinsicht: Dabei geht es um Erscheinungen wie Reim, Assonanz, Alliteration u.ä. (cf. ib., ).

I.

. in inhaltlicher Hinsicht: Das sprachliche Zeichen kann so komponiert sein, dass es aufgrund seiner «semantischen Transparenz» beim Leser bestimmte Assoziationen weckt und auf bestimmte Eigenschaften des durch es Bezeichneten verweist (cf. Aschenberg , ). Coseriu erwähnt in diesem Zusammenhang die verschiedenen Bezeichnungen für die Fledermaus in einigen europäischen Sprachen (frz. chauvesouris, lat. vespertilio), deren «Bildungsdurchsichtigkeit» jeweils völlig andere Vorstellungen und Assoziationen suggeriere wie z.B. die Ähnlichkeit des Tiers mit einer Maus, sein kahles Aussehen (frz. chauve ‘kahl’) oder die Zeit, zu der es ausfliegt (lat. vesper ‘Abend’) (cf. Coseriu /, ).

I.



Relationen mit einzelnen Zeichen

Relationen mit Gruppen bzw. Kategorien von Zeichen: Wörter können aufgrund ihrer Bildungsweise oder ihres Genus bestimmte Dinge evozieren, weil sie in Relation zu bestimmten Zeichenkategorien der betreffenden Sprache stehen (cf. ib., ). So steht das Wort Eichhörnchen aufgrund seiner Endung -chen in Relation zu den Diminutiva und evoziert ein kleines Tier (cf. ib., ). Des Weiteren bringen die Sprecher häufig das Genus eines Nomens in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem natürlichen Geschlecht seines Referenten. Deshalb wird der Tod in romanischen Ländern, wo das Wort für den Tod ein Femininum ist (frz. la mort, it. la morte etc.), häufig durch eine Frau personifiziert, in den germanischen Völkern hingegen durch einen Mann (cf. ib., ).

66

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

I.



II.

RELATIONEN MIT ZEICHEN IN ANDEREN TEXTEN Diese bestehen zwischen einem Zeichen im Text und den Zeichen in anderen Texten, die zur sprachlichen und kulturellen Tradition einer Sprachgemeinschaft gehören (cf. ib., ). Es handelt sich dabei um einen Teil der Phänomene, die heute in der Regel unter den von Julia Kristeva (, –) geprägten Begriff der Intertextualität subsumiert werden (cf. Coseriu /, ).

Relationen mit ganzen Zeichensystemen: Jedes Zeichen evoziert die historische Sprache oder das diatopische, diastratische oder diaphasische Subsystem, zu dem es gehört, wobei diese Evokationen nur im Fall von «Sprachmischung» wirksam werden (cf. ib., ). In einem deutschen Text beispielsweise evozieren französische Zeichen die allgemeinen Vorstellungen, die man in der deutschen Sprachgemeinschaft mit dem Französischen und seinen Sprechern verbindet (z.B. Sprache der Liebe) (cf. ib., s.). Und in Daudets La Chèvre de M. Seguin evozieren Blanquettes Siezen und permanentes Betiteln des Ziegenhalters als monsieur Seguin das Sprechen mit Autoritäten, also ein bestimmtes diaphasisches Subsystem des Französischen.

Wiederholte Rede und die geflügelten Worte: Unter diese Rubrik fallen alle Möglichkeiten, Zeichen in Texten so zu verwenden, dass sie als Anspielung auf bereits existierende, fixierte Zeichensequenzen oder bekannte Stellen aus bedeutenden Texten verstanden werden müssen (cf. ib., ). Nicht selten geschieht dieses Wiederaufgreifen in modifizierender, persiflierender oder parodierender Art (cf. Aschenberg , ). Coseriu führt als Beispiel für solche Anspielungen die Aussage «mit ihm kann man höchstens Esel stehlen» an, die so zu verstehen sei, dass auf die betreffende Person eben nicht so viel Verlass ist, dass man mit ihr «Pferde stehlen» könnte (cf. Coseriu /, ). III. RELATIONEN ZWISCHEN ZEICHEN UND «SACHEN» Hierbei geht es um die ikastische Funktion des Zeichens, also um die direkte Nachahmung der bezeichneten Sache durch das signifiant eines einzelnen Zeichens bzw. durch die signifiants einer Zeichenkette (cf. ib., ). III. 

Nachahmung durch die Substanz des Zeichens

III. . Die unmittelbare Nachahmung durch das Lautbild (Onomatopöie): Auch Zeichen, die in der Sprache keine ikastische Funktion haben, können im Text eine solche erhalten (cf. ib., s.), was im folgenden Vers aus Baudelaires Spleen (Les Fleurs du Mal, LXXVIII) der Fall ist: «Et se cognant la tête à des plafonds pourris» (Baudelaire , ). Durch die Verdopplung der Explosive t und p werden hier der Stoß und sein Nachhall imitiert (cf. Carlier/Dubosclard , ).

2.2 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Komplexität

67

III. . Die mittelbare Nachahmung durch die Artikulation: In diesem Fall entspricht nicht das akustische Klangbild eines Zeichens, sondern die Artikulation, also die Bewegungen, die zur Lautproduktion nötig sind, in irgendeiner Weise den bezeichneten Sachen (cf. Coseriu /, ). Coseriu führt als Beispiel für diese Evokation unter Berufung auf Charles Bally (, ) die Artikulation der Verben happer (schnappen) und lapper (schlabbern) an, für die ungefähr die Mundbewegungen nötig sind, die die Verben selbst bezeichnen (cf. Coseriu /, s.). III. . Synästhesie: Die synästhetische Nachahmung beruht auf der Analogie verschiedener Sinneseindrücke. Insbesondere die Verbindung des hörbaren mit dem sichtbaren Bereich ist weit verbreitet und so ist es allgemein üblich, e und i als helle Vokale, a, o und u hingegen als dunkle Vokale zu beschreiben. Folglich kann die Wiederholung der Silbe tur im folgenden Vers von Luis de Góngora «Infame turba de nocturnas aves» einen Eindruck von Dunkelheit heraufbeschwören (cf. ib., s.). III. .

Nachahmung durch die Form des Zeichens: Unter der Form des Zeichens versteht Coseriu nicht nur «den systematischen Ort [. . .], der jedem zeichenhaften Element im gesamten Gefüge von Oppositionen im Bereich des Ausdrucks einer Sprache zukommt» (ib., ), sondern darüber hinaus Aspekte wie z.B. «die Dimension, die Ausdehnung einzelner Zeichen oder Zeichenketten und jene rein quantitativ-numerischen Relationen zwischen den Zeichen im Text, die [. . .] in der antiken Rhetorik unter dem Terminus Numerus zusammengefaßt wurden» (ib., ). Der folgende Satz aus Daudets La Chèvre de M. Seguin evoziert in diesem Sinn aufgrund seines Rhythmus, der aus den raschen Aufzählungen und kurzen Lexemen (hop, tête, pic, bas) resultiert, das ungestüme Herumtollen der Ziege im Gebirge: «Hop ! la voilà partie, la tête en avant, à travers les maquis et les buissières, tantôt sur un pic, tantôt au fond d’un ravin, là-haut, en bas, partout . . . » (C, ).

IV. RELATIONEN ZWISCHEN ZEICHEN UND «KENNTNIS DER SACHEN» Zeichen funktionieren im Text auch durch die Relationen, die zwischen den Zeichen und unserem Wissen von den bezeichneten Sachen bestehen (cf. Coseriu /, s.). Oben wurde bereits der Bereich innerhalb der Coseriu’schen Umfeldtheorie erklärt: es handelt sich um den Raum, in dem ein Zeichen bekannt ist und üblicherweise verwendet wird und dessen Grenzen somit kultureller Art sind (cf. ib., ). Wenn nun Zeichen wie Iglu, torero oder geisha außerhalb des Bereichs ihres Designatums verwendet werden, so evozieren sie nicht nur die Kenntnis der durch sie bezeichneten Sachen, sondern Kenntnisse der gesamten Kultur, in die sie integriert sind (cf. ib., ). Auch die indirekte Zeichenfunktion Zeichen – Bezeichnetes – Symbolisiertes gehört zu dieser Art der Evokation. So evozieren beispielsweise innerhalb eines bestimmten Kulturraums die Zeichen weiß, Rose oder Wolf auch den symbolischen Wert (Unschuld, Liebe, das Böse) der durch sie bezeichneten «Sachen».

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Zweifelsohne können diese Zeichenrelationen und die damit verbundenen Evokationen ganz wesentlich zum Sinn eines Textes beitragen. Wenn Sartre beispielsweise einen «bildungsdurchsichtigen» Namen wie Estelle (→Est-elle?) für einen der drei Protagonisten seines Theaterstücks Huis clos (1944) wählt, dann trägt dieser offensichtlich zur impliziten Charakterisierung dieser Figur bei und evoziert deren Oberflächlichkeit bzw. Unfähigkeit, sich von innen heraus (ohne Zuhilfenahme eines Spiegels) zu spüren. Und François Ozons Filmtitel Huit femmes (2002) wiederum stellt eine intertextuelle Anspielung auf Sartres Huis clos dar, die ankündigt, dass jede der acht Frauen des Films zum bourreau für eine der anderen wird, da alle die in Huis clos illustrierte mauvaise foi, also eine Art Selbstbetrug, praktizieren. Die beiden zuletzt ausgeführten Beispiele unterstreichen auch, dass solche Evokationen in vielen Fällen die semantische Komplexität eines Textes erhöhen, da sie zwar vom Text ausgelöst werden, aber vom Rezipienten «kognitiv eingelöst» (Aschenberg 1999, 154) werden müssen. Dieser muss zunächst über das nötige Sprach- oder Weltwissen verfügen, um die Konnotation überhaupt sehen zu können, und weiterhin im Rahmen eines mehr oder weniger umfangreichen Schlussprozesses die volle Bedeutung der Anspielung zu rekonstruieren. Heidi Aschenbergs Analyse der Rezipientenleistung beim Erfassen von Evokationen kann man ebenfalls als Begründung für deren hohe Komplexität verstehen: «Dabei bedürfen die aus dem Redekontext erwachsenden Konnotationen im Sinne von ‹formal ungesicherte[r] Information› (Stierle 1975: 150) mehr noch als die Denotationen des produktiven, kreativen Verstehens. Denn in ihrem Fall vermittelt nicht primär der Text die Information, sondern bringt, wie Stierle schreibt, der ‹Empfänger selbst . . . die Information hinzu, für die die Konnotation lediglich auslösende Funktion hat› (ib.)» (Aschenberg 1999, 154).

Coserius natürlich als offen verstandene Auflistung der möglichen Formen von Evokation kann durch Gardts Aussage, «dass alles an einem Text potentiell bedeutungstragend ist» (Gardt 2008a, 1202), um zahlreiche weitere Möglichkeiten von Anspielungen in Texten erweitert werden. So können – wie im Kontext der Übersummativität bereits angeführt – das Zusammenspiel von antithetischen Konstruktionen, Hypostasierungen und inchoativen Verben beispielsweise eine Denkfigur wie Offenheit und Dynamik evozieren (cf. Gardt 2008a, 1205s.). Letztlich können alle denkbaren grammatischen, argumentativen, semantischen, lautlichen und stilistischen Muster oder Auffälligkeiten und die Bezüge zwischen ihnen Evokationspotential haben. Wahrscheinlich sind diese implizit angedeuteten Relationen des Rede-Kontextes sogar in der Regel noch komplexer als Leerstellen und Aussparungen, da sie subtiler sind, oftmals ohne entsprechendes Hintergrundwissen gar nicht gesehen werden können und bewussteres Analysieren erfordern, als dies bei

2.2 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Komplexität

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den häufig unmittelbar auffallenden Informationslücken der Fall ist. Deshalb werden die «Andeutungen bzw. Evokationen» neben den «Leerstellen und Aussparungen» ein weiteres Merkmal semantischer Komplexität konstituieren und das Vorliegen dieser beiden Merkmale wird aus den genannten Gründen in der Regel auch hohe Anforderungen an das Wissen der Rezipienten stellen. Um diesen dritten Typ der Aschenberg’schen Typologie der Kontexte und seine schon mehrfach angeführte Relevanz im Zusammenhang mit semantischer und diskurstraditioneller Komplexität soll es im nächsten Abschnitt gehen. 2.2.3.3 Der subjektive Kontext – das Wissen des Rezipienten Aschenbergs drittem Kontexttyp, dem subjektiven Kontext, der alle relevanten Wissensbestände der Rezipienten zur Sinnkonstruktion beinhaltet, werden wir mit insgesamt vier Komplexitätskategorien – darunter den in Kapitel 2.1 präzisierten «Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen der Rezipienten» – Rechnung tragen. Diese vier Komplexitätskategorien entsprechen allerdings – aus Gründen, die im Folgenden erläutert werden – nicht eins zu eins den drei Rubriken (a, b, c) aus Aschenbergs Charakterisierung des subjektiven Kontextes, die sie aus Coserius Modell der drei Ebenen des Sprechens sowie seiner Theorie der Umfelder ableitet und aus den oben angeführten Gründen (zu starke Differenzierung, Heterogenität der Umfelder) folgendermaßen bündelt: «das Wissen (mit den für sprachliche Zusammenhänge erforderlichen Komponenten (a) der sprachlichen Kompetenz, also als ‹elokutionelles›, ‹idiomatisches› und ‹expressives› Wissen, und (b) des lebensweltlichen Wissens in seiner ganzen Vielfalt, also gemäß den Bestimmungen des Außer-Rede-Kontextes, und (c) des Redeuniversums)» (Aschenberg 1999, 75).

In Kapitel 2.1 wurde erläutert, dass Diskurstraditionen großen Einfluss auf semantische Merkmale eines Textes und ihre Komplexität haben, dass sie Interpretationsmöglichkeiten einschränken und als kognitiver Entlastungsfaktor fungieren können. Aus diesem Grund bietet sich in unserem Kontext eine isolierte Komplexitätskategorie «Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen» an, deren Wechselwirkungen mit anderen Komplexitätskategorien aufschlussreich sind. Da wir weiterhin gemäß Wilhelm (2001, 468) die Rede- bzw. Diskursuniversen als «Klassen von Text- oder Diskursgattungen» als höchsten Komplexitätsgrad der Diskurstraditionen betrachten, berücksichtigt unsere soeben begründete erste Wissenskategorie sowohl die Anforderungen, die die Sinnkonstruktion eines Textes an das expressive Wissen nach Coseriu (1988/2007) stellt als auch an das Wissen über das zugehörige Redeuniversum (Aschenbergs isolierte Rubrik c). Die von Aschenberg (1999) vorgesehene Untergliederung der sprachlichen Kompetenz (a) orientiert sich unmittelbar am Coseriu’schen Modell der

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

drei Ebenen des Sprechens, das auf jeder Ebene auch eine spezifische Art des sprachlichen bzw. sprachbezogenen Wissens verortet (cf. Kapitel 2.1.1): das elokutionelle Wissen bezieht sich auf die universelle Ebene des Sprechens im Allgemeinen, das idiomatische Wissen auf die historische Ebene der Einzelsprache und das expressive Wissen, das in Kapitel 2.1 ausführlich erläutert wurde, auf die individuelle Ebene des Diskurses (cf. Coseriu 1988/2007, 89). Da sich gemäß Coseriu (1980/2007, 11) der Text als Produkt einer zweifachen Determinierung darstellt, im Zuge derer das Sprechen im Allgemeinen durch eine bestimmte einzelsprachliche Tradition determiniert und weiterhin durch Diskurstraditionen angeleitet wird, verlangen sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Texten die Verfügbarkeit der drei genannten Wissensbestände. Folglich muss unser Raster für die Komplexitätsanalyse neben den «Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen» auch den beiden weiteren Ebenen des sprachlichen und sprachbezogenen Wissens mit den Kategorien «Anforderungen an das elokutionelle Wissen» und «Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen» Rechnung tragen. Neben diesen auf sprachliche Zusammenhänge bezogenen Wissenskategorien bedarf es aber natürlich auch noch einer Komplexitätskategorie, die die Anforderungen an das lebensweltliche bzw. enzyklopädische Wissen beurteilt, die ein Text an seine Leser stellt. Die Bedeutungskonstruktion eines Textes kann nur gelingen, wenn eine gewisse Kenntnis der Dinge vorhanden ist, von denen im Text die Rede ist (cf. Coseriu 1980/2007, 124). Andernfalls können das Füllen von Leerstellen und das Einlösen von Evokationen, welche womöglich die Kenntnis bestimmter Werke der Weltliteratur oder soziologische und psychologische Wissensaspekte voraussetzen, sowie die Herstellung von Kohärenz insgesamt nicht gelingen. Aus den oben genannten Gründen (cf. Kapitel 2.2.3) werden wir innerhalb dieser Kategorie allerdings keine weitere Differenzierung nach historischen, literarischen, religiösen, technischen und sonstigen Wissensbeständen vornehmen, sondern vielmehr im Rahmen der Komplexitätskategorie «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» entscheiden, ob das Verständnis eines Textes nur Alltags- oder Allgemeinwissen aus bestimmten Bereichen voraussetzt oder aber differenzierte Kenntnisse bis hin zu Expertenwissen. Nach der ausführlichen Erläuterung des expressiven bzw. diskurstraditionellen Wissens in Kapitel 2.1 sollen nun auch kurz die Wissensbestände vorgestellt werden, die Coseriu (1988/2007) auf der universellen bzw. historischen Ebene seines Modells der Sprachkompetenz verortet. Die Charakterisierung des elokutionellen und des einzelsprachlichen Wissens dient zum einen der Begründung für die Eröffnung zweier weiterer Kategorien des sprachlichen und sprachbezogenen Wissens, die sich tatsächlich fundamental voneinander unterscheiden. Zum anderen fungiert sie als Folie, vor der funktionelle Abweichungen deutlich werden, die gerade im Kontext literarischer Texte erwartbar sind. Der Gehalt der

2.2 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Komplexität

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drei Wissenstypen, die Coseriu zur sprachlichen Kompetenz zählt, besteht aus vorgegebenen Elementen (z.B. Suffixen, Lexemen, Phraseologismen, Formeln) und Verfahren zu ihrer Kombination sowie den diesen Verfahren innewohnenden Normen (cf. Coseriu 1988/2007, 255). Somit besteht natürlich auch im Bereich des elokutionellen und einzelsprachlichen Wissens die Möglichkeit der funktionalen Abweichung von ebendiesen Normen, die in Kapitel 2.1.2 für die Diskurstraditionen bereits näher erläutert wurde. Die mit diesen Abweichungen verbundenen internen und externen Funktionen (cf. Fricke 1981, 100) oder Zusatzbedeutungen unterschiedlichster Art (cf. Dittgen 1989, 18) sind ein Indiz für erhöhte semantische Komplexität insbesondere auf den Ebenen von Wort- und Satzsemantik sowie im Hinblick auf «Andeutungen/Evokationen» und alle vier Wissenskategorien selbst. Sie verlangen nämlich mitunter anspruchsvolle Inferenzen vom Leser, die nur gelingen können, wenn dieser über das nötige elokutionelle, einzelsprachliche, diskurstraditionelle und lebensweltliche Wissen verfügt, um zum einen den Verstoß gegen die entsprechende Norm zu erkennen und zum anderen diesen auch adäquat zu deuten. Das einzelsprachliche Wissen entspricht im Wesentlichen dem, was langue genannt wird (cf. Coseriu 1988/2007, 132), enthält also Kenntnisse über Zeichen und Regeln auf den Beschreibungsebenen der Phonologie, Morphologie, Syntax, Textgrammatik, Semantik und Pragmatik. Darüber hinaus umfasst es aber auch diachronisches Wissen und Kenntnisse über sprachliche Variation, also über Dialekte, Sprachniveaus und Sprachstile (cf. ib., 132s.), und erlaubt den Kommunizierenden Urteile über die Korrektheit sprachlicher Äußerungen (cf. ib., 82). Die verwendeten Elemente (Lexeme, Phraseologismen etc.) und Verfahren zu ihrer Kombination können aufgrund ihrer Geläufigkeit oder Seltenheit, ihrer Universalität oder eventuellen Beschränktheit auf wenige Varietäten oder Textsorten natürlich mehr oder weniger große Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen der Rezipienten stellen, die im Rahmen der entsprechenden Komplexitätskategorie bewertet werden müssen. Fricke (1981) liefert in seiner Untersuchung Norm und Abweichung nun zahlreiche Beispiele für bedeutungstragende Verstöße gegen einzelsprachliche Regeln, vornehmlich aus dem Bereich der Lyrik, Dittgen (1989) analysiert vergleichbare Abweichungen in Zeitungsüberschriften, Werbetexten und Graffitisprüchen. So verstößt Christian Morgenstern in seinem Gedicht «Lieb ohne Worte» beispielsweise gegen morphologische Normen, indem er «das Superlativ-Morphem ‹st›, dessen Gebrauch strikt auf Adjektive und deren Ableitungen begrenzt ist, auch an Substantive, Verben, Partizipien, ursprüngliche Adverbien, Pronomina und sogar Interjektionen [anhängt]» (Fricke 1981, 28):

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

«Mich erfüllt Liebestoben zu dir! Ich bin deinst, als ob einst, wir vereinigst. Sei du meinst! Komm Liebchenstche zu mir – Ich vergehste sonst Sehnsuchtsgepeinigst» (Morgenstern 1932/2014, 249).

Helmut Heißenbüttel (1970) setzt sich über valenzgrammatische Restriktionen hinweg, wenn er das nullwertige Verb regnen folgendermaßen verwendet (cf. Fricke 1981, 35s.): «Die Braut vom gestrandeten Fenster regnet im Traum [. . .]» (Heißenbüttel 1970, 171).

Im Graffiti-Spruch «Als Gott den Mann schuf, übte sie nur» (Appuhn 1982, 139) stößt Dittgen (1989, 50) auf einen Kongruenz-Bruch, da das maskuline Substantiv Gott gemäß den grammatischen Regeln des Deutschen nicht durch das Personalpronomen sie wiederaufgenommen werden kann. Schließlich wird in der Werbeüberschrift «Ruhrgebeat» aus dem Zeitmagazin 39/86 vom 19.9.86 bewusst gegen orthographische Regeln des Deutschen verstoßen, indem die Silbe «biet» durch das englische Wort beat ersetzt wird, das zwar die gleiche Lautung, aber eine andere Schreibung als der substituierte Wortbestandteil hat (cf. ib., 116s.). Die angeführten Abweichungen von einzelsprachlichen Normen sind natürlich funktional bzw. bedeutungstragend: Morgensterns Verstoß gegen morphologische Normen dient beispielsweise der «parodistischen Überzeichnung sprachlicher Emphase» (Fricke 1981, 28) und der Graffitispruch suggeriert, dass Gott kein männliches Wesen ist und Frauen die gelungeneren Geschöpfe sind (cf. Dittgen 1989, 50). Solche normverletzenden Sprachverwendungen als Indizien für implizite Bedeutungen und nötige Inferenzen seitens des Rezipienten werden also die Komplexitätswerte in Bezug auf die Kategorien «Wortsemantik», «Satzsemantik», «Andeutungen/Evokationen» und «Anforderungen an das einzelsprachliche sowie lebensweltliche Wissen der Rezipienten» unweigerlich erhöhen. Das elokutionelle Wissen bzw. die allgemein-sprachliche Kompetenz nach Coseriu (1988/2007) ist übereinzelsprachlich, betrifft also das Sprechen überhaupt, wird von allen Sprachen vorausgesetzt und kann «eventuell in den Sprachen und mit Absicht in den Texten aufgehoben werden» (Coseriu 1988/2007, 89s.). Es handelt sich um eine autonome Kompetenz, «die einem besonderen Inhalt, nämlich der Bezeichnung des Außersprachlichen entspricht» (ib., 127). Das elokutionelle Wissen umfasst im Wesentlichen die allgemeinsten Prinzipien des Denkens und die allgemeine Kenntnis der Sachen (cf. ib., 89s.) und

2.2 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Komplexität

73

wenn das Sprechen im Einklang mit diesen Prinzipien und Kenntnissen steht, wird es von den Kommunizierenden als «kohärent» bzw. «kongruent» bewertet (cf. ib., 77). Folglich liegt den Verfahren auf der Ebene des Sprechens im Allgemeinen zunächst die Norm der Kongruenz zugrunde, die sich indirekt auch in der Verhaltensnorm der Toleranz auf Seiten der Sprecher zeigt (cf. ib., 248). Zu den allgemeinen Prinzipien des Denkens zählt Coseriu nämlich unter Verweis auf Grice auch «das Prinzip des Vertrauens» darauf, dass das Sprechen des Kommunikationspartners kohärent ist, und das «Wissen darüber, mit welchen Maximen man spricht» (ib., 95s.). Somit erweist sich das Wissen, das die allgemeinen Prinzipien des Denkens betrifft, als wesentlich für die Interpretation des Gesagten und erlaubt die «sinnvolle Interpretation auch des Sinnwidrigen», weil ein Hörer oder Rezipient eben aufgrund des Vertrauensprinzips bzw. der Verhaltensnorm der Toleranz nach der Kohärenz des auf den ersten Blick inkohärenten Ausdrucks sucht (cf. ib., 95s.). Als Beispiele für inkohärente Ausdrücke, die gegen allgemeine Prinzipien des Denkens verstoßen, führt Coseriu u.a. die folgenden beiden Sätze an: «Die fünf Erdteile sind vier: Europa, Asien und Afrika. Pierre ist Franzose; die Franzosen sind zahlreich; also ist Pierre zahlreich» (ib., 90).

Beide verstoßen gegen das «Prinzip der Kongruenz der Zahl nach» (ib., 90) und die Inkongruenz im Falle von «Pierre ist zahlreich» könnte beispielsweise dadurch aufgelöst werden, dass man sie so interpretiert, dass «Pierre kräftig oder intelligent ist wie viele Männer zusammen oder daß er für viele gilt» (ib., 95). Gerade im Kontext literarischer Texte und ihrer semantischen Komplexität ist natürlich die Interpretation des Gesagten und insbesondere des auf den ersten Blick Sinnwidrigen höchst relevant. Deshalb widmet sich Kapitel 2.4 ausführlich den Maximen des Grice’schen Kooperationsprinzips und (scheinbaren) Verstößen gegen diese und bildet der Umgang eines Textes mit den Maximen eine eigene Komplexitätskategorie. Solche Verstöße gegen allgemeine Prinzipien des Denkens und gegen die Maximen, an denen wir unsere Kommunikation ausrichten, führen aber ebenfalls zu einer erhöhten Komplexität in Bezug auf die Kategorie «Anforderungen an das elokutionelle Wissen». Der zweite wesentliche Aspekt des elokutionellen Wissens besteht in der allgemeinen Kenntnis der Sachen, aufgrund derer Aussagen wie «Dieser Baum singt schöne Weihnachtslieder» (ib., 96) als abweichend beurteilt werden. Außerdem erlaubt uns die allgemeine Kenntnis der Sachen, «das nicht zu sagen, was als das Normale und zu Erwartende ohnehin vorausgesetzt und mitverstanden wird» (ib., 106) (z.B. *«ein Kind mit Augen», *«ein Fluss mit Wasser», cf. ib., 102s.), oder aber derartige Aussagen auf eine andere Welt mit einer anderen Normalität der Sachen zu beziehen (cf. ib., 106). Weiterhin ermöglicht uns dieses

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Wissen, «das offensichtlich Inkongruente, z.B. die Identifikation von Personen und Sachen (A: ‹Welcher sind Sie?› – B: ‹Ich bin der schwarze Mercedes.›, cf. ib., 105), auf eine kongruente Weise zu interpretieren» (ib., 106). Schließlich spielt die allgemeine Kenntnis der Sachen auch eine wichtige Rolle bei der «Interpretation dessen, was die Einzelsprache als solche noch offen lässt» (ib., 89), hilft also beispielsweise dabei, die auf gleiche Weise gebildeten Komposita Windmühle und Kaffeemühle so zu interpretieren, dass erstere durch mit Wind erzeugter Kraft funktioniert und zweitere zum Mahlen von Kaffeebohnen dient (cf. ib., 110s.). Diese allgemeine Kenntnis der Sachen ist somit wiederum unerlässliche Voraussetzung, um (scheinbare) Verstöße gegen die Maximen, z.B. gegen die Qualitätsmaxime (Sage nichts, was du für falsch hältst) oder gegen die Quantitätsmaxime (Mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig) (cf. Grice 1979, 249), zu identifizieren und in der Folge interpretieren zu können. Auffällig an der allgemein-sprachlichen Kompetenz ist die Tatsache, dass wir uns ihrer «vor allem in negativer Hinsicht bewusst werden, d.h. immer dann, wenn wir Inkongruenzen feststellen» (Coseriu 1988/2007, 127), während ein Sprechen, das mit den allgemeinsten Prinzipien des Denkens und der allgemeinen Kenntnis der Sachen in Einklang steht, nicht weiter auffällt, weil es das normale und zu erwartende ist (cf. ib., 90). Das hat für die Komplexitätskategorie «Anforderungen an das elokutionelle Wissen» zur Folge, dass vor allem Abweichungen von den entsprechenden Prinzipien und der allgemeinen Kenntnis der Sachen zu erhöhten Komplexitätswerten führen, weil sie vom Rezipienten das Erfassen der verletzten Norm und das Interpretieren der Abweichung verlangen. Nachdem nun aus zentralen Eigenschaften von Texten und Überlegungen zur aktiven Konstruktion des Textsinns durch den Rezipienten mehrere Komplexitätskategorien abgeleitet wurden, stellt sich eine für alle weiteren Überlegungen zur Textkomplexität zentrale Frage, die die Überschrift des letzten Abschnitts dieses Kapitels bildet.

2.2.4 Gibt es eine objektive Bedeutung literarischer Texte? In den vorangehenden Abschnitten wurden Texte als übersummative Größen beschrieben, deren Sinn nur durch die Einbeziehung situationeller, sprachlicher und subjektiver Kontexte sowie der Coseriu’schen Evokation und stilistischer Faktoren erschlossen werden kann. Somit ist der Sinn nicht explizit gegeben, sondern muss vom Rezipienten im Rahmen eines aktiven und notwendigerweise wissensbasierten Prozesses konstruiert werden. Wenn die Textrezeption sich folglich als Bedeutungskonstruktion darstellt und die Bedeutungen nicht einfach

2.2 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Komplexität

75

in den Texten liegen (cf. Gardt 2013, 34s.), drängt sich die Frage auf, ob es dann so etwas wie einen «objektiven Textsinn» überhaupt geben kann. Alle Vertreter eines konstruktivistischen Bedeutungsbegriffs – und dazu zählt auch die Verfasserin dieser Arbeit – müssen diese Möglichkeit konsequenterweise verneinen. Heidi Aschenberg (1999) fällt es zumindest schwer, Coserius These, «daß der Sinn etwas Objektives ist» (Coseriu 1980/2007, 155), vorbehaltlos zuzustimmen, wenn sie sich der Einsichten der Hermeneutik «in die Subjektivität des Interpreten, in Zeitenabstand, Geschichtlichkeit etc. erinnert, [. . .] Faktoren, die allesamt für die Auslegung und damit für die Konstitution des Textsinnes bedeutsam sind» (Aschenberg 1999, 69). Die von Linke/Nussbaumer (2000a) erläuterte Metapher vom Textsinn als Eisberg macht deutlich, dass der Großteil des Textsinns implizit bleibt und vom Rezipienten durch Inferenzen erschlossen werden muss. Elisabeth Stark (2001, 649) weist auf die Subjektivität dieser Inferenzen und somit indirekt auch auf die Subjektivität des Textsinns hin, wenn sie erklärt: «Obwohl Inferenzen bei der Textproduktion in aller Regel eingeplant werden, sind sie nicht vorhersagbar und können zu unterschiedlichen Rezeptionsergebnissen führen (vgl. Crothers 1979: 9, Heinemann & Viehweger 1991: 74, s. auch Weingartner in Conte et al. 1989)».

Gardt (2013, 35) ist weniger zögerlich als Aschenberg (1999) und direkter als Stark (2001) und begründet auf absolut nachvollziehbare Art und Weise die Unmöglichkeit einer objektiven Textbedeutung: «Durch den nicht hintergehbaren subjektiven Anteil beim Verstehen ist es unmöglich, zu einer objektiven Bedeutungsangabe für einen Text zu gelangen. Anders formuliert: Da es keine texteigene Bedeutung jenseits der durch den Leser an ihm konstruierten gibt, haben Texte keine objektiven Bedeutungen».

Wenn Texte aber keine objektiven Bedeutungen haben, müssen auch starke Zweifel an der Möglichkeit aufkommen, ihre semantische Komplexität objektiv zu ermitteln. Diese Zweifel können aber relativiert werden durch die Einschätzung Gardts, wonach die theoretisch unbestreitbare «Konstruiertheit» der Bedeutung in der Praxis keineswegs zu einer Beliebigkeit von Textanalysen führe, sondern diese im Gegenteil zumeist auf eindeutige Bedeutungszuweisungen hinausliefen (cf. Gardt 2013, 36–38). So stellt Gardt (2008a, 1201) sowohl in der sprachwissenschaftlichen als auch in der literaturwissenschaftlichen Praxis des semantischen Umgangs mit Texten folgendes fest: «Die Neigung, Texte auf ganz bestimmte Bedeutungen festzulegen, hat sämtliche konstruktivistischen Ansätze überlebt und findet sich auch in der Gegenwart. Ein Blick in literaturwissenschaftliche Interpretationen – deren Verfasser in ihrer theoretischen Positionierung jedem Objektivismus abschwören würden – belegt es sofort. [. . .]

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Dass trotz konstruktivistischer Theorie die Praxis des semantischen Umgangs mit Texten zu großen Teilen realistisch ist, kann aber im Grunde nicht überraschen. Letztlich ist es ein Ausdruck dessen, was Hans Hörmann den Sog nach Sinn nennt (Hörmann 1976): des nicht hintergehbaren Dranges, die Welt über Texte erklärbar zu machen und uns in ihr zu verorten».

Gemäß Gardt (2013, 37) werden in der Praxis der Textanalyse der aus dem konstruktivistischen Bedeutungsbegriff resultierenden «drohenden Vielfalt der Analyseergebnisse eine Art Widerständigkeit der Texte, ihre Materialität entgegengehalten, wodurch gute von schlechten, (‹richtige› von ‹falschen›) Analysen geschieden werden sollen». Diese Berufung auf die Widerständigkeit der Texte und ihre Materialität findet sich u.a. bei Gadamer (2010) und Iser (1976): «Alle rechte Auslegung muß sich gegen die Willkür von Einfällen und die Beschränktheit unmerklicher Denkgewohnheiten abschirmen und den Blick ‹auf die Sachen selber› richten (die beim Philologen sinnvolle Texte sind, die ihrerseits wieder von Sachen handeln)» (Gadamer 2010, 271). «Insoweit ist dem Leser eine bestimmte Textstruktur vorgegeben, die ihn nötigt, einen Blickpunkt einzunehmen, der die geforderte Integration der Textperspektiven herzustellen erlaubt» (Iser 1976/1984, 62).

Auch Coseriu (1980/2007) und Aschenberg (1999) berufen sich auf die Materialität der Texte und die in ihnen etablierten Zeichenrelationen, um die Textbedeutung nicht der Willkür bzw. der mangelnden Kompetenz der Interpreten preiszugeben. Coseriu ist allerdings auch kein Vertreter eines konstruktivistischen Bedeutungsbegriffs, sondern betrachtet den Textsinn tatsächlich als objektiv gegeben. Und die Möglichkeit, dass der Sinn nicht voll verstanden wird, stellt für ihn lediglich eine «empirische Einschränkung» dar, «die sich von der Tatsache herleitet, daß es keine zuverlässige Methode zur Entdeckung des Sinns gibt [. . .]» (Coseriu 1980/ 2007, 155). Er vertritt aber grundsätzlich die These, «daß der Sinn etwas Objektives ist, daß er objektiv durch die betreffenden Verfahren im Text ausgedrückt wird und daß alles, was man als Sinn des Textes verstanden hat, einschließlich der Kontexte, auf die sich der Text bezieht, objektiv gegeben ist» (ib., 155).

Und somit besteht für Coseriu auch nicht die Gefahr, dass Textanalysen zu uneindeutigen Ergebnissen gelangen: «[. . .] alles, was wir tatsächlich verstanden haben, [kann] objektiv auf die sinnkonstituierenden Relationen zurückgeführt werden [. . .]. Die Textanalyse besteht in der nachträglichen kontrollierenden Rechtfertigung des bereits Verstandenen, und insofern ist sie keineswegs willkürlich, kann sie keineswegs zu beliebigen Ergebnissen gelangen» (ib., 156).

2.2 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Komplexität

77

Wie oben bereits angeführt, kann Heidi Aschenberg (1999) Coserius These von der objektiven Gegebenheit des Textsinns nicht vorbehaltlos zustimmen. Sie schlägt stattdessen folgenden «Kompromiss» vor zwischen Coserius «Objektivitätsthese» und der Widerständigkeit der Texte einerseits und dem «Konstruiertsein» von Bedeutung und der Subjektivität der Interpreten andererseits: «Gewiß artikuliert sich Sinn in den ‹objektiv› gegebenen, sprachwissenschaftlich ‹objektiv› beschreibbaren sprachlichen Verfahren und den durch sie etablierten Zeichenrelationen, die als solche die Auslegungsmöglichkeiten eines Textes orientieren und restringieren. Aber er artikuliert sich nicht überall eindeutig und auch nicht durchgängig explizit. [. . .] Anders [. . .] als der Text ist der Sinn eben kein ausschließlich linguistisches Objekt, sondern Korrelat der unabschließbaren Formierung eines Verstehensprozesses [. . .]» (Aschenberg 1999, 69).

Gardt (2013, 37) hält diesem schwierigen Balanceakt zwischen der theoretisch kaum anfechtbaren Unmöglichkeit einer objektiv ermittelbaren Textbedeutung und der textanalytischen Praxis der eindeutigen und sich auf die Materialität der Texte berufenden Bedeutungsbeschreibung die empirische Erfahrung entgegen, dass die Ergebnisse unterschiedlicher Analysen desselben Textes meist nicht stark divergieren: «Der Beliebigkeit der Auslegung wird der Text als eine doch irgendwie objektive semantische Größe entgegengehalten. Man mag darin einen Widerspruch zu konstruktivistischen Bekenntnissen erkennen, aber eine Alternative zu dieser Sicht der Auslegung als eines Spiels zwischen Offenheit und Bestimmtheit von Bedeutung ist nicht erkennbar. Unsere alltägliche Erfahrung im Umgang mit Texten zeigt, dass sich die Ergebnisse unterschiedlicher Analysen desselben Textes meist innerhalb eines bestimmten Rahmens bewegen».

Gardt (2013, 38) zieht am Ende seiner Überlegungen zum Status von Bedeutungsbeschreibungen in Textanalysen das folgende Fazit, das aufgrund seines Pragmatismus und seiner Alternativlosigkeit auch die in Kapitel 3 dieser Arbeit zu unternehmende Korpusanalyse leiten soll: «Die Annahme eines konstruktivistischen Bedeutungsbegriffs bedeutet nicht, einer Beliebigkeit der Bedeutungsanalyse Tür und Tor zu öffnen. Bedeutungsanalysen basieren auf Konventionen, die eine Vergleichbarkeit der Analyseergebnisse innerhalb eines bestimmten Rahmens ermöglichen. Der Konsens der Experten entscheidet über den Grad der Angemessenheit einer Analyse».

Auch die Analyse und Beurteilung der semantischen Komplexität eines Textes kann natürlich nur auf der Basis einer umfassenden Bedeutungsanalyse des entsprechenden Textes erfolgen. Werden in deren Kontext eine große Anzahl von Leerstellen in Bezug auf das zentrale Handlungsschema oder die Motivierung

78

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

des Geschehens festgestellt, weiterhin eine sehr reduzierte suppletive Kontextbildung, die dem Leser kaum eine Orientierung im fiktionalen Universum erlaubt, und werden zudem nur wenige kohäsionsvermittelnde Merkmale wie Konnektoren, lexikalische Rekurrenzen oder textdeiktische Verweisformen ermittelt, dann sind dies objektive Indizien für eine erhöhte semantische Komplexität. Auch stilistische Besonderheiten, Verstöße gegen die Grice’schen Maximen oder Abweichungen von einzelsprachlichen oder diskurstraditionellen Normen – allesamt komplexitätssteigernde Faktoren – können im Rahmen einer Textanalyse verlässlich ermittelt werden. Was das Füllen von Leerstellen, das Einlösen von Andeutungen und das Interpretieren von Verstößen gegen sprachliche oder sprachbezogene Normen angeht, so werden wir uns bei unseren Text- und Komplexitätsanalysen an Indizien auf der Textoberfläche (Frames, Frame-Systeme, Korrespondenzen zwischen verschiedenen textuellen Merkmalen etc.) halten und natürlich – sofern verfügbar – an Analysen von Experten. In jedem Fall müssen das lebensweltliche Wissen, das zum Erkennen bestimmter Evokationen und zur Herstellung nötiger Inferenzen verfügbar sein muss, und der Umfang der entsprechenden Inferenzen eine Rolle bei der Bewertung der semantischen Komplexität eines Textes spielen. Insbesondere in diesen Bereichen kann es aber aufgrund des nicht existenten objektiven Verfahrens zur Ermittlung des Textsinns zu unterschiedlichen Rezeptionsergebnissen und damit auch zu unterschiedlichen Bewertungen der semantischen Komplexität eines Textes kommen. Da für einige der Korpustexte keine literatur- oder sprachwissenschaftlichen Analysen einer breiteren Expertengruppe verfügbar sind, ist es zweifelsohne möglich, dass die Verfasserin dieser Arbeit als einzige den Text analysierende Expertin aufgrund von subjektiven Wissenslücken eine intertextuelle Anspielung nicht einlösen kann, eine ebenfalls mögliche symbolische Lesart eines Textes verkennt oder die fehlende Bewertung einer Geschichte auf zu wenig differenzierte Art und Weise ergänzt und somit die semantische Komplexität des betreffenden Textes als zu gering einschätzt. So wie es durch «den nicht hintergehbaren subjektiven Anteil beim Verstehen» (Gardt 2013, 35) unmöglich ist, zu einer objektiven Bedeutungsangabe für einen Text zu gelangen, ist es folglich auch unmöglich, zu einer objektiven Einschätzung seiner semantischen Komplexität zu gelangen. Wir können aber für die an objektiven Kriterien orientierte und auf einer präzisen Textanalyse aufbauende Untersuchung der semantischen und diskurstraditionellen Komplexität eines Textes dasselbe in Anspruch nehmen, was Gardt (2013, 36–38) für Bedeutungsanalysen im Allgemeinen konstatiert – nämlich dass sie über weite Strecken auf geteilten Konventionen basiert und somit nicht zu beliebigen Ergebnissen führen wird, sondern unterschiedliche Bewertungen der Komplexität desselben Textes sich innerhalb eines bestimmten Rahmens bewegen werden.

2.2 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Komplexität

79

2.2.5 Zusammenfassung In diesem Kapitel wurden zentrale Eigenschaften von Texten, Überlegungen zur Konstituierung des Textsinns sowie Modellierungen des Vorgangs der Bedeutungskonstruktion durch den Rezipienten vorgestellt. Diese Erkenntnisse werden die Analyse textsemantischer und diskurstraditioneller Komplexität leiten und haben im Verlauf des Kapitels bereits zur Formulierung mehrerer Komplexitätskategorien geführt, hinsichtlich derer die Ausprägung der Komplexität eines gegebenen Textes bestimmt werden soll. Wir teilen Coserius Auffassung, dass es sich bei Texten um «die komplexeste Ebene des Sprachlichen überhaupt» (Coseriu 1980/2007, 45) handelt, da sich in ihnen die Normen, Regeln und Traditionen aller drei Ebenen des Sprechens manifestieren und sie außerdem durch ein «doppeltes semiotisches Verhältnis» (ib., 66) geprägt sind. Bedeutung und Bezeichnung der verwendeten Zeichen konstituieren nämlich gemeinsam das signifiant einer Inhaltseinheit komplexerer Art, des Sinns (cf. ib., 64s.). Diese Charakterisierung des komplexen Zeichens Text weist bereits auf seine Übersummativität bzw. Emergenz hin: die Textbedeutung umfasst mehr als die Summe der Bedeutungen der Einzelzeichen (cf. Gansel/Jürgens 2009, 19), ja es ist sogar so, dass der größere Teil des Textsinns unter der Oberfläche verborgen, also implizit ist (Eisbergmetapher des Textsinns) (cf. Linke/Nussbaumer 2000a, 435s.). Die offensichtliche «Erklärungslücke» zwischen der festen Bedeutung der den Text konstituierenden Sprachzeichen und dem Textsinn wird von Coseriu (1980/2007), Busse (1992), Linke/Nussbaumer (2000a), Aschenberg (1999) und Gardt (2008a; 2013) einhellig mit Verweis auf die fundamentale Rolle der Kontexte (außersprachliche Situation, sprachlicher Kotext, verstehensnotwendiges Wissen) für die Sinnkonstitution und auf die sinnbildenden Bezüge zwischen dem Textganzen und seinen Teilen bzw. zwischen den Textkonstituenten untereinander geschlossen. Der letztgenannte Aspekt gewinnt noch zusätzlich an Komplexität angesichts der Tatsache, «dass alles an einem Text potentiell bedeutungstragend ist» (Gardt 2008a, 1202), auch seine grammatischen Formen, argumentativen Verknüpfungen, strukturellen Besonderheiten, lautlichen und sonstigen Merkmale, die man unter den Begriff des Stils subsumieren kann (cf. ib., 1202). Wenn der Textsinn also zu einem Großteil aus den relevanten Umfeldern und Relationen zwischen Teilen und Ganzem sowie allen potentiell bedeutungstragenden Elementen untereinander resultiert, so ist unmittelbar klar, dass der Rezipient diese Bezüge aufdecken muss und dass er das von den sprachlichen Zeichen evozierte Wissen aktivieren

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

muss, um nötige Inferenzen zu ziehen. In Anlehnung an Christmann/Groeben (1996) und Gardt (2013) betrachten wir also die Textrezeption als einen aktiven Vorgang der Bedeutungskonstruktion, der sich analog zur Emergenz der Texte als Bewegung von den Textteilen zum kognitiven Entwurf des Textganzen und von diesem Entwurf der Gesamtbedeutung zu den Textteilen modellieren lässt – eine Modellierung, die die Hermeneutik als hermeneutischen Zirkel beschreibt, die kognitive Linguistik als top down- und bottom up-Verstehensprozess (cf. Gardt 2013, 33). Auch diverse Untersuchungen zur Kohärenz, die vielfach als wesentliches Textualitäts-Kriterium betrachtet wird, unterstreichen die aktive Leistung des Rezipienten. Diese ist insbesondere bei der Ermittlung des Textthemas und in narrativen Texten bei der Rekonstruktion der Motivierung der Handlung vonnöten. Die sinnbildende Funktion der Kontexte, auf der die Übersummativität der Texte ganz wesentlich beruht, ist von Coseriu (1980/2007) und Aschenberg (1999) eingehend untersucht worden. Auf der Grundlage von Coserius Umfeldtheorie entwickelt Aschenberg ihre eigene handhabbare Typologie der Kontexte, aus der weitere Komplexitätskategorien extrahiert wurden. Aschenberg (1999, 75) unterscheidet drei elementare Umfeldtypen, nämlich die nichtsprachliche Situation, den Rede- bzw. Diskurskontext sowie das Wissen der Rezipienten, den sogenannten subjektiven Kontext. Bei der nicht-sprachlichen Situation ist zu berücksichtigen, dass schriftliche Texte diese verbal kompensieren müssen, was Aschenberg als suppletive Kontextbildung bezeichnet (cf. ib., 179). In Bezug auf den Redekontext wiederum muss bedacht werden, dass nicht nur der explizit verbalisierte Kotext, sondern auch das Verschwiegene bzw. Ausgesparte sowie das implizit Angedeutete für die Konstitution des Textsinns von zentraler Bedeutung sind (cf. Coseriu 1980/2007, 129). Für das Erfassen des implizit Angedeuteten erweist sich Coserius Untersuchung der über die Darstellungsfunktion hinausgehenden Zeichenfunktionen, die er unter den Begriff der Evokation fasst (cf. ib., 92ss.), als äußerst hilfreich. Als zentrale Bestandteile des subjektiven Kontextes, also der Wissensbestände, die der Rezipient in die Sinnkonstruktion einbringen muss, betrachten wir in leichter Abwandlung von Aschenbergs Untergliederung das elokutionelle, das einzelsprachliche und das diskurstraditionelle Wissen sowie das lebensweltliche Wissen in seiner ganzen Breite. Diese nochmals kurz zusammengefassten Erkenntnisse hinsichtlich der Konstituierung des Textsinns und der aktiven Rolle des Rezipienten bei dessen Konstruktion haben die folgenden Komplexitätskategorien motiviert, die zu den vier bereits in Kapitel 2.1 formulierten hinzukommen:

2.2 Theoretische Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Komplexität

81

Tab. 8: Textsemantische Komplexitätskategorien.

.

Komplexität in Bezug auf Kohäsion & lokale Kohärenz

.

Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen

.

Komplexität in Bezug auf die suppletive Kontextbildung

.

Leerstellen/Aussparungen

.

Andeutungen/Evokationen

.

Anforderungen an das elokutionelle Wissen

.

Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen

.

Anforderungen an das lebensweltliche Wissen

Lokale und globale Kohärenz, die verbale Kompensation der außersprachlichen Situation, ausgesparte und evozierte Kontexte sowie das in den Verstehensvorgang einzubringende Rezipientenwissen sind notwendige Bedingungen für die Konstitution des Textsinns, die sich in ihrer Komplexität fundamental unterscheiden können. So können beispielsweise explizite Kohäsionsmarker dem Rezipienten die Herstellung von Kohärenz erleichtern, die suppletive Kontextbildung kann dem Leser eine unmittelbare Orientierung im fiktionalen Universum verschaffen oder zu seiner Verwirrung beitragen, globale Leerstellen und Evokationen können mehr oder weniger zahlreich sein und die erforderlichen Inferenzen können mehr oder weniger anspruchsvolles Wissen verlangen. Welche Möglichkeiten es gibt, die Ausprägung der Komplexität in Bezug auf die oben angeführten Komplexitätskategorien genauer zu bewerten, ist Thema der folgenden Kapitel. Am Ende des aktuellen Kapitels wurde geklärt, dass die theoretisch unbestreitbare Konstruiertheit der Bedeutung und der «nicht hintergehbare subjektive Anteil beim Verstehen» (Gardt 2013, 35) weder zu einer Beliebigkeit der Textanalysen noch zu Beliebigkeit hinsichtlich der Bewertung der Textkomplexität führen müssen. Dieser drohenden Beliebigkeit stehen die Materialität der Texte und die in ihnen etablierten (von Coseriu (1980/2007) akribisch untersuchten) Zeichenrelationen sowie die empirische Erfahrung entgegen, dass unterschiedliche Bedeutungsanalysen eines Textes oftmals nicht stark divergieren. Gemäß Gardt (2013, 38) basieren Bedeutungsanalysen auf Konventionen, die eine Vergleichbarkeit der Analyseergebnisse innerhalb eines bestimmten Rahmens ermöglichen. Da die hier angestrebte Bewertung der semantischen und

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

diskurstraditionellen Komplexität von Texten auf einer präzisen und an objektiven Kriterien orientierten Bedeutungsanalyse basiert, kann sie für sich ebenfalls in Anspruch nehmen, dass unterschiedliche Beurteilungen der Ausprägung von Komplexität nicht stark voneinander divergieren werden.

2.3 Semantische Komplexität In diesem Kapitel soll zunächst Thorsten Roelckes (2002) Definition textueller Komplexität vorgestellt werden, die Bestandteil seiner Theorie kommunikativer Effizienz ist. Diese Definition bleibt zwar ausgesprochen abstrakt, wird lediglich in Bezug auf fachsprachliche Lexik exemplifiziert und nicht anhand eines einzigen Textbeispiels illustriert, liefert aber dennoch eine plausible Grundidee für die Beschreibung semantischer Komplexität. Diese Grundidee lässt sich gut anschließen an die in Kapitel 2.2 vorgestellte Sicht von Texten als übersummative Größen, die einen erheblichen Teil ihrer Bedeutung implizit vermitteln, sowie an die entwickelten Komplexitätskategorien. Dasselbe gilt für die den Kommunikanten charakterisierenden Elemente Kompetenz und Kapazität, wenngleich Roelcke (2002) selbst diese nicht direkt mit Komplexität in Verbindung bringt. Aufgrund des hohen Abstraktionsgrads und der punktuellen Oberflächlichkeit von Roelckes Modellskizze bleiben jedoch zahlreiche Fragen in Bezug auf semantische Komplexität, ihre konkreten sprachlichen Ausprägungen und die Möglichkeiten ihrer «Messbarkeit» offen. Diese im Folgenden aufzuzeigenden Defizite sind für die hier unternommene Analyse semantischer Komplexität aber insofern aufschlussreich, als sie deutlich machen, an welchen Stellen notwendige Überlegungen fehlen, Ideen konkretisiert werden müssen und komplexe Phänomene an konkretem, authentischem Sprachmaterial nachgewiesen werden müssen. Der zweite und deutlich umfangreichere Teil dieses Kapitels widmet sich den Konzeptionen und Analyseinstrumenten der Frame-Semantik sowie ihrer Modellierung des Textverstehens. Die Frame-Semantik ist im Kontext dieser Arbeit von besonderem Interesse, weil sie der bereits mehrfach formulierten Erkenntnis, dass sich der Textsinn nur unter Rückgriff auf zum Teil äußerst voraussetzungsvolles Wissen erschließt, in besonderem Maße Rechnung trägt. Außerdem können das Instrument Frame und die Modellierung des frame-gestützten Textverstehens Komplexitätsunterschiede in Bezug auf zahlreiche der bereits entwickelten Komplexitätskategorien aufzeigen und beschreibbar machen und auch einige der zentralen Erklärungslücken von Roelckes Modellskizze schließen.

2.3 Semantische Komplexität

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2.3.1 Komplexität innerhalb Roelckes Modell kommunikativer Effizienz (Textuelle) Komplexität erscheint in Roelckes (2002) Modell als eine von acht Beschreibungseinheiten, von denen die als Funktion verstandene kommunikative Effizienz abhängig ist. Zum besseren Verständnis der Definition (textueller) Komplexität werden vorab in aller Kürze Roelckes grundlegende Überlegungen hinsichtlich eines sinnvollen Modells sprachlicher Ökonomie bzw. kommunikativer Effizienz vorgestellt. Zunächst formuliert Roelcke sechs Forderungen an ein allgemeines Modell kommunikativer Effizienz, von denen die ersten vier den Modellaufbau leiten. Ein solches Modell habe 1. nicht allein die Sprache, sondern auch die Sprachhandelnden zu berücksichtigen, habe 2. sämtliche Ebenen der Sprachbeschreibung zu beinhalten, sei 3. an eine wissenschaftliche Konzeption von Ökonomie im Sinne von Aufwand- und Ergebniseffizienz18 anzubinden und habe 4. sowohl systematische als auch pragmatische Gesichtspunkte einzuschließen (cf. Roelcke 2002, 34s.). Auf der Grundlage eines allgemeinen Modells sprachlicher Kommunikation mit den zentralen Elementen Produzent und Rezipient, Kontext und Kotext sowie System und Text und dessen Interpretation durch ein kognitionslinguistisches Funktionsmodell (cf. ib., 46s.) führt Roelcke dann zuerst die generellen Beschreibungseinheiten sowie das Grundmodell kommunikativer Effizienz im Allgemeinen ein. Dieses betrachtet er dann im Folgenden unter zwei Gesichtspunkten, von denen der zweite – kommunikative Effizienz im Text – in unserem Kontext von Interesse ist (cf. ib., 51). Der einzige Unterschied zwischen dem Grund- und dem Textmodell kommunikativer Effizienz liegt in einer Anpassung der acht generellen Beschreibungseinheiten auf sprachliche Texte sowie einzelne Personen als Produzenten und Rezipienten. Gemäß Roelcke ist kommunikative Effizienz (sowohl im Allgemeinen als auch bezogen auf Texte) beschreibbar als eine Funktion aus den folgenden Elementen: Intension und Extension, Kompetenz und Konzentration, Kommunikat und Kommunikant sowie Komplexität und Kapazität (cf. ib., 52). Im Folgenden werden diese acht Beschreibungseinheiten unmittelbar auf die hier interessierende kommunikative Effizienz im Text bezogen und im Rahmen einer tabellarischen Übersicht, die ihren

18 Roelcke (2002) bindet sein Modell kommunikativer Effizienz an wirtschaftswissenschaftliche Definitionen von Effektivität und Effizienz an. Diese besagen, dass eine Handlung oder ein Vorgang dann effektiv ist, wenn das erwartete Ergebnis erreicht wird (cf. Roelcke 2002, 19). Effizienz berücksichtigt auch den mit einer Handlung oder einem Vorgang verbundenen Aufwand und kann in Ergebnis- und Aufwandeffizienz differenziert werden. Letztere liegt vor, wenn ein vorgegebenes Ergebnis mit einem möglichst geringen Aufwand erzielt wird (cf. ib., 21).

84

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Zusammenhang verdeutlicht, kurz charakterisiert. Es verhält sich nämlich so, dass (textuelle) Intension und (textuelle) Extension gemeinsam das (textuelle) Kommunikat bilden, welches sich durch eine bestimmte (textuelle) Komplexität auszeichnet, während (textuelle) Kompetenz und (textuelle) Konzentration zum (textuellen) Kommunikanten zusammengefasst werden, welcher über eine mehr oder weniger große (textuelle) Kapazität verfügt (cf. ib., 52s.).

Textuelle Intension – das textuelle Ergebnis sprachlicher Kommunikation – Sie besteht aus sprachlich vermittelter Information als Proposition und sprachlich vermittelter Instruktion als Illokution. – Proposition u. Illokution verschiedener Texte unterscheiden sich i.d.R. in qualitativer wie quantitativer Hinsicht voneinander u. zeigen somit verschiedene Grade an textueller Intension. Textuelle Extension – der textuelle Aufwand sprachlicher Kommunikation – Sie greift auf das lexikalische Inventar und die semantischen, syntaktischen und pragmatischen Regeln einer Sprache zurück und besteht selbst aus den einzelnen Wörtern und deren Kombination zu komplexen sprachlichen Zeichen wie z.B. Sätzen.

Textuelles Kommunikat Das textuelle Kommunikat ist eine Einheit aus dem textuellen Kommunikationsergebnis einerseits und aus dem textuellen Kommunikationsaufwand andererseits.

Textuelle Komplexität – Da sowohl verschiedene Grade an textueller Intension als auch an textueller Extension angenommen werden können, können auch verschiedene Ausprägungen oder Grade des Kommunikats selbst bestimmt und als dessen textuelle Komplexität charakterisiert werden. – Die (textuelle) Komplexität des Kommunikats ergibt sich somit aus dem Umfang und dem Verhältnis von dessen Intension und dessen Extension.

– Sie leistet die sprachliche Vermittlung von Proposition u. Illokution u. weist hierbei ebenfalls deutl. Unterschiede in Art u. Umfang auf, so dass auch hier verschiedene Grade an textueller Extension anzunehmen sind.

Schema 4: Beschreibungseinheiten kommunikativer Effizienz nach Roelcke (cf. ib., 52s.; 66s.).

2.3 Semantische Komplexität

85

Textuelle Kompetenz – die auf Texte bezogene Fähigkeit zu sprachlicher Kommunikation von einzelnen Personen – Sie umfasst deren kognitives u. physisches Vermögen (Intelligenz + Instrument) u. ist in Produktions- u. Rezeptionsvermögen zu untergliedern. – Da das kognitive und physische Produktions- und Rezeptionsvermögen verschiedener Personen unterschiedlich ist, sind verschiedene Grade an textueller Kompetenz anzusetzen. Textuelle Konzentration – die auf den Text bezogene Bereitschaft zu sprachlicher Kommunikation einzelner Personen – Sie besteht aus deren kognitiver oder psychischer sowie physischer Konzentration auf die Produktion oder Rezeption eines betreffenden Textes. – Auch diese Bereitschaft kann je nach Interesse oder Intention stark variieren, so dass verschiedene Grade an textueller Konzentration anzusetzen sind.

Textueller Kommunikant Der textuelle Kommunikant stellt eine Einheit aus dem kognitiven und physischen Produktions- und Rezeptionsvermögen einzelner Personen einerseits und deren kognitiver sowie physischer Produktionsbzw. Rezeptionsbereitschaft andererseits dar.

Textuelle Kapazität – Auch für textuelle Kompetenz und textuelle Konzentration sind unterschiedliche Grade anzunehmen. – Deshalb können auch verschiedene Ausprägungen bzw. Grade des textuellen Kommunikanten bestimmt und als dessen textuelle Kapazität charakterisiert werden. – Die Kapazität des (textuellen) Kommunikanten ergibt sich also aus dem Umfang und dem Verhältnis von dessen Kompetenz und dessen Konzentration.

Schema 4: (fortgesetzt)

Auf der Basis dieser interagierenden Beschreibungseinheiten, unter denen Komplexität offensichtlich eine prominente Stellung einnimmt, entwickelt Roelcke sowohl sein Grundmodell kommunikativer Effizienz als auch das entsprechende Textmodell. Da ersteres ausführlicher und klarer ist als die anschließende Übertragung auf textuelle Effizienz, soll im Folgenden die Quintessenz kommunikativer Effizienz im Allgemeinen vollständig wiedergegeben werden: «Kommunikative Effizienz ist [. . .] einerseits von der Komplexität des Kommunikats und andererseits von der Kapazität des Kommunikanten abhängig, wobei sich die Komplexität des Kommunikats aus dem Verhältnis zwischen dessen Intension und Extension und die Kapazität des Kommunikanten aus demjenigen zwischen dessen Kompetenz und Konzentration ergibt. Die Komplexität des Kommunikats ist dabei an der Kapazität des Kommunikanten zu messen und zeigt im Falle effizienter Kommunikation einen mehr oder weniger festen Wert. Im Rahmen effizienter Kommunikation stehen also die Komplexität des Kommunikats und die Kapazität des Kommunikanten in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander. Übertrifft hingegen die Komplexität die Kapazität, ist die Kommunikation nicht erfolgreich und somit ineffektiv. Übertrifft im umgekehrten Fall die Kapazität die Komplexität, ist die Kommunikation zwar (voraussichtlich) erfolgreich und somit effektiv, nicht aber effizient (Roelcke 2002, 54)».

86

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Die Kernaussage dieses Modells, dass bei effizienter Kommunikation die Komplexität des Kommunikats und die Kapazität des Kommunikanten einander entsprechen müssen, wirkt uneingeschränkt plausibel, aufgrund ihrer Erwartbarkeit fast ein wenig trivial. Der oben bemängelte hohe Abstraktionsgrad in Bezug auf die (im Folgenden zu thematisierenden) Definitionen von Komplexität findet sich jedoch konsequenterweise auch in Roelckes Definition von Effizienz wieder. Dies ist bis zu einem gewissen Grad verständlich, weil das Grundmodell kommunikativer Effizienz jeweils unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden soll. Allerdings gelten die zitierten Verhältnisse zwischen den Beschreibungseinheiten eins zu eins auch für kommunikative Texteffizienz und werden an den entsprechenden Stellen von Roelckes Modellskizze ebenso wenig inhaltlich konkretisiert oder durch Beispiele veranschaulicht wie das Grundmodell. Wie die Komplexität des Kommunikats aber an der Kapazität des Kommunikanten zu messen ist und wie Komplexität überhaupt zu messen ist, wird an keiner Stelle näher erläutert. Roelcke spricht weiterhin gar von einem «mehr oder weniger festen Wert» (ib., 54), der sich bei effizienter Kommunikation ergibt, was ja darauf hindeutet, dass er unterschiedliche Grade von Komplexität und Kapazität auf einer numerischen Skala messen will. Überlegungen dazu, wie das genau funktionieren soll, bleibt Roelcke uns jedoch schuldig. Tatsächlich bleibt nicht nur unklar, wie Komplexität gemessen werden kann, sondern es wird auch nicht dargelegt, welche konkreten sprachlichen Phänomene denn eigentlich für eine hohe oder geringe Komplexität verantwortlich sind, was im folgenden Abschnitt zu zeigen sein wird. 2.3.1.1 Diskussion der Komplexitätsdefinitionen nach Roelcke Im Grundmodell kommunikativer Effizienz stellt Komplexität also eine Eigenschaft des Kommunikats dar und beschreibt dessen «Grad» oder «Ausprägung». Roelcke (2002, 54s.) liefert im Wesentlichen die folgende Definition von Komplexität und die folgenden Überlegungen zu den Faktoren, die eine hohe oder niedrige Komplexität bedingen: «[Die Komplexität des Kommunikats] ist an dem Verhältnis seiner Intension gegenüber seiner Extension zu bestimmen, wobei eine relativ hohe Intension eine hohe Komplexität und eine relativ hohe Extension eine niedrige Komplexität bedingen. Unter Berücksichtigung von Information und Instruktion als generellem Kommunikationsergebnis sowie Elementen und Relationen als generellem Kommunikationsaufwand bedeutet dies, dass ein vergleichsweise hoher Grad an Information oder Instruktion eine hohe Komplexität und ein vergleichsweise hoher Grad an Elementen und Relationen eine niedrige Komplexität mit sich bringt».

An späterer Stelle wird textuelle Komplexität völlig analog zu genereller Komplexität definiert. Die entsprechende Passage zeigt, dass der einzige Unterschied

2.3 Semantische Komplexität

87

zwischen den beiden Definitionen im Ersetzen bzw. Anpassen von vier Begriffen besteht: «[Die Textkomplexität eines Kommunikats ist] durch das Verhältnis der textuellen Intension mit Proposition und Illokution als Kommunikationsergebnis einerseits und der textuellen Extension mit einzelnen Wörtern und deren Kombination zu komplexen sprachlichen Zeichen wie Sätzen oder größeren Textteilen andererseits darzustellen, wobei eine relativ hohe textuelle Intension eine hohe Textkomplexität und eine relativ hohe textuelle Extension eine niedrige Textkomplexität mit sich bringen» (ib., 67).

Information und Instruktion werden, wie oben bereits erläutert, in sprachlichen Texten also durch Propositionen und Illokutionen repräsentiert und Elemente und Regeln finden sich in Texten in Gestalt von Wörtern und deren Kombination zu Sätzen und Textteilen wieder. Die wesentliche Aussage beider Definitionen, dass die Komplexität eines Kommunikats am Verhältnis von Kommunikationsergebnis und Kommunikationsaufwand zu bestimmen ist, erscheint wiederum sehr plausibel. Wenn ein Text eine Vielzahl von Informationen und Instruktionen bzw. Propositionen und Illokutionen bei einem geringen Kommunikationsaufwand liefert, dann spricht dies mit Sicherheit für einen sehr dichten und komplexen Text. Völlig unklar bleibt aber erneut, wie genau der Grad an Intension und der Grad an Extension zu messen sind. Nach Roelcke können sich Information und Instruktion sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht unterscheiden. Aber woran macht man eine hohe Qualität an Information und Instruktion fest? Auch in Bezug auf die Extension, also Elemente und Relationen bzw. Wörter und ihre Kombination zu komplexen sprachlichen Zeichen, geht Roelcke von qualitativen und quantitativen Unterschieden aus. Bei seiner Beschreibung der Änderung des Grades der Komplexität in Abhängigkeit von Extension und Intension scheint Roelcke in Bezug auf den Grad der Extension jedoch nur rein quantitativ zu denken: denn ein hoher Grad an Elementen und Relationen – also offenbar zahlenmäßig viele Elemente und Relationen – führen ja zu einem geringen Grad an Komplexität. Würde er auch an die Qualität der Elemente und Relationen bzw. Wörter und ihre Kombinationen denken (z.B. Registerunterschiede in Bezug auf die Lexik, eine hohe Anzahl von Fachwörtern oder Tropen oder Hypotaxe versus Parataxe in Bezug auf die Syntax), erschiene es wenig plausibel, dass ein hoher Grad an Extension zu einem geringen Grad an Komplexität führen würde. Der hohe Abstraktionsgrad von Roelckes Definition und das Fehlen von erhellenden Beispielen führen zu diesen Unklarheiten und dazu, dass man sich letztlich überhaupt keine Vorstellung von einem mehr oder weniger komplexen Kommunikat machen kann. Sogar die Exemplifizierung des Modells kommunikativer Effizienz im Text anhand fachsprachlicher Lexik

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

verschafft uns keine konkretere Vorstellung von hoher oder geringer Komplexität, da sie wieder vornehmlich aus der Ersetzung von Begriffen besteht. Unter der textuellen Intension ist jetzt die «fachkommunikative Referenz auf die außersprachliche bzw. objektsprachliche Wirklichkeit» (ib., 63s.) zu verstehen und der textuellen Extension entsprechen «die einzelnen Fachwörter bzw. Termini des betreffenden Fachtextes selbst» (ib., 64). Das textuelle Kommunikat besteht folglich aus «den Termini und ihrer Referenz» und die textuelle Komplexität aus «der Anzahl der einzelnen Termini und dem Ausmaß ihrer Referenz» (ib., 65). Deutlich wird hieran nur, dass Roelcke den Grad oder die Ausprägung der Extension tatsächlich rein quantitativ als die «Anzahl der einzelnen Termini» bestimmt und wohl auch bei den oben zitierten Definitionen von (genereller und textueller) Komplexität und ihren Ausprägungen hauptsächlich an quantitative Unterschiede bei den verschiedenen Graden an Extension gedacht hat. Diese Exemplifizierung ist auch insofern unbefriedigend, als Intension und Extension von sprachlichen Texten ja so viel mehr Aspekte umfassen als fachsprachliche Lexik und deren objektsprachliche Referenz und somit auch die textuelle Komplexität von so viel mehr Faktoren abhängig ist. Diese müssten doch wenigstens einmal benannt werden, anhand authentischer Textbeispiele illustriert und eventuelle Wechselwirkungen verschiedener sprachlicher Phänomene in Bezug auf die Komplexität des Gesamttextes thematisiert werden – all dies erfolgt jedoch nicht. So bleibt letztlich völlig im Dunkeln, woran man qualitative Unterschiede in Bezug auf Intension und Extension festmachen kann und welche sprachlichen Phänomene eine hohe Komplexität bewirken und welche den Komplexitätsgrad gering halten. Dieses Versäumnis soll in der hier unternommenen Analyse vermieden werden, indem Möglichkeiten aufgezeigt werden, innerhalb der bereits formulierten Komplexitätskategorien (Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen der Rezipienten, Leerstellen/Aussparungen, Umgang mit den Grice’schen Maximen etc.) eine stark oder gering ausgeprägte Komplexität – in Bezug auf quantitative, aber insbesondere auch in Bezug auf qualitative Kriterien – zu beurteilen. Und weiterhin werden in Kapitel 3 dieser Arbeit authentische Textbeispiele für eine hohe oder geringe Komplexität in Bezug auf bestimmte semantische Kategorien gegenübergestellt, die unmissverständlich deutlich machen, welche sprachlichen Elemente, Verfahren und Strategien komplexer sind als andere und warum. Obwohl Roelckes Modellskizze unbestreitbar viele Fragen in Bezug auf (textuelle) Komplexität offen lässt, liefert sie angesichts der hier vertretenen Auffassung der generellen Übersummativität von Texten die vernünftige und ausbaufähige (aber auch ausbaubedürftige) Grundidee, die Komplexität eines Textes am Verhältnis von Kommunikationsaufwand und Kommunikationsergebnis zu bestimmen.

2.3 Semantische Komplexität

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Auch die Einschätzung, dass ein relativ hoher Grad an Intension eine hohe Komplexität bewirkt und ein relativ hoher Grad an Extension zu einer niedrigen Komplexität führt, vermag zu überzeugen, wenn man den Grad der Extension wirklich rein quantitativ bestimmt und zusätzliche inhaltliche Begründungen und Konkretisierungen für diese Wechselwirkung anführt. Eine solche notwendige Konkretisierung und Illustration von Roelckes Behauptung – auf die wir am Ende dieses Kapitels zurückkommen werden – kann unter Zuhilfenahme der Ideen der FrameSemantik gelingen. Insbesondere durch Rückgriff auf ihr leistungsfähiges Instrument des Frames können dann quantitative und qualitative (!) Unterschiede beim Kommunikationsaufwand und -ergebnis adäquat beschrieben werden.

2.3.2 Frame-Semantik und Textverstehen Die Modelle und Analyseinstrumente der Frame-Semantik sind im Kontext einer Untersuchung von semantischer und diskurstraditioneller Komplexität nicht allein deshalb von immenser Bedeutung, weil die Frame-Semantik über einen impliziten Komplexitätsbegriff verfügt und es erlaubt, den abstrakten Komplexitätsbegriff Roelckes zu präzisieren und zu illustrieren. Zudem betont sie eben auch in besonderer Weise die oben formulierten theoretischen Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Merkmale und ihrer Komplexität: die Tatsache, dass alle Formen sprachlicher Kommunikation (und somit auch Texte) prinzipiell elliptisch sind und folglich Sprach- und Textverstehen konstruktive Leistungen des Rezipienten darstellen, die nur gelingen können, wenn dieser zum Teil sehr komplexes und voraussetzungsvolles Wissen in den Verstehensprozess einbringt. Aufgrund dieser Prämissen wird die FrameSemantik einige Antworten auf die oben aufgeworfene Frage liefern können, welche Ausprägungen des grundsätzlich vorhandenen impliziten Anteils des Textsinns als komplex zu betrachten sind. Das verstehensnotwendige Wissen ist gemäß der Frame-Theorie in Form von Frames oder Wissensrahmen organisiert, die man sich als komplexe Strukturen aus Wissenselementen vorzustellen hat, die durch sprachliche Ausdrücke oder Ausdrucksketten aktiviert werden (cf. Busse 2009, 85). Die Frames liefern aufgrund ihres Zusammenspiels mit semantischen Erwartungen, den Textthemen, der suppletiven Kontextbildung und der Herstellung von Kohärenz ein unverzichtbares Werkzeug zur Beschreibung und insbesondere auch zur Bewertung der Komplexität von Texten bezüglich dieser Dimensionen, was im Folgenden ausführlich erläutert werden wird. Zunächst sollen aber das der Frame-Semantik zugrundliegende Kommunikationsmodell und die Struktur und Charakteristika der Frames selbst sowie

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

ihre Wirksamkeit im Prozess des Sprachverstehens erläutert werden. Dies geschieht hauptsächlich auf der Grundlage der umfassenden Darstellung Dietrich Busses von 2012, Frame-Semantik. Ein Kompendium, in der ihr Verfasser die zum Teil sehr konträren Theorien der Begründer der Frame-Theorie, nämlich Fillmore, Minsky, Bartlett und Barsalou, in einem integrativen Arbeitsmodell der Frame-Semantik zusammenführt. 2.3.2.1 Das Sprach- und Kommunikationsmodell der Frame-Semantik In seinen wegweisenden Überlegungen zum «Enthaltensein» (entailment) und seiner Theorie der Tiefen-Kasus, die als Zwischenschritte auf dem Weg zum Ausbau einer semantischen Frame-Theorie betrachtet werden können, richtet Charles J. Fillmore sein Augenmerk auf die zentrale Rolle des allgemeinen verstehensrelevanten Wissens im Prozess des Sprachverstehens. Mit dem Begriff des «Enthaltenseins» ist gemeint, dass sprachliche Ausdrücke (Wörter, Sätze) oftmals bestimmte Bedeutungsaspekte «enthalten», die nach der gängigen Auffassung nicht Teil der «sprachlichen Bedeutung» dieser Ausdrücke sind (cf. Busse 2012, 26). Des Weiteren erkennt Fillmore, dass in einer semantischen Analyse auch solche «Mitspieler» im Satz bzw. solche Argumentrollen berücksichtigt werden müssen, die sprachlich gar nicht durch eigene Mittel expliziert sind. So wird z.B. im Satz Paul liest schon seit Stunden die Argumentrolle AFFIZIERTES OBJEKT sprachlich nicht ausgedrückt, ist vom Rezipienten aber mitzuverstehen und wird mit einem aus seinem Hintergrundwissen erschlossenen Standardwert wie z.B. Roman belegt. Busse (2012) bringt diese Erkenntnisse auf die prägnante Formel, dass semantische Struktur und syntaktische Struktur bzw. Inhaltsstruktur und sprachlich realisierte Ausdrucksstruktur nicht strukturidentisch sein müssen (cf. ib., 47). Diese Diskrepanz zwischen Inhalts- und Ausdrucksstruktur erfordert, dass Menschen, die Wörter, Sätze oder Texte adäquat verstehen wollen, auf vorausgesetztes Wissen zurückgreifen und mitunter auch Kreativität in den Verstehensprozess einbringen müssen (cf. ib., 77). Dieses Aktivieren von verstehensnotwendigem Wissen im Rezeptionsprozess zur «(Re)konstruktion von voraussetzbaren und ergänzbaren, im Text aber nicht ausgedrückten Inhalten» (Bußmann 2008, 289) bezeichnet man auch als Herstellung von Inferenzen – ein Begriff, der im Kontext von Übersummativität und Implizitheit schon mehrfach gefallen ist. Im Einklang mit den oben formulierten theoretischen Voraussetzungen zur Beschreibung textsemantischer Komplexität betrachtet also auch die FrameSemantik das Verstehen von Sprache und Texten als einen konstruktiven Akt, der die Berücksichtigung verschiedener Wissenskontexte verlangt. So charakterisiert Fillmore (1976, 29) den Prozess des Sprachverstehens folgendermaßen:

2.3 Semantische Komplexität

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«Comprehension can be thought of as an active process during which the comprehender – to the degree that it interests him – seeks to fill in the details of the frames that have been introduced, either by looking for the needed information in the rest of the text, by filling it in from his awareness of the current situation, or from his own system of beliefs, or by asking his interlocutor to say more».

Dieselben Umfelder und Wissenskontexte zur Erschließung der Textbedeutung haben auch Coseriu (1980/2007) und Aschenberg (1999) aufgeführt: den Redebzw. Diskurskontext (Kotext), die nicht-sprachliche Situation, die in literarischen Texten verbal kompensiert werden muss, und das Wissen bestehend aus sprachlicher Kompetenz und lebensweltlichem Wissen. Die Möglichkeit, den Sprecher zu bitten, noch mehr zu sagen, besteht im Falle der hier betrachteten literarischen Texte allerdings in der Regel nicht. Interessant ist auch, dass Fillmore eben nicht nur die Kompetenz des Rezipienten als Voraussetzung des Verstehens benennt, sondern auch sein Interesse bzw. in Roelckes Worten seine Konzentration – ein völlig einsichtiger, aber dennoch häufig vergessener Aspekt. Dietrich Busse (2009, 83s.) fasst die soeben angeführten Aspekte zum Kommunikationsmodell der Frame-Semantik auf folgende prägnante Art und Weise zusammen: «Sprachliche Zeichen setzen in Kommunikationszusammenhängen Anhalts- und Markierungspunkte, die es ermöglichen, den Bedeutungsgehalt inferentiell (schlussfolgernd), d.h. im impliziten Rückgriff auf Weltwissen, zu konstruieren. Sprachliche Kommunikation ist also im Kern ‹elliptisch›: durch sprachliche Zeichen artikuliert wird immer nur so viel, wie in der Situation notwendig ist. Sprachliche Ausdrücke fungieren so gesehen eher als Anspielungen auf vorausgesetztes Wissen als als Transportbehälter für Wissen. Fillmore fasst dies in den prägnanten Leitspruch: ‹Wörter evozieren Frames›».

Die zuletzt zitierte, berühmt gewordene Parole Fillmores ist so zu verstehen, dass Wörter auf kognitive Kategorien verweisen, die eben in Frames organisiert sind (cf. Busse 2012, 117). Der elliptische Charakter sprachlicher Kommunikation und die daraus resultierende Notwendigkeit der Aktivierung von verstehensrelevantem, in Frames organisiertem Wissen für ein adäquates Verständnis von sprachlichen Äußerungen soll nun durch die folgenden Beispiele von Fillmore (1976) und Minsky (1974) sowie durch das Nachzeichnen der notwendigen Inferenzen beim Interpretieren einer Karikatur Stuttmanns illustriert werden. Ein Wort wie Alimente [alimony] verknüpft nach Fillmore zwei Frames, nämlich einen «MONEY TRANSFER»-Frame mit einem Frame «that identifies an occurrence in two people’s life histories in a fairly specific way». Diese Frames muss ein Rezipient kennen und aktivieren, um die Verwendung des Wortes Alimente angemessen zu verstehen (cf. Fillmore 1976, 28).

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Das nächste Beispiel wurde von Minsky (1974/1992, 101) verwendet: «Petra wurde zu Peters Geburtstagsparty eingeladen. Sie fragte sich, ob er wohl einen Drachen haben wolle».

Es zeigt, dass Interpreten nur dann einen inhaltlichen Zusammenhang und somit Kohärenz zwischen den beiden Sätzen herstellen können, wenn sie den Frame Kindergeburtstag aktivieren, der eine Anschlussstelle GESCHENK besitzt, die im gegebenen Text eben durch den konkreten Füllwert Drachen spezifiziert wird. Die folgende Karikatur von Klaus Stuttmann erschien am 08. Januar 2014:

Abb. 1: (https://www.stuttmann-karikaturen.de/karikatur/5122; © Klaus Stuttmann).

Um die Botschaft dieser Karikatur zu erfassen, muss der Rezipient über recht voraussetzungsvolles, aktuelles politisches und gesellschaftliches Hintergrundwissen verfügen, das in den Verstehensprozess einzubringen ist. Zunächst muss er in dem karikierten Redner den CSU-Politiker und damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer erkennen. Die ihm in den Mund gelegte Aussage: «[. . .] diese Ausländer: Sie kommen doch alle nur wegen unseren sozialen Netzen.» soll im Bereich des politischen Wissens einen Frame evozieren, der die Haltung der CSU gegenüber Zuwanderung beinhaltet, insbesondere die Reaktion der ChristSozialen auf die seit Januar 2014 geltende Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumänen

2.3 Semantische Komplexität

93

und Bulgaren. Ihr proklamierter Kurs sieht ein härteres Vorgehen gegen sogenannte Sozialbetrüger vor, verlangt deren Ausweisung und Verhinderung einer Wiedereinreise und kulminiert in der Parole «Wer betrügt, der fliegt». Um die Kritik des Karikaturisten an dieser Haltung zu verstehen, müssen die zitierten ausländischen Namen Alaba, Dante, Rafinha, Martinez, Thiago etc. beim Rezipienten allerdings auch den Frame Bayern München aufrufen. Es handelt sich bei diesen Personen nämlich um Leistungsträger des Fußballvereins, um «Ausländer», die hauptverantwortlich für den Erfolg dieses Ausnahmeclubs sind und in Deutschland beachtliche Steuern zahlen, statt Sozialleistungen zu beanspruchen. Verknüpft der Rezipient also sein Hintergrundwissen zu den ausländischen Spielern von Bayern München mit dem Wissen um die Forderungen der CSU in der Zuwanderungsdebatte und der Seehofer in den Mund gelegten Aussage «Sie kommen doch alle nur wegen unseren sozialen Netzen!!», gelingt es ihm, die vom Zeichner inszenierte Absurdität dieser Aussage zu entlarven und seine Botschaft zu inferieren: Deutschland ist in vielen Bereichen (Sport, Wirtschaft, Forschung . . . ) auf Zuwanderung angewiesen, um seine Leistungsfähigkeit zu erhalten bzw. zu steigern, und es sind nicht etwa finanzielle oder wirtschaftliche Nachteile, die sich aus Zuwanderung ergeben. Weil die Frame-Semantik also die Rolle dieses mitunter äußerst voraussetzungsvollen verstehensrelevanten Wissens in den Mittelpunkt ihrer Modellbildung stellt und mit dem Konzept des Frames ein Instrument liefert, das die Organisation und kognitive Speicherung dieses Wissens erklärt und deutlich macht, wie es in den Prozess der Bedeutungskonstruktion eingebracht wird, ist sie für eine Analyse semantischer Komplexität so geeignet. Auch Busse (2012, 18) zeigt sich völlig überzeugt von ihren Erklärungsansätzen, weil sie seiner Ansicht nach die unzulässigen Vereinfachungen von Merkmals- und Komponenten-Semantik sowie logischer Semantik (von ihm als «ältere Modelle» tituliert) überwindet: «Die linguistische Frame-Semantik [. . .] ist ein Modell sprachlicher Bedeutung, das die problematischen Reduktionismen der älteren Modelle überwindet und zum ersten Mal in der Linguistik überhaupt das verstehensrelevante Wissen in seiner ganzen verstehensermöglichenden Breite und Tiefe durch ein geeignetes Modell der linguistischen (linguistisch-semantischen) Analyse zugänglich macht, und es nicht von vorneherein daraus auszuschließen versucht (wie zuvor lange Zeit geschehen)».

2.3.2.2 Charakteristika und Struktur von Frames Bevor die verschiedenen Strukturkonstituenten von Frames, ihr Zusammenspiel untereinander und mit Kerneigenschaften von Frames wie Prototypikalität, Dynamik und Flexibilität ausführlich erläutert werden, soll als erste prägnante und

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

überschaubare Definition von Frames diejenige von Alexander Ziem (2008, 2) angeführt werden: «Frames sind konzeptuelle Wissenseinheiten, die sprachliche Ausdrücke beim Sprachverstehen evozieren, die also [. . .] Sprachbenutzer aus ihrem Gedächtnis abrufen, um die Bedeutung eines Ausdrucks zu erfassen. Zu wissen, was ein Ausdruck bedeutet und wie ein Ausdruck zu verwenden ist, heißt demnach, über eine bestimmte kognitive Struktur zu ‹verfügen›, die mit einem Ausdruck konventionell assoziiert ist».

Ziem (2008) macht darin deutlich, dass Frames sowohl eine kognitive und als konzeptuelle Strukturen, die Wissenselemente organisieren, auch eine epistemische Realität darstellen. Busse (2012, 819) ergänzt in seinen 66 Thesen zu Frames, dass sie als wissenschaftliches Modell auch ein beschreibungstheoretisches Format zur Darstellung des Wissens und kognitiver Prozesse sind. Über den Aufbau und die Strukturkonstituenten von Frames gibt es bei den verschiedenen Begründern der Frame-Theorie keinen Konsens. So fokussiert Fillmore prädikative Frames, also Frame-Strukturen mit Verben als organisierenden Zentren bzw. «Frame-Kernen». Frame-Elemente in solchen prädikativen Frames sind dann mögliche «Aktanten» im Sinne der «semantischen Rollen» oder «Tiefenkasus» (z.B. Agens, Patiens, Instrument, affiziertes Objekt) von Fillmores Kasusrahmen-Modell. Barsalou hingegen untersucht ausschließlich Konzept-Frames, in denen der «Frame-Kern» durch eine nominal verstandene «Kategorie» gebildet wird und die Frame-Elemente mögliche «Attribute» sind, die wichtige Eigenschaften des von der Kategorie bezeichneten Typs von Objekt kennzeichnen (cf. Busse 2012, 551). Busse integriert nun in seinem Arbeitsmodell der Frame-Semantik zum einen die prädikativen Frames nach Fillmore, die Konzept-Frames nach Barsalou und dessen Überlegungen zu Relationen zwischen Frame-Elementen, den von Minsky formulierten Kerngedanken, dass Frames Strukturen mit offenen, also ausfüllungsbedürftigen Leerstellen sind (cf. ib., 274), und schließlich die zentrale Rolle der Default-Annahmen bzw. Standardwerte, auf die Ziem (2008) hingewiesen hat. Auf diesen Grundlagen formuliert Busse (2012, 563) seine Arbeitsdefinition für Frames bzw. Wissensrahmen und deren Konstituenten, die hier vollständig wiedergegeben wird: «Ein Frame/Wissensrahmen ist eine Struktur des Wissens, in der mit Bezug auf einen strukturellen Frame-Kern, der auch als ‹Gegenstand› oder ‹Thema› des Frames aufgefasst werden kann, eine bestimmte Konstellation von Wissenselementen gruppiert ist, die in dieser Perspektive (nicht als absolute Eigenschaft, sondern als eine bestimmte Form der ‹Inblicknahme› [envisionment] des Frame-Themas bzw. -objekts) als Frame-konstituierende Frame-Elemente fungieren. Diese Wissenselemente (oder Frame-Elemente) sind keine epistemisch mit

2.3 Semantische Komplexität

95

konkreten Daten vollständig ‹gefüllte› Größen, sondern fungieren als Anschlussstellen (Slots), denen in einer epistemischen Kontextualisierung (Einbettung, ‹Ausfüllung›) des Frames konkrete (‹ausfüllende›, konkretisierende) Wissenselemente (sogenannte ‹Füllungen›, ‹Werte› oder Zuschreibungen) jeweils zugewiesen werden. (Als solche epistemischen Kontextualisierungen gelten regelmäßig alle sprachlichen Verbalisierungen, in denen entweder der Frame als Ganzes oder einzelne seiner Elemente durch Benutzung sprachlicher Zeichen (Lexeme) oder komplexerer sprachlicher Ausdrücke evoziert werden.) Frames sind Strukturen aus (hier rein epistemisch als solche verstandenen) Konzepten, die, da alle Konzepte selbst wiederum in Form von Frames strukturiert sind, sich als Strukturen von Frames herausstellen. Insofern Frames im Wesentlichen (epistemische) Anschlussmöglichkeiten und -zwänge (für weitere Detail-Frame-Elemente) spezifizieren, ist ihre Struktur beschreibbar als ein Gefüge aus epistemischen Relationen (zu den angeschlossenen Elementen und unter diesen)».

Busse benennt in dieser Definition Anschlussstellen (Slots) und Füllungen oder Werte (Ziem bezeichnet diese als Filler) als wesentliche Strukturkonstituenten von Frames; Ziem (2008) würde die Menge der wesentlichen Strukturkonstituenten um eine dritte Gruppe, nämlich die Standardwerte oder default values, erweitern. Im Kontext der Analyse von semantischer Komplexität kommt den Standardwerten als Träger von «Normalitätserwartungen» (Busse 2012, 604) eine wichtige Rolle zu und deshalb sollen sie im Folgenden neben Slots und Fillern näher erläutert werden. Slots/Leerstellen/Anschlussstellen Die Slots oder Leerstellen sind die mit einer bestimmten Wissensstruktur verbundenen und den entsprechenden Frame als solchen konstituierenden «offenen», d.h. ausfüllungsfähigen und mitunter auch ausfüllungsbedürftigen Anschlussstellen für spezifischere Wissenselemente. Ein Slot ist also eine Position oder Stelle an einem Frame, die dazu da ist, dass daran etwas anderes angeschlossen wird. Allerdings legt der Slot Bedingungen (Busse spricht hier von Subkategorisierungsbedingungen) für diejenigen Elemente (Filler) fest, die an die entsprechende Position angeschlossen werden können. Jeder Slot legt also einen Wertebereich fest, der für die anschließbaren Elemente einige Bedingungen spezifiziert (cf. Busse 2012, 554s.). So enthält etwa ein Frame für Hauskaninchen Slots wie GRÖßE, GEWICHT, GEWOHNHEITEN etc. und der Slot GEWICHT legt z.B. einen Wertebereich fest, der dem Intervall von 1 kg bis 10 kg entspricht. Wenn man, wie Busse, prädikative Frames und Konzept-Frames in einem einheitlichen Frame-Modell zusammenführen möchte, bietet es sich an, zwei Slot-Gruppen zu unterscheiden: zum einen die Aktanten-FrameElemente prädikativer Frames, zum anderen die Eigenschafts-Frame-Elemente, die sich bei Frames zu Bezugsgrößen aller Typen (Dingen, Personen, aber auch

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Handlungen und Ereignissen) finden (cf. ib., 577). Die Eigenschafts-FrameElemente können wiederum in strukturale Frame-Elemente und funktionale Frame-Elemente, die sogenannten Affordanzen, differenziert werden. Die strukturalen Frame-Elemente beziehen sich typischerweise auf Attribute wie FARBE, FORM und GEWICHT bei physischen Entitäten, ORT, ZEIT, ZIEL etc. bei Handlungen und Ereignissen. Die Affordanzen definiert Busse als «Menschen-, Benutzungs- und Zweck-bezogene funktionale Eigenschaften» (cf. ib., 581). Weiterhin ist es wichtig, sich klar zu machen, dass die Eigenschaft, ein Slot zu sein, einem Wissenselement nicht absolut zukommt, sondern nur in Relation zu einem übergeordneten Frame. Isoliert betrachtet bilden solche Wissenselemente eigene Frames mit eigenen, wiederum untergeordneten Anschlussstellen und aus dieser Rekursivität ergibt sich, dass Frames letztlich Strukturen aus Frames sind. Außerdem betont Busse mehrfach, dass Frames Strukturen aus Relationen sind und grundsätzlich prädikativen Charakter haben (cf. ib., 823). Insbesondere die Slots legen zum einen Relationen fest, die zwischen dem Frame-Kern und den durch sie angeschlossenen Fillern bestehen, und sie sind selbst als Relationen zwischen dem sie definierenden Set von Anschlussbedingungen und dem Bezugs-Frame charakterisierbar. Das bedeutet, dass zwischen dem Slot und dem Frame-Kern, der dadurch spezifiziert wird, eine Zuordnungs-Relation besteht, die als «epistemische Prädikation»19 charakterisiert werden kann. Daraus erklärt sich auch, dass Anschlussstellen in Texten oft durch sprachlich vollzogene Prädikationen spezifiziert werden. Werden in einem Text oder anderen Aktualisierungskontext für eine Anschlussstelle keine konkreten Füllwerte angegeben, dann wird diese vom Rezipienten mit einem Standardwert (default) belegt. Und in dieser mit Standardwerten ausgefüllten Form werden Frames wohl auch im Gedächtnis gespeichert (cf. ib., 564). Die Frage, wie nun die Slots bestimmter Frames ermittelt werden können,

19 Die große Bedeutung von (epistemischen) Prädikationen in der Frame-Theorie begründet Busse (2012, 689) folgendermaßen: «Da auf allen Ebenen der Frame-Analyse Relationen zwischen Elementen eine zentrale Rolle spielen, diese Relationen (als ‹Zuweisungen› oder ‹Zuschreibungen› von Elementen zu anderen Elementen) aber im Kern prädikative kognitive ‹Akte› voraussetzen, sollte der Begriff der ‹Prädikation› eine tragende Rolle in der Frame-Semantik spielen». Konkret versteht er unter einer epistemischen Prädikation «jegliche Zuweisung/Zuschreibung eines kognitiven/epistemischen Elements zu einem anderen kognitiven/epistemischen Element» und «Prädikationen im traditionellen linguistischen Verständnis (also Verben, die einen Satzrahmen regieren, zusammen mit den regierten Argumenten/Komplementen) wären danach ein Spezialfall der kognitiven/epistemischen Prädikation [. . .]» (ib., 689).

2.3 Semantische Komplexität

97

ist nicht zuletzt aufgrund der oben angesprochenen Rekursivität von Frames und der prinzipiell immer weiter verfeinerbaren Ausdifferenzierung schwer zu beantworten. Das in diesem Kontext elaborierteste Verfahren von Klaus-Peter Konerding (1993), das auf der sogenannten Hyperonymtypenreduktion20 beruht, erzeugt eine Überfülle an Slots, die für konkrete Analysen mühsam reduziert werden müssen (cf. Busse 2012, 558). In diesem Kontext hilft die Definition von Alexander Ziem (2008, 304) weiter, der Leerstellen oder Slots als Fragen begreift, die sich sinnvoll hinsichtlich eines Bezugsobjektes stellen lassen und somit das Prädikationspotential eines sprachlichen Ausdrucks angeben. Dabei beruft sich Ziem auf die Frame-Interpretation Minskys: «A Frame is a collection of questions to be asked about a hypothetical situation» (Minsky 1974, 36). In Bezug auf unser obiges Kaninchen-Beispiel wären dies eben Fragen wie z.B. Wie groß ist ein Kaninchen? Wie schwer ist es? Welche Gewohnheiten hat es? Im Kontext der Beschreibung von (text-)semantischer Komplexität ist die Ermittlung relevanter Slots allerdings sehr viel einfacher als beispielsweise in der Beschreibung von lexikalischen Bedeutungen. Bei ersterem hat man es nämlich mit konkreten Exemplar-Frames bzw. Textwort-Frames zu tun und es sind die vorhandenen Filler bzw. der Kontext, die die jeweils relevanten Slots markieren. Aufgrund der Tatsache, dass Frames keine festen Wissensstrukturen sind, sondern dynamisch, variabel und kontextangepasst, kann eben auch die Zahl der Slots, die für einen Frame aktiviert wird, variieren (cf. Busse 2012, 564).

20 Gemäß Ziem (2008, 311) beruht das Verfahren auf der Annahme, dass höchste Hyperonyme Typen bilden, die ihr Prädikationspotential auf Hyponyme vererben. Für ein gegebenes Hyponym wird das «höchste Hyperonym» (ib., 314) auf der Basis von Wörterbuchartikeln ermittelt: «Die gesuchten Typen ergeben sich über Tendenzen von Hyperonymtypenreduktionen in den Wörterbüchern. [. . .] Die Hyperonyme treten typischerweise als Hauptelement (Kopf) von Nominalphrasen auf» (Konerding 1993, 173). Wenn die so ermittelten Hyperonyme beginnen, zirkulär aufeinander zu verweisen, ist das höchste Hyperonym gefunden (cf., ib., 174). Von diesen höchsten Hyperonymen ermittelt Konerding letztlich zwölf, für die Matrixframes erstellt werden, deren Slots mit denen ihrer Hyponyme übereinstimmen (cf. Ziem 2008, 314s.). Mit Hilfe des Duden Deutsches Universalwörterbuch (1996) gelangt man so für das Lexem Kaninchen über die Hyperonyme Tier und Lebewesen zum höchsten Hyperonym Organismus. Der entsprechende Matrixframe erstreckt sich über 6 Seiten (cf. Konerding 1993, 316–321) und umfasst zahlreiche Slots, die als Fragen formuliert sind, die jeweils noch nach mehreren Aspekten differenziert werden (z.B. Wie sieht der Organismus aus? – unter welchen Bedingungen – in welcher Existenzphase – wie lange – aus welchem Grund –) (cf. ib., 316).

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Filler/Zuschreibungen/Werte «[Filler] sind solche Wissenselemente, die über Anschlussstellen an einen (abstrakten, allgemeinen) Frame angeschlossen werden, um diesen zu einem epistemisch voll spezifizierten Wissensrahmen (einem instantiierten Frame) zu machen» (Busse 2012, 564). Für die Filler gilt ebenso wie für die Slots, dass die Eigenschaft, Filler zu sein, einem Wissenselement nicht absolut zukommt, sondern nur in Relation zu einem übergeordneten Slot. Und auch die Filler bilden in isolierter Betrachtung wiederum eigene Frames mit eigenen untergeordneten Slots und Fillern (cf. ib., 565). Standardwerte/default values Wenn nun in einem gegebenen Aktualisierungkontext für eine Anschlussstelle eines Frames keine konkreten Filler spezifiziert sind, dann wird diese Anschlussstelle mit einem Standardwert (default value) belegt (cf. ib., 564). Die Instantiierung von Frames kann mehr oder weniger konkret sein, d.h. es können viele oder wenige Slots mit konkreten Füllwerten spezifiziert sein; die offenen Slots werden dann eben mit Standardwerten gefüllt. Busse illustriert diesen Vorgang an folgendem Beispiel: Wenn in einem Text Leerstellen wie GRÖßE und MATERIELLE BESCHAFFENHEIT des Referenzobjekts Auto nicht durch konkrete Filler spezifiziert sind, aktualisieren Sprachbenutzer Standardwerte wie ist vier Meter lang oder besteht aus Blech automatisch. Die Standardwerte verkörpern einen wichtigen Aspekt der Prototypikalität von Frames, die wiederum ein zentrales Merkmal von Frames als Struktureinheiten des Wissens ist. Mitunter werden Frames und Prototypikalität nahezu als zwei Termini für dieselbe Sache betrachtet. Für die Ausbildung von Prototypen spielen Frequenz-Faktoren und die Orientierung an gesellschaftlichen Idealen eine wichtige Rolle. Außerdem vermutet Busse, dass Prototypikalität eng mit der Relevanz bestimmter Konstellationen des Wissens im individuellen oder gesellschaftlichen Leben und damit Wissen korreliert (cf. ib., 598). Auch die Standardwerte entstehen folglich entweder durch die hohe Frequenz bestimmter Füllungen für bestimmte Slots oder durch große Nähe zu einem gesellschaftlichen, kulturell determinierten Ideal (cf. ib., 604). Die Funktion der Standardwerte im Prozess des Sprach- oder Textverstehens besteht darin, dass sie die Standardannahmen und Erwartungen21 steuern, die Menschen an

21 Den Effekt von Prototypikalität auf Normalitätserwartungen beschreibt Busse (2012, 604) folgendermaßen: «Prototypikalität und Standardisierung schlagen sich darin nieder, dass die Angehörigen einer Sprach- und damit Wissensgemeinschaft gegenüber künftigen Situationen der Evokation von Frames und/oder Frame-Elementen [. . .] Erwartungen entwickeln und jedesmalig aktivieren, die sich auf erwartete Frame-Merkmale (Slots [. . .]/Werte, anschließbare

2.3 Semantische Komplexität

99

Frames herantragen, und von expliziter kognitiver Aktivität entlasten. Dies geschieht dadurch, dass Rezipienten im Verstehen nur dann gezielt nach spezifischen Fillern für die offenen Slots von Frames suchen müssen, wenn die Standard-Ausfüllungen nicht ausreichen oder nicht passen (cf. ib., 599). Relationen innerhalb von Frames Busses oben zitierte Arbeitsdefinition zu Frames endet mit der Einschätzung, dass Frames als ein Gefüge aus epistemischen Relationen (zu den angeschlossenen Elementen und unter diesen) beschrieben werden können. Diese Sichtweise stützt er unter anderem mit Verweis auf die Ansicht des Psychologen und Gedächtnisforschers Bartlett, der betont hat, dass unser Wissen vor allem Wissen über Relationen und Vernetzungen ist, und mit Verweis auf die Frame-Definition Barsalous, wonach Frames Attribut-Werte-Sets sind, in denen die Zuordnungsrelation zwischen Attributen und Werten immer mitgedacht ist (cf. ib., 593). Die wichtigsten Typen von Relationen innerhalb von Frames sind die oben bereits angesprochenen Attribut-Referenzpunkt-Relationen, also Zuschreibungen von Slots zum «Bezugsobjekt» eines Frames, die Wert-Attribut-Relationen, also Zuordnungen von Füllungen zu Slots, und die von Barsalou beschriebenen Strukturellen Invarianten und Constraints (cf. ib., 594). Strukturelle Invarianten bezeichnen feste Korrelationen zwischen verschiedenen Slots eines Frames, die (im Gedächtnis) dann entstehen, wenn bestimmte Slots sehr häufig gemeinsam auftreten wie z.B. die Slots ESSEN und ZAHLEN in einem Frame für Essen gehen. Im Prinzip ist es natürlich so, dass instantiierte Frames einzelne ihrer Slots auslassen können. Die Wirkung der strukturellen Invarianten liegt aber laut Busse darin, dass eine bestimmte KernKonstellation von Slots in jedem einzelnen Exemplar-Frame verwirklicht sein muss, damit dieser als Exemplar des entsprechenden Muster-Frames erkennbar ist (cf. ib., 569). Während strukturelle Invarianten Korrelationen zwischen Slots sind, sind Constraints (Restriktionen, Beschränkungen) typischerweise Korrelationen zwischen verschiedenen Fillern verschiedener Slots eines bestimmten Frames (cf. ib., 566). Sie wirken sich folgendermaßen aus: «Wenn in einem Frame F das Frame-Element X mit dem Wert a [oder einem Wert im Bereich A] ausgefüllt wird, muss das Frame-Element Y mit dem Wert b [oder einem Wert im Bereich B] ausgefüllt werden» (ib., 594). Zur Veranschaulichung der angeführten Strukturkonstituenten von Frames und Relationen in Frames soll ein Ausschnitt aus einem semantisch-lexikalischen

Frames in Taxonomien, Nachbarschafts-Beziehungen oder sonstige standardmäßige epistemische Relationierungen) richten. Als Effekt von Prototypikalität und Standardisierung stellen diese Normalitätserwartungen dar».

100

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Frame für Ziege (welcher im Korpustext La Chèvre de M. Seguin eine Rolle spielt) in tabellarischer Form angegeben werden:

Tab. 9: Semantisch-lexikalischer Frame für Ziege (Ausschnitt). Frame-Kern: Ziege Slots

Wertebereich bzw. Standardwerte

I

Rasse

Wertebereich {Rasse , Rasse , . . . , Rasse n}

II

Gewicht

Wertebereich [ kg;  kg]

III

Geschlecht

Wertebereich {männlich, weiblich}

IV

Beschaffenheit der Außenseite

Standardwert: Fell

V

Sichtbare Teile

Standardwerte: Kopf, Rumpf, Beine, Hörner, Ziegenbart, Schwanz

VI

Innere Teile

wie bei Säugetieren

VII

Charaktereigenschaften Standardwert: störrisches Wesen

VIII

Fortbewegungsart

Standardwerte: laufen, klettern, springen

IX

Ernährung

Standardwerte: frisst Blätter, Gras, Kräuter

X

Nutzen für den Menschen

Standardwerte: liefert Milch, Fleisch, Wolle, Leder

XI

Kulturell assoziierte Konzepte

«Kuh des kleinen Mannes», Fabeltier

Constraints

Wert für II ist abhängig von Wert für I

Werte von VI sind abhängig von Wert für III

Wert für X ist abhängig von Wert für I und Wert für III

Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass es sich bei dem Beispiel um einen Ausschnitt aus einem lexembezogenen Muster-Frame (oder type-frame) handelt, der von einer Anwendung des Musters, also einem Exemplar-Frame (oder tokenframe), streng zu unterscheiden ist. Die type-token Differenz zwischen abstraktem

2.3 Semantische Komplexität

101

Muster und seiner konkreten Anwendung bzw. Aktualisierung, die sich bei Sprachzeichen in der Unterscheidung zwischen lexikalischem Wort (Lexem) und Textwort bzw. Wortverwendung manifestiert, ist auch für die Frame-Theorie von entscheidender Bedeutung (cf. Busse 2012, 614) und manifestiert sich hier folgendermaßen: «Ein Frame in einem epistemologischen Sinne ist eine allgemeine, abstrakte, typisierte, an ‹Idealen› ausgerichtete Struktur aus Wissenselementen (Slots) [. . .], die allgemeine Bedingungen für Konkretisierungen festlegt, welche nur in konkreten ‹Anwendungen› bzw. Aktualisierungen dieses Frames spezifiziert werden, die in dieser Hinsicht dann als ‹Exemplare (oder token) dieses Frames› gelten können. Die epistemischen Spezifizierungen sind dann die Füllungen/Werte dieses Frames in ihrer Gesamtheit» (ib., 618).

Das bedeutet, dass Muster-Frames aus einem festen Set aus Slots und Anschlussbedingungen bestehen und im Gedächtnis höchstwahrscheinlich mit Standardwerten gefüllt gespeichert werden, während eine mehr oder weniger große Zahl der Slots von Exemplar-Frames mit konkreten Füllwerten spezifiziert sind. Busse macht den Unterschied nochmals anhand sprachlicher Prädikations-Frames und konkreter Satz-Frames deutlich. Sprachliche Prädikations-Frames sind MusterFrames, z.B. Minskys Geburtstagsparty-Frame oder Schank/Abelsons RestaurantSkript, und definieren Sets von Frame-Elementen, die häufig nicht alle zugleich in demselben Satz realisiert werden können. Konkrete Satz-Frames als tokenframes instantiieren dann eben oftmals nur Teile des übergeordneten Prädikations-Frames (cf. ib., 620). Bei der Nutzbarmachung von Frames für die Analyse der semantischen Komplexität von (literarischen) Texten geht es zunächst einmal um die konkreten, im Text instantiierten Exemplar-Frames. Bei diesen interessiert die Zahl der durch Filler spezifizierten Slots, ebenso wie die – zum Impliziten zählenden – offenen Slots, die vom Rezipienten z.B. mit Standardwerten oder im mittelbaren Kontext enthaltenen Informationen zu füllen sind. Aber natürlich sind ebenfalls die entsprechenden gesellschaftlich geprägten Muster-Frames und die mit ihnen verbundenen Normalitätserwartungen relevant. Der Vergleich von Muster- und Exemplar-Frame erlaubt es festzustellen, ob der im literarischen Text instantiierte Exemplar-Frame eventuell zentrale Slots des entsprechenden Muster-Frames nicht spezifiziert oder andere Slots mit den Erwartungen widersprechenden Fillern belegt. Solche Phänomene sind Indizien für eine höhere semantische Komplexität, da sie vom Rezipienten das Aktivieren von zusätzlichem Frame-Wissen und die Herstellung von unter Umständen mehrstufigen Inferenzen verlangen, sobald gängige Standardwerte im gegebenen Kontext nicht mehr passen und/oder den Erwartungen widersprechende Filler das Aufrufen eines neuen Frames erfordern. Somit

102

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

lässt sich das in Kapitel 2.2.3 formulierte Komplexitätsmerkmal «Leerstellen/ Aussparungen» also auch frame-semantisch begründen. 2.3.2.3 Frame-Systeme Aufgrund der Rekursivität von Frames, also der Tatsache, dass jedes Element eines Frames selbst wieder ein Frame ist, kann man bereits einen einzelnen Frame als ein Mini-System aus Frames betrachten (cf. ib., 628). Somit liegt es also quasi in der Natur der Frames, größere Systeme auszubilden und gerade in (literarischen) Texten wird man aufgrund der mehr oder weniger stark ausgebildeten Kohäsion, Kohärenz und einheitlichen thematischen Orientierung auch größere Frame-Systeme erwarten können. Dennoch spielte nach Busse die Erklärung von Relationen zwischen Frames und der Strukturen in Frame-Systemen in der Forschung bislang kaum eine Rolle. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Systematizität schlägt Busse (2012, 642) deshalb selbst einige Typen von FrameSystemen bzw. Frame-Netzen vor. Von diesen sollen hier diejenigen vorgestellt werden, die für eine Analyse semantischer Komplexität von Interesse sind, weil sie eben Kohäsion und Kohärenz stiften oder ein Textthema etablieren können:

Tab. 10: Typen von Frame-Systemen (cf. ib., 642–644). Frame-System-Typ

Erläuterung

.

Frames als FrameSysteme

Aufgrund des Prinzips der Rekursivität ist jeder Frame immer zugleich ein Frame-System, da er aus Unter-Frames (Slot-Frames und Filler-Frames) besteht.

.

KongruenzNetzwerke

Kongruenz-Netzwerke beruhen auf der Übereinstimmung einzelner Wissenselemente, d.h. benachbarte Frames teilen sich einzelne oder Gruppen von Frame-Elementen. Ein Spezialfall dieser Kongruenz-Netzwerke sind Wortfelder. So teilen sich beispielsweise die Frames für Stuhl und Hocker u.a. die Slots FUNKTION und MATERIAL und die entsprechenden Standardwerte «dient zum Sitzen» und «Holz» oder «Kunststoff».

.

SerialitätsNetzwerke

Auch die in Serialitäts-Netzwerken verbundenen Frames teilen sich oftmals einzelne oder Gruppen von Frame-Elementen, konstituiert werden diese Netzwerke aber über die Relation der Folge-Beziehungen im weitesten Sinne. Bei Serialitäts-Netzwerken handelt es sich um Ereignis-Frame-Systeme oder HandlungsFrame-Systeme oder Mischformen aus beiden. Es können u.a. folgende Unter-Typen von Serialität unterschieden werden:

2.3 Semantische Komplexität

103

Tab. 10 (fortgesetzt ) Frame-System-Typ

.

Erläuterung

a. Temporale Serialität

Hierbei handelt es sich um zeitliche Aufeinanderfolgen («Serien» im engsten Sinne) ohne Implikation logischer KausalitätsRelation wie z.B. WORK-OUT IM FITNESS-STUDIO und anschließend BESUCH DER SAUNA DORTSELBST.

b. Kulturell bedingte Serialität

Hierbei handelt es sich um im kulturellen Wissen etablierte Aufeinanderfolgen von Handlungs- und/oder Ereignis-Frames wie z.B. SKIFAHREN und APRÈS-SKI oder institutionalisierte FolgeSysteme wie PREDIGT und SEGEN.

c. Kausal bedingte Serialität

In Systemen, die auf kausal bedingter Serialität beruhen, werden Frames durch Kausalrelationen vernetzt, wobei hier sowohl die strenge Kausalität in naturgesetzlichen Zusammenhängen als auch die sozial bedingte oder kulturelle Kausalität gemeint ist, die Busse als «gefühlte Kausalität» tituliert und die auf sozialen Verknüpfungen, Gepflogenheiten und Gebräuchen beruht. Aus zeitlich und insbesondere kausal miteinander verbundenen Teil-Frames (für Teil-Handlungen) bestehen die von Schank & Abelson als «Skripts» bezeichneten Frame-Systeme.

Assoziative Netzwerke

Die assoziativen Netzwerke sind die Frame-Systeme mit den «schwächsten» Relationen unter den so verbundenen Frames; zu diesen zählen u.a. Ähnlichkeit und partielle Kongruenz.

a. Ähnlichkeit

Die Relation der Ähnlichkeit beruht auf subjektiven Einschätzungen und Wahrnehmungen und der menschlichen Assoziationsfähigkeit. Ähnlichkeit muss also gesehen werden.

b. Partielle Kongruenz

Im Gegensatz zu den unter Punkt  angesprochenen KongruenzNetzwerken, bei denen die verbundenen Frames in einer größeren Zahl von Frame-Elementen übereinstimmen, liegt bei partieller Kongruenz nur eine Übereinstimmung von wenigen oder sogar nur einem einzigen Frame-Element zwischen den vernetzten Frames vor. Busse hält Affordanzen für besonders geeignet, assoziative Frame-Netze zu stiften, die auf ein einziges geteiltes Frame-Element zurückgehen, und nennt als Beispiel das durch die Frage «Was würde ich als Robinson auf eine einsame Insel mitnehmen?» provozierte assoziative Frame-Netz.

104

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Das zuletzt aufgeführte, auf partieller Kongruenz beruhende assoziative FrameNetz kann man nach Busse als Umdeutung des auf der Basis rekurrenter semantischer Merkmale entwickelten Isotopie-Konzepts nach Greimas auffassen (cf. ib., 638). Wenn auf der Signifikanten-Ebene eines Textes mehrere Wörter auftreten, deren Signifikate ein nicht-triviales Sem gemeinsam haben, dann bewirkt dies einen inhaltlichen Zusammenhalt, der von Greimas als Isotopie bezeichnet wird (cf. Jesch 2009, 45). Da Isotopie-Ketten und ihre Verknüpfung zu einem Isotopie-Netz eine (wichtige) Form der semantischen Kohärenz von Texten darstellen (cf. Bußmann 2008, 311) und Themen bzw. Teilthemen im Text etablieren können (cf. Gardt 2008b, 209), gilt dies natürlich auch für die vergleichbaren, auf partieller Kongruenz beruhenden assoziativen Frame-Netze ebenso wie für die weiteren oben angeführten Frame-System-Typen. In Kapitel 2.2.1 wurden «Kohäsion & lokale Kohärenz» sowie «Frames/FrameSysteme & die Etablierung von Themen» als wichtige Komplexitätskategorien benannt und erste Überlegungen zu Komplexitätsunterschieden in Bezug auf beide Kategorien angestellt, die nun ausgebaut werden können. Natürlich ist die semantische Komplexität in Bezug auf «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» sowie «Kohäsion & lokale Kohärenz» besonders gering ausgeprägt, wenn das Thema explizit in einem Textsegment benannt wird oder Kohäsionsmarker die offensichtliche Kohärenz der geschilderten Sachverhalte noch unterstützen. Aber auch die direkte Entsprechung eines im Text in aller Breite instantiierten Frames mit dem zentralen Textthema ist ein Beleg für geringe Komplexität: wenn also der entsprechende Frame-Kern, d.h. der Gegenstand des Frames, explizit benannt wird, seine strukturellen Invarianten und weitere zentrale Slots des Frames durch Filler konkretisiert werden, dann stellt dies eine sehr explizite Inszenierung des Textthemas dar und erspart dem Rezipienten größere Inferenzen. Vergleichbares gilt für eine Etablierung des Textthemas durch umfangreiche Kongruenz- oder Serialitätsnetzwerke. Wird hingegen ein Textthema durch einen Frame realisiert, von dem nur einige wenige Slots durch Filler instantiiert werden, und dann womöglich noch solche, die in der Frame-Struktur wenig zentral sind oder die ebenso gut zu einem benachbarten Frame gehören könnten, dann wird die Ermittlung des Themas deutlich komplexer, weil sie ein profundes, ausdifferenziertes Wissen zum entsprechenden Frame-Gegenstand verlangt. Wenn weiterhin ein Thema oder die Kohärenz eines Textes lediglich auf einem durch Ähnlichkeit gestifteten assoziativen Netzwerk beruhen, dann gilt Vergleichbares, wie oben bereits in Bezug auf den Stil festgestellt wurde und worauf auch Busse hinweist: Ähnlichkeit muss ebenso wie Stil gesehen, also wahrgenommen werden (cf. Abraham 2008, 1349s.). Und da Wahrnehmung selektiv ist, muss sie durch bewusste Textanalyse und häufig auch umfangreiches Sprach- und Weltwissen gestützt werden. Eine solche

2.3 Semantische Komplexität

105

Etablierung von Themen bzw. globaler oder auch lokaler Kohärenz würde natürlich den Komplexitätswert in Bezug auf beide Kategorien deutlich erhöhen. 2.3.2.4 Frame-gestütztes Textverstehen Wie in Bezug auf das Kommunikationsmodell der Frame-Semantik bereits angesprochen, vollzieht sich Sprach- und Textverstehen durch die permanente Aktivierung von frame-förmig organisierten Elementen und Strukturen des verstehensrelevanten Wissens (cf. Busse 2012, 704). «Die Rezipienten konstruieren im Verstehen eine Interpretation, indem sie die von den Wörtern evozierten Wissensrahmen aktivieren und miteinander entsprechend der Satzstruktur und anderen Anhaltspunkten vernetzen» (Busse 2009, 85). Um diesen Prozess genauer zu verstehen, muss man sich die frame-aktivierenden Leistungen von Lexemen und Lexem-Ketten vergegenwärtigen. Lexeme und Lexem-Ketten evozieren nicht nur Frames, sie kontextualisieren sie auch (cf. Busse 2012, 656). Das geschieht dadurch, dass Lexem-Kombinationen zunächst Kombinationen von Frames evozieren. Die Kombination von Lexemen führt aber auch dazu, dass in einem Abgleichprozess die ausdrucksseitige Präsenz von mehreren Lexemen die Evokation der Lexem-induzierten Frames beeinflusst. Die evozierten Frames werden also an den durch die Lexem-Kombination signalisierten epistemischen Kontext angepasst und gegebenenfalls werden erste Frame-Evokationen, die durch isolierte Lexem-Verarbeitung induziert wurden, korrigiert. So müssen beispielsweise nach der Lektüre des Satzes «Der Kant ist zu schwer für mich.» der eventuell spontan instantiierte Personen-Frame durch einen Werk-Frame und der Gewicht-Frame durch einen Schwierigkeitsgrad-Frame ersetzt werden (cf. ib., 660). Darüber hinaus steuern Sprachzeichen Kontextualisierungen, insofern sie häufig bestimmte Perspektiven auf einen Wissenskomplex evozieren, d.h. bestimmte Slots der aktivierten Frames fokussieren und so in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rücken, andere ausblenden und somit im Hintergrund belassen (cf. ib., 664). Es ist allerdings nicht nur so, dass Frames durch Lexeme kontextualisiert werden, sondern Frames leisten ebenfalls Kontextualisierungen – also gewissermaßen ein hermeneutischer Zirkel auf der Ebene der Frames. Sie liefern nämlich die Wissens-Hintergründe, die zum Verstehen sprachlicher Zeichen und zur Ergänzung nicht explizierter Zusammenhänge zwischen einzelnen Ausdrücken notwendig aktiviert werden müssen (cf. ib., 662). In Bezug auf das Textverstehen muss man die oben angeführte Leistung von Lexemen, nämlich Frames zu evozieren, präzisieren und feststellen, dass Lexem-token Frame-token evozieren. Lexem-token veranlassen Rezipienten der Zeichen oder Zeichenketten dazu, epistemische Frames zu instantiieren, also kognitiv zu aktivieren. Dabei werden

106

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

offene Slots der Frames mit konkreten Fillern belegt, die entweder aus dem sprachlichen Ko-Text oder aus dem durch Prä-Text, Situation, vorheriges Geschehen bezogenen epistemischen Kontext oder aus dem allgemeinen enzyklopädischen Gedächtnis oder durch Wahl prototypikalisierter Standardwerte bezogen werden (cf. ib., 657). Allerdings ist es so, dass Lexeme manchmal nur in Verbindung mit bestimmten anderen Lexemen oder in syntagmatisch realisierten Aussagen-Zusammenhängen bestimmte Frames evozieren (cf. ib., 657). Für dieses Phänomen liefert Minsky (1974) überzeugende Beispiele wie z.B. das folgende, das bereits oben angesprochen wurde: «She wondered if he would like a kite. She went to her room and shook her piggy bank. It made no sound» (Minsky 1974, 31).

In diesem Text gibt es kein einzelnes Wort, das den zentralen Frame Schenken evoziert (weder die Wörter Geschenk und Geld noch mögliche Synonyme tauchen auf), sondern es ist der Gesamtkontext, das Arrangement von sprachlichen Elementen, das den zentralen verstehensrelevanten Frame evoziert (cf. Busse 2012, 653). In Minskys grundlegendem Artikel von 1974, A Framework for representing knowledge, in dem er eine kognitionswissenschaftliche Frame-Theorie entwickelt, finden sich zahlreiche Überlegungen zum frame-gestützten Textverstehen, deren Plausibilität und Aktualität Busse (2012) wiederholt würdigt. Im Kontext von semantischer und diskurstraditioneller Komplexität sind insbesondere die Beschreibung der Frame-Aktivierung als Abgleichprozess (matching process), die zentrale Rolle, die Minsky den thematischen Ober-Frames (topical or thematic super-frames) beimisst, und die Idee der Textsorten-Frames von großem Interesse. Busse folgert aus Minskys Modellierung des Textverstehens, dass für den Kognitionswissenschaftler die Frame-Aktivierung beim Wort- und Textverstehen kein automatischer, stets gleich ablaufender Akt ist, sondern kognitive Prozesse der Wissensaktivierung verlangt, die individuell und kontextabhängig unterschiedlich ausfallen und letztlich ein probabilistisches Unterfangen darstellen (cf. Busse 2012, 673). Frame-Aktivierung vollzieht sich nach Minsky als ein Anpassungs- bzw. Abgleichprozess (matching process), wobei in Bezug auf eine gegebene Situation oder eine gegebene Äußerung zunächst versuchsweise bestimmte Frames aktiviert und dann daraufhin geprüft werden, ob sie auf die gegebene Situation passen oder zumindest angepasst werden können. Im Rahmen dieser Prüfung wird versucht, den Slots Werte zuzuweisen, die deren Subkategorisierungs-Bedingungen erfüllen

2.3 Semantische Komplexität

107

(cf. Minsky 1974, 2s.).22 Wenn der matching process keine befriedigenden Ergebnisse liefert, wird ein Ersatz-Frame aktiviert, der möglichst viele Slots mit dem aufgegebenen Frame teilt, damit einige der Slot-Zuweisungen beibehalten werden können (cf. ib., 40s.). Letztlich kann Frame-Aktivierung dann sogar zu einem kreativen und anspruchsvollen Prozess werden: wenn für ein Phänomen nämlich gar kein passender Frame gefunden wird, dann wird der bestmögliche abrufbare Frame so lange verändert, bis er passt (cf. ib., 8). Eine zentrale Rolle beim Textverstehen schreibt Minsky (1974, 35) den sukzessive auf- und auszubauenden thematischen Ober-Frames (topical or thematic super-frames) und Story-Frames zu: «The key words and ideas of a discourse evoke substantial thematic or scenario structures, drawn from memory with rich default assumptions. The individual statements of a discourse lead to temporary representations [. . .] which are then quickly rearranged or consumed in elaborating the growing scenario representation».

Die zentralen Wörter und Ideen eines Textes rufen beim Rezipienten also umfangreiche thematische Ober-Frames oder Szenario-bezogene Strukturen auf, die mit zahlreichen Standardannahmen gefüllt sind. Ein im Verstehensprozess analysierter Satz muss dann nur so lange behalten werden, bis sein Inhalt dazu verwendet werden kann, einen Slot in einem übergeordneten Rahmen zu besetzen (cf. ib., 27). Der so wachsende und sich konkretisierende Ober-Frame erzeugt Erwartungen in Bezug auf die Zuweisungen zu seinen offenen Slots und im voranschreitenden Lektüreprozess werden weitere Informationen, wann immer dies möglich ist, in den Ober-Frame eingefügt: so kann zum Beispiel eine im Fokus eines Paragraphen stehende Charakterisierung des Protagonisten als Sub-Frame einen Slot im Story-Frame besetzen (cf. ib., 27). Auch das Aufrufen von Story-Frames unterliegt natürlich dem oben geschilderten matching process, was Minsky (1974, 27) in Bezug auf den von ihm zitierten Beginn einer Tier-Fabel deutlich macht: «We go on to suppose that the listener actually has many story frames [. . .]. First we try to fit the new information into the current story-frame. If we fail, we construct an error comment like ‹there is no place here for an animal›. This causes us to replace the current story-frame by, say, an animal-story frame. The previous assignments to terminals may all survive, if the new story-frame has the same kinds of terminals. But if many previous assignments do not so transfer, we must get another new story-frame».

22 «Once a frame is proposed to represent a situation, a matching process tries to assign values to each frame’s terminals, consistent with the markers at each place. [. . .] When a proposed frame cannot be made to fit reality – when we cannot find terminal assignments that suitably match its terminal marker conditions – [the information retrieval] network provides a replacement frame» (Minsky 1974, 2s.).

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Bei den Story-Frames denkt Minsky also offenbar an Textsorten-Frames. Auch das in Kapitel 2.1 behandelte Wissen um Diskurstraditionen und literarische Gattungen kann man sich folglich als in Frames organisiert vorstellen. An anderer Stelle seines Aufsatzes spricht Minsky statt von Story-Frames von narrativen Rahmen (narrative frames), die er folgendermaßen definiert: «Narrative Rahmen. Skelettformen für typische Geschichten, Erklärungen und Argumente. Konventionen zu Schwerpunkten, Protagonisten, Handlungsformen, Entwicklungen usw., die entworfen wurden, um dem Hörer zu helfen, einen neuen, thematischen Rahmen in seinem Geist zu entwerfen und zu instantiieren» (Minsky 1992, 107).

Offensichtlich verwendet Minsky die Bezeichnungen story-frame und narrative frame weitestgehend synonym. Gemeint sind in beiden Fällen TextsortenRahmen und Minsky macht deutlich, dass deren Verfügbarkeit für das Verständnis bestimmter Textsorten wenn schon nicht unverzichtbar, dann aber zumindest sehr hilfreich ist, weil sie eben dem Rezipienten beim Aufbau von Erwartungen und dem Entwurf eines thematischen Rahmens helfen. Damit nimmt Minsky (1974) das vorweg und begründet es frame-theoretisch, was Oesterreicher (1997) den «Entlastungsfaktor» von Diskurstraditionen nennt – ihre Funktion, Verstehensebenen festzulegen und Interpretationsmöglichkeiten einzuschränken (cf. Osterreicher 1997, 29). Gleichzeitig liefert Minsky (1974) so eine weitere Motivation für die in Kapitel 2.1 entwickelte Komplexitätskategorie «Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen der Rezipienten»: denn damit Diskurstraditionen bei der Bedeutungskonstruktion eines Textes entlastend wirken können, muss der Rezipient ja zunächst über sie verfügen. Brigitte Rath (2008, 131) fasst diese Überlegungen Minskys zum frame-gestützten Textverstehen sehr treffend zusammen, wenn sie erklärt, dass Frames bzw. Schemata während des Verstehensprozesses metakognitive Funktion übernehmen, die eben im Lenken von Aufmerksamkeit und Erwartungen und im Überprüfen der Passgenauigkeit einmal aktivierter Frames bezüglich der weiteren Informationen des Textes besteht: «Während des Verstehensprozesses hat das Schema auch metakognitive Funktion: Zum einen markiert es Variablen,23 deren genauere Bestimmung zum Verstehen des Sachverhalts notwendig sind, und lenkt damit die Aufmerksamkeit. Zum anderen überprüft das Schema, ob es sinnvoll mit den gegebenen Informationen umgehen kann. Wenn zu viele konkrete Informationen nicht als Konkretisationen einer Variable behandelt werden können, wird das Schema verworfen und es wird versucht, die gegebenen Informationen in ein passenderes Schema einzuordnen».

23 Rath (2008) verwendet den Terminus Variable zur Bezeichnung der Slots bzw. Anschlussstellen in Frames.

2.3 Semantische Komplexität

109

In diesem Paragraphen wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass Rezipienten im Prozess des Textverstehens in Frames organisiertes Wissen aktivieren. Fillmore (1985) legt im Kontext der Frame-Aktivierung großen Wert auf die Unterscheidung zwischen dem Evozieren und dem Invozieren von Frames – eine Unterscheidung, die es in Minskys Frame-Theorie allerdings nicht gibt: «Interpretative Rahmen können in den Prozess des Verstehens eines Textes dadurch eingeführt werden, dass sie aufgerufen [invoked] werden durch den Interpreten, oder dadurch, dass sie evoziert [evoked] werden durch den Text. Ein Rahmen wird aufgerufen, wenn ein Interpret bei dem Versuch, ein Text-Segment sinnvoll zu machen, in der Lage ist, ihm eine Interpretation dadurch zuzuschreiben, dass er dessen Inhalt in einem Muster situiert, das unabhängig von dem Text bekannt ist. Ein Rahmen wird evoziert durch den Text, wenn eine sprachliche Form, oder ein Muster, konventionell mit dem fraglichen Rahmen assoziiert ist» (Fillmore 1985, 124 zit. nach Busse 2012, 123).

Busse (2012, 668) kritisiert diese Unterscheidung scharf, indem er zu Recht darauf hinweist, dass in Fillmores Definition das Agens des Verbs invozieren die Person des Verstehenden sei, während das Agens des Verbs evozieren die sprachlichen Mittel selbst seien. Da Wörter aber nichts tun könnten, insbesondere keine geistigen Akte – auch nicht unbewusst ablaufende – vollführen könnten, müsste also auch das sogenannte evozieren auf geistige Akte verstehender Menschen zurückgeführt werden. Busse vermutet, dass Fillmore implizit an zwei verschiedene Weisen der Aktivierung des verstehensnotwendigen Wissens denkt. Mit dem Invozieren meine er im Wesentlichen das, was üblicherweise mit dem Begriff des Inferierens bezeichnet werde, also «[. . .] auf aktiven schlussfolgernden geistigen Prozessen der Interpreten/Verstehenden beruhende Aktivierungen von weiterem verstehens-stützendem Wissen, das über dasjenige Wissen, das man als das ‹semantische› oder ‹Bedeutungs-Wissen› im engeren Sinne auffasst (d.h. im Sinne eines eng gefassten Begriffs der ‹lexikalischen› oder ‹konventionellen Bedeutung› der Zeichen selbst) deutlich hinausgeht» (ib., 669).

Und das evozierte verstehensrelevante Wissen stünde dann in einem engen Zusammenhang mit den Begriffen der lexikalischen Bedeutung bzw. wörtlichen oder konventionellen Bedeutung (cf. ib., 668). Evozieren wäre also letztlich eine Metapher für «regelmäßig/konventionell nahe legen» (ib., 685). Auch wenn Busse Fillmores Begründung der Unterscheidung zwischen Invozieren und Evozieren für falsch hält, kann er sich vorstellen, dass bei der Aktivierung von Frames unterschiedliche kognitive Strategien angewandt werden. Um dies zu klären, bedürfe es aber weitreichender kognitiver und zeichentheoretischer Überlegungen. Beim gegenwärtigen Stand der Forschung und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Sprachzeichen auf sozialen Konventionen

110

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

beruhen und sprachbezogenes Wissen hochgradig automatisiert sei, bezieht Busse Fillmores Unterscheidung zwischen Evozieren und Invozieren auf unterschiedliche Grade der Stabilität und Unbewusstheit bzw. Automatisierung des Wissens und deutet sie abschließend folgendermaßen: «Vermutlich meint [Fillmore] mit ‹Evokation› den Umstand, dass bestimmte Teile des verstehensrelevanten Wissens (auf der Basis einer hohen Stabilität bestimmter Teile des Wissens als Folge eines großen Maßes an Iteration und damit kollektiver Stützung und Wiederbestätigung) im kognitiven Prozess der Verarbeitung wahrgenommener Zeichenkörper ‹automatischer› (schneller, einfacher, störungsfreier, mit nicht bemerktem oder geringerem kognitiven ‹Verarbeitungsaufwand›) kognitiv aktiviert werden als bei solchen Teilen des verstehensermöglichenden Aktivierungsprozesses, die Fillmore als ‹Invokation› bezeichnet sehen möchte» (ib., 686s.).

Trotz aller noch vorhandener Unklarheiten in Bezug auf Unterschiede in der kognitiven Aktivierung von Frames scheint es aufgrund von Fillmores vehementem Festhalten an seiner Unterscheidung und nicht zuletzt aufgrund der Erfahrung jedes Lesers so zu sein, dass unterschiedliche Texte unterschiedliche Grade und Typen an kognitiver Eigenleistung des Rezipienten verlangen. Natürlich ist es immer eine kognitive Leistung des Rezipienten, aufgrund von sprachlichen Stimuli die entsprechenden Frames zu aktivieren, doch können eben Art und Anzahl dieser Stimuli stark variieren. Tauchen in der Ausdrucksstruktur eines Textes explizit Lexeme auf, die den Frame-Kern bezeichnen oder seine strukturellen Invarianten belegen, wird die Aktivierung des entsprechenden Frames schnell und automatisch verlaufen. Sind es allerdings – wie im oben zitierten Beispiel von Minsky (1974) – nicht einzelne Wörter, sondern der Gesamtkontext oder das Gesamtarrangement der sprachlichen Zeichen, die einen verstehensrelevanten Frame aufrufen, könnte die Aktivierung des Frames einen höheren Verarbeitungsaufwand erfordern. Dasselbe gilt für den Fall, dass ein Text vielleicht nur wenige Details enthält, die als Filler von fakultativen Slots eines bestimmten Frames zu deuten sind, der aber notwendigerweise zu aktivieren ist, um Kohärenz herzustellen. Außerdem kann natürlich das zu aktivierende Frame-Wissen alltägliches und hochfrequentes Wissen darstellen oder aber differenziertes Expertenwissen sein – im ersteren Fall wird die Aktivierung schneller und störungsfreier erfolgen als im zweiten. Unterschiede in der aufzubringenden «Frame-Aktivierungs-Energie» müssen folglich eine Rolle bei der Einschätzung der semantischen Komplexität eines Textes spielen und sie sind mit dem Werkzeug der Frames und ihrer Konstituenten (Slots, Standardwerte, Filler) auch hinreichend gut beschreibbar. Die von Busse ergänzten Kriterien zur Unterscheidung zwischen dem Evozieren und Invozieren von verstehensrelevanten Wissensbeständen entsprechen in

2.3 Semantische Komplexität

111

weiten Teilen den von Grice (1989a) angeführten Kriterien zur Unterscheidung zwischen konventionellen und konversationellen Implikaturen – in Kapitel 2.4 wird dieser Eindruck zu begründen sein. Auf jeden Fall kann an dieser Stelle bereits festgestellt werden, dass im Bereich des Impliziten die Bedeutungsaspekte, die konventionell mit bestimmten Lexemen verbunden sind und deren Aktivierung somit einen geringen kognitiven Verarbeitungsaufwand erfordert, natürlich deutlich einfacher sind als solche, die invoziert bzw. über eine konversationelle Implikatur erschlossen werden müssen. 2.3.2.5 Präzisierung des Komplexitätsbegriffs Roelckes mittels framesemantischer Modelle und der implizite Komplexitätsbegriff der Frame-Semantik Mit Hilfe der Modelle und Analyseinstrumente der Frame-Semantik ist es nun möglich, den abstrakten Komplexitätsbegriff Roelckes zu präzisieren, zu illustrieren und letztlich auch zu begründen. Gemäß Roelcke (2002, 54) ist die Komplexität eines Kommunikats ja an dem Verhältnis seiner Intension (Kommunikationsergebnis) gegenüber seiner Extension (Kommunikationsaufwand) zu bestimmen, wobei eine relativ hohe Intension eine hohe Komplexität und eine relativ hohe Extension eine niedrige Komplexität bedingen. Dabei setzt sich das generelle Kommunikationsergebnis aus Information und Instruktion zusammen, das textuelle Kommunikationsergebnis aus Proposition und Illokution. Der generelle Kommunikationsaufwand hingegen besteht aus Elementen und Relationen und in Bezug auf Texte sind es Wörter und ihre Kombination zu komplexen sprachlichen Zeichen wie Sätzen oder größeren Textteilen, die den Kommunikationsaufwand bilden (cf. ib., 63s.). Aus der Art der sich gegenseitig beeinflussenden Grade von Intension und Extension und der Exemplifizierung des Modells anhand fachsprachlicher Lexik konnte in Abschnitt 2.3.1.1 gefolgert werden, dass Roelcke bei einem hohen Grad an Extension an quantitativ viele Elemente und Relationen bzw. Wörter und deren Kombination zu Sätzen und Textteilen denkt. Roelckes abstrakte Definition von Komplexität und seine Beschreibung der Faktoren, die eine hohe bzw. niedrige Komplexität bedingen, kann zunächst folgendermaßen paraphrasiert werden. Man stelle sich vor, dass eine bestimmte Menge von Informationen und Instruktionen bzw. Propositionen und Illokutionen durch einen sprachlichen Text vermittelt werden soll – man betrachte das Kommunikationsergebnis, die Intension, also als konstant. Geschieht dies nun in Form eines Textes mit vergleichsweise vielen Wörtern und Sätzen, dann ist die Komplexität dieses Textes eher gering. Wird dieselbe

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Menge an Information und Instruktion aber durch einen Text mit einem geringen Grad an Extension vermittelt, der also vergleichsweise wenige Wörter und Sätze umfasst, dann ist die Komplexität dieses Textes eher hoch. Das kann aber nur bedeuten, dass in dem komplexen Text einige der Propositionen und Illokutionen nicht explizit ausgedrückt werden, aber dennoch mitgemeint und somit vom Rezipienten zu inferieren sind, indem er verstehensnotwendiges Hintergrundwissen aktiviert – eine Notwendigkeit, die die Frame-Semantik, wie soeben dargestellt wurde, in den Fokus des Textverstehens rückt. In einem solchen komplexen Text ist die Diskrepanz zwischen Ausdrucksstruktur und Inhaltsstruktur eben besonders hoch, weil z.B. Argumentrollen in Sätzen oder bestimmte Aspekte eines Referenzobjektes nicht durch eigene sprachliche Zeichen ausgedrückt werden, aber vom Rezipienten unter Rückgriff auf Frame-Wissen hinzugedacht werden müssen. Vielleicht werden auch vom Produzenten intendierte Illokutionen nicht durch explizite Indikatoren wie z.B. performative Verben, den Satzmodus oder bestimmte Adverbien oder Partikeln ausgedrückt, sondern müssen ebenfalls vom Leser inferiert werden. Möglich ist es auch, dass der Rezipient eines komplexen Textes nur dann Kohärenz herzustellen bzw. das Thema zu ermitteln vermag, wenn er einen bestimmten verstehensrelevanten Frame aktiviert, der sich aber nicht durch eine Vielzahl an Fillern «aufdrängt» (der Grad der Extension ist schließlich gering!), sondern aus wenigen Details oder dem Gesamtarrangement der sprachlichen Zeichen extrahiert werden muss. Unter Rückgriff auf das Kommunikationsmodell der Frame-Semantik könnte man also sagen, dass bei komplexen Texten der elliptische Charakter der Informationsvermittlung besonders ausgeprägt ist, die gesetzten Anhalts- und Markierungspunkte also besonders rar sind und das vorausgesetzte Wissen, auf das sie anspielen bzw. welches invoziert werden muss, eher Experten- als Allgemeinwissen ist. Solche Texte sind komplex, weil ihre Bedeutungserschließung große Anforderungen an das Hintergrundwissen sowie die kognitive Leistung und die Konzentrationsleistung ihrer Rezipienten stellt. Um innerhalb der Beschreibungseinheiten von Roelckes Modellskizze effektiver Kommunikation zu verbleiben, müsste man sagen: die Rezeption komplexer Texte verlangt eine hohe Kapazität des Kommunikanten, also eine hohe textuelle Kompetenz und eine hohe textuelle Konzentration. Das Analyseinstrument Frame ermöglicht es, diese Komplexitätsunterschiede zu beschreiben, indem es aufzeigt, welche Wissensaspekte der Text selbst enthält (explizite Filler, explizite Nennung des Frame-Kerns), welche Wissensaspekte vom Rezipienten zu aktivieren sind (z.B. kontextuell markierte, aber nicht belegte Slots bzw. Leerstellen) und an welcher Stelle aktive schlussfolgernde Prozesse des Interpreten vonnöten sind (z.B. beim Schluss von bestimmten Fillern auf den Frame-Kern).

2.3 Semantische Komplexität

113

Der implizite Komplexitätsbegriff der Frame-Semantik Das oben vorgestellte Kommunikationsmodell der Frame-Semantik, der Aufbau der Frames selbst und ihre Wirksamkeit im Textverstehen lassen weitere Rückschlüsse auf Komplexitätsunterschiede von Texten zu. Dabei sind es im Wesentlichen zwei Faktoren, die die semantische und diskurstraditionelle Komplexität beeinflussen: zum einen die Qualität, Tiefe und Ausdifferenzierung des Wissens, die das Verständnis eines Textes erfordert, zum anderen die Art und Weise eines Textes, Frames zu instantiieren. Es ist deutlich geworden, dass Frames die Wissenshintergründe liefern, die zum Verstehen sprachlicher Zeichen notwendig aktiviert werden müssen. Wenn nun ein Text an einer Schlüsselstelle – z.B. einem zentralen Vergleich oder einer wichtigen Bewertung – einen Eigennamen, eine ad-hoc Metapher oder einen Historizismus anführt, deren Verständnis spezielles historisches, politisches oder gesellschaftliches Hintergrundwissen voraussetzt, spricht dies natürlich für eine erhöhte semantische Komplexität. Auch das durch die Art der Frame-Instantiierung erforderte Maß der Ausdifferenzierung von Wissen und die damit verbundene Mehrstufigkeit der nötigen Inferenz auf den FrameKern können Komplexitätsunterschiede bewirken. Wahrscheinlich kennen 99,9% der Bundesbürger den Fußballverein Bayern München und wissen, dass dieser sehr erfolgreich ist. Die oben besprochene Karikatur von Klaus Stuttmann spielt nun auf dieses Wissen an, benennt aber eben nicht explizit den Frame-Kern, sondern lediglich einige Filler des Slots SPIELER (Alaba, Dante, Rafinha, Thiago . . . ). Die Interpretation der Karikatur gelingt also nur, wenn der Rezipient ein derart ausdifferenziertes Wissen über den Verein mitbringt, dass er auch die Namen mehrerer seiner Spieler kennt. Instantiiert ein Text einen (nicht-trivialen) Frame also so, dass nur einer oder wenige seiner Slots mit Fillern belegt werden, kann dies eine erhöhte Komplexität bewirken, weil zu seinem Verständnis eben ausdifferenziertes, tiefergehendes Hintergrundwissen und eine mehrstufige Inferenz auf den verstehensrelevanten Frame(-Kern) erforderlich sind. In einem solchen Fall muss das verstehens-stützende Wissen tatsächlich inferiert bzw. invoziert werden und dies macht den entsprechenden Text komplexer als einen anderen, dessen Rezeption eben nur das Evozieren von verstehensrelevantem Wissen erfordert. Evoziert wird gemäß Busses Interpretation von Fillmores Begrifflichkeiten solches Wissen, das in Folge eines großen Maßes an Iteration und kollektiver Stützung im Prozess der Textverarbeitung geradezu automatisch, also mit nicht bemerktem oder geringem kognitiven Verarbeitungsaufwand aktiviert wird (cf. Busse 2012, 686). Diese Unterschiede in der aufzubringenden «Frame-Aktivierungs-Energie» beeinflussen natürlich auch den Komplexitätsgrad eines Textes. Minsky (1974, 2s.) hat den Prozess der Frame-Aktivierung als einen Abgleichund Anpassungsprozess beschrieben. Bei der Rezeption eines Textes werden also bestimmte Frames (auch Textsorten-Frames) aktiviert und daraufhin überprüft,

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

ob sie auf die gegebene Situation passen oder angepasst werden können. Misslingt dies, muss ein Ersatz-Frame aktiviert werden und im komplexesten Falle gar der bestmögliche abrufbare Frame solange modifiziert werden, bis er passt. Dieser matching process ist zwar ein individueller kognitiver Prozess, aber er ist in gleichem Maße kontextabhängig. Das bedeutet, dass (gerade literarische) Texte die Komplexität dieses Abgleichprozesses durch ihre Art der Frame-Instantiierung bis hin zum intendierten Frame-Bruch deutlich beeinflussen können. Ein solches Unterlaufen von Frames bzw. bewusst inszenierte Frame-Brüche beschreibt Rath (2008, 135s.) am Beispiel von Jorge Luis Borges’ Kurzgeschichte Die Bibliothek von Babel. Die Überschrift dieses Textes evoziere einen Bibliothek-Frame, der in der Folge durch die Lexeme Bücherregale, Bücher, Bibliothekare und Kataloge scheinbar bestätigt werde. In der vom Text aufgebauten utopischen Welt passten aber die Beziehungen zwischen diesen Elementen nicht zum aktivierten Bibliothek-Schema und sorge die metakognitive Funktion des Schemas dafür, dass der Bibliothek-Frame verworfen und alternative Schemata gesucht würden, die mit den gegebenen Informationen besser umgehen könnten. Da es aber die Strategie dieser Kurzgeschichte sei, bekannte Schemata aufzurufen und dann zu brechen, führe auch der Rückgriff auf immer allgemeinere Frames wie Lebensraum, Welt, Kultur nicht zu einer adäquaten Kontextualisierung der gegebenen Informationen. Auf diese Weise werden alle auf bekannten Frames basierenden Interpretations- und Deutungsversuche ausgehebelt: «Wir versuchen, den Kontext, das mögliche Schema zu finden, das die verschiedenen Elemente des Textes sinnvoll verbindet; dieses Schema würde die Verbindung zwischen den beiden Welten systematisieren. Ein solches Schema findet sich nicht; vielmehr löst sich der Text an der Stelle, an der er ‹Bibliothek› definiert, selbst auf [. . .]» (Rath 2008, 137).

Die Bedeutungskonstruktion dieser Kurzgeschichte erfordert also die letzte und komplexeste Stufe von Minskys Abgleichprozess: da gar kein passender Frame gefunden wird, muss der bestmögliche abrufbare Frame so lange verändert werden, bis er passt (cf. Minsky 1974, 8). Gemäß Rath (2008, 137) bietet sich im Fall der Bibliothek von Babel, die letztlich die Fragilität von Verstehensprozessen vor Augen führe, ein mögliches Schema metakognitiver Text an. Die unter Umständen extreme Komplexität von Texten, die solche Frame-Brüche inszenieren, resultiert also daraus, dass der Rezipient im Rahmen der Bedeutungskonstruktion eben nicht auf prototypisches, mit den verwendeten Zeichen konventionell verbundenes Frame-Wissen rekurrieren kann. Vielmehr muss er auf der Grundlage subtilster Hinweise des Textes und unter Rückgriff auf spezifisches literaturwissenschaftliches, intertextuelles oder sonstiges Wissen kreative Analyse- und Interpretationsversuche unternehmen. Mit einer analogen Begründung wurde in

2.3 Semantische Komplexität

115

Kapitel 2.1.2 der Textsorten- oder Gattungsbruch als komplex eingestuft: auch in diesem Fall wird der kognitive Entlastungsfaktor, der mit Gattungen als konventionellen Mustern für Sinngebungen verknüpft ist, ausgehebelt und wird durch das «intendierte Abweichen» (Dittgen 1989, 18) eine Zusatzbedeutung vermittelt, die vom Rezipienten zu inferieren ist. Somit entspricht dem Gattungsbruch auf diskurstraditioneller Ebene der Frame-Bruch auf semantisch-inhaltlicher Ebene. Aufgrund ihrer strukturellen Ähnlichkeit, der jeweils vermittelten Zusatzbedeutung und den hohen Anforderungen an die Bedeutungskonstruktion durch den Rezipienten sollen die Phänomene «Gattungs- bzw. Frame-Bruch oder Gattungsmischung» zusammen eine Kategorie des Analyserasters für die Korpusanalyse bilden und sie repräsentieren darin ein echtes Komplexitätsmerkmal, dessen Vorhandensein den betreffenden Text in Bezug auf die entsprechende Kategorie automatisch als komplex ausweist. Neben diesen soeben thematisierten echten Frame-Brüchen gibt es auch das gezielte Spiel mit Erwartungsbrüchen seitens der Rezipienten. So können beispielsweise eine Frame-Instantiierung, die vielleicht nur periphere Slots mit Fillern belegt, oder eine bestimmte Art der Kontextualisierung, die gezielt gewisse Slots in den Vordergrund stellt und andere zunächst ausblendet, das Aktivieren eines bestimmten Frames nahelegen, der sich in der Folge als ungeeignet herausstellt. Wenn dieser aber durch einen anderen bekannten Frame ersetzt werden kann, der die Textelemente sinnvoll verbindet, ist das offensichtlich weniger komplex als das permanente und unauflösbare Unterlaufen und Brechen von Frames, das Borges’ Text inszeniert. Weiterhin können Erwartungsbrüche dadurch entstehen, dass ein instantiierter Frame natürlich Vermutungen bezüglich der Füllungen für seine noch offenen Slots erzeugt, die in der Folge durch überraschende Filler widerlegt werden. Bei den beschriebenen Formen von Erwartungsbrüchen durch eine spezifische Art von Frame-Instantiierung fällt es den Rezipienten «etwas schwerer [. . .], die neue Information, die gegen [ihre] Erwartungen verstößt, zu verarbeiten» (Rath 2008, 131). Deshalb können solche Erwartungsbrüche auch die Komplexität in Bezug auf die Kategorien «suppletive Kontextbildung», «Kohäsion & lokale Kohärenz» und «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» erhöhen. Schließlich wurde darauf hingewiesen, dass assoziative Frame-Netze, die auf partieller Kongruenz beruhen, als Umdeutung des Isotopie-Konzeptes von Greimas aufgefasst werden können und somit eine wichtige Form der semantischen Kohärenz von Texten bilden. Alle vorgestellten Typen von FrameSystemen können in einem konkreten Text einen inhaltlichen Zusammenhang bewirken und direkte Rückschlüsse auf dessen Themen zulassen. Finden sich jedoch in einem Text nur wenige Frame-Systeme und stehen die auffindbaren nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Textthemen, dann spricht dies

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

wiederum für einen komplexeren Text, da in diesem Fall der Rezipient eventuell aus wenigen beiläufigen Details oder dem Gesamtarrangement der Zeichen auf kohärenzstiftende Frames schließen muss und so wiederum ein höheres Maß an textueller Kompetenz und Konzentration mitbringen muss. Aus der Verknüpfung der Überlegungen Roelckes mit den Konzepten und Modellen der Frame-Semantik ergibt sich also, dass das Verhältnis von Kommunikationsergebnis und Kommunikationsaufwand, die Qualität, Tiefe und Ausdifferenzierung des vom Rezipienten zu aktivierenden Hintergrundwissens, die Art und Weise eines Textes, Frames zu instantiieren – bis hin zum unauflösbaren Frame-Bruch – sowie die vom Rezipienten aufzubringende Kompetenz und Konzentration sinnvolle und zentrale Faktoren zur Beschreibung semantischer und diskurstraditioneller Komplexität darstellen.

2.3.3 Zusammenfassung Im Rahmen der in Abschnitt 2.3.1 erfolgten Präsentation von Roelckes Modellskizze kommunikativer Effizienz und der darin enthaltenen Definitionen von Komplexität wurde wiederholt auf Unklarheiten und Erklärungslücken hingewiesen, die sich im Wesentlichen aus dem hohen Abstraktionsgrad der Theorie ergaben. Dennoch ist – wie soeben gezeigt wurde – die Grundidee, textuelle Komplexität am Umfang und Verhältnis von Kommunikationsergebnis und -aufwand festzumachen, absolut plausibel. Auch die Konstellationen, die zu hoher bzw. geringer Komplexität führen, konnten überzeugen, nachdem sie präzisiert, interpretiert und framesemantisch begründet wurden. So stellt sich bei Annahme einer konstanten Menge von Propositionen und Illokutionen Text A, der dieses Kommunikationsergebnis durch einen quantitativ hohen Kommunikationsaufwand (also viele Wörter und Sätze) vermittelt, als weniger komplex dar als Text B, der dasselbe Kommunikationsergebnis durch einen vergleichsweise niedrigen Kommunikationsaufwand erreicht. Der komplexe Text B wird folglich einen bestimmten Anteil seiner Informationen und Instruktionen implizit vermitteln und die Kompetenz, das Hintergrundwissen und die Konzentration seiner Rezipienten stärker fordern. In Abschnitt 2.3.2.5 wurde unter Rückgriff auf die Modelle der Frame-Semantik gefolgert, dass in einem solchen komplexen Text der elliptische Charakter der Informationsvermittlung, von dem die Frame-Semantik grundsätzlich ausgeht, besonders stark ausgeprägt ist und zentrale verstehensrelevante Frames eben nur durch wenige konkrete Füllwerte instantiiert werden. Zuvor wurden aber in den Abschnitten 2.3.2.1 bis 2.3.2.4 die Grundlagen der Frame-Semantik ausführlich dargestellt sowie ihre Relevanz für die vorliegende Arbeit insgesamt begründet. Diese «nicht-reduktionistische» Semantiktheorie

2.3 Semantische Komplexität

117

(cf. Busse 2012, 18) teilt nämlich alle textsemantischen Prämissen, die in Kapitel 2.2 formuliert wurden und die der hier angestrebten Analyse von semantischer Komplexität zugrunde liegen sollen: die Übersummativität der Textbedeutung, die sinnkonstituierende Funktion der Kontexte und des verstehensrelevanten Wissens sowie die Überzeugung, dass die Textbedeutung in einem konstruktiven Prozess vom Leser gebildet wird. Das zentrale und extrem leistungsfähige Analyseinstrument der Frame-Semantik ist der Frame bzw. Wissensrahmen. Dabei handelt es sich um eine prototypische Struktur des Wissens, in der mit Bezug auf einen Frame-Kern, der als Gegenstand oder Thema des Frames aufgefasst werden kann, eine bestimmte Konstellation von Slots gruppiert ist, die den Frame als solchen konstituieren (cf. ib., 563). Die Slots sind offene Anschlussstellen, denen im Fall der Instantiierung eines Frames in einem Text konkrete Füllwerte (sog. Filler) zugewiesen werden, und die bei einem im Gedächtnis gespeicherten Muster-Frame mit Standardwerten belegt sind. Die Standardwerte stellen prototypische Filler dar, die durch Frequenz-Faktoren oder die Orientierung an gesellschaftlichen Idealen ausgebildet werden. Sie steuern die Standardannahmen und Erwartungen, die Menschen an Frames herantragen, und ermöglichen so auch eine sehr reduzierte Instantiierung von Frames, weil die in einem konkreten Text nicht durch Filler belegten Slots vom Rezipienten mit Standardwerten ergänzt werden (cf. ib., 604). In Abschnitt 2.3.2.4 wurde die fundamentale Rolle der Frames im Sprach- und Textverstehen erläutert. Nach Ansicht der Frame-Semantik fungieren sprachliche Zeichen als Anspielungen auf vorausgesetztes Wissen, evozieren also das mit ihnen konventionell assoziierte, in Frames organisierte Wissen (cf. Busse 2009, 84). Die Rezipienten konstruieren somit eine Interpretation, indem sie die von den Wörtern evozierten Wissensrahmen aktivieren und entsprechend der Satzstruktur und weiteren Anhaltspunkten vernetzen (cf. ib., 85). Minsky (1974, 2s.) präzisiert, dass Frame-Aktivierung sich als ein Anpassungs- bzw. Abgleichprozess (matching process) vollzieht: im Textverstehensprozess werden zunächst versuchsweise bestimmte Frames aktiviert und im Verlauf der Lektüre daraufhin überprüft, ob sie auf das dargestellte Geschehen passen oder angepasst werden können. Wenn der matching process keine befriedigenden Ergebnisse liefert, wird ein Ersatz-Frame aktiviert oder im komplexesten Fall der beste abrufbare Frame so lange modifiziert, bis er passt (cf. ib., 8). Fillmore wiederum unterscheidet bei der Frame-Aktivierung das Evozieren verstehensrelevanten Wissens vom Invozieren. Gemäß Busses Interpretation dieser Unterscheidung handelt es sich bei ersterem um das automatische, mit geringem kognitivem Aufwand erfolgende Aktivieren von Wissen, das regelmäßig bzw. konventionell mit den sprachlichen Mitteln verbunden ist (cf. Busse 2012, 685–687). Invoziert werde hingegen solches Wissen, das über das «Bedeutungs-Wissen» im engeren Sinne hinausgehe

118

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

und vom Rezipienten aktive schlussfolgernde geistige Prozesse verlange (cf. ib., 669). Aus den soeben resümierten Werkzeugen und Modellierungen des Textverstehens konnte schlüssig ein implizit vorhandener Komplexitätsbegriff der Frame-Semantik abgeleitet werden, der qualitative Unterschiede in Bezug auf den Kommunikationsaufwand – von denen Roelcke (2002) zwar spricht, die er aber weder erläutert noch in seinen Definitionen von Komplexität berücksichtigt – beschreibbar und bewertbar macht. Es sind nämlich im Wesentlichen die Art und Weise eines Textes, zentrale Frames zu instantiieren oder gar zu brechen, die Qualität, Tiefe bzw. Ausdifferenzierung des verstehensrelevanten Wissens und die Komplexität der damit verbundenen Inferenzen, die den Komplexitätsgrad eines Textes bestimmen. Wenn ein kohärenzstiftender Frame also aufgrund weniger beiläufiger Filler invoziert werden muss, die Inferenz auf den FrameKern somit mehrere Schritte und ein entsprechend tiefgehendes Frame-Wissen verlangt, ist ein Text als hochkomplex zu bewerten. Dasselbe gilt für Texte, die ihre Themen über ein durch Ähnlichkeit gestiftetes assoziatives Frame-System etablieren, wobei die Ähnlichkeit sich nur unter Rückgriff auf Experten-Wissen und eine bewusste Textanalyse erschließt. Und besonders komplex sind Texte, die intendierte Frame-Brüche inszenieren und vom Rezipienten kreative Verstehensleistungen verlangen, die nicht mehr auf prototypischem Frame-Wissen aufbauen können. Aber auch die Strategie, das Aktivieren eines bestimmten thematischen Ober-Frames zu suggerieren, entsprechende Erwartungen bezüglich seiner weiteren Ausfüllung zu wecken, diese aber in der Folge zu brechen und vom Rezipienten das Aktivieren eines (existierenden) Ersatz-Frames und eine völlige Neubewertung der Situation zu verlangen, ist natürlich komplex. Diese wenigen Beispiele zeigen, dass unter Rückgriff auf Frames und die Modellierung des frame-gestützten Textverstehens zunächst die Komplexität von Texten, die prototypische Frames bzw. Textsorten-Frames gezielt brechen, erklärt werden kann und weiterhin Komplexitätsunterschiede in Bezug auf mehrere der bereits entwickelten Komplexitätskategorien – suppletive Kontextbildung, Kohäsion & lokale Kohärenz, Leerstellen/Aussparungen, Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen, Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik, Anforderungen an das elokutionelle sowie das lebensweltliche Wissen der Rezipienten – begründet und bewertet werden können.

2.4 Semantik und Diskurstraditionen In Kapitel 2.1.3 wurde im Rahmen der Erörterung diskurstraditioneller Komplexität bereits darauf hingewiesen, dass der sich mittelbar im Text niederschlagende

2.4 Semantik und Diskurstraditionen

119

Umgang einer Diskurstradition mit den Maximen des Grice’schen Kooperationsprinzips ein zentrales qualitatives Kriterium diskurstraditioneller Komplexität darstellt, was im Folgenden begründet werden soll. Das Kooperationsprinzip und die Maximen stehen darüber hinaus in engem Zusammenhang mit bestimmten Ausprägungen des Impliziten, den sogenannten konversationellen Implikaturen, die vorliegen, wenn das, was ein Sprecher mit einer Äußerung zu verstehen geben will, andeuten will oder meint, etwas anderes ist als das, was er gesagt hat (cf. Grice 1989a, 24). Folglich sind gerade Formen der Indirektheit wie Ironie oder Fälle übertragener Bedeutung, also beispielsweise Redefiguren wie Metaphern, Hyperbeln oder Euphemismen als konversationelle Implikaturen beschreibbar (cf. ib., 34) und somit deren intuitiv vorliegende semantische Komplexität auch zu begründen, was im Rahmen dieses Kapitels geschehen soll. In Abschnitt 2.4.1 werden das Grice’sche Kooperationsprinzip und seine Maximen zunächst vorgestellt, die Anschließbarkeit der Diskurstraditionen an diese Prinzipien des Sprechens begründet und erläutert, inwiefern sie geeignet sind, diskurstraditionelle Komplexität – insbesondere auch von Texten aus dem literarischen Redeuniversum – zu beschreiben. Im darauf folgenden Abschnitt werden konversationelle Implikaturen charakterisiert und an Beispielen illustriert sowie das allgemeine Schema für den Gedankengang vorgestellt, mit dem sie erschlossen werden können. Darüber hinaus sollen Verbindungen aufgezeigt werden zwischen der Grice’schen Theorie und den bislang angestellten Überlegungen zur Übersummativität, zur sinnkonstituierenden Funktion der Kontexte, zur Kohärenz und Evokation sowie zum Kommunikationsmodell der Frame-Semantik, die zeigen werden, wie gut sich erstere in die bereits erfolgten Modellierungen zu semantischer Komplexität einfügen. Gleichzeitig werden aber auch Begründungen dafür geliefert, dass der Rekurs auf die Grice’schen Maximen und das darauf aufbauende Interpretationsmuster der konversationellen Implikatur für die Beschreibung und Bewertung semantischer Komplexität in Bezug auf mehrere der angeführten Kategorien (z.B. Komplexität in Bezug auf die Wort- und Satzsemantik, Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene, Andeutungen/Evokationen) notwendig ist: die Grice’sche Theorie kann nämlich besser als die Frame-Semantik das Vorliegen sprachlicher Indirektheit erklären sowie die Auslöser für notwendige Schlussprozesse und die Aktivierung von Hintergrundwissen identifizieren. Die Maximen als zentrale Bestandteile der allgemein-sprachlichen Kompetenz bilden nämlich ebenso wie die sprachlichen und sprachbezogenen Normen und Traditionen auf der historischen und individuellen Ebene des Sprechens den Hintergrund, vor dem intendierte bzw. funktionale Abweichungen erkennbar werden.

120

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Im dritten und letzten Abschnitt dieses Kapitels schließlich werden die (partikularisierten) konversationellen Implikaturen von den konventionellen Implikaturen, semantischen Präsuppositionen und Implikationen abgegrenzt und Begründungen dafür geliefert, warum die letztgenannten Ausprägungen des Impliziten nicht als semantisch komplex gelten können.

2.4.1 Die Maximen des Grice’schen Kooperationsprinzips und ihr Zusammenhang mit diskurstraditioneller Komplexität Die fundamentale Bedeutung des Grice’schen Kooperationsprinzips und seiner Maximen für das Funktionieren und die Analyse menschlicher Kommunikation hat Heringer (1994, 40s.) in geradezu pathetischen Worten hervorgehoben: «Eine der größten linguistischen Entdeckungen dieses Jahrhunderts sind nach meiner Meinung die Griceschen Maximen. Und ich denke, daß hier wirklich die Redeweise ‹Entdeckungen› angebracht ist, wo sonst in der Darstellung linguistischer Theorien eher der Ausdruck ‹Erfindungen› zu wählen wäre. Die Griceschen Maximen haben uns das Funktionieren menschlicher Kommunikation besser verstehen lassen, sie haben die kommunikative Analyse entscheidend verbessert, sie haben vielleicht auch den Grund gelegt für eine Ethik der Kommunikation. Es ist verblüffend, daß es so lange dauerte, bis sie entdeckt wurden. Der Grund mag ihre Selbstverständlichkeit sein. Denn gerade das Selbstverständliche, das Grundlegende unserer Kommunikation ist uns besonders schwer zugänglich».

Grice (1989a, 26) hat «entdeckt», dass unsere «Gespräche»24 in der Regel rationale und kooperative Bemühungen darstellen, die durch einen gemeinsamen Zweck oder zumindest eine von den Teilnehmern wechselseitig akzeptierte Richtung gekennzeichnet sind. Auf der Basis dieser Beobachtung formuliert Grice sein Kooperationsprinzip, dessen Beachtung von den Kommunikationspartnern gegenseitig erwartet werde: «Make your conversational contribution such as is required, at the stage at which it occurs, by the accepted purpose or direction of the talk exchange in which you are engaged» (ib., 26).

24 «Gespräch» steht in der deutschen Übersetzung in der Regel für Grices Wendung «talk exchange», worunter seinen Übersetzern gemäß «jede Form von Interaktion mit Sprachverwendung» zu verstehen ist (cf. Grice 1979, 248). Heringer (1994) macht in seiner Würdigung der Bedeutung der Maximen bereits deutlich, dass sie sich auf das Funktionieren von Kommunikation im Allgemeinen beziehen, wovon auch Schrott (2015), Lebsanft (2005) und Knape (2008) und ebenso die Verfasserin dieser Arbeit ausgehen. Linke/Nussbaumer (2000a, 443s.) stellen fest: «Die Theorie der Konversationsmaximen und der konversationellen Implikaturen hat in erster Linie Gespräche im Blick, doch lässt sie sich ausweiten auch auf monologische Texte».

2.4 Semantik und Diskurstraditionen

121

In der Grice-Rezeption ist das Kooperationsprinzip mitunter missverstanden und als unrealistisch bezeichnet worden unter Verweis auf die Erfahrung, dass Gesprächspartner häufig unkooperativ seien und kein gemeinsames Ziel verfolgten, sondern sich vielmehr stritten, täuschten, hintergingen oder aneinander vorbeiredeten (cf. Bublitz 2001/2009, 198). Bublitz (2001/2009) und Heringer (1994) erachten diese Kritik jedoch als naiv. Bublitz (2001/2009, 198) erklärt, dass Grice Kooperativität im Sinne von wechselseitig zugestandener Rationalität verstehe: «Vielmehr sind Sprachbenutzer dann kooperativ, wenn sie sich in der Kommunikation rational verhalten und sich gegenseitig diese Rationalität unterstellen [. . .]».

Und Heringer (1994, 43) weist darauf hin, dass das Kooperationsprinzip natürlich nicht ein auf inhaltlicher Ebene identisches Ziel der Kommunikanten verlange, sondern deren Bereitschaft zur Kooperation auf einer übergeordneten Ebene: «Das gemeinsame Ziel einer Kommunikation muß man erfassen, und es liegt auf einer anderen Ebene. Wenn etwa zwei miteinander argumentieren, möchte vielleicht jeder Recht behalten. Das sind entgegengesetzte Ziele. Jeder kann aber nur Recht behalten, wenn er auf einer höheren Ebene kooperiert: Jeder muß verständlich reden, jeder muß beim Thema bleiben, muß auf die Argumente des anderen eingehen. Sonst kann er nie in einem echten Sinne Recht behalten, also sein eigenes Ziel gar nicht realisieren».

Aufgrund dieser aus der Wahl des Begriffes Kooperation erwachsenden Missverständnisse und Präzisierungszwänge schlägt Lebsanft (2005, 27) unter Rückgriff auf Coseriu (1988) den Terminus Vertrauensprinzip als Bezeichnung für das übergeordnete Kooperationsprinzip vor. In Kapitel 2.2.3.3 wurde bereits darauf hingewiesen, dass Coseriu (1988/2007, 95s.) zum elokutionellen Wissen die allgemeinen Prinzipien des Denkens und Sprechens zählt, zu denen eben auch ein «Vertrauensprinzip» gehört, das den Äußerungen des Sprechers Kohärenz unterstellt und die Bereitschaft umfasst, eventuell nach der Kohärenz des auf den ersten Blick Sinnwidrigen zu suchen. Eben diese Bereitschaft setzt Grice ebenfalls bei rationalen und kooperierenden Gesprächspartnern voraus. Aus dem übergeordneten Kooperationsprinzip lassen sich nun eine Reihe von Maximen ableiten: das Kooperationsprinzip wird erfüllt, wenn das Sprechen in Einklang mit den Maximen der Quantität (Informativität), Qualität (Wahrhaftigkeit), Relation (Relevanz) und Modalität (Art und Weise) steht (cf. Grice 1989a, 26s.; Grice 1979, 249s.). Die Kategorien der Quantität, Qualität und Relation betreffen nach Grice den Inhalt des Gesagten, während die Kategorie der Modalität sich auf das Wie des Gesagten, also seine Präsentation bezieht (cf. Grice 1989a, 27). Unter die vier Kategorien fallen insgesamt elf Maximen, von denen

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

einige den Rang von Obermaximen haben, andere wiederum als Untermaximen oder speziellere Maximen die jeweilige Obermaxime weiter ausdifferenzieren: Tab. 11: Die Grice’schen Maximen (cf. Grice 1989a, 26s.; Grice 1979, 249s.).

Maximen der Quantität:

1.

Maximen der Qualität:

Obermaxime: Versuche deinen Beitrag so zu machen, dass er wahr ist. Untermaximen: 1. Sage nichts, was du für falsch hältst. 2. Sage nichts, wofür dir angemessene Gründe fehlen.

Maxime der Relevanz:

Sei relevant.

Maximen der Modalität:

Obermaxime: Sei klar. Untermaximen: 1. Vermeide Dunkelheit des Ausdrucks. 2. Vermeide Mehrdeutigkeit. 3. Sei kurz (vermeide unnötige Weitschweifigkeit). 4. Der Reihe nach!

2.

Mache deinen Beitrag so informativ wie (für die gegebenen Gesprächszwecke) nötig. Mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig.

Nun stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen diesen Prinzipien, an denen Sprecher ihre Kommunikation ausrichten und deren Beachtung sie auch ihrem Gesprächspartner unterstellen (cf. Grice 1989a, 28s.), einerseits, und den Diskurstraditionen andererseits, deren Komplexität ja unter Rückgriff auf letztere beurteilt werden soll. Es wurde bereits deutlich gemacht, dass das Kooperationsprinzip als Vertrauensprinzip und seine Maximen zentrale Bestandteile des elokutionellen (allgemein-sprachlichen) Wissens sind. Schrott (2015, 93) erläutert nun, wie elokutionelles Wissen und Diskurstraditionen und somit auch die Grice’schen Maximen und Diskurstraditionen aufeinander bezogen werden können: «Da die allgemein-universellen Regeln den Rahmen allen Sprechens setzen, sind die Diskurstraditionen historische und kulturelle Ausformungen dieser allgemeinen Regeln. Ein besonders wirkmächtiges Prinzip des Sprechens ist das Grice’sche Kooperationsprinzip, auf dessen Grundlage sich die Diskurstraditionen bewegen (1989: 26). Daraus folgt, dass sich alle Diskurstraditionen auf das Kooperationsprinzip und seine Maximen beziehen und durch die Relation zu diesen Maximen charakterisiert werden können. [. . .] Die Relation zwischen Kooperationsprinzip und Diskurstradition wird durch die Art und Weise bestimmt, wie sich die jeweilige Diskurstradition an die Maximen anschließen lässt. So kann eine Diskurstradition eine Maxime erfüllen, sie kann eine Maxime aber auch (scheinbar) beugen oder brechen».

2.4 Semantik und Diskurstraditionen

123

Dass Diskurstraditionen bzw. Textsorten, die die Maximen vollständig erfüllen, – z.B. eine gelungene Gebrauchsanweisung oder ein wohlgestalteter Informationstext aus einem Schulbuch – weniger komplex sind als solche, die die Maximen verletzen, – z.B. literarische Texte, die besondere Effekte aus bewusst eingesetzter Ambiguität, Vagheit oder Dunkelheit des Ausdrucks ziehen – ist unmittelbar einleuchtend. Schrott (2015, 94) erläutert das aus der Anschließbarkeit einer Diskurstradition an die Grice’schen Maximen resultierende diskurstraditionelle Komplexitätsmerkmal folgendermaßen: «Das Kriterium der Anschließbarkeit an die Grice’schen Maximen kann als ein Parameter für die Komplexität von Diskurstraditionen gesehen werden. Aus pragmalinguistischer Hinsicht sind Diskurstraditionen dann wenig komplex, wenn sie eng an eine Maxime gebunden sind. Umgekehrt ist eine Diskurstradition dann hochgradig komplex, wenn sie sich nicht geradlinig aus einer Maxime ergibt, sondern vielmehr den Bruch oder die Beugung einer Maxime beinhaltet».

Grice selbst beschreibt vier verschiedene Formen der Nichterfüllung seiner Maximen: 1. violating a maxim (cf. Grice 1989a, 30): Der Sprecher kann eine Maxime still und undemonstrativ verletzen und somit den Hörer/Leser in die Irre führen (cf. ib., 30; Grice 1979, 253). 2. opting out (cf. Grice 1989a, 30): Der Sprecher kann aussteigen und somit die Geltung sowohl der Maxime als auch des Kooperationsprinzips außer Kraft setzen (cf. ib., 30; Grice 1979, 253). 3. clash (Grice 1989a, 30): Der Sprecher kann vor einer Kollision stehen und deshalb die eine Maxime nicht erfüllen, ohne eine andere zu verletzen (cf. ib., 30; Grice 1979, 253). 4. flouting a maxim (cf. Grice 1989a, 30): Der Sprecher kann «gegen eine Maxime verstoßen, d.h. es kann sein, daß er eine Maxime flagrant nicht erfüllt» (Grice 1979, 253). Dabei liegt keiner der drei anderen Fälle von Nichterfüllung vor, es ist also anzunehmen, dass der Sprecher die Maximen erfüllen könnte und dass er das umfassende Kooperationsprinzip beachtet (cf. ib., 253s.). Grice (1989a, 30) erläutert diesen Fall folgendermaßen: «On the assumption that the speaker is able to fulfill the maxim and to do so without violating another maxim (because of a clash), is not opting out, and is not, in view of the blatancy of his performance, trying to mislead, the hearer is faced with a minor problem: How can his saying what he did say be reconciled with the supposition that he is observing the overall Cooperative Principle?»

Die zuletzt beschriebene Situation führt gemäß Grice charakteristischerweise durch «Ausbeutung» (Grice 1979, 254) einer Maxime zu einer konversationellen

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Implikatur (cf. Grice 1989a, 30), die vom Hörer/Leser durch Überlegung und unter Rückgriff auf verschiedenste Kenntnisse erschlossen werden muss, und somit per se als komplex zu bewerten ist. Im folgenden Unterkapitel werden einige Beispiele für diesen Fall angegeben werden. Aber auch eine Maximenkollision (clash) kann zu einer konversationellen Implikatur führen (cf. ib., 32) und ein opting out als «unkooperative Verweigerungshaltung» (Bublitz 2001/2009, 217) kann eventuell ein Informationsdefizit mit sich bringen oder auf eine Zwangslage des Sprechers hindeuten. Weiterhin kann der erste Fall von Nichterfüllung einer Maxime (violating) nach Bublitz z.B. den Zweck verfolgen, den Hörer/Leser scherzhaft hinters Licht zu führen, ihn bewusst zu täuschen oder aber ihn durch Vorenthalten der Wahrheit zu schonen (cf. ib., 216). Natürlich kann eine solche «undemonstrative» Maximenverletzung aber auch diskurstraditionell bedingt sein und ein gattungsspezifisches Ziel verfolgen wie z.B. die Vorbereitung eines Überraschungseffektes (man denke an die nouvelle à chute). Auch wenn das Verletzen oder Beugen einer Maxime also nicht zu einer konversationellen Implikatur im engeren Sinne führt, sind damit besondere Strategien, Effekte, Zwecke und Zusatzbedeutungen verbunden, die die Verarbeitungskapazität der Hörer/Leser, ihre Deutungskompetenz und ihr (diskurstraditionelles) Wissen in besonderer Weise fordern – dasselbe wurde in den Kapiteln 2.1.3 und 2.2.3.3 bereits für intentionale Abweichungen von allgemein-sprachlichen Normen im allgemeinen, einzelsprachlichen Regeln oder Diskurstraditionen festgestellt. Diese Tatsache sowie Schrotts (2015) überzeugende Erörterung der Anschließbarkeit einer Diskurstradition an die Grice’schen Maximen führen also dazu, dass in der hier unternommenen Analyse der «Umgang mit den Grice’schen Maximen» als zentrale diskurstraditionelle Komplexitätskategorie betrachtet wird. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass bestimmte Textsorten wie z.B. Gebrauchsanweisungen, didaktisierte Informationstexte oder Kochrezepte – sofern sie gelungen sind – die Grice’schen Maximen eins zu eins umsetzen und somit in Bezug auf dieses Komplexitätsmerkmal als hochgradig einfach zu bewerten wären. Gerade für viele literarische Texte ist hier das völlige Gegenteil anzunehmen, dass die Maximen des Grice’schen Kooperationsprinzips nämlich regelmäßig (scheinbar) verletzt oder gebeugt oder sogar gattungsspezifisch umgedeutet werden bzw. ganz eigene Maximen erfunden werden. Dabei geht es natürlich nicht darum, literarischen Texten aufgrund ihrer in der Regel vorliegenden Fiktionalität grundsätzlich einen Verstoß gegen die Qualitätsmaxime (Wahrhaftigkeit) vorzuwerfen. Schließlich weisen Martínez/Scheffel (1999/2012, 15) darauf hin, dass der englische Dichter Sir Philip Sidney bereits 1595 erkannt hat, dass die Dichter unter allen Schreibern am wenigsten lügen, weil sie nichts behaupten («[. . .] I think truly, that of all writers under the sun the Poet is the least liar [. . .] the Poet, he nothing affirms, and therefore never lieth.», Sidney

2.4 Semantik und Diskurstraditionen

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1975, 52). Martínez/Scheffel (1999/2012, 15) erläutern diesen Sachverhalt «in modernen Worten» folgendermaßen: «Die Werke der Dichter sind fiktionale in dem Sinne, dass sie grundsätzlich keinen Anspruch auf unmittelbare Referenzialisierbarkeit, d.h. Verwurzelung in einem empirischwirklichen Geschehen erheben; wovon sie handeln, das ist – mehr oder minder – fiktiv, aber nicht fingiert».

Diesen unzutreffenden Vorwurf der Lüge räumt auch Knape (2008) zuallererst aus, bevor er in seinen Ausführungen zu den «Sonderbedingungen der Kunstkommunikation» erklärt, worin deren besonderer und kreativer Umgang mit den von Grice entdeckten «general features of discourse» (Grice 1989a, 26) besteht: «Es geht in der Tat bei den Künsten nicht um die Frage von Lüge und Betrug, insbesondere ist das von dem Kommunikationsphilosophen Paul Grice für jede Art Kommunikation als fundamental erachtete Kooperationsprinzip nicht nur nicht suspendiert, sondern ganz im Gegenteil in besonderer Weise gefordert. Zur Irritation hat allerdings historisch immer wieder die Tatsache beigetragen, dass, anders als bei Akten alltäglicher Normalkommunikation, in kunstkommunikativen Akten regelmäßig die vier vom Kooperationsprinzip abhängenden Grice’schen Maximen der Informativität, Wahrhaftigkeit, Relevanz und Ausdrucksökonomie (Grice 1967) in spezifischer Weise außer Kraft gesetzt bzw. deutlich modifiziert wurden. Der Künstler darf, ja muss eben immer wieder mit Erfindungen oder gegebenenfalls auch mit unökonomischen, überbordenden, erschwerenden oder devianten Ausdrucksmitteln arbeiten, um den eigenen Möglichkeiten der Kunst gerecht zu werden. Deshalb reklamiert die Kunst für sich immer wieder eigene kommunikative Spielregeln» (Knape 2008, 899).

Ein solches von Knape angesprochenes «Außerkraftsetzen der Maximen» oder eine «Modifikation» derselben mit «erschwerender» Wirkung auf die Bedeutungskonstruktion wird in der fantastischen Erzählung La Main sowie der nouvelle à chute Happy Meal in besonders auffälliger Form nachzuweisen sein (cf. Kapitel 3). Dabei können diese Beugungen oder Verletzungen der Maximen sowohl auf der Ebene der Figurenrede als auch auf der Ebene der Erzählerrede und natürlich auf der Ebene der Kommunikation zwischen implizitem Autor und implizitem Leser vorkommen. Ein besonders frappierendes Beispiel für konsequente Maximenverletzung auf der Ebene der Erzählerrede stellt die absurde Kurzgeschichte Blaues Heft Nr. 10 (um 1939) von Daniil Charms, einem Vertreter der St. Petersburger Avantgarde, dar, die einen immer körperloser werdenden «Helden» in Szene setzt: «Es war einmal ein rothaariger Mann, der hatte keine Augen und keine Ohren. Haare hatte er auch keine, so daß man ihn nur bedingt einen Rotschopf nennen konnte. Sprechen konnte er nicht, denn er hatte keinen Mund. Eine Nase hatte er auch nicht.

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Er hatte nicht einmal Arme und Beine. Und er hatte keinen Bauch, und er hatte keinen Rücken, und er hatte kein Rückgrat, und Eingeweide hatte er auch nicht. Überhaupt nichts hatte er! So daß man gar nicht versteht, von wem die Rede ist. Besser, wir sprechen nicht mehr von ihm» (Charms 1995/2013, 5).

Der Erzähler dieser auf den ersten Blick rätselhaften oder sogar sinnlosen literarischen Miniatur verstößt gegen die Maximen der Qualität und der Klarheit, denn er bezweifelt ja selbst die Wahrhaftigkeit und Verständlichkeit seiner Geschichte (So daß man gar nicht versteht, von wem die Rede ist). Außerdem verstößt er gegen die Maxime der Relevanz, indem er etwas erzählt, was er selbst als irrelevant entlarvt (Besser, wir sprechen nicht mehr von ihm). Gerade wegen dieses ostentativen Außer-Kraft-Setzens der Maximen muss der Rezipient der Autorinstanz das Befolgen des Kooperationsprinzips zugestehen – worauf Knape (2008) in aller Deutlichkeit hinweist, – um überhaupt in der Lage zu sein, dieser Erzählung Sinn beizumessen. Jesch (2009, 67) erläutert im Rahmen ihrer Analyse dieser Kurzgeschichte, dass hier auf der zweiten semiotischen Ebene eine konversationelle Implikatur zu vollziehen ist und somit der sehr wohl kooperativen Autorinstanz eine relevante und erkenntnisstiftende Mitteilung an die Leser zugestanden werden kann. Deren Kern sind gerade die automatisch ablaufenden – und frame-semantisch zu erklärenden – Konstruktionsleistungen beim Lesen, die in diesem Fall durch «Sabotage» erlebbar und erfahrbar gemacht werden: «Wechselt man jetzt auf die zweite Ebene literarischer Bedeutung, so lässt sich eine konversationale Implikatur rekonstruieren, die jenen befremdlichen Erzählvorgang, wie er sich auf der ersten Bedeutungsebene darstellt, als wahrhaftige, informativ-verständliche, klare und insgesamt relevante Mitteilung einer Autorinstanz an die Leserschaft interpretierbar macht. Denn in der Art eines kognitiven Experiments, also mit einer dem WahrhaftigkeitsAnspruch durchaus genügenden Überzeugungskraft, werden die RezipientInnen der bewusstseinsnahen Erfahrung ausgesetzt, dass sie beim Lesen Vorstellungen [hier: die Vorstellung, dass es sich bei einem rothaarigen Mann um einen ‹intakten› Menschen mit rotem Haar handelt; meine Erläuterung] herausbilden, welche sie in der Interaktion mit dem Text stetig modifizieren».

Gelingt die Rekonstruktion dieser konversationellen Implikatur, so stellt sich Charms’ vordergründig alogischer Text mit seiner Dekonstruktion des Frames Mensch als sinnvolle «Bewusstwerdung unreflektierter Verstehensprozesse» (ib., 67) dar. Er vermittelt dadurch die Lektion, dass man seinen Erwartungen an Texte und aus Wirklichkeitserfahrung gewonnenen Konzepten nicht trauen darf. Diese Lektion kann im Fall von Charms mit Sicherheit auch politischgesellschaftlich gedeutet werden angesichts der Tatsache, dass er die Texte

2.4 Semantik und Diskurstraditionen

127

des Zyklus Fälle25 unter dem Eindruck der frühen Sowjetperiode verfasst hat.26 Diese kleine Analyse von Charms’ Kurztext illustriert somit die diskurstraditionelle und semantische Komplexität von Texten, die die Maximen des Kooperationsprinzips «in spezifischer Weise außer Kraft [setzen]» (Knape 2008, 899), und bestätigt damit erneut die Notwendigkeit der Komplexitätskategorie «Umgang mit den Grice’schen Maximen». In Kapitel 2.1.3 wurde das Komplexitätskriterium «Kongruenz bzw. Inkongruenz von Textfunktion und ‹wahrer Absicht› des Emittenten» für Texte des literarischen Redeuniversums verworfen, weil in vielen literarischen Texten die sprecherzentrierte Funktion von Sprache im Mittelpunkt steht und überhaupt keine Textfunktion identifiziert werden kann (cf. Gardt 1995, 163; Raible 1980, 326). Hat man es jedoch mit einem Text aus dem Bereich der gesellschaftlichpolitisch orientierten Literatur zu tun, der sehr wohl einen kommunikativen Zweck verfolgt, diesen aber eventuell indirekt vermittelt, so kann die daraus resultierende Komplexität auch mit der gerade motivierten Kategorie «Umgang mit den Grice’schen Maximen» erfasst werden. Keller (1995, 206) weist darauf hin, dass Grice bei der Formulierung seiner Theorie zwar assertive Sprechakte im Auge hatte, eine Verallgemeinerung auf alle Arten von Sprechakten aber problemlos möglich sei. Ein sehr frequenter Fall ist nun sicherlich der, dass ein Autor mit einem literarischen Text Kritik an bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen üben will und/oder einen Appell an die Leserschaft lancieren will, dies aber vermittels eines Textes tut, der lediglich feststellende und beschreibende Sprechhandlungen aufweist. Damit verstößt er gegen die Maximen der Relevanz und der Klarheit und verlangt vom Leser, seine «wahre Absicht» zu inferieren, was diesem unter Hinzuziehung von diskurstraditionellem Wissen, Wissen über den Sachverhalt und den Autor gelingen kann. Das in einem solchen Fall relevante diskurstraditionelle Wissen besteht aus der Kenntnis der Sprecherstrategie, den indirekten Weg genau dann zu wählen, wenn er als der aussichtsreichere beurteilt wird (cf. ib., 218). Keller (1995) erläutert dies am Beispiel der Bitte: «Die Wahl des direkten Wegs wird in vielen Fällen als suboptimal zu beurteilen sein. Die direkt formulierte Äußerung ist zwar im allgemeinen gut verständlich, aber kommunikativ

25 Blaues Heft Nr. 10 ist die erste von 30 zwischen 1933 und 1939 geschriebenen Kurz- und Kürzestgeschichten, die Charms 1939 unter dem Titel Fälle «nur für sich selbst und den Tag X zusammengestellt [hat]» (Borowsky 1995/2013, 108). 26 Wolfgang Kasack (1976, 79) erläutert, dass Charms zwar selten «konkret zeitkritisch» werde, stellt allerdings ebenfalls fest, dass «[t]ieferes Eindringen [. . .] die hinter [Charms’] gesamtem Schaffen stehende Verzweiflung über die Entmenschlichung, das Herrschen der Lüge u. die Öde der Alltagsgleichheit erkennen [lasse]».

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

oft weniger erfolgversprechend. Eine direkt formulierte Bitte oder Aufforderung dürfte in manchen Situationen weniger Chancen haben, erfüllt zu werden als eine indirekte, per Implikatur formulierte» (ib., 218).

Bezogen auf das Beispiel eines gesellschaftskritischen literarischen Textes besteht die entsprechende Strategie also darin, durch die bloße Darstellung von unmenschlichen und empörenden Praktiken – z.B. der Korruption im Gesundheitswesen von Burkina Faso im Korpustext L’avenir de l’homme – und ohne Bewertungen, kritische oder appellative Äußerungen eine sehr viel wirksamere und nachhaltigere Kritik zu äußern als auf direktem Wege. Der angesprochene Korpustext wird also etwas höhere Komplexitätswerte in Bezug auf die Kategorien «Umgang mit den Grice’schen Maximen» und «Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen» erhalten, weil er vom Leser verlangt, den Verstoß gegen die Maximen zu erkennen und unter Rückgriff auf das adäquate diskurstraditionelle sowie lebensweltliche Wissen die wahre Absicht des Autors zu inferieren. Aufgrund der hohen Frequenz und Konventionalität dieser Form der Indirektheit ist die Komplexität der entsprechenden Kategorien aber letztlich nur als mäßig erhöht zu betrachten. Solche flächigen und diskurstraditionell motivierten Verletzungen, Beugungen oder Umdeutungen der Maximen werden also in der Regel den Komplexitätswert in Bezug auf das Merkmal «Umgang mit den Grice’schen Maximen» in die Höhe treiben und dies umso deutlicher, je weniger konventionalisiert die Maximenbeugung als Diskursstrategie ist und je stärker sie auf einige wenige Gattungen oder gar eine einzige Gattung beschränkt ist. Das folgende Unterkapitel widmet sich nun den bereits mehrfach angesprochenen konversationellen Implikaturen, die zumeist durch einen scheinbaren Verstoß – Keller (1995, 207) spricht sehr treffend von einem «prima facie Verstoß» – gegen mindestens eine der Maximen ausgelöst werden und vom Leser/ Hörer das Auffinden einer über das Gesagte hinausgehenden, implizit vermittelten Bedeutung verlangen. Diese konversationellen Implikaturen als spezielle Formen des Impliziten finden sich Textgattungen und sogar Redeuniversen übergreifend und können auch in einem ansonsten «maximentreuen» Text durch isolierte, punktuelle «prima facie Verstöße» gegen die Maximen ausgelöst werden. Sie interessieren im gegebenen Kontext als semantisch komplexe Phänomene.

2.4.2 Konversationelle Implikaturen und semantische Komplexität Zunächst bedarf es an dieser Stelle einiger terminologischer Klärungen: Grice (1989a, 24s.) hat die Kunstbegriffe implicature und to implicate zur Bezeichnung

2.4 Semantik und Diskurstraditionen

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impliziter oder angedeuteter Inhalte kreiert. Keller (1995, 206) präzisiert, dass Grice durch diese Kunstwörter andeuten will, «daß es sich um etwas Ähnliches wie die Implikation und das Implizieren handelt, das aber nicht mit der logischen Relation der Implikation identifiziert werden darf». Außerdem unterscheidet Grice vornehmlich nach dem «Grad ihrer Kontextabhängigkeit» (Bublitz 2001/2009, 233) und nach ihrer Bezogenheit auf das Kooperationsprinzip und die Maximen bzw. ihrer Unabhängigkeit davon drei verschiedene Arten von Implikaturen. Diejenigen, die im vorangehenden Unterkapitel angesprochen wurden, um die es in diesem Abschnitt gehen soll und deren semantische Komplexität nachzuweisen ist, sind die sogenannten «spezialisierten»27 bzw. «partikularisierten» konversationellen Implikaturen. Linke/Nussbaumer (2000a, 444) charakterisieren diese kurz und treffend als «verwendungsvariabel» und «kontextsensitiv». Diese Eigenschaften unterscheiden sie sowohl von den «kontextübergreifenden» (Rolf 2006, 2629) generalisierten konversationellen Implikaturen («generalized conversational implicature», Grice 1989a, 37) als auch von den konventionellen Implikaturen. Letztere funktionieren im Gegensatz zu den beiden erstgenannten nicht vor dem Hintergrund des Kooperationsprinzips und der Maximen, sondern sind «konventionell fest mit [bestimmten] Äußerungen verbunden» (Linke/Nussbaumer 2000a, 444) und somit ebenso wie die generalisierten konversationellen Implikaturen kontextübergreifend. Die generalisierten konversationellen und die konventionellen Implikaturen werden in Abschnitt 2.4.3 genauer thematisiert und auf ihre Komplexität hin untersucht. Der Begriff der partikularisierten konversationellen Implikatur bezeichnet nun zum einen eine implizite, über das Gesagte hinausgehende Bedeutung, zugleich aber auch den Schlussprozess, durch den der Hörer/Leser hinter eine solche Implikatur kommt (cf. Grice 1989a, 30ss.). Linke/Nussbaumer (2000a, 444) betonen, dass Implikaturen grundsätzlich vom Sprecher/Autor intendiert sind: «[. . .] Grice [meint] mit einer Implikatur eine Schlussfolgerung [. . .], die ein Sprecher beim Hörer auslösen möchte. Nicht jede hörerseitige Inferenz ist also eine Implikatur, sondern nur die intendierten, die kommunizierten sind es».

Und Rolf (2006, 2627s.) stellt heraus, dass konversationelle Implikaturen zu den Formen sprachlicher oder kommunikativer Indirektheit gehören:

27 Grice (1989a, 37) verwendet den Begriff «particularized conversational implicature». In der von Meggle (1979) herausgegebenen Übersetzung von Logic and conversation wird dieser durch «spezialisierte konversationale Implikaturen» (Grice 1979, 262) wiedergegeben, Rolf (2006, 2629) spricht von «partikularisierten konversationalen Implikaturen».

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

«Die unverlierbare Einsicht von Grice besteht darin, dass es Fälle gibt, in denen sich, was der Sprecher zu verstehen gibt (und in diesem Sinne ‹meint›), in der Bedeutung der von ihm geäußerten sprachlichen Form nicht erschöpft; folglich kann es zu einer Divergenz kommen zwischen der Bedeutung der geäußerten sprachlichen Form und dem, was kommuniziert wird (cf. Levinson 1983: 17–18). Im Hinblick auf solche Fälle kann man sagen, dass der Sprecher indirekt kommuniziert, was er kommuniziert. Konversations-Implikaturen sind Beispiele für solche indirekten Kommunikationsmanöver».

