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German Pages 239 [240] Year 2018
Wolfgang Carl Welt und Selbst beim frühen Heidegger
Wolfgang Carl
Welt und Selbst beim frühen Heidegger
ISBN 978-3-11-061325-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-061521-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-061341-4 Library of Congress Control Number: 2018952179 Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available on the Internet at http://dnb.dnb.de. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Printing and binding: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com.
Inhalt Vorwort
VII
. . .
1 Das Selbst des faktischen Lebens Das Selbst der faktischen Lebenserfahrung 3 Die Bekümmerung des Selbst 40 Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung
Das Selbst des alltäglichen In-der-Welt-seins
Die Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt und die gegenwärtige Diskussion des Selbst 158 Perrys Theorie des Selbst 171 195 Narrative Konzeptionen des Selbst Das konstituierte Selbst 208 Verschiedene Selbst einer Person 213
. . . .
Literaturverzeichnis 226 226 Heidegger Sekundärliteratur und weitere Literatur 230
Personen-Index Sach-Index
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72
88
226
Vorwort Es ist bekannt, dass Heideggers Schriften den Leser vor besondere Verständnisschwierigkeiten stellen. Die Arbeit an diesem Buch begann mit einem Missverständnis. In einer Vorlesung spricht er von dem „rätselhaften Widerschein des Selbst aus den Dingen“, und ich glaubte, hier einen neuen, von der philosophischen Tradition radikal abweichenden Ansatz zur Diskussion des Selbst zu finden. Um diese Vermutung zu bestätigen, beschäftigte ich mich mit den ersten Frühen Freiburger Vorlesungen und bemerkte, dass Heidegger seine Auffassungen über das Selbst in rascher Folge grundlegend änderte. Das erste Kapitel rekonstruiert diese Entwicklung seines Denkens und zeigt, dass sich die unterschiedlichen Konzeptionen des Selbst durch den Konflikt erklären, in den das Projekt eines anti-naturalistischen Verständnisses des menschlichen Lebens in einer Welt mit seiner Idee der Philosophie als einer Ursprungswissenschaft gerät. Das zweite Kapitel diskutiert die Fortsetzung dieses Projekts in Sein und Zeit, das als eine Analyse des alltäglichen In-der-Welt-seins entwickelt wird und sich auf die Erörterung einer besonderen Form von Alltäglichkeit, die als „abfallende Alltäglichkeit“ bezeichnet wird und als eine Art von konformistischer Anpassung zu verstehen ist, konzentriert. Heidegger verbindet seine Überlegungen zum Selbst mit dem Projekt, die Philosophie als eine Ursprungswissenschaft zu begründen, oder er geht von einer einseitigen Auffassung von Alltäglichkeit aus. Der zentrale Kern seiner Überlegungen kann aber unabhängig von dieser weitergehenden Absicht oder einer solchen Auffassung verstanden und beurteilt werden. Das dritte Kapitel soll die Bedeutung dieses Kerns für die gegenwärtige Diskussion über das Selbst dadurch deutlich machen, dass mit Hilfe seiner Überlegungen Irrtümer und Einseitigkeiten heutiger Auffassungen korrigiert werden. Das Buch ist aus Vorlesungen und Seminaren an der Universität Göttingen hervorgegangen. Den Teilnehmern danke ich für ihr Interesse und ihre Kritik. Meiner Frau danke ich für ihre Geduld und unermüdliche Anteilnahme, mit der sie den Werdegang des Buches begleitet hat.
https://doi.org/10.1515/9783110615210-001
1 Das Selbst des faktischen Lebens Sein und Zeit ist ein Buch, das bei seinen Interpreten sehr unterschiedliche Reaktionen hervorruft. Für Haugeland ist es „vielleicht das wichtigste philosophische Werk des 20. Jahrhunderts.“¹ Demgegenüber ist Tugendhat der Meinung, dass der Text Unklarheiten enthält, „die bei fünf Minuten genauer Überlegung aufgefallen wären“,² und stellt sich die Frage, „wie ein Denken, das so durchsichtig auf Fehlern aufgebaut ist, weltweit so stark wirken konnte …“³ Wie ist es zu erklären, dass kompetente Interpreten Sein und Zeit so unterschiedlich beurteilen? Dies liegt nicht nur an den verschiedenen Zielen, die sie bei ihrer Beschäftigung mit Heidegger verfolgen, sondern hat auch etwas mit dem zu tun, womit sie sich beschäftigen. Im Folgenden soll am Beispiel von Heideggers Überlegungen zum Selbstsein gezeigt werden, dass sie von Anfang an durch unterschiedliche, nicht miteinander in Einklang zu bringende Interessen bestimmt sind. Die Folge ist eine eigentümliche Ambivalenz oder auch Instabilität seiner Überlegungen, die sowohl wesentliche und originelle Einsichten enthalten als auch durch eine tendenziöse Einseitigkeit und argumentative Defizite geprägt sind. Diese Mischung erklärt, weshalb Philosophen wie Haugeland und Tugendhat zu so unterschiedlichen Bewertungen von Sein und Zeit kommen können. Um die verwirrende Gemengelage besser zu verstehen, sollen hier zuerst die Frühen Freiburger Vorlesungen, aus denen Sein und Zeit hervorgegangen ist, betrachtet werden, weil sie die unterschiedlichen Momente seines Ansatzes und die verschiedenen Absichten, die er mit seinen Überlegungen verfolgte, deutlicher voneinander abzugrenzen erlauben, als es in seinem opus magnum möglich ist. In einem zweiten Schritt soll dann gezeigt werden, dass die in Sein und Zeit entwickelte Theorie des alltäglichen In-der-Welt-seins von einer Auffassung des Selbst bestimmt ist, die in den Vorlesungen immer dominanter wird und sich von einer ganz früh erwogenen Explikation radikal unterscheidet. Sein und Zeit ist ein faszinierendes, komplexes und schwieriges Buch, in dem viele Themen miteinander verbunden sind – von methodischen Problemen der Phänomenologie über philosophiehistorische Diskussionen von Platon und Aristoteles, von Descartes und Kant bis hin zu einer Fundamentalontologie des Daseins. Als Heidegger es im Jahre 1927 publizierte, hatte er zwar seit über 10 Jahren nichts mehr veröffentlicht, aber er konnte auf eine intensive Lehrtätigkeit zurückblicken, die mit dem Kriegsnotsemester für Kriegsteilnehmer im WS 1919/20 in
Haugeland 2013, S. 48 Tugendhat 1992, S. 15 Tugendhat 1992, S. 25 https://doi.org/10.1515/9783110615210-002
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1 Das Selbst des faktischen Lebens
Freiburg begann und später nach seiner Berufung nach Marburg zum WS 1923/4 fortgesetzt wurde. In einer Fußnote in Sein und Zeit verweist er auf diese Vorlesungen, indem er „bemerkt“, dass „er die Umweltanalyse und überhaupt die „Hermeneutik der Faktizität“ des Daseins seit dem W.S.1919/20 wiederholt in seinen Vorlesungen mitgeteilt hat.“⁴ Die sorgfältig ausgearbeiteten Vorlesungen, die heute als Frühe Freiburger Vorlesungen und als Marburger Vorlesungen publiziert vorliegen, dokumentieren nicht nur den Denkweg Heideggers, der schließlich zu Sein und Zeit führte, sondern sie bilden auch den Fundus, aus dem er bei seiner Abfassung nach eigenem Ermessen schöpfen konnte. Schon bei der Ausarbeitung der Bewerbungsschrift für die Philosophischen Fakultäten in Göttingen und Marburg hatte er in Ermangelung neuerer Publikationen seine Vorlesungen in Freiburg „exzerpiert“,⁵ um Natorps Wunsch nach Einsicht in Texte „in Druckbogen oder druckfähigem Manuskript“ nachzukommen.⁶ Nun ist Sein und Zeit sicherlich nicht durch eine Kollationierung früherer Vorlesungen entstanden, aber diese bilden eine bedeutende und unverzichtbare Quelle für das Verständnis einzelner Probleme, deren Behandlung und Lösung in dem späteren Werk mit der Diskussion vieler anderer Themen verknüpft werden und nicht für sich genommen fassbar sind. Ein solches Problem ist das Problem des Ich oder Selbst. Wie die Frühen Freiburger Vorlesungen, die Heidegger zwischen 1919 und 1923 gehalten hat, und die in der Gesamtausgabe als die Bände 56/7 bis 63 publiziert worden sind, zeigen, ist das Selbst das zentrale Thema seiner Überlegungen. Seine Erörterung wird aufs engste verknüpft mit dem Versuch, sich über die eigene Auffassung von Philosophie zu verständigen, und dient daher dazu, sich von der zeitgenössischen Philosophie und insbesondere von Husserl abzugrenzen. Bemerkenswert, und für mich besonders wichtig, ist der Umstand, dass Heidegger verschiedene Theorien des Selbst entwickelt, die den Zusammenhang von Selbsterfahrung und der Erfahrung des faktischen Lebens in einer Welt auf unterschiedliche und nicht miteinander in Einklang zu bringende Weisen explizieren. Dies zeigen insbesondere die Vorlesungen in den Jahren 1919 und 1920, die im Folgenden genauer betrachtet werden. In dem zweiten Kapitel werde ich dann Heideggers Auffassung des Selbst in Sein und Zeit diskutieren und in Beziehung zu seinen früheren Überlegungen in diesen Vorlesungen setzen.
Heidegger 1963, S. 72 Heidegger 2005, S. 442 Heidegger 2005, S. 439
1.1 Das Selbst der faktischen Lebenserfahrung
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1.1 Das Selbst der faktischen Lebenserfahrung Alle Frühen Freiburger Vorlesungen bemühen sich darum, ein angemessenes Verständnis von Philosophie zu gewinnen. Schon die erste Vorlesung diskutiert die „Idee der Philosophie als Urwissenschaft“.⁷ In der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie wird diese Urwissenschaft zu einer „Ursprungswissenschaft“,⁸ deren Explikation sich vor allem an Husserls Phänomenologie orientiert.⁹ Auch die Vorlesung Phänomenologie des religiösen Lebens geht von dem „Problem des Selbstverständnisses der Philosophie“ aus, das „immer zu leicht genommen wurde.“¹⁰ Heideggers Überlegungen zu dem Thema Selbst sollen einen Beitrag zur Lösung dieses Problems sein. Sie sind also motiviert durch eine Fragestellung, die man auch bei der Erörterung anderer philosophischer Themen aufwerfen kann. Bei ihm ist jedoch die Frage nach dem Selbstverständnis der Philosophie nicht nur der Grund dafür, dass er sich mit diesem Thema beschäftigt, sondern sie bestimmt auch die Bedingungen, die seine ihn befriedigende Behandlung erfüllen muss. Es geht ihm also um eine in seinem Sinne philosophische Explikation des Begriffs Selbst. Dieses Ziel erklärt, weshalb sie mit Forderungen belastet und von Gesichtspunkten bestimmt wird, welche nicht in dem Thema, sondern in der Konzeption von Philosophie begründet sind. Wie sich zeigen wird, bestimmt die Verknüpfung der Diskussion des Themas Selbst mit der Klärung des Begriffs der Philosophie die unterschiedlichen Konzeptionen des Selbst, die Heidegger in den hier betrachteten Vorlesungen entwickelt. Ich gehe daher von seiner Auffassung von Philosophie aus. In der ersten Vorlesung heißt es programmatisch: „Diese Vorherrschaft des Theoretischen muss gebrochen werden …“¹¹ Man kann die Forderung, die sich auch gegen Husserls Philosophie als strenge Wissenschaft aus dem Jahre 1913 richtet,¹² damit begründen, dass es Themen gibt, die sich eines theoretischen oder wissenschaftlichen Zugangs entziehen. Als Beispiele nennt Heidegger „den Herrschaftsbereich des umweltlichen Erlebens“ ¹³ und „die selbstweltliche Konkretion aktuellen Daseins“.¹⁴ Er spricht daher auch von einer „vortheoretischen
Heidegger 1999, S. 15 ff.; zum historischen Hintergrund vgl. Kisiel 1992; S. 109 – 114; Arrien 2014, S. 85 – 117 Heidegger 2010, S. 1– 4 Heidegger 2010, S. 11– 24 Heidegger 2011, S. 8 Heidegger 1999, S. 59 Heidegger 1999, S. 87 Heidegger 1999, S. 88 Heidegger 2007, S. 170
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1 Das Selbst des faktischen Lebens
Grunderfahrung“, die sich mit der „vortheoretischen Verfassung der Welt“ beschäftigt .¹⁵ Versteht man die programmatische Forderung im Lichte dieser Beispiele, so liegt ihr die Annahme zugrunde, dass es Grenzen theoretischer, wissenschaftlicher Erkenntnis gibt. Den Primat des Theoretischen zu bestreiten besagt, dass das Theoretische nicht der allgemeine und einzige Zugang zu dem ist, was es gibt oder der Fall ist. Heideggers Begründung der Forderung geht jedoch in eine andere Richtung. Er behauptet, dass „das Theoretische selbst und als solches in ein Vortheoretisches zurückweist.“¹⁶ Man kann dies in einem starken und in einem schwachen Sinne verstehen: In dem ersten Sinne besagt die These, dass das Theoretische in dem Vortheoretischen fundiert ist und dadurch erklärt werden kann, während sie, in dem zweiten Sinne genommen, behauptet, dass das Theoretische nicht ohne das Vortheoretische verständlich ist. Heidegger unterscheidet nicht deutlich zwischen diesen beiden Begründungen seiner Forderung und daher auch nicht zwischen verschiedenen Lesarten der Forderung selber, wenn man sie im Lichte ihrer Begründung versteht. Orientiert man sich an der ersten Begründung, so handelt sich um eine Revision der explanatorischen Priorität: An die Stelle des Primats des Theoretischen tritt der Primat des Vortheoretischen, durch das das Theoretische zu erklären ist. Geht man dagegen von der zweiten Begründung aus, dann ist der Primat des Theoretischen deswegen abzulehnen, weil dieses nicht ohne das Vortheoretische verständlich ist. Es geht um eine notwendige Bedingung der Verständlichkeit und nicht darum, dass ein Primat durch einen anderen ersetzt wird. Auch wenn Heidegger nicht deutlich zwischen den verschiedenen Interpretationen der Forderung im Lichte ihrer unterschiedlichen Begründungen unterscheidet, so ist doch seine Absicht deutlich erkennbar, ihr in dem Sinne nachzukommen, dass ein Primat durch einen anderen ersetzt wird, dass also der Primat des Vortheoretischen behauptet wird. Ob ihm das wirklich gelingt, ist eine andere Frage. Nur eine genauere Betrachtung der Möglichkeiten und Leistungen der Philosophie als einer Beschäftigung mit dem „Vortheoretischen“ wird es erlauben zu entscheiden, ob seine Überlegungen das Projekt einer Begrenzung wissenschaftlicher Erkenntnis oder das Projekt ihrer Fundierung plausibel machen. Dass es die Aufgabe der Philosophie ist, „den Primat des Theoretischen zu brechen“, folgt für Heidegger aus seiner Auffassung von Philosophie. Denn er behauptet, dass „Wissenschaft prinzipiell verschieden von Philosophie ist.“¹⁷ Da
Heidegger 2010, S. 94 Heidegger 1999, S. 59 Heidegger 2011, S.9
1.1 Das Selbst der faktischen Lebenserfahrung
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er das Theoretische mit der Wissenschaft identifiziert, muss die Philosophie sich diese Aufgabe stellen, um dieser Verschiedenheit Rechnung zu tragen. Im Lichte der unterschiedlichen Begründungen, die man für die Aufgabe geben kann, ergeben sich verschiedene Möglichkeiten, die Differenz von Philosophie und Wissenschaft zu bestimmen. Die Philosophie besitzt eine Priorität, die sich nach der Rolle bemisst, die das Vortheoretische für das Theoretische besitzt. Ist das Verständnis des Ersteren eine notwendige Bedingung für das Verständnis des Letzteren, dann beschäftigt sich die Philosophie mit den Voraussetzungen, unter denen wissenschaftliche Erkenntnis verständlich wird. Soll sich dagegen das Theoretische in irgendeiner Weise durch das Vortheoretische erklären lassen, dann wird die Philosophie zu einem explanatorischen Projekt der Begründung der Wissenschaft. Welche Priorität die Philosophie nach Heidegger im Hinblick auf die Wissenschaft hat, werden wir später sehen, wenn wir uns mit seiner Auffassung, Philosophie sei eine Ursprungswissenschaft, beschäftigen.¹⁸ Für die Diskussion des Themas Selbst ergibt sich aus diesen Überlegungen erstens, dass es sich um etwas Vortheoretisches handelt. Deswegen beschäftigt sich Heidegger mit dem Thema im Zusammenhang einer Analyse der faktischen Lebenserfahrung. Dieser Ansatz dominiert die Vorlesungen zu Beginn des Jahres 1919 und im WS 1919/20 und führt zu wichtigen und neuen Einsichten. Aus dem Zusammenhang der Diskussion des Themas Selbst mit der Bestimmung des Begriffs der Philosophie ergibt sich zweitens, dass das Selbst wegen der Priorität des Vortheoretischen eine ausgezeichnete Rolle hat; und mit einer genaueren Bestimmung dieser Rolle beschäftigen sich die späteren Frühen Freiburger Vorlesungen. Diese Überlegungen münden in einer Hermeneutik der Faktizität und bestimmen die Entwicklung von Heideggers Denken, das in Sein und Zeit zu einem ersten Abschluss kommt. Wie sich zeigen wird, enthalten sie Vorstellungen, die mit den Gedanken der früheren Vorlesungen kaum verträglich sind. Die Erörterung des Themas Selbst im Kontext einer vortheoretischen faktischen Lebenserfahrung lässt sich nicht ohne grundlegende Veränderungen mit dem Projekt einer Fundierung des Theoretischen in einem Vortheoretischen in Einklang bringen. In der Vorlesung Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, gehalten im „Kriegsnotsemester 1919“ – vom 25. Januar bis 16. April – und für „Kriegsteilnehmer“ gedacht, wird die Konzeption der „Phänomenologie als vortheoretische Urwissenschaft“ anhand der Analyse eines „Umwelterlebnisses“ erläutert.¹⁹ Es besteht in der Wahrnehmung des Katheders in einem Hörsaal und wird mit dem Erlebnis der Frage ‚Gibt es etwas?’ verglichen. Wie Heidegger be-
Vgl. S. 72– 87 Heidegger 1999, S. 63
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1 Das Selbst des faktischen Lebens
merkt, ist „das Wort ‚Erlebnis’ selbst heute so abgegriffen und verblasst, dass man es am besten beiseite lassen müßte, wenn es nicht gerade so treffend wäre. Es lässt sich nicht vermeiden …“ Er sagt nicht, weshalb das Wort angemessen ist, aber es liegt nahe, an den Zusammenhang von Erleben und Leben zu denken. So wird der Ausdruck ‚Er-leben von etwas’ durch ‚Leben auf etwas zu’ paraphrasiert;²⁰ und von dem Umwelterlebnis heißt es, dass es sich um ein „Leben in einer Umwelt“ handelt.²¹ In der folgenden Vorlesung hat er diesen Ansatz in dem Sinne verändert, dass er von dem Begriff des Lebens ausgeht, der nicht durch eine „Erlebniszusammensetzung“ gewonnen wird.²² Wie wir sehen werden, hat dieser holistische Ansatz weitreichende Folgen für sein Verständnis des Selbst, die erst deutlich werden, wenn man von dem ursprünglichen Ansatz bei einzelnen Erlebnissen in der früheren Vorlesung ausgeht. Als Beispiel für ein Frageerlebnis wird der Fall betrachtet, dass ich mir die Frage ‚gibt es etwas?’ stelle. Heidegger bemerkt zu dem „Gehalt der Frage“, dass ‚es gibt’ auf verschiedene Weise verwendet wird, und dass die Rede von einem etwas beliebig allgemein ist.²³ Sein Interesse gilt aber der „Rolle des Fragenden“ in diesem Erlebnis. Ich, der ich mir die Frage stelle, komme in dem Gehalt der Frage nicht vor; und dies gilt natürlich für jeden, der sich diese Frage stellt.²⁴ Allerdings gibt es zu jeder Frage, die gestellt wird, jemanden, der sie stellt; und dies gilt ebenso für das „Erlebnis“, eine Frage zu stellen. Aber daraus ergibt sich nicht, dass sich das Erlebnis auf denjenigen bezieht, der es hat, bzw. dass der Gehalt einer Frage sich auf denjenigen bezieht, der sie stellt. Heidegger behauptet darüber hinaus, dass „gerade dadurch, dass der Sinn der Frage überhaupt bezughaft ist zu einem Ich, ist es bezuglos zu meinem Ich.“²⁵ Dass das Ich, auf den das Fragen sich bezieht, keinen Bezug zu meinem Ich hat, lässt sich vielleicht so verstehen: Sofern der Bezug einer Frage auf ein Ich sich allein dadurch ergibt, dass es zu jeder Frage, die gestellt wird, jemanden gibt, der sie stellt, handelt es sich, sofern ich die Frage stelle, nicht um einen Bezug auf mich. Mein „Erlebnis“ der Fragestellung spielt für den Inhalt der gestellten Frage keine Rolle, weil dieser keinen Bezug auf das Subjekt, das die Frage stellt, enthält. Das lässt sich natürlich ändern, etwa dadurch, dass man die Frage ‚gibt es etwas, das ich vergessen habe?’ betrachtet. Aber das Fehlen eines inhaltlich fundierten Bezugs des Sinns einer Frage auf das Subjekt schließt nicht einen anderen Bezug aus, der sich dadurch
Heidegger 1999, S. 68 Heidegger 1999, S. 73 Heidegger 2010, S. 155 – 156 Heidegger 1999, S. 67– 68 Heidegger 1999, S. 68 – 69 Heidegger 1999, S. 69
1.1 Das Selbst der faktischen Lebenserfahrung
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ergibt, dass es zu jeder Frage jemanden gibt, der sie stellt. Der Begriff des Bezugs des Sinns einer Frage oder Erlebnisses ist daher mehrdeutig: Er bezieht sich einerseits auf deren Inhalt, andererseits auf den Akt oder Vollzug. Was die hier betrachtete Frage angeht, so ist das Erlebnis, sie zu stellen, „überhaupt bezughaft zu einem Ich“, aber „bezuglos zu meinem Ich“ ist.²⁶ Der Bezug zu „einem Ich“ ergibt sich bei jeder Frage, welchen Inhalt es auch haben mag, dadurch, dass es zu jeder Frage jemanden gibt, der die Frage stellt. Dieser Bezug ist begründet in dem allgemeinen Zusammenhang zwischen dem Akt des Fragens und dem Subjekt des Akts; und er ist für mich zugänglich, wenn ich nicht nur eine Frage stelle, sondern auch darauf reflektiere, dass ich dies tue. Von einem so begründeten und in dieser Weise zugänglichen Bezug des Sinns der Frage zu mir sagt Heidegger, dass er „losgelöst von mir, … absolut Ich-fern ist.“²⁷ Ich denke nicht, dass er bestreiten will, dass jener allgemeine Zusammenhang in seiner Anwendung auf mein Fragen und meine Reflexion darüber einen Bezug auf mich als Subjekt des Fragens herstellt. Denn „der Sinn der Frage überhaupt ist bezughaft zu einem Ich“. Was er bestreiten will, ist vielmehr, dass ein so begründeter Bezug auf mich als Subjekt des Fragens die einzige oder eine irgendwie ausgezeichnete Möglichkeit einer Selbstbeziehung ist und als Grundlage für ein Verständnis von dem, worauf ich mich beziehe, dienen kann. Um diese Vermutung zu präzisieren und zu bestätigen, betrachten wir die Analyse des Umwelterlebnisses. Es geht um ein Erlebnis, das der junge Privatdozent Heidegger mit seinen Hörern teilt: „… ich sehe das Katheder, an dem ich sprechen soll. Sie sehen das Katheder, von dem aus zu Ihnen gesprochen wird, an dem ich schon gesprochen habe.“²⁸ Das Erlebnis ist keine subjektive oder gar private Empfindung. Im Unterschied zu dem vorher betrachteten Erlebnis handelt es sich um eine optische Wahrnehmung, die nicht sprachlich formuliert wird, und deren Bezug zu dem Subjekt der Wahrnehmung nicht in dem Sinn einer entsprechenden Äußerung begründet sein kann. Heidegger schreibt: „Ich sehe das Katheder gleichsam in einem Schlag; ich sehe es nicht nur isoliert; ich sehe das Pult als für mich zu hoch gestellt. Ich sehe ein Buch darauf liegend, unmittelbar als mich störend …, ich sehe das Katheder in einer Orientierung, Beleuchtung, einem Hintergrund.“²⁹ Dass das Katheder „in einem Schlag“ gesehen wird, besagt, dass eine solche Wahrnehmung nicht irgendwie erschlossen ist oder auf einer Interpretation von
Heidegger 1999, S. 69 Heidegger 1999, S. 69 Heidegger 1999, S. 71 Heidegger 1999, S. 71
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1 Das Selbst des faktischen Lebens
Daten beruht. Es wird nicht etwas wahrgenommen, das als ein Katheder angesehen wird. Das Katheder wird unmittelbar wahrgenommen. Der Hintergrund einer solchen Wahrnehmung hat dagegen etwas mit der Verwendung des Katheders durch das Subjekt der Wahrnehmung zu tun, welche sich in dem selbstverständlichen Umgang und Verhalten mit und zu ihm zeigt. Dadurch hat das Wahrgenommene eine „bestimmte Bedeutung“, welche für verschiedene Personen verschieden sein kann: „ … ich sehe das Katheder, an dem ich sprechen soll, Sie sehen das Katheder, von dem aus zu Ihnen gesprochen wird, an dem ich schon gesprochen habe.“³⁰ Die Bedeutung besteht in der normalen, selbstverständlichen Verwendung dessen, was wahrgenommen wird, in einem situationsgerechten Verhalten zu dem, was wahrgenommen wird. Die Kenntnis der Verwendung zeigt sich in dem routinierten Umgang damit, der bei verschiedenen Personen verschieden sein kann. Ist die Verwendung mehr oder weniger unbekannt, wie im Falle „eines Bauern vom hohen Schwarzwald“, so wird kein Katheder gesehen, sondern ein „Platz für den Lehrer“. Ist er völlig unbekannt, wie im Falle eines „Senegalnegers …, der plötzlich aus seiner Hütte hier herein verpflanzt wird“, so handelt es sich um die Wahrnehmung von etwas, das mit einer für ihn verständlichen Verwendung zu tun hat, – etwa das, „hinter dem man guten Schutz gegen Pfeile und Steinwürfe fände …“.³¹ Wahrnehmungen, verstanden als Umwelterlebnisse im Sinne Heideggers, haben immer einen Hintergrund, auch wenn dieser bei verschiedenen Personen aufgrund ihrer sozialen Rollen oder wegen ihres unterschiedlichen Verständnisses der „Bedeutung“ des Wahrgenommenen verschieden sein kann. Ihre epistemische Unmittelbarkeit unterscheidet sie von einem theoretischen Erkennen eines Gegenstands; und ihr Hintergrund bindet sie an einen bestimmten Verwendungszusammenhang, durch den sich die Bedeutung des Wahrgenommenen ergibt.³² Soweit Heideggers Analyse des Themas eines Umwelterlebnisses, exemplifiziert an der optischen Wahrnehmung eines Katheders. Betrachten wir nun seine Überlegungen zu dem Subjekt der Wahrnehmung.
Heidegger 1999, S. 71; bei Kisiel 1993, S. 46, fehlt jeder Hinweis auf den Zusammenhang zwischen der Bedeutung des wahrgenommenen Gegenstands und seiner mehr oder weniger bekannten Verwendung. Heidegger 1999, S. 71– 72 Cimino 2013 behauptet, dass es bei Heidegger „darum geht, in der Ersten-Person-Perspektive diesen Erlebniszusammenhang (scil. des Katheders) nachzuerleben.“ (145) Abgesehen davon, dass nicht klar ist, worin eine solche Perspektive bei der Wahrnehmung eines Katheders bestehen soll, wird auf diese Weise gerade nicht der Zusammenhang von Bedeutung und Zugehörigkeit zu einer vertrauten Welt deutlich, auf den es Heidegger ankommt.
1.1 Das Selbst der faktischen Lebenserfahrung
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Er schreibt: „Finde ich im reinen Sinn des Erlebnisses, hinschauend auf mein sehendes Verhalten zu dem umwelthaft sich gebenden Katheder, so etwas wie ein Ich? In diesem Erleben, in diesem Hinleben zu, liegt etwas von mir: Es geht mein Ich voll aus sich heraus und schwingt mit in diesem ›Sehen‹ … Genauer: Nur in dem Mitanklingen des jeweiligen eigenen Ich erlebt es ein Umweltliches, weltet es, und wo und wenn es für mich weltet, bin ich irgendwie ganz dabei.“³³ Heideggers Frage nach dem Ich sollte man vor Missverständnissen schützen oder, besser formuliert, von Annahmen befreien, die für seine Antwort auf die Frage unerheblich sind. Dazu gehört sicherlich die Vorstellung, dass unser Zugang zu den eigenen Wahrnehmungen, allgemeiner: zu unseren Erlebnissen, etwas mit einem „Hinschauen“³⁴ oder einem „Hinblicken“ zu tun hat.³⁵ Auch die substantivische Verwendung des Personalpronomens der ersten Person im Singular wirft Fragen auf, die nicht beantwortet werden. Sieht man davon ab, so ist festzustellen, dass die Antwort auf die Frage nach dem Ich in der Wahrnehmung eines Katheders sich Metaphern bedient: „Ich gehe voll aus mir heraus und schwinge mit in diesem ›Sehen‹.“ Was besagen sie? Dass meine Wahrnehmung des Katheders etwas ist, das irgendwie als ein „aus mir herausgehen“ beschrieben werden kann, gibt eine Antwort auf die anfangs gestellte Frage nach der Präsenz von mir in einer solchen Wahrnehmung. Die Antwort lautet: Ich bin in ihr präsent, aber nicht in der Weise, wie man vermuten könnte. Meine Wahrnehmung ist eine Wahrnehmung des Katheders und nicht die Wahrnehmung meiner Wahrnehmung des Katheders. In Anlehnung an Moore kann man von einer Transparenz der Wahrnehmung gegenüber dem, was wahrgenommen wird, reden.³⁶ Heidegger spricht davon, dass ich „voll aus mir herausgehe“. Ich bin mit dem Katheder beschäftigt, nicht mit meiner Wahrnehmung von ihm, aber es ist gerade diese Beschäftigung, die eine Antwort auf die Frage nach der Präsenz von mir in dieser Wahrnehmung zu geben erlaubt. Zu dem Wahrgenommenen gehört wesentlich ein Hintergrund, der bei verschiedenen Personen verschieden sein kann. Zu meiner Wahrnehmung des Katheders gehört eine spezifische Verwendung, die ich von ihm mache oder machen kann, und durch die es für mich eine bestimmte Bedeutung hat. Meine Wahrnehmung ist die Wahrnehmung von etwas in einer mir verständlichen Welt. Heidegger spricht von einem „Mitschwingen“ oder „Mitanklingen“ von mir in dieser Welt. Was ist damit gemeint?
Heidegger 1999, S. 73 Heidegger 1999, S. 73 Heidegger 1999, S. 75 Vgl. Moore 1968, S. 20
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1 Das Selbst des faktischen Lebens
Meine Wahrnehmung des Katheders ist das Erleben einer mir vertrauten und verständlichen Umwelt, also von Dingen und Sachverhalten, die für mich eine Bedeutung haben. Diese Umwelt ist meine Umwelt. Wie das Beispiel der Vorlesung zeigt, besagt dies nicht, dass die Umwelt nur mir gehört oder nur mir zugänglich ist. Wie gehöre ich zu ihr? Heidegger schreibt. „… wo und wenn es für mich weltet, bin ich irgendwie ganz dabei.“³⁷ Wie der kursiv gesetzte Ausdruck ‚ich’ deutlich macht, geht es darum zu betonen, dass ich es bin, der dabei ist. Wobei? Bei dem, was mir durch mein Umwelterlebnis gegeben ist: bei dem Katheder, bei der Vorlesung, die ich halten will, bei den Zuhörern und ihren Erwartungen, also bei all dem, was mir in dieser Situation von Bedeutung ist. Ich bin bei der von mir erlebten Umwelt. Die anfangs aufgeworfene Frage nach der Präsenz von mir in meiner Wahrnehmung des Katheders wird also mit Rekurs auf das, was ich wahrnehme, oder, allgemeiner formuliert, mit Rekurs auf das, was für mich in einer bestimmten Situation von Bedeutung ist, beantwortet. Die von Heidegger betrachteten Erlebnisse artikulieren unterschiedliche Beziehungen zwischen dem Subjekt und seinen Erlebnissen. Zu dem vorher diskutierten Frageerlebnis bemerkt er: „Darin finde ich mich selbst nicht vor. Das Etwas überhaupt, nach dessen „es geben“ gefragt ist, weltet nicht.“³⁸ Wenn also der Inhalt eines Erlebnisses sich nicht auf etwas bezieht, das eine bestimmte Bedeutung für mich hat und somit zu einer Welt gehört, dann komme ich in diesem Erleben irgendwie nicht vor. Demnach ist die Bedeutsamkeit dessen, worauf sich der Inhalt meines Erlebnisses bezieht, eine notwendige Bedingung dafür, dass ich in meinem Erleben irgendwie bin. Diese Präsenz verlangt den Weltbezug seines Inhalts. Es ist klar, dass eine solche Präsenz nicht schon dadurch ausgeschlossen ist, dass ich mir eine Frage stelle, im Unterschied etwa zu der Wahrnehmung einer mir vertrauten Umwelt. Denn ich kann mich auch fragen, ob es einen Katheder in dem Hörsaal gebe; und der Inhalt dieser Frage bezieht sich auf etwas, das zu einer Welt gehört. Es liegt also an der unbestimmten Bezugnahme auf „etwas überhaupt“, durch die sich erklärt, dass ich in meinem Erlebnis der Frage nicht präsent bin. Im Anschluss an Natorp spricht Heidegger von dem „nur noch Gegenständliches überhaupt formaliter enthaltenden Charakter des Etwas“ und behauptet: „Es ist das absolute Weltlose, Welt-fremde; es ist die Sphäre, wo einem der Atem ausgeht und man nicht leben kann.“³⁹ Diesem Etwas soll ein theoretisches Ver Heidegger 1999, S. 73; Kisiel 1993. S. 46 spricht von einem „worlding experience“, erklärt aber nicht, weshalb die Wahrnehmung des Katheders eine Erfahrung von etwas ist, das zu einer Welt gehört. Heidegger 1999, S. 73 Heidegger 1999, S. 112; vgl. Kisiel 1993, S. 47– 49
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halten korrespondieren, bei dem „ich auf etwas gerichtet bin, aber ich nicht (als historisches Ich) auf dieses oder jenes Welthafte zu lebe.“⁴⁰ Dieses Verhalten besteht in einem „Fassen, Fest-stellen als Gegenstand überhaupt“ und „lebt auf Kosten des Zurückdrängens meines eigenen Ichs. … Das Ich, das fest-stellt, bin ich gar nicht mehr.“⁴¹ Es ist also die theoretische, auf eine Erkenntnis von Gegenständen gerichtete Einstellung, welche zu einem Verlust des eigenen Ichs führt. Dieser Verlust ergibt sich dadurch, dass bei einer solchen Einstellung „das Welthafte ausgelöscht ist“,⁴² und ich daher nicht in dem leben kann, worauf sich die Einstellung richtet. Denn dieses Leben ist wesentlich das Leben in einer Welt.⁴³ „In einem Objekt kann man nicht leben“, wie Heidegger pointiert bemerkt.⁴⁴ Es geht mir hier nicht darum, seine Auffassung einer theoretischen Einstellung zur Welt, wie sie am Beispiel des Erlebens der merkwürdigen Frage ‚gibt es etwas?’ erläutert wird, zu diskutieren. Ich will vielmehr seine Konzeption des Ich klären, mit deren Hilfe die Differenz zwischen einer solchen Einstellung und einem Umwelterlebnis beschrieben wird. Heidegger geht davon aus, dass ich in meinen Erlebnissen auf verschiedene Weise präsent oder gegeben sein kann, und betrachtet zwei entgegengesetzte Möglichkeiten: Mein Erlebnis kann „seinem Sinn nach … losgelöst von mir, … absolut Ich-fern“ sein,⁴⁵ oder es kann sich um ein Erlebnis handeln, bei dem „ich irgendwie ganz dabei bin“.⁴⁶ Wie sind diese Möglichkeiten zu verstehen? Es handelt sich nicht darum, dass ich auf verschiedene Weise in dem Inhalt meiner Erlebnisse vorkommen kann. Denn in meiner Wahrnehmung des Katheders komme ich nicht in dem vor, was wahrgenommen wird. Es geht auch nicht um die Differenz zwischen nicht-reflexiven und reflexiven Erlebnissen. Denn die letzteren Erlebnisse werden gar nicht erwähnt. Es geht vielmehr um verschiedene Weisen, wie ich in meinen nicht-reflexiven Erlebnissen sein kann. Von dem Umwelterlebnis sagt er, dass ich ganz dabei bin, weil der Inhalt meines Erlebens mir etwas bedeutet und daher das Erleben „für mich weltet“.⁴⁷ Demnach begründen
Heidegger 1999, S. 74 Heidegger 1999, S. 73 Heidegger 1999, S. 73 Vgl. Heidegger 2010, S. 34; Jung 2003, S. 15b, spricht von einem „hermeneutischen Modell …, in dem bedeutsame Welt und Selbst eine vorgängige Einheit bilden“. Aber es geht nicht um eine Einheit, sondern um ein wechselseitiges Implikationsverhältnis. Heidegger 2011, S. 11 Heidegger 1999, S. 69 Heidegger 1999, S. 73 Heidegger 1999, S. 73
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1 Das Selbst des faktischen Lebens
die unmittelbare, nicht auf theoretische Erkenntnis beruhende Verständlichkeit dessen, was ich sehe, und mein selbstverständliche Umgang damit, dass „ich … ganz dabei bin.“ Die Präsenz von mir in meinem Erlebnis ergibt sich also durch das „Welthafte“ seines Inhalts. Es hat einen solchen Inhalt, wenn das, was ich sehe, mir unmittelbar verständlich ist, und wenn ich damit sinnvoll umgehen kann; und dies ist genau dann der Fall, wenn „ich … auf dieses oder jenes Welthafte zu lebe.“⁴⁸ Es ist dieses Leben in einer Welt, durch das ich ganz bei meinen Erlebnissen bin. Die Frage danach, wie ich in meinen Erlebnissen bin, wird beantwortet durch Rekurs auf mein Leben. Es ist keine Frage nach dem, worauf sich das Wort ‚ich’ in einem gegebenen Kontext seiner Verwendung bezieht, es ist keine Frage nach dem Wer der Erlebnisse, sondern eine Frage nach dem Leben, das ich in meinen Erlebnissen habe. Die Antwort auf diese Frage besteht in der Bestimmung meines „historischen Ichs“.⁴⁹ Die Frage, wie ich in meinen Erlebnissen bin, kann auch auf andere Weise beantwortet werden. Heidegger zeigt dies am Beispiel des Erlebnisses der Frage ‚gibt es etwas?’: „Darin finde ich mich selbst nicht vor.“⁵⁰ Der Grund dafür kann nicht sein, dass nicht ich es bin, der sich diese merkwürdige Frage stellt; und es ergibt sich auch nicht dadurch, dass der Inhalt der Frage sich nicht auf mich bezieht. Dass ich mich in meinem Erleben nicht „vorfinde“, hat vielmehr etwas damit zu tun, dass sein Inhalt „nicht weltet“.⁵¹ Er bedeutet mir nichts. Während Heidegger für das Umwelterlebnis behauptet hatte, dass ich bei meinem Erlebnis bin, wenn sein Inhalt mir etwas bedeutet, behauptet er jetzt, dass ich nicht bei meinem Erlebnis bin, wenn sein Inhalt mir nichts bedeutet. Demnach bin ich genau dann bei meinem Erlebnis, wenn sein Inhalt „für mich weltet“, mir etwas bedeutet. Aber es liegt nicht nur an dem Inhalt, dass ich mich nicht in meinem Erlebnis vorfinde. Es geht um ein Fragen, dessen Beantwortung in einem Feststellen oder Erkennen dessen, was der Fall ist, besteht. Es handelt sich um ein „theoretisches Verhalten“, für das gelten soll, dass „ich auf etwas gerichtet bin, ich lebe nicht (als historisches Subjekt) auf dieses oder jenes Welthafte zu.“⁵² Das Subjekt dieses Verhaltens wird als „theoretisches Ich“ bezeichnet.⁵³ Demnach ist die ursprüngliche Frage nach der Präsenz eines Ichs in meinen Erlebnissen dahingehend zu beantworten, dass ich nur als historisches Ich „ganz dabei bin“; und dies ist genau dann der Fall, wenn das Erlebnis sowohl seinem Inhalte nach
Heidegger 1999, S. 74 Heidegger 1999, S. 74 Heidegger 1999, S. 73 Heidegger 1999, S. 73 Heidegger 1999, S. 74; vgl. Kisiel 1986/7, S. 97– 98 Heidegger 1999, S. 74
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als auch in der Art des Erlebens den Charakter des Welthaften hat. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte man darauf hinweisen, dass die Unterscheidung zwischen einem historischen und einem theoretischen Ich keine Unterscheidung zwischen Entitäten, auf die man sich durch die Verwendung desselben Wortes bezieht, sondern eine Unterscheidung zwischen Weisen ist, wie ich in meinen Erlebnissen bin. Wenn Heidegger von der Person spricht, die sich durch die Verwendung des Wortes ‚ich’ auf sich selbst bezieht, dann verwendet er häufig das kursiv gesetzte Personalpronomen der ersten Person im Singular. Der Verdacht, dass die Termini ‚historisches Ich’ und ‚theoretisches Ich’ zu der Annahme irgendwelcher Entitäten verleiten, kann daher entkräftet werden. Wendet man Heideggers Überlegungen zum Begriff der Philosophie auf seine Analyse eines Umwelterlebnisses wie die Wahrnehmung eines Katheders in einem Hörsaal an, so ergibt sich eine erste inhaltlichen Bestimmung der Philosophie: Sie beschäftigt sich mit dem „natürlichen Lebensbewußtsein“⁵⁴ und zwar in der Weise, dass sie den besonderen Ich-Bezug dieses Bewusstseins thematisiert. Der Bezug richtet sich auf ein Ich, das wesentlich in einer „Umwelt lebt“,⁵⁵ und dessen Leben „weltlich gesäumt“ ist.⁵⁶ Der Ich-Bezug der natürlichen Lebenserfahrung und der Begriff der Welt stehen im Zentrum der folgenden Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie im WS 1919/20. In dieser Vorlesung geht es nicht mehr um die Analyse eines einzelnen Erlebnisses, etwa der Wahrnehmung eines Katheders in einem Hörsaal, sondern um die des Lebens überhaupt. Dieser Ansatz geht nicht den Weg vom Einfachen zum Komplexen, denn Heidegger betont, „dass wir nicht von einem der Psychologie entlehnten Begriff von ›Erlebnis‹ ausgehen und durch Erlebniszusammensetzung zum Leben weitergehen …“.⁵⁷ Die Überlegungen, die er zu Beginn des Jahres 1919 am Beispiel der Wahrnehmung eines Katheders vorgetragen hatte, werden vielmehr verallgemeinert und im Rahmen einer Theorie des faktischen Lebens entwickelt. Ihre Kontinuität ergibt sich durch das Thema: Das Verhältnis von Ich und Welt, das jetzt durch das Leben begründet wird. Heideggers Interesse an dem Begriff des Lebens ist jedoch nicht nur durch die Entwicklung seines philosophischen Denkens zu erklären, sondern muss auch im Zusammenhang mit seinem Bemühen gesehen werden, die Phänomenologie als „Ursprungswissenschaft“ von zeitgenössischen philosophischen Schulen wie Neu-Kantianismus
Heidegger 1999, S. 3 Heidegger 1999, S. 73; Kisiel 1992, S. 116, betont einseitig den „praktischen Aspekt“ eines solchen Lebens. Heideggger 2010,S. 157 Heidegger 2010, S. 155
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und Lebensphilosophie abzugrenzen.⁵⁸ Auf diesen philosophiehistorischen Kontext werde ich nicht eingehen. Er schreibt: „Das Leben – mein Leben, Dein Leben, Ihr Leben, unser Leben wollen wir in seiner allgemeinsten Typik kennenlernen …“ ⁵⁹ Das Leben, um das es geht, ist demnach ein Leben, auf das sich das Subjekt des Lebens sprachlich durch den Gebrauch des Possessivpronomens der ersten Person beziehen kann. Es ist das Leben von Personen, die über eine Sprache verfügen und sich zu ihrem eigenen Leben verhalten können. Zu diesem Leben haben wir „keine Distanz“, weil „wir es selbst sind, und wir uns selbst nur vom Lebens aus selbst, das wir sind, … in seinen eigenen Richtungen sehen.“⁶⁰ Wenn ich identisch mit meinem Leben bin, dann ist jedes Verhalten, das ich zu meinem Leben einnehme, ein reflexives Verhalten und artikuliert eine Selbst-Beziehung. Wenn weiterhin gilt, dass wir uns „nur vom Leben aus“ zu unserem Leben verhalten können, so wird damit nicht die offenkundige Trivialität zum Ausdruck gebracht, dass sich Tote nicht zu ihrem Leben verhalten können. Das Leben, von dem Heidegger spricht, besagt nicht, dass man „am Leben“ ist, sondern besteht darin, dass man jeweils in einer bestimmten Weise lebt. Sie ist nicht nur eine Bedingung für ein Verhalten zu dem eigenen Leben, sondern ein solches Verhalten gehört auch wesentlich zu der Weise, wie man lebt. Der Begriff des Selbst, der auf solche reflexive Beziehungen verweist, spielt eine konstitutive Rolle für den Begriff des Lebens. Während Heidegger in der Vorlesung im Frühjahr 1919 die These vertritt, dass ich bei der Welt bin, behauptet er im Winter desselben Jahres, dass ich mein Leben bin. Mein Sein bei der Welt ergibt sich nun dadurch, dass „unser Leben die Welt ist, in der wir leben…“⁶¹ Was damit gemeint ist, soll anhand von „lauter Selbstverständlichkeiten“ deutlich gemacht werden.⁶² Betrachten wir die Beispiele, die für das Leben in einer Welt gegeben werden. Einerseits geht es um solche Dinge wie eine Vorlesung hören oder halten, morgens ins Kolleg gehen und nachmittags zu Hause arbeiten. Diese Beispiele sollen deutlich machen, dass „Du, er, sie, wir immer in einer Richtung leben….“⁶³ Es geht um eine motivierte Sequenz von Tätigkeiten und Verhaltensweisen in bestimmten Situationen und um Lebensgewohnheiten, die in solchen Sequenzen zum Ausdruck kommen. Andererseits werden solche Dinge genannt wie Gedichte lesen, Sport treiben, sich politisch engagieren. Heidegger spricht davon, dass „ich mich immer irgendwo ›aufhalte‹.
Heidegger 2010, S. 25; vgl. Heidegger 1994a, S. 80 Heidegger 2010, S. 30 Heidegger 2010, S. 29 Heidegger 2010, S. 34 Heidegger 2010, S. 31 Heidegger 2010, S. 32
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Ich habe einen bestimmten, wenn auch variablen, sich inhaltlich bald weitenden, bald sich verengenden Umkreis von ›Sachen‹, die mein Leben zu einer bestimmten Zeit … ›in Anspruch nehmen‹ …“⁶⁴ Diese Lebenstendenzen sollen eine bestimmte „Erfüllungsform“ haben, die als Selbstgenügsamkeit bezeichnet wird. Sie spielt eine zentrale Rolle in der hier betrachteten Vorlesung, die in der Vorlesung im späteren WS 1920/21 erneut thematisiert wird. Der Begriff der Selbstgenügsamkeit bezieht sich auf einen Charakter des Lebens, auf den man durch eine Betrachtung des „Lebens an sich“ stößt,⁶⁵ auch wenn „das Phänomen der „Selbstgenügsamkeit“ selbst innerhalb des Lebens an sich … nicht gesehen werden kann.“⁶⁶ Denn es handelt sich um einen „Strukturcharakter des Lebens“⁶⁷ oder auch um einen „Grundaspekt des Lebens“;⁶⁸ und der Begriff der Selbstgenügsamkeit gehört zu einer philosophischen Interpretation des Lebens, die im Zusammenhang mit dem Projekt einer Ursprungswissenschaft des Lebens gesehen werden muss. Der Begriff der Selbstgenügsamkeit bezeichnet die „Erfüllungsform des Lebens“.⁶⁹ Dass das Leben eine Erfüllung hat, ergibt sich durch die Richtung, in der es gelebt wird. Diese Richtung ist bei stabilen, konstanten Absichten eine Tendenz des Lebens; und die Form seiner Erfüllung besteht in einer Weise des Lebens, das zu dieser Tendenz passt. Dass das Leben selbstgenügsam ist, besagt, dass es für seine Richtung eine bestimmte Form der Erfüllung seiner stabilen Absichten gibt. Diese Form manifestiert sich in einer bestimmten Weise des Lebens, „innerhalb des Lebens in und durch seine typischen Verlaufsformen.“⁷⁰ Zusätzlich zu der Möglichkeit einer Tendenz des Lebens, begründet in stabilen Absichten, gibt es auch den Fall einer exklusiven Tendenz, wie sie im „wissenschaftlichen, künstlerischen, religiösen, politisch-wirtschaftlichem Leben“ anzutreffen ist.⁷¹ Eine solche Tendenz „drängt nach Reinheit ihrer Ausprägung … und zu einer Ausdehnung ihres Herrschaftsbereichs über das ganze Leben …“⁷² Aber auch die Form der Erfüllung einer solchen Tendenz besteht in einer bestimmten Weise des Lebens und „vollzieht sich im Lebens aus seinen eigenen Formen heraus.“⁷³ Die These, die Form der Erfüllung habe den Charakter
Heidegger 2010, S. 32 Vgl. Heidegger 2010, S. 30 Heidegger 2010, S. 41 Heidegger 2010, S. 42 Heidegger 2010, S. 27; 30 Heidegger 2010, S. 30 Heidegger 2010, S. 41 Heidegger 2010, S. 39; vgl. 41– 42 Heidegger 2010, S. 40 Heidegger 2010, S. 42
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der Selbstgenügsamkeit, soll erstens deutlich machen, „dass das Leben immer in seine Sprache sich anspricht und sich antwortet“, und betont zweitens, dass „das Leben sich nicht aus sich selbst herauszudrehen braucht, um sich selbst seinem Sinne nach zu erhalten …“⁷⁴ Was den ersten Punkt angeht, so weist Heidegger darauf hin, dass es sich um Erfüllung von Absichten handelt, „die immer nur in seinem eigenen Umkreis (scil. des Lebens) verbleiben …“⁷⁵ Es sind also Absichten, die zu einer stabilen Tendenz eines Lebens passen, und dies führt dazu, dass andere Absichten und andere Erfüllungen, die für ein Leben möglich sind, als Lebensweisen nicht in den Blick kommen. Wie Heidegger betont, „sieht man gar nicht …, dass es selbst (scil. Leben) überhaupt noch anders angesprochen werden kann.“⁷⁶ Anders formuliert: Der selbstgenügsame Charakter des Lebens betrifft ein Leben, das zu einer alternativlosen Routine neigt. Im Hinblick auf den zweiten Punkt führt er aus, dass die Erfüllung einer Tendenz des Lebens in diesem Leben selber stattfindet und eine Lebensweise ausmacht. Das Leben „braucht strukturmäßig aus sich nicht heraus …, um seine genuinen Tendenzen zur Erfüllung zu bringen.“⁷⁷ Die stabilen Absichten eines selbstgenügsamen Lebens haben eine Erfüllung, die in einem solchen Leben realisiert wird und nicht in einem ganz anderen Leben, das man sich ausdenken kann. Die Erfüllung stabiler Absichten in einem selbstgenügsamen Leben gehören zu diesem Leben selber und gehen nicht über „die von ihm selbst benötigten Verfügbarkeiten als Möglichkeiten der Erfüllung“ hinaus.⁷⁸ Unter dem Titel Selbstgenügsamkeit diskutiert Heidegger Eigenschaften des Lebens, die in seiner späteren Hermeneutik der Faktizität eine wichtige Rolle spielen und zu seiner Konzeption des verfallenden alltäglichen In-der-Welt-seins führen. Es ist kein Zufall, dass der Terminus Alltäglichkeit zum ersten Male im Zusammenhang mit der „neutralen, grauen, unauffälligen Färbung“ eines selbstgenügsamen Lebens verwendet wird.⁷⁹ Ob diese Eigenschaften wirklich einen „Grundaspekt“ des Lebens zu bestimmen erlauben, kann erst entschieden werden, wenn der Begriff des Lebens in einer Welt genauer expliziert worden ist.
Heidegger 2010, S. 42; vgl. 31 Heidegger 2010, S. 31 Heidegger 2010, S. 31 Heidegger 2010, S. 31 Heidegger 2010, S. 42. Arrien 2014 behauptet: „Avec la notion d‘ autosuffisance de la vie, Heidegger identifie une dimension réflexive non théorique propre à la vie facticielle.“ (159) Richtig ist, dass es sich nicht um eine theoretische „Dimension“ handelt, aber sie ist nicht reflexiv im Sinne von Heidegger. Vgl. Heidegger 2010, S. 39; vgl. Arrien 2014, S. 155 – 156
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Die hier betrachtete Vorlesung unterscheidet zum ersten Mal zwischen einer Um-, Mit- und Selbstwelt, und diese Unterscheidung wird in den folgenden Vorlesungen immer wieder getroffen. In der Vorlesung Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs im SS 1925 wird die Konzeption der Mitwelt als „grundfalsch“ verworfen.⁸⁰ Das hindert Heidegger aber nicht, den Terminus Mitwelt in Sein und Zeit zu verwenden. Der Begriff der Selbstwelt wird allerdings nicht mehr verwendet. In diesen terminologischen Veränderungen zeigt sich eine Entwicklung von Heideggers Überlegungen zum Zusammenhang von Selbst und Welt, deren Motive im Folgenden deutlich gemacht werden sollen. Dazu muss man von der Unterscheidung verschiedener Welten ausgehen, wie sie in der Vorlesung des WS 1919/20 formuliert wird. Diese Unterscheidung ist keine exklusive Disjunktion von Klassen von Entitäten oder Regionen, zu denen sie gehören. Sie ist nicht exklusiv, weil das Leben in einer Welt in einem Leben besteht, bei dem diese Welten sich wechselseitig „durchdringen“;⁸¹ und sie ist keine Unterscheidung von Entitäten, weil diese Welten nicht „drei Bezirke, drei … Wirklichkeitsbereiche“ sind.⁸² Es handelt sich vielmehr um unterschiedliche Gesichtspunkte, unter denen die Weltbezogenheit des Lebens jeweils beschrieben werden kann. In der Vorlesung im SS 1923 schreibt Heidegger daher, dass „im nächsten, alltäglichen Umgang die Umwelt immer auch als Mitwelt und Selbstwelt da ist. Diese Termini grenzen keine Regionen gegeneinander ab, sondern sind bestimmte Weisen des Begegnens von Welt …“⁸³ Der Weg vom Erleben zum Leben führt uns also von der Erfahrung einer Umwelt, exemplifiziert am Beispiel des Sehens eines Katheders, zu der Erfahrung einer komplexen Lebenswelt, in der sich die verschiedenen Welten „durchdringen“.⁸⁴ Dies hat natürlich Folgen für ein Selbstverständnis, das wesentlich ein Verständnis der Welt ist, „bei“ der man „irgendwie“ ist.⁸⁵ Jetzt heißt es: „Unser Leben ist die Welt, in der wir leben …“⁸⁶ Diese Welt ist kein Ort, an dem wir uns aufhalten, sondern bestimmt die Weise, in der wir leben: „Und unser Leben ist nur als Leben, insofern es in einer Welt lebt.“⁸⁷ Leben ist immer Leben in einer Welt, es ist „in sich selbst weltbezogen“;⁸⁸ und eine Welt ist „etwas, worin man leben kann
Heidegger 1994b, S. 333 Heidegger, 2010, S. 39 Heidegger 1994a, S. 102; vgl. Heidegger 2007, S. 173 Heidegger 1995, S. 102; vgl. Heidegger 2004a, S. 31 Heidegger 2010, S. 39 Vgl. Heidegger 1999, S. 73 Heidegger 2010, S. 34 Heidegger 2010, S. 34; vgl. 1963, S. 65 Heidegger 1994a, S. 86
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( in einem Objekt kann man nicht leben).“⁸⁹ Die Begriffe des Lebens und der Welt implizieren sich daher gegenseitig. Daher kann die Welt anhand verschiedener Weisen des Lebens näher bestimmt werden: Das Leben ist ein Leben in einer Um-, Mit- und Selbstwelt. Die Differenzierung des Begriffs der Welt impliziert eine neue Konzeption des Selbst, das sich aus seiner Welt versteht. Insbesondere stellt sich die Frage, wie die Rolle der Selbstwelt innerhalb der komplexen Konzeption von Welt zu bestimmen ist. Wie wir sehen werden, hat Heidegger in der hier betrachteten Vorlesung seine Vorstellungen darüber grundlegend ändert. Eine weitere wichtige Veränderung gegenüber der vorher betrachteten Vorlesung betrifft den Begriff der Bedeutung. Schon in ihr hatte Heidegger betont, dass das „Umweltliche (Katheder, Buch, Tafel …) nicht Sachen mit einem bestimmten Bedeutungscharakter sind, … sondern das Bedeutsame ist das Primäre, gibt sich mir unmittelbar, ohne jeden gedanklichem Umweg über ein Sacherfassen.“⁹⁰ Dies wird jetzt verallgemeinert, und der Begriff der Bedeutsamkeit bestimmt den „Wirklichkeitscharakter des faktischen Lebens“: „Ich lebe faktisch immer bedeutsamkeitsgefangen, und jede Bedeutsamkeit hat ihren Umring von neuen Bedeutsamkeiten: Beschäftigungs-, Beteiligungs-, Verwertungs-, Schicksalshorizonten.“⁹¹ Heidegger hat später eingeräumt, dass ihn „eine gewisse Verlegenheit in der Wahl des rechten Ausdrucks für das komplexe Phänomen, das wir eben mit Bedeutsamkeit benennen wollen“ überkommt: „ … ich gestehe offen, dieser Ausdruck ist nicht der beste, aber ich habe seither, seit Jahren, keinen anderen gefunden …“⁹² Wenn er schon Skrupel bei der Wahl seiner zuweilen abenteuerlichen Termini hatte, dann ist es sicherlich ratsam, sich seine Beispiele genauer anzusehen, etwa: Ich sehe, dass ein Bekannter auf der anderen Straßenseite mich grüßt, und erwidere den Gruß.⁹³ Was ich sehe, ist ein bestimmtes soziales Verhalten, ein Verhalten, das in einer bestimmten Situation die Bedeutung des Grüßens hat. Um dies zu sehen, muss ich nicht Wahrnehmungen der Bewegungen eines lebenden Organismus interpretieren und aufgrund von Hintergrundannahmen erschließen, dass das Verhalten ein Grüßen ist. Dies besagt erstens, dass ich sein Grüßen sehe und nicht etwa durch Interpretation des Verhaltens des Bekannten erschließe, dass er mich grüßt. Zweitens gehört zu einem solchen Sehen unter normalen Bedingungen eine bestimmte Reaktion: Ich grüße zurück. Diese Reaktion ist ein routiniertes Verhalten; sie ist gewöhnlich nicht eine Handlung, die aufgrund des Abwägens von Vor- und Nachteilen oder durch ein
Heidegger 2011, S. 11 Heidegger 1999, S. 72– 73 Heidegger 2010, S. 104– 105 Heidegger 1994b, S. 275 Heidegger 2010, S. 105
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Nachdenken zustande kommt.Wenn ich also einen Bekannten grüßen sehe, dann sehe ich ein bestimmtes soziales Verhalten und verhalte mich selber in dieser Situation entsprechend. Sein Grüßen hat diese „bestimmte Bedeutsamkeit für mich in dieser Situation.“⁹⁴ Dass mein Leben „bedeutsamkeitsgefangen“ ist, besagt im Lichte des Beispiels, dass das, was mir begegnet, oder was ich erfahre, mir unter normalen Umständen ohne Reflexion, Interpretation oder theoretische Erkenntnis, also unmittelbar verständlich ist, und dass es wiederum unter normalen Umständen ein situationsgerechtes Verhalten meinerseits zu dem gibt, was mir begegnet. Diese Bedeutsamkeit ist nicht beschränkt auf das Sehen des Grüßens eines Bekannten, sondern betrifft einen Zusammenhang von Bedeutsamkeiten: Der Bekannte an diesem Ort und zu dieser Zeit und in dieser Gesellschaft – all dies und vieles andere kann mir mehr oder weniger verständlich sein und spezifische Reaktionen meinerseits auslösen. Daher schreibt Heidegger: „Ich lebe im Faktischen als einem ganz besonderen Zusammenhang von Bedeutsamkeiten, d. h. jede Bedeutsamkeit ist Bedeutsamkeit für und in einem Tendenz- und Erwartungszusammenhang, der immer neu sich im faktischen Leben bildet …“⁹⁵ Es sind aber nicht nur die Inhalte meiner Lebenserfahrungen, die sich zu einem Zusammenhang von Bedeutsamkeiten verbinden; es sind auch diese Lebenserfahrungen selber, die sich zu einem Netz von „aktuell erfahrenen, erinnerten oder erwarteten Bedeutsamkeiten“ zusammenschließen.⁹⁶ Sowohl der in den Inhalten begründete Zusammenhang von Bedeutsamkeiten als auch das diachrone Netz ihrer Erfahrungen konstituieren unser Leben und begründen, dass dasjenige, was wir jeweils erfahren, „anspricht, aber in einer Weise, die uns immer irgendwie vertraut ist.“⁹⁷ Auf den Einwand, dass es doch so etwas wie „das Zu-fällige im Leben, das Überraschende, Neue“ gibt, antwortet Heidegger mit dem Hinweis, dass solche Erfahrungen nur jeweils relativ zu einem gegebenen Zusammenhang von Bedeutsamkeiten und Erwartungen gedacht werden können.⁹⁸ Sie haben den Charakter des gestörten, des „gehemmten, unmittelbar zurückgeworfenen Vertrautseins“.⁹⁹ Die Erfahrung von Neuem oder Fremdartigem ist eine defizitäre Form des Erfassens von Bedeutsamen. Das Vertrautsein des Erfahrenen und der Erfahrungen ist der Hintergrund, auf dem Überraschungen erst als Überraschungen, Befremdliches erst als Befremdliches
Heidegger 2010, S. 105 Heidegger 2010, S. 105 Heidegger 2010, S. 106 Heidegger 2010, S. 157 Heidegger 2010, S. 108 Heidegger 2010, S. 158
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bemerkt werden können. Demnach ist das Bedeutsame von dem, was ich erfahre, entweder vertraut oder nur auf dem Hintergrund dessen, was mir vertraut ist, zugänglich. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte man darauf hinweisen, dass Heidegger seine Überlegungen nicht als eine „entwicklungsgeschichtliche Betrachtung“ verstanden wissen will.¹⁰⁰ Es geht ihm nicht darum, zu erklären, „wie überhaupt im kindlichen Seelenleben Umwelterfahrung und Selbstwelterfahrung entstehen“.¹⁰¹ Anders formuliert: Er beschreibt das Leben und die Erfahrung von Personen, die immer schon ein Leben gelebt und Erfahrungen gemacht haben. Die Explikation des Begriffs der Bedeutsamkeit führt zu einem dritten konstitutiven Merkmal von Heideggers Konzeption der Lebenserfahrung in der hier betrachteten Vorlesung. Der Begriff der Selbst-Welt kommt in ihr zum ersten Mal vor und spielt eine zentrale Rolle in seinen Überlegungen zur Möglichkeit einer Ursprungswissenschaft des Lebens. Was für uns bedeutsam ist, ist uns irgendwie vertraut oder verständlich. Wenn unsere Lebenserfahrung sich im Bereich des Bedeutsamen bewegt, dann ist das, was wir erfahren, vertraut oder verständlich. Aber darüber hinaus soll dieses Vertrautsein auch reflexiv sein: „Es gilt, diesen im Erfahren selbst liegenden Charakter des Vertrautseins mit „mir“ zu sehen.“¹⁰² Welche Gründe gibt es für diese Sichtweise? Ihr zur Folge impliziert das Vertrautsein des Erfahrenen, dass „es auch immer irgendwie angeht, dass ich dabei bin. Ich habe mich dabei selbst irgendwie.“¹⁰³ Aber wie? Was vertraut ist, ist jemandem vertraut. Schon in der früheren Vorlesung hatte er darauf hingewiesen, dass die Bedeutsamkeit des Erfahrenen bei verschiedenen Personen verschieden sein kann.¹⁰⁴ Aber das Vertrautsein ist nicht nur relativ zu einer Person oder einer Gruppe von Personen zu bestimmen, sondern es hat auch eine spezifische Modalität: „Alles im Leben Begegnende begegnet „irgendwie“. Dieses Irgendwie ist meist nicht selbst das, dem das Leben begegnet im Fluß seiner Tendenzen, sondern es begegnet im „Irgendwie“.“¹⁰⁵ Als Beispiel nennt Heidegger „Menschen, die eine starke Empfänglichkeit für das Komische haben … Sie sehen die Um- und Mitwelt im Irgendwie des Komischen …“¹⁰⁶ Es handelt sich um eine habituelle, selbstverständliche Sichtweise, nicht um eine bewusste Interpretation oder um ein theoretisches Entdecken. Aber wie kann man dies auf
Heidegger 2010, S. 95 Heidegger 2010, S. 95 Heidegger 2010, S. 157; vgl. S. 251 Heidegger 2010, S. 157 Vgl. Heidegger 1999, S. 71– 72 Heidegger 2010, S. 54 Heidegger 2010, S. 54
1.1 Das Selbst der faktischen Lebenserfahrung
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das Vertrautsein der Lebenserfahrung insgesamt übertragen? Dazu wird der Begriff der Situation eingeführt: „Die Begegnisse der Lebenswelt begegnen immer einer Situation des Selbst. … Diese labile, fließende Zuständlichkeit der Selbstwelt bestimmt als Situationscharakter immer das „Irgendwie“ der Lebenswelt.“¹⁰⁷ Die Lebenswelt ist eine Welt, die von jemandem gelebt wird; und das, was erfahren wird, wird von jemandem erfahren. Dieser Bezug auf ein Subjekt ist die begriffliche Voraussetzung für eine Bestimmung des Irgendwie des Erfahrenen, die mit Rekurs auf dessen spezifische Reaktionen gegeben wird. Sie können darin bestehen, dass man dabei „abgestoßen, entzückt, angewidert“ ist, oder auch dass man das Erfahrene als „wertvoll, gleichgültig, überraschend, nichtssagend“ ansieht.¹⁰⁸ Die Reaktionen können emotionaler oder kognitiver Art sein oder auch eine bunte Mischung von beidem sein. Es handelt sich um Einstellungen erster Stufe zu dem, was erfahren wird, aber es werden auch Einstellungen zweiter Stufe erwähnt – etwa, wenn ich bei einer Wanderung durch den herbstlichen Wald darüber „froh bin, dass ich mich freuen kann“.¹⁰⁹ Für Heidegger sollen diese Beispiele deutlich machen, dass „die Selbstwelt in die erfahrbare Umwelt gehörend erfahren wird.“¹¹⁰ Dies soll in gleicher Weise für die Erfahrung einer Mitwelt gelten, in der „ich selbst verschwimme“.¹¹¹ Er spricht daher auch von einem „unmittelbar erfahrbaren, von der Selbstwelt her betonten Charakter der Um- und Mitwelt.“¹¹² Die Selbstwelt, die zu einer Um- und Mitwelt „gehört“ oder deren „Charakter“ bestimmt – lässt sich auf diese Weise begründen, dass das Vertrautsein des Erfahrenen den „Charakter des Vertrautseins mit „mir“ …„ besitzt?¹¹³ Es geht um eine Erfahrung der Lebenswelt; und diese Erfahrung ist gleichursprünglich die Erfahrung eines Lebens in einer Um-, Mit- und Selbstwelt.¹¹⁴ Das Vertrautsein dessen, was wir erfahren, soll besagen, dass dieses „auch immer irgendwie angeht“.¹¹⁵ Dies ist deswegen so, weil jede Erfahrung an eine „Situation der Selbstwelt“ gebunden ist; und dies besagt nicht nur, dass es zu jeder Erfahrung jemanden gibt, der etwas erfährt, sondern impliziert auch spezifische Reaktionen des Subjekts der Erfahrung auf das, was es erfährt. Sie sind Bestandteile seiner Selbstwelt, und in ihnen zeigt sich, dass und wie das Erfahrene „angeht“.
