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German Pages [253] Year 2021
Schriftenreihe der
D
Thomas Fuchs Thiemo Breyer (Hg.)
Selbst und Selbststörungen
https://doi.org/10.5771/9783495823675
ER .
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Schriftenreihe der D
https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Die Herausgeber: Thomas Fuchs ist Karl-Jaspers-Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg. Thiemo Breyer ist Professor für Phänomenologie und Anthropologie an der Universität zu Köln.
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Thomas Fuchs / Thiemo Breyer (Hg.) Selbst und Selbststörungen
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D Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Anthropologie, Psychiatrie und Psychotherapie (DGAP) Herausgegeben von Thomas Fuchs, Thiemo Breyer, Stefano Micali, Boris Wandruszka Band 8
Alle Beiträge zu dieser Reihe durchlaufen vor der Annahme ein peer-review.
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Thomas Fuchs / Thiemo Breyer (Hg.)
Selbst und Selbststörungen
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49002-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82367-5
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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László Tengelyi Die Einzigkeit des Selbst und das Problem der Selbstverlorenheit
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Thomas Fuchs Selbsterleben und Selbststörungen . . . . . . . . . . . . . . .
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Zeno van Duppen Selbst- und Intersubjektivitätsstörungen in der Schizophrenie . .
66
Mads Henriksen und Josef Parnas Selbststörungen und Schizophrenie: Eine phänomenologische Neubewertung mangelnder Krankheitseinsicht und Non-Compliance . . . . . . . . . . .
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Wouter Kusters Philosophie und Wahnsinn. Zu einer Umkehrung der natürlichen Lebenshaltung . . . . . .
113
Alice Holzhey-Kunz Das Leiden an der Negativität des Wollens . . . . . . . . . . .
139
Philipp Schmidt Störungen des Selbst in der Borderline-Persönlichkeit. Der Zusammenhang von Affekt und Identitätserleben . . . . .
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Stefano Micali Negative Zukunft. Eine phänomenologische Analyse der Angst . . . . . . . . . .
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Inhalt
Boris Wandruszka Selbststruktur, Selbst und Narzissmus. Versuch einer Fundamentalanalyse . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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8 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Einleitung
Der Begriff des Selbst, in der Philosophie, in den Sozialwissenschaften und in der Psychoanalyse schon lange beheimatet, hat in der Psychiatrie noch keine lange Vorgeschichte. Die klassische Psychopathologie kannte zumeist nur den Begriff des Ich (Ich-Erleben, IchStörungen; vgl. Jaspers 1973; Schneider 1992), und auch in den diagnostischen Manualen DSM-V und ICD-10 taucht der Selbst-Begriff nicht auf. Von zwei Richtungen her ist der Begriff jedoch in den letzten Jahren zunehmend in den Vordergrund gerückt: Zum einen erforschen die kognitiven Neurowissenschaften zunehmend neuronale Korrelate des Selbsterlebens (Northoff & Bermpohl 2004; Vogeley et al. 2004; Schneider et al. 2008). Allerdings verstehen sie unter dem Selbst dabei zumeist eine besondere Form von ›Repräsentation‹, ein ›Selbstkonstrukt‹ oder ›Selbstmodell‹, das im Gehirn zu lokalisieren sei. All diese Begriffe setzen bereits voraus, dass das Selbst keinem verkörperten Selbsterleben entspricht, also nicht die gesamte Leiblichkeit umfasst, sondern nur ein zu bestimmten Zwecken erzeugtes neuronales Modell darstellt, womöglich nur eine vom Gehirn erzeugte Illusion (Metzinger 1999, 2009). Demgegenüber geht die zweite Richtung der Erforschung des Selbst, nämlich die philosophische und die psychiatrische Phänomenologie, von der subjektiven Erfahrung als unserer primären Wirklichkeit aus und untersucht, ob und in welcher Weise diese Erfahrung an ein Selbst, also an ein wie immer geartetes Zentrum des Erlebens gebunden ist. Ohne einer Substanzialisierung dieses Selbst das Wort zu reden, stimmen phänomenologische Ansätze in der Regel darin überein, dass jedes Erleben den Charakter einer elementaren Meinhaftigkeit aufweist (Zahavi 1999; Gallagher & Zahavi 2008). Damit überhaupt etwas zu Bewusstsein gelangen und zur Erfahrung werden kann, und sei es nur das pure Empfinden eines momentanen Zustandes, muss ein elementares, affektiv getöntes Selbstempfinden daran 9 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Einleitung
beteiligt sein. Aus phänomenologischer Sicht gibt es insofern kein Bewusstsein ohne basales Selbstbewusstsein. Dieses grundlegende Selbsterleben entsteht nicht erst aus einer Reflexion, bei der wir uns selbst zum Objekt unserer Aufmerksamkeit machen, und auch nicht aus einer äußeren, sozialen Zuschreibung, durch die wir uns als eine Person unter anderen erkennen. Wir könnten ein solches personales Ich-Bewusstsein gar nicht entwickeln, wenn es nicht schon zuvor ein elementares Selbstempfinden gäbe, das diese Zuschreibungen auf sich beziehen kann. Es verhält sich wie beim Spiegelbild: Das Kleinkind kann sich nur im Spiegel erkennen, wenn es schon mit sich und seinem Leib vertraut ist. Das primäre Selbst bedeutet also ein ursprüngliches Mit-sich-Vertrautsein, ein unmittelbares, leibliches Selbstgewahrsein, das latent immer gegenwärtig bleibt, selbst wenn sich das reflexive oder Ich-Bewusstsein verliert, wie es in Zuständen gedankenlosen Dösens geschieht oder beim selbstvergessenen Aufgehen in einem momentanen Tun. Dieses leibliche Hintergrundempfinden bildet gleichsam das Medium für alles bewusste Erleben und für alle gerichtete Intentionalität. Für Merleau-Ponty (1966) ist es die leibliche Ur-Subjektivität; 1 Michel Henry (1963) hat dafür den Begriff der »Ipseität« (lat. ipse = selbst) geprägt. Diese Auffassungen treffen nun zusammen mit einer zunehmenden Betonung der präreflexive Erfahrung und des basalen Selbsterlebens in der phänomenologischen Psychopathologie. So hat in der Schizophrenieforschung, ausgehend v. a. von den Arbeiten von Josef Parnas und Louis Sass, im letzten Jahrzehnt eine Konzeption Verbreitung gefunden, die in der Erkrankung in erster Linie eine Beeinträchtigung der Ipseität sieht (Parnas 2003; Sass & Parnas 2003). Die Grundstörung der Schizophrenie besteht demnach in einem Mangel an affektiver Selbst-Tönung des Erlebens, sodass alle Erfahrungen auf schwer zu beschreibende Weise der Lebendigkeit und Selbstzugehörigkeit ermangeln. Wenn nun Vollzüge des Denkens, Wahrnehmens und Handelns nicht mehr in das elementare Selbsterleben eingebettet werden können, dann erscheinen sie verfremdet und nicht mehr dem Selbst zugehörig – als Stimmen, Halluzinationen oder ge-
»Es gibt also, mir zugrunde liegend, ein anderes Subjekt, für das eine Welt schon existiert, ehe ich da bin, und das in ihr meinen Platz schon markiert hat. Dieser […] natürliche Geist ist mein Leib« (Merleau-Ponty 1966, 196).
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Einleitung
machte Bewegungen. Diese Konzeption wurde in der Folge verknüpft mit dem Begriff der Entkörperung (»disembodiment«), der die basale Selbststörung mit der Phänomenologie der leiblichen Subjektivität vermittelt (Fuchs 2002, 2005; Stanghellini 2004). Damit ist die Reichweite psychopathologischer Analysen des Selbsterlebens freilich keineswegs erschöpft. Sie erfassen nicht nur verschiedenartige Störungen auf der basalen Stufe, sondern ebenso das reflexive oder personale Selbsterleben, das sich mit der Übernahme der Perspektive anderer auf das eigene Selbst etwa vom 2. bis 4. Lebensjahr entwickelt. Mit der gleichzeitigen Ausbildung der Erinnerungskontinuität verknüpfen sich die erlebte Vergangenheit, die Gegenwart und die antizipierte Zukunft zur zeitübergreifenden, biographischen Einheit des personalen Selbst. Auf dieser Stufe wird das Selbst wesentlich durch Sprache und durch die Geschichten konstituiert, die wir einander erzählen und in die wir wechselseitig verstrickt sind (Schapp 1953/1985). In der hermeneutischen Phänomenologie und in der Sozialpsychologie hat sich daher auch das Konzept des narrativen Selbst oder der narrativen Identität durchgesetzt (MacIntyre 1981; Carr 1986; Ricœur 1996; Schechtman 1996). Störungen auf dieser Ebene des Selbsterlebens sind nicht minder vielfältiger Natur – man denke etwa an die Fragmentierung der narrativen Identität in der Borderline-Störung (Fuchs 2007) oder an die Brüche der autobiographischen Kontinuität in den dissoziativen Störungen. Diese einleitenden Bemerkungen sollen genügen, um den Raum für die nun folgenden Beiträge zum Selbst und seinen Störungen zu eröffnen. Sie seien jeweils kurz vorgestellt: (1) László Tengelyi untersucht einleitend aus philosophischer Sicht die Frage, inwiefern es trotz der Einzigkeit oder absoluten Individualität des Selbst dennoch zu psychopathologischen Phänomenen des Selbstverlustes kommen kann. (2) Thomas Fuchs gibt einen phänomenologisch orientierten Überblick zu verschiedenen Stufen des Selbsterlebens und stellt dann Schizophrenie, Depression und Borderline-Störung als paradigmatische Formen von Selbststörungen auf diesen Stufen dar. (3) Zeno van Duppen untersucht das Verhältnis von Selbst und Intersubjektivität in der Schizophrenie; er kommt zu dem Schluss, dass sich die Erkrankung nicht nur als eine Störung des basalen Selbsterlebens beschreiben lässt, sondern dass gerade die Wech-
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Einleitung
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selbeziehung zwischen Subjektivität und Intersubjektivität in ihr gestört ist. Mads Henriksen und Josef Parnas gehen in ihrem Beitrag der Problematik der mangelnden Krankheitseinsicht in der Schizophrenie nach und führen sie auf eine solipsistische Einstellung zurück, die aus der basalen Selbststörung resultiert. Wouter Kusters’ Beitrag untersucht die Beziehungen zwischen Philosophie und Wahnsinn, insbesondere die ihnen gemeinsame Umkehrung der natürlichen Lebenshaltung, und argumentiert dafür, dass ein bestimmter Begriff des Wahnsinns intrinsisch mit dem Projekt der Philosophie verbunden ist. Alice Holzhey-Kunz vertritt in ihrem Beitrag die These, dass der menschliche Wille wesentlich in einem Selbstverhältnis begründet ist, zugleich aber auch eine inhärente Negativität, einen »Lastcharakter« aufweist; dieser tritt insbesondere in der Depression und ihrer Willenshemmung zutage. Philipp Schmidt analysiert die Störungen des Selbst in der Borderline-Persönlichkeit, insbesondere den Zusammenhang von Affektivität und Identitätserleben. Stefano Micali untersucht in seinem Beitrag die Verknüpfung von Angst und Selbsterleben anhand einer Kritik der Phänomonologie der Angst von Hermann Schmitz. Boris Wandruszka schließlich unternimmt eine grundlegende Analyse der Struktur des Selbst als einer zugleich pathischen und aktiven Selbstbeziehung und wendet diese Analyse auf die narzisstische Störung an.
Die Beiträge gehen auf eine Vortragsreihe zur Thematik zurück, die 2013 bis 2015 an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg stattfand; wir denken, dass sie geeignet sind, sowohl die Tiefe als auch Reichweite der phänomenologischen Psychopathologie des Selbst und seiner Störungen deutlich zu machen. Wir danken der Deutschen Gesellschaft für Phänomenologische Anthropologie, Psychiatrie und Psychotherapie (DGAP) ebenso wie dem Marsilius-Kolleg der Universität Heidelberg für die Unterstützung der Drucklegung der Beiträge. Lukas Trabert vom Alber-Verlag danken wir für die wie gewohnt gute Zusammenarbeit bei der Publikation. Darüber hinaus gilt unser herzlicher Dank Daniel Vespermann, Damian Peikert, Tilman Rivinius und Sophia Wagenlehner für die sorgfältige Redaktion und Vorbereitung der Texte zum Druck. 12 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Einleitung
Schließlich danken wir Erik Dzwiza-Ohlsen und Daniel Vespermann für die Übersetzungen der Beiträge von Zeno van Duppen sowie Mads Henriksen und Josef Parnas. Wir widmen diesen Band dem Gedenken an den großen Phänomenologen Lázló Tengelyi, der im Jahr 2014 überraschend verstorben ist. Der auf einen Vortrag in Heidelberg zurückgehende Beitrag in diesem Band gehörte zu seinen letzten Arbeiten, und es ist uns eine Ehre, ihn hier zu veröffentlichen. Heidelberg/Köln, im September 2019 Thomas Fuchs und Thiemo Breyer
Literatur Carr, D. (1986). Time, Narrative, and History. Bloomington, IN: University of Indiana Press. Fuchs, T. (2002). The challenge of neuroscience: Psychiatry and phenomenology today. Psychopathology, 35, 319–326. Fuchs, T. (2005). Corporealized and disembodied minds. A phenomenological view of the body in melancholia and schizophrenia. Philosophy, Psychiatry & Psychology, 12 (2), 95–107. Fuchs, T. (2007). Fragmented selves. Temporality and identity in Borderline personality disorder. Psychopathology, 40, 379–387. Gallagher, S. & Zahavi, D. (2008). The Phenomenological Mind. An Introduction to Phi-losophy of Mind and Cognitive Science. London New York: Routledge. Henry, M. (1963). L’essence de la manifestation. Paris: Presses Universitaires de France. Jaspers, K. (1973). Allgemeine Psychopathologie (9. Aufl.). Berlin Heidelberg: Springer. MacIntyre, A. (1981). After Virtue. Notre Dame, IN: University of Notre Dame Press. Merleau-Ponty, M. (1966). Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: De Gruyter. Metzinger, T. (1999). Subjekt und Selbstmodell (2. Aufl.). Paderborn: Mentis. Metzinger, T. (2009). Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Berlin: Berlin Verlag.
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Einleitung Northoff, G. & Bermpohl, F. (2004). Cortical midline structures and the self. Trends in Cognitive Science, 8 (3), 102–107. Parnas, J. (2003). Self and schizophrenia: A phenomenological perspective. In T. Kircher & A. David (Hrsg.), The Self in Neuroscience and Psychiatry (S. 217–241). Cambridge: Cambridge University Press. Ricœur, P. (1996). Das Selbst als ein Anderer. München: Wilhelm Fink. Sass, L. A. & Parnas, J. (2003). Schizophrenia, consciousness, and the self. Schizophrenia Bulletin, 29 (3), 427–444. Schapp, W. (1953/1985). In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding (3. Aufl.). Frankfurt am Main: Klostermann. Schechtman, M. (1996). The Constitution of Selves. Ithaca, NY: Cornell University Press. Schneider, F., Bermpohl, F., Heinzel, A., Rotte, M., Walter, M., Tempelmann, C., Wiebking, C., Dobrowolny, H., Heinze, H. J. & Northoff, G. (2008). The resting brain and our self: Self-relatedness modulates resting state neural activity in cortical midline structures. Neuroscience, 157 (1), 120–131. Schneider, K. (1992). Klinische Psychopathologie (14. Aufl.). Stuttgart: Thieme. Stanghellini, G. (2004). Disembodied Spirits and Deanimatied Bodies: The Psychopatho-logy of Common Sense. Oxford: Oxford University Press. Vogeley, K., May, M., Ritzl, A., Falkai, P., Zilles, K. & Fink, G. R. (2004). Neural correlates of first-person perspective as one constituent of human self-consciousness. Journal of Cognitive Neuroscience, 16 (5), 817–827. Zahavi, D. (1999). Self-awareness and Alterity. A Phenomenological Investigation. Evanston, IL: Northwestern University Press.
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Die Einzigkeit des Selbst und das Problem der Selbstverlorenheit László Tengelyi
Zusammenfassung Das Selbst ist in seiner Abhebung vom Anderen durch eine unveränderliche Einzigkeit oder – in Husserl’schen Begriffen – eine »absolute Individuation« gekennzeichnet. Umso mehr stellt sich in psychopathologischen Kontexten die Frage, wie es phänomenologisch zu verstehen ist, dass jenes Selbst sich manchmal doch verliert. Ohne die Bedeutung der narrativen, also aktiven Selbstkonstitution zu bestreiten, betont dieser Aufsatz, als Antwort auf diese Frage, in einem ersten Schritt die Mehrschichtigkeit personaler Identität. Hinter den aktiven Komponenten ist nämlich noch die für sie grundlegende Selbstkonstitution in der passiven Sphäre zu suchen, in der sich eine »konstitutive Selbstverlorenheit« ereignen kann. Nicht nur tradierte Praxisformen laden zu einer Selbsttäuschung ein, auch die initiative Selbsttätigkeit kann uns durch ungewollte Handlungsfolgen mit der konstitutiven Selbstverlorenheit konfrontieren. Gerade im Handeln und Interagieren mit der Lebenswelt liegt nun aber sowohl die Quelle von Selbstverlorenheit als auch die Möglichkeit zu einem produktiven Umgang mit ihr begründet. Denn das für die Entscheidung zur Handlung unentbehrliche Phantasieleben findet sich, den Thesen Freuds folgend, den Mächten von Es und Über-Ich unterworfen. Insofern Freud jede seelische Störung, vor allem aber Psychosen und Neurosen, als auf einer »Ichspaltung« beruhend betrachtete, wird zuletzt die Verbindung von Phänomenen konstitutiver Selbstverlorenheit zur Theorie psychischer Pathogenese gesucht. Selbst Arthur Schopenhauer ist noch der Meinung, der Solipsismus sei unwiderlegbar. Freilich fügt er sogleich hinzu, dass der Solipsismus eigentlich gar nicht widerlegt zu werden brauche: Er sei wie eine Festung, die zwar nicht erobert, sehr wohl jedoch umgangen werden kann. Diese Festung wird sogar notwendig umgangen – können wir 15 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
László Tengelyi
behaupten –, weil die Existenz in der Lebenswelt es überhaupt nicht zulässt, mit dem Solipsismus ernst zu machen. Das Selbst findet sich ja in ihr, bevor es überhaupt in Erwägung ziehen könnte, ob es solus ipse ist oder nicht, immer schon von den Schicksalen Anderer betroffen vor. Das rührt daher, dass es die Befindlichkeiten seiner Mitsubjekte, ihren Zorn und ihre Angst, ihren Stolz und ihren Jubel, wenn auch freilich nicht selbst erlebt, so doch unmittelbar erfährt, indem es diese angeblich unzugänglichen »Seelenzustände« Anderer doch durchaus wahrnimmt, ja, sie oft am eigenen Leib zu spüren bekommt und manche von ihnen sogar selbst teilt, sie also im wörtlichen Sinne miterlebt. Liegt aber nicht gerade darin die vollste, uneingeschränkte Widerlegung des Solipsismus, dass gerade sein Dasein in der Lebenswelt – und damit seine nicht nur ständige, sondern auch ein für alle Mal unüberwindliche Existenzweise – es dem Selbst verwehrt, jemals in eine Lage zu geraten, in der es mit dem Solipsismus vollen Ernst machen könnte? Gleichwohl bleibt das Selbst vom Anderen, wie Husserl einmal sagt, »abgrundtief geschieden« 1 . Es handelt sich zwar um einen Abgrund, der nicht unüberbrückbar ist, aber er ist dennoch vorhanden. Es gibt eine unaufhebbare Kluft zwischen dem Selbst und dem Anderen, da es dem Selbst nicht vergönnt ist, der Andere zu sein oder überhaupt jemals der Andere zu werden. Es ändert an dieser Tatsache kaum etwas, dass weder das Selbst in den Augen des Anderen als ein Anderer gilt, noch dass der Andere für sich ebenfalls ein Selbst ist. Wie Emmanuel Levinas besonders deutlich zeigt, bleibt der Unterschied im Verhältnis des Selbst zum Anderen – trotz der Austauschbarkeit der Termini für einen Dritten – immer erhalten: Mein Selbstsein ist folglich nichts anderes als »mein Ich-und-kein-Anderer-sein« (Levinas 1992, 282). Gewiss gehören wir zu verschiedenen Gemeinschaften. Zu Recht schließen wir uns daher auch in unserer Rede, wie ich es gerade in diesem Augenblick tue, immer wieder von vornherein in ein »Wir« ein. Aber wir sollten niemals vergessen, dass keine Gemeinschaft, zu der wir tatsächlich gehören können, die Kluft zwischen dem Selbst und dem Anderen schließt. Wir leben zwar in einer Welt, die uns – Husserl (1973, 339): »Die Zeit meines strömenden Lebens und die meines Nachbarn ist also abgrundtief geschieden, und selbst dieses Wort sagt noch in seiner Bildlichkeit zu wenig.«
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Die Einzigkeit des Selbst und das Problem der Selbstverlorenheit
wie Husserl sagt – »allgemeinsam« (Husserl 1976, 124) ist, aber nach der Erkenntnis der Phänomenologie richtet sich selbst noch diese allgemeinsame Welt nach dem Unterschied zwischen dem Selbst und dem Anderen. Der junge Heidegger prägte für diese Einsicht Termini wie »Selbstwelt« und »Mitwelt«, aber auch in den Augen von Husserl verwischt die eine, allgemeinsame, »intersubjektive« oder auch »interkulturelle« Welt niemals den ihr zugrunde liegenden Unterschied zwischen dem Selbsteigenen und dem Fremden und daher auch nicht den zwischen der »Heimwelt« und der »fremden Welt«. Aber aus der Tatsache abgrundtiefer Geschiedenheit ergibt sich noch eine Konsequenz, die wohl Levinas am deutlichsten ausdrückt, indem er behauptet: »Es gibt keine mir und den anderen gemeinsame Selbstheit« (Levinas 1992, 282). Demnach ist die Selbstheit von vornherein durch eine Einzigkeit (oder Singularität) gekennzeichnet, die ihr notwendig zukommt und unter keinen Umständen verloren gehen kann. Man sollte in Levinas nicht nur den großen Ethiker sehen, der den Anspruch des Anderen betont, sondern auch den Urheber einer umfassenderen Philosophie, die nach dem Bindeglied zwischen dem »Seinsgeschehen« und dem »Jenseits des Seins«, mithin auch zwischen einer phänomenologischen Ontologie und einer Ethik der Alterität forscht. Als das gesuchte Bindeglied erweist sich aber in dem späten Werk Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht gerade die Singularität des Selbst in ihrer Levinas’schen »Diachronie« (siehe dazu Tengelyi 2014, 265 f.). Damit findet Levinas zu einer Auffassung des Selbst zurück, die ansatzweise bereits bei Husserl deutlich wird. Am Ende des zweiten Buches der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie heißt es, der Geist habe – im Gegensatz zu den Dingen der Natur – »nicht Individualität erst dadurch, daß er an einer bestimmten Stelle in der Welt ist« (Husserl 1952, 299). Anders als das individuelle Ding, dem nur eine »relative Individuation« zukomme, sei das individuelle Subjekt vielmehr durch eine »absolute Individuation« (ebd.) gekennzeichnet. Daraus folgt, dass dem Selbst auch nach Husserl von vornherein eine unveräußerliche Einzigkeit (oder Singularität) zukommt. An diesem Punkt stoßen wir jedoch auf eine Frage, die sich uns im Kontext psychopathologischer Fragestellungen aufdrängt: Ist das Selbst tatsächlich von vornherein durch eine absolute Individuation und damit durch eine geradezu unveräußerliche Einzigkeit charakterisiert, wie kann es dann überhaupt dazu kommen, dass das Selbst 17 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
László Tengelyi
sich – etwa durch Ichspaltung oder Selbstentfremdung – doch manchmal verliert? Auf diese einzige Frage suchen die folgenden Überlegungen eine Antwort. In einem ersten Teil meiner Betrachtungen versuche ich zu diesem Zweck ein Schichtenmodell der Selbstkonstitution zu entwerfen. In einem zweiten Teil komme ich dann auf die gerade gestellte Frage ausführlicher zu sprechen. Ich gebe auf diese insofern eine »grundsätzlich« zu nennende Antwort, als ich vom Sachverhalt einer konstitutiven Selbstverlorenheit ausgehe. Zugleich formuliere ich einige Bemerkungen, die sich auf den richtigen Umgang mit dieser konstitutiven Selbstverlorenheit in ihren verschiedenen Formen beziehen.
I.
Der Schichtenbau der Selbstkonstitution
Die absolute Individuation, deren Prinzip nicht einfach in einer raumzeitlichen Ortsangabe liegt, bringt Husserl letztlich damit in Zusammenhang, dass ein geistiges Selbst notwendig eine einmalige Geschichte hat. Er sagt: »Absolute Individuation hat schon das reine Ich der jeweiligen cogitatio, die selbst ein absolut Individuelles in sich ist. Aber das Ich ist nicht leerer Pol, sondern Träger seiner Habitualität, und darin liegt, es hat seine individuelle Geschichte.« (Husserl 1952, 299 f.) Auch in den Cartesianischen Meditationen können wir davon lesen, dass sich das Ich »sozusagen in der Einheit einer ›Geschichte‹ konstituiert« (Husserl 1987, 78). Die Geschichte als »das große Faktum des absoluten Seins«, dem Ludwig Landgrebe in Faktizität und Individuation eine erinnerungswürdige Meditation gewidmet hat, ist ebenfalls im Sinne dieses Ansatzes zu verstehen; mit »absolutem Sein« ist ja das Sein des jeweiligen Ichsubjektes gemeint (Husserl 1959, 506; vgl. Landgrebe 1974/1982). Heutzutage ist es üblich, aber eigentlich doch keineswegs selbstverständlich, das Leben des Einzelnen als eine Geschichte aufzufassen. Man denke nur daran, wie Aristoteles im neunten Buch der Metaphysik das Sehen des Tageslichts, das Denken und das gute, durch ein natürliches Wohlbehagen begleitete Leben als Formen verwirklichter Selbstbetätigung (ἐνέργεια) von aller Bewegung oder Veränderung (κίνησις) unterscheidet, indem er ihnen jeglichen Übergangscharakter, jegliches Anderswerden im Sinne eines Unterwegsseins zu etwas anderem, abspricht und sie durch ein Immer-schon-am-Ziel-ange18 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Die Einzigkeit des Selbst und das Problem der Selbstverlorenheit
kommen-Sein (ἐντελέχεια) charakterisiert (Aristoteles, Metaphysik, 1048b 23–26). Ohne Zweifel markiert die moderne Auffassung vom individuellen Leben als einer Geschichte einen Bruch mit dieser antiken Ansicht. Eine Stelle in Thomas Manns Lotte in Weimar liefert einen interessanten Beitrag zu diesem Sinneswandel von wahrhaft welthistorischem Maßstab. In einem Gespräch mit dem Sohn kommt die Romanfigur von Goethe auf eine soeben entdeckte Ähnlichkeit zwischen einem Hyalitkristall und einer ägyptischen Pyramide zu sprechen. Die in Rede stehende Ähnlichkeit besteht dem Text gemäß in einer »tote[n] Ewigkeit«, einer »tote[n] Beständigkeit«, einer »öde[n] Dauer«, einem »Nachleben in der äußeren Zeit, ohne innere, ohne Biographie« (Mann 1963, 293). Es heißt hier weiterhin: Tiere auch dauern so, wenn sie ausstrukturiert und erwachsen sind, – nur mechanisch noch wiederholen sich dann Ernährung und Propagation, immer dasselbe, wie die Auflagerung beim Krystall, – die ganze Zeit, die sie noch leben, sind sie am Ziele. Auch sterben sie ja früh, die Tiere, – wahrscheinlich aus Langeweile. Halten die Ausstructuriertheit und das Am-Ziele-sein nicht lange aus, es ist zu langweilig. Öde und sterbenslangweilig, mein Lieber, ist alles Sein, das in der Zeit steht, statt die Zeit in sich selbst zu tragen und seine eigene Zeit auszumachen (Mann 1963, 294).
Selbst bei dem großen Heiden, als der Goethe in Thomas Manns Roman auftritt, ist diese Auffassung vom Am-Ziele-Sein nicht mehr die antike. Sie ist vielmehr eine ausgesprochen moderne. Es handelt sich aber nicht etwa um zwei gleichmögliche und gleichwertige Ansichten über das menschliche Leben und das Selbst. Vielmehr erwächst die das Biographische betonende Ansicht aus einer wohlbegründeten Erkenntnis. Man sollte nicht vergessen: Aristoteles kann den Formen verwirklichter Selbstbetätigung nur deshalb eine Tendenz zur Selbsterhaltung und Selbstperpetuierung ohne Anderswerden zuschreiben, weil er von vornherein davon ausgeht, dass jedes Wesen, jede Substanz auf der Welt wie auch die Welt im Ganzen von einer zauberhaften Zweckmäßigkeit durchdrungen ist, die überall im Dienst einer Entwicklung aller Vermögen und damit einer möglichst umfassenden Verwirklichung des bloß Möglichen steht. Im Sinne dieser inneren, jeglicher Dingsubstanz immanenten Zielgerichtetheit (Teleologie) gilt in den Augen des Aristoteles auch das von ihm – wie von den Griechen überhaupt – zumeist als »Seele« bezeichnete Selbst als das Immer-schon-am-Ziel-angekommen-Sein (ἐντελέχεια) leiblicher
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Lebensfunktionen. Die moderne Ansicht über das Selbst geht dagegen aus einer allgemeinen Entzauberung der Natur hervor und erwächst darüber hinaus aus der besonderen Einsicht, dass die personale Identität, wie John Locke dies paradigmatisch formuliert hat, nicht auf der »Identität der Substanz«, sondern auf der »Identität des Bewusstseins« beruht und daher selbst dann nichts mit der Selbsterhaltung und Selbstperpetuierung der Dinge in der Welt zu tun haben könnte, wenn es so etwas überhaupt geben sollte (Locke 1998, 167). In einer Begriffssprache, die aus der phänomenologischen Tradition stammt, aber heute weit über die Grenzen der Phänomenologie hinaus – so etwa von der sich als Schülerin von Stanley Cavell verstehenden Marya Schechtman, aber auch von kantianisch eingestellten Nachfolgerinnen von John Rawls wie Christine Korsgaard und Barbara Herman – verwendet wird, können wir diese Erkenntnis auch so ausdrücken, dass die wohlverstandene personale Identität, also die Selbstheit, Sache einer »Selbstkonstitution« des Einzelnen ist. Sie ist kein an sich seiender Grundzug des individuellen Lebens, kein ontologisches Charakteristikum, das dem Einzelleben wie einem Naturgebilde zukommt, sondern eine Urtatsache des Bewusstseins, deren das Selbst nur in einem Prozess anhaltender Selbstkonstitution – nicht so sehr innewerden, als vielmehr – ständig innesein kann. Allerdings handelt es sich dabei um einen Prozess, der keineswegs mit einer reinen Aktivität des Einzelsubjekts gleichgesetzt werden kann, sondern sich vielmehr auf eine breite Grundlage der Passivität stützt. Mit dem Bewusstsein des Selbst, von dem Locke sprach, hatte es auch deshalb lange Zeit hindurch eine rätselhafte Bewandtnis, weil dieses Wort im gegebenen Kontext unmöglich bloß auf aktiv vollzogene Reflexionsakte bezogen werden konnte. Unter dem Einfluss von Thomas Reid bildete sich daher eine ganze Deutungstradition heraus, die »Bewusstsein« durch »Erinnerung« ersetzte. Es handelte sich dabei jedoch um eine zu kurz geratene Interpretation, die nur deshalb das Bedürfnis hatte, an die Stelle des Bewusstseins die Erinnerung treten zu lassen, weil sie nicht erkannte, dass das Bewusstsein des Selbst nicht allein die Form einer aktiv vollzogenen Reflexion, sondern auch die Form eines vorreflexiven, jeweils von selbst aufkommenden und sich mithin passiv herausbildenden Selbstbewusstseins annehmen kann. Auch Kant und der Deutsche Idealismus brachten in dieser Hinsicht keine entscheidende Änderung. Erst mit Franz Brentano und seinen Schülern – und unter ihnen 20 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Die Einzigkeit des Selbst und das Problem der Selbstverlorenheit
vor allem mit Husserl – kam der Gedanke eines vorreflexiven Selbstbewusstseins zum Durchbruch. Aber auch den Begründer der Phänomenologie leitete diese Erkenntnis nur langsam dazu hin, eine passive Sphäre der Selbstkonstitution als solche ins Auge zu fassen. Ohne die Entdeckung eines passiven Vorgangs der Selbstkonstitution hätte Husserls Rede vom Leben des Einzelnen als einer »individuellen Geschichte« nicht die Pointe, die sie hat. Weder in einer Reihe bewusst vollzogener Taten, noch in einer Aufeinanderfolge selbstbezogener Erzählakte lässt sich die Geschichte als »das große Faktum des absoluten Seins« auflösen. Phänomenologisch inspirierte – oder der Phänomenologie zumindest nahestehende – Denker, zu denen nicht allein ein Dan Zahavi, sondern selbst noch ein Galen Strawson gerechnet werden kann, haben diese Einsicht gegen die heutzutage besonders von Marya Schechtman vertretene Theorie narrativer Selbstkonstitution geltend gemacht. Die gleiche Einsicht könnte wohl auch gegen Christine Korsgaards Lehre von einer ethischen Selbstkonstitution durch Vernunftgründe ins Feld geführt werden, denn auch diese – von Philosophinnen und Philosophen wie Barbara Herman und Stephen Darwall ebenfalls übernommene – Lehre versteht die Selbstkonstitution als einen durch und durch aktiven Bewusstseinsvorgang. Dagegen sieht Husserl deutlich, dass die individuelle Geschichte des jeweiligen Selbst auf einem Gesamtgeschehen beruht, das sich keineswegs im Ganzen als aktive Selbstkonstitution verstehen lässt. Außer dem bereits erwähnten vorreflexiven Selbstbewusstsein gibt es eine ganze Reihe weiterer Strukturen, von denen dieses Gesamtgeschehen immer schon getragen ist. Zu ihnen gehört die Zeitlichkeit, mit der sich das vorreflexive Selbstbewusstsein untrennbar verbindet und der sich auch die Erinnerung mit ihren Äußerungen und Wirkungen einfügt, und zwar nicht allein als aktive Wiedererinnerung (Reproduktion), sondern auch als passives Behalten (Retention) und als unwillkürliche, mithin ebenfalls passive Reminiszenz. Was von der Erinnerung gilt, trifft mutatis mutandis auch auf die Erwartung in ihren verschiedenen Formen von der einfachen Protention bis zu den verwickeltsten Mischungen aus Furcht und Hoffnung zu. Aber nicht nur die Zeitlichkeit, sondern auch die Leiblichkeit und die mit ihr verbundene Räumlichkeit sind tragende Grundlagen der Selbstkonstitution. Ohne leiblich und räumlich verankerte Perspektivität der Welterfahrung gibt es kein Selbst. Aber die Welterfahrung hat notwendig eine passive Grundlage, denn sie beginnt nach Hus21 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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serls deutlicher Erkenntnis damit, dass die Dinge der Welt an die Aufmerksamkeit des Subjekts appellieren. Erst dieser Appell bringt die aktive Intentionalität des Bewusstseins in Gang; erst als »Antwort« auf ihn erwacht sie (vgl. die Texte Nr. 48 und 49 in Husserl 2006). Dazu kommt weiterhin, dass es nach Husserl eine ganze Reihe von Phänomenen sekundärer Passivität gibt, die ebenfalls in die Selbstkonstitution eingehen. Gemeint ist damit eine in sich überaus mannigfaltige Gruppe sedimentierter Habitualisierungsvorgänge. Dazu gehören nicht allein die Überzeugungen und die ethischen Grundhaltungen (die so genannten »Tugenden«) sowie der Geschmack und der Sinn für Sprache, Stil und Kunstformen, sondern auch die leiblichen Gewohnheiten und Fertigkeiten, die ganze Sphäre der Bergson’schen mémoire-habitude oder – mit einem von Thomas Fuchs bevorzugten Terminus – des »leiblichen Gedächtnisses«. Die individuelle Geschichte des Selbst ist jeweils auch die Geschichte der Sedimentierung solcher Habitualisierungsvorgänge. Dazu kommen die Begegnungen mit den Anderen, die in auch nur einigermaßen günstigen Fällen ebenfalls damit beginnen, dass man auf eine mehr oder weniger passive Weise in eine Familie und sogar in eine größere Umwelt, ins Leben einer Sprachgemeinschaft, einer Stadt oder einer andersartigen Siedlung, eines Landes, einer Generation und einer welthistorischen Epoche hineinwächst. Die Selbstkonstitution in der passiven Sphäre liegt also jeder aktiven Selbstkonstitution als eine Schicht eigenständiger Strukturen und Prozesse zugrunde. Sie begründet nicht allein eine raumzeitliche Verortung und damit eine relative Individuation, sondern auch eine absolute Individuation des Selbst, das bereits als das Ich der Habitualitäten eine individuelle Geschichte durchläuft. Auf diese passive Grundlage stützt sich sicherlich eine aktive Selbstkonstitution von ethischer Tragweite, eine Selbstkonstitution durch Vernunftgründe, die dem Selbst den Charakter von Person im Sinne eines Rechtssubjekts und eines Trägers moralischer Verantwortung mit einer eigentümlichen Sorge um sich und seine Zukunft aufprägt (siehe dazu Tengelyi 2013a). Doch zwischen diesen beiden Extremen gibt es noch eine mittlere Schicht. Es handelt sich um die Schicht einer ebenfalls aktiven Selbstkonstitution, die aber nicht durch die Aufsuchung vernünftiger Motivationsgründe des je eigenen Handelns, sondern durch das Erzählen von Geschichten aus dem je eigenen Leben die Frage nach der personalen Identität zu beantworten sucht. Charakteristisch für diese mittlere Schicht ist – um einen Ausdruck zu verwenden, der 22 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Die Einzigkeit des Selbst und das Problem der Selbstverlorenheit
von Alasdair MacIntyre geprägt und von Paul Ricœur schon früh aufgegriffen wurde – eine »erzählerische Suche nach dem Selbst« (a narrative quest of the self), und zwar diesseits aller Personkonstitution. Dass eine derartige Suche nach dem Selbst sinnvoll ist, liegt gerade daran, dass die eigentümliche Individuation eines geistigen Ich mit einer raumzeitlichen Verortung noch bei Weitem nicht erschöpft ist. Das Prinzip absoluter Individuation ist, wie wir im Gegensatz zu einer lange anhaltenden, auf Thomas von Aquin, ja sogar auf Aristoteles zurückgehenden Tradition behaupten müssen, sicherlich nicht einfach die raumzeitlich bestimmte materia signata, die ja immer nur die unbestimmte Abweichung von einer allgemeinen Formbestimmung erklären kann, sondern vielmehr, wie es dieser Tradition von Johannes Duns Scotus früh schon entgegengehalten wurde, eher die haecceitas, also die einmalige Verwirklichungsweise einer in sich doch allgemeinen Formbestimmtheit (siehe dazu Tengelyi 2013b). Der Gegenstand einer erzählerischen Suche nach dem Selbst ist nichts anderes als eine individuelle Geschichte, die als eine jeweils einmalige Verwirklichungsweise einer in sich allgemeinen Formbestimmtheit zu gelten hat. Schreiben wir jedoch dem Selbst in diesem Sinne eine absolute Individuation zu, so sehen wir uns vor die Aufgabe gestellt, die Möglichkeit einer doch gewiss nicht aus der Luft gegriffenen Rede von Selbstverlust und Selbstverlorenheit zu begründen. Meine bereits erwähnte Grundthese lautet hier: Es gibt so etwas wie eine geradezu konstitutive Selbstverlorenheit.
II.
Konstitutive Selbstverlorenheit
Es geht nicht darum, wie sich das Selbst von vornherein als Manselbst im Man verliert. In Sein und Zeit (z. B. § 9 ff. und § 25 ff.) stellt Heidegger ein uneigentliches Sichverstehen aus der Welt einem eigentlichen Sichverstehen aus der durch Jemeinigkeit charakterisierten Existenz gegenüber und lässt dem Terminus »Welt« in diesem spezifischen Kontext eine Bedeutung zukommen, die aus einer paulinisch-augustinischen Tradition stammt und bei christlichen Autoren wie Pascal oder Kierkegaard auch viel später noch lebendig bleibt. Gerade damit hängt aber zusammen, dass der so verstandene Termi-
23 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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nus »Welt« in Sein und Zeit Träger eines faktischen Ideals bleibt, dem man nicht ohne Weiteres Allgemeingültigkeit einräumen kann. Gleichwohl ist der existenzialphilosophische Grundansatz durchaus geeignet, um für das Verständnis des Phänomens, das wir als »konstitutive Selbstverlorenheit« bezeichnen, einen Schlüssel an die Hand zu geben. Denn zu diesem Grundansatz gehört die Einsicht, dass jedes Selbst mehr ist, als was es jeweils ist, und dass es deshalb sich selbst verliert, sobald es sich mit seinem Gerade-so-und-nichtanders-Sein gleichsetzt. Aus dieser Einsicht schöpft Jean-Paul Sartre die Motivation, die eigentümliche Seinsweise des Selbst – das von ihm im Anschluss an Hegel so genannte »Für-sich-sein« – folgendermaßen zu bestimmen: Es ist das, was es nicht ist, und es ist nicht das, was es ist. Noch mehr als diese treffende, aber starre Formel besagt die lebendige Charakterisierung der mauvaise foi, der eigentümlichen »Unaufrichtigkeit« oder »Selbsttäuschung«, die sich daraus ergibt, dass ein Selbst ganz und gar darin aufgehen will, was es gerade ist. Sobald von diesem Kapitel des Werkes Das Sein und das Nichts die Rede ist, erscheinen vor den geistigen Augen des Lesers die unvergesslichen Tanzschritte des Kellners, der – offenbar im Café »Les deux magots«, der Église Saint-Germain-des-Prés direkt gegenüber – mehrere Teller auf seinem ausgestreckten Arm mit eingeübter Geschicklichkeit trägt, um der ganzen Welt kundzugeben, wie sehr er Kellner ist, Kellner, und nichts anderes als eben nur Kellner. Das ist Selbstverlorenheit, und zwar keineswegs in geringerem Maße, als wenn man trotz der Tatsache, dass man Kellner ist, glauben würde, man sei eigentlich nicht Kellner, sondern etwa ein verkappter Kaiser, Napoleon in Inkognito. Der Unterschied besteht nur darin, dass die Selbstverlorenheit des ersten Kellners eine »konstitutive« ist, da er ja unmöglich das nicht sein kann, was er nun einmal ist, die des zweiten Kellners dagegen eine »pathologische«, da er sehr wohl das nicht sein könnte, was er nicht ist. Doch bleiben diese Überlegungen abstrakt, solange man sie nicht mit dem Prozess der Selbstkonstitution in der Lebenswelt verbindet. Die konstitutive Selbstverlorenheit hängt wohl damit zusammen, dass jedes Selbst von vornherein in eine Lebenswelt hineinwächst, die von überlieferten und eingewurzelten Tätigkeitsformen durchdrungen ist. Mit »Tätigkeitsformen« sind hier die im Englischen als practices, im Französischen als les pratiques bezeichneten Gepflogenheiten gemeint, die im Deutschen nur ungenau und auf irreführende Weise mit dem Ausdruck »Praktiken« oder auch »Praxisformen« 24 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Die Einzigkeit des Selbst und das Problem der Selbstverlorenheit
wiedergegeben werden können. Die Habitualisierungsvorgänge, die sich in der sekundären Passivitätsschicht des Selbst als Gewohnheiten und Fertigkeiten, als Überzeugungen und Grundhaltungen sedimentieren, erwachsen immer aus Tätigkeitsformen, die im Rahmen einer lebensweltlichen Praxis als Gepflogenheiten gelten (oder gelegentlich als unerwünschte Bräuche gerade an den Rand gedrängt werden). Entscheidend ist, dass diese Tätigkeitsformen dem Selbst jeweils Maßstäbe setzen, indem sie ihre eigenen standards of excellence herausbilden. Es gehört weitgehend noch zur Selbstkonstitution in der passiven Sphäre, dass sich das Selbst die besonderen Fähigkeiten und die allgemeinen Charakterzüge aneignet, die es ihm ermöglichen, den Maßstäben einer ganzen Reihe von Tätigkeitsformen – von der Beherrschung der Muttersprache bis zur Vertrautheit mit musikalischen Instrumenten, aber auch mit dem Schachspiel oder der Fertigkeit des Schwimmens – zu entsprechen. Eine Selbstbesinnung, so früh sie auch in einer besonderen Lebensgeschichte auftaucht, findet das Selbst immer bereits in dieser Gestalt der Zerstreuung und Zersplitterung vor, die wir auch als eine Form konstitutiver Selbstverlorenheit charakterisieren können. Konstitutiv ist diese Selbstverlorenheit vor allem deshalb, weil es kein Selbst gibt, das nicht den Maßstäben einer ganzen Reihe überkommener Tätigkeitsformen entsprechen müsste. Die überlieferten Gepflogenheiten sind ja nicht nur Keime von Institutionen der gesellschaftlichen und auch der staatlichen Ordnung, sondern sie sind auch in sich selbst schon Gebilde und Träger einer Kulturentwicklung, die das Selbst notwendig mitprägt. Es gibt aber auch eine andere Form konstitutiver Selbstverlorenheit, die nichts mehr mit traditionsgesättigten Tätigkeitsformen zu tun hat, sondern vielmehr gerade den neuen Initiativen und den selbstständigen Taten anhaftet. Was könnte eine größere Bedeutung für eine aktive Selbstkonstitution haben als der handelnde Eingriff ins Gewebe der Lebenswelt? Nur dass jede Handlung Konsequenzen heraufbeschwören kann, die nicht in der ursprünglichen Absicht des Handelnden lagen! Diese ungewollten Handlungsfolgen verändern den ursprünglichen Sinn der Tat, indem sie ihr einen verwandelten Gesamtcharakter aufprägen. Das handelnde Selbst bleibt von den unbeabsichtigten Konsequenzen seiner Tat keineswegs unbetroffen; König Ödipus steht ja am Ende der nach ihm benannten Tragödie geradezu als Mörder seines Vaters und als Schänder seiner Mutter da! Darin liegt eine konstitutive Selbstverlorenheit, die auf umso be25 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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deutsamere Weise in den Vorgang aktiver Selbstkonstitution eingeht, je weitreichender der Einfluss ist, den ein handelnder Eingriff ins Gewebe der Lebenswelt zugleich auf das Gesamtgeschehen der Welt ausübt. Mit besonderem Nachdruck weist Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte darauf hin, dass »in der unmittelbaren Handlung etwas Weiteres liegen kann als in dem Willen und Bewußtsein des Täters« und dass die Handlung oft »sich umkehrt gegen den, der sie vollbracht« hat, ja, dass sie »ein Rückschlag gegen ihn« werden kann, der »ihn zertrümmert« (Hegel 1970, 43). Wie kann sich das Selbst gegen die Gefahr solcher Rückschläge wehren, wenn nicht dadurch, dass es sich selbst noch in seinen selbstständigen Handlungen an die Maßstäbe überkommener Tätigkeitsformen zu halten sucht? Die überlieferten Gepflogenheiten gewähren dem Selbst dadurch einen Schutz gegen die geschilderte Gefahr, dass sie – zumindest in bestimmten Sonderbereichen – einen möglichst durchsichtigen Zusammenhang zwischen der Handlungsabsicht und den Handlungsfolgen herstellen. Daraus ergibt sich jedoch eine merkwürdige und wohl auch unerwartete Schlussfolgerung: Das handelnde Selbst befindet sich in einer ständigen Pendelbewegung zwischen den ihm überlieferten Tätigkeitsformen, auf die es sich mehr oder weniger verlassen kann, und den sich ihm erschließenden Möglichkeiten selbstständiger Initiative, die es zu Tat und Unterfangen herausfordern, und in beiden dieser Sphären sieht es sich mit einer je verschiedenen Form konstitutiver Selbstverlorenheit konfrontiert. Deshalb verkehrt sich jedoch unsere Ausgangsfrage in ihr Gegenteil: Das eigentliche Problem besteht nunmehr gar nicht darin, wie angesichts der ureigenen Einzigkeit und der absoluten Individuation des Selbst von Selbstverlust und Selbstverlorenheit überhaupt die Rede sein kann, sondern vielmehr darin, wie das Selbst dazu gelangen kann, sich aus der konstitutiven Selbstverlorenheit überlieferter Tätigkeitsformen und eigens ergriffener Handlungsmöglichkeiten jemals zurückzugewinnen. Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus einer Besinnung auf den eigentümlichen Sinn der Freiheit, die dem Selbst zukommt. Das Ergreifen neuer Initiativen gehört mit Sicherheit zu diesem Sinn. Das Aufkommen ungewollter Handlungsfolgen schränkt jedoch die so verstandene Freiheit des Selbst ein. Dass es sie gleichwohl nicht gänzlich aufhebt, liegt daran, dass es dem Selbst, solange es existiert, unbenommen bleibt, auf die Herausforderung unbeabsichtigter Handlungsfolgen mit neuen Taten zu antworten. Daraus folgt, dass die 26 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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Freiheit des Selbst mehr ist als »Spontaneität« im Sinne von Kants transzendentaler Freiheit, also mehr als ein bloßes »Selbst-anfangenKönnen«. Es ist darüber hinaus ein »Immer-wieder-aufs-Neue-anfangen-Können« und damit eine durchaus zeitlich zu verstehende, sich in der Zeit entfaltende Freiheit. Man kann deshalb behaupten, dass die individuelle Geschichte des Selbst nichts anderes ist als eine Aufeinanderfolge von Ansätzen und Neuansätzen, die insgesamt eher nur einen richtigen Umgang mit der konstitutiven Selbstverlorenheit begründen können, als dass sie diese jemals gänzlich zu überwinden vermöchten. Daraus wird zugleich verständlich, dass mit der Einzigkeit des Selbst alles andere als eine einfache Sichselbstgleichheit gemeint ist. Die wohlverstandene personale Identität erwächst aus einem unaufhörlichen Ringen mit den ihr keineswegs bloß äußerlichen, sondern für sie geradezu konstitutiven Mächten der Selbstverlorenheit. Daher ist sie auch kein ungestörtes Einerlei, sondern – mit einem Wort, das Husserl in seiner Spätzeit wiederholt verwendet – eine wahrhafte »Identität im Widerstreit«. Im Kampf mit den Mächten konstitutiver Selbstverlorenheit kann sich das Selbst nicht allein auf die jeweiligen Erfahrungen stützen, die es mit der Welt und mit sich selbst gemacht hat, sondern merkwürdigerweise auch auf manche Ingredienzen eines durch und durch triebgeladenen Phantasielebens, das es, wenn auch sozusagen nur nebenbei, eigentlich niemals aufhört zu führen. Die abgedroschene Formel »Er konnte seine Träume verwirklichen« hat gleichwohl einen Wahrheitskern: Um eine Absicht, einen Plan, eine kaum erhoffte Möglichkeit zu verwirklichen, muss man in sich selbst vorhandene Kräfte freisetzen, die oft auch in Träumen – oder Tagträumen – Ausdruck finden, bevor sie in den Dienst einer bestimmten Aufgabe gestellt werden könnten. Allerdings stößt das Selbst in diesem Bereich wieder auf bisher noch nicht erwähnte Mächte konstitutiver Selbstverlorenheit, nämlich – um einen Ausdruck des späten Sigmund Freud zu gebrauchen – auf Mächte des »Es«, dessen Zusammenstöße mit der äußeren und in der Gestalt des »Über-Ich« auch verinnerlichten Realität nicht allein als pathogene, traumatisch wirkende und daher dem »Triebschicksal« der »Verdrängung« anheimfallende Episoden der jeweiligen Lebensgeschichte Einfluss auf das »Ich« nehmen, sondern damit zugleich ebenso viele Quellen eines »Unbehagens in der Kultur« darstellen. In dem kurz vor seinem Tod geschriebenen Abriß der Psychoanalyse 27 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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aus dem Jahre 1938 brachte Freud – eine Beobachtung verallgemeinernd, die er zum ersten Mal mehr als ein Jahrzehnt zuvor im besonderen Falle des Fetischismus gemacht hatte – jede seelische Störung und Krankheit, vor allem die Psychosen, aber in erweitertem Sinne selbst noch die Neurosen, mit einer »Ichspaltung« in Zusammenhang. Er verstand darunter, dass »zwei psychische Einstellungen anstatt einer einzigen« ein Leben lang nebeneinander bestehen, ohne sich gegenseitig zu beeinflussen: »die eine, die der Realität Rechnung trägt, die normale, und eine andere, die unter Triebeinfluß das Ich von der Realität ablöst« (Freud 1972, 57 f.). Den Unterschied zwischen Neurose und Psychose leitet Freud in dieser Schrift daraus ab, dass bei der Ersteren nur die eine der beiden Einstellungen dem Ich zugeschrieben werden könne, während die andere gleichsam eine Einstellung des Es bleibe, bei der Letzteren dagegen jede der beiden Einstellungen dem Ich eigentümlich sei, so dass hier in wörtlichem Sinne eine Spaltung des Ich vorliege. Das eigentlich Pathologische an diesem Zustand besteht unseres Erachtens darin, dass die beiden Einstellungen durch eine Kluft getrennt sind, die keinen Übergang und keinen gegenseitigen Einfluss, keine Pendelbewegung und auch keine Wechselwirkung zwischen ihnen zulässt. Diese Kluft erklärt, warum in manchen Sprachen – wie etwa der französischen oder der italienischen – die Geistesgestörtheit auch als aliénation bzw. als alienazione, mithin als mentale »Selbstentfremdung« bezeichnet wird. Da dieses Phänomen gerade nach Freud zugleich ein Licht auf den normalen Aufbau – die von der Psychoanalyse so genannte »Topik« – des »seelischen Apparates« wirft, können wir auch hier mit vollem Recht von einer konstitutiven Selbstverlorenheit sprechen. Die Diagnose, dass die Menschheit – oder zumindest die westliche Zivilisation – weit davon entfernt ist, einen richtigen Umgang mit den Mächten des Es entwickelt zu haben, wird im Werk Das Unbehagen in der Kultur ausgesprochen. Das eigentliche Verdienst von Freud besteht aber weniger in der Aufstellung dieser naheliegenden Diagnose als vielmehr in der deutlichen Formulierung der noch grundlegenderen Einsicht, dass sich das Selbst nicht allein vor die Aufgabe gestellt sieht, mit der Realität, der Wirklichkeit der Welt, fertig zu werden, sondern auch vor die ganz anders geartete Aufgabe, mit seinem eigenen Phantasieleben zurechtzukommen und die dahinter steckenden Kräfte in den Dienst seiner Lebensgestaltung zu stellen. Lange Zeit glaubte man, Freuds Diktum »Wo Es war, soll Ich werden« im Sinne einer zu erringenden Herrschaft des Ich über das 28 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Die Einzigkeit des Selbst und das Problem der Selbstverlorenheit
Es verstehen zu müssen. Die spätere Entwicklung der Psychoanalyse – und besonders ihre Neufassung durch Jacques Lacan – wirkte jedoch dieser nicht nur irreführenden, sondern allem Anschein nach auch völlig unmöglichen Deutungstendenz entgegen. Der richtige Umgang mit dem Es ist sicherlich eher ein Verkehr auf Abstand zu ihm als seine Unterordnung oder Einverleibung. Wollen wir jedoch – unsere Überlegungen zusammenfassend – die Einzigkeit des Selbst durch die Einmaligkeit eines Erfahrungsweges durch die Welt hindurch bestimmen, so müssen wir unbedingt hinzufügen, dass es sich dabei um einen Weg handelt, auf dem das Selbst nicht allein Erfahrungen mit der Außenwelt und dem Schicksal seiner Handlungen in der Realität, sondern auch Erfahrungen mit seinem je eigenen Phantasieleben und den es insgeheim gestaltenden oder beeinflussenden Kräften macht. Dieses Phantasieleben und die Spuren, die in ihm auf sich hinter ihm verbergende Kräfte verweisen, lassen dem Selbst eine Innerlichkeit angedeihen, die in der handelnden Lebenspraxis und der Wirklichkeit der Welt niemals ihren völlig angemessenen Ausdruck finden kann. Dass es ohne eine derartige Innerlichkeit kein Selbst gibt, ist eine Einsicht, die dem richtigen Umgang mit den hier waltenden Mächten konstitutiver Selbstverlorenheit eine besondere Tragweite zukommen lässt.
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László Tengelyi Husserl, E. (1976). Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hua VI (2. Aufl., hrsg. v. W. Biemel). Den Haag: Martinus Nijhoff. Husserl, E. (1987). Cartesianische Meditationen (hrsg. v. E. Ströker). Hamburg: Meiner. Husserl, E. (2006). Späte Texte über Zeitkonstitution. Die C-Manuskripte. Hua Materialien VIII (hrsg. v. D. Lohmar). Dordrecht: Springer. Landgrebe, L. (1974/1982). Meditation über Husserls Wort »Die Geschichte ist das große Faktum des absoluten Seins«. In ders., Faktizität und Individuation. Studien zu den Grundfragen der Phänomenologie (S. 38–57). Hamburg: Meiner. Levinas, E. (1992). Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (übers. v. T. Wiemer). Freiburg München: Alber Verlag. Locke, J. (1998). Identité et différence. L’invention de la conscience (hrsg., übers. u. komment. v. É. Balibar, engl.–frz.). Paris: Seuil. Mann, T. (1963). Lotte in Weimar. Frankfurt am Main: Fischer Bücherei. Tengelyi, L. (2013a). Das Selbst und die Person. In I. Römer & M. Wunsch (Hrsg.), Person. Anthropologische, phänomenologische und analytische Perspektiven (S. 27–42). Münster: Mentis Verlag. Tengelyi, L. (2013b). Singularität und Responsivität. Phänomenologische Forschungen, 285–299. Tengelyi, L. (2014). L’expérience de la singularité. Paris: Hermann.
30 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Selbsterleben und Selbststörungen 1 Thomas Fuchs
Zusammenfassung Der Begriff des Selbst ist für die Psychopathologie ebenso wie für die Psychotherapie von zentraler Bedeutung. Zahlreiche, insbesondere schwerere psychische Krankheiten gehen mit Störungen und Entfremdungen des Selbsterlebens einher, die sich aber in sehr unterschiedlicher Weise manifestieren. Eine Kenntnis der verschiedenen Dimensionen des Selbst, von der basalen bis zur existenziellen Ebene, ist daher maßgeblich für das psychopathologische Verständnis der Erkrankung ebenso wie für das therapeutische Vorgehen. Der folgende Überblick unterscheidet zunächst verschiedene Formen des basalen, präreflexiven und des erweiterten, reflexiv vermittelten Selbsterlebens. Dann stellt er Schizophrenie, Depression und BorderlineStörung als paradigmatische Formen von Selbststörungen auf unterschiedlichen Ebenen dar.
1.
Einleitung
Aufgrund seiner langen und weit verzweigten Tradition in Philosophie, Psychologie und anderen Humanwissenschaften entzieht sich der Begriff des Selbst einer stringenten und allgemein akzeptierten Definition. Als allgemeinste Aussage lässt sich vorläufig formulieren, dass ›das Selbst‹ zunächst einen in jeder Erfahrung enthaltenen Pol des Erlebens bezeichnet, der das Bewusstseinsfeld auf ein Subjekt zentriert und die Einheit des Erlebens im Zeitverlauf begründet,
Gekürzte und überarbeitete Fassung eines Beitrags von T. Fuchs und K. Vogeley (2016). Die darin von K. Vogeley verfassten Abschnitte sind nicht Bestandteil dieses Wiederabdrucks.
1
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Thomas Fuchs
sich selbst jedoch einem direkten Zugriff entzieht – also das Selbsterleben im grundlegenden Sinn, oft auch als ›Erste-Person-Perspektive‹ bezeichnet. In einem weiteren Sinn bezieht sich der Begriff des Selbst aber auch auf einen Kern der Persönlichkeit, der bei allen lebensgeschichtlichen Wandlungen oder Umbrüchen eine Kontinuität bewahrt und insofern die Grundlage der personalen Identität darstellt. Wie diese beiden Bedeutungen miteinander verknüpft sind, ist eine zentrale und bis heute offene Frage der Philosophie und Psychologie. Aus zwei Gründen erscheint eine Auseinandersetzung mit Konzepten des Selbst für Psychiater und Psychotherapeuten sinnvoll und erforderlich. Zum einen bildet das Selbsterleben den primären Austragungsort psychischer Krankheit, die sich ja nicht auf eine Ansammlung von diagnostisch relevanten Symptomen beschränkt, sondern den Patienten immer in seiner Selbstwahrnehmung, seinem Selbstbild und Selbstentwurf betrifft. Zum anderen beruhen alle therapeutischen Verfahren entscheidend auf dem Selbstverhältnis des Patienten, also seiner Fähigkeit, zu sich selbst zumindest zeitweise Distanz einzunehmen, sich wahrzunehmen, zu befragen und sich selbst neu zu bestimmen – die zentrale Voraussetzung für alle Selbsterkenntnis, Veränderungsbereitschaft und -umsetzung. Sowohl in psychopathologischer als auch in psychotherapeutischer Hinsicht sind daher grundlegende Kenntnisse der Formen ebenso wie der Störungen des Selbsterlebens eine Voraussetzung angemessener Beurteilung und Behandlung. Ein Nachvollzug der komplexen Ideengeschichte des Begriffs in den verschiedenen Disziplinen soll hier nicht unternommen werden. Zu verweisen ist auf eine umfangreiche, in den letzten Jahrzehnten freilich kaum noch übersehbare Literatur, für die insbesondere Neisser (1988), Leary und Tangney (2005) oder Gallagher (2011) umfassende Übersicht bieten. Drei Gesichtspunkte seien jedoch besonders hervorgehoben: (1) Vom Ich zum Selbst. Während traditionell für das Zentrum des Erlebens und der Persönlichkeit der Ich-Begriff verwendet wurde, ist in den letzten Jahrzehnten zunehmend ›das Selbst‹ an seine Stelle getreten. Das gilt etwa für die Psychoanalyse – Freud sah im Ich die moderierende Instanz des psychischen Apparats; erst bei Hartmann (1950) und später bei Kohut (1976) setzt sich das Selbst durch – oder auch für die Phänomenologie: Während Husserl noch vom »Ich-Zen32 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Selbsterleben und Selbststörungen
trum« der psychischen Akte sprach, gebrauchen gegenwärtige Autoren überwiegend den Selbst-Begriff (Waldenfels 2000; Zahavi 1999, 2005). Darin manifestiert sich eine grundsätzliche Verschiebung der Auffassung von Selbsterleben und Individualität: Anstelle des gleichsam monadischen, seiner selbst bewussten, sich autonom und souverän setzenden ›Ich‹ – erstmals in Descartes’ cogito-Satz proklamiert – bezeichnet ›das Selbst‹ einen vielschichtigeren, erweiterten Grund des Erlebens und der Person. Es erscheint in verschiedenen, zunächst unund vorbewussten, insbesondere leiblichen Dimensionen und differenziert sich im Verlauf der frühkindlichen Entwicklung zunehmend aus, bis es sich schließlich zum reflexiven Selbst- oder Ichbewusstsein entfaltet (s. u. 2.1). Das Ich ließe sich demnach auch als »das reflexiv gewendete Selbst« bezeichnen. (2) Relationalität des Selbst. War das Ich vor allem in Abgrenzung vom Anderen konzipiert, betonen neuere Entwürfe des Selbst vielmehr dessen grundsätzliche Bezogenheit: Jedes Verhältnis zu sich selbst ist demnach zugleich ein Verhältnis zu anderen, von denen das Selbst affiziert, angeblickt oder angesprochen wird, auf die es reagiert, antwortet und so erst eigentlich zu sich selbst findet. Von der frühkindlichen Bindungsbeziehung bis zur entfalteten Persönlichkeit entwickelt sich die Identität im sozialen Kontakt, in der Dialektik von Aneignung und Abgrenzung, von Identifizierung, Rollenübernahme und Individualisierung, in einem fortwährenden Prozess der Interaktion mit der Umwelt. Das Selbst ist somit interdependent, es ›überlagert‹ sich mit den relevanten anderen, deren verinnerlichte Repräsentanzen wesentliche Anteile des Selbst ausmachen (vgl. Abb. 1). Dies hat auch Konsequenzen für neuere Theorien der Intersubjektivität oder der sozialen Kognition: Sie gehen nicht mehr von einem in sich abgegrenzten Ich-Bewusstsein aus, das erst auf indirektem Weg (über eine Theory of Mind, Mentalisierung o. ä.) zum fremden, verborgenen Anderen hinfinden muss, sondern von einer primären, vorsprachlichen und zwischenleiblichen Beziehung des Selbst mit anderen (Stern 1998; Gallagher 2008; Fuchs & De Jaegher 2009; Zahavi 2014).
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Mutter Tante
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Mitarbeiter
Abb. 1 ›Ich‹ versus ›Selbst‹ (nach Markus & Kitayama 1991)
(3) Weder Instanz noch Konstrukt. ›Das Selbst‹ – eine nicht unproblematische Substantivbildung – scheint so etwas wie eine eigene Entität oder Instanz zu postulieren, die irgendwo in der psychischen Organisation einer Person zu finden wäre. Die bisherigen Überlegungen haben schon erkennen lassen, dass der Begriff nicht in solcher Weise verdinglichend verstanden werden darf. Mit dem abkürzenden Terminus ›Selbst‹ bezeichne ich im Folgenden einerseits die synchrone ebenso wie diachrone Einheit des Selbsterlebens, andererseits die personale Identität als eine integrierende Organisationsform der Persönlichkeit, die maßgeblich vom Selbstverhältnis geprägt und dabei in fortwährender Wandlung begriffen, also prozesshaft zu denken ist. Jede Fixierung, Hypostasierung oder Verdinglichung ist dabei auszuschließen. Auf der anderen Seite ist das Selbst aber auch kein bloßer Konstrukt- oder Modellbegriff, der sich etwa kognitionswissenschaftlich in ein Ensemble von ›selbstbezogenen‹ Schemata, Überzeugungen, Einstellungen oder Verarbeitungs- und Reaktionsmustern auflösen ließe. Gerade diese ›Beziehung zu sich selbst‹ wäre nämlich gar nicht möglich ohne ein primäres, präreflexives Selbsterleben, das in jeder Erfahrung mitgegeben ist. Selbstsein ist kein Konstrukt, sondern unsere jeweils grundlegende Realität. Der Begriff des Selbst ist also nicht substanzialistisch im Sinne eines homogenen oder gar monolithischen Gebildes aufzufassen, sondern mehrdimensional, prozesshaft und relational. Dem angemessen erscheinen Aspekt- oder Musterkonzepte (z. B. die pattern theory of self, Gallagher 2013), die von verschiedenen Dimensionen des Selbsterlebens ausgehen, nämlich von basalen, vital-leiblichen über affektive, soziale, reflexive, narrative bis hin zu existenziellen Aspekten. 34 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Selbsterleben und Selbststörungen
Damit lassen sich auch psychische Störungen differenzierter beschreiben, in denen ja häufig bestimmte Dimensionen des Selbsterlebens vorrangig betroffen sind. Die folgende Darstellung gilt daher zunächst den hauptsächlichen Dimensionen, wie sie sich auch in der psychischen Entwicklung von der frühen Kindheit an manifestieren (2.1–2.3). Darauf aufbauend gilt der nachfolgende Abschnitt paradigmatischen Störungen des Selbsterlebens in der Psychopathologie (3.1–3.3). Tab. 1 Dimensionen und Störungen des Selbsterlebens Störungen (Beispiele)
Dimension
Phänomene
Basales Selbst
Präreflexives Selbstempfinden Meinhaftigkeit des Erlebens
1) Leibliches Selbst
Selbst-Vitalität, Lebendigkeit Selbst-Affektivität Basale Selbstkontinuität
Basale Selbststörungen in der Schizophrenie und Depression Dissoziative Zustände
2) Ökologisches Selbst
Sensomotorische Selbstkohärenz Selbst-Urheberschaft (agency) Selbstwirksamkeit
Schizophrene Ich-Störungen
3) Primäres soziales Selbst
Zwischenleiblichkeit, Interaffektivität
Affektive Resonanzstörung in schweren Depressionen
Erweitertes, personales Selbst
Reflexives Selbsterleben
1) Reflexives Selbst
Perspektivenübernahme Ich-Bewusstsein, Ich-Demarkation Rollenidentität (me) Selbstwertempfinden
Wahn Transitivismus, Ich-Störungen Depressive Rollenfixierung Narzisstische Störungen
2) Narratives Selbst
Autobiographische Identität
Demenz
3) Existenzielles Selbst
Selbstkonzept (Selbstbild – Selbst- Fragmentierte Identität bei wert – Selbstideal) Borderline-Persönlichkeiten Selbstverhältnis, Selbstentwurf Selbstaktualisierung, Individuation
Selbstaktualisierungsschwäche beim Typus Melancholicus
35 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Thomas Fuchs Dimension
Phänomene
Störungen (Beispiele)
Selbst und Intersubjektivität 1) Implizite Intersubjektivität
Intuitives, präreflexives soziales Mangel oder Fehlen der zwischenVerstehen (non-verbale Komleiblichen Resonanz im Autismunikation, Zwischenleiblichmus keit)
2) Explizite Intersubjektivität
Inferentielles, reflexiv vermitteltes Störung der PerspektivenüberVerstehen (Perspektivenübernahme im schizophrenen nahme, Theory of Mind) Wahnerleben
2.
Dimensionen des Selbst
Bezug nehmend auf neuere phänomenologische, entwicklungspsychologische und neurowissenschaftliche Konzepte (u. a. Stern 1998; Damasio 1999; Zahavi 1999; Gallagher 2000; Rochat 2004) unterscheide ich im Folgenden zwei grundlegende Formen des Selbsterlebens, die sich jeweils weiter differenzieren lassen, nämlich (a) das primäre, präreflexive oder basale Selbst und (b) das erweiterte, reflexive oder personale Selbst.