Auf potentiell komplexitätssteigernde Divergenzen zwischen der Inhaltsstruktur und der sprachlich realisierten Ausdrucksstruktur von Sätzen oder Texten hatte Busse (2012, 47) bereits hingewiesen und erklärt, dass z.B. Argumentrollen in Sätzen, Attribute oder funktionale Eigenschaften von Objekten bzw. Personen in Texten häufig nicht explizit verbalisiert würden, aber mitzuverstehen seien und somit unter Rückgriff auf Frame-Wissen ergänzt werden müssten. Dieses Auffüllen bzw. Ergänzen von impliziten Inhalten ist – wie in Kapitel 2.3.2 deutlich gemacht wurde – frame-semantisch sehr gut zu erklären und semantisch komplex, wenn es Expertenwissen und/oder mehrstufige Inferenzen erfordert. Das Erkennen und Deuten der durch konversationelle Implikaturen erzeugten kommunikativen Indirektheit verlangt ebenfalls den Einbezug spezifischer Wissensbestände, aber zusätzlich auch den Bezug auf das Kooperationsprinzip und seine Maximen. Ein prima facie Verstoß gegen eine dieser Maximen ist nämlich nach Keller (1995, 206s.) ein «Symptom» dafür, dass eine über das Gesagte hinausgehende Bedeutung zu suchen ist. Dies soll nun an Grices klassischem Beispiel einer aus «Ausbeutung» der Relevanzmaxime resultierenden konversationellen Implikatur und dem vom Hörer/Leser zu vollziehenden Gedankengang zu ihrer Rekonstruktion verdeutlicht werden. In diesem Kontext soll auch Grices sehr formale Definition der konversationellen Implikatur angegeben werden, die dann durch unmittelbare Anwendung auf besagtes Beispiel an Klarheit gewinnen wird: «Suppose that A and B are talking about a mutual friend, C, who is now working in a bank. A asks B how C is getting on in his job, and B replies, Oh quite well, I think; he likes his colleagues, and he hasn’t been to prison yet» (Grice 1989a, 24).

Nach Grice ist sofort klar, dass, was auch immer B mit seiner Äußerung zu verstehen gegeben, angedeutet, gemeint hat, etwas anderes ist als das, was er gesagt hat, denn das war ja einfach, dass C bislang noch nicht ins Gefängnis gekommen ist (cf. ib., 24). A muss jetzt also den von Grice als konversationelle Implikatur bezeichneten Schlussprozess durchlaufen, um die von B mit seiner Aussage implizierte Bedeutung – die ebenfalls konversationelle Implikatur genannt wird – zu erfassen: «A man who, by (in, when) saying (or making as if to say) that p has implicated that q, may be said to have conversationally implicated that q, provided that (1) he is to be

2.4 Semantik und Diskurstraditionen

131

presumed to be observing the conversational maxims, or at least the Cooperative Principle; (2) the supposition that he is aware that, or thinks that, q is required in order to make his saying or making as if to say p (or doing so in those terms) consistent with this presumption; and (3) the speaker thinks (and would expect the hearer to think that the speaker thinks) that it is within the competence of the hearer to work out, or grasp intuitively, that the supposition mentioned in (2) is required» (ib., 30s.).

Bezogen auf das Beispiel um C und seine neue Stelle in einer Bank muss die Überlegung von A, um hinter die von B intendierte Implikatur zu kommen, also folgendermaßen aussehen: «(1) B has apparently violated the maxim ‹Be relevant› and so may be regarded as having flouted one of the maxims conjoining perspicuity, yet I have no reason to suppose that he is opting out from the operation of the Cooperative Principle; (2) given the circumstances, I can regard his irrelevance as only apparent if, and only if, I suppose him to think that C is potentially dishonest; (3) B knows that I am capable of working out step (2). So B implicates that C is potentially dishonest» (ib., 31).

Dieses Beispiel demonstriert somit, wie ein scheinbarer Verstoß gegen die Relevanzmaxime zum Auslöser für eine konversationelle Implikatur wird und illustriert zugleich den kognitiven Aufwand, den A aufzubringen hat, um die von B implizierte Bedeutung zu rekonstruieren. Dieser zu erbringende Aufwand rechtfertigt die Sichtweise, dass konversationelle Implikaturen semantisch komplexe Phänomene sind – wobei natürlich auch innerhalb der Menge der konversationellen Implikaturen Komplexitätsunterschiede feststellbar sind. Diese Auffassung wird zudem gestützt durch die Fülle an Daten, auf die der Hörer/Leser beim Nachvollzug einer konversationellen Implikatur gegebenenfalls zurückgreifen muss. Dabei handelt es sich neben der selbstverständlich zu berücksichtigenden konventionellen Bedeutung der verwendeten Lexeme sowie dem Kooperationsprinzip und den Maximen als «neuen» Aspekten um genau die Kontextfaktoren, die auch Coseriu (1980), Aschenberg (1999) und Fillmore (1976) als sinnbildend hervorgehoben haben: «To work out that a particular conversational implicature is present, the hearer will rely on the following data: (1) the conventional meaning of the words used, together with the identity of any references that may be involved; (2) the Cooperative Principle and its maxims; (3) the context, linguistic or otherwise, of the utterance; (4) other items of background knowledge; and (5) the fact (or supposed fact) that all relevant items falling under the previous headings are available to both participants and both participants know or assume this to be the case» (Grice 1989a, 31).

Kommen wir nun nochmals auf den Aspekt zurück, dass der von A zunächst erlebte scheinbare Verstoß gegen die Relevanzmaxime als «Symptom» (Keller 1995, 207) bzw. Auslöser für die zu vollziehende Inferenz dient. Diese «inferenzauslösende» Funktion der auf dem Hintergrund der

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Maximen funktionierenden konversationellen Implikaturen stellen Linke/ Nussbaumer (2000a, 443) heraus: «Während der reichlich vage Sammelbegriff der pragmatischen Präsuppositionen eher auf die Wissensbestände abhebt, die dem Produzenten wie dem Rezipienten im kommunikativen Handeln zur Verfügung stehen und stehen müssen, fokussiert das Konzept der Konversationsmaximen und der mit ihnen verbundenen konversationellen Implikaturen [. . .] ergänzend dazu die Frage, wann, warum und wie diese Wissensbestände in der Kommunikation zum Einsatz kommen. Man könnte die pragmatischen Präsuppositionen die materiale Basis für Schlussprozesse im Verstehen nennen und im Unterschied dazu die Grice’sche Konzeption der Konversationsmaximen die formale Basis für solche Schlussprozesse, gewissermaßen einen Motor, der Schlussprozesse in Gang setzt, deren Ergebnis konversationelle Implikaturen sind».

Unter dem Begriff der pragmatischen Präsuppositionen verstehen Linke/Nussbaumer (2000a, 441) – frame-semantisch gesprochen – das verstehensrelevante Wissen in seiner ganzen Breite, das in den Rezeptionsprozess einzubringen ist. Damit wird deutlich, dass die Theorie der Maximen und der konversationellen Implikaturen eine notwendige Ergänzung bzw. Präzisierung der frame-semantischen Erklärung des Sprach- und Textverstehens darstellt. Eine (scheinbare) Verletzung der Grice’schen Maximen aber ebenso deren konsequente Befolgung – letzteres wird sofort erläutert werden – liefert dem Rezipienten nämlich den Anstoß für die Aktivierung von zusätzlichem Frame-Wissen und das Vollziehen einer Inferenz. In Kapitel 2.2.2.1 wurde im Rahmen der Kohärenz-Thematik bereits darauf hingewiesen, dass Rezipienten bei schwer zugänglichen Texten bemüht sind, unter Rückgriff auf ihr Wissen einen möglichen Verstehenskontext zu konstruieren. Dies tun sie gerade deshalb, weil sie dem Verfasser das Befolgen des Kooperationsprinzips und der Maxime der Relation unterstellen. Wenn sie also einen scheinbaren Verstoß gegen die Maxime der Relation registrieren, – Stark (2001, 649) spricht hier von «Relevanzproblemen» oder «Kohäsionsbrüchen» – dann ist dieser Symptom und Anlass dafür, unter Rückgriff auf Frame-Wissen und über Implikaturen und Inferenzen, Kohärenz herzustellen. Konversationelle Implikaturen können allerdings nicht nur durch Ausbeutung einer Maxime oder durch Maximenkollision ausgelöst werden, sondern es kann auch in Fällen, in denen keine Maxime verletzt wird oder es zumindest nicht klar ist, dass eine verletzt ist (cf. Grice 1989a, 32), zu konversationellen Implikaturen kommen. In diesem Zusammenhang führt Grice die folgenden beiden Beispiele an: «(1) A: I am out of petrol. – B: There is a garage round the corner. (2) A: Smith doesn’t seem to have a girlfriend these days. – B: He has been paying a lot of visits to New York lately» (ib., 32).

2.4 Semantik und Diskurstraditionen

133

In Beispiel (1) impliziert B konversationell, dass die Werkstatt Benzin verkauft, in Beispiel (2), dass Smith – möglicherweise – eine Freundin in New York hat. Nach Grices Einschätzung ist in beiden Fällen die nicht genannte Verbindung zwischen Bs Bemerkung und As Bemerkung so naheliegend, dass man weder eine Zuwiderhandlung gegen die Maxime der Relation noch gegen die Maxime Sei klar konstatieren könne (cf. ib., 32). Tatsächlich könnte man in beiden Beispielen B vielmehr ein konsequentes Befolgen der 2. Maxime der Quantität (Mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig) und der 3. Untermaxime der Modalität (Sei kurz – Vermeide unnötige Weitschweifigkeit) attestieren. Und ein solches Sprecher-Verhalten deckt sich eindeutig mit dem Kommunikationsmodell der Frame-Semantik. Dieses betrachtet ja – wie in Kapitel 2.3.2 ausführlich dargestellt wurde – sprachliche Kommunikation als im Kern elliptisch und sprachliche Ausdrücke als Anspielungen auf vorausgesetztes Wissen. Demnach wird durch sprachliche Zeichen immer nur so viel artikuliert, wie in der gegebenen Situation notwendig ist (cf. Busse 2009, 83s.). Unterzieht man die obigen beiden Beispiele einer frame-semantischen Analyse, so ergibt sich Kohärenz durch das mit den Lexemen Werkstatt (Slot FUNKTION: repariert Autos und verkauft Auto-Zubehör, u.a. Kanister mit Benzin) und Freundin (Slot FUNKTION: Person, mit der man sein Leben gemeinsam gestaltet und in der Regel viel Zeit verbringt) verknüpfte und zu aktivierende Frame-Wissen. Somit zeigt sich, dass die Grundannahmen der Frame-Semantik mit den Grice’schen Maximen gut in Einklang gebracht werden können. Die Frame-Semantik bietet den Vorteil, die Organisation des verstehensrelevanten Wissens und seine Wirksamkeit im Verstehensprozess plausibel zu erklären. Die Grice’sche Theorie der Maximen und der Implikaturen vermag demgegenüber, die Auslöser für das notwendige Aktivieren von Hintergrundwissen zu identifizieren und Formen sprachlicher Indirektheit überzeugend zu erklären, was die folgenden Beispiele zeigen sollen. Eine weitere Funktion dieser Beispiele besteht darin, auch Komplexitätsunterschiede innerhalb der Menge der konversationellen Implikaturen deutlich zu machen. Insbesondere eine scheinbare Verletzung (flouting) der 1. Untermaxime der Qualität (Sage nichts, was du für falsch hältst) erzeugt häufig Formen sprachlicher Indirektheit wie z.B. Ironie oder Redefiguren, die eine übertragene Bedeutung transportieren (cf. Grice 1989a, 34). Im Fall der Ironie sagt der Sprecher das Gegenteil dessen, was er meint, also für wahr und richtig hält. Kann er dies dem Hörer nicht durch Ironie-Signale wie Intonation oder Mimik begreiflich machen, muss der Hörer/Leser in der Lage sein, die nötige konversationelle Implikatur unter Rückgriff auf Kontextdaten oder sein Wissen über den Sprecher zu erschließen, was Grice (1989a, 34) in der folgenden Analyse deutlich macht:

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

«Irony. X, with whom A has been on close terms until now, has betrayed a secret of A’s to a business rival. A and his audience both know this. A says X is a fine friend. (Gloss: It is perfectly obvious to A and his audience that what A has said or has made as if to say is something he does not believe, and the audience knows that A knows that this is obvious to the audience. So, unless A’s utterance is entirely pointless, A must be trying to get across some other proposition than the one he purports to be putting forward. This must be some obviously related proposition; the most obviously related proposition is the contradictory of the one he purports to be putting forward)».

Auch in dieser Passage zur Ironie demonstriert Grice wieder, dass es eines Schlussprozesses bedarf, um die vom Sprecher intendierte Bedeutung, die das Gegenteil dessen ist, was er sagt, zu ermitteln. Somit zeigt sich, dass die ironische Äußerung sicherlich komplexer ist als die direkte Äußerungsvariante, im gegebenen Beispiel allerdings dennoch nur mäßig komplex, da der «Schlussweg» vom Gesagten zum Gemeinten kurz ist (der Zusammenhang zwischen beiden ist ziemlich offensichtlich) und da das zu seiner Erschließung erforderliche Wissen eher schlicht ist. Als letztes Beispiel für sprachliche Indirektheit, die mittels einer konversationellen Implikatur erschließbar ist, soll eine Kombination aus Metapher und Ironie angeführt werden: «Metaphor. Examples like You are the cream in my coffee characteristically involve categorial falsity, so the contradictory of what the speaker has made as if to say will, strictly speaking, be a truism; so it cannot be that that such a speaker is trying to get across. The most likely supposition is that the speaker is attributing to his audience some feature or features in respect of which the audience resembles (more or less fancifully) the mentioned substance. It is possible to combine metaphor and irony by imposing on the hearer two stages of interpretation. I say You are the cream in my coffee, intending the hearer to reach first the metaphor interpretant ‹You are my pride and joy› and then the irony interpretant ‹You are my bane›» (ib., 34).

Dieses «indirekte Kommunikationsmanöver» (Rolf 2006, 2628) verlangt vom Rezipienten einen umfangreicheren Schlussprozess (two stages of interpretation) als das reine Ironie-Beispiel. Außerdem sind sowohl elokutionelles und einzelsprachliches als auch lebensweltliches Wissen vonnöten, um die positiven Eigenschaften der Sahne für den Kaffee zu erfassen, sie adäquat auf den Menschen zu übertragen und das Ironie-bedingte Auffinden des Gegenteils zu leisten. Somit muss diese Kombination aus Ironie und Metapher als etwas komplexer bewertet werden als das ironische X is a fine friend. Prima facie Verstöße gegen die Maximen, die vom Leser also den Nachvollzug einer konversationellen Implikatur verlangen, können den Komplexitätswert in Bezug auf mehrere der oben angeführten Kategorien erhöhen, was in der folgenden Tabelle an einigen Beispielen belegt wird:

2.4 Semantik und Diskurstraditionen

135

Tab. 12: Konversationelle Implikaturen im Rahmen verschiedener Komplexitätskategorien. Komplexitätskategorie

Sprachliche Phänomene, die sich komplexitätssteigernd auswirken, weil sie konversationelle Implikaturen auslösen:

.

Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik

Verschiedene Redefiguren wie z.B. Metaphern, Metonymien, Litotes, Hyperbeln, Euphemismen etc.

.

Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik

– –

Satzfiguren wie z.B. die rhetorische Frage syntaktisch ambige Sätze

.

Andeutungen/Evokationen



Tautologien wie «Geschäft ist Geschäft.» (Meibauer 2001, 27) sind nur scheinbar uninformative Verstöße gegen die 1. Maxime der Quantität und deuten im geg. Fall an, dass das Verhalten einer bestimmten Person, welches durch die Tautologie kommentiert wird, vielleicht moralisch nicht ganz korrekt war, aber den Bedingungen des Geschäftslebens geschuldet ist (cf. Grice 1989a, 33; Meibauer 2001, 27). Ein Verstoß gegen die 3. Untermaxime der Modalität (Sei kurz – vermeide unnötige Weitschweifigkeit) wie im folgenden Satz: «Miss X produced a series of sounds that corresponded closely with the score of ‹Home sweet home›.» (Grice 1989a, 37) deutet eine schlechte Leistung der Sängerin an.



.

Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene

Mitunter muss auch auf der zweiten semiotischen Ebene eine konversationelle Implikatur vollzogen werden, um die eigentliche Bedeutung eines Textes, seinen Sinn, zu erschließen, was am Beispiel des absurden Textes Blaues Heft Nr.  illustriert wurde. In diesem Fall liegt eine flächige, diskurstraditionell motivierte Verletzung der Grice’schen Maximen vor, die zunächst den Komplexitätswert bezüglich des «Umgangs mit den Maximen» erhöht. Diese hohe Komplexität strahlt auf den «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» aus, denn die Maximenverletzung motiviert die zentrale Implikatur, die es erlaubt, den Sinn des Textes – zunächst die Verdeutlichung von elementaren Konstruktionsvorgängen beim Lesen durch ihre Sabotage (cf. Jesch , ) und im nächsten Schritt die Zweifel an der eigenen Wirklichkeitserfahrung – zu erschließen.

136

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Gerade was das Komplexitätsmerkmal «Andeutungen/Evokationen» betrifft, so ist neben der Coseriu’schen Evokation und stilistischen Beiträgen zum Textsinn der Bezug auf die Maximen besonders wichtig, weil erst dadurch das «Anspielungspotential» von scheinbar uninformativen Äußerungen, übertriebener Weitschweifigkeit, bewusst eingesetzter Vagheit oder Ambiguität u.ä. erfasst und die semantische Komplexität dieser Äußerungen durch Rückgriff auf den Schlussprozess der konversationellen Implikatur bewertet werden kann. Bevor im folgenden Unterkapitel weitere Konzepte des Impliziten erörtert werden, soll an dieser Stelle resümiert werden, warum konversationelle Implikaturen als prinzipiell komplexe Phänomene betrachtet werden. Zunächst verlangen sie vom Hörer/Leser die (intuitive) Kenntnis des Kooperationsprinzips und der Maximen und deren Berücksichtigung: ihr Auslöser ist schließlich die Einsicht, dass das Gesagte nicht mit der Annahme in Einklang gebracht werden kann, dass der Sprecher/Schreiber das Kooperationsprinzip und die Maximen beachtet (cf. Grice 1989a, 30). Weiterhin muss es möglich sein, durch Überlegung bzw. durch eine Argumentation vom Gesagten zum Gemeinten zu gelangen (cf. ib., 30s.), und die Schritte des erforderlichen Schlussprozesses sind (mehr oder weniger) zahlreich und anspruchsvoll. Und schließlich verlangt der erfolgreiche Vollzug des Schlussprozesses den Rückgriff auf verschiedene – wiederum mehr oder weniger komplexe – Daten: dies sind neben den Grice’schen Maximen natürlich die konventionelle Bedeutung der in der Äußerung verwendeten Wörter, die Situation, der sprachliche Kontext der Äußerung sowie weiteres sprachliches und enzyklopädisches Hintergrundwissen. Neben diesen Charakteristika, die konversationelle Implikaturen als komplexe Phänomene ausweisen, hat Grice (1989b, 43s.) noch zwei weitere Erkennungszeichen benannt: Nichtabtrennbarkeit (nondetachability) und Aufhebbarkeit (cancelability). Die erstgenannte Eigenschaft bedeutet, dass sich konversationelle Implikaturen nicht ohne weiteres durch ausdrucksseitige Variation vom Äußerungsinhalt trennen lassen (cf. Bublitz 2001/2009, 227), was Bublitz an Grices klassischem Beispiel erläutert. So hätten sowohl die «Originaläußerung» von B, «[. . .] he likes his colleagues, and he hasn’t been to prison yet.» (Grice 1989a, 24), als auch die Variante, «He loves his colleagues and hasn’t been sent to jail so far.», dieselbe Implikatur, dass C nämlich potentiell unredlich ist (cf. Bublitz 2001/2009, 227). Rolf (2006, 2633) präzisiert allerdings in Bezug auf das Merkmal der Nichtabtrennbarkeit, dass es für konversationelle Implikata, die über die Maxime der Modalität vermittelt werden, nicht gegeben ist. Das Kriterium der Aufhebbarkeit besagt, dass man konversationelle Implikaturen zurücknehmen oder aufheben kann, was in der Regel durch nachträgliche Zusätze, Erklärungen oder Korrekturen geschieht (cf. Bublitz 2001/2009, 227). Dieses Merkmal unterstreicht erneut

2.4 Semantik und Diskurstraditionen

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die Kontextsensitivität und Sprecherabhängigkeit der konversationellen Implikaturen, die Tatsache also, dass sie nicht konventionell fest mit bestimmten Ausdrücken verbunden sind (cf. Linke/Nussbaumer 2000a, 444). Aus diesen Gründen bezeichnet Rolf (2006, 2627) die konversationellen Implikaturen auch als indirekte Kommunikationsversuche und führt aus: «Im Hinblick auf diejenigen Phänomene, deren Charakterisierung Grice vorschwebt, von versuchter Kommunikation zu sprechen, ist insofern angebracht, als es Grice zunächst einmal um solche Fälle von Kommunikation geht, in denen nicht von konventionellen Mitteln Gebrauch gemacht wird, in denen das Verstehen oder gar der Erfolg der Kommunikation also nicht (wie beim Gebrauch konventioneller Mittel) ‹garantiert› ist».

Diese Einschätzung Rolfs, wonach der Verzicht auf konventionelle Mittel bedeutet, dass das Verstehen einer intendierten konversationellen Implikatur eben auch scheitern kann, liefert einen weiteren wichtigen Beleg für die semantische Komplexität dieser Ausprägung des Impliziten. Ganz anders verhält es sich nämlich mit einigen der Konzepte des Impliziten, die Thema des folgenden Unterkapitels sind.

2.4.3 Weitere Konzepte des Impliziten Im Folgenden sollen weitere klassische Konzepte des Impliziten wie semantische Präsuppositionen und semantische Implikationen sowie die von Grice beschriebenen konventionellen und generalisierten konversationellen Implikaturen vorgestellt und den (partikularisierten) konversationellen Implikaturen und (pragmatischen) Inferenzen gegenübergestellt werden. Diese Kontrastierung der verschiedenen Ausprägungen des Impliziten orientiert sich an Bublitz (2001/2009) und Linke/Nussbaumer (2000a), die die erstgenannten Konzepte dadurch vereint sehen, dass sie konventionell fest an bestimmte Lexeme gebunden sind, wodurch sie verwendungsinvariabel und unabhängig von ihrem jeweiligen Kontext sind. Somit verlangt das Erfassen dieser Arten von impliziten Bedeutungsbestandteilen keinen bewussten wissens- und kontextbasierten Schlussprozess, weshalb ihnen das Charakteristikum der Komplexität nicht zukommt. Diese Einschätzung soll im Folgenden für alle vier Typen des konventionellen und kontextunabhängigen Impliziten detaillierter begründet und illustriert werden. Wie oben bereits angeführt wurde, identifiziert Grice (1989a) drei Arten von Implikaturen, die sich im Grad ihrer Kontextabhängigkeit und ihrem Bezug auf das Kooperationsprinzip und die Maximen unterscheiden: neben den soeben ausführlich behandelten partikularisierten konversationellen Implikaturen handelt

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

es sich dabei um die generalisierten konversationellen sowie die konventionellen Implikaturen. Die beiden letzteren sind fest verknüpft mit bestimmten Wörtern und Wendungen, somit unabhängig vom Kontext und besonderen Umständen ihrer Äußerung und letztlich nur sehr schwer voneinander abzugrenzen, was Grice (1989a, 37) selbst eingesteht. Der Unterschied zwischen beiden Konzepten des Impliziten beschränkt sich gemäß Bublitz (2001/2009, 233) im Wesentlichen auf das Kriterium der Aufhebbarkeit, das den generalisierten konversationellen Implikaturen eher zukommt als den konventionellen – hinzuzufügen ist allerdings auch die stärkere Anbindung der generalisierten konversationellen Implikaturen an die Maximen, was Grices Ausführungen zu letzteren belegen (cf. Grice 1989a, 37s.). Im «fairly uncontroversial» (ib., 37) Beispiel für diesen ImplikaturTyp wird die generalisierte konversationelle Implikatur durch den unbestimmten Artikel vermittelt: «Anyone who uses a sentence of the form X is meeting a woman this evening would normally implicate that the person to be met was someone other than X’s wife, mother, sister, or perhaps even close platonic friend» (ib., 37).

In Grices Beispiel zur Illustration der schwierig davon abzugrenzenden konventionellen Implikatur ist die implizite Bedeutung an einen Konnektor, nämlich therefore, gebunden: «In some cases the conventional meaning of the words used will determine what is implicated, besides helping to determine what is said. If I say [. . .] He is an Englishman; he is, therefore, brave, I have certainly committed myself, by virtue of the meaning of my words, to its being the case that his being brave is a consequence of (follows from) his being an Englishman. But while I have said that he is an Englishman, and said that he is brave, I do not want to say that I have said (in the favored sense) that it follows from his being an Englishman that he is brave, though I have certainly indicated, and so implicated, that this is so. I do not want to say that my utterance of this sentence would be, strictly speaking, false should the consequence in question fail to hold. So some implicatures are conventional [. . .]» (ib., 25s.).

Der Unterschied hinsichtlich der «Explizitheitsgrade», den Grice zwischen den beiden Propositionen that he is an Englishman (p1) und that he is brave (p2) einerseits und dem Konnektor therefore andererseits etabliert, ist allerdings schwer einsichtig. Bublitz (2001/2009, 234) versucht hier Klarheit zu schaffen, indem er erläutert, dass der durch die Konjunktion therefore indizierte kausale Zusammenhang im Gegensatz zu den Propositionen p1 und p2 nicht Teil des Gesagten sei und somit nicht den Wahrheitsbedingungen unterliege, die für p1 und p2 gelten. Folglich sei Grices Beispielsatz nicht falsch, falls die Tapferkeit des Engländers sich nicht als Folge seiner Nationalität erweisen sollte. Gemäß Bach (1994, 247s.) hingegen geht die Bedeutung von Konnektoren wie therefore oder aber sehr wohl in eine

2.4 Semantik und Diskurstraditionen

139

Spezifizierung dessen, was gesagt werde, ein. Dieser Standpunkt wird auch in dieser Arbeit vertreten, die Konnektoren als Kohärenz-Indikatoren betrachtet, die «explizit eine inhaltliche Beziehung zwischen Teilen eines Textes herstellen» (Adamzik 2001/2010, 299; meine Hervorhebung) und den Rezipienten gerade von Inferenzen entlasten. Auch wenn die durch einen Konnektor wie therefore indizierte Kausalität wahrheitslogisch anders zu betrachten ist als die Propositionen p1 und p2, so signalisiert ein Sprecher, der zwei Aussagen mit einem Konnektor verknüpft, damit explizit eine semantische Beziehung und trägt dafür eine kommunikative Verantwortung. Aus diesen Gründen zweifeln wir die Sichtweise an, dass bei der Verwendung von Konnektoren der Rezipient einen kausalen, adversativen oder sonstigen Zusammenhang inferieren muss – dieser wird durch den Konnektor explizit angezeigt und vom Rezipienten automatisch verstanden. Somit sind Konnektoren eher ein Quell von semantischer Einfachheit als Hinweis auf (komplexe) implizite Bedeutungsbestandteile. Die beiden Beispiele für die generalisierte konversationelle und die konventionelle Implikatur belegen somit die im Vergleich zur konversationellen Implikatur wesentlich geringere bzw. nicht vorhandene Komplexität dieser Ausprägungen des Impliziten. Da diese Implikaturen konventionell fest mit bestimmten Wörtern bzw. Strukturen verbunden sind, verlangen sie vom Rezipienten eben weder die Berücksichtigung des besonderen sprachlichen oder situationellen Kontextes ihrer Äußerung, keine Hinzuziehung von weiterem Weltwissen oder Wissen über den Sprecher und keinen Schlussprozess. Dasselbe gilt für semantische Präsuppositionen, die sich nach Einschätzung von Linke/Nussbaumer (2000a, 444) zum Teil mit den konventionellen Implikaturen decken, und ebenfalls für semantische Implikationen. Linke/Nussbaumer (2000a, 439) weisen mehrfach auf die uneinheitliche Verwendung des Präsuppositionsbegriffes hin und auf die ungeklärte Frage, ob Präsuppositionen tatsächlich verwendungsinvariabel und damit konventionell fest seien oder ob sie nicht doch kontextsensitiv und damit eine Form von «pragmatischen Inferenzen» seien. Sie lösen dieses Problem, indem sie semantische von pragmatischen Präsuppositionen unterscheiden und erstere folgendermaßen definieren: «Präsupposition ist eine mit einem Satz verknüpfte Voraussetzung (oder eine aus einem Satz ableitbare Folgerung), die gleicherweise für den nichtnegierten wie auch für den negierten Satz gilt. Man spricht vom Negationstest, der Präsuppositionen erkennen lässt. [. . .] Man sagt, dass es jeweils ganz bestimmte Wörter oder Konstruktionen seien, die die Präsupposition ‹auslösen›, sog. Präsuppositionsauslöser (engl. ‹trigger›), womit auch der Umstand unterstrichen wird, dass Präsuppositionen mit bestimmten Ausdrücken konventionell fest verbunden sind» (ib., 438).

Die folgende Tabelle liefert einige Beispiele für die so verstandenen semantischen Präsuppositionen:

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Tab. 13: Verschiedene Typen semantischer Präsuppositionen.

.

Existenzpräsuppositionen

Jeder sprachliche Ausdruck (z.B. Eigenname, definite Nominalphrase), der auf ein Bezugsobjekt referiert, präsupponiert die Existenz dieses Objekts (cf. Bublitz /, ).

.

Faktive Präsuppositionen

Es gibt Konstruktionen, die die Faktizität dessen präsupponieren, was in ihrem Komplementsatz steht. So präsupponieren ich bedaure (nicht), dass p oder ich bin (nicht) überrascht, dass p die Faktizität von p (cf. Linke/ Nussbaumer a, ).

.

Nicht-faktive Präsuppositionen

Diese hängen von Verben wie träumen, sich vorstellen, vorgeben etc. ab, mit denen der Sprecher präsupponiert, dass der abhängige Satz nicht wahr ist, z.B. Ich stellte mir vor zu fliegen (cf. Bublitz /, ).

.

Iterative Präsuppositionen

Sie werden ausgelöst durch Ausdrücke, mit denen man präsupponiert, dass eine Situation (Ereignis, Zustand) zuvor bestanden hat. Dazu gehören Verben wie wiederholen, zurückkommen, zurückbringen und Partikeln wie wieder oder nicht mehr (cf. ib., ). Beispiel: Ich wiederhole meine Frage präsupponiert, dass die Frage zuvor bereits gestellt wurde.

.

Kontrafaktische Präsuppositionen

Dieser Typ von semantischen Präsuppositionen wird durch irreale Konditionalsätze indiziert. In diesen Satzgefügen wird die dem wenn-Satz zugrundeliegende Proposition als nicht wahr präsupponiert. So wird durch den Satz Wenn du hier gewesen wärest, hättest du ihn fragen können präsupponiert: du bist nicht hier gewesen (cf. ib., ).

Aus denselben Gründen, aus denen bereits den generalisierten konversationellen und den konventionellen Implikaturen sowie den gerade aufgeführten semantischen Präsuppositionen semantische Komplexität abgesprochen wurde, geschieht dies auch mit semantischen Implikationen. Es handelt sich dabei um «[. . .] Inhalte [. . .], die sich notwendigerweise aus der intensionalen lexikalischen Bedeutung oder Denotation sprachlicher Ausdrücke und ihren semantischen Relationen zu anderen lexikalischen Bedeutungen ergeben und somit Teil der Satzbedeutung sind. [. . .] Sie werden vom Hörer allein aufgrund seiner linguistischen Kenntnisse verstanden» (Bublitz 2001/ 2009, 157).

2.4 Semantik und Diskurstraditionen

141

Folglich sind die semantischen Implikationen weder aufhebbar noch kontextabhängig (cf. ib., 159), im Unterschied zu den semantischen Präsuppositionen aber nicht konstant unter Negation, d.h. dass bei Negation des auslösenden Ausdrucks die semantische Implikation ebenfalls negiert wird (cf. Linke/Nussbaumer 2000a, 439). Auch für die semantischen Implikationen sollen im Folgenden einige Beispiele angegeben werden, die illustrieren, dass diese Ausprägungen des Impliziten in der Regel nicht als komplex zu bewerten sind, weil ihre «Inferenz» eben nicht mehr als die Kenntnis der lexikalischen Bedeutung des Ausdrucks verlangt, der sie auslöst:

Tab. 14: Beispiele für semantische Implikationen. Ausdruck

Semantische Implikation(en)

.

Die Katze liegt auf der Matte.

Die Matte liegt unter der Katze. (ib., )

.

Die Katze liegt nicht auf der Matte.

Die Matte liegt nicht unter der Katze.

.

My great, great grandfather was killed.

My great, great grandfather died. My great, great grandfather is no longer alive.

.

My great, great grandfather left four children.

My great, great grandfather had four children. (cf. Bublitz /, )

Bublitz (2001/2009) und Linke/Nussbaumer (2000a) bringen in ihren Untersuchungen des Impliziten Ordnung in die bislang vorgestellten Ausprägungen desselben, indem sie sie nach dem Grad ihrer Kontextabhängigkeit differenzieren (cf. Bublitz 2001/2009, 157) bzw. danach fragen, ob das Implizite «zum konventionell festen Bedeutungsgehalt von Zeichen» gehört oder nicht (cf. Linke/Nussbaumer 2000a, 437). Bublitz (2001/2009, 157) ordnet implizite und implizierte Sätze einer «Skala der Kontextabhängigkeit» zu und betrachtet die semantische Implikation «als den einen, kontext- und sprecherunabhängigen, semantischen Pol dieser Skala». Den konträren Pol nehmen die «kontext- und sprecherabhängigen, pragmatischen konversationellen Implikaturen» ein. Zwischen beiden Polen verortet Bublitz die Präsuppositionen, die seiner Ansicht nach «keine homogene Klasse bilden, sondern zwischen starker und schwacher Sprecher- und Kontextabhängigkeit oszillieren». Man könnte Bublitz’ Ordnungsprinzip der Ausprägungen des Impliziten also folgendermaßen visualisieren:

142

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

kontextunabhängig sprecherunabhängig semantisch

kontextabhängig sprecherabhängig pragmatisch

semantische Implikationen

Präsuppositionen

konversationelle Implikaturen

Schema 5: Visualisierung von Bublitz’ Ordnungsprinzip der Ausprägungen des Impliziten.

Linke/Nussbaumer (2000a) entwickeln das folgende «Überblicksschema» der Konzepte des Impliziten, welches semantische Implikationen und Präsuppositionen unter dem Etikett des Impliziten I subsumiert, pragmatische Präsuppositionen und konversationelle Implikaturen hingegen dem Impliziten II zuordnet:

Sinn Semantik

Pragmatik

konventionell fest

nichtwörtlich

wörtlich

verwendungsvariabel

verwendungsinvariabel

Explizites

Implizites I

Implizites II implizit

explizit

Sinn Schema 6: Überblicksschema der Konzepte des Impliziten (nach Linke/Nussbaumer 2000a, 437).

Entsprechend ihrer in Kapitel 2.2.1 bereits erläuterten Metapher vom Textsinn als Eisberg setzt sich gemäß Linke/Nussbaumer (2000a) der Textsinn aus dem Expliziten, dem Impliziten I und dem Impliziten II zusammen. Wie das obige Schema bereits suggeriert, macht das Explizite dabei den kleineren Teil des Textsinns, also den über der Wasseroberfläche liegenden Teil des Eisbergs aus, der weitaus größere Teil hingegen bleibt implizit. Innerhalb der «wörtlichen», d.h. der konventionell festen, verwendungsinvariablen Bedeutung von Zeichen unterscheiden sie einen expliziten und einen impliziten Bedeutungsteil (Implizites I). Letzterer

2.4 Semantik und Diskurstraditionen

143

besteht z.B. bei den Ausdrücken es gelingt mir und es gelingt mir nicht im gemeinsamen, identischen Bedeutungsbestandteil ich bemühe mich, der zwar mitgesagt sei, «aber nicht ausdrücklich, vielmehr versteckt, verborgen, ohne Stimme, stumm. Implizit eben» (ib., 437). Zum so verstandenen Impliziten I zählen sie folglich die oben bereits vorgestellten semantischen Implikationen und die semantischen Präsuppositionen,28 zu denen auch der implizite (präsupponierte) Bedeutungsbestandteil ich bemühe mich des Ausdrucks es gelingt mir (nicht) gerechnet wird. Zum Impliziten II hingegen gehört, «was sprachlichen Zeichen in Abhängigkeit von den Umständen ihrer Verwendung zukommt, was also mit situativen Faktoren steht oder fällt, insofern nicht zur konventionell festen Bedeutung (Semantik) gerechnet wird, sondern als Gegenstand der Pragmatik gilt» (ib., 441). Dies sind zunächst die pragmatischen Präsuppositionen, zu denen Linke/Nussbaumer (2000a) das verstehensrelevante Welt- und Handlungswissen zählen und die auf dessen Basis erfolgenden Konstruktionsprozesse, die insbesondere dann erforderlich werden, wenn ein Text sich durch Aussparungen, Offenlassen und Vagheit auszeichnet. Des Weiteren fallen die konversationellen Implikaturen unter das Implizite II sowie – bezogen auf die Illokution eines Textes – «primär performative», also implizit performative Äußerungen und indirekte Sprechakte (cf. ib., 441s.). Betrachtet man nun die Einordnung der von uns bereits als semantisch komplex identifizierten Phänomene des Impliziten, also der konversationellen Implikaturen sowie der mehrstufigen und auf anspruchsvollem Frame-Wissen beruhenden Inferenzen (nach Linke/Nussbaumer also pragmatische Präsuppositionen) innerhalb der beiden angeführten Schemata, so zeigt sich, dass diese eindeutig dem Impliziten II bzw. dem pragmatischen Pol der «Kontext- und Sprecherabhängigkeit» zugerechnet werden. Es könnte für Irritationen sorgen, dass somit Linke/Nussbaumer (2000a) und Bublitz (2001/2009) die Phänomene, die hier als semantisch komplex bewertet werden, gar nicht zum Gegenstandsbereich der Semantik, sondern vielmehr zu dem der Pragmatik zählen. Dies lässt sich aber leicht dadurch erklären, dass in dieser Arbeit ein nicht-reduktionistischer Semantikbegriff 28 Mit gewissen Einschränkungen zählen Linke/Nussbaumer (2000a, 439) auch Konnotatives, Affektives, Deontisches sowie Nebenbei-Prädikationen zum Impliziten I. In Bezug auf ersteres führen sie an, dass die Konnotationen im Unterschied zur Denotation zwar gerne dem impliziten Bedeutungsteil zugerechnet würden, man darüber aber streiten könne. Ein weiteres «Zuordnungsproblem» ergebe sich daraus, «dass Konnotationen konventionell vorgegeben sein können, aber auch usuell-okkasionell aufgebaut und kontextuell abhängig oder auch nur vorübergehend einem Wort zugeschlagen werden können». Den Nebenbei-Prädikationen sprechen sie sogar den Rang des Impliziten ab, da in Fällen wie Ich war gestern mit meiner Enkelin im Kino. Das kleine Biest hat mir doch tatsächlich . . . die Proposition «meine Enkelin ist ein kleines Biest» im Prinzip offen ausgesprochen werde, wenn auch nur «nebenbei» (cf. ib., 444).

144

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

zugrundegelegt wird, der alle Phänomene, die zum Sinn eines Textes beitragen, – Kontextfaktoren, Frames, verstehensrelevantes Wissen, Inferenzen, Implikaturen etc. – berücksichtigt. Diese Einstellung teilen auch die Vertreter von FrameSemantik und epistemischer Semantik und sie wird durch die folgenden Aussagen Dietrich Busses (2009, 70s.) auf den Punkt gebracht: «Wenn man davon ausgeht, dass eine linguistische Bedeutungsanalyse alle Phänomene, die man irgendwie zu der bedeutungshaften Leistung der sprachlichen Mittel hinzurechnen kann, zu ihrem Gegenstand haben sollte, dann fallen plötzlich viele, wenn nicht die meisten, Phänomenbereiche, mit denen sich die ‹Linguistische Pragmatik› beschäftigt, eigentlich in den Gegenstandsbereich der Semantik. Zu solchen eigentlich semantischen Gegenstandsbereichen, die heute aber meist zur Pragmatik gerechnet werden, zählen insbesondere die Analyse von Präsuppositionen, von Implikaturen und die Deixis».

Somit steht die hier vertretene Sichtweise, dass konversationelle Implikaturen und die pragmatischen Präsuppositionen nach Linke/Nussbaumer (2000a) semantisch komplexe Phänomene sind, völlig in Einklang mit den in Kapitel 2.2 thematisierten Voraussetzungen dieser Arbeit und einem reichen Semantikbegriff. Ungeachtet dieser leicht auszuräumenden begrifflichen Verwirrung liefern die von Bublitz (2001/2009) und Linke/Nussbaumer (2000a) bereitgestellten Definitionen, Erläuterungen und Einordnungen der semantischen Implikationen und semantischen Präsuppositionen in die jeweiligen Schemata wichtige Gründe für deren gering ausgeprägte bis nicht vorhandene semantische Komplexität. Da nach Einschätzung aller drei Autoren diese Formen des Impliziten konventionell fest mit bestimmten Zeichen und Strukturen verbunden sind und bei jeder Verwendung ihrer Auslöser mitzuverstehen sind, wird ihre «Inferenz» auch automatisch und ohne erkennbaren kognitiven Aufwand erfolgen. Die von Bublitz (2001/ 2009) und Linke/Nussbaumer (2000a) angeführten Beispiele zeigen zudem, dass es für Äußerungen, bei denen Inhalte des Impliziten I mitzuverstehen sind, auch keine echte explizite Ausdrucksalternative gibt. Wenn man die präsupponierten bzw. semantisch implizierten Inhalte expliziert, – also z.B. Mein Großvater wurde getötet. Er ist also tot. Er ist nicht mehr am Leben oder Wenn du hier gewesen wärest, – aber du bist ja nicht hier gewesen – hättest du ihn fragen können oder Ich wiederhole meine Frage, die ich bereits gestellt habe – so erweisen sich die resultierenden Äußerungen im Prinzip als Verstöße gegen die 2. Maxime der Quantität (Mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig), sie scheinen markiert und suggerieren so vielmehr einen stilistischen Nebensinn als expliziter, klarer und einfacher zu wirken. Ganz anders verhält es sich mit den Konzepten des Impliziten II. Der Sprecher/Schreiber hat offensichtlich die Wahl, ob er seinen Text strikt an den Grice’schen Maximen orientiert oder nicht, ob er sich direkt oder indirekt – z.B. ironisch oder metaphorisch – ausdrückt, ob er seine Bewertungen explizit formuliert oder durch auffällige Weitschweifigkeit, Vagheit

2.4 Semantik und Diskurstraditionen

145

oder Offenlassen andeutet. Auch in Bezug auf die suppletive Kontextbildung oder die Etablierung der Textthemen gibt es mehr oder weniger explizite Optionen bei der Instantiierung der entsprechenden Frames und somit auch eine echte Wahl zwischen komplexer und einfacher Ausdrucksweise. Und weil pragmatische Präsuppositionen und konversationelle Implikaturen weniger stark konventionalisiert sind als semantische Präsuppositionen und Implikationen und mitunter Wissen voraussetzen, über das nicht jeder Rezipient verfügt, ist der Erfolg dieser von Rolf (2006) als Kommunikationsversuche titulierten Verfahren eben auch nicht garantiert, was wiederum ihre semantische Komplexität unterstreicht. Diese soeben vorgebrachten Gründe für die Bewertung der Konzepte des Impliziten I als prinzipiell einfach und der Konzepte des Impliziten II als prinzipiell komplex entsprechen den Gründen, die in Kapitel 2.3.2.4 für die unterschiedliche Komplexität des Evozierens gegenüber dem Invozieren von Frame-Wissen angeführt wurden. Diese von Fillmore vehement verteidigte, aber problematisch begründete Unterscheidung der beiden Arten von Frame-Aktivierung deutet Busse (2012, 668) – wie oben bereits erläutert – folgendermaßen: Evoziertes verstehensrelevantes Wissen stehe in einem engen Zusammenhang mit den Begriffen der wörtlichen bzw. konventionellen Bedeutung und evozieren bedeute letztlich nichts anderes als «regelmäßig/konventionell nahe legen» (ib., 685). «[A]ls Folge eines großen Maßes an Iteration und damit kollektiver Stützung und Wiederbestätigung» würden bestimmte Teile des verstehensrelevanten Wissens evoziert, also im Verstehensprozess automatischer bzw. schneller und einfacher kognitiv aktiviert als andere (cf. ib., 686). Damit entspricht das Evozieren von verstehensrelevantem Frame-Wissen in weiten Teilen dem Mitverstehen von semantisch impliziten bzw. semantisch präsupponierten Inhaltsteilen, die nach Linke/Nussbaumer (2000a) ebenfalls zur wörtlichen Bedeutung der jeweiligen Zeichen gehören, konventionell fest mit ihnen verbunden sind und unabhängig vom Kontext und anderen Äußerungsbedingungen regelmäßig aktiviert, ja man könnte eben sagen evoziert werden. Das Invozieren von verstehensrelevantem Wissen hingegen deutet Busse als Synonym für Inferieren, und dieses wiederum bezeichnet «[. . .] auf aktiven schlussfolgernden geistigen Prozessen der Interpreten/Verstehenden beruhende Aktivierungen von weiterem verstehens-stützendem Wissen, das über dasjenige Wissen, das man als das ‹semantische› oder ‹Bedeutungs-Wissen› im engeren Sinne auffasst (d.h. im Sinne eines eng gefassten Begriffs der ‹lexikalischen› oder ‹konventionellen Bedeutung› der Zeichen selbst) deutlich hinausgeht» (ib., 669).

Und genau solche aktiven, weniger stark konventionalisierten Schlussfolgerungen sind auch im Rahmen von konversationellen Implikaturen und pragmatischen

146

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Präsuppositionen im Sinne von Linke/Nussbaumer (2000a) vonnöten. Letztere meinen ja auch nichts anderes als auf umfassendem Wissen basierende Konstruktionsleistungen des Verstehenden und können somit gar mit dem Invozieren von verstehensrelevantem Wissen gleichgesetzt werden. Hier zeigt sich also wieder die Anschließbarkeit der Frame-Semantik an Konzepte wie Präsuppositionen und Implikaturen und es erweist sich als zwingend notwendig bzw. folgerichtig, semantische Implikationen, semantische Präsuppositionen sowie konventionelle und generalisierte konversationelle Implikaturen ebenso wie die Evokation von verstehensrelevantem Wissen als leicht zu bewerten, (partikularisierte) konversationelle Implikaturen, pragmatische Präsuppositionen und das Invozieren von verstehensrelevantem Wissen hingegen als tendenziell semantisch komplex.

2.4.4 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurde die fundamentale Bedeutung des Grice’schen Kooperationsprinzips im Sinne eines Vertrauensprinzips und der daraus ableitbaren Maximen der Quantität, Qualität, Relation und Modalität für das Funktionieren und die Analyse menschlicher Kommunikation hervorgehoben. Anschließend wurde der Zusammenhang zwischen den Diskurstraditionen und den von Grice entdeckten Gesprächsmaximen expliziert: Die Diskurstraditionen sind historische und kulturelle Ausformungen der allgemein-universellen Regeln des Sprechens, zu denen an prominenter Stelle das Kooperationsprinzip und seine Maximen gehören. Auf ihrer Grundlage bewegen sich die Diskurstraditionen und somit können Kooperationsprinzip und Maximen als orientierende Größen für die Bewertung diskurstraditioneller Komplexität herangezogen werden. Wenn eine Diskurstradition die Grice’schen Maximen nämlich strikt befolgt, ist sie als einfach zu bewerten, beinhaltet sie hingegen die Beugung, den Bruch oder die Umdeutung einer oder mehrerer Maximen, erweist sie sich als hochgradig komplex (cf. Schrott 2015, 93s.). So konnte das bereits in Kapitel 2.1 angeführte qualitative Merkmal für diskurstraditionelle Komplexität, eben der «Umgang mit den Grice’schen Maximen» begründet werden. Die besondere Relevanz dieses Merkmals für die Beurteilung der diskurstraditionellen Komplexität literarischer Texte ergibt sich aus den eigenen kommunikativen Spielregeln dieser Texte, die regelmäßig die Grice’schen Maximen außer Kraft setzen oder modifizieren, ohne jedoch die Gültigkeit des Kooperationsprinzips aufzuheben (cf. Knape 2008, 899). Unabhängig von solchen diskurstraditionell motivierten und sich meist flächig in den entsprechenden Texten niederschlagenden Beugungen oder

2.4 Semantik und Diskurstraditionen

147

Modifikationen der Maximen, kommt es auch in weitestgehend maximentreuen Textsorten punktuell immer wieder zu scheinbaren Verstößen gegen die Maximen. Ein solcher prima facie Verstoß dient dem Rezipienten als «Symptom» dafür, nach einer über das Gesagte hinausgehenden Bedeutung zu suchen (cf. Keller 1995, 206s.). Diese implizit bzw. indirekt vermittelte Bedeutung ebenso wie der zu ihrer Rekonstruktion notwendige Schlussprozess wird von Grice als partikularisierte konversationelle Implikatur bezeichnet. Ihre an mehreren Beispielen belegte semantische Komplexität beruht im Wesentlichen darauf, dass die konversationelle Implikatur durch Überlegung bzw. ein festes Interpretationsmuster erschlossen werden muss, das sich auf mehr oder weniger komplexe Wissensbereiche (Kooperationsprinzip und Maximen, sprachlicher und situationeller Kontext, Sprach- und Weltwissen) stützt (cf. Grice 1989a, 31). Und weiterhin ergibt sich ihre semantische Komplexität aus der Tatsache, dass dieser indirekte Kommunikationsversuch aufgrund der fehlenden oder gering ausgeprägten Konventionalität der eingesetzten sprachlichen Mittel und der starken Kontextabhängigkeit mitunter auch scheitern kann (cf. Rolf 2006, 2627). Das Konzept der an die Maximen angebundenen konversationellen Implikatur ist unverzichtbar für das Erkennen und Deuten von Fällen indirekter Sprachverwendung (z.B. Ironie), von Redefiguren wie Metaphern und Metonymien sowie von Andeutungen oder Anspielungen, die z.B. auf übertriebener Weitschweifigkeit, Vagheit oder Ambiguität des Ausdrucks beruhen. Da diese indirekten sprachlichen Phänomene ebenso wie die Identifizierung des Auslösers für Inferenzen über einen scheinbaren Verstoß gegen die Maximen mit Hilfe der Frame-Semantik nicht zu erklären bzw. zu leisten sind, ist der Rekurs auf die Grice’sche Theorie für die hier unternommene Analyse semantischer Komplexität unbedingt nötig. Die Frame-Semantik hat demgegenüber den Vorteil, die Organisation des verstehensrelevanten Wissens und seine Wirksamkeit im Verstehensprozess überzeugend erklären zu können und die Ausprägung von Komplexität über die Anzahl der Inferenzschritte auf den Frame-Kern oder die Tiefe des zu aktivierenden Frame-Wissens beschreiben zu können. In anderen Bereichen wiederum entsprechen sich die Grundannahmen und Modellierungen beider Theorien – man denke z.B. an das Credo der FrameSemantik, dass Kommunikation im Kern elliptisch ist und sprachliche Zeichen nur als Anspielungen auf vorausgesetztes Wissen fungieren (cf. Busse 2009, 83s.), und die entsprechende Grice’sche Beobachtung, dass Menschen ihre Gesprächsbeiträge u.a. an der 2. Maxime der Quantität (Mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig) und der 3. Untermaxime der Modalität (Sei kurz – vermeide unnötige Weitschweifigkeit) ausrichten. Im letzten Teil des Kapitels wurden mit den generalisierten konversationellen sowie den konventionellen Implikaturen nach Grice, den semantischen

148

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Implikationen und den semantischen Präsuppositionen Konzepte des Impliziten vorgestellt, die sich als semantisch einfach herausstellten. Diese mitzuverstehenden Inhalte, die Linke/Nussbaumer (2000a, 437) zum Impliziten I rechnen, gehören zum konventionell festen Bedeutungsgehalt von Zeichen, also zu ihrer wörtlichen Bedeutung. Folglich sind sie sprecher- und kontextunabhängig, werden bei jeder Äußerung ihrer lexikalischen oder strukturellen Auslöser präsupponiert oder impliziert und ihre «Inferenz» verlangt weder einen Schlussprozess noch den Rückgriff auf Kontextdaten oder zusätzliches Weltwissen. Somit entspricht das automatische, ohne erkennbaren kognitiven Aufwand erfolgende Mitverstehen des Impliziten I dem Fillmore’schen Evozieren von verstehensrelevantem FrameWissen, das nichts anderes als «regelmäßig/konventionell nahelegen» bedeutet (cf. Busse 2012, 685). Und das bereits in Kapitel 2.3 als semantisch komplex beschriebene Invozieren von Frames, das Busse mit dem Inferieren gleichsetzt, also dem auf aktiven schlussfolgernden geistigen Prozessen beruhenden Aktivieren von weiterem verstehensstützendem Wissen (cf. ib., 669), korrespondiert mit den Leistungen, die konversationelle Implikaturen und pragmatische Präsuppositionen dem Rezipienten abverlangen. Somit zeigt sich einmal mehr die Anschließbarkeit der Frame-Semantik an die Theorie der Implikaturen und Präsuppositionen und bestätigen sich erneut Komplexitätsunterschiede in Bezug auf implizierte Inhalte, die bereits an früherer Stelle als äußert relevant identifiziert wurden.

2.5 Diskurstraditionelle und semantische Komplexität: ein Modell für die linguistische Textanalyse 2.5.1 Definition und Synthese Die angestellten Überlegungen zu den Regeln und Traditionen, die menschliches Sprechen und Schreiben anleiten, zum elliptischen Charakter der Kommunikation und zum prototypischen Frame-Wissen, das Rezipienten im Verstehensprozess notwendigerweise aktivieren müssen, legen folgende Definition von semantischer und diskurstraditioneller Komplexität nahe: Es sind im Wesentlichen drei Faktoren, die für das Vorliegen und die Ausprägung semantischer und diskurstraditioneller Komplexität hinsichtlich 14 zentraler bedeutungskonstituierender Textelemente und -merkmale (= Komplexitätskategorien) verantwortlich sind, nämlich 1. ABWEICHUNGEN von Regeln, Traditionen und Mustern des Sprechens, 2. das Ausmaß an kontextabhängiger/ nicht-konventioneller IMPLIZITHEIT und 3. die Anforderungen, die die Rezeption eines Textes an das WISSEN seiner Leser stellt.

2.5 Komplexität: ein Modell für die linguistische Textanalyse

3. WISSEN

1. ABWEICHUNGEN …von sprachlichen Normen

149

3. WISSEN

2. KONTEXTABHÄNGIGE IMPLIZITHEIT

3. WISSEN Hohe Anforderungen an

und Traditionen, konventio-

Wesentliche Aspekte des

das sprachliche, sprach-

nellen Mustern (Gattungen,

Textsinns gehören zum

bezogene und lebens-

Textsorten u.ä.) sowie proto-

kontext-und sprecherab-

weltliche Wissen der

typischen Wissensrahmen

hängigen, nicht-konventio-

Rezipienten

(Frames)

nellen Impliziten, dessen Re-

kurz: Abweichungen von

konstruktion bewusste,

Erwartungen als «verinner-

mehrstufige und wissens-

lichtem Normen-und

basierte Inferenzen verlangt.

Musterwissen»29

Schema 7: Die drei zentralen Komplexitätsfaktoren.

Dabei interagieren die drei Faktoren sehr stark und ist der Faktor 3, WISSEN, immer beteiligt, was seine überspannende Form im obigen Schema veranschaulichen soll. Um Abweichungen zu erkennen, bedarf es nämlich der Kenntnis der Normen und Traditionen des Sprechens, die verletzt wurden. Um globale Leerstellen zu identifizieren, muss Frame-Wissen unterschiedlichster Art vorhanden sein, und intertextuelle Anspielungen beispielsweise können nur bei Kenntnis der Bezugswerke erfasst werden. Des Weiteren ist der Faktor WISSEN auch wieder bei der Interpretation von Abweichungen und Andeutungen und dem Füllen von Leerstellen beteiligt, was die horizontalen Pfeile verdeutlichen sollen. Darüber hinaus folgt aus der Präsenz von Faktor 1 grundsätzlich die Präsenz der Faktoren 2 und 3, da Abweichungen eine Art Symptom für das Vorliegen einer impliziten Bedeutung sind, die vom Rezipienten inferiert werden muss. Das Vorliegen von Faktor 2 zieht somit automatisch den Faktor 3 nach sich, da kontextabhängiges/ nicht-konventionelles IMPLIZITES mit Hilfe von weiterem, vom Rezipienten zu aktivierenden Hintergrundwissen erschlossen werden muss. Faktor 1: ABWEICHUNGEN Im Verlauf dieser Arbeit wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass Sprechen und Schreiben sich an Regeln, Normen, Traditionen, Konventionen, Maximen

29 «Nicht die Normen selbst bilden den Hintergrund [vor dem sich Abweichungen abzeichnen, K.M.], sondern Erwartungen als verinnerlichtes Normen- und Musterwissen» (Fix 2008, 1302).

150

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

etc. orientieren. Grice (1989a) hat im Rahmen seiner Ausführungen zum Kooperationsprinzip, den daraus ableitbaren Maximen sowie den konversationellen Implikaturen umfassend deutlich gemacht, dass (scheinbare) Verstöße gegen die Maximen ein Indiz dafür sind, dass eine über das Gesagte hinausgehende Bedeutung vermittelt werden soll. Vergleichbares haben Fricke (1981), Dittgen (1989) und Fix (2008) für Abweichungen von sprachlichen und sprachbezogenen Normen und Traditionen auf der historischen Ebene der Einzelsprache und der individuellen Ebene der Diskurse festgestellt: intendierte bzw. poetische Abweichungen vermitteln eine kommunikative, funktionelle, semantische oder sonstige Zusatzbedeutung (cf. Dittgen 1989, 18) oder stellen Beziehungen her zwischen Textelementen oder zwischen dem Text und einem außertextuellen Sachverhalt (cf. Fricke 1981, 100). Auch Frames, die das prototypische Wissen organisieren, das konventionell mit bestimmten sprachlichen Ausdrücken verbunden ist, und Schemata, die vom Text selbst generiert werden und dann als Kontext bzw. Folie für die weiteren Ereignisse dienen (cf. Rath 2008, 138), können in Texten gebrochen oder unterlaufen werden. Diese Abweichungen verfolgen ebenfalls zusätzliche, implizit vermittelte Bedeutungen oder Effekte: das in Frage Stellen bestimmter gesellschaftlicher Normen bzw. Konventionen oder ein Spiel mit der Wahrnehmung der Rezipienten u.ä. (cf. ib., 141). Allen Typen von Abweichungen ist somit gemeinsam, dass sie Implizites anzeigen, das der Rezipient unter Rückgriff auf zusätzliches Wissen zu erschließen hat. Und das muss er im Fall von Textsorten- bzw. Gattungsbrüchen oder Frame-Brüchen außerdem leisten, ohne vom «kognitiven Entlastungsfaktor» profitieren zu können, der bei nicht abweichendem Gebrauch mit solchen «konventionell geltenden Mustern für komplexe sprachliche Handlungen» (Brinker 1985/2010, 125) bzw. «Muster[n] für Sinngebungen» (Oesterreicher 1997, 25) oder prototypischen Wissensrahmen verbunden ist. Diese Umstände belegen die durch sprachliche Abweichungen, Muster- und Schemabrüche bedingte Komplexität. Es muss bei der Beurteilung der Ausprägung von Komplexität, die aus Abweichungen resultiert, allerdings immer auch der Grad der Konventionalität bzw. Erwartbarkeit der jeweiligen Abweichung berücksichtigt werden: in contes fantastiques sind beispielsweise Verstöße gegen die Modalitätsmaxime hochgradig erwartbar und der Umgang damit durch das Gattungsprofil in Teilen geregelt; in diesem Fall dürfen die Verstöße gegen die Grice’schen Maximen also nicht als hochkomplex gewertet werden. Anstatt von Normen, Regeln, Konventionen, Mustern, Schemata, Frames etc. zu sprechen, die den Hintergrund für Abweichungen bilden, schlägt Fix (2008) (unter Verweis auf Dittgen 1989; Püschel 2000; Sandig 2006) den Rückgriff auf die Kategorie der Erwartung vor. In den Erwartungen des Rezipienten sei nämlich das Wissen über Sprachsystemregeln, über Normen sprachlichen

2.5 Komplexität: ein Modell für die linguistische Textanalyse

151

Handelns und prototypische Muster geronnen und somit bildeten nicht die Normen selbst den Hintergrund für Abweichungen, sondern Erwartungen als «verinnerlichtes Normen- und Musterwissen» (Fix 2008, 1302). Das ist aus Rezipientensicht sicherlich richtig. Im Rahmen der Korpusanalyse werden wir im Interesse einer möglichst exakten Beurteilung der Textkomplexität mit Hilfe unseres 14 Komplexitätskategorien umfassenden Analyserasters dennoch versuchen, die Normen, Traditionen und Frames zu identifizieren, von denen ein gegebener Text abweicht. Die Einschätzung von Fix (2008, 1301), wonach mit der kommunikativen Ausrichtung an Standards und Erwartungen das «richtige Verständnis» gesichert werde, mit Abweichungen von Erwartungen hingegen Individualität, Kreativität und ein besonderes Lesevergnügen verbunden seien, bestätigt jedenfalls erneut die Komplexität von Verstößen gegen etablierte Normen und den ihnen entsprechenden Erwartungen: «While the strict adherence to standards, on the one hand, ensures proper understanding, eases the reception process and serves the social and esthetic adjustment process, deviation may, on the other hand, increase perceptibility and receptive enjoyment and can take on an individual and creative character».

Faktor 2: Kontextabhängige/nicht-konventionelle IMPLIZITHEIT Texte, die gegen Normen des Sprechens, gegen Muster und Schemata oder kurz gegen Erwartungen verstoßen, weisen damit also deutliche Indizien für das Vorliegen einer über das Gesagte hinausgehenden Bedeutung auf, die zum Impliziten II nach Linke/Nussbaumer (2000a) zu zählen ist. Da die so titulierten impliziten Bedeutungsbestandteile sich dadurch auszeichnen, kontextsensitiv, verwendungsvariabel und nicht konventionell fest mit bestimmten Ausdrücken verknüpft zu sein (cf. ib., 441), charakterisieren wir sie im Folgenden als kontextabhängige und nicht-konventionelle IMPLIZITHEIT. Aber auch Texte, die keine offensichtlichen Erwartungsbrüche beinhalten, sondern vielmehr die 2. Untermaxime der Quantität (Mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig) und die 3. Untermaxime der Modalität (Sei kurz – Vermeide unnötige Weitschweifigkeit) konsequent umsetzen oder aber viel mit Evokationen und stilistischen Mitteln operieren, können – in Roelckes Worten – einen im Vergleich zu ihrer Intension geringen Grad an Extension aufweisen (cf. Roelcke 2002, 67) bzw. einen großen Teil ihres Sinns implizit vermitteln. In Texten mit einer hohen kontextabhängigen IMPLIZITHEIT werden Formen sprachlicher bzw. kommunikativer Indirektheit (Ironie, Fälle übertragener bzw. nicht-wörtlicher Bedeutung wie Metaphern, Metonymien, Hyperbeln etc.) auftreten sowie Andeutungen vorliegen, die sich beispielsweise aus scheinbar irrelevanten Äußerungen, Dunkelheit oder Ambiguität des Ausdrucks oder der Coseriu’schen

152

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Evokation ergeben. Des Weiteren werden Leerstellen und Aussparungen in zentralen Bereichen zu verzeichnen sein: der Motivierung und Bewertung des dargestellten Geschehens, den zentralen Handlungs- oder Argumentationsmustern etc. Und schließlich kann der vergleichsweise geringe Grad an Extension sich daraus ergeben, dass die zentralen Textthemen eben nicht durch eine quantitativ hohe Zahl von Fillern der entsprechenden Frames etabliert werden, sondern aus einigen wenigen Details inferiert werden müssen. Das Erschließen dieser Formen des Impliziten, das nicht konventionell fest mit bestimmten Zeichen verbunden ist, verlangt vom Rezipienten die Berücksichtigung der konventionellen Bedeutung der verwendeten Worte, des situationellen und sprachlichen Kontextes, der Grice’schen Maximen, außerdem die Hinzuziehung von weiterem verstehensstützendem Wissen und auf der Basis all dieser Daten den Vollzug eines aktiven, mitunter mehrstufigen Schlussprozesses. Der Rezipient muss also das nötige Hintergrundwissen invozieren, er muss konversationelle Implikaturen nachvollziehen und somit ein hohes Maß an Kompetenz und Konzentration in den Verstehens- und Interpretationsprozess einbringen. Faktor 3: WISSEN Intendierte bzw. funktionale Abweichungen von sprachlichen und sprachbezogenen Normen, Diskurstraditionen oder prototypischen Wissensrahmen und das Inferieren der damit verbundenen impliziten Zusatzbedeutungen stellen grundsätzlich auch hohe Anforderungen an das Wissen der Rezipienten. ABWEICHUNGEN und eine hohe kontextabhängige/nicht-konventionelle IMPLIZITHEIT sind aber nicht die einzigen Gründe für ein starkes Gewicht des 3. Komplexitätsfaktors. Denn selbst wenn ein Text sich zweifelsfrei einer bestimmten Textgattung zuordnen lässt, seine Makro- und Mikrostruktur, die geleisteten Sprechakte und seine Funktion entsprechend der gattungstypischen Vorgaben geformt bzw. beeinflusst wurden, muss der Rezipient diese Diskurstraditionen aber auch beherrschen, um von ihrer sinnbildenden und entlastenden Funktion profitieren zu können. Auch auf semantisch-inhaltlicher Ebene sind das Unterlaufen von Frames oder das Abweichen von mit Frames verbundenen Erwartungen nicht der einzige Grund für hohe Anforderungen an das lebensweltliche Wissen der Rezipienten. Wenn ein Leser nämlich nicht über das Frame-Wissen verfügt, das konventionell mit den im Text verwendeten Lexemen verbunden ist, kann er die entsprechenden Wissensrahmen natürlich auch nicht aktivieren, gelingen Kontextualisierungen und Inferenzen auf deren Basis nicht und kann die Bedeutungskonstruktion scheitern. In Anlehnung an Coseriu (1988) und Aschenberg (1999) betrachten wir elokutionelles, einzelsprachliches und diskurstraditionelles Wissen sowie lebensweltliches bzw. enzyklopädisches Wissen als unerlässlich für die Produktion und

153

2.5 Komplexität: ein Modell für die linguistische Textanalyse

Rezeption von Texten. Neben Normabweichungen in den genannten Bereichen müssen jeweils die Qualität, Tiefe, Ausdifferenzierung und «Verfügbarkeitswahrscheinlichkeit» der verstehensrelevanten Wissensaspekte eingeschätzt werden, um die Wirkung des Faktors WISSEN auf die Komplexität eines Textes zu beurteilen. Auf der Ebene des einzelsprachlichen Wissens stellen sich beispielsweise seltene Elemente und Strukturen als komplexer dar als geläufige bzw. der langue courante zugehörige, und im Bereich des lebensweltlichen Wissens ist v. a. die Opposition Alltags- und Allgemeinwissen versus Expertenwissen für die Bewertung der Komplexität ausschlaggebend.

2.5.2 Komplexitätskategorien Die vorausgegangenen Überlegungen zu den Diskurstraditionen, in denen ein konkreter Text notwendigerweise steht, zur Übersummativität der Textbedeutung und der daraus resultierenden sinnkonstituierenden Funktion der Kontexte, die Ausführungen zum frame-gestützten Textverstehen und zur Bedeutung der Grice’schen Maximen für das Funktionieren von Kommunikation haben 14 semantische und diskurstraditionelle Komplexitätskategorien motiviert, die das folgende Raster für die Korpusanalyse bilden:

Tab. 15: Die 14 Komplexitätskategorien.

Komplexitätsmerkmale:

Komplexität in Bezug auf die Dimensionen . . .

Komplexitätsmerkmal bzw. -kategorie:

Abk.:

Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen

FB

Leerstellen/Aussparungen

L

Andeutungen/Evokationen

A

Umgang mit den Grice’schen Maximen

M

suppletive Kontextbildung

SK

Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen

FT

Kohäsion & lokale Kohärenz

KK

Wortsemantik

W

Satzsemantik

S

154

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Tab. 15 (fortgesetzt )

Anforderungen an das . . .

Aufwand der . . .

Komplexitätsmerkmal bzw. -kategorie:

Abk.:

elokutionelle Wissen der Rezipienten

EW

einzelsprachliche (idiomatische) Wissen der Rezipienten

IW

diskurstraditionelle Wissen der Rezipienten

DW

lebensweltliche Wissen der Rezipienten

LW

Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene

.E

Um wirkliche Komplexitätsmerkmale, deren Vorhandensein automatisch zu einer (mehr oder weniger stark) erhöhten semantischen Komplexität führt, handelt es sich lediglich bei den drei erstgenannten Aspekten: Gattungs- bzw. Framebrüche oder Gattungsmischungen, Leerstellen/Aussparungen und Andeutungen/ Evokationen. Die elf weiteren Komplexitätskategorien basieren auf zentralen bedeutungskonstituierenden Textelementen und Umfeldern sowie diskurstraditionellen Beschreibungsebenen, die für jeden (literarischen) Text relevant sind, und bezüglich derer die jeweilige Ausprägung von Komplexität festzustellen ist. In Bezug auf die vier notwendigen Wissenskategorien, die das Sprachund Textverstehen verlangt, manifestiert sich die Komplexität eines gegebenen Textes als Anforderung, die er an das elokutionelle, einzelsprachliche, diskurstraditionelle und lebensweltliche Wissen seiner Rezipienten stellt. Schließlich fassen wir die Komplexität der nötigen Analysen inhaltlicher und stilistischer Aspekte, die Komplexität des Herstellens von Bezügen, der Anreicherung mit verstehensrelevantem Wissen und der Integration all dieser Aspekte zum Sinn eines Textes in den Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene. Betrachtet man diese Komplexitätskategorien vor dem Hintergrund der zu Beginn dieses Kapitels vorgestellten drei «großen» Komplexitätsfaktoren, mag es irritieren, dass das WISSEN in unserem Komplexitätsmodell als Faktor (und Meta-Faktor) und vierfache Kategorie der Komplexität (Anforderungen an das elokutionelle, einzelsprachliche, diskurstraditionelle und lebensweltliche Wissen der Rezipienten) in Erscheinung tritt. Diese Lösung ist zweifelsohne nicht optimal, aber begründbar und im Kontext des hier gewählten Zugangs zur Textkomplexität auch alternativlos. Die Wissenskategorien werden benötigt, weil sie als Umfelder ebenso wie z.B. «Evokationen», «Leerstellen» oder die

2.5 Komplexität: ein Modell für die linguistische Textanalyse

155

«suppletive Kontextbildung» die Textsemantik bilden und ihr Komplexitätswert entscheidend zur Gesamtkomplexität eines Textes beiträgt. Außerdem ist es äußerst aufschlussreich zu wissen (insbesondere im Kontext von Lernen und Lehren), welche Wissenskategorie durch einen Text besonders gefordert wird. Auf den Komplexitätsfaktor WISSEN kann aber ebenso wenig verzichtet werden, weil dieser den Komplexitätswert von Kategorien wie «Evokationen» oder «Leerstellen» oder «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» entscheidend beeinflusst und tatsächlich den Rang eines Metafaktors hat, ohne den ABWEICHUNGEN (Komplexitätsfaktor 1) oder kontextabhängige IMPLIZITHEIT (Komplexitätsfaktor 2) weder erkannt noch interpretiert werden können. Diese Gegebenheiten führen somit zu der «Doppelrolle» des Wissens als Komplexitätsfaktor und -kategorie. Im Folgenden sollen nochmals alle 14 aufgeführten Komplexitätsmerkmale und -kategorien kurz erläutert werden, um Klarheit zu schaffen, welche sprachlichen Phänomene unter ihrem Namen auf Komplexität hin untersucht werden. In diesem Rahmen müssen auch notwendige Überlegungen zu den offensichtlich nötigen, bislang aber nur erwähnten oder kurz thematisierten Kategorien «Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik» und vor allem «Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik» ergänzt werden. Vorab soll aber auf unvermeidliche Probleme bei Kategorisierungen hingewiesen werden, die sich in unserem Kontext darin äußern, dass die 14 Komplexitätskategorien mit Sicherheit nicht absolut trennscharf sind, dies aber auch in gewisser Hinsicht nicht sein sollen oder können. Wenn beispielsweise eine bestimmte literarische Textgattung sich durch die konsequente Verletzung der Maxime der perspicuitas auszeichnet, wird die Kategorie «Umgang mit den Grice’schen Maximen» einen hohen Komplexitätswert erhalten. Diese Diskurstradition manifestiert sich nun mittelbar im vorliegenden Text und formt bzw. beeinflusst bestimmte semantische Merkmale: so könnten etwa auf der Ebene der Wortsemantik Homonyme, Polyseme oder Vagheiten vorhanden sein, die kontextuell nicht zu disambiguieren oder zu konkretisieren sind, was zu einem hohen Komplexitätswert in Bezug auf die Wortsemantik führt. Die suppletive Kontextbildung, die sich vielleicht im Wesentlichen auf die erwähnten Lexeme und die durch sie evozierten Frames stützt, wird dann ebenfalls uneindeutig, ambig und somit hochkomplex ausfallen. Auch könnten die Vagheiten und Ambiguitäten auf wortsemantischer Ebene dazu führen, dass zunächst bestimmte Frames aktiviert und entsprechende Erwartungen aufgebaut werden, die sich in der Folge als falsch herausstellen, so dass sich das eigentliche Textthema erst am Ende der Lektüre erschließt. Damit erhielte auch die Kategorie «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» einen hohen Komplexitätswert. Und schließlich stellt die Auflösung (wenn sie überhaupt möglich ist)

156

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

oder zumindest die Deutung dieser so erzeugten Ambiguität mit Sicherheit auch hohe Anforderungen an das elokutionelle, einzelsprachliche und lebensweltliche Wissen der Rezipienten und auch der «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» wird sehr wahrscheinlich insgesamt hoch sein. Somit beeinflussen sich natürlich die hohen Komplexitätsgrade in Bezug auf die genannten Dimensionen und weisen letztlich mindestens acht von 14 Kategorien hohe Werte auf, was die globale Komplexität eines ambigen Textes aber auch treffend widerspiegelt. Und so wie die Diskurstraditionen die semantischen Merkmale beeinflussen und die semantischen Ebenen und Merkmale sich wiederum gegenseitig beeinflussen – logische Folgen aus der Übersummativität der Textbedeutung –, so müssen sich natürlich auch hohe Komplexitätswerte in Bezug auf diese interagierenden Merkmale und Bereiche beeinflussen können. Solche dargestellten Wechselwirkungen hinsichtlich der Komplexität einzelner Dimensionen sollen im Rahmen der Korpusanalyse ja unter anderem untersucht werden, was nicht möglich wäre, wenn das Analyseraster nur Kategorien enthielte, die völlig unabhängig voneinander wären. Des Weiteren soll ein komplexitätssteigerndes Moment wie eine auffällig gering ausgeprägte Junktion, die sowohl auf der Ebene der «Satzsemantik» als auch in Bezug auf «Kohäsion & lokale Kohärenz» wirkt, auch hinsichtlich beider Kategorien zu einer Erhöhung der Komplexitätswerte führen dürfen. Das weite Feld der Textkohärenz wurde in vier Kategorien, nämlich «Kohäsion & lokale Kohärenz», «Leerstellen/Aussparungen», «suppletive Kontextbildung» sowie «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» differenziert, um den Blick auf mögliche Wechselwirkungen zwischen diesen Merkmalen und Kategorien nicht zu verstellen und um feinere bzw. aussagekräftigere Komplexitätsprofile einzelner Texte erstellen zu können. Da die genannten Kategorien (abgesehen von bestimmten Aspekten der Kohäsion) und zusätzlich die Kategorie «Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik» stark über das Modell des Frames definiert und analysiert werden, wäre allerdings auch eine Metakategorie «Instantiierung von Frames und Textkohärenz» sinnvoll. Diese hätte den Vorteil, die unvermeidbaren Unschärfen bei Kategorisierungen – insbesondere beim Umgang mit übersummativen Größen wie Texten – etwas zu reduzieren und vielleicht auch einige Redundanzen bei Text- und Komplexitätsanalysen zu vermeiden. Ihr Nachteil bestünde aber eben darin, den Blick auf aufschlussreiche Wechselwirkungen und Komplexitätsmuster in bestimmten Gattungen zu verschließen, weshalb in dieser Arbeit die Entscheidung für eine etwas stärker differenzierte Kategorisierung getroffen wurde, auch wenn dadurch mitunter Abgrenzungen zwischen den einzelnen Kategorien (noch) schwieriger werden. Kommen wir nun zur angekündigten detaillierten Erläuterung der 14 Komplexitätskategorien in der oben angegebenen Art und Reihenfolge:

2.5 Komplexität: ein Modell für die linguistische Textanalyse

157

Das an erster Stelle aufgeführte Komplexitätsmerkmal «Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen» kommt zum Tragen bei Texten, die auf semantisch-inhaltlicher Ebene Frames insofern brechen, als sie zunächst die Evokation eines bestimmten Schemas nahelegen, in der Folge durch passende Filler scheinbar bestätigen, dann aber so unterlaufen, dass der Rezipient keinen (präexistenten) passenden Frame findet, der die gegebenen Textinformationen sinnvoll verbindet. Ein Gattungsbruch ist ein analoges Phänomen auf diskurstraditioneller Ebene: der betreffende Text hat «Züge eines Textmusters und darüber hinaus Eigenschaften, die sich keinem Muster zuordnen lassen» (Fix 2008, 1312). Und im Fall der Gattungsmischung finden sich im entsprechenden Text prototypische Eigenschaften bzw. Muster mehrerer Textsorten, wobei aber die Identität der eigentlichen Textsorte dennoch klar erkennbar bleibt (cf. Fix 2008, 1312; Gansel/Jürgens 2009, 110). Mit dem zweiten echten Komplexitätsmerkmal «Leerstellen/Aussparungen» sind Leerstellen von globaler Auswirkung auf den Textsinn gemeint, die also in Bezug auf das zentrale Erzähl- oder Handlungsschema, in Bezug auf die Motivierung oder Bewertung des Geschehens festzustellen sind und die den Leser zu bewussten und wissensbasierten Inferenzen geradezu zwingen. Frame-semantisch verstandene Leerstellen im Sinne von Slots, die im konkreten Text nicht durch Filler spezifiziert werden, können aber natürlich auch die Komplexitätswerte weiterer Kategorien erhöhen: suppletive Kontextbildung, Kohäsion & lokale Kohärenz, Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen sowie Satzsemantik. Das dritte Komplexitätsmerkmal «Andeutungen/Evokationen» liegt vor, wenn ein Text die von Coseriu (1980) als Evokation titulierten Zeichenrelationen aufweist – also z.B. Formen von Intertextualität wie wiederholte Rede oder «geflügelte Worte», implizite Charakterisierungen durch «bildungsdurchsichtige» Namensgebungen oder Nachahmungen beschriebener Personen, Sachverhalte oder Ereignisse durch die Substanz der dafür verwendeten Zeichen (cf. Coseriu 1980/2007, 92ss.). Aber auch flächige Beugungen, Verletzungen oder Umdeutungen der Grice’schen Maximen können «Anspielungspotential» haben, das dann den Komplexitätswert dieser Kategorie in die Höhe treibt. Dabei könnte es sich um auffällige Weitschweifigkeit handeln, die einzelne Textsegmente dominiert, gezielte Verstöße gegen die Quantitätsmaxime oder Dunkelheit des Ausdrucks hinsichtlich bestimmter Figuren, Motive oder Ereignisse. Und schließlich fallen auch stilistische Erscheinungen, die sich flächig manifestieren und ähnlich wie die von Gardt (2008a, 1205ss.) analysierte Denkfigur von «Offenheit und Dynamik» in den Texten Roger Buergels erst durch Bezüge und Wechselwirkungen zwischen mehreren Textmerkmalen und -ebenen entstehen (z.B. Lexik, Argumentationsmuster,

158

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Besonderheiten in Bezug auf die Syntax), unter die Kategorie «Andeutungen/ Evokationen». Im Rahmen der Kategorie «Umgang mit den Grice’schen Maximen» ist zu entscheiden, wie die Diskurstraditionen, die die Gestaltung des konkreten Textes anleiten (also an erster Stelle die Textgattung, weiterhin narrative Techniken, die zum Einsatz kommen etc.), die Maximen, mit denen sie verknüpft werden können, umsetzen: ob sie sie beugen, umdeuten oder bewusst brechen (cf. Schrott 2015, 94). Unter dem Etikett «suppletive Kontextbildung» wird die Art der verbalen Restitution der zentralen Situationsparameter Ort, Zeit und Personen untersucht und auf ihre Komplexität hin bewertet, die sich daraus ergibt, wie explizit, eindeutig und unmittelbar sie die Orientierung des Lesers im fiktionalen Universum leistet. Die Komplexitätskategorie «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» betrifft ebenso wie «Leerstellen/Aussparungen» und «Komplexität in Bezug auf die suppletive Kontextbildung» die globale Kohärenz eines Textes. In Bezug auf die erstgenannte Kategorie wird z.B. untersucht, ob die Textthemen durch zahlreiche und zentrale Filler der entsprechenden Frames oder FrameSysteme angezeigt werden, oder ob die Themenetablierung sehr viel reduzierter und subtiler ausfällt, und ob es zu Erwartungsbrüchen in Bezug auf die FrameInstantiierung kommt. Unter die vierte Kohärenz-Kategorie «Kohäsion & lokale Kohärenz» fallen Phänomene wie Koreferenz, intra- und interpropositionale logische, thematische und konzeptionelle Relationen sowie generell die außersprachliche Verbundenheit zwischen den im Text nacheinander thematisierten Ereignissen und Sachverhalten (cf. Stark 2001, 637s.). In Hinblick auf die Komplexität in diesem Bereich geht es darum zu untersuchen, ob bzw. wie diese lokalen semantisch-inhaltlichen Zusammenhänge auf der sprachlichen Oberfläche durch kohäsionsvermittelnde Merkmale expliziert oder angezeigt werden. Zentrale kohäsive Mittel sind Konnektoren, die «explizit eine inhaltliche Beziehung zwischen Teilen des Textes herstellen» (Adamzik 2001/2010, 299) wie z.B. parce que, à cause de, bien que, cependant. Weitere kohäsionsvermittelnde Merkmale sind Pronominalisierung und Artikelselektion als Indizien für Referenzrekurrenzen, lexikalische Rekurrenzen, phonologische Rekurrenzen (Reim, Assonanz . . . ), Tempora (Tempuskonstanz vs. Tempuswechsel), metatextuelle, speziell textdeixische Verweisformen (siehe oben, wie im letzten Kapitel angemerkt) und Textgliederungsmittel wie Interpunktion und Paragraphen (cf. Stark 2001, 641s.). Eine hohe Frequenz und inhaltliche Verlässlichkeit solcher «Kohärenzindikatoren» würden also den Komplexitätswert in Bezug auf die Dimension «Kohäsion & lokale Kohärenz» reduzieren.

2.5 Komplexität: ein Modell für die linguistische Textanalyse

159

Bei der Bewertung der «Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik» müssen zunächst alle intendierten Abweichungen von phonologischen und morphologischen Regeln und Normen berücksichtigt werden. Weiterhin geht es darum, bezüglich der Wahl von Lexemen, die zwar den einzelsprachlichen Normen vollends entsprechen, Verstöße gegen die Grice’schen Maximen und Abweichungen vom Kotext bzw. Textstil zu identifizieren, die auf eine implizite Bedeutung oder Wertung hinweisen, die vom Rezipienten unter Hinzuziehung von weiterem Sprach- oder Weltwissen aktiv erschlossen werden muss. Kontextabhängige/nicht-konventionelle IMPLIZITHEIT auf wortsemantischer Ebene kann also zum einen aus Verstößen gegen einzelsprachliche Regeln und Normen resultieren, die die Ebene des signifiant, also den Zeichenkörper, betreffen und neue Bedeutungen oder Effekte kreieren. In der Rhetorik werden solche beabsichtigten Abweichungen «von der phonologischen oder morphologischen Wortform» als Metaplasmen bezeichnet (cf. Bußmann 2008, 435). Sie entstehen durch «[. . .] suppression, addition, répétition, permutation ou substitution de phonèmes (ou de lettres à l’écrit)» (Peyroutet 2002, 24) – Verfahren, die im Folgenden an einigen Beispielen illustriert werden sollen:

Tab. 16: Beispiele für Metaplasmen. Art der Abweichung

Beispiel

Tilgung (suppression)

les intellectuels → les intellos, Madame → Mame (cf. Peyroutet , )

Hinzufügung (addition)

Christian Morgenstern: Lieb ohne Worte [. . .] Ich bin deinst, als ob einst, wir vereinigst. [. . .] Abweichende Hinzufügung des Superlativ-Morphems «st» an Pronomen und Verben (cf. Fricke , )

Permutation bzw. Inversion

zentrales Bildungsprinzip des Verlan: [à] l’envers → verlan, pourri → ripou, laisse tomber → laisse béton, bizarre → zarbi etc.

Substitution

Bonjour monsieur → Boujou missié (Imitation des afrikanischen Akzents) (cf. Peyroutet , )

Diese Abweichungen werden vom Rezipienten sicherlich sofort als solche erkannt, die mit ihnen verbundene Zusatzbedeutung oder Wirkungsabsicht muss aber aktiv konstruiert werden. Wenn der Grad der Abweichung zudem so hoch ist, dass das Ausgangswort kaum noch zu identifizieren ist, oder gänzlich neue Zeichenkörper

160

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

kreiert werden und der Kontext kaum Hinweise zu ihrer Bedeutung liefert, kann die Interpretation dieser Abweichungen zweifelsohne höchste Anforderungen an die Kompetenz, Konzentration und Kreativität der Rezipienten stellen. Weiterhin kommt es auf der Ebene der Wortsemantik häufig durch nichtwörtlichen, übertragenen oder indirekten Sprachgebrauch zur Erhöhung der Komplexität. Dieser Gebrauch kann sich dadurch manifestieren, dass in wörtlicher Lesart ein Verstoß gegen die allgemeine Kenntnis der Sachen, vielleicht gar gegen Gesetze der Logik oder gegen semantische «Selektionsbeschränkungen» (cf. Skirl/Schwarz-Friesel 2013, 52) vorliegt. Skirl/Schwarz-Friesel (2013, 53s.) betonen aber, dass derartige Abweichungen keine notwendige Voraussetzung für nicht-wörtlichen Sprachgebrauch seien, sondern dessen Identifikation ganz entscheidend vom sprachlichen Kontext abhänge. Deshalb ist es wohl am einfachsten und eindeutigsten, indirekten bzw. übertragenen Sprachgebrauch gemäß Grice (1989a) als (scheinbaren) Verstoß gegen die Relevanzmaxime oder gegen die 1. Untermaxime der Qualität (Sage nichts, was du für falsch hältst) zu analysieren und über eine konversationelle Implikatur zu erschließen. Die Rhetorik subsumiert «Wörter mit ‹übertragener› Bedeutung, die sich als variierender Ersatz des normalen, ‹eigentlichen› Wortes auffassen lassen», unter dem Sammelbegriff Tropus (cf. Bußmann 2008, 753). Zu den bekanntesten und häufigsten Tropen gehören wohl an erster Stelle die Metapher, weiterhin die Metonymie, die Synekdoche als Unterform der Metonymie, Euphemismus, Hyperbel, Periphrase und Litotes. Allerdings kann nicht jeder Tropus als Indiz für eine erhöhte Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik gewertet werden. Nicht-wörtlicher oder übertragener Sprachgebrauch kann nach der in dieser Arbeit entwickelten Definition von semantischer Komplexität nur dann als komplex gelten, wenn die eigentlich gemeinte Bedeutung zur nicht-konventionellen IMPLIZITHEIT zu zählen ist, weil sie kontext- und sprecherabhängig ist und aktive, wissensbasierte Inferenzen vom Rezipienten verlangt. Folglich erhöhen beispielsweise lexikalisierte Metaphern oder Metonymien, die zur konventionellen Sprachverwendung gehören und bereits im Lexikon der Sprache gespeichert sind (cf. Skirl/SchwarzFriesel 2013, 28), die Komplexität auf wortsemantischer Ebene keineswegs. Die folgende Tabelle enthält einige Beispiele für solche lexikalisierten bzw. konventionellen Fälle übertragenen Sprachgebrauchs, deren metaphorische oder metonymische Motivierung den Angehörigen einer Sprachgemeinschaft häufig gar nicht mehr bewusst ist (cf. ib., 29):

2.5 Komplexität: ein Modell für die linguistische Textanalyse

161

Tab. 17: Beispiele für lexikalisierte Metaphern und Metonymien. Metaphorische Bezeichnung, durch die eine lexikalische Lücke gefüllt wurde (Katachrese)

Metaphorisch motivierte Bedeutungsvarianten eines Lexems

Lexikalisierte Metonymien

le pied de table, le pied de chaise, le bras de fleuve, le lit de rivière, le dos d’un livre Tischbein, Stuhlbein, Flussarm, Flussbett, Buchrücken, Flaschenhals, Kotflügel, Motorhaube, Salatkopf –

– –

Flügel (Tragfläche eines Flugzeugs; seitlicher Teil eines Gebäudes, eines Altars oder eines Fensters; Tasteninstrument; Gruppierung innerhalb einer politischen Partei . . . ) Maus (Computereingabegerät) lexikalisierte metaphorische Charakterisierungen des Konzepts VERSTEHEN: einsehen, Einsicht, erkennen, durchschauen, durchblicken, überblicken, anschaulich etc. (cf. ib., 35–37)

– –

boire un verre, boire un pot, un verre de rouge la droite (POL Rechte)

Auch in hohem Maße konventionalisierte Metonymien, die auf so gängigen Substitutionstypen beruhen wie «Autor-Werk» (lire du Flaubert), «MaterialProdukt» (Seide tragen), «Ort-Bewohner» (Deutschland jubelt) (cf. Bußmann 2008, 437) oder «Sitz-Institution» (La Maison Blanche, le Quai d’Orsay, Matignon), ebenso wie hoch frequente «klischeehafte Metaphern» wie z.B. das Feuer der Liebe (cf. Skirl/Schwarz-Friesel 2013, 29) werden den Komplexitätsgrad auf wortsemantischer Ebene kaum erhöhen. Der Grad der Konventionalität muss also bei der Bewertung der Komplexität von Fällen nicht-wörtlichen oder übertragenen Sprachgebrauchs eine Rolle spielen – ein Faktor, der in Kapitel 2.4.3 bei der Untersuchung verschiedener Ausprägungen des Impliziten in Bezug auf ihre Komplexität ja bereits zum Tragen kam. Der komplexe Fall nicht-wörtlichen Sprachgebrauchs auf der Ebene der Wortsemantik soll an dieser Stelle ebenfalls am Beispiel der Metapher kurz erläutert werden. Den lexikalisierten, konventionellen oder klischeehaften Metaphern stellen Skirl/Schwarz-Friesel (2013, 30s.) die kreativen sowie die innovativen Metaphern gegenüber. Erstere verweisen zwar auf bekannte konzeptuelle Kombinationen (z.B. GELD ALS WASSER), die sich in lexikalisierten Metaphern wiederfinden (z.B. Geldquelle), erweitern diese aber oder benennen sie mit unkonventionellen Mitteln (z.B. Geldbächlein). Innovative Metaphern hingegen lassen sich nicht auf bereits bekannte Konzeptualisierungen zurückführen, sondern etablieren neue Konzeptkopplungen (z.B. Das Fett ist sein erster Sarg. [Jean Paul, Ideen-Gewimmel, 96]).

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Im Fall von kreativen und insbesondere innovativen Metaphern muss der Rezipient die Analogiebeziehung zwischen dem Gegenstand, der durch die lexikalische Bedeutung eines Ausdrucks erfasst wird, und dem Gegenstand, auf den sich dieser Ausdruck bei metaphorischer Verwendung bezieht (cf. ib., 4), unter Berücksichtigung des Kontextes und unter Hinzuziehung von Hintergrundwissen aktiv konstruieren: «Beim Verstehen von metaphorischen Äußerungen der Art X ist ein Y etablieren die Rezipienten eine spezifische Relation zwischen Konzept1 (dem Zielbereich, bezeichnet durch X) und Konzept2 (dem Ursprungsbereich, bezeichnet durch Y). Die Relation der Konzepte wird im Normalfall als KONZEPT1 ist WIE KONZEPT2 BEZÜGLICH DER MERKMALE [. . .] Z gedeutet» (ib., 57).

Wenn der Kontext keine Hinweise zum Verständnis einer kreativen oder innovativen Metapher liefert, muss der Rezipient also tatsächlich häufig umfangreiches elokutionelles und einzelsprachliches Wissen sowie Frame-Wissen zu den gekoppelten Konzepten 1 und 2 aktivieren, um die ähnlichen Merkmale zwischen beiden zu entdecken und so die implizite Charakterisierung des Konzepts 1 zu erfassen. Aus diesen Gründen sind also kreative, innovative oder spontane Metaphern/Tropen als komplex zu bewerten, lexikalisierte oder hoch konventionalisierte Fälle von nicht-wörtlichem oder indirektem Sprachgebrauch jedoch nicht. Des Weiteren können Polysemie, Homonymie und semantische Vagheit auf der Ebene der Lexik unter Umständen Quelle von Komplexität sein. Polysemie liegt vor, wenn «ein Ausdruck mehrere Bedeutungen aufweist, denen ein gemeinsamer Bedeutungskern zugrunde liegt» (z.B. die Lesarten von Schule als Institution, Gebäude und Unterricht). Häufig sind es gerade metaphorische oder metonymische Prozesse, durch die zusätzliche Bedeutungsvarianten eines Lexems entstehen (cf. Bußmann 2008, 538s.). Ein einziger Blick in ein Wörterbuch der französischen (und ebenso der deutschen) Sprache genügt um festzustellen, dass Polysemie eher die Regel als die Ausnahme ist. Und somit gilt für Polyseme, Homonyme und semantisch vage Ausdrücke das, was bereits in Kapitel 2.2.1 im Rahmen der Übersummativität der Textbedeutung konstatiert wurde: dass die konkrete Wortbedeutung nur im Textzusammenhang bestimmt werden kann und dass Wort- und Textbedeutung sich wechselseitig stützen müssen (cf. Busse 1992, 64; 99). Komplexität kann sich im Zusammenhang mit Polysemie, Homonymie und semantischer Vagheit aber natürlich dann ergeben, wenn der sprachliche Kontext nicht genügend Information enthält, um die entsprechenden Lexeme zu disambiguieren oder zu konkretisieren, und es über längere Textpassagen oder womöglich den gesamten Text hinweg nicht klar ist, welches die «richtige» Lesart der jeweiligen Ausdrücke ist.

2.5 Komplexität: ein Modell für die linguistische Textanalyse

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Gerade in Bezug auf die Wortsemantik können sich natürlich auch stilistische Elemente komplexitätssteigernd auswirken, wenn sie nicht nur das explizit Gesagte auf formaler Ebene widerspiegeln, sondern eine implizite Zusatzbedeutung vermitteln. In diesem Kontext sind erneut Frame-Systeme (KongruenzNetzwerke, assoziative Netzwerke, cf. 2.3.2.3), die man in Abhängigkeit von der Art und Zahl der Ähnlichkeit-stiftenden Slots auch als Wortfelder, semantische Felder oder Isotopien deuten kann, von großem Interesse. So können beispielsweise kontrastierende Frame-Systeme, die die Beschreibung bestimmter Figuren dominieren, große Bedeutung für deren Charakterisierung oder Bewertung haben und somit entscheidende Aspekte zum Textsinn beitragen. Ein weitgehender Verzicht auf ausschmückende Adjektive und Adverbien kann ebenfalls bedeutungsrelevant sein und implizite Hinweise zur Haltung und Intention des Erzählers oder der Autorinstanz liefern. Und natürlich sind auch Abweichungen vom Textstil, zum Beispiel Abweichungen vom dominierenden sprachlichen Register bzw. der dominierenden Varietät der Erzählerrede (z.B. Wörter und Ausdrücke des français familier oder populaire oder des Verlan in ansonsten standardfranzösischen erzählenden Passagen) bedeutungsrelevant und die damit verbundene implizite Bewertung, Kontrastierung oder Anspielung vom Rezipienten zu inferieren. Schließlich kann die Komplexität auf wortsemantischer Ebene durch die Verwendung von Lexemen erhöht werden, die überdurchschnittlich hohe Anforderungen an das einzelsprachliche oder lebensweltliche Wissen der Rezipienten stellen. Eine plausible Möglichkeit, erhöhte Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen zu identifizieren, stellt der Bezug auf einschlägige Grund- und Aufbauwortschätze einer historischen Einzelsprache dar und damit das Kriterium der Geläufigkeit bzw. Häufigkeit der jeweils verwendeten Lexeme. Kirsten Adamzik (2001/2010, 137) weist darauf hin, dass der Klett-Verlag seinen entsprechenden Produkten Übersichten darüber beifüge, wie viel Prozent eines «Normaltextes»30 mit der Kenntnis der häufigsten Wörter erfasst werden können. Demnach könnten für das Deutsche mit einem Grundwortschatz von 2000 Wörtern 85% eines «Normaltextes» erfasst werden, unter Hinzuziehung des weitere 2500 Lexeme umfassenden Aufbauwortschatzes gar 95%. Vergleichbare Angaben liegen dem Thematischen Grund- und Aufbauwortschatz Französisch des Klett-Verlages,31 der immerhin 13.000 Einträge umfasst, zwar nicht bei, es ist aber anzunehmen, dass ähnliche Verhältnisse für französischsprachige Texte gelten und dass die

30 Gemäß Adamzik (2001/2010, 136) ist die Kategorie «Normaltext» ein Konstrukt, allerdings ein durchaus nützliches. 31 Fischer, Wolfgang/Le Plouhinec, Anne-Marie, Thematischer Grund- und Aufbauwortschatz Französisch, Stuttgart, Ernst Klett Sprachen, 32012 (2000).

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Häufigkeit von Lexemen, die über die verzeichneten 13.000 Einträge hinausgehen, gering ist und deren Kenntnis somit bereits erhöhte Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen der Rezipienten stellt. Ausgangspunkt für die Erstellung von Grund- und Aufbauwortschätzen des Französischen ist die nicht markierte Gegenwartssprache, die sogenannte langue courante, wobei bei besonders geläufigen oder aktuellen Begriffen auch das français familier oder populaire miteinbezogen wird (cf. Fischer/Le Plouhinec 2000/2012, 9). Folglich können varietätenbedingte Abweichungen von der langue courante auf lexikalischer Ebene – also Regionalismen, Vulgarismen, Fachwörter und Fremdwörter, weiterhin Archaismen, Historizismen und ebenso Neologismen im «Normaltext» als selten und somit als wortsemantisch komplex betrachtet werden. Diese Einschätzung wird auch durch die Reflexionen Coserius (1988/2007) zum Umfang des einzelsprachlichen Wissens untermauert, die in die Einsicht münden, dass den Sprechern einer historischen Einzelsprache einige ihrer Varietäten gänzlich oder teilweise unbekannt sein können und dass die Varietäten zudem große Schwierigkeiten beim Erlernen von Fremdsprachen aufwerfen: «Einerseits gibt es mit Sicherheit innerhalb einer komplexen Sprache auch funktionelle Sprachen, die nicht alle Sprecher dieser Sprache kennen. Manche Mundarten könnten im ganzen den Sprechern anderer Mundarten unbekannt sein. Das gleiche gilt für die Sprachniveaus [. . .]» (Coseriu 1988/2007, 154). «Die Varietäten bringen nicht nur Beschreibungsprobleme mit sich, sondern bilden auch die allergrößte Schwierigkeit bei der tatsächlichen Erlernung von Fremdsprachen. Man lernt immer eine bestimmte Form der Sprache, und es ist durchaus nicht ausgeschlossen, daß man sie vollkommen lernt. Man lernt aber eben nicht die tatsächliche einzelsprachliche Kompetenz eines normalen Sprechers der anderen Sprache, der gerade nicht nur diese Sprache – vielleicht auch weniger vollkommen als wir – beherrscht, sondern auch Teile anderer Sprachsysteme innerhalb seiner historischen Sprache kennt» (ib., 158).

Lexeme, die potentiell hohe Anforderungen an das lebensweltliche Wissen der Rezipienten stellen, sind zum einen Eigennamen, die (historische) Personen, Orte und Institutionen der außertextuellen Realität bezeichnen. Aber auch Ausdrücke, die mitunter sogar im Grund- und Aufbauwortschatz enthalten sind, können semantisch komplex sein, wenn sie umfangreichste Frames bzw. FrameSysteme evozieren. Dabei handelt es sich häufig um die Bezeichnung von Konzepten aus dem politisch-gesellschaftlichen oder religiösen Bereich – z.B. la mondialisation, l’égalité, la patrie, le pacifisme, la croix, la liberté, la démocratie –, die nicht selten als Schlagwörter32 gebraucht werden. Da solche Schlagwörter

32 Als Schlagwort bezeichnet man «einen Ausdruck, der zu einer bestimmten Zeit besondere Aktualität gewinnt und mit dem ein Programm oder eine Zielvorstellung öffentlich propagiert

2.5 Komplexität: ein Modell für die linguistische Textanalyse

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zudem von bestimmten Gruppierungen als Fahnenwort, von anderen als Stigmawort verwendet werden können (man denke z. B. an das Wort Energiewende in der aktuellen Diskussion in Deutschland, cf. Niehr 2014, 73) und die Bewertung bestimmter Schlagwörter als Stigma-, Fahnen-, Hochwert- oder Unwertwort33 zudem nur «vor einem spezifischen historisch-politischen Hintergrund vorzunehmen ist» (ib., 74), setzt die adäquate Deutung solcher Begriffe in Texten mitunter umfangreiches Weltwissen beim Rezipienten voraus, weshalb sie als semantisch komplex gelten müssen. Bei der Bewertung der «Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik» geht es zunächst um die Analyse von Implizitheit, die sich aus dem Vergleich der konkreten Satz-Frames als token-Frames mit den übergeordneten Prädikations-Frames Fillmore’scher Prägung ergibt. Es ist also zunächst zu prüfen, ob eine auffallend große Anzahl von Slots im Sinne semantischer Rollen nicht durch konkrete Filler belegt wird. Weiterhin ist dann zu entscheiden, ob automatisch inferierte Standardwerte die Auslassungen problemlos füllen können oder ob es sich um solche Fälle von Offenlassen handelt, wie man sie z.B. in verfassungsrechtlichen Bestimmungen (Eigentum verpflichtet. → wen zu was?) findet, die inhaltlich entweder gar nicht eindeutig zu füllen sind oder nur unter Hinzuziehung von anspruchsvollem Wissen (cf. Linke/ Nussbaumer 2000a, 443). Typische Möglichkeiten, Slots in Satz-Frames offen zu lassen, sind Ellipsen oder Passivkonstruktionen. Wie oben bereits angeführt, kann Implizitheit auf satzsemantischer Ebene auch Folge einer gering ausgeprägten Junktion sein. Wenn innerhalb von Satzgefügen unverbundene Reihung, anreihende Verknüpfungen wie et oder d’une part . . . d’autre part oder Gérondif- und Partizipialkonstruktionen vorherrschen, muss der Rezipient den inhaltlichen Zusammenhang zwischen den Propositionen inferieren. Besteht ein Text hingegen in weiten Teilen aus Satzgefügen mit untergeordneten Adverbialsätzen, die durch Konjunktionen wie beispielsweise jusqu’à ce que, parce que oder pour que eingeleitet werden, wird der Rezipient von Inferenzen entlastet, da die Konnektoren den temporalen, kausalen oder finalen Zusammenhang von Haupt- und Gliedsatz explizieren. Des Weiteren werden im Rahmen der Kategorie «Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik» aber auch indirekte Ausdrucksverfahren, die Implikaturen auslösen, berücksichtigt wie z.B. tautologische Sätze, strukturell ambige Sätze – cf. das von Polenz’sche (1985/2008, 61) Beispiel «Sie fahren mit Abstand am besten.» – oder rhetorische Fragen.

wird. [Schlagwörter] sollen sowohl das Denken wie auch die Gefühle und das Verhalten von Menschen steuern» (Niehr 2007, 496). 33 Die Bezeichnungen Hochwertwort, Unwertwort, Fahnenwort und Stigmawort entstammen der Klassifikation von Schlagwörtern nach Burkhardt (1998, 103).

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Und schließlich können sich klassische Satzfiguren (Parallelismus, Chiasmus, Anakoluth, Trikolon etc.), Besonderheiten bezüglich der Wortstellung oder eine auffällige Verteilung von Parataxe und Hypotaxe komplexitätssteigernd auswirken, wenn diese stilistischen Phänomene bedeutungskonstituierend sind und vom Rezipienten wahrgenommen und interpretiert werden müssen. Dasselbe gilt für intendierte Verstöße gegen einzelsprachliche Normen auf der Ebene des Satzes: Abweichungen von syntaktischen Regeln oder die Kombination von semantisch nicht miteinander verträglichen Lexemen innerhalb des Satz-Frames vermitteln ebenfalls eine Zusatzbedeutung, die zu inferieren ist und die sich komplexitätssteigernd auswirkt. Die «Anforderungen an das elokutionelle Wissen der Rezipienten» sind vor allem dann als hoch zu bewerten, wenn von den allgemeinsten Prinzipien des Denkens, zu denen auch das Kooperations- bzw. Vertrauensprinzip und die daraus ableitbaren Maximen gehören, sowie von der allgemeinen Kenntnis der Sachen abgewichen wird. Dann stellen sich nämlich die entsprechenden Textstellen aus Sicht des Rezipienten als inkohärent bzw. inkongruent dar und sieht er sich gezwungen, das Sinnwidrige zu interpretieren. Dazu muss er wiederum auf seine allgemein-sprachliche Kompetenz zurückgreifen, die auch das Wissen umfasst, das Gesagte zu interpretieren und zum Gemeinten vorzustoßen (cf. Coseriu 1988/2007, 95s.). Die «Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen» bemessen sich zum einen am Umfang der im Text eingesetzten Elemente (Affixe, Lexeme, Phraseologismen . . . ) und Verfahren (z.B. semantische, satz- und textgrammatische Regeln) zu ihrer Kombination (cf. ib., 255). Qualitative Unterschiede ergeben sich aus der Häufigkeit und Geläufigkeit der jeweiligen Strukturen. Wenn sie auf wenige Varietäten oder Textsorten beschränkt sind, erhöhen sie die Textkomplexität, während hochfrequente Lexeme und Strukturen der langue courante als einfach betrachtet werden können. Die «Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen» werden mit Hilfe der in Kapitel 2.1.3 entwickelten quantitativen sowie relativ zum Rezipienten feststellbaren Kriterien diskurstraditioneller Komplexität bewertet. Sie erweisen sich als hoch, wenn die Diskurstraditionen, die einen gegebenen Text anleiten, auf einer definitorischen Setzung beruhen, sich durch ein hohes Maß an kultureller Spezifizierung auszeichnen, Teil einer größeren Konfiguration von Diskurstraditionen sind und zahlreiche Dimensionen von Textualität formen bzw. beeinflussen (cf. Schrott 2015, 105s.). Auch wenn sich hinter einer konstanten Benennung ein erheblicher Wandel der diskurstraditionellen Realität verbirgt und der Leser mit einem Textexemplar konfrontiert ist, das in einem großen zeitlichen Abstand zu seiner Gegenwart entstanden ist (cf. Koch 1997, 60), führt dies zu einer hohen diskurstraditionellen Komplexität.

2.5 Komplexität: ein Modell für die linguistische Textanalyse

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Die Kriterien zur Bewertung der «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» sind zunächst der Unterschied zwischen Alltags- und Allgemeinwissen im Gegensatz zu Expertenwissen und die Tiefe bzw. Ausdifferenzierung des Wissens, die man unter Rückgriff auf die Strukturkonstituenten der Frames beurteilen kann. Die Kategorie «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» ist der exklusiven Untersuchung literarischer Texte geschuldet. Diese zeichnen sich nämlich dadurch aus, dass das Geschilderte einen Sinn hat, der in der Regel nicht unmittelbar mit dem Geschilderten zusammenfällt, sondern den man erst herausfinden muss (cf. Coseriu 1980/2007, 65). Die Qualität der Inferenzen, die der Rezipient beim Erschließen des Sinns zu leisten hat, kann natürlich stark variieren und sie ist abhängig von vorhandenen Hinweisen auf der Textoberfläche (eventuelle Formulierung eines Appells, einer Lehre . . . ) und von den Informationen, die sich aufgrund der Gattungszugehörigkeit eines Textes automatisch ergeben. Wie in Kapitel 2.1 ausführlich dargelegt wurde, repräsentieren Diskurstraditionen eben auch einen «kognitiven Entlastungsfaktor», da sie Verstehensebenen festlegen und Interpretationsmöglichkeiten einschränken (cf. Oesterreicher 1997, 29). Je mehr solcher Hinweise vorhanden sind, desto geringer wird der «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» ausfallen. Gibt es wenige Hinweise dieser Art und ergeben sich aufgrund von Leerstellen, Frame-Brüchen, Ambiguitäten, stilistischen Aspekten oder Gattungsmischungen mehrere plausible Deutungsmöglichkeiten, fällt der Inferenzaufwand entsprechend höher aus. Der Umfang des Schlussprozesses und die Tiefe und Qualität des dafür zu aktivierenden elokutionellen und lebensweltlichen Wissens bilden dann Kriterien für die Bewertung seiner Komplexität.

2.5.3 Beschreibung maximaler Einfachheit in Bezug auf die 14 Komplexitätskategorien Ob es in der Realität einen literarischen Text gibt, der sich in Bezug auf alle hier angesetzten Kategorien als maximal einfach erweist, ist fraglich. Dieser Text wäre derart explizit, direkt, regel- bzw. erwartungskonform, klar und geordnet, dass die erforderliche Mitwirkung des Lesers an seiner Sinnkonstitution sich auf ein Mindestmaß reduzierte – und auf ein Mindestmaß reduziert wären dann wahrscheinlich auch sein Unterhaltungswert, sein ästhetischer Reiz und der mit der Lektüre verbundene Erkenntnisgewinn. Vielleicht könnte eine Erlebnisgeschichte für Erstleser, die faktualem Erzählen nahe kommt, eine einfache Handlung und deren Bewertung enthält, und deren diskurstraditionelle Durchformung dem Leser kaum bewusst ist, maximale Einfachheit bezüglich

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

aller Kategorien aufweisen. Auch ein Vertreter der sogenannten Trivial- oder Schemaliteratur könnte ein Kandidat für maximale Einfachheit hinsichtlich aller Kategorien sein. Diese Art von Literatur zeichnet sich ja gerade dadurch aus, einfach und leicht verständlich zu sein, eine starke Bindung an literarische Schemata und gesellschaftliche Klischees aufzuweisen und dem Leserbedürfnis nach Orientierung und Bestätigung persönlicher Werturteile nachzukommen (cf. Leubner 2007, 782). Allerdings stellen sogar solche definitorisch gesetzten Gattungen der Trivialliteratur, die offensichtlich mehrere Dimensionen von Textualität (Handlungsschema, Typisierung der Figuren, Textfunktion etc.) formen, Mindestanforderungen an das diskurstraditionelle Wissen der Rezipienten, das somit nicht mehr maximal einfach sein kann. Texte, die nicht zur Trivialliteratur zählen – und nur solche werden in Kapitel 3 dieser Arbeit analysiert –, können somit erst recht keine globale maximale Einfachheit aufweisen. Zum einen stellen sie als Vertreter einer definitorisch gesetzten Textgattung oder als Textexemplare, die bestehende Textmuster mischen oder brechen, automatisch höhere Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen der Rezipienten. Weiterhin bedingt eben ihre Zugehörigkeit zum literarischen Diskursuniversum in der Regel bereits einen Umgang mit Sprache, der von alltäglichen Regeln der Kommunikation (Grice’sche Maximen, einzelsprachliche Traditionen etc.) abweicht, und damit automatisch maximale Einfachheit in allen Bereichen ausschließt. Dennoch kann natürlich auch ein Text der hohen Literatur in Bezug auf eine oder einige wenige der 14 angesetzten Kategorien maximal einfach sein. Die folgende Beschreibung dient also der Illustration größtmöglicher Einfachheit in Bezug auf jede einzelne der 14 Kategorien – ungeachtet der Zwänge, die sich dann vielleicht für die Ausformung einer anderen Kategorie und deren Komplexität ergeben könnten – und somit derjenigen Ausgestaltung dieser Kategorie, die den Komplexitätswert 0 (= maximal einfach bzw. Komplexitätsmerkmal nicht vorhanden) erhalten müsste. Jede Abweichung von den im Folgenden dargestellten Gegebenheiten muss also zu einer Erhöhung des Komplexitätswertes in Bezug auf die entsprechende Kategorie führen. 1. Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen Da das Vorhandensein dieser intendierten Abweichungen von konventionellen Mustern der Textproduktion oder von prototypischen Wissensrahmen sich zwangsläufig komplexitätssteigernd auswirkt, kann nur das Fehlen dieser Phänomene maximal einfach sein.

2.5 Komplexität: ein Modell für die linguistische Textanalyse

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2. Leerstellen/Aussparungen Leerstellen bzw. Aussparungen in Bezug auf die Motivierung oder die Bewertung der im Text geschilderten Ereignisse sowie in Bezug auf sein zentrales Handlungsschema sind ein echtes Komplexitätsmerkmal, da sie zwangsläufig wissensbasierte und kreative Inferenzen erfordern. Maximale Einfachheit liegt also nur dann vor, wenn es so verstandene zentrale Leerstellen nicht gibt. Ein einfacher Text kann also z.B. kein offenes Ende haben, die Motivierung des in ihm geschilderten Geschehens wird explizit in der Erzähler- oder Figurenrede erfolgen und der Erzähler wird das Geschehen in nachvollziehbarer, zu keinerlei Widerspruch auffordernder Art und Weise kommentieren und bewerten. 3. Andeutungen/Evokationen Andeutungen bzw. Evokationen im Sinne Coserius (1980) beruhen auf Zeichenrelationen, die über die Bühler’schen Funktionen hinausgehen, oder auf stilistischen Erscheinungen, die sich flächig manifestieren und verschiedene Textmerkmale und Textebenen betreffen. So verstandene Andeutungen müssen gesehen werden, was häufig die Verfügbarkeit komplexer Wissensbestände, eine gezielte Textanalyse und anspruchsvolle Inferenzen zu ihrer Deutung verlangt. Maximale Einfachheit ist also nur gegeben, wenn dieses Merkmal nicht vorliegt. 4. Umgang mit den Grice’schen Maximen Wenn die Diskurstraditionen, die einen Text formen und beeinflussen, die Maximen, mit denen sie verknüpft werden können, konsequent erfüllen, liegt maximale Einfachheit vor. Das resultierende Textexemplar würde sich also als relevante (interessante, erkenntnisstiftende, unterhaltsame, reizvolle . . . ), wahrhaftige und so informativ wie nötige Mitteilung an den Leser erweisen. Und die Darstellung dieser Mitteilung würde in vollem Einklang mit der Modalitätsmaxime stehen, also besonders klar und geordnet sein sowie Dunkelheit des Ausdrucks, Ambiguität und übertriebene Weitschweifigkeit vermeiden. 5. Komplexität in Bezug auf die suppletive Kontextbildung Maximal einfach ist die suppletive Kontextbildung, wenn in den ersten Zeilen des Textes Ort und Zeitpunkt der darzustellenden Handlung durch ein vollständiges Datum und ein bekanntes Toponym eingeführt werden, die die Handlung in der realen Geographie und Geschichte verankern. Dabei ist das entsprechende Toponym (z.B. Paris, die Alpen) hinreichend bekannt, so dass das in der Regel verfügbare geographische und historische Hintergrundwissen der Rezipienten die realistischen Beschreibungen des Textes ergänzen kann (cf. Martínez/Scheffel 1999/2012, 152). Ein Beispiel für eine solch einfache Art der Verankerung der fiktionalen Welt in der Realität des Rezipienten ist der erste Satz von Balzacs La Vendetta:

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

«En 1800, vers la fin du mois d’octobre, un étranger, accompagné d’une femme et d’une petite fille, arriva devant les Tuileries à Paris, et se tint assez longtemps auprès des décombres d’une maison récemment démolie à l’endroit où s’élève aujourd’hui l’aile commencée qui devait unir le château de Catherine de Médicis au Louvre des Valois» (Balzac 2000, 19; meine Hervorhebung).

In dieser vom literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts geprägten Novelle wird der Leser im ersten Satz in expliziter und äußerst präziser Art unter Verwendung von zahlreichen Toponymen und Eigennamen, die Pariser Bauwerke und Personen der europäischen Geschichte bezeichnen (cf. kursiv Gedrucktes), und durch Angabe einer Jahreszahl im fiktionalen Universum orientiert. Der Aufbau der handelnden Personen ist als extrem einfach zu bewerten, wenn die Figur durch einen Eigennamen oder wie bei Balzac durch eine indefinite Nominalgruppe (un étranger, accompagné d’une femme [. . .]) eingeführt wird und in unmittelbarer Folge die für das Verständnis der Geschichte wesentlichen Slots des so aufgerufenen Personen-Frames (z.B. Geschlecht, Familienstand, soziale Herkunft, Beruf, Alter) mit konkreten Fillern belegt werden. 6. Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen Ein Text ist in Bezug auf diese Kategorie maximal einfach, wenn sein Thema explizit in der Überschrift oder einem anderen Textsegment benannt wird oder es durch die umfangreiche Instantiierung eines entsprechenden Frames oder ganzen Frame-Systems etabliert wird. Dabei werden sowohl der FrameKern explizit verbalisiert als auch die zentralen Slots mit Fillern belegt und womöglich noch zahlreiche weitere periphere Slots durch konkrete Füllwerte spezifiziert. Außerdem ist die Frame-Instantiierung so klar und eindeutig, dass der Rezipient sofort den passenden Frame aktiviert und das entsprechende Textthema erfasst, und es in der Folge der Lektüre zu keinerlei Erwartungsbrüchen kommt. 7. Komplexität in Bezug auf Kohäsion & lokale Kohärenz Der semantisch-inhaltliche Zusammenhang zwischen aufeinander folgenden Äußerungen – z.B. die Koreferenz zwischen verschiedenen Ausdrücken oder der inhaltliche Zusammenhang zwischen zwei Propositionen – wird auf der sprachlichen Oberfläche durch kohäsionsvermittelnde Merkmale (Pro-Formen, Artikelselektion, Konnektoren etc.) den textgrammatischen Normen entsprechend angezeigt bzw. expliziert. Wenn der Vollzug der derart indizierten Verknüpfung der entsprechenden Textteile weiterhin nur die Aktivierung von Frame-Wissen erfordert, das durch die verwendeten sprachlichen Mittel unmittelbar nahe gelegt (also evoziert) wird, spricht dies für einen einfachen Text in Bezug auf die Kategorie Kohäsion & lokale Kohärenz.

2.5 Komplexität: ein Modell für die linguistische Textanalyse

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8. Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik Maximale Einfachheit auf wortsemantischer Ebene ist gegeben, wenn der vorliegende Text lediglich geläufige Lexeme der langue courante enthält, die im Grundund Aufbauwortschatz des Französischen verzeichnet sind, und mit denen nur überschaubar umfangreiches Frame-Wissen verknüpft ist. Polyseme, Homonyme oder vage Ausdrücke können aufgrund des Kontextes zweifelsfrei disambiguiert bzw. konkretisiert werden. Auf nicht-wörtlichen, indirekten Sprachgebrauch wird völlig verzichtet – es sei denn, er ist bereits lexikalisiert (le pied de table) oder hochgradig konventionalisiert (Il joue du Chopin). Außerdem ist mit der Wahl der Lexeme keinerlei stilistischer Nebensinn verbunden. 9. Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik Maximale Einfachheit hinsichtlich dieser Kategorie liegt vor, wenn die konkreten Satz-Frames der Mehrzahl der Slots der übergeordneten PrädikationsFrames konkrete Füllwerte zuweisen und die offenen Slots durch Inferenz gängiger Standardwerte zufriedenstellend gefüllt werden können. Des Weiteren enthält der Text eine angemessene Zahl an Konjunktionen und Konnektoren, die die inhaltliche Verbindung zwischen den Sachverhalten, die in den Teilsätzen eines Satzgefüges thematisiert werden, expliziert. Schließlich gibt es keine Implikatur-auslösenden Konstruktionen, keine intendierten Verstöße gegen syntaktische oder satzsemantische Regeln und keine Satzfiguren oder syntaktischen Auffälligkeiten, die als stilistische Phänomene zum Sinn des Textes beitragen würden. 10. Anforderungen an das elokutionelle Wissen der Rezipienten Da wir uns gemäß Coseriu (1988/2007, 127) «der allgemein-sprachlichen Kompetenz vor allem in negativer Hinsicht bewußt werden, d.h. immer dann, wenn wir Inkongruenzen feststellen», sind Texte, die keinerlei Abweichungen von den allgemeinsten Prinzipien des Denkens und der allgemeinen Kenntnis der Sachen aufweisen, unauffällig und damit in Bezug auf diese Wissenskategorie maximal einfach. Sie enthalten keine Differenzen zwischen dem Gesagten und Gemeinten und verlangen somit keine Interpretationsleistungen, die zusätzliches elokutionelles Wissen erfordern würden. 11. Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen der Rezipienten Die Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen sind minimal, wenn ein Text ausschließlich hochfrequente (im Grund- und Aufbauwortschatz enthaltene) Lexeme und die gängigsten Verfahren zu ihrer Kombination verwendet. Auf der syntaktischen Ebene beispielsweise wäre dies für das Französische die Wortstellung: sujet + verbe + complément (ou attribut, ou adverbe) (cf. Peyroutet 2002, 20).

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12. Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen der Rezipienten Die Voraussetzungen an das diskurstraditionelle Wissen sind besonders gering, wenn die Diskurstraditionen, die einen gegebenen Text formen, von geringem Umfang sind, autonom für sich stehen, wenige Dimensionen von Textualität beeinflussen, eine kommunikative Routine darstellen, einen geringen Grad an kultureller Spezifizierung aufweisen und von fast allen Sprechern einer Sprachgemeinschaft beherrscht werden (cf. Schrott 2015, 105s.). Hier zeigt sich bereits, dass literarische Texte, die Exemplar einer definitorisch gesetzten Gattung sind, die sich wiederum als Konfiguration von mehreren Diskurstraditionen beschreiben lässt, zwingend mehr als die soeben beschriebenen Minimalanforderungen an das diskurstraditionelle Wissen ihrer Rezipienten stellen. 13. Anforderungen an das lebensweltliche Wissen der Rezipienten Die Anforderungen an das lebensweltliche Wissen sind minimal und somit ist diese Kategorie maximal einfach, wenn im Zentrum eines gegebenen Textes Ereignisse, Handlungen bzw. Themen stehen, die zum alltäglichen Erfahrungsbereich der Rezipienten zählen. Die mit den verwendeten Lexemen und Lexemkombinationen konventionell assoziierten Frames gehören folglich zum Alltagswissen bzw. strukturieren dieses. Und die zur Herstellung von Kohärenz und zur Bedeutungskonstruktion erforderlichen Inferenzen basieren dementsprechend ebenfalls auf Alltagswissen oder auf oberflächlichem Allgemeinwissen. 14. Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene Der Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene ist maximal einfach, wenn auf der Textoberfläche der Sinn des Geschilderten explizit formuliert wird. Das ist denkbar bei Texten, die zur Lehrdichtung zählen. In Fabeln beispielsweise wird die durch eine exemplarische Begebenheit illustrierte Moral mitunter im Rahmen eines Epimythions explizit angegeben. Und auch in Texten, die der gesellschaftlich-politisch orientierten Literatur angehören, ist es vorstellbar, dass ein Autor seine kommunikative Intention, beispielsweise einen Appell zum Boykott bestimmter Waren, explizit formuliert.

2.5.4 Beurteilung des Komplexitätsgrades in Bezug auf die einzelnen Kategorien Im vorigen Abschnitt wurde maximale Einfachheit in Bezug auf jede der 14 angesetzten Komplexitätskategorien beschrieben. Ein prototypischer Referenztext für maximale Einfachheit bzw. minimale Komplexität hinsichtlich aller Kategorien ließe sich möglicherweise im Bereich des faktualen Erzählens finden. Auf

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jeden Fall könnte er als linguistischer Artefakt und Nullpunkt der Skala gemäß der hier entwickelten Definition von Komplexität relativ problemlos generiert werden. Jede Änderung der Situation maximaler Einfachheit durch die oben angeführten drei Hauptfaktoren semantischer und diskurstraditioneller Komplexität, also jegliche ABWEICHUNG von sprachlichen bzw. sprachbezogenen Normen und Traditionen sowie von Wissensrahmen, jede Zunahme an kontextabhängiger/nicht-konventioneller IMPLIZITHEIT und jede über das geschilderte Mindestmaß hinausgehende Anforderung an das elokutionelle, einzelsprachliche, diskurstraditionelle und lebensweltliche WISSEN wird den Komplexitätsgrad der entsprechenden Kategorie erhöhen. Wie stark diese Komplexitätsindikatoren nun den Grad der Komplexität der betreffenden Kategorie erhöhen, hängt natürlich zunächst von quantitativen Faktoren ab: je mehr semantisch komplexe Wörter ein Text enthält, je mehr Leerstellen in Bezug auf das zentrale Handlungsschema oder die Motivierung des Geschehens festzustellen sind, je mehr Satz-Frames Leerstellen aufweisen, die durch gängige Standardwerte nicht adäquat gefüllt werden können, und je mehr Verstöße gegen die Grice’schen Maximen vorliegen, desto höher fällt der Komplexitätswert der betreffenden Kategorien aus. Aber bereits bei diesem scheinbar trivialen quantitativen Kriterium werden Probleme aufgeworfen, die eine Messung des Komplexitätsgrades unmöglich machen. Natürlich kann man den prozentualen Anteil semantisch komplexer Wörter ermitteln sowie den prozentualen Anteil an Sätzen, deren Satz-Frames Slots offen lassen, die nicht durch Standardwerte zu schließen sind, und so zwischen den hier untersuchten Korpustexten relative Komplexitätsunterschiede beschreibbar machen. Es ist aber völlig unklar, welchen absoluten Komplexitätswert dann die Kategorien «Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik» und «Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik» erhalten müssten. Um das entscheiden zu können, bräuchte man als Referenzobjekt einen maximal komplexen Text. Die Existenz eines maximal komplexen Textes ebenso wie die Möglichkeit seiner Konstruierbarkeit erscheinen aber äußerst fraglich, da beispielsweise völlig unklar ist, welches Maß an Abweichungen von allgemein-sprachlichen und einzelsprachlichen Regeln sowie Diskurstraditionen und Schemata des lebensweltlichen Wissens ein Text verkraftet, ohne in die völlige Unverstehbarkeit abzugleiten. Und die Bewertung der Komplexität eines objektiv nicht entschlüsselbaren Textes ist kaum sinnvoll bzw. gemäß der hier vorgestellten Definition von Komplexität auch nicht möglich. Unserer Ansicht nach muss die Skala semantischer und diskurstraditioneller Komplexität folglich nach oben offen sein und können Textprodukte prinzipiell nur relativ zueinander auf ihr verortet werden. Wenn also innerhalb eines gegebenen Korpus der wortsemantisch komplexeste Text beispielsweise 20% komplexe

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2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

Lexeme beinhaltet, könnte man dafür 10 Punkte vergeben. Einem weiteren Korpustext mit einem Anteil von 8% komplexen Wörtern müsste dann entsprechend der Wert 4 für die Kategorie «Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik» zugeordnet werden. Aber auch wenn man die Möglichkeit einer absoluten Bewertung der Komplexität eines Textes auf einer numerischen Skala ausgeschlossen hat und Texte nur relativ zueinander beurteilt, stellen sich im Bereich der quantitativen Komplexitätsfaktoren noch weitere schwierige Fragen. Das liegt daran, dass quantitative Komplexitätsfaktoren häufig nicht losgelöst von qualitativen beurteilt werden können. Bei den Leerstellen und Aussparungen bezüglich des zentralen Handlungsmusters beispielsweise kann man womöglich die Zahl der für die Bedeutungskonstruktion des Textes relevanten Slots dieses Handlungsmusters ermitteln und den prozentualen Anteil der offenen Slots bezogen auf diese Grundmenge bestimmen. Ein Anteil von 20% offener Slots bezüglich des lebens- und alltagsnahen Skripts der einen Erzählung könnte sich aber insgesamt als weniger komplex darstellen als ein Anteil von 10% offener Slots bezüglich des Skripts eines anderen literarischen Werkes, welches nur durch Aktivierung von echtem Expertenwissen gefüllt werden kann. Was die Motivierung und insbesondere die Bewertung des Geschehens betrifft, so fallen eine frame-semantische Analyse und quantitative Vergleiche noch schwerer und es stellt sich die Frage, wie viel Bewertung ein Geschehen erfordert und wie zwei literarische Texte verschiedener Textgattungen diesbezüglich überhaupt zu vergleichen sind. Ähnlichen Problemen begegnet man auch in Bezug auf die suppletive Kontextbildung, deren mehr oder weniger stark ausgeprägte Implizitheit sich für verschiedene Texte in unterschiedlichem Maße komplexitätssteigernd auswirkt. Das Fehlen einer zeitlichen Situierung der Ereignisse kann im einen Fall ein echtes Komplexitätsmerkmal sein, weil es bedeutungsrelevant ist und anspruchsvolle Inferenzen seitens des Rezipienten erfordert; in einem anderen Fall – z.B. bei Märchen oder Fabeln – ist die zeitliche Verankerung völlig irrelevant bzw. unmöglich. Es sind letztlich immer auch qualitative Kriterien, die den Komplexitätsgrad jeder einzelnen Kategorie beeinflussen, und sie müssen grundsätzlich vor dem diskurstraditionellen Hintergrund des jeweiligen Textes betrachtet werden, um ihren Beitrag zur semantischen Komplexität adäquat einschätzen zu können. Die qualitativen Kriterien betreffen in erster Linie die Qualität der vom Rezipienten zu leistenden Implikaturen bzw. Inferenzen. Diese sind umso komplexer je umfangreicher sie sind (z.B. je mehr Schritte von einem bzw. mehreren spezifizierten Fillern zum Frame-Kern zu vollziehen sind), je mehr Wissensbestände einzubeziehen sind (Wissen aus dem unmittelbaren oder mittelbaren Kontext, Wissen zum Sprecher bzw. Autor, elokutionelles, einzelsprachliches und diskurstraditionelles Wissen, lebensweltliches Wissen) und natürlich auch je komplexer dieses vom Rezipienten zu aktivierende Wissen ist. Während im Bereich des

2.5 Komplexität: ein Modell für die linguistische Textanalyse

175

diskurstraditionellen Wissens zahlreiche Kriterien zur Beurteilung seiner Komplexität angegeben werden konnten (definitorische Setzung, Grad der kulturellen Spezifizierung etc.), konnten wir im Bereich des lebensweltlichen Wissens nur vage Unterscheidungen zwischen Alltags- und Allgemeinwissen sowie Expertenwissen vorschlagen – ohne empirische Untersuchungen sind verlässliche Aussagen zur Komplexität des Weltwissens wohl auch kaum denkbar. Drei weitere Kriterien, die den Komplexitätsgrad bezüglich einiger der 14 Kategorien beeinflussen können, sind zunächst die von Gardt (2013) etablierte Unterscheidung zwischen punktueller und flächiger Bedeutungsbildung, die Konventionalität bzw. diskurstraditionelle Erwartbarkeit von Abweichungen und schließlich die Dauer des Offenlassens bestimmter zentraler Slots, die häufig für Erwartungsbrüche verantwortlich zeichnet. Gardt (2013, 45) charakterisiert punktuelle und flächige Bedeutungsbildung folgendermaßen: «Punktuelle Bedeutungsbildung kommt in prototypischer Weise dadurch zustande, dass einzelne (zumeist lexikalische) Textausdrücke oder Ausdruckskombinationen in einer Weise Bedeutung evozieren, dass der betreffende Ausdruck als semantisch relevant zumindest für den weiteren Kotext seines Vorkommens bewertet wird, häufig auch für eine größere Textpassage, in besonderen Fällen sogar für den gesamten Text. [. . .] Bei flächiger Bedeutungsbildung entsteht der semantische Effekt durch die Gesamtheit der Bedeutung mehrerer Textelemente, ohne dass ein einzelnes dieser Textelemente bereits die erst über die Gesamtfläche des Textes entstehende Bedeutung anzeigt. Nicht selten sind die Mittel flächiger Bedeutungsbildung divergenter und schwieriger zu identifizieren als die punktueller Bedeutungsbildung».

Die zuletzt genannte Divergenz und schwierigere Identifizierung flächiger Bedeutungsbildung liefert zugleich den Grund für ihre im Vergleich zur punktuellen Bedeutungsbildung höhere Komplexität. Die flächige Bedeutungsbildung entspricht in dieser Hinsicht der durch stilistische Elemente evozierten Bedeutung. Diese wurde in Kapitel 2.2.1 unter Verweis auf die Einschätzung Abrahams bereits als komplex identifiziert. Gemäß Abraham (2008, 1349s.) kann man Stil nämlich nicht lesen wie Texte, sondern man muss ihn wahrnehmen und diese Wahrnehmung ist grundsätzlich selektiv und ohne Textanalyse nicht möglich. Das bedeutet für die konkrete Korpusanalyse, dass beispielsweise in Bezug auf das Komplexitätsmerkmal «Andeutungen/Evokationen» eine «punktuelle» Andeutung wie die Namensgebung Estelle (→ Est-elle?) in Sartres Huis clos als weniger komplex zu gelten hat als eine flächige Andeutung, die beispielsweise erst durch das Zusammenspiel von lexikalischen, syntaktischen und lautlichen Erscheinungen zustande kommt. Aber auch bezüglich dieses Kriteriums stellt sich wieder die Frage, um wie viel mehr die flächige Andeutung gegenüber der

176

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

punktuellen den Komplexitätswert des Merkmals «Andeutungen/Evokationen» ansteigen lässt. Das Ausmaß der Komplexität von Abweichungen von Regeln, Traditionen und Schemata aller Art hängt auch vom Grad ihrer Erwartbarkeit bzw. Konventionalität ab. In bestimmten literarischen Gattungen (conte fantastique, nouvelle à chute) und Textsorten (Graffitisprüche, Werbeanzeigen) sind Verstöße gegen die Grice’schen Maximen, gegen weitere allgemein-sprachliche Normen, gegen einzelsprachliche Regeln oder Diskurstraditionen äußerst frequent oder sogar unabdingbar, um zum Gattungsprofil gehörende Effekte und Intentionen zu erzielen. In diesen Fällen ist die Komplexität der Abweichungen – trotz der damit verbundenen Wissensanforderungen und kontextabhängigen IMPLIZITHEIT – geringer als bei spontanen, kreativen und ungewöhnlichen Abweichungen wie z.B. in Borges’ Die Bibliothek von Babel oder Michaux’ Plume au restaurant (cf. Kapitel 3), die die Deutungskompetenz und das Wissen der Rezipienten vor noch größere Herausforderungen stellen. Das letzte Kriterium, die Dauer des Offenlassens zentraler Slots, betrifft in erster Linie die Kategorien «suppletive Kontextbildung», «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» sowie «Kohäsion & lokale Kohärenz». Für diese Kategorien ist nicht nur das prinzipielle Offenlassen bedeutungsrelevanter Slots komplexitätssteigernd, sondern auch das temporäre Offenlassen. So macht es durchaus einen Unterschied, ob ein Text zentrale Slots des Personen-Frames seines Protagonisten in den ersten Zeilen durch Filler spezifiziert, ob er dies in der Mitte oder erst ganz am Ende tut. In den beiden zuletzt genannten Fällen muss der Rezipient – wenn möglich – die Leerstellen durch Standardwerte oder kontext- und wissensbasierte Inferenzen schließen oder mit einem nicht zu behebenden Informationsdefizit und der damit verbundenen Unklarheit den Text weiter rezipieren. Wenn zentrale Informationen erst am Ende einer Erzählung nachgeliefert werden, ist dies häufig auch mit einem kalkulierten Erwartungsbruch verbunden. Dann ergibt sich für den Leser unter Umständen die Notwendigkeit, das konstruierte Textmodell rückwirkend komplett zu revidieren oder Bewertungen zu verändern. In jedem Fall ist mit einem längerfristigen Offenlassen zentraler Slots ein erhöhter Verarbeitungsaufwand verbunden, stellt der Text also erhöhte Anforderungen an die Kapazität und Kompetenz seiner Leser und steigt damit auch seine Komplexität – die große Frage ist aber wiederum, um welchen Wert. Bei allen noch offenen Fragen rund um die Bemessung des Komplexitätsgrades ist aber zumindest sicher, dass bei der Beurteilung des Komplexitätsgrades eines gegebenen Textes neben den drei «großen» Komplexitätsfaktoren, die zu Beginn dieses Kapitels erläutert wurden, auch die soeben aufgeführten Kriterien Berücksichtigung finden müssen. Somit ist das oben entwickelte Schema der drei zentralen Komplexitätsfaktoren (Schema 7) folgendermaßen zu erweitern:

2.5 Komplexität: ein Modell für die linguistische Textanalyse

3. WISSEN

1. ABWEICHUNGEN …von Normen und Traditionen des Sprechens und Schreibens sowie von

177

3. WISSEN

2. Kontextabhängige

3. Anforderungen an das

bzw. nicht-

WISSEN

konventionelle

der Rezipienten

IMPLIZITHEIT

Wissensrahmen Quantität und Qualität? Quantität und Qualität? Konventionelle bzw. erwartbare Abweichung?

Punktuelle oder flächige Art der Bedeutungsbildung?

Quantität und Qualität?

Wie lange werden zentrale Slots offengelassen?

Schema 8: Komplexitätsfaktoren und -kriterien.

Auch wenn somit plausible Komplexitätsfaktoren und -kriterien identifiziert werden konnten, zeigen die soeben angestellten Überlegungen, dass es zum gegenwärtigen Kenntnisstand und womöglich auch generell unmöglich ist, die Ausprägung der Komplexität in Bezug auf die einzelnen Kategorien zu messen, sie also objektiv und absolut auf einer numerischen Skala zu verorten. Da vieles dafür spricht, dass die Skala der semantischen und diskurstraditionellen Komplexität nach oben offen ist, kann man Textprodukte grundsätzlich nur relativ zueinander auf ihr positionieren. Aber auch bei der relativen Beurteilung semantischer Komplexität muss man zwischen der unterschiedlichen Relevanz offener Slots in verschiedenen Textgenres vermitteln, die Subtilität von Andeutungen einschätzen und den vagen Kriterien für die Bewertung der in die Bedeutungskonstruktion einzubringenden Wissensbestände auf pragmatische Art und Weise begegnen. Diese Schwierigkeiten zeigen einmal mehr, dass Roelckes lapidares – und jegliche Erklärung schuldig bleibendes – Reden davon, dass man eben die Komplexität des Kommunikats an der Kapazität des Kommunikanten zu «messen» habe und diese «im Falle effizienter Kommunikation einen mehr oder weniger festen Wert» zeige (cf. Roelcke 2002, 54), die Komplexität des Sachverhalts völlig verkennt. Trotz der noch vorhandenen Unschärfen gerade in Hinblick auf die Bewertung des verstehensrelevanten Wissens soll im Rahmen der anschließenden Korpusanalyse demonstriert werden, dass die hier entwickelten drei zentralen Komplexitätsfaktoren sowie die soeben erläuterten Kriterien (quantitative und

178

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

qualitative Kriterien, die Unterscheidung punktuelle vs. flächige Bedeutungsbildung, die Konventionalität von Abweichungen sowie die Dauer des Offenhaltens relevanter Slots) geeignet sind, die semantische und diskurstraditionelle Komplexität eines Textes innerhalb eines gegebenen Korpus in plausibler und nachvollziehbarer Weise kriteriengeleitet zu beschreiben und einzuschätzen, sowie Komplexitätsunterschiede zwischen mehreren Texten aufzuzeigen. Zum Zweck der Zusammenfassung und Visualisierung soll dazu durchaus auf eine Skala von 0 bis 6 zurückgegriffen werden, deren Zahlwerte aber lediglich als Abkürzungen für die folgenden primär qualitativen Beurteilungen zu verstehen sind: Tab. 18: Skala der Ausprägungen von Komplexität. Ausprägung der Komplexität

Beschreibung



maximal einfach bzw. Komplexitätsmerkmal (Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen, Leerstellen/Aussparungen, Andeutungen/ Evokationen) nicht vorhanden



sehr gering ausgeprägte Komplexität



gering ausgeprägte Komplexität



mittlere Komplexität



deutlich erhöhte Komplexität



hohe Komplexität



sehr hohe Komplexität bzw. maximal komplex im Korpuskontext

Den zahlreichen Problemen bei der kriteriengeleiteten Bewertung von Komplexität, die mit den quantitativen Faktoren verbunden sind, soll dabei folgendermaßen begegnet werden: Nur für die Kategorie «Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik» wird für einen gegebenen Text – als sinnvolle Orientierungshilfe – der jeweilige prozentuale Anteil komplexer Lexeme gemäß den oben entwickelten Kriterien bestimmt und für Vergleiche im Korpuskontext herangezogen. Allerdings muss natürlich auch bei der Komplexität auf wortsemantischer Ebene berücksichtigt werden, welche Wichtigkeit bestimmte komplexe Lexeme für das Verstehen eines Textes haben – sie könnten zentral oder peripher sein. Somit können auch in diesem Bereich quantitative Vergleiche zwischen den Korpustexten nicht losgelöst von qualitativen Aspekten die wortsemantische Komplexität bestimmen. Bei der Beurteilung der Komplexität weiterer Kategorien wie z.B. «Satzsemantik»,

2.5 Komplexität: ein Modell für die linguistische Textanalyse

179

«suppletive Kontextbildung», «Leerstellen/Aussparungen», «Umgang mit den Grice’schen Maximen» sowie «Andeutungen/Evokationen» spielen quantitative Faktoren natürlich auch eine Rolle, allerdings werden wir hier auf die Ermittlung prozentualer Anteile verzichten. Die Probleme bei der Bestimmung einer passenden Grundmenge, die innerhalb eines Textes und zwischen Texten stark variierende Satzlänge, die Verquickung mit qualitativen Faktoren und unterschiedlich komplexen Wissensbeständen sprechen gegen quantitative Vergleiche im Kontext der genannten Kategorien. Bei der Beurteilung der Qualität der jeweils zu leistenden Inferenzen werden, wie bereits erläutert wurde, die nötigen Schritte des Schlussprozesses und die Menge und Tiefe der zu aktivierenden Wissensbestände berücksichtigt. Was deren Qualität betrifft, so werden eventuell vorhandene Annotationen in den verwendeten Textausgaben, die z.B. seltene Wörter erklären, historisches oder autorspezifisches Hintergrundwissen liefern, als Beleg für die Komplexität der zu aktivierenden Wissensbestände herangezogen. Sollten keine Annotationen vorhanden sein, wird die «Verfügbarkeitswahrscheinlichkeit» des verstehensrelevanten Wissens gemäß der subjektiven Erfahrung der Verfasserin beurteilt. Auch die Einschätzung des Analyse- und Deutungsaufwands, der mit Formen flächiger Bedeutungsbildung verbunden ist, soll so gut wie möglich begründet werden, kann aber ebenfalls nicht frei von subjektiven Interpretationen sein. Somit ist klar, dass gerade in Anbetracht der Tatsache, dass im Rahmen dieser Arbeit keine aussagekräftigen empirischen Untersuchungen zur Verfügbarkeit und damit Komplexität des verstehensrelevanten Wissens durchgeführt werden können, die Beurteilung des Komplexitätsgrades der jeweiligen Kategorien notwendigerweise subjektive Momente aufweist. Die Einschätzung basiert allerdings auf einer linguistisch differenzierten Textanalyse und orientiert sich an den drei theoretisch hinreichend begründeten Komplexitätsfaktoren und weiteren klaren Kriterien, so dass unterschiedliche Ergebnisse hinsichtlich der Komplexitätsbeurteilung nicht stark voneinander abweichen werden (cf. Kapitel 2.2.4 Gibt es eine objektive Bedeutung literarischer Texte?) und relative Vergleiche zwischen den Korpustexten möglich sein werden. Die Verortung auf der Skala von 0 bis 6 hat in erster Linie die Funktion, das Komplexitätsprofil eines Korpustextes prägnant zusammenzufassen, Vergleiche zwischen den Texten zu ermöglichen und das Erkennen von Wechselwirkungen zwischen hohen oder niedrigen Komplexitätswerten in Bezug auf bestimmte Kategorien zu erleichtern. Das Komplexitätsprofil eines jeden Korpustextes wird demnach folgendermaßen resümiert und visualisiert werden:

180

2 Grundlagen eines semantisch-diskurstraditionellen Komplexitätsbegriffs

6 5 4 3 2 1 0 FB

L

A

M

SK

FT

KK

W

S

EW

IW

DW LW 2.E

FB: Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen; L: Leerstellen/Aussparungen; A: Andeutungen/Evokationen; M: Umgang mit den Maximen; SK: suppletive Kontextbildung; FT: Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen; KK: Kohäsion & lokale Kohärenz; W: Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik; S: Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik; EW/IW/DW/LW: Anforderungen an das elokutionelle, einzelsprachliche, diskurstraditionelle und lebensweltliche Wissen; 2.E: Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene Schema 9: Komplexitätsprofil der Novelle Happy Meal von Anna Gavalda.

Diese Visualisierung ist natürlich weit entfernt von einer Operationalisierung des hier erst in Grundzügen entworfenen Modells für die Analyse der semantischen und diskurstraditionellen Komplexität, sie wird aber bei der konkreten Korpusarbeit wertvolle Hilfe leisten können.

3 Textsemantische und diskurstraditionelle Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte Im zweiten Teil dieser Arbeit soll das soeben entwickelte Komplexitätsmodell für die linguistische Textanalyse auf ein Korpus bestehend aus 15 Texten angewendet werden, die alle zum Bereich der Kurzprosa gehören. Wenngleich in jedem der vier Kapitel dieses Teils ein anderer Schwerpunkt gesetzt wird, illustriert jedes einzelne, wie unter Berücksichtigung der drei zentralen Komplexitätsfaktoren (ABWEICHUNGEN, kontextabhängige/nicht-konventionelle IMPLIZITHEIT, WISSEN) sowie quantitativer und qualitativer Faktoren vor dem diskurstraditionellen Hintergrund der jeweiligen Erzählung und unter ständigem Rückgriff auf die Analyseinstrumente der Frame-Semantik eine relative Einschätzung der Komplexität der Texte im Korpuskontext erfolgen kann. Zuvor soll aber die Zusammensetzung des Korpus kurz vorgestellt und begründet werden und es sollen die beiden Aspekte erläutert werden, die bei der Erstellung der diskurstraditionellen Profile der Texte schwerpunktmäßig berücksichtigt werden, nämlich Gattung und Erzählsituation. Das Korpus besteht aus 15 Erzählungen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts, über deren Titel, Autor, Erscheinungsjahr und präzise Gattungszugehörigkeit Tabelle 19 Auskunft gibt.

Tab. 19: Zusammensetzung des Korpus. Autor, Titel

Erscheinungsjahr Gattung

.

Alphonse Daudet, La Mort du Dauphin



Prosaballade

.

Alphonse Daudet, La Chèvre de M. Seguin



Prosafabel (integriert in einen literarischen Brief)

.

Émile Zola, Naïs Micoulin



naturalistische Novelle

.

Guy de Maupassant, La Main



conte fantastique

.

Guy de Maupassant, La Parure



naturalistische Novelle

.

Julien Green, Christine



symbolische Novelle

.

Julien Green, Léviathan (La Traversée inutile)



symbolische Novelle

https://doi.org/10.1515/9783110655063-003

182

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Tab. 19 (fortgesetzt) Autor, Titel

Erscheinungsjahr Gattung

Diese ersten sieben Kurzfiktionen liegen auch in Easy-Readers-Fassungen vor, die in Kapitel  dieser Arbeit analysiert werden. .

Henri Michaux, Plume au restaurant



surrealistische Novelle

.

Fred Kassak, Iceberg



nouvelle à chute

. Michel Tournier, Écrire debout



sozialkritische Novelle

. Didier Daeninckx, Toute une année au soleil



psychologische Novelle

. Tahar Ben Jelloun, Un fait divers et d’amour



sozialkritische Novelle

. Jean-Claude Izzo, Chien de nuit



sozialkritische Novelle

. Anna Gavalda, Happy Meal



nouvelle à chute

. Samuel Millogo, L’avenir de l’homme



sozialkritische Novelle

Die zuletzt aufgeführten acht Novellen sind in ausführlich annotierten Textsammlungen für den Französischunterricht an deutschen Schulen enthalten; die Art und Weise der Annotierung wird wiederum Gegenstand der Analysen in Kapitel 4 sein.

Die Entscheidung für narrative Kurzformen ist in erster Linie der Konzeption des textlinguistischen Analyserasters geschuldet, das zur Beurteilung des Komplexitätsgrades eines Textes prinzipiell die Berücksichtigung jeder globalen Leerstelle, jeder Anspielung, jeder Verletzung der Grice’schen Maximen, jedes Satzrahmens und jedes einzelnen Textwortes vorsieht. Die erforderliche Bedeutungs- und Komplexitätsanalyse gestaltet sich also recht zeitintensiv, was z.B. bei der Wahl von Romanen, die häufig mehrere hundert Seiten umfassen, ein sehr kleines Korpus zur Folge gehabt hätte. Da die Korpusanalyse aber auch das Aufdecken von Komplexitätsmustern und Wechselwirkungen hoher oder geringer Komplexitätswerte bezüglich einzelner Kategorien zum Ziel hat, ist ein umfangreicheres Korpus und deshalb der Rückgriff auf kürzere Texte nötig. Ein ebenfalls denkbares Mischkorpus aus Kurz- und Langprosa hätte das Problem der Vergleichbarkeit von Texten extrem unterschiedlichen Umfangs aufgeworfen und ebenso wie ein reines Romankorpus wohl eine weitere Komplexitätskategorie erfordert, die die Komplexität der dargestellten Handlung bewertet. Diese ist in Novellen gattungsbedingt kurz, funktional straff organisiert, geschlossen und von

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

183

wenigen Figuren getragen (cf. Blüher 1985, 11), insgesamt also eher einfach und kaum zur Identifikation von Komplexitätsunterschieden zwischen einzelnen Vertretern der Gattung geeignet. In Romanen hingegen kann die Anzahl der Figuren sowie die Anzahl der Ereignisse oder Motive, deren Verknüpfung die Handlung ausmacht, stark variieren. Außerdem kann die Handlung ein- oder mehrsträngig sein, Wendepunkte und Komplikationen aufweisen, offen oder geschlossen sein etc., was die Komplexität eines einzelnen Werkes natürlich beeinflusst und im Analyseraster berücksichtigt werden müsste. Letztlich ist die relative Vergleichbarkeit von Texten hinsichtlich ihrer Komplexität also eher gegeben, wenn ihre diskurstraditionelle Prägung nicht allzu unterschiedlich ist, sondern vielmehr eine gemeinsame Basis aufweist. Neben der soeben begründeten Wahl von Texten aus dem Bereich der Kurzprosa bestimmen weitere Zielsetzungen die Zusammensetzung des Korpus. Zum einen sollen (innerhalb des Bereichs der Kurzfiktion) sowohl eine gewisse Streuung der Textgattungen und Epochen als auch Clusterbildungen hinsichtlich rekurrenter Merkmale wie z.B. Genre oder Ausgestaltung der Erzählsituation verwirklicht werden. Eine solche Zusammensetzung ermöglicht nämlich einerseits das Aufzeigen diskurstraditionell bedingter Komplexitätsunterschiede, andererseits erlaubt beispielsweise die Analyse einer Gruppe von nouvelles à chute oder mehrerer Novellen mit einer auktorialen Erzählsituation auch begründete Aussagen über Komplexitätsmuster, was Gegenstand von Kapitel 3.4 sein wird. Schließlich orientiert sich das Korpusdesign noch an den Kriterien der Relevanz bzw. Repräsentativität der Texte sowie an der Verfügbarkeit annotierter oder vereinfachter Fassungen, was allerdings weitgehend korreliert. Das Korpus soll relevante und repräsentative Texte enthalten, die von epochenübergreifendem bzw. universellem Interesse sind, von Autoren verfasst sind, die fest im kulturellen Gedächtnis Frankreichs verankert sind, identitätsstiftend für das Fach Französisch als Fremdsprache sein können (cf. Voss 2014, 5) und zentrale Strömungen der Literaturgeschichte repräsentieren. Diese Anforderungen erfüllen natürlich Texte von Klassikern wie Maupassant, Zola oder Daudet und von modernen Klassikern wie Julien Green oder Michel Tournier, die sich deshalb (in drei Fällen auch gleich mit zwei Erzählungen) in unserem Korpus wiederfinden. Texte der genannten Autoren sind fest im mutter- und fremdsprachlichen Französischunterricht verankert (cf. Fäcke 2010, 191s.), weshalb sie auch häufig in Easy-Readers-Versionen und annotierten Fassungen vorliegen, deren Analyse Gegenstand von Kapitel 4 dieser Arbeit ist. Zudem erhöht die Präsenz der genannten Autoren und Texte im schulischen Kontext den praktischen Nutzen der Komplexitätsanalyse: natürlich ist für einen Französischlehrer das Wissen um die Komplexität einer Erzählung zentral für ihren adäquaten Einsatz in einer Lerngruppe. Im Interesse einer möglichst breiten Streuung der Korpustexte finden sich aber nicht

184

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

nur Texte der genannten Klassiker darin wieder, sondern mit Un fait divers et d’amour von Tahar Ben Jelloun und L’avenir de l’homme von Samuel Millogo auch zwei Novellen aus dem frankophonen Raum, drei Novellen von ausgewiesenen Krimi-Autoren (Fred Kassak, Didier Daeninckx und Jean-Claude Izzo) sowie mit Happy Meal von Anna Gavalda eine nouvelle à chute einer zeitgenössischen Bestsellerautorin. Die so entstandene Variabilität von Epochen, Gattungen, kanonisierten und zeitgenössischen Autoren innerhalb des Korpus ist wiederum dem Erkenntnisinteresse geschuldet, möglichst unterschiedliche Ausprägungen von diskurstraditioneller und semantischer Komplexität zu entdecken. Wie oben bereits erwähnt wurde, werden bei der Untersuchung der prägenden Diskurstraditionen der Korpustexte in erster Linie Textgattung und Erzählsituation berücksichtigt. Ein Blick auf das Korpus zeigt, dass 13 der 15 Texte unter die Gattung Novelle subsumiert werden können, weshalb an dieser Stelle eine Charakterisierung dieses Genres erfolgen soll, die gleichzeitig deutlich machen wird, warum detailliertere Gattungsbeschreibungen (nouvelle à chute, conte fantastique, symbolische Novelle etc.) im Verlauf der Korpusanalyse vonnöten sein werden. Dass eine allgemeingültige und hinreichende Definition der Gattung Novelle kein leichtes Unterfangen ist, betonen alle, die sich daran versuchen. Yves Stalloni (2005, 71) bezeichnet in seiner Abhandlung Les Genres littéraires die Novelle als «genre fuyant», was Etiemble (2001, 531) im Dictionnaire des Genres et notions littéraires mit den Worten «L’idée de nouvelle reste floue.» bestätigt. Letzterer führt weiter aus, dass es unmöglich sei, der Novelle allgemeingültige Normen und Konstanten zuzuordnen (cf. ib., 530), da ihr Geist und ihre Funktion in hohem Maße abhängig von der Epoche ihrer Entstehung sowie dem Genie ihrer Autoren seien (cf. ib., 527). Diese Einschätzung teilt Blüher (1985), weshalb er in seinem Standardwerk Die französische Novelle auch zahlreiche Novellenmodelle spezifischer Prägung vorstellt, die bei der diskurstraditionellen Charakterisierung der Korpustexte berücksichtigt werden. Dennoch scheut Blüher nicht davor zurück, dem Novellengenre einige allgemeingültige konstitutive Merkmale zuzuschreiben, die seiner Ansicht nach aus der «ursprünglichen Orientierung der Novelle am mündlichen Erzählen» sowie «den besonderen Bedingungen narrativer Kommunikation, wie sie in einer Kurzfiktion verwirklicht [werden]» (Blüher 1985, 11), resultieren. Die Blüher’schen Charakteristika umfassen letztlich sowohl die von Etiemble (2001, 531) mit einem Fragezeichen versehenen essentiellen Merkmale Kürze und dramatische Spannung als auch die drei von Stalloni (2005, 69ss.) (zu stark aufgefächerten und deshalb nicht mehr repräsentativen) «particularités propres du genre», nämlich Einheit der Handlung, monodische Erzählweise und Anspruch auf Wahrheit. Deshalb sollen im Folgenden die vier von Blüher (1985, 11) als «konstante Textmerkmale der Novelle» identifizierten Aspekte vorgestellt werden, die für die folgende Analyse der

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

185

verschiedenen Novellentypen als Folie dienen, vor der eventuelle Abweichungen einzelner Textexemplare sichtbar werden: – Die Novelle präsentiert eine ‹kurze›, funktional straff organisierte Handlung, die – vergleichbar dem Drama – eine geschlossene, mit einer pointiert herausgehobenen Handlungsklimax ausgestattete Struktur aufweist. Dies führt dazu, dass die Geschichte einschließlich der Schlusspointierung ‹in einem Zuge› gelesen werden kann (cf. ib., 11). – Die Novelle bevorzugt eine ‹vermittelnde› Erzählinstanz, die im Vergleich zum Roman zumeist wesentlich deutlicher im Text markiert erscheint und den Aspekt der narrativen ‹Kommunikation› unterstreicht. Deshalb dominieren in der Novelle Ich-Erzähler, die mittels einer Rahmenerzählung in einer simulierten Erzählsituation dargestellt werden, sowie auktoriale Erzähler, die den impliziten Leser direkt anvisieren (cf. ib., 11s.). Hinsichtlich der Erzählinstanz gesteht Blüher allerdings zu, dass in einigen Typen moderner Novellistik auch die personale Erzählsituation anzutreffen ist, was in unseren Korpustexten des 20. und 21. Jahrhunderts häufig der Fall ist (cf. ib., 12). – Ein weiteres Merkmal der Gattung Novelle ist der «Anspruch auf ‹mimetisches› Erzählen, das die Illusion einer unmittelbaren Widerspiegelung der Wirklichkeit zu erzeugen versucht», sowie die Orientierung am «Code parlé der jeweiligen Epoche» (ib., 12). – Ein viertes und letztes Charakteristikum der Gattung besteht im «Authentizitätsanspruch des Erzählten, der ursprünglich vom fiktionalen Ich-Erzähler explizit vertreten, später aber häufig nur noch implizit signalisiert wird» (ib., 12). Die Auflistung zeigt, dass Blüher u.a. eine bestimmte Art der Gestaltung des Erzählvorgangs als gattungsbestimmendes Moment betrachtet. Da dieser diskurstraditionelle Aspekt deutliche Auswirkungen auf die semantische Komplexität eines Textes haben kann, wird er bei der Analyse der Korpustexte grundsätzlich berücksichtigt. In Kapitel 2.1.3 wurde bereits darauf hingewiesen, dass literarische Texte durch eine indirekte Kommunikationssituation zwischen Autor und Leser gekennzeichnet sind, was impliziert, dass der Autor eines fiktionalen Textes zwar die Sätze seines Werkes produziert, aber der fiktive Erzähler sie mit Wahrheitsanspruch behauptet (cf. Martínez/Scheffel 1999/2012, 19). Da ein und dieselbe Geschichte auf unzählige verschiedene Weisen erzählt werden kann, muss zwischen dem «Wie» und dem «Was» von Erzählungen, also der Darstellung und dem Erzählten (= erzählte Welt und Handlung) unterschieden werden (cf. ib., 29ss.). Die zentralen Parameter der Darstellung sind in erster Linie die Erzählsituation, die vornehmlich durch die Beantwortung der Fragen ‹Wer spricht?› und ‹Wer sieht?› charakterisiert werden kann (cf. ib., 66), sowie die Gestaltung des Verhältnisses zwischen der Zeit der erzählten Geschichte und der Zeit der Erzählung (cf. ib., 34).

186

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Im Rahmen der diskurstraditionellen Charakterisierung unserer Korpustexte werden wir zum einen auf die bekannte Typologie von Erzählsituationen nach Franz K. Stanzel34 zurückgreifen, die die auktoriale, die personale und die Ich-Erzählsituation unterscheidet, die an gegebener Stelle näher erläutert werden. Es wird aber gleichermaßen die Genette’sche Theorie der literarischen Erzählung35 hinzugezogen, die zentrale Grundlage der breit rezipierten Einführung in die Erzähltheorie von Martínez/Scheffel (1999/2012) ist. Genette (1998/2010, 119) differenziert deutlicher zwischen der Person, die spricht, also dem Erzähler, und der Figur, deren Blickwinkel für die narrative Perspektive maßgebend ist (Fokalisierung). Somit können auch sehr individuelle Erzählsituationen adäquat beschrieben werden (cf. Martínez/Scheffel 1999/2012, 96). In unserem Kontext sind vor allem die Stellung des Erzählers zum erzählten Geschehen und die Fokalisierung relevant, auf die hier kurz eingegangen werden soll. Genette differenziert Erzählungen nach der Art der Beziehung, die zwischen Erzähler und Figuren besteht. Diesbezüglich sind zwei grundsätzlich verschiedene Arten zu unterscheiden, die es nahelegen, von einem heterodiegetischen oder einem homodiegetischen Erzähler zu sprechen (cf. Genette 1998/2010, 161s.; Martínez/Scheffel 1999/ 2012, 84): Tab. 20: Stellung des Erzählers zum erzählten Geschehen (nach Martínez/Scheffel 1999/2012, 84). Homodiegetischer Erzähler

Erzählungen, in denen der Erzähler an der von ihm erzählten Geschichte als Figur beteiligt ist (wobei diese Figur in diesem Fall zwei unterschiedliche Rollen umfasst: ein erzählendes und ein erzähltes bzw. erlebendes Ich).

Heterodiegetischer Erzähler

Erzählungen, in denen der Erzähler nicht zu den Figuren seiner Geschichte gehört (in diesem Fall gibt es kein erlebendes, sondern nur das erzählende, als leibliche Person womöglich gar nicht fassbare Ich des Sprechers der Erzählrede).

Die Beschreibungskategorie der Fokalisierung, also der Perspektivierung des Erzählten, trägt der Tatsache Rechnung, dass es in narrativen Texten verschiedene Modi der Informationsregulierung gibt, die auf der Wahl oder Nicht-Wahl eines einschränkenden «Blickwinkels» beruhen (cf. Genette 1998/2010, 118). Wenn die Dinge aus der Perspektive einer Figur geschildert werden, fungiert diese «als Fokalisator oder Linse, durch deren Gedanken und Wahrnehmungen das Geschehen dem Leser vermittelt wird» (Fludernik 2006/2010, 47). Die Darstellung eines Geschehens kann prinzipiell aus drei verschiedenen Blickwinkeln erfolgen:

34 Stanzel, Franz K., Theorie des Erzählens, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 82008 (1982). 35 Genette, Gérard, Die Erzählung, Paderborn, Fink, 32010 (1998).

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

187

Tab. 21: Drei Typen von Fokalisierung (nach Martínez/Scheffel 1999/2012, 67). Nullfokalisierung (= auktorial) «Übersicht»

Der Erzähler weiß bzw. sagt mehr, als irgendeine der Figuren weiß bzw. wahrnimmt.

Interne Fokalisierung (= aktorial) «Mitsicht»

Der Erzähler sagt nicht mehr, als die Figur weiß.

Externe Fokalisierung (= neutral) «Außensicht»

Der Erzähler sagt weniger, als die Figur weiß.

Fludernik (2006/2010, 48s.) weist darauf hin, dass die Nullfokalisierung Stanzels auktorialer Erzählsituation entspricht, in der der auktoriale Erzähler über der Welt der Handlung steht, auf diese herabblickt und in der Lage ist, in die Köpfe und Herzen der Figuren hineinzusehen. Seine Perspektive ist also nicht eingeschränkt. Eingeschränkt sind hingegen die interne und externe Fokalisierung: erstere auf die Perspektive einer handelnden Person, letztere (auch camera-eye genannt) auf eine externe Sicht auf die Welt und andere Personen. In diesem Fall ist keine Innensicht möglich, man sieht die Figuren sprechen und handeln, ohne jemals einen direkten Einblick in ihr Denken und Fühlen zu bekommen (cf. Martínez/Scheffel 1999/2012, 69). Dass die hier kurz vorgestellten Darstellungsvarianten einer Geschichte Auswirkungen auf ihre Komplexität haben, ist unmittelbar einsichtig. So kann natürlich eine Erzählung mit einem heterodiegetischen Erzähler und einer Nullfokalisierung Aspekte ansprechen, Innensichten vermitteln und Kommentare liefern, die im Fall einer externen Fokalisierung undenkbar wären. Solche diskurstraditionell bedingten Komplexitätsunterschiede werden in den vier Kapiteln von Teil 3 dieser Arbeit mehrfach aufgezeigt werden. Das erste Kapitel des korpusbasierten Teils demonstriert am Beispiel der fantastischen Erzählung La Main von Guy de Maupassant, wie unter Einsatz des entwickelten Komplexitätsmodells für die linguistische Textanalyse und hinsichtlich aller 14 zugrundegelegten Kategorien eine begründete Einschätzung der Komplexität eines Textes im Korpuskontext getroffen werden kann. In Kapitel 3.2 wird eine der 14 Kategorien, nämlich die «Komplexität in Bezug auf die suppletive Kontextbildung» herausgegriffen und aufgezeigt, wie stark Diskurstraditionen wie Textgattung, Gestaltung der Erzählsituation und des

36 Die Begriffe Nullfokalisierung, interne und externe Fokalisierung wurden von Gérard Genette (1998/2010) geprägt. Die Begriffe Übersicht, Mitsicht und Außensicht finden sich nach Aussage von Martínez/Scheffel (1999/2012) erstmals in Pouillon (1946).

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Erzählauftaktes auf die Art der Instantiierung von Personen- und Orts-Frames einwirken und somit auch die Komplexität der genannten Kategorie bedingen. Im folgenden Kapitel (3.3) wird literarische Ambiguität, die auf der ersten und/oder zweiten semiotischen Ebene in Erscheinung treten kann, als Indikator für diskurstraditionelle und semantische Komplexität identifiziert, was am Beispiel von drei hochambigen Korpustexten illustriert und begründet werden soll. Kapitel 3.4 schließlich widmet sich diskurstraditionell bedingten Wechselwirkungen zwischen den Komplexitätswerten bestimmter Kategorien, die in verstärkender oder neutralisierender Form vorkommen können, und zeigt im Rahmen der Möglichkeiten, die durch unser Korpus gegeben sind, Komplexitätsmuster von Vertretern bestimmter Textgattungen auf.

3.1 Exemplarisches Komplexitätsprofil: Guy de Maupassant, La Main 3.1.1 Diskurstraditionelle Charakterisierung und Résumé der Erzählung Bei der im Jahr 1883 erschienenen Erzählung La Main von Guy de Maupassant handelt es sich um eine conte fantastique. Charakteristisch für dieses Genre ist die Spannung zwischen realistisch gestalteter Diegese und übernatürlich anmutenden Ereignissen: «Fantastische Literatur ist Literatur, in der in einer realistisch gezeichneten Welt als übernatürlich erscheinende Ereignisse eintreten, deren Status häufig nicht oder nicht eindeutig geklärt werden kann» (Dunker 2009, 240).

Diese Ungewissheit bzw. Ambiguität in Bezug auf den Status der geschilderten Ereignisse stellt auch Tzvetan Todorov (1970, 29) in seiner einflussreichen Introduction à la littérature fantastique ins Zentrum seiner Definition des Fantastischen: «Le fantastique, c’est l’hésitation éprouvée par un être qui ne connaît que les lois naturelles, face à un événement en apparence surnaturel».

Roger Caillois (1974) macht den besonderen Umgang fantastischer Literatur mit dem Übernatürlichen deutlich, indem er ihn mit der Darstellung und der Wahrnehmung des Übernatürlichen im Märchen kontrastiert: «Das Märchen spielt sich in einer Welt ab, in der Zauber etwas Alltägliches ist und Magie die Regel. Das Übernatürliche ist dort nicht beängstigend. Es ist nicht einmal verblüffend, weil es der Kern dieser Welt ist, ihr Gesetz, ihr Klima» (Caillois 1974, 46).

3.1 Exemplarisches Komplexitätsprofil: Guy de Maupassant, La Main

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«Das Phantastische spielt sich nicht in dem Zauberwald Dornröschens ab, sondern in dem trostlosen bürokratischen Universum der heutigen Gesellschaft» (ib., 52).

Folglich stelle das Übernatürliche in der fantastischen Literatur «ein Ärgernis, einen Riß, einen befremdenden, fast unerträglichen Einbruch in die wirkliche Welt» (ib., 45) dar. Daraus resultiert auch ein weiterer Gegensatz zum Märchen: gemäß Caillois vollziehen sich fantastische Erzählungen nämlich in einem «Klima des Grauens und enden fast unausweichlich mit einem unheilvollen Ereignis» (ib., 46). Fantastische Literatur sei letztlich «in erster Linie ein Spiel mit der Angst» (ib., 56). Weiterhin muss darauf hingewiesen werden, dass die so definierte fantastische Literatur – sowohl Todorov (1970) als auch Caillois (1974) vertreten eher eine «minimalistische Genredefinition»37 nach Durst (2001, 37) – erst seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts möglich ist, «seitdem die Welt für nach rationalen Gesetzen immanent erklärbar gehalten wird, so dass eine Grenzlinie zum Übernatürlichen, das sich diesen Gesetzen eben nicht fügt, sichtbar werden kann» (Dunker 2009, 244). Maupassant selbst hat in Le Gaulois vom 7. Oktober 1883 eine Abhandlung über das Fantastische («Le Fantastique») verfasst und seinerseits den neuen Umgang fantastischer Literatur mit dem Übernatürlichen erklärt. Die Autoren würden demnach um das Übernatürliche «herumschleichen» und immer an der Grenze zum Möglichen verharren und auf diese Weise den Leser in eine regelrecht schmerzhafte Unschlüssigkeit und Verwirrung treiben: «Lentement, depuis vingt ans, le surnaturel est sorti de nos âmes. Il s’est évaporé comme s’évapore un parfum quand la bouteille est débouchée. [. . .] Mais quand le doute eut pénétré enfin dans les esprits, l’art est devenu plus subtil. L’écrivain a cherché des nuances, a rôdé autour du surnaturel plutôt que d’y pénétrer. Il a trouvé des effets terribles en demeurant sur la limite du possible, en jetant les âmes dans l’hésitation, dans l’effarement. Le lecteur indécis ne savait plus, perdait pied comme en une eau dont le fond manque à tout instant, se raccrochant brusquement au réel pour s’enfoncer encore tout aussitôt, et se débattre de nouveau dans une confusion pénible et enfiévrante comme un cauchemar» (Maupassant 1883, zit. nach Forestier 1974, 1611).

Diese aus der perfekt inszenierten Ambiguität erwachsende «fiebrige Verwirrung» erlebt der Leser von Maupassants fantastischen Erzählungen regelmäßig

37 Durst (2001) unterscheidet zwischen einer minimalistischen und einer maximalistischen Genredefinition. Die minimalistische Genredefinition zählt nur solche Werke zum Fantastischen, die «auf dem ungelösten Streit zweier inkompatibler Erklärungsweisen [beruhen]» (ib., 37). Die maximalistische Definition hingegen berücksichtigt alle Texte, «in deren fiktiver Welt die Naturgesetze verletzt werden», ohne dass ein «Zweifel an der binnenfiktionalen Tatsächlichkeit des Übernatürlichen [eine] definitorische Rolle spielt» (ib., 27).

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am eigenen Leib und sie ist gemäß Louis Forestier (1974, 1611) auch eine der wesentlichen Qualitäten des Autors: «Cette ambiguité est une des forces de l’écrivain dans ce genre de récit».

Nach dieser kurzen Charakterisierung fantastischer Literatur kann unter Hinzuziehung der in Kapitel 2.1.2 entwickelten quantitativen und relativ zum Rezipienten feststellbaren Kriterien diskurstraditioneller Komplexität bereits eine erste Einschätzung der Anforderungen erfolgen, die eine fantastische Erzählung des 19. Jahrhunderts in der Regel an das diskurstraditionelle Wissen der Rezipienten stellt. Zunächst beruht eine fantastische Erzählung als literarische Textgattung natürlich auf einer definitorischen Setzung – Caillois (1974, 59) betont sogar, dass es sich dabei um ein «genau festgelegtes literarisches Genre» handelt – und sie kann «als historisch verfestigte Konfiguration von Diskurstraditionen gesehen werden, die holistisch als Textmodell wahrgenommen [wird]» (Schrott 2014, 90). Weiterhin formt und beeinflusst diese Gattung mehrere textinterne Strukturen in sehr spezifischer Form. An erster Stelle ist das Textthema zu nennen, bei dem es sich generell um ein «unheilvolles Ereignis» (Caillois 1974, 46) handelt. Roger Caillois nennt in seiner Aufstellung der typischen Themen des Genres u.a. den Teufelspakt, die Verkörperung des Todes, die unter den Lebenden erscheint, sowie die Statue, die Puppe oder den Automaten, die sich plötzlich beleben und eine gefährliche Unabhängigkeit erlangen (cf. ib., 63–65). Louis Vax (1974, 34) fügt dem zuletzt genannten Themenkomplex auch die «vom menschlichen Körper losgelösten Teile» hinzu, die ein Eigenleben zu führen scheinen, – dies ist das fantastische Motiv, dem wir in La Main begegnen. Darüber hinaus beeinflusst die Gattung die dominierende Stimmung des Textes, die Caillois (1974, 46) als «Klima des Grauens» beschreibt. Die Tatsache, dass in fantastischen Erzählungen das Übernatürliche in eine «realistisch gezeichnete Welt» einbricht (cf. Dunker 2009, 240), formt weiterhin zwingend die Art der suppletiven Kontextbildung. Diese muss das Geschehen in der realen Geographie verankern und den Figuren einen realistischen Charakter verleihen. Die genretypische Ambiguität hinsichtlich der unheilvollen Ereignisse wird besonders großen Einfluss auf textinterne Strukturen ausüben, denn sie erfordert nahezu zwingend eine systematische Umkehrung der 2. Untermaxime der Modalität (Vermeide Mehrdeutigkeit) in ihr Gegenteil. Eine fantastische Erzählung funktioniert also grundsätzlich anders als alltägliche Kommunikation, was der Leser wissen muss, um zu einer adäquaten Deutung zu gelangen. Der erwartbare Bruch besagter Untermaxime kann mehrere textsemantische Dimensionen beeinflussen: mit hoher Wahrscheinlichkeit sind Leerstellen in Bezug auf das zentrale Handlungsschema zu verzeichnen, gibt es Andeutungen und Evokationen und wird die Herstellung von Kohärenz erschwert. Die genannten Aspekte sprechen also für einen hohen Komplexitätswert in Bezug auf die Kategorie «Anforderungen an das diskurstraditionelle

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Wissen». Der Grad der kulturellen Spezifizierung, der fantastische Literatur auszeichnet, ist zwischen mäßig und hoch anzusiedeln, zumal wenn man sich auf die fantastische Erzählung des 19. Jahrhunderts konzentriert, die die minimalistischen Definitionen von Todorov (1970) und Caillois (1974) in erster Linie im Blick haben und zu der auch La Main gehört. Immerhin schlägt der Hessische Lehrplan für das Fach Deutsch in der Jahrgangsstufe Q1 im Rahmen des Themenkomplexes «Wirklichkeit und Phantasie» die Lektüre von E.T.A. Hoffmans Der goldene Topf, Der Sandmann oder Die Elixiere des Teufels vor (cf. Hessisches Kultusministerium 2010, 58) – drei fantastische Erzählungen eines der bedeutendsten Autoren des Genres –, so dass ein hessischer Abiturient in der Regel über Kenntnisse dieser Gattung verfügen wird. Maupassants fantastische Erzählung weist allerdings eine Besonderheit auf, die konträre Auswirkungen auf den soeben als eher hoch eingestuften Komplexitätswert der Kategorie «Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen» hat. Es handelt sich bei La Main um eine fantastische Erzählung mit umschließender Rahmung und die Rahmenerzählung enthält nicht nur explizite Hinweise auf die Zugehörigkeit der conte zum Genre des Fantastischen, sondern inszeniert gar eine metapoetologische Reflexion über das Genre sowie eine Zuhörerschaft, die genau die Unschlüssigkeit empfindet, die nach Todorov (1970) die Gattung charakterisiert und die sich auch beim Leser einstellen soll. In der Rahmenerzählung stellt ein heterodiegetischer Erzähler die Person des Untersuchungsrichters M. Bermutier vor, der bei einer Abendveranstaltung einem vornehmlich weiblichen Publikum seine Meinung zur affaire de Saint-Cloud darlegt, einem unerklärlichen Verbrechen, das ganz Paris umtreibt. Die von neugieriger Angst ergriffenen Damen («[. . .] crispées par leur peur curieuse, par l’avide et insatiable besoin d’épouvante [. . .]», M, 1116) bezeichnen dieses Verbrechen als surnaturel – ein Begriff, den M. Bermutier als unpassend ablehnt. Er gibt dann aber zu, dass ihm tatsächlich einmal ein Verbrechen begegnet sei, das den Anschein des Fantastischen gehabt habe: «Mais j’ai eu, moi, autrefois, à suivre une affaire où vraiment semblait se mêler quelque chose de fantastique. Il a fallu l’abandonner d’ailleurs, faute de moyens de l’éclaircir» (M, 1116).

Dieser dem Untersuchungsrichter in den Mund gelegte Satz stellt also eine deutliche Anspielung auf das Genre der gegebenen Erzählung dar. Bevor M. Bermutier auf inständige Bitte der Damen hin zum Ich-Erzähler der so angekündigten Binnenerzählung wird, stellt er allerdings Folgendes klar: «N’allez pas croire, au moins, que j’aie pu, même un instant, supposer en cette aventure quelque chose de surhumain. Je ne crois qu’aux choses normales. Mais si, au lieu

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d’employer le mot ‹surnaturel› pour exprimer ce que nous ne comprenons pas, nous nous servions simplement du mot ‹inexplicable›, cela vaudrait beaucoup mieux» (M, 1117).

Somit wird in der einleitenden Rahmung nicht nur ein expliziter Hinweis auf das Genre der Erzählung geliefert, sondern es werden auch noch dessen typische Merkmale vorgestellt: der unauflösbare Konflikt zwischen einer natürlichen und einer übernatürlichen Erklärung der unheilvollen Ereignisse, der hier zwischen dem rationalen Untersuchungsrichter und der weiblichen, an Übernatürliches glaubenden Zuhörerschaft ausgetragen wird, sowie die Befriedigung der Leserbedürfnisse nach Angst (leur peur curieuse) und Grauen (le [. . .] besoin d’épouvante) – was im gegebenen Fall die Damen von der Erzählung Bermutiers erhoffen. Folglich wird der Leser eingestimmt auf das, was ihn in der Binnenerzählung erwartet, und die weibliche Zuhörerschaft spiegelt ihm die Gefühle und die Unschlüssigkeit, die er beim Lesen der fantastischen Begebenheit empfinden soll. Bermutier als Ich-Erzähler der Binnenerzählung berichtet in der Folge von seiner Zeit als Untersuchungsrichter in Ajaccio, wo er sich vornehmlich mit grauenhaften Fällen von Vendetta zu beschäftigen hatte. Bald erregt ein zurückgezogen lebender Engländer, über den beunruhigende Gerüchte grassieren, seine Aufmerksamkeit und Bermutier sorgt dafür, dass er bei der Jagd dessen Bekanntschaft macht. Wenig später wird der Richter in das Haus des passionierten Jägers Sir John Rowell eingeladen, wo ihm eine gehäutete und getrocknete menschliche Hand auffällt, die mit einer Eisenkette an der Wand befestigt ist. Rowell erklärt, dass diese seinem ärgsten Feind gehörte und die Kette nötig sei, da die Hand ständig flüchten wolle – eine Behauptung, die der Richter nicht einzuordnen weiß. Ein Jahr später wird der Engländer erwürgt aufgefunden. M. Bermutier konstatiert, dass die Hand verschwunden ist und dass sich im Mund des entstellten Toten zwei Glieder des Zeigefingers derselben befinden. Der Mörder kann nicht ermittelt werden, doch drei Monate nach der Tat wird die ominöse Hand mit fehlendem Zeigefinger auf dem Grab Rowells gefunden. In der abschließenden Rahmung wird zunächst deutlich, dass die Erzählung Bermutiers ihre Funktion erfüllt hat, indem sie den Damen das erhoffte Grauen und Entsetzen beschert hat: «Les femmes, éperdues, étaient pâles, frissonnantes» (M, 1122).

Weiterhin beklagt das weibliche Publikum unter Verwendung des entsprechenden poetischen Terminus technicus das genretypische Fehlen eines dénouement, also einer Lösung des im literarischen Text geschürzten Handlungsknotens, sowie einer eindeutigen Erklärung für dieses schreckliche Ereignis und äußert sein Missfallen darüber, die resultierende Ungewissheit aushalten zu müssen – ein weiteres Gattungsmerkmal des Fantastischen:

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«‹Mais ce n’est pas un dénouement cela, ni une explication ! Nous n’allons pas dormir si vous ne nous dites pas ce qui s’était passé selon vous›» (M, 1122).

Der derart bedrängte Untersuchungsrichter führt daraufhin – wie es seinem Beruf und seiner rationalen Denkweise entspricht – eine mögliche natürliche Erklärung des Mordes an: «‹Je pense tout simplement que le légitime propriétaire de la main n’était pas mort, qu’il est venu la chercher avec celle qui lui restait. Mais je n’ai pu savoir comment il a fait, par exemple. C’est là une sorte de vendetta›» (M, 1122).

Die Unzufriedenheit mit diesem Erklärungsversuch wird in der Aussage einer der Damen – «Non, ça ne doit pas être ainsi.» (M, 1122) – deutlich und somit bleibt am Ende der Erzählung bei der fiktiven Zuhörerschaft ebenso wie beim realen Leser die gattungstypische Unschlüssigkeit zwischen einer rationalen und einer übernatürlichen Erklärung des unheilvollen Ereignisses bestehen. La Main von Maupassant stellt somit zum einen eine prototypische fantastische Erzählung dar und bietet darüber hinaus in ihrer Rahmenerzählung eine inszenierte Gattungsdiskussion, die sowohl Todorovs als auch Maupassants eigene (cf. die oben zitierte Passage aus «Le Fantastique») Definition und Charakterisierung des Genres in die Fiktion einbindet. Diese Besonderheit kann man einerseits hinsichtlich der «Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen» als komplexitätsreduzierend begreifen, da die Rahmenerzählung geradezu eine didaktische Einführung in die Gattung des Fantastischen liefert, dem Leser ihre zentralen Merkmale vorstellt und ihm durch die inszenierte Erzählsituation zwischen Bermutier und seinen Zuhörerinnen die Gefühle (gierige Angst, lustvolles Grauen) und die Ungewissheit widerspiegelt, die er selbst nach der Lektüre der Erzählung empfinden soll. Andererseits jedoch ist es sehr fraglich, ob ein Leser, der über keine oder nur rudimentäre Kenntnisse des Fantastischen verfügt, überhaupt in der Lage ist zu erfassen, dass in der Rahmenhandlung nicht etwa zwei Sachverhalte (l’affaire mystérieuse de Saint-Cloud, der Mord an Rowell) bewertet werden, sondern tatsächlich eine Gattung diskutiert wird. Um die metapoetische Ebene der Rahmenerzählung zu verstehen, bedarf es also letztlich eines detaillierten Gattungswissens und somit neutralisieren sich der metapoetologische und der didaktische Charakter der Rahmung gegenseitig und bleibt die oben begründete Einschätzung bestehen, dass die conte fantastique La Main eher hohe Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen ihrer Rezipienten stellt. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Charakteristika der Gattung zudem einige semantische Kategorien in komplexitätssteigernder Weise beeinflussen, was im folgenden Komplexitätsprofil zu erläutern sein wird, ist der

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Kategorie «Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen» also der überdurchschnittlich hohe Komplexitätswert 4 beizumessen.

3.1.2 Komplexitätsprofil von La Main Komplexität in Bezug auf die suppletive Kontextbildung Wie oben bereits angeführt wurde, gibt es im Fall der fantastischen Erzählung La Main diskurstraditionelle Gründe für eine sehr einfache, sehr realistische Art der suppletiven Kontextbildung, die dem Leser unmittelbare Orientierung im fiktionalen Universum erlaubt und ihm suggeriert, dass das fantastische Ereignis in die ihm bekannte reale Welt einbricht. Die Erzählung beginnt mit den folgenden Sätzen: «On faisait cercle autour de M. Bermutier, juge d’instruction qui donnait son avis sur l’affaire de Saint-Cloud. Depuis un mois, cet inexplicable crime affolait Paris. Personne n’y comprenait rien» (M, 1116; meine Hervorhebung).

Die Handlung der Rahmenerzählung wird also unmittelbar in Paris verortet, wo man gerade bestürzt ist über ein mysteriöses Verbrechen, das sich in Saint-Cloud ereignet hat, einer wohlhabenden Pariser Vorstadtgemeinde. Einer der beiden Protagonisten der conte fantastique und Ich-Erzähler der folgenden Binnenerzählung, M. Bermutier, wird im ersten Satz durch Angabe seines Familiennamens und seines Berufs eingeführt. Die Erwähnung des Berufs – un juge d’instruction – vermittelt dem Leser sofort den Eindruck eines intelligenten, rationalen Mannes und dieses Bild wird in der Folge durch seine Argumentationen, seine Zurückweisung des Begriffs surnaturel und Aussagen wie «Je ne crois qu’aux causes normales.» (M, 1117) gestützt. Das so in wenigen Zeilen gezeichnete Porträt des Untersuchungsrichters unterstützt natürlich die Glaubwürdigkeit seiner grausigen Geschichte über den Mord an Rowell und steht im Dienste der Erzeugung von Unschlüssigkeit zwischen einer übernatürlichen und einer rationalen Erklärung dieses Mordes. Bermutier erzählt nämlich gleichsam gegen das Übernatürliche an, das aber dennoch seine Wirkung entfaltet und die von ihm verkörperte Ratio (u.a. in seinen eigenen Albträumen) überwindet. Auch die Ereignisse der Binnenerzählung werden in deren ersten Satz sofort in der realen Geographie verankert, nämlich in der korsischen Hauptstadt Ajaccio, wo Bermutier einst als Untersuchungsrichter tätig war. Auf eine kurze Landschaftsbeschreibung folgt dann unmittelbar eine Skizze der korsischen Gesellschaft, die unter der Geißel der Vendetta zu leiden hat, der Blutrache zur Sühne von Verbrechen oder zur Wiederherstellung der Familienehre. Die grausigen, aber dennoch realistischen Informationen zur Vendetta suggerieren wiederum eine

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rationale Begründung des im Folgenden darzustellenden Mordes, der eben ein weiterer Fall von Blutrache sein könnte: «J’étais alors juge d’instruction à Ajaccio, une petite ville blanche, couchée au bord d’un admirable golfe qu’entourent partout de hautes montagnes. Ce que j’avais surtout à poursuivre là-bas, c’étaient les affaires de vendetta. Il y en a de superbes, de dramatiques au possible, de féroces, d’héroïques. Nous retrouvons là les plus beaux sujets de vengeance qu’on puisse rêver, les haines séculaires, apaisées un moment, jamais éteintes, les ruses abominables, les assassinats devenant des massacres et presque des actions glorieuses. Depuis deux ans, je n’entendais parler que du prix du sang, que de ce terrible préjugé corse qui force à venger toute injure sur la personne qui l’a faite [. . .]» (M, 1117; meine Hervorhebung).

Im Anschluss an diese Beschreibung der in Korsika omnipräsenten Fälle von Vendetta wird der zweite Protagonist der Erzählung durch die unbestimmte Nominalgruppe un Anglais eingeführt: «Or, j’appris un jour qu’un Anglais venait de louer pour plusieurs années une petite villa au fond du golfe. Il avait amené avec lui un domestique français pris à Marseille» (M, 1117).

Somit wird der weiblichen Zuhörerschaft und dem (impliziten) Leser vermittelt, dass diese Figur für sie nicht identifizierbar ist, aber die Benennung und gleichzeitige Charakterisierung unter Rückgriff auf ihre Nationalität evoziert erneut die außertextuelle Realität. Die folgenden Absätze, die insgesamt ein Viertel der Gesamtlänge der conte fantastique ausmachen, liefern zahlreiche Filler für die Slots des so aufgerufenen Personen-Frames – z.B. NAME: John Rowell; AUSSEHEN: un grand homme à cheveux rouges, à barbe rouge, très haut, très large, une sorte d’hercule placide et poli; WOHNORT: une petite villa au fond du golfe; INTERESSEN: chasser, les armes . . . – und zeichnen letztlich das Bild eines sonderbaren, angsterfüllten und gewaltbereiten, aber auch höflichen und gastfreundlichen Zeitgenossen mit bizarren Gewohnheiten und einer bewegten Vergangenheit. So schildert Bermutier, der Rowell persönlich kennen gelernt hat, hauptsächlich seine eigenen Erlebnisse mit dem Engländer, weiterhin die Beobachtungen dritter sowie die Zeugenaussage von Rowells Diener nach dessen Ermordung. Der Leser erfährt also, dass Rowell zurückgezogen lebt, regelmäßig auf die Jagd geht, täglich Schießübungen macht und drei geladene Revolver auf den Möbeln seines Salons platziert hat. Außerdem hat er zahlreiche Reisen unternommen, wilde Tiere und – nach eigenen Aussagen – auch Menschen gejagt, die er für die schlechtesten aller Tiere hält. Mit Hilfe einer Eisenkette hat er eine menschliche Hand, die gehäutet und getrocknet wurde, an der Wand seines Salons befestigt und äußert Bermutier gegenüber, dass diese seinem ärgsten Feind gehörte, den er brutal überwältigt habe. Den Nutzen der Eisenkette erklärt er damit, dass die Hand ständig flüchten wolle. Nach Aussage seines Dieners war er im Monat vor seiner Ermordung auffallend

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unruhig, fühlte sich offenbar bedroht und hat häufig in rasender Wut auf die abgetrennte Hand eingeschlagen. Der Personen-Frame John Rowell enthält also eine Vielzahl sicherer Informationen, die aber dennoch zahlreiche Fragen offen lassen. Da aufgrund der Ich-Erzählsituation keine Innensicht des Engländers verfügbar ist und Bermutier es ablehnt, die Aussagen Rowells und seines Dieners zu interpretieren – auf diesen Aspekt wird in der Folge noch zurückzukommen sein –, muss der Leser selbst analysierend und deutend tätig werden. Aber gerade weil ein allwissender Erzähler fehlt, der in der Lage wäre, die «Wahrheit» über Rowells psychische Gesundheit oder die Natur der ominösen Hand kundzutun, kann der Leser zu keiner sicheren Charakterisierung Rowells gelangen. Somit wird die genretypische Unschlüssigkeit zwischen einer rationalen und einer übernatürlichen Erklärung dem «fantastischen» Ereignis gegenüber zum Teil auch durch die Art der Konstruktion der Figur Rowells erreicht. Eine zeitliche Situierung erfolgt weder für die Geschehnisse der Rahmennoch für die der Binnenerzählung. Dies kann allerdings kaum als komplexitätssteigerndes Informationsdefizit gewertet werden, da die realistischen Beschreibungen der Fälle von Vendetta auf Korsika, der Art und des Personals der Verbrechensaufklärung sowie die angesprochene Möglichkeit zu Fernreisen (en Afrique, dans les Indes, en Amérique . . . ) es nahelegen, die Epoche der fiktiven Ereignisse mit der Epoche der Entstehung der Erzählung – also der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – gleichzusetzen. Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass die Geschehnisse der Erzählung unmittelbar in der realen Geographie (in Paris, auf Korsika) verankert werden, die beiden Protagonisten zu Beginn der Rahmen- bzw. Binnenerzählung eingeführt werden und umfassende Informationen zu beiden Figuren bereitgestellt werden, die im Fall von Bermutier völlig kongruent sind. Die Tatsache, dass der PersonenFrame Rowells einige offene Slots und unklare Filler aufweist, ist im Wesentlichen der eingeschränkten Erzählperspektive der Binnenerzählung geschuldet und dient der Erzeugung der genretypischen Ambiguität. Das Fehlen einer zeitlichen Situierung der Ereignisse geht bei Verfügbarkeit eines Minimums an historischem Wissen nicht mit einer mangelhaften Orientierung des Lesers im fiktionalen Universum einher. Somit erweist sich die Art der suppletiven Kontextbildung als gering bis höchstens mäßig komplex, wird also mit dem Wert 2 beurteilt. Umgang mit den Grice’schen Maximen – Leerstellen/Aussparungen – Andeutungen/Evokationen – Komplexität in Bezug auf Kohäsion & lokale Kohärenz Wie vermutlich die meisten fantastischen Erzählungen zeichnet sich auch La Main durch eine genretypische Modifikation der Grice’schen Maximen, vor allem

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der Modalitätsmaxime aus: die Forderung nach Klarheit wird ersetzt durch die Forderung, den Leser in den Zustand der unauflösbaren Unschlüssigkeit bezüglich zweier rivalisierender Erklärungsmuster für ein übernatürlich anmutendes Ereignis zu versetzen. Dafür muss natürlich insbesondere die 2. Untermaxime der Modalität (Vermeide Mehrdeutigkeit) in ihr Gegenteil verkehrt werden und Ambiguität vielmehr bewusst herbeigeführt werden. Dies geschieht im Fall von La Main durch verschiedene textsemantische Strategien sowie mehrfache Verstöße gegen die 3. Untermaxime der Modalität (Sei kurz – vermeide unnötige Weitschweifigkeit) und vor allem durch die Erzeugung einer Maximenkollision zwischen Quantitäts- und Qualitätsmaxime. Am Beginn der conte stellt der heterodiegetische Rahmenerzähler fest, auf welche Art und Weise M. Bermutier seine Auffassung zur affaire mystérieuse de Saint-Cloud darlegt: «M. Bermutier, debout, le dos à la cheminée, parlait, assemblait les preuves, discutait les diverses opinions, mais ne concluait pas !» (M, 1116; meine Hervorhebung).