Heidegger 2010, S. 62 Heidegger 2010, S. 96 Heidegger 2010, S. 96 Heidegger 2010, S. 96 Heidegger 2010, S. 97 Heidegger 2010, S. 60 Heidegger 2010, S. 157 Heidegger 2010, S. 62; vgl. auch Arrien 2014, S. 167 Heidegger 2010, S. 157
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1 Das Selbst des faktischen Lebens
Die Abhängigkeit der Lebenserfahrung von einer Situation der Selbstwelt begründet daher, dass die Selbstwelt zu der erfahrenen Um- und Mitwelt „gehört“ oder diesen einen bestimmten „Charakter“ gibt. Das Vertrautsein solcher Erfahrungen ist daher immer auch ein „Vertrautsein mit mir“ als dem Subjekt der Erfahrung. Diese These bedeutet, negativ formuliert, dass die Erfahrung einer Selbstwelt nicht die Erfahrung einer Welt ist, die von einer Mit- und Umwelt verschieden ist. Insbesondere muss die Erfahrung einer Selbstwelt nicht in reflexiven Einstellungen zweiter Stufe bestehen. Positiv formuliert besagt die These, dass jede Erfahrung immer auch eine Selbsterfahrung ist, und dass die Vertrautheit dessen, was erfahren wird, immer auch eine Vertrautheit mit sich selber ist. Die bisher betrachtete Explikation des Begriffs des Lebens soll das Projekt einer Ursprungswissenschaft vom Leben auf den Weg bringen; und dieses Projekt verlangt eine „Ursprungsbetrachtung des Lebens“, die ein „Ursprungsgebiet“ thematisieren soll.¹¹⁶ Weshalb ist diese Betrachtung auf die Annahme eines solchen Gebiets festgelegt? Wie ist die Annahme überhaupt zu verstehen? Heidegger betont, dass eine Ursprungswissenschaft vom Leben sich nicht mit dem „faktischen Leben selbst und der unendlichen Fülle der in ihm gelebten Welten“ beschäftigt.¹¹⁷ Ihre Aufgabe ist es vielmehr, „das Leben als entspringend, als aus einem Ursprung hervorgehend“ zu thematisieren.¹¹⁸ Dass damit nicht eine genetische Darstellung des Lebens gemeint ist, ergibt sich daraus, dass er ausdrücklich betont, der Ursprung sei allein durch eine „urwissenschaftliche Methode“, wie sie die Phänomenologie bereitstellt, zugänglich.¹¹⁹ Der Begriff des Ursprungs muss also von Heideggers Auffassung der Phänomenologie her verstanden werden. Ich werde darauf später eingehen und begnüge mich hier mit dem Hinweis, dass für ihn der Ursprung des Lebens etwas ist, „in dem das Leben irgendwie zentriert ist.“¹²⁰ In der hier betrachteten Vorlesung geht das Projekt einer Ursprungswissenschaft vom Leben von der Annahme aus, dass das Leben „in einer Selbstwelt zentriert ist“;¹²¹ und die beiden Konzeptionen einer solchen Wissenschaft, die sich in der Vorlesung finden, unterscheiden sich dadurch, dass sie die Rolle der Selbstwelt auf verschiedene Weise bestimmen. Während er im ersten Teil der Vorlesung die Auffassung vertritt, die Lebenswelt sei auf die Selbstwelt „zugespitzt“, und die Annahme diskutiert, die
Heidegger 2010, S. 64 Heidegger 2010, S. 81– 82 Heidegger 2010, S. 81 Heidegger 2010, S. 26 heidegger 2010, S. 178 Heidegger 2010, S. 63; vgl. S. 85
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Selbstwelt werde durch die Psychologie wissenschaftlich erforscht, lehnt er diese Thesen in dem zweiten Teil ab und begründet die besondere Stellung der Selbstwelt durch eine neue Konzeption des Selbst, das als Korrelat eines Sichselbsthabens gedacht wird. Beide Theorien kommen darin überein, dass die Selbstwelt eine zentrale Stellung innerhalb der Lebenswelt einnimmt; sie unterscheiden sich durch die Begründungen dieser Auszeichnung. Die erste findet sich in dem ausgearbeiteten Vorlesungsmanuskript, das mit der Vorlesung am 12. Dezember 1919 abbricht, während die zweite in den als Anhang A publizierten Aufzeichnungen für den weiteren Verlauf der Vorlesung, die am 27. Januar 1920 beendet wurde, vertreten wird.¹²² Dieser Anhang enthält auch ein Loses Blatt, das eine grundlegende Kritik an der ersten Begründung enthält.¹²³ Der Herausgeber spricht von „losen Blättern aus dem Umkreis der Vorlesung“,¹²⁴ so dass nicht klar ist, ob Heidegger diese Kritik in der Vorlesung auch vorgetragen hat.Wie dem auch sei, es ist wichtig zu betonen, dass er bereits im Laufe derselben Vorlesung zu einer anderen Begründung der besonderen Rolle der Selbstwelt kommt. Wie wir sehen werden, entwickelt sie in aller Deutlichkeit eine neue Konzeption des Selbst, die jedoch in der folgenden Vorlesung wiederum verändert wird. Man kann aus diesen Änderungen entnehmen, dass die Konzeption des Selbst ein zentrales, wenn nicht das zentrale Thema von Heideggers frühen Überlegungen ist. Die Einteilung der Lebenswelt in Umwelt, Mitwelt und Selbstwelt liest sich wie eine Einteilung dessen, worauf ein Leben in einer Welt jeweils und ständig bezogen ist. Dies gilt sicherlich für die Umwelt und die Mitwelt, während die Selbstwelt dadurch ausgezeichnet sein soll, dass das faktische Leben und seine Welt in einer Selbstwelt „zentriert“ sind.¹²⁵ Diese Auszeichnung kann nicht dadurch begründet werden, dass die Lebenswelt zu einem Leben von Wesen gehört, die ihr Leben im Deutschen als mein Leben bezeichnen können, und dass daher die Lebenswelt eine Selbstwelt enthalten muss. Eine Umwelt und eine Mitwelt sind zwar nicht denkbar ohne eine Selbstwelt, aber es kann auch keine Selbstwelt ohne eine Umwelt und eine Mitwelt geben. Diese Welten bedingen sich wechselseitig, so dass eine Auszeichnung der Selbstwelt nicht darauf beruhen kann, dass nur sie als eine notwendige Bedingung jeder anderen Welt fungiert.¹²⁶ Dass
Vgl. Heidegger 2010, S. 266 Heidegger 2010, S. 197– 199. Arrien 2014, S. 166, berücksichtigt diese Kritik nicht. Heidegger 2010, S. 182 Heidegger 2010, S. 63 Cimino 2013 , S. 158 bezeichnet die Selbstwelt als „das eigentliche Zentrum des jeweiligen Selbst- und Welterfahrungszusammenhangs“, aber dieser Zusammenhang kann doch nichts anderes sein als die Lebenserfahrung, deren Weltbezug gleichursprünglich als Um-, Mit- und
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die Lebenswelt in der Selbstwelt „zentriert“ ist, soll besagen, dass es eine „Zugespitztheit des faktischen Lebens auf die Selbstwelt“ gibt.¹²⁷ In einer Beilage zu dem Vorlesungsmanuskript findet sich die folgende Bemerkung: „Zugespitztheit des faktischen Lebens auf die Selbstwelt faktisch feststellbar in ganz einfachen Zusammenhängen, z. B. 1. Wechsel der Stellung im umweltlichen Raum; 2. Umwelt und Mitwelt je nach Stimmung – “Aufgelegtsein“ …„¹²⁸ Diese Beispiele belegen jedoch nicht das, was Heidegger zeigen will. Dass eine Veränderung meines Standorts zu einer Veränderung dessen, was und wie etwas für mich erfahren wird, führen kann, zeigt nur, dass mir keine Umwelt ohne eine Selbstwelt zugänglich ist. Aber ich kann auch keinen Standort einnehmen, ohne dass ich mich in einer Umwelt befinde. Das Beispiel zeigt daher nicht, dass meine Umwelt irgendwie auf meine Selbstwelt „zugespitzt“ ist. Und auch das Beispiel einer von Stimmung geprägten Erfahrung von Umwelt und Mitwelt begründet eine solche Auszeichnung nicht, denn meine Stimmung ist auch von meiner Umwelt und Mitwelt bestimmt. Wie lässt sie sich dann begründen? Heidegger versucht, die These von der Zugespitztheit durch den Begriff der Situation zu begründen: „Und die Lebenswelt, die Umwelt, Mit – und Selbstwelt ist gelebt in einer Situation des Selbst. Die Begegnisse der Lebenswelt begegnen immer einer Situation des Selbst … Diese labile, fließende Zuständlichkeit der Selbstwelt bestimmt als Situationscharakter immer das „Irgendwie“ der Lebenswelt.“¹²⁹ Dass es zu jeder Lebenswelt eine Situation des Selbst gehört, besagt zuerst einmal nur, dass es für jede Lebenswelt eine Selbstwelt desjenigen gibt, der in dieser Welt lebt. Die Selbstwelt als eine notwendige Bedingung der Lebenswelt begründet jedoch keine besondere Stellung im Vergleich zur Mit – und Umwelt und kann daher nicht die These von der Zugespitztheit erklären, insbesondere dann nicht, wenn diese These mit Rekurs auf psychologische Qualitäten unserer Erfahrung als „das „ Irgendwie“ der Lebenswelt“ expliziert wird. Heidegger stellt einen Zusammenhang zwischen der Selbstgenügsamkeit des Lebens und der „Zugespitztheit auf die Selbstwelt“ her, durch den „ein unmittelbar erfahrbarer, von der Selbstwelt her betonter Charakter der Um- und Mitwelt sich ergibt.“¹³⁰ Die Auszeichnung der Selbstwelt soll also nicht dem wechselsei-
Selbstwelt bestimmt wird. Heidegger 2016, S. 42, sagt daher, dass „wir in unmittelbarer Durchdringung Um-, Mit- und Selbstweltliches erfahren …“ Es wird von Cimino nicht erklärt, wie eine solche Erfahrung ein Zentrum in der Selbstwelt haben kann. Heidegger 2010, S. 59; 63 Heidegger 2010, S. 172; vgl. 206 – 207 Heidegger 2010, S. 62 Heidegger 2010, S. 60. Die von Cimino 2013 vertretene Auffassung, Heidegger entwickle so etwas wie eine „performative Phänomenologie des faktischen Lebens“ (95 – 130), hat eine gewisse
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tigen Bedingungsverhältnis der verschiedenen Welten widersprechen und besteht darin, dass Um- und Mitwelt durch oder im Hinblick auf die Selbstwelt „betont“ sind. Er spricht von einer „funktionalen Betontheit der Selbstwelt“, die aber, wie in einer Anmerkung hervorgehoben wird, nicht „in einer besonderen und ständigen Beachtung“, sondern „in dem weltwärts gerichteten Vollzug des Lebens“ begründet ist.¹³¹ Dieses Leben ist, wie Heidegger sagt, „mein Leben, Dein Leben, Ihr Leben, unser Leben“,¹³² und entsprechend sind die Um- und Mitwelt, in der ich jeweils lebe und die ich jeweils erfahre, nicht nur meine Um- und meine Mitwelt, sondern ebenso die Welten von Anderen. Ob die Möglichkeit des auf die Welt bezogenen Vollzugs des Lebens eine funktionale Betontheit der Selbstwelt verständlich macht, lässt sich vielleicht durch die Betrachtung der Beispiele ermitteln, bei denen sie „gleichsam ›in die Augen‹“ springen soll.¹³³ Heidegger verweist auf die literarische Gattung der Autobiographie, bei denen „die inneren Erfahrungen“ eine zentrale Rolle spielen.¹³⁴ Es handelt sich nicht um „wissenschaftliche Ausdrucksformen der Selbstwelt“, aber solche Texte basieren auf „dem eigenen Leben und seinen Erfahrungen“ und sind ein „geeignetes Feld für Selbsttäuschungen“.¹³⁵ Weiterhin betont er die historische Bedeutung des Christentums, das zu einer „Verlegung des Schwerpunkts des faktischen Lebens und der Lebenswelt in die Selbstwelt und die Welt der inneren Erfahrungen“ führte.¹³⁶ Daher können wir bei Augustin, der mittelalterlichen Mystik und Luther eine „neue Stellung der Selbstwelt“ erkennen.¹³⁷ Sie ist nicht nur neu, sondern soll auch eine „eigentliche Stellung des Selbst zu seiner Welt“ zum Ausdruck
Ähnlichkeit mit der Position, die sich durch die These von der „Zugespitztheit auf die Selbstwelt“ charakterisieren lässt. Denn der Begriff des Performativen, der nach seiner Meinung eine Gemeinsamkeit von Austin und Heidegger zu denken erlaubt (vgl. 79 – 86), wird ständig mit dem Begriff der „Ersten-Person-Perspektive“ in Verbindung gebracht (vgl. 86, 145, u. ö.). Dieser Begriff, den weder Heidegger noch Austin kennen, und der auch von Cimino nicht näher erläutert wird, dient gewöhnlich dazu, auf Besonderheiten von Selbstverhältnissen aufmerksam zu machen, die bei der „Zweiten-“ oder „Dritten-Person-Perspektive“ gerade nicht gegeben sind. Heideggers Analyse der faktischen Lebenserfahrung in seinen unterschiedlichen Weltbezügen diskutiert allerdings kaum Phänomene, für die eine Unterscheidung solcher Perspektiven relevant ist. Heidegger 2010, S. 60, Anm. 2; Hogemann 1986/7, S. 60, versteht die funktionale Betontheit der Selbstwelt als eine „funktionale Abhängigkeit“ der Mit- und Umwelt von der Selbstwelt; er erläutert aber nicht, worin diese Abhängigkeit bestehen soll. Heidegger 2010, S. 30 Heidegger 2010, S. 60 Heidegger 2010, S. 56 – 57 Heidegger 2010, S. 57 Heidegger 2010, S. 61; vgl. Cimino 2013, S. 159 Heidegger 2010, S. 62
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bringen.¹³⁸ Die funktionale Betontheit der Selbstwelt scheint auf die Annahme einer besonderen Rolle der „Welt der inneren Erfahrungen“ hinauszulaufen; und in dieselbe Richtung weist ja auch der früher besprochene „Wiegehalt“ unserer Lebenserfahrung.¹³⁹ Heidegger schreibt: „Sofern die Selbstwelt eine Betonung hat im Leben (Zugespitztheit seiner auf Selbstwelt), ist es verständlich, dass die Wissenschaft von ihr, die Psychologie, selbst innerhalb des Bereichs der Wissenschaften eine ausgezeichnete Bedeutung hat und immer wieder beansprucht.“¹⁴⁰ Die Psychologie wird verstanden als „theoretisch-wissenschaftlicher Ausdruck der Selbstwelt“.¹⁴¹ Dies hat anscheinend bei seinen Hörern zu „Missverständnissen“ geführt,¹⁴² so dass er in der folgenden Vorlesung von einer „bequemen Namengebung für einen noch nicht scharf umgrenzten Problemkreis“ spricht.¹⁴³ Dieses terminologische Abwiegeln wird jedoch dem engen Zusammenhang zwischen Psychologie und Selbstwelt, die Heidegger in dem ersten Teil der hier betrachteten Vorlesung annimmt, nicht gerecht. Denn die Psychologie wird als eine Wissenschaft vom „Menschen selbst, der das Leben lebt“, bezeichnet¹⁴⁴ und soll eine „Wissenschaft von der Selbstwelt, dem Seelischen oder den geistigen Vorgängen“ sein.¹⁴⁵ Dass die Selbstwelt „eine Betonung hat im Leben (Zugespitztheit seiner auf die Lebenswelt)“, soll die „ausgezeichnete Bedeutung“ der Psychologie für die anderen Wissenschaften verständlich machen.¹⁴⁶ Die Selbstwelt besteht demnach in dem, was auch Thema der Psychologie ist; und die These von der Zugespitztheit des faktischen Lebens auf die Selbstwelt besagt, dass dieses Leben im „Seelischen“ fundiert ist. Auch wenn „die erkenntnismäßige Bemächtigung der Selbstwelt“ in der Psychologie durch „die Gewinnung der genuinen Grunderfahrung der Selbstwelt“ korrigiert¹⁴⁷ oder überwunden werden soll,¹⁴⁸ so geht es doch bei diesem Projekt darum, eine Theorie des „seelischen Lebens“ zu entwickeln, welche zwar eine „Vergegen-
Heidegger 2010, S. 62 Vgl. Heidegger 2010, S. 84– 85 Heidegger 2010, S. 87 Heidegger 2010, S. 95; vgl. 2016, S. 31– 33 Vgl. Heidegger 2010, S. 97 Heidegger 2020, S. 98 Heidegger 2010, S. 35 Heidegger 2010, S. 88 Heidegger 2010, S. 87 Heidegger 2010, S. 89 Heidegger 2010, S. 95
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ständlichung“ der „psychologischen Forschung“ vermeidet,¹⁴⁹ aber doch das Selbst vorrangig als ein Subjekt psychischer Zustände und Ereignisse versteht. Die Grunderfahrung der Selbstwelt soll „eine Erfahrung der Selbstwelt … in ihrer Abgehobenheit“ thematisieren.¹⁵⁰ Sie ist in einem doppelten Sinne „abgehoben“: Da die „volle Lebenserfahrung“ immer ein Zusammenspiel von Erfahrungen der Mit-, Um- und Selbstwelt ist, isoliert die Betrachtung der Erfahrung der Selbstwelt ein Moment dieser Lebenserfahrung und abstrahiert von ihren anderen Momenten.¹⁵¹ Dabei geht es nicht darum, die genetische Frage nach dem Entstehen von Selbstwelterfahrungen „etwa im kindlichen Seelenleben oder gar in der phylogenetischen Stammesentwicklung“ zu beantworten.¹⁵² Denn die Psychologie ist keine evolutionäre Biologie. Aber schon diese Abgrenzung verweist auf eine Affinität und macht die psychologische Orientierung von Heideggers Frage nach der Erfahrung der Selbstwelt deutlich. Diese Erfahrung soll aber auch noch in einem anderen Sinn „abgehoben“ sein. Denn „mein Selbst steht unabgehoben im durchgehenden Charakter des faktisch gelebten Bedeutungszusammenhangs. Kenntnisnehmend solche Erfahrungen und erzählend werden nicht psychische Vorgänge oder so etwas als Geschehenszusammenhänge der objektiven Zeit gegenständlich, sondern ich erfahre mein Selbst nur in und durch seine Leistungen und Schicksale …“¹⁵³ Bei der Selbstwelterfahrung geht es darum, wie wir uns selber erfahren; und sie betrifft nicht nur „psychische Vorgänge“, sondern auch und vor allem „Leistungen und Schicksale“. Diese lassen sich aber nur bestimmen, indem man das Zusammenspiel der verschiedenen Welten berücksichtigt. In einer „Ergänzung“ zur Vorlesung bemerkt Heidegger: „Ich erfahre mich selbst immer nur in und durch meine Leistung – genauer durch das von mir Geleistete, was in die Bedeutsamkeit des Lebens eingeht. Ich lebe in meinen Leistungen … „Ich“ bin weder in der Weise einer Region noch in der Zugänglichkeit des Erfahrens abgehoben.“¹⁵⁴ Wenn ich in meinen Leistungen lebe, und wenn diese nur im Kontext einer Um- und Mitwelt verstanden werden können, dann ist das Bemühen um die Erfahrung einer Selbstwelt „in ihrer Abgehobenheit“ zum Scheitern verurteilt. Denn eine isolierte Betrachtung dieser Selbstwelt verlangt, dass meine Leistungen „im Als meiner ausdrücklichen Leistungen … zur
Heidegger 2010, S. 151; zur Psychologie vgl. auch Heideggers Vortrag Über Psychologie im April 1920 (Heidegger 2016, S. 15 – 54) Heidegger 2010, S. 101 Vgl. Heidegger 2010, S. 101– 102 Heidegger 2010, S. 102; vgl. 95 Heidegger 2010, S. 114; vgl. 2016, S. 41– 43 Heidegger 2010, S. 221
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Kenntnis genommen werden.“¹⁵⁵ Eine solche Kenntnisnahme könnte darin bestehen, dass meine Selbsterfahrung eine Erfahrung der Erfahrung meiner Leistungen ist und somit als eine Erfahrung von einem „psychischen Vorgang“ verstanden wird. Aber meine Selbsterfahrung ist eine Erfahrung von meinen Leistungen und Widerfahrnissen und muss nicht eine Erfahrung meiner Erfahrungen solcher Dinge sein.Weil die Erfahrung der Selbstwelt in doppelter Weise in dem erläuterten Sinne „abgehoben“ sein soll, wird sie nicht der Rolle gerecht, die dieser Welt im Rahmen einer Theorie des faktischen Lebens, das wesentlich in dem Zusammenspiel von Selbst-, Mit- und Umwelt besteht, zukommt. Die von Heidegger im ersten Teil seiner Vorlesung im WS 1919/20 entwickelte Konzeption der Selbstwelt dient dazu, das Projekt einer Ursprungswissenschaft vom Leben zu realisieren. Auch wenn die Konzeption die Vorstellung verabschiedet, die Psychologie sei „die Wissenschaft von der Selbstwelt“, so ist doch seine These von „der funktionalen Betontheit der Selbstwelt“, die mit einem Hinweis auf das „Christentum als historisches Paradigma“ erklärt wird,¹⁵⁶ letztlich eine psychologische These, die die besondere Bedeutung des eigenen Mentalen hervorhebt, und bleibt so hinter den Möglichkeiten zurück, die seine Theorie des Lebens in einer Welt eröffnet. Dies zeigen seine Überlegungen zur Selbstwelt, die in dem zweiten Teil der Vorlesung entwickelt werden. Auch sie knüpfen an das Phänomen der Selbstgenügsamkeit des Lebens an und beschäftigen sich mit dem „vollen Phänomen des Selbstweltlebens“.¹⁵⁷ Aber dieses Leben wird nicht mehr psychologisch verstanden, wie schon der Hinweis „der Weg über die Selbstwelt besagt nicht über Psychologie“ deutlich macht.¹⁵⁸ Das war für seine damaligen Hörer ein deutliches Signal: Er hatte ihre Verständnisschwierigkeiten ernst genommen. In der späteren Vorlesung im WS 1921/22 betont daher Heidegger, dass „selbstweltliche Erfahrung … nichts zu tun hat mit psychologischer und gar theoretisch-psychologischer Reflexion, innerer Wahrnehmung von seelischen Erlebnissen, Vorgängen und Akten.“¹⁵⁹ Wie lässt sich diese Erfahrung positiv bestimmen? Er geht wieder von dem faktischen Leben und seiner Welt aus und will auf dem „Weg über die Selbstwelt“ klären, „wie Leben erfahren wird“.¹⁶⁰ Er schreibt: „In der faktischen Lebenserfahrung leben wir in eine Welt hinein. … Ich lebe in
Heidegger 2010, S. 114 Heidegger 2010, S. 61 Heidegger 2010, S. 161 Heidegger 2010, S. 156; vgl. S. 248. Es ist merkwürdig, dass diese implizite Selbstkritik von vielen Interpreten nicht bemerkt wird. Heidegger 1994a, S. 95 Heidegger 2010, S. 156
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Bedeutsamkeitszusammenhängen selbstgenügsamen Ausmaßes; das Erfahrene spricht an, aber in einer Weise, die uns irgendwie vertraut ist. Es ist selbst so, dass es auch immer irgendwie angeht, dass ich dabei bin. Ich habe mich selbst dabei irgendwie.“¹⁶¹ Das Dabei-sein charakterisierte in der früheren Vorlesung die Weise, wie ich in der Wahrnehmung des Katheders präsent bin. Diese Präsenz wird nun auf die Lebenserfahrung insgesamt übertragen, und der „im Erfahrenen selbst liegende Charakter des Vertrautseins mit „mir“„ wird als ein „Michselbsthaben“ bestimmt. Mein Leben ist immer ein Leben in einer Welt; und meine Welt ist immer eine von mir gelebte Welt. Diese Welt besteht in Dingen und Sachverhalten, die für mich eine Bedeutung haben. Sie sind mir „verständlich“, ich kann damit umgehen; und auch das „Fremdartige, Neue“ lässt sich nur auf dem Hintergrund des Verständlichen erfassen. Während vorher das Vertrautsein mit mir in dem „Welthaften“ des Wahrgenommenen begründet war, wird es jetzt auf das, was immer ich in meinem Leben erfahre, übertragen. Der für mein Leben konstitutive Bezug zur Welt wird in der neuen Konzeption des „Michselbsthabens“ festgehalten und allgemeiner bestimmt. Der zweite Teil der hier betrachteten Vorlesung schließt also thematisch an die erste Vorlesung Heideggers an und zeigt trotz der unterschiedlichen Beurteilung der Bedeutung der Psychologie die Kontinuität seines Denkens in den Jahren 1919 und 1920. Im Folgenden soll zuerst diese Konzeption genauer betrachtet, und dann die Konsequenzen diskutiert werden, die sich für die Beziehungen zwischen Selbst-, Mit-, und Umwelt ergeben. Das Sichselbsthaben bestimmt die Form jeder Selbstwelt und wird nun die Grundlage für ihre Auszeichnung gegenüber der Mit- und Umwelt, welche sich signifikant von ihrer psychologisch bestimmten Priorität im ersten Teil der Vorlesung unterscheidet. Heidegger weist auf die traditionelle Bewusstseinsphilosophie und Erkenntnistheorie hin, die ein „Surrogat“ des Phänomens des Sichselbsthabens in der Form der These jedes Bewusstsein von etwas ist zugleich ein Bewusstsein seiner selbst thematisieren, und macht dadurch deutlich, dass seine Konzeption des Sichselbsthabens an die Stelle der traditionellen Idee des Selbstbewusstseins treten soll, wobei sowohl auf die thematische Beschränkung auf das eigene Mentale als auch auf die einseitige Konzentration auf das Subjekt des Bewusstseins verzichtet wird.¹⁶² Dies wird am Beispiel des Erinnerns als einer Weise des Sichselbsthabens deutlich gemacht. Heidegger hebt erstens hervor, dass dasjenige, woran man sich erinnert, „eine lebensmäßige Distanz zum aktuellen Erinnern hat.“¹⁶³ Diese Distanz besteht in
Heidegger 2010, S. 157 Heidegger 2010, S. 158; vgl. S. 185 – 186 Heidegger 2010, S. 158
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dem zeitlichen Abstand zwischen dem Erinnern und dem, woran man sich erinnert, und zwar in der Weise, dass das Letztere die frühere Phase einer kontinuierlichen Lebensgeschichte ist, die das Erinnerte mit dem Erinnern verbindet. Denn „ich finde mich in dem Erinnerten selbst irgendwie vor …“¹⁶⁴ Es geht also nicht um eine Erinnerung von der Art, dass Hannibal mit seinen Elefanten die Alpen überschritten hat – eine Erinnerung, die heute auch als „semantische Erinnerung“ bezeichnet wird -, sondern um eine „episodische Erinnerung“, um eine Erinnerung an etwas. Um mich daran zu erinnern, muss ich dabei gewesen sein oder zumindest glauben, dass es sich so verhalten hat. Zweitens behauptet Heidegger, dass mir das Erinnerte irgendwie „verständlich“ ist: „Im Erinnerten erfahre ich ein Fragment der Verständlichkeit meiner selbst.“¹⁶⁵ Was ist damit gemeint? Ohne Zweifel besteht die Möglichkeit, dass ich jetzt mein früheres Verhalten „absolut unverständlich“ finde und keine Erklärung für es habe.¹⁶⁶ Ich kann es kritisieren und mich von ihm distanzieren. Heidegger schreibt, dass „die erinnerten Begegnisse sich selbst als angenehm oder unangenehm, bereichernd, hemmend geben …“¹⁶⁷ Indem ich das Erinnerte in dieser Weise erfahre, ordne ich es in meine Lebensgeschichte ein und verhalte mich zu ihm. Mein Selbstverhältnis ist ein Verhältnis zu meiner diachronen Existenz. Eine solche Beschäftigung mit meiner Vergangenheit kann mir mehr oder weniger gelingen und liefert nur so etwas wie einen „fragmentarischen Zusammenhang der Verstehbarkeit“.¹⁶⁸ Eine dritte Eigentümlichkeit der hier betrachteten Erinnerung besteht darin, wie Heidegger an einer anderen Stelle ausführt, dass „ich selbst eine bestimmte Zuständlichkeit hatte … Dieser damalige Zuständlichkeitscharakter hält in irgendeiner Ausdrucksform die Vergangenheit mit der aktuellen Gegenwart im Zusammenhang, so dass ich durch jene Zuständlichkeit in bestimmter Weise motiviert auch in bestimmter Weise zur Vergangenheit zurückgehen kann.“¹⁶⁹ Ein solches Zurückgehen ist meine gegenwärtige Beurteilung meiner Vergangenheit, für die ich zuständig und gegebenenfalls verantwortlich war. Es ist diese Rolle, auf die meine jetzige Beurteilung zielt, und deretwegen ich auf meine Vergangenheit mit Stolz oder Scham, mit Bewunderung oder Abscheu blicken kann. Solche reflexiven Einstellungen setzen die Verständlichkeit des Erinnerten voraus, die nicht mit einem Akzeptieren oder einer anderen positiven Stellungnahme verwechselt werden darf.
Heidegger 2010, S. 158; vgl. S. 186 Heidegger 2010, S. 186 Vgl. Heidegger 2010, S. 260 Heidegger 2010, S. 159 Heidegger 2010, S. 159 Heidegger 2010, S. 46
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Heidegger will am Beispiel des episodischen Gedächtnisses das „Phänomen des Sichselbsthabens“ in den eigenen Lebenserfahrungen und das damit gegebene „Vertrautsein seiner mit der gelebten Welt“ verdeutlichen.¹⁷⁰ Die Struktur dieses Phänomens wird durch eine Betrachtung des „mich dabei selbst Habens“ und „des dabei gehabten Selbst“ geklärt.¹⁷¹ Was den ersten Punkt angeht, so betont er, dass „das Michselbsthaben“ nicht in einer Reflexion auf meine Erfahrungen und das, was ich erfahre, besteht. Es handelt sich nicht um die Erkenntnis, dass das Subjekt der Erfahrungen zugleich das Objekt ist, auf den sich der Inhalt der Erfahrungen bezieht.¹⁷² Angewandt auf die betrachtete episodische Erinnerung, besagt dies, dass sie nicht in einer Reflexion auf meine früheren Vorstellungen und Erlebnisse bestehen muss. Ich kann mich an meine letzte Reise nach Griechenland erinnern, ohne dass ich mich an meine Erlebnisse, Wahrnehmungen, etc. erinnere. Meine Erinnerung bezieht sich auf diese Reise. Auch wenn mein Dabei-gewesen-sein nicht ohne mentale Repräsentationen möglich ist, so müssen sie nicht dasjenige sein, woran ich mich erinnere. Dass diese Reise zu einer Welt gehört, in der ich auf eine mir verständliche Weise vorkomme und mit der ich vertraut bin, ergibt sich nicht dadurch, dass ich meine Erinnerung als ein Erlebnis verstehe, bei dem ich irgendwie erschließe, dass das Subjekt der Erinnerung mit demjenigen, auf den sich der Inhalt der Erinnerung bezieht, identisch ist. Wie Heidegger zurecht betont, erfordert Erinnerung keine „Rückbeziehung des Ich auf sich selbst“;¹⁷³ sie muss nicht den Charakter einer reflexiven Bezugnahme haben. Weiterhin betont er, dass „das Michselbsthaben kein Anstarren eines Objekts ist“.¹⁷⁴ Bezieht man dies auf die von ihm betrachtete Erinnerung, so ist zu betonen, dass sie keine introspektive Beobachtung der im Gedächtnis gespeicherten Erlebnisse und Erfahrungen von Ereignissen. Wenn dieses Haben als „der lebendige Prozeß des Gewinnens und Verlierens des Vertrautseins mit dem konkret gelebten Leben“ bestimmt wird (loc.cit.), so ist dieser Prozess in seiner Anwendung auf die eigene diachrone Lebensgeschichte nichts anderes als das dynamische Zusammenspiel von Verstehen und Nicht-Verstehen der eigenen Vergangenheit, das an dem Erinnern hervorgehoben wurde. Betrachten wir nun Heideggers Ausführungen zum Selbst. Er schreibt: „… in faktischer Erfahrung frage ich nicht, was das Selbst ist; ich habe es in der Weise des Lebens im Verständlichen.“¹⁷⁵ Dies besagt zuerst einmal, dass ich mich selbst
Heidegger 2010, S. 158 Heidegger 2010, S. 161 Heidegger 2010, S. 164 Heidegger 2010, S. 159 Heidegger 2010, S. 165 Heidegger 2010, S. 166
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haben kann, ohne mir diese Frage zu stellen und sie zu beantworten. Ich muss sie mir aber auch gar nicht stellen, weil der Terminus ‚Michselbsthaben’ nicht eine zweistellige Relation bezeichnet von der Art, wie ich ein Auto oder ein Bankkonto habe. Das Haben, um das es hier geht, ist vielmehr vergleichbar damit, dass ich eine Erkältung oder einen Einfall habe, also damit, dass ich so-und-so beschaffen bin. Ich habe mich selbst, indem ich „im Verständlichen“ lebe.¹⁷⁶ Es handelt sich um ein reflexives Verhalten, das durch das kleingeschriebene Reflexivpronomen beschrieben wird, und nicht um eine Beziehung zu etwas, das durch den Pseudonamen ‚Selbst’ bezeichnet wird. Heidegger versteht die Frage nach dem Selbst als eine Frage nach dem „“Als“, in welchem unabgehoben das Michselbsthaben mein Selbst hat. Welches ist die Ausdrucksgestalt des Selbst im Michselbsthaben selbst?“¹⁷⁷ Seine Antwort rekurriert auf die „Situation“, in der ich mich befinde: „Ich habe mich selbst, heißt: die lebendige Situation wird mir verständlich.“¹⁷⁸ Wie wir gesehen hatte, ist dieses prozessuale Verstehen ein konstitutiver Bestandteil meines Lebens in einer Welt, in der mir etwas bedeutsam ist, und bei der ich in dem Sinne bin, dass ich mich in ihr auskenne und mit ihr vertraut bin. Die Beschäftigung mit dem Selbst, als „Phänomenologie des Selbst“ bezeichnet, thematisiert daher verschiedene Formen der „Vertrautheit mit sich selbst“ in der Erfahrung einer Lebenswelt.¹⁷⁹ Diese Beschäftigung behandelt die verschiedenen Weisen, wie ich mich in und aus dieser Welt verstehe. Heidegger kommentiert seine Terminologie in folgender Weise: „In dieser Rede ist „ich“, „mich“, „selbst“ noch formal, präjudiziert nichts …„¹⁸⁰ In Sein und Zeit heißt es: „Das „Ich“ darf nur verstanden werden im Sinne einer unverbindlichen formalen Anzeige von etwas …„¹⁸¹ Der Begriff der formalen Anzeige ist ein zentraler Begriff seiner philosophischen Methodologie.¹⁸² Ich kann ihn hier nicht explizieren und begnüge mich mit dem Hinweis, dass man die Verwendung eines Wortes, welche etwas „formal anzeigt“, nicht schon dann verstanden hat, wenn man weiß, worauf sich es bezieht. Er kritisiert die Auffassung, dass „in jedem Erleben das reine Ich steckt“ , mit dem Hinweis, dass „in den konkreten Situationen des Lebens … das reine Ich mit dem besten Willen nicht steckt“ und warnt
Heidegger 2010, S. 166 Heidegger 2010, S. 166 Heidegger 2010, S. 166 Vgl. Heidegger 2010, S. 167: 259 Heidegger 2010, S. 157 Heidegger 1963, S. 116 Heidegger 2011, S. 62– 65; Heidegger 2004b, S. 425 – 431. Zur neueren Literatur zum Begriff der formalen Anzeige vgl. Haugeland 2013, S. 73 – 75; Cimino 2013, S. 198 – 223; Arrien 2014, S. 203 – 218
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vor einer „starren Ichsubstruktion“ oder davor, „das Ich zu einer Person zu objektivieren.“¹⁸³ Programmatisch heißt es: „Die Selbstwelt zunächst darf nicht identifiziert werden mit dem „Ich“. Das „Ich“, eine Kategorie komplizierter Ausformung, braucht mir in meiner Sorge um meine Selbstwelt, um „mich“ im faktischen konkreten Sinne gar nicht als solches zu begegnen.“¹⁸⁴ Welcher Sinn soll das sein? Wie kann es Selbstverhältnisse geben, deren sprachliche Artikulation nicht irgendwie auf die Verwendung des Personalpronomens der ersten Person im Singular angewiesen sind? Dass man der Vorstellung eines Selbst ohne Ich einen Sinn abgewinnen kann, wird deutlich, wenn man noch einmal auf die von Heidegger betrachtete Erinnerung eingeht, welche als eine Form des Sichselbsthabens, als eine Weise des Vertrautseins mit sich selber verstanden wurde. Es handelt sich um eine Erinnerung, die im Unterschied zu der semantischen Erinnerung durch ihre de se-Form ausgezeichnet ist. Dies besagt, dass das Subjekt der Erinnerung irgendwie mit ihrem Inhalt etwas zu tun hat. Das ist vage. Im einfachsten Falle ist das Subjekt bei dem Ereignis, an das es sich erinnert, dabei gewesen, – etwa, wenn man sich an die letzte Überschwemmung von Florenz erinnert. Deswegen spricht man auch von einer „autobiographischen Erinnerung“.¹⁸⁵ Aber natürlich kann dieses Ereignis auch etwas mit dem Subjekt der Erinnerung zu tun haben. Die Erinnerung kann sich auf seine früheren Handlungen, Widerfahrnisse, Gefühle, Stimmungen beziehen. Der de se-Charakter solcher Erinnerungen kann sehr komplex sein. Die von Heidegger thematisierten Erinnerungen haben diese Komplexität,¹⁸⁶ aber für uns ist vorerst nur ihre allgemeine de se-Form wichtig, welche sie mit bestimmten propositionalen Einstellungen, aber auch Verhaltensweisen im allgemeinen teilen, und welche es erlaubt, reflexive Verhältnisse zu betrachten, ohne einen anspruchsvollen IchBegriff – etwa den Begriff eines Subjekts reflexiver Einstellungen zweiter Stufe oder den Begriff eines kognitiven Akteurs, der seine Handlungen und Einstellungen rational beurteilen kann – vorauszusetzen. So schreibt Burge auch Hunden und anderen höheren Lebewesen ein de se-Gedächtnis zu. Heidegger beschreibt den reflexiven Charakter von de se- Einstellungen als ein Sichselbsthaben, das die grundlegende Form unseres Lebens ist. Dieses Thema wird im zweiten Teil der Vorlesung im WS 1919/20 behandelt. Die Erfahrung der Lebenswelt ist die Erfahrung einer Welt, die sowohl eine Mitwelt als auch eine Umwelt und eine Selbstwelt ist. Diese Erfahrung auf dem „Weg über die Selbstwelt“ zu betrachten, bedeutet, dass das, was erfahren wird,
Heidegger 2010, S. 188 – 189 Heidegger 1994a, S. 94 Vgl. Burge 2006, S. 158 – 159 Vgl. Heidegger 2010, S. 43 – 44
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im Hinblick auf das Subjekt der Erfahrung erörtert wird.¹⁸⁷ Für meine Erfahrung gilt daher, dass das von mir Erfahrene „auch immer irgendwie angeht, dass ich dabei bin. Ich habe mich selbst dabei irgendwie.“¹⁸⁸ Wie lässt sich dies genauer fassen? Da Heidegger die für die Selbstwelt grundlegende Struktur des Sichselbsthabens paradigmatisch anhand einer episodischen Erinnerung expliziert, kann man sie als die de se – Form von Einstellungen, Verhaltensweisen, etc. zu verstehen. Wesen, die solche Einstellungen einnehmen können und kompetente Sprecher der deutschen Sprache sind, werden sie in der ‚Ich’ – Rede zum Ausdruck bringen. Ihr Sichselbsthaben ist ein Michselbsthaben. Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass es Philosophen gibt, die Lebewesen Fähigkeiten von de se – Einstellungen, wie etwa episodisches Erinnern oder Absichten, zuschreiben, welche nicht oder noch nicht über eine Sprache verfügen und insbesondere nicht die komplizierte Verwendung des Personalpronomens der ersten Person im Singular beherrschen. Denkt Heidegger an solche Fälle, wenn er davor warnt, die „Selbstwelt … mit dem Ich“ zu identifizieren? Die Antwort ist negativ, weil die Verwendung des Personalpronomens der ersten Person Singular „formal“ verstanden werden und nichts „präjudizieren“ soll.¹⁸⁹ Es handelt sich nicht darum, dass von diesem Wort kein Gebrauch gemacht wird oder gemacht werden soll. Es geht vielmehr darum, seine Verwendung nicht misszuverstehen. Die Struktur des Michselbsthabens muss so expliziert werden, dass bestimmte Annahmen vermieden werden. Es sind im Wesentlichen zwei Annahmen, auf die Heidegger verzichten will. Erstens ist das Michselbsthaben nicht „ein über die Erfahrung und das Erfahrene reflektierendes, aus ihr heraustretendes zum Objekt-machen des Ich …“¹⁹⁰ Ein Michselbsthaben, wie es etwa in einer Erinnerung an meine Vergangenheit gegeben ist, verlangt nicht, dass ich mich als ein Subjekt denke, das sich jetzt erinnert und identisch mit dem Subjekt von Erlebnissen und Erfahrungen ist, an die es sich erinnert. So etwas kann ich nur denken, wenn ich über psychologische reflexive Meta-Repräsentationen verfüge und auf mich selbst als Subjekt dieses Lebens reflektieren kann.Weder die episodische Erinnerung noch Beabsichtigen müssen mit solchen intellektualistischen Annahmen belastet werden. Das Ich, das für solche de se – Einstellungen relevant, ist nicht ein Ich, das als ein Subjekt von Meta-Repräsentationen verstanden wird. Die zweite Annahme, die bei der Analyse des Michselbsthabens zu vermeiden ist, besteht darin, dass eine solche reflexive Beziehung irgendetwas
Heidegger 2010, S. 156 Heidegger 2010, S. 157 Heidegger 2010, S. 157 Heidegger 2010, S. 164
1.1 Das Selbst der faktischen Lebenserfahrung
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mit einer äußeren oder inneren Anschauung, mit „einem Anstarren eines Objekts“ zu tun hat.¹⁹¹ Ich habe mich selbst, indem ich in einer mir verständlichen Welt lebe; und diese Lebenserfahrung bedarf keiner unmittelbaren, durch Wahrnehmung begründeten „Bekanntschaft“ mit einem Gegenstand, auf den ich mich mit dem Wort ‚ich’ beziehe. Ich werde im dritten Kapitel Heideggers Konzeption des Sichselbsthabens im Lichte dessen, was heute als de se-Einstellung bezeichnet wird, ausführlich diskutieren. Hier soll diese Konzeption nur im Kontext seiner Frühen Freiburger Vorlesungen betrachtet werden. Es sind im wesentlichen drei Thesen, die seine Konzeption des Sichselbsthabens bestimmen. Erstens handelt es sich bei dieser Beziehung nicht um eine zweistellige, sondern um eine dreistellige Relation. Heidegger betont, dass „ich mich dabei (scil. dem Erfahrenen) selbst irgendwie habe“,¹⁹² dass „ich mein Selbst nur in und durch seine Leistungen und Schicksale … erfahre“,¹⁹³ oder dass „ich das Selbst in der Weise des Lebens im Verständlichen habe“.¹⁹⁴ Die logische Form der Beziehung besteht also in der Relation ‚x hat y in z’ für den Fall x = y. Dies bedeutet, dass ein Sichselbsthaben, anders als der Ausdruck vermuten lässt, keine zweistellige Relation sein kann. Die Variable ‚z’ ist ein Platzhalter für Ausdrücke, die sich auf das beziehen, worin man sich selbst hat. Dies gehört zweitens zu einer Lebenswelt und hat daher eine Bedeutsamkeit. Ihre darin begründete Vertrautheit impliziert drittens, dass das Vertrautsein des Erfahrenen ein Vertrautsein mit sich ist. Man hat sich daher selbst in dem, was bedeutsam ist. Heidegger geht von der Prämisse aus, dass meine Lebenserfahrung die Erfahrung eines Lebens ist, das „bedeutsamkeitsgefangen“ ist. Dies impliziert, dass erstens das Erfahrene eine bestimmte Bedeutsamkeit in einer Situation hat, welche zu einem Zusammenhang von Bedeutsamkeiten gehört, und dass zweitens die Erfahrung selber Teil eines Netzes von Erfahrungen ist, in dem die aktuelle Erfahrung sich mit Erinnerungen und Erwartungen verbindet. Die Bedeutsamkeit des Erfahrenen und die Einbindung der Erfahrung in ein solches Netz begründen drittens, dass das Erfahrene dem Subjekt der Erfahrung vertraut ist oder aber nur auf dem Hintergrund eines solches Vertrautseins erfahren werden kann. Da das, was vertraut ist, wesentlich etwas ist, das für jemanden vertraut ist, ergibt sich viertens, dass ein Verhältnis zwischen dem, was erfahren wird, und dem Subjekt der Erfahrung besteht, das Heidegger als ein Sichselbsthaben bezeichnet. Auf
Heidegger 2010, S. 165 Heidegger 2010, S. 157 Heidegger 2010, S. 114 Heidegger 2010, S. 166
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meine Lebenserfahrung angewandt, besagt dies, dass „ich mich dabei selbst irgendwie habe.“¹⁹⁵ Wie ist der Zusammenhang von Mit etwas vertraut sein und Sichselbsthaben zu verstehen? Ich hatte betont, dass es sich um eine dreistellige Relation handelt. Jedes Sichselbsthaben ist ein Sich Haben bei oder in etwas. Als Beispiele erwähnt Heidegger eines Besuchs mit gemeinsamen Tee trinken, Zigarren rauchen und Spaziergehen,¹⁹⁶ aber auch die Erinnerung an die eigene Vergangenheit oder die Beschäftigung mit der eigenen Zukunft. Im ersten Falle handelt es sich um eine motivierte, verständliche Abfolge gemeinsamer Handlungen und Verhaltensweisen, und das Sichselbsthaben ist die Rolle, die man in einem solchen gemeinsamen Leben spielt. Diese Rolle besteht in Verhaltensweisen, die den Beteiligten verständlich sind. Dass und wie man seine Rolle spielt, kann in verschiedener Weise modifiziert werden, und es gibt Grade der Verständlichkeit, für einen selber und für Andere. Im zweiten Falle geht es um eine retrospektive Beschäftigung mit der eigenen Lebensgeschichte oder um eine Antizipation der eigenen Zukunft. Der Prozess des Bemühens um ein Vertrautsein wird als ein „aus Lebenserfahrungen herkommende sich Vorneigen in neue, lebendige nahe Horizonte, ein Herkommen und Vorneigen, worin lebend ich mir selbst verständlich bin …“ beschrieben.¹⁹⁷ Hier gibt es Lücken und Grenzen, die sich jedoch nur auf dem Hintergrund einer gegebenen Verständlichkeit erschließen. Das Herkommen und das Vorneigen manifestieren sich in den spezifischen Einstellungen zur eigenen Vergangenheit und zur eigenen Zukunft und konstituieren den Prozess des Sich verständlich Seins in einer diachronen Dimension. Womit ich in diesen verschiedenen Weisen vertraut bin, sind also Handlungen, Situationen, Ereignisse, die mich betreffen und mir mehr oder weniger verständlich sind. Ihre Verständlichkeit ist eine Verständlichkeit meiner selbst in diesen Handlungen und Situationen. Deswegen spricht Heidegger von einem Michselbsthaben, das wiederum unterschiedliche Grade hat. Ich habe mich selbst in meinen Lebenserfahrungen, weil die Verständlichkeit dessen, was ich erfahre, auch eine Verständlichkeit von mir selber ist. Die Rolle der Selbstwelt für die Lebenserfahrung wird im ersten Teil der hier betrachteten Vorlesung mit Hilfe der Konzeption der Zugespitztheit auf die Selbstwelt erläutert, während im zweiten Teil an die Stelle dieser Konzeption der Begriff des Sichselbsthabens tritt. Heidegger war sich dieser Differenz bewusst. Denn er selber hat sie als eine Revision der Idee einer Zugespitztheit auf die
Heidegger 2010, S. 157 Heidegger 2010, S. 115 Heideggger 2010, S. 165
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Selbstwelt angesehen. Als 8. Loses Blatt hat der Herausgeber der Vorlesung „eine Beilage, die im Zusammenhang der Vorlesung entstanden“ ist, abgedruckt.¹⁹⁸ Sie trägt den von Heidegger gewählten Titel Merkpunkte für die Umarbeitung. ¹⁹⁹ Er stellt fest, dass „die vorliegende Form der Vorlesung (WS 1919/20) prinzipiell verfehlt und notwendig unklar ist …“²⁰⁰ Da es um eine Kritik an dem Begriff der Zugespitztheit geht, der in dem zweiten Teil der Vorlesung nicht mehr explizit erwähnt wird, kann sich diese Kritik nur auf den ersten Teil beziehen. Heidegger scheint die Kritik in der Vorlesung vorgetragen zu haben, denn in der Nachschrift von Oskar Becker heißt es: „Das Tendieren auf die Zugespitztheit auf die Selbstwelt ist eine Einseitigkeit, die zurückgenommen werden muss.“²⁰¹ Trägt die im zweiten Teil entwickelte Konzeption des Sichselbsthabens dieser Kritik Rechnung trägt? Betrachten wir zuerst seine Kritik. Heidegger unterscheidet zwischen zwei Versionen oder Aspekten der Zugespitztheit. Einerseits ist sie „in der vorliegenden isolierten Betonung noch zu sehr Nachklang einer anfänglichen ichlich-transzendentalen Orientierung.“²⁰² Andererseits lässt sie sich „ursprünglich rückverstehen als eine Gestalt der Weltausbreitung der personalen Existenz. Personale Existenz nicht isolieren im Sinne irgendwelcher Ichphilosophie.“²⁰³ Was die Zugespitztheit „in der vorliegenden isolierten Betonung“ angeht, so heißt es im ersten Teil der Vorlesung: „Die Begegnisse der Lebenswelt begegnen immer einer Situation des Selbst. Die Lebenswelt bekundet sich in den und den Weisen in und für eine jeweilige Situation der Selbstwelt.“²⁰⁴ Da die Lebenswelt jeweils von jemandem gelebt wird, und daher zu jeder Lebenswelt eine Selbstwelt gehört, ist es merkwürdig, dass Heidegger jeweils den bestimmten und nicht den unbestimmten Artikel verwendet. Wieso spricht er von dem Selbst, von der Selbstwelt? Zu der Selbstwelt, verstanden als konstitutiver Teil einer gelebten Welt, gehört ja wesentlich eine Um- und eine Mitwelt. Trägt die Zugespitztheit auf die eigene Selbstwelt dem nicht Rechnung? Heidegger schreibt, dass die Zugespitztheit „erst phänomenologisch wirksam wird, wenn sie genommen wird im Prozeß der Ausschneidung des Anderen (Fremden) und des Selbst.“²⁰⁵ Mit Berufung auf Scheler weist er auf den „Gesamtstrom des individuellen Seelenlebens“, aus dem zur gleichen Zeit „Eigenes
Heidegger 2010, S. 268 Heidegger 2010, S. 197 Heidegger 2010, S. 197 Heidegger 2010, S. 228 Heidegger 2010, S. 198; vgl. S. 145 – 147 Heidegger 2010, S. 197 Heidegger 2010, S. 62 Heidegger 2010, S. 198
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und Fremdes auftaucht“, und auf den „seelenhaften Hintergrund in meiner Umwelt (was sie denkt, ihre Anschauungen u. s. f.) hin.“²⁰⁶ Dies legt die Vermutung nahe, dass die These von der Zugespitztheit in Heideggers Augen eine Priorität des eigenen Seelenlebens vor dem der Anderen suggeriert, während die Erfahrung einer Lebenswelt wesentlich die Erfahrung einer Mitwelt ist und daher immer auch fremdes Seelenleben begegnen lässt. Da die Anderen aus einer gemeinsamen Umwelt begegnen, hat auch diese einen „seelenhaften Hintergrund“, in dem das eigene Seelenleben undifferenziert neben dem der Anderen vorkommt. Heidegger betont daher den „“Mit„-Charakter der Bedeutsamkeit“²⁰⁷ und weist auf das „Verborgensein des eigenen individuellen Seelenlebens“ hin.²⁰⁸ Mit anderen Worten: Die bewusste Abgrenzung des eigenen Seelenlebens von dem der Anderen, welche eine Voraussetzung für die Zugespitztheit auf die Selbstwelt ist, ist kein wesentlicher Bestandteil unserer Erfahrung einer Lebenswelt. Demnach wird die These von der Zugespitztheit nicht der Komplexität unserer Erfahrung einer Um- und Mitwelt gerecht, die immer auch ein undifferenziertes Miteinander von eigenem und fremdem Seelenleben enthalten. Sie beruht auf der Annahme einer Priorität der Erfahrung des „eigenen individuellen Seelenlebens“, und es ist diese Annahme, die als ein „Nachklang einer anfänglichen ichlich-transzendentalen Orientierung“ kritisiert wird.²⁰⁹ Dieses Ergebnis wird bestätigt, wenn man die zweite, verbesserte, weil „ursprünglich“ verstandene, Version der These von der Zugespitztheit betrachtet. Sie besteht in „einer Gestalt der Weltausbreitung der personalen Existenz.“²¹⁰ Was gemeint ist, wird deutlicher, wenn man Heideggers Analyse des Christentums als eines „Paradigmas für die Verlegung des Schwerpunkts des faktischen Lebens in die Selbstwelt“ betrachtet.²¹¹ Diese Selbstwelt ist „die Welt der inneren Erfahrungen“ und führt zu „einer neuen und eigentlichen Stellung des Selbst zu seiner Welt“.²¹² Diese Veränderung, „heute noch tief und verwirrend nachwirkend“, führt zu einer Auffassung der Selbstwelt, von der „loszukommen und radikal loszukommen eine der innersten Tendenzen der Phänomenologie ist.“²¹³ Ein besseres Verständnis der These von der Zugespitztheit besagt also, dass eine christlich verstandene Selbstwelt mit der Betonung der „Welt der inneren Erfah-
Heidegger 2010, S. 198 Heidegger 2010, S. 197 Heideggger 2010, S. 198 Heidegger 2010, S. 198 Heidegger 2010, S. 197 Heidegger 2010, S. 61 Heidegger 2010, S. 62 Heidegger 2010, S. 61
1.1 Das Selbst der faktischen Lebenserfahrung
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rungen“ nur eine Möglichkeit ist, die Rolle der Selbstwelt in unserer Lebenswelt zu bestimmen. Diese Möglichkeit darf dabei nicht aus der Perspektive irgendeiner „Ichphilosophie“ betrachtet werden.²¹⁴ Für den Phänomenologen Heidegger geht es darum, andere Möglichkeiten in der Blick zu nehmen und die konstitutive Bedeutung der Selbstwelt für die Lebenswelt überhaupt zu explizieren. Die positive Lesart der These von der Zugespitztheit korrigiert ein historisch begründetes, einseitiges Verständnis der Selbstwelt. Betrachtet man den zweiten Teil der Vorlesung im Lichte von Heideggers Kritik an dieser These, die sich im 8. Losen Blatt findet, so lässt sich feststellen, dass er den Einwänden, die gegen beide Versionen der These erhoben werden, Rechnung trägt. Das Michselbsthaben in meinem „weltlich gesäumten“ Leben ist zwar wegen der Gleichursprünglichkeit von Um-, Mit- und Selbstwelt immer auch ein Leben in einer Selbstwelt, aber diese muss nicht eine christlich verstandene personale Existenz mit ihrer Betonung der „Welt der inneren Erfahrungen“ sein; und die Erfahrung einer Lebenswelt ist nicht in irgendeiner Weise darauf zugespitzt. Was die erste Version der These angeht, so impliziert sie eine Priorität der Erfahrung des eigenen Seelenlebens vor der des Seelenlebens Anderer, welche eine bewusste Abgrenzung des eigenen Mentalen von dem Anderer voraussetzt. Diese Voraussetzung wird jedoch von Heidegger mit dem Hinweis auf den „seelenhaften Hintergrund in meiner Umwelt“ bestritten. Denn dieser Hintergrund enthält „unausgeschnitten“ sowohl mein Seelenleben als auch das der Anderen. Die Konzeption der Selbstwelt darf daher nicht mit der Annahme der Priorität der Erfahrung des eigenen Seelenlebens und mit der These der Zugespitztheit, welche sie impliziert, belastet werden. Daher fehlt sie in dem zweiten Teil der Vorlesung. Zusammenfassend kann man sagen, dass beide Teile von der Erfahrung einer Lebenswelt und der angenommenen Auszeichnung einer Selbstwelt ausgehen. Diese Auszeichnung wird als „Zugespitztheit“ des Lebens auf die Selbstwelt oder auch als „Betontheit“ der Um- und Mitwelt durch die Selbstwelt beschrieben. Die beiden Teile unterscheiden sich durch die jeweils verschiedene Bestimmung der Selbstwelt. Während sie im ersten Teil als eine „Welt der inneren Erfahrungen“, die maßgeblich durch das Christentum geprägt ist, angesehen wird, wird sie im zweiten Teil als ein Michselbsthaben, das die grundlegende Struktur eines diachronen mir verständlichen und vertrauten Lebens ist, charakterisiert. Diese Differenz begründet die verschiedenen Auffassungen, die Heidegger im Hinblick auf die „Gewinnung der genuinen Grunderfahrung der Selbstwelt“ vertritt.²¹⁵ Während im ersten Teil der Vorlesung der Zugang zur Selbstwelt im Anschluss
Heidegger 2010, S. 197 Heidegger 2010, S. 95
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und in Auseinandersetzung mit der Psychologie als „der Wissenschaft von der Selbstwelt“ gesucht wird, orientiert sich der zweite Teil an dem „faktischen Leben“ als dem „Ausgangspunkt der Philosophie“²¹⁶ und thematisiert die Selbstwelt als einen integralen Bestandteil faktischer Lebenserfahrung. Trotz dieser Unterschiede wird aber in beiden Teilen der Vorlesung die Auffassung vertreten, dass die besondere Rolle, die die Selbstwelt für unser Leben hat, mit Rekurs auf ein Leben zu bestimmen ist, dessen basale Struktur in der „Selbstgenügsamkeit“ besteht. Es ist ein selbstgenügsames Leben, das durch die ausgezeichnete Bedeutung der Selbstwelt bestimmt ist. In der folgenden Vorlesung im SS 1920 und in allen späteren Vorlesungen wird diese These nicht bestritten, sondern in bestimmter Weise bewertet, indem behauptet wird, ein selbstgenügsames Leben sei ein Abfall aus oder Verlust von „reiner selbstweltlicher Bedeutsamkeit“.²¹⁷
1.2 Die Bekümmerung des Selbst Diese Vorlesung unterscheidet sich von den früheren Vorlesungen dadurch, dass es ihr in besonderer Weise um eine Klärung und Bestimmung des Begriffs der Philosophie geht. Auch wenn sich dies nicht aus ihrem Titel Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks entnehmen lässt, so weist doch ihr Untertitel Theorie der Philosophischen Begriffsbildung deutlich auf dieses Thema hin. Er ist zwar nur eine „Formel in der herrschenden Sprache der gegenwärtigen Philosophie“, soll aber deutlich machen, „wie sich das Philosophieren selbst im Gegenhalt zur wissenschaftlich-theoretischen Sacheinstellung ursprungsmäßig … bestimmt.“²¹⁸ Es geht also nicht nur um den auch schon vorher betonten Unterschied zwischen Philosophie und Wissenschaften, sondern auch darum, diese Differenz mit Rekurs auf ihren Ursprung zu erläutern. Der Ursprung besteht in dem „Selbst im Erfahren seiner selbst“ als „Urwirklichkeit“;²¹⁹ und diese Auffassung des Selbst begründet, dass die Philosophie als ein solcher Vollzug „nicht Wissenschaft sein kann, sie nicht in die einstellungsmäßige Bestimmung abgleiten darf.“²²⁰ Wie wir sehen werden, führt eine so fundierte Unterscheidung der Philosophie von den Wissenschaften zu einer neuen Auffassung des Verhältnisses, das zwischen Philosophie und faktischer Lebenserfahrung besteht. Dieser Auffassung liegt eine Konzeption des Selbst zu Grunde, die eine Revision der
Heidegger 2010, S. 162 Heidegger 2007, S. 84 Heidegger 2007, S. 8 Heidegger 2007, S. 173 Heidegger 2007, S. 170
1.2 Die Bekümmerung des Selbst
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vorher betonten wechselseitigen Abhängigkeit von Selbst-, Mit- und Umwelt mit sich bringt und den Ausgangspunkt für eine Theorie der „eigentlichen“ Existenz bildet, welche unter dem Titel Hermeneutik der Faktizität in späteren Vorlesungen ausgearbeitet wird.²²¹ Die Explikation des Begriffs der Philosophie setzt sich kritisch mit der damaligen zeitgenössischen Philosophie auseinander, indem sie sich mit dem Begriff des Lebens als eines „Urphänomens“ beschäftigt und eine „Destruktion“ von Theoriekonstellationen der damaligen zeitgenössischen Philosophie beabsichtigt.²²² Diese Kritik wird im Folgenden nicht behandelt, und ich konzentriere mich auf die Überlegungen, die dem Zusammenhang von Philosophie und Selbstwelt gewidmet sind. Auch sie knüpfen an das Thema ‚Leben’ an, genauer an den Gegensatz von Apriorität und Geschichte, der für die neukantianische Diskussion des Lebensbegriffs charakteristisch sein soll,²²³ und geben eine ausführliche Analyse des Begriffs der Geschichte. Dieses Thema muss im Zusammenhang von Heideggers übergeordneter Fragestellung gesehen werden: „Das Problem des Lebens beschäftigt uns insofern, als wir die Frage stellen, in welcher Art sich philosophische Erkenntnis expliziert. Das Problem der philosophischen Begriffsbildung … ist das Problem der Gewinnung der philosophischen Erfahrung; es expliziert die Weise der philosophischen Erfahrung.“²²⁴ Es geht also nicht darum, das Problem des Lebens aus der Perspektive der Philosophie zu diskutieren, sondern vielmehr darum, am Beispiel der Diskussion dieses Problems den besonderen Charakter philosophischer Erkenntnis oder Erfahrung zu klären. Dazu betrachtet Heidegger den „Gehalt, Bezug und Vollzug faktischer Lebenserfahrung“ am Beispiel verschiedener Beschäftigungen mit Geschichte .²²⁵ Er schreibt: „Mit dem Wort ›Geschichte‹ meinen wir Verschiedenes; – Bedeutungen, die alle doch auf einen einheitlichen Sinnzusammenhang zurückweisen.“²²⁶ Dies erinnert vielleicht an Aristoteles, aber die Terminologie ist zu unbestimmt, um eine Beziehung herzustellen. Bei genauerem Hinsehen bemerkt man, dass Heidegger sich nicht nur mit der Bedeutung von ‚Geschichte’, sondern
Vgl. Heidegger 1995, S. 29 – 32, zum Zusammenhang von Faktizität und durchschnittlicher Alltäglichkeit. Heidegger 2007, S. 18; vgl. dazu Thomä 1990, S. 82– 103; Kisiel 1993, S. 123 – 126; 130 – 136; Arrien 2014, S. 218 – 225 Vgl. Heidegger 2007, S. 19 – 23 Heidegger 2007, S. 169 Heidegger 2007, S. 37; vgl. Heidegger 1963, S. 378 – 379 Heidegger 2007, S. 43; vgl. S. 59
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vor allem mit der des Prädikats ‚eine Geschichte haben’ beschäftigt.²²⁷ Der von ihm angenommene „einheitlichen Sinnzusammenhang“ betrifft die verschiedenen Bedeutungen, die das Prädikat haben soll. Er gibt sechs Beispiele, die in drei Gruppen eingeteilt werden. Das erste Beispiel ist der Satz ‚mein Freund studiert Geschichte’ und soll belegen, dass „Geschichte hier Geschichtswissenschaft besagt“²²⁸ oder auch „bedeutet“.²²⁹ Das ist falsch. ‚Geschichte studieren’ besagt, dass man sich um die Erwerb von Kompetenzen bemüht, um eine bestimmte Wissenschaft zu betreiben. Das sieht auch Heidegger so, wenn er schreibt: „Geschichte studieren besagt also: sich die geschichtliche Welt zugänglich machen, aber in der Form des Hereinwachsens in Geschichtsforschung als Wissenschaft.“²³⁰ Sein Beispiel belegt keine bestimmte Bedeutung des Wortes ‚Geschichte’, sondern nennt eine bestimmte Form der Beschäftigung mit dem, was wir als Geschichte bezeichnen.²³¹ Jemand, der Geschichte studiert, hat Kenntnisse oder ein Wissen von der Geschichte, aber dies ist kein Haben von Geschichte, wie es durch die Beispiele, dass ein Volk eine bestimmte Geschichte oder ein Mensch eine traurige Geschichte hat, illustriert wird. Heidegger spricht in den letzteren Fällen von einer „daseinsimmanenten Beziehung des Habens … – als Bewahren und Pflege der eigenen Vergangenheit …“.²³² Man wird ihm zustimmen können, dass die Geschichte, mit der man sich beschäftigt, wenn man Geschichte studiert, zu unterscheiden ist von der Geschichte, die in der eigenen Vergangenheit eines Menschen oder eines Volks besteht, aber dies besagt nicht, dass es sich um verschiedene Weisen, Geschichte zu haben, handelt, noch bestätigt es die These, das Wort ‚Geschichte’ habe verschiedene Bedeutungen. Indem er die verschiedenen Beispiele in das Schema Geschichte haben presst, will er als ein gemeinsames und daher auch vergleichbares Element einen Zugang oder ein Verhalten zur Geschichte identifizieren, welches als Bezug bezeichnet wird.²³³ Dies ist die Voraussetzung dafür, seine „Frage nach den genuinen Bezügen“ zu stellen.²³⁴ Auf diese Frage werde ich mich im Folgenden konzentrieren.
Vgl. Heidegger 2007, S. 52– 56. Arrien 2014 spricht von einer Explikation eines „horizon pluriel“ und warnt vor der „tentation de remonter vers un élément commun“. (229) Nach Cimino 2013 geht es darum, „eine Genealogie der Geschichtserfahrung zu skizzieren.“ (160) Heidegger 2007, S. 43 Vgl. Heidegger 2007, S. 45; 61; Heidegger 1963, S. 378, klammert eine Betrachtung dieser Bedeutung explizit aus. Heidegger 2007, S. 45 Vgl. Heidegger 2007, S. 49 Heidegger 2007, S. 53 Heidegger 2007, S. 60 Heidegger 2007, S. 60
1.2 Die Bekümmerung des Selbst
43
Heidegger unterscheidet zwischen Gehalt, Bezug und Vollzug einer Lebenserfahrung.²³⁵ Während der Gehalt in dem besteht, was erfahren wird, ist der Bezug die Art und Weise, wie etwas erfahren wird.²³⁶ Wenn wir von jemandem sagen, dass er Geschichte studiert, so geben wir eine ziemlich vage Bestimmung des Gehalts an, etwa die, dass er sich mit der Vergangenheit beschäftigt – wenn wir mal die Zeitgeschichte ausklammern -, und spezifizieren den Bezug als wissenschaftliche Beschäftigung mit der Vergangenheit, die als theoretischer Einstellungszusammenhang bezeichnet wird.²³⁷ Dieser Bezug kann Thema oder Gehalt einer anderen Betrachtung werden, etwa in der Form einer wissenschaftstheoretischen Reflexion auf die Geschichtswissenschaft. Diese Reflexion ist dann ein Bezug, dessen Gehalt die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte ist. Der Vollzug schließlich betrifft den Bezug: „Der Bezug wird gehabt im Vollzug.“²³⁸ Es handelt sich um die „pure Selbstverständlichkeit, dass jeder Bezug als aktueller eben vollzogen sein muss und dass jede Einstellung realisiert werden muss, wenn sie eine wirkliche sein soll …“²³⁹ Gleichwohl will Heidegger dieser Trivialität eine „besondere Bedeutung“ beimessen, indem er den Vollzug des Bezugs zur Grundlage seiner Konzeption des genuinen Bezugs macht. Anhand von Beispielen unterscheidet er zwischen der „Geschichte im Sinne der objektiven Vergangenheit“ und einer Geschichte, die „auf ein konkretes Dasein zurückverweist“.²⁴⁰ Für Geschichte in dem zuerst genannten Sinne gilt, dass „sie offen ist für mögliche Bezüge des Erfassens, sie aber nicht fordert …“²⁴¹ Sie ist nicht bezogen auf ein konkretes Dasein und somit auf einen bestimmten Zeitpunkt; sie verlangt auch nicht die Unterscheidung zwischen „Eigen- und Fremdvergangenheit“.²⁴² Für Heidegger ist eine so verstandene Geschichte der Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Demgegenüber spielt für die Geschichte im zweiten Sinne eine Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit eine zentrale Rolle. Sie ist daher wesentlich bezogen auf eine bestimmte Gegenwart. Der „Bezug
Heidegger 2007, S. 60; vgl. S. 37. Cimino 2013 verweist auf Husserl, bei dem sich diese Unterscheidung auch findet (S. 119 – 121); vgl. auch Jung 2003, S. 19 – 20. Arrien spricht von „trois sens intentionnels de la vie“, ohne auf die wechselseitige Abhängigkeit der verschiedenen „Sinne“ hinzuweisen; und sie verkennt auch die Allgemeinheit der Unterscheidung, wenn sie sie als „modes du se-comporter ou du se-rapporter de la vie“ bezeichnet (178). Vgl. Heidegger 2011, S. 12 Heidegger 2007, S. 61 Heidegger 2007, S. 62 Heidegger 2007, S. 63 Heidegger 2007, S. 64– 66; vgl. auch Hogemann 1986/7, S. 64– 65 Heidegger 2007, S. 64 Heidegger 2007, S. 64
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… auf ein konkretes Dasein“ kann mehr oder weniger „lose“ sein²⁴³ und gestaltet sich in den verschiedenen Beispielen in verschiedener Weise.²⁴⁴ Wie wir wissen, gehört zu jedem aktuellen Bezug ein Vollzug, aber dieser Vollzug muss kein „genuiner“ oder auch „ursprünglicher“ Vollzug sein. Ein solcher Vollzug ist nur möglich bei einer Beschäftigung mit einer Geschichte, die „auf ein konkretes Dasein zurückweist“, und zwar in mehr oder weniger ursprünglichen Weisen.²⁴⁵ Heidegger formuliert ein „Ursprungskriterium“, das drei Bedingungen angibt, die jeweils notwendig und zusammen hinreichend sind, damit der Vollzug eines Bezugs ursprünglich ist.²⁴⁶ Erstens muss es sich um einen „selbstweltlich zum mindesten mitgerichteten“ Bezug handeln. Zweitens verlangt der Vollzug eines solchen Bezugs eine „aktuelle Erneuerung in einem selbstweltlichen Dasein“; und drittens muss diese Erneuerung „selbstweltliche Existenz mitausmachen“.²⁴⁷ Wie diese Bedingungen zu verstehen sind, lässt sich aus ihrer Anwendung auf die gegebenen Beispiele entnehmen. Dazu gehen wir von der Beschäftigung mit der Geschichte in der Geschichtswissenschaft aus, die keine der drei Bedingungen für einen ursprünglichen Vollzug erfüllt. Während es bei Wissenschaften wie der Geometrie oder der Mineralogie einleuchtet, dass die Beschäftigungen mit ihren Sachgebieten nicht in dem Vollzug von selbstweltlich „mitgerichteten“ Bezügen besteht, könnte man bei der Geschichtswissenschaft, etwa im Falle der „geschichtlichen Erkenntnis der Reformation und primär der Persönlichkeit Luthers“, die Sache anders sehen. Aber selbst wenn bei solchen Forschungen „selbstweltliche Motivationen“ gegeben oder sogar erforderlich sind, so ist diese genetische Voraussetzung nicht bestimmend für den Bezug und seinen Inhalt.²⁴⁸ Da jede wissenschaftliche Einstellung ein „Zurückdrängen aktuellen Daseins“ verlangt, können wissenschaftliche Beschäftigungen mit der Geschichte weder die zweite noch die dritte Bedingung erfüllen.²⁴⁹ Und auch wenn jemand ganz in die Wissenschaft „aufgeht“ und sein „ganzes Leben gleichsam ein fortgesetzter Vollzug dieses wissenschaftlichen Einstellungszusammenhangs ist“, soll dies aus Gründen, die nicht genannt werden, nicht dazu führen, dass „die selbstweltliche Existenz erreicht“ wird.²⁵⁰ Wie nichts anders zu erwarten ist, hat der Begriff des ursprünglichen Vollzugs keinen Platz in den Wissenschaften, und dient dazu, den
Heidegger 2007, S. 65 – 66 Heidegger 2007, S. 57– 58 Heidegger 2007, S. 66 Heidegger 2007, S. 81 Heidegger 2007, S. 75 Heidegger 2007, S. 77 Heidegger 2007, S. 80; 2010, S. 77 Heidegger 2007, S. 79
1.2 Die Bekümmerung des Selbst
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Unterschied zwischen Philosophie und Wissenschaft unter dem Gesichtspunkt einer Beschäftigung mit der aktuellen Lebenserfahrung zu betonen.²⁵¹ Betrachten wir jetzt ein anderes Beispiel – „die Geschichte als eigene Vergangenheit eines Volkes, und zwar als Korrelat eines Bewahrens und im eigenen Dasein stets neu Über- und Mitnehmens.“²⁵² Dieses Bewahren und Übernehmen macht den Bezug aus, in dem man sich zu dieser Geschichte verhält. Handelt es sich um einen ursprünglichen Vollzug? Im Unterschied zu der Beschäftigung mit der Geschichte in der Geschichtswissenschaft verlangen ein solches Bewahren und Übernehmen nicht ein „Zurückdrängen aktuellen Daseins“, sondern die Geschichte spielt in diesem Dasein eine Rolle, indem die „Vergangenheit umweltlich da ist und sich so auch selbstweltlich zurückbezieht, sofern die Selbstwelt in und durch Bedeutsamkeit erfahren wird.“²⁵³ Demnach ist wenigstens die erste Bedingung eines ursprünglichen Vollzugs erfüllt: Der Bezug ist „selbstweltlich mitgerichtet“; es geht bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit darum, dass man „›die eigene Vergangenheit hat‹“.²⁵⁴ Gleichwohl ist dieser selbstweltliche Bezug eher indirekter Natur ist. Daher spricht Heidegger auch von einem „sekundären das aktuelle Dasein Mitausmachen“ und bestreitet, dass eine solche Beschäftigung mit der Vergangenheit „ein eigentliches selbstweltliches personales Dasein“ konstituieren kann.²⁵⁵ Demnach ist die dritte Bedingung für einen ursprünglichen Vollzug nicht erfüllt. Wie steht es mit der zweiten Bedingung, mit der aktuellen Erneuerung in einem selbstweltlichen Dasein? Wie eine solche Erneuerung zu verstehen ist, wenn es sich nicht um die eigene Vergangenheit einer Person handelt, ist nicht so einfach zu beantworten; und Heidegger beschränkt sich im Folgenden auf die Betrachtung „der eigenen Geschichte der Person“.²⁵⁶ Es geht um „die vergangenen Leistungen, auch die misslungenen Versuche und die Fehlleistungen …“²⁵⁷ In der Vorlesung des vorhergehenden Semesters hatte er noch behauptet, dass „ich mein Selbst nur in und durch seine Leistungen und Schicksale erfahre …“²⁵⁸ Jetzt ist er hingegen der Meinung, dass auf diese Weise „das aktuelle Dasein gerade an umweltlichen und mitweltlichen Bedeutsamkeiten festgehalten“ wird, und dass selbstweltliche Bedeutsamkeiten fehlen.²⁵⁹ Sie
Vgl. Heidegger 2007, S. 170 Heidegger 2007, S. 80 Heidegger 2007, S. 81 Heidegger 2007, S. 57 Heidegger 2007, S. 81 Heidegger 2007, S. 81 Heidegger 2007, S. 81 Heidegger 2010, S. 114; vgl. S. 221 Heidegger 2007, S. 82
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fehlen, weil der „Bedeutsamkeitsmodus zugespitzt mit der Richtung auf die Selbstwelt“ nicht gegeben ist.²⁶⁰ Mit anderen Worten: Die zweite Bedingung und daher auch die dritte Bedingung verlangen eine besondere Art von selbstweltlicher Bedeutsamkeit; es genügen nicht „selbstweltlichen Bedeutsamkeiten“, die „lediglich im Umweltlichen mit eine Rolle spielen …“²⁶¹ Wie lässt sich diese Art genauer und allgemeiner bestimmen? Versucht man, die Überlegungen zu verallgemeinern, so muss man von der Unterscheidung zwischen Gehalt, Bezug und Vollzug ausgehen, die sich auf jedes intentionales Verhalten, jede intentionale Einstellung anwenden lässt. In dem besonderen, von Heidegger betrachteten Beispiel geht es um verschiedene Bezüge, deren Gehalt etwas mit Geschichte zu tun hat. Er behauptet, dass wir mit dem Wort ‚Geschichte’ „verschiedenes meinen; – Bedeutungen, die alle doch auf einen einheitlichen Sinnzusammenhang zurückweisen.“²⁶² Dies soll durch die unterschiedlichen Bezügen verdeutlicht werden, und der „einheitliche Sinnzusammenhang“ ergibt sich durch den Nachweis, dass eine bestimmte Art von Bezug und somit auch eine bestimmten Bedeutung von ‚Geschichte’ eine Priorität besitzen. Dieser Bezug ist der „genuine Bezug“, wodurch „in ihm und durch ihn das mit Geschichte Gemeinte erst einen konkreten Sinn erhält …“²⁶³ Die vage Idee eines „konkreten Sinns“ soll besagen, dass „der Bezug seinerseits auf ein konkretes Dasein zurückverweist und in diesem durch den Bezug faktisch das besteht, was mit Geschichte gemeint ist.“²⁶⁴ Es geht mir hier nicht darum, die semantischen Probleme zu klären, die sich durch die enge Verbindung von Bezug und Gehalt ergeben, sondern ich interessiere mich für den Zusammenhang zwischen genuinen Bezug und Selbstwelt. Heidegger hält es, wie erwähnt, für „trivial“, dass „jeder Bezug als aktueller eben vollzogen sein muss.“²⁶⁵ Wenn einige Bezüge im Unterschied zu anderen als genuin ausgezeichnet werden, und wenn dies, wie wir noch sehen werden, mit Rekurs auf den Vollzug geschieht, dann kann es sich nicht um einen Vollzug handeln, der bei jedem aktuellen Bezug gegeben ist. Ein genuiner Bezug zur Geschichte ist ein Bezug, der „auf ein konkretes Dasein zurückweist …“; und dies kann in verschiedener Weise geschehen, weil „der Bezug verschieden stark mit dem Dasein, in dem er lebendig ist, verknüpft ist …“²⁶⁶ Das Zurückweisen des
Heidegger 2007, S. 82 Heidegger 2007, S. 82 Heidegger 2007, S. 43 Heidegger 2007, S. 65 Heidegger 2007, S. 65 – 66 Heidegger 2007, S. 63 Heidegger 2007, S. 66
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Bezugs auf das konkrete Dasein besteht nicht darin, dass jeder aktuelle Bezug ein solches Dasein voraussetzt, weil er einen Vollzug verlangt, sondern ergibt sich durch den Gehalt des Bezugs. Dieser Gehalt ist bei den betrachteten Bezügen ganz allgemein die Geschichte, im Falle von genuinen Bezügen also die Geschichte, die für das Subjekt des Bezugs eine bestimmte Bedeutung hat, eine bestimmte Rolle spielt. Heidegger diskutiert anhand der erwähnten Beispiele verschiedene Möglichkeiten einer solchen Rolle und benutzt dabei die uns bekannte Unterscheidung von Selbst-, Um- und Mitwelt. Da genuine Bezüge durch ihr „Zurückweisen“ auf ein konkretes Dasein, das sie vollzieht, ausgezeichnet sind, und da diese Beziehung sich durch den Gehalt ergibt, hat der Gehalt eines genuinen Bezugs immer etwas mit der Selbstwelt zu tun. Geht es etwa um einen Bezug auf die eigene Vergangenheit in der Form „vergangener Leistungen, auch die misslungenen Versuche und die Fehlleistungen“,²⁶⁷ so weist dieser Bezug zwar zurück auf das konkrete Dasein, aber die „Erneuerung der Vergangenheit … macht nicht selbstweltliche Existenz mit aus, sondern hält aktuelles Dasein … gerade an umweltlichen und mitweltlichen Bedeutsamkeiten fest; selbstweltliche sind nicht in ihrem existenziellen Charakter da, sondern spielen lediglich mit eine Rolle wie umweltliche.“²⁶⁸ Die Selbstwelt kommt mit vor, aber sie spielt bei einem solchen Bezug auf die eigene Vergangenheit keine dominante Rolle. Demgegenüber soll die Bezugnahme auf die wechselvolle Geschichte einer Stadt oder die traurige Geschichte eines Menschen ein Beispiel dafür sein, dass, wenn man es auf die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit überträgt, zeigen soll, dass „die eigenste Vergangenheit auch den umweltlichen Charakter verliert, in den die selbstweltlichen Bedeutsamkeiten ständig zurückfallen: Abfall einer rein selbstweltlich gerichteten Bedeutsamkeit in die umweltliche …“²⁶⁹ Heidegger verrät einem zwar nicht, wie eine solche Übertragung aussehen soll, aber seine Überlegungen zu verschiedenen Arten eines genuinen Bezugs machen deutlich, wie die Unterscheidung zwischen Mit-, Um- und Selbstwelt benutzt wird, um verschiedene Möglichkeiten eines Rückverweises auf ein konkretes Dasein zu bestimmen. Diese Beziehung verlangt, dass der Gehalt des Bezugs eine selbstweltliche Bedeutung hat, aber diese Bedeutung kann eine unterschiedliche „Rolle“ spielen. Sie kann „abgedrängt“ sein und in „umweltlichen und mitweltlichen Bedeutsamkeiten festgehalten“ werden.²⁷⁰ Der Gehalt des Bezugs kann aber auch eine „reine selbstweltliche Bedeutsamkeit“ besitzen ohne
Heidegger 2007, S. 81 Heidegger 2007, S. 82 Heidegger 2007, S. 83 – 84 Heidegger 2007, S. 82
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einen „Abfall“ in jene Bedeutsamkeiten.²⁷¹ Dann „reiße ich eigene Vergangenheit an mich, so dass sie immer wieder zum ersten Mal gehabt wird, und dass ich selbst von mir selbst immer neu betroffen bin und im erneuten Vollzug ›bin‹.“²⁷² Die eigene „Betroffenheit“ charakterisiert den Vollzug eines Bezugs zur eigenen Vergangenheit, welche eine „reine“ selbstweltliche Bedeutsamkeit besitzt. Im Hinblick auf selbstweltliche Bezüge, wie sie durch Beschäftigungen mit der eigenen Vergangenheit exemplifiziert werden, unterscheidet Heidegger zwischen Bezügen, deren Gehalt eine „reine selbstweltliche Bedeutsamkeit“ besitzt, und Bezügen, für die das nicht gilt. Während die ersteren frei von mit- oder umweltlicher Bedeutsamkeit sind, verlieren die letzteren ihre selbstweltliche Bedeutsamkeit und fallen ab in eine mit- oder umweltliche Bedeutsamkeit.²⁷³ Die Reinheit selbstweltlicher Bedeutsamkeit hat den Charakter der Exklusivität; und ihr Verlust, als ein Abfall oder Zurückfallen verstanden, impliziert, dass diese Bedeutsamkeit eine ausgezeichnete Stellung einnimmt. Im Folgenden soll erstens gezeigt werden, dass die exklusive und ausgezeichnete Rolle einer reinen selbstweltlichen Bedeutsamkeit im Widerspruch steht zu der früher behaupteten Gleichursprünglichkeit von Selbst-, Mit- und Umwelt und eine Revision wesentlicher Annahmen impliziert, die seine Überlegungen zum Verhältnis von Selbst und Welt in der früheren Vorlesung bestimmt haben. Zweitens ist zu klären, wie der „existenzielle Charakter“ einer selbstweltlichen Bedeutsamkeit, die „im erneuten Vollzug ›bin‹“ besteht, zu verstehen ist. Selbstweltliche Bedeutsamkeit ist eine Eigenschaft des Gehalts von Bezügen. Dass diese eine weltliche Bedeutsamkeit besitzen, ist eine grundlegende Eigenschaft, die ihnen durch ihre Zugehörigkeit zum faktischen Leben zukommt.²⁷⁴ Die Konzeption einer reinen selbstweltlichen Bedeutsamkeit weicht von dem Begriff der selbstweltlichen Bedeutsamkeit, sofern diese als ein besonderer Fall einer weltlichen Bedeutsamkeit verstanden wird, in zwei Punkten ab.²⁷⁵ Erstens geht
Heidegger 2007, S. 84 Heidegger 2007, S. 84 Heidegger 2007, S. 84 Vgl. Heidegger 2010, S. 105; 2011, S. 13; 1994a, S. 90 Vgl. Heidegger 2010, S. 114; Hogemann 1986/7, S. 65 – 66, geht auf die Konzeption einer „rein selbstweltlichen Bedeutsamkeit“ nicht ein und bemerkt daher nicht die Veränderungen von Heideggers Denken in den beiden von ihm verglichenen Vorlesungen. Auch Arrien 2014, S. 229 – 238, geht bei ihrer Übersicht der verschiedenen Weisen, sich mit Geschichte zu beschäftigen, auf diese zentrale und neue Konzeption nicht ein. Cimino 2013, S. 161, spricht von einer „performativen und selbstweltlichen Urdimension der faktischen Lebenserfahrung“. Aber die Annahme einer solchen „Urdimension“ sollte doch gerade bei der Analyse dieser Erfahrung vermieden werden, wie Heideggers Kritik an der These von der Zugespitztheit auf die Selbstwelt deutlich macht.