2.1 Primäres oder basales Selbst Ein basales Selbsterleben ist allen Bewusstseinsprozessen inhärent. Es liegt vor jeder bewussten Aufmerksamkeit auf die eigene Person und vor jeder Selbstreflexion. Dieses basale Selbst lässt sich weiter differenzieren in die Dimensionen des (1) leiblichen Selbst, (2) des ökologischen Selbst und (3) des primären sozialen Selbst oder Selbstmit-anderen. 2.1.1 Leibliches Selbst Das basale Selbst ist zunächst charakterisiert durch ein implizites, präreflexives Selbstgewahrsein, das in jeder Erfahrung mitgegeben ist, ohne eine explizite Introspektion oder Reflexion zu erfordern. Jedes Erlebnis schließt auch das Empfinden ein, »wie es ist«, es zu haben, d. h., es ist unmittelbar und ohne gesonderte Selbstzuschrei36 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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bung als »meinhaft« gegeben (Nagel 1994; Zahavi 1999). Gehe ich z. B. in eine Wohnung, so sehe ich nicht nur die Gegenstände vor mir, sondern bin mir zugleich implizit meines Sehens und meiner Gegenwart im Raum inne. Dieses Innesein ist nicht etwa ein zusätzliches Bewusstsein meiner selbst, sondern das allgemeine Medium jeder Erfahrung: Damit überhaupt etwas im Bewusstsein erscheinen kann, muss ein elementares Selbstempfinden dessen beteiligt sein, der über Bewusstsein verfügt. Das primäre Selbst entsteht also nicht erst aus einer Selbstreflexion, bei der ich mich selbst zum Objekt meiner Aufmerksamkeit mache, auch nicht aus einer äußeren, sozialen Zuschreibung oder der Sicht der anderen, vermittels derer ich mich als eine Person unter anderen erfasse. Wir könnten ein solches personales Ich-Bewusstsein gar nicht entwickeln, wenn es nicht schon zuvor ein elementares Selbstempfinden gäbe, das diese Zuschreibungen auf sich bezieht. Es verhält sich wie beim Spiegelbild: Das Kleinkind kann sich nur im Spiegel erkennen, wenn es zuvor schon mit sich und seinem Leib vertraut ist. Andererseits ist dieses basale Selbsterleben nicht nur als eine formale Voraussetzung von Erfahrung zu denken. Es schließt vielmehr die Dimensionen der Leiblichkeit und der Zeitlichkeit ein, d. h. die Selbstgegenwart eines leiblich und zeitlich verfassten Subjekts. Dazu gehört ein elementares Gefühl der Selbst-Vitalität oder des Lebendigseins (Scharfetter 2002; Fuchs 2012a), das sich weiter in basale Lust- und Unlustgefühle, viszerale und propriozeptive Empfindungen des Leibes differenzieren lässt (Selbstaffektion). Die »Meinhaftigkeit« des gespürten Leibes und all seiner Regungen ist der Kern des Selbsterlebens; auf neurobiologischer Ebene entspricht sie Damasios Konzeption des somatischen oder core self, das auf der fortwährenden Interaktion von Signalen und Afferenzen aus dem Körper mit Thalamus, Tektum und cingulären Kortexarealen des Gehirns basiert (Damasio 1999). Weiter schließt das basale Selbsterleben auch eine zeitliche Selbstkontinuität ein, die mit dem Bewusstseinsstrom als solchem gegeben ist, ohne dass es dazu einer expliziten Rückerinnerung bedarf (Husserl 1969). Bereits der Säugling erlebt eine Kontinuität seiner Erfahrung, er registriert Wiederholungen von ähnlichen Ereignissen und nimmt sie in sein implizites oder prozedurales Gedächtnis auf, lange bevor sich ab dem zweiten Lebensjahr sein episodisches und autobiographisches Gedächtnis entwickelt (Markowitsch & Wel37 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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zer 2005; Fuchs 2012b). Daher bleibt die Kontinuität und Vertrautheit des basalen Selbsterlebens auch bei einem Verlust des autobiographischen Gedächtnisses erhalten, wie etwa bei globalen Amnesien oder fortgeschrittenen Demenzerkrankungen (Summa & Fuchs 2015): Um sich selbst zu erleben, bedarf es keines Wissens von sich, so sehr wir dieses Wissen auch unserer Identität zurechnen. Zusammengefasst: Das basale Selbsterleben bedingt die Meinhaftigkeit aller Erlebnisse, ihre Zugehörigkeit zu einem einheitlichen Subjekt der Erfahrung. Es schließt die Dimensionen der Leiblichkeit, Vitalität, Affektivität und der zeitlichen Kohärenz des Bewusstseins ein. 2.1.2 Ökologisches Selbst Das primäre Selbsterleben ist freilich nicht auf den Innenleib begrenzt, sondern schließt auch die sensomotorische Beziehung von erlebendem Subjekt und Umwelt ein, die durch den Leib und seine habituellen Fähigkeiten vermittelt ist (Merleau-Ponty 1966). Durch seine Sinne, Glieder und Gewohnheiten ist der Leib eingebettet in den Umraum, der sich ihm als Feld von Handlungsmöglichkeiten oder »Affordanzen« präsentiert (Gibson 1979). Damit verknüpft ist das Empfinden von Selbst-Urheberschaft (agency), d. h. die Erfahrung, die Quelle von motorischer Spontaneität und Aktivität zu sein und so Veränderungen in der Umgebung (z. B. Widerstand, Objektbewegungen) selbst hervorrufen zu können. Auf diese Weise bilden sich rückgekoppelte sensomotorische Funktionskreise (v. Uexküll 1920/1973), die wiederkehrende Erlebnisse von »beantwortetem Wirken« bzw. Selbstwirksamkeit hervorrufen und die das basale Selbst zu einem leibräumlichen oder »ökologischen Selbst« (Neisser 1988) erweitern. Dazu gehört wesentlich das Körperschema als implizites Vermögen, sich leiblich im Umraum zu orientieren und motorisch geschickt mit Objekten umzugehen. Die leibliche Dimension des Selbst ist dabei so eng an die Interaktion mit der Umwelt gebunden, dass seine erlebten Grenzen nicht einmal notwendig mit denen des Körpers zusammenfallen: Beim geschickten Werkzeuggebrauch, etwa beim Klavierspielen oder Autofahren, schließen sich die Instrumente an das Körperschema an und werden zu Teilen des leiblichen Selbst. Daher spürt etwa der Blinde den Boden an der Spitze seines Stocks und nicht in seiner Hand, und der geübte Autofahrer erweitert sein
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Körperschema so auf den Umfang des Wagens, dass er ohne Weiteres durch eine enge Gasse zu steuern vermag. Entwicklungspsychologisch reichen die bisher beschriebenen Dimensionen des basalen Selbsterlebens bis in die Pränatalzeit zurück. Bereits ab dem dritten Monat steht der Fetus in vielfältigem sensomotorischen Kontakt mit seiner Umgebung, erkennbar an zunehmend geordneten Bewegungsmustern und Reaktionen auf Tastoder Hörreize. (Schindler 1987; Nickel 1993) Mit Sicherheit verfügt das Neugeborene bereits über ein elementares Selbsterleben, denn es spürt den Schmerz oder Hunger als den seinen und reagiert darauf mit dem Ausdruck eines Affekts, etwa durch Schreien. Durch zunehmende Integration der propriozeptiven, kinästhetischen und sensorischen Modalitäten bilden sich im weiteren Verlauf nach der Geburt frühe Strukturen des Selbst aus, die sich als sensomotorische Selbstkohärenz bezeichnen lassen. Stern (1998) hat von einem »KernSelbst« gesprochen, das sich ab dem zweiten bis dritten Lebensmonat ausformt und das dem hier dargestellten leibräumlichen oder ökologischen Selbsterleben entspricht. Zusammengefasst: Das ökologische Selbst resultiert aus den sensomotorischen Beziehungen zur Umwelt, die mit dem Erleben der Selbsturheberschaft (agency) und Selbstwirksamkeit (Antworten der Umgebung auf die eigenen Initiativen) verbunden sind. 2.1.3 Primäres soziales Selbst So wie sich das ökologische Selbst in den allgemeinen sensomotorischen Interaktionen mit der Umwelt konstituiert, so entwickelt sich das primäre soziale Selbst in den zwischenleiblichen Beziehungen der ersten Lebensmonate. Babys sind schon bald nach der Geburt in der Lage, mimische Bewegungen von Erwachsenen wie Mundöffnen, Zungezeigen oder Stirnrunzeln nachzuahmen (Meltzoff & Moore 1977, 1989). 2 Sie verfügen demnach bereits über ein intermodales Körperschema, das die wahrgenommene Mimik der anderen in die Eine neuere Studie mit einer deutlich größeren Stichprobe und einer breiteren Auswahl von präsentierten mimischen Ausdrucksformen stellt die Resultate von Meltzoff und Moore allerdings in Frage; hier fanden sich in den ersten Wochen nach der Geburt keine signifikant häufigeren Nachahmungen (Oostenbroek et al. 2016). Aber auch wenn sich herausstellen sollte, dass die Imitationsfähigkeit nicht angeboren ist, sondern sich erst im Zuge dyadischer Interaktionen entwickelt, spielt sie dennoch eine entscheidende Rolle für die primäre Intersubjektivität.
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eigenen, kinästhetisch empfundenen Körperbewegungen umsetzt. Das heißt, der eigene Körper und der des anderen werden von vorneherein als miteinander verwandt erfahren. Über die zunächst nur körperliche Nachahmung entwickelt sich zunehmend auch eine emotionale Resonanz mit den Bezugspersonen. Bereits mit sechs bis acht Wochen zeigen sich in Mutter-Kind-Dyaden sogenannte Proto-Konversationen, d. h. fein abgestimmte Koordinationen von Gestik, Vokalisierungen und Affekten (Trevarthen 1993). In ihrem Verlauf erwirbt das Kind spezifische affektiv-interaktive Schemata (schemes of being-with), die sich mit Stern (1998) auch als »implizites Beziehungswissen« beschreiben lassen – ein präreflexives Wissen oder knowing-how, nämlich wie man mit anderen umgeht, Gefühle austauscht, Aufmerksamkeit erregt, Ablehnung vermeidet, Kontakt wiederherstellt usw. Es entspricht dem, was Merleau-Ponty (2003, 256) als »Zwischenleiblichkeit« (intercorporéité) bezeichnet hat – ein wechselseitiges Verstehen auf der Basis von leiblicher Kommunikation und Empathie. Durch diese leiblich-affektive Resonanz lernt der Säugling sich selbst im Anderen kennen; er entwickelt ein Selbst-mit-anderen oder ein soziales Selbst. Zugleich differenzieren sich zunehmend seine primären Affekte, die zunächst immer in den zwischenleiblichen Austausch eingebettet sind: Der Affekt der geteilten Freude, der z. B. in einer Spielsituation von Mutter und Kind auftaucht, lässt sich nicht zwischen beiden aufteilen. Gefühle entstehen vielmehr aus dem ›Zwischen‹, d. h. in übergreifenden sozialen Situationen der Interaffektivität (Fuchs 2016). Diese Erfahrungen von affektiv und atmosphärisch geteilter Gegenwart sind auch für die psychotherapeutische Interaktion von zentraler Bedeutung (»now-moments«, Stern 2010). Zusammengefasst verbinden sich im basalen Selbsterleben folgende Komponenten: – – – –
Meinhaftigkeit, Vitalität und Affektivität des Leiberlebens zeitliche Selbst-Kontinuität sensomotorische Kohärenz, Selbst-Urheberschaft und SelbstWirksamkeit Erleben des »Selbst-mit-anderen«, vermittelt durch Zwischenleiblichkeit und Interaffektivität
Das basale Selbst ist demnach kein kognitives Konstrukt, kein Selbstkonzept oder explizites Wissen-von-sich, es entsteht auch nicht erst 40 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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durch eine sprachliche Zuschreibung seitens anderer, sondern es entfaltet sich als präverbales und präreflexives Selbsterleben in den Prozessen verkörperter Wahrnehmung, Aktion und Interaktion.
2.2 Erweitertes, personales Selbst Mit der zentralen menschlichen Fähigkeit, sich aus der Perspektive der anderen zu sehen und so zu sich selbst in ein reflexives Verhältnis zu treten, entwickelt sich auf der Basis des primären Selbsterlebens das personale Selbst. Es lässt sich weiter differenzieren in die Dimensionen des reflexiven, des narrativen und des existenziellen Selbst. 2.2.1 Reflexives Selbst Das primäre Selbsterleben resultiert, wie wir sahen, weder aus einer Selbstreflexion noch aus einer sozialen Zuschreibung; es ist vielmehr in jeder Erfahrung von Geburt an mitgegeben. Erst ab dem zweiten Lebensjahr entwickelt sich schrittweise das reflexive Selbst, erkennbar an der Fähigkeit, sich selbst im Spiegel zu erkennen, sich aus der Perspektive der anderen zu sehen und sich schließlich mit ›ich‹ zu bezeichnen (›Erste-Person-Perspektive‹). Die Differenz von Selbst und Anderem, die vorher nur implizit gegeben war, wird nun als solche bewusst, und das Kind beginnt sich als eine Person unter anderen zu erkennen (Fuchs 2013a). Einen zentralen Schritt auf diesem Weg bilden ab dem neunten Lebensmonat Situationen gemeinsamer Aufmerksamkeit (joint attention): Das Kind lernt auf ein Objekt zu zeigen, damit die Aufmerksamkeit der Mutter zu lenken und sich durch Blickwechsel ihrer Beteiligung zu vergewissern. Damit beginnt es die Mutter als Wesen mit einer eigenen Intentionalität zu erfassen, d. h. mit einer Perspektive, die von seiner eigenen verschieden ist (Tomasello 2006; Mundy & Newell 2007). Diese Fähigkeit zur Erfassung der Perspektive anderer ist die entscheidende Voraussetzung, um diese Perspektive schrittweise als reflexives Selbstbewusstsein zu verinnerlichen: Das Kind betrachtet nicht mehr nur äußere Objekte, sondern auch sich selbst mit den Augen anderer und wird sich so zum Objekt. Damit erhält auch sein Leib eine Außenseite, er wird zum »Körper-fürandere« (Sartre 1962), von ihnen gesehen und bewertet. Daraus resultiert das Körperbild (body image) als bedeutsame Komponente des 41 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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Selbsterlebens, die vom primär gespürten Leib und seinem ökologischen Körperschema zu unterscheiden ist. Die Herkunft des personalen Selbstbewusstseins aus der Interaktion mit dem sozialen Anderen hat, in der Nachfolge Hegels, vor allem G. H. Mead (1934/1968) betont. Er unterscheidet das spontane, unreflektierte Selbstsein (I) von dem objektivierten Selbst (me) – ich, wie ich mich als von den anderen widergespiegelt erfahre. Daraus resultiert eine dialektische Auseinandersetzung zwischen dem primären Selbsterleben und den von anderen übernommenen Haltungen oder Rollen, die sich das Individuum aneignet und die so zum Teil seiner Identität werden. Das me lässt sich somit auch als der gewordene oder Strukturaspekt, das I als der werdende oder prozessuale Aspekt des Selbst verstehen: »Die Haltungen der anderen bilden das organisierte ›me‹, und man reagiert darauf als ein ›I‹« (Mead 1968, 218). Das me enthält die Werte, Normen und Rollen der Gesellschaft, ihre Aneignung geschieht jedoch durch das I selbst. Das Selbst (self) als die übergreifende Identität des Individuums bildet sich aus der Wechselwirkung zwischen I und me, durch die fortwährende Integration von Prozess und Struktur. Diese Entwicklung ist auf das Engste verknüpft mit den affektiven Beziehungen zu anderen (Rochat 2009). Die Perspektiven- und Rollenübernahme ist keineswegs nur eine kognitive Leistung, sondern schließt eine Reihe von »selbstreflexiven Emotionen« ein wie Scham, Verlegenheit, Schuldgefühl oder auch Stolz, die auf dem internalisierten, bewertenden »Blick der anderen« beruhen (Fischer & Tangney 1995; Seidler 1995). Das Selbstwertgefühl als zentrale Persönlichkeitseigenschaft entwickelt sich aus dem fortwährenden Abgleich zwischen der Selbsteinschätzung und den wahrgenommenen Bewertungen anderer. Dabei spielen internalisierte Idealvorstellungen, also das Selbstideal, eine zentrale Rolle. Auch Identifizierungen mit bedeutsamen anderen, die die Rollenübernahme und Identitätsentwicklung begünstigen, verlaufen wesentlich über Affekte und Bindungen. Auf der anderen Seite ist eine Vielzahl von psychischen Störungen wie die Depression, soziale Phobie, Anorexie oder Borderline-Störung eng mit den internalisierten Selbstbewertungen der Scham- und Schuldaffekte verknüpft (Fuchs 2002, 2007). Zusammengefasst: Das reflexive Selbst beruht auf der Fähigkeit zur Übernahme der Perspektive anderer, die als Selbstbewusstsein internalisiert wird. Damit verbunden sind reflexive Emotionen wie Scham, Schuld oder Stolz ebenso wie das Selbstwertempfinden. 42 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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2.2.2 Narratives Selbst Die Identitätsentwicklung wird nicht nur durch die Perspektiven- und Rollenübernahme geprägt. Ebenso bedeutsam sind die sprachlichen Interaktionen mit anderen und die damit ab dem zweiten Lebensjahr entstehenden Strukturen begrifflichen Denkens. Nach und nach erlauben sie es, die Episoden der eigenen Lebensgeschichte sprachlichkonzeptuell miteinander zu verknüpfen und so die erinnerte Vergangenheit, Gegenwart und mögliche Zukunft zu einer übergreifenden, nicht mehr nur momentanen Kontinuität des Selbst zu integrieren. Das so entstehende episodische Gedächtnis (Tulving 1983) ermöglicht nun »mentale Zeitreisen« durch die subjektiv vergegenwärtigte Zeit und entwickelt sich durch zunehmend detaillierte Verknüpfungen vom zweiten bis vierten Lebensjahr zum autobiographischen Gedächtnis (Markowitsch & Welzer 2005). Das eigene Leben wird damit erzählbar und als solches zum wesentlichen Bestandteil der eigenen Identität – daher hat sich in der Phänomenologie und Sozialpsychologie das Konzept der narrativen Identität durchgesetzt (MacIntyre 1981; Carr 1986; Schechtman 1996; Hutto 2008). Es bringt zum Ausdruck, dass das personale Selbst sich wesentlich durch Sprache und durch Geschichten konstituiert, die wir einander erzählen und in die wir wechselseitig verstrickt sind (Schapp 1985). Wenn wir also nach unserer Person gefragt werden, dann werden wir bestimmte Erzählungen beginnen, dabei Kontinuitäten, Leitmotive, Überzeugungen, Ziele und Bestrebungen herausheben. So spielt sich auch der größte Teil psychotherapeutischer Behandlung in Form von kürzeren oder längeren Narrativen ab. Zur narrativen Identität gehört aber nicht nur die erinnerte Vergangenheit, sondern auch das Wissen über die eigene Person, die persönlichen Eigenschaften, Fähigkeiten, Vorlieben, typischen Reaktions- und Verhaltensweisen – also das, was man auch als Selbstkonzept bezeichnet (Hannover 2002). In einem umfassenderen Sinn lässt sich das Selbstkonzept auch als die in sich widersprüchliche Einheit von Selbstbild, Selbstwert und Selbstideal ansehen, die immer wieder miteinander abzugleichen eine wesentliche Aufgabe der psychischen Entwicklung und Reifung darstellt (Rogers 1959). Interventionen zur Förderung der Selbstwertregulation und Selbstakzeptanz stellen daher eine wichtige Komponente bei den meisten Therapieansätzen und -verläufen dar.
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Die Entwicklung der narrativen Identität basiert dabei nicht zuletzt auf der Fähigkeit der Person, auch widersprüchliche eigene Aspekte und Tendenzen in ein kohärentes Selbsterleben und Selbstbild zu integrieren. Abweichende Tendenzen und Bestrebungen müssen oft dauerhaft ausgeschlossen werden, damit keine kognitiven Dissonanzen entstehen, ja damit die eigene Geschichte nicht in inkohärente Fragmente zerfällt. Dies ist häufig nur um den Preis der Verdrängung wichtiger Erinnerungen, Wünsche und Bedürfnisse möglich: »›Das habe ich getan‹, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach« (Nietzsche 1980, 86). Klassische neurotische Störungen lassen sich vor diesem Hintergrund auch als Manifestation verdrängter Wünsche und Konflikte interpretieren, die vom Bewusstsein ausgeschlossen wurden, um eine kohärente und verlässliche Identität zu etablieren. Eine zunehmende Bedeutung erlangen aber auch Störungsbilder wie die Borderline-Persönlichkeit, in denen die Ausformung einer kohärenten narrativen Identität überhaupt nur fragmentarisch gelingt (Kernberg 1975; Philipps 2003; Fuchs 2007). Zusammengefasst: Das narrative Selbst resultiert aus sprachlich-begrifflichen Selbstzuschreibungen bzw. lebensgeschichtlichen Narrativen auf der Basis des autobiographischen Gedächtnisses. Es enthält damit auch das Selbstkonzept als Gesamtheit von Kenntnissen, Einschätzungen und Bewertungen der eigenen Person. 2.2.3 Existenzielles Selbst Die Darstellung des personalen Selbst wäre nicht vollständig ohne die Dimension der Existenz. Sie resultiert aus der grundlegenden Tatsache, dass dem Menschen sein Dasein nicht einfach vorgegeben ist, sondern zur Aufgabe wird, die er im Bewusstsein der Endlichkeit seines Lebens zu gestalten hat. Die Freiheit der Selbstbestimmung ist das Vorrecht, aber auch die unausweichliche Grundsituation des Menschen, die mit vielfältigen Phänomenen wie Angst, Ambivalenz, Schuld, Vermeidung, Abwehr und Selbstverfehlung verknüpft ist. Sie kann unter den Druck widersprüchlicher Anforderungen (etwa egoversus allozentrischer Bedürfnisse) geraten und den Menschen schließlich auch in Grenzsituationen (Jaspers 1932/1973) führen, in denen der Sinn und das Ziel der eigenen Existenz fragwürdig werden. Für Menschen mit einer existenziellen Vulnerabilität, einer besonde44 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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ren Sensitivität für die Widersprüche des Daseins, können sie zum Auslöser für psychische Krisen und Erkrankungen werden (Holzhey-Kunz 1994; Fuchs 2008). Die existenzielle Dimension eröffnet andererseits auch den Raum für den eigenen Selbst- und Lebensentwurf, für Zukunftsvorstellungen und mögliche Selbstaktualisierung. Aus dieser Dimension können der psychotherapeutischen Arbeit wesentliche Motivationen zufließen. Die Fragen, wer ich sein möchte, wie ich mir mein Leben in der Zukunft vorstelle und was mich möglicherweise an der Realisierung hindert, bilden den Ausgangspunkt für jede Selbstveränderung. Verschiedene psychotherapeutische Schulen haben in der psychischen Entwicklung auch eine inhärente Tendenz zu Selbstaktualisierung und Wachstum gesehen, die es freizusetzen und zu unterstützen gelte. So sah C. G. Jung (1933) in der Individuation die Möglichkeit einer Lösung von starren Rollenbildern und einer Integration bislang ungelebter Selbstanteile – eine Aufgabe, die er vor allem der zweiten Lebenshälfte zuwies. Neurotische Störungen entstehen demzufolge, wenn dieser Individuationsprozess blockiert ist und die Entfaltung der autonomen Person misslingt. Zwar erscheint die auf Winnicott (1965/2002) zurückgehende Entgegensetzung von »wahrem« und »falschem Selbst« als problematisch, insofern sie ein vorgegebenes Selbst postuliert, das realisiert oder verfehlt werden kann, statt die Selbstentwicklung in einer dialektischen Auseinandersetzung von Eigenem und Fremdem zu sehen. Ebenso wird der vor allem von der humanistischen Psychologie vielfach vertretene Primat der »Selbstverwirklichung« heute zunehmend kritisch gesehen (Maslow 1973; Schlette 2013). Dennoch streben Menschen in ihrem Leben grundsätzlich nach einem Gefühl von Selbstkohärenz und -kongruenz, und dem Entschluss zur Aufnahme einer Psychotherapie liegt häufig nicht nur eine aktuelle Symptomatik, sondern auch ein tiefer reichendes Gefühl der Selbstentfremdung zugrunde. Daher bleiben die existenziellen Gegensätze von Authentizität versus Anpassung und Selbstaktualisierung versus Selbstentfremdung grundlegende Themen der Psychotherapie. Zusammengefasst: Das existenzielle Selbst ergibt sich aus dem Selbstverhältnis, der Freiheit der Selbstbestimmung und des eigenen Lebensentwurfs. Die Begriffe der Selbstaktualisierung und Individuation bezeichnen die persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten und -aufgaben über die Lebensspanne hinweg.
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Blicken wir noch einmal zurück, so zeigt sich das personale Selbst als charakterisiert durch folgende Merkmale: • •
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die Fähigkeit, andere als intentionale Akteure zu verstehen und ihre Perspektive nachzuvollziehen (Perspektivenübernahme); ein höherstufiges Bewusstsein der eigenen Zustände und Erlebnisse (introspektives, reflexives oder explizites Selbstbewusstsein); die Fähigkeit, die eigenen Erfahrungen zu verbalisieren und zu kohärenten Geschichten zu verknüpfen (narrative Identität); ein begriffliches und autobiographisches Wissen, ein Selbstbild und ein Selbstideal (Selbstkonzept); eine Tendenz zur Selbstaktualisierung und Individuation, die sich in übergreifenden Lebensentwürfen und Lebensthemen manifestiert (existenzielles Selbst).
In all diesen Aspekten weist das personale Selbst eine inhärent intersubjektive Struktur auf: Es konstituiert sich nur durch die fortwährende Beziehung zu anderen. So ist etwa die narrative Identität an aktuelle oder potenzielle Interaktionspartner (›Zuhörer‹) gebunden, ja die anderen sind immer auch »Ko-Autoren« unserer Lebensgeschichte (Carr 1986). Trotz dieser komplexen und dialektischen Struktur bleibt auch das personale Selbst abhängig vom präreflexiven Selbstgewahrsein oder basalen Selbst: Nur ein Wesen mit einem primären Selbsterleben ist in der Lage, sich selbst auch aus der Sicht der anderen zu sehen, Geschichten von sich zu erzählen und ein Selbstkonzept zu entwickeln.
3.
Selbst und psychische Krankheit
3.1 Allgemeines Nach der Darstellung der wichtigsten Dimensionen des Selbst wenden wir uns nun psychopathologischen Phänomenen des Selbsterlebens zu. Grundsätzlich kann das Selbst in drei verschiedenen Weisen mit einer psychischen Störung oder Krankheit in Beziehung stehen, die im Folgenden näher erläutert werden:
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Das Selbsterleben ist von der Krankheit betroffen, der Patient erfährt sich als ihr ›Opfer‹, d. h. als im Selbstvollzug des alltäglichen Lebens mehr oder minder stark beeinträchtigt. Dies gilt in unterschiedlichem Maß für alle psychischen Störungen. Die psychische Krankheit manifestiert sich als solche in einer Störung des Selbst, sofern nämlich das Selbsterleben etwa in seinem affektiven Kern, in seiner Kohärenz, seiner Abgrenzung von der Umwelt o. ä. betroffen ist. Das Selbst reagiert und antwortet in unterschiedlicher Weise auf die Krankheit: Es nimmt zu ihr Stellung (Jaspers 1913/1973, 345 ff.).
3.1.1 Selbsterleben Anders als somatische Krankheiten lassen sich psychische Störungen nicht nur dem eigenen Körper zuschreiben und so in eine gewisse Distanz rücken, denn sie betreffen primär das Selbsterleben. Etwas in mir selbst tritt mir gegenüber, entzieht sich meiner Verfügung oder beherrscht mich, während ich vergeblich versuche, die Kontrolle wiederzugewinnen – sei es ein Angstanfall, eine depressive Verstimmung, ein Zwangsimpuls oder laut werdende Gedanken. Psychisches Kranksein betrifft also die Person immer in ihrem Selbsterleben und beeinträchtigt in unterschiedlichem Maß die Freiheit des Lebensvollzugs. Grundlegende Aufgabe jeder Psychotherapie ist insofern die Wiedergewinnung oder zumindest Erhöhung der Freiheitsgrade des Selbst gegenüber der Erkrankung. 3.1.2 Selbststörungen Verschiedene psychische Erkrankungen erfassen darüber hinaus Kernfunktionen des primären Selbsterlebens und lassen sich insofern als genuine Selbststörungen begreifen. Dazu gehören etwa affektive Selbstentfremdungen in schweren Depressionen oder in Depersonalisationsstörungen, Störungen des Selbstempfindens in schizophrenen Basisstadien, der Verlust der Ich-Umwelt-Abgrenzung in schizophrenen Psychosen oder auch der zeitlichen Selbstkohärenz in dissoziativen Störungen. Hinzu treten noch Störungen auf der Stufe des erweiterten Selbst, etwa Fragmentierungen der narrativen Identität bei Borderline-Persönlichkeiten (Fuchs 2007; s. u.).
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3.1.3 Selbstverhältnis Die Formen der Stellungnahme des Patienten zu seiner Krankheit sind vielfältig und reichen von Verstörung, Beunruhigung, Angst, Verzweiflung oder Resignation über Ablehnung und Widerstand bis zu Einsicht, Akzeptanz und Bewältigung. Auch der sekundäre Krankheitsgewinn, d. h. Komponenten unbewusster Bejahung gehören zu den Möglichkeiten der Stellungnahme. Diese bewussten oder unbewussten Einstellungen des Patienten zu erfassen, ist eine zentrale Aufgabe der diagnostischen Einschätzung sowohl zu Beginn wie während einer Behandlung, da maßgebliche Faktoren des Krankheitsund Therapieverlaufs (Coping, Motivation, Veränderungserwartung und -bereitschaft, Kooperation, Compliance, Widerstand u. a.) von solchen Stellungnahmen wesentlich bestimmt werden. Auch psychoedukative Verfahren zur Förderung des Krankheitsverständnisses haben hier ihren Ansatzpunkt. Näher besehen prägt das Selbstverhältnis bereits die Symptomatik der Krankheit selbst, nämlich in Form von Reaktionen auf primäre Symptome. So manifestiert sich eine Depression nicht nur in typischen Phänomenen wie Antriebsverlust, psychomotorischer Hemmung und Verstimmung, sondern auch in negativen Selbstwahrnehmungen, Selbstbewertungen (Selbstvorwürfe, Schuldgefühle) und typischen depressiven Denkmustern – d. h. in bestimmten Stellungnahmen des Patienten zu seiner primären Verfassung. Diese negativen Selbsteinschätzungen erhöhen ihrerseits – als self-fulfilling prophecies – die Wahrscheinlichkeit weiterer Versagenssituationen und tragen so zusätzlich zur Depressivität bei. Ähnliche negativ-zirkuläre Prozesse oder Teufelskreise findet man auch bei Angststörungen, nämlich nach dem Muster: Auftreten physiologischer Stressmerkmale (Sympathicus-Aktivierung, Pulsfrequenzerhöhung etc.) → Wahrnehmung der körperlichen Symptome als bedrohlich → katastrophisierende Kognitionen und Situationsbewertungen → erhöhter physiologischer Stress usw. Das Selbstverhältnis, d. h. die Selbstwahrnehmung und Stellungnahme des Patienten wird damit zu einer maßgeblichen Komponente psychischer Krankheiten. Es stellt andererseits auch einen zentralen Ansatzpunkt therapeutischer Arbeit und Veränderung dar. Besonders chronische Verläufe erfordern daher immer eine sorgfältige Analyse aufrechterhaltender Faktoren, die im Selbstverhältnis des Patienten begründet liegen. Mangelnde oder fehlende Krankheitsein48 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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sicht, latenter Widerstand ebenso wie unbewusster Krankheitsgewinn gefährden den Therapieauftrag, beeinträchtigen das therapeutische Bündnis oder führen zu zeitraubenden Ambivalenzen gegenüber möglichen Veränderungen bis hin zur selbst herbeigeführten ›Sabotage‹. So setzen etwa Patienten mit somatoformen Schmerzstörungen der Auffassung, ihr Schmerz könnte ›seelisch bedingt‹ sein, häufig entschiedenen Widerstand entgegen, da sie diese psychologische Interpretation als implizite Kritik oder gar versuchte Entlarvung interpretieren (›Ich bin kein Simulant!‹). In Reaktion darauf werden sie umso mehr darauf bedacht sein, sich selbst und die anderen von der ›Echtheit‹ der Schmerzen als körperlich begründet zu überzeugen. Um den wahrgenommenen impliziten Vorwurf zu entkräften, werden sie ihre Aufmerksamkeit erst recht auf die Symptome richten. Jeder Schmerz bedeutet dann nicht nur Leiden, sondern auch eine Bestätigung des Selbst, d. h., es kommt zu einer dysfunktionalen »Verschmelzung von Leiden und Selbstgefühl« (Leferink 2012). Das personale Selbstverhältnis beeinflusst damit sowohl die Krankheitssymptomatik als auch die Krankheitsverarbeitung. Unterschiedliche Stellungnahmen zur primären Störung wie etwa Akzeptanz, Einsicht, Distanzierung, Widerstand, Verleugnung, Krankheitsgewinn u. a. sind wesentliche förderliche oder einschränkende Faktoren für die Behandlung.
3.2 Paradigmatische Störungen des Selbsterlebens Bisher habe ich die Dimensionen des Selbsterlebens und mögliche Zusammenhänge mit psychischen Krankheiten in allgemeiner Form beschrieben. Im Folgenden sollen diese Zusammenhänge paradigmatisch anhand einiger Störungsbilder veranschaulicht werden. Dies sind (1) die Schizophrenie als basale Selbststörung, (2) die Depression als Störung der Selbst-Affektivität und (3) die Borderline-Persönlichkeitsstörung, die sich als Fragmentierung der narrativen Identität beschreiben lässt. Ein zusätzlicher Abschnitt gilt den Störungen der Intersubjektivität im Autismus und im Wahn.
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3.2.1 Schizophrenie als basale Selbststörung Die Schizophrenie erfasst die Person in ihrem Gesamtgefüge, vom basalen leiblichen Selbstempfinden bis zur Einheit des Ich-Erlebens. Neuere phänomenologisch-psychopathologische Analysen fokussieren dabei weniger auf die diagnostisch relevante produktive Symptomatik der akuten Phasen (d. h. Wahnideen und Halluzinationen), sondern vor allem auf die schleichende Aushöhlung des Selbsterlebens, die in unauffälligen Vorstadien nicht selten bis in die Kindheit der Patienten zurückreicht (Sass & Parnas 2003; Parnas et al. 2005; Fuchs 2005, 2012c). Sie umfasst folgende Aspekte: • • • •
eine Schwächung des basalen leiblichen Selbsterlebens (disembodiment, Stanghellini 2004; Fuchs 2005); eine Entfremdung der selbstverständlichen sensomotorischen Funktionen des Leibes, also das ökologische Selbsterleben; eine Störung des zwischenleiblichen Kontakts mit anderen; schließlich, auf der Ebene des personalen Selbst, eine Störung der Abgrenzung von Ich und anderen.
Die Schwächung des basalen leiblichen Selbsterlebens manifestiert sich zunächst in einem oft schwer beschreibbaren Gefühl der mangelnden Lebendigkeit, der inneren Leere, fehlenden Anwesenheit und Fremdheit in der Welt, bis hin zur ausgeprägten Depersonalisation (Parnas et al. 2005). Sie kann sich auch in Klagen über eine mangelnde Klarheit oder Durchsichtigkeit des Bewusstseins äußern (›wie in einem Nebel‹). Häufige Folge dieses Selbstverlusts ist eine zwanghafte Selbstbeobachtung oder Hyperreflexivität (Sass & Parnas 2003; Fuchs 2010) im Bemühen, die verlorene primäre Selbstgewissheit zu kompensieren. Als neurologisches Korrelat dieser Störungen ist verschiedentlich eine Diskonnektion der basalen, subkortikalen SelbstKorrelate (Thalamus, Hypothalamus, periaquäduktales Grau) von höheren selbstbezogenen Funktionen diskutiert worden, die eine grundlegende Entkoppelung von Leiblichkeit, Affektivität und Kognition zur Folge hat (de Haan & Bakker 2004; Woodward et al. 2012). Psychotherapeutisch haben sich körperorientierte, die leibliche Selbstwahrnehmung fördernde Therapien vor allem im Gruppenformat als wirksam erwiesen, um die basale Selbststörung positiv zu beeinflussen (Röhricht & Priebe 2006; Martin et al. 2016). Die basale Störung erfasst auch das ökologische Selbsterleben, 50 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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also die über den Leib vermittelten, sensomotorischen Beziehungen zur Umwelt. Im Handeln äußert sich dies in einer zunehmenden Desintegration von leiblichen Gewohnheiten und automatischen Abläufen (Süllwold & Huber 1986; Fuchs 2012c). In vielen Situationen gelingt es den Patienten nicht mehr, einen geschlossenen Handlungsbogen auszuführen und sich dabei auf selbstverständliche Weise ihres Leibes zu bedienen. Stattdessen müssen sie sich künstlich, durch Vorsätze oder Rituale, zu bestimmten Aktionen veranlassen. In der Wahrnehmung manifestiert sich die Entfremdung der Leiblichkeit in einer Störung des Erkennens vertrauter Gestalten und Muster, verbunden mit einer Fragmentierung des Wahrgenommenen und einer Überfülle von Details (Matussek 1952, 1953). Die Auflösung von Gestaltzusammenhängen resultiert in einem Verlust vertrauter Bedeutsamkeiten und führt so zu einer grundlegenden Fragwürdigkeit der wahrgenommenen Welt. Wird diese Entfremdung des Wahrnehmens von den Patienten nicht mehr als eigene Störung erkannt, so mündet sie in die paranoide Externalisierung, d. h., die Veränderung der wahrgenommenen Welt wird wahnhaft fremden Mächten zugeschrieben. Schließlich manifestiert sich die basale Selbststörung auch in einer grundlegenden Entfremdung der zwischenleiblichen Sphäre, die auf den intuitiven und praktischen Fähigkeiten des Umgangs mit anderen beruht, also auf einem ›sozialen Sinn‹ oder ›sensus communis‹. Es kommt zu einer Verfremdung aller vertrauten Bezüge, Gewohnheiten und Bedeutungen, die sonst das alltägliche Leben ausmachen. Statt am Fluss der alltäglichen Interaktionen teilzunehmen, bleiben die Patienten in einer isolierten Beobachterposition. Blankenburg (1971) hat diese subtile Entfremdung als »Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit« beschrieben, die sich schon in Alltagssituationen bemerkbar macht, darüber hinaus aber die gesamte Lebensorientierung ergreift. Diese Konzeption lässt sich zu einer »Psychopathologie des common sense« weiterentwickeln, die den autistischen Rückzug vieler Patienten auf eine grundlegende Störung der Teilnahme an der intersubjektiven Lebenswelt zurückführt (Stanghellini 2004; Thoma & Fuchs 2018). Auch hier sind gruppentherapeutische ebenso wie sozialrehabilitative Verfahren die Therapien der Wahl, um die basalen Störungen der Intersubjektivität wirksam zu beeinflussen. Aus der primären Schwächung des leiblichen Selbsterlebens resultieren schließlich Störungen der Ich-Demarkation (Scharfetter 1986), d. h. der Abgrenzung von Selbst und anderen, die Bleuler 51 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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(1911) auch als »Transitivismus« bezeichnete: Die Patienten vermögen fremden Blicken nicht standzuhalten und haben den Eindruck, dass andere mit ihrem Bewusstsein in sie eindringen oder ihre Gedanken unmittelbar wahrnehmen können. Dies lässt sich als eine Störung des reflexiven Selbsterlebens verstehen (Fuchs 2012c): Aufgrund der Schwächung des basalen Selbst verlieren die Patienten die Verankerung im eigenen leiblichen Zentrum und können sich gegenüber der Perspektive anderer nicht mehr selbst behaupten. Gerade dadurch werden sie zum vermeintlichen Objekt aller fremden Blicke und Intentionen. Sie sind zwar in der Lage, die vermutete Perspektive anderer einzunehmen, ja sie tun dies sogar in exzessiver Weise, insofern sie sich von allen Seiten beobachtet wähnen und unauffällige Signale auf sich beziehen. Doch gerade dieses ständige ›Bewusstsein des Bewusstseins anderer‹ wird für die Patienten zu einer Gefährdung des eigenen Selbst, das in der Perspektivenübernahme überwältigt zu werden droht. Auch der Wahn lässt sich vor diesem Hintergrund als Störung der Fähigkeit zum intersubjektiven Perspektivenabgleich verstehen. Die produktive Symptomatik der akuten Psychose erscheint so als Dekompensation einer schon prämorbiden Schwäche der Selbstkonstitution (Sass & Parnas 2003; Fuchs 2012c). 3.2.2 Depression als affektive Selbststörung Dass depressive Erkrankungen allgemein durch negative selbstbezogene Wahrnehmungen, Bewertungen und Emotionen (Selbstvorwürfe, Schuldgefühle) charakterisiert sind, wurde bereits erwähnt. Dies betrifft zunächst die Ebene des reflexiven Selbstverhältnisses, des Selbstbildes und Selbstwertes. Insbesondere in der schweren, psychopathologisch auch als ›Melancholie‹ bezeichneten Depression kommt es aber auch zu einer tiefer greifenden Störung der leiblichen Vitalität, die auch das basale affektive Selbsterleben erfasst. Phänomenologisch lässt sich die Melancholie zunächst als eine den subjektiven Leib erfassende Erkrankung beschreiben (Fuchs 2000, 2013b): Statt als Medium der Zuwendung zur Welt zu fungieren, verdichtet und verdinglicht sich der Leib zum Körperobjekt, das allen nach außen gerichteten Impulsen Widerstand entgegensetzt. Die leibliche Starre oder Konstriktion als ein Grundphänomen der Depression äußert sich nicht nur in gespürter Beklemmung, grundloser Angst, Vitalstörungen und psychomotorischer Hemmung, sondern auch subtiler in einem Verlust der emotionalen Schwingungs52 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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fähigkeit, die an feinere leibliche Resonanzen gebunden ist. Schwer depressive Patienten fühlen sich nicht mehr traurig, sondern nur noch leer, stumpf oder versteinert. Die affektive Seite der Erkrankung besteht vor allem in der Unfähigkeit, Gefühle wie Zuneigung, Freude, Heiterkeit oder auch Trauer überhaupt noch empfinden zu können. Diese Störung der Resonanz wird als ›Gefühl der Gefühllosigkeit‹ von den Kranken selbst schmerzlich erlebt. Sie manifestiert sich auch im Verlust der zwischenleiblichen Resonanz, die sonst die Interaffektivität, also die empathische Beziehung zu anderen vermittelt, und kann sich bis zu einer affektiven Depersonalisation steigern (Fuchs 2000; Stanghellini 2004). Da der emotionale Kontakt mit der Umwelt auch für das Selbsterleben essenziell ist, bedeutet der Resonanzverlust in der schweren Depression also immer auch einen gewissen Grad von Selbstentfremdung. In der Entfremdungsdepression im engeren Sinn erweitert sich die Störung der Gefühlsresonanz auf das Empfindungsvermögen generell (Petrilowitsch 1956) und manifestiert sich in Derealisationserlebnissen – die Welt erscheint dann fern, unwirklich und abgestorben. Eine äußerste, wenngleich seltene Steigerung der affektiven Depersonalisation stellt der nihilistische Wahn dar, in dem die Kranken selbst ihr eigenes Dasein oder die Existenz der Welt bestreiten (Enoch & Trethowan 1991). Sie spüren ihren Leib nicht mehr, alles sei abgestorben und tot; daraus schließen sie, sie seien schon gestorben und müssten begraben werden. Aber auch die häufigeren depressiven Wahnformen lassen sich auf eine schwere Beeinträchtigung des affektiven Selbsterlebens zurückführen, die sich auf die höherstufige Selbstwahrnehmung auswirkt. So ist der Insuffizienzwahn auf den Selbstwert, der Schuldwahn auf die Selbstverpflichtungen gegenüber anderen, der hypochondrische Wahn schließlich auf das leibliche Selbst gerichtet (vgl. Kraus 1991a, 2002). Die Entfremdung des vital-affektiven Selbsterlebens erfasst also mit dem Übergang in den Wahn auch das personale Selbst. Die entscheidende Voraussetzung des Wahns ist dabei der Verlust der Selbstdistanzierung, der zur vollständigen Identifikation der Person mit ihrem gegenwärtigen Zustand führt. Diesen Zustand erfährt der Patient aber als Schuldigsein, Verworfensein oder Verfall. Ein anderes Selbstsein ist für ihn buchstäblich nicht mehr denkbar, denn die Übernahme der korrigierenden Perspektive anderer misslingt. Das reflektierende Selbst tritt damit gewissermaßen in den Dienst des basalen Erlebens und gestaltet es zum Wahn aus. So ist 53 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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der Patient im Schuldwahn vollständig mit seinem Schuldigsein identifiziert, so dass es für ihn keine Vergebung oder Wiedergutmachung mehr geben kann. Der depressive Wahn kann damit als Manifestation der basalen Vitalitätsstörung und affektiven Selbstentfremdung gelten, die das personale Selbst miterfasst und damit die Intersubjektivität der Perspektivenübernahme scheitern lässt. Noch ein anderer Aspekt der Depression hat mit dem Selbsterleben zu tun, nämlich die prämorbide und intermorbide Persönlichkeitsstruktur oder personale Identität Depressiver. Den Forschungen von Tellenbach (1983), Kraus (1991b) und Mundt und Kollegen (1997) zufolge ist sie überdurchschnittlich häufig durch eine rigide Ordnungstendenz, Gewissenhaftigkeit und Eingebundenheit in soziale Normen (Hypernomie) charakterisiert – diese als »Typus Melancholicus« bezeichnete Konstellation lässt sich auch als Überidentifikation mit der sozialen Rolle interpretieren (Kraus 1991b). In den Begriffen von G. H. Mead sind depressive Patienten also zu sehr mit ihrem objektivierten oder Rollen-Selbst (me) identifiziert, während ihr primäres, spontanes Selbstsein (I) demgegenüber unentwickelt und gehemmt bleibt. Es kommt zu einer Schwäche der Selbstaktualisierung, mit der Folge etwa von Arbeitsüberlastung und Erschöpfungszuständen aufgrund der Übererfüllung sozialer Normen oder der Unfähigkeit, Konflikte zwischen widerstreitenden Rollenanforderungen zu lösen. Auch der Verlust sozialer Rollen kann in übermäßiger Selbstentwertung resultieren. Der Typus Melancholicus ist somit spezifisch vulnerabel für Situationen, die seine soziale Eingebundenheit in Frage stellen oder die ein Abweichen von der üblichen Norm und Ordnung, also innere Selbstständigkeit erfordern würden. Ein solches Ereignis kann zu einer psychischen Dekompensation führen und damit zum Einbruch in eine tiefere, vitale Ebene der Störung, die sich zur schweren Depression verselbständigt und als solche nicht mehr nur aus den situativen Bedingungen verständlich ist. Für die besondere Problematik der sozialen Identität und die daraus resultierenden Verlust- und Rollenwechselkonflikte haben sich u. a. Methoden der Interpersonellen Therapie als besonders geeignet erwiesen (Schramm 1998). Allerdings gibt es Anzeichen dafür, dass diese klassisch altruistische Persönlichkeitsstruktur bei depressiven Patienten gegenwärtig im Rückgang begriffen ist. Vergleichsstudien konnten zeigen, dass die Hypernomie und Überidentifikation mit sozialen Rollenzuschreibungen, wie sie den Typus Melancholicus charakterisiert, seit den 54 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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1950er Jahren zugunsten narzisstischer Depressionen abgenommen hat, bei denen nicht das schuldhaft erlebte Versagen gegenüber sozialen Pflichten, sondern das Misslingen der ›Selbstverwirklichung‹, also eine narzisstische Krise den Auslöser der Depression darstellt (Schröder 2005; Twenge & Campbell 2008; Twenge & Foster 2010). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen soziologische Analysen des erschöpften Selbst in postindustriellen Gesellschaften, in denen es »nicht mehr um Gehorsam, Disziplin und Konformität mit der Moral [geht], sondern um Flexibilität, Veränderung, schnelle Reaktion […] Jeder muss sich beständig an eine Welt anpassen, die […] ihre Beständigkeit verliert« (Ehrenberg 2004, 222). Die gesellschaftlichen Veränderungen »vermitteln den Eindruck, dass jeder, auch der Einfachste und Zerbrechlichste, die Aufgabe, alles zu wählen und alles zu entscheiden, auf sich nehmen muss« (ebd.). Weniger eine zu starre Rollenstruktur als vielmehr der Verlust von stabilen Rollenidentitäten scheint also zunehmend in Selbstüberforderungen und depressive Erschöpfungssyndrome zu münden (Sennett 1998; Fuchs et al. 2018). 3.2.3 Fragmentierung der narrativen Identität bei Borderline-Persönlichkeiten Als eine paradigmatische Störung der narrativen Identität kann die Borderline-Persönlichkeitsstörung gelten, auch wenn sie ihre Wurzel in einer grundlegenden Instabilität des affektiven Selbsterlebens hat. Diese Instabilität äußert sich primär in intensiven und abrupten Stimmungsschwankungen, in Attacken von Angst, Dysphorie, Wut oder Scham, andererseits aber auch in kurzlebiger Begeisterung oder Euphorie. Unter dem Eindruck der überwältigenden Affekte sind die Patienten nicht in der Lage, von der gegenwärtigen Situation Abstand zu nehmen, was sich auch mit einer reduzierten präfrontalen Hemmung affektiver Impulse korrelieren lässt (Soloff et al. 2003; Herpertz 2011). Diese Impulse können von den Patienten nicht reguliert werden und äußern sich z. B. in Wutausbrüchen, Fressattacken, Selbstverletzungen, Alkohol- oder Drogenmissbrauch. Damit zeigt sich in der Borderline-Störung auch eine charakteristische Zeitlichkeit: Die Patienten identifizieren sich gewissermaßen mit ihrem momentanen Erleben, einer oft intensiven, aber zugleich fragmentarischen Gegenwart, die nicht als Resultat übergreifenden Planens und Wollens erfahren wird. Stattdessen beschreiben sie oft anhaltende Gefühle der Leere und Langeweile. Dies führt zu einer zeitlichen Zer55 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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splitterung des Selbst: Vergangenheit und Zukunft als Dimensionen der narrativen Identität können nicht in ein übergreifendes Selbstkonzept integriert werden. Die Fragmentierung manifestiert sich – nach psychoanalytischer Nomenklatur – auch in der Spaltung zwischen Selbstanteilen, die nicht in ein kohärentes Selbstbild integriert werden können. Abhängig vom jeweiligen Affektzustand erscheint das Selbst entweder als grandios oder elend, mächtig oder machtlos, als ein Opfer oder ein Täter usw. (Lieb et al. 2004). Die Spaltung beruht auf einem Mangel an kontinuierlicher Selbstwahrnehmung auf höherer Ebene, durch die eine Person normalerweise ihre Zustände auf ein einheitliches Selbstbild beziehen kann. Wiederum gewinnen die Patienten keine reflexive Position jenseits ihres gegenwärtigen Zustandes, von der aus sie widersprüchliche Aspekte ihrer selbst integrieren könnten. Das Gleiche gilt für die Spaltung in der Wahrnehmung anderer, insbesondere nahestehender Personen, die entweder einseitig idealisiert oder radikal entwertet werden: Es gelingt den Patienten nicht, positive und negative Aspekte anderer in kohärente Konzepte zu integrieren. Das Ergebnis besteht in einer Fragmentierung der narrativen Identität (Fuchs 2007): einem schwankenden Bild des eigenen Selbst, mit oft scharfen Brüchen, rasch wechselnden Rollen und Beziehungen und dabei einem untergründigen Gefühl innerer Leere. Es fehlt den Patienten an einem Sinn für die Kontinuität ihres Lebens, an einem Konzept für die eigene Entwicklung, das in die Zukunft projiziert werden könnte. Es fällt ihnen schwer, sich auf dauerhafte Beziehungen und langfristige Vorhaben festzulegen, durch die sie sich selbst definieren könnten. Auch ihre sexuelle Identität bleibt nicht selten instabil und wechselhaft. Obwohl Identitätsstörungen auch in anderen Persönlichkeitsstörungen auftreten, sind sie typischerweise mit Borderline-Störungen assoziiert und in der Mehrzahl der Fälle (60–90 %) anzutreffen (Westen & Cohen 1993; Wilkinson-Ryan & Westen 2000). Auf der Ebene des existenziellen Selbstverhältnisses beschreiben die Patienten dann ein quälendes Gefühl der Inkohärenz und fehlenden Authentizität. Die Fragmentierung ist häufig verbunden mit einer Inkohärenz des autobiographischen Gedächtnisses. Borderline-Patienten haben oft erhebliche Schwierigkeiten, spezifische Ereignisse ihrer Biographie zu erinnern, und ihre Narrative weisen häufig große Lücken oder nur sehr globale, generalisierende Beschreibungen auf (Startup 56 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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et al. 2001; Levy et al. 2005). Solche Schwierigkeiten stehen in enger Beziehung zur Tendenz der Patienten, zu dissoziieren. Die Dissoziation lässt sich als eine misslungene Integration von Wahrnehmungen, Affekten, Erinnerungen und Selbstbildern in ein kohärentes Selbsterleben verstehen. Die Disposition dazu resultiert bei der BPS in der Regel aus traumatischen und aversiven Erfahrungen in der frühen Kindheit (Brodsky et al. 1995; Jones et al. 1999; Lieb et al. 2004). Sie kann sich dann entwickeln, wenn traumatische Erlebnisse ursprünglich als rein sensorische Fragmente, also ohne ein kohärentes Narrativ im Gedächtnis gespeichert werden. Dissoziationen können dann ebenso wie die Diffusion der autobiographischen Erinnerung als Möglichkeiten angesehen werden, trauma-assoziierte Affekte zu vermeiden – allerdings um den Preis der Kohärenz der eigenen Lebensgeschichte. Die mangelnde Kohärenz des biographisch-narrativen Selbst lässt sich somit wesentlich auf eine frühkindliche Sozialisation zurückführen, die durch mangelnde Empathie und missbräuchliche oder traumatisierende Beziehungen geprägt war. Unter diesen Bedingungen konnte sich das primäre soziale Selbst und die frühe Interaffektivität (s. o. 2.1.3) nicht angemessen entwickeln, so dass es nicht zur Ausbildung sicherer Bindungen an die primären Bezugspersonen kam. Studien zu Bindungsmustern bei Borderline-Patienten konnten zeigen, dass die Mehrzahl von ihnen (75–90 %) gestörte (d. h. überinvolvierte oder vermeidende) Bindungsmuster aufwies, was in der Regel mit ungünstigen oder traumatischen Kindheitserfahrungen assoziiert ist (Fonagy et al. 1996; Levy et al. 2005). Konstanz und Verlässlichkeit der zwischenleiblichen schemes of being-with sind aber auch die Voraussetzung für die Entwicklung eines kohärenten narrativen Selbsterlebens. Narrative können nur gebildet werden, wenn man in der Lage ist, die eigenen ebenso wie die Intentionen anderer zu erfassen. Nur wenn die Erfahrungen des Kindes auf ein adäquates Verständnis, auf Spiegelung und Benennung durch andere treffen, kann es einen Sinn dafür entwickeln, was es heißt, ein Selbst mit Intentionen, Wünschen, Zielen zu sein. Das sicher gebundene Kind erkennt, dass seine Bezugspersonen es als ein intentionales Wesen wahrnehmen, und gerade diese Wahrnehmung befähigt es, ein einheitliches Selbstkonzept auszubilden. In dem Maß jedoch, wie Kinder durch traumatisierende Erfahrungen in der Übernahme der Perspektive anderer beeinträchtigt sind, muss es ihnen auch schwerfallen, eine kohärente Identität zu entwickeln. 57 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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Unter dieser Annahme haben insbesondere Fonagy und seine Forschungsgruppe postuliert, dass Patienten mit einer BPS nur unzureichend in der Lage sind, zu ›mentalisieren‹, d. h. andere zu verstehen, ihre Perspektive zu übernehmen und ihr Verhalten in intentionalen Begriffen zu deuten (Fonagy & Bateman 2005; Fonagy & Luyten 2009). Da aber ein Verständnis des Bewusstseinslebens und ein kontinuierlicher innerer Kommentar zu den eigenen Erfahrungen die Voraussetzung für die Entwicklung narrativer Selbstkontinuität darstellen, kann sich eine kohärente Identität auf dieser Ebene nicht konstituieren. Insofern lässt sich die Identitätsstörung von Borderline-Patienten wesentlich auf eine Störung der frühen Interaffektivität und Bindungsbeziehungen zurückführen. Vor diesem Hintergrund besteht eine wesentliche Aufgabe der Psychotherapie nicht zuletzt darin, eine längerfristige vertrauensvolle Beziehung zu etablieren, die auch im späteren Leben bis zu einem gewissen Grad noch als Basis zur Entwicklung und Stabilisierung eines kohärenten Selbst dienen kann.
Resümee Der Begriff des Selbst wird in der Regel nicht im Vordergrund störungsorientierter Verfahrensbeschreibungen, manualisierter Therapieschemata und spezifischer Interventionstechniken stehen – dies ist auch nicht sein Ort. Es sollte aber deutlich geworden sein, dass er gleichwohl eine zentrale, immer mitzudenkende Bezugsgröße für das psychopathologische Verständnis und für den psychotherapeutischen Umgang mit dem Patienten darstellt. Verschiedene, insbesondere gravierende psychische Krankheiten gehen als solche mit psychopathologischen Störungen des Selbst in verschiedenen Dimensionen einher. Aber auch generell gesehen betreffen psychische Störungen im Kern immer das Selbsterleben und das Selbstverhältnis des Patienten. Sie führen zu verschiedenen Formen der Stellungnahme, des Coping, der Veränderungserwartung und Veränderungsbereitschaft, des Widerstandes, der Einsicht und nicht zuletzt der Entscheidung, die für jede Psychotherapie zentrale Ansatzpunkte darstellen. Das Selbsterleben des Patienten ist somit Ausgangs- und Zielpunkt aller psychotherapeutischen Verfahren, unabhängig davon, welche Methoden und Interventionen im konkreten Fall zur Anwendung kommen. Die Prinzipien der Selbstakzeptanz, Selbstsorge und 58 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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Selbstverantwortung sind essenzielle Voraussetzungen ihrer Wirksamkeit, auch wenn sie häufig erst im Verlauf der Therapie zum Tragen kommen. Wenn ein grundlegendes Ziel von Psychotherapie die Wiederherstellung oder Erhöhung der Freiheitsgrade des Patienten darstellt, dann bezieht sich dieses Ziel letztlich auf sein Selbstverhältnis, das, wie wir gesehen haben, immer auch ein Verhältnis zu anderen beinhaltet. Vor diesem Hintergrund kann der Begriff des Selbst für Therapeuten wie Patienten immer wieder einen Bezugspunkt der Selbstbefragung und Rückversicherung darstellen, nämlich im Sinne des tua res agitur: Berührt die Therapie das, was den Patienten wirklich bewegt, was ihn selbst angeht? Ist er mit seinem Selbsterleben, seinen persönlichen Ängsten, Wünschen und Hoffnungen am Prozess beteiligt? Erlebt er sich als wahrgenommen und in seinem Selbstsein anerkannt? Nicht zuletzt können die dargestellten Dimensionen des Selbsterlebens auch als Bezugssystem für die diagnostische Erkenntnis und die gewählten therapeutischen Interventionen dienen. Die Frage, ob sich die vorliegende Störung eher auf basalen Stufen des Selbsterlebens abspielt, etwa denen der Selbst-Vitalität, Selbst-Affektivität oder Selbst-Urheberschaft, oder ob sie eher die personalen und existenziellen Dimensionen des Selbst betrifft, ist für das therapeutische Vorgehen von hoher Relevanz. Für basale Störungen werden z. B. körper- und erlebnisbasierte Therapieansätze eine wichtige Rolle spielen, für Störungen der sozialen Wahrnehmung und Kommunikation können Gruppentherapien besonders vorteilhaft sein, während Probleme der mangelnden Authentizität, der Lebensorientierung und des Selbstentwurfs sich eher narrativ oder existenziell orientierten Zugängen erschließen. Der Begriff des Selbst eröffnet damit eine Vielfalt von Bezügen, die ihn für eine vertiefende psychotherapeutische Forschung und Praxis gleichermaßen bedeutsam machen.
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Selbst- und Intersubjektivitätsstörungen in der Schizophrenie 1 Zeno Van Duppen
Einleitung Seit nun schon mehr als zwanzig Jahren prägt eine starke und einflussreiche Hypothese über die grundlegenden Veränderungen in der Schizophrenie die Forschung, die im Rahmen der Phänomenologie entwickelt wurde (siehe beispielhaft Parnas et al. 1998; Sass & Parnas 2001; Cermolacce et al. 2007; Sass 2014). Schizophrenie, so wird angenommen, ist eine Störung der Subjektivität, genauer gesagt eine Störung des minimal self. Alle anderen Symptome und Phänomene werden folglich von diesem »trouble générateur« (Minkowski 1966, 53) abgeleitet. Im Zuge der zunehmenden Erforschung der Intersubjektivität innerhalb der Philosophie kann jedoch dafür argumentiert werden, dass der gegenwärtige Ansatz die Rolle des minimal self überbetont, während spezifische Veränderungen der Intersubjektivität übersehen werden. Dies soll nicht heißen, dass Störungen der Intersubjektivität nicht angesprochen werden, doch im Rahmen des aktuellen Modells wird ihnen nur begrenzt Bedeutung zugesprochen und sie werden als eher sekundäre Phänomene betrachtet (Parnas & Sass 2011, 525). In diesem Beitrag versuche ich, diesen Ansatz in Frage zu stellen, indem ich die Bedeutung von Störungen der Intersubjektivität hervorhebe. Ich werde also der Frage nachgehen, ob Schizophrenie eine Intersubjektivitätsstörung ist. Anschließend werde ich, sobald diese Frage bejaht wurde, ein mögliches ›Organisationsprinzip‹ der Schizophrenie vorschlagen, das sowohl subjektive als auch intersubjektive Störungsbilder zu erfassen vermag. Dies führt zu dem Schluss, dass es gerade die Wechselbeziehung zwischen Subjektivität und Intersubjektivität ist – und nicht nur eine dieser beiden –, die im Fall der Schizophrenie gestört ist. Der im Original »Self and Intersubjectivity in Schizophrenia« betitelte Beitrag liegt hier in der Übersetzung von Dr. Erik Norman Dzwiza-Ohlsen vor.
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Selbst- und Intersubjektivitätsstörungen in der Schizophrenie
Schizophrenie: eine Störung des minimal self Der Ansatz des minimal self versucht, die grundlegendste Form des Selbst – eine Art Kernselbst – zu erfassen, welche als fundamental für jede andere Art von Selbst angesehen werden muss. Das minimal self lässt sich ganz allgemein als eine Art des minimalen Selbstgewahrseins (self-awareness) verstehen, die jedem expliziten oder reflektierenden Selbstgewahrsein vorausgeht (Zahavi 2008). Dabei ist das minimal self durch drei miteinander verwobene Merkmale gekennzeichnet, die es von anderen Formen des Selbst, wie dem narrativen oder dem erweiterten Selbst, unterscheiden (MacIntyre 1985; Schechtman 2011). Das erste Merkmal ist, dass es sich um ein präreflexives Selbstgewahrsein handelt; das zweite verweist auf die Erste-Person-Perspektive; und das dritte bezieht sich auf die Zeitlichkeit. Das minimal self ist deswegen präreflexiv, weil es allererst die notwendige Voraussetzung für die Selbstreflexion darstellt und gleichzeitig selbst nicht reflexiv ist. Dieses Selbstgewahrsein erfordert weder eine Metaperspektive noch eine Position höherer Ordnung. Das zweite Merkmal ist die ›Erste-Person-Perspektive‹. Zahavi gibt uns einen klaren Einblick in die zugrundeliegende Erfahrungsqualität dieses Konzepts: [W]enn ich Single Malt Whiskey schmecke, mich an ein Bad in der Nordsee erinnere oder an die Quadratwurzel von 4 denke, liefern mir all diese Erfahrungen unterschiedliche intentionale Objekte. Diese Objekte bieten sich mir in verschiedenen Formen erfahrbarer Gegebenheit (als geschmeckt, erinnert, gedacht etc.) dar. (Zahavi 2010, 3; übers. v. E. Dzwiza) 2
Obwohl alle diese Erfahrungsmodi sehr unterschiedlich sind, ist ihnen gemeinsam, dass sie mir gegeben werden und ich diese Gegebenheit als die je meine erlebe. Was sie also ganz prinzipiell zu Modi für-mich (for-me) macht, ist nicht ihr jeweiliger Inhalt oder eine bestimmte Qualität, sondern die Gegebenheit der Erfahrung aus der Ersten-Person-Perspektive. Diese Für-mich-heit (for-meness) jeder Erfahrung erklärt auch die epistemische Asymmetrie; sie ist der Grund, warum diese Erfahrungen meine Erfahrungen sind
»[W]hen I taste single malt whiskey, remember a swim in the North Sea or think about the square root of 4, all of these experiences present me with different intentional objects. These objects are there for me in different experiential modes of givenness (as tasted, recollected, contemplated etc.).«
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und nicht die deinen, und umgekehrt (Zahavi 2008, 122). Der dritte Aspekt des minimal self bezieht sich auf die Zeitlichkeit, insbesondere auf die zeitliche Struktur des Bewusstseins, also das, was Husserl das innere Zeitbewusstsein nennt (Husserl 1966). Die genuine Art der Zeitlichkeit des minimal self erweist sich als implizite Zeitlichkeit, die »mit der Bewegung des Lebens abläuft und sich durch die Prozesse der verkörperten Aktivität entfaltet« (Fuchs 2010b, 558; übers. v. E. Dzwiza). 3 Fuchs beschreibt dies wie folgt: »Selbst in seinen grundlegendsten Formen wird das Bewusstsein als eine Dauer oder Ausdehnung von Gewahrsein konstituiert, die sich über alle folgenden Momente erstreckt und damit eine grundlegende Kontinuität erzeugt« (ebd.; übers. v. E. Dzwiza). 4 Auf der Basis dieser Einsichten in das minimal self erfasst die eingangs erwähnte Selbststörungshypothese einige der zentralen Veränderungen der Subjektivität im Falle der Schizophrenie. Dabei ist die Hypothese insofern originell, als sie die in der Forschung bereits lange erfassten Veränderungen des Selbstgefühls und spezifische Veränderungen des Bewusstseins aufgreift und versucht, diese durch klinische Erfahrung und empirische Befunde zu belegen (Parnas et al. 2005). Dabei ist diese Hypothese sowohl aus der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Selbst als auch aus der phänomenologisch-psychopathologischen Tradition heraus entstanden. Schizophrenie beeinflusst, gemäß dieser Hypothese, das Selbstgefühl oder das Selbstgewahrsein, das normalerweise in jedem Akt des Bewusstseins implizit bleibt. Hierbei spielen wiederum zwei Komponenten eine Rolle: Erstens Hyperreflexivität und zweitens eine verminderte Selbstaffektion. Weiter wird behauptet, dass diese scheinbar unterschiedlichen Phänomene eine gemeinsame Basis in einer grundlegenden Störung der Ipseität haben. Eine dritte Komponente wird als ›gestörter Halt‹ an der bzw. ›Zugriff‹ auf die Welt (›disturbed hold‹ or ›grip‹ on the world) bezeichnet, obwohl dies in psychopathologischen Beschreibungen eher eine untergeordnete Rolle spielt (Sass & Parnas 2003, 436). Ich möchte diese drei Merkmale kurz nacheinander erörtern.
»[R]uns with the movement of life, unfolding through the processes of embodied activity.« 4 »Even in its most basic forms, consciousness is constituted as the duration or extension of awareness that spans succeeding moments and thus establishes a fundamental continuity.« 3
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Selbst- und Intersubjektivitätsstörungen in der Schizophrenie
Hyperreflexivität verweist auf das Phänomen eines gestörten Selbstbewusstseins höherer Ordnung. Das Pathologische daran ist, dass es sich um eine nicht freiwillige, fast erzwungene Reflexion über normalerweise implizite Prozesse handelt: Es ist also eine Störung der Spontaneität und Verständlichkeit des eigenen Leibes (Fuchs 2010a). Die Aufmerksamkeit des Patienten richtet sich hierbei auf solche Prozesse, die ansonsten als selbstverständlicher Teil seiner selbst erlebt werden (Sass 2003; Sass & Parnas 2003; Fuchs 2010a). Es ist also nicht nur ein intensiveres Bewusstsein für etwas, sondern vielmehr eine »operative Hyper-Reflexivität« (Sass 2001, 262; übers. v. E. Dzwiza) 5 . Ein solcher Zustand wurde auch als ›Auftauchen oder Hervorspringen‹ (a popping-up or popping-out) von Phänomenen beschrieben, die zum stillschweigenden Hintergrund unserer Erfahrungen gehören, wie z. B. grundlegende Sinnesempfindungen (Summa 2014). Dadurch werden derartige Phänomene als seltsam oder verfremdet erfahren, wenn nicht gar objektiviert. Hyperreflexivität ist also eine unfreiwillige Tendenz, die den natürlichen Ablauf des Handelns, Interagierens und Erlebens stört. Episoden der Hyperreflexivität werden auch in den Erfahrungsberichten einiger Patienten festgehalten. Sie betreffen die basalen Aktivitäten des menschlichen Lebens. »Zeitweise konnte ich nichts mehr tun, ohne darüber nachzudenken. Ich konnte keine Bewegung ausführen, ohne sie mir vorher genau vorzustellen« (Patient zitiert in Fuchs 2010a, 247; übers. v. E. Dzwiza). 6 Was normalerweise unproblematisch ist, wie die Begegnung mit anderen oder eine alltägliche Aufgabe, kann zu einer erschreckenden Anhäufung von Elementen werden, über die der Patient nachdenken muss und die den reibungslosen Ablauf der Interaktionen oder der Aufgabenbewältigung behindern. Die zweite Komponente der Ipseitätsstörung ist der Verlust des Selbstgefühls oder eine verminderte Selbstaffektion. Das bedeutet, dass die Erfahrung, »Subjekt des Gewahrseins oder der Akteur des Handelns« (Sass 2014, 6; übers. v. E. Dzwiza) 7 zu sein, abnimmt. Wie bereits erwähnt, begleitet unser Erleben ein implizites Gefühl, das Zentrum unserer eigenen Erfahrungen zu sein und eine bestimmte Perspektive auf die Welt und auf andere einzunehmen, ohne dass es »[O]perative hyper-reflexivity«. »At times, I could do nothing without thinking about it. I could not perform any movement without having to think how I would do it.« 7 »[S]ubject of awareness or agent of action«. 5 6
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dabei einer zusätzlichen Selbstbeobachtung bedarf (Fuchs 2010b, 549). Der schizophrene Patient hingegen kann eine veränderte Erfahrung seines Selbstgewahrseins haben. Eine andere Beschreibung dieser Erfahrung bezieht sich auf ein vermindertes ›Gefühl der Meinhaftigkeit‹ (sense of ownership) (Gallagher 2012, 130–132). Teile des Selbst, die normalerweise ohne den geringsten Zweifel erfahren werden, erscheinen nun seltsam und entfremdet. Zum Beispiel können Gedanken, Gefühle, Empfindungen oder Absichten objektiviert oder verräumlicht werden (Stanghellini & Lysaker 2007, 165). Gedanken können demzufolge als nicht-meine (not-mine) erfahren werden, als eingefügt (von anderen), oder sie können die Eigenschaften eines Objekts haben, indem sie vom Patienten eher sinnlich wahrgenommen als aktiv gedacht werden (Stephens & Graham 1994). Neben einem verminderten Gefühl der Meinhaftigkeit kann es auch zu einem verminderten ›Gefühl der Urheberschaft‹ (sense of agency) kommen (Gallagher 2000). Analog zum Gefühl der Meinhaftigkeit ist das Gefühl der Urheberschaft ein implizites und unmittelbares Erfassen der eigenen Gegenwart in der (motorischen) Tätigkeit. Dies deutet darauf hin, dass Patienten möglicherweise nicht erkennen, dass sie für die Bewegung ihres eigenen Körpers verantwortlich sind (Fuchs 2010a). Die dritte Komponente ist der Verlust des Halts an der Welt (the loss of grip on the world). Sass und Parnas schreiben, dass die beiden Elemente der Ipseitätsstörung »von ausgeprägten Anomalien hinsichtlich der Salienz und der Stabilität von Objekten und des Feldes des Bewusstseins begleitet werden, die wir als gestörten perzeptiven oder kognitiven ›Halt‹ oder ›Zugriff‹ bezeichnen« (Sass & Parnas 2001, 348; übers. v. E. Dzwiza) 8 . Diese dritte Komponente ist zwar die am wenigsten elaborierte, jedoch ist sie in den meisten phänomenologischen Beschreibungen der Schizophrenie enthalten. Sass schreibt zum Beispiel: »Störungen der raumzeitlichen Strukturierung der Welt sowie von so grundlegenden Unterteilungen der Erfahrungswelt wie in wahrgenommen oder erinnert oder imaginiert beruhen auf Anomalien des verkörperten, lebendigen, erfahrenden Selbst« (Sass 2014, 6; übers. v. E. Dzwiza). 9 Der fehlende Halt an der »[A]ccompanied by distinctive abnormalities of the salience and stability of the objects and field of awareness that we refer to as disturbed perceptual or cognitive ›hold‹ or ›grip‹«. 9 »Disturbances of spatiotemporal structuring of the world, and of such crucial experiential distinctions as perceived-vs-remembered-vs-imagined, are grounded in abnormalities of the embodied, vital, experiencing self.« 8
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Welt führt außerdem auch zu Verwirrtheit und dem Verlust des Common Sense. Ungeachtet solcher Einsichten bleibt dieser Aspekt der Ipseitätsstörung am rätselhaftesten und seine Beziehung zu den beiden anderen Komponenten recht unklar. Nichtsdestoweniger ist ihm hohe Relevanz zuzuschreiben, insbesondere wenn im folgenden Abschnitt die intersubjektive Dimension der Schizophrenie näher in den Blick genommen wird. Um das Bild zu vervollständigen, soll hier noch darauf hingewiesen werden, dass andere Psychopathologen noch weitere Aspekte der Selbststörung hervorgehoben haben. Fuchs verweist beispielsweise auf die Störung der Verkörperung, verstanden als sensorisch-motorische Beziehung zur Welt, die durch den Leibkörper vermittelt wird (Fuchs 2010b, 550). Diese Störung der Verkörperung, auch ›Entkörperung‹ (disembodiment) genannt, impliziert eine Störung des minimal self, also des grundlegenden Selbstgefühls im Sinne des Zerfalls von leiblichen Habitus, die bei unserer natürlichen und alltäglichen Tätigkeit implizit sind (Fuchs & Schlimme 2009; Fuchs 2010a). Da unser individueller Körper dem anderer sehr ähnlich ist, steht die Entkörperung interessanterweise auch mit der Störung der Zwischenleiblichkeit in Verbindung, also des Zusammenseins verkörperter Wesen (Stanghellini 2009). Zudem betont Fuchs auch einen anderen Begleitumstand der Störung des Selbst, nämlich die Veränderung der Zeitlichkeit. So können bei der Schizophrenie Symptome wie Denkstörungen, Gedankeneinschübe, Halluzinationen oder Passivitätserfahrungen im Rahmen eines gestörten inneren Zeitbewusstseins beschrieben werden (Fuchs & Van Duppen 2017). Generell lässt sich bereits im prodromalen Stadium und auch im Verlauf der Erkrankung hin zu einem chronischen Zustand beobachten, wie Patienten versuchen, den Zerfall der gelebten Zeit durch die explizite Schaffung künstlicher Kontinuität zu kompensieren. Dazu gehören vor allem »rationale Rekonstruktionsstrategien«, die Übernahme von Ritualen oder die Minimierung äußerer Veränderungen wie beim autistischen Rückzug. (Fuchs 2013b, 91; übers. v. E. Dzwiza) 10
»Generally, it can be observed already at the prodromal stages and also as the illness progresses to chronic states, how patients attempt to compensate for the disintegration of lived time through the explicit creation of artificial continuity. This primarily includes ›rational reconstruction‹ strategies, the adoption of rituals or the minimization of external changes as in autistic withdrawal.«
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Die Ipseitätsstörung manifestiert sich also in der Zeitlichkeit durch eine Schwächung und Fragmentierung der zeitlichen Selbstkohärenz, »die zu einer Fragmentierung der Intentionsbögen, Gedankeninkohärenz und zu umfassenden Selbststörungen führt« (ebd., 101; übers. v. E. Dzwiza) 11 . Gemäß dieser Ideen des Selbst wurde ein halbstrukturiertes Interview entwickelt, das die qualitativen Veränderungen des zugrunde liegenden Konzeptes operationalisiert und zu quantifizieren versucht. Die Hauptannahme ist, dass präpsychotische Erfahrungen durch eine sorgfältige Befragung von Personen erkannt werden können. Viele der Items des Interviews betreffen beispielsweise den Verlust des Selbstgefühls oder Hyperreflexivität. Studien, die im Rahmen der EASE (Examination of Anomalous Self-Experience) durchgeführt wurden, zeigen, dass Selbststörungen als spezifische Parameter verwendet werden können, um Schizophrenie und schizoide Persönlichkeitsstörungen von psychotischen bipolaren Störungen sowie von abweichenden Phänomenen zu unterscheiden (Parnas et al. 2005; Raballo & Parnas 2012). Die Ipseitätsstörungshypothese ist also nicht auf das Feld psychopathologischer Forschung beschränkt, sondern hat bereits ihre Anwendung im klinischen Umfeld und in der empirischen Forschung gefunden.