Dieselbe Erzählstrategie setzt der Untersuchungsrichter auch in seiner folgenden Binnenerzählung ein. Er reiht die Fakten in Bezug auf den Mord an Rowell aneinander, gibt Zeugenaussagen wieder, beschreibt den Zustand des Leichnams, zieht aber keine Schlüsse daraus und liefert keine Erklärungen. Mit dieser Haltung verstößt er permanent gegen die 2. Untermaxime der Quantität (Mache deinen Beitrag so informativ wie (für die gegebenen Gesprächszwecke) nötig), was die Zuhörerinnen am Ende seiner Erzählung ja auch sofort beklagen: «Mais ce n’est pas un dénouement cela, ni une explication !» (M, 1122). Der Untersuchungsrichter befindet sich aber in einer Maximenzwickmühle. Sein Berufsethos verbietet es ihm, gegen die 2. Untermaxime der Qualität (Sage nichts, wofür dir angemessene Gründe fehlen) zu verstoßen, und im Verlauf seiner Erzählung macht er mehrfach deutlich, dass die polizeiliche Untersuchung des Mordes ergebnislos geblieben ist: «[. . .] on fit dans toute l’île une enquête minutieuse. On ne découvrit rien.» (M, 1121). Folglich weiß Bermutier wirklich nicht, wer den Engländer ermordet hat, wie der Mörder ins Haus gekommen ist, womit Rowell erwürgt wurde etc. und kann somit nicht guten Gewissens Spekulationen abgeben, um der Quantitätsmaxime zu genügen. Diese Konstellation bedingt natürlich das Vorliegen eines echten Komplexitätsmerkmals, nämlich von Leerstellen bzw. Aussparungen in Bezug auf den zentralen Mord-Frame, die zweifelsohne zur kontextabhängigen IMPLIZITHEIT zählen. Sowohl der entscheidende Slot TÄTER als auch die ebenfalls wichtigen Slots TATWERKZEUG und MOTIV bleiben offen und laden den Leser regelrecht zur Mitarbeit an der Aufklärung des Verbrechens ein. Diese Mitarbeit wird ihm aber durch weitere Verstöße gegen die Maximen und textsemantische Strategien zur Erzeugung von

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Ambiguität erschwert und er muss letztlich erkennen, dass es unmöglich ist, diese Leerstellen eindeutig und zweifelsfrei zu füllen. Die sichere Erkenntnis, keine sichere Ergänzung finden zu können, ist aber aufgrund der Gattungszugehörigkeit der Erzählung möglich, und somit ist der Kategorie «Leerstellen/Aussparungen» ein mittlerer Komplexitätsgrad und folglich der Wert 3 beizumessen. Die Maximenkollision zwischen Quantitäts- und Qualitätsmaxime und die daraus resultierenden Leerstellen lassen den nötigen Raum für eine mögliche übernatürliche Erklärung des grausigen Mordes, die durch zahlreiche Verstöße gegen die 3. Untermaxime der Modalität (Sei kurz – vermeide unnötige Weitschweifigkeit) angedeutet wird. M. Bermutier verzichtet nämlich bei aller dominierenden Sachlichkeit und Kürze seiner Erzählung nicht darauf, das eine oder andere Detail sehr ausführlich und mit bewusst eingesetzten Vergleichen zu beschreiben, um damit den Eindruck einer übernatürlichen Gefahr zu vermitteln. So schildert er beispielsweise, dass die abgetrennte Hand mit einer gewaltigen Eisenkette an einem Ring in der Wand befestigt wurde, der seinerseits stark genug sei, um einen Elefanten festzuhalten: «Autour du poignet, une énorme chaîne de fer, rivée, soudée à ce membre malpropre, l’attachait au mur par un anneau assez fort pour tenir un éléphant en laisse» (M, 1119).

Mit dieser plastischen Exaktheit scheint die Andeutung verbunden zu sein, dass die Hand über immense Kräfte verfügt und somit gefährlich ist. Auch die weitere Beschreibung der ominösen Gliedmaße fokussiert an erster Stelle ihre ungewöhnliche Größe und Kraft und suggeriert damit, dass die Hand allein stark genug für einen Mord sein könnte: «Je touchai ce débris humain qui avait dû appartenir à un colosse. Les doigts, démesurément longs, étaient attachés par des tendons énormes [. . .]» (M, 1119).

Des Weiteren zitiert Bermutier ganz bewusst die Aussagen Rowells, die auf ein Eigenleben der Hand schließen lassen: «Je dis : ‹Cette chaîne maintenant est bien inutile, la main ne se sauvera pas.› Sir John Rowell reprit gravement : ‹Elle voulé toujours s’en aller. Cette chaîne été nécessaire›» (M, 1120).

Auch die Beschreibungen des Leichnams Rowells sind ausführlicher als nötig und geprägt von den subjektiven Eindrücken des Untersuchungsrichters, die er in diesem Fall eben nicht verschweigt. Indem Bermutier den Ausdruck auf Rowells Gesicht als «une épouvante abominable» (M, 1120) interpretiert und seinen Eindruck formuliert, die fünf Löcher im Hals des Getöteten rührten von Eisenspitzen her, deutet er an, dass die mysteriöse Hand als Mörder oder zumindest als Tatwerkzeug in Frage kommt:

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«Sa figure noire et gonflée, effrayante, semblait exprimer une épouvante abominable ; il tenait entre ses dents serrées quelque chose ; et le cou, percé de cinq trous qu’on aurait dit faits avec des pointes de fer, était couvert de sang» (M, 1120).

Schließlich zitiert Bermutier in den zweieinhalb Zeilen, die er der ärztlichen Untersuchung des Leichnams widmet, ausgerechnet die folgende Aussage des Arztes: «‹On dirait qu’il a été étranglé par un squelette›» (M, 1121).

und seine mehrfach betonte Sachlichkeit, Rationalität und Fokussierung auf die Fakten hält ihn auch nicht davon ab, den folgenden Albtraum zu erzählen: «Or, une nuit [. . .] j’eus un affreux cauchemar. Il me sembla que je voyais la main, l’horrible main, courir comme un scorpion ou comme une araignée le long de mes rideaux et de mes murs. Trois fois, je me réveillai, trois fois je me rendormis, trois fois je revis le hideux débris galoper autour de ma chambre en remuant les doigts comme des pattes» (M, 1121).

Damit bedient er natürlich die Erwartungen seiner Zuhörerschaft, trifft vielleicht sogar deren durch die Erzählung nahegelegte Imagination einer belebten Hand, die die Finger als Beine nutzt und flink wie eine Spinne oder ein Skorpion durchs Zimmer läuft. Andererseits spricht dieser Albtraum dafür, dass das Übernatürliche sogar vom abgeklärten Erzähler Besitz ergriffen hat, zumindest in dessen von der Ratio nicht kontrollierten Träumen. Die zitierten Beispiele zeigen, dass die Verstöße Bermutiers gegen die 3. Untermaxime der Modalität (Sei kurz) allesamt als sehr deutliche Anspielungen darauf zu verstehen sind, dass die abgetrennte Hand vielleicht doch der gesuchte Mörder ist und das Verbrechen somit eine übernatürliche Erklärung hat. Diese Anspielungen sind mit Sicherheit von Bermutier intendiert, lassen aber keineswegs den Rückschluss zu, dass er selbst an eine übernatürliche Erklärung des Verbrechens glaubt. Vielmehr versucht er, seinen Zuhörerinnen das Grauen zu bescheren, nach dem sie gieren und das ihn selbst im Zuge der Ermittlungen von Zeit zu Zeit ergriffen hat, und sie in den Zustand der Unschlüssigkeit hinsichtlich der Umstände des Mordes zu versetzen. Folglich ist für diese conte fantastique auch das Komplexitätsmerkmal «Andeutungen/Evokationen» relevant, erhält aber aufgrund der Tatsache, dass die Anspielungen wenig subtil sind und ihre Einlösung weder Expertenwissen noch eine akribische Textanalyse erfordert, lediglich den Komplexitätswert 2. Bermutiers oben konstatierte und durch eine Kollision von Qualitäts- und Quantitätsmaxime zu erklärende Erzählstrategie, die Fakten bezüglich des Mordes an Rowell aneinanderzureihen und auf Erklärungen und Schlussfolgerungen weitgehend zu verzichten, hat auch unmittelbare Auswirkungen auf die Komplexitätskategorie «Kohäsion & lokale Kohärenz». Der Grundsatz Bermutiers, nur das zu sagen, was er beweisen kann, spiegelt sich nämlich auf der

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Textoberfläche im völligen Fehlen kausaler Konjunktionen wider. Syntaktisch ist die Binnenerzählung ganz klar dominiert durch Juxtaposition und Koordination sowie Gérondif- und Partizipialkonstruktionen. Die folgende Textstelle stellt ein prototypisches Beispiel für den auffallenden Verzicht auf kausale Konjunktionen und Konnektoren dar, was den Leser in die Pflicht nimmt, selbst «kriminalistisch» tätig zu werden: «Alors je me baissai vers le mort, et je trouvai dans sa bouche crispée un des doigts de cette main disparue, coupé ou plutôt scié par les dents juste à la deuxième phalange. Puis on procéda aux constatations. On ne découvrit rien. Aucune porte n’avait été forcée, aucune fenêtre, aucun meuble. Les deux chiens de garde ne s’étaient pas réveillés. Voici, en quelques mots, la déposition du domestique : Depuis un mois, son maître semblait agité. Il avait reçu beaucoup de lettres, brûlées à mesure. Souvent, prenant und cravache, dans une colère qui semblait de la démence, il avait frappé avec fureur cette main séchée [. . .]» (M, 1121).

Die globalen bzw. zentralen, zur kontextabhängigen IMPLIZITHEIT zählenden Leerstellen bezüglich des Mord-Frames finden sich somit auch auf lokaler Ebene und durchziehen den Text als Ganzes. Konsequent werden Fakten und Sachverhalte unverbunden nebeneinandergestellt und wird es dem Leser überlassen, ihren inhaltlichen Zusammenhang zu finden, was aber aufgrund der ebenfalls konsequent erzeugten Ambiguität nahezu unmöglich ist. So wird die Herstellung von Kohärenz also zum einen durch das Fehlen von Konjunktionen und Konnektoren, zum anderen durch die omnipräsente Ambiguität hinsichtlich einer rationalen oder übernatürlichen Erklärung der Ereignisse erschwert. Dies ist zwar mit Sicherheit ein deutlicher, aber auch der einzige Aspekt, der die Komplexität der Kategorie «Kohäsion & lokale Kohärenz» erhöht. Abgesehen vom Fehlen kausaler Konjunktionen erweist sich die Binnenerzählung Bermutiers als äußerst kohäsiv und kohärent, was sowohl an der konsequenten und durch zahlreiche temporale Konnektoren unterstützten Befolgung der 4. Untermaxime der Modalität (Der Reihe nach!) liegt als auch an zahlreichen metatextuellen Hinweisen, die als Einleitung, Ankündigung oder auch Schlussfolgerung für den folgenden bzw. vorangehenden, thematisch stets einheitlichen Abschnitt fungieren: «En tout cas, dans l’affaire que je vais vous dire, ce sont surtout les circonstances environnantes [. . .] qui m’ont ému. Enfin, voici les faits : [. . .]» (M, 1117). «Voici, en quelques mots, la déposition du domestique : [. . .]» (M, 1121). «Or, une nuit, trois mois après le crime, j’eus un affreux cauchemar. [. . .]» (M, 1121). «Voilà, mesdames, mon histoire, je ne sais rien de plus» (M, 1121).

Weiterhin macht Bermutier sowohl die Chronologie der erzählten Ereignisse durch konsequenten Einsatz von temporalen Konnektoren und expliziten Zeitangaben deutlich und verwendet ebenso häufig die Konnektoren mais und or (letzteren

3.1 Exemplarisches Komplexitätsprofil: Guy de Maupassant, La Main

201

meist in Verbindung mit un jour oder une nuit), um ein überraschendes oder zumindest vom gewöhnlichen Lauf der Dinge abweichendes Ereignis anzukündigen: «J’étais alors juge d’instruction à Ajaccio [. . .] Ce que j’avais surtout à poursuivre là-bas [. . .] Or, j’appris un jour qu’un Anglais venait de louer pour plusieurs années une villa [. . .] Bientôt tout le monde s’occupa de ce personnage singulier [. . .] Un soir enfin, comme je passais devant sa porte [. . .] Alors je lui posais [. . .] quelques questions [. . .] Puis je me remis à parler chasse [. . .] Puis il parla d’armes [. . .] Mais, au milieu du plus large panneau, une chose étrange me tira l’œil [. . .] Une année entière s’écoula. Or un matin, vers la fin de novembre, mon domestique me réveilla en m’annonçant que sir John Rowell avait été assassiné [. . .] Une demi-heure plus tard, je pénétrais dans la maison de l’Anglais [. . .] Puis on procéda aux constatations. [. . .] Cette nuit-là, par hasard, il n’avait fait aucun bruit [. . .] Or, une nuit, trois mois après le crime, j’eus un affreux cauchemar. [. . .] Le lendemain, on me l’apporta [. . .]» (M, 1117–1121; meine Hervorhebung).

Und schließlich trägt auch die Fokussierung auf zwei Protagonisten (Rowell und den Untersuchungsrichter), das problemlose Erkennen von Koreferenz dank der klar gewählten nominalen oder pronominalen Wiederaufnahmen des Bezugsausdrucks un Anglais (il . . . ce personnage singulier . . . il . . . lui . . . cet homme . . . il . . . sir John Rowell . . . cet étranger etc.) sowie die Präsenz umfangreicher Frames (Mord, abgetrennte menschliche Hand) und Frame-Systeme (Verbrechen, Jagd, Rätselhaftigkeit, Grauen & Entsetzen) und der damit verbundenen lexikalischen Rekurrenzen (la main (12×), le crime (5×), le juge d’instruction (5×), chasser/la chasse (6×), horrible (3×), épouvantable/l’épouvante (3×) etc.) zum Eindruck einer äußerst kohärenten Erzählung bei. Aus diesen Gründen erhält die Kategorie «Kohäsion & lokale Kohärenz» trotz des auffälligen Fehlens kausaler Konjunktionen und der damit verbundenen Aufforderung an den Leser, sich an der aussichtslosen Aufklärung des Mordes an Rowell zu beteiligen, letztlich doch nur den Komplexitätswert 2. Nachdem nun festgestellt wurde, dass die fantastische Erzählung La Main mehrere Maximen bzw. Untermaximen konsequent verletzt und dass diese Verletzungen Auswirkungen auf mehrere Dimensionen von Textualität haben, fehlt noch die Einschätzung der Komplexität der Kategorie «Umgang mit den Grice’schen Maximen» selbst. Man muss zugestehen, dass weder dem heterodiegetischen Rahmenerzähler noch dem Binnenerzähler M. Bermutier Verstöße gegen die Qualitätsmaxime oder die Relevanzmaxime vorgeworfen werden können. Um die Qualitätsmaxime zu beachten, nimmt Bermutier ja gerade Verstöße gegen die Quantitätsmaxime in Kauf und seine mitunter feststellbare Weitschweifigkeit kann man ihm nicht als Verstoß gegen die Relevanzmaxime auslegen, da im Fall eines rätselhaften Verbrechens jedes Detail von Belang sein kann. Rahmen- und Binnenerzähler beachten weiterhin sowohl die 1. als auch die 4. Untermaxime der Modalität, indem sie Dunkelheit des Ausdrucks vermeiden und ihre Darstellung strikt an der Chronologie der Ereignisse ausrichten.

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Die 1. Untermaxime der Quantität jedoch verletzt Bermutier aufgrund der Kollision mit der Qualitätsmaxime konsequent, und ebenso konsequent verstößt er gegen die 3. Untermaxime der Modalität (Sei kurz), wodurch er Mehrdeutigkeit schafft, anstatt sie zu vermeiden, wie es die 2. Untermaxime der Modalität fordert. Somit werden also Qualitäts- und Relevanzmaxime respektiert, Quantitäts- und Modalitätsmaxime hingegen flächig und massiv verletzt, was komplexitätssteigernde Auswirkungen auf mehrere Kategorien (z.B. «Leerstellen/Aussparungen», «Andeutungen/Evokationen», «Kohäsion & lokale Kohärenz», «Anforderungen an das elokutionelle Wissen») hat und verantwortlich ist für die Erzeugung der gattungstypischen unauflösbaren Unschlüssigkeit zwischen einer natürlichen und einer übernatürlichen Erklärung des ominösen Mordes an Rowell. Deshalb ist die Komplexität der diskurstraditionellen Kategorie «Umgang mit den Grice’schen Maximen» als eher hoch einzuschätzen, wenngleich die genannten Verstöße aufgrund des Gattungsprofils fantastischer Erzählungen erwartbar sind. Da die Normen des Genres den Rezipienten aber nicht von den Implikaturen entlasten, die durch die Maximenverstöße ausgelöst werden, ist der überdurchschnittlich hohe – aufgrund der Erwartbarkeit der Verstöße aber nicht extrem erhöhte – Komplexitätswert 4 für die Kategorie «Umgang mit den Maximen» angemessen. Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen – Frames/FrameSysteme & die Etablierung von Themen In der zu Beginn dieses Kapitels erfolgten diskurstraditionellen Charakterisierung der Erzählung wurde bereits festgestellt, dass es sich bei La Main um eine prototypische conte fantastique handelt – ein Gattungsbruch oder eine Gattungsmischung liegen somit nicht vor. Der Frage, ob Maupassant in seiner Erzählung einen Frame-Bruch inszeniert, widmen wir uns im Verlauf der Analyse der zentralen Frames und Frame-Systeme und ihres Zusammenhangs mit den Textthemen. Zunächst ist festzustellen, dass La Main zwei dominierende Frames, nämlich Mord und abgetrennte menschliche Hand, sowie vier (z.T. assoziative) Frame-Systeme enthält: Verbrechen, Jagd, Angst/Grauen/Entsetzen sowie Rätselhaftigkeit/Unerklärbarkeit. Gerade die genannten Frame-Systeme – Verbrechen, Angst, Grauen, Rätsel – entsprechen direkt den charakteristischen Themen und Motiven sowie der typischen Stimmung fantastischer Literatur und weisen somit die Erzählung La Main erneut als prototypischen Vertreter ihrer Gattung aus. Im Zentrum der Binnenerzählung steht der Mord an John Rowell und dieses Thema wird durch den entsprechenden Frame mit einer Vielzahl von Fillern, aber auch einigen zentralen offenen Slots etabliert. Dieser Mord-Frame, der im Folgenden ausführlich (in tabellarischer Form) aufgeführt wird, ist Bestandteil des die Erzählung zahlenmäßig dominierenden Frame-Systems Verbrechen, das sich folgendermaßen darstellen lässt:

3.1 Exemplarisches Komplexitätsprofil: Guy de Maupassant, La Main

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Tab. 22: Das Frame-System Verbrechen. Sub-Frames bzw. SubFrame-Systeme

Konkrete Füllwerte

Formen von Verbrechen

un crime, l’affaire de Saint-Cloud, les affaires de vendetta, les assassinats, assassiner qn, des massacres, égorger qn, une attaque, fendre qn avec le sabre, étrangler qn, une lutte, les traces de doigts dans la chair

Motive für Verbrechen

un sujet de vengeance, venger qn, une injure, le prix du sang

Ziele Frame-System Verbrechen Aufklärung von Verbrechen

dégager (un crime) des circonstances impénétrables qui l’entourent, éclaircir qc, une explication, conclure, trouver le coupable

Methoden poursuivre qc, assembler les preuves, une circonstance, prendre des renseignements, interroger qn, une constatation, une déposition, faire une enquête minutieuse, surveiller qn, signaler qc de suspect, soupçonner qn, examiner (le cadavre) Personal

Mord an John Rowell

un juge d’instruction, un magistrat, le commissaire central, le capitaine de gendarmerie, un officier de la force publique s.u.

Dieses sehr dominante Frame-System Verbrechen ist mitverantwortlich dafür, dass sich La Main in weiten Teilen wie ein Kriminalfall liest, der sich in einer realistisch gezeichneten Welt ereignet hat und dessen Klärung durch das dem Leser vertraute Personal der Verbrechensbekämpfung und mittels bekannter Methoden unternommen wird. Der Anschein des Übernatürlichen wird nun insbesondere durch die interagierenden Frames Mord und abgetrennte menschliche Hand erzeugt. Wie bereits erläutert wurde, enthält der Mord-Frame einige zentrale offene Slots, die zunächst den nötigen Raum lassen für eine mögliche übernatürliche Erklärung des Verbrechens. Zum anderen umfasst der Frame abgetrennte menschliche Hand einige Füllwerte, die sich als mögliche Filler der offenen Slots des MordFrames geradezu aufdrängen und somit eine durchaus kohärente übernatürliche Erklärung der Tötung Rowells bieten. Diese Interaktion soll durch Gegenüberstellung der betreffenden Frames präzisiert werden:

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Tab. 23: Der token-Frame abgetrennte menschliche Hand. Frame abgetrennte menschliche Hand Slots

Filler

Größe

[La main] avait dû appartenir à un colosse. Les doigts, démesurément longs, étaient attachés par des tendons énormes [. . .]. (M, )

Außenseite

une main [. . .] desséchée ; écorchée (M, )

sichtbare Teile

[. . .] avec les ongles jaunes, les muscles à nu et des traces de sang ancien, de sang pareil à une crasse, sur les os coupés net, comme d’un coup de hache vers le milieu de l’avant-bras. (M, )

Farbe

une main noire [. . .] avec les ongles jaunes (M, )

Besitzer vor der Abtrennung

[le] meilleur ennemi [de Rowell qui venait] d’Amérique (M, )

Besitzer nach der Abtrennung

Sir John Rowell

Ursache für die Trennung der Hand Die Hand wurde im Rahmen des Angriffs auf Rowells vom zugehörigen Körper und für den Todfeind abgeschlagen, gehäutet und getrocknet – wie Zustand der Hand ein Tier, das man erlegt und dessen Teile man verwerten will (Leder, Fleisch): «C’été ma meilleur ennemi. [. . .] Il avé été fendu avec le sabre et arraché la peau avec une caillou coupante, et séché dans le soleil pendant huit jours.» (M, ) . Aufenthaltsort der abgetrennten Hand

Der Salon von Sir John Rowell: [. . .] au milieu du plus large panneau [. . .] sur un carré de velours rouge [. . .] une énorme chaîne de fer, rivée, soudée à ce membre malpropre, l’attachait au mur par un anneau assez fort pour tenir un éléphant en laisse. (M, )

. Aufenthaltsort von Teil A (=Zeigefinger) der abgetrennten Hand

Der Mund des Leichnams von John Rowell: [. . .] je trouvai dans sa bouche crispée un des doigts de cette main disparue, coupé ou plutôt scié par les dents juste à la deuxième phalange. (M, )

. Aufenthaltsort von Teil B (=Hand ohne Zeigefinger) der abgetrennten Hand

Das Grab von John Rowell: Le lendemain, on me l’apporta, trouvé dans le cimetière, sur la tombe de sir John Rowell [. . .]. L’index manquait. (M, )

Aussage des . Besitzers zur Hand

«[La main] voulé toujours s’en aller. Cette chaîne été nécessaire.» (M, )

3.1 Exemplarisches Komplexitätsprofil: Guy de Maupassant, La Main

205

Tab. 23 (fortgesetzt) Frame abgetrennte menschliche Hand Slots Umgang des . Besitzers mit der Hand

Filler – –

Welchen Eindruck macht die Hand auf Bermutier?

Rowell hat die Hand mittels einer enorm starken Eisenkette an der Wand seines Salons fixiert. Im Monat vor seinem Tod hat er die Hand häufig geschlagen: Souvent, prenant une cravache, dans une colère qui semblait de la démence, il avait frappé avec fureur cette main séchée [. . .]. (M, 1121)

Sie ist für ihn ein Objekt des Horrors, das sogar Albträume auslöst: – Cette main était affreuse à voir [. . .]. (M, 1119) – [. . .] j’eus un affreux cauchemar. Il me sembla que je voyais la main, l’horrible main courir comme un scorpion ou comme une araignée le long de mes rideaux et de mes murs. (M, 1121)

Dieser Frame hat nun zweifelsohne einen äußerst ungewöhnlichen Frame-Kern und seine Instantiierung im Text ist ebenfalls sehr spezifisch und kann kaum auf enzyklopädisches Vorwissen seitens des Lesers zurückgreifen. Dieser denkt bei einer abgetrennten menschlichen Hand wohl eher an einen Unfall oder eine mittelalterliche Strafe für einen Dieb, nicht an ein grausiges Verbrechen, in dessen Verlauf das Opfer verstümmelt oder gar ermordet (auf diese Unklarheit wird an späterer Stelle eingegangen werden) und seine Hand gehäutet und getrocknet wurde. Auch über eine adäquate Vorstellung vom Aussehen einer derart behandelten menschlichen Gliedmaße verfügt wohl kaum ein Leser und die Art und Weise, wie Rowell diese Hand aufbewahrt und behandelt, entspricht mit Sicherheit ebenfalls nicht den Erwartungen der Leser. Somit instantiiert die Erzählung an dieser Stelle zweifelsohne einen ungewöhnlichen Frame, der die Erwartungen der Leser, die mit der Gattung nicht vertraut sind, irritiert, aber sie inszeniert aus zwei Gründen keinen FrameBruch. Das einzige gesicherte Wissen, das der Leser über abgetrennte Gliedmaßen mitbringt, besagt, dass diese nicht belebt sind, und der Text behauptet eben auch an keiner Stelle explizit – zumindest nicht in der Erzählerrede, die gegenüber der Figurenrede einen privilegierten Wahrheitsanspruch besitzt (cf. Martínez/Scheffel 1999/ 2012, 103) –, dass die schaurige Hand über ein Eigenleben verfügt. Aber auch unter Berücksichtigung der unbestreitbaren Tatsache, dass der Text ein Eigenleben der Hand mehrmals andeutet, kann kein Frame-Bruch diagnostiziert werden, da in diesem Fall das diskurstraditionelle Wissen das Alltagswissen dominiert. Und

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

wie oben bereits angeführt wurde, gehören vom menschlichen Körper losgelöste Teile, die ein verhängnisvolles Eigenleben zu führen scheinen, eben zum Arsenal der fantastischen Literatur, dessen Maupassant sich in seiner Erzählung gattungsgetreu bedient. Françoise Rachmühl (1992, 65s.) beschreibt dieses fantastische Motiv folgendermaßen: «Mais encore plus redoutable le fragment détaché d’un être humain, chevelure ou main, ayant appartenu à un cadavre, et qui s’anime d’une vie mauvaise pour conduire l’homme à sa perte».

Folglich liegt das Komplexitätsmerkmal «Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen» im Fall von La Main nicht vor und erhält die entsprechende Kategorie den Wert 0. Der Anschein des Übernatürlichen wird auch durch das grausige Aussehen der gehäuteten Hand erzeugt, vor allem aber durch die suggerierte Möglichkeit, die von Bermutier bewusst offen gehaltenen Slots des Mord-Frames durch Informationen aus dem Frame abgetrennte menschliche Hand zu füllen. Der Mord-Frame wird deshalb im Folgenden mit seinen Slots, seinen expliziten Füllwerten und seinen vom Text suggerierten übernatürlichen Ausfüllungen vorgestellt: Tab. 24: Der token-Frame Mord. Frame Mord Slots

Explizite Filler

Vom Text suggerierte mögliche Ausfüllungen der offenen Slots

Opfer

Sir John Rowell



Todesursache

L’Anglais était mort étranglé ! (M, )



Tatort/Fundort der Leiche

[. . .] le salon de sir John [. . .] au milieu de la pièce. (M, )



Zustand des Leichnams

Sa figure noire et gonflée, effrayante, semblait exprimer une épouvante abominable ; il tenait entre ses dents serrées quelque chose ; et le cou, percé de cinq trous qu’on aurait dit faits avec des pointes de fer, était couvert de sang. [. . .] je trouvai dans sa bouche crispée un des doigts de cette main disparue, coupé ou plutôt scié par les dents juste à la deuxième phalange. (M, s.) Bemerkung des Arztes: «On dirait qu’il a été étranglé par un squelette.» (M, )



3.1 Exemplarisches Komplexitätsprofil: Guy de Maupassant, La Main

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Tab. 24 (fortgesetzt) Frame Mord Slots

Explizite Filler

Vom Text suggerierte mögliche Ausfüllungen der offenen Slots

Wie hat sich der Täter Zugang zum Haus Rowells verschafft?

offen/ungeklärt Aucune porte n’avait été forcée, aucune fenêtre, aucun meuble. Les deux chiens de garde ne s’étaient pas réveillés. (M, )

Da sich niemand gewaltsam von außen Zutritt zum Haus Rowells verschafft hat, liegt der Verdacht nahe, dass der Täter bereits im Haus war. Aufenthaltsort der Hand war der Salon Rowells . . .

Tathergang

Le gilet était déchiré, une manche arrachée pendait, tout annonçait qu’une lutte terrible avait eu lieu. (M, )



Nach eigener Aussage hat der Abenteurer und Großwildjäger Rowell häufig Menschen gejagt: «J’avé beaucoup chassé l’homme aussi.» und seinen ärgsten Feind hat er verstümmelt oder sogar ermordet und seine Hand wie ein Beutetier behandelt: «[. . .] Il avait été fendu avec le sabre et arraché la peau avec une caillou coupante, et séché dans le soleil pendant huit jours.» (M, )



Im Monat vor seinem Tod hat Rowell viele Briefe erhalten, die er sofort verbrannt hat. Er war extrem unruhig, fühlte sich bedroht und hat häufig in unbändiger Wut auf die Hand eingeprügelt: «Depuis un mois, son maître semblait agité. Il avait reçu beaucoup de lettres, brûlées à mesure. Souvent, prenant une cravache, dans une colère qui semblait de la démence, il avait frappé avec fureur cette main séchée [. . .]. Il se couchait fort tard et s’enfermait avec soin. Il avait toujours des armes à portée du bras. Souvent, la nuit, il parlait haut, comme s’il se fût querellé avec quelqu’un.» (M, )



Vorgeschichte des Opfers

Welches Geschehen geht dem Mord voran?

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Tab. 24 (fortgesetzt) Frame Mord Slots

Explizite Filler

Vom Text suggerierte mögliche Ausfüllungen der offenen Slots

Motiv

offen/ungeklärt

Angesichts der Verstümmelung oder Ermordung seines ärgsten Feindes und des Umgangs mit dessen Hand, der an das Erlegen eines Beutetiers erinnert, liegt der Verdacht nahe, dass das Motiv für den Mord an Rowell Rache für diese Verbrechen war.

Täter

offen/ungeklärt

– –

Die vermuteten Motive, die Tatsache, dass niemand sich gewaltsam von außen Zutritt zu Rowells Haus verschafft hat, – das wütende Einprügeln des Engländers auf die Hand, – seine Aussage, dass die Hand häufig versucht habe zu flüchten, – das Anketten der Hand an die Wand mit Hilfe einer soliden Eisenkette, – die Verletzungen Rowells sowie die Bemerkung des Arztes sprechen für die Hand als Täter.

Gerade die suggerierten Ausfüllungen des Slots TÄTER zeigen, wie die Informationen aus dem Frame abgetrennte menschliche Hand und die expliziten Filler einiger Slots des Mord-Frames zusammenspielen und eine übernatürliche Erklärung für die Tötung des Engländers nahelegen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass das genretypische Schwanken des Lesers zwischen einer natürlichen und einer übernatürlichen Erklärung des fantastischen Ereignisses durch die realistische Art der suppletiven Kontextbildung und

3.1 Exemplarisches Komplexitätsprofil: Guy de Maupassant, La Main

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Bermutiers wiederholtes Beharren auf einer natürlichen Ursache des Mordes einerseits sowie durch Leerstellen und Anspielungen auf eine übernatürliche Ursache andererseits erzeugt wird. Aber auch das besondere Zusammenspiel der zentralen Frames der Erzählung trägt entscheidend zu dieser gattungstypischen Ambiguität bei. Wie soeben ausgeführt wurde, suggeriert die Interaktion des MordFrames mit dem an sich bereits unheimlichen Frame abgetrennte menschliche Hand eine übernatürliche Erklärung des Mordes. Das sehr dominante Frame-System Verbrechen unterstreicht nun seinerseits den realistischen Charakter der Erzählung und dessen ebenfalls sehr umfangreiches Sub-Frame-System Aufklärung rennt gleichsam gegen die Rätselhaftigkeit und den Anschein des Übernatürlichen, die den Mord an Rowell umgeben, an, ohne dass bei diesem Wettrennen ein eindeutiger Sieger ausgemacht werden könnte. Die genretypische Unschlüssigkeit den zwei konkurrierenden Erklärungsmustern gegenüber wird weiterhin befördert durch die Filler des assoziativen Frame-Systems Rätselhaftigkeit/Unerklärbarkeit, das sich durch folgende Lexeme und Lexemverbindungen im Text manifestiert: l’affaire mystérieuse; inexplicable (2×); ne rien y comprendre; enveloppé de mystère; des circonstances impénétrables; quelque chose de surhumain; surnaturel; une chose étrange; la figure demeurait impénétrable; ces étranges paroles; On ne découvrit rien. (2×); Je ne sais rien de plus.; Mais ce n’est pas un dénouement cela, ni une explication !; je n’ai pu savoir comment il a fait; Non, ça ne doit pas être ainsi. Und schließlich werden sowohl die Ambiguität als auch das ebenfalls genretypische Klima des Grauens und das Spiel mit der Angst häufig durch eine Überlagerung der sechs dominierenden Frames und Frame-Systeme in zentralen Passagen erzielt. So finden sich in der bereits mehrfach zitierten, aufgrund des fehlerhaften Französisch Rowells unklaren Schilderung des Angriffs auf den Besitzer der grausigen Hand Lexeme, die zugleich den Frame-Systemen Verbrechen, Jagd und Horror/Angst/Entsetzen angehören: «‹C’été ma meilleur ennemi. Il vené d’Amérique. Il avé été fendu avec le sabre et arraché la peau avec une caillou coupante, et séché dans le soleil pendant huit jours. Aoh, très bonne pour moi, cette›» (M, 1119).

Das Verbrechen, nämlich die Verstümmelung dieses Menschen oder gar seine Ermordung, wird wie die Erlegung, Häutung und Verwertung eines Beutetieres geschildert, was zweifelsohne ein Klima des (übernatürlichen) Grauens schafft. In der Beschreibung des Leichnams Rowells stellt Bermutier Elemente des Frame-Systems Verbrechen bzw. Verbrechensaufklärung, die eine realistische Erklärung nahelegen, neben Filler des Frame-Systems Angst/Grauen/Entsetzen, die seinen subjektiven Eindruck vom Zustand des Toten widerspiegeln und eine übernatürliche Erklärung dieses unfassbar grausigen Aktes suggerieren:

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

«L’Anglais était mort étranglé ! Sa figure noire et gonflée, effrayante, semblait exprimer une épouvante abominable ; il tenait entre ses dents serrées quelque chose ; et le cou, percé de cinq trous qu’on aurait dit faits avec des pointes de fer, était couvert de sang» (M, 1120; meine Hervorhebung – fett: Filler des Frame-Systems Verbrechen; kursiv: Filler des Frame-Systems Angst/Grauen).

Diese Verquickung der entsprechenden Frames bzw. Frame-Systeme ist somit mitverantwortlich für die genretypische Ambiguität, für das Schwanken zwischen einer natürlichen und einer übernatürlichen Erklärung des Mordfalls. Es bleibt festzuhalten, dass die Art der Frame-Instantiierung in La Main ganz im Dienste der Gattung steht, indem sie typische Themen und Motive fantastischer Literatur etabliert und stark zur genretypischen Ambiguität beiträgt. Das wiederum hat gegenläufige Auswirkungen auf die Komplexität der Kategorie «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen». Die Tatsache, dass gattungsspezifische Themen und Motive wie Angst/Grauen/Entsetzen, Mord sowie abgetrennte menschliche Hand unmittelbar (cf. den Titel La Main) durch umfangreiche Frames und Frame-Systeme etabliert werden, spricht für eine sehr explizite thematische Gestaltung, ein hohes Maß an Erwartbarkeit und somit für eine geringe Komplexität dieser Kategorie. Die zentralen Leerstellen im Mord-Frame jedoch und natürlich die soeben analysierte Erzeugung von Ambiguität durch die Verquickung von Frames, die einerseits eine natürliche Erklärung, andererseits eine übernatürliche suggerieren, erhöht zweifelsohne die Komplexität der entsprechenden Kategorie. Schließlich führen all diese durch den besonderen Umgang mit Frames realisierten textuellen Strategien dazu, dass das große Thema der Erzählung doch im Unklaren bleibt: wird in La Main nun ein sicherlich mysteriöser, aber prinzipiell mit den Naturgesetzen in Einklang stehender Mordfall geschildert, der von der Polizei aber nicht aufgeklärt werden konnte, oder wird ein übernatürliches Ereignis, nämlich ein Mord durch ein belebtes Objekt, geschildert? Gerade weil diese Unklarheit bzw. Ambiguität aufgrund der Gattungszugehörigkeit aber absolut erwartbar und zwingend erforderlich ist, kann diese von Maupassant äußerst raffiniert und kunstvoll erzeugte Ambiguität den Komplexitätsgrad der Kategorie «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» höchstens auf den leicht erhöhten Wert 2 steigen lassen. Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik Auf der Ebene der Satzsemantik finden sich zunächst natürlich die Leerstellen wieder, die bereits im Rahmen der globalen Frame-Analyse angesprochen wurden. Die Binnenerzählung enthält einige Satz-Frames, die offene Slots aufweisen, die eben nicht durch automatisch inferierte Standardwerte zu füllen sind, sondern zur kontextabhängigen/nicht-konventionellen IMPLIZITHEIT zählen und den bereits erwähnten Raum für eine mögliche übernatürliche Erklärung des Mordfalls

3.1 Exemplarisches Komplexitätsprofil: Guy de Maupassant, La Main

211

lassen. So weist insbesondere die Schilderung des Mordes und seiner Umstände einige Passivkonstruktionen auf, die bekanntlich die durch das Verb ausgedrückte Handlung vom Standpunkt des Betroffenen aus beschreiben (cf. Bußmann 2008, 511), oder Partizipialsätze mit dem Participe passé, die beide die Aussparung des AGENS ermöglichen: «L’Anglais était mort étranglé !» (M, 1120; meine Hervorhebung). «Aucune porte n’avait été forcée, aucune fenêtre, aucun meuble» (M, 1121; meine Hervorhebung). «[. . .] il avait frappé avec fureur cette main séchée, scellée au mur et enlevée, on ne sait comment, à l’heure même du crime» (M, 1121; meine Hervorhebung).

Das Agens der markierten Verben muss in den entsprechenden Satz-Frames aus erzähllogischen Gründen ausgespart werden, da es sich dabei um den nicht ermittelten Mörder Rowells handelt. Solche Aussparungen zentraler semantischer Rollen sind jedoch nicht zahlreich – sie finden sich gerade einmal in acht Sätzen – und sie sind tatsächlich beschränkt auf die unmittelbare Beschreibung des Mordfalles. Das auffällige Fehlen kausaler Konjunktionen und die Dominanz von Koordination und Juxtaposition in der Binnenerzählung kamen bereits im Rahmen der Erörterung der Komplexität von Kohäsion und lokaler Kohärenz zur Sprache. Die damit verbundene kontextabhängige IMPLIZITHEIT hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen den unverbunden nebeneinanderstehenden Propositionen wirkt sich natürlich auch auf der Ebene der Satzsemantik komplexitätssteigernd aus. Weiterhin verwendet Maupassant sechsmal ein Gérondif und siebenmal ein Participe présent, die ebenfalls als semantisch unterdeterminierte Konstruktionen die inhaltliche Beziehung zwischen den im Satzgefüge versprachlichten Sachverhalten implizit lassen und ihre Explikation durch den Leser erfordern. Dabei überwiegt der sehr frequente und aufgrund des jeweiligen Kontextes recht leicht zu inferierende Gebrauch dieser Konstruktionen zum Ausdruck der Gleichzeitigkeit zweier Handlungen oder zur Angabe der Begleitumstände bzw. verschiedener Komponenten, in die ein Vorgang zerlegt wird (cf. Klein/Kleineidam 1994, 248–251): Tab. 25: Typische Gérondif- und Partizipialkonstruktionen in La Main. Typische Gérondif-Konstruktionen in La Main: Typische Partizipialkonstruktionen in La Main: – –

Il ajouta en riant : [. . .]. (M, 1118) [. . .] mon domestique me réveilla en m’annonçant que sir John Rowell avait été assassiné dans la nuit. (M, 1120)





D’un coup d’œil rapide, j’interrogeai son visage, me demandant : «Mais est-ce un fou [. . .] ?» (M, 1117) Mon chien me la rapporta ; mais prenant aussitôt le gibier, j’allai m’excuser de mon inconvenance [. . .]. (M, 1118)

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Außerdem enthält die Erzählung 21 auf dem Participe passé basierende Partizipialkonstruktionen, die ähnlich wie das Participe présent in attributiver oder adverbialer Funktion verwendet werden können (cf. Klein/Kleineidam 1994, 256). Da sie mehrfach in Reihung auftreten, finden sich die genannten Vorkommnisse des Participe passé lediglich in 14 Sätzen und sie ersetzen in 18 von 21 Fällen einen Relativsatz, werden zweimal in kausalem Sinn, einmal in temporalem Sinn verwendet. Da eine Partizipialkonstruktion zur Verkürzung eines Relativsatzes nicht weniger explizite Informationen enthält als der Relativsatz selbst – in beiden Fällen wird der Begriffsumfang des Bezugselements entweder eingeschränkt oder näher erläutert (cf. ib., 221) –, kann diese nicht als semantisch komplexer bewertet werden als der Relativsatz. Allerdings erwächst aus der Tatsache, dass nach Einschätzung von Klein/Kleineidam (1994, 256) Partizipialkonstruktionen vornehmlich der geschriebenen Sprache angehören, eine leicht erhöhte Komplexität, da diese Konstruktionen somit gewisse Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen der Leser stellen. Eine merklich höhere semantische Komplexität ist letztlich aber nur den drei Participe passé-Konstruktionen beizumessen, die in einem kausalen oder temporalen Sinn verwendet werden, da sie die Charakteristika der Implizitheit und leicht erhöhter Anforderungen an das Sprachwissen kombinieren. Schließlich sind einige Sätze der Erzählung La Main durch einen aufzählenden Charakter geprägt, weiterhin durch Wiederholungen und Parallelismen. Diese Satzfiguren oder stilistischen Besonderheiten vermitteln jedoch keinen über das Gesagte hinausgehenden Sinn, sondern unterstreichen vielmehr den Satzinhalt, machen ihn noch nachdrücklicher deutlich. So stellt Claude Peyroutet (2002, 92) für die Wiederholung fest: «Toute répétition souligne et met en valeur.» und für den Parallelismus: «Il facilite la compréhension et la lisibilité du message.» (ib., 90). Eben diese Effekte haben auch die stilistischen Besonderheiten in La Main. So weist beispielsweise Bermutier den Begriff surnaturel für die affaire de Saint-Cloud zurück, indem er die besonders geschickte Planung und Durchführung dieses Verbrechens betont, die eben seine Aufklärung erschweren, und setzt dabei zur Verstärkung seiner Auffassung Wiederholungen und Parallelismen ein: «Nous sommes en présence d’un crime fort habilement conçu, fort habilement exécuté, si bien enveloppé de mystère que nous ne pouvons le dégager des circonstances impénétrables qui l’entourent» (M, 1116; meine Hervorhebung).

Die erschreckende Häufigkeit, die Brutalität und den archaischen Charakter der Fälle von Vendetta, die er auf Korsika aufzuklären hatte, unterstreicht Bermutier durch eine Fülle von Akkumulationen bzw. Aufzählungen:

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«Il y en a de superbes, de dramatiques au possible, de féroces, d’héroïques. Nous retrouvons là les plus beaux sujets de vengeance qu’on puisse rêver, les haines séculaires, apaisées un moment, jamais éteintes, les ruses abominables, les assassinats devenant des massacres et presque des actions glorieuses. [. . .] J’avais vu égorger des vieillards, des enfants, des cousins» (M, 1117).

Und schließlich wird die aufgrund ihres Inhalts, ihrer Wortwahl und der eingesetzten Vergleiche bereits gruselige Schilderung von Bermutiers Albtraum auch durch die Satzkonstruktion verstärkt. Wiederholung und Parallelismus imitieren hier regelrecht, wie der schreckliche Albtraum den Richter die ganze Nacht über nicht loslässt: «[. . .] j’eus un affreux cauchemar. Il me sembla que je voyais la main, l’horrible main, courir comme un scorpion ou comme une araignée le long de mes rideaux et de mes murs. Trois fois, je me réveillai, trois fois je me rendormis, trois fois je revis le hideux débris galoper autour de ma chambre [. . .]» (M, 1121; meine Hervorhebung).

Somit sind diese an einigen Stellen eingesetzten stilistischen Besonderheiten auf Satzebene nicht als komplexitätssteigernd zu bewerten, da sie im Wesentlichen das explizit Gesagte unterstreichen, betonen und mitunter durch die Art der Satzkonstruktion und des Satzrhythmus sogar in Ansätzen nachahmen. Folglich sind lediglich die in acht Satz-Frames zu findenden Aussparungen zentraler semantischer Rollen, die erwähnten sechs Gérondif- und zehn Partizipialkonstruktionen (sieben mit Participe présent, drei mit Participe passé) sowie der Mangel an kausalen Konjunktionen für eine Erhöhung der «Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik» verantwortlich, was sich im Korpuskontext als allenfalls mäßig komplex erweist. Somit erhält die entsprechende Kategorie ebenfalls den bereits zum fünften Mal vergebenen Komplexitätswert 2. Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik Françoise Rachmühl (1992, 67) beschreibt unter Verweis auf Lumbroso (1981, 172) den Stil von Maupassants fantastischen Erzählungen als klar und transparent und präzisiert dies in Bezug auf die Lexik folgendermaßen: «[. . .] un vocabulaire peu abondant, d’une grande simplicité, sans mots techniques, sans termes recherchés [. . .]».

Sie begründet diese Einfachheit auf lexikalischer Ebene durch die Haltung der Erzähler, die ein zwar vergangenes Ereignis wiedergeben, das allerdings mit starken und noch unmittelbar präsenten Gefühlen und Eindrücken verbunden ist, die durch eine alltagssprachliche, flüssige und transparente Prosa am besten wiedergegeben werden könnten:

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«En général, il s’agit d’un récit au passé, mais revivifié par le présent et gardant toute la fraîcheur des sensations, la vivacité des réactions du narrateur. Pour les rendre, Maupassant s’exprime dans une prose à ras de terre, banale et fluide, qui épouse les sentiments avec lesquels son personnage revit les événements d’autrefois» (ib., 68).

In weiten Teilen bestätigt eine Analyse der wortsemantischen Komplexität von La Main die Einschätzungen Rachmühls. Tatsächlich dominiert hier eine klare, alltagssprachliche Lexik, die der Nachahmung einer mündlichen Erzählung dient, die der gebildete Erzähler M. Bermutier in privater Runde zum Besten gibt. Sein sachlicher Stil wird mitunter unterbrochen durch Schilderungen des Grauens und Entsetzens, welches ihn in bestimmten Situationen überkam. Dabei verzichtet der Binnenerzähler völlig auf den Einsatz von Tropen oder elaborierten Bildern, sondern gibt sein damals gefühltes und heute noch präsentes Entsetzen in aller Klarheit und Direktheit wieder. Er greift dazu lediglich auf einige explizit ausgeführte, mit comme oder pareil à eingeleitete Vergleiche zurück. Diese machen seine Gefühle und Eindrücke sehr plastisch und erleichtern dem Leser deren Nachvollzug, gleichzeitig sind sie aber durch ihre Schaurigkeit mitverantwortlich für die Suggestion einer möglichen übernatürlichen Erklärung des Mordes an Rowell und müssen vom Leser auch so gedeutet werden: «Non pas une main de squelette, blanche et propre, mais une main noire desséchée, avec les ongles jaunes, les muscles à nu et des traces de sang ancien, de sang pareil à une crasse, sur les os coupés net, comme d’un coup de hache, vers le milieu de l’avant bras» (M, 1119; meine Hervorhebung). «Il me sembla que je voyais la main, l’horrible main, courir comme un scorpion ou comme une araignée le long de mes rideaux et de mes murs. [. . .] trois fois je revis le hideux débris galoper autour de ma chambre en remuant les doigts comme des pattes» (M, 1121; meine Hervorhebung).

Abgesehen von einem zusätzlichen Vergleich des Rahmenerzählers, mit dem er die Qualität der weiblichen Lust auf Grauen und Entsetzen unterstreicht, sind weitere stilistische Elemente auf wortsemantischer Ebene – kreative oder innovative Metaphern, Metonymien, Alliterationen etc. – in dieser Erzählung tatsächlich nicht vorhanden, was Rachmühls Einschätzung von Alltäglichkeit, Klarheit und Transparenz des Stils Maupassants stützt. Auch ihre Charakterisierung der Maupassant’schen Lexik als «peu abondant, d’une grande simplicité, sans mots techniques, sans termes recherchés» (Rachmühl 1992, 67) findet sich in La Main in weiten Teilen bestätigt. Dennoch weist die Erzählung durchaus einige Lexeme auf, die erhöhte Anforderungen an das lebensweltliche oder einzelsprachliche Wissen der Leser stellen. Erweiterte geographische Kenntnisse verlangen beispielsweise die Eigennamen Saint-Cloud, Ajaccio

3.1 Exemplarisches Komplexitätsprofil: Guy de Maupassant, La Main

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und d’outre-Manche, was für die übrigen Toponyme der Erzählung – Paris, Marseille, la France, Afrique, Amérique, les Indes – sicherlich nicht gilt. Weiterhin enthält La Main einige Fachtermini, nämlich le juge d’instruction, le magistrat, le capitaine de gendarmerie, le commissaire central, les officiers de la force publique, la vendetta, die allesamt dem Bereich Polizei/Justiz entstammen und auch entsprechendes Weltwissen erfordern. Bei la vendetta handelt es sich zusätzlich um ein Fremdwort, das aus dem Italienischen stammt und ins Korsische übernommen wurde. Die «doppelte» Komplexität dieses Lexems wird allerdings dadurch gemildert, dass die so bezeichneten kriminellen Praktiken im Text selbst durch zahlreiche Beispiele erläutert werden. Auch der anatomische Fachbegriff la phalange sowie die Anspielung auf das literarische Genre der Erzählung – «une affaire où vraiment semblait se mêler quelque chose de fantastique» (M, 1116) – stellen gewisse Anforderungen an das lebensweltliche, einzelsprachliche und diskurstraditionelle Wissen der Leser. Schließlich sind im Kontext der erhöhten Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen noch die von Eigennamen abgeleiteten lexikalisierten Metaphern un hercule und un colosse zu nennen sowie das zweimal vorkommende Nomen le débris, das hier in der vom Petit Robert (2013, 624) als literarisch ausgewiesenen Bedeutung «Restes (d’un mort)» verwendet wird. Aus der vom Petit Robert als literarisch, veraltet bzw. regional gekennzeichneten dreimaligen Verwendung von fort in der Bedeutung von très («Il se couchait fort tard [. . .]», M, 1121) und des Gebrauchs des ebenfalls als veraltet ausgewiesenen Wortes serviteur in der Bedeutung von domestique erwächst Komplexität für heutige Leser, nicht aber für Leser des 19. Jahrhunderts, für die der Einsatz dieser Lexeme in der angegebenen Bedeutung unmarkiert war. Da aber der Gebrauch dieser Archaismen abnimmt bzw. irgendwann vollkommen ausbleibt, stellen sie erhöhte Anforderungen an das lexikalische Wissen des heutigen Lesers, weisen also Komplexität relativ zum Rezipienten auf. Legt man generell das Kriterium der Geläufigkeit bzw. Häufigkeit der verwendeten Lexeme als Komplexitätsindikator zugrunde und bezieht sich auf den Thematischen Grund- und Aufbauwortschatz Französisch von Fischer/Le Plouhinec (2012), so ist festzustellen, dass – abgesehen von den bereits als komplex gekennzeichneten Lexemen – 180 weitere types der Erzählung nicht im Verzeichnis dieser 13.000 häufigsten Wörter und Wendungen der nichtmarkierten Gegenwartssprache auftreten. Eine weitreichende Quelle wortsemantischer Komplexität sind beabsichtigte Abweichungen von der phonologischen oder morphologischen Wortform (cf. Bußmann 2008, 435), die direkte Übernahme englischer Wörter bzw. Exklamationen sowie zahlreiche Genus-, Syntax- und Tempusfehler, die Maupassant in die direkte Rede Rowells einfließen lässt, um dessen englischen Akzent und sein fehlerhaftes Französisch nachzuahmen bzw. wiederzugeben:

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«‹J’avé eu bôcoup d’aventures, oh ! yes›» (M, 1118; meine Hervorhebung). «‹Oh ! nô, le plus mauvais c’été l’homme.› [. . .] ‹J’avé beaucoup chassé l’homme aussi›» (M, 1119; meine Hervorhebung). «‹C’été une drap japonaise›» (M, 1119; meine Hervorhebung). «‹C’été ma meilleur ennemi. Il vené d’Amérique. . . .›» (M, 1119; meine Hervorhebung). «‹Aoh yes ; mais je été plus fort que lui. J’avé mis cette chaîne pour le tenir.› [. . .] ‹Elle voulé toujours s’en aller. Cette chaîne été nécessaire›» (M, 1120; meine Hervorhebung).

Diese Abweichungen von einzelsprachlichen Regeln des Französischen schaffen einen Originalton und charakterisieren somit den Sprecher Sir John Rowell, doch ist dies nur ihr sekundärer Zweck. In erster Linie stellen sie eine weitere originelle textsemantische Manifestation der genrespezifischen Umkehrung der 2. Untermaxime der Modalität (Vermeide Mehrdeutigkeit) dar. Die Genus- und Grammatikfehler Rowells finden sich nämlich in besonders konzentrierter Form in der Passage über die Erbeutung der ominösen Hand, was zu völliger Unklarheit bzw. Ambiguität hinsichtlich der Konsequenzen dieses Gewaltaktes auf Rowells Todfeind führt: «Mais, au milieu du plus large panneau, une chose étrange me tira l’œil. Sur un carré de velours rouge, un objet noir se détachait. Je m’approchai : c’était une main, une main d’homme. [. . .] Autour du poignet, une énorme chaîne de fer, rivée, soudée à ce membre malpropre, l’attachait au mur par un anneau assez fort pour tenir un éléphant en laisse. Je demandai : ‹Qu’est-ce que cela ?› L’Anglais répondit tranquillement : ‹C’été ma meilleur ennemi. Il vené d’Amérique. Il avé été fendu avec le sabre et arraché la peau avec une caillou coupante, et séché dans le soleil pendant huit jours. Aoh, très bonne pour moi, cette›» (M, 1119; meine Hervorhebung).

Bermutier bezieht sich mit seiner Frage «Qu’est-ce que cela?» eindeutig auf die gehäutete Hand, die er eingehend betrachtet. Rowell muss mit ce in C’été ma meilleur ennemi (*Das war meine bester Feind) also ebenfalls auf la main verweisen, bezieht sich aber möglicherweise in metonymischem Sinne auf ihren Besitzer. Vielleicht meint er aber auch «C’était à mon meilleur ennemi.», also «Das/Die gehörte meinem besten Feind.», formuliert es jedoch falsch. Der grammatikalisch völlig inakzeptable Satz Aoh, très bonne pour moi, cette lässt einen derartigen Konstruktionsfehler plausibel erscheinen. Auf jeden Fall macht der Engländer in diesem bereits unklaren Satz zudem einen seiner häufigen Genusfehler: er hält das maskuline Nomen ennemi irrtümlich für ein Femininum und verbindet es mit dem Possessivbegleiter ma. Dadurch wird insgesamt die Kohäsion seiner Antwort gestört, da es kein maskulines Bezugswort für das Subjektpronomen il in den folgenden beiden Sätzen gibt. Eine weitere Folge davon ist, dass auch die Referenz von il unklar wird. Aufgrund des Kotextes (Bermutiers Frage

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nach der Hand), des Kontextes (Menschenjagd) und Rowells völliger Unsicherheit bezüglich der französischen Genera könnte der Engländer sich mit dem maskulinen Personalpronomen il im zentralen Satz Il avé été fendu avec le sabre et arraché la peau . . . sowohl auf die Hand seines Feindes als auch auf den Feind selbst beziehen. Somit bleibt völlig im Dunkeln, ob der Besitzer der ominösen Hand mit dem Säbel «gespalten» (fendu), also erschlagen, anschließend gehäutet und getrocknet wurde, oder ob diese grausige Behandlung nur seiner Hand zuteil wurde, die man ihm zuvor abgehackt hatte. Der Verstoß gegen die einzelsprachlichen Regeln des Französischen befördert hier also aufgrund der unklaren Referenz gezielt Mehrdeutigkeit und diese trägt ihrerseits zur übergeordneten Ambiguität rund um den Mord an Rowell bei. Versteht man Rowells Schilderung des Angriffs auf seinen Todfeind so, dass nur seine Hand abgeschlagen und gehäutet wurde, dann bleibt das Schicksal des Mannes, dem sie gehörte, ungewiss und Bermutiers rationale Erklärung des Mordes an Rowell (der möglicherweise davongekommene Todfeind hat sich an ihm gerächt) ist denkbar. Wurde aber der Todfeind selbst erschlagen, gehäutet und getrocknet, dann scheidet diese Erklärung offensichtlich aus. Die übernatürliche Lösung, dass die Hand tatsächlich belebt ist und Rowell ermordet hat, behält aufgrund zahlreicher Andeutungen im Text zweifelsohne ihre Attraktivität, unabhängig davon ob Rowells Todfeind den Angriff überlebt hat oder nicht. Die Komplexität der soeben aufgezeigten Verstöße gegen die sprachliche Korrektheit erwächst also letztlich nur zum Teil aus der Notwendigkeit, diese Verstöße zunächst als solche zu erkennen. Einerseits bedarf es dafür zwar durchaus einer soliden Kenntnis der französischen Sprache in Laut und Schrift sowie Kenntnissen der englischen Sprache oder zumindest ihres Klangs und ihrer Auswirkungen auf die französische Aussprache eines englischen Muttersprachlers. Andererseits wird das Erfassen besagter Abweichungen und ihres sekundären Zweckes, einen Originalton zu schaffen, durch den Kontext stark erleichtert: Anführungsstriche kennzeichnen explizt die direkte Rede des zuvor als Engländer charakterisierten Sir John Rowell und Bermutier sagt in aller Deutlichkeit, dass Rowell ein «français accentué d’outre-Manche» (M, 1118) spricht. Und wenn Bermutier in seiner Erzählerrede die Fehler des Engländers im Französischen zitiert, wird dies durch Kursivdruck angezeigt: «Il [. . .] déclara qu’il aimait beaucoup cette pays, et cette rivage.» (M, 1118). Kontext und typographische Mittel mindern somit die Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen der Rezipienten. Der primäre Zweck der Verstöße gegen die sprachliche Korrektheit trägt in deutlich höherem Maße zu deren Komplexität bei. Das Aufdecken der daraus resultierenden Unklarheit hinsichtlich des Schicksals von Rowells Todfeind und ihres Beitrags zur Ambiguität des Mordes an Rowell erfordert vom Rezipienten nämlich die oben aufgeführten, vergleichsweise

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anspruchsvollen Inferenzen hinsichtlich der möglichen semantischen Auswirkungen von Rowells systematischen sprachlichen Fehlern. Kommen wir nun zu einer abschließenden Bewertung der Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik. Wenn man nur die oben angeführten Vergleiche aufgrund ihres «übernatürlichen Anspielungspotentials», weiterhin die Toponyme Saint-Cloud, Ajaccio und d’outre-Manche, die von Eigennamen abgeleiteten lexikalisierten Metaphern un hercule und un colosse, die Fachtermini le juge d’instruction, le magistrat, le capitaine de gendarmerie, le commissaire central, les officiers de la force publique, la vendetta, la phalange und fantastique sowie das literarische le débris, weiterhin die Archaismen fort und serviteur und schließlich noch die soeben aufgeführten Metaplasmen, Genus- und Grammatikfehler als wortsemantisch komplex betrachtet, ergibt sich unter Berücksichtigung von Mehrfachnennungen und bei Zählung aller Bestandteile eines zusammengesetzten Substantivs oder Phraseologismus (d.h. juge d’instruction = drei Wörter) ein Anteil von 4,5% (= 96/2125) hochkomplexer token. Wenn man zusätzlich die nicht im Thematischen Grund- und Aufbauwortschatz Französisch von Fischer/Le Plouhinec (2012) verzeichneten Wörter und Wendungen als komplex betrachtet, weil sie aufgrund ihrer geringeren Häufigkeit in der unmarkierten Gegenwartssprache etwas erhöhte Anforderungen an das Sprachwissen der Leser stellen, ergibt sich allerdings ein Anteil von 13,5% (=287/2125) komplexer token. Das Kriterium der geringen Häufigkeit in der unmarkierten Gegenwartssprache wirkt sich jedoch deutlich weniger komplex auf die Wortsemantik aus als beispielsweise der Einsatz von Metaplasmen, Fachtermini oder ausgewiesenen Archaismen, die somit als hochkomplexe token betrachtet werden. Gemessen am wortsemantisch komplexesten Korpustext L’avenir de l’homme (Komplexitätswert 6) mit einem Anteil von 22% hochkomplexer token bzw. 32,2% komplexer token unter Berücksichtigung der nicht im Grund- und Aufbauwortschatz enthaltenen Lexeme, erweist sich die Komplexität der Kategorie «Wortsemantik» für La Main mit entsprechenden Anteilen von 4,5% bzw. 13,5% als lediglich mäßig komplex und ist mit dem Wert 2 zu beurteilen. Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene – Anforderungen an das elokutionelle, einzelsprachliche und lebensweltliche Wissen Der Sinn bzw. die eigentliche Bedeutung des Geschilderten ist in La Main unmittelbar durch die Gattungszugehörigkeit der Erzählung gegeben: der Leser soll in den Zustand der beinahe schmerzhaften Unschlüssigkeit oder Verwirrung einem Ereignis gegenüber versetzt werden, das den Anschein des Übernatürlichen hat (cf. Todorov 1970, 29; Forestier 1974, 1611). Gemäß Forestier (1974) ist Maupassant ein

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Meister der Erzeugung dieser genretypischen Ambiguität und Leserverwirrung, was auch Rachmühl (1992, 34s.) herausstellt: «Dès le début de sa carrière, on peut distinguer chez Maupassant deux manières d’aborder le genre fantastique. Dans ‹La Main d’écorché›, comme plus tard dans ‹Apparition› ou ‹La Main›, il nous livre un récit traditionnel, bien agencé, parsemé d’indices de plus en plus troublants qui laissent à la fin le lecteur dans une perplexité parfaite. [. . .] à la fin des récits traditionnels, le lecteur, ne sachant quelle interprétation donner, éprouve le plaisir subtil du doute, mais aussi un malaise plus profond, presque viscéral, comme s’il avait reçu une confidence horrible et gênante».

Die Strategien, die Maupassant zur Erzeugung dieser Ambiguität einsetzt – Herstellung einer Maximenkollision, Verstöße gegen die Quantitäts- und Modalitätsmaxime, Offenlassen zentraler Slots, Ineinandergreifen und Überlagerung bestimmter Frames etc. – und ihre Auswirkungen auf die Komplexität des Textes wurden bereits erläutert. Die Leerstellen, weiterhin die Erzählstrategie Bermutiers, die Fakten aneinanderzureihen und auf eine Interpretation zu verzichten, sowie die unzufriedene Reaktion einer seiner Zuhörerinnen auf seinen rationalen Erklärungsversuch – «Non, ça ne doit pas être ainsi.» (M, 1122) – fordern den Leser zur Mitarbeit an der Aufklärung des geschilderten ominösen und brutalen Mordfalls auf und sowohl kundige als auch unkundige Leser fantastischer Literatur müssen sich darauf einlassen und versuchen, die erforderlichen Inferenzen zu ziehen. Die angesprochene Meisterschaft Maupassants in der Herstellung von Ambiguität geht aber eben so weit, dass letztlich jede einzelne Aussage Bermutiers zum Mordfall sowohl als Beleg für eine rationale Erklärung desselben als auch als Beleg für eine übernatürliche Ursache interpretiert werden kann. Das soll anhand der folgenden Textpassagen exemplarisch demonstriert werden: «Je dis : ‹Cette chaîne maintenant est bien inutile, la main ne se sauvera pas.› Sir John Rowell reprit gravement : ‹Elle voulé toujours s’en aller. Cette chaîne été nécessaire›» (M, 1120). «L’Anglais était mort étranglé ! Sa figure noire et gonflée, effrayante, semblait exprimer une épouvante abominable ; il tenait entre ses dents serrées quelque chose ; et le cou, percé de cinq trous qu’on aurait dit faits avec des pointes de fer, était couvert de sang» (M, 1120). «Un médecin nous rejoignit. Il examina longtemps les traces des doigts dans la chair et prononça ces étranges paroles : ‹On dirait qu’il a été étranglé par un squelette.› Un frisson me passa dans le dos, et je jetai les yeux sur le mur, à la place où j’avais vu jadis l’horrible main d’écorché. Elle n’y était plus. La chaîne brisée, pendait.

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Alors je me baissai vers le mort, et je trouvai dans sa bouche crispée un des doigts de cette main disparue, coupé ou plutôt scié par les dents juste à la deuxième phalange» (M, 1121). «Le lendemain on m’apporta [le hideux débris], trouvé dans le cimetière, sur la tombe de sir John Rowell, enterré là ; car on n’avait pu trouver sa famille» (M, 1121).

Die Aussage Rowells, dass die Kette nötig sei, weil die Hand immer flüchten wolle, kann darauf hindeuten, dass der Engländer bereits beobachtet hat, dass diese abgetrennte menschliche Gliedmaße belebt ist, könnte aber natürlich auch auf eine getrübte Wahrnehmung oder Halluzinationen hinweisen. Der Ausdruck tiefsten Grauens auf dem Gesicht des Toten könnte daher rühren, dass die Hand ihn angegriffen hat, aber auch daher, dass sein vermeintlich ausgeschalteter Todfeind plötzlich vor ihm stand. Sein von fünf Löchern durchbohrter Hals, der beim Arzt die Assoziation eines Skeletts als Täter auslöst, sowie die Tatsache, dass sich die zwei oberen Glieder des Zeigefingers der verschwundenen Hand im Mund des Toten befinden, legen den Verdacht nahe, dass tatsächlich die Hand der Mörder war. Nach vollzogener Rache und zum Beweis ihrer Täterschaft könnte sie sich dann demonstrativ auf Rowells Grab zur Ruhe gelegt haben. Denkbar ist aber auch, dass der Besitzer der Hand seinen Peiniger Rowell mit seiner abgetrennten Hand getötet hat – wenngleich dies physiologisch schwierig sein dürfte, da er ja nur noch über eine gesunde Hand verfügt. Nach diesem Mord aus Rache könnte er dann als Zeichen seines Triumphes seine abgetrennte Hand auf Rowells Grab platziert haben. Indem der Leser versucht, die Leerstellen TÄTER, TATHERGANG und MOTIV zu füllen und dafür unter anderem die soeben angeführten Hinweise des Textes entsprechend auswertet, bringt er sich selbst in den Zustand der unauflösbaren Unschlüssigkeit hinsichtlich der Natur des ominösen Mordfalles – eine eindeutige Entscheidung für eine rationale oder übernatürliche Erklärung kann einfach nicht getroffen werden. Durch dieses Mitdenken, durch die Inferenz der im Text bewusst nicht ausgeführten Argumentationen und Konklusionen und durch den Gewinn der Erkenntnis, zu keiner eindeutigen Lösung des Mordfalls gelangen zu können, erschließt der Leser die Bedeutung der zweiten semiotischen Ebene bzw. den Sinn dieser Erzählung – weitere Interpretationsarbeit ist nicht zu leisten. Die unauflösbare Ambiguität von La Main ist einerseits ein Indiz für eine erhöhte Komplexität hinsichtlich des Aufwandes der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene – schließlich muss der Leser sowohl eine mögliche rationale Erklärung für den Mord als auch eine übernatürliche eigenständig inferieren. Andererseits aber ist diese Ambiguität aufgrund des Genres der Erzählung absolut erwartbar und weiß der kundige Leser fantastischer Literatur, dass es unmöglich ist, eine eindeutige Erklärung

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des fantastischen Ereignisses zu finden. Die Textgattung fungiert in diesem Fall also tatsächlich als kognitiver Entlastungsfaktor, da sie das besondere Funktionieren des Textes vorgibt und Interpretationsmöglichkeiten einschränkt (cf. Oesterreicher 1997, 29). Auch die Tatsache, dass die nötigen Inferenzen zum Beispiel durch die Interaktion des Mord-Frames mit dem Frame abgetrennte menschliche Hand nahegelegt werden und nicht mehr als die Aktivierung von Alltagswissen verlangen, relativieren die durch die geschickt inszenierte Ambiguität erzeugte Komplexität. Aus diesen Gründen und in erster Linie aufgrund der durch die Gattungszugehörigkeit der Erzählung gegebenen kognitiven Entlastung und Erwartbarkeit von Ambiguität ist der «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» letztlich nur als gering bis mäßig komplex einzuschätzen und erhält deshalb – wie so viele andere Kategorien bereits – den Komplexitätswert 2. Soeben wurde darauf hingewiesen, dass die Herstellung der nötigen Inferenzen in der Erzählung La Main im Wesentlichen Alltags- und Allgemeinwissen verlangt. Beispielsweise braucht der Leser alltagspsychologische Kenntnisse, um das Verhalten Rowells vor seiner Ermordung, insbesondere seine Aggressionen der Hand gegenüber, zu deuten, sowie alltägliches, aus der Erfahrung, aus Zeitungsmeldungen oder der Lektüre von Kriminalliteratur erworbenes Wissen, um nötige Schlüsse aus Aussagen wie «Aucune porte n’avait été forcée, aucune fenêtre, aucun meuble. Les deux chiens de garde ne s’étaient pas réveillés.» (M, 1121) zu ziehen. Auch die im Rahmen der Untersuchung der wortsemantischen Komplexität angesprochenen Fachtermini aus dem Bereich Polizei/Justiz wie z.B. le juge d’instruction oder le capitaine de gendarmerie sind in den genannten Medien hinreichend präsent und ein Fremdwort wie la vendetta, das spezifisches kulturelles Wissen erfordern würde, wird im Text selbst erklärt. Auch die Toponyme SaintCloud, Ajaccio und d’outre-Manche setzen ein zwar erweitertes, nicht aber hoch spezialisiertes geographisches Wissen voraus und auch das historische Wissen zur Kompensation der fehlenden zeitlichen Situierung der Ereignisse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist nicht anspruchsvoll. Verglichen mit dem lebensweltlichen Wissen, das die Rezeption von Erzählungen wie La Chèvre de M. Seguin oder Léviathan (cf. Kapitel 3.3.3 und 3.4.2.3) dem Leser abverlangt, sind die «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» im Fall von La Main also sowohl quantitativ als auch qualitativ als gering einzuschätzen. Da sie tatsächlich nur sporadisch über gängiges Alltagswissen hinausgehen, erhält die entsprechende Kategorie den Komplexitätswert 1. Die «Anforderungen an das elokutionelle Wissen» sowie an das einzelsprachliche Wissen sind demgegenüber als etwas höher einzuschätzen. Da das Vertrauensprinzip und die daraus ableitbaren Maximen Bestandteile des elokutionellen Wissens sind, führen die zahlreichen Verstöße gegen ebendiese

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zwangsläufig zu einer Erhöhung der Anforderungen an die allgemein-sprachliche Kompetenz. Dasselbe gilt für die mehrfach festzustellenden Abweichungen von der allgemeinen Kenntnis der Sachen, die sich aus den inkongruenten Aussagen Rowells zur abgetrennten Hand und seinem irrationalen Verhalten ihr gegenüber ergeben. Das nötige Wissen für die Interpretation dieser Abweichungen gehört ebenfalls zur allgemein-sprachlichen Kompetenz, die somit abermals gefordert wird, allerdings durch diskurstraditionelles Wissen zur conte fantastique und ihrem gängigen Motiv der vom Körper losgelösten belebten Teile entlastet wird. Somit ist die Kategorie «Anforderungen an das elokutionelle Wissen» mit einem mittleren Komplexitätswert, also 3, zu beurteilen. Im Bereich des einzelsprachlichen Wissens setzt zunächst die Analyse und adäquate Deutung der Manipulation bestimmter Zeichenkörper sowie der systematischen Genus- und Grammatikfehler in der direkten Rede Rowells eine solide Kenntnis des Französischen und eine rudimentäre des Englischen voraus, wenngleich das reine Erkennen der Verstöße gegen einzelsprachliche Regeln des Französischen durch typographische und kontextuelle Faktoren entlastet wird. Die Verwendung der lexikalisierten Metaphern un hercule und un colosse sowie des Lexems le débris, das dem literarischen Sprachgebrauch angehört, stellen erhöhte Anforderungen an das lexikalische Wissen der Rezipienten, was relativ zum heutigen Leser auch für die Archaismen fort (in der Bedeutung von très) und serviteur zutrifft. Schließlich muss auch berücksichtigt werden, dass zusätzlich zu den genannten komplexen Lexemen 180 Textwörter nicht im Thematischen Grund- und Aufbauwortschatz nach Fischer/Le Plouhinec (2012) verzeichnet sind und somit aufgrund ihrer geringen Frequenz in der nicht markierten Gegenwartssprache die Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen der Leser ebenfalls steigen lassen. Dasselbe gilt für die im Kontext der Satzsemantik angeführten 21 Partizipialkonstruktionen, die gemäß Klein/Kleineidam (1994, 251) vorwiegend in der Schriftsprache anzutreffen sind, sowie für zwei Vorkommnisse des Plus-queparfait du subjonctif («comme si cet homme eût vécu», M, 1120), «comme s’il se fût querellé», M, 1121), welches nach Klein/Kleineidam (1994, 237) der gehobenen geschriebenen Sprache angehört. Diese Formen werden in Le bon usage aufgrund ihrer Seltenheit als schwierig bewertet: «Sauf cas particuliers [. . .], l’idée selon laquelle le subjonctif imparfait ou plus-queparfait serait contraire à l’euphonie est subjective : c’est seulement la rareté de ces formes qui les rend surprenantes [. . .]. – C’est aussi leur rareté qui les rend difficiles, et non leur difficulté qui les rend rares» (Grevisse 1993, 1271).

In der Summe weist La Main bei einem Umfang von 2125 Wörtern also durchaus mehrere Lexeme, syntaktische Strukturen und grammatische Formen – letztere allerdings meistens vom selben Typ – auf, die erhöhte Anforderungen an das

3.1 Exemplarisches Komplexitätsprofil: Guy de Maupassant, La Main

223

einzelsprachliche Wissen der Rezipienten stellen, weshalb der Erzählung in der entsprechenden Kategorie mindestens der Komplexitätswert 2 beizumessen ist. Wenn man das somit vollständig dargestellte und ausführlich begründete Komplexitätsprofil von La Main mittels der folgenden Graphik resümiert und visualisiert, so ergibt sich das Bild eines mäßig komplexen Textes, der nur in den vier Kategorien «Umgang mit den Grice’schen Maximen (M)», «Leerstellen/ Aussparungen (L)», «Anforderungen an das elokutionelle Wissen (EW)» und «Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen (DW)» mittlere bis merklich erhöhte Komplexitätswerte aufweist. 6 5 4 3 2 1 0 FB

L

A

M

SK

FT

KK

W

S

EW

IW DW LW 2.E

FB: Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen; L: Leerstellen/Aussparungen; A: Andeutungen/Evokationen; M: Umgang mit den Maximen; SK: suppletive Kontextbildung; FT: Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen; KK: Kohäsion & lokale Kohärenz; W: Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik; S: Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik; EW/ IW/DW/LW: Anforderungen an das elokutionelle, einzelsprachliche, diskurstraditionelle und lebensweltliche Wissen; 2.E: Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene. Schema 10: Komplexitätsprofil von La Main.

Die verhältnismäßig hohe kulturelle Spezifizierung der Gattung conte fantastique, ihre Formung zahlreicher Dimensionen von Textualität und insbesondere die charakteristische Umkehrung der 2. Untermaxime der Modalität (Vermeide Mehrdeutigkeit) in ihr Gegenteil, die weitere Maximenverletzungen nach sich zieht, erklären die hohen Komplexitätswerte der Kategorien DW, M und EW. Die geschickt konstruierte Maximenzwickmühle mitsamt den resultierenden Verstößen gegen die Quantitätsmaxime führt ihrerseits zu zentralen Leerstellen, die zur kontextabhängigen IMPLIZITHEIT gehören, und den mittleren Komplexitätswert 3 der entsprechenden Kategorie L bedingen. Die genrespezifischen Umdeutungen der Grice’schen Maximen manifestieren sich auch in weiteren textsemantischen

224

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Besonderheiten, wie z.B. gering ausgeprägter Junktion, Andeutungen von Übernatürlichkeit, die aus kalkulierter Weitschweifigkeit erwachsen, und vor allem dem raffinierten Zusammenspiel der Frames Mord und abgetrennte menschliche Hand, die allesamt im Dienste der Erzeugung der genretypischen Ambiguität stehen. Diese Ambiguität ist letztlich auch das hervorstechendste Komplexitätsmerkmal von Maupassants fantastischer Erzählung. Ihre diskurstraditionelle Erwartbarkeit sowie die kognitiv entlastende Regelung ihres Sinns und Zwecks (Erzeugung unauflösbarer Unschlüssigkeit auf Leserseite) lassen die Komplexitätswerte mehrerer Kategorien (z.B. Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen, Andeutungen/Evokationen, Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene) aber letztlich nur auf den mäßig erhöhten Komplexitätswert 2 steigen. Der Faktor Konventionalität bzw. Erwartbarkeit begrenzt somit äußerst effektiv die aus der bewussten Erzeugung von Ambiguität resultierende Komplexität, was in der Summe zu einer nur mäßig komplexen Erzählung führt.

3.2 Diskurstraditionell bedingte Unterschiede im Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung und ihre Auswirkungen auf die Komplexität Im Verlauf dieser Arbeit wurde wiederholt die sinnkonstituierende Funktion der Kontexte herausgestellt, die sieben der 14 Komplexitätskategorien (Komplexität in Bezug auf die suppletive Kontextbildung, Leerstellen/Aussparungen, Andeutungen/Evokationen und Anforderungen an das elokutionelle, einzelsprachliche, diskurstraditionelle und lebensweltliche Wissen) motiviert hat. In Kapitel 2.2.3 wurde die Typologie der Kontexte nach Heidi Aschenberg (1999) vorgestellt, die die drei elementaren, d.h. funktional erforderlichen und nicht aufeinander rückführbaren Typen nicht-sprachliche Situation, positiver sowie negativer Rede- bzw. Diskurskontext und Wissen enthält (cf. Aschenberg 1999, 75). Die Verfügbarkeit des ersten Kontexttyps, der nicht-sprachlichen Situation, stellt sich nun für das mündlich realisierte «Nähesprechen» und das schriftlich realisierte «Distanzsprechen», zu dem auch unsere narrativen Korpustexte zählen, völlig anders dar. Während im Fall von face-to-face-Kommunikation die Determinanten des situationellen Kontextes unmittelbar und nonverbal gegeben sind, muss der geschriebene (literarische) Text aufgrund seiner «Situations- und Handlungsentbindung» (Koch/Oesterreicher 1990, 12) diese erst noch «verbal aufbauen» bzw. «suppletiv erstellen» (cf. Aschenberg 1999, 169; 174). Im Fall narrativer Prosa müssen sogar zwei Situationen verbal aufgebaut werden: zum einen die Erzählsituation, also

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

225

die «interne Kommunikationssituation» zwischen Erzähler und Leserfigur bzw. narrataire (cf. ib., 188 mit Bezug auf Janik 1973/1985, 13s.), zum anderen die erzählte Situation mit ihren fundierenden Parametern Personen, Raum und Zeit (cf. ib., 188). Dabei bestimmt die Erzählsituation die narrative Ausgestaltung und Perspektivierung der erzählten Situation wesentlich (cf. ib., 187) und erweist sich damit zu einem erheblichen Anteil verantwortlich für eine ausreichende oder mangelnde Orientierung des Lesers im fiktionalen Universum und somit auch für die Komplexität der suppletiven Kontextbildung. Der prädestinierte Ort für die suppletive Kontextbildung ist zweifelsohne der Textanfang, was Aschenberg (1999, 202s.) folgendermaßen begründet: «Im Gegensatz zur handlungsbegleitenden oder situationell gebundenen Äußerung muß der Erzähltext die erzählte Situation episch präparieren, und dies geschieht in der Regel am Beginn der Erzählung. Nur wenn Figuren, Raum und Zeit als Akteure bzw. als Dimensionen der fiktiven Welt eingeführt, nur wenn dadurch die referentiellen Horizonte eröffnet sind, kann die Erzählung in für den Hörer/Leser verständlicher Weise ihren Fortgang nehmen. (Dies gilt jedenfalls für das idealtypisch als ‹konventionell› zu beschreibende Erzählen)».

In seiner typologischen Untersuchung des incipit romanesque zählt Andrea Del Lungo (2003, 14) die suppletive Kontextbildung – in seinen Worten: construire un univers fictionnel – ebenfalls zu den zentralen Aufgaben des Text- bzw. Romananfangs und führt weiter aus: «[. . .] l’information concerne plutôt la fiction proprement dite, par un effet de construction interne qui se focalise au début du texte sur l’histoire, et notamment sur son temps, sur son espace, sur les personnages de l’action. Ce type d’information, qui est certainement le plus répandu dans les débuts romanesques, est présenté en général par une description ou par des fragments descriptifs insérés dans une narration, ou bien par la détermination des points de départs spatio-temporels de l’histoire ; il s’agit donc d’une information ‹codée› selon des règles qui remontent à la rhétorique ancienne, et d’un élément structurel de toute narration dont l’absence est également fonctionnelle, car elle indique une rétention de l’information même, par la formulation d’une énigme visant à susciter le désir de lecture» (ib., 168).

Aus diesen Erkenntnissen zu den Funktionen des Incipits folgt, dass die in diesem Kapitel durchzuführende Analyse der Komplexität der suppletiven Kontextbildung sich vornehmlich auf den Beginn der Korpustexte stützen muss, sich aber häufig nicht darauf beschränken darf. Heidi Aschenbergs Einschränkung, dass im als konventionell zu beschreibenden Erzählen der verbale Aufbau der Situation in der Regel am Beginn der Erzählung erfolgt, und Andrea Del Lungos Hinweis darauf, dass ein Zurückhalten der erwarteten Informationen zu Ort, Zeit und Personen der Handlung eine funktionale, Spannung oder Leserinteresse erzeugende Entscheidung sein kann, zeigen, dass die suppletive Kontextbildung eben auch erst im weiteren Verlauf des Textes, an seinem Ende oder im Extremfall gar nicht erfolgen kann. Diese Varianten verweisen bereits

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

auf mögliche Komplexitätsunterschiede in Bezug auf die suppletive Kontextbildung, die im Folgenden an ausgewählten Korpustexten aufgezeigt werden sollen. In Kapitel 2.2.3 wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Art und Weise sowie das Ausmaß der suppletiven Verbalisierung der Situationsparameter im Wesentlichen von den Erfordernissen der jeweiligen Textsorte abhängig sind, also in unmittelbarem Zusammenhang mit Diskurstraditionen stehen. Heidi Aschenberg (1999, 185) erläutert zunächst die unterschiedlichen Modalitäten der suppletiven Kontextbildung in Bezug auf die drei literarischen Großformen Epik, Dramatik und Lyrik und fasst sie folgendermaßen zusammen: «Während die erzählende Dichtung [. . .] die Situation mit den Komponenten Zeit, Raum und Figuren expositionell bereitzustellen hat, während der Autor des Bühnenstücks den Schauplatz voraussetzen kann, d.h. ihn verbal nicht oder nur eingeschränkt aufbauen muss, bleiben expositionelle Angaben im Lyrischen zweitrangig [. . .]».

Des Weiteren führt sie an, dass die Art der Verbalisierung von Situation auch in vielen literaturwissenschaftlichen Theorien – sie nennt u.a. Staiger (1946/1968), Hamburger (1957/1968) und Raible (1980) – als gattungsdifferenzierendes Merkmal auftrete (cf. Aschenberg 1999, 185). Für die Gruppe der erzählenden Texte weist Aschenberg außerdem auf die Beeinflussung der sprachlichen Artikulation von Situation durch «für eine bestimmte Epoche und/oder literarische Richtung und/oder einen bestimmten Autor charakteristische oder spezifische Erzählstrategien» (ib., 198) hin. Im Rahmen des exemplarischen Komplexitätsprofils von Maupassants Erzählung La Main wurde dieser Zusammenhang von Diskurstraditionen und Art und Komplexität der suppletiven Kontextbildung bereits konkretisiert und gezeigt, dass die sofortige, explizite, ausführliche, auf die reale Geographie verweisende und somit einfache Art der suppletiven Kontextbildung in den Erfordernissen der Gattung begründet liegt: fantastischer Literatur geht es darum, das Übernatürliche als «befremdenden, fast unerträglichen Einbruch in die wirkliche Welt» (Caillois 1974, 45) darzustellen, um so die intendierte Unschlüssigkeit des Lesers (cf. Todorov 1970, 29) dem Status dieses fantastischen Ereignisses gegenüber zu erzielen. Im Folgenden gilt es auch Aschenbergs Erkenntnis zu illustrieren, dass bestimmte literarische Epochen bzw. Bewegungen aufgrund ihrer Ansprüche und Zielsetzungen ebenfalls bestimmte Formen der suppletiven Kontextbildung erforderlich machen und somit deren Komplexität entscheidend beeinflussen. So ist es z.B. die Zugehörigkeit der Novelle Naïs Micoulin zum Naturalismus, die in erster Linie dafür verantwortlich ist, dass dieses Werk bezogen auf das hier untersuchte Korpus die expliziteste, ausführlichste, unmittelbarste, absolut verlässliche und damit einfachste Form der suppletiven Kontextbildung aufweist.

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

227

Auch Andrea Del Lungo (2003) stellt in seiner Untersuchung des incipit romanesque, die europäische Romane des 19. und 20. Jahrhunderts zur Grundlage hat, fest, dass die Art der verbalen Suppletion von Situation diachron variiert, somit also – wie auch Aschenberg (1999) bemerkt hat – im Zusammenhang mit bestimmten literarischen Epochen und Bewegungen steht. Del Lungo setzt sich aber intensiver als Aschenberg mit dieser literaturgeschichtlichen Variation auseinander und entwickelt eine funktionale Typologie des Textbeginns, die er eben auch diachron deutet und die zudem unmittelbare Gründe liefert für eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Komplexität der jeweiligen suppletiven Kontextbildung. Del Lungo entwickelt seine Typologie auf der Grundlage der zwei zentralen Funktionen des incipit, nämlich informer le lecteur (fonction informative) und commencer l’histoire (fonction dramatique), die seiner Ansicht nach variabel und voneinander abhängig sind. Die beiden Funktionen seien insofern variabel, als ihre jeweiligen Ausprägungen sich für einen gegebenen Text auf zwei bipolaren Achsen verorten lassen, deren gegensätzliche Pole im Fall der dramatischen Funktion durch sofortige versus verzögerte Dramatisierung (dramatisation immédiate vs. dramatisation retardée) gegeben seien, im Falle der Informationsfunktion durch informative Sättigung versus Verknappung (saturation informative vs. raréfaction informative). Durch Kreuzung dieser beiden Achsen erzielt Del Lungo nun seine funktionelle Typologie der Formen des incipit romanesque, die in schematischer Form vier Haupttypen des Umgangs mit der doppelten Anforderung des Textbeginns, eben den Leser zu informieren und die Geschichte beginnen zu lassen, aufzeigt (cf. Del Lungo 2003, 167–175). Er versieht diese Typologie mit der Angabe von vier Romanen, die die jeweilige Form des Incipits in exemplarischer Weise vertreten und gleichzeitig die diachrone Entwicklung der funktionalen Gestaltung des Textbeginns widerspiegeln (cf. ib., 173–175). Diese Typologie wird im Folgenden mitsamt der wesentlichen Erläuterungen Del Lungos aufgeführt: «Pour simplifier l’exposition, le schéma sera présenté à l’aide d’un tableau à double entrée, [. . .]. Il faut cependant préciser que les cases du tableau ne constituent pas des frontières étanches ; elles représentent plutôt les points extrêmes de deux échelles de valeurs sur lesquelles chaque incipit peut se placer différemment. Voici donc les principales formes de résolution de la double exigence du commencement que l’on vient d’évoquer : informer le lecteur, commencer l’histoire. Dramatisation retardée

Dramatisation immédiate

Saturation informative

incipit STATIQUE (exemple : Balzac, Eugénie Grandet)

incipit PROGRESSIF (exemple : Flaubert, Madame Bovary)

Raréfaction informative

incipit SUSPENSIF (exemple : Beckett, L’Innommable)

incipit DYNAMIQUE (exemple : Gide, Les Faux-Monnayeurs)

228

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Les deux fonctions qui sont à la base de cette typologie sont différemment hiérarchisées selon les catégories : la fonction informative est prédominante dans l’incipit statique, alors que dans la case opposée la fonction dramatique est prioritaire dans l’incipit dynamique (qui correspond à ma précédente définition d’in medias res) ; les deux fonctions sont présentes et coexistent dans l’incipit progressif, elles sont en revanche absentes, ou plutôt perçues comme telle, dans l’incipit suspensif qui, par l’effacement de toute tension, ressemble souvent à un refus du commencement» (ib., 173s.).

Del Lungo betont also, dass seine schematische Darstellung die vier Hauptformen des Umgangs mit der doppelten Anforderung des Textanfangs – den Leser zu informieren und die Geschichte beginnen zu lassen – aufzeige, die sich eben aus einer starken Betonung bzw. völliger Vernachlässigung einer oder gar beider Funktionen ergebe. Natürlich seien aber durch unterschiedliche Akzentuierung der beiden Funktionen auch alle denkbaren «Zwischenformen» möglich. Wie oben bereits bemerkt wurde, deutet Del Lungo diese Typologie im Folgenden auch diachron und zeigt an ausgewählten Beispielen der Literaturgeschichte auf, dass seine vier Hauptformen des Textbeginns Modelle widerspiegeln, die bestimmte literarische Epochen des 19. und 20. Jahrhunderts dominiert haben und sich durch Akzentverschiebungen hinsichtlich der Bedeutung seiner beiden Hauptfunktionen entwickelt haben: «[. . .] la typologie des formes d’exorde [. . .] me semble avoir une pertinence historique qui permet de suivre les évolutions et les subversions des modèles de début, ainsi que leur déplacement fonctionnel dans l’histoire du roman moderne, au moins dans ses grandes lignes. Il faut en effet remarquer que les exemples choisis pour les quatre catégories d’incipit forment un parcours diachronique montrant les transformations fondamentales qui se sont opérées au cours des deux derniers siècles : d’un type de début statique, dans la première moitié du XIXe siècle, à la diffusion de l’exorde in medias res et au développement, au milieu du XXe, d’une forme d’incipit suspensif et métanarratif, qui met souvent en question la notion même de commencement» (ib., 177s.).

Gemäß Del Lungo dominiert also der incipit statique die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts und an späterer Stelle führt er detaillierter aus, dass Flauberts Madame Bovary (1857) durch eine stärkere Betonung der dramatischen Funktion den Wendepunkt vom statischen zum dynamischen Modell darstelle. Der incipit dynamique bzw. Beginn in medias res sei das dominierende Modell des Romananfangs im 20. Jahrhundert; in der Mitte des 20. Jahrhunderts kultivierten dann u.a. die Autoren des Nouveau Roman einen weiteren Typ von Beginn (incipit suspensif), der sich letztlich durch das Fehlen von Informations- und Dramatisierungsfunktion auszeichne und im Wesentlichen eine metanarrative Reflexion über Sinn und Möglichkeiten des Erzählens selbst oder den Ursprung der Erzählerstimme biete (cf. ib., 177s.).

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

229

Bei den in dieser Arbeit untersuchten Korpustexten handelt es sich zwar nicht um Romane, sondern um narrative Kurzprosa unterschiedlichster Gattungszugehörigkeit (nouvelle à chute, Prosaballade, naturalistische Novelle etc.), dennoch bestätigt sich innerhalb des Korpus Del Lungos Einschätzung, wonach das statische sowie das progressive Modell des Textbeginns mit ihrer informativen Sättigung eher in den Werken des 19. Jahrhunderts zu finden sind, während die Texte des 20. Jahrhunderts die Dramatisierungsfunktion stärker betonen und die nötige Information zum fiktionalen Universum erst an späterer Stelle nachliefern oder generell spärlicher gestalten, was natürlich unmittelbare Auswirkungen auf die Textkomplexität hat. In frame-semantischer Perspektive bedeutet dies, dass die Korpustexte des 19. Jahrhunderts Orts- und Personen-Frames häufig durch unmittelbare Benennung des Frame-Kerns oder der Filler ihrer zentralen Slots instantiieren und die entsprechenden Frames auch zügig durch zahlreiche weitere Filler anreichern. So werden Personen beispielsweise durch Nennung ihres Familiennamens oder vollständigen Namens und oftmals durch unmittelbaren Nachtrag ihres Berufs in Form einer Apposition eingeführt: «M. Pierre Gringoire, poète lyrique, à Paris» (C, 260); «M. Bermutier, juge d’instruction» (M, 1116). Häufig werden sie auch durch eine unbestimmte Nominalgruppe («une petite fille, brune de peau, avec des cheveux noirs embroussaillés», N, 741; «une de ces jolies et charmantes filles, nées, comme par une erreur du destin, dans une famille d’employés», Pa, 1198) eingeführt, wodurch der Erzähler dem narrataire deutlich macht, dass der zugehörige Referent ihm zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht bekannt ist, er aber im Normalfall damit rechnen kann, im Folgenden alle wichtigen Informationen zu dieser Person zu erhalten. Außerdem beinhalten diese einführenden unbestimmten Nominalgruppen bereits zahlreiche charakterisierende Adjektive oder den Verweis auf einen bestimmten Menschentyp, der dem Leser aus seiner Alltagserfahrung bekannt ist. Zentrale Slots der Personen-Frames wie z.B. Name, Geschlecht, Alter, Aussehen, Beruf, soziale Stellung, Charaktereigenschaften etc. werden in den hier untersuchten Novellen des 19. Jahrhunderts häufig unmittelbar am Textbeginn mit konkreten Füllwerten belegt. Dabei handelt es sich um verlässliche Informationen, die dem Leser eine sichere Orientierung in der dargestellten Welt erlauben und ihm häufig wichtige Schlüssel für das Verständnis und die Interpretation der erzählten Geschichte liefern. Ähnlich explizit und ausführlich erfolgt die Situierung des Geschehens im Raum, wobei hier deutlichere genrebedingte Unterschiede festzustellen sind. Während die naturalistischen Erzählungen Naïs Micoulin (1877) und La Parure (1884) sowie die conte fantastique La Main (1883) ihre Handlung unter Verwendung von Toponymen und somit durch Benennung des Kerns des jeweiligen Orts-Frames in der realen Geographie verankern (Aix, L’Estaque, Paris, Ajaccio), spielt die Prosaballade La Mort du Dauphin (1866), die den Vanitas-Gedanken illustriert, im Reich des titelgebenden Dauphins,

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

welches nicht explizit in der Realität des Lesers verortet wird. Die umfangreiche Charakterisierung dieses Reichs mitsamt seiner Infrastruktur, seinen Werten sowie den Funktionen und Berufen der in ihm agierenden Figuren (le roi, le Dauphin, les suisses, les chambellans, les majordomes, les courtisans, les bourgeois, le gouverneur, l’aumônier . . . ) evoziert aber ebenfalls eine mit historischen Komponenten aus der Geschichte Frankreichs angereicherte Diegese und liefert ausreichend viele Informationen zum Verständnis der erzählten Welt. Wenngleich in keinem der fünf Korpustexte des 19. Jahrhunderts die Geschehnisse mit Hilfe eines vollständigen Datums zeitlich situiert werden, herrscht insgesamt dennoch eine informative Sättigung durch eine ausführliche Instantiierung von Orts- und PersonenFrames vor, die dem Leser eine sofortige und verlässliche Orientierung im fiktionalen Universum erlaubt und folglich mit einer ausgeprägten Einfachheit der suppletiven Kontextbildung einhergeht. Diese informative Sättigung ist mit Sicherheit am einfachsten zu erreichen, wenn eine auktoriale Erzählsituation nach Stanzel vorliegt bzw. gemäß Genettes Erzähltheorie die Geschehnisse von einem heterodiegetischen Erzähler dargeboten werden und die Nullfokalisierung dominiert, d.h. der Erzähler mehr weiß und sagt, als irgendeine der Figuren weiß bzw. wahrnimmt (cf. Martínez/Scheffel 1999/2012, 67). Tatsächlich weisen drei der fünf Korpustexte des 19. Jahrhunderts, nämlich La Mort du Dauphin, La Chèvre de M. Seguin und Naïs Micoulin eine auktoriale Erzählsituation in Reinform auf. In La Main wird zumindest die Rahmenerzählung auktorial dargeboten und in La Parure dominiert zwar die Nullfokalisierung, sie wird aber phasenweise durch eine interne Fokalisierung ersetzt, wenn der heterodiegetische Erzähler die Perspektive der Protagonistin Mme Loisel einnimmt. Es ist auffällig, dass in den beiden zuletzt genannten Korpustexten die Einschränkung der Perspektive auf die Wahrnehmung und das Wissen einer Figur tatsächlich einen deutlichen Komplexitätszuwachs hinsichtlich der suppletiven Kontextbildung bedeutet: so kann der Ich-Erzähler M. Bermutier in La Main keine verlässlichen Aussagen zum Gesundheits- und Geisteszustand Rowells machen und Mathilde Loisel in La Parure muss ebenso wie der Leser annehmen, dass die Halskette, die sie sich von ihrer Freundin ausgeliehen hat, echt und wertvoll ist, was – wie sich erst am Ende der Erzählung herausstellt – ein folgenschwerer Irrtum ist. Die Korpustexte des 20. Jahrhunderts bestätigen ihrerseits Del Lungos Beobachtung eines Wandels vom statischen, informationsgesättigten Modell des Textbeginns hin zu einem dynamischen Modell und dieses Zurücktreten der informativen Sättigung geht zumindest beim vorliegenden Korpus auch mit einer Abkehr von der auktorialen Erzählsituation und Hinwendung zur personalen bzw. Ich-Erzählsituation mit den entsprechenden Einschränkungen der Wahrnehmungsperspektive einher. Diese diskurstraditionellen Veränderungen bewirken nun eine völlig andere Art der Instantiierung von Personen-, Orts- und Zeit-Frames

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

231

und damit eine Erhöhung der Komplexität der suppletiven Kontextbildung. Diese erfolgt häufig reduzierter und verzögerter als in den Werken des 19. Jahrhunderts, verlangt vom Leser mehr oder weniger anspruchsvolle Inferenzleistungen, erweist sich mitunter auch als nicht verlässlich und ist mitverantwortlich für verschiedenste literarische Effekte. Beispiele für diese Spielarten der suppletiven Kontextbildung und der damit einhergehenden semantischen Komplexität werden in den Unterkapiteln 3.2.2.1 bis 3.2.2.3 analysiert. Zuvor soll aber exemplarisch an Zolas Novelle Naïs Micoulin die durch informative Sättigung und Explizitheit geprägte Art der suppletiven Kontextbildung des 19. Jahrhunderts illustriert und unter Rückgriff auf die Zielsetzungen des Naturalismus begründet werden.

3.2.1 Die explizite Variante des 19. Jahrhunderts: Émile Zola, Naïs Micoulin Die Novelle Naïs Micoulin erschien in Le Messager de l’Europe im Jahr 1877, also inmitten der Zeitspanne von 1870 bis 1884, die Frank Wanning (1998, 70) als Hochzeit des Naturalismus betrachtet, und sie wurde von dem Autor verfasst – Émile Zola –, der zweifelsohne die zentrale Figur dieser literaturgeschichtlichen Bewegung in Frankreich darstellt (cf. Asholt 2006, 229). Die daraus ableitbare Erwartung, dass sich in dieser Novelle die Ästhetik, die Zielsetzungen und Techniken sowie die zentralen Themen des Naturalismus in besonders deutlicher Form identifizieren lassen, wird nicht enttäuscht. Gemäß Jürgen Grimm (2006, 310) stellen die positivistische Philosophie Comtes, die Milieutheorie Taines, die Evolutionstheorie Darwins, die Vererbungslehre von Prosper Lucas und insbesondere die Experimentalmedizin Claude Bernards die Grundlagen des Naturalismus dar. Frank Wanning (1998, 71) bezeichnet Engagement, Wissenschaftlichkeit, Antitraditionalismus, Gegenwartsbezug, Normalität, Tatsachen und Details als «ästhetische Schlüsselbegriffe des Naturalismus». Der Naturalismus verstehe sich als «engagierte Kunst», die sich thematisch insbesondere mit den unteren gesellschaftlichen Klassen, bürgerlicher Dekadenz und psychologischen Anomalien beschäftige und durch die Darstellung realer gesellschaftlicher Verhältnisse zunächst zu einer Bewusstseinsveränderung und in einem zweiten Schritt zu einer umfassenden Gesellschaftsveränderung beitragen wolle. Der wissenschaftliche Anspruch der Naturalisten äußere sich im Verzicht auf Bewertungen und sentimentale Verklärung und im Stilideal der distanzierten genauen Abbildung, «die über den konkreten Gegenstand den Blick auf ein Allgemeines frei[gebe]» (ib., 71). Der Antitraditionalismus dieser literarischen Bewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts wiederum manifestiere sich in der Abkehr von literarischen Vorbildern und der größtmöglichen Nähe zur damaligen Gegenwartswelt (cf. ib., 70ss.).

232

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Gemäß Wanning (1998, 87) konzentriert sich die Zola’sche Ästhetik auf drei der soeben aufgelisteten Theorien und Methoden: 1. die Milieutheorie, die er von Hippolyte Taine übernahm, 2. die darwinistische Vererbungslehre, die er über Prosper Lucas kennen lernte, und 3. die experimentelle Methode des Mediziners Claude Bernard, die Zola auf die Tätigkeit des Schriftstellers übertrug. In Taines Anthropologie, die häufig durch die Formel von race, milieu, moment wiedergegeben wird, ist das Subjekt von verschiedenen Seiten determiniert: «Neben seinen biologischen Anlagen (race), die ihm vererbt sind, ist sein Verhalten sozial konditioniert und trägt Züge seiner sozialen Gruppe oder Schicht (milieu). Diese zweite Determinante unterliegt dem historischen Wandel (moment)» (ib., 74).

Wolfgang Asholt (2006, 231) erklärt, dass Zola in Bezug auf das Wirken der Erbanlagen von Lucas die Dichotomie von invention und imitation übernommen habe. «Mit der innovativen Erbmasse [. . .] [werde] der absolute Determinismus außer Kraft gesetzt und dem Zufall der Weg gebahnt». Nach Einschätzung Asholts unterliegen zwar Situation und Entwicklung der meisten Figuren in Zolas Werk einem tragisch-unausweichlichen sozialen und biologischen Determinismus, doch seien eben dank der innovativen Erbmasse Ausnahmen möglich, um letztlich der «Gefahr einer Blockade auszuweichen» (cf. ib., 231). Die experimentelle Methode Claude Bernards schließlich überträgt Zola so von der Medizin auf die Literatur, dass er vom Schriftsteller die sukzessive Übernahme der Rollen des observateur und des expérimentateur verlangt. In der Rolle des observateur müsse der Autor zunächst soziale Milieus beobachten und empirische Fakten sammeln, die er dann als expérimentateur zu neuen fiktiven Konstellationen kombiniere, in denen er dann wiederum die kausalen Ereignisketten zu beobachten habe (cf. Wanning 1998, 89). Aus den soeben vorgestellten Ideen, Zielsetzungen und Methoden der Naturalisten im Allgemeinen und Zolas im Besonderen ergeben sich fast zwingend bestimmte Anforderungen an die Art der suppletiven Kontextbildung in ihren literarischen Werken. Wenn der naturalistische Autor soziale Milieus beobachtet und empirische Fakten sammelt, um die «größtmögliche Nähe zur damaligen Gegenwartswelt» (ib., 71) zu erreichen, und durch seine «distanzierte genaue Abbildung» realer gesellschaftlicher Verhältnisse eine Bewusstseinsänderung beim Leser erzielen will (cf. ib., 71), muss er das dargestellte fiktionale Universum in der realen Geographie und Geschichte verankern und detaillierte Informationen zum Ort und zu den politischen und gesellschaftlichen Umständen seiner Handlung sowie den beteiligten sozialen Milieus und ihren Strukturen bereitstellen. Und wenn der Autor und mit ihm der Leser den sozialen und biologischen Determinismus verstehen will und soll, dem die Figuren in den dargestellten

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

233

Situationen unterliegen, wenn beide verstehen wollen, wie Erbanlagen und Milieu die Menschen konditionieren, dann müssen vor Beginn der eigentlichen Handlung eben auch die Figuren in aller Ausführlichkeit und unter Angabe der soeben angeführten Charakteristika vorgestellt werden. Um diese Informationen in aller Verlässlichkeit und insbesondere für alle Figuren der Handlung bereitstellen zu können, bedarf es außerdem in der Regel eines heterodiegetischen Erzählers, der allwissend ist, aus zeitlicher Distanz erzählt und Ordnung in das dargestellte Geschehen bringt. Eine solche Erzählsituation, die verantwortlich zeichnet für eine explizite, detaillierte, tiefgehende und unmittelbare Art der Suppletion der erzählten Situation, die sich wiederum aus den Erfordernissen der naturalistischen Ästhetik ergibt, ist nun in prototypischer Form in Zolas Novelle Naïs Micoulin zu beobachten. Im Zentrum ihrer Handlung steht die heimliche Liebe zwischen Naïs Micoulin, der Tochter der Halbpächter der Blancarde, und Frédéric Rostand, dem Sohn der Eigentümer dieses Anwesens in der Nähe von Marseille. Die Entwicklung der leidenschaftlichen Romanze zwischen den beiden 21-jährigen Protagonisten ist in engster Weise verflochten mit der provenzalischen Landschaft und ihrer Stimmung zu unterschiedlichen Phasen des Sommers, endet folglich auch mit der aufkommenden Kühle und den Gewittern des Herbstes (cf. Satiat 1997, 19). Als Naïs’ herrischer und brutaler Vater der Beziehung zwischen seiner Tochter und Frédéric gewahr wird, unternimmt er zwei Versuche, ihren Liebhaber zu töten und dies als Unfall zu tarnen. Naïs tut alles, um Frédéric zu beschützen und geht sogar so weit, mit Hilfe ihres buckligen Arbeitskollegen Toine einen Bewässerungskanal anzulegen, der den Felsen, auf dem la Blancarde liegt, aushöhlen soll. Die resultierenden Einsickerungen lösen einen gezielten Erdrutsch aus, in dem ihr Vater ums Leben kommt. Frédéric nimmt nach dem Sommer am Meer sein sorgloses Studentenleben in Aix wieder auf, bezeichnet seine Beziehung zu Naïs sowie ihre schnell verblühte Schönheit als ein déjeuner du soleil und erfährt niemals, was die junge Frau für ihn getan hat. Naïs hingegen heiratet Toine, der von nun an la Blancarde bewirtschaftet, und büßt nicht nur ihre Jugend, sondern auch ihre Schönheit und Verführungskraft über den Ereignissen jenes Sommers ein. Roger Ripoll (1976, 1528) weist auf die zeitliche und konzeptionelle Parallelität zwischen der Novelle Naïs Micoulin und dem zum Rougon-Macquart-Zyklus gehörenden Roman Une page d’amour hin und sieht in der Darstellung einer Leidenschaft zwischen zwei Menschen, die sich niemals kennen werden, das gemeinsame Motiv beider Werke:

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

«On voit alors ce qui unit Naïs Micoulin et Une page d’amour : c’est l’histoire d’une passion qui naît entre des êtres qui ne se connaîtront jamais. Cette méconnaissance qui, dans Une page d’amour, est simplement découverte par Hélène dans ses réflexions finales, a sa traduction ici dans le déroulement même de l’intrigue : Frédéric ignore jusqu’au bout ce que Naïs a fait pour lui».

Nach Einschätzung Ripolls erweist sich die Novelle gegenüber dem Roman aber als deutlich gelungener, was an ihrem geringeren Analyseanteil liege. In der Novelle fehlten die psychologischen Allgemeinplätze und das beiderseitige Unverständnis der leidenschaftlich liebenden Protagonisten lasse sich ganz konkret aus ihrer völlig unterschiedlichen Herkunft und Lebensrealität erklären und manifestiere sich in ihrem Verhalten und ihren Gesprächen (cf. ib., 1528s.): «[. . .] Naïs Micoulin, où la part de l’analyse était réduite, où les personnages se faisaient connaître avant tout par leur comportement, montrait la passion telle que la concevait Zola, alors que dans Une page d’amour le romancier se contentait trop souvent d’énoncer cette conception sous une forme abstraite. L’impossibilité de communiquer et de se connaître n’apparaît pas ici comme une vérité psychologique à laquelle se référeraient les commentaires de l’auteur ou les méditations des personnages. Elle s’impose de façon tout à fait concrète, parce que les personnages appartiennent à des univers entièrement différents, qu’il s’agisse de leur classe sociale ou du décor dans lequel ils vivent [. . .]» (ib., 1529).

Um dem Leser verständlich zu machen, warum Frédéric und Naïs sich zwar verlieben können, aber letztlich nicht in der Lage sind, sich zu verstehen, und um erklären zu können, wie soziale Herkunft und Erbanlagen das Verhalten und Denken der beiden Protagonisten beeinflussen, räumt Zola der suppletiven Kontextbildung großen Raum in seiner Novelle ein. Die Erzählung umfasst in der Ausgabe der Bibliothèque de la Pléiade38 31 Druckseiten, von denen die ersten neun im Wesentlichen dem verbalen Aufbau des fiktionalen Universums gewidmet sind. Gemäß der Typologie von Andrea del Lungo (2003) ist der Beginn von Naïs Micoulin nach dem Modell des incipit progressif gestaltet, der also beiden Funktionen des Textanfangs, nämlich den Leser zu informieren und die Geschichte beginnen zu lassen, Rechnung trägt. Erzählt wird ein Ereignis, das sich über Jahre hinweg zur Erntezeit monatlich wiederholt. Naïs Micoulin, die Tochter der Halbpächter der Blancarde, besucht deren Besitzer, eine Anwaltsfamilie aus Aix, um dieser einen Teil der Obsternte zukommen zu lassen:

38 Zola, Émile, Contes et nouvelles. Texte établi, présenté et annoté par Roger Ripoll avec la collaboration de Sylvie Luneau pour les textes de Zola traduits du russe, Paris, Gallimard, 1976.

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

235

«À la saison des fruits, une petite fille, brune de peau, avec des cheveux noirs embroussaillés, se présentait chaque mois chez un avoué d’Aix, M. Rostand, tenant une énorme corbeille d’abricots ou de pêches, qu’elle avait peine à porter. Elle restait dans le large vestibule, et toute la famille, prévenue, descendait. ‹Ah ! c’est toi, Naïs, disait l’avoué. Tu nous apportes la récolte. Allons, tu es une brave fille. . . Et le père Micoulin, comment va-t-il ? - Bien, Monsieur›, répondait la petite en montrant ses dents blanches. Alors, Mme Rostand la faisait entrer à la cuisine, où elle la questionnait sur les oliviers, les amandiers, les vignes. La grande affaire était de savoir s’il avait plu à L’Estaque, le coin du littoral où les Rostand possédaient leur propriété, la Blancarde, que les Micoulin cultivaient. Il n’y avait là que quelques douzaines d’amandiers et d’oliviers, mais la question de la pluie n’en restait pas moins capitale, dans ce pays qui meurt de sécheresse. ‹Il a tombé des gouttes, disait Naïs. Le raisin aurait besoin d’eau.› Puis, lorsqu’elle avait donné les nouvelles, elle mangeait un morceau de pain avec un reste de viande, et elle repartait pour L’Estaque, dans la carriole d’un boucher, qui venait à Aix tous les quinze jours. Souvent, elle apportait des coquillages, une langouste, un beau poisson, le père Micoulin pêchant plus encore qu’il ne labourait. Quand elle arrivait pendant les vacances, Frédéric, le fils de l’avoué, descendait d’un bond dans la cuisine pour lui annoncer que la famille allait bientôt s’installer à la Blancarde, en lui recommandant de tenir prêts ses filets et ses lignes. Il la tutoyait, car il avait joué avec elle tout petit. Depuis l’âge de douze ans seulement, elle l’appelait ‹M. Frédéric›, par respect. Chaque fois que le père Micoulin l’entendait dire ‹tu› au fils de ses maîtres, il la souffletait. Mais cela n’empêchait pas que les deux enfants fussent très bons amis. ‹Et n’oublie pas de raccommoder les filets, répétait le collégien. - N’ayez pas peur, monsieur Frédéric, répondait Naïs. Vous pouvez venir›» (N, 741s; meine Hervorhebung – fettgedruckt: die Koreferenzkette von Naïs, unterstrichen: diejenige von Frédéric, kursiv: die räumliche Situierung der Handlung).

Obgleich es sicherlich nicht die deskriptiven Passagen sind, die dieses Incipit dominieren, zeichnet es sich durch eine extreme informative Sättigung aus, indem es unmittelbare, explizite und verlässliche Antworten auf die wichtigsten Leserfragen zum fiktionalen Universum liefert, nämlich wo?, wann?, wer?, in welcher Beziehung stehen die Figuren?, welchen sozialen Milieus gehören sie an? bzw. welchen Berufen gehen sie nach? Durch die zwei Toponyme Aix und L’Estaque wird die Handlung der Novelle sofort in der realen Geographie verankert und auch die jeweiligen Kerne der zwei dominierenden und völlig gegensätzlichen Orts-Frames sind damit benannt. Erhöhte Anforderungen an das Weltwissen der Rezipienten stellen diese Toponyme mit Sicherheit nicht: die provenzalische Großstadt Aix wird zumindest jeder europäische Leser kennen und die Lage des natürlich weniger bekannten Dörfchens L’Estaque am Mittelmeer wird im Incipit durch die Apposition le coin du littoral où les Rostand possédaient leur propriété präzisiert; auf der siebten Seite wird die geographische Information nachgeliefert, dass sich das Dorf in unmittelbarer Nähe von Marseille befindet:

236

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

«La Blancarde ne se trouvait pas dans L’Estaque même, un bourg situé à l’extrême banlieue de Marseille, au fond d’un cul-de-sac de rochers, qui ferme le golfe» (N, 747).

Überhaupt finden sich eine Fülle von Toponymen sowie Eigennamen von real existierenden Bauwerken in dieser Novelle – la Provence, Paris, le phare de Planier, la chapelle de Notre-Dame-de-la-Garde, Lyon, le tunnel de la Nerthe, la France, la colline Bonaparte, Niolon, les gorges de la Nerthe, Alger – und die provenzalische Landschaft, die Zola beim Verfassen seiner Novelle unmittelbar vor Augen hatte,39 wird detailliert beschrieben. So kann beim Leser kein Zweifel daran aufkommen, dass der Autor einen Wirklichkeitsausschnitt darstellen will und dass die Region, also le Midi, und ihre Kultur die «patriarchalische» Familienstruktur der Micoulins bedingen und von großer Bedeutung für die Entwicklung der Geschichte sind. Die umfangreichen Beschreibungen der Handlungsorte zu verschiedenen Phasen des Sommers haben die zusätzliche Funktion, die aktuelle Phase der Liebesbeziehung widerzuspiegeln – ihr Aufkeimen, Erblühen und Erkalten, was Nadine Satiat (1997, 19) folgendermaßen auf den Punkt bringt und würdigt: «Le rôle notamment de la description y est remarquable. Les mêmes paysages sont évoqués plusieurs fois, à chaque fois dans une tonalité différente qui correspond à un moment de la passion des amants».

Die Frage nach dem Wann der dargestellten Geschehnisse wird bezogen auf die Jahreszeit (à la saison des fruits) und die Regelmäßigkeit (chaque mois) gleich zu Beginn des Incipits beantwortet. Auf Seite sechs von 31 erfährt man, dass Frédéric im letzten Jahr seines Jurastudiums («un jour, la dernière année de son droit», N, 746) bei einem dieser monatlichen Besuche von Naïs zugegen und völlig fassungslos ist angesichts ihrer Schönheit. Der in diesem Jahr stattfindende Sommeraufenthalt der Familie Rostand in der Blancarde wird also der Zeitpunkt der Liebesgeschichte zwischen Frédéric und Naïs sein. Da die Entwicklung ihrer Leidenschaft eng an den Verlauf des Sommers gebunden ist, wird dem Leser auch der relative zeitliche Verlauf der Handlung immer wieder durch explizite Zeitangaben und Zeitadverbien verdeutlicht. So erfährt man, dass zwei Wochen nach dem Treffen von Naïs und Frédéric in Aix die Familie Rostand ans Meer aufbricht («Quinze jours plus tard [. . .]», N, 747), eine Woche damit vergeht, dass Frédéric Naïs heimlich beobachtet

39 «La nouvelle placée en tête de recueil, Naïs Micoulin, est étroitement associée au séjour que Zola a fait à L’Estaque de la fin de mai à la fin d’octobre 1877» (Ripoll 1976, 1527).

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

237

(«La semaine s’écoula [. . .]», N, 750), bevor sie sich das erste Mal treffen und sie dann zwei Wochen lang jede Nacht mit Spaziergängen und Zärtlichkeiten verbringen («Ce fut, pendant quinze jours, des nuits pleines de jeux et de tendresses.», N, 756). Nachdem Naïs drei Wochen lang jede Nacht das Haus verlassen hat («Depuis trois semaines, Naïs sortait presque chaque nuit.», N, 758), befürchtet sie, dass ihr Vater Verdacht geschöpft hat und bleibt zwei Nächte zu Hause, bevor sie sich von Frédéric zu einem weiteren Treffen überreden lässt. Just in dieser Nacht entdeckt le père Micoulin seine Tochter und Frédéric schlafend unter den Olivenbäumen. In der Folge versucht er zweimal, Frédéric umzubringen, während Naïs ständig wachsam und bemüht ist, ihren Geliebten zu beschützen. Das 5. Kapitel beginnt mit der Zeitangabe «Septembre s’acheva.» (N, 766) und die besorgte Naïs fragt Mme Rostand, wie lange sie dieses Jahr in der Blancarde zu bleiben gedenke, was diese mit «Jusqu’à la fin d’octobre.» (N, 766) beantwortet. Das bedeutet für Naïs, dass sie noch 20 Tage («Encore vingt jours.», N, 766) mit dem Konflikt leben muss, Frédéric einerseits gerne bei sich zu haben, ihn andererseits lieber in Sicherheit zu wissen. Im Verlauf des Monats Oktober ereignet sich dann der Erdrutsch, bei dem Naïs’ Vater ums Leben kommt, «le lendemain de la catastrophe» (N, 770) verlassen Mme Rostand und ihr Sohn L’Estaque und an Ostern des folgenden Jahres («À Pâques [. . .]», N, 771) erzählt M. Rostand nach einem kurzen Aufenthalt in der Blancarde von Naïs’ Heirat mit Toine und ihrer verblühten Schönheit. Wenngleich also der Verlauf der Handlung und die Dauer bestimmter Phasen des Verliebtseins während dieses Sommers in L’Estaque dem Leser durch zahlreiche explizite Zeitangaben in aller Klarheit erläutert werden, fehlt doch ein vollständiges Datum, das die Handlung auch in der realen Geschichte des Lesers verorten könnte. Da es den Naturalisten aber um «größtmögliche Nähe zur damaligen Gegenwartswelt» (Wanning 1998, 71) ging, ist es für das adäquate Verständnis der Handlung und ihre angemessene Bewertung zweifelsohne wichtig, dieselbe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts situieren zu können. Das totale gegenseitige Unverständnis der Liebenden beruht auf krassen Klassenunterschieden und Naïs’ Leben und Charakter sind geprägt durch einen herrischen Vater, der für sich das Recht über Leben und Tod der Seinen in Anspruch nimmt, was beides in hohem Maße zeitabhängig (und natürlich auch kulturabhängig) ist. Die Tatsache, dass literaturgeschichtliches Wissen zum Autor Émile Zola vonnöten ist, um die dargestellte Handlung in einer Epoche der realen Geschichte verorten zu können, und diese Verortung für das adäquate Verstehen der Handlung und ihre Bewertung auch unabdingbar ist, ist letztlich der entscheidende und einzige Grund dafür, die suppletive Kontextbildung in Naïs Micoulin mit dem Komplexitätswert 1 statt 0 zu bewerten.

238

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Die Einführung und Vorstellung der Figuren der Handlung könnte klarer und informativer kaum sein und geht von einem unbeteiligten und unkundigen narrataire aus, was dem real existierenden Unwissen des empirischen Lesers hinsichtlich der Protagonisten der Erzählung, die er soeben zur Hand genommen hat, entgegenkommt. Die Titelheldin wird durch Verwendung des unbestimmten Artikels in der sie einführenden Nominalgruppe als eine dem Leser unbekannte Person vorgestellt, gleichzeitig enthält das umfangreiche Nominalsyntagma une petite fille, brune de peau, avec des cheveux noirs embroussaillés bereits zahlreiche Informationen zu Geschlecht, Alter und Aussehen der Figur. Die Filler der Slots VOR- UND FAMILIENNAME (Naïs Micoulin) des so instantiierten Personen-Frames werden nach sieben Zeilen in der direkten Rede Rostands nachgeliefert. Das soziale Milieu dieser Figur wird bereits durch die Tatsache, dass sie den Rostands einen Teil der Obsternte vorbeibringt, angedeutet, durch die Erläuterung des auktorialen Erzählers, «[. . .] où les Rostand possédaient leur propriété, la Blancarde, que les Micoulin cultivaient» (N, 741), aber auch explizit angegeben: die Micoulins sind Bauern, die aber keinen eigenen Hof bewirtschaften, sondern das Landgut der Rostands gepachtet haben. M. Rostand wird durch die Nominalgruppe un avoué d’Aix, M. Rostand, eingeführt, die den Leser sofort über seinen Beruf (Anwalt), damit auch sein soziales Milieu (Bourgeoisie), seinen Wohnort (Aix) und seinen Familiennamen (Rostand) aufklärt. Die Informationen, dass man sein Haus in Aix über eine ausladende Diele betritt (un large vestibule) und dass er auch ein Landgut in L’Estaque besitzt, liefern des Weiteren explizite Hinweise auf einen gewissen Wohlstand. Der zweite Protagonist der Erzählung und spätere Liebhaber Naïs’ wird durch seinen Vornamen Frédéric eingeführt, dem die Apposition le fils de l’avoué folgt, obgleich aus dem Kontext klar wird, dass es sich nur um den Sohn der Familie handeln kann. Nachdem so sämtliche Protagonisten mit ihren Berufen, sozialen Milieus und Beziehungen zueinander eingeführt wurden, liefert das Ende des Incipits noch zwei wichtige Filler zum Frame des père Micoulin, die in der Folge konkretisiert werden und eine nicht unerhebliche Rolle für den Fortgang der Handlung spielen: Als Naïs zwölf Jahre alt ist, verlangt er von ihr, den gleichaltrigen Sohn der Rostands mit M. Frédéric anzureden und ohrfeigt sie, wenn sie dieser Anweisung zuwiderhandelt. Diese Verhaltensweisen zeigen, dass er die soziale Hierarchie zwischen seiner Familie und den Rostands respektiert, auch von seiner Familie diesen Respekt verlangt und dass er seiner Tochter gegenüber Gewalt anwendet. Des Weiteren wird die Beziehung zwischen Naïs und Frédéric präzisiert: sie haben zusammen gespielt, als sie klein waren, und auch die Ohrfeigen Micoulins für ein tu von Naïs als Anrede für Frédéric haben an ihrer

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

239

Freundschaft nichts geändert («Mais cela n’empêchait pas que les deux enfants fussent très bons amis.», N, 742). Diese kindliche Vertrautheit ebenso wie die in der Folge detailliert beschriebene Attraktivität von Frédéric und Naïs liefern so bereits nach den ersten Zeilen der Novelle den Grund für das Entstehen der leidenschaftlichen Liebesbeziehung zwischen den beiden Protagonisten. Es bleibt festzuhalten, dass Zola in den ersten Zeilen seiner Novelle die wichtigsten Informationen zum Ort und den Figuren der Handlung, zu ihren Berufen, sozialen Milieus, Beziehungen untereinander und zentralen Verhaltensweisen gibt, somit den Leser in klarer und ausführlicher Weise im fiktionalen Universum orientiert, Fragen fast schneller beantwortet, als sie aufkommen können, und bereits die Erklärung für die Leidenschaft zwischen Naïs und Frédéric sowie die Ablehnung dieser Beziehung durch Naïs’ Vater liefert. Folglich kann diese Art der suppletiven Kontextbildung nur als äußerst einfach bewertet werden, zumal der auktoriale Erzähler in der Folge noch weiteren Gebrauch von seiner Allwissenheit macht: er zeichnet ausführliche Portraits des hôtel de Coiron, des Wohnhauses der Familie Rostand in Aix, von M. und Mme Rostand sowie von Frédéric; im zweiten Kapitel, das in L’Estaque spielt, liefert er die Beschreibung des Anwesens La Blancarde, eine Skizze des Milieus der provenzalischen Kleinbauern und eine ausführliche Charakterisierung des düsteren und brutalen père Micoulin sowie der unter ihm leidenden, stolzen Naïs. Im Folgenden werden die im Wesentlichen in den Kapiteln 1 und 2 der Novelle instantiierten – aber über die gesamte Länge des Textes vervollständigten – Personen-Frames zu Naïs und Frédéric tabellarisch einander gegenübergestellt, um zu illustrieren, in welcher Deutlichkeit und Ausführlichkeit Zola die gravierenden sozialen und charakterlichen Unterschiede zwischen den beiden Protagonisten sowie Differenzen hinsichtlich ihrer Erfahrungen, ihrer Temperamente und ihrer Erbanlagen darstellt. Wie bereits angeführt wurde, macht diese explizite und verlässliche Art der suppletiven Kontextbildung es für den Leser leicht nachvollziehbar, wie es zu dem fundamentalen Unvermögen zur Kommunikation zwischen den Liebenden, zu ihrem tiefen gegenseitigen Unverständnis und letztlich auch zum Scheitern ihrer Liebesbeziehung kommen muss. Den links aufgeführten Slots der Personen-Frames werden aus Platzgründen nur die wesentlichen Filler für Naïs und Frédéric sowie eine kurze Zusammenfassung dieser Filler auf deutsch gegenübergestellt. Wenn die die Slots spezifizierenden Prädikationen sehr umfangreich sind, wird auf das Zitat ganz verzichtet und nur die deutsche Zusammenfassung der explizit vorhandenen Filler geliefert.

240

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Zuvor soll aber Zolas Charakterisierung der sozialen Milieus seiner Protagonisten, die für die naturalistische Ästhetik und die Interpretation von Naïs Micoulin von besonderer Bedeutung ist, ausführlich (und deshalb außerhalb der folgenden tabellarischen Frames) vorgestellt werden. So erfährt der Leser, dass die bürgerliche Familie Rostand sehr reich ist, was der geerbten und durch M. Rostands Fleiß weiter vorangebrachten Anwaltskanzlei geschuldet ist. Der eher faule, dem Spiel und den Frauen zugeneigte Frédéric weiß, dass ihm als einzigem Sohn eines Tages diese Kanzlei gehören wird, und investiert deshalb wenig Anstrengung in sein Studium: «M. Rostand était fort riche. Il avait acheté à vil prix un hôtel superbe, rue du Collège. L’hôtel de Coiron, bâti dans les dernières années du dix-septième siècle, développait une façade de douze fenêtres, et contenait assez de pièces pour loger une communauté» (N, 742). «L’avoué était pourtant un homme fort adroit. Son père lui avait laissé une des meilleures études d’Aix, et il trouvait moyen d’augmenter sa clientèle par une activité rare dans ce pays de paresse» (N, 743). «[. . .] mais [Frédéric] avait un mince sourire qui indiquait son intention arrêtée de continuer l’heureuse flânerie dont il se trouvait si bien. Il savait son père riche, il était fils unique, pourquoi aurait-il pris la moindre peine ?» (N, 745).

Das Leben der Pächtersfamilie Micoulin hingegen, die die Hälfte ihrer kargen Ernte an die Rostands abgeben muss, ist durch extreme Armut und harte körperliche Arbeit geprägt. Naïs muss nicht nur bei den häuslichen und landwirtschaftlichen Aufgaben mithelfen, sondern wird von ihrem Vater auch zur Arbeit in eine Ziegelei geschickt. Das Familienleben in diesem Milieu der südfranzösischen Bauern ist durch die unantastbare Autorität des Vaters geprägt und gerade Naïs leidet unter der Kontrolle, Tyrannei und Gewalttätigkeit des alten Micoulin: «Depuis quarante ans, les Micoulin étaient mégers à la Blancarde. Selon l’usage provençal, ils cultivaient le bien et partageaient les récoltes avec le propriétaire. Ces récoltes étant pauvres, ils seraient morts de famine, s’ils n’avaient pas pêché un peu de poisson l’été. Entre un labourage et un ensemencement, ils donnaient un coup de filet. La famille était composée du père Micoulin, un dur vieillard à la face noire et creusée, devant lequel toute la maison tremblait ; de la mère Micoulin [. . .] ; d’un fils [. . .] et de Naïs que son père envoyait travailler dans une fabrique de tuiles, malgré toute la besogne qu’il y avait au logis. L’habitation du méger, une masure collée à l’un des flancs de la Blancarde, s’égayait rarement d’un rire ou d’une chanson. Micoulin gardait un silence de vieux sauvage [. . .]. Les deux femmes éprouvaient pour lui ce respect terrifié que les filles et les épouses du Midi témoignent au chef de la famille. [. . .]

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

241

Celui-ci n’était pas méchant, il usait simplement avec rigueur de sa royauté, voulant être obéi, ayant dans le sang l’ancienne autorité latine, le droit de vie et de mort sur les siens. Un jour, Naïs, rouée de coups, ayant osé lever la main pour se défendre, il avait failli la tuer» (N, 747s.).

Während also bedingt durch ihr jeweiliges Milieu das Leben von Naïs durch harte Arbeit, Armut und Gewalt geprägt ist, dominieren Müßiggang und Sorglosigkeit das Leben von Frédéric und die Filler der folgenden Personen-Frames offenbaren zahlreiche weitere krasse Gegensätze zwischen den liebenden Protagonisten, aber auch einige – ihre Zuneigung bedingende – Gemeinsamkeiten wie z.B. ihre physische Attraktivität:

Tab. 26: Gegenüberstellung der Personen-Frames von Naïs und Frédéric. Slots

Filler des Personen-Frames Naïs

Filler des Personen-Frames Frédéric

Vorname

Naïs

Frédéric

Nachname

Micoulin

Rostand

Alter





Soziales Milieu

Bauern/Arbeiter

Bourgeoisie

Beruf/Ausbildung

Bäuerin, Arbeiterin in einer Ziegelei, Jurastudent Aushilfs-Dienstmädchen bei den Rostands

Familie

Vater und Mutter Micoulin, Naïs und ein Bruder, der zur See fährt: La famille était composée du père Micoulin, [. . .] ; de la mère Micoulin, une grande femme abêtie par le travail de la terre au plein soleil ; d’un fils qui servait pour le moment sur l’Arrogante, et de Naïs [. . .]. (N, )

M. und Mme Rostand, Frédéric, ihr einziger Sohn: [Frédéric] était fils unique (N, )

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Tab. 26 (fortgesetzt) Slots

Filler des Personen-Frames Naïs

Beziehung zu Le père Micoulin kontrolliert seine den Eltern Tochter, verlangt absoluten Gehorsam und schlägt sie regelmäßig wegen Nichtigkeiten. Naïs empfindet angsterfüllten Respekt, Groll und Hass für ihren gewalttätigen Vater und hegt sogar Rache- und Mordgedanken ihm gegenüber: Les deux femmes éprouvaient pour lui ce respect terrifié que les filles et les épouses du midi témoignent au chef de la famille. [. . .] [Naïs] avait seize ans, que Micoulin, pour un oui, pour un non, la frappait au visage, si rudement, que le sang lui partait du nez ; et, maintenant encore, malgré ses vingt ans passés, elle gardait pendant des semaines les épaules bleues des sévérités du père. [. . .] La jeune fille, après ces corrections, restait frémissante. [. . .] Une rancune sombre la tenait ainsi muette pendant des heures, à rouler des vengeances qu’elle ne pouvait exécuter. [. . .] Elle disait souvent : «Si j’avais un mari comme ça, je le tuerais.» (N, ) Für ihre unterwürfige Mutter hat Naïs nur Verachtung übrig: Quand elle voyait sa mère, tremblante et soumise, se faire toute petite devant Micoulin, elle la regardait pleine de mépris. (N, )

Filler des Personen-Frames Frédéric Mit dem vielbeschäftigten Vater verbringt Frédéric offenbar kaum Zeit. Zu Schulzeiten hat die strenge Mme Rostand ihren faulen Sohn beaufsichtigt und zum Arbeiten gezwungen. Während seines Studiums verbringt Frédéric den Großteil seiner Zeit mit Glücksspiel, gaukelt seinen Eltern aber den braven Sohn vor. Er würde seine Eltern niemals offen brüskieren, sondern lügt und heuchelt, um in aller Ruhe seinen Vergnügungen nachgehen zu können: Quant à Frédéric, il grandissait entre ce père si affairé et cette mère si rigide. Pendant ses années de collège, il fut un cancre de la belle espèce, tremblant devant sa mère, mais ayant tant de répugnance pour le travail, que [. . .] il lui arrivait de rester des heures le nez sur ses livres, sans lire une ligne [. . .]. Irrités de sa paresse, ils le mirent pensionnaire au collège [. . .]. (N, ) Aix possède une école de droit renommée, où le fils Rostand prit naturellement ses inscriptions. [. . .] Il continue d’ailleurs sa vie du collège, travaillant le moins possible [. . .]. Mme Rostand, à son grand regret, avait dû lui accorder plus de liberté. [. . .] Du reste, Frédéric avait compris qu’il devait se montrer un fils docile. Toute une hypocrisie d’enfant courbé par la peur lui était peu à peu venue. Sa mère maintenant, se déclara satisfaite : il la conduisait à la messe, gardait une allure correcte [. . .]. [. . .] jamais, il ne combattait ses parents d’une façon ouverte [. . .]. (N, s.)

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

243

Tab. 26 (fortgesetzt) Slots

Filler des Personen-Frames Naïs

Filler des Personen-Frames Frédéric

Aussehen/ Attraktivität

eine auffallend schöne junge Frau: braungebrannt, mit dichtem schwarzem Haar und weißen Zähnen, einem kräftigen und geschmeidigen Körperbau brune de peau, des cheveux noirs, des dents blanches (N, ) Naïs était superbe, avec sa tête brune, sous le casque sombre de ses épais cheveux noirs ; et elle avait des épaules fortes, une taille ronde, des bras magnifiques [. . .] «Tu es bien belle, Naïs ! . . .» (N, ) Ce fût là, dans ce labeur si rude, qu’elle se développa et devint une belle fille. Le soleil ardent lui dorait la peau [. . .] ; ses cheveux noirs poussaient, s’entassaient [. . .] ; son corps, continuellement penché et balancé dans le va-et-vient de sa besogne, prenait une vigueur souple de jeune guerrière. (N, )

ein schöner junger Mann: groß, mit schwarzem Bart [. . .] Frédéric était un beau jeune homme, grand et de figure régulière, avec une forte barbe noire. (N, )

Charakter/ Temperament

Naïs ist stolz, lebens- und freiheitshungrig, zupackend und energisch: Les autres jours, elle menait une existence si étroite, si enfermée, qu’elle se mourait d’ennui. [. . .] il l’envoya travailler dans une tuilerie. Bien que le travail y fût très dur, Naïs était enchantée. [. . .] Ses mains s’usaient à cette corvée de manœuvre, mais elle ne sentait plus son père derrière son dos, elle riait librement avec des garçons. [. . .] elle ressemblait à une amazone antique [. . .] Dans le pays on riait de Toine. Micoulin avait dit : «Je lui permets le bossu, je la connais, elle est trop fière !» (N, s.)

Frédéric ist faul, zart, empfindlich und heuchlerisch: [. . .] ayant tant de répugnance pour le travail [. . .]. Irrités de sa paresse [. . .] (N, ) Du reste, Frédéric avait compris qu’il devait se montrer un fils docile. Toute une hypocrisie d’enfant courbé par la peur lui était peu à peu venue. (N, ) [. . .] lui si délicat, si blanc, plus demoiselle qu’elle [. . .] (N, )

244

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Tab. 26 (fortgesetzt) Slots

Filler des Personen-Frames Naïs

Filler des Personen-Frames Frédéric

Erbanlagen

Naïs hat von ihrem Vater den Stolz, den Zorn und das Bedürfnis, die Stärkste zu sein, geerbt: C’était le sang même de son père qui se révoltait en elle, un emportement aveugle, un besoin furieux d’être la plus forte. (N, )

Zu den Erbanlagen von Frédéric macht der Erzähler keine expliziten Aussagen. Auffällig sind die Unterschiede zwischen Frédéric und seinen Eltern: der Vater arbeitet viel, Frédéric ist faul; die Mutter ist streng religiös und tugendhaft, ihr Sohn ein Spieler

Leidenschaften/ Hobbys

keine – Naïs hat keine freie Zeit

Frédéric ist ein leidenschaftlicher Spieler: Le jeune homme se trouve être un joueur passionné ; il passait au jeu la plupart de ses soirées, et les achevait ailleurs. (N, )

Erfahrungen mit der Liebe/ Beziehungen

keine Des amoureux, Naïs en aurait eu des douzaines, mais elle les décourageait. Elle se moquait de tous les garçons. Son seul bon ami était un bossu, occupé à la même tuilerie qu’elle, un petit homme nommé Toine [. . .]. Naïs le tolérait pour sa douceur. Elle faisait de lui ce qu’elle voulait, le rudoyait souvent, lorsqu’elle avait à se venger sur quelqu’un d’une violence de son père. Du reste, cela ne tirait pas à conséquence. (N, )

Der Erzähler deutet an einigen Stellen an, dass Frédéric aufgrund seiner Attraktivität und Lasterhaftigkeit einigen Erfolg bei Frauen hat und über Erfahrung in Liebesdingen verfügt: Ses vices le rendaient aimable, auprès des femmes surtout. (N, ) [Frédéric] trouvait la paysanne moins belle, depuis que son visage se séchait, et une satiété de ces amours violentes commençait à lui venir. Il regrettait l’eau de Cologne et la poudre de riz des filles d’Aix et de Marseille. (N, )

Beziehung zwischen Naïs & Frédéric

Als Kinder haben sie miteinander gespielt und ihre Liebe ist eine Folge ihrer Vertrautheit. Frédéric ist fasziniert von Naïs’ Schönheit und ihrem ländlichen Charme, Naïs erfüllt es mit Stolz, die Geliebte des «Juniorchefs» zu sein. Aufgrund ihrer Gegensätzlichkeit gelingt es ihnen nicht, sich einander verständlich zu machen. Ihre Liebe hat für sie und ihn einen nicht zu vergleichenden Stellenwert: Naïs tötet ihren Vater, um Frédéric zu beschützen, wovon Frédéric, der ihre Affäre im Nachhinein als déjeuner de soleil bezeichnet, nichts ahnt.

Gemäß Wolfgang Asholt (2006, 234) geht es dem Naturalisten Zola bei seiner schriftstellerischen Tätigkeit, bei der er sukzessive die Rollen des observateur und expérimentateur übernimmt, um die Beantwortung der Wie-Frage, während

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

245

er die Frage nach dem Warum den Philosophen überlasse. Nach der ca. neun Seiten der Novelle umfassenden suppletiven Kontextbildung ist der Leser also nicht nur zweifelsfrei im fiktionalen Universum der Erzählung orientiert, sondern er verfügt auch über alle nötigen empirischen Fakten, um zu verstehen, wie die Liebe zwischen Naïs und Frédéric entstanden ist und wie ihr gegenseitiges Unverständnis zu erklären ist. Die Liebenden entstammen eben nicht nur zwei grundverschiedenen sozialen Milieus, haben ein diametral entgegengesetztes Verhältnis zur Arbeit, sondern unterscheiden sich auch fundamental in ihrem Charakter und in ihrem Umgang mit der elterlichen Kontrolle: Frédéric entzieht sich dieser leicht durch Lügen und Heimlichkeiten, die stolze Naïs erträgt die väterlichen Schläge klaglos und findet schließlich eine radikale Lösung, um sich zu wehren. Der allwissende Erzähler erläutert in aller Explizitheit, dass in Naïs’ Adern das Blut ihres Vaters fließt («C’était le sang même de son père qui se révoltait en elle [. . .]», N, 748) und sie ihren Stolz und das Bedürfnis, die Stärkere zu sein, von ihm geerbt hat. Diese Erbanlagen wiederum liefern die Begründung dafür, dass Naïs schließlich mit einem heimtückischen, als Unfall getarnten Mord auf die ebenso hinterhältig inszenierten Mordversuche ihres Vaters an Frédéric reagiert. Hier wird erneut die gegenseitige Verflechtung von Diskurstraditionen und Art und Weise der suppletiven Kontextbildung deutlich. Um die soziale und biologische Konditionierung des Menschen in bestimmten Situationen deutlich zu machen, bedarf es eines auktorialen Erzählers und eines außenstehenden narrataire, dem ersterer alle empirischen Fakten (Ort der Handlung, soziales Milieu, Erbanlagen und Charakter der Protagonisten etc.) zum Verständnis dieser Konditionierung liefert. Nur so kann die Suppletion der erzählten Situation das Ausmaß an Explizitheit, Ausführlichkeit und Tiefgang der Information aufweisen, das anhand der Frames von Naïs und Frédéric exemplarisch demonstriert wurde. Am Ende dieser Analyse muss aber noch angemerkt werden, dass Eindeutigkeit und Explizitheit der suppletiven Kontextbildung keineswegs dazu führen, dass auch der Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene insgesamt einfach wird und wir es hier mit einem leicht und eindeutig zu interpretierenden Werk der littérature engagée zu tun haben. Denn wie es dem Wissenschaftlichkeitsanspruch des Naturalismus gebührt, verweigert der Erzähler von Naïs Micoulin jegliche Bewertung des ausführlich dargestellten Geschehens. Wenngleich es natürlich naheliegend ist, in der Novelle eine Kritik an den harten Lebensumständen der basses classes zu sehen und an der undurchlässigen sozialen Hierarchie, die die Naturalisten generell anprangern, so erschließt sich die Haltung des engagierten Schriftstellers Zola zur Stellung der Frau in der Gesellschaft nur schwer. Dass Zola mit seiner Schilderung der brutalen und willkürlichen Gewalt des alten Micoulin gegen seine Tochter die patriarchalischen Zustände und

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

die Unterdrückung der Frau im bäuerlichen Milieu Südfrankreichs scharf kritisiert, steht außer Frage. Die Tatsache, dass die starke und stolze Naïs, die sich erfolgreich gegen die Tyrannei des Vaters wehrt, ihre Jugend, Schönheit und Verführungskraft einbüßt und letztlich von ihrem Geliebten Frédéric verlassen wird, spricht andererseits nicht dafür, dass Zola für die Gleichstellung der Frau eintritt. Ripoll (1976, 1529s.) identifiziert in Zolas Werk bestimmte Phasen in Bezug auf die Haltungen seiner Frauenfiguren und konstatiert für die Novellen des Jahres 1877 und somit auch für Naïs Micoulin, dass die Vormachtstellung der Frau mit einem Verfall ihres Wesens und dem Verlust ihrer Faszinationskraft einhergeht: «Mais déjà, au point où nous en sommes, le triomphe de la femme n’est pas sans mélange. La femme dominatrice et victorieuse n’a regné qu’un temps, en 1875–1876. Dans les nouvelles de 1877, comme dans Une page d’amour, la femme est à la fois meurtrière et victime. Ici, la suprématie de la femme se paie par une dégradation de son être, par la perte de son pouvoir de fascination [. . .]».

Zahlreiche Briefe und Zeitungsartikel dokumentieren, dass Zola sich durchaus für eine Befreiung der Frau und für gleiche Bildung für Männer und Frauen ausgesprochen hat, allerdings vornehmlich zu dem Zweck, die Ehefrau zu einer echten Partnerin ihres Mannes zu machen: «Il faut donc, avant tout, libérer la femme, libérer son corps, libérer son cœur, libérer son intelligence. [. . .] Que la femme au foyer ne soit pas seulement une ménagère et une machine à reproduction, qu’elle soit une âme de son époux, une pensée qui communie avec la pensée de l’homme choisi et aimé» (La Tribune, 27 septembre 1868, zit. nach Becker et al. 1993, 149).

Eine umfassende Emanzipation der Frau, ihre rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung mit dem Mann propagierte Zola aber keineswegs. Die Rolle der Frau sei in erster Linie, sich ihrem Mann und ihrer Familie zu widmen, und zu ihren wesentlichen Eigenschaften zählten Zärtlichkeit, Liebe und Barmherzigkeit (cf. Becker et al. 1993, 150). Die Emanzipation der Frau sei nur innerhalb der Grenzen der herrschenden Sitten und Bräuche denkbar: «Je ne suis certes pas hostile au mouvement féministe, à l’émancipation de la femme, mais n’exagérons rien. On a trop longtemps traité la femme en esclave et on n’a que trop tardé à lui reconnaître certains droits, mais de là à la considérer comme l’égale de l’homme, à la traiter comme telle, il y a loin. Ni moralement ni physiquement, elle ne peut prétendre à cette égalité et l’émancipation ne doit se faire que dans la mesure de nos mœurs, de nos usages, je dirai même des préjugés de notre édifice social» (Gil Blas, 2 août 1896, zit. nach Becker et al. 1993, 152).

Diese moralische und körperliche Gleichheit mit dem Mann, wenn nicht gar Überlegenheit, scheint Naïs aber gerade für sich zu beanspruchen. Sie verfügt generell über traditionell männliche Züge wie Stolz, Kraft, Energie sowie das Bedürfnis, die

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

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Stärkere zu sein, und insbesondere ihr Verhalten wird im Verlauf der Liebesbeziehung mit Frédéric immer männlicher. So übernimmt sie mitunter die Initiative in Liebesdingen, sucht den Geliebten in seinem Zimmer auf, um ihn beim Schlafen zu beobachten, und beschützt ihn vor den Mordplänen ihres Vaters: «[Naïs] refusait les rendez-vous ; et, le rencontrant un soir dans le vestibule, elle le prit d’elle-même entre ses bras, elle le baisa avec passion. Jamais elle ne lui confia les soupçons qu’elle avait conçus. Seulement, à partir de ce jour, elle veilla sur lui» (N, 763).

Um Frédéric wirksam zu schützen, ermordet sie gar ihren Vater und befreit sich damit gleichzeitig von dessen Tyrannei. Frédéric hingegen hat von Beginn an feminine Züge («[. . .] lui si délicat, si blanc, plus demoiselle qu’elle [. . .]», N, 767) und wird im Verlauf der Beziehung tendenziell noch weiblicher. Diese auffällige Verschiebung der Rollen scheint am Ende der Novelle rückgängig gemacht zu werden, wenn Frédéric Naïs verlässt, die junge Frau ihre Jugend und Faszination einbüßt und mit Toine einen ihr nicht gleichwertigen Partner heiratet. Das könnte man als Strafe des Schicksals für eine zu weit getriebene Emanzipation erachten. Andererseits kann Naïs’ Entscheidung, den unterwürfigen und ihr absolut hörigen Toine zu heiraten, mit derselben Berechtigung auch als kalkulierte Sicherung von Dominanz in der Ehe betrachtet werden, nicht etwa als Strafe oder Niederlage. Trotz der expliziten und ausführlichen suppletiven Kontextbildung und der Offenlegung fast aller Motive der Figuren, erweist sich Naïs Micoulin letztlich als Text, der keineswegs auf eine Lesart festgelegt werden kann. Wenn auch Zolas Kritik an der brutalen Unterdrückung der Frau im Milieu der provenzalischen Bauern sowie an Naïs’ Emanzipationsbestrebungen nicht zu verkennen ist, ist die Frage, wie die junge Frau auf die Tyrannei und Mordpläne ihres Vaters hätte reagieren sollen und wie die Rolle der Frau in der damaligen Gesellschaft aussehen sollte, auch mit Zusatzwissen zum Autor nicht eindeutig zu beantworten. Somit lässt die Novelle dem Leser großen Spielraum bei seiner Interpretation und Bewertung gesellschaftlicher Missstände sowie hinsichtlich der Entwicklung wünschenswerter Gegenmodelle.

3.2.2 Die impliziteren Varianten des 20. Jahrhunderts Es sind erneut diskurstraditionelle Gründe, vor allem die von Del Lungo (2003) festgestellte stärkere Betonung der dynamischen Funktion des Textbeginns sowie die eng damit verflochtene Bevorzugung der internen Fokalisierung und auch die zunehmende Kürze der Erzählungen, die für eine andere Art der suppletiven Kontextbildung und eine damit einhergehende höhere Komplexität in den Novellen des 20. und 21. Jahrhunderts verantwortlich zeichnen.

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Karl Alfred Blüher (1985, 208) stellt in seiner Untersuchung der französischen Novelle fest, dass das Hinterfragen des im 19. Jahrhunderts dominierenden Prinzips der «Widerspiegelungsästhetik» bzw. des «realistisch-naturalistischen Mimesis-Prinzips» dazu geführt habe, dass sich in der Novellistik des 20. Jahrhunderts zwei Gruppen von Novellenmodellen gegenüberstehen: auf der einen Seite die Gruppe der an die Tradition des 19. Jahrhunderts anschließenden illusionistisch erzählenden Novellen, zu der die weiterhin sehr stark vertretenen psychologischen und sozialkritischen Novellen gehören, und auf der anderen Seite die Gruppe der nicht-illusionistisch gestalteten Novellenmodelle, zu denen Blüher in erster Linie die symbolischen und die surrealistischen Novellen zählt (cf. ib., 208s.). Den beiden zuletzt genannten Genres sei die Existenz zweier sich überlagernder Bedeutungsebenen gemeinsam, wobei die vordergründige Handlung im ersten Fall durch einen «hintergründigen, versteckten Symbolsinn überlagert [werde]» (ib., 229), im zweiten Fall durch «eine Art inhärente Traumlogik des Unbewußten» (ib., 247). In unserem Korpus können die Novellen Léviathan und Christine von Julien Green zu den symbolischen Novellen und Plume au restaurant von Henri Michaux zu den surrealistischen Novellen gezählt werden. Beide Genres erzielen ihre Polyvalenz unter anderem durch eine sehr reduzierte Form der suppletiven Kontextbildung, was in Kapitel 3.2.2.3 am Beispiel von Plume au restaurant erläutert und in Bezug auf die entstehende Komplexität bewertet werden soll. Bei den sieben weiteren Novellen des 20. bzw. 21. Jahrhunderts handelt es sich um sozialkritische oder psychologische Erzählungen, die sich durch realistisch-mimetisches Erzählen auszeichnen und in zwei Fällen (Happy Meal und Iceberg) dem Leser einen fulminanten finalen Überraschungseffekt bereiten. Die Art und Komplexität ihrer Form der Suppletion der erzählten Situation wird in den Kapiteln 3.2.2.1 und 3.2.2.2 thematisiert. Als wichtiges Merkmal der französischen Novelle im 20. Jahrhundert insgesamt bezeichnet Blüher (1985, 212) «ihre zunehmende Kürze und die Konzentrierung der Handlung auf ein zeitlich äußerst eingeschränktes, aber zugleich thematisch hervorgehobenes Ereignis». Gemäß Blüher haben die zahlreichen Kurznovellen Maupassants und Anatole Frances sowie die Übersetzungen der Erzählungen Tschechovs und vermutlich auch der starke Einfluss der angloamerikanischen Short Story die Herausbildung dieses Merkmals in der französischen Novelle des 20. Jahrhunderts unterstützt. Diese zeichne sich nunmehr durch eine wachsende Vorliebe für eine «konzentrierte, geballte Darstellung einer einzigen Begebenheit», also beispielsweise eines einmaligen Augenblicks im Leben der Novellenfiguren oder einer existentiell bedeutsamen prise de conscience aus (cf. ib., 212). Diese Kürze und die Konzentration der Novelle auf eine einzige, außergewöhnliche Begebenheit – Merkmale, die die modernen und zeitgenössischen Novellen unseres Korpus bestätigen, – führen erwartbarerweise dazu, dass der

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

249

Raum für die suppletive Kontextbildung kleiner wird und üppige Landschaftsbeschreibungen wie in Naïs Micoulin und Personen-Frames, die kaum einen relevanten Slot offen lassen, in der Novelle des 20. Jahrhunderts deutlich seltener werden. Dass Figuren in literarischen Texten notwendigerweise unterdeterminiert bleiben müssen, ist unmittelbar einsichtig, aber die Novellen des 20. und 21. Jahrhunderts lassen eben auch Slots der Personen-Frames offen, die für eine adäquate Interpretation der dargestellten Handlung unerlässlich sind, somit vom Leser unter Hinzuziehung von oftmals anspruchsvollem Weltwissen oder diskurstraditionellem Wissen gefüllt werden müssen und den Anteil der kontextabhängigen IMPLIZITHEIT steigen lassen. Andrea Del Lungo (2003, 185) hat in seiner typologischen Untersuchung des incipit romanesque festgestellt, dass sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, genauer mit Flauberts Madame Bovary (1857), die Wende vom statischen zum dynamischen Modell des Textanfangs vollzieht und der Beginn in medias res bzw. incipit dynamique zum dominierenden Modell des Textanfangs im 20. Jahrhundert avanciert (cf. ib., 190). Beim Beginn in medias res, der die dynamische Funktion betont und die Informationsfunktion zurückstellt, wird die Erzählung also durch Schilderung einer Handlung eröffnet, die bereits mitten in ihrem Verlauf ist, und es werden keine Informationen über die Identität der handelnden Personen, den Ort und die Zeit des Geschehens bereitgestellt (cf. ib., 112). Der Erzähler tut also so, als sei dem Adressaten seiner Erzählung das fiktionale Universum bereits bekannt, und diese durch das Zurückhalten notwendiger Informationen bewirkte «narrative Täuschung» macht gemäß Del Lungo neben dem Geworfensein in eine bereits im Verlauf befindliche Handlung das «Verführungspotential» dieses dynamischen Modells des Textbeginns aus: «En outre, la séduction s’exerce aussi au moyen de l’énigme par une rétention de l’information propre à l’ouverture in medias res, par une feinte narrative supposant connu un monde fictionnel dont le lecteur ne peut rien savoir, ainsi qu’une histoire dont les antécédents sont volontairement dissimulés» (ib., 112).

Diese Dynamisierung des Textbeginns und die Vortäuschung eines bereits bekannten fiktionalen Universums sind gemäß Del Lungo unter Berufung auf Genette (1983, 46) ihrerseits Resultate einer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu beobachtenden Tendenz, die Nullfokalisierung durch eine interne Fokalisierung zu ersetzen (cf. ib., 189). Das Geschehen wird also nicht mehr aus der Sicht eines allwissenden Erzählers geschildert, sondern aus dem eingeschränkten Blickwinkel einer der handelnden Figuren. Diese Reflektorfigur erlebt nun das Handeln von bekannten Personen oder von solchen, die sie unmittelbar vor Augen hat, bewegt sich an einem bestimmten Tag in einem ihr vertrauten Raum und die Notwendigkeit der Präzisierung all dieser Determinanten des fiktionalen

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Universums entfällt somit, da sie für die wahrnehmende Reflektorfigur unmittelbar klar und gegeben sind. Monika Fludernik (2006/2010, 108s.) charakterisiert Texte mit einer internen Fokalisierung bzw. Texte im Reflektormodus unter Bezug auf die Erzähltheorie Stanzels40 folgendermaßen: «[. . .] Texte im Reflektormodus [sind] solche, die einen etischen41 Erzählauftakt haben, also einen medias-in-res-Einstieg. Es wird nichts erklärt – die Wissenslage ist die der Reflektorfigur, deren Bewusstsein für die Darstellung ausschlaggebend ist – der Text setzt voraus, wer die Personen sind, die der Protagonist sieht (Pronomina ohne Antezedens), wo man sich befindet, was zu sehen ist. Im Gegensatz zur ordnenden Sicht des aus zeitlicher Distanz schreibenden Erzählers ist der Bericht in der personalen Erzählsituation oft unübersichtlich – der Protagonist erlebt die Ereignisse eben erst, kann sie in seinem Bewusstsein daher noch nicht überblicken und ordnen. Daher sind auch die Auswahlkriterien dessen, was wahrgenommen wird, spontan und unsystematisch. Das Reflektorbewusstsein ist im Hier und Jetzt befangen ohne zeitliche Distanz».

Interne Fokalisierung und Dynamisierung des Textbeginns haben somit weitreichende Folgen für die Art der suppletiven Kontextbildung und ihre Komplexität. In Kapitel 3.2.1 wurde festgestellt, dass Erzählungen, die eine Nullfokalisierung und einen statischen oder progressiven Textanfang aufweisen und sich an einen narrataire wenden, dem das fiktionale Universum unbekannt ist, die handelnden Figuren durch unbestimmte Nominalgruppen einführen, schnell die wichtigsten Slots der so aufgerufenen Personen-Frames füllen und zumindest den Ort der Handlung ebenfalls ausführlich vorstellen. Intern fokalisierte Texte, die in medias res beginnen, verwenden nach gemeinsamer Einschätzung von Genette (1983, 46) und Fludernik (2006/2010, 56) zur Einführung von Personen und Objekten der fiktionalen Welt unvermittelte Namensnennungen, Pronomina ohne Antezedens sowie Nominalphrasen mit definitem Artikel (l’article défini familiarisant). Tatsächlich finden sich die soeben vorgestellten diskurstraditionellen Charakteristika in neun der zehn Novellen des 20. bzw. 21. Jahrhunderts, die unser Korpus umfasst, wieder. Die Novellen Christine, Happy Meal und Iceberg haben zwar einen Ich-Erzähler, fokalisieren aber zumeist durch das erlebende Ich; die beiden zuletzt erwähnten bedienen sich auch des Präsens als Erzähltempus, wodurch sie sich kaum von der personalen Erzählsituation unterscheiden. Somit zeichnen sich neun der modernen Korpustexte durch eine dominierende oder zumindest phasenweise interne Fokalisierung, ein incipit dynamique und das damit verbundene

40 Stanzel, Franz K., Theorie des Erzählens, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2001 (1982). 41 Fludernik (2006/2010, 170) bedient sich der von Harweg (1968) getroffenen Unterscheidung zwischen Texten mit einem emischen bzw. etischen Textbeginn. Beim emischen Textbeginn wird für den Leser alles ausladend eingeführt und erklärt, während Texte mit einem etischen Textbeginn annehmen, dass der Leser sich bereits im Referenzfeld des Textes auskennt.

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

251

Vortäuschen eines dem narrataire bekannten fiktionalen Universums aus. Und tatsächlich bedienen sich alle neun Erzählungen unmittelbarer Namensnennungen, Pronomina ohne Antezedens und definiter Nominalgruppen, um ihre Protagonisten einzuführen, was durch die folgende Zusammenstellung ihrer ersten Sätze illustriert werden soll: Tab. 27: Die incipits dynamiques von neun Korpustexten des 20./21. Jahrhunderts. Autor, Titel, Erscheinungsjahr

Incipit

. Henri Michaux, Plume au restaurant ()

Plume déjeunait au restaurant, quand le maître d’hôtel s’approcha, le regarda sévèrement et lui dit d’une voix basse et mystérieuse : «Ce que vous avez là dans votre assiette ne figure pas sur la carte.»

. Fred Kassak, Iceberg ()

Irène s’étire sur sa chaise longue, entrouvre les yeux, bâille longuement et pouffe : – Oh ! Pardon ! Je n’ai pas mis ma main devant ma bouche. Elle me considère, mi-confuse, mi-railleuse. – Quelle importance ? dis-je. – Pour vous, je suis sûre que ça en a.

. Tahar Ben Jelloun, Un fait divers et d’amour ()

Voici un fait divers. Pas banal, certes. Incroyable même, mais authentique. C’est arrivé au mois de novembre  à Casablanca. L’histoire de Slimane est celle d’un paradoxe : Ils étaient nombreux à attendre ce soir-là un taxi dans le froid et le désordre. Elle aussi attendait.

. Jean-Claude Izzo, Chien de nuit Ils étaient deux. Un garçon et une fille. La fille s’approcha () et demanda à Gianni s’il avait du feu. . Julien Green, Christine ()

La route de Fort-Hope suit à peu près la ligne noire des récifs dont elle est séparée par des bandes de terre plates et nues. Un ciel terne pèse sur ce triste paysage [. . .]. On aperçoit au loin une longue tache miroitante et grise : c’est la mer. Nous avions coutume de passer l’été dans une maison bâtie sur une éminence, assez loin en arrière de la route.

. Julien Green, Léviathan ()

Il y avait cinq minutes qu’il attendait sur le quai, devant la Bonne-Espérance, dont la proue monstrueuse lui cachait l’estuaire tout entier. Autour de lui, des gamins jouaient, entre les tas de charbon et les pyramides de barriques. Des cris et des rires lui parvenaient, sans doute, mais il semblait ne rien voir et tenait la tête baissée.

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Tab. 27 (fortgesetzt) Autor, Titel, Erscheinungsjahr

Incipit

. Samuel Millogo, L’avenir de l’homme ()

Il attendait dans la queue depuis que l’aube avait blanchi. Il lui semblait tenir des braises. En vain il avait supplié les hommes et les femmes en blouse blanche. Ici comme partout ailleurs c’est donnant donnant. «Fais on va fait. Qui est fou.» Tant pis pour qui n’entend ni ne parle français.

. Didier Daeninckx, Toute une année au soleil ()

Le chien s’était habitué en moins d’une semaine. Après dix années passées à étouffer ses cris dans cet appartement de banlieue aux cloisons de papier mâché, il donnait libre cours à ses instincts et hurlait en écho aux autres chiens des fermes voisines saluant l’apparition de la lune.

. Anna Gavalda, Happy Meal ()

Cette fille, je l’aime. J’ai envie de lui faire plaisir. J’ai envie de l’inviter à déjeuner. Une grande brasserie avec des miroirs et des nappes en tissu. M’asseoir près d’elle, regarder son profil, regarder les gens tout autour et tout laisser refroidir. Je l’aime.

Inwiefern die so skizzierten diskurstraditionellen Neuerungen und ihre Auswirkungen auf die suppletive Kontextbildung deren Komplexität erhöhen, soll in den folgenden drei Unterkapiteln erläutert werden, die zudem demonstrieren, dass auch innerhalb der Gruppe der intern fokalisierten modernen bzw. zeitgenössischen Texte noch zahlreiche Varianten hinsichtlich der suppletiven Kontextbildung möglich sind. Die Unterkapitel sind nach steigender Komplexität der in ihnen praktizierten Formen der Restitution der erzählten Situation angeordnet. 3.2.2.1 Die Auswirkungen von interner Fokalisierung und Dynamisierung des Textbeginns auf die Komplexität der suppletiven Kontextbildung Anhand der beiden Novellen Chien de nuit (1998) von Jean-Claude Izzo und Toute une année au soleil (1994) von Didier Daeninckx soll exemplarisch für die übrigen realistisch-mimetisch erzählenden psychologischen bzw. sozialkritischen Novellen des Korpus aufgezeigt werden, wie ihre relative Kürze (1001 bzw. 665 Wörter), die interne bzw. wechselnde Fokalisierung und die Dynamisierung des Textbeginns im Vergleich zu Naïs Micoulin die Komplexität der suppletiven Kontextbildung erhöhen.

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

253

Die sozialkritische Novelle Chien de nuit schildert, wie Gianni, der einst aktives Mitglied einer linksterroristischen Vereinigung in Italien war, Opfer eines unfassbar gewalttätigen rechtsradikalen Paars wird. Der ehemalige Linksterrorist führt mittlerweile ein normales Leben als Familienvater und Übersetzer in Marseille und ist nicht mehr vertraut mit Gewalt und Selbstverteidigung. Am Ausgang der Metrostation Réformé-Canebière fragt eine junge Frau mit Hakenkreuz-Kette um den Hals den rauchenden Gianni, ob er Feuer hat, was dieser verneint. Durch dieses Verhalten fühlen sich die Rechtsradikale und ihr Freund, seinerseits Skinhead, offensichtlich derart provoziert, dass sie Gianni zuerst beleidigen und dann ihren Schäferhund auf ihn hetzen, der den Italiener umwirft und am Boden festhält. In den folgenden Minuten lässt Gianni sein bisheriges Leben Revue passieren. Währenddesssen durchsucht die Frau mit der Hakenkreuz-Kette seine Jackentaschen, findet ein Feuerzeug und zündet sich damit eine Zigarette an, die sie nach wenigen Zügen auf Giannis Stirn ausdrückt. Die Novelle endet mit dem Kommando Attaque ! des Skinheads an seinen Hund, der sich daraufhin in Giannis Hals verbeißt. Im Zentrum der psychologischen Novelle Toute une année au soleil stehen die Eheleute Pierre und Josette aus Paris, die sich nach Beendigung ihres Erwerbslebens einen einsam gelegenen alten Bauernhof in der Ardèche, ihrer langjährigen Ferienregion, zugelegt haben. Während Pierre sein neues Leben genießt und den ganzen Tag in Haus und Garten werkelt, fühlt Josette sich einsam. Ihre Versuche, mit den Frauen des Dorfes Freundschaft zu schließen, scheitern. In einer Novembernacht beschließt sie, ihren Mann und das Landleben heimlich zu verlassen. Als Pierre Schritte im Esszimmer hört, begibt er sich in das Zimmer seiner Frau und muss annehmen, dass sie schläft, da Josette zuvor durch Kissen unter der Bettdecke ihre Anwesenheit vorgetäuscht hat. Pierre vermutet also einen Fremden im Haus. Er entdeckt eine schwarze Gestalt auf dem Weg zur Haustür, interpretiert eine abrupte Bewegung dieser Person als Drohung, schießt auf sie und tötet damit seine eigene Ehefrau. Izzos Novelle Chien de nuit weist eine «fixierte interne Fokalisierung» (Martínez/Scheffel 1999/2012, 68) auf: die Determinanten des fiktionalen Universums und die Geschehnisse werden dem Leser über die gesamte Länge des Textes hinweg durch die Wahrnehmung Giannis, der Reflektorfigur, vermittelt. Seine Wissenslage und sein Bewusstsein sind also für die Darstellung ausschlaggebend (cf. Fludernik 2006/2010, 108). Deshalb werden der ihm vertraute Ort und die ihm bekannte Zeit der Handlung kaum thematisiert und die verbale Suppletion der fremden Personen, denen Gianni begegnet, erfolgt in der Reihenfolge, in der er bestimmte Details dieser Personen oder ihr Verhalten ihm gegenüber wahrnimmt. Die Novelle beginnt unmittelbar mit dem Aufeinandertreffen Giannis und

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

der beiden jungen Rechtsradikalen, verzichtet auf informative Präliminarien und weist somit einen incipit dynamique auf: «Ils étaient deux. Un garçon et une fille. La fille s’approcha et demanda à Gianni s’il avait du feu. L’instant d’après, il ne savait plus ce qui lui arrivait. Ou presque. Parce que, avant que tout ça ne lui arrive, Gianni leva les yeux vers elle. Cette fille. Une croix gammée pendant à son cou plongeait dans ses seins. De gros nichons, il avait pensé. Juste ça. Et qu’elle avait des yeux verts aussi. Un vert pisseux. Il regarda ensuite le type qui l’accompagnait. Crâne rasé. Veste de treillis. Un skinhead. Un mètre quatre-vingts, ou presque. Et bâti comme une armoire. Puis, de nouveau, Gianni regarda la fille. Se battre ne lui faisait pas peur, à Gianni. La violence, il connaissait. Sa raison de vivre pendant des années, en Italie. Prolétaire armé pour le communisme, il avait été. ‹Un subversif déclaré, avait dit le juge. Un criminel.› Mais, aujourd’hui, il s’était rangé du terrorisme. Une autre vie, en France, après bien des errances. Avec femme et enfant. Un boulot de traducteur. Et un statut de ‹politique›, qui lui interdisait de retourner en Italie. Lui interdisait les bagarres aussi. Et des tas d’autres conneries encore. - Non, s’entendit-il répondre. Tout en tirant sur la clope, une Lucky Strike, qu’il venait d’allumer en sortant du métro Réformé-Canebière. - T’es un marrant, hein, connard ! ricana le skinhead. Il fit claquer ses doigts pour dire ça» (Ch, 75; meine Hervorhebung – fett: Koreferenzkette der beiden Rechtsradikalen; kursiv: Koreferenzkette von Gianni).

Izzos Erzähler verwendet also aus dem typischen Repertoire der intern fokalisierten und in-medias-res beginnenden modernen Erzählungen, die auf Personen und Objekte der fiktionalen Welt als vorgegeben und bekannt referieren (cf. Fludernik 2006/2010, 56), ein Pronomen ohne Antezedens (ils) zur ersten Bezugnahme auf die beiden Rechtsradikalen und einen Vornamen (Gianni) zur Bezeichnung seiner Reflektorfigur. Das kataphorische ils bleibt aber nur einen denkbar kurzen Moment gänzlich unbestimmt: im ersten Satz wird durch das Zahlwort deux die Anzahl der Personen, die es vertritt, spezifiziert und im zweiten elliptischen Satz (Un garçon et une fille.) ihr Geschlecht und ihr ungefähres Alter. Der Vorname Gianni verrät zumindest, dass die so benannte Person männlichen Geschlechts ist und könnte ein Indiz für seine italienische Nationalität sein, was sich in der Folge tatsächlich bestätigt. Der reale Leser verfügt also nur über diese wenigen, zum Teil impliziten Informationen, die kaum etwas über die Identität der handelnden Figuren aussagen, weiß nichts über Ort und Zeit des Geschehens, wird aber schon mit der schicksalhaften Handlung – der an Gianni gerichteten Frage nach Feuer – konfrontiert. Ein entscheidender Unterschied zwischen Naïs Micoulin und Chien de nuit (sowie den weiteren intern fokalisierten Novellen des Korpus) liegt also in der Instantiierung der Personen-Frames der handelnden Figuren. Während der auktoriale und

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

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aus zeitlicher Distanz schreibende Erzähler von Naïs Micoulin mit der ersten Erwähnung seiner Personen (un avoué d’Aix, M. Rostand; Frédéric, le fils de l’avoué) bereits zentrale Slots ihrer so aufgerufenen Frames mit Fillern versieht und in unmittelbarer Folge wichtige weitere füllt (Familienname, Beruf, soziales Milieu, Familienstand bzw. familiäre Beziehungen etc.), werden in Chien de nuit zunächst weniger zentrale oder aussagekräftige Slots (Geschlecht, Vorname, Alter, Nationalität) mit Fillern belegt. Des Weiteren erweisen sich diese Füllwerte als vage und bestätigungsbedürftig: Wie alt genau ist jemand, der als fille bezeichnet wird? Lässt der Vorname Gianni wirklich den Rückschluss auf eine Person italienischer Herkunft zu? Auch das Auffüllen der weiteren Slots geschieht nicht nach Kriterien der Wichtigkeit, sondern ist gebunden an die Wissenslage der Reflektorfigur und die Reihenfolge ihrer Wahrnehmung bestimmter Aspekte der jeweiligen Personen. Aus dieser verzögerten, aus Details langsam erwachsenden und insgesamt reduzierten Art der Frame-Instantiierung entsteht nun insofern eine erhöhte Komplexität als der Leser die Bedeutung und Tragweite der ihm unmittelbar präsentierten Handlung, an der diese rudimentär skizzierten Figuren teilhaben, zunächst überhaupt nicht überblicken oder erfassen kann. Das Aufbauen und Revidieren von Erwartungen, das Minskys matching process beschreibt (cf. Minsky 1974, 2s.), muss mitunter mehrfach durchlaufen werden, bevor sich eine Erwartung verfestigt. Und in den ersten sieben Sätzen von Chien de nuit beispielsweise ist das Informationsdefizit so groß, dass eigentlich noch gar keine Erwartung hinsichtlich der Relevanz der belanglosen Handlung (ein Passant fragt einen anderen nach Feuer) aufgebaut werden kann. Die soeben beschriebene Form von Komplexität ist in Izzos Novelle allerdings nicht allzu stark ausgeprägt, weil zentrale Informationen zu den handelnden Personen recht schnell nachgeliefert werden, die komplexitätssteigernde Dauer des Offenlassens zentraler Slots also nicht lange währt. Als Gianni nämlich die Frau ansieht, die ihn nach Feuer fragt, fällt ihm als erstes das Hakenkreuz auf, das sie um den Hals trägt. Und als er ihren Begleiter mustert, ist dieser aufgrund von Glatze und Kampfanzug (Crâne rasé. Veste de treillis. Un skinhead.) unschwer als Skinhead zu identifizieren. Diese Filler des Slots POLITISCHE EINSTELLUNG liefern also an relativ früher Position im Text entscheidende Informationen zur Identität der betreffenden Personen und zum Verständnis von Giannis nicht bewusst getroffener Weigerung, den Neonazis Feuer zu geben (- Non, s’entendit-il répondre. Tout en tirant sur la clope, une Lucky Strike [. . .].), die wohl aus Abscheu resultiert. Die im Vergleich zu Naïs Micoulin aber dennoch deutlich erhöhte Komplexität der suppletiven Kontextbildung in Chien de nuit erwächst also nicht vornehmlich aus der recht begrenzten Dauer des Offenlassens zentraler Slots der Personen-Frames, sondern vielmehr aus dem völligen Offenlassen weiterer, immens wichtiger Slots, was der Tatsache geschuldet ist, dass die einzig verfügbare Innensicht in dieser intern

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

fokalisierten Erzählung die von Gianni ist. Giannis Wissenslage entsprechend erfährt der Leser etwas über Alter, Geschlecht und Kleidung der Rechtsradikalen und damit auch über ihre politische Einstellung, er erlebt, was sie zu Gianni sagen und wie sie sich ihm gegenüber verhalten. Und da bei Texten im Reflektormodus «die dominante Innenperspektive durch expressive Elemente der Figurensprache und der Emotionen des Protagonisten unterlegt [wird]» (Fludernik 2006/ 2010, 108), lassen Formulierungen und Vergleiche wie «Et qu’elle avait des yeux verts aussi. Un vert pisseux.» (Ch, 75) bzw. «Elle avait quelque chose d’un serpent.» (Ch, 76) auch den Rückschluss auf Giannis Aversionen den Rechtsradikalen gegenüber zu. Die von Giannis Innensicht geprägten Personen-Frames der Neonazis reduzieren sich also auf die in der folgenden tabellarischen Übersicht nahezu vollständig aufgeführten Filler:

Tab. 28: Personen-Frames der beiden Rechtsradikalen aus Chien de nuit. Slots

Filler des Personen-Frames le skinhead

Filler des Personen-Frames la fille

Alter/ Geschlecht

vermutlich ein junger Erwachsener, da er vermutlich eine junge Erwachsene, als garçon bezeichnet wird. da sie als fille bezeichnet wird. un garçon (Ch, ) une fille (Ch, )

politische Einstellung

Skinhead → rechtsradikal Crâne rasé. Veste de treillis. Un skinhead. (Ch, )

Sie trägt eine Kette mit Hakenkreuz → rechtsradikal Une croix gammée pendant à son cou plongeait dans ses seins. (Ch, )

Aussehen

Glatze, Kampfanzug, ca. ,  m groß, ein Schrank; größer, muskulöser und schwerer als Gianni Crâne rasé. Veste de treillis. [. . .] Un mètre quatre-vingts, ou presque. Et bâti comme une armoire. [. . .] Le skinhead avait une tête de plus que lui. Plus musclé. Plus lourd aussi. (Ch, )

große Brüste, pissgrüne Augen; ihr langer, magerer Körper erinnert an eine Schlange; nur ihre Brüste zeugen von Weiblichkeit De gros nichons, il avait pensé. [. . .] Et qu’elle avait des yeux verts aussi. Un vert pisseux. (Ch, ) [. . .] Elle avait quelque chose d’un serpent. Un corps maigre, tout en longueur. Un visage étroit, sans lèvres ou presque. Seuls ses seins faisaient d’elle une fille. (Ch, )

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

257

Tab. 28 (fortgesetzt) Slots

Filler des Personen-Frames le skinhead

Filler des Personen-Frames la fille

Verhalten Gianni gegenüber

. Beleidigung: T’es un marrant, hein, connard ! ricana le skinhead. (Ch, ) . Körperverletzung: Puis le skinhead siffla. Simplement. Comme on siffle un chien. (Ch, ) Auf dieses Zeichen hin springt sein Schäferhund Gianni an, reißt ihn zu Boden und hält ihn dort fest. . Mord: Attaque ! il cria. Et la gueule du chien se referma sur le cou de Gianni. (Ch, )

. Diebstahl und Beleidigung: La fille s’accroupit et fouilla dans les poches du blouson de Gianni. Elle trouva son briquet. [. . .] La fille alluma sa clope et mit le briquet dans sa poche. - Tu vois qu’t’en avais du feu, connard. (Ch, s.) . Körperverletzung: Elle tira une dernière fois sur sa clope. Puis, d’un geste brusque, elle l’écrasa sur le front de Gianni. (Ch, )

Der Leser erlebt also den unfassbaren Ausbruch von Gewalt, den Giannis Antwort auf ihre Frage nach Feuer bei den jungen Neonazis auslöst, und der von Beleidigung, über Diebstahl, Körperverletzung bis – höchstwahrscheinlich – Mord reicht. Die Fragen, die der Leser sich dabei unweigerlich stellt, sind die nach den Gedanken und Gefühlen der beiden Rechtsradikalen, nach ihrer Biographie, ihrem sozialen und familiären Umfeld, ihrer psychischen Disposition, etc. Er will schließlich verstehen, wie die implizite Ablehnung bzw. Aversion, die in der Verweigerung eines Feuerzeugs durch einen rauchenden Passanten zum Ausdruck kommt, zu einer derart übersteigerten, mit rationalen und menschlichen Maßstäben nicht zu erfassenden Reaktion führt. Gerade diese Slots der Personen-Frames bleiben aber offen und wachsen sich zu globalen Leerstellen aus, die eben die Motivierung der Handlung sowie die Interpretation bzw. Bewertung der Novelle insgesamt betreffen und als kontextabhängige IMPLIZITHEIT ihre Komplexität deutlich erhöhen. Das Füllen dieser Leerstellen verlangt nämlich zweifelsohne mehrstufige, auf psychologischem bzw. soziologischem Expertenwissen basierende und auch damit nicht eindeutig zu leistende Inferenzen. Natürlich kann aber auch ein Leser, der sich dazu nicht in der Lage sieht, die implizite Warnung einlösen, die Jean-Claude Izzo mit der Darstellung dieser willkürlichen rechten Gewalt zweifelsohne verbindet. Während also die konsequente Erzählung aus der Perspektive Giannis zu einer deutlich erhöhten Komplexität der suppletiven Kontextbildung hinsichtlich der Figuren der beiden Neonazis führt, ist die Verfügbarkeit über Giannis Innensicht natürlich von Vorteil für den Aufbau der Reflektorfigur selbst. Zwar kann sich auch Gianni in dieser Extremsituation nicht jede seiner Verhaltensweisen

258

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

erklären – insbesondere nicht die schicksalhafte Weigerung, der Rechtsradikalen Feuer zu geben –, er ist sich aber sehr wohl im Klaren über seine Vergangenheit als Linksterrorist, über sein jetziges Leben und Glück in Marseille, über die Liebe zu seiner Frau, über seine Unsicherheit im Verhalten den Neonazis gegenüber und über seine Hoffnung auf Hilfe von Passanten oder der Polizei. Folglich erweist sich der im Anschluss aufgeführte Personen-Frame von Gianni als deutlich ausführlicher, expliziter und aussagekräftiger als die der beiden rechten Gewalttäter und er unterscheidet sich bezüglich der Vielzahl und Sicherheit seiner Filler nicht wesentlich von den Frames, die Naïs oder Frédéric konstituieren. Des Weiteren zeichnet die Explizitheit des Personen-Frames Gianni verantwortlich für die von Izzo inszenierte tragische Ironie des Schicksals, dass ein ehemaliger Linksterrorist, der mittlerweile ein normales Leben als Familienvater und Übersetzer führt und der Gewalt abgeschworen hat, Opfer von Neofaschisten wird:

Tab. 29: Personen-Frame von Gianni aus Chien de nuit. Slots

Filler des Personen-Frames Gianni

Vorname

Gianni

Alter

ungefähr  Sa vie défila devant ses yeux. Moins d’une minute pour revoir quarante ans de galères. (Ch, )

Nationalität

Italiener

Politische Einstellung

früher: Linksterrorist in Italien; heute: Abkehr vom Terrorismus, politischer Flüchtling in Frankreich Prolétaire armé pour le communisme, il avait été. «Un subversif déclaré, avait dit le juge. Un criminel.» Mais aujourd’hui, il s’était rangé du terrorisme. Une autre vie en France, après bien des errances. [. . .] Et un statut de «politique», qui lui interdisait de retourner en Italie. (Ch, ) Sein Verhalten den Skinheads gegenüber, die aus seinem Blickwinkel erfolgten Bezeichnungen für sie und Beschreibungen ihres Äußeren manifestieren tiefe Abscheu gegenüber rechtsradikalem Gedankengut: . Er verweigert ihnen Feuer. - Non, s’entendit-il répondre. Tout en tirant sur la clope [. . .]. (Ch, ) . Beschreibungen/Bezeichnungen: Et qu’elle avait des yeux verts aussi. Un vert pisseux. (Ch, ) Elle avait quelque chose d’un serpent. (Ch, ) Il les connaissait, ces enfoirés. (Ch, ) Il se dit : «Est-ce que c’est ça, ma nouvelle vie ? Accepter l’humiliation de ces enfoirés de salopards de skinheads ?» (Ch, ) (jeweils meine Hervorhebung)

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

259

Tab. 29 (fortgesetzt) Slots

Filler des Personen-Frames Gianni

Erfahrungen mit Gewalt

Früher, als Terrorist: vertraut mit Gewalt Se battre ne lui faisait pas peur, à Gianni. La violence, il connaissait. Sa raison de vivre pendant des années, en Italie. (Ch, ) Heute: keinerlei Routine mehr im Umgang mit/der Abwehr von Gewalt Il avait peu à peu désappris toutes les règles de sécurité qu’on lui avait enseignées. Oublié aussi sa paranoïa. (Ch, ) [. . .] Il ne pouvait compter que sur lui. Il avait désappris ça aussi. Ne compter que sur soi-même. (Ch, )

Aktueller Wohnort Marseille Familie

Gianni hat eine Frau (Fabienne) und ein Kind

Beruf

Übersetzer

Gefühle

Gianni würde eine Schlägerei mit dem Skinhead gerne vermeiden, weil er eine Verabredung mit seiner Frau hat, die er über alles liebt: Peut-être éviterait-il ça, se cogner avec ce mec. Il était surtout pressé de rentrer. Fabienne l’attendait. Le gamin était chez sa grand-mère. Fabienne et lui s’étaient promis une fête en amoureux. Un de ces tête-à-tête où l’on oublie le couple pour se retrouver amants. Il n’avait jamais aimé comme il aimait cette femme. (Ch, )

Nachdem nun die verbale Suppletion der handelnden Personen in Chien de nuit ausführlich analysiert wurde, soll noch kurz auf die sehr reduzierte Situierung der Handlung in Raum und Zeit eingegangen werden. Jean-Claude Izzo stellt seinem Novellenband Vivre fatigue, der auch die hier besprochene Erzählung enthält, folgende Erklärung voran: «Les nouvelles qu’on va lire ont été publiées dans des ouvrages collectifs ou dans des magazines. Certaines ont été réécrites à l’occasion de cette parution. Bien évidemment, ce sont des histoires imaginaires. Si elles peuvent donner à penser à des faits divers authentiques, c’est par pure ironie de la réalité. Cela dit, il n’en est pas moins vrai que les lieux sont réels, tout autant que le dégoût que la vie inspire parfois» (Izzo 1998, 9).

Der reale Schauplatz (le lieu réel) der sozialkritischen Novelle Chien de nuit ist Izzos Heimatstadt Marseille. Diese Information baut sich ähnlich langsam auf wie diejenige zur Identität der handelnden Figuren und reduziert sich auf die beiläufige Erwähnung von drei Toponymen. Während wir in Naïs Micoulin im ersten Satz durch die Verwendung des Ortsnamens Aix erfahren, dass die Handlung eben dort spielt, müssen wir in Chien de nuit 26 Sätze lang warten, bis zunächst klar wird, dass das Geschehen sich in Frankreich ereignet:

260

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

«Mais aujourd’hui, il s’était rangé du terrorisme. Une autre vie, en France, après bien des errances» (Ch, 75; meine Hervorhebung).

Sechs Sätze später taucht ein weiteres Toponym (Réformé-Canebière) auf, der Name einer Metrostation. Dieser gestattet wohl nur Bewohnern oder ausgewiesenen Kennern der Stadt am Mittelmeer das Wiedererkennen von Marseille, anderen Lesern erlaubt er aber zumindest den Schluss auf eine Großstadt: « – Non, s’entendit-il répondre. Tout en tirant sur la clope, une Lucky Strike, qu’il venait d’allumer en sortant du métro Réformé-Canebière» (Ch, 75; meine Hervorhebung).

Nachdem nun also die Slots LAND und der wahrlich periphere Slot METROSTATIOdes Orts-Frames mit Fillern belegt wurden, erscheint nach drei Fünfteln der Novelle endlich der Frame-Kern Marseille und somit der eindeutige Hinweis auf den Schauplatz der Erzählung:

NEN

«Marseille, il y était comme chez lui. En famille, presque» (Ch, 76; meine Hervorhebung).

Auch die Unterschiede hinsichtlich der räumlichen Situierung in Naïs Micoulin und Chien de nuit sind also wieder der Tatsache geschuldet, dass erstere von einem auktorialen Erzähler dargeboten wird, der sich an einen narrataire wendet, dem das fiktionale Universum unbekannt ist, während die zeitgenössische, intern fokalisierte Novelle die Wissenslage Giannis zum Maßstab hat und somit auf eine Vorabinformation über den Ort, den die Reflektorfigur ja unmittelbar vor Augen hat, bewusst verzichtet. Folglich enthält die Erzählung auch keine weiteren Beschreibungen des Schauplatzes, so dass es gänzlich dem Weltwissen des empirischen Lesers überlassen wird, den Ort des Überfalls auf Gianni auszugestalten. Eine explizite Situierung des fiktiven Geschehens in der realen Geschichte des Lesers bleibt völlig aus und nicht einmal die Jahres- oder Tageszeit werden erwähnt, was ebenfalls durch die Selbstverständlichkeit des Datums aus Giannis Blickwinkel zu erklären ist. Da aber wohl für die meisten sozialkritischen Novellen des 20. Jahrhunderts ebenso wie für die des 19. Jahrhunderts gilt, dass sie einen Wirklichkeitsausschnitt darstellen wollen und größtmögliche Nähe zur Gegenwartswelt anstreben, liegt es nahe, die Zeit der Handlung von Chien de nuit ungefähr mit der Publikationszeit der Novelle (Ersterscheinung 1996) gleichzusetzen. Diese Annahme würde auch gut zu weiteren impliziten Hinweisen auf die reale Geschichte des Lesers und zur Angabe, dass Gianni im Moment des Überfalls circa 40 Jahre als ist, passen. Die Beschreibung von Giannis Vergangenheit als Linksterrorist in Italien: «La violence, il connaissait. Sa raison de vivre pendant des années, en Italie. Prolétaire armé pour le communisme, il avait été. ‹Un subversif déclaré, avait dit le juge. Un criminel›» (Ch, 75).

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

261

legt nämlich die Deutung nahe, dass der Protagonist der Erzählung Mitglied der Roten Brigaden war, deren aktivste Zeit zwischen 1970 und 1988 lag. Würde die Handlung also Mitte der 90er Jahre spielen, wäre Gianni ungefähr im Jahr 1956 geboren und zur Hochzeit der Roten Brigaden zwischen 14 und 32 Jahre alt gewesen, was eine Mitgliedschaft in dieser linksterroristischen Vereinigung möglich gemacht hätte. So verdichtet sich also aus einigen impliziten Hinweisen der Verdacht, dass die fiktive Handlung von Chien de nuit im Marseille der 90er Jahre zu situieren ist. Was das Verhältnis von erzählter Zeit zu Erzählzeit betrifft, so ist einerseits festzustellen, dass die eigentlichen Handlungsschritte – Bitte um Feuer, Ablehnung, Beleidigung, Pfiff nach dem Hund etc. – in der Reihenfolge ihres Vorkommens erzählt werden. Die Gedanken, die Gianni in dieser Extremsituation durch den Kopf gehen, sind aber natürlich assoziativ, unterbrochen und wechseln ab zwischen seiner Vergangenheit in Italien und seiner Gegenwart in Frankreich. Aufgrund ihres eindeutigen inhaltlichen Bezugs auf die Erfahrungen des Terroristen einerseits, die des Ehemanns und Familienvaters andererseits und aufgrund von expliziten Zeit- und Ortsangaben wie pendant des années en Italie, aujourd’hui, alors etc. ist ihr zeitlicher Bezug für den empirischen Leser aber dennoch problemlos nachzuvollziehen. Zusammenfassend ist also festzustellen, dass die diskurstraditionellen Merkmale der zunehmenden Kürze, der internen Fokalisierung und Dynamisierung des Textbeginns für die folgenden semantischen Eigenschaften der suppletiven Kontextbildung verantwortlich sind: – ein geringes Maß an Explizitheit und Ausführlichkeit bei der räumlichen und zeitlichen Situierung der Handlung und dem Aufbau der NichtReflektorfiguren; – eine längere Dauer des Offenlassens zentraler Slots der Personen- und Orts-Frames; – ein entsprechend langsamer Aufbau der Frames, der häufig mit der Instantiierung peripherer Slots beginnt und die Identität von Ort und Personen für den empirischen Leser länger im Unklaren belässt; – zentrale Leerstellen in den Frames der Nicht-Reflektorfiguren, die der Tatsache geschuldet sind, dass eben nur die Innensicht der Reflektorfigur verfügbar ist. Diese Eigenschaften wirken sich insofern deutlich komplexitätssteigernd aus, als sie mit einem hohen Maß an kontextabhängiger/nicht-konventioneller IMPLIZITHEIT einhergehen, erhöhte Anforderungen an das lebensweltliche Wissen, die Kompetenz und Kapazität der Rezipienten stellen und mitunter ein mehrfaches Durchlaufen von Minskys matching process (cf. Minsky 1974, 2s.) erfordern, bevor

262

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

sich eine Erwartung bzw. ein Textmodell wirklich verfestigen kann. In Chien de nuit ist die Dauer des Offenlassens wichtiger Slots nicht sehr stark ausgeprägt, die prinzipiellen Leerstellen in den Frames der Rechtsradikalen betreffen aber die Motivierung der Handlung und ihr Füllen stellt große Anforderungen an das Wissen der Leser. Die räumliche Situierung der Handlung baut ebenfalls stark auf das Weltwissen der Rezipienten und eine zeitliche Situierung kann, wenn überhaupt, nur unter Rückgriff auf kulturelles und politisch-historisches Wissen erfolgen. Im Vergleich zur suppletiven Kontextbildung von Naïs Micoulin und mit dem Wissen darum, wie komplex die verbale Restitution der erzählten Situation in symbolischen und surrealistischen Novellen ausfallen kann (cf. Kapitel 3.2.2.3), weist die suppletive Kontextbildung in Izzos sozialkritischer Novelle eine mittlere Komplexität auf, erhält also den Wert 3. Die psychologische Novelle Toute une année au soleil (1994) von Didier Daeninckx wird ebenso wie Chien de nuit von einem heterodiegetischen Erzähler dargeboten, unterscheidet sich aber von letzterer durch einen Wechsel des Fokalisierungstyps. Chien de nuit ist durch eine fixierte interne Fokalisierung geprägt, was bedeutet, dass die Fokalisierung auf die Wahrnehmung einer einzigen Person, nämlich Gianni, beschränkt ist. In Toute une année au soleil hingegen vollzieht sich nach knapp 60% der Textlänge ein Wechsel von der zunächst dominierenden Nullfokalisierung hin zur internen Fokalisierung, und die letzten drei Zeilen weisen dann wiederum eine Nullfokalisierung auf. Allerdings ist in dieser zeitgenössischen Novelle die Nullfokalisierung, die ja dadurch gekennzeichnet ist, dass der Erzähler mehr weiß bzw. sagt als irgendeine der Personen (cf. Martínez/Scheffel 1999/2012, 67), nicht derart ausgeprägt und auf alle Bereiche des Geschehens sowie alle Figuren bezogen wie in Naïs Micoulin. So weiß der Erzähler zum Beispiel bestens über die Gefühle und den Gemütszustand von Pierre Bescheid und charakterisiert diese auch explizit durch die Wahl eindeutiger Verben und Adjektive. Auch über Josette weiß er wohl mehr als ihr Mann, doch wird ihr Verhalten vornehmlich beschrieben und es wird dem Leser überlassen, daraus Rückschlüsse auf ihr Seelenleben zu ziehen. Des Weiteren führt die ordnende Sicht des aus zeitlichem Abstand erzählenden heterodiegetischen Erzählers dazu, dass die örtliche und zeitliche Situierung der Handlung wieder relativ schnell, explizit und ausführlich erfolgen, wohingegen die Einführung der handelnden Figuren und die Instantiierung ihrer Frames ganz eindeutig den Verfahren intern fokalisierter Erzählungen entsprechen. Der nachfolgend zitierte Textbeginn ist zwischen incipit dynamique und incipit progressif anzusiedeln: «Le chien s’était habitué en moins d’une semaine. Après dix années passées à étouffer ses cris dans cet appartement de banlieue aux cloisons de papier mâché, il donnait libre

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

263

cours à ses instincts et hurlait en écho aux autres chiens des fermes voisines saluant l’apparition de la lune. C’est Pierre qui avait eu le coup de foudre pour cette région d’Ardèche. Il aimait les rivières encaissées, les villages fermés, les vallées authentiques que leur inconfort protégeait des grandes migrations estivales. L’autoroute du Sud passait à moins de trente kilomètres, reliant Valence à Tournon, mais peu de vacanciers se risquaient à emprunter les routes sinueuses du Haut-Vivarais. Ils y étaient venus dix années de suite, en juillet, pour les congés, [. . .]. Ils avaient fini par acheter une vieille ferme perchée au-dessus d’Arlebosc sur un chemin qui s’arrêtait à la bâtisse suivante. Pierre avait obtenu sa retraite en janvier et il était parti préparer la maison pour l’emménagement définitif. Il restait à Josette un long trimestre à accomplir pour bénéficier d’un repos octroyé après le sacrifice de quarante années de sa vie au profit d’un fabricant de roulements à billes. Elle l’avait rejoint en avril, avec le camion de déménagement, et s’était installée dans la chambre dont les fenêtres donnaient en direction des Alpes que l’on apercevait nettement les veilles d’orage. Il y avait longtemps qu’ils ne faisaient plus chambre commune» (TAS, 51; meine Hervorhebung – fett: Einführung der Figuren; kursiv: räumliche Situierung).