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diese Konzeption von der früher nicht explizit getroffenen Unterscheidung zwischen Gehalt, Bezug und Vollzug aus und bezieht sich auf den Gehalt solcher Bezüge, die zwei Bedingungen erfüllen. Sie weisen durch ihren Gehalt auf das „konkrete Dasein“ zurück.²⁷⁶ Diese Bezüge können nur Bezüge sein, die „selbstweltlich zum mindestens mitgerichtet“ sind.²⁷⁷ Weiterhin soll gelten, dass sie mit dem Dasein in der Weise verbunden sind, dass ihr Vollzug die „selbstweltliche Existenz“ ausmacht, also eine konstitutive Rolle für eine solche Existenz spielt. Die Bezüge, die die beiden Bedingungen erfüllen, sind Bezüge, die nach Gehalt und Vollzug auf die Selbstwelt des Daseins fokussiert sind. Für die vorher entwickelte Konzeption des Michselbsthabens in einer Welt gilt diese Restriktion nicht. Zweitens besitzen nur solche Gehalte eine reine selbstweltliche Bedeutsamkeit, die in einem expliziten Kontrast zu einer um- oder mitweltlichen Bedeutsamkeit gesehen werden. Es sind Gehalte von Bezügen, welche nicht in solche Bedeutsamkeiten „abfallen“.²⁷⁸ Die Konzeption des Abfalls impliziert, wie schon erwähnt, eine exklusive Stellung reiner selbstweltlicher Bedeutsamkeit und verabschiedet so die Auffassung, dass die wechselseitige Abhängigkeit von selbst-, mit- und umweltlicher Bedeutsamkeit des Gehalts von Bezügen für das faktische Leben konstitutiv ist.²⁷⁹ Durch die Konzeption der reinen selbstweltlichen Bedeutsamkeit verlagert sich das Interesse auf solche Bezüge des faktischen Lebens, deren Gehalt so bestimmt ist, dass ihr Vollzug die „selbstweltliche Existenz des Daseins“ ausmacht. Der Vollzug solcher Bezüge wird als „Bekümmerung des Selbst“ verstanden. Dazu schreibt Heidegger: „Die Bekümmerung des Selbst ist eine ständige Sorge um das Abgleiten aus dem Ursprung. Wo sie sich ersatzmäßig in Aufgaben auslebt, ist das aktuelle selbstweltliche Dasein verdorben.“²⁸⁰ Abfallen oder Abgleiten aus dem Ursprung – aus welchem Ursprung? Dazu heißt es: „Das Selbst im aktuellen Vollzug der Lebenserfahrung, das Selbst im Erfahren seiner selbst ist die Urwirklichkeit.“²⁸¹ Während vorher Selbsterfahrung immer auch eine Erfahrung einer Mit- und Umwelt und umgekehrt war, wird sie nun zu
Heidegger 2007, S. 66 Heidegger 2007, S. 75 Heidegger 2007, S. 84 Cimino 2013 übersieht den Zusammenhang, der zwischen dem Abfall des faktischen Lebens und einer reinen selbstweltlichen Bedeutsamkeit besteht, und beschreibt das Erstere als „ein Vorrang des Gehaltsinns“: „Somit löst sich der Bezugssinn im Gehaltssinn auf …“ (138) Wie ein Vorrang zu einer Auflösung führen kann, ist nicht verständlich; und eine solche Auflösung ist auch gar nicht möglich, da es keinen Gehalt ohne Bezug geben kann. Heidegger 2007, S. 173 Heidegger 2007, S. 173
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der Erfahrung des einzigen „Ursprungs“ und der einzigen „Urwirklichkeit“. Der „Monismus“ einer solchen egozentrisch fokussierten Lebenserfahrung ist mit dem „pluralistischen“ Ansatz der beiden früheren Vorlesungen unverträglich und führt zu weiteren Revisionen früherer Auffassungen. Jetzt wird der Vollzug eines Bezugs besonders betont. Programmatisch schreibt Heidegger: „Die Bedeutsamkeit des Vollzugs muss uns bekümmern, und die Destruktion dieser Bedeutsamkeit muss rein erhalten werden und gesichert werden vor Umfall in die Sachlichkeit.“²⁸² Worin diese Bedeutsamkeit besteht, ergibt sich aus Überlegungen, die in der Nachschrift Becker von dem zweiten Teil der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie dokumentiert sind. Diese Überlegungen finden sich nicht in dem zweiten Teil der Vorlesung, von dem Herausgeber als Schlußteil bezeichnet. Wie er zurecht bemerkt, kann man daraus entnehmen, dass „Heidegger sich im mündlichen Vortrag vom vorgefertigten Text löste und frei den Gedankengang abwandelte oder auch weiterführte.“²⁸³ In der Nachschrift Becker heißt es: „Man kann leben, ohne sich selbst zu haben.Von hier aus gibt es einen möglichen Rückgang in verschiedene Stufen zur immer gesteigerten Konzentration des Vollzugs (des Bezugssinns) bis schließlich zur vollen Spontaneität des Selbst.“²⁸⁴ Der Begriff der Spontaneität wirft ein neues Licht auf die Unterscheidung von Gehalt, Bezug und Vollzug. Diese Unterscheidung soll die „Urstruktur der Situation“ bestimmen,²⁸⁵ welche, wie wir gesehen hatten, das Selbst in dem zweiten Teil der Vorlesung konstituiert,²⁸⁶und „umschreibt, was die Selbstgenügsamkeit des Lebens meint.“²⁸⁷ Die letztere Auffassung hat Heidegger bald revidiert, indem er behauptet, dass die Selbstgenügsamkeit in einer Lebenserfahrung besteht, die ganz von dem Gehalt dominiert wird und zu einer qualitativen Veränderung des Bezugs und des Vollzugs führt.²⁸⁸ Darauf werde ich später eingehen. Für das Verständnis der Spontaneität des Selbst ist entscheidend, dass die Unterscheidung zwischen Gehalt, Bezug und Vollzug nicht nur eine begriffliche Unterscheidung ist, die auf jede Lebenserfahrung angewendet werden kann, sondern dass diese auch in verschiedener Weise vom Bezug und Vollzug dominiert sein kann. Das Gegenteil dazu ist ein Verdrängen. Dominiert der Vollzug, so „kommt es zu einer schöpferischen Gestaltung der Lebenswelt“; ist er dagegen
Heidegger 2007, S. 173 – 174 Heidegger 2010, S. 268 Heidegger 2010, S. 261 Heidegger 2010, S. 261 Heidegger 2010, S. 166 Heidegger 2010, S. 261 Vgl. Heidegger 2011, S. 14– 16
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verdrängt, so „verläuft die Situation im Bezugssinn.“²⁸⁹ Mit der Dominanz von Bezug oder Vollzug ist nicht gemeint, dass es Vollzüge ohne Bezüge, oder Bezüge ohne Vollzüge geben kann. Es geht vielmehr um eine Betonung oder Akzentuierung des Charakters einer Lebenserfahrung. Dominiert der Vollzug, so handelt es sich um Spontaneität, und wir haben es mit einer „schöpferischen Gestaltung der Lebenswelt“ zu tun. Wird der Vollzug verdrängt, so kommt es zu einer Dominanz des Bezugs und des so gegebenen Gehalts.Wichtig ist nun, dass die Dominanz des Vollzugs für Heidegger eine ausgezeichnete Bedeutung hat, denn sie ist „die Spontaneität des lebendigen Selbst, aus der der Grundsinn von „Existenz“ geschöpft werden kann. Dieser Grundsinn des Vollzugs des Selbst in seinem Leben gibt dem Sinn von „Existenz“ seine ursprüngliche Bedeutung… Von hier wird der Sinn der Wirklichkeit in allen Schichten des Lebens verständlich.“²⁹⁰ Wenn „das Selbst im Erfahren seiner selbst die Urwirklichkeit ist“,²⁹¹ dann ist diese Wirklichkeit die Spontaneität des Selbst, und die ursprüngliche Selbsterfahrung ist eine Erfahrung dieser Spontaneität. Die neue Auffassung von Selbsterfahrung mit ihrer monistischen und reduktiven Konzeption von Ursprung und Wirklichkeit steht in einem deutlichen Kontrast zu der Auffassung von Selbsterfahrung, die mit Rekurs auf die Erfahrung des faktischen Lebens expliziert wird, und die durch eine Gleichursprünglichkeit von Mit-, Um- und Selbstwelt ausgezeichnet ist. Jene Auffassung beruht auf einer Analyse des Begriffs der Existenz, die später genauer betrachtet werden soll.²⁹² Die Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks im SS 1920 enthält weiterhin eine Veränderung seiner früheren Überlegungen, welche in der folgenden Vorlesung ‚Einleitung in die Phänomenologie der Religion’ aus dem WS 1920/21 deutlicher fassbar wird. Sie betrifft den Begriff der faktischen Lebenserfahrung, genauer den Begriff der Selbstgenügsamkeit des Lebens. In der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie im WS 1919/20 sollte dieser Begriff den Zusammenhang von Leben und Welt explizieren und zwar in der Weise, dass die „Richtung des Lebens“ in seinen typischen Erfüllungsformen intentionalen Verhaltens betont wurde.²⁹³ Die Selbstgenügsamkeit des Lebens besteht darin, dass „das Leben … immer irgendwie in seiner Welt lebt“, und daher besitzt das faktische Leben eine „Zugespitztheit auf die Selbstwelt“. Denn „mit jedem „Irgendwie“ der Bekundung und des Bekundetseins ist mitgegeben eine Situation der oder einer
Heidegger 2010, S. 261 Heidegger 2010, S. 261 Heidegger 2007, S. 173 S. 65 – 72 Vgl. Heidegger 2010, S. 30 – 32
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Selbstwelt.„²⁹⁴ Das Irgendwie ist eine konstitutive Eigenschaft der Erfahrung des Lebens in einer Welt und begründet eine Zugespitztheit auf die Selbstwelt, weil die Erfahrung an eine Situation des Selbst gebunden ist. In der Nachschrift Becker heißt es, dass die Begriffe von Gehalt, Bezug und Vollzug „umschreiben, was die Selbstgenügsamkeit des Lebens meint.“²⁹⁵ In der Vorlesung im WS 1920/21 werden sie nun für die Beschreibung einer „Eigentümlichkeit der faktischen Lebenserfahrung“, welche in einem Verlust oder Defizit von Selbstwelt bestehen soll, herangezogen.²⁹⁶ Wie kann die Selbstgenügsamkeit zu einem solchen Verlust führen? Der Gehalt der faktischen Lebenserfahrung gehört jeweils zu einer Welt, die in der bekannten Weise in eine Um-, Mit- und Selbstwelt unterschieden wird.²⁹⁷ Das „Wie des Erfahrens jener Welten“ ist der Bezug der faktischen Lebenserfahrung.²⁹⁸ Heidegger behauptet nun, dass „die Art und Weise des Erfahrens nicht mit erfahren wird“, und gibt dafür die folgenden Begründung: „Im Laufe eines faktisch erlebten Tages beschäftige ich mich mit ganz verschiedenartigen Dingen, aber im faktischen Zuge des Lebens kommt mir das verschiedene Wie meines Reagierens auf jenes Verschiedenartige gar nicht zum Bewußtsein, sondern es begegnet mir höchstens in dem Gehalt selbst, den ich erfahre.“²⁹⁹ Es ist sicherlich richtig, dass ich kein Wie erleben oder erfahren kann, ohne dass es ein Was gibt, aber die Umkehrung ist auch richtig. Heidegger gibt ein wenig überzeugendes Beispiel: „Dass ich mich in einem Konzert anders gestimmt fühle als in einer trivialen Unterhaltung, diesen Unterschied erfahre ich lediglich aus den Gehalten. Die Mannigfaltigkeit der Erfahrungen kommt mir nur im erfahrenen Gehalte zum Bewußtsein.“³⁰⁰ Erstens lässt sich Heideggers allgemeine These nicht durch die Berufung auf ein Beispiel begründen, das zudem noch wenig plausibel ist. Weiterhin muss das Wie, die Art und Weise der Erfahrung nichts mit Stimmungen oder Gefühlen zu tun zu haben. Auch wenn ich mich sowohl im Konzert als auch bei der Unterhaltung langweile, sind das Anhören eines Konzerts und das Gespräch mit meinem Nachbarn verschiedene Erfahrungen, die sich sowohl nach Gehalt als auch nach Bezug unterscheiden. Drittens ist bemerkenswert, dass er die Abwesenheit des Bezugs in der faktischen Lebenserfahrung damit begründet, dass der Bezug nicht „zum Bewußtsein kommt“. Was ist damit gemeint? Kann ich
Heidegger 2010, S. 76 Heidegger 2020, S. 261 Heidegger 2011, S. 11; vgl. 2007, S. 37 Heidegger 2011, S. 11 Heidegger 2011, S. 12 Heidegger 2011, S. 12 Heidegger 2011, S. 16
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nur dann zwischen meinem Besuch eines Konzerts und meiner Beteiligung an einer trivialen Unterhaltung unterscheiden, wenn ich mir jeweils meines Verhaltens in dem Sinne bewusst bin, dass ich auf die Art meiner Erfahrung reflektiere und sie explizit repräsentiere? Die Explikation dessen, was zur faktischen Lebenserfahrung gehört, mit Rekurs auf das, was dabei „zu Bewußtsein kommt“, sollte sich schon deswegen verbieten, weil der Begriff des Bewusstseins ungeklärt ist, wie Heidegger an anderen Stellen nicht müde wird zu betonen.³⁰¹ Aus all dem ergibt sich, dass die von ihm herausgestellte „Eigentümlichkeit der faktischen Lebenserfahrung“ nicht begründet wird, und dass ihre Beschreibung begrifflich unbefriedigend ist. Die angebliche Eigentümlichkeit erinnert an eine andere, von ihm betonte Eigentümlichkeit dieser Erfahrung, die in der vorhergehenden Vorlesung erwähnt und auch mit Hilfe der Unterscheidung zwischen Gehalt, Bezug und Vollzug beschrieben wird. Es geht um den „Charakter der faktischen Lebenserfahrung“, der als Verblassen der Bedeutsamkeit bezeichnet wird und darin bestehen soll, dass „ein Übergang in das Stadium und in den Modus der Nicht-Ursprünglichkeit, wo die Echtheit des Vollzugs, vorab die Vollzugserneuerung fehlen, die Bezüge selbst sich abschleifen, und wo lediglich der selbst nicht mehr ursprünglich gehabte Gehalt „interessiert““, erfolgt.³⁰² Dies soll besagen, dass „die faktische Lebenserfahrung sich ganz in den Gehalt legt …“³⁰³ Weder der Bezug noch sein Vollzug werden in ihr „mit erfahren“. Beide von Heidegger genannten „Eigentümlichkeiten faktischer Lebenserfahrung“ sind defizitäre Formen der Erfahrung, bei denen die Momente des Bezugs oder des Vollzugs verloren gehen. Dass es sich so verhält, wird aber nicht anhand von Beispielen ausgewiesen oder sonst irgendwie begründet. Er will vielmehr einen neuen Begriff faktischer Lebenserfahrung einführen, der als „abfallende, bezugsmäßig-indifferente, selbstgenügsame Bedeutsamkeitsbekümmerung“ bestimmt wird.³⁰⁴ Es ist dieser Begriff, durch den das Phänomen der Selbstgenügsamkeit des Lebens neu und anders bestimmt wird. Heidegger schreibt: „Die Unterschiede und Akzentwechsel liegen ganz im Gehalt selbst. Diese Indifferenz begründet also die Selbstgenügsamkeit der faktischen Lebenserfahrung.“³⁰⁵ Demgegenüber heißt es in der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie im WS 1919/20: „Unser Leben ist unsere Welt – und selten so, dass wir zusehen, sondern immer, wenn auch ganz unauffällig, versteckt, „dabei sind“: „gefesselt“, „abgestoßen“, „genießend“, „entsagend“. „Wir
Vgl. Heidegger 2010, S. 117 Heidegger 2007, S. 37 Heidegger 2011, S. 12 Heidegger 2011, S. 16 Heidegger 2011, S. 12
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begegnen immer irgendwie“.“³⁰⁶ Dieses selbstgenügsame Leben wird nicht unabhängig von und indifferent zu Bezügen erfahren; es ist ein Leben, das „immer irgendwie in seiner Welt lebt“, und dieses Wie ist ein konstitutives Moment der Erfahrung eines solchen Lebens.³⁰⁷ Die verschiedenen Bestimmungen der Selbstgenügsamkeit reflektieren einen unterschiedlichen Zugang zu diesem Phänomen. In der früheren Vorlesung ging es Heidegger darum, deutlich zu machen, dass „das Leben nun einmal so ist, es sich so gibt.“³⁰⁸ Der Begriff der Selbstgenügsamkeit diente einem deskriptiven Projekt, das „lauter Selbstverständlichkeiten“ konstatiert.³⁰⁹ Demgegenüber geht es jetzt darum, das Phänomen durch die Indifferenz im Hinblick auf Bezug und Vollzug als einen „Abfall der faktischen Lebenserfahrung in die Bedeutsamkeit“ und somit als eine defizitäre Verhaltensweise zu bestimmen.³¹⁰ Diese Auffassung beruht auf den Annahmen eines „ursprünglichen Vollzugs“ und einer selbstweltlichen Existenz des Daseins als „Urwirklichkeit“ und gehört zu dem explanatorischen Projekt, die faktische Lebenserfahrung von einem solchen Ursprung her verständlich zu machen. Heidegger betont einen „Charakter“ der faktischen Lebenserfahrung: „Es ist das die Eigentümlichkeit, die ich als Verblassen der Bedeutsamkeit bezeichne. Es ist kein Verschwinden, sondern ein Verblassen, d. h. ein Übergang in das Stadium und in den Modus der Nicht-Ursprünglichkeit, wo die Echtheit des Vollzugs, vorab die Vollzugserneuerung fehlen …“³¹¹ Das Verblassen der Bedeutsamkeit betrifft den Gehalt der Lebenserfahrung und dadurch auch ihren Bezugs- und Vollzugscharakter. Man kann dies in einem allgemeinen, aber auch in einem speziellen Sinne verstehen. Da die Bedeutsamkeit in dem Weltbezug unseres Erlebens und Lebens und in der damit gegebenen Verständlichkeit gründet, kann das Verblassen als eine Abschwächung dieses Bezugs der Lebenserfahrung, also als ein Verlust an Vernetzung von Selbst-, Mit- und Umwelt insgesamt angesehen werden. Oder es kann gemeint sein, dass das Verblassen als „ein Übergang in das Stadium und in den Modus der Nicht-Ursprünglichkeit“ speziell die Selbstwelt-Bezogenheit der Lebenserfahrung betrifft. Der Verlust dieses Bezugs wäre dann auf dem Hintergrund des ursprüngliche Vollzug in dem oben erläuterten Sinne zu verstehen,³¹² und das Verblassen der Bedeutsamkeit bestände in der Abwesenheit
Heidegger 2010, S. 33 – 34 Heidegger 2010, S. 34 Heidegger 2010, S. 35 Heidegger 2010, S. 31 Heidegger 2011, S. 15; Pöggeler 1963, S. 27, bemerkt nicht die unterschiedlichen Beurteilungen der Selbstgenügsamkeit. Heidegger 2007, S. 37 Vgl. S. 44
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einer „rein selbstweltlich gerichteten Bedeutsamkeit“.³¹³ Dass Heidegger dies meint, zeigt die Behauptung, dass „der Gehalt der faktischen Lebenserfahrung aus dem Existenzbezug abfällt gegen andere Gehalte …“³¹⁴ Es handelt sich demnach um einen Abfall in mit- und umweltliche Bedeutsamkeiten und um den Verlust einer rein selbstweltlichen Bedeutsamkeit, wie er ihn am Beispiel der Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit beschrieben hatte.³¹⁵ Die Eigentümlichkeit der Lebenserfahrung, die er als Verblassen der Bedeutsamkeit bezeichnet, muss daher auf dem Hintergrund der Annahme der exklusiven und ausgezeichneten Position der reinen selbstweltlichen Bedeutsamkeit für die faktische Lebenserfahrung gesehen werden. Die Konzeption einer reinen selbstweltlichen Bedeutsamkeit führt nicht nur zu einer neuen Interpretation zentraler Begriffe, sondern sie bewirkt auch eine Veränderung von Heideggers Auffassung des Verhältnisses von Selbst und Welt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass er in den hier betrachteten Vorlesungen drei verschiedene Auffassungen vertritt, und dass die Rolle der Selbstwelt jeweils anders bestimmt wird. Es geht, ganz allgemein gesagt, um die „funktionale Betontheit der Selbstwelt“, darum dass der „von der Selbstwelt her betonte Charakter der Um- und Mitwelt“ deutlich gemacht werden soll.³¹⁶ Worin besteht diese Betontheit? Heidegger schreibt: „Die Lebenswelt bekundet sich in den und den Weisen in und für eine jeweilige Situation der Selbstwelt. Diese labile, fließende Zuständlichkeit bestimmt als Situationscharakter immer das „Irgendwie“ der Lebenswelt.“³¹⁷ Dass die Lebenswelt sich in einer Situation der Selbstwelt bekundet, besagt, dass eine Lebenswelt gelebt wird, und dass dieses Leben irgendwie erfahren. Das Irgendwie der Lebenswelt ist ihre an eine Situation des Subjekts des Lebens gebundene und darin fundierte Art und Weise, wie sie erfahren wird. In diesem Sinne gibt es eine „Zugekehrtheit aller Lebensbegegnisse … zur Selbstwelt.“,³¹⁸ und diese Welt wird als Zentrum der Lebensbezüge bezeichnet.³¹⁹ Daher besitzen die Um- und Mitwelt einen „von der Selbstwelt her betonten Charakter“.³²⁰ Die in dem Irgendwie der Lebenswelt begründete funktionale Betontheit der Selbstwelt wird in dem ersten Teil der Vorlesung Grundprobleme der Phänome-
Heidegger 2007, S. 84 Heidegger 2001, S. 37 Vgl. Heidegger 2007, S. 84 Heidegger 2020, S. 60 Heidegger 2010, S. 62 Heidegger 2010, S. 63 – 64 Heidegger 2010, S. 87 Heidegger 2010, S. 60
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nologie im Hinblick auf die Umwelt am Beispiel meiner emotionalen Zustände und anderer Reaktionen, die meine „Wanderung durch den herbstlichen Wald“ begleiten, illustriert.³²¹ Im Hinblick auf die Mitwelt verweist Heidegger auf gemeinsames Erleben und Handeln. Was die explizite Erfahrung meiner Selbstwelt angeht, spricht er davon, dass „ich ein Selbst nur in und durch seine Leistungen und Schicksale erfahre, die selbst den einheitlichen Charakter der Lebenswirklichkeit haben …“³²² Diese Beispiele lassen sich in verschiedener Weise deuten, aber wir hatte gesehen, dass in diesem Teil der Vorlesung die Betontheit der Selbstwelt paradigmatisch durch die Rolle der „Welt der inneren Erfahrungen“ für die Lebenserfahrung erklärt wird. Demgegenüber wird im zweiten Teil der Vorlesung diese Betontheit grundsätzlicher bestimmt. Da jedes Leben „weltlich gesäumt“ ist, und ich in „Bedeutsamkeitszusammenhängen“ lebe, besteht die Selbstwelt darin, dass und wie ich mich in meiner Lebenserfahrung „habe“ ³²³ Dieses Michselbsthaben betrifft gleichursprünglich mein Leben in Um-, Mit- und Selbstwelt und wird als der „verständliche Zusammenhang“ dieses Lebens bestimmt.³²⁴ Expliziert man die funktionale Betontheit der Selbstwelt mit Rekurs auf dieses Michselbsthaben, so besteht sie in der mir „verständlichen Situation“, die konstitutiv für mein Leben und meine Lebenserfahrung ist.³²⁵ Diese Betontheit impliziert nicht irgendeine Priorität einer „personalen Welt“, wie sie mit der Betonung der Welt der inneren Erfahrungen durch das Christentum entstanden ist, sondern ergibt sich aus dem allgemeinen Zusammenhang zwischen dem Irgendwie der Lebenserfahrung und der Situation einer Lebenswelt.³²⁶ Sie ist also eine fundamentale Eigenschaft jeder Lebenserfahrung von welcher Welt auch immer. In der Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks im SS 1920 findet sich eine dritte Explikation der „funktionalen Betontheit der Selbstwelt“, die sich von den beiden vorher betrachteten grundsätzlich unterscheidet. Sie besteht in der Konzeption einer „reinen selbstweltlichen Bedeutsamkeit“. In der Nachschrift Becker heißt es: „Man kann leben, ohne sich selbst zu haben.“³²⁷ Diese Möglichkeit war in dem zweiten Teil der früheren Vorlesung, die sich mit dem Michselbsthaben in einer Welt beschäftigt, nicht erwogen worden. In der Vorlesung im SS 1920 wird sie wieder thematisiert: „Der Mensch kann da sein,
Heidegger 2010, S. 96 Heidegger 2010, S. 114 Heidegger 2010, S. 156 – 157 Heidegger 2010, S. 165 Vgl. Heidegger 2010, S. 166 Vgl. Heidegger 2010, S. 76 Heidegger 2010, S. 260
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Dasein haben, ohne zu existieren.“³²⁸ Durch die Existenz soll nun dasjenige, was den „Charakter faktischer Lebensbedeutsamkeit“ hat, „zugespitzt sein mit der Richtung auf die Selbstwelt“.³²⁹ Wie eine so begründete funktionale Betontheit der Selbstwelt zu verstehen ist, kann an den von Heidegger gegebenen Beispielen deutlich gemacht werden. Er schreibt: „Die vergangenen Leistungen, auch die misslungenen Versuche und die Fehlleistungen, ferner Begegnungen, Begebenheiten sowie Gepflogenheiten können mit eine Rolle spielen – und doch machen sie selbstweltliche Existenz nicht aus.“³³⁰ Die Unterscheidung zwischen dem, was eine selbstweltliche Existenz ausmacht, und dem, was dafür nur „mit eine Rolle spielt“, kann in verschiedener Weise getroffen werden, und im Hinblick auf ein diachrones Verständnis einer solchen Existenz besteht ohne Zweifel die Möglichkeit, dass die genannten Sachverhalte zwar eine Rolle spielen, aber dass sie das „aktuelle Dasein“ nicht wirklich ausmachen. Aber es besteht natürlich auch die Möglichkeit, dass sie die aktuelle selbstweltliche Existenz ausmachen. Dass Heidegger dies bestreitet, erklärt sich durch die Annahme einer „reinen selbstweltlichen Bedeutsamkeit“, welche eine neue Interpretation der funktionalen Betontheit der Selbstwelt ergibt. Diese Annahme basiert auf der Konzeption des „ursprünglichen Vollzugs“³³¹ und führt sowohl zu der Auszeichnung von Bezügen, die „selbstweltlich gerichtet“ sind, vor Bezügen, die sich auf die Um- oder Mitwelt beziehen, als auch zu der Auszeichnung von Vollzügen, die hier und jetzt das aktuelle Dasein ausmachen, vor Vollzügen, die zur Lebensgeschichte einer Person gehören. Demnach kann nur der Gehalt solcher Bezüge eine „reine selbstweltliche Bedeutsamkeit“ besitzen, welche in dieser zweifachen Weise ausgezeichnet sind. Es handelt sich um Bezüge, die „das Selbst im aktuellen Vollzug der Lebenserfahrung“ ausmachen.³³² Aber diese Auszeichnungen werden nicht begründet; und sie führen zu einer reduktiven Auffassung der Selbstwelt, die nicht mehr in einem lebendigen, wechselseitigen Zusammenhang mit einer Um- und Mitwelt steht. Die Selbstwelt ist eine isolierte „Urwirklichkeit“, deren ursprüngliche Erfahrung als Bekümmerung des Selbst bestimmt wird und sich von der faktischen Lebenserfahrung, die gleichursprünglich Selbst-, Mit- und Umwelt betrifft, unterscheidet. Für diese Erfahrung soll ein „Verblassen der Bedeutsamkeit“ charakteristisch sein, womit ein Defizit an „reiner selbstweltlicher Bedeutsamkeit“
Heidegger 2007, S. 82 Heidegger 2007, S. 82 Heidegger 2007, S. 81 Heidegger 2007, S. 75 Heidegger 2007, S. 173
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gemeint ist.³³³ Hier haben wir es mit einem „Abfall einer rein selbstweltlichen Bedeutsamkeit in die umweltliche …“ und wohl auch mitweltliche Bedeutsamkeit zu tun.³³⁴ Entsprechend heißt es, dass „die Bekümmerung des Selbst eine ständige Sorge um das Abgleiten aus dem Ursprung ist.“³³⁵ Der Ursprung ist „das Selbst im aktuellen Vollzug der Lebenserfahrung“ – „die Urwirklichkeit“. Mit dieser fundamentalistischen Konzeption eines isolierten Selbst verspielt Heidegger all die Möglichkeiten, die eine integrierte Betrachtung des lebendigen, wechselseitigen Zusammenhangs zwischen Selbst-, Mit- und Umwelt als Gehalt unserer Lebenserfahrung im Michselbsthaben in einer Welt eröffnet hatten. Wir haben es also mit verschiedenen Modellen zu tun, die für das Verhältnis von Selbst und Welt, für die Beziehung zwischen Selbstwelt und Lebenswelt entwickelt werden. Einerseits wird das Selbst als etwas gedacht, das wesentlich in der Welt ist, und daher gehört die Selbstwelt zu einer Lebenswelt, die durch eine dynamische, wechselseitige Abhängigkeit von Selbst-, Mit- und Umwelt charakterisiert ist. Die besondere Rolle der Selbstwelt kann dabei psychologisch durch eine „Welt der inneren Erfahrungen“ oder aber durch die Konzeption eines Michselbsthabens in einer Welt erklärt werden. Andererseits wird das Selbst als Ursprung und Urwirklichkeit gedacht; und seine Erfahrung, als Bekümmerung des Selbst bestimmt, besteht allein in seinem „aktuellen Vollzug der Lebenserfahrung“. Das Michselbsthaben reduziert sich auf eine Lebenswelt, die nur eine „reine selbstweltliche Bedeutsamkeit“ besitzt. Diese neue Konzeption der funktionalen Betontheit der Selbstwelt verliert die Einsichten aus dem Blick, die sich in seinen früheren Überlegungen finden. Auch Heideggers Auffassung der faktischen Lebenserfahrung und ihrer Rolle für die Philosophie ändert sich in den hier betrachteten Vorlesungen. Das Projekt, „die Vorherrschaft des Theoretischen zu brechen“, sollte durch eine Analyse der faktischen Lebenserfahrung realisiert werden. Da diese Erfahrung in der Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks anders als früher verstanden wird, stellt sich auch das Verhältnis der Philosophie zu der Lebenserfahrung jeweils anders dar. In der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie im WS 1919/20 wird die Philosophie im Anschluss an Husserl als „Ursprungswissenschaft vom Leben“ verstanden,³³⁶ die als eine „Ursprungswissenschaft des faktischen Lebens an sich“ expliziert werden soll.³³⁷ Die faktische Lebenserfahrung ist sowohl eine Erfahrung von etwas Faktischem als auch selber ein Faktum.
Heidegger 2007, S. 37 Heidegger 2007, S. 84 Heidegger 2007, S. 173 Heidegger 2010, S. 81 Heidegger 2010, S. 65
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Sie ist das Erste, weil es sich um „eine faktisch volle unabgehobene Lebenserfahrung …, die uns unmittelbar zugänglich ist, die wir selbst sind und die wir selbst faktisch leben“, handelt.³³⁸ Es geht um eine Erfahrung unseres Lebens „in seiner allgemeinsten Typik“;³³⁹ und ihre Beschreibung stellt fest, dass „das Leben so ist, wie wir es aus ihm selbst und in ihm selbst stehend erfahren …“³⁴⁰ Diese Erfahrung ist selber auch ein Faktum, sie ist „keine besonders ausgefallene Lebenserfahrung – ad hoc zurechtgemacht – …“ , die durch „Trivialitäten, Alltäglichkeiten“ verdeutlicht werden kann.³⁴¹ Die Beziehung, in der die Philosophie zur faktischen Lebenserfahrung steht, ergibt sich durch ihr Thema, „das Leben aus seinem Ursprung“ zu verstehen, und die philosophische Beschäftigung mit dieser Erfahrung ist ein deskriptives Projekt, das dem Faktum einer Erfahrung von etwas Faktischem gewidmet ist. Wenn ein solches Projekt „die Vorherrschaft des Theoretischen“ brechen soll, dann wird diese Vorherrschaft dadurch beendet, dass man sich einer faktischen Erfahrung von einem Faktum zuwendet. Dieses Faktum entzieht sich nach Heideggers Meinung einem theoretischen Zugang, bei dem Erklärungen und Hypothesen eine Rolle spielen, und wird durch die Beschreibung von „Selbstverständlichkeiten“ erfasst. In der folgenden Vorlesung im SS 1920 findet sich eine ganz andere Vorstellung über das Verhältnis von Philosophie und faktischer Lebenserfahrung. Sie wird als ein „Element der faktischen Lebenserfahrung“ bezeichnet.³⁴² Was damit gemeint ist, wird zu Beginn der Vorlesung Einleitung in die Phänomenologie der Religion im WS 1920/21 so erläutert: „Das Problem des Selbstverständnisses der Philosophie wurde immer zu leicht genommen. Fasst man dieses Problem radikal, so findet man, dass die Philosophie der faktischen Lebenserfahrung entspringt.“³⁴³ Demnach wird das Interesse an der faktischen Lebenserfahrung von dem Projekt bestimmt, ein oder ein neues Selbstverständnis der Philosophie zu gewinnen. Dieses Projekt motiviert die philosophische Beschäftigung mit der faktischen Lebenserfahrung und soll die Frage, „wie sich das Philosophieren selbst im Gegenhalt zur wissenschaftlich-theoretischen Sacheinstellung ursprungsmäßig … bestimmt“, beantworten.³⁴⁴ Kurz gesagt: Es geht um den Unterschied zwischen Philosophie und Wissenschaft, wenn Heidegger im Ausgang von der faktischen Lebenserfahrung ihre Beziehung zueinander diskutiert.
Heidegger 2010, S. 102 Heidegger 2010, S. 30 Heidegger 2010, S. 34 Heidegger 2010, S. 103 Heidegger 2007, S. 36 Heidegger 2011, S. 8 Heidegger 2007, S. 8
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Diese Erfahrung ist „der Ausgangspunkt des Weges zur Philosophie“,³⁴⁵ aber dieser Weg führt zu einem Ziel, das wenig mit seinem Ausgangspunkt zu tun hat. Denn der Weg „führt gewissermaßen nur vor die Philosophie, nicht bis zu ihr hin.“³⁴⁶ Diese Metaphern sollen ein Verhältnis von Philosophie und faktischer Lebenserfahrung beschreiben, das in einer „Umwandlung“ der letzteren durch die erstere bestehen soll. Die Philosophie verändert also die faktische Lebenserfahrung, genauer die „abfallende Tendenz der faktischen Lebenserfahrung, ständig in die Bedeutungszusammenhänge der faktisch erfahrenen Welt hinein zu tendieren“.³⁴⁷ Dies impliziert eine Korrektur der faktischen Lebenserfahrung, sowohl des Faktischen dieser Erfahrung als auch des Faktischen, von dem sie eine Erfahrung ist. Damit verändert sich das Verhältnis der Philosophie zur faktischen Lebenserfahrung grundlegend. Die Philosophie ist nicht mehr eine deskriptive Explikation einer faktischen Erfahrung von etwas Faktischem, sondern sie hat nun „die Aufgabe, die Faktizität des Lebens zu erhalten und die Faktizität des Daseins zu stärken.“³⁴⁸ Diese Aufgabe kann sie nur erfüllen, wenn es ihr um „die Bekümmerung des Selbst ›als‹ eine ständige Sorge um das Abgleiten aus dem Ursprung“ geht³⁴⁹ und sich gegen den Abfall des „Gehalts der faktischen Lebenserfahrung aus dem Existenzbezug“ wendet.³⁵⁰ Die Faktizität des Daseins ist kein Faktum; und die Beschäftigung mit ihr kann nicht eine Explikation des Faktischen der Lebenserfahrung sein. Es ist diese neue, radikal veränderte Konzeption von Philosophie, die Heidegger in der Folge als Hermeneutik der Faktizität realisiert. Die neue Auffassung der faktischen Lebenserfahrung führt zu einer anderen Beschreibung des faktischen Lebens: Es ist ein Leben ohne ein Sichselbsthaben. Ein solches Leben wird zum ersten Mal in der Nachschrift Becker im WS 1919/20 erwähnt: „Man kann leben, ohne sich selbst zu haben.“³⁵¹ In der folgenden Vorlesung heißt es: „Der Mensch kann da sein, Dasein haben, ohne zu existieren.“ ³⁵² In der früheren Vorlesung hatte er darauf hingewiesen, dass „das Michselbsthaben … der lebendige Prozeß des Gewinnes und Verlierens des Vertrautseins mit dem konkret gelebten Leben selbst ist …“³⁵³ Das Michselbsthaben ist also kein
Heidegger 2011, S. 10 Heidegger 2011, S. 10 Heidegger 2011, S. 17 Heidegger 2007, S. 174 Heidegger 2007, S. 173 Heidegger 2007, S. 37 Heidegger 2010, S. 260 Heidegger 2007, S. 82 Heidegger 2010, S. 165
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Zustand, sondern ein ständiger Prozess, der verschiedene Grade des Vertrautseins mit dem eigenen Leben und der gelebten Welt besitzt und daher auch die Möglichkeit des Verlusts eines solchen Vertrautseins, die Möglichkeit, dass „das Erfahrene selbst meiner Existenz die schwersten Rätsel vorlegen“, einschließt.³⁵⁴ Diese Möglichkeit wird im Folgenden nicht als eine der vielen graduellen Formen des Michselbsthabens, sondern als ein Verlust, als ein Defizit des Michselbsthabens verstanden. Sie soll eine konstitutive Eigenschaft faktischer Lebenserfahrung sein und wird mit Hilfe der terminologischen Unterscheidung von Gehalt, Bezug und Vollzug in zwei verschiedenen Weisen beschrieben. Heidegger spricht von einem Verblassen der Bedeutsamkeit als einem „Charakter der faktischen Lebenserfahrung“ und meint damit, dass „die Echtheit des Vollzugs, vorab die Vollzugserneuerung fehlen, wo die Bezüge selbst sich abschleifen, und wo lediglich der selbst nicht mehr ursprünglich gehabte Gehalt ›interessiert‹.“ ³⁵⁵ Am Beispiel der in dieser Vorlesung diskutierten Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit wird eine solche Lebenserfahrung als eine „Erneuerung der Vergangenheit“ bezeichnet, welche die Möglichkeit selbstweltlicher Existenz „abdrängt“ und das Dasein „an umweltlichen und mitweltlichen Bedeutsamkeiten festhält“.³⁵⁶ Heidegger spricht auch davon, dass „die selbstweltlichen Bedeutsamkeiten“ in solche Bedeutsamkeiten „zurückfallen“, oder von einem „ Abfall einer rein selbstweltlich gerichteten Bedeutsamkeit in die umweltliche …“³⁵⁷ Was folgt aus dieser Beschaffenheit der faktischen Lebenserfahrung für ein Leben, dem ein Sichselbsthaben fehlt? Es ist ein Leben, das in einem solchen Vollzug von Bezügen besteht, der nicht die selbstweltliche Existenz des Daseins konstituiert. Als Beispiel wird eine Lebenserfahrung erwähnt, die sich auf die eigene Vergangenheit bezieht: „Die vergangenen Leistungen, auch die misslungenen Versuche und Fehlleistungen, ferner Begegnungen, Begebenheiten sowie Gepflogenheiten … und doch machen sie selbstweltliche Existenz nicht aus.“³⁵⁸ Aber welcher Vollzug von welchen Bezügen macht denn eine solche Existenz aus? Dies hängt von der Art des Vollzugs, von dem Bezug und seinen Inhalten ab. Heidegger spricht von einem „lebendigen Beteiligtsein“ ³⁵⁹ – ein Gesichtspunkt, der vielleicht mit dem, was heute als participant point of view bezeichnet wird, in Beziehung gesetzt werden kann – und unterscheidet zwischen Bezügen, die an
Heidegger 2010, S. 165 Heidegger 2007, S. 37 Heidegger 2007, S. 82 Heidegger 2007, S. 83 – 84 Heidegger 2007, S. 81 Heidegger 2007, S. 173
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1 Das Selbst des faktischen Lebens
der „Oberfläche des Selbst“ gelebt werden, und Bezügen, die „in der Tiefe des Selbst“ vollzogen werden.³⁶⁰ Aber diese Metaphern werden nicht aus buchstabiert, und es bleibt bei der allgemeinen, vagen Idee einer „selbstweltlichen Konkretion aktuellen Daseins“.³⁶¹ Im Lichte des Verblassens der Bedeutsamkeit faktischer Lebenserfahrung schließt diese Konkretion Bezüge mit einer mit- oder umweltlichen Bedeutsamkeit aus. Wenn das Leben, das auf diese Weise erfahren wird, ein Leben ohne ein Sichselbsthaben sein soll, dann handelt es sich um eine Erfahrung, die keine „rein selbstweltlich gerichtete Bedeutsamkeit“ besitzt.³⁶² Demnach sind Bezüge, deren Gehalt eine solche Bedeutsamkeit besitzt, notwendig und hinreichend für ein Sichselbsthaben. Wird damit aber nicht eine „spezifisch abgehobene „ichliche“ Bezugssinnrichtung dieses Habens“ angenommen, die Heidegger gerade vermeiden will?³⁶³ Ein anderes Verständnis eines Lebens ohne ein Sichselbsthaben ergibt sich, wenn man von der „Indifferenz in Bezug auf die Weise des Erfahrens“ ausgeht.³⁶⁴ Sie ist eine wichtige Eigenschaft der faktischen Lebenserfahrung, weil sie sowohl ihre Selbstgenügsamkeit als auch den Abfall in die Bedeutsamkeit begründen soll.³⁶⁵ Diese Indifferenz betrifft das Erfahren, nicht das, was erfahren wird. Es geht nicht darum, dass es Gehalte gibt, die invariant gegenüber verschiedenen Bezügen sind, dass also verschiedene Einstellungen denselben Inhalt haben können. Heidegger behauptet: „Die Mannigfaltigkeit der Erfahrungen kommt mir nur im erfahrenen Gehalte zum Bewußtsein. Die Weise des Dabeiseins und von der Welt Mitgenommenwerdens des Ich ist also eine indifferente …“³⁶⁶ Dies erinnert an seine Analyse des Umwelterlebnisses in der ersten Vorlesung.³⁶⁷ Man kann daraus entnehmen, dass die Indifferenz die Beziehung des Selbst zur Welt betrifft. Das Leben ist „weltlich gesäumt“.³⁶⁸ Ein „bezugsmäßig-indifferentes“ Verhältnis zur Welt besteht nicht darin, dass man dasselbe Verhältnis zu verschiedenen Inhalten der Lebenserfahrung hat. Denn die Beispiele, auf die Heidegger sich beruft, wie die verschiedenen Beschäftigungen während eines „faktisch erlebten Tages“ oder die verschiedenen Stimmungen in einem Konzert und bei einer trivialen Unterhaltung, zeigen ja sicherlich nicht, dass man denselben
Vgl. Heidegger 2010, S. 260 Heidegger 2007, S. 170 Heidegger 2007, S. 84 Vgl. Heidegger 1994a, S. 171– 172 Heidegger 2011, S. 12 Vgl. Heidegger 2011, S. 16 Heidegger 2011, S. 16 Vgl. Heidegger 1999, S. 73; 75 Heidegger 2010, S. 157
1.2 Die Bekümmerung des Selbst
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Bezug in den verschiedenen Situationen hat. Er betont, dass „sich die Unterschiede dessen, was ich erfahre, im Gehalt abspielen.“³⁶⁹ Und offensichtlich nur darin. Wir hatten schon gesehen, dass diese wenig plausible These nicht begründet wird. Aber wenn sie wahr wäre, dann würde dies bedeuten, dass die faktische Lebenserfahrung etwas ausblenden oder vernachlässigen würde, was für das Verhältnis von Selbst und Welt von zentraler Bedeutung ist: Wie ich mich zu den Inhalten meiner Lebenserfahrung verhalte. Dazu heißt es: „… im faktischen Leben kommt mir das Wie meines Reagierens gar nicht zu Bewußtsein …“³⁷⁰ Sieht man einmal von der unklaren Berufung darauf, dass einem etwas zu Bewusstsein kommt, ab, so meint Heidegger nicht, dass dieses Wie sich nicht ändert und konstant dasselbe bleibt. Es ergibt sich vielmehr durch die routinierte Praxis meines Reagierens und nicht durch Überlegung und eigene Entscheidung. Die Indifferenz des Bezugs der faktischen Lebenserfahrung betrifft mein Verhalten zu den Bezügen, die ich nicht bewusst wähle, sondern die sich mir aufdrängen, und die ich als gegeben hinnehme. Diesen Charakter der faktischen Lebenserfahrung hat Heidegger im Rahmen seiner Hermeneutik der Faktizität als Alltäglichkeit und als Konformismus des Man beschrieben. Für die Interpretation eines Lebens, dem ein Sichselbsthaben abgeht, ergibt sich daraus, dass es sich um ein Leben handelt, bei dem die Bezüge auf das, was jeweils in der Lebenswelt begegnet, sich „von selbst“ ergeben. Sie werden nicht durch eigene Überlegungen oder aufgrund von Entscheidungen erworben. Heideggers Konzeption der faktischen Lebenserfahrung, wie sie in der Vorlesung im SS 1920 und im folgenden Semester entwickelt wird, erlaubt also zwei verschiedene Deutungen eines Lebens ohne ein Sichselbsthaben. Sie sind nicht inkompatibel miteinander, sondern betonen jeweils andere Aspekte eines solchen Lebens, und ihnen liegen jeweils andere Bestimmungen dessen zugrunde, worin ein Sichselbsthaben besteht. Orientiert man sich an der ersten Vorlesung, so handelt es sich um ein Leben, dessen Erfahrung keine Bezüge, die eine rein selbstweltliche Bedeutsamkeit haben, besitzt. Die Lebenswelt erschöpft sich in mit- und umweltlicher Bedeutsamkeit. Nun wird aber jedes Leben in einer „Zugespitztheit auf die Selbstwelt“ erfahren. Es hat sich gezeigt, dass diese Zugespitztheit auf verschiedene Weise verstanden werden kann. Identifiziert man sie mit Bezügen, die eine rein selbstweltliche Bedeutsamkeit haben, dann lässt sich die faktische Lebenserfahrung nicht mehr als die Erfahrung eines Lebens ansehen. Das ist wenig plausibel. Sie ist sicherlich eine Erfahrung, die an der „Urwirklichkeit“ des „Selbst im aktuellen Vollzug der Lebenserfahrung“ vorbei-
Heidegger 2011, S. 16 Heidegger 2011, S. 12
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geht,³⁷¹ und ein Leben betrifft, dem „die Bekümmerung des Selbst … als eine ständige Sorge um das Abgleiten aus dem Ursprung“ fehlt.³⁷² Ein Leben, dem ein Sichselbsthaben abgeht, ist ein Leben, das in um- und mitweltliche Bedeutsamkeiten abfällt und nicht aus seinem Ursprung lebt. Es ist ein „verdorbenes aktuelles selbstweltliches Dasein“.³⁷³ Orientiert man sich dagegen an Heideggers Auffassung der faktischen Lebenserfahrung, die er in der Vorlesung Einleitung in die Phänomenologie der Religion vertritt, so besteht ein solches Leben darin, dass die Bezüge zu dem, was in der Lebenswelt begegnet, sich „wie von selbst“ ergeben und nicht eigens bedacht oder gewählt werden. Für die Interpretation des Sichselbsthabens ergibt sich daraus, dass das Fehlen von Bezügen, die eine rein selbstweltliche Bedeutsamkeit besitzen, einerseits als eine hinreichende Bedingung für einen Verlust des Sichselbsthabens angesehen wird, während andererseits ein alltägliches, routiniertes Verhalten eine solche Bedingung ist. Dies bedeutet, dass zum einen solche Bezüge eine notwendige Bedingung für ein Sichselbsthaben sind, und zum anderen dieses nur dann gegeben ist, wenn das Leben sich aus seiner Alltäglichkeit befreit. Beiden Auffassungen spielen eine zentrale Rolle in dem Projekt, das Heidegger in späteren Vorlesungen als Hermeneutik der Faktizität verfolgt. Nachdem wir Heideggers Überlegungen zu einem Leben, dem ein Sichselbsthaben abgeht, kennengelernt haben, müssen wir nun seine neue Deutung des Sichselbsthabens betrachten. In ihrem Mittelpunkt steht der Begriff der Existenz eine. In der Nachschrift Becker heißt es: „Das letzte Phänomen ist die Spontaneität des lebendigen Selbst, aus der der Grundsinn von „Existenz“ geschöpft werden kann. Dieser Grundsinn des Vollzugs des Selbst in seinem Leben gibt dem Sinn von „Existenz“ seine ursprüngliche Bedeutung.“³⁷⁴ Im ersten Teil derselben Vorlesung behauptet Heidegger demgegenüber, dass „der Sinn von „Existenz“ im faktischen Leben in den aktuell erfahrenen, erinnerten oder erwarteten Bedeutsamkeiten liegt …“ ³⁷⁵ Die Differenz zwischen den beiden Thesen ist eine dreifache. Die erste betrifft die Semantik des Wortes ‚Existenz’: Während vorher von einem einheitlichen Sinn des Wortes die Rede ist, geht es ihm später um einen Grundsinn oder eine ursprüngliche Bedeutung. Was damit gemeint ist, wird jedoch nicht erläutert. Der zweite Unterschied betrifft die Extension des Wortes. Wird es vorher auf all das angewandt, was in einer Lebenswelt eine Bedeutsamkeit besitzt, bezieht es sich später auf das einzelne Selbst in seinem je
Heidegger 2007, S. 173 Heidegger 2007, S. 173 Heidegger 2007, S. 173 Heidegger 2010, S. 261 Heidegger 2010, S. 106
1.2 Die Bekümmerung des Selbst
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weiligen Leben. Während vorher wir sind oder das-und-das gibt es genuine Fälle von dem, was existiert, sind, konzentriert oder beschränkt sich Heidegger später ganz auf ein ich bin, das im Vollzug ist.³⁷⁶ Schließlich unterscheidet sich die Fundierung des Sinns von ‚Existenz’ in den Bedeutsamkeiten einer Lebenswelt, die in den verschiedenen Einstellungen aktueller Erfahrung, Erinnerung und Erwartung zugänglich ist, von der einseitigen Betonung eines aktuellen Vollzugs, der weder im Hinblick auf seinen Bezug noch auf dessen Gehalt spezifiziert wird. Alle diese Unterschiede sind bei Heideggers Ausführungen zur „ursprünglichen Bedeutung“ von ‚Existenz’ im Blick zu behalten. In den Anmerkungen zu Karl Jaspers „Psychologie der Weltanschauungen“, die in den Jahren 1919 – 1921 verfasst, aber erst 1973 veröffentlicht wurden, heißt es: „“Existenz“ … kann gefaßt werden als eine bestimmte Weise des Seins, als ein bestimmter „ist“-Sinn, der wesentlich (ich) „bin“-Sinn „ist“, der nicht im theoretischen Meinen genuin gehabt wird, sondern gehabt im Vollzug des „bin“, eine Seinsweise des Seins des „ich“. Das so verstandene Sein des Selbst besagt, formal angezeigt, Existenz.“³⁷⁷ Hier beschäftigt sich Heidegger, soweit ich sehe, zum ersten Mal mit der „Seinsfrage“, die dann in seiner Hermeneutik der Faktizität und in allen späteren Überlegungen eine zentrale Rolle spielt.³⁷⁸ Das Wort ‚Existenz’ soll eine Seinsweise bezeichnen, die mit Rekurs auf den Seinssinn einer bestimmten Verwendung des Wortes ‚sein’ erklärt wird. Wie das zu verstehen ist, kann mit Hilfe seines Begriffs des Lebens deutlich gemacht werden. Leben ist Leben in einer Welt, das jeweils als ein Michselbsthaben in den mir vertrauten Bedeutsamkeiten beschrieben wird. Diese uns aus den frühen Vorlesungen bekannte Auffassung des Lebens wird nun als Bestimmung des Seinssinns des Lebens verstanden.³⁷⁹ Dieses Leben ist nicht das Leben, von dem die Vorlesung im WS 1919/20 handelt – „mein Leben, Dein Leben, Ihr Leben, unser Leben“ ³⁸⁰ – , sondern ist ein Leben, dessen Sein durch die Selbstzuschreibung des Prädikats ‚sein‘ im Präsens bestimmt wird. In den Worten Heideggers: „Die Frage nach dem Seinssinn faktischen Lebens, konkret des jeweiligen eigenen konkreten Lebens, kann formal-anzeigend gefaßt werden als die Frage nach dem Sinn des „ich bin“.“³⁸¹ Dass sich der Seinssinn von Leben durch den Sinn dieses Satzes bestimmen lässt, impliziert, dass die je eigene Existenz eine konstitutive Rolle für
Vgl. Heidegger 2007, S. 84 Heidegger 2004c, S. 29; zur Datierung der Anmerkungen vgl. Kisiel 1993, S. 137– 138 Vgl. Heidegger 2005, S. 171– 181; 1995, S. 1– 3 Vgl. Heidegger 1994a, S. 171– 172 Heidegger 2010, S. 30 Heidegger 1994a, S. 172
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ein Sichselbsthaben im Leben spielt. Diese Rolle wird durch die Analyse des Sinns von ich bin erläutert. Heidegger behauptet, dass es einen „bestimmten „ist“-Sinn, der wesentlich (ich) „bin“ Sinn „ist““, gibt.³⁸² Es gibt also verschiedene Verwendungen des Wortes ist oder des Prädikats sein, und die Selbstzuschreibung ist ein besonderer, ausgezeichneter Fall der Verwendung. Er unterscheidet daher zwischen Sätzen wie er, sie, es ist und dem Satz ich bin und behauptet, dass Sätze der ersteren Art dazu dienen, sich auf vorhandene Dinge oder auch auf andere Personen zu beziehen.³⁸³ Dass es eine Verwendung oder ein Sinn des Prädikats sein gibt, die oder der „wesentlich“ in dem Satz ich bin zum Ausdruck kommt, besagt, dass die Selbstzuschreibung des Prädikats im Präsens eine besondere Rolle spielt. Wie lässt sich dies erklären? Bei allen Prädikaten besteht die Möglichkeit, dass sie auf verschiedene Dinge angewandt werden; und bei einigen Prädikaten gibt es relevante Unterschiede zwischen ihrer Selbst- und ihrer Fremdzuschreibung. Wie kann es überhaupt einen besonderen, irgendwie ausgezeichneten Sinn des Sinns des Prädikats im Falle der Selbstzuschreibung geben, wenn die Möglichkeit seiner Anwendung auf verschiedene Dinge für die Verwendung von Prädikaten im Allgemeinen charakteristisch ist? Dass dieser Fall eine besondere Rolle spielen kann, ist sicherlich bemerkenswert, aber auch nicht so ungewöhnlich, wie es der erste Anschein suggeriert. Die Annahme einer solchen Rolle wird etwa impliziert durch die bekannten Thesen, dass bei bestimmten mentalen Prädikaten die Kriterien der Selbst- und Fremdzuschreibung voneinander abweichen, und dass nur derjenige solche Prädikate sinnvoll zu verwenden weiß, der sie sowohl sich selbst als auch anderen zuzuschreiben kann.³⁸⁴ Man kann daher solche Prädikate nicht sinnvoll verwenden, wenn man nicht den besonderen Charakter ihrer Selbstzuschreibung versteht. Daraus ergibt sich allerdings nur, dass es keinen Begriff der Zuschreibung solcher Prädikate gibt, der invariant zu der Differenz zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung ist. Wir können sie nur dann sinnvoll verwenden, wenn wir beide Arten der Zuschreibung beherrschen. Für Heidegger besteht der Unterschied darin, dass die Selbstzuschreibung von sein „nicht im theoretischen Meinen genuin gehabt wird, sondern gehabt im Vollzug des „bin“ …“,³⁸⁵ während die Zuschreibung an Andere und Anderes auf „in „theoretischer“ Kenntnisnahme explizierten Erfahrungen“ beruht.³⁸⁶
Heidegger 2004c, S. 29 Heidegger 2004c, S. 31 Vgl. Strawson 1959, S. 99 – 110 Heidegger 2004c, S. 29 Heidegger 2004c, S. 30
1.2 Die Bekümmerung des Selbst
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Bevor ich diese Unterscheidung genauer betrachte, muss auf eine wichtige Differenz hingewiesen werden, die zwischen Strawsons Bestimmung des Zusammenhangs zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung bestimmter mentaler Prädikate und Heideggers Auffassung der Verwendung von ‚sein‘ besteht. Er betont, dass der ich bin – Sinn „nicht aus dem „ist“ des spezifisch kenntnisnehmend explizierenden und dabei irgendwie objektivierenden „ist“ gewinnbar wird …„³⁸⁷ Diese Behauptung besagt, dass die Selbstzuschreibung von ‚sein‘ ein grundlegender und nicht weiter reduzierbarer Aspekt der Verwendung dieses Prädikats ist; und dies steht im Einklang mit Strawsons Thesen. Heidegger behauptet aber auch, dass „das prädikative ist der theoretischen Explikation aus dem ursprünglichen „ich bin“ entspringt, und nicht umgekehrt.“³⁸⁸ Die besondere Rolle von ich bin besteht also nicht nur darin, dass die Selbstzuschreibung von sein in anderer Weise verstanden werden muss als seine Fremdzuschreibung, sondern sie besteht auch und vor allem darin, dass der Sinn der Fremdzuschreibung in dem der Selbstzuschreibung fundiert ist. Diese Vorstellung lässt sich nicht mit der Idee der kriterialen Differenz von Selbst- und Fremdzuschreibung von mentalen Prädikaten vereinbaren, sondern wird durch diese Idee explizit ausgeschlossen. Man muss daher zwischen der Behauptung einer besonderen Rolle von ich bin, verstanden als eine spezifische Verwendung von sein, die sich von seiner Fremdzuschreibung wesentlich unterscheidet, und der These seiner Rolle als Grundlage jeder sinnvollen Verwendung des Wortes unterscheiden. Die These impliziert die Behauptung, aber die Umkehrung gilt nicht. Betrachten wir Heideggers Überlegungen zum Sinn von ich bin. Der Sinn wird erfasst durch den „Vollzug des „bin“.“³⁸⁹ Gegeben die Unterscheidung zwischen Gehalt, Bezug und Vollzug, muss man nach dem Bezug fragen, dessen Vollzug in Rede steht. Es handelt sich um die „eigentlich vollzogene Grunderfahrung des „ich bin“, in der es radikal und rein um mich selbst geht …„³⁹⁰ Damit ist der Gehalt des Bezugs bestimmt, durch dessen Vollzug der Sinn
Heidegger 2004c, S. 30; Kisiel 1993 diskutiert diese Asymmetrie nicht, sondern spricht von einem „shift to the personal „I am““. (147) Er schreibt: „The surprising new development in the Jaspers review is … the overt ontologizing of the topic of the phenomenology of life,“ (146) Was wirklich überrascht, ist die Behauptung, dass die Erfahrung des „ich bin“ eine Grunderfahrung des Lebens in einer Welt ist. Heidegger 2011, S. 92 Heidegger 2004c, S. 29 Heidegger 2004c, S. 29; Jung 2003, S. 16a, versteht diese Grunderfahrung als die Erfahrung eines „mundanen Subjekts“, aber erklärt nicht, wie ein Subjekt, das wesentlich zu einer Lebenswelt gehört, Gegenstand einer solchen Grunderfahrung sein kann. Es ist daher nur konsequent, dass er Heideggers Überlegung als eine „transzendentale Epistemologie der ersten Person Singular“ bezeichnet (16b). Thomä 1990, S. 140, spricht von einer „Priorität“ der Grunderfahrung
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1 Das Selbst des faktischen Lebens
von ich bin verstanden wird. Diese Erfahrung wird auch als „Grunderfahrung des bekümmerten Habens seiner selbst“ bezeichnet.³⁹¹ Daraus ergibt sich, wie wir sehen werden, der Charakter des Bezugs, um den es geht. Demnach stellen sich drei Fragen: Wie kann ich eine Erfahrung haben, bei der „es radikal und rein um mich selbst geht“? Welche Art von Erfahrung ist die Bekümmerung? Und weshalb wird überhaupt die Annahme einer Grunderfahrung gemacht? Nur durch die Beantwortung dieser Fragen ist es möglich, Heideggers Auffassung des Verstehens von ich bin genauer zu bestimmen. Ich beginne mit der zweiten Frage. Er schreibt: „Erfahrung ist nicht Kenntnisnehmen, sondern das lebendige Beteiligtsein, das Bekümmertsein, so dass das Selbst ständig von dieser Bekümmerung mitbestimmt ist.“³⁹² An anderer Stelle heißt es: „“Erfahren“ heißt nicht „zur Kenntnis nehmen“, sondern das SichAuseinandersetzen mit, das Sich-Behaupten der Gestalten des Erfahrenen. Es hat sowohl einen passiven wie einen aktiven Sinn.“³⁹³ Erfahrung ist demnach eine besondere Art von Bezug, die der Kenntnisnahme gegenüber gestellt wird. Auch wenn beide Arten von Bezügen denselben Inhalt haben, unterscheiden sie sich durch den Charakter der Einstellungen. Bei der Erfahrung ist das Subjekt der Einstellung „beteiligt“ an dem, was erfahren wird; es „setzt sich auseinander“ mit dem, was es erfährt. Die Bekümmerung ist also ein Bezug zur Welt, der eine Beurteilung, Bewertung, Anteilnahme enthält, und der einem unbeteiligten Registrieren von Informationen gegenübergestellt wird. Allerdings spricht Heidegger auch davon, dass die „Lebenserfahrung mehr als bloße kenntnisnehmende Erfahrung ist“,³⁹⁴ so dass man zwischen einer kenntnisnehmenden und einer bekümmernden Erfahrung zu unterscheiden hätte. Die letztere schließt die erstere nicht aus, sondern kann eine zusätzliche Qualität einer Erfahrung sein. Wie dem auch sei, es ist ziemlich klar, dass der Begriff der Bekümmerung sich auf solche Bezüge bezieht, die eine Stellungnahme des Subjekts des Bezugs enthalten. Sie
und von einem Selbst, das „für sich vorgängig erfahrbar ist“ (142), und versteht die Grunderfahrung als den „Rückzug in die Innenperspektive eines (sich) erfahrenden und (sich) vollziehenden Selbst.“ (141). Thomä stellt sich nicht die Frage, wie die Idee einer solchen Innenperspektive mit Heideggers Konzeption der faktischen Lebenserfahrung in Einklang zu bringen sei. So auch Tugendhat 1979, S. 36. Heidegger 2004c, S. 30 Heidegger 2007, S. 173 Heidegger 2011, S. 9 Heidegger 2011, S. 9. Arrien 2014 übersetzt den Text unter Weglassung von radikal und rein (242) und versteht die Grunderfahrung als eine „expérience fondamentale das laquelle le soi peut s‘ approprier, peut s‘ avoir en propre …“ (243). Aber „die Grunderfahrung des „ich bin““ ist keine Erfahrung einer Möglichkeit; und selbst wenn die Erfahrung einer Möglichkeit wäre, muss diese im Hinblick auf das erklärt werden, was die Übersetzung auslässt.
1.2 Die Bekümmerung des Selbst
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muss nicht den Charakter einer aktiven, auf Überlegungen oder Entscheidungen beruhenden Beurteilung haben, sondern kann auch in einem passiven Reagieren bestehen. Bekümmerung ist eine Eigenschaft von Bezügen, die zu der umfangreichen Klasse von Bezügen gehören, die heute als Manifestationen eines participant point of view angesehen werden.³⁹⁵ Sie ist keine Eigenschaft, die ausschließlich der von Heidegger angenommenen Grunderfahrung des ich bin zukommt. Vielleicht lässt sich ihre Besonderheit durch ihren Gehalt erklären. Damit komme ich zu der ersten Frage. In dieser Erfahrung „geht es radikal und rein um mich selbst“;³⁹⁶ sie wird auch als eine Erfahrung des „“ich“ qua Selbst“ bezeichnet. Heidegger erläutert eine solche Erfahrung, indem er sie von zwei Möglichkeiten, wie das Ich erfahren wird, abgrenzt. Die erste Möglichkeit ist die folgende: „ … das „ich“ … als in einer Region stehend, als Vereinzelung eines „Allgemeinen“, als Fall von …„³⁹⁷ Eine Erfahrung, deren Inhalt sich auf das Ich als Selbst bezieht, ist keine Erfahrung, deren Inhalt das Ich als den besonderen Fall eines Allgemeinen repräsentiert.Wie so oft bei Heidegger, ergibt sich das, was er sagt, aus dem, was ausgeschlossen sein soll. Betrachten wir also, wie das Ich in der Grunderfahrung von ich bin nicht erfahren wird. Das Ich als einen Fall von etwas Allgemeinen vorzustellen besagt, dass es als ein „einstellungsmäßig feststellbares … Objekt“ erfahren wird; und die entsprechende Erfahrung hat den Charakter der Kenntnisnahme.³⁹⁸ In der Grunderfahrung des ich bin wird das Ich als Selbst erfahren. Aber wieso ist das keine Erfahrung von einem Objekt? Die Erfahrung von Objekten hat den Charakter einer „Kenntnisnahme“, während die Grunderfahrung den Charakter einer Bekümmerung besitzt. Aber was ergibt sich aus dem Charakter einer Erfahrung über ihren Inhalt? Es hat den Anschein, dass Heidegger das Besondere des Inhalts der Grunderfahrung, „das „ich“ qua Selbst“, mit Rekurs auf die Qualität der Erfahrung erläutert. Denn er spricht von der „Grunderfahrung des bekümmerten Habens seiner selbst, welches vor einer möglicherweise nachkommenden … objektivierenden Kenntnisnahme vollzogen ist.“³⁹⁹ Dann ergibt sich aber die Schwierigkeit, dass der Inhalt der Grunderfahrung durch ihren besonderen Charakter erläutert wird, so dass eine Eigenschaft der Erfahrung zur Bestimmung dessen herangezogen wird, was erfahren wird. Ein anderer Versuch, den Inhalt der angenommenen Grunderfahrung zu bestimmen, bietet sich an, wenn man von den Beispielen ausgeht, die Heidegger
Vgl. die Beispiele, die Heidegger 2016, S. 38, gibt. Heidegger 2004c, S. 29 Heidegger 2004c, S. 29 Heidegger 2004c, S. 30 Heidegger 2004c, S. 30
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für die Auffassung des Ich als Objekt nennt: das Ich als „Bewußtseinsstrom, Erlebniszusammenhang“.⁴⁰⁰ Dazu heißt es an anderer Stelle: „Man pflegt meistens nur theoretisch ausgeformte Begriffe des Seelischen zu analysieren, aber das Selbst wird nicht Problem. … Ich erfahre mich selbst im faktischen Leben weder als Erlebniszusammenhang, noch als Konglomerat von Akten und Vorgängen, nicht einmal als irgendein Ichobjekt in einem abgegrenzten Sinn, sondern in dem, was ich leiste, leide, was mir begegnet, in meinen Zuständen der Depression und Gehobenheit u. ä.“⁴⁰¹ Eine Erfahrung, die das Ich als Objekt repräsentiert, beruht auf theoretischen, philosophischen Annahmen, und die Hinsicht, unter der das Ich beschrieben wird, wird durch Substantive spezifiziert, die auf solche Annahmen verweisen. Demgegenüber wird eine Erfahrung, die sich auf das Ich als Selbst bezieht, an Beispielen propositionaler de se – Erfahrungen erläutert. Eine solche Erfahrung ist aber für die Lebenserfahrung insgesamt charakteristisch und kann daher nicht dazu dienen, eine Erfahrung des Ich als Selbst, wie sie in der Grunderfahrung des ich bin gegeben ist, auszuzeichnen. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Explikation der Besonderheit der Grunderfahrung des ich bin durch eine Betrachtung des Gehalts dieser Erfahrung nicht gelingt. Ich habe zwei Möglichkeiten einer solchen Explikation betrachtet. Beide gehen davon aus, dass in ihr das Ich als Selbst repräsentiert wird, und erläutern dies durch eine Betrachtung von Erfahrungen, in denen das Ich nicht so repräsentiert wird. Eine solche Erfahrung ist dann gegeben, wenn das Ich als besonderer Fall von etwas Allgemeinen, als „Objekt“ einer „bloß kenntnisnehmenden Erfahrung“ erfasst wird. Eine solche Erfahrung unterscheidet sich qualitativ von einer Erfahrung, die den Charakter der Bekümmerung hat.Versucht man die Besonderheit der Repräsentation des Ich als Selbst in dem Gehalt der Grunderfahrung von ich bin in dieser Weise zu erklären, so versteht man nicht, weshalb der Charakter der Bekümmerung diese Erfahrung auszeichnen soll. Denn das „lebendige Beteiligtsein“ des Subjekts der Erfahrung an seinen Erfahrungen ist eine charakteristische Eigenschaft vieler Erfahrungen, die mit der Grunderfahrung des ich bin nichts gemeinsam haben. Die zweite Möglichkeit, die Heidegger zur Erläuterung der Repräsentation des Ich als Selbst heranzieht, besteht darin, dass sie von einer Vorstellung des Ich als „Seelisches“ unterschieden wird, wobei diese Hinsicht durch theoretische Begriffe der damaligen zeitgenössischen Philosophie erläutert wird. Die Repräsentation des Ich als Selbst soll demgegenüber in der propositionalen de se – Erfahrung des alltäglichen Lebens gegeben
Heidegger 2004c, S. 30 Heidegger 2011, S. 13
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sein. Aber der Begriff einer solchen Erfahrung ist nicht in der Lage, den besonderen Charakter der Grunderfahrung des ich bin verständlich zu machen. Wenn es Heidegger nicht gelingt, das Besondere der von ihm postulierten Grunderfahrung des ich bin verständlich zu machen, dann fragt man sich, was ihn zu der Annahme einer solchen Erfahrung geführt hat. Damit komme ich zu der dritten der oben erwähnten Fragen. Eine Antwort findet man, wenn man seine Auseinandersetzung mit Descartes genauer betrachtet, die in den Vorlesungen vor Sein und Zeit gut dokumentiert ist. Er schreibt: „Nicht ›cogito sum‹ ist die Formulierung für einen primären Befund, sondern ›sum cogito‹, und dieses ›sum‹ … als Aussage der Grundverfassung meines Seins: ich-bin-in-einer-Welt und deshalb vermag ich sie überhaupt zu denken.“⁴⁰² Die Kritik an Descartes besteht in einer Umkehrung der argumentativen Priorität: Nicht dass ich denke, sondern dass ich bin, soll der Ausgangspunkt der Überlegung sein. Dieses ich bin, verstanden als ich bin in einer Welt, bringt Heidegger in derselben Vorlesung zu einem weiteren Einwand gegen Descartes’ cogito sum: „Ihm geht es um das cogito“, und er „lässt das sum herausfallen, während wir in unserer Betrachtung das cogitare und seine Bestimmung zunächst sich selbst überlassen und darauf aus sind, das sum und seine Bestimmung zu entwickeln. Freilich ist der Vergleich gefährlich, weil damit impliziert sein könnte, dass wir hier das Dasein so meinen könnten, wie Descartes das Ich und das Subjekt isoliert ansetzt.“⁴⁰³ Die beiden Einwände gegen Descartes bringen die wesentlichen Momente der Konzeption des In-der-Welt-seins als Grundverfassung des Daseins zum Ausdruck: Dasein ist immer schon in einer Welt, und diese Welt ist eine Mitwelt. Dass für Descartes das cogito eine Priorität vor dem sum besitzt, erklärt sich dadurch, dass es ihm um Gewissheit dieser Sätze ging, und es ist diese Gewissheit, die den Ausgang vom cogito und den Übergang zum sum motivierte. Für Heidegger zeigt dieses Argument die leitende „erkenntnistheoretische Fragestellung“ von Descartes, und die Kritik an ihr führt zu einer weiteren Abgrenzung. Er behauptet, dass „ihm das „sum“, sein Sein und seine kategoriale Struktur, in keiner Weise problematisch wurde, sondern die Bedeutung des Wortes „sum“ in einem indifferenten, auf das ego gar nicht genuin bezogenen … Sinn gemeint wurde.“⁴⁰⁴ Es handelt sich nicht um zwei verschiedene Versäumnisse, die unabhängig voneinander sind, sondern Descartes verkennt die Besonderheit des sum, weil er es nicht „in dem auf das ego genuin bezogenen Sinn“ meinte. Diese Kritik bringt einen weiteren Gesichtspunkt der Abgrenzung von
Heidegger 1994b, S. 296 Heidegger 1994b, S. 210 Heidegger 1994a, S. 173
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Descartes ins Spiel, der sich nicht durch die Konzeption des In-der-Welt-seins, also durch die Kritik an der Vorstellung eines Subjekts ohne Welt und ohne Andere, erklären lässt. Es geht um einen „genuinen“ Bezug zum Ego. Worin soll er bestehen? Descartes entgeht dieser Bezug, weil „die Bedeutung des Wortes „sum“ in einem … formal gegenständlichen … Sinn gemeint wurde.“⁴⁰⁵ Er wird also dem Inhalt der Grunderfahrung des ich bin nicht gerecht, weil er das Ich als Objekt denkt, das in einer nur Kenntnis nehmenden Erfahrung zugänglich wird; und er tut dies, weil er von einer erkenntnistheoretischen Fragestellung ausgeht. Wie wir gesehen haben, kann das Ich als Selbst durch eine solche Erfahrung nicht erfasst werden; und der genuine Bezug zum Ego fehlt bei Descartes, weil er sich auf eine Betrachtung des sum im Rahmen einer kenntnisnehmenden Erfahrung beschränkt. Dieser Bezug ist der Bezug auf das Ich als Selbst. Die von Heidegger postulierte Grunderfahrung von ich bin dient dazu, eine Auffassung von Ich als Objekt einer bloß kenntnisnehmenden Erfahrung zu kritisieren, wie sie nach seiner Meinung dem cartesianischen sum zugrunde liegt. Diese Kritik muss im Zusammenhang mit seiner These von der prinzipiellen Verschiedenheit von Philosophie und Wissenschaft gesehen werden, denn die Erfahrung in den Wissenschaften ist kenntnisnehmende Erfahrung.Weil Heidegger diese These vertritt, behauptet er, dass bei Descartes wegen seiner erkenntnistheoretischen Fragestellung ein genuiner Bezug zum Ego fehlt. Dieser Bezug fehlt deswegen, weil eine solche Fragestellung als Grunderfahrung des Ich als Selbst nur eine kenntnisnehmende Erfahrung in Erwägung zieht und so der Besonderheit dieser Grunderfahrung nicht Rechnung tragen kann.