Schizophrenie: eine Störung der Intersubjektivität Trotz des Erfolges der Selbststörungshypothese in der phänomenologischen Psychopathologie glaube ich, dass sie einen wichtigen Aspekt der Erkrankung übersieht. Denn im Gegensatz zu den subtilen Veränderungen der Selbsterfahrung werden hier die Erfahrungen mit anderen und der geteilten Welt nicht explizit berücksichtigt. Dabei hat das in letzter Zeit erstarkte Interesse an der Intersubjektivität in der Phänomenologie auch ein zunehmendes Interesse an der Intersubjektivität in der Psychopathologie hervorgerufen. So wurden bestimmte Elemente der Schizophrenie bereits im Hinblick auf die Intersubjektivität untersucht, darunter Phänomene der Verkörperung und Zeitlichkeit (Fuchs 2005; Fuchs & Van Duppen 2017), Common Sense (Stanghellini 2001, 2011) und Autismus (Parnas & Bovet 1991; »[L]eading to a fragmentation of the intentional arc, thought incoherence and major self-disturbances«.
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Fuchs 2015). Ein Schlüsselwerk, das viele aktuelle Untersuchungen bereits vorwegnimmt, ist Sass’ The Paradoxes of Delusions (1994), wie auch sein früheres Werk Madness and Modernism (1992). Auch die EASE enthält einige Items, die im Zusammenhang mit Intersubjektivität stehen, einschließlich des Bezugs zu Common Sense und Transitivismus, und man kann durchaus dafür argumentieren, dass die dritte Komponente der Selbststörung, der Verlust des Halts an der Welt, sich in Störungen der Intersubjektivität niederschlägt. Die Komponente des Haltverlusts blieb bisher jedoch weitgehend unerforscht. Inzwischen ist jedoch klar geworden, dass die Intersubjektivität eine viel größere Rolle spielt als bisher angenommen. 12 Um die erste in der Einleitung aufgeworfene Frage zu beantworten, werde ich im Folgenden die intersubjektiven Dimensionen der Erkrankung hervorheben und erläutern. Darauf aufbauend erörtere ich im folgenden Abschnitt die Frage, wie Subjektivitäts- und Intersubjektivitätsstörungen tatsächlich zusammenhängen. Um die Bedeutung intersubjektiver Störungen für die Schizophrenie besser zu verdeutlichen, unterscheide ich zwischen solchen Störungen, die die direkte Interaktion beeinflussen, wie zum Beispiel bei konkreten Begegnungen, und solchen, die sich allererst in unserer gemeinsamen Erfahrung der Realität manifestieren. Die erste Gruppe von Phänomenen umfasst die Bereiche des Verstehens anderer sowie der Einstimmung, Zwischenleiblichkeit und Sozialität; die zweite Gruppe bezieht sich auf Phänomene wie Wahnvorstellungen und Halluzinationen und betrifft die Erfahrung einer geteilten Realität.
Andere verstehen Eines der faszinierendsten Elemente in der Psychopathologie der Schizophrenie ist die unmittelbare Identifizierung ihres ›Prototyps‹ durch die Erfahrung der Getrenntheit vom Patienten durch den Behandelnden. Der niederländische Psychiater Rümke (1960) nannte dies das ›Praecox-Gefühl‹. Es bezeichnet den Mangel an Gerichtetheit Die aktuelle Forschung zur Intersubjektivität in der Schizophrenie umfasst Arbeiten von Varga (2010), Irarrázaval und Sharim (2014), Nour und Barrera (2015), Sass und Pienkos (2015), Sass und Byrom (2015), Pienkos (2015), Salice und Henriksen (2015) sowie die von dem Theory-of-Mind-Paradigma inspirierte Forschung von Corcoran und Kollegen (1995) sowie Frith (1992).
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und affektiver Einstimmung des Patienten mit anderen und der Welt (Broome et al. 2013, 787). Dieser Mangel an Einstimmung drückt sich in Erscheinung und Verhalten des Patienten aus, in seiner Physiognomie, seinem Ausdruck, seiner Gestik, seiner Stimme, seiner Haltung – in dem also, was den allgemeinen Gesamteindruck eines Menschen ausmacht (Fuchs 2013a). Laut Walter von Baeyer (1955, 370) ist die Begegnung mit einem autistischen Schizophrenen »unendlich karg, fern und fremd«. Es gibt keinen wirklichen Kontakt mit der schizophrenen Person. Bereits Kraepelin (1904, 182) wie auch Bleuler beschrieben die gestörte affektive Einstimmung des Schizophrenen. Bleuler betrachtete sie sogar als eines der grundlegenden Symptome und schreibt: »Mit einem Idioten, der kein Wort hervorbringt, fühlt man sich seelisch mehr verbunden, als mit dem intellektuell vielleicht noch gut konversierenden, aber innerlichst unzugänglichen Schizophrenen« (Bleuler 1955, 377). Jaspers (1948, 373, 486) spricht sogar von einem »gar nicht näher zu bezeichnenden Abgrund« und der Unverständlichkeit schizophrener Menschen. Was im Umgang mit anderen zählt, ist nicht das objektive ›Wissen‹ davon, was der andere denkt, sondern vielmehr eine subjektive Bezugnahme aufeinander im Sinne eines unmittelbaren Erfassens. Denn um zu verstehen, brauchen wir zunächst eine gewisse Verbindung mit dem anderen. Schließlich besteht ein wesentlicher Teil des Miteinanderseins darin, den anderen, den ich wahrnehme, als ein echtes menschliches Wesen zu erfassen. Husserl nannte dies »Einfühlung« (Husserl 2012, 124). Abgesehen von einschlägigen Beschreibungen dieser Unfähigkeit finden sich auch in empirischen Studien Hinweise auf die Störung der unmittelbaren Verbindung mit dem anderen: Sie zeigen, dass schizophrene Personen deutlich schlechter dazu in der Lage sind, Gesichtsausdrücke zu erkennen, anderen Menschen Emotionen zuzuschreiben und deren Überzeugungen und Emotionen richtig einzuschätzen. In der Terminologie des Theory-of-Mind-Paradigmas wird davon gesprochen, dass schizophrene Patienten Schwierigkeiten haben, ›die Gedanken anderer zu lesen‹ und eine empathische Perspektive einzunehmen (Corcoran et al. 1995; Langdon et al. 2006). Schizophrene Patienten sind oft nicht in der Lage, den Wissensstand ihrer Gesprächspartner richtig einzuschätzen (Corcoran & Frith 1996; Brüne 2005; Wible 2012). Dieser Mangel an wechselseitigem Verständnis zeigt sich oft als Störung der Kommunikation und der Sprache. Das bedeutet auch, dass es den Patienten schwerfällt, sich verständlich zu machen. Spezifische sprachliche Zeichen, wie Neo74 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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logismen, Mutismus und chaotische Sprache, die schon Kraepelin (1904, 180) und Bleuler (1955, 345) beschrieben haben und die die gegenwärtige empirische Forschung weiter untersucht (Covington et al. 2005; Stephane et al. 2007; Tan et al. 2014), könnten ein Beleg dieses Mangels sein. Wichtig ist, dass diese Störung insbesondere den sozialen oder kommunikativen Gebrauch der Sprache betrifft (Niznikiewicz et al. 2013). Ein letztes Element, das das gegenseitige Verständnis in der Begegnung erschwert, ist die Objektivierung anderer. Wie schon von Baeyer (1955, 371) erklärt, werden andere Menschen, seien es Familienmitglieder, medizinisches Personal oder Fremde, auf diese Weise für den Patienten anonymisiert und weniger real, sowohl in akuten als auch in chronisch-psychotischen Zuständen. Sie verlieren dadurch ihre Besonderheiten und ihre Bedeutsamkeit, ihre eigene und die geteilte Geschichte. Kurz gesagt verlieren sie ihre konkrete Individualität und können sogar zu bloßen Funktionären der Wahnvorstellung degradiert werden. Diese soziale Derealisierung kann so weit gehen, dass andere als bloße Objekte erlebt werden (Fuchs 2015). Die affektive Verbindung scheint dann reduziert und der andere nur noch eine sehr unbedeutende Rolle in der Regulation der Welterfahrung des Patienten zu spielen.
Einstimmung und Zwischenleiblichkeit Einstimmung bedeutet, dass man seine Erfahrungen, sein Verhalten, seine Überzeugungen und Einstellungen an die Situation und insbesondere an die soziale Situation anpasst. Sie betrifft damit zum einen die Auswirkung bestimmter sozialer Regeln auf eine bestimmte Situation. Andererseits ist Einstimmung eine verkörperte Erfahrung, die es uns erlaubt, uns sofort mit anderen in Verbindung zu setzen. Sie erfordert deswegen zumeist keine Schlussfolgerung oder Theoriebildung, sondern bezeichnet vielmehr schlicht die für eine Begegnung entscheidende Art und Weise, in der jemand handelt und reagiert. Blankenburg bezeichnet dieses ›Wissen, wie‹ (knowing how) als den Common Sense (Blankenburg 1969/2007). Ein junger schizophrener Patient schildert beispielsweise: »Ich kam hier in die Klinik ’rein, und jeder Tag – wie sich das abgespielt hat hier im Raum – musste ich das einfach aufnehmen, so wie die anderen sich verhalten haben, so die Menschen.« (zitiert nach Blankenburg 1969/2007, 104) Der Common 75 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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Sense ist also eine Form der Abstimmung hinsichtlich der Spielregeln und Konventionen unserer geteilten Lebenswelt, in der wir verwurzelt und verankert sind. Man kann mit dem späten Merleau-Ponty (1960, 167) sagen, dass unser Verhältnis zum Anderen notwendigerweise eingestimmt ist, da wir alle Teil der Gemeinschaft des »Fleisches« sind, der einen einzigen »Zwischenleiblichkeit«, und das noch vor jeder expliziten Anerkennung des Anderen und lange vor jedem expliziten Perspektivenwechsel oder einer ›Mentalisierung‹. Auf dieser Ebene der Zwischenleiblichkeit oder der verkörperten Intersubjektivität bedeutet das, dass wir affektiv mit dem Anderen verbunden sind. Wir spiegeln nicht die Affekte des Anderen wider, aber wir schwingen, meist passiv, mit diesen Affekten mit – wie auch umgekehrt andere mit unseren Affekten mitschwingen. Fuchs (2005) argumentiert, dass Schizophrenie eine Form der Entkörperung beinhaltet und es deshalb nur logisch erscheint, dass auch die Zwischenleiblichkeit als die verkörperte Verbindung zu anderen gestört ist. Dies wird in der Störung der affektiven Resonanz deutlich. Laut Fuchs gehört diese Art von Resonanz zu dem, was Trevarthen (1993, 1994) primäre Intersubjektivität genannt hat: »Das ist die Grundlage für das Einfühlungsvermögen in Begegnungen von Angesicht zu Angesicht: In verkörperter und empathischer Interaktion wird der andere nicht als ›hinter‹ seinen Handlungen angenommen, sondern er drückt seine Absichten durch sein Verhalten aus« (Fuchs 2015, 193–194; übers. v. E. Dzwiza). 13 Getrennt vom oder schlicht nicht Teil des »zwischenleiblichen Seins« (intercorporeal being) zu sein, das Merleau-Ponty (1968, 143) beschreibt, bedeutet in der Folge Distanzierung und Entfremdung, weil der Patient den anderen nicht unmittelbar durch seine verkörperte Subjektivität, z. B. seinen Gesichtsausdruck oder seine Gesten, verstehen und erkennen kann. Die soziale Interaktion beschränkt sich dann auf explizite Versuche, die Absichten anderer theoretisch abzuleiten und ihnen möglicherweise zu Unrecht bedrohliche Absichten zuzuschreiben.
»This is the basis of empathy in face-to-face encounters: In embodied and empathic interaction, the other is not assumed ›behind‹ his action, but he enacts and expresses his intentions in his conduct.«
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Sozialität Bleuler verstand Autismus als eines der grundlegenden Symptome der Schizophrenie und charakterisierte ihn als Realitätsverlust durch Zuwendung zur eigenen Phantasiewelt (Bleuler 1955, 338). Minkowski adaptierte später diesen schizophrenen Autismus und fasste ihn als »Verlust des lebendigen Kontakts mit der Wirklichkeit« auf. Eines der Elemente dieses Verlustes ist die »Desynchronisation«. Die Idee Minkowskis, dass schizophrene Patienten eine veränderte Zeiterfahrung aufweisen, wurde durch aktuelle Analysen bestätigt (Fuchs 2013b; Fuchs & Van Duppen 2017). Um dies zu kompensieren, können Patienten daher den Tag oder die Woche aktiv strukturieren und solche Aktivitäten planen, die sie mit anderen Menschen in Kontakt bringen und es erforderlich machen, ihre Isolation zu verlassen. Fuchs berichtet von Patienten in verschiedenen Stadien der Schizophrenie, die Einstellungen oder ›Algorithmen‹ entwickelten, um den Mangel dessen auszugleichen, was er »Mitzeitlichkeit« (contemporality) nennt (Fuchs 2013b, 93); nur zu oft aber scheitern diese Versuche und führen darüber hinaus zu weiterer sozialer Isolation. Schizophrener Autismus wird daher meist negativ definiert, nämlich als Abkehr von der geteilten Welt. Corin (1990) hat hingegen dafür argumentiert, dass schizophrener Autismus und das Phänomen der Isolation nicht zwangsläufig bloß ›negativ‹ aufzufassen sind. Sie macht geltend, dass sie zum Teil auch bewusst gewählt sein können, und spricht demgemäß von einem »positiven Rückzug« (positive withdrawal) (Corin & Lauzon 1994, 16). Bestimmte soziale Interaktionen, bei denen nur wenig wirklicher Kontakt erforderlich ist, werden dabei oft emotional intensiveren Begegnungen vorgezogen. Denn ein Patient empfindet möglicherweise den oberflächlichen Kontakt mit einem Ladenbesitzer oder einem Barkeeper als angenehmer als den Kontakt mit seiner Familie. Einige Patienten können so sicherstellen, dass ihr zwischenmenschlicher Kontakt immer auf diese oberflächliche Ebene beschränkt bleibt, und tiefergehende emotionale Interaktionen vermeiden (Corin 1990). Dies deutet darauf hin, dass die Patienten versuchen, zwischen Abgrenzung (distinction) und Verbindung (connection) ein Gleichgewicht zu finden; ein Gleichgewicht, das zwar von jedem Einzelnen in sozialen Interaktionen gefunden und entwickelt werden muss, im Falle von Schizophrenen aber in Richtung Abgrenzung verschoben zu sein scheint. Stanghellini zitiert junge Patienten, die das Bedürfnis zum Aus77 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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druck bringen, sich abzugrenzen und sich demgemäß, noch spezifischer betrachtet, vom gesunden Menschenverstand und dem Einfluss anderen distanzieren. »Es ist bei für Schizophrenie Anfälligen und jungen Schizophrenen üblich, Ablehnung gegenüber Einstimmung und Einfühlung vorzufinden, da diese als Quellen von Konformität, Inauthentizität, Engstirnigkeit und des Verlusts von Selbstheit und Abgrenzung gelten« (Stanghellini 2001, 212; übers. v. E. Dzwiza). 14 Dabei wird diesen jungen Patienten oft unter Frustration zunehmend bewusst, welchen Einfluss andere auf unsere individuellen Aktivitäten, Erfahrungen und unser subjektives Leben im Allgemeinen haben. Die Schattenseite ihrer Bemühungen, intersubjektiven Kontakt und Einflussnahme (regulation) zu minimieren, besteht darin, dass die ›Spielregeln‹, die den Common Sense bestimmen, für sie völlig idiosynkratisch werden und so die soziale Isolation verstärken können. Diesen Gedanken weiterführend, kann also die veränderte Erfahrung mit anderen als Ursache für verarmte und eigenwillige soziale Interaktionen angesehen werden. Ein zusätzlicher Beleg für diese Hypothese ist, dass Anhedonie, eines der weiteren Negativsymptome der Schizophrenie, sich meist zwischenmenschlich ausprägt: Es ist ein Verlust von Interesse an und Freude mit anderen (Wang et al. 2014). In Übereinstimmung mit Corin haben Brown und Kollegen (2008) herausgefunden, dass die Isolation vor allem von sozialer Angst und sozialer Anhedonie ausgeht.
Wahnvorstellungen Zu guter Letzt können psychotische Phänomene auch als Symptome einer veränderten Sozialität oder als »Dislokation aus der Intersubjektivität« (dislocation from intersubjectivity) betrachtet werden (Parnas 2013a, 213). Minkowski beschrieb, wie wahnhaft schizophrene Patienten in zwei Welten zu leben scheinen. Die helle Welt (light world) ist die geteilte Welt; der Patient kann sich jedoch auch in der dunklen Welt (dark world) befinden, also einer morbiden Welt mit gestörten Distanzen und Maßen (disturbed distance and measure), »It is common to find among persons vulnerable to schizophrenia and young schizophrenics the rejection of attunement and intuitiveness, because these are considered sources of conformity, inauthenticity, narrow-mindedness, loss of selfness, and of differentiation.«
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in der er ganz allein ist (Minkowski 1995, 394). In Bezug darauf bin ich der Meinung, dass Psychosen nicht nur auf einem Mangel oder der Abwesenheit von Intersubjektivität beruhen. Vielmehr beinhalten sie eine besondere Art von Intersubjektivität: Zunächst einmal beziehen sich die meisten schizophrenen Wahnvorstellungen auf Themen, die relational sind und oft den Platz des Patienten innerhalb des sozialen Universums betreffen (Bentall et al. 1991; Stompe et al. 2003). Die bekanntesten darunter sind paranoide Wahnvorstellungen und Beziehungswahn (delusions of reference), welche sich in erster Linie auf Mitmenschen richten (Frith 1992, 80). Diese wahnhafte Intersubjektivität unterscheidet sich jedoch von der üblichen Intersubjektivität, da hier andere oft überlegen und dominant, unzugänglich, versteckt oder verkleidet wahrgenommen werden (von Baeyer 1955). Der Beziehung zu anderen innerhalb der Wahnvorstellung fehlt die Wechsel- und Gegenseitigkeit. »Es ist reines Besorgt-Sein, keine Responsivität, kein Austausch im Betrachten, Lachen, Kommentieren und Verhöhnen, keine Beeinflussung, nicht das Hin und Her einer realen Begegnung, sondern nur die Einseitigkeit dessen, was wir Selbstreferenzialität nennen« (von Baeyer 1955, 371). Die wahnhafte Sozialität ist also subjektivierte Intersubjektivität. Es ist eine Intersubjektivität, die in ihrer Gesamtheit in der Subjektivität des Patienten liegt und hier ihren Ursprung hat. Die Begegnung in der Wahnvorstellung ist deswegen auch nur eine Pseudo-Begegnung, ihr fehlt die Dimension des Dazwischen (in-between). Diese genuin inter-subjektive Dimension kann in der Wahnvorstellung nicht entstehen, weil der Patient die Beziehung bereits aus der Perspektive der Selbstzentriertheit betritt, sie dadurch einseitig macht und keinen Bezug auf Andersheit (otherness) herstellt. Während andere innerhalb der Wahnvorstellung subjektiviert sind, scheinen sie in der realen Welt dagegen objektiviert zu werden: Sie sind derealisiert, haben wenig Einfluss auf die Wahrnehmungen der intersubjektiven Welt und werden so immer irrelevanter für die Welt des Patienten. Davon sind die Schwierigkeiten, andere zu verstehen, ein klarer Ausdruck, insbesondere im Sinne von Einstimmung, affektiver Resonanz und sozialer Isolation. Wahnvorstellungen sind nicht nur Ausdruck einer veränderten Sozialität. Ebenso bezeugen sie einen tiefgreifenden Wandel der Intersubjektivität, genauer: der transzendentalen Intersubjektivität. Um dies zu verdeutlichen, werde ich nun den Fokus von der direkten Interaktion mit anderen auf die Art und Weise verlagern, wie wir die 79 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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Welt und unsere gemeinsame Realität überhaupt erleben. An anderer Stelle habe ich analysiert, welche Faktoren an unserer Erfahrung der Realität beteiligt sind (Van Duppen 2016). Worauf ich mich hier konzentriere, ist nur einer dieser Faktoren, nämlich die Intersubjektivität. Die Frage ist: Welche Rolle spielt die Intersubjektivität in unserer Wirklichkeitserfahrung und finden wir in der Schizophrenie tatsächlich eine Störung der Intersubjektivität vor? Intersubjektivität spielt eine doppelte Rolle für unsere je individuelle Wirklichkeitserfahrung. Erstens begründet die Anwesenheit anderer allererst die Gemeinschaft, in der wir uns meist implizit darüber einig sind, was real ist und was nicht. Dies kann als eine höhere Ebene bezeichnet werden, auf der Intersubjektivität unsere Erfahrung der Realität durch Regeln und Konventionen bestimmt. Obwohl dies nicht wie ein aktiver Prozess aussieht, weil kein einzelnes Subjekt aktiv an der Festlegung der Regeln beteiligt ist, beinhaltet sie doch Aktivität – nur eben auf Ebene der Gemeinschaft. Dabei ändern sich die Regeln durchaus, wie der Prozess der wissenschaftlichen Entwicklung exemplarisch zeigt (Kuhn 1962; Feyerabend 1993). Was wir für wahr halten und was unser individuelles Leben beeinflusst, kann sich im Laufe der Zeit durchaus radikal verändern. Schizophrene Wahnvorstellungen sind Störungen, die genau auf dieser Ebene zu verorten sind, wobei man sowohl an Husserls Konzept (1973c, 133–142) von Normalität als Einstimmigkeit von Erfahrungen denken kann als auch an Waldenfels (1971, 335), der den konventionellen Charakter unserer Erfahrungsregeln betonte. Der Patient, der daran glaubt, dass das Internet einen beängstigenden Einfluss auf seine Gedanken hat, kann auf dieser höheren Ebene der Intersubjektivität (in Husserls Terminologie) als ›heterolog‹ bezeichnet werden. Das heißt, dass die meisten Menschen bemerken würden, dass etwas nicht stimmt und ihr Glaube außerhalb der Grenzen derjenigen Überzeugungen liegt, die in unserer Gemeinschaft anerkannt sind. Man muss kein Psychiater sein, um derartige Abweichungen von den impliziten Konventionen und Regeln zu bemerken. Wenn sich ein Patient anders verhält, werden Mitglieder der Gemeinschaft dies bemerken, da es nicht zu dem passt, was implizit als normal angesehen wird. Zweitens bestimmt die Anwesenheit anderer unsere Wirklichkeitserfahrung auch auf einer niedrigeren, passiven Ebene. Sie ist vor allem durch dasjenige intersubjektiv, was Husserl als »offene Intersubjektivität« bezeichnete. Sie ist der Horizont unserer Erfahrungen und basiert auf der gleichzeitigen »Apperzeption« dessen, was ur80 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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sprünglich nicht gegeben ist. »Ontologisch gesprochen, jede Erscheinung, die ich habe, ist von vornherein Glied eines offen endlosen, aber nicht explizit verwirklichten Umfanges möglicher Erscheinungen von demselben, und die Subjektivität dieser Erscheinungen ist die offene Intersubjektivität« (Husserl 1973b, 289). Ein entscheidender Punkt in Husserls Ausführungen zur Wahrnehmung ist, dass Apperzeption von der möglichen Anwesenheit anderer abhängt, die jene Seiten eines Objekts wahrnehmen können, die mir aktuell nicht gegeben sind. Offene Intersubjektivität ist also die transzendentale Leistung, die es uns erlaubt, ein Objekt als das Objekt wahrzunehmen, was es ist, und nicht nur als das, was mir aktuell nur aus meiner eigenen Perspektive gegeben ist. Intersubjektivität ist damit auch eine Voraussetzung für die Erfahrung von Objektivität. Wir erfahren Objekte als intersubjektiv konstituiert, »als gegenwärtig für jedermann« (as present for everyone) (Husserl 2012, 96). Das ›Objekt‹ meiner Erfahrung ist dann objektiv, wenn ich es als dieses identische auch für andere als wahrnehmbar und ausdrückbar erfahre. Objektivität wird daher als intersubjektive Gültigkeit definiert (Husserl 1973b, 107, 109). Aber Objektivität hängt auch noch in einer weiteren Hinsicht von anderen ab: Ich kann etwas nämlich dann nicht als objektiv erfahren, wenn es ontologisch an meine immanente Sphäre gebunden bleibt. Um Objektivität zu erfahren, muss es Transzendenz geben. Transzendenz zeigt sich zunächst in der Begegnung mit dem Anderen, denn der Andere übersteigt meine Subjektivität, meine Immanenz und konfrontiert mich auf diese Weise mit Transzendenz und Unzugänglichkeit (Husserl 1973a, 110; 1973b, 277; 2012, 92). Objektivität betrifft deswegen nicht nur ›Objekte‹ oder Dinge, sondern auch Ereignisse und Aktivitäten. Ich erlebe diese als »öffentlich«, nicht als privat (Husserl 1973c, 5). Dieses Teilen der Welt ist eine notwendige Voraussetzung für den »Wahrnehmungsglauben« (Merleau-Ponty 1968, 19), also für eine stabile Erfahrung der Wirklichkeit unserer Wahrnehmung. Daraus wird ersichtlich, dass eine Störung der Intersubjektivität – des Zusammenseins mit anderen, der Anerkennung anderer als Mitkonstituierende und Miterlebende in der Welt – die Leistung der offenen Intersubjektivität und damit auch von Objektivität und Wahrnehmungsglauben stört. Wenn Schizophrenie sich durch eine spezifische Störung der Intersubjektivität auszeichnet, und wenn Intersubjektivität eine Voraussetzung für die Wahrnehmung und für die Erfahrung von Reali81 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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tät und Objektivität ist, muss folglich die Schizophrenie mit einer veränderten Erfahrung der Welt einhergehen. Dies ist offensichtlich der Fall, und Wahrnehmungsanomalien wurden reichlich beschrieben. Es findet sich hier nicht nur die besondere Form der Derealisierung, einschließlich der sozialen Derealisierung, wie ich sie vorhin beschrieben habe, sondern es kann auch Veränderungen in der Wahrnehmung von Objekten geben. Die bekanntermaßen von Jaspers und Schneider herausgearbeitete wahnhafte Wahrnehmung ist ein gutes Beispiel dafür. Ein schizophrener Patient kann ein Objekt unmittelbar seiner Wahnvorstellung unterordnen: Sein Telefon wird nicht als sein Telefon wahrgenommen, sondern als eine Abhörvorrichtung; oder das Gesicht eines unbekannten Fußgängers wird zur unmittelbaren Warnung für die bevorstehende Apokalypse. Aber auch die Fragmentierung des Wahrgenommenen, die häufig in den Selbstberichten von Patienten zu finden ist, hängt mit einer Dysfunktion der offenen Intersubjektivität zusammen. »Sie erinnerte sich, dass sie nicht auf die ganze Tür schauen konnte. Sie konnte nur auf den Knopf oder eine Ecke der Tür schauen. Die Mauer war zersplittert« (Patient 1 in Uhlhaas & Mishara 2007, 144; übers. v. E. Dzwiza) 15 und Ich darf in den Garten schauen, aber ich sehe es nicht so, wie ich es normalerweise tue. Ich kann mich nur auf Details konzentrieren. Zum Beispiel kann ich mich beim Betrachten eines Vogels auf einem Ast verlieren, aber dann sehe ich nichts anderes. (Patient 2 in Uhlhaas & Mishara 2007, 144; übers. v. E. Dzwiza) 16
Eine Störung der offenen Intersubjektivität verändert also die Integrität der Wahrnehmung und wir können, basierend auf Husserls Ausführungen zur Apperzeption, verstehen, warum dies der Fall ist. Gleichwohl ändert sich auch die Bedeutung und Nützlichkeit von Objekten im Sinne des Common Sense. Denn Bedeutung und Nutzen von Wahrnehmungsobjekten hängt von der vorgängigen Integrität der Wahrnehmung ab. Geht diese Integrität verloren, wie dies bei dem oben beschriebenen Patienten der Fall war, verlieren auch die Objekte ihre Bedeutung oder ihre »Affordanzen« (Uhlhaas & Mishara, 2007, 145). Auf dieser Ebene der Passivität finden wir auch eine »She remembered that she could not look at the whole door. She could only look at the knob or some corner of the door. The wall was fragmented into parts.« 16 »I may look at the garden, but I don’t see it as I normally do. I can only concentrate on details. For instance, I can lose myself in looking at a bird on a branch, but then I don’t see anything else.« 15
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›fundamentale Gewissheit‹ oder ein ›Grundvertrauen‹ in unsere Erfahrungen (fundamental certainty or basic trust). Die bisherigen Beschreibungen zeigen, dass wir eine eigentümliche Gewissheit unserer Erfahrungen haben – auch bei Erfahrungen des Zweifels. Diese fundamentale Gewissheit oder dieses Vertrauen betreffen »unser direktes, vorreflexives und praktisches Verständnis der Welt« (our direct, pre-reflective and practical grasp of the world) (Rhodes & Gipps 2008, 298). Dabei ergeben sich diese Gewissheiten aus unserer alltäglichen Erfahrung der Welt, die keine isolierte Erfahrung ist, weil wir unser Engagement in der Welt mit anderen teilen, wie Heidegger (1967, 125) und Waldenfels (1971, 136, 246) gezeigt haben. Genauer betrachtet, gewinnen wir dieses Vertrauen allererst durch die Interaktion mit anderen und durch die damit einhergehende Regulierung der eigenen Erfahrungen in der Einstimmung mit anderen. Aufbauend auf diesem praktischen Engagement integrieren wir die grundlegenden Gewissheiten der Gemeinschaft in unser Leben. Das bedeutet, dass ein persönlicher Glaube oder eine Überzeugung immer in einen intersubjektiven Kontext eingebunden ist. Natürlich fragen wir meist nicht, ob andere mit unseren Ideen einverstanden sind, aber wir verfügen über eine Art intersubjektive Validierung, um schon vor einer expliziten Nachfrage zu wissen, ob eine Idee oder eine Annahme richtig ist. Bei einer Wahnvorstellung stellen wir hingegen fest, dass die absolute Gewissheit, die manchmal vorhanden ist, eine Störung genau dieses intersubjektiven Vertrauens ist. Es bleibt zwar immer noch die Erfahrung von Vertrauen oder Gewissheit, aber sie wird weder intersubjektiv bestätigt, noch ist sie abgestimmt (attuned) oder offen für Modulation oder Regulierung. Es ist, als ob die wahnhafte Person alle anderen aus ihrer Immanenz exkommuniziert hätte. Das würde aber bedeuten, dass der Patient solipsistisch wird und andere zu bloßen Objekten oder Nebenfiguren degradiert. Wahnvorstellungen sind also Manifestationen einer veränderten Sozialität, die mit einer spezifischen Form der Intersubjektivität innerhalb der Wahnvorstellung einhergeht, und sie sind Störungen der intersubjektiven Wirklichkeitserfahrung. Das bedeutet erstens, dass die Einstimmung mit und die Regulierung durch andere(n) auf der höchsten Ebene der Wirklichkeitserfahrung dysfunktional ist. Zweitens ist auch die untere, passivere Ebene gestört: Wo wir normalerweise unser Vertrauen und die Gewissheit unserer Erfahrungen in vorprädikativer Weise mit der Gemeinschaft abstimmen und die Welt daher als real erleben, zeigt die absolute Gewissheit einer schizo83 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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phrenen Wahnvorstellung eher den Rückzug oder die Abgrenzung von anderen an. Die Gewissheit ist dann eine solipsistische Gewissheit. Das hat zur Folge, dass die Intersubjektivität nicht ihre transzendentale Funktion in der Wahrnehmung übernehmen kann – auch in dem Bereich, den Husserl als offene Intersubjektivität bezeichnet hat.
Offene Subjektivität Angesichts der Bedeutung der geschilderten Störungen der Intersubjektivität halte ich es für angemessen, Schizophrenie als eine Intersubjektivitätsstörung zu verstehen. Einerseits kann die Intersubjektivität der realen zwischenmenschlichen Welt objektiviert werden, während andererseits die Intersubjektivität in der Wahnvorstellung subjektiviert wird und die transzendentale Intersubjektivität ihre Funktionalität verliert. Dabei führt die Betonung dieser intersubjektiven Störungen nicht dazu, dass die Bedeutung der subjektiven Störungen minimiert oder gar geleugnet wird, die die phänomenologische Psychopathologie klar herausgestellt hat. Vielmehr benötigen intersubjektive Aspekte der Schizophrenie mehr Aufmerksamkeit als bisher, womit auch eine Neubewertung der jeweiligen Rollen von Subjektivität und Intersubjektivität in der phänomenologischen Konzeptualisierung der Schizophrenie einhergehen könnte. Die Frage, die ich hier zur Diskussion stellen möchte, ist, ob es notwendig ist, die Intersubjektivitätsstörungen als sekundär gegenüber einer fundamentaleren oder zentralen Selbststörung zu betrachten. Tatsächlich kann man dafür argumentieren, dass die zentrale und fundierende Rolle des minimal self für alle Formen des Selbstgewahrseins, die Zahavi klar herausgearbeitet hat, noch nichts hinsichtlich der Suche nach einem trouble générateur oder einem Organisationsprinzip der Schizophrenie implizieren muss. Um es noch einmal deutlicher zu sagen: Indem man akzeptiert, dass das minimal self von fundamentaler Bedeutung für das Selbstgewahrsein ist, muss man gleichzeitig noch nicht davon ausgehen, dass eine Störung des minimal self die einzige grundlegende Störung oder der Kern der Schizophrenie ist, die dann nur sekundär zu Störungen der Intersubjektivität führt. Könnte es nicht vielmehr sein, dass Intersubjektivität hier tatsächlich eine viel grundlegendere Rolle spielt, als wir bisher annehmen? Um dieser Frage nachzugehen, schlage ich vor, eine spekulative 84 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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Strategie anzuwenden, die sowohl die subjektive als auch die intersubjektive Dimension der Störung in eine kohärente Theorie integrieren soll. Eine Lösung könnte demnach lauten, dass andere Formen des Selbst gestört sind, zum Beispiel das soziale Selbst (Mead 1913) oder das relationale Selbst (Andersen & Chen 2002). Dies würde jedoch die Störung des minimal self außer Acht lassen. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, zu behaupten, dass das in der Schizophrenie gestörte Selbst eine verkörperte Form des minimal self sei, um damit die Integration von Störungen der Zwischenleiblichkeit zu ermöglichen. Dabei blieben allerdings wiederum Störungen der transzendentalen Intersubjektivität unberücksichtigt. Deshalb schlage ich vor, das Konzept der offenen Subjektivität als mögliches Organisationsprinzip der Schizophrenie zu verwenden. Wie deutlich werden wird, erfordert dieses Konzept nicht, der Störung des minimal self a priori eine fundamentale Rolle zuweisen zu müssen. Was ich mit den folgenden Argumenten zu veranschaulichen hoffe, ist mit anderen Worten, dass die intersubjektive Dimension der Störung der subjektiven Dimension gleichwertig ist und deswegen nicht als sekundär angesehen werden sollte. Die offene Subjektivität ist eine dynamische, selektive und potentielle Fähigkeit oder Ausrichtung aller Schichten der Subjektivität, sowohl auf mundaner als auch auf transzendentaler Ebene, sowohl reflexiv als auch präreflexiv. Sie ist dynamisch, denn ihre Offenheit kann sich erweitern, verengen oder sogar schließen; sie ist selektiv, weil ihre Offenheit nicht ständig gegenwärtig ist und unsere Subjektivität nicht von jedem erdenklichen intersubjektiven Faktor beeinflusst oder durchdrungen wird, und sie ist potentiell, weil nicht die Offenheit selbst notwendigerweise präsent sein muss, sondern vielmehr ihre Potentialität, also die Möglichkeit der subjektiven Offenheit gegenüber Intersubjektivität. Offene Subjektivität manifestiert sich in unseren Begegnungen mit anderen, in unserer Erfahrung der Welt und in unserem Selbst- und Fremdbild. »Subjektivität ist offen gegenüber und engagiert in der Welt, und in dieser Offenheit offenbart sie sich« (Zahavi 2000, 64; übers. v. E. Dzwiza). 17 Diese Offenheit erlaubt es uns, intersubjektive Elemente in unsere eigene individuelle Subjektivität zu integrieren, ohne unser Selbst aufzulösen. Sie betrifft also die wechselseitige Überschneidung oder Durchdringung »Subjectivity is open towards and engaged in the world, and it is in this openness that it reveals itself.«
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der je individuellen subjektiven Sphäre mit denen der anderen. Genau diese Wechselbeziehung aber ist es, die ich bei der Schizophrenie als wesentlich verändert erachte. Es gibt mindestens vier exemplarische Dimensionen, anhand derer wir die Leistung der offenen Subjektivität betrachten können. Die erste ist die zeitliche Dimension, in der wir auf der expliziten Ebene eine Offenheit für die zwischenmenschliche Regulation der Zeiterfahrung sehen, zum Beispiel durch objektive Zeit oder durch eine gemeinsame historische Erzählung. Wie die explizite Zeit hat aber auch die implizite Zeit einen intersubjektiven Aspekt. So argumentiert Rodemeyer (2006, 183) dafür, dass die zeitliche Struktur des Bewusstseins und insbesondere die Protention ein notwendiges Korrelat der Intersubjektivität und insbesondere der Interaffektivität ist. Protention ermöglicht die Offenheit für den Anderen und ist damit eine Voraussetzung für Affektivität bzw. dafür, von anderen affiziert zu werden. Das innere Zeitbewusstsein, oder eben Subjektivität, ist daher »offen für intersubjektive Horizonte« (open to intersubjective horizons, ebd.). Die Störungen der impliziten Zeitlichkeit in der Schizophrenie, insbesondere der Protention, wurden dementsprechend ausführlich beschrieben (Fuchs & Van Duppen 2017). Die zweite Dimension ist die affektive, in der sich die offene Subjektivität im Zwischenraum von Begegnungen abspielt, in denen wir also potentiell dafür offen sind, mit anderen in Resonanz zu treten. Beispielsweise empfinden wir spontane Sympathie, wenn wir jemanden leiden sehen, besonders wenn wir uns in irgendeiner Form mit ihm identifizieren können. Das bedeutet aber auch zugleich, dass unsere Sympathie limitiert ist. Ebenso sind auch die anderen Aspekte der offenen Subjektivität eingeschränkt und selektiv: Nicht jeder beeinflusst uns, nicht jede kulturelle oder gemeinschaftliche Wahrheit wird zu unserer Wahrheit, nicht jede Norm bestimmt unser Verhalten. Schizophrenen Personen kann man, wie wir gesehen haben, einen Mangel an affektiver Offenheit gegenüber anderen zuschreiben, der zu Unverständlichkeit und sozialer Isolation führen kann (Sass & Pienkos 2015). Eine dritte beispielhafte Dimension der offenen Subjektivität betrifft unsere Wirklichkeitserfahrung. Ich habe bereits erörtert, inwiefern die Wirklichkeitserfahrung eine gewisse Offenheit gegenüber anderen erfordert, denn erst dadurch wird es möglich, dass die eigene immanente Sphäre mit der intersubjektiven verwoben und durch diese angereichert wird. In der Schizophrenie wird diese Offenheit mei86 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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ner Ansicht nach auf rigide Art und Weise verschlossen, was zu gestörten Realitätserfahrungen oder dem erwähnten »Verlust des Halts an der Welt« führt (Sass 2014, 6). Die letzte und vierte Dimension besteht in der Dialektik zwischen dem Gewahrwerden des Selbst und der anderen (the sense of self and the sense of others). Offene Subjektivität ist, so behaupte ich, eine Voraussetzung für ein stabiles Selbstgefühl (sense of self). Dies ist ein wichtiger Punkt, denn es bedeutet auch, dass eine Störung der offenen Subjektivität zu einer Störung des Selbstgefühls oder zu einer verminderten Selbstpräsenz führen kann, die als entscheidend für die Schizophrenie angesehen wird. Im Anschluss an die Ausführungen des japanischen Psychopathologen Kimura Bin hinsichtlich der Entstehung des Selbstgefühls im Dazwischen (Kimura 1992) und Gallaghers sowie Guenthers jüngsten Beiträgen über die Auswirkungen der Einzelhaft (Guenther 2013; Gallagher 2014) möchte ich dafür argumentieren, dass unser Gewahrsein des Selbst und gleichursprünglich damit unser Gewahrsein des Anderen vom zwischenmenschlichen Kontakt abhängt. Ich glaube, dass sich Subjektivität erst durch die Begegnung mit anderen entwickelt, indem sie Teil einer intersubjektiven Welt ist, die es dem Anderen erlaubt, in die jeweils eigene subjektive Sphäre ›einzudringen‹. Offene Subjektivität ist demgemäß eine Fähigkeit, die sich durch Interaktion entwickelt – eine These, die mit den entwicklungspsychologischen Theorien von Stern (1985) und Trevarthen (1994) übereinstimmt, die darlegen, dass die Ausprägung eines Kernselbst (sense of a core-self) mit einer zunehmenden Offenheit für Intersubjektivität einhergeht. Im Falle der Einzelhaft, die als erzwungene und künstliche Störung der Intersubjektivität angesehen werden kann, hat sich gezeigt, dass nicht nur die Realitätserfahrung gestört wird, sondern sich auch das Selbstgefühl (sense of self) auflösen kann (Gallagher 2014, 5). Das bedeutet, dass ein Verlust der dynamischen und potentiellen Offenheit der Subjektivität dazu führt, dass Betroffene sich gegenüber der Intersubjektivität und der Interaktion mit anderen verschließen, was dann wiederum Schwierigkeiten nach sich zieht, ein stabiles Selbstgefühl aufrechtzuerhalten. Kehrt man zur eingangs beschriebenen Selbststörungshypothese der Schizophrenie zurück, wird deutlich, dass ein derart verändertes Selbstgefühl (altered sense of self) folglich zu Hyperreflexivität und einem Verlust des Halts führen kann, den beiden anderen Komponenten der Selbststörung. Hieraus folgt, dass der rigide Verschluss der offenen Subjektivität genau die drei Komponen87 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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ten bedingen kann, die zunächst als jeweils grundlegend für die Schizophrenie angesehen wurden. Damit wurde hier die Bedeutung der Intersubjektivität und insbesondere die zentrale Rolle der offenen Subjektivität deutlich herausgestellt.
Fazit In diesem Artikel habe ich dargestellt, warum die gegenwärtige phänomenologische Konzeptualisierung der Schizophrenie ihren Fokus von der Subjektivität auf die Intersubjektivität verlagern sollte. Eine kurze Erörterung der Störungen im Kontakt mit anderen zeigte bereits, dass das Verstehen anderer, Einstimmung, Zwischenleiblichkeit sowie Sozialität markante Veränderungen aufweisen. Psychotische Phänomene, insbesondere Wahnvorstellungen, zeugen von einer weitergehenden Veränderung, nämlich der Störung der transzendentalen Intersubjektivität oder der Erfahrung der geteilten Realität. Dies führt mich zu dem Schluss, dass es keinen Grund für die Annahme gibt, dass die zentrale Störung die Selbststörung sei. Im Gegensatz dazu habe ich dargelegt, dass bei der Schizophrenie im Wesentlichen der Zusammenhang zwischen Subjektivität und Intersubjektivität gestört ist. Demgemäß habe ich vorgeschlagen, das Konzept der ›offenen Subjektivität‹ nutzbar zu machen, um diese Wechselwirkung und ihre spezifische Veränderung bei der Schizophrenie aufzeigen zu können. Sicherlich erfordert dieser Ansatz weitere Forschungsarbeit, aber ich denke, dass er helfen kann, sowohl die subjektiven als auch die intersubjektiven Aspekte der Störung dem Krankheitsbild besser einzupassen. Dieser Ansatz kann ein neues Licht auf die Diskussion darüber werfen, wie intersubjektiv das minimal self und wie minimal oder fundamental die Intersubjektivität für das Selbst und das Selbstgewahrsein sein kann und sollte. Schließlich kann die Verlagerung des Fokus vom Selbst zur Intersubjektivität auch klinische Implikationen haben, da intersubjektive Störungen schließlich stets für andere, für Familienmitglieder, Freunde und das Personal des Gesundheitswesens zugänglich sind und stets auch in einem intersubjektiven Kontext auftreten. Dieser Blickwechsel kann dazu führen, dass Patienten besser auf Therapien ansprechen, die einen solchen sozialen Kontext berücksichtigen, z. B. durch Verbesserung des zwischenmenschlichen Kontakts, der sozialen Integration und das Angebot von »sozialer Absicherung« (Seikkula & Olson 88 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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Selbststörungen und Schizophrenie Eine phänomenologische Neubewertung mangelnder Krankheitseinsicht und Non-Compliance 1 Mads Gram Henriksen und Josef Parnas
Zusammenfassung Mangelnde Krankheitseinsicht stellt den Hauptgrund für eine versäumte Behandlung bei Schizophrenie dar. In diesem Aufsatz diskutieren wir kritisch die vorherrschenden Erklärungsansätze mangelnder Krankheitseinsicht, welche dieses Phänomen als eine Art ineffektive Selbstreflexion beschreiben, die entweder durch psychologische Abwehrmechanismen oder beeinträchtigte Metakognition verursacht wird. Aus unserer Sicht stimmen diese Konzepte nicht mit der Phänomenologie der Schizophrenie überein. Wir schlagen stattdessen einen neuen Blick auf die mangelnde Krankheitseinsicht vor: Wir gehen davon aus, dass der Grund dafür, dass SchizophreniePatienten keine oder eine nur partielle Einsichtsfähigkeit besitzen und daher nur geringe Behandlungscompliance zeigen, in der Natur ihrer anomalen Selbst-Erfahrung (d. h. der Selbststörung) und der damit verbundenen Veräußerlichung ihrer psychotischen Symptome liegt. Wir vertreten den Standpunkt, dass Selbststörungen das Erfahrungsgefüge der Patienten destabilisieren und somit ihr elementares Gespür für die Realität (ihre natürliche Einstellung gegenüber ihrer Umwelt) schwächen und stattdessen eine andere Deutung der Realität (solipsistische Einstellung) entstehen lassen, die neben die natürliche Einstellung tritt. Diese Koexistenz beider Einstellungen, die Bleuler als »doppelte Buchführung« bezeichnet hat, ist aus unserer Sicht zentral, um zu verstehen, worin mangelnde Krankheitseinsicht Die englischsprachige Erstveröffentlichung »Self-disorders and schizophrenia: A phenomenological reappraisal of poor insight and noncompliance« (Henriksen & Parnas 2014) liegt hier in der Übersetzung von Daniel Vespermann vor. Für Vorarbeiten zu dieser Übersetzung dankt der Übersetzer Birgit Schubert und Rixta Fambach. Für weitere wertvolle Anregungen ist Sophia Wagenlehner und Damian Peikert zu danken.
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im Falle der Schizophrenie wirklich besteht. Wir gehen davon aus, dass unser phänomenologisches Konzept mangelnder Krankheitseinsicht somit wichtige Implikationen für frühzeitige Interventionen, die Psychoedukation sowie Psychotherapie von Schizophrenie haben kann.
I.
Einleitung
Eines der wesentlichen Probleme bei der Behandlung von Schizophrenie ist die mangelnde Bereitschaft der Patienten, die kontinuierliche Einnahme antipsychotischer Medikamente zu akzeptieren und einzuhalten. Schätzungen von Non-Compliance-Raten bei Patienten mit Schizophrenie liegen zwischen 50 % und 75 % nach ein bis zwei Jahren Behandlung (Lacro et al. 2002; Liebermann et al. 2005). Durch Non-Compliance wird die Therapie behindert und das Risiko eines Rückfalls, einer erneuten Einweisung oder einer Selbsttötung steigt um das bis zu Vierfache an (Weiden et al. 2004; Hawton et al. 2005). Es wird weithin angenommen, dass wir die Gründe für diese Verweigerungshaltung besser verstehen müssen, um der Non-Compliance abhelfen zu können. Einige der hinlänglich bekannten Gründe sind pharmakologische Nebenwirkungen, Misstrauen gegenüber den Ärzten und Ärztinnen, das der Diagnose anhaftende Stigma sowie Krankheitsgewinn durch Positiv-Symptome (Moritz et al. 2013). Als Hauptgrund für Non-Compliance gegenüber der verordneten Medikation wird jedoch im Allgemeinen die mangelnde Krankheitseinsicht angeführt (Lacro et al. 2002). Laut der vierten revidierten Textausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder (DSM-4) »evidence suggests that poor insight is a manifestation of the illness itself [schizophrenia] rather than a coping strategy« (APA 2000, 304). Empirische Studien gehen davon aus, dass bei 50 % bis 80 % der Patienten mit Schizophrenie mangelnde Krankheitseinsicht vorhanden ist (Dickerson et al. 1997; Keshavan et al. 2004). Während der letzten 25 Jahre ist die Anzahl der Publikationen, die sich mit Krankheitseinsicht bei Schizophrenie beschäftigten, deutlich angestiegen, woraus vielfältige psychometrische Instrumentarien unterschiedlicher Komplexität und Differenziertheit resultierten (Amador et al. 1994; Marks et al. 2000; Beck et al. 2004). Die aktuelle medizinische Definition von Krankheitseinsicht ist multidimensional und umfasst das Bewusstsein, unter einer geistigen Störung zu lei96 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Selbststörungen und Schizophrenie
den, ihrer Symptome, der Behandlungsnotwendigkeit sowie der sozialen Konsequenzen der Störung (Amador & David 1998). Mangelnde Krankheitseinsicht entspricht einem Rückgang bzw. einem Mangel des Bewusstseins für einige oder alle diese Dimensionen. Die meisten Studien ergaben, dass bei Krankheitseinsicht sowohl Compliance als auch bessere klinische und funktionale Ergebnisse zu erwarten sind (Lacro et al. 2002; Amador et al. 1994; Lincoln et al. 2007a). Bislang ist versucht worden, ein tiefergehendes Verständnis mangelnder Krankheitseinsicht dadurch zu erreichen, dass deren Korrelation mit anderen klinischen und soziodemographischen Variablen wie Symptomatik, Prognose, Alter bei Beginn der Störung, kognitive Beeinträchtigung, allgemeine und soziale Fähigkeiten, klinische Ergebnisse, Geschlecht und Bildungsniveau untersucht wurde. Diese Studien führten jedoch zumeist zu widersprüchlichen Ergebnissen und waren von nur geringem pragmatischen Nutzen (Mingrone et al. 2013). Mangelnde Krankheitseinsicht wurde auch im Rahmen des strukturellen und funktionalen Neuroimagings untersucht, bisher jedoch mit inkonsistenten Ergebnissen und ohne dass hieraus allgemeingültige Schlüsse gezogen werden konnten (David et al. 2012). Eine Meta-Analyse ergab eine geringfügige negative Korrelation zwischen Krankheitseinsicht und Allgemein-, Positiv- und NegativSymptomen sowie eine geringfügige positive Korrelation zwischen Krankheitseinsicht und depressiven Symptomen; 3 % bis 7 % der Varianz in der Variable Krankheitseinsicht konnten durch die Schwere der Symptome erklärt werden (Mintz et al. 2003). Angesichts der Bedeutung der Krankheitseinsicht für den Behandlungserfolg sind Maßnahmen der Psychoedukation, die darauf abzielen, bei Patienten das Bewusstsein für ihre Krankheit zu erhöhen, zu einer weithin angewandten Intervention bei Schizophrenie geworden. Eine umfassende Meta-Analyse ergab jedoch, dass psychoedukative Ansätze zur Verbesserung der Krankheitseinsicht und damit der Medikamenten-Compliance fehlschlugen (Lincoln et al. 2007b). Diese enttäuschenden Ergebnisse sollten uns als Warnruf dienen: Wir müssen erkennen, dass trotz jahrzehntelanger Forschung zur Krankheitseinsicht und zu psychoedukativen Interventionen noch kein bedeutender Fortschritt bei der Behandlung von Patienten erzielt wurde, die ihrer Therapie aufgrund mangelnder Krankheitseinsicht zuwiderhandeln. Wir betrachten dieses Scheitern als das Ergebnis eines unzureichenden Verständnisses mangelnder Krankheitseinsicht bei Schizophrenie. Zudem sind wir der Meinung, dass es sehr 97 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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unwahrscheinlich ist, dass zusätzliche Korrelationen zwischen den Messgrößen von Krankheitseinsicht und immer noch weiteren Variablen neue Wege innerhalb der Forschung oder der Behandlung erschließen werden. Stattdessen schlagen wir vor, erneut die grundlegenden Fragen zu stellen: Was bedeutet eigentlich mangelnde Krankheitseinsicht bei Schizophrenie? Warum fühlen sich so viele Schizophrenie-Patienten trotz zahlreicher Rückfälle und Wiedereinweisungen nicht in dem Sinne krank, dass sie ihre anormalen Erlebnisse dieser mentalen Störung zuschreiben? Im Folgenden wollen wir die vorherrschenden Konzepte mangelnder Krankheitseinsicht kritisch diskutieren. Danach werden wir kurz den Begriff des gestörten Selbst bei Schizophrenie-SpektrumsStörungen skizzieren. Mit Hilfe dieses Begriffs der Selbststörung werden wir dann einen neuen Zugang zu mangelnder Krankheitseinsicht und Non-Compliance bei Schizophrenie vorschlagen, der phänomenologisch ausgerichtet ist und sich auf empirische Daten sowie detaillierte klinische Untersuchungen von Patientenerfahrungen stützt.
II.
Konzeptionen mangelnder Krankheitseinsicht
In der Debatte um mangelnde Krankheitseinsicht dominieren in erster Linie zwei Erklärungsansätze: Die klassische Konzeption der Psychoanalyse assoziiert mangelnde Krankheitseinsicht mit einem Abwehrmechanismus, d. h. dem Leugnen der eigenen Krankheit mit dem Zweck, sich hierdurch vor einer Situation zu schützen, der die betroffene Person nicht gewachsen ist. Dieser Konzeption zufolge ist die mangelnde Krankheitseinsicht (in anderen Kontexten auch als ›Abschottung‹, ›Ausflucht‹, ›Indifferenzreaktion‹ oder ›externe Attribuierung‹ bezeichnet) eine Bewältigungsstrategie, die die Person schützt und potenzielle Symptome einer Depression abwehrt, die mit der Erkenntnis der eigenen Krankheit einhergehen würden (Mintz et al. 2003). Die kognitiven Neurowissenschaften gehen stattdessen davon aus, dass mangelnde Krankheitseinsicht eine ›Beeinträchtigung der Metakognition‹ sei, die durch Defizite im Bereich des dorsomedialen frontalen Kortex verursacht werde: Den Patienten fehle die Fähigkeit, ihre mentalen Gehalte akkurat zu reflektieren (›eine Beeinträchtigung der strategischen Metakognition‹), oder sie seien Opfer einer 98 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Selbststörungen und Schizophrenie
systematischen Verzerrung bei der Beurteilung mentaler Gehalte (›eine Beeinträchtigung der attributiven Metakognition‹). Es existiert jedoch weder ein überzeugender Nachweis für die Spezifität der postulierten Beeinträchtigung der Metakognitionen noch für deren Zusammenhang mit mangelnder Krankheitseinsicht (David et al. 2012). Innerhalb dieses Ansatzes wird mangelnde Krankheitseinsicht manchmal auch mit spezifischen neurologischen Zuständen verglichen, die denen der Anosognosie ähneln oder sogar entsprechen. Aus unserer Sicht sind diese Erklärungsansätze mangelnder Krankheitseinsicht problematisch. Das erste sich bei beiden Konzeptualisierungen zeigende Problem ist, dass das Phänomen der mangelnden Einsicht bei Schizophrenie schlicht als ein Problem der Selbstreflexion dargestellt wird. Einsicht ist demnach lediglich ein Akt kritischer Reflexion des eigenen psychischen Lebens. Das reflektierende Selbst bemerkt irgendwie einen Fehler im reflektierten, fortlaufenden subjektiven Leben, der dann auch rational korrigiert werden kann. Im Fall der Schizophrenie, so wird behauptet, scheitere diese Selbstreflexion entweder aufgrund beeinträchtigender, unbewusster psychologischer Abwehrmechanismen oder infolge metakognitiver Defizite. Das zweite, noch gravierendere Problem ist, dass beide Ansätze implizit davon ausgehen, dass die Patienten durch Behebung dieser ›Probleme‹ (Abwehrmechanismen oder Beeinträchtigung der Metakognition) Einsicht in ihren eigenen medizinischen Zustand erlangen würden. In beiden Fällen wird also mit dem medizinischen Standardmodell angenommen, dass die Art und Weise, in der die Patienten sich selbst, andere und die Welt erleben, im Wesentlichen von der Krankheit unberührt bleibt und dass, entsprechend der Terminologie der kognitiven Psychologie, das Problem der Einsicht aus spezifischen Fehlern bei der Informationsverarbeitung ihrer Erlebnisse resultiert. Mit anderen Worten: Das medizinische Modell sowie die Konzeptualisierungen setzen eine klare Trennung zwischen den Symptomen der Krankheit und einem von diesen unberührten Selbst voraus. Diese Voraussetzung ist jedoch sehr fragwürdig, wenn wir die Hypothese ernst nehmen, dass Schizophrenie eine spezifische Selbststörung ist, die eine Vielzahl von Veränderungen der Strukturen des Erlebens beinhaltet, die die Bedingungen der Selbstreflexion selbst beeinflussen.
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III. Selbststörungen in der Schizophrenie Der Begriff der Selbststörung als zentrale Beeinträchtigung in der Schizophrenie lässt sich in allen grundlegenden Texten zur Schizophrenie finden (z. B. Kraepelin 1909; Bleuler 1911; Minkowski 1927; Jaspers 1946; Schneider 1950/2007); innerhalb der zeitgemäßen Psychiatrie wurde er jedoch erst vor Kurzem wieder aufgegriffen. 2 Die Erfahrung, ein Selbst zu sein, um die es hier geht, bedeutet, dass wir unser (bewusstes) Leben in der Perspektive der ersten Person leben, als ein sich selbst gegenwärtiges, singuläres, zeitlich fortdauerndes, körperliches und begrenztes Subjekt der Erfahrung. Phänomenologie (z. B. Zahavi 2005) und Neurowissenschaften (u. a. Damasio 2010) operieren mit dem Begriff des ›minimalen‹ oder ›Kern-Selbst‹ (minimal self oder core self), womit eine formale Struktur der Erfahrung bestimmt ist, die notwendigerweise vorhanden sein muss, damit wir überhaupt Erfahrungen machen können. Das minimale Selbst bezieht sich auf das Erleben aus der Ersten-Person-Perspektive, typischerweise als ›Meinigkeit‹ (mineness, myness, for-me-ness) oder ›Selbstsein‹ (ipseity) bezeichnet (Sass & Parnas 2003). Es ist ein Gefühl von »ich – mein – selbst« (I – me – myself), das implizit (präreflexiv) unsere Erfahrungen über die Zeit und die sich ändernden Modalitäten des bewussten Lebens hinweg durchzieht. Das Selbstsein, die Ipseität, ist ein Zustand sogenannter radikaler Selbstidentifizierung, was bedeutet, dass ich mir immer schon meiner selbst (I – me – myself) bewusst bin und keiner Selbstbeobachtung oder Selbstreflexion bedarf, um mich meiner selbst zu vergewissern. Selbstsein enthält somit den sehr basalen, überdauernden Identitätskern, auf dem dann jene reichhaltigeren und komplexeren Gefühle der Identität und Personalität aufbauen, die im Verlauf unseres Lebens kontinuierlich hervorgebracht werden. Dieses grundlegende Gefühl minimaler Selbstheit geht einher mit einem unwillkürlichen, präreflexiven Eintauchen in die geteilte soziale Welt (verschiedentlich bezeichnet als »gesunder Menschenverstand« [common sense, Blankenburg], »Realitätsbewusstsein« [sense of reality, Jaspers] oder fonction du réel [Janet]). Die Welt ist immer schon vorgegeben, d. h. stillschweigend als ein selbstverständ-
Siehe hierzu u. a. Parnas et al. (2005), Parnas (2011), Parnas et al. (2011), Raballo und Parnas (2011), Raballo et al. (2011), Haug et al. (2012), Nelson et al. (2012).
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Selbststörungen und Schizophrenie
licher Hintergrund allen Erlebens und aller Bedeutungen erfasst. Man ist sich nicht nur selbst gegenwärtig, sondern auch präsent inmitten der Welt, an der man teilhat. Diese implizite und grundlegende Selbst-Welt-Struktur manifestiert sich als unsere gewöhnliche ›natürliche ontologische Einstellung‹ (natural ontological attitude): Die Welt ist vorgegeben als real, bewusstseinsunabhängig und an die Prinzipien von Raum, Zeit, Kausalität und Widerspruchsfreiheit gebunden, wodurch sie im Kern verlässlich, vorhersehbar und ontologisch sicher wird. Diese grundlegende Selbst-Welt-Struktur ist bei den Schizophrenie-Spektrums-Störungen beeinträchtigt, d. h., sie ist beständig herausgefordert, instabil sowie oszillierend und führt zu einer Vielzahl beunruhigender sowie entfremdender anomaler Selbsterfahrungen (auch als ›Selbststörungen‹ bezeichnet), die normalerweise bereits in der Kindheit oder im frühen Jugendalter auftreten (Parnas 2011). Die Patienten empfinden sich als ephemer, als fehlte ihnen eine Kernidentität, und als tiefgreifend, jedoch oftmals unbeschreiblich anders als die anderen (Anderssein) 3 sowie entfremdet von der sozialen Welt. Das Gefühl, als ein körperliches Subjekt zu existieren, ist beeinträchtigt, die Ich-Perspektive ist verzerrt, was mit einem ausbleibenden Gefühl der ›Meinigkeit‹ (mineness) im Bewusstseinsfeld (z. B. ›Es fühlt sich an, als wären das gar nicht meine Gedanken‹) und dem Empfinden mangelnder Abgrenzung der inneren Welt einhergeht. Es mangelt in erheblicher Weise an einer Einstimmung (attunement) mit der und dem Eintauchen (immersion) in die Welt; gängige, eigentlich selbstverständliche Bedeutungen werden kaum mehr präreflexiv erfasst (Perplexität), und es kommt zu Hyperreflexivität (z. B. ›Ich lebe nur in meinem Kopf‹ und ›Ich beobachte mich ständig‹). Obwohl die Patienten häufig unter Selbststörungen leiden, werden diese normalerweise in einer ich-syntonen Weise gelebt, als Modalitäten und nicht als Objekte der Erfahrung, d. h., sie beeinflussen mehr das ›Wie‹ als das ›Was‹ der Erfahrung. Was jedoch an dieser Stelle hervorgehoben werden muss, ist, dass Selbststörungen, die eine instabile grundlegende Selbst-Welt-Struktur reflektieren, die natürliche ontologische Einstellung ins Schwanken bringen und den Patienten in eine neue ontologisch-existentielle Perspektive stürzen können, einen oftmals solipsistischen Deutungsrahmen, der nicht mehr von den ›natürlichen‹ Gewissheiten bezüglich Raum, Zeit, Kau3
Anm. d. Übers.: Im Original steht hier der deutsche Terminus.
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Mads Gram Henriksen und Josef Parnas
salität und Widerspruchsfreiheit bestimmt wird. Ohne diese Gewissheiten kann die Welt plötzlich bloß als Schein oder Inszenierung wahrgenommen werden, als sei ihr Sein von den eigenen Gedanken abhängig, anfällig für Zusammenhänge, die keiner kausalen Ordnung folgen, und es ist möglich, dass der Patient einen einzigartigen Zugang zu tieferen Schichten der Realität zu erfahren glaubt, die für andere unzugänglich sind. Oft rufen diese Erlebnisse ein spezifisches Gefühl der Grandiosität hervor, wodurch alle anderen als ahnungslos gegenüber dem wahren Wesen der Realität angesehen werden, als Personen, die sich nur mit alltäglichen Trivialitäten beschäftigen.
IV. Weltorientierung in der Schizophrenie Wie oben beschrieben, haben Selbststörungen eine Schwächung der natürlichen Einstellung zur Folge, einhergehend mit der Entstehung einer solipsistischen Perspektive, die für gewöhnlich in der Psychose als einer tiefgreifenden und rigiden Veränderung des Realitätssinnes gipfelt: »[the] patients cannot take things to be the case in the usual way, as the [very] sense of ›is‹ and ›is not‹ has changed.« (Ratcliffe 2008, 194; Einfügungen Henriksen & Parnas; Hervorh. i. Orig.) Aus unserer Sicht nehmen viele psychotische Patienten eine vielleicht als doppelte ontologische Orientierung zu bezeichnende Einstellung an, die Bleuler (1911) als »doppelte Buchführung« bezeichnet. Diese bezieht sich auf die Zwangslage (und die Fähigkeit), gleichzeitig in zwei verschiedenen Welten zu leben, nämlich in einer geteilten, sozialen Welt (d. h. im Sinne der natürlichen ontologischen Einstellung) und in einer privaten, psychotischen Welt (d. h. in der solipsistischen ontologischen Einstellung). Die Patienten erleben beide Welten als relevant und in diesem Sinne als real. Sie scheinen diese Welten üblicherweise auch als zwei unterschiedliche, unvereinbare und daher auch nicht miteinander im Konflikt stehende Realitäten zu erleben, wodurch es ihnen normalerweise möglich ist, diese Welten in einer idiosynkratisch-persönlichen Verschmelzung nebeneinander bestehen zu lassen. Nur in fortgeschrittenen oder verfestigten Krankheitsstadien kollidieren diese zwei Welten gelegentlich (Beginn oder Intensivierung einer Psychose können allerdings von einem Gefühl der Verwirrung begleitet sein). Daniel Paul Schreber beschreibt in seinen Memoiren eine bemerkenswerte Welt von »Nerven«, »Strahlen« und Gottheiten und liefert uns damit eine ungewöhnlich klare Darstel102 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Selbststörungen und Schizophrenie
lung doppelter Buchführung aus der Ersten-Person-Perspektive (Schreber 1903). Er behauptet, dass Gott zu ihm »in ausschließlichen Nervenanhang« (Schreber 1903, 249) getreten sei, durch den er »der Wahrheit unendlich viel näher gekommen [sei], als alle anderen Menschen« (1903, 17). Schreber erklärt, dass dieser »nervliche Kontakt« ihn zum Zentrum und Gründer der Welt gemacht habe, deren Existenz nun dem Anschein nach allein von ihm abhänge. Aber anstatt seine psychotischen Erfahrungen mit dem Erleben realer Objekte zu verwechseln, scheint Schreber in weiten Teilen in der Lage gewesen zu sein, zwischen diesen zwei ›Welten‹ zu unterscheiden: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« könnte ich insoweit mit Jesus Christus sagen; meine sogenannten Wahnideen beziehen sich nur auf Gott oder das Jenseits […] Die Sicherheit meiner Erkenntnis Gottes und göttlicher Dinge ist so groß und unerschütterlich, daß es mir an und für sich vollkommen gleichgültig ist, was andere Menschen über die Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit meiner Vorstellungen denken. (Schreber 1903, 384)
In jüngerer Zeit skizzierte Professor Elyn Saks, Autorin des Buches The Center Cannot Hold: My Journey Through Madness (2007), die Logik hinter ihrem jahrelangen Leugnen, an Schizophrenie zu leiden: I completely recognized that the things I was saying and doing and feeling would be thought to amount to a diagnosis of schizophrenia: but I thought that it was not true – I didn’t really have the illness. […] I looked like I had schizophrenia […] but if we knew enough, we would see that I really did not. […] [A]ll of my so-called symptoms were things I simply chose to think or do. I was choosing, for example, to hold certain beliefs even though the evidence was not what would classically constitute »good« evidence – I had a special premium on the truth. (Saks 2009, 972; Hervorh. v. Henriksen & Parnas)
Saks scheint hier zu sagen, dass sie ebenfalls einen speziellen Zugang zur oder Einblick in die wahre Natur der Dinge erfahren habe, in eine tiefere Schicht der Realität, die anderen nicht so leicht zugänglich sei. So fasste Schneider den Aspekt der wahnhaften Überzeugung wie folgt zusammen: »Diese Bedeutung [der Wahnwahrnehmungen] ist von besonderer Art: fast immer wichtig, eindringlich, gewissermaßen persönlich gemeint, wie ein Wink, eine Botschaft aus einer anderen Welt.« (Schneider 1950/2007, 50; Hervorh. Henriksen & Parnas) Bleuler gibt ein anschauliches Beispiel doppelter Buchführung: Eine Katatonische fürchtete sich sehr vor einem halluzinierten Judas Ischarioth, der sie mit dem Schwerte bedrohte; sie schrie, daß man den Judas
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Mads Gram Henriksen und Josef Parnas
vertreibe, verlangte aber dazwischen Schokolade. Am andern Tage klagte sie über die betreffenden Halluzinationen, bat um Verzeihung wegen der verübten Gewalttätigkeiten, drückte aber mitten im Klagen ihre Freude an einem schönen Gürtel aus, den sie indes so sehr in die Wahnideen verwebte, daß wir sie versichern mußten, er sei nicht ein »Judaskuß«. (Bleuler 1911, 34 f.)