Die ersten Zeilen der Novelle beginnen unvermittelt mit der Erzählung der Verhaltensänderung des Hundes, der durch Verwendung des bestimmten Artikels (Le chien) als dem narrataire bekannt präsentiert wird, bevor in den folgenden Zeilen ausführliche Informationen zum Ort der Handlung (kursiv gedruckte Passagen) und zum Herrchen des Hundes nachgeliefert werden. Toute une année au soleil präsentiert sich also unter diskurstraditionellen Gesichtspunkten als eine Mischform aus Nullfokalisierung und interner Fokalisierung, incipit dynamique und incipit progressif, weshalb sich auch der Grad der Komplexität der suppletiven Kontextbildung zunächst zwischen den Komplexitätswerten von Naïs Micoulin und Chien de nuit bewegt. Mit dem Wechsel zu einer reinen internen Fokalisierung kommt dann allerdings ein Zuwachs an Komplexität hinzu. Bevor dies näher erläutert wird, soll aber die bereits erwähnte Einfachheit der suppletiven Kontextbildung in Bezug auf die räumliche und zeitliche Situierung der Handlung am Text belegt werden. Schon in den ersten Zeilen wird mit der Gegenüberstellung des Verhaltens des Hundes in der Vorstadtwohnung (cet appartement de banlieue) und auf dem Land (des fermes voisines) ein Umzug seines Herrchens angedeutet. Diese Vermutung konkretisiert sich in den folgenden Zeilen (cf. kursiv gedruckte Passagen), in denen die Handlung dieser realistischmimetisch erzählenden Novelle mit Hilfe zahlreicher Toponyme (l’Ardèche, Valence, Tournon, le Haut-Vivarais, Arlebosc) in der realen Geographie des Lesers verankert wird. Dieser neue Wohnort der Protagonisten wird – gemessen an der Länge der Novelle – ähnlich ausführlich beschrieben, wie wir dies aus Naïs Micoulin kennen, und seine verbale Suppletion baut somit nicht nahezu ausschließlich auf das Weltwissen der Leser, wie das in Chien de nuit der Fall ist. In

264

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

beiden Novellen ist der Ort des Geschehens aber auch von großer Bedeutung für die Handlung selbst: hier ist die Verlassenheit und Isoliertheit der Region mitverantwortlich für die Einsamkeit und das Unglück Josettes, die – wie man später erfährt – aus Paris stammt (son assurance de Parisienne). Eine explizite Verortung der Handlung in der realen Geschichte bleibt in Toute une année au soleil ebenso wie in den meisten Korpustexten aus, die Ereignisse werden aber sowohl chronologisch erzählt als auch ihre Position im Verlauf des Jahres und ihre Dauer durch zahlreiche Zeitangaben präzisiert. Der Hund des Rentnerehepaares gewöhnt sich also in weniger als einer Woche (en moins d’une semaine) an das neue Leben in der Ardèche. Zehn Jahre in Folge haben Josette und Pierre in dieser Region Urlaub gemacht (Ils y étaient venus dix années de suite, en juillet, pour les congés [. . .].), bevor sie sich dort einen alten Bauerhof kaufen. Im Januar (en janvier) geht Pierre in Rente und bereitet das Haus für den definitiven Umzug vor, bevor Josette im April (en avril) mit dem Möbelwagen nachkommt. Im Juli und August dieses Jahres kommen die Kinder und Enkelkinder zu Besuch (Les enfants étaient venus, la fille en juillet, le fils en août, avec les petits [. . .].) und in einer Novembernacht (On était déjà en novembre [. . .].) ereignet sich dann die tödliche Verwechslung. Die zeitliche und räumliche Orientierung des Lesers im fiktionalen Universum ist also in dieser modernen Novelle ebenso unmittelbar und eindeutig gegeben wie in der naturalistischen Novelle Naïs Micoulin. Die handelnden Figuren hingegen werden dem narrataire, ähnlich wie in Chien de nuit, unter Verwendung von bestimmten Nominalgruppen (le chien), unvermittelten Namensnennungen (Pierre) und Pronomina ohne Antezedens (ils) als bekannt und nicht einführenswert vorgestellt. Der empirische Leser sieht sich aber de facto zunächst mit einem bestimmten Hund (Le chien) und einer bestimmten Vorstadtwohnung (cet appartement de banlieue) konfroniert, deren Referenten er nicht erschließen kann, weshalb sie für ihn gewissermaßen «in der Luft hängen». Sowohl der evozierte Frame Hund als auch der Frame Wohnung/Haus implizieren aber einen Slot HERRCHEN bzw. BESITZER und dieser wird im dritten Satz mit dem Eigennamen Pierre spezifiziert: es handelt sich also um den Hund und die Vorstadtwohnung von Pierre, der sich in das ländliche Haut-Vivarais verliebt hat, in dem offenbar auch der Bauernhof liegt, wo der Hund seinen Instinkten freien Lauf lassen kann. Tatsächlich wird also letztlich der Personen-Frame Pierres durch den peripheren Filler le chien aufgerufen und setzt sich die Identität dieser Figur, wie es für intern fokalisierte Erzählungen üblich ist, aus Details erst langsam zusammen. Man erfährt also zunächst, dass Pierre Hundehalter ist, mindestens zehn Jahre in einer Vorstadtwohnung verbracht hat, sich aber in eine bestimmte ländliche Region der Ardèche verliebt hat. Das Pronomen ils in Ils étaient venus dix années de suite, en juillet, pour les congés [. . .] ist gleichzeitig anaphorisch und kataphorisch. Es greift einerseits Pierre wieder auf, andererseits

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

265

aber auch eine oder mehrere weitere Personen, die erst in der Folge präzisiert werden. Zwar legen die Frames Ferien und Hauskauf nahe, dass sich hinter ils noch Pierres Frau oder Familie verbergen, klar wird dies aber erst wieder fünf Zeilen später mit der Erwähnung von Josette. Und dass Josette seine Lebenspartnerin ist, ergibt sich aus dem weiteren Kontext, dass sie auch seine Frau ist, wird jedoch erst durch den wiederaufgreifenden Ausdruck sa femme im letzten Drittel der Novelle zweifelsfrei geklärt. Der sich aus peripheren Details erst langsam zusammensetzende Aufbau der handelnden Personen und das damit verbundene temporäre Offenlassen zentraler Slots ist in Toute une année au soleil also stärker ausgeprägt als in Chien de nuit. Nach ca. 60% der Textlänge liegen letztlich für die folgenden Slots der Personen-Frames von Pierre und Josette explizite Füllwerte vor: Tab. 30: Personen-Frames von Pierre und Josette aus Toute une année au soleil. Slots

Filler des Personen-Frames Pierre

Filler des Personen-Frames Josette

Vorname

Pierre

Josette

Alter

seit kurzem im Ruhestand → ca.  Jahre Pierre avait obtenu sa retraite en janvier [. . .]. (TAS, )

seit kurzem im Ruhestand → ca.  Jahre Il restait à Josette un long trimestre à accomplir pour bénéficier d’un repos octroyé après le sacrifice de quarante années de sa vie au profit d’un fabricant de roulements à billes. (TAS, )

. Wohnort

Paris [. . .] mais son assurance de Parisienne, d’ouvrière rompue aux contacts, les avait effrayées. (TAS, ; meine Hervorhebung)

. Wohnort

Arlebosc im Haut-Vivarais (Ardèche) Ils avaient fini par acheter une vieille ferme perchée au-dessus d’Arlebosc sur un chemin qui s’arrêtait à la bâtisse suivante. (TAS, )

Beruf

___

Josette war Arbeiterin in einer Fabrik zur Herstellung von Kugellagern [. . .] après le sacrifice de quarante années de sa vie au profit d’un fabricant de roulements à billes. [. . .] mais son assurance de Parisienne, d’ouvrière rompue aux contacts, les avait effrayées. (TAS, ; meine Hervorhebung)

266

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Tab. 30 (fortgesetzt) Slots

Filler des Personen-Frames Pierre

Familie

Pierre und Josette sind miteinander verheiratet, haben einen Sohn, eine Tochter und Enkelkinder: Le corps de sa femme gonflait l’édredon. (TAS, ; meine Hervorhebung) Les enfants étaient venus, la fille en juillet, le fils en août, avec les petits [. . .]. (TAS, ; meine Hervorhebung)

Hobbys/ Pierre werkelt von morgens bis Beschäftigungen abends in Haus und Garten und sieht abends fern. Pierre bricolait du matin au soir dans la maison et le potager. Le soir il se bloquait, heureux, devant la télé, un verre de saintjoseph à la main. (TAS, )

Gemütszustand

Filler des Personen-Frames Josette

Josette probiert abends zu lesen, kann sich aber nicht konzentrieren. Sie versucht mehrfach, mit den Frauen des Ortes ins Gespräch zu kommen, was ihr nicht gelingt. Josette montait se coucher et son regard se troublait sur les lignes d’un livre sans réussir à accrocher le moindre mot. Les premiers mois elle avait essayé de lier conversation avec les femmes, au marché, dans les commerces, mais son assurance de Parisienne, d’ouvrière rompue aux contacts, les avait effrayées. Les tentatives s’étaient échouées sur leurs «bonjour», leurs «bonsoir». (TAS, )

Pierre ist glücklich mit seinem neuen Keine expliziten Filler vorhanden, Leben in einer Region, in die er sich aber implizite! (s.u.) auf den ersten Blick verliebt hat und deren Landschaft ihn fasziniert: C’est Pierre qui avait eu le coup de foudre pour cette région d’Ardèche. Il aimait les rivières encaissées, les villages fermés, les vallées authentiques [. . .]. Pierre bricolait du matin au soir dans la maison et dans le potager. Le soir il se bloquait, heureux, devant la télé, un verre de saint-joseph à la main. (TAS, ; meine Hervorhebung)

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

267

Auffällig ist, dass der heterodiegetische Erzähler seine Übersicht sehr wohl nutzt, um – wenn auch erst nach geraumer Zeit – ein recht umfassendes und explizites Bild von Pierre zu zeichnen, der mit seinem neuen Leben glücklich ist und in einer Region wohnt, die ihn begeistert (le coup de foudre, Il aimait les rivières encaissées . . . ). Der für das Verständnis und die Interpretation dieser Novelle entscheidende Slot GEMÜTSZUSTAND wird für Josette aber nicht mit expliziten Fillern belegt. An dieser Stelle sind auf Alltagspsychologie basierende Inferenzleistungen des Lesers nötig, um Rückschlüsse auf ihre Seelenlage zu ziehen. So kann aus den Fillern des Slots BESCHÄFTIGUNGEN wohl der eindeutige Schluss gezogen werden, dass das wiederholte Scheitern ihrer Versuche, Kontakte zu knüpfen, sie einsam und unglücklich macht und dass es das Nachdenken über die Leere ihres Lebens und ihre Unzufriedenheit sind, die sie vom verständigen Lesen abhalten. Auch die folgende Bemerkung des Erzählers über Josettes seelische Verfassung: «Les enfants étaient venus, la fille en juillet, le fils en août, avec les petits, et elle avait cru faire provision de bonheur, d’éclats de rire pour les longs mois de déclin et de froid» (TAS, 51).

bestätigt erneut den Eindruck, dass Josette unglücklich ist, da sie offensichtlich die Notwendigkeit sieht, aus dem Besuch der Kinder und Enkelkinder einen «Vorrat an Glück» für die kalte Jahreszeit ziehen zu müssen. Andererseits impliziert das Verb croire im Plus-que-parfait (sie hatte geglaubt, einen Vorrat an Glück anzulegen), dass dieser Glaube bzw. diese Hoffnung sich nicht bewahrheiten. Der Text liefert also einige Hinweise bzw. Andeutungen, die im Leser die Erwartung aufbauen, dass Unzufriedenheit und Einsamkeit die passenden Filler für den Slot GEMÜTSZUSTAND des Personen-Frames von Josette sind, was ganz am Schluss der Novelle auch eindeutig bestätigt wird. Diese explizite Bestätigung wird aber erneut verzögert durch den bereits erwähnten, nach etwas mehr als der Hälfte des Textes sich vollziehenden Wechsel von der Nullfokalisierung zur internen Fokalisierung. Die Erzählung der Ereignisse in jener Novembernacht, als Pierre meint, einen Fremden im Haus zu entdecken, den er schließlich erschießt, erfolgt strikt aus dem Blickwinkel und der Wissenslage von Pierre, was die Pronomen und Nominalgruppen wie z.B. l’inconnu, mit denen der Erzähler auf diese vermeintlich fremde Person verweist, eindeutig belegen: «Pierre remuait dans son lit, dormant par bribes. Le craquement d’une marche de l’escalier le mit en éveil. Il se redressa et tendit l’oreille. On marchait dans la salle à manger. Il décrocha son fusil et, lentement, [. . .], il progressa jusqu’à la chambre de Josette. Le corps de sa femme gonflait l’édredon. Pierre ne la réveilla pas et parvint jusqu’à la rambarde de bois qui surplombait le rez-de-chaussée. Une forme noire s’éloignait vers la porte d’entrée.

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

L’inconnu se retourna brusquement pour prendre la valise posée près de lui. Pierre interpréta le geste comme une menace et fit feu à deux reprises. L’inconnu s’écroula [. . .]» (TAS, 52; meine Hervorhebung).

Sensibilisiert durch den oben zitierten Hinweis (elle avait cru faire provision de bonheur), der sich unmittelbar vor dieser intern fokalisierten Passage befindet, kann der Leser die Erwartung aufbauen, dass es Josette ist, die nachts durch das Haus geistert. Die Erwähnung der Kontrollmaßnahme, dass Pierre zunächst einen Blick in ihr Zimmer wirft und annehmen muss, dass sie im Bett liegt, enttäuscht diese Erwartung aber zunächst. Als der Rentner nach dem Schuss auf den «Unbekannten» allerdings entdeckt, dass ein Kissen unter Josettes Bettdecke ihre Anwesenheit offenbar vortäuschen sollte, findet der Leser seine erste Annahme so gut wie bestätigt. Die explizite Affirmation, dass Pierre in der Tat seine eigene Frau erschossen hat und diese sich tatsächlich aus lauter Einsamkeit und Unzufriedenheit mit dem neuen Leben zur heimlichen Flucht entschlossen hat, liefert der letzte Satz der Novelle, mit dem der Erzähler wieder zu seiner Übersicht (Nullfokalisierung) zurückkehrt: «[Josette] avait réussi à ouvrir la valise, dans un dernier sursaut, et venait de quitter le monde le visage plongé dans les photos, les lettres, les souvenirs d’une vie dont elle refusait qu’elle se terminât là» (TAS, 52).

Dieser letzte Satz etabliert gleichzeitig einen bitteren Kontrast zum ersten Satz der Erzählung: «Le chien s’était habitué en moins d’une semaine.» (TAS, 51). Denn während der Hund sich binnen einer Woche an das Landleben gewöhnt hatte, gelang Josette dies auch nach sieben Monaten noch nicht. Hier zeigt sich also, dass die suppletive Kontextbildung in Didier Daeninckx’ psychologischer Novelle nicht in erster Linie das Ziel verfolgt, den Leser im fiktionalen Universum seiner Erzählung zu orientieren, sondern vielmehr kompositorisch-architektonischen Regeln folgt (Korrespondenz zwischen erstem und letztem Satz) und vornehmlich der Leseraktivierung und der Vorbereitung einer chute, also eines überraschenden bzw. schockierenden Endes dient. Deshalb arbeitet er gerade bei der verbalen Restitution der Figuren mit indirekten Charakterisierungen, die der Leser einlösen muss, mit Andeutungen, mit einem langsamen Aufbau der Personen-Frames, mit Wechseln des Fokalisierungstyps und damit verbundenen Brüchen in der Koreferenzkette von Josette (Josette . . . elle . . . on . . . une forme noire . . . l’inconnu . . . Josette), mit dem Aufbau, Brechen und erneuten Aufbau von Erwartungen. Die daraus erwachsende Komplexität der suppletiven Kontextbildung wird aber abgemildert durch das eindeutige Ende der Novelle und durch ein hohes Maß an Explizitheit und Orientierung des Lesers bei der räumlichen und zeitlichen Situierung der Handlung. Deshalb ergibt sich letztlich auch für die suppletive Kontextbildung in Toute une année au soleil ein mittlerer Komplexitätsgrad, also der Wert 3.

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

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Die Analyse der suppletiven Kontextbildung in den Novellen Izzos und Daeninckx’ hat also gezeigt, dass die Dynamisierung des Textbeginns und die interne oder wechselnde Fokalisierung in der Regel dazu führen, dass die Orientierung des empirischen Lesers im fiktionalen Universum verzögert wird, weil Orts- und Figuren-Frames sich aus Fillern peripherer Slots erst langsam aufbauen und tendenziell weniger ausführlich sind als dies in den realistischen oder naturalistischen Erzählungen des 19. Jahrhunderts der Fall ist. Dieses zumindest anfängliche Informationsdefizit hat zur Konsequenz, dass die Bedeutung und Tragweite der unmittelbar beginnenden oder im Verlauf befindlichen Handlung überhaupt nicht erfasst werden können. In Chien de nuit führt weiterhin die einzig verfügbare Innensicht der Reflektorfigur dazu, dass Slots in den Frames der anderen Personen offen bleiben müssen, was den Anteil an kontextabhängiger IMPLIZITHEIT steigen lässt und wissensbasierte Inferenzen nötig macht. In Toute une année au soleil hingegen erwächst die Komplexität der suppletiven Kontextbildung vielmehr aus dem längerfristigen Offenlassen zentraler Slots der Personen-Frames, aus Andeutungen und indirekten Charakterisierungen sowie einem Wechsel des Fokalisierungstyps, der mit einem Bruch in der Koreferenzkette der Protagonistin einhergeht. Diese Phänomene führen zu einer erhöhten Leseraktivierung und der Notwendigkeit, Minskys matching process (cf. Minsky 1974, 2s.) mehrmals zu durchlaufen, bevor eine Erwartung sich endgültig bestätigt. Die suppletive Kontextbildung in diesen beiden sowie den weiteren modernen Novellen des Korpus weist also aufgrund von Leerstellen und Andeutungen einen hohen Anteil an kontextabhängiger IMPLIZITHEIT auf, leistet die mit ihr verbundene Orientierung des Lesers erst später oder mitunter gar nicht und spielt auch mit dem Aufbau und Brechen von Lesererwartungen. Das sind die wesentlichen Gründe für die im Vergleich zur naturalistischen Novelle Naïs Micoulin merklich erhöhte Komplexität in diesem Bereich. Diese Verfahren können aber noch weiter auf die Spitze getrieben werden und somit eine noch deutlich höhere Komplexität der suppletiven Kontextbildung erzeugt werden, was die in Kapitel 3.2.2.2 vorzustellenden nouvelles à chute sowie die in Kapitel 3.2.2.3 analysierte surrealistische Novelle zeigen werden. 3.2.2.2 Die extrem verzögerte Variante der suppletiven Kontextbildung in nouvelles à chute Unser Korpus beinhaltet mit La Parure (1884) von Guy de Maupassant, Iceberg (1964) von Fred Kassak und Happy Meal (2000) von Anna Gavalda drei Novellen mit einem sehr ausgeprägten, meist von Beginn an und unter Rückgriff

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auf verschiedenste Strategien vorbereiteten effet de chute.42 Gemäß des Vocabulaire des études littéraires bezeichnet der Begriff chute den letzten Vers eines Sonetts, aber auch den unerwarteten Ausgang einer Prosaerzählung (cf. Bénac/Réauté 1993, 40). Die Gattungsbezeichnung nouvelle à chute findet man als Titel mehrerer Novellensammlungen43 für den Französischunterricht an collège und lycée, die u.a. auch die oben genannten Erzählungen enthalten. Die Herausgeber von zwei dieser Anthologien, Nathalie Lebailly und Matthieu Gamard, fassen unter die genannte Genrebezeichnung solche Novellen, die auf das Erzielen eines finalen Überraschungseffekts hin ausgerichtet sind und den Leser damit zu einer zweiten Lektüre und einer Neuinterpretation des Textes auffordern. Dies ist ihrer Einschätzung nach keineswegs ein Merkmal der Novelle im Allgemeinen und rechtfertigt somit die Eröffnung einer als nouvelle à chute bezeichneten Untergattung der Novelle: «[. . .] plusieurs théoriciens pensent qu’une nouvelle bien construite, digne de ce nom, doit également se terminer par un effet de surprise, ‹l’effet de chute›, qui serait la raison d’être du récit et qui inviterait le lecteur à une relecture et à une réinterprétation du texte. Ainsi, toute la narration serait construite en fonction de ce ‹coup de théâtre› final, préparé tout au long du récit. Cependant, force est de constater que toutes les nouvelles ne respectent pas ce critère et que pour certaines, la conclusion n’a pas une place prépondérante par rapport au reste de la narration» (Lebailly/Gamard 2004b, 3).

Barbara Herzberg (2011) definiert in ihren Unterrichtsmaterialien zur Novelle Happy Meal von Anna Gavalda das Genre der nouvelle à chute auf vergleichbare Weise: «[Une nouvelle à chute est] une nouvelle dont la fin est surprenante pour le lecteur. La chute est la dernière phrase de la nouvelle, elle est préparée dès le début du texte et vise à produire un grand effet sur le lecteur : surprise, sourire etc. Tout le récit est construit à partir de ce dénouement final. Une fois la lecture de la nouvelle terminée, on a envie de relire le texte, d’y chercher des passages/mots qui annonceraient la fin surprenante et de rechercher une nouvelle interprétation du texte» (Herzberg 2011, 3).

Herzberg betont also ebenso wie Lebailly/Gamard (2004b), dass die gesamte Komposition einer nouvelle à chute auf die Vorbereitung des überraschenden

42 Auch das Ende von Didier Daeninckx’ Novelle Toute une année au soleil darf als chute bezeichnet werden, es weist aber bei weitem nicht das Maß an Überraschung und Unerwartbarkeit auf, das v. a. in Iceberg und Happy Meal über die gesamte Textlänge hinweg kunstvoll inszeniert wird. 43 Lebailly, Nathalie/Gamard, Matthieu (edd.), Nouvelles à chute, Paris, Magnard, 2004. Lebailly, Nathalie/Gamard, Matthieu (edd.), Nouvelles à chute 2, Paris, Magnard, 2006. Drolent, Aubert (ed.), Guy de Maupassant, La Parure et autres nouvelles à chute, Paris, Hatier, 2011.

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

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Endes hin ausgelegt ist und dass die chute den Leser zu einer erneuten Lektüre auffordert, um zu verstehen, durch welche Verfahren er auf eine derart falsche Fährte geführt werden konnte, und um eine neue und adäquate Deutung der Erzählung zu finden. Die Novellen Happy Meal und Iceberg verwenden eine Vielzahl semantischer Strategien, um ihre chute zu inszenieren, erzielen den Überraschungseffekt aber insbesondere durch das extrem lange Offenlassen zentraler Slots der PersonenFrames ihrer Protagonisten. Beide Novellen instantiieren bestimmte Frames in Verbindung mit der Einführung der erwähnten Hauptpersonen, die den Rezipienten den Mangel an Kontextualisierung während der ersten Lektüre aber gar nicht spüren lassen und die ihn gezielt auf eine falsche Fährte führen. Die wahre Identität der Protagonisten wird dann erst in der chute enthüllt und überrascht den Leser von Happy Meal bzw. schockiert denjenigen von Iceberg. Da in beiden Novellen also eine ähnliche Strategie bezüglich der verbalen Suppletion der erzählten Situation eingesetzt wird, Anna Gavalda diese aber noch etwas stärker und kunstfertiger ausreizt, soll im Folgenden nur die suppletive Kontextbildung in Happy Meal detaillierter vorgestellt und auf ihre Komplexität hin untersucht werden. Die Situierung der Handlung in Raum und Zeit erfolgt dabei ähnlich sparsam wie in Chien de nuit, weist somit in etwa denselben Grad an Komplexität auf und hat keinerlei Bedeutung für die chute – deshalb beschränkt sich die folgende Analyse auf den Aufbau der handelnden Figuren. Im Zentrum von Happy Meal steht ein gemeinsames Mittagessen des IchErzählers und seiner Begleiterin. Die weibliche Hauptperson, über deren Alter und Beziehung zum Ich-Erzähler man weiter nichts erfährt, möchte gerne zu McDonald’s gehen und der Ich-Erzähler fügt sich ihrem Wunsch, obwohl er selbst das Essen, die Klientel und die Atmosphäre in dieser Fast-Food-Kette zutiefst verabscheut. Während des Bestellvorgangs und des Essens beobachtet er voller Liebe das Verhalten seiner Begleiterin, ihre Unentschlossenheit, ihr lustvolles Speisen, ihre Koketterie. Er vertreibt sich die Zeit mit dem Nachdenken darüber, was er am meisten an ihr liebt, schildert ihre zärtlichen Neckereien, ihre Empathie ihm gegenüber und macht sich Gedanken über ihre gemeinsame Zukunft. In den letzten Sätzen der Novelle enthüllt der Ich-Erzähler dann die Identität seiner Begleiterin: es handelt sich um seine sechsjährige Tochter Valentine. Die Ereignisse in Happy Meal werden im Präsens von einem autodiegetischen Ich-Erzähler geschildert. Der Erzähler ist also auch eine Hauptperson der erzählten Welt und weiterhin die Reflektorfigur, deren Wahrnehmung für die Darstellung ausschlaggebend ist (cf. Fludernik 2006/2010, 108). Das Präsens als Erzähltempus dient gemäß Fludernik der Betonung der Unmittelbarkeit des Erzählten (cf. ib., 64) und tatsächlich hat der Rezipient den Eindruck, dass der Erzähler das Geschehen in dem Moment verbalisiert, in dem es sich

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ereignet. Die oben festgestellten Charakteristika moderner bzw. zeitgenössischer Erzählungen – also interne Fokalisierung, Beginn in medias res, Verzicht auf Informationen zu den handelnden Figuren und Vorstellung des fiktionalen Universums als bekannt bzw. vertraut – sind in dieser Erzählung sehr ausgeprägt vorhanden, so dass sich der Eindruck einstellt, dass der Erzähler sich gar nicht an einen anderen wendet, sondern sich in einer Art innerem Monolog seine Gedanken und Gefühle während dieses Mittagessens selbst bewusst macht. Die verbale Restitution der erzählten Situation fällt folglich denkbar knapp und subjektiv aus, was auf der Ebene der Kommunikation zwischen Autor und Leser zu Verstößen gegen die Quantitätsmaxime und die Modalitätsmaxime führt, welche natürlich Genre-bedingt sind und der Vorbereitung der chute dienen (cf. Kapitel 3.3.1). Die Novelle beginnt nämlich folgendermaßen: Cette fille, je l’aime. J’ai envie de lui faire plaisir. J’ai envie de l’inviter à déjeuner. Une grande brasserie avec des miroirs et des nappes en tissu. M’asseoir près d’elle, regarder son profil, regarder les gens tout autour et tout laisser refroidir. Je l’aime (HM, 11; meine Hervorhebung – kursiv: Koreferenzkette von Valentine; fett: diejenige des Ich-Erzählers).

Die beiden Protagonisten werden in extrem reduzierter Art und Weise durch Deiktika eingeführt – je verweist auf den Ich-Erzähler, cette fille auf das Mädchen, das der Ich-Erzähler vor Augen hat – und weitere objektive Informationen zur Identität der beiden Figuren lassen sehr lange auf sich warten bzw. bleiben ganz aus. So erfährt der Leser weder Name noch Alter, Beruf oder Familienstand des Erzählers und der erste objektive Beleg für sein Geschlecht ist grammatischer Natur und findet sich erst am Ende des ersten Viertels der Novelle: Der accord des Adjektivs in dem Satz «La serveuse est fatiguée et moi, je suis ému.» (HM, 12) beweist, dass der Erzähler männlich ist. Das Substantiv fille, mit dem die weibliche Hauptperson eingeführt wird, ist semantisch vage in Bezug auf das Merkmal [Alter] und kann sowohl ein Kind als auch eine junge Frau (Alter x ≤ 25 Jahre?!) bezeichnen. Und diese semantische Vagheit in Bezug auf das Alter findet sich auch in den vier weiteren Nominalsyntagmen der Koreferenzkette der Protagonistin wieder, die ansonsten nur aus Pronomen der 3. Person Singular besteht: «cette jeune personne» (HM, 11) – «la plus jolie fille de la rue» (HM, 12) – «ma chérie» (HM, 16) – «cette fille» (HM, 16). Zwar erfährt der Leser in der Folge einiges über ihr Aussehen, ihre Eigenschaften und ihre Verhaltensweisen, aber auch diese Informationen erlauben allesamt keinen eindeutigen Rückschluss auf ihr Alter. Somit bleiben bis zum vorletzten Satz der Novelle das Alter der Protagonistin und damit eben auch ihre Beziehung zum

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Ich-Erzähler unbestimmt, was den überraschenden Ausgang erst möglich macht. Die konkreten Füllwerte dieser beiden Slots werden tatsächlich erst am Ende der Novelle nachgeliefert, enthüllen somit erst zu diesem extrem späten Zeitpunkt die wahre Identität der Begleiterin des Ich-Erzählers und bereiten dem Leser einen fulminanten Überraschungseffekt: «Cette fille, je l’aime. C’est la mienne. Elle s’appelle Valentine et n’a pas sept ans» (HM, 16).

Was die Kommunikation zwischen Autor und Leser betrifft, liegt aufgrund der extrem reduzierten und verzögerten suppletiven Kontextbildung und der bewusst eingesetzten semantischen Vagheit in den Nominalgruppen, die auf die Protagonistin referieren, eine deutliche – allerdings erst retrospektiv festzustellende – Verletzung der 1. Untermaxime der Quantität (Mache deinen Beitrag so informativ wie (für die gegebenen Gesprächszwecke) nötig) sowie der ersten beiden Untermaximen der Modalität (1. Vermeide Dunkelheit des Ausdrucks, 2. Vermeide Mehrdeutigkeit) vor. Dies bemerkt der Leser am Beginn der Novelle allerdings nicht, denn aufgrund der Lexeme und Lexemverbindungen aimer qn, faire plaisir à qn, inviter qn à déjeuner, regarder son profil evoziert er sofort den Frame romantische Liebesbeziehung, der vermeintlich den Wissenshintergrund liefert, um die nicht explizierte Identität der Protagonisten zu inferieren. Der Großteil der Leser wird hinter dem Ich-Erzähler und cette fille ein Liebespaar vermuten und die Verwendung des Lexems fille so deuten, dass die Partnerin eine junge Frau ist und eventuell ein größerer Altersunterschied zwischen den Liebenden besteht. Diese falsche Fährte wird von der Autorin durch die Verwendung der oben zitierten Lexeme bewusst gelegt und über die gesamte Länge der Erzählung gibt es immer wieder Formulierungen und Beschreibungen des Erzählers, die den vom Leser aktivierten Frame romantische Liebesbeziehung zu bestätigen scheinen, sowie Filler des Personen-Frames der weiblichen Hauptfigur, die sehr gut zu einer jungen Frau passen: «Mais bon. Cette jeune personne aime les nuggets et la sauce barbecue, qu’y puis-je ? Si on reste ensemble assez longtemps, je lui apprendrai autre chose. Je lui apprendrai la sauche gribiche et les crêpes Suzette par exemple» (HM, 11). «Je cherche mon paquet de tabac en tâtant toutes mes poches. - Tu l’as mis dans ta veste. - Merci. - Qu’est-ce que tu ferais sans moi, hein ? - Rien» (HM, 15).

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Die Formulierung rester ensemble avec qn lässt den Leser unweigerlich an eine partnerschaftliche Liebe denken, bei der man die Wahl hat, den Partner eben auch zu verlassen. Der Bedingungssatz Si on reste ensemble assez longtemps [. . .] [j]e lui apprendrai la sauce gribiche et les crêpes Suzette par exemple. scheint die Hoffnung des älteren Mannes auszudrücken, dass die Beziehung zu seiner jungen Geliebten lange genug hält, um sie in die gehobene Gastronomie einzuführen, und vermag die Vermutung des größeren Altersunterschieds zu bestätigen. Der kurze Dialog zwischen dem Erzähler und seiner Begleiterin wiederum zeugt von den typischen Neckereien zwischen Verliebten und unterstreicht die Aufmerksamkeit der Protagonistin, die besser als ihr Begleiter weiß, wo dieser seinen Tabak hingetan hat. Bis zur chute scheinen also zahlreiche Textinformationen den einmal aktivierten Frame romantische Liebesbeziehung zu stützen und erst in der chute selbst vollzieht sich der krasse Erwartungsbruch, wird der Leser überrascht und wohl auch befremdet dadurch, dass die von ihm als Liebesgeschichte gelesene Erzählung in Wahrheit eine Vater-Tochter-Beziehung beschreibt und die Tochter sogar noch ein kleines Kind ist. Somit macht die chute, die ja eigentlich die Identität der handelnden Personen eindeutig klärt und damit Vagheit und Ambiguität beseitigt, den Leser gerade darauf aufmerksam, dass der Figur der Valentine eine gewisse Ambivalenz zwischen Kind und Frau innewohnt und dass auch die Vater-TochterBeziehung ambige Züge trägt. Wenn der Leser also die durch die chute implizit ausgesprochene Einladung zu einer zweiten Lektüre annimmt, wird ihm auffallen, dass einige Textinformationen, die er als Bestätigung seiner Hypothese einer romantischen Liebesbeziehung gewertet hat (z.B. Si on reste ensemble assez longtemps, je lui apprendrai autre chose.), auch typische Aspekte einer VaterTochter-Beziehung beschreiben können (z.B. den Wunsch des Vaters, seinem Kind die Welt zu offenbaren), also mehrdeutig sind. Wenn er weiterhin mit dem Wissen der chute die Eigenschaften und Verhaltensweisen Valentines neu bewertet, wird er ebenfalls bemerken, dass einige doch eher an ein Kind erinnern (z.B. die Begeisterung für McDonald’s, ihre leichte Ablenkbarkeit), andere durchaus an eine Erwachsene (z.B. Aufmerksamkeit und Koketterie), sie aber letztlich keinem Pol eindeutig zuzuordnen sind. Die chute vermag somit trotz ihrer Klärung der Identität der Protagonistin und ihrer Beziehung zum Ich-Erzähler weder die Ambiguität aufzulösen, die dieser Vater-Tochter-Beziehung innewohnt, noch die Ambivalenz, die die Figur Valentines kennzeichnet. Die Gesamtheit der Strategien, mittels derer Anna Gavalda die chute in Happy Meal vorbereitet, gleichzeitig Ambiguität und Ambivalenz erzeugt und damit die Komplexität ihrer Novelle in vielen Bereichen erhöht, wird in Kapitel 3.3.1 ausführlich analysiert werden. Im Kontext dieses Kapitels galt es vornehmlich zu zeigen, dass eine extrem reduzierte suppletive Kontextbildung in Bezug

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auf die handelnden Personen, ein gezielter Einsatz von semantischer Vagheit in der Koreferenzkette einer Figur sowie ein extremes Ausreizen der Dauer des Offenlassens zentraler Slots (hier: ALTER, BEZIEHUNG ZUM ICH-ERZÄHLER) die von der suppletiven Kontextbildung erwartbare Orientierung im fiktionalen Universum komplett konterkarieren können. Diese Strategien tragen dazu bei, den Leser auf eine falsche Fährte zu führen, bereiten einen effet de chute vor und machen schließlich den Aufbau eines neuen Text-Frames und eine völlige Neubewertung des Gelesenen erforderlich. Des Weiteren vermag das durch die geschilderten Verfahren verursachte Fehlen erklärender bzw. eindeutiger Kontexte eben auch den Nährboden für die die gesamte Erzählung dominierende Ambiguität zu bereiten (cf. Bauer et al. 2010, 29) und damit die Komplexität in Bezug auf einige Kategorien (z.B. Leerstellen/Aussparungen, Andeutungen/ Evokationen, Frames & die Etablierung von Themen) deutlich zu erhöhen. Aus diesen Gründen ist die Art der suppletiven Kontextbildung in Happy Meal eben als hochkomplex zu bewerten und erhält den Komplexitätswert 5, der innerhalb unseres Korpus nur von hochambigen symbolischen bzw. surrealistischen Novellen übertroffen wird, um die es im letzten Paragraphen dieses Kapitels gehen soll. 3.2.2.3 Reduktion, Desorientierung und Ambiguität: suppletive Kontextbildung in einer surrealistischen Novelle Bezogen auf das hier zugrundegelegte Korpus findet sich das Höchstmaß an Komplexität im Hinblick auf die suppletive Kontextbildung in Henri Michaux’ Plume au restaurant (1930), einer Erzählung, die im Gegensatz zu den bislang untersuchten Texten zur Gruppe der nicht-illusionistisch erzählenden Novellen gehört.44 Die sofort auffallenden Charakteristika von Michaux’ Erzählung sind zweifelsohne die Subversion der dem Leser vertrauten sozialen Realität (cf. Bertho 1985, 55), ein hohes Maß an Ironie und eine extrem reduzierte und vom Bruch soziokultureller Frames bzw. Skripts unmittelbar betroffene Art der suppletiven Kontextbildung. Letztere erfüllt somit überhaupt nicht mehr die Funktion, den Leser im fiktionalen Universum zu orientieren, vielmehr trägt sie entscheidend dazu bei, ihn zu verwirren und zu befremden, und sie kreiert mit

44 Auch die beiden Novellen Christine (1924) und Léviathan (La Traversée inutile) (1926) von Julien Green zeichnen sich durch nicht-illusionistisches Erzählen aus und können zu den symbolischen Novellen gemäß Blühers (1985) Definition gezählt werden. Auch sie weisen eine sehr hohe Komplexität im Bereich der suppletiven Kontextbildung auf, doch treibt Michaux die in der Folge zu erläuternden und zum Teil auch von Green eingesetzten Verfahren auf die Spitze.

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der Figur des Plume einen hochgradig «ambivalent fictional character» (Howe 1983, 903). Henri Michaux (1899–1984), dieser ungewöhnliche, vielseitige (Poesie, Prosa, Malerei, Zeichnung . . . ) und schwer zugängliche Künstler – «[. . .] une œuvre dont les commentateurs se sont, jusqu’à présent, accordés à souligner l’approche difficile» (Bertho 1985, 1).

– kann sicherlich keiner literarischen Bewegung des 20. Jahrhunderts eindeutig zugeordnet werden: «[. . .] ce poète à qui ‹son siècle portait ombrage› s’est toujours voulu ‹ailleurs›, hors cadre et en marge des mouvements qui défrayèrent la chronique littéraire [. . .]» (Fondo-Valette 1987, 1600).

Dennoch ist in vielen seiner Werke – u.a. auch in Un certain Plume – eine gewisse Nähe zu surrealistischen Erzählverfahren unverkennbar, auch wenn seine Interpretin Sophie Bertho (1985) den Begriff der Subversion zur Charakterisierung seines Werkes für geeigneter hält als den des Surrealismus: «C’est dans ce ‹léger vacillement de la vérité› (Michaux 1967, 194) que constitue chez Michaux telle modélisation de la réalité sur la base du grotesque et de l’étrange, que se situe encore la spécificité esthétique d’une fiction qui, tout en refusant le ‹délire› surréel, tout en restant, au niveau du discours, fidèle à l’enchaînement du familier réel, [. . .] est dans le même temps animé d’un mouvement constant de subversion à l’égard de ce même réel. Subversion dont le lecteur sait l’effet, au malaise, au vertige, ou même encore au rire qui s’emparent de lui, confronté qu’il est à des textes qui, tout en procédant à des descriptions qui se présentent comme rigoureusement objectives, [. . .] tout en partant de perceptions, de détails qui réfèrent à sa réalité socio-culturelle, mettent en scène, dans le même temps, des créatures, des peuples, des lieux, des événements situés au-delà de la réalité qui lui est familière» (Bertho 1985, 54s.).

Wenn in dieser Arbeit Michaux’ Erzählung Plume au restaurant dennoch als surrealistische Novelle bezeichnet wird, dann stützt sich diese Einschätzung auf die von Blüher (1985) formulierte Definition des in der Moderne aufgekommenen Modells der surrealistischen Novelle, das er auch in einigen Prosatexten von Michaux (cf. ib., 252) umgesetzt sieht. Blüher will mit dieser Bezeichnung keineswegs ausdrücken, dass in diesem Typ von Novelle die Ideen und Verfahren der Gruppe der Surrealisten um André Breton reproduzierend verwirklicht werden. Deren phasenweise totalen Verzicht auf kohäsives Erzählen oder konventionelle Syntax und ihre Idee, spontane Assoziationen, Visionen und (durch Drogengenuss) erweiterte Bewusstseinszustände als «Ausgangspunkte künstlerischer Produktivität» zu verwenden (cf. Hübner 2007, 743),

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hat Sopie Bertho (1985, 54) wohl im Sinn, wenn sie vom «délire surréel» spricht, das sie in Un certain Plume nicht wiederfindet. Blüher (1985, 245) stellt vielmehr eine Beeinflussung des Modells der surrealistischen Novelle durch zentrale Säulen der surrealistischen Literaturtheorie fest: «[. . .] das Modell der surrealistischen Novelle [. . .] [ist] in wesentlichen Komponenten seiner Erzählstrategie aus den Voraussetzungen der surrealistischen Literaturtheorie entstanden [. . .] und [übernimmt] insbesondere deren Rückgriff auf das Freudsche Konzept des Unbewußten sowie deren Verzicht auf mimetische Wirklichkeitsdarstellung und deren traumhaft-alogische Textkonstitution [. . .]».

Außerdem konstatiert er in diesen Novellen dieselbe Subversion der soziokulturellen Realität des Lesers bzw. der «Naturgesetze und der psychologischen Wahrscheinlichkeit» (ib., 246) und dieselbe «Mischung von realen und irrealen Ereignissen» (ib., 247), die auch Bertho (1985) als charakteristische Merkmale von Michaux’ Werk identifiziert hat: «[. . .] von Anfang an [entfällt] die Basis des realistisch-mimetischen Erzählens [. . .] und [bietet] sich die Geschichte in einer autonomen Textwirklichkeit dar [. . .], in der das Unwahrscheinliche mit dem Wahrscheinlichen völlig gleichgestellt erscheint und wo das Nicht-Normale sogar als etwas ganz Natürliches und Normales behandelt wird. [. . .] Das Unwahrscheinliche und Befremdliche [. . .] verschmilzt mit der dargestellten Wirklichkeit zu einer neuen, nicht-mimetisch erzählten surrealen Textrealität, die sich sowohl den Gesetzen der physikalischen Welt wie den Prinzipien der psychologischen Plausibilität entzieht» (Blüher 1985, 246).

Somit stützen und ergänzen Blüher (1985) und Bertho (1985) sich in wesentlichen Punkten ihrer diskurstraditionellen Charakterisierung des erzählerischen Werks von Henri Michaux, und folglich kann Plume au restaurant zweifelsohne als surrealistische Novelle im Sinne Blühers betrachtet werden. Dieser erklärt weiterhin, dass die surrealistische Novelle sich durch die Überlagerung zweier Bedeutungsebenen auszeichne – was Bertho (1985) ebenfalls für Michaux’ Werk festgestellt hat – und liefert damit eine wichtige «Interpretationshilfe» für diese literarische Gattung: «[. . .] für die surrealistische Novelle [gilt] ebenso wie für die symbolische Novelle, daß der Text zwei sich überlagernde Bedeutungsebenen aufweist, in diesem Fall eine vordergründige Bedeutungsstruktur, die eine befremdlich alogische, die Naturgesetze außer Kraft setzende Mischung von realen und irrealen Ereignissen enthält, und eine verborgene Tiefenstruktur, die der vordergründigen Alogik der erzählten Geschehnisse eine Art inhärente Traumlogik des Unbewußten unterlegt» (Blüher 1985, 247).

Diese zentrale Eigenschaft surrealistischer Novellen präzisiert Bertho (1985, 8; 65) in Bezug auf Michaux’ Werk Un certain Plume, wenn sie hinter der vordergründigen Subversion der sozialen Realität des Lesers eine Reflexion über die

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condition humaine und die Natur des sozialen Miteinanders ausmacht. Blüher (1985, 245) führt noch näher aus, was genau unter der «traumhaft-alogischen Textkonstitution» surrealistischer Novellen zu verstehen ist und wie diese deren Handlung determiniert: «Vergleichbar den alogischen Geschehnisabläufen eines Traums besitzt die Handlung surrealistischer Novellen eine eigene innere Dynamik, die zumeist in dramatischer Steigerung auf eine Katastrophe zusteuert, ohne daß die einzelnen Handlungsschritte, die unabwendbar zum Verhängnis führen, auf logisch-rationale Weise erklärbar sind» (ib., 247).

Eben diese «dramatische Steigerung» zeichnet auch die Handlung der Erzählung Plume au restaurant aus. Schließlich wird der Kafka-Kenner gewisse Parallelen bezüglich der Situation von Plume und derjenigen von Josef K. in Der Prozeß (1925) entdecken, die aber kaum überraschend sind, denn Blüher (1985, 248) weist abschließend darauf hin, dass nicht zuletzt die mit der «Übersetzung der Erzählung Die Verwandlung (1928) einsetzende Rezeption der neuen nichtmimetischen Erzählverfahren Kafkas» eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der surrealistischen Novelle gespielt habe. Nachdem nun also die diskurstraditionelle Charakterisierung der Erzählung Plume au restaurant hinsichtlich ihrer Gattung erfolgt ist und bevor ihr Inhalt wiedergegeben wird, muss noch kurz auf die Veröffentlichung der Erzählung und den Grad ihrer Autonomie eingegangen werden. Plume au restaurant ist zusammen mit vier weiteren Texten (La Philosophie de Plume, Plume voyage, Dans les appartements de la Reine, La Vision de Plume) unter dem Titel Un certain Plume erstmals im Herbst 1930 in der Zeitschrift Commerce (n°25) veröffentlicht worden. Aus diesem um sechs Texte erweiterten Ensemble entstand dann der erste Teil der ebenfalls im Jahr 1930 erschienenen Textsammlung Un certain Plume. Nach Streichung dreier Texte und Erweiterung um vier Erzählungen bildete dieses revidierte Ensemble dann die Sektion Un certain Plume in der 1938 erschienenen Textsammlung Plume précédé de Lointain intérieur (cf. Bellour 1998, 1283). Diese Modifikationen deuten bereits an, dass in Un certain Plume keineswegs eine chronologische, aufeinander aufbauende Handlung erzählt wird, sondern die Texte über einen hohen Grad an Autonomie verfügen, was auch Bertho (1985, 58) in aller Deutlichkeit feststellt: «En effet, chaque chapitre qui articule ‹Un certain Plume› constitue un récit titré qui se donne à lire comme autonome en soi. La continuité narrative entre le premier et le dernier chapitre s’instaure essentiellement de par la continuité narrative du protagoniste Plume [. . .]».

Narrative Kontinuität verdankt die Textsammlung also allein ihrem Protagonisten Plume, der aber keineswegs eine Entwicklung erfährt oder Objekt einer

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Beschreibung wird, die für das Verständnis der übrigen Erzählungen von Bedeutung wäre. So ist es zu erklären, dass die Erzählung Plume au restaurant isoliert in dem Sammelband Douze chefs-d’œuvre du récit45 für den Französischunterricht erscheint und deshalb kann sich die Analyse der suppletiven Kontextbildung auch mit vollem Recht auf diese an zweiter Stelle im Recueil Un certain Plume aufgeführte Novelle beschränken. Die Erzählung Plume au restaurant beginnt damit, dass der Protagonist in einem Restaurant zu Mittag isst, als der Oberkellner zu ihm herantritt und ihn mit tiefer und mysteriöser Stimme darauf hinweist, dass das, was er auf dem Teller hat, nicht auf der Karte steht: «Ce que vous avez là dans votre assiette ne figure pas sur la carte.» (P, 623). Auf diese Anmerkung reagiert Plume mit einer sofortigen Entschuldigung: «Plume s’excusa aussitôt.» (P, 623). Er erklärt, dass er in Eile war und ohne die Karte zu konsultieren auf gut Glück ein Kotelett bestellt habe. Plume bietet an, sofort zu zahlen, doch der Oberkellner reagiert nicht. In der Folge erscheinen der Restaurantchef, ein Polizeibeamter und ein Kommissar an Plumes Tisch, ohne jedoch einen Vorwurf zu formulieren bzw. überhaupt etwas zu sagen. Jedes Mal beginnt Plume unverzüglich mit einer Entschuldigung, doch stellt er die Auswahlsituation immer etwas anders dar und widerspricht sich auch. Dem Restaurantchef erklärt Plume, dass er die Karte nicht habe lesen können, da er seinen Kneifer vergessen habe. Wieder bietet Plume an, sein Essen zu bezahlen, doch auch der Restaurantchef zeigt keine Reaktion. Dem Polizeibeamten, der daraufhin an seinen Tisch tritt, erklärt Plume, dass er rasch ein Kotelett bestellt habe, um den ungehaltenen Kellner loszuwerden. Er bittet den Polizisten, die Angelegenheit zu regeln und reicht ihm einen Hundert-Francs-Schein, den dieser allerdings nicht nimmt. Als Plume sich entfernende Schritte hört, glaubt er schon, frei zu sein, doch im nächsten Moment steht der Kommissar vor ihm. Diesem erklärt Plume, dass er in das Restaurant gegangen sei, um einen Freund auf dessen Rückweg vom Büro abzupassen, und sich gezwungen sah, etwas zu bestellen. Am Ende der Erzählung erfährt die Plume entgegengebrachte Anklage die dramatische, auf eine Katastrophe zusteuernde Steigerung, die Blüher (1985, 247) als typisch für die surrealistische Novelle beschrieben hat. Plume sieht sich mit immer spezialisierteren Bereichen («ceux de la Secrète», P, 624), immer ranghöheren («au téléphone le chef de la sûreté», P, 624) oder brutaleren Vertretern der Strafverfolgungsbehörden konfrontiert. Jetzt kehren sich auch die Redeanteile um: Plume schweigt nur noch und die Gesetzeshüter richten explizite Anklagen, Aufforderungen zum Geständnis und sogar Androhungen körperlicher Gewalt

45 Bogdahn, Carola/Jorgens, Peter-M. (edd.), Douze chefs-d’œuvre du récit, Stuttgart, Klett, 2010.

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an ihn. Mit der folgenden Drohung, vorgebracht durch einen grand rustre d’agent, endet die Erzählung recht abrupt: «Écoutez, je n’y peux rien. C’est l’ordre. Si vous ne parlez pas dans l’appareil, je cogne. C’est entendu ? Avouez ! Vous êtes prévenu. Si je ne vous entends pas, je cogne» (P, 625).

Die Erzählung Plume au restaurant mit ihrem Umfang von 828 Wörtern ist weiterhin durch die Diskurstraditionen geprägt, die unter Bezug auf Blüher (1985) und Del Lungo (2003) als charakteristisch sowohl für die mimetisch als auch für die nicht-mimetisch erzählenden Novellen des 20. Jahrhunderts gelten können: die relative Kürze, die Konzentration auf eine einzige, außergewöhnliche Begebenheit, die personale Erzählsituation bzw. interne Fokalisierung und den Beginn in medias res. Die personale Erzählsituation sowie das incipit dynamique erfahren jedoch in Michaux’ Erzählung gewisse Modifikationen. Plume dient zwar als Reflektorfigur, durch deren Bewusstsein die erzählte Welt geschildert wird, doch beschränken sich die Informationen zu Plumes Gedanken und Gefühlen auf ein Minimum, so dass die Novelle in die Nähe der neutralen Erzählsituation rückt, bei der «die Blickpunkt-Figur nur noch als Medium der Wahrnehmung und Beschreibung von Außenwelt fungiert» (Vogt 2006, 56). Der Erzähler zeichnet sich insgesamt durch eine auffällige Zurückhaltung und Sachlichkeit aus, was angesichts der Absurdität und Unverhältnismäßigkeit der Geschehnisse, von denen er berichtet, irritierend wirkt. Er tut so, als seien diese seltsamen Ereignisse normal, verzichtet auf jeglichen Kommentar (cf. Howe 1983, 899; 902) und trägt so gemäß Elisabeth Howe (1983) zu einem entscheidenden Teil zur Widersinnigkeit und Ironie der Novelle bei: «However, although the presence of the narrator is constantly felt in the texts of Plume, he very rarely proffers direct comments in his own voice and never addresses the reader. This unobtrusive narrator achieves an ironic effect not by his remarks, but by his very failure to comment» (Howe 1983, 899). «The most powerfully ironic and all-pervading incongruity of Plume lies in the discrepancy between the tone in which it is written and the strangeness of the events related» (ib., 902).

Was die Verwendung des Beginns in medias res betrifft, so unterscheidet sich Plume au restaurant von den bislang untersuchten Novellen, die denselben Typ von Incipit aufweisen (Chien de nuit, Toute une année au soleil, Happy Meal) darin, dass die dort zu verzeichnende, mitunter zwar äußerst spät erfolgende Nachlieferung von einigen wichtigen Informationen zu Personen, Zeit und Ort der Handlung hier komplett ausbleibt. Die suppletive Kontextbildung in Michaux’ Erzählung ist im Wesentlichen mit dem ersten Satz abgeschlossen:

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«Plume déjeunait au restaurant, quand le maître d’hôtel s’approcha, le regarda sévèrement et lui dit d’une voix basse et mystérieuse : ‹Ce que vous avez là dans votre assiette ne figure pas sur la carte›» (P, 623).

Der Ort der Handlung ist also ein Restaurant, dessen geographische Lage auch im Fortgang der Erzählung nicht näher bestimmt wird. Auch eine zeitliche Situierung in der realen Geschichte des Lesers (ob expliziter oder impliziter Natur) bleibt völlig aus. Einige Zeitadverbien, Deiktika und temporale Konjunktionen wie maintenant, après quelque temps, tout à coup, quand und toute la matinée unterstützen aber den Nachvollzug des Ablaufs der Ereignisse, die im Wesentlichen strikt chronologisch erzählt werden. Die Erwähnung eines Restaurants als Handlungsort öffnet beim Rezipienten sofort den zugehörigen Frame und sichert zunächst das Verständnis des definiten Artikels in den Nominalsyntagmen le maître d’hôtel, la carte und später le garçon, le chef de l’établissement, la salle und les consommateurs: es handelt sich um Rollen und Objekte, die zum Restaurant-Frame gehören und somit interpretierbar sind als der Oberkellner, die Karte, die Gäste etc. des Restaurants, in dem Plume zu Mittag isst. Auf der Grundlage dieses auf den ersten Blick Kohärenz-stiftenden und Wirklichkeit-evozierenden Restaurant-Frames vollzieht sich aber die erste wesentliche Subversion der außertextuellen Realität des Rezipienten. Wie Sophie Bertho (1985, 55) für den Recueil Un certain Plume insgesamt festgestellt hat, finden sich in den Texten zweifelsohne objektive Beschreibungen und Details, die auf die soziokulturelle Realität des Lesers verweisen. In Plume au restaurant sind das die zahlreichen Filler für die Slots ROLLEN, OBJEKTE und TYPISCHE HANDLUNGEN des Restaurant-Frames bzw. - Skripts: – ROLLEN: le maître d’hôtel, le garçon, le chef de l’établissement, les consommateurs – OBJEKTE: la carte, l’assiette, une côtelette, une viande, un œuf, un bock, une table, une salle – HANDLUNGEN: consulter la carte, demander qc, choisir qc, déjeuner, manger, consommer, payer, régler Eine empfindliche Subversion erfährt dieser vertraute Frame aber durch das Verhalten des Oberkellners und des Restaurantchefs: so widerspricht es zweifelsohne dem Rollenverhalten eines Oberkellners, einen Gast mit der mysteriös vorgebrachten Anmerkung zu behelligen, dass das, was er isst, nicht auf der Karte steht. Stattdessen würde es zum Frame-Wissen des Lesers passen, wenn ein Gast sich darüber beschweren würde, dass ein Gericht, nach dem es ihn gelüstet, nicht auf der Karte eines Restaurants zu finden ist. Ein weiterer Bruch des Restaurant-Schemas und damit der soziokulturellen Realität des Lesers resultiert aus dem Verhalten des Restaurant-Chefs, der wortlos an den Tisch

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eines Gastes herantritt, sich kommentarlos dessen Entschuldigung anhört und auf seinen Wunsch zu zahlen nicht reagiert: «Après quelque temps relevant les yeux . . . hum ! C’est maintenant le chef de l’établissement qui se trouve devant lui. Plume s’excusa aussitôt. - J’ignorais, dit-il, que les côtelettes ne figuraient pas sur la carte. Je ne l’ai pas regardée, parce que j’ai la vue fort basse et que je n’avais pas mon pince-nez sur moi [. . .]. [. . .] enfin . . . je vais vous payer à vous-même puisque vous êtes là. Cependant, le chef de l’établissement ne bouge pas. Plume se sent de plus en plus gêné» (P, 623s.).

Eine ähnliche Subversion vertrauter soziokultureller und narrativer Schemata vollzieht sich auch in Bezug auf die verbale Restitution des Protagonisten von Michaux’ Novelle. Dieser wird, wie es für intern fokalisierte Erzählungen durchaus typisch ist, durch die unvermittelte Nennung seines Nachnamens Plume eingeführt. Weiterhin liefert das Objektpronomen le im ersten Satz («[. . .] le maître d’hôtel [. . .] le regarda sévèrement [. . .].», P, 623) die eindeutige Information, dass der Protagonist männlich ist. Mit diesen beiden Fillern der Slots NACHNAME und GESCHLECHT ist dann der Aufbau des Protagonisten aber im Wesentlichen abgeschlossen. Der Leser erfährt nichts über Plumes Alter oder Aussehen, über seinen Beruf, sein soziales Milieu, sein familiäres Umfeld, über prägende Charaktereigenschaften oder seine Nationalität. Im Vergleich zu Naïs Micoulin fiel bereits die suppletive Kontextbildung in Bezug auf die Figuren in Toute une année au soleil oder Happy Meal sehr knapp aus, in Plume au restaurant aber existiert der Protagonist tatsächlich nur durch seinen Namen und sein Verhalten, das im Wesentlichen Reaktion auf das Verhalten der anderen ist. Dieses absolute Minimum an Informationen widerspricht bereits den Erwartungen der meisten Leser an eine titelgebende narrative Figur bzw. konterkariert ihr traditionelles Schema Protagonist narrativer Texte (cf. Bertho 1985, 153). Eine solche Auflösung des Helden ist in der Erzählliteratur der Moderne zwar keine Seltenheit und damit für literarisch gebildete Leser ein erwartbares Moment, das aber dennoch eine bewusste Verletzung konventioneller Leseweisen darstellt und gezielt desorientieren will (cf. Bode 1988, 7). Das Verhalten Plumes steht weiterhin in keiner Weise in Einklang mit dem gesunden Menschenverstand und ist mit den gängigen Kenntnissen der Alltagspsychologie nicht zu erklären. Nach Ansicht von Bertho (1985, 84) würde das normale oder erwartbare Verhalten auf den bizarren Vorwurf des Oberkellners darin bestehen, weitere Informationen einzuholen, also sich zu erkundigen, warum es ein Problem sein soll, etwas zu essen, was nicht auf der Karte steht. Aber auch Verwunderung, Empörung oder Ärger über das Verhalten des Oberkellners wären alltagspsychologisch plausibel, nicht aber Plumes sofortige Entschuldigung und Verteidigung:

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

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«D’autant plus inattendue, et tout aussi inexplicable est alors la réaction de Plume au discours du maître d’hôtel. Plume, en effet, loin de s’aligner sur le comportement dicté par le bon sens que le lecteur attend logiquement du protagoniste (réclamer de plus amples informations), répond au contraire comme s’il se savait coupable [. . .]. Il s’excuse aussitôt et se lance dans des explications qui ont pour but, semble-t-il, de démontrer son innocence [. . .]».

Dieses dem gesunden Menschenverstand widersprechende Verhalten Plumes wird vom Erzähler durch den viermal auftretenden Refrain «Plume s’excusa aussitôt.», der die Rechtfertigungen des Protagonisten jeweils einleitet, noch zusätzlich betont. Auch seine einzige explizite Aussage zu Plumes Gefühlen wird wiederholt («Plume se trouve atrocement gêné.», «Plume se sent de plus en plus gêné.», P, 623) und unterstreicht ebenfalls ein eher unpassendes Gefühl der Verlegenheit. Elisabeth Howe (1983, 901) rechnet diese Wiederholungen zu den Ironie-Auslösern der Erzählung: «Another device that can produce an ironic effect is repetition. [. . .] These ‹refrains› contribute to the irony by emphasizing actions that are not suited to the circumstances».

Der Inhalt der Entschuldigungen selbst verstärkt die Inkongruenz der Erzählung zusätzlich, denn Plume stellt die Gründe für die Bestellung des Koteletts und die mangelnde Berücksichtigung der Karte jedesmal etwas anders dar (Eile, vergessener Kneifer, ungehaltener Kellner . . . ) und zum Teil widersprechen sich seine Begründungen auch (z.B. Eile versus längeres Warten auf einen eventuell vorbeikommenden Freund) oder sind unlogisch (bei Kurzsichtigkeit – «j’ai la vue fort basse» (P, 623) – kann man eine Karte schließlich auch ohne Sehhilfe lesen). Wenn es in einer mimetisch erzählenden Novelle wie Toute une année au soleil also möglich war, zentrale Filler des Slots GEMÜTSZUSTAND von Josette auf der Grundlage von impliziten Textinformationen und durch Aktivierung von alltagspsychologischen Kenntnissen in eindeutiger Form zu inferieren, so bleibt diese Art des Füllens von Leerstellen dem Leser von Plume au restaurant verwehrt. In dieser nicht-illusionistisch erzählenden, subversiven Novelle sieht der Leser sich mit einem Protagonisten konfrontiert, der in erster Linie durch einen Mangel an Informationen gekennzeichnet ist, dem der Erzähler mit ironischer Distanz gegenübersteht und dessen Verhalten widersprüchlich und dem gesunden Menschenverstand diametral entgegengesetzt erscheint. Soziokulturelles oder psychologisches Weltwissen helfen also bei der Inferenz fehlender Filler des Personen-Frames und der Deutung dieser Figur kaum weiter. Natürlich versucht der (literarisch erfahrene) Leser ganz im Einklang mit dem Kooperationsprinzip zu einer Kohärenz-stiftenden Interpretation der Figur des Plume zu gelangen und einige Assoziationen scheinen auch durchaus naheliegend. So könnte der extrem reduzierte, auf Filler für NAME und GESCHLECHT beschränkte

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Personen-Frame, darauf hinweisen, dass es kaum mehr über diese Figur zu sagen gibt, dass es sich bei Plume um eine oberflächliche Person ohne Tiefgang und Reflexionsfähigkeit handelt, die verzweifelt versucht, sich an ihr Umfeld anzupassen und nicht aufzufallen. In einer auf die politische Situation der Entstehungszeit gemünzten Interpretation meint Dubbe (1977, 159) in der Figur des Plume eine «Satire auf gutgläubige Bürger» auszumachen, «die sich gegenüber dem heraufziehenden Faschismus noch an die Spielregeln der Vernunft hielten, die dieser schon lange gebrochen hatte; denen es den Umständen gemäß an Zivilcourage und Initiative zum Widerstand fehlte». Diese Deutung weist Bertho (1985, 81) in ihrer Dissertation jedoch in überzeugender Manier als Fehlinterpretation zurück. Andererseits könnte das Fehlen von physischen und psychologischen Attributen auch darauf hindeuten, dass Plume eine Art Platzhalter für den Menschen an sich bzw. die condition humaine sein soll und der Mensch somit durch einen Mangel an Tiefe gekennzeichnet ist. Siegfried Schmidt (1973, 155) verweist angesichts der sofortigen Entschuldigungen Plumes auf das Sprichwort «Qui s’excuse s’accuse». Wenn man dieses als Beleg einer auf Erfahrung basierenden soziokulturellen oder psychologischen Realität betrachtet, könnte man in Plume also auch einen Schuldigen sehen. Gerade weil die Erzählung Plume au restaurant konventionelle Schemata mitsamt ihren inhärenten Grund-FolgeBeziehungen oder Ursache-Wirkungs-Beziehungen systematisch bricht, kann aber zunächst keine dieser Assoziationen den Rang einer zwingenden oder gesicherten Deutung beanspruchen (cf. ib., 159). Auch diskurstraditionelles Wissen zur surrealistischen Novelle bringt hier keine weitere Klarheit, denn es gibt ja gerade kein «Rezept», wie man von der alogischen, die Naturgesetze außer Kraft setzenden Mischung von realen und irrealen Ereignissen auf der ersten Bedeutungsebene zur verborgenen Tiefenstruktur (cf. Blüher 1985, 247) gelangt. Der so absichtsvoll verunsicherte Leser kann jetzt zur Stützung seiner Interpretation der Figur des Plume noch die Bedeutung des hier als Familienname dienenden Substantivs plume heranziehen. Dieses Polysem steigert aber eher noch die bereits durch Frame-Brüche, Ironie und Inkongruenz hervorgerufene Ambivalenz des Protagonisten. Die Bedeutung ‘Feder’ vermag natürlich die Interpretation zu stützen, wonach es sich bei Plume um eine oberflächliche Person ohne Tiefgang handelt, die sich dem Willen der Anderen unterwirft, so wie eine Feder dem Wind ausgeliefert ist. Eine Feder hat aber weitere Eigenschaften, wie z.B. Elastizität (cf. Bertho 1985, 156), die wiederum andere Charaktereigenschaften des Protagonisten motivieren könnten. Außerdem besitzt das Lexem plume die Bedeutung ‘Schreibfeder’, weshalb sich eine metonymische Lesart aufdrängt und es naheliegt, die Figur des Plume als double ihres Schöpfers zu interpretieren. Gemäß des Petit Robert (2013, 1937) bezeichnet plume im übertragenen Sinne oder literarischen Sprachgebrauch aber auch eine «manière d’écrire», also einen bestimmten

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Schreibstil, und dies suggeriert, dass es sich bei Plume womöglich nicht nur oder nur in zweiter Linie um eine Figur handelt, sondern vielmehr um eine «stratégie textuelle» (Bertho 1985, 156), mit der der Autor ein bestimmtes Ziel verfolgt. Hier zeigt sich also, dass die bereits erläuterten, im Bereich der suppletiven Kontextbildung eingesetzten Verfahren – minimale Anzahl expliziter Füllwerte des Personen-Frames, Subversion soziokultureller Frames, ironische Distanzierung des Erzählers vom Protagonisten und schließlich die Wahl seines Namens – systematisch unauflösbare Mehrdeutigkeit kreieren, Plume definitiv zu einem «ambivalent fictional character» (Howe 1983, 903) machen und beim Rezipienten Gefühle von Unsicherheit, Schwindel oder gar Unbehagen (cf. Bertho 1985, 55) heraufbeschwören. Die komplexitätssteigernden Faktoren ABWEICHUNGEN von prototypischen Wissensrahmen und ein hohes Maß an kontextabhängiger/nicht-konventioneller IMPLIZITHEIT prägen die suppletive Kontextbildung in Plume au restaurant also in besonderem Maße und treiben den entsprechenden Komplexitätswert in die Höhe. Nun stellt sich aber die Frage, ob die aus den genannten Faktoren resultierende Ambivalenz in Bezug auf den Protagonisten durch Expertenwissen zum Autor Henri Michaux und seinem Werk reduziert werden kann bzw. ob mit diesem Wissen weniger adäquate Assoziationen und Bedeutungsanalysen identifiziert werden können. Bauer et al. (2010, 34) zeigen gewisse Grenzen der Möglichkeiten auf, offene oder unspezifizierte Kontexte in literarischen Texten zu rekonstruieren und somit Ambiguität zu reduzieren: «Ich kann Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und andere Schriften des Autors konsultieren, um etwas über seine mögliche Intention zu erfahren und damit die Bedeutung eines Werks oder eines mehrdeutigen Elements in einem literarischen Text näher zu bestimmen; genauso wie ich die Zeitumstände oder kulturellen Voraussetzungen, die Gattungskonventionen und Diskurstraditionen, die intertextuellen Bezüge und ideologischen Abhängigkeiten rekonstruieren kann, welche die Bedeutung beeinflussen. All dies geschieht in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen, muss sich aber mit einem grundlegenden methodischen Problem auseinandersetzen: Dass fiktionale literarische Werke den Regeln ‹normaler› Kommunikation folgen und es zugleich nicht tun, dass sie ‹wahr› sind und zugleich nicht, und dass deshalb nie mit Sicherheit gesagt werden kann, ob ein Kontext, den ich zur Erklärung einer Ambiguität [. . .] heranziehe, legitim und relevant ist, oder nicht (vgl. Su 1994, S. 75)».

Diese von Bauer et al. (2010) mit Verweis auf die Sonderrolle literarischer Texte angeführten Einschränkungen bei der Rekonstruktion von Kontext und der Reduktion von Ambiguität sind mit Sicherheit bedenkenswert und im Rahmen dieses Kapitels wurde ja bereits darauf hingewiesen, dass beispielsweise diskurstraditionelles Wissen zur surrealistischen Novelle nicht ausreicht, um eine eindeutige Interpretation des Plume zu erzielen und dass eine Berücksichtigung der Zeitumstände allein, wie im Fall von Dubbe (1977), schnell zu einer Fehlinterpretation

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führen kann. Auch die angedeuteten intertextuellen Bezüge zwischen Plume au restaurant und Kafkas Der Prozeß betreffen, wie Bertho (1985, 81) aufzeigt, nur eine «simple ressemblance de situation» und sind somit unzureichend für eine adäquate Interpretation der Novelle. Dennoch geht diese Arbeit (cf. Kapitel 2.2.4) von der Prämisse aus, dass Leerstellen in literarischen Texten bis zu einem gewissen Grad durch die Aktivierung von Wissen – mitunter eben auch von hochspezialisiertem Expertenwissen – geschlossen werden können und dass Bedeutungsanalysen nach dem Grad ihrer Adäquatheit differenziert werden können, wobei Expertenurteile maßgeblich sind (cf. Gardt 2013, 38). Sophie Bertho (1985), die den Recueil Un certain Plume im Rahmen ihrer Dissertation untersucht hat, ist eine solche Expertin für das Werk von Michaux und sie beschreitet darin – auf sehr überzeugende Weise – das Verfahren, dessen Grenzen Bauer et al. (2010) soeben thematisiert haben. Unter Hinzuziehung des Gesamtwerkes von Michaux versucht sie, die offenen und unspezifizierten Kontexte in Un certain Plume zu rekonstruieren bzw. zu deuten und absurde Verhaltensweisen des Protagonisten zu erhellen: «[. . .] la lecture d’ensemble de l’œuvre d’Henri Michaux effectuée dans la première partie, fonctionne alors [. . .] comme une mémoire, un savoir, permettant ainsi de réduire ce que le texte peut présenter de fragmentaire et d’inconnu, de l’éclairer à partir de son intertexte [. . .]» (Bertho 1985, 5).

Ihre so gewonnene Deutung der Figur des Plume soll hier so knapp wie möglich wiedergegeben werden. Zunächst identifiziert Bertho (1985, 7) das Leiden am Sein (la souffrance à être) als das bestimmende Gefühl und die globale Thematik im Werk Michaux’. Dieses metaphysische Leiden wiederum sei das unweigerliche Resultat der condition humaine, die Michaux in seinem Werk permanent reflektiere und folgendermaßen darstelle: «[. . .] la problématique de la condition humaine [. . .] s’organise autour des points suivants qui constituent les thèmes majeurs de l’œuvre : d’une part, dans ce qui est désigné comme ‹l’espace du dedans›46 la confrontation tragique de l’être avec lui-même, à travers la conscience d’un manque, d’une insuffisance irrémédiable [. . .]. D’autre part, la confrontation toute aussi douloureuse de l’être avec l’espace du dehors, peuplé de Puissances hostiles et menaçantes, théâtre d’actes réitérés d’agression [. . .]» (ib., 8s.).

Gemäß Michaux leidet der einzelne also gleichzeitig an seiner Unzulänglichkeit und der Aggressivität und Feindlichkeit der Außenwelt, die durch das Gesetz

46 Sophie Bertho (1985) verwendet hier den Titel einer Textsammlung von Michaux: Michaux, Henri, L’Espace du dedans, nouvelle édition revue et augmentée, Paris, Gallimard, 1966.

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von Herrschaft und Unterordnung («la loi de domination – subordination», ib., 2) regiert werde. Diese rudimentäre Skizze der Konstanten von Michaux’ Werk vermag bereits, etwas Licht ins Dunkel des Protagonisten zu bringen. Diese Figur, die allein durch ihren Namen und ihre Reaktion auf das Verhalten der anderen existiert, keine Biographie, keinen Beruf, keine physischen oder psychischen Attribute erhält, spiegelt also offensichtlich den Mangel wider, den Michaux als «Basis» des Menschen betrachtet (cf. ib., 62s.). Gemäß Bertho (1985, 16) zeigt Michaux in seiner Inszenierung der Leere des Menschen auch permanent die daraus resultierende Verwundbarkeit des einzelnen und die von Angst dominierte Konfrontation mit dem anderen auf. In dieser Perspektive wiederum lässt sich auch das zunächst als inkongruent und dem gesunden Menschenverstand widersprechende Verhalten Plumes erklären: durch seine sofortigen Entschuldigungen, seine Versuche, sich einem ihm offensichtlich nicht bekannten Gesetz oder Gebot zu unterwerfen, strebt er eine Überwindung seiner Unzulänglichkeit durch Integration ins soziale Gefüge an (cf. ib., 63). Dieser Versuch der Anpassung misslingt aber in Plume au restaurant (und ebenso in den anderen Novellen der Sammlung): Plumes Entschuldigungen und Angebote, sein Essen doch einfach zu bezahlen, finden kein Gehör, die Anschuldigungen werden immer massiver und brutaler und Plume kann letztlich nur noch resigniert schweigen. An dieser Stelle zeigt sich nochmals die Inadäquatheit der Deutungen von Dubbe (1977) und Regler (1965): durch die Figur des Plume wird eben nicht «hyperbolisch der Konformismus gegeißelt» (Regler 1965, 158) oder der Mangel an Zivilcourage und Initiative zum Widerstand «gutgläubiger Bürger» in der Epoche des aufkommenden Faschismus angeprangert (cf. Dubbe 1977, 159), sondern es wird die Aussichtslosigkeit aufgezeigt, die eigene Unzulänglichkeit zu überwinden und sich mit sich selbst und der Gemeinschaft zu versöhnen: «De par le décalage même qu’inscrit le texte entre d’une part les efforts réitérés de Plume pour échapper tout à la fois aux agressions du ‹dehors› et au vide de l’espace intérieur [. . .], et d’autre part l’aboutissement, essentiellement négatif, de ces efforts [. . .] se trouve alors mise en scène, démontrée sur le mode du grotesque tragique, l’impossibilité d’une plénitude d’être, d’une ‹réconciliation› entre soi et soi, entre soi et l’Autre» (Bertho 1985, 158).

Unter besonderer Berücksichtigung der Texte, die Michaux im Recueil Lointain intérieur47 gebündelt hat, hält Bertho (1985) aber auch eine religiöse Deutung des Verhaltens von Plume in der Erzählung Plume au restaurant für möglich

47 Plume précédé de Lointain intérieur ist enthalten in: Michaux, Henri, Œuvres complètes I. Édition établie par Raymond Bellour, avec Ysé Tran, Paris, Gallimard, 1998.

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und begründbar. In diesen Texten werde deutlich, dass der Mensch sich nicht nur seiner Unzulänglichkeit bewusst sei, sondern auch seiner Erbsünde, die ihn zu einem verantwortlichen und schuldigen Wesen mache (cf. ib., 95). So könnten also die Entschuldigungen Plumes und die durch sein Schweigen zum Ausdruck gebrachte Unterwerfung unter die Normen der Anderen auch Anzeichen dafür sein, dass der Mensch darum wisse, von Geburt an schuldig zu sein und deshalb jedes Leiden demütig akzeptiere: «Dans cette perspective, on pourrait dire alors qu’avec la soumission de Plume à l’Autre se trouve narrativement mise en scène telle conception de l’être comme créature née coupable et culpabilisée à jamais par la faute originelle. Plume, qui se laisse mettre dans l’engrenage d’une accusation sans fondement logique [. . .], ne fait que s’‹excuser›, désignerait alors celui qui, humblement, accepte toutes les humiliations, se résigne à souffrir toutes les souffrances, là où la plus grande souffrance, la plus grande humiliation, celles de la Chute, lui ont été imposées dès le départ, pèsent sur lui dès la naissance» (ib., 96s.).

Weiterhin bestätigt und begründet Bertho (1985, 153) die durch die Lesart «manière d’écrire» des Lexems plume motivierte Assoziation, wonach die ungewöhnliche Figur des Plume eben auch eine bestimmte textuelle Strategie des Autors repräsentieren könnte. In der Tat funktioniere die Leere Plumes wie ein Projektor, der die Aggressivität der sozialen Umwelt ausleuchte: «Or c’est bien là, de par cette inconsistance même qui caractérise le personnage, que Plume fonctionne comme ‹révélateur›, effet Plume. Plume, de par ses attributs, est tout autant personnage que stratégie textuelle à travers laquelle, implicitement, le locuteur effectue le démontage des agencements sociaux» (ib., 156).

Diese durch die Figur des Plume in sehr unaufdringlicher Form erfolgende Kritik am sozialen Gefüge wird in Kapitel 3.3.2 näher erläutert werden, wo die auffallend hohe Ambiguität der Erzählung Plume au restaurant und ihre Auswirkung auf die globale Komplexität dieses Textes zum Thema gemacht werden sollen. Und schließlich wird auch die metonymische Deutung des Protagonisten als Projektion des Autors, die durch die Bedeutung ‘Schreibfeder’ seines Namens nahegelegt wird, durch ein Expertenurteil bekräftigt. Elisabeth Howe (1983), die sich vornehmlich mit der besonderen Art von Ironie in Un certain Plume auseinandersetzt, unterstreicht die enge Beziehung zwischen Plume und seinem Autor durch ein Zitat des letzteren und führt weiter aus, dass die Verdopplung des «schreibenden Ichs» eine Voraussetzung dafür sei, durch die Gewinnung von Abstand und eines objektiven Blickwinkels die Ironie der eigenen existentiellen «Zwickmühle» zu erkennen und zu formulieren: «About his relationship with Plume, Michaux has indeed written: ‹Avec Plume, je commence à écrire en faisant autre chose que de décrire mon malaise. Un personnage me vient.

3.2 Zusammenspiel von Frames und suppletiver Kontextbildung

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Je m’amuse de mon mal sur lui.›48 There is a mechanism of self-defense involved here, an attempt both to protect and to ‹exorcise› the painful areas of existence. The doubling of the self implied by this process, which again suggests fragmentation, constitutes an essential feature of unstable irony, since only by seeing the ‹JE› as ‹un autre› can one achieve a sufficiently objective viewpoint to understand the irony of one’s predicament» (Howe 1983, 903).

Diese adäquaten, von Michaux-Experten erbrachten und zumeist auf der Grundlage seines Gesamtwerks belegten Deutungen Plumes heben somit keinesfalls die Ambivalenz dieser Figur auf, sondern bestätigen sie vielmehr. Die Ambivalenz des Protagonisten ist irreduzibles Resultat der soeben analysierten Verfahren im Bereich der suppletiven Kontextbildung, also dauerhaftes Offenlassen zentraler Slots des Personen-Frames, Subversion konventioneller soziokultureller Schemata, Wahl eines polysemen Namens, Schilderung eines vordergründig alogischen Verhaltens sowie ironische Distanzierung des Erzählers von seinem Protagonisten. Wie oben bereits festgestellt, prägen die ersten beiden Komplexitätsfaktoren, nämlich ABWEICHUNGEN von prototypischen Wissensrahmen und allgemein-sprachlichen Normen und ein hohes Maß an kontextabhängiger IMPLIZITHEIT, die suppletive Kontextbildung in Michaux’ Novelle damit offensichtlich in besonderem Maße und belegen eine extrem hohe Komplexität in diesem Bereich. Nach Einschätzung von Elisabeth Howe (1983, 897) sind aufgrund dieser textsemantischen Verfahren die möglichen Bedeutungen von Plume «vague and problematical» und sehe sich der Rezipient mit einer «deliberate fragmentation and blurring of meaning» (ib., 900) konfrontiert. Der Leser wird willentlich desorientiert und verwirrt und im Rahmen der Bedeutungskonstruktion wird ihm somit ein hohes Maß an Konzentration und Kompetenz abverlangt. Aufgrund der Subversion prototypischer Wissensrahmen kann er eben nicht auf allgemein verfügbares Weltwissen zur Füllung von Leerstellen und zur Deutung von absurden Verhaltensweisen zurückgreifen. Er muss stattdessen über ein Mindestmaß an diskurstraditionellem Wissen bezüglich nicht-illusionistisch erzählender Novellen verfügen, um Plume au restaurant überhaupt als irgendwie sinnvoll zu erachten, in den Prozess der Bedeutungskonstruktion einzusteigen und die oben beschriebenen Assoziationen zu entwickeln. Wenn man jetzt – wie das in dieser Arbeit der Fall ist und in Kapitel 2.2.4 begründet wurde – den Anspruch erhebt, dass Bedeutungsanalysen adäquat sein müssen und dass in Anbetracht der Ambiguität der Figur mehrere adäquate Deutungen zu konstruieren sind, dann trägt auch der 3. Komplexitätsfaktor, nämlich die Anforderungen an das WISSEN der Rezipienten, noch erheblich zur Komplexität der suppletiven Kontextbildung in

48 Diese Aussage Michaux’ wird zitiert in Bréchon (1959, 205).

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Plume au restaurant bei. Das literaturwissenschaftliche Wissen, das für adäquate Deutungen der Figur des Plume nötig ist, kann entweder aus einer intensiven Auseinandersetzung mit dem schwer zugänglichen Gesamtwerk Michaux’ und/ oder einer aufmerksamen Lektüre von Berthos ebenfalls anspruchsvoller Dissertation zu Un certain Plume bezogen werden und damit verfügt mit hoher Wahrscheinlichkeit nur eine sehr kleine Gruppe interessierter Leser über diese Kenntnisse, die mit vollem Recht als Expertenwissen gelten können. Somit sind also alle drei in dieser Arbeit identifizierten Komplexitätsfaktoren im Bereich der suppletiven Kontextbildung in Plume au restaurant in besonders ausgeprägter Weise und stärker als in jedem anderen Korpustext wirksam, weshalb die Komplexität der entsprechenden Kategorie für Michaux’ Text mit dem Höchstwert 6 zu beurteilen ist.

3.2.3 Zusammenfassung In diesem Kapitel konnte zunächst an konkreten literarischen Werken gezeigt werden, wie stark Diskurstraditionen (mimetisches versus nicht-mimetisches Erzählen, die Gattung im engeren Sinne, die Gestaltung der Erzählsituation etc.) gerade den Beginn eines Textes und die dort im Falle erzählender Texte nötige suppletive Kontextbildung und ihre Komplexität determinieren. So ist es in einer naturalistischen Novelle wie Naïs Micoulin beinahe zwingend erforderlich, einen auktorialen Erzähler zu inszenieren, der in der Lage ist, vor Beginn der eigentlichen Handlung detaillierte und verlässliche Informationen zu Ort, Zeit und Personen abzugeben, um den naturalistischen Zielen von Wissenschaftlichkeit, Darstellung realer gesellschaftlicher Verhältnisse und Demonstration der Determinierung des Menschen durch race, milieu und moment (cf. Wanning 1998, 70ss.) gerecht werden zu können. Durch den Vergleich der in den modernen und zeitgenössischen Novellen evozierten Personen- und Orts-Frames mit den extrem umfangreichen, zügig aufgebauten und durch explizite Füllwerte gesättigten Frames in Naïs Micoulin konnten Komplexitätsunterschiede bezüglich der suppletiven Kontextbildung leicht aufgezeigt werden. Überhaupt erwiesen sich das Werkzeug Frame, die drei identifizierten Komplexitätsfaktoren (ABWEICHUNGEN von prototypischen Wissensrahmen, kontextabhängige IMPLIZITHEIT und Anforderungen an das WISSEN) und das Kriterium der Dauer des Offenlassens bestimmter Slots als sehr gut geeignete Mittel zur Analyse und Bewertung der Komplexität der suppletiven Kontextbildung. Die beschriebenen diskurstraditionellen Neuerungen des 20. Jahrhunderts – die Betonung der dynamischen Funktion des Textbeginns, die Bevorzugung der internen Fokalisierung und die Kürze der Erzählungen – haben nämlich unmittelbaren

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

291

Einfluss auf die Instantiierung von Orts- und Personen-Frames. Deren Aufbau erfolgt langsamer und nimmt ihren Ausgang bei eher peripheren Slots, zentrale Slots von Personen-Frames müssen aufgrund der einzig verfügbaren Innensicht der Reflektorfigur offen bleiben und indirekte Charakterisierungen nehmen zu. Damit kommen aber die Komplexitätsfaktoren kontextabhängige IMPLIZITHEIT und Anforderungen an das WISSEN in besonderem Maße zum Tragen: die Rezipienten müssen nämlich auf der Grundlage impliziter Textinformationen und unter Aktivierung von zusätzlichem Weltwissen offene Slots füllen und aufgrund des anfänglichen Informationsdefizits können sie oftmals die Tragweite der ohne Präliminarien einsetzenden Handlung kaum erfassen und müssen Minskys matching process (cf. Minsky 1974, 2s.) mitunter mehrfach durchlaufen. Sehr hohe Komplexität der suppletiven Kontextbildung wurde in nouvelles à chute wie Happy Meal festgestellt, wo die mögliche Dauer des Offenlassens zentraler Slots maximal ausgereizt wird und der Rezipient am Ende der Erzählung sein gesamtes Textmodell verwerfen und neu aufbauen muss. Maximale Komplexität in Bezug auf die suppletive Kontextbildung konnte im Rahmen des hier untersuchten Korpus in der nicht-mimetisch erzählenden Novelle Plume au restaurant nachgewiesen werden: ein Minimum an expliziten Fillern in Bezug auf den Protagonisten, die Wahl eines polysemen Namens und der Bruch konventioneller Schemata konterkarieren in dieser surrealistischen Novelle die orientierende Funktion der suppletiven Kontextbildung, kreieren willentlich eine hochgradig ambivalente Figur und stellen maximale Anforderungen an das Wissen und die Deutungskompetenz des Rezipienten.

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik In den letzten beiden Kapiteln wurde mehrfach deutlich, dass Ambiguität und eine erhöhte Komplexität von Texten häufig korrelieren bzw. textsemantische Strategien, die der Erzeugung von Ambiguität auf Diskursebene dienen, auch die Komplexität des betreffenden Textes steigern. So wurde im Komplexitätsprofil von Maupassants La Main Ambiguität in Bezug auf den geschilderten Mordfall als konstitutives Merkmal fantastischer Literatur identifiziert und aufgezeigt, dass Maupassant diese Ambiguität im Wesentlichen durch die Herstellung einer «Maximenzwickmühle» zwischen Qualitäts- und Quantitätsmaxime sowie durch Verstöße gegen die Quantitätsmaxime und die 2. und 3. Untermaxime der Modalität (2. Vermeide Mehrdeutigkeit, 3. Sei kurz – vermeide unnötige Weitschweifigkeit) auf der Ebene der Erzählerrede erreicht. Diese flächig auftretenden Maximenverstöße führen zum Offenlassen

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

wichtiger Slots im zentralen Mord-Frame, zu Andeutungen einer möglichen übernatürlichen Ursache des Todes Rowells und schlagen sich auf den Ebenen von Satzsemantik und lokaler Kohärenz bzw. Kohäsion im völligen Fehlen kausaler Konjunktionen sowie gehäuft auftretenden Koordinationen, Juxtapositionen und Passiv-Konstruktionen nieder. In Kapitel 3.2.2.2 wurde deutlich, dass die subtile Ambiguität in Happy Meal den finalen Überraschungseffekt vorbereitet. In dieser nouvelle à chute sind es wiederum – diesmal auf der Ebene der Autor-Leser-Kommunikation zu verortende – Verstöße gegen die Quantitätsmaxime und die 2. Untermaxime der Modalität bzw. diskurstraditionelle Umdeutungen dieser Maximen, die für die Ambiguität verantwortlich sind. Diese Verstöße wirken sich im Bereich der suppletiven Kontextbildung so aus, dass zentrale Slots der Personen-Frames gar nicht oder mit semantisch vagen Fillern wie fille oder personne belegt werden und erst in den letzten Zeilen der Novelle eindeutige Filler nachgeliefert werden. Durch Lexeme wie aimer qn, faire plaisir à qn und regarder son profil wird dem Leser die Evokation des Frames romantische Liebesbeziehung nahegelegt, was de facto einer falschen Fährte entspricht und Erwartungen aufbaut, die sich eben erst am Ende der Novelle als völlig falsch herausstellen und eine komplette Neubewertung des Gelesenen verlangen. In der chute wird die Natur der Beziehung zwischen den Protagonisten zwar zweifelsfrei geklärt, aber dieser finale Überraschungseffekt macht dem Leser erst die Ambiguität der von ihm als Liebesbeziehung gedeuteten Vater-Tochter-Beziehung bewusst, deren Interpretation zudem den Einbezug soziologischen und psychologischen Hintergrundwissens verlangt. Die extrem knappe verbale Restitution des Protagonisten in Henri Michaux’ Plume au restaurant, die sich im Wesentlichen auf dessen Geschlecht und polysemen Nachnamen beschränkt, sowie die Schilderung seiner inkongruenten und zum Teil widersprüchlichen Entschuldigungen für ein absurdes «Vergehen» führen ebenfalls zu Mehrdeutigkeit in Bezug auf diese Figur. Die im Rahmen dieser surrealistischen Novelle erzeugte Ambiguität verunsichert den Leser, fordert ihn zu mannigfachen Assoziationen auf und kann nur unter Rückgriff auf Expertenwissen adäquat gedeutet werden.

Ambiguität im System versus Ambiguität im Diskurs Diese ersten Beispiele für Mehrdeutigkeit in den hier untersuchten Korpustexten illustrieren und bestätigen, dass literarische Ambiguität nur in Einzelfällen auf linguistischer Ambiguität bzw. Ambiguität im System basiert (cf. Bode 1997, 67). Sehr viel häufiger entsteht sie auf der Ebene des aktuellen Diskurses durch konversationelle Implikaturen innerhalb des situativen Kontextes, des Kotextes bzw. des Wissenskontextes (cf. Bauer et al. 2010, 55).

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

293

Bei der linguistischen Ambiguität bzw. Ambiguität im Sprachsystem unterscheidet man gemeinhin lexikalische Ambiguität (mit den beiden Subtypen Polysemie und Homonymie), syntaktische Ambiguität, Skopusambiguität, die auf unterschiedlichen Anwendungsbereichen von Operatoren (nicht, alle etc.) beruht, sowie relationale Ambiguität (ein Nominalsyntagma wie Renates Buch kann interpretiert werden als das Buch, das Renate liest, schreibt, rezensiert, empfiehlt etc.) (cf. Bußmann 2008, 34). Ein Zeichen wie Schule beispielsweise ist im sprachlichen System ambig, wo ihm mehrere Inhalte bzw. Lesarten wie Institution, Gebäude, Unterricht oder an einem Ort verbrachte Lebenszeit entsprechen (cf. Bauer et al. 2010, 47ss.). Die Entstehung von Ambiguität im Diskurs illustrieren Bauer el al. (2010, 55) am Beispiel des folgenden Witzes: «‹Doctor, come at once! Our baby swallowed a fountain pen!› ‹I’ll be right over. What are you doing in the meantime?› ‹Using a pencil›».

Bei dem Satz What are you doing in the meantime? habe man es auf der Ebene des Sprachsystems mit einer völlig eindeutigen Oberflächenform zu tun, der weder unterschiedliche syntaktische noch unterschiedliche semantische Strukturen zugewiesen werden könnten (cf. ib., 55). «Die beiden unterschiedlichen Interpretationen (Was machen Sie bis dahin mit dem armen Baby?/Womit schreiben Sie bis dahin?) entstehen einzig und allein auf der Ebene des aktuellen Diskurses innerhalb des situativen Kontextes bzw. des Wissenskontextes (wenn man so will: der Dummheit des Anrufers)» (ib., 55).

Anhand dieses Beispiels wollen Bauer et al. (2010, 55) auch demonstrieren, dass der Diskurs eben nicht nur «das Allheilmittel zur Disambiguierung [darstellt], sondern, im Gegenteil, auch Ambiguität generieren [kann]». Bei der flächig auftretenden, unauflösbaren Ambiguität in Maupassants fantastischer Erzählung La Main beispielsweise handelt es sich im Wesentlichen um Ambiguität im Diskurs. Die beschriebene Erzeugung einer «Maximenzwickmühle» oder die Zusammenspannung konträrer Frame-Systeme kreieren nämlich einen Kontext bzw. Kotext, innerhalb dessen aus der Sicht des Sprachsystems her ebenfalls völlig eindeutige Aussagen Bermutiers zum Mordfall ambig werden, da sie sowohl als Beleg für eine rationale Erklärung desselben als auch als Beleg für eine übernatürliche Ursache interpretiert werden können. Ambiguität und Komplexität bzw. Schwerverständlichkeit Die soeben und zu Beginn dieses Kapitels nochmals knapp resümierten Strategien zur Konstruktion von Ambiguität in den Erzählungen La Main, Happy Meal

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

und Plume au restaurant erhärten den Verdacht, dass Ambiguität im Diskurs häufig durch dieselben Faktoren entsteht, die in dieser Arbeit auch für eine Erhöhung der semantischen Komplexität verantwortlich gemacht werden: – ABWEICHUNGEN von sprachlichen und sprachbezogenen Normen und Traditionen, insbesondere den Grice’schen Maximen, sowie von prototypischen Wissensrahmen; – ein hoher Anteil an kontextabhängiger IMPLIZITHEIT, der sich in Leerstellen, einer reduzierten suppletiven Kontextbildung sowie Andeutungen und Evokationen manifestiert. Der dritte komplexitätssteigernde Faktor, nämlich die hohen Anforderungen an das WISSEN der Rezipienten, spielt eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung von Ambiguität. Zunächst verlangen ambige Texte wie z.B. fantastische Erzählungen vom Leser in der Regel eine hohe Konzentration und aktive Mitarbeit. Die Verdunkelungen, Aussparungen und Konstruktionen von Ambiguität fordern ihn regelrecht dazu auf, aus den vorhandenen Informationen Schlüsse zu ziehen und auf eigene Faust eine Erklärung für die rätselhaften Geschehnisse zu finden, was nur durch die Aktivierung von zusätzlichem Weltwissen möglich ist, gattungsbedingt aber dennoch ins Leere läuft. Nouvelles à chute, die ihren finalen Überraschungseffekt durch strategischen Einsatz von Ambiguität erzielen, laden ihren Leser zu einer erneuten Lektüre und zum Nachvollzug der Strategien ein, die ihn auf die falsche Fährte geführt haben (cf. Herzberg 2011, 3), – auch dies gelingt kaum ohne die Hinzuziehung von weiterem Weltwissen. Die konstitutive Mehrdeutigkeit von symbolischen oder surrealistischen Texten stellt oft besonders hohe Anforderungen an die Rezipienten, was in Kapitel 3.2.2.3 am Beispiel von Henri Michaux’ Plume au restaurant demonstriert wurde. In diesen Fällen gelingt eine adäquate Deutung der Polyvalenz häufig nur unter Einbezug von sehr speziellem und tiefgehendem diskurstraditionellen und literarischen Wissen zum Autor, seiner Epoche und seinem Gesamtwerk. Der Zusammenhang von Ambiguität und Komplexität bzw. Schwerverständlichkeit wird auch in mehreren textlinguistischen und literaturwissenschaftlichen Untersuchungen konstatiert und stets damit begründet, dass die Verarbeitung (Auflösung oder Deutung) von Ambiguität erhöhte Anforderungen an die Kapazität und Kompetenz der Rezipienten stellt. Zuallererst ist hier die klassische Einführung in die Textlinguistik von de Beaugrande/Dressler (1981) zu nennen. Die Autoren unterscheiden begrifflich die in Fällen von Normalkommunikation begegnende, nicht intendierte und somit als «Missglückens-Phänomen» zu wertende Ambiguität von der für dichterische Werke typischen und intendierten Polyvalenz (cf. de Baugrande/Dressler 1981, 88; 127; Bauer et al. 2010, 16; 23) und stellen fest:

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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«Während die Verarbeitung von Polyvalenz ohne Zweifel schwierig ist, hat Mehrdeutigkeit den zusätzlichen Nachteil, daß man für Dinge, die weder intendiert noch nützlich sind, Anstrengungen aufwenden muß. Folglich beeilen sich Sprachbenutzer, Mehrdeutigkeiten durch regulative Handlungen zu beseitigen, meistens, indem sie den Inhalt durch Umschreibungen in eine eindeutige Form bringen (disambiguieren)» (de Beaugrande/ Dressler 1981, 127).

Christoph Bode (1988, 379) geht bei der Entwicklung seiner Ästhetik der Ambiguität vom «‹Faktum› auffällig gehäufter Mehrdeutigkeit – und damit zusammenhängender ‹Schwerverständlichkeit› – in der Literatur der Moderne aus». Sowohl die Lyrik als auch die Erzählliteratur der Moderne stellten hohe Anforderungen an ihr Publikum, was Bode für die Erzählliteratur u.a. damit begründet, dass die Auflösung von Handlung und Held den Leser auf mehrere Bedeutungen hinter den vordergründig banalen Ereignissen verweise, die dieser mühevoll zu generieren habe (cf. ib., 6s.): «Gerade die Zersplitterung, Banalisierung oder extreme Verlangsamung dessen, was einstmals ‹Handlung› war, verweist den Leser – falls er nicht kapituliert – auf einen oder mehrere ‹Sinne› hinter den für sich genommen ostentativ ‹unwesentlichen› Elementen, einen Sinn, der erst aus ihrer Relation zueinander zu rekonstruieren wäre [. . .]» (ib., 6).

Einen letzten Beleg für die offenkundige Verflechtung von Mehrdeutigkeit und Komplexität stellt die von Bauer et al. (2010, 36) formulierte Erkenntnis dar, dass insbesondere die durch Formen der Indirektheit evozierte literarische Ambiguität häufig das Ziel verfolge, den Leser kognitiv und emotional zu aktivieren: «Ambiguität in der Kommunikation zwischen Autor und Leser hat darüber hinaus ihren Grund häufig auch in Formen der Indirektheit. Während diese in alltagssprachlicher Kommunikation vornehmlich der Höflichkeit, also der Abmilderung von face-threatening acts dient [. . .], hat sie in literarischer Kommunikation auch generell das Ziel der kognitiven und emotionalen Aktivierung der Leser. Eine Bedeutung wird als relevant, unterhaltend oder Erkenntnis stiftend erkannt, wenn sie vom Leser selbst in einem ‹Lernprozess› festgestellt wird; das Ziel der Ambiguität wäre in diesem Fall also: ‹By indirections find directions out› (Hamlet II.i.66)».

Zugrundegelegte Definition von Ambiguität Nachdem nun bereits Begründungen für die Verflechtung von Ambiguität und Komplexität angeführt wurden und Ambiguität im System von der im literarischen Kontext dominierenden Ambiguität im Diskurs unterschieden wurde, muss noch geklärt werden, was genau im Weiteren unter den Oberbegriff Ambiguität subsumiert wird. Tatsächlich findet man in verschiedenen Lexika der Literatur- oder Sprachwissenschaft deutlich voneinander abweichende Definitionen des Terminus Ambiguität und legen verschiedene Artikel

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

der entsprechenden Forschungsliteratur ebenfalls unterschiedliche Definitionen des Begriffs zugrunde oder nehmen unterschiedliche Abgrenzungen zu verwandten Begriffen wie z.B. Polyvalenz vor. So versteht Bußmann (2008, 34) unter Ambiguität schlicht «Mehrdeutigkeit» und gemäß Bode (1997, 67) handelt es sich dabei um «Mehrdeutigkeit, Vieldeutigkeit; heute nur noch selten: Zweideutigkeit». Jannidis (2003, 308) hingegen beruft sich auf Gerhard Kurz (2003) und versteht sowohl unter Ambiguität als auch Polyvalenz Vieldeutigkeit im Sinne eines «unerschöpflichen Bedeutungsreichtums», während er den Begriff der Mehrdeutigkeit für solche Äußerungen reserviert, die «eine begrenzte Anzahl unterschiedlicher Bedeutungen [aufweisen], die sich deutlich voneinander abgrenzen lassen». Wie bereits erwähnt, unterscheiden de Beaugrande/Dressler (1981) wiederum klar zwischen Ambiguität im Sinne von Mehrdeutigkeit als «Missglückens-Phänomen unter normalkommunikativen Bedingungen» (Bauer et al. 2010, 16) und Polyvalenz, also der besonders in der Dichtung anzutreffenden intendierten Übermittlung mehrerer Lesarten: «Viele Ausdrücke haben mehrere mögliche Bedeutungen, aber unter normalen Bedingungen im Text nur einen Sinn. Wenn der vom Sprecher intendierte Sinn nicht sofort klar wird, liegt UNBESTIMMTHEIT vor. Eine bleibende Unbestimmtheit kann MEHRDEUTIGKEIT (Ambiguität) genannt werden, wenn sie vermutlich nicht in der Absicht des Sprechers gelegen ist, oder POLYVALENZ, wenn der Texterzeuger wirklich mehrere Sinne zugleich übermitteln wollte (wie es besonders in der Dichtung der Fall ist)» (de Beaugrande/Dressler 1981, 88).

Im Rahmen dieser Arbeit soll in Anlehnung an Bußmann (2008), Bode (1997) und Bauer et al. (2010) unter Ambiguität Mehrdeutigkeit verstanden werden in dem Sinne, dass ein Ausdruck oder Text mindestens zwei klar unterscheidbare Lesarten aufweist, die gleichermaßen Gültigkeit beanspruchen können. Weitere begriffliche Differenzierungen im Hinblick auf die Menge der Bedeutungen (zwei, mehrere, unendlich viele) werden nicht vorgenommen. Diese Begriffsverwendung deckt sich mit der Erläuterung von Bauer et al. (2010, 47), wonach «sprachliche Ambiguität ein Problem der Zuordnung von Ausdrücken einerseits und Inhalten bzw. funktionalen Strukturen andererseits [sei]: einem Ausdruck entsprechen zwei oder mehrere Inhalte/Strukturen». Folglich wird in der hier durchgeführten Korpusanalyse sowohl die unauflösbare Unschlüssigkeit zwischen zwei sich gegenseitig völlig ausschließenden Erklärungen für den Tod Rowells in La Main als auch die schier unendliche Anzahl von Lesarten von Julien Greens Christine als Ambiguität beschrieben. Die von de Beaugrande/Dressler (1981) vorgenommene Unterscheidung zwischen Ambiguität als Defizienzphänomen unter normalkommunikativen Bedingungen und der intendierten, als ästhetische Produktivkraft erscheinenden Polyvalenz im Rahmen von Sonderkommunikation (cf. Bauer et al. 2010, 9)

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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wird in dieser Arbeit nicht übernommen. Damit schließen wir uns wiederum der Sichtweise von Bauer et al. (2010, 30) an, die auch für intendierte Fälle von Mehrdeutigkeit den Terminus Ambiguität verwenden und die Unterscheidung zwischen Ambiguität und Polyvalenz für «eher abstrakt» halten, da sie «in der Wirklichkeit der Kommunikation nur schwer zu treffen [sei]». Für diese Einschätzung führen sie überzeugende Argumente an: zum einen werde auch unter normalkommunikativen Bedingungen Ambiguität regelmäßig und absichtsvoll ausgelöst, wenn zum Beispiel sprachliche Höflichkeit durch Formen kommunikativer Indirektheit erzielt werden soll (cf. ib., 56). Zum anderen verwehren sie sich gegen eine von den Bedingungen der Normalkommunikation scheinbar völlig losgelöste Sonderstellung literarischer Texte und machen deutlich, dass es oftmals für das Gelingen der Kommunikation zwischen Autor und Rezipient wichtig sei, eine potentiell ambige Äußerung «genau richtig [zu] verstehen» und nicht «im Wissen darum, dass es sich um ‹Sonderkommunikation› handelt», jede Bedeutung für bereichernd zu halten (cf. ib., 30). Diese Standpunkte werden sowohl in inhaltlicher als auch terminologischer Hinsicht die folgenden Analysen von Ambiguität in literarischen Texten und die Bewertung ihrer Komplexität leiten.

Ambiguität – ein Wesensmerkmal literarischer Texte? Konsultiert man die Einträge verschiedener literaturwissenschaftlicher Lexika zu den Begriffen Ambiguität oder Polyvalenz, so begegnet immer wieder die Einschätzung, dass Ambiguität ein Wesensmerkmal literarischer Texte sei, also untrennbar mit Literatur verknüpft sei. Besonders deutlich formuliert wird diese Ansicht in der von Christoph Bode (1997, 68) verfassten Definition literarischer Ambiguität im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft: «Ambiguität kann deshalb als charakteristischer und notwendiger Effekt der tendenziellen Selbstbezüglichkeit literarischer Sprache aufgefaßt werden: Der literarische Text ist essentiell ambig, die uneigentliche Sprache der Dichtung immer mehrdeutig».

Fotis Jannidis (2003, 305) konstatiert in der Einleitung seines Artikels Polyvalenz – Konvention – Autonomie mit unverhohlener Ironie, dass die Vieldeutigkeitsthese eine der wenigen Annahmen sei, über die in der Literaturwissenschaft Einigkeit bestehe: «Es gibt heute kaum noch etwas, über das Literaturwissenschaftler sich einig sind: Man weiß sich in einem allgemeinen Dissens über die Frage, was Literatur ist und welche Literatur von der Wissenschaft untersucht werden sollte. Man ist sich auch außerordentlich uneinig darüber, wie Literatur zu untersuchen ist und was am Ende einer solchen Untersuchung überhaupt ermittelt worden ist. Aber eine These erfreut sich, quer durch alle

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Fraktionen, größter Beliebtheit: Literatur, so heißt es, sei vieldeutig. [. . .] Erstaunlicherweise gibt es für diesen Gemeinplatz der Literaturwissenschaft keine allgemein geteilte Begründung».

Jannidis’ amüsierter Sarkasmus und sein Hinweis auf die völlig unterschiedlichen Auffassungen zur Entstehung von Vieldeutigkeit, die den Verdacht nahelegen, sie seien «nachgelieferte Begründungen für eine bereits als wahr akzeptierte Überzeugung» (ib., 305), machen bereits die Distanzierung des Autors von der Vieldeutigkeitsthese deutlich, die er in seinem Artikel überzeugend und scharfsinnig begründet. Auch in dieser Arbeit wird die These von der prinzipiellen Vieldeutigkeit literarischer Texte aus den folgenden Gründen abgelehnt: 1. Die Vieldeutigkeitsthese impliziert, dass sich zu literarischen Texten im Prinzip unendlich viele Deutungen finden lassen, die einander gleichwertig sind – eine Hierarchisierung nach Plausibilität oder Adäquatheit der Interpretationen ist nicht vorgesehen (cf. Jannidis 2003, 309s.). Dies widerspricht dem Umgang mit Bedeutungsanalysen in der literaturwissenschaftlichen und linguistischen Praxis und würde eine Bewertung der semantischen Komplexität literarischer Texte nahezu unmöglich machen. 2. Die Annahme, dass literarische Texte grundsätzlich mehrdeutig sind, konterkariert zahlreiche etablierte Gattungsdefinitionen, die Ambiguität als Charakteristikum bestimmter literarischer Genres (z.B. fantastische Literatur) oder Epochen (z.B. Moderne) anführen. 3. Die theoretischen Begründungen, die die essentielle Ambiguität literarischer Texte aus deren Ästhetizität ableiten und sich zumeist auf Jakobson (1960) berufen, weisen argumentative Fehler oder unzulässige Generalisierungen auf. So wird literarischen Texten ein Primat der Form gegenüber dem Inhalt unterstellt (cf. Bauer et al. 2010, 28). Weiterhin basiert die Behauptung der Dominanz der poetischen Funktion in der Literatur nicht auf der Analyse sprachlichen Materials, sondern auf Konventionen im Umgang mit Literatur, die aber historisch wandelbar sind und für unterschiedliche Textsorten in unterschiedlicher Weise gelten (cf. Jannidis 2003, 323). Und schließlich muss die Kombination äquivalenter Einheiten bzw. die unendliche Vielzahl formaler Gestaltungsmöglichkeiten von Texten nicht zwingend eine weitere bzw. den Propositionen des Textes widersprechende Bedeutung suggerieren, sondern kann die manifesten Textinformationen ebenso gut betonen oder verstärken. Diese drei gewichtigen Gründe für die Ablehnung der These, dass Literatur generell vieldeutig sei, sollen im Folgenden unter Berücksichtigung der relevanten Forschungsdiskussion in chronologischer Reihenfolge untermauert werden.

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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Bereits in Kapitel 2.2.4 wurde die mit der Vieldeutigkeitsthese verwandte Frage, ob es eine objektive Bedeutung literarischer Texte gibt, theoretisch verneint, diese Einschätzung aber mit Verweis auf den praktischen Umgang mit Bedeutungsanalysen relativiert. Zwar ist aufgrund der zu Beginn dieser Arbeit angestellten Überlegungen zum Textsinn, der nicht explizit gegeben ist, sondern vom Rezipienten im Rahmen eines aktiven und wissensbasierten Prozesses konstruiert werden muss, eine objektive Textbedeutung theoretisch nicht zu begründen. Gardt (2013, 36–38) stellt allerdings fest, dass die theoretisch unbestreitbare «Konstruiertheit» der Bedeutung in der Praxis keineswegs zu einer Beliebigkeit von Textanalysen führe, sondern diese zumeist auf «eindeutige Bedeutungszuweisungen» hinausliefen. Tatsächlich wäre es letztlich unmöglich, die semantische Komplexität eines literarischen Textes zu bewerten, wenn ein Text soviele Bedeutungen hätte, wie er Leser findet, und jede dieser Bedeutungen «richtig» wäre. Es muss also eine Möglichkeit geben, die Adäquatheit von Bedeutungsanalysen zu beurteilen, was gemäß Gardt auf der Grundlage von Konventionen und Expertenurteilen möglich ist (cf. ib., 38). Diese Überzeugung ist für die im Rahmen dieser Arbeit erfolgten Bedeutungs- und Komplexitätsanalysen handlungsleitend. Die Vieldeutigkeitsthese hingegen impliziert gemäß Jannidis (2003, 308) gerade die «Annahme, dass sich zu literarischen Texten sehr viele, prinzipiell zumindest unendlich viele Deutungen finden lassen, die einander gleichwertig sind». Diese Annahme wiederum habe für den Umgang mit konkurrierenden Interpretationen die folgende Konsequenz: «Im Fall der Vieldeutigkeitsthese gibt es wenig Anlass danach zu fragen, ob und wie man vorgelegte Interpretationen nach dem Grad ihrer Plausibilität oder Adäquatheit hierarchisieren soll» (ib., 310).

Da diese Implikation also offensichtlich das Gegenteil des soeben begründeten und in dieser Arbeit praktizierten Umgangs mit Bedeutungsanalysen und der Bewertung textsemantischer Komplexität ist, muss die These der prinzipiellen Vieldeutigkeit literarischer Texte abgelehnt werden. Ein weiterer gewichtiger Einwand gegen die These, Vieldeutigkeit sei ein Wesensmerkmal aller Literatur, ist die Tatsache, dass Ambiguität immer wieder als besonderes Kennzeichen der Literatur der Moderne und als konstitutives Merkmal bestimmter Genres angeführt wird, anderen literarischen Gattungen hingegen eine eindeutige Werkintention zugesprochen wird: «Die Polyvalenz-Konvention gilt nicht für alle literarischen Texte. Sie ist nicht nur irrelevant für den Umgang mit Schemaliteratur – die wohl ausgeschlossen ist aus dem System

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ästhetischer Kommunikationshandlungen –, sondern sie gilt ebensowenig für das, was man früher Tendenzliteratur49 genannt hat» (ib., 316).

Ob ein literarischer Text ambig ist und welchen Grad an Ambiguität er aufweist, ist damit eine Sache der Diskurstraditionen, die den literarischen Text als Repräsentanten einer Gattung prägen. Ein Beispiel für ein konstitutiv mehrdeutiges Genre ist fantastische Literatur, die sich gerade durch unauflösbare Ambiguität auf der ersten semiotischen Ebene, also der Ebene der geschilderten Handlungen und Ereignisse, definiert. Gemäß der minimalistischen Genredefinition beruht sie «auf dem ungelösten Streit zweier inkompatibler Erklärungsweisen» (Durst 2001, 37), der den Leser in tiefe Unschlüssigkeit treiben soll. Wäre Ambiguität konstitutives Merkmal aller Literatur, würde die soeben zitierte Definition fantastischer Literatur kaum zur Abgrenzung von anderen literarischen Genera taugen. In ihrer Vorstellung verschiedener Bereiche literarischer Ambiguität kommen Bauer et al. (2010, 36) zuallererst auf Ambiguität als Mehrdeutigkeit von Werken, d.h. Ambiguität in der Kommunikation zwischen Autor und Leser zu sprechen und sehen diese keineswegs in jeder Art von Literatur verwirklicht. Sie führen vielmehr einige konkrete Gattungen an, die sich durch eine Lesartenüberlagerung auszeichnen: «[. . .] die Konzeption eines mehrfachen Schriftsinns bezieht sich primär auf biblische (oder generell) heilige Texte und weiterhin auf esoterisches Schrifttum aller Art, aber auch auf rein säkulare Texte wie z.B. Schlüsselromane (die per definitionem an der Grenze von Fiktion und Nichtfiktion angesiedelt sind) oder satirische Texte. So ist John Gay’s Beggar’s Opera zugleich als romantische Räuberkomödie, als Parodie der italienischen Oper und als Satire auf die Regierung Robert Walpoles zu verstehen».

Und auch Karl Blüher (1985) betrachtet in seiner Untersuchung der französischen Novelle mitnichten jede ihrer Untergattungen als ambig, sondern stellt diese Eigenschaft insbesondere für die symbolische Novelle des 20. Jahrhunderts fest: «Die symbolische Novelle zeichnet sich durch einen konzertierten Einsatz zweier sich ergänzender und überlagernder Bedeutungsebenen aus, einer vordergründig-anschaulichen und einer weiteren, hermetisch verdeckten, die symbolisch verschlüsselt ist und sich daher einer eindeutigen Erhellung der Textbotschaft entzieht. Im Gegensatz zu den Symboldichtungen früherer Epochen bleibt der Symbolgehalt dieser modernen Werke [. . .] interpretatorisch weitgehend mehrdeutig und offen [. . .]» (Blüher 1985, 230; meine Hervorhebung).

49 Jannidis (2003, 316) versteht unter Tendenzliteratur «Formen engagierter Literatur mit eindeutiger Botschaft».

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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Die aufgeführten Gattungsdefinitionen, über die breiter Konsens besteht, gehen also offensichtlich davon aus, dass Mehrdeutigkeit keineswegs eine prinzipielle Eigenschaft von Literatur im Allgemeinen ist, sondern vielmehr als charakterisierendes und abgrenzendes Merkmal bestimmter Genera dienen kann. Eben diese Auffassung wird auch in der vorliegenden Arbeit vertreten. Die meisten literaturwissenschaftlichen Lexika leiten die systematische Vieldeutigkeit literarischer Texte aus ihrer Ästhetizität und der unterstellten Selbstbezüglichkeit literarischer Sprache ab, wobei sie sich häufig auf Roman Jakobsons Artikel Linguistics and Poetics (1960) mit seiner Definition der poetischen Funktion der Sprache50 beziehen. Diese Merkmale, die literarischen Texten zugeschrieben werden, sollen im Folgenden kurz erläutert werden, bevor die daraus gezogene Folgerung systematischer Mehrdeutigkeit in Frage gestellt wird. Wetzel (2009, 105s.) erklärt auf nachvollziehbare Weise, was Texte auszeichnet, in denen die poetische oder ästhetische Sprachfunktion dominiert und die häufig etwas nebulös als selbstreferentiell charakterisiert werden: «Die Aufmerksamkeit des Lesers wird in einem dominant ästhetischen Text zunächst auf die Verfasstheit, die künstlerische Gestalt der Mitteilung, auf ihre inhaltlichen (signifié) sowie materiellen und formalen (signifiant) Merkmale gerichtet. Man spricht daher auch (nicht ganz korrekt) von der Selbst- oder Autoreferentialität des Zeichens. Erst wenn der Leser die genannten Merkmale in ihrer sinnlichen Qualität als Zeichenkörper, entsprechend dem ursprünglichen Wortsinn von griech. Aisthesis ‹sinnliche Wahrnehmung›, gespürt und in ihrer inhaltlichen Komplexität imaginiert hat, kommen auch die anderen Sprachfunktionen zusätzlich, in ihrer Wirkung solchermaßen verstärkt, zum Tragen».

Texte, in denen die poetische oder ästhetische Funktion dominiert, richten also «das Augenmerk auf die Spürbarkeit der Zeichen» (Jakobson 1979, 92s.) und «[beziehen] auch den signifiant in die Bedeutungskonstitution mit ein [. . .]» (Wetzel 2009, 122). Gemäß Jakobson (1960, 358) geschieht dies auf der Grundlage des Äquivalenzprinzips: «The poetic function projects the principle of equivalence from the axis of selection into the axis of combination. Equivalence is promoted to the constitutive device of combination».

50 Gemäß Jakobson (1960) besteht jedes Sprechereignis aus den sechs konstitutiven Faktoren Sender, Empfänger, Kontext, Mitteilung, Kontakt und Kode und jeder dieser sechs Faktoren bedingt eine bestimmte sprachliche Funktion (cf. Jakobson 1960, 353; Jakobson 1979, 88). Die poetische Funktion der Sprache stelle die dominierende und strukturbestimmende Funktion der Dichtung dar und ergebe sich durch die Konzentration auf die Mitteilung um ihrer selbst willen (cf. Jakobson 1979, 92): «The set (Einstellung) toward the MESSAGE as such, focus on the message for its own sake, is the POETIC function of language» (Jakobson 1960, 356).

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Jakobson sieht also bei der Bildung jeder sprachlichen Äußerung zwei grundlegende Operationen, nämlich Selektion und Kombination, am Werk. Im Zuge der Selektion werden aus einem Paradigma bedeutungsähnlicher Begriffe die passenden Wörter ausgewählt (cf. ib., 358; Wetzel 2009, 123), die dann «mit solchen Wörtern zu einem Syntagma kombiniert werden, mit denen sie nach den Regeln der Kontiguität (der semantischen Kohärenz auf der Grundlage des Weltwissens) in Verbindung gebracht werden können» (Wetzel 2009, 123). Wetzel (2009) bringt nun die nötige Klarheit in Jakobsons recht kryptische Formulierung des für die Dichtung typischen Äquivalenzprinzips, indem er es zunächst mit Hilfe von dessen Beispiel «horrible Harry» (Jakobson 1979, 93) illustriert: in diesem Syntagma bestimme eben nicht in erster Linie die Kontiguität, also das Harry semantisch am besten charakterisierende Adjektiv die Kombination, sondern die (lautliche) Ähnlichkeit zwischen Substantiv und Adjektiv (cf. Wetzel 2009, 123). Außerdem expliziert Wetzel, dass wir es im Kontext der Selektion mit einer Ähnlichkeit der Bedeutungen zu tun haben, die Äquivalenz auf der Achse der Kombination aber zunächst eine der Zeichenkörper sei, die ihrerseits eine semantische Ähnlichkeit nahelege: «Wenn man das Beispiel [horrible Harry] betrachtet, ist das Entscheidende am Äquivalenzprinzip (was in der Formulierung Jakobsons gar nicht so deutlich wird) der Wechsel von der ursprünglichen Ähnlichkeit (Similarität) der Bedeutungen innerhalb eines Paradigmas zur Ähnlichkeit der Zeichenkörper im Syntagma – eine Ähnlichkeit, die durch die Kontiguität der Kombination eine zusätzliche semantische Ähnlichkeit suggeriert» (ib., 123).

Aus der Dominanz der poetischen Sprachfunktion mit ihrer charakteristischen Projektion der Ähnlichkeit auf die Achse der Kombination leitet Jakobson nun die essentielle Ambiguität der Dichtung ab. Diese entstehe dadurch, dass die verwendeten Wörter auch in dominant ästhetischen Texten ihre Systembedeutung oder «eigentliche» Bedeutung beibehalten, zusätzlich aber eine oder mehrere weitere Bedeutungen gewinnen, die sich aufgrund ihrer Kombination mit äquivalenten Einheiten (z.B. auf der Lautebene) ergeben: «Ambiguity is an intrinsic, inalienable character of any self-focused message, briefly a corollary feature of poetry. [. . .] The supremacy of poetic function over referential function does not obliterate the reference but makes it ambiguous. [. . .] In a sequence, where similarity is superimposed on contiguity, two similar phonemic sequences near to each other are prone to assume a paronomastic function. Words similar in sound are drawn together in meaning» (Jakobson 1960, 370s.).

Diese Überzeugung Jakobsons, dass die besondere (formale) Gestaltung literarischer Texte – in Bodes Worten: das Vorhandensein eines «sekundären modellbildenden Systems» (Bode 1988, 379), das zum Beispiel auf «Äquivalenz-Relationen

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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phonologischer, morphologischer, syntaktischer, lexikalischer und semantischer Art» (ib., 53) beruht – zwingend zu ihrer Mehrdeutigkeit führt, findet sich nun auch in den Definitionen von Polyvalenz bzw. literarischer Ambiguität mehrerer literaturwissenschaftlicher Lexika, z.B. in Metzlers Lexikon Literatur sowie im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, das explizit Jakobson (1960) als Quelle angibt: «Polyvalenz basiert [. . .] auf den bedeutungstragenden Mehrwertstrukturen von lit. Texten durch Reim, Metaphorik, Stil, Chiffren [. . .] oder Enjambements» (Sproll 2007, 598). «[Literarische Ambiguität] [. . .] ist im wesentlichen auf den Umstand zurückzuführen, daß in literarischen Texten Elemente der natürlichen Sprache so vertextet werden, daß neben die normalsprachlichen, ‹eigentlichen Bedeutungen›, die nicht gelöscht werden können, andere, zusätzliche zu treten scheinen. Ambiguität kann deshalb als charakteristischer und notwendiger Effekt der tendenziellen Selbstbezüglichkeit literarischer Sprache aufgefasst werden: Der literarische Text ist essentiell ambig, die uneigentliche Sprache der Dichtung immer mehrdeutig» (Bode 1997, 68).

Gemäß Jakobson (1960, 371) ist es aber nicht nur die Dominanz der poetischen Funktion, die für die Mehrdeutigkeit von literarischen Texten verantwortlich zeichnet, sondern auch die Vervielfachung von Sender- und Empfängerrollen: «Not only the message itself but also its addresser and addressee become ambiguous. Besides the author and the reader, there is the ‹I› of the lyrical hero or of the fictitious storyteller and the ‹you› or ‹thou› of the alleged addressee of dramatic monologues, supplications, and epistles. For instance the poem ‹Wrestling Jacob› is addressed by its title hero to the Saviour and simultaneously acts as a subjective message of the poet Charles Wesley to his readers».

Diese weitere Begründung für essentielle Mehrdeutigkeit von Literatur vermag Jannidis (2003, 322) überhaupt nicht zu überzeugen, er hält sie eher für «ein Wortspiel, da der Sender ja nicht doppeldeutig [werde], sondern verdoppelt». Winter-Froemel/Zirker (2010, 80) hingegen greifen diese Idee Jakobsons auf und führen einige überzeugende Beispiele dafür an, dass in literarischen Texten Ambiguität dadurch entstehen kann, «dass jeweils mehrere Sprecher- oder Hörerrollen parallel zueinander analysiert werden können», also zum Beispiel die handelnden Figuren, die miteinander kommunizieren, weiterhin Erzähler und impliziter Leser sowie Autor und empirischer Leser. Unseres Erachtens hat Jakobson mit der Analyse der besonderen Vertextungsverfahren, die auf der Projektion von Ähnlichkeit auf Kontiguität und den resultierenden Äquivalenz-Relationen beruhen, sowie der Beobachtung, dass sich in literarischen Texten Sender- und Empfängerrollen vervielfältigen, zweifelsohne zwei potentielle Quellen von Ambiguität ausfindig gemacht, die aber keinesfalls in jedem literarischen Text wirksam werden. Die gegenteilige Behauptung

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Jakobsons, dass in literarischen Texten grundsätzlich die poetische Funktion von Sprache dominiere und dies wiederum automatisch Mehrdeutigkeit nach sich ziehe, beruht nach Einschätzung von Bauer et al. (2010, 28) «auf einem sehr speziellen, zeitgebundenen Dichtungsverständnis», das der «Dichtung einen Primat der Form gegenüber dem Inhalt [unterstellt]». Jannidis (2003, 323) entlarvt gar einen auf einem Kategorienwechsel basierenden gedanklichen Fehler in den Argumentationen Jakobsons. So resultiere das seiner Meinung nach fruchtbare Konzept der poetischen Funktion aus der Analyse sprachlicher Merkmale, wohingegen die behauptete Dominanz der poetischen Funktion in der Dichtung auf Konventionen im Umgang mit Literatur beruhe. Diese Konventionen aber änderten sich nicht nur mit der Zeit, sondern variierten eben auch von Diskurstradition zu Diskurstradition: «[. . .] die Feststellung, in der Literatur dominiere die poetische Funktion, ist eine These, der zu viele literarische Texte widersprechen. Jakobson sieht vor allem lyrische Texte als Modell des literarischen Textes mit seiner Dominanz der poetischen Funktion und berücksichtigt die anderen Gattungen nicht angemessen. Die Ursache dieses Widerspruchs liegt in einem Kategorienwechsel, den Jakobson vornimmt: Das Konzept der poetischen Funktion ist eindeutig auf die Analyse von sprachlichen Merkmalen gerichtet. Die Frage nach der Dominanz der poetischen Funktion ist aber nicht mehr gestützt auf sprachliche Analysen. Offensichtlich gibt es Reportagen, die in Hinsicht auf die poetische Funktion kunstvoller geschrieben sind als Erzählungen. Wenn aber in den Erzählungen dennoch die poetische Funktion dominiert, dann ist dies eine Aussage über die Konventionen im Umgang mit Literatur. Diese Konventionen sind jedoch [. . .] historisch wandelbar und gelten auch für verschiedene Textsorten in unterschiedlicher Weise».

Diese von Jannidis (2003) und Bauer et al. (2010) angeführte Kritik an Jakobsons Begründung der Vieldeutigkeitsthese ist schlüssig und wird in dieser Arbeit uneingeschränkt geteilt. Eine letzte unstimmige Folgerung in Jakobsons und Bodes (1997) oben zitierten Argumentationen soll noch angesprochen werden. Warum muss denn die besondere formale Gestaltung dichterischer Texte, also die Kombination äquivalenter Einheiten auf phonologischer, morphologischer oder syntaktischer Ebene, der Einsatz von Metaphern, Metonymien und anderen stilistischen Möglichkeiten scheinbar zwingend eine weitere Bedeutung des Textes generieren, bzw. einen Gegensatz zur vordergründig-manifesten Bedeutungsebene des Textes etablieren? Wenn ein literarischer Text besondere formale Strukturen aufweist, dann können diese doch ebenso gut die in einem Satz oder Text explizit zum Ausdruck gebrachten Inhalte stützen oder betonen. Ein solcher Einsatz stilistischer Verfahren begegnet in ästhetischen Texten doch immer wieder. Maupassants fantastische Erzählung La Main ist zweifelsohne essentiell ambig, doch beruht die Ambiguität

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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hier im Wesentlichen auf Verletzungen der Grice’schen Maximen und den resultierenden konversationellen Implikaturen. Besondere formale Strukturen, die Maupassant beispielsweise in der Beschreibung von Bermutiers Albtraum einsetzt, «[. . .] j’eus un affreux cauchemar. Il me sembla que je voyais la main, l’horrible main, courir comme un scorpion ou comme une araignée le long de mes rideaux et de mes murs. Trois fois, je me réveillai, trois fois je me rendormis, trois fois je revis le hideux débris galoper autour de ma chambre [. . .]» (M, 1121; meine Hervorhebung).

also die dreimalige Wiederholung von trois fois, die syntaktischen Parallelismen, die lautlichen Äquivalenzen (réveillai, rendormis, revis) verstärken bzw. imitieren auf anderen Ebenen (Syntax, Phonologie) das, was auf der propositionalen Ebene explizit geschildert wird – dass Bermutier einen schrecklichen Albtraum hatte, der ihn einen Großteil der Nacht über nicht losgelassen hat. Diese besondere sprachliche Art der Vertextung betont also das mehrfach durchlebte Grauen, das in der zitierten Passage zum Ausdruck kommt, generiert oder suggeriert aber keinesfalls eine weitere oder gar gegenteilige Zusatzbedeutung. Auch Wetzel (2009), der Jakobsons Äquivalenzprinzip in seiner Abhandlung zur Lyrik thematisiert, kommt zu dem Schluss, dass die besonderen literarischen Textbildungsverfahren auf den Ebenen des signifiant (Rhythmus, lautliche Parallelismen etc.) und des signifié (Bildlichkeit durch Vergleiche, Metonymien und Metaphern) besonders intensiv in der Lyrik zum Einsatz kommen (cf. Wetzel 2009, 109), aber auch innerhalb dieser Gattung zeit- und autorabhängig einen unterschiedlichen Mehrwert haben, der nicht zwangsläufig Mehrdeutigkeit umfasst: «Nicht zu allen Zeiten und von allen Autoren werden die poetischen Verfahren auf der Seite des Zeicheninhalts und der des Zeichenkörpers gleichmäßig und ausgewogen genutzt. Rhetorische Mittel dienen im Gefolge der antiken Rhetorik in der Frühzeit der französischen Dichtung häufig nur als Schmuck und Dekor: Die Ausgestaltung der Ebene des Zeichenkörpers hebt nur einzelne Wörter oder Passagen besonders hervor, ohne zusätzliche Bedeutungen zu schaffen, oder es unterstützt das ausdrücklich Gesagte lediglich redundant (Kookkurenz) oder Metaphern ersetzen lediglich einen eigentlich gemeinten Ausdruck (Substitutionsmetaphern im Gegensatz zu Interaktionsmetaphern)» (ib., 132).

Da somit weder in jedem literarischen Text die poetische Sprachfunktion dominiert (cf. Jannidis 2003, 323) noch literarische Mehrwertstrukturen (Rhythmus, lautliche Parallelismen, Bildlichkeit etc.) zwingend zusätzliche Bedeutungen schaffen, ist die These von der konstitutiven Mehrdeutigkeit literarischer Texte unhaltbar. Wie entsteht literarische Ambiguität und in welchen Bereichen manifestiert sie sich? Wenngleich Jakobsons Behauptung, dass Mehrdeutigkeit zwingend aus der Dominanz der poetischen Funktion in der Literatur folge, soeben abgelehnt wurde,

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so besteht doch kein Zweifel daran, dass Jakobson zwei wichtige Quellen literarischer Ambiguität identifiziert hat. Die Projektion der Äquivalenz auf die Achse der Kombination kann dazu führen, dass zu der Systembedeutung bestimmter Lexeme eine weitere (auch völlig gegensätzliche) Bedeutung hinzutritt, die daraus resultiert, dass diese Lexeme sich mit der Bedeutung der Elemente, zu denen sie in (formale) Beziehung gesetzt werden, aufladen. Des Weiteren kann auch die Vervielfachung von Sender- und Empfängerrollen in literarischen Texten Ambiguität bewirken. Diesen von Jakobson identifizierten «Ambiguitätsauslösern» fügen Bauer et al. (2010, 48; 55) weitere hinzu. Auf übergeordneter Ebene angesiedelt ist die oben angeführte Erkenntnis, dass die Mehrdeutigkeit literarischer Texte häufig nicht auf Ambiguität im System basiert, sondern der aktuelle Diskurs Ambiguität generiert. So können bestimmte, aus der Sicht des Sprachsystems völlig eindeutige Äußerungen innerhalb des verbal restituierten situativen Kontextes, des Kotextes oder des evozierten Wissenskontextes konversationelle Implikaturen auslösen und somit mehrdeutig werden. Als weiteren konkreten potentiellen «Ambiguitätsauslöser» benennen Bauer et al. (2010, 33) die Tatsache, «dass in literarischen Texten bestimmte Kontexte evoziert werden und andere offen oder unspezifiziert bleiben». Das sei zwar in Kommunikationsprozessen unvermeidbar, die besondere Rezeptionssituation literarischer Texte schließe aber die Möglichkeit von Rückfragen aus und die Fiktionalität der Figuren und Geschehnisse die Hinzuziehung weiterer Informationsquellen. Schließlich führen Bauer et al. (2010, 35) noch die Sprachbezogenheit literarischer Texte als potentielle Quelle von Ambiguität an. «Da die in [literarischen Texten] vorgestellte Welt aus Sprache geschaffen ist, machen sie auf das Potenzial von Sprache aufmerksam und damit auch auf die im Sprachsystem und in der sprachlichen Kommunikation angelegte Ambiguität». Als Beispiel für diesen Auslöser von Ambiguität zitieren Winter-Froemel/Zirker (2010) den folgenden Dialog aus Lewis Carrolls Through the Looking-Glass: «‹Can you answer useful questions?› she [the Red Queen] said. ‹How ist bread made?› ‹I know that!› Alice cried eagerly. ‹You take some flour –› ‹Where do you pick the flower?› the White Queen asked. ‹Well, it isn’t picked at all,› Alice explained: ‹it’s ground –› ‹How many acres of ground?› said the White Queen» (Lewis Carroll, Through the Looking-Glass, 9.227).

Die Ambiguität dieser Passage basiert auf den Homophonen (flour/flower, ground/ground), für die die White Queen jeweils die falsche Interpretation wählt, weil sie den Kontext missachtet oder weil ihr das nötige Weltwissen zum Thema

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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«Brot backen» fehlt (cf. Winter-Froemel/Zirker 2010, 81). Gemäß Bauer et al. (2010, 35) dient solch mehrdeutig-spielerischer Sprachgebrauch «der Aufdeckung von tieferliegenden Strukturen». Im soeben zitierten Dialog wird beispielsweise die Frage aufgeworfen, «wie [. . .] bestimmte Sachverhalte einem Kommunikationsteilnehmer [aus einem anderen kulturellen Kontext/ohne Vorwissen] in eindeutiger Weise übermittelt werden [können], wenn hierfür nur mehrdeutige Zeichen zur Verfügung stehen» (Winter-Froemel/Zirker 2010, 82). Nachdem nun einige potentielle Quellen literarischer Ambiguität angesprochen wurden, soll abschließend noch geklärt werden, in welchen Bereichen literarischer Kommunikation sich Mehrdeutigkeit manifestieren kann. Bauer et al. (2010) unterscheiden hier drei Bereiche, die sich letztlich zwingend aus den zwei semiotischen Ebenen literarischer Texte und ihrer sprachlichen Verfasstheit ergeben. Zunächst kann Ambiguität auf der ersten semiotischen Ebene vorliegen. Das, was in einem literarischen Text geschildert wird (Personen, Ereignisse, Handlungen, Gespräche etc.) und Ausdruck für seinen eigentlichen Sinn ist (cf. Coseriu 1980/2007, 65), kann mehrdeutig sein. Bauer et al. (2010, 37) sprechen in diesem Fall davon, dass Ambiguität «Gegenstand der literarischen Mimesis sei», also zur «vorgestellten Welt [gehöre]». Zum einen könne die im Text wiedergegebene Kommunikation, also Gespräche zwischen den handelnden Figuren, mehrdeutig sein, zum anderen könne «in der Wahrnehmung von Strukturen der Welt [. . .] Ambiguität konstatiert und dementsprechend literarisch präsentiert [werden]». Des Weiteren kann Ambiguität natürlich als mehrfacher Sinn eines Textes begegnen, also als «Mehrdeutigkeit von Werken» und somit «in der Kommunikation von Autor und Leser» in Erscheinung treten (cf. ib., 35). Da literarische Texte schließlich aus sprachlichen Zeichen aufgebaut sind, finden sich in ihnen auch immer wieder «sprachliche Ambiguitäten im engeren, d.h. lexikalischen, semantischen und syntaktischen Sinn» (ib., 38) – wenngleich, wie oben bereits erläutert wurde, diese Ambiguitäten im System bei weitem nicht die dominierende Form von Mehrdeutigkeit in der Literatur darstellen. Gemäß Bauer et al. (2010, 38) haben diese sprachlichen Ambiguitäten häufig eine «wirkungsästhetische Komponente» wie beispielsweise Erregung von Aufmerksamkeit oder Überraschung oder sie dienen der Sprachreflexion selbst, was oben in Bezug auf den Dialog zwischen Alice und der White Queen erläutert wurde. Die soeben referierten Erkenntnisse bezüglich potentieller Quellen von Ambiguität sowie der Bereiche, in denen sich literarische Mehrdeutigkeit manifestiert, sind äußerst hilfreich für die folgende Analyse der Strategien, die in einigen Korpustexten zur Generierung von Mehrdeutigkeit eingesetzt werden und ihre Komplexität erhöhen. Die ausführlich begründete Überzeugung, dass

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Ambiguität kein Wesensmerkmal aller Literatur ist, sondern eine besondere Eigenschaft bestimmter Gattungen und Texte, macht die Analyse von Ambiguität als Indikator von Komplexität im Kontext dieser Arbeit interessant. Während die in Bauer et al. (2010) analysierten Beispiele für literarische Ambiguität meist von lokaler Natur sind und einzelne Sätze aus einem Werk betreffen, sollen im Folgenden ausschließlich «flächige Formen» von Ambiguität analysiert werden, die entweder die Ereignisse auf der ersten semiotischen Ebene dominieren oder sich in einem mehrfachen Textsinn manifestieren. Ein erstes Resultat dieser Analysen wird eine Verlängerung der von Jakobson (1960) und Bauer et al. (2010) erstellten Liste von «Ambiguitätsauslösern» sein. Weiterhin wird deutlich werden, dass innerhalb eines Textes häufig eine Vielzahl von textsemantischen Strategien zur Generierung von Ambiguität Einsatz findet und dass diese auch häufig in mehr als einem Bereich auftritt. Die oben bereits knapp begründete Verflechtung von Ambiguität und Komplexität, die auf der Tatsache beruht, dass beide Phänomene durch ABWEICHUNGEN von sprachlichen bzw. sprachbezogenen Normen und Traditionen sowie durch ein hohes Maß an kontextabhängiger IMPLIZITHEIT entstehen und sowohl mehrdeutige als auch komplexe Texte hohe Anforderungen an die Konzentration und das WISSEN der Rezipienten stellen, soll im Folgenden anhand von drei hochambigen Korpustexten konkretisiert und präzisiert werden.

3.3.1 Ambiguität und Überraschungseffekt: gebündelte textsemantische Strategien in Happy Meal von Anna Gavalda In Kapitel 3.2.2.2 wurde im Rahmen der Analyse der suppletiven Kontextbildung in Happy Meal (2000) von Anna Gavalda bereits eine diskurstraditionelle Charakterisierung und eine Inhaltsangabe dieser nouvelle à chute geliefert und es wurde aufgezeigt, wie die reduzierte Form der verbalen Restitution der Situation zur Ambiguität der Erzählung beiträgt. Im Rahmen dieses Kapitels sollen die weiteren Strategien analysiert werden, die Happy Meal zu einer hochambigen Novelle machen, und es soll deutlich werden, wie stark diese Strategien den Komplexitätswert von gut der Hälfte der 14 in dieser Arbeit zugrundegelegten Komplexitätskategorien in die Höhe treiben. Die nouvelle à chute Happy Meal bereitet dem Leser einen meisterhaften finalen Überraschungseffekt, der in erster Linie durch die Inszenierung von Ambiguität erreicht wird, die die gesamte Erzählung dominiert und sich tatsächlich in allen drei der von Bauer et al. (2010) identifizierten Bereiche literarischer Kommunikation manifestiert. Zu diesem Zweck setzt die Autorin ein ganzes Bündel textsemantischer Strategien ein und greift auf geeignete Diskurstraditionen bezüglich

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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der Erzählstimme und der Fokalisierung zurück. Am deutlichsten tritt die Ambiguität in dieser nouvelle à chute auf der ersten semiotischen Ebene in Erscheinung. Hier wird ein gemeinsames Mittagessen zweier Personen geschildert, deren Beziehung zweifelsohne durch gegenseitige Zuneigung geprägt ist. Bei einer ersten Lektüre wird der Großteil der Leser die Geschichte über 98% der Textlänge hinweg als Episode aus dem Beziehungsalltag eines reiferen Mannes und seiner jüngeren Geliebten verstehen. Ambiguität in Bezug auf die Ereignisse bzw. die Natur der Beziehung wird dem Leser womöglich gar nicht auffallen. Erst in der chute erfährt er, dass es sich bei den Protagonisten um einen Vater und seine sechsjährige Tochter handelt, was ihn mit Sicherheit überrascht und vielleicht auch befremdet. Bei einer zweiten Lektüre muss er dann feststellen, dass die Geschichte von Beginn an tatsächlich auch als Ausschnitt aus einer Vater-Tochter-Beziehung verstanden werden kann. Somit liegt in Happy Meal ein Fall von subtiler Zweideutigkeit im Bereich der literarischen Mimesis vor. In der chute wird die Identität der Protagonisten zwar eindeutig geklärt und damit auch die Natur ihrer Beziehung, doch ändert das nichts an der Präsenz von Ambiguität und Ambivalenz auf der ersten semiotischen Ebene, durch die das überraschende Ende erst ermöglicht wird. Im Folgenden sollen nun die Strategien analysiert werden, mittels derer Anna Gavalda diese Ambiguität auf der ersten semiotischen Ebene generiert und damit gleichzeitig die semantische Komplexität ihrer Erzählung deutlich erhöht. Zuallererst ist festzustellen, dass für nouvelles à chute eine genrebedingte Umdeutung der Grice’schen Maximen konstitutiv ist: ein Zurückhalten von Informationen sowie das Spiel mit Mehrdeutigkeit und Dunkelheit des Ausdrucks sind unerlässlich, um den Leser am Schluss der Erzählung zu überraschen. Dabei erfolgt die Umdeutung der Maximen flächig bzw. methodisch – wir haben es also nicht wie sonst bei Implikaturen mit punktuellen Verstößen gegen die Grice’schen Maximen zu tun. Auch in Happy Meal sind auf der Ebene der Autor-LeserKommunikation solche flächig erfolgenden Verletzungen der 1. Untermaxime der Quantität (1. Mache deinen Beitrag so informativ wie (für die gegebenen Gesprächszwecke) nötig) sowie der Obermaxime (Sei klar) und der 1. und 2. Untermaxime der Modalität (1. Vermeide Dunkelheit des Ausdrucks, 2. Vermeide Mehrdeutigkeit) festzustellen. Um diese Maximenbrüche in einer illusionistischerzählenden psychologischen Novelle akzeptabel bzw. plausibel zu machen, wählt die Autorin aus dem Repertoire moderner und zeitgenössischer Erzählungen einen autodiegetischen Ich-Erzähler und den Typ des gleichzeitigen Erzählens aus. Der Narrator ist also auch eine Hauptperson der Diegese, nämlich Valentines Vater, und weiterhin die Reflektorfigur, deren Wahrnehmung für die Darstellung ausschlaggebend ist (cf. Fludernik 2006/2010, 108). Durch diese Art der Fokalisierung ist keine Innensicht Valentines verfügbar. Der Leser erfährt also wenig über ihre Gedanken und Gefühle, die somit auch nicht ihre Kindlichkeit

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offenbaren können. Tatsächlich verdrängt das erlebende Ich hier nahezu das erzählende und gibt es keine zeitliche oder emotionale Distanz zwischen beiden. Der Rezipient hat den Eindruck, dass der von positiven Gefühlen (Liebe zu seiner Begleiterin) und negativen Impressionen (Atmosphäre im McDonald’s Restaurant) aufgewühlte Erzähler das Geschehen in dem Moment verbalisiert, in dem es sich ereignet. Dieser Eindruck wird natürlich durch das Präsens als Erzähltempus unterstützt, das gemäß Fludernik (2006/2010, 64) gerade der Betonung der Unmittelbarkeit des Erzählten dient. Die in Kapitel 3.2.2 aufgeführten Charakteristika moderner und zeitgenössischer Erzählungen, also interne Fokalisierung, Beginn in medias res, Verzicht auf Informationen zu den handelnden Figuren und Vorstellung des fiktionalen Universums als bekannt, sind in dieser nouvelle à chute derart ausgeprägt vorhanden, dass sich der Eindruck einstellt, dass Erzähler und Adressat ein und dieselbe Person sind, der Erzähler sich also in einer Art innerem Monolog seine Gedanken und Gefühle während dieses Mittagessens selbst bewusst macht. Unter dieser Annahme kann man dem autodiegetischen Erzähler letztlich gar keine Verstöße gegen Quantitäts- und Modalitätsmaxime vorwerfen: er hat schließlich das Mädchen, von dem er erzählt, vor Augen, weiß in welcher Beziehung sie zueinander stehen und wann und wo sie unterwegs sind. Auf der Ebene der Autor-Leser-Kommunikation liegt allerdings sehr wohl ein Unterlaufen der genannten Maximen vor. Für den empirischen Leser bleiben aufgrund dieser Erzählweise nämlich zentrale Kontexte offen bzw. unspezifiziert, was das überraschende Ende der Novelle erst ermöglicht und Bedingung und Auslöser für die Ambiguität auf der ersten semiotischen Ebene darstellt. Die in Kapitel 3.2.2.2 bereits analysierte suppletive Kontextbildung fällt dementsprechend sehr reduziert aus und zentrale Slots des Personen-Frames der Protagonistin wie ALTER und BEZIEHUNG ZUM ICH-ERZÄHLER werden extrem lange – nämlich bis zum letzten Satz der Novelle – offen gelassen. Die Figuren werden durch Deiktika (je, cette fille) eingeführt und die Koreferenzkette der Protagonistin besteht vornehmlich aus Pronomen der 3. Person Singular sowie den drei Nominalsyntagmen cette jeune personne, la plus jolie fille de la rue und ma chérie. Hier zeigt sich, dass an entscheidenden Stellen der Novelle auch «sprachliche Ambiguitäten im engeren [. . .] Sinne» (Bauer et al. 2010, 38) zum Einsatz kommen. Die Substantive fille, personne und chérie sind zwar keine Polyseme, aber semantisch vage Lexeme, die innerhalb eines gewissen Rahmens unspezifiziert sind bezüglich der Merkmale [alt] versus [jung]. Gemäß Bußmann (2008, 769) handelt es sich bei Vagheit jedoch sehr wohl um einen «Teilaspekt von sprachlicher Mehrdeutigkeit» und sind Ambiguität und Vagheit komplementäre Begriffe im Bereich der semantischen Unbestimmtheit. Mit Bezug auf Pinkal (1991) erläutert sie:

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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«[. . .] A[mbiguität] zeichnet sich dabei gegenüber Vagheit dadurch aus, dass das Präzisierungsspektrum als diskret wahrgenommen wird (Bsp. Bank: Lesart 1 = ‹Geldinstitut›, Lesart 2 = ‹Sitzgelegenheit› usw.), während vage Ausdrücke (z.B. Farbadjektive, Gradadjektive) über ein kontinuierliches Präzisierungsspektrum verfügen [. . .]» (Bußmann 2008, 34).

Diese lexikalische Vagheit, die Tatsache, dass das Präzisierungsspektrum bezüglich des Alters bei einer als fille titulierten Person zwischen 0 und 25 Jahren liegen kann, bei chérie, jeune und personne noch ausgedehnter ist, trägt also bereits in einem nicht unerheblichen Maße zur Ambiguität auf der ersten semiotischen Ebene bei. Die Vagheit im einführenden Nominalsyntagma cette fille sowie die gänzlich fehlenden expliziten Informationen zur Identität der handelnden Figuren und ihrer Beziehung nimmt der Erstleser dieser Novelle aber höchstwahrscheinlich gar nicht wahr. Ihm wird nämlich im Incipit durch die Verwendung der Lexeme bzw. Lexemverbindungen aimer, (lui) faire plaisir, inviter à déjeuner, regarder son profil (HM, 11), die sich allesamt auf cette fille beziehen, sowie durch Erwähnung des präferierten Ortes des Mittagessens – «une grande brasserie avec des miroirs et des nappes en tissu» (HM, 11) – sofort nahegelegt, den Frame romantische Liebesbeziehung zu evozieren. Dieser liefert ihm dann vermeintlich den nötigen Wissenshintergrund, um die Identität der handelnden Personen und das Thema der Novelle zu inferieren. Der Leser wird die Erzählung als Episode aus dem Beziehungsalltag eines reiferen, eleganten Mannes und seiner jüngeren Geliebten lesen, die unterschiedliche gastronomische Vorlieben haben. Die Autorin führt ihre Leser also gezielt auf eine falsche Fährte, indem sie für den durch den ersten Satz («Cette fille, je l’aime.», HM, 11) aufgerufenen Frame Liebesbeziehung in unmittelbarer Folge konkrete Füllwerte anbietet, deren Grad an Erwartbarkeit in einem Frame romantische bzw. partnerschaftliche Liebesbeziehung etwas höher ist als im Frame VaterTochter-Beziehung. Gleichzeitig sind die zitierten Lexeme aimer, (lui) faire plaisir, inviter à déjeuner, regarder son profil etc. aber auch problemlos in einen Frame Vater-Tochter-Beziehung integrierbar. Dieses Spiel mit der uneindeutigen Spezifizierung des Frames Liebesbeziehung und der ebenso unklaren Instantiierung des Frames weibliche Person durchzieht die gesamte Novelle und ist hauptverantwortlich für die Ambiguität als Gegenstand der literarischen Mimesis. In rascher Folge werden Verhaltensweisen, Eigenschaften und Gesten der Protagonistin präsentiert, die mitunter ebenso gut in den Frame kleines Mädchen wie in den Frame junge Frau passen, manchmal einen höheren Grad an Prototypikalität im MädchenFrame aufweisen und manchmal eine etwas größere Erwartbarkeit im FrauenFrame haben, aber niemals im jeweils anderen Frame ausgeschlossen wären. Die im Folgenden aufgeführten Textstellen illustrieren zum einen Valentines Begeisterung für McDonald’s, ihr Quengeln zum Erreichen ihrer Wünsche, ihre Schwierigkeiten bei der Menüauswahl, ihre leichte Ablenkbarkeit und ein größeres Interesse

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an fremden Personen als am eigenen Begleiter. Dabei handelt es sich um Verhaltensweisen, die man einem Kind wohl eher zuschreiben würde als einer erwachsenen Frau, die aber in Bezug auf eine junge Frau auch nicht undenkbar erscheinen. Andere Textstellen belegen die Empathie, die Valentine dem Erzähler gegenüber beweist, ihre aufmunternden Gesten, ihre Aufmerksamkeit, die im Widerspruch zu ihrer leichten Ablenkbarkeit steht, und vor allem ihre bewusst eingesetzte Koketterie und ihre liebevollen Neckereien. Diese Eigenschaften und Verhaltensweisen hingegen würde man vermutlich eher einer jungen Frau zuschreiben als einer Sechsjährigen – sichere Indizien für den Frame junge Frau sind diese Filler aber zweifelsohne auch nicht:

Tab. 31: Spiel mit der uneindeutigen Spezifizierung des Frames weibliche Person. Filler eines Frames kleines Mädchen?

Filler eines Frames junge Frau?

Begeisterung für McDonald’s Cette jeune personne aime les nuggets et la sauce barbecue, qu’y puis-je ? (HM, ) Elle ouvre délicatement sa boîte de nuggets comme s’il s’était agi d’un coffret à bijoux. [. . .] Elle trempe ses morceaux de poulet [. . .] dans leur sauce chimique. Elle se régale. (HM, s.)

Empathie und Aufmunterung D’une fois sur l’autre, j’oublie à quel point je hais les McDonald. [. . .] J’ai déjà du mal avec l’humanité, je ne devrais pas venir dans ce genre d’endroit. [. . .] Elle le sent, elle sent ces choses. Elle prend ma main et la presse doucement. (HM, ) Elle se tourne vers moi : – Tu préfères le coin fumeur, j’imagine ? Je hausse les épaules. – Si. Tu préfères. Je le sais bien. Elle m’ouvre la voie. (HM, )

Quengeln «D’accord, me dit-elle, mais on va au McDonald.» [. . .] «Ça fait si longtemps . . . ajoute-t-elle en posant son livre près d’elle, si longtemps . . .» (HM, ) Leichte Ablenkbarkeit/Interesse an Fremden Elle ne me parle pas beaucoup mais j’ai l’habitude, elle ne me parle jamais beaucoup quand je l’emmène déjeuner : elle est bien trop occupée à regarder les tables voisines. (HM, ) Schwierige Meinungsfindung Elle change d’avis plusieurs fois. Comme dessert, elle hésite entre un milkshake ou un sundae caramel. (HM, )

Aufmerksamkeit Je cherche mon paquet de tabac en tâtant toutes mes poches. – Tu l’as mis dans ta veste. – Merci. (HM, ) Necken/Koketterie – Tu l’as mis dans ta veste. (Valentine) – Merci. – Qu’est-ce que tu ferais sans moi, hein ? (HM, ) – Tu as raison. (Erzähler) – J’ai toujours raison. (Valentine) (HM, ) Mais déjà le charme est rompu: elle a senti que je la regardais et minaude en pinçant sa paille. (HM, )

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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Eine vergleichbare Uneindeutigkeit ist auch in Bezug auf die zahlreichen expliziten Füllwerte festzustellen, die Valentines Äußeres betreffen, insbesondere ihre Kleidung und ihre Accessoires. Die erwähnten Kleidungsstücke chaussures (HM, 11), chaussettes (HM, 12), écharpe (HM, 13), jupe, chemisier, manteau (HM, 16) können natürlich ebenso gut Filler des Slots KLEIDUNG in einem Frauen- als auch in einem Mädchen-Frame sein. Bei den Accessoires bzw. der Art ihrer Maniküre hingegen ist wieder festzustellen, dass einige Filler (z.B. du vernis violet nacré, HM, 13; son sac, HM, 16) einen höheren Grad an Erwartbarkeit in einem Frauen-Frame haben, andere (z.B. deux petites libellules dans les cheveux, HM, 13) in einem Mädchen-Frame, aber keiner dieser Filler im jeweils anderen Frame für große Überraschung sorgen würde. Wer hat nicht schon einmal eine Dreijährige mit lackierten Nägeln gesehen oder eine erwachsene Frau im Girlielook? Auffällig ist auch, dass Filler, die den Eindruck vermitteln, dass Valentine eine junge Frau ist, und solche, die eher für ein Kind sprechen, häufig in ein und derselben Textpassage in unmittelbarer Nachbarschaft zu finden sind, wie z.B. die Filler Nagellack und Libellenspangen: «Je regarde ses mains. Elle a mis du vernis violet nacré sur ses ongles. Couleur aile de libellule. Je dis ça, je n’y connais rien en couleur de vernis, mais il se trouve qu’elle a deux petites libellules dans les cheveux. Minuscules barrettes inutiles qui n’arrivent pas à retenir quelques mèches blondes» (HM, 13).

Somit findet der Leser, der von Beginn an die Novelle als Episode aus einer romantischen Liebesbeziehung versteht, immer wieder Filler, die diese Interpretation stützen. Und auf andere Filler, die ihn verunsichern könnten (z.B. deux petites libellules dans les cheveux), folgen sofort wieder solche, die seine Deutung scheinbar bestätigen und die abweichenden Filler sozusagen «neutralisieren». Auch diese Strategie generiert bzw. verstärkt die Ambiguität der Erzählung. Dasselbe Spiel mit mehrdeutigen und uneindeutigen Fillern findet man auch in Bezug auf den Beziehungs-Frame, der in dieser Novelle besonders dominant ist: «J’ai envie de lui faire plaisir. J’ai envie de l’inviter à déjeuner» (HM, 11). «Si on reste ensemble assez longtemps, je lui apprendrai autre chose. Je lui apprendrai la sauche gribiche et les crêpes Suzette par exemple. [. . .] Il y a tellement de choses que je voudrais lui montrer . . . Tellement de choses» (HM, 11). «Je sais, je radote, mais je ne peux m’empêcher de penser : Est-ce pour moi, en pensant à ce déjeuner, qu’elle s’est fait les ongles ce matin ? Je l’imagine, concentrée dans la salle de bains, rêvant déjà à son sundae caramel . . . Et à moi, un petit peu fatalement» (HM, 13s.). «Elle me fait sentir que je suis un ringard, ça se voit dans ses yeux. Mais du moins le faitelle tendrement. Pourvu que ça dure, sa tendresse. Pourvu que ça dure» (HM, 14).

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Die soeben zitierten Wünsche und Pläne des Erzählers in Bezug auf seine Begleiterin (jdm. Freude machen, jdn. zum Mittagessen einladen, jdn. mit den Dingen vertraut machen, die man selbst schätzt . . . ) sowie die Hoffnung, dass ihre zärtliche Nachsicht ihm gegenüber anhält und sie beim Nägel-Lackieren auch ein bisschen an ihn gedacht hat, sind ebenso gut als Filler eines Frames Vater-Tochter-Beziehung wie als Filler eines Frames romantische Liebesbeziehung zwischen einer jüngeren Frau und einem reiferen Mann denkbar. Die Vermutung, dass ein größerer Altersunterschied zwischen den Protagonisten besteht, scheint aufgrund der Benennung fille, der unterschiedlichen gastronomischen Vorlieben und insbesondere der zuletzt zitierten Aussage, dass sie ihn für altmodisch (ringard) hält, so gut wie sicher, was sich in der chute ja auch als wahr herausstellt. Dieser größere Altersunterschied ist aber ebenfalls kein eindeutiges Indiz für die Natur der thematisierten Beziehung: er besteht zwangsläufig zwischen Vater und Tochter, kommt aber auch nicht gerade selten in Liebesbeziehungen vor. Des Weiteren ist eine Handlung wie «Je porte nos deux plateaux.» (HM, 12) ebenfalls zweideutig oder zumindest vage, denn sie kann sowohl als Vorsichtsmaßnahme des Vaters interpretiert werden als auch als Geste des Gentlemans gegenüber seiner Geliebten. Und der oben bereits in Teilen zitierte Dialog zwischen dem Erzähler und seiner Begleiterin, der stellvertretend für weitere steht: «Je cherche mon paquet de tabac en tâtant toutes mes poches. - Tu l’as mis dans ta veste. - Merci. - Qu’est-ce que tu ferais sans moi, hein ? - Rien. Je lui souris en me roulant une cigarette. - . . . mais je ne serais pas obligé d’aller au McDo le samedi après-midi» (HM, 15).

erinnert zweifelsohne an die zärtlichen Neckereien oder Provokationen zwischen Verliebten, aber nicht weniger auch an das liebevolle «sich gegenseitig Hochnehmen» von Vater und Tochter. Dieses auf der propositionalen Ebene angesiedelte Spiel mit Fillern, die uneindeutig sind oder einen etwas höheren Grad an Prototypikalität im VaterTochter-Beziehungs-Frame als im Frame romantische Liebesbeziehung haben oder umgekehrt, aber nie im jeweils anderen Frame ausgeschlossen sind, setzt sich nun auch auf der Ebene der Evokationen bzw. Konnotationen fort. In Kapitel 3.2.2.2 wurde bereits auf die Formulierung rester ensemble hingewiesen, die im Rahmen einer Anapher besonderes Gewicht erhält: «Si on reste ensemble assez longtemps, je lui apprendrai autre chose. Je lui apprendrai la sauce gribiche et les crêpes Suzette par exemple. Si on reste ensemble assez longtemps, je

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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lui apprendrai que les garçons des grandes brasseries n’ont pas le droit de toucher nos serviettes [. . .]» (HM, 11; meine Hervorhebung).

Diese Formulierung ist zweifelsohne am häufigsten im Kontext von partnerschaftlichen Liebesbeziehungen zu finden, was eine Eingabe der Kollokation in eine beliebige Internet-Suchmaschine beweist. In diesem Kontext stellt sich eben in der heutigen Zeit nicht selten die Frage, ob man mit dem aktuellen Lebenspartner zusammenbleiben möchte oder nicht, während Eltern-Kind-Beziehungen im Regelfall erst mit dem Tod der Eltern enden. Vermutlich spielt der Ich-Erzähler mit dieser Formulierung auch auf seine Endlichkeit an und will ausdrücken, dass ihm hoffentlich noch genügend Lebenszeit bleibt, um seiner Tochter all das zu zeigen, was ihm wichtig ist. Er verwendet dafür aber eine Formulierung, die im Kontext von partnerschaftlichen Liebesbeziehungen frequenter und geläufiger ist und somit eine solche Beziehung evoziert. Auch das Adjektiv gracile, das der Petit Robert (2013, 1174) eindeutig dem literarischen Sprachgebrauch zurechnet, sowie das zugehörige Substantiv grâce finden in der Literatur sicherlich ungleich häufiger Anwendung auf eine erwachsene Frau als auf ein sechsjähriges Kind, dienen in Happy Meal aber der Beschreibung von Valentine: «son cou gracile» (HM, 13), «J’aime ses manières. Comment est-ce possible ? Tant de grâce.» (HM, 16). Eine sehr deutliche Evokation romantischer Liebe weist die gleich mehrfach wiederholte Nominalgruppe preux chevalier auf. Das Adjektiv preux entstammt der langue de la chevalerie (cf. Le Petit Robert 2013, 2018) und seine Verbindung mit dem Historizismus chevalier muss als Anspielung auf das Konzept der mittelalterlichen amour courtois bzw. fin’amors gedeutet werden, die sich natürlich zwischen Erwachsenen vollzieht: «Die ‹fin’amors› ist definiert als die Verehrung einer sozial höhergestellten, meist verheirateten Dame (‹domna›) durch einen treu ergebenen Ritter und wird oft in Analogie zu einem lehnsrechtlichen Verhältnis beschrieben» (Becker 2006, 52).

Die Wendung preux chevalier mit ihrer eindeutigen Evokation der höfischen Liebe wird aber vom Erzähler mit einer gewissen Selbstironie gebraucht, als er Valentine vorgaukelt, die Bedienung im McDonald’s Restaurant um eine neue Portion Erdnüsse und Karamell für ihren sundae zu bitten, in Wirklichkeit aber einfach einen neuen bestellt. So ergibt sich aus der Zusammenspannung von inhaltlichem Kontext und Formulierungen mit einer eindeutig romantischen Konnotation wiederum die omnipräsente Ambiguität im Bereich der literarischen Mimesis: «Je me lève en prenant son petit pot de crème glacée et me dirige vers les caisses. Je lui fais un clin d’œil. Elle me regarde amusée. Je balise un peu. Je suis son preux chevalier

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

investi d’une mission impossible. Discrètement, je demande à la dame un nouveau sundae. C’est plus simple. C’est plus sûr. Je suis un preux chevalier prévoyant» (HM, 15; meine Hervorhebung).

Eine vergleichbare, äußerst geschickt komponierte und durch und durch ambige Passage der Novelle soll die Untersuchung von Mehrdeutigkeit in Happy Meal abschließen. In besagter Passage spricht der globale inhaltliche Kontext eher für eine romantische Liebesbeziehung, einzelne Aspekte der unternommenen Aufzählung erinnern aber eher an ein Kind. Weiterhin sind erotische Anspielungen vorhanden, die zwar sofort relativiert werden, aber nur um wenig später erneuert zu werden. Während Valentine nämlich die Leute an den Nachbartischen beobachtet, mustert der Erzähler seine Begleiterin und fragt sich, welche Aspekte ihres Äußeren er am meisten an ihr liebt – dieses Verhalten erwartet man sicherlich eher im Rahmen einer romantischen Liebesbeziehung: «Comme elle les observe, j’en profite pour la dévisager tranquillement. Qu’est-ce que j’aime le plus chez elle ? En numéro un, je mettrais ses sourcils. Elle a de très jolis sourcils. Très bien dessinés. Le bon Dieu devait être inspiré ce jour-là. En numéro deux, ses lobes d’oreilles. Parfaits. Ses oreilles ne sont pas percées. J’espère qu’elle n’aura jamais cette idée saugrenue. Je l’en empêcherai. En numéro trois, quelque chose de très délicat à décrire . . . En numéro trois, j’aime son nez ou, plus exactement, les ailes de son nez. Ces deux petites courbes de chaque côté, délicates et frémissantes. Roses. Douces. Adorables. En numéro quatre . . . » (HM, 14).

Schöne Augenbrauen (de très jolis sourcils) kann ein Mann wohl problemlos sowohl bei seiner Geliebten als auch bei seiner Tochter konstatieren. Die Freude über ihre schön geformten Ohrläppchen und insbesondere die Aussage des Erzählers, dass er Valentine daran hindern wird, sich Ohrringe stechen zu lassen, wirken allerdings im Rahmen einer Vater-Tochter-Beziehung deutlich plausibler als in einer partnerschaftlichen Beziehung. Wollte ein europäischer Mann seine erwachsene Partnerin daran hindern, sich Ohrringe zuzulegen, würde das wohl als unangemessener Eingriff in ihr Selbstbestimmungsrecht gewertet. Die Formulierung En numéro trois, quelque chose de très délicat à décrire . . . hingegen suggeriert, dass der Erzähler jetzt einen Körperteil bewundert, der mit gewissen Tabus belegt ist, und derartige Andeutungen will der Leser sich wohl nur im Rahmen einer romantischen Liebesbeziehung vorstellen. Diese erotische Andeutung wird aber durch den folgenden Satz sofort zurückgenommen, denn es ist lediglich die Nase seiner Begleiterin, die den Erzähler entzückt: En numéro trois, j’aime son nez ou, plus exactement, les ailes de son nez. Die Wortwahl bei der folgenden Beschreibung von Valentines Nasenflügeln – Ces deux petites courbes de chaque côté, délicates et frémissantes. Roses. Douces. Adorables. – erneuert aber sofort wieder die subtile Erotik. Das liegt insbesondere an dem Adjektiv frémissant, das mit Sicherheit im Kontext von Leidenschaft und Verlangen

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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überproportional häufig auftaucht, was durch das Verwendungsbeispiel im Petit Robert (2013, 1100) «Être frémissant de désir.» bestätigt wird. Somit bleibt die Passage insgesamt unauflösbar ambig, liefert sowohl Indizien für die eine mögliche Lesart als auch für die andere. Zum Schluss muss noch die geschickte Wahl des Titels näher beleuchtet werden. Wenn der durch die chute überraschte Leser die Novelle ein zweites Mal liest, wird er mit Sicherheit auch dem Titel mehr Aufmerksamkeit schenken und ihn jetzt als klares Indiz für eine Vater-Tochter-Beziehung werten. Schließlich nennt die Fast-Food-Kette McDonald’s ihr Kindermenü, das stets ein Spielzeug für die Kleinen beinhaltet, Happy Meal. Als isolierter und zunächst kontextloser Titel einer Novelle, die ja in ihren ersten Sätzen die falsche Fährte romantische Liebesbeziehung legt, wird Happy Meal aber wohl von den wenigsten Lesern als Indiz für die Kindlichkeit der weiblichen Hauptperson gewertet. Viele Rezipienten werden den Titel nicht als Eigennamen verstehen, sondern als (warum auch immer auf Englisch ausgedrücktes) nom commun und davon ausgehen, dass ihnen im Folgenden von einem glücklichen Essen(gehen) berichtet wird. Auch die Ambiguität des Titels wird dem Leser somit erst retrospektiv bewusst. Nachdem nun die Gesamtheit der Strategien vorgestellt wurde, durch welche die omnipräsente Ambiguität auf der ersten semiotischen Ebene generiert wird, müssen diese Verfahren natürlich in Bezug auf ihre Komplexität bewertet werden und damit die oben bereits konstatierte Verflechtung von Ambiguität und erhöhter Komplexität untermauert werden. Tatsächlich sind die ambiguitätserzeugenden Strategien unmittelbar verantwortlich für eine deutlich erhöhte diskurstraditionelle und semantische Komplexität in Bezug auf die fünf Komplexitätskategorien «Umgang mit den Grice’schen Maximen», «Anforderungen an das elokutionelle Wissen», «suppletive Kontextbildung», «Leerstellen/Aussparungen» und «Frames & die Etablierung von Themen» sowie für eine leicht erhöhte Komplexität auf wortsemantischer Ebene und hinsichtlich der Kategorie «Andeutungen/Evokationen». Die flächige Umdeutung der 1. Maxime der Quantität sowie der Obermaxime und der ersten beiden Untermaximen der Modalität lässt die Komplexität der Kategorie «Umgang mit den Grice’schen Maximen» auf den Wert 4 steigen. Dieses Phänomen ist zwar aus diskurstraditionellen Gründen erwartbar und zudem werden die übrigen Maximen respektiert, doch treten die genannten Verstöße gegen die Quantitäts- und Modalitätsmaxime sehr zahlreich auf und strahlen klar auf die Komplexität weiterer Kategorien aus, so dass dieser deutlich erhöhte Wert gerechtfertigt ist. Zunächst wird die Komplexität der Kategorie «Anforderungen an das elokutionelle Wissen» durch die Verletzungen der Maximen, die Bestandteile der allgemein-sprachlichen Kompetenz sind, sowie durch einige Verhaltensweisen des Ich-Erzählers (totales Zurückstellen eigener Bedürfnisse, erotische Konnotationen bei der Beschreibung des Äußeren einer Sechsjährigen

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

etc.), die als Verstöße gegen die allgemeine Kenntnis der Sachen zu werten sind, erhöht. Diese Verstöße gegen allgemein-sprachliche Normen müssen zudem unter Hinzuziehung von weiterem elokutionellen – aber mehr noch lebensweltlichen (z.B. psychologischen) Wissen – interpretiert werden, was einen mittleren Komplexitätswert, also 3, für diese erste Wissenskategorie zur Folge hat. Die Verletzung der 1. Maxime der Quantität (Mache deinen Beitrag so informativ wie [. . .] nötig) führt in Verbindung mit der Wahl eines autodiegetischen Ich-Erzählers und der internen Fokalisierung zu erheblichen Leerstellen in Bezug auf die suppletive Kontextbildung, die sich zu globalen Leerstellen auswachsen, die das zentrale Textthema sowie die Motivierung des Geschehens betreffen und den Anteil an kontextabhängiger/nicht-konventioneller IMPLIZITHEIT stark steigen lassen. So erfährt der Rezipient nichts über Alter, Beruf und Familienstand des Ich-Erzählers und insbesondere nichts über seine Beziehung zu Valentines Mutter und erhält auch keine gesicherten Informationen über die Gedanken und Gefühle Valentines – das wären aber beim ersten Lesen wichtige Informationen für die Erfassung des Textthemas und weiterhin äußerst nützliche Informationen für die Interpretation. Die Verstöße gegen Quantitäts- und Modalitätsmaxime schlagen sich aber natürlich auch im komplexitätssteigernden äußerst langen Offenlassen der zentralen Slots ALTER und BEZIEHUNG ZUM ICH-ERZÄHLER im Personen-Frame Valentines nieder, was durch die Vagheit der nominalen Ausdrücke in der entsprechenden Koreferenzkette unterstützt wird. Diese extrem reduzierte und verzögerte Art der suppletiven Kontextbildung, die Bedingung für die Ambiguität der Erzählung und das überraschende Ende ist, wurde bereits mit dem hohen Komplexitätswert 5 beziffert und auch die Kategorie «Leerstellen/Aussparungen» ist aus den genannten Gründen (Fehlen wichtiger Informationen für die Erfassung des Textthemas beim ersten Lesen und für eine Interpretation) zumindest mit einem mittleren Komplexitätswert, also 3, zu beurteilen. Die permanenten Verstöße gegen die ersten beiden Untermaximen der Modalität (1. Vermeide Dunkelheit des Ausdrucks, 2. Vermeide Mehrdeutigkeit) führen wiederum zu einer deutlichen Erhöhung der Komplexität in Bezug auf die Kategorie «Frames & die Etablierung von Themen» sowie einer leichten Erhöhung der Komplexität von «Andeutungen/Evokationen». In der Analyse der Ambiguität der Erzählung wurde deutlich, dass im Incipit durch die Lexeme und Lexemverbindungen aimer qn, (lui) faire plaisir, inviter (qn) à déjeuner etc. die falsche Fährte romantische Liebesbeziehung gelegt wird. Hat der Leser diese Erwartung bzw. dieses Textmodell einmal aufgebaut, findet er im Folgenden zahlreiche Filler und Formulierungen, die seine Deutung zu stützen scheinen. Der Leser geht also bis zur chute davon aus, dass ihm eine Episode aus einer partnerschaftlichen Liebesbeziehung geschildert wird. Diese Irreführung des

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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Rezipienten wird durch ständige Verstöße gegen die Maxime der Modalität erreicht, indem uneindeutige Filler für den Frame Beziehung präsentiert werden oder in stetigem Wechsel Füllwerte erscheinen, deren Grad an Prototypikalität im Frame romantische Liebesbeziehung etwas höher ist als im Frame VaterTochter-Beziehung und umgekehrt. Auch die Vagheiten in der Koreferenzkette Valentines sind Beleg dieser gezielt eingesetzten Dunkelheit des Ausdrucks. Weil in der chute die Erwartungen des Lesers so unsanft gebrochen werden und er erkennen muss, dass er über die gesamte Länge der Erzählung einen falschen Frame aufgebaut hat und damit auch das Thema verkannt hat, ist die Komplexität der Kategorie «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» als äußerst hoch einzuschätzen und erhält den Wert 5. Schließlich sieht sich der mit der chute konfrontierte Leser gezwungen, seine gesamte Deutung der Novelle zu revidieren und die soeben nochmals genannten Strategien, durch die er derart getäuscht wurde, im Rahmen einer notwendigen zweiten Lektüre zu durchschauen. Während die erste Lektüre dem Leser einen durch nicht erkannte Ambiguität erzeugten Überraschungseffekt als Lesevergnügen offeriert, bietet ihm erst die zweite Lektüre die Möglichkeit, die Ambiguität als solche nachzuvollziehen und zu genießen. Zu den Täuschungsmanövern gehört weiterhin das Spiel mit Evokationen wie dem Titel Happy Meal oder romantischen bzw. erotischen Konnotationen in den Formulierungen rester ensemble, quelque chose de très délicat à décrire, ces deux petites courbes de chaque côté, délicates et frémissantes oder son preux chevalier. Diese Evokationen sind zwar nicht sehr zahlreich, stellen aber – gerade im zuletzt genannten Fall, wo Kenntnisse über Konzepte mittelalterlicher Literaturgattungen vonnöten sind – nicht unerhebliche Anforderungen an das Weltwissen. Deshalb zeigt die Kategorie «Andeutungen/Evokationen» zumindest eine leicht erhöhte Komplexität und erhält den Wert 2. Auf wortsemantischer Ebene erweist sich Happy Meal im Korpuskontext als eher einfach. Es sind lediglich 2,5% (= 41/1643) komplexe token zu verzeichnen bzw. 8,5% (= 140/1643) unter Berücksichtigung der nicht im Thematischen Grund- und Aufbauwortschatz Französisch enthaltenen Lexeme. Es ist aber dennoch bemerkenswert, dass von den 41 hochkomplexen token 15 und damit 37% der Ambiguität der Erzählung geschuldet sind. Zu besagten 15 token gehören nämlich die semantisch vagen Lexeme fille (3x), personne (1x), jeune (1x) und chérie (1x) sowie der polyseme Titel Happy Meal, da deren «richtige» Lesart aufgrund der erläuterten Ambiguitätsstrategien zunächst nicht inferiert werden kann. Die Komplexität auf wortsemantischer Ebene wird weiterhin erhöht durch den Historizismus chevalier (2x), den Archaismus preux (3x) sowie die dem literarischen Sprachgebrauch zugehörigen Lexeme la grâce (1x) und gracile (1x), die ja

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

ebenfalls aufgrund ihrer Evokationen zur Ambiguität der Novelle beitragen. Da diese komplexen Lexeme somit zentral für das Globalverständnis und die besonderen Effekte der Novelle sind und mehrere stilistisch bedeutsame Lexeme (z.B. ringard, baliser, énergumène, braillard, morveux, pitance) nicht der langue courante angehören, erhält Happy Meal in der Kategorie «Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik» den Wert 2, auch wenn rein quantitative Vergleiche mit den Verhältnissen im wortsemantisch komplexesten Korpustext L’avenir de l’homme (22% hochkomplexe token, 32% komplexe token) eher den Wert 1 nahelegen würden. Die «Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik sowie Kohäsion und lokale Kohärenz» wird von den oben beschriebenen Verfahren der Ambiguitätsgenerierung nur sehr indirekt beeinflusst, nämlich durch die Wahl des gleichzeitigen Erzählens und eines emotional aufgewühlten autodiegetischen Ich-Erzählers, dessen Erzählweise folglich stark vom mündlichen Sprachgebrauch geprägt ist und einen leicht assoziativen Charakter hat. Dies schlägt sich im Text in einer geringen Zahl kohäsiver Mittel, 18 elliptischen und drei segmentierten Sätzen sowie acht rhetorischen Fragen nieder, die stets starke Emotionen des Erzählers anzeigen. Die Interpretation der rhetorischen Fragen sowie die Rekonstruktion der ausgesparten Elemente in den elliptischen Sätzen stellen aber nur geringe Anforderungen an das Sprach- und Weltwissen der Rezipienten. Dasselbe gilt für die Inferenz der implizit bleibenden semantischen Verknüpfungen zwischen den zehn Gérondif-Konstruktionen und den im konjugierten Verb versprachlichten Sachverhalten, auf die sich das unterdeterminierte Gérondif jeweils bezieht. Eine typographische Unterteilung der Novelle in sechs Paragraphen mit einem jeweils klar erkennbaren Teilthema, eine völlig problemlose Identifizierung der Referenten bestimmter wiederaufnehmender Pronomen und nominaler Ausdrücke sowie zahlreiche lexikalische Rekurrenzen und Anaphern bilden aber ein Gegengewicht zu den angesprochenen komplexen Elementen, so dass in Bezug auf Satzsemantik sowie Kohäsion und lokale Kohärenz jeweils nur eine mäßig erhöhte Komplexität festzustellen ist und beide Kategorien den Komplexitätswert 2 erhalten. Letztlich muss man die ausgeprägte Einfachheit und Klarheit in Bezug auf Satzsemantik sowie Kohäsion und lokale Kohärenz wohl als notwendige stabile Grundlage werten, auf die sich die komplexe Ambiguität der ersten semiotischen Ebene stützen kann. In den genannten Bereichen wird die Maxime der Klarheit erfüllt, was ein Gegengewicht zu den flächigen Maximenverletzungen auf der Diskursebene bildet und die subtile Ambiguität als Ergebnis uneindeutiger Spezifizierung zentraler Frames ermöglicht. Auch die Kategorie «Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen» fällt im Fall von Happy Meal nur mäßig komplex aus und erhält den Komplexitätswert 2,

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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was in erster Linie den 134 token geschuldet ist, die nicht im Thematischen Grundund Aufbauwortschatz enthalten sind. Auf grammatikalischer Ebene weist die Novelle fast nur geläufige Strukturen und Formen auf. Lediglich zwei Partizipialkonstruktionen und zwei Vorkommnisse der Inversionsfrage in der 1. Person Singular (Que fais-je ici ? und Qu’y puis-je ?) sind aufgrund ihrer Beschränkung auf die Schriftsprache als wenig frequent und damit komplex zu werten. Die Frage Qu’y puis-je ? enthält zudem die in dieser Verwendung zwingende, aber dennoch der usage soigné zugehörige Form puis von pouvoir (cf. Grevisse 1993, 1217). Auch einige der erwähnten 134 komplexen token sind deshalb nicht im Grund- und Aufbauwortschatz zu finden, weil sie dem literarischen oder veralteten Sprachgebrauch angehören (z.B. gracile, preux, chevalier, nigaud) oder umgangssprachlich bzw. pejorativ sind (z.B. ce putain de McDo, pitance, ces machins, braillard, morveux). Diese von der langue courante abweichenden Lexeme und Strukturen stellen sich gerade für Leser, deren Muttersprache nicht Französisch ist, als komplex dar (cf. Coseriu 1988/2007, 158). Da sie aber nicht allzu zahlreich auftreten, steigt der Komplexitätswert der Kategorie «Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen» nicht über den Wert 2 hinaus. Die letzten drei relevanten51 Komplexitätskategorien werden wieder stärker durch die auffällige Ambiguität der Erzählung tangiert und erhalten allesamt den mittleren Komplexitätswert 3. Bereits zu Beginn dieses Unterkapitels wurde darauf hingewiesen, dass die Ambiguität der nouvelle à chute Happy Meal sich in allen drei der von Bauer et al. (2010) identifizierten Bereiche literarischer Kommunikation manifestiert. Tatsächlich erlaubt die Novelle mehrere Lesarten bzw. Interpretationen, erweist sich also weiterhin als polyvalentes Werk, was die Komplexitätswerte in Bezug auf die Kategorien «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» und «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen der Rezipienten» in die Höhe treibt. Eine naheliegende Interpretation basiert auf der bei einer zweiten Lektüre gewonnenen Erkenntnis des Rezipienten, dass er viele Aspekte und Verhaltensweisen, die er mit dem Wissen der chute jetzt für klare Hinweise auf eine VaterTochter-Beziehung und auf eine kindliche Protagonistin erachtet, beim ersten Lesen problemlos in die Frames partnerschaftliche Liebesbeziehung und junge Frau integriert hat. Die Autorin erzielt die Ambiguität im Bereich der literarischen Mimesis ja gerade durch die Präsentation von (heutzutage) uneindeutigen oder mehrdeutigen Fillern mit einem etwas höheren Grad an Erwartbarkeit im einen oder anderen Frame. Diese Leseerfahrung motiviert die Interpretation,

51 Das Komplexitätsmerkmal «Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen» liegt im Fall von Happy Meal nicht vor, erhält also den Wert 0.

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dass Happy Meal die in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten zu beobachtende Verwischung der Lebensrealitäten von Kindern und Erwachsenen illustriert. Weder in Bezug auf die Kleidung noch in Bezug auf ihre Verhaltensweisen oder ihre Vorlieben scheinen sich kleine Mädchen und junge Frauen stark voneinander zu unterscheiden und auch Vater-Tochter-Beziehungen und partnerschaftliche Liebesbeziehungen weisen in vielen Bereichen frappierende Parallelen auf. Die zuletzt genannte Entwicklung beinhaltet zweifelsohne auch problematische Unschärfen in der aktuellen Affektkultur, die Leser befremden können. Wenn man dieses durch die chute hervorgerufene Gefühl der Befremdung mit den erotischen Konnotationen der Erzählung, der mehrfachen Betonung von Valentines Schönheit und Anmut durch ihren Vater sowie dessen Gier nach Liebesbeweisen («Me donnera-t-elle sa main, tout à l’heure [. . .] ?», HM, 16) verknüpft, kann aber auch die Interpretation motiviert werden, dass in Happy Meal eine inzestuöse Vater-Tochter-Beziehung dargestellt wird. Eine weitere Lesart, die ebenfalls auf der Befremdung des Lesers aufbaut, könnte in Happy Meal ein Anprangern moderner Erziehungsfehler sehen. Es wirkt nicht «normal» oder «gesund», dass ein Vater seiner sechsjährigen Tochter jeden Wunsch erfüllt – zumal wenn der Besuch bei McDonald’s ihm selbst echtes körperliches Unbehagen beschert –, dass er alles tut, um ihr Vergnügen zu bereiten und dass er permanent Liebesbeweise ihrerseits erhofft. Diese Verhaltensweisen erinnern stark an die drei Beziehungsstörungen zwischen Erwachsenen und Kindern, die der Psychiater Michael Winterhoff (2010) in seinem Bestseller Warum unsere Kinder Tyrannen werden formuliert hat: 1. Das normale hierarchische Verhältnis zwischen Eltern und Kind wird zugunsten eines partnerschaftlichen Umgangs aufgegeben (Partnerschaftlichkeit) (cf. Winterhoff 2010, 106ss.), 2. Eltern nutzen ihre Kinder als Projektionsfläche, um die eigenen Defizite zu kompensieren (cf. ib., 131), und handeln nach dem Motto: «Ich hole mir meine nötige Liebe von den Kindern.» (ib., 136) (Projektion), 3. in Folge einer Psychenverschmelzung werden die Kinder von ihren Eltern genauso verarbeitet, als wenn es sich um einen eigenen Körperteil handeln würde (Symbiose) (cf. ib., 157s.). Auf der dritten Stufe der Beziehungsstörungen sind Valentine und ihr Vater sicherlich noch nicht angekommen, die ersten beiden Fehlhaltungen sind beim Ich-Erzähler aber sehr wohl auszumachen. Gemäß Winterhoff führt der partnerschaftliche Umgang mit dem Kind zu dessen Überforderung (cf. ib., 109) und es kommt im Rahmen der Projektion zu einer Machtumkehr, wodurch der Erwachsene vom Kind abhängig wird (cf. ib., 132). Letztendlich werde dem Kind damit die Chance auf eine gesunde Entwicklung seiner Psyche verbaut (cf. ib., 82). Unter Berücksichtigung dieser psychologischen Erkenntnisse kann mit der Darstellung der hochgradig ambigen, weil partnerschaftlich geprägten Beziehung zwischen einem Vater und seiner sechsjährigen Tochter in Happy

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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Meal auch der Appell verknüpft sein, Kinder wieder wie Kinder zu behandeln und ihnen nicht die für sie schädliche Rolle des kleinen Erwachsenen und Partners ihrer Eltern aufzuzwingen. Die Autorin erlebt offensichtlich die zeitgenössischen Eltern-Kind-Verhältnisse und das Gebärden kleiner Mädchen als ambig und stellt diese realen Phänomene in ihrer mimetisch erzählenden Novelle genauso dar. Somit kann letztlich auch die Deutung und Bewertung ihrer Erzählung nicht eindeutig ausfallen. Indem Anna Gavalda diese realen Phänomene literarisch verarbeitet, spielt sie gleichzeitig auf das gesamte psychologische und soziologische Wissen und Nicht-Wissen an, das damit verbunden ist. Eine adäquate Deutung dieser nouvelle à chute setzt also das Auffinden mehrerer und mitunter auch konträrer Interpretationen und Bewertungen der in ihr dargestellten sozialen Phänomene voraus. Und dafür sind eben Kenntnisse wie z.B. die von Winterhoff (2010) in besonders plakativer Form formulierten Thesen über moderne Beziehungsstörungen vonnöten. Solches Wissen gehört sicherlich nicht zum Alltagswissen, sollte aber bei informierten Lesern, die am gesellschaftlichen Diskurs teilnehmen und hin und wieder ein Sachbuch der Spiegel-BestsellerListe lesen, voraussetzbar sein. Somit weisen die Kategorien «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» und «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» hier zweifelsohne eine mittlere Komplexität auf und erhalten den oben angekündigten Wert 3. Dieselbe Ausprägung von Komplexität erfährt die letzte Kategorie «Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen». In diesem Kapitel ist deutlich geworden, dass die Gattung der nouvelle à chute in Verbindung mit der Wahl eines autodiegetischen Ich-Erzählers und dem Typ des simultanen Erzählens offensichtlich mehrere Dimensionen von Textualität (suppletive Kontextbildung, Zusammenspiel von Frames und Textthemen, Leerstellen sowie Andeutungen) formt bzw. beeinflusst, was für eine hohe Komplexität spricht. Dies wird aber dadurch relativiert, dass der Grad der kulturellen Spezifizierung einer mimetisch erzählenden, sozialkritischen nouvelle à chute als eher gering einzustufen ist, da solche Texte im Mutter- und Fremdsprachenunterricht jeder Schulform aufgrund ihres Motivationspotentials und ihres Eingangs in einen Schul- und Bildungskanon (man denke an Novellen wie Maupassants La Parure) mannigfach zum Einsatz kommen. Und letztlich kann eine zeitgenössische Erzählung wie Happy Meal auch ohne explizites diskurstraditionelles Wissen zu nouvelles à chute adäquat verstanden und interpretiert werden, sofern der Leser nach der chute die Lust verspürt zu verstehen, wie er derart in die Irre geführt werden konnte, und die Textanalyse in Angriff nimmt. In Kurzform stellt sich das Komplexitätsprofil von Happy Meal folgendermaßen dar:

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

6 5 4 3 2 1 0

FB

L

A

M

SK

FT

KK

W

S

EW

IW DW LW 2.E

FB: Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen; L: Leerstellen/Aussparungen; A: Andeutungen/Evokationen; M: Umgang mit den Maximen; SK: suppletive Kontextbildung; FT: Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen; KK: Kohäsion & lokale Kohärenz; W: Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik; S: Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik; EW/ IW/DW/LW: Anforderungen an das elokutionelle, einzelsprachliche, diskurstraditionelle und lebensweltliche Wissen; 2.E: Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene. Schema 11: Komplexitätsprofil der Novelle Happy Meal von Anna Gavalda.

Die zeitgenössische Erzählung weist also in der Summe eine mittlere Komplexität auf, wobei einige Kategorien durch deutlich erhöhte Komplexitätswerte auffallen, was insgesamt der Ambiguität des Textes geschuldet ist. Die subtile, aber flächige Mehrdeutigkeit im Bereich der literarischen Mimesis wird u.a. durch den Rückgriff auf sprachliche Ambiguität im engeren Sinne, vor allem aber durch systematische Verletzungen der Quantitäts- und Modalitätsmaxime und durch das omnipräsente Spiel mit nicht eindeutigen Fillern der zentralen Frames sowie dem Kontext widersprechenden Evokationen erreicht. Diese oben im Detail beschriebenen Strategien zur Erzeugung von Ambiguität und Überraschung greifen also im Wesentlichen auf Abweichungen von den Grice’schen Maximen, auf das Offenlassen zentraler Kontexte sowie das gezielte Aufbauen und finale Brechen von an Frames geknüpften Erwartungen zurück. Die genannten Strategien beruhen somit auf den in dieser Arbeit identifizierten Komplexitätsfaktoren, welche insbesondere die Komplexitätswerte der Kategorien «suppletive Kontextbildung», «Frames & die Etablierung von Themen», «Umgang mit den Grice’schen Maximen», «Anforderungen an das elokutionelle Wissen», «Leerstellen/Aussparungen» sowie «Andeutungen/Evokationen» in die Höhe treiben. Schließlich strahlt die Ambiguität im Bereich der literarischen Mimesis auch auf die zweite semiotische Ebene aus, da die Interpretation eines realen Phänomens, das die Autorin als ambig wahrnimmt und ebenso literarisch

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

325

darstellt, nicht eindeutig ausfallen kann. Die Konsequenzen sind eine zumindest mittlere Komplexität der Kategorien «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» und «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen». Adäquate Deutungen und Bewertungen der in Happy Meal dargestellten ambigen Vater-Tochter-Beziehung können nämlich ohne entsprechendes psychologisches und soziologisches Wissen nicht gelingen. Somit konnte nachgewiesen werden, dass die zum Teil deutlichen Erhöhungen der Komplexitätswerte von acht unserer 14 Komplexitätskategorien direkt auf den Zweck der Ambiguitätsgenerierung zurückzuführen sind und dass letztere sich in großem Maße der zwei in Kapitel 2.5.1 identifizierten Komplexitätsfaktoren – ABWEICHUNGEN von sprachlichen bzw. sprachbezogenen Normen, Traditionen und Mustern sowie kontextabhängige IMPLIZITHEIT – bedienen und die Verarbeitung, Deutung und Bewertung der Ambiguität wiederum erhöhte Anforderungen an das WISSEN der Rezipienten (3. Komplexitätsfaktor) stellt.

3.3.2 Erzeugung von Ambiguität durch Frame-Brüche In diesem Abschnitt soll am Beispiel der Erzählung Plume au restaurant (1930) von Henri Michaux aufgezeigt werden, inwiefern Frame-Brüche Ambiguität als mehrfachen Sinn eines Textes auf der Ebene der Autor-Leser-Kommunikation auslösen und die semantische Komplexität der entsprechenden Erzählung extrem erhöhen können. In Kapitel 3.2.2.3 wurde bereits die suppletive Kontextbildung in Michaux’ Novelle analysiert und festgestellt, dass, ähnlich wie in Happy Meal, ein ganzes Bündel von Strategien zum Einsatz kommt, um den Protagonisten Plume zu einer hochgradig ambigen Figur zu machen. Zunächst erhält der entsprechende Personen-Frame nur ein Minimum an expliziten Füllwerten, nämlich für die Slots NACHNAME und GESCHLECHT. Weiterhin steht Plumes Verhalten weder mit dem gesunden Menschenverstand noch der Alltagspsychologie in Einklang und ist sogar in sich widersprüchlich. Zudem wahrt der Erzähler dieser stellenweise albtraumhaften Novelle eine ironische Distanz zu seinem gequälten Protagonisten und schließlich erhält letzterer noch einen polysemen Namen, dessen Lesarten Feder, Schreibfeder und Schreibstil die Ambiguität der Figur auf die Spitze treiben. Mit Happy Meal hat Michaux’ Erzählung somit auch den Rückgriff auf sprachliche Ambiguität im engeren Sinne, nämlich auf lexikalische Ambiguität, gemeinsam. Im Gegensatz zur realistisch erzählenden nouvelle à chute Anna Gavaldas, in der durch mangelnde Spezifizierung der zentralen Frames Ambiguität vornehmlich auf der ersten semiotischen Ebene erzeugt wird, ist Plume au restaurant durch Mehrdeutigkeit auf der zweiten semiotischen Ebene, also eine Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten geprägt, wofür letztlich eine einzige

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

dominierende Strategie verantwortlich zeichnet. In Kapitel 3.2.2.3 wurde bereits erläutert, dass es sich bei Plume au restaurant um eine surrealistische Novelle im Sinne Blühers handelt, die sich durch Verzicht auf mimetische Wirklichkeitsdarstellung, eine traumhaft-alogische Textkonstitution (cf. Blüher 1985, 245) und die Subversion der dem Leser vertrauten sozialen Realität auszeichnet. Die Diskurstraditionen, in denen Michaux’ Erzählung steht, deuten somit bereits an, dass die erwähnte dominierende «Ambiguierungsstrategie» im systematischen Evozieren und Brechen vertrauter soziokultureller Frames und Skripts sowie im Herstellen von Inkohärenz und Inkongruenz durch Verstöße gegen allgemein-sprachliche Regeln besteht. Im Folgenden soll eben diese Strategie nicht nur in Hinblick auf die suppletive Kontextbildung, sondern bezogen auf die gesamte Erzählung und ihre Deutungen erläutert und in ihrer Komplexität beurteilt werden. Außerdem sollen mögliche adäquate Deutungen von Schmidt (1973), Howe (1983) und Bertho (1985) herangezogen werden, um auch fundierte Einschätzungen der Komplexität der Kategorien «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» sowie «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» abgeben zu können. Im Rahmen der Analyse der suppletiven Kontextbildung in Michaux’ Novelle wurde demonstriert, dass zunächst das mittels konventioneller Filler (déjeuner, le maître d’hôtel, une assiette, la carte etc.) instantiierte Restaurant-Skript empfindliche Brüche erfährt. Die bizarre und von einem strengen Blick begleitete Bemerkung des maître d’hôtel im Incipit ist nämlich kaum mit dem prototypischen Rollenverhalten eines Kellners in Einklang zu bringen: «Plume déjeunait au restaurant, quand le maître d’hôtel s’approcha, le regarda sévèrement et lui dit d’une voix basse et mystérieuse : ‹Ce que vous avez là dans votre assiette ne figure pas sur la carte›» (P, 623).

Einen ähnlichen Verstoß gegen das konventionelle Restaurant-Skript stellt das im folgenden Paragraphen geschilderte Verhalten des chef de l’établissement dar, der wortlos an Plumes Tisch herantritt und auf die Entschuldigungen des Gastes und seinen Wunsch zu zahlen keinerlei Reaktion zeigt. Zu diesen Brüchen des Restaurant-Frames gesellen sich weiterhin Verstöße des Protagonisten gegen den gesunden Menschenverstand. Gemäß Sophie Bertho (1985, 84) würde ein Nachfragen bzw. Einfordern weiterer Informationen das erwartbare Verhalten auf die Bemerkung des Oberkellners darstellen, nicht aber Plumes sofortige Entschuldigungen. Auch nach Einschätzung von Elisabeth Howe (1983, 901) dient ein Refrain wie «Plume s’excusa aussitôt.» (P, 623s.), welcher die vier wortreichen Rechtfertigungen des Protagonisten jeweils einleitet, der ironischen Markierung von Verhaltensweisen, die eben nicht zu den Umständen passen.