1.3 Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung In den Frühen Freiburger Vorlesungen werden drei verschiedene Konzeptionen des Selbst entwickelt. Die erste Konzeption besteht in der These, die Lebenserfahrung sei auf die Selbstwelt „zugespitzt“, und wird von Heidegger selber explizit verworfen. Die zweite Konzeption versteht das Selbst als ein Sich-selbst-Haben in einer Lebenswelt, die als Um-, Mit- und Selbst-Welt bestimmt wird, während die dritte Konzeption eine Selbstbekümmerung in das Zentrum stellt, die als eine „Grunderfahrung des „ich bin“, in der es radikal und rein um mich selbst geht …“, angesehen wird.⁴⁰⁶ Diese Erfahrung ist geprägt von der Sorge sich selbst zu verlieren, indem man in der mit Anderen gemeinsamen Um- und Mitwelt aufgeht. Die
Heidegger 1994a, S. 173 Heidegger 2004c, S. 29
1.3 Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung
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beiden Konzeptionen sind nicht miteinander verträglich, was dadurch deutlich wird, dass die zweite Konzeption wesentliche Revisionen von zentralen Begriffen der ersten Konzeption enthält. Wie ist es zu erklären, dass Heidegger in einem so kurzen zeitlichen Abstand so verschiedene Auffassungen des Selbst vertritt? Ich hatte schon am Anfang darauf hingewiesen, dass seine Überlegungen zum Begriff des Selbst mit dem Projekt, ein neues Selbstverständnis der Philosophie zu gewinnen, verknüpft werden.⁴⁰⁷ Die Philosophie soll eine Urwissenschaft oder eine Ursprungswissenschaft sein. Die Verknüpfung dieser beiden Themen kommt nicht dadurch zustande, dass das Projekt in einer nachträglichen Reflexion auf die Überlegungen zum Begriff des Selbst besteht. Es ist nicht so, dass Heidegger zuerst diesen Begriff diskutiert und dann anhand seiner Erörterungen in einer meta-theoretischen Betrachtung zu einer neuen Bestimmung des Begriffs der Philosophie kommt. Vielmehr bestimmt das Projekt unmittelbar die Überlegungen zum Begriff des Selbst. Es geht ihm darum, diesen Begriff so zu explizieren, dass das Selbst das Thema einer Ursprungswissenschaft ist. Anders formuliert: Er beschäftigt sich mit dem Selbst vom Standpunkt einer ursprungswissenschaftlichen Betrachtung aus. Man muss diesen Standpunkt nicht einnehmen, wenn man sich mit diesem Thema beschäftigt, aber Heidegger entwickelt seine verschiedenen Konzeptionen des Selbst in der Absicht, die Philosophie als eine Ursprungswissenschaft auszuweisen. Die Frage, wie es zu erklären sei, dass er in einem so kurzen zeitlichen Abstand ganz verschiedene Konzeptionen des Selbst vertrete, lässt sich beantworten, wenn man seine sich ändernden Vorstellungen von einer solchen Ursprungswissenschaft heranzieht. Da ich im Folgenden die These vertrete, dass es gute Gründe für die Annahme gibt, Heideggers Überlegungen zum Selbst unabhängig von seinem Projekt, die Philosophie als eine Ursprungswissenschaft zu verstehen, zu betrachten und zu würdigen, werde ich zuerst auf dieses Projekt eingehen. Weshalb ich diese These vertreten, wird im dritten Kapitel deutlich werden, in dem ich die Aktualität von einigen seiner Überlegungen zum Selbst für die gegenwärtige philosophische Diskussion erörtere. Im Folgenden geht es darum, die Konzeption einer Ursprungswissenschaft genauer zu erläutern und die Folgen zu klären, die sich für ein Verständnis des Selbst ergeben, wenn man sich mit ihm von Standpunkt einer Ursprungswissenschaft beschäftigt. Seine Auffassung von Philosophie geht von der Annahme aus, dass „ein prinzipieller Unterschied zwischen Wissenschaft und Philosophie besteht.“⁴⁰⁸ Weiterhin unterscheidet er zwischen dem Theoretischen und dem Vortheoreti-
Vgl. S. 3 – 5 Heidegger 2011, S. 3; vgl. 2007, S. 8
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schen und expliziert die Differenz zwischen Philosophie und Wissenschaft durch eine Betrachtung der verschiedenen Verhältnisse, in denen beide jeweils zu dem Vortheoretischen stehen. Schließlich stellt er die programmatischen Forderung auf, dass die „Vorherrschaft des Theoretischen gebrochen werden muss“, und begründet sie mit der These, dass „das Theoretische selbst und als solches in ein Vortheoretisches zurückweist.“⁴⁰⁹ Da er das Theoretische mit dem identifiziert, was sich wissenschaftlich erkennen lässt, besagt die Forderung, dass der Primat wissenschaftlicher Erkenntnis, der Wissenschaften, abzulehnen ist; und ihre Begründung macht es erforderlich, die Differenz von Philosophie und Wissenschaft im Lichte der Rolle zu betrachten, die das Vortheoretische jeweils für beide hat. Dass das Theoretische in ein Vortheoretisches „zurückweist“, kann, wie wir schon gesehen haben, in verschiedener Weise verstanden werden. In einer schwachen Lesart besagt die These nur, dass das Vortheoretische eine notwendige Bedingung des Theoretischen ist. Dies ist noch kein Grund, den Primat des Theoretischen zu bestreiten, denn die These schließt ja nicht aus, dass auch das Vortheoretische das Theoretische in dem Sinne impliziert, dass all das, was nicht wissenschaftlich erkannt oder erfahren wird, sich auch wissenschaftlich erkennen oder repräsentieren lässt. Dann könnte man weder von einem Primat des Theoretischen noch von einem Primat des Vortheoretischen reden und daher auch nicht das Erstere bestreiten. Da aber Heidegger gerade dies tut, muss seine These in dem Sinne verstanden werden, dass das Theoretische das Vortheoretische voraussetzt, aber nicht umgekehrt. Damit ist gemeint, dass es für alles, was sich theoretisch, wissenschaftlich erkennen lässt, etwas gibt, das vortheoretisch ist und sich nicht wissenschaftlich erkennen lässt, während dasjenige, das vortheoretisch ist, nicht theoretisch erfassbar ist. Man kann diese Behauptung als die These der Autonomie des Vortheoretischen bezeichnen. Sie ist von der Behauptung, die er auch vertritt, zu unterscheiden, dass das Theoretische sich durch das Vortheoretische irgendwie verständlich machen oder vielleicht sogar erklären lässt. Diese Behauptung ist die These der explanatorischen Priorität des Vortheoretischen.Während die These der Autonomie des Vortheoretischen impliziert, dass die Philosophie, verstanden als eine Beschäftigung mit dem Vortheoretischen, die Voraussetzungen wissenschaftlicher Erkenntnis thematisiert, führt die These der explanatorischen Priorität des Vortheoretischen zu der Annahme, dass die Philosophie die Wissenschaften irgendwie verständlich machen oder erklären kann.
Heidegger 1999, S. 59
1.3 Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung
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Hier spielt nun die Konzeption der Ursprungswissenschaft eine zentrale Rolle. Philosophie ist für den frühen Heidegger Phänomenologie und somit „Ursprungswissenschaft vom Leben an sich“.⁴¹⁰ Er folgt darin seinem Lehrer Husserl, der in Philosophie als strenge Wissenschaft behauptet, dass „Philosophie … ihrem Wesen nach Wissenschaft von den wahren Anfängen, von den Ursprüngen ist …“, und dass „sie auf die letzten Ursprünge zurückgeht …“⁴¹¹ Heidegger hat mehrfach auf die Bedeutung dieser Arbeit hingewiesen.⁴¹² Seine Konzeption einer „vortheoretischen Urwissenschaft“ ⁴¹³ muss auf dem Hintergrund und in Abgrenzung von Husserls Idee der „Phänomenologie als einer Wissenschaft der Ursprünge“ gesehen werde.⁴¹⁴ Dieser hatte als „Prinzip aller Prinzipien“ der Phänomenologie die These formuliert: „Alles, was sich in der „Intuition“ originär … darbietet, ist einfach hinzunehmen, als was es sich gibt … „⁴¹⁵ Dieses Prinzip soll die Grundlage für die „reine Phänomenologie … als Grundwissenschaft der Philosophie“ sein,⁴¹⁶ die sich mit Hilfe der Methode einer „transzendentalphänomenologischen Epoché“ ⁴¹⁷ mit der „reinen Bewußtseinssphäre“ als einer „absoluten Seinsregion“, als einer „Region der absoluten oder transzendentalen Subjektivität“ beschäftigt .⁴¹⁸ Heidegger gibt eine ganz andere Deutung des Prinzips. Er betont, dass „es nicht theoretischer Natur ist“, und behauptet, „dass es die Urintention des wahrhaften Lebens überhaupt, die Urhaltung des Erlebens und Lebens als solchen …“ zum Ausdruck bringt.⁴¹⁹ Demnach liefert das Prinzip eine thematische Bestimmung der Phänomenologie als einer Ursprungswissenschaft vom Leben, während es für Husserl eine methodische Rolle für den Aufbau der Phänomenologie als einer Wissenschaft vom reinen Bewusstsein besitzt. Ein weiterer Anknüpfungspunkt sind Husserls Prolegomena, die für Heidegger das „Grundbuch aller künftigen wissenschaftlichen Philosophie“ sind.⁴²⁰ Er kritisiert jedoch die Auffassung, die „phänomenologische Methode als deskriptive Psychologie zu verstehen“,⁴²¹ und schließt sich damit Husserls eigener Kritik an
Heidegger 2010, S. 1 Husserl 1971, S. 71 Vgl. Heidegger 2010, S. 6; 16; 1994b, S. 127; 164– 165 Heidegger 1999, S. 95 Husserl 1950, S. 136 Husserl 1950, S. 52 Husserl 1950, S. 3 Husserl 1950, S. 67– 68 Husserl 1950, S. 72– 73 Heidegger 1999, S. 109 – 110; vgl. auch Cimino 2013, S. 109 – 114; Thomä 1990, S. 115 – 117 Heidegger 2010, S. 14 Heideger 2010, S. 15; vgl. Thomä 1990, S. 117– 123
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seiner früheren Auffassung an.⁴²² Heidegger versteht das 1913 erschienene erste Buch der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie als eine konsequente Fortsetzung des 1910 publizierten Aufsatzes Philosophie als strenge Wissenschaft und als eine systematische Ausarbeitung der „Idee der Phänomenologie als absolute Ursprungswissenschaft des Geistes“.⁴²³ Gleichwohl warnt er vor einer „unkritischen Verabsolutierung der Idee der Wissenschaft“ und der „Einschränkung der transzendentalen Probleme auf die Konstitutionsform „Wissenschaft“…„⁴²⁴ In der Nachschrift Becker heißt es: „Wir wollen vermeiden, die Probleme der Phänomenologie einseitig auf das Subjekt zuzuspitzen. Diese „transzendentale“ Problematik führt nur bis zu einer gewissen Stufe und nicht weiter… Aber man kommt nicht bis zum Zentrum der Ursprungswissenschaft.“ ⁴²⁵ Demnach wird eine transzendentale Phänomenologie gerade nicht dem Anspruch einer Ursprungswissenschaft gerecht, und „die Problematik des Ursprungsgebiet ergibt sich radikal von Neuem.“⁴²⁶ Husserl und Heidegger haben also ganz verschiedene Konzeptionen von der Phänomenologie, verstanden als einer Ursprungswissenschaft. Für Husserl ist sie eine Theorie des reinen Bewusstseins, das durch eine „transzendentalphänomenologische Epoché“ zugänglich und von der Realität durch einen „wahren Abgrund des Sinns getrennt ist“.⁴²⁷ Dieses Bewusstsein soll aber eine Voraussetzung der Realität oder Welt sein, so dass das Gebiet des reinen Bewusstseins eine „Seinssphäre absoluter Ursprünge“ ist.⁴²⁸ Demgegenüber ist für Heidegger die Phänomenologie eine Beschäftigung mit der „vortheoretischen Verfassung der Welt“ ⁴²⁹ und dem „vortheoretischen Lebens“ ,⁴³⁰ welche sich nicht an der Idee der Wissenschaft orientiert und weder eine transzendentalen Epoché noch eine Reflexion auf die reinen Akte und Erlebnisse des Bewusstseins erfordert. Durch die Abgrenzung von Husserls Konzeption der Phänomenologie ergibt sich jedoch noch keine positive Bestimmung der von Heidegger gesuchten Ursprungswissenschaft. Sie kann gewonnen werden, wenn man Heideggers Überlegungen zum Vortheoretischen genauer betrachtet. Vgl. Husserl 1950, S. 4 Heidegger 2010, S. 17– 19 Heidegger 2010, S. 23 Heidegger 2010, S. 229 – 230 Heidegger 2010, S. 230 Husserl 1950, S. 117 Husserl 1950, S. 135 Heidegger 2010, S. 94 Heidegger 2010, S. 84; Thomä 1990, S. 128 – 132. Er betont zurecht, dass „Heidegger sein Konzept des „Selbst“ gegen das „reine Ich“ Husserls und dessen Herausstellung aus der Wirklichkeit konzipiert.“ (134). Vgl. auch Carman 2003, S. 53 – 100.
1.3 Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung
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Es ist dasjenige, womit sich die im Sinne Heideggers verstandene Phänomenologie beschäftigt; es ist das Thema der gesuchten Ursprungswissenschaft. Von was ist das Vortheoretische ein Ursprung, und in welcher Weise ist es ein Ursprung? Ein paradigmatischer Fall des Vortheoretischen ist das Umwelterlebnis, das wir am Beispiel der Wahrnehmung eines Katheders kennengelernt haben. Er betont, dass es nicht so einfach ist, „den Herrschaftsbereich des umweltlichen Erlebens echt zu überschauen. Das Umwelterleben ist keine Zufälligkeit, sondern liegt im Wesen des Lebens an und für sich selbst; theoretisch dagegen sind wir nur in Ausnahmefällen eingestellt.“⁴³¹ Der Hinweis auf das Faktum unseres „nichttheoretischen Lebens“ gibt keine Auskunft über das Vortheoretische, das Thema einer Ursprungswissenschaft ist;⁴³² denn aus ihm ergibt sich nicht, wovon und in welcher Weise das Vortheoretische ein Ursprung ist. Das Vortheoretische ist wesentlich dasjenige, auf das als seinen Ursprung etwas Anderes „zurückweist“.⁴³³ In dieser Beziehung steht das Theoretische, dasjenige, das wissenschaftlich erkennbar ist. Heideggers Konzeption des Vortheoretischen, die für seine Auffassung der Philosophie als Phänomenologie relevant ist, will jedoch nicht das Faktum und die dominante Häufigkeit des „nichttheoretischen Lebens“ herausstellen, sondern es geht ihr darum, dessen Rolle als Ursprung des Theoretischen deutlich zu machen. Dazu schreibt er: „Wissenschaft entwächst selbst dem faktischen Leben und bedarf schon für den ersten Ansatz ihrer Bekundungsaufgabe einer Vorgabe faktischen Lebens. Wissenschaft tritt in notwendigen Bezug zur nichtwissenschaftlich zugänglichen Lebenswelt.“⁴³⁴ Diese Lebenswelt ist der „Erfahrungsboden“ der Wissenschaften, zumindest von empirischen Wissenschaften,⁴³⁵ und als Beispiele werden die Betrachtung einer „blumigen Wiese am Maimorgen“ und eine botanische Abhandlung oder eine Betrachtung von Bildern Rembrandts und eine kunstgeschichtliche Untersuchung genannt.⁴³⁶ Wird das Vortheoretische als Erfahrungsboden der Wissenschaften verstanden, dann gilt sicherlich, dass das Theoretische in dem Sinne auf das Vortheoretische zurückweist, dass dieses eine notwendige Bedingung für jenes ist. Aber damit ist nicht gezeigt, dass nicht auch die Umkehrung gilt, so dass zwar kein Primat des Theoretischen angenommen werden kann, aber auch kein Primat des Vortheoretischen. Man könnte vielleicht meinen, gerade die phänomenologische Beschäftigung mit der Lebenswelt er-
Heidegger 1999, S. 88 Heidegger 2010, S. 84 Heidegger 1999, S. 59 Heidegger 2010, S. 79; vgl. Heidegger 2016, S. 33 – 36 Vgl. Heidegger 2010, S. 82 Heidegger 2010, S. 76
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bringe den Nachweis einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Vortheoretischen, so dass es auch kein Primat des Vortheoretischen gäbe. Heidegger schließt diese Möglichkeit aus, indem er den Begriff der Ursprungswissenschaft präzisiert. Eine solche Wissenschaft beschäftigt sich nicht mit dem „nichttheoretischen Leben“ als dem Erfahrungsboden von Wissenschaften, also mit diesem Leben, sofern es eine notwendige Bedingung des Theoretischen ist. Es geht vielmehr um ein „Verstehen des Lebens aus seinem Ursprung“.⁴³⁷ Das Vortheoretische, das von einer in Heideggers Sinne verstandenen Phänomenologie thematisiert wird, ist daher nicht „das faktische Leben selbst und die unendliche Fülle der in ihm gelebten Welten“,⁴³⁸ sondern wegen ihres ursprungswissenschaftlichen Anspruchs dieses Leben „›als‹ entspringend aus dem Ursprung“.⁴³⁹ Deswegen bildet das faktische Leben auch nicht wie bei empirischen Wissenschaften den „Erfahrungsboden“ für die Phänomenologie.⁴⁴⁰ Als Ursprungswissenschaft beschäftigt sie sich nicht mit dem „faktischen Leben und seinen Gehalten“, und es geht bei ihr nicht um deren „genuine theoretische Darstellung“.⁴⁴¹ Im Unterschied zu den Wissenschaften ist der Erfahrungsboden für die Ursprungswissenschaft nicht gegeben, sondern muss allererst gewonnen werden.⁴⁴² Der Rekurs auf das faktische Leben stellt ihn nicht bereit, weil es darum geht, das Leben von seinem Ursprung her zu verstehen. Die Explikation dieser Wissenschaft liefert daher nicht den Nachweis, dass das vortheoretische Leben eine theoretische Repräsentation erlaubt. Denn nicht dieses Leben, sondern das Leben „als entspringend aus dem Ursprung“ ist das Thema der Phänomenologie.Wie wir sehen werden, besitzt eine Beschäftigung mit diesem Thema nicht den Charakter einer theoretischen Beschäftigung. Wie beschäftigt sich die Phänomenologie mit dem Vortheoretischen, wenn sie das Leben „als entspringend aus einem Ursprung“ thematisiert? Wie ist überhaupt der Begriff des Ursprungs zu verstehen? Heideggers Antwort ist nicht sonderlich klar. Er betont, dass „der ›Ursprung‹ nicht ein letzter einfacher Satz, ein Axiom ist, aus dem alles abzuleiten wäre, sondern ein ganz Anderes …“ ⁴⁴³ Der Ursprung ist auch nicht „ein allgemeines Prinzip, eine Kraftquelle …“⁴⁴⁴ Sucht man eine positive Auskunft, so erfährt
Heidegger 2010, S. 81; 82 Heidegger 2010, S. 81 Heidegger 2010, S. 82 Vgl. Heidegger 2010, S. 79: 2016, S. 34 Heidegger 2010, S. 82 Vgl. Heidegger 2010, S. 173 – 174 Heidegger 2010, S. 26 Heidegger, 2010, S. 148
1.3 Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung
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man, dass der gesuchte Ursprung nur in einer „urwissenschaftlichen Methode“ zugänglich ist.⁴⁴⁵ Dies bedeutet, dass der Begriff des Ursprungs des Lebens von der Art und Weise her verstanden werden muss, wie die Phänomenologie nach einem Ursprung fragt. Dazu heißt es in der Nachschrift Becker: „Das Ursprungsgebiet, das Gegenstandsgebiet der Phänomenologie ist im „Leben an sich“ nicht gegeben. … Welche methodischen Ansätze sind zu machen, um aus „dem Leben an sich“ das Urgebiet … zu entdecken? – Wir sehen uns zunächst das „praktische Leben“ an. Es ist „selbstgenügsam“. – Das Ursprungsgebiet ist wesentlich nie gegeben im Leben an sich.“⁴⁴⁶ Was hat die Selbstgenügsamkeit des Lebens damit zu tun, dass sein Ursprung in ihm nicht gegeben ist? Im Text der Vorlesung heißt es: „Ursprungsgebiet nicht im Leben an sich (dessen Grundaspekt „Selbstgenügsamkeit“, der es zugleich fraglich macht, ob überhaupt ein Ursprungsgebiet zugänglich wird).“⁴⁴⁷ Gemeint ist wohl, dass es fraglich ist, ein solches Gebiet könne durch eine Betrachtung des Lebens ermittelt werden; und dieses Vorgehen ist deswegen fraglich oder geradezu ausgeschlossen, weil ein wesentlicher Aspekt des Lebens die Selbstgenügsamkeit ist. Es scheint, dass sich die phänomenologische Frage nach dem Ursprung wegen dieses Aspekts nicht durch eine bloße Betrachtung des Lebens beantworten lässt. Um dies besser zu verstehen, betrachten wir die Art und Weise, wie der Phänomenologe Heidegger den Begriff des Ursprungs einführt. Da im Unterschied zu den Wissenschaften der Erfahrungsboden für die Ursprungswissenschaft nicht gegeben ist, sondern erst gewonnen werden muss, kann der gesuchte Ursprung nicht durch einen Rekurs auf das faktische Leben ermittelt werden. Gleichwohl soll dieses Leben „eine Rolle beim Aufbau der Ursprungswissenschaft spielen.“⁴⁴⁸ Denn wir können dieses Leben vom Standpunkt der Phänomenologie aus – und somit von seinem Ursprung aus – nur dann verstehen, wenn wir annehmen, dass „der Ursprung selbst … in irgendeiner Weise zugänglich sein muss – zugänglich und zwar vom faktischen Leben aus, das wir selbst sind und leben.“⁴⁴⁹ Diese Annahme wird nicht begründet, und es ist nicht klar, wie sie sich mit der These, der Ursprung sei im faktischen Leben nicht gegeben, sondern müsse erst gewonnen werden, verträgt. Wir hatten gesehen, dass Heidegger diese These durch die Behauptung der Selbstgenügsamkeit als eines „Grundaspekts“ des Lebens plausibel zu machen versucht. Wenn aber trotzdem jene Annahme gelten soll, dann kann der gesuchte Ursprung nur dann „vom
Heidegger 2010, S. 26; 27 Heidegger 2010, S. 203 Heidegger 2010, S. 27 Heidegger 2010, S. 82 Heidegger 2010, S. 82; vgl. S. 174
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faktischen Leben aus“ zugänglich werden, wenn man in irgendeiner Weise diese Selbstgenügsamkeit vermeidet oder überwindet. Wir werden sehen, dass der Ursprung gerade so bestimmt wird, dass er nur durch eine solche Überwindung zugänglich wird. Die Annahme, dass der Ursprung vom „faktischen Leben aus“ zugänglich sein muss, impliziert für Heidegger, dass in ihm „motivierende Hinweise faktisch antreffbar sein müssen, die vordeuten in den Ursprung.“⁴⁵⁰ Welche Hinweise sollen das sein? Die Antwort ergibt sich durch die Betonung des faktischen Lebens als eines Lebens, „das wir selbst sind und leben.“ Denn dieses Leben macht deutlich, dass es nicht nur einen „Wasgehalt“, sondern auch einen „Wiegehalt“ besitzt: „… sowohl die Lebensgehalte nichttheoretischen Lebens wie die Wasgehalte der Sachbetrachtung stellen sich immer in gewisser Weise in einem ›Wie‹ dar, und eine Zugespitztheit auf faktisches Selbstleben einzelner, vieler, ganzer Generationen ist im Leben antreffbar… Diese Zugespitztheit ist kein Wasgehalt, sondern ein Wiegehalt.“⁴⁵¹ Für die Wasgehalte unseres faktischen Lebens soll nun gelten, dass sie „keinen Hinweis auf etwas geben können, das in Vorzugsstellung steht, das gar den Charakter von so etwas hätte, woraus das Leben entspringt.“⁴⁵² Dieser Aspekt unseres faktischen Lebens liefert uns also keinen Aufschluss über den Ursprung des Lebens, sofern er von diesem Leben aus zugänglich ist; und daran kann die Phänomenologie als Ursprungswissenschaft nicht anknüpfen. Der Wasgehalt des faktischen Lebens konstituiert die „verschiedenen Sachgebiete, die sich aus den faktischen Lebenswelten herauslösen lassen“, und „sind alle unter die Wissenschaften aufgeteilt.“⁴⁵³ Daher bleibt für die Phänomenologie nur der Wiegehalt, wenn denn die Unterscheidung zwischen einer Betrachtung des faktischen Lebens unter dem Gesichtspunkt des Was und seiner Betrachtung unter dem Gesichtspunkt des Wie vollständig ist. Diese Unterscheidung verweist auf die Unterscheidung zwischen Gehalt und Bezug der Lebenserfahrung, wobei ihr Gehalt ganz allgemein als die Welt bestimmt wird, während ihr Bezug in den unterschiedlichen Weisen einer intentionalen Bezugnahme auf die Welt besteht. Der Gehalt ist das Was, der Bezug das Wie der Lebenserfahrung.⁴⁵⁴ Legt man diese Unterscheidung zugrunde, so gibt es kein Was ohne ein Wie, aber die Umkehrung gilt ebenso. Wenn nun der „Wasgehalt des faktischen Lebens“ uns keinen Hinweis über den gesuchten Ursprung gibt, weshalb sollte dies sein Wie tun? Nun wird das Letztere genauer
Heidegger 2010, S. 82 Heidegger 2010, S. 84– 85 Heidegger 2010, S. 84 Heidegger 2010, S. 174 Vgl. Heidegger 2011, S. 11– 12
1.3 Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung
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bestimmt als eine „Zugespitztheit auf faktisches Selbstleben …, die kein Wasgehalt ist, sondern ein Wiegehalt, in dem jeder noch so verschiedene Wasgehalt stehen kann.“⁴⁵⁵ Damit kann nicht der Bezug, wie immer er beschaffen sein mag, gemeint sein, der zu jeder Lebenserfahrung, die einen Gehalt hat, gehört. Denn dieser Bezug kann ebenso variieren wie seine Gehalte, während die Zugespitztheit für die Lebenserfahrung ein und dasselbe Wie sein soll. Was kann das sein? Wie wir gesehen haben, ist es eine „pure Selbstverständlichkeit“, dass es zu jedem aktuellen Bezug einen Vollzug geben muss, „ … jede intentionale Beziehung solche eines Aktes ist und jeder Akt ein Akt des Ich ist, das sie ›vollzieht‹.“⁴⁵⁶ Hat das Wie des faktischen Lebens, bestimmt als Zugespitztheit auf faktisches Selbstleben, etwas mit dem Vollzug zu tun, der wesentlich zu einer intentionalen Bezugnahme gehört? Ihr Vollzug ist immer der Vollzug von jemandem. Aber dieses Schema sollte doch gerade aufgegeben werden zugunsten einer Betrachtung, die das Subjekt des Vollzugs intentionaler Bezugnahmen als ein Wesen, das in einer mit Anderen gemeinsamen Welt lebt, versteht. Dieses Leben wird als ein Leben „einzelner, vieler, ganzer Generationen“ bezeichnet,⁴⁵⁷ und das gilt auch für die Vollzüge solcher Beziehungen, oder kann zumindest für sie gelten. Es ist allerdings auffallend, dass Heidegger nur von einem Selbstleben und einer Selbstwelt spricht und nicht auch explizit ein Mitleben, eine Mitwelt und ihre entsprechenden Vollzüge berücksichtigt. Die letztere soll nur ein „Zusammenhang von Selbstwelten“ sein.⁴⁵⁸ Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung des Lebens scheint also von vorne herein auf das Leben einzelner Individuen zugeschnitten zu sein. Heidegger gibt keine Begründung für diese eingeschränkte Betrachtungsweise, aber sie erklärt, weshalb er die erste von ihm entwickelte Konzeption des Selbst als eine ursprungswissenschaftliche Bestimmung angesehen hat. Diese Konzeption beruht auf der Vorstellung, die Differenz zwischen den Wissenschaften und der Philosophie als Ursprungswissenschaft lasse sich durch Rekurs auf die Unterscheidung zwischen einem Was und einem Wie der faktischen Lebenserfahrung explizieren, und bestimmt das Wie durch die Rolle des Selbst, die in der Zugespitztheit des Lebens auf das Selbstleben und die Selbstwelt zum Ausdruck kommt. Ich hatte früher drei verschiedene Auffassungen des Verhältnisses, das zwischen Selbst und Welt besteht, unterschieden.⁴⁵⁹ Zwischen der ersten und der
Heidegger 2010, S. 85; vgl. die Kritik S. 228 – 229 Heidegger 2007, S. 63 Heidegger 2010, S. 85 Heidegger 2010, S. 86 Vgl. S. 58
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dritten Auffassung besteht ein Zusammenhang, der deutlich wird, wenn man Heideggers ursprungswissenschaftliche Interpretation der Zugespitztheit auf die Selbstwelt genauer betrachtet. Der Ursprung soll „vom faktischen Leben aus zugänglich …“ sein;⁴⁶⁰ und daher wird nach einem „Hinweis auf etwas, das in Vorzugsstellung steht, das gar den Charakter von so etwas hätte, woraus das Leben entspringt“, gesucht wird.⁴⁶¹ Die Selbstwelt soll diesen Vorzug haben, soll eine „besondere Rolle“ spielen, weil in ihr das Leben „besonders zentriert“ ist.⁴⁶² Sie ist dasjenige, worauf „das faktische Leben sich zusammendrängt, irgendwie zentriert, von dort her abhängig ist, vielleicht entspringt.“⁴⁶³ Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung des Lebens zielt demnach auf „etwas, in dem das Leben irgendwie zentriert …“⁴⁶⁴ Zu einem Zentrum gehört eine Peripherie. Ob und wie diese Unterscheidung mit der Rede von einem Ursprung kompatibel ist, soll hier nicht diskutiert werden. Aber ist die Selbstwelt wirklich das Zentrum des Lebens? Und weshalb überhaupt die Annahme, dass es ein und nur ein Zentrum des Lebens gibt? Der Hinweis, dass die Selbstwelt „eine Betonung hat im Leben“, gibt keine Antwort auf diese Fragen.⁴⁶⁵ Denn sie besagt ja nur, dass die Lebenswelt immer eine Welt ist, die „sich in den und den Weisen in und für eine jeweilige Situation der Selbstwelt bekundet.“⁴⁶⁶ Dass zu einer Lebenswelt immer auch eine Selbstwelt gehört, impliziert weder, dass diese das Zentrum jener ist, noch, dass sie das einzige Zentrum ist. Auch wenn man akzeptiert, dass die Frage nach dem Ursprung des Lebens irgendwie in eine Frage nach seinem Zentrum transformiert werden kann, ist nicht erklärt, weshalb die letztere Frage durch die Annahme einer „Selbstwelt: Zentrum der Lebensbezüge“ beantwortet wird.⁴⁶⁷ Die erste und dritte der von Heidegger vertretenen Auffassungen des Selbst kommen darin überein, dass sie diese Annahme machen, auch wenn sie inhaltlich jeweils anders gefasst wird.Weshalb er sie macht, wird verständlich, wenn man die Erste Fassung seiner Überlegungen zur „Zugänglichkeit des Ursprungsgebiets vom faktischen Leben aus“ im § 19 der Vorlesung im WS 1919/20 betrachtet, die von dem Herausgeber als Beilage 6 publiziert und in der Vorlesung nicht vorgetragen wurde. Dort heißt es: „Im faktischen Leben leben wir – wir sind es selbst, es ist uns absolut das Nächste. Wie komme ich aus ihm heraus? Vor allem: wo liegen in ihm
Vgl. Heidegger 2010, S. 82 Heidegger 2010, S. 84 Heidegger 2010, S. 85 Heidegger 2010, S. 86 Heidegger 2010, S. 178 Heidegger 2010, S. 87 Heidegger 2010, S. 62 Heidegger 2010, S. 87
1.3 Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung
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selbst faktische Charaktere und welche sind es, die gleichsam Voranzeigen und Hinweise sind, in welcher Richtung das faktische Leben aus sich selbst herausdrängt?“⁴⁶⁸ Worum geht es, wenn man aus dem faktischen Leben herauskommen will? Ein solches Vorhaben steht in einem deutlichen Kontrast zu der in der Selbstgenügsamkeit begründeten „Struktur des Lebens“, dass es „… sich nicht aus sich selbst herauszudrehen braucht, um sich selbst seinem Sinne nach zu erhalten …“⁴⁶⁹ Es geht also darum, diese Struktur zu verändern und die Selbstgenügsamkeit des Lebens zu überwinden. Wenn nur so sein Ursprung in den Blick kommt, so muss er etwas sein, was gerade nicht in der Struktur des Lebens angetroffen werden kann. In der Vorlesung spricht Heidegger von Hinweisen auf „etwas, das in Vorzugsstellung steht“;⁴⁷⁰ und wir hatten gesehen, dass dies als ein Zentrum des faktischen Lebens bestimmt wird. In der Ersten Fassung wird es als die „Richtung“ des Herausdrängens bezeichnet. Hier wie dort geht es ihm um die Möglichkeit einer Phänomenologie als Ursprungswissenschaft, die durch den Rekurs auf das Was der faktischen Lebenserfahrung nicht verständlich gemacht werden kann.⁴⁷¹ Es bietet sich daher an, das Wie dieser Erfahrung zu betrachten: „Das faktische Leben zeigt da ein Wie der Betontheit … z. B. in und an einem bedeutenden Menschen, in dessen Selbstleben die Welt eine ganz neue Charakterisierung erfährt.“⁴⁷² Als Beispiele werden „Künstler, Helden, Heilige, geniale Menschen“ erwähnt, aber „die Betontheit und Zugespitztheit auf die Selbstwelt“ sind auch bei „jedem Menschen mehr oder weniger ausgeprägt“.⁴⁷³ Es bleibt unklar, was diese Beispiele belegen sollen, und insbesondere bleibt unklar, weshalb sie „das Herausdrehen aus dem faktischen Leben“ verständlich machen sollen.⁴⁷⁴ Was jedoch nicht unklar ist, ist die Annahme, dass ein Zusammenhang zwischen einer solchen Abwendung von dem faktischen Leben und der Bestimmung seines Ursprungs in der Phänomenologie bestehen soll. Dieser Zusammenhang ergibt sich dadurch, dass der Ursprung einerseits wegen der Selbstgenügsamkeit des Lebens nicht im faktischen Leben gegeben ist, dass er aber gleichwohl von diesem aus zugänglich sein soll, aber nur dann, wenn diese Selbstgenügsamkeit irgendwie vermieden oder überwunden wird.⁴⁷⁵ Die Überwindung besteht in der Abwendung von dem faktischen Leben. Deswegen betont
Heidegger 2010, S. 174 Heidegger 2010, S. 42 Heidegger 2010, S. 84 Vgl. Heidegger 2010, S. 84– 85; 174– 175 Heidegger 2010, S. 175 Heidegger 2010, S. 175 Heidegger 2010, S. 174 Vgl. S. 79 – 80
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Heidegger die zentrale Bedeutung des Selbstlebens und der Selbstwelt, welche geradezu im Gegenzug zu unserem faktischen Leben entwickelt wird. In der hier betrachteten Ersten Fassung wird diese Bedeutung im Ausgang von der merkwürdigen Frage, wie ich aus meinem faktischen Leben „heraus komme“, nur behauptet; in der Vorlesung, die gehalten worden ist, wird die Bedeutung, wie wir gesehen haben, auf unbefriedigende Weise erklärt und von Heidegger selber kritisiert.⁴⁷⁶ Aber in der Vorlesung Einleitung in die Phänomenologie der Religion im WS 1920/1 wird deutlich, dass er in anderer Weise an der zentralen Bedeutung der Selbstwelt für die Möglichkeit einer Ursprungswissenschaft vom Leben festhält. Er behauptet: „Der Ausgangspunkt des Weges zur Philosophie ist die faktische Lebenserfahrung. … In der Tat führt jener Weg nur vor die Philosophie, nicht bis zu ihr hin. Die Philosophie selbst ist nur durch eine Umwendung jenes Wegs zu erreichen …“⁴⁷⁷ Das faktische Leben und seine Erfahrung ist der Ausgangspunkt, weil nur so dem Primat des Theoretischen Einhalt geboten werden kann. Aber es bedarf einer „Umwendung“ oder, wie es früher hieß, eines „Herausdrängens“, weil die faktische Lebenserfahrung „ständig der Artikulation zur Wissenschaft … zustrebt.“⁴⁷⁸ Wegen der prinzipiellen Verschiedenheit von Philosophie und Wissenschaft kann die erstere nur durch eine „Umwendung“ auf den Weg gebracht werden. Heideggers Konzeption von Philosophie erklärt die paradoxe Rolle, die die faktische Lebenserfahrung spielen soll, indem sie sowohl der Ausgangspunkt des Philosophierens als auch „gerade das ist, was das Philosophieren wesentlich behindert.“ ⁴⁷⁹ Sie rutscht in diese Rolle hinein, weil die philosophische Frage nach dem Ursprung des faktischen Lebens gestellt wird. Eine Beschäftigung mit diesem Leben ist nur dann eine philosophische, wenn man diese Frage stellt; und wenn man sie stellt, ist man genötigt, eine unvoreingenommene Betrachtung dieses Lebens aufzugeben. Denn wegen der Selbstgenügsamkeit des Lebens ist ein Ursprung in ihm nicht anzutreffen; und er kann nur gefunden werden, indem man sich von dieser Selbstgenügsamkeit abwendet, also die Betrachtung des Lebens aufgibt und stattdessen eine „Umwendung der faktischen Lebenserfahrung“ vornimmt.⁴⁸⁰ Erst dann und nur dann gelangen wir zu dem gesuchten Ursprung, nämlich zu einer Selbstwelt, „in der das faktische Leben besonders zentriert, worauf es überall und von überall her jederzeit hindrängt“.⁴⁸¹ Zu einer
Vgl. S. – Heidegger 2011, S. 10 Heidegger 2011, S. 15 Heidegger 2011, S. 16 Heidegger 2011, S. 18 Heidegger 2010, S. 85
1.3 Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung
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solchen Selbstwelt kommen wir nicht durch eine Betrachtung der faktischen Lebenserfahrung. Denn die so zugängliche „selbstweltliche Erfahrung“ zeigt nur, „dass die eigene erfahrene Selbstwelt faktisch gar nicht mehr von der Umwelt abgehoben ist.“⁴⁸² Es handelt sich also um einen „Abfall einer rein selbstweltlich gerichteten Bedeutsamkeit in die umweltliche …“⁴⁸³ Eine solche Bedeutsamkeit ist im faktischen Leben nicht anzutreffen und kann nicht durch seine Betrachtung gefunden werden. Und dies gilt ebenso für den Ursprung dieses Lebens. Da aber für den Phänomenologen Heidegger die Frage nach dem Ursprung der Dreh- und Angelpunkt einer philosophischen Beschäftigung mit dem Leben und der Lebenserfahrung ist, kann diese nur durch eine „Umwendung“ der Betrachtung durchgeführt werden. Was dabei in den Blick kommen soll, ist, dass „das Selbst im aktuellen Vollzug der Lebenserfahrung, das Selbst im Erfahren seiner selbst die Urwirklichkeit ist“,⁴⁸⁴ und dass der „Grundsinn des Vollzugs des Selbst in seinem Leben dem Sinn von „Existenz“ seine ursprüngliche Bedeutung gibt“.⁴⁸⁵ Diese dritte Konzeption des Selbst ist, philosophisch gesehen, wenig befriedigend und wirft all die Einsichten über Bord, die durch eine Betrachtung des Selbst im Kontext der Lebenserfahrung in einer Welt zu der zweiten Konzeption geführt hatten. Wie ist diese Konzeption, vom Standpunkt der Philosophie als Ursprungswissenschaft aus, zu charakterisieren? Er entwickelt sie im zweiten Teil der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie, vom Herausgeber als Schlußteil bezeichnet, im Rahmen einer ursprungswissenschaftlichen Betrachtung des Lebens, die von einer Kritik an der Psychologie als einer „prätendierten Wissenschaft“ von der Selbstwelt ausgeht.⁴⁸⁶ Die Kritik kreist um das Problem einer „einzelwissenschaftlichen Objektivierung“ für eine unverstellte Betrachtung des Lebens;⁴⁸⁷ und sie bestimmt die Art und Weise, wie das Projekt einer Ursprungswissenschaft in Abgrenzung von und im Kontrast zu der Psychologie auf den Weg gebracht werden soll.⁴⁸⁸ Heidegger behauptet, dass „die Frage nach der Psychologie von selbst in Ursprungsprobleme führt“,⁴⁸⁹ denn die Beschäftigung mit dem Psychischen bringt einen dazu, auf Erlebnisse einzugehen und die Beziehung von Erleben und Leben zu betrach-
Heidegger 2011, S. 13 Heidegger 2007, S. 84 Heidegger 2007, S. 173 Heidegger 2010, S. 261 Heidegger 2010, S. 146 – 147 Heidegger 2010, S. 149; vgl. S. 147 Heidegger 2010, S. 147– 155 Heidegger 2010, S. 154
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ten.⁴⁹⁰ Das Projekt einer Ursprungswissenschaft, das durch die Kritik an der Psychologie bestimmt ist, wird positiv charakterisiert als der Plan von einer Wissenschaft des „verdinglichungsfreien Lebens aus Bedeutsamkeiten“.⁴⁹¹ Die Rolle der Selbstwelt in einem solchen Leben ergibt sich durch seine Zugehörigkeit zu einer Welt, deren vernetzte Bedeutsamkeiten einem verständlich und vertraut sind.⁴⁹² Diese Verständlichkeit wird als ein Sichselbsthaben in einer Welt bestimmt; sie ist eine fundamentale Struktur des eigenen Lebens im Verständlichen. Die ursprungswissenschaftliche Bedeutung der Konzeption des Sichselbsthabens besteht darin, dass sie eine grundlegende Struktur des Lebens in einer Welt angibt, ohne in die Irrtümer einer „einzelwissenschaftlichen Objektivierung“ zu verfallen. Diese Konzeption besitzt eine inhaltliche Auszeichnung und erlaubt eine methodische Abgrenzung von den Wissenschaften. Der ursprungswissenschaftliche Status der Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt ergibt sich durch die Verbindung dieser beiden Gesichtspunkte. Demgegenüber löst die Konzeption der Selbstbekümmerung diese Verbindung auf. Einerseits wird das Selbst als eine „Urwirklichkeit“ angesehen, aus der das faktische Leben und seine Erfahrung ständig abfallen.⁴⁹³ Ein so verstandenes Selbst kann daher nicht eine fundamentale Struktur unseres Lebens in einer Welt sein. Andererseits wird die Philosophie als Ursprungswissenschaft nicht mehr im Gegensatz zu anderen Wissenschaften vom Leben und insbesondere zur Psychologie gesehen, sondern ihre spezifische Aufgabe und Leistung besteht in der „Umwendung“ der faktischen Lebenserfahrung⁴⁹⁴ hin zu einer quasi-cartesianischen Grunderfahrung von ich bin, die keine Erfahrung eines Lebens in einer Welt ist und sein kann.⁴⁹⁵ Die Konzeption der Selbstbekümmerung transformiert die Differenz zwischen Philosophie und Wissenschaften in eine Differenz zwischen eigentlicher Existenz und faktischer Lebenserfahrung und verabschiedet diese zu Gunsten einer solchen Grunderfahrung, die nichts begründet, sondern ein imaginäres „aktuelles ursprüngliches Dasein“ beschwört.⁴⁹⁶ Wenn Heideggers Betrachtung des Selbst vom Standpunkt der Ursprungswissenschaft diese Konzeption des Selbst begründet, dann führt sie dazu, dass das Selbst die weltlichen Bezüge seiner Lebenserfahrung verliert, und dass die Selbsterfahrung auf die isolierte Grunderfahrung von ich bin reduziert wird. Nur durch den Verzicht auf
Vgl. Heidegger 2010, S. 153 Heidegger 2010, S. 156; vgl. 2016, S. 39 – 42 Vgl. Heidegger 2010, S. 157 Heidegger 2007, S. 173 Heidegger 2011, S. 10 Heidegger 2007, S. 174; 2004c, S. 29 Heidegger 2007, S. 174
1.3 Die phänomenologische Frage nach dem Ursprung
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eine solche Betrachtungsweise kann man den philosophischen Einsichten, die in einigen seiner Frühen Freiburger Vorlesungen im Rahmen einer Analyse der faktischen Lebenserfahrung gewonnen werden, gerecht zu werden. Dass man den Standpunkt der Ursprungswissenschaft, der in der dritten Konzeption des Selbst zum Ausdruck kommt, aufgibt, bedeutet nicht, dass man die Vorstellung, das Vortheoretischen weise auf das Theoretische zurück, verabschiedet. Wie wir gesehen hatten, kann man sie in dem Sinne verstehen, dass das Vortheoretische eine notwendige Bedingung für das Theoretische ist. Für Heidegger ist die faktische Lebenserfahrung der Erfahrungsboden und somit der Ausgangspunkt wissenschaftlicher Erkenntnis. Man bewegt sich auch im Rahmen dieser Vorstellung, wenn man annimmt, dass das Vortheoretische sich einem theoretischen Zugang entzieht, wie er es für die Umwelterfahrung und die Erfahrung der Selbstwelt zu zeigen versucht. Die Aufgabe des Standpunkts der Ursprungswissenschaft besagt vielmehr, dass man nicht die Annahme macht, der Ursprung sei wegen der Selbstgenügsamkeit des Lebens nicht in diesem selber gegeben, und dass man Heideggers Vorgehen ablehnt, die Frage nach dem Ursprung des Lebens dadurch zu beantworten, dass man sich nicht mehr an dem Leben und der faktische Lebenserfahrung orientiert, sondern aus dieser „heraus kommen“ will.⁴⁹⁷ Dieses Vorgehen zielt auf eine grundlegende Veränderung der Struktur des faktischen Lebens, die gerade darin besteht, dass es „aus sich nicht heraus braucht (sich nicht aus sich selbst herausdrehen), um seine genuine Tendenzen zur Erfüllung zu bringen.“⁴⁹⁸ Diese Struktur wird durch den Begriff der Selbstgenügsamkeit bestimmt, der eine frühe Version der Konzeption der Alltäglichkeit ist; und jenes Vorgehen wiederholt sich in der aus Sein und Zeit bekannten Kritik an dem alltäglichen In-der-Welt-sein. In dem folgenden Kapitel soll gezeigt werden, dass und wie die Inkompatibilität der beiden zuletzt betrachteten Auffassungen des Selbst die Konzeption der Alltäglichkeit in Sein und Zeit prägt und belastet.
Vgl. Heidegger 2010, S. 174 Heidegger 2010, S. 31
2 Das Selbst des alltäglichen In-der-Welt-seins Ich werde mich im Folgenden mit Heideggers Überlegungen zum Selbstsein beschäftigen, die sich im vierten Kapitel des ersten Abschnitts des ersten Teils von Sein und Zeit finden. Dieser Abschnitt wird als „vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins“ bezeichnet und beschäftigt sich vor allem mit seinem alltäglichen In-der-Welt-sein. ¹ Um die Rolle, die diese Überlegungen innerhalb des gesamten Projekts des Buches spielen, beurteilen zu können, muss kurz auf das Projekt eingegangen werden. Es ist bekanntlich der Beantwortung der Frage nach dem Sinn von Sein gewidmet. Die Frage ist nicht als eine semantische Frage zu verstehen, bei der nach dem Sinn eines sprachlichen Ausdrucks gefragt wird. Es geht also nicht darum, den Sinn oder etwa die verschiedenen Sinne des Wortes ‚Sein‘ zu ermitteln. Heidegger spricht von Sinn im Zusammenhang mit Verstehen: Wenn etwas verstanden wird oder „zu Verständnis gekommen ist, sagen wir, es hat Sinn. … Sinn ist das, worin sich Verständlichkeit von etwas hält.“² Der Begriff des Sinns wird mit dem Begriff des Verstehens korreliert: Sinn hat etwas genau dann, wenn es verstanden wird oder werden kann. Für die Frage nach dem Sinn von Sein ergibt sich daraus, dass sie auf die Verständlichkeit von Sein zielt, und dass ihre Beantwortung auf Überlegungen zu den Begriffen und Gesichtspunkten, durch die und unter denen Sein verständlich wird, beruhen muss. Heidegger geht von zwei Annahmen aus: Sein ist wesentlich verschieden von Seiendem; und Sein ist immer Sein von Seiendem.³ Diese Annahmen ergeben sich nicht durch die Verwendung des Wortes ‚Sein‘ im Deutschen, sondern erklären sich durch die philosophische Tradition. Tugendhat verweist zurecht auf Aristoteles.⁴ Auf ihn geht auch die Vorstellung zurück, dass Sein etwas ist, „was Seiendes als Seiendes bestimmt, das, woraufhin Seiendes, mag es wie immer erörtert werden, je schon verstanden ist.“⁵ Demnach ist die Frage nach dem Sein von etwas immer auch eine Frage nach dem Sinn des Seienden, dessen Sein in Rede steht. Aus Heideggers Auffassung von Sinn und aus seiner Annahme, der Begriff des Seins sei ein relationaler Begriff, folgt noch nichts darüber, welches Seiende bei der Beantwortung der Frage nach dem Sinn von Sein in Betracht zu ziehen ist. Denn „Seiendes ist alles, wovon wir reden, was wir meinen, wozu wir uns so und
Heidegger 1963, S. 41; vgl. 231 Heidegger 1963, S. 151 Vgl. Heidegger 1963, S. 6; 1975, S. 22 Tugendhat 2000, S. 186; Haugeland 2013, 52– 53, betont die Bedeutung dieser Annahmen für Heideggers Denken, ohne die philosophische Tradition, in der es steht, zu erwähnen. Heidegger 1963, S. 6 https://doi.org/10.1515/9783110615210-003
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so verhalten, seiend ist auch, was und wie wir selbst sind.“⁶ Geht man von dieser sehr weiten Bestimmung des Seiendem aus, dann ist völlig offen, welches Seiende oder welche Klasse von Seiendem bei einer Beantwortung der Seinsfrage zu erörtern ist. Heidegger behauptet jedoch, dass „ein bestimmtes Seiendes in der Ausarbeitung der Seinsfrage einen Vorrang hat.“⁷ Der Vorrang soll sich durch eine Reflexion auf die Seinsfrage ergeben. Sie ist selber ein Seiendes und insbesondere ein, wie er sich ausdrückt, „Seinsmodus eines bestimmten Seienden, des Seienden, das wir, die Fragenden, je selbst sind.“⁸ Fragen werden gestellt und zwar von jemandem; sowohl das Stellen einer Frage als auch derjenige, der sie stellt, sind Seiendes. Aber weshalb soll die Beantwortung der Frage nach dem Sein von einer Beschäftigung mit dem Sein von demjenigen ausgehen, der die Frage stellt oder in der Lage ist, sie zu stellen? Das ist nur eine unter vielen Möglichkeiten, die Frage nach dem Sein auf den Weg zu bringen. Heidegger betont, dass diese Frage „ausdrücklich gestellt und in voller Durchsichtigkeit ihrer selbst vollzogen werden soll …“⁹ Aber auch dieses Vorhaben begründen nicht, dass man sich mit dem Fragen und demjenigen, der in der Lage ist, Fragen zu stellen, beschäftigt. Eine Frage hat einen bestimmten Inhalt; die Ausdrücklichkeit und Durchsichtigkeit der Fragestellung bemessen sich an ihrer inhaltlichen Bestimmtheit. Der Inhalt der hier betrachteten Frage ist das Sein, das immer ein Sein von Seiendem ist, und woraufhin Seiendes „je schon verstanden ist“ ist.¹⁰ Nun wird nicht jedes Seiende eo ipso verstanden, aber wenn es verstanden wird, oder wenn jemand sich bemüht es zu verstehen, dann ist nach Heidegger, in Anlehnung an Aristoteles, die Beschäftigung mit seinem Sein von entscheidender Bedeutung. Denn das Sein ist dasjenige, worauf hin Seiendes jeweils verstanden wird. Betrachtet man die Seinsfrage im Zusammenhang mit der Rolle, die das Sein für das Verständnis von Seiendem spielt, dann kommt ein Seiendes in den Blick, das etwas versteht oder sich bemüht, etwas zu verstehen; und von einem solchen Seienden kann man zurecht sagen, dass es etwas ist, was „wir, die Fragenden, je selbst sind.“¹¹ Es ist also nicht der Umstand, dass die Seinsfrage gestellt wird, sondern es liegt an ihrem Inhalt, dass die Frage auf die besondere Frage nach dem Sein eines solchen Seienden verwiesen wird. Daraus ergibt sich allerdings nicht, dass dieses Seiende ein „exemplarisches Seiendes“ ist.¹² Heidegger glaubt dies dadurch zeigen zu
Heidegger 1963, S. 6 – 7 Heidegger 1963, S. 7 Heidegger 1963, S. 7 Heidegger 1963, S. 7 Heidegger 1963, S. 6 Heidegger 1963, S. 7 Heidegger 1963, S. 7
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können, dass er bei der Beantwortung der Seinsfrage von „dem durchschnittlichen Seinsverständnis, in dem wir uns immer schon bewegen …“, ausgeht.¹³ Ob die Annahme eines solchen Verständnisses richtig ist, soll hier nicht diskutiert werden; aber wenn sie richtig ist, dann erklärt der Zusammenhang der Seinsfrage mit einem Seinsverständnis, dass die Frage nach dem Sein des Daseins, des Seienden also, das „wir je selbst sind“, den von ihm angenommenen „Vorrang“ besitzt. Diese Annahme wird ergänzt durch die Idee, dass die Seinsfrage selber für das Dasein eine besondere Rolle hat. Denn es „versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein. … Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbestimmtheit des Daseins.“ ¹⁴ Demnach ist das Dasein dadurch ausgezeichnet, dass es in irgendeiner Weise die Frage nach seinem Sein stellt. In Heideggers Worten: Das Dasein ist „an ihm selbst „ontologisch“.“¹⁵ Die Explikation des Projekts von Sein und Zeit, eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Sein zu finden, führt daher zu der Aufgabe, das Sein des Seienden, das wir je selbst sind, zu bestimmen. Sie wird durch eine „existenziale Analytik des Daseins“ gelöst,¹⁶ die hier ausschließlich unter dem Gesichtspunkt betrachtet wird, wie Heidegger den Begriff des Selbst des Daseins versteht. Dazu muss man von dem „ rechten Ansatz“ einer solchen Analytik, von der Erörterung der „Seinsverfassung“ oder auch „Grundverfassung“ des Daseins ausgehen.¹⁷ Sie ist sein In-der-Welt-sein. Dieser Ansatz wird gewählt, weil „zum Dasein wesenhaft: Sein in einer Welt gehört. Das dem Dasein zugehörige Seinsverständnis betrifft daher gleichursprünglich das Verstehen von so etwas wie „Welt“ und Verstehen des Seins des Seienden, das innerhalb der Welt zugänglich wird.“¹⁸ Wenn das Sein des Daseins wesentlich ein Sein in einer Welt ist, dann ist sein Seinsverständnis ein Verständnis seines In-der-Welt-seins. Da der Begriff des Selbst, wie wir noch sehen werden, eine konstitutive Rolle für ein solches Verständnis spielt, muss er auf der Grundlage des Seins des Daseins in einer Welt expliziert werden. Der Kern der Konzeption des In-der-Welt-seins ist die These, dass das Dasein „nie gegeben ist … ohne Welt … und ebenso wenig … ein isoliertes Ich … ohne die Anderen.“¹⁹ Daher schließt das Seinsverständnis des Daseins immer auch ein Verständnis seines Seins in der Welt und seines Mitseins mit Anderen ein. Die Konzeption des In-der-Welt-seins ermöglicht es, den Begriff des Selbstverständ-
Heidgger 1963, S. 8 Heidegger 1963, S. 12 Heidegger 1963, S. 13 Vgl. Heidegger 1963, S. 12– 13 Heidegger 1963, S. 53; 117; 176 Heidegger 1963, S. 13 Heidegger 1963, S. 116; vgl. 1994b, S. 327; 1975, S. 420 – 421
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nisses so weit zu fassen, dass er auch auf das, was man in der Welt besorgt, und auf das Leben mit Anderen angewandt werden kann, und erlaubt es daher, Selbstverhältnisse zu thematisieren, die in der gegenwärtigen Diskussion zum Selbst nicht betrachtet werden. Wie wir später sehen werden, kann Heideggers Ansatz diese Diskussion auf innovative Weise ergänzen und korrigieren. Wie die Entfaltung dieses Ansatzes in Sein und Zeit jedoch zeigt, versäumt er es, dieses Potential auszuschöpfen. Sie findet sich im Ersten Abschnitt und gehört zu der „vorbereitenden Fundamentalanalyse des Daseins“.²⁰ Die Überlegungen zum Selbstsein werden daher im Zweiten Abschnitt im § 64 in der Form einer systematischen Explikation des Daseins unter dem Titel Existenzialität des Selbst wieder aufgegriffen. Da es hier nicht darum geht, das fundamentalontologische Projekt von Sein und Zeit im Ganzen, also in der Verbindung des Ersten mit dem Zweiten Abschnitt, zu diskutieren,²¹ werde ich mich auf eine Betrachtung von Heideggers Konzeption des Selbst im vierten Kapitel des Ersten Abschnitts beschränken. Es beschäftigt sich mit dem In-der-Welt-sein als der „Grundverfassung des Daseins“, die durch die Begriffen der Welt, des Selbst und des In-Seins expliziert wird, und deren Analyse schließlich zu einer ersten Bestimmung des „Strukturganzen des Daseins“ als Sorge führt.²² Der Erörterung des Selbstseins geht die Betrachtung des Begriffs der Welt voraus, und es schließen sich Überlegungen an, die dem „Strukturganzen“ des Daseins als In-sein gewidmet sind. Im Vergleich zu der Erörterung dieser Themen fällt die Behandlung des Selbstseins besonders kurz aus. Trotz seiner Brückenfunktion und seiner Kürze hat Dreyfus das vierte Kapitel als „the pivotal chapter of the book“ angesehen, aber auch behauptet, es sei „not only one of the most basic in the book, it is also the most confused.“²³ Wie sich zeigen wird, lassen sich die von Dreyfus konstatierten „Verwirrungen“ dadurch erklären, dass Heidegger, wie schon in den Frühen Freiburger Vorlesungen, unterschiedliche Konzeptionen des Selbstseins miteinander zu verbinden versucht. Die Explikation des In-der-Welt-seins im Ersten Abschnitt von Sein und Zeit geht davon aus, dass „Existenz als Seinsbestimmung allein dem Dasein“ zukommt.²⁴ Dies bedeutet erstens, dass ‚Existenz‘ nicht im Sinne von ‚es gibt …‘ zu verstehen ist. Denn es ist offenkundig, dass die Frage ‚was gibt es?‘ nicht nur durch die Angabe von Seiendem, das den Charakter von Dasein hat, beantwortet werden kann. Es bedeutet zweitens, dass Existenz eine Besonderheit des Daseins
Heidegger 1963, S. 41 Vgl. dazu etwa Kisiel 1993, S. 9 – 10; Dreyfus 2000, S. 27– 44; Haugeland 2000, S. 187– 220 Heidegger 1963, S. 180 Dreyfus 1991, S. 143 – 144 Heidegger 1963, S. 42
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ist. Dazu schreibt Heidegger: „Das „Wesen“ des Daseins liegt in seiner Existenz. Die an diesem Seienden herausstellbaren Charaktere sind daher … je ihm mögliche Weisen zu sein und nur das. Alles So-sein dieses Seienden ist primär Sein.“²⁵ Die Charaktere des Daseins sind Bestimmungen seines Wesens. Wenn es in einer Weise zu sein besteht, dann geben die Charaktere an, wie das Dasein jeweils ist; und wenn es sich um möglichen Weisen zu sein handelt, dann hat das Dasein verschiedene Möglichkeiten, so oder so zu sein. Diese Möglichkeiten ergeben sich in einer prospektiven Betrachtung als Möglichkeiten, die das Dasein durch sein Tun und Lassen, so oder so zu sein, besitzt. Die möglichen Weisen zu sein müssen also von der Fähigkeit des Daseins her, sich so oder so zu verhalten, verstanden werden.²⁶ Dass diese Weisen als die Existenz des Daseins bestimmt werden, besagt demnach, dass seine Existenz in den so verstandenen Weisen, so oder so zu sein, besteht.²⁷ Der Begriff der Existenz verweist für Heidegger auf den Begriff der Möglichkeit: „Das Dasein bestimmt sich als Seiendes je aus einer Möglichkeit, die es ist und in seinem Sein irgendwie versteht. Das ist der formale Sinn der Existenzverfassung des Daseins.“²⁸ Daher sagt Haugeland, dass „Dasein das ist, was es tun kann.“²⁹ Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass sich die möglichen Weisen zu sein nicht nur durch die Fähigkeit ergeben, so oder so zu handeln, sondern auch passive Verhaltensweisen des Daseins einschließen. Dass das Wesen des Daseins seine Existenz ist, bedeutet, dass sein Wesen in Weisen, wie es sein wird, besteht. Diese Weisen sind prospektiv konzipiert und bestehen in den unterschiedlichen Entwürfen und Realisierungen der je eigenen Zukunft. Der so explizierte Begriff der Existenz des Daseins ist für Heidegger der „formale Begriff der Existenz“.³⁰ Für seine Erörterung des Themas Selbst muss eine besondere Art von Existenz betrachtet werden: die Existenz des alltäglichen Daseins. Der formale Begriff der Existenz besagt, dass die Existenz des Daseins in einer „je ihm mögliche Weise zu sein“ besteht. Ein Begriff von Existenz, der nicht formal ist, kann dadurch gewonnen werden, dass man eine bestimmte Weise zu sein betrachtet. Heidegger diskutiert eine besondere Seinsweise des Daseins, seine „durchschnittliche Alltäglichkeit“. Im Unterschied zu dem formalen Begriff von Existenz geht es dabei um einen inhaltlich bestimmten Begriff von Existenz. Heidegger begründet die Betrachtung dieser Seinsweise damit, dass der formale Begriff der Existenz eine ontologische Interpretation des Daseins verlangt, dass
Heidegger 1963, S. 42 Vgl. Tugendhat 1979, S. 184– 185 Vgl. Heidegger 1963, S. 12 Heidegger 1963, S. 43 Haugeland 2013, S. 89 Heidegger 1963, S. 53; vgl. 43
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„die Problematik seines Seins aus der Existenzialität seiner Existenz“ entwickelt wird.³¹ Es ist nicht klar, weshalb sich diese Aufgabe stellt, und worum es dabei geht. Eine ontologische Interpretation des Daseins zu geben besagt, das Sein des Daseins als seine Existenz und somit in seinem möglichen So-sein zu bestimmen. Die Explikation eines beliebigen nicht-formalen Begriffs der Existenz des Daseins liefert eine solche Interpretation, aber Heidegger interessiert sich nur für einen speziellen Fall eines solchen Begriffs, für die alltägliche Existenz des Daseins. Die ontologische Interpretation des Daseins muss daher so verstanden werden, dass sie eine Betrachtung dieses Falls erforderlich macht.Weshalb dies so ist, lässt sich durch den Hinweis erklären, dass eine solche Interpretation zwei Dinge vermeiden soll: Erstens soll sie nicht „das Dasein aus einer konkreten möglichen Idee von Existenz konstruieren“; und zweitens soll das „Dasein … gerade nicht in der Differenz eines bestimmten Existierens interpretiert … werden.“³² Weshalb dies vermieden werden soll, wird nicht gesagt, aber Vorlesungen, die der Publikation von Sein und Zeit vorhergehen, geben darüber Auskunft. Sie werfen ein Licht auf die gesuchte ontologische Interpretation des Daseins. Heidegger schreibt: „Das Dasein soll ferner in seiner Weise zu sein verstanden werden und zwar zunächst gerade nicht in einer irgendwie betonten, exceptionellen Seinsart. Nicht in irgendwelcher Ansetzung seines Zieles und Zweckes soll das Dasein genommen werden, weder als ›homo‹, noch gar im Lichte irgendeiner Idee von ›Humanität‹ …“³³ Dass nicht eine besondere, irgendwie ausgezeichnete Seinsart betrachtet werden soll, lässt sich mit der früher aufgestellten Forderung vergleichen, die faktische Lebenserfahrung nicht anhand einer „besonders ausgefallen Lebenserfahrung – ad hoc zurechtgemacht -“, sondern am Beispiel einer Lebenserfahrung von „Trivialitäten, Alltäglichkeiten“ zu diskutieren.³⁴ Es soll vermieden werden, „das Sein des Daseins … aus einer Idee des Menschen zu deduzieren“.³⁵ Tut man dies, so besteht die Gefahr, dass man „unter die Herrschaft von fast unausrottbaren Vorurteilen“ gerät.³⁶ Daraus kann man entnehmen, dass die gesuchte ontologische Interpretation des Daseins sich nicht an traditionell favorisierten,vielleicht auch normativ ausgezeichneten Weisen zu sein orientieren soll, sondern trivialen und alltäglichen Lebensweisen Rechnung tragen will. Die weitere Forderung, auf die Annahme einer teleologischen oder funktionalen Bestimmung des Daseins, die im Begriff des Menschen fundiert ist, zu verzichten,
Heidegger 1963, S. 43 Heidegger 1963, S. 43 Heidegger 1994b, S. 207– 208; vgl. 332 Heidegger 2010, S. 103 Heidegger 1963, S. 182 Heidegger 1995, S. 89
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erhält einen klaren Sinn, wenn man der Frage nachgeht, weshalb Heidegger auf Ausdrücke wie ‚menschliches Dasein‘ oder ‚Menschsein‘ verzichtet.³⁷ Er behauptet, dass der Begriff des Menschen in der philosophisch-theologischen Tradition in zwei verschiedenen Weisen expliziert wird: Einerseits als „animal rationale“ wird das Dasein „im Umkreis von anderem mit ihm in der Weise des Lebens Daseienden (Pflanzen, Tiere), und zwar als ein Seiendes, das Sprache hat“ gesehen;³⁸ andererseits als Person ist das „Menschsein glaubensmäßig vorbestimmt als Geschaffensein von Gott nach seinem Bilde… In der neuzeitlich philosophischen Idee des Personenseins ist das für das Sein des Menschen konstitutive Gottesverhältnis neutralisiert zu einem Norm- und Wertbewusstsein als solchem.“³⁹ Es geht hier nicht darum, die Plausibilität dieser begriffsgeschichtlichen Überlegungen zu diskutieren, sondern es soll der besondere Charakter der von Heidegger gesuchten ontologischen Interpretation der Existenz des Daseins herausgearbeitet werden. Sie will „eine radikale philosophische Besinnung auf das Menschsein“ sein und verlangt daher, dass „von einer ausdrücklichen oder erst recht versteckten, unausdrücklichen Orientierung bestimmten Ideen des Menschseins Abstand genommen werden muss.“⁴⁰ Bei einer solchen Interpretation geht es darum, über den formalen Begriff der Existenz des Daseins als eine ihm mögliche Weise zu sein hinauszugehen und zu einem nicht-formalen Begriff der Existenz zu gelangen. Dabei soll vermieden werden, dass irgendeine Seinsart ausgezeichnet wird, und dass man sich an traditionelle Bestimmungen des Menschseins orientiert. Damit sind zwei Bedingungen formuliert, die der gesuchte nicht-formale Begriff von Existenz erfüllen soll. Sie enthalten jedoch nur negative Bestimmungen. Als eine weitere Bedingung gilt, dass der Begriff „nicht beliebige und zufällige, sondern wesenhafte Strukturen“ angeben soll, „die in jeder Seinsart des faktischen Daseins sich als seinsbestimmend durchhalten.“⁴¹ Es geht um die Bestimmung einer Seinsart, „aus der heraus und in sie zurück alles Existieren ist, wie es ist.“⁴² Der gesuchte nicht-formale Begriff von Existenz gibt also eine notwendige Bedingung von Existenz an. Im Folgenden wird zu prüfen sein, ob Heideggers Explikation des Begriffs der alltäglichen Existenz diese Bedingungen erfüllt.⁴³ Wie wir sehen
als
Heidegger 1995, S. 26 – 27 Heidegger 1995, S. 27 Heidegger 1995, S. 28 – 29 Heidegger 1995, S. 29; vgl. 1963, S. 45 Heidegger 1963, S. 16 – 17 Heidegger 1963, S. 43 Von Hermann 2005 unterscheidet zwischen zwei Bedeutungen von ‚Alltäglichkeit‘: einerseits Uneigentlichkeit, andererseits als „indifferente, unauffällige Möglichkeiten“ des Daseins
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werden, beschäftigt sich diese Explikation im Wesentlichen mit der durchschnittlichen Alltäglichkeit des Daseins. Sie besteht in einer besonderen Weise seines In-der-Welt-seins und muss daher als eine Modifikation dieser „Seinsverfassung“ des Daseins verstanden werden.⁴⁴ In einer früheren Vorlesung unterscheidet Heidegger zwischen dem „Fundamentalcharakter des Daseins“, dass sein Sein in seiner Existenz besteht, und der „Grundverfassung seines Seins“, dem In-der-Welt-sein des Daseins.⁴⁵ Das Erste ist die Bestimmung des Seins des Daseins, das Zweite ist die Bestimmung der grundlegenden Beschaffenheit seines Seins. Diese Beschaffenheit besteht in einer bestimmten Struktur, die durch den Terminus ‚In-der-Welt-sein‘ angezeigt wird.⁴⁶ Eine Struktur ist eine Beziehung zwischen verschiedenen Elementen oder Momenten. Weder der formale Begriff der Existenz noch irgendein nicht-formaler Begriff von Existenz, den Heidegger der philosophisch-theologischen Tradition zuordnet, haben eo ipso eine Struktur. Wie sieht die Struktur aus, die durch jenen Terminus angezeigt wird? Der Terminus soll ein „einheitliches Phänomen“ bezeichnen, das durch eine „Unauflösbarkeit in zusammenstückbare Bestände“ ausgezeichnet ist.⁴⁷ Was damit gemeint ist, kann man sich klar machen, indem man eine Struktur betrachtet, die man in einzelne Momente auflösen kann. Eine solche Struktur hat etwa der Sachverhalt, dass sich der Mantel im Schrank befindet. Sowohl der Mantel als auch der Schrank sind erstens das, was sie sind, ganz unabhängig davon, dass diese Beziehung zwischen ihnen besteht. Der Mantel muss nicht im Schrank sein, und der Schrank muss ihn nicht enthalten. Zweitens gilt, dass die Beziehung sich in etwas befinden auf beliebige Objekte zutreffen kann. Die Struktur des Sachverhalts ist eine Beziehung zwischen Objekten, deren Existenz und Beschaffenheit unabhängig voneinander sind; und die Beziehung selber ist ein Verhältnis, in dem diese zueinanderstehen können, aber nicht müssen. Es ist kontingent, dass ein solcher Sachverhalt besteht. Die Struktur, die durch den Terminus ‚In-der-Welt-sein‘ angezeigt wird, sieht ganz anders aus: Die Beziehung (40 – 41), und behauptet, die letztere sei „die Primärbedeutung von Alltäglichkeit“ (41). Nach seiner Meinung ist „der Begriff der Alltäglichkeit in einer gefährlichen Weise äquivok.“ (42) Er übersieht, dass nicht die Alltäglichkeit als solche, sondern nur die „verfallende Alltäglichkeit“ als Uneigentlichkeit verstanden werden kann, und er unterlässt es, die Kritik an der philosophischen Tradition als ein wesentliches Moment von Heideggers Beschäftigung mit der Alltäglichkeit herauszuarbeiten. Heidegger 1963, S. 52– 53 Heidegger 1994b, S. 210 Vgl. Haugeland 2013, S. 92: „Being-in-the-world is the most „ground-level“ structural characterization of dasein.“ Heidegger 1963, S. 53
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des In-seins besteht zwischen dem Dasein und der Welt. Sowohl das Dasein als auch die Welt sind nur das, was sie sind, wenn Dasein in der Welt ist, und wenn die Welt etwas ist, in dem Dasein ist. Denn „sofern das Dasein ist, ist es in einer Welt“, und „Welt ist nur, wenn und solange ein Dasein existiert.“⁴⁸ Zwischen dem Dasein und der Welt besteht also eine wechselseitige Abhängigkeit, und das Verhältnis ist die Beziehung des In-seins, die zur „Seinsverfassung des Daseins“ gehört und sein In-der-Welt-sein konstituiert: Nur das Dasein kann in der Welt sein, und was in ihr ist, hat notwendiger Weise den Charakter des Daseins.⁴⁹ Weiterhin soll gelten, dass die Momente Dasein, Welt und In-sein „gleichursprünglich“ sind und daher nicht in irgendeiner Weise aus anderem abgeleitet werden können.⁵⁰ Demnach besteht das In-der-Welt-sein in einer Verbindung von Momenten, die sich wechselseitig bedingen und nicht weiter erklärt werden können. Nur als konstitutive Momente, die insgesamt das In-der-Welt-sein ausmachen, und nicht unabhängig von dieser Verbindung können sie gedacht werden; und keines dieser Momente lässt sich durch anderes verständlich machen. In der Explikation des In-der-Welt-seins, die in den zweiten bis vierten Kapiteln des Ersten Abschnitt von Sein und Zeit gegeben wird, werden die drei genannten Momente als Welt, Mit- und Selbstsein und In-Sein bezeichnet. Das Seiende, das in der Welt ist, wird in der Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie im SS 1927 als Selbst bezeichnet; und daher sind „Selbst und Welt in der Einheit der Struktur des In-der-Welt-seins die Grundbestimmung des Daseins selbst.“⁵¹ Diese Struktur bestimmt auch die Explikation des In-der-Welt-seins in den hier betrachteten Kapiteln von Sein und Zeit,⁵² aber diese Explikation ist nicht die einzig mögliche. Denn „das In-der-Welt-sein des Daseins ist wesenhaft durch das Mitsein konstituiert“,⁵³ und daher muss eine Analyse des In-der-Welt-seins „ seinen wesenhaften Bezügen des Seins bei der Welt (Besorgen), des Mitseins (Fürsorge) und des Selbstseins (Wer)“ Rechnung tragen.⁵⁴ Orientiert man sich an dieser Explikation des In-der-Welt-seins, so geht es um ein In-sein, das sich in drei Seinsweisen des Daseins manifestiert, so dass das Mitsein neben dem Besorgen von Zuhandenem in einer Umwelt und dem Selbstsein als eigenständige und „gleichursprüngliche“ Seinsweise fungiert. Die Struktur des In-der-Welt-seins enthält demnach vier verschiedene Momente. In der für Sein und Zeit maßgebli-
Heidegger 1975, S. 241 Heidegger 1963, S. 54 Heidegger 1963, S. 131 Heidegger 1975, S. 422 Vgl. Heidegger 1994b, S. 211; 325 – 345 Heidegger 1963, S. 120; vgl. 1975, S. 393 – 394 Heidegger 1963, S. 131; vgl. 168; 298
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chen Explikation des In-der-Welt-seins kommen jedoch nur drei Momente vor, die im dritten bis zum fünften Kapitel behandelt werden, und Mitsein und Selbstsein werden als Spezifikationen des Seienden, das in der Welt ist, angesehen. Wie erklären sich diese unterschiedlichen Explikationen? Eine Antwort auf die Frage findet man, wenn man Heideggers Selbstkritik in der Vorlesung Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs im SS 1925 genauer betrachtet. Er weist auf die „merkwürdige Möglichkeit der Welt, dass sie Dasein, sowohl fremdes wie eigenes, begegnen lässt“, hin und betont daher, dass „phänomenal der Befund nicht abzuweisen ist, dass Mitdasein – das Dasein Anderer – und das eigene Dasein von der Welt her begegnen.“⁵⁵ Dies ist natürlich nicht alles, was von der Welt her begegnet, was als zu einer Welt gehörig erfahren wird. Denn dazu gehören auch die „Weltdinge – die Umwelt im engeren Sinne -“,⁵⁶ so dass die Seinsart desjenigen, was von der Welt her begegnet, sehr unterschiedlich sein kann. Es kann den Charakter der Vorhandenheit oder Zuhandenheit, aber auch den eines Mitdaseins oder Selbstseins haben. Das alles ist nicht merkwürdig.Was Heidegger als merkwürdig empfindet, wird erst deutlich, wenn man seine in den Frühen Freiburger Vorlesungen vertretene Theorie der Um-, Mit- und Selbstwelt heranzieht. Er kritisiert sie jetzt mit der folgenden Überlegung: „Aufgrund dieses weltlichen Begegnens der Anderen könnte man diese im Unterschied zu den Weltdingen in ihrem Vor- und Zuhandensein in der Umwelt als ›Mitwelt‹ abgrenzen und das eigene Dasein, sofern es umweltlich begegnet, als die ›Selbstwelt‹ fassen. In meinen früheren Vorlesungen habe ich die Dinge so gesehen und die Termini in diesem Sinne gefaßt. Die Sache ist aber grundfalsch.“⁵⁷ Wir hatten gesehen, dass Heidegger die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Welten nicht nur als eine Klassifikation der unterschiedlichen Inhalte der Erfahrung unseres Lebens in einer Welt verstanden hatte, sondern dass es ihm darauf ankam, das „Sichdurchdringen“ der verschiedenen Welten in der Erfahrung des Lebens zu betonen.⁵⁸ Insofern irrt sich Heidegger in seiner retrospektiven Deutung. Aber angenommen, er würde sich nicht irren, was ist daran „grundfalsch“? Er behauptet, dass die terminologische Verwendung von ‚Mitwelt‘ und ‚Selbstwelt‘ „zeigt, dass die Phänomene nicht hinreichend gefaßt sind …“⁵⁹ Welche Phänomene? Es liegt nahe, an den kurz zuvor erwähnten „Befund“ zu denken, der „phänomenal nicht abzuweisen ist, dass Mitdasein – das Dasein Anderer – und das eigene Dasein von der Welt her begegnen.“ Weshalb wird die
Heidegger 1994b, S. 333 – 334 Heidegger 1994b, S. 333 Heidegger 1994b, S. 333 Heidegger 2010, S. 39; vgl. 2016, S. 42; S. – Heidegger 1994b, S. 333
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Verwendung der Termini ‚Mitwelt‘ und ‚Selbstwelt‘ dem nicht gerecht? Heidegger bemerkt, dass „die Anderen, ob sie zwar weltlich begegnen, nicht die Seinsart und nie die Seinsart der Welt haben. Deshalb dürfen die Anderen auch nicht als ›Mitwelt‹ bezeichnet werden.“⁶⁰ Aber ist denn die Verwendung jener Termini mit der Annahme verbunden, dass dasjenige, das weltlich begegnet, die Seinsart der Welt hat? Die Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie im WS 1919/20 macht zum ersten Mal von diesen Termini Gebrauch und unterscheidet deutlich zwischen der Welt, in der wir leben, und dem, „was im Umkreis und in dem im fortströmenden Leben stets mitgehenden Umkreis von jedem von uns liegt …“⁶¹ Die Unterscheidung zwischen Um-, Mit- und Selbstwelt dient der Beschreibung dieses „Umkreises“ des Lebens und impliziert weder die Annahme, dass die Welt, die „unser Leben ist“, in verschiedene Welt zerfällt, noch gar die Vorstellung, die Anderen hätten die Seinsart der Welt.Wenn Heidegger im Jahre 1925 das Gegenteil behauptet, dann handelt es sich nicht um eine sachliche Korrektur seiner früheren Ansichten, sondern es geht ihm darum, eine Akzentverschiebung vorzunehmen. Seine frühere Terminologie stört oder irritiert ihn, weil sie nicht das zum Ausdruck bringt, was er jetzt betont als „merkwürdig“ bezeichnet. Sie wird nicht dem gerecht, was „aus dem phänomenalen Bestand der Alltäglichkeit des Daseins selbst deutlich wird, dass nicht nur die Anderen, sondern merkwürdigerweise ›man selbst‹ in dem da ist, was man alltäglich besorgt.“⁶² Die Welt des alltäglichen Besorgens ist die gemeinsam besorgte Umwelt; und es sind sowohl die Anderen als auch das eigene Dasein, die aus der Umwelt begegnen. Mit anderen Worten: Die frühere Terminologie trägt weder der Priorität der Umwelt für die Erfahrung der Anderen und des eigenen Daseins noch der ausgezeichneten Rolle, die das alltägliche Besorgen für das Mitsein und Selbstsein besitzt, Rechnung. Die besondere Rolle des alltäglichen Besorgens Annahme impliziert jene Priorität und führt zu der Konzeption der abfallenden Alltäglichkeit, die die Explikation des alltäglichen In-der-Welt-seins in Sein und Zeit bestimmt und als Maßstab für die Beurteilung seiner früheren Theorien zugrunde gelegt wird. Diese Konzeption wird systematisch zum ersten Mal in der letzten Frühen Freiburger Vorlesungen, die den Titel ‚Ontologie (Hermeneutik der Faktizität)‘ trägt und im SS 1923 gehalten wurde, entwickelt.⁶³ Diese Konzeption ist dafür verantwortlich, dass in Sein und Zeit das In-derWelt-sein als ein Verhältnis, In-sein genannt, von Welt und Selbst gedacht wird,
Heidegger 1994b, S. 333 Heidegger 2010, S. 33 – 34 Heidegger 1994b, S. 332; vgl. S. 334 Vgl. Heidegger 1965, S. 85 – 103
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während er sich in den früheren Vorlesungen mit Um-, Mit- und Selbstwelt beschäftigt. Dieser dreifachen Unterscheidung des Begriffs der Welt entspricht in Sein und Zeit die Unterscheidung der „wesenhaften Bezügen“ des Daseins in Besorgen, Mitsein und Selbstsein.⁶⁴ Auf das Mitsein und die Mitwelt kommt er jedoch erst im Zusammenhang einer Erörterung des Themas Selbst zu sprechen. Es soll sich um einen „weiteren phänomenalen Bezirk der Alltäglichkeit des Daseins“ handeln, dessen Analyse „auf Strukturen des Daseins führt, die mit dem In-der-Welt-sein gleich ursprünglich sind: das Mitsein und Mitdasein.“⁶⁵ Diese Strukturen sind zwar „gleich ursprünglich“ mit dem In-der-Welt-sein,⁶⁶ aber die erste und für den Aufbau des Ersten Abschnitts maßgebliche Explikation der „Grundverfassung des Daseins“ erwähnt sie nicht.⁶⁷ Heidegger scheint also zwei verschiedene Konzeptionen von In-der-Welt-sein zu verwenden: Es handelt sich einerseits um die zweistellige Beziehung des In-Seins zwischen Dasein und Welt und andererseits um etwas, das unter drei Gesichtspunkten betrachtet werden muss. Der Erste Abschnitt von Sein und Zeit geht von der ersten Konzeption aus, und Mitsein und Mitdasein kommen erst bei der Erörterung des Themas Selbst in den Blick. Demgegenüber wird in den Frühen Freiburger Vorlesungen zwischen Umwelt, Mitwelt und Selbstwelt unterschieden; und auch wenn sie anfänglich den Terminus ‚In-der-Welt-sein‘ nicht kennen,⁶⁸ so ist es nicht sonderlich schwierig, ihn auf die in den Vorlesungen entwickelten Überlegungen anzuwenden und so mit jener Unterscheidung in Verbindung zu bringen.⁶⁹ Heideggers Konzeption der abfallenden Alltäglichkeit markiert einen Bruch mit seinen früheren Überlegungen und bestimmt das Verhältnis von Selbst- und Mitwelt unter der Voraussetzung der Priorität der besorgten Umwelt neu. Dies wird deutlich, wenn man seine Erörterung des Selbst in Sein und Zeit betrachtet. Was das Selbst ist, ergibt sich durch die Beantwortung der Frage „wer ist es, der in der Alltäglichkeit das Dasein ist?“.⁷⁰ Um Heideggers Antwort zu verstehen, muss man zuerst auf die Welt des alltäglichen Daseins eingehen. Er schreibt: „Die nächste Welt des alltäglichen Daseins ist die Umwelt“; und die entsprechende
Vgl. Heidegger 1963, S. 131 Heidegger 1963, S. 114 Vgl. Heidegger 1963, S. 280; 1994b, S. 332 Vgl. Heidegger 1963, S. 53 Vgl. jedoch Heidegger 1995, S. 29; 102. In der ersten Marburger Vorlesung spricht er von einem „In-einer-Welt-sein“ (2006, S. 284; 288; vgl. auch 1995, S. 85; 86). In der 1924 verfassten Rezension Der Begriff der Zeit ist der Ausdruck ein feststehender Terminus (vgl. 2004a, S. 19 – 31). Vgl. z. B. Heidegger 1994a, S. 90 – 91; 174 Heidegger 1963, S. 114
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alltägliche Seinsart ist der „Umgang in der Welt und mit dem innerweltlichen Seienden“.⁷¹ Wie die Beispiele zeigen, wird diese Welt sehr restriktiv verstanden. Es handelt sich um Fälle eines „gebrauchend-hantierenden Umgangs“ mit einem Hammer oder einer Türklinke.⁷² Die Umwelt besteht entsprechend aus Zeug und dem Ganzen, zu dem es jeweils gehört; und der Umgang ist „der je auf das Zeug zugeschnittene Umgang“.⁷³ Dass die Umwelt auch Andere enthält, derentwegen man eine Tür aufmacht, oder mit denen man gemeinsam ein Bild mit einem Hammer an einem Nagel aufhängt, kommt in den Beispielen nicht vor. Anders formuliert: Das alltägliche In-der-Welt-sein, das mit Heideggers Konzeptionen von Umwelt und besorgendem Umgang in den Blick kommt, besteht in dem Verhalten eines einzelnen Akteurs, dessen Verhalten nicht auf Andere bezogen ist und nicht durch das Mitwirken Anderer zustande kommt. Angesichts dieses einseitigen, restriktiven Verständnisses kommt einem Wittgensteins Warnung in den Sinn: „Hauptursache philosophischer Krankheiten – einseitige Diät: man nährt sein Denken mit nur einer Art von Beispielen“.⁷⁴ Die Defizite von Heideggers Analyse der Welt des alltäglichen Daseins zeigen sich auch an der Weise, wie sie der Rolle von Anderen Rechnung trägt. Er betrachtet einen Umgang mit Zuhandenem, das am Beispiel des Herstellens von Schuhen erläutert wird.⁷⁵ Hier gilt nun: „Mit dem Werk begegnet demnach nicht allein Seiendes, das zuhanden ist, sondern auch Seiendes von der Seinsart des Daseins, dem das Hergestellte in seinem Besorgen zuhanden wird; in eins damit begegnet die Welt, in der die Träger und Verbraucher leben, die zugleich die unsere ist.“⁷⁶ Aber in einer Welt, die unsere Welt ist, befindet sich das alltägliche Dasein nicht nur dann, wenn sein besorgender Umgang ein Herstellen von Produkten ist, für die Andere als Abnehmer und Verbraucher in Betracht kommen. Schon der Gebrauch einer Türklinke oder eines Hammers ist ein Verhalten des Daseins, dessen Welt eine „“öffentliche“ Wir-Welt“ ist.⁷⁷ Denn dieses Verhalten wird durch das Verhalten Anderer gelernt, bemisst sich in seiner funktionalen Angemessenheit an dem entsprechenden Verhalten Anderer und an seiner Beurteilung durch Andere. Die nächste Umwelt des alltäglichen Daseins ist eo ipso
Heidegger 1963, S. 66 – 67 Heidegger 1963, S. 69, 67 ; vgl. auch die Aufzählung in 2005, S. 353; 1994b, S. 213 – 214 Heidegger 1963, S. 68 – 69 Wittgenstein 1958, § 593 Heidegger 1963, S. 70 Heidegger 1963, S. 71 Heidegger 1963, S. 65
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eine „Wir-Welt“, die nicht von einer „nächsten (häuslichen) Umwelt“ zu unterscheiden ist.⁷⁸ Heideggers Analyse der Welt des alltäglichen Daseins ist die Umwelt, zu der das besorgte Zuhandene gehört. Es besteht in der Verwendung von Mitteln zu einem gegebenen Zweck. Auf diese Weise lässt sich zwar zeigen, dass das Leben in einer Umwelt nicht primär ein „theoretisches Erkennen“, sondern wesentlich ein „praktisches Verhalten“ ist.⁷⁹ Aber daraus folgt nicht, dass ein solches Verhalten sich in dem Einsatz von Mitteln zur Erreichung eines gegebenen Zwecks erschöpft. Heidegger betont ein „Hantieren von etwas mit etwas“,⁸⁰ aber er zeigt in keiner Weise, dass das alltägliche In-der-Welt-sein sich darauf reduzieren lässt oder auf dieser Grundlage verständlich gemacht werden kann.Wie soll man sich auf diese Weise die von ihm selber gegebenen Beispiele eines alltäglichen Daseins erklären wie „in Verwahrung halten von etwas, aufgeben, in Verlust geraten lassen von etwas, befragen, besprechen, durchsetzen, erkunden, betrachten“?⁸¹ Zweitens besteht der Umgang mit Zuhandenem in dem Verhalten eines Einzelnen, bei dem Andere nur als anonyme Abnehmer von Produkten und nicht als Beteiligte im gemeinsamen Umgang mit Zuhandenem in den Blick kommen. Heidegger gibt keine Begründung für diese restriktive Betrachtung, die nur ein solitäres Verhalten berücksichtigt. Schließlich wird die Umwelt des alltäglichen Daseins nicht erst dadurch zu einer „Wir-Welt“, zu einer mit anderen gemeinsamen Welt, dass der besondere Fall eines Verhaltens, das in dem Herstellen von Zeug, für die es einen Abnehmer oder Verbraucher gibt, besteht, in den Blick genommen wird.⁸² Heideggers Anspruch, dass die von ihm betrachtete Alltäglichkeit Aufschluss über „wesenhafte Strukturen“ der Seinsart des Daseins gibt, wird daher nicht eingelöst.⁸³ Was ergibt sich daraus für seine Bestimmung des Selbst des alltäglichen Daseins?