Das Rätselhafte an Bleulers Charakterskizze ist, dass das Verhalten der Patientin im auffälligen Gegensatz zu ihren wahnhaften Überzeugungen steht. Normalerweise würden wir erwarten, dass eine Person, die fest davon überzeugt ist, in Kürze umgebracht zu werden, sich verteidigt oder Schutz sucht; wir würden nicht erwarten, dass sie um ein Stück Schokolade bittet. Weitere aufschlussreiche Beispiele und Überlegungen zur doppelten Buchführung können bei Sass (1994, 2014) gefunden werden. Aus klinischer Perspektive ist die doppelte Buchführung, wenngleich nicht immer so eindrücklich wie in Bleulers Vignetten oder Schrebers Erinnerungen, ein relativ weit verbreitetes Phänomen, das möglicherweise den Großteil psychotischer Patienten mit Schizophrenie kennzeichnet. Es ist wichtig, noch einmal den Unterschied zu betonen zwischen gewöhnlichen Überzeugungen wie ›Um die Ecke gibt es ein italienisches Restaurant‹ und wahnhaften Überzeugungen wie ›Ich bin der Schöpfer des Universums‹ oder ›Alle anderen sind Automaten‹. Die gewöhnlichen Überzeugungen spiegeln die natürliche ontologische Einstellung wider, die Teil unserer unwillkürlichen Einbettung in eine geteilte soziale Welt ist. Diese Überzeugungen betreffen Angelegenheiten der öffentlichen Welt und sind, wenn sie mit neuen oder entgegengesetzten Informationen konfrontiert werden (z. B. ›Ich glaube, dass das eigentlich ein griechisches Restaurant ist‹), zumeist leicht korrigierbar. Dagegen entziehen sich wahnhafte Überzeugungen in der Schizophrenie typischerweise der Öffentlichkeit und sind Ausdruck einer solipsistischen ontologischen Einstellung, der Selbststörungen vorausgehen und die wiederum jene Einstellung befördern, sodass jene Überzeugungen nur selten für Gegenargumente zugänglich sind (Škodlar et al. 2013).
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Selbststörungen und Schizophrenie
V.
Die Artikulation einer Psychose
Entscheidend ist, dass die Entstehung einer schizophrenen Wahnvorstellung, also dessen, was Jaspers und Schneider eine »primäre Wahnvorstellung« genannt haben, sich als eine gefühlte Erfahrung ereignet (Jaspers 1946; Schneider 1950/2007; Conrad 1958/2013; Blankenburg 1971), die häufig durch ein sich andeutendes Einbrechen unterschwelliger psychotischer Erlebnisse ankündigt wird, das verschiedentlich als wahnähnlich, prodromal oder mikropsychotisch bezeichnet wird (z. B. ›wahnhafte Atmosphäre‹ oder ›anormales Gewahrsein von Bedeutsamkeit‹). Die Entfaltung einer primären Wahnvorstellung basiert nicht auf einem Fehlschluss bezüglich empirischer Angelegenheiten der öffentlichen Welt, sondern auf der krankhaften Veränderung der Subjektivität selbst durch das Offenbarwerden wahnhafter Bedeutung, das häufig ein Gefühl ›absoluter‹, ›apodiktischer‹ Gewissheit mit sich führt, nicht gänzlich unähnlich jener Gewissheit, die das Erleben einer Empfindung auszeichnet (eine so genannte ›egologische Überzeugung‹ vergleichbar mit der Gewissheit, Zahnschmerzen zu haben). Ein wahnhaftes (offenbarendes) Erlebnis weist partielle, strukturelle (formale) phänomenologische Ähnlichkeiten zu bestimmten ästhetischen und mystischen Erfahrungen auf. Es ließe sich als eine ›Epiphanie‹ beschreiben, als ein passives Gegebensein oder Einwirkung einer anderen Präsenz innerhalb genau jener Intimität, die der eigenen Subjektivität oder inneren Welt eigentümlich ist. In ihren Selbsterfahrungsberichten haben Mystiker einige Einstellungen beschrieben, die dem Auftreten einer Epiphanie förderlich sind: die Loslösung von und ein Desinteresse an der Realität und dem praktischen Leben, die Aufhebung üblicher ontologischer Annahmen, spirituelle Einsamkeit sowie das Bestreben, das eigene Ich-Erleben auszulöschen oder zu schwächen (désistement de soi-même, Depraz 2001). (Steinbock 2007) Diese Einstellungen zu übernehmen, hilft dabei, einen subjektiven Zustand aufnahmebereiter Passivität hervorzubringen, in dem sich die mystische Erfahrung vollziehen kann. Es zeigt sich hier eine verblüffende Ähnlichkeit (aber keinesfalls die Gleichheit) zwischen der Eigenart dieser Einstellungen, die von Mystikern bewusst eingenommen werden, und der Charakteristik jener Selbststörungen, die für Schizophrenie anfällige Person ausbilden können. Während der Mystiker diese Einstellungen jedoch vorsätzlich übernimmt (und dabei zumindest teilweise die Kontrolle behält), um die von ihm ersehnte Vereinigung mit einer 105 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Mads Gram Henriksen und Josef Parnas
Gottheit zu erreichen, ist die für Schizophrenie anfällige Person strukturell ähnlichen Phänomenen jedoch ausgeliefert und leidet unfreiwillig darunter, was wir dann als Selbststörungen bezeichnen.
VI. Die Phänomenologie ›mangelnder Krankheitseinsicht‹ Aus unserer Sicht zeigen sich bei Patienten mit Schizophrenie mangelnde Krankheitseinsicht und Non-Compliance aufgrund von drei miteinander zusammenhängenden Aspekten, die das Auftreten einer Psychose kennzeichnen. Erstens stellt die ursprüngliche wahnhafte (oder halluzinatorische) Erfahrung wesentlich ein gelebtes, pathisches (gefühltes) Ereignis innerhalb der eigenen Subjektivität des Patienten dar und hat somit die Qualität einer unwiderlegbaren subjektiven (egologischen) Realität. Eine unserer Patientinnen mit residualer Schizophrenie, die kontinuierlich mit Depot-Antipsychotika behandelt wurde, nahm Jahre, nachdem ihre Psychose remittiert war, an einem psychiatrischen Trainingsinterview teil. Als sie nach Abschluss des Interviews gefragt wurde, warum zu Beginn ihrer Krankheit ihr Telefon verwanzt gewesen sei, antwortete sie: »Diese Frage stelle ich mir bis heute selbst immer wieder!« Hier sieht man, dass das ursprüngliche Gefühl, abgehört worden zu sein, in der Erinnerung der Patientin den Status der unabweisbaren subjektiven Realität jener Erfahrung beibehalten hat. Mit anderen Worten konnte sie zwar die objektive Realität ihrer voll ausgereiften Wahnvorstellungen anzweifeln, aber nicht ihr ursprüngliches Gefühl, ›dass ihr zugehört werde‹ (was höchstwahrscheinlich die primäre wahnhafte Erfahrung dessen war, was sie als »abgehört werden« thematisierte). Zweitens verstärkt die vollständige Ausbildung einer Psychose die solipsistische ontologische Einstellung und lässt sie auf Kosten der natürlichen ontologischen Einstellung erstarren. Drittens vollzieht sich diese Transformation nicht abrupt oder aus dem Nichts: Die Patienten erleben ihre anfänglichen Selbststörungen, aus denen die Psychose erwächst, oftmals nicht als ›Symptome‹ einer Krankheit (so wie ein starker Bauchschmerz ein Symptom für eine Blinddarmentzündung sein könnte), sondern eher als intrinsische und gewohnte Aspekte ihrer Existenz und Identität. Zum Beispiel können Patienten, die zum ersten Mal wegen Schizophrenie in eine Klinik aufgenommen wurden und davon berichten, dass sie ihre eigenen Gedanken ›im
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Selbststörungen und Schizophrenie
Inneren‹ laut ausgesprochen hören (Gedankenlautwerden) 4 , überrascht sein und sogar misstrauisch reagieren, wenn der behandelnde Arzt ihnen daraufhin erklärt, dass die meisten Menschen nur ›stille‹ Gedanken haben. Unserer Erfahrung nach ist dies charakteristisch für viele Selbststörungen. Wenn man Patienten zu ihren Selbststörungen befragt, bemerkt man sehr schnell, dass viele ihrer ungewöhnlichen Selbsterfahrungen schon immer da gewesen sind oder zumindest seit so langer Zeit, dass sie sich nunmehr unauffällig mit der Erfahrungswelt des Patienten verwoben haben. Selbststörungen sind vorwiegend Charakterzügen ähnliche Eigenschaften, die dem Beginn einer Psychose vorausgehen und auch nach der Remission fortbestehen. Es ist somit eine völlig andere Situation als beispielsweise bei einer depressiven Episode, während der die Patientin ein ganz bestimmtes Gefühl dafür hat, wer sie zuvor war und wie sich ihr Leben vor und nach dem Auftreten der Depression unterscheidet. Bei der Schizophrenie trifft dies nicht im gleichen Maße zu, wenn man davon ausgehen kann, dass der veränderte Erfahrungsrahmen und die solipsistische ontologische Einstellung als feste Bestandteile von Selbststörungen seit vielen Jahren eher die Regel (oder ›Norm‹) als die Ausnahme darstellen, so dass die Datierung des Krankheitsausbruchs nicht nur ein technisches, sondern auch ein konzeptuelles Problem wird (Parnas 2005). Wir können daher also von einer präpsychotischen doppelten Buchführung sprechen. Einer unserer Patienten verspürte während seiner präpsychotischen Jahre in der Sekundarschule ein durchdringend vermindertes Gefühl der Anwesenheit (pervasively diminished sense of presence), hatte quasi-solipsistische Erfahrungen und erlebte ein damit zusammenhängendes, nicht-psychotisches Gefühl der Grandiosität, während er in unauffälliger Weise an die geteilte soziale Welt angepasst blieb. Er sah andere als »Seelen« an, die aus einer allumfassenden »Weltseele« (zu der wir alle nach dem Tod zurückkehren) auf die Erde gefallen waren, wie Regentropfen aus einer Wolke. Er erklärte sich seine eigenen einzigartigen Fähigkeiten und die Gefühle des »Andersseins« 5 damit, dass er sich vielleicht eine Art »kapillare« Verbindung zu der »Weltseele« bewahrt habe, durch die er einen Zugang zu Schichten der Realität habe, die weitaus tiefer sind als jene, die seine Mitmenschen zu erreichen in der Lage wären. Dass eine derart explizite quasi-religiöse, metaphysische Position zum Ausdruck 4 5
Anm. d. Übers.: Der Terminus steht hier auch im Original auf Deutsch. Anm. d. Übers.: Im Original ebenfalls auf Deutsch.
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Mads Gram Henriksen und Josef Parnas
kommt, ist selbstverständlich kein gewöhnliches klinisches Vorkommnis, veranschaulicht jedoch sehr gut die solipsistische Transformation des experientiellen-ontologischen Bezugsrahmens des Patienten. Viele junge Patienten, bei denen die Krankheit noch nicht eingesetzt hat, versuchen, ihre Gefühl des ›Andersseins‹ 6 durch phantastische Konstruktionen zu erklären, denen zufolge sie ein Zeitreisender, Außerirdischer o. Ä. seien. Aus der Perspektive der präpsychotischen doppelten Buchführung lässt sich nachvollziehen, dass für Patienten der Unterschied zwischen ihren ›normalen‹ (d. h. anormalen) Erlebnissen einerseits (z. B. Anonymität der Gedanken und nicht-psychotische Abgrenzungs- und Identitätsprobleme) und der zuweilen auftretenden Überzeugung andererseits, dass andere Zugang zu ihren Gedanken haben oder dass bestimmte Gedanken in ihr Bewusstsein gepflanzt wurden, unscharf erscheinen muss. Mit anderen Worten kann die Trennlinie zwischen dem, was für einen Patienten gewöhnliche Erfahrungen darstellen, und dem, was er nur manchmal erlebt (z. B. Wahnvorstellungen), ihm als sehr dünn und vielleicht auch irrelevant erscheinen. Hiervon ausgehend erschließt sich auch, dass sich viele Schizophrenie-Patienten nicht krank fühlen oder ihre anormalen Erlebnisse nicht einer psychischen Störung zuschreiben. Kurzum schlagen wir vor, dass der Grund, weshalb Schizophrenie-Patienten keine oder nur partielle Einsicht in ihre Krankheit besitzen und dementsprechend nicht die Vorgaben ihrer Behandlung befolgen, in der spezifischen Charakteristik ihrer Selbststörungen und der mit diesen verbundenen schizophrenen Psychose liegt. Im Unterschied zu den vorherrschenden Ansätzen stellen wir die These auf, dass mangelnde Krankheitseinsicht im Fall der Schizophrenie in erster Linie nicht in einer ›fehlerhaften‹ Aneignung bestimmter experientieller Gehalte besteht (z. B. ›Meine Überzeugung, dass ich der Schöpfer des Universums bin, ist wahr und demnach keine Wahnvorstellung‹), sondern aufs Engste mit spezifischen Veränderungen der Strukturen der Erlebens (d. h. den Selbststörungen) verbunden ist, die auf Entstehung und Eigenart der schizophrenen Psychose hindeuten.
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Anm. d. Übers.: Im Original ebenfalls auf Deutsch.
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Selbststörungen und Schizophrenie
VII. Fazit Die Vorstellung von der Selbststörung als fundamentaler Störung bei der Schizophrenie ist so alt wie der Begriff der Schizophrenie selbst und stimmt mit neueren empirischen Studien 7 überein. Unser Konzept mangelnder Krankheitseinsicht ist aus jenen empirischen Studien (siehe FN 7), klinischer Erfahrung und Überlegungen abgeleitet, die sich im Rahmen eines phänomenologischen Zugriffs auf die Psychiatrie bewegen (Parnas et al. 2013). Selbstverständlich bedarf unser Ansatz noch einer weitergehenden systematischen Fundierung durch empirische Forschungen. Möglicherweise können hierin jedoch wichtige Implikationen für eine frühe Intervention und Behandlung liegen: Psychoedukative Ansätze, die auf die Verbesserung der Krankheitseinsicht und Compliance abzielen, würden sich vielleicht als erfolgreicher erweisen, wenn sie sich bemühten, das Bewusstsein für die zugrundeliegenden und die Vulnerabilität erhöhenden Merkmale (d. h. die Selbststörungen) zu steigern. Psychotherapeutische Ansätze könnten eine ähnliche Strategie verfolgen und die inhärente Vulnerabilität der Patienten sowie deren psychotische Erfahrungen als für sie potenziell relevante Quellen der Sinngebung (potentially relevant sources of meaning) erforschen, anstatt zu versuchen, die ›Fehlurteile‹ (Wahnvorstellungen und Halluzinationen) der Patienten zu korrigieren. Ein wichtiger Aspekt des veränderten experientiellen Bezugssystems und der damit einhergehenden Schwächung der natürlichen ontologischen Einstellung ist das Entstehen einer solipsistischen ontologischen Haltung, die sich in dem Gefühl manifestieren kann, einen außergewöhnlichen Einblick in Dimensionen der Realität zu besitzen, die anderen üblicherweise verborgen bleiben. Diese Lockerung der Einschränkungen durch den ›gesunden Menschenverstand‹ könnte zudem eine phänomenologische Dimension des epidemiologischen Zusammenhangs zwischen der Anfälligkeit für Schizophrenie und Kreativität darstellen (Kyaga et al. 2011).
U. a. sind hier zu nennen Parnas et al. (2005), Parnas (2011), Parnas et al. (2011), Raballo und Parnas (2011), Raballo et al. (2011), Haug et al. (2012), Nelson et al. (2012).
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Mads Gram Henriksen und Josef Parnas
Finanzierung Carlsberg Stiftung (Az. 2012010195).
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Philosophie und Wahnsinn Zu einer Umkehrung der natürlichen Lebenshaltung Wouter Kusters
Zusammenfassung In diesem Beitrag untersuche ich das Verhältnis von Philosophie und Wahnsinn aus der Perspektive der phänomenologischen Philosophie und Psychiatrie sowie ausgehend von Narrativen derjenigen, die als ›psychotisch‹ diagnostiziert wurden. Es werden drei Thesen aufgestellt: 1) Eine (phänomenologische) philosophische Haltung gegenüber psychotischen Erfahrungen ermöglicht aufschlussreichere und substanziellere Beschreibungen des Wahnsinns; 2) ernsthaft und konsequent betriebenes philosophisches Nachdenken weist bemerkenswerte Ähnlichkeiten zu Strukturen psychotischen Erlebens auf; 3) Wahnsinn ist eine Quelle proto-philosophischen Denkens. Diese Thesen werden mit besonderem Augenmerk auf die Frage – oder das Rätsel – nach Zeit und Zeitlichkeit in der Philosophie und der Psychose ausgearbeitet und begründet. Dazu werden jeweils zwei miteinander korrespondierende Begriffe aus der Philosophie und aus der Psychopathologie der Psychose enggeführt: zum einen philosophische Reflexion und psychotische ›Hyperreflexivität‹, zum anderen philosophisches Staunen und psychotische Perplexität. Indem wir der Fluchtlinie wahnsinniger Hyperreflexivität und Perplexität folgen, können wir eine reichhaltige Welt der Paraphilosophie entdecken. In all ihren verschlüsselten, verdrehten und verzerrten Erscheinungsformen lässt sich diese Welt auf philosophische Ideen beziehen, die von einer weniger angestrengten Reflexivität und einer Bereitschaft zum Staunen angetrieben sind. Von der Untersuchung dieser Beziehungen zwischen Philosophie und Wahnsinn können letztlich beide Parteien profitieren: Einerseits lässt sich das psychotische Erleben weiter aufklären und in ein Verhältnis zu nicht-psychotischem Denken und Handeln setzen; andererseits können wir die der Philosophie zur Verfügung stehende
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Wouter Kusters
Bandbreite an Perspektiven auf die Realität und die menschliche Subjektivität ausweiten.
1.
Einleitung
1.1 Eine vergessene Beziehung Die Diskussionen in den Hinterzimmern der akademischen Philosophie ähneln, in Bezug auf den monologischen Charakter ihrer Form wie auch ihres Inhaltes und vor allem hinsichtlich ihrer Weltfremdheit und Ablösung von der täglichen Praxis, vielen Dialogen und Monologen in den Raucherzimmern der psychiatrischen Abteilungen. Ohne dabei die Philosophie abzuwerten, werde ich im Gegenteil aufzeigen, welche heuristisch interessanten und inspirierenden Beobachtungen aus dieser Ähnlichkeit entspringen. Obwohl diese Ähnlichkeit für den Laien nicht überraschend ist, nimmt der Philosoph sie selten ernst. Wittgenstein bemerkt hierzu: Ich sitze mit einem Philosophen im Garten; er sagt zu wiederholten Malen »Ich weiß, dass das ein Baum ist«, wobei er auf einen Baum in unsrer Nähe zeigt. Ein Dritter kommt daher und hört das, und ich sage ihm: »Dieser Mensch ist nicht verrückt: Wir philosophieren nur.« (Wittgenstein 1969, § 467)
Dieser Aphorismus wird zumeist so verstanden, dass es sich bei diesem Gespräch, obwohl es für einen Außenstehenden verrückt erscheinen mag, eigentlich um hochgradig spezialisierte Arbeit handelt. Seltener begegnet man der anderen möglichen Implikation: dass der Kerl in der Tat verrückt ist und sich philosophisch betätigt. Das ist die These dieses Beitrags: Philosophie und Wahnsinn sind innig miteinander verbunden, sei es, dass sie einander spiegeln, sei es, dass sie eine Parodie des jeweils anderen, dessen Horizont, Grundlage oder letzte Konsequenz darstellen. Die tief reichende Verbindung zwischen Wahnsinn und Philosophie ist leider nicht nur in den letzten Jahrzehnten, sondern in den letzten paar Jahrhunderten weitgehend in Vergessenheit geraten. In einigen Fällen wurde Wahnsinn, vor allem in manischer oder dionysischer Gestalt, als Konzept verwendet, um die Moderne zu kritisieren (Foucault 1972; Deleuze & Guattari 1980), aber mein Ansatz ist ein anderer: Einerseits gehe ich von einer philosophischen, genauer, 114 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Philosophie und Wahnsinn
phänomenologischen Perspektive aus. Andererseits basieren meine Überlegungen auf Notizen, Texten und Erfahrungen derjenigen, die von der modernen Psychiatrie als manisch, schizophren oder psychotisch angesehen wurden. Daher gehört dieser Beitrag auch zu dem kleinen, aber produktiven Trend in der modernen phänomenologischen Psychopathologie, der die Verbindung von Philosophie und Wahnsinn berücksichtigt (z. B. Sass 1992, 1994; Fuchs 2000; Stanghellini 2004; Ratcliffe 2008). Darüber hinaus kann dieser Beitrag auch auf die neuerdings entstehende Disziplin der sogenannten Mad Studies bezogen werden (vgl. Ingram 2005; LeFrançois et al. 2013). Der Verbindung von Wahnsinn und Philosophie wird heutzutage nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dies ist damit zu erklären, dass die Ärzteschaft Wahnsinn als Teil ihres Kompetenzbereichs eingemeindet hat und ihn, statt in einem existenziellen oder philosophischen, vornehmlich in einem individuellen und pathologischen Zusammenhang untersucht. Also wurde Wahnsinn vor allem als medizinisches und neurobiologisches Problem verstanden. Darüber hinaus könnte eine Verbindung zwischen Wahnsinn und Philosophie leicht darauf hindeuten, dass jeder, der vorgibt, ein Denker zu sein – geschweige denn ein Philosoph –, ein höheres Risiko hätte, dem Wahnsinn anheimzufallen. Für diejenigen, die sich Weisheit herbeisehnen, stellt der Gedanke, dass die Erfüllung eines solchen Wunsches nach Weisheit in der scheinbaren Leere des Wahnsinns bestehen könnte, eine eher unerfreuliche Aussicht dar. In unserem Zeitalter wird Wahnsinn demnach meist in einem Register des Krankseins und Leidens beschrieben. Diejenigen, die die Zeichen des offenkundigen Wahnsinns tragen, bleiben den Augen der Öffentlichkeit verborgen. Sie werden als Gespenster von völliger Bedeutungslosigkeit und sinnloser Abnormalität wahrgenommen, nicht als inspirierende Beispiele für die Philosophie. Und so droht die Fülle der verrückten Welt verloren zu gehen. Dieser Beitrag ist ein Versuch, den Wahnsinn vor dem Vergessen der medizinischen Archive und dem isolierenden Diskurs medizinischer Krankheit zu retten, um ihn in die gemeinsame Lebenswelt, die Welt des Sinns und der Philosophie zurückzubringen.
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Wouter Kusters
1.2 Beobachtungen, Beschreibungen und Untersuchungen In diesem Abschnitt möchte ich einige oberflächliche Beobachtungen zu Ähnlichkeiten zwischen Philosophie und Wahnsinn hinsichtlich ihrer Monologe und Textformen darlegen. Im Wahnsinn und in der Philosophie gibt es zwei entgegengesetzte Tendenzen: Die erste besteht darin, sich kompakt, kurz und dicht oder sogar ›hermetisch‹ auszudrücken. Wir begegnen dieser Tendenz zum Beispiel, wenn wir einen Verrückten fragen, was mit ihm los sei. Vielleicht antwortet er dann: »Das Juwel ist im Lotus« oder »In meinen Gedanken ist ein bodenloses Loch« oder »Farblose grüne Ideen schlafen wütend« oder vielleicht antwortet er gar nicht und schweigt. Vielleicht lacht oder weint er auch und schlägt dem Fragesteller mit der Hand auf die Wange. Der Psychiater kann diesen Zustand kurzerhand als ›Spracharmut‹ beschreiben. Dem Philosophen können aber ähnliche Reaktionen entlockt werden, wenn er gebeten wird, sich transparent und kristallklar auszudrücken. Er kann konzise und hermetisch – und in Paradoxien sprechen: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.« Oder er behauptet: »Es gibt nichts außerhalb des Textes«, oder er deklamiert: »Existenz geht dem Wesen voraus«, oder vielleicht seufzt er: »Ich kann es nicht erklären.« Diese Tendenz zum Einfachen, Aphoristischen oder, kritischer formuliert, zum Mystischen oder Kryptischen hat ihr Gegenstück in einer anderen Tendenz, nämlich in dem sich endlos ausdehnenden Text, dem expandierenden System. Im Fall des Wahnsinns denken wir an die mäandernden Geschichten, lose miteinander verknüpft durch freie Assoziationen und sich hemmungslos der Regeln und Zusammenhänge des Gesprächs entziehend. Der Psychiater könnte in diesem Fall »Verarmung des Sprechinhalts« notieren. Aus der Philosophie sind die kontinuierlichen Bemühungen bekannt, alles sagen und erfassen zu wollen, alles mitaufzunehmen und dem Ganzen Ausdruck zu verleihen, einschließlich des Unendlichen, des Unbegreiflichen und Unaussprechlichen. Philosophen verfügen über beide Möglichkeiten. Sie können ihre Aphorismen in dünnen Büchern mit esoterischen oder formallogischen Formeln sammeln. Wenn sie eine geeignete Publikationsform oder einen Verleger finden, können sie aber auch lange, ausgearbeitete Texte und Bücher schreiben, in denen sie ihre Weisheiten und Einsichten wiederholen, mit anderen Worten, mit besseren Worten, in anderen Kontexten, in immer neuen Anläufen. 116 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Philosophie und Wahnsinn
In dieser Hinsicht stecken die Wahnsinnigen in einer doublebind-Position: Wenn sie wenig oder gar nichts äußern, werden sie einerseits bald als schizophren, katatonisch und verbal oder kognitiv eingeschränkt etikettiert. Wenn sie andererseits versuchen, alles zu explizieren und zu erklären, wenn sie versuchen, von ihrem ganzen Kosmos Zeugnis abzulegen, dann werden sie nur allzu leicht ›inkohärent‹, ›fragmentiert‹ oder ›manisch‹ genannt. In diesem Artikel werde ich mich beider Ausdrucksstrategien bedienen. Die Bedeutung der Begriffe ›Wahnsinn‹ und ›Philosophie‹ wird hierbei erst nach dem Durchgang durch den gesamten Text zutage treten. Ich präzisiere nämlich einerseits deren Beziehung innerhalb eines umfangreichen und ausdehnungsfähigen Ganzen, da diese Verbindung nur aus der Perspektive eines untergehenden Horizonts und verschwindenden Grundes wirklich erfasst werden kann, auf die ich hier im Text wiederum nur anspielen kann. Andererseits werde ich hier zunächst dennoch erste Definitionen der Konzepte ›Philosophie‹ und ›Wahnsinn‹ vorschlagen. Philosophie soll hier verstanden werden als sprachlicher Ausdruck sowohl des Erstaunens wie auch des Gegenstandes eben jenes Erstaunens. Sie ist auch die Reflexion dieses Erstaunens, über dessen Gegenstand und ebenso dieser Reflexion selbst. Dabei umfasst sie all jene Konsequenzen der in dieser Beschreibung implizierten, systemimmanenten Selbstreferenzialität, die die treibenden Kräfte für den Korpus und die Tradition der Philosophie sind. Dies ist keineswegs eine ungewöhnliche Definition der Philosophie, sondern kann vielmehr bis auf die griechische Philosophie zurückverfolgt werden. Mit dieser Definition verweise ich auf nichts weiter als jenen Korpus von Texten, mit dem sich in philosophischen Institutionen beschäftigt wird. Das Konzept des Wahnsinns erfordert hingegen eine ausführlichere Einführung. Zunächst einmal können wir es auf den psychiatrischen Begriff der Psychose beziehen – jene geistige Verfassung, in der sich jemand mit sogenannten Halluzinationen und Wahnvorstellungen befindet und die sich in einem bizarren, unverständlichen und unberechenbaren Verhalten zeigt. Mit dem Begriff ›Wahnsinn‹ beziehe ich mich auf die extremste und typische Form der Psychose, die akute Psychose, in der die Symptome am stärksten ausgeprägt sind. Ich werde den Begriff der Psychose hier nicht weiter definitorisch ausdifferenzieren und folge stattdessen der phänomenologisch-psychiatrischen Tradition, die nach allgemeinen Strukturen und Prozes117 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Wouter Kusters
sen in der Psychose sucht und diese mit Hilfe philosophischer oder phänomenologischer Terminologie verständlich zu machen versucht. Um die Psychose aus einem engeren medizinischen Kontext in einen philosophischen Diskurs zu überführen, beschreibe ich sie konzise und in verdichteter Weise als: 1) einen möglichen Ausdruck des Wunsches nach Unendlichkeit in einer Welt, die als endlich definiert ist; 2) das Unbegreifliche, das in dem Moment hinter dem Horizont verschwindet, wenn wir denken, es fassen zu können, und das sich in einer sozial und psychisch inakzeptablen Form manifestiert; und 3) den Moment in einem Gespräch, in dem einer der Gesprächspartner sich dazu entscheidet, die Interaktion zu unterbrechen, was er damit rechtfertigt, dass eine Fortsetzung der Kommunikation seiner Ansicht nach nicht mehr möglich sei, weil der Andere »psychotisch« sei. Im Folgenden werde ich diese kurzen Beschreibungen mit mehr Inhalt füllen und zeigen, wie der medizinische Terminus der ›Psychose‹ zu einem Konzept der Philosophie und Mystik werden kann. In einem ersten Schritt, um Wahnsinn und Philosophie einander anzunähern, greife ich auf die psychiatrische und philosophische Phänomenologie zurück, mit deren Hilfe Erfahrungen des Wahnsinns erläutert und erklärt werden sollen. Dabei stütze ich mich auf verschiedene Autobiographien sowie auf Erinnerungen an meine eigene psychotische Episode. Ich beabsichtige zu zeigen, dass eine philosophisch informierte Psychiatrie zu einem besseren und angemesseneren Verständnis des Wahnsinns gelangt, als es die empirische Psychopathologie überhaupt ermöglichen kann. Doch während sich der Phänomenologe einer klareren Einsicht nähert, rückt auch der Wahnsinn näher und kriecht in ihn hinein. Folglich besteht die zweite Phase der Dialektik von Wahnsinn und Philosophie darin, dass der Philosoph nicht länger das Phänomen der Psychose aus der Ferne beobachtet, sondern sich ihm vielmehr annähert, um ihm dann schließlich zum Opfer zu fallen und so mit demjenigen zu verschmelzen, was eigentlich nichts weiter als ein Untersuchungsgegenstand sein sollte. Dieser zweite Schritt besteht dann einerseits in der allgemeinen Behauptung, dass eine konsequent zu Ende geführte Philosophie – zumindest auf textlicher Ebene – zu Formen des Wahnsinns führen kann, und andererseits in der Exemplifizierung und Erläuterung dieses Prozesses anhand meiner eigenen Erfahrung und derjenigen anderer angesehener Philosophen. Anschließend, im vierten Abschnitt, erläutere ich den dritten Schritt, indem ich zeige, wel-
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Philosophie und Wahnsinn
che Formen der Philosophie und was für ›Philosophoide‹ aus Wahnsinn entstehen können.
2.
Philosophie des Wahnsinns und das Rätsel der Zeit
In diesem Abschnitt erörtere ich kurz diejenige Philosophie, die den Wahnsinn als ihren Untersuchungsgegenstand erachtet. Die phänomenologische Philosophie verwendet, wenn sie sich mit der Psychose befasst, als ihr Ausgangsmaterial Erzählungen von Menschen, die ›wahnsinnige‹ oder psychotische Erfahrungen gemacht haben, sowie die Berichte und Analysen jener Psychiater, die den phänomenologischen Ansatz teilen. In Anknüpfung an die methodische Ausrichtung von Autoren wie Thomas Fuchs, Matthew Ratcliffe, Louis A. Sass und Giovanni Stanghellini untersuche ich, worin die wahnsinnige Erfahrung genau besteht und was in einer verrückten Welt oder Wirklichkeit passiert, um damit unsere grundlegende Einsichten in die menschliche Erfahrung und Realität zu erweitern und zu vertiefen. Ein wichtiges methodisches Werkzeug bzw. eine wichtige methodologische Einstellung stellt dabei die Aufmerksamkeit für die Eigengesetzlichkeit des Negativums dar. In der Psychiatrie wird Krankheit oft nur privativ als die Abwesenheit von Gesundem definiert. Psychopathologen geben sich oft damit zufrieden, die Erfahrung des Wahnsinnigen durch eine Störung der Aufmerksamkeitsfunktion, der Wahrnehmung und Kognition oder des Zeitgefühls zu charakterisieren. Stattdessen zeige ich, was diese vermeintlichen Mängel oder Störungen tatsächlich bedeuten. Ich werde das negative Prädikat der »Unordnung« (s. auch engl. disorder) in eine ›positive‹, alternative und substanzielle Kennzeichnung überführen. Was heißt »wahnsinnige Erfahrung« eigentlich, wie können wir sie beschreiben, ohne sie auf die Erfahrung eines Mangels zu reduzieren? Ich diskutiere dies ausführlich in meinem Buch (Kusters, im Erscheinen) und zeige dies hier an einem kurzen Beispiel aus dem Bereich der zeitlichen Erfahrung. Zeitliche Erfahrung, manchmal als ›zeitliche Orientierung‹ bzw. ›Desorientierung‹ bezeichnet, ist ein wichtiges Thema im und ein zentraler Einstiegspunkt in den Phänomenbereich des Wahnsinns, das die Philosophie aufzuklären vermag, während dies der Psychologie versagt bleiben muss. Ich werde hier zuerst unsere alltägliche 119 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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Zeitvorstellung diskutieren, analysieren und problematisieren, um damit den Einstieg in die philosophische Reflexion über die Zeit zu erleichtern und um zugleich empfänglich zu werden für die wahnsinnige Erfahrung der Zeit. Im täglichen Leben kümmern wir uns kaum darum, wie spät es genau ist. Problemlos benutzen wir Tagebücher oder Uhren und verwenden beim Sprechen räumliche Präpositionen und Ausdrücke der Bewegung – wie in ›nach einer Woche‹, ›nächsten Monat‹ usw. –, ohne uns möglicher semantischer Implikationen oder philosophischer Komplikationen bewusst zu sein. Wenn wir jedoch genau darüber nachdenken, was Zeit ist, verstricken wir uns in begriffliche und philosophische Probleme. Das Rätsel der Zeit ist unlösbar; obwohl der Philosoph versuchen kann, die Zeit im Ganzen zu betrachten und zu erfassen, bleibt er selbst doch immer innerhalb der Zeit. Die wahnsinnige Person gerät in ähnliche Probleme und Paradoxien wie der Philosoph, der sich mit der Zeit beschäftigt. Beide sind in dem Widerspruch zwischen einem Begriff der Zeit als innerer Erfahrung und einem als äußerer Erscheinung gefangen. Dieser letzten Auffassung zufolge gehört die Zeit zur (physikalischen) Natur und ist als ein an sich unveränderlicher ›Zeitstrahl‹ darstellbar. Auf einer solchen Linie gibt es keinen Platz für Begriffe wie ›Vergangenheit‹ und ›Gegenwart‹, weil das Urteil darüber, was ein vergangener oder der gegenwärtige Moment ist, nicht absolut ist und von dem sich ändernden Zeitpunkt des Urteils selbst abhängt. Aus dieser Perspektive können nur die Beziehungen zwischen den Momenten (›früher als‹, ›später als‹, ›simultan mit‹) als real und zeitlich gelten. Aus der anderen Perspektive erscheint Zeit als subjektiv und stellt einen Aspekt des Bewusstseins dar. Es gebe einzig eine Gegenwart, und Vergangenheit und Zukunft stellten bloß deren Modalitäten dar. Dies würde bedeuten, dass die Gegenwart, ›dieser‹ Moment, der einzige wirkliche Moment wäre und zugleich alle Erwartungen an die Zukunft und Erinnerungen an die Vergangenheit umfassen würde. Diese Perspektive ist unvereinbar und steht in scharfem Kontrast zu derjenigen, wonach die Gegenwart eine unendlich dünne und lediglich imaginäre Grenze zwischen zwei nach vorne und hinten ausgerichteten, realen Ausdehnungen ist und bei der die Festlegung der Gegenwart von dem Zeitpunkt der Festlegung selbst abhängt. Solche Zeitprobleme kennen eine lange Geschichte, man denke an Augustinus’ berühmte Bemerkung in seinen Bekenntnissen (Confessiones): »Was ist also Zeit? Wenn mich niemand fragt, so weiß ich 120 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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es; will ich es aber jemandem auf seine Frage hin erklären, so weiß ich es nicht.« (Buch 11, Kapitel 14) Wie gesagt, im täglichen Leben spielen diese Probleme kaum eine Rolle, sie werden nicht beachtet oder unterdrückt. Aber wenn diese Probleme in den Vordergrund rücken, für den Philosophen wie den Verrückten, können sie zu kompakten, verdichteten Aphorismen, Verwirrung und endlosen Erläuterungen führen. Hin und wieder zeigen sich scheinbar epochale Einsichten zu diesem Thema, zum Beispiel bei John McTaggart in seinem Artikel »The unreality of time« (1908), womit er der Vorläufer der modernen analytischen Philosophie der Zeit ist. Ausgehend von dem Widerspruch zwischen den beiden Zeittheorien stellte McTaggart fest, dass Zeit schlichtweg nicht existieren kann. Diese unwahrscheinliche, obwohl gut begründete ›Dekonstruktion‹ der Zeit rückt McTaggarts Gedanken viel näher an die wahnsinnige Erfahrung der Zeit als irgendeine der weitverbreiteten Beobachtungen, denen zufolge man während einer Psychose in der Zeit ›desorientiert‹ sei – indes wird keinerlei Hinweis darauf gegeben, was diese ›Desorientierung‹ überhaupt bedeuten soll. Diese Übereinstimmung zwischen der Konzeption (oder epochalen Einsicht) von McTaggart und der psychotischen Erfahrung (oft ebenfalls als überwältigende Einsicht erlebt) ist auch vom Psychiater und Philosophen Matthew Broome bemerkt geworden. Broome sagt dazu: McTaggart behauptete bekanntlich, dass die Zeit unwirklich war und dass nichts, was existiert, die Eigenschaft haben kann, in der Zeit zu sein. […] Vermutlich handelte McTaggart nicht aus seiner ungewöhnlichen Überzeugung heraus […]; aber einige unserer Patienten handeln danach. […] Solche Patienten beschreiben manchmal eine genau festgelegte, statische, fast kristalline Zeitstruktur, in der es keine Veränderung gibt. […] Eine solche Existenz ist nahezu göttlich-ewig und unveränderlich, »reines Sein«. (Broome 2005, 191; Übersetzung des Autors) 1
Um die wahnsinnige Erfahrung der Zeit vorurteilsfrei zu untersuchen, folgt die Philosophie des Wahnsinns den Zeitanalysen von »McTaggart notoriously claimed that time was unreal and that nothing that exists can have the property of being in time. […] Presumably McTaggart did not act on his unusual belief […]; however some of our patients do. […] Such patients may describe a determinate, static almost crystalline structure of time where there is no change. […] Such an existence is almost divine-eternal and unchanging, ›pure being‹.«
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Denkern wie z. B. Aristoteles, Plotin, McTaggart, Husserl, Ricœur und Deleuze, und es tritt dabei zutage, dass jene philosophischen Gedankenbewegungen nahe am Abgrund zum Wahnsinn wandeln. Broome bemerkt zu Recht, dass McTaggarts Analyse der Zeit der erste Schritt zu einer Enthüllung von wahnsinniger Erfahrung sein kann (ebd.), an die sich nun Fragen anschließen können wie: Was passiert, wenn der Wahnsinnige, genau wie der Philosoph, die beiden Konzeptionen nicht miteinander in Einklang bringen kann? Wird er die Zeit verneinen, selbst aus der Zeit fallen, oder wird die Zeit aus ihm fallen? Wie gehen der Philosoph und der Verrückte mit dieser Aporie in und außerhalb des Textes um? An diesem Punkt der Analyse müssen wir uns von der beschreibenden Psychopathologie verabschieden, in der vorausgesetzt wird, dass der Forscher über ein Wissen von der Zeit verfügt, während Unwissenheit, Verwirrung und Desorientierung von bzw. in der Zeit dem Forschungsobjekt, der psychotischen Person, zugeschrieben wird. In der Philosophie der Zeit kann sich der Philosoph jedoch allenfalls mit dem Rätsel der Zeit auseinandersetzen und es ausarbeiten, aber er kann es nicht lösen. Ich werde kurz drei mögliche, neue Schwerpunkte skizzieren, die sich aus der wahnsinnigen Erfahrung der Zeit herausbilden können (siehe auch Kusters, im Erscheinen). Der erste ist der Raum: Zeit ›verräumlicht‹ sich im Wahnsinn (vgl. Minkowski 1933). Zum Beispiel ist es im Wahnsinn nicht so, dass man den Krieg in der Vergangenheit, in der Zeit, erinnert (z. B. den Zweiten Weltkrieg), sondern dass man den Krieg sieht, im Raum, in der grün-braunen militanten Kleidung der Passanten, in bestimmten, als Hinweise wahrgenommenen Automarken (Mercedes, Volkswagen), in Gesprächsfetzen, die man der unmittelbaren Umgebung entnimmt. Was ehemals auf sicherer Distanz blieb, versunken in der Vergangenheit, kann in einer umso intensiveren Weise in den Raum zurückkehren – bedrohlich, aber auch gut zugänglich und manipulierbar. Der zweite Schwerpunkt sind Zahlen. Während sich im Wahnsinn die Grenzen zwischen dem Innen und Außen, Wahrnehmung und Denken verschieben, bleiben Zahlen immer noch Zahlen, und sie geben in diesem Chaos Halt. Zeitbezogene Zahlen können dennoch ebenfalls im Raum lebendig werden. Zum Beispiel kann der 11. September, Nine Eleven, mit Bedeutung aufgeladen werden, wenn die verrückte Person diese Kombination in ähnlicher Weise sowohl in Zeitungen und historischen Berichten als auch auf Nummernschildern, in Postleitzahlen, Hausnummern, Kreditkartennummern usw. wahrnimmt und hierzwi122 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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schen eine enge Verbindung herstellt. Der dritte Schwerpunkt ist die Ewigkeit: Im Wahnsinn können Uhren und Kalender ihre Bedeutung verlieren und als solche aus der Wahrnehmung verschwinden; der innere Zeitsinn wird möglicherweise nicht mehr an die externe Zeitachse rückgebunden, die normalerweise die Endlichkeit und Bestimmtheit des Lebens ausdrückt und begrenzt. Dann kann der Verrückte in der freischwebenden Gegenwart das Tor zur Ewigkeit entdecken – unabhängig davon, ob dies in den Himmel oder die Hölle führt. Darüber hinaus kann sich die Wahrnehmung des Unterschieds zwischen Leben und Tod ändern: Tod und Sterben sind keine Ereignisse mehr weit weg in einer zukünftigen Zeit, sie sind nicht mehr der zurückweichende Horizont, sondern Ereignisse, die in der Gegenwart der räumlichen Umgebung stattfinden. Daher wird der Raum selbst bedeutungsvoller: Der Tod wird ein konkretes räumliches Objekt, ein Schatten im Augenwinkel, ein schwarzer Hund, auf der flachen Leinwand eines Schaufensters davoneilend.
3.
Von der Philosophie zum Wahnsinn
Wenn wir den Wahnsinn und die Beziehung zwischen Philosophie und Wahnsinn mit Hilfe einer Philosophie oder Phänomenologie der Zeit verstehen wollen, befördert der Philosoph ein ähnliches Erstaunen, eine ähnliche Ratlosigkeit und nähert sich damit einer ähnlichen Art der Aporie an wie der Wahnsinnige. Fast unbemerkt sind wir damit von der ersten Ebene, einer Philosophie über den Wahnsinn, zu einer zweiten gelangt, wo die Philosophie uns näher zum Wahnsinn bringt. An diesem Punkt werde ich für die im Folgenden formulierten Hypothesen Argumente philosophisch-substantieller (3.1) und philosophisch-autobiographischer (3.2) Art anbieten.
3.1 Eine inhärente Tendenz zum Wahnsinn Nun werde ich einige im Hinblick auf den Wahnsinn unerwartete, aber durchaus vorstellbare Folgen philosophischer Ideen und Theorien untersuchen. Manche Formen der Philosophie können zu ziemlich absurden oder gar verrückten Konsequenzen führen, würden wir sie im tatsächlichen, täglichen Leben ernst nehmen. Nehmen wir zum Beispiel den Gedanken, dass das Bewusstsein und der freie Wille nicht 123 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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existieren und dass alles einerseits von Genen und Neuronen und andererseits von sozialen Determinanten bestimmt wird. Unser ›Ich‹, so lautet der Gedanke, wäre ein bloßes Spielzeug äußerer Kräfte, die in uns eindringen und uns kontrollieren. Wenn wir solche Gedanken konsequent zu Ende verfolgen, können wir leicht in einer Welt enden, die der Welt des Wahnsinns strukturell ähnlich ist, die ebenso von Stimmen, äußeren Einflüssen und Kräften besetzt und kontrolliert wird (vgl. Sass 1994). Zeugnisse aus diesen Welten können als eine Art Testfall oder Parodie dienen hinsichtlich des praktischen Nutzens einer solchen Art von Philosophie (siehe auch die obige Diskussion zu McTaggart). Zusätzlich können wir auch untersuchen, ob philosophische Methoden im Allgemeinen zum Wahnsinn neigen. Wir finden diese Idee bei Wolfgang Blankenburg, dem zufolge das Kernphänomen der Psychose der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit (1971) sei. Mit diesem Konzept bezieht sich Blankenburg auf ein grundlegendes Gefühl der Sicherheit und Sorglosigkeit, ein Urvertrauen in den Bestand der Dinge, den gesunden Menschenverstand als Basis des Inder-Welt-Seins. Dieses grundlegende Gefühl befindet sich normalerweise als präreflexives dauerhaft im Hintergrund. Ein Mangel an dieser Selbstverständlichkeit würde zu einem anscheinend zu hohem Maß an – Anderen zufolge – irrelevanter Reflexivität führen (siehe Abschnitt 4.1). Blankenburg behauptet, dass die Tendenz, an der natürlichen Selbstverständlichkeit zu zweifeln und sie zu reflektieren, nicht nur ein Problem der psychotischen Person, sondern auch ein wesentlicher Bestandteil der phänomenologischen Methode sei: »Ein wirkliches Erfassen des Befremdenden erfordert notwendig einige Schritte der Selbstentfremdung des psychiatrischen Bewusstseins, eine gewisse Lösung aus seiner Verankerung im Boden der gesunden Gewöhnlichkeit des alltäglichen Bewusstseins« (Blankenburg 1971, 64). Blankenburg nutzt für diese Selbstentfremdung die phänomenologische Methode Husserls und sagt: Husserl ging in seinen späten Schriften so weit zu sagen, die totale phänomenologische Einstellung und die ihr zugehörige Epoche seien berufen, »eine völlige personale Wandlung zu erwirken«. Gefordert wird nicht nur die Aufgabe der natürlichen Erkenntniseinstellung, sondern zugleich eine »Umkehrung der natürlichen Lebenshaltung«. (Blankenburg 1971, 65)
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Die Methode bezieht sich hier auf jenen Hang der Phänomenologie – ähnlich dem der verrückten Person –, bei einer Entfremdung anzukommen und zunehmend Zweifel zu nähren, sodass mit Erstaunen und Verwirrung auf die Grundlagen des (täglichen) Lebens reflektiert wird. Wir können uns solche phänomenologischen Gedankenexperimente wie die Experimente mit psychedelischen Substanzen vorstellen, von denen auch behauptet wurde, dass die Verwendung von z. B. LSD oder Meskalin zu für den Psychiater interessanten Einsichten in die Psychose führen kann (vgl. Osmond 1967; Kusters, im Erscheinen). Für den Psychiater mag dies eine vielleicht gefährliche, aber doch aufschlussreiche Methode darstellen, um den Wahnsinn zu untersuchen. Für die Phänomenologie im Allgemeinen ist dies allerdings ein frappierendes Ergebnis, zumal wenn wir phänomenologische Methoden dazu nutzen möchten, Erkenntnisse über die Alltagspraxis zu gewinnen und diese letztlich auch zu verbessern. Hier wird deutlich, dass obwohl die Philosophie in der Praxis hilfreich sein kann, sie auch die gefährliche Versuchung enthält, eben jene Praxis zu zerstören, anstatt sie zu erhellen. Blankenburg bringt ähnliche Argumente im Falle von Descartes’ methodischem Zweifel. In vergleichbarer Weise erkennt auch Louis A. Sass in seinem Werk Madness and Modernism (1992) in vielen Formen der Philosophie, wie z. B. derjenigen Husserls und Derridas, eine Neigung zur Loslösung vom täglichen Leben, zum radikalen Zweifel, zu fortwährender begrifflicher Haltlosigkeit, zum Ausnutzen semantischer Ambivalenzen usw. – Dispositionen und Tendenzen, die alle auch in der wahnsinnigen Erfahrung zu finden sind. Noch einen Schritt weiter und es ließe sich sogar argumentieren, dass nicht nur die philosophischen Methoden, sondern auch deren Inhalt, ihre ›Substanz‹, mit dem Wahnsinn konvergiert. Diese Behauptung wird in Strassbergs Werk Der Wahnsinn der Philosophie (2014) detailliert ausgearbeitet, indem der Autor die Funktion der »tiefen Begriffe« in der Philosophie, wie z. B. Unendlichkeit, Totalität, Einbildungskraft, oder die oftmals hierin impliziten Grenzziehungen zwischen Vernunft und Wahnsinn deutlich macht sowie deren Bedeutung für die Philosophien von Platon und Bruno bis zu Foucault und Deleuze zeigt. Wie Blankenburg, Sass und Strassberg behaupte ich, dass es der Philosophie inhärent ist, Vorgänge einzuleiten, die denen im Wahnsinn ähneln: d. h. Begriffsanalysen ohne Zweck oder Ende; Untersuchungen des Selbst durch das Selbst; ein fortwährendes Erstaunt125 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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sein über die Existenz der Dinge, sowohl als einzelne als auch in ihrer Gesamtheit. Natürlich sind solche freischwebenden Ideen leichter in einer Philosophie zu entwickeln, die nur lose mit dem täglichen Leben verbunden ist und nur wenige Vorgaben von diesem erhält. Zum Beispiel wird eine Philosophie medizinischer Entscheidungen oder menschlicher Werte weniger geneigt sein, sich in den Bereich des Wahnsinns forttreiben zu lassen, weil die Konzepte und Probleme direkter an die Praxis anschließen. Aber in der Philosophie der modernen Metaphysiker, monologischen Systematiker, totalisierenden analytischen Philosophen, quasi-dialogischen Deleuzianer und in anderen esoterischen, nischenartigen, akademischen Strängen der Philosophie vereinigen sich der Betrachter und das Betrachtete viel leichter und können zu einer intensiveren, in Wechselwirkung stehenden Einheit verschmelzen, wobei Störsignale aus der alltäglichen Umwelt leichter auf Abstand zu halten sind. In vielen philosophischen Betrachtungen nähert sich der Philosoph, das Subjekt des Denkens, langsam aber sicher dem Objekt an, das im Denken erscheint. Hier erhöhen sich die Chancen auf einen Grenzverkehr; das Subjekt ringt mit dem Objekt, und das Objekt kann das Subjekt mit Leichtigkeit kontaminieren. Und wenn der Wahnsinn das Objekt ist, kann der Wahnsinn auch den Philosophen ergreifen (vgl. Strassberg 2014). Erinnern wir uns, was Nietzsche dazu sagte: »Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein« (Nietzsche 1886, Aphorismus 146).
3.2 Ein Strömen zum Kristall 2007 habe ich mich mit Husserls (1917/1928) Philosophie der Zeit auseinandergesetzt, um die Zeiterfahrung im Wahnsinn zu analysieren (vgl. Kusters, im Erscheinen). Ich behauptete, dass je weiter man Husserls Analyse der Zeit folgt, desto tiefer steigt man hinab in ein ideales Bewusstsein, um schließlich bei einem mysteriösen, unaussprechlichen Anfang anzukommen. Während genau dieser Lektüre Husserls, dieser intensiven philosophischen Studien des Wahnsinns und der Zeit, wurde ich selbst in eben jenen Wahnsinn hineingezogen. Ich schrieb damals, nur einige Wochen bevor ich als psychotisch diagnostiziert wurde, Folgendes:
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Die »Wasserzeit« von Husserl erscheint als die letzte Konsequenz seiner Denkbewegung von der Außenwelt nach innen. Erstens zweifelt er an der (irdischen) gewöhnlichen Vorstellung der Zeit, stellt fest, dass Zeit nichts mit Uhren, Tag-Nacht-Rhythmen oder anderen Aspekten der Außenwelt zu tun hat und dass er nach den subjektiven Bedingungen für die Existenz solcher Sachverhalte sucht. Dann schreibt Husserl der subjektiven Erfahrung der Zeit eine komplexe Struktur von primären sowie sekundären Erinnerungen und Erwartungen zu und bezieht diese Struktur auf die subjektiven Bedingungen anderer Modalitäten wie Phantasie, Wahrnehmung usw. Schließlich prüft Husserl die Voraussetzungen einer solchen komplexen subjektiven Zeitstruktur und kommt zu einem absoluten inneren Zeitbewusstsein, das ein »Fluss« sei. Wir können jedoch kaum mehr über diesen Fluss sagen, weil er weder ein Teil der phänomenalen Welt noch der Bedingungen der Erscheinungswelt ist. Husserl schreibt: »Wir können nicht anders sagen als: Dieser Fluss ist etwas, das wir nach dem Konstituierten so nennen, aber es ist nichts zeitlich ›Objektives‹. Es ist die absolute Subjektivität und hat die absoluten Eigenschaften eines im Bilde als ›Fluss‹ zu Bezeichnenden, in einem Aktualitätspunkt, Urquellpunkt, ›Jetzt‹ Entspringenden usw. Im Aktualitätserlebnis haben wir den Urquellpunkt und eine Kontinuität von Nachhallmomenten. Für all das fehlen uns die Namen.« (Husserl 1917/1928, 75) In diesem Zitat sehen wir, dass Namen fehlen: Das absolute Bewusstsein ist weder ein Bewegungsfluss noch ein Stillstand, vielmehr ist es ein unbeschreibliches »Etwas«, das dennoch alle Erfahrungen der Zeit und die Zeitlichkeit von Objekten bedingt. (Zitiert in Kusters, im Erscheinen)
Wenn man meint, mit Husserl eine Entdeckung von »etwas« gemacht zu haben – in anderen Worten, wenn vermutet wird, dass die ›natürliche Lebenshaltung‹ durch die Einsicht der phänomenologischen Philosophie ›umgekehrt‹ werden kann –, dann kann man versucht sein, dieses Heureka-Moment auszuarbeiten, nicht nur durch dichte und hermetische Weisheiten, sondern auch mittels längerer Erörterungen. Das ›Etwas‹, der ›Fluss‹ empfängt, sich selbst zum Trotz, Worte, was zu weiteren Worten und Handlungen führt. Ich schrieb damals: Wenn wir über empirische Subjekte diskutieren (hier: wahnsinnige Subjekte), müssen wir, um die Veränderungen der Zeiterfahrung deuten zu können, der leeren Flussmetapher mehr Inhalt geben. Dann übertragen wir zwar weitere Metaphern und Bilder aus der »objektiven Welt« auf unsere Forschung, aber solange wir uns dieses Vorgangs bewusst bleiben, scheint es sich um einen legitimen Zug zu handeln. Mit dem Vorschlag einer Phänomenologie, die inhaltlich angereichert ist, bewahren wir zwar Husserls
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Projekt, aber wir führen, um zu vermeiden, dass wir von der Zeit als einem geheimnisvollen, fließenden nunc stans eines transzendentalen Ichs sprechen, bewusst einige weitere Metaphern ein […]. Im Hinblick auf die Zeiterfahrung eines empirischen psychotischen Subjekts könnte die Wassermetapher des Wirbels angemessen sein. »Normale« Subjekte könnten dann, die abstrakte Flussmetapher solchermaßen konkretisierend, so vorgestellt werden, dass sie allesamt auf einem Fluss segeln, wobei ihre Boote sich alle in die gleiche Richtung bewegen. Was als entfernt und was als nah erscheint, wäre mehr oder weniger das Gleiche für alle Segler. Aber das psychotische Subjekt wäre von einem riesigen, einsaugenden Strudel im Fluss gefangen, der ihn unter die Oberfläche des Zeitstroms zieht. Weil er unter Wasser gezogen wird, kann er die anderen Segler nicht mehr wahrnehmen und verliert dadurch seine »Intersubjektivität«. Währenddessen hat er jedoch (husserlsche) Retentions- und Protentionserfahrungen (d. h. primäre Erinnerung und primäre Erwartung), aber die weiter reichenden Erinnerungen und Zukunftserwartungen sind nicht mehr linear angeordnet, sondern umkreisen ihn. Zeitpunkte aus der entfernteren Vergangenheit und Zukunft können im Inneren des Wirbels als genauso nah erfahren werden wie ein gerade erst vergangener Moment. (Zitiert in Kusters, im Erscheinen)
Einen Monat später habe ich diese Metapher in einer praktischen, wenngleich psychotischen Art und Weise weiter ›ausgearbeitet‹. Sobald man sich des husserlschen Flusses bewusst geworden ist, wird es schwer, der Versuchung zu widerstehen, sich nicht nur passiv mitreißen zu lassen, sondern in diesem Fluss aktiv zu navigieren und des Ruders Herr zu werden. Das Grenzgebiet zwischen einer intensiven Phänomenologie, einer unbeschreiblichen, mystischen Strömung und einem magischen Aufrühren der Strömung ist mit Leichtigkeit durchquert, Unterscheidungen sind innerhalb dieses Übergangs nicht mehr eindeutig und die Gebiete der Philosophie und des Wahnsinns ›fließen‹ ineinander. Natürlich sind für eine umfassende Darstellung des tatsächlichen Beginns einer psychotischen Entwicklung noch andere Faktoren auf anderen Erklärungs- und Interpretationsebenen von Bedeutung, z. B. auf der sozialen, psychischen oder biologischen Ebene. Darüber hinaus beweist diese Reinszenierung meiner Analyse von Husserls Philosophie mitsamt der darauf folgenden wahnsinnigen Episode nicht, dass die Phänomenologie oder irgendeine andere Art von Philosophie notwendigerweise den Wahnsinn zur Folge hätten – so wie Ethik oder Moraltheorie auch nicht von selbst zu tatsächlicher Verbesserung der Sitten und Moral führen. Neben einem Fluss (in 128 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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Form eines Wirbels) ist auch ein Zünder, ein Funken oder Impuls fremden Ursprungs nötig (selbst die konsequentesten idealistischen, monistischen philosophischen Systeme brauchen, um in Gang zu kommen, einen Impuls von woanders, vom Anderen; siehe den ›Anstoß‹ in Fichtes Werk, z. B. bei Fichte 1794/2014, 99). Aber der Punkt ist hier, dass der Vollzug einer rigorosen philosophischen Folgerichtigkeit ein ausgezeichnetes Mittel ist, um zum Wahnsinn vorzudringen oder ihn in einer textlichen, wenn nicht sogar konzeptuellen oder existenziellen Form nachzuvollziehen. Die viel diskutierte »intrinsische Unverständlichkeit« (Jaspers 1913/1946) des Wahnsinns kann mit angemessenem philosophischem Denken durchbrochen werden. In diesem Sinne ist die Philosophie ein ausgezeichnetes Hilfsmittel, um das Reich des Wahnsinns zu erkunden, aber auch ein gefährliches Unterfangen, das zur vollständigen Versenkung in jenes Gebiet führen kann. In meinen Untersuchungen von 2007 bezog ich mich, zusätzlich zu Husserl als ›Wasserphilosophen‹, auf drei andere Philosophen, um Licht in das Rätsel der (wahnsinnigen) Zeit zu bringen. Diese waren Aristoteles mit seiner ›Erdzeit‹, Plotin mit seiner ›Luftzeit‹ und Deleuze, dem ich die Metapher des Feuers zuschrieb. Ich habe soeben gezeigt, inwiefern in meiner Interpretation von Husserl bereits Keime wahnsinniger Antriebe, Überschreitungen grundlegender Bereiche, Metaphorisierungen und Demetaphorisierungen festgestellt werden können. Danach beschleunigte sich die ›völlige personale Wandlung‹ (siehe oben, Husserl, wie zitiert von Blankenburg). Ich erkannte, entdeckte und ›sah‹ oder ›schaute‹, wie die vier scheinbar unvereinbaren Perspektiven auf die Zeit – der vier Philosophen, ausgedrückt in den vier Metaphern – sich alle dem Mittelpunkt eines Kreises näherten, den ich, metaphorisch und wörtlich, als Kristall verstand. Alles war kristallklar und erleuchtet. Im Folgenden gebe ich einen kurzen Eindruck bzw. eine kurze Beschreibung dieser philosophisch-psychotischen (oder ›philochotischen‹) Erlebnisweise, nachdem ich ›den Punkt, wo sich alles (um)kehrt‹, entdeckt, ›ES‹ geschaut, die ›Einsicht‹ empfangen hatte – unmittelbar bevor ich in der psychiatrischen Klinik als psychotisch diagnostiziert wurde: Einen derartigen Beitrag über Philosophie und Wahnsinn zu schreiben, ist ziemlich mühsam. Man muss alle relevanten Quellen zusammensuchen, das Material sowie die Texte strukturieren und fließen lassen, den Inhalt sinnvoll und verständlich aufbereiten, um schließlich, nach all diesen Anstrengungen, zu einer akzeptablen Abhandlung zu gelangen. Im Nach-
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hinein, da ich nun vom Geheimnis der Vier weiß, sind alle Bemühungen umsonst gewesen. Jetzt weiß ich ES, und jetzt bin ich in der Lage, alles von dieser Einsicht ausgehend hervorzubringen. Nun, lassen Sie mich zunächst einmal hinsetzen, um alles aufzuschreiben, wieder einmal, zum letzten Mal, den letzten, absoluten Text. Wenn ich wollte, könnte ich alles, was ich jemals geschrieben habe, in eine summarische, kompakte »Master-Version« umschreiben, das Ganze und das Eine, zusammengefasst in einem kurzen Buchkapitel. Auf wenigen Seiten kann es kurz und bündig formuliert werden, kompakt und dicht, sodass auf einen Schlag alles absolut klar und transparent wird […]. Mein früherer Text, geschrieben kurz bevor ich meine Einsicht erhielt, handelte von Zeit und Wahnsinn. Ich verwendete vier Metaphern für die Zeit: Wasser, Erde, Luft und Feuer. Also muss ich jetzt vier Bücherstapel auf meinem Schreibtisch anlegen, den vier Metaphern entsprechend. Diese Stapel sollen geordnet werden: unten die großen Bücher in dunklen Farben, möglicherweise einige Kunstkataloge, und obenauf die kleinen Taschenbücher, in spielerischen und hellen Farben. Mit dieser Form des Stapels spiele ich auch auf die Pyramide an, die die Weisheit des Inneren und die Erkenntnis des Geheimnisses der Metaphern enthält. Ich werde beweisen, dass die vier Metaphern der Zeit letztlich konvergieren und gleich sind. Deshalb werde ich auf eine fünfte Metapher, den Kristall, zurückgreifen und sie in den Mittelpunkt stellen. Mit diesem Kristall stelle ich meinen früheren Text auf den Kopf. Ich verwandle dadurch den Text und lasse Text und Welt ihre Plätze tauschen. Ich – und Deleuze durch mich – kündigte dies bereits in meinem früheren Text an (ein paar Wochen zuvor geschrieben): »Das Formlose Hölderlins, das heißt der Abgrund oder Ungrund, wird symbolisiert. Aus diesem Abgrund oder Bruch geht, wie aus einem Vulkan, ein ›Ur-Ereignis‹ hervor, ein Symbol. Deleuze sagt darüber: Ein derartiges Symbol, das der Gesamtheit der Zeit entspricht, drückt sich auf viele Arten aus: die Zeit aus den Angeln heben, die Sonne zerspringen lassen, sich in den Vulkan stürzen, Gott oder den Vater töten. Dieses symbolische Bild konstituiert die Gesamtheit der Zeit, sofern es die Zäsur, das Vorher und das Nachher versammelt. (Deleuze 1992, 123) Deleuze verwendet einen Kristall als Symbol. Durch den Kristall gelangt Licht, das aber auch gebrochen und reflektiert wird. Im Kristall kann man Zeit sehen. Deleuze sagt: Das Kristallbild war nicht die Zeit, doch man sieht sie im Kristall. Im Kristall gewahrt man die unablässige Gründung der Zeit, die achronologische Zeit, den Kronos – nicht aber Chronos. Es ist das nicht-organische Leben, welches die Welt umschließt. Und der Visionär, der Sehende, ist derjenige, der in den Kristall schaut und dabei des Ur-Sprungs der Zeit als Trennung, als Spaltung gewahr wird. (Deleuze 1991, 112)«
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Philosophie und Wahnsinn
So schrieb ich früher. Das war zu jener Zeit alles wichtig, zureichend und angemessen. Aber jetzt sehe ich ES, und ich sehe geradewegs durch Deleuze hindurch. Und ich sehe den Kristall, ich sehe Zeit im Kristall, ich sehe durch den Kristall auf die andere Seite der Zeit. Aber wie kann ich diese Einsicht, diese Vision auf Papier bringen, in Tinte verwandeln? Es geht um die Erschaffung eines Kristalls, um die Kristallrezeptur. Es ist reine Alchemie. (Zitiert in Kusters, im Erscheinen)
Anhand dieser und anderer Fragmente könnten wir versuchen, eine Chronologie zu rekonstruieren; die Vorgänge und Momente des Sprechens und Denkens könnten wir auf einem Zeitstrahl nacheinander anordnen, und wir könnten versuchen, zwischen ihnen einen motivationalen oder sogar kausalen Zusammenhang zu rekonstruieren. Derart könnten wir dann vielleicht zwischen Normalität, Präpsychose, Psychose und Postpsychose als realen Phänomenen, die sich ›in realer Zeit‹ entfalten, unterscheiden und jene Fragmente isolieren, die tatsächlich an und für sich als psychotisch oder verrückt gelten können. Mit dieser Darstellung soll aber auch hervorgehoben werden, dass die Elemente oder Faktoren, aus denen sich der Wahnsinn zusammensetzt, immer aus verschiedenen Zeiten, verschiedenen Stimm(ung)en, von verschiedenen Autoren (oder Akteuren) stammen und dieser deshalb niemals endgültig auf eine bestimmte Identität zu reduzieren ist. Es ist in gewisser Weise eine Kombination ungleicher Faktoren, eine Neuanordnung von Daten in einem ›unangemessenen‹ Kontext, die schließlich ein Ereignis oder eine Person in geeigneter Weise konstituiert, um als psychotisch diagnostiziert werden zu können.
4.
Vom Wahnsinn zur Philosophie
Wir sind damit auf der dritten Ebene des Verhältnisses zwischen Philosophie und Wahnsinn angekommen, auf der der Wahnsinn wieder zur Philosophie zurückführt. Es ist schwierig, etwas Substanzielles in diesem Bereich zu äußern, denn es handelt sich hierbei um die Paradoxien der Sprache, in der Philosophie und der Mystik, die sich an den Grenzen des Unaussprechlichen befinden. Nichtsdestoweniger werde ich im Folgenden einige vorläufige Auslegungen sowie naheliegende Problemfelder jenes psychotisch-philosophischen Komplexes skizzieren, der diesen Bereich durchzieht.