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

327

Das aufmerksame Lesen der vier Entschuldigungen, die Plume vorbringt, offenbart weiterhin Verstöße gegen die Regeln der Logik bzw. des korrekten Argumentierens. Plume stellt die Gründe für die Nichtbeachtung der Karte und die Wahl eines Koteletts jedesmal etwas anders dar, wobei es sowohl zu Widersprüchen als auch zu sachlich falschen Aussagen kommt. So erklärt er dem Oberkellner, dass er in Eile war, sich nicht die Mühe gemacht habe die Karte zu konsultieren und auf gut Glück ein Kotelett bestellt habe: «– Voilà, dit-il, étant pressé, je n’ai pas pris la peine de consulter la carte. J’ai demandé à tout hasard une côtelette, pensant que peut-être il y en avait [. . .]» (P, 623).

Große Eile spielt in den an den Restaurant-Chef gerichteten Entschuldigungen jedoch keine Rolle mehr. Diesmal bringt Plume physische Gründe vor, die die fehlende Beachtung der Karte erklären sollen. Da er kurzsichtig sei und seinen Kneifer vergessen habe, hätte er die Karte nicht lesen können: «– J’ignorais, dit-il, que les côtelettes ne figuraient pas sur la carte. Je ne l’ai pas regardée, parce que j’ai la vue fort basse et que je n’avais pas mon pince-nez sur moi [. . .]» (P, 623).

Bei dieser Begründung unterläuft ihm aber ein sachlicher Fehler: Bei Kurzsichtigkeit hat man bekanntlich Probleme beim Erkennen weit entfernter Gegenstände, nicht aber beim Lesen einer Speisekarte, die man beliebig nah vor Augen halten kann. Dem Polizeibeamten gegenüber bringt Plume auf einmal einen hektischen und ungehaltenen Kellner ins Spiel, den er durch das rasche Bestellen eines Koteletts habe loswerden wollen. Die vierte Entschuldigung schließlich steht inhaltlich völlig im Widerspruch zur ersten, in der Plume seine große Eile als Begründung für die Nichtbeachtung der Karte vorgebracht hatte. Dem Kommissar erzählt er nämlich, dass er das Restaurant betreten habe, um einen Freund auf dessen Rückweg vom Büro abzupassen, und weil die Wartezeit hätte lang (!) werden können, sah er sich verpflichtet etwas zu bestellen und wählte eben ein Kotelett: «– Il avait pris un rendez-vous avec un ami. Il l’avait vainement cherché toute la matinée. Alors comme il savait que son ami en revenant du bureau passait par cette rue, il était entré ici, avait pris une table près de la fenêtre et comme d’autre part l’attente pouvait être longue et qu’il ne voulait pas avoir l’air de reculer devant la dépense, il avait commandé une côtelette ; pour avoir quelque chose devant lui» (P, 624).

Bislang konnten also bereits Brüche des Restaurant-Skripts festgestellt werden, weiterhin das völlige Zuwiderhandeln des Protagonisten gegen den gesunden Menschenverstand und schließlich die soeben aufgezeigten Verstöße gegen fundamentale Regeln des korrekten Argumentierens, die Bestandteil des elokutionellen Wissens sind. Die deutlichsten und für den Rezipienten wohl auch am schwersten

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

zu verarbeitenden Frame-Brüche betreffen aber das zentrale soziale Handlungsschema, auf welches die Novelle Bezug nimmt, nämlich Anklage versus Verteidigung in Bezug auf eine Norm, was Schmidt (1973, 158) folgendermaßen abkürzt: «[accusation vs défense : norme]». Bertho (1985) und Schmidt (1973) sind sich allerdings nicht einig darüber, wann der Rezipient dieses Schema evoziert. Schmidt (1973, 156) betrachtet bereits die Aussage des Oberkellners im Incipit als Anschuldigung: «Le fait que le maître d’hôtel présente une accusation est indiqué d’abord par des qualifications comme ‹sévèrement›, ‹voix basse et mystérieuse›. La réponse de Plume est manifestée explicitement comme ‹s’excuser›».

Bertho (1985, 84) hingegen interpretiert dieselbe Aussage als einen impliziten Vorwurf («un reproche implicite») und betont, dass Plume selbst es sei, der sich durch sein Verhalten (Entschuldigungen, Rechtfertigungen . . . ) in die Situation des Beschuldigten bringe und die Äußerung des Kellners rückwirkend zum Vorwurf bzw. zur Anklage mache: «Les démarches discursives de Plume (excuses, justifications, offre de dédommagement) peuvent être subsumées sous la dénomination ‹défense› [. . .]. C’est dire encore que Plume, de par son discours, se désigne lui-même comme coupable, se met lui-même en situation d’accusé. Il s’agit donc ici de reprendre le propos de Schmidt quand il affirme que le discours du maître d’hôtel constitue dès son énonciation une ‹accusation›. En fait, c’est seulement avec la réponse de Plume comme ‹défense› que le système de l’accusation va se trouver réellement et rétroactivement donc, mis en place» (ib., 85).

Unabhängig davon, welchen exakten illokutionären Gehalt zwischen Vorwurf und Anklage man der Äußerung des Kellners zuweist, ist es völlig eindeutig, dass das Frame-System «[accusation vs défense : norme]» (Schmidt 1973, 158) mitsamt seinen expliziten Fillern die Erzählung Michaux’ schon rein quantitativ betrachtet dominiert. Gleichzeitig erfährt es durch die Art seiner Instantiierung in Plume au restaurant empfindliche Brüche, was im Folgenden anhand eines Vergleichs zwischen dem type-frame Anklage mit seinem token-frame, wie er sich in Michaux’ Novelle darstellt, illustriert werden soll. Die Wahl der Slots orientiert sich dabei an Konerdings (1993, 341–348) Matrixframe für Handlungen, wählt aus dieser achtseitigen Aufstellung aber diejenigen Slots aus, die im Kontext der Erzählung relevant sind. Außerdem wurde der zuletzt aufgeführte Slot (Prinzipien, an denen sich Anklage/Ankläger orientieren) aufgrund seiner Relevanz für die Handlung Anklage hinzugefügt. In Bezug auf den type-Frame werden beispielhaft nur einige wenige hochgradig konventionelle und an rechtsstaatlichen Verhältnissen orientierte Standardwerte aufgeführt:

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

329

Tab. 32: Vergleich zwischen dem type-Frame Anklage und seinem token-Frame in Plume au restaurant. Slots

Ausschnitt aus dem typeFrame Anklage

Filler des token-Frames Anklage in Plume au restaurant

Was geht der Anklage voraus?

der mutmaßliche Verstoß Plume hat ein Kotelett bestellt einer Person gegen bestimmte und gegessen, das nicht auf Regeln oder Normen der Karte des Restaurants stand.

Welche Bedingungen gibt es für eine Anklage?

Es existiert eine rechtliche Norm (Gesetz), soziale Norm oder ein moralisches oder religiöses Gebot, gegen das verstoßen wurde (cf. Schmidt , ).

???

Mitspieler/ Interaktionspartner

Ankläger: z.B. Polizei + Staatsanwaltschaft; geistliche Führer; Organisationen (Greenpeace etc.); Privatankläger Angeklagter/Tatverdächtiger

implizite Ankläger = le maître d’hôtel, le chef de l’établissement, un agent de police explizite Ankläger = le commissaire, un agent, ceux de la Secrète, un grand rustre d’agent Angeklagter = Plume

Durch welche relevanten Eigenschaften sind die Ankläger und ihre Rollen gekennzeichnet? Handeln die Aktanten nach einer Rolle?

Polizei + Staatsanwaltschaft = Exekutivorgane eines Staates, Strafverfolgungsbehörden, die für Untersuchung und Anklage von Straftaten zuständig sind und deren eigene Befugnisse ebenfalls im Rahmen von Normen geregelt sind Geistliche Führer haben die Aufgabe, die Gebote ihrer Religion zu leben und zu predigen und zu ihrer Einhaltung aufzufordern.

Die Amtsbezeichnungen: un agent de police, le commissaire de police, le chef de la sûreté, ceux de la Secrète belegen, dass Plumes Ankläger in der Mehrzahl Vertreter der staatlichen Strafverfolgungsbehörden sind. Diese handeln gemäß ihrer Rolle, indem sie versuchen, ein Geständnis von Plume zu erhalten, verwenden dabei aber Methoden, die ihnen (in einem Rechtsstaat) nicht zustehen würden. (s.u.)

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Tab. 32 (fortgesetzt) Slots

Ausschnitt aus dem typeFrame Anklage

Filler des token-Frames Anklage in Plume au restaurant

Welche Motive gibt es für die Anklage? Welcher intendierte Zielzustand soll welches Bedürfnis erfüllen?

auf ein Vergehen aufmerksam machen; eine Besserung erwirken; Wiederholung eines Regelverstoßes verhindern; das erfolgreiche/friedliche Miteinander sichern; Abschreckung; Schutz der Gemeinschaft; öffentliche Sicherheit und Ordnung gewährleisten bzw. wiederherstellen

???

Was (welche Mittel, Strategien, Taktiken) benutzt der Ankläger?

Zeugen, Geschädigte und den Angeklagten befragen, Beweise sichern, Zusammenhänge herstellen, Schlüsse ziehen

implizite Ankläger: i.W. wortloses Herantreten an Plumes Tisch explizite Ankläger: Aufforderungen zum Geständnis unter Gewaltandrohung «Si vous ne parlez pas dans l’appareil, je cogne. C’est entendu ? Avouez ! Vous êtes prévenu. Si je ne vous entends pas, je cogne.» (P, )

An welchen Prinzipien orientieren sich die Anklage bzw. die Ankläger?

Verhältnismäßigkeit der Mittel Senden immer ranghöherer Vertreter der Strafverfolgungsbehörden (le commissaire de police, ceux de la Secrète . . . ); Steigern des Drucks auf den Beschuldigten, Verschärfung der Gewaltandrohungen (s.o.)

Diese Gegenüberstellung von type- und token-Frame macht sofort deutlich, dass der Frame Anklage mitsamt seiner «soziokulturellen Logik» (Bertho 1985, 88) in Plume au restaurant systematisch gebrochen wird. Der deutlichste Bruch besteht zweifelsohne im fehlenden Bezug auf eine Norm bzw. ein Gesetz. In der sozialen Realität des Lesers geht einer Anklage der mutmaßliche Verstoß gegen eine Norm voraus, in Michaux’ Novelle wird aber an keiner Stelle erklärt, gegen

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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welches Gesetz Plume verstoßen hat, indem er etwas bestellt hat, was nicht auf der Karte steht. Des Weiteren müssen Ankläger wie z.B. Polizei oder Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage explizieren, gegen welches Gesetz ein Beschuldigter verstoßen haben soll. Auch das versäumen die Ankläger in Plume au restaurant. Die Motive der Anklage bleiben angesichts der Nichtigkeit des «Fehlverhaltens» ebenfalls völlig im Dunkeln. Plumes Bestellung eines Koteletts scheint doch in keiner Weise das friedliche Miteinander der Gemeinschaft zu gefährden. Warum bedarf es dann einer Anklage, die doch zur Abschreckung, zum Schutz der Gemeinschaft oder zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit dienen soll? Schmidt (1973, 157) weist aber zu Recht darauf hin, dass mit dem Erscheinen der Polizeibeamten deutlich wird, dass Plume tatsächlich gegen eine juristische Norm verstoßen haben muss: «Avec l’arrivée du policier, le système de référence semble désormais défini : s’appuyant sur les connotations sociales affectant ‹policier› est indiqué un système de relations ‹domaine d’une action (potentiellement) criminelle ou contraire à l’ordre, et sa punition›».

Auf der Grundlage seines soziokulturellen Wissens um Gesetze, Anklage und Strafe kann der Rezipient sich aber beim besten Willen keine entsprechende juristische Norm zusammenreimen. Außerdem erfährt der Frame Anklage einen weiteren empfindlichen Bruch durch das Verhalten der Ankläger, die zum Polizeiapparat gehören. Der in einem Rechtsstaat lebende Leser kennt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der u.a. vorsieht, dass eine Person, die sich eines geringfügigen Vergehens schuldig gemacht hat, weder von Spezialeinheiten der Polizei verhört wird, noch unter Androhung von Gewalt zum Geständnis gezwungen wird. Plume jedoch, dessen «Fehlverhalten» im Bestellen eines Koteletts besteht, sieht sich u.a. mit der Geheimpolizei konfrontiert, wird brutal geschubst und mit Schlägen bedroht, was mit Sicherheit nicht angemessen oder verhältnismäßig ist. Die Filler des Subframes Verteidigung machen quantitativ gut die Hälfte der Erzählung aus und wurden oben in Auszügen bereits zitiert, als es darum ging, die Widersprüche und Verstöße gegen korrektes Argumentieren in Plumes Äußerungen zu belegen. Die Instantiierung dieses token-Frames des FrameSystems «[accusation vs défense : norme]» (Schmidt 1973, 158) zeichnet sich ebenfalls durch mannigfache Brüche der damit verbundenen soziokulturellen Logik sowie extreme Inkohärenz aus. Dies hat zur Folge, dass die Deutungen dieser Passagen unsicher werden und sich sogar die Analysen der MichauxExperten immer häufiger – zumindest in Teilen – widersprechen. Sowohl die Brüche des Frames Verteidigung als auch die uneindeutigen und zum Teil konträren Interpretationsmöglichkeiten von Plumes inkohärenten Rechtfertigungen sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden. Ungewöhnlich ist zunächst, dass Plume auf den impliziten Vorwurf des Oberkellners sofort mit

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

einer Entschuldigung reagiert. Dieses Verhalten wurde bereits als Verstoß gegen den gesunden Menschenverstand gewertet (cf. Bertho 1985, 84). Sowohl Bertho (1985) als auch Schmidt (1973) deuten diese sofortige Entschuldigung aber auch als Beleg dafür, dass Plume im Gegensatz zum Leser scheinbar weiß, gegen welche Norm er aufgrund seines Verhaltens verstoßen hat: «Remarquable par la structure sémantique de ce récit est le phénomène stylistique que Plume s’excuse ‹aussitôt› donnant ainsi au lecteur l’impression que lui, Plume, sait très bien dans quel système de relations le jeu d’actes de communication ‹accuser vs s’excuser› se joue» (Schmidt 1973, 156).

Im weiteren Verlauf seiner vier Verteidigungsreden beruft Plume sich aber darauf, nicht gewusst zu haben, dass er mit seinem Verhalten Schaden anrichtet bzw. nicht gewusst zu haben, dass Kotelett nicht auf der Karte zu finden ist: «Si j’avais su, j’aurais volontiers choisi une autre viande ou simplement un œuf, de toute façon maintenant je n’ai plus très faim» (P, 626; meine Hervorhebung). «– J’ignorais, dit-il, que les côtelettes ne figuraient pas sur la carte» (P, 623; meine Hervorhebung).

Wie oben bereits bemerkt, stellt er weiterhin die Gründe für die Nichtbeachtung der Karte und die Wahl eines Koteletts jedes Mal etwas anders dar, bringt immer wieder neue Aspekte ins Spiel, die sich teilweise widersprechen oder schlicht sachliche Fehler aufweisen. Diese inkohärenten und verwirrenden Verteidigungsreden könnten natürlich darauf hindeuten, dass Plume schuldig ist oder sich zumindest schuldig fühlt. Bertho (1985, 85) bemerkt ja auch, dass es letztlich Plumes diskursives Verhalten sei, aufgrund dessen der Rezipient den Frame «[accusation vs défense : norme]» (Schmidt 1973, 158) evoziere. Andererseits drängt sich der Verdacht auf, dass die oben angeführte und durch den Satz «Plume s’excusa aussitôt.» (P, 623) ausgelöste Vermutung, dass Plume weiß, gegen welche Norm er verstoßen hat, falsch ist und die gesamte Verteidigung dem Zweck dient herauszufinden, welche Regel er missachtet haben soll. Diese alternative Deutungsmöglichkeit gibt Schmidt (1973, 156) ebenfalls an: «Au fur et à mesure des réponses [. . .], il tente au contraire – en contraste avec ce savoir apparent – de développer des stratégies pour trouver le système de références que la norme offre du côté de l’opposant. Ces stratégies se manifestent sous la forme d’excuses diverses, visiblement faites pour donner l’occasion de recevoir des explications correspondantes du côté de l’opposant».

Auffällig ist weiterhin, dass die wortreichen Entschuldigungen Plumes zunächst in direkter Rede wiedergegeben werden, dann in die indirekte Rede gewechselt wird, bevor Plume völlig in die Rolle des (passiven) Zuhörers gleitet und nur noch

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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schweigt. Dies stellt für Schmidt (1973, 157) einen Hinweis darauf dar, dass Plume in diesem Moment die Normen der Ankläger akzeptiert und sich ihnen unterwirft: «[. . .] par là, il est indiqué implicitement que Plume accepte les normes des opposants, se soumet à elles, ou en tout cas, ne cherche plus à réduire leur caractère contraignant».

Bertho (1985, 87) hingegen findet diese Deutung Schmidts wenig überzeugend. Ihrer Ansicht nach unterwirft sich Plume von Anfang an den Normen seiner Gegenspieler, indem er sich entschuldigt und verteidigt und somit diese – wenngleich ihm unbekannten Normen – als glaubwürdig bzw. rechtsgültig anerkennt: «Il est en fait manifeste, de par la structure sémantique du récit, que c’est dès la première confrontation avec l’opposant (le maître d’hôtel) que Plume, cependant qu’il s’excuse et se justifie, se soumet alors, en les accréditant, aux ‹normes› implicites du maître d’hôtel. Le silence de Plume ne serait donc ici qu’un moment autre, la résignation, du même : la soumission».

Die offensichtliche Tatsache, dass selbst Michaux-Experten unterschiedliche Deutungen des inkohärenten Verhaltens von Plume liefern, unterstreicht die Ambiguität der Erzählung auf der zweiten semiotischen Ebene. Diese Mehrdeutigkeit bzw. Schwierigkeit einer Deutung resultiert im Wesentlichen aus der Tatsache, dass eben auch im Bereich der Verteidigung aufgrund des fehlenden Bezugs auf eine konkrete Norm ein eklatanter Bruch des soziokulturellen Schemas «[accusation vs défense : norme]» (Schmidt 1973, 158) zu verzeichnen ist, der auch die tiefere Ursache der Inkohärenz von Plumes Entschuldigungen ist: Wie soll man sich auch wirksam verteidigen, wenn einem der Gegenstand der Anklage völlig unklar ist? Es sind also letztlich eindeutig die fehlende Explizierung der verletzten Norm in Michaux’ Novelle und das völlige Missverhältnis zwischen dem Anlass der Anklage (Essen eines Koteletts, das nicht auf der Karte steht) und dem Verhalten der Ankläger, durch die das zentrale Handlungs-Schema «[accusation vs défense : norme]» (ib., 158) seine empfindlichsten Brüche erfährt und die Inkohärenz der Erzählung entsteht. Alle konventionellen Relationen temporaler, kausaler und konditionaler Art, alle Bezüge, Prinzipien etc., die dieses Frame-System ausmachen, werden durch die Brüche außer Kraft gesetzt. Genau daraus resultiert nach einhelliger Auffassung von Schmidt (1973), Bertho (1985) und Howe (1983) die Ambiguität der Erzählung auf der zweiten semiotischen Ebene: auf der Grundlage des soziokulturellen Frame-Systems Anklage versus Verteidigung sind die Leerstellen in der Erzählung und die grotesken Geschehnisse und Eskalationen nicht eindeutig zu füllen bzw. zu erklären und so ergeben sich vielfache Assoziationen und Deutungsmöglichkeiten. Schmidt (1973, 159) führt aus, dass aufgrund der genannten Frame-Brüche der logische Zusammenhang der geschilderten Teilhandlungen häufig nicht erkennbar, zumindest aber mehrdeutig sei:

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

«La structure d’actions sociale [accusation vs défense : norme] est, chez Michaux, abrégée de la relation temporelle et logique, le rapport logique des actions et des relations entre les supports de cette action dans le récit reste indiscernable et/ou au moins multivoque».

Howe (1983) bezieht sich in ihrer Untersuchung der Ironie in Un certain Plume nicht explizit auf soziokulturelle Handlungsschemata bzw. Frame-Systeme, deren Bruch die Erzählungen inszenieren, sondern spricht davon, dass in den Texten «normale» soziale Haltungen und Werte nicht wirksam seien52 und dass Plumes Reaktion auf die Geschehnisse unpassend bzw. inkohärent sei.53 Diese Beschreibungen meinen aber im Kern dasselbe, nämlich das Verletzen von prototypischem Wissen über bestimmte rekurrente soziale Phänomene, das eben in Frames gespeichert ist. Auch Howe (1983, 897) macht diese Frame-Brüche bzw. Unterminierungen sozialer Konventionen, die sie als zentrale Belege für die «unstable irony» in Un certain Plume erachtet, für die Ambiguität sowie das Verschwimmen, Zersplittern oder gar Zerstören von Bedeutung in den Texten dieser Sammlung verantwortlich: «Unstable irony [. . .] leads to a deliberate fragmentation and blurring of meaning through the use of paradox, contradiction, and incongruity. These techniques are typical of the narrative of Plume and are clearly aimed at disorienting the reader» (ib., 900). «Rather, [the irony surrounding Plume] destroys meaning by deliberately creating ambiguities and incongruities for the reader» (ib., 903).

Abschließend soll Schmidts (1973, 159s.) überzeugende und erschöpfende Erklärung für die globale Polyvalenz einer Erzählung wie Plume au restaurant vollständig wiedergegeben werden. Aufgrund des systematischen Unterlaufens soziokultureller Frames und damit eben auch ihrer inhärenten «Logik» könne auf der Grundlage des Textes allein keine eindeutige Entscheidung für eine bestimmte Interpretation getroffen werden und böten sich zahlreiche Interpretationssysteme an: «La présentation d’une structure sociale normée dépouillée des relations logiques et temporelles récurrentes éveille nécessairement chez le lecteur la réaction de malaise, de difficulté à s’orienter, d’incertitude ou même le sentiment de menace et d’impuissance [. . .] que produit le déroulement à vide d’une structure d’actions fondamentale dans l’interaction sociale. Ainsi, le texte à lui seul ne permet pas de motiver de façon univoque l’interprétation à choisir. La disproportion entre l’occasion manifeste de l’accusation et de son importance rend cette question dans une large mesure indécidable. Le texte est polyvalent,

52 «Furthermore, the reader is disconcerted to find that ‹normal› social attitudes and values do not operate in Plume [. . .]» (Howe 1983, 903). 53 «The irony of these incidents stems first of all from the presentation of Plume’s incongruous reaction to them» (ib., 898).

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

335

c’est-à-dire qu’on peut le rattacher à plusieurs systèmes d’interprétation différents puisque l’ordonnance empirique de la séquence et le rapport relatif des actions entre elles est visiblement rendu inopérant».

Damit ist Schmidts (1973) Analyse von Michaux’ Erzählung im Kontext seiner Théorie et pratique d’une étude scientifique de la narrativité littéraire abgeschlossen. Letztere verfolge nämlich nicht das (unmögliche) Ziel, eine eindeutige Textinterpretation zu liefern, sondern narrative Strukturen zu identifizieren und epistemologisch zu begründen sowie Prognosen über mögliche Lesarten eines Textes relativ zu Rezeptionsumständen zu erstellen54 (cf. ib., 160). Die Leser, die größere Klarheit hinsichtlich adäquater Lesarten von Plume au restaurant wünschen, verweist Schmidt auf gängige literaturwissenschaftliche Methoden wie das Konsultieren weiterer Schriften des Autors oder den Vergleich mit zeitgenössischen Texten ähnlicher Handlungsstruktur etc. (cf. ib., 160), deren Möglichkeiten und Grenzen auch Bauer et al. (2010, 34) aufzeigen (cf. Kapitel 3.2.2.3). Trotz seiner genannten Zielsetzung benennt Schmidt (1973, 159) zumindest zwei mögliche Interpretationssysteme für die Deutung von Plume au restaurant, die sich auch in Berthos (1985) Analyse wiederfinden: zunächst führt er die Variante «Schuld versus Sühne» an, die sowohl in religiöser, moralischer oder mythologischer Sicht präzisierbar sei, zum anderen weist er auf die Möglichkeit hin, dass aufgrund der inszenierten Brüche auch das soziokulturelle Handlungsschema [accusation vs défense : norme] selbst in Frage gestellt werden könne. Weil in der hier unternommenen Analyse semantischer Komplexität der «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» sowie die «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» wichtige Kategorien des Untersuchungsrasters darstellen und die Auffassung vertreten wird, dass auf der Grundlage von Expertenurteilen adäquate – nicht eindeutige – Bedeutungsbeschreibungen von Texten möglich sind, sollen im Folgenden ebensolche angeführt werden, um die Komplexität der genannten Kategorien einschätzen zu können. Dennoch ist es im Fall der Plume-Geschichten sicher sinnvoll, die Erzeugung von Ambiguität und Unsicherheit als literarisches Konzept an sich zu begreifen, was sowohl Schmidt (1973) als auch Bertho (1985) herausstellen. Letztere beschreitet in ihrer Dissertation zu Un certain Plume darüber hinaus den Weg, diese grotesken, offenen und mehrdeutigen Texte Michaux’ auf der Grundlage seines Gesamtwerks zu deuten. Diese möglichen Anreicherungen der bereits erfolgten Analyse von Plume au restaurant mit Wissen zu Autor und

54 «La tâche de la narratologie, de l’analyse du contenu en général, consiste dans le cadre d’une étude scientifique de la littérature, à faire des pronostics sur les lectures possibles des textes relativement à des situations de réception, à l’intérieur d’une théorie des dimensions de significations possibles d’un texte littéraire» (Schmidt 1973, 160).

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Werk sollen hier in Kurzform angesprochen werden. Zu diesem Zweck muss nochmals daran erinnert werden, dass die Figur des Plume, deren verbale Suppletion so irritierend knapp ausfällt, zum einen die Leere und die Unzulänglichkeit verkörpert, die Michaux als Basis des Menschen betrachtet (cf. Bertho 1985, 9), und andererseits – wie es die Lesart Schreibstil seines Names nahelegt – als textuelle Strategie eine explizite Kritik des sozialen Gefüges ersetzt (cf. ib., 153): «Plume, de par ses attributs, est tout aussi personnage que stratégie textuelle à travers laquelle, implicitement, le locuteur effectue le démontage des agencements sociaux» (ib., 156).

Gemäß Bertho (1985, 2) präsentiert sich in den Werken Michaux’ die Außenwelt grundsätzlich als feindlich und aggressiv und durch das Gesetz von Herrschaft und Unterordnung regiert. Auch in Plume au restaurant werde durch die Inszenierung einer Anklage ohne Bezug auf eine Norm und das unverhältnismäßige Agieren der «représentant[s] de fonctions sociales supra-personnelles» (ib., 78) das soziale Gefüge als Raum der Unterdrückung und des Terrors entlarvt (cf. ib., 89), in welchem die individuelle Freiheit in höchstem Maße gefährdet sei (cf. ib., 79). Plumes sofortige und ohne Kenntnis der verletzten Norm vorgebrachten Entschuldigungen stellen weiterhin einen Bruch des sozialen Schemas Verteidigung dar. Diesen Frame-Bruch deutet Bertho (1985, 89) als Offenlegung der permanenten Schuldgefühle, die ein repressives soziales Gefüge, das die totale Unterordnung unter seine Regeln verlangt, beim sozialen Subjekt bewirke: «D’autre part, en regard cette fois de la relation : ‹défense sans norme› (Plume sans savoir de quoi il est coupable, devance l’enquête), serait, parallèlement, mise en évidence la culpabilité constante que provoque chez le sujet social un monde contraignant où il s’agit d’être en règle».

In Kapitel 3.2.2.3 wurde allerdings darauf hingewiesen, dass Bertho (1985) – ebenso wie Schmidt (1973) – eine religiöse Deutung für die durch den FrameBruch «défense sans norme» offenbarten Schuldgefühle als ebenso plausibel erachtet. In dieser Perspektive könnte die Unterwerfung Plumes unter die ihm unbekannten und offensichtlich sinnlosen Normen der Anderen auch Anzeichen dafür sein, dass der Mensch sich im Bewusstsein seiner Erbsünde als schuldiges Wesen begreift und deshalb demütig jede Anklage und jegliches Leiden als gerechtfertigt betrachtet und darum akzeptiert (cf. Bertho 1985, 96s.). Hier zeigt sich also einmal mehr, dass auch profundes Wissen zum Gesamtwerk Michaux’ die Ambiguität der Erzählung Plume au restaurant nicht aufzuheben vermag. Dieses Wissen erlaubt es allenfalls, angemessene Deutungen von unangemessenen zu unterscheiden und somit die scheinbar unendliche Deutungsvielfalt einzugrenzen.

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

337

Unstrittig ist aber wohl, dass die Texte des Recueils Un certain Plume ihrerseits die oben bereits als Konstante in Michaux’ Werk identifizierte Überzeugung ausdrücken, dass die condition humaine durch ein Leiden am Sein geprägt ist, und dass jegliches Bemühen, der individuellen Unzulänglichkeit und der Aggressivität der sozialen Umwelt durch die Unterwerfung unter deren Normen zu entkommen, zum Scheitern verurteilt ist (cf. ib., 158). Diese desillusionierende Erkenntnis scheint allerdings im Widerspruch zu stehen mit der Ironie in Un certain Plume. Denn tatsächlich bildet ja das nach wie vor absurd anmutende Verhalten Plumes sowie die Ironie des Erzählers, der die Ungeheuerlichkeiten, von denen er berichtet, als völlig normal hinstellt, in gewisser Weise ein komisches Gegengewicht zur Eskalation der Anklage. Diesen scheinbaren Widerspruch zwischen Ton und Inhalt, der alle Texte der Sammlung Un certain Plume prägt, löst Bertho (1985, 159) dadurch auf, dass sie die derbe Komik als Absage an ein Versinken in Verzweiflung deutet. Indem dem Leser die deprimierenden Strukturen der sozialen Umwelt unter Zuhilfenahme von Komik und Groteske vor Augen geführt werden, werde er aus ihren Fangarmen gerettet: «L’œuvre d’Henri Michaux [. . .] est traversée d’une bouffonnerie qui trouve sans doute dans Ailleurs et dans Un certain Plume sa manifestation exemplaire. Bouffonnerie qui est mouvement de transgression et qui, à la manière d’un exorcisme, tout en laissant l’Horreur, l’accablant réel, à son exacte image, en sauve le lecteur, cependant qu’ainsi l’œuvre même accréditerait alors l’aphorisme suivant qu’on peut lire dans Passages : ‹Prison montrée n’est plus prison› (Pass. 154)».

Nach der umfassenden frame-semantischen Analyse und der soeben erfolgten Vorstellung möglicher adäquater Lesarten von Michaux’ hochgradig polyvalenter Erzählung soll nun eine abschließende Bewertung ihrer Komplexität erfolgen. Es ist deutlich geworden, dass die Komplexität dieser surrealistischen Novelle in erster Linie durch den Faktor ABWEICHUNGEN von sprachlichen und sprachbezogenen Regeln und Traditionen sowie prototypischen Wissensmustern in erheblichem Maße erhöht wird, was die Werte von neun unserer 14 Komplexitätskategorien extrem hoch ausfallen lässt. Es sei nochmals daran erinnert, dass derartige Abweichungen deshalb die Komplexität eines Textes erhöhen, weil mit ihnen grundsätzlich implizite Zusatzbedeutungen vermittelt werden, deren Inferenz im Fall von echten Frame- oder Gattungsbrüchen außerdem auf den «kognitiven Entlastungsfaktor» verzichten muss, der bei nicht abweichendem Gebrauch mit solchen konventionellen Mustern des Wissens und Sprechens verbunden ist (cf. Oesterreicher 1997, 25; Dittgen 1989, 18). In Michaux’ Novelle liegen zahlreiche solcher echten Brüche des zentralen sozialen Handlungsschemas Anklage versus Verteidigung in Bezug auf eine Norm und des Restaurant-Skripts sowie Verstöße gegen die Prinzipien psychologischer

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Plausibilität, unsere «Kenntnis des üblichen, nicht-verrückten Verhaltens» (Coseriu 1988/2007, 96) und Regeln des korrekten Argumentierens vor, weshalb zunächst die Komplexitätskategorien «Frame- bzw. Gattungsbrüche» sowie «Anforderungen an das elokutionelle Wissen» im Korpuskontext den Höchstwert 6 erhalten müssen. Von den genannten Frame-Brüchen wird auch unmittelbar die Kategorie «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» betroffen. Denn wenngleich die Evokation des Frame-Systems «[accusation vs défense : norme]» (Schmidt 1973, 158) unstrittig ist und seine Filler quantitativ die Novelle dominieren, entspricht es keineswegs dem Textthema. Die Brüche dieses Frames weisen vielmehr darauf hin, dass auf seiner Grundlage das Thema der Novelle nur sehr bedingt inferierbar ist und dass es eher um eine den Frame lediglich berührende globale Kritik gesellschaftlicher Phänomene gehen muss. Aus diesem Grund ist auch die Kategorie «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» mit dem stark erhöhten Komplexitätswert 5 zu beurteilen. Des Weiteren gehen die Brüche konventioneller Wissensrahmen mit Verstößen gegen die Grice’schen Maximen einher. Während Relevanz- und Qualitätsmaxime respektiert werden – denn es gibt keinen Anlass an der Verlässlichkeit des Erzählers zu zweifeln –, erfahren die 1. Untermaxime der Quantität (Mache deinen Beitrag so informativ wie nötig) sowie die Obermaxime der Modalität (Sei klar) und ihre ersten beiden Untermaximen (1. Vermeide Dunkelheit des Ausdrucks, 2. Vermeide Mehrdeutigkeit) auf allen Ebenen der literarischen Kommunikation (Figurenkommunikation, Kommunikation zwischen narrateur und narrataire sowie (implizitem) Autor und (implizitem) Leser) mannigfache Verstöße und Beugungen. Die fehlende Explizierung der verletzten Norm, die extrem knapp ausfallende Suppletion der Figur des Plume, die durch die Erzählperspektive bedingten fehlenden Einblicke in Plumes Gedanken und Gefühle sowie der Verzicht auf Erzählerkommentare angesichts der ungeheuerlichen Ereignisse können allesamt auch als empfindliche Verstöße gegen die Quantitätsmaxime gewertet werden. Im Rahmen der frame-semantischen Analyse von Michaux’ Erzählung wurde wiederholt aufgezeigt, dass der Bruch konventioneller sozialer und soziokultureller Schemata und das Außer-Kraft-Setzen der darin geregelten UrsacheWirkungs-Zusammenhänge und Relationen Quelle von Unklarheit, Orientierungslosigkeit und Polyvalenz ist (cf. Schmidt 1973, 159s.). Somit müssen die mannigfachen Frame-Brüche als textsemantische Manifestationen von Verstößen gegen die Modalitätsmaxime gewertet werden. Dasselbe gilt für die bewusste Wahl des polysemen Namens Plume für den Protagonisten und die ironische Distanz des Erzählers. Weitere Verstöße gegen die Modalitätsmaxime finden sich auf der Ebene der Figurenkommunikation. Sowohl der bizarre und kryptische Vorwurf des Oberkellners im Incipit als auch die Verwendung von passepartout-Wörtern durch die Staatsbeamten sind von Dunkelheit des Ausdrucks

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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und/oder Mehrdeutigkeit geprägt. Die Ankläger lassen nämlich permanent im Dunkeln, was Plume erklären soll, welche Wahrheit er beichten soll («Il vaudra mieux confesser toute la vérité.», P, 625) und welche schwerwiegende Wendung die Angelegenheit gerade nimmt («Quand ça commence à prendre cette tournure, c’est que c’est grave.», P, 625). Die aufgeführten Brüche und Beugungen betreffen zwar nicht alle Maximen, erfolgen aber flächig, steigern die Komplexität mehrerer Kategorien und gestalten die Interpretation der Erzählung äußerst schwierig. Der Kategorie «Umgang mit den Grice’schen Maximen» ist deshalb der Wert 5 zuzuordnen. Derselbe Komplexitätswert gilt für die Kategorie «Leerstellen/Aussparungen», die unmittelbar von den Verstößen gegen die Quantitätsmaxime (fehlende Explizierung der verletzten Norm) und gegen die Modalitätsmaxime beeinflusst wird: letztere betreffen ja gerade die Motivierung der Handlung und lassen den Zusammenhang zwischen dem nicht erkennbaren «Fehlverhalten» Plumes und der Heftigkeit der Anklage unbestimmt. Da diese Leerstellen aufgrund der Frame-Brüche eben nicht durch das im Frame Anklage versus Verteidigung gespeicherte Allgemeinwissen zu füllen sind, sondern in besonderem Maße zur kontextabhängigen/ nicht-konventionellen IMPLIZITHEIT gehören, ist der stark erhöhte Komplexitätswert 5 für die entsprechende Kategorie gerechtfertigt. Die von den genannten Verstößen und Brüchen ebenfalls stark betroffene «suppletive Kontextbildung» in Plume au restaurant, die für die extreme Ambiguität der Figur des Plume verantwortlich zeichnet, wurde schon in Kapitel 3.2.2.3 mit dem Maximalwert 6 beziffert. Schließlich weisen noch die Kategorien «Interpretationsaufwand» sowie «Anforderungen an das diskurstraditionelle und lebensweltliche Wissen» aufgrund der auffälligen ABWEICHUNGEN stark erhöhte Komplexitätswerte auf. Die irritierende, polyvalente und besonders komplexe Textgestaltung ist letztlich Resultat der Zugehörigkeit von Michaux’ Erzählung zum Modell der surrealistischen Novelle des 20. Jahrhunderts, die sich durch den Verzicht auf mimetische Erzählverfahren, eine traumhaft-alogische Textkonstitution sowie die Präsenz einer verborgenen Tiefenstruktur auszeichnet, «die der vordergründigen Alogik der erzählten Geschichte eine Art inhärente Traumlogik des Unbewußten unterlegt» (Blüher 1985, 247). Weil diese Gattung des nicht-mimetischen Erzählens somit, wie bereits gezeigt wurde, zahlreiche Dimensionen von Textualität (Umgang mit den Grice’schen Maximen, Art der suppletiven Kontextbildung, Leerstellen, Etablierung der Themen) in sehr spezieller Weise formt, müssen die «Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen der Rezipienten», die Plume au restaurant stellt, als hoch eingeschätzt werden. Zudem ist diskurstraditionelles Wissen unentbehrlich, um sich nicht von der vordergründigen Inkohärenz der Erzählung abschrecken zu lassen und auf die Suche nach einer sinnvollen

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Interpretation zu gehen. Auch die kulturelle Spezifizierung der surrealistischen Novelle des 20. Jahrhunderts ist als hoch einzuschätzen, wenngleich sowohl in Deutschland als auch in Frankreich Abiturienten mit nicht-mimetisch erzählenden Texten konfrontiert werden.55 Deshalb ist für die Kategorie «Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen» wohl nicht der Maximalwert, aber durchaus der stark erhöhte Komplexitätswert 5 angemessen. In diesem Abschnitt sowie in Kapitel 3.2.2.3 wurde aber mehrfach deutlich, dass diskurstraditionelles Wissen zur surrealistischen Novelle nicht ausreicht, um adäquate Deutungen der polyvalenten Erzählung Michaux’ aufzubauen. Es gibt kein in der Logik der Gattung liegendes «Rezept», wie man von den befremdlichen, die Realität des Lesers und sein soziokulturelles Wissen unterminierenden Ereignissen der ersten semiotischen Ebene zur verborgenen Tiefenstruktur gelangt. Schmidt (1973), Howe (1983) und Bertho (1985) sind sich einig darin, dass diese Subversionen beim Leser Orientierungslosigkeit und Unwohlsein (cf. Schmidt 1973, 159) auslösen und somit offensichtlich extrem hohe Anforderungen an seine Deutungskompetenz stellen. Unter Berücksichtigung der Tatsachen, dass die oben aufgezeigte epistemologische Analyse der Handlungsstruktur der Novelle mitsamt ihren Abweichungen für eine Deutung unverzichtbar ist, Michaux’ Text unauflösbar polyvalent ist und adäquate Deutungen Expertenwissen erfordern, ist die Kategorie «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» als extrem komplex zu bewerten und erhält folglich den Wert 6. Adäquate Deutungen können also nur gelingen, wenn der Leser über anspruchsvolles lebensweltliches Wissen literaturwissenschaftlicher, theologischer und soziologischer Provenienz verfügt. Aufgrund der literaturgeschichtlichen Sonderstellung Michaux’ im 20. Jahrhundert ist darüber hinaus Wissen zum Autor und seinem Gesamtwerk unverzichtbar, welches eindeutig als Expertenwissen einzuschätzen ist. Aus diesem Grund ist auch der Kategorie «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» der maximale Komplexitätswert 6 zuzuordnen. Die fünf noch verbleibenden Komplexitätskategorien unseres Analyserasters werden nur sporadisch oder gar nicht von den zahlreichen Abweichungen betroffen, weshalb ihre Komplexität auch deutlich geringer ausfällt. Ausgesprochen auffällige Andeutungen bzw. Evokationen in Plume au restaurant stellen die bereits erwähnten Refrains dar, die gemäß Howe (1983, 901) der ironischen Markierung von Verhaltensweisen dienen, die nicht zu den Umständen

55 Im hessischen Lehrplan für das Fach Deutsch (Gymnasialer Bildungsgang) findet sich beispielsweise unter den Textanregungen für das Thema «Außenwelt und Innenwelt» in der Q2 Kafkas Die Verwandlung (cf. Hessisches Kultusministerium 2010, 62) und in Frankreich steht zumindest surrealistische Lyrik auf dem Programm für die première littéraire (‹www. éducation. gouv.fr/cid53318/mene1019760a.html› [letzter Zugriff: 05.04.2018]).

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

341

passen. So werden Plumes inadäquate Entschuldigungen in allen vier Fällen durch den Satz «Plume s’excusa aussitôt.» (P, 623s.) eingeleitet und seine unpassende Verlegenheit mittels der Sätze «Plume se trouve atrocement gêné.» (P, 623) und «Plume se sent de plus en plus gêné.» (P, 624) unterstrichen. Die Brüche des Rollenverhaltens von Oberkellner und Restaurantchef sowie das nicht zu Plumes «Fehlverhalten» passende Auftreten von (hohen) Polizeibeamten werden durch die folgenden Refrains oder zumindest auffälligen Parallelismen hervorgehoben: «Cependant, le maître d’hôtel ne bouge pas» (P, 623). «Cependant, le chef de l’établissement ne bouge pas» (P, 623). «[. . .] hum ! C’est maintenant le chef de l’établissement qui se trouve devant lui» (P, 623). «[. . .] il voit tout à coup la manche d’un uniforme ; c’était un agent de police qui était devant lui» (P, 624). «[. . .] il se croyait déjà libre. Mais c’est maintenant le commissaire de police qui se trouve devant lui» (P, 624) (meine Hervorhebung in allen fünf Zitaten).

Diese Refrains stellen keine konventionellen Ironiesignale dar, sondern sind zur kontextabhängigen IMPLIZITHEIT zu zählen, weil ihr Ironisierungspotential eben sprecher- und kontextabhängig ist und zudem zur Polyvalenz der Erzählung beiträgt. Dasselbe gilt für die auffällige Sachlichkeit und Zurückhaltung des Erzählers, die ebenfalls im besonderen Kontext von Michaux’ Erzählung einen ironischen Effekt erzielen (cf. Howe 1983, 899). Der Rezipient muss diese unkonventionellen Ironiesignale also erkennen und inferieren, dass sie den Zweck verfolgen, bestimmte Ereignisse und Handlungen der Erzählung als absurd oder grotesk zu entlarven (cf. ib., 901). Das Einlösen dieser Evokationen ist wiederum ganz entscheidend für adäquate Deutungen der Erzählung, die eben nicht nur die Außenwelt als aggressiv und repressiv brandmarken will, sondern den Rezipienten mithilfe von Ironie, Komik und Groteske auch vor ihr schützen will. Obgleich also die festgestellten Andeutungen eher unkonventionell sind und unbedingt eingelöst werden müssen, ist ihr Beitrag zur Komplexität der entspechenden Kategorie aber aufgrund ihrer Auffälligkeit und der immer gleichen Zusatzbedeutung als eher mäßig einzuschätzen und erhält deshalb den Wert 2. Andeutungen intertextueller Art könnte man in Plume au restaurant vermuten, da Michaux mit seinen subversiven Texten natürlich in bestimmten literarischen Traditionen steht und Blüher (1985, 248) die Rezeption der nichtmimetischen Erzählverfahren Kafkas als wichtigen Beitrag zur Entstehung des Modells der surrealistischen Novelle wertet. Weder Schmidt (1973) noch Howe (1983) oder Bertho (1985) bemerken jedoch intertextuelle Anspielungen

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

in Michaux’ Novelle und Bertho (1985, 79ss.) entlarvt vielmehr eklatante Fehldeutungen, die auf der Auswertung simpler Situationsähnlichkeiten zwischen Plume au restaurant und Kafkas Der Prozeß oder Ähnlichkeiten zwischen Plume und Jospeh K., Gregor Samsa oder Meursault beruhen. Wenngleich es also unstrittig ist, dass bestimmte Erzählverfahren wie z.B. die Wiedergabe ungeheuerlicher Geschehnisse in einem völlig nüchternen Ton oder Themen wie das Ausgeliefertsein des Einzelnen einem repressiven Staat gegenüber in anderen Werken derselben Zeit wiederzufinden sind und somit auf diese verweisen, können derartige Entsprechungen hier nicht als intertextuelle Anspielungen betrachtet werden, die Deutungsschlüssel für Michaux’ Erzählung liefern. Folglich werden nur die bereits analysierten Ironiesignale als Andeutungen gewertet und bleibt es beim Komplexitätswert 2 für die Kategorie «Andeutungen/Evokationen». Interessanterweise müssen die soeben als (mäßig) komplexe Ironiesignale gedeuteten Refrains hinsichtlich der Kategorie «Kohäsion & lokale Kohärenz» als explizite Kohäsionsmarker bewertet werden, die den Eindruck von recht stark ausgeprägter Kohärenz auf lokaler Ebene unterstreichen. Zweifelsohne gliedern die Refrains nämlich Michaux’ Text, kündigen an, was den Leser im nächsten Paragraphen erwartet (z.B. eine weitere Rechtfertigung), und heben bestimmte Wiederholungen auf inhaltlich-thematischer Ebene hervor. Weiterhin tangieren die mannigfachen Frame-Brüche und Verstöße gegen Regeln des korrekten Argumentierens die lokale Kohärenz von Plume au restaurant nur sporadisch.56 Schließlich weist die Erzählung Plume au restaurant eine ganz klar an Sinneinheiten orientierte Einteilung in Paragraphen sowie eine hohe Dichte an expliziten kohäsionsvermittelnden Merkmalen auf. Dazu gehören neben den bereits angesprochenen Refrains und weiteren lexikalischen Rekurrenzen («[. . .] je la paierai le prix qu’il faudra. [. . .] Je le paierai son prix sans hésiter.» (P, 623), Plume (9x), côtelette (5x), établissement (4x) etc.) auch eine verhältnismäßig hohe Zahl an Konnektoren, die den logischen Zusammenhang zwischen den einzelnen Propositionen explizieren, was die folgende Passage aus Plumes erster Verteidigungsrede exemplarisch belegen soll: «J’ai demandé à tout hasard une côtelette, pensant que peut-être il y en avait, ou que sinon on en trouverait aisément dans le voisinage, mais prêt à demander tout autre chose si les côtelettes faisaient défaut. Le garçon, sans se montrer particulièrement étonné, s’éloigna et me l’apporta peu après et voilà . . . » (P, 623; meine Hervorhebung).

56 So wird beispielsweise die Kohärenz unmittelbar nacheinander thematisierter Sachverhalte gestört, als Plume auf den impliziten Vorwurf des Kellners sofort mit einer Entschuldigung reagiert, oder als er seine Kurzsichtigkeit als sachlich falschen Grund für sein Unvermögen, die Karte zu lesen, anführt.

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

343

Während die vier von Plume vorgebrachten Entschuldigungen also zusammen betrachtet inkongruent sind und zum Teil gar Widersprüche aufweisen, stellt sich jede einzelne isoliert betrachtet im Wesentlichen als kohärent dar. Dieses Phänomen ist für Michaux’ Erzählung im Ganzen festzustellen. Die massiven FrameBrüche bewirken tatsächlich vornehmlich Inkongruenz und Inkohärenz auf globaler Ebene, also in Bezug auf das Textthema, die Motivierung des Geschehens oder den logischen Zusammenhang zwischen den dominierenden Handlungen (nichtiges «Fehlverhalten» vs. massive Anklage), während die lokale Kohärenz davon nur selten irritiert und zudem durch zahlreiche explizite Kohäsionsmarker unterstützt wird. Aus diesem Grund wird die Komplexität der Kategorie «Kohäsion & lokale Kohärenz» als niedrig eingeschätzt und mit dem Wert 1 beurteilt. Ebenso einfach fällt die Kategorie «Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik» aus. Die Novelle weist nämlich weder Metaplasmen noch Tropen noch stilistische Elemente auf, die auf der Wortebene anzusiedeln wären. Lediglich 18 token, also 2,2% der Textwörter, sind als in hohem Maße wortsemantisch komplex zu werten. Dabei handelt es sich in erster Linie um den polysemen Namen Plume (9x), wenige passe-partout-Wörter bzw. Lexeme mit sehr großem Bedeutungsumfang (une affaire (2x), la vérité, la tournure), deren Referenz aufgrund der fehlenden Explizierung der verletzten Norm völlig unklar ist, sowie den Historizismus la Sûreté und die umgangssprachlichen Lexeme bzw. Wendungen la Secrète und ça va chauffer, die erhöhte Anforderungen an das einzelsprachliche und/oder lebensweltliche Wissen der Rezipienten stellen. Weitere 37 Lexeme sind nicht im Thematischen Grund- und Aufbauwortschatz Französisch von Fischer/Le Plouhinec (2012) verzeichnet, wodurch sie ebenfalls etwas erhöhte Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen der Rezipienten stellen. Unter Berücksichtigung dieser Lexeme weist Michaux’ Erzählung einen Anteil von 6,6% komplexer token auf, weshalb ihr gemessen am wortsemantisch komplexesten Korpustext L’avenir de l’homme der äußerst geringe Komplexitätswert 1 zuzuordnen ist. Die «Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik» ist als etwas höher einzuschätzen, doch auch in diesem Bereich wirken sich die Frame- oder MaximenBrüche nur sporadisch komplexitätssteigernd aus. Einzelne token-Satz-Frames erweisen sich als komplex, weil zentrale Slots entweder offen gelassen werden (z.B. im Refrain Plume s’excusa aussitôt. – Wofür?) oder durch die oben aufgeführten passe-partout-Wörter gefüllt werden (z.B. Ce n’est pas notre première affaire, croyez-le.), wodurch jeweils das THEMA implizit belassen wird. Implizitheit wird ebenfalls durch die siebenmalige Verwendung von Auslassungspunkten erzeugt, die viermal mit elliptischen Sätzen korrelieren. In diesen Fällen muss der Leser erkennen, dass Plume seine Sätze abbrechen lässt, um den Anklägern Raum und Gelegenheit für eine Reaktion zu geben, die ihm helfen könnte zu verstehen, was ihm eigentlich vorgeworfen wird:

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

«[. . .] Le garçon sans doute préoccupé n’a pas cherché plus loin, il m’a apporté ça, et moi-même d’ailleurs tout à fait distrait je me suis mis à manger, enfin. . . je vais vous payer à vous-même puisque vous êtes là» (P, 623).

Da die genannte Inferenz eine genaue Auswertung des Kotextes verlangt, trägt sie zur Komplexität auf satzsemantischer Ebene bei. In geringerem Maße trifft dies weiterhin auf die sieben Partizipial- und zwei Gérondif-Konstruktionen der Erzählung zu, die vom Rezipienten die Inferenz der semantischen Beziehung zwischen den Propositionen des jeweiligen Satzgefüges verlangen. Da die Novelle lediglich 66 Sätze umfasst, ist letztlich ein Anteil von 32% von Implizitheit betroffen und damit als komplex einzuschätzen, was im Korpuskontext den mittleren Komplexitätswert 3 für die Kategorie «Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik» zur Folge hat. Während Michaux’ Novelle auffallend hohe Anforderungen an das elokutionelle, diskurstraditionelle und lebensweltliche Wissen ihrer Leser stellt, erhält die letzte Wissenskategorie, «Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen», lediglich den Komplexitätswert 2. Es sind im Wesentlichen die bereits aufgeführten 55 token, die nicht im Thematischen Grund- und Aufbauwortschatz enthalten sind, sowie die sieben Partizipialkonstruktionen, die aufgrund ihrer geringen Frequenz in der langue courante bzw. ihrer Beschränkung auf die Schriftsprache etwas erhöhte Anforderungen an die Französisch-Kenntnisse der Rezipienten stellen. Das Komplexitätsprofil von Plume au restaurant stellt sich also im Überblick folgendermaßen dar: 6 5 4 3 2 1 0

FB

L

A

M

SK FT KK

W

S

EW IW DW LW 2.E

FB: Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen; L: Leerstellen/Aussparungen; A: Andeutungen/Evokationen; M: Umgang mit den Maximen; SK: suppletive Kontextbildung; FT: Frames/ Frame-Systeme & die Etablierung von Themen; KK: Kohäsion & lokale Kohärenz; W: Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik; S: Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik; EW/IW/DW/LW: Anforderungen an das elokutionelle, einzelsprachliche, diskurstraditionelle und lebensweltliche Wissen; 2.E: Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene. Schema 12: Komplexitätsprofil der Novelle Plume au restaurant von Henri Michaux.

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

345

Das Diagramm macht augenfällig, dass das massive Wirken des ersten Komplexitätsfaktors ABWEICHUNGEN, das sich in mannigfachen Brüchen von soziokulturellen Frames und flächigen Verstößen gegen allgemein-sprachliche Normen wie z.B. Quantitäts- und Modalitätsmaxime sowie Prinzipien des Denkens bzw. Argumentierens manifestiert, gerade die globale Kohärenz von Michaux’ Erzählung extrem stört, was die sehr hohen Komplexitätswerte der Kategorien FB, EW, L, M, SK und FT zur Folge hat. Ein adäquater Umgang mit den Abweichungen und der resultierenden Ambiguität auf der zweiten semiotischen Ebene besteht in einer exakten frame-semantischen Analyse und deren Anreicherung mit anspruchsvollem diskurstraditionellen und lebensweltlichen Wissen, was wiederum die extremen Komplexitätswerte der Kategorien DW, LW und 2.E erklärt. Auf lokaler Ebene stellt sich Plume au restaurant jedoch als äußerst kohärent und unter einzelsprachlichen Gesichtspunkten als eher leicht heraus, was sich in den geringen bis mäßigen Komplexitätswerten der Kategorien KK, W, S und IW widerspiegelt. Diese lokale Einfachheit und Strukturiertheit, die unter anderem dem Respekt einzelsprachlicher und textgrammatischer Konventionen geschuldet ist, hat sicherlich auch die Funktion, potentielle Leser nicht abzuschrecken, sie langsam in die Demontage ihrer soziokulturellen Realität mitzunehmen und sie von der Ernsthaftigkeit hinter der Groteske und der Möglichkeit einer sinnvollen Deutung der subversiven und absurden Geschehnisse zu überzeugen.

3.3.3 Erzeugung von Ambiguität durch Evokation und die Verquickung zweier Textsorten Der dritte und letzte Text, der im Rahmen dieses Kapitels auf Ambiguität und die daraus resultierende Komplexität untersucht werden soll, weist wieder eine dominierende «Ambiguierungsstrategie» sowie weitere Neben-Strategien auf. Das Ergebnis ist eine Vervielfachung der Lesarten, also ein mehrfacher Textsinn, der im Wesentlichen auf den von Coseriu (1980) als Evokation betitelten Zeichenrelationen beruht. Man könnte auch sagen, dass an dieser Stelle endlich ein Fall literarischer Ambiguität vorgestellt werden soll, der sich aus der Dominanz der poetischen Funktion nach Jakobson (1960) ergibt, eine Ausprägung von Ambiguität also, die von den einleitend zitierten literaturwissenschaftlichen Lexika ja zum Wesensmerkmal der Literatur erhoben wurde. Wir erinnern daran, dass gemäß Jakobson bei der poetischen Funktion der Sprache die Äquivalenz zum konstitutiven Verfahren der Sequenz wird (cf. Jakobson 1979, 94). Dies wiederum führe dazu, dass die im Text aktualisierten Zeichen zusätzlich zu ihrer Systembedeutung

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

weitere Bedeutungen gewinnen, die sich aufgrund ihrer Kombination mit äquivalenten Einheiten (z.B. auf der Lautebene) ergeben (cf. Jakobson 1960, 370s.). Tatsächlich weist die im Folgenden zu analysierende Erzählung mannigfache Äquivalenz-Relationen syntaktischer, lexikalischer und semantischer Art auf, die für die Etablierung weiterer Lesarten verantwortlich sind. Diese ÄquivalenzRelationen können aber ebenso gut unter den Begriff der Coseriu’schen Evokation subsumiert werden. Da zudem weitere der von Coseriu (1980) in diesem Zusammenhang beschriebenen Zeichen-Relationen wie z.B. die Relationen mit ganzen Zeichensystemen, die Relationen mit Zeichen in anderen Texten (cf. Coseriu 1980/ 2007, 98–111) oder die indirekte Zeichenfunktion «Zeichen – Bezeichnetes – Symbolisiertes» (ib., 123) für den mehrfachen Textsinn verantwortlich sind, erweist sich insgesamt der Rückgriff auf das Coseriu’sche Konzept der Evokation zur Erklärung der hier festzustellenden Ambiguität als geeigneter als Jakobsons poetische Funktion der Sprache. Aber auch die «Neben-Strategien» wie z.B. die Verwendung konventioneller Symbole wie «Ziege» oder «Wolf», die per se mehrdeutig sind, weil sie verschiedene Konzepte symbolisieren, oder die Verknüpfung zweier Textsorten tragen zur Entstehung der Ambiguität auf der zweiten semiotischen Ebene bei. Es mag auf den ersten Blick verwundern, dass es sich bei dem so angekündigten ambigen und komplexen Text um La Chèvre de M. Seguin (1866) handelt, die wohl bekannteste Erzählung aus Alphonse Daudets Lettres de mon moulin. Diese Novellensammlung ist in Frankreich ein Klassiker der Schul- und Jugendliteratur geworden und gerade mit La Chèvre de M. Seguin werden schon Grundschulkinder, spätestens aber die Schüler des Collège konfrontiert (cf. Wittmann 2010, 289). Das mag daran liegen, dass die Erzählung in den Traditionen von Tierfabel und Volkserzählung gestaltet ist, die Ereignisse der ersten semiotischen Ebene leicht nachvollziehbar sind und die Kinder über die Evokationen «hinweglesen» können. Letzteres ist leicht möglich, weil das Einlösen der Evokationen recht hohe Anforderungen an das kulturelle und literaturgeschichtliche Wissen der Leser stellt – ein entscheidender Komplexitätsfaktor dieses Textes –, über das Kinder und Jugendliche in den meisten Fällen wohl nicht verfügen werden. Nichtsdestotrotz enthält die Erzählung von Daudet eine Vielzahl solcher Evokationen im Sinne Coserius und wenn in dieser Arbeit die semantische Komplexität von Texten untersucht werden soll, dann muss auch deren gesamtes Bedeutungspotential berücksichtigt werden. Diese Sichtweise würde auch von den zahlreichen Daudet-Experten geteilt, die in letzter Zeit immer häufiger den reduktionistischen Umgang mit dessen Texten anprangern. Jean-Michel Wittmann (2010, 289), selbst Herausgeber einer für den Unterricht umfangreich kommentierten Ausgabe der Lettres de mon moulin, weist darauf hin, dass Alphonse Daudet beim Verfassen seiner Erzählungen keineswegs ein jugendliches Publikum

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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im Blick hatte und dass die Entdeckung seiner Texte für den Unterricht am Collège dem Autor seinen verdienten literarischen Rang versagt habe: «Tout se passe comme s’il payait sa présence dans les manuels scolaires des collèges par un effacement des anthologies réservées aux lycéens ou aux étudiants, alors qu’Alphonse Daudet romancier trouverait naturellement sa place, une des premières, à côté de son ami Edmond de Goncourt, non loin de Maupassant ou de Zola. [. . .] Ces textes méritent plus qu’un sourire, parce qu’ils ont davantage à offrir à celui qui fait l’effort de comprendre une langue parfois ardue et un art littéraire relativement complexe, même si la technique, chez Daudet, comme chez les plus grands conteurs, sait se faire oublier» (ib., 290s.).

Wittmann (2010) weist hier auch bereits auf die Schwierigkeit der Sprache Daudets und die Komplexität seiner literarischen Kompositionen hin, was die folgende Analyse von La Chèvre de M. Seguin präzisieren und bestätigen wird. Roger Ripoll, der Herausgeber der Werke Daudets in der Bibliothèque de la Pléiade, teilt das Bedauern Wittmanns über den oberflächlichen Umgang mit den Texten dieses so bekannten und doch häufig verkannten Autors. In seinem Vorwort zu Jean Le Guennecs La Grande Affaire du Petit Chose,57 einer neueren Untersuchung des Werkes von Daudet, fordert Ripoll (2006, 9) deshalb auch, dieses ernstzunehmen und mit allen verfügbaren philologischen Werkzeugen zu entschlüsseln: «Les livres les plus célèbres ne sont pas nécessairement ceux qu’on lit le mieux. [. . .] On a trop souvent tendance à se satisfaire d’approximations et de lieux communs, à réduire Daudet à une image toute faite de joyeux conteur méridional. Il est urgent de rompre avec cette tradition de négligence. Trop longtemps délaissée, considérée de façon superficielle, l’œuvre de Daudet demande à être prise au sérieux, à être étudiée à l’aide de tous les outils dont peut disposer la recherche littéraire».

Inspiriert durch diese Aussagen muss es im Folgenden also darum gehen, auf der Basis einer umfassenden Bedeutungsanalyse, die auch die zahlreichen Evokationen des Textes aufdeckt, die Polyvalenz der Fabel über M. Seguins Ziege zu belegen und so zu einer realistischen Einschätzung ihrer überraschenderweise nicht gerade geringen Komplexität zu gelangen. Dem müssen aber einige Informationen über die Konzeption der Lettres de mon moulin sowie eine diskurstraditionelle Charakterisierung und eine Inhaltsangabe der Erzählung vorausgehen. Bevor die Lettres de mon moulin 1869 erstmalig als Textsammlung erschienen, wurden sie in drei Serien zwischen 1866 und 1869 in den Zeitungen L’Événement und Le Figaro veröffentlicht (cf. Bergez 1999, 13). Die endgültige Ausgabe von 1879 umfasst 24 Briefe und ein avant-propos. Was die Texte der Lettres de

57 Le Guennec, Jean, La Grande Affaire du Petit Chose. Figures de la perversion dans l’œuvre d’Alphonse Daudet. Préface de Roger Ripoll, Paris, L’Harmattan, 2006.

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mon moulin eint, ist zum einen die fiktionale Behauptung, Daudet habe diese Briefe in seiner provenzalischen Mühle verfasst, zum anderen der mediterrane Schauplatz der Erzählungen: 16 spielen im ländlichen Milieu der Provence, die übrigen in Algerien oder auf Korsika (cf. ib., 14s.). Eine weitere Konstante ist der wiederholte Bezug auf Paris und die Spannung zwischen «la séduction provençale et la tentation parisienne» (ib., 23). Trotz dieser Gemeinsamkeiten beschreibt Bergez (1999, 13) die Textsammlung unter Verweis auf ihre lange Genese als bunt zusammengewürfelt und spricht ihr jegliche vorgefasste Einheit ab. Dieser Eindruck werde bekräftigt durch die auffällige Vielfalt der thematischen Inspirationen und der Diskurstraditionen, derer Daudet sich bedient: «[Daudet] puisa dans tout ce qui pouvait nourrir sa création – ses expériences, le souvenir de son enfance à Bezouce, des veillées de Montauban, sa connaissance de Mistral, la consultation de l’Almanach provençal – prolongeant cette diversité de sources d’inspiration par une variété étonnante de registres littéraires : le témoignage côtoie le conte, la chronique historique fait bon ménage avec la rêverie, le merveilleux alterne avec le drame, le fabliau médiéval avec la pastorale, le réalisme avec la féerie» (ib., 24s.).

Gerade in dieser Tendenz von Daudet, sich auf eine lange literarische Tradition zu beziehen, alte Gattungen wie Fabel oder Ballade an den Zeitgeschmack anzupassen (cf. Wittmann 2010, 17s.) und sich einer regelrechten «exercice littéraire» (ib., 268) hinzugeben, sieht Wittmann (2010) im Gegensatz zu Bergez (1999) einen Aspekt, der die Lettres de mon moulin zu einer Einheit macht. Des Weiteren manifestiere sich Daudets bewusster Bezug auf die französische und europäische Literatur auch im permanenten Spiel mit intertextuellen Bezügen, wofür Wittmann (2010, 88) als Beispiel u.a. die Korrespondenzen zwischen La Chèvre de M. Seguin und Le Loup et le Chien von La Fontaine nennt. Diese Einschätzung unterstreicht somit die oben angekündigte Präsenz von Evokationen unterschiedlichster Art in Daudets Tierfabel. Die Erzählung La Chèvre de M. Seguin, die erstmals 1866 in der Zeitschrift L’Événement veröffentlicht wurde, ist in Wittmanns auf thematischen und formalen Aspekten beruhender Klassifikation der Lettres de mon moulin ein prototypischer Vertreter der Texte, die in der Tradition von conte und fabliau stehen und eine Lehre oder Moral vermitteln wollen (cf. ib., 248). Außerdem ist die Prosafabel über eine freiheitsliebende Ziege in einen Brief integriert, der formal und inhaltlich tatsächlich als solcher gekennzeichnet ist, wodurch La Chèvre de M. Seguin sich von vielen der übrigen Lettres abhebt. Jürgen Stackelberg (2008, 363) bezeichnet den Titel von Daudets heute bekanntestem Werk als «irreführend», «[. . .] weil es eigentlich keine Briefe, sondern Novellen, Anekdoten, Legenden, Impressionen oder auch nur Portraits von Menschen sind, die der Verfasser besucht und beschreibt».

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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Bei La Chèvre de M. Seguin aber wird die Briefform nicht nur durch rahmende Floskeln angedeutet, sondern es handelt sich um eine echte Verknüpfung zweier Gattungen, eben von literarischem Brief und Prosafabel. Zu Beginn wird der Adressat des Briefes genannt: À M. Pierre Gringoire, poète lyrique, à Paris, bevor der Verfasser sich in der 2. Person Singular an besagten Gringoire wendet und seinem Unmut darüber Luft macht, dass dieser ein Stellenangebot als Journalist bei einer Pariser Zeitung abgelehnt hat. Er macht ihn mit deutlichen Worten auf seine prekäre materielle Situation aufmerksam und legt ihm nahe, seine Entscheidung zu überdenken. Dieser erste Absatz endet mit der Aufforderung an Gringoire, der folgenden Geschichte zuzuhören, und enthält das typische «Anwendungssignal» der Fabel, «das entweder deutlich macht, dass es sich bei der Geschichte um einen besonderen Beispielfall handelt, oder aber [. . .] dass die erzählte Geschichte als ganze metaphorisch und daher in eine ‹eigentliche› Bedeutung zu übertragen sei» (Zymner 2009, 234): «Non ? Tu ne veux pas ? Tu prétends rester libre à ta guise jusqu’au bout . . . Eh bien, écoute un peu l’histoire de la Chèvre de M. Seguin. Tu verras ce que l’on gagne à vouloir vivre libre» (C, 262; meine Hervorhebung).

Im Anschluss erzählt der Verfasser des Briefes die so angekündigte Fabel, die offensichtlich den argumentativen bzw. didaktischen Nutzen hat, Gringoire deutlich zu machen, welchen Preis er zahlen muss, wenn er auf seiner Freiheit besteht. Auch die eigentliche Fabel wird aber an mehreren Stellen durch direkte Adressatenansprachen unterbrochen, die den Zweck verfolgen, die Aufmerksamkeit Gringoires wach zu halten: «Tu ris, Gringoire ? Parbleu ! Je crois bien ; tu es du parti des chèvres, toi, contre ce bon M. Seguin . . . Nous allons voir si tu riras tout à l’heure» (C, 262).

Auch am Schluss der Erzählung wird der Gattung des literarischen Briefes nochmals explizit Rechnung getragen. Der Erzähler verabschiedet sich von Gringoire, fasst ihm das tragische Ende der Ziege auf Provenzalisch zusammen und betont, dass die gelesene Geschichte nicht seine eigene Erfindung sei, sondern zum Volksgut der Provence gehöre: «Adieu, Gringoire ! L’histoire que tu as entendue n’est pas un conte de mon invention. Si jamais tu viens en Provence, nos ménagers te parleront souvent de la cabro de moussu Seguin, que se battégué touto la niue emé lou loup, e piei lou matin lou loup la mangé. Tu m’entends bien, Gringoire ? Et piei lou matin lou loup la mangé» (C, 265).

Die Behauptung, die Geschichte über M. Seguins Ziege sei eine provenzalische Volkserzählung, entspricht nicht der Wahrheit (cf. Lafont/Gardès-Madray 1976,

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

137), allerdings ist die auf provenzalisch wiedergegebene Äußerung Teil eines von Frédéric Mistral in seinem Trésor du Félibrige belegten Sprichwortes.58 Mancher Leser nimmt die Behauptung des Erzählers, die sich somit als Authentifizierungsstrategie herausstellt, aber mit Sicherheit für bare Münze, weil Daudets Chèvre de M. Seguin eben die konstitutiven Elemente der Fabel aufweist und der Autor weiterhin typische Elemente der Volkserzählung nachahmt. Auf das in der Präambel enthaltene Anwendungssignal sowie die rhetorische bzw. didaktische Funktion (cf. Zymner 2009, 234s.), die der Fabel innerhalb des Briefes zukommt, wurde bereits hingewiesen. Darüber hinaus begegnen uns mit der Ziege Blanquette, dem Wolf und den Gämsen, Tannen und Kastanienbäumen, die Blanquette im Gebirge empfangen, anthropomorphisierte Tiere und Pflanzen, die «über Bewusstsein, Sprache und Handlungsmöglichkeiten des Menschen [verfügen]» (ib., 234). Lafont/Gardès-Madray (1976, 137s.) identifizieren diese Merkmale der Tierfabel sowie die Typisierung des boshaften Wesens durch den sogenannten «mythischen Singular» (le loup) und den hier nur angedeuteten Verweis auf ein bekanntes Erzählschema, bei dem identische Schleifen mehrfach – zudem siebenmal – durchlaufen werden («[. . .] après avoir perdu six chèvres de la même façon, il en acheta une septième [. . .]», C, 261), als Belege für Daudets bewusste Nachahmung des Stils der Volkserzählung bzw. des Märchens. Auch die Wahl der auktorialen Erzählsituation dient der Nachahmung des Erzählduktus von Märchen und Volkserzählungen. Der Verfasser des Briefes und auktoriale Erzähler der Fabel macht zudem hemmungslos vom gesamten Repertoire Gebrauch, das dem allwissenden Erzähler zur Verfügung steht: er nimmt nach Belieben Einblick in das Bewusstsein seiner Figuren (cf. Fludernik 2006/2010, 168), kommentiert deren Verhalten, gebraucht evaluative Ausdrücke (le brave M. Seguin, la folle etc.) (cf. ib., 171), macht durch eine Vielzahl von Exklamationen und verschiedene stilistische Verfahren deutlich, wie sehr er emotional an seiner Geschichte Anteil nimmt, und wendet sich immer wieder direkt an seinen fiktiven Adressaten. All diese dem Leser wohlvertrauten diskurstraditionellen Merkmale tragen mit Sicherheit zur vordergründigen Einfachheit und Explizitheit von La Chèvre de M. Seguin bei, doch liegt in den zahlreichen Belegen der Subjektivität des Erzählers auch einiges Potential zur Erzeugung von Ambiguität. Die eigentliche Fabel ist schnell erzählt. M. Seguin hat sechs Ziegen auf dieselbe Art und Weise verloren: sie haben sich losgerissen und sind ins Gebirge

58 «Mistral a d’ailleurs authentifié ce dicton en le citant dans son Trésor du Félibrige : ‹faire coume la cabro de moussu Sagnié ou de moussu Seguin, que se bategue touto la nive ’mé lou loup e qu’au jour lou loup la manjè, résister longuement et finir par succomber›» (Bergez 1999, 334).

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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gelaufen, wo der Wolf sie gefressen hat. Die siebte Ziege wird von M. Seguin außerordentlich gut behandelt, doch auch die junge hübsche Blanquette langweilt sich bald bei ihm und bittet ihn eines Tages darum, sie gehen zu lassen. Der vom Erzähler als gutherzig und anständig charakterisierte M. Seguin lehnt diesen Wunsch mit Verweis auf den gefährlichen Wolf ab, was seine Ziege aber nicht überzeugen kann. Daraufhin beschließt er, auch gegen ihren Willen ihr Leben zu retten, und sperrt Blanquette in den Stall. Es gelingt ihr aber, durch das offene Fenster zu fliehen. Im Wald angekommen, wird die kleine weiße Ziege von Goldginster, Tannen und Kastanienbäumen begeistert empfangen, sie genießt ihre Freiheit und die Üppigkeit der Natur in vollen Zügen, trifft auf eine Herde von Gämsen, bei der sie ebenfalls Aufsehen erregt, ist glücklich und fühlt sich groß und stark. Doch mit Eintritt der Nacht kommt die Wende. Die kleine Ziege vernimmt das Heulen des Wolfes, aber auch das Horn von M. Seguin, der versucht sie zurückzuholen. Da sie sich aber ein Leben in Gefangenschaft nicht mehr vorstellen kann, beschließt sie, im Gebirge zu bleiben. Der Wolf taucht auf und die Ziege liefert sich einen erbitterten Kampf mit ihm. Sie weiß zwar, dass sie ihn nicht besiegen kann, ihr Stolz und ihr Ehrgeiz treiben sie aber dazu an, wenigstens bis zum Morgengrauen durchzuhalten. Dies gelingt ihr auch, doch bei Tagesanbruch stürzt sich der Wolf auf die erschöpfte Ziege und verschlingt sie. Nachdem nun die vordergründig schlichte und hochgradig erwartbare Handlung der Tierfabel wiedergegeben wurde, muss es darum gehen, die Vielzahl der möglichen Lesarten der Erzählung aufzudecken, die, wie bereits erwähnt, im Wesentlichen auf Evokationen beruhen, aber auch dem Einsatz von mehrdeutigen Symbolen und der Verquickung zweier Textsorten geschuldet sind. Unter Berücksichtigung des Anwendungssignals «Tu verras ce que l’on gagne à vouloir vivre libre.» (C, 260) und des tragischen Endes der Ziege, die ihren glücklichen Tag in Freiheit mit dem Leben bezahlen muss, scheint die Lehre der Fabel auf den ersten Blick klar: Daniel Bergez (1999, 21) formuliert sie mit den Worten «la liberté se paie», also Freiheit hat ihren Preis. Dies ist mit Sicherheit eine mögliche und wohl auch die naheliegendste Lesart der Fabel, da Anwendungssignal und Handlungsstruktur eindeutig in diese Richtung weisen. Eine weitere Lesart resultiert aus der angesprochenen Verknüpfung zweier Textsorten, also der Integration der Fabel in einen literarischen Brief. Es ist offensichtlich, dass zwischen dem Adressaten des Briefes, also Pierre Gringoire, und der Protagonistin der eingebetteten Tierfabel ein Zusammenhang besteht: die freiheitsliebende Ziege symbolisiert den Poeten, der eine Stelle als Journalist abgelehnt hat, um seine Freiheit nicht einzuschränken (cf. Lafont/GardèsMadray 1976, 138). Diese symbolische Beziehung wird in erster Linie durch die

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Gleichheit des zentralen Charakterzugs der Freiheitsliebe gestiftet und weiterhin durch die explizite Aussage des Erzählers, dass Gringoire sich auf die Seite der Ziege und somit gegen M. Seguin stelle: «[. . .] tu es du parti des chèvres, toi, contre ce bon M. Seguin . . . » (C, 262). Gemäß Lafont/Gardès-Madray (1976, 138) wird so eine Projektion Gringoires in die Figur der Ziege regelrecht erzwungen und schließen sich aufgrund der zu Beginn des Briefes etablierten besonderen soziokulturellen Situation des freischaffenden Künstlers eine ganze Reihe von «FolgeSymbolen» an. So symbolisiert die Haltung der Ziege in Gefangenschaft die Einschränkungen, die mit einer Broterwerbstätigkeit als Journalist verbunden sind. Die Sinnesfreuden des Tages in Freiheit wiederum stehen für die Inspirationen, nach denen der freischaffende Dichter strebt, und der Wolf schließlich repräsentiert die Gefahren, die mit dieser Situation verbunden sind. Diese finden sich am Beginn des Briefes explizit erläutert, wenn der Verfasser die erbärmliche materielle Lage Gringoires zum relativen Luxus des Journalisten in Kontrast setzt:

Tab. 33: Vergleich der materiellen Situation von Dichter und Journalist durch den Erzähler. materielle Situation des freischaffenden Dichters:

materielle Situation des Journalisten:

Mais regarde-toi, malheureux garçon ! Regarde ce pourpoint troué, ces chausses en déroute, cette face maigrie qui crie la faim. Voilà pourtant où t’a conduit la passion des belles rimes ! (C, )

Fais-toi donc chroniqueur, imbécile ; fais-toi chroniqueur. Tu gagneras de beaux écus à la rose, tu auras ton couvert chez Brébant, et tu pourras te montrer les jours de première avec une plume neuve à ta barrette . . . (C, )

Somit symbolisiert der Wolf eindeutig das Elend, wenn nicht gar den Hungertod des freischaffenden Künstlers (cf. Lafont/Gardès-Madray 1976, 138), dessen bittere Armut bereits durch seine Lumpen und sein abgemagertes Gesicht (cette face maigrie qui crie la faim) deutlich wird. Aufgrund der Rahmenhandlung des Briefes, die die soziohistorische Lage des freischaffenden Künstlers entfaltet, und der symbolischen Beziehung zur eingebetteten Fabel ergibt sich also eine zweite Lesart, die man allerdings auch als Konkretisierung der Moral la liberté se paie auffassen kann: die Ablehnung einer Stelle als Journalist zugunsten seiner Freiheit wird Gringoire mit bitterer Armut und vielleicht gar mit dem Tod bezahlen. Die Inszenierung dieser Lehre dient dem Verfasser des Briefes somit als zentrales Argument für seine Aufforderung an Gringoire, seine Entscheidung zu überdenken und sich für materielle Sicherheit zu entschließen, auch wenn diese mit einer gewissen Beschränkung seiner Freiheit verbunden ist.

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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Eine zentrale Ursache für die Existenz weiterer Lesarten von La Chèvre de M. Seguin ist das Missverhältnis zwischen der Allgemeinheit und Mehrdeutigkeit der Symbole (Ziege, Wolf . . . ), die Daudet verwendet, und dem sehr engen soziohistorischen Kontext, der in der Rahmenhandlung des Briefes etabliert wird (cf. Lafont/Gardès-Madray 1976, 139). Die Aufnahmebereitschaft der Symbole und die zahlreichen Zeichenrelationen, die der Text entfaltet, spielen somit zusammen und bereiten die Grundlage für weitere Lesarten der Erzählung. In Anbetracht der oben erwähnten Tatsache, dass La Chèvre de M. Seguin ein Klassiker der französischen Schulliteratur ist, soll zunächst auf die von Lafont/Gardès-Madray (1976, 148) als «lecture ‹enfantine›» bezeichnete Lesart eingegangen werden. Diese beruht auf der Möglichkeit, die freiheitsliebende Ziege auch als Symbol für das undisziplinierte Kind zu deuten und M. Seguin als Symbol für die elterliche oder schulische Autorität. Für diese Lesart spricht, dass die Ziege unter anderem konventionelles «Symbol des Rauschhaft-Dionysischen» (Stenzel 2012, 497) ist, und diese symbolische Bedeutung ist von höchster Relevanz in Daudets Erzählung, was die Schilderung der überschäumenden Empfindungen Blanquettes in Freiheit und die Wahl von Adjektiven wie soûle («La chèvre blanche, à moitié soûle, se vautrait là-dedans les jambes en l’air [. . .].», C, 263) belegen. Dieses Rauschhafte und die Zügellosigkeit der Ziege evozieren aber auch den Übermut und die Lustbetontheit des Kindes. Weiterhin insistiert der Erzähler immer wieder auf der Jugendlichkeit Blanquettes, was sich durch das Adjektiv jeune, den Diminutiv chevrette sowie die häufige Wiederholung des Adjektivs petite innerhalb der Nominalsyntagmen, die auf die Ziege referieren, niederschlägt und so ein assoziatives Frame-System Jugend bildet, was die folgenden Textbeispiele belegen: «[. . .] il eut soin de la prendre toute jeune pour qu’elle s’habituât mieux à demeurer chez lui. Ah ! Gringoire, qu’elle était jolie la petite chèvre de M. Seguin !» (C, 261). «[. . .] un amour de petite chèvre . . . » (C, 261). «On la reçut comme une petite reine» (C, 262). «Notre petite coureuse en robe blanche fit sensation» (C, 263). «[. . .] il était là regardant la petite chèvre blanche et la dégustant par avance» (C, 264). «Ah ! la brave chevrette, comme elle y allait de bon cœur !» (C, 265). «Alors le loup se jeta sur la petite chèvre et la mangea» (C, 265) (meine Hervorhebung in allen sieben Zitaten).

Und schließlich offenbart die Ziege in dem Gespräch mit M. Seguin, in dem sie ihre Freilassung erbittet, ein hohes Maß an Naivität und Selbstüberschätzung sowie eine irrationale Unempfänglichkeit für äußerst überzeugende Argumente – allesamt Verhaltensweisen oder Eigenschaften, die kindlich bzw. kindisch anmuten:

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«– Je veux aller dans la montagne, monsieur Seguin. – Mais, malheureuse, tu ne sais pas qu’il y a le loup dans la montagne . . . Que ferastu quand il viendra ? . . . – Je lui donnerai des coups de corne, monsieur Seguin. – Le loup se moque bien de tes cornes. Il m’a mangé des biques autrement encornées que toi . . . Tu sais bien, la pauvre vieille Renaude qui était ici l’an dernier ? Une maîtresse chèvre, forte et méchante comme un bouc. Elle s’est battue avec le loup toute la nuit . . . puis, le matin, le loup l’a mangée. – Pécaïre ! Pauvre Renaude ! . . . Ça ne fait rien, monsieur Seguin, laissez-moi aller dans la montagne» (C, 262).

Der soeben zitierte Auszug aus dem Dialog der beiden Protagonisten enthält weiterhin den entscheidenden Anhaltspunkt für die symbolische Lesart, dass der durch M. Seguin verübte Zwang der elterlichen bzw. schulischen Autorität entspricht: es handelt sich um die permanente Betitelung bzw. Anrede des Ziegenhalters als M. Seguin bzw. monsieur Seguin (cf. Lafont/Gardès-Madray 1976, 146). 29-mal findet sich diese Distanz und Respekt ausdrückende Anredeform, nur zwei nominale Bezugsausdrücke (le pauvre homme, leur maître) enthalten sie nicht. Auffällig ist insbesondere, dass Blanquette, die das ungestüme, freiheitsliebende Kind symbolisiert, in jede an ihren Halter gerichtete Äußerung die Anredeform monsieur Seguin einfügt: «Écoutez, monsieur Seguin, je me languis chez vous. Laissez-moi aller dans la montagne. [. . .] Oui, monsieur Seguin. [. . .] Oh ! non, monsieur Seguin. [. . .] Ce n’est pas la peine, monsieur Seguin. [. . .] Je veux aller dans la montagne, monsieur Seguin. [. . .] Je lui donnerai des coups de cornes, monsieur Seguin. [. . .] Ça ne fait rien, monsieur Seguin, laissez-moi aller dans la montagne» (C, 261s.; meine Hervorhebung).

Diese permanente Verwendung des Titels monsieur, der Respekt und aufgrund der asymmetrischen Verwendung der Pronomen tu und vous auch einen hierarchischen Unterschied ausdrückt, evoziert im Sinne von Coseriu (1980/2007, 104) ein diaphasisches Subsystem des Französischen, nämlich das Sprechen mit Autoritäten, ob es sich dabei um den Lehrer oder den Vater handelt, der im 19. Jahrhundert ebenfalls gesiezt und mit monsieur angesprochen wurde. Somit rechtfertigen also neben der Tatsache, dass die Ziege auch konventionelles «Symbol des Rauschhaft-Dionysischen» (Stenzel 2012, 497) ist, eine ganze Reihe von textuellen Markierungspunkten die Lesart, dass Blanquette das undisziplinierte Kind verkörpert und M. Seguin die elterliche oder schulische Autorität: die Ziege wird permanent als jung und klein beschrieben, sie legt ein naives, irrationales und lustbetontes Verhalten an den Tag und die durchgängige Bezeichnung ihres Halters als monsieur Seguin evoziert dessen Autorität. Lafont/Gardès-Madray (1976, 146) unterstreichen weiterhin, dass der Zwang, den diese Autorität auf die kleine Ziege ausübt, als völlig gerechtfertigt

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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dargestellt wird, da M. Seguin konsequent als bon und brave charakterisiert wird. Mindestens ebenso deutlich wird die Legitimität seiner Regeln bzw. seines Zwangs aber auch durch die inhaltliche Begründung, die er Blanquette dafür gibt – er will ihr Leben retten, das in den Bergen durch den Wolf in höchstem Maße bedroht wird: «– Bonté divine ! dit M. Seguin. Encore une que le loup va me manger . . . Eh bien, non . . . je te sauverai malgré toi, coquine, et de peur que tu ne rompes ta corde, je vais t’enfermer dans l’étable et tu y resteras toujours» (C, 262).

Gemäß Lafont/Gardès-Madray (1976, 146) beruht der lehrreiche bzw. erbauliche Charakter der Tierfabel gerade darauf, dass der Leser aufgrund dieser Textelemente den von M. Seguin ausgeübten Zwang als gerechtfertigt empfindet und das Verderben der Ziege bei Zuwiderhandlung gegen seine Verbote erwartet und für unausweichlich hält, was das Ende der Fabel dann auch in aller Heftigkeit bestätigt. Wenn man im Rahmen der lecture enfantine also die Ziege als Symbol des undisziplinierten Kindes auffasst und nicht als Symbol des freischaffenden Künstlers, dann müssen natürlich auch weitere Textelemente, die eine symbolische Lesart nahelegen, wie z.B. der Wolf oder der dunkle Stall, in den M. Seguin Blanquette einsperrt, umgedeutet werden, was Lafont/Gardès-Madray (1976, 146) auf überzeugende Weise tun: «La libération dans la montagne est l’‹école buissonnière›. Le loup est le danger dont on menace le plus communément l’enfant indiscipliné. Les comportements socialisés de la chèvre (se laissant traire sans bouger) représentent les qualités d’éducation [. . .]. [. . .] Il est aussi intéressant de trouver dans l’étable toute noire dont M. Seguin ferma la porte à double tour le ‹cabinet noir›, élément de l’éducation enfantine, [. . .]».

In der «kindlichen Lesart» stellt sich die Lehre der Fabel also folgendermaßen dar: Das undisziplinierte Kind, das Schule schwänzt oder den Eltern nicht gehorcht und damit vernünftige Regeln missachtet, die seinem eigenen Schutz oder seiner gesunden Entwicklung dienen, fällt dem Wolf zum Opfer. Letzteres kann wohl so interpretiert werden, dass das Kind sich durch sein lustbetontes Fehlverhalten in Gefahr bringt oder von der Gesellschaft abgelehnt wird. Lafont/Gardès-Madray (1976, 148) gehen sogar so weit, La Chèvre de M. Seguin als ideologisches Werkzeug zur Stärkung der Institution Schule bzw. der elterlichen oder sozialen Autorität zu betrachten. Was den soeben analysierten Lesarten gemein ist, ist die Warnung vor zügelloser Freiheit und Unvernunft und vor der Missachtung bestimmter sozialer oder materieller Zwänge – sie können also treffend unter den Begriff des Apollinischen subsumiert werden. Alle Lesarten, die Lafont/Gardès-Madray (1976) erörtern und

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überzeugend am Text belegen, stimmen in diesem Tenor überein, was ihre abschließende Bewertung der Erzählung von Daudet deutlich macht: «L’extrême pathétique de ce texte en a fait un outil idéologique de choix, au service d’un ordre social, d’un ordre moral, d’un ordre culturel, d’un ordre sexuel, parmi tant d’autres textes édifiants, c’est-à-dire parmi tant de communications littéraires perverties d’idéologies dominantes» (ib., 148).

Die bislang vorgestellten apollinischen Deutungen beschränken sich aber in weiten Teilen auf die Oberfläche von Daudets Erzählung und ignorieren, dass zahlreiche literarische Mehrwertstrukturen wie beispielsweise Evokationen und stilistische Elemente, aber auch explizite Propositionen gegenläufig zu den mahnenden Lesarten vielmehr das Lob der Freiheit und des Dionysos singen und dazu aufrufen, ungeachtet aller Risiken seine Freiheit zu leben. Ganz offensichtlich schlagen zwei Herzen in der Brust des Erzählers, der nicht nur Kritik für das Verhalten der Ziege übrig hat, sondern auch Bewunderung für sie empfindet. Ihre überschäumende Lebenslust und ihr ausgelassenes Herumtollen an dem glücklichen Tag in Freiheit kommentiert er zunächst mit den Worten: «C’est qu’elle n’avait peur de rien la Blanquette.» (C, 263). Darin schwingt sowohl Bewunderung für ihren Mut als auch Kritik an ihrer Leichtsinnigkeit mit. Die folgenden Bewertungen hingegen «Pauvrette ! de se voir si haut perchée, elle se croyait au moins aussi grande que le monde . . .» (C, 263). «Elle pensa au loup ; de tout le jour la folle n’y avait pas pensé . . .» (C, 264).

machen zweifelsohne deutlich, dass der Erzähler Blanquette für leichtsinnig hält und ihr Größenwahn unterstellt. Diese Einschätzung wird aber am Ende der Fabel relativiert. Hier gibt der Erzähler an, dass der Ziege ihre aussichtslose Lage im Kampf gegen den Wolf völlig klar ist, sie aber dennoch den Ehrgeiz hat, ebenso lange durchzuhalten wie die starke Renaude. Die Charakterisierung der Ziege als mutig, die anerkennenden Exklamationen und das Bedürfnis, Gringoire auf ihre Heldentaten explizit hinzuweisen, unterstreichen den Respekt des Erzählers für die Leidenschaft, den Mut, den Ehrgeiz und die Selbstachtung Blanquettes: «Blanquette se sentit perdue [. . .] puis, s’étant ravisée, elle tomba en garde, la tête basse et la corne en avant, comme une brave chèvre de M. Seguin qu’elle était . . . Non pas qu’elle eût l’espoir de tuer le loup – les chèvres ne tuent pas le loup –, mais seulement pour voir si elle pourrait tenir aussi longtemps que la Renaude . . . Alors le monstre s’avança, et les petites cornes entrèrent en danse. Ah ! la brave chevrette, comme elle y allait de bon cœur ! Plus de dix fois, je ne mens pas, Gringoire, elle força le loup à reculer pour reprendre haleine» (C, 264s.; meine Hervorhebung).

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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Des Weiteren sorgen die Charakterisierungen der Ziege durch den Erzähler eindeutig dafür, sie zum Sympathieträger der Fabel zu machen. So betont er, wie oben bereits erwähnt, permanent ihre Jugend, außerdem ihre Schönheit («[. . .] qu’elle était jolie la petite chèvre de M. Seguin !», C, 261) und ihre charakterlichen Qualitäten (cf. Lafont/Gardès-Madray 1976, 144): «[. . .] et puis, docile, caressante, se laissant traire sans bouger, sans mettre son pied dans l’écuelle ; un amour de petite chèvre . . .» (C, 261).

Auf diese Weise wird der Leser geradezu genötigt, sich emotional auf die Seite der Ziege zu stellen, ängstlich ihr Schicksal zu verfolgen und ihr Unglück zu bedauern. Ganz entscheidend fußt die Lesart, dass man sich trotz aller Risiken für die Freiheit entscheiden solle, aber auf der Etablierung eines bitteren Kontrastes zwischen dem «Leben» der Ziege in Gefangenschaft und ihren Sinnesfreuden in Freiheit, deren Strahlkraft durch Konnotationen und zahlreiche stilistische Merkmale unterstützt wird. Das Leben der Ziege in Gefangenschaft und seine Auswirkungen auf Gesundheit und Gemüt des Tieres schildert der Erzähler folgendermaßen: «M. Seguin avait derrière sa maison un clos entouré d’aubépines. C’est là qu’il mit la nouvelle pensionnaire. Il l’attacha à un pieu, au plus bel endroit du pré [. . .]. Un jour, elle se dit en regardant la montagne : - Comme on doit être bien là-haut ! Quel plaisir de gambader dans la bruyère, sans cette maudite longe qui vous écorche le cou ! . . . [. . .] À partir de ce moment, l’herbe du clos lui parut fade. L’ennui lui vint. Elle maigrit, son lait se fit rare. C’était pitié de la voir tirer tout le jour sur sa longe [. . .]» (C, 261). «Eh bien, non . . . je te sauverai malgé toi, coquine ! Et de peur que tu ne rompes ta corde, je vais t’enfermer dans l’étable, et tu y resteras toujours.› Là-dessus, M. Seguin emporta la chèvre dans une étable toute noire, dont il ferma la porte à double tour» (C, 262).

Die Ziege, ein Herdentier, zu dessen Grundbedürfnissen es bekanntlich gehört zu laufen, zu springen und zu klettern, wird von M. Seguin also isoliert gehalten, an einen Pfahl gebunden und schließlich sogar in einen dunklen Stall gesperrt. Schon unter Einsatz von minimalem Alltagswissen zu Ziegen, welches trotz der Anthropomorphisierung von Blanquette relevant bleibt, was die zahlreich vorhandenen Filler des Ziegen-Frames beweisen, wird also klar, dass eine solche Haltung dem Wohlbefinden des Tieres abträglich sein muss. Folglich entwickelt die Ziege sehr bald das Verlangen, in der Weite des Gebirges herumzutollen und sich von der verhassten Leine loszureißen. Das Leben in Gefangenschaft bedeutet für Blanquette völlige Einsamkeit, eine immer drastischer werdende Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit, Schmerzen (cette maudite

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

corde qui vous écorche le cou), Langeweile und gesundheitliche Probleme (Elle maigrit, son lait se fit rare.). Der Tiefpunkt wird erreicht, als M. Seguin sie in den schwarzen Stall (une étable toute noire) sperrt. In dieser mit zahlreichen Symbolen spielenden Novelle kann man die Bedeutung der Farbe schwarz nicht ausblenden und im gegebenen Kontext ihren Beitrag zur Ambiguität der Fabel nicht ignorieren. Einerseits gilt schwarz als «Farbe von Schuld und Sünde» (Yngborn 2012, 387). Dieser Symbolsinn würde natürlich die oben aufgeführten moralisierenden Lesarten unterstützen, wonach die freiheitsliebende Ziege, die sich legitimen Regeln widersetzt, sündigt und zu Recht bestraft wird. Andererseits ist schwarz bekanntermaßen auch Symbol des Todes, der Trauer und der Melancholie (cf. ib., 386) und dieser Symbolsinn wiederum unterstreicht, dass das «Leben» der Ziege in Gefangenschaft eher ein Vegetieren darstellt, das im schwarzen Stall unweigerlich vergehen wird. Damit wird implizit die Frage aufgeworfen, welchen Sinn ein solches «Leben» hat und ob die Aussicht auf Freiheit, Freude und Glück nicht jedes Risiko wert ist. Die folgende Schilderung des einen Tages in Freiheit, den die Ziege erleben darf, legt zweifelsohne die Antwort nahe, dass ein Leben in Gefangenschaft wertlos und kein Preis zu hoch ist für die Freiheit. Die Ziege erlebt im Gebirge nämlich ein regelrechtes Fest der Sinne, das sie berauscht und in einen Zustand der Glückseligkeit versetzt. Jeder Sinn wird auf die denkbar positivste Weise angesprochen, jeder Trieb befriedigt:

Tab. 34: Der Sinnenrausch der Ziege in Freiheit. Berührung/Zärtlichkeit

Les châtaigniers se baissaient jusqu’à terre pour la caresser du bout de leurs branches. (C, )

Riechen

Les genêts d’or s’ouvraient sur son passage, et sentaient bon tant qu’ils pouvaient. (C, s.)

Bewegungsdrang + Schmecken/Genuss

Plus de corde, plus de pieu . . . rien qui l’empêchât de gambader, de brouter à sa guise . . . C’est là qu’il y en avait de l’herbe ! Jusque par-dessus les cornes, mon cher ! . . . Et quelle herbe ! Savoureuse, fine, dentelée, faite de mille plantes . . . (C, )

Sehen

Et les fleurs donc ! . . . De grandes campanules bleues, des digitales de pourpre à longs calices, toute une forêt de fleurs sauvages débordant de sucs capiteux ! . . . (C, )

Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung

Alors, toute ruisselante, elle allait s’étendre sur quelque roche plate et se faisait sécher par le soleil . . . (C, )

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

359

Tab. 34 (fortgesetzt)

Sexualtrieb

Il paraît même, – ceci doit rester entre nous, Gringoire, – qu’un jeune chamois à pelage noir, eut la bonne fortune de plaire à Blanquette. Les deux amoureux s’égarèrent parmi le bois une heure ou deux, et si tu veux savoir ce qu’ils se dirent, va le demander aux sources bavardes qui courent invisibles dans la mousse. (C, s.)

Das explizit geschilderte Entzücken und Glück der Ziege wird weiterhin durch eine auffällige Häufung rhetorischer Figuren und Coseriu’scher Evokationen unterstützt. Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass der auktoriale Erzähler großen emotionalen Anteil an seiner Erzählung nimmt und immer wieder rhetorische Fragen, Exklamationen und Akkumulationen einsetzt, um beispielsweise seine Bewunderung oder Empörung zu unterstreichen. Auffällig ist aber die Verteilung dieser stilistischen Mittel. In den Passagen, die das Leben der Ziege in Gefangenschaft schildern, sind sie so gut wie gar nicht zu finden, wohingegen die explizite Beschreibung des «Festes der Sinne» in der freien Natur auf rhetorischstilistischer Ebene spürbar verstärkt wird durch eine Fülle an Exklamationen, Wortwiederholungen, Akkumulationen und Gradationen (s. Unterstreichungen), die häufig in Kombination vorkommen: «C’est là qu’il y en avait de l’herbe ! jusque par-dessus les cornes, mon cher . . . Et quelle herbe ! Savoureuse, fine, dentelée, faite de mille plantes . . . [. . .] Et les fleurs donc ! . . . De grandes campanules bleues, des digitales de pourpre à longs calices, toute une forêt de fleurs sauvages débordant de sucs capiteux ! . . . [. . .]» (C, 263; meine Hervorhebung).

Des Weiteren enthält diese Passage Satzkonstruktionen, die sowohl Bergez (1999) als auch Wittmann (2010, 277) als typische Belege für die «virtuosité narrative» Daudets anführen, und bei denen es sich im Wesentlichen um die von Coseriu (1980) unter der Rubrik Relationen zwischen Zeichen und «Sachen» beschriebenen Evokationen handelt. Gemäß Coseriu (1980/2007, 111ss.) können einzelne Zeichen oder Zeichenketten im Text ikastische Funktion annehmen und die bezeichnete Sache durch die Substanz (Lautbild, Artikulation etc.) oder Form (Dimension, Ausdehnung einzelner Zeichen etc.) ihrer signifiants nachahmen. So spielen im folgenden Beispiel aus La Chèvre de M. Seguin Kürze und Lautbild einiger Zeichen (hop !, tête, pic, fond, haut, bas) und die hektische Aufzählung der verschiedenen Aufenthaltsorte der Ziege zusammen und schaffen einen Satzrhythmus, der die beschriebene Quirligkeit und Bewegungsfreude der Ziege in Freiheit nachahmt und damit zusätzlich verstärkt bzw. klanglich erfahrbar macht:

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

«Puis, tout à coup elle se redressait d’un bond sur ses pattes. Hop ! la voilà partie, la tête en avant, à travers les maquis et les buissières, tantôt sur un pic, tantôt au fond d’un ravin, là-haut, en bas, partout . . . On aurait dit qu’il y avait dix chèvres de M. Seguin dans la montagne» (C, 263).

Es ist also unverkennbar, dass sowohl auf propositionaler Ebene als auch auf rhetorisch-stilistischer Ebene und in Bezug auf das Vorkommen von Evokationen ein solch frappierender Kontrast zwischen dem Vegetieren der Ziege in Gefangenschaft und ihrer Glückseligkeit in Freiheit aufgebaut wird, dass sich der Verdacht erhärtet, dass Daudets Erzählung viel eher die Botschaft übermitteln will, dass kein Preis zu hoch ist für ein Leben in Freiheit und nur ein freies Leben ein lebenswertes ist. Während diese Lesart in der ansonsten überzeugenden Analyse von Lafont/Gardès-Madray (1976) überhaupt nicht vorkommt, betrachten Jean Le Guennec (2006) und Roger Ripoll (1986) sie als einen ganz entscheidenden, wenn nicht den zentralen Sinn der Erzählung. Allerdings gelangen sie nicht auf dem eben beschriebenen textanalytischen Weg zu dieser Einschätzung, sondern durch eine Analyse des Gesamtwerks Daudets und seiner rekurrenten Motive. Für Jean Le Guennec (2006, 203s.) stellt La Chèvre de M. Seguin «une allégorie de la liberté à tout prix» dar, was insbesondere der Vergleich der Erzählung mit Le Roman du Chaperon Rouge bestätige. Ripoll (1986, 1291) teilt diese Sichtweise und macht durch seine kurze Charakterisierung von Daudets Chaperon Rouge die zentrale Parallele zwischen dieser Figur und Blanquette deutlich – beide wissen um die Gefahren und entscheiden sich doch für die Freiheit: «Dès 1859, dans ‹Le Roman du Chaperon rouge›, il avait fait du Chaperon rouge une figure de la liberté, une liberté ne reculant pas devant les risques qui en sont le prix ; c’est en pleine connaissance de cause que le Chaperon rouge va vers la maison où l’attend le loup [. . .]».

Le Roman du Chaperon rouge enthält aber eine von der Protagonistin selbst verkündete explizite Moral, die keinen Zweifel an der dionysischen Lesart dieses Werks lässt, während diese in La Chèvre de M. Seguin impliziter bleibt und von weiteren Lesarten überlagert wird: «[. . .] imitez mon exemple, chers enfants, et ne regrettez jamais un plaisir, si cher que vous ayez pu le payer. Le bonheur n’a pas de prix ; il n’y a que les sots pour le marchander» (Daudet 1986, 1291).

Aber nicht nur der Vergleich mit den Werken Daudets selbst vermag die dionysische Lesart seiner Erzählung zu bestätigen, sondern auch die deutlichen intertextuellen Bezüge zwischen La Chèvre de M. Seguin und La Fontaines Fabel Le Loup et le Chien, auf die Wittmann (2010, 88) explizit hinweist, ohne sie allerdings näher auszuführen. In dieser Fabel werden zwei Figuren bzw. Lebensentwürfe gegenübergestellt, die Daudet offensichtlich wiederaufgreift:

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

361

der freie, aber klapperdürre und hungrige Wolf (cf. Gringoire) trifft den wohlgenährten Hund (cf. le chroniqueur, Blanquette chez M. Seguin), der im Dienste seines Herrchens steht. Der Hund schlägt dem Wolf vor, es ihm gleichzutun, um dem sicheren Hungertod im Wald zu entgehen und ebenso korpulent zu werden wie er selbst. Diese Aussicht reizt den Wolf zunächst, bis er den aufgeschürften Hals des Hundes (cf. «cette maudite longe qui vous écorche le cou», C, 261) entdeckt. Auf Nachfrage erklärt der Hund ihm, dass er angekettet sei, was er aber als unwichtiges Detail erachtet. Der schockierte Wolf hingegen gibt an, dass er diesen Preis für keine Gaumenfreuden und keinen Schatz der Welt zahlen will und flüchtet: «– Il importe si bien, que de tous vos repas Je ne veux en aucune sorte, Et ne voudrois pas même à ce prix un trésor.› Cela dit, maître Loup s’enfuit, et court encor» (La Fontaine 1989, 57).

Die Moral von La Fontaines Fabel ist also zweifelsohne, dass Freiheit durch nichts aufzuwiegen ist. Für einen Rezipienten von Daudets La Chèvre de M. Seguin, der die zahlreichen Entlehnungen und Anspielungen auf Le Loup et le Chien einlösen kann und die dionysische Moral dieser Fabel kennt, relativieren sich somit die in der Einleitung dieser Lettre formulierte Empörung über Gringoires Freiheitsliebe und die Aufforderung, sich für materielle Sicherheit zu entscheiden, und es entsteht Ambiguität hinsichtlich der Botschaft von Daudets Erzählung. Mit Sicherheit hat Freiheit ihren Preis, aber bedeutet das wirklich, dass man auf sie verzichten soll? Das tragische Ende der Ziege scheint dafür zu sprechen, die soeben vorgestellten inhaltlichen Aspekte, Evokationen und Stilelemente scheinen aber in die entgegengesetzte Richtung zu weisen und Freiheit zum höchsten Gut zu erheben. Wenn man nun die beiden konträren Deutungen, also die apollinische einerseits, die Sicherheit, Zwänge und Regeln rechtfertigt, und die dionysische andererseits zusammenspannt und nochmals auf die in der Rahmenhandlung des Briefes etablierte Situation des poète lyrique überträgt, ergibt sich eine weitere Lesart von La Chèvre de M. Seguin. Die Erzählung stellt sich dann nämlich als ein Nachdenken über die schwierige Situation des Dichters59 dar, die gemäß Wittmann (2010, 281ss.) in einigen der Lettres de mon moulin zum Thema gemacht wird und sich hier als unauflösbarer Konflikt darstellt. Diese Lesart, die nachfolgend genauer umrissen werden soll, wird unterstützt durch die Ambiguität, die

59 Gemäß Wittmann (2010, 281) enthalten die Erzählungen Le Sous-préfet aux champs, La Mule du pape, Le Poète Mistral, La Légende de l’homme à la cervelle d’or sowie La Chèvre de M. Seguin Reflexionen über «le statut de l’écrivain».

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

die Figur des Briefempfängers prägt. Einerseits wird Pierre Gringoire nämlich zu einer fiktiven Figur des 19. Jahrhunderts gemacht: bei Annahme einer Stelle als Journalist stellt der Verfasser ihm schließlich einen Stammplatz «chez Brébant» (C, 260) in Aussicht, einem berühmten Restaurantbetreiber des Second Empire, bei dem u.a. Flaubert, Zola, Maupassant und auch Daudet verkehrten (cf. Bergez 1999, 66). 1866, also im Erscheinungsjahr der Erzählung, wurde außerdem das Stück Gringoire von Théodore de Banville im Théâtre-Français uraufgeführt – ein weiterer Verweis auf die Aktualität der Handlung und der Figur (cf. Ripoll 1986, 1292). Pierre Gringoire (1475–1538) war aber auch ein (realer) französischer Autor des ausgehenden Mittelalters, auf den sich nicht nur de Banville bezieht, sondern den auch Victor Hugo zum Protagonisten seines Romans Notre-Dame de Paris (1831) gemacht hat. Die Anspielung auf Hugos Mittelalter-Epos wird durch die Bemerkung des Erzählers «C’était presque aussi charmant que le cabri d’Esméralda – tu te rappelles, Gringoire ?» (C, 261) noch zusätzlich unterstrichen. Auch die Verwendung von Historizismen wie le pourpoint, les chausses, la barrette und les écus à la rose in der Beschreibung des armseligen Äußeren Gringoires und im Entwurf eines besseren Lebens als Journalist am Beginn des Briefes evoziert das Bild einer Figur des Mittelalters. Die drei erstgenannten Lexeme bezeichnen nämlich männliche Kleidungsstücke, die zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert gebräuchlich waren,60 und bei den écus handelt es sich um französische Goldund Silbermünzen, die vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert im Umlauf waren. Die so erzeugte Ambiguität in Bezug auf die Identität des Adressaten lässt sich unter Einlösung des deutlichen intertextuellen Verweises auf Notre-Dame de Paris, wo Gringoire «le type du lettré miséreux et insouciant» (Bergez 1999, 65) verkörpert, aber recht einfach so deuten, dass Daudet in La Chèvre de M. Seguin ebenfalls einen speziellen Typ Mensch inszenieren will, nämlich den quer durch die Epochen anzutreffenden bettelarmen Pariser Bohémien: «Synchronie et diachronie sont mêlées dans l’élaboration d’un type : le poète miséreux parisien, à la fois du XVe et du XIXe siècles» (Lafont/Gardès-Madray 1976, 139).

Diese Deutung, dass durch die Ambiguität in der verbalen Suppletion des Adressaten Pierre Gringoire der Archetyp des hungernden und freiheitsliebenden

60 Le pourpoint : «vêtement d’homme, en usage du XIIIe au XVIIe s. en Europe, qui couvrait le torse jusqu’au-dessous de la ceinture», ‹www.cnrtl.fr/definition/pourpoint› [letzter Zugriff: 11.04.2018]. La barrette : «HIST Bonnet de feutre ou de laine foulée, genre de béret qui fut porté au 15e et 16e s. et qui souvent prenait le crâne jusqu’aux oreilles (LELOIR 1961)», ‹www.cnrtl.fr/defini tion/barrette› [letzter Zugriff: 11.04.2018].

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

363

Pariser Dichters heraufbeschworen wird, unterstützt somit eine weitere Lesart von La Chèvre de M. Seguin. Diese polyvalente Erzählung kann nämlich auch als Illustration der Zwickmühle verstanden werden, in der sich der poète lyrique befindet. Besteht er wie Gringoire auf seiner Freiheit und lehnt eine Broterwerbstätigkeit ab, so drohen ihm Hunger, Armut und Tod. Entscheidet er sich für materielle Sicherheit und gegen seine künstlerische Freiheit, so ergeht es ihm wie der angeleinten und eingesperrten Blanquette bei M. Seguin: «À partir de ce moment, l’herbe du clos lui parut fade. L’ennui lui vint. Elle maigrit ; son lait se fit rare» (C, 261).

Unter Berücksichtigung der oben erläuterten Symbolisierung «Gringoire = chèvre» muss man die Konsequenzen der Gefangenschaft für die Ziege auf die Situation des Dichters übertragen, der sich materiellen Zwängen unterwirft. Auch er empfindet Langeweile und kann aus seinem Leben nicht mehr die Inspirationen beziehen, die er zum Schreiben braucht (son lait se fit rare). Ihm gehen also die Themen aus und vielleicht fehlen ihm aufgrund seiner Broterwerbstätigkeit auch schlicht Zeit und Muße, um weiterhin schöpferisch tätig zu sein. Die Ziege in Freiheit hingegen bzw. der freischaffende Künstler, den sie symbolisiert, genießen in vollen Zügen die Üppigkeit der Natur, sehen jeden ihrer Sinne angesprochen und erleben offensichtlich etwas, worüber der Dichter schreiben könnte. Auch die oben thematisierten Beobachtungen auf rhetorisch-stilistischer Ebene unterstützen die Deutung des Dilemmas des Dichters: die Passage, die das «Leben» der Ziege in Gefangenschaft thematisiert, ist äußerst nüchtern gestaltet und weist keinerlei nennenswerte stilistische Besonderheiten auf. Die Abschnitte hingegen, die Blanquettes Tag in Freiheit erzählen, enthalten mannigfache Exklamationen, Akkumulationen, Gradationen und rhythmische Besonderheiten. So drängt sich der Eindruck auf, dass Freiheit nicht nur Voraussetzung für die schriftstellerische Inspiration ist, sondern auch für die Entwicklung einer erzählerischen bzw. stilistischen Virtuosität. Die Zwickmühle, in der die Dichter sich seit Jahrhunderten befinden, ergibt sich also gerade aus der Unvereinbarkeit der dionysischen und der apollinischen Lesarten von Daudets Erzählung. Akzeptiert der Poet die materiellen Zwänge, die das Leben beherrschen, und nimmt er eine Broterwerbstätigkeit auf, kostet ihn das Inspiration, Virtuosität und die nötige Muße zum Schreiben – er wird also keine bedeutenden Werke mehr hervorbringen. Besteht er auf seiner Freiheit, bewahrt er sich Inspiration, Virtuosität und Muße, läuft aber Gefahr zu verelenden oder gar zu sterben, was natürlich ebenfalls das Ende seines kreativen Schaffens bedeutet. Am Schluss der Analyse von Daudets offenkundig polyvalenter Erzählung sollen die nicht zu übersehenden erotischen Lesarten von La Chèvre de M. Seguin aufgezeigt werden. Es mag verwundern, dass dieser Klassiker der französischen

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Jugend- und Schulliteratur solche Lesarten ermöglicht, aber eine Vielzahl von Evokationen und Andeutungen, die auf konventionellen Symbolbedeutungen, Metaphern, der suggerierten Vermischung der Kategorien Genus und Sexus (cf. Coseriu 1980/2007, 96) sowie «wiederholter Rede» im Sinne Coserius (1980/ 2007, 108) beruhen, lassen an der Existenz derartiger Bedeutungsebenen nicht den geringsten Zweifel. Zunächst sollen die angesprochenen Evokationen aufgedeckt werden, bevor darauf aufbauende Interpretationen vorgestellt werden. Es ist ausgesprochen auffällig, dass die junge, hübsche Ziege Blanquette in der Freiheit des Gebirges nur auf männliche Wesen trifft, die großen Gefallen an ihr finden: «Quand la chèvre arriva dans la montagne, ce fut un ravissement général. Jamais les vieux sapins n’avaient rien vu d’aussi joli. On la reçut comme une petite reine. Les châtaigniers se baissaient jusqu’à terre pour la caresser [. . .]. Les genêts d’or s’ouvraient sur son passage et sentaient bon tant qu’ils pouvaient» (C, 262s.).

Aufgrund des Kontextes ist es unmittelbar naheliegend, das grammatische Genus der anthropomorphisierten Büsche und Bäume (le sapin, le châtaignier, le genêt d’or), die Blanquette berühren und beeindrucken wollen, als Hinweis auf ihre Geschlechtlichkeit zu deuten (cf. Coseriu 1980/2007, 96) und diese Szene als erotisch aufgeladene Begegnung Blanquettes mit der Männerwelt zu verstehen. Lafont/Gardès-Madray (1976, 145) sprechen in diesem Zusammenhang von einer «érotisation de cette masse de production textuelle» und konstatieren: «Tout est masculin dans le texte autour de la chèvre». Diese Konstellation sowie die fortschreitende Erotisierung wird noch deutlicher, wenn Blanquette den Gamsböcken begegnet: «Vers le milieu du jour, en courant de droite et de gauche, elle tomba dans une troupe de chamois en train de croquer une lambrusque à belles dents» (C, 263).

Lafont/Gardès-Madray (1976, 145) weisen zu Recht darauf hin, dass die Redewendung croquer à belles dents problemlos auf den «appétit sexuel» dieser exklusiv männlichen Herde übertragen werden könne. Tatsächlich umfasst die Herde nur männliche Tiere, denn der Erzähler bezeichnet sie als «ces messieurs» (C, 263), und er präzisiert, dass sie Blanquette gegenüber «très galants» (C, 263) sind. Weiterhin erfahren wir, dass sich zwischen Blanquette und «un jeune chamois à pelage noir» (C, 263), den Lafont/Gardès-Madray (1976, 145) als Symbol für den «beau brun» werten, eine besonders intensive Beziehung entwickelt: «Il paraît même, – ceci doit rester entre nous, Gringoire, – qu’un jeune chamois à pelage noir, eut la bonne fortune de plaire à Blanquette. Les deux amoureux s’égarèrent parmi le

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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bois une heure ou deux, et si tu veux savoir ce qu’ils se dirent, va le demander aux sources bavardes qui courent invisibles dans la mousse» (C, 263s.).

In dieser Passage bezeichnet der Erzähler Blanquette und den schwarzen Gamsbock explizit als les amoureux und das bedeutsame (der Gattungslogik und der Entstehungszeit der Erzählung geschuldete) Verschweigen dessen, was die Liebenden in den Büschen tun, muss man so deuten, dass es zum Vollzug sexueller Handlungen kommt. Zu diesen offensichtlichen sexuellen Anspielungen gesellen sich weiterhin sehr deutliche vaginale Metaphern (cf. Lafont/Gardès-Madray 1976, 147): «Et les fleurs donc ! . . . De grandes campanules bleues, des digitales de pourpre à longs calices, toute une forêt de fleurs sauvages débordant de sucs capiteux ! . . .» (C, 263).

Die Blume ist generell Symbol des bzw. der Geliebten, in einem engeren Sinne aber auch Symbol des weiblichen Geschlechts (cf. Grosse Wiesmann 2012, 56s.), und letztere Bedeutung wird in der oben zitierten Passage durch Beschreibung von Form und Beschaffenheit der Blumen aktualisiert. Die allerdeutlichsten und unhintergehbaren Hinweise auf sexuell motivierte Lesarten von Daudets Erzählung liefern aber zweifelsohne die an die Lexeme blanc/blanche, la chèvre, le loup sowie tachée de sang geknüpften konventionellen symbolischen Bedeutungen und Evokationen. Weiß ist bekanntlich Symbol der Unschuld und Jungfräulichkeit (cf. Gretz 2012, 481), und die Protagonistin der Tierfabel verdankt ihren Namen Blanquette natürlich ihrem weißen Fell (la (petite) chèvre blanche). Folglich symbolisiert sie das unerfahrene, unbefleckte junge Mädchen, das aber offensichtlich empfänglich ist für die Reize der Männerwelt, was die Passage mit den Gamsböcken zeigt. Unterstützt wird diese Sicht auf Blanquette durch eine weitere konventionelle Symbolbedeutung der Ziege: letztere ist nämlich auch Symbol der unkontrollierten Sexualität (cf. Stenzel 2012, 497). In den bislang vorgestellten Lesarten von Daudets Erzählung wurde der Wolf stets als Symbol des Bösen gedeutet, er steht aber auch für Zügellosigkeit und Wollust (cf. Rösch 2012, 486) und verkörpert im Märchen, z.B. in Rotkäppchen, sexuelles Begehren (cf. ib., 487). Dass diese Symbolbedeutung auch in La Chèvre de M. Seguin relevant ist, zeigt sich u.a. in der folgenden Passage, in der der Wolf durch sein bewusstes Abwarten die Angst der Ziege und seine eigene Lust auf die Spitze treibt: «Énorme, immobile, assis sur son train de derrière, il était là regardant la petite chèvre blanche et la dégustant par avance. Comme il savait bien qu’il la mangerait, le loup ne se pressait pas ; [. . .]» (C, 264).

Weiterhin findet sich unmittelbar vor der soeben zitierten Passage die folgende Überleitung zum «Kampf» zwischen Blanquette und dem Wolf:

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

«La chèvre entendit derrière elle un bruit de feuilles. Elle se retourna et vit dans l’ombre deux oreilles courtes, toutes droites, avec deux yeux qui reluisaient . . . C’était le loup» (C, 264).

Es ist naheliegend, diese Einführung des Wolfes als «wiederholte Rede» im Sinne Coserius zu interpretieren, also als Strategie «Zeichen in Texten so zu verwenden, daß sie als Anspielung auf eine bereits existierende, feste Zeichensequenz verstanden werden müssen» (Coseriu 1980/2007, 108), in diesem Fall auf die Redensart avoir vu le loup. Deren Bedeutung wird vom Petit Robert (2013, 1484) mit «ne plus être vierge, en parlant d’une jeune fille» paraphrasiert.61 Dass die Erzählung tatsächlich auf Blanquettes Defloration anspielt, belegen spätestens die Blutflecken auf ihrem weißen Fell: «– Enfin ! dit la pauvre bête, qui n’attendait plus que le jour pour mourir ; et elle s’allongea par terre dans sa belle fourrure blanche toute tachée de sang . . . Alors le loup se jeta sur la petite chèvre et la mangea» (C, 265).

Die Tatsache, dass der (Blut-)Fleck in der christlichen Tradition die als Schuld verstandene menschliche Sexualität gegenüber der unbefleckten Empfängnis Marias symbolisiert (cf. Kurz 2012, 122), sowie der gewaltsame Tod Blanquettes eröffnen dann eine Möglichkeit, die zahlreichen sexuellen Anspielungen in einer Lesart zu bündeln. Unter Rückgriff auf die Bezeichnung «la pensionnaire» (C, 261) für Blanquette interpretieren Lafont/Gardès-Madray (1976, 147) die Ziege als Symbol der naiven Klosterschülerin, die den Klostermauern (le clos) entflieht, sich amourösen Abenteuern hingibt und ihre moralischen Verfehlungen mit dem Tod bezahlen muss. Sie sehen in Blanquette also gleichsam eine Manon Lescaut und die Tierfabel, die sie als ideologisches Werkzeug im Dienst einer sozialen, moralischen oder eben auch sexuellen Ordnung begreifen, verfolge in dieser Lesart die Absicht, das Ausleben weiblicher Sexualität zu stigmatisieren: «Ainsi le texte assume sa fonction de reconduction des fantasmes sexuels : essentiellement de culpabilisation de la sexualité féminine» (ib., 148).

Dabei ignorieren Lafont/Gardès-Madray (1976) aber erneut die unauflösbare Ambiguität von Daudets Erzählung, indem sie die Möglichkeit verkennen, die Verquickung von Sexualität und Tod auch völlig anders zu deuten. Franz Meier

61 Auch Jean Le Guennec (2006) weist in seiner Interpretation von La Chèvre de M. Seguin auf die Lust Daudets am Spiel mit Sprichwörtern und festen Redewendungen (avoir vu le loup; quand on parle du loup, on en voit la queue etc.) hin, allerdings ohne Bezug auf die Coseriu’sche Evokation und ohne diese Strategie in Hinblick auf eine schlüssige Interpretation der Erzählung auszuwerten. So erklärt er schlicht: «On peut même se demander si l’épisode final de La Chèvre n’est pas une pure et simple mise en scène d’expressions semblables» (Le Guennec 2006, 206).

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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(2002, 48s.) konstatiert in seiner Untersuchung der Themenverknüpfung von Sexualität und Tod in der englischen Literatur von 1764 – 1897 und ihrem soziokulturellen Kontext, dass Sexualität und Tod als «parallele, in ihrer Erlebnisstruktur ähnliche Phänomene begriffen» werden, was er unter anderem auf psychologische Erkenntnisse zurückführt, denen zufolge in Todesphantasien der Tod häufig als sexueller Verführer begegnet oder andererseits die sexuelle Vereinigung als existentielle Bedrohung erlebt wird (cf. ib., 49s.). Auf sprachlicher Ebene würden diese Parallelen durch zahlreiche Metaphern, u.a. die französische Wendung la petite mort, deutlich: «Eine weitere Variante dieser sprachlichen Identifizierung von Sexualität und Tod stellt der bis heute im Französischen gebräuchliche Ausdruck ‹la petite mort› für den sexuellen Höhepunkt dar» (ib., 47).

Unter Berücksichtigung dieser intertextuellen Evokationen kann man die Inszenierung von Grenzerfahrungen in La Chèvre de M. Seguin auch als erneuten Appell zum Ausbruch aus gesellschaftlichen Zwängen und Tabus und zum Ausleben von Lust und Sexualität (auch seitens der Frau) verstehen. Die zweite Lesart, die Lafont/Gardès-Madray (1976, 145) aus den erläuterten sexuellen Anspielungen ableiten, wird der Ambiguität der Erzählung Daudets eher gerecht, nimmt allerdings eine fragwürdige geschlechtsbezogene Aufteilung der Leserschaft vor. So betrachten sie La Chèvre de M. Seguin als «un texte de communication émotive ambiguë», weil der Leser sich zum einen mit Blanquette identifizieren und ihre Gefühle teilen könne, zum anderen aufgrund der übertriebenen Klischeehaftigkeit der Fabel und ihrer Figuren sich aber auch mit dem Wolf identifizieren könne. Unter Berücksichtigung der vaginalen Metaphern, der «belle fourrure blanche toute tachée de sang» (C, 265) und des gewaltsamen Endes der Ziege ließe die Erzählung sich aus weiblicher Sicht als Darstellung der Deflorationsangst lesen (cf. Lafont/Gardès-Madray 1976, 147). Der männliche Leser hingegen, der sich im Wolf, also dem «prédateur sexuel» (ib., 148) wiedererkenne, teile dessen Genuss an der Inszenierung von Blanquettes Schönheit, Unerfahrenheit und Angst, was Lafont/ Gardès-Madray (1976, 145) nach Einlösung der deutlichen intertextuellen Bezüge zu Victor Hugos Roman Notre-Dame de Paris so formulieren: «Nous définissons ainsi un système de communication littéraire qui fragmente la masse des lecteurs éventuels par un choix sexualisant : les hommes. C’est un système de connivence entre l’auteur-homme et le lecteur-homme par l’intermédiaire du destinataire de la lettre, Gringoire, lui-même homme, et présenté dans l’intertextualité comme en quête d’amour. Le texte révèle en définitive le fantasme d’‹Esméralda mangée›».

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Ob diese erotische Interpretation der Erzählung und die klare geschlechtsabhängige Zweiteilung der Leserschaft nun vollends überzeugen können, sei dahingestellt. Unbestreitbar aber ist das Vorliegen der zahlreichen sexuellen Anspielungen, auf die Lafont/Gardès-Madray (1976) sich beziehen, ebenso wie die Realität der weiteren Evokationen, die im Verlauf dieser Bedeutungsanalyse aufgedeckt worden sind und die Daudet im Zuge seiner «exercice littéraire» (Wittmann 2010, 268) wohl ganz bewusst zur Schaffung eines polyvalenten und an erwachsene Leser gerichteten Werkes eingesetzt hat. Am Ende der Analyse von La Chèvre de M. Seguin zeigt sich wie bei den beiden zuvor untersuchten Korpustexten, dass die umfassend belegte Ambiguität sich in mehr als einem der von Bauer et al. (2010) identifizierten Bereiche literarischer Kommunikation manifestiert. Ambiguität auf der Ebene der literarischen Mimesis liegt vor, weil die expliziten Vorwürfe an den freiheitsliebenden Gringoire und das tragische Ende der Ziege vor zügelloser Freiheit warnen, während der bittere Kontrast zwischen dem Vegetieren der Ziege in Gefangenschaft und ihrem Glück in Freiheit, das durch Evokationen und stilistische Mittel unterstützt wird, Freiheit und Sinnenfreuden zum höchsten Gut zu erheben scheinen. Sprachliche Ambiguität im engeren Sinne kann man durch die Verwendung der Lexeme chèvre, loup und noir verwirklicht sehen. Allerdings liegt hier keine Mehrdeutigkeit auf der Ebene des Bezeichneten, sondern des Symbolisierten vor. Der Wolf symbolisiert eben nicht nur das Böse, sondern auch Wollust und Mütterlichkeit (cf. Rösch 2012, 486) und die Ziege steht u.a. für die nährende Natur, unkontrollierte Sexualität und das Rauschhaft-Dionysische (cf. Stenzel 2012, 497). Die Ambiguität in diesen beiden Bereichen ist aber nur Mittel zum Zweck und dient der Erzielung von ausgeprägter Polyvalenz auf der Ebene des Textsinns. Diese Polyvalenz resultiert aus drei zentralen semantischen Strategien: Daudet greift zunächst auf die genannten konventionellen Symbole zurück und nutzt deren Ambiguität in Verbindung mit unterstützenden Kontexten und Evokationen (Relationen mit Zeichen in anderen Texten, sexuelle Metaphern etc.) zur Erzeugung weiterer Lesarten. Außerdem verknüpft er zwei Gattungen, nämlich literarischen Brief und Tierfabel, und schafft so eine spontane, kontextabhängige Symbolisierung «Ziege = Gringoire», die die möglichen Lesarten seines Werkes weiter erhöht. Dieses kurze Résumé von Daudets «Ambiguierungsstrategien» zeigt bereits, welche Komplexitätskategorien für La Chèvre de M. Seguin besonders hohe Werte aufweisen werden: es sind natürlich die Kategorien «Evokationen», «Anforderungen an das einzelsprachliche und lebensweltliche Wissen der Rezipienten», «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene», «Frame-bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen» sowie «Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik». Im Gegensatz

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

369

zu den beiden zuvor analysierten Novellen spielt der erste Komplexitätsfaktor ABWEICHUNGEN für die Komplexität dieser Lettre eine geringe Rolle, dafür fallen aber der zweite Faktor, kontextabhängige IMPLIZITHEIT, und besonders der dritte Faktor, WISSEN, stark ins Gewicht. Ohne das Wissen um literarische Symbole, ohne die Kenntnis bestimmter literarischer Werke und ohne profunde Kenntnisse der französischen Lexik können die zahlreich vorhandenen Evokationen nicht eingelöst und die Vielzahl der Lesarten dieser Fabel nicht erfasst werden. Schon allein unter quantitativen Gesichtspunkten sind extrem erhöhte Komplexitätswerte in Bezug auf die Kategorien «Andeutungen/Evokationen» und «Anforderungen an das einzelsprachliche und lebensweltliche Wissen» gerechtfertigt. Der Rezipient muss nämlich mindestens die folgenden Evokationen einlösen: – die indirekte Zeichenrelation: Zeichen – Bezeichnetes – Symbolisiertes (cf. Coseriu 1980/2007, 123) in Bezug auf die Lexeme und Lexemverbindungen chèvre, loup, noir, étable toute noire, fleur, blanc/blanche, tachée de sang; – zahlreiche intertextuelle Verweise; – Evokation des diaphasischen Subsystems «Sprechen mit Autoritäten»; – suggerierte Vermischung von Genus und Sexus in Bezug auf die anthropomorphisierten Bäume und Büsche, die Blanquette empfangen; – Nachahmung einer beschriebenen Handlung durch Substanz und Form der verwendeten Zeichen (Quirligkeit und Bewegungsfreude Blanquettes); – vaginale Metaphern (des digitales de pourpre à longs calices etc.); – rhetorisch-stilistische Mittel (Akkumulationen, Gradationen etc.) zur Unterstützung der Glückseligkeit in Freiheit und als Hinweis auf die Virtuosität des Dichters. Um all das leisten zu können, muss der Leser über die im Folgenden aufgelisteten Kenntnisse verfügen, bei denen es sich in vielen Fällen (z.B. die nötige Kenntnis der Fabel Le Loup et le Chien) um ein differenziertes, tiefergehendes Wissen handelt: – Wissen über literarische Symbole: auch der mehrfache Symbolsinn von einigen der oben aufgeführten Lexeme muss bekannt sein; – literaturgeschichtliches Wissen: Kenntnis der Werke Notre-Dame de Paris (Victor Hugo), Manon Lescaut (Abbé Prévost), Le Loup et le Chien (Jean de La Fontaine) sowie (in geringerem Umfang) Gringoire von Théodore de Banville; – Wissen um die kulturelle und literarische Verknüpfung von Sexualität und Tod; – Kenntnis der historischen Person Pierre de Gringoire (1475–1539) sowie des 1865 gegründeten Pariser Restaurants Le Brébant;

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

– profunde lexikalische Kenntnis des Französischen zur Erfassung der mit den Historizismen chausses, pourpoint, barrette, écus à la rose, sire Apollo sowie den Phraseologismen avoir vu le loup oder croquer à belles dents verbundenen Evokationen; Wissen über diaphasische Varietäten des Französischen; sichere Kenntnis des Genus von Lexemen aus dem Bereich der Botanik (sapin, châtaignier, genêt d’or); – Allgemeinwissen zur Situation des Künstlers/Autors (materielle Lage, Bedürfnisse etc.) zwischen Mittelalter und 19. Jahrhundert. Allein die Tatsache, dass die soeben aufgelisteten Evokationen zum Teil auf konventionellen Symbolbedeutungen oder konventionellen Metaphorisierungen beruhen, spricht gegen die Vergabe des maximalen Komplexitätswertes 6. Anders als z.B. bei Plume au restaurant, wo konventionelle Wissensrahmen unterlaufen werden, gelingen adäquate Deutungen von La Chèvre de M. Seguin eben auch ohne hochgradig spezialisiertes Experten-Wissen zum Autor und seinem Gesamtwerk, sie bedürfen nur einer überdurchschnittlich ausgeprägten (natürlich auf die französische Kultur und Literatur bezogenen) culture générale. Aufgrund dieser Einschränkung sind also die Kategorien «Andeutungen/Evokationen» und «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» jeweils mit dem Komplexitätswert 5 zu belegen. Die «Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen» fallen rein quantitativ betrachtet etwas geringer aus als diejenigen an das Weltwissen und so erhält die entsprechende Kategorie den Komplexitätswert 4. Der «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» erweist sich aufgrund der Fülle der zu konstruierenden Lesarten, der Notwendigkeit einer konzentrierten Textanalyse zur Aufdeckung der zahlreichen Evokationen, dem beachtlichen Umfang des dafür nötigen Wissens und der erforderlichen Integration zahlreicher (auf verschiedenen Ebenen angesiedelten) Bedeutungselemente in überzeugende Lesarten wiederum als hochkomplex und erhält den Wert 5. Der Komplexitätsfaktor WISSEN, der so zentral für den mehrfachen Textsinn von Daudets Erzählung ist, wirkt sich natürlich auch unmittelbar auf die Wortsemantik aus. Die angesprochenen Symbole, Metaphern, Historizismen und Archaismen sowie Eigennamen müssen auch auf der Ebene der Wortsemantik als komplex gewertet werden. Wenn man weiterhin deren Mehrfachnennung berücksichtigt, außerdem die stilistischen Elemente, die über den propositionalen Gehalt hinaus eine Zusatzbedeutung vermitteln, und die vereinzelt vorhandenen Regionalismen (Pécaïre, pauvrette, se languir, le ménager, le cabri etc.), dann ergeben sich mindestens 156 hochkomplexe token. Wenn zudem die nicht

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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im Thematischen Grund- und Aufbauwortschatz Französisch von Fischer/Le Plouhinec (2012) verzeichneten Lexeme als komplex betrachtet werden, kommen 194 weitere hinzu – diese hohe Anzahl ist dem wenig frequenten Vokabular zu Flora und Fauna geschuldet, das in La Chèvre de M. Seguin reichlich vorhanden ist. Ein Anteil von 7,6% komplexer Lexeme bzw. sogar 17% unter Hinzuziehung der nicht im Grund- und Aufbauwortschatz enthaltenen Textwörter führt im Vergleich zum wortsemantisch komplexesten Korpustext immerhin zu einem mittleren Wert von 3 für die entsprechende Kategorie. Weiterhin kommt das Komplexitätsmerkmal «Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen» für La Chèvre de M. Seguin zum Tragen, was ebenfalls dem Ziel der Generierung von Ambiguität geschuldet ist. Daudet integriert eine Tierfabel in einen literarischen Brief und die darin etablierte Rahmenhandlung ist verantwortlich für die spontane Symbolisierung «Gringoire = Blanquette» sowie für die Lesarten, die um das Dilemma des freischaffenden Künstlers zentriert sind und adäquate Deutungen einer ganzen Reihe von Folge-Symbolen (le loup, le clos, son lait se fit rare etc.) verlangen. Deshalb ist diese Komplexitätskategorie ebenfalls mit einem mittleren Wert, also 3, zu belegen. Es sind also in erster Linie die sechs soeben behandelten Kategorien, die aufgrund der Strategien zur Ambiguitätsgenerierung mittlere bis deutlich erhöhte Komplexitätswerte erhalten. Geringere Erhöhungen der Komplexität ergeben sich aufgrund dieser Strategien für die Kategorien «suppletive Kontextbildung» sowie «Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik». Erstere erhält im Wesentlichen aufgrund der zeitlich widersprüchlichen Filler und Evokationen bezüglich des Adressaten Pierre Gringoire den Wert 2. Die oben angesprochenen rhetorischen Figuren betreffen auch die Ebene der Satzsemantik, sind aber in den meisten Fällen (Exklamationen, rhetorische Fragen, Parallelismen) leicht zu interpretieren, und die subtilere Nachahmung einer beschriebenen Handlung durch Form und Substanz der Zeichen und den resultierenden Satzrhythmus ist nur isoliert festzustellen. Des Weiteren sprechen acht Partizipial- und sieben Gérondif-Konstruktionen für eine leicht erhöhte Komplexität dieser Kategorie, die also ebenfalls den Wert 2 erhält. Die Kategorien «Komplexität in Bezug auf Kohäsion & lokale Kohärenz» und auch «Leerstellen/Aussparungen» fallen durch kaum vorhandene Komplexität auf. In La Chèvre de M. Seguin beruht die stark ausgeprägte kontextabhängige IMPLIZITHEIT tatsächlich nur auf den zahlreichen Andeutungen, nicht auf globalen Leerstellen wie in Plume au restaurant oder Happy Meal. Dem Komplexitätsfaktor ABWEICHUNGEN wurde ebenfalls eine geringe Relevanz für die Ambiguität und Komplexität in La Chèvre de M. Seguin beigemessen.

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Tatsächlich sind in Daudets Erzählung keine Verstöße gegen Quantitäts-, Qualitäts- und Relevanzmaxime festzustellen. Die Obermaxime (Sei klar) sowie die 1. und 2. Untermaxime der Modalität muss man aber natürlich auf der Ebene der Kommunikation zwischen Erzähler und Leserfigur sowie Autor und Leser aufgrund der gezielten Verwendung mehrdeutiger Symbole, subtiler Evokationen und konträrer Bewertungen des Verhaltens der Ziege durch den Erzähler als gebeugt betrachten, was aber höchstens den Komplexitätswert 2 rechtfertigt. Derselbe Wert gilt für die Kategorie «Anforderungen an das elokutionelle Wissen», da die allgemein-sprachlichen Normen die Grice’schen Maximen beinhalten und deren Beugung Interpretationen erfordert, die ebenfalls auf der Basis von elokutionellem Wissen (hier aber in stärkerem Maße lebensweltlichem Wissen) erfolgen müssen. Die Tatsache, dass in Daudets Erzählung Tiere und Pflanzen mit Bewusstsein und der Fähigkeit zu sprechen ausgestattet sind, stellt zwar weiterhin einen Verstoß gegen die allgemeine Kenntnis der Sachen dar, der aber mit diskurstraditionellem Wissen zu Fabeln, das seinerseits nicht hoch spezialisiert ist, leicht eingeordnet werden kann, und somit nicht zu einer weiteren Erhöhung der «Anforderungen an das elokutionelle Wissen» führt. Da die umfangreichen Frame-Systeme Freiheit und Gefangenschaft die zentralen Themen der Erzählung widerspiegeln, kann auch die Kategorie «Frames/ Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» keine stark erhöhte Komplexität aufweisen. Die im Zuge der Interpretation aufdeckbaren Themen «Dilemma des Dichters» bzw. «Ausleben versus Sanktionierung von Sexualität» sind allerdings auf der Textoberfläche kaum erkennbar. In der Einleitung des Briefes finden sich die wenigen Filler poète lyrique, chroniqueur, journal, rimes, sire Apollo eines Autor-Frames und die erotischen Lesarten stützen sich einzig und allein auf Andeutungen. Aus diesen Gründen weist die Kategorie «Frames & die Etablierung von Themen» ebenfalls eine leicht erhöhte Komplexität auf, erhält also den Wert 2. Derselbe Wert kommt schließlich noch der Kategorie «Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen» zu, da die Gattung Fabel zwar zahlreiche Aspekte von Textualität beeinflusst (Anthropomorphisierung von Tieren und Pflanzen, Notwendigkeit der Übertragung der erzählten Geschichte in eine eigentliche (didaktische, moralische etc.) Bedeutung) (cf. Zymner 2009, 234), andererseits aber keine hohe kulturelle Spezifizierung aufweist. In verkürzter, graphischer Form stellt sich das Komplexitätsprofil von La Chèvre de M. Seguin also folgendermaßen dar:

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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6 5 4 3 2 1 0 FB

L

A

M

SK

FT

KK

W

S

EW

IW DW LW 2.E

FB: Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen; L: Leerstellen/Aussparungen; A: Andeutungen/Evokationen; M: Umgang mit den Maximen; SK: suppletive Kontextbildung; FT: Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen; KK: Kohäsion & lokale Kohärenz; W: Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik; S: Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik; EW/ IW/DW/LW: Anforderungen an das elokutionelle, einzelsprachliche, diskurstraditionelle und lebensweltliche Wissen; 2.E: Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene. Schema 13: Komplexitätsprofil von La Chèvre de M. Seguin.

Daudets Form der Ambiguitätsgenerierung durch Rückgriff auf die Komplexitätsfaktoren WISSEN und kontextabhängige IMPLIZITHEIT in Gestalt von Evokationen führt also zu einem ganz anderen Bild als im Fall von Plume au restaurant und Happy Meal. Die Kategorien «Andeutungen/Evokationen», «Anforderungen an das einzelsprachliche und lebensweltliche Wissen» sowie «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» erfahren in diesem Fall eine extreme Komplexitätssteigerung, während die Kategorien «Leerstellen», «suppletive Kontextbildung», «Umgang mit den Grice’schen Maximen» und «Anforderungen an das elokutionelle Wissen», die in den Texten von Michaux und Gavalda so hohe Komplexitätswerte hatten, hier durch Einfachheit auffallen. Letztere waren eben in Plume au restaurant und Happy Meal stark von den Ambiguierungsstrategien des Offenlassens zentraler Slots sowie Abweichungen betroffen, welche bei Daudet kaum eine Rolle spielen.

3.3.4 Zusammenfassung Schon in der Einleitung dieses Kapitels wurde auf die inhaltlich-argumentativen Fehler hingewiesen, die man riskiert, wenn man literarische Texte grundsätzlich durch die poetische Funktion der Sprache nach Jakobson (1960) bestimmt sieht

374

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

und die dichterische Sprache a priori als selbstbezüglich, uneigentlich und damit mehrdeutig betrachtet (cf. Bode 1997, 68). Coseriu (1980/2007, 81) hält dieser Auffassung entgegen, dass «sich die Dichtung nicht auf die Gestaltung, auf das Wie des Gesagten reduzieren [lasse]», und Jannidis (2003, 323) erklärt, dass die Behauptung der Dominanz der poetischen Funktion nicht auf sprachliche Analysen gestützt sei, sondern auf wandelbaren Konventionen im Umgang mit Literatur beruhe. Die Analyse der drei hochambigen Korpustexte hat gezeigt, dass tatsächlich nur die Ambiguität von La Chèvre de M. Seguin in Teilen auf einer besonderen formalen Gestaltung des Textes, also den «bedeutungstragenden Mehrwertstrukturen [. . .] Reim, Metaphorik, Stil, Chiffren [. . .] oder Enjambements» (Sproll 2007, 598) beruht, die zahlreiche literaturwissenschaftliche Lexika unter Berufung auf Jakobson (1960) als Ursache der essentiellen Ambiguität literarischer Texte betrachten. Zudem hat sich die von Coseriu (1980/2007, 92ss.) als Evokation bezeichnete Auflistung der Relationen, durch die das Zeichen im Redeakt funktioniert, als hilfreicher und geeigneter für die Analyse der Ambiguität von Daudets Fabel erwiesen als das vage Konzept der lexikalischen, semantischen oder syntaktischen Äquivalenzen, die sich aus der Projektion des Prinzips der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination ergeben (cf. Jakobson 1979, 94). Beginnen wir also die intendierte Verlängerung der von Jakobson (1960) und Bauer et al. (2010) entworfenen Liste von «Ambiguitätsauslösern» mit den in Daudets La Chèvre de M. Seguin identifizierten Strategien. In dieser Erzählung findet man eine große Bandbreite möglicher Zeichenrelationen und der entsprechenden Evokationen aktualisiert: die indirekte Zeichenfunktion Zeichen – Bezeichnetes – Symbolisiertes (cf. Coseriu 1980/2007, 123), Relationen mit Zeichen in anderen Texten (wiederholte Rede, intertextuelle Bezüge) (cf. ib., 107ss.), Relationen mit ganzen Zeichensystemen (cf. ib., 98), die Nachahmung geschilderter Handlungen durch Substanz und Form der verwendeten Zeichen (cf. ib., 111ss.) etc. Die Generierung von Ambiguität funktioniert dann im Detail so, dass Daudet konventionelle mehrdeutige Symbole (Ziege, Wolf etc.) einsetzt und ein Netz von propositionalen Elementen und Evokationen spinnt, das einen bestimmten Symbolsinn relevant werden lässt. Aus der Kombination dieser bestimmten symbolischen Bedeutung mit den weiteren textuellen Anhaltspunkten bzw. Evokationen resultiert dann eine mögliche Lesart des Textes. So zeichnen beispielsweise die Tatsache, dass die Ziege u.a. das «Rauschhaft-Dionysische» (Stenzel 2012, 497) symbolisiert, die expliziten Beschreibungen des berauschenden Tages in Freiheit, die Verwendung von Adjektiven wie soûle, das assoziative Frame-System Jugend, die Charakterisierung der Ziege als naiv und irrational

3.3 Ambiguität als Quelle von Komplexität auf der Ebene der Textsemantik

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und schließlich die auf der permanenten Titulierung ihres Halters als monsieur Seguin beruhende Evokation des Subsystems «Sprechen mit Autoritäten» für die oben erläuterte «kindliche Lesart» verantwortlich. Die Verknüpfung der Gattungen Fabel und literarischer Brief erhöht die Polyvalenz zusätzlich, weil durch die Rahmenhandlung des Briefes eine weitere kontextbasierte Symbolisierung (Gringoire = chèvre) geschaffen wird. Diese erzeugt zusammen mit weiteren Evokationen (v. a. intertextueller Art) die Lesarten, die die besondere Situation des Dichters zum Gegenstand haben. Die Erkenntnis von Bauer et al. (2010, 33), dass Ambiguität oftmals dadurch entsteht, «dass in literarischen Texten bestimmte Kontexte evoziert werden und andere offen oder unspezifiziert bleiben», findet sich in den Novellen Plume au restaurant und Happy Meal bestätigt. Allerdings kann durch Rückgriff auf das Werkzeug Frame dieser Ambiguitätsauslöser präzisiert werden. In beiden genannten Novellen ist ein Mangel an Kontext durch eine extrem reduzierte verbale Suppletion der jeweiligen Protagonisten mitverantwortlich für die hohe Ambiguität. Der Rezipient moderner oder zeitgenössischer Literatur kennt dieses diskurstraditionelle Charakteristikum und ist es gewohnt, aus den vorhandenen Fillern die nötigen Inferenzen zu ziehen. Anna Gavalda führt ihre Leser aber gezielt auf eine falsche Fährte und generiert gleichzeitig Ambiguität, indem sie die Vagheit von Fillern ausnutzt und mit Abstufungen von Prototypikalität spielt. Die Lexeme und Lexemverbindungen aimer qn, (lui) faire plaisir, inviter (qn) à déjeuner, regarder son profil haben einen etwas höheren Grad an Erwartbarkeit im Frame romantische Liebesbeziehung als im Vater-Tochter-Beziehungs-Frame und legen deshalb dem Leser die Evokation des ersteren nahe. Sie sind aber gleichzeitig ausreichend vage, um auch in den zweiten Frame zu passen. Für andere im Verlauf der Novelle auftretende Filler gilt das Gegenteil. Das extrem lange Offenlassen zentraler Slots der relevanten Frames und das Spiel mit vagen bzw. unspezifischen Fillern stellen also hier das dominierende Mittel zur Erzeugung von Ambiguität dar. Diese Strategie scheint in nouvelles à chute, die einen finalen Überraschungseffekt erzielen wollen, verbreitet zu sein, denn sie begegnet in identischer Ausführung auch in Fred Kassaks Iceberg (1964). Den höchsten Grad an Ambiguität und Komplexität weist mit Sicherheit die surrealistische Novelle Plume au restaurant auf. Auch in diesem Text erhält der Personen-Frame des Protagonisten nur ein absolutes Minimum an expliziten Füllwerten, die Ambiguität entsteht aber nicht durch eine Überlagerung von zwei möglichen Frames, sondern durch das systematische Brechen bzw. Unterlaufen von Frames sowie zahlreiche Verstöße gegen allgemein-sprachliche Normen. So legen zwar zahlreiche Füllwerte die Evokation des Handlungsschemas «[accusation vs défense : norme]» (Schmidt 1973, 158) nahe, der fehlende Bezug

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

auf eine Norm und die Nicht-Beachtung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit der Mittel lassen sich aber in keiner Weise mit diesem Frame-System in Einklang bringen. So sieht der Rezipient sich mit einer völlig inkohärenten Handlung konfrontiert und hat zudem nicht die Möglichkeit, auf der Basis von prototypischem Frame-Wissen Filler für die offenen Slots zu inferieren bzw. die Inkohärenz aufzulösen. Nach Einschätzung von Schmidt (1973) resultiert die Ambiguität solch subversiver Novellen daraus, dass durch die Aushebelung bekannter Frames und ihrer inhärenten Logik auf der Grundlage des Textes allein keine eindeutige Entscheidung für eine bestimmte Interpretation getroffen werden könne und so zahlreiche Interpretationssysteme in Frage kämen (cf. ib., 159s.). Nachdem nun die zentralen Ambiguitätsauslöser in den drei untersuchten Novellen identifiziert wurden, muss noch festgehalten werden, dass deren Ambiguität sich jeweils in allen drei der von Bauer et al. (2010) aufgeführten Bereiche literarischer Kommunikation manifestiert. Wenngleich die Autoren sprachlicher Ambiguität im engeren Sinne eine geringe Rolle bei der Erzeugung literarischer Ambiguität beimessen (cf. Bauer et al. 2010, 48), greifen doch alle drei hier untersuchten Texte darauf zurück. In Happy Meal unterstützt die Vagheit der Lexeme fille, personne und chérie in Bezug auf die Merkmale [alt] versus [jung] die Ambiguität der Protagonistin. Die Wahl des Polysems Plume als Familienname des Antihelden in Michaux’ Novelle ist Indiz für die zahlreichen möglichen Interpretationen dieser Figur und der Einsatz mehrdeutiger Symbole in La Chèvre de M. Seguin ist ein wichtiger Faktor für die Entstehung der zahlreichen Lesarten. Außerdem liegt in allen drei Novellen entweder Ambiguität oder aber Inkohärenz auf der ersten semiotischen Ebene vor, was ebenfalls zentraler Auslöser für die Ambiguität auf der Ebene des Textsinns ist. Diese Ballung von Ambiguität in allen drei Bereichen ist ein Grund für die stark erhöhte semantische Komplexität, die alle drei in diesem Kapitel untersuchten Novellen aufweisen. Vor allem ist in den drei Unterkapiteln immer wieder deutlich geworden, dass die identifizierten Ambiguitätsstrategien – Evozieren und Brechen von Frames, Verletzen und Beugen der Grice’schen Maximen und weiterer allgemeinsprachlicher Normen, das daraus resultierende Offenlassen zentraler Slots der Handlungsschemata, Evokationen, Einsatz sprachlicher Ambiguität im engeren Sinne etc. – eindeutig auf den Komplexitätsfaktoren ABWEICHUNGEN von sprachlichen bzw. sprachbezogenen Normen und Mustern und kontextabhängiger IMPLIZITHEIT basieren. So sind die häufig extrem erhöhten Komplexitätswerte mehrerer der 14 zugrundegelegten Komplexitätskategorien zu erklären. Die Analyse der Wissensbestände, die zunächst einmal für das Erkennen von Ambiguität (z.B. im Falle von La Chèvre de M. Seguin), aber natürlich insbesondere für das Verarbeiten von Ambiguität und die Konstruktion adäquater

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

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Deutungen nötig sind, hat großen Raum eingenommen. Somit wurde deutlich, dass der Komplexitätsfaktor WISSEN besondere Relevanz im Kontext ambiger Texte hat, was insbesondere die Komplexitätswerte 3, 5 und 6 der Kategorie «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen», aber auch 3, 6 und 2 für die Kategorie «Anforderungen an das elokutionelle Wissen» für die drei Novellen belegen. Schließlich bestätigen die in diesem Kapitel angestellten Überlegungen und die erzielten Ergebnisse eindeutig die in der Einleitung konstatierte Korrelation von Ambiguität und erhöhter Komplexität: weil beide Phänomene auf denselben Faktoren beruhen, ist insbesondere flächig auftretende Ambiguität, die zudem auf der ersten und zweiten semiotischen Ebene anzutreffen ist, ein sicherer Indikator für einen semantisch hochkomplexen Text.

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität In den Kapiteln 2.1 und 2.2 dieser Arbeit wurden bereits die theoretischen Begründungen für die erwartbaren Wechselwirkungen zwischen den Komplexitätswerten verschiedener diskurstraditioneller und semantischer Komplexitätskategorien angeführt. Eine wesentliche Ursache für diese Wechselwirkungen ist die Tatsache, dass jeder Text zwingend in bestimmten Diskurstraditionen steht, also u.a. nach den Regeln einer bestimmten Textsorte bzw. Gattung konstruiert ist (cf. Wilhelm 2001, 467). Diskurstraditionen leiten bekanntlich die Gestaltung von Texten an, geben Strukturen vor und implizieren bestimmte Versprachlichungsanforderungen (cf. Schrott 2015, 83; Oesterreicher 1997, 23). Diese Vorgaben betreffen die unterschiedlichsten semantisch-pragmatischen Parameter eines Textes wie Textumfang, Textgegenstand, thematische Entfaltung, Unbestimmtheitsstellen, Evokationen, die Verwendung von Formeln oder Tropen, den Grad an Elaboriertheit und vieles mehr. Damit ist unmittelbar klar, dass Diskurstraditionen semantische Merkmale und deren Komplexität beeinflussen. So bildet beispielsweise eine literarische Textgattung wie die nouvelle à chute mit ihrer Anforderung, den Rezipienten in die Irre zu führen, die Quelle für Komplexität hinsichtlich mehrerer Kategorien: Umgang mit den Grice’schen Maximen, suppletive Kontextbildung, Leerstellen/Aussparungen etc. Andererseits können Diskurstraditionen als «konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche Handlungen» (Brinker 1985/2010, 125) bzw. «Muster für Sinnbildungen» (Oesterreicher 1997, 25) auch kognitiv entlastend wirken und insbesondere den «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» gering halten, was häufig bei stark normierten Gattungen wie z.B. Fabeln der Fall ist.

378

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Die in Kapitel 2.2 thematisierte Übersummativität von Texten liefert die Begründung für weitere Wechselwirkungen zwischen den Komplexitätswerten verschiedener semantischer Kategorien. Die Textbedeutung kann eben nicht als bloße Summe der Bedeutungen der Textbestandteile beschrieben werden, sondern sie wird vom Rezipienten unter Berücksichtigung komplexer innertextueller semantischer Bezüge gebildet (cf. Gardt 2008a, 1204). Zu den bedeutungskonstituierenden Elementen eines Textes zählen weiterhin nicht nur die Systembedeutung der verwendeten Wörter und syntaktische sowie textgrammatische Regeln, sondern auch situationelle, kontextuelle und subjektive Faktoren, die «Architektur» eines Textes, seine grammatischen Formen, argumentativen und lautlichen Merkmale sowie stilistische Phänomene jeglicher Art. Somit ist alles an einem Text potentiell bedeutungstragend und der «flächige Charakter der Bedeutungsbildung» beruht eben auf den Bezügen und Wechselwirkungen zwischen den Bausteinen, Kontexten und Evokationen eines Textes (cf. ib., 1202): «Vielmehr semantisieren [die einzelnen bedeutungskonstituierenden Elemente eines Textes, K.M.] sich gegenseitig, stehen in Relationen, die auf außerordentlich komplexe Weise die Textbedeutung im Blick des Betrachters entstehen lassen. In diesem Sinne sind Texte ganzheitliche oder übersummative oder auch emergente Größen [. . .]» (Gardt 2013, 32).

Diese Bezüge zwischen den potentiell bedeutungstragenden Elementen eines Textes führen dazu, dass auch die Komplexitätswerte verschiedener semantischer Komplexitätskategorien – häufig ausgelöst durch diskurstraditionelle Vorgaben – sich gegenseitig beeinflussen. In den ersten drei Kapiteln des korpusbasierten Teils der Arbeit konnten die theoretisch erwartbaren Wechselwirkungen auch empirisch belegt werden. In Kapitel 3.2 wurde nachgewiesen, wie stark Diskurstraditionen gerade den Beginn einer Erzählung prägen und die dort stattfindende suppletive Kontextbildung und ihre Komplexität beeinflussen. Komplexitätsunterschiede ergeben sich dabei insbesondere durch die große Variabilität bei der Instantiierung von Personenund Orts-Frames (zügiger Aufbau vs. langes Offenlassen zentraler Slots, Aufbau beginnend mit zentralen vs. peripheren Fillern etc.), was wiederum Auswirkungen auf die Komplexitätswerte weiterer Kategorien hat. In Kapitel 3.3 wurde Ambiguität als dominantes Merkmal bestimmter Gattungen und ihr Zusammenhang mit Textkomplexität untersucht. Es zeigte sich, dass die identifizierten Ambiguitätsstrategien eindeutig auf den Komplexitätsfaktoren ABWEICHUNGEN von sprachlichen und sprachbezogenen Normen, Traditionen und Mustern sowie kontextabhängiger IMPLIZITHEIT beruhen. Außerdem verlangt sowohl das Erkennen als auch das Verarbeiten von Ambiguität mitunter die Verfügbarkeit anspruchsvoller Wissensbestände. Die Konsequenz ist natürlich, dass hochambige

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

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Texte grundsätzlich auch hochkomplexe Texte sind, und es zeigte sich, dass die diskurstraditionell bedingte Ambiguität vielfach eine regelrechte Kettenreaktion von hohen Komplexitätswerten bezüglich mehrerer Kategorien in Gang setzt. Ein diskurstraditionell erforderliches Umkehren der 2. Untermaxime der Modalität (Vermeide Mehrdeutigkeit) in ihr Gegenteil wie in Happy Meal führt dann mitunter zum Bruch weiterer Maximen (z.B. der 1. Untermaxime der Quantität), was sich in globalen Leerstellen niederschlägt, außerdem zum Einsatz lexikalischer Vagheit, was wiederum die Werte der Kategorien «Wortsemantik» und «Frames/ Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» in die Höhe treibt etc. Diese theoretisch bereits begründeten und empirisch festgestellten Wechselwirkungen von Komplexitätswerten zwischen verschiedenen Kategorien sollen in diesem Kapitel resümiert, erweitert und systematisiert werden. Dabei orientiert sich die Kapitelstruktur an der Einsicht, dass es meistens diskurstraditionelle Vorgaben sind, die für hohe oder geringe Komplexitätswerte bestimmter Kategorien verantwortlich sind. Des Weiteren sind es die dominierenden literarischen Epochen und Textgattungen unseres Korpus (fünf Erzählungen des 19. Jahrhunderts, sechs zeitgenössische Erzählungen, vier nouvelles à chute, drei nicht-mimetisch erzählende Novellen), die Unterkapitel vorgeben. So beschäftigt sich das erste Unterkapitel (3.4.1) mit Diskurstraditionen, die eine komplexitätsreduzierende Wirkung auf bestimmte Kategorien haben, auch wenn diese mitunter durch einen hohen Komplexitätswert hinsichtlich der Kategorie «Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen der Rezipienten» bezahlt werden muss. In Kapitel 3.4.2 wird das bereits mehrfach konstatierte diskurstraditionell bedingte Ausstrahlen von Komplexität auf der Grundlage des gesamten Korpus betrachtet und systematisiert. Paragraph 3.4.2.1 illustriert zunächst, dass sich die Charakteristika moderner und zeitgenössischer Kurznovellen nicht nur komplexitätssteigernd auf die suppletive Kontextbildung (cf. Kapitel 3.2), sondern auch auf weitere Kategorien auswirken. In den Abschnitten 3.4.2.2 und 3.4.2.3 werden auf der Basis der vier nouvelles à chute bzw. der drei nicht-mimetisch erzählenden Novellen des Korpus Kettenreaktionen von Komplexität aufgezeigt, die sich aus den diskurstraditionellen Erfordernissen dieser Gattungen oder narrativen Verfahren ergeben und typische Komplexitätsmuster ausbilden.

3.4.1 Diskurstraditionen mit komplexitätsreduzierender Wirkung Im Zentrum des ersten Teils dieses Kapitels stehen Diskurstraditionen, die für auffällige Einfachheit zentraler semantischer Komplexitätskategorien wie «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» oder «Aufwand der

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Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» verantwortlich zeichnen. Bei diesen Diskurstraditionen handelt es sich zum einen um stark normierte Textgattungen wie beispielsweise conte fantastique oder Prosaballade, die zahlreiche Dimensionen von Textualität formen und «Verstehensebenen festlegen» (Oesterreicher 1997, 29). Autor, Titel und Incipit genügen dem kundigen Leser von Exemplaren dieser Gattungen, um Erwartungen an Themen, Funktionsweisen und Intentionen aufzubauen, die sich in der Folge bestätigen, was die Herstellung von Kohärenz und den Interpretationsaufwand gering ausfallen lässt. Diese Effekte sind aber an profunde Kenntnisse der Gattung gekoppelt, die gerade aufgrund der Beeinflussung zahlreicher Dimensionen von Textualität und häufig auch einer recht hohen kulturellen Spezifizierung beachtliche Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen der Rezipienten stellt – nur um diesen Preis ist also die Einfachheit zentraler Komplexitätskategorien zu bekommen. Das verhält sich bei der zweiten untersuchten Quelle von Einfachheit – der auktorialen Erzählsituation – anders. Diese in traditionellen Formen des Erzählens wie z.B. Epos, Märchen und Fabel omnipräsente Ausgestaltung der Erzählsituation stellt sicherlich keine erhöhten Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen der Rezipienten und vermag dennoch die Komplexität zentraler Kategorien gering zu halten. Die spezifischen Charakteristika des auktorialen Erzählers wie z.B. die Allwissenheit suggerierende Außenperspektive (cf. Martínez/Scheffel 1999/2012, 96) und die zeitliche Distanz zu den Ereignissen, von denen er berichtet (cf. Fludernik 2006/2010, 107), gehen nämlich mit einer weitgehenden Befolgung der Grice’schen Maximen und einem hohen Maß an Explizitheit in wesentlichen Bereichen einher, die sich auf zahlreiche Komplexitätskategorien entlastend auswirken. Somit wird im ersten Abschnitt dieses Teilkapitels Einfachheit dank Expertenwissen thematisiert, im zweiten Abschnitt Einfachheit, die aus den Textstrukturen resultiert und sich aus der Nähe zu den Grice’schen Maximen erklärt. 3.4.1.1 Die Textgattung als kognitiver Entlastungsfaktor Vier Erzählungen unseres Korpus erweisen sich als prototypische Vertreter der Textgattung bzw. der literarischen Strömung, zu der sie gehören, und machen diese Tradition durch die Wahl eines generischen Titels, eines Prologs, einer in die Rahmenhandlung integrierten metapoetologischen Diskussion oder eines gattungstypischen Erzählauftakts auch explizit und unmittelbar deutlich. Bei diesen Erzählungen handelt es sich um die conte fantastique La Main (1883), die beiden naturalistischen Erzählungen Naïs Micoulin (1877) und La Parure (1884) sowie die Prosaballade La Mort du Dauphin (1866) von Daudet. Die

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genannten Gattungen können mit Sicherheit gerade deshalb als kognitiver Entlastungsfaktor bei der Rezeption der entsprechenden Texte wirken, weil es sich bei ihnen um vergleichsweise stark normierte Diskurstraditionen handelt, die mimetisches Erzählen implizieren und zahlreiche Dimensionen von Textualität formen und beeinflussen wie z.B. den Aufbau des fiktionalen Universums, das Textthema, den spezifischen Umgang mit den Grice’schen Maximen und vor allem auch die mit den Texten verknüpfte Intention. Die konsequente Anwendung der Muster und Regeln der jeweiligen Textgattung führt zunächst dazu, dass bei den vier erwähnten Texten das Komplexitätsmerkmal «Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen» natürlich keine Rolle spielt und dass die Themen sowie die Art ihrer Etablierung gattungskonform und damit erwartbar sind. Wenn ein Rezipient z.B. über die kognitiven Textsortenschemata Ballade oder fantastische Erzählung verfügt, werden explizite Gattungshinweise wie der generische Titel Ballades en prose, die Ankündigung von «deux ballades d’une fantaisie un peu germanique» (C, 314) und der Verweis auf «Henri Heine» (C, 314) im Fall von La Mort du Dauphin oder der Titel La Main gekoppelt mit der Charakterisierung «une affaire où vraiment semblait se mêler quelque chose de fantastique» (M, 1116) sofort die entsprechenden Schemata öffnen und Erwartungen in Bezug auf die Textthemen sowie die «Funktionsweise» der Texte aufbauen, die in der Folge bestätigt werden. Minskys matching process (cf. Minsky 1974, 2s.) muss also nur einmal durchlaufen werden und zahlreiche Filler konsolidieren sowohl das von Beginn an evozierte Textsortenschema als auch die damit verbundene thematische Erwartung. In allen vier Erzählungen werden die Themen ebenfalls gattungsbedingt sehr zügig und mit Hilfe ausführlicher Frames und Frame-Systeme etabliert, was ein weiterer Grund für die Einfachheit der entsprechenden Kategorie ist. Diese unmittelbare und explizite Etablierung der Themen, die neben der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene für die genannten Texte im Folgenden genauer untersucht werden soll, bedarf einer schnellen und eindeutigen Fixierung der wesentlichen Determinanten des fiktionalen Universums. Folglich erfordern alle drei genannten Gattungen auch eine solch einfache suppletive Kontextbildung: in Bezug auf naturalistische Erzählungen wurde dies in Kapitel 3.2 ausführlich begründet und in Kapitel 3.1 wurde erläutert, dass es zum Wesen des Fantastischen gehört, in die gewohnte Wirklichkeit einzubrechen (cf. Caillois 1974, 45), was in der Regel reichhaltige Bezüge auf die reale Geographie bedingt. Im Fall der Ballade gehört ähnlich wie beim Märchen die «Vermeidung jeder Festlegung von Ort und Zeit» (Kretschmann 1974, 58) zum Gattungsprofil, was aber in der Regel – so auch in La Mort du Dauphin, wo das fiktionale Universum rund um den Protagonisten etabliert wird – die Orientierung im fiktionalen Universum nicht behindert. Alle vier genannten Erzählungen weisen somit gattungsbedingt

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sehr geringe Komplexitätswerte (1 oder 2) in Bezug auf die suppletive Kontextbildung auf. Schließlich erfährt insbesondere die zentrale Komplexitätskategorie «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» durch die extrem gattungskonforme Textgestaltung eine Entlastung. Aus dem Wesen der Diskurstraditionen, «in Texten gestaltend und sinnbildend wirksam» (Schrott 2015, 84) zu sein, resultiert ja gerade, dass sie Verstehensebenen festlegen und Interpretationsmöglichkeiten einschränken (cf. Oesterreicher 1997, 29) bzw. dem Leser mehr oder weniger feste Orientierungen für die Rezeption von Texten geben (cf. Brinker 1985/2010, 125). Diese Einschränkung von Interpretationsmöglichkeiten kommt sehr deutlich im Fall der conte fantastique La Main zum Tragen. Der kundige Leser weiß nämlich, dass er die kunstvoll erzeugte Ambiguität des Mordes an Rowell nicht auflösen kann und den Sinn des Textes hinreichend erfasst, wenn er durch das niemals eindeutig mögliche Inferieren der bewusst gesetzten Leerstellen sich selbst in den Zustand der Unschlüssigkeit der Natur des zentralen Ereignisses gegenüber versetzt. Demzufolge erhält die Kategorie «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» im Fall von La Main den vergleichsweise geringen Komplexitätswert 2. Derselbe Wert gilt für die Komplexität der Kategorie «Frames/ Frame-Systeme & die Etablierung von Themen», die ebenfalls von den beiden Faktoren Erwartbarkeit und Explizitheit einerseits sowie Ambiguität andererseits konträr beeinflusst wird. Bereits der Titel kündigt ja das typisch fantastische Motiv von La Main an und die zentralen thematischen Frames abgetrennte menschliche Hand sowie Verbrechen und sein Sub-Frame Mord werden durch zahlreiche Filler im Text etabliert. Dieselbe Explizitheit und Erwartbarkeit gelten für das «Klima des Grauens» sowie das «Spiel mit der Angst» (Caillois 1974, 46) und die gattungsbestimmende Unschlüssigkeit, die ebenfalls durch entsprechende Frame-Systeme explizit auf der Textoberfläche deutlich werden. Da die Frames mit rationalem und diejenigen mit übernatürlichem Kern aber auf geschickte Weise interagieren oder sich überlagern, ist letztlich nicht entscheidbar, ob das Thema der Erzählung ein grausiger Mordfall ist, der nicht aufgeklärt werden konnte, oder ein übernatürliches Ereignis. Diese Ambiguität ist aber wiederum gattungsbedingt und damit hochgradig erwartbar, so dass der Komplexitätswert für die Kategorie «Frames/ Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» nicht auf mehr als 2 Punkte steigen kann. Ähnlich verhält es sich mit der Gattungstreue, dem Aufbau von sicheren Erwartungen in Bezug auf die Textthemen, die formale Gestaltung sowie die Einschränkung von Interpretationsmöglichkeiten bei La Mort du Dauphin. Da Ambiguität kein Charakteristikum der Gattung Prosaballade ist, gibt es hier allerdings keine Konkurrenz einander widersprechender Themen und können Leerstellen auf eindeutige

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Weise gefüllt werden, doch stellen die nötigen Inferenzen etwas höhere Anforderungen an das diskurstraditionelle und lebensweltliche Wissen der Rezipienten als im Fall von La Main. Die beiden kurzen Texte La Mort du Dauphin und Le Sous-préfet aux champs werden in Daudets Lettres de mon moulin unter dem generischen Titel Ballades en prose zusammengefasst. Der Begriff Ballade wird in verschiedenen Lexika der Literaturwissenschaft unterschiedlich eng oder weit gefasst, in den einen nur über formal-funktionale Charakteristika definiert, in anderen auch über thematisch-inhaltliche.62 Eine verhältnismäßig merkmalreiche Gattungsdefinition, die sowohl formale als auch inhaltliche Aspekte umfasst sowie Goethes berühmte, wenngleich nicht allgemein geteilte (cf. Woesler 2009, 38) «Ur-Ei»-Charakterisierung beinhaltet, liefert Kretschmann (1974, 56) im Handlexikon zur Literaturwissenschaft: «Im weitesten Sinn ein Gedicht mit erzählendem Inhalt (‹Erzählgedicht›), im engeren Sinn Wiedergabe eines einzigen, von Nebenhandlungen isolierten Geschehens in höchstmöglicher sprachlicher Verdichtung, meist mit düsterer Grundstimmung und tragischem Ausgang [. . .]. Dabei bleibt der epische Charakter der B. gewahrt, lyrische Form und dramatische Elemente (Dialog) sind ihm untergeordnet, aber wesentlicher Bestandteil. Goethe bezeichnet deshalb die B. als das ‹Ur-Ei› der Poesie, da der Balladendichter ‹sich aller drei Grundarten der Poesie . . . (bedient)›».

Weißert (1993, 16) erläutert das Zusammenwirken der drei großen Gattungen der Literatur in der Ballade durch eine Analyse ihrer strukturellen Merkmale. Die Anwesenheit eines auktorialen Erzählers sowie die meist einsträngige Handlung verbinde die Ballade mit der Novelle, die Dominanz der Szene gegenüber Bericht und Beschreibung sowie das «einerseits formal Ausschnitthafte, andererseits inhaltlich Abgeschlossene der Handlung» teile die Ballade mit dem Drama und zu ihren lyrischen Elementen zählten die für ihre Stimmung verantwortlichen klanglichen und rhythmischen Wirkungsmittel, Interjektionen, Refrains, Wiederholungen und Symbole. Ein Rezipient, der mit einer Ballade einen epischen Text im Sinne Kretschmanns verbindet, mit den von Weißert hervorgehobenen strukturellen Merkmalen vertraut ist und aufgrund des Titels Ballades en prose nicht mit Versen rechnet, wird diese Erwartungen in La Mort du Dauphin eins zu eins bestätigt finden. Daudet belässt es aber nicht beim generischen Titel, sondern stellt seinen beiden Ballades en prose zusätzlich einen Prolog voran, in dem er noch genauer auf die literarischen Vorbilder eingeht, in deren Tradition er La Mort du Dauphin und Le

62 Cf. die Definitionen von Ballade in: Weimar, Klaus, et al. (edd.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, vol. 1, Berlin/New York, de Gruyter, 1997, 192–196 und Lamping, Dieter (ed.), Handbuch der literarischen Gattungen, Stuttgart, Kröner, 2009, 37–45.

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Sous-préfet aux champs verfasst hat. Es sei daran erinnert, dass Daudet sich in seinen Lettres de mon moulin bewusst auf die europäische literarische Tradition bezieht und mit Gattungen und intertextuellen Verweisen spielt (cf. Wittmann 2010, l7s.; 268). Das wird im Prolog zu seinen Ballades en prose ganz besonders deutlich, der im Folgenden vollständig zitiert wird: «En ouvrant ma porte ce matin, il y avait autour de mon moulin un grand tapis de gelée blanche. L’herbe luisait et craquait comme du verre ; toute la colline grelottait . . . Pour un jour ma chère Provence s’était déguisée en pays du Nord ; et c’est parmi les pins frangés de givre, les touffes de lavandes épanouies en bouquets de cristal, que j’ai écrit ces deux ballades d’une fantaisie un peu germanique, pendant que la gelée m’envoyait ses étincelles blanches, et que là-haut, dans le ciel clair, de grands triangles de cigognes venues du pays d’Henri Heine descendaient vers la Camargue en criant : ‹Il fait froid . . . froid . . . froid›» (C, 314).

Durch die Ankündigung, zwei «germanisch inspirierte Balladen» verfasst zu haben, stimmt Daudet den Leser auf eine nordische Ballade ein, für die Dunkelheit, Grauen und Tod kennzeichnend sind und in der der Mensch mit Feind, Schicksal und Naturgewalt kämpft (cf. Woesler 2009, 43). Wittmann (2010, 268; 280) sieht in dem Prolog zu den beiden Ballades en prose weiterhin zu Recht einen Verweis auf die deutsche Romantik und ihr zentrales Thema der Naturnähe oder gar Allmacht der Natur, das tatsächlich im Zentrum beider Texte steht. Aber auch Henri Heine erwähnt Daudet nicht ohne Grund. Heine hat auch romantisch inspirierte Gedichte und Balladen verfasst, doch lässt er sich bekanntlich keiner literaturgeschichtlichen Epoche eindeutig zuordnen, und gerade sein Balladenwerk zeichnet sich durch eine große Variabilität hinsichtlich Stoff, Form und Ton aus (cf. Weißert 1993, 101). So hat er ganz ernst aufzufassende Balladen geschrieben, die eine ausgesprochene Nähe zur didaktischen Dichtung aufweisen (cf. ib., 11), einen geschlossenen Vorgang berichten und eine finale Wertung enthalten (cf. ib., 13) (z.B. Belsatzar), andererseits aber auch «ironisch humorige» (ib., 103) Balladen wie z.B. Die Nixen verfasst oder etablierte Balladenformen parodiert (cf. ib.). Verfügt der Rezipient des Prologs über dieses Wissen zu Heinrich Heine, so wird er die «exercice ludique de réécriture» (Wittmann 2010, 268) erwarten und würdigen können, die Daudet mit seinen beiden Prosaballaden unternimmt. Denn wenn beide im weitesten Sinne die Unterwerfung des Menschen unter die Allmacht der Natur thematisieren (cf. ib., 268), so zeichnet sich La Mort du Dauphin durch eine pathetisch-tragische Grundstimmung aus, schildert ein abgeschlossenes Ereignis und endet mit einer universellen Lehre (folgt damit also eher dem Modell von Belsatzar), während Le Sous-préfet aux champs in humorvoll-ironischem Ton einen sous-préfet vorstellt, der sich vom Zauber der Natur verführen lässt und

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auf dem Bauch im Grase liegend Verse dichtet anstatt seine Rede zu schreiben (erinnert somit eher an Die Nixen). Die Themen der parabelhaften Ballade La Mort du Dauphin sind Sterben und Tod, Hybris und die Korrektur der kindlichen Selbstüberschätzung durch den Priester des Hofes – allesamt typische Themen für eine nordische Ballade. Das Thema Sterben wird bereits durch den Titel und den ersten Satz der Ballade «Le petit Dauphin est malade, le petit Dauphin va mourir . . . » (C, 314) denkbar schnell und explizit etabliert und der entsprechende Frame im Verlauf der Erzählung durch viele weitere Filler und zahlreiche Wiederholungen der Lexeme mourir und la mort angereichert. Die Filler des Frames-Systems Trauer/Traurigkeit (tristes, silencieuses, éplorées, pleurer, baigné de larmes, sangloter, deux grosses larmes . . . ) sowie die weinend am Bett ihres Sohnes sitzende Königin evozieren die tragische Grundstimmung der Prosaballade. Die Hybris des Königskindes wird in seinen in direkter Rede angeführten Äußerungen, von denen im Folgenden einige zitiert werden, mehr als deutlich: «‹Ne pleurez donc pas, madame la reine ; vous oubliez que je suis le Dauphin, et que les Dauphins ne peuvent pas mourir ainsi . . .›» (C, 315). «‹ [. . .] mais enfin, est-ce que mon petit ami Beppo ne pourrait pas mourir à ma place, en lui donnant beaucoup d’argent ?. . .›» (C, 316). «‹[. . .] mais une chose me console, c’est que là-haut, dans le paradis des étoiles, je vais être encore le Dauphin . . . Je sais que le bon Dieu est mon cousin et ne peut pas manquer de me traiter selon mon rang›» (C, 316).

Zunächst nimmt der Dauphin also an, dass Kronprinzen nicht einfach sterben können. Dann will er den Tod mit Waffengewalt aufhalten, woraufhin der aumônier das erste Mal eindringlich mit ihm spricht. Anschließend schlägt er vor, mit dem Tod zu handeln und seinen Freund Beppo an seiner Stelle sterben zu lassen. Auch diese falsche Vorstellung wird in der Folge vom Priester korrigiert. Schließlich akzeptiert der Kronprinz, dass auch er sterben muss, glaubt aber, dass er im Himmelreich immer noch den Rang eines Dauphins innehabe. Als der Priester auch diese anmaßende Vorstellung revidiert, formuliert der kleine Kronprinz selbst die Lehre dieser parabelhaften Ballade: «Au milieu de son discours, l’enfant royal l’interrompt avec colère : ‹Mais alors, crie-t-il, d’être Dauphin, ce n’est rien du tout !› Et sans vouloir plus rien entendre, le petit Dauphin se tourne vers la muraille, et il pleure amèrement» (C, 316).

Wenngleich die korrigierenden Äußerungen des Priesters aufgrund eines elliptisch gestalteten Dialogs ausgespart werden und nur die jeweiligen Reaktionen des Kronprinzen explizit aufgeführt werden und auch wenn in Daudets Ballade der vanitas-Gedanke schließlich in origineller, bewusst naiver Form von Kindermund

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kundgetan wird, so ist doch die Lehre dieses Apologs hinreichend deutlich und unter Evokation von rudimentärem Wissen über das menschliche Leben und christliche Vorstellungen vom Tod eindeutig anzugeben: alle Menschen müssen sterben, der Tod lässt sich nicht auf Geschäftemachen ein (cf. van Ingen 1966, 67) und alles Irdische, auch Macht, Ehre und Reichtum sind eitel und vergänglich. Somit gestaltet sich die Komplexitätskategorie «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» in diesem Fall äußerst einfach, weil La Mort du Dauphin als Vertreter einer parabelhaft konzipierten Ballade auf eindeutige Entschlüsselung und die Übermittlung einer Lehre angelegt ist (cf. Weißert 1993, 77). Ein Rezipient, der über entsprechendes diskurstraditionelles Wissen verfügt, sollte also unter Hinzuziehung von fundamentalem Alltagswissen problemlos aus der finalen Äußerung des Kindes die soeben skizzierte Lehre über die universelle Sterblichkeit der Menschen und ihre Gleichheit vor Gott ziehen können und kann sich zudem aufgrund der Gattungszugehörigkeit des Textes auch sicher sein, dass er damit den Sinn des Textes hinreichend erfasst hat. Wie im Fall von La Main spiegelt also auch für La Mort du Dauphin der vergleichsweise geringe Wert 2 sowohl die Komplexität der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene als auch die Komplexität der mit dem Titel begonnenen und durch umfangreiche Frames geleisteten Etablierung der gattungstypischen Themen treffend wider. Als starker kognitiver Entlastungsfaktor und Komplexitätshemmer in Bezug auf die suppletive Kontextbildung, die Etablierung von Themen und die Interpretation wirkt schließlich auch die Zugehörigkeit von Zolas Naïs Micoulin und Maupassants La Parure zur literarischen Strömung des Naturalismus. In Kapitel 3.2.1 wurde am Beispiel von Naïs Micoulin bereits gezeigt, dass die naturalistische Ästhetik, die stark beeinflusst ist von Taines Theorie der Determinierung des Menschen durch race, milieu und moment (cf. Wanning 1998, 74), zwingend gekoppelt ist an eine unmittelbare, explizite, ausführliche sowie verlässliche und damit einfache suppletive Kontextbildung. Diese muss dem Leser die nötigen Informationen zu den Erbanlagen, zur Physiognomie, zum Charakter und zum sozialen Milieu der Figuren liefern, damit dieser in der Lage ist zu erfassen, wie diese Faktoren ihr Verhalten in bestimmten Situationen konditionieren. Um zu verstehen, inwiefern die naturalistische Ästhetik sich auch komplexitätshemmend auf die Kategorien der «Etablierung von Themen» und der «Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» auswirkt, müssen die Zielsetzungen und typischen Themen dieser literarischen Strömung des 19. Jahrhunderts nochmals kurz umrissen werden. Der Einfluss von Taines Anthropologie ist nur ein Aspekt der Wissenschaftlichkeit, einer der zentralen Säulen der naturalistischen Ästhetik. Darunter fällt auch der Glaube an die Möglichkeit, die Natur nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung erklären zu können, der Anspruch, wissenschaftlich

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gesicherte Details literarisch zu verarbeiten, die Übertragung der experimentellen Methode des Mediziners Claude Bernard auf die literarische Produktion (der Autor als observateur und expérimentateur) sowie der Verzicht auf Sentimentalität und Bewertung (cf. Wanning 1998, 70ss.). Weitere Schlüsselbegriffe des Naturalismus sind gemäß Wanning (1998) Gegenwartsbezug, Normalität, Tatsachen, Details und Engagement. Durch die Darstellung realer sozialer Verhältnisse streben die Naturalisten eine breite Bewusstseinsänderung an, die letztlich zu einer umfassenden Gesellschaftsveränderung führen soll (cf. ib., 71). Diese Überzeugungen und Zielsetzungen bedingen, dass die Naturalisten sich immer wieder mit den folgenden Themen auseinandersetzen: Lebensverhältnisse der basses classes, bürgerliche Dekadenz, psychologische Anomalien, moralischer Verfall in Ausnahmesituationen, Konfrontation verschiedener sozialer Milieus, Widerspruch von (moralischem) Sein und Schein (cf. ib., 72ss.). Die programmatische Integration wissenschaftlicher Methoden in die literarische Produktion beeinflusst weiterhin ganz wesentlich die Intention naturalistischer Texte, die vor allem die Wie-Frage beantworten wollen, was Asholt (2006, 233s.) auf prägnante Art erläutert: «[. . .] der Romancier [soll] als Beobachter und als derjenige, der ein Experiment durchführt, bestimmte Gesetze, insbesondere jene der Vererbung, und determinierende Faktoren, wie die des Milieus, stets beachten. [. . .] Der Autor soll unterschiedliche Möglichkeiten (Versuchsanordnungen) durchspielen, die sich aus seinem Material (der Dokumentation) ergeben, und sich dann für ein Modell entscheiden [. . .]. Das Milieu und die mit ihm gegebenen oder aus ihm resultierenden Fakten bilden die Grundlage der Versuchsanordnung und die Basis für eine Hypothese, die an Hand der durch ihre Erbanlagen weitgehend konditionierten romanesken Figuren entwickelt und überprüft wird. Der Autor soll keine Antwort auf das ‹Warum› geben, sondern das ‹Wie› der Dinge und Situationen zeigen».

Diese Verzahnung von Wissenschaftlichkeit, typischen Themen, Gegenwartsbezug und Engagement vermag sowohl die in naturalistischen Werken häufig anzutreffende leichte und explizite Etablierung von Themen durch zügige Instantiierung entsprechender Frames und Frame-Systeme sowie den verhältnismäßig geringen Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene zu erklären. Der wissenschaftliche Anspruch verlangt, das soziale und regionale Milieu der Figuren, das die «Grundlage der Versuchsanordnung» und «Basis für eine Hypothese» (ib., 233) bildet, von Beginn an offenzulegen. Gleichzeitig stellen die Lebensbedingungen der unterschiedlichen sozialen Klassen, die soziale Determinierung, die Konfrontation unterschiedlicher Milieus die zentralen Themen der Werke und den Angriffspunkt für Gesellschaftskritik dar. Der Leser naturalistischer Werke wird somit in der Regel im Rahmen eines incipit statique oder progressif (cf. Del Lungo 2003) oft sehr rasch, auf jeden Fall aber in expliziter Form mit den Determinanten des fiktionalen Universums, dem sozialen Milieu

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der Figuren, der Situation, in der sich die Macht der sozialen oder biologischen Determinierung zeigt, und somit gleichzeitig auch mit den Themen des Textes vertraut gemacht. Und weil der Autor «wissenschaftlich gesicherte Details» (Wanning 1998, 75) neu kombinieren soll, ist auch nicht damit zu rechnen, dass Frame-Brüche oder Erwartungsbrüche die Komplexität der Kategorie «Frames/ Frame-Systeme & die Etablierung der Themen» erhöhen. In Kapitel 3.2.1 wurde am Beispiel von Naïs Micoulin gezeigt, dass der Leser von Beginn an mit allen nötigen Fakten ausgestattet wird, um das zentrale Thema der Novelle (eine Leidenschaft zwischen zwei Menschen, die sich niemals kennen werden, cf. Ripoll 1976, 1528) zu erfassen und um zu verstehen, wie es zu dem dramatischen Verlauf der Handlung (ein Vater versucht, den Liebhaber seiner Tochter zu töten, und wird schließlich von dieser umgebracht) kommen musste. Durch dieses Verstehen von Ursache und Wirkung hat der Rezipient gleichzeitig einen wesentlichen Teil der Textbedeutung erschlossen. Der Interpretationsaufwand ist somit als eher gering einzuschätzen, weil die Naturalisten eben keine Antwort auf das Warum geben wollen, sondern am naturgesetzlichen Wie der Ereignisse interessiert sind (cf. Asholt 2006, 234). Auch wenn in ihren Werken diese Wie-Frage in der Regel nicht explizit beantwortet wird, erhält der Leser doch alle nötigen Fakten, um sie sich selbst zu beantworten. Wenn der Rezipient zudem im Zuge der Lektüre die reale Determinierung des Menschen durch sein soziales Milieu durchschaut, die im Fall von Naïs Micoulin ein selbstbestimmtes und glückliches Leben unmöglich macht, dann mag es auch zu der intendierten Bewusstseinsänderung und langfristig womöglich zu einer Gesellschaftsveränderung kommen. In Maupassants naturalistischer nouvelle à chute La Parure wirkt sich der diskurstraditionelle Entlastungsfaktor auf die Kategorien «Frames/Frame-Systeme und die Etablierung von Themen» sowie «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» fast noch etwas deutlicher aus. Das liegt daran, dass La Parure einen incipit statique und nicht wie Naïs Micoulin einen incipit progressif aufweist und noch zügiger mit der Vermittlung zentraler Fakten für die «Versuchsanordnung» und der Etablierung der Themen beginnt. Der Erzähler liefert mit seinem Porträt der Protagonistin und der Einschätzung, dass ein sozialer Aufstieg für eine Frau aus bescheidenen sozialen Verhältnissen in der damaligen Zeit nahezu unmöglich ist, tatsächlich bereits im Incipit ein zentrales Thema und einen möglichen Interpretationsansatz für die nachfolgende Geschichte. Bevor dies am Text verdeutlicht wird, soll jedoch kurz der Inhalt dieser psychologischen Novelle Maupassants rekapituliert werden. La Parure schildert das tragische Schicksal von Mathilde Loisel, einer Frau aus dem Pariser Kleinbürgertum, und weist zahlreiche Analogien zu Flauberts Roman Madame Bovary (1857) auf. Mathilde leidet ebenso wie Emma Bovary an der Diskrepanz zwischen ihrem niederen sozialen Rang und ihren naturgegebenen

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Reizen und fühlt sich deklassiert. Ihre überbordende Phantasie, mit der sie sich ein aufregendes und luxuriöses Leben ausmalen kann, steigert ihre Unzufriedenheit zusätzlich. Ihren größten Triumph erlebt sie beim Ball des Unterrichtsministeriums, wo sie die schönste von allen ist und große Bewunderung erfährt. Auf diesen Höhepunkt ihres Glücks folgt jedoch ein stetiger Niedergang. Für den Ball hatte Mathilde sich bei ihrer reichen Freundin Mme Forestier ein Diamantkollier ausgeliehen, das sie auf dem Rückweg verliert. Für den Kauf eines identischen Schmuckstückes, das Mathilde ihrer Freundin zurückgibt, ohne ihr Missgeschick und die Ersetzung zuzugeben, muss das Ehepaar Loisel sich hoffnungslos verschulden. Innerhalb von zehn entbehrungsreichen Jahren gelingt es ihnen jedoch, ihre Schulden abzubezahlen. Mathilde nimmt dieses harte Schicksal heldenhaft an, büßt in Folge der schweren Arbeit aber ihre Schönheit und Jugend ein. Eines Sonntags begegnet sie bei einem Spaziergang Mme Forestier, erzählt ihr, nun da alle Schulden getilgt sind, von dem Verlust der Kette und dem durchstandenen Leid und muss von ihrer schockierten Freundin erfahren, dass die geliehene Kette unecht und höchstens 500 Francs wert war. Ein Rezipient, der mit den oben vorgestellten grundlegenden Aspekten der naturalistischen Ästhetik vertraut ist, wird aufgrund des gattungstypischen Erzählauftaktes, eines ausführlichen Porträts der Protagonistin, sofort das Textsortenschema naturalistische Erzählung öffnen, die Wichtigkeit der Informationen über Mme Loisels soziales Milieu, ihre Attraktivität und ihren Charakter erkennen und sie für das Verständnis und die Interpretation der im Folgenden präsentierten Ereigniskette zu nutzen wissen. Das (im Anschluss zitierte, leicht gekürzte) Porträt von Mathilde Loisel ordnet die weibliche Hauptfigur unter Verwendung der bei Maupassant und zuvor bereits bei Balzac häufig anzutreffenden Wendung c’était un/e de ces . . . einem sozialen Typ zu (cf. Blüher 1976, 191) und führt ihr Unglück einerseits auf eine hermetische Abgeschlossenheit der gesellschaftlichen Schichten der damaligen Zeit, andererseits auf Aspekte ihrer Persönlichkeit zurück: «C’était une de ces jolies et charmantes filles, nées, comme par une erreur du destin, dans une famille d’employés. Elle n’avait pas de dot, pas d’espérances, aucun moyen d’être connue, comprise, aimée, épousée par un homme riche et distingué ; et elle se laissa marier avec un petit commis du ministère de l’Instruction publique. Elle fut simple, ne pouvant être parée ; mais malheureuse comme une déclassée ; car les femmes n’ont point de caste ni de race, leur beauté, leur grâce et leur charme leur servant de naissance et de famille. Leur finesse native, leur instinct d’élégance, leur souplesse d’esprit, sont leur seule hiérarchie, et font des filles du peuple les égales des plus grandes dames. Elle souffrait sans cesse, se sentant née pour [. . .] tous les luxes. Elle souffrait de la pauvreté de son logement, de la misère des murs, de l’usure des sièges, de la laideur des étoffes. Toutes ces choses dont une autre femme de sa caste ne se serait même pas aperçue, la torturaient et l’indignaient. [. . .] Elle songeait aux antichambres muettes, capitonnées

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avec des tentures orientales, éclairées par de hautes torchères de bronze [. . .]. Elle songeait aux grands salons vêtus de soie ancienne, aux meubles fins [. . .] et aux petits salons coquets, parfumés, faits pour la causerie de cinq heures avec les amis les plus intimes, les hommes connus et recherchés dont toutes les femmes envient et désirent l’attention. [. . .] Elle n’avait pas de toilette, pas de bijoux, rien. Et elle n’aimait que cela ; elle se sentait faite pour cela. Elle eût tant désiré plaire, être enviée, être séduisante et recherchée. Elle avait une amie riche, une camarade de couvent qu’elle ne voulait plus aller voir, tant elle souffrait en revenant. Et elle pleurait pendant des jours entiers, de chagrin, de regret, de désespoir et de détresse» (Pa, 1198s.).