Heidegger 1963, S. 65 Heidegger 1963, S. 69 Heidegger 1963, S. 67; 69; vgl. 1994b, S. 213; 253; 1976, S. 212 Heidegger 1994b, S. 213 – 214 Okrent 1988 bemerkt richtig, dass „Heidegger‘s way of describing Dasein sometimes makes it seem a radically individual sort of being.“ (45) Er glaubt diesen Eindruck durch den Hinweis korrigieren zu können, dass instrumentelles Handeln ein Verständnis von Werkzeugen voraussetzt, das mit Anderen geteilt wird (47), und begründet so, dass „correctness of use – that is, typification of instruments in terms of standardization of function – entails commonality of world among several Dasein.“ (48) Mein Mitsein, das auf diese Weise zugänglich wird, besteht darin, dass „I am with others insofar as my behavior is proper within my community.“ (49) Okrent bemerkt nicht, dass ein solches Mitsein noch nicht das von ihm angenommene Miteinandersein begründet, das durch ein „gemeinsames Arbeiten, gemeinsames Beabsichtigen und Koordination von Absichten“ bestimmt ist (49). Heidegger 1963, S. 17
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Es ist das Seiende, „dem wir im „Wer?“ nachfragen“.⁸⁴ Wie ist die Frage zu verstehen? Nicht im gewöhnlichen Sinne, denn sie lässt sich nicht durch die Identifizierung einer Person beantwortet, weil es sich um eine „existenziale“ Frage handelt, die durch die Angabe einer „Weise des Seins“ des Daseins und nicht etwa eines einzelnen Falls von Dasein beantwortet wird.⁸⁵ Der begriffliche Status der Frage ergibt sich durch das Verhältnis, das zwischen dem vierten Kapitel, das eine Antwort auf die Wer-Frage gibt, und dem dritten Kapitel besteht. Haugeland bemerkt richtig: „As the counterpart of the world in the structure of being-in-the world, the who (like world) is a „level up“ from all intraworldy entities – including individual people.“⁸⁶ Dies bedeutet, dass die Begriffe, die bei der Beantwortung der Frage eine zentrale Rolle spielen, das Mitsein und das Selbstsein im Man, existenzial und somit als Weisen des Seins von Dasein verstanden werden müssen.⁸⁷ Weder die Frage noch diese Begriffe beziehen sich auf bestimmte Personen und ihr beobachtbares Verhalten. Heideggers Überlegungen zur Beantwortung der Wer-Frage finden sich im vierten Kapitel des ersten Abschnitts von Sein und Zeit, dessen Titel ‚Das In-derWelt-sein als Mit- und Selbstsein‘ lautet. In dem ersten Paragraphen des Kapitels kritisiert er die Möglichkeit, eine Antwort auf die Frage dadurch zu finden, dass man auf die Evidenz eines „schlichten, formalen, reflektiven Ichvernehmens“ rekurriert.⁸⁸ Da die Wer-Frage im Hinblick auf die Alltäglichkeit des Daseins gestellt wird, kann man nicht, wie Husserl in seiner „formalen Phänomenologie des Bewußtseins“, von dieser Evidenz ausgehen.⁸⁹ Stattdessen geht Heidegger von dem Selbst des alltäglichen Daseins aus, dessen nächste Welt die Umwelt ist. In dem umweltlichen Zusammenhang von Zeug kommen nicht nur Schuhe und Werkzeuge vor, sondern auch die Kunden des Schusters und die Lieferanten der Materialien und Geräte. Daraus entnimmt Heidegger, dass „das je besorgte Werk nicht nur in der häuslichen Welt der Werkstatt etwa zuhanden ist, sondern in der öffentlichen Welt.“⁹⁰ Die Welt des besorgten Zuhandenen ist daher eine Welt, die „zugleich die unsere ist.“⁹¹ Diese Koinzidenz besagt, dass die Welt des besorgten Zuhandenen auch eine mit Anderen geteilte Welt, eine Mit-Welt, ist. Aus ihr ergibt
Heidegger 1963, S. 53 Heidegger 1963, S. 114 Haugeland 2013, S. 121 Vgl. Heidegger 1963, S. 113; 129 Heidegger 1963, S. 115 Vgl. dazu Theunissen 1965, S. 158 – 159 Heidegger 1963, S. 71 Heidegger 1963, S. 71
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sich nicht, dass sie wesentlich, eo ipso eine Mit-Welt ist.⁹² Heidegger schreibt: „Dasein versteht sich zunächst und zumeist aus seiner Welt, und das Mitdasein Anderer begegnet vielfach aus dem innerweltlich Zuhandenen her.“⁹³ Diese Welt ist eine „umweltlich besorgte Mitwelt“.⁹⁴ Sie ist eine Mitwelt, weil sie umweltlich besorgt wird; sie wird nicht umweltlich besorgt, weil sie eine Mitwelt ist. Anders formuliert: Dass die Umwelt eine Mitwelt ist, ergibt sich durch das Besorgen von Zuhandenem, das auf Andere verweist; und nicht etwa wird das Besorgen als ein Verhalten zu einer Welt verstanden, die nur als eine Mitwelt gedacht werden kann, so dass das Besorgen wesentlich auf Andere bezogen ist.⁹⁵ Die explanatorische Priorität, die die besorgte Umwelt gegenüber der Mitwelt hat, wird durch die Beschreibung deutlich, die Heidegger von seinem Vorgehen in Sein und Zeit gibt: „In der bisherigen Analyse wurde der Umkreis des innerweltlich Begegnenden zunächst eingeengt auf das zuhandene Zeug bzw. die vorhandene Natur, mithin auf Seiendes von nichtdaseinsmäßigem Charakter.“⁹⁶ Dieses Vorgehen beruht auf der Annahme, dass die besorgte Umwelt des Daseins expliziert werden kann, ohne dass man von vorne herein berücksichtigt, dass diese Umwelt eine Mit-Welt ist. Er begründet die „Beschränkung“ auf eine so verstandene Umwelt einerseits mit der Absicht einer „Vereinfachung der Explikation“ und andererseits und „vor allem“ damit, dass „die Seinsart des innerweltlich begegnenden Daseins sich von Zuhandenheit und Vorhandenheit unterscheidet.“⁹⁷ Die doppelte und unterschiedliche Begründung seines Vorgehens irritiert. Die zweite, besonders hervorgehobene Begründung verweist darauf, dass das alltägliche In-der-Welt-seins des Daseins in seinem Weltcharakter von dem umweltlichen Besorgen her erläutert wurde. Wenn auf diese Weise begründet werden soll, dass bislang „innerweltlich begegnendes Dasein“ nicht betrachtet wurde, dann besagt dies, dass ein solches Besorgen zwar auf etwas bezogen ist, das den ontologischen Charakter der Zuhandenheit oder Vorhandenheit hat, das aber selber ohne einen Bezug zu dem Mitsein Anderer verstanden werden kann. Dass die Umwelt eine Welt ist, „die zugleich die unsere ist“, ist ein Faktum, das nicht weiter erklärt wird.⁹⁸ Dann handelt es sich aber nicht um eine „Vereinfachung der Explikation“, dass bei der Analyse der besorgten Umwelt das Mitsein Anderer keine Rolle spielt. In der Vorlesung Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs
Vgl. auch Tugendhat 1999b, S. 110 – 111 Heidegger 1963, S. 120 Heidegger 1963, S. 125 Vgl. dazu Heidegger 1975, S. 394 Heidegger 1963, S. 118 Heidegger 1963, S. 118 Vgl. Heidegger 1963, S. 71
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sieht Heidegger die Sache anders. Auch dort gibt er eine solche Analyse, aber er kommentiert sein Vorgehen in folgender Weise: „… wir haben die Analyse der Welt absichtlich nur auf die begegnenden Umweltdinge abgestellt. Das ist eine gewaltsame Einengung der Analyse der Welt …“⁹⁹ Eine solche Analyse ist nicht nur zu eng, weil sie dem Umstand nicht Rechnung trägt, dass die Umwelt immer auch eine „öffentliche Welt“ ist,¹⁰⁰ sondern sie ist auch „gewaltsam“, weil sie das Mitsein des Daseins in dem besorgenden Umgang von Zuhandenem nur in der Form eines Herstellens von Produkten für irgendwelche Anderen thematisiert. Weshalb nimmt Heidegger diese „gewaltsame Einengung der Analyse der Welt“ vor? Sie erklärt sich durch eine zentrale Annahme seiner Theorie des alltäglichen In-der-Welt-seins, gemäß der das alltägliche Dasein „sich in einer vorherrschenden Seinsart zur Welt verhält. Das Dasein ist zunächst und zumeist von seiner Welt benommen.“¹⁰¹ Diese dominante Seinsart gilt für eine besondere Art von Alltäglichkeit, für die verfallende Alltäglichkeit, deren Betrachtung die Antwort auf die Wer-Frage liefern soll.¹⁰² Bevor ich diese Art von Alltäglichkeit genauer betrachte, soll die besondere Art und Weise geklärt werden, in der nach Heidegger das Mitsein Anderer in einer besorgten Umwelt gegeben ist. Dabei ist davon auszugehen, dass und wie dieses Mitsein in dem In-der-Welt-sein des Daseins fundiert ist. Er schreibt: „Die Klärung des In-der-Welt seins zeigte, dass nicht zunächst „ist“ und auch nie gegeben ist ein bloßes Subjekt ohne Welt. Und so ist am Ende ebenso wenig zunächst ein isoliertes Ich gegeben ohne die Anderen.“¹⁰³ Dieser Ansatz lässt sich durch zwei Implikationen bestimmen: Es gibt kein Subjekt, ohne dass es eine Welt gibt; und es gibt kein Ich, ohne dass es Andere gibt. Während die erste Implikation im vorhergehenden dritten Kapitel begründet wurde, wurde die zweite Implikation vorerst nur behauptet und mit einem Hinweis auf Schriften von Scheler versehen. Ihre Begründung erfolgt durch den Nachweis, dass „“die Anderen“ je schon im In-
Heidegger 1994b, S. 327; von Herrmann 2005 verkennt die Schwierigkeiten von Heideggers Vorgehen, indem er zwischen einem „mitthematischen Begegnen des Anderen aus dem zuhandenen Zeug“ und seinem Begegnen „als besorgendem leibendem Umgang“ unterscheidet (297). Aber Heidegger benutzt diese Unterscheidung nicht, und sie würde die Schwierigkeiten auch nicht ausräumen. Vgl. Heidegger 1963, S. 71 Heidegger 1963, S. 113 Haugeland 2013 verkennt den systematischen Kontext von Heideggers Vorgehen, weil er den Ansatz bei der besorgten Umwelt nur als ein Mittel versteht, Missverständnisse zu vermeiden: „The rationale for beginning in this way is to avoid gettung misled at the outset by phenomena or emphases that are characteristic only of high specialized ways of living.“ (96) Heidegger 1963, S. 116
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der-Welt-sein mit da sind …„¹⁰⁴ Da es um eine Betrachtung des alltäglichen In-derWelt-seins geht, muss dieser Nachweis durch eine Analyse der „Art dieses Mitdaseins in der nächsten Alltäglichkeit“ erfolgen.¹⁰⁵ Sie geht von der Welt des alltäglichen Daseins, also von der Umwelt, aus und stellt fest, dass dazu nicht nur der Umgang mit Zuhandenem und die Erfahrung von Vorhandenem, sondern auch die Begegnung mit anderem Dasein, das „auch und mit da ist“., gehört.¹⁰⁶ Heidegger versucht, sich gegen den Einwand zu verteidigen, eine solche Charakterisierung beruhe auf „einer Auszeichnung und Isolierung des „Ich“ …, so dass dann von diesem isolierten Subjekt ein Übergang zu den Anderen gesucht werden muss.“¹⁰⁷ Der Einwand besagt, dass Heidegger von der Annahme eines „isolierten Subjekts“ ausgeht, dessen Erfahrung von dem Dasein Anderer den Charakter eines „Übergangs“ von einem solchen Subjekt zu Anderen hat. Was die Annahme angeht, so steht sie im Widerspruch zu der zweiten Implikation – zu der These, dass es kein „isoliertes Ich ohne die Anderen“ gibt. Sie ist eine Voraussetzung für die Auffassung, die Erfahrung von Anderen sei eine Art von Übergang von einem solchen Ich zu Anderen, wie immer man die Rede von einem „Übergang“ präziser fasst. Dass die Anderen „auch da sind“, soll jene Annahme widerlegen, während ihr Mitsein diese Auffassung kritisieren soll. Gelingt dieses Manöver? Wenn Andere auch da sind, so sind sie neben jemandem oder zusätzlich zu jemandem da, der zuerst einmal und unabhängig von ihnen, also für sich betrachtet wird. Diese Verwendung von ‚auch‘ will Heidegger dadurch umgehen, dass er eine idiosynkratische Verwendung des Ausdrucks ‚die Anderen‘ vorschlägt: „“Die Anderen“ besagt nicht soviel wie: der ganze Rest der Übrigen außer mir, aus dem sich das Ich heraushebt, die Anderen sind vielmehr, von denen man sich selbst nicht unterscheidet, unter denen man auch ist.“¹⁰⁸ Andere können wie ich sein, und ich kann wie Andere sein, aber dadurch bin ich nicht einer der Anderen.¹⁰⁹ Heidegger übersieht, dass das Prädikat ‚x ist ein Anderer als y‘ zweistellig ist. Andere sind für mich andere, und ich bin für sie ein Anderer.¹¹⁰ Heidegger 1963, S. 116 Heidegger 1963, S. 116 Heidegger 1963, S. 118 Heidegger 1963, S. 118 Heidegger 1963, S. 118 Vgl. auch Heidegger 1994b, S. 338 Haugeland 2013 schreibt: „The term ‚other‘ is coextensive with the term ‚person‘. Thus, taking the terminology at face value, one is oneself just another other. But that only means that each of us is just „another person“, living in the world along with everybody else.“ (124) Aber aus dem Umstand, dass man wie die Anderen ist, folgt nicht, dass man selber ein „weiterer Anderer“ ist. Brandom 1983 spricht von einem „communal Other“, zu denen ich deswegen gehöre, weil „my
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Heidegger will eine existenziale Interpretation der Beziehung zwischen mir und Anderen geben, durch die ausgeschlossen sein soll, dass das „Auch-da-sein“ der Anderen mit mir „den ontologischen Charakter eines „Mit“ – Vorhandenseins innerhalb einer Welt hat.“¹¹¹ Aber auch wenn dies ausgeschlossen wird, ist damit nicht das ausgeschlossen, was er ausschließen will, nämlich die Annahme eines einzelnen Subjekts, das für sich und zuerst einmal betrachtet wird, wenn Andere „auch da sind“. Die Annahme einer „Gleichheit des Seins als umsichtig-besorgendes In-der-Welt-seins“ schließt nicht die Priorität aus, die Heidegger gerade vermeiden will.¹¹² Wenn das Verständnis der Rolle, die Andere für ein alltägliches In-der-Welt-sein haben, eine „Auszeichnung und Isolierung des „Ich““ ausschließen soll, dann genügt es nicht, ein „Auch-da-sein“ der Anderen anzunehmen.¹¹³ Wie sieht es mit ihrem „Mit-da-sein“ aus? Heidegger schreibt: „Auf dem Grunde dieses mithaften In-der-Welt-seins ist die Welt je schon immer die, die ich mit den Anderen teile. Die Welt des Daseins ist Mitwelt.“¹¹⁴ Wenn die Welt des Daseins eine Mitwelt ist, dann ist sein Sein ein Mitsein. Das Mitsein ist symmetrisch: Andere sind mit mir, und ich bin mit Anderen. Nur so kommt ein Miteinandersein und daher auch ein „alltägliches Miteinandersein“ zustande. Diese Überlegungen schließen die Vorstellung aus, dass meine Erfahrung des Mitseins von Anderen irgendwie als ein „Übergang“ von einem isolierten Subjekt zu einem Anderen gedacht werden kann, und können als Grundlage für eine Explikation des alltäglichen In-der-Welt-seins dienen, welche die Betonung darauf legt, dass die Welt eine gemeinsame, mit Anderen geteilte Welt ist. Wie wir aber sehen werden, orientiert sich Heideggers Explikation nicht an dem Mit-da-sein Anderer, sondern an ihrem Auch-da-sein und somit an der Rolle, die Andere haben, sofern man sich nicht von ihnen unterscheidet, „unter denen man auch ist.“¹¹⁵
recognitions of myself as community member count only if they are taken to count by those I take to be community members.“ (311) Dass das Mitdasein von Anderen nicht nur wechselseitige Anerkennung, sondern auch ein wechselseitiges Anerkennen erfordert, ist eine Idee, die Brandom, von Hegel inspiriert, in Heidegger hineinliest, und aus der sich nur ergibt, dass ich wie die Anderen bin. Heidegger 1963, S. 118 Heidegger 1963, S. 118; vgl. Tugendhat 1999b, S. 136 Von Herrmann 2005 bestreitet dies (300), aber seine Deutung des „Auch-da-seins“ als „der Andere ist auch Dasein wie ich“ (297) besagt genau das, was er bestreitet. Heidegger 1963, S. 118 Heidegger 1963, S. 118; Theunissen 1965 unterscheidet nicht zwischen dem Mit-da-sein der Anderen und ihrem Auch-da-sein und behauptet, dass Heideggers Auffassung des Ersteren sich am je eigenen Dasein orientiert und so „die Bestimmung des Mitdaseins in der Tat leitet.“ (172) Dies ist gerade nicht der Fall. Theunissen hat Recht, wenn er behauptet, dass „die Anderen als
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Die Überschrift des vierten Kapitels ‚Das In-der-Welt-sein als Mit- und Selbstsein‘ kann man, wie gesagt, so verstehen, dass eine Priorität des Mitseins vor dem Selbstsein angenommen wird. Geht man von dem „mithaften In-der-Weltsein“ aus, dann kann es kein Selbstsein ohne ein Mitsein geben, aber das besagt nicht, dass das Mitsein eine Priorität vor dem Selbstsein hat. Heidegger versucht, eine solche Priorität durch eine Analyse des Selbstverständnisses und des Verständnisses Anderer im alltäglichen Dasein zu begründen, die auf einer genaueren Bestimmung dessen beruht, was hier jeweils verstanden wird. Es sind verschiedene Weisen des Besorgens von Zuhandenem. Betrachten wir zuerst mein Verständnis des Mitdaseins Anderer. Er schreibt: „Im umweltlichen Besorgen begegnen die Anderen als das, was sie sind; sie sind das, was sie betreiben.“¹¹⁶ Die Anderen begegnen mir, das Besorgen ist mein Besorgen, aber sie begegnen mir nicht nur in meinem umweltlichen Besorgen. Dies räumt auch Heidegger ein, denn er sagt, dass „das Mitdasein der Anderen vielfach aus dem innerweltlich Zuhandenen her begegnet.“¹¹⁷ Es gibt also auch andere Möglichkeiten, wie das Mitdasein Anderer erfahren wird. Die von ihm gegebenen Beispiele wie „das verankerte Boot am Strand“ oder „das benutzte Buch“, das bei jemandem gekauft ist, zeigen jedoch deutlich seine restriktive Betrachtungsweise.¹¹⁸ Die Erfahrungen des Mitdaseins der Anderen betreffen Zuhandenes, das in der einen oder anderen Weise auf Andere verweist.¹¹⁹ Es ist nicht erkennbar, wie auf der Grundlage einer solchen indirekten Erfahrung des Mitdaseins von Anderen das Mitsein des Daseins begründet werden und es zu einem Miteinandersein kommen kann.Weiterhin erwähnt Heidegger die Fürsorge, bei der es um das Besorgen dessen geht, was Andere aus welchen Gründen auch immer nicht in der Lage sind, selber zu besorgen. Auch diese Fürsorge soll „zumeist das Besorgen des Zuhandenen“ betreffen.¹²⁰ Sie ist ein Verhalten, das Andere aus einer gemeinsamen und genuinen, nicht-reduzierbaren Mitwelt begegnen lässt. Aber auch hier dominiert das Besorgen von Zuhandenem, und
Man von vornherein den Horizont bilden, in dem die Anderen als Mitdasein thematisiert werden.“ (172) Dies erklärt sich dadurch, dass nur ihr Auch-da-sein, und nicht ihr Mit-da-sein betrachtet wird. Vgl. auch von Herrmann 2005, 298 – 299 Heidegger 1963, S. 126 Heidegger 1963, S. 120 Heidegger 1963, S. 117– 118; zu den Beispielen vgl. 2004a, S. 25; 1994b, S. 330 Theunissen 1965 wirft Heidegger vor, dass „das fremde In-der-Welt-sein, sofern es durch die „Welt“ vermittelt wird, sich zu dem in sich leeren Punkt verengt, der seine „Bestimmtheit“ nur aus den „mithaften“ Spuren in der „Welt“ empfängt …“. Die Metapher leere Punkt ist wenig hilfreich. Der Vorwurf einer „funktionellen Abstraktheit, in der sich das Fremdich auflöst“, führt insofern weiter, als er auf den einseitigen, defizitären Charakter von Heideggers Überlegungen hinweist. Heidegger 1963, S. 122
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entsprechend ist die Erfahrung des Mitdaseins Anderer immer eingebunden in die Erfahrung einer gemeinsam besorgten Umwelt. Diese Einschränkung wird jedoch nicht den verschiedenen Möglichkeiten gerecht, in denen das alltägliche In-derWelt-sein ein Mitdasein Anderer erfährt und erlebt. Dabei geht es nicht nur um das Besorgen von umweltlich Zuhandenem: Andere können auch die Freundschaft mit mir suchen oder mein baldiges Kommen befürchten. Was die Anderen besorgen, muss nicht umweltlich Zuhandenes sein; und selbst wenn es dies ist, gibt es auch so etwas wie gemeinsames, kooperatives Besorgen, das Heidegger wegen seiner Orientierung an dem Besorgen als einem solitären Verhalten gar nicht in den Blick nimmt. Die Mitwelt, die sich von einem so einseitigen Verständnis des Mitdaseins Anderer erschließt, ist eine Mitwelt, die in der Umwelt fundiert ist, – eine „umweltlich besorgte Mitwelt“.¹²¹ Die Priorität, die die Erfahrung der Umwelt für die Erfahrung der Mitwelt hat, ist jedoch unbegründet und klammert wesentliche Möglichkeiten des Mitdaseins Anderer aus. Weder erfahre ich diese nur im Zusammenhang mit meinem Besorgen von Zuhandenem, noch besteht ihr Mitsein ausschließlich darin, dass sie dies besorgen. Die Reduktion der Mitwelt auf eine „umweltlich besorgte Mitwelt“ ist unbegründet und abzulehnen.¹²² Betrachten wir nun Heideggers Überlegungen zum Selbstverstehen und Selbstsein. Sie gehen davon aus, dass das Dasein immer in einer Welt ist. Es kann sich daher nur verstehen, wenn es sich „aus seiner Welt“ versteht.¹²³ Dass Selbstverstehen wesentlich ein Verstehen seiner Welt ist, wird genauer so bestimmt, dass „das Dasein „sich selbst“ zunächst findet in dem, was es betreibt, braucht, erwartet, verhütet – in dem zunächst besorgten umweltlich Zuhandenen.“¹²⁴ Dass dasjenige, was man erwartet oder betreibt, „zunächst“ etwas umweltlich Zuhandenes ist, wird nicht weiter begründet und ist auch wenig plausibel. Sie ist die Grundlage der häufig wiederholten Formel: „“Man ist“ das, was man betreibt.“¹²⁵ Dreyfus hat von einem „Behaviorismus bei Heidegger“ gesprochen,¹²⁶ aber es geht ihm nicht um das Verhältnis von beobachtbarem Verhalten und mentalen Zuständen. Es geht ihm vielmehr um die Erfahrung oder den Zugang, den das Dasein zu seinem Sein und dem Mitdasein Anderer hat. Wie wir schon gesehen hatte, betont Heidegger den „merkwürdigen Tatbestand, dass wir uns zunächst und alltäglich zumeist aus den Dingen her begegnen und uns selbst
Heidegger 1963, S. 125 Vgl. Schatzki 2005, der betont, dass „Heidegger‘s account insufficiently specifies the coexistence that links individuals …“ (246) Heidegger 1963, S. 120; vgl. 1975, S. 420 – 421 Heidegger 1963, S. 119 Heidegger 1963, S. 239; vgl. 2004a, S. 26; 1994b, S. 336; 1975, S. 226 Dreyfus 1991, S. 147
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in dieser Weise erschlossen sind.“¹²⁷ Diese Dinge sind das umweltlich Zuhandene, das von uns jeweils besorgt wird. Der von Heidegger konstatierte Tatbestand kann leicht zu Missverständnissen Anlass geben. Er wählt als Beispiel den Schuster, der sich aus dem, was er besorgt, versteht. Aber dies ist nicht der Schuh, den er herstellt, sondern dass er den Schuh herstellt. Worin sich das Dasein findet, ist also nicht das, was es betreibt, sondern dass es das betreibt. Das kursiv gesetzte ‚was’ in dem obigen Zitat aus Sein und Zeit ist mehrdeutig und verdeckt den Unterschied zwischen einem propositional strukturiertem Selbstverstehen und einem Verstehen, dessen Inhalt durch ein Substantiv bezeichnet wird. Selbstverstehen ist von der ersten Art. Die häufig zitierte Formel ‚man ist das, was man betreibt’ muss so verstanden werden, dass das ‚was’ durch einen vollständigen Satz spezifiziert wird. Heideggers unterschiedliche Betonungen, die in den verschiedenen kursiv gesetzten Ausdrücken formuliert werden, räumen die Ambiguität nicht aus.¹²⁸ Darüber hinaus ist zu betonen, dass seine Auffassung des Selbstverstehens sehr eng ist. Es muss nicht, auch nicht zunächst und zumeist, in dem Verstehen dessen bestehen, was als umweltlich Zuhandenes besorgt wird; und entsprechend unzureichend ist seine Auffassung des Selbstverstehens, das das Mitsein des Daseins betrifft – das Selbstverstehen aus einer gemeinsam besorgten Mitwelt. Dass Heidegger in Sein und Zeit ausschließlich ein solches Mitsein berücksichtigt, ist auch deswegen erstaunlich, weil er in der Vorlesung Einleitung in die Philosophie im WS 1928/29 ein „Miteinandersein von Menschen“ diskutiert, das nicht in einem besorgenden Miteinanderaufgehen in der Welt besteht und daher nicht in das Schema dieses Mitseins passt.¹²⁹ Sein Beispiel ist eine gemeinsame Bergwanderung, und als „ursprüngliches Miteinandersein“ werden das gemeinsame „Hingerissensein von einer unerwarteten Aussicht auf das Gebirge“¹³⁰ und das kooperative Verhalten bei dem „Aufenthalt in einer Hütte“ erwähnt: die Vorbereitung eines gemeinsamen Abendessens durch Holzhacken und Schälen von Kartoffeln.¹³¹ Diese Beispiele sollen den Unterschied zwischen dem Nebeneinander von vorhandenen Dingen und dem Miteinander von Menschen deutlich zu machen. Sie dienen nicht dazu, das Selbstverständnis des alltäglichen Daseins in seinem Mitsein in der Form gemeinsamer Erlebnisse und kooperativen Handelns zu diskutieren. Diese Beispiele zeigen aber nicht nur, dass es andere Weisen des Mitseins gibt als die, die in Sein und Zeit betrachtet werden, sondern auch, dass
Heidegger 1975, S. 227 Vgl. Heidegger 1963, S. 126; 239; 322; 1994b, S. 336 Heidegger 1996, S. 83 – 92 Heidegger 1996, S. 86 – 87 Heidegger 1996, S. 91– 92
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Heidegger sich dessen bewusst war und sie explizit erwähnt. Während das Erste offensichtlich ist, wirft das Zweite die Frage auf, warum er im § 27 von Sein und Zeit eine so einseitige, thematisch restriktive Darstellung des alltäglichen Miteinanderseins gibt. Auf dem Hintergrund seiner Vorlesungen kommt dieser Frage eine besondere Bedeutung zu. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die restriktive, unvollständige und daher unangemessene Deutung des Selbstverstehens und des Verstehens Anderer sich durch seine Konzeption der Alltäglichkeit erklärt. Sie enthält verschiedene Elemente, deren Relevanz für seine Überlegungen unterschiedlich zu bewerten ist. Er macht diese Differenzen nicht deutlich und verwischt die Unterschiede, die hier zu beachten sind. So entsteht die Gefahr, dass die Berufung auf die Alltäglichkeit Dinge „in einen Topf wirft“, die wenig miteinander zu tun haben. Es ist sinnvoll, drei Momente der Konzeption der Alltäglichkeit auseinander zu halten. Sie spielt erstens die schon erwähnte methodische Rolle: Der Rekurs auf die Alltäglichkeit soll verhindern, dass „eine radikale philosophische Besinnung auf das Menschsein“ mit ungeprüften Meinungen oder Vorurteilen der philosophischen oder auch theologischen Tradition belastet wird.¹³² Die Konzeption der Alltäglichkeit enthält also eine philosophie-kritische Komponente und ist in dieser Hinsicht durchaus vergleichbar mit Wittgensteins Projekt, „die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurückzuführen.“¹³³ Eine weitere Affinität besteht darin, dass die Alltäglichkeit „immer wieder in der Explikation des Daseins übersprungen wurde und wird. Das ontisch Nächste und Bekannte ist das ontologisch Fernste.“¹³⁴ Dieses Bekannte sind „Trivialitäten“, die „nicht beseitigt, sondern ausgeschöpft werden sollen“,¹³⁵ und das „Selbstverständliche“, das „das wahre und einzige Thema der Philosophie ist.“¹³⁶ Entsprechend behauptet Wittgenstein, dass „die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. … Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf. Es sei denn, dass ihm dies einmal aufgefallen ist.“¹³⁷ Die Unterschiede zwischen den beiden Philosophen werden erst deutlich, wenn man nicht auf die methodische Rolle, die der Rekurs auf die Alltäglichkeit für die Philosophie besitzt, achtet, sondern wenn man sich fragt, was denn als alltäglich bezeichnet wird. Während es sich bei Wittgenstein vor allem um die
Heidegger 1995, S. 29 Wittgenstein 1958, § 116 Heidegger 1963, S. 43 Heidegger 1996, S. 69 Heidegger 1975, S. 80 Wittgenstein 1958, § 129
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Verwendung von Worten handelt, geht es bei Heidegger um eine Weise, wie Dasein existiert: „Primär meint … der Ausdruck Alltäglichkeit ein bestimmtes Wie der Existenz, das „zeitlebens“ das Dasein durchherrscht.“¹³⁸ Damit komme ich zu dem zweiten Moment seiner Konzeption der Alltäglichkeit. Es besteht in der begrifflichen Bestimmung einer Seinsweise des alltäglichen Daseins. Sie hat eine Priorität vor anderen Seinsweisen: „Aus dieser Seinsart heraus und in sie zurück ist alles Existieren, wie es ist.“¹³⁹ Darüber hinaus gibt die Alltäglichkeit des Daseins Aufschluss über „wesenhafte Strukturen …, die in jeder Seinsart des faktischen Daseins sich als seinsbestimmende durchhalten.“¹⁴⁰ Diese Bestimmung von Alltäglichkeit besagt, dass die alltägliche Seinsweise eine genetische Priorität besitzt und zugleich eine notwendige Bedingung für das Sein von Dasein überhaupt ist. Eine dritte und in Sein und Zeit dominante Besonderheit von Heideggers Konzeption der Alltäglichkeit besteht darin, dass er die Betrachtung der durchschnittlichen Alltäglichkeit in das Zentrum der Betrachtung stellt.¹⁴¹ Dadurch erklären sich, wie wir sehen werden, die Defizite seiner Auffassung des alltäglichen Mitseins und Miteinanderseins. Die Beschäftigung mit der durchschnittlichen Alltäglichkeit des Daseins ist eine Beschäftigung damit, wie es „zunächst und zumeist ist“,¹⁴² und soll vermeiden, dass man sich bei der Analyse des Daseins an traditionellen Bestimmungen des Menschen orientiert.¹⁴³ Der Rekurs auf das „Zunächst und Zumeist“ ist somit der Idee verpflichtet, die ich als die erste Eigentümlichkeit von Heideggers Konzeption der Alltäglichkeit erwähnt habe, aber sie wird in einer Weise konkretisiert, die uns direkt zum Phänomen der verfallenden Alltäglichkeit bringt. Er spricht von einem „indifferenten Zunächst und Zumeist“ und von einer „indifferenten Alltäglichkeit“.¹⁴⁴ Was damit gemeint sein soll, ist nicht klar und erschließt sich durch eine Betrachtung der terminologischen Vorgeschichte seiner ungewöhnlichen Wortwahl. In der Vorlesung Einleitung in die Phänomenologie der Religion im WS 1920/21 wird zwischen dem Gehalt und dem Bezug einer Lebenserfahrung unterschieden.¹⁴⁵ Der Gehalt ist das, was erfahren wird, sein Bezug ist die Art und Weise, wie etwas erfahren wird. Heidegger behauptet, dass „die Eigentümlichkeit der faktischen Lebenserfahrung ist,
Heidegger 1963, S. 370 Heidegger 1963, S. 43; vgl. 169 Heidegger 1963, S. 17 Heidegger 1963, S. 43 Heidegger 1963, S. 16 Heidegger 1963, S. 16; 43 Heidegger 1963, S. 43 Heidegger 2011, S. 14; vgl. S. 52– 53
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dass das „wie ich mich zu den Dingen stelle“, die Art und Weise des Erfahrens, nicht mit erfahren wird.“¹⁴⁶ Ich habe diese These früher ausführlich kritisiert.¹⁴⁷ Für die genauere Bestimmung der durchschnittlichen Alltäglichkeit in Sein und Zeit ist wichtig, dass die von Heidegger behauptete Eigentümlichkeit der Lebenserfahrung als „eine Indifferenz in Bezug auf die Weise des Erfahrens“ beschrieben wird.¹⁴⁸ In dieser Erfahrung geht es also nur um die Inhalte, und sie blendet „ das verschiedene Wie meines Reagierens“ auf die Inhalte aus.¹⁴⁹ Diese Indifferenz soll nicht besagen, dass die Lebenserfahrung immer in demselben Bezug, in derselben Weise des Erfahrens besteht; sie ist kein invarianter Bezug für eine Mannigfaltigkeit inhaltlich verschiedener Erfahrungen, sondern meint, dass die Weise des Erfahrens für die Erfahrung selber keine Rolle spielt. Da diese Weise durch ein Wie-ich-mich-zu-den-Dingen-stelle erläutert wird, impliziert die Indifferenz der Erfahrung, dass von dem Standpunkt des Subjekts der Erfahrung abgesehen wird, und dass die Erfahrung ganz in ihren Inhalten aufgeht. Diese Implikation macht verständlich, weshalb Heidegger in Sein und Zeit das „indifferente Zunächst und Zumeist“ des alltäglichen Daseins mit Rekurs auf „das Dasein im Miteinander der Öffentlichkeit“ erklärt.¹⁵⁰ Denn für ein solches Miteinander ist es nach seiner Meinung charakteristisch, dass von dem je eigenen Standpunkt abgesehen wird, dass er dabei irgendwie verloren geht, und in diesem Sinne eine Indifferenz der Standpunkte gegeben ist. Gegeben die Klärung der Indifferenz, wie ist nun die Rede von einem „Zunächst und Zumeist“ zu verstehen? Er schreibt: „Wir gebrauchten in den vorstehenden Analysen oft die Ausdrücke „zunächst und zumeist“. „Zunächst“ bedeutet: die Weise, in der das Dasein im Miteinander der Öffentlichkeit „offenbar“ ist … „Zumeist“ bedeutet: die Weise, in der das Dasein nicht immer, aber „in der Regel“ sich für Jedermann zeigt.“¹⁵¹ Beide Bestimmungen beziehen sich darauf, dass und wie das Dasein von Anderen erfahren und erlebt wird, und betonen somit eine wesentliche Dimension seines alltäglichen In-der-Welt-seins, insofern es ein Mitsein und ein Miteinandersein mit Anderen ist, und insofern ihre Alltäglichkeit nicht ohne eine Öffentlichkeit gedacht werden kann. Es gibt keine private Alltäglichkeit; sie ist immer eine mit Anderen geteilte Gewohnheit oder Gepflogenheit. Heidegger bemerkt: „Alltäglichkeit ist eine Weise zu sein, der allerdings die öffentliche Of-
Heidegger 2011, S. 14 Vgl. S. 52–53 Heidegger 2011, S. 14 Heidegger 2011, S. 14 Heidegger 1963, S. 370 Heidegger 1963, S. 370
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fenbarkeit zugehört.“¹⁵² Die Einschränkung allerdings ist merkwürdig, weil es die Vermutung nahelegt, dass es sich um eine kontingente Koinzidenz handelt. Weshalb Heidegger sich so ausdrückt, wird klarer, wenn man seine Auffassung von Öffentlichkeit näher betrachtet. Sie betrifft nämlich nicht die Öffentlichkeit, die eine konstitutive Bedingung des alltäglichen In-der-Welt-seins ist, sofern Mitund Miteinandersein die Seinsweise des Daseins ausmachen, sondern sie bezieht sich auf das Mit- und Miteinandersein in der Seinsweise des Man.¹⁵³ Diese restriktive Bestimmung der Öffentlichkeit ergibt sich durch die restriktive Interpretation der Alltäglichkeit des Daseins, die sich an seinem „indifferenten Zunächst und Zumeist“ orientiert.¹⁵⁴ Wie wir gesehen haben, besagt diese Indifferenz, dass das Subjekt der Erfahrung ausschließlich mit den Inhalten seiner Erfahrungen beschäftigt ist, und dass „das „wie ich mich zu den Dingen stelle“ …“ nicht bemerkt, ausgeklammert wird.¹⁵⁵ Heideggers Beschreibung des alltäglichen In-der-Welt-seins überträgt dieses Modell auf das Sein des Daseins in einer mit anderen geteilten Umwelt und auf sein Miteinandersein in ihr: Es „geht in der besorgten Welt, das heißt zugleich im Mitsein zu den Anderen, auf.“¹⁵⁶ Durch dieses Aufgehen wird die Alltäglichkeit des Daseins zu einer verfallenden Alltäglichkeit, in der das Dasein „von der Welt und dem Mitdasein Anderer im Man völlig benommen ist.“¹⁵⁷ Sie wird als „Verfallen des Daseins“ bezeichnet.¹⁵⁸ Dazu bemerkt Heidegger: „Der Titel (scil. Verfallen), der keine negative Bewertung ausdrückt, soll bedeuten: das Dasein ist zunächst und zumeist bei der besorgten „Welt“. Dieses Aufgehen bei … hat meist den Charakter des Verlorenseins in die Öffentlichkeit des Man.“¹⁵⁹ Die so charakterisierte Alltäglichkeit ist die verfallende Alltäglichkeit, die von dem alltäglichen In-der-Welt-sein zu unterscheiden ist, das nicht notwendiger Weise, sondern nur „meist“ diesen Charakter hat. Das Verfallen des Daseins wird als „eine Grundart des Seins der Alltäglichkeit“ bezeichnet;¹⁶⁰ es handelt sich um die „verfallende Alltäglichkeit“.¹⁶¹ Da Alltäglichkeit als eine fundamentale Seinsart des Daseins angesehen wird, muss sich eine Klärung der existenzialen Rolle der verfallenden Alltäglichkeit darum
Heidegger 1963, S. 371 Vgl. Heidegger 1963, S. 127; vgl. 1995, S. 31 Heidegger 1963, S. 43 Vgl. Heidegger 2011, S. 14 Heidegger 1963, S. 125 Heidegger 1963, S. 176 Heidegger 1963, S. 175 Heidegger 1963, S. 175 Heidegger1963, S. 175 Heidegger 1963, S. 179
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bemühen, das Verhältnis zwischen dieser Alltäglichkeit und dem alltäglichen Inder-Welt-sein genauer zu bestimmen. Der Ausdruck ‚das Verfallen‘ „soll bedeuten: das Dasein ist zunächst und zumeist bei der besorgten „Welt“.“¹⁶² Demnach muss die verfallende Alltäglichkeit im Rahmen des In-der-Welt-seins gesehen werden; und die Analyse des alltäglichen In-der-Welt-seins hatte zu einer Bestimmung der Umwelt als der „nächsten Welt des alltäglichen Daseins“ und des „Umgangs in der Welt und mit innerweltlichen Seienden“ als Besorgen von Zuhandenem geführt.¹⁶³ Weiterhin soll diese Analyse nachweisen, dass das für das Dasein konstitutive Mitsein und das darin begründete Miteinandersein sich auf die gemeinsame „umweltlich besorgte Mitwelt“ beziehen.¹⁶⁴ Aber diese Ergebnisse begründen noch nicht, dass die Alltäglichkeit des In-der-Welt-seins den Charakter der verfallenden Alltäglichkeit hat, die ja eine besondere „Grundart des Seins des Alltäglichkeit“ sein soll.¹⁶⁵ Die Konzeption der verfallenden Alltäglichkeit, die im § 38 entwickelt wird, wirft einige Rätsel auf. Zum Abschluss des § 37 wird auf sie als „die Grundart des Seins der Alltäglichkeit“ Bezug genommen, während sie im ersten Absatz des § 38 als „eine Grundart des Seins der Alltäglichkeit“ bezeichnet wird.¹⁶⁶ Ist sie eine Grundart neben anderen, oder ist sie die einzige? Weiterhin erfährt der Leser zu seiner Überraschung, dass die früheren Betrachtungen zum In-der-Welt-sein zwar „die möglichen Grundarten des In-Seins, das Besorgen und die Fürsorge, beschrieben wurden“, aber „die Frage nach der alltäglichen Seinsart dieser Weisen zu sein, unerörtert blieb.“¹⁶⁷ Dies steht im Widerspruch zu Heideggers Diskussion der Umwelt als „der nächsten Welt des alltäglichen Daseins“ und des „Umgangs in der Welt und mit dem innerweltlichen Seienden“, welche sich am „Leitfaden des alltäglichen In-der-Welt-seins“ orientiert.¹⁶⁸ Dieser Leitfaden gilt auch für die Erörterung des Miteinanderseins.¹⁶⁹ Wie lässt sich dieser Widerspruch erklären? Er behauptet, dass die Konzeption der verfallenden Alltäglichkeit „erst die existenzial zureichende Bestimmung der Grundverfassung des Daseins“ zu geben erlaubt.¹⁷⁰ Eine existenziale Bestimmung ist eine Bestimmung, die ausschließlich
Heidegger 1963, S. 175 Vgl. Heidegger 1963, S. 66 – 67 Heidegger 1963, S. 122; 125 Heidegger 1963, S. 175 Heidegger 1963, S. 175 Heidegger 1963, S. 176 Vgl. Heidegger 1963, S. 66 – 67 Vgl. Heideger 1963, S. 121; 126 – 130 Heidegger 1963, S. 177
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das Sein des Daseins betrifft,¹⁷¹ genauer: eine Weise, wie Dasein ist, angibt.¹⁷² Dies gilt für die Ausführungen zum alltäglichen In-der-Welt-sein, die sich im dritten und vierten Kapitel des Ersten Abschnitts finden. Wann handelt es sich um eine „existenzial zureichende Bestimmung der Grundverfassung des Daseins“? Vielleicht gibt es ja mehrere existenziale Bestimmungen, aber eine und nur eine ist „existenzial zureichend“, nämlich diejenige, die im § 38 gegeben wird. Aber auch hier ist Heidegger nicht eindeutig: Einerseits „konstituiert“ das Verfallen „alle seine Tage (scil. des Daseins) in ihrer Alltäglichkeit“;¹⁷³ andererseits soll die verfallende Alltäglichkeit nur „einen existenzialen Modus des In-der-Welt-seins dokumentieren.“¹⁷⁴ Man kann versuchen, einen Ausweg aus diesen Schwierigkeiten zu finden, indem man nach Gründen sucht, die für eine Auszeichnung der verfallenden Alltäglichkeit sprechen. Dazu muss man von den Überlegungen ausgehen, die Heidegger dazu bringen, sich mit dem alltäglichen In-der-Welt-sein zu beschäftigen. Die Betrachtung der Alltäglichkeit des Daseins soll erstens vermeiden, dass man sich an traditionellen Vorstellungen von dem, was es heißt ein Mensch zu sein, orientiert, und zweitens dient sie dazu, eine Seinsart in den Blick zu nehmen, aus der „heraus“ und die „zurück alles Existieren ist, wie es ist.“¹⁷⁵ An anderer Stelle heißt es: „Primär meint … der Ausdruck Alltäglichkeit ein bestimmtes Wie der Existenz, das „zeitlebens“das Dasein durchherrscht.“¹⁷⁶ Demnach gibt es keine Existenz des Daseins ohne seine alltägliche Existenz. Welche Bedeutung kommt nun der abfallenden Alltäglichkeit zu? Heidegger schreibt: „Was wir die Uneigentlichkeit des Daseins nannten, erfährt jetzt durch die Interpretation des Verfallens eine schärfere Bestimmung.“¹⁷⁷ Die Konzeption der verfallenden Alltäglichkeit soll also dem uneigentlichen In-der-Welt-sein Rechnung tragen, das „ein ausgezeichnetes In-der-Welt-sein ausmacht, das von der „Welt“ und dem Mitdasein Anderer im Man völlig benommen ist. Das Nicht-es-selbst-sein fungiert als positive Möglichkeit des Seienden, das wesenhaft besorgend in einer Welt aufgeht.“¹⁷⁸ Das uneigentliche In-der-Welt-sein ist nicht deswegen uneigentlich, weil es sich um eine Seinsart des Daseins handelt, bei der es nicht um die Welt und das Mitdasein Anderer geht, sondern wegen der Art und Weise, in der es darum geht.
Heidegger 1963, S. 42 Heidegger 1963, S. 129 Heidegger 1963, S. 179 Heidegger 1963, S. 176 Heidegger 1963, S. 43 Heidegger 1963, S. 370 Heidegger 1963, S. 175 – 176 Heidegger 1963, S. 176
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Heidegger charakterisiert sie als Benommen-sein,¹⁷⁹ Aufgehen¹⁸⁰ oder Verlorensein.¹⁸¹ Es handelt sich um Weisen, in denen das Dasein sich zu einer Umwelt und zu einer Mitwelt verhält, aber es sind uneigentliche Weisen des In-der-Welt-seins, weil in ihnen „das Dasein von ihm selbst als eigentlichem Seinkönnen zunächst immer schon abgefallen ist …“¹⁸² Die verfallende Alltäglichkeit des Daseins ist eine uneigentliche Weise des In-der-Welt-seins, weil sie in einem Abfallen des Daseins von ihm selber besteht. Weshalb ist diese Alltäglichkeit ein solches Abfallen? Die Seinsart des alltäglichen Daseins besteht im „Aufgehen in der Welt“.¹⁸³ Was ist damit gemeint? Nach Heidegger kann das Dasein in oder bei der besorgten Welt aufgehen.¹⁸⁴ Insbesondere die erste Redeweise betont, dass es um eine Art und Weise des Aufgehens geht. Der Ausdruck ‚in der Welt’ fungiert als adverbialer Modifikator. Wenn Heidegger von dem Dasein sagt, dass es in der besorgten Welt aufgeht, dann verwendet er das Wort ‚aufgehen’ in der Weise, wie man von jemandem sagt, dass er in seinen Aufgaben oder in seinem Hobby aufgeht: Dasjenige, worin man aufgeht, charakterisiert die Tätigkeit. Er behauptet nicht, dass das Dasein in die besorgte Welt aufgeht, wie ein Unternehmen in ein anderes aufgeht. Das Dasein ist in der Welt, aber es geht nicht in diesem Sinne in sie auf. Dass das Dasein in der besorgten Welt ist, ergibt sich aus seiner Grundverfassung, aus seinem In-der-Welt-sein, das gleichursprünglich als Besorgen in einer Umwelt und als Mitsein mit Anderen ist.¹⁸⁵ Die Welt des Daseins ist eine mit Anderen gemeinsam besorgte Mitwelt. Damit ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für das Aufgehen der verfallenden Alltäglichkeit genannt. Was dafür charakteristisch ist, ergibt sich aus der schon früher erwähnten Merkwürdigkeit, die Heidegger in seinen Vorlesungen hervorhebt. Er weist auf „den phänomenalen Bestand der Alltäglichkeit“ hin, „dass nicht nur die Anderen, sondern merkwürdigerweise ›man selbst‹ in dem da ist, was man alltäglich besorgt.“¹⁸⁶ Weshalb ist es nur dann merkwürdig, wenn es um das eigene Dasein geht? Gehen wir davon aus, wie Andere erfahren werden: „Dieses Mitdasein der Anderen gerade in der Alltäglichkeit ist charakteristisch für das In-Sein als Aufgehen in der besorgten Welt. Die Anderen sind mit da in der Welt, die man be-
Heidegger 1963, S. 113; 176 Heidegger 1963, S. 54; 113; 125 Heidegger 1963, S. 175; 268 Heidegger 1963, S. 175 Heidegger 1963, S. 113 Vgl. Heidegger 1963, S. 113; 125; 239 Heidegger 1963, S. 117; 1994b, S. 327 Heidegger 1994b, S. 332; vgl. 333
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sorgt, in der man sich aufhält…“¹⁸⁷ Das ist sicherlich richtig, denn die besorgte Welt wird als eine gemeinsam besorgte Mitwelt gedacht. Es ist freilich, wie schon früher betont, falsch, dass die Anderen nur auf diese Weise in einer solchen Welt da sind,¹⁸⁸ aber auf jeden Fall ist es nicht „merkwürdig“, dass Andere auf diese Weise begegnen.Weshalb soll es im eigenen Fall merkwürdig sein? Orientiert man sich an der Grundverfassung des Daseins, so ist man immer schon in einer Welt, zu der eine Umwelt der von einem besorgten zuhandenen Dinge gehört, und man ist daher in dem da, was man alltäglich besorgt. Heidegger kleidet dies in die griffige These Man ist das, was man betreibt. ¹⁸⁹ Weshalb soll dies im eigenen Fall merkwürdig sein? In einer späteren Vorlesung betont er wieder diese Merkwürdigkeit: „Wohl ist es ein merkwürdiger Tatbestand des Daseins, dass wir uns zunächst und alltäglich aus den Dingen her begegnen und uns selbst in dieser Weise in unserem Selbst erschlossen sind.“¹⁹⁰ Die konstatierte Merkwürdigkeit betrifft unser alltägliches Selbstverständnis, das so beschrieben wird: „Alltäglich versteht man sich und seine Existenz aus dem, was man betreibt und besorgt. Man versteht sich selbst von dem her, weil das Dasein sich zunächst in den Dingen findet.“¹⁹¹ Dies ist in der Tat merkwürdig, und es ist nicht klar, was damit gemeint sein soll. Das wird deutlicher, wenn man sich überlegt, weshalb die Annahme, das Dasein finde sich zunächst in den Dingen, gemacht wird. Sie soll erklären, dass das Verstehen des eigenen Besorgens ein Selbstverstehen ist. Weil für Heidegger das auf das Besorgen fokussierte Selbstverstehen „die Weise der primären Selbst-Erschließung“ ist,¹⁹² behauptet er, dass „das faktische Dasein sich, sein Selbst, aus den alltäglich besorgten Dingen versteht“.¹⁹³ Ein solches Selbstverständnis setzt nach seiner Meinung voraus, dass „das Dasein irgendwie bei ihnen (scil. den Dingen) ist“, so dass es zu einem „rätselhaften Widerschein des Selbst aus den Dingen“ kommt.¹⁹⁴ Heideggers Konzeption des Verstehens des Besorgens als eines Selbstverstehens wirft zwei Fragen auf: Ist die ausgezeichnete Bedeutung, die er einem auf das Besorgen gerichteten Selbstverständnis beimisst, berechtigt? Und verlangt ein solches Selbstverständnis die Annahme des „Widerscheins“ des Selbst aus den Dingen?