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4.1 Ein grausames und geheimnisvolles Reich Jenem Gebiet, in dem der Wahnsinn Quelle und Inspiration für die Philosophie ist, können wir uns durch zwei Begriffe aus der Psychopathologie nähern, die ich oben bereits indirekt erwähnt habe, nämlich erstens ›Perplexität‹ (oder Ratlosigkeit, Verwirrung). Diese wird im DSM-IV als mögliches Merkmal einer akuten psychotischen Episode angeführt. Der zweite Begriff ist ›Hyperreflexivität‹, der der phänomenologischen Psychopathologie entstammt. Anstatt anzunehmen, dass der Wahnsinnige nur falsch oder zu wenig denken würde, wird hiermit behauptet, dass die Psychose von einer überwältigenden Intensität und Geschwindigkeit sich ihrer selbst bewusster bzw. übermäßig bewusster Gedanken gekennzeichnet ist, wobei dies zugleich vor dem Hintergrund der Perplexität zu verstehen ist (Sass 2003). In der Psychopathologie wird die Kombination von Perplexität und Hyperreflexivität meistens als ›gestörte‹ Erfahrung betrachtet, da sie oftmals zu unerwünschtem und unangepasstem Verhalten führt. Dabei wird die Hyperreflexivität in der psychiatrischen Praxis anstatt als Beschleunigung nicht selten als eine Verlangsamung oder sogar Zerlegung des Denkens und Bewusstseins beschrieben. Von außen betrachtet, erscheint der Strom oder Strudel des Bewusstseins als lediglich unzusammenhängend, fragmentiert oder zerkleinert, wohingegen von innen alles intensiver, als durch eine höhere, geheimnisvolle Form der Kohärenz verbunden erscheinen kann. Während sich der Verrückte als Lichtjahre entfernt erfahren mag, weit weg von alltäglichen Sorgen, wird er von anderen als hinterherhinkend wahrgenommen, nicht in der Lage Schritt zu halten. Im Rahmen eines philosophischen Zugangs können wir Perplexität und (willentlichen Formen von) Hyperreflexivität auf das Fundament der Philosophie selbst beziehen, nämlich auf das Staunen und Reflektieren. Wahnsinn als Verbindung von Perplexität und Hyperreflexivität ist dann als eine ›Proto-Philosophie‹ zu verstehen, die von den gleichen, wenn auch intensiveren Impulsen angetrieben wird als die gewöhnliche Philosophie. In diesem Zusammenhang muss festgehalten werden, was der Psychopathologe Van den Bosch schreibt: »Manche Patienten beschäftigen sich unablässig mit mystisch-religiösen, konfessionellen oder pseudowissenschaftlichen Ansichten« (Van den Bosch 1990, 112). Wenn wir ein solches Vertieftsein genauer analysieren, lassen sich drei (sprachliche) Bereiche, Gestalten oder
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Philosophie und Wahnsinn
Ausdrucksebenen unterscheiden, in denen die Proto-Philosophie des Wahnsinns prägnant zum Ausdruck kommt. Der erste Bereich ist die natürliche Sprache. Jeder Mensch verfügt über Sprache, und so verwendet auch der Wahnsinnige Sprache, um seine Erfahrungen zu artikulieren, um zu sagen, ›was geschieht‹. In seiner verrückten Sprache schwingen persönliche Prägungen mit, die einen wichtigen Faktor und ein Eingangstor zur Erfahrungswelt der verrückten Person darstellen. Aber darin erschöpft sich die verrückte Sprache nicht: Mit Hilfe gewöhnlicher Mittel – der gewöhnlichen Sprache – wird mit vollem Einsatz versucht, etwas auszudrücken, zu artikulieren und auf etwas Bezug zu nehmen, das etwas ganz Außerordentliches und von hoher Bedeutung ist. Dabei wird die gewöhnliche Sprache gesprengt, von ihren tiefensemantischen Elementen und Strukturen bis hin zu ihren oberflächlichen Erscheinungsformen, Diskurskonventionen, Phonetik und Intonation. Sie verwandelt sich in ein endloses, ätherisches Spiel von Transformationen und Spiegelungen der Signifikanten und Signifikate, hierbei unterschiedliche Idiome und Sprachen übergreifend, wobei sich eigenartige Verschiebungen von Metaphorisierung und Demetaphorisierung sowie vage Andeutungen auf scheinbar kosmische Verbindungen zeigen. Dies wird abwertend ›Wortsalat‹ genannt, wenngleich die ansprechendsten Formen als ›Hermetische Lyrik‹ bezeichnet werden können. Zweitens stellt das diskursive sowie praktische Feld der Mystik, Religion und Spiritualität häufig eine Ausdrucksebene psychotischer Proto-Philosophie dar. Es verwundert kaum, dass in der Absicht, außergewöhnliche Erfahrungen zu artikulieren, auf Ausdrucksweisen und Handlungsformen zurückgegriffen wird, die aus einem Bereich stammen, der dafür bekannt ist, sich mit außergewöhnlichen Phänomenen auseinanderzusetzen, d. h. mit Fragen und Problemen zu Leben und Tod oder Gut und Böse. Und es ist auch kein Wunder, dass Begriffe wie ›Offenbarung‹, ›Erleuchtung‹, ›Wiedergeburt‹, ›Apokalypse‹ usw. so häufig in den Berichten von wahnsinnigen Erfahrungen auftauchen. Die Vermeidung von religiös verunreinigter Sprache in der Psychiatrie hat allerdings nicht zu einer verständigeren Methode oder einem sinnvolleren Diskurs geführt, die geeignet wären, die psychotische Proto-Philosophie in tragfähige, intersubjektiv sinnvolle Erzählungen zu übersetzen. Der Verrückte gerät mit seinen bedeutungsvollen Erfahrungen allzu oft vom Regen des Gotteswahns in
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die Traufe des medizinischen Krankheitsdiskurses. Charles Taylor bemerkt dazu in seinem Buch Ein säkulares Zeitalter: Die Lösung von der Religion sollte uns befreien und die volle Würde des Akteurs schenken, damit wir die Bevormundung von seiten der Religion, also der Kirche und folglich der Geistlichen loswerden. Doch jetzt sind wir gezwungen, neue Experten, Therapeuten und Ärzte aufzusuchen, welche eine Kontrolle ausüben, die blinden und zwanghaften Mechanismen angemessen ist, und die uns vielleicht sogar Medikamente verabreichen. Wir Kranken werden nun in noch höherem Maße von oben herab angesprochen und wie bloße Dinge behandelt als die Gläubigen von einst in der Kirche. (Taylor 2009, 1031)
4.2 Von einem Spiegelpunkt der Konvergenz Der dritte Ausdrucksbereich der Proto-Philosophie ist die Philosophie. Grundsätzlich gibt es keine Sprache und keinen philosophischen Ansatz, der geeignet wäre, dem Bereich des Wahnsinns Ausdruck zu verleihen oder ihn zu beschreiben, weil es sich hierbei um einen Bereich handelt, der dies- wie jenseits der Unterscheidung von Sprache und Denken liegt. Der Wahnsinn betrifft eine philosophische Ebene, auf der noch nicht entschieden ist, ob sich eine Behauptung oder ein Satz auf die Erfahrung ›als jemand‹ oder die Reflexion ›über etwas‹ bezieht, ob sich eine Aussage auf Erscheinungen oder auf Interpretationen von etwas bezieht, das man grob gesprochen ›Realität‹ nennt, ob sie etwas Gegebenes darstellt oder etwas Neues ins Leben ruft. Doch in jenen Fällen, in denen uns Botschaften aus diesem Bereich in einer vage verständlichen Art und Weise erreichen, sind die naheliegenden philosophischen Bezugsrahmen diejenigen, die genau jene Schwierigkeiten umkreisen und die eng mit den Problemen und Themen der Mystik, Spiritualität und Religion verknüpft sind. Es handelt sich um Arten der Philosophie, die mit dem Moment des Staunens – und der Perplexität und Verwirrung – in enger Beziehung stehen, ohne aber bereits weitgehend in die ›eigentlichen‹ Diskurse oder die Tradition einbezogen oder in ihnen eingehender ausgearbeitet worden zu sein. Erstens werden wir Zeuge, wie aus wahnsinnigen proto-philosophischen Ursprüngen freischwebende Kosmologien, allumfassende Systeme und textliche Träumereien entstehen. Allen diesen Phänomenen wohnt vor allem die Tendenz zum Monismus inne. Der Weg 134 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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zum und durch den Wahnsinn ist durch transgressive Gedanken charakterisiert, d. h. die Neigung, alles in einem monolithischen Fluss zu umfassen, der alle Gegensätze überschreitet oder ›aufhebt‹ und dabei nichts in der Widerständigkeit eines vermeintlichen Andersseins unberührt lässt. In der Praxis kann dieser wahnsinnige Monismus Phantasien und Postulate eines ›Monarchen‹, einer ›Kernkraft‹ oder eines ›plotinischen Einen‹ auf dem tiefsten Grund des Denkens beinhalten, die zugleich von paranoiden Bedeutungszirkeln umringt sind. Zweitens sind Philosophien, die dem Wahnsinn entstammen, oft ›idealistisch‹ geprägt. Der Übergang von der willentlichen Hyperreflexivität zur Perplexität bedeutet und entspricht einer Emanation des Geistes in die Wirklichkeit; der Etablierung eines wirklichen Kontaktes zwischen den Gedanken und der zugrunde liegenden Matrix der Wirklichkeit. Konkrete Erfahrungen des Wahnsinns werden von Gefühlen von und Gedanken an Telepathie und Telekinese begleitet. Drittens drängt sich, dem Anschein eines ›wirklichen Kontaktes‹ geschuldet, die Kontaktinstanz – sei es eine Kraft, ein Licht oder eine Dunkelheit, ein Geist oder Gott – mit immer mehr Nachdruck in den Vordergrund. Grenzen und Entfernungen verschwinden und es ist, als ob fest umrissene ›Essenzen‹ aufbrechen und freiwirbelnde ›Existenzen‹ entfliehen würden. Diese Gefühle des Verbundenseins, des Fließens und der Intensität führen zu Philosophien der Bejahung und der Fülle. Psychopathologische Begrifflichkeiten, die in diesen Kontexten Anwendung finden, sind Manie, Entgleisung und Enthemmung. Viertens wird oft früher oder später zusätzlich zu dieser Fülle des Fließens und Strömens die Zwecklosigkeit und Flüchtigkeit ebendieses Strömens erfahren und man stolpert in die totale Leere einer grundlegenden Instabilität und des Nichts. Nichts hat im Gebiet des Wahnsinns Bestand; es gibt keine gleichbleibenden Wörter oder Begriffe, kein fester Boden lässt sich in diesem psychotischen, protophilosophischen Fluchtpunkt der Konvergenz finden. Wahnsinnige Hyperreflexivität führt nicht zu der Entdeckung oder Erschaffung einer stabilen, sicheren, neuen Welt, sondern lediglich zu einer unsteten, eigenbrötlerischen, rasant fluktuierenden Symbolik. Psychopathologische Begriffe und Vorstellungen, die diesen Aspekt am ehesten anklingen lassen, sind die der depressiven Psychose, Angst und Leere. Schließlich können nach den ersten Phasen kompakter und her135 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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metischer Perplexität, nach dem Oszillieren von Verzückungen und Ängsten, nach den Kontraktionen und den Expansionen längere parareflektierende Ausführungen und Systeme entstehen. In diesen neuen wahnsinnigen Konstruktionen, die einer psychotischen Proto-Philosophie entspringen, werden Widersprüche und Dualismen von Nichts und Sein, Fülle und Leere, Innen und Außen, Leben und Tod, Endlichkeit und Unendlichkeit, Vergangenheit und Gegenwart auf idiosynkratische, unvergleichliche – mitunter aber auch philosophisch bewusste – Weise miteinander verwoben.
5.
Fazit
Ich habe in diesem Beitrag gezeigt, wie die Philosophie zum Wahnsinn in Beziehung gesetzt werden kann. Zunächst einmal gibt es schon eine Tradition in der Philosophie, die sich dem Wahnsinn widmet, nämlich die phänomenologische Psychiatrie. Eine weitergehende Auseinandersetzung mit der Philosophie kann der Fortführung dieser Tradition förderlich sein und ihr zugleich eine erhöhte Relevanz und verbesserte Anwendbarkeit zuwachsen lassen, nicht nur für die psychiatrische Praxis, sondern auch im Hinblick auf eine Erweiterung bzw. Ausweitung der philosophischen Anthropologie. Des Weiteren habe ich argumentiert, dass die Tätigkeit des Philosophierens mit dem Fortgang des Wahnsinns in grundsätzlicher und intrinsischer Weise verwandt ist. Drittens habe ich versucht, die üblichen (Selbst-)Bestimmungen des psychotischen Diskurses – die in der Regel nur zu (Selbst-)Verdinglichungen in Form psychiatrischer Etikettierungen und Stigmata führen – umzukehren. Ich habe dabei für mehr Aufmerksamkeit für philosophische und andere außergewöhnliche Denkbewegungen plädiert, die in dieser Umkehrung der üblichen (Selbst-)Bestimmungen gefunden werden können. Insbesondere im Hinblick auf die dritte Schlussfolgerung könnten sich weitere Untersuchungen als wertvoll erweisen. Inwiefern können verrückte Gedanken und Erfahrungen die Vorstellungen von Grenzen und Begrenzungen des Menschen und der Menschheit beeinflussen und wie kann der Austausch zwischen Wahnsinn und Philosophie gefördert werden? Darüber hinaus kann diese Forschung in den weiteren Zusammenhang einer ›transformativen Philosophie‹ gesetzt werden, eine Tradition, die mit Vorsokratikern wie Empedokles und Parmenides begonnen haben mag und die sich mit Denkern 136 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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wie Pierre Hadot, Michel Foucault und Peter Kingsley bis in unsere heutige Zeit fortgesetzt hat. Es geht hierbei um philosophische Wenden, spirituelle Transformationen, religiöse Bekehrungen, drogeninduzierte Einschnitte (z. B. mit Hilfe von Ayahuasca, Meskalin oder LSD), psychotische und mystische Episoden und andere Arten grundlegender Veränderungen des Erlebens als Wahlmöglichkeiten sowohl für die Autoren als auch für die Leser von philosophischen Texten. Für die Erforschung einer möglichen ›Umkehrung der natürlichen Lebenshaltung‹ stellt der Wahnsinn eine ausgezeichnete Gelegenheit dar.
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Das Leiden an der Negativität des Wollens Alice Holzhey-Kunz
Zusammenfassung Anders als beispielsweise Schopenhauer sehe ich im Willen eine nur dem Menschen eigene Kraft, zu der wesentlich ein Selbstverhältnis gehört. Der Wille ist nur möglich als ein ›Ich will‹ und erfordert überdies vom wollenden Subjekt auch die Bejahung des eigenen Wollens. Dem steht entgegen, dass das Wollen von so viel Negativität belastet ist, dass ein unbeschwertes oder gar freudiges Wollen gar nicht möglich wäre, würden wir dessen negative Implikationen nicht normalerweise ausblenden. Ich zeige im ersten Teil, worin diese Negativität im Einzelnen besteht, und folge dabei existenzphilosophischen Erkenntnissen. Dabei unterscheide ich zwischen zwei Phasen: dem Wollen als Wählen dessen, was ich will, und dem Wollen als Verwirklichen-Wollen des von mir Gewählten: dem Handeln. Obwohl bereits das Wählen für viele ein beängstigender Akt ist, weil Verzicht und Risiko unvermeidbar sind, zeigt doch das verbreitete Phänomen der Prokrastination, dass der Schritt von der Wahl zum Handeln als die eigentliche Bedrohung erfahren wird. Denn erst dadurch wird man zum Täter, der auch unbeabsichtigte negative Folgen verursacht, die nicht rückgängig zu machen sind. Diese Deutung des Wollens macht es möglich, in einem zweiten Teil die depressiven Störungen als ein Leiden an der Negativität des Wollens zu verstehen, von dem jene Menschen erfasst werden, die zu ›hellhörig‹ sind, um den Lastcharakter des Wollens negieren zu können. Ihre depressiven Symptome manifestieren den verzweifelten Versuch, sich aus einem Leben zu verabschieden, das nicht ohne Wollen zu haben ist.
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Alice Holzhey-Kunz
I.
Einleitung 1
Ich gehe davon aus, dass der Wille eine Kraft ist, zu der wesentlich ein Selbstverhältnis gehört. Definiert man den Willen so, dann nimmt man ihn als eine spezifisch anthropologische Kategorie, denn es macht den Menschen zum Menschen, ein Verhältnis zu sich selbst zu haben. Tieren, die noch kein Selbstverhältnis haben, kann man dieser Definition zufolge also auch keinen Willen zuschreiben. Von ihnen kann man nur sagen, dass sie von inneren Kräften zu einem bestimmten Verhalten getrieben werden. Was innere Triebkräfte vom menschlichen Willen unterscheidet, ist das Fehlen eines Selbstverhältnisses. Schopenhauer und auch Nietzsche haben den Willen bekanntlich viel weiter gefasst. Schopenhauer vertritt einen Panvoluntarismus, wonach der Wille Ausdruck des »innersten Wesens« der Realität sei (Schopenhauer 1859a/1986, 170). »Alles drängt und treibt zum Dasein« (Schopenhauer 1859b/1961, 453), davon ist Schopenhauer überzeugt, wobei er mit »Dasein« das gesamte organische Leben meint. Dass es sich beim Willen um einen universellen Lebensdrang handelt, ist für Schopenhauer ein Axiom, das nicht weiter erklärbar ist, sondern allem Erklären schon zugrunde liegt. Nietzsche weist zwar Schopenhauers Auffassung als tautologisch zurück, weil nur wollen könne, was bereits lebendig sei. Darum ist der Wille nicht einfach Wille zum Leben, sondern Wille nach Steigerung des Lebens, somit »Wille zur Macht« (Nietzsche 1980a, 148 f.). Er hält aber wie Schopenhauer daran fest, dass »der Charakter des unbedingten Willens zur Macht im ganzen Reiche des Lebens« (Hervorh. A. H.) und also nicht nur beim Menschen nachweisbar sei (Nietzsche 1980b, 24 f.). Wenn ich das spezifisch Menschliche des Willens herausstellen will, dann nicht nur aus philosophisch-anthropologischem Interesse, sondern auch aus der Absicht, ausgehend davon zu verstehen, warum im Zustand der Depression die Fähigkeit verloren geht, überhaupt noch zu wollen. Depressive Menschen leiden darunter, nicht (mehr) wollen zu können (vgl. Woggon 1998). Ich will mich nicht mit der psychiatrischen Feststellung begnügen, dass es sich dabei um ein für die Depression zentrales Krankheitssymptom handelt, sondern folge Ich danke Thomas Fuchs für die kritische Durchsicht der ersten Textfassung, die mir geholfen hat, den Text neu zu konzipieren.
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Das Leiden an der Negativität des Wollens
dem Vorbild Sigmund Freuds, der gemeinsam mit Breuer entdeckt hat, dass psychische Krankheitssymptome einen verborgenen Sinn haben. 2 Allerdings orientiere ich mich inhaltlich nicht an Freuds Theorie der psychischen Entwicklung des Kleinkindes, sondern an existenzphilosophischen Überlegungen zur Negativität menschlichen Wollens. Diese Überlegungen machen es möglich, die vermeintliche ›Unfähigkeit‹, noch wollen zu können, existenzial-hermeneutisch aufzuschlüsseln und als Ausdruck eines Leidens an der Negativität des Wollens zu verstehen.
II.
Das Wollen als ein doppeltes Selbstverhältnis
Der menschliche Wille ist ein subjektiver Akt, der sich als ein ›ich will‹ oder ›du willst‹, oder ›er (bzw. sie) will‹ manifestiert. 3 Gemäß diesem Willensverständnis gibt es zwar beim Menschen ein ›Es drängt mich zu etwas‹ bzw. ein ›Etwas in mir drängt mich zu etwas‹, aber kein ›Es will in mir, dass ich das oder jenes tue‹, sondern nur ein ›ich will‹. Im ›ich will‹ liegt bereits ein Verhältnis zu sich selbst als jemandem, der will. Wer selbst will, weiß zugleich, dass er selbst will und nicht ein anderer. Doch zu diesem primären Selbstverhältnis, das dem ›ich will‹ eigen ist, gesellt sich ein zweites Selbstverhältnis. Es besteht darin, sich im Prinzip zu allem, was ich denke, wahrnehme oder will, noch einmal zu verhalten. 4 Beispiel: Ich will mir ein großes und teures Auto kaufen. Zu diesem Willensentscheid verhalte ich mich immer noch einmal, sei es, dass ich stolz darauf bin, mir ein teures Auto leisten zu können, sei es, dass ich mich wegen meiner Eitelkeit schäme, sei es, dass ich den Neid der anderen fürchte usw. Das Bei-
Dazu ein einschlägiges Zitat aus Freuds »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« von 1917: »Meine Damen und Herren! Eines Tages machte man die Entdeckung, dass die Leidenssymptome gewisser Nervöser einen Sinn haben. Daraufhin wurde das psychoanalytische Heilverfahren begründet.« (1917/1999, 79) 3 Die Frage, wie sich ein gemeinsamer (kollektiver) Wille konstituiert und in welchem Verhältnis das ›wir wollen‹ zum ›ich will‹ der das Kollektiv bildenden Individuen steht, ist zwar wichtig, aber für unsere Frage nicht relevant und bleibt darum unbeachtet. 4 Darauf hat vor allem der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt aufmerksam gemacht und dieses zweite Selbstverhältnis »second order volition« bzw. »higher order volition« genannt (1971). 2
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spiel zeigt, dass wir in der second order volition immer irgendwie Stellung nehmen zu dem, was wir jeweils wollen. Diese Stellungnahme kann auch moralischer Natur sein und dann zum Beispiel die Form eines Zweifels annehmen: »Entspricht das, was ich hier will, wirklich meinen moralischen Überzeugungen?« Dieses Beispiel lässt bereits erahnen, welch großen Einfluss die sekundäre Stellungnahme auf das Wollen selbst hat. Denn kann ich wirklich noch an meinem Willen festhalten, wenn ich mir zugleich eingestehen muss, dass ich ihn, wenn ich ehrlich bin, moralisch verurteilen muss? Ein eindrückliches Beispiel dafür, dass dieses zweite Selbstverhältnis nicht erst nachträglich zu dem, was man will, noch hinzukommt, sondern dass es sich dabei um ein Element des Wollens selbst handelt, gibt schon Homer in der Odyssee. Odysseus will bei seiner Rückfahrt von Troja nach Ithaka unbedingt den Gesang der Sirenen hören, obwohl er sich bewusst ist, dass er sich und seine Gefährten damit in Lebensgefahr bringt. Während die meisten Menschen angesichts der Gefährlichkeit dieses Vorhabens, wenn auch ungern, auf den Willen verzichten würden, bleibt Odysseus bei seinem Vorhaben. Aber wie er seinen Willen durchsetzt, zeigt, dass es sich um sein ›Wollen‹ und nicht um ein Besessensein von einer Begierde handelt. Den Gesang hören zu wollen, heißt für ihn, aktiv Mittel und Wege zu finden, welche das Gewollte möglich machen, ohne sich und seine Gefährten dabei der tödlichen Gefahr auszusetzen. Seine Lösung besteht bekanntlich darin, den Matrosen Wachs in die Ohren zu gießen, damit sie nichts mehr hören können, sich selbst an den Mast des Schiffes binden zu lassen und den Matrosen zu befehlen, ihn auch dann nicht loszubinden, wenn er das von ihnen fordern wird. 5
1.
Das Wollen als bejahtes Wollen
Das Beispiel von Odysseus ist deswegen bemerkenswert, weil es deutlich macht, was den Willen, die Sirenen zu hören, vom triebhaften Verfallensein an eine (vermeintlich unwiderstehliche) Begierde unterscheidet. Während der Getriebene seinem Begehren unüberlegt
Den Hinweis auf dieses Beispiel habe ich dem Aufsatz von Robert Spaemann (1996, 222) entnommen.
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Das Leiden an der Negativität des Wollens
folgt, indem er die Todesgefahr ausblendet, bejaht der Wollende im Idealfall die Verantwortung, die er mit seinem ›ich will‹ für dessen Konsequenzen trägt. Odysseus nimmt die Gefahr, der er sich und seine Gefährten willentlich aussetzt, ernst und knüpft die Realisierung seines Willens an die Bedingung, dass dadurch niemand zu Schaden kommen soll. Odysseus erscheint als der Prototyp jener Menschen, denen man einen starken statt nur schwachen Willen zuschreibt. Wer einen starken Willen hat, hält auch dann noch an ihm fest, wenn seiner Realisierung starke Hindernisse entgegenstehen. Die Stärke eines Willens liegt aber gerade nicht darin, ›mit dem Kopf durch die Wand zu gehen‹, koste es was es wolle, sondern nur zu wollen, was sich auch verantworten lässt. Der starke Wille ist darum weder maßlos noch stur. Er bedarf zwar einer ambivalenzfreien Bejahung, aber diese Bejahung muss auf kritischer Prüfung und auch auf der Bereitschaft beruhen, die passende Zeit abzuwarten und sich veränderten Umständen anzupassen. Jean-Paul Sartre hat die Tatsache, dass ein Wollen-Können von dessen Bejahung abhängig ist, in den Satz gefasst: »In Wirklichkeit genügt es nicht zu wollen, man muss wollen wollen« (1943/1999, 772; Hervorh. A. H.). Jeder Zweifel schwächt den Willen, und jede Verneinung paralysiert ihn. Hilft uns die Erkenntnis, dass zum Wollen notwendig dessen Bejahung gehört, auch schon weiter in Bezug auf das rätselhafte depressive Symptom, nicht (mehr) wollen zu können? Berechtigt diese Erkenntnis zu der Frage, ob sich hinter dem Symptom des Nichtmehr-wollen-Könnens ein Nicht-mehr-wollen-Wollen verbergen könnte? Die Frage ist gewiss erlaubt, aber eine Antwort darauf wird erst möglich, nachdem wir genauer untersucht haben, was es eigentlich bedeutet, etwas zu wollen, und zwar unabhängig davon, ob das, was man konkret will, wichtig oder unwichtig, sinnvoll oder unsinnig, moralisch gut oder verwerflich ist. Hingegen scheint es mir angezeigt, jetzt schon diese Frage vor einem möglichen Missverständnis zu schützen. Sie unterstellt in keiner Weise, der Depressive täusche nur vor, dass er nicht mehr wollen könne, während er sich in Wahrheit vor dem Wollen und Handeln aus purer Bequemlichkeit drücken wolle. Als Psychotherapeut begegnet man immer wieder depressiven Menschen, die befürchten, von der Umgebung als Drückeberger eingeschätzt zu werden, und die diesen Vorwurf aus purer Angst sogar gegen sich selbst richten. Die 143 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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Frage, die uns hier beschäftigen wird, ist hingegen rein hermeneutisch gemeint und enthält also kein diesbezügliches Werturteil. Sie will nichts anderes, als nach dem Vorbild der Psychoanalyse einen möglichen Sinn im Symptom aufzudecken und zu verstehen. Damit ist nicht in Frage gestellt, dass es sich – in medizinisch-psychiatrischer Sicht – um ein Krankheitssymptom handelt, das depressive Menschen er-leiden.
2.
Die Doppeldeutigkeit des Wollens
Ich spreche von einer Doppeldeutigkeit des Wollens, um zu betonen, dass sich das Wollen aus zwei verschiedenen Akten zusammensetzt. Man kann auch von zwei Schwerpunkten sprechen, um die das Wollen im Prozedere des Wollens nacheinander zentriert ist, oder von zwei aufeinanderfolgenden Schritten, die wir wollend vollziehen. Das Wollen ist zunächst auf die Wahl dessen zentriert, was man will, besteht also im Wählen-Wollen. Mit der Wahl ist aber erst der erste Schritt getan. Und wir werden sehen, dass es immer offen ist, ob der zweite Schritt folgt, der darin besteht, das Gewollte real werden zu lassen, indem man willentlich auf die Realität einwirkt. Ich werde im Folgenden beide Schwerpunkte des Wollens getrennt vorstellen, wobei ich beide Male einseitig das Belastende und auch Bedrohliche daran hervorheben werde. Unbeachtet bleibt also, dass beiden Schritten auch etwas Bereicherndes, ja Beglückendes innewohnt, weshalb das eigene Wollen-Können für all jene Menschen, die ihr Leben selbstbestimmt gestalten wollen, ein überaus kostbares Gut darstellt. Das Wollen als ein Wählen-Wollen Das Wollen hat immer ein Objekt: Man will etwas Bestimmtes erreichen, etwas Bestimmtes gewinnen, etwas Bestimmtes vermeiden usw. Wie aber kann man überhaupt wissen, was man wirklich will, nicht nur für den Moment, sondern auf Dauer? Diese Frage ist ebenso berechtigt wie schwer zu beantworten. Wir reduzieren sie darum auf die technische Frage, wie man denn dazu gelangen kann, (wirklich oder nur vermeintlich) zu wissen, was man will. Darauf ist die Antwort klar und einfach zu geben: Man muss eine Wahl treffen. Wählen heißt immer, sich auf eine der gegebenen Möglichkeiten festzulegen. 144 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Das Leiden an der Negativität des Wollens
Allerdings stehen nicht immer zwei oder gar mehrere Möglichkeiten zur Wahl. Man trifft auch dann eine Wahl, wenn man der einen Möglichkeit, die sich anbietet, zustimmt. Die Wahl liegt dann darin, das Angebot entweder anzunehmen oder es zurückzuweisen. Der unvermeidbare Verzicht in jeder Wahl Vermutlich würden die meisten Menschen von sich sagen, dass sie es vorziehen, selbst wählen zu dürfen, statt eine für sie getroffene Wahl annehmen zu müssen. Doch auch wer frei ist zu wählen, muss sich Zwängen unterwerfen. Denn wählen heißt ja immer, sich für das eine und damit gegen das andere zu entscheiden. Jede Wahl zwingt also zum Verzicht. Im Schweizerdeutschen ist die Redewendung beliebt, dass man nicht ›den Fünfer und das Weggli‹ (das Geld und das Brötchen) haben könne, sondern nur das eine oder das andere. Dass es nicht möglich ist, beides zu wollen, sowohl das Weggli als auch das Geld, ist eine bittere Wahrheit und zugleich das unumstößliche Prinzip jeder Wahl. Wie sehr das jede Wahl belastet, wird daran deutlich, dass man von der ›Qual der Wahl‹ spricht. Ist es nicht geradezu unfassbar, dass man durch eine Wahl immer nur eine Möglichkeit gewinnt und dafür alle anderen Möglichkeiten, die vor der Wahl noch zur Verfügung standen, preisgeben muss? So betrachtet ist das freie Wählen-Dürfen nur noch bedingt etwas Positives und Freudvolles, weil unversehens fraglich wird, ob man eigentlich dabei mehr gewinnt oder mehr verliert. Nun kann man zwar hoffen, der Verzicht lasse sich durch die Wahl des Besseren oder gar Besten kompensieren, aber wissen kann man es niemals, weil eine Wahl meist durch Unsicherheiten belastet ist, die sich nicht aufheben lassen. Erstens sind die verschiedenen Möglichkeiten, die zur Wahl stehen, oft nur schwer gegeneinander abzuwägen, weil jede Möglichkeit ihr Pro und Kontra hat und darum keine eindeutig als die beste heraussticht. Da man trotzdem wählen muss, nähert sich die Wahl in diesen Fällen einem Zufallsentscheid an. Zweitens besteht bei jeder Wahl das Risiko, dass man sie später bereut, und zwar deshalb, weil man zum Zeitpunkt der Wahl die späteren Folgen der Wahl noch nicht vorhersehen kann. Drittens kann man auch dann, wenn man mit der getroffenen Wahl später noch sehr zufrieden ist, nicht wissen, ob man mit einer anderen Wahl nicht noch besser gefahren, nicht noch zufriedener geworden wäre. Doch das Wählen-Wollen ist noch durch ein drittes Negativum 145 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Alice Holzhey-Kunz
gekennzeichnet, das sich zum Verzicht und den Unsicherheiten jeder Wahl hinzugesellt: die Schuld. Die unvermeidbare Schuld in jeder Wahl Dass wir mit jeder Wahl auch unvermeidlich schuldig werden, erscheint nur so lange eine unsinnige Behauptung, als man lediglich jene Schuld im engeren Sinne in den Blick nimmt, die durch das Verletzen moralischer Normen entsteht. Eine solche Schuld laden wir in der Tat nur dann auf uns, wenn wir die Wahl aus unmoralischen Absichten treffen, etwa mit dem Ziel, anderen Menschen dadurch zu schaden. Von dieser faktisch-moralischen Schuld unterscheidet die Existenzphilosophie seit Kierkegaard eine ontologische Schuld, die jede Wahl mit sich führt, ganz unabhängig davon, ob die Motive für die Wahl moralisch gut oder schlecht sind. 6 Will man es genau nehmen, dann lädt man sogar bei jeder Wahl eine dreifache ontologische Schuld auf sich, die nicht davon abhängt, wie man wählt, sondern nur davon, dass man überhaupt wählt. 1)
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Man macht sich mit jeder Wahl potentiell schuldig, weil man, wie schon erwähnt, zum Zeitpunkt der Wahl die Folgen gar nicht hinreichend abschätzen kann. Resultieren aber aus einer eigenen Wahl später negative Folgen für andere Menschen, ist man ihr Verursacher und trägt dadurch diesen Menschen gegenüber eine Schuld, auch wenn es nicht die eigene Absicht war, ihnen Schaden zuzufügen. Man macht sich mit jeder Wahl real schuldig, weil man alle nicht gewählten Möglichkeiten zum Untergang verurteilt und ihnen dadurch die Chance ihrer Realisierung raubt. Man macht sich mit jeder Wahl nochmals schuldig, weil eine Legitimationsinstanz fehlt, die einen überhaupt dazu berechtigt, eine Wahl zu treffen. Das zwingt uns Menschen, uns zum Wählen selbst zu ermächtigen und uns das Recht zur Wahl einfach zu nehmen. Dieser Akt der Selbstermächtigung hat etwas Gran-
Dazu zwei Zitate von Kierkegaard und Heidegger: »In diesem Schwindel [der Angst] sinkt die Freiheit nieder. […] Im selben Moment ist alles verändert, und wenn sich die Freiheit wieder erhebt, sieht sie, dass sie schuldig ist« (Kierkegaard 1844/ 2003, 72); »Seiendes, dessen Sein Sorge ist, kann sich nicht nur mit faktischer Schuld beladen, sondern ist im Grunde seines Seins schuldig« (Heidegger 1927/2001, 286).
6
146 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Das Leiden an der Negativität des Wollens
dioses an sich und macht schuldig, weil man sich nicht selbst dazu legitimieren kann. Es gibt also kein Wählen-Wollen ohne Verzicht und Schuld. Sie sind der Preis, den man für jede Wahl zu zahlen hat. Im Normalfall lassen sich Menschen deswegen allerdings nicht entmutigen. Das gelingt ihnen dadurch, dass sie sich darauf konzentrieren, eine gute Wahl zu treffen und die Schattenseiten des Wählens unbeachtet zu lassen. Indirekt sind diese aber doch präsent, versucht doch jeder, durch eine möglichst gute Wahl die damit verbundenen Übel von Verzicht und Schuld möglichst klein zu halten. Das Wollen als ein Wirken-Wollen Jedes Wollen ist zuerst ein Wählen-Wollen, vollendet sich aber erst im Wirken-Wollen. Nun kann man sich das eigene Wirken-Wollen auch bloß in der Phantasie ausmalen, kann sich vorstellen, wie es wäre, wenn man mit dem, was man will, in der objektiven Realität eine Wirkung erzielen würde. Solange man damit im Reich der Phantasie bleibt, bleibt man noch im Reich des Möglichen. Was ändert sich eigentlich, wenn man den Schritt macht vom nur Möglichen zu seiner Verwirklichung? Kierkegaard geht sogar so weit zu behaupten, dass sich damit »alles« verändere (1844/2003, 72). Halten wir den Unterschied kurz fest: Solange wir nur den ersten Schritt getan haben, mag für uns persönlich der Entscheid zwar feststehen, aber nach außen hat sich noch gar nichts verändert. Eben darum ist der Entscheid auch für uns selbst noch nicht definitiv bindend, wir sind noch immer frei, ihn zu revidieren, ja ihn sogar ganz aufzuheben. Diese Freiheit geben wir erst dadurch definitiv auf, dass wir unsere Wahl durch die Tat bekräftigen, nämlich indem wir das, wozu wir uns entschieden haben, auch wirklich tun. Die Handlung ist ein ich-hafter Akt: Damit will ich als diese Person etwas bewirken, und zwar in der Realität, nicht nur in der Phantasie. Was immer ich bewirkt habe, lässt sich nicht mehr ungeschehen machen. Die Tatsache, dass ich das oder jenes bewirkt habe, bleibt für immer bestehen. Kierkegaard spricht von einer qualitativen Veränderung, die durch jede Handlung in die Welt kommt (1844/ 2003, 37, 59). Durch das eigene Handeln wird nicht einfach etwas schon Bestehendes quantitativ verstärkt oder gemindert, sondern et-
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was Neues geschaffen, welches einen qualitativen Unterschied zum vorherigen Zustand macht. Indem ich auf die Realität einwirke, verändere auch ich mich, denn ich werde für alle Zukunft zu jemandem, der dies oder jenes getan hat. Was immer ich durch mein Handeln bewirkt habe, gehört zu meiner eigenen Geschichte und damit zu meiner persönlichen Identität. Ich exponiere mich auch selbst mit dem, was ich bewirke, mache andere damit auf mich aufmerksam. Die anderen werden sich ein Urteil darüber bilden, auf das ich wenig Einfluss habe. Durch mein Wirken werde ich deshalb grundsätzlich beschämbar und angreifbar. Unwägbare Risiken des Wirken-Wollens Die Psychiatrie und Psychotherapie kennt das Symptom der Prokrastination. Es geht dabei um die unüberwindliche Hemmung, das, was man sich zu tun vorgenommen hat, auch wirklich zu tun. Wichtig ist, dass die Betroffenen selbst an diesem Unvermögen leiden, es überwinden wollen, indem sie sich die besten Vorsätze machen, das, was dringend zu tun ist, jetzt nicht mehr weiter aufzuschieben, sondern es sofort zu tun, um dann doch wieder zu scheitern. In einer milderen Form ist dieses Phänomen sehr verbreitet und zeigt an, dass sich bei den meisten wenn nicht eine Angst, so doch eine Scheu meldet, wenn es darum geht, vom bloßen Tun-Wollen zum realen Tun überzugehen. Diese Scheu taucht in dem Moment auf, in dem es darum geht, aus der Dimension des Möglichen in die Dimension des Wirklichen hinüberzuwechseln. Wir haben bereits angedeutet, wie viele Risiken mit dem Wechsel zur Dimension der Realität ebenfalls real werden. Schon das Faktum an sich, dass wir durch unser Wollen zu Tätern werden, die auch als Täter haftbar sind, ist unheimlich. Und diese Unheimlichkeit potenziert sich noch, wenn man sich klar macht, dass man immer mehr bewirkt als nur das, was man will. Zum einen werden erst jetzt Verzicht und Schuld, die zu jeder Wahl gehören, real, und zum andern hat jedes Wirken auch Folgen, die man weder beabsichtigt hat noch vorhersehen konnte. Darum hat es etwas sehr Verführerisches, in der Zwischenphase zwischen dem Wählen-Wollen und dem WirkenWollen zu verweilen, indem man das reale Wirken immer wieder auf später verschiebt. Die Zwischenphase ist die Zeit des Noch-nicht, in der man bereits weiß, was man will, aber sich noch nicht verbind148 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Das Leiden an der Negativität des Wollens
lich festgelegt hat, sodass man doch noch ungebunden-frei ist und einem im Prinzip noch alle Optionen offen stehen. Vorhersehbare und unvorhersehbare Konsequenzen des Handelns Wenn wir bereit sind zu handeln, dann wissen wir, was wir damit bewirken wollen. Wenn es uns gelingt, diese Wirkung zu erzielen, dann haben wir erreicht, was wir wollten. Für diese Wirkung sind wir auch bereit, die Verantwortung zu tragen. Doch von dem, was wir erreichen wollten, sind die unbeabsichtigten Folgen zu unterscheiden. Mit solchen Folgen, die weder vorhersehbar noch kontrollierbar sind, müssen wir immer rechnen. Es bleibt also nicht bei der Verantwortung für das, was wir bewirken wollten, denn auch die unbeabsichtigten Folgen sind durch unser Tun entstanden. Wenn Menschen Angst haben, das, was sie wollen, auch wirklich zu tun, dann eben darum, weil sie wissen, dass sie durch ihr Tun etwas bewirken können, was sie nicht wollten. Ein einfaches Beispiel dafür ist die Absicht, einem Kollegen zu sagen, was einen an ihm stört. Auch wenn es sich nur um eine harmlose Kritik handelt, und auch wenn man davon überzeugt ist, dass es besser ist, die Kritik vorzubringen, als zu schweigen und sich heimlich zu ärgern, fällt es oft schwer, sich endlich ›ein Herz zu fassen‹ und das, was man sich zu sagen vorgenommen hat, auch wirklich zu sagen. Die Angst wäre nicht da, könnte man auf die Reaktion des Kollegen Einfluss nehmen. Aber diese Macht hat man nicht. Man kann nicht einmal vorhersehen, wie er reagieren wird, sondern nur Vermutungen darüber anstellen. Wird er tief gekränkt sein und wortlos davonlaufen? Wird er wütend zum Gegenangriff übergehen? Wird er gar zu weinen anfangen und sich damit als unschuldiges Opfer positionieren? Das Beispiel macht deutlich, dass das, was wir intersubjektiv bewirken wollen, immer auf ein anderes Subjekt trifft, das frei ist zu entscheiden, wie es auf unser Wirken-Wollen zurückwirken will.
3.
Ein Traum – ontologisch interpretiert
Wenn ich jetzt von einem Traum berichte, der mir in meiner Praxis begegnet ist und der zum soeben erwähnten Beispiel passt, dann möchte ich damit zeigen, dass sich eine konkrete Traumgeschichte auch philosophisch verstehen lässt, nämlich als ontische Konkretisie149 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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rung einer ontologischen Wahrheit, die für alle Menschen gilt. Der Traum stammt von einer Analysandin, die als Psychologin in einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik arbeitet. In meinem Büro in der Klinik habe ich eine Pflanze. Nun findet im Traum der Morgen-Rapport in meinem Büro statt und eine anwesende Pflege-Frau zupft gedankenlos an meiner Pflanze herum. Ich befürchte, dass die Pflanze dadurch kaputtgeht und sage darum zu ihr: »Lass meine Pflanze doch bitte in Ruhe!« Darauf reagiert zuerst der Oberarzt mit Wut, weil er sich durch meine Aussage gestört fühlt; nachher gerät ein Patient der Klinik, der aus unerfindlichen Gründen auch im Raum ist, wegen meiner Äußerung ebenfalls außer sich und schreit herum, ohne dass klar wird weshalb. Ich versuche nun diesen Patienten zu beruhigen. Er ist aber plötzlich verschwunden. Ich beginne ihn verzweifelt überall zu suchen, kann ihn aber nirgends mehr finden. Da wird mir gesagt, dieser Patient sei soeben aus dem Fenster gesprungen und die Ambulanz sei bereits bestellt worden.
Die Träumerin hätte im Wachen vermutlich beim selben Vorkommnis am Rapport geschwiegen und ihre Pflanze geopfert. Ihre Angst davor, sich für ihre eigenen Interessen einzusetzen, ist darum immer wieder Thema in der Analyse. Der Traum stellt gleichwohl nicht nur ihr persönliches Problem dar, sondern er lässt sich auch als symbolische Darstellung dessen verstehen, was für alles Wollen zutrifft und darum auch für uns wahr ist. Der ontologische Sinn des von der Träumerin geäußerten Satzes Ich möchte zuerst den Satz, aus dem alles Spätere folgt, ontologisch deuten. Dafür ist entscheidend, in welcher Situation die Träumerin diesen Satz äußert. Es ist der Morgen-Rapport, bei dem in der Regel nicht über persönliche Anliegen, sondern nur zwecks des Informationsaustausches über Patienten gesprochen wird. Die Träumerin ist beim Rapport anwesend, weil das zu ihren Pflichten als Psychologin gehört. Wenn sie nun während des Rapports die Pflegefrau um etwas bittet, stört sie den normalen Ablauf, weil sie selbst aus ihrer Funktion als Psychologin heraustritt und in eigener Sache spricht. Der Unterschied ist wichtig, weil es für diese Frau selbstverständlich ist, in ihrer Funktion als erfahrene Psychologin am Rapport über ihre Patienten zu sprechen. Diese Pflanze aber ist nur ihr persönlich wichtig, sie unterbricht also das Rapport-Gespräch aus einem privaten Interesse heraus. Genau das evoziert die Wut des Oberarztes. Dass sich diese Frau für ihre Pflanze einsetzt, interpretiere ich 150 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Das Leiden an der Negativität des Wollens
ontologisch als Ausdruck dafür, dass sie im strengen Sinne sagt »ich will etwas« – und zwar nicht im Dienste von Patienten, sondern ›für mich‹, und ›ich will etwas für mich, weil auch ich als Person wichtig bin‹. Das bedeutet zugleich, dass sie sich mit diesem Satz vor den anderen als eigene Person und damit als Subjekt exponiert. Das wiederum kann sie nur, weil sie sich selbst als Subjekt bejaht. So stellen wir denn fest, dass der Satz der Träumerin, mit dem alles beginnt, ihren Willen symbolisiert, ein Subjekt zu sein und auch als Subjekt von anderen respektiert zu werden. Zugleich demonstriert diese Episode während des Rapports, dass wir Menschen unser eigenes Subjektsein selbst verwirklichen, indem wir sagen, was wir wollen, weil wir uns nur als Wollende den anderen gegenüber als Subjekte mit eigenen Interessen positionieren. Es geht in diesem Satz also um viel mehr als nur um die Rettung der Pflanze. Es geht darum, dass man nur dann Subjekt ist, wenn man seinen Willen kundtut. Der ontologische Sinn der unbeabsichtigten Wirkungen des Satzes Die nächste Sequenz des Traumes verbildlicht die ontologische Tatsache, dass man nie wissen kann, welche Wirkung ein ausgesprochener Satz hat, mag er zunächst noch so harmlos erscheinen. Der Traum greift zu einem sehr irrealen Geschehen, um zu veranschaulichen, was sich im Grunde nicht veranschaulichen lässt, weil es nicht um ein ontisch-konkretes ›Was‹ oder ›Wie‹ oder ›Warum‹, sondern um ein ontologisch-prinzipielles ›Dass‹ geht: dass im Prinzip auch etwas Kleines eine große Wirkung haben kann, die nicht vorhersehbar ist; dass man keine Kontrolle darüber hat, wie andere das, was man sagt oder tut, auffassen und gar manipulativ zu eigenen Zwecken weiterverwenden; dass es grundsätzlich eine Illusion ist zu glauben, man habe die Macht, die Wirkung auf das zu begrenzen, was man selbst konkret bewirken will; dass man auch unbeabsichtigte Wirkungen verursacht und also verschuldet hat. Der ontologische Sinn konkreter Schuld- und Schamgefühle Schuld und Scham sind oft nahe beisammen. Im vorgestellten Traum steht zwar die Schuld im Zentrum. Indem der Traum verbildlicht, dass jedes Wirken-Wollen schuldig machen kann, stellt er auch klar, dass, wer Schuld um jeden Preis vermeiden will, niemals das Gewollte handelnd verwirklichen darf. Der Traum handelt aber auch von der 151 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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Scham. Wenn der Oberarzt wütend wird, dann will er damit die Träumerin nicht nur beschuldigen, sondern zugleich vor der ganzen Gruppe bloßstellen und auf diese Weise beschämen. Und die Nachricht, dass der Patient sich aus dem Fenster gestürzt hat, kommt nicht nur der Psychologin zu Ohren, sondern wird sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Klinik ausbreiten. Deshalb werden in Kürze alle Augen auf die Psychologin gerichtet sein, die nun ›am Pranger steht‹. Doch auch diese beiden Schamszenen lassen sich ontologisch verstehen. Sie verbildlichen drei ontologische Grundtatsachen: dass man sich, sobald man etwas bewirkt, mit seiner Wirkung unweigerlich exponiert; dass man dadurch, dass man sich exponiert, immer auch riskiert, beschämt zu werden; dass man über den Blick und das Urteil der anderen keine Macht hat, weshalb man nicht selten auch ungerechtfertigter Beschämung ausgeliefert ist. Wenn wir den Traum als Verbildlichung der ontologischen Bedrohung lesen, die allem Wirken-Wollen immanent ist, dann sind wir alle als wollende Lebewesen davon angesprochen, dann lehrt er uns, was wir eigentlich wissen, aber meist verleugnen: dass alles Wollen von Negativität durchsetzt ist und dass es eine Illusion wäre zu hoffen, es gebe ein Wollen, das von dieser Negativität befreit wäre.
4.
Der Schritt von der Dimension des Möglichen zur Dimension des Wirklichen als ein Sprung
Das Symptom der Prokrastination hat uns bereits gezeigt, dass es vielen Menschen schwerfällt, den Schritt vom Etwas-tun-Wollen zur Verwirklichung des Gewollten zu machen. Wir haben die Schwierigkeit dort an dem Umstand festgemacht, dass wir damit von der Dimension des Möglichen zur Dimension des Wirklichen hinüberwechseln und diesen Wechsel als unheimlich erfahren. Unheimlich ist an diesem Wechsel, dass wir dadurch zu Tätern werden und uns auch als Täter exponieren, ohne vorhersehen zu können, welche Konsequenzen unsere Tat haben wird. Kierkegaard hat genial erkannt, dass wir diesen Wechsel nur schaffen durch einen Sprung. Dabei ist entscheidend, dass dieser Sprung immer die Sache des einzelnen Individuums ist. Man kann den Sprung nicht gemeinsam vollziehen. Andere mögen uns dazu ermuntern, doch endlich zu tun, was wir schon seit langem tun wollten, aber den Sprung zu vollziehen, bleibt immer ›nur meine Sache‹. 152 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Das Leiden an der Negativität des Wollens
Warum aber ist kein Hinüberschreiten möglich? Warum sind wir zum Sprung gezwungen? Dafür ist Verschiedenes maßgeblich: –
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Zwischen den Dimensionen des Möglichen und des Wirklichen klafft ein »Nichts«, weil beide Dimensionen vorneinander grundverschieden sind. Das Mögliche kann darum niemals von selbst in Wirklichkeit übergehen, nur der Mensch schafft den Übergang durch den Sprung über den Abgrund (vgl. Kierkegaard 1844/2003, 59, 91). Der Sprung ist nicht rückgängig zu machen. Wer gesprungen ist, kann nicht mehr an den Ort des Absprungs zurückkehren. Mit dem »Sprung« in die Dimension des Wirklichen »ist alles verändert« (ebd., 72): »Die neue Qualität erscheint sofort, mit dem Sprung, mit der Plötzlichkeit des Rätselhaften« (ebd., 37). Nichts kann uns dazu bewegen, das, was wir tun wollen, auch wirklich zu tun. Die Rede von Motiven (deutsch: Beweg-Gründen) ist hier ganz irreführend. Es gibt auch nichts mehr zu überlegen. Das ist alles schon geleistet. Es geht nur noch darum, den Akt der Verwirklichung zu vollziehen. Darin besteht der Sprung.
Der Sprung als Akt der Selbstermächtigung »Angst« und »Sprung« gehören für Kierkegaard untrennbar zusammen (1844/2003, 59). Das ist aber nicht so zu verstehen, dass wir deshalb springen, weil wir Angst haben und von der Angst frei werden möchten. Vielmehr vollziehen wir den Sprung in Angst. In der Angst erfahren wir, was es heißt, den Sprung zu springen. Zum einen macht uns die Angst darauf aufmerksam, dass jedes Wirken-Wollen unvermeidliche Gefahren in sich birgt; zum anderen erfahren wir in der Angst, dass wir springen, weil wir springen, also ohne Grund. Diese Erfahrung ist uns vertraut aus dem Sprung ins Wasser. Wenn wir auf dem Sprungturm oder auch nur am Rande des Wassers stehen, dann gibt es keinen Grund, warum wir jetzt springen oder erst später oder aber gar nicht. Entweder wir tun es oder wir tun es nicht, wir springen ins Wasser oder wir bleiben auf dem Trockenen stehen. Wenn wir uns diese Erfahrung vergegenwärtigen, dann wird uns auch deutlich, was wir in dem Moment tun, wenn wir springen: Wir sagen »Ja« zum Sprung. Den Sprung bejahen aber heißt, sich selbst zum Sprung ermächtigen. Selbstermächtigung aber macht Angst, weil man weiß, dass 153 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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Fragen wie »Darf ich das?« oder »Woher nehme ich mir dieses Recht?« letztendlich unbeantwortet bleiben.
5.
»Dein Wille geschehe«
Wenn gläubige Christen das Vaterunser beten, dann bitten sie Gott immer auch darum, dass sein Wille geschehen möge, und zwar nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden. In diesem Wunsch, dass Gottes Wille unseren menschlichen Willen leiten möge, kommt das menschliche Leiden am Wollen zum Ausdruck. Jedes Leiden enthält den Wunsch nach Erlösung vom Leiden. Im Leiden am Wollen steckt der Wunsch, vom Wollen erlöst zu werden. Bekanntlich bleibt es bei gläubigen Christen nicht bei der bloßen Bitte an Gott. Auf Gott zu vertrauen, heißt für fromme Christen, darauf zu vertrauen, dass man von Gott in allem Wollen geleitet ist, dass also der göttliche Wille im eigenen Willen wirksam ist. Wer darauf auch heute noch vertrauen kann, dass sein Leben ›in Gottes Hand‹ ist, wer glauben kann, dass er von Gott in allem sicher geführt wird, der braucht sich weder vor seinen Entscheidungen noch vor dem Sprung, noch vor den Wirkungen seines Handelns zu ängstigen. Sogar dann, wenn er unfreiwillig Schuld auf sich lädt, hilft ihm das Vertrauen in Gott, diese Schuld anzunehmen. Der Gläubige braucht den Willen Gottes, der ihn schuldig werden ließ, nicht zu verstehen, weil er sich an das Wort von Paulus halten kann, wonach die Entscheidungen des Herrn unergründlich sind (Röm 11,33/34). Wer hingegen durch die moderne Aufklärung gegangen ist, vermag, wenn überhaupt, nur noch abstrakt an einen Gott zu glauben und fühlt sich deshalb mit seinem Wollen und Handeln auf sich selbst gestellt – was nichts anderes heißt, als dass er sich als ein modernes Subjekt weiß, dem das Wollen als eigener, subjektiver Akt überantwortet ist. Damit kehren wir zurück zu der anfänglichen Aussage, jedes Wollen sei ein ›ich will‹. In der säkularen Moderne kann man der Tatsache, dass immer ›ich‹ es bin, der will, und dass also auch die Verwirklichung eines eigenen Fehlentscheides durch mich mit all seinen Folgen von mir zu verantworten ist, nicht mehr entrinnen. Von dieser Last, die auf allem Wollen liegt, kann ich mich auch nicht entlasten, indem ich einen Freund bitte, an meiner Stelle zu handeln, weil er es ja nur übernimmt, meinen Willen zu erfüllen. So bleibt denn als Fazit, dass in der Moderne der Wille Ausdruck des auf sich 154 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Das Leiden an der Negativität des Wollens
selbst gestellten Subjekts ist, das sich selbst zum Wollen ermächtigen muss und im Akt der Selbstermächtigung sein eigenes Subjekt-Sein bejaht.
III. Das depressive Leiden an der Negativität des eigenen Wollens Ich möchte nun abschließend das depressive Symptom des ›Nichtmehr-wollen-Könnens‹ als Ausdruck des Leidens an der Negativität des Wollens interpretieren. Diese Interpretation basiert auf der Erkenntnis, dass nur wollen kann, wer das Wollen will und sich selbst als wollendes Subjekt bejaht. Nun haben wir ausführlich geschildert, wie stark das Wollen von Negativität durchsetzt ist. Zu Recht ist der Spruch Kierkegaards, die Angst sei »der Schwindel der Freiheit« (1844/2003) berühmt geworden, kann es einem doch schon bei der bloßen Vorstellung der Risiken, denen man sich durch das eigene freie Wollen immer aussetzt, schwindlig werden. Warum – so die berechtigte Frage – gelingt es der großen Überzahl der Menschen dennoch, zumeist angstfrei zu wollen? Ist es vielleicht ein Ausdruck ihrer größeren seelischen Reife, dass sie im Unterschied zu den Depressiven mit dem Wollen problemlos zurechtkommen? Kierkegaard meint dazu sarkastisch: »Sollte es jener, der da redet, dagegen für etwas Großes halten, dass er sich niemals geängstigt hat, dann will ich ihn mit Freuden in meine Erklärung einweihen: Dies beruht darauf, dass er sehr geistlos ist« (1844/2003, 184). Was Kierkegaard hier mit Geistlosigkeit meint, können wir am besten mit Selbstvergessenheit übersetzen, und zwar im Sinne des Vergessens der unaufhebbaren Negativität des eigenen Seins (der conditio humana). Dieses Vergessen gewährt eine Entlastung, die sich allerdings einem Sich-Hinwegtäuschen über die Wahrheiten des eigenen Menschseins verdankt. Was man seelische Gesundheit im Sinne einer durchschnittlichen seelischen Normalität nennt, basiert auf dieser Entlastung, die es erlaubt, die Energien und Fähigkeiten in den Dienst der ganz konkreten Lebensaufgaben bzw. in den Dienst des Ergreifens konkreter Lebenschancen zu stellen. Auch dieses alltägliche Wollen ist zwar bejaht, nur dass diese Bejahung kein ich-hafter Akt ist, sondern sich wie von selbst vollzieht, in fragloser Selbstverständlichkeit. Die depressiven Menschen hingegen können nicht (mehr) wollen, weil sie hellhörig sind dafür, dass sowohl das Wählen-Wollen wie 155 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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das Wirken-Wollen von Negativität durchsetzt ist. In ihrer Unfähigkeit, noch wollen zu können, manifestiert sich darum ihr Leiden am Wollen. Wichtig ist nun, dass in dieser Wendung das Wort ›leiden‹ nicht einfach dasselbe meint wie in der medizinischen Feststellung, der Depressive leide am Symptom des Willensverlustes. In der Medizin meint Leiden in der Regel die subjektive Erfahrung, welche einem objektiven Krankheitsbefund zugehört. Hier hingegen eignet dem Leiden zuerst einmal eine besondere subjektive Offenheit für etwas Leidvolles. Wer sich gegen ein leidvolles Ereignis oder einen leidvollen Sachverhalt verschließt, der kann/muss auch nicht daran leiden. In diesem Sinne benutzen wir das Wort ›leiden‹ auch in der Umgangssprache, wenn wir beispielsweise zwischen jenen Menschen unterscheiden, die an der herrschenden Ungerechtigkeit dieser Welt leiden, und den anderen, die diese Ungerechtigkeit kalt lässt, weil für sie nur ihr eigenes Wohlergehen zählt. Ganz analog unterscheide ich nun zwischen Menschen, die besonders offen sind für die ontologischen Grundbedingungen der conditio humana und deshalb daran leiden, und jenen anderen, die diese »Last des Seins« (Heidegger 1927/2001, 134) vergessen können und die darum genug Energie und auch Optimismus aufbringen, um das eigene Leben trotz manch konkreter Schwierigkeiten anzupacken und zu meistern. Um die ontologische Offenheit von einer Offenheit für ontisch-konkrete Sachverhalte zu unterscheiden, bezeichne ich erstere als ›Hellhörigkeit‹ und gehe von der Hypothese aus, dass alles seelische Leiden immer auf einer Hellhörigkeit für die Negativität dieser oder jener Aspekte der conditio humana basiert. Diese Hypothese will die psychoanalytische Annahme, wonach seelischem Leiden ontisch-konkrete Negativerfahrungen der frühen Kindheit zugrunde liegen, nicht ersetzen, wohl aber philosophisch ergänzen bzw. vertiefen. 7 Doch dieses Leiden beinhaltet mehr, als nur von einer Negativerfahrung nicht loszukommen. Wir sind als Leidende fast immer auch Wünschende, liegt doch im Leiden ein ›Nein‹ zum Leiden, das in aller Regel die Gestalt des Wunsches annimmt, von dem, was uns leiden macht, befreit zu werden. Das gilt schon für das harmlose Leiden an einer Erkältung. Es gilt aber auch für das Leiden an der Negativität des eigenen Seins. Wer am eigenen Sein leidet, ist nicht nur Zum Begriff der Hellhörigkeit sowie zum Verhältnis von ontologischem und historisch-genetischem Verstehen seelischen Leidens vgl. Holzhey-Kunz (2002, 183– 193, 225–239; 2014, 139–144).
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hellhörig für eine beängstigende Wahrheit, die einen unmittelbar betrifft, sondern ist zumeist vom Wunsch erfüllt, sie überwinden oder sich ihr entwinden zu können. Allerdings springt der Unterschied zwischen dem (ontischen) Wunsch, die Erkältung wieder loszuwerden, und dem (ontologischen) Wunsch nach Erlösung von den unheilen Bedingungen des Menschseins ins Auge: Nur der ontische ist im Prinzip erfüllbar, der ontologische niemals. Im Folgenden beschränke ich mich auf die spezifische Hellhörigkeit depressiver Menschen, welche sich als eine doppelte erweist und deshalb zu einem spezifisch depressiven ›Nein‹ führt.
1.
Die doppelte Hellhörigkeit depressiver Menschen
Fassen wir die bisher gewonnene Einsicht in das Symptom des Nichtmehr-wollen-Könnens zusammen. Es hat zunächst zu tun mit einer Hellhörigkeit dafür, was es in Wahrheit heißt, zu wollen. Das bedeutet, dass der Depressive im Vergleich zu jenen Menschen, die ›normal‹ wollen können, zu viel weiß und sich durch dieses Wissen nicht nur überfordert, sondern zugleich völlig entmutigt, weil ganz zu Boden gedrückt fühlt. Wichtig ist also, dass die Befähigung, normal, das heißt problemlos wollen zu können, sich nicht einer größeren psychischen Belastbarkeit (Frustrationstoleranz) verdankt, sondern der Fähigkeit, sich mittels Vergessen über jene Last, die wir als Wollende zu tragen haben, hinwegtäuschen zu können. Das steht quer zur medizinischen Perspektive auf die Depression und generell auf alles seelische Leiden, die sich am ›Normalen‹ qua ›Gesunden‹ orientiert und deshalb immer nur negative Abweichungen davon feststellen kann. In der hier vorgeschlagenen existenzial-hermeneutischen Perspektive hat hingegen der Depressive zunächst einmal all jenen, die problemlos wollen können, etwas voraus, weil er die Flucht in die normale Selbsttäuschung mittels Vergessen nicht mitmacht und deshalb vor dem Wollen zurückschreckt. Der Fall in die Depression ›aus heiterem Himmel‹ Nun sind aber die wenigsten Menschen ständig depressiv. Viel häufiger ist es so, dass depressive Phasen (sogenannte Episoden) mit jenen Zeiten, in denen man sich wieder gesund fühlt, abwechseln. Auch wenn sich ein konkreter Anlass ausmachen lässt, der (scheinbar) zu 157 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Alice Holzhey-Kunz
einem (erneuten) depressiven Einbruch führt, so ist dieser Anlass oft objektiv geringfügig, wird also nur subjektiv als schwerwiegend erlebt. Oft lässt sich aber gar kein Anlass finden, sodass auch für den Betroffenen die Depression ›aus heiterem Himmel‹ einbricht. Das ist deshalb möglich, weil die ontologische Selbstvergessenheit, die einen normalen Alltag ermöglicht, nie für immer gelingt, sondern ständig neu aufrechterhalten werden muss. Darum braucht es keinen ontischen Anlass, um unversehens aus der Selbstvergessenheit zur ›Hellhörigkeit‹ zu erwachen und mit dem Lastcharakter des eigenen Wollens konfrontiert zu werden. Die zweifache depressive Hellhörigkeit Die Depression ist bekanntlich nur eine von vielen ganz unterschiedlichen Formen seelischen Leidens. Dennoch unterscheidet sie sich meines Erachtens in einem Punkt von allen anderen Formen. Sie repräsentiert nämlich eine andere Art des Leidens, und zwar deshalb, weil hier an die Stelle des Wunsches, vom Leiden erlöst zu werden, die Resignation tritt. Warum? Der Depressive ist nicht nur hellhörig für den Lastcharakter des Wollens, sondern er ist zugleich auch hellhörig dafür, dass man diese dem Menschen auferlegte Last als Mensch nicht loswerden kann. Insofern ist also der Depressive der Wahrheit noch näher als alle anderen seelisch leidenden Menschen, die vom illusionären Wunsch besessen sind, durch eigene Vorkehrungen die conditio humana so verändern zu können, dass ein angst- und schuldfreies Leben möglich würde. Freud nannte dieses Handeln, um es vom realitätsbezogenen Handeln zu unterscheiden, ein »Agieren« (1914/1999, 129). Der Depressive ist also am hellhörigsten und zugleich am tiefsten desillusioniert. Deshalb trifft Peter Handkes Charakterisierung der Depression als »wunschloses Unglück« (1972) ins Schwarze. Was bleibt, ist das untätige Warten, worauf auch immer, und die Klage darüber, dass jede Hoffnung auf Veränderung vergeblich ist. Die zwei Möglichkeiten der Rückkehr aus dem ›Loch‹ der Depression Die Rückkehr in die Normalität kann zwei Wege gehen, die ich jetzt nur ganz schematisch skizziere. Man kann in jene Lebenseinstellung zurückkehren, die man vor der depressiven Episode eingenommen hat. Meist besteht diese Rückkehr darin, die Abgründigkeit des Wol158 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Das Leiden an der Negativität des Wollens
lens wieder vergessen und darum wieder ein normal-unbelastetes Wollen praktizieren zu können. Man darf annehmen, dass dies der am meisten begangene, weil kürzeste und schmerzloseste Weg zurück aus der Depression ins normale Leben ist. Der andere Weg öffnet sich dann, wenn man bereit ist, aus der Depression etwas zu lernen. Dann kehrt man um eine grundlegende Erfahrung reicher wieder ins normale Leben zurück. In diesem Falle ist es nicht mehr angemessen, von einer Rückkehr zu sprechen, handelt es sich doch um einen Schritt vorwärts, hin zu einer Bejahung des eigenen Wollens und damit auch der Bejahung seiner selbst als eigenverantwortlichem Subjekt. Um diesen Schritt zu wagen und sich der Angst zu stellen, braucht es in der Regel eine Psychotherapie, die über eine übliche stützende Begleitung während der Zeit der depressiven Episode weit hinausgeht.
2.
Die depressiven Symptome als Ausdruck des Rückzugs aus einem willensbestimmten Leben
Das Nicht-mehr-wollen-Können ist zweifellos ein zentraler Ausdruck des depressiven ›Neins‹ zur unerträglichen Zumutung, ein wollendes Wesen zu sein, aber längst nicht der einzige. Auch alle anderen Symptome der Depression bringen – ganz anders als etwa Zwangssymptome oder hysterische Symptome usw. – keinen ontologischen Wunsch zum Ausdruck, sondern ein bloßes ›Nein‹ in Form des Rückzuges aus dem tätigen Leben. Ich erwähne hier die Appetitlosigkeit und das sogenannte Morgentief. Der Depressive hat keinen Hunger mehr, weil in allem Hunger nach Nahrung ja immer auch ein Appetit auf Leben steckt, der Rückzug aus dem Leben sich darum folgerichtig als Appetitlosigkeit äußert. Die typisch depressive morgendliche Müdigkeit ist von ganz anderer Art als eine normale Müdigkeit, die sich am Abend nach getaner Arbeit einstellt. Sie ist schon da, wenn man erwacht und merkt, dass mit dem neuen Tag das Leben wieder auf einen wartet und einen beanspruchen will. Dieser Anspruch bewirkt eine abgrundtiefe Müdigkeit. Sie bringt zum Ausdruck, dass die Last, die das Leben aufbürdet, zu schwer zu tragen ist, sodass nur der Rückzug bleibt. Von dieser Müdigkeit kann sich der Depressive auch durch noch so viel Schlaf nicht erholen, weil wieder ›wach und munter‹ zu sein ja heißen würde, wieder fähig und bereit zu sein, sich aufs Leben einzulassen. 159 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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Emmanuel Levinas verdanken wir eine Deutung der Müdigkeit, welche die besondere Qualität der depressiven Müdigkeit ausgezeichnet einfängt. Sie lautet: »Se fatiguer, c’est se fatiguer d’être« (1947/1993, 50; deutsch: »Müde sein heißt, es müde sein zu sein«, 1997, 40). Der Depressive ist es müde, das Leben unter den unabänderlichen Bedingungen der conditio humana noch auf sich zu nehmen, und ist insofern ›lebensmüde‹. Alain Ehrenberg hat dieses fundamentale Kennzeichen der Depression deshalb als Titel seines Bestsellers zu Dépression et société gewählt: La fatigue d’être soi (1998). Ebenfalls zu erwähnen sind die depressiven Symptome von verändertem Zeiterleben und von Selbsthass. Wenn sich der Depressive als von der »intersubjektiven Zeit« »entkoppelt« erfährt (Fuchs 2002, 114, 125), dann lässt sich auch das als Ausdruck des ›Nein‹ zu einem willensbestimmten Leben deuten, weil an einer gemeinsamen Zeit und damit an einem gemeinsamen Leben nur partizipieren kann, wer fähig und bereit ist, sich selbst aktiv einzubringen. Das führt uns zum letzten Symptom, das ich hier erwähnen will, dem Selbsthass. Der Depressive verurteilt sich selbst aufs Härteste wegen seines Rückzugs aus dem tätigen Leben. Dass er nicht mehr wollen kann, ist für ihn Beweis für ein Versagen, das er sich nicht nur nicht verzeihen kann, sondern das er an sich selbst verachtenswert, ja hassenswert findet. Er hasst sich auch dafür, nun durch den Einbruch der Depression vor den Mitmenschen als Versager bzw. als Kranker (für die meisten Depressiven ist auch das Kranksein ein eigenes Versagen) exponiert zu sein.
3.