Das Incipit liefert somit bereits die gattungstypischen Informationen zum sozialen Milieu der Protagonistin (Ehefrau eines kleinen Angestellten), zu ihren naturgegebenen Reizen (Schönheit, Charme, Anmut, Sinn für Eleganz . . . ) sowie zu ihrem Charakter. Mathilde ist unglücklich, leidet unter der Ärmlichkeit ihrer Behausung, der Schlichtheit ihrer Kleidung und der fehlenden Zerstreuung. Sie leidet umso mehr unter ihrer gesellschaftlichen Situation, als sie das Gefühl hat, aufgrund ihrer körperlichen Reize Luxus, Bewunderung und Ansehen verdient zu haben. Das Incipit deutet somit ebenfalls an, dass Mathilde oberflächlich, eitel und neidisch ist. Im weiteren Verlauf der Handlung treten auch ihr Stolz und ihr Narzissmus deutlich zum Vorschein. Mit diesen Fakten zur Person, deren determinierende Funktion im weiteren Verlauf der Ereignisse zu beobachten sein wird, werden aber gleichzeitig auch zentrale Themen der Novelle etabliert: Leiden an der niederen sozialen Stellung und der Unmöglichkeit ihr zu entkommen, die Verknüpfung von Reichtum und Glück einerseits und Armut und Unglück andererseits (cf. Wanning 1998, 97). Die zuletzt genannte Verknüpfung wird bereits im Erzählauftakt explizit verbalisiert (elle souffrait de la pauvreté de son logement), diejenige von Reichtum und Glück wird im weiteren Verlauf des Geschehens, z.B. bei der Anprobe des Diamantkolliers, deutlich. Die entsprechenden assoziativen Frame-Systeme, die die Erzählung durchziehen, werden ebenfalls bereits von Beginn an etabliert, was die folgenden Lexeme des Incipits beweisen:

Tab. 35: Erste Filler der Frame-Systeme Reichtum/Luxus und Armut/ärmliches Aussehen. Reichtum/Luxus

riche, parée, les délicatesses, les luxes, de hautes torchères de bronze, soie ancienne, meubles fins, bibelots inestimables, dîners fins, des vaisselles merveilleuses, la chair rose d’une truite ou des ailes de gelinotte, bijoux

Armut/ärmliches Aussehen

simple, une déclassée, la pauvreté, la misère, l’usure des sièges, la laideur des étoffes, une nappe de trois jours, le pot-au-feu

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

391

Wie oben bereits erläutert, verliert Mathilde das geliehene Kollier auf dem Rückweg vom Ball und statt ihrer Freundin den Verlust zu gestehen, ersetzt sie die Kette. Dafür muss das Ehepaar Loisel sich hoffnungslos verschulden, zehn Jahre lang schuften und seinen Lebensstandard empfindlich senken, um am Ende dieser Leidenszeit zu erfahren, dass die verlorene Kette unecht und das ganze Leiden umsonst war. Die chute steigert somit Mathildes Unglück ins Unermessliche, macht es zum bitteren Produkt kleiner Missgeschicke und folgenschwerer Fehlentscheidungen. Wie es die naturalistische Ästhetik vorschreibt, unterlässt der Erzähler von La Parure jegliche Bewertung des Geschehens, aber natürlich fordert insbesondere die chute den Rezipienten dazu auf, über das tragisch-absurde Schicksal Mathildes nachzudenken, Ursachen und Verantwortlichkeiten zu ermitteln. Was die Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene im Fall von La Parure leicht macht, ist nun aber gerade die größtenteils explizite, mitunter (z.B. hinsichtlich Mathildes Charakter) auch implizite Angabe der Fakten der Versuchsanordnung. Bereits im Incipit liefert der Erzähler Gründe dafür, Mathilde als Opfer der gesellschaftlichen Ungleichkeit und des zeitgenössischen «Kastensystems» (les femmes n’ont point de caste ni de race) zu betrachten (cf. Viegnes 1996, 61), wenn er ausführt, dass Mathilde aufgrund ihrer bescheidenen Geburt nicht die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg hatte, sie aber aufgrund ihrer angeborenen Reize, ihrer Schönheit und Anmut an der Spitze der durch diese Attribute gebildeten Hierarchie innerhalb des weiblichen Geschlechts steht. Auch der Vergleich mit Mme Forestier macht Mathildes Leiden an ihrem bescheidenen Leben verständlich: beide Frauen habe dieselbe Erziehung genossen und sind von der Natur mit ähnlichen Reizen ausgestattet worden, aber nur die eine führt aufgrund ihrer Abstammung ein luxuriöses Leben. Der Erzähler liefert uns aber auch zahlreiche Gründe dafür, Mathilde als ein Opfer ihrer selbst zu betrachten, ihrer Eitelkeit, ihres Stolzes, ihres Narzissmus und ihrer Oberflächlichkeit (cf. ib., 77). Weil sie unter den reichen Besuchern des Balls nicht unangenehm auffallen wollte, hat Mathilde sich ein Diamantkollier bei ihrer Freundin geliehen und am Ende des Balls hat sie sich übertrieben beeilt, damit niemand sie in ihrem ärmlichen Mantel sieht. Im Zuge dieser Eile hat sie vermutlich die Kette verloren. Und ihr Stolz hat sie davon abgehalten, den Verlust des Kolliers ihrer Freundin zu gestehen: dieses einfache Geständnis hätte aber ihren sozialen Absturz und den Verlust von Schönheit und Jugend vermeiden können. Schließlich legt der Erzähler der Protagonistin auch noch eine dritte Interpretationsmöglichkeit in den Mund: die Reflexion über verschiedene «Versuchsanordnungen» des Lebens und die resultierende Einsicht, dass es oftmals kleine Schaltstellen sind, die über Lebensglück oder Unglück entscheiden:

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

«Mais parfois [. . .] elle s’asseyait auprès de la fenêtre, et elle songeait à cette soirée d’autrefois, à ce bal où elle avait été si belle et si fêtée. Que serait-il arrivé si elle n’avait point perdu cette parure ? Qui sait ? qui sait ? Comme la vie est singulière, changeante ! Comme il faut peu de chose pour vous perdre ou vous sauver !» (Pa, 1205).

Gemäß Blüher (1976, 197) verstärkt die chute die in diesem Zitat zum Ausdruck kommende Sicht aufs Leben und zeichnet letztlich «eine sich im absurden Zufall manifestierende blinde Fatalität» für Mathildes Ruin verantwortlich. Fest steht jedoch, dass der Erzähler keine derartige Bewertung vornimmt, dafür aber zahlreiche explizite Fakten, eindeutig zu inferierende implizite Charakterisierungen und auch stilistische Hinweise (cf. Kapitel 4.4.2) liefert, um diese naturalistische nouvelle à chute zu interpretieren und entweder die hermetische Abgeschlossenheit der Klassengesellschaft zu kritisieren, biologisch-charakterliche Determinierungen am Werke zu sehen oder blinde Fatalität für das zerstörte Leben der Protagonistin verantwortlich zu machen. Diese Bandbreite und Uneindeutigkeit möglicher Bewertungen steigert zwar einerseits die Komplexität der Novelle, die zahlreichen genannten und in der Gattungslogik liegenden Hinweise für die jeweiligen Lesarten reduzieren aber wiederum den «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene». Tabelle 36 gibt nochmals einen Gesamtüberblick über die vier untersuchten Novellen und die aufgrund von Gattungsvorgaben geringen Komplexitätswerte in den vier zuletzt aufgeführten Bereichen, was gerade für die Kategorien «Frames/ Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» sowie «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» auffällig und bemerkenswert ist. Ihre Komplexitätswerte fallen nämlich bei den meisten übrigen Korpustexten deutlich höher aus und die geringe Komplexität in diesen zentralen Bereichen stellt eine deutliche Entlastung der Rezeption dar. Tab. 36: Überblick: Komplexitätswerte in den betrachteten Kategorien. La Main

La Mort du Dauphin

Naïs La Micoulin Parure

Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen



–





Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen









Komplexität in Bezug auf die suppletive Kontextbildung







–

Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen







–

Aufwand der Bedeutungserschließung der . semiotischen Ebene





–

–

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

393

Diese Entlastung, die sich aus der prototypischen Umsetzung einer bestimmten Diskurstradition ergibt und sich im Aufbau und der Bestätigung von Erwartungen, der Festlegung von Verstehensebenen, Funktionsweisen und Werkintentionen niederschlägt, kann aber natürlich nur dann wirksam werden, wenn der Rezipient über das entsprechende Gattungswissen verfügt. Aus Sicht eines Lesers, der dieses Expertenwissen nicht parat hat, würden sich die Komplexitätswerte in den oben aufgeführten Kategorien ganz anders darstellen. Wem die Gattung der conte fantastique unbekannt ist, der wird nicht wissen, wie er die unauflösbare Ambiguität dieses Genres zu deuten hat. Wer keinerlei Kenntnisse zur Ästhetik und den Zielsetzungen des Naturalismus hat, dem dient das typische Porträt der Protagonistin im Erzählauftakt nicht als erwartbarer Interpretationsschlüssel und der weiß wohl auch nicht, dass es dem Autor um die Analyse der Wie-Frage geht, für deren Beantwortung er dem Rezipienten zahlreiche Hinweise bezüglich race, milieu und moment der Figuren zur Verfügung stellt. Auf der Grundlage des hier entwickelten Modells zur Analyse von Komplexität mit seinen vier Wissenskategorien liegt bei den in diesem Abschnitt untersuchten Erzählungen aber Komplexität vor, die durch Expertenwissen diskurstraditioneller Art gemindert werden kann, weshalb nur die entsprechende Wissenskategorie deutlich erhöhte Komplexitätswerte aufweist (cf. fett gedruckte Ziffern). Gerade weil die drei beteiligten Genres relativ stark normiert sind und auf diese Weise dem kundigen Rezipienten Orientierungspunkte für ihre Rezeption liefern, sind sie auch als relativ komplex zu betrachten: sie beeinflussen und formen damit offensichtlich zahlreiche interne Strukturen und externe Bezugsfelder von Texten (cf. Schrott 2015, 106), was in Kapitel 2.1.2 als ein zentraler Faktor diskurstraditioneller Komplexität identifiziert wurde. Als literarische Genres bilden sie zudem eine größere Konfiguration von Diskurstraditionen, beruhen auf einer definitorischen Setzung und auch der Grad der kulturellen Spezifizierung ist in allen drei Fällen als recht hoch einzuschätzen. Mit naturalistischen Texten, insbesondere von Zola, wird jeder französische Schüler in Berührung gekommen sein, ob man dadurch allerdings den zentralen Aspekt der Wissenschaftlichkeit verinnerlicht hat, sei dahingestellt. Für die fantastische Literatur des 19. Jahrhunderts wurde bereits in Kapitel 3.1 festgestellt, dass sie sicherlich eher einem kleinen Rezipientenkreis geläufig ist. Mit Balladen ist zweifelsohne jeder deutsche und französische Schüler konfrontiert worden, doch steht La Mort du Dauphin ja zusätzlich in der Tradition einer speziellen Untergattung, einer parabelhaften nordischen Ballade, und eines speziellen Balladendichters, nämlich Heine, was offensichtlich ein sehr differenziertes Gattungswissen und literaturhistorische Kenntnisse verlangt. Demzufolge sind die Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen der Rezipienten bei

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

allen vier besprochenen Werken als mittel bis hoch einzustufen (cf. Tabelle 36). Was die in diesem Kapitel thematisierten Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität betrifft, ist bei den vier untersuchten Texten also eine diskurstraditionell bedingte Reduktion von Komplexität in mehreren zentralen Bereichen festzustellen, die allerdings durch einen relativ hohen Komplexitätswert hinsichtlich des diskurstraditionellen Wissens zu bezahlen ist. 3.4.1.2 Die auktoriale Erzählsituation als Quelle von Einfachheit Bekanntlich müssen in Erzählungen grundsätzlich zwei Ebenen unterschieden werden: die Ebene der dargestellten Welt (die Geschichte) und die Ebene der Vermittlung. Die Vermittlungsebene (bzw. Erzählsituation) wird vom narrativen Diskurs eingenommen, welcher die Rede einer Erzählerfigur simuliert, die der implizit oder explizit angesprochenen Leserfigur (narrataire) die Geschichte erzählt (cf. Fludernik 2006/2010, 32). Die Gestaltung dieser Erzählsituation beeinflusst die Komplexität einer Erzählung, kann also auch für die ausgeprägte Einfachheit bestimmter Komplexitätskategorien verantwortlich zeichnen, was im Folgenden begründet und illustriert werden soll. Eine spezifische Ausgestaltung der Erzählsituation ist oftmals ein Charakteristikum bestimmter literarischer Epochen oder Textgattungen. Sie soll im Folgenden aber als isolierte narratologische Kategorie bzw. Diskurstradition untersucht werden, deren Einfluss auf die Komplexität in unterschiedlichen Textgattungen wirksam werden kann. Eine Ursache für Einfachheit hinsichtlich mehrerer der hier zugrundegelegten Komplexitätskategorien ist oftmals eine auktoriale Erzählsituation nach Stanzel (2008) bzw. gemäß Genettes (1998/2010) Erzähltheorie ein heterodiegetischer Erzähler in Verbindung mit einer dominierenden Nullfokalisierung und einem retrospektiven Zeitpunkt des Erzählens. Stanzel definiert die auktoriale Erzählsituation primär durch die Vorherrschaft einer Allwissenheit suggerierenden Außenperspektive und sekundär durch die Anwesenheit einer Erzählerfigur sowie die Nichtidentität der Seinsbereiche von Erzähler und Figuren (cf. Martínez/Scheffel 1999/2012, 96; Stanzel 2008, 81). Der letztgenannte Aspekt definiert gerade einen heterodiegetischen Erzähler nach Genette. Die Nullfokalisierung impliziert ihrerseits eine uneingeschränkte Perspektive bzw. Übersicht und einen Erzähler, der mehr weiß als irgendeine der Figuren weiß bzw. wahrnimmt (cf. Martínez/Scheffel 1999/2012, 67). Sie deckt sich somit im Wesentlichen mit dem von Stanzel angeführten Charakteristikum einer Allwissenheit suggerierenden Außenperspektive. Fludernik (2006/2010, 106s.) erläutert die auktoriale Erzählsituation und die Möglichkeiten, die sie bietet, folgendermaßen:

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

395

«[. . .] eine mehr oder weniger prominente Erzählerfigur, die das Vertrauen des Lesers genießt, [berichtet] über die fiktionale Welt [. . .], der der Erzähler nicht angehört und ‹über› der er sozusagen steht. So ein Erzähler eignet sich oft den Habitus des Historikers oder des Chronisten an – er schwebt quasi über den Dingen und blickt kundig auf sie herab. Alles traditionelle Erzählen [. . .] ist [. . .] ‹auktorial›, denn überall hier gibt es einen Erzähler, der aus einer distanzierten Sicht über die Ereignisse und eine Welt berichtet, in der er selbst (und oft auch seine Zuhörer) nicht lebt. Diese Distanz erlaubt es dem Erzähler, über später eintretende Ereignisse schon im vorhinein Andeutungen zu machen [. . .], und er ist imstande, mehrere Schauplätze, Zeitebenen und Personengruppen miteinander zu vergleichen [. . .]. Zudem hat der auktoriale Erzähler im Roman das Privileg, in das Bewusstsein seiner Figuren blicken zu können, muss dieses Privileg jedoch nicht nützen. Der auktoriale Erzähler steht also wie ein Gott über der Welt, sieht und weiß alles, auch wenn er nicht alles mitteilt, was er weiß [. . .]».

Im Folgenden ergänzt Fludernik (2006/2010), dass der auktoriale Erzähler sich als Autor geriert, zuverlässig ist, die Zeit-, Ort- und Figurenabfolge «managt» (cf. ib., 106) und Aufschluss über die Motive der Charaktere liefert, indem er eine Innensicht der Figuren bietet (cf. ib., 126). Schließlich kann der auktoriale Erzähler alle denkbaren Funktionen der Erzählinstanz übernehmen, insbesondere auch eine kommentierende und erklärende Funktion. Diese Kompetenz ermöglicht ihm, die Ursachen für Ereignisse zu klären, sie z.B. auf politische oder soziale Umstände zurückzuführen, und die Motivation der Figuren zu deuten. Gemäß Fludernik (2006/2010, 37s.) dienen solche Erklärungen und Bewertungen ebenso wie allgemein gültige Aussagen des Erzählers im gnomischen Präsens «der Erstellung eines Normensystems, das die Interpretation des Textes durch den Leser erleichtern soll». Diese Charakterisierung der auktorialen Erzählsituation bzw. der Präsenz eines heterodiegetischen Erzählers mit dominierender Nullfokalisierung liefert bereits wesentliche Begründungen dafür, dass eine solche Gestaltung der Erzählsituation tendenziell gering ausgeprägte Komplexität hinsichtlich der Kategorien «suppletive Kontextbildung», «Kohäsion & lokale Kohärenz», «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen», «Leerstellen/Aussparungen», «Umgang mit den Grice’schen Maximen» und mitunter auch hinsichtlich des «Aufwandes der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» sowie der «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» mit sich bringt. Da, wie oben angeführt, der auktoriale Erzähler seine zahlreichen Privilegien allerdings nicht nutzen muss, ist die Einfachheit in den genannten Kategorien nicht zwingend. Unsere vier Korpustexte mit einer auktorialen Erzählsituation – erwartbarerweise die Korpustexte des 19. Jahrhunderts, also die in 3.4.1 bereits thematisierten naturalistischen Novellen Naïs Micoulin und La Parure sowie La Mort du Dauphin und La Chèvre de M. Seguin aus

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Daudets Lettres de mon moulin – weisen aber in den meisten der soeben genannten Kategorien gering ausgeprägte Komplexität auf.63 Da der auktoriale Erzähler der Leserfigur eine Geschichte erzählt, die sich in einer fiktionalen Welt ereignet hat, der weder er noch der narrataire angehören, ist es geradezu selbstverständlich, dass er im Allgemeinen die Grice’schen Maximen befolgt und gerade am Erzählauftakt in Einklang mit der Quantitätsmaxime seine Übersicht dazu verwendet, die Leserfigur in ausführlicher und verlässlicher Form in dieser fiktionalen Welt zu orientieren, bevor er mit dem Bericht der eigentlichen Handlung beginnt. Fludernik (2006/2010, 55) konstatiert, dass Texte im Erzählermodus häufig mit einem emischen Textanfang nach Harweg (1968) beginnen, also Figuren und Lokalitäten mit einem indefiniten Artikel und einer Klassifikationsformel (cf. «une petite fille, brune de peau, avec des cheveux noirs embroussaillés», N, 741) einführen, dem Leser somit als ihm unbekannt signalisieren und in der Folge die indefinite Bezeichnung mit bestimmtem Artikel und/oder Namensnennung konkretisieren. Der emische Textbeginn impliziert weiterhin eine leserorientierte Exposition, die wichtige Informationen (Zeit, Ort, soziale Stellung der Protagonisten) bereitstellt (cf. Fludernik 2006/2010, 108). Diese Eigenschaft teilt er mit dem incipit statique und dem incipit progressif in Del Lungos (2003) Klassifikation, die sich beide durch informative Sättigung auszeichnen und ebenfalls als dominierende Modelle des Textanfangs des 19. Jahrhunderts mit einer auktorialen Erzählsituation korrelieren (cf. Del Lungo 2003, 177ss.). Natürlich muss nicht bei allen Erzählungen mit einer auktorialen Erzählsituation die suppletive Kontextbildung derart explizit und ausführlich erfolgen wie in Naïs Micoulin (cf. Kapitel 3.2.1) oder La Parure, wo die Zielsetzungen des Naturalismus charakterliche, physiognomische, soziale und geographisch-kulturelle Angaben zu den Figuren erfordern. Aber auch in der Fabel La Chèvre de M. Seguin und der Prosaballade La Mort du Dauphin, wo das fiktionale Universum rund um die recht unvermittelt eingeführten titelgebenden Protagonisten aufgebaut wird und keine explizite Verankerung in der Realität stattfindet, erhält der Leser ausreichend viele und klare Informationen,

63 Die naturalistischen Forderungen nach Wissenschaftlichkeit und Beantwortung der Wie-Frage und die resultierende Einfachheit zentraler Kategorien wären ohne Rückgriff auf die auktoriale Erzählsituation kaum zu erreichen. Das typische Schwanken zwischen einer rationalen und einer übernatürlichen Erklärung des zentralen Ereignisses in fantastischen Erzählungen hingegen kann durch einen homodiegetischen Erzähler wohl einfacher transportiert werden als durch einen allwissenden auktorialen Erzähler. Stark normierte Gattungen korrelieren also nicht automatisch mit einer auktorialen Erzählsituation, aber bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominiert in Erzählungen und Romanen die auktoriale Erzählsituation (cf. Genette 1998/2010, 215s.).

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

397

um sich in der Welt der Geschichte zu orientieren. In allen vier Korpustexten fällt somit zunächst einmal die suppletive Kontextbildung einfach aus (Komplexitätswerte 1–2). Die ordnende Sicht des aus zeitlicher Distanz schreibenden auktorialen Erzählers wirkt sich auf weitere Aspekte der Textkohärenz komplexitätshemmend aus, nämlich auf die Kategorien «Kohäsion & lokale Kohärenz» sowie «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen». Die gesamte Architektur auktorialer Texte folgt nachvollziehbaren Kriterien, wie z.B. der Chronologie der Ereignisse auf der intradiegetischen Ebene, den Prinzipien von Ursache und Wirkung oder einer sukzessiven Verengung der Perspektive mit finaler Konzentration auf die Hauptfigur u.ä. So beginnt beispielsweise der auktoriale Erzähler von La Mort du Dauphin seine Erzählung unmittelbar mit dem zentralen Ereignis seiner Geschichte: «Le petit Dauphin est malade, le petit Dauphin va mourir . . .» (C, 314). Dann berichtet er dem Leser, welche Auswirkungen diese Nachricht auf das gesamte Reich, auf die Stimmung in der Residenzstadt, auf das Treiben am Hof und schließlich auf den König hat, bevor er uns mitnimmt ins Zimmer des kleinen Kronprinzen, an dessen Bett die weinende Königin sitzt und der zentrale Dialog zwischen dem Kronprinzen und dem Priester des Hofes stattfindet. Im Stil einer Kamera verengt der Erzähler also stetig die Perspektive, bevor er letztlich ganz nah an das kranke Kind «heranzoomt», was die globale und lokale Kohärenz seines Textes unterstützt. Ein ähnlich klarer Aufbau begegnet uns in Maupassants La Parure. Diese naturalistische Novelle ist in sieben typographisch abgesetzte und thematisch einheitliche Abschnitte unterteilt. Der erste Abschnitt beinhaltet beispielsweise das oben bereits vorgestellte ausführliche Porträt der Protagonistin und der zweite Abschnitt liefert den Handlungsimpuls – die Einladung zum Ball des Unterrichtsministeriums. Die weitere Erzählung respektiert die Chronologie der Ereignisse auf der intradiegetischen Ebene, weist zunächst eine ansteigende Handlungskurve auf, die ziemlich genau in der Mitte des Textes mit Mathildes Triumph beim Ball ihren Höhepunkt erreicht und dann in mehreren Stufen steil abfällt. Der Tiefpunkt von Mathildes Unglück wird in der chute erreicht, als sie erfahren muss, dass ihre Schulden sowie ihre zehnjährige Plackerei völlig unnötig waren, weil die verlorene Kette unecht war (cf. Blüher 1976, 191ss.). Neben diesen wohl überlegten und leserfreundlichen Textaufbauten unterstützt ein weiteres Privileg des auktorialen Erzählers, das aus seiner Übersicht und der zeitlichen Distanz seines Schreibens erwächst, die Einfachheit derjenigen Komplexitätskategorien, die die Kohärenz und die Etablierung der Themen betreffen. Häufig kündigt oder deutet der auktoriale Erzähler nämlich an, was eine Figur seiner Geschichte im Folgenden zu tun gedenkt oder wie die weitere Handlung verlaufen wird, was entsprechende Erwartungen beim Leser aufbaut,

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

die aufgrund der charakteristischen Zuverlässigkeit des auktorialen Erzählers in der Regel auch bestätigt werden. Solche Ankündigungen, die nur ein einmaliges Durchlaufen von Minskys Abgleichprozess (cf. Minsky, 1974, 2s.) erfordern und somit die Rezeption eines Textes spürbar erleichtern, finden sich in gehäufter Form in La Chèvre de M. Seguin sowie Naïs Micoulin. In Daudets Text kündigt der Verfasser des Briefes an Pierre Gringoire seinem Adressaten explizit an, ihm aus didaktischen Gründen die Geschichte von M. Seguins Ziege erzählen zu wollen, und das gattungstypische Anwendungssignal – «Tu verras ce que l’on gagne à vouloir vivre libre» (C, 260) – deutet bereits den für die Ziege ungünstigen Handlungsverlauf an. Auch die weiteren, die Fabel unterbrechenden direkten Adressatenansprachen machen sowohl den narrataire als auch den empirischen Leser auf das tragische Ende der kleinen Ziege gefasst und stärken somit die globale Kohärenz der Erzählung: «Tu ris Gringoire ? Parbleu ! Je crois bien ; tu es du parti des chèvres, toi, contre ce bon monsieur Seguin . . . Nous allons voir si tu riras tout à l’heure» (C, 262).

In Zolas Novelle Naïs Micoulin deutet der auktoriale Erzähler die mörderischen Absichten des alten Micoulin sowie seiner Tochter und die heimtückische Art und Weise ihrer Umsetzung frühzeitig an. Eines Nachts sucht Naïs’ Vater mit einer Axt bewaffnet nach seiner verschwundenen Tochter und findet Naïs und Frédéric schlafend unter den Olivenbäumen. Der auktoriale Erzähler, der Einblick in das Bewusstsein des Alten hat, übermittelt dem Leser die Gefühle und Pläne, die dieser Anblick in Micoulin auslöst: «Un léger cri lui échappa, il venait de reconnaître le jeune maître. Non, non, il ne pouvait le tuer ainsi : le sang répandu sur le sol, qui en garderait la trace, lui coûterait trop cher. Il se releva, deux plis de décision farouche coupaient sa face de vieux cuir, raidie de rage contenue. Un paysan n’assassine pas son maître ouvertement, car le maître, même enterré, est toujours le plus fort» (N, 759).

Diese Innensicht Micoulins, die Überzeugung, dass ein Bauer sich nicht als Mörder seines Pachtherrn zu erkennen geben darf, sowie der Hinweis auf den wilden Entschluss, der sich auf Micoulins Gesicht abzeichnet, legen dem Leser unmittelbar den Verdacht nahe, dass der Alte im Folgenden versuchen wird, Frédéric heimtückisch umzubringen – ein Verdacht, der durch den Fortgang der Erzählung bestätigt wird. Was seine Tochter Naïs betrifft, so weiß der Leser aufgrund von expliziten Aussagen wie z.B. «Si j’avais un mari comme ça, je le tuerais.» (N, 748), dass sie für ihren gewalttätigen und kontrollsüchtigen Vater sowie ihre unterwürfige Mutter nur Hass und Verachtung empfindet und Mordgedanken gegen ersteren hegt. Nachdem Naïs verstanden hat, dass ihr Vater über ihre Beziehung zu Frédéric Bescheid weiß und versucht, ihn zu töten, beschließt sie,

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

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ihren Geliebten zu beschützen. Die Hinweise des auktorialen Erzählers über häufige Felsabgänge an der Steilküste, auf der das Gut der Rostands liegt, und die Information, dass Naïs’ unterwürfiger Freund Toine an einem Bewässerungskanal arbeitet, vermag der Leser dann als klare (wenn auch implizite) Hinweise dafür zu deuten, dass Naïs nun ihrerseits einen perfiden Mord an ihrem Vater vorbereitet. Der alte Micoulin kommt dann auch tatsächlich am Ende der Erzählung durch einen gezielt herbeigeführten Erdrutsch zu Tode: «Frédéric [. . .] aperçut [Naïs] plusieurs fois debout sur la falaise, ayant l’air d’examiner les arbres autour d’elle, mesurant d’un regard la profondeur du gouffre. [. . .] Le bossu continua de venir tous les jours à la Blancarde. Il travaillait sur la falaise, à creuser un étroit canal pour mener les eaux au bout du jardin, dans un potager qu’on tentait d’établir» (N, 768).

Derart wohlkalkulierte Hinweise und Ankündigungen oder manchmal auch nur Andeutungen gekoppelt mit der verfügbaren Innensicht aller Figuren führen natürlich dazu, dass der Leser Erwartungen aufbaut. Weil diese Erwartungen in der Folge bestätigt werden, stellt sich die Handlung für den Leser als plausibel und nachvollziehbar dar. Diese Erzählstrategien des auktorialen Erzählers erleichtern dem Leser somit eindeutig die Herstellung von Kohärenz auf lokaler und globaler Ebene, was in der Regel die Komplexitätswerte der Kategorien «Kohäsion & lokale Kohärenz» sowie «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» gering ausfallen lässt. Die Einfachheit der erstgenannten Kategorie beruht weiterhin auf der vergleichsweise hohen Dichte von Konnektoren, Zeitangaben und Textgliederungsmarkern, die der auktoriale Erzähler dank seines Abstandes zum Erzählten und seiner Übersicht einsetzt, um dem unkundigen narrataire das Geschehen in nachvollziehbarer Art und Weise zu vermitteln. Die im Folgenden zitierten Sätze, die dem Leser durch Einsatz expliziter sprachlicher Mittel die Reihenfolge der Ereignisse, den Zweck von Handlungen und die Gründe für Vermutungen verdeutlichen, wird man in intern oder extern fokalisierten Texten sehr viel seltener finden: Tab. 37: Beispiele für Sätze mit einer hohen Dichte von Konnektoren und Zeitangaben in auktorialen Erzählungen. La Chèvre de M. Seguin

Cependant il ne se découragea pas, et après avoir perdu six chèvres de la même manière, il en acheta une septième ; seulement, cette fois, il eut soin de la prendre toute jeune, pour qu’elle s’habituât mieux à demeurer chez lui. (C, ; meine Hervorhebung)

Naïs Micoulin

Enfin, au coude du chemin, elle aperçut Frédéric. Sans doute, il avait déjà fait lever les perdreaux, car il marchait rapidement, à demi courbé, prêt à épauler son fusil. Elle ne voyait toujours pas son père. Puis, tout d’un coup, elle le découvrit de l’autre côté du ravin [. . .]. (N,  ; meine Hervorhebung)

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Die weitgehende Befolgung der Grice’schen Maximen, die geboten ist, weil der narrataire sich im fiktionalen Universum nicht auskennt, schlägt sich neben einer ausführlichen suppletiven Kontextbildung, chronologischem Erzählen sowie einer konnektorreichen und nachvollziehbaren Darstellung der Handlung auch in einer sofortigen und expliziten Etablierung der Themen nieder. Gattungsbedingt liefert beispielsweise der auktoriale Erzähler der Fabel La Chèvre de M. Seguin mit dem Anwendungssignal «Tu verras ce que l’on gagne à vouloir vivre libre.» (C, 260) schon auf der ersten Seite eine mögliche Lehre seiner Fabel und gleichzeitig ihr Thema: Freiheit vs. Gefangenschaft bzw. Sicherheit. Die zentrale Bedeutung dieses Themenkomplexes wird der Leserfigur ebenso wie dem empirischen Leser allerdings auch im weiteren Verlauf der Erzählung durch umfangreiche Frames und Frame-Systeme auf der Textoberfläche immer wieder verdeutlicht: rester libre, vouloir vivre libre, des chèvres indépendantes, le grand air, la liberté, du large vs. un clos, attacher à un pieu, la corde, s’ennuyer, cette maudite longe qui vous écorche le cou, fade, se languir, enfermer dans l’étable. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels wurde bereits auf die ebenso unmittelbare und explizite Etablierung der Textthemen in La Mort du Dauphin und La Parure hingewiesen und auch der vierte auktorial erzählte Korpustext, Naïs Micoulin, stellt diesbezüglich keine Ausnahme dar. Bereits im Incipit formulieren die auktorialen Erzähler Sätze wie «Le petit Dauphin est malade, le petit Dauphin va mourir . . . » (C, 314) oder «Depuis l’âge de douze ans seulement, elle l’appelait ‹M. Frédéric›, par respect. Chaque fois que le père Micoulin l’entendait dire ‹tu› au fils de ses maîtres, il la souffletait. Mais cela n’empêchait pas que les deux enfants fussent très bons amis» (N, 742).

Solche Aussagen geben unmittelbar Aufschluss über die Textthemen (Sterben und Tod, Zuneigung zwischen zwei Menschen aus völlig unterschiedlichen sozialen Schichten). Umfangreich instantiierte Frames und Frame-Systeme zeugen dann nicht nur in Daudets Fabel, sondern auch in den drei weiteren auktorialen Korpustexten von einer äußerst expliziten und damit leicht nachvollziehbaren Art der Entfaltung der im Incipit angekündigten Themen. Einen äußerst komplexitätsmildernden Effekt kann die auktoriale Erzählsituation schließlich auf die Kategorie «Leerstellen/Aussparungen» ausüben, was in der Regel den Komplexitätswert der Kategorie «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» sinken lässt und auch den «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» verringern kann. Bekanntlich gehört die Motivation der erzählten Handlung oft zu den Unbestimmtheitsstellen bzw. Leerstellen eines Textes (cf. Martínez/Scheffel 1999/2012, 115). Der mit Allwissenheit und Übersicht ausgestattete auktoriale Erzähler, der die Möglichkeit hat, Einblick in das Bewusstsein und die Gefühle aller Figuren zu nehmen, vermag nun gerade

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

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die Motive der Figuren offenzulegen, was die Anzahl globaler komplexitätssteigernder Leerstellen reduziert. Fludernik (2006/2010, 126) bemerkt, dass die «Unnatürlichlichkeit» dieser «idealen Erzähltechnik» verdrängt wird, weil sie durch die Einblicke in das Bewusstsein und die Gefühlslage Dritter gerade das liefert, was der Leser sich wünscht: «Das beste Beispiel für die Naturalisierung von ‹un-natürlichen› Erzählsituationen ist die auktoriale Erzählung, die eine Innensicht der Figuren bietet. Die auktoriale Erzählung liefert damit genau das, was sich jeder Leser wünscht, nämlich Aufschluss über die Motive der Charaktere. Aus diesem Grund stellt die Entwicklung des allwissenden Erzählers keine postmodern anmutende Transgression dar, sondern bietet nur eine ideale Erzähltechnik, deren inhärente Unnatürlichkeit verdrängt wird».

So muss beispielsweise der Leser von Naïs Micoulin nicht selbst erschließen, warum der alte Micoulin den Liebhaber seiner Tochter nicht sofort mit der eigens dafür mitgeführten Axt erschlägt. Der auktoriale Erzähler erläutert ihm, dass Micoulin soziale Hierarchien als gottgegeben akzeptiert und davor zurückschreckt, den Sohn seines Pachtherrn zu erschlagen, da seiner Ansicht nach sogar der tote und begrabene Herr noch der stärkere ist (cf. N, 759). Diese Einstellung führt also dazu, dass Micoulin in der Folge heimtückisch versucht, einen «Unfalltod» Frédérics herbeizuführen. Derselbe auktoriale Erzähler verfügt natürlich auch über sichere Kenntnisse über Naïs’ Erbanlagen, Gefühle und Einstellungen, die er dem Leser ebenfalls mitteilt. Seine Hinweise auf den Jähzorn der jungen Frau und ihr Bedürfnis nach Stärke und Überlegenheit, das sie von ihrem Vater geerbt hat (cf. N, 478), motivieren für den Leser auch die Mordabsichten, die Naïs ihrem Vater gegenüber hegt und schließlich ebenso perfide, aber erfolgreicher als letzterer umsetzt. Solche umfassenden Informationen hinsichtlich der Motivation aller Figuren entlasten den Leser also von Inferenzen und vom Aktivieren zusätzlichen Hintergrundwissens psychologischer, soziologischer, kultureller oder historischer Provenienz. Außerdem kann das Wissen um die Motivierung der Handlung natürlich auch die Interpretation einer Erzählung erleichtern. Hilfestellung in diesem Bereich erfährt der Rezipient aber noch nachhaltiger, wenn der auktoriale Erzähler die Geschichte auch mit Erklärungen und Kommentaren anreichert, was aber bekanntlich nicht jeder auktoriale Erzähler tut. In unseren vier Korpustexten mit einer auktorialen Erzählsituation macht insbesondere der Erzähler von La Parure von dieser Möglichkeit Gebrauch, wenn er im Incipit mit Hilfe der Klassifikationsformel c’était une de ces . . . seine Protagonistin als Repräsentantin des Typs Frau vorstellt, deren soziale Stellung nicht zu ihren qua Geburt gegebenen weiblichen Qualitäten passt: «C’était une de ces jolies et charmantes filles, nées comme par une erreur du destin, dans une famille d’employés. Elle n’avait pas de dot, pas d’espérances, aucun moyen d’être connue, comprise, aimée, épousée par un homme riche et distingué ; [. . .].

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Elle fut simple, ne pouvant être parée ; mais malheureuse comme une déclassée ; car les femmes n’ont point de caste ni de race, leur beauté, leur grâce et leur charme leur servant de naissance et de famille. Leur finesse native, leur instinct d’élégance, leur souplesse d’esprit, sont leur seule hiérarchie, et font des filles du peuple les égales des plus grandes dames» (Pa, 1198).

Mit diesen Überlegungen erstellt der Erzähler tatsächlich das von Fludernik (2006/2010, 38) angeführte «Normensystem, das die Interpretation des Textes durch den Leser erleichtern soll», und zeigt zumindest die Möglichkeit auf, Mathildes Schicksal nicht nur auf ihre individuelle Eitelkeit und ihre zweifelhafte Gleichsetzung von Glück mit Reichtum und Luxus zurückzuführen. Auch die auf Geld und Abstammung beruhenden und mit persönlichem Verdienst nicht aufzubrechenden gesellschaftlichen Ungleichheiten (cf. Viegnes 1996, 77) können als tiefere Ursache für Mathildes missglücktes Leben betrachtet werden – eine Interpretationsmöglichkeit, die der Erzähler dem Leser durch seine Erläuterungen aufzeigt und erleichtert, was die Komplexität der Kategorie «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» reduziert. Die folgende tabellarische Übersicht zeigt, dass die vier Korpustexte mit einer auktorialen Erzählsituation tatsächlich bis auf wenige Ausreißer in den oben genannten Komplexitätskategorien sehr geringe Komplexitätswerte aufweisen:

Tab. 38: Übersicht: Komplexitätswerte der auktorialen Erzählungen in den betrachteten Kategorien. La Mort du Dauphin

La Chèvre Naïs La de M. Seguin Micoulin Parure

Umgang mit den Grice’schen Maximen









Komplexität in Bezug auf die suppletive Kontextbildung







–

Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen







–

Komplexität in Bezug auf Kohäsion & lokale Kohärenz









Leerstellen/Aussparungen









Anforderungen an das lebensweltliche Wissen der Rezipienten









Aufwand der Bedeutungserschließung der . semiotischen Ebene





–

–

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

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Gerade die ersten vier Kategorien werden wohl bei der Mehrheit der Texte mit einer auktorialen Erzählsituation verhältnismäßig einfach ausfallen. Der empirische Leser profitiert in diesen Bereichen davon, dass weder Erzähler- noch Leserfigur im fiktionalen Universum «leben» und der Erzähler retrospektiv erzählt, was ihm eine an logischen Prinzipien orientierte, ordnende und chronologische Darstellung der Geschehnisse ermöglicht. Bei seiner Kommunikation mit dem narrataire, der über keinerlei Wissen zur fiktionalen Welt verfügt, befolgt der auktoriale Erzähler in der Regel die Grice’schen Maximen, er gibt ausreichend viele Informationen (über die er dank seiner Allwissenheit verfügt), um den Leser im fiktionalen Universum zu orientieren und ihm das Thema seiner Geschichte zu vermitteln, er sagt nichts, was er für falsch hält, und gibt dank seiner Übersicht relevante Informationen. In Folge der zeitlichen Distanz zwischen dem Zeitpunkt des Erzählens und dem Zeitpunkt der Ereignisse entwickelt er die Geschichte in der Regel auch der Reihe nach, wie es die Modalitätsmaxime verlangt. Die Komplexitätsfaktoren ABWEICHUNGEN von sprachlichen und sprachbezogenen Normen, Traditionen und Mustern sowie kontextabhängige IMPLIZITHEIT kommen somit in Texten mit einer auktorialen Erzählsituation tendenziell weniger stark zum Tragen als z.B. in Texten im Reflektormodus. Die Komplexitätswerte der drei zuletztgenannten Kategorien sind in stärkerem Maße von der textspezifischen Ausgestaltung der Erzählsituation und anderen Faktoren abhängig. So können beispielsweise auch bei einem heterodiegetischen Erzähler und einer Dominanz der Nullfokalisierung bestimmte Ereignisse aus der eingeschränkten Sicht einer Figur erzählt werden, also ein Wechsel von der Nullfokalisierung zur internen Fokalisierung stattfinden. Des Weiteren muss der auktoriale Erzähler nicht immer von seinem Privileg, in das Bewusstsein der Figuren blicken zu können, Gebrauch machen (cf. Fludernik 2006/2010, 106), und mit Erklärungen und Kommentaren kann er sich völlig zurückhalten. Demzufolge können auch Texte mit einer auktorialen Erzählsituation globale Leerstellen aufweisen, die der Leser unter Hinzuziehung von Weltwissen füllen muss. Und auch die Interpretation solcher Texte kann sich als äußerst schwierig erweisen, wenn der auktoriale Erzähler eben kein Normensystem bereitstellt oder nur vereinzelt die Gefühle und Motivationen seiner Figuren offenlegt. In La Mort du Dauphin verzichtet der auktoriale Erzähler beispielsweise darauf, in dem zentralen Dialog zwischen dem Kronprinzen und dem Priester die Ausführungen des letzteren wiederzugeben. Der Leser erfährt nur die Reaktionen des Kindes auf die Erklärungen des Geistlichen. Diese zentralen Leerstellen lassen allerdings im gegebenen Fall die Komplexität der entsprechenden Kategorie nicht stark steigen, weil aufgrund des Kontextes, der typischen Rolle des Priesters und der Reaktionen des Kindes die Inferenzen relativ einfach sind.

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

In La Parure führt der Wechsel von der Nullfokalisierung zur internen Fokalisierung bei der Schilderung von Mathildes Anprobe verschiedener Schmuckstücke bei ihrer Freundin Mme Forestier dazu, dass der Leser ebenso wie die Protagonistin von der Echtheit der ausgeliehenen «Diamantkette» ausgehen muss. Dieses Zurückhalten von Informationen ermöglicht erst die chute und letztlich auch eine weitere Lesart der Erzählung, nämlich das Leben als «sinnloses Zusammentreffen blinder Zufälle und nutzlosen Leids» (Blüher 1976, 195) zu begreifen. Somit erhält die Kategorie «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» trotz der oben erwähnten Beobachtungen des auktorialen Erzählers zu den gesellschaftlichen Hierarchien einen mittleren Komplexitätswert (2–3), weil die Erzählung mehrere Lesarten aufweist und der auktoriale Erzähler eben nur eine von ihnen explizit unterstützt. In La Chèvre de M. Seguin schließlich schöpft der auktoriale Erzähler das ganze Repertoire der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten aus: er blickt in das Bewusstsein seiner Figuren, er erklärt, er kommentiert, er äußert seine persönlichen Gefühle, spricht den Adressaten seines Briefes direkt an und formuliert explizit eine Lehre der Fabel, die er ihm erzählt. Trotzdem gestaltet er einen hochgradig mehrdeutigen und komplexen Text. Dies schafft er, indem er keinen Hehl daraus macht, dass zwei Herzen in seiner Brust schlagen, er die freiheitsliebende Ziege für naiv und größenwahnsinnig hält, ihr aber auch Mut, Tapferkeit und Selbstachtung attestiert, und vor allem indem er eine ganze Fülle von Evokationen im Sinne Coserius in seine Darstellung der Ereignisse integriert, die auch völlig konträre Lesarten und Lehren zulassen. Das Einlösen dieser Evokationen stellt weiterhin große Anforderungen an das Sprach- und Weltwissen der Rezipienten (Komplexitätswert 5), die durch die expliziten Kommentare und Bewertungen des Erzählers in keiner Weise entlastet werden. Abschließend kann also das Fazit gezogen werden, dass bei Texten mit einer auktorialen Erzählsituation eine starke Tendenz zur Einfachheit hinsichtlich der Kategorien «Umgang mit den Grice’schen Maximen», «suppletive Kontextbildung», «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» sowie «Kohäsion & lokale Kohärenz» besteht. Was die Kategorien «Leerstellen/Aussparungen», «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» und eng damit verknüpft «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» betrifft, so besteht bei Texten mit einer auktorialen Erzählsituation zumindest eine höhere Chance als bei intern oder extern fokalisierten Texten, dass die Komplexitätswerte geringer ausfallen. Dies ist allerdings nur dann der Fall, wenn der auktoriale Erzähler tatsächlich von allen ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten Gebrauch macht und nicht – wie im Fall von La Chèvre de M. Seguin – unter Rückgriff auf Andeutungen und Evokationen dennoch einen hochambigen und komplexen Text gestaltet.

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

405

3.4.2 Diskurstraditionell bedingtes Ausstrahlen von Komplexität Während in Kapitel 3.4.1 ausschließlich Korpustexte des 19. Jahrhunderts und ihre für einige Kategorien komplexitätsreduzierende Explizitheit und Erwartbarkeit thematisiert wurden, beschäftigt sich das folgende Unterkapitel bis auf eine Ausnahme mit den Korpustexten des 20./21. Jahrhunderts. Diese werden nach diskurstraditionellen Kriterien in drei Gruppen unterteilt, die sich alle durch eine zumindest phasenweise Einschränkung der Erzählperspektive auf den Blickwinkel einer der handelnden Figuren (interne Fokalisierung) oder eine neutrale Außensicht (externe Fokalisierung) auszeichnen. Dieser Verzicht auf die auktoriale Übersicht setzt zwingend den 2. Komplexitätsfaktor, kontextabhängige IMPLIZITHEIT, in Gang, dessen Wirken im gesamten Unterkapitel, vor allem aber im ersten Paragraphen thematisiert wird, in dessen Mittelpunkt moderne mimetisch erzählende Kurzprosa steht. Bei den in Kapitel 3.4.2.2 untersuchten nouvelles à chute führen insbesondere Erwartungsbrüche, Ambiguität und neben den Verstößen gegen die 1. Untermaxime der Quantität auch dezidierte Verstöße gegen die Modalitätsmaxime zu noch deutlicheren Kettenreaktionen erhöhter Komplexitätswerte als bei mimetisch erzählenden Kurznovellen ohne ausgeprägten finalen Überraschungseffekt. Eine starke Präsenz des 1. Komplexitätsfaktors ABWEICHUNGEN, eine extrem evokationsreiche écriture sowie eine ausgeprägt flächige Form der Bedeutungskonstruktion bilden schließlich die Basis für das (bezogen auf unser Korpus) massivste Ausstrahlen von Komplexität, das in nicht-mimetisch erzählenden Novellen (Kapitel 3.4.2.3) am Werke ist. 3.4.2.1 Charakteristische Ausprägungen von Komplexität in moderner mimetisch erzählender Kurzprosa In Kapitel 3.2 wurden bereits die Einschätzungen von Del Lungo (2003) und Genette (1998/2010) referiert, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Romanen und Erzählungen die Tendenz zu beobachten sei, dass die Nullfokalisierung durch eine interne Fokalisierung ersetzt werde, was in der Regel mit einer Dynamisierung des Textbeginns und einem Einstieg in medias res einhergehe (cf. Genette 2010, 215; Del Lungo 2003, 189), der gemäß Del Lungo (2003) zum dominierenden Modell des Textanfangs im 20. Jahrhundert avanciert. Zu diesen beiden fundamentalen diskurstraditionellen Charakteristika treten gemäß Blüher (1985, 212) für die französische Novelle des 20. Jahrhunderts das Merkmal der zunehmenden Kürze und «die Konzentrierung der Handlung auf ein zeitlich äußerst eingeschränktes, aber zugleich thematisch hervorgehobenes Ereignis», was u.a. auf den Einfluss der angloamerikanischen Short story

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

zurückzuführen sei. Das Zusammenwirken der drei genannten diskurstraditionellen Charakteristika – interne oder auch externe Fokalisierung, Beginn in medias res und die zunehmende Kürze der Erzählungen – führt zuallererst zu einer auffallend elliptischen Textgestaltung, also einem großen Einfluss des Komplexitätsfaktors kontextabhängige/nicht-konventionelle IMPLIZITHEIT. Dessen Wirkung auf die Ausprägung unserer Komplexitätskategorien soll im Folgenden zunächst theoretisch, dann anhand der mimetisch erzählenden psychologischen und sozialkritischen Korpustexte des 20. und 21. Jahrhunderts (Toute une année au soleil (1994), Un fait divers et d’amour (1995), Chien de nuit (1998) und L’avenir de l’homme (2001)) untersucht werden. Die Vermutung ist unmittelbar naheliegend, dass die Kategorien, die durch die auktoriale Erzählsituation in der Regel auffallend geringe Komplexitätswerte aufweisen, durch eine interne oder externe Fokalisierung einen deutlichen Zuwachs an Komplexität erfahren werden. Während die Nullfokalisierung bzw. die auktoriale Erzählsituation nämlich durch Übersicht und Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt prinzipiell aller Figuren gekennzeichnet sind (cf. Fludernik 2006/2010, 107), entsprechen interne und externe Fokalisierung einer eingeschränkten Perspektive: derjenigen einer handelnden Figur im ersten Fall und einer externen Sicht auf die Welt und andere Figuren im zweiten Fall. Diese Einschränkung, dieses Zurückhalten von Informationen, hat weitreichende Folgen für die Leseraktivität und damit auch für die Komplexität des entsprechenden Textes, was durch Genettes eigene Erläuterung des von ihm geprägten Begriffs der Fokalisierung deutlich wird: «Unter Fokalisierung verstehe ich also eine Einschränkung des ‹Feldes›, d.h. eine Selektion der Information gegenüber dem, was die Tradition Allwissenheit nannte, ein Ausdruck, der, wörtlich genommen, im Bereich der Fiktion absurd ist (der Autor braucht nichts zu ‹wissen›, da er alles erfindet) und den man besser ersetzen sollte durch vollständige Information – durch deren Besitz dann der Leser ‹allwissend› wird. Das Instrument dieser (eventuellen) Selektion ist ein situierter Fokus, d.h. eine Art Informationsschleuse, die nur durchlässt, was die Situation erlaubt [. . .]» (Genette 1998/2010, 218).

Diese «Informationsschleuse» führt im Fall intern fokalisierter Erzählungen dazu, dass der Erzähler nur das sagen kann, was die Reflektorfigur wahrnimmt, denkt und fühlt (cf. ib., 218), womit Einblicke in das Denken und Fühlen anderer handelnder Figuren unmöglich werden. Diese Einschränkung hat unmittelbare Auswirkungen auf mehrere Komplexitätskategorien, was an der Verzahnung der Gedanken- und Gefühlswelt der Figuren mit der Motivierung der Handlung und der Kohärenz der Erzählung liegt:

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

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«[. . .] die Gedanken- und Gefühlswelt der Figuren [ist] für Erzählungen von eminent wichtiger Funktion [. . .], unter anderem, da sie die Intention und Motive von Akteuren sowie ihre Reaktionen auf äußere Einflüsse vermitteln hilft» (Fludernik 2006/2010, 94).

Folglich können sich fehlende Informationen zu den Gedanken und Gefühlen der Figuren schnell zu globalen Leerstellen auswachsen, die der Rezipient unter Hinzuziehung von lebensweltlichem Wissen inferieren muss. Auch weitere Komplexitätskategorien, die die lokale und globale Kohärenz eines Textes betreffen (suppletive Kontextbildung, Kohäsion & lokale Kohärenz, Frames/ Frame-Systeme & die Etablierung von Themen), können aufgrund der fehlenden Innensicht anderer Handlungsträger als der Reflektorfigur deutlich erhöhte Komplexitätswerte erhalten. Die Gründe für tendenziell hohe Komplexitätswerte in Bezug auf weitere Kategorien liefert die folgende (in Kapitel 3.2.2 bereits zitierte) Charakterisierung der internen Fokalisierung bzw. des Reflektormodus durch Fludernik (2006/2010), die gleichzeitig die häufig festzustellende Korrelation von interner Fokalisierung, etischem Erzählauftakt nach Harweg (1968) und Beginn in medias res begründet: «Analog dazu sind Texte im Reflektormodus solche, die einen etischen Erzählauftakt haben, also einen medias-in-res-Einstieg. Es wird nichts erklärt – die Wissenslage ist die der Reflektorfigur, deren Bewusstsein für die Darstellung ausschlaggebend ist – der Text setzt voraus, wer die Personen sind, die der Protagonist sieht (Pronomina ohne Antezedens), wo man sich befindet, was zu sehen ist. Im Gegensatz zur ordnenden Sicht des aus zeitlicher Distanz schreibenden Erzählers ist der Bericht in der personalen Erzählsituation oft unübersichtlich – der Protagonist erlebt die Ereignisse eben erst, kann sie in seinem Bewusstsein daher noch nicht überblicken und ordnen. Daher sind auch die Auswahlkriterien dessen, was wahrgenommen wird, spontan und unsystematisch. Das Reflektorbewusstsein ist im Hier und Jetzt befangen ohne zeitliche Distanz. [. . .] Die Reflektorfigur vermittelt also für den Leser die Illusion, direkt am Geschehen zu partizipieren, wenn auch durch den Filter des Bewusstseins des Protagonisten» (Fludernik 2006/2010, 108s.).

Andrea Del Lungo (2003) ergänzt diese Charakterisierung, indem er darauf hinweist, dass ein dynamischer Texteinstieg in eine bereits im Verlauf befindliche Handlung ohne Bereitstellung von Informationen zu Ort, Zeit und Identität der beteiligten Personen eine narrative Täuschung (feinte narrative) bewirkt: der Erzähler tut nämlich so, als sei dem Adressaten seiner Erzählung das fiktionale Universum bereits bekannt. Diese Erzählstrategie vermag durch ihre Rätselhaftigkeit und Dynamik das Leserinteresse zu wecken bzw. beinhaltet laut Del Lungo Verführungspotential (pouvoir de séduction) (cf. Del Lungo 2003, 112), führt aber auf der Ebene der Kommunikation zwischen Autor und Leser (bzw. implizitem Autor und implizitem Leser) in der Regel zu zahlreichen Verstößen gegen die 1. Untermaxime der Quantität (Mache deinen Beitrag so informativ wie (für die gegebenen Gesprächszwecke) nötig) und oftmals auch gegen eine oder mehrere

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Untermaximen der Modalität. Insbesondere die 4. Untermaxime (Der Reihe nach!) kann durch das Gefangensein des Reflektorbewusstseins im Hier und Jetzt, die fehlende zeitliche Distanz und die spontane und unsystematische Wahrnehmung empfindliche Verstöße erfahren, was den empirischen Leser in die Pflicht nimmt, selbst die Chronologie der Ereignisse zu rekonstruieren. Hat man es also mit einer auffallend kurzen Erzählung zu tun, die einen incipit dynamique in Reinform aufweist und die interne Fokalisierung in aller Strenge und über die gesamte Textlänge hinweg praktiziert, dann sind die soeben aufgeführten Verstöße gegen die Quantitäts- und Modalitätsmaxime und folglich ein erhöhter Komplexitätswert der Kategorie «Umgang mit den Grice’schen Maximen» nahezu zwingend. Diese Verstöße ziehen in der Regel eine reduzierte und damit komplexe suppletive Kontextbildung sowie globale Leerstellen nach sich und steigern oftmals auch die Komplexität der Kategorie «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen», was insgesamt dazu führt, dass zahlreiche und mitunter anspruchsvolle Inferenzen nötig werden, die ihrerseits den Komplexitätswert der Kategorie «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» in die Höhe treiben. Da der heterodiegetische Erzähler einer Erzählung im Reflektormodus sich zudem häufig vergessen machen will, um den Eindruck von Unmittelbarkeit zu erzeugen, bedient er sich in der Regel auch nicht der Funktionen, die einem auktorialen Erzähler offenstehen, wie z.B. einer erklärenden und kommentierenden Funktion, die ihm erlaubt, die Ursachen für Ereignisse zu klären, die Motivation von Figuren zu deuten oder gar ein Normensystem zu erstellen, das dem Leser die Interpretation seines Textes erleichtern soll (cf. Fludernik 2006/2010, 37s.). Diese Merkmale des Reflektormodus wiederum verlangen dem Rezipienten mitunter größere Anstrengungen hinsichtlich der Interpretation der Erzählung ab, was auch den «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» komplex ausfallen lassen kann. Die vier modernen psychologischen bzw. sozialkritischen Novellen unseres Korpus bestätigen in weiten Teilen, aber nicht gänzlich diese Komplexitätsausprägung, die aus dem diskurstraditionellen Profil einer kurzen, strikt intern fokalisierten und in medias res beginnenden Erzählung entwickelt wurde. Das liegt daran, dass es bei der verbalen Restitution der Erzählsituation sowie der Dynamisierung des Erzählauftaktes natürlich großen Gestaltungsspielraum gibt und nur in den seltensten Fällen eine interne Fokalisierung über die gesamte Textlänge und in strenger Form durchgehalten wird. Gemäß Genette (1998/ 2010, 123) findet sich die interne Fokalisierung nur im inneren Monolog und in einem der Hauptwerke des Nouveau Roman, Alain-Robbe Grillets La Jalousie, restlos verwirklicht, wo die zentrale Figur absolut auf ihre fokale Position reduziert sei und auch nur aus dieser deduziert werden könne. In der Regel erstreckt sich aber ein Fokalisierungstyp nicht über ein ganzes Werk und wird auch

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

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nicht streng durchgehalten. Folglich begegnen in der Mehrzahl narrativer Texte Fokalisierungswechsel und sogenannte Alterationen. Letztere bezeichnen in der Terminologie Genettes momentane Verstöße gegen den dominanten Fokalisierungstyp, die sich in Form der Paralipse oder Paralepse manifestieren können. Bei ersterer werden «weniger Informationen gegeben, als an sich gegeben werden müssten» und bei zweiterer «werden mehr gegeben, als der Fokalisierungscode, der das Ganze beherrscht, an sich gestattet» (ib., 125). Diese und weitere diskurstraditionelle Variationsmöglichkeiten erklären letztlich auch die kleineren Unterschiede in den Komplexitätsprofilen der vier genannten Korpustexte. Gemeinsam ist den Novellen in der Tat ihre Kürze, wobei L’avenir de l’homme mit gerade einmal 205 Wörtern einen Extremfall darstellt. Eine Konzentrierung der Handlung auf ein zeitlich äußerst eingeschränktes Ereignis liegt allerdings nur in zwei der Erzählungen vor: Giannis unbewusste Provokation der jungen Rechtsradikalen und deren Gewaltexzess in Chien de nuit umfasst wohl nur wenige Minuten und der Protagonist von L’avenir de l’homme wartet einige Stunden in der Schlange vor dem Krankenhaus, bis das Kind in seinen Armen stirbt. Die Handlung von Toute une année au soleil und Un fait divers et d’amour umfasst hingegen jeweils einige Wochen bzw. Monate. Was die Ausgestaltung der Erzählsituation betrifft, liegt in allen Fällen ein heterodiegetischer Erzähler vor, aber nur in Chien de nuit eine streng und durchgängig praktizierte «fixierte interne Fokalisierung» (Martínez/Scheffel 1999/2012, 68). In diesem Fall werden tatsächlich alle Geschehnisse strikt durch die Wahrnehmung Giannis vermittelt. Toute une année au soleil von Didier Daeninckx hingegen beginnt mit einer Nullfokalisierung, wechselt nach 60% der Textlänge zur internen Fokalisierung und im letzten Satz wieder zurück zur Nullfokalisierung. Un fait divers et d’amour von Tahar Ben Jelloun sowie L’avenir de l’homme von Samuel Millogo sind sogar eher im Grenzbereich von Erzähler- und Reflektormodus anzusiedeln. In beiden Erzählungen wird zwar der Wissens- und Wahrnehmungshorizont des jeweiligen Protagonisten selten überschritten, aber die Präsenz eines Erzählers ist u.a. aufgrund eines objektiven Blicks auf den Protagonisten, einer kurzen Einleitung in Un fait divers et d’amour und eines zynischen Schlusskommentars in L’avenir de l’homme sowie stilistischer Besonderheiten deutlich spürbar. Alle vier Novellen weisen einen etischen Textbeginn nach Harweg (1968) auf, verwenden also unvermittelte Namensnennungen (Gianni, Slimane), Pronomen ohne Antezedens oder bestimmte Nominalgruppen zur Einführung der handelnden Figuren. Was schließlich die Dynamisierung des Textbeginns betrifft, so bieten Chien de nuit und L’avenir de l’homme einen klassischen Einstieg in medias res, während Un fait divers et d’amour und Toute une année au soleil eher einen incipit progressif

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

nach Del Lungo (2003) aufweisen, der auch der Informationsfunktion Genüge tut. Diese diskurstraditionellen Merkmale werden in der folgenden Tabelle in knapper Form gebündelt. Auf dieser Basis können dann im Folgenden erhöhte oder auch überraschend geringe Komplexitätswerte in den oben genannten Komplexitätskategorien als unmittelbare Konsequenz der diskurstraditionellen Charakteristika dieser modernen Kurzerzählungen aufgezeigt werden.

Tab. 39: Diskurstraditionelle Merkmale der modernen Kurznovellen. Toute une année au soleil

Un fait divers et d’amour

Chien de nuit

L’avenir de l’homme

Textlänge

 Wörter

 Wörter

 Wörter

 Wörter

Erzählte Zeit

 Monate

einige Wochen

wenige Minuten

wenige Stunden

Erzählsituation/ Fokalisierung

Fokalisierungswechsel (Nullfokalisierung → interne Fokalisierung → Nullfokalisierung)

Fixierte interne Grenzbereich Fokalisierung von Null- und interner Fokalisierung; spürbare Erzählerpräsenz

Grenzbereich von Null- und interner Fok.; spürbare Erzählerpräsenz; insges. wenig Innensicht

Etischer Textbeginn

Le chien s’était habitué en moins d’une semaine.

[. . .] L’histoire de Slimane est celle d’un paradoxe.

Ils étaient deux. Un garçon et une fille. La fille s’approcha de Gianni [. . .].

Il attendait dans la queue depuis que l’aube avait blanchi.

Dynamisierung des Textbeginns

Incipit progressif

Incipit progressif

Incipit dynamique

Incipit dynamique

Vor der Begründung der jeweiligen Komplexitätsausprägungen müssen allerdings die beiden bislang noch nicht thematisierten Novellen von Tahar Ben Jelloun und Samuel Millogo resümiert werden. Die Novelle Un fait divers et d’amour von Tahar Ben Jelloun (*1944), frankophoner Autor marokkanischer Herkunft, ist in der 1995 erschienenen Novellensammlung Le Premier amour est toujours le dernier enthalten. Erzählt wird die Geschichte des hilfsbereiten Taxifahrers Slimane aus Casablanca, der eines Abends eine schwangere Frau in seinem Taxi befördert. Weil die junge Frau am genannten Ziel ihre Schwester nicht antrifft und völlig verzweifelt ist, lädt Slimane sie zu sich nach

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

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Hause ein. Die Schwangere lehnt das Angebot zunächst ab, aus Angst den Familienfrieden zu stören. Daraufhin lobt Slimane seine Ehefrau, die ihm drei schöne Kinder und großes Glück geschenkt habe und herzensgut sei. Schließlich akzeptiert die schwangere Kundin sein Angebot und verbringt einen harmonischen Abend mit Slimane und seiner Familie. Am nächsten Morgen aber behauptet die junge Frau plötzlich, dass Slimane der Vater ihres Kindes sei. Daraufhin schaltet der Taxifahrer sofort die Polizei ein und die richterlich angeordneten medizinischen Analysen zeigen, dass er tatsächlich nicht der Vater des ungeborenen Kindes sein kann, da er zeugungsunfähig ist. Diese Nachricht wirft Slimane völlig aus der Bahn, er beginnt zu trinken, lebt und schläft fortan in seinem Taxi. Seine Frau gibt zu, dass der Hauseigentümer der Vater ihrer Kinder ist, erklärt aber auch aller Welt, dass sie ihren Mann niemals betrogen habe, sondern aus Liebe zu ihm Wege gefunden habe, Kinder zu bekommen. Die Novelle endet mit ihrer Aussage: «Un homme n’est jamais stérile. C’est toujours la faute de la femme !» (FD, 58). Samuel Millogo (*1946) stammt aus Burkina Faso und seine Kurznovelle L’avenir de l’homme ist in der 2001 erschienenen Textsammlung Récits de ma vallée : paroles d’ici et d’ailleurs enthalten. Die Novelle muss als deutliche Kritik an der gängigen Korruption im Gesundheitswesen von Burkina Faso und an Pseudo-Lösungen für die Probleme Afrikas verstanden werden: Seit dem Morgengrauen wartet ein Mann, der ein fieberndes Kind im Arm hält, in der Schlange vor einem Gesundheitsamt in Burkina Faso. Vergeblich hat er die Ärzte angefleht, sich um das Kind zu kümmern, aber es gibt keine Behandlung ohne Gegenleistung (c’est donnant donnant). Die reichen Patienten, die auf ihr «prall gefülltes Portemonnaie» zurückgreifen können, waren bereits an der Reihe, während der namenlose Protagonist weiterhin wartet, da er keine «überzeugenden Argumente» (les arguments convaincants) hat. Schließlich stirbt das Kind in den Armen des Mannes. Er legt den leblosen Körper auf den Tisch des Oberpflegers, der in eine hitzige Diskussion involviert ist, und geht wortlos auf die Straße. Am Schluss meldet sich der heterodiegetische Erzähler mit einem zynischen Kommentar zu Wort: «C’était par un jour radieux de la providentielle Année Internationale de l’Enfance.» (A, 50). Was nun die Komplexität der psychologischen bzw. sozialkritischen Novellen des 20./21. Jahrhunderts betrifft, so weisen zunächst alle vier deutliche Verstöße gegen die 1. Untermaxime der Quantität auf, weil durch die interne Fokalisierung in zentralen Passagen, die etischen Texteinstiege und die Tendenz zu sofortiger Dramatisierung dem Leser wichtige Informationen zum fiktionalen Universum, zu den handelnden Figuren, ihrer Gefühlswelt und der Motivierung ihrer Handlungen vorenthalten werden. In Chien de nuit erhält der Leser überhaupt keinen Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt der beiden Rechtsradikalen und muss selbst Erklärungen finden für ihre brutale Reaktion auf die Verweigerung von

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Feuer durch einen rauchenden Passanten. In Toute une année au soleil trifft der Leser immerhin auf indirekte Charakterisierungen der weiblichen Hauptperson Josette, aber die Gründe für das tragische Scheitern einer langjährigen Ehe muss er im Wesentlichen eigenständig rekonstruieren. In Un fait divers et d’amour gibt es keinerlei Einblick in die Beweggründe der schwangeren jungen Frau, die ihrem selbstlosen Helfer unterstellt, der Vater ihres ungeborenen Kindes zu sein. L’avenir de l’homme schließlich schildert kaum die Gefühle des Mannes, in dessen Armen ein Kind stirbt, weil er nicht die Möglichkeit hat, das medizinische Personal zu bestechen. Seine Emotionen sind allerdings so evident, dass ihre Aussparung keinen Komplexitätszuwachs bedeutet, was für die nicht ansatzweise vorhandene Innensicht in die korrupten Ärzte und Pfleger nicht zutrifft. In Bezug auf diese afrikanische Erzählung ist weiterhin die indirekte, nämlich über die bloße Beschreibung skandalöser Praktiken realisierte Appellfunktion als Verstoß gegen die Modalitätsmaxime zu werten, der aber aufgrund seiner Konventionalität nicht allzu komplex ausfällt. Dezidierte Verstöße gegen die 4. Untermaxime der Modalität (Der Reihe nach!) finden sich jedoch nur in Izzos Novelle Chien de nuit mit ihrer fixierten internen Fokalisierung, die dem Leser den Eindruck vermittelt, dem Geschehen unmittelbar beizuwohnen. In diesem Fall sind die Gedanken, die Gianni durch den Kopf schießen, tatsächlich unsystematisch und achronologisch, aufgrund von expliziten Zeitangaben und klaren thematischen Bezügen aber dennoch recht leicht einzuordnen. Letztlich weist die Komplexitätskategorie «Umgang mit den Grice’schen Maximen» für alle vier Novellen den mittleren Komplexitätswert 3 auf, der somit etwas geringer ausfällt, als die theoretischen Überlegungen zu streng intern fokalisierten und in medias res beginnenden Novellen dies erwarten ließen. Allerdings wirken sich die genannten Verstöße gegen die 1. Untermaxime der Quantität natürlich auf einige weitere Kategorien komplexitätssteigernd aus, in erster Linie «Leerstellen/Aussparungen» sowie «Komplexität der suppletiven Kontextbildung». Weil die «künstliche Einschränkung des Feldes» (Genette 1998/2010, 124) dem Leser Einblicke in die Gedanken und Gefühle zahlreicher Figuren verwehrt und die heterodiegetischen Erzähler sich mit Erklärungen und Kommentaren zurückhalten, entstehen Leerstellen in Bezug auf die Motivierung der Handlung, die beispielsweise im Fall des Gewaltausbruches in Chien de nuit anspruchsvolle Inferenzen verlangen, die die Verfügbarkeit von Hintergrundwissen psychologischer und soziologischer Natur voraussetzen. Die Komplexitätskategorie «Leerstellen/Aussparungen» erhält somit für alle vier Korpustexte ebenfalls den mittleren Wert 3. Die Verstöße gegen die Quantitätsmaxime sowie die Dynamisierung des Textbeginns und die damit verbundene Vortäuschung eines der Leserfigur bekannten fiktionalen Universums wirken sich weiterhin deutlich auf die Komplexität der

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

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suppletiven Kontextbildung aus, was in Kapitel 3.2.2 am Beispiel von Chien de nuit und Toute une année au soleil untersucht wurde. Weil die erste Hälfte von Toute une année au soleil unfokalisiert ist, während Izzos Novelle durchgängig intern fokalisiert ist, konnten einige Unterschiede in der Art der suppletiven Kontextbildung aufgezeigt werden, deren Komplexität aber in beiden Fällen letztlich auf den Wert 3 hinauslief. Es sei daran erinnert, dass die Analyse der Restitution des fiktionalen Universums in den beiden genannten Korpustexten die folgenden komplexitätssteigernden Verfahren aufgedeckt hat: ein geringes Maß an Explizitheit und Ausführlichkeit bei der räumlichen und zeitlichen Situierung der Handlung und dem Aufbau der Nicht-Reflektorfiguren; eine längere Dauer des Offenlassens zentraler Slots der Personen- und Orts-Frames; ein entsprechend langsamer Aufbau der Frames, der häufig mit der Instantiierung peripherer Slots beginnt und die Identität von Ort und Personen für den empirischen Leser länger im Unklaren belässt, und schließlich das Vorliegen zentraler Leerstellen in den Frames der NichtReflektorfiguren. Diese Verfahren wirken sich komplexitätssteigernd aus, weil sie mit einem hohen Maß an kontextabhängiger IMPLIZITHEIT einhergehen und erhöhte Anforderungen an die Konzentration und Kompetenz des Lesers und sein Hintergrundwissen stellen. In L’avenir de l’homme wird die suppletive Kontextbildung noch impliziter und verzögerter gestaltet als in Chien de nuit und Toute une année au soleil, obwohl sich die afrikanische Novelle durch eine sehr viel deutlichere Erzählerpräsenz auszeichnet. Das nachfolgend zitierte Incipit von Millogos Erzählung macht dem empirischen Leser die Orientierung im fiktionalen Universum äußerst schwer: «Il attendait dans la queue depuis que l’aube avait blanchi. Il lui semblait tenir des braises. En vain il avait supplié les hommes et les femmes en blouse blanche. Ici comme partout ailleurs c’est donnant donnant. ‹Fais on va fait. Qui est fou.› Tant pis pour qui n’entend ni ne parle français» (A, 49; meine Hervorhebung – kursiv: Einführung des erwachsenen Protagonisten; unterstrichen: Einführung des Kindes).

Der erste Protagonist wird mittels des kataphorischen Pronomens il eingeführt, dessen nominaler Bezugsausdruck broussard (‘Dörfler’) erst im letzten Viertel der Erzählung auftaucht. Der zweite Protagonist wird durch eine Metapher, des braises (‘glühende Kohle’), eingeführt, die der Leser eventuell durch die Lektüre des folgenden Satzes ansatzweise zu deuten vermag, wo mit der Paraphrase les hommes et les femmes en blouse blanche Ärzte und Schwestern bzw. Pfleger bezeichnet werden. Eine sichere Interpretation der Metapher des braises als fieberndes Kind kann aber erst im letzten Fünftel der Novelle durch die Aussage «L’enfant rendit l’âme dans les bras du broussard.» (A, 49) erfolgen. Die Paraphrase les hommes et les femmes en blouse blanche ist ebenfalls über vier Fünftel der Novelle hinweg das einzige Indiz für eine medizinische Einrichtung

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

als Ort der Handlung, was erst ganz am Schluss durch die direkt formulierten Filler l’infirmier und le dispensaire zweifelsfrei bestätigt wird. Der Hinweis auf die geographische Lage dieses Krankenhauses ist von äußerst komplexer Natur: der Leser muss sie nämlich aus den kursiv gedruckten Äußerungen in fehlerhaftem Französisch schließen, was die Schulbuchausgabe ihren Lesern durch die folgende Annotation erspart: «Les mots en italiques sont des expressions incorrectes, utilisées par les gens sans formation scolaire au Burkina Faso» (A, 49). Die zeitliche Situierung der Handlung schließlich verlangt ähnlich anspruchsvolle Inferenzleistungen seitens des Lesers, die die Verfügbarkeit von sehr speziellem politisch-historischem Wissen voraussetzen. Der zynische Abschlusskommentar des Erzählers «C’était par un jour radieux de la providentielle Année Internationale de l’Enfance.» (A, 50) liefert mit dem Verweis auf das von der Vollversammlung der Vereinten Nationen ausgerufene Internationale Jahr des Kindes nämlich den impliziten Hinweis auf 1979. Diesem extrem langsamen Aufbau von Personen-, Zeit- und Orts-Frames, der zudem mit impliziten Hinweisen arbeitet, die der Leser nur unter Hinzuziehung anspruchsvollster Wissensbestände einlösen kann, steht in Un fait divers et d’amour eine für einen modernen Text äußerst explizite und damit einfache suppletive Kontextbildung gegenüber: «Voici un fait divers. Pas banal, certes. Incroyable même, mais authentique. C’est arrivé au mois de novembre en 1980 à Casablanca. L’histoire de Slimane est celle d’un paradoxe : Ils étaient nombreux à attendre ce soir-là un taxi dans le froid et le désordre. Elle aussi attendait» (FD, 56).

Diese eindeutige, unmittelbare und auf die Realität des Lesers verweisende suppletive Kontextbildung ist offensichtlich der Tatsache geschuldet, dass der Erzähler seinen Text als fait divers deklariert, also als Alltagsgeschichte aus der Rubrik Verschiedenes, die einen authentischen Vorfall berichtet. Somit erfüllt der Erzähler zu Beginn seiner Geschichte die Erfordernisse dieser journalistischen Textsorte, indem er sofort die Antwort auf die Fragen wo? und wann? gibt. Die Einführung der beteiligten Personen und die Menge an Informationen, die der empirische Leser über sie erhält, folgt dann allerdings wieder eher dem Muster von Chien de nuit oder Toute une année au soleil. Damit ergeben sich im Bereich der suppletiven Kontextbildung doch einige Unterschiede hinsichtlich der Komplexität, die sich zwischen den Werten 2 für Un fait divers et d’amour und 4 für L’avenir de l’homme bewegt. Auch die Kategorie «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» weist für unsere vier modernen mimetisch erzählenden Novellen deutliche Unterschiede auf, die wieder stark damit zusammenhängen, wie genau die diskurstraditionellen Charakteristika der Kürze, der internen Fokalisierung und

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

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der Dynamisierung des Textbeginns im Einzelfall umgesetzt werden. Tendenziell scheinen die soeben nochmals resümierten typischen Verfahren im Rahmen der suppletiven Kontextbildung moderner Texte, insbesondere der langsame und mit peripheren Fillern beginnende Aufbau der Frames von Figuren und Handlungsorten sowie die fehlende Innensicht in die Nicht-Reflektorfiguren, auch die Etablierung der Themen zu verzögern und mitunter falsche Erwartungen aufzubauen, was die Komplexität dieser Kategorie natürlich erhöht. Diese Auswirkungen sind aber nicht zwingend, was am Beispiel der Novellen Chien de nuit und L’avenir de l’homme zu zeigen sein wird, deren Themenetablierung nicht oder kaum komplexer ausfällt als diejenige in La Parure oder Naïs Micoulin. Die incipits statiques bzw. progressifs dieser naturalistischen Novellen des 19. Jahrhunderts liefern mit der ausführlichen Vorstellung der Figuren, ihrer Beziehungen und sozialen Milieus bereits erste Filler der zentralen thematischen Frames wie z.B. Undurchlässigkeit der sozialen Schichten und Verknüpfung von Reichtum und Glück sowie Armut und Unglück im Fall von La Parure. In Izzos Novelle Chien de nuit mit ihrem incipit dynamique, ihrer fixierten internen Fokalisierung und der Schilderung eines kurzen, aber schicksalhaften Moments im Leben des Protagonisten, führen überraschenderweise gerade diese Charakteristika ebenfalls zu einer schnellen und verlässlichen Etablierung des zentralen Themas rechter Gewalt. Weil Giannis Blick bei den Passanten, die ihn um Feuer bitten, sofort auf die Hakenkreuz-Kette der Frau, den rasierten Schädel und den Kampfanzug des Mannes fällt und der Erzähler uns die Gedanken Giannis in diesem Moment kundtut: «Se battre ne lui faisait pas peur, à Gianni. La violence, il connaissait.» (Ch, 75), baut der Leser unmittelbar die Erwartung auf, dass es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen Gianni und den jungen Rechtsradikalen kommen wird, was sich in der Folge bestätigt. Die von Blüher (1985, 212) hervorgehobene typische Konzentration der Handlung auf ein zeitlich äußerst eingeschränktes, aber thematisch hervorgehobenes Ereignis und der unmittelbare (intern fokalisierte) Einstieg in dieses Ereignis sorgen somit für eine ebenfalls unmittelbare und explizite Etablierung des zentralen Themas rechte Gewalt, das durch die umfangreichen Frames Rechtsradikale (croix gammée, crâne rasé, veste de treillis, skinhead (4 ×Þ, ces enfoirés de salopards de skinheads) und Gewalt (se battre, la violence, armé, les bagarres, faire claquer ses doigts, se défendre, un coup de poing, un coup de boule, frapper, se cogner, siffler un chien, le choc dans son dos, violent, tomber à terre . . . ) auf der Textoberfläche in aller Deutlichkeit erkennbar wird. Dieselbe sofortige und explizite Etablierung des zentralen Textthemas Korruption findet man aus denselben diskurstraditionellen Gründen in L’avenir de l’homme verwirklicht. Hier wird im dritten und vierten Satz der Kurznovelle bereits recht klar auf die Praxis der Bestechung angespielt («En vain il avait supplié les

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

hommes et les femmes en blouse blanche. Ici comme partout ailleurs c’est donnant donnant.», A, 49), noch bevor dem Leser klar ist, wo und wann die Handlung spielt und welche Figuren daran beteiligt sind. Das Wort Bestechung selbst und damit der Frame-Kern wird zwar an keiner Stelle explizit verbalisiert, dafür finden sich aber zahlreiche, in der Summe völlig eindeutige Filler für den entsprechenden Frame. Somit ergeben sich für Chien de nuit und L’avenir de l’homme mit 1 bzw. 2 geringe Komplexitätswerte für die Kategorie «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen». Diese Kategorie fällt für die Novellen Toute une année au soleil und Un fait divers et d’amour deutlich komplexer aus, was im ersten Fall an einer Schlusspointe liegt, die allerdings nicht annähernd so unerwartet ausfällt wie in den prototypischen nouvelles à chute Happy Meal oder Iceberg, und im zweiten Fall an einem klassischen, durch nichts vorhersehbaren coup de théâtre. In Toute une année au soleil liegt der theoretisch bereits als plausibel vorgestellte Fall vor, dass sich der sehr langsame, mit peripheren Fillern beginnende Aufbau der Frames der handelnden Personen und der fehlende Einblick in die Gefühle Josettes auch komplexitätssteigernd auf die Etablierung der Themen auswirkt. Der Titel und die erste Hälfte der Novelle, die der Beschreibung des HautVivarais, der Umzugsvorbereitungen des Ehepaars sowie Pierres Liebe zu dieser Region gewidmet ist, geben noch keine bzw. falsche Hinweise auf das Thema der Erzählung. Der zu Beginn der zweiten Texthälfte befindliche Satz «Josette montait se coucher et son regard se troublait sur les lignes d’un livre sans réussir à accrocher le moindre mot.» (TAS, 51) liefert den ersten sicheren Hinweis darauf, dass Josette zerstreut und unglücklich mit ihrem Leben im Ruhestand ist. Diese Hinweise verdichten sich in der Folge und werden zu eindeutigen Fakten, als Josette sich zur heimlichen Flucht entschließt und dabei versehentlich von ihrem Mann erschossen wird. Das eigentliche Thema der Novelle, die Entfremdung zwischen langjährigen Ehepartnern, die sich nicht über ihre Wünsche und Gefühle verständigen können, findet sich aber auch in der zweiten Hälfte so gut wie gar nicht durch explizite Filler auf der Textoberfläche repräsentiert, sondern muss aus der tragischen Ahnungslosigkeit von Pierre und den Andeutungen hinsichtlich Josettes Unglück vom Leser inferiert werden. Ein etwas höherer Grad an Entsprechung zwischen den dominierenden Frames und dem eigentlichen Textthema findet sich in Un fait divers et d’amour, allerdings auch erst im letzten Zehntel der Novelle. Die ganze raumgreifende Schilderung des Einsatzes von Slimane für eine junge Schwangere und deren schamloses Ausnutzen seiner Hilfsbereitschaft sind letztlich nur Mittel zum Zweck, um Slimanes Liebe zu seiner Ehefrau deutlich werden zu lassen:

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

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«Ma femme est merveilleuse. Elle m’a donné trois beaux enfants, une fille et deux garçons, et beaucoup de bonheur . . . Elle est très bonne, ma femme» (FD, 57).

und im Rahmen der gerichtlichen Untersuchung Slimanes Zeugungsunfähigkeit aufzudecken. Der Erzähler selbst beschreibt diese unerwartete Wendung als coup de théâtre, der Slimanes Lebensglück zum Einsturz bringt, weil seine Frau ihn betrogen haben muss. Er verlässt daraufhin seine Familie, obwohl der Leser aufgrund seiner eigenen Äußerungen weiß, dass er sie über alles liebt. Das eigentliche Thema dieser Erzählung, nämlich die Ungleichheit von Männern und Frauen in der muslimischen Welt und ihre Konsequenzen für Paarbeziehungen, wird dann erst ganz am Schluss durch die Erklärungen von Slimanes Ehefrau deutlich: «Elle essaya d’expliquer à qui voulait bien l’écouter qu’elle n’avait jamais trompé son mari et que c’était par amour pour lui qu’elle s’était fait faire ces enfants. Comme elle le dit : ‹Un homme n’est jamais stérile. C’est toujours la faute de la femme !›» (FD, 58).

Diese Verzögerungen in der expliziten Etablierung des eigentlichen Textthemas in Un fait divers et d’amour sowie die vollkommen implizite Themenetablierung ohne korrespondierende Frames auf der Textoberfläche im Fall von Toute une année au soleil führen also zu erhöhten Komplexitätswerten von 3 bzw. 4 für die Kategorie «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen». Die zentrale Kategorie «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» erweist sich bei allen vier hier betrachteten Erzählungen nicht als einfach, aber auch nicht als auffallend komplex. Die mehr oder weniger stark ausgeprägte Tendenz zu einer internen oder phasenweise auch externen Fokalisierung (L’avenir de l’homme) und die damit verbundene Einschränkung der verfügbaren Information über die Gedanken und Gefühle der Figuren und die Motivierung der Handlung sowie der weitgehende Verzicht des Erzählers auf Kommentare und Erklärungen erleichtern dem Leser die Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene natürlich nicht. Dasselbe gilt beispielsweise für die äußerst komplexe räumliche und zeitliche Situierung der Handlung in L’avenir de l’homme oder die implizite Etablierung der Themen in Toute une année au soleil. Andererseits sorgen das mimetische Erzählen, die Darstellung eines plausiblen Wirklichkeitsausschnitts, die mit dem Frame-Wissen der Rezipienten in Einklang stehende Handlung und die vertrauten Themen für eine deutliche Einschränkung des Interpretationsaufwandes, zumal die Interpretation und Bewertung eines literarischen Textes ja nicht eine Lösung der aufgeworfenen Fragestellungen (rechte Gewalt, Stellung der Frau in der muslimischen Welt, Korruption) impliziert. Es sollte einem politisch interessierten Leser also recht leichtfallen, in Chien de nuit eine Warnung vor rechter Gewalt zu erkennen, der jeder zum Opfer fallen kann, und in L’avenir

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

de l’homme eine Verurteilung von Pseudo-Lösungen zum Schutz von Kindern und ein Anprangern von entwicklungshemmenden Praktiken in Afrika. Demgegenüber ist die psychologische Dimension von Toute une année au soleil – Entfremdung als Folge fehlender Kommunikation – aus den genannten Gründen etwas schwieriger zu inferieren und Tahar Ben Jelloun stellt noch deutlich höhere Anforderungen an seine Leser. Seine Erzählung Un fait divers et d’amour wirft nämlich zweifelsohne die Frage auf, welche Alternative die Ehefrau von Slimane denn gehabt hätte, als sie merkte, dass der gewünschte Nachwuchs ausblieb. Wenn man in diese Überlegung einsteigt, tun sich sehr schnell die Sackgassen auf, die aus der Ungleichheit der Geschlechter in weiten Teilen der muslimischen Welt resultieren. All diese kurz skizzierten Interpretationswege können natürlich nur unter Hinzuziehung von zusätzlichem Weltwissen gelingen, was auch auf die Inferenzen zutrifft, die aufgrund der zahlreichen Leerstellen und der mitunter sehr implizit gestalteten Suppletion des fiktionalen Universums erforderlich werden. Somit erhalten die Kategorien «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» und «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» für die vier untersuchten modernen Novellen Komplexitätswerte zwischen 2 und 4. Letztlich ergeben sich also für die hier betrachteten Kategorien, die aufgrund der diskurstraditionellen Merkmale der Kürze, der eingeschränkten Erzählperspektive und der initialen Dynamisierung zu erhöhter Komplexität neigen sollten, die folgenden Komplexitätswerte:

Tab. 40: Überblick: Komplexitätswerte einiger Kategorien für die modernen Kurznovellen. Toute une année au soleil

Un fait divers et d’amour

Chien de nuit

L’avenir de l’homme

Umgang mit den Maximen









Leerstellen/Aussparungen









Suppletive Kontextbildung









Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen









Anforderungen an das lebensweltliche Wissen









Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene









3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

419

Tatsächlich finden sich in 75% der Zellen erhöhte Komplexitätswerte von 3 bzw. 4, in 25% allerdings auch die geringen Komplexitätswerte 1 und 2. Damit fällt der Grad der Komplexität insgesamt etwas geringer aus, als die theoretischen Überlegungen zu den Auswirkungen der diskurstraditionellen Merkmale moderner mimetisch erzählender Kurznovellen auf die semantische Komplexität dies erwarten ließen. Der Komplexitätsfaktor kontextabhängige IMPLIZITHEIT ist aber aufgrund der eingeschränkten Erzählperspektive und der Vortäuschung eines dem narrataire bekannten Universums im Wesentlichen durchaus so am Werk, wie das zu Beginn dieses Kapitels prognostiziert und begründet wurde. Das folgende Schema soll das bereits erläuterte Ausstrahlen von Komplexität beginnend beim «Umgang mit den Grice’schen Maximen» resümieren: Verstöße gegen die 1. Untermaxime der Quantität lassen Komplexität der folgenden Kategorien steigen Umgang mit den Grice’schen Maximen Leerstellen/Aussparungen Komplexität der suppletiven Kontextbildung Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene

Inferenzen auf der Grundlage von zusätzlichem Weltwissen erforderlich ⇒ erhöhte Komplexität der Kategorie

Anforderungen an das lebensweltliche Wissen

Schema 14: Ausstrahlen von Komplexität in modernen Kurznovellen.

Die Analyse der vier psychologischen bzw. sozialkritischen Korpustexte des 20./21. Jahrhunderts hat allerdings gezeigt, dass die großen Spielräume bei der Gestaltung einer Erzählsituation, die nicht mehr den typischen auktorialen Erzähler und die typische Nullfokalisierung des 19. Jahrhunderts aufweist, sowie die ebenso große Variabilität bei der Ausformung eines prinzipiell dynamischen Erzählbeginns zum einen gewisse Unterschiede in den Komplexitätswerten der oben aufgeführten Kategorien bewirken und insgesamt auch den Grad der Komplexität nicht ausufern lassen. Außerdem stellen die thematisierten Merkmale der Kürze, der eingeschränkten Erzählperspektive sowie der Dynamisierung des Textbeginns natürlich für die betrachteten Texte noch kein vollständiges diskurstraditionelles Profil dar. Sie können von weiteren Merkmalen

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

wie beispielsweise in Un fait divers et d’amour überlagert werden, wo die im Titel schon angezeigte Orientierung an der journalistischen Textsorte des fait divers das oben visualisierte Ausstrahlen von Komplexität in einigen Bereichen bremsen kann. Die insgesamt durchschnittliche bis mäßig erhöhte Komplexität in den aufgezeigten Kategorien ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass die vier untersuchten Novellen mimetisch erzählen und in eindeutiger Weise aktuelle gesellschaftliche oder psychologische Probleme aufzeigen wollen. Somit verbieten sich im Prinzip eine extreme Form der internen Fokalisierung wie in La Jalousie, ein Erzählauftakt, der die Informationsfunktion völlig ausblendet, oder eine suppletive Kontextbildung, die gar keine Orientierung im fiktionalen Universum ermöglicht. Solche Merkmale und Verfahren mit der entsprechend höheren Komplexität begegnen eher in Texten der literarischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts, die im letzten Paragraphen dieses Kapitels zur Sprache kommen sollen. 3.4.2.2 Typische Komplexitätsmuster in nouvelles à chute Vor der Analyse typischer Formen des Ausstrahlens von Komplexität in nouvelles à chute soll nochmals kurz an die wesentlichen Charakteristika dieser Textgattung erinnert werden. Eine nouvelle à chute zeichnet sich durch ein äußerst überraschendes oder gar schockierendes Ende aus, das von Beginn an und oft auf sehr subtile Weise vorbereitet wird (cf. Herzberg 2011, 3). Die chute motiviert den Leser zu einer zweiten Lektüre, die dem Erfassen der Strategien dient, die ihn auf die falsche Fährte geführt haben (cf. Lebailly/Gamard 2004b, 3), und sie erfordert in der Regel auch eine völlige Neubewertung des Gelesenen bzw. den Aufbau eines gänzlich anderen Story- oder Handlungs-Frames. Unser Korpus beinhaltet mit La Parure (1884), Iceberg (1964) von Fred Kassak sowie Happy Meal (2000) drei prototypische nouvelles à chute und mit Toute une année au soleil (1994) eine Novelle, deren chute aufgrund von impliziten Hinweisen und dem Spiel mit wiederholten Erwartungsbrüchen etwas weniger überraschend ausfällt. Die Analyse der genannten nouvelles à chute offenbarte ein weiteres diskurstraditionelles bzw. narratologisches Merkmal dieser Gattung, das die Gestaltung der Erzählsituation betrifft. Der kleinste gemeinsame Nenner hinsichtlich der Inszenierung der jeweiligen chute besteht nämlich darin, dass dem Leser entscheidende Informationen über die Identität von Figuren oder Gegenständen der fiktionalen Welt zunächst vorenthalten und ganz am Ende auf prägnante Art und Weise nachgeliefert werden. Diese gattungstypische Strategie geht in den genannten vier Erzählungen (und vermutlich im Großteil der nouvelles à chute) mit einer zumindest phasenweisen Einschränkung der Erzählperspektive einher. Das Zurückhalten zentraler Informationen wird also durch eine durchgängige oder phasenweise interne oder externe Fokalisierung bzw. die für den Reflektormodus typische szenische Darstellung erreicht. Während die Erzählsituation in Happy Meal und Iceberg durch

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

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einen autodiegetischen Ich-Erzähler, das Präsens als Erzähltempus und eine an das erlebende Ich gekoppelte Fokalisierung gegeben ist, weisen La Parure und Toute une année au soleil mit ihren heterodiegetischen Erzählern Wechsel zwischen Nullfokalisierung und interner Fokalisierung auf. Bei den beiden zuletzt genannten Erzählungen fällt daher die Wahl einer eingeschränkten Erzählperspektive an inhaltlich entscheidenden Stellen umso mehr auf. In Toute une année au soleil wird die zentrale Passage, in der Josette die Flucht aus ihrem einsamen Landleben in Angriff nimmt, strikt aus der Perspektive ihres Mannes Pierre erzählt. Dieser ahnt nichts vom Unglück seiner Frau und hält die Gestalt, die in einer Novembernacht durchs Haus schleicht, für einen Einbrecher, den er schließlich erschießt. Die chute mit ihrem Wechsel zurück zur Nullfokalisierung (cf. die letzten vier Zeilen des nachfolgenden Zitats) offenbart dann, dass er somit seine eigene Frau getötet hat: «Pierre remuait dans son lit, dormant par bribes. Le craquement d’une marche de l’escalier le mit en éveil. Il se redressa et tendit l’oreille. On marchait dans la salle à manger. Il décrocha son fusil et, lentement [. . .], il progressa jusqu’à la chambre de Josette. Le corps de sa femme gonflait l’édredon. Pierre ne la réveilla pas et parvint jusqu’à la rambarde de bois qui surplombait le rez-de-chaussée. Une forme noire s’éloignait vers la porte d’entrée. L’inconnu se retourna brusquement pour prendre la valise posée près de lui. Pierre interpréta le geste comme une menace et fit feu à deux reprises. L’inconnu s’écroula [. . .]. [. . .] Josette gisait au milieu de son sang, sur le seuil de la maison. Elle avait réussi à ouvrir la valise, dans un dernier sursaut, et venait de quitter le monde le visage plongé dans les photos, les lettres, les souvenirs d’une vie dont elle refusait qu’elle se terminât là» (TAS, 52).

Auch in der (bezogen auf unser Korpus) einzigen nouvelle à chute des 19. Jahrhunderts, La Parure von Maupassant, sind die interne Fokalisierung und die szenische Darstellung in einer inhaltlich zentralen Passage auffällig. Als Mathilde bei ihrer reichen Freundin Mme Forestier Schmuck für den Ball des Ministeriums anprobiert, dominiert der Dialog zwischen den beiden Frauen und bestimmt der Wissens- und Wahrnehmungshorizont von Mathilde die Formulierungen une (superbe) rivière de diamants und son trésor. Der heterodiegetische Erzähler, der im Incipit und dem ausführlichen Porträt von Mathilde seine Übersicht demonstrierte, gibt diese also in der folgenden Passage zugunsten von Mathildes Wahrnehmungshorizont auf und lässt somit den narrataire ebenso wie Mathilde annehmen, dass das geliehene Schmuckstück echt und wertvoll ist: «Le lendemain, elle se rendit chez son amie et lui conta sa détresse. Mme Forestier alla vers son armoire à glace, prit un large coffret, l’apporta, l’ouvrit, et dit à Mme Loisel : ‹Choisis, ma chère.› [. . .] Tout à coup elle découvrit, dans une boîte de satin noir, une superbe rivière de diamants ; et son cœur se mit à battre d’un désir immodéré. Ses mains tremblaient en la prenant. Elle l’attacha autour de sa gorge, sur sa robe montante, et demeura en extase devant elle-même.

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Puis, elle demanda, hésitante, pleine d’angoisse : ‹Peux-tu me prêter cela, rien que cela ? – Mais oui, certainement.› Elle sauta au cou de son amie, l’embrassa avec emportement, puis s’enfuit avec son trésor» (Pa, 1201; meine Hervorhebung).

Die soeben vorgestellten Einschränkungen der Erzählperspektive auf den Blickwinkel einer der handelnden Figuren implizieren empfindliche Verstöße gegen die 1. Untermaxime der Quantität (Mache deinen Beitrag so informativ wie [. . .] nötig) auf den Ebenen der Kommunikation zwischen narrateur und narrataire sowie zwischen Autor und empirischem Leser, die den Komplexitätsfaktor kontextabhängige IMPLIZITHEIT in Gang setzen. Die Konsequenz ist vielfach das in Kapitel 3.4.2.1 für moderne Kurznovellen mit interner oder externer Fokalisierung und dynamischem Textbeginn bereits beschriebene Ausstrahlen von Komplexität. Dieses beginnt beim «Umgang mit den Grice’schen Maximen» und zieht erhöhte Komplexitätswerte bezüglich der Kategorien «Leerstellen/Aussparungen», «suppletive Kontextbildung», «Frames & die Etablierung von Themen», «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» sowie «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» nach sich. Die folgende Tabelle bestätigt erhöhte Komplexitätswerte in den genannten Kategorien für die drei nouvelles à chute des 20./21. Jahrhunderts, wohingegen La Parure (1884) insgesamt deutlich einfacher ausfällt. Aber auch Toute une année au soleil weist etwas geringere Komplexitätswerte in den folgenden Kategorien auf als Iceberg und Happy Meal.

Tab. 41: Übersicht: Komplexitätswerte einiger Kategorien für die vier nouvelles à chute. La Parure

Toute une année Iceberg au soleil

Happy Meal

Umgang mit den Maximen









Leerstellen/Aussparungen









Suppletive Kontextbildung

–







Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen

–









–





Bedeutungserschließung der zweiten semiotische Ebene

–



–



Anforderungen an das lebensweltliche Wissen





–



Andeutungen/Evokationen

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

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Diese Unterschiede sind im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass die Zugehörigkeit zur Gattung der nouvelle à chute in der Regel noch kein vollständiges diskurstraditionelles Profil einer gegebenen Novelle darstellt und der Grad der Überraschung, den die chute dem Leser bereitet, unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Alle vier Korpustexte können beispielsweise ebenfalls als psychologische Novellen charakterisiert werden, wobei Iceberg auch Züge einer Kriminalgeschichte trägt und La Parure ganz wesentlich durch die naturalistische Ästhetik beeinflusst ist. Letztlich bestimmen die Grundsätze und Intentionen des Naturalismus die Gestaltung von Maupassants Novelle stärker als die Inszenierung eines überraschenden Endes und sind die aus der phasenweisen internen Fokalisierung resultierenden Verstöße gegen die 1. Untermaxime der Quantität weniger frequent als in den drei anderen nouvelles à chute. Dementsprechend fällt in La Parure die suppletive Kontextbildung – abgesehen von der titelgebenden Halskette – sehr ausführlich und verlässlich aus, liefert der Erzähler bereits im ersten Paragraphen ein Normensystem, das die Interpretation der Erzählung unterstützt, und werden von Beginn an thematische Frames etabliert. Auch der Aufwand der Bedeutungerschließung der zweiten semiotischen Ebene fällt letztlich nicht allzu hoch aus, obwohl die Erzählung polyvalent ist. Der Erzähler legt aber durch seine Kommentare, seine (indirekte) Charakterisierung Mathildes und auffällige stilistische Gestaltungen einige Interpretationen nahe. Die chute verstärkt dann letztlich nur eine von Mathilde bereits angedeutete Sichtweise, dass nämlich das Leben oftmals nichts anderes ist als ein «sinnloses Zusammentreffen blinder Zufälle und nutzlosen Leids» (Blüher 1976, 195). Aufgrund der Dominanz der naturalistischen Tradition weist La Parure also letztlich ein Komplexitätsprofil auf, das sich in den Kategorien, die durch Verstöße gegen die 1. Untermaxime der Quantität zu erhöhten Komplexitätswerten neigen, doch deutlich von den drei nouvelles à chute des 20./21. Jahrhunderts unterscheidet. Die insgesamt etwas geringeren Komplexitätswerte von Toute une année au soleil gegenüber Iceberg und Happy Meal lassen sich ebenfalls auf diskurstraditionelle Unterschiede und eine weniger überraschende chute zurückführen. Didier Daeninckx’ Novelle weist keine durchgängige interne Fokalisierung auf wie Iceberg und Happy Meal, sondern Wechsel zwischen Nullfokalisierung und interner Fokalisierung. Das wirkt sich insbesondere auf die Komplexität der Kategorien «Umgang mit den Grice’schen Maximen», «suppletive Kontextbildung» sowie «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» etwas entlastend aus. Außerdem wird in Toute une année au soleil die Identität einer der handelnden Figuren nur kurzfristig im Unklaren gelassen und führt ein Spiel mit dem wiederholten Aufbauen und Brechen von Erwartungen und das Einflechten von Andeutungen zu einem weniger starken finalen Überraschungseffekt.

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Was das Komplexitätsprofil aller drei nouvelles à chute des 20./21. Jahrhunderts von den Komplexitätsprofilen der in Kapitel 3.4.2.1 vorgestellten modernen intern fokalisierten und in medias res beginnenden Kurznovellen unterscheidet, sind deutlich höhere Komplexitätswerte hinsichtlich der Kategorie «Frames/ Frame-Systeme & die Etablierung von Themen»: 4 für Toute une année au soleil und sogar 5 für Iceberg und Happy Meal. Diese hohen Komplexitätswerte sind eine unmittelbare Konsequenz des Zurückhaltens von Informationen über die Protagonisten (ob durchgängig wie in Iceberg und Happy Meal oder zwischenzeitlich wie in Toute une année au soleil) und des bewussten Legens einer falschen Fährte. In Toute une année au soleil muss das zentrale Textthema Entfremdung zwischen langjährigen Ehepartnern aus wenigen Details erschlossen werden und manifestiert sich in aller Deutlichkeit erst in der chute. In Happy Meal wird ein derart raffiniertes Spiel mit vagen Fillern betrieben, dass der Leser erst in der chute begreift, dass das Thema der von ihm gelesenen Novelle nicht etwa eine romantische Liebesbeziehung, sondern eine Vater-Tochter-Beziehung ist. Diese mehr oder weniger krassen Erwartungsbrüche hinsichtlich des Textthemas sind also charakteristisch für nouvelles à chute und führen in ihrem Komplexitätsprofil zu einem charakteristisch hohen Komplexitätswert der Kategorie «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen». Die in den Novellen Iceberg und Happy Meal gegenüber Toute une année au soleil noch etwas stärker erhöhten Komplexitätswerte in den Kategorien «Umgang mit den Grice’schen Maximen», «suppletive Kontextbildung», «Leerstellen/Aussparungen», «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» sowie im Fall von Happy Meal auch «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» sind zweifelsohne auf Strategien zurückzuführen, die der Erzeugung von Mehrdeutigkeit auf der Ebene der literarischen Mimesis dienen. In den Novellen von Anna Gavalda und Fred Kassak wird die wahre Identität der jeweiligen Protagonisten, Valentine und Georges, die gleich zu Beginn eingeführt werden und durchgängig am Geschehen beteiligt sind, erst in der chute enthüllt. Dies kann nur gelingen, wenn neben die Verstöße gegen die Quantitätsmaxime auch Verstöße gegen die 1. und 2. Untermaxime der Modalität (1. Vermeide Dunkelheit des Ausdrucks, 2. Vermeide Mehrdeutigkeit) treten und mittels verschiedener Strategien die Geschehnisse der ersten semiotischen Ebene ambig gestaltet werden. Aufgrund von flächigen Verstößen gegen gleich mehrere Untermaximen der Grice’schen Maximen sind in Happy Meal und Iceberg folglich die Komplexitätsfaktoren 1, ABWEICHUNGEN, und 2, kontextabhängige IMPLIZITHEIT, gemeinsam am Werke, was die Ursache für die hohen Komplexitätswerte in den oben aufgeführten Kategorien darstellt. Da beide Erzählungen im Wesentlichen dieselben Strategien zur Erzeugung von Ambiguität und zur Inszenierung der chute einsetzen und diese mit Sicherheit

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

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in weiteren Texten zu finden sind, können sie als eine etablierte Spielart von nouvelles à chute betrachtet werden, deren Komplexitätsprofil ebenfalls eine musterhafte Intensität ausbildet. Deutliche und flächige Verstöße gegen die Quantitäts- und Modalitätsmaxime setzen in diesem Fall ein Ausstrahlen von hoher Komplexität in Gang, das im Folgenden kurz erläutert werden soll. Dazu greifen wir auf die Ergebnisse zurück, die am Beispiel von Happy Meal in Kapitel 3.3.1 im Rahmen der Untersuchung von Ambiguität als Quelle von Komplexität bereits ermittelt wurden, untersuchen, wie die identifizierten Strategien in Iceberg zum Einsatz kommen und wie sie die Komplexität beider Erzählungen beeinflussen. Dazu muss zunächst kurz der Inhalt der nouvelle à chute Iceberg (1964) von Fred Kassak resümiert werden, die sich diskurstraditionell weiterhin als Mischung aus Kriminalnovelle und psychologischer Novelle präsentiert. Im Zentrum steht die Liebe des autodiegetischen Ich-Erzählers Bernard zu Irène und seine Eifersucht gegenüber Georges, der eine Beziehung zwischen Bernard und Irène unmöglich macht. Georges’ Identität sowie die Natur seiner Beziehung zu Irène bleiben bis zum Schluss der Novelle im Unklaren und werden erst im Rahmen der chute enthüllt – ein bereits aus Happy Meal bekanntes Phänomen. Die Erzählung spielt an einem Septemberwochenende im fiktiven Ort Bouville an der französischen Kanalküste, wo Bernards Familie eine Villa besitzt. Bernard und Irène entspannen sich im Garten, während Georges im Inneren des Hauses seine Siesta macht. In mehreren Rückblenden schildert der Ich-Erzähler, wie er Irène und schließlich auch Georges kennengelernt hat. An einem Frühlingsabend im Pariser Parc Monceau hat er die weinende Irène zum ersten Mal getroffen und ihr einen Strauß Blumen geschenkt. Die beiden haben sich angefreundet, sind gelegentlich abends ausgegangen und Bernard konnte zunächst annehmen, dass sie ungebunden ist. Als er sie zu einer Ausstellung an einem Sonntagnachmittag eingeladen hat, hat sie jedoch erklärt, dass sie an den Wochenenden niemals Zeit habe und ihm von Georges erzählt. Letzterer wird dem Ich-Erzähler einige Zeit später vorgestellt und bei diesem Treffen hat Bernard den Eindruck, nicht zu existieren, und versteht, dass die Liebe zwischen Irène und Georges keinen Platz für einen Dritten lässt. Da er selbst Georges jedoch für einen hässlichen und unsensiblen Zeitgenossen hält («Mais il était laid [. . .] et son caractère semblait aussi malgracieux que son apparence.», I, 73), der Irène daran hindert, sich einen Mann zu suchen, der ihr ernsthafte Gefühle entgegenbringt, fasst er den Plan, Georges aus dem Weg zu räumen. An besagtem Septemberwochenende in Bouville schlägt Bernard Irène deshalb einen Ausflug zu dritt zu einem Aussichtspunkt an der Steilküste vor. Dort will er einen Unfall provozieren, dem Georges zum Opfer fallen soll. Erst in den letzten Zeilen der Novelle wird deutlich, dass Bernard verstohlen die Bremse eines Kinderwagens gelöst hat. Irène gelingt es aber, den die abschüssige Straße hinabrollenden Wagen aufzuhalten und ihren

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

drei Monate alten Sohn zu retten, der das Ergebnis einer unglücklichen Liebe ist. Die Novelle endet mit der stillen Drohung des Erzählers, seinen mörderischen Plan an einem anderen Wochenende zu verwirklichen. Happy Meal und Iceberg weisen zunächst eine sehr ähnliche Erzählsituation auf: ein autodiegetischer Ich-Erzähler wendet sich im Präsens (abgesehen von den Rückblenden in Iceberg) an einen narrataire, dem das fiktionale Universum bekannt ist, beide Erzählungen fokalisieren im Wesentlichen durch das erlebende Ich und beginnen in medias res. Diese diskurstraditionellen Entscheidungen führen auf der Ebene der Autor-Leser-Kommunikation zu Verstößen gegen die Quantitäts- und Modalitätsmaxime. Diese manifestieren sich zuallererst in einer äußerst reduzierten, ambigen und damit komplexen suppletiven Kontextbildung in Bezug auf die handelnden Figuren, die zentrale Slots der Personen-Frames sehr lange – nämlich bis zur chute – offenlässt. In Happy Meal werden die beiden Protagonisten durch Deiktika – je, cette fille – eingeführt, in Iceberg durch Deiktika und unvermittelte Namensnennungen: je, Irène, Georges. Weder in Happy Meal noch in Iceberg finden sich in der Folge eindeutige Filler für die Personen-Frames von cette fille bzw. Georges und außerdem ermöglicht die autodiegetische Ich-Erzählung keine Innensicht in diese Protagonisten, die ihre Kindlichkeit aufdecken könnte. Die Verstöße gegen die Quantitäts- und Modalitätsmaxime wachsen sich somit auch zu Leerstellen in Bezug auf die Motivation der Handlung aus, die den Komplexitätswert der entsprechenden Kategorie erhöhen. In beiden Novellen bedient sich der Autor aber nicht nur unspezifizierter Kontexte, sondern auch sprachlicher Ambiguität im engeren Sinne, um die Mehrdeutigkeit auf der Ebene der literarischen Mimesis zu realisieren. Anna Gavalda wählt für die Koreferenzkette von Valentine semantisch vage Lexeme (cette fille, cette jeune personne, la plus jolie fille de la rue, ma chérie) in Bezug auf das Alter und ansonsten nur Pronomen der 3. Person Singular. In Iceberg findet sich lexikalische Ambiguität nicht in der Koreferenzkette von Georges, aber in Bezug auf seinen Wagen (voiture), den der Erzähler zur Umsetzung seiner Mordpläne nutzen will. Als Bernard la voiture als bessere Alternative zu Gift als Mordwerkzeug in Betracht zieht, wird ein Erstleser von Iceberg wohl die Bedeutungsvariante Auto dieses Polysems aktualisieren: «J’ai tout envisagé, même du poison, mais rien ne convenait. Trop dangereux pour moi, pas assez pour lui. Je commençais à désespérer quand j’ai pensé à la voiture» (I, 74).

Die technische Manipulation an einem Auto begegnet schließlich sowohl im echten Leben als auch in Krimis nicht allzu selten als vermeintlich diskrete Mordstrategie. Als Bernard Irène aber eine balade avec la voiture und nicht etwa eine balade en voiture vorschlägt, Irène am Aussichtspunkt auf der Steilküste die

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

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Bremse feststellt und der Ich-Erzähler sie mit einem raschen Fußtritt (!) löst, muss die gewählte Bedeutungsvariante revidiert werden: «Nous nous arrêtons près du petit rond-point. Irène bloque le frein et se dirige aussitôt vers la table d’orientation. [. . .] Georges, toujours aussi indifférent et qui ne s’intéresse pas au paysage, reste dans la voiture. Jusqu’à présent, tout s’est bien passé comme à l’accoutumée. Mais cette fois, je fais un petit geste de plus : après avoir laissé galamment Irène me précéder, d’un coup sec du pied, je débloque la pédale du frein» (I, 75).

Weil einige Filler (s.u.) dafür sprechen, dass Georges bereits ein betagter Mann ist, werden die meisten Erstleser nach der zitierten Passage die Lesart Rollstuhl (voiture d’infirme) des Polysems voiture wählen, was sich erst in der chute erneut als falsch herausstellen wird und schließlich zu Kinderwagen (voiture d’enfant) korrigiert werden muss: «[. . .] Irène, toute seule, a réussi à stopper la voiture. [. . .] – Georges, mon chéri, sanglote-t-elle, mon ange, mon trésor, mon tout-petit ! Elle le berce. Elle lui murmure des mots mystérieux, qu’il comprend et qui l’apaisent. Ils se sourient ; de nouveau les voilà ensemble, complices, dans un tête-à-tête dont je suis exclu. Je n’existe plus. Irène ne m’accorde pas un regard. Elle ne paraît pas soupçonner la responsabilité que j’ai eue dans l’accident. Si elle s’en doutait, me dénoncerait-elle ? Ça ferait bien l’affaire des journaux à sensation : ‹Un jeune homme tente de supprimer le bébé de trois mois pour épouser la mère . . . ›» (I, 76s.).

Dieser bewusste Einsatz von lexikalischer Ambiguität oder Vagheit, der sich in beiden Erzählungen sowohl auf den Titel als auch auf weitere Lexeme erstreckt und erst in der chute disambiguiert werden kann, erhöht sowohl in Happy Meal als auch in Iceberg die Komplexitätswerte der Kategorien «Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik» (in geringem Maße), «Andeutungen/Evokationen» und «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen». Die Verstöße gegen die 1. und 2. Untermaxime der Modalität manifestieren sich aber in beiden Novellen am deutlichsten auf der Ebene der dominierenden Frames, wo sie ganz wesentlich zur Irreführung der Rezipienten beitragen. Sowohl in Happy Meal als auch in Iceberg finden sich nämlich zahlreiche vage bzw. ambige Filler oder sogar Subframes, die zu unterschiedlichen Frames gehören könnten. In Happy Meal begegnen zum Beispiel viele Filler, die sowohl in einen Vater-Tochter-Beziehungs-Frame als auch in einen Frame romantische Liebesbeziehung integriert werden können, mitunter einen höheren Grad an Prototypikalität im ersten, mitunter im zweiten aufweisen, aber niemals im jeweils anderen Frame ungewöhnlich erscheinen. Auch im Bereich der Andeutungen und Evokationen findet sich diese Strategie wieder, die auch Fred Kassak in Iceberg nutzt, wenngleich sie dort bezüglich Subtilität und Stimmigkeit nicht

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ganz so gelungen ausfällt wie in Happy Meal. Zunächst setzen Anna Gavalda und Fred Kassak auf typische Lese- und Verstehensstrategien, um den Mangel an Kontextualisierung im Zusammenhang mit der Einführung der Protagonisten unauffällig zu gestalten. Die Rezipienten sind es nämlich gewohnt, auf der Grundlage der instantiierten Frames, Inferenzen zu ziehen und Leerstellen zu füllen, was ihnen in beiden Novellen scheinbar mühelos gelingt. Im Erzählauftakt von Happy Meal finden sich typische Filler des Frames romantische Liebesbeziehung und bei der Einführung der Figur des Georges in Iceberg werden sofort die Frames Rivalität und Eifersucht instantiiert und Georges als Konkurrent des Ich-Erzählers um Irènes Gunst präsentiert: «Elle a refermé les yeux. Elle doit penser à Georges. [. . .] Je suppose que le mariage lui aurait mieux convenu qu’une aventure, mais Georges lui interdit même d’y penser. [. . .] Je ne la trouve ni gentille, ni délicieuse, ni charmante et elle n’est pas mon amie. Je voudrais simplement l’avoir avec moi le reste de ma vie. Et elle est à Georges . . . » (I, 68).

Die meisten Leser werden somit annehmen, dass Georges ein erwachsener Mann und der Geliebte von Irène ist. Der Nebensatz mais Georges lui interdit même d’y penser hat zwar zwei Lesarten: 1. der erwachsene Mann Georges schließt eine Heirat mit Irène aus, 2. Georges als Begleitumstand von Irènes Leben macht eine Heirat unmöglich, von denen tatsächlich die zweite «richtig» ist. Aufgrund der unmittelbar instantiierten Frames Eifersucht und Rivalität führt der Text den Leser aber auf die falsche Fährte und er «sieht» zunächst nur Lesart 1. Diese Lesart in Verbindung mit der Tatsache, dass Irène und Georges sich nur an den Wochenenden sehen können («Et puisqu’ils ne pouvaient se voir pendant la semaine, les week-ends étaient à lui.», I, 72), legt zudem die Vermutung nahe, dass Georges bereits verheiratet ist und Irène und er deshalb eine heimliche Wochenendbeziehung führen. Zahlreiche Filler und ganze Subframes scheinen in der Folge sowohl den Frame romantische Liebesbeziehung zwischen Georges und Irène zu bestätigen als auch den Frame erwachsener oder sogar alter Mann. Als Irène ihren Liegestuhl im Garten verlässt, um nach Georges zu sehen, und lange nicht zurückkehrt, steigt Wut im eifersüchtigen Ich-Erzähler auf. Er geht schließlich ebenfalls ins Haus und als er vor der Tür zu Georges’ Zimmer das Geräusch von Küssen hört, tritt er ohne Anzuklopfen ins Zimmer und bringt Irène somit in arge Verlegenheit: «Je pénètre à mon tour dans la villa et monte l’escalier. Je m’arrête devant la porte de leur chambre. Pas besoin de tendre l’oreille pour entendre le bruit des baisers à l’intérieur. C’est plus fort que moi, j’entre. Irène se lève vivement du lit en reboutonnant son corsage. Elle est devenue très rouge. Georges, qui est resté allongé, me regarde entrer sans piper.

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

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Vous auriez pu frapper, remarque Irène d’un ton pincé. Pardonnez-moi, dis-je, mais je ne pensais pas qu’à cette heure-ci, vous . . . » (I, 72s.).

Küsse, das hektische Aufstehen vom Bett, das Zuknöpfen der Corsage, Irènes Erröten und ihr spitzer Hinweis, dass Bernard hätte anklopfen können, werden die meisten Erstleser der Novelle als Indiz für sexuelle Handlungen werten, die einen plausiblen Subframe im Frame romantische Liebesbeziehung darstellen. Bei einer zweiten Lektüre und dem Wissen aus der chute, wird der Leser feststellen, dass die beschriebenen Handlungen und Reaktionen ebenso gut in den Frame Stillen integrierbar sind und offenbaren, dass Georges ein Baby ist. Wie in Happy Meal findet man auch in Iceberg ambige Evokationen und dasselbe direkte Nebeneinander von Fillern und/oder Evokationen, von denen die einen beispielsweise eine etwas höhere Prototypikalität im Baby-Frame, die anderen im Frame alter Mann haben, was die folgende Beschreibung bzw. Charakterisierung Georges’ durch den Ich-Erzähler beweist: «Il aurait été beau encore ! Mais il était laid – une espèce d’avorton à moitié chauve – et son caractère semblait aussi malgracieux que son apparence. Tel était celui qui empêchait Irène de rechercher un homme capable de lui apporter un amour sérieux. Un homme, qui lui au moins, l’épouserait. Moi. Et elle gâchait sa vie pour un être qui, dans son inconscience, ne s’apercevait même pas du sacrifice» (I, 73).

Wird ein männliches Wesen als hässlich (laid) und zur Hälfte kahl (à moitié chauve) beschrieben und sein Charakter als ebenso tölpelhaft und schroff (malgracieux) wie sein Aussehen, wird kaum ein Leser an einen Säugling denken, sondern vielmehr an einen nicht mehr jungen Mann. Das liegt zum einen an der derben Wortwahl, zum anderen daran, dass man den gering ausgeprägten Haarwuchs bei dreimonatigen Babys eigentlich als selbstverständlich und nicht erwähnenswert erachtet. Für Männer ist die Eigenschaft des Kahlseins hingegen ein prägnanter Aspekt ihrer äußeren Erscheinung. Die Wortwahl une espèce d’avorton (etwa: ‘elende Missgeburt’) wird man bei einer zweiten Lektüre wahrscheinlich als klares Indiz für ein Baby werten, allerdings sind mit Sicherheit häufig schon Erwachsene in dieser Form beschimpft worden, weshalb die Beschreibung auch problemlos in einen Frame älterer Mann integriert werden kann. Schließlich wird der Verweis auf Georges’ inconscience beim ersten Lesen vermutlich im Sinne von Leichtfertigkeit oder Gedankenlosigkeit verstanden, beim zweiten Lesen hingegen wohl eher die Bedeutungsvariante Unbewusstheit aktualisiert, die einen Säugling treffend charakterisiert. Der Verweis auf Georges’ Kahlköpfigkeit und seine sieste am Textanfang sind letztlich zentrale ambige Filler, die ebenso gut in einen Baby-Frame wie in einen Frame alter Mann integrierbar sind. Diese Filler bewirken in der Folge auch, dass nach dem

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Verwerfen der Bedeutungsvariante Auto von voiture die Erstleser die Bedeutung Rollstuhl aufrufen werden und erst dann in Kinderwagen korrigieren, als Irène Georges als mon tout-petit bezeichnet und in ihren Armen wiegt. Diese nochmals kurz umrissenen diskurstraditionellen und semantischen Strategien – Ich-Erzählung mit Fokalisierung durch das erlebende Ich und Beginn in medias res, extrem verzögerte suppletive Kontextbildung, Rückgriff auf lexikalische Ambiguität und Vagheit, Legen falscher Fährten durch ein ausgeklügeltes Spiel mit vagen bzw. ambigen Fillern – führen also bei beiden nouvelles à chute mitunter zu deutlich erhöhten Komplexitätswerten in Bezug auf die Kategorien «Umgang mit den Grice’schen Maximen» (Happy Meal: 4/Iceberg: 4), «suppletive Kontextbildung» (Happy Meal: 5/Iceberg: 4), «Leerstellen/Aussparungen» (3/3) und «Andeutungen/Evokationen» (2/2). Die Wirkung dieser komplexitätssteigernden Strategien ist eine subtile Ambiguität im Bereich der literarischen Mimesis, die die chute vorbereitet und ermöglicht und erst bei einer zweiten Lektüre vom Rezipienten wahrgenommen wird. Folglich kommt insbesondere der Kategorie «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» für beide Novellen mit 5 ein sehr hoher Komplexitätswert zu. In beiden Erzählungen werden nämlich durch das Spiel mit ambigen bzw. vagen Fillern und lexikalischer Ambiguität systematisch Erwartungen aufgebaut und in der Folge bzw. vor allem in der chute wieder gebrochen, was in beiden Fällen den Aufbau eines völlig anderen Handlungsschemas, eine erneute Lektüre zur Wahrnehmung der falschen Fährte und eine Neubewertung der Protagonisten und ihrer Beziehungen verlangt. Im Fall von Happy Meal kommt hinzu, dass trotz des Aufdeckens des Alters von Valentine in der chute die Ambivalenz dieser Figur und die Ambiguität der Vater-Tochter-Beziehung erhalten bleiben und vom Leser unter Hinzuziehung von psychologischem und soziologischem Wissen interpretiert und bewertet werden müssen. Auch die Kategorien «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» sowie «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» weisen folglich mit 3 eine mittlere Komplexität auf. Bei Iceberg stellt sich die Lage nach der chute etwas anders dar, weil der schockierte Leser Bernard unweigerlich als grausam, gewissenlos und gestört beurteilen wird und die Ambiguität auf der Ebene der Ereignisse und Beschreibungen letztlich als Produkt seiner kranken Psyche werten wird, was keine anpruchsvolle Interpretation auf der Basis von Fachwissen nötig macht. Die große Mehrheit der Leser wird eine enge, körperbetonte Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem dreimonatigen Baby als biologischen Normalfall betrachten, der keine Konkurrenz zu einer Liebesbeziehung zwischen erwachsenen Partnern darstellt. Die falsche Fährte, sich Georges als betagten Mann vorzustellen, mag den Leser darauf aufmerksam machen, dass Kinder und alte Menschen gleichermaßen hilfsbedürftig sind, was wahrlich keine neue – vielleicht aber eine gerne verdrängte – Erkenntnis darstellt. Insgesamt

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

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sprechen diese kurz skizzierten Interpretationsansätze der nouvelle à chute Iceberg somit eher für eine geringe Komplexität von 1–2 in Bezug auf die Kategorien «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» sowie «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen». Die beiden Erzählungen Happy Meal und Iceberg belegen somit, dass nouvelles à chute, die ihre Schlusspointe durch das subtile Erzeugen von Ambiguität auf der ersten semiotischen Ebene inszenieren, auch auf der zweiten semiotischen Ebene polyvalent ausfallen können (Happy Meal), ebenso gut aber auch eine eher eindeutige Interpretation nahelegen können (Iceberg), weil durch die chute die Ambiguität auf der Ebene der Ereignisse im Wesentlichen behoben wird. Im ersten Fall strahlen die Verstöße gegen die 1. Untermaxime der Quantität sowie die 1. und 2. Untermaxime der Modalität auf den «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» und die «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» aus, im zweiten Fall weisen die beiden Kategorien eher geringe Komplexitätswerte auf. Abschließend sind die folgenden Erkenntnisse zum Ausstrahlen von Komplexität in nouvelles à chute festzuhalten. In den vier nouvelles à chute unseres Korpus und wahrscheinlich in der großen Mehrheit der Exemplare dieser Gattung ist ein deutliches Wirken des Komplexitätsfaktors kontextabhängige IMPLIZITHEIT festzustellen. Es liegen Verstöße gegen die 1. Untermaxime der Quantität (Mache deinen Beitrag so informativ wie (für die gegebenen Gesprächszwecke) nötig) vor, die häufig bedingt sind durch eine interne oder externe Fokalisierung in zentralen Passagen. Das Ausstrahlen von Komplexität beginnend beim «Umgang mit den Grice’schen Maximen» kann allerdings wie im Fall von La Parure gedämpft werden, weil andere Diskurstraditionen (z.B. der Naturalismus) den Text stärker prägen, als die Inszenierung der chute es tut. Liegen solche gegenläufigen Traditionen nicht vor, stellt man bei vielen nouvelles à chute dasselbe Ausstrahlen von Komplexität fest, das in Kapitel 3.4.2.1 bereits für moderne Kurznovellen mit interner oder externer Fokalisierung und dynamischem Textbeginn konstatiert wurde. Ausgehend vom «Umgang mit den Grice’schen Maximen» erfahren dann die Kategorien «suppletive Kontextbildung», «Frames & die Etablierung von Themen» sowie «Leerstellen/Aussparungen» und mitunter auch der «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» und die «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» (deutlich) erhöhte Komplexitätswerte. Diese Kettenreaktion erhöhter Komplexitätswerte ist noch etwas stärker ausgeprägt, wenn die Schlusspointe wie bei Happy Meal und Iceberg im Enthüllen der Identität eines Protagonisten besteht, der über die gesamte Textlänge hinweg am Geschehen beteiligt war. In diesen Fällen treten beinahe zwingend neben die Verstöße gegen die Quantitätsmaxime auch Verstöße gegen die 1. und 2. Untermaxime der Modalität und ist der Komplexitätsfaktor 1, ABWEICHUNGEN von

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

sprachlichen Normen und Traditionen, ebenso an der Entstehung der Textkomplexität beteiligt wie der Faktor 2, kontextabhängige IMPLIZITHEIT. In der Regel führt dies zur Gestaltung auffallend ambiger Texte, die eine subtile, oft erst beim erneuten Lesen augenfällige Mehrdeutigkeit auf der Ebene der literarischen Mimesis aufweisen, dazu häufig auf lexikalische Ambiguität zurückgreifen und bezüglich der instantiierten Frames ein raffiniertes Spiel mit uneindeutigen Fillern betreiben – zumindest findet man diese komplexen Strategien in zwei zeitlich relativ weit auseinanderliegenden Texten (Iceberg (1964), Happy Meal (2000)) in auffallend ähnlicher Form. Diese Spielart der nouvelles à chute führt zu deutlich erhöhten Komplexitätswerten der Kategorien «suppletive Kontextbildung» (4 bzw. 5) und «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» (5), was dem frappierenden Brechen von Lesererwartungen, der Erfordernis einer analytischen Zweitlektüre und Neubewertung des Gelesenen geschuldet ist. Die Ambiguität der ersten semiotischen Ebene kann weiterhin wie in Happy Meal trotz der Auflösung in der chute bestehen bleiben (Valentine hat kindliche und frauliche Züge) und eine Vielzahl von Lesarten ermöglichen, was dann auch die Komplexitätswerte der Kategorien «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» und «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» steigen lässt. Somit konnte zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass erstaunlicherweise auch mimetisch erzählende Novellen aufgrund der kunstvollen und komplexen Strategien, die zur Inszenierung einer chute erforderlich sind, eine auffällig hohe Komplexität in einem Großteil der 14 hier betrachteten Komplexitätskategorien aufweisen können. 3.4.2.3 Typische Komplexitätsmuster in nicht-mimetisch erzählenden Novellen Gemäß Blüher (1985, 208s.) stehen sich in der Novellistik des 20. Jahrhunderts zwei Gruppen von Novellenmodellen gegenüber: zum einen die an die Tradition des 19. Jahrhunderts anschließenden illusionistisch erzählenden Novellen, zum anderen die Gruppe der nicht-mimetisch erzählenden Novellen, zu der in erster Linie die symbolischen Novellen (in unserem Korpus vertreten durch Christine (1924) und Léviathan (La Traversée inutile) (1926) von Julien Green) und die surrealistischen Novellen (in unserem Korpus vertreten durch Plume au restaurant (1930) von Henri Michaux) gehören. Den fundamentalen Unterschied zwischen beiden Gruppen erläutert Blüher (1985, 208) folgendermaßen: «Sämtliche Novellenmodelle des 19. Jahrhunderts, auch das Modell der mit der Ambiguität illusionistischer Glaubwürdigkeit spielenden phantastischen Novelle, hatten [. . .] das grundlegende Erzählprinzip der Erzeugung eines vom Leser möglichst uneingeschränkt rezipierbaren Wirklichkeitseffekts streng befolgt, der in der Suggestion einer scheinbar

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

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unmittelbaren ‹Widerspiegelung› der Gegenwartswirklichkeit, ja sogar im Extremfall einer täuschend echt nachgestalteten ‹tranche de vie› (Zola) bestand. In eben dem Maße, wie dieses Prinzip der ‹Widerspiegelungsästhetik› hinterfragt und wie schließlich die Abbildungsund Darstellungsfunktion von Sprache und Literatursprache überhaupt in Frage gestellt wurde, gelangte man zu einer immer bewußteren und kritischeren Rückbesinnung auf die semiotischen und kommunikationstheoretischen Prämissen des Erzählvorgangs und der hierbei eingesetzten Textverfahren selbst».

Diese Abkehr vom Prinzip der Widerspiegelungsästhetik hat zur Folge, dass sich die nicht-mimetisch erzählenden Novellen vor der Folie konventionell geltender Normen, Traditionen und Schemata – also Grice’sche Maximen, soziokulturelles Frame-Wissen, gängige narrative Schemata und Erwartungen, die an die Gattung Novelle geknüpft werden (cf. Einleitung zu Kapitel 3) – durch mannigfache Abweichungen auszeichnen. Im Bereich der nicht-illusionistisch erzählenden Novellen ist somit der Komplexitätsfaktor 1, ABWEICHUNGEN, in noch deutlich höherem Maße wirksam als dies in den soeben untersuchten nouvelles à chute der Fall ist. Diese Abweichungen zeigen immer eine implizite Zusatzbedeutung an, die der Leser inferieren muss. Weil er dabei mitunter nicht auf typisches Frame-Wissen und (aus illusionistisch erzählenden Texten) bekannte Verfahren zur Kohärenzherstellung oder auf vertraute alltagspsychologische Muster zurückgreifen kann, sondern über umfassendes diskurstraditionelles Wissen und Autorenwissen verfügen muss, tragen auch die Komplexitätsfaktoren kontextabhängige IMPLIZITHEIT und WISSEN deutlich zur Komplexität nicht-mimetisch erzählender Texte bei. Deren Präsenz wird noch zusätzlich gestärkt durch eine besondere formale Gestaltung der Erzählungen bzw. eine écriture, die außerordentlich evokationsreich ist. Aus der Wirksamkeit der Faktoren ABWEICHUNGEN und kontextabhängige IMPLIZITHEIT und den reichhaltigen Evokationen erwächst zudem in der Regel ein hohes Maß an Ambiguität in Bezug auf den Textsinn, wie dies am Beispiel von Plume au restaurant und der (allerdings mimetisch erzählenden) Fabel La Chèvre de M. Seguin (für den Faktor der Evokationen) bereits gezeigt wurde. Folglich gestaltet sich auch die Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene äußerst anspruchsvoll. Hinzu kommt die in der Moderne so viel beschworene Selbstreferentialität von Literatur und Sprache, auf die Blüher (1985) in der oben zitierten Passage ebenfalls hinweist. In der Tat erlauben auch die drei nicht-mimetisch erzählenden Novellen unseres Korpus mindestens eine Lesart, in der die Literatur bzw. der kreative Prozess des Schreibens selbst zum Thema gemacht werden (z.B. Plume als double seines Schöpfers oder spezieller Schreibstil) oder die Darstellungsfunktion menschlicher Sprache insofern in Frage gestellt wird, als ihr die Fähigkeit abgesprochen wird, das Wesentliche auszudrücken (z.B. in Julien Greens Christine).

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Diese aus den diskurstraditionellen Charakteristika nicht-mimetisch erzählender Novellen abgeleitete Wirksamkeit der drei Komplexitätsfaktoren ABWEICHUNGEN, kontextabhängige IMPLIZITHEIT sowie WISSEN soll im Folgenden anhand der Novellen von Green und Michaux konkretisiert und ihr Niederschlag auf die 14 hier zugrundegelegten Komplexitätskategorien erläutert werden. Zu diesem Zweck müssen zunächst die Werke der beiden Autoren kurz literarhistorisch eingeordnet werden, die prägenden Diskurstraditionen detaillierter aufgezeigt und die Handlung der Novellen resümiert werden. Sowohl bei Julien Green als auch bei Henri Michaux fällt allerdings eine solche Einordnung in literarische Strömungen des 20. Jahrhunderts nicht leicht, was im Fall von Michaux in Kapitel 3.2.2.3 bereits deutlich wurde. Sophie Bertho (1985, 55) zufolge zeichnet sich sein Werk durch die Subversion der dem Leser vertrauten soziokulturellen Realität aus und gemäß Blühers Kategorisierung lassen sich seine Novellen unter das Modell der surrealistischen Novelle subsumieren, die auf das Freud’sche Konzept des Unbewussten zurückgreift, sich durch nichtmimetische Wirklichkeitsdarstellung und eine traumhaft-alogische Textkonstitution auszeichnet (cf. Blüher 1985, 245). Pollmann (1984, 105) zählt Michaux zu den Suprarealisten, die in unterschiedlicher Weise Versuche unternehmen, «in der Sprache der Dichtung Mittel und Wege für eine neue Einheit der auseinandergefallenen Wirklichkeitsbereiche von Innenraum und Außenwelt zu finden». Julien Green (1900–1998) entstammt bekanntlich einer nach Frankreich emigrierten amerikanischen Familie und wird von Teschke (1998, 51) gemeinsam mit François Mauriac und Georges Bernanos dem Renouveau catholique zugeordnet. Pollmann (1984, 140) hingegen sieht größere Parallelen zwischen Green, Gide und Bousquet und ihrer Gestaltung der Thematik «Innerer Mensch und äußere Wirklichkeit». Dieselbe Thematik beschäftigt Michaux, der sie aber im Gegensatz zu Green mit subversiven oder surrealistischen Verfahren umsetzt. Eberle-Wildgen (1993) und Pollmann (1984) betonen, dass Julien Green in seinem umfangreichen Werk vor allem persönliche Konflikte zwischen innerem Anspruch und äußerer Wirklichkeit, Körper und Seele, sexueller Leidenschaft und spiritueller Sehnsucht (cf. Eberle Wildgen 1993, 3) ausgefochten hat, was durch Pollmanns folgende Charakterisierung des Green’schen Werks präzisiert wird: «Es ist jedenfalls ganz offensichtlich, dass Green von innen herkommt, und zwar im zweifachen Sinn, einmal in dem spiritueller Erwartungen, wie sie seine Hinwendung zum katholischen Glauben im Jahre 1916 zum Ausdruck bringt, sodann in dem zunehmender Schwierigkeiten mit sich selbst und den Normen, denen er sich stellen muß. [. . .] Julien Green [. . .] sieht die Religion als eine in jedem Augenblick erneuerte Aufforderung, sich der Entscheidung zwischen Verdammnis und Gnade zu stellen und als einen magischen Umgang mit einer Gefahr. Dieses dualistische Denken mußte zu seelischen

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

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Komplikationen führen: Greens Novellen und Romane sind, als fixierte Wachträume, deren Ausdruck» (Pollmann 1984, 144s.).

Was die Schreibweise von Julien Greens Romanen betrifft, so zählt Pollmann (1984, 144) sie zum «traditionellen», «überwiegend [. . .] nachahmenden Schreiben». Petit (1972a, XXX) macht allerdings gerade in Greens Novellen auch zahlreiche fantastische Elemente aus und identifiziert in Christine zumindest ein «fantastique subjectif», das vornehmlich der Phantasie des Ich-Erzählers entspringe. Völlig unstrittig ist, dass Greens Novellen eine symbolisch verschlüsselte Tiefenstruktur beinhalten, die in weiten Teilen «auf allein für den betreffenden Autor gültige symbolische Bedeutungswelten rekurriert» (Blüher 1985, 230). Somit erweisen sich Christine und Léviathan eindeutig als Vertreter des Modells der symbolischen Novelle des 20. Jahrhunderts nach Blüher, in der ein «zweischichtiges, doppelwertiges Erzählverfahren angewandt [wird], das zwar innerhalb der Oberflächenstruktur die Spielregeln des mimetischen Erzählens – weitgehend – respektiert, sich jedoch zur Artikulierung der symbolischen Tiefenstruktur eines nicht-mimetischen Darstellungsprinzips bedient» (ib., 230). Nachdem nun die diskurstraditionellen und thematischen Erwartungen dargestellt wurden, die der kundige Leser an die Novellen von Green und Michaux knüpft, soll kurz der jeweilige Inhalt zusammengefasst werden. Da ausführliche Resümees von Plume au restaurant und Christine in den Kapiteln 3.2.2.3 und 4.5.3 zu finden sind, wird die Handlung dieser beiden Novellen im Folgenden nur sehr knapp skizziert bzw. rekapituliert. Plume au restaurant (1930) beginnt damit, dass der Oberkellner an Plumes Tisch herantritt und ihn mit strengem Blick darauf hinweist, dass sein Essen nicht auf der Karte steht. Plume reagiert mit sofortigen Entschuldigungen und setzt dadurch das zentrale (sabotierte) Handlungsschema der Erzählung «[accusation vs défense : norme]» (Schmidt 1973, 158) in Gang. Im Folgenden erscheinen nacheinander der Restaurantchef, ein Polizeibeamter sowie ein Kommissar jeweils wortlos an Plumes Tisch und allen dreien gegenüber wiederholt Plume seine Entschuldigungen, die sich aber zum Teil widersprechen. Schließlich treten immer ranghöhere Vertreter von Polizei- und Sicherheitsbehörden auf, erhöhen den Druck auf Plume, sich zu erklären, und drohen ihm gar Gewalt an, woraufhin Plume nur noch schweigt. Sowohl Christine als auch Léviathan (La Traversée inutile) weisen das dominante Green’sche Motiv des l’homme qui vient ailleurs auf, dessen Ankunft das labile Gleichgewicht der Welt, in die er eindringt, zerstört (cf. O’Dwyer 1996, 3). Die Struktur beider Novellen kann man zudem auf die knappe Formel rencontre, curiosité, aveu, mort bringen, die Michael O’Dwyer (1996, 3) als wiederkehrendes Handlungsmuster in Greens Werken identifiziert hat.

436

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

In Christine begegnet der dreizehnjährige Ich-Erzähler Jean im Ferienhaus seiner Familie in Rhode Island der überirdisch schönen, gleichaltrigen Christine. Unter Bezug auf den Kotext und Alltagswissen kann der Leser eindeutig inferieren, dass Christine die uneheliche Tochter von Jeans Tante ist, dass sie stumm und womöglich geistig behindert oder psychisch krank ist. Mutter und Tante von Jean geben ihm keine Informationen über das Mädchen und halten die Kinder streng voneinander fern, während Jean alles daransetzt, der faszinierenden Christine nochmals physisch nahe zu sein. Eine mehrstündige Abwesenheit von Mutter und Tante nutzt der Junge, um Christine zu treffen. Er begibt sich zu ihrem Zimmer, das er verschlossen vorfindet, schiebt ihr aber unter der Tür eine Liebeserklärung («Christine, ouvre-moi, je t’aime.», CL, 10) hindurch. Christine scheint die Worte jedoch nicht zu verstehen und öffnet ihm nicht. Schließlich schenkt Jean ihr einen Saphirring, den er unter den Sachen seiner Tante gefunden hat. Wenig später verlassen die Tante und Christine das Ferienhaus und Jean wird das Mädchen nie mehr wiedersehen. Aus der Schilderung des Besuches von Jeans Tante an Weihnachten des Folgejahres, die ihrer Schwester schluchzend in die Arme fällt und den Saphirring trägt, kann geschlossen werden, dass Christine gestorben ist. Im Zentrum von Léviathan (La Traversée inutile) steht eine Schiffsreise von Frankreich nach Savannah auf dem Handelsschiff Bonne-Espérance und die Beziehung zwischen dessen Kapitän Suger und dem einzigen Passagier, einem etwa 40-jährigen Mann. Über diesen durchgängig als l’homme, le passager oder le voyageur betitelten Mann erfährt der Leser äußerst wenig. Lediglich seine Körperhaltung («il baissait la tête», CL, 278), seine Mimik («Un horrible désespoir se répandait sur ses traits [. . .].», CL, 277) sowie seine Schweigsamkeit erlauben den Schluss, dass der Passagier einen inneren Konflikt mit sich austrägt. Dieser stille Mann erregt die Neugier des Kapitäns: er nötigt ihn dazu, die Mahlzeiten mit ihm gemeinsam einzunehmen, und versucht mit den verschiedensten Strategien, seinen einzigen Passagier zum Reden zu bringen, um sein Geheimnis zu ergründen. Für den einsamen Reisenden sind diese Zusammentreffen mit Suger offensichtlich eine Qual. Am Ende der Reise jedoch, als Suger seine Bemühungen bereits aufgegeben hatte, kündigt der Passagier dem Kapitän an, dass er ihm etwas zu sagen hat. Er erzählt ihm also seine Geschichte, die der heterodiegetische Erzähler dem Leser allerdings vorenthält. Nach der unzufriedenen Reaktion des Kapitäns auf seine Enthüllung – «Allons, [. . .] il y a autre chose, sûrement. Cela constitue à peine un crime !» (CL, 281) – wird der Passagier jedoch wütend, wirft dem Kapitän sein inquisitorisches Verhalten vor und nimmt sein Geständnis wieder zurück. Wenig später ertönt der Ruf «Terre !» (CL, 281) und der Kapitän eilt auf die Brücke, um seine Anweisungen zu geben. Als er wenig später dem Reisenden zuruft, dass sie jetzt ankommen, ist dieser bereits tot.

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

437

Diese knappen Inhaltsskizzen deuten bereits die semantische Komplexität der drei Novellen an, da die Handlung in allen Fällen inkohärent, unvollständig, mysteriös, unmotiviert oder schlicht banal wirkt. Warum wird ein Restaurantgast, der ein Kotelett isst, von der Geheimpolizei traktiert? Warum halten die Mutter und die Tante des Ich-Erzählers von Christine ihre beiden Kinder mit allen Mitteln voneinander fern? Wie sind die fantastisch anmutenden Elemente in Christine zu erklären? Wie hängen das Geständnis des Reisenden in Léviathan und sein plötzlicher Tod zusammen bzw. gibt es überhaupt eine Verbindung zwischen beiden Ereignissen? Diese und viele weitere Fragen wird der Leser der drei Novellen sich stellen und die Texte liefern ihm keine unmittelbaren Hinweise zur Beantwortung dieser Fragen bzw. zur Inferenz von möglichen kausalen oder finalen Verknüpfungen der Geschehnisse. Diese fehlende Motivierung der Handlung oder zumindest die äußerst versteckten und impliziten Hinweise zur Inferenz einer solchen Motivierung stellen bereits eine zentrale Abweichung von narrativen Schemata und Erwartungen dar, die die meisten Leser nach Einschätzung von Martínez/Scheffel (1999/2012, 119) auf der Grundlage von realistischen Erzählwerken des 19. Jahrhunderts ausgebildet haben. Damit bestätigen die Handlungsverläufe von Plume au restaurant, Christine und Léviathan auch die von Bode (1988, 379) konstatierte Auflösung von Handlung und Held, die er als entscheidenden Grund für die Mehrdeutigkeit und Schwerverständlichkeit der Literatur der Moderne identifiziert und folgendermaßen begründet: «Gerade die Zersplitterung, Banalisierung oder extreme Verlangsamung dessen, was einstmals ‹Handlung› war, verweist den Leser – falls er nicht kapituliert – auf einen oder mehrere ‹Sinne› hinter den für sich genommen ostentativ ‹unwesentlichen› Elementen, einen Sinn, der erst aus ihrer Relation zueinander zu rekonstruieren wäre [. . .]» (ib., 6).

Die zahlreichen Abweichungen in den Novellen von Green und Michaux betreffen aber nicht nur konventionelle Schemata hinsichtlich der Handlung und der Protagonisten narrativer Texte, sondern auch die Grice’schen Maximen in Bezug auf Figuren-, Erzähler- und Autorkommunikation, weitere allgemeine Prinzipien des Denkens wie z.B. Regeln der Logik und des korrekten Argumentierens sowie die allgemeine Kenntnis der Sachen (Coserius elokutionelles Wissen), soziokulturelle Frames sowie den gesunden Menschenverstand und Maßgaben psychologischer Wahrscheinlichkeit. Vielfach können bestimmte Phänomene wie z.B. der extrem reduzierte Personen-Frame von Plume als Abweichung vor dem Hintergrund mehrerer Folien (z.B. narrative Schemata und Grice’sche Maximen) analysiert werden, weshalb die folgende Aufstellung der augenfälligsten Abweichungen nicht strikt nach den Normen, Regeln und Mustern geordnet wird, die jeweils verletzt werden.

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

ABWEICHUNGEN in Plume au restaurant: – ein extrem reduzierter Personen-Frame des Protagonisten, der lediglich explizite Filler für die Slots NACHNAME und GESCHLECHT umfasst, wobei der Nachname zudem unauflösbar polysem ist; – totale Subversion des zentralen Handlungsframes «[accusation vs défense : norme]» (Schmidt 1973, 158): an keiner Stelle wird die Norm expliziert, gegen die Plume verstoßen hat, und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel wird von den Anklägern völlig ignoriert; – permanente Verstöße der Figuren gegen die Maßgaben des gesunden Menschenverstands, gegen Regeln des korrekten Argumentierens und/oder die Modalitätsmaxime sowie gegen typisches Rollenverhalten: der Oberkellner kommentiert mit strengem Blick und mysteriöser Stimme das Essen eines Gastes, Plume reagiert darauf mit sofortigen Entschuldigungen statt mit Nachfragen, seine Entschuldigungen widersprechen sich zum Teil und enthalten sachliche Fehler; die Ankläger lassen durch Benutzung von passepartout-Wörtern im Unklaren, was man Plume vorwirft etc. – Inkongruenz zwischen der auffälligen Zurückhaltung und Sachlichkeit des sehr präsenten Erzählers einerseits und der Absurdität und Unverhältnismäßigkeit der Ereignisse, von denen er berichtet, andererseits. ABWEICHUNGEN in Léviathan (La Traversée inutile): – ein extrem reduzierter Personen-Frame des Protagonisten, der lediglich explizite Filler der Slots GESCHLECHT, ALTER und GEMÜTSZUSTAND umfasst, aber keine Hinweise auf den Konflikt enthält, der den Reisenden offenkundig plagt; – empfindliche Verstöße gegen die 1. Untermaxime der Quantität seitens des Erzählers, der sich im Wesentlichen auktorial gibt: während er ansonsten die Gespräche zwischen dem Passagier und Suger wiedergibt, wird der Inhalt des Geständnisses des Reisenden komplett verschwiegen und auch die Umstände oder Gründe seines plötzlichen Todes werden ausgespart; – Verstöße gegen Regeln der psychologischen Wahrscheinlichkeit und/oder die Modalitätsmaxime auf der Ebene des Figurenhandelns: Nachdem der Passagier nach drei Wochen beschließt, sich Suger gegenüber doch zu öffnen, widerruft er sein Geständnis anschließend sofort wieder. Suger seinerseits zeigt sich enttäuscht über das Geständnis und meint, dass sein Inhalt kaum ein Verbrechen («[. . .] à peine un crime !», CL, 281) darstelle. Nach der Widerrufung des Reisenden und dessen Erklärung, dass er kein Mörder sei («Je ne suis pas du tout un assassin.», CL, 281), erwidert der Kapitän jedoch «Si [. . .]», CL, 281) (doch) und widerspricht sich damit selbst:

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

439

«‹Allons, reprit le capitaine, il y a autre chose, sûrement. Cela constitue à peine un crime !› A ces mots, le voyageur leva vivement les yeux et regarda le capitaine. Une petite sueur perlait à ses tempes. Brusquement, il frappa la table de son poing et s’écria : ‹Tout ce que je viens de vous dire est faux ! Je vous ai trompé. Je ne suis pas un criminel. [. . .] J’avais peur. Vous m’avez fait peur. Je vais en Amérique pour mes affaires. Je ne suis pas du tout un assassin.› Le capitaine haussa les épaules d’un air tranquille et sourit. ‹Si, dit-il, mais vous n’avez rien à craindre de moi. Je ne parlerai pas›» (CL, 281).

ABWEICHUNGEN in Christine: – Verstöße gegen die psychologische Wahrscheinlichkeit auf der Ebene des Figurenhandelns: Mutter und Tante des Ich-Erzählers setzen alles daran, Jean und Christine voneinander fernzuhalten, geben dem dreizehnjährigen Jungen keine Information zu dem stummen Mädchen, sperren Christine ein; – Verstöße gegen die 1. Untermaxime der Quantität auf der Ebene der Kommunikation zwischen implizitem Autor und Leser: Christines Leiden wird nicht expliziert und ebenso wenig die Gründe und Umstände ihres frühen Todes; – Elemente individueller Phantastik in einer ansonsten vordergründig (!) mimetisch erzählenden Novelle im Kontext der Beschreibungen Christines durch den Ich-Erzähler, für die im Folgenden ein Beispiel angegeben werden soll: «Ses yeux d’un bleu ardent dans la lumière qui frappait son visage avaient ce regard immobile que je n’avais pas oublié, et j’eus l’impression singulière qu’à travers le bois de la porte, elle me voyait et m’observait» (CL, 10).

Die aufgeführten Abweichungen und Regelverstöße stellen zweifelsohne Indizien für eine deutlich erhöhte semantische Komplexität dar, auch wenn man einwenden könnte, dass einige von ihnen wiederum typische Muster narrativer Techniken darstellen, die in der Literatur der Moderne häufiger begegnen. Gerade das Unterlaufen bekannter soziokultureller Schemata wie in Plume au restaurant ist mit Sicherheit ein rekurrentes Muster in Erzählungen der Moderne oder der Avantgarde, das häufig die Funktion hat, das evozierte Schema selbst in Frage zu stellen (cf. Schmidt 1973, 159) oder dem Leser seine auf der Grundlage typischer Frames erfolgenden Konstruktionsleistungen durch ihre Sabotage bewusst zu machen. Andererseits ist an diese narrativen Verfahren keine konventionelle, feste Bedeutung geknüpft, nutzt jeder Autor sie in individueller Weise und kann ihre kontextabhängige Bedeutung nur unter Berücksichtigung zahlreicher weiterer Textmerkmale und mit Hilfe von Expertenwissen konstruiert werden. In Plume au restaurant zeigen die Frame-Brüche hinsichtlich des zentralen Handlungsschemas sowie des Personen-Frames von Plume beispielsweise die Gefährdung der individuellen Freiheit in einem von Terror, Repression und Willkür geprägten sozialen Raum auf sowie die Unmöglichkeit, Ich-Identität durch

440

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Unterwerfung unter die sozialen Normen aufzubauen (cf. Bertho 1985, 78; 158). Dies stellt allerdings nur eine mögliche Deutung dar, da aufgrund der Frame-Brüche auch die konventionellen Relationen kausaler und konditionaler Art sowie weitere prototypische Bezüge und Prinzipien außer Kraft gesetzt werden und sich somit in kausal-empirischer Perspektive keine naheliegende und eindeutige Interpretation aufdrängt (cf. Schmidt 1973, 159). Aus diesen Gründen sind die oben verzeichneten Abweichungen als Quelle von kontextabhängiger IMPLIZITHEIT und Mehrdeutigkeit definitiv als semantisch komplex zu betrachten, auch wenn derartige Abweichungen zum Repertoire nichtmimetischen Erzählens gehören und unter diskurstraditioneller Perspektive erwartbar sind. Im Fall der drei Novellen von Michaux und Green sind ABWEICHUNGEN und die resultierende IMPLIZITHEIT unmittelbar verantwortlich für erhöhte bis hohe Komplexitätswerte in Bezug auf die Kategorien «Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen», «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen», «Umgang mit den Grice’schen Maximen», «Komplexität in Bezug auf die suppletive Kontextbildung» und «Leerstellen/Aussparungen». Die Kategorie «Komplexität in Bezug auf Kohäsion & lokale Kohärenz» wird nur sporadisch von den genannten Abweichungen beeinflusst, z.B. durch Plumes sachliche Fehler in seinen Entschuldigungen oder die Widersprüche in Sugers Bewertung des Geständnisses des Reisenden. In erster Linie wirken sich die identifizierten Abweichungen komplexitätssteigernd auf die globale Kohärenz und die Konstruktion eines adäquaten Textsinns aus. Trotz der mit ihnen verbundenen Komplexität stellen die Abweichungen – wie Keller (1995, 206s.) dies für prima facie Verstöße gegen die Grice’schen Maximen beschreibt – in gewisser Weise auch Interpretationshilfen dar, da sie den Rezipienten sehr deutlich auf Textstellen oder Phänomene aufmerksam machen, an denen seine Bedeutungskonstruktion ansetzen muss. Aufgrund der stellenweise inkohärenten oder extrem lückenhaften Handlung und der zahlreichen Abweichungen von prototypischem Wissen im Fall nicht-mimetisch erzählender Novellen muss die Bedeutungskonstruktion noch stärker als bei realistisch-illusionistischen Erzählungen die unauflösliche Verbindung von Inhalt und Form bzw. der Ebene der Geschichte und der Darstellungsebene berücksichtigen. Die Verneinung einer von der Form gelösten Inhaltsebene (cf. Siepe 2009, 238) wird immer wieder in Bezug auf den Nouveau Roman hervorgehoben und von einem seiner prominentesten Vertreter, Alain RobbeGrillet (1961, 41), folgendermaßen formuliert: «Il n’y a pas pour un écrivain, deux manières possibles d’écrire un même livre».

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

441

Die Verzahnung von Form und Inhalt gilt prinzipiell für alle (literarischen) Texte und die Betonung dieses Phänomens macht abermals deutlich, dass man nur in der dichterischen Sprache die volle Entfaltung aller sprachlichen Möglichkeiten findet (cf. Coseriu 1980/2007, 147) bzw. «dass alles an einem Text potentiell bedeutungstragend ist» (Gardt 2008a, 1202), auch seine grammatischen Formen, alle Gestaltungsmittel, die Elemente und Formen in Beziehung setzen, sein Aufbau (cf. ib., 1202) sowie alle von Coseriu (1980/2007, 92ss.) beschriebenen Zeichenrelationen mitsamt ihren Evokationen. All diese bei der Bedeutungskonstruktion zu berücksichtigenden Aspekte sind aber in nichtmimetisch erzählenden Novellen in auffällig gehäufter Form präsent und aufgrund der inkohärenten Handlung für die Interpretation unverzichtbar. Das unterstreicht auch Blüher (1985, 230) in seiner diskurstraditionellen Charakterisierung der symbolischen Novelle des 20. Jahrhunderts, wenn er auf die «symbolisch verschlüsselte Bedeutungsschicht» und die «enge innere Verflechtung von Bedeutungselementen [. . .] auf verschiedenen Strukturebenen des Textes» hinweist: «Die symbolische Novelle zeichnet sich durch den konzertierten Einsatz zweier sich ergänzender und überlagernder Bedeutungsschichten aus, einer vordergründig-anschaulichen und einer weiteren, hermetisch-verdeckten, die symbolisch verschlüsselt ist und sich daher eindeutiger Erhellung der Textbotschaft entzieht. Im Gegensatz zu den Symboldichtungen früherer Epochen bleibt der Symbolgehalt dieser modernen Werke trotz des häufigen Rückgriffs auf vorgebildete ältere Mythen, Legenden und Symbolfiguren interpretatorisch weitgehend mehrdeutig und offen; ihre ‹dunkle› Symbolsprache bevorzugt die bloße Suggestion und Allusion. [. . .] Bei der Bestimmung dieses Novellentyps ist [. . .] davon auszugehen, daß der gesamte Text eine enge innere Verflechtung von Bedeutungselementen aufweist, die sich auf verschiedenen Strukturebenen des Textes (Thematik, Figuren- und Handlungskombination, Orts- und Zeitstruktur, Metaphorik usw.) manifestieren».

Diese Charakterisierung trifft in weiten Teilen auch auf die surrealistische Novelle zu. Die Unterschiede bestehen darin, dass letztere nicht mehr vordergründig-anschaulich erzählt, sondern «eine befremdlich alogische, die Naturgesetze außer Kraft setzende Mischung von realen und irrealen Ereignissen» (ib., 247) präsentiert. Die Entschlüsselung der jeweiligen Tiefenstruktur erfordert allerdings bei beiden Modellen des nicht-mimetischen novellistischen Erzählens die Einlösung zahlreicher Evokationen und die Herstellung von Bezügen zwischen den verschiedensten Bedeutungselementen wie z.B. Handlungskomponenten, den oben aufgeführten Abweichungen, Besonderheiten der Erzählsituation oder des Textaufbaus, Tropen oder möglichen symbolischen Bedeutungen der verwendeten Lexeme. Eine solche Form flächiger Bedeutungskonstruktion wurde bereits in Kapitel 3.3.3 am Beispiel von La

442

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Chèvre de M. Seguin demonstriert und ihre Komplexität begründet und in Kapitel 4.5.3 findet der Leser im Rahmen des Vergleichs der Originalfassung mit der Easy-Readers-Version von Christine auch die methodisch sehr ähnlich verfahrende Interpretation dieser Green’schen Novelle. Die Interpretation der nicht-mimetisch erzählenden Novellen wie Christine oder Léviathan (La Traversée inutile) stellt sich allerdings im Vergleich zu Daudets Text noch als deutlich anspruchsvoller heraus. Zum einen kann der Rezipient der Fabel La Chèvre de M. Seguin bereits unter Verknüpfung des expliziten Anwendungssignals «Tu verras ce que l’on gagne à vouloir vivre libre.» (C, 260) und der tragischen Ereignisse der ersten semiotischen Ebene ohne großen kognitiven Aufwand und ohne Aktivierung von anspruchsvollem Hintergrundwissen einen befriedigenden Textsinn ermitteln. Für die Konstruktion der weiteren Lesarten muss der Text allerdings eingehender analysiert und die zahlreichen Evokationen eingelöst werden. Die Evokationen in Daudets Text beruhen aber auf konventionellen Symbolbedeutungen (chèvre, loup, tache rouge), auf dem Einsatz charakteristischer Eigenarten diaphasischer Subsysteme des Französischen sowie intertextuellen Bezügen zu Werken der französischen Literatur (Notre-Dame de Paris, Le Chien et le loup, Manon Lescaut), die Daudet bei seinen Lesern als bekannt voraussetzen konnte und die auch heute noch zur culture générale gehören. Bei den nicht-mimetisch erzählenden Novellen von Green und Michaux hingegen bewirken die zahlreichen Abweichungen eine gezielte Verunsicherung des Lesers, kann lediglich auf Grundlage der inkohärenten, lückenhaften oder mysteriösen Handlung gar keine befriedigende Lesart hergestellt werden und baut die Verschlüsselung der Tiefenstruktur sehr stark «auf allein für den betreffenden Autor gültige symbolische Bedeutungswelten» (Blüher 1985, 230) bzw. Weltanschauungen auf. Somit erweisen sich also auch die Anforderungen, die nicht-mimetisch erzählende Novellen an das diskurstraditionelle und vor allem an das literaturwissenschaftliche Wissen der Leser stellen, als äußerst hoch. Im Fall von Plume au restaurant sind die Andeutungen und impliziten Zusatzbedeutungen im Wesentlichen an die sehr deutlichen Abweichungen von soziokulturellen Frames, die sachliche Distanz und Zurückhaltung des Erzählers und die Refrains («Plume s’excusa aussitôt.», P, 623s.) gebunden, wobei die beiden zuletzt genannten Aspekte wichtige Ironiesignale darstellen, die für eine adäquate Deutung unverzichtbar sind. Somit sind die zentralen bedeutungstragenden Elemente zwar recht leicht erkennbar, bedürfen aber profunder Kenntnisse des Michaux’schen Gesamtwerkes und seiner Weltsicht, um adäquat gedeutet werden zu können. In den beiden symbolischen Novellen von Julien Green sind die Abweichungen von Lesererwartungen (s.o.) seltener und weniger frappierend, dafür sind aber bedeutungstragende stilistische und strukturelle Aspekte, symbolische

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

443

Bedeutungen und weitere Evokationen im Sinne Coserius sehr reichhaltig vorhanden, was eine noch intensivere Textanalyse als im Fall von Plume au restaurant erfordert. Das Wissen zu ihrer Interpretation ist ebenfalls äußerst anspruchsvoll und erfordert zwingend Kenntnisse des Green’schen Gesamtwerks und seiner individuellen Symbolik. Bei den Anspielungen und Evokationen in Greens erster Novelle Christine handelt es sich im Wesentlichen um das assoziative Frame-System christliche Religion & Spiritualität, Relationen mit Zeichen in anderen Texten (v. a. Bibel), konventionelle symbolische Bedeutungen des Namens Christine und der Lexeme la bague und le saphir sowie die Etablierung verschiedener Analogien. Diese werden in Kapitel 4.5.3 genauer aufgeführt und interpretiert. An dieser Stelle sollen die zum Teil ähnlichen, mitunter aber noch subtileren Andeutungen in der zwei Jahre später erschienenen Novelle Léviathan (La Traversée inutile) aufgeführt werden, um einen Eindruck davon zu vermitteln, welch hohe Anforderungen ihr Aufdecken und ihre Interpretation an die Konzentration, die Kompetenz und das Wissen der Leser stellt:

Tab. 42: Anspielungen in Julien Greens Léviathan (La Traversée inutile).

.

Art der Anspielung

Textstellen aus Léviathan (La Traversée inutile) / Erläuterung

Indirekte Zeichenfunktion: Zeichen – Bezeichnetes – Symbolisiertes (cf. Coseriu /, ) in Bezug auf voyage, navire/ vaisseau, léviathan (konventionelle Symbolik)

Der Frame Schiffsreise dominiert die Novelle hinsichtlich der Zahl seiner Filler: navire (de commerce/marchand), vaisseau, proue, passerelle, pont, cabine, hublot, cargaison, quai, mer, estuaire, port, côte, matelot, capitaine, passager, marin, lever l’ancre, voyager, le voyageur . . . Die Reise (le voyage) ist «Symbol des Lebens(ver)laufs, der Entwicklung eines Individuums oder eines Kollektivs sowie des Schreibens» (Schneider , ). Das Schiff (le navire) ist «Symbol der (Lebens-)Reise, der polit. oder relig. Gemeinschaft, des poet. Schaffens sowie der menschl. bzw. dichter. Narrheit» (Sinn , ). Der Léviathan, das im Buch Hiob (XL, –) beschriebene Seeungeheuer, ist Symbol des Teufels oder des Bösen (cf. Petit b, ).

444

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Tab. 42 (fortgesetzt) Art der Anspielung

Textstellen aus Léviathan (La Traversée inutile) / Erläuterung

.

Indirekte Zeichenfunktion: Zeichen – Bezeichnetes – Symbolisiertes (cf. Coseriu /, ) in Bezug auf a) mer/eau b) assassin (autorspezifische Symbolik)

a) Das Meer bzw. Wasser im Allgemeinen ist in Greens Werk ein Symbol für den Teil der Seele, der dem Menschen unbekannt ist, außerdem für den Tod und für die Wahrheit, die erst nach dem Tod zu erfassen ist (cf. Eberle Wildgen , ). b) In Greens Werk steht Sexualität häufig in einem engen Zusammenhang mit der Lust zu töten, was Petit (b) folgendermaßen erläutert: «Le meurtre [. . .] est l’aboutissement de l’érotisme ; dans son œuvre romanesque, il traduit aussi la violence intérieure, le désir refoulé, et peut devenir comme une ‹transposition› de l’acte amoureux [. . .]» (Petit b, ). «‹J’avais peur. Vous m’avez fait peur. [. . .] Je ne suis pas du tout un assassin.› Le capitaine haussa les épaules [. . .]. ‹Si, dit-il, mais vous n’avez rien à craindre de moi. Je ne parlerai pas›» (CL, ; meine Hervorhebung). Da der Kapitän zuvor erklärt hat, dass der Inhalt des Geständnisses des Reisenden «kaum ein Verbrechen» darstelle, dann aber den Reisenden als assassin bezeichnet, widerspricht er sich bzw. verstößt er gegen die Maxime der Klarheit. Nur mit Hilfe des Wissens um die symbolische Bedeutung des Mörders/Mordes bei Green kann der (scheinbare) Verstoß Sugers gegen die Modalitätsmaxime aufgelöst und seine Zusatzbedeutung inferiert werden.

.

Assoziatives Frame-System christliche Religion incl. Anspielungen auf Bibelstellen

le salut, le navire (in der symbolischen Bed. der religiösen Gemeinschaft), léviathan, le vin (in der symbolischen Bed. der leibhaften Gegenwart Christi, cf. Hörisch , ), un confesseur, baisser la tête, se recueillir «‹Ne craignez rien›, lui cria le capitaine [. . .]» (CL, ). «‹Hé bien, fit le capitaine en versant du vin à son invité, [. . .]›» (CL, ). «‹Si, dit-il, mais vous n’avez rien à craindre de moi›» (CL, ). (meine Hervorhebung in allen drei Zitaten)

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

445

Tab. 42 (fortgesetzt) Art der Anspielung

Textstellen aus Léviathan (La Traversée inutile) / Erläuterung

.

Aufladen der Bedeutung von ennui mit den symbolischen Bedeutungen von la mer und léviathan

«Il est ainsi des êtres qui, à bord d’un vaisseau, se tournent vers la compagnie de leurs semblables comme vers leur salut, même s’ils les méprisent, même s’ils les haïssent ; car il faut qu’ils vivent, qu’ils échappent à l’ennui dévorant des journées, à la mer, à ce léviathan qui les guette et les accompagne en silence» (CL, ). Dabei dient das Lexem ennui hier als Anspielung auf das literarische Motiv der Langeweile, des tiefen Unbehagens am Dasein und des Gefühls des Fremdseins in der Welt (cf. Daemmrich/Daemmrich , ).

.

Lexikalische Rekurrenzen, Refrain (ne rien dire)

«Mais l’homme ne disait rien» (CL, ). «‹[. . .]. Vous ne dites rien.› C’était vrai. L’homme ne disait rien» (CL, ). «‹Mais oui, répéta-t-il, vous ne dites jamais rien. [. . .]›» (CL, ). «Le voyageur ne disait rien ; [. . .]» (CL, ). «[. . .] le capitaine se planta devant son invité qui n’avait rien dit depuis le commencement du repas» (CL, ). (meine Hervorhebung in allen fünf Zitaten)

.

Chiastische Struktur

Fast drei Wochen lang redet Kapitän Suger auf seinen einzigen Passagier ein, versucht, ihn mit den verschiedensten Strategien zum Reden zu bringen, doch der Reisende schweigt beharrlich (s.o.). Als Suger am Ende der Reise aufgibt und (fast) aufhört zu reden und zu fragen: «[. . .] le capitaine posa moins de questions qu’à l’ordinaire» (CL, ). beginnt der Reisende zu reden: «‹J’ai quelque chose à vous dire›, murmura-t-il» (CL, ).

.

Permanentes Wiederaufgreifen der Worte des anderen in den seltenen Dialogen zwischen Suger und dem Passagier

«‹Je vais être obligé de vous demander vos papiers, dit-il enfin.– Je vais donc vous les montrer, si c’est nécessaire, fit doucement le passager.– Ici, ce que je veux, est toujours nécessaire›, répliqua le capitaine sur le même ton» (CL, ; meine Hervorhebung). Nach dem Geständnis des Reisenden: «‹Hé bien ?– Hé bien, c’est tout répondit le passager.– Comment ! s’écria Suger, c’est pour cela que vous vous déplacez ? Êtes-vous fou ? Vous viviez tranquille en France . . . – Je n’étais pas tranquille.– Mais vous auriez pu l’être. Personne ne vous soupçonnait›» (CL, s.; meine Hervorhebung).

446

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

Tab. 42 (fortgesetzt) Art der Anspielung

Textstellen aus Léviathan (La Traversée inutile) / Erläuterung

.

Relationen mit anderen Zeichen in materieller Hinsicht (cf. Coseriu /, s.)

Nach der Widerrufung des Geständnisses des Reisenden ertönt von der Brücke der Ruf «Terre !» (CL, ), den Suger wiederholt. Dieser Ruf evoziert das homophone Verb taire und kann nach Te-Yu (, ) als Appell des Kapitäns an den Reisenden gedeutet werden, auf Widerruf und Erklärungen zu verzichten und ihren Kampf mit dem Sieg Sugers enden zu lassen.

.

Das assoziative Framesystem Drohung, Metaphern, symbolische Bedeutungen und Ironie (der Schiffsname BonneEspérance) überspannen die Reise mit einer omnipräsenten Todesdrohung

«[. . .] [la Bonne-Espérance] allait, lourde et lente, mais ferme, sous un ciel menaçant» (CL, ). «[. . .] des pluies torrentielles s’abattirent sur la BonneEspérance avec une violence telle qu’on eût dit qu’elles avaient à cœur de faire retourner le vaisseau à son port» (CL, ). «[. . .] il regarda la mer avec l’expression d’horreur d’un homme que l’on mettrait tout d’un coup en présence de la mort» (CL, ).

Aufgrund dieser zahlreichen über die reine Darstellungsfunktion hinausgehenden aktualisierten Zeichenrelationen, aufgrund der fundamentalen Leerstellen (Inhalt des Geständnisses, Umstände des Todes), die unter Berücksichtigung des Kotextes und auf der Basis von prototypischem Alltagswissen nicht zu füllen sind, und aufgrund der schier unendlichen Kombinationsmöglichkeiten von Handlungselementen, Evokationen, strukturellen Besonderheiten und sonstigen bedeutungstragenden Elementen erweist sich Greens Novelle Léviathan als hochgradig polyvalent – was für Christine in gleichem Maße zutrifft. Es sollen an dieser Stelle nur kurz drei mögliche Lesarten von Greens Léviathan skizziert werden, die sich auf unterschiedliche Handlungselemente und Evokationen konzentrieren und verschiedene thematische Konstanten des Green’schen Gesamtwerkes sowie die théorie mimétique von René Girard als Hintergrundwissen hinzuziehen. Eine noch relativ an der Oberfläche des Textes verbleibende Interpretation stützt sich auf die Tatsache, dass der Reisende von einer seelischen Last oder einem inneren Konflikt geradezu erdrückt wird, weshalb er sein Umfeld verlassen hat und die Gegenwart von Menschen (v. a. Suger) meidet. Sein Geständnis erschreckt ihn selbst so sehr, dass er es sofort wieder zurückzieht. Die (scheinbar) widersprüchliche Reaktion von Suger auf seine Worte und die autorspezifische Symbolik in Bezug auf das Wort assassin (cf. Evokation 2) verweisen darauf, dass der innere Konflikt des Passagiers mit sexuellem Begehren zu tun hat. Der unvermittelte Tod

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

447

am Ende der Reise kann als Indiz dafür gewertet werden, dass man seinen Identitätsproblemen durch ein geographisches Exil nicht entkommen kann. Mit dem Wissen um die rekurrenten Themen des Autors und unter Auswertung weiterer Evokationen können die Deutungen des Textes vertieft werden. Gemäß Kathryn Eberle Wildgen (1993, 230) findet sich der kreative Prozess des Schreibens in allen Werken Greens implizit thematisiert. Im Fall des Léviathan können unter diesem Blickwinkel die Evokationen 1 und 2, also die symbolische Bedeutung der Schiffsreise als Schreibprozess und Greens individuelle Symbolik von Meer oder Wasser, mit bestimmten Handlungselementen in Beziehung gesetzt werden, nämlich dem Sturz des Passagiers nach einer heftigen Schiffsbewegung, seiner Todesangst beim Blick aufs Meer und dem anschließenden widerrufenen Geständnis. Daraus ergibt sich eine allegorische Beschreibung des kreativen Prozesses des Schriftstellers, der in seine eigene Seele blickt, begreift, dass er sich erst nach dem Tod wirklich kennen wird, und dennoch beschließt, das Wenige und Unsichere, was er weiß, in seinen Werken zu kommunizieren (cf. ib., 105). Weitere thematische Konstanten des Green’schen Werkes, die man unschwer auch in seinem Frühwerk Léviathan ausmachen kann, sind der Schrecken, den die Begegnung mit dem Anderen im Menschen auslöst (cf. Te-Yu 2012, 56), und das trügerische und defizitäre Wesen der menschlichen Sprache (cf. ib., 68). TeYu (2012, 56ss.) nutzt die théorie mimétique des Religionsphilosophen und Kulturanthropologen René Girard und weist unter Berücksichtigung der Evokationen 5–8 nach, dass die Begegnung von Suger und dem Passagier die beiden Männer in eine rivalité réciproque bzw. réciprocité négative hineintreibt. Das Geständnis als zentrales Handlungselement besiegelt den Sieg Sugers in diesem jeu mimétique (cf. Evokationen 6–8), dessen Ziel die Kenntnis und Unterwerfung des anderen ist (cf. ib., 61). Das auf Sprache basierende und unter dem Druck Sugers erfolgte Geständnis schafft offensichtlich eine Realität, von der der Passagier sich auch durch Widerruf nicht mehr lösen kann. In dieser Perspektive symbolisiert der Tod des Reisenden die Unmöglichkeit, seine Identität zu wahren bzw. sein moi inaliénable wiederzufinden (cf. ib., 68) im Kontext eines erbarmungslosen Kampfes zwischen den Menschen und bei Nutzung einer Sprache, die nicht etwa der Verständigung und Versöhnung dient, sondern die Feindschaft verstärkt (cf. ib., 66). Dieser kleine Einblick in mögliche adäquate Bedeutungskonstruktionen der Novelle Léviathan (La Traversée inutile) vermag stellvertretend für die beiden anderen nicht-mimetisch erzählenden Novellen des Korpus auch den hohen Komplexitätswert der Kategorie «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» zu belegen. Adäquate Lesarten der aus den genannten Gründen hochgradig polyvalenten nicht-mimetischen Erzählungen können eben nur flächig und auf der Grundlage einer intensiven Textanalyse aufgebaut werden, indem die besondere formale Gestaltung der Novellen berücksichtigt, die

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

zahlreichen aktualisierten Zeichenrelationen aufgedeckt und Bedeutungselemente auf unterschiedlichen Strukturebenen miteinander verknüpft werden. Des Weiteren gelingen die Deutung der Abweichungen, das Einlösen der zahlreichen Evokationen und ihre Integration in eine kohärente Lesart nicht auf der Grundlage von prototypischem Alltagswissen (das mitunter bewusst sabotiert wird), sondern setzen diskurstraditionelles Wissen zur symbolischen und surrealistischen Novelle des 20. Jahrhunderts und tiefgehende literarische und weltanschauliche Kenntnisse rund um die Literatur des Entre-deux-guerres, aber vor allem auch zur Philosophie und zum Gesamtwerk der Autoren Henri Michaux und Julien Green voraus. Folglich erhalten auch die Kategorien «Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen» und insbesondere «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» auffallend hohe Komplexitätswerte. Die folgende Tabelle kondensiert die erfolgten Analysen in Form von Ziffern (verstanden als Abkürzungen qualitativ begründeter Komplexitätsausprägungen) und offenbart die außerordentlich hohen Komplexitätswerte in Bezug auf zahlreiche der 14 zugrundegelegten Kategorien für die drei nicht-mimetisch erzählenden Novellen unseres Korpus:

Tab. 43: Überblick: Komplexitätsprofile der drei nicht-mimetisch erzählenden Korpustexte. Christine ()

Léviathan ()

Plume au restaurant ()

Umgang mit den Maximen







Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen







Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen







Leerstellen/Aussparungen







Suppletive Kontextbildung



–



Kohäsion & lokale Kohärenz







Andeutungen/Evokationen







Wortsemantik

–





Satzsemantik



–



Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen







3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

449

Tab. 43 (fortgesetzt) Christine ()

Léviathan ()

Plume au restaurant ()

Anforderungen an das elokutionelle Wissen







Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen



–



Anforderungen an das lebensweltliche Wissen







Aufwand der Bedeutungserschließung der . semiotischen Ebene







Mit Hilfe des folgenden Schemas soll die in diesem Unterkapitel vorgestellte Wirksamkeit aller drei Komplexitätsfaktoren (ABWEICHUNGEN, kontextabhängige IMPLIZITHEIT, WISSEN) auf die Komplexitätskategorien bei nichtmimetisch erzählenden Novellen sowie das Ausstrahlen hoher Komplexitätswerte bestimmter Kategorien auf weitere Kategorien abschließend verdeutlicht werden. Zentrale Bedeutung für die hohe Komplexität der drei nicht-mimetisch erzählenden Novellen hat an erster Stelle der Faktor ABWEICHUNGEN, der zwingend mit dem Faktor kontextabhängige IMPLIZITHEIT verbunden ist. Das Schema weist aber darauf hin, dass nicht nur ABWEICHUNGEN zu einer hohen kontextabhängigen IMPLIZITHEIT führen. Einige Evokationen beruhen sicherlich auf Abweichungen (von soziokulturellen Frames oder den Grice’schen Maximen), andere vielmehr auf stilistischen und strukturellen Besonderheiten oder der indirekten Zeichenrelation Zeichen – Bezeichnetes – Symbolisiertes, die nicht als Abweichungen in Erscheinung treten und somit häufig eine intensivere Textanalyse erfordern. Weiterhin strahlt die hohe Komplexität der Kategorien «Frame- bzw. Gattungsbrüche» und «Evokationen/Andeutungen» unmittelbar auf die wichtige Kategorie «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» aus. In Plume au restaurant gibt der zentrale Handlungsframe «[accusation vs défense : norme]» (Schmidt 1973, 158) aufgrund seiner Subversion nämlich nur sehr indirekt Aufschluss über das zentrale Textthema. Dasselbe gilt für die Novellen von Julien Green, wo zentrale Frames wie Schifffahrt symbolisch gedeutet werden müssen und assoziative FrameSysteme wie christliche Religion & Spiritualität nur indirekt und in Verknüpfung mit anderen Handlungs- und Bedeutungselementen den Rückschluss auf die eigentlichen Textthemen erlauben.

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Starke Präsenz von:

3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

ABWEICHUNGEN & kontextabhängige IMPLIZITHEIT

kontextabhängige IMPLIZITHEIT

hohe Komplexitätswerte von Frame- bzw. Gattungsbrüche

hohe Komplexitätswerte von Evokationen/Andeutungen

Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen Umgang mit den Maximen Leerstellen/Aussparungen suppletive Kontextbildung

implizite Zusatzbedeutungen sind zu inferieren und Evokationen einzulösen hohe Komplexitätswerte von Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen Anforderungen an das elokutionelle Wissen

WISSEN

Anforderungen an das lebensweltliche Wissen

hoher Komplexitätswert der Kategorie Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene

Schema 15: Die Wirksamkeit der drei großen Komplexitätsfaktoren auf die Komplexitätskategorien bei nicht-mimetisch erzählenden Novellen.

Des Weiteren macht das Schaubild deutlich, dass die Kategorien, deren hohe Komplexität den Faktoren ABWEICHUNGEN und kontextabhängige IMPLIZITHEIT geschuldet ist, den Leser zu anspruchsvollen wissensbasierten Inferenzleistungen herausfordern. Surrealistische und symbolische Novellen als Vertreter der nichtmimetisch erzählenden Novellenmodelle stellen aufgrund eines hohen Maßes an kultureller Spezifizierung, des Aushebelns des Prinzips der Widerspiegelungsästhetik und der Formung zahlreicher Dimensionen von Textualität zweifelsohne hohe Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen. Dieses Wissen ist unverzichtbar für das Verständnis nicht-mimetisch erzählender Texte und das Entwickeln von Ideen für ihre Interpretation. Letztere kann aber aufgrund der zeit- und autorabhängigen Art der Verschlüsselung ohne profundes literaturgeschichtliches Wissen und Wissen zum Autor und seiner Philosophie nicht gelingen, weshalb auch die «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» hoch sind. Und da der Rezipient zur Konstruktion adäquater Lesarten auf alle denkbaren bedeutungstragenden Elemente und Strukturen der Texte zurückgreifen

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

451

muss, die Abweichungen deuten, die Evokationen einlösen, alles miteinander verbinden und mit anspruchsvollem Hintergrundwissen anreichern muss, strahlt die hohe Komplexität der oben aufgeführten Kategorien insgesamt auch auf die «Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» aus, die entsprechend hohe Komplexitätswerte erhält. Dieses im Wesentlichen auf der Grundlage der Korpustexte von Henri Michaux und Julien Green entwickelte Komplexitätsschema beschreibt mit Sicherheit auch treffend die Komplexität weiterer nicht-mimetisch erzählender Novellen oder Romane. Gerade bei Textexemplaren, die Vertreter der Avantgarden des 20. Jahrhunderts sind, also beispielsweise Dadaismus, Surrealismus (nicht in der gemäßigten Variante Michaux’) und Nouveau Roman, ist allerdings davon auszugehen, dass auch die Kategorien «Komplexität in Bezug auf Kohäsion & lokale Kohärenz», «Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik» und «Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik» aufgrund von Abweichungen hohe Komplexitätswerte aufweisen werden. Die Novellen von Green und Michaux haben sich in diesen Bereichen – von sporadischen Irritationen der Herstellung lokaler Kohärenz abgesehen – als einfach erwiesen. Wenn Autoren allerdings auf das Verfahren der écriture automatique ohne nachträgliche bewusste Bearbeitung zurückgreifen, Beschreibungspassagen völlig durch in den Text montierte Dokumente ersetzen (cf. Asholt 2007, 14), «Verfahren nicht-linearer Zeitpräsentation [oder] perspektivischer Verrätselung» (Blüher 1985, 262) anwenden oder ihren Text komplett auf der Grundlage «kombinatorischer und repetitiver Montagen, anagrammatischer Dispositionsraster [oder] serieller Transformationen» (ib., 262) erstellen, dann werden natürlich auch die Kategorien «Kohäsion & lokale Kohärenz» sowie «Wort- und Satzsemantik» hohe Komplexitätswerte erhalten. In diesen Fällen wird die Lesbarkeit unmittelbar beim Einstieg in den Text behindert oder nahezu zerstört, während die Texte von Green und Michaux sich auf lokaler Ebene als recht konventionell gestaltet und nachvollziehbar erweisen. Erst nach der Lektüre des Gesamttextes wird der Leser irritiert oder ratlos sein und anspruchsvolle Inferenzen zur Herstellung globaler Kohärenz und zum Auffinden adäquater Lesarten leisten müssen.

3.4.3 Zusammenfassung Die im Rahmen dieses Kapitels vorgestellten Analysen haben deutlich gezeigt, dass die einen Text prägenden Diskurstraditionen, vor allem die jeweilige Textgattung und die Gestaltung der Erzählsituation, den Ursprung für Wechselwirkungen zwischen den Ausprägungen mehrerer semantischer und diskurstraditioneller Komplexitätskategorien bilden. Das liegt im Wesentlichen daran, dass Textgattung und Erzählsituation den Umgang mit den Grice’schen Maximen regeln, der

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

für einen gegebenen narrativen Text auf den Ebenen der Autor-Leser-Kommunikation, der Kommunikation zwischen Erzähler und Leserfigur und der Figurenkommunikation festzustellen ist. Ein flächiges Beugen, Brechen oder Umdeuten bestimmter Maximen ebenso wie eine weitgehend maximentreue Darstellung bestimmen wiederum ganz wesentlich das Wirken der drei Komplexitätsfaktoren ABWEICHUNGEN, kontextabhängige IMPLIZITHEIT und WISSEN und somit das Komplexitätsprofil eines Textes. Im Zentrum des ersten Teils dieses Kapitels standen Diskurstraditionen mit komplexitätsreduzierender Wirkung: zum einen vergleichsweise stark normierte Textgattungen, die mimetisches Erzählen implizieren, zum anderen die auktoriale Erzählsituation. Beide Diskurstraditionen prägen insbesondere Texte des 19. Jahrhunderts und treten auch häufig gemeinsam in Erscheinung. So ist die Präsenz eines auktorialen Erzählers ein Charakteristikum von Balladen (cf. Weißert 1993, 16) und letztlich auch Bedingung für die Umsetzbarkeit der naturalistischen Zielsetzungen. La Mort du Dauphin, Naïs Micoulin und La Parure stehen somit unter dem Einfluss von gleich zwei komplexitätsreduzierenden Faktoren, während die conte fantastique La Main (1883) nur Vertreter einer stark normierten Gattung ist und La Chèvre de M. Seguin (1866) lediglich durch den auktorialen Erzähler eine mäßige Komplexitätsentlastung erfährt. Sowohl stark normierte Textgattungen als auch die auktoriale Erzählsituation bilden eine Quelle von Einfachheit, weil sie die Komplexitätsfaktoren ABWEICHUNGEN, kontextabhängige IMPLIZITHEIT und lebensweltliches WISSEN weitgehend außer Kraft setzen können und die Textkohärenz durch den unmittelbaren Aufbau sicherer Erwartungen unterstützen. Stark normierte Genres zeichnen sich durch die Formung und Beeinflussung zahlreicher Dimensionen von Textualität aus, wozu Art und Etablierung der Themen, die «Funktionsweise» der Texte und ihre Intention zählen. Dadurch werden Verstehensebenen festgelegt und Interpretationsmöglichkeiten eingeschränkt (cf. Oesterreicher 1997, 29), was dem Leser kognitive Entlastung verschafft und insbesondere den «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» begrenzen kann. Selbst wenn eine stark normierte Textgattung wie z.B. conte fantastique Abweichungen (z.B. von der Modalitätsmaxime) impliziert, dann gehören diese zum Gattungsprofil, sind also hochgradig erwartbar und die an sie gekoppelten Funktionen und Zusatzbedeutungen (z.B. die Erzeugung unauflösbarer Unschlüssigkeit auf Rezipientenseite) in weiten Teilen geregelt. Im Zuge des Textverstehens ist Minskys matching process (cf. Minsky 1974, 2s.) also nur einmal zu durchlaufen, gelingen die Herstellung von Kohärenz und die Interpretation vergleichsweise problemlos und bedarf es keiner Aktivierung von anspruchsvollem lebensweltlichen Wissen. Diese Entlastungen erfährt aber natürlich nur der Leser, der mit dem jeweiligen Gattungsprofil vertraut ist. Gerade weil die angesprochenen Genres zahlreiche Dimensionen von Textualität formen und mitunter auch eine recht hohe kulturelle Spezifizierung aufweisen, stellen sie aber

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

453

hohe Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen, was der Preis für die auffallende Einfachheit der Komplexitätskategorien «Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen», «suppletive Kontextbildung», «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» sowie «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» ist. Die auktoriale Erzählsituation vermag sich noch auf weitere Komplexitätskategorien entlastend auszuwirken und stellt dies dem Rezipienten nicht einmal durch hohe Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen in Rechnung. Diese Entlastung resultiert unmittelbar aus den zentralen Charakteristika der auktorialen Erzählsituation, wozu die «Nichtidentität der Seinsbereiche» (Martínez/Scheffel 1999/2012, 96) von Erzähler und Leserfigur einerseits und Figuren andererseits gehört, weiterhin die «Vorherrschaft einer Allwissenheit suggerierenden Außenperspektive» (ib., 96), das Privileg, in das Bewusstsein aller Figuren blicken zu können, eine zeitliche Distanz zu den erzählten Ereignissen, Verlässlichkeit (cf. Fludernik 2006/2010, 106s.) und die Möglichkeit, alle denkbaren ErzählerFunktionen zu übernehmen. Somit ergibt sich für die Kommunikation der Erzählerfigur mit dem narrataire, der der Diegese nicht angehört und mit Figuren und Motiven nicht vertraut ist, die Notwendigkeit der weitgehenden Befolgung der Maximen, was dem auktorialen Erzähler dank seiner soeben rekapitulierten Privilegien auch problemlos möglich ist. Der auktoriale Erzähler kann also wahre, relevante und ausreichend viele Informationen geben und sie in nachvollziehbarer Weise präsentieren. Auktoriale Erzählungen zeichnen sich somit durch ein geringes Maß an Abweichungen und eine auffallend große Explizitheit aus. Das schlägt sich grundsätzlich in geringen Komplexitätswerten der Kategorien «Umgang mit den Grice’schen Maximen», «suppletive Kontextbildung», «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» sowie «Kohäsion & lokale Kohärenz» nieder und kann – bei konsequenter Nutzung aller Privilegien – zudem die Komplexitätswerte der Kategorien «Leerstellen/Aussparungen», «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» und «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» beschränken. Das zweite Unterkapitel hat das diskurstraditionell bedingte Ausstrahlen von Komplexität in den Korpustexten des 20./21. Jahrhunderts untersucht und nach steigender Intensität geordnet. Die zentrale narratologische Gemeinsamkeit der modernen bzw. zeitgenössischen Novellen ist die Aufgabe der auktorialen Übersicht zugunsten einer internen oder externen Fokalisierung. Die Konsequenz dieser eingeschränkten Erzählperspektive sind mitunter empfindliche Verstöße gegen die 1. Untermaxime der Quantität (Mache deinen Beitrag so informativ wie (für die gegebenen Gesprächszwecke) nötig) auf der Ebene der Autor-Leser-Kommunikation, da dem Leser wichtige Informationen zu den Gedanken und Gefühlen der Figuren und der Motivierung ihrer Handlungen

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

vorenthalten werden. Diese Verstöße gegen die Quantitätsmaxime werden aber kaum als Abweichungen von bekannten Mustern und Traditionen empfunden, sondern setzen in erste Linie den Komplexitätsfaktor kontextabhängige IMPLIZITHEIT in Gang. Dessen Wirksamkeit wird in modernen mimetisch erzählenden Kurznovellen (cf. Kapitel 3.4.2.1) noch durch weitere diskurstraditionelle Charakteristika wie die Dynamisierung des Textbeginns, die relative Kürze der Texte und die Konzentration auf ein zeitlich eingeschränktes Ereignis (cf. Blüher 1985, 212) verstärkt. Letztlich manifestieren sich also die resultierenden Verstöße gegen die Quantitätsmaxime in globalen Leerstellen, einer reduzierten oder verzögerten suppletiven Kontextbildung und Themenetablierung und mitunter auch einem erhöhten Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene. Da diese Gegebenheiten Inferenzen auf der Basis von zusätzlichem Weltwissen verlangen, kann das Ausstrahlen von Komplexität in moderner mimetisch erzählender Kurzprosa folgendermaßen visualisiert werden:

Verstöße gegen die 1. Untermaxime der Quantität

erhöhte Komplexitätswerte der Kategorie Umgang mit den Grice’schen Maximen

erhöhte Komplexitätswerte der Kategorien: Leerstellen/Aussparungen Komplexität in Bezug auf die suppletive Kontextbildung

erhöhte Komplexitätswerte der Kategorie

Komplexität in Bezug auf Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen

Anforderungen an das lebensweltliche Wissen

Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene

Schema 16: Ausstrahlen von Komplexität in moderner mimetisch erzählender Kurzprosa.

Dasselbe Ausstrahlen von Komplexität beginnend bei Verstößen gegen die 1. Untermaxime der Quantität begegnet auch in den vier nouvelles à chute unseres Korpus, die ganz gezielt in entscheidenden Passagen eine interne Fokalisierung einsetzen, um die Identität von Figuren oder Gegenständen der fiktionalen Welt zunächst zu verhüllen und in der chute effektvoll aufzudecken. Die drei modernen nouvelles à chute weisen allerdings in der zentralen Kategorie «Frames & die Etablierung von Themen» noch deutlich stärker erhöhte Komplexitätswerte auf als die modernen Kurznovellen ohne überraschendes Ende, was am gezielten Aufbau falscher Erwartungen an das Textthema und der in der

3.4 Wechselwirkungen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität

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Regel erforderlichen Reinterpretation liegt. In der Spielart der nouvelle à chute, die durch Iceberg und Happy Meal verkörpert wird, treten zu den Verstößen gegen die Quantitätsmaxime noch Verstöße gegen die 1. und 2. Untermaxime der Modalität (1. Vermeide Dunkelheit des Ausdrucks, 2. Vermeide Mehrdeutigkeit) hinzu, was auch den 1. Komplexitätsfaktor ABWEICHUNGEN in Gang setzt. Diese Verstöße manifestieren sich in einem extremen Mangel an Kontextualisierung, dem Einsatz lexikalischer Ambiguität bzw. Vagheit und einem ausgeklügelten Spiel mit vagen oder ambigen Fillern, Subframes und Evokationen. Zweck und Ergebnis dieser Strategien ist die Irreführung des Lesers sowie eine subtile Mehrdeutigkeit auf der Ebene der literarischen Mimesis. Die Verstöße gegen die Quantitäts- und Modalitätsmaxime sowie ihre genannten Auswirkungen auf die Textsemantik schlagen sich letztlich in deutlich erhöhten Komplexitätswerten der Kategorien «Umgang mit den Grice’schen Maximen», «Leerstellen/Aussparungen», «suppletive Kontextbildung» sowie «Frames & die Etablierung von Themen» nieder und wirken sich zudem in mehr oder weniger hohem Maße komplexitätssteigernd auf die Kategorien «Wortsemantik» und «Andeutungen/Evokationen» aus. Ein noch deutlich stärkeres Wirken des 1. Komplexitätsfaktors ist in nichtmimetisch erzählenden Novellen zu konstatieren, deren bewusste Abkehr vom Prinzip der Widerspiegelungsästhetik konsequenterweise zur Folge hat, dass sich vor der Folie konventionell geltender Regeln, Traditionen und Muster mannigfache ABWEICHUNGEN abzeichnen. In Novellen wie Plume au restaurant oder Léviathan treten also zu den Verletzungen von Quantitäts- und Modalitätsmaxime64 auch noch weitere Verstöße gegen allgemein-sprachliche Normen wie z.B. die Regeln des korrekten Argumentierens, außerdem die Subversion soziokultureller und psychologischer Frames sowie die Abweichung von konventionellen narrativen Schemata hinzu. Die Konsequenz sind stark erhöhte Komplexitätswerte der Kategorien «Umgang mit den Grice’schen Maximen», «Anforderungen an das elokutionelle Wissen», «Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen», «Frames & die Etablierung von Themen», «suppletive Kontextbildung» sowie «Leerstellen/Aussparungen». Die starke Präsenz des Komplexitätsfaktors ABWEICHUNGEN zieht zwingend auch die Faktoren kontextabhängige IMPLIZITHEIT und WISSEN nach sich, weil mit Abweichungen implizite Bedeutungen verbunden sind, die der Leser inferieren muss. Da in den Texten konventionelles Wissen sabotiert wird, muss der Leser über äußerst spezielles Wissen zum Gesamtwerk

64 Verstöße gegen die Qualitäts- und Relevanzmaxime sind in unseren Korpustexten auf den Ebenen der Autor-Leser-Kommunikation sowie der Kommunikation zwischen Erzähler und Leserfigur nicht auszumachen. Sie werden sicherlich in Werken mit einem unzuverlässigen Erzähler begegnen, die aber in unserem Korpus nicht vertreten sind.

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3 Komplexität als Charakteristikum literarischer Texte

des jeweiligen Autors verfügen, um Inferenzen zu ziehen und adäquate Lesarten aufzubauen, was also auch die «Anforderungen an das diskurstraditionelle und lebensweltliche Wissen» sehr hoch ausfallen lässt. Des Weiteren ist der Komplexitätsfaktor kontextabhängige IMPLIZITHEIT nicht nur aufgrund der Abweichungen derart präsent, sondern auch aufgrund der unauflösbaren Verbindung von Inhalt und Form in nicht-mimetisch erzählenden Novellen, die sich in einer Vielzahl von Evokationen, strukturellen und stilistischen Besonderheiten und der «enge[n] innere[n] Verflechtung von Bedeutungselementen [. . .] auf verschiedenen Strukturebenen des Textes» (Blüher 1985, 230) manifestiert, was auch den Komplexitätswert der Kategorie «Evokationen/ Andeutungen» stark ansteigen lässt. Weil die Handlung nicht-mimetisch erzählender Texte aufgrund der zahlreichen Abweichungen inkohärent, unvollständig und unmotiviert wirkt, muss der Leser im Wissen darum, dass «potentiell alles an einem Text bedeutungstragend ist» (Gardt 2008a, 1202), unter Hinzuziehung von Expertenwissen Evokationen und Bezüge zwischen den unterschiedlichsten Textkonstituenten aufdecken. Nur so kann er im Sinne flächiger Bedeutungskonstruktion zu adäquaten Lesarten nicht-mimetisch erzählender Novellen gelangen, die aufgrund dieser Eigenschaften in der Regel zudem hochgradig polyvalent sind. Somit erweist sich auch der «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» als äußerst komplex. Das gleich starke Wirken aller drei Komplexitätsfaktoren lässt also im Fall nicht-mimetisch erzählender Novellen die Komplexitätswerte von neun bzw. zehn der 14 Kategorien in extremer Weise ansteigen, was bezogen auf unser Korpus das massivste Ausstrahlen hoher Komplexität bestimmter Kategorien auf die Komplexitätswerte weiterer Kategorien und insgesamt die maximale Komplexitätsausprägung darstellt.