Heidegger 1994b, S. 329 Vgl. S. 100 – 101; 107– 108 Heidegger 1963, S. 239; 1994b, S. 336; 1975, S. 226 Heidegger 1975, S. 227 Heidegger 1975, S. 227 Heidegger 1975, S. 226 Heidegger 1975, S. 227 Heidegger 1975, S. 229
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Das Selbstverstehen des Daseins ist immer ein Verstehen seines In-der-Weltseins. Wir hatten schon gesehen, dass ein solches Verstehen nicht nur in einem Verstehen der jeweils besorgten Umwelt bestehen kann.¹⁹⁵ Auch wenn wir das wesentliche Mitsein des Daseins und somit sein Miteinanderseins mit Anderen in einer gemeinsamen „umweltlich besorgten Mitwelt“ berücksichtigen,¹⁹⁶ bewegen wir uns immer noch im Rahmen eines restriktiv ausgelegten In-der-Welt-seins, und es ist nicht erkennbar, weshalb ein auf das Besorgen fokussiertes Selbstverstehen die Priorität besitzen soll, die Heidegger ihm einräumt. Aber selbst wenn man diese Annahme macht, folgt daraus jener „Widerschein des Selbst aus den Dingen“, die so betont als „rätselhaft“ bezeichnet wird?¹⁹⁷ Das Rätsel löst sich auf, wenn man bemerkt, dass Heidegger einen solchen Widerschein als eine besondere Art von Reflexion versteht, die er der traditionellen Auffassung des Selbstbewusstseins als Reflexion auf die eigenen mentalen Zustände und Akte gegenüberstellt .¹⁹⁸ Mit der These, das Dasein „finde sich zunächst in den Dingen“, soll diese Auffassung kritisiert werden; und was mit ihr gemeint ist, ergibt sich durch das, was durch sie ausgeschlossen werden soll. Heidegger will den grundsätzlichen Unterschied zwischen einem Selbstverstehen, das das Dasein in seinem Inder-Welt-sein und somit in seinem Besorgen von Zuhandenem und in seinem Mitsein mit Anderen betrifft, und einem Selbstverstehen, das in dem Selbstbewusstsein des eigenen Mentalen besteht, betonen. Das erste Selbstverstehen wird als ein „un-eigentliches Sichselbstverstehen“ bezeichnet.¹⁹⁹ Uneigentlich ist nicht das Verstehen, sondern das, was verstanden wird. Das uneigentliche Selbstverstehen des Daseins aus den Dingen ist ein Selbstverstehen des „uneigentlichen Selbst“. Es ist dieses Selbst, das „aus den Dingen widerscheint“.²⁰⁰ Da es das ist, was in einem Selbstverstehen verstanden wird, und da ein Selbstverstehen des Daseins immer ein Selbstverstehen seines In-der-Welt-seins ist, stellt sich die Frage, ob und wie ein Selbstverstehen des uneigentlichen Selbst überhaupt als ein Selbstverstehen des Daseins gedacht werden kann. Denn das Selbst, das „aus den Dingen widerscheint“, ist das Korrelat eines Selbstverstehens, das nur einen Aspekt des In-der-Welt-seins des Daseins betrifft und daher nur ein reduziertes, unvollständiges Selbstverstehen sein kann. Das uneigentliche Selbstverstehen wird einem eigentlichen Selbstverstehen gegenübergestellt. Auch bei diesem Verstehen geht es nicht um ein eigentliches
Vgl. S. 108–110 Heidegger 1963, S. 125 Heidegger 1975, S. 227; 229; 247 Heidegger 1975, S. 247; vgl. 226; 228 Heidegger 1963, S. 228 Heidegger 1975, S. 229; vgl. S. 395
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Verstehen, sondern um ein Verstehen von etwas, das eigentlich ist. Heidegger schreibt: „Wir verstehen uns alltäglich, wie wir terminologisch fixieren können, nicht eigentlich im strengen Wortsinne, nicht ständig aus den eigensten und äußersten Möglichkeiten unserer eigenen Existenz …“²⁰¹ Was immer dies genau heißen mag, es ist auf jeden Fall klar, dass ein Selbstverstehen, das sich auf die „eigene“ Existenz bezieht und sich darauf beschränkt, „wie wir uns im Grunde zu eigen sein können“,²⁰² nicht ohne nähere Erläuterungen als ein Selbstverstehen des Daseins, sofern dieses wesentlich als ein Verstehen seines In-der-Welt-seins bestimmt ist, angesehen werden kann.²⁰³ Sowohl die Konzeption des uneigentlichen Selbstverstehens als auch die des eigentlichen Selbstverstehen werfen daher, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, dieselbe Frage auf: Handelt es sich bei ihnen überhaupt um ein Selbstverstehen? Ich werde auf diese Frage später zurückkommen. Die Differenz zwischen einem uneigentlichen und einem eigentlichen Selbstverstehen wird in Sein und Zeit durch die Abgrenzung eines Verstehens des „Man-selbst“ von einem Verstehen des „ich selbst“ zum Ausdruck gebracht.²⁰⁴ Da es bei diesem Verstehen immer um ein Selbstverstehen geht, und da das Selbstverstehen die Grundlage für die Beantwortung der Wer-Frage ist, müssen das Man-selbst und das Ich selbst als mögliche Antworten auf diese Frage gedacht werden; und es sind auch die einzigen Möglichkeiten, die in Betracht gezogen werden. Wenn nicht das Erste, dann das Zweite: „Das Wer des Daseins ist zumeist nicht ich selbst, sondern das Man-selbst.“²⁰⁵ Da auch die Umkehrung gilt, handelt es sich um eine exklusive und vollständige Disjunktion. Dass er nur die beiden Möglichkeiten berücksichtigt, ist merkwürdig, denn es geht ja um ein In-der-Weltsein des Daseins in seinem alltäglichen Miteinandersein. Die Welt ist eine Mitwelt, das Sein des Daseins ein Mitsein. Die Anderen sind das, was sie besorgen, und so man selber auch. Das alltägliche Miteinandersein als ein Miteinanderaufgehen bei der besorgten Welt ist das gemeinsame Leben, das in dem Besorgen von Zuhandenem besteht. Wie restriktiv diese Auffassung eines gemeinsamen Lebens auch sein mag, es ist auf jeden Fall klar, dass die Frage nach dem Wer des „alltäglichen Miteinanderseins“, als existenziale Frage verstanden, nicht nur so beantwortet werden kann, wie Heidegger behauptet, nämlich entweder durch ein
Heidegger 1963, S. 228 Heidegger 1963, S. 228 Vgl. Heidegger 1975: „… Selbstverständnis ist Daseinsverständnis. Darin liegt wiederum Verständnis des Mitseins mit Anderen und Verständnis des Seinkönnens und Sichaufhaltens bei Vorhandenem.“ (421) Heidegger 1963, S. 267; vgl. 129 Heidegger 1963, S. 267
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Ich selbst-Sein oder durch ein Man-selbst-Sein. Eine andere, plausible Antwort, wie sie etwa durch das erwähnte Beispiel einer gemeinsamen Bergwanderung nahegelegt wird, könnte sein: Wir. Diese Antwort ist durchaus möglich und sogar naheliegend, wenn es darum geht, das Selbst des Miteinanderseins zu bestimmen.²⁰⁶ Demgegenüber diskutiert Heidegger nur die beiden genannten Antworten. Die dritte, von mir genannte Antwort auf die Wer-Frage verlangt jedoch die Explikation einer Seinsweise des alltäglichen Daseins, die in Sein und Zeit, wie wir sehen werden, schlicht nicht berücksichtigt wird, aber Formen eines solchen Miteinanderseins werden in seinen Vorlesungen erwähnt. Die Gründe dafür, dass diese Überlegungen nicht verfolgt worden sind, werden später deutlich werden.²⁰⁷ Die Frage nach dem Wer des Daseins ist eine existenziale Frage; sie wird beantwortet durch die Angabe einer Seinsweise des Daseins. Nach Heidegger gibt es genau zwei mögliche Antworten auf die Frage: das „Ich selbst“ und das „Manselbst“.²⁰⁸ Diese Antworten schließen sich, wie gesagt, wechselseitig aus. Allerdings soll die Seinsweise des Daseins, die durch die Antwort „Ich selbst“ bestimmt wird, „eine existenzielle Modifikation des Man“ sein.²⁰⁹ Wie ist eine solche Modifikation zu verstehen? Es sind zwei Gesichtspunkten, die seine Überlegungen leiten. Einerseits gilt, dass „das eigentliche Selbstsein nicht auf einem vom Man abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts beruht“,²¹⁰ und dass daher „die eigentliche Existenz nichts ist, was über der verfallenden Alltäglichkeit schwebt“.²¹¹ Diese Bemerkungen legen die Vermutung nahe, dass eine modifizierende Seinsweise des Daseins die modifizierte Seinsweise voraussetzt. Es kann die erste nicht ohne die zweite geben.²¹² Andererseits besteht die modifizierende Seinsweise darin, dass sie etwas „rückgängig macht“ oder etwas „zurückholt“, was in der modifizierten Seinsweise „verloren“ oder abhandengekommen ist.²¹³ Daher kann die modifizierende Seinsweise die modifizierte Seinsweise „überwinden“.²¹⁴ Orientiert man sich an diesem Gesichtspunkt, so hat die modifizierte Seinsweise im Vergleich zu der modifizierenden Seinsweise einen defizitären Charakter; sie ist ein Verlust der letzteren und wird als „Selbstverlorenheit“ oder auch als „Ent-
Zu einem solchen Ansatz vgl. Heidegger 1996, S. 97– 110 Vgl. S. 137–139 Heidegger 1963, S. 267 Heidegger 1963, S. 267; vgl. 130 Heidegger 1963, S. 130 Heideger 1963, S. 179 Vgl. Schatzki 2005, S. 245 Vgl. Heidegger 1963, S. 268 Heidegger 1963, S. 370
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fremdung“ beschrieben.²¹⁵ Lassen sich diese beiden Gesichtspunkte miteinander vereinbaren? Während der erste Gesichtspunkt die Annahme einer Abhängigkeit des eigentlichen Selbstseins von dem Man-selbst nahelegt, so dass es kein Selbstsein ohne ein Man-selbst geben kann, verbindet sich mit dem zweiten Gesichtspunkt die Vorstellung, dass das Man-selbst kein Selbstsein ist. Das Manselbst ist ein Verlust des Selbstseins, und dieses Defizit kann nur durch eine Revision des Man-selbst ausgeräumt werden. Wie wir sehen werden, erklären sich die unterschiedlichen Interpretationen des Man in der Sekundärliteratur durch eine Ambivalenz von Heideggers Position in Sein und Zeit. ²¹⁶ Seine Ausführungen zum Man als dem Wer des alltäglichen Miteinanderseins orientieren sich vor allem an dem zweiten Gesichtspunkt – an der Vorstellung, dass das Man-Selbst ein Verlust des eigentlichen Selbstseins ist. Er beginnt seine Analyse des Man mit einer Betrachtung des Besorgens „dessen, was man mit, für und gegen die Anderen ergriffen hat“.²¹⁷ Ein solches Besorgen ist ein Mitsein in einem weiten Sinne des Wortes: Es ist ein Verhalten, das nur im Hinblick auf Andere verständlich ist, das also begrifflich die Annahme von Anderen impliziert und die Möglichkeiten eines kooperativen oder eines konkurrierenden Verhalten offen lässt. Im Folgenden geht es ihm jedoch vor allem um den letzteren Fall. Er schreibt: „Im Besorgen dessen, was man mit, für und gegen die Anderen tut, ruht ständig die Sorge um einen Unterschied gegen die Anderen, sei es auch nur, um den Unterschied gegen sie auszugleichen, sei es, dass das eigene Dasein – gegen die Anderen zurückbleibend – im Verhältnis zu ihnen aufholen will, sei es, dass das Dasein im Vorrang über die Anderen darauf aus ist, sie niederzuhalten. Das Miteinandersein ist – ihm selbst verborgen – von der Sorge um diesen Abstand beunruhigt. Existenzial ausgedrückt, es hat den Charakter der Abständigkeit.“²¹⁸ Heidegger behauptet, dass Abständigkeit ein Existenzial und somit eine wesentliche Weise des Miteinanderseins ist. Auch wenn man dies zugibt, so ist sie sicherlich nicht die einzige Weise, wie schon daran deutlich wird, dass das Miteinandersein aus einer bestimmten Perspektive betrachtet wird. Es geht um ein Miteinandersein mit Anderen, wie es sich für einen selber darstellt oder darstellen kann, – ein Miteinandersein aus einer Ich-, aber nicht aus einer Wir-Perspektive. Zu einem so verstandenen Miteinandersein gehört auch die Beschäftigung mit den Einschätzungen und Beurteilungen, die
Vgl. Heidegger 1963, S. 116; 178; 383 Vgl. Dreyfus 1995: „Heidegger cannot consistently claim both that the one is a privative form of Mitsein, and that „the one belongs to Dasein‘s positive constitution.“ Yet, there are enough passages on each side so that neither claim can be dismissed as a simple lapse.“ (25) Heidegger 1963, S. 126 Heidegger 1963, S. 126
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Andere von einem haben. Weiterhin ist zu betonen, dass die „Sorge um einen Unterschied gegen die Anderen“ in der Regel kein dominanter Zug eines kooperativen Besorgens von Zuhandenem ist; und es fällt auf, dass ein Besorgen, das überhaupt nur kooperativ realisiert werden kann, gar nicht erwähnt wird. Das Miteinandersein, das durch Abständigkeit charakterisiert ist, betrifft ein Verhalten, bei dem sich jemand in seinem Verständnis des Mitseins mit Anderen von der Vorstellung seines Unterschiedes zu ihnen leiten lässt. Es führt zu einem Selbstverständnis, das sich ausschließlich mit dem Unterschied beschäftigt, der zwischen ihm und anderen besteht, und das insbesondere für das Verstehen von Konkurrenz-Situationen relevant ist. Dies ist sicherlich eine Möglichkeit eines Selbstverstehens, aber es gibt natürlich auch ganz andere Möglichkeiten, wie dieses Verstehen auf Andere und auf ihr Verstehen von einem selber bezogen ist. Bei Heidegger fehlt schlicht eine Analyse solcher Möglichkeiten, und er begnügt sich mit der Betrachtung einer einseitigen Abhängigkeit eines Selbstverständnisses des eigenen Mitseins von Anderen.²¹⁹ Die Abhängigkeit wird als ein Herrschaftsverhältnis beschrieben: Das Dasein als Mitsein „steht in der Botmäßigkeit der Anderen, es „übernimmt die Herrschaft der Anderen“, und es gibt eine „Diktatur“ des Man.²²⁰ Betrachtet man die Beispiele, die Heidegger für ein solches Miteinandersein gibt, so fällt vor allem auf, dass sie wenig miteinander zu tun haben, und dass sie ganz unterschiedliche Deutungen dessen, was er die Diktatur des Man nennt, erlauben. Er nennt die „Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel“ und die „Verwendung des Nachrichtenwesens (Zeitung)“ und behauptet, dass „dieses Miteinandersein das eigene Dasein völlig in die Seinsart „der Anderen“ auflöst.“²²¹ Nehme ich öffentliche Verkehrsmittel in Anspruch, so bin ich, wie alle anderen auch, zu einem bestimmten Verhalten, unter anderem auch zu den anderen Fahrgästen, verpflichtet. Ich bin als Kunde der Deutschen Bahn einer unter Anderen; ihre Vorschriften und Transportbedingungen gelten für mich ebenso wie für die Anderen. Aber dies bedeutet nicht, dass „das eigene Dasein völlig in die Seinsart „der Anderen“ aufgelöst wird“. Sie üben dabei auch keine Herrschaft aus. Wenn überhaupt, kann man von eine „Herrschaft“ einer Institution sprechen, deren Angebote wir wahrnehmen. Mein Miteinandersein mit den Anderen, das
Dreyfus 1995 behauptet, dass „… Abständigkeit denotes an essential structure of all Dasein‘s activity that inconspicuously reduces difference and so performs the ontological function of establishing norms and thus opening up a shared human world.“ (24) Die Erfahrung der Welt als Mitwelt wird von Heidegger nicht durch die Geltung von Normen begründet; und die von ihm beschriebene Abständigkeit setzt zwar Normen voraus, aber es es fehlt bei ihm auch nur ein Hinweis darauf, dass sie die Geltung von Normen begründen soll. Heidegger 1963, S. 126 Heidegger 1963, S. 126
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darin besteht, dass sie wie ich Kunden desselben Unternehmens sind, wird völlig unangemessen beschrieben. Was die Lektüre von Zeitungen mit der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel zu tun haben soll, bleibt rätselhaft, und ist vielleicht als eine Brücke zu dem folgenden Beispiel für die „Diktatur des Man“ gedacht. Heidegger schreibt: „Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom „großen Haufen“ zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden „empörend“, was man empörend findet.“²²² Dieses Verhalten soll ein Beispiel für ein Miteinandersein sein, das „mit, für und gegen die Anderen“ gerichtet ist.²²³ Nur der zuerst genannte Fall kommt für ein solches Verhalten in Betracht. Aber was für ein Verhalten gemeint ist, hängt davon ab, wie das wir zu verstehen ist. Kollektiv verstanden, ist ein gemeinsames Genießen und Vergnügen, usw. gemeint. Aber die Beispiele müssen nicht so gelesen werden. Man kann das wir auch distributiv verstehen: Jeder von uns genießt und vergnügt sich, wie man es tut. Dann geht es um ein konformes Verhalten, das man sowohl gemeinsam als auch jeder einzeln an den Tag legen kann. Wir sind angepasste Wesen: Wir verhalten uns wie die Anderen. Hält man sich an die Beispiele, so geht es um ein Verhalten, für die es normative Beurteilungen gibt oder geben kann.²²⁴ Heidegger betont daher, dass „das Man … die Seinsart der Alltäglichkeit vorschreibt…“ und „sich faktisch in der Durchschnittlichkeit dessen hält, was sich gehört, was man gelten lässt …“²²⁵ Worin besteht dann die von ihm unterstellte „Herrschaft der Anderen“, die „Diktatur“ des Man? Sie kann darin bestehen, dass wir uns so verhalten, wie es die jeweils relevanten Normen vorschreiben. An anderer Stelle spricht er von „Regeln, Maßstäben“, die bei der „Verlorenheit in das Man“ das Verhalten des Daseins bestimmen.²²⁶ Der Versuch, sich der Herrschaft der Anderen zu entziehen, muss dann dazu führen, dass man sich nach eigenem Belieben verhält, dass man jeweils tut, was man will. Die Herrschaft der Anderen kann aber auch darin bestehen, dass wir uns in unserem Verhalten an den Standards orientieren, die wir
Heidegger 1963, S. 126 – 127 Heidegger 1963, S. 126 Schatzki 2005 kritisiert die von Dreyfus und anderen vertretene These, Normativität sei eine notwendige Bedingung des Mitseins, und schreibt zurecht: „What Heidegger at most claims, however, is simply that any human life is such that the public sphere in which it transpires with other lives is norm-governed.“ (243). Diese Kritik trifft auch Carman‘s 2003 Konzeption einer „anonymous normativity of social life“ (145). Heidegger 1963. S. 127; vgl. 194; 1994b, S. 339 Heidegger 1963, S. 268; vgl. 288
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von Anderen ohne Weiteres und unkontrolliert übernehmen.²²⁷ Der Versuch, sich von der Diktatur des Man frei zu machen, besteht dann nicht in einem Verhalten, das sich an keine akzeptierten Standards der Bewertung hält, sondern in einem Verhalten, das nicht von „Verdeckungen und Verdunklungen“ gängiger normativer Beurteilungen belastet ist. Die Herrschaft des Man manifestiert sich dann in einem Verhalten, das sich an „verstellten“, also unangemessenen, inkorrekten Standards oder Normen und ihrer Auslegung orientiert. Wie diese Herrschaft genauer zu verstehen ist, bleibt unklar. Heideggers Überlegungen zum Man beschäftigen sich mit dem Selbstverständnis des Daseins, genauer: mit dem Selbstverständnis seines „Seins als alltägliches Miteinanderseins“.²²⁸ Sie orientieren sich an zwei unterschiedlichen Modellen der Beschreibung des Verhältnisses zwischen eigentlichem Selbstsein und Man-Sein. Einerseits wird das Erstere als modifizierte Seinsweise des Letzteren bestimmt; andererseits wird dieses als ein Verlust des Selbstseins gedacht. Die Modelle geben eine Antwort auf verschiedene Fragen. Das erste Modell wird verwendet, um zu klären, welche Rolle das alltägliche Miteinandersein für das Selbstverständnis des Daseins und somit für das Selbstsein des alltäglichen Daseins spielt. Das zweite Modell wird verwendet, um die Frage zu beantworten, ob wie das alltägliche Miteinandersein dieses Selbstverständnis verhindert oder beeinträchtigt. Eine Beschäftigung mit dieser Frage geht davon aus, dass es Formen des alltäglichen Miteinanderseins geben kann, welche zu einer Deformation oder zu einem Verlust des Selbstseins führen, aber sie schließt die Annahme nicht aus, dass das alltägliche Miteinandersein eine konstitutive Rolle für das eigentliche Selbstsein des Daseins besitzt. Allerdings wird diese Annahme nicht durch Überlegungen zu dieser Rolle geklärt oder expliziert. Wie wir gesehen haben, beschäftigt sich Heideggers Analyse des Man nur mit dem zweiten Thema, und das von ihm favorisierte Modell ist das Man als Verlust oder Defizit des eigentlichen Selbstseins. Ihm geht es um die Klärung des Miteinanderseins der verfallenden Alltäglichkeit. Dieses einseitige und restriktive Interesse, das seine Diskussion des Miteinanderseins leitet, hat in der Sekundärliteratur zu Missverständnissen geführt. Dreyfus vergleicht Heidegger mit Wittgenstein und schreibt mit Berufung auf die Philosophische Untersuchungen § 241: „For both Heidegger and Wittgenstein, then, the source of the intelligibility of the world is the average public practices through which alone there can be any understanding at all. … What we share is
Vgl. Heidegger 1963, S. 129 Heidegger 1963, S. 125
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simply our average comportment.“²²⁹ Das Man, verstanden als eine mit Anderen geteilte Lebensform, manifestiert sich in einer Übereinstimmung von Handeln und Urteilen; und diese Übereinstimmung soll die Grundlage für die „Verständlichkeit der Welt“ sein. Was und wie etwas auf dieser Grundlage verstanden wird, ist nicht so klar. An anderer Stelle schreibt Dreyfus: „Heidegger‘s basic point is that the background familarity that underlies all coping and all intentional states is an agreement of acting and judging into which human beings are ‚always already‘ socialized.“²³⁰ Es ist hier nicht zu klären, ob und wie solche Überlegungen Wittgensteins Idee einer Übereinstimmung der Lebensform adäquat verstehen. Heideggers Auffassung des Man hat etwas mit dem Selbstverständnis des Daseins in seinem alltäglichen Miteinandersein zu tun. Da dieses Verständnis immer ein Verständnis des In-der-Welt-seins des Daseins ist, muss die mit Anderen geteilte Lebensform auf eine gemeinsame Welt bezogen werden. Sie enthält sowohl Zuhandenes als auch Vorhandenes; und deren Gemeinsamkeit kann nicht nur durch identische Formen der Sozialisierung und durch ein „durchschnittliches Verhalten“ im Miteinandersein erklärt werden. Heideggers Theorie des In-der-Welt-seins ist keine „Phänomenologie der Rolle sozialer Normen, die den Hintergrund von Verständlichkeit bilden“.²³¹ Dreyfus‘ Missverständnisse beginnen schon mit seiner Interpretation von Heideggers Terminologie. Ausgehend von der Feststellung, dass es für ein Zeug eine Allgemeinheit und Normativität seiner spezifischen Verwendung gibt, behauptet er: „To refer to the normal user, Heidegger coins the term das Man …“²³² An anderer Stelle schreibt er: „… das Man denotes the shared norms that determine both equipmental use and and the point of such …“²³³ Das ist schlicht falsch. Bei der Analyse des besorgenden Umgangs mit Zuhandenem wird zwar en passant eine „öffentliche Welt“ erwähnt,²³⁴ aber das Man spielt bei Heidegger vor allem im Kontext der Explikation des Selbstverständnisses des Dasein in seinem alltäglichen Miteinandersein eine Rolle. Auf den Gedanken, dass dieses Miteinandersein auf gemeinsam akzeptierten Normen beruht, kommt Heidegger bei seiner Analyse des Besorgens von Zeug in einer gemeinsamen Mitwelt nicht. Es ist der konformistische Charakter des Selbstverständnisses, der von ihm betont wird. Auch die „durchschnittliche Verständlichkeit, die in der beim Sichaussprechen gespro-
Dreyfus 1991, S. 155; 7; 157; vgl. auch Haugeland 2013, S. 131; 135 Dreyfus 1995, S. 22 Dreyfus 1995, S. 25; vgl. auch Carman 2003, S. 138 – 139; 143 Dreyfus 1991, S. 151 Dreyfus 1995, S. 21 Heidegger 1963, S. 71
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chenen Sprache schon liegt,“²³⁵ belegt nicht eine „positive Bedeutung der Durchschnittlichkeit“, wie Dreyfus behauptet,²³⁶ sondern begründet für Heidegger die Möglichkeit, dass der Hörende kein „ursprünglich verstehendes Sein zum Worüber der Rede“ besitzt, und soll erklären, dass im Gerede „die Echtheit und Sachgemäßheit der Rede und ihres Verständnisses“ verloren gehen.²³⁷ Die durchschnittliche Verständlichkeit des Gesprochenen ist eine defizitäre Form des Verstehens und hat mit der von Wittgenstein angenommenen Übereinstimmung der Menschen „in der Sprache“ nichts zu tun.²³⁸ Dreyfus erörtert „die negative Funktion des ‚Man‘“ , indem er von der Frage ausgeht, „wie Konformität zu Konformismus verkommt“.²³⁹ Aber schon dieser Ansatz führt in die Irre. Denn Konformität als konstitutive Bedingung des Miteinanderseins wird gerade nicht in Heideggers Analyse des Man thematisiert; sie beschäftigt sich vielmehr, wie wir gesehen haben, mit einem Miteinandersein, das als Defizit oder Verlust des eigentlichen Selbstseins des Daseins bestimmt und nicht als eine deformierte Weise von Konformität bestimmt wird. Das Verhältnis, das zwischen Konformität und Konformismus besteht, soll nach Dreyfus „eine besonders subtile Beziehung zwischen der Durchschnittlichkeit, die Verständlichkeit begründet, und der Versuchung, Normen zu verwenden, um die wesentliche Unverständlichkeit des Daseins selber aufzudecken.“²⁴⁰ Er bezieht sich auf Heideggers Konzeption der Einebnung und behauptet: „Thus the one, in providing average intelligibility, opens up a standard world in which all distinctions between the unique and the general, the superior and the average, the important and the trivial have been leveled.“²⁴¹ Dreyfus erklärt einem leider nicht, wie die Konzeption des Man als der Grundlage von Verständlichkeit uns zu der Auffassung einer standardisierten, undifferenzierten Welt führt. Aber Heideggers Idee der Einebnung ist auch nicht mit einer solchen Auffassung zu identifizieren. Sie bezieht sich auf das Miteinandersein und besteht in dem Akzeptieren gängiger Beurteilungen und der Normen, auf denen es beruht.²⁴² In dem späteren Aufsatz Interpreting Heidegger on das Man ist Dreyfus von seiner früheren willkürlichen Interpretation des Man abgerückt und plädiert dafür, dass es zwei, nicht mitein-
Heidegger 1963, S. 168 Dreyfus 1991, S. 155; vgl. auch Carman 2003, S. 143 Heidegger 1963, S. 168; vgl. Haugeland 2005, S. 164– 165 Wittgenstein 1958, § 241 Dreyfus 1991, S. 157 Dreyfus 1991, S. 157 Dreyfus 1991, S. 235 Vgl. Heidegger 1994b, S. 339; 1963, S. 127; 194
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ander verträgliche Deutungen von Heideggers Überlegungen zum Man gibt.²⁴³ Man kann sie als eine Theorie der Übereinstimmung mit Anderen als der Grundlage von Verständlichkeit lesen und somit den existenzialen Status des Man betonen; man kann sie aber auch als eine Theorie einer „Weise oder eines Stils des Existierens“, dominiert von Anpassung und Konformismus, verstehen.²⁴⁴ Aber diese Aporie ergibt sich nur dann, wenn man nicht bemerkt, dass Heideggers Überlegungen zum Man in Sein und Zeit sich nur mit einem besonderen Fall des alltäglichen Miteinanderseins beschäftigen – mit dem Miteinandersein der abfallenden Alltäglichkeit – und keinen Beitrag zu einer Theorie der konstitutiven Bedingungen des Miteinanderseins liefern wollen. Taylor Carman hat in dem Aufsatz Authenticity einen Vorschlag gemacht, wie Heideggers unterschiedliche Vorstellungen über das Verhältnis zwischen eigentlichem Selbstsein und dem Man-Sein miteinander in Einklang zu bringen sind. Er geht von der Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Begriffen von Eigentlichkeit aus und behauptet, dass der Begriff des Man auf einer Heidegger zugeschriebenen Vermischung beider beruht. Carman schreibt: „Authentic modes of existence … are those in which Dasein stands in a directly first-person relation to itself, in contrast to the second- and third-person relations in which it stands to others, and which it can adopt with respect to itself, at least up to a point. … Authenticity consists in our understanding of the ontological structure of the first person, or what Heidegger calls Dasein‘s ‚miness‘ (Jemeinigkeit).“²⁴⁵ Sieht man einmal davon ab, dass Eigentlichkeit eine Eigenschaft einer Seinsweise des Daseins und nicht eine philosophische Beschäftigung mit einem Begriff oder „ontologischen Struktur“ ist, so stellt sich die Frage, ob die heutige Unterscheidung zwischen verschiedenen Standpunkten, von denen aus man sich zu sich und Anderen verhalten kann, überhaupt auf Heideggers Überlegungen zum In-derWelt-sein des Daseins angewandt werden kann. Die Unterscheidung zwischen eigentlichen und uneigentlichen Seinsweisen des Daseins ist begründet in den verschiedenen Möglichkeiten, sich zu seinem In-der-Welt-sein zu verhalten, und wird korreliert mit unterschiedlichen Arten eines Selbstverstehens. Zur „Grundverfassung“ des Daseins als In-der-Welt-sein gehört, dass Dasein immer in einer mit Anderen gemeinsamen Welt ist, dass die Welt des Daseins immer eine MitWelt, sein Sein immer ein Mitsein ist. Jedes Verhalten des Daseins zu seinem Inder-Welt-sein ist daher eo ipso ein Verhalten zum Mitdasein Anderer. Demgegenüber geht die Unterscheidung zwischen einem Standpunkt der Ersten- und einem
Dreyfus 1995, S. 25 Vgl. Dreyfus 1995, S. 20 Carman 2007, S. 285
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Standpunkt der Dritten-Person davon aus, dass es einen wichtigen Unterschied zwischen meinem Verhalten zu mir und meinem entsprechenden Verhalten zu Anderen geben kann. Der Standpunkt der Ersten-Person ist ein Standpunkt, den nur ich zu Dingen, die mich und nicht Andere betreffen, einnehmen kann. Von diesem Standpunkt aus kann ich mich nicht zu meinem In-der-Welt-sein verhalten; und der Begriff eines solchen Standpunkts gehört zu einer philosophischen Tradition, die Heidegger in Sein und Zeit überwinden oder verabschieden will. Wenn ich mich zu meinem In-der-Welt-sein verhalte, dann gehören dazu immer Verhaltensweisen, die vom Standpunkt der Ersten- und der Dritten-Person aus betrachtet werden oder so betrachtet werden können. Aber dadurch ergibt sich nicht, dass dieses Verhalten eigentlich oder uneigentlich ist. Carman missversteht aber nicht nur Heideggers Konzeption der Eigentlichkeit, sondern auch seine Vorstellungen von dem Standpunkt der Ersten-Person gehen in die Irre. Er spricht von „der ontologischen Struktur der Ersten-Person“ und behauptet, es gebe eine „ontologisch einzigartige Beziehung des Daseins zu sich selber“.²⁴⁶ Es ist nicht klar, was diese Beziehung sein soll, es sei denn, dass es sich um die Identitäts-Beziehung handelt, die ja wohl kaum etwas zum Verständnis von Eigentlichkeit beiträgt. Der Standpunkt der Ersten-Person wird häufig erläutert am Beispiel der besonderen Art und Weise, wie ich von bestimmten eigenen mentalen Zuständen oder Ereignissen weiß; und der Unterschied zu einem Standpunkt der Dritten-Person besteht in der Art und Weise, wie ich von dem Mentalen Anderer etwas weiß, oder wie Anderen von meinem Mentalen etwas wissen. Auch Carman verweist auf solche Beispiele.²⁴⁷ Aber diese Erläuterung rekurriert nicht auf eine ontologische, sondern auf eine epistemologische Differenz.Vor allem aber ist unklar, wie die uneigentliche Seinsweise des Daseins als Man-Sein auf der Grundlage der Unterscheidung der beiden Standpunkte bestimmt werden kann. Für Heidegger besteht sie in einer bestimmten Form des Miteinanderseins, die durch die „Durchschnittlichkeit dessen, was sich gehört, was man gelten lässt,“ charakterisiert ist.²⁴⁸ Ich verhalte mich in meinen normativen Beurteilungen wie die Anderen, während für Carman ein Verhalten dann uneigentlich ist, wenn „es sich auf Andere, oder auf sich selbst qua einem Anderen bezieht.“²⁴⁹ Der erste Fall ist keine hinreichende Bedingung für das „Mitsein im Man“, weil Heidegger auch so etwas wie ein „eigentliches Miteinandersein“ kennt;²⁵⁰ und der zweite Fall wird von Carman selber als ein „bizarres
Carman 2007, S. 285 Vgl. Carman 2007, S. 290; 292 Heidegger 1963, S. 127 Carman 2007, S. 286 Vgl. Heidegger 1994b, S. 342; 1975, S. 421
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Ergebnis“ angesehen und verworfen.²⁵¹ Es ist nicht erkennbar, wie man auf diese Weise zu einem Verständnis des Man-seins des Daseins kommen kann. Es ist daher ratsam, den zweiten von ihm entwickelten Begriff der Eigentlichkeit genauer zu betrachten. Es handelt sich um einen bewertenden Begriff, der sich auf eine „wünschenswerte … Weise des Existierens“ bezieht, und im Hinblick auf den man eine dreifache Unterscheidung treffen kann: Eigentlichkeit, Uneigentlichkeit und die Indifferenz zwischen beiden.²⁵² Carman beruft sich auf die Behauptung von Heidegger, dass „als je meines das Seinkönnen aber frei ist für Eigentlichkeit oder Uneigentlichkeit oder die modale Indifferenz ihrer.“²⁵³ Merkwürdig ist, dass Heidegger in einer Anmerkung auf den Text verweist, in dem er nur zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit unterscheidet;²⁵⁴ und erstaunlich ist, dass Heidegger in dem folgenden Satz schreibt: „Die bisherige Interpretation beschränkte sich, ansetzend bei der durchschnittlichen Alltäglichkeit, auf die Analyse des indifferenten bzw. uneigentlichen Existierens.“²⁵⁵ Das spricht nicht für Carmans Projekt, die durchschnittliche Alltäglichkeit als weder eigentlich noch uneigentlich, als weder „gut noch schlecht, sondern neutral“ anzusehen.²⁵⁶ Er weiß natürlich, dass Heidegger immer wieder bestritten hat, die Verwendung des Wortes ‚uneigentlich‘ bringe eine negative Bewertung zum Ausdruck, aber er setzt sich darüber hinweg und bemüht sich um eine Erklärung einer „normativ verstandenen Eigentlichkeit“.²⁵⁷ Uns interessiert hier, wie sich der Begriff des Man im Rahmen von Carmans Projekt explizieren lässt. Soll die durchschnittliche Alltäglichkeit des Man-Seins als „modale Indifferenz“ von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit in dem Sinne „neutral“ sein, dass sie weder gut noch schlecht, weder eigentlich noch uneigentlich ist? Das lässt sich wohl kaum mit dem § 27 von Sein und Zeit vereinbaren, in dem das „alltägliche Miteinandersein“ als Man-Sein „in der Weise der Unselbständigkeit und Uneigentlichkeit“ beschrieben werden.²⁵⁸ Weiterhin ist zu betonen, dass das, was weder gut noch schlecht ist, nicht unbedingt wert-neutral, nicht-evaluativ sein muss. Es kann schlicht mittelmäßig sein. Welche Optionen gibt es dann?
Vgl. Carman 2007, S. 287 Carman 2007, S. 286 Heidegger 1963, S. 232 Vgl. Heidegger 1963, S. 41– 42 Heidegger 1963, S. 232 Carman 2007, S. 286 Vgl. Carman 2007, S. 287– 292 Vgl. Heidegger 1963, S. 128
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Es ist bemerkenswert, dass Carmans Überlegungen zum Man sich nicht auf den von ihm betonten, normativen Begriff der Eigentlichkeit stützen, sondern von dem nicht-normativen Begriff der Eigentlichkeit als dem Standpunkt der ErstenPerson ausgehen: „The modal indifference of the one must instead be understood as an undifferentiated conglomeration of first-, second-, and third-person points of view, which are in fact distinct, but which are ordinarily fused together in an unprincipled and even partly incoherent way as if constituting a single unified concept of the self.“²⁵⁹ Aber das Man bezieht sich doch auf eine Lebensweise des Daseins. Was hat das mit den begrifflichen Schwierigkeiten zu tun, die man angeblich hat, wenn man versucht, den verschiedenen Standpunkten Rechnung zu tragen? Das ist vielleicht ein Problem für Philosophen, aber sicherlich nicht das, was Heidegger im Sinne hat, wenn er schreibt: „Das alltägliche Dasein schöpft die vorontologische Auslegung seines Seins aus der nächsten Seinsart des Man.“²⁶⁰ Carman scheint dies anders zu sehen: „Our average everyday interpretation of persons in the mode of the one, which comprises and indeed blurs together our understanding of the first and third persons, is not just a crass confusion, but the positive condition of the skill with which we subsequently negotiate social life, whether authentically or inauthentically.“²⁶¹ Was immer das Man-Sein auch sein mag, es ist auf jeden Fall nicht eine Weise, Personen zu „interpretieren“, sondern eine Form des Miteinanderseins mit ihnen. Und was das mit dem Verstehen einer philosophischen Unterscheidung zu tun haben soll, ist völlig unklar. Oder ist das gar nicht gemeint, wenn Carman von einem Verstehen von ersten und dritten Personen (sic) redet? Was aber dann gemeint ist, ist noch unklarer. Eine ganz andere Deutung des Man hat Tugendhat vorgeschlagen. Er beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Man und Eigentlichkeit und wirft Heidegger vor, er habe irriger Weise angenommen, „der Gegenbegriff zum Man liege in der Eigentlichkeit“.²⁶² Demgegenüber behauptet Tugendhat, dass das Man „gegenüber der Uneigentlichkeit der allgemeinere Begriff ist.“²⁶³ Demnach impliziert der Begriff der Uneigentlichkeit den Begriff des Man, aber die Umkehrung gilt nicht. Aber diese Diagnose des Irrtums von Heidegger wird ihm nicht gerecht. Denn, wie wir gesehen haben, operiert er mit zwei verschiedenen Modellen, von denen das erste besagt, dass das eigentliche Selbstsein eine Modifikation des Man ist und daher dieses voraussetzt, während das zweite das Man als eine defizitäre Form des eigentlichen Selbstseins bestimmt und somit dieses voraussetzt. Wenn das ei
Carman 2007, S. 295 Heidegger 1963, S. 130 Carman 2007, S. 295 Tugendhat 1999a, S. 140 Tugendhat 1999a, S. 140
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gentliche Selbstsein eine Modifikation des Man, dann kann es kein „Gegenbegriff“ zum Man sein; und wenn das Man ein Verlust des eigentlichen Selbstseins ist, dann kann das Man nicht der „gegenüber der Uneigentlichkeit allgemeinere Begriff“ sein. Denn die uneigentliche Seinsweise des Daseins ist doch gerade ein solcher Verlust. Aber angenommen, der Begriff des Man sei der allgemeinere Begriff, dann ist das uneigentliche Selbstsein ein Man-sein, aber die Umkehrung gilt nicht. Während Heidegger sich für den ersten Fall interessiert,²⁶⁴ diskutiert Tugendhat nur den zweiten Fall. Er beruft sich auf die schon zitierte Stelle, dass wir uns so verhalten wie die Anderen, die er sehr verkürzt wiedergibt: „Heidegger führt die Rede vom „Man“ so ein, dass er sagt: „Wir lesen, sehen und urteilen … wie man sieht und urteilt““.²⁶⁵ Es handelt sich um eines von vielen Beispielen für ein Man – Verhalten. Da das Man als das Wer des alltäglichen Daseins eingeführt wird und somit auf die Wer – Frage, die als eine existenziale Frage durch die Angabe einer Seinsweise des alltäglichen Daseins, genauer: durch das Mitsein des alltäglichen In-der-Welt seins, beantwortet wird, verweist,²⁶⁶ müssen die zitierten Fälle ein solches Mitsein illustrieren. Demgegenüber versteht Tugendhat sie als Beispiele dafür, dass „… man tut, was man tut, so wie die anderen es tun, wie es gang und gäbe ist …“²⁶⁷ Es geht um ein Verhalten, das sich an „ konventionell vorgegebenen Maßstäben“ orientiert. Ein solches Verhalten muss nicht eo ipso eine Weise des Mitseins mit Anderen sein. Es wird einem Verhalten gegenübergestellt, bei dem „man auf genuine Weise tut, was man tut.“²⁶⁸ Tugendhat verweist darauf, dass Heidegger in den §§ 27 und 35 – 37 das Man so beschreibt, dass „Eigentlichkeit als Gegenbegriff nicht vorkommt“, sondern der Begriff der Echtheit.²⁶⁹ Für die Einführung des Begriff des Man ist der § 27 entscheidend; und er erwähnt den Begriff der Echtheit nur ein einziges Mal und eher nebenbei: Die Öffentlichkeit „ist unempfindlich gegen alle Unterschiede des Niveaus und der Echtheit.“²⁷⁰ Trotzdem orientiert sich Tugendhats Analyse des Man an dem Kontrast zwischen einem konventionellen und einem genuinen, echten Verhalten. In einem ersten Schritt wird dieser Kontrast mit Rekurs auf das Verhalten von Tieren, wie Ameisen oder Schimpansen, einerseits und das Verhalten von Men-
Vgl. Heidegger 1963, S. 267 Tugendhat 1999a, S. 139 Vgl. Heidegger 1963, S. 114; 116 Tugendhat 1999a, S. 139 Tugendhat 1999a, S. 139 Tugendhat 1999, S. 139; Heidegger 1976, S. 226 – 227, unterscheidet zwischen echter und unechter Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit. Heidegger 1963, S. 127
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schen andererseits erläutert.²⁷¹ Heideggers Unterscheidung zwischen Ich selbst und Man-selbst soll allerdings nicht eine Verschiedenheit von Menschen und höher-stufigen Lebewesen zum Ausdruck bringen, und sein Begriff des Man lässt sich nicht auf die Lebensweise von Tieren anwenden. Für Menschen soll die These we are not hardwired gelten. Sie besagt nach Tugendhat, dass das Verhalten von Menschen durch Überlegungen bestimmt ist, so dass sie sich fragen können, ob ihre Meinungen und Wünsche richtig sind.²⁷² Seine Explikation des Begriffs des Man betrifft eine mögliche Weise, solche Fragen zu beantworten: „Und in beiden Fällen gibt nun das Man eine erste, einfachste Antwort auf die Frage nach dem Richtigen: die Dinge sind so, wie die anderen sagen, und: ich soll mich so verhalten, wie die anderen sich verhalten, wie man sich verhält.“²⁷³ Tugendhat kritisiert Heidegger, weil bei ihm „ungeklärt bleibt, dass das Man bereits eine erste Antwort auf die Frage nach dem Richtigen ist.“²⁷⁴ Gibt das Man überhaupt eine Antwort auf diese Frage? Das Man ist für Heidegger eine Seinsweise des alltäglichen Daseins, genauer: eine Weise seines alltäglichen Miteinanderseins. Wie kann diese eine Antwort auf eine Frage nach dem Richtigen geben? Die Weise des alltäglichen Miteinanderseins kann auf Voraussetzungen beruhen, zu denen gehört, dass bestimmte Antworten auf die Frage als wahr und selbstverständlich angesehen werden, aber sie kann nicht selber eine, wenn auch nur „erste“ Antwort auf die Frage sein. Denn die Frage selber gehört in den Kontext des Überlegens, der Deliberation, und, wie Tugendhat richtig bemerkt, „überlegen kann man nur als einzelner, auch wenn man es gemeinsam mit anderen tut.“²⁷⁵ Die Praxis gemeinsamen Überlegens hat jedoch nichts mit dem alltäglichen Miteinandersein zu tun, das Heidegger als Man-Sein thematisiert, und beruht auf einem eigenständigen, selbstverantwortlichen Mitsein der Beteiligten, das bei dieser Art von Miteinandersein gerade nicht gegeben sein soll. Weiterhin ist zu bemerken, dass eine „erste“ Antwort auf die Frage nach dem Richtigen auch die korrekte und daher vielleicht endgültige Antwort sein kann. Eine solche Möglichkeit kommt als Interpretation des Man nicht in Betracht.²⁷⁶ Eine mit Hilfe Anderer gefundene Antwort unterscheidet sich allerdings von einer durch eigenständiges Nachdenken gewonnenen Antwort durch die Weise, wie man zu ihr gelangt. Tugendhats Gegenüberstellung Man und Eigenständigkeit
Tugendhat 1999a, S. 141– 142 Tugendhat 1999a, S. 144 Tugendhat 1999a, S. 144 Tugendhat 1999a, S. 144 Tugendhat 1999a, S. 145 Vgl. Heidegger 1963, S. 129
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lässt sich auf den Prozess der Ausbildung von Überzeugungen über das, was richtig ist, anwenden; und es ist daher nur konsequent, dass er auf das „normative Außengesteuertsein“ von Jugendlichen als ein Beispiel für ein Man–Verhalten hinweist.²⁷⁷ Aber für Heidegger ist das Dasein nicht nur „zunächst“ Man, sondern „zumeist bleibt es so.“²⁷⁸ Diese Divergenzen machen deutlich, dass Tugendhats Interpretation des Man dessen Auffassung nicht gerecht wird. Es stellt sich daher die Frage, weshalb sie zu einem solchen Missverständnis Anlass geben konnte. Ich hatte darauf hingewiesen, dass zwei unterschiedliche Gesichtspunkte oder Modelle Heideggers Überlegungen zum Verhältnis von Man und eigentlichem Selbstsein leiten.²⁷⁹ In beiden Fällen spricht er davon, dass das Zweite eine „existenziale Modifikation“ des Ersten ist,²⁸⁰ aber gemeint ist jeweils etwas anderes. Einerseits soll das eigentliche Selbstsein nicht ein „vom Man abgelöster Ausnahmezustand des Subjekts“ sein;²⁸¹ und das impliziert die Annahme, dass das eigentliche Selbstsein das Man voraussetzt. Andererseits soll das Man eine defizitäre Form des eigentlichen Selbstseins sein. In dem Man geht das Selbst verloren, und das Selbstsein wird nur dadurch erreicht, dass „das Dasein sich eigens aus der Verlorenheit in das Man zurückholt zu ihm selbst.“²⁸² Da es Heidegger darauf ankommt, die grundsätzliche Verschiedenheit des Man-selbst von dem eigentlichem Selbstsein herauszuarbeiten, kann man nicht beide Thesen vertreten. Tugendhats Interpretation des Man versucht beiden Thesen gerecht zu werden; und das kann nur gelingen, indem man sie beide missversteht. Die begriffliche Abhängigkeit des Selbstseins vom Man wird zu einer genetischen Priorität der Anpassung und des „normativen Außengesteuertseins“ vor der Selbständigkeit und Eigenständigkeit der Beurteilung des Richtigen. Diese Priorität beschreibt vielleicht den normalen Prozess, wie Menschen erwachsen werden, hat aber wenig mit ihrem alltäglichen Miteinandersein zu tun, das nicht nur „zunächst“ das Man ist, sondern auch „zumeist“ so bleibt. Die These, das Man sei eine defizitäre Form des Selbstseins, besagt für Tugendhat, dass es sich um eine unzulängliche Begründung der eigenen Überzeugungen von dem Richtigen handelt, wobei man sich nicht die Frage vorlegt, warum das, was man für richtig hält, auch richtig sei. Das alltägliche Miteinandersein, das auf diese Weise in den Blick kommt, besteht in der „außen geleiteten“ Beurteilung und Bewertung der
Tugendhat 1999a, S. 145 Heidegger 1963, S. 129 Vgl. S. 120–121 Vgl. Heidegger 1963, S. 130; 268 Heidegger 1963, S. 130 Heidegger 1968, S. 268
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eigenen Einstellungen. Eine solche Orientierung kann man aufgeben oder verändern, indem man sich darum bemüht, sich „aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ zu befreien. Aber für Heidegger besteht die Überwindung des Man nicht darin, dass man zu einem modifizierten Miteinandersein, das durch eigenständige Überlegungen zu dem, was richtig ist, übergeht, sondern sie besteht in einem „Seinkönnen, das einzig im eigensten Dasein frei werden muss“.²⁸³ Die von ihm diskutierte Überwindung des Man ist keine Weise des Mitseins und des Miteinanderseins mit Anderen. Während die Überlegungen von Dreyfus und Carman zu Heideggers Konzeption des Man keine Grundlage für ihr angemessenes Verständnis bieten, kann man Tugendhats Interpretation für eine sachlich befriedigende Deutung fruchtbar machen. Dazu ist es allerdings nötig, die Konzeption des Aufgehens in die Welt neu zu bestimmen und zwar so, dass ein solches Aufgehen nicht mehr ein Abfallen von sich selbst und somit einen Verlust des eigentlichen Selbstseins impliziert. In Sein und Zeit finden sich Bemerkungen zum Selbstverstehen, die in eine solche Richtung weisen. Das Man-selbst ist „das Selbst des alltäglichen Daseins“, und „aus diesem her und als dieses bin ich mir „selbst“ zunächst „gegeben“.“²⁸⁴ Zu dem Übergang von einem Selbstverstehen des Man-selbst zu einem Selbstverstehen des eigentlichen Selbst heißt es: „Wenn das Dasein die Welt eigens entdeckt und sich nahebringt, wenn es ihm selbst sein eigentliches Sein erschließt, dann vollzieht sich dieses Entdecken von „Welt“ und Erschließen von Dasein immer als Wegräumen der Verdeckungen und Verdunkelungen, als Zerbrechen von Verstellungen, mit denen sich das Dasein gegen sich selbst abriegelt.“²⁸⁵ Die Unterscheidung zwischen dem Man-selbst und dem eigentlichen Selbst bezieht sich auf verschiedene Phasen im Prozess des Selbstverstehens. Dem Selbstverstehen, das sich an dem Verständnis Anderer von einem selber, an ihren Erwartungen und Präferenzen orientiert, wird ein Selbstverstehen gegenübergestellt, das sich darum bemüht herauszufinden, wie es sich mit einem verhält, was man glaubt, will, etc. Es geht um die Differenz zwischen einem außen geleiteten, fremdbestimmten Selbstverstehen und einem eigenständigen, selbstbestimmten Selbstverstehen. Das Letztere wird durch Korrekturen des Ersteren gewonnen; und dieser Prozess wird „als Wegräumen von Verdeckungen und Verdunkelungen, als Zerbrechen von Verstellungen“ beschrieben. Heidegger spricht von einem „Ergreifen“ des eigentlichen Selbst und betont so die Bedeutung der Entscheidung, die in einem solchen Selbstverstehen eine Rolle spielen
Heidegger 1963, S. 178 Heidegger 1963, S. 129 Heidegger 1963, S. 129
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kann.²⁸⁶ Aber, wie seine eigene Beschreibung zeigt, führt es in die Irre, den Prozess eines selbständigen Selbstverstehens allein aus der Perspektive der Entscheidung zu betrachten.²⁸⁷ Das Verhältnis, das zwischen einem fremdbestimmten und einem eigenständigen Selbstverstehen besteht, lässt sich deutlicher machen, wenn man das „durchschnittliche Verständnis“ des alltäglichen Daseins mit einem „echten Verstehen“ vergleicht: „Dieser alltäglichen Ausgelegtheit, in die das Dasein zunächst hineinwächst, vermag es sich nie zu entziehen. In ihr und aus ihr und gegen sie vollzieht sich alles echte Verstehen, Auslegen und Mitteilen …“²⁸⁸ Diese Überlegung betrifft das Verstehen im Allgemeinen und bezieht sich nicht auf den besonderen Fall des Selbstverstehens. Sie lässt sich aber auch darauf und insbesondere auf den Fall des alltäglichen Selbstverstehens anwenden; und diese Anwendung ist auch beabsichtigt, weil die Konzeption der alltäglichen Ausgelegtheit den Begriff des Geredes klären soll, der für die Deutung des Miteinanderseins in der verfallenden Alltäglichkeit von zentraler Bedeutung ist.²⁸⁹ Denn das Selbstverstehen ist immer auch ein Verstehen des Mitseins von Anderen und des Miteinanderseins mit Anderen. Das „durchschnittliche Verständnis“ des Manselbst hat erstens eine genetische Priorität vor dem eigenständigen Selbstverständnis: Man erwirbt es, indem man in es „hineinwächst“ – durch Erziehung, Ausbildung und andere soziokulturelle Prozesse. Weiterhin kann man das fremdbestimmte Selbstverständnis nicht einfach hinter sich zurücklassen; es spielt immer eine konstitutive Rolle für ein selbständiges Selbstverständnis. Daher sagt Heidegger von der alltäglichen Ausgelegtheit: „Es ist nicht so, dass je ein Dasein unberührt und unverführt durch diese Ausgelegtheit vor das freie Land einer „Welt“ an sich gestellt würde, um nur zu schauen, was ihm begegnet.“²⁹⁰ Drittens ist es eine ermöglichende Bedingung für dieses Selbstverständnis, das nur in der „alltäglichen Ausgelegtheit“, aus ihr und gegen sie erworben wird. Das eigentliche Selbstsein ist dasjenige, worum es einem solchen Selbstverständnis geht, das nur im Ausgang von einem fremdbestimmten Selbstverständnis und in der Auseinandersetzung mit ihm gewonnen werden kann. Diese Konzeption eines eigenständigen Selbstverstehens erlaubt es, den eher metaphorischen Behaup-
Heidegger 1963, S. 129; 179 Vgl. Pothast 2016, S. 118 – 134 Heidegger 1963, S. 169; vgl. 383 Vgl. Heidegger 1963, S. 175; vgl. S. 168 – 169. Brandom 2002b behauptet, „that there is no Rede (and therefore no Dasein) without its everyday form, Gerede.“ (337) Demgegenüber vertritt Heidegger die Auffassung, dass „die Rede … die Möglichkeit hat, zum Gerede zu werden …“ (1963, S. 169) Vgl. auch die Kritik an Brandom von Haugeland 2005, S. 163 – 164. Heidegger 1963, S. 169
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tungen Heideggers, dass „das eigentliche Selbstsein nicht auf einem vom Man abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts beruht“,²⁹¹ und dass „die eigentliche Existenz nichts ist, was über der verfallenden Alltäglichkeit schwebt“, Rechnung zu tragen.²⁹² Insofern ist diese Konzeption der Idee von einem Ergreifen der eigentlichen Existenz vorzuziehen. Die Konzeption erlaubt es aber auch, seine unklaren, vagen Vorstellungen über das Verhältnis, das zwischen Alltäglichkeit und verfallender Alltäglichkeit besteht, genauer zu bestimmen. Heidegger behauptet, dass erst die Erörterung der verfallenden Alltäglichkeit „die existenzial zureichende Bestimmung“ des In-der-Welt-seins gibt.²⁹³ Diese These ist, wie wir gesehen hatten, falsch.²⁹⁴ Richtig ist, dass das Selbstverstehen, das wesentlich zu dieser Grundverfassung des Daseins gehört, nicht ohne ein fremdbestimmtes Selbstverstehen, das sich in der verfallenden Alltäglichkeit manifestiert und sich darin bewegt, möglich ist. Ihre Erörterung ist daher unverzichtbar für eine Bestimmung des Selbstverstehens eines Daseins in seinem Inder-Welt-sein, aber sie ist nicht die Bestimmung in dem Sinne, dass sie die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für ein solches Selbstverstehen angibt. Auf der Grundlage des Zusammenspiels von einem fremdbestimmten und einem eigenständigen Selbstverstehen lässt sich daher die Beziehung zwischen verfallender Alltäglichkeit und Alltäglichkeit angemessener bestimmen. Ist die erste eine oder die Grundart der Alltäglichkeit? Die verfallende Alltäglichkeit ist eine Grundart für jedes alltägliches In-der-Welt-sein, sofern dieses durch ein Selbstverstehen konstituiert wird, das nicht ohne ein fremdbestimmtes Selbstverstehen, wie es Heidegger im Rahmen seiner Analyse der verfallenden Alltäglichkeit beschreibt, möglich ist. Aber diese Alltäglichkeit ist nicht identisch mit der Alltäglichkeit des In-der-Welt-seins, denn es gibt ein alltägliches In-der-Weltsein, das durch ein eigenständiges Selbstverstehen ausgezeichnet ist – das eigentliche alltägliche In-der-Welt-sein. Heidegger spricht zwar nur von der „uneigentlichen Alltäglichkeit“,²⁹⁵ aber wenn es sie gibt, muss es doch auch eine eigentliche Alltäglichkeit geben können? Warum findet dieses Thema keine Beachtung in Sein und Zeit? Auch wenn Heidegger zwei verschiedene Auffassungen zum Verhältnis von eigentlichem Selbstsein und Man-Sein vertritt, so wird in Sein und Zeit nur die Idee, das Man sei ein Verlust des eigentlichen Selbst, konkret ausgearbeitet. Dass Heidegger das Verhältnis von Man und Selbstsein nur in dieser Form diskutiert, ist
Heidegger 1963, S. 130 Heidegger 1963, S. 179 Heidegger 1963, S. 177 Vgl. S. 114–115 Heidegger 1963, S. 178; 313
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nicht nur sachlich unbefriedigend, weil so ein einseitiges und verzerrtes Bild des alltäglichen Mitseins des Daseins und seines Miteinanderseins mit Anderen entworfen wird. Es ist aber auch schwer nachzuvollziehen, weshalb er sich darauf beschränkt. Denn in der Vorlesung Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs im SS 1925 schreibt er: „Es ist zu fragen: Wer ist es eigentlich, der sich zunächst in einem solchen Miteinandersein versteht? Wie ist solches Verstehen selbst als Seinsart des Miteinanderseins aus der Seinsverfassung des Daseins zu interpretieren? Auf diesem Boden erst ist dann weiter zu fragen … , wie das mit dem Dasein immer schon seiende gegenseitige Verständnis aufgrund von Seinsmöglichkeiten des Daseins verbaut und mißleitet werden kann …“²⁹⁶ Diese drei Fragen geben einen systematischen Aufriss einer Theorie des Selbstverstehens, die auf der Grundlage der Konzeption des alltäglichen In-der-Welt-seins in Sein und Zeit entwickelt werden kann, aber nicht entwickelt wird.²⁹⁷ Die Frage nach dem Wer ist durch Überlegungen zum Selbstverstehen des Daseins zu beantworten. Es ist wesentlich ein Mitsein mit Anderen, und das Selbstverstehen betrifft daher auch sein Miteinandersein. Ein solches Verstehen kann mit Anderen geteilt werden; und es gibt die Möglichkeit eines wechselseitigen gemeinsamen Selbstverstehen. Da das Miteinandersein ein Sein in einer gemeinsamen Umwelt ist, bezieht sich das Selbstverstehen des Daseins nicht nur auf eine Mit-, sondern auch auf eine Umwelt. Auf diese Weise kann die zweite Frage beantwortet werden. Die Beantwortung dieser beiden Fragen wird zwar im § 26 von Sein und Zeit kurz skizziert, aber sie wird nicht in einer Weise expliziert, die zeigt, dass und in welcher Weise das Miteinandersein eine Voraussetzung von Selbstverstehen ist. Die Überlegungen konzentrieren sich vielmehr ganz auf die Beantwortung der dritten Frage und behandeln im § 27 das Selbstverstehen des Daseins in seiner verfallenden Alltäglichkeit. Es ist diese Seinsweise, die „das immer schon seiende Verständnis … verbaut und mißleitet.“ Im Folgenden soll gezeigt werden, dass und weshalb dieser Ansatz unbefriedigend ist und nicht die Erwartungen erfüllt, die man berechtigter Weise an eine Konzeption von Selbstverstehen des Daseins, dessen Grundverfassung das In-der-Welt-sein ist, stellt. Das Besondere der verfallenden Alltäglichkeit besteht darin, dass das Dasein in seiner Welt „aufgeht“. Damit ist nicht das Sein bei einer Welt gemeint, das sich aus seiner Grundverfassung als In-der-Welt-sein ergibt. Das Aufgehen in die Welt ist vielmehr eine bestimmte Weise, wie man bei der Welt ist.²⁹⁸ Es ist ein „Verfallen“ an die Welt.²⁹⁹ Das verfallende Aufgehen in der gemeinsam mit Anderen
Heidegger 1994b, S. 335 – 336 Vgl. Dreyfus 1991, S. 143 – 144 Vgl. Heidegger 1963, S. 54 Vgl. Heidegger 1963, S. 175
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besorgten Welt zeigt sich darin, dass die Anderen, aber auch man selbst in der besorgten Umwelt gegeben sind und von daher erfahren werden. Heidegger beschreibt dies mit der griffigen Formel Man ist das, was man betreibt,³⁰⁰ und gibt die folgenden Beispiele: „Man ist Schuster, Schneider, Lehrer, Bankier. Hierbei ist das Dasein etwas, was auch Andere sein können und sind.“³⁰¹ Auch hier ist zu betonen, dass damit nicht die für jedes In-der-Welt-sein konstitutive Beziehung des Daseins auf das Miteinandersein mit Anderen in einer gemeinsamen Umwelt gemeint ist. Gemeint ist vielmehr, dass das Selbst- und Fremdverstehen den Charakter hat, den er in seinen Vorlesungen als „merkwürdig“ und „rätselhaft“ bezeichnet.³⁰² Es geht um ein Verstehen der Anderen und von sich selber „aus den alltäglich besorgten Dingen“.³⁰³ Es ist ein uneigentliches Verstehen, das einem eigentlichen Verstehen gegenübergestellt wird. Diese Unterscheidung muss sowohl im Hinblick auf das Selbstverstehen als auch auf das Fremdverstehen getroffen werden. Während Heidegger die Verschiedenheit von eigentlichem und uneigentlichem Selbstverstehen in Sein und Zeit ausführlich diskutiert, fehlen Ausführungen zum eigentlichen Fremdverstehen.³⁰⁴ Das zeigt, dass seine in dem Buch veröffentlichte Erörterung hinter dem zurückbleibt, was man aufgrund des erwähnten systematischen Aufrisses in der früheren Vorlesung erwarten kann. Was das Selbstverstehen angeht, so wird das uneigentliche Selbstverstehen als ein Verstehen des Man-selbst bestimmt, während das eigentliche Selbstverstehen ein Verstehen des „ich selbst“.³⁰⁵ Ich hatte schon die Frage aufgeworfen, ob es sich überhaupt um verschiedene Formen eines Selbstverstehens des Daseins handeln könne.³⁰⁶ Sie soll jetzt beantwortet werden. Ein Selbstverstehen des Daseins ist immer ein Verstehen seines In-der-Weltseins. Wie Heidegger programmatisch erklärt: „Weltverständnis ist … wesenhaft Selbstverständnis, und Selbstverständnis ist Daseinsverständnis.“³⁰⁷ Damit sind Bedingungen formuliert, die ein Selbstverständnis des Daseins erfüllen muss. Weder seine Auffassung des uneigentlichen Selbstverstehens noch seine Konzeption des eigentlichen Selbstverstehens erfüllen, wenn auch aus unterschied-
Heidegger 1963, S. 239 Heidegger 1994b, S. 336 Vgl. S. 116–118 Heidegger 1975, S. 227 Heidegger 1994b erwähnt zwar „das ursprüngliche Miteinandersein aus der miteinander besorgten Sache und Welt“, aber er geht sogleich zu einer Betrachtung des uneigentlichen Fremdverstehen über (387). Vgl. auch S. 342. Heidegger 1963, S. 267 Vgl. S. 119 Heidegger 1975, S. 420 – 421
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lichen Gründen, diese Bedingungen. Das uneigentliche Selbstverstehen ist ein Verstehen des Daseins in seiner verfallenden Alltäglichkeit und betrifft „ein ausgezeichnetes In-der-Welt-sein …, das von der „Welt“ … völlig benommen ist.“³⁰⁸ Das Dasein, das von der Welt „völlig benommen“ ist, versteht sich, wie wir gesehen haben, „aus den alltäglich besorgten Dingen“³⁰⁹, und dasjenige, was es in dieser Weise versteht, ist das uneigentliche Selbst, das „aus den Dingen widerscheint“.³¹⁰ Es handelt sich um das Selbst eines Daseins, dessen In-der-Welt-sein im Besorgen von Zuhandenem in einer Umwelt besteht. Damit ist ein wichtiger Aspekt des alltäglichen In-der-Welt-seins genannt, aber es ist nicht seine vollständige Bestimmung. Ein Selbstverstehen kann nicht nur darin bestehen. Für Heidegger ist das In-der-Welt-sein der verfallenden Alltäglichkeit weiterhin dadurch charakterisiert, dass das Dasein „von dem Mitdasein Anderer im Man völlig benommen ist.“³¹¹ Das Mitdasein ist die Weise, wie Andere in der Welt sind, – im Unterschied zur Zuhandenheit des Zeugs und der Vorhandenheit der natürlichen Dinge.³¹² Für die verfallende Alltäglichkeit ist jedoch nicht das Mitdasein im Allgemeinen und in seinen verschiedenen Formen, sondern das Mitdasein im Man relevant. Ein solches Mitdasein besteht in dem Besorgen von Zuhandenem: Die Anderen sind das, was sie betreiben, und das Miteinandersein ist das „alltägliche Miteinanderaufgehen bei der besorgten „Welt“…“.³¹³ Die Explikation der Konzeption der verfallenden Alltäglichkeit, die das für jedes In-der-Welt-sein konstitutive Moment des Mitdasein Anderer ins Spiel bringt, beschränkt sich auf den besorgenden Umgang in einer Mitwelt. Ein allein darauf bezogenes Selbstverständnis ist aber kein Verständnis des In-der-Welt-sein des Daseins, denn dazu gehört nicht nur eine gemeinsam besorgte Umwelt, sondern auch eine Mitwelt, die nicht auf diese reduziert werden kann. Das uneigentliche Selbstverständnis ist daher kein Selbstverständnis des In-der-Welt-seins des Daseins und daher gar kein Selbstverständnis, das den Bedingungen genügt, die Heidegger selber formuliert hat. Betrachten wir nun die Konzeption des eigentlichen Selbstverstehens. Es geht um das Verstehen eines „Seinkönnens, das einzig im eigensten Dasein frei werden muss.“³¹⁴ Das Seinkönnen ist die Existenz des Daseins, die in Möglichkeiten, so
Heidegger 1963, S. 176; vgl. 113 Heidegger 1975, S. 227 Heidegger 1975, S. 229 Heidegger 1963, S. 176 Vgl. Heidegger 1963, S. 123 Heidegger 1963, S. 239 Heidegger 1963, S. 178
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oder so zu sein, besteht.³¹⁵ Dass diese Möglichkeiten sich „einzig“ auf das eigene Dasein beziehen, besagt, dass es sich ausschließlich um Möglichkeiten des eigenen Daseins handelt. Was soll man sich bei dem betonten Superlativ ‚das eigenste Dasein‘ denken? An anderer Stelle spricht Heidegger davon, „wie wir uns im Grunde zu eigen sein können.“³¹⁶ Dies kann man anscheinend mehr oder weniger; und dazu passt, dass der Gegenbegriff zu sich zu eigen sein der Begriff Selbstverlorenheit ist.³¹⁷ Auch er erlaubt Grade. Das eigenste Dasein ist demnach ein Dasein, das gar keine Selbstverlorenheit besitzt. Sich selbst verlieren kann man sich nur dann, wenn es möglich ist, sich selbst zu gewinnen; und dies ist dann der Fall, wenn „das Dasein sich eigens aus der Verlorenheit in das Man zurückholt zu ihm selbst.“³¹⁸ Es besteht in einem „Sichentscheiden für ein Seinkönnen aus dem eigenen Selbst.“³¹⁹ Die Selbstbezogenheit dieser Existenz und die Beschränkung auf das, was das „eigenste Dasein“ betrifft, sind nicht verträglich mit seiner Grundverfassung des In-der-Welt-seins. Seine Existenz ist ein Sein in einer Welt, die gleichursprünglich eine Um- und Mitwelt ist. Eine solche Existenz lässt sich nicht durch diese Selbstbezogenheit und im Rahmen einer solchen Beschränkung adäquat bestimmen. Ein Selbstverständnis, das sich nur auf ein „Seinkönnen aus dem eigenen Selbst“ bezieht, ist kein Verständnis des In-der-Welt-seins des Daseins und daher kein Selbstverständnis. Was in einem solchen Selbstverstehen verstanden wird, ist weder etwas, das ausschließlich durch ein „ich selbst“ bestimmt werden kann, noch besteht es in einem „Man-selbst“, sondern ist nicht ohne ein „wir selber“ adäquat zu beschreiben. Das eigentliche Selbstverstehen kann daher nicht als ein Selbstverstehen angesehen werden. Heideggers Analyse des Selbstverstehens beschäftigt sich mit dem alltäglichen Selbstverstehen. Die Betrachtung des Selbstverstehens des Daseins in seinem alltäglichen In-der-Welt-seins wird damit begründet, dass eine solche Betrachtung sich erstens kritisch gegen die philosophische Tradition und ihre Vorstellungen vom Menschen wendet, und dass es zweitens um das Selbstverstehen einer Weise zu existieren geht, die eine notwendige Bedingung für jede andere Weise von Existenz ist. Im Zentrum der Betrachtung steht eine Analyse des Selbstverstehens des Daseins in seiner verfallenden Alltäglichkeit. Es fehlt in Sein und Zeit eine Analyse des alltäglichen Seins in einer Umwelt, das nicht in einem Besorgen von Zuhandenem aufgeht; und es fehlt ebenso eine Analyse des alltäglichen Mitseins, das nicht in einer konformistischen Anpassung besteht. Diese
Vgl. Heidegger 1963, S. 42– 43 Heidegger 1975, S. 228 Vgl. Heidegger 1963, S. 42; 116 Heidegger 1963, S. 268 Heidegger 1963, S. 268
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Defizite ergeben sich dadurch, dass er sich in diesem Buch, im Unterschied zu seinen Vorlesungen, mit einer Betrachtung der verfallenden Alltäglichkeit begnügt. Weshalb räumt Heidegger der Betrachtung der verfallenden Alltäglichkeit im Rahmen einer Theorie des Selbstverstehens des Daseins in seinem alltäglichen In-der-Welt-sein eine so herausragende Stellung ein? Eine solche Betrachtung liefert „eine schärfere Bestimmung“ des uneigentlichen Daseins, weil sie ein „ausgezeichnetes In-der-Welt-sein“ thematisiert.³²⁰ Die Auszeichnung beruht auf der besonderen Bedeutung, die er dem Selbstverständnis beimisst, das mit dem In-der-Welt-sein des Daseins in seiner verfallenden Alltäglichkeit verbunden ist. Ein solches In-der-Welt-sein besteht darin, dass das Dasein „von der „ Welt“ und dem Mitdasein Anderer im Man völlig benommen ist.“³²¹ Dies ist für ihn eine Seinsweise des Daseins, in der es „nicht es selbst ist.“³²² Damit ist nicht gemeint, dass jemand anderes davon betroffen ist, sondern es geht darum, ein bestimmtes Selbstverständnis des Daseins inhaltlich zu charakterisieren: Es versteht sich „aus den alltäglich besorgten Dingen“.³²³ Es ist ein Verständnis des „uneigentlichen Selbst“, das „bei den Dingen ist“, und „aus ihnen widerscheint.“³²⁴ Heidegger spricht daher auch von einer „ontologischen Rückstrahlung des Weltverständnisses auf die Daseinsauslegung“.³²⁵ Dieses Selbstverständnisses hat für Heidegger eine besondere Bedeutung, weil er die Unterschiede, die zwischen seiner ontologischen Analyse des Daseins und den Auffassungen der philosophischen Tradition bestehen, mit Hilfe dieses Selbstverständnisses erläutern will. Er behauptet, dass „das alltägliche Dasein die vorontologische Auslegung seines Seins aus der nächsten Seinsart des Man schöpft,“³²⁶ und dass diese Auslegung führt dazu, dass „das Sein … als Vorhandenheit begriffen wird.“³²⁷ Diese Bestimmung des Seins ist aber gerade die Auffassung vom Sein des Daseins, die Heidegger der philosophischen Tradition zuschreibt, und die sich von seiner eigenen Deutung des Seins des Daseins als Existenz radikal unterscheidet. Die Verschiedenheit des Selbstverständnisses des Daseins in seiner verfallenden Alltäglichkeit von dem Selbstverständnis des eigentlichen Selbst soll die Grundlage für die Differenz zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen ontologischen Interpretationen des Daseins sein. Im Folgenden
Heidegger 1963, S. 176 Heidegger 1963, S. 176 Heidegger 1963, S. 125; 176 Heidegger 1975, S. 227; vgl. S. 118 Heidegger 1975, S. 229 Heidegger 1963, S. 16 Heidegger 1963, S. 130 Heidegger 1963, S. 130
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soll der Vermutung bestätigt werden, dass sich die Auszeichnung des In-der-Weltseins der verfallenden Alltäglichkeit dadurch erklären lässt, dass das entsprechende uneigentliche Selbstverständnis eine zentrale Rolle für die von Heidegger konstruierte Theoriekonstellation der eigenen Analyse des Daseins und traditioneller philosophischer Auffassungen besitzt. Diese Rolle soll zuerst betrachtet werden. Im Anschluss daran soll gezeigt werden, dass dieses Selbstverständnis auch eine zentrale Bedeutung für seine eigene Deutung des Aufbaus von Sein und Zeit besitzt. Selbstverständnis ist ein Verständnis des Daseins von seinem In-der-Weltsein. Da dies die „Seinsverfassung“ des Daseins ausmacht, ist ein solches Selbstverständnis ein Verständnis seines Seins. Da es für das Dasein wesentlich ist, ein Selbstverständnis zu haben, folgt daraus eine zentrale These von Sein und Zeit, die auch deswegen kursiv geschrieben wird: „Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbestimmtheit des Daseins.“³²⁸ Das Dasein hat so einen „ontologischen Vorrang“ vor allem anderen Seienden: Weil es wesentlich ein Selbstverständnis hat, hat es immer auch ein Seinsverständnis.³²⁹ Dieses Seinsverständnis ist nicht eine philosophische Theorie, die „das explizite theoretische Fragen nach dem Sinn des Seienden“ beantwortet, sondern es handelt sich um ein „vorontologisches“ Verständnis.³³⁰ Wenn aber das Selbstverständnis des alltäglichen Daseins mit dem Verständnis seines In-der-Welt-seins in der verfallenden Alltäglichkeit identifiziert wird, dann bezieht sich das vorontologische Verständnis auf diese Seinsweise. Für Heidegger ist dies der Ausgangspunkt für eine grundlegende Kritik an traditionellen philosophischen Überlegungen zum Sein des Daseins, die als „bisherige“ oder auch als „überlieferte Ontologie“ bezeichnet werden.³³¹ Diese Ontologie knüpft an das Selbstverständnis des Daseins in seiner verfallenden Alltäglichkeit an und beschäftigt sich daher mit dem so gegebenen Seinsverständnis eines Daseins, „das von der „Welt“ und dem Mitdasein Anderer im Man völlig benommen ist.“³³² Der Irrtum der philosophischen Tradition ergibt sich durch diesen Ausgangspunkt. Er schreibt: „Das alltägliche Dasein schöpft die vorontologische Auslegung seines Seins aus der nächsten Seinsart des Man. Die ontologische Interpretation folgt zunächst dieser Auslegungstendenz, sie versteht das Dasein aus der Welt her und findet es als innerweltlich Seiendes vor.“³³³ Diese Interpretation findet sich nach Heideggers Meinung in der gesamten philoso-
Heidgger 1963, S. 12 Heidegger 1963, S. 13 Heidegger 1963, S. 12 Heidegger 1963, S. 65; vgl. 311 Heidegger 1963, S. 176 Heidegger 1963, S. 130
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phischen Tradition; und seine Kritik an dieser Tradition lässt sich in der These zusammenfassen, dass sich ihre Deutung des Daseins an seinem Selbst- und Seinsverständnis in seiner verfallenden Alltäglichkeit, in der Seinsart des Man orientiert. Anders formuliert: Die philosophische Tradition entwickelt eine Ontologie des Man-Seins des Daseins. Das ist eine ziemlich abenteuerliche These, deren Plausibilität hier nicht diskutiert werden soll. Ich beschränke mich darauf, sie unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, ob und wie sie Heideggers Interesse an der Alltäglichkeit des Daseins in der besonderen Form ihrer verfallenden Alltäglichkeit erklärt. Ich will zeigen, dass dieses Interesse sich nicht durch eine unvoreingenommene Betrachtung der Alltäglichkeit des Daseins in seinen verschiedenen Formen, sondern durch die Absicht ergibt, seine eigene Ontologie des Daseins gegen die entsprechenden Überlegungen der philosophischen Tradition zu positionieren. Geht man von dem vorontologischen Seinsverständnis aus, dann wird das Dasein nach Heidegger „als innerweltlich Seiendes“ gedacht. Innerweltlich sind ganz verschiedene Dinge. Sowohl Zuhandenes als auch Vorhandenes, aber auch Andere und man selber sind innerweltlich.³³⁴ Gleichwohl ist die Seinsart dieser Dinge jeweils eine andere und entsprechend der „Sinn von Sein“, der jeweils relevant ist. Das Dasein als Innerweltliches zu denken, lässt daher im Hinblick auf die Bestimmung seines Seins verschiedene Optionen offen und ist, für sich genommen, kein Grund für die These, das Sein des Daseins habe den Charakter der Vorhandenheit. Um diese These, also den grundsätzlichen Irrtum der philosophischen Tradition, plausibel zu machen, bedarf es eines zweiten Schritts in Heideggers Rekonstruktion ihrer Fundierung in der vorontologischen Seinsauslegung des Daseins. Er behauptet, dass die „“nächste“ Ontologie des Daseins sich den Sinn des Seins aus der „Welt“ vorgeben lässt.“³³⁵ Wie das zu einem Irrtum führen kann, ist nicht klar. Denn das Dasein als etwas Innerweltliches zu denken, verlangt ja gerade, dass man sein Sein in irgendeiner Weise mit der Welt, in der es als Innerweltliches ist, verbindet. Wie Heidegger selber betont, „sind alle Seinsmodi des innerweltlich Seienden ontologisch in der Weltlichkeit der Welt und damit im Phänomen des In-der-Welt-seins fundiert.“³³⁶ Es ist also nicht der Ansatz, das Dasein als Innerweltliches zu verstehen und sein Sein in eine Beziehung zur Welt zu setzen, wodurch sich der Irrtum der philosophischen Tradition erklärt. Es ist vielmehr dieser Ansatz in Verbindung mit einem Vorgehen, das Heidegger als ein „Überspringen des Weltphänomens“ beschreibt, wodurch dieser Irrtum
Vgl. Heidegger 1963, S. 211; 118 Heidegger 1963, S. 130 Heidegger 1963, S. 211
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zustande kommt. Was ist damit gemeint? An anderer Stelle schreibt Heidegger: „Ein Blick auf die bisherige Ontologie zeigt, dass mit dem Verfehlen der Daseinsverfassung des Daseins des In-der-Welt-seins ein Überspringen des Phänomens der Weltlichkeit einhergeht.“³³⁷ Damit ist klar, was übersprungen wird. Denn Weltlichkeit ist der „ontologisch-existenziale Begriff“, den er als die vierte Bedeutung des Ausdrucks ‚Welt‘ festhält. Es handelt sich um einen ontologischen Begriff der Welt ist, der sich auf das Sein der verschiedenen Weisen des In-derWelt-seins des Daseins bezieht.³³⁸ Dass dieser Begriff bei dem Ansatz, das Dasein als Innerweltliches zu denken, „übersprungen“ wird, besagt nichts anderes, als dass die schon erwähnte ontologische Fundierung der verschiedenen Seinsarten von Innerweltlichem „in der Weltlichkeit der Welt und damit im Phänomen des Inder-Welt-seins“ übersehen wird.³³⁹ Anders formuliert: Alles Innerweltliche lässt sich ontologisch nur mit Rekurs auf den Begriff von Welt verständlich machen, der sich auf das Sein des Daseins in einer Welt bezieht. Wie unterschiedlich die Seinsarten dessen, was innerweltlich ist, auch sein mögen, so lässt sich doch sein innerweltlicher Charakter ontologisch nur mit Hilfe einer Explikation dieses Begriffs verständlich machen. Der Irrtum der traditionellen ontologischen Auslegung des Daseins besteht also darin, dass sie diesen explikativen Zusammenhang nicht erkannt hat. Begründet dieser Irrtum aber den weiteren Irrtum der philosophischen Tradition, das Sein des Daseins als Vorhandenheit zu bestimmen? Heidegger schreibt: „Weil aber in diesem Aufgehen in die Welt das Weltphänomen übersprungen wird, tritt an seine Stelle das innerweltlich Vorhandene, die Dinge.“³⁴⁰ Das Aufgehen in die Welt ist die Seinsart des Daseins in seiner verfallenden Alltäglichkeit. Sie besteht in einem In-der-Welt-sein, das „von der „Welt“ und dem Mitdasein Anderer im Man völlig benommen ist.“³⁴¹ Eine solche Lebensweise besteht in dem Besorgen von Zuhandenem und in einer konformistischen Anpassung an die normativen Beurteilungen Anderer. Wenn sich die vorontologische Seinsauslegung des Daseins und daher auch die an sie anknüpfenden traditionellen philosophischen Ontologien auf diese Seinsweise beziehen, dann ergibt sich daraus nicht, dass „das innerweltlich Vorhandene, die Dinge“ eine ausgezeichnete Stellung für die Bestimmung des Sinns von Sein einnehmen. Es bietet sich doch eher die Annahme an, dass das Zuhandene oder die Anderen diese Rolle übernehmen, so dass Zuhandenheit, Mitsein oder beides als eine solche Bestimmung in Betracht kommen.