Eine aktiv-tätige Existenzform ohne eigenes Wollen
Wir haben bis jetzt nur unterschieden zwischen jenen Menschen, die dank einer gelingenden Selbstvergessenheit fähig sind zu einem unbekümmerten Wollen, und jenen anderen, die aufgrund ihrer Hellhörigkeit von der Negativität des Wollens zu Boden gedrückt werden und deshalb nicht mehr wollen können. Nun wissen wir aber spätestens seit dem Werk von Hubertus Tellenbach (1983) über den »Typus Melancholicus«, dass es auch eine Existenzform gibt, die am aktivtätigen Leben partizipiert und doch als ›depressive‹ Existenzform bezeichnet zu werden verdient. Das Besondere dieser Existenzform liegt darin, dass sich hier ein ›Ja‹ zu einer aktiven Partizipation am Leben mit einem ›Nein‹ zur Übernahme seiner selbst als wollendem Subjekt 160 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Das Leiden an der Negativität des Wollens
verbindet. Dieses ›Nein‹ entstammt der (depressiven) Hellhörigkeit für die unvermeidbare Schuld in allem Wollen. Was darum auf den ersten Blick wie ein normales Wollen-Können erscheint, erweist sich bei genauerer Beobachtung als ein sowohl selbst-loses wie ich-loses Tätigsein. Selbst-los ist dieses Tätigsein, weil es sich möglichst umfassend in den Dienst dessen stellt, was andere für sich selbst wollen. Für den Typus Melancholicus gehen die Bedürfnisse der anderen immer vor; eigene Bedürfnisse ernst zu nehmen und sich zuerst für ihre Befriedigung einzusetzen, fühlt sich für ihn als egoistisch und darum als moralisch schlecht an. Er kümmert sich darum auch zu wenig um seine eigene Gesundheit, weil er fürchtet, sich damit zu wichtig zu nehmen. Ich-los ist dieses Wollen, insofern es ein bloßes Ausführen dessen ist, was andere von ihm wollen. Es ist nicht einmal so, dass hier der Wille des anderen in den eigenen Willen aufgenommen wird im Sinne von ›ich will, was du willst‹, sondern es ist ein frag- und kritikloses Übernehmen des Willens der anderen, um dem eigenen Wollen entgehen zu können. Dafür eignen sich vor allem Aufgaben, die klar vorgeben, was man zu tun hat, und also keine eigenen Entscheide erfordern. Dementsprechend werden Arbeitsorte bevorzugt, in denen eine feste Ordnung herrscht und in der jedem sein Platz zugewiesen ist. Darum sind solche Menschen oft gute Schüler bis hin zu einem Universitätsabschluss. Sie sind auch scheinbar sehr teamfähig, weil sie sich gut einfügen und unterordnen. Auffallend ist das hohe Pflichtbewusstsein, das von einer ständigen hintergründigen Versagensangst angetrieben wird. Sie arbeiten darum generell mehr als andere und nehmen dabei keine Rücksicht auf die eigenen Kräfte. Sie sind dazu disponiert, auf der Arbeit oder auch in persönlichen Beziehungen von den anderen ausgenutzt zu werden. Was wie eine Form von moralischem Masochismus aussieht, ist der verzweifelte Versuch solcher Menschen, trotz ihrer Hellhörigkeit dem Fall in die Depression zu entgehen. Denn davor sind sie nur so lange geschützt, als es ihnen gelingt, durch selbstlosen Arbeitseinsatz und eigene Bedürfnislosigkeit, sei es in der Arbeit oder in der Familie, anerkannt oder wenigstens nicht kritisiert zu werden. Damit kommen wir zum entscheidenden Symptom dieser Existenzform, welches es zu verstehen gilt. Es besteht in einer enormen Abhängigkeit vom Urteil der relevanten Bezugspersonen, seien dies die Kollegen oder Vorgesetzten bei der Arbeit oder Eltern, Partner oder Kinder zuhause. 161 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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Diese Abhängigkeit ist so groß, dass in der Regel jede auch noch so geringe Kritik diese Menschen ›mitten ins Herz‹ trifft. Die Frage, ob die Kritik auch berechtigt ist, taucht gar nicht auf, denn dass überhaupt Kritik aufkommt, stellt ihre Existenzform in Frage. Warum? Welche Funktion hat hier das Urteil des anderen? Wir kommen hier ein letztes Mal darauf zurück, dass dem modernen Menschen eine höhere Instanz fehlt, die das eigene Wollen rechtfertigen und damit vor dem schuldhaften, weil grundlosen Akt der Selbstermächtigung bewahren könnte. Der Typus Melancholicus ist für diese Schuld besonders hellhörig. Statt aber vor dieser Schuld zu kapitulieren und den depressiven Rückzug anzutreten, glaubt er einen Weg gefunden zu haben, diese Schuld an andere delegieren zu können. Vom deutschen Komiker Karl Valentin stammt das inzwischen geflügelte Wort: »mögen hätt’ ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut.« Diese Existenzform versucht das ›Dürfen‹, das heißt die Erlaubnis, einen Platz in der Welt einzunehmen, durch ein übermäßiges eigenes Leisten für andere zu gewinnen. Das positive Urteil anderer hat hier also die Funktion der Legitimationsinstanz in der Moderne; es bewertet mit der erbrachten Leistung zugleich die eigene Daseinsberechtigung: dass man leben darf, solange man die Leistung weiterhin erbringt. Es geht also um ein do ut des: Statt meinen eigenen Willen deinem entgegenzusetzen und dich dadurch zu begrenzen, bin ich ganz dafür da, deinen Willen zu erfüllen, damit du zu meiner Existenz ›Ja‹ sagst und mir dadurch das Recht gibst, überhaupt da statt nicht da zu sein. Diese Existenzform führt allzu oft aufgrund ständiger Überarbeitung in die Erschöpfungsdepression, weil sich aufgrund der Hellhörigkeit der grundlegende Zweifel daran, ob man wirklich ein Recht hat zu leben, nie ganz beruhigen lässt und zu immer noch mehr Leistung antreibt. Vor allem das Gelobtwerden ist diesbezüglich zweischneidig, weil es diese Menschen gerade nicht entlastet, sondern ihnen die Angst einjagt, künftig den jetzt erreichten Standards nicht mehr genügen zu können und dann jede Lebensberechtigung zu verlieren. Die Existenzform des Typus Melancholicus erscheint dank dessen gelingender Partizipation an einem aktiven Leben mit anderen zwar ›normaler‹ als der akute Zustand der Depression, sie entbehrt aber der normalen Unbekümmertheit und ist darum mit sehr viel subjektivem Leiden verbunden. Gewiss lässt sich daraus folgern, dass für Hellhörige kein Weg daran vorbeiführt, das eigene Wollen zu 162 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Das Leiden an der Negativität des Wollens
bejahen und sich als wollendes Subjekt anzuerkennen. Dem steht allerdings der Selbsthass entgegen, und das Insistieren darauf, sich selbst nur als ›unschuldig‹ bejahen zu können. Nun wird die Depression bekanntlich den affektiven Störungen zugerechnet. Eine Veränderung kann in der Tat nur in einem Wandel der emotionalen Einstellung sich selbst gegenüber bestehen – über manche Zwischenschritte bis hin zu einem ganz basalen Sich-Mögen. Nur wer sich mag, kann zu sich sagen: »Ich darf«.
Literatur Ehrenberg, A. (1998). La fatigue d’être soi. Dépression et société. Paris: Odile Jacob. Frankfurt, H. (1971). Freedom of the will and the concept of a person. The Journal of Philosophy, 68, 5–20. Freud, S. (1914/1999). Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. In ders., Gesammelte Werke, Bd. X (S. 126–136). Frankfurt am Main: Fischer. Freud, S. (1917/1999). Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Gesammelte Werke, Bd. XI. Frankfurt am Main: Fischer. Fuchs, T. (2002). Melancholie als Desynchronisierung. Ein Beitrag zur Psychopathologie der intersubjektiven Zeit. In ders., Zeit-Diagnosen. Philosophischpsychiatrische Essays (S. 111–134). Kusterdingen: Die Graue Edition. Handke, P. (1972). Wunschloses Unglück. Erzählung. Salzburg: Residenz-Verlag. Heidegger, M. (1927/2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. Holzhey-Kunz, A. (2002). Das Subjekt in der Kur. Über die Bedingungen psychoanalytischer Psychotherapie. Wien: Passagen. Holzhey-Kunz, A. (2014). Daseinsanalyse. Der existenzphilosophische Blick auf seelisches Leiden und seine Therapie. Wien: Facultas. Kierkegaard, S. (1844/2003). Der Begriff Angst (übers. v. G. Perlet). Stuttgart: Reclam. Levinas, E. (1947/1993). De l’existence à l’existant. Paris: Vrin. Levinas, E. (1997). Vom Sein zum Seienden (übers. v. A. M. Krewani & W. N. Krewani). Freiburg: Alber. Nietzsche, F. (1884/1980a). Also sprach Zarathustra II. In ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 4 (S. 103–190). München: dtv. Nietzsche, F. (1980b). Nachgelassene Fragmente. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 12. München: dtv. Sartre, J.-P. (1943/1999). Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (übers. v. H. Schöneberg & T. König). Reinbek: Rowohlt. Schopenhauer, A. (1859a/1986). Die Welt als Wille und Vorstellung I. Sämtliche Werke, Bd. I. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Alice Holzhey-Kunz Schopenhauer, A. (1859b/1961). Die Welt als Wille und Vorstellung II. Sämtliche Werke, Bd. II. Darmstadt: WBG. Spaemann, R. (1996). Über das Identifizieren von Personen. In A. Barkhaus, M. Mayer, N. Roughley & D. Thürnau (Hrsg.), Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens (S. 222–228). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Tellenbach, H. (1983). Melancholie: Problemgeschichte, Endogenität, Typologie, Pathogenese, Klinik. Berlin Heidelberg New York: Springer. Woggon, B. (1998). Ich kann nicht wollen! Berichte depressiver Patienten. Bern: Huber.
164 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Störungen des Selbst in der Borderline-Persönlichkeit Der Zusammenhang von Affekt und Identitätserleben Philipp Schmidt Zusammenfassung Gefühle, Stimmungen und Affekte machen einen Großteil dessen aus, was es für uns heißt, in der Welt zu sein. In ihnen zeigt sich, was für uns Bedeutsamkeit besitzt. Sie prägen zudem wesentlich, wie es für uns ist, die Person zu sein, die wir sind. Störungen affektiver Prozesse können daher mit gewichtigen Einschränkungen und Veränderungen im Selbsterleben einhergehen. Nicht immer aber ist unmittelbar erkennbar, wie genau pathologisches Selbsterleben mit gestörter Affektivität zusammenhängt. Dies gilt insbesondere für Störungen wie die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS), deren klinisches Bild eine hohe Komplexität aufweist. Bei der BPS sind sowohl affektive Prozesse als auch das Selbsterleben in mehrfacher Hinsicht gestört. Der Beitrag gibt zunächst einen Überblick über die verschiedenen Aspekte dieser Selbststörung. Anschließend wird untersucht, wie Affekt- und Selbsterleben im Rahmen der BPS miteinander verknüpft sind und wie sich diese Zusammenhänge phänomenologisch bestimmen lassen. Dabei zeigt sich, dass eine Beleuchtung der Verbindungen zwischen Affekt- und Selbsterleben nicht nur ein besseres Verständnis der subjektiven Erfahrung von BPS erlaubt, sondern erkennen lässt, aus welchen Erfahrungen heraus sich typisches Borderline-Erleben entwickeln kann.
Einleitung Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) ist eine der gravierendsten psychopathologischen Störungen und weist ein komplexes klinisches Bild auf. Zu ihren Kernsymptomen zählen affektive Instabilität, Identitätsprobleme, negative Beziehungen zu anderen Personen, Selbstverletzung und Impulsivität (Morey 1991). Zahlreiche 165 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Philipp Schmidt
empirische Studien der letzten beiden Dekaden belegen weitere Auffälligkeiten bei Personen mit BPS. Eine noch weitgehend unbeantwortete Frage ist, wie die einzelnen mit den Kernsymptomen assoziierten psychologischen Auffälligkeiten miteinander zusammenhängen. Im Folgenden soll dieser Zusammenhang beleuchtet werden. Hierbei lege ich den Fokus auf den Zusammenhang zwischen zwei Aspekten: (1) Selbst bzw. Identität und (2) Affekt. Das Selbsterleben und seine Störung ist ein Aspekt, der das Zentrum der Person betrifft und als solcher für Betroffene von hoher Bedeutung ist. Zudem ist das eigene Gefühlsleben ein wesentlicher Faktor dafür, was es für eine Person heißt, sie selbst zu sein (Rosfort & Stanghellini 2009; Stanghellini & Rosfort 2010, 2013). Es liegt somit nahe, dass gestörtes Gefühlsleben und Selbsterleben eng miteinander verbunden sind. In Anlehnung an Linehan (1993) werden dabei affektive Störungen – insbesondere emotionale Dysregulation, Instabilität und Impulsivität – häufig als Grundstörung der BPS bezeichnet, aus welcher heraus die Verhaltensauffälligkeiten, selbstverletzendes Verhalten, pathologisches Beziehungserleben, aber auch das gestörte Erleben im Selbstbezug erwachsen (z. B. Selby & Joiner Jr. 2009). Andere sehen in den Selbst- und Identitätsstörungen die zentrale Störung der BPS (Gold & Kyratsous 2017). Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung möchte ich aufzeigen, dass die vielfältigen Zusammenhänge zwischen Selbst- und Affektstörungen mehrfach gerichtet sind und ihre Verwobenheit von hoher Bedeutung für die allgemeine ätiologische Theorie der BPS und die klinische Praxis im Einzelfall ist. Nachdem ich im ersten und zweiten Teil einen Überblick über die verschiedenen Aspekte der Störungen des Selbst und der Identität bei Personen mit BPS und die Vielfalt der mit BPS assoziierten affektiven Störungen gegeben habe, werde ich im dritten Teil den Zusammenhang dieser Phänomene im Erleben der Patienten untersuchen. Methodologisch orientiert sich die Analyse an zwei phänomenologischen Ansätzen: Ratcliffes (2005, 2008) Konzept des »existenzialen Gefühls« und der von Sass (2010, 2014) beschriebenen »explanativen Phänomenologie«. Mein Fokus liegt somit auf dem Erleben der Betroffenen aus erstpersonaler Perspektive.
166 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Störungen des Selbst in der Borderline-Persönlichkeit
1.
Geteilte Totalität und Totalität der Teile. Selbst- und Identitätsstörung in der BPS
Selbst- und Identitätsstörungen bilden eines der vier Kernsymptome der BPS. (Morey 1991) Im Klassifikationssystem Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen sind Identitätsstörungen im Kontext der BPS wie folgt definiert: Die betreffenden Personen leiden unter beträchtlichen Schwankungen hinsichtlich ihres Selbstbildes oder verfügen bisweilen über gar keinen Sinn für das eigene Selbst. Diese Instabilität im Identitätserleben manifestiert sich beispielsweise in häufigen und wechselhaften Veränderungen von Lebenszielen, Werten, beruflichen Plänen, Meinungen, Freunden, aber auch der sexuellen Orientierung. Die Identitätsstörungen betreffen somit eine Fülle an unterschiedlichen Aspekten und Funktionen des Selbst. (DSM-5; Falkai & Wittchen 2015)
Inkonsistenz, Spannung und schmerzhafte Inkohärenz Wilkinson-Ryan und Westen (2000) haben vier Faktoren von BPSIdentitätsstörungen beschrieben: (1) Rollenabsorption, die sich dadurch auszeichnet, dass Betroffene sich zu einem Zeitpunkt durch eine einzige Rolle oder Angelegenheit definieren und völlig darin aufgehen; (2) schmerzhafte Inkohärenz, die in einem erlebten Mangel an Selbstgefühl besteht; (3) Inkonsistenz, die sich in objektiv feststellbaren Inkohärenzen im Denken, in Gefühlen und Verhalten manifestiert; (4) mangelhaftes Commitment, z. B. in Bezug auf Beruf oder Werte. Besondere Relevanz kommt hierbei der schmerzhaften Inkohärenz zu, die manchmal sogar als »Kerneigenschaft« der BPS bezeichnet wird (Meares et al. 2011, 220). Sie hat zwei komplementäre Aspekte: das Fehlen einer sich durchhaltenden Identität und der sprunghafte Wechsel zwischen einzelnen verabsolutierten Identitäten (»Rollenabsorption«). Nicht selten beruht dieser Wechsel gerade auf einer Intoleranz gegenüber dem Konfligieren mehrerer Teilidentitäten: Um die unaushaltbare Spannung, die aus einem solchen Konflikt entsteht, zu lösen, werden dominierende Teilidentitäten oder Rollen ver167 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Philipp Schmidt
absolutiert und somit der Konflikt zugunsten der einen oder anderen Identität entschieden. Dies zeigt sich insbesondere an positiven und negativen Aspekten und Eigenschaften des Selbst, deren gleichzeitiges Auftreten die größte psychologische Spannung und Ambivalenz aufweisen. Hier neigen Betroffene mit BPS zu hoher Kompartimentierung, d. h., Selbstattribute werden anhand positiver und negativer Valenz in unterschiedlichen Teilidentitäten organisiert, die nicht gleichzeitig erlebt und in einer übergreifenden stabilen Identität integriert werden können (Vater et al. 2015).
Schwierigkeiten in der Verarbeitung selbstbezogener Informationen Darüber hinaus ist der Selbstbezug von Personen mit BPS durch große Unklarheit geprägt. Sie haben Schwierigkeiten, eigene Emotionen zu identifizieren und zu benennen (Webb & McMurran 2008; Deborde et al. 2012; Loas et al. 2012). Die Beeinträchtigung der Selbstintrospektion zeigt sich in einem »vermeidend-diffusen Identitätsstil«, der den laufenden Identitätsbildungsprozess betrifft (Jørgensen 2009). Ein solcher Identitätsstil ist geprägt durch eine Beeinträchtigung der Fähigkeit, für das Selbst relevante Informationen aktiv einzuholen und zu verarbeiten. In Bezug auf einzelne Identitäten und zugehörige Selbstbilder weisen die Betroffenen eine hohe Rigidität auf, sodass neue Aspekte oder Informationen keine Anpassung des jeweiligen Selbstbildes bewirken.
Gestörter Bezug zu anderen Personen Der gestörte Bezug zu den eigenen Gefühlen und deren mangelndes Verständnis hat auch Auswirkungen auf den Kontakt zu anderen Personen. Das Unvermögen, Anderen Auskunft über das eigene Gefühlsleben zu geben, vergrößert den Leidensdruck ebenso wie das damit einhergehende Gefühl des Nicht-verstanden-Werdens. Häufig reagieren andere auf bestimmte Teilidentitäten von Personen mit BPS, nicht aber auf das den häufigen Identitätswechseln ›zugrunde liegende‹ leere und verunsicherte Selbst (vgl. Jørgensen 2006, 635), was für Betroffene schmerzhaft ist:
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Störungen des Selbst in der Borderline-Persönlichkeit
I don’t think you really want that anymore, Dinah – for someone else to tell you how you feel. Who cares? Feeling uncertain is a feeling […]. […] This was the first time that Dinah gave me the simple acknowledgement that I had been helpful to her. In a follow-up session almost a year later, she told me, »What helped me most [in the course of the therapy] was when you said, ›Not knowing how you feel is a feeling‹.« […] Paradoxically, in supporting her loss of self, I gave Dinah a sense of being met. I was joining her in a place she had been afraid to be in and yet was unable to escape from for a long time. Before, inner or outer conflicts had intensified Dinah’s defenses, as she struggled to establish some »true« self. Now she began to let herself experience shifts in her feelings, without clutching onto one or another as the feeling. (Luyten 1985, 62)
Trotz des Mangels an gelebtem Kontakt zum leeren Ich, der auch als Bindungslosigkeit und allgemeiner Abstand zu anderen Personen erfahren wird, besteht in vielen Fällen eine unmittelbare Verbindung zwischen leerem Ich und anderen Personen. Dies zeigt sich in einer grundlegenden Störung der Ich-Du-Struktur. So neigen Personen mit BPS zu einer übermäßig hohen Sensitivität gegenüber den psychischen Zuständen anderer Personen, erkennbar an einer hohen emotionalen Ansteckbarkeit und affektiven Empathie insbesondere in Bezug auf Distress (Hariri et al. 2010; Niedtfeld 2017). Allerdings können Menschen mit BPS nur schwer erkennen, wie aufkommende Gefühle motiviert sind und inwieweit es sich ursprünglich um den eigenen Affekt handelt (Luyten 1985, 49). Trotz des gefühlten Hiatus zwischen dem eigenen leeren Selbst und anderen Personen zeichnen sich Betroffene durch eine ausgeprägte Offenheit und Vulnerabilität gegenüber anderen aus. Nicht selten manifestiert sich dies in einer pathologischen Verschmelzung des eigenen Affekts mit dem Gefühlsleben anderer. Damit gehen die häufig bei BPS beobachteten manipulativen Tendenzen (Potter 2006) einher, die sich in Versuchen manifestieren, eigene Emotionen durch eine Steuerung des Erlebens anderer Personen zu regulieren.
Fragmentierung der Identität Insgesamt lässt sich vor dem Hintergrund der genannten Aspekte das Selbst von Personen mit BPS als durch eine »fragmentierte Identität« 169 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Philipp Schmidt
gekennzeichnet beschreiben (Fuchs 2007). Zu beachten ist, dass hierbei keine Fragmentierung des Erfahrungsfeldes vorliegen muss. Die Einheit der Erfahrung bleibt in synchroner Hinsicht in den meisten Fällen gewahrt, auch wenn es insbesondere im Zuge von Komorbiditäten z. B. zu Halluzinationen kommen kann (Niemantsverdriet et al. 2017). Die Fragmentierung betrifft vielmehr die diachrone Identität und besteht in den häufigen Wechseln jeweils verabsolutierter Teilidentitäten, die aus einer Überidentifikation mit dem aktuellen psychologischen Zustand der Betroffenen resultieren. Vor diesem Hintergrund ist eine kontinuierliche Selbstentwicklung nur schwer möglich. Vielmehr begründet die nicht-integrative Sprunghaftigkeit einen »atemporalen Existenzmodus« (Fuchs 2007, 382). Der Zeitigungsmodus wird dabei manchmal auch als zyklisch beschrieben (Muscatello & Scudellari 2000), insbesondere als ahistorische Oszillation zwischen chronischer Dysphorie und vereinzelten wiederkehrenden Wutanfällen (Stanghellini & Rosfort 2013b).
2.
Leere, Fülle, Unklarheit – Gestörte Affektivität bei Personen mit BPS
Die Störung der Affektivität in der BPS umfasst einen Komplex zahlreicher Phänomene. Das Gefühlsleben ist dabei vor allem durch das chronische Empfinden einer inneren Leere bestimmt, das sich mit Episoden kaum zu regulierender, das Gefühlserleben völlig ausfüllender Affekte abwechselt. Leere und Fülle sind dabei meist durch eine große Unklarheit bezüglich der eigenen Emotionen charakterisiert, welche von Betroffenen häufig nur schwer erkannt werden. Die folgenden Faktoren kommen dabei zum Tragen:
Emotionale Dysregulation Die BPS zeichnet sich insbesondere durch Schwierigkeiten in der Emotionsregulation und eine damit verbundene erhöhte Impulsivität aus (vgl. Linehan 1993, 42). Das hohe Maß an Dysregulation scheint dabei ein trennscharfes Merkmal zu sein, das die BPS von anderen psychiatrischen Störungen unterscheidet (Ibraheim et al. 2017). Vor allem vier Komponenten sind bei der Dysregulation in der BPS von besonderer Bedeutung: 170 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Störungen des Selbst in der Borderline-Persönlichkeit
(a) Emotionale Sensitivität: Personen mit BPS weisen eine sehr hohe Reaktivität in Form von selektiver Aufmerksamkeit für negative Emotionen auf. (b) Negativer Affekt: Damit zusammenhängend neigen sie auch zu negativen Emotionen. (c) Inadäquate Regulationsstrategien: Personen mit BPS verfügen nicht über angemessene Strategien, um eigene Gefühle zu bewältigen. (d) Maladaptive Regulationsstrategien: Drastische Regulationsstrategien (z. B. das überschnelle Kündigen einer Freundschaft) scheinen insbesondere bei sehr starkem Affekt die einzigen Mittel zu sein, über die Betroffene verfügen. Negative Konsequenzen, die sich aus der übermäßigen Reaktion ergeben (Verlust der befreundeten Person und daraus resultierende Verlustgefühle), stellen jedoch ein großes Problem für Personen mit BPS dar (Carpenter & Trull 2013).
Affektive Instabilität Als direkter Ausdruck und Konsequenz der Regulationsschwierigkeiten ist die Wechselhaftigkeit im Gefühlsleben von Personen mit BPS zu verstehen (Nica & Links 2009; Reich et al. 2014). Wo es an Möglichkeiten zur Regulation fehlt, entgleist der Affekt schnell, wodurch schwache Impulse leicht in die Extrema führen und in ihr Gegenteil umschlagen können. So erzeugt z. B. übermäßige Freude, die von anderen Personen nicht geteilt wird, Ablehnungserfahrungen, die wiederum Enttäuschung, Wut und Traurigkeit nach sich ziehen können. Insgesamt sind affektive Instabilität und Dysregulation mit einem Kontrollverlust verbunden, der das bereits aus der hohen Impulsivität resultierende Gefühl des Kontrollmangels noch verstärkt.
Affektive Hyperintensität Handelt es sich bei den ständig wechselnden Gefühlen zusätzlich um Gefühle mit hoher Intensität, so verlangt deren Regulation einen noch höheren Krafteinsatz und affektive Gegengewichte. Nicht selten erklären sich die für Personen mit BPS typischen, vom Umfeld als Überreaktionen wahrgenommenen Verhaltensweisen vor diesem 171 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Philipp Schmidt
Hintergrund. Während Betroffene starke affektive Gegengewichte – d. h. Reaktionen wie z. B. Wut, Abwertungen anderer Personen und strafendes Verhalten – als der eigenen Gefühlsintensität angemessen erleben, sind diese Reaktionen für andere Personen oft kaum nachvollziehbar. Die hohe affektive Intensität führt somit nicht nur zu großen Herausforderungen für die eigene Emotionsregulation, sondern verstärkt gleichzeitig auch die für BPS typische Distanzierung der Betroffenen von ihrem Umfeld.
Überschneller Aufbau der Gefühlsgestalt und zyklische affektive Zeitigung Neben den häufigen Wechseln von schwer regulierbaren intensiven Gefühlen ist vor allem die Unvorhersehbarkeit der emotionalen Ausschläge in die Extrembereiche kennzeichnend für die BPS. Dabei ist nicht unbedingt das absolute Niveau für den hohen Leidensdruck entscheidend, sondern auch der unerwartete und rasche Anstieg der Gefühlsintensität (Carpenter & Trull 2013). Oftmals ist es für die Betroffenen selbst nicht unmittelbar verständlich, wodurch die Heftigkeit der eigenen emotionalen Reaktion bedingt ist. Durch den schnellen Aufbau einer Gefühlsgestalt liegen, abgesehen von einem häufig banalen Auslöser (›ein falsches Wort‹), oft noch keine oder nur wenige dem Affekt entsprechende Überzeugungen vor, sondern werden erst post hoc vor diesem affektiven Hintergrund gebildet. Die so entstehenden Auffassungen verfestigen den starken Affekt, wodurch die Emotionsregulation weiter erschwert wird und die Gefühlsintensität langsamer zum Ausgangsniveau zurückkehrt, als es bei NichtBetroffenen der Fall ist (Santangelo et al. 2016). Allgemein wird dem BPS-spezifischen Gefühlsleben eine zyklische Struktur zugeschrieben, wobei sich eine dysphorische Hintergrundstimmung mit vereinzelten extremen Ausschlägen, insbesondere mit aus Enttäuschung und Scham resultierenden Wutausbrüchen abwechselt (Stanghellini & Rosfort 2013a, b). Kennzeichnend für die Zeitigung des Erlebens von Personen mit BPS ist dabei, dass trotz der quasi-rhythmischen Gefühlsentfaltung diskrete Extremphasen als unvorhersehbare, einschneidende und singuläre Ereignisse erlebt und interpretiert werden. Der Zyklus wird also nicht als Zyklus erfahren, sondern lediglich als allgemeine Fragilität des Affekts. Die häufigen Wechsel und die Möglichkeit einer schnellen Umpolung 172 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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von positiven zu negativen Emotionen erschüttern das Vertrauen in die eigene affektive Stabilität.
Tendenz zu negativer affektiver Qualität und Valenz Eine Grundkomponente des Gefühlslebens in der BPS ist die dysphorische Hintergrundstimmung, die durch diffuse Gefühle der Leere, Langeweile und unangenehme nervöse Anspannung charakterisiert ist (Stanghellini & Rosfort 2013b, 165–166). Einen Großteil des Leidensdrucks macht aus, dass keine spezifischen Möglichkeiten wahrgenommen werden, wie diese Spannungen zu lösen wären. Selbstverletzendes Verhalten, Substanzmissbrauch und heftige, anfangs kathartisch wirkende Gefühlsausbrüche kommen dann häufig als maladaptive Regulationsstrategien zum Tragen (Niedtfeld et al. 2010; Sansone & Sansone 2011). Mit diesen dysregulativen Verhaltensmustern sind negative Selbstkonzepte und der Hang zu intensiven negativen Emotionen wie Scham, Schuld oder Selbstekel verknüpft (Lynum et al. 2008; Winter et al. 2017). Zudem lässt sich eine Neigung von Personen mit BPS zu eindeutigen Gefühlen beobachten, insbesondere hinsichtlich ihrer Valenz. Treten mehrdeutige Gefühle mit sowohl positiven als auch negativen Momenten auf, versuchen Betroffene nicht selten, durch ihr Verhalten klare Verhältnisse zu schaffen, denen entweder positive oder – meistens – negative Emotionen entsprechen.
Affektives Selbstverstehen und Unklarheit des eigenen Affekts Eine wichtige Voraussetzung für Emotionsregulation ist die Identifikation und das Verstehen eigener Gefühle. Personen mit BPS haben allerdings Schwierigkeiten, eigene Gefühle zu erkennen und zu identifizieren. Diese bei Personen mit BPS auftretende Alexithymie (New et al. 2012) stellt somit eine gewichtige Beeinträchtigung dar, mit Konsequenzen für die aktive Regulation von Emotionen und die weitere sich passiv vollziehende Gefühlsentfaltung. Ein mangelndes affektives Selbstverstehen verstärkt z. B. die Neigung zu negativen Emotionen: Treten nämlich gemischte Gefühle auf, bei denen positive Momente eigentlich den Hauptanteil ausmachen, vermögen es einzelne negative Aspekte dennoch, die gesamte Aufmerksamkeit auf 173 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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sich zu ziehen und infolge das Erleben zu dominieren. Liegt hingegen ein ausreichendes Maß an affektivem Selbstverstehen vor, können unterschiedliche Aspekte des aktuellen Gefühls auseinandergehalten werden und somit nebeneinander bestehen (siehe auch Abschnitt 3.3).
Gesteigerte affektive Empathie, Hypersensitivität und Fehlverständnis Auch in Bezug auf die Affektivität anderer Personen finden sich Auffälligkeiten bei Personen mit BPS, welche sich in ihrer intentionalen Gerichtetheit auf Fremdgefühle zeigen. Die erste Auffälligkeit bezieht sich auf die hohe Aufmerksamkeit Betroffener für die Gefühle anderer und deren Bedeutung für die Beziehung zu ihnen (Lynch et al. 2006; Gunderson & Lyons-Ruth 2008; Goodman & Siever 2011). Erstaunlich ist dabei, dass häufig die Fähigkeit, Gefühle anderer zu erkennen, wesentlich ausgeprägter ist als die Fähigkeit, eigene Gefühle zu erkennen. Allerdings ist die Studienlage hierzu nicht eindeutig (vgl. Fertuck et al. 2009; Dinsdale & Crespi 2013; Dziobek et al. 2011). Es gibt Indizien dafür, dass Personen mit BPS zwar eine verminderte Empathiefähigkeit in Bezug auf ihnen unbekannte Personen aufweisen, aufgrund des ständigen Fokus auf den Fremdaffekt aber über eine erhöhte Empathiefähigkeit bei ihnen vertrauten und wichtigen Personen verfügen (vgl. Miano et al. 2017). Die soziale Hypersensitivität steht in starkem Kontrast zu dem niedrigen sozialen Funktionsniveau. Dieses manchmal als »Borderline-Empathie-Paradox« bezeichnete Phänomen lässt vermuten, dass eine erhöhte Empathiefähigkeit Personen mit BPS im Umgang mit anderen nicht zu einem Vorteil gereicht, sondern ihnen daraus in Kombination mit anderen BPS-typischen Eigenschaften sogar schwerwiegende Nachteile erwachsen (Dinsdale & Crespi 2013; Miano et al. 2017). Zum einen liegt bei der BPS häufig eine erhöhte Verlustangst und Abhängigkeit von anderen Personen vor (Bungert et al. 2015), zum anderen die bereits beschriebene Impulsivität und schwierige Emotionsregulation. Tritt hierzu noch die erhöhte Vigilanz für Gefühle anderer, können bereits kleinste emotionale Schwankungen im sozialen Umfeld eine Kaskade von kaum zu regulierenden emotionalen Reaktionen auslösen. Hierbei kommt auch die hohe Gefühls-
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ansteckbarkeit von Personen mit BPS zum Tragen (Hariri et al. 2010; Niedtfeld 2017).
3.
Phänomenale Zusammenhänge von Selbst- und Identitätsstörung und gestörter Affektivität in der BPS
Linehan (1993) beschreibt emotionale Dysregulation als basale Störung, welche den anderen BPS-Symptomen und den damit verbundenen psychischen Phänomenen zugrunde liegt, während von anderen Autoren die Rolle der Impulsivität hervorgehoben wird (Zanarini 1993; Bornovalova et al. 2008). Andere wiederum betonen, dass eine Kombination von Dysregulation und Impulsivität das Herzstück der BPS darstellt (Siever & Davis 1991; New & Siever 2002). Aus phänomenologischer Perspektive lassen sich vielfältige Beziehungen und Zusammenhänge zwischen Dysregulation und Impulsivität sowie den anderen BPS-typischen psychischen Phänomenen beschreiben.
3.1 Drei Formen phänomenaler Zusammenhänge In meiner Untersuchung der phänomenalen Zusammenhänge orientiere ich mich im Folgenden an dem Konzept der »existenzialen Gefühle« (Ratcliffe 2005, 2008) und der »explanativen Phänomenologie« (Sass 2010, 2014). Drei Formen phänomenaler Zusammenhänge kommen dabei in den Blick. 3.1.1. Phänomenaler Holismus, existenziale Gefühle und der Zusammenhang von Symptomen als Erlebensgestalt ›Zusammenhang‹ bezieht sich in einer ersten Hinsicht darauf, dass die verschiedenen psychischen Auffälligkeiten zusammen auftreten und sich aus diesem besonderen Symptomgeflecht eine psychische Konfiguration mit einem ganz spezifischen Wie des Erlebens für die betreffende Person ergibt. Die Annahme hierbei ist, dass das spezifische Wie des Erlebens nicht in einer Aufsummierung einzelner Symptome und deren Erlebenseigenschaften bestehen kann, sondern dass die Gesamtheit der gemeinsam vorkommenden Symptome eine psychische ›Gestalt‹ ergibt. Demnach unterscheidet sich auch das Erleben einer depressiven Episode etwa im Gefolge eines Trauerfalls, im 175 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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Kontext einer Essstörung oder im Rahmen der BPS, wenn sie gepaart mit heftigen Wutanfällen auftritt. Das depressive Erleben, so die These, wird wesentlich durch die Gesamtheit des phänomenalen Zustandes bestimmt. Den Zusammenhang unter dem Vorzeichen dieses »phänomenalen Holismus« (vgl. Dainton 2010; Chudnoff 2013) zu untersuchen bedeutet dann, das Besondere einer jeweiligen Konstellation von Symptomen und ihre Erlebnisgestalt zu beschreiben. Diese manifestiert sich beispielsweise als ein umfassendes »existenziales Gefühl« (Ratcliffe 2005, 2008). Existenziale Gefühle sind Hintergrundstrukturen der lebendigen Erfahrung, die erschließen, wie sich eine Person in einer mit anderen geteilten Welt befindet. Sie sind durch einen jeweils spezifischen Raum an Möglichkeiten des Erlebens und Verhaltens im Weltvollzug charakterisiert. So ist in der Depression der erlebte Raum an Möglichkeiten vor allem geprägt durch die Erwartung negativer Erlebnisse (›ich werde nie glücklich sein können‹), die Erwartung sowohl negativer eigener (›ich werde ohnehin alles falsch machen‹) als auch fremder (›die Anderen werden mich wieder im Stich lassen‹) Verhaltensweisen und negativer Ereignisse (›es wird eine Wirtschaftskrise geben und ich werde arbeitslos sein‹). Das, was als möglich und vor allem wahrscheinlich erlebt wird, d. h. der erlebte Raum an Möglichkeiten, stellt dabei als existenziales Gefühl die Grundstimmung der betreffenden Person dar. Hierbei spielen die verschiedenen Dimensionen der menschlichen Existenz – wie etwa Zeitlichkeit, Leiblichkeit, Intentionalität, Intersubjektivität u. a. – eine entscheidende Rolle. Spezielle Ausprägungen in diesen Dimensionen konstituieren den jeweils konkret erfahrenen Raum an Möglichkeiten bzw. das existenziale Gefühl. Abnormales Zeiterleben (z. B. Fuchs 2007, 2010, 2013, 2015) oder eine veränderte Leiblichkeit (z. B. Fuchs & Schlimme 2009) führen so in Kombination mit anderen Dimensionen gestörten Erlebens zu Veränderungen des existenzialen Gefühls. Veränderungen in der Weise, wie ich mich leiblich in der Welt befinde, präfigurieren beispielsweise, welche Erlebnisse, Verhaltensweisen und Ereignisse mir als möglich und wahrscheinlich erscheinen. Den Zusammenhang verschiedener Symptome zu untersuchen, bedeutet demzufolge, ihre gemeinsame Wirkung auf das existenziale Gefühl bzw. die Konstitution BPS-spezifischer existenzialer Gefühle zu rekonstruieren. Eine solche Untersuchung zielt vor allem auf
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einen differentialdiagnostischen Vergleich mit anderen psychischen Störungen. 3.1.2. Existenziale Gefühle als Weisen des erlebten Selbstvollzugs Im Folgenden liegt der Fokus allerdings, einen solchen (weit) umfassenderen differentialdiagnostischen Vergleich vorbereitend, auf dem Zusammenhang zwischen den existenzialen Gefühlen und dem damit verbundenen Selbsterleben. Existenziale Gefühle bilden nämlich nicht nur die phänomenale Gesamtgestalt des Erlebens und seinen Weltbezug, sondern gerade auch den eigenen Selbstvollzug. Auffälligkeiten und Störungen im Gefühlsleben schlagen sich somit nicht nur unmittelbar im existenzialen Gefühl, sondern auch in der Struktur des (erlebten) Selbstverhältnisses nieder. 3.1.3. Explanative Phänomenologie und das genetische Verhältnis einzelner psychischer Phänomene zueinander Die Kovariation von affektiven Phänomenen und Phänomenen des Selbstvollzugs kann sich dabei auf verschiedene Weise gestalten. Sass (2010, 2014) beschreibt im Rahmen seiner »explanativen Phänomenologie« verschiedene synchrone und diachrone Beziehungen, die das zeitliche und konstitutive Auseinanderhervorgehen von psychischen Phänomenen betreffen. Für die folgende Analyse kommen vor allem die Beziehungen der »Gleichursprünglichkeit«, des »Ausdrucks«, der »Konsequenz« und der »Kompensation« zum Tragen, die Sass anhand der Schizophrenie erläutert (ebd.): –
–
Mit Gleichursprünglichkeit ist gemeint, dass zwei Erlebensaspekte einander phänomenologisch implizieren. So geht die für die Schizophrenie typische Hyperreflexivität, also die gesteigerte Aufmerksamkeit für einzelne Erlebensmomente, aus einer Minderung des präreflexiven Selbstgefühls hervor, umgekehrt beeinträchtigt aber das Übermaß an Reflexion auch das präreflexive Selbsterleben. Mit Ausdruck ist gemeint, dass sich Beeinträchtigungen, die die basale Konstitution und Struktur des Erlebens betreffen, in höheren Schichten des Erlebens manifestieren können. So lassen sich Wahngedanken, etwa im eigenen Denken von einer Beein-
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flussungsmaschine bestimmt zu sein, als Ausdruck einer Störung des präreflexiven Selbsterlebens auffassen. Mit Konsequenz ist gemeint, dass eine Modifikation der Erlebensstruktur gewisse weitere Veränderungen nach sich zieht. So kann beispielsweise eine wiederholt auftretende, neuropathologisch bedingte sensorische Reizung verstärkte Reflexionsprozesse in Gang setzen, die dann durch Habitualisierung zur Hyperreflexivität führen. Mit Kompensation ist gemeint, dass gewisse Erlebensweisen als kompensatorische Reaktion auf Veränderungen im Erleben erfolgen. Liegt z. B. ein zu schwaches Selbstgefühl vor, so kann eine verstärkte Aufmerksamkeit für das eigene Erleben der Versuch sein, ein besseres Gefühl für sich selbst zu gewinnen.
3.2 Dysregulation als Grundstörung der BPS? Die Bedeutung der explanativen Phänomenologie Wie bereits erwähnt, wird die Dysregulation häufig als die den anderen Symptomen der BPS zugrundeliegende Grundstörung angesehen. Anhand der im letzten Abschnitt dargestellten phänomenalen Beziehungen lassen sich nun die entsprechenden Zusammenhänge näher analysieren. Damit wird phänomenologisch aufweisbar, wie die emotionale Dysregulation weitere für die BPS typische psychische Auffälligkeiten und Phänomene nach sich zieht. Allerdings möchte ich im gleichen Zug zeigen, dass hierbei nicht nur ein unidirektionaler Zusammenhang vorliegt, sondern dass die verschiedenen BPS-typischen psychischen Phänomene ein eng verwobenes Symptomgeflecht darstellen. Demnach kann sich die BPS im Einzelfall im Ausgang von einzelnen, unterschiedlichen Auslösern und Symptomen entwickeln, um dann schließlich jeweils im gleichen oder ähnlichen BPS-spezifischen Symptomkomplex zu münden. So kann im einen Fall die Entstehung der BPS vorwiegend auf genetisch-biologische Ursachen zurückgehen, die eine Übererregung und Impulsivität bedingen. Physiologische Hyperaktivität ist, wie zu zeigen sein wird, phänomenologisch eng mit emotionaler Dysregulation verbunden; diese wiederum steht in Zusammenhang mit affektiver Selbstentfremdung und Instabilität, Gefühlen der Leere und mangelnden Identität, Störungen des Beziehungserlebens und letztlich der BPS-typischen Fragmentierung der Identität. 178 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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Allerdings muss die Entwicklung der BPS nicht notwendig diesen Ausgangspunkt nehmen: Aufgrund der vielfältigen Verknüpfungen zwischen den psychischen Phänomenen kann sich eine physiologisch-körperliche Hyperaktivität auch erst vor dem Hintergrund der anderen BPS-typischen Phänomene einstellen. Starke Vernachlässigung im Kindesalter etwa kann dazu führen, dass Betroffene nicht lernen, eigene Gefühle zu erkennen, wodurch deren Regulation kaum möglich ist. In der Folge können Betroffene körperliche Erregungszustände nur wenig kontrollieren, wodurch sich wiederum ein allgemein erhöhtes physiologisches Aktivierungsniveau einstellt. Zudem kann sich eine die Dysregulation induzierende Übererregung auch als Folge eines frühkindlichen Traumas einstellen. Die bei BPS auftretenden Übererregungszustände müssen demnach nicht primär auf eine neurobiologische Fehlfunktion zurückgehen, sondern lassen sich auch aus frühen Erfahrungen verständlich machen. In diesem Sinne plädiere ich dafür, dass die genetisch-phänomenologische Untersuchung der Zusammenhänge von psychischen Phänomenen einen wichtigen Beitrag zur Ätiologie der BPS leisten kann, die gerade auch einer Vielfalt möglicher Ursachen gerecht werden muss. Durch den Aufweis jener Zusammenhänge lässt sich zudem verdeutlichen, dass ein biologischer Reduktionismus in Hinsicht auf die BPS und ihre Symptome nicht gerechtfertigt ist: Selbst wenn das erhöhte physiologische Aktivierungsniveau auf eine biologische Ursache c zurückgeht, so müssen die sich aus der Übererregung ergebenden psychischen Phänomene bzw. Symptome s1,2,3…n nicht unmittelbar durch c verursacht sein. Vielmehr handelt es sich in manchen Fällen um eine Art phänomenologische ›Kausalität‹ : So kann c etwa Übererregungszustände (s0) bedingen, welche wiederum aufgrund der im Folgenden zu beschreibenden phänomenalen Beziehungen zu emotionaler Dysregulation (s1), affektiver Selbstentfremdung (s2) und Gefühlen der Leere (s3) führen. Der entscheidende Punkt ist, dass sich das kausale Verhältnis zwischen c und beispielsweise s3 nicht mehr auf der Basis von biologischen Mechanismen allein verstehen lässt. Vielmehr kommen hierbei jene phänomenalen Beziehungen und Prozesse der Erfahrung zum Tragen, die im Folgenden weiter ausgeführt werden (vgl. Schmidt 2018). Bei der folgenden Darstellung konzentriere ich mich auf ausgewählte phänomenale Beziehungen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Leitend sind dabei vor allem zwei Ziele: (1) Der generelle Aufweis der Verwobenheit der verschiedenen BPS-Symp179 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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tome und ihrer multidirektionalen Zusammenhänge als Symptomgeflecht; (2) der Aufweis des Zusammenhangs zwischen Affekt- und Selbsterleben.
3.3 Die Verflechtung von Dysregulation und Impulsivität Dysregulation und Impulsivität lassen sich bis zu einem gewissen Grad im Sinne der Beziehung der Gleichursprünglichkeit beschreiben. Die Unfähigkeit, aufkommende Impulse zu regulieren, impliziert, dass jeder – auch ein nur leicht verstärkter – Impuls eine Kaskade von affektiven Prozessen nach sich ziehen kann. Mangelnde emotionale Selbstregulation trägt also zugleich immer einen Moment der Impulsivität in sich. Die Gleichursprünglichkeit von Dysregulation und Impulsivität gilt allerdings nur begrenzt. Verfügt eine Person nämlich über eine ausgeprägte Fähigkeit zur Emotionsregulation, so kann eine Neigung zu starken affektiven Impulsen abgefedert werden. Während Regulationsschwierigkeiten eine hohe Impulsivität implizieren, muss also die Neigung zu starken affektiven Impulsen nicht mit Regulationsschwierigkeiten einhergehen. Jedoch lässt sich sagen, dass starke affektive Impulse durchaus leicht Regulationsschwierigkeiten nach sich ziehen. Eine überhöhte Aktivierung und Impulsivität stellen nämlich hohe Anforderungen an die Emotionsregulation, die auch bei durchschnittlichen Regulationsfähigkeiten häufig Misserfolge provozieren. Entsprechende Erfahrungen führen zu einem Gefühl mangelnder Kontrolle über die eigenen Affekte. Als Folge hiervon stellen sich nicht nur Gefühle der Hilflosigkeit (vgl. Seligman 1975) ein, sondern vorhandene Anlagen zur Emotionsregulation werden nicht entwickelt. Obwohl nicht im strengen Sinne von Gleichursprünglichkeit gesprochen werden kann, ist Dysregulation in diesem Sinne als Konsequenz von Impulsivität zu betrachten.
3.4 Dysregulation und Impulsivität, affektive Intensität und affektives Selbstverstehen Mangelndes affektives Selbstverstehen bzw. Alexithymie hängen in vielerlei Hinsicht mit emotionaler Dysregulation und hoher Impulsivität zusammen, woran sich die Symptomverflechtung und die mehr180 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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fach gerichtete Ätiopathogenese der BPS phänomenologisch aufweisen lässt. Bedeutsam ist hierbei vor allem, dass mangelndes affektives Selbstverstehen nicht nur als Konsequenz einer starken Impulsivität und Unbeständigkeit des eigenen Affekts auftreten kann. Gerade auch die Alexithymie bedingt Regulationsschwierigkeiten und Impulsivität, insofern Emotionsregulation ein Mindestmaß an affektivem Selbstverstehen voraussetzt. Werden die eigenen Gefühlsimpulse nicht verstanden, so fällt es schwer, sie in adäquater Weise zu regulieren. Als Folge steigert sich die Intensität einzelner Gefühlsimpulse, bis diese das gesamte Gefühlsleben bestimmen. Affektives Selbstverstehen hat insofern auch eine stabilisierende und protektive Funktion. Dies lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen: Die Freude, einen geliebten Menschen zu treffen, kann durch dessen Zuspätkommen verunsichert werden. Affektives Selbstverstehen hilft nun, die Freude und den Schatten, den die Verunsicherung auf sie wirft, auseinanderzuhalten. Die Freude bleibt erhalten und besteht neben der Verunsicherung, die durch ein mögliches Gespräch ausgeräumt werden kann. Liegt hingegen kein hinreichendes affektives Selbstverständnis vor, so vermischen sich positive (Freude) und negative (Verunsicherung) Regungen derart nachhaltig, dass Gefühle der Verunsicherung überhandnehmen und nur schwer regulierbare Gefühle, etwa Wut, nach sich ziehen können. Die für die BPS typischen Regulationsschwierigkeiten können somit auch als eine Konsequenz von Alexithymie verstanden werden. Der Hang zur Intensivierung und Steigerung einzelner Gefühlsmomente kann zudem als sekundäre, kompensatorische Reaktion auf eine primäre Alexithymie beschrieben werden. Stören einzelne Gefühlsmomente (z. B. die Verunsicherung durch das Zuspätkommen der geliebten Person) die aktuelle Gefühlslage (Vorfreude), so verschafft die affektive Eskalation Klarheit über die eigenen Gefühle.
3.5 Affektive Selbstbefremdung als Konsequenz von Dysregulation und Impulsivität Dysregulation, Impulsivität und Alexithymie können zudem mit einer affektiven Selbstbefremdung einhergehen. Gefühle, die von der betroffenen Person reguliert werden können, werden als ich-syntone Gefühle und die Emotionsregulation als Selbstregulation erlebt. Wo die Regulation eigener Gefühle nicht ge181 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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lingt, vollzieht sich dagegen phänomenal eine Entkoppelung des treibenden Affekts von der Eigenheitssphäre des Selbst. Der überwältigende Gefühlsstrom wird als ich-fremd erfahren und setzt sich gegen eigene Regulationsversuche durch. Als Konsequenz beschränkt sich das Erleben der Eigenheitssphäre des Selbst auf die scheiternden Regulationsansätze. Zurück bleibt ein Selbst, das sich dem als fremd erfahrenen Affekt gegenüber unterlegen und ohnmächtig empfindet und das nicht nur einen signifikanten Kontrollverlust erlebt, sondern auch eine affektive Selbstbefremdung. Die affektive Selbstbefremdung besteht darin, dass sich die starken Gefühle zwar als eigene geben, allerdings von den Betroffenen nicht in den gefühlsmäßigen Selbstvollzug integriert werden können. Die scheiternden Regulationsversuche münden in Abwehrreaktionen gegen den eigenen Affekt, was sich als schmerzvolle Inkohärenz und Nicht-Koinzidenz mit sich selbst zeigt. Dies lässt sich am Beispiel der Wut über die Verspätung der geliebten Person verdeutlichen. Die Heftigkeit der eigenen Wut kann nicht reguliert werden, und die sich darin manifestierende übermäßige Intensität des Affekts steht in starker Spannung zu der eigentlichen Vorfreude der betroffenen Person, die »retentional« und »protentional« 1 die aktuelle Wut umrahmt. Die aktuelle Wut ist als solche zwar für die Betroffene klar und auch in diffuser Weise als eigener Affekt gegeben. Allerdings mutet die Wut in ihrer Heftigkeit, Unkontrollierbarkeit und ihrem Widerspruch zur gerade noch gespürten Freude für die betroffene Person befremdlich an. Sie fühlt sich nicht kohärent mit ihrem Affekt, der impulshaft und mit hoher Intensität bald ihr Selbsterleben dominiert. Intensität und schneller Gefühlsaufbau bewirken dabei eine Entdifferenzierung des Gefühlsreliefs. Sodann laufen die retendierte Vorfreude, die protendierten Gefühle des Glückes und die präsente starke Wut zusammen, wodurch sich eine ambivalente Spannung einstellt: Einerseits verspürt die Betroffene starke Wut, andererseits aber erscheint ihr diese Wut selbst befremdlich. Zum einen hat die hohe Intensität der Wut aufgrund ihrer Nichtregulierbarkeit einen stark passiven und ich-dystonen Charakter. Zum anderen steht die Wut auch in Konflikt mit der Vorfreude. In der Wut, insbesondere aufgrund ihrer Heftigkeit, findet sich das eigentlich vorfreudig gestimmte Selbst nicht wieder.
1
Zur Erklärung der Begriffe »Retention« und »Protention« vgl. Husserl (1966).
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Die Gefühle der schmerzvollen Inkohärenz ließen sich wie folgt verbalisieren: »Ich verspüre große Wut, aber ich bin so eigentlich nicht. Aber sie überkommt mich und ich kann sie nicht kontrollieren. Ich bin in meinem Gefühl der Wut nicht ich selbst. Ich freue mich doch, dass ich bald die andere Person treffen werde.« Es ist dabei zu beachten, dass sich diese affektive Selbstbefremdung von der ebenfalls BPS-typischen Selbstentfremdung unterscheidet. Letztere tritt in anderen Phasen der BPS auf, nämlich im Zuge von Gefühlen der Leere und Depersonalisation. Während die affektive Selbstbefremdung darin besteht, dass als eigene, aber befremdlich wahrgenommene Gefühle als inkongruent mit dem aktuellen, meist diffusen Selbstgefühl erlebt werden, ist für die Selbstentfremdung charakteristisch, dass Erlebnisse als unwirklich und bedeutungslos erfahren werden. Entscheidend hierbei ist, dass in der Selbstentfremdung überhaupt kein oder nur ein sehr geringes Selbstgefühl vorliegt; sie ist insofern eine De-personalisation.
3.6 Affektive Selbstbefremdung und Überidentifikation mit dem aktuellen Affekt Vor dem Hintergrund dieser affektiven Selbstbefremdung lässt sich die problematische Überidentifikation von Personen mit BPS mit ihrem aktuellen starken Affekt verstehen. Sie lässt sich auch als eine kompensatorische Reaktion auf die Selbstbefremdung im innersten affektiven Selbstvollzug beschreiben und hat mehrere Aspekte. Die Überidentifikation besteht zunächst in einem Nachlassen von Regulationsversuchen, wodurch sich zugleich der Fremdheitscharakter des aktuellen Gefühls verringert. Der starke Affekt wird als ›eigenes‹ Gefühl zugelassen und verstärkt sich. Die weitere affektive Eskalation hat nun selbstbestärkenden Charakter und mündet in eine an Selbstaffirmation grenzende Nicht-Infragestellung des eigenen Gefühls und seines bedeutungsmäßigen Gehalts (Hyper-Wissen). Dieser Effekt ist bei den BPS-typischen Wutanfällen besonders stark. Die Wuteskalation lässt sich aus der Struktur der affektiven Selbstbefremdung und der Harmonisierung des Selbstgefühls durch Überidentifikation mit dem starken Affekt begreiflich machen. Jeder negative Affekt – sei es der Trauer, Enttäuschung, Scham, Verunsicherung etc. – ruft im oben beschriebenen Sinne affektive Selbstbefremdung hervor, wenn die Intensität des Gefühls aus dem Gefühlsverlauf 183 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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nicht verständlich wird und die eigenen Regulationskapazitäten übersteigt. Dies wird unabhängig vom konkreten Sachverhalt als Angriff auf das Ich erlebt. Die darauffolgende Wut weist dann einen kompensatorischen Charakter auf, insofern sie einen besonders selbststärkenden Effekt hat. Das sich selbst unverständliche Selbst tritt in der Wut wieder zutage und versichert sich so seiner selbst. Gleichzeitig ist die Wut eine Konsequenz der erlebten Demütigung, welche die Ohnmachtserfahrung und Selbstbefremdung für die Betroffenen darstellt. Die »narzisstischen Wunden« (Fertuck et al. 2016) und Demütigungen, die Personen mit BPS häufig berichten, sind dabei meist primär Ausdruck der affektiven Erfahrungsstruktur und nur nachrangig dem konkreten Sachverhalt geschuldet. Nicht selten kommt es erst nachträglich zu den BPS-typischen Fehlinterpretationen und verzerrten Wahrnehmungen, die der Demütigungserfahrung entsprechen und diese erklären sollen. Die Überidentifikation mit dem aktuellen Affekt hat somit auch einen aktiven Aspekt. Betroffene machen aufgrund der Intensität des Gefühls und durch ihre Fehlinterpretationen den aktuellen Affekt zu ihrer Identität (identitas-facere). Betroffene verstehen sich selbst von ihrem aktuellen Affekt aus und fokussieren in Wahrnehmung und Erinnerung dem Affekt entsprechende Aspekte, wodurch die schmerzvolle Inkohärenz der Selbstbefremdung reduziert wird. Allerdings ist die Überidentifikation in sich übermäßig und führt so schnell zu einer neuen schmerzvollen Widersprüchlichkeit mit dem eigenen Selbstbild, der Identität und Lebensgeschichte der Betroffenen. Versuche, den akuten intensiven Affekt und die von ihm ausgehenden Überzeugungen in die eigene Identität zu integrieren, misslingen. Nicht selten führt gerade dies zu weiterer affektiver und gedanklicher Eskalation, wobei letztere gerade darin besteht, dass erinnerte Elemente (beispielsweise frühere Beziehungserfahrungen mit der an der aktuellen Situation beteiligten Person) negiert und uminterpretiert werden. Identitäts- und beziehungsbezogene Selbstverständlichkeiten – etwa Rollen, Beziehungsstatus, gemeinsame Vorhaben – werden außer Kraft gesetzt. Dies lässt sich anhand des Konzeptes der existenzialen Gefühle am obigen Beispiel verdeutlichen. Für gewöhnlich wird eine Verspätung des geliebten Menschen, z. B. des Partners, innerhalb des aktuellen existenzialen Gefühls als mögliches Ereignis gedeutet, das nicht die Beziehung infrage stellt. Ist z. B. die Vorfreude und das Vertrauen in die Beziehung groß und die Person in harmonisch-romantischer 184 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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Stimmung, so vermag die Verspätung gerade die Rolle der liebenden Person herauszufordern. Das existenziale Gefühl, in einer erfüllenden Partnerschaft geborgen zu sein, und das Selbstverständnis, dem Anderen ein guter Partner zu sein, legen es nahe, für den Anderen Geduld aufzubringen. Dies ist im entsprechenden existenzialen Gefühl als mögliches Ereignis antizipiert. Das geduldige und vielleicht durchaus verunsicherte Warten auf den Anderen ist dann die Realisierung der Liebesbeziehung zu ihm. Eine solche ›Geduldsprobe‹ lässt sich durchaus dem existenzialen Gefühl des Verliebtseins zuordnen. Eine Person mit BPS jedoch, die sich aufgrund ihrer emotionalen Dysregulation stark verunsichern lässt, vermag das Warten nicht als mögliches Ereignis im Rahmen der Liebesbeziehung zu spüren. Vielmehr rutscht die betreffende Person mit steigendem Affekt der Verunsicherung und Wut, wie oben beschrieben, in ein anderes existenziales Gefühl, etwa der Verlassenheit und Enttäuschung. Das Treffen erscheint nun in einem anderen Licht, z. B. dem der sich wiederholenden Enttäuschungen; es werden vergangene Momente mit der geliebten Person erinnert, die eher in das Register der enttäuschten Erwartungen passen, harmonische Momente werden ausgeblendet und Situationen uminterpretiert. Aus einem einzelnen Gefühlsmoment der Verunsicherung, das zunächst nur vor dem Hintergrund der Vorfreude und des existenzialen Gefühls des In-guter-PartnerschaftSeins auftaucht, kann aufgrund der schnellen Intensivierung selbst ein existenziales Gefühl werden, welches das weitere Erleben vorstrukturiert. Hierin besteht die Überidentifikation mit dem aktuellen Affekt in der BPS. Die Dysregulation und Impulsivität drängt den Betroffenen von einem existenzialen Gefühl ins nächste, insofern es die hohe Intensität des Affekts ist, die kaum andere oder differenzierte Gefühlsmomente zulässt. Das Gefühlsleben – das gesamte aktuelle Erleben oder aktuelle Sein – der Betroffenen wird ganz und gar vom Affekt eingenommen, wodurch dieser aber selbst zum Hintergrund für alle weiteren Erlebnisse, d. h. zum existenzialen Gefühl wird.
3.7 Affektive Überidentifikation und Instabilität, Gefühle der Leere und der Mangel an Identität Kennzeichnend für die BPS sind somit rasche Übergänge zwischen existenzialen Gefühlen. Die affektive Instabilität der BPS ist aller185 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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dings mehr als eine bloße Sprunghaftigkeit des Gefühls. Nicht jede Launenhaftigkeit geht mit einer Änderung der existenzialen Gefühle einher, welche als integrierende Struktur durchaus verschiedene Gefühle und deren Wechsel umfassen können. Die Leichtigkeit, mit der in der BPS einzelne Gefühlsimpulse zum existenzialen Gefühl werden, schlägt sich selbst erlebensmäßig als existenziales Gefühl der Leere und Dysphorie nieder. Es ist dadurch charakterisiert, dass intensive Gefühle und ein Kippen jedes aktuellen existenzialen Gefühls als mögliche Ereignisse ständig antizipiert werden. Die dysphorische Gespanntheit umfasst zum einen die von Betroffenen gespürte Unmöglichkeit, aus dieser Gesamtdynamik herauszukommen, zum anderen die Reizbarkeit und Vorwegnahme des bevorstehenden starken Affekts. Damit ist eine ständige Lockerung der Bindekraft existenzialer Gefühle verknüpft. Alle existenzialen Gefühle erweisen sich schnell als hinfällig und werden durch ein neues ersetzt, dessen Hinfälligkeit wiederum aber schon im Vorhinein antizipiert ist. Die häufigen Wechsel von existenzialen Gefühlen bewirken somit eine allgemeine Veränderung der Struktur des existenzialen Gefühls als solchem. Jeder starke Affekt, der zum existenzialen Gefühl wird, vollzieht sich innerhalb dieser veränderten und BPS-spezifischen Infrastruktur des existenzialen Gefühls. Die chronischen Gefühle der Leere und Dysphorie sind Ausdruck dieser Dynamik. Gleichzeitig motivieren die chronischen Gefühle der Leere und Dysphorie eine Überidentifikation mit stärkeren Gefühlsimpulsen. Überidentifikation lässt sich so auch als Kompensation von Gefühlen der Identitätsdiffusion verstehen. Hieraus ergibt sich schließlich ein BPS-spezifischer affektiver Teufelskreis: Ein ständiger, durch Überidentifikation mit dem aktuellen Affekt bedingter Wechsel der existenzialen Gefühle induziert Gefühle der Leere und einen Mangel an Identität; Gefühle der Leere und ein Mangel an Identität wiederum motivieren die Überidentifikation mit dem aktuellen Affekt.
3.8 Dysregulation, Intersubjektivität und der Affekt der Anderen Eine BPS-spezifische Auffälligkeit im zwischenmenschlichen Bereich ist das häufig zu beobachtende manipulative Verhalten. Dieses teilweise gar feindselig anmutende Verhalten lässt sich phänomenologisch vor dem Hintergrund der beschriebenen affektiven Störungen 186 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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und einer BPS-typischen verminderten Ich-Du-Differenzierung verstehen. Der Mangel an Ich-Du-Differenzierung ist zum einen durch eine nahezu grenzenlose Verbindung zur anderen Person gekennzeichnet. Aufgrund der hohen emotionalen Sensitivität und Ansteckbarkeit hat der Affekt des Anderen einen unmittelbaren Charakter. Gefühle anderer Personen, vor allem stressbezogene Aktivierungszustände, übertragen sich vor dem Hintergrund geringen affektiven Selbstverstehens und der Dysregulation leicht und schnell auf Personen mit BPS. Die Betroffenen stehen so unter regelrechtem Einfluss der Fremdaffekte, die in Konsequenz zu einem Gravitationszentrum ihrer gesamten Intentionalitätsstruktur werden. Zum anderen ist das Verhältnis zum eigenen Gefühl aufgrund der starken affektiven Beeinflussung durch Andere häufig verstellt. Mangelndes affektives Selbstverstehen und Gefühlsintensität machen es für die Betroffenen schwer zu erspüren, inwiefern der eigene Affekt durch eigene Wahrnehmungen und Interpretationen oder durch Resonanz auf den Affekt der anderen Person bedingt ist. So werden die eigenen Gefühle häufig vage als durch andere Personen verursacht erfahren. Die Tendenz zu Schuldzuweisungen und die für Personen mit BPS typische Vorwurfshaltung werden hieraus begreiflich. Oftmals spiegeln Anschuldigungen gegenüber anderen Personen den objektiven Sachverhalt – z. B. einen Konflikt – nur wenig bis gar nicht wider. Sie lassen sich aber als Ausdruck der Struktur des affektiven Durchlebens der Situation durchaus nachvollziehen. Vor dem Hintergrund dieser affektiven Verflechtung mit anderen Personen lassen sich auch die manipulativen Tendenzen von Personen mit BPS wie folgt beschreiben. Erstens stellen sie eine kompensatorische Reaktion auf die mangelnde Regulierbarkeit der eigenen Gefühle und die hohe Bedeutung des Fremdaffekts für den eigenen Affekt dar. Zweitens können Manipulationen auch als fehlgerichtete Selbstregulationsversuche aufgefasst werden, die aufgrund der mangelnden Ich-Du-Differenzierung übermäßig auf den fremden anstatt den eigenen Gefühlsfluss gerichtet sind. Drittens bieten manipulative Handlungen die Möglichkeit, den Passivitätscharakter und Gefühle des Kontrollverlustes auszugleichen. Erfahren sich Personen mit BPS häufig anderen Personen und deren Affekt ausgeliefert, so bezeugen gelungene Manipulationen die Macht und Kraft des eigenen Selbst. Die Neigung zu manipulativen Verhaltensweisen ist also auch als – häufig übermäßig 187 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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– kompensatorischer Prozess angesichts der erlebten Ohnmacht anderen Personen und dem eigenen Affekt gegenüber zu verstehen.
3.9 Fragmentierung ohne Risse: Narrativität und gestörtes Selbsterleben in der BPS Auch in Hinsicht auf das narrative Selbst lassen sich Zusammenhänge zwischen Störungen der Affektivität und des Selbsterlebens beschreiben. Dem chronischen Gefühl der Leere und Dysphorie entspricht ein Mangel an einer übergreifenden diachronen Einheit, einer narrativen Identität (Fuchs 2007). Dieses Fehlen eines vereinheitlichenden Narrativs darf aber nicht mit dem Wegfall der Narrativität als einer dem alltäglichen Selbst inhärenten Struktur gleichgesetzt werden. Gold und Kyratsous (2017) argumentieren dafür, dass das Fehlen einer narrativen Identität als solches nicht pathologisch sein muss. Anders dagegen dürfte es sich bei einer völligen Auflösung der Struktur der Narrativität verhalten. Eine solche Auflösung liegt aber in der BPS nicht vor, vielmehr findet in der BPS die ständige Neuerrichtung eines Narrativs und einer entsprechenden Identität statt. Die chronischen Gefühle der Leere und Dysphorie als Gefühle der fehlenden Identität sind hiervon Ausdruck, insofern die Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit einzelner narrativer Identitäten gleichursprünglich einen Mangel an narrativer Identität bedeuten, was allerdings nicht einer Auflösung der Narrativität gleichkommt. Im Gegenteil, der phänomenale Tatbestand der als schmerzvoll erfahrenen Inkohärenz und der erlebte horror vacui bezeugen das Streben nach einer narrativen Identität in Personen mit BPS. Gerade auch die milden Dissoziationen, die bei heftigen Affekten auftreten, zeigen an, wie sehr Betroffene um ein stimmiges Narrativ bzw. eine dem aktuellen Affekt entsprechende Identität bemüht sind. Fuchs (2007) ist daher Recht zu geben, dass die BPS eine Störung des narrativen Selbst darstellt, wobei der Mangel an narrativer Identität nur eine beschränkte Erklärung bietet. Eine umfassendere phänomenologische Erklärung im Sinne von Sass (2014) muss vielmehr die Störung der Affektivität berücksichtigen, welche die Identitätsbildung und das narrative Selbst laufend beeinträchtigt, aber nicht auflöst.
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Resümee Die phänomenologische Untersuchung der erlebensmäßigen Zusammenhänge zwischen den für die BPS typischen psychischen Phänomenen hat aufgezeigt, dass unterschiedliche Aspekte der gestörten Affektivität – wie Dysregulation, Impulsivität, Gefühlsintensität, Alexithymie, emotionale Ansteckung und Empathie – nicht nur miteinander verzahnt, sondern auch eng mit einem gestörten Selbst- und Identitätserleben verbunden sind. Insbesondere Dysregulation, Impulsivität und mangelndes affektives Selbstverstehen haben sich hierbei als fundamentale Beeinträchtigungen herauskristallisiert, die weitere BPS-Symptome mit Bezug auf das Selbst- und Beziehungserleben nach sich ziehen. Hervorzuheben ist hierbei, dass es aufgrund des inneren Zusammenhangs von Dysregulation, Impulsivität und mangelndem affektiven Selbstverstehen im Einzelfall nur eine untergeordnete Rolle spielt, welches der drei psychischen Phänomene ursächlich primär ist. Wie die Beschreibung der phänomenalen Zusammenhänge deutlich gemacht hat, kommt es bei vorliegender emotionaler Dysregulation zugleich auch zu starken Gefühlsimpulsen, die auf längere Sicht auch die Fähigkeit, eigene Gefühle zu erkennen und zu verstehen, unterminiert. Eine hohe primäre Impulsivität geht mit hohen Anforderungen an die Emotionsregulation einher, wodurch dysregulatives Verhalten begünstigt wird. Umgekehrt bedingt ein primäres mangelndes affektives Selbstverstehen wiederum emotionale Dysregulation, verstärkte Impulsivität und ein erhöhtes Aktivierungsniveau. Die phänomenologische Beschreibung der Beziehungen der psychischen Phänomene ist damit von großer Bedeutung für die Ätiologie der BPS. Sie macht verständlich, wie ganz unterschiedlich geartete Ursachen – genetisch-biologische Ursachen oder psychosoziale Belastungen wie frühkindliche Vernachlässigung und Traumata – zu einem ähnlichen problematischen Erleben und Verhalten im Sinne der BPS führen können.
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Negative Zukunft Eine phänomenologische Analyse der Angst Stefano Micali
Zusammenfassung Sowohl in der psychoanalytischen Tradition als auch in der phänomenologisch-existentiellen Philosophie spielt die Angst eine Schlüsselrolle für die Definition des Selbst. Der vorliegende Aufsatz fokussiert sich auf eine bestimmte Konzeption der Angst, die in der deutschsprachigen phänomenologischen Diskussion großen Einfluss gewonnen hat und in psychopathologischen Kontexten oft als Basis für die Analyse der Angststörung dient, nämlich auf den Ansatz von Hermann Schmitz. Der Text gliedert sich in zwei Teile: Im ersten Abschnitt wird der Begriff der Angst in Auseinandersetzung mit Hermann Schmitz’ Position erörtert. Im zweiten Teil erfolgt eine weitergehende phänomenologische Analyse der Angst, die Schmitz’ Begriff des Selbst als einseitig erkennen lässt, insofern in der Erfahrung der Angst auch die Dimensionen der Phantasie und der Antizipation der Zukunft eine fundamentale Rolle spielen. Die phänomenologische Beschreibung der Vielschichtigkeit der Angst hat nicht zuletzt zum Ziel, die Komplexität des Begriffs des Selbst hervorzuheben.