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-ReadersVersionen und annotierten Novellen Die in dieser Arbeit entwickelte Definition diskurstraditioneller und semantischer Komplexität basiert auf der Auswertung aktueller Forschungen zu Diskurstraditionen und weiteren sprachlichen und sprachbezogenen Regeln, Traditionen und Maximen, die das menschliche Sprechen und Schreiben anleiten, sowie semantischen Erkenntnissen zu Texten als übersummativen Größen, dem generell elliptischen Charakter der Kommunikation, zum konstruktiven Prozess der Textrezeption und den relevanten Kontexten zur Erschließung des Textsinns. Dabei hat sich herauskristallisiert, dass es in erster Linie drei Faktoren sind, die für das Vorliegen semantischer und diskurstraditioneller Komplexität verantwortlich sind: 1. ABWEICHUNGEN von sprachlichen und sprachbezogenen Normen und Traditionen sowie prototypischen Wissensrahmen, 2. eine hohe Ausprägung von sprecher- und kontextabhängiger IMPLIZITHEIT und 3. hohe Anforderungen an das WISSEN der Rezipienten. Texte, die von diesen drei Faktoren geprägt sind, stellen hohe Anforderungen an die Kompetenz und Kapazität ihrer Rezipienten: letztere können nämlich beim Prozess der Sinnerschließung nicht auf den mit Normen, Regeln, Maximen und Wissensrahmen verbundenen kognitiven Entlastungsfaktor zurückgreifen, sie müssen bewusste, mehrstufige Inferenzen ziehen und dabei mitunter eine große Menge an Hintergrundwissen mitbringen. Gerade literarische Texte zeichnen sich in der Regel durch eine hohe Ausprägung so verstandener semantischer Komplexität aus. Dies resultiert aus ihren essentiellen Besonderheiten wie dem grundsätzlichen Vorhandensein zweier semiotischer Ebenen, der indirekten Kommunikationssituation zwischen Autor und Leser, dem regelmäßigen Beugen bzw. Außer-KraftSetzen der Grice’schen Maximen (cf. Knape 2008, 899), globalen Leerstellen und unterschiedlichen Perspektivierungen (cf. Kapitel 2.1.3). Die in Kapitel 3 erstellten Komplexitätsprofile der Korpustexte unterstützen diese Einschätzung: wenngleich die Komplexität der Novellen in unterschiedlichem Maße aus den oben genannten Faktoren resultiert und sich in verschiedenen Kategorien manifestiert, ist ein auffällig leichter Text in unserem literarischen Korpus nicht zu finden. Diese tendenziell stark ausgeprägte Komplexität literarischer Texte stellt zum einen eine Chance, aber auch eine Hürde für ihren Einsatz im Fremdsprachenunterricht dar. Auch in Zeiten der Kompetenzorientierung hat die Behandlung authentischer Literatur des Zielsprachenlandes einen großen Stellenwert und dient dem Aufbau literarischer, kommunikativer und insbesondere auch interkultureller https://doi.org/10.1515/9783110655063-004

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4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Kompetenzen (cf. Voss 2014, 7) sowie der Persönlichkeitsentwicklung. Glaap/Rück (2003, 133) begründen den enormen Gewinn der Behandlung literarischer Texte für den Fremdsprachenunterricht gerade mit Verweis auf die – häufig komplexitätsfördernden – Charakteristika wie Brüche, Schnitte, Offenheit und Mehrdimensionalität, die echten Anlass zum Austausch und Aushandeln möglicher Lesarten liefern: «In literaturwissenschaftlicher Sicht lassen sich literarische Werke als Sinnentwürfe begreifen. Indem der literarische Text nicht bruchlose Darstellungen faktischer Zusammenhänge, sondern mannigfache Perspektivierungen, Standortwechsel, Schnitte usw. vollzieht, bietet er dem Leser Deutungsspielräume [. . .]. Für den Literaturunterricht bedeutet diese Auffassung die Möglichkeit, beim Lernenden eigene Erfahrungen und Sinnentwürfe zu aktivieren und in das Unterrichtsgeschehen einzubringen, denn jeder individuelle Verstehensvorgang enthält in sich die Chance zum Austausch, zum Dialog. Vorrangiges Ziel des literarischen Curriculums ist es mithin, literarisches Verstehen zu lehren und die durch die unterschiedlichen Verstehensvorgänge angelegten Anlässe zu sprachlichem Ausdruck und Austausch für das Erlernen der Fremdsprache nutzbar zu machen».

Diesem vielfachen Nutzen des Einsatzes authentischer Literatur stehen aber begrenzte sprachliche und interkulturelle Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler, Defizite beim Leseverständnis in Mutter- und Fremdsprache und mitunter auch eine geringe Lesemotivation gegenüber, was Fäcke (2010, 190s.) deutlich macht: «Jugendliche lesen literarische Texte nicht immer, nicht immer gern und auch nicht immer mit tiefem Verständnis, wie Studien zum Lesen deutlich machen. Die Ursachen dafür liegen [. . .] auch an gesellschaftlichen Entwicklungen wie z.B. an einer veränderten Kindheit und Jugend und an medialen Einflüssen, die die Lektüre von Büchern wesentlich seltener als Selbstverständlichkeit erscheinen lassen. Auch das Sinn entnehmende Lesen ist eine Kompetenz, über die zahlreiche Jugendliche nur defizitär verfügen».

Eine Möglichkeit, weder auf repräsentative literarische Texte und ihre Chancen zum Kompetenzaufbau zu verzichten noch Schülerinnen und Schüler zu demotivieren und zu überfordern, stellt natürlich die Adaption dieser Texte mit dem Ziel der Reduktion ihrer Komplexität dar. Dieser Aufgabe stellen sich seit Jahrzehnten die Redakteure der Easy-Readers-Versionen von Werken der französischen Literatur, die kürzend und vereinfachend in die Texte eingreifen, sowie in bescheidenerem Maße Redakteure von Textausgaben, die die Originale durch zahlreiche Vokabelerklärungen für den Einsatz im Unterricht praktikabler machen wollen. In diesem Kapitel soll untersucht werden, wie und wie effektiv in den sieben Easy-Readers-Fassungen der Novellen La Mort du Dauphin, La Chèvre de M. Seguin, Naïs Micoulin, La Main, La Parure, Christine sowie Léviathan (La Traversée inutile) Komplexität reduziert wird und mit welchen Chancen und Risiken eine solche Reduktion einhergeht.

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

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Dazu müssen in Abschnitt 4.1 zunächst die angewandten Adaptionsmaßnahmen identifiziert werden und geklärt werden, ob mit diesen Strategien überhaupt die hier definierten drei Komplexitätsfaktoren 1. ABWEICHUNGEN, 2. kontextabhängige IMPLIZITHEIT sowie 3. hohe Anforderungen an das WISSEN der Rezipienten auszuhebeln sind, oder ob die Vereinfachungen sich auf die augenfällige Komplexität auf der sprachlichen Oberfläche beschränken und im Wesentlichen den Umfang des Wortschatzes reduzieren und syntaktische Strukturen modifizieren. Tatsächlich ist das Ziel der Reduktion der Reichhaltigkeit des Vokabulars das einzige, das vom Verlag auch offengelegt wird: der Klappentext jeder Easy-Readers-Fassung gibt an, ob diese auf einem Vokabular von 600, 1200, 1800 oder 2500 Wörtern basiert. In den beiden ersten Fällen halten die Redakteure die vereinfachte Erzählung für Französisch-Lerner auf dem Niveau A2 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeR) für geeignet, im dritten Fall für Lernende auf Niveau B1 und im vierten Fall für solche, die bereits Niveau B2 im Französischen erreicht haben. In Paragraph 4.2 wird an konkreten Textbeispielen erläutert, wie diese besonders betonte Reduktion der Reichhaltigkeit des Vokabulars erzielt wird, und dass bereits dieser Modifikationstyp sich auch über die wortsemantische Ebene hinaus komplexitätsreduzierend auswirkt. In den folgenden Abschnitten (4.3 – 4.5) wird dann aufgezeigt, dass die Adaptionsmaßnahmen der Easy Readers – mit deutlichen Einschränkungen für ABWEICHUNGEN und geringeren Einschränkungen hinsichtlich kontextabhängiger IMPLIZITHEIT – dennoch die drei hier definierten Komplexitätsfaktoren sowie die darauf beruhende Ambiguität aushebeln können. Tatsächlich fallen bei den meisten Easy-Readers-Fassungen die Komplexitätswerte von mehreren der 14 in dieser Arbeit zugrundegelegten Komplexitätskategorien geringer aus als bei den entsprechenden Originaltexten. In diesem Zusammenhang werden allerdings auch kontraproduktive Adaptionen und solche, die problematische Folgen hinsichtlich des Textsinns haben, entlarvt. Außerdem werden Unterschiede zwischen dem hier definierten Komplexitätsbegriff und dem in der Easy-Readers-Reihe implizit zugrundegelegten Schwierigkeitsbegriff deutlich gemacht. In Abschnitt 4.6 sollen die Vereinfachungen und Annotationen in den Easy Readers sowie die reinen Vokabelerklärungen in den annotierten Novellen des Korpus auf Muster oder auch Inkonsistenzen bezüglich des Umgangs mit Aspekten und Strukturen untersucht werden, die hohe Anforderungen an das einzelsprachliche und an das lebensweltliche Wissen der Rezipienten stellen. Im Verlauf dieser Arbeit wurde wiederholt auf die Schwierigkeiten bzw. fehlenden Kriterien bei der Bewertung von Wissensaspekten als einfach oder komplex im Sinne von «bei der großen Mehrheit der Leser verfügbar oder nicht verfügbar»

460

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

hingewiesen. Vielleicht erlaubt die Betrachtung der konsequenten Vereinfachung bzw. Annotation bestimmter Wissensbestände oder sprachlicher Strukturen in den Easy Readers und annotierten Schulbuchausgaben zumindest Rückschlüsse auf die Aspekte, die mit breitem Konsens für die Rezipientengruppe der (jugendlichen) L2-Lerner des Französischen als komplex erachtet werden. Die Analyse der Reduktion von Komplexität in den genannten Easy-ReadersFassungen soll dann in eine fundierte Bewertung dieser Ausgaben münden. Dabei wird zu klären sein, ob die Adaptionen ausreichend effektiv sind, um L2-Lernern einen leichteren Zugang und eine flüssigere und motivierendere Lektüre literarischer Texte zu bieten, aber immer noch das nötige Maß an Offenheit, Mehrdimensionalität und ästhetischem Reiz aufweisen (cf. Glaap/ Rück 2003, 133), das für einen gewinnbringenden Einsatz im Unterricht und den Aufbau literarischer und interkultureller Kompetenz unabdingbar ist. Dass eine Reduktion von Komplexität die ästhetische und besondere sprachliche Gestaltung der Originale in einem gewissen Maß beeinträchtigt, ist in hohem Maße erwartbar. Sollten die folgenden Analysen jedoch zeigen, dass die Reduktion von Komplexität womöglich so weit führt, dass der Sinn eines Textes verloren geht, dann hätte die Adaption selbst natürlich jeglichen Sinn und Nutzen verloren.

4.1 Adaptionsmaßnahmen der Easy-Readers-Fassungen In allen untersuchten Easy-Readers-Versionen finden sich zunächst einmal mehr oder weniger stark ausgeprägte Kürzungen der Originaltexte. Oftmals werden ganze beschreibende oder kommentierende Passagen ersatzlos gestrichen, manchmal auch nur einzelne Wörter, Nominalgruppen oder Teilsätze, wobei in diesem Fall insbesondere Relativsätze oder attributive Partizipialkonstruktionen betroffen sind. Weiterhin gibt es Ersetzungen einzelner Wörter, Ersetzungen von Sätzen durch alternative, häufig kürzere bzw. syntaktisch einfachere Varianten und auch resümierende Ersetzungen, womit gemeint ist, dass zum Beispiel eine längere Beschreibung durch ein einziges charakterisierendes Adjektiv wiedergegeben wird. Ergänzungen des Originaltextes kommen nur sporadisch und in sehr geringem Umfang vor: So werden mitunter ein Nominalsyntagma, eine Konjunktion und im äußersten Fall ein redeeinleitender Satz hinzugefügt, längere Ergänzungen kommen in keiner der untersuchten Easy-ReadersVersionen vor. Schließlich wird die Bedeutung zahlreicher Wörter oder Lexeme im Rahmen einer Annotation angegeben, was grundsätzlich durch Illustrationen oder Paraphrasen in französischer Sprache erfolgt. Die Easy Readers

4.1 Adaptionsmaßnahmen der Easy-Readers-Fassungen

461

sind, wie bereits erwähnt, für L2-Lerner des Französischen konzipiert, wobei diese unterschiedliche Muttersprachen haben können. Zahlreiche Verlage vertreiben die Reihe in mehreren Ländern, u.a. Brasilien, USA, Spanien, Italien, Schweden, Niederlande, Russland und Deutschland. Diese kurze Beschreibung der eingesetzten Adaptionsmaßnahmen macht bereits deutlich, dass z.B. komplexitätssteigernde Abweichungen durch systematische Verletzungen oder Beugungen der meisten Maximen des Kooperationsprinzips dadurch nicht vereinfacht werden können. Solche textsortenspezifisch oder inhaltlich motivierten Maximenverletzungen sind oft derart verwoben mit dem Wesen des Gesamttextes, dass sie auch durch umfangreiche Kürzungen, sporadische Hinzufügungen oder Ersetzungen nicht getilgt werden können, was ein Vergleich der Vereinfachung und des Originals von La Main sehr deutlich macht. In dieser fantastischen Erzählung befindet sich der Ich-Erzähler M. Bermutier in einer Maximenzwickmühle, kann also die 1. Untermaxime der Quantität nicht erfüllen, ohne die 1. Untermaxime der Qualität zu verletzen, was ihm sein Berufsethos verbietet. Diese Kollision von Quantitäts- und Qualitätsmaxime ist inhaltlich und diskurstraditionell perfekt motiviert, bestimmend für die Darstellung der Ereignisse und mitverantwortlich für die genretypische Ambiguität, was durch die Adaptionen der Easy-Readers-Fassung in keiner Weise verändert werden kann. Dasselbe gilt für die aus der Maximenkollision erwachsenden globalen Leerstellen, die den diskurstraditionell typischen Raum für eine mögliche übernatürliche Erklärung des ominösen Mordes an Rowell lassen. Auch die daraus resultierende Komplexität können die Redakteure der Easy-Readers-Fassung nicht tilgen: würden sie die Leerstellen füllen, wäre das Resultat keine fantastische Erzählung mehr, der Text würde in unzulässiger Weise vereindeutigt und seines Reizes beraubt. Somit ist also auch der Komplexitätsfaktor kontextabhängige/nicht-konventionelle IMPLIZITHEIT, wenn er sich in globalen, die Motivierung des Geschehens betreffenden Leerstellen manifestiert, einer Reduktion von Komplexität durch redaktionelle Veränderungen der beschriebenen Art nicht zugänglich. Durch gezielte und systematische Kürzungen der Originaltexte sowie durch Ersetzungen bzw. Umformulierungen können allerdings kontextabhängige IMPLIZITHEIT, die aus Evokationen, Konnotationen oder stilistischen Phänomenen resultiert, sehr effektiv getilgt und der Originaltext spürbar vereinfacht werden, was in den Abschnitten 4.4 und 4.5 zu zeigen sein wird. Tatsächlich werden einige der Originale drastisch gekürzt, was der folgenden Tabelle zu entnehmen ist:

462

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Tab. 44: Länge der Originaltexte vs. Länge der entsprechenden Easy-Readers-Fassungen. La Mort du La Chèvre Naïs Dauphin de M. Seguin Micoulin Länge des Originaltextes (in Wörtern) Länge der EasyReaders-Version (in Wörtern) Kürzung in Prozent

La La Christine Léviathan Main Parure





























,%

,%

% ,%

%

,%

%

Diese mitunter erheblichen Kürzungen in Kombination mit systematischen Umformulierungen führen dann bei einigen vereinfachten Novellen auch zu einer deutlichen Reduktion von Ambiguität, die in Kapitel 3.3 als Komplexitätsindikator identifiziert wurde und ebenfalls auf den drei zentralen Komplexitätsfaktoren beruht. ABWEICHUNGEN und kontextabhängige IMPLIZITHEIT finden sich nun allerdings nicht in allen Texten gleichermaßen und da sie aus den oben genannten Gründen auch häufig nicht «behoben» werden können, sind sie deutlich seltener Gegenstand von Vereinfachungen als das Vokabular. Jeder literarische Text hat gerade aus der Perspektive des Fremdsprachenlerners großes Vereinfachungspotential im Lexikon und da das Vokabular zudem ein Oberflächenphänomen ist, ist es leicht zu bearbeiten. Dies ist sicherlich der Grund dafür, dass die Easy-Readers-Redakteure die Reduktion der Reichhaltigkeit des Vokabulars besonders intensiv betreiben und im Klappentext herausstellen. Durch diese exponierte Strategie der Vereinfachung werden die Anforderungen, die die Adaption im Gegensatz zum Originaltext an das einzelsprachliche Wissen der Rezipienten stellt, deutlich reduziert und in vielen Fällen auch die Kohäsion und lokale Kohärenz der Easy-Readers-Fassung im Vergleich zum Original verstärkt bzw. unterstützt, was im folgenden Abschnitt erläutert wird.

4.2 Angriffspunkte und Adaptionsstrategien auf der Ebene der Wortsemantik und ihre Auswirkungen auf die Komplexität In Kapitel 2.5.2 wurden Überlegungen dazu angestellt, wie sich hohe Anforderungen an das einzelsprachliche und lebensweltliche Wissen der Rezipienten (3. Komplexitätsfaktor) auf der Ebene der Wortsemantik niederschlagen. Coserius (1988/ 2007, 154) Feststellung, dass es innerhalb einer historischen Einzelsprache auch

4.2 Adaptionsstrategien auf der Ebene der Wortsemantik

463

funktionelle Sprachen gibt, die nicht alle Sprecher dieser Sprache kennen, und dass die Varietäten «die allergrößte Schwierigkeit bei der tatsächlichen Erlernung von Fremdsprachen [bilden]» (ib., 158), motivierte die Einschätzung, dass regional, historisch und sozial markierte Lexeme sowie Fremd- und Fachwörter erhöhte Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen der Rezipienten (Muttersprachler und L2-Lerner) stellen. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass 85–95% eines «Normaltextes» mit Kenntnis der 2000–4500 häufigsten Wörter des Deutschen erfasst werden können, die in einschlägigen Grund- und Aufbauwortschätzen verzeichnet sind (cf. Adamzik 2010, 137), scheint es weiterhin plausibel, auch seltenen bzw. wenig geläufigen Lexemen eine etwas erhöhte semantische Komplexität beizumessen. Um Lexeme des Französischen als selten auszuweisen, beziehen wir uns auf den immerhin 13.000 Einträge umfassenden Thematischen Grund- und Aufbauwortschatz Französisch von Fischer/Le Plouhinec, der auf der Basis der nicht markierten Gegenwartssprache, der sogenannten langue courante, erstellt worden ist (cf. Fischer/Le Plouhinec 2000/2012, 9). Wenn eine Easy-Readers-Fassung mit der Angabe «Série A fondée sur un vocabulaire de 600 mots (A2)» oder «Série B fondée sur un vocabulaire de 1200 mots (A2)» versehen ist, sagt das zunächst einmal nichts über die Qualität des Wortschatzes aus, der einer vereinfachten Erzählung zugrundeliegt. Die systematisch vollzogenen Annotationen, Tilgungen und Ersetzungen von einzelnen Wörtern und Lexemen zeigen aber, dass die soeben als komplex aufgeführten regional, historisch, sozial etc. markierten und über den Aufbauwortschatz hinausgehenden Lexeme auch von den Easy-Readers-Redakteuren als schwierig erachtet und folglich modifiziert werden. Darüber hinaus erfahren aber noch zahlreiche weitere Lexeme eine Bearbeitung oder Vokabelerklärung in den vereinfachten Fassungen. Wenn man zunächst nur die Annotationen einzelner Lexeme in den EasyReaders-Ausgaben sowie den annotierten Novellen unseres Korpus betrachtet, fällt auf, dass im Durchschnitt ein Drittel davon Wörtern zukommt, die kein einziges Komplexitätsmerkmal aufweisen. Weder werden sie indirekt gebraucht, noch weichen sie vom Textstil ab und sie sind allesamt im Thematischen Grund- und Aufbauwortschatz Französisch von Fischer/Le Plouhinec verzeichnet. Dabei handelt es sich zumeist um Füllwerte zentraler Figuren-, Orts- oder Handlungs-Frames der entsprechenden Erzählung. In der Easy-Readers-Version von La Chèvre de M. Seguin werden beispielsweise die Lexeme fourrure, patte, corde, étable, combat, indépendant, liberté und s’ennuyer durch Illustrationen oder Paraphrasen erklärt, in der Vereinfachung von La Main die Lexeme assassiner, déposition, innocent, poignet und propriétaire. Ohne die Kenntnis dieser inhaltlich zentralen Wörter sind die Erzählungen kaum zu verstehen und ihre Annotation ist der Tatsache geschuldet, dass die vereinfachten und annotierten Schulbuchausgaben sich an L2-Lerner des Französischen wenden. Die Annotationen dieser geläufigen

464

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Wörter sollen nicht die Komplexität des literarischen Textes mindern, sondern sicherstellen, dass ein Französisch-Lerner die Ereignisse der ersten semiotischen Ebene erfassen kann. In dieselbe Richtung weist auch die Tendenz, ambige oder semantisch vage Lexeme durch eindeutigere zu ersetzen oder im Rahmen einer Annotation ihre passende Lesart anzugeben – darauf wird in Abschnitt 4.5 im Kontext der Reduktion von Ambiguität in den Easy Readers eingegangen werden. Immerhin beziehen sich aber durchschnittlich zwei Drittel der Annotationen tatsächlich auf Lexeme, die nicht im Thematischen Grund- und Aufbauwortschatz von Fischer/Le Plouhinec enthalten sind. Auffällig ist auch, dass ein Tilgen einzelner Wörter, also z.B. eines adjectif épithète oder eines Aufzählungsgliedes, sehr häufig solche Lexeme trifft, die ebenfalls nicht darin verzeichnet sind. Und das deutlichste Indiz dafür, dass die Redakteure der Easy-Readers-Versionen einen Grund- und Aufbauwortschatz des Französischen bei ihren Vereinfachungen zugrundelegen, ist die Tatsache, dass auch der größte Teil der Ersetzungen einzelner Wörter solche betrifft, die nicht in genanntem Lernwörterbuch enthalten sind, und die Ersatzlexeme wiederum in den meisten Fällen darin verzeichnet sind. Diese Strategie der Vereinfachung wird in allen sieben untersuchten Easy-ReadersFassungen vielfach angewendet, was in Tabelle 45 an je einem exemplarischen Beispiel pro Erzählung illustriert wird: Tab. 45: Beispiele für Ersetzungen einzelner Lexeme in den Easy-Readers-Versionen. Original (kursiv gedruckte Lexeme nicht im GAW enthalten) La Mort du Dauphin

Easy-Readers-Version (kursiv gedruckte Ersetzungen im GAW enthalten)

La reine sanglote encore plus fort, et le La reine sanglote encore plus fort, et le petit Dauphin commence à avoir petit Dauphin commence à s’effrayer. peur. (C-ER, 21) (C, 315)

La Chèvre Une lueur pâle parut dans l’horizon . . . de M. Seguin (C, )

Une lumière pâle parut dans l’horizon. (C-ER, )

65 GAW = Fischer, Wolfgang/Le Plouhinec, Anne-Marie, Thematischer Grund- und Aufbauwortschatz Französisch. Stuttgart, Ernst Klett Sprachen, 32012 (2000). 66 Die Hervorhebungen der Originallexeme und ihrer Ersetzungen in den jeweiligen Zitaten stammen von der Verfasserin. Dasselbe gilt für die im Folgenden aufgeführten tabellarischen Gegenüberstellungen von Originalpassagen und ihren Modifikationen in den Easy-Readers-Fassungen.

4.2 Adaptionsstrategien auf der Ebene der Wortsemantik

465

Tab. 45 (fortgesetzt ) Original (kursiv gedruckte Lexeme nicht im GAW enthalten)

Easy-Readers-Version (kursiv gedruckte Ersetzungen im GAW enthalten)

Naïs Micoulin

La famille était composée du père Micoulin [. . .] et de Naïs que son père envoyait travailler dans une fabrique de tuiles, malgré toute la besogne qu’il y avait au logis. (N, )

La famille était composée du père Micoulin [. . .] et de Naïs que son père envoyait travailler dans une tuilerie, malgré tout le travail qu’il y avait à faire à la maison. (N-ER, s.)

La Main

Une demi-heure plus tard, je pénétrais dans la maison de l’Anglais avec le commissaire central [. . .]. (M, )

Une demi-heure plus tard, j’entrais dans la maison de l’Anglais avec le commissaire central. (M-ER, )

La Parure

Elle songeait aux grands salons vêtus de soie ancienne, aux meubles fins portant des bibelots inestimables [. . .]. (Pa, )

Elle rêvait aux grands salons vêtus de soie ancienne, aux meubles fins portant des bibelots précieux [. . .]. (Pa-ER, s.)

Christine

Je me rendis compte cependant qu’il était question de Christine, car son nom revenait assez souvent dans leurs propos. (CL, )

Mais j’ai compris qu’il était question de Christine, car son nom revenait assez souvent dans leur conversation. (CL-ER, )

Léviathan

Seul, il ferma le hublot [. . .], tira le petit rideau de serge et ôta son chapeau. (CL, )

Là, il a fermé le hublot, tiré le petit rideau et enlevé son chapeau. (CL-ER, )

In diesen sieben Beispielen erfolgt die Ersetzung des mäßig komplexen Original-Lexems durch ein partielles Synonym, das im Grund- und Aufbauwortschatz enthalten ist. Weitere Strategien der Ersetzung einzelner Lexeme werden an späterer Stelle vorgestellt. Eine Analyse der Easy-Readers-Fassungen zeigt allerdings auch, dass nicht jedes Lexem des Originaltextes, das nicht im Grund- und Aufbauwortschatz enthalten ist, in der entsprechenden Vereinfachung ersetzt, annotiert oder gestrichen wird. Die vereinfachten Erzählungen weisen durchaus einige Wörter auf, die über den Aufbauwortschatz hinausgehen, – diejenigen, die auf 600 Wörtern basieren, sehr wenige, diejenigen, die auf 2500 Wörtern basieren, entsprechend mehr. Ganz im Einklang mit der hier vertretenen Einschätzung, dass die Varietäten grundsätzlich erhöhte Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen der Rezipienten stellen, werden Lexeme, die vom Petit Robert und anderen Standardwörterbüchern als régional, populaire, mot d’argot, familier, littéraire, vieux oder vieilli gekennzeichnet werden, in den Easy-Readers-Ausgaben konsequent und ausnahmslos bearbeitet.

466

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Gerade Archaismen und Historizismen sind in den fünf Korpustexten des 19. Jahrhunderts mehrfach vorhanden und auch in Julien Greens frühen Novellen noch vereinzelt anzutreffen. Wenn diese historisch markierten Lexeme vom Autor gezielt eingesetzt werden, um ein bestimmtes Zeitkolorit und ein gewisses Pathos zu erzeugen, wie dies in Daudets La Mort du Dauphin der Fall ist, dann werden sie in der Easy-Readers-Fassung nicht komplett getilgt, sondern vereinzelt erhalten und annotiert. In dieser ballade en prose lässt Daudet die Vergangenheit wiederaufleben, situiert seine Handlung an einem absolutistisch anmutenden Königshof, der von suisses, chambellans, pages und dames d’honneur bevölkert ist und wo soudards und lansquenets mit ihren historischen Waffen den kranken Kronprinzen vorm Tod beschützen sollen. Gerade die Historizismen, die verschwundene Berufsgruppen und Funktionen bezeichnen, werden in der Easy-Readers-Fassung erhalten, aber entweder durch eine Zeichnung oder eine Paraphrase erklärt, die dem Leser das nötige Wissen zum Verständnis dieser Lexeme bereitstellen: Tab. 46: Annotation von Historizismen in der Easy-Readers-Fassung von La Mort du Dauphin.

La Mort du Dauphin

Originalfassung

Annotation des kursiv gedruckten Historizismus in der Easy-ReadersFassung

Tout le château est en émoi . . . Des chambellans [. . .] montent et descendent en courant les escaliers de marbre . . . (C, )

chambellan, officier s’occupant du service intérieur de la chambre du roi (C-ER, )

Les galeries sont pleines de pages et de page, jeune homme au service d’un courtisans en habits de soie [. . .]. (C, ) seigneur (C-ER, ) À ce moment, l’aumônier s’approche du petit Dauphin et lui parle longtemps à voix basse. (C, )

aumônier, prêtre du roi (C-ER, )

In den meisten Fällen aber werden die Historizismen oder Archaismen der Originaltexte in den vereinfachten Fassungen getilgt oder durch Wörter der unmarkierten Gegenwartssprache ersetzt, die in der Regel im Grund- und Aufbauwortschatz enthalten sind. Lexeme, die Gegenstände bezeichnen, die aus der heutigen Alltagswelt verschwunden sind (z.B. calorifère, Pa, 1198 oder pourpoint [‘Wams’], C, 316), werden dabei durch solche Wörter ersetzt, die die heute üblichen Weiterentwicklungen (chauffage central, Pa-ER, 25; veste, C-ER, 24) dieser historischen Objekte bezeichnen. Treten in den Originalfassungen archaische Ausdrücke für nach wie vor bestehende Objekte und Sachverhalte auf, so werden sie in den vereinfachten Versionen

4.2 Adaptionsstrategien auf der Ebene der Wortsemantik

467

durch die heute dafür üblichen Ausdrücke ersetzt. Gerade die in den Korpustexten des 19. Jahrhunderts häufig anzutreffende Verwendung des Adverbs fort vor einem Adjektiv oder Adverb in der Bedeutung von sehr, die der Petit Robert (2013, 1081) als veraltet, regional oder der eleganten Schriftsprache zugehörig ausweist, wird systematisch in allen sieben untersuchten Easy-Readers-Fassungen durch das heute übliche très ersetzt. Einige Beispiele für diese spezielle Ersetzung sowie weitere Substitutionen von archaischen Wendungen enthält die folgende Tabelle: Tab. 47: Beispiele für Ersetzungen von Archaismen oder Historizismen in den Easy-ReadersFassungen. Original (kursiv gedruckte Lexeme = Archaismen oder Historizismen)

Easy-Readers-Fassung (kursiv gedruckte Ersetzung = gegenwartssprachliche Entsprechung)

La Parure

Elle songeait [. . .] aux deux grands valets en culotte courte qui dorment dans les larges fauteuils, assoupis par la chaleur lourde du calorifère. (Pa, )

Elle rêvait aux antichambres [. . .] où deux valets en culotte courte se sont endormis à cause de la chaleur lourde du chauffage central. (Pa-ER, )

La Parure

Elle sauta au cou de son amie, l’embrassa avec emportement, puis s’enfuit avec son trésor. (Pa, )

Elle sauta au cou de son amie, l’embrassa vivement, puis s’enfuit avec son trésor. (Pa-ER, )

La Mort du Dauphin

Est-ce que vous croyez bonnement que je m’en vas mourir ? (C, )

Est-ce que vous croyez vraiment que je vais mourir ? (C-ER, )

La Mort du Dauphin

Qu’on fasse venir sur l’heure quarante lansquenets très forts pour monter la garde autour de notre lit ! . . . (C, s.)

Qu’on fasse venir tout de suite quarante soldats très forts pour monter la garde autour de notre lit. (C-ER, s.)

La Mort du Dauphin

Qu’on m’apporte mes plus beaux habits, mon pourpoint d’hermine blanche et mes escarpins de velours ! (C, )

Je voudrais mes plus beaux habits, ma veste d’hermine blanche et mes escarpins ! (C-ER, )

La Chèvre Déjà ! dit la petite chèvre ; et elle de M. Seguin s’arrêta fort étonnée. (C, )

Déjà ! dit la petite chèvre ; et elle s’arrêta très étonnée. (C-ER, )

La Main

Il se couchait fort tard et s’enfermait avec soin. (M, )

Il se couchait très tard et s’enfermait avec soin. (M-ER, )

Christine

Je savais qu’elle avait été fort malheureuse [. . .]. (CL, )

Je savais qu’elle avait été très malheureuse [. . .]. (CL-ER, )

468

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Wie oben bereits erwähnt, gibt es in allen Korpustexten mitunter zahlreiche Lexeme, die einem bestimmten Soziolekt und noch häufiger einem bestimmten Situolekt des Französischen angehören und die häufig eine implizite Bewertung einer Figur oder Lokalität transportieren oder die Sprechweise einer Figur nachahmen wie in der intern fokalisierten Novelle Chien de nuit. Auch diese Lexeme werden entweder durch unmarkierte, zumeist im Grund- und Aufbauwortschatz enthaltene Wörter ersetzt oder konsequent annotiert. Die folgende Tabelle zeigt Beispiele für Ersetzungen von Lexemen, die entweder zur eleganten Schriftsprache gehören (Beispiele 1 – 3) oder zum français familier (Beispiele 4 – 5): Tab. 48: Beispiele für Ersetzungen von Situolekt-Wörtern in den Easy-Readers-Fassungen. Original (Kursiv gedrucktes Lexem gehört zu einem bestimmten Situolekt.)

Easy-Readers-Fassung (Kursiv gedruckte Ersetzung gehört der unmarkierten Gegenwartssprache an.)

La Mort du Dauphin

Pour complaire à l’enfant royal, la reine Pour faire plaisir à l’enfant royal, la fait un signe. (C, ) reine fait un signe. (C-ER, )

La Parure

Elle songeait aux grands salons vêtus de soie ancienne [. . .]. (Pa, )

Christine

Enfin [. . .] je demandai avec brusquerie Enfin j’ai demandé ce qui était arrivé ce qu’il était advenu de la petite fille à la petite fille [. . .]. (CL-ER, ) [. . .]. (CL, )

La Parure

Enfin c’est fini, et je suis rudement contente. (Pa, )

La Chèvre Le loup se moque bien de tes cornes. de M. Seguin Il m’a mangé des biques autrement encornées que toi . . . (C, )

Elle rêvait aux grands salons vêtus de soie ancienne [. . .]. (Pa-ER, )

Enfin, maintenant c’est fini et je suis très contente. (Pa-ER, ) Le loup se moque bien de tes cornes. Il m’a mangé des chèvres qui avaient des cornes autrement plus terribles que les tiennes . . . (C-ER, )

Auch in den annotierten, nicht vereinfachten Novellen des Korpus werden Wörter, die einer bestimmten Varietät des Französischen angehören, grundsätzlich erläutert. In den Novellen des 20. und 21. Jahrhunderts dominieren in diesem Kontext Lexeme des français familier gefolgt von Soziolekt-Wörtern des français populaire. In JeanClaude Izzos sozialkritischer Novelle Chien de nuit werden für 13 Lexeme des français familier oder populaire entweder ihre standardfranzösische Entsprechung oder eine deutsche Übersetzung angegeben:

4.2 Adaptionsstrategien auf der Ebene der Wortsemantik

469

les nichons m. fam. les seins – pisseux, -euse fam. → la pisse – un tas de fam. beaucoup de – une connerie fam. une bêtise – une clope fam. une cigarette – (un,e) marrant, e fam. (qn de) drôle – la boule ici: fam. la tête – un enfoiré fam. A. . .loch – un mec fam. un homme – niquer fam. reinlegen – une galère fam. une situation difficile – un salopard fam. Dreckskerl (Ch, 75s.)

Fachwörter, Fremdwörter und Regionalismen sind in unserem Korpus deutlich seltener zu finden, erfahren aber die gleiche Behandlung wie die Historiolekt-, Soziolekt- und Situolekt-Wörter. Beispielsweise werden die im Original auf Provenzalisch wiederholten Schlusssätze von La Chèvre de M. Seguin, die das tragische Ende Blanquettes zum Thema haben, in der entsprechenden EasyReaders-Ausgabe komplett gestrichen. Auch Regionalismen finden sich vornehmlich in La Chèvre de M. Seguin und vereinzelt in Zolas Novelle Naïs Micoulin, deren Handlung ebenfalls in der Provence angesiedelt ist. In der Vereinfachung von Naïs Micoulin wird z.B. durchgängig der Ausdruck le méger vermieden, der einen Bauern bezeichnet, der die Ernte seines Pachthofes mit dessen Besitzer teilt,67 – ein typisch provenzalisches, mittlerweile veraltetes Modell. Obwohl dieser Regionalismus sogar im Original erläutert wird, tilgt die Easy-Readers-Fassung ihn, behält nur die Erklärung bei und ersetzt ihn in der Folge durch den Eigennamen Micoulin, sobald er verwendet wird, um auf Naïs’ Vater zu verweisen: Tab. 49: Vermeidung des Regionalismus le méger in der Easy-Readers-Fassung von Naïs Micoulin. Naïs Micoulin (Original)

Naïs Micoulin (Easy-Readers-Fassung)

Depuis quarante ans, les Micoulin Depuis quarante ans, les Micoulin cultivaient étaient mégers à la Blancarde. Selon l’usage les terres de la Blancarde. Ils partageaient les provençal, ils cultivaient le bien et partageaient récoltes avec le propriétaire. (N-ER, ) les récoltes avec le propriétaire. (N, ) Cette année-là, quand Mme Rostand fut installée à la Blancarde, elle demanda au méger de lui prêter Naïs, une de ses bonnes étant malade. (N, s.)

Cette année-là, madame Rostand a demandé à Micoulin de lui prêter Naïs, car une de ses bonnes était malade. (N-ER, s.)

In der Easy-Readers-Fassung von La Chèvre de M. Seguin werden weiterhin die provençalismes je me languis (C, 261) und Pécaïre ! (C, 262) durch ihre standardfranzösischen Entsprechungen je m’ennuie (C-ER, 8) und Quelle pitié ! (C-ER, 9) 67 Cf. ‹http://www.cnrtl.fr/lexicographie/méger› [letzter Zugriff: 04.02.2019].

470

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

ersetzt und die in der langue courante ebenfalls seltenen und regional gefärbten Diminutive pauvrette (C, 263), maisonette (C, 264) und la brave chevrette (C, 265) durch Umschreibungen mit petit: pauvre petite (C-ER, 12), la petite maison (C-ER, 13) und la brave petite chèvre (C-ER, 16). Nachdem nun an mehreren Beispielen belegt wurde, dass in den EasyReaders-Ausgaben diachron, regional, sozial und situativ markierte sowie wenig geläufige Lexeme systematisch vermieden oder annotiert werden, sollen noch die verschiedenen Strategien der Ersetzung thematisiert werden. Natürlich steht aus sprachökonomischen Gründen nicht für jedes Wort, das nicht im Grund- und Aufbauwortschatz enthalten ist, ein partielles Synonym aus diesem Vokabelverzeichnis zur Verfügung. In der Tat bestehen verschiedene semantische Relationen zwischen ersetztem und ersetzendem Lexem und bewirken die Substitutionen nicht nur eine geringere Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik, sondern auch einen höheren Grad an Kohäsion und lokaler Kohärenz in den vereinfachten Texten. Auffällig ist zunächst die Tendenz in den Easy-Readers-Versionen, Lexeme mit einer spezifischeren Bedeutung durch solche mit einer allgemeineren Bedeutung bzw. einer größeren Extension zu ersetzen. Das kann natürlich zunächst durch eine Ersetzung des Wortes der Originalfassung durch sein Hyperonym erfolgen. Diese Substitutionsstrategie ist insbesondere in der Vereinfachung von La Chèvre de M. Seguin zu beobachten, wo Bezeichnungen für bestimmte Tieroder Pflanzenarten durch ihren Oberbegriff ersetzt werden:

Tab. 50: Substitutionsstrategie: Hyperonym ersetzt Hyponym. Originalfassung (kursiv gedrucktes Lexem = Hyponym)

Easy-Readers-Fassung (kursiv gedruckte Ersetzung = Hyperonym)

Jamais les vieux sapins n’avaient rien vu d’aussi joli. (C, )

Jamais les arbres n’avaient rien vu d’aussi joli. (C-ER, )

Les genêts d’or s’ouvraient sur son passage [. . .]. (C, s.)

Les fleurs s’ouvraient sur son passage. (C-ER, )

La Chèvre de M. Seguin [. . .] elle tomba dans une troupe de chamois en train de croquer une lambrusque à belles dents. (C, ) Un gerfaut, qui rentrait, la frôla de ses ailes en passant. (C, )

[. . .] elle tomba dans un troupeau de chamois en train de manger des plantes. (C-ER, ) Un oiseau la frôla en passant. (C-ER, )

4.2 Adaptionsstrategien auf der Ebene der Wortsemantik

471

Auch die Verwendung von Komposita oder compléments du nom zur Erweiterung eines Nominalsyntagmas dient der Spezifizierung des Determinatums bzw. des Kerns einer Nominalgruppe. Auf diese spezifizierenden Elemente, die häufig nicht im GAW enthalten sind, wird in den Vereinfachungen häufig verzichtet, indem das complément du nom getilgt wird oder ein Kompositum durch sein Determinatum ersetzt wird. So finden sich beispielsweise anstelle der Lexeme und Nominalgruppen une fleur de cytise, ses babines d’amadou (La Chèvre de M. Seguin), des bouées de liège (Naïs Micoulin), des chambres d’invités, un long châle de Paisley, un petit coffret de galuchat (Christine), le petit rideau de serge, les gens de son entourage (Léviathan) in den jeweiligen Vereinfachungen die weniger differenzierten Ausdrücke une fleur, ses babines, des bouées, des chambres, un long châle, un petit coffret, le petit rideau und les gens. Des Weiteren wird einige Male auf die Bedeutungsbeziehungen zwischen den Elementen eines Frames zurückgegriffen, um ein einfacheres, also im GAW enthaltenes Lexem für die Easy-Readers-Fassung zu finden. In der Regel besteht eine Teil-Ganzes-Beziehung zwischen ersetztem und ersetzendem Lexem, wobei in den meisten Fällen der Teil (z.B. vitre) durch das Ganze (z.B. fenêtre) ersetzt wird:

Tab. 51: Substitutionsstrategie: das Ganze ersetzt den Teil.

La Mort du Dauphin

Originalfassung (kursiv gedrucktes Lexem = Teil; oft nicht im GAW)

Easy-Readers-Fassung (kursiv gedrucktes Lexem = Ganzes; häufig im GAW)

Dans l’Orangerie, il y a nombreuse assemblée de médecins en robe. On les voit, à travers les vitres, agiter leurs longues manches noires et incliner doctoralement leurs perruques à marteaux . . . (C, )

Dans une des pièces est rassemblé un groupe de médecins en robe. On les voit, à travers les fenêtres, agiter leurs bras et leurs grandes perruques blanches. (C-ER, s.)

La Chèvre Hop ! la voilà partie, la tête en avant de M. Seguin [. . .], tantôt sur un pic, tantôt au fond d’un ravin, là-haut, en bas, partout . . . (C, )

[. . .] hop ! la voilà partie, courant la tête en avant, tantôt en haut dans la montagne, tantôt en bas, partout . . . (C-ER, )

Ähnliche hierarchische Beziehungen bestehen zwischen einigen Verben der Originaltexte und ihren Ersetzungen in den Easy-Readers-Versionen. Bei der

472

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Substitution von Verben werden innerhalb eines Wortfeldes, z.B. der Verben des Sprechens oder des Laufens, solche Verben, die stärkere semantische Differenzierungen vornehmen, häufig durch allgemeinere bzw. merkmalsärmere Verben ersetzt. Auch ein häufiger Rückgriff auf regelrechte Passe-partout-Wörter wie faire oder aller ist dabei zu beobachten: Tab. 52: Substitutionsstrategie: allgemeineres Verb ersetzt spezifischeres. Originalfassung (kursiv gedrucktes Lexem = spezifischeres Verb)

Easy-Readers-Fassung (kursiv gedrucktes Lexem = allgemeineres Verb)

La Parure

Elle réfléchit quelques secondes, établissant ses comptes [. . .]. (Pa, )

Elle réfléchit quelques secondes faisant ses comptes [. . .]. (Pa-ER, )

La Parure

Tous les attachés du cabinet voulaient valser avec elle. (Pa, )

Tous les hommes voulaient danser avec elle, même les attachés du cabinet. (Pa-ER, )

Naïs Micoulin

Alors, il inventait chaque matin un prétexte pour filer à Marseille. (N, )

[. . .] il inventait chaque matin un prétexte pour aller à Marseille. (N-ER, )

La Main

[. . .] trois fois je revis le hideux débris galoper autour de ma chambre en remuant les doigts comme des pattes. (M, )

[. . .] trois fois j’ai revu l’horrible débris courir autour de ma chambre en remuant les doigts. (M-ER, )

La Chèvre Plus de corde, plus de pieu . . . rien qui Plus de corde, plus rien pour de M. Seguin l’empêchât de gambader, de brouter à l’empêcher de courir, de brouter sa guise . . . (C, ) comme elle le désirait. (C-ER, ) Christine

Je glissai sous la porte un carré de papier sur lequel j’avais griffonné en grosses lettres : «Christine, ouvre-moi, je t’aime.» (CL, )

J’ai écrit avec de grosses lettres «Christine, ouvre-moi, je t’aime», sur un morceau de papier, que j’ai glissé sous la porte. (CL-ER, )

Bei den bislang vorgestellten Strategien der Ersetzung besteht zwischen ersetztem und ersetzendem Lexem grundsätzlich eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Bedeutungsähnlichkeit. Bei zahlreichen Substitutionen ist das allerdings nicht der Fall. Wenn beispielsweise anstelle von notre petite coureuse en robe blanche (C, 263) in der Originalfassung von La Chèvre de M. Seguin in der EasyReaders-Version notre petite chèvre en robe blanche (C-ER, 12) steht, dann sind

4.2 Adaptionsstrategien auf der Ebene der Wortsemantik

473

coureuse und chèvre offensichtlich nicht bedeutungsähnlich, sondern lediglich referenzidentisch: beide Wörter referieren auf M. Seguins freiheitsliebende Ziege. Gerade der Vergleich der Koreferenzketten von Figuren oder Objekten der Originalfassungen mit den entsprechenden Koreferenzketten in den Easy-Readers-Versionen macht das – nach den Kürzungen – zweiteffektivste Mittel zur Reduzierung der Reichhaltigkeit des Vokabulars deutlich. Wir erinnern daran, dass gemäß Brinker ein durch ein Substantiv benannter Referenzträger durch Wiederholung desselben Substantivs, durch andere Substantive bzw. substantivische Wortgruppen oder durch ein bestimmtes Personalpronomen wiederaufgenommen werden kann. Bei der Wiederaufnahme durch andere Substantive besteht zwischen Bezugsausdruck und wiederaufnehmendem Ausdruck entweder Bedeutungsähnlichkeit (Synonymie, Hyperonymie) oder aber der Text selbst baut die referenzidentische Verknüpfung zweier oder mehrerer substantivischer Wortgruppen auf (cf. Brinker 1985/ 2010, 29). Letzteres ist der Fall, wenn Daudet in der Passage, wo er Blanquettes beglücktes Herumtollen im Gebirge schildert, eben mit der Nominalphrase notre petite coureuse auf die Ziege verweist. In den Easy-Readers-Fassungen ist nun häufig festzustellen, dass die Variabilität in den Koreferenzketten von Figuren und Objekten deutlich reduziert wird und immer wieder mit demselben Substantiv oder wenigen Varianten auf einen bestimmten Referenzträger verwiesen wird. Die originale Koreferenzkette von M. Seguins Ziege besteht vornehmlich aus Nominalsyntagmen, deren Kern das Wort chèvre ist (la petite chèvre, la chèvre blanche . . .), sowie aus dem Eigennamen Blanquette, des Weiteren aber u.a. auch aus den substantivischen Wortgruppen notre petite coureuse en robe blanche, la brave chevrette und la gourmande. Die letzten drei werden in der Easy-Readers-Fassung durch notre petite chèvre en robe blanche, la brave petite chèvre und das Personalpronomen elle ersetzt und somit die Variation in der Koreferenzkette etwas reduziert. Dasselbe Vorgehen begegnet in Maupassants fantastischer Erzählung La Main in Bezug auf die Koreferenzkette der abgetrennten Hand. Die Easy-ReadersFassung ersetzt hier die substantivische Wortgruppe ce membre malpropre (weder membre i.S.v. ‘Gliedmaße’ noch malpropre im GAW) durch die dominierende Bezeichnung la main und weiterhin wird die Liste der compléments du nom (d’homme und d’écorché) und der Adjektive (noire, desséchée, humain, horrible, disparue und hideux), die die Hand näher bestimmen, in der Vereinfachung reduziert: d’écorché und desséchée (nicht im GAW) werden hier durch die Wiederholung von séchée ersetzt und anstelle von hideux (nicht im GAW) in le hideux débris wird das bereits an früherer Stelle eingesetzte und im GAW enthaltene Adjektiv horrible wiederholt, was die folgende Gegenüberstellung der jeweiligen wiederaufnehmenden substantivischen Ausdrücke zeigt:

474

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Tab. 53: Geringere Variation in der Koreferenzkette von la main in der Easy-Readers-Fassung.

La Main

Originalfassung

Easy-Readers-Fassung

une chose étrange (M, )

une chose étrange (M-ER, )

un objet noir (M, )

un objet noir (M-ER, )

une main, une main d’homme (M, )

une main, une main d’homme (M-ER, )

une main noire desséchée (M, )

une main noire, séchée (M-ER, )

ce membre malpropre (M, )

la main (M-ER, )

ce débris humain (M, )

ce débris humain (M-ER, )

la main (M, )

la main (M-ER, )

l’horrible main d’écorché (M, )

l’horrible main séchée (M-ER, )

cette main disparue (M, )

cette main disparue (M-ER, )

cette main séchée [. . .] (M, )

cette main séchée [. . .] (M-ER, )

la main, l’horrible main (M, )

la main, l’horrible main (M-ER, )

le hideux débris (M, )

l’horrible débris (M-ER, )

Zahlreiche Beispiele könnten dafür angeführt werden, dass (partielle) Synonyme in den Original-Koreferenzketten von Objekten oder Figuren in den Easy-Readers-Fassungen vermieden werden und sich für ein durchgängig verwendetes Lexem entschieden wird. In der Originalfassung von Maupassants La Parure werden das Behältnis der verlorenen Kette durch boîte (im GAW) und écrin (nicht im GAW) bezeichnet und die Juweliere, die das Ehepaar Loisel aufsucht, durch bijoutier (im AW) oder joaillier (nicht im GAW), in der EasyReaders-Version aber tauchen nur die Lexeme boîte und bijoutier auf. Das Schiff, mit dem der Reisende aus Julien Greens Léviathan in die USA unterwegs ist, wird im Original als navire (im AW) oder vaisseau (nicht im GAW) bezeichnet, in der Vereinfachung hingegen permanent als navire. In Zolas Naïs Micoulin finden sich die Lexeme soufflet (nicht im GAW) und gifle (im AW) für die Schläge, die Naïs ertragen muss, sowie die Wörter jambin (nicht im GAW) und panier (nicht im GAW) für die Reusen bzw. Fischkörbe, die Micoulin und Frédéric einholen. Die Redakteure der Easy-Readers-Fassung beschränken sich in diesen Fällen auf die Wörter gifle und panier.

4.2 Adaptionsstrategien auf der Ebene der Wortsemantik

475

Die in diesem Abschnitt vorgestellten Annotationen und Ersetzungen einzelner Lexeme, die einer Varietät des Französischen angehören oder schlicht wenig geläufig sind, reduzieren also in doppelter Hinsicht die Komplexität der Vereinfachungen im Vergleich zum Original. Zunächst sind die Anforderungen, die die Easy-ReadersFassung an das lexikalische Wissen ihrer Rezipienten stellt, deutlich geringer als beim Originaltext. Die aufgezeigte Strategie, bei der Wiederaufnahme von Figuren oder Objekten auf Synonymie, Hyperonymie oder durch den Kontext selbst hergestellte referenzidentische Verknüpfungen zweier Wortgruppen zu verzichten, trägt ebenfalls dazu bei, die Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen zu senken, indem die Reichhaltigkeit des Vokabulars reduziert wird. Sie führt allerdings auch zu ausgeprägteren lexikalischen Rekurrenzen in den Easy-Readers-Texten, was deren Kohäsion und lokale Kohärenz unterstützt. Insbesondere das Erfassen von Koreferenz wird dem Leser der vereinfachten Versionen somit erleichtert, denn es sind immer wieder dieselben Substantive und substantivischen Wortgruppen, die auf einen bestimmten Referenten verweisen. Damit muss er weniger konzentriert lesen und bisweilen auch weniger Hintergrundwissen aktivieren als ein Rezipient der Originalfassungen. Ob es sich bei den beschriebenen Ersetzungen um gezielte Maßnahmen zur Unterstützung der Textkohärenz handelt oder um einen Nebeneffekt der mechanischen lexikalischen Vereinfachungen, kann nicht zweifelsfrei geklärt werden. Es ist aber davon auszugehen, dass die Redakteure von Vereinfachungen literarischer Texte mit einschlägigen Ergebnissen der Textverständlichkeitsforschung vertraut sind, die besagen, dass eine Erhöhung der Redundanz durch Wiederholungen, Synonyme oder die Verwendung allgemeinerer Ausdrücke einen Text verständlicher machen und einen behaltensfördernden Effekt haben (cf. Christmann/Groeben 1999/2006, 184). Folglich erscheint es sehr plausibel, dass in den Easy Readers nicht nur oberflächlich der Wortschatz eines literarischen Werkes reduziert wird, sondern auch transphrastische Strukturen in den Blick genommen und u.a. im Interesse einer Verstärkung der Textkohärenz verändert werden. Die Effektivität der in diesem Abschnitt beschriebenen Reduktion von Komplexität ist insbesondere aus Lernersicht nicht zu unterschätzen. Gerade eine naturalistische Novelle wie Naïs Micoulin mit ihren detailreichen Beschreibungen der provenzalischen Landschaft zu unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten weist passagenweise eine extreme Häufung seltener Lexeme auf. Auch durch Einsatz der besten Worterschließungstechniken kann ein L2-Lerner solche Passagen, bei denen ihm jedes zweite Wort unbekannt ist, nicht verstehen und nicht inferieren, was eigentlich Thema der Textstelle ist und auf welchen Referenten bestimmte Wortgruppen zu beziehen sind. Solche Texte müssen demotivieren, zwingen vielleicht sogar zum Abbruch der Lektüre. Die soeben vorgestellten Adaptionen in Verbindung mit Kürzungen können diese Komplexität auf wortsemantischer Ebene und hinsichtlich Kohäsion und lokaler Kohärenz zweifelsohne erfolgreich reduzieren. Die Kehrseite

476

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

der Medaille ist natürlich ein spürbarer Eingriff in den Autor- bzw. Epochenstil und im schlimmsten Fall auch das Tilgen von impliziten Charakterisierungen von Figuren oder Orten, die häufig durch die Verwendung von Soziolekt- oder Situolekt-Wörtern erfolgen. Weitreichendere Folgen sind aber durch die vorgestellten Tilgungen und Ersetzungen einzelner Wörter nicht zu verzeichnen und man muss den Redakteuren der Easy-Readers-Fassungen zu Gute halten, dass sie in Erzählungen wie z.B. La Mort du Dauphin, wo Archaismen und Historizismen bewusst zur Erzielung einer gewissen Stimmung und eines Zeitkolorits eingesetzt werden, diese auch nur maßvoll ersetzen und verstärkt auf Annotationen zurückgreifen. Nachdem nun die in allen untersuchten Easy-Readers-Ausgaben umfassend vertretene Strategie der Reduktion der Reichhaltigkeit des Vokabulars und der Anforderungen an das lexikalische Wissen analysiert und bewertet wurde, soll in den folgenden Abschnitten der Umgang der Easy-Readers-Redakteure mit den Komplexitätsfaktoren 1. ABWEICHUNGEN und 2. kontextabhängige IMPLIZITHEIT auf wort-, satz- und textsemantischer Ebene untersucht werden. Dabei ist klar, dass eine mögliche Aushebelung dieser beiden Faktoren grundsätzlich auch die Anforderungen an das REZIPIENTENWISSEN (3. Komplexitätsfaktor) reduziert.

4.3 Reduktion von Abweichungen und Wissensanforderungen In Abschnitt 4.1 wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Redakteure der EasyReaders-Fassungen mit ihrem gängigen Repertoire an Modifikationen (Kürzungen, Ersetzungen, knappe/isolierte Ergänzungen) Komplexität, die aus Abweichungen resultiert, in vielen Fällen nicht beheben können. Eine surrealistische Novelle wie Plume au restaurant beispielsweise, deren Handlung im Wesentlichen darauf beruht, dass prototypische Wissensrahmen wie «[accusation vs. défense : norme]» (Schmidt 1973, 158) gebrochen werden, wodurch eine große, schwer zu fassende Bedeutungsvielfalt entsteht, könnte durch die genannten Modifikationen nicht vereinfacht werden. Aber auch die häufig gattungsbedingten flächigen Verletzungen oder Beugungen der Grice’schen Maximen sind nur in beschränktem Maße einer Vereinfachung zugänglich, was insbesondere für Verletzungen der Quantitäts-, Qualitätsund Relevanzmaxime gilt, die bekanntlich den Inhalt des Gesagten betreffen (cf. Grice 1979, 250). Julien Greens symbolische Novelle Christine (1924) zum Beispiel weist einen Ich-Erzähler auf, der in seinem dreizehnten Lebensjahr eine mysteriöse Begegnung mit der übernatürlich anmutenden gleichaltrigen Christine im Sommerhaus seiner Mutter in Rhode Island hat. Das Mädchen ist stumm, Mutter und Tante des Ich-Erzählers halten die Kinder voneinander fern, lehnen es kategorisch ab, dem Jungen Informationen über Christines Identität zu geben, und wechseln in seiner Gegenwart ins Französische, wenn sie über sie reden – eine Sprache, die der

4.3 Reduktion von Abweichungen und Wissensanforderungen

477

Erzähler nicht beherrscht. Diese durch Figurenkonstellation und -verhalten bedingten Verletzungen der Quantitätsmaxime, die sich in fundamentalen Leerstellen in den Personen-Frames niederschlagen, tragen in nicht unerheblichem Maße zur Ambiguität und Komplexität der Novelle bei. Mit ihrem Adaptions-Repertoire können die Redakteure der Easy-Readers-Version von Greens Novelle diese Komplexität aber nicht beheben: sie müssten dazu dem Text eine Vielzahl von persönlichen, Autor-fremden Worten hinzufügen, was einer Interpretation gleichkommen und die weiteren möglichen Bedeutungen der Erzählung tilgen würde. (Reduktion von Ambiguität erfolgt zwar durchaus, aber mit anderen Mitteln.) Solche (unzulässigen) Ergänzungen der Originaltexte nehmen die Redakteure der Vereinfachungen nicht vor, sondern akzeptieren die semantische Komplexität, die dann eben auch in der Easy-Readers-Fassung erhalten bleibt. Ähnliche Beobachtungen wurden in Abschnitt 4.1 bereits für die vereinfachte Version von La Main angestellt. Einer Vereinfachung durch Kürzungen und Ersetzungen zugänglich sind jedoch Abweichungen von den ersten drei Untermaximen der Modalität (1. Vermeide Dunkelheit des Ausdrucks, 2. Vermeide Mehrdeutigkeit, 3. Sei kurz – vermeide unnötige Weitschweifigkeit), die sich auf das Wie des Gesagten beziehen (cf. Grice 1979, 250). Wenn man das Vorliegen von Andeutungen aller Art, insbesondere der Coseriu’schen Evokation, oder von Zusatzbedeutungen, die durch stilistische Phänomene vermittelt werden, als Dunkelheit des Ausdrucks betrachtet, der gemäß der ersten Untermaxime der Modalität zu vermeiden ist, dann kann dieser durch Kürzungen und alternative Formulierungen natürlich effektiv beseitigt werden. Dem Rezipienten wird so die Inferenz der angedeuteten Bedeutungen erspart, die natürlich zur kontextabhängigen IMPLIZITHEIT gehören und oftmals eine aufmerksame Textanalyse und die Verfügbarkeit von Expertenwissen verlangen. In der Analyse von Daudets La Chèvre de M. Seguin wurde gezeigt, dass Evokationen und stilistische Elemente für eine außerordentliche Vielzahl von Lesarten verantwortlich sein können, und somit kann also auch Polyvalenz durch das Tilgen von Andeutungen vermieden bzw. reduziert werden. Das geschieht in den hier untersuchten Easy-ReadersVersionen mehrfach und wird in den Unterkapiteln 4.4 und 4.5 näher erläutert werden, die sich mit der Reduktion von Implizitheit und Ambiguität beschäftigen. Sehr leicht zu vereinfachen sind natürlich Abweichungen von den Regeln und Normen einer historischen Einzelsprache. Dafür müssen die sprachlichen Fehler schlicht korrigiert oder die entsprechenden Passagen gestrichen werden. In unserem Korpus gibt es nur zwei Texte, die solche Abweichungen von einzelsprachlichen Normen enthalten, nämlich die bereits in Kapitel 3.1 ausführlich analysierte fantastische Erzählung La Main und die Novelle L’avenir de l’homme des afrikanischen Autors Samuel Millogo. In La Main gibt Maupassant in der direkten Rede des Engländers Rowell dessen Genus-, Tempus- und sonstige Grammatikfehler wieder und ahmt seine Aussprachefehler durch Modifikationen der entsprechenden Schriftformen nach.

478

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Vordergründig dienen diese Abweichungen von den Regeln des Französischen der Schaffung eines Originaltons, ihr tieferer Sinn ist es, Rowells Darstellung der Erbeutung der main d’écorché ambig zu gestalten. Eine adäquate Deutung der geschilderten Abweichungen von einzelsprachlichen Regeln setzt auf Rezipientenseite u.a. eine solide Kenntnis der Genera seltener Lexeme sowie des Zeitengebrauchs im Französischen voraus und verlangt das Erkennen und Auswerten der weitreichenden Ambiguität, die mit diesen Verstößen verknüpft ist. Konsequenterweise greifen die Redakteure der Easy-Readers-Version von La Main an dieser Stelle stark in den Originaltext ein und verbessern alle Genus- und Tempusfehler sowie die grammatikalisch völlig unzulässige Konstruktion «Aoh, très bonne pour moi, cette.» (M, 1119). Nur einige durch Modifikationen der Schriftform angedeutete Aussprachefehler Rowells wie z.B. *nô, *j’avé oder *elle voulé, die leicht zu erkennen und einzuordnen sind, werden in der vereinfachten Version beibehalten. Die folgende tabellarische Gegenüberstellung der entsprechenden Passagen illustriert den recht starken korrigierenden Eingriff der Redakteure der Easy-Readers-Fassung in den Originaltext: Tab. 54: Verbesserung einzelsprachlicher Abweichungen in der Easy-Readers-Ausgabe von La Main. Satz in der Originalfassung Satz in der Easy-Readersvon La Main Ausgabe

Erläuterung

.

Il me reçut avec toute la méticuleuse courtoisie anglaise, parla avec éloge de la France et de la Corse, déclara qu’il aimait beaucoup cette pays, et cette rivage. (M, )

Il m’a reçu avec toute la courtoisie anglaise, a parlé avec éloge de la France et de la Corse. (M-ER, )

Die indirekte Rede des Engländers, in der Bermutier dessen Genusfehler (*cette pays und *cette rivage) zitiert, wird getilgt.

.

«J’avé eu bôcoup d’aventures, oh ! yes.» (M, )

«J’avé eu beaucoup d’aventures, oh ! yes.» (M-ER, )

Die fehlerhafte Aussprache von avais (*avé) wird beibehalten, die von beaucoup (*bôcoup) verbessert.

.

«Oh ! nô, le plus mauvais c’été l’homme.» (M, )

«Oh ! nô, le plus mauvais c’est l’homme.» (M-ER, )

Die fehlerhafte Aussprache von non (*nô) wird beibehalten, der Aussprachefehler von était (*été) wird durch eine Verbesserung des gleichzeitigen Tempusfehlers getilgt.

4.3 Reduktion von Abweichungen und Wissensanforderungen

479

Tab. 54 (fortgesetzt ) Satz in der Originalfassung Satz in der Easy-Readersvon La Main Ausgabe

Erläuterung

.

«J’avé beaucoup chassé l’homme aussi.» (M, )

«J’avé beaucoup chassé l’homme aussi.» (M-ER, )

Der Aussprachefehler von avais (*avé) wird beibehalten.

.

«C’été une drap japonaise.» (M, )

«C’est un drap japonais.» (M-ER, )

Der Aussprache- und Tempusfehler (*c’été) wird verbessert und der Genusfehler (*une drap) wird korrigiert.

.

«C’été ma meilleur ennemi. Il vené d’Amérique. Il avé été fendu avec le sabre et arraché la peau avec une caillou coupante, et séché dans le soleil pendant huit jours. Aoh, très bonne pour moi, cette.» (M, )

«C’est mon meilleur ennemi. Il vient d’Amérique. Il avé été coupé avec le sabre et arraché la peau avec un caillou coupant, et séché dans le soleil pendant huit jours. Aoh, très bon pour moi.» (M-ER, )

Die Genusfehler (*ma meilleur ennemi, *une caillou) werden verbessert. Die Aussprachefehler von venait (*vené) und avait (*avé) werden getilgt, indem die Verben ins présent gesetzt werden. Die Grammatikfehler im letzten Satz werden allesamt korrigiert.

.

«Aoh yes ; mais je été plus fort que lui. J’avé mis cette chaîne pour le tenir.» (M, )

«Aoh yes ; mais j’ai été plus fort que lui. J’avé mis cette chaîne pour le tenir.» (M-ER, )

Der Aussprache- und/oder Grammatikfehler (*je été) wird korrigiert; der Aussprachefehler von avais (*avé) wird beibehalten.

.

«Elle voulé toujours s’en aller. Cette chaîne été nécessaire.» (M, )

«Elle voulé toujours s’en aller. Cette chaîne est nécessaire.» (M-ER, )

Der Aussprachefehler von voulait (*voulé) wird beibehalten, der Ausspracheund Tempusfehler (été) wird korrigiert.

Trotz der Korrektur der meisten einzelsprachlichen Verstöße bleibt die Passage über den Angriff auf Rowells Todfeind auch in der Easy-Readers-Fassung ambig, was unter anderem an der Inkongruenz von Bermutiers klar auf die Hand bezogenen Frage «Qu’est-ce que c’est ?» (M-ER, 66) und Rowells Antwort «C’est mon meilleur ennemi.» (M-ER, 66) liegt, die sich durch die gesamte Passage zieht, sowie an der Verwendung des polysemen Verbs couper:

480

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

«J’ai demandé : - Qu’est-ce que c’est ? L’Anglais a répondu tranquillement : - C’est mon meilleur ennemi. Il vient d’Amérique. Il avé été coupé avec le sabre et arraché la peau avec un caillou coupant, et séché dans le soleil pendant huit jours. Aoh, très bon pour moi». (M-ER, 66)

Dessen Lesart abschneiden legt die Interpretation nahe, dass dem Todfeind Rowells nur die Hand abgeschnitten wurde, während die Lesart durchschneiden oder zerlegen für die brutale Ermordung des Besitzers der Hand spricht. Somit erweist sich auch die von Verstößen gegen einzelsprachliche Regeln weitgehend befreite Passage in der Vereinfachung aufgrund ihrer Ambiguität als (mäßig) semantisch komplex. Die Anforderungen, die die Originalpassage an das einzelsprachliche Wissen der Rezipienten stellt (sichere Kenntnis der Genera einiger wenig frequenter Substantive sowie des Tempusgebrauchs im Französischen), fallen in der Easy-Readers-Fassung aber deutlich geringer aus, und auch die Notwendigkeit einer semantischen Auswertung der sprachlichen Fehler hinsichtlich des Schicksals des Besitzers der Hand (cf. Kapitel 3.1.2) entfällt. L’avenir de l’homme ist in der Anthologie À la découverte de l’Afrique noire francophone enthalten und wurde wie die weiteren Novellen des Bandes nicht vereinfacht, sondern nur annotiert. Anlass für eine vergleichsweise ausführliche Annotation von Millogos Text sind Abweichungen von den grammatikalischen und orthographischen Normen des Französischen, die durch Guillemets und Kursivdruck hervorgehoben wurden, um sie als typische Äußerungen im Kontext von Bestechung auszuweisen: «Ici comme partout ailleurs c’est donnant donnant. ‹Fais on va fait. Qui est fou.› Tant pis pour qui n’entend ni ne parle français. Les ‹bonamies›, les grands types, les grandes dames [. . .] étaient venus et s’en étaient allés». (A, 49)

Diese sozialkritische Novelle, die Korruption im Gesundheitswesen anprangert, enthält keine expliziten Hinweise auf den Ort des Geschehens. Die zitierten Verstöße gegen einzelsprachliche Normen des Französischen, die in bestimmten Schichten der betreffenden Gesellschaft üblich sind, stellen neben der Schilderung typischer sozialer Verhaltensweisen die einzigen impliziten Hinweise auf den Ort der Novellenhandlung dar. Da die Auswertung dieser impliziten Hinweise aber offenkundig große Anforderungen an das kulturelle und sprachliche Wissen der (europäischen) Rezipienten stellt, werden die zitierten Abweichungen als Indikator von geographischen und sozialen Zusatzbedeutungen wie folgt annotiert:

4.4 Reduktion von kontextabhängiger Implizitheit und Wissensanforderungen

481

«Les mots en italiques sont des expressions incorrectes, utilisées par des gens sans formation scolaire, au Burkina Faso». (A, 49)

und die Anspielung auf Burkina Faso somit offengelegt. Die Korrektur der meisten Abweichungen von einzelsprachlichen Normen in La Main und die sehr hilfreiche Annotation der inkorrekten Äußerungen in L’avenir de l’homme, die eine wichtige implizite Zusatzbedeutung vermitteln, deren Inferenz Expertenwissen verlangt, tragen zweifelsohne zur Komplexitätsreduktion bei. Die Tatsache, dass Abweichungen von prototypischen Wissensrahmen sowie Verletzungen von Qualitäts-, Quantitäts- und Relevanzmaxime grundsätzlich unkommentiert bleiben, ist allerdings erstaunlich. Es ist unmittelbar einsichtig, dass derartige Abweichungen einen Text in seiner Gesamtheit prägen und bestimmen, und deshalb nur durch große Eingriffe in den Text selbst behoben werden könnten. Derartige Adaptionen würden aber den Textsinn entscheidend verändern und sind deshalb kaum wünschenswert. Kommentieren könnte man die genannten Arten von Abweichungen, die häufig einen immensen Komplexitätsanstieg mit sich bringen, allerdings schon. Es sollte sich dabei nicht um fertige Interpretationen handeln, die einen Text vereindeutigen und seine Ambiguität, Offenheit oder Rätselhaftigkeit tilgen. Vorsichtige Hinweise auf Abweichungen und Denkanstöße könnten aber im Interesse einer umfassenden semantischen Komplexitätsreduktion überlegenswert sein.

4.4 Reduktion von kontextabhängiger Implizitheit und Wissensanforderungen 4.4.1 Reduktion von kontextabhängiger Implizitheit auf satzsemantischer und lokaler Ebene Wenn kontextabhängige IMPLIZITHEIT auf lokaler Ebene, also innerhalb eines Satz-Frames oder bezüglich des logisch-inhaltlichen Zusammenhangs benachbarter Propositionen, behoben werden soll, kann das nur durch Ergänzungen und Ersetzungen erfolgen. In Abschnitt 4.1 wurde bereits darauf hingewiesen, dass in den Easy Readers die Vereinfachungsstrategie der Ergänzung relativ selten zum Einsatz kommt und auch nur kurze Wortfolgen hinzugefügt werden. Dementsprechend werden zur kontextabhängigen IMPLIZITHEIT zählende Bedeutungsaspekte auf lokaler Ebene eher in Einzelfällen und auch nur dann ergänzt, wenn aufgrund ausreichender Kotext-Informationen die Explizierung nahezu zweifelsfrei und eindeutig möglich ist. Das zeigt zum wiederholten Mal, dass die Redakteure der vereinfachten Versionen keine Interpretation der Originale

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4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

abgeben wollen, hat allerdings auch zur Folge, dass kontextabhängige IMPLIZITHEIT nur dann behoben wird, wenn die damit verbundene Komplexität gering bis allenfalls mäßig ausgeprägt ist. Es handelt sich also um kontextsensitive und sprecherabhängige Aussparungen, deren Inferenz weder einen mehrstufigen Schlussprozess noch die Verfügbarkeit anspruchsvoller Wissensinhalte erfordert, sondern die durch eine konsequente Auswertung des Kotextes und auf der Grundlage von gängigem Frame-Wissen recht sicher und einfach zu ergänzen sind. In äußerst wenigen Fällen werden zu den offenen Slots eines Satz-Frames der Originalfassung explizite Füllwerte hinzugefügt. Das Gegenteil ist etwas häufiger festzustellen, dass nämlich explizite Füllwerte des Originals gestrichen werden, und so Implizitheit in der Easy-Readers-Version erzeugt wird. Dies geschieht dann im Interesse einer syntaktischen Vereinfachung. Weiterhin wird kontextabhängige IMPLIZITHEIT auf lokaler Ebene reduziert, indem im Rahmen der expliziten Wiederaufnahme Pronomen durch ihren nominalen Bezugsausdruck ersetzt werden oder Konjunktionen bzw. Konnektoren hinzugefügt werden. Der Effekt dieser Modifikationen der Originaltexte ist natürlich ein Zuwachs an expliziten Kohäsionsmarkern sowie eine generelle Erleichterung der Herstellung von Kohärenz auf lokaler Ebene. Es ist also insbesondere der Komplexitätswert der Kategorie «Komplexität in Bezug auf Kohäsion & lokale Kohärenz», der durch die angesprochenen Modifikationen reduziert wird, für die im Folgenden repräsentative Textbeispiele angegeben werden sollen. Ergänzung von Fillern zu offenen Slots eines Satz-Frames und ihre Tilgung In der Originalfassung von Daudets La Chèvre de M. Seguin findet sich beispielsweise ein Satz, in dem das Ziel einer Bewegung, nämlich des Zurückbringens einer Herde (ramener un troupeau), offengelassen wird. Die Redakteure der Easy-Readers-Fassung ergänzen in diesem Satzrahmen den expliziten Füllwert à l’étable: Tab. 55: Ergänzung eines Fillers für einen offenen Slot in der Easy-Readers-Version von La Chèvre de M. Seguin. La Chèvre de M. Seguin (Original)

La Chèvre de M. Seguin (Easy Readers)

La montagne devint violette ; c’était le soir . . . «Déjà !» dit la petite chèvre ; et elle s’arrêta fort étonnée. [. . .] elle écouta les clochettes d’un troupeau qu’on ramenait, et se sentit l’âme toute triste . . . (C, )

La montagne devint toute noire ; c’était le soir . . . - Déjà ! dit la petite chèvre ; et elle s’arrêta très étonnée. [. . .] Elle écouta les cloches d’un troupeau qu’on ramenait à l’étable, et se sentit toute triste. (C-ER, )

4.4 Reduktion von kontextabhängiger Implizitheit und Wissensanforderungen

483

Diese Inferenz ist aufgrund des Kontextes der Handlung und unter Rückgriff auf gängiges Wissen zur Weidetierhaltung unmittelbar naheliegend und sollte automatisch und ohne spürbaren kognitiven Aufwand ablaufen. Deshalb würde der offene Slot im Kontext dieser Arbeit nicht als Beleg semantischer Komplexität betrachtet werden. Wie bereits erwähnt, kommt es häufiger vor, dass explizite Füllwerte für die Slots eines Satz-Frames von den Easy-Readers-Redakteuren getilgt werden, was die folgenden Beispiele aus der Vereinfachung von La Main zeigen:

Tab. 56: Beispiele für die Tilgung expliziter Filler in der Easy-Readers-Version von La Main. La Main (Original)

La Main (Easy Readers)

. Mon chien me la rapporta ; mais, prenant aussitôt le gibier, j’allai m’excuser de mon inconvenance et prier sir John Rowell d’accepter l’oiseau mort. (M, )

THEMA der Entschuldigung Mon chien me l’a rapportée ; wird gestrichen mais je suis allé aussitôt m’excuser [ ] et prier sir John Rowell d’accepter l’oiseau mort. (M-ER, )

. [. . .] il me remercia vivement de ma délicatesse en un français accentué d’outreManche. (M, )

Il m’a remercié vivement [ ] en un français accentué d’outre-Manche. (M-ER, )

. Je communiquai ce que je savais du mort aux magistrats et aux officiers de la force publique, et on fit dans toute l’île une enquête minutieuse. (M, )

J’ai communiqué ce que je ADRESSAT der savais du mort [ ], et on a fait Kommunikationshandlung dans toute l’île une enquête wird gestrichen minutieuse. (M-ER, )

. Je pense tout simplement que le légitime propriétaire de la main n’était pas mort, qu’il est venu la chercher avec celle qui lui restait. (M, )

Je pense tout simplement que INSTRUMENT wird le légitime propriétaire de la gestrichen main n’était pas mort, qu’il était venu la chercher [ ]. (M-ER, )

THEMA des Dankens wird gestrichen

Diese Kürzungen vollziehen sich durchaus in Übereinstimmung zu Erkenntnissen der Textverständlichkeitsforschung, die besagen, dass «Satzschachtelungen, eingebettete Relativsätze und Nominalisierungen, überlange Sätze mit mehreren Teilsätzen sowie Sätze mit großer Informationsfülle» (Christmann 2008, 1095) den Verarbeitungsprozess erschweren. Es ist unmittelbar einsichtig, dass bei der

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4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Adaption von Texten für den Einsatz im Fremdsprachenunterricht ein Kompromiss zwischen semantischer und syntaktischer Vereinfachung gefunden werden muss. Allerdings sind in den obigen Beispielen 3 und 4 ADRESSAT und INSTRUMENT der beschriebenen Handlung kaum aus dem Kontext zu erschließen. In den Beispielen 1 und 2 ist im Zusammenhang Jagd zwar ungefähr klar, wofür Bermutier sich entschuldigt und für welche Geste Rowell sich bedankt, aber durch die Kürzungen wird der Frame höfliches Verhalten, der ihr Gespräch charakterisiert, spürbar reduziert. Somit wird die Interaktion der beiden Protagonisten in der Easy-ReadersAusgabe verfälscht. Außerdem sind die aufgrund der Kürzungen nötig werdenden Inferenzen mit Sicherheit anspruchsvoller und weniger eindeutig als die Inferenz von à l’étable, die den Lesern durch dessen Hinzufügung zum Original von Daudets Text abgenommen wird. Unter rein semantischer Perspektive sind die geschilderten Tilgungen von Fillern eines Satz-Frames oder deren Ergänzungen im Interesse einer Reduktion von Komplexität also optimierbar. Ersetzung von Pronomen durch ihren nominalen Bezugsausdruck und Hinzufügung eines redeeinleitenden Satzes Ein weiteres mehrmals zu beobachtendes Verfahren zur Reduktion von Implizitheit besteht in der Ersetzung von Pronomen durch ihre nominalen Bezugsausdrücke. Pronomen besitzen bekanntlich einen minimalen Bedeutungsinhalt, der sich im Wesentlichen auf die Markierung des Genus beschränkt (cf. Brinker 1985/2010, 30). Es ist also Sache des Rezipienten, unter Berücksichtigung der Genusinformation sowie des sprachlichen Kontextes den in der Regel zuvor durch einen Eigennamen oder eine substantivische Wortgruppe eingeführten Referenten dieses Pronomens zu identifizieren. Dies kann sich unter Umständen als schwierig gestalten, wenn der Bezug auf zwei oder mehrere Referenten möglich ist oder wenn der Abstand zwischen Pronomen und nominalem Bezugsausdruck relativ groß ist. Ähnliche Schwierigkeiten können auch bei der Interpretation deiktischer Ausdrücke auftreten, wenn beispielsweise bei der Wiedergabe einer direkten Rede ein redeeinleitender Satz fehlt, der den Sprecher expliziert, oder wenn innerhalb einer längeren dialogischen Passage die Äußerungen der beiden Gesprächspartner sich nicht konsequent abwechseln. Solche «Widrigkeiten» bei der Herstellung von Kohärenz finden sich in der im Folgenden zitierten Passage aus der Originalfassung von La Parure und werden in ihrem Pendant in der Easy-Readers-Version beseitigt. Am Beginn dieser Passage tauchen in beiden Fassungen die Nominalsyntagmen l’invitation und son mari auf, die im Original mit einigem Abstand durch die Pronomen l’ (la) und le wiederaufgenommen werden. Die nötige Apostrophierung des Objektpronomens la vor obtenir tilgt nun auch noch die Genusinformation desselben,

4.4 Reduktion von kontextabhängiger Implizitheit und Wissensanforderungen

485

und das Auffinden des entsprechenden Referenten setzt folglich durchaus eine konzentrierte Lektüre dieses Abschnittes voraus: Tab. 57: Verfahren zur Erleichterung der Herstellung von Kohärenz in der Easy-ReadersVersion von La Parure. La Parure (Original)

La Parure (Easy Readers)

Au lieu d’être ravie, comme l’espérait son mari, elle jeta avec dépit l’invitation sur la table, murmurant :

Au lieu d’être ravie, comme l’espérait son mari, elle jeta avec colère l’invitation sur la table, murmurant :

«Que veux-tu que je fasse de cela ?

- Que veux-tu que je fasse de cela ? Stupéfait le mari répondit :

- Mais, ma chérie, je pensais que tu serais contente. Tu ne sors jamais, et c’est une occasion, cela, une belle ! J’ai eu une peine infinie à l’obtenir. Tout le monde en veut ; c’est très recherché et on n’en donne pas beaucoup aux employés. Tu verras là tout le monde officiel !

- Mais ma chérie, je pensais que tu serais contente. C’est une belle occasion pour sortir, et j’ai eu beaucoup de mal à obtenir une invitation ! Tout le monde veut y aller, et on n’en donne pas beaucoup aux employés. Tu verras là tout le monde officiel.

Elle le regardait d’un œil irrité, et elle déclara avec impatience :

D’un œil irrité elle regardait son mari et déclara :

- Que veux-tu que je me mette sur le dos pour - Mais que veux-tu que je me mette sur le dos aller là ? (Pa, ; meine Hervorhebung) pour y aller ? (Pa-ER, s.; meine Hervorhebung)

Wie der Vergleich der beiden Versionen dieser Passage zeigt, ersetzen die Redakteure der Easy-Readers-Fassung die Objektpronomen l’ und le durch ihre Bezugswörter l’invitation und son mari und reduzieren somit die – wenngleich nur mäßig ausgeprägte – Komplexität dieser Textstelle. Außerdem fügen sie vor der Antwort von Mathildes Ehemann auf deren Frage Que veux-tu que je fasse de cela ? den redeeinleitenden Satz Stupéfait le mari répondit ein, der sowohl expliziert, wer in der Folge spricht, als auch durch die Hinzufügung des Adjektivs stupéfait dessen Verwunderung über die Reaktion seiner Frau angibt. Die Gefühlslage M. Loisels müssen die Leser der Originalfassung aus seiner wortreichen Replik inferieren. Die Ersetzungen und Hinzufügungen der beschriebenen Art leisten also dasselbe, was auch die in Paragraph 4.2 erläuterte Reduktion der Reichhaltigkeit des Vokabulars und der resultierende höhere Grad an Redundanz bewirken, – eine deutliche Erleichterung des Erkennens von Koreferenz und der Herstellung von Kohärenz und somit eine effektive Komplexitätsreduktion in diesem Bereich, die ohne jegliche Sinnveränderung einhergeht.

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4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Ergänzung von Konjunktionen und Konnektoren Kontextabhängige IMPLIZITHEIT, die aus der Juxtaposition von Propositionen oder Verkürzung von Nebensätzen mittels Gérondif- oder Partizipialkonstruktionen resultiert, erfordert häufig bewusste, kontext- und wissensbasierte Inferenzen seitens des Rezipienten. Für das adäquate Verständnis eines Textes ist das Erkennen der semantischen Beziehungen, die zwischen nebeneinander formulierten Sachverhalten bestehen, unabdingbar. Wenn also in einem Text Juxtaposition und Koordination dominieren, stellt das oft ein echtes Komplexitätsmerkmal dar. Somit spricht es für die Qualität der Komplexitätsreduktion in den Easy Readers, dass Hinzufügungen von Konjunktionen und Konnektoren sowie das Ersetzen von Gérondif- und Partizipialkonstruktionen durch temporale, kausale oder modale Adverbialsätze deutlich häufiger erfolgen als die oben aufgeführten Vereinfachungen. Weil der Umgang mit Gérondif- und Partizipialkonstruktionen an späterer Stelle thematisiert wird, sollen im Folgenden zwei Beispiele für die Hinzufügung von Konnektoren zu juxtaponierten Sätzen diese «Explizierungsstrategie» illustrieren: Tab. 58: Ergänzung von Konnektoren in der Easy-Readers-Version von La Parure. La Parure (Original)

La Parure (Easy Readers)

Le jour de la fête arriva. Mme Loisel eut un Le jour de la fête, Mme Loisel eut beaucoup de succès. Elle était plus jolie que toutes, succès, car elle était la plus jolie de toutes élégante, gracieuse, souriante et folle de joie. avec son élégance et sa grâce. (Pa-ER, ) (Pa, ) Mme Loisel connut la vie terrible des nécessiteux. [. . .] Il fallait payer cette dette effroyable. Elle payerait. On renvoya la bonne ; on changea de logement ; on loua sous les toits une mansarde. (Pa, )

Mme Loisel connut la vie horrible des gens pauvres. Pour payer la dette, on renvoya la bonne et on déménagea pour un logement plus modeste sous les toits. (Pa-ER, )

Diese beiden Passagen aus der Originalfassung von La Parure sind von Juxtapositionen geprägt: kurze Sätze werden unverbunden aneinandergereiht und der Rezipient muss den semantischen Zusammenhang zwischen ihnen inferieren. Diese Anstrengung wird ihm in der Easy-Readers-Fassung abgenommen, indem im ersten Fall durch Ergänzung der kausalen Konjunktion car expliziert wird, dass Mme Loisel Erfolg beim Ball hatte, weil sie die hübscheste von allen war. Im zweiten Beispiel wird mit Hilfe einer Ersetzung der unverbundenen Reihung durch ein Satzgefüge, das eine mit pour eingeleitete finale Infinitivgruppe enthält, deutlich gemacht, dass das

4.4 Reduktion von kontextabhängiger Implizitheit und Wissensanforderungen

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Entlassen des Hausmädchens und der Umzug Maßnahmen des Ehepaars Loisel sind, um seine Schulden bezahlen zu können. Die geschilderten Verfahren zur Reduktion von kontextabhängiger IMPLIZITHEIT auf lokaler Ebene kommen in den Easy-Readers-Ausgaben nicht sehr häufig zum Einsatz und beheben nur gering bis mäßig ausgeprägte semantische Komplexität. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass Hinzufügungen in der Regel nur dann erfolgen, wenn sie aufgrund von Kontext und Weltwissen in eindeutiger Weise möglich sind. Auf globaler bzw. textsemantischer Ebene sind Reduktionen von kontextabhängiger IMPLIZITHEIT häufiger anzutreffen und sie löschen vielfach auch eine deutlich höher ausgeprägte semantische Komplexität der Originaltexte. Diese Adaptionen gehen allerdings meistens nicht ohne spürbare Eingriffe in die sprachliche Gestaltung eines Textes und mitunter auch nicht ohne Sinneinbußen vonstatten, was in den folgenden Paragraphen aufgezeigt wird.

4.4.2 Reduktion von kontextabhängiger Implizitheit auf textsemantischer Ebene Echte Komplexitätsmerkmale eines Textes, die zur kontextabhängigen IMPLIzählen, sind Andeutungen – solche, die beispielsweise aus Verstößen gegen die 3. Untermaxime der Modalität (Sei kurz) resultieren, weiterhin das ganze denkbare Repertoire an stilistischen Verfahren und vor allem die Coseriu’sche Evokation. Die Einlösung so verstandener Andeutungen setzt in der Regel eine präzise Textanalyse voraus, oftmals ein hohes Maß an Wissen literaturgeschichtlicher, historischer oder theologischer Art und mehrstufige Inferenzen. Auch die Auswertung der eingelösten Andeutungen hinsichtlich des Textsinns bzw. mehrerer möglicher Deutungen des entsprechenden Werkes verlangt eine hohe Kompetenz, mitunter gar Kreativität auf Rezipientenseite. Die daraus resultierende Komplexität wird in den Easy-Readers-Ausgaben mehrfach durch radikale bzw. systematische Kürzungen und Umformulierungen beseitigt. Das kann so weit führen, dass ganze Lesarten eines literarischen Textes gelöscht werden, was in Paragraph 4.5.3 zu zeigen sein wird, bei den hier vorgestellten Textbeispielen aber nicht der Fall ist. Im Vorfeld dieser Analyse der Reduktion von kontextabhängiger IMPLIZITHEIT auf textsemantischer Ebene soll angemerkt werden, dass es möglich ist, dass das Löschen von Andeutungen durch die Redakteure der Easy-ReadersVersionen nicht immer oder nicht in erster Linie im Interesse einer semantischen Vereinfachung der Originaltexte geschieht. Häufig mag der Wunsch dominieren, einen aufgrund von mehrfachen Unterordnungen, Appositionen, Aufzählungen und Partizipien komplexen Satz syntaktisch zu vereinfachen

ZITHEIT

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4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

oder bestimmte Redewendungen zu ersetzen, weil sie nicht im Grund- und Aufbauwortschatz enthalten sind. Unabhängig von der individuellen Intention der Adaption ist das Resultat aber häufig ein «Aushebeln» der mit den originalen Strukturen verbundenen Andeutungen und somit eine deutliche Reduktion von semantischer Komplexität. Tilgen Coseriu’scher Evokationen In Kapitel 3.3.3 wurde die beachtliche Polyvalenz der vordergründig so schlicht erscheinenden Erzählung La Chèvre de M. Seguin analysiert, die im Wesentlichen auf den von Coseriu (1980) unter den Begriff der Evokation subsumierten Zeichenrelationen beruht. Die erotischen Lesarten der Fabel stützen sich zum einen auf explizit geschilderte Handlungselemente und Charakterisierungen wie z.B. Blanquettes Begegnung mit der exklusiv männlichen Gamsherde, ihren Ausflug in die Büsche mit einem «jeune chamois à pelage noir» (C, 263), die Bezeichnung dieses ungleichen Paars als «les deux amoureux» (C, 263) sowie den «Kampf» zwischen Ziege und Wolf, der mit dem Tod der Ziege und den Blutflecken auf ihrem weißen Fell endet. Weitere unhintergehbare Indizien für erotische Lesarten der Erzählung sind die konventionellen Symbolbedeutungen, die an die Lexeme blanc, la chèvre, le loup und tachée de sang geknüpft sind, sowie die literarischen Analogien zwischen Tod und Lust. Die genannten Hinweise für sexuelle Interpretationen von Daudets Klassiker finden sich in deren Easy-Readers-Fassung in ebenso deutlicher Form wieder und erlauben im Wesentlichen alle in Kapitel 3.3.3 in diesem Zusammenhang erläuterten Lesarten, von der Stigmatisierung weiblicher Sexualität (cf. Lafont/GardèsMadray 1976, 148), der konträren Ermunterung sie auszuleben, über die «männliche» Identifikation mit dem Wolf und seiner Lust (cf. ib., 148) bis zur Inszenierung der weiblichen Deflorationsangst (cf. ib., 147). Drei weitere Andeutungen, die die genannten Lesarten zusätzlich untermauern, allerdings auch eine sehr genaue Textanalyse voraussetzen und hohe Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen der Rezipienten stellen, werden in der vereinfachten Fassung allerdings durch Kürzungen und Ersetzungen getilgt. Dabei handelt es sich zunächst um die im Original festzustellende Suggestion, das grammatische Geschlecht der anthropomorphisierten Bäume und Büsche (le sapin, le châtaignier, le genêt d’or), die Blanquette im Gebirge begeistert empfangen und berühren, als Hinweis auf ihre Geschlechtlichkeit zu deuten. Aufgrund dieser Evokation verstehen Lafont/Gardès-Madray (1976, 145) die im Folgenden zitierte Passage als erotisch aufgeladene Begegnung Blanquettes mit der Männerwelt und konstatieren: «Tout est masculin dans le texte autour de la chèvre.». Diese suggerierte Übertragung des grammatischen Genus auf das biologische Geschlecht der anthropomorphisierten Flora wird in der Easy-Readers-Fassung durch die Ersetzung der drei oben angeführten maskulinen Baum- und Straucharten durch les fleurs (Femininum!) und les arbres völlig gelöscht:

4.4 Reduktion von kontextabhängiger Implizitheit und Wissensanforderungen

489

Tab. 59: Tilgung Coseriu’scher Evokationen in der Easy-Readers-Fassung von La Chèvre de M. Seguin. La Chèvre de M. Seguin (Original)

La Chèvre de M. Seguin (Easy Readers)

Quand la chèvre blanche arriva dans la montagne, ce fut un ravissement général. Jamais les vieux sapins n’avaient rien vu d’aussi joli. On la reçut comme une petite reine. Les châtaigniers se baissaient jusqu’à terre pour la caresser du bout de leurs branches. Les genêts d’or s’ouvraient sur son passage, et sentaient bon tant qu’ils pouvaient. (C, s.)

Quand la chèvre blanche arriva dans la montagne, ce fut une joie générale. On la reçut comme une princesse. Les fleurs s’ouvraient sur son passage. Jamais les arbres n’avaient rien vu d’aussi joli. Ils se baissaient jusqu’à terre pour la caresser du bout de leurs branches. (C-ER, )

Ersatzlos gestrichen werden in der vereinfachten Fassung die vaginalen Metaphern, die Lafont/Gardès-Madray (1976, 147) in der folgenden Passage des Originals (cf. kursiv Gedrucktes) zu Recht erkennen: Tab. 60: Tilgung der vaginalen Metaphern in der Easy-Readers-Fassung von La Chèvre de M. Seguin. La Chèvre de M. Seguin (Original)

La Chèvre de M. Seguin (Easy Readers)

C’est là qu’il y en avait de l’herbe ! jusque par-dessus les cornes, mon cher . . . [. . .]

Et il y en avait de l’herbe ! Jusque par-dessus les cornes.

C’était bien autre chose que le gazon du clos.

C’était bien autre chose que l’herbe du clos.

Et les fleurs donc ! . . . De grandes campanules Et les fleurs donc ! (C-ER, ) bleues, des digitales de pourpre à longs calices, toute une forêt de fleurs sauvages débordant de sucs capiteux ! . . . (C, )

Zwar ist die Blume konventionelles Symbol des bzw. der Geliebten und in einem engeren Sinne auch Symbol des weiblichen Geschlechts (cf. Grosse Wiesmann 2012, 56s.), doch wird diese Symbolbedeutung in der Easy-Readers-Fassung, wo die kursiv gedruckte Passage des Originals auf den lapidaren Ausruf Et les fleurs donc ! reduziert wird, nicht aktualisiert. Dafür bedarf es schon der Analogie zwischen Vagina und Blumen, die durch die folgende Beschreibung ihrer Form und Beschaffenheit im Originaltext etabliert wird. Ein weiterer impliziter Hinweis auf die fortschreitende Erotisierung der Gebirgswelt (cf. Lafont/Gardès-Madray 1976, 145) beruht auf «wiederholter Rede» im Sinne Coserius (1980/2007, 108) und wird in der Easy-Readers-Fassung durch eine

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4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

alternative Formulierung gelöscht. Als Blanquette auf die Gamsböcke trifft, sind diese gerade dabei, mit gesundem Appetit eine wilde Weinrebe zu verspeisen, wofür Daudet die Redewendung croquer à belles dents verwendet. Diese kann gemäß Lafont/Gardès-Madray zum einen als implizite Andeutung des «appétit sexuel» (Lafont/Gardès-Madray 1976, 145) dieser männlichen Herde verstanden werden und suggeriert gleichzeitig, dass letztere die hübsche weiße Blanquette «zum Anbeißen» (à croquer) findet. Diese Andeutungen sind also ganz klar an das Spiel mit dieser Redewendung geknüpft und entfallen in der vereinfachten Fassung, wo sie schlicht durch das Verb manger ersetzt wird: Tab. 61: Tilgung «wiederholter Rede» im Sinne Coserius in der Easy-Readers-Fassung von La Chèvre de M. Seguin. La Chèvre de M. Seguin (Original)

La Chèvre de M. Seguin (Easy Readers)

Vers le milieu du jour [. . .], elle tomba dans une troupe de chamois en train de croquer une lambrusque à belles dents. Notre petite coureuse en robe blanche fit sensation. On lui donna la meilleure place à la lambrusque, et tous ces messieurs furent très galants . . . (C, )

Vers le milieu de la journée [. . .], elle tomba dans un troupeau de chamois en train de manger des plantes. Notre petite chèvre en robe blanche fit sensation. On lui donna une place d’honneur, et tous ces messieurs furent très galants. (C-ER, )

Zweifelsohne sind die drei soeben untersuchten Andeutungen sehr subtil und können nur im Zuge einer aufmerksamen Lektüre entdeckt werden. Ihr Erkennen und Einlösen setzt die sichere Beherrschung der Genera von Lexemen aus dem Bereich der Botanik voraus, weiterhin die Kenntnis idiomatischer Wendungen wie à belles dents und à croquer sowie Wissen um mögliche symbolische Bedeutungen des Lexems fleur. Aus diesen Gründen erwächst aus besagten Andeutungen eine recht hohe semantische Komplexität, die durch die erläuterten Kürzungen und Ersetzungen in der Easy-Readers-Ausgabe effektiv «ausgehebelt» wird. Tilgen stilistischer Besonderheiten mitsamt ihren impliziten Bedeutungen In Maupassants nouvelle à chute La Parure gibt es zahlreiche zur kontextabhängigen IMPLIZITHEIT zählende Andeutungen, die auf stilistischen Besonderheiten wie z.B. einem rekurrenten Satzrhythmus sowie deutlichen Verstößen gegen die 3. Untermaxime der Modalität (Sei kurz) beruhen. Diese Verfahren liefern implizite Hinweise auf Charaktereigenschaften der Protagonistin und die Haltung des Erzählers ihr gegenüber, der sich in naturalistischer Manier mit expliziten Kommentaren sehr zurückhält. Diese angedeuteten Informationen sind für das Auffinden zweier möglicher Lesarten der Erzählung zwar nicht unverzichtbar, aber doch von großer Relevanz, was bereits auf eine Schwäche der Easy-Readers-Ausgabe hinweist, die

4.4 Reduktion von kontextabhängiger Implizitheit und Wissensanforderungen

491

die erwähnten Andeutungen zu einem Großteil löscht. Durch Umformulierungen, die zumeist auch mit Kürzungen der Originalsätze einhergehen, wird zwar vordergründig syntaktische und semantische Komplexität reduziert, da dem Rezipienten die Analyse und Deutung der formalen Besonderheiten der Erzählung erspart werden. Das Auffinden eines adäquaten Textsinnes bzw. einer plausiblen moralischen Bewertung, welche die verhängnisvolle Geschichte nahelegt, werden aber durch den resultierenden Mangel an textuellen (wenn auch nur angedeuteten) Hinweisen eher erschwert. Das Schicksal von Mathilde Loisel, der Protagonistin von Maupassants psychologischer Novelle, wurde bereits in Kapitel 3.4.1.1 resümiert. An dieser Stelle sei nochmals daran erinnert, dass in der chute enthüllt wird, dass das verlorene Diamantkollier unecht war, was die Tragik von Mathildes Leben natürlich um ein Vielfaches steigert. Somit wird es als «sinnloses Zusammentreffen blinder Zufälle und nutzlosen Leids» (Blüher 1976, 195) entlarvt und der Leser dazu aufgefordert, aus diesem bitteren, absurden Geschehen eine Erkenntnis zu ziehen (cf. Viegnes 1996, 77). Der naturalistische Erzähler verzichtet auf jegliche explizite Bewertung der Geschichte, liefert aber die oben angekündigten Andeutungen, die im Wesentlichen zwei gegensätzliche Lesarten stützen, die allerdings auch im Rahmen einer abwägenden Deutung kombiniert werden können: einerseits könnte man Mathilde als Opfer des Schicksals und der Gesellschaft betrachten, andererseits als Opfer ihrer selbst bzw. ihrer Eitelkeit (cf. ib., 76ss.). Für die erste Lesart spricht bereits das Incipit, in dem der Erzähler Mathilde als eine Vertreterin der Gruppe hübscher und charmanter Frauen vorstellt, die «comme par une erreur du destin» (Pa, 1198) in eine falsche gesellschaftliche Klasse hineingeboren wurden. Der Erzähler vertritt gar die Meinung, dass es Schönheit, Anmut, Charme und Eleganz seien, die eine Hierarchie innerhalb des weiblichen Geschlechts ausbildeten und Frauen aus dem Volk auf eine Stufe mit den angesehensten Damen der Gesellschaft heben könnten. Schon dieser wichtige explizite Erzählerkommentar wird in der Easy-Readers-Fassung um entscheidende Aspekte gekürzt, was eine erste Hürde für das Auffinden der Lesart, dass Mathilde Opfer der Gesellschaft geworden ist, darstellt: Tab. 62: Kürzung eines wichtigen Erzählerkommentars in der Easy-Readers-Version von La Parure. La Parure (Original)

La Parure (Easy Readers)

[. . .] car les femmes n’ont point de caste ni de race, leur beauté, leur grâce et leur charme leur servant de naissance et de famille. Leur finesse native, leur instinct d’élégance, leur souplesse d’esprit, sont leur seule hiérarchie, et font des filles du peuple les égales des plus grandes dames. (Pa, )

Car les femmes n’ont ni de rang ni de race, c’est leur beauté et leur grâce qui leur servent de naissance et de famille. (Pa-ER, )

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4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Aber auch in der Easy-Readers-Fassung wird deutlich, dass Mathilde in Bezug auf Schönheit und Anmut ihrer reichen Freundin Mme Forestier in nichts nachsteht und außerdem dieselbe Erziehung genossen hat wie letztere, denn sie waren camarades de couvent. In dieser Perspektive wirken Mathildes Unzufriedenheit mit ihrem trivialen Dasein und ihr Gefühl, denselben Anspruch auf ein luxuriöses und aufregendes Leben zu haben wie Mme Forestier, in gewissem Maße verständlich (cf. Viegnes 1996, 77). Die Quintessenz dieser Lesart ist also, dass Mme Loisel Opfer einer ungerechten Gesellschaft geworden ist, innerhalb derer Glück und Erfolg nicht auf individuellen Qualitäten, sondern auf Geld und sozialer Herkunft beruhen (cf. ib., 76s.). Diese Lesart wird deutlich unterstützt durch das Mitgefühl, das der Erzähler seiner Protagonistin mehrfach entgegenbringt und auch im Leser hervorrufen will. Dazu bedient er sich zum einen in erlebter Rede wiedergegebener rhetorischer Fragen und Ausrufe, die den Leser in Mathildes Qualen regelrecht hineinziehen und in der Easy-ReadersFassung im Wesentlichen beibehalten werden: «Mais parfois lorsque son mari était au bureau, elle s’asseyait auprès de la fenêtre et elle songeait à cette soirée d’autrefois, à ce bal où elle avait été si belle et si fêtée. Que serait-il arrivé si elle n’avait point perdu cette parure ? Qui sait ? qui sait ? Comme la vie est singulière, changeante ! Comme il faut peu de chose pour vous perdre ou vous sauver !» (Pa, 1205).

Weiterhin sind 20 Sätze der Erzählung von äußerst auffälligen ternären oder quaternären Aufzählungen geprägt, die den impliziten Zweck verfolgen, die Intensität von Mathildes Emotionen, ihre überschäumende Freude und ihre bodenlose Verzweiflung, abzubilden und mitunter gar die beschriebene Handlung, z.B. Mathildes berauschtes Tanzen, durch den Satzrhythmus nachzuahmen (cf. Viegnes 1996, 69). Dieses schon allein quantitativ dominierende Stilmittel hat die Funktion, Mathildes starke Gefühle für den Leser auch auf rhythmisch-klanglicher Ebene erfahrbar zu machen und so Mitgefühl für ihr tragisches Schicksal zu evozieren. Diese gezielten Gestaltungen des Satzrhythmus mitsamt ihren Andeutungen gehen in der EasyReaders-Version durch Tilgungen, Kürzungen und alternative Satzkonstruktionen komplett verloren, was die folgende exemplarische Gegenüberstellung einiger Originalsätze und ihrer vereinfachten Entsprechungen zeigt: Tab. 63: Tilgung des ternären und quaternären Satzrhythmus in der Easy-Readers-Version von La Parure. La Parure (Original)

La Parure (Easy Readers)

Elle souffrait

[. . .] elle souffrait sans cesse de la pauvreté de son appartement avec ses murs misérables, ses sièges usés aux étoffes laides.

de la pauvreté de son logement, de la misère des murs, de l’usure des sièges, de la laideur des étoffes.

4.4 Reduktion von kontextabhängiger Implizitheit und Wissensanforderungen

493

Tab. 63 (fortgesetzt ) La Parure (Original)

La Parure (Easy Readers)

[. . .] elle songeait aux dîners fins, aux argenteries reluisantes, aux tapisseries peuplant les murailles de personnages anciens et d’oiseaux étranges au milieu d’une forêt de féerie ;

[. . .] elle rêvait aux dîners fins servis en des vaisselles merveilleuses et avec de jolies argenteries.

Et elle pleurait pendant des jours entiers, de chagrin, de regret, de désespoir et de détresse.

[. . .] tant cela la faisait pleurer de chagrin et de désespoir en revenant.

Elle était plus jolie que toutes, élégante, gracieuse, souriante et folle de joie.

[. . .] car elle était la plus jolie de toutes avec son élégance et sa grâce.

Elle dansait avec ivresse, avec emportement, grisée par le plaisir, ne pensant plus à rien, dans le triomphe de sa beauté, dans la gloire de son succès, dans une sorte de nuage de bonheur fait de tous ces hommages, de toutes ces admirations, de tous ces désirs éveillés, de cette victoire si complète et si douce au cœur des femmes.

[in der Easy-Readers-Fassung ersatzlos gestrichen]

Elle demeura en toilette de soirée, sans force pour se coucher, abattue sur une chaise, sans feu, sans pensée. (Pa, –; meine Hervorhebung)

Elle, par contre, resta tout immobile sur une chaise, gardant toujours sa toilette de soirée. (Pa-ER, –)

Wie bereits erwähnt, stellen diese Modifikationen des Originals natürlich spürbare syntaktische Vereinfachungen dar, ersparen dem Leser eine formale Analyse und das Inferieren der Zusatzbedeutungen, die an die stilistischen Verfahren gekoppelt sind. Andererseits enthalten die Änderungen ihm aber wichtige Indizien zur Stützung der gesellschaftskritischen und Mathilde wohlgesonnenen Lesart vor. Auch die zweite Lesart, die Mathilde vielmehr zum Opfer ihrer selbst, genauer ihrer Eitelkeit, ihres (falschen) Stolzes, ihres Narzissmus und ihrer Oberflächlichkeit erklärt, fußt in nicht unerheblichem Maße auf Andeutungen. Diese resultieren unter anderem aus Verstößen gegen die 3. Untermaxime der Modalität und aus hyperbolischen Ausdrücken sowie der damit verbundenen ironischen Distanzierung des Erzählers von seiner Protagonistin. Mathilde träumt im

494

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Wesentlichen von überflüssigem Luxus, reinen Prestige-Objekten, wünscht sich die Bewunderung der Männer und den Neid der Frauen, ignoriert den Wert von immateriellen Dingen wie z.B. der echten Liebe ihres Mannes. Letztlich sind es auch ihr Bedürfnis nach Luxus und Bewunderung, ihr Stolz und ihre Eitelkeit, die sie zunächst dazu bringen, sich Schmuck für den Ball zu leihen, um neben den reichen Damen nicht unangenehm aufzufallen, und sie dann daran hindern, Mme Forestier einfach den Verlust der Kette zu gestehen – damit hätte sie sich zehn Jahre Plackerei und ihren körperlichen Verfall erspart. Diese weniger sympathischen Eigenschaften Mathildes finden sich an keiner Stelle im Text expliziert, können aber u.a. aus Verstößen gegen die Maxime Sei kurz inferiert werden, die entstehen, wenn der Erzähler detailreich schildert, wie Mathilde von orientalischer Wandbespannung, bronzenen Leuchtern, von edlem Geschirr, strahlendem Silberbesteck und dem rosa Fleisch einer Forelle oder von Haselhuhnflügeln träumt. Die mit diesem übertriebenen Detailreichtum verbundenen Zusatzbedeutungen werden in der Easy-Readers-Fassung durch markante Kürzungen oder Zusammenfassungen nicht gänzlich gelöscht, aber doch merklich reduziert, was der folgenden Tabelle mit zwei repräsentativen Textstellen zu entnehmen ist:

Tab. 64: Tilgung des übertriebenen Detailreichtums mitsamt seinen Evokationen in der EasyReaders-Version von La Parure. La Parure (Original)

La Parure (Easy Readers)

Elle songeait aux antichambres muettes, capitonnées avec des tentures orientales, éclairées par de hautes torchères de bronze,

Elle rêvait aux antichambres luxueuses et silencieuses,

et aux deux grands valets en culotte courte qui dorment dans les larges fauteuils [. . .]. (Pa, )

où deux valets en culotte courte se sont endormis dans de larges fauteuils [. . .]. (Pa-ER, )

Quand elle s’asseyait, pour dîner, devant la table ronde couverte d’une nappe de trois jours [. . .], elle songeait aux dîners fins, aux argenteries reluisantes, aux tapisseries peuplant les murailles de personnages anciens et d’oiseaux étranges au milieu d’une forêt de féerie ; elle songeait aux plats exquis servis en des vaisselles merveilleuses, aux galanteries chuchotées et écoutées avec un sourire de sphinx, tout en mangeant la chair rose d’une truite ou des ailes de gelinotte. (Pa, )

Le soir, au dîner, quand elle était assise devant la table ronde couverte d’une nappe de trois jours [. . .], elle rêvait aux dîners fins servis en des vaisselles merveilleuses et avec de jolies argenteries. (Pa-ER, )

4.4 Reduktion von kontextabhängiger Implizitheit und Wissensanforderungen

495

Weiterhin wird durch die hyperbolischen Ausdrücke in der Passage der Originalfassung, in der Mathilde maßloses Verlangen (un désir immodéré) nach dem Diamantkollier ihrer Freundin Mme Forestier verspürt und bei dessen Anprobe angesichts ihrer Attraktivität in Extase (en extase devant elle-même) gerät, suggeriert, dass sie auch ausgeprägte narzisstische Züge aufweist (cf. Viegnes 1996, 77). Die Umformulierung dieser Passage in der Easy-Readers-Fassung, wo die Diamantkette Mathildes Herz nur noch «stark schlagen» lässt und aus Extase Bewunderung (en admiration devant elle-même) wird, tilgt jedoch die Hyperbeln und die damit verbundenen Andeutungen: Tab. 65: Tilgung von Hyperbeln in der Easy-Readers-Version von La Parure. La Parure (Original)

La Parure (Easy Readers)

Tout à coup elle découvrit, dans une boîte de Tout à coup elle découvrit, dans une boîte de satin noir, une superbe rivière de diamants et satin noir, un ravissant collier, tout de son cœur se mit à battre d’un désir immodéré. diamants ; et son cœur se mit à battre très fort. Ses mains tremblaient en la prenant. Elle l’attacha autour de sa gorge, sur sa robe montante, et demeura en extase devant ellemême. [. . .]

Ses mains tremblaient quand elle l’attacha autour de sa gorge et elle resta en admiration devant elle-même. [. . .]

Elle sauta au cou de son amie, l’embrassa avec emportement, puis s’enfuit avec son trésor. (Pa, )

Elle sauta au cou de son amie, l’embrassa vivement, puis s’enfuit avec son trésor. (Pa-ER, )

Insgesamt betrachtet erweist sich der Erzählstil der Easy-Readers-Fassung als unpersönlicher, neutraler, nüchterner und damit auch einfacher als der des Originals. Die zahlreichen stilistischen Strategien des Erzählers, die seine Haltung zur Protagonistin andeuten und Mathildes negative Eigenschaften, aber auch ihre echten Gefühle von Freude und Verzweiflung implizit vermitteln, gehen durch die Kürzungen und alternativen Formulierungen zu einem großen Teil verloren. Dies führt vordergründig zu einer syntaktischen und semantischen Vereinfachung des Textes, die problematische Begleiterscheinung ist aber eine spürbare Reduzierung der Hinweise auf mögliche Deutungen bzw. moralische Lehren, die Maupassant kunstfertig in seine Erzählung gewoben hat. Die am Beispiel der Easy-Readers-Fassungen von La Chèvre de M. Seguin und La Parure vorgestellten Adaptionsmaßnahmen wie Kürzungen, Umformulierungen und resümierende Ersetzungen können kontextabhängige IMPLIZITHEIT auf textsemantischer Ebene, die aus Andeutungen und Evokationen resultiert, offensichtlich effektiv reduzieren bzw. ganz aushebeln. Dadurch fallen mitunter die

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4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Komplexitätswerte für mehrere Kategorien, wie «Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik», «Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik», «Umgang mit den Grice’schen Maximen» (hier: der Modalitätsmaxime), «Andeutungen/Evokationen», «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» sowie «Anforderungen an das einzelsprachliche und lebensweltliche Wissen», erheblich geringer aus. Offensichtlich dürfen die angeführten Adaptionen aber ein bestimmtes Maß nicht überschreiten: während die isolierten Tilgungen äußerst subtiler Evokationen sich kaum negativ auf mögliche Lesarten von La Chèvre de M. Seguin auswirken, gehen bei der Easy-Readers-Fassung von La Parure sowohl der kunstvolle Autorenstil als auch unverzichtbare implizite Hinweise zum Auffinden möglicher Lesarten verloren.

4.5 Reduktion von Ambiguität und Wissensanforderungen In Kapitel 3.3 wurden auf der Grundlage der Analyse dreier hochambiger Korpustexte einige Ambiguierungsstrategien – Evozieren und Brechen von Frames, Verletzungen der Grice’schen Maximen, das daraus resultierende Offenlassen zentraler Slots der Handlungsschemata, Evokationen sowie der Einsatz sprachlicher Ambiguität im engeren Sinne etc. – identifiziert. Diese Verfahren basieren eindeutig auf den Komplexitätsfaktoren 1, ABWEICHUNGEN von sprachlichen und sprachbezogenen Normen, Traditionen und Mustern, und 2, kontextabhängige IMPLIZITHEIT. Außerdem stellt mitunter schon das Erkennen von Ambiguität, in jedem Fall aber ihre Verarbeitung, hohe Anforderungen an die Kompetenz und das WISSEN der Rezipienten (Komplexitätsfaktor 3). Aus diesen Gründen erweist sich insbesondere flächig auftretende Ambiguität, die sich zudem auf der ersten und zweiten semiotischen Ebene manifestiert, als sicherer Indikator für eine hohe semantische Komplexität des betreffenden Textes. Auch diese eng mit Komplexität verwobene Ambiguität wird in den Easy-Readers-Ausgaben auf den Ebenen der Satz- und insbesondere der Textsemantik systematisch beseitigt. Durch Polyvalenz bzw. Ambiguität auf der Ebene des Textsinns zeichnen sich insbesondere die Originalfassungen von Maupassants La Main, Daudets La Chèvre de M. Seguin sowie Greens Christine und Léviathan aus. Die Ambiguität der fantastischen Erzählung La Main basiert in erster Linie auf einer Kollision von Quantitäts- und Qualitätsmaxime und den daraus resultierenden Leerstellen in Bezug auf die Motivierung der Handlung. Es wurde bereits erklärt, dass derart erzeugte Ambiguität einer Vereinfachung durch die gängigen Adaptionen in den Easy Readers nicht zugänglich ist. Die Polyvalenz in den genannten Novellen von Daudet und Green hingegen basiert vornehmlich auf Evokationen

4.5 Reduktion von Ambiguität und Wissensanforderungen

497

und diese kann und wird in den Vereinfachungen durch gezielte und systematische Kürzungen sowie alternative Formulierungen drastisch reduziert, was in Paragraph 4.5.3 am Beispiel von La Chèvre de M. Seguin sowie Christine demonstriert werden soll. Im letztgenannten Fall erweist sich die Reduktion von Evokationen jedoch als äußerst problematisch für das Auffinden adäquater Deutungen dieser rätselhaften Novelle. Auf der Ebene der Satzsemantik sind vornehmlich die unterdeterminierten Gérondif- und Partizipialkonstruktionen, die Alternativen zu verschiedenen Adverbialsätzen (Temporal-, Kausal-, Konditional-, Modalsätzen etc.) darstellen, Angriffspunkt von Vereinfachungen. Diese Satzkonstruktionen erfahren mehrfach vereindeutigende Hinzufügungen von Konjunktionen, fallen aber auch in überdurchschnittlich hohem Maße den Kürzungen der Originale zum Opfer. Sowohl in den Easy-Readers-Fassungen als auch in den annotierten Schulbuchausgaben wird darüber hinaus regelmäßig versucht, mit Annotationen und Ersetzungen auf den Normalfall von lexikalischer Mehrdeutigkeit auf der Ebene des Sprachsystems zu reagieren. So finden sich zahlreiche Annotationen, die die im Kontext passende Lesart eines Lexems angeben, obwohl der Kotext definitiv ausreichende Informationen zu ihrer Erfassung bereitstellt. Diese Adaptionsmaßnahmen reduzieren nicht die hier definierte semantische Komplexität, sondern stellen vielmehr eine «Serviceleistung» und Verständnishilfe für L2-Lerner des Französischen dar.68 Diese Einschätzung soll im folgenden Abschnitt anhand einiger Beispiele kurz begründet werden.

4.5.1 Reduktion von Ambiguität auf wortsemantischer Ebene Ambiguität auf der Ebene der Wortsemantik, ob es sich dabei um Homonymie, Polysemie, semantische Vagheit oder Kontextvarianz handelt, wird im Rahmen dieser Arbeit nur dann als semantisch komplex betrachtet, wenn der sprachliche Kontext nicht genügend Information enthält, um die entsprechenden Lexeme (z.B. fille oder jeune in Happy Meal) zu disambiguieren oder zu konkretisieren und es über längere Textpassagen hinweg nicht klar ist, welches die

68 Auch die zu Beginn dieses Kapitels analysierten Lexemersetzungen durch frequentere (im GAW enthaltene) Lexeme stellen eine solche Serviceleistung für die Rezipienten dar. Einerseits wird durch diese Ersetzungen zweifelsohne die Textkomplexität reduziert, zugleich wird das Lesen angenehmer und flüssiger gestaltet, weil man kaum mehr unbekannte Wörter nachschlagen muss.

498

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

«richtige» Lesart der jeweiligen Ausdrücke ist.69 Diese Einschätzung beruht auf der Tatsache, dass Polysemie im Bereich der Lexik eher die Regel als die Ausnahme darstellt, und auf der in Kapitel 2.2.1 ausführlich begründeten Erkenntnis, dass die konkrete Wortbedeutung grundsätzlich nur im Textzusammenhang bestimmbar ist, was Gardt (2008a, 1202) unter Verweis auf Frank (1980) folgendermaßen präzisiert: «Manfred Frank spricht vom Wort als einer bloßen ‹Zeichenhülse› (1980, 154), als die es im Text zunächst anwesend ist. Ihre semantische Füllung durch den Leser geschieht vor dem Hintergrund des Wissens um die Systembedeutung des Wortes und durch das intuitive In-Bezug-Setzen des Wortes zu seiner sprachlichen Umgebung».

In den Easy-Readers-Versionen und den annotierten Schulbuchausgaben unseres Korpus finden sich dennoch zahlreiche Annotationen, die den Zweck haben, die passende Lesart eines verwendeten Wortes anzugeben, obgleich diese aufgrund ausreichender Kontextinformationen leicht und eindeutig zu inferieren ist. Diese Art von Annotationen enthält zumeist den deiktischen Ausdruck ici, um dem Leser zu signalisieren, dass die angegebene Bedeutung nur eine mögliche Lesart des annotierten Wortes ist, und zwar die im konkreten Kontext passende. In der folgenden Tabelle werden einige dieser Annotationen aus acht verschiedenen Korpustexten aufgeführt, wobei jeweils das (polyseme) Lexem im Verwendungskontext, die Annotation selbst sowie einige weitere im Petit Robert (1993) angegebene Lesarten des betreffenden Lexems bereitgestellt werden. So wird deutlich, dass in allen Fällen aufgrund des Kotextes die «richtige» Lesart eindeutig zu inferieren ist: natürlich tragen beispielsweise die médecins en robe in Daudets pathetischer Prosaballade kein Frauenkleid, sondern ihre berufsspezifische Robe. M. Seguins Ziegen können in Anbetracht des Materials ihr Seil selbstverständlich nicht zerbrechen, sondern nur zerreißen (cassaient leur corde), und der Strand, an dem die Mitglieder der Familien Rostand und Micoulin in Zolas Novelle anlegen, befindet sich am Eingang einer Schlucht (se trouvait à l’entrée d’une gorge) – die Lesarten Hals oder Rachen des Lexems gorge können in diesem Kontext offensichtlich nicht gemeint sein. Das Erfassen der passenden Lesarten in den weiteren zitierten Beispielsätzen stellt sich ähnlich problemlos dar:

69 Ein solch bewusster Einsatz lexikalischer Ambiguität und das gezielte Aussparen von Kontextinformationen zu deren Auflösung verfolgt häufig ästhetische Ziele wie z.B. die Vorbereitung einer chute (cf. Happy Meal oder Iceberg). In diesen Fällen geben auch die Redakteure der Easy-Readers-Fassungen oder annotierten Schulbuchausgaben die «richtige» Lesart nicht an, um dem Leser nicht den beeindruckenden Überraschungseffekt vorzuenthalten.

4.5 Reduktion von Ambiguität und Wissensanforderungen

499

Tab. 66: Annotation polysemer Lexeme in den Easy-Readers-Fassungen. (polysemes) Lexem im Satzkontext

Annotation

Weitere Lesarten des Lexems (Le Petit Robert  = PR)

Dans une des pièces est rassemblé un groupe de médecins en robe. (C-ER, )

robe, ici: vêtement porté par les hommes de certaines professions

I. Vêtement qui entoure le corps. A. Dans l’Antiquité, en Orient, vêtement d’homme d’un seul tenant descendant aux genoux ou aux pieds. [. . .] B. Vêtement féminin de dessus, couvrant le buste et les jambes. [. . .] (PR, )

casser, ici: rompre La Chèvre Il les perdait toutes de en tirant dessus de M. Seguin la même façon : un beau (ER) matin, elles cassaient leur corde, s’en allaient dans la montagne, et là-haut le loup les mangeait. (C-ER, )

I. V. tr. A. . Mettre en morceaux, diviser (une chose rigide) d’une manière soudaine, par choc, coup, pression. [. . .] . Endommager, empêcher le fonctionnement de. [. . .] (PR, s.)

Christine (ER) J’ai gardé un souvenir clair une pièce, ici: chambre de la vieille maison puritaine : ses longs couloirs, ses lourdes portes, ses grandes pièces. (CL-ER, s.)

I. Partie séparée (brisée, déchirée) d’un tout. [. . .] II. A. (sens génér.) Chaque objet, chaque élément ou unité d’un ensemble. [. . .] (PR, )

une gorge, ici: passage étroit entre deux montagnes

I. . Parties antérieure et latérale du cou. [. . .] . (XIIIe) LITTÉR. Seins, poitrine (d’une femme) [. . .] (PR, )

La Mort du Dauphin (ER)

Naïs Micoulin L’étroite plage où l’on a (ER) abordé se trouvait à l’entrée d’une gorge, et l’on s’est installé au milieu des pierres. (N-ER, ) Plume au restaurant

régler, ici: payer Si j’avais su, j’aurais volontiers choisi une autre viande ou simplement un œuf, de toute façon maintenant je n’ai plus très faim. Je vais vous régler immédiatement. (P, )

I. Couvrir de lignes droites parallèles pour écrire. [. . .] II. VX ou LITTÉR. Assujettir à des règles, diriger ou modérer. [. . .] . Fixer, définitivement ou exactement. [. . .] . Résoudre définitivement, terminer. [. . .] (PR, )

500

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Tab. 66 (fortgesetzt ) (polysemes) Lexem im Satzkontext

Annotation

Weitere Lesarten des Lexems (Le Petit Robert  = PR) . Faire peser des soupçons sur (qqn). → suspecter [. . .] (PR, )

Iceberg

Mais peut-être aurait-elle soupçonner ici: suspecté mes intentions, vermuten soupçonné quelque arrièrepensée. (I, )

Toute une année au soleil

Son doigt s’écrasa sur la commande électrique. La lumière crue éclaira le désastre. (TAS, )

cru, e ici: blendend . Qui n’est pas cuit (aliment). [. . .] . Qui n’a pas subi de préparation, de modification (matière première). [. . .] (PR, )

Happy Meal

Elle s’en fiche de ce que je viens de dire. Elle attaque son sundae. (HM, )

attaquer ici: commencer à manger

I. . Porter les premiers coups à (l’adversaire), ABSOLT. Commencer le combat [. . .] II. Détruire la substance de (une matière) [. . .] III. Commencer [. . .] (PR, s.)

Bei den markierten Lexemen liegt offensichtlich lexikalische Ambiguität auf der Systemebene vor, die passende Lesart im konkreten Äußerungskontext ist aber leicht zu erfassen. Dass die Redakteure der Schulbuchausgaben diese dennoch bereitstellen, ist kein Indiz für wortsemantische Komplexität, sondern Reaktion auf die antizipierte Kompetenz ihrer Rezipientengruppe. Mit Sicherheit kann es für Nicht-Muttersprachler des Französischen mitunter schwierig sein, die passende Lesart eines bestimmten Lexems zu erfassen, wenn sie beispielsweise nur eine mögliche Bedeutung dieses Lexems kennengelernt haben oder wenn die Auswertung des Kontextes aufgrund einer Häufung lexikalischer, grammatischer oder sonstiger Schwierigkeiten zu hohe Anforderungen an sie stellt. Allerdings scheint es eine willkürliche Entscheidung zu sein, wo die Grenze bei den Annotationen gezogen wird: zahlreiche weitere Lexeme in den vereinfachten Novellen stellen sich auf der Systemebene als nicht minder mehrdeutig dar als die oben aufgeführten, ihre im Kontext passende Lesart wird aber nicht angegeben. Bei den hier vorgestellten Annotationen sowie vereinzelt anzutreffenden (scheinbar) vereindeutigenden Ersetzungen von mehrdeutigen Lexemen in den Easy Readers handelt es sich also nicht um Maßnahmen, die semantische

4.5 Reduktion von Ambiguität und Wissensanforderungen

501

Komplexität reduzieren. Der Angriffspunkt dieser Maßnahmen sind nämlich keine komplexen Phänomene, sondern der Normalfall lexikalischer Mehrdeutigkeit im Sprachsystem, die im Kontext problemlos aufgelöst werden kann. Die Adaptionen stellen somit dosiert auftretende Hilfen bzw. eine «Arbeitserleichterung» für L2-Lerner des Französischen dar, die das polyseme Wort nachschlagen könnten und leicht erkennen würden, welche seiner Bedeutungen zutrifft. Solche Annotationen sind letztlich ein in den Text integriertes Wörterbuch.

4.5.2 Reduktion von Ambiguität auf satzsemantischer Ebene Auf der Ebene der Satzsemantik sind es regelmäßig zwei häufig vorkommende semantisch vage bzw. unterdeterminierte und deshalb komplexe Phänomene, die Angriffspunkt für Vereinfachungen sind: zum einen Gérondif- und Partizipialkonstruktionen, zum anderen Auslassungspunkte (points de suspension). Gérondif- und Partizipialkonstruktionen Die Komplexität der Gérondif- und Partizipialkonstruktionen beruht nicht nur auf ihrer semantischen Vagheit, sondern auch auf den hohen Anforderungen, die sie an das einzelsprachliche Wissen stellen, was in Abschnitt 5.6 erläutert wird. An dieser Stelle sollen vornehmlich Beispiele für effektive Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen aufgezeigt werden, die den Aspekt der semantischen Ambiguität betreffen. Bekanntlich handelt es sich bei Participe présent (z.B. regardant) und Gérondif (z.B. en regardant) um infinite Verbformen, wobei letzteres ausschließlich adverbiale Funktion im Satz hat, ersteres zusätzlich in attributiver oder prädikativer Funktion verwendet werden kann. In attributiver Funktion beispielsweise kann das Participe présent anstelle eines Relativsatzes mit qui stehen (cf. Klein/Kleineidam 1994, 248ss.). In adverbialer Funktion stellen Participe présent und Gérondif Alternativen zu Adverbialsätzen dar, unterscheiden sich aber von letzteren durch ihre unterdeterminierte Semantik. Dieser nähert man sich in gängigen Schulgrammatiken des Französischen70 an, indem man z.B. das Gérondif mit einer Liste von Adverbialsätzen (Temporalsatz zum Ausdruck der Gleichzeitigkeit zweier Vorgänge, Konzessivsatz, Konditionalsatz mit si, Modalsatz) gleichsetzt, die diese infinite Verbform «vertreten» könne (cf. ib., 249s.). Tatsächlich ist es vielmehr so, dass Gérondif und Participe présent weder temporale noch kausale Bedeutung haben. Sie können aber in einem temporalen oder kausalen oder modalen Sinne verwendet und

70 Cf. Klein/Kleineidam (1994, 248ss.); Gregor/Wernsing (2010, 190ss.).

502

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

verstanden werden (cf. Confais 1980, 92), wobei die inhaltliche Beziehung zu dem im konjugierten Verb versprachlichten Sachverhalt jeweils implizit bleibt. Der ambige Charakter dieser Konstruktionen beruht weiterhin darauf, dass z.B. temporale und kausale Lesarten nicht klar voneinander zu scheiden sind, bzw. mitunter auch zwei oder mehrere Bedeutungen vorhanden sein können oder fließende Übergänge zwischen zwei Lesarten bestehen. Dies verdeutlicht Togeby (1983) am Beispiel des Gérondif und seiner modalen und konditionalen Lesart: «Le gérondif indique le moyen ou la manière : Il nous a beaucoup intéressés en nous expliquant pourquoi Venise est menacée de dégradation (Beauvoir, Tout 245) [. . .]. Cette idée de moyen exprimée par le gérondif peut passer à celle de condition : [. . .] si je ne suis pas encore Worm, je le serai, en n’étant plus Mahood (Beckett, Innommable 104)» (Togeby 1983, 61).

Und Confais (1980) erläutert, dass in einem Satz wie Je me suis coupé en épluchant les pommes de terre das Gérondif sowohl die Gleichzeitigkeit in Bezug auf das konjugierte Verb als auch die Art und Weise anzeige (cf. Confais 1980, 95). Diese semantischen Eigenschaften sind es also, die Gérondif- und Partizipialkonstruktionen komplex machen. Der durch ihre Verwendung implizit belassene und häufig mehrdeutige inhaltliche Zusammenhang von Sachverhalten muss vom Leser inferiert werden, was eine genaue Berücksichtigung des Kontextes und häufig auch die Aktivierung von zusätzlichem Weltwissen erfordert. Diese auf der Ebene der lokalen Kohärenz angesiedelte Komplexität wird in den Easy-Readers-Fassungen in einigen Fällen reduziert, indem Gérondif- und Partizipialkonstruktionen der Originaltexte durch temporale, kausale oder sonstige Nebensätze mit entsprechenden Konjunktionen oder Konnektoren ersetzt werden. So wird die gemeinte, mitunter mehrdeutige Verknüpfung expliziert und vereindeutigt, was die folgenden Beispiele aus den Vereinfachungen von Naïs Micoulin und La Parure illustrieren. Tab. 67: Ersetzung von Gérondif- und Partizipialkonstruktionen durch Adverbial- oder Relativsätze in den Easy-Readers-Versionen. Gérondif- oder Partizipialkonstruktion im Original

Adverbialsatz oder Relativsatz in der EasyReaders-Fassung

Souvent, elle apportait des coquillages, une Souvent, elle apportait des coquillages, une langouste, un beau poisson, le père Micoulin langouste, un beau poisson, car le père pêchant plus encore qu’il ne labourait. (N, ) Micoulin aimait pêcher. (N-ER, ) Cette année-là, quand Mme Rostand fut installée à la Blancarde, elle demanda au méger de lui prêter Naïs, une de ses bonnes étant malade. (N, s.)

Cette année-là, madame Rostand a demandé à Micoulin de lui prêter Naïs, car une de ses bonnes était malade. (N-ER, s.)

4.5 Reduktion von Ambiguität und Wissensanforderungen

503

Tab. 67 (fortgesetzt ) Gérondif- oder Partizipialkonstruktion im Original

Adverbialsatz oder Relativsatz in der EasyReaders-Fassung

Tout à coup elle découvrit, dans une boîte de satin noir, une superbe rivière de diamants [. . .]. Ses mains tremblaient en la prenant. Elle l’attacha autour de sa gorge [. . .] et demeura en extase devant elle-même. (Pa, )

Tout à coup elle découvrit, dans une boîte de satin noir, un ravissant collier, tout de diamants [. . .]. Ses mains tremblaient quand elle l’attacha autour de sa gorge et elle resta en admiration devant elle-même. (Pa-ER, )

Dieser Zuwachs an Eindeutigkeit und Explizitheit stellt eine spürbare Reduktion von – mäßig ausgeprägter – semantischer Komplexität dar, der gerade für Französisch-Lerner eine deutliche Verständniserleichterung bedeuten kann. Außerdem riskiert man mit solchen Formulierungsvarianten bei überlegter Anwendung weder Sinnentstellungen noch schwerwiegende stilistische Eingriffe in den Originaltext. Es ist erstaunlich, dass in den Easy-Readers-Fassungen dieses Potential für Vereinfachung kaum ausgeschöpft wird und Satzgefüge mit einer Gérondifoder Partizipialkonstruktion häufig durch juxtaponierte Nebensätze ersetzt werden, was für die Herstellung von Kohärenz kaum einen Vorteil bietet. Auslassungspunkte (points de suspension) Semantisch unterspezifiziert und ambig sind auch Auslassungspunkte, die im Rahmen unseres Korpus geradezu inflationär von Alphonse Daudet eingesetzt werden und in den Easy-Readers-Fassungen seiner Lettres de mon moulin drastisch reduziert werden. Tatsächlich können Auslassungspunkte ganz unterschiedliche Dinge anzeigen, die sowohl auf der Ebene des énoncé als auch der énonciation angesiedelt sind. Zunächst können sie darauf hinweisen, dass ein Satz – bewusst oder in Folge einer äußeren Ursache – unvollendet geblieben ist. Sie können aber auch dazu dienen, auf der Ebene der Produktion einer Äußerung das Zögern eines Sprechers anzuzeigen bzw. seine Sprechpausen, die einzelnen Wörtern oder Ausdrücken ein besonderes Gewicht verleihen. Des Weiteren werden points de suspension gesetzt, um auf eine nicht ausgedrückte Fortführung des Gedankengangs hinzuweisen, und schließlich dienen sie echter oder vorgetäuschter Diskretion, wenn sie z.B. anstelle eines komplett getilgten oder auf den Anfangsbuchstaben reduzierten Eigennamens stehen (cf. Grevisse 1993, 165ss.). Natürlich ist es gut möglich, dass mit dem Setzen von Auslassungspunkten auch mehrere der soeben aufgeführten Anspielungen verbunden sind, was in jedem Fall als Bestandteil der kontext- und sprecherabhängigen IMPLIZITHEIT vom Rezipienten eines Textes zu inferieren ist. Die deshalb als semantisch komplex einzustufenden Auslassungspunkte finden

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4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

sich im Original von Daudets La Chèvre de M. Seguin immerhin 48-mal und in La Mort du Dauphin 23-mal. Dabei verwendet Daudet sie de facto in unterschiedlichen, mitunter mehrfachen Bedeutungen, was das folgende exemplarische Beispiel illustrieren soll: Tab. 68: Reduktion von Ambiguität durch Tilgung von Auslassungszeichen. Originalfassung

Easy-Readers-Fassung

Funktion der Auslassungszeichen

Encore une que le loup va me manger . . . Eh bien, non . . . je te sauverai malgré toi, coquine, [. . .]. (C, )

Encore une que le loup va me manger. Eh bien, non ! Je te sauverai malgré toi, petite folle ! (C-ER, )

Anzeigen von Sprechpausen, die im . Fall aus einer Mischung von Enttäuschung und Empörung des Sprechers resultieren und im . und . Fall sein schrittweises Nachdenken widerspiegeln

In den Easy-Readers-Fassungen werden derart erzeugte Ambiguität und explizit angezeigte Implizitheit sowie die damit verbundene (mäßige) Komplexität sehr häufig getilgt, was mit minimalen Eingriffen in den Originaltext zu erreichen ist. Es genügt schließlich, die Auslassungspunkte wegzulassen oder sie durch einen Punkt zu ersetzen. So finden sich in den Easy-Readers-Fassungen der genannten Erzählungen Daudets nur noch 16 (La Chèvre de M. Seguin) bzw. fünf (La Mort du Dauphin) Vorkommnisse dieser Zeichen, und auch in den übrigen untersuchten Vereinfachungen werden sie häufig gelöscht. 4.5.3 Reduktion von Ambiguität auf textsemantischer Ebene Die in einen literarischen Brief integrierte Tierfabel La Chèvre de M. Seguin und das Erstlingswerk von Julien Green, die symbolische und äußerst rätselhafte Novelle Christine (1924), zeichnen sich beide durch eine Vielzahl von Lesarten aus, die im Wesentlichen auf Evokationen im Sinne Coserius beruhen. Das Einlösen dieser Evokationen und die Inferenz der daran geknüpften impliziten Bedeutungen, die mitunter völlig konträre Lesarten des Gesamttextes stützen, stellen hohe Anforderungen an die analytischen Fähigkeiten und an das Sprach- und Weltwissen der Rezipienten, weshalb beide Erzählungen sich als semantisch hochkomplexe Texte darstellen. Durch auffällig starke Eingriffe in die Originaltexte werden in den entsprechenden Easy-Readers-Fassungen die Polyvalenz deutlich reduziert und die hohen Anforderungen an das Wissen der Rezipienten entsprechend stark

4.5 Reduktion von Ambiguität und Wissensanforderungen

505

abgemildert. In der Vereinfachung von La Chèvre de M. Seguin geschieht dies mittels gezielter großflächiger Kürzungen, was zur kompletten Tilgung einiger Lesarten führt, andere aber weitgehend erhält. In der Easy-Readers-Fassung von Christine hingegen werden fast alle Evokationen des Originals eliminiert, was vordergründig zu einer immensen Vereinfachung führt, allerdings auch nahezu alle Schlüssel für mögliche Deutungen der rätselhaften Ereignisse der ersten semiotischen Ebene löscht. Reduktion von Ambiguität in La Chèvre de M. Seguin In Kapitel 3.3.3 wurden die Ambiguität und die eng damit zusammenhängende Komplexität von La Chèvre de M. Seguin ausführlich analysiert. Dabei wurde deutlich, dass die Polyvalenz dieser Erzählung im Wesentlichen auf einer Vielzahl Coseriu’scher Evokationen wie z.B. Relationen mit Zeichen in anderen Texten, Relationen mit ganzen Zeichensystemen oder der indirekten Zeichenrelation Zeichen – Bezeichnetes – Symbolisiertes (cf. Coseriu 1980/2007, 92ss.) beruht. Darüber hinaus sind zwei Nebenstrategien auszumachen, zum einen der Einsatz konventioneller mehrdeutiger Symbole, zum anderen die Verknüpfung zweier Textsorten. Außerdem manifestiert sich in Daudets Text – wie in vielen hochambigen Texten – Mehrdeutigkeit gleich in mehreren Bereichen literarischer Kommunikation. Die Ereignisse der ersten semiotischen Ebene stellen sich als ambig dar, weil die expliziten Vorwürfe an den freiheitsliebenden Dichter Gringoire und der Tod Blanquettes vor zügelloser Freiheit warnen, während der bittere Kontrast zwischen dem Vegetieren der Ziege in Gefangenschaft und ihrem berauschten Glück im Gebirge dafür spricht, Freiheit als höchstes Gut zu betrachten. Sprachliche Ambiguität im engeren Sinne manifestiert sich durch die Verwendung der konventionellen Symbole chèvre, loup und noir, die mehrdeutig sind in Hinblick auf das durch sie Symbolisierte. Die Ambiguität in diesen beiden Bereichen wiederum führt in Kombination mit den oben angesprochenen Ambiguierungsstrategien zu ausgeprägter Mehrdeutigkeit auf der Ebene des Textsinns. Zahlreiche Aspekte der soeben nochmals kurz skizzierten Ambiguität von Daudets Erzählung bleiben in der entsprechenden Easy-Readers-Fassung erhalten. Auch hier finden sich natürlich die mit den Figuren verknüpften mehrdeutigen Symbole chèvre, loup, noir und blanc wieder sowie die Ambiguität der Ereignisse auf der ersten semiotischen Ebene. Folglich ermöglicht auch die vereinfachte Fassung von La Chèvre de M. Seguin die meisten der in Kapitel 3.3.3 vorgestellten Lesarten wie z.B. «la liberté se paie» (Bergez 1999, 21) sowie das konträre Erheben von Freiheit zum höchsten Gut, die «lecture ‹enfantine›» (Lafont/Gardès-Madray 1976, 148) und auch die zahlreichen erotischen Lesarten. Es ist allerdings so, dass die üppigen Evokationen, die die besagten Lesarten stützen, in der Vereinfachung

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4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

durch Kürzungen und alternative Formulierungen etwas reduziert werden, was in Unterkapitel 4.4.2 hinsichtlich der erotischen Lesarten im Detail aufgezeigt wurde. Eine sehr effektive Reduzierung der Ambiguität auf der Ebene des Textsinns sowie der damit verbundenen hohen Anforderungen an das Rezipientenwissen wird aber durch den totalen Verzicht auf eine der genannten Ambiguierungsstrategien erreicht, nämlich die Verknüpfung zweier Textsorten. In der Easy-ReadersFassung werden tatsächlich alle Briefelemente gestrichen, die immerhin 17% der Länge des Originaltextes ausmachen. Somit stellt sich die Vereinfachung als reine Tierfabel dar, und die durch den literarischen Brief etablierte Rahmenhandlung um Pierre Gringoire, die wiederholten Adressatenansprachen sowie das Briefende mitsamt seiner Authentifizierungsstrategie und den provenzalischen Passagen fallen weg. Das hat zunächst einmal zur Folge, dass das Komplexitätsmerkmal «Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen», das für das Original von Daudets La Chèvre de M. Seguin immerhin mit dem Komplexitätswert 3 belegt wurde (cf. Kapitel 3.3.3), für die entsprechende Easy-Readers-Fassung überhaupt nicht zum Tragen kommt. Dieser Komplexitätswert ist der Ambiguität geschuldet, die aus der Verknüpfung von Tierfabel und literarischem Brief erwächst. Die Rahmenhandlung suggeriert nämlich die spontane, kontextbasierte Symbolisierung «Gringoire = Blanquette» und eröffnet die Möglichkeit, weitere Bedeutungsaspekte der Erzählung, wie z.B. die Haltung der Ziege in Gefangenschaft oder ihre Sinnenfreuden im Gebirge, als Symbole im Rahmen der besonderen soziokulturellen Situation des freischaffenden Künstlers zu werten. Dieser Kontext mitsamt seinen Folge-Symbolen erlaubt also zum einen eine Konkretisierung der Lesart la liberté se paie im Hinblick auf die Entscheidung eines Dichters für seine Freiheit und gegen materielle Sicherheit als Journalist. Wenn man weiterhin berücksichtigt, dass Daudets Erzählung den Konflikt zwischen apollinischem und dionysischem Ideal inszeniert, dann stützen die Briefelemente eine weitere Lesart, nämlich die in einigen Texten der Lettres de mon moulin thematisierte Reflexion über das Dilemma des Dichters. Dessen Kreativität verlangt schließlich nach Freiheit, Inspiration und Muße, kann aber ohne materielle Sicherheit auch nicht erhalten werden. Diese um die Situation des Dichters kreisenden Lesarten, deren Konstruktion eine konsequente Deutung der kontextbasierten Symbolisierung «Gringoire = Blanquette» sowie Kenntnisse zur Lage des Künstlers in Gegenwart und Vergangenheit verlangt, werden in der Easy-Readers-Fassung also komplett getilgt. Der bewusste Verzicht auf diese Lesarten führt gleich in mehreren Bereichen zu einer deutlichen Reduktion von Komplexität, nämlich hinsichtlich der Kategorien «suppletive Kontextbildung», «Andeutungen/Evokationen», «Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik», «Anforderungen an das einzelsprachliche und lebensweltliche Wissen» sowie «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene». Der Beginn der Originalerzählung beinhaltet die verbale Suppletion der

4.5 Reduktion von Ambiguität und Wissensanforderungen

507

Figur des Briefempfängers Pierre Gringoire und auch diese ist bewusst ambig gestaltet, um den zeitlosen Typ des bettelarmen Pariser Bohémiens heraufzubeschwören. Das gelingt durch die Verwendung von Eigennamen wie Pierre Gringoire selbst oder chez Brébant, durch Historizismen wie le pourpoint, les chausses, la barrette und les écus à la rose und intertextuelle Anspielungen auf Hugos Mittelalterepos Notre-Dame de Paris (cf. Kapitel 3.3.3). Bereits die Kenntnis dieser noms propres und noms communs, insbesondere aber das Erfassen und Auswerten der mit ihnen verbundenen Evokationen verlangen dem Rezipienten des Originals ein beachtliches Maß an Kompetenz und Kapazität ab, welches der Leser der Vereinfachung aufgrund der Kürzungen nicht mitbringen muss. Das Kürzen aller Briefelemente in der Easy-Readers-Fassung bewirkt insgesamt eine deutliche Reduktion von Evokationen insbesondere intertextueller Art, das Tilgen aller Eigennamen, die historische oder mythische Personen bezeichnen, eine deutliche Verringerung von Archaismen und Historizismen (s.o.), den völligen Verzicht auf regionalsprachliche Passagen (cf. Briefende), das Aushebeln der spontanen Symbolisierung «Gringoire = Blanquette», deutlich geringere Anforderungen an das Weltwissen der Rezipienten und aufgrund des Tilgens der Dichter-zentrierten Lesarten auch einen spürbar geringeren Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene. Wenn man neben der Streichung der Briefelemente noch die weniger systematischen Kürzungen und Umformulierungen in der Easy-Readers-Fassung berücksichtigt, die weitere Evokationen des Originals tilgen, dann fällt die Liste einzulösender Evokationen, die in Kapitel 3.3.3 für das Original erstellt wurde, für die Vereinfachung deutlich kürzer aus: Tab. 69: Deutliche Reduktion von Evokationen in der Easy-Readers-Version von La Chèvre de M. Seguin. Einzulösende Evokationen in der Originalfassung von La Chèvre de M. Seguin

Einzulösende Evokationen in der EasyReaders-Fassung von La Chèvre de M. Seguin

Die indirekte bzw. «vermittelte» Zeichenrelation: Zeichen – Bezeichnetes – Symbolisiertes (cf. Coseriu /, ) in Bezug auf die Lexeme und Lexemverbindungen chèvre, loup, noir, étable toute noire, blanc/blanche, tachée de sang Evokation des diaphasischen Subsystems «Sprechen mit Autoritäten» Zahlreiche Relationen mit Zeichen in anderen Wenige Relationen mit Zeichen in anderen Texten Texten Zeitlich widersprüchliche Evokationen im Rahmen der verbalen Suppletion des Briefempfängers Gringoire



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4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Tab. 69 (fortgesetzt ) Einzulösende Evokationen in der Originalfassung von La Chèvre de M. Seguin

Einzulösende Evokationen in der EasyReaders-Fassung von La Chèvre de M. Seguin

Suggerierte Vermischung von Genus und Sexus in Bezug auf die anthropomorphisierten Bäume und Büsche, die Blanquette empfangen



Nachahmung einer beschriebenen Handlung durch Substanz und Form der verwendeten Zeichen (Quirligkeit und Bewegungsfreude Blanquettes)



Vaginale Metaphern



Rhetorisch-stilistische Mittel (Akkumulationen, Gradationen etc.) zur Unterstützung der Glückseligkeit in Freiheit und als Hinweis auf die Virtuosität des Dichters

Deutlich weniger rhetorisch-stilistische Mittel (Akkumulationen, Gradationen etc.) und diese nur zur Betonung der Glückseligkeit der Ziege in Freiheit

Dieselbe Ausdünnung ist dementsprechend bei den Wissensbeständen feststellbar, die zur Einlösung dieser Evokationen erforderlich sind: Tab. 70: Deutlich geringere Anforderungen an das Rezipientenwissen in der Easy-ReadersVersion von La Chèvre de M. Seguin. Nötiges Wissen zur Einlösung der Evokationen in der Originalfassung

Nötiges Wissen zur Einlösung der Evokationen in der Easy-ReadersFassung

Wissen über literarische Symbole und ihren mehrfachen Symbolsinn Literaturgeschichtliches Wissen: Kenntnis der Werke Notre-Dame de Paris, Manon Lescaut, Le Loup et le Chien sowie Gringoire von Théodore de Banville Kenntnis der historischen Person Pierre de Gringoire (–) sowie des  gegründeten Pariser Restaurants Le Brébant Profunde lexikalische Kenntnis des Französischen zur Erfassung der mit den Historizismen chausses, pourpoint, barrette, écus à la rose, sire Apollo sowie den Phraseologismen avoir vu le loup oder croquer à belles dents verbundenen Evokationen; Wissen über diaphasische Varietäten des Französischen; sichere

Literaturgeschichtliches Wissen: Kenntnis der Werke Manon Lescaut und Le Loup et le Chien — Kenntnis des Phraseologismus avoir vu le loup sowie Wissen über diaphasische Varietäten des Französischen

4.5 Reduktion von Ambiguität und Wissensanforderungen

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Tab. 70 (fortgesetzt ) Nötiges Wissen zur Einlösung der Evokationen in der Originalfassung

Nötiges Wissen zur Einlösung der Evokationen in der Easy-ReadersFassung

Kenntnis des Genus von Lexemen aus dem Bereich der Botanik (sapin, châtaignier, genêt d’or) Allgemeinwissen zur Situation des Künstlers/Autors (materielle Lage, Bedürfnisse) im . Jahrhundert und davor



Die reduzierte Anzahl der Lesarten und die deutlich geringeren Anforderungen an das Wissen der Rezipienten beweisen, dass die in der Easy-Readers-Ausgabe erfolgten Adaptionen des Originals die Komplexitätsfaktoren Ambiguität (auf der Ebene des Textsinns), kontextabhängige IMPLIZITHEIT (in Gestalt von Evokationen) und WISSEN erfolgreich manipulieren können. Der Vergleich der vollständigen Komplexitätsprofile von Original- und Easy-Readers-Fassung zeigt darüber hinaus, dass die großflächigen Kürzungen und behutsamen Umformulierungen durch ihr Einwirken auf diese Faktoren zu einer deutlichen Reduktion von Komplexität hinsichtlich der sechs oben herausgestellten Komplexitätskategorien (FB, SK, W, IW, LW, 2.E) und somit insgesamt zu einem merklich einfacheren Text führen: Komplexitätsprofil der Originalfassung von La Chèvre de M. Seguin 6

Komplexitätsprofil der Easy-Readers-Fassung von La Chèvre de M. Seguin 6

5

5

4

4

3

3

2

2

1

1

0

0 FB L

A M SK FT KK W S EW IW DW LW 2.E

FB L

A M SK FT KK W S EW IW DW LW 2.E

FB: Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen; L: Leerstellen/Aussparungen; A: Andeutungen/Evokationen; M: Umgang mit den Maximen; SK: suppletive Kontextbildung; FT: Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen; KK: Kohäsion & lokale Kohärenz; W: Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik; S: Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik; EW/IW/DW/LW: Anforderungen an das elokutionelle, einzelsprachliche, diskurstraditionelle und lebensweltliche Wissen; 2.E: Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene. Schema 17: Gegenüberstellung der Komplexitätsprofile des Originals und der Easy-ReadersVersion von La Chèvre de M. Seguin.

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4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Es steht aber außer Frage, dass die vereinfachte Fassung von La Chèvre de M. Seguin sowohl in stilistischer Hinsicht als auch in Bezug auf ihre Deutungsvielfalt ärmer ausfällt als Daudets Original. Eine derart deutliche Reduktion von Komplexität ist wohl kaum ohne Sinneinbußen zu erzielen. Dennoch muss nochmals festgehalten werden, dass bis auf die Dichter-zentrierten Lesarten alle Lesarten des Originals, inklusive der erotischen, in der Vereinfachung erhalten bleiben. Somit stellt sich auch die adaptierte Fassung als mehrdeutiger Text dar, der auf kunstvolle Weise zwei völlig konträre Bedeutungsmöglichkeiten (la liberté se paie vs. Freiheit ist das höchste Gut) verknüpft. Folglich regt diese Easy-Readers-Version zum Aushandeln von Bedeutungen und zum Transfer auf die Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler an und kann gewinnbringend zum Aufbau von Textkompetenz eingesetzt werden. Gerade weil die Briefelemente aufgrund von Eigennamen, provenzalischen Passagen, intertextuellen Anspielungen und Historizismen semantisch hochkomplexe Passagen darstellen, die zudem zwei ebenfalls anspruchsvolle Lesarten stützen, ist ihre Tilgung im Interesse einer Reduktion von Komplexität und der Einsatzmöglichkeit in frühen Lernjahren sinnvoll. Somit spricht einiges dafür, die EasyReaders-Fassung von Daudets Text trotz der genannten ästhetischen und inhaltlichen Einbußen als effektiv und gelungen zu betrachten. Reduktion von Ambiguität in Christine Ganz anders ist die Easy-Readers-Fassung von Christine (1924), Julien Greens erstem gültigen erzählerischen Werk (cf. Matz 2006, 169) zu bewerten. Diese symbolische Novelle im Sinne Blühers (1985) irritiert durch ihren «offenkundigen Rätselcharakter» (Matz 2006, 170) und verdankt ihre hohe semantische Komplexität einer Vielzahl von individuell verschlüsselten Symbolbedeutungen. Diese Bedeutungsschichten beruhen auf Leerstellen, die einer besonderen Erzählsituation geschuldet sind, sowie verschiedenen Formen von Andeutungen, die wiederum auf komplexe Weise mit der Handlung und der Figurenkonstellation verknüpft sind. Bei diesen Andeutungen handelt es sich u.a. um ausgeprägte assoziative Frame-Systeme, um Evokationen im Sinne Coserius wie z.B. die indirekte Zeichenrelation Zeichen – Bezeichnetes – Symbolisiertes, Relationen mit Zeichen in anderen Texten oder ganzen Zeichensystemen (cf. Coseriu 1980/2007, 92ss.), direkte Zitate aus anderen Werken sowie Vergleiche und Analogien. Der größte Teil der soeben aufgezählten Andeutungen wird in der EasyReaders-Fassung von Christine durch gezielte Kürzungen im Umfang von 58% getilgt. Dies führt natürlich zu einer deutlichen Reduktion von Komplexität, da der Rezipient der Vereinfachung ungleich weniger Inferenzen ziehen muss als

4.5 Reduktion von Ambiguität und Wissensanforderungen

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ein Leser des Originals und viel weniger anspruchsvolles Wissen in den Prozess der Bedeutungskonstruktion einbringen muss. Allerdings wird die vereinfachte Fassung von Christine im Gegensatz zu der von La Chèvre de M. Seguin durch diese Kürzungen im Wesentlichen auf ihr bloßes Handlungsgerüst reduziert und verliert den Großteil ihrer symbolisch verschlüsselten Bedeutungen, die vor allem auf den genannten Evokationen basieren. Nach einer kurzen Rekapitulation der Diskurstraditionen, die Greens Erstlingswerk prägen, sowie einer Inhaltsangabe sollen die auffälligsten Evokationen des Originals aufgezeigt und die Konsequenzen verdeutlicht werden, die ihre Tilgung für mögliche Lesarten der Novelle hat. Wie in Kapitel 3.4.2.3 bereits erläutert wurde, trägt Julien Green (1900–1998), der häufig dem renouveau catholique zugeordnet wird (cf. Teschke 1998, 51), in seinem Werk wiederholt persönliche Konflikte zwischen innerem Anspruch und äußerer Wirklichkeit, Körper und Seele sowie sexueller Leidenschaft und spiritueller Sehnsucht (cf. Eberle Wildgen 1993, 3) aus. Eberle Wildgen (1993, 143), die die großen Themen des Autors analysiert hat, betont Greens grundlegende Überzeugung, dass alles in der Welt zwei Seiten habe und das für die Augen Sichtbare die Wahrheit verberge. Demzufolge identifiziert sie das Thema des dédoublement einerseits als wiederkehrendes Motiv in Greens Werk und andererseits als das zentrale Formprinzip seiner Romane und Erzählungen mit ihren zahlreichen Bedeutungsschichten: «Green’s novels themselves, with their layers of meanings and their symbols capable of different, if not contradictory, interpretations, mirror the dédoublement of the world while they contain within themselves examples of it».

In Christine wird diese Polyvalenz in weiten Teilen so erzeugt, wie Blüher (1985, 230) dies für die symbolische Novelle des 20. Jahrhunderts als typisch erachtet: Der Text weist eine «enge innere Verflechtung von Bedeutungselementen auf, die sich auf verschiedenen Strukturebenen des Textes [. . .] manifestieren», und sein Symbolgehalt bleibt weitgehend «mehrdeutig und offen», weil «die bloße Suggestion und Allusion» bevorzugt wird. Das Ergebnis dieser Verfahren ist eine Novelle mit zwei sich überlagernden Bedeutungsebenen, «einer vordergründiganschaulichen und einer weiteren, hermetisch-verdeckten, die symbolisch verschlüsselt ist und sich daher eindeutiger Erhellung der Textbotschaft entzieht». Es steht allerdings außer Frage, dass Christine gleich mehrere solcher symbolisch verschlüsselten Lesarten beinhaltet. Bevor auf die «Suggestionen und Allusionen» in Christine und ihre Tilgungen in der Easy-Readers-Fassung eingegangen werden kann, muss der

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4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Inhalt der Novelle vorgestellt und die besondere Erzählsituation erläutert werden, die für die fundamentalen Leerstellen verantwortlich ist. In Christine schildert der Ich-Erzähler Jean aus der Sicht des Erwachsenen eine seltsame Begebenheit, die sich im Sommer seines dreizehnten Lebensjahres ereignet hat: die Begegnung mit der etwa gleichaltrigen Christine im Ferienhaus seiner Familie in Rhode Island. Das Mädchen ist offenbar stumm und Jeans Mutter und Tante lehnen es ab, ihm Informationen über Christines Identität und Zustand zu geben, wechseln in seiner Anwesenheit sogar ins Französische, wenn sie über das Mädchen sprechen – eine Sprache, die der Erzähler nicht beherrscht. Aus dieser Unfähigkeit zu Kommunikation bzw. Verweigerung von Kommunikation resultieren die Rätselhaftigkeit des Geschehens und die zahlreichen Leerstellen, die der erwachsene Erzähler nur in wenigen Fällen durch angedeutete Vermutungen füllen kann oder will. Letztlich akzeptiert er das unauflösbare Rätsel um Christine und lehnt es ab, die Ereignisse durch eindeutige Erklärungen zu banalisieren (cf. Ziegler 1989, 67). Die rätselhaften Ereignisse beginnen damit, dass Jeans Mutter ihm die Ankunft seiner Tante Judith ankündigt. Wenige Tage später trifft Jean diese in Begleitung eines Mädchens seines Alters im Salon an. Die Tante wirkt wenig erfreut über das plötzliche Auftauchen ihres Neffen, doch man stellt die Kinder, Jean und Christine, einander vor. Jean ist fassungslos angesichts Christines übernatürlicher Schönheit, das Mädchen hingegen scheint ihn kaum wahrzunehmen. Schließlich ziehen sich die Tante und Christine zurück und Jean bekommt letztere während seines ganzen Aufenthalts nicht mehr wirklich zu Gesicht. Er muss ein Zimmer auf einer anderen Etage beziehen, seine Mutter verlangt von ihm, mit niemandem über Christine zu sprechen, und ohrfeigt ihn gar, als er zum zweiten Mal Informationen über das Kind einfordert. Jean leidet immer mehr unter der Trennung von diesem faszinierenden Mädchen, deren Gründe er nicht versteht, und giert nach Erklärungen. In einer Gewitternacht hämmert Christine an die Tür ihres Zimmers und stößt tierähnliche Schreie aus, die Jean so ängstigen, dass er auf die Knie fällt und betet. Am nächsten Morgen belauscht er seine Mutter und seine verzweifelte Tante und erfährt, dass das Gewitter Christine zutiefst verstört hat und sie ohnmächtig geworden ist. Besonders beunruhigt ist die Tante, weil Christine versucht hat, ihr etwas zu sagen: «Elle a essayé de me dire quelque chose.» (CL, 9). Wenig später teilt seine Mutter ihm mit, dass sie und ihre Schwester nach Providence fahren, um einen Arzt zu holen. Sie verlangt von ihrem Sohn, während ihrer Abwesenheit nicht in Christines Nähe zu gehen. Jean kann der Versuchung aber nicht widerstehen und begibt sich zu Christines Zimmer, dessen Tür jedoch verschlossen ist. Er klopft und ruft, bevor er durch das Schlüsselloch schaut und den Eindruck bekommt, dass Christine ihn durch das Holz hindurch fixiert. Ihre

4.5 Reduktion von Ambiguität und Wissensanforderungen

513

Schönheit und die Unmöglichkeit, ihr nah zu sein, lassen Jean in Tränen ausbrechen. Schließlich schreibt er «Christine, ouvre-moi, je t’aime.» (CL, 10) auf einen Zettel und schiebt diese Liebeserklärung unter der Tür hindurch, doch Christine scheint die Worte nicht zu verstehen. Dann verspricht Jean ihr ein Geschenk, wenn sie ihm die Tür öffnet. Im Koffer seiner Tante findet er einen goldenen Saphirring, den er ihr zukommen lässt. Wieder beobachtet er Christines Reaktion durch das Schlüsselloch und sieht, wie sie trotz seiner Warnungen den Ring mit Gewalt an ihren Daumen steckt und minutenlang betrachtet, bevor sie vergeblich versucht, ihn wieder abzunehmen und sich unter wütenden Schreien aufs Bett wirft. Jean flüchtet daraufhin zutiefst verstört in sein Zimmer. Am nächsten Morgen wird er von einer Kutsche geweckt, in der seine Tante und Christine abreisen. Letztere trägt nach wie vor den Ring an ihrem Daumen. An Weihnachten des folgenden Jahres besucht Tante Judith sie allein in Boston, wo sie seiner Mutter schluchzend in die Arme fällt. An ihrer Hand entdeckt Jean den goldenen Saphirring. Bereits die Konstruktion einer kohärenten wörtlichen Lesart verlangt vom Leser einige Inferenzen, die aber unter Rückgriff auf weiteres Wissen zu den im Text evozierten Frames Heirat, Familienähnlichkeit und (psychische) Krankheit recht leicht und weitgehend eindeutig zu ziehen sind. Wie bereits erwähnt, lassen Mutter und Tante Jean im Unklaren über Christines Identität, doch kann aus einigen Informationen, die der Erzähler ohne Deutung an seine Leser weitergibt, recht leicht geschlossen werden, dass Christine die uneheliche Tochter seiner Tante Judith sein muss. Christines Alter und die auffällige Ähnlichkeit mit Jeans Tante sprechen für die Mutter-Tochter-Beziehung, Ehelosigkeit und Unglück der Tante dafür, dass Christine ein uneheliches Kind ist: «Je savais qu’elle [ma tante] avait été fort malheureuse et que, pour des raisons qu’on ne m’expliquait pas, elle n’avait pu se marier» (CL, 4). «Mais qui donc était cette petite fille ? Si j’avais été moins jeune et plus observateur, sans doute aurais-je remarqué ce qu’il y avait de particulier dans ses traits. Ce regard fixe, ne le connaissais-je pas déjà ? Et n’avais-je vu à personne cette moue indéfinissable qui ressemblait à un sourire et n’en était pas un. Mais je songeais à bien autre chose qu’à étudier le visage de ma tante et j’étais trop innocent pour découvrir un rapport entre cette femme, qui me semblait monstrueuse, et Christine» (CL, 6).

Diese Interpretation würde auch zumindest zum Teil das seltsame Verhalten der puritanischen Familie erklären, die von Jean verlangt, mit niemandem über Christine zu sprechen. Die Schande, die ein uneheliches Kind in diesen Kreisen bedeutet, soll wohl geheim gehalten werden. Aufgrund der angeführten Frames und der auf ihrer Basis zu leistenden Inferenzen kann das Rätsel um Christines

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4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Identität wohl gelöst werden. Die Frage, wie es um ihren Gesundheitszustand bestellt ist, ist jedoch weniger eindeutig zu beantworten. Die Tatsache, dass Christine niemals spricht und Schreie ausstößt, um ihre Angst während des Gewitters zu äußern, lässt den Schluss zu, dass das Kind stumm ist. Auch die Bestürzung von Tante Judith, als das verstörte Mädchen versucht, ihr etwas zu sagen, stützt diese Annahme. Christine scheint aber nicht nur stumm zu sein, sondern auch des Lesens nicht mächtig, was ihr Umgang mit Jeans geschriebener Liebeserklärung unterstreicht: «[. . .] je vis Christine se précipiter sur le billet qu’elle tourna et retourna dans tous les sens avec un air de grande curiosité, mais sans paraître comprendre ce que j’avais écrit» (CL, 10).

Die Stummheit, die Unfähigkeit zu lesen und auch ihre Aggressivität, als sie den Ring nicht mehr vom Daumen nehmen kann, legen die Vermutung nahe, dass Christine geistig behindert oder psychisch krank ist. Die Tatsache, dass später ein Arzt konsultiert wird, sowie das Ende der Novelle erhärten diesen Verdacht. Anderthalb Jahre nach der Begegnung von Jean und Christine besucht Tante Judith den Ich-Erzähler und seine Mutter in Boston. Sie ist allein, trägt den Saphirring am Finger und fällt ihrer Schwester schluchzend in die Arme. Begleitet wird diese Szene im Original von der Schilderung, wie Arbeiter der Straßenmeisterei Schaufeln voller Sand auf das vereiste Pflaster werfen:

Tab. 71: Gegenüberstellung des Endes von Christine in Original- und Easy-Readers-Fassung. Ende von Christine im Original

Ende in der Easy-Readers-Fassung

L’été suivant, ma tante ne vint pas, mais quelques jours avant Noël, comme elle passait par Boston, elle nous fit une visite d’une heure. Ma mère et moi nous étions au salon, et je regardais par la fenêtre les ouvriers de la voirie qui jetaient des pelletées de sable sur le verglas, lorsque ma tante parut. Elle se tint un instant sur le seuil de la porte, ôtant ses gants d’un geste machinal ; puis, sans dire un mot, elle se jeta en sanglotant dans les bras de ma mère. A sa main dégantée brillait le petit saphir. Dans la rue des pelletées de sable tombaient sur le pavé avec un bruit lugubre. (CL, )

L’été suivant, ma tante n’est pas venue, mais quelques jours avant Noël, elle nous a fait une visite d’une heure. A sa main, j’ai vu le petit saphir. (CL-ER, )

4.5 Reduktion von Ambiguität und Wissensanforderungen

515

Diese detaillierte Beschreibung des mit einem dumpfen Geräusch aufs Eis fallenden Sandes etabliert zweifelsohne eine Analogie zur christlichen Tradition, am offenen Grab eines Verstorbenen Erde auf dessen Sarg zu werfen. Diese Analogie, das Fehlen Christines, die Verzweiflung der Tante und das Tragen von «Christines Ring» erlauben die sichere Inferenz, dass das kranke Mädchen gestorben ist. Wenn man allerdings das Novellenende im Original mit dem der vereinfachten Fassung vergleicht, so stellt man fest, dass in letzterer sowohl die Trauer der Tante als auch die soeben erläuterte Analogie fehlen. Diese Kürzungen machen die Inferenz von Christines Tod deutlich schwerer, als sie sich im Original darstellt. So ist also bereits eine kohärente wörtliche Lesart der Novelle, die im Folgenden umrissen wird, auf der Grundlage der Easy-Readers-Fassung etwas schwieriger zu konstruieren als im Original: Der Teenager Jean verliebt sich unglücklich in seine Cousine, deren übernatürliche Schönheit ihn fasziniert und verstört. Die uneheliche Tochter seiner Tante, die zudem an einer geistigen Behinderung oder psychischen Krankheit leidet und stumm ist, wird von der Familie totgeschwiegen. Nach Jeans erster Begegnung mit ihr verwehrt man ihm vehement die Gelegenheit zu einem Wiedersehen. Einige Monate später stirbt das mysteriöse Kind. Diese wörtliche Lesart ist äußerst unbefriedigend, denn sie lässt zahlreiche Fragen offen, schenkt einigen Handlungselementen zu wenig Beachtung und lässt mannigfache Evokationen und Andeutungen ungenutzt. So muss der Leser sich fragen, ob Christines Krankheit und ihr Status als uneheliches Kind es wirklich rechtfertigen, dass das Mädchen eingesperrt und vehement von seinem Cousin ferngehalten wird. Und wie sind die Attribute Christines – ihre Stummheit, ihre seherischen Fähigkeiten, ihre überirdische Schönheit – zu deuten? Interpretationsbedürftig ist auch das erwähnte Fehlen von menschlicher Rede, das aus Christines Stummheit und der Informationsverweigerung seitens Jeans Mutter und Tante resultiert. Schließlich kann man nicht übersehen, dass zahlreiche Filler des assoziativen Frame-Systems christliche Religion & Spiritualität die Novelle von Anfang bis Ende durchziehen, Bibelverse zitiert werden und somit dem Text ein religiöser bzw. metaphysischer Charakter verliehen wird (cf. Matz 2006, 170). In der Folge sollen einige der augenfälligsten Evokationen des Originals aufgelistet werden. Diese z. T. sehr vagen Anspielungen liefern dennoch Schlüssel zur Beantwortung der oben formulierten Fragen und zum Auffinden der symbolischen Lesarten von Greens Novelle. Gegenübergestellt wird diesen Allusionen des Originals ihre Tilgung, Reduktion oder Beibehaltung in der Easy-Readers-Fassung:

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4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Tab. 72: Anspielungen in Christine und ihre weitgehende Tilgung in der Easy-Readers-Fassung. Art der Anspielung

Originalfassung von Christine

Easy-ReadersFassung

.

la maison assoziatives Frameles Pèlerins, établir le royaume de Dieu, la System christliche maison puritaine, les préceptes, les livres des puritaine, prier, Religion & Spiritualität Psaumes, la lumière (x), le combat intérieur, Noël surnaturelle, une auréole, une apparition, le sacrifice, prier, jurer sur la Bible (x), la tentation, une inscription biblique, la conscience, le verset, Noël

.

Bibelzitate bzw. Anspielung auf Bibelstellen

Espère en Dieu seul (CL, ); Quand je marcherai dans la Vallée de l’Ombre de la Mort, je ne craindrai aucun mal (CL, )



.

Analogie zwischen der Akustik in einer Kirche und der Akustik im Sommerhaus des Erzählers

Je me souviens que toutes les pièces paraissaient vides, tant elles étaient spacieuses, et que la voix y avait un son qu’elle n’avait pas à la ville, dans l’appartement que nous habitions à Boston. Était-ce un écho ? Elle semblait frapper les murs et l’on avait l’impression que quelqu’un à côté reprenait la fin des phrases. Je m’en amusai d’abord, puis j’en fis la remarque à ma mère qui me conseilla de ne pas y faire attention, mais j’eus l’occasion d’observer qu’elle-même parlait, ici, moins qu’elle n’en avait l’habitude et plus doucement. (CL, )



.

Symbolische Bedeutung des Namens Christine

«Der Name leitet sich [. . .] von dem griechischen Wort christós (der Gesalbte) ab und bedeutet im übertragenen Sinne die Christin: Anhängerin des Glaubens an Jesus Christus» (‹https://de.wikipedia. org/wiki/Christine› [letzter Zugriff: ..]).

.

Relationen mit Zeichen in anderen Texten: Die Beschreibung der Wirkung von Christines Schönheit auf den Erzähler bedient sich der Worte, mit denen Mystiker über Gott sprechen (cf. EberleWildgen , )

Comme je m’approchai de Christine, je dus me Christine était retenir pour ne pas pousser un cri d’admiration. belle, si belle La beauté [. . .] m’a toujours ému des sentiments que . . . les plus forts et les plus divers et il en résulte une sorte de combat intérieur qui fait que je passe, dans le même instant, de la joie au désir et du désir au désespoir. Ainsi je souhaite et je redoute à la fois de découvrir cette beauté qui doit me tourmenter et me ravir, et je la cherche, mais c’est avec une inquiétude douloureuse et l’envie secrète de ne pas la trouver. (CL, )

517

4.5 Reduktion von Ambiguität und Wissensanforderungen

Tab. 72 (fortgesetzt ) Art der Anspielung

Originalfassung von Christine

Easy-ReadersFassung

.

Relationen mit Zeichen in anderen Texten (Bibel): Lichtmetaphorik in der Beschreibung Christines erinnert an Gottes-, Engels- oder Heiligenerscheinungen

Une immense auréole de cheveux blonds semblait recueillir en ses profondeurs toute la lumière qui venait de la fenêtre et donnait au front et aux joues une teinte presque surnaturelle. Je contemplai en silence cette petite fille dont j’aurais été prêt à croire qu’elle était une apparition, si je n’avais pris dans ma main la main qu’elle m’avait tendue. (CL, )

. . . je l’ai contemplée en silence. (CL-ER, )

.

Vorangestelltes Motto: Verse aus Wordsworth’ Phantom of delight ()

She was a Phantom of delight When first she gleamed upon my sight A lovely apparition sent To be a moment’s ornament. (CL, )

.

Indirekte Zeichenfunktion: Zeichen – Bezeichnetes – Symbolisiertes in Bezug auf la bague / l’anneau und le saphir

Jean schenkt Christine einen Saphirring, den er im Koffer seiner Tante findet. Das Mädchen steckt ihn an seinen Daumen und kann ihn nicht mehr abnehmen. Nach Christines Tod trägt die Tante diesen Ring. Der Ring ist «Zeichen der Liebe [und] der festen Bindung» (Vogelgsang , ). Der Saphir ist «Symbol der Gottesnähe, der Tugend, der Keuschheit und (metonymisch) des Himmels» (Rohner , ).

.

Spiel mit Analogie & symbolischer Bedeutung: Die Briefe als Träger von Sprache, dieser «doigt de papier», wird durch einen echten Finger (Christines) ersetzt; damit wird die ursprüngliche Funktion des Rings wiederhergestellt: Anzeigen der ewigen Verbundenheit zweier Menschen (cf. Ziegler , s.)

On avait passé dans cette bague un rouleau de lettres, pareil à un doigt de papier, et que j’en arrachai en le lacérant. (CL, ) [. . .] Tout à coup elle agita la main : la bague avait passé. Elle l’admira quelques minutes [. . .]. (CL, )





Puis elle a agité la main : la bague avait passé. Elle l’a admirée [. . .]. (CL-ER, )

518

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Die Gegenüberstellung der entsprechenden Passagen zeigt deutlich, dass in der Easy-Readers-Fassung der Großteil der Evokationen durch Kürzungen bzw. knapp resümierende Ersetzungen verloren geht. Erhalten bleiben im Wesentlichen die an die Lexeme Christine, la bague und le saphir geknüpften symbolischen Bedeutungen, wobei diese im Falle des Vornamens der Protagonistin sowie des Saphirs im Original aufgrund der Vielzahl religiöser Anspielungen wohl leichter wahrgenommen werden als in der vereinfachten Fassung. Auch die Filler des sehr dominanten Frames Erziehung fallen in der EasyReaders-Fassung deutlich spärlicher aus als im Original, was die folgende Übersicht illustriert: Tab. 73: Gegenüberstellung der Filler des Frames Erziehung in der Original- und Easy-ReadersFassung von Christine. SLOTS

Verbote

Filler des Frames Erziehung in der . . . Originalfassung von Christine

Easy-Readers-Fassung

Je priai ma mère de me dire pourquoi Christine n’était pas descendue à déjeuner, mais elle prit aussitôt un air sérieux et me répondit que je n’avais pas à le savoir et que je ne devais plus parler de Christine à personne. (CL, )

J’ai prié ma mère de me dire pourquoi Christine n’était pas descendue à déjeuner, mais elle m’a répondu que je n’avais pas à le savoir et que je ne devais plus parler de Christine à personne. (CL-ER, )

Disziplinierungsmaß- Religion (!): nahmen «C’est très sérieux, mais j’ai confiance en toi, reprit ma mère en me regardant d’un air soupçonneux. Pourrais-tu me jurer sur la Bible que tu ne monteras pas au premier ?» Je fis un signe de tête. (CL, ) Reaktion auf Ungehorsam des Kindes

Enfin [. . .] je demandai avec brusquerie ce qu’il était advenu de la petite fille et pourquoi elle ne paraissait ni à déjeuner, ni à dîner. La réponse me vint sous la forme d’un soufflet de ma mère qui me rappela par ce moyen toutes les instructions qu’elle m’avait données. (CL, )



Enfin j’ai demandé ce qui était arrivé à la petite fille et pourquoi elle ne paraissait ni à déjeuner, ni à dîner. La réponse m’est venue sous forme d’un soufflet de ma mère. (CL-ER, s.)

4.5 Reduktion von Ambiguität und Wissensanforderungen

519

Tab. 73 (fortgesetzt ) SLOTS

Filler des Frames Erziehung in der . . . Originalfassung von Christine

Easy-Readers-Fassung

Kontrolle

Plusieurs fois [. . .] l’idée me vint d’attirer l’attention de Christine et de la faire venir à sa fenêtre, mais je n’avais pas plus tôt fait le geste de lancer de petits cailloux contre ses carreaux qu’une voix sévère me rappelait au salon ; une surveillance étroite s’exerçait sur moi, et mon plan avortait toujours. (CL, s.)

Plusieurs fois l’idée m’est venue de jeter de petits cailloux contre les carreaux de Christine et de la faire venir à la fenêtre, mais, chaque fois, quelqu’un me rappelait au salon. (CL-ER, )

Kritik

ausschließlich negativer Art: Je perdais mes couleurs et des ombres violettes commençaient à cerner mes paupières. Ma mère me regardait attentivement lorsque j’allais la voir, le matin, et quelquefois me prenant par le poignet d’un geste brusque elle disait d’une voix qui tremblait un peu : «Misérable enfant !» Mais cette colère et cette tristesse ne m’émouvaient pas. Je ne me souciais que de Christine. (CL, s.)



Die hochgradig polyvalente und rätselhafte Novelle Christine beinhaltet bereits viele Themen, die Green während seiner langen Schaffensperiode umtreiben. Es ist an dieser Stelle unmöglich, eine umfassende, alle denkbaren Lesarten berücksichtigende Interpretation dieses Frühwerks anzugeben. Im Folgenden sollen aber einige mögliche Lesarten der Erzählung, die Eberle Wildgen (1993) und Ziegler (1989) auf der Grundlage des Textes und des Gesamtwerkes von Green auf überzeugende Weise konstruieren, kurz skizziert werden und es soll angegeben werden, auf welche der soeben aufgeführten Evokationen in Verbindung mit welchen Handlungselementen sie sich stützen. So wird deutlich werden, welche Sinnschichten der Easy-Readers-Fassung aufgrund des Tilgens besagter Evokationen verloren gehen und welcher Preis somit für die hier betriebene Reduktion von Komplexität zu zahlen ist. Zu einer ersten hermetisch verdeckten Lesart von Christine gelangt man, wenn man die Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler und seiner Mutter, den

520

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Frame Erziehung, das Alter der jugendlichen Protagonisten, den puritanischen Hintergrund der Familie, die symbolische Bedeutung des Rings, den Jean Christine schenkt, und einige explizit formulierte Eindrücke und Gefühle des Erzählers verknüpft. So kann man die Novelle als Illustration eines Machtkampfes zwischen Jeans Mutter und ihrem halbwüchsigen Sohn deuten, den letzterer gewinnt. Jean und Christine sind 13 Jahre alt, als sie sich begegnen, und stehen somit am Beginn der Pubertät, einer Lebensphase, in der die Jugendlichen ihre eigene Sexualität entdecken. Jean ist offensichtlich überwältigt von Christines Schönheit, verliebt sich in das faszinierende Mädchen und ist besessen von dem Wunsch, ihr nochmals physisch nah zu sein. Mutter und Tante haben diese aufkeimende Liebe bemerkt, und gerade die Tante unterstellt ihrem Neffen amouröse Absichten, was die folgende Einschätzung des Erzählers – die allerdings in der Vereinfachung getilgt wird – unschwer zu erkennen gibt: «Ce manège innocent déplut à ma tante qui devinait en moi, je crois, plus d’intentions que je ne m’en connaissais moi-même» (CL, 7).

Eberle Wildgen (1993, 82) unterstellt den beiden Schwestern gar «puritanical obsession with sex that keeps the two youngsters apart». Dieses konsequente Fernhalten versucht gerade die Mutter des Ich-Erzählers mit sehr strengen Erziehungsmaßnahmen zu erreichen, die im Original sehr viel deutlicher und ausführlicher geschildert werden als in der vereinfachten Fassung (cf. tabellarischer Frame): Jeans Mutter kontrolliert und überwacht ihren Sohn, bestraft Ungehorsam mit Ohrfeigen und setzt sogar die Bibel als Disziplinierungsmittel ein. In einem physischen Sinne gewinnen sie und ihre Schwester den Machtkampf mit dem Ich-Erzähler, denn es gelingt ihnen ja, die Kinder voneinander fernzuhalten und ihre Liebe zu unterbinden. Die Tatsache, dass Tante Judith nach Christines Tod den Ring am Finger trägt, den Jean ihrer Tochter geschenkt hatte, unterstreicht das auch auf symbolischer Ebene. Gleichzeitig verliert die Mutter aber auf emotionaler Ebene die Macht über ihren Sohn. Letzterer erklärt im Original (!) in aller Deutlichkeit, dass ihn die Wut und Traurigkeit seiner Mutter nicht mehr berühren und er sich nur noch für Christine interessiert: «Mais cette colère et cette tristesse ne m’émouvaient pas. Je ne me souciais que de Christine» (CL, 8).

Auch dieser für die vorgestellte Lesart zentrale Satz fehlt in der Easy-ReadersFassung. Allerdings unterstreicht auch Jeans wiederholter Ungehorsam, dass der Junge auf dem Weg der Befreiung von der mütterlichen Autorität ist (cf. Eberle Wildgen 1993, 29s.). Eberle Wildgen (1993, 30) schlägt deshalb u.a. die folgende Deutung der Novelle vor:

4.5 Reduktion von Ambiguität und Wissensanforderungen

521

«The message seems to be that children grow up into physically, sexually and emotionally mature adults even though their parents resist this process with all their might».

Diese Lesart ist noch in Ansätzen aus der Easy-Readers-Fassung von Christine konstruierbar, doch machen die reduzierten Frames Erziehung sowie christliche Religion & Spiritualität und das Fehlen der soeben zitierten zentralen Sätze ihre Inferenz deutlich schwieriger. Da die Vereinfachung weniger der genannten Hinweise enthält, muss ihr Leser letztlich komplexere Inferenzen ziehen und mehr Wissen, z.B. zur Sittenstrenge puritanischer Familien oder Greens rekurrenten Themen, mitbringen, um die Lesart, die um den Machtkampf zwischen Mutter und Sohn kreist, auch auf Grundlage der Easy-Readers-Fassung aufzubauen. Die im Folgenden vorzustellenden «religiösen» Lesarten der Novelle hingegen sind aufgrund des Tilgens fast aller religiösen Andeutungen in der Easy-ReadersFassung aus letzterer nicht mehr rekonstruierbar, was zu einer sehr effektiven Reduktion von Komplexität in Bezug auf die Merkmale «Andeutungen/Evokationen», «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» sowie «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» führt. Kennern des Werkes von Julien Green ist bekannt, dass der Autor seinen Kampf mit dem Glauben und den Konflikt zwischen Körper und Seele bzw. sexueller Leidenschaft und spiritueller Sehnsucht häufig in seinen Werken austrägt (cf. Eberle Wildgen 1993, 3). Dies deutet sich bereits in seinem Frühwerk Christine an, wenn man die zahlreichen oben aufgeführten religiösen Evokationen, die Attribute Christines, die Art, wie das Mädchen beschrieben wird, die symbolische Bedeutung ihres Namens und des Saphirrings sowie die Verse von Wordsworth, die der Novelle als Motto vorangestellt wurden, miteinander verknüpft. Eine zweite symbolisch verschlüsselte Deutung der Novelle erlaubt dann nämlich, Jeans Mutter und Christine als zwei konträre Pole der christlichen Religion zu deuten. Aufgrund der omnipräsenten Bibelsprüche und der besonderen Akustik des Sommerhauses (cf. Evokation 3) erinnert es an eine Kirche, in der die gläubige und sittenstrenge Mutter des Erzählers agiert. Die Religion dient ihr auch als Disziplinierungsmittel, denn sie verlangt von ihrem Sohn, auf die Bibel zu schwören, dass er sich Christine nicht nähern werde (cf. Frame Erziehung). Diese Aspekte erlauben es, die Mutter des Erzählers als Verkörperung der Gesetzesreligion, der institutionalisierten Religion, zu deuten, die von den Gläubigen Gehorsam verlangt (cf. Eberle Wildgen 1993, 83). Christine hingegen repräsentiert eine andere Seite der Religion, nämlich die Herrlichkeit Gottes und seine Liebe zu den Menschen, die bei den Gläubigen Leidenschaft entfachen soll (cf. ib., 83). Für diese Interpretation sprechen zunächst ihr Name, der sie als Gesalbte kennzeichnet (Evokation 4), die Gottesnähe, die ihr durch den Saphir zugesprochen wird

522

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

(Evokation 8), und die Lichtmetaphorik in ihrer Beschreibung, die an Heiligenerscheinungen erinnert (Evokation 6). Des Weiteren charakterisieren die Verse Wordsworth’ sie als phantom of delight und lovely apparition (Evokation 7), und Jean bedient sich der Worte, mit denen Mystiker über Gott sprechen (cf. EberleWildgen 1993, 67), um die widersprüchliche Wirkung ihrer Schönheit auf sich selbst zu schildern. Aufgrund des Tilgens der Verse Wordsworth’ und vor allem aufgrund der Reduzierung der eindringlichen Beschreibung von Christines überirdischer Schönheit mitsamt ihren Evokationen auf das lapidare «Christine était belle, si belle que je l’ai contemplée en silence.» (CL-ER, 8) in der Easy-ReadersFassung ermöglicht letztere definitiv nicht die Lesart, dass Christine und Jeans Mutter zwei konträre Pole der Religion (Liebe und Leidenschaft vs. Gebote und Gehorsam) verkörpern, die an Jeans Herz zerren (cf. Eberle Wildgen 1993, 82) und ihn in Gewissenskonflikte stürzen. Eine dritte symbolisch verschlüsselte Lesart stützt sich ebenfalls auf die soeben erwähnten und in der Easy-Readers-Fassung getilgten Evokationen sowie Christines Attribute Stummheit und seherische Fähigkeiten. Ohne profundes Wissen zum Autor und dem von ihm mehrfach thematisierten Konflikt zwischen Körper und Seele ist diese Lesart aber auch auf der Grundlage des Originals nur schwer zu inferieren. Gemäß Green ist die Seele der Sitz des Unsagbaren und als solcher von transzendenter Schönheit (cf. ib., 72). In Anbetracht der Tatsache, dass Christine in der Originalfassung als übernatürlich schön beschrieben wird, in die Nähe Gottes gerückt wird, stumm, aber mit visionärer Kraft ausgestattet ist, kann man sie als Metapher für die menschliche Seele deuten, die – ebenso wie das Mädchen – in der Lage ist, die Wahrheit zu begreifen, aber unfähig, sie zu kommunizieren (cf. ib., 68). Der 13-jährige pubertierende Jean wiederum symbolisiert den Körper, und seine Begegnung mit Christine ist in dieser Perspektive interpretierbar als die aufkeimende Erkenntnis der Dualität des Menschen, der aus Körper und Seele besteht. Jeans Streben nach einer Vereinigung mit Christine würde angesichts ihrer visionären und seiner kommunikativen Fähigkeiten eine geniale Deutungskompetenz kreieren (cf. ib., 67). Dieser Versuch scheitert jedoch, was wiederum die Unfähigkeit des Körpers symbolisiert, die Seele zu erkennen und perfekte Harmonie mit ihr herzustellen (cf. ib., 68). Eine letzte mögliche symbolische Lesart von Christine, die an dieser Stelle vorgestellt werden soll, konzentriert sich auf die Bedeutung – oder vielmehr den Mangel an Bedeutung – menschlicher Sprache in Greens Frühwerk. Gemäß Ziegler (1989, 66) stellen die Leerstellen und die Abwesenheit von Sprache – also wichtige Ursachen für die Komplexität der Novelle – ihr eigentliches Thema dar: «the failure of language itself is the subject of Green’s writing». Es wurde bereits mehrmals darauf hingewiesen, dass dieser

4.5 Reduktion von Ambiguität und Wissensanforderungen

523

Mangel aus Christines Stummheit, der Informationsverweigerung durch Mutter und Tante sowie der Ansicht des Erzählers resultiert, dass es manchmal besser sei, die Wahrheit ruhen zu lassen. Ziegler (1989, 66) konstatiert sehr treffend, dass die Welt des Ich-Erzählers von «talking things and taciturn people» umgeben sei. Zu den talking things zählen an erster Stelle Christine selbst, die aufgrund ihrer Stummheit zum Objekt gemacht wird (cf. ib., 66s.), die Steine, die Jean an ihr Fenster wirft, um mit ihr in Kontakt zu treten, der Saphirring, den er ihr schenkt und der sich schließlich am Finger der Tante wiederfindet, die Briefe (jener doigt de papier), die zunächst von dem Ring zusammengehalten werden, die Schaufeln voller Sand, die auf das vereiste Pflaster fallen etc. Diese vom Erzähler unkommentierten talking things sind die einzigen echten Bedeutungsträger der Novelle, was gemäß Ziegler zeigt, dass die Substanz der Dinge nur dann erfasst werden könne, wenn sie unausgesprochen blieben (cf. ib., 69). Die einzige Möglichkeit für einen Autor, mit dieser «linguistic infirmity» (ib., 69) umzugehen, sei also, sich zum Medium zu machen und auf diese Weise einen transzendenten Text zu generieren: «[. . .] the author is merged with a text without meaning, is a victim of the works he produces. This devaluation of writers and frustration of characters must endure until both can acknowledge that language is not a vehicle by which human meanings are told and received. Instead one should act as a medium whose function is to reveal a transcendent text and become that through which God’s words are transmitted and are thereby more fully accomplished» (ib., 70).

Neben der gescheiterten Autor- und Erzählersprache enthält Christine aber in Gestalt der religiösen Allusionen und Bibelsprüche, denen der Erzähler in der vieille maison puritaine überall begegnet, Verweise auf eine andere Sprache: die transzendente Sprache Gottes (cf. ib., 69). So gelangt Ziegler schließlich zu der Deutung, dass die zu Beginn der Novelle zitierte, nicht umsonst in Stein gemeißelte Botschaft Espère en Dieu seul die Hoffnungslosigkeit überwinden könne, die das Offenlegen der infirmity der menschlichen Sprache zunächst bewirke: «Thus the hopelessness seen in Green’s earliest work, his denouncing authorial language, is redeemed from the start by the text that he copies, by the message: ‹Espère en Dieu seul› (Christine, p. 3)» (Ziegler 1989, 70).