Heidegger 1963, S. 65 Heidegger 1963, S. 65; vgl. S. 100 Vgl. Heidegger 1963, S. 89 Heidegger 1963, S. 130 Heidegger 163, S. 176
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Der zweite Schritt von Heideggers Rekonstruktion der Entstehung der traditionellen Ontologie des Daseins aus dessen vorontologischem Seinsverständnis, von ihm als „Überspringen des Weltphänomens“ bezeichnet, führt also noch nicht zu einer Erklärung des grundsätzlichen Irrtums dieser Ontologie – der These, das Sein des Daseins sei Vorhandenheit. Dazu gelangt man erst, wenn man in einem dritten Schritt die zusätzliche Annahme macht, dass diese Ontologie in der einen oder anderen Weise von Descartes bestimmt ist. Denn für Heidegger wirft dessen Unterscheidung zwischen einer res cogitans und einer res extensa zwar „das Problem von „Ich und Welt““ auf,³⁴² aber die von ihm vorgeschlagene Lösung führt dazu, „das Phänomen der Welt sowohl wie das Sein des zunächst zuhandenen innerweltlichen Seienden zu überspringen.“³⁴³ Es ist bemerkenswert, dass nach Heidegger Descartes bei der Lösung des Problems zwei Sachen überspringt: Er bemerkt nicht das Phänomen der Weltlichkeit, und er übersieht die ontologische Beschaffenheit des innerweltlich Zuhandenen. Gegeben diese Defizite, so kommt man zu der „Idee von Sein als beständiger Vorhandenheit“.³⁴⁴ Es kann hier nicht darum gehen, die Plausibilität von Heideggers Interpretation von Descartes zu diskutieren. Es geht mir vielmehr darum, anhand seiner Rekonstruktion der Genese der Irrtümer der traditionellen Ontologie eine Erklärung für die Auszeichnung des In-der-Welt-seins in seiner verfallenden Alltäglichkeit zu finden. Sie ergibt sich dadurch, dass das vorontologische Seinsverständnis des Daseins sich auf sein In-der-Welt-sein in seiner verfallenden Alltäglichkeit bezieht, und dass die traditionellen philosophischen Interpretationen des Seins des Daseins von diesem Verständnis ausgehen.Wie wir gesehen haben, glaubt Heidegger auf diese Weise zeigen zu können, dass diese Interpretationen das Sein des Daseins als Vorhandenheit bestimmen. Im Lichte seiner existenzialen Analyse des Daseins ist diese Auffassung ein grundsätzlicher Irrtum. Daher beschreibt er seine Rekonstruktion der Genese dieses Irrtums in den folgenden Worten: „So ermöglicht der Aufweis des positiven Phänomens des nächstalltäglichen In-der-Weltseins die Einsicht in die Wurzel der Verfehlung der ontologischen Interpretation dieser Seinsverfassung.“³⁴⁵ Die Möglichkeit, einen solchen Nachweis zu geben, begründet die ausgezeichnete Bedeutung dieses Phänomens. Sie besteht darin, dass die Einsicht, wie es zu dem Irrtum der philosophischen Tradition kommt, zugleich eine Bestätigung oder Bewährung von Heideggers Auffassung, das Sein des Daseins sei Existenz, ist. Weil im Lichte dieser Auffassung die philosophische
Heidegger 1963, S. 98 Heidegger 1963, S. 95 Heidegger 1963, S. 98 Heidegger 1963, S. 130
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Tradition einen fundamentalen Irrtum begeht, und weil diese Tradition auf einer vorontologischen Seinsauslegung des alltäglichen Daseins basiert, beruht diese Auslegung selber auf einem Irrtum. Daher impliziert Heideggers Auffassung, dass dieses Dasein „sich zunächst verfehlt und verdeckt.“³⁴⁶ Sein Ansatz bei der Alltäglichkeit des Daseins führt also dazu, sie zu verabschieden, indem die mit ihr verbundenen Verstellungen und Irrtümer ausgeräumt werden. Dass Heidegger einen engen Zusammenhang zwischen einer uneigentlichen Existenz des Daseins und einem Verständnis seines Seins als Vorhandenheit konstruiert, zeigt auch seine Analyse der Rolle, die der je eigene Tod für die Existenz des Daseins hat. Auf diese Analyse wird verwiesen, wenn er im Anschluss an seine Rekonstruktion der Genese des Irrwegs, den die philosophische Tradition beschreitet, schreibt: „Wenn schon das Sein des alltäglichen Miteinanderseins, das sich scheinbar ontologisch der puren Vorhandenheit nähert, von dieser grundsätzlich verschieden ist, dann wird das Sein des eigentlichen Selbst noch weniger als Vorhandenheit begriffen werden können.“³⁴⁷ Die traditionelle ontologische Interpretation macht demnach zwei Fehler: Sie versteht das Sein des Daseins in seinem Mitsein mit anderen falsch, und das gilt ebenso für ihre Deutung des Sein des eigentlichen Selbstseins; und der zweite Fehler ist noch gravierender als der erste.³⁴⁸ Weshalb dies so ist, wird nicht weiter erklärt, aber man erfährt darüber etwas, wenn man Heideggers Konzeption einer „ursprünglichen“ Interpretation des Seins des Daseins betrachtet.³⁴⁹ Auf dieser Konzeption basiert sein Verständnis davon, wie sich der Erste und der Zweiten Abschnitt von Sein und Zeit zueinander verhalten, und somit des Aufbaus des Buches. Es geht um eine Bestimmung des „möglichen Ganzseins des Daseins“, die durch Rekurs auf ein bestimmtes Verhalten zu dem je eigenen Tod gewonnen werden soll. Das Projekt einer ursprünglichen Interpretation des Daseins muss auf dem Hintergrund von und im Kontrast zu seiner „vorontologischen Seinsauslegung“ gesehen werden: „ Das Dasein hat … gemäß einer zu ihm gehörigen Seinsart die Tendenz, das eigene Sein aus dem Seienden her zu verstehen, zu dem
Heidegger 1963, S. 130 Heidegger 1963, S. 130 Von Hermann 2005 begründet die Besonderheit des zweiten Irrtums damit, dass bei dem Sein des Selbstsein des Daseins „das Seinsverständnis der Vorhandenheit sich nicht vordrängt.“ (355). Das gilt ebenso für die Deutung des Sein des Miteinanderseins, denn dieses Sein soll ja, wie von Hermann betont, „grundsätzlich verschieden von der puren Vorhandenheit“ sein (355). Es geht aber nicht um verschiedene Gründe dafür, denselben Irrtum zu begehen, sondern es handelt sich um zwei verschiedene Irrtümer. Heidegger 1963, S. 231
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es sich wesenhaft ständig und zunächst verhält, aus der „Welt“.“³⁵⁰ Gemeint ist die Seinsart des Daseins als ein In-der-Welt-sein in seiner verfallenden Alltäglichkeit; und „das Seiende“ soll, wie wir gesehen haben, etwas Vorhandenes sein. Das Projekt einer ursprünglichen Interpretation will eine Explikation des eigentlichen Selbst des Daseins geben; und dieses Projekt wird wiederum im Kontrast und als Alternative zu einer ontologischen Deutung des Seins des Daseins als Vorhandenheit entwickelt.³⁵¹ Seine Ausarbeitung besteht in der Bestimmung eines Verhaltens zu dem je eigenen Tod, der nicht als „bekanntes innerweltlich vorkommendes Ereignis …, das noch nicht vorhanden ist“, sondern als ein „Sein zum Ende“ gedacht werden muss.³⁵² Das Seins- und Selbstverständnis des Daseins, das dem Sein zum Ende Rechnung trägt, ist ein Verständnis des Seins des eigentlichen Selbst – ein Sein, das nicht als Vorhandenheit, sondern als Existenz gedacht werden muss. Die Analyse des eigentlichen Selbstseins des Daseins thematisiert sein „Ganzseinkönnen“, das erst durch seine „ursprüngliche Interpretation“ in den Blick kommt.³⁵³ Sie muss zwei Bedingungen erfüllen: Sie hat erstens von einer „hermeneutischen Situation“ auszugehen, die eine „Grunderfahrung“ des Daseins ermöglicht; und sie muss zweitens „das Ganze“ des Daseins thematisieren.³⁵⁴ Die vorontologische Seinsauslegung des Daseins kann keine ursprüngliche Interpretation sein, weil sie keine der beiden Bedingungen erfüllt. Denn sie geht von einer Grunderfahrung der Welt aus, die sich in dem Besorgen von Zuhandenem in einer gemeinsamen Umwelt erschöpft, und kann deswegen nicht das Ganze des Daseins in den Blick bekommen. Aber auch die im Ersten Abschnitt entwickelte Analyse des alltäglichen In-der-Welt-seins soll keine ursprüngliche Interpretation des Seins des Daseins sein. Dafür werden zwei Gründe genannt. Erstens beschränkt sich diese Analyse auf eine Betrachtung der durchschnittliche Alltäglichkeit und somit des uneigentlichen Existierens.³⁵⁵ Es soll hier nicht diskutiert werden, ob diese Deutung den Überlegungen im Ersten Abschnitt wirklich gerecht wird. Man wird Heidegger zustimmen, dass der Erste Abschnitt sich vorzüglich mit der „durchschnittlichen Alltäglichkeit“ beschäftigt, so dass zumindest fraglich ist, ob die erste Bedingung einer ursprünglichen Interpretation erfüllt ist. Aber die Frage ist, ob diese thematische Beschränkung notwendig mit dem Ansatz bei der
Heidegger 1963, S. 15 Vgl. Heidegger 1963, S. 231 Heidegger 1963, S. 253; 245 Heidegger 1963, S. 233 Heidegger 1963, S. 232 Heidegger 1963, S. 232
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Alltäglichkeit des In-der-Welt-seins verbunden ist. Wie wir gesehen haben, besteht diese Verbindung nicht.³⁵⁶ Der zweite Grund dafür, dass dieser Ansatz keine ursprüngliche Interpretation des Daseins sein kann, hat etwas mit der Alltäglichkeit zu tun: „Die Alltäglichkeit ist doch gerade das Sein „zwischen“ Geburt und Tod.“³⁵⁷ Dieses Sein ist „die Art zu existieren, in der sich das Dasein „alle Tage“ hält.“³⁵⁸ Geburt und Tod begrenzen zwar das alltägliche Existieren, aber sie kommen nicht in dem vor, was „zwischen“ ihnen geschieht. Wenn aber „das Dasein als Ganzes“ nur dann in den Blick kommen kann, wenn das Verhalten zu dem je eigenen Tod thematisiert wird, dann ist der Ansatz bei der Alltäglichkeit von vorne herein nicht in der Lage, der Ganzheit des Daseins Rechnung zu tragen. Es stellt sich daher die Frage nach dem Verhältnis, das zwischen einer Betrachtung des Daseins in seiner Alltäglichkeit und der Erörterung seiner Ganzheit besteht. Für Heidegger schließt das Erste das Zweite aus. Ob das richtig ist, hängt davon ab, wie die Konzeption des „Daseins als Ganzes“ zu verstehen ist. Sie wird erklärt mit Rekurs auf den Tod: „Das „Ende“ des In-der-Welt-seins ist der Tod. Dieses Ende … begrenzt und bestimmt die je mögliche Ganzheit des Daseins.“³⁵⁹ Das Wort ‚Tod‘ bezeichnet hier ein bestimmtes Ereignis, das eine Lebensgeschichte beendet, aber dieses Ereignis begrenzt nur die Ganzheit des Daseins. Ist es eingetreten, dann gibt es das Dasein und daher auch seine Ganzheit nicht mehr. In welchem Sinne das Ereignis des Todes die Ganzheit des Daseins bestimmt, wird deutlich, wenn man, Heidegger folgend, die Rede vom Tode als Ende des Daseins durch die Rede vom „Tod als Enden des Daseins“ ersetzt.³⁶⁰ Diese verbale Formulierung soll nicht das Beenden einer Tätigkeit oder das Abschließen eines Prozesses im Sinne eines Aufhörens oder Fertigwerdens, sondern ein Verhalten bezeichnen: „Das mit dem Tod gemeinte Enden bedeutet kein Zu-Ende-sein des Daseins, sondern ein Sein zum Ende dieses Seienden. Der Tod ist eine Weise zu sein, die das Dasein übernimmt, sobald es ist.“³⁶¹ Der Tod als eine Seinsweise des Daseins kann nicht ein Ereignis sein, sondern besteht in einer Weise, wie man ein Leben lebt, das mit dem Ereignis des Todes beendet ist.³⁶² Für das Verständnis der Konzeption der Ganzheit des Da-
Vgl. S. 116 – 118; 136 Heidegger 1963, S. 233 Heidegger 1963, S. 370 Heidegger 1963, S. 234 Vgl. Heidegger 1963, S. 244 Heidegger 1963, S. 245 Tugendhat 1996 spricht von einem „in systematischer Hinsicht entscheidenden Irrtum, den Heidegger im Todeskapitel unterlaufen ist.“ Er besteht darin, dass „man nicht zwischen dem Ende und dem „Sein zu“ ihm unterscheidet.“ (S. 85, Anm. 1) Es ist sicherlich richtig, dass man diese
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seins, die auf der skizzierten Auffassung des Todes basiert, ergibt sich daraus, dass diese Ganzheit als eine Seinsweise des Daseins, als „ein mögliches existentes Ganzsein“ gedacht werden muss.³⁶³ Die Frage, die hier nicht beantwortet werden soll, ist, ob das Sein zum Tode ein solches Ganzsein begründet.³⁶⁴ Es geht mir vielmehr darum zu klären, ob eine Analyse des alltäglichen In-der-Welt-seins deswegen keine ursprüngliche Interpretation des Daseins sein kann, weil sie der Ganzheit des Daseins nicht Rechnung tragen kann. Heidegger stellt sich die Frage: „Wann und wie hat die existenziale Analyse sich dessen versichert, dass sie mit dem Ansatz bei der Alltäglichkeit das ganze Dasein – dieses Seiende von seinem „Anfang“ bis zu seinem „Ende“ in den themagebenden phänomenologischen Blick zwang?“³⁶⁵ Wie die Frage zu beantworten ist, hängt davon ab, was man unter einem“ Ansatz bei der Alltäglichkeit“ versteht. Wenn damit eine Beschäftigung mit der durchschnittliche Alltäglichkeit gemeint ist, dann muss man sie deswegen verneinen, weil diese Alltäglichkeit eine Seinsweise des Daseins ist, aus der „heraus und in sie zurück alles Existieren ist, wie es ist.“³⁶⁶ Dass es ein Ende dieser Existenz gibt, muss weder für diese Seinsweise noch für das auf sie bezogene „durchschnittliche Verständnis“ des Daseins eine Rolle spielen.³⁶⁷ Das durchschnittliche Verhalten und die Selbstverständlichkeiten eines durchschnittlichen Verständnisses ermöglichen aber andere Weisen des Existierens und andere Formen des Verstehens eines Daseins, das immer schon als geboren und als noch nicht gestorben gedacht werden muss. Dass es so gedacht wird und werden muss, ist eine Bedingung dafür, dass überhaupt etwas gedacht wird, das als Dasein existiert, ganz unabhängig davon, ob es in seiner durchschnittlichen Alltäglichkeit oder auf andere Weise betrachtet wird. Über diese Bedingung muss aber eine Analyse der durchschnittlichen Alltäglichkeit keine Auskunft geben. Mit dem Ansatz bei der Alltäglichkeit kann aber auch eine Beschäftigung mit dem alltäglichen In-der-Welt-sein gemeint sein, das im Ersten Abschnitt von Sein und Zeit eine zentrale Rolle spielt, auch wenn es nicht deutlich von der durchschnittlichen Alltäglichkeit abgegrenzt wird. Diese Beschäftigung soll den Fehler
Unterscheidung treffen muss, aber sieht man einmal von dem bei Heidegger häufig zu beobachtenden gewaltsamen Umgang mit der deutschen Sprache ab, so ist klar, dass er sich mit dem Verhalten zum Tode und nicht mit dem Ereignis des Todes beschäftigt. Der Tod, im letzteren Sinne verstanden, spielt in seiner Analyse des alltäglichen Verhaltens zum Tode eine zentrale Rolle. Vgl. Heidegger 1963, S. 259 Vgl. dazu Heidegger 1963, S. 264 Heidegger 1963, S. 233 Heidegger 1963, S. 43 Vgl. Heidegger 1963, S. 169
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vermeiden, „das Dasein aus einer konkreten möglichen Idee von Existenz“ zu konstruieren,³⁶⁸ und thematisiert „wesenhafte Strukturen“ jeder Seinsart des Daseins.³⁶⁹ Das alltägliche Dasein, das auf diese Weise in den Blick kommt, beruht auf seinem In-der-Welt-sein, das daher als seine Grundverfassung bezeichnet wird. Sie besagt, dass Dasein immer in einer mit Anderen gemeinsamen Welt ist. Diese Grundverfassung in ihrer Alltäglichkeit zu betrachten, besagt, sie unter Absehung von Vorurteilen der philosophischen und theologischen Tradition zu thematisieren und sich auf wesenhafte Strukturen des Seins des Daseins zu konzentrieren. Das so betrachtete alltägliche In-der-Welt-sein definiert die Struktur verschiedener Weisen, wie Dasein existiert, ist aber nicht selber schon eine bestimmte Weise zu existieren.³⁷⁰ Weil das In-der-Welt-sein die Grundverfassung des Daseins ist, hat Dasein und nur Dasein eine bestimmte Form von Seinkönnen ist; und diese Grundverfassung legt auch den begrifflichen Rahmen für die Identifikation der verschiedenen Weisen, wie Dasein existiert, fest. Wie wir gesehen haben, ist das Sein zum Tode eine solche Seinsweise. Heidegger bemerkt: „Das „Ende“ des In-der-Welt-seins ist der Tod.“³⁷¹ Im Ersten Abschnitt ist von der Endlichkeit des In-der-Welt-seins nicht die Rede, aber dieses Defizit erklärt sich aus der Argumentationsstrategie Heideggers, die Zeitlichkeit des Daseins erst im Zweiten Abschnitt zu thematisieren, und ist nicht durch die Konzeption des alltäglichen In-der-Welt-seins begründet. Die Endlichkeit des Seins des Daseins in einer mit Anderen gemeinsamen Welt zu thematisieren, würde es daher erlauben, die Frage nach der Ganzheit des Daseins aufzuwerfen, wenn denn die von Heidegger vertretene und hier nicht diskutierte These, nur das Sein zum Ende erlaube es, eine solche Ganzheit in den Blick zu nehmen, richtig ist. Wenn der „Ansatz bei der Alltäglichkeit“ besagt, dass man von dem zuletzt betrachteten alltäglichen In-der-Welt-sein ausgeht, dann ist nicht einzusehen, warum dieser Ansatz keine ursprüngliche Interpretation zu geben erlaubt. Das Defizit, das Heidegger im Hinblick auf den Ersten Abschnitt von Sein und Zeit konstatiert, besteht zwar, ist aber nicht in seinem prinzipiellen Ansatz begründet. Die ursprüngliche Interpretation des Daseins entwickelt eine existenziale Deutung des Todes. Dies bedeutet, dass der Tod als eine Seinsweise des Daseins gedacht wird, die in dem Sein zu dem je eigenen Ende besteht. Diese Deutung wird einem Verständnis des Todes gegenübergestellt, das von dem Dasein in seiner durchschnittlichen Alltäglichkeit und somit von einer uneigentlichen
Heidegger 1963, S. 43 Heidegger 1963, S. 17 Heidegger 1975, S. 242; vgl. S. 420 Vgl. Heidegger 1963, S. 234
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Seinsweise des Daseins ausgeht. Das ihr zugeordnete Selbstverständnis ist das Man, wie Heidegger ausdrücklich hervorhebt.³⁷² Auch das Man ist eine Seinsweise des Daseins; und die Analyse des ihr zugeordneten Verständnisses des je eigenen Todes führt zu einer weiteren existenzialen Deutung des Todes. Die Differenz zwischen diesen beiden Deutungen wird von Heidegger beschrieben, indem er von verschiedenen Bestimmungen des Seins des Daseins Gebrauch macht – die Bestimmung des Seins des Daseins als Existenz und seine Bestimmung als Vorhandenheit. Während die erste Deutung den Tod als ein Sein zum Ende ansieht, das ein „mögliches existentes Ganzsein“ konstituiert,³⁷³ versteht die zweite Deutung den Tod als „bekanntes innerweltlich vorkommendes Ereignis …, das für einen selber noch nicht vorhanden … ist.“³⁷⁴ Den Tod als ein Ende zu denken, das noch nicht vorhanden ist, impliziert für Heidegger aber eine „ontologische Verkehrung des Daseins in ein Vorhandenes“.³⁷⁵ Ob dies richtig ist, soll hier nicht diskutiert werden. Es kommt mir nur darauf an festzustellen, dass er die Differenz zwischen den beiden Auffassungen des Todes mit der Verschiedenheit der beiden Seinsauslegungen des Daseins als Existenz und als Vorhandenheit verbindet. Da jene Differenz aber als der Unterschied zwischen einer eigentlichen und einer uneigentlichen Seinsweise des Daseins bestimmt wird, impliziert Heideggers Analyse des Unterschieds der beiden existenzialen Deutungen des Todes die These, dass es einen Zusammenhang zwischen der Unterscheidung von eigentlicher und uneigentlicher Existenz und den beiden Auffassungen von dem Sein des Daseins gibt. Der Zusammenhang besteht darin, dass dem Selbstverständnis der uneigentlichen Existenz die Seinsauslegung des Daseins als Vorhandenheit zugrunde liegt, während zu dem Selbstverständnis der eigentlichen Existenz das Seinsverständnis des Daseins als Existenz gehört. Die Defizite und Verstellungen der uneigentlichen Existenz lassen sich daher durch eine falsche Auffassung vom Sein des Daseins erklären. Diese Argumentationsstrategie haben wir schon bei seinen Überlegungen zur vorontologischen Seinsauslegung des Daseins kennengelernt.³⁷⁶ Sie beruht auf einer schematischen und unbegründeten Zuordnung des Selbstverständnis des Daseins in seiner abfallenden Alltäglichkeit mit einem Seinsverständnis des Daseins als Vorhandenheit einerseits und dem Selbstverständnis des eigentlichen Selbstseins mit einem Seinsverständnis des Daseins als
Heidegger 1963, S. 251, Anm. 1 Vgl. Heidegger 1963, S. 259 Heidegger 1963, S. 253 Heidegger 1963, S. 250 Vgl. auch Heidegger 1963, S. 320, zu der Kant zugeschriebenen Auffassung des Ich als Subjekt.
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Existenz andererseits. Zum Abschluss soll betrachtet werden, wie Heidegger glaubt, diese Zuordnungen begründen zu können. Die vorontologische Seinsauslegung des Daseins und das alltägliche Verständnis des Todes als ein „innerweltlich vorkommendes Ereignis“ sind nach Heidegger zwei Beispiele für „das für die Alltäglichkeit charakteristische Verkennen der Seinsart des Daseins“.³⁷⁷ Er beschreibt diese Situation immer wieder, indem er von Nähe und Ferne redet: „Das ontisch Nächste und Bekannte ist das ontologisch Fernste, Unerkannte …“³⁷⁸ Das ontisch Nächste ist jeweils das Dasein in seinem vertrauten und selbstverständlichen alltäglichen In-der-Welt-sein, aber das ontologische Verständnis dieses Daseins ist damit nicht gegeben und bereitet nach seiner Meinung große Schwierigkeiten. Da das Selbstverständnis des Daseins ein Verständnis seiner Grundverfassung des In-der-Welt-seins ist, schließt es immer auch ein Seinsverständnis ein. Das „Verkennen der Seinsart des Daseins“, das für Alltäglichkeit charakteristisch sein soll, ist, genauer gesagt, eine spezifische Eigenschaft der „uneigentlichen Alltäglichkeit“.³⁷⁹ Damit stellt sich erstens die Frage, weshalb das Seinsverständnis des Daseins in seiner uneigentlichen Alltäglichkeit auf einem Irrtum beruht. Und wenn das so ist, dann muss man sich zweitens fragen, ob dieser Irrtum darin besteht, dass das Sein als Vorhandenheit gedacht wird. Um die erste Frage zu beantworten, muss man von dem alltäglichen In-derWelt-sein ausgehen, das „von der „Welt“ und dem Mitdasein Anderer im Man völlig benommen ist. Das Nicht-es-selbst-sein fungiert als positive Möglichkeit des Seienden, das wesenhaft besorgend in einer Welt aufgeht.“³⁸⁰ Man könnte vielleicht annehmen, dass wir in diesem Falle gar kein Selbst- und somit auch kein Seinsverständnis haben, so dass sich die Frage eines Irrtums des letzteren nicht stellt. Diese Annahme ist jedoch ausgeschlossen, da der Besitz eines Selbstverständnisses eine wesentliche Eigenschaft des Daseins ist; und ein solches Verständnis impliziert ein Seinsverständnis. Heidegger behauptet: „Das Dasein hat vielmehr gemäß einer zu ihm gehörigen Seinsart die Tendenz, das eigene Sein aus dem Seienden her zu verstehen, zu dem es sich wesenhaft ständig und zunächst verhält, aus der „Welt“.“³⁸¹ Weshalb führt dies zu einer irrigen Seinsauslegung? Der betonte, kursiv gesetzte bestimmte Artikel gibt vielleicht einen Hinweis, wie
Heidegger 1963, S. 257 Heidegger 1963, S. 43; vgl. 16; 371. Man kann dies als eine Anspielung auf die Aristotelische Unterscheidung zwischen dem, was für uns bekannter, und dem, was der Sache nach bekannter ist, verstehen. Vgl. Heidegger 1963, S. 178; 313 Heidegger 1963, S. 176 Heidegger 1963, S. 15
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die Frage zu beantworten. In der unmittelbar nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit gehaltenen Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie heißt es: „Gewiß der Schuster ist nicht der Schuh, und dennoch versteht er sich aus seinen Dingen, sich, sein Selbst.“³⁸² Ein solches Selbstverständnis „ist weder unecht noch ist es ein scheinbares, als würde dabei nicht das Selbst, sondern irgendetwas anderes verstanden und das Selbst nur vermeintlicherweise.“³⁸³ Wenn es sich nicht um ein scheinbares, sondern um ein wirkliches Selbstverständnis handelt, wie kann es dann Anlass zu einem Irrtum sein und zu einer „Verkennung“ führen? Das Selbstverständnis „aus den alltäglich besorgten Dingen“ wird auch als ein „uneigentliches“ Verstehen bezeichnet und einem „eigentlichen“ Selbstverständnis gegenübergestellt.³⁸⁴ Aber diese Unterscheidung hat nichts mit der Unterscheidung von Falsch und Richtig zu tun, sondern betrifft dasjenige, was verstanden wird. Das uneigentliche Selbstverständnis besteht darin, dass wir uns so verstehen, „wie wir uns selbst in der Alltäglichkeit des Existierens an die Dinge und Menschen verloren haben“, während das eigentliche Selbstverstehen ein Verstehen „aus den eigensten und äußersten Möglichkeiten unserer Existenz“ ist.³⁸⁵ Auch die inhaltliche Bestimmung des uneigentlichen Selbstverstehens erklärt nicht, dass und wie sich bei dem Selbstverständnis „aus den alltäglich besorgten Dinge“ ein Irrtum einstellen kann. Nun behauptet Heidegger ja nicht, dass das Selbstverständnis irrig ist; er sagt vielmehr, dass das Seinsverständnis, das zu dem alltäglichen Selbstverständnis gehört, einem Irrtum unterliegt. Erklärt werden muss also die Möglichkeit, dass ein korrektes Selbstverständnis mit einem irrigen Seinsverständnis einhergeht. Das Selbstverständnis ist ein Verständnis seiner selbst „aus den alltäglich besorgten Dingen“. Dass man sich so versteht, besagt nicht, dass man sich als ein solches Ding versteht. Das Seinsverständnis, das zu einem solchen Selbstverständnis gehört, wird als ein Verstehen des eigenen Seins „aus der „Welt““ bestimmt und als „die ontologische Rückstrahlung des Weltverständnisses auf die Daseinsauslegung“ bezeichnet.³⁸⁶ Erklärt diese Rückstrahlung die irrige Seinsauslegung des alltäglichen Daseins? Was ist damit überhaupt gemeint? An anderer Stelle spricht er von einem „rätselhaften Widerschein des Selbst aus den Dingen“, und dieser Widerschein ist ein „Widerschein des uneigentlichen Selbst aus den Dingen“.³⁸⁷ Aber das uneigentliche Selbst ist das Korrelat des uneigent-
Heidegger 1975, S. 227 Heidegger 1975, S. 228 Heidegger 1975, S. 228 – 229 Heidegger 1975, S. 228 Heidegger 1963, S. 16 – 17 Heidegger 1975, S. 229
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lichen Selbstverständnisses; und dieses Selbstverständnis ist kein Irrtum. Wenn aber die Vermutung richtig ist, dass die erwähnte „ontologische Rückstrahlung“ für das irrige Seinsverständnis des alltäglichen Daseins verantwortlich ist, und wenn man diese Metapher im Sinne jenes „Widerscheins des Selbst“ versteht, dann legt sich die Annahme nahe, dass das alltäglichen Daseins deswegen für Heidegger durch eine „Verkennung seiner Seinsart“ charakterisiert wird, weil das Selbstverständnis dieses Daseins ein uneigentliches Selbstverständnis ist. Aus dieser Annahme folgt, dass nur das eigentliche Selbstverständnis zu einem korrekten Seinsverständnis führt. Die Unterscheidung zwischen einem irrigen und einem korrekten Seinsverständnis wäre dann fundiert in der Unterscheidung zwischen einem uneigentlichen und einem eigentlichen Selbstverständnis. Dass Heidegger dieser Meinung ist, zeigt sich an seiner Bestimmung des jeweiligen Seinsverständnisses, das mit dem eigentlichen und dem uneigentlichen Selbstverständnis verbunden wird. Das eigentliche Selbstverständnis ist ein Verständnis „aus den eigensten und äußersten Möglichkeiten unseres eigenen Existenz …“³⁸⁸ Das entsprechende Seinsverständnis ist, dass das Sein des Daseins in seiner Existenz besteht. Demgegenüber ist das uneigentliche Selbstverständnis ein Verständnis „aus der „Welt““.³⁸⁹ Aber wie wird das Wort ‚Welt‘ hier verwendet? Im Zusammenhang seiner Überlegungen zu den verschiedenen Begriffen Welt weist Heidegger darauf hin, dass die Anführungszeichen dazu dienen, den ersten Begriff von Welt, die Welt als „das All des Seienden, das innerhalb der Welt vorhanden sein kann“, zu bezeichnen.³⁹⁰ Demnach versteht das uneigentliche Selbstverständnis das Dasein aus dem, was den ontologischen Charakter der Vorhandenheit hat; und sein Seinsverständnis ist, dass das Dasein etwas Vorhandenes ist, und dass sein Sein Vorhandenheit ist. Diese Überlegung hat allerdings den schwerwiegenden Mangel, dass sie eine falsche Charakterisierung der Welt gibt, aus der sich das uneigentliche Dasein versteht. Diese Welt ist nicht die Welt, die von Heidegger mit Hilfe von Anführungszeichen bezeichnet wird, sondern die Welt als „das, „worin“ ein faktisches Dasein als dieses „lebt“.“³⁹¹ Denn nur von einer so verstandenen Welt kann man sagen, dass „das eigene Dasein … zunächst und zumeist aus der umweltlich besorgten Mitwelt begegnet.“³⁹² Das „Aufgehen in den Dingen“ des alltäglichen Daseins besteht in dem Besorgen von Zuhandenem und in dem Mitsein im Man; und dies sind Dinge, deren Sein mit
Heidegger 1975, S. 228 Heidegger 1963, S. 15 Heidegger 1963, S. 64– 65. Er verwendet so-genannte französische Anführungszeichen. Heidegger 1963, S. 65 Heidegger 1963, S. 125
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Sicherheit nicht als „pure Dingvorhandenheit“ verstanden werden kann.³⁹³ Die Welt, auf die sich das uneigentliche Selbstverständnis bezieht, ist eine Welt, in der das Dasein mit Anderen lebt; es ist nicht die Welt vorhandener Dinge, wie Heidegger behauptet. Demnach kann die von ihm angenommene Verkennung der Seinsart des Daseins, die für das alltägliche In-der-Welt-sein charakteristisch sein soll, nicht mit Rekurs auf sein uneigentliches Selbstverständnis erklärt werden. Heideggers Auffassung der Alltäglichkeit muss in seinem Zusammenhang mit dem Projekt von Sein und Zeit gesehen werden. Es geht darum, die Frage nach dem Sinn von Sein in der richtigen Weise zu stellen und zu beantworten. Dabei steht das Sein des Daseins im Zentrum. Seine Grundverfassung ist das In-der-Welt-sein: Sie begründet, dass das Sein des Daseins in seiner Existenz besteht, und bestimmt die verschiedenen Weisen, in denen es existiert. Weiterhin wird angenommen, dass Dasein immer auch ein Selbstverständnis und somit ein Verständnis seines In-der-Welt-seins besitzt. Ein solches Verständnis ist ein Verständnis des Daseins in einer Welt und seines Mitseins mit Anderen. Weil das In-der-Welt-sein die Seinsverfassung des Daseins ausmacht, ist dieses Verständnis ein Seinsverständnis des Daseins. Das Sein eines Seienden, dessen Seinsverfassung das Inder-Welt-sein ist, hat den Charakter der Existenz und ist von der Vorhandenheit von Dingen in der Natur und von der Zuhandenheit von Zeug zu unterscheiden. In diesen ontologischen Überlegungen spielt die Konzeption der Alltäglichkeit noch keine Rolle. Sie kommt erst im Rahmen der Bestimmung der Zugangsart zum Inder-Welt-sein ins Spiel: Es soll im Ausgang von dem alltäglichen Dasein betrachtet werden, um traditionelle philosophische Missverständnisse zu vermeiden und sicher zu stellen, dass „wesenhafte Strukturen“ erfasst werden.³⁹⁴ Er unterscheidet weiterhin zwischen zwei Weisen, wie Dasein existieren kann, zwischen eigentlicher und uneigentlicher Existenz. Sie bedingen sich begrifflich in dem Sinne wechselseitig, dass man nur dann von einer uneigentlichen Existenz sprechen kann, wenn auch die Möglichkeit einer eigentlichen Existenz gegeben ist, und umgekehrt. Da Existenz in dem In-der-Welt-sein fundiert ist, und dieses im Ausgang von dem alltäglichen In-der-Welt-sein thematisiert wird, muss es das Letztere sowohl als eigentliche als auch als uneigentliche Weise der Existenz geben können.
Vgl. Heidegger 1963, S. 211. Dieser für Heidegger paradigmatische Fall von Vorhandenheit entgeht Brandom 1983, wenn er behauptet, dass „the category of the present-at-hand consists of ready-to-hand things which are appropiatley responded to by a certain kind of performance … That categorically constitutive kind of responsive recognition performance type is assertion.“ (312) Er verwechselt das, was vorhanden ist, mit der „Auslegung“ von etwas als Vorhandenem. Vgl. dazu Heidegger 1963, S. 157– 158. Vgl. Heidegger 1963, S. 16 – 17
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Das Selbstverständnis des alltäglichen Daseins ist ein Verständnis seines alltäglichen In-der-Welt-seins. Was das eigentliche alltägliche In-der-Welt-sein angeht, so finden sich in Sein und Zeit bestenfalls Hinweise auf ein eigentliches Sein des Daseins in der Welt und auf ein eigentliches Mitsein mit Anderen.³⁹⁵ Diese Hinweise ersetzen nicht eine systematische Explikation, die in Sein und Zeit fehlt, aber in einer früheren Vorlesung zumindest als ein Projekt erwähnt wird. Demgegenüber wird das Selbstverständnis des uneigentlichen alltäglichen In-derWelt-seins als ein Selbstverständnis des Daseins in seiner verfallenden Alltäglichkeit ausführlich betrachtet. Es wird im Hinblick auf das Mitsein mit Anderen im § 27 behandelt und als ein „Aufgehen im Miteinandersein, sofern dieses durch Gerede, Neugier und Zweideutigkeit geführt wird.“³⁹⁶ Was das Sein in einer Welt angeht, so spricht Heidegger von einer „ontologischen Rückstrahlung des Weltverständnisses auf die Daseinsauslegung“ und meint damit, dass eine „ontologische Interpretation … das Dasein aus der Welt her versteht und es als innerweltlich Seiendes vorfindet.“³⁹⁷ Es ist auffallend, dass Heidegger sich sehr einseitig für das uneigentliche alltägliche In-der-Welt-sein, für die verfallenden Alltäglichkeit interessiert. Ich habe in diesem Kapitel versucht zu zeigen, dass dieses Interesse sich dadurch erklärt, dass er die dem alltäglichen Dasein eigentümliche Verkennung seiner Seinsart offenlegen will. Das mit dem uneigentlichen Selbstverständnis verbundene Seinsverständnis besagt, dass Dasein etwas Vorhandenes ist, und daher sein Sein als Vorhandenheit zu bestimmen ist. Die Analyse des alltäglichen Daseins dient als Grundlage für die Rekonstruktion eines grundlegenden ontologischen Missverständnisses. Dies erinnert an die Rolle, die die faktischen Lebenserfahrung für die Philosophie haben soll: Sie ist zwar der „Ausgangspunkt des Weges zur Philosophie“, aber zu dieser gelangt man nur durch eine „Umwendung“.³⁹⁸ Dem früheren Ansatz bei der faktischen Lebenserfahrung entspricht nun die Beschäftigung mit „der alltäglichen Daseinsauslegung“, die „das eigentliche Sein des Daseins verdeckt“, während „die Freilegung des ursprünglichen Seins des Daseins … im Gegenzug zur ontisch-ontologischen Auslegungstendenz abgerungen“ werden muss.“³⁹⁹ Wie die Umwendung eine Abwendung von und eine Hinwendung zu einer „Grunderfahrung des „ich bin““ war, so wird jetzt die existenziale Bestimmung des Seins des Daseins gegen die alltägliche Daseinsauslegung entwickelt. Diese Gegenüberstellung beruht auf der Annahme,
Vgl. Heidegger 1963, S. 67; 86; 129; 169 Heidegger 1963, S. 175 Heidegger 1963, S. 16; 130 Heidegger 2011, S. 10; vgl. S. 92– 93 Heidegger 1963, S. 311
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dass diese Auslegung zu einem Missverständnis führt, das der Ausgangspunkt für die Irrtümer der ontologischen Interpretation des Daseins in der philosophischen Tradition sein soll. Ob das so ist, kann bezweifelt werden, soll aber hier nicht diskutiert werden. Jedoch kann schon der Nachweis, die alltägliche Daseinsauslegung führe zu einem grundsätzlichen ontologischen Irrtum, nicht überzeugen. Heideggers Vorhaben, diese Auslegung zum Ausgangspunkt der Rekonstruktion der Genese von ontologischen Missverständnissen in der philosophischen Tradition zu machen, ist von dem Interesse bestimmt, seine eigene existenziale Analyse des Daseins gegenüber dieser Tradition zu positionieren. So wird die Beschäftigung mit der Alltäglichkeit zur Konstruktion eines Szenarios benutzt, das dazu dienen soll, den grundsätzlichen Unterschied zwischen seiner existenzialen Analyse des Daseins und der philosophischen Tradition und ihren radikal neuen Charakter ins rechte Licht zu rücken.⁴⁰⁰ Wie im folgenden Kapitel gezeigt werden soll, kann man an den philosophischen Einsichten, die er mit seiner Theorie des alltäglichen In-der-Welt-seins gewonnen hat, festhalten, auch wenn man von diesem Szenario absieht.
Vgl. Tugendhat 1979, S. 173 – 174, der zurecht von „Heideggers Tendenz zur totalen Entgegensetzung seiner Konzeption zu der traditionellen …“ spricht und die als „ein sachwidriges Motiv …“ kritisiert.
3 Die Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt und die gegenwärtige Diskussion des Selbst In den vorhergehenden Kapiteln habe ich verschiedene Überlegungen dargestellt, die Heidegger in den Frühen Freiburger Vorlesungen und in Sein und Zeit zum Begriff des Selbst entwickelt hat. Sie führen zu unterschiedlichen Konzeptionen, und ihre Differenzen erklären sich auch dadurch, dass seine Überlegungen einerseits von der Absicht geleitet sind, das Projekt der Philosophie als einer Ursprungswissenschaft plausibel zu machen, und andererseits sich aus Gründen der Selbstdarstellung mit einer besonderen Art von alltäglichem In-der-Welt-seins zu beschäftigen. Weder muss eine Theorie des Selbst mit einem solchen Projekt verbunden werden, noch muss sie sich auf den besonderen Fall der verfallenden Alltäglichkeit konzentrieren. Es besteht daher die Möglichkeit, eine solche Theorie auf der Grundlage von Heideggers Überlegungen unter Absehung seiner weitergehenden Zielen oder seiner speziellen Interessen zu explizieren. Diese Theorie findet sich am ehesten im zweiten Teil der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie, die im Wintersemester 1919/20 gehalten wurde, und die die Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt in das Zentrum stellt. Diese Konzeption tritt an die Stelle der im ersten Teil der Vorlesung entwickelten Auffassung einer „Zugespitztheit“ der Lebenserfahrung auf die Selbstwelt¹ und wird bereits im folgenden Sommersemester durch die Konzeption einer „Selbstbekümmerung“, die in einer „Grunderfahrung des ich bin“ zum Ausdruck kommt, ersetzt. Die Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt vermeidet die „isolierte Betonung“ der Zugespitztheit auf die Selbstwelt, die sich bei ihrem Vorgänger findet und von Heidegger selber als ein „Nachklang einer anfänglich ichlich-transzendentalen Orientierung“ angesehen wird;² und sie ist auch nicht belastet von den quasi-cartesianischen Annahmen ihres Nachfolgers. Die Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt erlaubt es auch, den Überlegungen Rechnung zu tragen, die in Sein und Zeit im Rahmen einer Theorie des alltäglichen In-der-Welt-seins zum Begriff des Selbst entwickelt werden. Während Heidegger sich vorzüglich mit der abfallenden Alltäglichkeit beschäftigt, spielen in jener Konzeption die Momente eine Rolle, welche für das Wer des alltäglichen Daseins insgesamt konstitutiv sind. Seine Grundverfassung ist das Leben in einer Welt, die gleichursprünglich eine Um- und eine Mitwelt ist. Die Vgl. Heidegger 2010, S. 198 Heidegger 2010, S. 198 https://doi.org/10.1515/9783110615210-004
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Welt ist eine gemeinsame Welt, so dass sowohl die Um- als auch die Mitwelt als eine mit Anderen geteilte Welt gedacht werden müssen. Diese Welt besteht in vertrauten Bedeutsamkeiten, so dass die Verständlichkeit des Zuhandenen und des Verhaltens zum Mitdasein Anderer ein integraler und unverzichtbarer Bestandteil des eigenen Selbstverständnisses ist. Denn dieses ist nichts anderes als ein Verständnis des eigenen Seins in einer durch Bedeutsamkeiten konstituierten Welt. Dass dieses Verständnis mit Rekurs auf das alltägliche In-der-Welt-sein expliziert wird, soll sicherstellen, dass wesenhafte Strukturen des Daseins in den Blick kommen, ohne dass irgendwelche Annahmen der philosophischen oder theologischen Tradition über eine bestimmte Idee des Menschseins ungefragt übernommen werden.³ Diese Absicht verfolgt Heidegger auch mit seiner Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt, die sich auf der Grundlage einer Betrachtung der faktischen Lebenserfahrung gegen „Surrogate für diesen reichen Phänomenkomplex“ und gegen ein „leeres Begriffsschema“ der traditionellen Philosophie wendet.⁴ Der Ansatz bei der Alltäglichkeit kann als eine Strategie der Vermeidung traditioneller Vorstellungen in der Absicht einer „radikalen philosophischen Besinnung auf das Menschsein“ verstanden werden,⁵ und muss nicht, wie in Sein und Zeit, mit der der Fokussierung auf eine bestimmte alltägliche Seinsweise des Daseins verbunden sein. Die Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt enthält die wesentliche Elemente von Heideggers Theorie des Wer des alltäglichen Daseins, und ist nicht durch die Fokussierung auf die abfallende Alltäglichkeit belastet. Diese Konzeption wird hier vor allem unter Berücksichtigung von Überlegungen entwickelt, die sich im zweiten Teil der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie finden. Ihre philosophische Bedeutung soll in zwei Schritten nachgewiesen werden. Zuerst wird der Zusammenhang diskutiert, der zwischen ihr und heutigen Auffassungen von de se-Einstellungen oder de se-Repräsentationen besteht. Zweitens soll das kritische Potential herausgearbeitet werden, das Heideggers Konzeption für die gegenwärtige Diskussion des Themas Selbst besitzt. Es wird sich zeigen, dass seine Überlegungen Irrtümer und Einseitigkeiten von heute vertretenen Positionen vermeiden. Um die Beziehung, die zwischen Heideggers Sichselbsthaben in einer Welt und de se-Verhältnissen besteht, deutlich zu machen, beginne ich mit einer Erläuterung des Begriffs de se. Als de se werden heute Einstellungen oder Repräsentationen bezeichnet, die durch den besonderen Fall einer de re-Beziehung ausge-
Vgl. Heidegger 1963, S. 16 – 17; 43; 1994b, S. 207– 208 Vgl. Heidegger 2010, S. 158 Heidegger 1995, S. 29; vgl. 1963, S. 45
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zeichnet sind, und werden von de dicto-Einstellungen oder Repräsentationen unterschieden. So schreibt Tyler Burge: „De re attitudes are ascribed by indicating representational contents that contain successfully applied demonstratives or indexical elements. De dicto attitudes are ascribed by indicating representational contents that contain no demonstratives or indexicals.“⁶ Auf propositionale Einstellungen angewandt, besagt dies, dass sie aufgrund ihres Inhalts de re oder de dicto sind; und sie sind dann de dicto, wenn sie nicht de re sind. Sie sind de re, wenn ihr Inhalt sprachlich durch einen demonstrativen oder indexikalischen Ausdruck formuliert wird. Für die Verwendung dieser Ausdrücke ist es charakteristisch, dass sie sich nur in einem Kontext ihrer Verwendung auf etwas beziehen, und dass der Bezug in verschiedenen Kontexten verschieden sein kann. Ein solcher Kontext ist bestimmt durch denjenigen, der den Ausdruck verwendet, den Sprecher oder Schreiber, durch den Ort, an dem er ist, und durch den Zeitpunkt seiner Äußerung. Demonstrative Referenz bedarf häufig einer hinweisenden Geste, während indexikalische Ausdrücke wie ‚du’, ‚dort’, oder ‚später’ sich aufgrund ihrer sprachlichen Bedeutung in einem gegebenen Kontext ihrer Verwendung auf etwas beziehen. Die Sätze, in denen solche Ausdrücke vorkommen, haben einen kontext-abhängigen Inhalt: Sie besagen nur in einem bestimmten Kontext der Verwendung etwas, das z. B. durch Wahrheitswertbedingungen spezifiziert werden kann, und sie können in verschiedenen Kontext Verschiedenes besagen. Sie unterscheiden sich daher von Sätzen, die etwas besagen, was unabhängig von einem Kontext bestimmt werden kann, und die bei jeder Verwendung dasselbe besagen.⁷ Die These, dass de dicto-Einstellungen sich von de reEinstellungen dadurch unterscheiden, dass ihr Inhalt durch Sätze formuliert wird, deren Wahrheitswert nicht von dem Kontext ihrer Verwendung abhängig ist, gibt eine semantische Beschreibung der Differenz zwischen diesen verschiedenen Einstellungen. Burge ergänzt diese Unterscheidung durch eine weitere Charakterisierung, die er für grundlegender hält: „An attitude is de dicto if it is completely conceptualized. An attitude is de re if it is not completely conceptualized … That is, the content contains a demonstrative or indexical element … The application of the demonstrative or indexical is the element in the content that prevents the content from being completely conceptualized.“⁸ Sätze, deren Inhalt vollständig begrifflich bestimmt ist, sind Sätze, deren Inhalt nicht von dem Kontext ihrer Verwendung abhängig ist. Aber weshalb soll der Inhalt von Sätzen, die Demonstrativa oder indexikalische Ausdrücke ent-
Burge 2006b, S. 68 Vgl. Quine 1960, S. 35 – 36 Burge 2006b, S. 68
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halten, nicht „vollständig begrifflich bestimmt sein“? Betrachten wir ein Beispiel: Ich äußere den Satz ‚es regnet hier heute den ganzen Tag’. Der Satz, von mir jetzt geäußert, hat einen bestimmten Inhalt, der genau dann wahr ist, wenn es sich so verhält, wie ich sage. Wenn ich ihn morgen äußere, sagt er etwas anderes. Was er besagt, und welchen Wahrheitswert er hat, ergibt sich erst durch den Kontext seiner Verwendung, weil erst durch ihn bestimmt ist, worauf sich die Worte ‚hier’ und ‚heute’ beziehen. Vergleichen wir damit den Satz ‚es regnet in Florenz am 7. März 2017 den ganzen Tag’. Dieser Satz ist genau dann wahr, wenn der von mir an diesem Ort und Tag geäußerte Satz ‚es regnet hier heute den ganzen Tag’ wahr ist, aber im Unterschied zu dem letzteren können sich weder das, was er besagt, noch sein Wahrheitswert in verschiedenen Kontexten seiner Verwendung ändern. Sein Inhalt ist in dem Sinne „begrifflich vollständig bestimmt“, dass das, was er besagt, durch den Satz vollständig ausgedrückt wird. Sein Inhalt ist ein dictum. ⁹ Demgegenüber ist der indexikalische Satz kein vollständiger Ausdruck seines Inhalts, weil dieser sich erst durch den Satz und den Kontext seiner Verwendung ergibt. Dass der Inhalt eines Satzes nicht „vollständig begrifflich bestimmt ist“, besagt nicht, dass er keine bestimmte sprachliche Bedeutung besitzt und daher irgendwie unverständlich ist. De se-Einstellungen sind ein besonderer Fall von de re-Einstellungen: Es handelt sich um Einstellungen, deren Inhalt durch die Verwendung des Personalpronomens der ersten Person im Singular formuliert wird und sich daher auf das Subjekt der Einstellung bezieht. Burge weicht von dieser weit verbreiteten Auffassung mit seiner Konzeption von „ego-zentrischen Indizes“ ab, die verschiedene Fälle von „ego-bezogenen“ Vorstellungen umfasst.¹⁰ Die Abweichung erklärt sich durch die besondere Rolle, die de se- Einstellungen für de re-Einstellungen, die etwas mit Wahrnehmung zu tun haben, spielen, und führt zu einer neuen Konzeption von de se-Einstellungen. Betrachten wir zuerst, wie Burge den Begriff einer de se-Repräsentation bestimmt. Er schreibt: „De se markers or egocentric indexes are indexical representations that meet two conditions. When applied, they represent an origin for a representational framework, such as a spatial or temporal origin from which the individual’s perception occurs. They also mark the origin as of immediate ego-significance for the individual’s motivation or for the wider perspective of the individual.“¹¹ Der Standpunkt des wahrnehmenden Subjekts ist der Ursprung eines egozentrischen Bezugssystems für räumliche oder zeitliche Beziehungen zwischen Dingen oder Ereignissen.
Vgl. Burge 1977, S. 50 Vgl. Burge 2011, S. 145 – 146 Burge 2009, S. 256
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Durch ihn ergibt sich, wo dort links und wann später ist.¹² Dass der Ursprung eine „Ich-Bedeutung“ hat, ist keine Eigenschaft des Standpunkts, sondern hat etwas mit dem Subjekt zu tun, das ihn einnimmt. Die „Implikationen, die de se-Repräsentationen für die Motivationen haben“, betreffen seine psychologischen Eigenschaften – seine Einschätzungen, Erfahrungen und Bedürfnisse.¹³ Burge verbindet den „Ursprung der Perspektive“ mit einem „Ort des Handelns“.¹⁴ Dass eine perspektivische, von einem Standpunkt abhängige Wahrnehmung so eng mit einem bestimmten Verhalten, oder mit der Motivation dazu, verknüpft wird, erklärt sich dadurch, dass Burge einen Begriff von Handlung aufgrund von Wahrnehmung verständlich machen will, der sich auch auf das Verhalten von Lebewesen bezieht, die über keine Sprache verfügen und auch nicht den Begriff der Ersten-Person haben, aber trotzdem de se-Einstellungen besitzen. Die egozentrischen Bezugssysteme, die solchen Repräsentationen zu Grunde liegen, sind konstitutiv für Handlungen;¹⁵ und selbst Insekten sollen über sie verfügen.¹⁶ Für Burge sind solche Bezugssysteme „phylogenetische Vorläufer“ des Begriffs der Ersten-Person.¹⁷ Seine Konzeption von de se-Repräsentationen verbindet den „Ursprung perspektivischer Wahrnehmung“ mit dem „Ort der Handlung“, weil die Konzeption ein von Wahrnehmungen geleitetes Handeln verständlich machen will, das wir auch sonst bei Lebewesen vorfinden. Dass man solche Repräsentationen haben kann, setzt nicht den Besitz der Fähigkeit voraus, das Personalpronomen der ersten Person im Singular zu verwenden. Diese Erweiterung und Veränderung des Begriffs einer de se-Repräsentation sind jedoch nicht nur interessant, wenn man sich mit der Frage nach dem evolutionären Vorläufer des Begriffs der Ersten-Person beschäftigt. Auch unabhängig davon ist eine solche Erweiterung interessant, weil sie es erlaubt, verschiedene Formen oder Stufen eines ich-bezogenen Verhaltens zu unterscheiden, das von einem von „egozentrischen“ Wahrnehmungen geleiteten Handeln bis hin zu kognitiven, rationalen Beurteilungen der eigenen Einstellungen und Erfahrungen, welche nicht ohne den Besitz eines Begriffs des Ersten-Person möglich sind, reicht. Für uns ist besonders wichtig, dass Burges Konzeption von de se-Repräsentationen den Begriff ihrer Referenz modifiziert: „Their references are held in place by their framework roles in a system of representations.“¹⁸ Wie wir gesehen
Vgl. Burge 2010, S. 287 Vgl. Burge 2003, S. 409: 2010, S. 287 Burge 2010, S. 287 Burge 2010, S. 201 Burge 2003, S. 409 Burge 2003, S. 409 Burge 2009, S. 256
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hatten, werden diese Rollen als „Ursprung der Perspektive“ und als „Ort des Handelns“ bestimmt. Was soll es heißen, dass sie den „Rahmen in einem System von Repräsentationen“ konstituieren? Dazu schreibt Burge: „The restriction in the egocentric indexes channels through the role in the framework rather than through helping the application discriminate an instance of a type. One does not perceive or think about the entities (the self or the place) that are marked by de se markers or egocentric indexes. … Application of such markers is fundamental in establishing the origin for a thinker or perceiver for a representational framework.“¹⁹ Er will damit sicherlich nicht sagen, dass wir uns selber oder den Ort, an dem wir sind, nicht ausdrücklich wahrnehmen oder explizit im Denken darauf Bezug nehmen können. Aber wir müssen es nicht, damit de se-Repräsentationen sich auf etwas beziehen. Anders formuliert: Sie haben eine Referenz auch dann, wenn ihr Inhalt sich nicht auf das Subjekt der Repräsentation oder den Ort, an dem es ist, bezieht. Der Begriff der singulären Referenz von de se- Repräsentationen muss daher so verstanden werden, dass sie sich auch dann auf etwas beziehen, wenn ihr Bezug eine Rolle für die Referenz von de re-Repräsentationen spielt. Diese Rolle besteht darin, dass sie den „Rahmen ihrer Repräsentation“ konstituieren, indem der Bezug einer de se-Repräsentation durch ihren Ursprung bestimmt wird. Im Falle der Wahrnehmung und der Erinnerung an etwas spielen de se- Repräsentationen eine solche Rolle, indem sie zu der „kontextuellen Festlegung“ des Rahmens der entsprechenden de re-Repräsentationen gehören.²⁰ Visuelle Wahrnehmung ist ein paradigmatischer Fall eines repräsentationalen de re-Zustands, sie soll aber auch „prototypisch de se“ sein.²¹ Während das Erste selbstverständlich ist, ist das Zweite eher merkwürdig, weil der Inhalt einer Wahrnehmung sich in der Regel nicht auf das Subjekt der Wahrnehmung bezieht. Der de se-Charakter der Wahrnehmung ergibt sich für Burge durch die Rollen, die das Subjekt für die Wahrnehmung hat. Sein Standpunkt bestimmt die Beziehungen zwischen dem, was repräsentiert wird. Der de se-Charakter einer solchen Repräsentation besteht in der Abhängigkeit der vorgestellten Beziehungen von diesem Standpunkt und betrifft den Inhalt der Repräsentation, etwa die räumlichen Beziehungen der wahrgenommenen Dinge relativ zu dem Standpunkt des wahrnehmenden Subjekts. Weiterhin gibt es ein bestimmtes Verhalten des Subjekts, das mit der Repräsentation koordiniert ist oder zu ihr passt. Unter normalen Bedingungen macht es in bestimmter Weise von ihr Gebrauch; es reagiert ent-
Burge 2009, S. 271 Vgl. Burge 2009, S. 271 Burge 2003, S. 409
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sprechend. Dieses Zusammenspiel von Repräsentation und Verhalten, das Burge an dem einfachen Beispiel der Wahrnehmung eines Gegenstands, der sich schnell auf einen zu bewegt, illustriert, begründet eine zweite Weise, wie de se-Repräsentationen auf ihr Subjekt bezogen sind. In dem Zusammenspiel manifestiert sich dessen Verständnis von der eigenen Situation und somit eine Art von Selbstverständnis. In diesem Selbstverständnis spielt das Subjekt eine besondere Rolle, ohne dass sein Standpunkt oder es selber wahrgenommen wird, und auch ohne dass sein Verhalten absichtlich auf sich selbst gerichtet ist. Daher schreibt Burge: „Ego enters not as perceived or as an object of consciousness, but as origin of perspective and locus of agency.“²² Wenn visuelle Wahrnehmung als ein paradigmatischer Fall eines de se-Verhaltens angesehen wird, dann muss dieses Verhalten nicht seinem Inhalte nach auf das Subjekt des Verhaltens gerichtet sein. Als Ursprung der räumlichen Beziehungen, die zwischen den wahrgenommenen Dingen bestehen, ist sein Standpunkt eine Bedingung der Wahrnehmung, ohne dass er selber wahrgenommen wird; und als derjenige, der von der Wahrnehmung betroffen ist, den die Wahrnehmung angeht, verhält sich das Subjekt situationsgerecht, indem es auf seine Wahrnehmung reagiert. Das Subjekt der Wahrnehmung spielt eine bestimmte Rolle für das, was wahrgenommen wird, ohne dass es zu dem gehört, was wahrgenommen wird. Es gibt demnach zwei Möglichkeiten des Bezugs von de se-Repräsentationen. Er kann erstens darin bestehen, dass sich der Inhalt der Repräsentation auf ihr Subjekt bezieht – etwa in der Weise, dass der Inhalt sprachlich durch das Personalpronomen der ersten Person im Singular formuliert werden kann. Der Bezug kann aber zweitens auch durch den Bezug einer de re- Repräsentation, deren Inhalt sich nicht auf das Subjekt der Repräsentation bezieht, wie es etwa bei Wahrnehmungen häufig der Fall ist, gegeben sein. Der Bezug der de se-Repräsentation ergibt sich in diesem Falle durch ihre „Rolle in einem Strukturrahmen“ des Systems von Repräsentationen, zu denen eine gegebene de re-Repräsentation gehört.²³ In Anlehnung an Heidegger kann man sagen: Das Subjekt der Repräsentationen ist immer dabei, auch wenn ihre Inhalte sich nicht auf ihr Subjekt beziehen. Dieses Dabei sein wird von Burge als „Ursprung“ einer Perspektive und als ein „Ort des Handelns“, der die „Ich-Bedeutung“ des Ursprungs anzeigt, bestimmt; und er hat dies im Hinblick auf visuelle Wahrnehmung genauer ausgeführt. Will man Heideggers Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt in eine Beziehung setzen zu der gegenwärtigen Diskussion von de se-Verhalten, dann ist es wichtig, den Zusammenhang eines solchen Verhaltens mit dem Verstehen der
Burge 2010, S. 287 Vgl. Burge 2009, S. 256
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eigenen Situation herauszuarbeiten. Hier bietet es sich an, die besondere Rolle von de se-Meinungen für ein situationsgerechtes Verhalten zu betrachten. John Perry hat dazu Überlegungen angestellt, die über Burges Analyse eines de seVerhaltens hinausgehen. Er betrachtet Meinungen, deren Inhalt nur mit Hilfe indexikalischer Ausdrücke formuliert werden kann. Solche Meinungen sind „wesentlich indexikalische“ Meinungen. Ein besonderer Fall dieser Meinungen sind de se-Meinungen, also Meinungen, die ein Sprecher durch die Verwendung des Personalpronomens der ersten Person im Singular zum Ausdruck bringt. Solche Meinungen spielen eine Rolle für das Verhalten des Subjekts der Meinung, wie Perrys Beispiel aus dem Supermarkt deutlich machen soll.²⁴ Ich gehe mit meinem Einkaufswagen durch die Abteilungen und sehe auf dem Boden eine Zuckerspur. Ich glaube daher, dass der Kunde mit einer beschädigten Zuckertüte hier Schaden anrichtet – making a mess -. Ich begebe mich auf der Suche nach ihm, um ihn darüber zu informieren, so dass er die Situation ändern kann. Je länger ich ihn suche, desto umfangreicher wird die Zuckerspur. Schließlich bemerke ich, dass ich der Kunde bin, der mit einer beschädigten Zuckertüte den Schaden anrichtet. Ich ändere also meine Meinung. Während ich vorher der Meinung war, dass der Kunde mit der beschädigten Zuckertüte Schaden anrichtet, bin ich nun der Meinung, dass ich den Schaden anrichte. Beide Meinungen haben dieselben Wahrheitsbedingungen, vorausgesetzt, dass ich der einzige bin, der zu der fraglichen Zeit in seinem Einkaufswagen eine solche Tüte hat. Auch die Ausdrücke ‚der Kunde mit der beschädigten Zuckertüte’ und ‚ich’, von mir in diesem Kontext geäußert, beziehen sich auf dieselbe Person. Die Sätze, die die verschiedenen Meinungen ausdrücken, haben denselben Wahrheitswert, ihre Teilausdrücke dieselbe Referenz. Trotzdem unterscheiden sich diese Meinungen in einem wesentlichen Punkt. Solange ich der Meinung war, dass der Kunde mit der beschädigten Zuckertüte Schaden anrichtet, habe ich ihn gesucht und wollte ihn darüber informieren. Sobald ich zu der Meinung komme, dass ich den Schaden anrichte, werde ich Abhilfe schaffen, indem ich den Inhalt meines Einkaufswagens in Ordnung bringe. Diese Meinung ist eine de se-Meinung ist; ihr sprachlicher Ausdruck enthält das Personalpronomen der ersten Person im Singular, dessen Verwendung eine hinreichende Bedingung für eine epistemisch transparente Selbst-Referenz ist. Dass ich mein Verhalten ändere, wenn ich zu einer solchen Meinung gelange, hat etwas mit ihrem de se-Charakter zu tun. Wie lässt sich dieser Zusammenhang erklären?
Perry 1979, S. 168 – 169
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Wie das Beispiel aus dem Supermarkt deutlich macht, gibt es einen Zusammenhang zwischen einer de se-Meinung und einem bestimmten Verhalten, welcher bei anderen Meinungen nicht gegeben oder anders beschaffen ist, wenn sie denselben Wahrheitswert haben, und ihr Inhalt sich auf dieselbe Person bezieht wie eine de se-Meinung. Eine solche Meinung wird durch einen indexikalischen Satz formuliert, der in einem bestimmten Kontext seiner Verwendung aufgrund seiner sprachlichen Bedeutung eine bestimmte Meinung ausdrückt. Derselbe Satz, von verschiedenen Sprechern geäußert, drückt verschiedene Meinungen aus, denen gemeinsam ist, dass das, was geglaubt wird, durch einen Satz mit derselben sprachlichen Bedeutung formuliert wird. Dieser Gemeinsamkeit entspricht ein mentaler Zustand, von Perry als belief state bezeichnet, den wir bei sprachkundigen Lebewesen mit Hilfe der Sätze identifizieren können, die sie für wahr halten, wenn sie diese Meinung haben und aufrichtig sind.²⁵ Für bestimmte Meinungen gilt, dass jemand in der Regel oder unter normalen Bedingungen ein bestimmtes Verhalten zeigt, wenn er in einem solchen mentalen Zustand ist. So wird jemand, der glaubt, von einem Bär angegriffen zu werden, Schutz suchen, jemand, der glaubt, verwundet zu sein, sich um seine Verletzung kümmern, jemand, der glaubt, Schaden anzurichten, sich um Abhilfe bemühen, usw. Es ist klar, dass wir uns jeweils andere Verhaltensweisen denken können. Diese Behauptungen gelten daher nur unter normalen Bedingungen. Worauf es ankommt, ist, dass es sich um allgemeine Behauptungen über de se-Meinungen einer bestimmten Art handelt, und dass sie sich auf den mentalen Zustand beziehen, in dem jemand ist, der eine solche Meinung hat. Er ist identisch bei denjenigen, die eine solche Meinung haben, und muss daher unterschieden werden von ihrem Inhalt, also von dem, was jemand glaubt, wenn er den entsprechenden indexikalischen Satz in einem bestimmten Kontext äußert. Denn dies ist bei verschiedenen Sprechern jeweils etwas Anderes. Es ist der mentale Zustand des Sprechers, der durch einen indexikalischen Satz mit einer bestimmten sprachlichen Bedeutung und ohne Berücksichtigung des Kontexts seiner Verwendung identifiziert werden kann. Wie die genannten Beispiele zeigen, gilt für diesen Zustand, dass er unter normalen Bedingungen mit einem bestimmten Verhalten verbunden ist. Perry schreibt: „We use sentences with indexicals … to individuate belief states, for the purposes of classifying believers in ways useful for explanation and prediction.“²⁶ Solche Erklärungen oder Vorhersagen sind deswegen möglich, weil es einen Zusammenhang zwischen dem mentalen Zustand des Sprechers, der sich dadurch identifizieren lässt, dass er einen indexikalischen Satz mit einer be-
Vgl. Perry 1979, S.181 Perry 1979, S. 181
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stimmten sprachlichen Bedeutung für wahr hält, und einem spezifischen Verhalten gibt. Ein solcher Zustand ist unter normalen Bedingungen mit einem solchen Verhalten verbunden. Wir müssen also zwischen diesem Zustand und dem unterscheiden, was ein bestimmter Sprecher in einem bestimmten Kontext der Äußerung eines Satzes glaubt. Jeder kann in dem mentalen Zustand sein, der mit Hilfe des Satzes ‚ich richte Schaden an’ identifiziert wird, aber jeder glaubt etwas Anderes, wenn er diesen Satz in einem gegebenen Kontext äußert und so eine bestimmte de seMeinung zum Ausdruck bringt. Es ist diese Meinung, die zu einer Veränderung des Verhaltens bei dem Kunden im Supermarkt führt. Auch wenn jeder etwas Anderes glaubt, wenn er diesen Satz äußert, so sind doch alle Sprecher in demselben Zustand, zu dem ein bestimmtes Verhalten gehört. Deswegen können wir ihr Verhalten erklären und vorhersagen. Demgegenüber ist seine Meinung, dass der Kunde mit der beschädigten Zuckertüte Schaden anrichtet, keine de se-Meinung, auch wenn er selber dieser Kunde ist; und der mentale Zustand, der durch die sprachliche Bedeutung eines Satzes identifiziert werden kann, ist mit einem anderen Verhalten verbunden, – zumindest im Falle eines zivilisierten Kunden eines Supermarkts, wie es offensichtlich John Perry ist. Ich fasse zusammen. Versteht man de se-Einstellungen als einen besonderen Fall von de re-Einstellungen, dann muss man davon ausgehen, dass ihr Inhalt sprachlich durch einen indexikalischen Satz formuliert werden kann. Im Unterschied zu einer de dicto- Einstellung ist das, was er besagt, abhängig von dem Kontext seiner Verwendung, der selber nicht sprachlich artikuliert und begrifflich repräsentiert wird. De se- Einstellungen teilen dies mit Einstellungen, deren Inhalt durch Sätze, in denen andere indexikalische Ausdrücke oder auch Demonstrativa vorkommen, formuliert wird, aber sie unterscheiden sich von diesen dadurch, dass sich der Inhalt explizit auf das Subjekt der Einstellung bezieht. Burge versteht de se-Repräsentationen als „ego-zentrierte indexikalische“ Repräsentationen und geht damit in zwei Punkten über die Auffassung, de se-Repräsentationen seien ein besonderer Fall von de re-Repräsentationen, hinaus. Erstens müssen jene Repräsentationen nicht einen Inhalt haben, der sich explizit auf das Subjekt der Repräsentation bezieht, so dass nun auch Repräsentationen, die auf Wahrnehmung beruhen, als de se-Repräsentationen angesehen werden können. Zweitens ergibt sich ihr de se-Charakter durch die besondere Rolle, die das Subjekt der Repräsentation für solche Repräsentationen hat. Sie besteht in dem Standpunkt des Subjekts, der als Ursprung eines räumlichen und auch zeitlichen Systems von Beziehungen zwischen den repräsentierten Dingen oder Ereignissen fungiert, und der eine Koordination von Repräsentation und Verhalten durch das Subjekt als „Ort des Handelns“ möglich macht. Denn de se-Repräsentationen beziehen sich nicht nur in bestimmter Weise auf Dinge oder Ereignisse, sondern
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sind unter normalen Bedingungen mit einem mehr oder weniger angemessenen Verhalten des Subjekts der Repräsentation verbunden. Ein solches situationsgerechtes Verhalten verlangt, dass es seine de se-Repräsentation in bestimmter Weise versteht. Sie hat, wie Burge sich ausdrückt, „certain practical and perspectival ego-implications in the individual’s psychology.“²⁷ Dies ist aber nur dann möglich, wenn das Subjekt sich seiner Repräsentation bewusst ist und somit weiß, dass es sie hat, und wie es sich zu verhalten hat. Diese elementare Form eines Selbstverständnisses steht im Zentrum von Perrys Analyse von de se-Meinungen, indem er die besondere Verhaltensweise diskutiert, die mit einer de seMeinung verbunden sein kann. Diese Verhaltensweise zeigt ein Verständnis der eigenen Situation, das einer Meinung, die nicht de se ist, auch wenn sie dieselben Wahrheitsbedingungen wie eine de se- Meinung hat, gerade abgeht. Was haben Theorien über de se-Repräsentationen und Einstellungen mit Heideggers Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt zu tun? Ist es überhaupt sinnvoll zu versuchen, sie miteinander zu vergleichen? Dagegen spricht, dass diese Konzeption sich ausschließlich auf die Lebenserfahrung von Menschen bezieht und daher eine Komplexität besitzt, die einer solchen Erfahrung Rechnung tragen will. Demgegenüber beschäftigen sich die betrachteten Theorien mit verschiedenen Arten von Repräsentationen und propositionalen Einstellungen und diskutieren sie anhand von Beispielen, ohne dass sie ihre Rolle im Rahmen einer allgemeinen Theorie menschlicher Lebenserfahrungen thematisieren. Weiterhin richtet sich Heideggers Konzeption kritisch gegen Konstrukte der traditionellen Philosophie, die in der gegenwärtigen Philosophie des Geistes und Sprachphilosophie als obsolet gelten und gar nicht erst erwähnt werden. Es gibt sicherlich noch viele andere Unterschiede, die etwas mit dem Stil des Philosophierens zu tun haben, durch die sich aber nicht eine Inkommensurabilität verschiedener philosophischer Ansätze ergibt. Es ist auf jeden Fall ein Versuch wert, ihre wesentlichen Unterschiede und relevanten Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Betrachten wir zuerst die Unterschiede. De se ist erstens eine Eigenschaft mentaler Repräsentationen oder psychologischer Zustände einzelner Subjekte. Demgegenüber ist das Sichselbsthaben in einer Welt die Struktur einer Lebenserfahrung, die eine Um- und Mitwelt betrifft, mit anderen geteilt und wesentlich auf andere bezogen ist. Zu dieser Erfahrung gehören natürlich auch mentale Repräsentationen einzelner Subjekte, aber sie erschöpft sich nicht darin. Während die Theorien über de se-Repräsentationen einem seit Descartes in der Philosophie weithin akzeptierten Paradigma verpflichtet sind, mentale Zustände einzelner
Burge 2010, S. 287
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Subjekte zu thematisieren, verwirft Heidegger dieses Paradigma und thematisiert die Lebenserfahrung von Menschen in einer mit Anderen gemeinsamen Welt aus. Diese fundamentale Differenz kann hier nur konstatiert, aber nicht diskutiert werden.²⁸ Zweitens wird der Bezug von de se-Repräsentationen in der Regel mit Hilfe des Personalpronomens der ersten Person Singular oder davon abhängigen Pronomina sprachlich formuliert. Ihr Bezug kann sich aber auch, wie die Überlegungen von Burge zur visuellen Wahrnehmung zeigen, durch die Rolle ergeben, die solche Repräsentationen für de re-Repräsentationen spielen. Demgegenüber besteht der Inhalt einer Lebenserfahrung nicht in einzelnen Dingen oder Sachverhalten, die für sich genommen betrachtet werden, sondern er gehört wegen seiner Bedeutsamkeit zu einer Welt. Leben ist immer Leben in einer Welt, und daher muss der Inhalt einer Lebenserfahrung stets in seiner Verbindung mit anderen Inhalten gesehen werden. Die Bedeutsamkeit der Inhalte der Lebenserfahrung verweist auf eine strukturierte Totalität, während der Inhalt von de seRepräsentationen isolierte einzelne Gegenstände oder Sachverhalte sind. Trotz dieser Unterschiede gibt es jedoch auch relevante Gemeinsamkeiten zwischen Heidegger einerseits und Burge oder Perry andererseits. Das Sichselbsthaben in einer Welt ist eine dreistellige Relation. Man hat sich daher immer in etwas, und dies ist, was immer als Inhalt der eigenen Lebenserfahrung fungiert. In diesem Inhalt muss das Subjekt der Erfahrung nicht eigens vorkommen, vergleichbar dem de se-Charakter visueller Wahrnehmungen im Sinne von Burge. Die Inhalte der Lebenserfahrung haben den Charakter der Bedeutsamkeit. Was ich erfahre, ist für mich irgendwie bedeutsam. Daher verweisen die Inhalte meiner Lebenserfahrung auf mich, der ich mich dazu irgendwie verhalte oder verhalten kann. Dem entspricht bei Burge, dass „de se Indikatoren … eine unmittelbare IchBedeutung“ besitzen und einen „Ort des Handelns“ anzeigen.²⁹ Die besondere Rolle, die das Subjekt für solche Repräsentationen hat, expliziert Heidegger am Beispiel der Erinnerung an etwas³⁰ und der Wahrnehmung eines Katheders³¹ und weist auf das entsprechende Verhalten des Subjekts hin, indem er betont, dass ich „irgendwie dabei bin“, dass das Repräsentierte „mich angeht“. Die Bedeutsamkeit der Inhalte meiner Lebenserfahrung begründet ihren de se-Charakter. Sie verlangt nicht, dass „das Michselbsthaben … ein über die Erfahrung und das Erfahrene reflektierendes, aus ihr heraustretendes zum Objekt-Machen des Ich …“³² Daher
Vgl. dazu etwa Haugeland 1995, S. 207– 237 Vgl. Burge 2009, S. 256 Heidegger 2010, S. 158 – 159 Heidegger 1999, S. 70 – 73 Heidegger 2010, S. 164
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kann Heidegger Burge nur zustimmen, wenn dieser schreibt: „Ego enters not as perceived or as an object of consciousness, but as origin of perspective and locus of agency.“³³ Eine weitere wichtige Gemeinsamkeit zwischen Heidegger einerseits und Burge und Perry andererseits besteht darin, dass die Bedeutsamkeit der Inhalte der Lebenserfahrung nicht ohne ein Verständnis der eigenen Situation des Subjekts der Erfahrung möglich ist. Wie Burge am Beispiel der Wahrnehmung und Perry am Beispiel einer de se-Meinung deutlich machen, beruht die Koordination einer de se- Repräsentation und einem situationsgerechten Verhalten auf einem Verständnis der eigenen Situation. Wie die Repräsentation mehr oder weniger korrekt sein kann, so auch das Selbstverständnis. Heidegger betont, dass mein Sichselbsthaben in meiner Lebenserfahrung die Verständlichkeit der Situation, in der ich eine solche Erfahrung mache, impliziert: „Ich habe mich selbst, heißt: die lebendige Situation wird verständlich.“³⁴ Die Verständlichkeit der Situation betrifft meine Situation, „… worin ich lebend mir selbst verständlich bin …“³⁵ Das Michselbsthaben in einer Situation besteht in ihrer Verständlichkeit, die immer auch ein Sichselbstverstehen einschließt. Das Michselbsthaben in meiner Lebenserfahrung begründet daher ein in Situationen fundiertes Selbstverstehen, wie insbesondere Perry durch den Vergleich von de se-Meinungen mit Meinungen, die nicht de se sind, aber sich auf dieselbe Person beziehen und dieselben Wahrheitsbedingungen haben, deutlich gemacht hat. Die philosophische Bedeutung von Heideggers Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt ist jedoch nicht angemessen erfasst, wenn man sich darauf beschränkt, sie mit heutigen Auffassungen zu vergleichen und Berührungspunkte, aber auch Unterschiede deutlich zu machen. Da es ihm darum geht, einen neuen Begriff des Selbst zu explizieren, stellt sich die Frage, welche Bedeutung er für die gegenwärtige Diskussion über das Selbst hat. Um sie zu beantworten, muss man nicht auf die Kritik eingehen, die Heidegger selber an Konzeptionen des Selbst geübt hat, die Philosophen wie Descartes, Kant oder Husserl vertreten haben; es kommt vielmehr darauf an, kritische Einwände gegen heutige Auffassungen des Selbst vorzubringen, welche sich auf der Grundlage seiner Überlegungen entwickeln lassen. Aber welche Positionen kommen hier in Betracht? Der gegenwärtige Stand der Diskussion ist unübersichtlich und schwer einzugrenzen. Es handelt sich um eine komplexe Theoriekonstellation, in der ganz unterschiedliche Themen miteinander verknüpft sind. So gehen viele davon aus, dass
Burge 2010, S. 287 Heidegger 2010, S. 166 Heidegger 2010, S. 165
3.1 Perrys Theorie des Selbst
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nur solche Lebewesen ein Selbst sind oder ein Selbst haben, die ein Bewusstsein von ihrer diachronen Identität besitzen, und beschäftigen sich daher vor allem mit dem Begriff der personalen Identität. Zu diesem Thema hat Heidegger wenig oder nichts zu sagen. Andere diskutieren das Thema Selbst im Ausgang von dem Begriff des Selbstbewusstseins und konzentrieren sich auf eine Analyse der verschiedenen Arten von Bewusstsein und ihrer Beziehungen untereinander. Heidegger lehnt diesen Ansatz ab, orientiert sich aber in seiner Kritik an traditionellen Auffassungen von Bewusstsein, so dass sich auch hier wenige Berührungspunkte mit heutigen Positionen ergeben. Schließlich gibt es die Möglichkeit, sich mit dem Thema Selbst zu beschäftigen, indem man von dem Selbst-Wissen ausgeht und der Frage nach den relevanten Unterschieden zwischen dem Wissen, das wir von uns selber haben, und dem Wissen, das andere Dinge betrifft, nachgeht. Dieser Ansatz lässt sich in eine Beziehung zu Heideggers Überlegungen setzen, und einige Vertreter dieses Ansatzes werden daher im Folgenden besprochen werden. Ich werde jedoch nicht den Versuch unternehmen, so etwas wie ein systematisches Tableau der Themen zu skizzieren, die in der gegenwärtigen Diskussion des Selbst-Begriffs eine Rolle spielen, um dann Heideggers Position in diesem Rahmen zu bestimmen. Ich beschränke mich vielmehr auf eine Betrachtung solcher Positionen, die in einem deutlichen, direkten Kontrast zu Heideggers Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt stehen, und begnüge mich damit, die relevanten Unterschiede herauszuarbeiten. Diese Konzeption im Kontext der komplexen Theoriekonstellation der gegenwärtigen Debatte zum Selbst-Begriff zu lokalisieren und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Konzeption im Hinblick auf die mannigfaltigen heute vertretenen Positionen zu explizieren, ist ein Projekt, das den Rahmen des Buches sprengen würde.