Einleitung Die hohe soziale Relevanz der Angststörung ist heute unumstritten: Epidemiologischen Studien zufolge leiden ca. 10 % der Allgemeinbevölkerung unter Angststörungen, worunter ein sehr breites Spektrum an Störungsbildern wie generalisierte Angst, Phobien oder Panikattacken zusammengefasst wird (Wancata et al. 2011). Jede Charakterisierung der Angststörung setzt notwendigerweise einen bestimmten Begriff der ›normalen‹ Angst voraus, der implizit eine normative Funktion hat: Die Angststörung wird als Abwei194 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Negative Zukunft
chung von der normalen Angst angesehen. Wie lässt sich eine solche ›normale‹ Angst definieren? Unter welchen Umständen können wir eine Angstreaktion als nicht-pathologisch betrachten? In Freuds Terminologie lässt sich die Frage auch so formulieren: Anhand welcher Kriterien können wir eine Realangst von einer neurotischen Angst unterscheiden? 1 – Diese Fragen sind von großer anthropologischer Bedeutung. Denn sowohl in der psychoanalytischen Tradition als auch in der phänomenologisch-existentiellen Philosophie spielt die Angst eine Schlüsselrolle für die Definition des Selbst. Freud ist sich darüber im Klaren, wenn er schreibt: »Wie immer das sein mag, es steht fest, dass das Angstproblem ein Knotenpunkt ist, an welchem die verschiedensten und wichtigsten Fragen zusammentreffen, ein Rätsel, dessen Lösung eine Fülle von Licht über unser ganzes Seelenleben ergießen müßte« (Freud 1917/1969, 408). Genauso ist auch bei Heidegger die Angst die einzige Grundstimmung, die dem Menschen die Möglichkeit zur Eigentlichkeit eröffnet. Hierbei wird die Angst als Sein zum Tode (1927/1986) sowie als Erfahrung des Nichts (1976) definiert. Sartre betont ebenfalls die Sonderstellung der Angst für die Bestimmung des Menschen: Die Angst offenbart unsere absolute und unbegründbare Freiheit (1943/1991). Es wäre ein Leichtes, die Liste von Autoren fortzusetzen, die in der Psychoanalyse oder der phänomenologischen Tradition davon ausgehen, dass die Erforschung der Angst eine zentrale Rolle für die Bestimmung wesentlicher Aspekte des Selbst einnimmt. 2 Im vorliegenden Beitrag wird sich meine Analyse auf eine Angstauffassung konzentrieren, die in der deutschsprachigen phänomenologischen Diskussion der Angst großen Einfluss gewonnen hat, nämlich den Ansatz von Hermann Schmitz, dem Begründer der »Neuen Phänomenologie«. Den jüngeren Arbeiten zur Angst von Hartmut Böhme (1997, 2013, 2016), Christoph Demmerling und Hilge Landweer (2007), Gernot Böhme (1995) oder Sybille Krämer (2011) ist gemeinsam, dass sie auf Schmitz’ Analyse der Angst basieren. Er definiert die Angst als gehemmten Fluchttrieb, als »das gehinDabei sei auch daran erinnert, dass diese Unterscheidung zwischen Realangst und neurotischer Angst bereits bei Freud prekär ist, weil der Realangst das unzweckmäßige Moment der Entwicklungsangst innewohnt, wodurch jene in die Nähe der neurotischen Angst rückt (Laplanche 1980). 2 Im Rahmen der Psychoanalyse sind z. B. die klassischen Studien von Lacan (2010) und Laplanche (1980) zu erwähnen, in der phänomenologischen Tradition Michel Henry (2002) oder Emmanuel Levinas (1996). 1
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derte Weg!«. Noch entscheidender ist, dass seine Arbeiten zur Angst auch in der Psychopathologie wichtige Fortführungen erfahren haben: So gehen u. a. Alfred Kraus (2000), Thomas Fuchs (2000, 2010), Wolf Langewitz (2010) und Annegret Boll-Klatt (1994) von Schmitz’ Perspektive aus, um verschiedenartige Angststörungen zu untersuchen. Der vorliegende Beitrag gliedert sich in zwei Teile: Im ersten Abschnitt erörtere ich den Begriff der Angst in kritischer Auseinandersetzung mit Hermann Schmitz’ Position. Im zweiten Abschnitt nehme ich eine phänomenologische Analyse der Angst vor, wobei die Einseitigkeit von Schmitz’ Ansatz aufgezeigt werden soll, insofern in unserer Erfahrung der Angst auch die Dimensionen der Phantasie sowie der Antizipation der Zukunft eine fundamentale Rolle spielen. Damit verfolge ich das Ziel, diejenige Komplexität des Selbst deutlich zu machen, die als unersetzliche Voraussetzung für eine stichhaltige psychopathologische Analyse der Angststörung gelten sollte.
I.
Der Begriff der Angst in Schmitz’ System der Philosophie
Hermann Schmitz hat zwischen 1964 und 1980 sein monumentales 10-bändiges Werk System der Philosophie veröffentlicht. In architektonischer Hinsicht wird dem Phänomen der Angst darin eine zentrale Rolle zugewiesen. Angst und Schmerz sind die beiden eminenten Phänomene, um die Gegenwart zu verstehen, die für Schmitz das Prinzip der Philosophie darstellt. Sie erfüllt jene fundamentale Funktion, die auch anderen grundlegenden Begriffen wie denen des Guten oder des Einen (bei Platon bzw. im Neuplatonismus), des Ich (bei Descartes und Fichte) oder des Absoluten bei Hegel (Schmitz 1964, 149) eignet. Nach Schmitz ist es legitim, der Gegenwart einen Vorrang zuzuschreiben, weil in ihr die beiden grundlegenden Kriterien erfüllt sind, um als Prinzip der Philosophie gelten zu können: Sie ist immer zugänglich und sie ist unverwechselbar. Eine traditionelle Idee der Philosophie manifestiert sich hier in einer ihrer klassischen Gestalten: Die Philosophie soll ein stabiles Fundament finden, das allen möglichen Formen des Beirrens, des Zweifelns und der Desorientierung standhalten kann. Die tiefsten Wurzeln der Philosophie liegen nach Schmitz im Bedürfnis des Menschen, sich in seiner gegebenen Umgebung zu orientieren, indem er sich auf die Gesamtheit der Erfahrung bezieht. 196 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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In der Philosophie tendiert dieses Bedürfnis nach grundlegender Orientierung dazu, sich in einem rationalen Dialog und nach Maßgabe der Überzeugungskraft von Argumenten zu artikulieren. Obwohl nicht im Voraus entschieden werden kann, wie erfolgsversprechend die Suche nach einem stabilen Prinzip ist, zeigt sich Schmitz davon überzeugt, dass es im Phänomen der Gegenwart ausfindig zu machen ist. Hier stellt sich jedoch die Frage: Selbst wenn sich die philosophische Forschung auf die Gegenwart konzentrieren sollte, warum muss sie sich mit dem Phänomen der Angst auseinandersetzen? – Entscheidend hierfür ist, dass Schmitz die Angst als »gehindertes Weg!«, als Hindernis eines Fluchtimpulses interpretiert. Aber wovor sollten wir fliehen? Schmitz’ Antwort ist in dieser Hinsicht unmissverständlich: vor der Gegenwart (Schmitz 1964, 192). Im ersten Band des Systems der Philosophie beginnt Schmitz seine Untersuchung der Angst unter Berücksichtigung verschiedener Situationen, in denen dieser Affekt auftritt. Eines der Hauptziele seiner Untersuchung besteht darin, eine klare Unterscheidung zwischen Angst und Furcht zu treffen. Die erste von ihm behandelte Angstsituation ist ein Albtraum, in dem ein Mann von einer böswilligen Person verfolgt wird. Anfangs zeigt sich stricto sensu keine Angst, sondern nur die starke Furcht, eingeholt zu werden. Deshalb bewegt man sich vorsichtig, um vom Verfolger nicht bemerkt zu werden und ihm entgehen zu können. Schmitz’ Ansicht nach tritt die Angst in einem ganz bestimmten Moment auf: Wenn man das Gefühl hat, dass man sich nicht mehr vorwärtsbewegen kann, das Bedrohliche zugleich aber immer näherkommt. Angst entsteht aus der Spannung zwischen dem eigenen Impuls wegzulaufen und der Unmöglichkeit, diesen Impuls in eine Handlung zu überführen: Als bloßer Fürchtender lag ich nicht im Streit mit mir selbst, sondern bloß mit dem Verfolger und der Gefahr des Schadens. In der Angst bin ich dagegen mit mir selbst entzweit: Mein Impuls »Weg!« liegt im Streit mit meinem Festgebanntsein, meinem unbegreiflichen Unvermögen, den Platz zu verlassen. (Schmitz 1964, 170)
Furcht wird also in dem Moment zur Angst, wenn man von dem, was die eigene Bewegungsfreiheit einschränkt oder gänzlich aufhebt, nicht loskommen kann: »Angst […] tritt ein, wenn der Drang, etwas abzustoßen, gehindert wird, gleichgültig, ob das Abzustoßende grob körperlich oder sublim geistig ist.« (Schmitz 1964, 174) Aus diesem Grund ist die Angst auch durch »leibliche Enge« 197 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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charakterisiert. Die Enge entsteht, wenn der Fluchttrieb nicht realisiert werden kann (Schmitz 1964, 175), wenn ein Fluchtversuch durch Widerstände und Hindernisse »frustriert« wird. In vielen Fällen ist die Angst primär räumlich konnotiert. Doch das ›hier‹, der ›Platz‹, der nicht verlassen werden kann, ist nicht notwendigerweise im räumlichen Sinn gemeint. Angst vor einer vergangenen Schuld hat die gleiche Grundstruktur, obwohl sie sich nicht auf ein lokal bestimmbares ›hier‹ bezieht. In der Angst will man genau dort nicht sein, wo man sein muss. Man will vordringlich seinen eigenen ›Platz‹ verlassen (genau wie im Falle von Schuldgefühlen), kommt aber nicht von der Stelle. In zahlreichen pathologischen Fällen findet Schmitz immer wieder die gleiche Struktur der Angst vor. Der Psychiater Spitz berichtet von einem Patienten, der sich davor fürchtet zu ersticken, wenn er Nahrung herunterschluckt – aus dieser Furcht entstehen dann durchdringende Todesängste (Spitz 1930, 418). Solch schweren Formen der Angst äußern sich körperlich in unkoordinierten Bewegungen, Zittern, Schaudern etc. Nach Schmitz verraten genau diese für die Angst typischen motorischen Reaktionen einen Fluchtdrang: Man möchte von dem Ort, an dem man sich befindet, fliehen. Es ist jedoch auch möglich, auf die bedrohliche Situation ganz anders zu reagieren, nämlich mit Immobilität. Schmitz interpretiert diese Lähmung als einen Versuch, den Fluchtimpuls aufzuheben. Wie bereits angedeutet, kann die Enge nicht auf einen räumlichen Aspekt reduziert werden. Manchmal wird sie eher im zeitlichen Sinne artikuliert: In anderen Fällen trägt diese Frage eher die Züge des zeitlichen Platzes, des jetzt. So ist es z. B. bei Erwartungsangst, die einen Datierungszwang mit sich bringt; der Geängstigte muss dann denken »jetzt, jetzt passiert es.« In diesem Fall kann die Tendenz zu räumlicher Flucht ausfallen. Das »Weg« klammert sich an den Verlauf der Zeit, der den Geängstigten aus der Enge seines Jetzt entführen soll. (Schmitz 1964, 194–5)
Nachdem Schmitz gezeigt hat, dass im Einzelfall das zeitliche oder räumliche Moment dominant sein kann, weist er darauf hin, dass diese beiden Momente (›hier‹ und ›jetzt‹) nicht im Gegensatz zueinander zu denken sind. Im Gegenteil ist es notwendig, sie als nicht getrennt zu begreifen: Das primitive »Weg!« gilt als ihre gemeinsame Wurzel. Die Gegenwart entfaltet sich sowohl im Hier als auch im Jetzt. In der Angst will man einem primitiven, ursprünglichen ›Ort‹ 198 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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entfliehen, der in räumlicher oder zeitlicher Hinsicht nicht vollständig artikuliert ist und sich im Hier und im Jetzt ausdrücken kann: Diese primitive Wurzel des Hier und Jetzt bezeichne ich als die Gegenwart. Dabei denke ich daran, dass dieses Wort sowohl zur Bezeichnung des Jetzt als auch des Hier (der räumlichen Anwesenheit bei etwas) benützt wird; die räumliche Bedeutung ist sogar die ältere und ursprüngliche, wenn auch von der zeitlichen inzwischen etwas zurückgedrängt. (Schmitz 1964, 196; Hervorh. S. M.)
Schmitz’ Vorgehensweise ist kumulativ. Im Laufe seiner Untersuchungen wird der Umfang der Gegenwart zunehmend erweitert. Sie muss nicht nur räumlich in Bezug auf den eigenen Leib (1) oder zeitlich im Zusammenhang mit dem Jetzt (2) verstanden werden, sondern sie umfasst auch andere Dimensionen wie das Prinzip der Individuation (»dieses«) (3). Die Gegenwart sei auch die Wurzel des Daseins (4) und des Egos (5). 3 Nach Schmitz äußert sich die vollständige Gegenwart in fünf verschiedenen Dimensionen: im Hier, Jetzt, Dasein, Dieses und Ego (vgl. Marx 2002, 241–246). Der unmittelbare Impuls zu fliehen äußert sich in den motorischen Reaktionen. Diese Aktivierung ist Ausdruck des tieferliegenden Wunsches, die eigene Gegenwart zu verlassen, die noch nicht in einer der oben genannten fünf Dimensionen entfaltet ist: »Nur deswegen brennt uns in der Angst die Gegenwart unter den Fersen, weil wir selbst hier und jetzt sind, ohne dass bei hinlänglicher Macht der Angst das Hier, Jetzt und Ich noch geschieden wären« (Schmitz 1964, 197). Die ursprüngliche Angst zeigt einen Mangel an Differenzierung der Gegenwart. Sie gilt hingegen dann als differenziert, wenn sich eine der oben genannten Dimensionen abhebt und deutlich hervortritt. So liegen Formen räumlicher Angst vor (wie z. B. Agoraphobie oder Klaustrophobie), wenn der Aspekt des ›Hier‹ überwiegt.
Das ›Dasein‹ darf nicht im Heidegger’schen Sinn verstanden werden, sondern folgt eher der traditionellen metaphysischen Bedeutung. Das Dasein bezieht sich hier auf die Tatsache, dass die Phänomene existieren. Schmitz entwickelt den Begriff ›Appräsenz‹, um diese grundlegende Dimension der Gegenwart noch präziser zu fassen.
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II.
Die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Furcht und Angst bei Schmitz
In seinem Aufsatz »Die Angst: Atmosphäre und leibliches Befinden« 4 (1989/2008) konzentriert sich Schmitz auf eigentümliche Formen der Angst. Seine Analyse zweier Fallstudien erlaubt es nachzuvollziehen, wie er zu seinem neuen Verständnis dieses Affekts gelangt ist. Zunächst bezieht sich Schmitz auf Angststörungen, die der Psychotherapeut Hans von Hattingberg untersucht hat (von Hattingberg 1931). Dieser berichtet von einem Patienten, der auf Höhe des Magens Schmerzen verspürt. Er beschreibt seine Angst unverkennbar als ein unheimliches Gefühl, »das sich überhaupt nicht definieren lässt. Es schwankt zwischen der Empfindung von Völle und Leere, von Übelkeit, von Hunger und von Widerwillen gegen Nahrung. Es hat eine Beimischung von Angst, wie einmal gesagt wurde, fast von Schuldgefühl« (ebd., 133). Die Beschreibung dieses ersten Falles dient dazu, zwei wesentliche und miteinander verbundene Merkmale der Angst aufzuzeigen: 1) Die Angst ist einerseits im Leib selbst zu lokalisieren; 2) andererseits hat sie einen diffusen Charakter, ähnlich einer Atmosphäre, die den Betroffenen umgibt und durchdringt. Schmitz versucht, diesen Unterschied zwischen einer leiblichen Regung und einem Gefühl als Atmosphäre anhand der Differenzierung zwischen Müdigkeit und Schwermut herauszustellen. Die Müdigkeit ist ein Phänomen, das sich durch eine »örtliche Abhebung« auszeichnet. Dagegen stellt sich ein Gefühl als unbegrenzte, ganzheitliche Atmosphäre dar, die nicht lokalisiert werden kann: Für eine Gegenüberstellung der Gefühle und leiblichen Regungen scheint sich daher der bezeichnende Unterschied ortloser Atmosphären, die Gefühle sind, und örtlich umschriebener leiblicher Regungen anzubieten. Auch diese sind z. T. Atmosphären, sofern sie – wie Müdigkeit und Frische, das Behagen in der Badewanne und das diffuse Übelbefinden am Morgen nach schlechtem Schlaf – Stimmungen und Färbungen des leiblichen Befindens im Ganzen sind, im Gegensatz zu den auf einzelnen Körpergegenden verteilten leiblichen Regungen, die oft als Organempfindungen missverstanden werden. Solche leibliche [sic] Atmosphären durchziehen aber jeweils 4 Dieser Aufsatz von Schmitz ist in seinem Buch Leib und Gefühl – Materialien zu einer philosophischen Therapeutik enthalten, das im Jahr 1989 veröffentlicht wurde. Im vorliegenden Beitrag beziehe ich mich auf die dritte, erweiterte Auflage von Schmitz’ Buch (2008).
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merklich nur den von der Umwelt abgehobenen Leib und sind insofern immer noch örtlich umschrieben. (Schmitz 1989/2008, 138).
Es ist hier wichtig, sowohl den Unterschied als auch den inneren Zusammenhang zwischen leiblicher Regung und dem Gefühl als Atmosphäre zu unterstreichen: Nur durch leibliche Regungen können wir uns Atmosphären aneignen: Das affektive Betroffensein oder die Ergriffenheit von Gefühlen ist immer leiblich, dem so Betroffenen am eigenen Leibe spürbar. Kummer wird z. B. sein Kummer (statt bloß nachgefühlter fremder) erst dadurch, dass er sich ihm schwer auf die Brust legt oder ihn auch nur in diffus-ganzheitlicher Weise leiblich niederdrückt. (Schmitz 1989/2008, 140)
In diesem Kontext untersucht Schmitz eine weitere spezifische Form der Angst: die sogenannte Dämmerungsangst, zu der der Neurologe S. W. Engel (1957) eingehend geforscht hat. Manche Patienten werden bei Sonnenuntergang zutiefst unruhig. Sie fühlen sich von der Atmosphäre der Leere des Sonnenuntergangs buchstäblich umschlossen 5 und geraten in einen Zustand tiefster Einsamkeit, als ob sie in einer Leere schweben würden, in der alles auseinanderfällt (Schmitz 1989/2008, 140). 6 Schmitz begreift die Angst als einen komplexen Affekt. Wie bereits gesagt, bewegt sich seine Beschreibung entlang von zwei Achsen: Zum einen ist Angst eine leibliche Regung, zum anderen ist sie ein Gefühl, das uns atmosphärisch umgibt. Diese Atmosphäre wird Man kann sich fragen, ob dieser Fall für die Angst als solche repräsentativ ist. Mit anderen Worten muss die Frage nach dem Unterschied zwischen pathologischer Angst und nicht-pathologischer Angst gestellt werden. Auf diesen Unterschied geht Schmitz in seinen Schriften nicht ein. Zweifelsohne befasst er sich ausführlich mit spezifischen Angststörungen (Schmitz 1964, 232–237), aber er setzt sich nie direkt mit dem grundlegenden Problem auseinander, unter welchen Bedingungen und anhand welcher Kriterien die Normalität, Anomalie und Pathologie der Angst zu bestimmen sind. Tatsächlich neigt Schmitz dazu, in seinen Fallanalysen die strukturelle Kontinuität zwischen pathologischer und nicht-pathologischer Angst zu betonen. Wie u. a. Kurt Goldstein, Maurice Merleau-Ponty und Georges Canguilhem gezeigt haben, ist die Erforschung psychopathologischer Fälle von unschätzbarem Wert, um die Grundstruktur der subjektiven Erfahrung als solcher ans Licht zu bringen. Zugleich ist es dennoch genauso wichtig, den Verschiebungen, den Differenzen sowie den Verzerrungen zwischen pathologischen und nicht-pathologischen Formen des jeweiligen affektiven Phänomens gerecht zu werden. 6 Hier ist Schmitz stark von Heideggers Beschreibung der Angst beeinflusst: In der Angst entzieht sich das Seiende als Ganzes. Er bezieht sich an dieser Stelle explizit auf Was ist Metaphysik? (1976). 5
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als Furcht bezeichnet. Das Problem liegt nun darin, die Beziehungen zwischen diesen zwei Momenten genauer zu bestimmen. Bei diesem Ansatz ist von vornherein klar, dass Schmitz einen rigiden Dualismus zwischen Körper und Geist überwinden möchte. Es sei phänomenologisch illegitim, die Angst als inneren Seelenzustand zu behandeln, der durch Veränderungen der äußeren Umwelt hervorgerufen wird. In der gelebten Erfahrung lässt sich eine solche Dichotomie nicht ausmachen. Obwohl Schmitz’ Kritik an einer dichotomen Konzeption von Gefühlen anhand eines strikten Unterschiedes zwischen Körper und Geist zuzustimmen ist, gelingt es ihm nicht, den Zusammenhang zwischen Gefühl und leiblicher Regung phänomenologisch angemessen zu bestimmen. Seiner Auffassung zufolge ist die Angst auf die leibliche Enge zurückzuführen: Angst zeige sich in der leiblichen Unfähigkeit, sich in die Weite auszubreiten. Doch tatsächlich ist die Angst ein wesentlich komplexeres Phänomen, das ein vielschichtiges Zusammenspiel heterogener Dimensionen der Subjektivität (z. B. inneres Zeitbewusstsein, Phantasie, Leiblichkeit etc.) impliziert. 7 Vergleicht man die Darstellung des Verhältnisses von Furcht und Angst im ersten Band des Systems der Philosophie mit Schmitz’ Ausführungen im Essay Die Angst: Atmosphäre und leibliches Befinden (1989/2008), dann lässt sich eine Neugestaltung dieses Verhältnisses anhand der von ihm eingeführten Kategorien »Verankerungspunkt« und »Verdichtungsbereich« feststellen. Stricto sensu hat demnach die Furcht als bedrohliche Atmosphäre eine Doppelstruktur, die sich in einem »Verdichtungsbereich« und in einem »Verankerungspunkt« artikuliert. 8 Letzterer ist beispielsweise bei einer Zahnbehandlung die unmittelbare Erwartung des Schmerzes. Der Verankerungspunkt ist aber auch mit einem Verdichtungsbereich der Furcht verknüpft, der den Raum erfüllt: Der Arzt, die verschiedenen Bohrgeräte, der Zahnarztstuhl und der unverwechselbare Geruch einer Zahnarztpraxis sind von einer unmittelbar bedrohlichen Atmosphäre durchdrungen, die die ganze Situation bestimmt. Angst entsteht nun, wenn der Patient von der alles durchdringenden Atmo-
Im letzten Abschnitt des vorliegenden Aufsatzes werde ich die Komplexität dieses Phänomens beleuchten. 8 Schmitz übernimmt diese Unterscheidung von Metzger (1975, 175–194), der die Begriffe Verankerungspunkt und Verdichtungsbereich zunächst in Bezug auf die visuelle Wahrnehmung von Gestalten eingeführt hat. 7
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sphäre auch leiblich betroffen wird: »Diese atmosphärische Furcht wird zur eigenen des Patienten durch die Angst, mit der sie ihn leiblich spürbar ergreift.« (Ebd., 151) Im System der Philosophie wird die Furcht hingegen nicht als Atmosphäre verstanden, sondern genau wie die Angst als eine leibliche Regung aufgefasst: Furcht entsteht, wenn man bedrohlichen Umständen ausgesetzt ist, jedoch noch einen bestimmten Spielraum der ›Bewegungsfreiheit‹ beibehält; Angst hingegen tritt dann auf, wenn dieser Spielraum verlorengeht. Es genügt hier, die von Schmitz angeführten fiktiven Beispiele von zwei bedrohlichen Situationen in einem Kino zu betrachten, um den prägnanten Unterschied zwischen dem Begriff der Furcht im System der Philosophie und der Furcht als Atmosphäre (in »Die Angst: Atmosphäre und leibliches Befinden«) zu zeigen. Im ersten Beispiel verfolgt jemand eine Frau in einem Kino, während das Kino leer ist: Der Saal sei leer, bis auf einen Verfolgter und eine Verfolgte. Die Verfolgte flüchtet furchtsam, aber besonnen behende über die Stuhlreihen, durch die Gänge usw., bis sie im günstigen Fall ins Freie kommt. Dann hat sie eventuell trotz heller Furcht keine Angst gehabt: Sie hatte immer Platz, um auszuweichen; ihr »Weg!« war nicht gehemmt. (Schmitz 1964, 176; Hervorh. i. Orig.)
Im zweiten Fall ist der Saal voll und plötzlich bricht ein Feuer aus. Panik breitet sich aus: »Im Gegensatz zum vorigen Beispiel ist nämlich der Saal voll besetzt, also der Ausweg anscheinend verstopft. Also ist, wie ich eben für die Angst überhaupt gefordert habe, der Impuls ›Weg!‹ gehindert.« (Schmitz 1964, 176) Diese Beispiele sollen deutlich machen, wie Angst und Furcht jeweils als spezifische leibliche Regungen zu definieren sind. 9
Zugleich zeigen die beiden Beispiele, wie problematisch Schmitz’ Differenzierung zwischen Angst und Furcht ist, die er im System der Philosophie vorschlägt. Wie kann man im ersten Fall argumentieren, dass eine Frau stricto sensu keine Angst hat, wenn man bedenkt, dass sie allein in einem Kino verfolgt wird? Sollte die Abwesenheit anderer Leute im Kino nicht eigentlich die Angst erhöhen, weil die auf sich allein gestellte Verfolgte hierdurch eher noch den schlimmsten Ausgang des Szenarios annehmen muss? Kann die Grenzsituation des ausbrechenden Feuers in einem Saal überhaupt ein geeignetes Beispiel für das Angstphänomen sein? Handelt es sich dabei nicht vielmehr um eine genuine Form kollektiver Panik?
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III. Die leibliche Ökonomie der Angst Es ist nun deutlich geworden, dass Schmitz das Verhältnis zwischen Angst und Furcht in »Die Angst: Atmosphäre und leibliches Befinden« und im System der Philosophie jeweils anders auffasst, ohne dabei aber auf den kategorialen Unterschied dieser Konzeptionen aufmerksam zu machen. Bei beiden Ansätzen bleibt allerdings ein grundlegender Aspekt unverändert: Angst wird als »gehindertes Weg!« begriffen. Wie drückt sich die Angst nun leiblich aus? – Es wäre nicht unangemessen zu behaupten, dass Schmitz in seiner Angstanalyse eine atmosphärische Physiologie des Leibes entwickelt. In diesem Zusammenhang versteht er den Leibbegriff primär anhand der dynamischen Tendenzen zur Weite (»Weitung«) sowie zur Enge (»Engung«). Diese zwei Tendenzen stehen zueinander in einem antagonistischen Verhältnis: »Leibliche Engung, die sich in der Auseinandersetzung mit einer konkurrierenden Weitung befindet, bezeichne ich als Spannung, umgekehrt, die mit solcher Spannung konkurrierende Weitung als Schwellung.« (Schmitz 1989/2008, 144) Spannung und Schwellung stehen immer in einem wechselseitigen Konkurrenzverhältnis (Boll-Klatt 1994, 133). Ein solches Konkurrenzverhältnis stellt nach Schmitz die »leibliche Ökonomie« dar (Großheim 1995; Soentgen 1998). Das Phänomen der Angst lässt sich ebenfalls im Lichte einer solchen Ökonomie ausgelegen: Jede weitende Bewegung ruft die Reaktion einer stärkeren Gegenmacht hervor. Der gehemmte Impuls »Weg« ist eine leibliche Weitung, ein Ringen um Weite, das aber wegen der Übermacht engender und stauender Hemmung zu einem vergeblichen Sich-Aufbäumen gegen diese wird. Dank dieser Eindämmung schwillt der Impuls aber nur noch mehr gegen die Hemmung an und steigert so den als Angst oder als Schmerz erlebten Konflikt, indem die Spannung die Schwellung und diese auch umgekehrt die ihr gegenüber übermächtige Spannung bestärkt. (Schmitz 1989/2008 145)
Im ersten Band des Systems der Philosophie betrachtet Schmitz noch einen anderen Fall der Angst: Vor einer Prüfung ist ein Student beinahe in Panik geraten. Er reagierte auf dieses Gefühl damit, dass er auf seinem Stuhl sitzen blieb und darauf gewartet hat, dass diese für ihn unerträgliche Situation vorübergeht (Schmitz 1964, 195). Es ist auffällig, dass Schmitz dazu neigt, die Angst als völlige Blindheit ge204 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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genüber ihrer Entstehung zu begreifen. Wer Angst hat, kann die Gründe für ihr Auftreten nicht nachvollziehen: Die Gewalt der Angst lässt dem Betroffenen […] nicht den Spielraum, der ihm gestatten würde, sich von dem Unterschied der Angstanlässe deutliche Rechenschaft zu geben, sondern schnürt sein Bewusstsein gleichsam zu einem primitiven Urerlebnis zusammen, das sich zwar gemäß den verschiedenen Angstanlässen und -reaktionen differenziert, aber im Kern dessen, was es präsentiert, einfach und gleichförmig bleibt. Je intensiver die Angst wird, desto weniger bedeuten für das »Weg!« Raum, Zeit und Umstände in ihrer Eigenart. (Schmitz 1964, 195)
Es ist sicherlich wahr, dass sich Bestimmungen auflösen und Verwirrung einsetzt, wenn die Angst besonders stark wird – aber es ist keineswegs zwingend, die extreme Form der Angst als Leitfaden für das Verständnis dieses Phänomens überhaupt heranzuziehen. Angst kann nicht als vollkommen blinde, überwältigende Erfahrung verstanden werden, wie Schmitz es nahezulegen versucht. Für gewöhnlich lässt uns Angst Phantasmen bilden; sie dramatisiert potenzielle Gefahren; sie verzerrt unsere Perspektive auf eine Situation. Mit anderen Worten: Sie verändert in kohärenter Weise (d. h. in einem spezifischen Stil) unser Verhältnis zur Welt, auch wenn dies in unterschiedlicher Weise geschehen kann. Die ›kopflose‹, blinde Angst mit vollständigem Verlust der Orientierung in einer Situation ist eher charakteristisch für die Panik als für die meisten Ängste. Natürlich muss man auch die pathologischen Formen extremer Angst berücksichtigen, aber daraus folgt nicht, dass deren Eigenschaften das Phänomen in seinem Kern bestimmen. Schmitz zufolge haben wir keinen Zugang zu den Anlässen der Angst. Sie sind in der leiblichen Enge verdichtet, wobei einer möglichen Reflexion kein Raum gelassen wird: »Der Komplex der Angstanlässe ist dann nicht übersichtlich vor dem geistigen Blick entfaltet, sondern gleichsam in eine einfache Enge zusammengezogen, die das Bewusstsein erdrücken will und ihm keinen Spielraum besinnlicher Vergegenwärtigung der Angstanlässe zugesteht.« (Schmitz 1964, 193) In dieser Passage wird die Angst in einer Weise beschrieben, die der Spannbreite ihrer Erfahrung nicht gerecht wird: Zwischen einem souveränen Überblick, der die Kontrolle über die gesamte Situation impliziert, und einer blinden leiblichen Enge, die den Betroffenen überwältigt, gibt es eine ganze Reihe von Übergangsphänomenen,
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die die meisten unserer Ängste auszeichnen. So setzt die Angst die Vorwegnahme eines Szenarios voraus, sodass in der Antizipation eines negativen Ereignisses dieses bereits ›quasi‹-erlebt wird. Bei Freud kommt dieser Aspekt zur Sprache, wenn er die Tendenz zur Angst mit einer Impfung vergleicht: In diesem zweiten Fall unterzog sich das Ich der Angst gleichsam wie einer Impfung, um durch einen abgeschwächten Krankheitsausbruch einem ungeschwächten Anfall zu entgehen. Es stellt sich gleichsam die Gefahrsituation lebhaft vor, bei unverkennbarer Tendenz, dies peinliche Erleben auf eine Andeutung, ein Signal, zu beschränken. (Freud 1926/1955, 195)
An diesem Punkt möchte ich noch nicht auf die bedeutsamen Nebenwirkungen einer solchen »Impfung« eingehen, die darin bestehen, dass die vergegenwärtigte Situation ein Gefühl der Ohnmacht erzeugt. Dieser Aspekt wird später noch hervorzuheben sein, wenn gezeigt wird, wie sich das bedrohliche Szenario in einer Dialektik von Antizipation und Phantasie herausbildet. Jedenfalls zeigt sich, dass die Momente der leiblichen Enge und der Erwartung des Schlimmsten in der Angst einander bedingen und wesentlich miteinander verflochten sind. Schmitz’ Darstellung der Angst vernachlässigt jedoch systematisch das proleptische Moment, das auf ein zukünftiges Ereignis ausgerichtet und von unklaren Phantasien durchzogen ist. Es dürfen aber auch andere konstitutive Momente der Angst nicht vergessen werden. Dazu gehört die symbolische und totalisierende Identifikation der eigenen Subjektivität mit einer konkreten Situation. Die durchdringende Intensität der Angst hängt auch entscheidend von dem existenziellen Wert ab, der einer gegenwärtigen Situation zugeschrieben wird. Man identifiziert sich mit der gegenwärtigen Situation – als ob damit das ganze Leben auf dem Spiel stünde. In Kierkegaards Terminologie wird etwas Irdisches als das ganze Irdische betrachtet. 10 Könnte man diese unmittelbare Identifikation aufgeben, würde die Angst, wenn nicht verschwinden, so doch zumindest bis zu einem gewissen Grad abnehmen. Meines Erachtens lässt es sich phänomenologisch nicht rechtfertigen, einem bestimmten Moment wie der leiblichen Enge einen Vorrang gegenüber anderen Aspekten einzuräumen, die für die Art und »Verzweifeln aber kann er an etwas Irdischem doch nur dann, wenn er von diesem Einzelnen alles erwartet was ihm das Irdische überhaupt gewähren soll. Er verzweifelt also, wenn er über etwas Irdisches wirklich verzweifelt, immer über das Irdische« (Kierkegaard 1849/2016, 49).
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Weise, wie sich Angst zeigt, gleichermaßen wichtig sind. Schmitz’ Auffassung der Angst als gehemmter Fluchttrieb mit entsprechender Engeerfahrung weist der Leiblichkeit aber einen deutlichen Vorrang zu. Es sei hier daran erinnert, dass er selbst die ursprünglich räumliche Bedeutung der Gegenwart betont (Schmitz 1964, 196). Somit ist es sicherlich auch kein Zufall, dass Schmitz einen Großteil des dritten Bandes seines Systems der Philosophie, nämlich Der leibliche Raum (Schmitz 1967, 136–165), den raumbezogenen Angststörungen widmet. Zudem sei hier noch einmal darauf hingewiesen, dass auch die zeitliche Struktur der Angst ihr Vorbild in der leiblichen Enge findet (siehe Abschnitt II.). Um die Fragwürdigkeit eines solchen Verfahrens näher zu beleuchten, möchte ich auf eine bereits erwähnte Passage zurückkommen: In anderen Fällen trägt diese Frage eher die Züge des zeitlichen Platzes, des jetzt. So ist es z. B. bei Erwartungsangst, die einen Datierungszwang mit sich bringt; der Geängstigte muss dann denken »Jetzt, jetzt passiert es.« In diesem Fall kann die Tendenz zu räumlicher Flucht ausfallen. Das »Weg« klammert sich an den Verlauf der Zeit, der den Geängsteten aus der Enge seines Jetzt entführen soll. (Schmitz 1964, 194–5)
Mit dem Satz »Jetzt, jetzt passiert es!« verweist Schmitz ausdrücklich auf Friedrich Panses berühmte Angststudien: Panses Forschung konzentriert sich auf die traumatischen Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs und untersucht die zeitliche Dimension der Angsterfahrung während der Bombardierung, als sich die Zivilbevölkerung in den Bunkern versteckte und auf das Ende der Angriffe wartete (Panse 1952). Dabei fiel im Bunker einmal der furchtsame Ausruf: »Jetzt passiert es! jetzt wird uns die Bombe treffen« (ebd., 123). Schmitz’ Interpretation dieser dramatischen Situation erweist sich jedoch als irreführend. Es fällt schwer, in den Worten »Jetzt passiert es!« auch nur die geringste Spur eines Datierungszwanges zu sehen, der sich auf die zeitliche Abfolge der Ereignisse bezieht. Es ist keinerlei Tendenz erkennbar, Ereignisse zeitlich einordnen zu wollen. Der Satz »Jetzt passiert es!« will nichts anderes ausdrücken als die Angst, die aus der Überwältigung angesichts eines drohenden, nicht fassbaren Schreckens resultiert. Wie Schmerzensschreie ein purer Ausdruck des Leidens sind, aber keinen deskriptiven Wert haben (Wittgenstein 1969, § 275), so ist der Satz »Jetzt passiert es!« ein unmittelbarer Ausdruck der Angst, der keine Absicht erkennen lässt, eine temporale Ordnung ausfindig zu machen. Es ist vielmehr ein 207 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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verzweifelter Versuch, sich auf etwas vorzubereiten, auf das man nicht vorbereitet sein kann. Nach Schmitz sei hier die gleiche Logik wie im Fall der leiblichen Erfahrung der Enge am Werk, die jetzt lediglich eine zeitliche Gestalt annimmt: Diejenigen, die während der Bombardierung in Angst geraten, wollen dem gegenwärtigen Augenblick entfliehen, indem sie sich nach einer Zukunft sehnen. Sie ›erstrecken‹ sich auf einen zukünftigen Zeitpunkt, an dem sie endlich außer Gefahr sein würden. Die zunehmende Dauer der Bombardierung erzeuge Angst, weil sie dem Impuls entgegensteht, dem gegenwärtigen, »punktuell aufgefassten Augenblick« (Schmitz 1964, 194) zu entfliehen, in den man sich gebannt fühlt. In Schmitz’ Auffassung der Angst tritt offenbar der gegenwärtige Zeitpunkt an die Stelle des räumlichen ›Hier‹. Schmitz’ Interpretation ist aber aus mehreren Gründen phänomenologisch höchst problematisch, von denen ich im Folgenden nur zwei hervorheben möchte: 1.
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Die Beziehung zwischen leiblicher Enge und hemmender Umgebung in eine zeitliche Form zu übertragen, zielt ausschließlich darauf ab, die Allgemeingültigkeit eines bereits festgelegten Paradigmas – Angst als »gehindertes Weg!« – aufrechtzuerhalten. Es hat den Anschein, als würde Schmitz’ These einer sowohl im Raum als auch in der Zeit identischen Konfiguration des Verhältnisses zwischen Enge und Umgebung einzig dazu dienen, eine strukturelle Analogie zu behaupten, die es ihm wiederum ermöglicht, in beiden Fällen sein Angstverständnis bestätigt zu sehen. Dies verhindert jedoch, dass Schmitz den Eigentümlichkeiten der durchaus verschiedenartigen Erfahrungen Rechnung tragen kann. Im speziellen Fall der Bombardierung handelt es sich primär um eine Angst vor dem eigenen Tod, die in einer dramatischen, kollektiven Form erlebt wird. Sie kann nicht wie eine Panikattacke behandelt werden, die lediglich im Warten auf die Wiederkehr der Sicherheit zu ertragen wäre. Schmitz’ Deutung der Erwartungsangst basiert auch auf einer illegitimen Verräumlichung der Zeit. Einige der wichtigsten philosophischen Konzeptionen der Zeit (von Bergson über Husserl und Heidegger bis zu Derrida) haben die Unzulänglichkeit eines solchen Verständnisses der Dauer als Sukzession punktueller Einheiten gezeigt. Nicht zuletzt sind mit dieser Auffassung star-
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ke metaphysische und ontologische Voraussetzungen verbunden, die phänomenologisch fragwürdig sind.
IV. Die Vielschichtigkeit der Angst Es ist bereits deutlich geworden, dass es nicht zu rechtfertigen ist, einer bestimmten Dimension der Subjektivität (wie z. B. der Leiblichkeit) einen strukturellen oder methodologischen Vorrang gegenüber anderen (wie z. B. der Zeitlichkeit) zuzuerkennen, wenn die Angst phänomenologisch angemessen beschrieben werden soll. Darüber hinaus zeigt sich bei Schmitz’ Angstanalyse innerhalb der Dimension der Leiblichkeit selbst eine weitere einseitige Fixierung auf ein bestimmtes Merkmal, nämlich die Enge, und noch genauer die leibliche Ökonomie von Spannung und Schwellung. Es gibt jedoch weitere typische leibliche Angstreaktionen wie das Zittern, Herzklopfen oder Schwitzen, die weniger auf eine Enge als einen Kontrollverlust verweisen: Sie manifestieren eher die zentrifugale Bewegung der Angst. Schelling (1984, 74) hat zu Recht darauf insistiert, dass die Angst den Menschen aus seinem Zentrum vertreibt. Andere Reaktionen wie z. B. die Kurzatmigkeit drücken sowohl die Enge als auch den Kontrollverlust aus. Die genannten Phänomene – die Antizipation des zukünftigen Szenarios, die leibliche Enge mit Kontrollverlust, die symbolische Identifikation mit einer bestimmten Situation – stellen sämtlich konstitutive Momente der Angsterfahrung dar. Sie sind gleichursprünglich. Wie bereits erwähnt, muss eine phänomenologische Analyse der Angst noch ein weiteres Moment von entscheidender Bedeutung berücksichtigen, nämlich das der Phantasie oder vielmehr der unklaren Phantasien, die gewissermaßen für das ›unendlich Negative‹ offen sind (s. u. die Abschnitte IV. b) und c)). In der Angst wird die Grenze zwischen der zur intentionalen Struktur der Wahrnehmung gehörenden Erwartung einer bedrohlichen Zukunft und den darauf projizierten Phantasien instabil und durchlässig. Die Hypertrophie der unklaren Phantasie in der Angst erzeugt weniger eine Aufhebung symbolischer Aktivitäten (Blumenberg 1979, 12) als vielmehr ihre kohärente Deformation. Schmitz behauptet zwar, dass die Angst Ausweis der Vielschichtigkeit des menschlichen Lebens sei, beharrt aber zugleich auf der einseitigen Betonung ihrer leiblichen Dimension. Es ist hier nicht 209 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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möglich, eine detaillierte und ausführliche Topographie der Angst vorzulegen (Micali 2015; Fuchs & Micali 2017 11 ). Daher beschränke mich darauf, die folgenden vier Aspekte hervorzuheben, um die Einseitigkeit von Schmitz’ Herangehensweise deutlich zu machen: a) Angst als Reaktivierung negativer vergangener Erfahrungen, b) die negative Zukunft der Angst, c) Angst als fremde Macht und d) die Quasi-Wahrnehmung in der Angst.
a) Angst als Reaktivierung negativer vergangener Erfahrungen Angst ist ein komplexes Phänomen, das sich zwischen dem Sich-Vorbereiten auf eine zukünftige Gefahr und der radikalen Passivität der Überwältigung herausbildet. Freud hat die Unterscheidung zwischen Angstvorbereitung und Angstentwicklung eingeführt, um diese als zwei konstitutive Momente der Angst zu verdeutlichen. Die reale Angst, die von der neurotischen Angst abzugrenzen ist, ergibt sich aus der Kombination zweier entgegengesetzter Tendenzen: 1.
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Auf der einen Seite muss sie als ein Versuch verstanden werden, sich auf bevorstehende Gefahren vorzubereiten: »Sie ist eine Reaktion auf die Wahrnehmung einer äußeren Gefahr, d. h. einer erwarteten, vorhergesehenen Schädigung, sie ist mit dem Fluchtreflex verbunden, und man darf sie als Äußerung des Selbsterhaltungstriebes ansehen« (Freud 1917/1969, 408). Die Angst hängt hier selbstverständlich davon ab, was für Vorannahmen und Überzeugungen unsere Wahrnehmung von Gefahren bestimmen. Auf der anderen Seite zeigt sich in der Angst ein durchdringendes Ohnmachtsgefühl, das sich auch in einer Lähmung ausdrücken kann. Eine solche Reaktion, die Freud als Angstentwicklung bezeichnet, ist in keiner Weise zweckmäßig. Mit anderen Worten gibt es keine Angstform, die restlos als ein zweckgerichtetes Verhalten zu beschreiben ist und – pragmatisch betrachtet – als vollständig funktional für das Erreichen von Handlungszielen gelten kann. In der Angst sind wir nie imstande, eine Situation
Der vorliegende Beitrag kann auch als eine kritische Reflexion auf den von mir und Thomas Fuchs verfassten Aufsatz »Die Enge des Lebens« (2017) angesehen werden, in dem die leibliche Enge zu sehr im Vordergrund stand.
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souverän zu überblicken, die Gefahren rational einzuschätzen und uns ein klares Urteil über geeignete Maßnahmen zu bilden, mit deren Hilfe die Schwierigkeiten der Situation zu überwinden wären. Vielmehr wohnt der Angst immer ein irrationales Element inne: Dieses besteht in einem Gefühl der Lähmung, Ohnmacht und Verwirrung. Die Angstentwicklung muss im Sinne eines starken Affektes verstanden werden. Um diese Form des Affektes zu verstehen, ist es nicht nur wichtig, 1) die motorische Innervation und 2) das Moment der Empfindung (im Sinne von Lust und Unlust) zu berücksichtigen, sondern man muss noch einen weiteren Aspekt in den Blick nehmen, nämlich die Wiederholung einer vergangenen leidvollen Erfahrung: »Bei einigen Affekten glaubt man tiefer zu blicken und zu erkennen, dass der Kern, welcher das genannte Ensemble zusammenhält, die Wiederholung eines bestimmten bedeutungsvollen Erlebnisses ist« (Freud 1917/1996, 410). Es liegt auf der Hand, dass Freud das Trauma als paradigmatisches Beispiel für diese innere Verflechtung von vergangenen negativen Erfahrungen mit der Angst vor Augen hat. Die Angstvorbereitung zielt primär darauf ab, negative Erfahrungen in der Gestalt einer Wiederholung von vergangenen traumatischen Erfahrungen zu vermeiden. Das Subjekt versucht, sich mittels verschiedener Aktivitäten, durch Antizipation, Imagination oder auch Rituale auf das destabilisierende Eintreten eines zukünftigen negativen Ereignisses vorzubereiten. 12 Die Angst lässt sich als Ellipse vorstellen, in der das Subjekt zwischen zwei Polen – der Angstvorbereitung und der Angstentwicklung – schwankt. Gäbe es nur die Angstvorbereitung, dann wäre es nicht möglich, von Angst als Affekt zu sprechen: Es würde sich dann nur um eine rational abwägende Einschätzung von Herausforderungen handeln, die mit mehr oder weniger bedrohlichen Gefahren verbunden sind. Würde man hingegen die Angstentwicklung überbetonen, so würde das Phänomen der Angst ebenfalls verschwinden. Man hätte es nur noch mit einer spezifischen pathologischen Reaktion zu tun: einer Panikattacke, in deren Folge der Handlungsspielraum und die subjektive Responsivität stark beeinträchtigt sind. Angst setzt daher 12 Blumenberg (1979) geht so weit zu behaupten, dass die ratio als solche ihren Ursprung in der Domestizierung der Angst hat.
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einen Spielraum voraus, in dem sowohl die Phantasie als auch das Antizipationsvermögen impliziert sind.
b) Die negative Zukunft der Angst Die Angst darf aber nicht allein als Wiederholung der Vergangenheit begriffen werden. Sie ist ebenso dadurch charakterisiert, dass sie sich immer am Schlimmsten – dem Worst-Case-Szenario – ausrichtet. Dies lässt sich anhand von Tillichs Bestimmung des Verhältnisses zwischen Angst und Furcht noch deutlicher herausstellen. In der Furcht beziehen wir uns auf das mögliche Eintreten eines zukünftigen Ereignisses, das uns konkret bevorsteht, wie z. B. der Verlust sozialer Anerkennung. Die Angst zeichnet sich dagegen durch eine proleptische Vorwegnahme unserer conditio nach dem Eintreten der gefürchteten Situation aus. In der Angst stehen die Folgen eines negativen Ereignisses im Vordergrund, dessen Eintreten als unumgänglich empfunden wird. Die Angst ist gewissermaßen eschatologischer Natur: Fear is being afraid of something, a pain, the rejection by a person or a group, the loss of something or somebody, the moment of dying. But in the anticipation of the threat originating in these things, it is not the negativity itself which they will bring upon the subject that is frightening but the anxiety about the possible implications of this negativity. (Tillich 1952, 32)
Die Angst hat die irreversible Tendenz, das unendliche Potenzial der Negativität zu entfalten, und so kann sie als proleptische Weiterentwicklung der Furcht interpretiert werden. Dieses in der Angst aufscheinende Verhältnis zur Zukunft hat Derrida im Hinblick auf die Rolle des Unbewussten präzisiert. In der Angst ahnen wir das WorstCase-Szenario voraus: Wir werden bereits von den Phantasmen des radikalen – das heißt des immer radikaleren – Negativen heimgesucht. Derrida unterstreicht diesen Aspekt, indem er darauf verweist, was für neue Szenarien die terroristischen Angriffe am 11. September 2001 eröffnet haben: In this regard, when compared to the possibilities for destruction and chaotic disorder that are in reserve, for the future, in the computerized networks of the world, »September 11« is still part of the archaic theater of violence aimed at striking the imagination. One will be able to do even worse tomor-
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row, invisibly, in silence, more quickly and without any bloodshed, by attacking the computer and informational networks on which the entire life (social, economic, military, and so on) of a »great nation,« of the greatest power on earth, depends. One day it might be said: »September 11« – those were the (»good«) old days of the last war. Things were still of the order of the gigantic: visible and enormous! What size, what height! There has been worse since. Nanotechnologies of all sorts are so much more powerful and invisible, uncontrollable, capable of creeping in everywhere. They are the micrological rivals of microbes and bacteria. Yet our unconscious is already aware of this; it already knows it, and that’s what’s scary. (Derrida 2003, 101–2)
Destabilisierende Ereignisse erschließen eine neue Zeit, die durch eine radikale Unvorhersehbarkeit gekennzeichnet ist und zugleich unendliche Steigerungsmöglichkeiten des Negativen in sich birgt. Unser auf die Zukunft gerichtetes Unbewusstes rechnet bereits mit unendlichen, verschiedenen Varianten des Überwältigtwerdens.
c) Angst als fremde Macht Im Lichte des oben Angeführten wird deutlich, dass Schmitz’ Analyse der geschichtlichen Dimension der Angst keinesfalls gerecht wird. Im System der Philosophie wird das Selbstverhältnis auf die Auseinandersetzung mit der generischen Unmöglichkeit beschränkt, nicht weggehen zu können. Im späteren Aufsatz »Die Angst: Atmosphäre und leibliches Befinden« wird die Angst lediglich als leibliche Regung aufgefasst, die wesentlich mit der Furcht als gegenwärtiger, bedrohlicher Atmosphäre zusammenhängt. Schmitz analysiert die Angst in beiden Varianten nur aus einer statischen Perspektive ohne Berücksichtigung ihrer genetischen Dimension, die deutlich machen würde, wie eng die Sedimentierung unseres Angstverhaltens mit unserer Identität verflochten ist. Eines der größten Mankos von Schmitz’ Analyse besteht darin, dass er die Angst nicht als eine fremde Macht betrachtet, die in komplexer und geschichtlich vermittelter Weise zur Konstitution des Selbstverhältnisses beiträgt. In der Angst sind wir nicht nur dazu gezwungen, uns mit negativen, überdeterminierten Ereignissen zu befassen, die ein bedrohliches Missverhältnis zwischen unserer Welt und uns selbst ankündigen, sondern wir müssen auch imstande sein, mit diesem invasiven Affekt umzugehen. Der Umgang mit der Angst ist bekanntlich alles andere als leicht. 213 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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In der Angst befindet man sich in einer typischen Double-bindSituation. Es ist kein Geheimnis, dass Vermeidungsverhalten die Angst nur anwachsen lässt, sodass es keineswegs hilfreich ist, unsere Ängste zu leugnen. Wenn wir hingegen den Ängsten Aufmerksamkeit schenken, werden sie oftmals ebenfalls stärker und umfassender. Die gespürten leiblichen Manifestationen der Angst (wie Enge, stockender Atem oder Zittern) erzeugen selbst wiederum Angst, wodurch sie sich als ein autopoietisches Phänomen darstellt (›Angst vor der Angst‹). So hat es den Anschein, als ob in ihr eine negative Teleologie am Werk ist, die zu einer unendlichen Selbststeigerung führen kann. Ebenso kann aber auch das Vermeidungsverhalten eine unerwartete Komplizenschaft mit der negativen Teleologie der Angst aufweisen: Vermeidungsverhalten führt uns genau in jene Situationen, vor denen wir uns ängstigen. Hermann Faller und Hermann Lang berichten von einem in dieser Hinsicht aufschlussreichen Fall: »Eine Frau, die einen Knoten in der Brust entdeckt, aber die jetzt auftauchende Angst mit ihrer Signalwirkung wegdrängt, unterlässt die dringend angezeigte Untersuchung und vergibt sich so eine mögliche Heilungschance« (Lang & Faller 1996, 10). Dass die Frau die Angst mit ihrer Signalwirkung wegdrängt, ist nicht als nachlässiges Verhalten zu werten, sondern zeugt von einer mauvaise foi. Sie ist nicht imstande, sich mit dieser negativen Möglichkeit, mit dieser Warnung, die eine körperliche Gestalt annimmt, auseinanderzusetzen. Es scheint, als ob die Frau nur dann die Signalwirkung wahrnehmen könnte, wenn sie stark genug wäre, sich zu ihrer eigenen Angst zu verhalten und somit den Ernst ihrer Lage zuzugeben und anzuerkennen. Die Unfähigkeit, ein transparentes Verhältnis zu sich selbst sowie zur eigenen Angst zu entwickeln, hat die paradoxe Folge, ausgerechnet jenes Worst-Case-Szenario zu befördern, das die Frau wie ein Phantasma zum Wegdrängen der Angst antreibt: den eigenen Tod, den sie ›verzweifelt‹ zu vermeiden sucht. 13
In einem anderen Text habe ich ein weiteres Merkmal der Angst herausgestellt: Unser Verhältnis zur Angst nimmt die Gestalt einer Interaktion mit einer fremden Macht an. Wenn man die Angst nicht vermeidet, wartet man ab, was sie macht, als ob man gegen einen raffinierten, strategisch agierenden Gegner spielen würde (Micali 2015).
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d) Die Quasi-Wahrnehmung in der Angst Insofern die Angst durch die Antizipation einer negativen Zukunft gekennzeichnet ist, lässt sich in ihr auch eine komplexe Form der Ich-Spaltung ausmachen. Einerseits bezieht sich das vergegenwärtigende Subjekt auf den aktuellen Wahrnehmungshorizont, andererseits stellt die Antizipation der bedrohlichen Situation eine QuasiWahrnehmung dar. Diese Form der ängstigenden Quasi-Wahrnehmung hat einen eigentümlichen Charakter: Die strikte Trennung zwischen Wahrnehmung und Phantasie wird nicht aufrechterhalten, da in der Angst die phantasierten Erscheinungen wie zukünftige Gegebenheiten behandelt werden. Ein konkretes Beispiel kann dies veranschaulichen: Nach einem schwierigen Jahr in der Arbeitslosigkeit wird ein Journalist ganz unerwartet zu einem Bewerbungsgespräch für eine leitende Position bei einer renommierten Zeitung eingeladen. In zwei Tagen wird er das Gespräch führen, das sein Leben schlagartig verändern kann. Diese Situation wird hierbei bereits als wirklich erlebt. Zur Vorbereitung auf eine zukünftige, herausfordernde Situation gehört auch, dass antizipiert wird, wie diese eine negative Wendung nehmen kann, z. B. indem kritisch auf die eigenen Vorschläge reagiert wird oder Schwächen der eigenen Argumentation herausgestellt werden. Solche Antizipationen können dann durchaus Angst entstehen lassen. Wird das antizipierte Gespräch zuerst deutlich und als kohärente Situation vergegenwärtigt, kann es dann durch den Angstaffekt zunehmend chaotischer werden. Mit der Angst stellen sich Ohnmachtsgefühle ein, die mit der Vergegenwärtigung von negativen Szenarien verbunden sind und deren destabilisierende Wirkung sich steigern kann. Die Angst generiert Varianten negativer zukünftiger Möglichkeiten, die in immer höherem Tempo aufeinander folgen. In den dabei mobilisierten unklaren Phantasien scheinen blitzartig vielfältige Formen negativer Möglichkeiten auf. Husserl hat aus phänomenologischer Perspektive diese Erscheinungsweise der unklaren Phantasien beschrieben, die sich durch drei wesentliche Charakteristika auszeichnen: a) Sie sind proteusartig und verändern ständig ihre Gestalt (Hua XXIII, 45); b) sie erscheinen blitzartig, ohne jedwede Kontinuität zu stiften (ebd., 46); c) sie kehren immer wieder zurück, d. h. sie tauchen intermittierend wieder auf (ebd., 47). Diese drei Charakteristika wiederum sind eng miteinander verflochten. Jedoch geht mit dem Einsetzen der durch die Angst begünstigten 215 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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unklaren Phantasien keine Änderung der doxischen Modalität (Hua III/1, 214 ff.) einher: Die durch die Angst motivierten negativen und proteusartigen Erscheinungen werden stets als antizipierte Wirklichkeit empfunden. Die vormals klaren Grenzen zwischen der Phantasie und einer auf die Zukunft gerichteten Wahrnehmung werden infolge der Angst porös, wenn nicht sogar gänzlich aufgehoben.
Resümee Im vorliegenden Aufsatz habe ich zunächst Hermann Schmitz’ gegenwärtig in Deutschland bemerkenswert stark rezipierten Begriff der Angst ausführlich dargestellt und kritisch diskutiert. Dabei habe ich gezeigt, dass die Angst als gehemmter Fluchtimpuls im System der Philosophie und in Die Angst: Atmosphäre und leibliches Befinden jeweils unterschiedlich aufgefasst wird. Weiterhin habe ich auf die Defizite von Schmitz’ Angst-Konzeption aufmerksam gemacht, die durch die Überbetonung eines spezifischen Aspektes – der leiblichen Enge – charakterisiert ist. Im letzten Abschnitt schließlich habe ich die Komplexität und die Mehrdeutigkeiten der Angst hervorgehoben, unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen Phantasie und Vorwegnahme der Zukunft. Damit sollte deutlich geworden sein, inwiefern Schmitz’ Konzeption der Angst der Vielschichtigkeit dieses Phänomens nicht gerecht wird. In diesem Zusammenhang sei noch einmal die Relevanz der oben angeführten Kritik für die Psychopathologie hervorzuheben: Wird eine derart reduzierte Form der Angst als Leitfaden genommen, um die Angststörung zu beschreiben, muss es aus phänomenologischer Sicht fraglich sein, ob damit noch eine adäquate und tragfähige psychopathologische Beschreibung dieses Phänomens gewährleistet ist. Ich möchte mit einem Verweis auf eine Passage Kierkegaards abschließen, die den engen Zusammenhang zwischen Angst und Selbstverhältnis ausweist. Es ist eine grundsätzliche menschliche Herausforderung, mit der Angst ›gesund‹ umgehen zu können, und Kierkegaard hat zu Recht behauptet, dass man lernen muss, sich richtig zu ängstigen. Wer das richtige Maß an Angst gefunden hat, so schreibt er, hat das Höchste erreicht:
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In einem von Grimms Märchen wird von einem jungen Burschen erzählt, der auf Abenteuer auszog, um zu lernen, wie man sich ängstigt. Wir wollen jenen Abenteurer seinen Weg gehen lassen, ohne uns darum zu kümmern, wieweit er auf seinem Weg dem Entsetzlichen begegnete. Was ich dagegen sagen will, ist, dass jeder Mensch dieses Abenteuer zu bestehen hat, nämlich zu lernen, wie man sich ängstigt, damit er nicht entweder dadurch verloren geht, dass ihm nie angst gewesen ist, oder dadurch, dass er in Angst versinkt; wer dagegen gelernt hat, sich in der richtigen Weise zu ängstigen, der hat das Höchste gelernt. (Kierkegaard 1981, 43)
Es ist unmöglich, ein transparentes Selbstverhältnis zu entwickeln, ohne sich mit der Angst auseinanderzusetzen. Lässt sich die Angst auch nur überwinden, wenn wir sie nicht vermeiden, so besteht dabei doch immer das Risiko, von der Angst überwältigt zu werden und dadurch sich selbst zu verlieren.
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Selbststruktur, Selbst und Narzissmus Versuch einer Fundamentalanalyse Boris Wandruszka
Zusammenfassung Was ist das Selbst? Gibt es ein Selbst überhaupt? Über den Weg der phänomenologischen Analyse des eigenen Erlebens und seiner Entfaltungen im leiblichen und im zwischenmenschlichen Leben wird der Versuch gemacht, das Bestehen eines ›Selbst‹ und seine innere Struktur aufzudecken. Dabei zeigt sich, dass ihm unaufhebbar ein ›sich‹ eignet, d. h. ein Sich-zu-sich-selbst-Verhalten, das ein unmittelbares und vor-reflexives Sich-ergreifen-, Sich-spüren- und Sichhaben-Können impliziert. Dies wiederum setzt ein zugleich pathisches und aktives Zentrum voraus. Somit lässt sich das Selbst nicht als eine eigene ›Substanz‹ oder ein feststehendes ›Wesen‹ auffassen, sondern nur als eine Beziehung, nämlich ein ›sich‹, das sich erst im lebendigen Umgang mit der Mit- und Umwelt konstituiert. Abschließend wird die Thematik des Selbst anhand der narzisstischen Störung auch von ihrer prekären Seite her untersucht, um sie zu veranschaulichen und ihre praktische Bedeutung aufzuweisen.
1.
Einleitung
Als Psychotherapeut und Arzt hat man immer wieder mit Menschen zu tun, die einen ›beziehungsorientierten Stil‹ pflegen und in Gefahr sind, ›sich im Anderen zu verlieren‹ ; man spricht dann von ›IchSchwäche‹, ›Symbiose‹ und ›Selbstverlust‹. Noch eindrücklicher und verstörender wirken Patienten, die sich als ›fremdgesteuert‹ und ›roboterhaft‹ erleben, sich nicht mehr ›selbst‹ spüren, neben sich stehen oder sich als völlig ›leer‹ und ›tot‹ empfinden. Bei diesen Umschreibungen handelt es sich um erlebnisorientierte, phänomenal-psychologische Erfahrungen, deren Zuverlässigkeit und subjektive Evidenz trotz ihrer Drastik nicht angezweifelt werden sollten. Und doch gilt 220 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Selbststruktur, Selbst und Narzissmus
es, von einem grundlegend-philosophischen Blickwinkel her innezuhalten und zu fragen: Kann man sein ›Selbst‹ bzw. ›sich‹ wirklich verlieren? Kann man ein ganz Anderer werden, und zwar nicht nur erlebnismäßig-psychologisch, sondern ontisch, d. h. dem realen personalen Sein nach? Und schließlich: Was bedeuten die Worte ›selbst‹ und ›Selbst‹ überhaupt bzw. was bedeuten – im psychopathologischen Kontext – ›Selbstentfremdung‹ und ›Selbststörung‹, ›Selbstzerfall‹ und ›Selbstverlust‹ ? Überblickt man die Geistes- und Philosophiegeschichte der Seele, des Ich, des Subjekts und der Intersubjektivität, lässt es sich nur schwer von der Hand weisen, dass es sich hier um Grundphänomene des Menschseins handelt, die das Selbsterleben und Ich-Sein, das Selbstsein und die Subjektivität überhaupt betreffen und in Tiefen reichen, die sie nicht nur einer Betrachtung wert machen, sondern eine solche geradezu einfordern – zumal hier das Selbstverständnis des Menschen im Spiel ist.
2.
Die Vielfalt der Zugänge
Das Selbstverständnis eines Menschen wird oft in Folge einer »Beirrung« (Schmitz 2011, 9–10) oder einer Erschütterung zum Problem. Verunsicherung, Zweifel und Not, aber auch Überraschung, Staunen, Befremden und Neugier können zu Fragen führen, die um ein nicht mehr selbstverständliches, sondern nunmehr schillernd gewordenes Phänomen kreisen. Es gibt viele Wege, um sich einem in dieser Weise fragwürdig gewordenen Selbst anzunähern: den Zugang des erlebnismäßig-gestischen Hinweisens und der sprachlichen Benennung; den Zugang der phänomenologischen Beschreibung und analytischen Erhellung der Binnenstrukturen; den Zugang einer transzendentallogischen Analyse, die nach den zugrundeliegenden ›Bedingungen der Möglichkeit‹ des Phänomens fragt, und den Zugang einer Bedeutungsanalyse der Sprache und Begriffe selbst. Neben diesen kognitiven Akten gibt es auch eher emotional-imaginative Zugänge wie das intuitive Selbsterleben und das In-sich-hinein-Spüren, die Einfühlung in Andere oder die kreative Mitgestaltung wie im Falle einer ›Phantasiereise‹ oder einer gemeinsamen künstlerischen Betätigung (Breyer 2015). Schließlich dürfen auch praktisch-handfeste Zugänge nicht unerwähnt bleiben wie etwa der Entschluss zu einer Tat, das Sichan-die-Stelle-des-Anderen-Setzen, die Nachahmung des Anderen, 221 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Boris Wandruszka
das Spiel, der Kampf oder der Dialog. Alle diese Zugänge legen spezifische Aspekte von Subjektivität bzw. Sich- und Selbstsein – leiblich, sprachlich und interaktiv – frei, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern ergänzen.
3.
Die Implikatstruktur von »selbst« und »Selbst«
3.1. Erleben als Sich-Erleben und »Sich-selbst-Konstituieren« Ob wir unsere Vorstellungen in Worte fassen oder unsere Absichten und Gemütsbewegungen wortlos-leiblich in Mimik, Gestik und Lokomotion ausdrücken, immer gehen wir vom Erleben aus. Dieses Erleben wird dadurch gegenwärtig, dass wir uns im unmittelbar-fühlenden Sinn inne sind bzw. in einem Vollzug bewusst werden, der sich folgendermaßen gliedern lässt: (1) Aus der Aktivität eines meist unthematisch-vorreflexiven Leben- und Selbst-da-sein-Wollens, 1 (2) entspringt unwillkürlich ein »Sich-Bezug« bzw. ein Selbstverhältnis, (3) mit und aus dem sich eine Selbsthabe in unmittelbarer Selbsteinheit konstituiert. Ohne diese drei Momente könnte nichts erlebt, betrachtet, ausgedrückt und kommuniziert werden. Wie aber genau vollzieht sich diese dreifältige Strukturganzheit? Ist sie voraussetzungslos, gar ›absolut‹, wie es der Deutsche Idealismus in seinem Geist-Begriff oder die radikale Phänomenologie Michel Henrys (1992) in der Vorstellung vom »absoluten Leben« nahelegen? Und schließlich: Auf welche Weise konstituiert diese Aktivität ihren Selbstbezug und ihre synthetisierte Selbsthabe?
Auch Müdigkeit, Hunger und leiblicher Schmerz, die gewiss passiv-zwanghaft über uns kommen, müssen, damit sie erlebt werden, zugelassen und wahrgenommen werden, weswegen sie bei völliger Ablenkung der Aufmerksamkeit, wie z. B. im Krieg, ›übertönt‹ werden können. Ohne ein aktives Moment, zumindest ohne dasjenige, selbst sein zu wollen und sich in seiner Müdigkeit etc. zu erleben, sind auch die Akte des Zulassens, Aufmerkens und Wahrnehmens nicht möglich.
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Selbststruktur, Selbst und Narzissmus
3.2. Widerfahrnis und Antwort; Gabe, Nahme und Synthese Alle Aktivität, der wir an uns oder Anderen sowie auch an nichtmenschlichen Lebewesen gewahr werden, entsteht und hat somit einen Anfang. Anfänglichkeit bzw. »Gebürtlichkeit« (Arendt 1998, 21) bedeutet, nicht »selbstgenügsam« und absolut autark zu sein, sondern sich als »Gegebenheit« Anderem zu verdanken (vgl. Enders 2018) 2 : So sind wir, insofern wir erleben, zwar immer schon aktiv, doch haben wir uns diese Fähigkeit nicht selbst gegeben. Im Gegenteil haben wir sie passiv erhalten und erwachen gleichsam in sie hinein. In diesem Sinne ist unser Dasein in sich eine passiv erfahrene Gewordenheit, eine Gabe, ein Widerfahrnis oder, in Heideggers Worten, eine »Geworfenheit« (1927, § 38). Daraus ergibt sich, dass Sein und Leben des Menschen nicht voraussetzungslos, sondern relativ sind und sich von Anderem her empfangen: Niemand erschafft, erzeugt oder erweckt sich selbst; niemand gibt sich Sein und Leben. Andererseits wird die Gabe des eigenen Seins dem Menschen nur dadurch zu eigen, dass er sie rezeptiv entgegennimmt: ohne ›Nahme‹ keine Gabe, ohne Gabe keine Nahme. Diese Ur-Nahme ist die erste – meist selbstverständlich hingenommene, nicht eigens thematisierte oder reflektierte – Antwort des Menschen auf sein gegebenes Dasein, und sie impliziert Hinnahme und Akzeptanz dieses Seins von Anfang an, was man ›fundamentale Selbstaffirmation‹ nennen könnte. Entwicklungspsychologisch wird sie vom Säugling und Kleinkind präreflexiv-leibhaft vollzogen und noch nicht reflexiv-leibfern gedacht und benannt, wie es auch später noch der erwachsene Mensch im Tagtraum oder in der selbstvergessenen Hingabe an eine Tätigkeit bzw. Sache erfahren kann (vgl. Fuchs 2013). Glückt diese Selbstannahme, entsteht ein drittes Moment: die Synthese von Gabe und Nahme in der unmittelbaren Selbsteinigung. So selbstverständlich diese zu sein scheint, so beweisen doch die in einigen seelischen Störungen auftretenden Symptome von innerer
Markus Enders (2018) unterscheidet für die »Gabe« drei Dimensionen: Erstens ist dem Menschen das Selbst von seinem über das Menschsein hinausgehenden Ursprung her im Sinne der Selbst-Gegebenheit oder »An-mich-Gegebenheit« gegeben, auferlegt und anvertraut; zweitens gibt sich der Mensch sich selbst, indem er dieses erste Selbst annimmt, und konstituiert so ein Selbstverhältnis bzw. Für-sich-Sein, in dem er sich – sich selbst – offenbar wird; und drittens gibt sich der Mensch in seiner Selbstgebung Anderem und Anderen.
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Boris Wandruszka
Ambivalenz und Selbstentfremdung, dass die Synthese gehemmt, durchkreuzt oder gestört werden kann. Ganz und gar ausgesetzt wird sie jedoch nie, weil andernfalls ein Selbsterleben und Sich-Sein im Sinne eines Sichspürens, Sichwissens oder einer Selbsthabe unmöglich würde. Daher spricht man bei der schweren Depression passend vom ›Gefühl der Gefühllosigkeit‹, von Antriebshemmung und ›Apathie‹ – sogar die Leere des Nichtfühlens (und Nichtfühlenkönnens) muss gefühlt und gehabt werden, um erlebbar zu sein! Schon an dieser Stelle erweist sich die Gabe-Nahme-Struktur als die Bedingung der Möglichkeit nicht nur des Selbsterlebens als Selbstoffenbarung und der Intersubjektivität, sondern auch der »exzentrischen Positionalität« (Plessner 1928/2003, 365) des Menschen, die es ihm erlaubt, sich überhaupt zur Welt und zu sich selbst in Distanz zu setzen. Denn während die passiv erhaltene Gabe des eigenen Seins ein Anderes oder einen Anderen impliziert, kommt in der Distanzaufnahme zur Welt und zu sich eine innere Gabe-Nahme-Struktur zum Tragen, die gleichsam das Selbst als ›inneren Anderen‹ konstituiert.
3.3. Das Selbstverhältnis und seine Implikate Die Synthese des eigenen lebendigen Seins und Daseins als Widerfahrnis und Gabe mit seiner gleichzeitigen Entgegennahme in der Selbstaneignung impliziert zwei Momente: –
–
(1) die Möglichkeit des ›sich‹ bzw. ›Sich-Seins‹ : ›Ich finde mich vor; ich erfahre mich als mir gegeben; ich empfange mich‹. Hieraus entsteht nicht nur die Gabe-Nahme-Struktur, sondern ein fundamentales Auf-sich-bezogen-Sein, das die Grundlage eines Sich-zu-sich-Verhaltens bildet, also eine Grundform der Rekursivität oder impliziten Reflexivität; (2) die notwendige Forderung nach einem Vollzieher, der im Vollzug sowohl der Nahme als auch des Sich-zu-sich-Verhaltens als nicht vollständig fremdbestimmter Akteur auftritt.