Auch in Bezug auf diese überzeugende Deutung Zieglers ist festzuhalten, dass die Easy-Readers-Version das Erfassen der einen Seite der Medaille – Fehlen und Bedeutungslosigkeit der menschlichen Sprache – wohl noch in Ansätzen

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4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

erlaubt. Da sie aber die religiösen Evokationen, die Bibelzitate, den gesamten Frame christliche Religion & Spiritualität im Prinzip auf die drei Lexeme puritaine, prier und Christine reduziert, ist der Stellenwert der Sprache Gottes für das Erkennen von Wahrheit nicht mehr ersichtlich, so dass wieder eine wesentliche Bedeutungsschicht des Originals verloren geht. Wenn man zum Abschluss dieser Analyse der Reduktion von Ambiguität und Komplexität in der Easy-Readers-Fassung von Christine nochmals alle 14 Komplexitätskategorien in den Blick nimmt, dann stellt sich die vereinfachte Version in einem umfassenden Maße als deutlich weniger komplex dar als das Original. Dies wird – wie oben erläutert – in erster Linie dadurch erreicht, dass mehrere deskriptive Passagen und Erzählerkommentare des Originals mitsamt ihren Anspielungen, Analogien und Präsentationen von talkings things, die Zitate aus anderen Werken sowie die breit gestreuten Filler des Frames Religion & Spiritualität gestrichen oder auf ein Minimum reduziert werden, was gleichzeitig die darauf basierenden symbolischen Lesarten löscht. In den Passagen, die zum Großteil übernommen werden, werden weiterhin komplexe Phänomene der sprachlichen Oberfläche konsequent modifiziert, obgleich die wortsemantische Komplexität des Originals mit einem Anteil von 1,5% hochkomplexer Lexeme und 371 token (8,9%) außerhalb des Aufbauwortschatzes im Korpuskontext eher gering ausgeprägt ist. Auf der Ebene von Satzsemantik und Syntax sowie hinsichtlich der Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen ist die Originalfassung von Christine komplexer. Sie enthält immerhin 37 Gérondif- und Partizipialkonstruktionen, einige Satz-Frames mit offenen Slots, die zur kontextabhängigen IMPLIZITHEIT zählen, eine äußerst geringe Anzahl von kausalen Konjunktionen sowie grammatikalische Formen, die der gehobenen Schriftsprache angehören, wie z.B. den Subjonctif imparfait. Diese seltenen Formen sowie 35 von 37 Gérondif- und Partizipialkonstruktionen werden in der Easy-Readers-Fassung getilgt bzw. durch alternative Ausdrucksformen ersetzt. Das Offenlassen zentraler Slots der Handlungs- und Figuren-Frames führt sowohl im Original als auch in der Vereinfachung, die dem Ausgangstext schließlich nichts hinzufügt, zu erhöhten Komplexitätswerten in Bezug auf die Kategorien «Leerstellen/Aussparungen», «suppletive Kontextbildung» sowie (in geringerem Maße) «Kohäsion & lokale Kohärenz». Dass die Vereinfachung nur einen Bruchteil der Anspielungen und Evokationen des Originals enthält und damit zahlreiche Bedeutungsschichten einbüßt, ist in der obigen Analyse deutlich geworden. Damit reduzieren sich folglich auch die Komplexitätswerte der Kategorien «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» sowie «Anforderungen an das einzelsprachliche und lebensweltliche Wissen» deutlich, wenngleich nicht ganz so drastisch wie erwartet. Einschränkend ist hier nämlich festzuhalten, dass aufgrund des Streichens

4.5 Reduktion von Ambiguität und Wissensanforderungen

525

wichtiger Erzählerkommentare sowie von Analogien und Evokationen das Inferieren einer kohärenten wörtlichen Lesart sowie der «Machtkampf-Interpretation» in der Easy-Readers-Fassung anspruchsvoller werden. Die Komplexität hinsichtlich der Kategorien «Umgang mit den Grice’schen Maximen», «Anforderungen an das elokutionelle Wissen» sowie «Frames/FrameSysteme & die Etablierung von Themen» fällt ebenfalls geringer aus. Auch in der Vereinfachung dieser nicht-mimetisch erzählenden Novelle müssen deutliche Abweichungen von unserer normalen Kenntnis der Sachen und des üblichen, nicht-verrückten Verhaltens (cf. Coseriu 1988/2007, 96) (z.B. das Einsperren Christines, das pedantische Fernhalten der Kinder voneinander u.ä.) sowie empfindliche Verstöße gegen die Quantitätsmaxime festgestellt werden. Allerdings fallen die Verstöße gegen die 3. Untermaxime der Modalität (Vermeide Dunkelheit des Ausdrucks) aufgrund der getilgten Evokationen und Analogien deutlich weniger ins Gewicht. Aus der Tatsache, dass die wesentlichen Themen und Lesarten von Christine nicht durch umfangreiche Frames angezeigt werden, sondern aus assoziativen Frame-Systemen und Andeutungen inferiert werden müssen, erwächst eine erhöhte Komplexität bezüglich der Kategorie «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen». Diese fällt in der Vereinfachung ebenfalls geringer aus, da letztere sowohl weniger Lesarten als auch weniger Andeutungen aufweist. Was die Bewertung der Komplexitätskategorie «Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen» betrifft, muss man kritisch fragen, ob es sich bei der Easy-Readers-Fassung von Christine noch um eine symbolische Novelle im Sinne Blühers handelt. Enthält diese um 58% gekürzte und vereinfachte Fassung noch «hermetisch-verdeckte» und «symbolisch verschlüsselt[e]» (Blüher 1985, 230) Bedeutungsebenen? Da gemäß obiger Analyse der Easy-ReadersVersion der Machtkampf zwischen dem Ich-Erzähler und seiner Mutter sowie die Kritik an der Inadäquatheit der menschlichen Sprache noch in Ansätzen als Themen und mögliche Bedeutungsschichten erkennbar sind, kann man die Frage unter Vorbehalt mit ja beantworten und für Original und Vereinfachung denselben Komplexitätswert (4) für die Kategorie des diskurstraditionellen Wissens vergeben. Wie deutlich wurde, formt die symbolische Novelle des 20. Jahrhunderts zahlreiche Aspekte von Textualität und weist mindestens einen mittleren Grad an kultureller Spezifizierung auf. Die folgende Gegenüberstellung der Komplexitätsprofile der Original- und der Easy-Readers-Version von Christine erlaubt es schließlich, mit einem Blick zu erfassen, wie deutlich und umfassend in diesem Fall die Komplexität des Originals durch Kürzungen und knappe resümierende Ersetzungen reduziert wurde:

526

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Komplexitätsprofil der Originalfassung von Christine

6

Komplexitätsprofil der Easy-Readers-Fassung von Christine

6

5

5

4

4

3

3

2

2

1

1

0

0 FB L

A M SK FT KK W S EW IW DW LW 2.E

FB L

A M SK FT KK W S EW IW DW LW 2.E

FB: Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen; L: Leerstellen/Aussparungen; A: Andeutungen/Evokationen; M: Umgang mit den Maximen; SK: suppletive Kontextbildung; FT: Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen; KK: Kohäsion & lokale Kohärenz; W: Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik; S: Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik; EW/IW/DW/LW: Anforderungen an das elokutionelle, einzelsprachliche, diskurstraditionelle und lebensweltliche Wissen; 2.E: Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene. Schema 18: Gegenüberstellung der Komplexitätsprofile der Original- und der Easy-ReadersVersion von Christine.

Im Fall von Christine drängt sich allerdings die Frage auf, ob die zweifelsohne effektive Reduktion der hohen semantischen Komplexität des Originals durch Tilgungen und Ersetzungen der Passagen, an die weitreichende Evokationen geknüpft sind, sinnvoll ist, und ob die Easy-Readers-Fassung der Novelle für ihre Rezipienten über den reinen Umgang mit der französischen Sprache hinaus noch irgendeinen Reiz oder Nutzen bietet. Letztlich wird hier eine hochkomplexe symbolische Novelle, die immense Anforderungen an das Wissen und die Textkompetenz ihrer Rezipienten stellt, auf ihr Handlungsgerüst heruntergebrochen. Diese Handlung ist aber – wie es für nicht-mimetisch erzählende Texte charakteristisch ist – äußerst unbefriedigend, fast belanglos und liefert ohne die angesprochenen Evokationen kaum Hinweise auf die eigentlichen Themen bzw. Bedeutungen des Textes. So bleiben von dieser hochgradig polyvalenten Erzählung bestenfalls zwei symbolische Lesarten in stark beeinträchtigter Form erhalten, die eher erraten als auf der Textgrundlage konstruiert werden können. Dieses große Problem bei der Reduktion von semantischer Komplexität literarischer Texte, insbesondere solcher, die eine Vielzahl von möglichen Zeichenrelationen aktualisieren, soll an dieser Stelle zunächst aufgezeigt werden. Die möglichen Konsequenzen für die Reduktion von Komplexität in literarischen Texten werden in Abschnitt 4.7 sowie am Schluss dieser Arbeit erörtert.

4.6 Rückschluss auf komplexe Aspekte des Wissens

527

4.6 Rückschluss auf komplexe Aspekte des einzelsprachlichen und lebensweltlichen Wissens aus den Vereinfachungen und Annotationen Im Verlauf dieser Arbeit wurde wiederholt auf die immense Bedeutung des Wissens der Rezipienten zur Erfassung des Textsinns hingewiesen, die den 3. Komplexitätsfaktor, Anforderungen an das WISSEN der Rezipienten, motivierte. Dieser 3. Komplexitätsfaktor bestimmt in entscheidendem Maße die semantische und diskurstraditionelle Komplexität eines Textes, da die Präsenz der ersten beiden Faktoren, ABWEICHUNGEN und kontextabhängige IMPLIZITHEIT, grundsätzlich auch eine hohe Ausprägung des Faktors WISSEN mit sich bringt. Es ist jedoch sehr schwierig einzuschätzen, wie «komplex» das Wissen ist, auf das ein Text anspielt und das der Rezipient für dessen Bedeutungskonstruktion mitbringen muss. Für den Bereich des diskurstraditionellen Wissens konnten unter Rückgriff auf die Arbeiten von Schrott (2015) und Koch (1997) begründete Differenzierungen hinsichtlich der Komplexität vorgenommen werden. So spricht es beispielsweise für eine hohe Komplexität, wenn die Diskurstraditionen, die einen Text anleiten, auf einer definitorischen Setzung beruhen, ein hohes Maß an kultureller Spezifizierung aufweisen und zahlreiche Dimensionen von Textualität formen bzw. beeinflussen (cf. Schrott 2015, 105s.). Bei der Einschätzung der Anforderungen an das elokutionelle Wissen hilft die Beobachtung Coserius, dass wir uns der allgemein-sprachlichen Normen vor allem in negativer Hinsicht bewusst werden (cf. Coseriu 1988/2007, 127). Sobald ein Text also Inkongruenzen aufweist, sind dies Indizien für nötige Interpretationsleistungen und erhöhte Anforderungen an das elokutionelle Wissen. Was den Bereich des einzelsprachlichen Wissens, insbesondere des lexikalischen Wissens betrifft, so erlaubten Coserius Aussagen zu den eingeschränkten Kenntnissen der Sprecher einer historischen Einzelsprache über deren Varietäten (cf. Coseriu 1988/2007, 148ss.) sowie empirische Erkenntnisse über «Normaltexte» (cf. Adamzik 2001/2010, 136ss.) die Einschätzung, dass Archaismen, Historizismen, Regionalismen, Fachtermini sowie Soziolekt- und Situolekt-Wörter erhöhte Anforderungen an das Wissen der Rezipienten stellen. Auch grammatikalische Phänomene, die auf eine bzw. wenige Varietäten oder Textsorten beschränkt sind, können in diesem Sinne als komplex bewertet werden. Problematisch bleibt jedoch die Einschätzung der Komplexität des lebensweltlichen Wissens, das die Sinnkonstitution eines Textes erfordert. Zunächst kann diese Beurteilung nicht nur mit Methoden der Sprachwissenschaft erfolgen und sie kann auch nicht losgelöst vom Rezipienten und seinem gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen und historischen Hintergrund geschehen. Folglich ist die Bewertung bestimmter Wissenskontexte als komplex nur relativ zu einer

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4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

gegebenen Rezipientengruppe möglich. Auch das alltägliche Erfahrungswissen oder Allgemeinwissen ist schließlich kulturell, historisch und gesellschaftlich determiniert. Wenn man sich auf ein Land beschränkt, dann mag der Bezug auf die Lehrpläne allgemeinbildender Schulen Aufschluss über das voraussetzbare Allgemeinwissen geben. In der Regel reduzieren Experten die Wissensbestände ihres Faches auf Grundlegendes und Allgemeines, auf relativ wenige Kenntnisse fundamentaler Art und entsprechende Methoden, die dann in das jeweilige Unterrichtsfach Eingang finden (cf. Neuner 1999, 8). Allerdings garantiert die Präsenz bestimmter Wissensbestände in den Lehrplänen noch lange nicht die Verfügbarkeit dieses Wissens bei den Rezipienten und somit gering ausgeprägte Komplexität der jeweiligen Kenntnisse. Angesichts dieser Schwierigkeiten konnten in dieser Arbeit bei der Erstellung von Komplexitätsprofilen notwendigerweise nur individuelle Schätzurteile abgegeben werden, wenn die Anforderungen an das lebensweltliche Wissen beurteilt wurden, die ein Text an seine Rezipienten stellt. In einigen Fällen wurden zwar Lehrpläne diverser Fächer konsultiert, um Abgrenzungen von Allgemein- und Expertenwissen zu ziehen, was aber aus den genannten Gründen auch keine verlässliche Einschätzung gestattet. Vor denselben Problemen bei der Beurteilung der Verfügbarkeit bestimmter Wissensbestände stehen natürlich die Redakteure von Easy-Readers-Fassungen oder annotierten Versionen eines literarischen Textes. Unser Korpus beinhaltet annotierte, aber nicht vereinfachte Novellen, die für den Einsatz im fortgeschrittenen Französischunterricht im deutschsprachigen Raum konzipiert wurden, und Easy-Readers-Fassungen, die sich an Französischlerner unterschiedlichster Nationalität richten. Die jeweiligen Redakteure tilgen und ersetzen Passagen oder annotieren Wörter und Ausdrücke, die sie als schwierig für ihre jeweilige Rezipientengruppe, also zumeist jugendliche L2-Lerner des Französischen, erachten. Ihre Einschätzungen der Verfügbarkeit bestimmter Wissensbestände bei ihrem Rezipientenkreis lassen somit auch keinen Rückschluss auf universelle Komplexitätsunterschiede hinsichtlich des einzelsprachlichen und lebensweltlichen Wissens zu. Dennoch ist es in vielfacher Hinsicht aufschlussreich festzustellen, dass aus den Urteilen mehrerer Personen gewisse Muster, aber auch Inkonsistenzen resultieren im Hinblick auf das voraussetzbare und das bereitzustellende Wissen, die im Folgenden aufgezeigt werden sollen. Zu Beginn dieses Kapitels wurde bereits illustriert, dass hohe Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen, die aus der Verwendung von Archaismen, Historizismen, Regionalismen, Fachtermini und Soziolekt-Wörtern resultieren, in den annotierten Novellen und Easy-Readers-Fassungen systematisch abgemildert werden. Hinsichtlich des einzelsprachlichen Wissens soll deshalb im Folgenden nur analysiert werden, wie in den Easy-Readers-Fassungen mit bestimmten grammatikalischen Phänomenen umgegangen wird, nämlich den

4.6 Rückschluss auf komplexe Aspekte des Wissens

529

Formen des Subjonctif imparfait und plus-que-parfait, Gérondif- und Partizipialkonstruktionen, dem expletiven ne sowie der Verneinung durch ne ohne pas und dem Passé simple. Vereinfachungen im Bereich des elokutionellen Wissens und der Diskurstraditionen, die häufig zentrale semantische Aspekte eines Textes bestimmen, sind in der Regel mit den oben genannten Adaptionsstrategien schwer möglich und nur isoliert feststellbar, und längere erläuternde Texte zu bestimmten Genres sind in den untersuchten Ausgaben nicht üblich, weshalb dieser Bereich des Wissens im Folgenden ausgespart wird. Allenfalls die bereits analysierten deutlichen Kürzungen in Julien Greens Christine, die u.a. zur völligen Tilgung des Frames Religion führen, hebeln auch die Diskurstradition des mystischreligiösen Schreibens aus, und die Streichung des Prologs sowie einige Umformulierungen in der Easy-Readers-Fassung von La Mort du Dauphin führen durch die resultierende Aufhebung des Balladen-Charakters des Originals ebenfalls zu einer Entlastung des diskurstraditionellen Wissens. Es ist allerdings auch eher der Umgang der Redakteure mit dem schwer zu beurteilenden lebensweltlichen Wissen, der neue Erkenntnisse bringen könnte. Zu diesem Zweck berücksichtigen wir zum einen die Wissensbestände, die für eine adäquate Interpretation der Originaltexte unentbehrlich sind, für die Interpretation der Vereinfachungen aber verzichtbar, weil die Textpassagen, Evokationen oder Frame-Systeme, die darauf anspielen, in der Easy-Readers-Version getilgt wurden. Zum anderen untersuchen wir den Umgang der Redakteure mit den Lexemen, die in Kapitel 2.5.2 als komplex identifiziert wurden, weil sie potentiell hohe Anforderungen an das Weltwissen der Rezipienten stellen. Dazu gehören Eigennamen, die (historische) Personen, Orte und Institutionen der außertextuellen Realität bezeichnen, sowie Fachtermini, die tatsächlich regelmäßig Anlass für Annotationen geben. Im hier entwickelten Komplexitätsmodell werden allerdings auch geläufige Lexeme aus dem politischen oder religiösen Bereich, die einen großen Bedeutungsumfang haben und von unterschiedlichen Gruppen mit konträren Ideen und Bewertungen verbunden werden, wie z.B. la mondialisation, la patrie oder la croix, als komplex betrachtet. Hinsichtlich dieser Lexeme erfolgt in den Korpustexten jedoch überhaupt keine Vereinfachung, was vermutlich daran liegt, dass ihre Erläuterung den Platz sprengen würde, den Annotationen in den untersuchten Ausgaben in der Regel einnehmen.

Hohe Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen In allen sieben untersuchten Easy-Readers-Fassungen besteht unabhängig vom Grad der Vereinfachung (Série A, B, C oder D) völlige Einigkeit darüber, dass

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4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

das Imparfait sowie das Plus-que-parfait des Subjonctif hohe Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen der Rezipienten stellen. In den vereinfachten Fassungen findet sich tatsächlich keine einzige dieser Formen, was durch Tilgungen und alternative Formulierungen gelingt. Gemäß Le bon usage (1993) weist der Subjonctif in der gesprochenen Sprache sowie der gewöhnlichen Schriftsprache drei Zeiten auf: Présent, Passé und Passé surcomposé, während er in der Schriftsprache und insbesondere der literarischen Sprache vier Zeitformen hat, nämlich Présent, Passé, Imparfait und Plus-que-parfait. Die gehobene Schriftsprache verwendet den Subjonctif imparfait und plus-que-parfait im Satzgefüge, wenn das Verb des Hauptsatzes in einer Zeit der Vergangenheit steht. Ist in diesem Fall der Sachverhalt, der durch das Verb im Subjonctif ausgedrückt wird, gleichzeitig oder nachzeitig zu dem im Verb des Hauptsatzes ausgedrückten Sachverhalt, so steht das Imparfait du subjonctif, im Fall von Vorzeitigkeit das Plus-que-parfait. In der gesprochenen Sprache steht im ersten Fall der Subjonctif présent, im zweiten der Subjonctif passé (cf. Grevisse 1993, 1268ss.). Die folgende Tabelle enthält die Vorkommnisse des Subjonctif imparfait und plus-que-parfait in den Originaltexten, die in den Vereinfachungen adaptiert wurden. In der Easy-Readers-Version von Naïs Micoulin werden gemäß den unterschiedlichen Verwendungsregeln der Zeiten des Subjonctif in der gesprochenen Sprache sowie der eleganten Schriftsprache die Formen des Subjonctif imparfait im Original durch diejenigen des Subjonctif présent ersetzt, was die ersten drei Beispiele belegen: Tab. 74: Vermeidung des Subjonctif imparfait und plus-que-parfait in den Easy-ReadersFassungen.

Naïs Micoulin

Originalsatz mit einer Form des Subjonctif imparfait

Alternativer Satz in der Easy-ReadersFassung ohne Subjonctif imparfait

Mais cela n’empêchait pas que les deux enfants fussent très bons amis. (N, )

Mais cela n’empêchait pas que les deux enfants soient très bons amis. (N-ER, )

Son père lui défendait de descendre à L’Estaque, la tenait à la maison dans des occupations continuelles ; et, même lorsqu’elle n’avait rien à faire, il voulait qu’elle restât là, sous ses yeux. (N, )

Son père lui défendait de descendre à L’Estaque ;

Bien que le travail y fût très dur, Naïs était enchantée. (N, )

même lorsqu’elle n’avait rien à faire, il voulait qu’elle reste là, sous ses yeux. (N-ER, ) Bien que le travail dans la tuilerie soit dur, elle était contente de partir le matin. (N-ER, )

4.6 Rückschluss auf komplexe Aspekte des Wissens

531

Tab. 74 (fortgesetzt ) Originalsatz mit einer Form des Subjonctif imparfait [. . .] après avoir perdu six chèvres de la même manière, il en acheta une septième ; seulement, cette fois, il eut soin de la prendre toute jeune pour La Chèvre qu’elle s’habituât mieux à demeurer de M. Seguin chez lui. (C, )

Alternativer Satz in der Easy-ReadersFassung ohne Subjonctif imparfait [. . .] après avoir perdu six chèvres de la même manière, il en acheta une septième. Seulement, cette fois, il la prit toute jeune, espérant qu’elle s’habituerait mieux à vivre chez lui. (C-ER, )

Plus de corde ; plus de pieu . . . rien qui l’empêchât de gambader, de brouter à sa guise . . . (C, )

Plus de corde, plus rien pour l’empêcher de courir, de brouter comme elle le désirait. (C-ER, )

La Main

Je remarquai cependant que trois revolvers chargés étaient posés sur les meubles, comme si cet homme eût vécu dans la crainte constante d’une attaque. (M, )

J’ai noté cependant que trois revolvers chargés étaient posés sur les meubles, comme si cet homme vivait dans la crainte constante d’une attaque. (M-ER, )

La Parure

Elle eût tant désiré plaire, être enviée, être séduisante et recherchée. (Pa, )

Son plus grand désir était de plaire, d’être enviée et recherchée. (Pa-ER, )

Ma tante redescendit sans elle, nous prîmes notre repas sans elle et l’après-midi s’écoula sans qu’elle revînt au salon. (CL, )

Ma tante est redescendue sans elle, nous avons pris notre repas sans elle et, l’après-midi, elle n’est pas revenue au salon. (CL-ER, )

Je montai à ma chambre en toute hâte et fouillai dans mes tiroirs pour y trouver quelque chose, dont je pusse faire un cadeau, mais je n’avais rien. (CL, )

Je suis vite monté à ma chambre, et dans mes tiroirs, j’ai cherché quelque chose à lui offrir, mais je n’avais rien. (CL-ER, )

Christine

In den übrigen Fällen werden die originalen Satzgefüge, die eine Form des Subjonctif imparfait oder plus-que-parfait enthalten, so umformuliert, dass die zwingenden Subjonctif-Auslöser (z.B. die Konjunktionen pour que oder sans que oder die hypothetischen Relativsätze) getilgt werden und so in der bedeutungsähnlichen Alternativ-Formulierung auf den Subjonctif insgesamt verzichtet werden kann. Durch die Modifikation des zitierten Originalsatzes aus La Parure wird dem Rezipienten die Kenntnis eines auf die langue soignée beschränkten Phänomens erspart: die Verwendung des Plus-que-parfait du subjonctif in der Funktion eines Conditionnel passé (cf. Grevisse 1993, 1267). Die Begründung für die hohen Anforderungen, die die Formen des Subjonctif imparfait und plus-que-parfait an

532

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

das Rezipientenwissen stellen und die somit für ihre hohe Komplexität sprechen, wird in Le bon usage gegeben – es ist die Seltenheit dieser Formen, ihr komplettes Verschwinden aus der gesprochenen Sprache, die sie schwierig machen: «On parle parfois du déclin du subjonctif à propos du français moderne. Mais cela ne paraît pas fondé. [. . .] Ce qui est plus exact, c’est que certains temps du subjonctif, l’imparfait et le plus-que-parfait, ont à peu près disparu de la langue parlée et sont même concurrencés dans l’écrit [. . .]» (ib., 1265). «[. . .] c’est seulement la rareté de ces formes qui les rend surprenantes [. . .]. – C’est aussi leur rareté qui les rend difficiles» (ib., 1271).

Somit ist die konsequente Vermeidung dieser Formen in den Easy-Readers-Ausgaben eine richtige und aus Rezipientensicht hilfreiche Vereinfachung von Komplexität, die aus hohen Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen resultiert. Ein weiteres grammatikalisches Phänomen, das sehr viel häufiger vorkommt und nicht ebenso konsequent, aber doch regelmäßig Anlass für Modifikationen und Kürzungen der Originaltexte gibt, sind Gérondif- und Partizipialkonstruktionen. Die folgende Übersicht zeigt, dass letztere in den Easy-Readers-Versionen von Christine und Léviathan (Niveau A2) fast völlig getilgt werden. Die Anzahl der Partizipialkonstruktionen allein (unverbundene sowie verbundene in attributiver und adverbialer Funktion) wird in den Vereinfachungen von La Mort du Dauphin, Naïs Micoulin, La Main und La Parure ebenfalls drastisch reduziert: Tab. 75: Anzahl von Gérondif- und Partizipialkonstruktionen in Original- und Easy-ReadersFassungen. Anzahl der Anzahl der GérondifGérondifKonstruktionen Konstruktionen im Original in der ERFassung

Anzahl der Partizipialkonstruktionen im Original

Anzahl der Partizipialkonstruktionen in der ER-Fassung

La Mort du Dauphin









La Chèvre de M. Seguin









Naïs Micoulin









La Main









La Parure









Christine









Léviathan









4.6 Rückschluss auf komplexe Aspekte des Wissens

533

Die in Abschnitt 4.5.2 aufgezeigten Ersetzungen von Gérondif- und Partizipialkonstruktionen durch Adverbial- und Relativsätze zum Zweck der Aufhebung semantischer Vagheit haben nur einen geringen Anteil an den soeben präsentierten Zahlen. Sehr viel häufiger werden Gérondif- und verbundene Partizipialkonstruktionen radikal aus ihrem Satzgefüge gestrichen oder das Satzgefüge, das ein Gérondif oder Partizip enthält, wird durch juxtaponierte oder koordinierte Teilsätze ohne diese Strukturen ersetzt. Letzteres führt keineswegs zu einer semantischen Explizierung der logischen Verknüpfung zwischen den entsprechenden Propositionen, aber zu einer deutlichen syntaktischen Vereinfachung. Dasselbe gilt für das schlichte Streichen von Gérondif- oder Partizipialkonstruktionen, was die exemplarischen Beispiele in der folgenden Tabelle illustrieren: Tab. 76: Umgang mit Gérondif- und Partizipialkonstruktionen in den Easy-Readers-Fassungen.

Streichen einer Gérondif- oder Partizipialkonstruktion aus dem Satzgefüge

Ersetzen einer Gérondif- oder Partizipialkonstruktion durch einen koordinierten oder juxtaponierten (Neben-) Satz

Originalfassung

Easy-Readers-Fassung

«Ici, disait Suger en se renversant sur sa chaise, on sent vraiment qu’on est en mer : on ne fait pas un mouvement sans la voir.» (CL, )

Ici, disait Suger, on sent vraiment qu’on est en mer. (CL-ER, )

Puis, comme il lui prenait les mains, ayant l’air de jouer, ainsi qu’ils jouaient ensemble autrefois, elle devint sérieuse, elle le tutoya brusquement, en lui disant tout bas, d’une voix un peu rauque : «Non, non, pas ici . . . Prends garde ! Voici ta mère.» (N, )

Puis, comme il lui prenait les mains,

J’étais dans ma chambre, deux heures plus tard, quand ma mère entra portant sa capeline de voyage et un long châle de Paisley. (CL, )

J’étais dans ma chambre, deux heures plus tard, quand ma mère est entrée. Elle portait sa capeline de voyage et un long châle. (CL-ER, )

Les premiers jours, d’habitude, le jeune homme était pris d’un grand besoin d’exercice, grisé par l’air, allant en compagnie de Micoulin jeter ou retirer les filets, faisant de longues promenades au fond des gorges qui viennent déboucher à L’Estaque. (N, )

Les premiers jours, d’habitude, le jeune homme était pris d’un grand besoin d’exercice. Il allait en compagnie de Micoulin jeter et retirer les filets et faisait de longues promenades. (N-ER, )

elle est devenue sérieuse. Elle l’a tutoyé brusquement, en lui disant tout bas : - Non, non, pas ici . . . Voici ta mère. (N-ER, )

534

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Gerade die beiden Originalsätze aus Zolas Naïs Micoulin zeigen, welch lange und komplizierte Sätze durch die Integration von Gérondif- und Partizipialkonstruktionen entstehen können. Die Verarbeitung solcher Sätze kann vom Rezipienten eine bewusste syntaktische Analyse verlangen, die wiederum einzelsprachliches Wissen über Gérondif- und Partizipialkonstruktionen erfordert. Dieses Wissen ist mit Sicherheit bei einem Großteil der L2-Lerner des Französischen und in Bezug auf die Partizipialkonstruktion wohl auch in bestimmten Gruppen französischer Muttersprachler nicht voraussetzbar. Denn während das Gérondif eine «geläufige Konstruktion der gesprochenen und geschriebenen Sprache» (Klein/Kleineidam 1994, 249) darstellt, gehört das Participe présent vorwiegend der geschriebenen Sprache an und die absolute Partizipialkonstruktion sowie die Stellung der Partizipialkonstruktion zwischen nominalem Subjekt und Prädikat des Hauptsatzes werden sogar als Erscheinungen der gehobenen geschriebenen Sprache betrachtet (cf. ib., 251ss.). Diese in allen Standardgrammatiken des Französischen vertretene Einschätzung, weiterhin die oben vorgestellte Eigenschaft der semantischen Vagheit bzw. Unterspezifiziertheit sowie die deutliche Tendenz in den Easy Readers, Gérondifund insbesondere Partizipialkonstruktionen zu vermeiden oder zu ersetzen, weisen somit in ein und dieselbe Richtung: bei diesen infiniten Verbformen handelt es sich sowohl in semantischer als auch syntaktischer Hinsicht und – zumindest für die Partizipialkonstruktion – auch hinsichtlich der Wissensanforderungen um in mehrfacher Hinsicht komplexe einzelsprachliche Strukturen. Während in Bezug auf Subjonctif imparfait und plus-que-parfait sowie Partizipialkonstruktionen die Zugehörigkeit dieser grammatikalischen Phänomene zur gehobenen geschriebenen Sprache und ihre konsequente Modifikation in den Easy-Readers-Fassungen ihre Komplexität in doppelter Hinsicht bestätigen, lassen die vereinfachten Texte in Bezug auf das expletive ne, die Verneinung durch ne ohne pas und das Passé simple ein systematisches, an einheitlichen Kriterien orientiertes Vorgehen vermissen. Wenn man die Kriterien der Ambiguität sowie der Seltenheit bestimmter einzelsprachlicher Strukturen zugrundelegt, dann erscheint es sinnvoll, das expletive ne sowie die Verneinung durch ne ohne pas als komplex (für Muttersprachler und L2-Lerner) zu betrachten und zu vereinfachen. Zum einen birgt die Partikel ne aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit die Gefahr des Missverständnisses: so könnte ein expletives ne fälschlicherweise als Verneinung gedeutet werden oder eine nur durch ne ausgedrückte Verneinung als expletives ne missverstanden werden. Zum anderen macht die Tatsache, dass beide Strukturen fakultativ sind, ihre Ersetzung extrem einfach. Weiterhin ist ihr Gebrauch nur in Verbindung mit wenigen bestimmten Verben, Konjunktionen oder Satzarten zulässig und sie sind im Wesentlichen auf die geschriebene Sprache beschränkt. Das expletive ne findet sich allenfalls noch in «förmlichen Sprechsituationen»

4.6 Rückschluss auf komplexe Aspekte des Wissens

535

(cf. Klein/Kleineidam 1994, 203ss.). Trotz der somit begründeten Komplexität dieser Strukturen erfahren sie in den Easy-Readers-Fassungen keine konsequente Vereinfachung, sondern willkürliche Adaptionen. Wird nämlich ein Originalsatz mit einem ne explétif oder einer nur durch ne ausgedrückten Verneinung im Wesentlichen in die Vereinfachung übernommen, so werden diese grammatikalischen Besonderheiten manchmal beibehalten, manchmal modifiziert. Dies geschieht außerdem ungeachtet des Niveaus der Vereinfachung und ungeachtet der Tatsache, dass es sich beim Gebrauch der Negation durch ne allein in allen Originalsätzen um exakt dieselbe Struktur (pouvoir + Infinitiv) handelt, was die folgende Übersicht beweist:

Tab. 77: Uneinheitlicher Umgang mit der Verneinung durch ne ohne pas in den Easy-ReadersFassungen.

Verneinung durch ne ohne pas wird in die Easy-ReadersFassung übernommen

Verneinung durch ne allein wird in der Easy-ReadersFassung durch Hinzufügen von pas expliziert

Original

Easy-Readers-Fassung

GeR-Niveau der Easy-ReadersFassung

Soudain, elle le laissa tomber et se dirigea vers une partie de la chambre où mon regard ne pouvait la suivre. (CL, )

Puis elle l’a laissé tomber et Christine s’est dirigée vers une partie A (Série A) de la chambre où mon regard ne pouvait la suivre. (CL-ER, )

Mais je n’ai pu savoir comment il a fait, par exemple. (M, )

Mais je n’ai pu savoir comment il avait fait. (M-ER, )

La Main B (Série C)

On ne pouvait les entendre de la maison. (N, )

On ne pouvait les entendre de la maison. (N-ER, )

Naïs Micoulin B (Série C)

Non, non, il ne pouvait le Non, non, il ne pouvait le tuer ainsi : le sang répandu tuer ainsi. (N-ER, ) sur le sol [. . .] lui coûterait trop cher. (N, )

Naïs Micoulin B (Série C)

Au pouce de sa main droite Au pouce de sa main droite, brillait la bague qu’elle j’ai vu la bague, qu’elle n’avait pu enlever. (CL, ) n’avait pas pu enlever. (CL-ER, )

Christine A (Série A)

Elle fut simple ne pouvant être parée, mais malheureuse comme une déclassée ; [. . .]. (Pa, )

La Parure Elle était vêtue d’une façon simple, ne pouvant pas s’offrir B (Série D) d’être élégante, ce qui la rendait malheureuse comme une déclassée. (Pa-ER, )

536

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

In der Easy-Readers-Fassung von Christine beispielsweise, die auf dem niedrigsten Niveau angesiedelt ist, wird in einem Satz die Negation durch ne allein beibehalten, in einem anderen wird sie durch Hinzufügung von pas expliziert. Außerdem wird in der Vereinfachung von La Parure, die auf Niveau B2 eingestuft wird, ebenfalls die nur durch ne ausgedrückte Verneinung des Originalsatzes durch pas verdeutlicht, wohingegen dies in den Easy-ReadersVersionen von La Main und Naïs Micoulin, die auf Niveau B1 vereinfacht wurden, nicht geschieht. Ähnlich uneinheitlich ist der Umgang mit dem expletiven ne. Sowohl die Easy-Readers-Fassungen von La Chèvre de M. Seguin als auch von Christine werden auf dem geringsten Niveau der Vereinfachung (Série A) verortet: in erstere wird allerdings ein expletives ne des Originals übernommen, in zweitere nicht: Tab. 78: Uneinheitlicher Umgang mit dem expletiven ne in den Easy-Readers-Fassungen.

expletives ne des Originals wird in Easy-ReadersFassung beibehalten

Original

Easy-Readers-Fassung

«[. . .] et de peur que tu ne rompes ta corde, je vais t’enfermer dans l’étable et tu y resteras toujours.» (C, )

Et de peur que tu ne rompes La Chèvre ta corde, je vais t’enfermer de M. Seguin dans l’étable, et tu y A (Série A) resteras toujours. (C-ER, )

Elle me parut plus belle expletives ne des encore que je ne l’avais cru Originals wird in et j’étais hors de moi à la Easy-Readersvoir si près sans pouvoir me Fassung getilgt jeter à ses pieds. (CL, )

GeR-Niveau der Easy-ReadersFassung

Christine Elle m’a paru plus belle A (Série A) encore que je l’avais cru et j’étais hors de moi à la voir si près sans pouvoir me jeter à ses pieds. (CL-ER, )

Offensichtlich gibt es auch keinen Konsens darüber, ob die Wahl des Passé simple als Erzähltempus hohe Anforderungen an den Rezipientenkreis der Easy-Readers stellt oder nicht. Sechs Originalfassungen der untersuchten sieben Easy-Readers verwenden dieses Tempus des Récit als Erzähltempus. In vier Fällen wird es in der entsprechenden Vereinfachung durch das Passé composé ersetzt, in zwei Fällen wird es beibehalten. Auch hier spielt offensichtlich das Niveau der Vereinfachung für diese Entscheidung keine Rolle: sowohl die auf dem geringsten Niveau A2 (Série A) angesiedelte Vereinfachung von La Chèvre de M. Seguin als auch die auf dem höchsten Niveau B2 (Série D) verortete Vereinfachung von La Parure behalten das Passé simple nämlich bei:

4.6 Rückschluss auf komplexe Aspekte des Wissens

537

Tab. 79: Uneinheitlicher Umgang mit dem Passé simple in den Easy-Readers-Fassungen.

Ersetzung des Passé simple als Erzähltempus durch das Passé composé

Beibehaltung des Passé simple als Erzähltempus

Easy-Readers-Fassung von . . .

Vereinfachung auf Niveau . . . des GeR

Christine ()

A  (Série A)

Léviathan ()

A  (Série A)

La Main ()

B  (Série C)

Naïs Micoulin ()

B  (Série C)

La Chèvre de M. Seguin () A  (Série A) La Parure ()

B  (Série D)

Berücksichtigt man das Publikationsjahr der Easy-Readers-Fassungen, so könnte man spekulieren, dass im Zuge der kommunikativ-pragmatischen Wende in der Linguistik (Anfang der 1970er Jahre), die mit einer stärkeren Hinwendung zur gesprochenen Sprache einhergeht (cf. Gaudino Fallegger 1998, 24), Lehrplaninhalte zeitlich verschoben wurden und das Passé simple als schriftsprachliches Tempus in ein späteres Lernjahr gerückt ist. Orientiert man sich allerdings an den Kriterien Seltenheit vs. Geläufigkeit bzw. Gebrauch in vielen oder wenigen Sprachniveaus und Textsorten, dann kann man das Passé simple nicht als komplex betrachten. Es ist zwar auf die geschriebene Sprache beschränkt, stellt aber das obligate Tempus des Récit dar, also des nicht auf Sprecher, Sprechzeitpunkt und Sprechsituation bezogenen Ausdrucksregisters (cf. Klein/Kleineidam 1994, 262ss.), welches für zahlreiche Textsorten (historischer Bericht, Lexikoneintrag, Roman, Erzählung etc.) charakteristisch ist. Jean-Paul Confais (1980, 27) betont ausdrücklich, dass die Beschränkung des Passé simple auf die geschriebene Sprache nicht bedeute, dass es einer gehobenen Sprache angehöre: «In Wirklichkeit wird es immer noch sehr häufig verwendet, auch in Texten, die in einer vulgären Sprache oder im argot verfasst sind [. . .]. Entscheidend für den Gebrauch von Passé simple und Passé composé ist einzig und allein der Bezug zur Gegenwart».

Die Häufigkeit seiner Verwendung und die Tatsache, dass schon französische Kleinkinder durch Märchen und andere Erzählungen mit dem Passé simple in Berührung kommen, spricht dafür, dass diese Zeitform keine hohen Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen von französischen Muttersprachlern stellt. Bei L2-Lernern des Französischen mag das anders sein, weil das Passé

538

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

simple ihnen tatsächlich erst im fortgeschrittenen Unterricht vermittelt wird, was allerdings eine Fehlentscheidung ist in Anbetracht des Anspruches, mit authentischen Texten zu arbeiten. Auf jeden Fall verfestigt sich aufgrund der soeben vorgestellten unsystematischen Vereinfachungen der Eindruck, dass die Redakteure der Easy-ReadersFassungen ihre Modifikationen der Originaltexte nicht an einheitlichen Kriterien für Schwerverständlichkeit oder Komplexität ausrichten und dass es individuelle oder zeitabhängige Unterschiede in der Bewertung des einzelsprachlichen Wissens gibt, das man bei den Rezipienten voraussetzen kann oder nicht. Untersucht man hingegen, wie die Redakteure der Vereinfachungen und der annotierten Novellen mit bestimmten Aspekten des Weltwissens in literarischen Texten umgehen, dann kristallisieren sich überraschenderweise eher einheitliche Muster heraus, die Aufschluss darüber geben, welches Wissen als allgemein verfügbar betrachtet wird und welches nicht.

Hohe Anforderungen an das lebensweltliche Wissen Im Folgenden sollen anhand des Umgangs mit zwei Wissensbereichen, die in den meisten Easy-Readers-Fassungen und annotierten Novellen enthalten sind, Rückschlüsse auf voraussetzbare und anspruchsvolle Wissensbestände gezogen werden. Bei diesen Bereichen des Weltwissens handelt es sich zum einen um Toponyme, zum anderen um das weite Feld der schönen Künste sowie der Bibel als Kulturgut, das sich in den Korpustexten u.a. in Gestalt von Eigennamen von Künstlern, Anspielungen auf deren Biographie, direkten Zitaten aus der Bibel, Anspielungen auf literarische Werke und deren Figuren manifestiert. Was den Bereich der Geographie betrifft, so besteht in den 15 Korpustexten weitgehend Konsens darüber, welche Ortsnamen in der Breite der Leserschaft als bekannt gelten können und welche höchstwahrscheinlich unbekannt sind. Wenn man die folgende Tabelle auswertet, die unter a) die in den Korpustexten nicht annotierten Toponyme aufführt, unter b) die Ortsnamen verzeichnet, die explizit oder implizit im Werk selbst erläutert werden, und unter c) die annotierten Toponyme auflistet, dann scheint die Entscheidung für die Kategorie a) oder c) an folgenden Kriterien orientiert zu sein: Fläche, Einwohnerzahl und (kulturelle, politische, wirtschaftliche, touristische . . .) Bedeutung.

4.6 Rückschluss auf komplexe Aspekte des Wissens

539

Tab. 80: Umgang mit Toponymen in den Easy-Readers-Fassungen.

Iceberg

a) nicht annotiertes Toponym

b) durch den Kontext erklärtes Toponym

c) annotiertes Toponym + Annotation

Jérusalem, Le Havre, la côte anglaise

Bouville

la Manche Ärmelkanal (reine Übersetzung) le parc Monceau parc à Paris entre le e et le e arrondissement

Écrire debout



Toute une les Alpes année au soleil

— Valence, Tournon, Arlebosc

Cléricourt ville de la banlieue parisienne l’Ardèche un département du Sud le Haut-Vivarais une région de l’Ardèche Derb Ghellef un quartier de Casablanca

Un fait divers et d’amour

Casablanca

Chien de nuit

la France, l’Italie, Marseille

Naïs Micoulin (ER)

Aix, Marseille, Paris, Alger

L’Estaque («un village situé à l’extrême banlieue de Marseille», N-ER, ), la Blancarde, rue du Collège

Midi le sud de la France

La Main (ER)

Paris, Ajaccio, la France, la Corse, Marseille, Afrique, les Indes, Amérique

Saint-Cloud

outre-Manche l’autre côté de la Manche, bras de mer qui sépare la France de l’Angleterre

La Parure (ER)

Nanterre, Paris, la Seine, Palais Royal, les Champs-Élysées

rue des Martyrs









Fort-Hope en Rhode Island sur la côte est des ÉtatsUnis Providence capitale de Rhode Island





Christine (ER) —

Léviathan la France, Amérique (ER)

Réformé-Canebière une station de métro de Marseille

540

4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Nicht annotiert werden nämlich Namen von Kontinenten, Ländern und Millionenstädten wie z.B. Paris, Marseille, Casablanca oder Alger. Weiterhin werden Namen von Städten, Regionen, Straßen oder Bauwerken mit einer außerordentlichen kulturellen Bedeutung (z.B. Jérusalem), wirtschaftlichen Bedeutung (z.B. Le Havre) oder touristischen Bedeutung (z.B. la Corse, Ajaccio, la Provence, les Champs-Élysées) nicht erläutert. Liegen die genannten Kriterien wie hohe Einwohnerzahl oder flächenmäßige Ausdehnung, Berühmtheit, wirtschaftliche, kulturelle oder touristische Bedeutung nicht vor, dann werden Toponyme in der Regel annotiert, wie z.B. l’Ardèche, le Haut-Vivarais oder Cléricourt. Können Orte allerdings aufgrund des Kontextes der Erzählung leicht in einer bestimmten Region oder Stadt situiert werden, dann wird in der Regel keine zusätzliche Annotation bereitgestellt. Natürlich ist aber das Vorhandensein von bestimmten geographischen und anderen Kenntnissen in hohem Maße vom individuellen Hintergrund der Rezipienten abhängig. Ein nicht in Frankreich lebender Leser könnte in der EasyReaders-Fassung von La Parure eine Annotation für Nanterre vermissen. Ein französischer Leser wird in der Regel wissen, dass es sich dabei um einen westlichen Vorort von Paris handelt. Ein US-amerikanischer Leser der Easy-Readers-Fassung von Christine kann mit Sicherheit auf die Annotation von Providence verzichten, für einen europäischen Leser ist diese aber vermutlich hilfreich. Es ist also völlig klar, dass die Verfügbarkeit und damit Einfachheit oder die Nicht-Verfügbarkeit und somit Komplexität von Wissensbeständen grundsätzlich relativ zum Rezipienten ausgeprägt ist und kaum objektiv feststellbar ist. Das Annotieren von Toponymen ist sicherlich häufig eine willkommene Verständnishilfe für den Rezipienten, der aber ohne großen Aufwand auch eigenständig die nötigen Informationen über einen ihm unbekannten Ortsnamen recherchieren könnte. Es handelt sich dabei also abermals um eine «Serviceleistung» für den Leser. Anders verhält es sich oft mit intertextuellen Anspielungen. Diese werden einem Leser, der das Referenzwerk nicht kennt, gar nicht auffallen und so wird er sich nicht der Tatsache bewusst, dass ihm durch dieses Nichtwissen vielleicht eine zentrale Evokation entgeht. Aus diesem Grund sind Annotationen von Anspielungen auf andere literarische oder künstlerische Werke letztlich sehr viel wichtiger als Annotationen von Toponymen. Unser Korpus enthält sechs Werke mit deutlichen und umfangreichen Anspielungen auf Schriftsteller, Maler und Musiker, ihr Leben, ihre Werke und Figuren, wobei der Schwerpunkt auf Personen und Werken der französischen Kultur liegt, in einem Fall auf Heine und die deutsche Romantik angespielt wird und in zwei Texten mehrfach auf die Bibel. Auffällig ist, dass ausnahmslos alle diese Textstellen eine Bearbeitung oder Annotation erfahren, die im Folgenden vorgestellt werden sollen. In der Novelle Écrire debout von Michel Tournier diskutiert der Ich-Erzähler, selbst Autor, mit jungen Strafgefangenen über den Nutzen von Schriftstellern für

4.6 Rückschluss auf komplexe Aspekte des Wissens

541

eine Gesellschaft («Un écrivain, c’est utile ?», E, 51) und über die Frage, ob das Tragen des Ordens der Légion d’honneur nicht im Widerspruch steht zur Aufgabe, die bestehende Ordnung zu hinterfragen. Der Ich-Erzähler verweist in seiner Argumentation vielfach auf das Leben, die Leistungen und die Haltungen berühmter Schriftsteller und Musiker, worauf die Redakteure der Textsammlung Rêve et réalité mit zahlreichen Annotationen reagieren. Sie geben dabei stets die Lebensdaten der zitierten Künstler an, einen kurzen Hinweis auf ihre Biographie oder Bedeutung, was in einigen Fällen recht oberflächlich bleibt, in anderen durchaus hilft, die Argumentation des Erzählers nachzuvollziehen. In Bezug auf Victor Hugo wird zusätzlich die Anspielung «exilé vingt ans sur son îlot» (E, 51)

Tab. 81: Annotationen zu den Namen von Schriftstellern und Musikern in Écrire debout. Auszüge aus der Novelle Écrire debout (Originaltext)

Annotationen zu diesen Auszügen in der Textsammlung Rêve et réalité (Klett)

[. . .] mais toute création dérange. C’est pourquoi [l’écrivain] est si souvent poursuivi et persécuté. Et je citai François Villon, plus souvent en prison qu’en relaxe, Germaine de Staël, défiant le pouvoir napoléonien et se refusant à écrire l’unique phrase de soumission qui lui aurait valu la faveur du tyran, Victor Hugo, exilé vingt ans sur son îlot. Et Jules Vallès, et Soljenitsyne et bien d’autres. - Il faut écrire debout, jamais à genoux. [. . .] L’un d’eux désigna d’un coup de menton le mince ruban rouge de ma boutonnière. - Et ça ? C’est pas de la soumission ? La Légion d’honneur ? Elle récompense, selon moi, un citoyen tranquille, qui paie ses impôts et n’incommode pas ses voisins. Mais mes livres, eux, échappent à toute récompense, comme à toute loi. Et je leur citai le mot d’Erik Satie. Ce musicien obscur et pauvre détestait le glorieux Maurice Ravel qu’il accusait de lui avoir volé sa place au soleil. Un jour Satie apprend avec stupeur qu’on a offert la croix de la Légion d’honneur à Ravel, lequel l’a refusée. «Il refuse la Légion d’honneur, dit-il, mais toute son œuvre l’accepte.» (E, s.)

François Villon ( – ), poète français qui mena une vie aventureuse. Germaine de Staël ( – ), écrivain français qui, sous Napoléon, émigra et parcourut l’Europe. Victor Hugo ( – ), écrivain et homme politique français qui a écrit de belles poésies, des romans et des pièces de théâtre. Partageant les idées républicaines, il quitta la France en  et n’y revient qu’en . un îlot, une petite île; ici: l’île de Jersey Jules Vallès ( – ), écrivain et journaliste français qui, après la guerre de –, s’engagea passionnément pour les réformes politiques et sociales que le gouvernement provisoire de la Commune annonçait. Alexandre Soljenitsyne (né en ), écrivain soviétique qui, dans son œuvre, critique le régime soviétique. Prix Nobel en . Erik Satie ( – ), compositeur français peu connu à son époque. Maurice Ravel ( – ), le plus classique des compositeurs modernes français. (E, s.)

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4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

erklärt, was Tabelle 81 zeigt, die allerdings nur einen Teil der zahlreichen Anspielungen und umfangreichen Annotationen in genannter Textausgabe aufführt. In Fred Kassaks psychologischer Novelle Iceberg (1964) versucht der IchErzähler, die Liebe von Irène zu gewinnen, wobei ihm Georges im Weg ist. Als der Ich-Erzähler Irène und Georges in sein Ferienhaus nach Bouville einlädt und Irène sich im Liegestuhl entspannt, vergleicht er ihre Haltung mit der Olympias in Manets berühmtem Gemälde und kann nicht umhin, den Unterschied zwischen beiden Frauen – «[. . .] robe en plus, hélas !» (I, 70) – zu bedauern. Diese Passage ist ohne Kenntnis des Gemäldes, das eine nackte Frau zeigt, schwer nachzuvollziehen, weshalb die Redakteure der Textsammlung Happy Meal im Rahmen einer Annotation Motiv und Wirkung dieses Gemäldes erläutern. Des Weiteren werden Informationen zu Chagall und Teilhard de Chardin bereitgestellt, die der Ich-Erzähler an späterer Stelle erwähnt: Tab. 82: Annotationen zu den Namen eines Kunstwerkes, eines Künstlers und eines Philosophen in Iceberg. Auszüge aus der Novelle Iceberg (Originaltext) Annotationen zu diesen Auszügen in der Textsammlung Happy Meal (Klett) Le lendemain, on s’est encore rencontrés, puis le jour suivant, et ainsi de suite, et voilà. Et maintenant, elle est allongée en face de moi dans la position approximative de l’«Olympia» de Manet, robe en plus, hélas ! (I, ) [. . .] Mais j’ai de la suite dans les idées et quelque temps plus tard, je l’invitai à une exposition de peinture, un dimanche après-midi. Moi à une exposition de peinture ! Même pas une exposition de peinture, d’ailleurs. Des vitraux par Chagall, je crois, et qu’il fallait admirer dare-dare avant qu’on les expédie dans leur église de Jérusalem ou de je ne sais où. Les vitraux de Chagall, moi, ça m’intéresse autant que les théories de Teilhard de Chardin, mais enfin c’était un prétexte pour la voir un dimanche. (I, )

l’Olympia de Manet peinture de  d’Edouard Manet ( – ), qui fit scandale, représentant une femme nue (I, )

Marc Chagall peintre et graveur français ( – ), qui a réalisé de nombreux vitraux

Teilhard de Chardin jésuite et philosophe français ( – ) (I, )

In den Easy-Readers-Fassungen wird auf Annotationen intertextueller Anspielungen eher verzichtet und stattdessen die radikale Methode angewendet, solche Passagen zu tilgen. Sehr ausgeprägt wird von dieser Methode in den Vereinfachungen

4.6 Rückschluss auf komplexe Aspekte des Wissens

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von Daudets Texten La Chèvre de M. Seguin und La Mort du Dauphin Gebrauch gemacht. In Bezug auf die Easy-Readers-Fassung von La Chèvre de M. Seguin wurde bereits erläutert, dass in dieser alle Briefelemente des Originals gestrichen werden. Damit entfällt auch der Name des Empfängers (À Monsieur Pierre Gringoire, poète lyrique, à Paris, C, 260) mit seinen mehrdeutigen Anspielungen auf den realen französischen Autor Pierre Gringoire (1475 – 1538) des ausgehenden Mittelalters, den Victor Hugo zum Protagonisten von Notre-Dame de Paris gemacht hat, sowie auf das Theaterstück Gringoire von Théodore de Banville, das im Erscheinungsjahr der Erzählung Daudets (1866) uraufgeführt wurde (cf. Ripoll 1986, 1292). Auch die folgende Adressatenansprache mit ihrer Anspielung auf Esméralda, die Protagonistin von Hugos Roman, fehlt natürlich in der Easy-ReadersFassung: «Ah ! Gringoire, qu’elle était jolie la petite chèvre de M. Seguin ! [. . .] c’était presque aussi charmant que le cabri d’Esméralda, tu te rappelles, Gringoire ?» (C, 261).

Durch die Wahl des Namens Pierre Gringoire, die soeben zitierte intertextuelle Anspielung und weitere ambige Hinweise im Porträt des Briefempfängers (Stammplatz chez Brébant vs. Historizismen in der Beschreibung seines Äußeren) kreiert Daudet einen bestimmten Typ Mensch, nämlich den zeitlosen bettelarmen Pariser Bohémien. Durch die Verknüpfung von literarischem Brief und Tierfabel gelingt es ihm weiterhin, in seiner Erzählung auch den universellen Konflikt des Dichters zwischen künstlerischer Freiheit und materiellen Zwängen zu thematisieren. Schließlich begründen Lafont/Gardès-Madray (1976, 145) auf der Basis der intertextuellen Anspielung auf Notre-Dame de Paris, wo Gringoire «en quête d’amour» sei, auch eine erotische Lesart der Erzählung: sie inszeniere durch ein System des heimlichen Einverständnisses zwischen männlichem Autor und Leser, vermittelt durch den männlichen Adressaten, «le fantasme d’Esméralda mangée». Diese nochmals kurz umrissenen Lesarten fußen in entscheidendem Maße auf den mit dem Namen Pierre Gringoire verbundenen Evokationen sowie der Anspielung auf Esméralda aus Notre-Dame de Paris. Dieses literaturgeschichtliche Wissen, das außerhalb des kulturellen Bezugsrahmens ihrer Rezipientengruppe (L2-Lerner des Französischen) liegt, trauen die Easy-Readers-Redakteure letzterer offensichtlich nicht zu und tilgen deshalb die aufgeführten Textpassagen. Aber auch die Werkausgabe Daudets in der Bibliothèque de la Pléiade, die bekanntermaßen ein Referenzwerk höchsten Ranges ist, stellt ihren Lesern im Anmerkungsapparat das nötige Wissen zur Auswertung der genannten Anspielungen zur Verfügung:

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«C’est à Hugo que Daudet emprunte le nom du poète campé dans Notre-Dame de Paris, comme le souligne l’allusion à Esméralda p. 261 ; et il en fait le type du poète famélique. Mais l’actualité est sans doute intervenue également, puisque la pièce de Théodore de Banville, Gringoire, a été représentée le 23 juin 1866 au Théâtre-Français» (Ripoll 1986, 1292).

Schon bei der kurzen Vorstellung der Textsammlung Lettres de mon moulin in Kapitel 3.3.3, die sowohl La Chèvre de M. Seguin als auch La Mort du Dauphin enthält, wurde darauf hingewiesen, dass Daudet aus diesen Erzählungen eine regelrechte «exercice littéraire» (Wittmann 2010, 268) macht, indem er sich bewusst auf die provenzalische, französische und europäische literarische Tradition bezieht, alte Gattungen wie Fabel oder Ballade an den Zeitgeschmack anpasst und permanent mit intertextuellen Bezügen spielt (cf. ib., 17ss.). Das wird besonders deutlich in den beiden kurzen Texten La Mort du Dauphin und Le Sous-préfet aux champs, die Daudet unter der Gattungsbezeichnung Ballades en prose zusammenfasst und mit einem Prolog versieht, der explizit Henri Heine und die fantaisie un peu germanique erwähnt, in deren Tradition diese Erzählungen stehen: «BALLADES EN PROSE En ouvrant ma porte ce matin, il y avait autour de mon moulin un grand tapis de gelée blanche. L’herbe luisait et craquait comme du verre ; toute la colline grelottait. . . Pour un jour ma chère Provence s’était déguisée en pays du Nord ; et c’est parmi les pins frangés de givre, les touffes de lavandes épanouies en bouquets de cristal, que j’ai écrit ces deux ballades d’une fantaisie un peu germanique, pendant que la gelée m’envoyait ses étincelles blanches, et que là-haut, dans le ciel clair, de grands triangles de cigognes venues du pays d’Henri Heine, descendaient vers la Camargue en criant : ‹Il fait froid,. . . froid,. . . froid›» (Daudet 1986, 314).

Dank des generischen Titels und des Prologs sind dem literarisch Gebildeten a priori die Themen und formalen Charakteristika klar, die beide Texte prägen. Die Ballade des 19. Jahrhunderts ist ein erzählendes Gedicht überwiegend düsterer und todesnaher Stimmung, das im Laufe der Zeit eher mit nordischtragischen Stoffen und Stimmungen verbunden wurde (cf. Woesler 2009, 37). Gerade die romantischen Balladen des jungen Heinrich Heine sind nach Einschätzung Woeslers zudem durch einen bewussten Formwillen, Musikalität der Sprache und «eine leichte Tendenz zum Psychologisieren» (ib., 41) geprägt. All diese Aspekte finden sich in der kurzen Erzählung La Mort du Dauphin wieder, ebenso wie die Vorstellung von der Allmacht der Natur, die besonders charakteristisch für die deutsche Romantik ist, auf die der Prolog ebenfalls anspielt. In dieser Lettre wird der Leser nämlich mit einem im Sterben liegenden Kronprinzen konfrontiert, der verbittert erkennen muss, dass der Tod auch vor ihm nicht

4.6 Rückschluss auf komplexe Aspekte des Wissens

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haltmacht und dass irdische Macht und Ehre eitel und vergänglich sind. Der Ton dieser Erzählung ist von Pathos getränkt und die zahlreichen Anaphern, Wiederholungen, Interjektionen und rhetorischen Fragen verleihen der Sprache tatsächlich einen musikalischen Charakter und erinnern daran, dass die Ballade ursprünglich auf den «öffentlichen Vortrag hin angelegt» (ib., 37) war. Roger Ripoll (1986, 1333) weist zudem darauf hin, dass die besondere Mischung von Ironie und Rührung, die La Mort du Dauphin kennzeichnet, wo die echte Verzweiflung des Kronprinzen und seiner Eltern auf die aufgesetzten Gefühle und großen Gesten der Höflinge trifft, genau dem Bild entspreche, das Daudet von Heines Werk hatte. Die bewusste Gestaltung einer Prosaballade im Stile Heines, die Daudet durch entsprechende literarische Anspielungen im Prolog ankündigt, stellt wieder erhebliche Anforderungen an das literaturgeschichtliche und diskurstraditionelle Wissen der Rezipienten. Dieser muss schließlich Kenntnisse zu Heine und der deutschen Romantik besitzen und eine sehr genaue Vorstellung von den inhaltlichen und formalen Charakteristika der Ballade haben, um Daudets ästhetische Etüde erkennen und würdigen zu können. Da die Redakteure der Easy-Readers-Fassung von La Mort du Dauphin wieder nicht davon ausgehen, dass ihre Leserschaft über diese Kenntnisse verfügt, tilgen sie sowohl den generischen Titel als auch den Prolog in ihrer Bearbeitung der Erzählung. Dadurch tangieren sie kaum den inhaltlichen Reiz und das Pathos dieses Apologs, hebeln aber in Kombination mit weiteren vorsichtigen Kürzungen und Umformulierungen den Balladen-Charakter der Erzählung und seine bewusste Gestaltung im Stile Heines in weiten Teilen aus. Die letzten beiden Novellen, die Annotationen und Tilgungen intertextueller Anspielungen erfahren, sind die beiden Frühwerke Julien Greens, Christine (1924) und Léviathan (1926). In beiden Erzählungen finden sich Zitate bzw. Eigennamen aus der Bibel sowie Filler eines assoziativen Frame-Systems christliche Religion & Spiritualität (z.B. les Pèlerins, les préceptes, les livres des Psaumes, une auréole, une apparition, jurer sur la Bible, la tentation, une inscription biblique, le verset), die – das wurde am Beispiel von Christine in diesem Kapitel gezeigt – wichtige Evokationen darstellen und maßgebliche Hinweise zu möglichen Lesarten liefern. Die Entscheidung der Easy-Readers-Redakteure, sowohl die Bibelzitate als auch die religiösen Filler zu streichen, kann man nur so deuten, dass sie ihren Rezipienten das nötige theologische Wissen zur adäquaten Auswertung dieser Hinweise und Verknüpfung mit anderen Bedeutungselementen der Erzählung nicht beimessen und somit gleich radikal alle «religiösen Lesarten» von Christine eliminieren. Da in der zweiten Erzählung Greens mit Léviathan ein aus der Bibel, genauer dem Buch Hiob, entnommener Eigenname als Titel fungiert, fällt in der entsprechenden Easy-Readers-Fassung die Wahl wohl auf eine Annotation, keine Tilgung. So wird dem Leser rudimentäres Wissen («animal terrible, surtout connu du Livre de Job de la Bible», CL-ER, 22) zur

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4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Einordnung des Eigennamens bereitgestellt, das aber keineswegs ausreicht, um als Interpretationsschlüssel dienen zu können. Diese in drei Easy-Readers-Fassungen festzustellenden radikalen Tilgungen intertextueller Anspielungen sowie das konsequente Annotieren jedes Eigennamens, auch der bekanntesten französischen Autoren wie Victor Hugo oder Balzac, in der annotierten Fassung von Écrire debout lassen nur den Schluss zu, dass die jeweiligen Redakteure überzeugt davon sind, dass ihre aus jugendlichen L2-Lernern des Französischen bestehende Leserschaft über derartige Kenntnisse nicht verfügt. Wenn man sich vor Augen führt, dass diese Leser außerhalb Frankreichs sozialisiert wurden und in den vergangenen Jahrzehnten «schon öfter [. . .] das Ende des fremdsprachlichen Literaturunterrichts mit klassischen Werken eingeläutet [wurde]» (Voss 2014, 2), dann wirkt diese Einschätzung des Nicht-Wissens von L2-Lernern des Französischen über die Kultur und Literatur des Ziellandes sehr plausibel. Was den Bereich des lebensweltlichen Wissens betrifft, so konnten in den Easy Readers und annotierten Novellen also zweifelsohne Muster hinsichtlich der Einschätzung der Verfügbarkeit bestimmter Kenntnisse ausgemacht werden, die nachvollziehbar und begründbar sind. So verfestigt sich der Eindruck, dass zumindest relativ zu einer homogenen Rezipientengruppe einigermaßen verlässliche Bewertungen der Verfügbarkeit bzw. Komplexität bestimmter Wissensbestände möglich sind. Diese Einschätzung muss sich am kulturellen Bezugssystem und Alter der Rezipientengruppe orientieren und berücksichtigen, dass gerade interkulturelles Wissen aufgrund bestimmter unterrichtlicher Moden oder politischer und wirtschaftlicher Gegebenheiten nur sehr eingeschränkt verfügbar ist. In Bezug auf das einzelsprachliche Wissen hingegen irritierten der uneinheitliche und mitunter auch kaum sinnvoll erklärbare Umgang mit bestimmten grammatikalischen Phänomenen. Mehrdeutigkeit und Seltenheit von sprachlichen Strukturen haben sich diesbezüglich allerdings als vernünftige Kriterien erwiesen, um Komplexität zu erkennen und gegebenenfalls zu reduzieren.

4.7 Bewertung der Easy-Readers-Versionen Nach der soeben erfolgten Analyse der Art und Weise, wie Komplexität in sieben Easy-Readers-Fassungen reduziert wird, soll dieses Vorgehen nun in Hinblick auf seine Effektivität und Sinnhaftigkeit beurteilt werden sowie ungenutztes Vereinfachungspotential aufgezeigt und Verbesserungsvorschläge unterbreitet werden. Die Effektivität der identifizierten Adaptionsmaßnahmen wie Kürzungen, (resümierende) Ersetzungen, sparsame Ergänzungen sowie Annotationen konnte

4.7 Bewertung der Easy-Readers-Versionen

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insbesondere anhand der Easy-Readers-Fassungen von Christine sowie La Chèvre de M. Seguin belegt werden. Beide Vereinfachungen weisen in Bezug auf neun bzw. zehn der 14 hier zugrundegelegten Komplexitätskategorien z. T. erheblich geringere Komplexitätswerte auf als die entsprechenden Originaltexte. Auch die übrigen fünf Easy Readers stellen sich als spürbar weniger komplex dar als die Originale, wobei die Reduktion in diesen Fällen vornehmlich die Kategorien «Wort- und Satzsemantik» sowie «Anforderungen an das einzelsprachliche und lebensweltliche Wissen der Rezipienten» betrifft. Es ist allerdings auch deutlich geworden, dass die Komplexitätsfaktoren 1, ABWEICHUNGEN von sprachlichen und sprachbezogenen Normen und Traditionen sowie Wissensrahmen, und 2, kontextabhängige IMPLIZITHEIT, nur mit Einschränkungen durch die vorgestellten Adaptionen erfasst werden können. Dasselbe gilt natürlich für die eng mit diesen Faktoren verknüpften Komplexitätskategorien wie «Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen», «Leerstellen/Aussparungen» und «Umgang mit den Grice’schen Maximen». Wenn die Handlung eines Erzähltextes auf dem Bruch prototypischer Frames oder Skripts aufbaut (cf. Plume au restaurant) oder wenn in einer conte fantastique wie La Main aus diskurstraditionellen und inhaltlichen Gründen regelmäßig die 1. Untermaxime der Quantität (Mache deinen Beitrag so informativ wie nötig) verletzt wird, dann kann diese Komplexität durch die geschilderten Adaptionen nicht behoben werden. Komplexitätsreduktion am Text selbst könnte in den genannten Fällen nur durch schwerwiegende Eingriffe in die Originaltexte und umfangreiche Ergänzungen erfolgen, die die Originale aber entstellen bzw. in Bezug auf Handlung, Sinn und Gattungszugehörigkeit völlig verändern würden. Komplexität, die aus Abweichungen resultiert, wird deshalb in den Easy Readers nur dann reduziert, wenn einzelsprachliche Normen übertreten werden, wie im Fall der direkten Rede Rowells in La Main, oder wenn die Modalitätsmaxime verletzt wird, die eben im Gegensatz zu den drei weiteren Maximen das Wie des Gesagten und nicht den Inhalt betrifft. Aus denselben Gründen können auch kontextabhängige IMPLIZITHEIT sowie Ambiguität in den Easy Readers nur dann reduziert werden, wenn diese auf Beugungen der Modalitätsmaxime bzw. Andeutungen und Evokationen beruhen, nicht aber wenn sie aus Leerstellen und Aussparungen resultieren. Das Wie des Gesagten wird in den untersuchten Easy-Readers-Fassungen systematisch modifiziert, was nicht nur zu einer deutlichen Reduktion von Komplexität auf der sprachlichen Oberfläche führt und die Kategorien «Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik», «Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik» und «Komplexität in Bezug auf Kohäsion & lokale Kohärenz» einfacher ausfallen lässt, sondern auch «Andeutungen und Evokationen» tilgt sowie die «Anforderungen an das einzelsprachliche und lebensweltliche Wissen» und den «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» reduziert.

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Besonders sorgfältig erfolgt in den Easy Readers die Reduktion der wortsemantischen Komplexität, indem systematisch historisch, regional oder sozial markierte sowie seltene Lexeme durch Wörter der langue courante ersetzt werden, die zumeist im Thematischen Grund- und Aufbauwortschatz des Französischen verzeichnet sind. Außerdem werden im Original auftretende Synonyme, Hyperonyme oder kontextbedingte Variationen in der Koreferenzkette von Figuren und Objekten häufig zu Gunsten ausgeprägterer lexikalischer Rekurrenz aufgegeben, was zur intendierten Reduktion der Reichhaltigkeit des Vokabulars beiträgt und gleichzeitig die vereinfachte Fassung kohäsiver macht. Schließlich betreffen die Adaptionen natürlich auch die syntaktische Ebene. Ganz in Übereinstimmung mit Erkenntnissen der Textverstehens- und Textverständlichkeitsforschung (cf. Christmann/Groeben 1999/2006, 184) werden häufig Satzschachtelungen vermieden, eingebettete Relativsätze oder Partizipialkonstruktionen getilgt sowie überlange Sätze mit mehreren Teilsätzen oder üppigen Aufzählungen wie z.B. in Maupassants La Parure gekürzt bzw. durch alternative Strukturen ersetzt. Ob intendiert oder nicht, werden mit solchen Adaptionen häufig auch Anspielungen oder Evokationen gelöscht, die eben nur durch ganz bestimmte im Text aktualisierte Zeichen ausgelöst werden oder durch bestimmte stilistische Verfahren suggeriert werden. So werden z.B. in der Easy-Readers-Fassung von La Parure durch Kürzungen von Sätzen und resümierende Ersetzungen implizite Charakterisierungen und Bewertungen von Mathilde Loisel getilgt, die an die auffällige Weitschweifigkeit sowie den rekurrenten ternären und quaternären Satzrhythmus im Original gekoppelt sind. All diese Modifikationen reduzieren zweifelsohne semantische Komplexität, die auf kontextabhängiger IMPLIZITHEIT beruht, können aber auch äußerst problematische Folgen für den Sinn der vereinfachten Textfassung haben. Wenn nämlich zu den genannten Adaptionen noch systematische Kürzungen von assoziativen Frame-Systemen, intertextuellen Anspielungen, Erzählerkommentaren und symbolisch verschlüsselten beschreibenden Passagen hinzutreten, dann kann das Original wie im Fall von Christine auf sein Handlungsgerüst reduziert werden und seine eigentlichen Bedeutungsschichten verlieren. Die Bearbeitungen von Christine und Léviathan ignorieren völlig, wie der Sinn eines (literarischen) Textes entsteht und dass in der dichterischen Sprache alle Zeichenrelationen und die entsprechenden Evokationen in voller Aktualisierung erscheinen (cf. Coseriu 1980/2007, 147). Gemäß Coseriu bilden Bezeichnung und Bedeutung der sprachlichen Zeichen im Text bekanntlich den Ausdruck für eine Inhaltseinheit komplexerer Art, eben für den Sinn (cf. ib., 64). Gerade in Bezug auf literarische Texte muss man sich die Diskrepanz zwischen den Geschehnissen der ersten semiotischen Ebene und dem Sinn klarmachen:

4.7 Bewertung der Easy-Readers-Versionen

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«Was in einem Text, insb. in einem literarischen Text, bezeichnet wird, ist wiederum Ausdruck, Symbol für einen bestimmten Sinn. Alles, was in einem Text geschieht, was als Geschehendes geschildert wird, hat einen ‹Sinn›, der in der Regel nicht unmittelbar mit dem Geschilderten selbst zusammenfällt, sondern den man erst herausfinden muss» (ib., 65).

Das Geschehende, die Handlung selbst, wird in den untersuchten Easy-ReadersFassungen kaum angetastet. Den Rezipienten werden aber aufgrund der vorgestellten Kürzungen und Ersetzungen oftmals wichtige Hinweise vorenthalten, um den Sinn des Geschilderten zu erfassen. Zu diesen Hinweisen gehören eben das ganze Repertoire stilistischer Verfahren und die mannigfachen Zeichenrelationen wie z.B. die Relationen mit Zeichen in anderen Texten oder Relationen zwischen Zeichen und «Sachen» mitsamt ihren Evokationen, die Coseriu (1980) in seiner Textlinguistik aufführt und die gerade in literarischen Texten oftmals entscheidend zum Sinn beitragen: «Der Sinn entsteht aus der Kombination der Bühlerschen Funktionen (also der Darstellung, der Kundgabe und des Appells) und der Evokation» (ib., 137).

Wenn die Reduktion von Komplexität also wie im Fall von Christine und Léviathan so weit geht, dass alle wesentlichen Evokationen und Umfelder gelöscht werden und der Sinn des Geschilderten nicht mehr rekonstruierbar ist, dann sind die vereinfachten Fassungen nutzlos. Mit diesen entstellten symbolischen Novellen wird die Chance vergeben, Textkompetenz und literarische Kompetenz auf Lernerseite aufzubauen und zu begreifen, wie subtil in einem Text Bedeutung und Bezeichnung, Kontexte, zahlreiche weitere Zeichenrelationen mitsamt ihren Evokationen sowie Korrespondenzen zwischen verschiedenen Bedeutungselementen zusammenwirken und den Sinn bzw. mehrere Lesarten eines Textes entstehen lassen. Mit den genannten Easy Readers, die allein die inkongruente oder unmotivierte Handlung ihrer nicht-mimetisch erzählenden Originale präsentieren und keine Hinweise zur Entschlüsselung des Sinns mehr bieten, kann mit Sicherheit auch weder zum Lesen motiviert werden noch ein anregender Austausch über Interpretationsmöglichkeiten in Gang gesetzt werden. Im Fall der Frühwerke Julien Greens schießt die Reduktion von Komplexität also völlig über das Ziel hinaus und muss als komplett gescheitert bewertet werden. Auch die Easy-Readers-Fassung von Maupassants La Parure vermag nicht zu überzeugen, weil sie zu stark in die bedeutsame stilistische Gestaltung des Originals eingreift und zu viele Andeutungen löscht, die aus Beugungen der Modalitätsmaxime oder hyperbolischem Ausdruck resultieren, und so wichtige implizite Charakterisierungen und Bewertungen löscht, die für die vorgestellten Lesarten dieser psychologischen Novelle unverzichtbar sind. In der Easy-Readers-Fassung von La Chèvre de M. Seguin hingegen werden durch Ersetzungen und Tilgungen

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nur wenige und äußerst subtile Evokationen gelöscht, andere aber erhalten, was zahlreiche Bedeutungsschichten dieser äußerst polyvalenten Erzählung intakt lässt. Die Konsequenz aus diesen Beobachtungen kann nur sein, dass Kürzungen, Ersetzungen und Umformulierungen zum Zwecke der Komplexitätsreduktion literarischer Texte nur mit äußerster Vorsicht und nach einer akribischen Textanalyse eingesetzt werden können. Durch diese Analyse müssen möglichst viele der im Text aktualisierten Zeichenrelationen aufgedeckt und in der Vereinfachung erhalten bleiben, damit die Erzählung nicht wesentliche Sinnelemente verliert. Und bestimmte literarische Texte wie z.B. die symbolische Novelle des 20. Jahrhunderts, die sich durch eine «enge innere Verflechtung von Bedeutungselementen» (Blüher 1985, 230) auszeichnet, können durch die genannten Adaptionsstrategien im Prinzip gar nicht vereinfacht werden, weil hier auf keinen evozierten Frame, keinen angedeuteten Kontext, keine aktualisierte Zeichenrelation verzichtet werden kann, um die hermetisch verdeckten Bedeutungsebenen zu entschlüsseln. Es darf aber nicht übersehen werden, dass die Easy-Readers-Versionen von La Chèvre de M. Seguin, La Mort du Dauphin, La Main und Naïs Micoulin durchaus überzeugen konnten. Durch Kürzen und Umformulieren gehen zwar auch in diesen Fällen inhaltliche und ästhetische Dimensionen sowie Bedeutungsebenen verloren, doch handelt es sich bei den Vereinfachungen immer noch um sinnvolle literarische Texte, die reizvoll sind, an denen man typische Charakteristika von literarischen Strömungen wie z.B. des Naturalismus oder von Genres entdecken und Textkompetenz aufbauen kann. Natürlich büßt die Vereinfachung von La Chèvre de M. Seguin die Lesarten ein, die um das Dilemma des Künstlers zentriert sind, die Easy-Readers-Fassung von La Mort du Dauphin ist kaum noch als Ballade en prose erkennbar und diejenige von Naïs Micoulin verliert die Korrespondenzen zwischen den unterschiedlichen Phasen der Liebesbeziehung und den verschiedenen Phasen des provenzalischen Sommers. Trotzdem bleibt erstere ein hochambiger Text mit zahlreichen aktualisierten Zeichenrelationen, der den Konflikt zwischen apollonischem und dionysischem Ideal inszeniert. Auch in der Vereinfachung von La Mort du Dauphin tut Kindermund auf berührende Weise den vanitas-Gedanken kund und die Easy-Readers-Fassung von Naïs Micoulin zeigt ebenso wie das Original, wie die Titelheldin von race, milieu und moment determiniert wird. Somit sind die genannten Vereinfachungen definitiv dazu geeignet, Textkompetenz sowie literarische und interkulturelle Kompetenz aufzubauen, echte Gesprächsanlässe zu liefern, zeitlose Konflikte zu offenbaren und die Lesemotivation zu erhalten, indem einzelsprachliche Hürden durch moderate Vereinfachungen abgebaut werden.

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Abschließend soll noch auf ungenutzte Spielräume zur Reduktion von Komplexität hingewiesen werden und einige Vorschläge zur Verbesserung der Adaptionsmaßnahmen und ihrer Angriffspunkte unterbreitet werden. Sehr umsichtig und sinnvoll erfolgt in den Easy Readers die Reduktion der Reichhaltigkeit des Vokabulars sowie die Reduktion von kontextabhängiger IMPLIZITHEIT auf lokaler und satzsemantischer Ebene. Wenn auf Synonyme und Hyperonyme in den Koreferenzketten der Originale verzichtet wird, dann hat das in den untersuchten Fassungen nie zur Tilgung von Evokationen geführt, dafür aber die Kohäsion gestärkt und die Anzahl wenig geläufiger Lexeme reduziert. Auch die gelegentliche Ersetzung von Pronomen durch ihren nominalen Bezugsausdruck, das Einfügen eines kurzen redeeinleitenden Satzes, die Ersetzung einer Gérondif- oder Partizipialkonstruktion durch einen Adverbialsatz, der die logische Verknüpfung der Propositionen expliziert, haben stets erfolgreich Implizitheit auf lokaler Ebene reduziert und das Herstellen von Kohärenz erleichtert, ohne Sinn oder Stil der Originale zu beschädigen. Diese Maßnahmen reduzieren zwar stets nur gering bis höchstens mäßig stark ausgeprägte Komplexität, können aber in der Summe dazu führen, dass ein wortsemantisch komplexer Text des 19. Jahrhunderts wie La Parure oder Naïs Micoulin für einen Französisch-Lerner deutlich leichter zugänglich wird und das Erfassen der Ereignisse der ersten semiotischen Ebene besser und schneller gelingt. Wenn diese Adaptionsmaßnahmen etwas häufiger eingesetzt werden und dabei auf eventuell aktualisierte Zeichenrelationen oder stilistische Elemente im Originaltext geachtet wird, dann könnten literarische Texte auf den Ebenen von Wort- und Satzsemantik, Kohäsion und lokaler Kohärenz und hinsichtlich der Anforderungen an das einzelsprachliche und lebensweltliche Wissen noch effektiver in ihrer Komplexität reduziert werden. Des Weiteren muss darauf geachtet werden, wie man einen optimalen Kompromiss zwischen semantischer und syntaktischer Vereinfachung erzielt. Wenn syntaktische Vereinfachungen regelmäßig zur Implizitheit der Satz-Frames beitragen, wichtige stilistisch vermittelte Bedeutungsbestandteile tilgen, wie in La Parure, oder einen Satz gänzlich unverständlich machen, was in der Vereinfachung von La Main durch Streichen eines Participe passé geschieht, dann hat das problematische Auswirkungen auf den Grad der semantischen Komplexität der Easy-Readers-Fassung, die kritisch abgewogen werden müssen. Schließlich ist mit Sicherheit der Umgang mit grammatikalischen Strukturen, die hohe Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen der Rezipienten stellen, verbesserungsfähig. In diesem Bereich irritierten die uneinheitlichen Modifikationen des expletiven ne, der Verneinung durch ne allein sowie des Passé simple. Durch Berücksichtigung der in dieser Arbeit zugrundegelegten Komplexitätsfaktoren Mehrdeutigkeit sowie Seltenheit könnte systematischer adaptiert werden.

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4 Komplexitätsreduktion in den Easy-Readers-Versionen

Grammatikalische Phänomene, die auf wenige Sprachniveaus, Textsorten oder die gehobene Schriftsprache beschränkt sind, sollten als komplex betrachtet und gerade für Französisch-Lerner nach Möglichkeit vereinfacht werden. Die dringendste Empfehlung für eine sinnvolle Komplexitätsreduktion ist allerdings ein Verzicht auf allzu umfangreiche Kürzungen sowie Umformulierungen von Zeichensequenzen, die wesentliche Evokationen auslösen können. Diese Adaptionen können zwar die Komplexitätsfaktoren 2, kontextabhängige IMPLIZITHEIT, sowie 3, Anforderungen an das WISSEN der Rezipienten, komplett aushebeln, löschen aber gleichzeitig wichtige Hinweise zur Bedeutungskonstruktion. Gerade nicht-mimetisch erzählende Novellen können kein Streichen von Kotextinformationen und aktualisierten Zeichenrelationen mitsamt ihren Evokationen verkraften: sie verlieren damit ihre wesentlichen sinnkonstituierenden Elemente und ihren Reiz und taugen auch nicht mehr zum gewinnbringenden Einsatz im Fremdsprachenunterricht. Komplexität, die aus Evokationen und Anspielungen resultiert, darf man nicht durch Tilgen derselben begegnen. Hier muss man sich andere Möglichkeiten einfallen lassen, die weder den Sinn des Textes beeinträchtigen noch seine Polyvalenz beschränken noch wertvolle Gelegenheiten zum Aufbau von Textkompetenz vergeben. Solche Möglichkeiten sollen am Schluss dieser Arbeit nochmals zum Thema gemacht werden.

5 Schlussbetrachtungen und Ausblick 5.1 Genese, Struktur und Bewertung des Modells der Textkomplexität Ziel dieser Arbeit war zunächst die Formulierung einer Definition semantischer und diskurstraditioneller Komplexität sowie die Entwicklung eines Modells zur Beschreibung und Beurteilung ebendieser Komplexität von (literarischen) Texten. Die getroffene Komplexitätsdefinition sowie das entsprechende Modell basieren auf textlinguistischen Theorien sowie aktuellen Forschungen zu Diskurstraditionen und wurden auf theoretisch-deduktivem Weg bestimmt. Das so erarbeitete Modell dient der Erstellung plausibler Komplexitätsprofile von Texten. Seine Anwendung auf ein Korpus von 15 Texten aus dem Bereich der französischen Kurzprosa ermöglichte textbasierte Einsichten in mögliche Ausprägungen von Komplexität und in die Wechselwirkungen zwischen diskurstraditioneller und semantischer Komplexität. Im Folgenden wird nochmals die Entwicklung unseres Komplexitätsbegriffs und -modells ausgehend von seinen zwei zentralen Prämissen nachgezeichnet und das Modell abschließend visualisiert und bewertet. Genese des Modells Die erste zentrale Grundlage des Modells für die linguistische Komplexitätsanalyse ist die Auffassung, dass es sich bei Texten per se um komplexe Zeichen bzw. emergente Größen handelt, deren Sinn über die Summe der einzelnen Zeichenbedeutungen weit hinausgeht. Somit kann der Textsinn nicht objektiv gegeben sein, sondern muss vom Rezipienten im Rahmen eines aktiven Prozesses und unter Hinzuziehung von verstehensrelevantem Wissen konstruiert werden. Diese Charakterisierung von Texten macht bereits deutlich, dass ein Modell zur Einschätzung ihrer semantischen Komplexität Kategorien enthalten muss, die auch die Komplexität erfassen, die im Impliziten sowie im Bereich der Wissensanforderungen, die ein Text an seine Leser stellt, begründet liegt. Weil diese beiden Aspekte wiederum zentrale Untersuchungsgegenstände der Frame-Semantik, der Coseriu’schen Theorie der Sprachkompetenz und seiner Umfeldtheorie sowie der Grice’schen Lehre der Implikaturen sind, wurde bei der Entwicklung des Modells der Textkomplexität in besonderem Maße auf diese Theorien und ihre Analyseinstrumente zurückgegriffen. Die offensichtliche «Erklärungslücke» zwischen der relativ festen Bedeutung der den Text konstituierenden Sprachzeichen und dem Textsinn kann geschlossen https://doi.org/10.1515/9783110655063-005

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5 Schlussbetrachtungen und Ausblick

werden, wenn man die fundamentale Rolle der Kontexte und die sinnbildenden Relationen zwischen dem Textganzen und seinen Teilen sowie zwischen den Textkonstituenten systematisch einbezieht. In einer Engführung germanistischer und romanistischer Forschung (Coseriu 1980/2007; Coseriu 1988/2007; Aschenberg 1999; Busse 2009, 2012; Gardt 2008a, 2013) wurden folgende Kategorien semantischer Komplexität entwickelt: «Leerstellen/Aussparungen», «Andeutungen/Evokationen», «suppletive Kontextbildung», «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen», «Kohäsion & lokale Kohärenz» sowie «Anforderungen an das elokutionelle, einzelsprachliche, diskurstraditionelle und lebensweltliche Wissen». Die zweite zentrale Grundlage der Arbeit ist die Einsicht, dass der Text das Produkt einer zweifachen Determinierung ist, im Zuge derer das Sprechen im Allgemeinen durch eine bestimmte einzelsprachliche Tradition determiniert und weiterhin durch Diskurstraditionen angeleitet wird (cf. Coseriu 1980/2007, 11). Daher sind die semantischen Merkmale eines Textes und die ihn prägenden Diskurstraditionen eng verzahnt. Die zweite Prämisse besagt daher, dass semantische Komplexität nur in Verbindung mit Diskurstraditionen und diskurstraditioneller Komplexität sinnvoll zu untersuchen ist, weil Diskurstraditionen die Gestaltung von Texten anleiten, Verstehensebenen festlegen und Interpretationsmöglichkeiten einschränken können. In einer textlinguistischen Weiterentwicklung der Diskurstraditionenforschung wurden vier Kategorien diskurstraditionell bedingter semantischer Komplexität in unser Modell integriert, die Wechselwirkungen von semantischer und diskurstraditioneller Komplexität erfassen. Es handelt sich dabei um die bereits erwähnte Wissenskategorie «Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen» und weiterhin «Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen», «Umgang mit den Grice’schen Maximen» sowie «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene». Damit ergeben sich insgesamt 14 Komplexitätskategorien: Tab. 83: Die 14 Komplexitätskategorien. .

Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen

.

Leerstellen/Aussparungen

.

Andeutungen/Evokationen

.

Umgang mit den Grice’schen Maximen

.

Komplexität in Bezug auf die suppletive Kontextbildung

.

Komplexität in Bezug auf Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen

5.1 Genese, Struktur und Bewertung des Modells der Textkomplexität

555

Tab. 83 (fortgesetzt )

.

Komplexität in Bezug auf Kohäsion & lokale Kohärenz

.

Komplexität in Bezug auf die Wortsemantik

.

Komplexität in Bezug auf die Satzsemantik

. Anforderungen an das elokutionelle Wissen der Rezipienten . Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen der Rezipienten . Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen der Rezipienten . Anforderungen an das lebensweltliche Wissen der Rezipienten . Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene

Die Ausprägung der Komplexität bezüglich dieser 14 Kategorien wird im Wesentlichen durch drei Komplexitätsfaktoren bestimmt. Die Tatsache, dass menschliches Sprechen und Schreiben regelgeleitetes Handeln ist, bei dem allgemein-universelle Regeln und Prinzipien des Sprechens, die Normen einer historischen Einzelsprache und Diskurstraditionen zur Anwendung kommen, birgt immer auch die Möglichkeit der intendierten Abweichung von diesen Regeln und Traditionen, was ein Indiz für Komplexität ist und dementsprechend den ersten Komplexitätsfaktor ABWEICHUNGEN konstituiert. Es ist unstrittig, dass Texte, die allgemein-universelle Regeln wie die Grice’schen Maximen befolgen, einzelsprachlich korrekt sind und gemäß den Traditionen einer bestimmten Textsorte verfasst werden, den Rezeptionsprozess erleichtern und das «richtige» Verständnis unterstützen. Bewusste Abweichungen von Regeln, Maximen und Traditionen des Sprechens hingegen vermitteln eine über das Gesagte hinausgehende Bedeutung, die der Leser mitunter im Rahmen eines anspruchsvollen Schlussprozesses und unter Hinzuziehung von zusätzlichem Wissen inferieren muss. Dasselbe gilt für das Unterlaufen von prototypischen Frames, die in einem Text instantiiert werden. ABWEICHUNGEN von Regeln und Traditionen des Sprechens sind also immer ein Indiz für das Vorliegen einer impliziten Bedeutung und ziehen somit automatisch den zweiten Komplexitätsfaktor, kontextabhängige IMPLIZITHEIT, nach sich. Hinsichtlich beider Komplexitätsfaktoren muss allerdings immer der Grad an Konventionalität berücksichtigt werden, der mit einer Abweichung oder einem impliziten Bedeutungsbestandteil verbunden ist. Aufgrund der Auffassung von Texten als emergenten Größen muss die semantische Komplexität eines Textes auch zu einem großen Teil im Impliziten liegen. Eine konsequente Auswertung der eng

556

5 Schlussbetrachtungen und Ausblick

verzahnten Annahmen und Modellierungen der Frame-Semantik sowie der Grice’schen Theorie der Implikaturen und Linke/Nussbaumers (2000a) Überlegungen zu den impliziten Anteilen des Textsinns erlaubte die Schlussfolgerung, dass nur das kontext- und sprecherabhängige, nichtwörtliche Implizite als komplex zu betrachten ist, das vom Rezipienten im Rahmen eines bewussten und wissensbasierten Schlussprozesses inferiert werden muss (cf. Busse 2012, 669). Der methodologische Zugriff der Frame-Semantik legte offen, dass die Komplexität des Impliziten ganz entscheidend durch die Art und Weise der Frame-Instantiierung in Texten und die vom Rezipienten aufzubringende Energie bei der Frame-Aktivierung bestimmt wird. Wenn implizite Bedeutungsanteile regelmäßig oder konventionell mit bestimmten sprachlichen Mitteln verbunden sind, dann wird das zu ihrem Verständnis nötige Wissen automatisch bzw. mit geringem kognitivem Aufwand evoziert. Auch wenn die Kohärenzherstellung aufgrund umfangreich instantiierter Frames problemlos möglich ist und automatisch ergänzte Standardwerte als Träger von Normalitätserwartungen Leerstellen zufriedenstellend füllen können, ist das Implizite als einfach zu werten. Finden sich in einem Text jedoch nur periphere Filler eines Frames, der für das Textverständnis wesentlich ist, so dass tiefgehendes Wissen aktiviert werden muss, um den Schluss auf den Frame-Kern zu leisten, und wenn prototypische Standardwerte offene Slots nicht füllen können, dann liegt Komplexität vor. In diesem Fall muss das verstehensrelevante Wissen vom Rezipienten invoziert werden, verlangt der Text ihm also aktive kontextbasierte Schlussfolgerungen ab (cf. Busse 2012, 669). Deshalb bezeichnen wir den zweiten Komplexitätsfaktor als kontextabhängige/nicht-konventionelle IMPLIZITHEIT. Der omnipräsente dritte Komplexitätsfaktor WISSEN ist sowohl an der Identifikation von ABWEICHUNGEN und kontextabhängiger IMPLIZITHEIT als auch an ihrer Verarbeitung beteiligt. Vier analytisch klar zu unterscheidende Wissenstypen (elokutionelles, einzelsprachliches, diskurstraditionelles und lebensweltliches Wissen), die für die Produktion und Rezeption von Texten unerlässlich sind, finden sich in unserem Analyseraster als Komplexitätskategorien wieder. Ihr Komplexitätsgrad wird im Fall des elokutionellen Wissens vornehmlich durch Abweichungen von den allgemeinsten Prinzipien des Denkens und der allgemeinen Kenntnis der Sachen (cf. Coseriu 1988/2007, 89ss.) erhöht und im Bereich des einzelsprachlichen Wissens durch seltene Elemente und Strukturen, die auf wenige Varietäten des Französischen beschränkt sind (cf. ib., 154). Diskurstraditionen erweisen sich als komplex, wenn sie auf einer definitorischen Setzung beruhen, sich durch ein hohes Maß an kultureller Spezifizierung auszeichnen, Teil einer größeren Konfiguration (z.B. Textgattung) sind und zahlreiche Dimensionen von Textualität formen (cf. Schrott 2015, 105s.). Beim lebensweltlichen Wissen erlaubt der Rückgriff auf Frames mit ihren klar definierten Konstituenten (Frame-Kern, Slots, Standardwerte, Filler), oberflächliches von

5.1 Genese, Struktur und Bewertung des Modells der Textkomplexität

557

differenzierterem Wissen zu unterscheiden und für die kognitiv entlastende Wirkung von Prototypikalität zu sensibilisieren. Letztlich kann aber jede Komplexitätskategorie (z.B. Andeutungen/Evokationen, Leerstellen etc.) durch ein starkes Wirken des Faktors WISSEN (z.B. bei den erforderlichen Inferenzen) hohe Komplexitätswerte erfahren. Die somit umrissenen Überlegungen zu den sinnbildenden Elementen und Umfeldern von Texten, die entsprechende Komplexitätskategorien bilden, sowie zu den wesentlichen Faktoren, die die Komplexität bezüglich dieser Kategorien bestimmen, mündeten in die folgende Definition semantischer und diskurstraditioneller Komplexität und ein entsprechendes Modell für die Textanalyse.

Struktur des Modells der Textkomplexität Die Komplexität eines (literarischen) Textes wird durch das Wirken der Faktoren 1. ABWEICHUNGEN von Normen und Traditionen des Sprechens und Schreibens sowie prototypischen Wissensrahmen, 2. kontextabhängige IMPLIZITHEIT und 3. Anforderungen an das WISSEN der Rezipienten in Verbindung mit quantitativen und qualitativen Kriterien sowie den Aspekten punktuelle vs. flächige Bedeutungsbildung, Grad der Konventionalität der Abweichung und Dauer des Offenlassens wesentlicher Slots auf 14 zentrale sinnkonstituierende Elemente, Umfelder und Merkmale von Texten (= Komplexitätskategorien) bestimmt. Die folgenden Komplexitätsfaktoren und -kriterien . . .

3. WISSEN

3. WISSEN

1. ABWEICHUNGEN

2. Kontextabhängige bzw. nichtkonventionelle IMPLIZITHEIT

… von Normen und Traditionen des Sprechens und Schreibens sowie von Wissensrahmen

3. Anforderungen an das WISSEN der Rezipienten

Quantität und Qualität? Quantität und Qualität? Konventionelle bzw. erwartbare Abweichung?

Punktuelle oder flächige Art der Bedeutungsbildung? Wie lange werden zentrale Slots offengelassen?

Schema 19: Komplexitätsfaktoren und -kriterien.

Quantität und Qualität?

558

5 Schlussbetrachtungen und Ausblick

. . . bestimmen die Ausprägung der Komplexität eines Textes in Bezug auf die folgenden Kategorien: Tab. 84: Komplexitätskategorien. Komplexitätsmerkmal bzw. -kategorie

Komplexitätsmerkmale:

Komplexität in Bezug auf die Dimensionen . . .

Anforderungen an das . . .

Aufwand der . . .

Ausprägung der Komplexität

Frame- bzw. Gattungsbrüche oder Gattungsmischungen (FB)

–

Leerstellen/Aussparungen (L)

–

Andeutungen/Evokationen (A)

–

Umgang mit den Grice’schen Maximen (M)

–

suppletive Kontextbildung (SK)

–

Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen (FT)

–

Kohäsion & lokale Kohärenz (KK)

–

Wortsemantik (W)

–

Satzsemantik (S)

–

elokutionelle Wissen der Rezipienten (EW)

–

einzelsprachliche (idiomatische) Wissen der Rezipienten (IW)

–

diskurstraditionelle Wissen der Rezipienten (DW)

–

lebensweltliche Wissen der Rezipienten (LW)

–

Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene (.E)

–

. . . wobei die Ziffern 0–6 Abkürzungen für die folgenden Ausprägungen von Komplexität sind: 0 – maximal einfach bzw. Komplexitätsmerkmal (FB, L, A) nicht vorhanden; 1 – sehr gering ausgeprägte Komplexität; 2 – gering ausgeprägte Komplexität; 3 – mittlere Komplexität; 4 – deutlich erhöhte Komplexität; 5 – hohe Komplexität; 6 – sehr hohe Komplexität bzw. maximal komplex im Korpuskontext.

5.1 Genese, Struktur und Bewertung des Modells der Textkomplexität

559

Das Modell belegt die zentrale Erkenntnis, dass die Komplexität von Texten grundsätzlich nicht auf einer absoluten Skala verortet werden kann, sondern nur relativ zueinander beurteilt werden kann. Bewertung des Modells Sowohl das Modell selbst als auch die vorangehende Zusammenfassung seiner Genese machen deutlich, dass ein semantisch komplexer Text hohe Anforderungen an die Bedeutungskonstruktion durch den Rezipienten stellt. Dieser muss bei ABWEICHUNGEN von sprachlichen oder sprachbezogenen Regeln und Traditionen auf den kognitiven Entlastungsfaktor verzichten, der mit letzteren verbunden ist, und er muss bei einem hohen Maß an kontextabhängiger IMPLIZITHEIT anspruchsvolle Inferenzen ziehen und die Wissensbestände parat haben, die dafür nötig sind. Somit erweist sich ein komplexer Text also in der Regel aus Sicht der Rezipienten auch als schwierig oder schwerverständlich. Deshalb wird die Plausibilität des hier entwickelten Komplexitätsmodells dadurch erhöht, dass es einige Faktoren enthält, die sowohl den intuitiven Erkenntnissen vieler Leser zu komplexen oder schwierigen Texten als auch den etwas unsystematischen Charakterisierungen komplexer Texte in den Bildungsstandards und deren Bezugswerk Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001) sowie bestimmten Ergebnissen der Textverständlichkeitsforschung entsprechen. Das hier vorgelegte Modell zur Beurteilung semantischer und diskurstraditioneller Komplexität folgert seine Erkenntnisse aber aus textlinguistischen, kognitionslinguistischen sowie text- und frame-semantischen Theorien und Modellen und liefert vor allem auch nötige Präzisierungen. Diese betreffen die Prägung textsemantischer Merkmale durch Diskurstraditionen, die Rolle von Abweichungen von Regeln und Traditionen bzw. Konventionen, die die Gestaltung von Texten anleiten, sowie Überlegungen zum Impliziten, das keineswegs automatisch komplex ist und ohne Anbindung an die Modellierungen der FrameSemantik und die Theorie der Implikaturen nach Grice (1989) kaum adäquat beurteilt werden kann. Die Entwicklung eines Analyserasters, das 14 Komplexitätskategorien enthält, die sich aus Überlegungen zur Konstituierung des Textsinns ergeben haben, bietet weiterhin den Vorteil, aufzeigen zu können, in welchen Bereichen Komplexität entstehen kann und wie sehr Texte sich hinsichtlich des Ortes ihrer Komplexität unterscheiden können. Die neben den drei großen Komplexitätsfaktoren (ABWEICHUNGEN, kontextabhängige IMPLIZITHEIT und WISSEN) identifizierten Kriterien (Erwartbarkeit, punktuelle vs. flächige Art der Bedeutungsbildung, Dauer des Offenlassens zentraler Slots sowie quantitative

560

5 Schlussbetrachtungen und Ausblick

und qualitative Faktoren), die die Komplexität der 14 Kategorien beeinflussen, resultieren ebenfalls aus der Auswertung der genannten Theorien und erleichtern sowohl die Bedeutungs- als auch die Komplexitätsanalyse eines gegebenen Textes. Ist eine Abweichung z.B. im Rahmen einer Textgattung hochgradig erwartbar, dann ist ihre Komplexität geringer zu bewerten als die einer spontanen Abweichung. Flächige Bedeutungsbildung ist gerade im Bereich der Andeutungen komplexer als punktuelle, weil sie eine viel intensivere Textanalyse voraussetzt, und ein auffällig langes Offenlassen zentraler Slots ist fast immer ein Indiz für Erwartungsbrüche, die sich in den meisten Fällen komplexitätssteigernd auswirken. Die Anbindung des Modells der Textkomplexität an Erkenntnisse der FrameSemantik, Textlinguistik und Forschung zu Diskurstraditionen sowie die Notwendigkeit einer exakten, an entsprechenden Kriterien ausgerichteten Bedeutungsanalyse im Vorfeld der Komplexitätsbewertung ermöglicht folglich innerhalb eines gewissen Rahmens eine objektive und zuverlässige Einschätzung der Ausprägung von Textkomplexität, verstanden als mehrdimensionale Größe. Nicht zu leugnende Unschärfen ergeben sich allerdings aus den noch zu vagen bzw. subjektiven Kriterien zur Beurteilung der Komplexität des verstehensnotwendigen einzelsprachlichen und lebensweltlichen Wissens, dem nicht hintergehbaren subjektiven Anteil bei der Bedeutungskonstruktion von Texten im Allgemeinen (der sich allerdings ebenfalls in einem gewissen Rahmen bewegt) (cf. Gardt 2013, 37) sowie der Schwierigkeit, zwischen der gattungsbedingten Konventionalität von Abweichungen (z.B. von den Grice’schen Maximen) einerseits und ihren komplexitätssteigernden Auswirkungen auf zahlreiche textsemantische Merkmale andererseits zu vermitteln. Von der entlastenden Wirkung von Konventionen profitieren nämlich nur die Leser, die mit ihnen vertraut sind. Außerdem ist die Einschätzung von Komplexität auf der Basis des hier entwickelten Modells unter praktischen Gesichtspunkten recht aufwendig, da sie eine ausführliche Bedeutungsanalyse voraussetzt, die die Aufdeckung jeder globalen Leerstelle, jeder Andeutung und jedes komplexitätssteigernden Lexems verlangt. Dennoch zeigt die konkrete Arbeit mit dem Modell, dass die Vorteile die Nachteile überwiegen, weil zum einen aussagekräftige Komplexitätsprofile von Texten generiert werden können, die bereits in graphischer Kurzform (cf. Komplexitätsdiagramme in Kapitel 3) eine recht genaue Vorstellung vom «Funktionieren» eines Textes und den Orten seiner Komplexität vermitteln können. Außerdem konnten auf der Grundlage des Modells neue Erkenntnisse zu den Wechselwirkungen von diskurstraditioneller und semantischer Komplexität und zum Zusammenhang von Komplexität und Ambiguität gewonnen werden, was im folgenden Abschnitt kurz resümiert werden soll.

5.2 Ergebnisse der Korpusanalyse und praktischer Nutzen des Modells

561

5.2 Ergebnisse der Korpusanalyse und praktischer Nutzen des Modells Im korpusbasierten Teil dieser Arbeit wurde das entwickelte Komplexitätsmodell auf 15 kurze Prosatexte verschiedener Genres mit unterschiedlichen Zielsetzungen angewandt, was die im Folgenden umrissenen Teilergebnisse generierte. In Kapitel 3.1 wurde anhand von Maupassants Erzählung La Main (1883), die als conte fantastique Vertreter einer stark normierten Gattung ist, demonstriert, wie unter Zuhilfenahme unseres Modells ein plausibles und umfassendes Komplexitätsprofil eines literarischen Textes erstellt werden kann. Dabei zeigte sich, dass eine conte fantastique des 19. Jahrhunderts aufgrund der Formung zahlreicher Aspekte von Textualität und ihrer recht hohen kulturellen Spezifizierung zwar hohe Anforderungen an das diskurstraditionelle Wissen der Rezipienten stellt, bei Verfügbarkeit dieses Wissens aber zahlreiche weitere Kategorien eine Entlastung erfahren. So kann sich insbesondere die gattungstypische Ambiguität, die sich in deutlichen Verstößen gegen die Grice’schen Maximen manifestiert, nur leicht bis mäßig komplex auswirken, weil der kundige Leser sie erwartet und ihre im Gattungsprofil geregelte Intention kennt. So konnte also die komplexitätsreduzierende Wirkung von Konventionen – in diesem Fall diskurstraditioneller Art – aufgezeigt werden. In Kapitel 3.2 wurden die Auswirkungen von Diskurstraditionen wie Textgattung, Gestaltung der Erzählsituation und des Textbeginns auf eine einzelne Komplexitätskategorie, die suppletive Kontextbildung, untersucht. Dabei wurde auch praktisch deutlich, dass das Instrument Frame für die Analyse von Komplexität unverzichtbar ist, da die genannten Diskurstraditionen sich unmittelbar auf die Instantiierung von Personen- und Orts-Frames auswirken. Folglich wird im Rahmen einer Frame-Analyse das Ausmaß von ABWEICHUNGEN und kontextabhängiger IMPLIZITHEIT sichtbar und beschreibbar. Auf diesem Weg wurde gezeigt, dass die Zielsetzungen naturalistischer Erzählungen zu einer zügigen, mit zentralen Slots beginnenden und äußerst umfangreichen Frame-Instantiierung führen, was mit einer besonders einfachen suppletiven Kontextbildung korreliert, die die erwartete Orientierung des Lesers im fiktionalen Universum umfassend leistet. Die Diskurstraditionen hingegen, die die moderne Kurzprosa des 20./21. Jahrhunderts prägen, (u.a. interne Fokalisierung und Dynamisierung des Textbeginns) haben konträre Auswirkungen auf die Instantiierung von Orts- und PersonenFrames: letztere werden langsamer und beginnend mit peripheren Slots gefüllt, und aufgrund der einzig verfügbaren Innensicht der Reflektorfigur müssen zahlreiche zentrale Slots auch gänzlich offen bleiben. Daraus ergibt sich eine hohe Komplexität der suppletiven Kontextbildung, weil der Rezipient aufgrund von Wissensdefiziten die Tragweite der in medias res beginnenden Handlung oft nicht

562

5 Schlussbetrachtungen und Ausblick

einschätzen kann, einmal aufgebaute Erwartungen häufig revidieren und zahlreiche Inferenzen ziehen muss. Treten zu diesen Spielarten der suppletiven Kontextbildung noch Frame-Brüche oder der Rückgriff auf lexikalische Ambiguität hinzu, dann können hochambige Figuren geschaffen werden, die orientierende Funktion der suppletiven Kontextbildung völlig ausgehebelt und ihre Komplexität auf die Spitze getrieben werden. In Kapitel 3.4 wurden derartige Beeinflussungen der semantischen Komplexität durch Diskurstraditionen auf mehrere Komplexitätskategorien untersucht und Wechselwirkungen identifiziert, die in regelrechte Komplexitätsmuster mündeten. Dabei zeigte sich, dass die untersuchten Diskurstraditionen – Textgattung und Gestaltung der Erzählsituation – den Umgang mit den Grice’schen Maximen auf allen literarischen Kommunikationsebenen regeln, was ganz wesentlich das Wirken der drei zentralen Komplexitätsfaktoren und damit das Komplexitätsprofil eines Textes bestimmt. Komplexitätsreduzierende Wirkung konnte dabei der auktorialen Erzählsituation sowie stark normierten Genres wie z.B. Prosaballade oder conte fantastique attestiert werden. Die auktoriale Erzählsituation zeichnet sich u.a. durch die «Nichtidentität der Seinsbereiche» (Martínez/Scheffel 1999/2012, 96) von narrateur und narrataire einerseits und den Figuren der Diegese andererseits aus. Somit ergibt sich für die Kommunikation zwischen Erzähler und Leserfigur die Notwendigkeit, die Grice’schen Maximen zu befolgen. Dank seiner Allwissenheit ist dem auktorialen Erzähler dies auch problemlos möglich, was insgesamt zu einem geringen Maß an ABWEICHUNGEN und kontextabhängiger IMPLIZITHEIT führt. Die Analyse der Korpustexte des 20./21. Jahrhunderts hingegen konnte vor allem ein diskurstraditionell bedingtes Ausstrahlen von Komplexität nachweisen. In mimetisch erzählender Kurzprosa zeichnet vor allem die Aufgabe der auktorialen Übersicht zugunsten einer internen oder externen Fokalisierung für deutliche Verstöße gegen die 1. Untermaxime der Quantität verantwortlich. Diese setzen den Komplexitätsfaktor kontextabhängige IMPLIZITHEIT in Gang, der die Komplexitätswerte der Kategorien «Leerstellen/Aussparungen», «suppletive Kontextbildung», «Frames/Frame-Systeme & die Etablierung von Themen» sowie «Aufwand der Bedeutungserschließung der zweiten semiotischen Ebene» in die Höhe treibt. Die Folge ist, dass der mit einem Informationsdefizit konfrontierte Leser zahlreiche und oftmals anspruchsvolle Inferenzen auf der Basis von zusätzlichem Weltwissen zu leisten hat, was auch den Komplexitätswert der Kategorie «Anforderungen an das lebensweltliche Wissen» deutlich ansteigen lässt.

5.2 Ergebnisse der Korpusanalyse und praktischer Nutzen des Modells

563

In zeitgenössischen nouvelles à chute treten zu den geschilderten Verstößen gegen die 1. Untermaxime der Quantität noch Verstöße gegen die Obermaxime sowie die 1. und 2. Untermaxime der Modalität (1. Vermeide Dunkelheit des Ausdrucks, 2. Vermeide Mehrdeutigkeit) hinzu, die dem Zweck des Aufbaus falscher Erwartungen, der Irreführung des Lesers und einem finalen Überraschungseffekt dienen. Somit kommt auch der 1. Komplexitätsfaktor, ABWEICHUNGEN, ins Spiel, was zu noch stärker ausgeprägten Komplexitätswerten der oben aufgeführten Kategorien sowie erhöhten Komplexitätswerten weiterer Kategorien (Andeutungen/ Evokationen, Wortsemantik) führt. Eine geballte und gleich starke Präsenz aller drei Komplexitätsfaktoren sowie überdurchschnittlich hohe Komplexitätswerte in zehn von 14 Kategorien konnten in nicht-mimetisch erzählenden Novellen entdeckt werden. Die bewusste Abkehr vom realistisch-illusionistischen Erzählen führt zunächst vor der Folie konventionell geltender Regeln, Traditionen und Schemata des Sprechens und Wissens zu mannigfachen ABWEICHUNGEN. Folglich erweist sich die Handlung der entsprechenden Erzählungen als inkohärent, unmotiviert oder unvollständig und können adäquate Lesarten nur unter Berücksichtigung der unauflösbaren Verbindung von Inhalt und Form, durch Einlösung der zahlreichen Evokationen und Aufdecken der vielfältigen Beziehungen zwischen bedeutungskonstituierenden Elementen verschiedenster Art aufgebaut werden. Dieser kontextbasierten IMPLIZITHEIT kann aber nur der Leser Herr werden, der hochgradig spezialisiertes diskurstraditionelles und literaturwissenschaftliches Wissen zur Herstellung der nötigen Inferenzen parat hat, was wiederum das starke Wirken des Faktors WISSEN erklärt. In Kapitel 3.3 konnten mit Hilfe unseres Komplexitätsmodells aufschlussreiche Zusammenhänge zwischen Ambiguität und Komplexität nachgewiesen werden. So wurden im Rahmen der Analyse dreier hochambiger Korpustexte weitere Ambiguierungsstrategien identifiziert. Dazu gehören beispielsweise die Verwendung mehrdeutiger Symbole verbunden mit der Erzeugung von Korrespondenzen zwischen expliziten Propositionen und Evokationen im Sinne Coserius (1980), die jeweils eine mögliche symbolische Bedeutung hervortreten lassen. Auch ein maximal langes Offenlassen zentraler Slots von Personen-Frames und das Ausnutzen von Lesegewohnheiten wie Inferenzbildungen auf der Grundlage instantiierter Frames können verknüpft mit einem bewussten Spiel mit Vagheit und feinen Abstufungen von Prototypikalität auf der Ebene der Frames subtile Ambiguität erzeugen. Schließlich kann die Inszenierung einer hochgradig inkohärenten Handlung durch das Unterlaufen von Frames und Verstöße gegen allgemein-sprachliche Normen eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten eröffnen. Da diese Strategien zur Erzeugung von Ambiguität offensichtlich auf den Komplexitätsfaktoren ABWEICHUNGEN, kontextabhängige IMPLIZITHEIT und WISSEN sowie Dauer des Offenlassens zentraler Slots basieren und dementsprechend die

564

5 Schlussbetrachtungen und Ausblick

Komplexitätswerte zahlreicher Komplexitätskategorien in die Höhe treiben, korreliert flächig auftretende Ambiguität mit einer hohen semantischen Komplexität eines Textes. Insgesamt hat die Korpusanalyse also die folgenden übergeordneten Erkenntnisse erbracht: – Die semantische Komplexität eines Textes – ihr Ort und ihre Intensität – wird ganz entscheidend durch seine diskurstraditionelle Prägung bestimmt. – Wenn ein narrativer Text eine prototypische Erzählsituation (auktoriale Erzählsituation, interne Fokalisierung bzw. Reflektormodus) aufweist und/ oder prototypischer Vertreter einer bestimmten Textgattung ist und keine konträren diskurstraditionellen Einflüsse aufweist (z.B. Gattungsmischungen), dann ist sein Komplexitätsprofil in weiten Teilen vorhersagbar. – Die Gestaltung der Erzählsituation sowie bestimmte literarische Genres setzen Wechselwirkungen zwischen den Komplexitätsausprägungen verschiedener Kategorien in Gang, die ihren Ausgang in der Regel beim Umgang mit den Grice’schen Maximen nehmen und deutliche Muster ausbilden. – Die Komplexität von Vertretern stark normierter Gattungen (conte fantastique, Prosaballade etc.) kann durch die Verfügbarkeit bzw. Bereitstellung des entsprechenden diskurstraditionellen Wissens entlastet werden. – Flächig auftretende Ambiguität, die sich auf der ersten und zweiten semiotischen Ebene manifestiert, ist ein sicherer Indikator für einen hochkomplexen Text, weil sie auf den in dieser Arbeit identifizierten Komplexitätsfaktoren beruht. Diese Ergebnisse basieren auch auf theoretischen Überlegungen zur Beeinflussung textsemantischer Merkmale durch diskurstraditionelle Prägungen, im Wesentlichen aber auf den erfolgten Textanalysen. Da deren Umfang verhältnismäßig gering war und unser Korpus nur jeweils drei bis vier Vertreter derselben Gattung enthält, können die erzielten Ergebnisse natürlich nicht den Rang korpuslinguistisch gesicherter Erkenntnisse beanspruchen. Sie zeigen aber Möglichkeiten auf, wie mit dem entwickelten Komplexitätsmodell weiter gearbeitet werden kann, um die entdeckten Komplexitätsmuster zu bestätigen, zu erweitern oder zu revidieren und weitere Muster für hier nicht betrachtete Genres aufzufinden. Trotz dieser Einschränkungen ergeben sich aus den durchgeführten Analysen starke Hinweise darauf, dass bestimmte semantische Merkmale und Strategien, das globale Ausmaß und der Ort der semantischen Komplexität eines narrativen Textes aufgrund seiner Gattungszugehörigkeit, der Gestaltung der Erzählsituation und des eventuellen Vorhandenseins von flächiger Ambiguität tendenziell festgelegt sind. Semantische und diskurstraditionelle Komplexität ist kein terrain vague, sondern durch Muster und Tendenzen bestimmt. Diese Determinierung

5.3 Dahinter steckt ein kluger Kopf – zum Umgang mit Komplexität

565

erstreckt sich mit Sicherheit nicht auf alle Kategorien – gerade die Komplexität der Kategorie «Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen» beispielsweise ist stark vom zeitlichen Abstand zwischen der Entstehung des Textes und seiner Rezeption oder dem individuellen Autorenstil abhängig. Dennoch kann die Einsicht in rekurrente semantische Strategien der Bedeutungsbildung und entsprechende Komplexitätsmuster zu einer effektiveren Komplexitätsanalyse von Texten beitragen, vor allem aber wertvolle Dienste beim Aufbau von Textkompetenz leisten. Wenn Lernenden nämlich die Prägung von Texten durch Diskurstraditionen und weitere sprachliche und sprachbezogene Normen und Traditionen bewusst gemacht wird, wenn ihnen diskurstraditionelles Wissen, Wissen über typische Formen der Bedeutungsbildung in bestimmten Genres und ihre musterhafte Ausprägung von Komplexität vermittelt wird, dann fördert dies sicherlich die Fähigkeit, auch weitere Vertreter dieser Genres zu verstehen und adäquat zu deuten. Ist einem Rezipienten beispielsweise das besondere Funktionieren nicht-mimetisch erzählender Novellenmodelle des 20. Jahrhunderts vertraut, die durch Abweichungen von konventionellen Regeln, Traditionen und Mustern Inkohärenz erzeugen und eine unauflösbare Verknüpfung von Inhalt und Form aufweisen, dann wird er gezielter Wege zur Konstruktion adäquater Lesarten von Vertretern solcher Genres finden können. Je umfangreicher also das Wissen über unterschiedliche Formen der Bedeutungsbildung und ihre Komplexität in unterschiedlichen Genres ist, desto kompetenter sollte der jeweilige Rezipient mit einer Vielzahl von Textexemplaren umgehen können. Das wiederum ist das erklärte Ziel der aktuellen Bildungsstandards für Deutsch und die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/Französisch) für die Allgemeine Hochschulreife (cf. z.B. die Standards zur Text- und Medienkompetenz, KMK 2012b, 20s.), um Schüler auf die Herausforderungen der Wissensgesellschaft vorzubereiten.

5.3 Dahinter steckt ein kluger Kopf – zum Umgang mit Komplexität Für drei der bekanntesten Vertreter der Textverständlichkeitsforschung, Inghard Langer, Friedemann Schulz von Thun und Reinhard Tausch, wäre wohl klar, wie mit textueller Komplexität umzugehen ist. Im Vorwort zu ihrem Longseller Sich verständlich ausdrücken sehnen sie den Tag herbei, an dem die Gestaltung von Texten sich ganz selbstverständlich an ihren vier Verständlichkeitsmerkmalen ausrichtet und Leser sich komplizierte oder komplexe Texte nicht mehr gefallen lassen:

566

5 Schlussbetrachtungen und Ausblick

«Wir hoffen sehr, dass der Tag nicht mehr fern ist, an dem eine einfache, geordnete, kurz-prägnante und anregende Gestaltung von Texten und Reden Einzug in unseren tagtäglichen Umgang mit Informationen findet, beruflich wie privat, und insbesondere in den Schulunterricht, in Fachhochschulen und Universitäten. [. . .] Eines Tages werden Textautoren, Lehrer, Professoren, Techniker und Politiker es kaum noch wagen, sich kompliziert auszudrücken. Denn Leser bzw. Hörer werden es sich nicht mehr bieten lassen, unnötig kompliziert informiert zu werden, weil sie wissen, dass Text- und Reden-Gestalter sie nachlässig behandeln, sie gar missachten oder sich nicht die Mühe machen zu lernen, sich verständlich auszudrücken» (Langer et al. 2006, 9).

Für die Textsorten, die die Psychologen bei ihren Aussagen im Blick haben, – Lehrbuchtexte, Gebrauchsanweisungen, Verträge, behördliche Verordnungen u.ä. – kann man die zitierten Forderungen nur unterstreichen. Wer einen Schrank aufbauen oder ein behördliches Formular ausfüllen muss, möchte in den entsprechenden Anleitungen weder mit einzelsprachlichen Abweichungen noch mit Fachtermini konfrontiert werden, keine Leerstellen füllen und keine Andeutungen einlösen müssen, sondern klar und einfach über die nötigen Arbeitsschritte informiert werden. In anderen Bereichen des Lebens aber bzw. innerhalb anderer Diskursuniversen – z.B. Literatur, Religion und Wissenschaft – hat es immer komplexe Texte gegeben und wird sich daran auch in Zukunft nichts ändern. Wer einen Roman oder eine Novelle zur Hand nimmt, der möchte Einblick in alternative Lebens- und Sinnentwürfe erhalten, Spannung, Unterhaltung oder ästhetischen Genuss erfahren, überrascht oder verwirrt oder von Sprache verzaubert werden und schätzt womöglich sogar Deutungsspielräume, die zum Diskutieren mit anderen Lesern einladen. Das sind ja gerade die Gründe dafür, dass literarische Texte so gerne im Fremdsprachenunterricht eingesetzt werden, weil Verständnishürden, Irritationen und Deutungsspielräume echten Anlass zum Austausch – in der Fremdsprache – bieten (cf. Glaap/Rück 2003, 133). Die beschriebenen Effekte haben literarische Texte aber gerade deswegen, weil die Faktoren ABWEICHUNGEN, kontextabhängige IMPLIZITHEIT und Anforderungen an das WISSEN auf sie einwirken und sie sich somit als komplexe Texte darstellen. Bei wissenschaftlichen Texten mag die oft zu konstatierende Komplexität zum Teil durch den dargestellten komplexen Sachverhalt begründet sein, zum Teil aber auch durch die anvisierte Rezipientengruppe. Eine wissenschaftliche Arbeit, die nicht als Einführung konzipiert ist, setzt natürlich fachliches Wissen voraus und verwendet die gängige Fachterminologie, was zu einem voraussetzungsvollen Text führt, der mit Sicherheit auch ein hohes Maß an kontextabhängiger Implizitheit aufweist. Somit handelt es sich um einen komplexen Text, der aber für seine Zielgruppe aufgrund ihrer Kompetenzen dennoch verständlich sein sollte. Aus diesen unhintergehbaren Tatsachen folgt letztlich

5.3 Dahinter steckt ein kluger Kopf – zum Umgang mit Komplexität

567

zwingend, dass Rezipienten dazu befähigt werden müssen, auch komplexe Texte zu verstehen und zu interpretieren. Dieselbe Einsicht liegt den Kompetenzbeschreibungen in den Bildungsstandards für Deutsch und die fortgeführte Fremdsprache zugrunde, die sich mehrfach auf komplexe Texte beziehen.

Was bedeutet dies nun im Kontext des Fremdsprachenunterrichts? Ein Ziel muss es sein, auch den Umgang mit komplexen Texten zu erlernen, komplexe Texte also gezielt für den Kompetenzaufbau zu nutzen. Folglich wirkt der Ansatz der Easy-Readers-Reihe, komplexe literarische Texte zu vereinfachen, auf den ersten Blick kontraproduktiv. In Kapitel 4 dieser Arbeit wurde zudem gezeigt, dass gerade nicht-mimetisch erzählende Novellen wie Christine oder Léviathan, bei denen das Wie der Darstellung für die Sinnkonstruktion mindestens ebenso wichtig ist wie die unmotiviert wirkende Handlung, keine Reduktion von Komplexität durch Kürzungen und alternative Formulierungen verkraften. Andererseits konnten die auf wort- und satzsemantischer Ebene ansetzenden Adaptionen, die die Reichhaltigkeit des Vokabulars reduzieren, lokale Kohärenz unterstützen und manche syntaktische oder grammatische Schwierigkeit tilgen, ohne dadurch im Original aktualisierte Zeichenrelationen mitsamt ihren Evokationen zu löschen, durchaus überzeugen. Wenn ein mimetisch erzählender Text also präzise analysiert und dann erst auf lokaler Ebene behutsam vereinfacht wird, wobei auf die in Kapitel 4.7 formulierten Empfehlungen zum Umgang mit komplexen einzelsprachlichen Strukturen geachtet wird, dann spricht aus unserer Sicht nichts gegen eine so praktizierte Komplexitätsreduktion mit dem Ziel, literarische Texte bereits zu einem frühen Zeitpunkt im Fremdsprachenunterricht einzusetzen. In weiten Teilen der Didaktik sind die Easy Readers zwar verpönt, doch kann man nicht ignorieren, dass geringe einzelsprachliche Kenntnisse in frühen Lernjahren den Einsatz einer Novelle von Maupassant oder Anna Gavalda unmöglich machen. Wenn eine conte fantastique wie La Main aber behutsam vereinfacht wird und damit die Komplexitätskategorien «Wort- und Satzsemantik», «Kohäsion & lokale Kohärenz» sowie «Anforderungen an das einzelsprachliche Wissen» eine Entlastung erfahren, dann bleibt die unauflösbare Ambiguität durch geschickte Inszenierung einer Maximenzwickmühle und Frame-Interaktionen erhalten und kann die Behandlung der vereinfachten Fassung auch schon in frühen Lernjahren zum Aufbau von Lese- und Textkompetenz beitragen und anregenden Austausch ermöglichen, ohne aufgrund von einzelsprachlichen Schärfen zu demotivieren. Gerade wenn die Alternative ein didaktisierter Lehrbuchtext ist, dann erscheint eine umsichtig vereinfachte Fassung von La Main, durch die

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5 Schlussbetrachtungen und Ausblick

das Genie ihres Verfassers immer noch hindurchscheint, für einen frühen Aufbau von Text- und Medienkompetenz nicht ungeeignet. Für den muttersprachlichen Literaturunterricht oder den Fremdsprachenunterricht in der Sekundarstufe II ist der Weg der Komplexitätsreduktion von literarischen Texten durch Eingriffe in die Textstruktur jedoch ganz klar abzulehnen. In diesem Kontext sollte man vielmehr gezielt komplexe Texte suchen, um an ihnen exemplarisch Lese-, Text- und Deutungskompetenz zu erwerben. Den Schulbuchverlagen kann man empfehlen, komplexe Texte nicht nur mit Vokabelerläuterungen zu versehen, sondern – analog zum Anmerkungsapparat in der Bibliothèque de la Pléiade – auch auf intertextuelle Anspielungen und weitere Evokationen im Sinne Coserius (1980) hinzuweisen. Damit erhielten Lerner wichtige Ansatzpunkte für die Suche nach weiterem Hintergrundwissen, das für die adäquate Deutung des literarischen Textes vonnöten ist. Für die Unterrichtsgestaltung bietet es sich an, komplexe Texte im Rahmen von Lernaufgaben zu behandeln. Aufgabenorientiertes Lernen, das sich zentral auf anspruchsvolle Aufgabenstellungen stützt und selbstständige Planung und Lernreflexion privilegiert (cf. Tesch et al. 2017, 12), gilt derzeit als geeigneter Weg, um die in den Bildungsstandards beschriebenen Kompetenzen aufzubauen (cf. Burwitz-Melzer/Caspari 2017, 246). Lernaufgaben zeichnen sich dadurch aus, primär inhaltlich und nicht sprachlich ausgerichtet zu sein, und sie beinhalten ein thematisch gerahmtes Arrangement aus Einzelaufgaben, die inhaltlich, sprachlich und methodisch auf eine Zielaufgabe vorbereiten (cf. ib., 247s.). Des Weiteren sollen Lernaufgaben von den Schülerinnen und Schülern als authentisch, relevant oder zumindest interessant und in jedem Fall als herausfordernd wahrgenommen werden, sie sollen sprachliche Lernprozesse auslösen, den Erwerb neuen Wissens erfordern und in ein sprachliches Produkt wie z.B. eine Rede oder einen Zeitungsartikel münden (cf. ib., 245s. mit Bezug auf Thonhauser 2010, 15s.). Natürlich können nicht nur die funktionalen kommunikativen Kompetenzen (Leseverstehen, Schreiben, Sprechen etc.), sondern auch die Standards im Bereich der Text- und Medienkompetenz durch Lernaufgaben gefördert werden. Wenn man berücksichtigt, dass die entsprechenden Standards (insbesondere auf erhöhtem Niveau) Lerner immer wieder dazu auffordern, ihr Erstverstehen und ihre Deutungsprozesse kritisch zu reflektieren und gegebenenfalls zu revidieren und gezielt Hintergrundwissen sowie Hilfsmittel zum vertieften Verstehen und Deuten von Texten heranzuziehen (cf. KMK 2012b, 21), dann bekommt man sehr schnell erste Ideen zur Integration der in dieser Arbeit analysierten komplexen Texte in Lernaufgaben. Wenn man komplexe Texte in Lernarrangements einsetzt, die zur Reflexion auffordern, Hinweise auf hinzuzuziehende Wissensbestände geben und Schüler die Erfahrung machen lassen, ein unzureichendes Erstverstehen durch bestimmte

5.3 Dahinter steckt ein kluger Kopf – zum Umgang mit Komplexität

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Strategien zu verbessern, dann kann der Umgang mit Komplexität geschult werden, Textkompetenz nachhaltig aufgebaut und die Komplexität bestimmter Textgattungen vielleicht sogar als Quelle von ästhetischem und intellektuellem Genuss erlebt werden. Prägnant formuliert und nicht nur auf Schülerinnen und Schüler bezogen findet sich das Lob komplexer Texte auch in Ulrich Greiners Aufruf Lest langsamer, Genossen! (Die Zeit (2018), Nr. 12), in welchem er dem schnellen Lesen im Netz zu Informations- und Kommunikationszwecken das langsame Lesen von komplexen Texten in Buchform gegenüberstellt, das seiner Ansicht nach neu gelernt werden müsse: «Schnell lesen zu können ist keine kleine Kunst. Die größere besteht jedoch darin, langsam lesen zu können. Nicht jeder schwierige Satz ist verunglückt, und nicht alles lässt sich in kurzen Hauptsätzen hinreichend sagen. In der Literatur gehören komplexe Satzgebilde, zum Beispiel bei Jean Paul oder Thomas Mann, zum erzählerischen Atem, zur erzählerischen Gestalt, und in der Philosophie sind sie oftmals die Bedingung des Erkenntnisgewinns. [. . .] Manches versteht man nur, wenn man es langsam liest» (Greiner 2018, 50).

Die Teilhabe an Wissen und Kultur erfordert es, den Umgang mit komplexen Texten und das langsame Lesen zu erlernen. Für die Heranführung an fremde Sprachen und Kulturen folgt daraus, dass komplexe Texte gezielt für den Aufbau einer kulturell verstandenen Textkompetenz genutzt werden müssen.

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Register Abgleichprozess siehe matching process Abweichung – intendierte ~ 29, 112, 115, 118, 119, 150, 152, 159, 168, 555 – konventionelle ~ 455 – poetische ~ 29, 150 – spontane ~ 176, 560 Adaption, Adaptionsmaßnahme 458, 460, 462, 484, 488 Adäquatheit 286, 298, 299 Adverbialsatz 486, 503, 551 Ähnlichkeit 29, 65, 103, 104, 115, 118, 163, 302, 303, 513 allgemeine Kenntnis der Sachen 72–74, 160, 166, 171, 222, 318, 372, 437, 556 allgemeine Prinzipien des Denkens 72–74, 121, 166, 171, 345, 437, 556 allgemein-sprachliche Kompetenz siehe Wissen, elokutionelles Alteration 409 Ambiguität – Auslöser von ~, Ambiguitätsauslöser 306, 308, 310, 374, 375, 376 – ~ im Diskurs 291–295 – ~ im System 292, 295, 307 – lexikalische ~ 293, 325, 426, 427, 430, 432, 455, 498, 500, 562 – syntaktische ~ 293 Ambivalenz 274, 284, 285, 289, 309, 430 Analogie 37, 67, 315, 489, 515–517 Andeutung siehe Evokation Annotation 414, 460, 463, 466, 480, 481, 498, 500, 542, 545 Anschlussbedingung siehe Subkategorisierungsbedingung Anschlussstelle siehe Slot Anspielung siehe Evokation – intertextuelle ~ 149, 341, 342, 507, 510, 540, 542, 543, 545, 548, 568 Anwendungssignal 349, 350, 351, 398, 400 Äquivalenz – ~prinzip 301, 302, 305, 374 – ~relation 302, 303, 346

https://doi.org/10.1515/9783110655063-007

Archaismus 50, 164, 215, 218, 222, 319, 370, 466–467, 476, 507, 527, 528 Argumentrolle siehe Rolle, semantische Ästhetizität 298, 301 Aufbauwortschatz siehe Grund- und Aufbauwortschatz Aufhebbarkeit 136, 138 Auflösung von Handlung und Held 282, 295, 437 Aufwand der Bedeutungserschließung 33, 34, 42, 119, 135, 154, 155, 167, 172, 218, 220, 221, 224, 245, 321, 323, 325, 326, 335, 340, 368, 370, 373, 377, 380, 382, 386–388, 392, 404, 408, 417, 418, 422–424, 430–432, 447, 449, 454–456, 496, 506, 507, 521, 524, 547, 554, 555, 562 Ausdruck, sprachlicher 46, 90, 97, 130, 140, 458 Ausdruckskette 89 Ausdrucksstruktur 90, 110, 112, 130 Auslassungspunkte 343, 501, 503, 504 Auslöser (für Inferenzen) 131, 144, 147 Aussparung siehe Leerstelle Autor, impliziter 38, 39, 125, 338, 407, 439 Autorinstanz, rekonstruierte 38 Autorintention 29, 42 Avantgarde 125, 439 Bedeutung – eigentliche ~ 33, 135, 160, 218, 302, 303, 349, 372 – implizite ~ 30, 64, 72, 82, 130, 137, 138, 139, 142, 147, 149, 150, 159, 455, 490, 504, 555 – konventionelle ~ 5, 46, 47, 109, 131, 136, 143, 145, 152, 439 – lexikalische ~ siehe wörtliche ~ – nicht-wörtliche ~ 151 – objektive ~ 35, 43, 78, 299, 553 – System~ 5, 43, 49, 302, 306, 345, 378, 498 – übertragene ~ 25, 26, 119, 133, 160

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Register

– wörtliche ~ 26, 97, 109, 140, 141, 145, 148, 162 – Zusatz~ 29, 30, 71, 115, 124, 150, 152, 159, 163, 166, 305, 337, 341, 370, 433, 442, 444, 452, 477, 480, 481, 493, 494 Bedeutungsähnlichkeit, bedeutungsähnlich 302, 472, 473, 531 Bedeutungsanalyse 6, 7, 77, 78, 81, 82, 144, 182, 285, 286, 289, 298, 299, 347, 368, 560 Bedeutungsbegriff, konstruktivistischer 75– 77 Bedeutungsbildung – flächige ~ 49, 50, 175, 178, 179, 378, 557, 559, 560 – punktuelle ~ 175, 178, 557, 559 Bedeutungsebene, Bedeutungsschicht 25, 26, 36, 39, 41, 42, 119, 126, 135, 156, 167, 172, 188, 218, 220, 221, 224, 245, 248, 277, 284, 300, 304, 311, 317, 320, 321, 323–326, 333, 335, 340, 345, 346, 364, 368, 370, 373, 376, 377, 380–382, 392, 395, 404, 408, 425, 433, 441, 442, 456, 457, 464, 496, 505–507, 510, 511, 521, 524, 525, 550, 554, 555, 558, 562, 564 Bedeutungselement 370, 441, 448, 449, 456, 511, 545, 549, 550 Bedeutungskonstruktion 5, 6, 48, 49, 51, 52, 56, 60, 63, 70, 74, 79, 80, 93, 114, 115, 125, 152, 172, 174, 177, 289, 405, 440, 441, 447, 456, 511, 527, 552, 559, 560 Beginn in medias res 228, 249, 250, 254, 272, 280, 310, 409, 412, 424, 426, 430, 561 Bewertung 30, 50, 52, 56, 63, 64, 78, 81, 89, 113, 119, 145, 146, 152, 153, 157, 159, 161, 169, 173, 174, 177, 178, 218, 237, 245, 247, 257, 290, 297–299, 323, 325, 337, 356, 387, 391, 392, 417, 440, 459, 460, 468, 491, 525, 527, 538, 546, 553, 559 Bezeichnung 13, 35, 43, 64, 72, 79, 108, 121, 128, 161, 164, 254, 276, 354, 366, 396, 473, 488, 548, 549

Bildungsdurchsichtigkeit, bildungsdurchsichtig 65, 68, 157 Bildungsstandards 1–3, 559, 565, 567, 568 Brief, literarischer 181, 349, 351, 368, 371, 375, 504, 506, 543 Charakterisierung 5, 13, 20, 24, 68–70, 79, 107, 137, 162, 163, 184, 186, 188, 190, 193, 195, 202, 214, 230, 239, 240, 276–278, 308, 347, 356, 360, 374, 381, 383, 395, 407, 423, 429, 434, 441, 553 chute 275, 288, 292, 309, 314, 317–319, 321–323, 391, 392, 397, 404, 432, 454, 491, 498 conte fantastique 10, 150, 176, 181, 184, 188, 193, 194, 195, 199, 202, 222, 223, 229, 380, 382, 393, 452, 547, 561, 562, 564, 567 Darstellungsfunktion 25, 65, 80, 433, 446 Dauer des Offenlassens (von Slots) 175, 176, 178, 255, 261, 262, 275, 289–291, 413, 557, 559, 563 default value siehe Standardwert Determinierung 43, 62, 70, 290, 386, 387, 388, 554, 564 Disambiguierung, disambiguieren 155, 162, 171, 293, 295, 497 Diskurstradition 22–24, 34, 36, 42, 43, 69, 70, 71, 108, 118, 119, 122–124, 146, 152, 153, 155, 156, 158, 166, 167, 169, 172, 173, 176, 184, 187, 190, 226, 245, 280, 285, 290, 300, 304, 308, 326, 348, 382, 393, 394, 431, 434, 451, 452, 457, 511, 527, 529, 557, 562, 565 diskurstraditionelles Wissen siehe Wissen Diskursuniversum 6, 9, 20, 26, 34, 35, 39, 41, 61, 69, 119, 127, 168, 566 Dunkelheit des Ausdrucks 122, 123, 157, 169, 201, 273, 309, 318, 338, 424, 455, 477, 525, 563 Dynamisierung des Textbeginns siehe Textbeginn

Register

Easy-Readers 8, 182, 183, 442, 457–552, 567 Effizienz, kommunikative 6, 82–87, 116 Eigenname 113, 140, 164, 170, 214, 215, 218, 236, 264, 317, 370, 469, 473, 484, 503, 507, 510, 529, 538, 545 Eindeutigkeit 17, 25, 26, 245, 503 Einfachheit 3, 5, 7, 139, 167, 169, 171, 172, 213, 230, 263, 320, 345, 350, 373, 379–381, 399, 404, 452, 453, 540 Einstieg in medias res siehe Beginn in medias res Einzelsprache 15, 35, 40, 43, 70, 74, 150, 163, 462, 477, 527, 555 einzelsprachliches (idiomatisches) Wissen siehe Wissen Eisbergmetapher 46, 52, 75, 79, 142 Elemente, sinnbildende 552, 557 Ellipse, elliptisch 59, 61, 64, 89, 91, 112, 116, 133, 147, 148, 165, 254, 320, 343, 385, 406, 457 elokutionelles Wissen siehe Wissen Entlastung (kognitive), Entlastungsfaktor (kognitiver) 9, 21, 22, 33, 40, 69, 115, 150, 167, 221, 337, 380, 381, 386, 452, 457, 559 Ergänzung 11, 105, 132, 198, 481, 482, 486 Ersetzung siehe Substitution Erstverstehen 568 Erwartbarkeit 6, 8, 21, 30, 70, 86, 150, 175, 176, 202, 210, 220, 221, 224, 311, 313, 317, 321, 375, 381, 382, 405, 440, 452, 460, 559, 560 Erwartung – Normalitäts~ 95, 98, 99, 101, 556 – semantische ~ 89 Erwartungsbruch 115, 151, 158, 170, 175, 176, 190, 274, 388, 405, 420, 424, 560 Erzählauftakt siehe Textbeginn Erzählen – mimetisches ~ 185, 248, 252, 263, 277, 283, 290, 323, 381, 405, 406, 414, 417, 419, 420, 432, 433, 435, 439, 452, 454, 562, 567

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– nicht-mimetisches ~ 277, 278, 280, 290, 291, 339, 340, 341, 379, 405, 432–434, 443, 451, 455, 456, 525, 526, 549, 552, 563, 565, 567 Erzähler – allwissender ~ siehe auktorialer ~ – auktorialer ~ 185, 187, 196, 238, 239, 245, 249, 260, 290, 350, 359, 380, 383, 404, 408, 419, 452, 453, 562 – autodiegetischer ~ 271, 310, 318, 320, 323, 421, 425, 426 – heterodiegetischer ~ 186, 187, 191, 201, 230, 233, 262, 267, 394, 395, 403, 408, 409, 411, 412, 421, 436 – homodiegetischer ~ 186, 396 – Ich~ 185, 192, 194, 230, 250, 275, 309, 310, 315, 317, 318, 320, 322, 323, 421, 429, 439, 461, 476, 512, 514, 519, 520, 523, 525, 540, 542 Erzählerkommentar 338, 491, 524, 525, 548 Erzählperspektive siehe Fokalisierung – Einschränkung der ~ siehe Perspektive Erzählsituation – auktoriale ~ 183, 186, 187, 230, 350, 380, 394–396, 404, 406, 452, 453, 562, 564 – Ich~ 186, 196, 230 – neutrale ~ 280 – personale ~ 185, 186, 250, 280, 407 Erzähltext siehe Text, narrativer Erzählung – Binnen~ 191, 192, 197, 200, 202, 210, 211 – fantastische ~ 125, 191, 193, 194, 196, 201, 202, 206, 210, 213, 219, 220, 224, 226, 291, 293, 294, 298, 300, 304, 381, 393, 396, 461, 473, 477, 496 – Rahmen~ 185, 191, 193, 194, 196, 230 – zeitgenössische ~ 272, 309, 310, 323, 324, 379 Etablierung von Themen 6, 56, 81, 104, 115, 118, 153, 155–158, 170, 176, 202, 210, 224, 275, 317, 318, 324, 338, 372, 379, 382, 386–388, 392, 395, 397, 399, 402, 404, 407, 408, 414, 417, 418, 422–424,

588

Register

427, 430, 431, 440, 448, 449, 455, 525, 554, 558, 562 Evokation 64, 68, 143, 175, 198, 319, 322, 357, 461, 490, 560 Evozieren 47, 68–69, 80, 81, 95, 111, 113, 114, 117, 145, 148, 155, 164, 170, 175, 195, 230, 264, 273, 281, 290, 295, 306, 311, 315, 326, 328, 332, 353, 354, 362, 375, 376, 381, 385, 439, 446, 492, 496, 513, 550, 556 Expertenurteil 288 expletives ne 529, 534, 536, 551 Explizierung 333, 338, 339, 343, 481, 533 Explizitheit, explizit 2, 11, 17, 18, 27, 31, 41, 45, 46, 48, 51, 55, 56, 59, 61, 63, 64, 74, 77, 80, 81, 99, 104, 110, 112, 113, 130, 138, 139, 142, 144, 145, 158, 163, 172, 185, 191, 192, 200, 210, 212–214, 226, 239, 247, 268, 279, 281, 283, 285, 290, 291, 299, 303–305, 311, 313, 323, 325, 328–330, 334, 336, 342, 343, 349, 350, 352, 356, 359, 360, 365, 368, 374, 375, 380–382, 394, 400, 404, 405, 417, 438, 442, 453, 480, 482, 483, 488, 490, 491, 503–505, 520, 538, 544, 563 expressives Wissen siehe Wissen Extension siehe Kommunikationsaufwand Fabel 33, 107, 361, 367, 369, 372, 374, 375, 380, 396, 398, 400, 404, 433, 442, 488, 544 Fachterminus siehe Fachwort Fachwort 87, 88, 164, 218, 221, 463, 469, 527, 528, 529, 566 falsche Fährte 271, 273, 275, 292, 294, 311, 317, 318, 375, 420, 424, 428, 430 Figuren (Personen) 63, 157, 163, 168, 183, 186, 187, 190, 196, 225, 226, 230, 232, 233, 235, 238, 239, 246, 250, 254, 255, 257, 259, 262–264, 268, 269, 271, 272, 282, 303, 306, 307, 310, 311, 338, 350, 360, 367, 386, 387, 388, 407, 417, 420, 422, 423, 426, 437–439, 441, 452–454, 463, 477, 505, 510, 524, 538, 540, 548 Filler 106, 118, 152, 157, 158, 165, 170, 171, 174, 176, 195, 196, 202–205, 206, 208–210, 229, 241, 241, 260, 269, 273,

285, 290–292, 314, 318, 319, 321, 324–326, 328, 330, 331, 338, 357, 371, 372, 375, 376, 378, 381, 382, 385, 414–416, 424, 432, 438, 443, 455, 463, 482–484, 515, 518, 519, 524, 545, 556 Flesch-Formel (Flesch-Reading-Ease) 4 Fokalisierung – externe ~ 187, 405, 406, 417, 420, 422, 431, 453, 562 – interne ~ 187, 230, 254, 261–263, 267, 272, 280, 290, 310, 318, 412, 414, 415, 423, 431, 453, 454, 561, 562, 564 – Null~ 187, 230, 249, 250, 262, 263, 267, 268, 394, 395, 403–406, 409, 410, 419, 421, 423 Fokalisierungswechsel 252, 262, 267–269, 403, 404, 409, 410, 421, 423 Formel 4, 20, 23, 24, 27, 28, 41, 71, 90, 232, 377, 401, 435 Frage, rhetorische 50, 135, 165, 320, 359, 371, 492, 545 Frame – ~Aktivierung 110, 113, 117, 145, 170, 556 – ~Bruch 118, 150, 153, 154, 157, 167, 168, 178, 202, 205, 206, 284, 321, 325, 328, 339, 342, 343, 345, 368, 371, 381, 388, 392, 439, 440, 448, 449, 453, 455, 496, 506, 547, 554, 558, 562 – ~Element 94–96, 98, 99, 101–103 – ~Instantiierung 98, 105, 113–115, 117, 156, 158, 170, 210, 255, 262, 311, 387, 400, 428, 432, 556, 561 – ~Kern 94, 96, 100, 104, 110, 112, 113, 117, 118, 147, 170, 174, 205, 229, 260, 416, 556 – ~Semantik 6, 48, 56, 82, 89–91, 93, 94, 96, 105, 111–113, 120, 133, 144, 146, 147, 148, 181, 553, 556, 559, 560 – ~System 6, 56, 78, 81, 102, 103, 104, 115, 118, 153, 158, 163, 164, 170, 176, 201–203, 209, 210, 224, 293, 319, 328, 331, 333, 334, 338, 353, 372, 374, 376, 382, 385, 387, 388, 390, 392, 395, 397, 399, 400, 402, 404, 407, 408, 424, 427, 430, 432, 440, 443, 444, 446, 448, 449, 453, 510, 515, 516, 525, 529, 545, 548, 554, 558, 562

Register

– ~Wissen siehe Wissen – Ersatz~ 107, 114, 117, 118 – Exemplar~ 97, 99, 100, 101, 165, 328, 330, 331 – Konzept~ 94, 95 – Matrix~ 97, 328 – Muster~ 99, 100, 101, 117, 328, 330 – Personen~ 105, 170, 176, 195, 196, 229, 230, 244–249, 250, 258, 259–271, 273, 283–285, 292, 310, 318, 325, 375, 378, 413, 426, 437–439, 477, 561, 563 – Prädikations~, prädikativer ~ 94, 95, 101, 165, 171 – Satz~ 101, 165, 166, 171, 173, 210, 211, 213, 343, 481–484, 524, 551 – Sub~ 107, 203, 209, 331, 382, 427, 428, 429, 455 – Textsorten~ 106, 108, 113, 118 – Textwort~ siehe Exemplar~ – token~ siehe Exemplar~ – type~ siehe Muster~ – Unterlaufen von Frames 114, 152, 334, 375, 555, 563 frame-gestütztes Textverstehen 30, 82, 105, 106, 108, 118, 153 français familier 163, 164, 468 français populaire 163, 164, 468 Französischunterricht 182, 183, 270, 279, 528 Fremdsprache 1, 164, 183, 458, 463, 565, 566, 567 Fremdsprachenlerner siehe L2-Lerner Fremdsprachenunterricht 8, 323, 457, 458, 484, 552, 566, 567, 568 Fremdwort 164, 215, 221, 469 Füllwert siehe Filler Funktion – ikastische ~ 66, 359 – metakognitive ~ 108, 114 – sprecherzentrierte ~ 36, 37, 39, 127 Gattung siehe Textgattung – stark normierte ~ 42, 396, 452, 561, 564

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Gattungsbruch 28–30, 36, 41, 42, 115, 150, 153, 154, 157, 168, 178, 202, 206, 321, 337, 338, 368, 371, 381, 392, 440, 448, 449, 453, 455, 506, 547, 554, 558 Gattungsmischung 30, 36, 41, 42, 115, 153, 154, 157, 167, 168, 178, 202, 206, 321, 368, 371, 381, 392, 440, 448, 453, 455, 506, 547, 554, 558, 564 geflügelte Worte 66, 157 Geläufigkeit 71, 153, 163, 164, 166, 171, 215, 315, 321, 393, 463, 470, 475, 529, 534, 537, 551 Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen (GeR) 1, 3, 459 Gemeintes 25, 34, 134, 136, 166, 171 Genre siehe Textgattung Gérondif, Gérondif-Konstruktion 200, 211, 213, 344, 486, 497, 501–503, 524, 529, 532–534, 551 Gestalthaftigkeit, Gestaltpsychologie 45, 46 Gestaltung, formale 304, 374, 382, 433, 447 Grice’sche Maxime siehe Maxime Grund- und Aufbauwortschatz 163, 164, 171, 215, 218, 222, 319, 321, 343, 344, 371, 468, 470, 488, 524, 548 Häufigkeit 4, 163, 164, 166, 212, 215, 218, 537 Hermeneutik 5, 38, 45, 51, 75, 80 Historizismus 113, 164, 315, 319, 343, 362, 370, 466–467, 476, 507, 508, 510, 527, 528, 543 Historizität der Diskurstraditionen 9, 11, 13, 15, 31 Homonym, Homonymie 155, 162, 171, 293, 497 Hyperbel, hyperbolischer Ausdruck 119, 135, 151, 160, 287, 493, 495, 549 Hyperonym 97, 470, 473, 475, 548, 551 Hyperonymtypenreduktion 97 Hyponym 97, 470 Illokution 6, 87, 111, 112, 116, 143 Implikation, semantische 137, 144, 146, 147 Implikatur – generalisierte konversationelle ~ 129, 137–140, 146, 147

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– konventionelle ~ 111, 129, 137, 138–140, 146, 147 – konversationelle ~ 48, 111, 119, 120, 124, 137, 139, 146, 147, 148, 150, 152, 160, 292, 305, 306 – partikularisierte (spezialisierte) konversationelle ~ 120, 129, 137, 146, 147 Implizites – Implizites I 142–145, 148, 151 – Implizites II 142 Implizitheit – kontextabhängige / nicht-konventionelle ~ 155, 159, 160, 173, 176, 197, 200, 210, 211, 223, 249, 257, 261, 269, 285, 289–291, 294, 308, 318, 325, 339, 341, 371, 373, 376, 378, 403, 405, 406, 413, 419, 422, 424, 431–434, 440, 449, 450, 452, 454–457, 459, 461, 462, 476, 477, 481, 482, 486, 487, 490, 495, 496, 503, 509, 524, 527, 547, 548, 551, 552, 564, 566 incipit – ~ dynamique 228, 249, 250, 254, 262, 263, 280, 408, 415 – ~ progressif 228, 234, 262, 263, 388, 396, 409 – ~ statique 228, 387, 388, 396, 415 – ~ suspensif 227, 228 Indikator (von Komplexität) 173, 188, 215, 308, 377, 462, 496, 564 Indirektheit 39, 119, 128, 129, 130, 133, 134, 151, 295, 297 Inferenz 30, 36, 47, 50, 51, 53, 54, 71, 72, 75, 78, 80, 81, 90, 91, 101, 104, 113, 118, 129, 130–132, 137, 139, 141, 143, 144, 147, 148, 152, 157, 160, 172, 174, 176, 179, 221, 231, 257, 267, 269, 283, 320, 337, 344, 375, 383, 401, 403, 408, 412, 418, 428, 437, 451, 454, 456, 457, 477, 486, 487, 504, 510, 513–515, 521, 557, 559, 562, 563 Informationsdefizit 124, 176, 196, 255, 269, 291, 562 Informationsdichte 2, 6 Inhaltsstruktur 90, 112, 130 Inkohärenz 326, 331, 333, 339, 343, 376,565

Inkongruenz, inkongruent 26, 27, 36, 39, 41, 73, 74, 127, 166, 171, 222, 283, 284, 287, 292, 326, 343, 438, 479, 527, 549 Innensicht 187, 196, 255–257, 261, 269, 291, 309, 395, 398, 399, 401, 407, 410, 412, 415, 426, 561 Instruktion 86, 87, 111, 112, 116 Intension siehe Kommunikationsergebnis Interpretation 12, 25, 26, 33, 36–38, 47, 50, 51, 54, 55, 60, 64, 73–75, 83, 97, 105, 109, 113, 114, 117, 119, 147, 149, 152, 160, 171, 179, 219, 220, 222, 229, 240, 247, 249, 257, 267, 270, 277, 283, 284, 285, 292, 293, 298, 299, 306, 313, 318, 325, 334, 335, 339, 340, 364, 366, 368, 372, 376, 386, 388, 389, 393, 395, 401–403, 408, 413, 417, 418, 423, 430, 431, 443, 446, 450, 452, 477, 480, 481, 484, 488, 513, 515, 519, 521, 525, 527, 529, 546 Interpretationsaufwand 34, 339, 380, 388, 417 Interpretationsmöglichkeit 22, 29, 36, 40, 69, 108, 167, 221, 331, 382, 391, 402, 452, 549, 554, 563 Intertextualität, intertextuell 66, 68, 78, 114, 157, 285, 286, 341, 348, 360, 362, 367, 369, 374, 375, 384, 442, 507, 544 Invarianten, strukturelle 99, 104, 110 Invozieren 109, 110–113, 117, 118, 145, 146, 148, 152, 556 Ironie – unstable irony 289, 334 Irreführung 318, 348, 427, 455, 563 Isotopie 53, 104, 115, 163 Junktion 156, 165, 224 Juxtaposition 200, 211, 292, 486 Kapazität 86, 112, 176, 177, 261, 294, 457, 507 Kognition, kognitiv – kognitive Aktivität 99, 110 – kognitive Entlastung, kognitiver Entlastungsfaktor siehe Entlastung (kognitive)

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– kognitive Leistung 110, 112 – kognitive Strategie 109 – kognitive Struktur 52, 94 – kognitiver Aufwand (Verarbeitungsaufwand) 30, 110, 111, 113, 117, 131, 144, 148, 442, 483, 556 – kognitiver Konstruktivismus 51 Kohärenz – globale ~ 55, 56, 81, 105, 158, 345, 397, 398, 399, 407, 440, 451 – lokale ~ 6, 55, 56, 81, 104, 105, 115, 118, 153, 156–158, 170, 176, 196, 199, 200–202, 211, 292, 320, 342, 343, 371, 395, 397, 399, 402, 404, 407, 440, 448, 451, 453, 462, 470, 475, 482, 502, 524, 547, 551, 554, 555, 558, 567 Kohäsion 6, 22, 53, 56, 81, 102, 104, 115, 118, 132, 153, 156–158, 170, 176, 196, 199–202, 211, 216, 292, 320, 342, 343, 371, 395, 397, 399, 402, 404, 407, 440, 448, 451, 453, 462, 470, 475, 482, 524, 547, 551, 554, 555, 558, 567 Kohäsionsmarker, kohäsive Mittel 55, 56, 81, 104, 158, 320, 342, 343, 482 Kommunikant 86, 112, 121, 177 Kommunikat 6, 88, 111, 177 Kommunikation – Autor-Leser~ 125, 185, 272, 292, 295, 297, 307, 309, 310, 325, 407, 422, 426, 439, 452, 453, 455, 457 – Kunst~ 125 – Normal~ 125, 294, 296, 297 – Sonder~ 296, 297 – ~ zwischen Erzähler und Leserfigur 225, 372, 452, 453, 455, 562 Kommunikationsaufwand 6, 89, 111, 112, 116, 118, 151, 152, 470 Kommunikationsergebnis 6, 86, 89, 111, 116, 151 Kommunikationsmodell der FrameSemantik 89–91, 105, 112, 113, 119, 133 Kompensation, verbale siehe Kontextbildung, suppletive Kompetenz 1–3, 5, 8, 11, 13, 19, 31, 61, 69, 71, 72, 76, 85, 91, 112, 116, 152, 160, 164, 176, 261, 289,

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294, 395, 413, 443, 457, 458, 460, 487, 496, 500, 507, 549, 550, 566–568 komplexe Größe, komplexes Zeichen 5–7, 37, 42, 43, 45, 46, 79, 87, 111, 553 Komplexität – Ausprägung von ~ 3, 7, 42, 50, 79, 81, 82, 147, 150, 154, 177, 178, 323, 405, 406, 408, 410, 448, 456, 553, 555, 558, 560, 564, 565 – Ausstrahlen von ~ 379, 405, 422, 425, 431, 453, 454, 456, 562 – Definition semantischer ~ 3, 82, 86, 148, 160, 173, 457, 553 – diskurstraditionelle ~ 3, 7, 9, 35, 42, 47, 49, 56, 61, 63, 69, 78, 79, 82, 89, 106, 113, 116, 118–120, 123, 124, 127, 146, 148, 153, 166, 173, 184, 187, 188, 190, 317, 377, 393, 394, 405, 451, 457, 527, 553, 554, 557, 559, 560, 564 – Reduktion von ~ siehe Komplexitätsreduktion – relative Beurteilung von ~ 173, 174, 177, 179 – semantische ~ 9, 15, 20, 21–23, 25, 26, 29, 34, 36, 39, 41–43, 47, 49, 50, 52, 56, 60, 61, 63, 68, 69, 71, 73, 75, 77, 78, 82, 89, 93, 95, 101, 102, 104, 110, 113, 116, 117, 119, 120, 127–131, 135–137, 140, 148, 153, 154, 164, 165, 173, 174, 177, 178, 180, 184, 185, 188, 212, 231, 294, 298, 299, 309, 317, 325, 335, 346, 376, 377, 394, 419, 437, 439, 440, 457, 463, 477, 480, 483, 487, 488, 490, 491, 496, 497, 501, 503, 504, 510, 526, 527, 548, 551, 564 – textsemantische ~ 17, 22, 23, 42, 45, 48, 79, 89, 90, 97, 164, 173, 174, 178, 181, 291, 299 – textuelle ~, Text~ 1–8, 17, 26, 36, 42, 43, 45, 49, 63, 74, 78, 88, 111, 116, 118, 151, 153, 154, 166, 173, 174, 219, 229, 291, 378, 432, 497, 553, 557, 559, 560, 565 Komplexitätsbegriff der Frame-Semantik 89, 111, 113, 118 Komplexitätsfaktor 7, 8, 152, 154, 155, 174, 176, 177, 179, 181, 289–291, 294, 324, 325, 345, 346, 369, 370, 371, 373, 376–378, 403, 405, 406, 419, 422, 424,

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431, 433, 434, 449, 450, 452, 454–456, 459, 461, 462, 476, 496, 509, 527, 547, 551, 552, 557, 559, 562, 563, 564 Komplexitätsgrad 6, 19, 23, 25, 28, 69, 86, 87, 113, 118, 156, 161, 172, 176–177, 179, 182, 198, 210, 263, 271, 375, 419, 556 komplexitätshemmend siehe Komplexitätsreduktion Komplexitätsindikator siehe Indikator (von Komplexität) Komplexitätskategorie 7, 45, 50, 56, 62, 69–71, 73, 74, 79, 80–82, 88, 104, 105, 108, 118, 124, 127, 135, 148, 158, 167, 168, 172, 173, 175, 177–179, 182, 188, 191, 199–202, 210, 218, 223, 224, 275, 290, 308, 326, 335, 337–341, 343–345, 368, 370–373, 382, 386, 388, 410, 412, 415–417, 420, 422–424, 434, 440, 456, 459, 482, 496, 506, 509, 524, 525, 547, 565, 567 Komplexitätsmerkmal 23, 33, 34, 39, 42, 50, 64, 102, 115, 123, 124, 136, 157, 168, 169, 174, 175, 178, 197, 199, 206, 224, 321, 371, 381, 463, 486, 487, 506, 558 Komplexitätsmodell 7, 154, 181, 187, 393, 529, 553, 559, 560, 561, 563, 564 Komplexitätsmuster 7, 156, 182, 183, 188, 379, 420, 432, 562, 564, 565 Komplexitätsprofil 7, 156, 179, 188, 193, 194, 223, 226, 291, 323, 344, 372, 409, 423–425, 452, 457, 509, 510, 525, 526, 528, 553, 560–562, 564 Komplexitätsreduktion, komplexitätsreduzierende Wirkung 8, 22, 88, 89, 193, 379, 386, 394, 397, 400, 405, 452, 461–462, 475, 481, 484, 485, 486, 501, 506, 509–511, 519, 521, 524, 526, 552, 561, 562, 567, 568 komplexitätssteigernd 6, 22, 27, 30, 32, 41, 74, 78, 88, 89, 113, 130, 135, 156, 160, 163, 166, 168, 174, 176, 193, 196, 202, 213, 220, 230, 252, 255, 257, 261, 263, 285, 291, 294, 307, 318, 337, 339, 343, 373, 379, 392, 401, 406, 408, 412, 413, 416, 430, 440, 455, 458, 461, 481, 560

Komplexitätswert 34, 36, 39, 40, 48, 50, 72, 74, 105, 128, 134, 135, 158, 168, 173, 176, 179, 182, 188, 190, 191, 194, 199, 201, 202, 213, 218, 224, 237, 262, 263, 268, 275, 290, 308, 325, 345, 373, 379, 382, 386, 392, 393, 394, 397, 413, 416, 432, 440, 456, 459, 482, 496, 506, 524, 525, 546, 557, 562, 563, 564 Kompositionalitätsthese 46 Konfiguration, diskurstraditionelle 15, 41 Kongruenz, kongruent 26, 39, 72–74, 102–104, 115, 127, 163, 196 Konjunktion 138, 165, 171, 200, 201, 211, 213, 281, 292, 460, 482, 486, 497, 502, 524, 531, 534 Konnektor 53, 56, 78, 138, 139, 158, 165, 170, 171, 200, 342, 399, 400, 482, 486, 502 Konnotation siehe Evokation Konstruktionsleistung 54, 55, 126, 146, 439 Konstruktivismus, konstruktivistisch 75–77 Kontext – Außer-Rede~ 58–61, 69 – außersprachlicher ~ 57, 64 – einzelsprachlicher ~ 58, 60 – Rede- bzw. Diskurs~ 5, 56–59, 63, 68, 80, 91 – situationeller, situativer ~ 5, 18, 57, 74, 139, 147, 152, 224, 292, 293, 306 – sprachlicher ~ 49, 56, 57, 63, 64, 74, 136, 139, 147, 152, 160, 162, 484, 497 – subjektiver ~ 56, 63, 69, 74, 80 – Wissens~ 293 kontextabhängige Implizitheit siehe Implizitheit Kontextabhängigkeit (kontextabhängig), Kontextsensitivität (kontextsensitiv) 106, 114, 129, 143, 147, 151, 160, 341, 368, 439, 482, 556 Kontextbildung, suppletive 62, 63, 78, 81, 89, 115, 118, 145, 158, 169, 174, 176, 179, 187, 190, 194, 196, 208, 224–227, 234, 239, 263–265, 276, 282, 285, 294, 308, 310, 317, 318, 326, 336, 338, 339, 362, 371, 373, 375, 379, 381, 382, 386, 392, 395, 396, 397, 400, 402, 404, 407,

Register

408, 415, 426, 430–432, 440, 448, 453–455, 506, 507, 524, 554, 558, 561, 562 Kontexttheorie siehe Umfeldtheorie Kontextualisierung 17, 22, 95, 105, 114, 115, 152, 271, 428, 455 Kontextunabhängigkeit, kontextunabhängig 129, 137, 148 Kontiguität 302, 303 Konvention, Konventionalität 19, 27, 30, 77, 78, 81, 108, 109, 128, 147, 149, 150, 161, 175, 176, 178, 224, 297, 285, 298, 299, 304, 334, 345, 374, 412, 555, 557, 559, 560, 561 konventionelle Bedeutung siehe Bedeutung Konzentration 83–85, 91, 112, 116, 152, 160, 248, 280, 289, 294, 301, 308, 397, 413, 415, 443, 454 Kooperationsprinzip 23, 26, 73, 127, 132, 136, 137, 146, 147, 150, 166, 221, 283, 461 Koordination 200, 211, 292, 486 Koreferenz 53, 158, 170, 201, 475, 485 Koreferenzkette 235, 254, 268, 269, 272, 275, 310, 318, 319, 426, 473, 474, 548, 551 Korrektheit, korrekt 71, 135, 217, 301, 327, 331, 338, 342, 437, 438, 455, 555 Kotext 47, 79, 80, 83, 91, 159, 175, 217, 292, 293, 306, 344, 436, 446, 481, 482, 497, 498, 552 Kurzfiktion 182–184 Kurzprosa 3, 7, 181, 183, 229, 405, 454, 553, 561, 562 L2-Lerner 460, 461, 463, 475, 497, 501, 528, 534, 537, 543, 546 langue 13, 71, 315, 531 langue courante 153, 164, 166, 171, 320, 321, 344, 463, 470, 548 lebensweltliches Wissen siehe Wissen Leerstelle 63, 64, 68, 69, 77, 81, 88, 102, 118, 143, 152–154, 156–158, 169, 174, 178, 179, 196–198, 202, 211, 213, 223, 224, 275, 294, 317, 318, 324, 339, 371, 377, 395, 400, 402, 404, 412, 418, 422, 424, 430, 431, 440, 448, 453, 455, 482, 524, 547, 554, 558, 562

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Lehre (Moral) 33, 34, 167, 172, 348, 351, 352, 355, 360, 361, 384–386, 400, 404, 495 Lehrplan 191, 340, 537 Leitfaden, kultureller 13, 40 Lernaufgabe 568 Lesart – symbolische, symbolisch verschlüsselte ~ 78, 300, 355, 441, 511, 515, 522, 524, 526 Lesartenüberlagerung 20, 34, 300, 360 Lesbarkeitsforschung 4 Lesbarkeitsindizes 4 Lesekompetenz 2, 3 Leser – empirischer ~ 238, 260, 261, 264, 269, 310, 398, 400, 403, 408, 413, 414, 422 – impliziter ~ 125, 185, 195, 303, 338, 407 Leserfigur siehe narrataire Leseverstehen 1, 2, 568 Lexem 48, 67, 71, 95, 97, 100, 101, 105, 106, 110, 111, 114, 131, 133, 137, 152, 155, 159, 166, 171, 172, 174, 178, 209, 214, 215, 218, 222, 273, 284, 288, 292, 306, 310, 311, 318–321, 343, 362, 365, 368, 369–371, 375, 376, 385, 390, 426, 427, 441, 443, 445, 460, 476, 478, 488, 490, 501, 507, 509, 518, 524, 529, 548, 551, 560 Lexemkette 105 Lexik, lexikalisch 5, 46, 49, 53, 56, 78, 82, 87, 88, 97, 99, 101, 109, 111, 140, 141, 145, 148, 157, 158, 160–162, 164, 175, 201, 213, 214, 215, 222, 303, 307, 311, 320, 325, 342, 346, 369, 370, 374, 379, 426, 427, 430, 432, 445, 455, 475, 476, 498, 501, 508, 527, 548, 562 literarischer Brief siehe Brief Literatur, fantastische siehe Erzählung littérature engagée 37, 245 Märchen 24, 28, 174, 188, 189, 350, 365, 380, 381, 537 matching process 106, 114, 117 Maxime, Grice’sche Maxime – Ausbeutung einer ~ 123, 130, 132

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– Beugung einer ~ 41, 123–125, 128, 147, 157, 339, 372, 376, 457, 461, 476, 547, 549 – Bruch/Brechen einer ~ 122, 123, 190, 309, 339, 343, 379, 452 – Maxime der Modalität (Modalitätsmaxime) 26, 30, 39, 121, 122, 125–127, 133, 135, 136, 146, 147, 150, 151, 169, 190, 202, 216, 219, 223, 272, 273, 291, 292, 309, 310, 320, 324, 338, 339, 345, 372, 379, 403, 405, 408, 412, 427, 431, 438, 444, 452, 455, 477, 487, 490, 493, 494, 496, 525, 547, 549, 563 – Maxime der Qualität (Qualitätsmaxime) 39, 74, 121, 122, 124–126, 133, 146, 160, 197–199, 201, 202, 291, 309, 338, 372, 455, 461, 476, 481, 496 – Maxime der Quantität (Quantitätsmaxime) 74, 121, 122, 133, 135, 144, 146, 147, 151, 157, 197, 199, 201, 202, 219, 223, 272, 273, 291, 292, 309, 310, 317, 318, 324, 338, 339, 345, 372, 379, 396, 405, 407, 408, 411, 412, 426, 431, 438, 439, 453–455, 461, 476, 477, 481, 496, 525, 547, 562, 563 – Maxime der Relevanz (Relevanzmaxime) 121, 122, 125, 126, 127, 130–133, 146, 160, 201, 202, 338, 372, 455, 476, 481 – (scheinbare) Verletzung einer ~ 41, 74, 123–125, 132, 135, 155, 157, 182, 201, 202, 223, 273, 305, 309, 317, 318, 320, 324, 376, 455, 461, 476, 477, 481, 496, 547 – Umdeutung einer ~ 128, 146, 157, 223, 292, 309, 317, 452 – Umgang mit den Grice’schen Maximen 36, 39, 41, 42, 73, 88, 119, 124, 127, 128, 135, 146, 153, 179, 196, 201, 202, 223, 317, 324, 339, 373, 377, 381, 395, 402, 404, 408, 412, 418, 419, 422–424, 430, 431, 440, 448, 455, 496, 525, 547, 554, 558, 562, 564 Maximenkollision 123, 124, 132, 197–199, 202, 219, 461, 496

Maximenzwickmühle 197, 223, 291, 293, 461, 567 Mehrdeutigkeit siehe Ambiguität Mehrwertstruktur, literarische 303, 305, 356, 374 messbar, Messbarkeit, messen 4, 33–35, 82, 85–87, 126, 166, 177, 194, 198, 212, 218, 223, 263, 343, 371, 376, 463, 545 Metapher – innovative ~ 161, 162, 214 – klischeehafte ~ 161 – kreative ~ 161, 162, 214 – lexikalisierte ~ 160, 161, 215, 218, 222 Metaplasmus 159, 218, 343 Metonymie 135, 147, 151, 160–162, 214, 216, 284, 288, 304, 305, 517 Milieutheorie 231, 232 Mimesis, literarische 307, 309, 311, 315, 321, 324, 368, 424, 426, 430, 432, 455 Mittel, rhetorisch-stilistische 14, 50, 305, 359, 360, 363, 369, 371, 508 Modalitätsmaxime siehe Maxime Modell der Sprachkompetenz 6, 9, 10, 12, 13, 21, 70, 553 Moderne 7, 276, 282, 295, 298, 299, 433, 437, 439 Moral siehe Lehre Motivation (der Figuren) 247, 284, 395, 401, 403, 407, 408, 453 Motivierung (der Handlung) 54, 55, 64, 77, 80, 152, 157, 169, 173, 174, 257, 262, 318, 339, 343, 400, 401, 406, 411, 412, 417, 426, 437, 461, 496, 549, 567 Muster 22, 27–30, 40, 68, 100, 101, 109, 115, 148, 150, 151, 157, 168, 174, 197, 209, 325, 337, 376, 377, 378, 381, 403, 414, 433, 435, 437, 439, 454, 455, 459, 496, 528, 538, 546, 564, 565 Nähe-Distanz-Modell 16, 62 Namensnennung, unvermittelte 250, 251, 264, 409, 426 narrataire 63, 225, 229, 238, 245, 250, 251, 260, 263, 264, 338, 394, 396,

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398–400, 403, 419, 421, 422, 426, 453, 562 Naturalismus 226, 231, 245, 386, 387, 393, 396, 423, 431, 550 Netzwerke 102–104, 163 Nichtabtrennbarkeit 136 Nominalgruppe – definite ~ 251, 264, 409 – indefinite ~ 170, 195, 229, 250 Norm siehe Regel Normaltext 163, 164, 463, 527 Nouveau Roman 30, 228, 408, 440, 451 nouvelle à chute 62, 124, 125, 176, 182–184, 229, 269, 270, 291, 292, 294, 308–310, 321, 323, 325, 375, 377, 379, 388, 392, 405, 416, 425, 433, 454, 455, 490, 563 Novelle – illusionistisch erzählende ~ 248, 309, 432 – naturalistische ~ 10, 62, 181, 229, 264, 269, 290, 387, 388, 392, 393, 395, 397, 415, 475 – nicht-illusionistisch erzählende ~ 248, 275, 283, 289, 433 – psychologische ~ 182, 248, 252, 253, 262, 268, 309, 388, 408, 411, 423, 425, 491, 542, 549 – sozialkritische ~ 182, 248, 252, 253, 259, 260, 262, 408, 411, 468, 480 – surrealistische ~ 182, 248, 262, 269, 279, 284, 285, 291, 292, 326, 337, 339–341, 375, 432, 434, 441, 448, 450, 476 – symbolische ~ 181, 184, 248, 262, 275, 277, 300, 432, 435, 441, 442, 448, 450, 476, 504, 510, 511, 525, 526, 549, 550 Offenheit 14, 21, 49, 68, 77, 157, 458, 460, 481 Offenlassen (von Slots) 143, 145, 176, 219, 255, 265, 269, 271, 291, 318, 373, 375, 376, 378, 496, 524, 560, 563 Orientierung 1, 7, 18, 22, 37, 41, 55, 62, 63, 78, 81, 98, 102, 117, 158, 168, 178, 184, 185, 194, 196, 225, 229, 230, 264, 268, 269, 275, 381, 382, 393, 413, 420, 561

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Orientierungslosigkeit 338, 340 Ort 12, 15, 36, 40, 51, 58, 59, 67, 96, 158, 161, 164, 169, 225, 232, 239, 245, 249, 250, 253, 254, 265, 265, 280, 281, 290, 293, 311, 359, 381, 395, 396, 407, 413, 414, 425, 476, 480, 529, 540, 559, 560, 564 Participe présent, Partizip, Partizipialkonstruktion 165, 200, 211–213, 222, 321, 344, 371, 460, 486, 487, 497, 503, 524, 529, 532–534, 548, 551 Passé simple 529, 534, 536, 537, 538, 551 passe-partout-Wort 343, 438, 472 Passivkonstruktion 165, 211 Personen siehe Figuren Perspektive – Außen~ 380, 394, 453 – Einschränkung der Erzählperspektive 187, 196, 230, 394, 405, 406, 422, 453 – Innen~ 256 PISA 1 Polysem, Polysemie 155, 162, 171, 284, 289, 291–293, 310, 319, 325, 338, 343, 376, 426, 427, 438, 479, 497, 498, 500, 501 Polyvalenz, polyvalent 26, 36, 57, 248, 297, 299, 303, 321, 334, 341, 347, 363, 368, 375, 423, 431, 446, 447, 456, 477, 488, 496, 504, 505, 511, 519, 526, 550, 552 Prädikation, epistemische 96 Pragmatik 71, 143, 144 Prägung, diskurstraditionelle 183, 564 Präsupposition – pragmatische ~ 132, 139, 146, 148 – semantische ~ 120, 137, 146, 148 prima facie Verstoß 128, 130, 134, 147, 440 Pronomen – kataphorisches ~ 264, 413 – ~ ohne Antezedens 250, 251, 254, 264, 407, 409 Proposition 6, 87, 111, 112, 116, 138, 139, 140, 143, 165, 170, 211, 298, 342, 344, 356, 481, 486, 533, 551, 563

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Register

Prosaballade 10, 181, 229, 380, 382, 384, 385, 396, 498, 545, 562, 564 Prototypikalität, prototypisch 7, 28, 93, 98, 106, 114, 117, 118, 151, 152, 157, 168, 172, 175, 193, 200, 202, 233, 285, 289, 290, 294, 311, 314, 319, 326, 334, 337, 348, 375, 376, 380, 393, 416, 420, 427, 429, 440, 446, 448, 457, 476, 481, 547, 555–557, 563, 564 Qualität, qualitativ 6, 7, 21, 23, 25–28, 30, 32, 34, 36, 45, 87–89, 113, 116, 118, 119, 121, 146, 153, 166, 167, 174, 178, 179, 181, 190, 214, 221, 301, 357, 401, 448, 463, 486, 492, 557, 560 Qualitätsmaxime siehe Maxime Quantität, quantitativ 21, 23, 24, 32, 39, 40, 41, 67, 87–89, 121, 152, 166, 173, 174, 178, 179, 181, 190, 221, 320, 328, 331, 338, 369, 370, 492, 557, 559 Quantitätsmaxime siehe Maxime Rätselhaftigkeit, rätselhaft 126, 201, 209, 294, 407, 481, 497, 504, 505, 512, 519 Raum 58, 59, 61–63, 67, 198, 203, 211, 225, 226, 229, 249, 259, 271, 336, 343, 377, 439, 461 Rede, wiederholte 66, 157, 366, 374 Redefigur 119, 133, 135, 147 Redeuniversum siehe Diskursuniversum Redundanz, redundant 156, 305, 475, 485 Referent 54, 65, 229, 264, 320, 475, 484, 485 Reflektorfigur 249, 250, 253–255, 257, 260, 261, 269, 271, 280, 291, 309, 406, 407, 413, 415, 561 Reflektormodus 250, 256, 403, 407–409, 420, 564 Regeln – allgemein-sprachliche ~ 10, 12, 13, 30, 122, 146, 173, 326, 555 – ~ der Logik 327, 437 – ~ des korrekten Argumentierens 327, 338, 342, 437, 438, 455

– einzelsprachliche ~ 10, 12, 15, 43, 44, 71, 124, 159, 173, 176, 216, 217, 222, 477, 478, 480 – grammatikalische ~ 43, 72, 166, 378 – sprachbezogene ~ 337, 457, 559 – sprachliche ~ 337, 457, 559 – syntaktische ~ 43, 46, 166, 171, 378 Regionalismus 50, 164, 370, 469, 527, 528 Register 87, 163, 537 Reichhaltigkeit des Vokabulars 459, 462, 473, 475, 476, 485, 548, 551, 567 Reinterpretation 455 Rekurrenz, rekurrent 20, 40, 78, 104, 158, 183, 201, 320, 334, 342, 360, 439, 445, 447, 475, 490, 521, 548, 565 Rekursivität (von Frames) 96, 97, 102 Relation – epistemische ~ 95, 99 – ~ in/innerhalb von Frames 54, 55, 102, 103, 333, 338, 440, 443, 446 – semantische ~ 55, 140, 470 Restitution, verbale siehe Kontextbildung, suppletive Rezeption 6, 7, 15, 18, 19, 22, 45, 51, 53, 54, 70, 75, 78, 90, 112, 113, 121, 132, 148, 153, 221, 278, 306, 335, 341, 381, 382, 392, 393, 398, 555, 556, 565 Rezipient – relativ zum Rezipienten 23, 39, 40, 166, 190, 215, 540 Rolle, semantische 90, 94, 165, 211, 213 Routine, kommunikative 14, 31–33, 172 Sabotage 126, 135, 439 Sättigung, informative 227, 229–231, 235, 396 Satz – redeeinleitender ~ 460, 484, 485, 551 – strukturell ambiger ~ 165 – tautologischer ~ 165 Satzfigur 50, 135, 166, 171, 212 Satzrhythmus 213, 359, 371, 490, 492, 548

Register

Satzsemantik 50, 71, 72, 118, 119, 135, 153, 155–157, 165, 171, 173, 179, 210, 211, 213, 222, 292, 320, 343, 344, 371, 448, 451, 476, 481, 496, 497, 501, 524, 547, 551, 555, 558, 567 Schema siehe Frame – narratives ~ 30, 282, 433, 437, 455 Schlagwort 164, 165 Schlusspointe 416, 431 Schlussprozess 68, 119, 129, 130, 132, 137, 139, 147, 148, 152, 167, 179, 482, 555, 556 Schriftsprache 222, 321, 344, 467, 468, 524, 530, 552 Schwerverständlichkeit, schwer verständlich 3, 5, 7, 293–295, 437, 538, 559 Schwierigkeitsbegriff 8, 459 Selbstbezüglichkeit, selbstbezüglich 297, 301, 303, 374 Selbstreferentialität siehe Selbstbezüglichkeit Selektion (Achse der Selektion) 302, 374, 406 Seltenheit 71, 222, 282, 532, 534, 537, 546, 551 Semantik 27, 71, 93, 118, 143, 144, 501 semantisch unterdeterminiert 211, 501, 503, 534 semiotische Ebene siehe Bedeutungsebene Sequenz 66, 345, 366, 552 Setzung, definitorische 21, 23, 31–33, 41, 166, 175, 190, 393, 527, 556 signifiant, Signifikant 35, 43, 66, 79, 104, 159, 222, 301, 302, 305, 359 Sinn 5, 8, 12, 26, 28, 33, 35, 39, 52, 60, 63, 64, 67, 68, 82, 89, 126, 135, 136, 142, 144, 154, 157, 163, 167, 171, 172, 212, 218, 220, 228, 277, 295, 296, 299, 307, 308, 325, 345, 346, 358, 360, 368, 370, 376, 382, 383, 386, 390, 433, 434, 437, 440, 442, 443, 460, 478, 481, 487, 491, 496, 505, 506, 509, 527, 547, 548, 549, 551–553, 556, 559 Situation – außersprachliche ~ 47, 56, 79, 81

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– erzählte ~ 63, 225, 233, 245, 248, 252, 262, 271, 272 – Kommunikations~ 20, 24, 25, 34, 37, 42, 63, 185, 225 – nicht-sprachliche ~ 61, 80, 91, 224 Situierung (der Handlung) – räumliche ~ 229, 235, 263, 268, 271, 413, 417 – zeitliche ~ 174, 196, 221, 261–263, 268, 271, 281, 413, 414, 417 Situolekt 468, 469, 476, 527 Skala, numerische 86, 174, 177 Skript 101, 103, 174, 275, 281, 326, 327, 337, 547 Slot – Offenlassen von ~ siehe Offenlassen (von Slots) – peripherer ~ 115, 170, 260, 261, 269, 291, 413, 561 – zentraler ~ 101, 104, 170, 175, 176, 202, 203, 219, 229, 255, 261, 265, 269, 271, 275, 289, 291, 292, 310, 318, 343, 373, 375, 376, 378, 413, 426, 496, 524, 559, 560, 561, 563 Soziolekt 468, 469, 476, 527, 528 Spezifizierung 54, 101, 139, 311, 320, 325, 471 Spezifizierung, kulturelle 30, 32, 33, 40, 41, 166, 172, 175, 191, 223, 323, 340, 372, 380, 393, 450, 452, 525, 527, 556, 561 Sprachbezogenheit der Diskurstraditionen 13, 152, 308, 325, 378, 403, 457, 496, 547, 565 Sprache – geschriebene ~ 212, 222, 534, 537 – gesprochene ~ 530, 532, 534, 537 – unmarkierte Gegenwarts~ 164, 215, 218, 222, 463, 466, 468 Sprachfunktion, poetische 298, 306, 345, 346, 373, 374 Sprachgebrauch – indirekter ~ 160, 162, 171 – literarischer ~ 222, 284, 315, 319, 321 – übertragener ~ 160, 161 Sprachgemeinschaft 10, 12, 14, 15, 17, 18, 30, 40, 66, 160, 172 Sprachverstehen 90, 94

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Sprechakt 14, 20, 24, 127, 143, 152 Sprechen im Allgemeinen 10, 43, 70, 554 Sprecherabhängigkeit, sprecherabhängig 137, 141, 143, 160, 482, 503, 556 sprecherunabhängig 141 Sprechhandlung 26, 127 Standardwert 90, 94–96, 98, 100–102, 106, 110, 117, 165, 171, 173, 176, 210, 328, 556 Stil 5, 14, 21, 31–33, 46, 49, 50, 71, 79, 104, 175, 213, 214, 231, 285, 303, 374, 476, 495, 496, 545, 551 Stilmittel 492 Subjonctif 222, 524, 534 Subjonctif-Auslöser 531 Subkategorisierungsbedingung 95, 101, 106 Substitution 8, 88, 159, 161, 305, 389, 477, 481, 490, 495, 497, 500, 518, 525, 526, 533, 534, 537, 551 Subsystem, diaphasisches 66, 354, 369, 442, 507 Subversion 275–277, 281, 282, 285, 289, 326, 340, 434, 438, 449, 455 Suppletion, verbale siehe Kontextbildung, suppletive Symbol, symbolisch 35, 36, 67, 248, 294, 346, 355, 358, 372, 374, 376, 383, 435, 447, 449, 489, 490, 508, 511, 521, 549, 563 Symbolbedeutung 364, 365, 370, 435, 442, 488, 489, 510 Systembedeutung siehe Bedeutung Täuschung, narrative (feinte narrative) 249, 407 Text – literarischer ~ 2, 3, 6–9, 18, 19, 25, 26, 34–42, 54, 57, 64, 70, 73, 74, 91, 101, 102, 114, 123, 124, 127, 128, 146, 154, 167, 172, 174, 181, 185, 192, 224, 249, 285, 286, 307, 373–375, 417, 441, 457, 458, 460, 462, 464, 475, 487, 526, 528, 538, 548–551, 553, 557, 561, 566, 567, 568 – maximal komplexer ~ 173, 178, 291 – narrativer ~ 7, 52, 54, 55, 58, 61–63, 80, 186, 224, 225, 409, 437, 452, 547, 564

– naturalistischer ~ 10 – Normal~ 463 – Original~ 462, 465, 466, 471, 475, 477, 478, 482, 487, 489, 506, 529, 530, 532, 538, 541, 542, 547, 547, 551 Text- und Medienkompetenz 2, 565, 568 Textanalyse 3, 6, 50, 51, 61, 75–78, 81, 104, 118, 148, 169, 175, 179, 181, 187, 199, 299, 323, 370, 443, 447, 449, 477, 487, 488, 550, 557, 560, 564 Textanfang siehe Textbeginn Textbedeutung siehe Sinn Textbeginn – dynamische Funktion des ~ 247, 249, 290 – Dynamisierung des ~ 249, 250, 252, 261, 269, 405, 410, 412, 415, 419, 454, 561 – emischer ~ 250, 396 – etischer ~ 250, 407, 409, 410 – Informationsfunktion des ~ 249, 410, 420 Textfunktion 18, 24, 26, 27, 36–42, 127, 168 Textgattung 9, 11, 14, 17–22, 26, 31, 39, 61, 69, 128, 152, 155, 158, 168, 174, 183, 184, 193, 202, 215, 220, 221, 248, 270, 272, 298, 299, 300, 381, 393, 394, 420, 451, 452, 529, 550, 556, 565, 569 Textkompetenz 1, 4, 510, 526, 549–552, 565, 567, 569 Textkonstitution, traumhaft-alogische 277, 278, 326, 339, 434 Textlinguistik 9, 21, 28, 43, 46, 52, 57, 182, 294, 553, 554, 559, 560 Textoberfläche 48, 56, 78, 167, 172, 200, 372, 382, 400, 415–417 Textrezeption 5, 38, 43, 50, 51, 55, 56, 74, 80, 457 Textsemantik, textsemantisch 5, 9, 17, 42, 43, 46, 48, 89, 117, 155, 190, 197, 216, 223, 289, 291, 308, 338, 455, 476, 487, 495, 496, 504, 559, 560, 564 Textsinn siehe Sinn Textsorte 1, 6, 14, 22, 29, 31, 39, 40, 54, 71, 108, 123, 124, 147, 157, 166, 176, 226, 298, 304, 345, 346, 377, 381, 389, 414, 420, 461, 527, 537, 552, 555, 566 Textsortenbruch 28, 29, 115, 150 Textsortenmischung 28, 29, 351, 505, 506

Register

Textthema 55, 56, 80, 102, 104, 155, 170, 190, 318, 338, 343, 381, 415–417, 424, 449, 455 Textualität 20, 21, 23, 24, 40, 41, 52, 53, 80, 166, 168, 172, 201, 223, 323, 339, 372, 380, 381, 450, 452, 525, 527, 556, 561 Textverständlichkeit 4, 5 Textverständlichkeitsforschung 4, 475, 483, 548, 559, 565 Textverstehen 37, 38, 51, 56, 82, 89, 98, 106–109, 112, 113, 117, 118, 132, 154, 452, 548 Theorie der Sprachkompetenz siehe Modell der Sprachkompetenz Tiefenkasus siehe Rolle, semantische Tiefenstruktur 277, 284, 339, 340, 435, 441, 442 Tilgung 159, 463, 476, 482, 484, 492, 496, 505, 510–512, 515, 526, 529, 530, 545, 549, 551 token 100, 101, 105, 218, 319, 320, 321, 343, 344, 370, 524 top down, bottom up 51, 80 Toponym 169, 170, 215, 218, 221, 229, 235, 236, 259, 260, 263, 538, 539, 540 Tragödie 22, 32 Tropus 87, 160, 162, 214, 343, 377, 441 type 100, 215, 328, 330 Typologie der Kontexte 57, 61, 69, 80, 224 Typologie des Textbeginns 227, 234 Überraschungseffekt 22, 62, 124, 248, 270, 271, 273, 292, 294, 308, 319, 375, 405, 423, 498, 563 Übersummativität, übersummative Größe 5, 6, 42, 45, 46, 48, 50, 52, 56, 63, 68, 74, 79, 88, 90, 117, 119, 153, 156, 162, 378, 457 Umfeldtheorie, Theorie der Umfelder 57, 60, 61, 67, 69, 80, 553 Unbestimmtheit, semantische 54, 64, 296, 310 Uneindeutigkeit, uneindeutig 76, 155, 314, 319, 320, 321, 331, 392, 432 Universum, fiktionales 63, 78, 81, 158, 170, 194, 196, 225, 229, 230, 232, 234, 235, 239, 245, 249, 250, 251, 253, 260, 264,

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268, 269, 272, 275, 310, 381, 387, 396, 400, 403, 407, 411–413, 418, 420, 426, 561 Unschlüssigkeit 199, 202, 209, 218, 220, 224, 226, 296, 300, 382, 452 unterdeterminiert 249, 320, 497 Ursache-Wirkungs-Zusammenhang 54, 284, 338 Vagheit, semantische 162, 272, 273, 275, 292, 310, 319, 426, 464, 497, 501, 533, 534 Varietät 14, 71, 163, 164, 166, 370, 463, 465, 468, 475, 508, 527, 556 Verbform, infinite 501, 534 Vereinfachung – semantische ~ 484, 487, 495, 551 – syntaktische ~ 482, 484, 487, 493, 495, 533, 551 Verfügbarkeit (von Wissen) 33, 43, 56, 70, 169, 179, 196, 289, 378, 412, 414, 459, 477, 482, 528, 538, 540, 546, 561, 564 Vergleichbarkeit, relative 183 verlan 159, 163 Verneinung durch ne ohne pas 529, 534, 535, 551 Verstoß siehe Abweichung Vertrauensprinzip siehe Kooperationsprinzip verwendungsinvariabel 137, 139, 142 verwendungsvariabel 129, 151 Vieldeutigkeit siehe Ambiguität Vieldeutigkeitsthese 299, 304 Wahrnehmung 32, 45, 50, 53, 103, 104, 150, 175, 186, 188, 220, 230, 253, 255, 262, 271, 280, 301, 307, 309, 408, 409, 430 Wahrnehmungshorizont 230, 409, 421 Wechselwirkung 34, 42, 48–50, 69, 88, 89, 156, 157, 179, 182, 188, 377, 378, 379, 394, 451, 553, 554, 560, 562, 564 Weitschweifigkeit 5, 122, 136, 144, 147, 157, 169, 201, 224, 548 Weltwissen siehe Wissen Widerspiegelungsästhetik 248, 433, 450, 455 Widerständigkeit der Texte 76, 77 Wiederaufnahme 201, 473, 475, 482 Wissen

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Register

– Allgemein~ 70, 112, 153, 167, 172, 175, 221, 339, 370, 509, 528 – Alltags~ 18, 33, 70, 110, 153, 167, 172, 175, 205, 221, 323, 357, 386, 436, 446, 448 – diskurstraditionelles ~ 9, 14, 20, 23, 24, 27, 32–34, 39, 40, 42, 54, 56, 69–71, 80, 88, 108, 124, 127, 128, 152, 154, 168, 175, 194–205, 215, 222–224, 249, 284, 285, 289, 294, 323, 339, 340, 344, 345, 372, 379, 380, 383, 386, 392–394, 433, 442, 451, 453, 456, 527, 529, 545, 554–556, 558, 561, 565 – einzelsprachliches (idiomatisches) ~ 3, 10, 13, 30, 44, 61, 72, 81, 134, 156, 166, 171, 173, 174, 212, 214, 215, 217, 218, 221, 222, 224, 320, 321, 343, 344, 368–370, 373, 449, 459, 462, 463, 465, 480, 488, 496, 501, 506, 534, 537, 538, 546, 547, 551, 554–556, 558, 560, 565, 567 – elokutionelles ~ 10, 30, 44, 61, 74, 81, 119, 121, 122, 134, 156, 162, 167, 171, 173, 174, 202, 218, 221–224, 317, 318, 324, 327, 338, 344, 372, 373, 377, 437, 449, 455, 525, 527, 529, 554–556, 558 – enzyklopädisches ~ 53, 70, 136, 152, 205 – Experten~ 70, 110, 112, 118, 130, 153, 167, 174, 175, 199, 257, 285, 286, 290, 292, 340, 370, 380, 393, 439, 456, 477, 481, 528 – expressives ~ 9, 10–12, 21, 61, 69, 70 – Frame~ 54, 101, 110, 112, 114, 118, 130, 132, 133, 149, 152, 162, 170, 171, 281, 376, 417, 433, 482 – Hintergrund~ 5, 68, 90, 92, 93, 112, 113, 116, 119, 133, 136, 149, 152, 162, 169, 179, 292, 401, 412, 413, 442, 446, 451, 457, 475, 568 – interkulturelles ~ 546 – lebensweltliches ~, Welt~ 2, 6, 39, 47, 54, 56, 59, 60, 61, 72, 78, 80, 81, 91, 104, 118, 128, 134, 139, 143, 147, 148, 152, 153, 154, 156, 159, 167, 172, 173–175, 214, 215, 218, 221, 224, 235, 249, 260–263, 283, 289, 291, 294, 302, 306, 326, 335, 345, 373, 377, 383, 395, 400,

408, 418, 422, 430–432, 456, 459, 462, 487, 496, 502, 504–507, 521, 529, 538, 546, 547, 551, 554–556, 558, 560, 562 – sprachbezogenes ~ 40, 70, 110 – Sprach~, sprachliches ~ 10, 13, 47, 56, 68, 70, 104, 147, 159, 212, 218, 320, 404, 480, 504 – verstehensrelevantes ~ 60, 89, 90, 93, 105, 109, 110, 112, 113, 117, 118, 132–134, 148, 152–154, 177, 179, 553, 556 Wissenschaftlichkeit 231, 245, 290, 387, 393, 396 Wissensgesellschaft 1, 8, 565 Wissenskontext siehe Kontext Wissensrahmen siehe Frame Wortsemantik 50, 72, 135, 153, 155, 163, 171, 173, 174, 178, 213, 218, 320, 343, 368, 370, 379, 427, 448, 451, 455, 462, 470, 496, 497, 506, 547, 555, 558, 563 Zeichen – Einzel~ 5, 45, 79 – komplexes ~ siehe komplexe Größe – sprachliches ~ 6, 35, 37, 46, 52, 57, 59, 65, 79, 87, 91, 95, 105, 110–113, 117, 133, 143, 147, 307, 548 Zeichenfunktion 65, 67, 80, 346, 374, 443, 444, 517 Zeichenkette 66, 67, 105, 359 Zeichenkörper siehe signifiant Zeichenrelation 57, 64, 67, 68, 76, 77, 81, 157, 169, 345, 346, 353, 368, 369, 374, 441, 446, 448, 449, 488, 505, 507, 510, 516, 517, 526, 548, 549, 550, 551, 552, 567 Zeichensystem 64, 66, 346, 374, 505, 510 Zeit 5, 28, 31, 58, 61–63, 65, 93, 96, 133, 158, 164, 185, 192, 199, 225, 226, 230, 242, 244, 249, 253, 254, 259–261, 267, 271, 280, 290, 304, 315, 342, 346, 363, 381, 388, 389, 395, 396, 407, 410, 414, 425, 530, 544 Zirkel, hermeneutischer 51, 80, 105