Nennen wir diesen Akteur vorläufig X und fragen, wie er zu denken ist, stellt sich die Aufgabe, die inneren Strukturmomente und Strukturvoraussetzungen dieses Sich-Seins im Sich- und Fremderleben zu bestimmen, ohne die Phänomene wie Subjektivität, Intersubjektivität 224 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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und Kommunikation weder zustande kommen noch bestehen können. Die Einsicht, dass ein Gegenüber anders ist als ich und umgekehrt – die schon der Säugling unwillkürlich zeigt –, impliziert ein unmittelbares Selbst-inne-Sein. Um in diesen ineinander verwobenen Fragen zu mehr Klarheit zu gelangen, stehen drei Wege offen: – – –
(1) der unmittelbar gewahrende und deskriptiv-phänomenologische Weg; (2) der begriffsanalytische und logisch ergründende Weg (z. B. transzendentalanalytisch); (3) der empirische Weg der empathisch-zwischenleiblichen Kommunikation aus der Zweiten-Person-Perspektive oder der distanziert-sachlichen Beobachtung aus der Dritten-Person-Perspektive. In diesen beiden Fällen wird vorausgesetzt, dass sich das subjektive Erleben im Selbstverhältnis, das nur in der Ersten-Person-Perspektive unmittelbar erfahrbar ist, in Gestik, Mimik, Verhalten und Sprache leiblich ›veräußert‹ und dadurch objektiv bzw. intersubjektiv erfahrbar wird.
Ausgangspunkt sei also das unleugbare ›sich‹, das sich konkret als ›je mich‹, ›mir‹, ›dich‹, ›dir‹, ›uns‹, ›ihm‹ usw. manifestiert. Was lässt sich da sehen? a) Jedes ›sich/mich/dich/uns/ihm‹, z. B. als ›Ich erlebe mich‹, ›Dir ist das Leben gegeben‹, ist eine Art Bewegung, und zwar eine solche, die auf sich zurückgeht (recursus in se ipso). Das bedeutet, dass dieses ›mich‹ auf Grund seiner rekursiven Dynamik nicht rein passiv und statisch sein kann. Denn schon der Vorgang der Konstituierung eines Selbstverhältnisses ist in sich dynamisch und aktiv und könnte rein passiv nicht zustande kommen. b) In jedem ›sich‹ als Bewegung – also bereits im ganz basal-undifferenzierten Sich-Fühlen (›Ich fühle mich müde‹) – konstituiert sich ein Bezug. In diesem Sich-sein-Können, in dieser ›Sichheit‹ wurzelt die ontologische und anthropologische Möglichkeit von Selbstannahme, Selbstachtung und Selbstüberhöhung, aber auch von Selbstverwirrung und Selbstverlust, was im Abschnitt über den Narzissmus zur Sprache kommen wird.
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c) Dieser Bezug liegt nicht fertig vor, sondern wird – wenn keine Störung eintritt – initiiert, dann vollzogen und schließlich zu einem Ende gebracht bzw. erfüllt. Er ist aufgrund seiner zeitlichen Form das Produkt eines Beziehens als Akt oder Vollzug. d) In diesem Bezug steht ein X im Zentrum der Aktivität, auf das rekurriert wird und das – – –
den Bezug initiiert (Initiativmoment), den Bezug vollzieht und durchläuft (Vollzugsmoment), den Bezug eint, abschließt und hat (Erfüllungsmoment).
Indem dieser Prozess durchlaufen wird, wird aus dem Beziehen ein Bezug bzw. aus dem Sich-Verhalten ein Verhältnis, das notwendig jene drei Momente der Initiative, des Vollzuges und des Einigens bzw. Selbsthabens umfasst. Das ›sich‹ erweist sich daher als un-dinglich und nicht statisch-fest, als keine ›unveränderliche Substanz‹ im aristotelisch-kantischen Sinne, sondern als ein Verhältnis (= ›Ipseität‹), das durch ein Beziehungsgeschehen erst gebildet wird. Daraus folgt, dass es hinsichtlich des Sich-Seins kein ›Selbst‹, sondern – wenigstens zunächst – nur ein ›selbst‹, genauer ein ›X-selbst‹ gibt. e) Damit jenes X das Sich-Beziehen initiieren kann, muss es in und aus sich selbst (in et per se) tätig sein. Wäre es ein passiver und von außen auferlegter Vorgang, würde das ›sich‹ sofort zerstört. Wenn aber das X aktiv ist, muss es spontan in dem Sinne sein, dass es aus seinem Da- und Sosein jenes Sich-Beziehen generieren kann. ›Spontan‹ bedeutet hierbei, dass es in dieser Leistung von keiner Bedingung außer ihm bestimmt ist, sondern diese Aktivität ›selbst‹, aus eigener Potenz und ›autonom‹, wenn auch unwillkürlich, zu leisten vermag. Dem X ist also die Fähigkeit des Sich-Beziehens und SelbstbezogenSeins originär und wesenhaft eigen, eine Fähigkeit, die zwar von außen angeregt und erweckt werden kann, im Kern aber aus sich selbst entspringt. f) Indem dieses X ein dynamisches Beziehen in Gang setzt, ergreift es sich, ja muss sich ergreifen, um eben dieses Beziehen-auf-sich aktualisieren und realisieren zu können, d. h. sich selbst zu zeugen, sich selbst gleichsam aus sich zu ›gebären‹ und so für sich offenbar zu werden. Dieses Ergreifen ist eine ›Tathandlung‹ des X, ein Wollen 226 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
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als Selbstauszeugung, nicht nur ein Wahrnehmen, Anschauen oder Geschehenlassen. 3 g) Sich selbst vollziehen kann dieses X aber nur, wenn seine Aktivität nicht nur spontan und selbstgeneriert erfolgt, sondern wenn auch ein Wollen dahintersteht. Das wiederum ist nur der Fall, wenn das X sich ›sieht‹, d. h. seiner gewahr, seiner selbst inne ist. Wäre es für sich blind, müsste es notwendig ›an sich vorbei‹ greifen, könnte sich nicht gewahren und so kein für-sich-seiendes Selbstverhältnis herstellen. Ein solch selbstergreifendes X-Sich ist sich daher notwendig und wesenhaft seiner bewusst, mag dies auch nur präreflexiv, implizit-unthematisch oder überwiegend passiv erlitten und rezeptiv wahrgenommen sein wie im Falle von Genuss, Müdigkeit oder Schmerz. Auch diese Erlebnisse müssen von jemandem erlebt werden, damit sie sind. So erweist sich das Kant’sche Rekursions- bzw. Reflexionsmodell des Selbstbewusstseins als unlösbar mit dem Produktionsmodell des Selbstbewusstseins (Fichte, Kierkegaard, Sartre) verknüpft; das eine kann nicht – im Gegensatz zur Auffassung von Fichte und Sartre – ohne das andere sein. h) Dieses Innesein-und-sich-Gewahren ist ein lebendiges, empfundenes und gefühltes Bewusstsein und Erleben, ist ›Leben‹ und ›Lebendigkeit‹ im emphatisch-selbstoffenbaren Sinne, auch wenn es nicht sprachlich und begrifflich gefasst ist. In vielen Situationen erleben wir es unmittelbar und ohne dass es versprachlicht sein müsste, etwa beim lustvollen Genuss eines Bades. Diese Lust wird nicht erst aufgrund von höherstufiger Reflexion oder im Diskurs erlebt, sondern ›präreflexiv‹, d. h. mit der Gewissheit einer leiblichen Spür-Bewusstheit, ganz direkt und dennoch selbstrekurrierend und persönlich, also nicht, wie Manfred Frank meint, anonym und irrelational (2012, 24). Die Unmittelbarkeit dieser Selbstgewahrung bedeutet keineswegs Nicht-Relationalität, doch ist hervorzuheben, dass dieses Erleben nicht durch eine sukzessive Rekursivität, also nacheinander, sondern instantan und gleichzeitig zustande kommt. Müsste sich das SelbstVgl. die »Tathandlung« bei Johann Gottlieb Fichte (1794/1979), die »Selbstergreifung« bei Rudolf Eucken (1908) und die sich selbst ergreifende »Selbstursprünglichkeit« bei Karl Jaspers. Alle Existenzphilosophen erkennen nicht im Denken, sondern im Sich-selbst-Ergreifen, worin sich Freiheit erst vollzieht, das ›Eigentliche‹ des Menschen. Allerdings haben sie dabei nur das reflektierte Selbstergreifen im Blick, nicht das auch schon implizit sich vollziehende Selbstsein.
3
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erleben erst durch eine diskontinuierliche Aufeinanderfolge verschiedener Akte konstituieren, würde es sich selbst entweder nie finden oder sich sogleich verlieren bzw. geriete in einen Regress, der die Möglichkeit des Selbstbezuges ins Unendliche verschöbe. 4 Das aber bedeutete, dass ein Selbsterleben unmöglich würde. i) Hierin liegt ein Moment, das von Beginn an mitwirkt, aber bisher unbenannt blieb: die Intentionalität. Sie besagt im Sinne von Brentano (1874), dass das Bewusstsein als Aktivum und Sich-Vollziehendes gerichtet und daher immer Bewusstsein von etwas ist. Dabei kann dieses Etwas in der intentio recta ein Anderes, ein Gegenstand, ein ›Nicht-Ich‹ sein, also z. B. ein Erinnerungsbild, die Phantasie eines Zentauren oder die Wahrnehmung des Eiffelturms, oder es kann in der intentio obliqua das Subjekt selbst und seine nicht-gegenständlichen Überzeugungen, Stimmungen und Haltungen sein. 5 Ein nichtbezügliches Bewusstsein oder Erleben kann sich in keinem Fall vollziehen, aber der Bezugsgegenstand muss nicht zwingend ein Weltding oder Weltgeschehen sein. 6 Intentionalität ist daher nicht immer nur Welt- oder Gegenstandsintentionalität, sie ist auch als rückbezügliche, ›sichhafte‹ Selbstintentionalität möglich und sogar
Dieser zentrale Gedanke hat wichtige Konsequenzen für die heutige Diskussion zur künstlichen Intelligenz (KI). Da es im Gehirn wie auch bei jeder künstlichen Intelligenz stets um Rückkopplungen (Reafferenzprinzip, Reentryschleifen, ›Repräsentationen‹ etc.) geht, die zeitlich-sukzessiv ablaufen, ist die Generierung von Bewusstsein, die wesenhaft a-sukzessiv-instantan erfolgt, durch das immer sukzessiv und parallel funktionierende Gehirn unmöglich. Weder das Gehirn noch der Computer können, da sie aufgrund ihrer extensiven Materialität den raumlos-instantanen Selbstbezug ausschließen, jemals das erzeugen, was für das Bewusstsein konstitutiv ist: den unmittelbaren, sukzessionslosen Selbstbezug, der zwar zeitlich dauert, aber sukzessionsfrei und unräumlich ist und sein muss, um nicht in einen infiniten Regress zu geraten. Die Bewusstheit der KI kann daher nicht mehr als Mimikry sein. 5 In der philosophischen Tradition wird bei der Gerichtetheit des Bewusstseins auf ungegenständliche Vollzüge, Zustände und Überzeugungen des Subjekts oft von Objekten, Vorstellungen und Gegenständen gesprochen, was die Verhältnisse verunklart. Dahinter steht die von Hegel bis Jaspers vertretene Überzeugung, das Subjekt bzw. sein Bewusstsein könne nicht ohne (Welt-)Objekte bestehen (›Theorem der Subjekt-Objekt-Korrelation‹). Richtig darin ist, dass sich das Bewusstsein nicht ohne Inhalt konstituieren kann, doch dieser Inhalt muss kein Objekt sein, er kann auch ein ungegenständlicher Vollzug oder Zustand des Subjektes sein. 6 Das Bewusstsein kann sich zwar auf ›Nichts‹ beziehen, doch kann es dabei dessen Nichtshaftigkeit und Seinslosigkeit nie erreichen, da schon sein Akt des Beziehens seinsverbunden ist. 4
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insofern notwendig, als ohne sie die Gegenstandsintentionalität unmöglich wäre, wie Henry für seine Lebensphänomenologie und Brandenstein in seiner Geistontologie herausgearbeitet haben (Brandenstein 1965, 147–149; Henry 1992). Leben und Subjektivität bestehen in ihrem Sich-Bezug also wesentlich – nicht zeitlich, sondern transzendentallogisch verstanden – vor aller Gegenständlichkeit und Gegenstandskonstitution: Leben, das ohne Subjektivität, d. h. ohne Selbstvollzug, nicht denkbar ist, ist wesenhaft ein sich selbst spürendes (autoaffektives), selbstergriffenes, selbstvollzogenes und seiner selbst habhaftes In-sich-Sein. 7 In diesen Zusammenhang gehört die von Brentano, Husserl und Brandenstein herausgearbeitete Erkenntnis, dass der intentionale Bezug von Erleben und Bewusstsein auf sich oder Anderes in einer Vielzahl verschiedener Modi vor sich geht: Ein wahrnehmendes Bewusstsein ist etwas qualitativ anderes als ein nachdenkendes, erinnerndes, wünschendes, duldendes, entschlossenes, heiteres, gelassenes usw. Bewusstsein. Diese miteinander verflochtenen Modi lassen sich in drei Großgruppen gliedern, nämlich in emotiv-affektive, volitive und kognitive Bewusstseinsformen mit oft komplexen Verbindungen untereinander. Die besonders wichtigen emotiv-affektiven Modi lassen sich wiederum in drei Gruppen unterteilen: in die auf Anmutungen und Herausforderungen reagierenden Affektgefühle, z. B. Angst auf Bedrohung, Trauer auf Verlust, Wut auf Angriff; in die etwas erstrebenden oder abwehrenden Wunschgefühle wie Sehnsucht, Hoffnung und Bangen, und die in der Gegenwart sich ausbreitenden Stimmungs- oder Zustandsgefühle. Intentional sind sie alle, entweder auf einen Gegenstand und/oder auf sich selbst gerichtet. Selbst die Stimmungsgefühle sind nicht, wie es oft heißt, a-intentional, da sie im Sinne der Autoaffektion unmittelbar auf das Subjekt gerichtet sind: ›Ich fühle mich traurig‹, ›Traurigkeit überkommt und durchdringt mich‹. j) Mit der Selbstintentionalität ist die Einheit sowohl des aktuellen Bewusstseinsfeldes mit all seinen gegenständlichen Inhalten wie Wahrnehmungen, Vorstellungen und Impulsen als auch die Einheit Andreas Brenner (2009) zeigt überzeugend auf, dass Leben ohne Selbst nicht denkbar ist und daher ein Selbstverhältnis impliziert, was seinerseits ohne Selbstgewahrung und Selbstbewusstsein, das selbst und nicht-selbst unterscheiden kann, unmöglich ist. Dies gilt nach Brenner auch für Pflanzen und Einzeller.
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der Akte und Zustände des Erlebens konstituiert: Indem sich das X intentional auf seine Gegenstände (Wahrnehmungen und Vorstellungen) oder auf sich selbst (seine Akte und Zustände) bezieht, bezieht es notwendigerweise alles auf sich und hält sozusagen die Fäden aller Bewusstseinsinhalte in der Einheit seines Gewahrens zusammen. 8 Anders als synthetisch einheitsstiftend kann das X, das wir suchen, nicht sein. Auch kann der Prozess der Synthetisierung nie aussetzen, es sei denn, das Subjekt wird bewusstlos, da etwas, das außerhalb des Bewusstseins und der Denkbarkeit liegt, für das Subjekt nicht besteht. Die Intentionalität, die selbstverständlich nicht einer Absicht entspringt, sondern strukturell-impliziter Natur ist und jeder Aktivität, ja jedem erlebten Widerfahrnis inhäriert, konstituiert die Einheit des Erlebens auf so machtvolle Weise, dass sie selbst in Fällen der Bewusstseinsspaltung bzw. der ›multiplen Persönlichkeit‹ nie ganz aufgehoben oder zumindest wiederherstellbar ist. 9 k) Beachten wir weiter, dass die intentionale Aktivität des X nicht nur in der je eigenen, wandelfreien Dauer des einzelnen Aktes besteht, sondern durch den zeitlich-sukzessiven Wechsel seiner vielen Erlebnisse, Akte und Zustände hindurch aktiv-synthetisierend bleiben muss, damit die Reihe nicht abreißt und Zeitbewusstsein bzw. Erinnerung möglich bleiben. Hier liegt ein zeitüberspannender Erlebensstrom vor, der als sukzessive Wechseleinheit ständig neu vom X zusammengefasst und synthetisiert wird, insofern es im Sinne Husserls retendiert, also Vergehendes in die Gegenwart herüberträgt, und protendiert, also Anstehendes oder Erahntes aus der Gegenwart vorwegnimmt. 10 Paul Ricoeur (2005, 246) nennt diese zeit- und sukzessionsübergreifende Selbigkeit in Abgrenzung von der sukzessionsfreien Ipseität (Selbstheit) »Idemität«.
Das ist der ontologisch-subjektive Grund, warum der Mensch psychologisch dazu neigt, vieles, was um ihn her geschieht, auf sich zu beziehen, so z. B. in krankhafter Weise im Verfolgungswahn. 9 Da Immanuel Kant die bereits im Mittelalter in ihrer Bedeutung erkannte Intentionalität noch nicht aufgriff, konnte er die Einheit des Bewusstseinsfeldes und des Ich über die Zeit hinweg nicht durchgreifend erklären. 10 Schon Immanuel Kant und mehr noch Edmund Husserl hoben die Notwendigkeit einer synthetischen Potenz für die Konstitution der Subjektivität in der diachronen Zeit hervor. Thomas Fuchs (2017) unterstreicht für die »sameness« des subjektiven Lebens die Bedeutung der Leiblichkeit als »pre-reflective feeling«. 8
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l) Damit schließt sich der Kreis: Soll sein jemeiniges Sich-Beziehen erfolgreich sein, muss das in Frage stehende X nicht nur im Selbsterleben rezeptiv vollzogen, im Wirken aktiv-initiativ-selbstzeugend und selbstgewahr sein, sondern es muss auch – im Sinne eines Beisich-sein-Könnens, présence á soi – selbstbesitzend sein, d. h. sich und sein gegenständliches Bewusstseinsfeld als Einheit vollziehen, zusammenfassen und halten. Nimmt man eines dieser Momente weg, fällt die Gesamtstruktur in sich zusammen. So wären etwa ein bewusstes, aber völlig fremddeterminiertes Wesen oder ein zwar selbstbestimmtes, aber bewusstloses Wesen eine Contradictio in Adjecto. Daraus folgt jedoch keineswegs, dass das Bewusstsein, wie Sartre (1964, 12, 16) meint, total durchsichtig sei. Gewiss muss es partiell (selbst-)transparent sein, sonst wäre es kein Bewusstsein von etwas bzw. von sich für sich, aber völlig (selbst-)transparent wäre nur ein absolutes, göttliches und zeitloses Bewusstsein. Das Leben des Menschen kann daher, entgegen der Ansicht Henrys (1992), mit dem absoluten Leben nicht identisch sein. Ein zeitlich sich entfaltendes Bewusstsein quillt immer aus einem opaken Grund, der im Letzten entzogen ist und nie ganz und gar bewusst werden kann. 11 Leben und Subjektivität als zeitlich-synthetisches Geschehen sind daher nicht nur »anfängliche Gabe« und in ihrem Quellgrund opak, sondern transzendieren alle endlichen Grenzen, wenigstens in Phantasie, Begehren und Denken; sie sind »potentialunendlich«, d. h. unerschöpflich (vgl. Brandenstein 1966, 138–40). Zusammengefasst lassen sich in mehreren Schritten real zeitgleich bestehende Schichten der ›transzendentalen Selbstwerdung‹ aufdecken: Der Konstituierungsprozess des Erlebens/Inneseins/Bewusstseins schreitet dabei
Dieser Umstand gründet im »potentialunendlichen«, d. h. nie abschließbaren Wesen (und Abgrund) der Geistseele des Menschen. Das erkannten z. B. Ernst Bloch und deutlicher noch Béla von Brandenstein (1955, 31 ff., 1966, 132 ff., 1975, Kap. V und VI). Neben der nie durchschaubaren und in weiten Bereichen der Kontrolle entzogenen, weil partiell autonomen Leiblichkeit ist es diese potentialunendliche Tiefendimension des Erlebens, von der her eine Theorie des Unbewussten eine Grundlegung erfahren kann (vgl. Wandruszka 2008).
11
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– – – – –
(1) vom Widerfahrniserlebnis als Gabe (›Ich erlebe mich‹, ›Ich geschehe mir‹) 12 (2) zur Sich-Hinnahme (›Ich empfange und nehme mich‹) fort, mit der zeitgleich (3) in Nahme und Selbst-inne-Sein ein Selbstverhältnis (Ipseität/Sichheit) konstituiert, d. h. selbstausgezeugt wird. Weiter führt der Weg (4) in innerlicher Vertiefung zur selbstoffenbaren Jemeinigkeit, in der schließlich (5) das Aktionszentrum der ganzen Selbstkonstituierung bzw. Selbstgeburt entdeckt wird, das noch unbekannte X, das sich in Ipseität, Idemität und Identität bewährt oder scheitert.
Innerhalb dieses Vorgangs dringt das Erleben von der Oberfläche in immer größere Tiefen bzw. vom Bedingten zum Bedingenden (reductio in principibus) vor. Die hier angewandte Methode ist die Implikatanalyse, die darin besteht, die notwendigen und immanenten Momente und Voraussetzungen einer Gesamtstruktur aufzudecken, hier diejenige des ›sich-mich‹ (und weiter die der Intersubjektivität des ›mich-dich-uns‹), und ihre korrelierenden Wechselbezüge herauszuarbeiten. 13 Ein X, dem diese Qualitäten und Strukturmerkmale eigen sind, ist genau das, was allgemein und historisch als ›Subjekt‹ bezeichnet wird. Und so gilt: Wo ein ›sich‹, da notwendig ein Subjekt. Was aber bedeutet dies im Einzelnen?
4.
Subjektivität als Ursprung, Grund und Quelle
Das jeder Subjektivität zugrundeliegende ›Sich‹ als selbstbezügliches Wollen und Ergreifen des eigenen Seins kann nicht bloßer Akt oder Vollzug sein. Wäre dem so, müsste es sich als anfangslos, mithin als ewig und veränderungslos erleben, was nicht der Fall ist. 14 Vielmehr bedarf es, um sich zu vollziehen, eines Ausgangspunktes, einer ›QuelVon einem subjekttranszendenten, nicht unmittelbar erfahrbaren und verfügbaren Ursprung her. 13 Diese wechselseitige Korrelation oder Wechselbedingung lässt sich auch als ›spezielle Ich-Selbst-Dialektik‹ beschreiben. 14 An dieser Stelle kann allerdings der nötige Beweis dafür, dass alles Anfangslose unmöglich zeitlich-wandelhaft sein kann, eine anfangslose Zeitreihe mithin unmöglich ist, nicht erbracht werden (vgl. Brandenstein 1966, 37–63). 12
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le‹ oder eines ›Grundes‹, in dem die Fähigkeit zu initiativer Spontaneität vorhanden ist. Da das ›sich/mich‹ nur als Verhältnis bestehen kann, bedarf es eines Akteurs, eines ›Zeugers‹, der spontan aus sich heraus jenes Sich als Sich-Beziehung zu stiften vermag. Diesen Akteur nennen wir – weil eigenaktiv, seiner selbst inne und autopoietisch – Subjekt. Ihm liegt die oben ermittelte Struktur zugrunde, weshalb es notwendig ein erlebendes, selbstwirksames und selbstgewahrend-bewusstes Wesen ist, das sich aus eigener Kraft erhält, seine Identität im Wandel immer wieder neu konstituiert und sich von Anderen, indem es sich auf sie als Andere bezieht und von Anderen (oft tiefgreifend) angemutet wird, abgrenzt. Ohne die innere Kohärenz der Sichheit (Ipseität) und ohne die kontinuierlich über die Zeit hinweg immer wieder neu gebildete Selbsteinheit (Idemität), die von Anderen wesentlich, allerdings immer nur indirekt über den Leib, die Sprache und das Handeln beeinflusst und mitgeprägt wird, ist das Subjekt in seiner Unterschiedenheit von Anderen als ›soziale Identität‹ nicht möglich.
5.
Subjektivität als simultane Einheit von Aktzentrum und Vollzug
Insofern ein jedes Subjekt im Sich-Sein als aktiv-ungegenständlichinständliches Aktzentrum steht, 15 entzieht es sich leicht dem introspektiven Blick und wird von seinen gegenständlichen Produkten – Gedanken, Vorstellungen, Überzeugungen, sozialen Rollen und sonstige Zuschreibungen – verdeckt oder mit diesen verwechselt. Da Hume es genau unter diesen »ideas« im Sinne von Locke sucht, greift er an ihm nicht weniger vorbei als manch andere modernen ›subjektfeindlichen‹ Psychologen und Philosophen. Dennoch kann dieses verdeckte Subjekt in seiner inneren Bestimmtheit freigelegt und nicht nur, wie Kant (1787/2011, 136 ff.) meinte, diskursiv gedacht und abstrakt erschlossen, sondern durchaus in seinem Vollzug und Selbstsein erlebt und analytisch erforscht werden, wie Fichte, Krause, Brentano und Husserl betonen. 16 Das Subjekt, vor allem das menschliche als Der Neologismus »inständlich« geht auf Karlfried Graf Dürckheim zurück und bezeichnet alles, was vollzugshaft, aktiv, tätig, mithin nicht Gegenstand, Ding, Objekt, Vorstellung, sondern, wie er sagt, ein »In-Sein« ist (vgl. Dürckheim 2000). 16 Kant meint, dass das transzendentale Ich völlig unbestimmt sei und nur als formal 15
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Ich, ist nie nur formaler Natur, sondern besitzt wesenhaft einen ›materialen‹, also einen inhaltlich gefüllten Kern, allerdings keinen dinglich-gegenständlichen, sondern einen lebendig-seelisch-geistigen, der z. B. als leibempfindendes, aufmerksames, neugieriges, sehnendes, denkendes, freudiges, ärgerliches, suchendes, dankendes usw. Ich erscheint. Damit nicht genug, deutet sich hier Weiteres und Neues an, das in voller Tiefe zuerst Fichte erkannt und expliziert hat (1794/1979, 11 ff.). 17 Die Quelle des Sich-Seins ist nämlich von der Art, dass sie sich erst durch (per se) und im (in se) Sich-Beziehen konstituiert. Ein Subjekt – ob als präindividueller Organismus, als individuelles LeibIch oder als mental-reflexives Ich (s. Abschnitt 8 unten) – kann ohne wenigstens impliziten Selbstvollzug und ohne innere Relationalität nicht in Existenz treten und ist als solches unmöglich. Ergo: Das Subjekt ist nicht nur ein gleichsam fixiertes Selbstverhältnis bzw. umfasst ein solches, sondern wird erst durch diesen Selbstbezug hindurch, der nur vom Subjekt ›selbst‹ im Sinne einer Selbstgeburt geleistet werden kann, ein vollständiges Subjekt. Das gilt auch dann, wenn dieser Prozess wie im Fall des Menschen stets in einer sozialen Matrix stattfindet und von wichtigen, ja unentbehrlichen Anderen ermöglicht, angeregt, gehalten, getragen und mitbestimmt, aber auch gestört und verunmöglicht werden kann. Stünde der Urheber zeitlich oder ontologisch außerhalb des Subjekts und seines Sich-Seins, würde eine Selbstgewahrung als Selbstfühlung und Selbstwissen, wie wir sie unanfechtbar erleben, unmöglich. Der Urheber muss daher als ein Subjekt existieren, welches sich – in den Worten Fichtes (1794/1979) – in seiner »inneren Tathandlung« selbst setzt, d. h. sich aktiv erlebt, empfängt, will, ergreift, bildet und erschlossenes, allerdings notwendiges Subjekt alle Vorstellungen begleiten können muss. Aus der Analyse des ›Sich-Seins‹ wurde das Gegenteil ersichtlich: Das Ich ist bestimmbar und ungegenständlich bzw. inständlich konkret anschaubar, nämlich in der inneren Erfahrung und im leibhaften Selbstvollzug, etwa in den eigenen Stimmungen, Empfindungen, Wunschimpulsen, Ahnungen, Überzeugungen usw. 17 Fichtes ›aktualistischen Standpunkt‹, der nicht auf eine gleichbleibende, tragende Substanz, sondern allein auf den Selbst-Vollzug des Ich als Akt rekurriert, teilen später z. B. Sören Kierkegaard, Wilhelm Wundt, William James und Jean-Paul Sartre, wogegen G. W. F. Leibniz eine substanzialistische Position bezieht. Wie sich zeigen lässt, schließen sich beide Positionen keineswegs aus, sondern implizieren einander logisch und ontologisch.
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Selbststruktur, Selbst und Narzissmus
hat. Diese Selbstproduktion als Autopoiesis darf allerdings nicht, wie zuweilen bei Fichte, als Selbstverursachung (a se, Aseität) missverstanden werden; denn diese ist insofern unmöglich, als etwas, das (noch) nicht ist, sich nicht selbst erschaffen kann. ›Erzeugung‹ meint hier innere Selbstkonstitution oder Selbstzeugung und nicht Selbsterschaffung. 18 Daraus geht weiter hervor, dass das Subjektsein im selbsttätigen Sich-auf-sich-Beziehen instantan Subjekt bzw. Ich wird und sich nicht erst durch einen zeitlichen Sukzessionsprozess hindurch konstituiert. Ein Subjekt, das zunächst ohne Selbstbezug existiert und erst dann in einem folgenden Sich-auf-sich-Beziehen zu sich kommen soll, muss in seiner Selbstbildung und in seiner Selbstfindung notwendig scheitern. Zwar vollzieht sich die Selbstkonstitution des Subjektes zeitlich, aber nicht in Sukzession, sondern als wechselfreie Dauer, in der das Subjekt immer schon aktiv sich-bezogen ist und immer schon sich zeugt und vollzieht. Es gibt kein Subjekt vor dem Selbstbezug; Erleben und Bewusstsein können niemals a-relational konstituiert werden. Selbstbewusstsein ist immer – da durch sich selbst wesenhaft auf etwas bezogen – ein durch Selbstspürung und Selbstergreifung getätigtes Verhältnis, das einen Selbstbezug notwendig impliziert. Nur so lassen sich die drohende Paradoxie und der infinite Regress vermeiden, dass das Zu-Konstituierende (Tiersubjekt, Leib-Ich, sprachliches Ich) schon als Konstituent (Tiersubjekt, Leib-Ich, sprachliches Ich) vorausgesetzt wird. Daraus folgt, dass das Subjekt nur als Sich bzw. konkret als Mich existieren kann, als ein jemeiniges Selbstverhältnis. Subjektivität erweist sich so als ein Sein, in dem das Selbst als Ipseität kein Ding, keine Substanz, nichts Eigenes ist, sondern nur als Verhältnis innerhalb eines Subjektes und seiner Jemeinigkeiten (›Eigenheiten‹) gefasst werden kann. Ein ›Selbst‹ im substantivischen Sinne ist daher sachlich unmöglich, die Rede davon widersprüchlich. Subjektsein ist wesenhaft immer ›selbsthaft‹, daher immer ›Selbst‹ eines X, also eine rekursive Beziehung, nie ein eigenständiges, in diesem Sinne substanzielles, fertig-faktisches Selbst.
Wer oder was das menschliche Subjekt und Leben überhaupt ins Sein bringt, ist damit offen. Es kann aber erwiesen werden, dass weder ein anderes menschliches Subjekt noch ein Naturgeschehen ein lebendiges Subjektsein hervorbringen können; sein ›Ursprung‹ ist natur- und kulturtranszendent.
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6.
Implizites, präverbales Selbstgewahrsein und explizite, verbale Reflexivität
Wegen ihrer fundamentalen Bedeutung sei die Einsicht wiederholt, dass die drei Momente – der Grund des Sich-Seins, also das Aktzentrum, und das Vollziehen des Sich-Seins (der Akt) mit der Konstituierung des Selbstbezuges zur selbstgehabten Selbsteinheit – nicht zeitlich aufeinander folgen, sondern ineinander bestehen. Nur ontologisch kann hier eine innere Folge vorliegen. 19 Es muss daher eine unmittelbare und nicht nur eine sukzessive Selbstbezüglichkeit geben, die man für gewöhnlich ›präreflexiv‹ nennt. Sie kann weder völlig unbewusst im Sinne von ›bewusstlos‹ noch a-reflexiv sein, da sie als echtes unmittelbares Selbstgewahrsein und Selbsterleben rekursiv ist und eine Selbstbezogenheit impliziert. Man könnte also von einer niederstufig-basalen Reflexivität sprechen. Im Gegensatz dazu stünde jene höherstufige Reflexivität, die eine meist sprachlich vermittelte sukzessive Reflexivität darstellt, in der sich das Subjekt von einem aktuellen Standpunkt aus auf einen aktuellen oder vergangenen Zustand des Selbstseins bezieht. Doch kann dieser erinnernde Rückbezug nur gelingen, wenn er von einem erlebten und damit unmittelbaren »präreflexiven« und präverbalen Standpunkt her erfolgt. Höherstufige, sprachlich-explizite Reflexivität setzt sowohl zeitlich als auch (seins-)logisch ein niederstufig-implizites Selbstgewahrsein voraus (vgl. Viertbauer 2018).
7.
Drei Stufen der Subjektivität
Nehmen wir die Welt in den Blick, wie wir sie erleben, stoßen wir auf drei Wirklichkeitsstufen, die mehr oder weniger die ermittelten Kriterien der Subjektivität bzw. des Sich-Seins erfüllen: das Subjekt des organischen Lebens (Einzeller, Pflanze und Tier), das ›vorpersonale‹ menschliche Leibsubjekt oder ›Leib-Ich‹ und das vollbewusste, mentale und sprachfähige Subjekt als ›Ich‹, ›Du‹ und ›Wir‹.
Die Voraussetzung, dass das Ich als Urheber nicht zeitlich, sondern sachlich früher ist als die Selbstbeziehung, gilt ontologisch oder transzendental und lässt sich durchaus damit vereinen, dass das Ich-Sein als sprachlich-reflexives Geschehen empirisch später auftritt, weil es im entsprechend gereiften Leib mit seinem Gehirn erst – vom Du und Wir erweckt – erwachen muss.
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Selbststruktur, Selbst und Narzissmus
Da wir keinen direkten Zugang zur Innerlichkeit eines tierischen Organismus haben, sondern von ihr nur von außen über das seelische Ausdrucksleben Kenntnis gewinnen, sind wir auf Vermutungen bezüglich seiner Subjektivität angewiesen. Doch wenn wir dem Leben, und zwar von der Zelle bis zum Menschenaffen, aufgrund seiner vielen organismischen Intentionalitäten (wie Flucht, Angriff, Sichverbergen) leibhafte Subjektivität nicht absprechen wollen, müssen wir ihm aus logischen Gründen auch die oben ermittelte Selbststruktur mit ihrer Autorenschaft, Autopoiesis und Selbstgewahrung zuschreiben. 20 Bei allen Lebewesen bis zu jenen höchsten, die nicht in der Lage sind, einen sich auf der Stirn befindlichen und im Spiegel sichtbaren roten Fleck auf sich zu beziehen, denen somit keine individuellleibliche Subjektivität eigen ist, spräche man am passendsten von einer präindividuellen, nur gattungsmäßigen Subjektivität, einem Gattungsselbst. 21 Die meisten Tiere haben jene Fähigkeit zur individuellen Leibreflexivität entweder prinzipiell nicht oder, wie etwa bei kleinen menschlichen Kindern, nur potentiell. Eine Reihe von Tieren wie z. B. Raben, Delfine, Elefanten und Schimpansen ist dagegen in der Lage, einen individuell-leiblichen Selbstbezug herzustellen; sie bestehen den Spiegel- oder Rouge-Test. Man kann hier von einer individuell-leiblichen, allerdings präverbalen Reflexivität sprechen, die im Sinne Friedrich Nietzsches – »Der Leib sagt nicht Ich, er tut Ich« (vgl. 1886/1954, 300) – auch als die Stufe eines ›Leib-Ichs‹ betrachtet werden kann. Da hier die mentale Reflexivität nicht erreicht wird, sind Sprache, gemeinsames Zeigen Der Leib kann, wie Thomas Fuchs (2012, 2013, 2017) betont, nur dann als Subjekt fungieren, wenn er selbstbezüglich, sich-erlebend, selbstwirksam und damit Bewusstsein und Autor ist, also in einem basalen implizit-präreflexiven Sinne selbsthaft bzw. subjekthaft. Besäße das Leib-Subjekt nicht diese ›selbsthafte Potenz‹ zu einem vollen Ich, wäre rätselhaft, wie ein Übergang vom frühkindlich-leibbetonten Erleben zum reflexiven Selbsterleben als höherstufiges Ich möglich sein sollte. Wenn das aber für die Leiblichkeit grundsätzlich gilt, dann muss auch dem Tier Selbsterleben, Selbstwirksamkeit und damit notwendig ein autonomes, selbstbezügliches, sich selbst unmittelbar gewahrendes und habendes Aktzentrum zugesprochen werden. 21 Von Aristoteles (»Entelechie«) über Leibniz (»Lebenskraft«), Blumenbach (»Bildungstrieb«), Kant, Goethe, Hegel, Schopenhauer, Nietzsche (»Selbstigkeit«), Roux (»Autotergie«), Scheler (»Lebensagens«) bis zu Driesch (»Lebensautonomie«) und Portmann (»Innerlichkeit« und ihre »Selbstdarstellung«) wird ein auf physikalische Prozesse nicht reduzibles leibliches bzw. organismisch-autopoietisches Organisationszentrum angenommen. Bergson beschreibt es als eine »Schöpfung des Selbst durch sich selbst«, das mittels eigener Formkraft sein Leben als eigene Geschichte narrativ gestaltet (Bergson 1972, 77 f.). 20
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auf Drittes, Sich-an-die-Stelle-des-Anderen-Setzen und Introspektion nicht möglich. Die dritte Stufe wird erreicht, wenn sich das Individuum ohne explizite Einbeziehung seiner Leiblichkeit (die natürlich im Hintergrund besteht), d. h. rein mental, auf sich bezieht und die Form der vollbewussten innerlichen Reflexivität ausbildet und versprachlicht. Nach heutigem Kenntnisstand ist dazu nur der Mensch, etwa ab dem zweiten oder dritten Lebensjahr in der Lage. Hier wird sich das ›geistige Ich‹ seiner selbst im Vollsinne des Selbstbewusstseins gewahr. Alle drei Stufen können als Grade der Verleiblichung oder Inkarnation des Subjektprinzips in das Raumfeld des Leibes betrachtet werden. Der Mensch erreicht dabei ein ontologisch nicht mehr übersteigbares Niveau: ein Leib als vollbewusstes Ich, das sich in sich endlos weiter differenzieren und vertiefen kann. 22
8.
Selbst als Proto-Selbst und Ergebnis-Selbst
Obwohl geklärt wurde, dass das Selbst primär das Sich-Sein eines Subjektes als Autor, also ein Verhältnis und keine Substanz ist, darf es in zwei anderen Hinsichten doch substantivisch gebraucht bzw. substanzhaft gedacht werden. Wie genau? Wenn der Mensch und seine Personalität nicht, wie noch bei Aristoteles und Locke, ein unbeschriebenes Blatt, sondern a priori strukturiert ist, wie Leibniz im Bild des geäderten Marmorblockes für die Vernunft herausstellte, dann impliziert dies, dass der Nahme der Gabe, also der Entgegennahme des eigenen ›natalen‹ Seins etwas schon Geformtes, Strukturiertes, wenigstens partiell Bestimmtes innewohnt. So verfügt jeder Mensch von seiner Zeugung an über verschiedene Talente, Möglichkeiten, Grenzen, Vulnerabilitäten und Defizite, die er zwar ergreifen und modifizieren, auch vernachlässigen und unterdrücken, aber nie völlig auslöschen oder austauschen kann. Niemand kann sich einfachhin entschließen, wie Mozart zu komponieren; niemand kann sein Temperament willentlich auswechseln. Andererseits darf dieses vor- und mitgegebene ›Grundwesen‹ der PerAllerdings darf nicht verkannt werden, dass im Menschen die tierische Subjektivität weiterwirkt, etwa in Form des Geschlechtstriebes, und oft mit dem menschlichen Ich-Subjekt in Konflikt gerät, was die Grundlage der psychoanalytischen Triebpsychologie ist.
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Selbststruktur, Selbst und Narzissmus
son nicht völlig determiniert sein, weil es ansonsten unmöglich wäre, dass sich Personalität konstituierte. Hier ist eine wenigstens partiell unbestimmte und damit offene Bestimmtheit vorauszusetzen, ohne die Subjektivität, Freiheit und Verantwortlichkeit unmöglich wären. Es kann also jenes von je mir entgegengenommene ›Grundwesen‹, der mitgegebene und partiell strukturierte Grundbestand meines Da- und So-Seins zu Recht als ›Selbst‹ bezeichnet werden, allerdings mit der Einschränkung, dass dieses ›Selbst‹ erstens inhaltlich offen ist und zweitens nur die Grundlage meines vollen Selbstseins als Person abgibt. Erst indem ich dieses ›Grundwesen‹ in meiner Jemeinigkeit ergreife und mich im Sinn Sartres zu dem mache, was ich sein will und was ich nicht sein will, werde ich ein echtes oder volles PersonSelbst. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei daher jenes vorbzw. mitgegebene Grundwesen Proto-Selbst genannt. 23 Noch in einer zweiten Hinsicht lässt sich dem substantivischen Selbst ein berechtigter Sinn abgewinnen: Indem sich nämlich das Subjekt in seinen drei Erscheinungen als Organismus, Leib-Subjekt und reflexives Ich selbst ergreift und sein vor- bzw. mitgegebenes Sein weiter bestimmt und so entfaltet, bildet sich ein neues So-Sein, eine neue Subjekt-Gestalt. Es entsteht ein echtes Selbstsein, in dem im Fall des Menschen das Subjekt nun frei und bewusst erst festsetzt, wer und wie es sein will und kann. Dieses Selbst ist dann eine selbstgewählte und -bestimmte ›Identität‹, die in Kommunikation mit sowie in Abhängigkeit und Abgrenzung von Anderen seine Subjektivität ausbildet. Dieses ›Selbst‹ ist das, was im Sinne Sartres ein Mensch aus sich macht oder nicht macht, also ein Ergebnis des SelbstseinWollens, ein Ergebnis-Selbst. Während das erstgenannte Selbst eine potentielle Vorgabe ist, die erst in der Selbstaneignung mein- und selbsthaft wird, ist die zweite Form des ›Selbst‹ das Erzeugnis des Subjekts, des Ich und seines Selbstverhältnisses, setzt also als Abgeleitetes die Selbst- und Eigenständigkeit des Subjekts als Agenten voraus. Während das Proto-Selbst reine (Vor-)Gabe ist, sozial schon tiefgreifend geprägt, ist das Ergebnis-Selbst nicht nur Gabe (von woher auch immer), sondern eine durch freie Entscheidung aus sich selbst und seinen sozialen Begegnungen aktualisierte Person, die auf diese Weise, z. B. durch die Ergreifung eines bestimmten Berufes, ihre
Man könnte hier auch von einem »potentialen Selbst« sprechen (vgl. Moser 1990, 175).
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Identität, ihr volles personales und soziales Selbst bildet. Der Mensch ist, insofern er Subjekt ist, so weder das bloße Ergebnis seiner Gene noch seines Milieus noch das Produkt beider, sondern das Ergebnis aller drei Faktoren, sprich des biologischen Erbgutes, des kulturellen Milieus und der Selbstaneignung und Selbstbestimmung, deren Einheit allerdings nie vollständig, nie abgeschlossen und immer fragil ist. Die Kongruenz von Proto-Selbst und Ergebnis-Selbst ist stets eine Aufgabe und kann nur zeitweise erreicht werden; Spannungen und Konflikte zwischen ihnen bestehen lebenslänglich.
9.
Selbst, Selbststörungen und das Narzissmus-Problem
Da alle Leiden, insofern sie erlebt werden, ein Selbstverhältnis implizieren, kann in ihrem Vollzug die oben ermittelte Selbststruktur und Selbstdynamik aufgefunden werden. Gleich, ob es sich um Belastungs- und Anpassungsstörungen, Angst-, Depressions- und Burnout-Syndrome, Schizophrenien und Zwangskrankheiten oder Persönlichkeits- und Somatisierungsstörungen handelt, stets wirken darin Struktur und Dynamik des Ich-Selbst – eingebettet in einen DuWir-Man-Kontext – mit und bestimmen das Erscheinungsbild der seelischen Störungen. Da jedoch Angst nicht Zwang, Depression nicht Schizophrenie ist, ist zu erwarten, dass die vielen Krankheitsbilder der Psyche nicht in einheitlicher Weise von der Selbst-Dynamik, sondern spezifisch ausgestaltet werden, was im Rahmen dieser Arbeit allerdings nicht nachgezeichnet werden kann. Doch gibt es Krankheitsbilder, die nicht nur, wie alle Krankheiten, von der Selbststruktur mitgeformt, sondern darüber hinaus prominent bestimmt werden. Dies wurzelt darin, dass es die Selbststruktur selbst ist, die in diesen Fällen betroffen ist und damit in den Vordergrund des Erlebens rückt. Es handelt sich um die sogenannten narzisstischen Störungen, in denen es nicht um einen bestimmten Affekt wie Angst, Traurigkeit, Wut oder Verzweiflung geht, sondern deren Brennpunkt das Zentrum der Person ist, ihr Ich-Erleben in seinem Selbstbezug selbst, das beeinträchtigt ist. Differenzierter betrachtet, umfasst dieser Selbstbezug die Aspekte des unmittelbaren Selbstgefühls (leibliche Daseinsbefindlichkeit und affektive Selbstgestimmtheit), des Selbstwertgefühls, Selbstbildes (Identität) und des konkreten praktischen Selbstumgangs. Was dieses Krankheitsbild über die ›Selbstheit‹
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Selbststruktur, Selbst und Narzissmus
des Menschen mit ihrem spezifischen Selbst-Konflikt lehren kann, soll in der gebotenen Kürze geschildert werden. 24 Ausgehend vom Begriff des ›Narzissmus‹, der auf den antiken Narziss-Mythos zurückgeht, stößt man auf das Gleichnis eines Menschen, der sich so sehr in sein Spiegelbild verliebt, dass er darin umkommt (Ovid, 3. Buch der Metamorphosen: Narzissus und Echo). Selbstliebe zeitigt hier Selbstvernichtung. Gilt dies aber grundsätzlich und allgemein? Ist Selbstliebe schon an und für sich selbst- und fremdzerstörerisch? Dies meinte über Jahrhunderte hinweg eine hartnäckige Tradition des mittelalterlichen Christentums, die alle ›Eigenliebe‹ als teuflisch verwarf und bis heute nachwirkt. 25 Dem stehen Aussagen des Ur- und Frühchristentums entgegen, die in dem berühmten biblischen Satz gipfeln: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«. Hier wird die Eigenliebe des Ich-Selbst nicht nur geduldet, sondern sie imponiert als unabdingbare Voraussetzung für eine erfüllte Ich-Du-Beziehung. Doch auch gedanklich lässt sich die Notwendigkeit der Selbstliebe für ein gelingendes Leben aufweisen: Um nämlich einen Anderen, eine Tätigkeit, ein Werk oder die Natur zu lieben, muss sich derjenige, der diese Liebe vollzieht, auch selbst annehmen, also in einem gewissen Maße wertschätzen und im grundlegenden Sinne lieben. Würde er sich im Vollzug der Wertschätzung von Anderen und Anderem sogleich ablehnen, könnte er diese Liebe überhaupt nicht vollziehen. Liebe impliziert Selbstliebe. Man muss daher von einem nicht nur guten und berechtigten, sondern von einem notwendigen oder anthropologisch fundierten Narzissmus sprechen. Damit wird deutlich, dass der destruktive Narzissmus des Jünglings Narziss von anderer Art ist und keine gesunde Form der Selbstliebe thematisiert. Diese Vermutung wird durch den Fortgang des Mythos untermauert, der berichtet, dass Narziss nicht nur sich selbst zu Tode bringt, sondern durch seine maßlose Selbstverliebtheit auch ein anZu ›Selbst‹, ›Selbstgefühl‹ und ›Selbstpsychologie‹ vgl. Mertens und Waldvogel (2000); zum Narzissmus allgemein vgl. Röhr (2009); zur psychoanalytisch-soziologischen Seite vgl. Köpp (2016). 25 Vgl. dazu den eindrücklichen Film »Das weiße Band« des Regisseurs Michael Haneke aus dem Jahr 2009. In der berühmten spätmittelalterlichen Schrift Theologia teutsch des ›Franckforters‹, in der sich bedeutende Strömungen der deutschen Mystik bündeln, wird diese desolate ›Selbsttheorie‹ ausgeführt, die viel Unheil anrichtete und etwa auf Martin Luther stark einwirkte. Bis heute bestimmt sie manche Auffassungen dieser ›repressiven Mystik‹. 24
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deres Wesen zerstört: die Nymphe Echo, die ihn liebt und von ihm in seiner tauben Selbstbezogenheit nicht ge- und erhört wird. Die narzisstische Grundhaltung verunmöglicht Begegnung und Resonanz (vgl. Fuchs 2014; Rosa 2018) 26 . Daher kann die Nymphe nur noch mit seinen Worten, d. h. als Echo, antworten – sie verliert, weil ungehört, ihr Eigensein und wird ebenfalls, wiewohl auf andere Weise und aus anderem Grund, ›selbst-los‹. Selbstlosigkeit aber bedeutet für ein erlebendes, bewusstes Leben den inneren und bald auch den äußeren Tod. In dieser Konstellation deutet sich das Kernproblem des pathologischen Narzissmus an, der heute von der Wissenschaft der Psyche beschrieben und immer differenzierter erforscht wird. Der Kern all seiner Ausprägungen scheint die nachfolgend dargestellte Formation zu sein, die zugleich das fundamentale narzisstische Dilemma und den fundamentalen narzisstischen Konflikt bildet. 27 Die narzisstische Persönlichkeitsstruktur konstituiert ihr Selbstverhältnis und damit die innere Möglichkeit der Selbstannahme und Selbstachtung dadurch, dass sie ihr – scheinbar positives und kohärentes – Selbstseins- und Selbstwertgefühl einerseits durch die Bewunderung von Seiten Anderer, andererseits durch Zurückweisung, Abwertung und verdinglichend-manipulierende Kontrolle von Anderen aufbaut und stützt (vgl. Sachse 2006, 64–75). 28 Der Andere wird dadurch, wie Kohut (1976) gezeigt hat, zum »Selbst-Objekt«, das, indem es den Narzissten zu bewundern hat, seinen »Selbst-Stand« verliert. So wird der Andere einerseits seiner Subjektivität, d. h. seiWenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz die Lösung, so lautet die Kernthese von Rosas Buch (2018), das mit der Behauptung startet, nicht Ressourcen oder Glücksmomente seien für die Qualität des menschlichen Lebens entscheidend, sondern die Resonanzverhältnisse zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Natur. 27 Man unterscheidet prinzipiell zwischen dem funktional-angepassten und dem dysfunktionalen Narzissmus. Dieser zweite wird untergliedert in den extrovertiert-grandiosen und den vulnerabel-introvertierten Narzissmus, wobei der erste eher offenaggressiv, ›dickhäutig‹ und unterwerfend, der zweite eher passiv-aggressionsgehemmt, unterwürfig, ›dünnhäutig‹ und symbiotisch ist. Zu den verschiedenen Unterformen des Narzissmus vgl. Lammers und Doering (2018, 334 f.). 28 Im Zentrum der narzisstischen Persönlichkeit steht nach Sachse das Bedürfnis, wichtig zu sein und Bedeutung zu haben, also in einem eminenten Sinne ›gesehen zu werden‹, was der Andere durch Aufmerksamkeit und Bewunderung ermöglicht. Da dieses Bedürfnis jedoch aufgrund biografischer Konflikte und Traumata zerrüttet ist, entstehen zwei zentrale Schemata, ein positives und ein negatives, die nicht integriert, sondern gespalten sind und zu einem permanenten leidvollen Wechsel führen: ›Ich bin ganz toll‹ und ›Ich bin nie genug‹. 26
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nes Eigenwertes und seiner Autonomie beraubt – allerdings nur, soweit er dies zulässt (siehe Echo!) –, andererseits gerät der Narzisst in Abhängigkeit von diesem Selbst-Objekt: Er kann ohne dieses nicht selbst-sein und nicht leben. Genau in diesem interpersonal-wechselseitigen Negationsverhältnis meldet sich das Symptom einer Selbstnegativität, hinter dem sich – zumeist empirisch nachweisbar – eine tiefe Selbstablehnung verbirgt (vgl. Kernberg 1983). Die Selbstverliebtheit entpuppt sich als Schutzschild vor einer fundamentalen Selbstnegation, deren Funktion darin besteht, die zerstörerische Wut gegen sich und das Leben überhaupt zu verdecken und abzuspalten. Sie wird stattdessen auf Andere, eben die Abgelehnten, Abgewerteten und Missbrauchten projiziert, wo sie dann – im Sinne der sogenannten ›projektiven Identifikation‹ – zur Selbsterleichterung und Selbstrechtfertigung ausagiert wird. So wird der Andere einerseits zum ›Spiegel‹, in dem der Narzisst seine Bedeutung und Wichtigkeit erlebt, weil er sie in sich selbst aus eigener Kraft nicht finden kann, andererseits zum »Container«, zu einer Art Bad Bank, in die unerträgliche Selbstanteile ausgelagert werden (vgl. Bion 1962/1992). 29 Am klassischen Beispiel des Antisemitismus zeigt sich die Natur dieser ›Auslagerung‹, die psychoanalytisch als ›projektives Ausagieren‹ bezeichnet wird, am klarsten: Um den un- oder halbbewussten Selbsthass erträglich zu machen, wird er auf Andere verschoben und dort bekämpft, nicht selten zu vernichten gesucht (vgl. den Aufsatz zum Antisemitismus von Sartre 1973). Der Sinn dieser gesamten Abwehr liegt darin, den unerträglich ›bösen‹ Selbstanteil im Narzissten unschädlich zu machen. Auf pervertierte Weise versucht hier ein Verzweifelter, sich durch Selbst- und Fremdvernichtung zu heilen, was nur scheitern kann. Hitler und der Holocaust mögen für die grauenerregende Tragödie dieses vergeblichen Selbstheilungsversuchs stehen (vgl. Vinnai 2004). So wird offenbar, dass diese Form der Selbstverliebtheit alles andere als ›verliebt‹, sondern zutiefst ambivalent, zerrissen und destruktiv ist. Nur auf der expliziten Ebene erscheint sie ›positiv‹, auratisch und selbstsicher, was die von Weber (1980) so genannte charismatische Persönlichkeit oft mit großer propagandistischer VerWenn die Bad Bank als Container für ›Schrottpapiere‹ verstanden werden kann, dann entpuppt sich der Bankkunde als ›Selbst-Objekt‹, das zum ›narzisstischen Überleben‹ der Banken missbraucht wird. In jedem Fall stellt sich die Bad Bank als Bild der Verleugnungsabwehr dar.
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führungskraft auszuspielen vermag. Nicht selten jedoch verbirgt sich hinter dieser Maske der »Ich- und Selbstinflation« ein Abgrund an Kleinheitsgefühl, Selbstscham, an Angst vor dem Selbstsein-Sollen 30 und an Unfähigkeit zur Selbstannahme: 31 Auf dem Untergrund einer solchen Selbstunsicherheit kann der Selbstwert nur schwer stabil gehalten werden; »die Selbstregulation ist geschwächt« (Erdmann et al. 2009, 89). Dringt man sowohl lebensgeschichtlich als auch entwicklungspsychologisch tiefer, erkennt man in vielen Fällen, dass der Ursprung von Kleinheitsgefühl, scheinbarer Bedeutungslosigkeit und Selbstablehnung (mit der Projektion auf Andere) in einem frühen Mangel an ›Spiegelung‹ liegt. Darunter versteht man die Erfahrung des Säuglings oder Kleinkindes, von dem wichtigen Anderen – in der Regel den Eltern – nicht mit der nötigen Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Feinfühligkeit betrachtet und angenommen worden zu sein. 32 Das Kind sieht nicht in ein Gesicht der Freude, Bewunderung und Liebe, sondern stößt auf eine erstarrte, harte und abweisende Miene. Verunsicherung, Angst und Schrecken steigen im Kind auf und nötigen es, um ein ›anderes Gesicht‹ zu werben. 33 Aber sein angestrengtes Ringen ist vergeblich, die starre Maske rührt sich nicht, alle Versuche der ›Aufheiterung‹ misslingen, Verzweiflung macht sich breit. Zuletzt resigniert das Kind und – was intersubjektiv und soziologisch entscheidend ist – unterwirft sich und passt sich mit Ausbildung eines ›falschen Selbst‹ bis zum psychischen Selbst- und Identitätskollaps an. 34 Der subjektive Eindruck verfestigt sich: ›Ich bin es nicht wert, Was die Angst vor dem Selbstsein-Sollen betrifft, sei auf das Konzept des »falschen Selbst« hingewiesen, das auf Donald W. Winnicott (1974) zurückgeht. Jean-Paul Sartre spricht in solchen Fällen von »mauvaise foi« (Unaufrichtigkeit), was eher eine moralische Perspektive zum Ausdruck bringt. 31 Carl Gustav Jung führte den Begriff der Inflation des Selbst ein und meint damit eine Art ›Selbstaufblähung‹ zum Zwecke der Selbststabilisierung und der Möglichkeit, sich selbst annehmen und ertragen zu können. Dabei greift der Betroffene nach Jung auf den Archetyp des Selbst zurück, der das reale Ich überflutet und zur Psychose führt. Formen der Besessenheit und der Selbstüberhöhung können die Folge sein. 32 Zum Konzept der basalen Formen und Funktionen der Bindung, der Feinfühligkeit und der »Fremde-Situation« vgl. die Schriften von Mary Ainsworth und John Bowlby (1995), John Bowlby (2001), Klaus E. und Karin Grossmann, Karl Heinz Brisch, Peter Fonagy u. a. 33 Auch die Bewunderung des Neugeborenen durch die Erwachsenen ist die spontane Reaktion auf das ›Wunder des Leuchtens der kindlichen Seele‹, eine Reaktion, ohne die das Kind nur schwer sich selbst annehmen kann. 34 Vgl. das Video zum »Still-Face-Paradigma« unter Mitwirkung von Thomas Fuchs 30
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da zu sein; ich bin schlecht, böse, verabscheuungswürdig. Wie die wichtigste Person meines Lebens mich ablehnt und hasst, so muss ich mich selbst ablehnen und hassen.‹ In dieser Grunderfahrung gewinnt das Kind eine Gewissheit über die eigene Position, die wie folgt ausgedrückt werden kann: ›Ich sollte besser nicht da sein; wäre ich doch nie geboren‹ ; ›Ich kann nichts bewirken‹ ; ›Mich hört keiner‹ ; ›Gespräch und Kommunikation sind sinnlos‹ ; ›Gefühle zeigen, ja Gefühle haben ist gefährlich‹ ; ›Ich bin unansehnlich, bin keine Freude für Andere, bin viel eher eine Last, ein Unglück‹ ; ›Dass ich abgelehnt und gehasst werde, ist die Strafe dafür, dass ich gekommen bin‹ ; ›Ich bin ein Nichts, nein weniger als nichts, eine Belastung, ein Störenfried, ein Schädling‹. 35 Nehmen wir die letzte Aussage beim Wort und übersetzen sie in die Selbsttheorie, haben wir Sätze, die in der Psychotherapie oft zu hören sind: ›Mein Selbst ist schlecht‹ ; ›Ich bin ohne alle Bedeutung in dieser Welt‹ oder gar ›Ich habe kein wirkliches Selbst‹ ; ›Ich bin falsch‹. Da nun aber Leben als Selbstvollzug, wie oben dargelegt, wesenhaft Sich-selbst-leben bedeutet, und zwar in einer Welt von wichtigen Anderen, gerät solch ein Mensch in das wahrhaft zerreißende Dilemma, ›selbst sein zu müssen, ohne selbst sein zu dürfen‹ oder ›selbst sein zu können‹. In ihrem innersten Kern gerät diese Existenz in einen Selbstwiderspruch, der unlebbar ist und dennoch gelebt werden muss (vgl. Wandruszka 2009). Kann es da verwundern, dass solch ein Mensch alles nur Erdenkliche unternimmt, um diese unerträgliche Spannung und Zerrissenheit aushalten zu können, auch um den Preis der Selbst- und Fremdverletzung, ja der Selbst- und Fremdvernichtung? Es liegt auf der Hand, dass die ›Erlösung‹ von dieser existenziellen Not letztlich nur durch Selbstzerstörung erreicht werden kann (vgl. Kernberg 2009) – außer, es wird die neue Erfahrung gemacht, gesehen, angenommen, wertgeschätzt und geliebt zu werden und darin eine existenzielle Bedeutung zu erhalten. Welcher Mensch aber könnte dies leisten? Wer kann einem so radikal ›bedeutungslosen‹ und ›überflüssigen‹ Menschen unbedingte Liebe entgegenbrin(https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/Mutter-Kind-Studie-zu-postpartalenAngsterkrankungen.114278.0.html; letzter Abruf 27. 02. 2019). 35 Vgl. dazu die ›Ungeziefermetapher‹, die Franz Kafka für Gregor Samsa, d. h. für sich, in der Erzählung »Die Verwandlung« gestaltet hat. Zur gleichen Zeit haben die Nazis die Juden und andere Minderheiten als ›Schädlinge, Ungeziefer, Ratten‹ usw. bezeichnet. In beiden Fällen manifestiert sich der fatale Zusammenhang von Projektion und Introjektion.
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gen? 36 Weit mehr als ›berechnende‹ Erwachsene sind Kinder dazu bereit, die mit einer fraglosen Liebesoffenheit zur Welt kommen. Es überrascht daher wenig, dass manche der narzisstischen Persönlichkeiten – gewiss unbewusst – gerade die Nähe von Kindern und Abhängigen suchen oder selbst Kinder zeugen, um endlich die Erfahrung des unbedingten Angenommenseins zu erfahren. Wie sich die Tragödie dadurch fortsetzt – man denke an die vielen Nachrichten zum Kindesmissbrauch –, muss nicht umständlich belegt werden. Hier wird das hilflose Kind – wie früher der abhängige Untergebene, der Soldat, der Leibeigene, der Sklave – zum ›Selbst-Objekt‹ degradiert, mit der Folge, dass die narzisstische Prägung auf die nächste Generation übergeht und dort den Keim neuen Unheils legt. Vor diesem düsteren Hintergrund wird verständlich, dass Betroffene, die all dies – zumeist nach langer mühevoller Therapie – an sich selbst durchschauen und zudem erkennen, dass viele, vielleicht sogar die meisten Menschen im Konfliktfall doch eher ihren eigenen Vorteil suchen und alle Rücksichtnahme, Fairness und Kooperation fallen lassen, den Entschluss fassen, die unbedingte Wertschätzung, Anerkennung und Liebe, ohne die sie nicht atmen und leben können, nicht mehr unter den Mitmenschen zu suchen. Sie wenden sich stattdessen entweder der Natur (Landschaften, Tieren und Pflanzen) oder den ›ewigen Wahrheiten‹ in Wissenschaft, Kunst und Philosophie zu oder suchen die Begegnung mit dem Göttlichen, so in Religion und Spiritualität. Der Mensch muss, um leben und einen Sinn in Dasein und Welt finden zu können, gesehen und willkommen geheißen werden. Wo dies unterbleibt, verfällt er in Angst, Selbstverachtung und verzweifelte Selbstverliebtheit, die in Selbst- und Fremdbeschädigung münden kann. Ohne Bezug auf ein zuverlässig gutes, respektvolles, faires und kooperatives Selbst, das sich die Menschheit immer wieder in der Idee des Göttlichen, und leider auch da zumeist getrübt und vergiftet durch Rache-, Straf- und Vernichtungsphantasien, auszumalen versucht, wird der Mensch unsicher, maßlos und zerstörerisch. Ob dieses ›Göttliche‹ als tiefste Schicht des Humanen selbst, so etwa bei Meister Eckhart, Erich Fromm, in den Upanischaden oder im Zen-Buddhismus, oder als transzendentes, ›überirdisches‹ Wesen wie in Judentum, Christentum und Islam gesehen wird, spielt hierbei keine Rolle. So betrachtet, waren die Religionen bei all ihren InhumaniVor diesem Hintergrund lichtet sich die seltsam anmutende Formel des ›überflüssigen Menschen‹, die im 19. Jahrhundert die gesamte russische Literatur durchzieht.
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täten vielleicht doch ein Schutz vor der Möglichkeit der dämonischen Selbstentgleisung des Menschen, die gewiss immer schon drohte, nun jedoch, seit sich der Mensch mit Beginn der Neuzeit selbst zum Maß aller Dinge machte, globale Ausmaße annimmt und in den Katastrophen der Weltkriege, der Shoa und in vermutlich bevorstehenden Klimakriegen nie dagewesene Höhepunkte erreicht (vgl. Guardini 1951). Wenn wir nun die Phänomenologie der Selbststruktur und die Narzissmus-Analyse zum Schluss zusammenführen, dann konkretisiert und exemplifiziert Letztere die Erstere. Um seiner selbst in ungebrochener Weise inne zu werden, bedarf der Mensch des ›spiegelnden Selbst‹ des wichtigen Anderen, der sich über die Ankunft des neuen, erst nur potentiellen (Proto-)Selbst freut. Am Anfang steht, wie oben gezeigt, das durch den Anderen im Kind erweckte Erlebnis der Urgabe des ›mich‹, ›mir‹, ›uns‹, z. B. als ›Sie sieht mich, freut sich über mich, nimmt mich an, hält, trägt und nährt mich‹. Aus der Sicht des Kindes bedeutet dies: ›Ich bin, ich darf, ich soll sein.‹ Indem es diese Gabe aus dem gütigen Blick und den warmen Händen des Anderen entgegennimmt, ergreift es sich, wird aktiv und erlebt sich erstmals als selbstwirksam. Ist diese Gabe jedoch belastet, etwa durch die beeinträchtigte Resonanz einer depressiven Mutter, dann wird die Nahme gestört und das Selbstgefühl kann sich entweder überhaupt nicht oder nicht harmonisch konstituieren. 37 Ein Riss geht durch das Kind. Irritation, innere Uneinigkeit und leibseelisches Missbefinden sind die Folge. Ein freies und offenes Selbst-Innesein wird getrübt, die ungezwungen-freudige Intentionalität auf das eigene Sein als Voraussetzung einer Selbstannahme und als Grundlage für die Weltentdeckung behindert. Misslingt aber die Selbstannahme, konstituiert sich keine Selbsteinheit und es entsteht seelischer Schmerz. Schmerz bedeutet die Zurückweisung dessen, was da schmerzt, also die Abwehr des eigenen Selbstseins. Damit ist ein gutes Bei-sich-Sein unmöglich. Auf der emotionalen Ebene stellt sich die Selbstaversion in Gefühlen wie Unzufriedenheit, Ärger, Zorn, Wut und Hass dar, die sich entweder gegen sich selbst und/oder – projiziert – auf Andere richten. Ist dies der Fall, kann sich der spontane Impuls des Lebenswillens nicht frei äußern. Auf die Welt und die Anderen zuzugehen, wird zu einem quälenden Unterfangen. Darüber hinaus kann die Säuglingskinder, die physisch zwar gut, psychisch aber überhaupt nicht versorgt werden, können sterben, vgl. Spitz (1945, 1946).
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Transformation des Proto-Selbst in das volle Person-Selbst nicht gelingen, da jenes in der Selbstablehnung nicht erfahren und gefunden wird. Leere stellt sich ebenso ein (›Ich bin nichts, ich habe nichts zu bieten‹ ; ›ich fühle mich leer‹) wie auch, verursacht durch das vergiftete, nicht loszuwerdende Proto-Selbst, innere Qual. Da die gesellschaftliche Umwelt jedoch irgendwann ein Selbstsein einfordert, etwa in Form der Berufs- und Partnerwahl, der Betroffene aber nur wenig Gefühl für sich selbst besitzt, wählt er oft aufs Geratewohl oder nach äußeren Kriterien wie Ansehen, Macht und Einkommen. Ein ›falsches Selbst‹ entsteht, eine Hülle, die durch äußere Wichtigkeit und Bewunderung innere Leere und Zerrissenheit verdeckt. Psychoanalytisch gesprochen identifiziert sich der Betroffene mit seinem IdealIch bzw. mit dem ›gängigen Man‹. Im Sinne des fehlenden Bewusstseins seines eigenen Wesens und Wesensauftrages ist dieser Mensch ›bewusstlos‹, ›ichlos‹, ohne innerlich getragenen Daseinssinn. Nicht wirklich seiner selbst gewahr, gerät er in das »Drama des begabten Kindes«, das nichts von seiner Begabung weiß oder zwar von ihr weiß, aber sie nur unter großen Anstrengungen und um den Preis großer Leiden leben kann (vgl. Miller 1997). Die Transformation des Proto-Selbst in das Ergebnis-Selbst, also in eine selbstgewählte und gesunde Identität ist beeinträchtigt. Doch auch da bleibt der Trost, dass es im Menschen trotz allem, wie Kafka sagt, etwas »Unzerstörbares« gibt (1986, 34). Denn der Kern der Subjektivität kann, da durch Andere und Anderes nicht direkt bestimmbar, durch Fremdund Selbstablehnung nie ganz und gar ausgelöscht werden; er bleibt, solange der Mensch lebt. Authentischeres Leben ist immer möglich. Es gibt ein gutes Leben im falschen, wenn auch nie ein ganz gutes.
Literatur Ainsworth, M. & Bowlby, J. (1995). Mutterliebe und kindliche Entwicklung. München Basel: Ernst Reinhardt Verlag. Arendt, H. (1998). Vita activa oder Vom tätigen Leben (10. Aufl.). München Zürich: Piper. Bergson, H. (1972). Schöpferische Entwicklung. Zürich: Coron. Bion, W. (1962/1992). Lernen durch Erfahrung (übers. v. E. Krejci). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bowlby, J. (2001). Frühe Bindung und kindliche Entwicklung. München: Ernst Reinhardt Verlag.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Thomas Fuchs, Prof. Dr. med. Dr. phil., Karl-Jaspers-Professor für Philosophie und Psychiatrie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Mads Gram Henriksen, PhD, Mag. phil., Associate Professor für Philosophie der Psychiatrie am Center for Subjectivity Research der Universität Kopenhagen und Senior Researcher am Mental Health Centre Amager des Universitätsklinikums Kopenhagen. Alice Holzhey-Kunz, Dr. phil., Vorsitzende des Daseinsanalytischen Seminars Zürich und Präsidentin der Gesellschaft für hermeneutische Daseinsanalyse und Anthropologie. Wouter Kusters, PhD, Philosoph, Linguist und Publizist mit Forschungsschwerpunkt auf den Beziehungen zwischen Philosophie, Psychiatrie und Wahnsinn. Stefano Micali, Prof. Dr. phil., Professor für Philosophie am Philosophischen Seminar der Katholischen Universität Löwen. Josef Parnas, Prof. Dr. med. sci., Professor für Psychiatrie an der Universität Kopenhagen. Philipp Schmidt, Mag. phil. Mag. rer. nat., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Philosophie der TU Darmstadt und am Lehrstuhl für Theoretische Philosophie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. László Tengelyi († 2014), Prof. Dr. phil., war Professor für Philosophie am Philosophischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal und Vorsitzender des dortigen Instituts für phänomenologische Forschung. Zeno van Duppen, Dr. phil., M.D., Assistenzarzt am Universitair Psychiatrisch Centrum der Katholischen Universität Löwen 251 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Boris Wandruszka, Dr. med. Dr. phil., Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin in eigener Praxis (Stuttgart).
252 https://doi.org/10.5771/9783495823675 .