3.1 Perrys Theorie des Selbst Ich beginne mit Perrys Analyse des Begriffs des Selbst, die er in verschiedenen Arbeiten entwickelt hat. Ich stelle zuerst seinen Ansatz dar und zeige dann unter Berücksichtigung von Heideggers Überlegungen seine Mängel auf. Er beschäftigt sich sowohl mit dem Verhältnis, das zwischen Personen und ihrem Selbst besteht, als auch mit dem Selbst-Begriff, den eine Person hat. Das verbindende Glied der Diskussion dieser beiden Themen ist eine bestimmte Art von Selbst-Wissen, das die Grundlage für ihr Verhalten in einer bestimmten Situation und für die Identifizierung ihres Selbst-Begriffs ist. Das Selbst einer Person ist ihre Rolle, die in den Eigenschaften begründet ist, die ihr ein solches Verhalten ermöglichen. Demgegenüber beschäftigen sich die Überlegungen zum Selbst-Begriff mit dem
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Wissen aus, das ein Akteur von sich selber hat, und bemühen sich darum, einen Kernbereich dieses Wissens durch die Weise seines Erwerbs auszuzeichnen. Ich werde zuerst den Begriff der Rolle klären, der das Verhältnis zwischen einer Person und ihrem Selbst beschreiben soll. Personen sind für Perry „physikalische Systeme mit der Einheit, die solche Systeme besitzen können“.³⁶ Demnach ist das Selbst ein physikalisches System. Es ist allerdings zu beachten, dass „das Selbst die Person ist, sofern sie betrachtet wird als Akteur, Wissender, Subjekt von Wünschen und bewusstes Subjekt von Erfahrung.“³⁷ Nicht alle physikalischen Systeme können in dieser Weise betrachtet werden. Dass einige Systeme so betrachtet werden können, hat etwas mit ihren besonderen Eigenschaften zu tun. Die Beschäftigung mit einem Selbst ist demnach eine Beschäftigung mit einem physikalischen System unter einem bestimmten Gesichtspunkt seiner korrekten Beschreibung oder Betrachtung. Einige physikalische Systeme haben ein Selbst als ihre Rolle.Was damit gemeint ist, wird durch eine Analyse der Verwendung von indexikalischen Ausdrücken erläutert. Perry schreibt: „Indexicals differ from names and descriptions in that they are associated, by their meanings, with what I shall call utterance-relative roles. The object that occupies the role, relative to a given utterance of an indexical, is the object to which the indexical refers to …“³⁸ Äußerungs-bezogene Rollen sind ein besonderer Fall von Rollen; und es sind Gegenstände, die eine Rolle haben oder besitzen. Ein Gegenstand hat eine äußerungs-bezogene Rolle nur dann, wenn es einen Kontext der Äußerung eines Wortes gibt. Es handelt sich nur um eine notwendige Bedingung dafür, dass ein Gegenstand eine Rolle hat. Denn es kann einen solchen Kontext geben, etwa für die Verwendung des Wortes ‚du‘ oder eines Demonstrativpronomens, ohne dass etwas gibt, worauf sie sich in einem solchen Kontext beziehen. Diese Möglichkeit ist jedoch bei der Verwendung von indexikalischen Ausdrücken ausgeschlossen, deren Äußerung sich auf die konstitutiven Momente des Kontexts ihrer Verwendung beziehen, also etwa bei dem Gebrauch von Worten wie ich, hier und jetzt. Für Perry ergibt sich der Zusammenhang eines indexikalischen Ausdruck mit der Rolle, die der Gegenstand hat, auf den sich der Ausdruck in einem gegebenen Kontext seiner Verwendung bezieht, durch seine Bedeutung. Als Bedeutung versteht er, wie Kaplan, die Regel, die festlegt, worauf sich die Äußerung eines Ausdrucks bezieht, also im Falle von ich derjenige, der das Wort äußert. Hat ein Gegenstand eine äußerungs-bezogene Rolle, so besteht sie darin, dass auf ihn in einer bestimmten Weise Bezug genommen wird. Ein
Perry 2002a, S. 191 Perry 2002a, S. 190 Perry 2013, S. 377
3.1 Perrys Theorie des Selbst
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Gegenstand kann eine solche Rolle nur haben, wenn es jemanden gibt, der sich in einem bestimmten Kontext der Äußerung auf ihn bezieht. Im Folgenden versucht Perry, diese Konzeption allgemeiner zu fassen. Nicht nur Personen können eine Rolle haben, sondern auch Tage. So hat der heutige Tag eine bestimmte Rolle, wenn er in einer bestimmten Beziehung zu einer Äußerung des Wortes ‚heute‘ steht: Es ist der Tag, an dem es geäußert wird.³⁹ Aber die Rollen, die Gegenstände haben oder haben können, ergeben sich nicht nur dadurch, dass sie dasjenige sind, worauf sich die Äußerung von sprachlichen Ausdrücken aufgrund ihrer semantischen Regeln beziehen. Eine Rolle kann auch in dem Verhältnis begründet sein, das zwischen einem Sachverhalt und seiner Betrachtung oder Untersuchung besteht: „If you want to know whether the sun is shining on a given day, look into the sky. If you want to know whether it is raining, look out the window. These methods are not utterance – bound … But they are inquiry – bound. They are methods for knowing about the day on which the inquiry is conducted.“⁴⁰ Während die Rollen von Gegenständen, die in einer sprachlichen Äußerung fundiert sind, etwas mit der Art und Weise, wie wir uns auf sie beziehen, zu tun haben, ergeben sich die Rollen, die in einer Untersuchung begründet sind, durch das Verhältnis, das zwischen den untersuchten Gegenständen und dem Verfahren ihrer Untersuchung besteht. Die von Perry erwähnten Verfahren sind nur einschlägig, wenn man wissen will, wie es sich mit dem Wetter heute, genauer: hier und jetzt verhält. Wie es heute Morgen hier war, und wie es heute Abend sein wird, kann man so nicht herausbekommen. Es geht also um das Wetter in einer bestimmten Situation und um ein darauf abgestimmtes Verfahren seiner Untersuchung. Dazu müssen die Zeit und der Ort des Wetters mit der Zeit und dem Ort der Untersuchung übereinstimmen. Die letzteren gehören zum Kontext der Untersuchung, und die von Perry diskutierte Rolle des heutigen Wetters ist auf diesen Kontext bezogen. In diesem Punkte besteht eine Gemeinsamkeit mit der zuvor betrachteten äußerungs-gebundenen Rolle eines Gegenstands. Für Perry handelt es sich um besondere Fälle von „rollen–basierten Weisen des Handelns“.⁴¹ Dafür gibt er das folgende Beispiel: „There is a certain way of picking up a cup of coffee that is a way of picking up the cup of coffee in front of us. It will work for any person, and any cup of coffee, as long as that cup of coffee is in the right relation to – plays the right role in the life of – the person at the time of action.“⁴² Die Rolle, die eine Tasse Kaffee haben kann, ergibt sich durch ihre Beziehung zu
Perry 2013, S. 378 Perry 2013, S. 378 Perry 2013, S. 379 Perry 2013, S. 379
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dem situationsgerechten Verhalten einer Person. Für einen solchen Umgang ist es notwendig, dass eine raum-zeitliche Koordination des Handelns mit dem Gegenstand besteht: Gehandelt wird hier und jetzt, und entsprechend muss es eine Tasse sein, die jetzt vor einem steht. Weiterhin müssen Normalitätsbedingungen gelten, sowohl für den Akteur als auch für das Objekt. Wenn dieser gelähmt ist oder sonst in seiner Bewegungsfähigkeit beeinträchtigt, oder wenn das Objekt bei jeder Berührung zerspringt, gibt es die von Perry ins Auge gefasste Weise des Handelns nicht. Die Rolle, die die Tasse spielt, besteht in der „richtigen“ Beziehung, in der sie zu dem Akteur steht. Er spricht auch von der „richtigen Rolle“ der Tasse. Was gemeint ist, lässt sich erklären, wenn man die Möglichkeit eines erfolgreichen Handelns betrachtet. Die Tasse Kaffee spielt die richtige Rolle in dem Leben des Akteurs, wenn sie so beschaffen ist und in solcher räumlichen und zeitlichen Beziehung zu seinem Handeln steht, dass das Tun erfolgreich ist. Hier lassen sich Umstände denken, bei denen es scheitert – Umstände, die aber unter normalen Bedingungen nicht vorliegen. Die richtige Rolle eines Objekts ermöglicht ein erfolgreiches Umgehen mit ihm; und dass es überhaupt eine Rolle in dem Leben einer Person spielt, besagt, dass es ein Umgehen, erfolgreich oder nicht, mit ihm gibt. Der allgemeine Begriff der Rolle, den diese verschiedenen Fälle exemplifizieren wird, lässt sich in folgender Weise bestimmen. Es geht um die Beschaffenheit von Dinge oder Situationen, welche ein bestimmtes Verhalten zu ihnen ermöglichen. Ihre Rollen ergeben durch ihre Beziehungen zu bestimmten Aktivitäten von Personen. Die Beziehung verlangt eine Koordination des Orts und der Zeit des Gegenstands und dem Ort und der Zeit der Aktivität, und nur dadurch wird so etwas wie ein erfolgreiches Handeln möglich. Die Aktivitäten können von ganz unterschiedlicher Art sein: Äußerungen eines Sprechers, Untersuchungen oder ein praktischer Umgang mit den Dingen. Gegenstände müssen keine Rolle haben, sie können das sein, was sie sind, ohne dass sie in einer Beziehung zu einem Verhalten einer Person stehen; und sie können verschiedene Rollen besitzen, je nachdem auf welche Aktivität von welcher Person sie bezogen werden. Gegeben dieser allgemeine Begriff der Rolle, wie ist die Rolle einer Person zu verstehen, die als ihr Selbst bezeichnet wird? Perry behauptet, dass seine Überlegungen zu der Rolle eines Ortes als „Hier“ uns „helfen zu verstehen, worin das Denken über eine Person als „Ich“ besteht.“⁴³ Was mit einem solchen Denken gemeint ist, wird nicht erläutert, aber man kann versuchen, es auf folgende Weise deutlicher zu machen. Wir können uns über alles Mögliche Gedanken machen, u. a. auch über Personen; und ein besonderer
Perry 2002a, S. 198
3.1 Perrys Theorie des Selbst
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Fall davon ist, dass man sich Gedanken über sich selber macht. Wenn wir diese sprachlich artikulieren, so verwenden wir im Deutschen in der Regel das Wort ‚ich‘. Solche Gedanken können ganz unterschiedliche Dinge betreffen und haben eine unterschiedliche Bedeutung für denjenigen, der über sich nachdenkt. Die Beispiele, die Perry für ein solches Denken gibt, sind allerdings wenig repräsentativ. Er betrachtet den Fall, dass man einen Regenschirm mitnimmt, weil man sieht, dass es regnet.Wahrnehmen kann ich nur das, was hier und jetzt der Fall ist, und dadurch erklärt sich, wie ich mich hier und jetzt verhalte. Dieser Zusammenhang soll vergleichbar sein mit der Situation, dass ich deswegen etwas esse, weil ich fühle, dass ich Hunger habe.⁴⁴ Mein Gefühl informiert mich darüber, wie es sich mit mir verhält. Nur ich kann meinen Hunger fühlen; und dieses Gefühl ist für mich vielleicht ein Grund, etwas zu essen. Aber was hat das mit einem „Denken über eine Person als „Ich“ zu tun? Es geht um das Verhalten einer Person, das sich durch die Informationen, die sie auf bestimmte Weise erwirbt, erklärt. Man kann aus verschiedenen Gründen etwas essen, u. a. deswegen, weil man Hunger hat; und das gilt ebenso für das Mitnehmen eines Regenschirms. Die Fälle, für die sich Perry interessiert, haben die Besonderheit, dass sie eine Information, die ich hier und jetzt bekomme, mit einem gegenwärtigen Verhalten verbinden.Wenn solche Fälle Beispiele für ein „Denken über eine Person als „Ich“ sein sollen, dann hat das wenig mit einem reflexiven Denken im Allgemeinen zu tun. Es geht um Reaktionen auf Informationen, die durch die Weise, wie sie erworben werden, Informationen über sich selber sind oder zumindest solche Informationen enthalten. Es wundert einen daher nicht, dass Perry anhand dieser Beispiele deutlich machen will, dass wir so reagieren können, ohne den Begriff eines Ich oder Selbst zu haben. Mein Gefühl des Hungers ist ein Grund, etwas zu essen. Dies soll zeigen, dass mein Gefühl „eine „selbst-informierende Wahrnehmung ist und unter gewöhnlichen Umständen selbst-bezogene Handlungen auslösen kann, ohne dass es mit einem selbst-unabhängigen Begriff seiner selbst verbunden sein muss.“⁴⁵ Was ist ein Begriff seiner selbst, der selbst-unabhängig ist, im Unterschied zu einem solchen Begriff, der selbst-abhängig ist? Perry behauptet, dass man Informationen über sich selbst erwerben und anwenden kann, „ohne zu wissen, wer man ist, sofern nur die Information in selbst-informierenden Weisen erworben und in selbst-bezogenen Weisen angewandt wird.“⁴⁶ Aber was soll es heißen, dass man nicht weiß, wer man ist? Als Beispiel wird jemand erwähnt, der unter Ge-
Perry 2002a, S. 206 Perry 2002a, S. 206 Perry 2002a, S. 206
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dächtnisschwund leidet. Er weiß vieles nicht, was ihn betrifft oder betroffen hat. Aber weiß er nicht, wer er ist? Und selbst wenn dies der Fall wäre, was hat dieser pathologische Fall damit zu tun, dass ich jetzt etwas esse, weil ich jetzt Hunger verspüre? Perry weist darauf hin, dass es den erwähnten Zusammenhang zwischen Gefühlen und Handlungen auch bei Tieren gibt, die sicherlich nicht das Personalpronomen der ersten Person im Singular verwenden können.⁴⁷ Aber Wesen, wie wir es sind, können es. Wenn wir etwas essen, weil wir Hunger haben, müssen wir von dieser Fähigkeit keinen Gebrauch machen. Aber dies bedeutet ja nicht, dass unser Verhalten für uns und andere verständlich ist, ohne dass wir wissen, was und weshalb wir etwas tun. Wenn wir dieses Wissen sprachlich formulieren, werden wir in der Regel im Deutschen von dem Wort ‚ich‘ Gebrauch machen. Damit wird ein Faktum konstatiert, aber es ist nicht klar, was sich daraus für den Besitz eines Begriffs des Ich oder Selbst ergibt. Dass wir etwas essen, weil wir Hunger haben, zeigt nicht, dass wir kein Wissen davon, wer wir sind, was immer das genauer heißen mag, haben müssen.⁴⁸ Und vor allem: Das übergeordnete Ziel von Perry, durch Überlegungen zu einem rollen-fundierten Verhalten den besonderen Charakter des „Denkens über eine Person als ‚Ich‘“ deutlich zu machen, bleibt völlig im Dunklen. Die von ihm diskutierten Beispiele zeigen weder, was dieses Ziel sein soll, noch, wie man es erreichen kann. Der Begriff der Rolle, der durch die Betrachtung der Verwendung indexikalischer Ausdrücke, des situationsabhängigen Erwerbs von Wissen über die Umgebung oder des situationsgerechten Verhaltens zu Kaffeetassen illustriert werden soll, gibt keinen Aufschluss über die Besonderheiten eines Denkens, das sich mit dem Subjekt des Denkens beschäftigt. Kann der Begriff auf andere Weise expliziert werden? Perry schreibt: „Selves are persons. Self is a role persons play. One’s self is like today or one’s home or one’s father; a perfectly ordinary object, thought of in virtue of its relation to the thinking agent.“⁴⁹ Der Vergleich des eigenen Selbst mit dem eigenen Haus oder dem eigenen Vater zeigt deutlich, dass man nicht von einem Selbst tout court sprechen kann. Ein Selbst ist immer das Selbst von jemanden, es ist etwas, was in einer bestimmten Beziehung zu jemandem steht, so wie das eigene Haus das Haus von jemandem oder der eigene Vater der Vater von jemandem ist. Das Selbst einer Person soll die Person sein, deren Selbst es ist: „The relation associated with ‚self‘ is just identity. That is, if x is y‘s self, then x = y.“⁵⁰ In diesem Punkte unterscheidet sich das Selbst einer Person von den „ganz gewöhnlichen Objekten“, mit denen es verglichen wird. Denn weder die Bezie
Perry 2013, S. 382 Vgl. auch Peacocke 2012, S. 155 Perry 2013, S. 380 Perry 2013, S. 380
3.1 Perrys Theorie des Selbst
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hung, in der ein Haus zu seinem Besitzer steht, noch die Beziehung eines Vater zu seinem Kind sind Identitäts-Beziehungen. Die Beziehung, in der das Selbst zu der Person steht, dessen Selbst es ist, besteht darin, dass die Person „gedacht wird im Hinblick auf seine Beziehung auf den denkenden Akteur.“ Die Person ist ein „ganz gewöhnliches Objekt“, also ein „physikalisches System mit der Einheit, die solche Systeme haben können“.⁵¹ Hier stellen sich zwei Fragen: Was besagt es, ein solches System im Hinblick auf seine Beziehung zu dem „denkenden Akteur“ zu denken oder zu repräsentieren? Und worin besteht diese Beziehung? Was die erste Frage angeht, so hatten wir schon gesehen, dass es um die besondere Betrachtungsweise eines Gegenstands geht .⁵² Er wird repräsentiert als etwas, das bestimmte Eigenschaften oder Fähigkeiten besitzt. Die Betrachtung des Selbst einer Person ist ihre Betrachtung unter dem Gesichtspunkt, dass sie ein kognitiver Akteur ist, also bestimmte kognitive Fähigkeiten hat. Weshalb eine solche Betrachtung und allein sie für die Bestimmung des Selbst einer Person relevant ist, wird nicht begründet. Was die Beziehung angeht, die zwischen der Person und ihrem Selbst besteht, so handelt es sich darum, dass die Person gewisse Fähigkeiten besitzt. Eine solche Beziehung unterscheidet sich von den Beziehungen, die etwa zwischen einem Kind und seinem Vater oder einem Haus und seinem Besitzer vorliegen, mit denen das Selbst einer Person verglichen wird. Worin besteht nun die Rolle einer Person, wenn man sie als kognitiver Akteur versteht oder denkt? Perry lehnt die Auffassung ab, dass das Selbst „ein innerer Akteur und Beobachter oder geheimnisvolles Prinzip“ ist.⁵³ Der Akteur soll sicherlich kein cartesianisches Ego sein. Aber was ist er? Als ein Beispiel für Verhaltensweisen eines kognitiven Akteurs werden „selbst-fundierte Methoden der Untersuchung und selbst-bezügliche Weisen etwas zu tun“ genannt.⁵⁴ Es geht um Verhaltensweisen, die etwa durch den Fall, dass man aus einem Glas Wasser, das vor einem steht, trinkt, weil man durstig ist, illustriert werden können. Solche Verhaltensweisen finden wir auch bei höheren Lebewesen, die „keine Vorstellung von sich selbst haben – geschweige denn ein Pronomen der ersten Person.“⁵⁵ Nach Meinung von Perry ist das aber kein Grund, ihnen ein „primitives Selbst-Wissen“ abzusprechen.⁵⁶ Was immer man von diesen Überlegungen halten mag, es ist auf jeden Fall klar, dass die von ihm betrachteten Verhaltensweisen nichts über das Selbst von Personen aussagen, sofern sie als
Perry 2002a, S. 191 Vgl. S. – Perry 2002a, S. 191 Perry 2013, S. 380 Perry 2013, S. 382 Perry 2013, S. 382
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kognitive Akteure betrachtet werden, die eine Vorstellung von sich selbst besitzen und das Personalpronomen der ersten Person verwenden können. Über das Selbst von Personen, wie wir es sind, erfahren wir durch seine Überlegungen nichts. Zusammenfassend kann man sagen, dass Perrys Überlegungen zu dem Selbst als der Rolle einer Person nicht überzeugen. Die Identifizierung des Selbst mit der Person wird nicht expliziert, und die Annahme, das Selbst sei ein „ganz gewöhnliches Ding“, wird nicht begründet. Wie der allgemeine Begriff der Rolle auf Personen angewendet werden soll, bleibt im Dunklen, und es wird nicht erklärt, weshalb sich diese Rolle mit Rekurs auf die kognitiven Fähigkeiten einer Person bestimmen lassen soll. Es gibt viele solche Fähigkeiten, und sie sind sehr verschiedenartig. Die von Perry favorisierten selbst-informativen Weisen des Erwerbs von Informationen sollen sich auch bei Tieren finden, die über keine Sprache verfügen und daher nicht den Begriff der Ersten-Person besitzen. Was sich daraus für den Selbst-Begriff von Personen ergeben soll, ist unklar. Wenn der Begriff der Rolle so, wie er ihn expliziert, für ein Verständnis des Selbst von Personen wenig oder nichts einbringt, dann kann man versuchen, mit Hilfe von Heideggers Konzeption des Michselbsthabens in einer Welt das zu interpretieren, was Perry verständlich machen will, aber nicht verständlich macht. Sein Begriff der Rolle betrifft Eigenschaften oder Beziehungen, die etwas haben muss, damit sich Personen in bestimmter Weise dazu verhalten können. Heidegger spricht von den Inhalten einer Lebenserfahrung, und dazu gehören sicherlich auch eine Tasse Kaffee, die vor einem steht, und das heutige Wetter. Solche Inhalte haben eine bestimmte Bedeutsamkeit, deretwegen sie zu einer Welt gehören, in der sich jedes Leben abspielt, und die nicht nur eine Um-, sondern auch eine Mitwelt ist. Die Bedeutsamkeit der Dinge, Zustände und Ereignisse ist mir vertraut und ermöglicht mir ein verständliches Umgehen mit ihnen. Man kann diese Überlegungen als eine Erweiterung und Verallgemeinerung dessen verstehen, was Perry an Beispielen wie Tassen Kaffee, die vor einem stehen, oder der Mitnahme eines Regenschirms aufgrund eines Blicks aus dem Fenster illustriert. Ich sehe hier mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Wie lässt sich nun der Begriff der Rolle auf das Selbst einer Person anwenden? Es muss sich um Eigenschaften, die eine Person hat, oder um Beziehungen, in denen sie zu sich selber steht, handeln, die es ihr erlauben, sich in bestimmter Weise zu sich selber zu verhalten. Als Beispiele führt Perry bestimmte Bewegungen der eigenen Hand, die dazu führen, dass man seinen Kopf kratzt, oder Hungergefühle, die einen darüber informieren, dass man Hunger hat, an, – also Beispiele für ein selbst-gerichtetes Tun und für eine selbst-informative Weise, etwas über sich zu wissen. Wir hatten gesehen, dass seine Interpretation dieser Beispiele wenig aufschlussreich ist. Für Heidegger besteht das Selbst einer Person in einem Sichselbsthaben, das als die Verständlichkeit einer gelebten Situation
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bestimmt wird. Das Selbst wird also mit Rekurs auf das Verstehen der eigenen Situation erläutert. Dieses Verstehen ist immer auch ein Selbstverstehen, weil die eigene Situation verstanden wird. Wie lässt sich ein solches Selbstverstehen an den Beispielen von Perry aufweisen? Betrachten wir zuerst den Fall eines SelbstWissens, das auf selbst-informative Weise erworben wird. Das Gefühl des Hungers informiert mich darüber, dass ich Hunger habe. Die Situation, Hunger zu spüren, ist eine mir verständliche Lebenserfahrung. Das kann vielerlei besagen, aber unter anderem auch, dass ich weiß, dass nur ich meinen Hunger spüren kann, und dass das, was ich auf diese Weise empfinden, nichts Anderes sein kann als mein Hunger. Ich verstehe also bestimmte Besonderheiten phänomenal bewusster Zustände – nicht in der Weise, dass ich eine Theorie des phänomenalen Bewusstseins besitze, sondern so, dass ich mit solchen Empfindungen auf verständliche Weise umgehe und mir klar wird, dass ich Hunger habe. Dass ich meine Situation, Hunger zu spüren, verstehe, ist eine unverzichtbare Bedingung für mein Verhalten in dieser Situation. Dieses Mich selbst Verstehen in einer Situation wird natürlich viel komplizierter, wenn wir Weisen des Erwerbs von Selbst-Wissen, die nicht selbst-informativ sind, betrachten, wie sie etwa Perry am Beispiel des Wissens, wann ich aufstehen muss, welches ich durch das Studium meines Flugtickets erwerbe, diskutiert.⁵⁷ Dass das eigene Tun „selbst-gerichtet“ oder auch „selbst-sensibel“ (self-sensitive) ist, gilt nach Perry für alle elementaren Formen des Handelns und wird von ihm am Beispiel, dass ich eine Tasse an mich heranziehe, erläutert.⁵⁸ Dadurch verändert sich zuerst einmal der Ort der Tasse, aber natürlich auch das Verhältnis, in dem ich zu ihr stehe.⁵⁹ Dieses Verhältnis besteht jedoch nicht nur in der räumlichen Beziehung, die zwischen mir und der Tasse besteht, sondern auch und vor allem in dem mir möglichen Verhalten zu einer Tasse, die in dieser Entfernung vor mir steht. Ich kann etwas tun, was ich vorher nicht tun konnte. Ich kann sehen, was in ihr ist, aus ihr trinken, usw. Ich kann mit ihr in bestimmter Weise umgehen. In diesem Umgang manifestiert sich mein Verständnis der Situation, die sich durch mein Tun ergibt, und das Verständnis ist immer auch ein Verständnis der Situation, in der ich mir hier und jetzt befinde. Die Tasse als etwas Zuhandenes hat nach Heidegger eine bestimmte Bedeutsamkeit. Das betont auch Perry: „I have an effect on objects that play a certain role in my life at that time …“⁶⁰ Diese Bedeutsamkeit ist mir vertraut: Ich weiß, wie man mit Tassen umgeht;
Vgl. Perry 2002a, S. 209 Perry 2013, S. 381 Vgl. Perry 2013, S. 381 Perry 2013, S. 381
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und daher verstehe ich die Situation, in der sich mein Tun abspielt. Dieses Verständnis wird nicht angemessen beschrieben, wenn man sich mit der Feststellung einer Veränderung der Entfernung, die zwischen der Tasse und mir besteht, begnügt, wie dies Perry tut.⁶¹ Denn der wichtige Aspekt des Selbst-Bezugs einer solchen Handlung ergibt sich erst dadurch, dass man meinen, in der Verständlichkeit der Situation fundierten Umgang mit der Tasse berücksichtigt. Der mir vertraute Umgang zeigt, dass mir meine Situation verständlich ist. Heidegger spricht von einem Michselbsthaben in dieser Situation und bringt damit den relevanten Selbst-Bezug, den Perry als eine Eigenschaft solcher Handlungen betont, deutlich zum Ausdruck. Man kann also feststellen, dass trotz aller Unterschiede in der Terminologie und in der Wahl der Beispiele die Überlegungen beider zum Selbst miteinander in Beziehung gesetzt werden können, und dass Heideggers Konzeption des Sichselbsthaben in einer Welt eine geeignete und überzeugende Interpretation der Phänomene gibt, die Perry mit Hilfe des Begriffs der Rolle zu erläutern versucht. Ganz anders verhält es sich mit seiner Auffassung des Selbstverständnisses einer Person, die er im Rahmen einer Analyse ihres SelbstBegriffs entwickelt. Hier liefert jene Konzeption einen geeigneten Ansatz für eine grundlegende Kritik an dieser Auffassung. Perry geht es darum, einen „grundlegenden Begriff einer Person von sich selbst“ zu bestimmen,⁶² der auch als der „Kern unserer Selbst-Begriffe“ bezeichnet wird.⁶³ Wenn es einen Kern gibt, dann gibt es auch eine Peripherie. Es gibt demnach verschiedene Selbst-Begriffe einer Person, und die Klärung der Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen, ist ein wesentlicher Teil seines Projekts. Was ist ein Selbst-Begriff? Perry spricht von „einem Begriff, den eine Person von sich hat“ und bezeichnet solche Begriffe als self-notions, die in dem Inhalt von reflexiven Meinungen vorkommen können.⁶⁴ Der Inhalt von Meinungen besteht aus Vorstellungen (ideas), die sowohl durch singuläre als auch durch generelle Termini ausgedrückt werden, und deren geeignete Verbindung den propositionalen Inhalt einer Meinung ausmacht.⁶⁵ Notionen sind Vorstellungen, die sich auf einzelne Dinge beziehen; ihre sprachlichen Ausdrücke sind singuläre Termini. Ich verwende dafür das Wort Begriff, obwohl dies eher missverständlich ist. Derselbe Begriff kann ein gemeinsamer Bestandteil des Inhalts verschiedener Meinungen sein, die dann eine Datei (file) bilden und sich auf dasselbe Individuum beziehen. Weiterhin unterscheidet Perry zwischen Begriffen, die ein Zwischen-Speicher
Perry 2013, S. 381 Perry 2002a, S. 213 Perry 2002b, S. 234 Perry 2002a, S. 190; vgl. S. 213; Perry 2013, S. 387 Perry 2002a, S. 193 – 194; vgl. Perry 2013, S. 386
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(buffer) sind, und ständigen Begriffen (standing notions). Begriffe der ersten Art beziehen sich etwa auf die Tasse Kaffee vor mir oder auf den gegenwärtigen Tag, während die letzteren Begriffe sprachlich durch Namen oder Kennzeichnungen, die keine indexikalischen Ausdrücke enthalten, formuliert werden. Meine Zwischen-Speicher ändern sich mit der Situation, mit dem Ort und der Zeit und betreffen Dinge, von denen ich vor allem aufgrund meiner Wahrnehmungen Kenntnis habe.⁶⁶ Dateien, die Meinungen in demselben Zwischen-Speicher zusammenfassen, enthalten Meinungen, die sprachlich nicht ohne indexikalische Ausdrücke formuliert werden können – Meinungen, die „wesentlich indexikalisch“ sind. Wie lässt sich diese Terminologie auf Selbst-Begriffe und auf reflexive Meinungen anwenden? Perry schreibt: „I assume that all normal humans past a certain age have a self-notion, an idea that is dedicated for dealing with informations about themselves. This is the notion that controls the use of the first person; that is, beliefs of mine with my self-notion as a component I will express with ‚I’ or ‚me’ … It is the notion with which all of the information picked up in self-informative ways is associated, and the beliefs associated with this notion motivate self-sensitive actions.“⁶⁷ Diese Erläuterungen werfen eine Reihe von Fragen auf. Personen haben einen Selbst-Begriff, der dazu dient, Informationen, die sie selbst betreffen, zu speichern. Ob und wie der Besitz eines solchen Begriffs den Besitz anderer Begriffe voraussetzt, wird nicht geklärt. Die Möglichkeit oder gar die Notwendigkeit einer Vernetzung von Informationen, die uns betreffen, mit ganz andersartigen Informationen werden nicht diskutiert. Perry erörtert auch nicht die Gesichtspunkte, nach denen wir eine Bewertung der Informationen, die uns betreffen, vornehmen. Sieht man von diesen grundsätzlichen Problemen ab, so stellt sich erstens die Frage, wie der Zusammenhang zwischen Selbst-Begriff und Selbst-Datei genauer zu bestimmen ist. Wer einen Selbst-Begriff hat, verfügt über eine Selbst-Datei, in der all die Meinungen gespeichert werden, die jemand über sich hat. Eine solche Datei ändert sich ständig. Einige Informationen werden vergessen, andere kommen hinzu. Der Selbst-Begriff einer Person muss daher mit einem Zeitindex versehen werden. Aber gibt es nicht auch Informationen, die in den verschiedenen Selbst-Dateien derselben Person immer vorkommen, – Informationen etwa, die für die Person besonders wichtig und konstitutiv für ihren Selbst-Begriff sind?
Vgl. Perry 2013, S. 386 Perry 2013, S. 387
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Perry hält die Beantwortung der Frage für eine Aufgabe der Psychologie und nicht der Philosophie.⁶⁸ Diese Aufgabenverteilung ist nicht überzeugend. Er bemüht sie auch, um einem Problem aus dem Wege zu gehen, das sich durch seine Unterscheidung zwischen dem Selbst-Begriff einer Person und ihrer Selbst-Auffassung (self-conception) ergibt: „From one‘s self-notion we can retrieve one‘s self-conception, what one takes oneself to be. This is quite relevant to one‘s psychology, but irrelevant to the semantics of one‘s beliefs. … my self-notion would still be of me, even if it were wildly inaccurate.“⁶⁹ Da der Inhalt eines SelbstBegriffs durch die Meinungen bestimmt wird, die man über sich hat, und da solche Meinungen zum Ausdruck bringen, was man zu sein glaubt, kann dieser Inhalt nur mit Rekurs auf das, was man zu sein glaubt, bestimmt werden. Man sieht daher nicht, dass und wie sich eine Selbst-Auffassung von einem SelbstBegriff unterscheiden lässt. Richtig ist natürlich, dass auch falsche Meinungen, die man über sich hat, immer noch Meinungen sind, deren Inhalt sich auf einen selber beziehen. Perrys Konzeption des Selbst-Begriffs beschäftigt sich nur mit der Referenz von Selbst-Meinungen, und deswegen gehört sie für ihn zur Semantik solcher Meinungen.⁷⁰ Aber das ändert nichts an dem „psychologischen“ Fundament der Informationen, sie mögen wahr oder falsch sein, welche in der SelbstDatei gespeichert sind, die zu dem entsprechenden Selbst-Begriff gehört. Zweitens betont Perry, dass der Selbst-Begriff einer Person all die Informationen über sie enthält, die in selbst-informativer Weise von ihr erworben werden, also etwa dass ich Hunger habe, oder dass ich friere. Solche Informationen sind Informationen darüber, wie es sich jetzt mit mir verhält, aber nicht alle solche Informationen werden auf selbst-informative Weise gewonnen. Und natürlich enthält mein Selbst-Begriff nicht nur Informationen über meinen gegenwärtigen Zustand. Gleiches gilt für die Selbst-Datei, die mit einem gegebenen Selbst-Begriff zu korrelieren ist. Sie enthält viele Meinungen, die meine Vergangenheit oder meine Zukunft betreffen; und nur wenige dieser Meinungen können mich jetzt zu einem bestimmten Verhalten motivieren. Die Datei wird viele Meinungen enthalten, die mich gar nicht motivieren. Man versteht daher nicht, weshalb Perry den Selbst-Begriff so einseitig unter dem Gesichtspunkt von Meinungen, die auf selbst-informative Weise gewonnen werden und zu einem bestimmten Verhalten motivieren, diskutiert. Diese restriktive Betrachtung erklärt sich, wie wir sehen werden, durch seine Konzeption des Selbst-Wissens einer Person.
Vgl. Perry 2002a, S. 190 Perry 2013, S. 387 Vgl. Perry 2013, S. 387
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Schließlich stellt sich die Frage, wie die Unterscheidung zwischen ZwischenSpeichern (buffers) und ständigen Begriffen (standing notions) auf Selbst-Begriffe anzuwenden ist. Die Unterscheidung lässt sich bei allen Begriffen, also Vorstellungen (ideas), die sprachlich durch singuläre Terme ausgedrückt werden, treffen. Zwischen-Speicher sind solche Vorstellungen, die mit indexikalischen Ausdrücken verbunden sind, und sollen etwas mit der Wahrnehmung der Objekte zu tun haben, auf die sich solche Ausdrücke beziehen. Ein Zwischen-Speicher ist mit einer temporären Datei (temporary file) verbunden, die etwa die Meinungen enthält, die jemand zu dem Wetter heute oder zu dem hiesigen Ort hat. Solche Dateien ändern sich jeden Tag oder mit den verschiedenen Orten, an denen sich jemand aufhält. Entsprechend variieren die Zwischen-Speicher. Da Perry den Zusammenhang zwischen dem Selbst-Begriff und den Informationen, die in selbst-informativer Weise erworben werden, betont, und da diese Weisen eine Immunität gegenüber Irrtümern der Verwechslung besitzen, wie sie für die Verwendung indexikalischer Ausdrücke charakteristisch ist,⁷¹ liegt es nahe, SelbstBegriffe mit der Verwendung des Personalpronomens der ersten Person im Singular zu verbinden und sie jeweils als einen Zwischen-Speicher anzusehen. Dies ist jedoch falsch. Im Unterschied zu der Vorstellung des Wetters heute oder des Ortes, an dem ich jetzt bin, gibt es zu der Vorstellung desjenigen, der sich in einem gegebenen Kontext durch die Äußerung von ‚ich‘ auf sich selber bezieht, keine temporäre Datei, die sich je nach Tag oder seinem Aufenthaltsort ändert. Wie Perry betont, „ändert sich das eigene Selbst in dem Sinne niemals, dass nur eine Person jeweils diese Rolle einnimmt.“⁷² Meine Verwendung von ‚ich‘ kann sich nur auf mich beziehen; und mein Selbst-Begriff wird zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedliche Informationen über mich enthalten und in diesem Sinne sich ändern, aber er wird immer nur Informationen über mich, mögen sie wahr oder falsch sein, enthalten. Perry schlägt daher vor, dass man seinen ZwischenSpeicher als einen ständigen Begriff von sich gebraucht.⁷³ Aber dieser Vorschlag führt in die Irre. Der Selbst-Begriff ist kein Zwischen-Speicher, sondern ein ständiger Begriff, wenn dieser Begriff mit der Verwendung des Personalpronomens der ersten Person durch denselben Sprecher korreliert ist. In diesem Punkte unterscheidet sich diese Verwendung von dem Gebrauch von ‚hier‘ oder ‚heute‘, und so zeigen sich die Grenzen von Perrys Projekt, durch Rekurs auf das Denken eines Platzes als „hier“ zu klären, was es heißt, über eine Person als „Ich“ zu denken.⁷⁴
Vgl. Perry 2013, S. 377 Perry 2013, S. 387 Perry 2013, S. 387– 388 Vgl. Perry 2002a, S. 198
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Mit dem Gebrauch des Pronomens durch dieselbe Person ist ein Selbst-Begriff verbunden, der über die Zeit beliebig verschieden sein kann, aber immer nur solche Informationen enthält, die sich auf diese Person beziehen; und dies gilt entsprechend für ihre Selbst-Datei. Demgegenüber gilt dies nicht für den Begriff des Wetters heute oder für den Begriff des hiesigen Ortes. Sie sind und bleiben Zwischen-Speicher, und können nur durch eine begriffliche Repräsentation, die auf indexikalische Elemente verzichtet, in ständige Begriffe transformiert werden. Perry behauptet, dass „für denjenigen, der seinen Namen kennt, der eigene Selbst-Begriff als ein ständiger Begriff dienen wird …“⁷⁵ Aber er muss ihn nicht kennen, um einen ständigen Selbst-Begriff zu besitzen. Perry ist der Meinung, dass der Selbst-Begriff, den jemand durch seine Verwendung von ‚ich‘ erwirbt, zuerst ein Zwischen-Speicher ist, der dann durch zusätzliche Informationen etwa über seinen Namen oder irgendwelche Kennzeichnungen zu einem ständigen Selbst-Begriff wird. Dabei wird vorausgesetzt, dass sich die Unterscheidung zwischen Zwischen-Speichern und ständigen Begriffen einerseits mit der Unterscheidung zwischen indexikalischen Ausdrücken und Namen oder Kennzeichnungen ohne indexikalische Ausdrücke andererseits korrelieren lässt. Diese Annahme gilt jedoch nicht für Selbst-Begriffe, die mit der Verwendung von ‚ich‘ durch denselben Sprecher zu verbinden sind. Ein solcher Begriff ist zwar ein ständiger Begriff, aber nicht deswegen auch ein „nominaler Begriff“, der jeweils mit dem eigenen Namen zu verbinden ist.⁷⁶ Dieser Begriff ist vielmehr ein „objektiver“ Selbst-Begriff.⁷⁷ Objektive Begriffe sind ständige Begriffe, aber nicht alle ständigen Begriffe sind objektive Begriffe. Objektive Begriffe gehören zu einer objektiven Repräsentation der Welt, die von einer subjektiven oder, wie Perry vorschlägt, einer „Akteurs-bezogenen“ – Repräsentation unterschieden wird.⁷⁸ Er greift damit Nagels Unterscheidung zwischen einem objektiven und einem subjektiven „Standpunkt“ auf und vertritt die These einer „pragmatischen“ Abhängigkeit einer objektiven Repräsentation der Welt von ihrer subjektiven Repräsentation.⁷⁹ In Perrys Worten: „Although the world is objective, all perception is by agents at certain times and all actions are performed by agents at certain times. An objective representation with no possibility of being reattached to its source via some agent-relative role that supports pragmatic techniques is quite useless.“⁸⁰ Perrys Konzeption eines fundamentalen
Perry 2013, S. 387 Vgl. Perry 2013, S. 387 Vgl. Perry 2002a, S. 209 Perry 2002b, S. 215 Vgl. Perry 2002b, S. 217– 224 Perry 2002b, S. 226
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Selbst-Begriffs basiert auf der These von der Unverzichtbarkeit einer Akteursbezogenen Repräsentation der Welt. Da eine solche Repräsentation eine bestimmte Weise, etwas von sich zu wissen, erfordert, wird die Konzeption mit Hilfe einer Unterscheidung verschiedener Arten von Selbst-Wissen expliziert, wobei eine bestimmte Art von Selbst-Wissen als fundamental ausgezeichnet wird. Diese Auszeichnung begründet die Annahme eines fundamentalen Selbst-Begriffs und bestimmt ihren Inhalt. Dieses Selbst-Wissen wird so beschrieben: „First of all, there is knowledge … that is picked up in normally self-informative ways, is not combined with other sorts of information, and guides actions performed in normally self-effecting ways. This is the sort of self-knowledge required to drink a glass of water or feed oneself. I‘ll call this „agent-relative“ knowledge.“⁸¹ Als Beispiele für ein solches Wissen werden erwähnt, dass man ein Glas Wasser vor sich stehen sieht, dass man schmutzige Hände in bestimmter Weise sieht, oder dass man spürt, dass man errötet.⁸² Diese Beispiele sollen nach Perry deutlich machen, dass man etwas auf etwas auf selbst-informative Weise zur Kenntnis nimmt. Was damit gemeint ist, lässt sich am besten an dem Beispiel des Wissens von dem eigenen Erröten illustrieren. Es basiert auf Propriozeption und ist, wie bei dem Wissen von seinen Schmerzen, oder dass es einem zu kalt ist, eine Weise, etwas über sich zu wissen, das in dieser Weise kein Anderer wissen kann. Andere können wissen, dass ich erröte, oder dass es mir zu kalt ist, aber sie können es nicht in der Weise wissen, wie ich es weiß. Es sind nicht diese Erlebnisse selber, sondern die Art und Weise, wie man von ihnen Kenntnis hat, weshalb sie selbst-informativ genannt werden. Nach Perry haben wir eine solche Kenntnis von unseren Empfindungen und Gedanken, weil nur wir jeweils durch Introspektion dazu einen Zugang haben, aber auch von unserem Körper und den Dingen in unserer Umgebung, weil ihre Wahrnehmung von unserer Perspektive bestimmt ist.⁸³ Das Selbst-Wissen, das für den fundamentalen Selbst-Begriff relevant ist, ist jedoch nicht nur ein Wissen, das auf selbst-informative Weise gewonnen wird, sondern es ist auch ein Wissen, das gewöhnlich Handlungen motiviert, die in Akteurs-relativen Weisen vollzogen werden. Die Person, die etwas über sich in selbst-informierender Weise weiß, ist ein Akteur; und sie ist ein Akteur, weil sie ein solches Selbst-Wissen hat. Ihre Handlungen sind Handlungen, die in „Akteursbezogenen Weisen“ oder in „selbst-betreffenden Weisen“ vollzogen werden.⁸⁴ Orientiert man sich an den Beispielen, die Perry für ein solches Tun gibt, etwa
Perry 2002a, S. 209 Perry 2002a, S. 208 Perry 2002b, S. 234; vgl. 2013, S. 380 Perry 2002b, S. 234; 2002a, S. 209
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seine Hände waschen oder seinen Durst stillen, dann geht es um Handlungen, deren Ziel es ist, den eigenen Zustand zu verändern. Das von ihm diskutierte Akteurs-bezogene Selbst-Wissen ist ein besonderer Fall von Selbst-Wissen, bei dem eine bestimmte Weise, etwas über sich zu wissen, mit dem eigenen Tun verbunden ist. Weder ein Selbst-Wissen im allgemeinen noch ein Selbst-Wissen, das auf selbst-informative Weise gewonnen wird, motivieren eo ipso zu Handlungen; und auch die Handlungen, die in selbst-bezogener Weise vollzogen werden, erfordern nicht ein Selbst-Wissen, geschweige denn ein Selbst-Wissen, das auf selbst-informative Weise erworben wird. So kann ich für die Welthungerhilfe spenden, weil ich weiß, dass viele Menschen Hunger leiden. Es stellt sich daher die Frage, worin die besondere Bedeutung des Akteursbezogenen Selbst-Wissens besteht. Ist es irgendwie als Selbst-Wissen ausgezeichnet? Oder besteht seine Besonderheit darin, dass es zu bestimmten Handlungen motiviert? Perry gibt keine Antworten auf diese Fragen, weil er sie sich nicht stellt. Sein Hinweis darauf, dass ein Akteurs-bezogenes Selbst-Wissen erforderlich ist, um ein Glas Wasser zu trinken oder sich selbst zu ernähren,⁸⁵ und seine Behauptung, auch höhere Lebewesen und kleine Kinder verfügten über ein solches Selbst-Wissen,⁸⁶ legen die Vermutung nahe, dass es nach seiner Meinung für unser Überleben besonders wichtig ist oder genetisch eine Priorität besitzt. Aber begründet werden diese Vermutungen nicht. Dies bedeutet, dass wir ziemlich im Dunklen tappen, wenn wir uns die Frage nach einer Begründung der These, der zu diesem Selbst-Wissen gehörende Selbst-Begriff sei der fundamentale oder zentrale Selbst-Begriff, vorlegen. Für Perry ist der Selbst-Begriff einer Person fundamental, der die Informationen über sie enthält, die sie auf selbst-informative Weise erwirbt, und die sie zu einem selbst-bezogenen Handeln motivieren. Der Selbst-Begriff einer Person ist der Begriff einer Person, die handelt, weil sie in bestimmter Weise erworbene Informationen über sich hat. Dazu gehört das Wissen von ihren Empfindungen und Gedanken, aber auch von der Beschaffenheit und Stellung ihrer Körperteile, von ihrer Kleidung, usw. Dazu gehört nicht ihr Wissen von ihrer Vergangenheit, ihrem Beruf, ihren sozialen Beziehungen zu Anderen, usw. Dass ein solcher Selbst-Begriff fundamental ist, besagt, dass es erstens keinen Selbst-Begriff gibt, der diesen Selbst-Begriff nicht voraussetzt, und dass er zweitens keinen anderen Selbst-Begriff voraussetzt. Es ist vor allem die zweite Bedingung, die einen stutzig macht. Ist der Selbst-Begriff, der allein durch ein selbst-informatives Selbst-Wissen konstituiert wird, wirklich unabhängig von Selbst-Begriffen, die sich auf an-
Perry 2002a, S. 209 Perry 2013, S. 382
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dere Arten von Selbst-Wissen stützen? Dann müsste etwa mein Wissen, dass ich friere, prinzipiell verschieden sein von meinem Wissen, dass ich friere, weil ich vergessen habe, einen Schal anzuziehen; und ebenso mein Wissen von meinen Schmerzen und mein Wissen von meinen Schmerzen, die genau so sind wie die, die ich gestern hatte. Anders formuliert: Der Nachweis, dass die zweite Bedingung erfüllt ist, muss zeigen, dass es so etwas wie ein „pures“ Selbst-Wissen von seinen Empfindungen, Zuständen, Eigenschaften gibt, und dass es sich völlig isolieren lässt von all dem, was man sonst noch und auf andere Weise von sich weiß. Vielleicht gibt es ein solches Selbst-Wissen bei kleinen Kindern oder in einem fortgeschrittenen Zustand der Demenz, aber die ausgezeichnete Stellung des fundamentalen Selbst-Begriffs bezieht sich ja auf ein Selbst-Wissen, das wir unter normalen Bedingungen haben. Perry zeigt nicht, dass für ein solches Wissen allein der von ihm als fundamental angesehene Selbst-Begriff relevant ist. Weiterhin ist zu bedenken, dass nach Perry das selbst-bezogene Verhalten, das durch ein solches pures Selbst-Wissen motiviert wird, in einer Handlung bestehen muss, die sich wesentlich von einem Verhalten unterscheidet, das durch ein komplexeres Selbst-Wissen ausgelöst wird und somit einen anderen SelbstBegriff erfordert. Ich kann ein Glas Wasser trinken, weil ich jetzt Durst habe; aber ich kann dasselbe tun, weil ich mich an eine bestimmte Diät halte oder dem Ratschlag meines Arztes folge. Es ist klar, dass ich unterschiedliche Gründe für mein Verhalten habe, aber bedeutet dies, dass hier unterschiedliche Selbst-Begriffe von mir eine Rolle spielen? Perry gibt keine Gründe an, die es erlauben, diese wenig plausible Annahme auszuschließen. Weshalb ist der Selbst-Begriff, der ausschließlich auf einem selbst-informativen Selbst-Wissen basiert, „der Kern unserer Selbst-Begriffe“?⁸⁷ Zu einem Kern gibt es immer eine Peripherie, die relativ zu ihrem Kern definiert ist. Angewandt auf den Selbst-Begriff besagt dies, dass der Kern die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für einen Selbst-Begriff erfüllt, während die Peripherie zusätzliche Informationen über sich selbst enthält, die auch fehlen können, oder auf die man verzichten kann. Der Kern unseres Selbst-Begriffs besteht darin, dass wir „sowohl ein Wissen von Fakten über Dinge haben, die eine Akteurs-bezogene Rolle spielen, als auch Akteure von Handlungen, die in Akteurs-bezogener Weise vollzogen werden, sind“.⁸⁸ Es handelt sich um ein Wissen von Dingen, auf die wir uns in einer gegebenen Situation durch indexikalische Ausdrücke beziehen können, etwa die Tasse Kaffee, die jetzt vor mir steht, das Wetter heute oder die Person, die ich mit Du anspreche. Sofern uns dieses Wissen zu einem aktiven
Vgl. Perry 2002b, S. 234 Perry 2002b, S. 234
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Verhalten motiviert, sind wir Akteure, die zu der Tasse greifen, einen Regenschirm mitnehmen oder jemanden begrüßen.⁸⁹Es gibt viele, verschiedenartige Fälle eines solchen Wissens und des entsprechenden Verhaltens; und es ist erstaunlich, wie wenig repräsentativ die Beispiele sind, die Perry anführt: „I am the possessor and controller of these hands; the subject of these sensations and thoughts; the maker of these movements; the sufferer of these pains; and so forth.“⁹⁰ Diese Beispiele betreffen Dingen, von denen wir ein Akteurs-bezogenes Wissen haben können. Ein solches Wissen ist selbst-informierend, denn „nur wir können die Aufmerksamkeit auf unsere eigenen inneren Empfindungen und Gedanken richten, und nur wir können unsere Körper und die Dinge in unserer Umgebung von unserer Perspektive aus …“⁹¹ Bei den Beispielen handelt es sich um ein Wissen, das ausschließlich etwas mit mir zu tun hat, insbesondere von eigenen mentalen Zuständen. Sie sind wenig repräsentativ für den großen Bereich von Dingen, die für ein Akteurs-bezogenes Wissen in Betracht kommen. Die betonte Berücksichtigung der eigenen mentalen Zustände weckt den Verdacht, dass der selbst-informative Charakter dieses Wissens doch mehr von einem Cartesianischen Paradigma beeinflusst ist, als es Perry lieb sein kann. Es ist daher kein Zufall, dass er sich auf Russells Auffassung des Ich beruft und behauptet: „The most important and inseparable from us are the things in our own mental life that we can attend to and think of with an internally directed this.“⁹² Diese Auszeichnung unseres Seelenlebens folgt nicht aus der Konzeption eines Akteurs-bezogenen Wissens und der auf ihr beruhenden Auffassung selbst-informativen Selbst-Wissens, bestimmt aber offensichtlich Perrys Vorstellung von dem „Kern“ unseres SelbstBegriffs. Betrachten wir jetzt die Selbst-Begriffe, die an der Peripherie angesiedelt werden und darin übereinkommen, dass sie auf einem Selbst-Wissen basieren, das nicht in selbst-informativer Weise gewonnen wird. Perry analysiert sie anhand der Betrachtung eines Flugtickets, das auf einen selber ausgestellt ist, welche einen dazu bringt, rechtzeitig aufzustehen.⁹³ Wie bei dem vorher diskutierten Beispiel, dass man seine Hände wäscht, weil man sieht, dass sie schmutzig sind, geht es um ein Selbst-Wissen, das zu einem „selbst-bezogenen“ Verhalten führt. In jenem Fall geht es um ein Wissen, das unter normalen Bedingungen auf selbstinformative Weise gewonnen wird. Demgegenüber ist meine Betrachtung meines Flugtickets eine Weise, wie ich zu einem Selbst-Wissen gelange, welche nicht
Perry 2002a, S. 197– 201; 2013, S. 378 – 380 Perry 2002b, S. 243 Perry 2002b, S. 234 Perry 2002b, S. 234; vgl. Russell 1914, S. 168 Perry 2002a, S. 209
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unter normalen Bedingungen selbst-informativ ist. Denn auch Andere können so das von mir wissen, was ich über mich weiß; und ich weiß es nur, wenn ich weiß, wie ich heiße. Der von Perry betonte Unterschied besteht also darin, dass es sich einerseits um ein Selbst-Wissen handelt, das gewöhnlich auf selbst-informative Weise und daher in einer Weise erworben wird, die nur ich habe, und dass es andererseits um ein Selbst-Wissen geht, das in einer Weise erworben wird, die auch Anderen zur Verfügung steht, um das über mich zu wissen, was ich von mir weiß. Der Unterschied ist ein Unterschied zwischen einer exklusiven und einer nicht-exklusiven Weise des Erwerbs von Selbst-Wissen. Das Wissen, das in der zuletzt genannten Weise erworben wird, wird jedoch von Perry nicht adäquat beschrieben, und der Selbst-Begriff, der zu einem solchen Selbst-Wissen gehört, wird falsch bestimmt. Ein solches Wissen liegt dann vor, wenn ich etwas über mich in einer Weise weiß, in der auch Andere das von mir wissen können, was ich über mich weiß. So weiß ich von meinen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften in einer Weise, in der auch Andere so etwas von mir wissen können – durch Beobachtung meines Verhaltens, meiner Leistungen, usw. Es handelt sich um Eigenschaften von mir, über die man nur auf solche Weisen etwas wissen kann. Dies gilt sowohl für mich als auch für Andere, aber für mein Selbst-Wissen spielt der Umstand, dass ich meinen Namen kenne, keine Rolle. Demgegenüber betrachtet Perry ein SelbstWissen, das deswegen nicht selbst-informativ ist, weil es das zusätzliche Wissen erfordert, dass der – oder diejenige, auf den oder die sich der Inhalt des Wissens bezieht, mit jemandem identisch ist. Ein solches Wissen kann z. B. darin bestehen, dass man mit dem Träger eines bestimmten Namens identisch ist. Wenn ich mein Flugticket studiere, weiß ich nur dann, wann ich abfliege, wenn ich auch weiß, dass ich derjenige bin, dessen Name auf dem Ticket steht. Ein Anderer kann durch die Betrachtung meines Flugtickets wissen, wann ich abfliege, aber auch er kann dies nur wissen, wenn er meinen Namen kennt. Wenn er mich kennt, aber nicht meinen Namen, dann weiß er durch die Betrachtung meines Flugtickets nur, dass jemand, der so-und-so heißt, zu einem bestimmten Zeitpunkt abfliegt. Das von Perry diskutierte Selbst-Wissen, das auf nicht-selbst-informative Weise erworben wird, ist, in der Terminologie von Evans formuliert, ein Selbst-Wissen, das „Identifikations-abhängig“ ist.⁹⁴ Perrys Beispiel ist ein besonderer Fall einer solchen Abhängigkeit – ein Selbst-Wissen, das das zusätzliche Wissen um die Identität des Subjekts des Wissens mit dem Träger eines bestimmten Namens. Ein anderes Beispiel für eine solche Abhängigkeit ist der Fall, dass ich in einer Reihe
Evans, 1982, S. 180 – 181
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warte und weiß, dass ich an der Reihe bin, wenn es heißt ‚der Nächste‘. Hier kommt es darauf an, dass ich weiß, dass ich der Erste in der Reihe bin. Ein Identifikations-abhängiges Selbst-Wissen ist ein Selbst-Wissen, das nicht auf eine selbst-informative Weise gewonnen werden kann. Auch andere können von dieser Identität wissen und so das von mir wissen, was ich von mir in dieser Weise weiß, und sie wissen es in derselben Weise wie ich. Aber dies bedeutet nicht, dass jedes Selbst-Wissen, das auf diese Weise erworben wird, ein Identifikations-abhängiges Selbst-Wissen ist, wie Perry suggeriert, wenn er ein solches Wissen als einen paradigmatischen Fall für ein Selbst-Wissen, das nicht in selbstinformativer Weise erworben wird, ansieht.⁹⁵ Denn mein Wissen von meinen Fähigkeiten oder Charaktereigenschaften ist sicherlich nicht selbst-informativ, aber es ist nicht deswegen Identifikations-abhängig. Für Perry beruht ein Identifikations-abhängiges Selbst-Wissen auf einem „objektiven Selbst-Begriff“.⁹⁶ Objektive Begriffe sind Begriffe, die zu einer objektiven Repräsentation der Welt gehören. Sie enthält keine indexikalischen Ausdrücke und wird einer Akteurs-relativen Repräsentation gegenübergestellt.⁹⁷ Aber das von Perry betrachtete Identifikations-abhängige Selbst-Wissen erfordert nicht deswegen einen objektiven Selbst-Begriff, weil es zu einer objektiven Repräsentation von mir gehört. Denn ein solches Wissen kann sich auf situationsspezifische, indexikalisch zu beschreibende Momente stützen, welche in einer objektiven Repräsentation nicht berücksichtig und erfasst werden können, wie das Beispiel der Nächste zeigt. An anderer Stelle behauptet er, dass durch die Kenntnis des eigenen Namens der Selbst-Begriff zu einem „ständigen Begriff“ wird.⁹⁸ Wie das vorher erwähnte Beispiel der Nächste zeigt, gibt es ein Identifikations-abhängiges Selbst-Wissen, das nicht auf der Kenntnis eines ständigen Begriffs von mir beruht. Denn es handelt sich um einen Zwischenspeicher.⁹⁹ Er bezieht sich auf die Situation hier und jetzt, in der ich als nächster an der Reihe bin. Aber auch ständige Begriffe müssen keine objektiven Begriffe sein. Denn der Verwendung von ‚ich‘ durch dieselbe Person entspricht ein ständiger Selbst-Begriff.¹⁰⁰ Zusammenfassend kann man sagen, dass das Selbst-Wissen, das einen objektiven Selbst-Begriff erfordert, ein Wissen ist, das nicht auf exklusive Weise erworben wird. Weil Perry aber nur einen besonderen Fall eines solchen SelbstWissens, das Identifikations-abhängige Selbst-Wissen berücksichtigt, ist sein
Vgl. Perry 2002a, S. 209; 2013, S. 387 Perry 2002a, S. 209 Vgl. Perry 2002b, S. 215 – 216; 225 Vgl. Perry 2013, S. 387 Vgl. Perry 2013, S. 386 Perry 2013, S. 387– 388
3.1 Perrys Theorie des Selbst
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Verständnis des Selbst-Begriffs, der mit einem nicht exklusiven Selbst-Wissen im Allgemeinen zu verbinden ist, unzulänglich. Denn für ihn erschöpft sich dieser Selbst-Begriff in der Kenntnis, die jemand von seinem Namen hat. Wie lässt sich der Selbst-Begriff charakterisieren, wenn man nicht von einer einseitigen Interpretation des nicht-exklusiven Selbst-Wissens ausgeht? Dasjenige, was ich auf diese Weise von mir weiß, kann etwas mit meinen Handlungen, mit meinem Verhalten zu Anderen, mit meiner sozialen Rolle, usw. zu tun haben; und mein Selbst-Begriff, der solche Informationen über mich enthält, ist ein Begriff von mir als einer Person, die ein bestimmtes Leben führt und eine bestimmte Lebensgeschichte hat. Weil dieser Selbst-Begriff durch ein SelbstWissen konstituiert wird, das Andere mit mir teilen können, ist es der Begriff einer Person, über den auch andere verfügen können. Es ist möglich, dass mein SelbstBegriff nicht dem Begriff entspricht, den Andere von mir haben. Man kann solche Divergenzen auf sich beruhen lassen; man kann sich aber auch darum bemühen, sie auszuräumen. Das kann mehr oder weniger gelingen. Auf diese Weise wird deutlich, dass der Selbst-Begriff, der nicht auf einem selbst-informativen SelbstWissen basiert, eine intersubjektive Dimension besitzt und nicht in das Belieben desjenigen gestellt ist, von dem er ein Begriff ist. Perry selber weist auf den Unterschied zwischen Selbst-Begriff und Selbst-Auffassung (self-conception) hin und glaubt, das Letztere sei ein Thema für die Psychologie, aber nicht für die Philosophie hin.¹⁰¹ Aber so einfach ist die Sache nicht. Für wen ich mich halte, bestimmt noch nicht, wer ich bin, auch wenn sich die Frage Wer bin ich? nicht unabhängig von der Beantwortung der Frage Für wen halte ich mich? beantworten lässt.¹⁰² Bei Perry finden sich kaum Überlegungen zu den hier angedeuteten Themen. Das Selbst-Wissen, das nicht auf selbst-informative Weise erworben wird, wird immer unter dem Gesichtspunkt, dass man seinen Namen kennt, erörtert; und seine Abgrenzung von einem selbst-informativen Selbst-Wissen orientiert ausschließlich sich an der Unterscheidung zwischen einer objektiven und einer Akteurs-bezogen Repräsentation, also an einer Repräsentation, die sich auf die Verwendung von Namen und Kennzeichnungen ohne indexikalische Ausdrücke stützt, einerseits und einer „wesentlich indexikalischen“ Repräsentation andererseits. Die erstere enthält „zusätzliche“ Informationen über die jeweilige Person, während der Kern ihres Selbst-Begriffs nur auf den Informationen beruht, die sie auf selbst-informative Weise erwirbt.¹⁰³ Die Erweiterung des Kerns durch eine
Perry 2013, S. 387 Vgl. Brandom 1998, S. 3 – 4 Vgl. Perry 2013, S. 387
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3 Die Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt
Peripherie geschieht nach Perry nur dadurch, dass die Person aufgrund der Kenntnis ihres Namens zusätzliche Informationen über sich erwirbt. Dies ist sicherlich eine solche Weise, aber es ist eine groteske, durch nichts begründete Annahme, dass mein an der Peripherie angesiedelte Selbst-Begriff nur solche Informationen enthält, die auf dieser Kenntnis beruht. Seine restriktive Auffassung des Selbst-Begriffs erklärt sich dadurch, dass das von ihm betrachtete nicht selbst-informative Selbst-Wissen ausschließlich in einem Identifikations-abhängigen Selbst-Wissen besteht. So entgeht ihm der weite, wichtige Bereich eines Selbst-Wissens, das nicht auf selbst-informative Weise gewonnen wird, das aber nicht davon abhängig ist, dass man weiß, dass der Inhalt dieses Wissens sich auf jemanden bezieht, der identisch mit dem Träger des eigenen Namens ist. Vergleicht man Perrys Theorie des Selbst mit Heideggers Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt, so fällt zuerst einmal auf, dass beide das Selbst einer Person im Ausgang von einer Lebenserfahrung diskutieren, die sich auf das vertraute, routinierte praktische Verhalten in einer gegebenen Situation bezieht. Eine solche Lebenserfahrung hat für beide eine Priorität vor einer theoretischen oder objektiven Repräsentation. Perrys Bestimmung dieser Priorität bedient sich verschiedener dichotomischer Unterscheidungen, die er zwischen einer objektiven und einer Akteurs-bezogenen Repräsentation einer Situation, zwischen Namen und indexikalischen Ausdrücken, zwischen einem Selbst-Wissen, das in einer mit Anderen gemeinsamen Weise erworben wird, und einem selbstinformativen Selbst-Wissen trifft. Die Mängel seiner Theorie bestehen darin, dass der von ihm entwickelte fundamentale Selbst-Begriff auf der Dichotomie dieser Unterscheidungen beruht. Sie können vermieden werden, wenn man sie nicht gegenüberstellt, sondern mit einander verbindet. Heideggers Konzeption der Gleichursprünglichkeit erlaubt es, einen Zusammenhang verschiedener notwendiger Bedingungen, die sich wechselseitig ergänzen, zu explizieren und die Gefahr eines einseitigen Fundamentalismus zu vermeiden. Selbst-Begriffe sind Begriffe einer Person, welche Informationen über sie enthalten, von denen sie weiß, dass sie sich auf sie beziehen. Zu jedem SelbstBegriff gehört eine Selbst-Datei, in der die Meinungen gespeichert sind, die als gemeinsamen Bestandteil ein und denselben Selbst-Begriff enthalten. Diese Meinungen können wahr oder falsch sein. Die Datei enthält das mehr oder weniger konstante Selbstverständnis, das eine Person von ihrer Lebensgeschichte hat; und die in ihr gespeicherten Meinungen beziehen sich nicht nur auf ihr Gegenwart, sondern ebenso auf ihre Vergangenheit und Zukunft. Perrys fundamentaler Selbst-Begriff enthält nur Informationen über das Hier und Jetzt einer Person, und die ihr zugeordnete Selbst-Datei bringt ein Selbstverständnis zum Ausdruck, dem jede diachrone Dimension fehlt. Es ist kein Selbstverständnis einer Person, weil dieses immer auch ein Verständnis ihrer Lebensgeschichte ist;
3.1 Perrys Theorie des Selbst
193
es ist das Selbstverständnis eines „time slice agent“. Ein wie immer geartetes Verständnis meiner Lebensgeschichte ist eine Bedingung für mein Verhalten in einer bestimmten Situation; und ein Verständnis dieser Geschichte ist eine Voraussetzung dafür, dass diese mir verständlich ist. Während Heidegger zurecht die diachrone Dimension des Selbstverständnisses von Personen betont, kommt sie bei Perry gar nicht in den Blick, weil für ihn die Verbindung eines selbst-informativen Wissens mit einem selbst-gerichteten Verhalten den zentralen Kern eines Selbst-Begriffs ausmacht. Sowohl dieses Wissen als auch das entsprechende Handeln betreffen eine Situation hier und jetzt und gehen nicht darüber hinaus. Heidegger versteht diese Situation als das Leben in einer Welt, das zwar aus der Perspektive einer Selbstwelt als des Zentrums dieses Lebens beschrieben wird, das aber wesentlich immer auch ein Leben in einer Um- und Mitwelt ist. Demgegenüber kommt das Leben in einer Mitwelt bei Perry nur am Rande in der Diskussion eines Selbst-Wissens vor, das nicht in selbst-informativer Weise gewonnen wird; und das Leben in einer Umwelt zeigt sich zwar in den Rollen, die das Wetter hier und der für mich greifbare Regenschirm oder die Kaffeetasse vor mir für mein Verhalten haben können, aber es fehlt jeder Versuch, diese einzelnen Dinge in ihrer Vernetzung mit anderen Dingen oder Ereignissen zu betrachten. Der Begriff der Rolle lässt sich mit Heideggers Konzeption der Bedeutsamkeit vergleichen, aber er wird von Perry auch nicht andeutungsweise so expliziert, dass der Weltcharakter, den Vorhandenes haben kann und Zuhandenes notwendiger Weise hat, in den Blick kommt. Der fundamentale Selbst-Begriff ist der Begriff einer Person, deren Selbst-Datei nur selbst-informative Meinungen enthält, die ihren aktuellen körperlichen oder mentalen Zustand betreffen und die ein selbstgerichtetes Handeln von der Art seinen Durst löschen oder seinen Kopf kratzen auslösen. Es ist der Selbst-Begriff einer einzelnen Person, deren ego-zentriertes Leben sich in der Verknüpfung von phänomenal bewussten Zuständen mit einem entsprechenden Verhalten erschöpft. Wie Perry richtig sieht, finden wir so etwas auch bei Lebewesen, die nicht oder noch nicht über einen Selbst-Begriff von Personen verfügen; aber er stellt sich nicht die Frage, ob und wie auf diese Weise so etwas wie das Fundament oder der Kern des Selbst-Begriffs einer Person bestimmt werden kann. Seine Überlegungen zu den Möglichkeiten des Erwerbs von Informationen über uns selber, die nicht auf selbst-informative Weise gewonnen werden, beschränkt sich auf eine Betrachtung des Falls, dass wir solche Informationen auf der Grundlage der Kenntnis unseres Namens erwerben. Als Beispiele wird das Wissen genannt, das wir von unserer Telephon-Nummer, unserer Arztbesuche und ähnlichen Dingen haben. Perry bezeichnet sie als „zusätzliche Informationen“, die mit Informationen, die selbst-informativ erworben werden, verbunden
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3 Die Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt
werden.¹⁰⁴ Es besteht kein Zweifel darüber, dass wir eine Reihe von Informationen über uns auf diese Weise bekommen. Aber weshalb muss es sich um Ergänzungen jener Informationen handeln? Weiterhin erwerben wir ständig viele Informationen über uns, indem Andere uns über dies oder jenes in Kenntnis setzen, ohne dass sie von unserem Namen Gebrauch machen. Schließlich erhalten wir Informationen über uns durch eigenes Nachdenken, Erinnerung, usw., ohne dass selbst-informative Weisen des Wissens eine Rolle spielen. Dass wir unseren Namen kennen, ist keine notwendige Bedingung für den Erwerb von nicht selbstinformativen Kenntnissen über uns; und die Rolle, die Informationen, die auf einer solchen Kenntnis beruhen, für unseren Selbst-Begriff spielen, bleibt völlig ungeklärt, weil Überlegungen zur Gewichtung der Informationen über uns, die wir auf verschiedene Weise gewinnen, bei Perry fehlen. Im Unterschied zu ihm geht es Heidegger nicht um die Bestimmung eines fundamentalen Selbst-Begriffs, und seine Konzeption der Gleichursprünglichkeit enthält eine explizite Kritik an einem solchen Projekt. Seine Analyse des SelbstBegriffs will nicht der unübersehbaren Mannigfaltigkeit von Informationen, die eine Person von ihrem Leben in einer Welt hat, Rechnung tragen, sondern expliziert die grundlegenden Begriffe, mit denen ein solches Leben zu beschreiben ist.¹⁰⁵ Das Selbst ist nicht das Selbst einer isoliert betrachteten Person, sondern bestimmt sich durch die Erfahrung, die sie von ihrem Leben in einer Welt, die immer sowohl eine Um- als auch eine Mit- und Selbstwelt ist. Die Unterscheidung verschiedener Welten zielt nicht darauf, einseitige Abhängigkeiten herauszuarbeiten, sondern soll ihre wechselseitige Verknüpfung vor Augen stellen. Angesichts der vielfältigen Möglichkeiten, wie eine Person von ihrem Leben in einer komplex beschriebenen Welt Kenntnis hat, versucht Heidegger nicht, eine bestimmte Weise des Erwerbs solcher Kenntnisse auszuzeichnen und andere Weisen additiv hinzuzufügen. Ihn interessiert daher nicht ein oder das Fundament einer solchen Selbsterfahrung, sondern ihre strukturelle Komplexität; und seine Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt soll verschiedenen Formen von Selbsterfahrungen Rechnung tragen und ist nicht beschränkt auf die Feststellung der eigenen Befindlichkeit, von der wir auf selbst-informative Weise Kenntnis haben.
Perry 2013, S. 387 Heidegger 2010, S. 81; 87; 1994b, S. 208
3.2 Narrative Konzeptionen des Selbst
195
3.2 Narrative Konzeptionen des Selbst Während der Inhalt von Perrys fundamentalem Selbst-Begriff aus so etwas wie einzelnen Momentaufnahmen von indexikalisch beschriebenen Situationen einer Person besteht, beschäftigen sich narrative Auffassungen des Selbst mit ihrer zeitlich mehr oder weniger ausgedehnten Lebensgeschichte. Nicht die einzelne Situation hier und jetzt, sondern ihr Zusammenhang mit früheren und späteren Situationen steht im Zentrum der Überlegungen. Daher kommt das Selbst einer Person nur in der Darstellung eines solchen Zusammenhangs, in dem Bericht, den sie über ihr diachrones Leben gibt oder geben kann, zum Ausdruck. Ein solcher Bericht wird häufig mit dem Erzählen einer Geschichte, mit einer Art von Autobiographie verglichen oder sogar damit identifiziert. In ihrem Buch The Constitution of Selves vertritt Marya Schechtman die These, dass Personen „sich selbst durch ihre Selbstauffassungen erschaffen“.¹⁰⁶ Personen sind Lebewesen, die ein Selbstverständnis oder eine Selbstauffassung (selfconception) besitzen. Eine solche Auffassung hat man nicht einfach, sie ist nicht gegeben, sondern sie wird erworben, ausgebildet. Dass man eine Selbstauffassung besitzt, impliziert, dass man eine Person ist. Personen erschaffen sich in dem Sinne selber, dass sie eine hinreichende Bedingung dafür, dass sie eine Person sind, durch die Ausbildung einer Selbstauffassung erfüllen. Das Selbst einer Person ist fundiert in ihrer Selbstauffassung und bestimmt sich inhaltlich durch sie. Es ist die Form dieses Selbstverständnisses, der die Theorie des Selbst ihren Namen verdankt. Das Selbstverständnis soll nämlich in einer Geschichte, genauer: in einer autobiographischen linearen Geschichte bestehen.¹⁰⁷ Schechtman begründet dies damit, dass erstens eine Person „eine besondere Art von Subjektivität und Orientierung gegenüber ihrem eigenen Leben hat“, und dass zweitens ihre Selbstauffassung „mit dem übereinstimmen muss, was man eine „objektive“ Darstellung ihres Lebens nennen kann – grob gesagt, mit der Geschichte, die andere, die sie kennen, erzählen würden.“¹⁰⁸ Die besondere Art von Subjektivität besteht darin, dass sich Personen zu ihrem Tun und Lassen in bestimmter Weise verhalten, es bewerten und beurteilen. Sie spricht von einem „inneren Leben“ einer Person und „ihrer Einstellung zu ihren Handlungen und Erfahrungen“.¹⁰⁹ Dieses Leben betrifft die mentalen Aspekte der Existenz von Personen, aber daraus ergibt sich zwar etwas über den
Schlechtman 1996, S. 95 Schlechtman 1996, S. 96; 99 Schlechtman 1996, S. 95 Schlechtman 1996, S. 95
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3 Die Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt
Inhalt einer Darstellung dieses Lebens und somit der Selbstauffassung einer Person, jedoch nichts über ihre Form. Dass es sich um eine lineare autobiographische Erzählung handelt, muss auf andere Weise begründet werden.¹¹⁰ Auch die zweite Bedingung lässt eine solche Erklärung nicht erkennen, und man fragt sich, weshalb Andere überhaupt in der Lage sein sollten, die Lebensgeschichte einer Person zu erzählen. Anders verhält es sich, wenn man eine weitere These von Schechtman berücksichtigt. Sie besagt, dass „die Auffassung einer Person von ihrem Leben die Form und die Logik einer Geschichte hat“.¹¹¹ Diese These ist allerdings schwer verständlich. Betrachten wir ihre Erläuterung. Schechtman schreibt: „Perhaps the most salient feature of narrative form is that the individual incidents and episodes in a narrative take their meaning from the broader context of the story in which they occur.“¹¹² Da es sich um die Erzählung der Lebensgeschichte einer Person handelt, bedeutet dies, dass man ihr Tun und Lassen nur verstehen kann, wenn man sie als „Teil einer sich entwickelnden Geschichte, die ihnen ihre Bedeutung gibt, interpretiert“.¹¹³ Dies ist eine These zum Verstehen dessen, was sich in der Lebensgeschichte einer Person ereignet. Nach Schechtman gilt dafür eine besondere Logik – „die Logik, die mit der Entfaltung des Lebens einer Person verbunden ist.“¹¹⁴ Was damit gemeint ist, ist nicht so kompliziert, wie es sich anhört: „We expect a person’s belief, desires, values, emotions, actions, and experiences to hang together in a way that makes what she says, does, and feels psychologically intelligible.“¹¹⁵ Man kann bezweifeln, ob wir immer eine solche Erwartung haben. Vor allem aber muss man sich fragen, wer diese Erwartung hat. Zur Beantwortung dieser Frage beruft sie sich auf die Lektüre fiktiver Erzählungen und behauptet, dass Romanfiguren jene Erwartung mehr oder weniger erfüllen. Selbst wenn das richtig sein sollte, so ist auf jeden Fall deutlich, dass es sich um eine Erwartung handelt, die sich nicht auf das eigene Tun und Lassen richtet. Es ist eine Erwartung, wenn man so will, vom Standpunkt der Dritten-Person aus. Weshalb sollte man sie vom Standpunkt der Ersten-Person aus einnehmen? Weshalb sollen wir uns nach dem von Schechtman angenommenen Modell des Verstehens von Romanfiguren verstehen? Zentral für dieses Verstehen ist, dass wir die „gut–definierte Rolle“ einer Person erfassen, und dazu muss uns ihr Tun und Lassen „psychologisch ein-
Vgl. Strawson 2004, S. 439 – 443 Schlechtman 1996, S. 96 Schlechtman 1996, S. 96 Schlechtman 1996, S. 97 Schlechtman 1996, S. 97 Schlechtman 1996, S. 97
3.2 Narrative Konzeptionen des Selbst
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sehbar“ sein.¹¹⁶ Dass und wie wir diese Bedingungen auf das Selbstverstehen von Personen übertragen können, wird nicht erklärt. Es wird vielmehr schlicht behauptet, dass wir eine solche Übertragung vornehmen können: „… the narrative self-constitution view requires that a person have a self-conception that coheres to produce a well-defined character. It should be obvious that this narrative can be intelligible to almost any degree.“¹¹⁷ Diese starke Forderung wird den verschiedenen Möglichkeiten eines diachronen Selbstverständnisses von Personen nicht gerecht. Deutet man das Merkmal des Narrativen in der Konzeption des Selbst in diesem starken Sinne, dann scheint es eher gegen als für Schlechtmans These zu sprechen. Diese Bedenken werden verstärkt, wenn man die Einschränkungen betrachtet, mit denen sie die Anwendung der Konzeption auf die Selbstauffassungen von Personen versieht. Es geht um das Erzählen einer autobiographischen Geschichte. Schlechtman ist allerdings der Meinung, dass „Leute in Wirklichkeit sehr wenig über ihr Leben selbst-bewusst erzählen“,¹¹⁸ und dass daher „die Konstruktion einer … autobiographischen Erzählung nicht selbst-bewusst sein muss“.¹¹⁹ Soll das heißen, dass wir etwas über unser Leben berichten können, auch wenn wir gar nicht wissen, dass wir es tun, und es auch nicht unsere Absicht ist, es zu tun? Dass ist natürlich möglich, aber es ist nicht das, was Schechtman meint. Sie glaubt, dass „man eine autobiographische Erzählung auch dann hat, wenn man nicht wirklich die Geschichte des eigenen Lebens erzählt, für sich selber oder einem anderen.“¹²⁰ Aber wie „hat“ man denn eine solche Erzählung? In dem Sinne etwa, dass ich ein Wissen davon habe, dass Washington D.C. am Hudson liegt, auch wenn ich es nicht ausdrücklich sage oder auch nur daran denke? Aber das kann nicht gemeint sein, denn man ist häufig nicht in der Lage, die Geschichte des eigenen Lebens explizit zu formulieren. Um dem Rechnung zu tragen, nimmt sie zwei ganz unterschiedliche Abschwächungen der Bedingungen für den Besitz einer autobiographischen Erzählung vor. Erstens kann es sich auch nur um einen beliebig kleinen Ausschnitt aus dieser Lebensgeschichte, um eine „lokalen Artikulation“ handeln: „This means that the narrator should be able to explain why he does what he does, believes what he believes, and feels what he feels.“¹²¹ Eine solche Artikulation ist jedoch keine besonderer Fall einer autobiographischen Erzählung, sondern ein thematisch restringierter, auf die gegenwärtige Situation be-
Schlechtman 1996, S. 97 Schlechtman 1996, S. 97 Schlectman 1996, S. 116 Schlechtman 1996, S. 105 Schlechtman 1996, S. 114 Schlechtman 1996, S. 114
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schränkter Teil einer solchen Erzählung. Die Forderung, dass man eine Erklärung für die eigenen Handlungen oder Gefühle geben kann, beruht auf einer rationalistischen Überschätzung der kognitiven Fähigkeiten von Personen, welche sich unter dem Titel Presumption of Explicability verbirgt. Sie besagt: „A person usually can … account for her actions and experiences by showing how they are a part of an intelligible life story with a comprehensible and well-drawn subject as its protagonist.“¹²² Es bleibt völlig im Dunklen, wie sich eine solche starke Forderung für den Besitz eines Selbst-Begriffs rechtfertigen lässt. Eine ganz andere Abschwächung der Bedingung, dass man über eine autobiographische Erzählung verfügen muss, um einen Selbst-Begriff zu haben, nimmt Schechtman mit der Annahme einer „impliziten Erzählung“ vor. Sie besagt: „The implicit narrative is understood as the psychological organization from which his experiences and actions are actually flowing.“¹²³ Die psychologische Verfassung einer Person besteht in ihren mentalen Dispositionen, die ihr Verhalten und Erleben determinieren. Sie kann keine Erzählung, auch keine „implizite“ Erzählung sein, aber die Fähigkeit, das eigene Leben zu erzählen, kann zu dem gehören, was eine solche Verfassung ausmacht. Dass Schechtman mal von der Erzählung, mal von dem, wovon sie eine Erzählung ist, redet, ohne genau zu unterscheiden, zeigt auch die folgende Bemerkung: „I call a person’s underlying psychological organization a self-narrative because it is … a basic orientation through which, with or without conscious awareness, an individual understands himself and his world. These implicit organizing principles are … a continually developing interpretation of the course of one’s trajectory through the world.“¹²⁴ Die Orientierung einer Person, die durch ihre psychologische Verfassung begründet ist, gehört zu dem, wovon ihre autobiographische Geschichte handelt, während ihre Interpretation die erzählte Geschichte ist. Wie kann diese Verfassung beides sein? Abgesehen von diesem begrifflichen Problem stellt sich natürlich die Frage, ob es so etwas wie eine „grundlegende Orientierung“ einer Person gibt. Und selbst wenn es sie gibt, so ist immer noch nicht gezeigt, dass ihre Selbstauffassung sich auf sie bezieht oder von ihrem Vorliegen abhängig ist. Schechtman erwähnt Neurosen, psychische Repressionen und Selbsttäuschungen, die sich in der einen oder anderen Weise durch die psychologische Verfassung einer Person erklären lassen, bei denen aber nicht erkennbar ist, dass und wie sie eine Rolle für ihre Interpretation ihrer eigenen Lebensgeschichte spielen können.
Schlechtman 1996, S. 114 Schlechtnan 1996, S. 115 Schlechtman 1996, S. 115 – 116
3.2 Narrative Konzeptionen des Selbst
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Zusammenfassend kann man sagen, dass Schlechtman die narrative Konzeption des Selbst die Fähigkeit, eine autobiographische Geschichte zu erzählen, mit so vielen Einschränkungen versieht, dass überhaupt nicht klar wird, um was für eine Fähigkeit es sich handeln soll. Die Person muss nicht in Lage sein, die Geschichte ihres Lebens zu erzählen. Es genügt schon, wenn sie nur eine „lokale“ Darstellung ihrer gegenwärtigen Situation gibt. Eine „implizite“ Erzählung ist darüber hinaus gar keine Erzählung, sondern die psychologische Verfassung der Person, von der die Geschichte handelt, welche ihr mehr oder weniger unbekannt sein kann. Diese als eine „grundlegende Orientierung“ ihres Selbstverständnisses zu bezeichnen, verwischt den Unterschied, der zwischen einer Erzählung und dem, wovon sie handelt, besteht. Sieht man von diesen begrifflichen Schwierigkeiten der narrativen Konzeption des Selbst ab und vergleicht sie mit Heideggers Begriff des Sichselbsthabens in einer Welt, so ist zu betonen, dass für Schlechtman das Selbst einer Person in den psychologischen Determinanten ihres Verhaltens besteht. Ihr Begriff des Selbst ist ein psychologischer Begriff, während er für Heidegger sich auf die Situation bezieht, in der eine Person ihr verständliches Leben führt. Eine solche Situation ist immer auch eine Mit- und Umwelt, die für die Konstitution des von Schlechtman diskutierten Selbstverständnisses keine Rolle spielen. Vergleicht man die Fähigkeit oder auch nur die Möglichkeit, eine autobiographische Geschichte zu erzählen, mit dem Bezug auf eine Selbstwelt, den jedes Leben in einer Welt nach Heidegger hat, so besteht ein wichtiger Unterschied darin, dass eine solche Fähigkeit an die kognitiven und sprachlichen Ressourcen einer einzelnen Person gebunden ist. Ob und in welcher Weise es ihr gelingt, eine verständliche Erzählung mit ihr als Protagonist zu geben, hängt nur von ihr ab. Demgegenüber besteht das Leben in einer Selbst-Welt in einem vertrauten Umgang mit Vorhandenem und Zuhandenem und schließt verschiedene Formen des Mitseins mit Anderen ein. Ein solches Leben hat sowohl eine praktische als auch eine soziale Dimension; und beide Aspekte fehlen in der einseitig intellektualistischen Auffassung des Selbst von Personen, die Schlechtman vertritt. Für Heidegger besteht das Sichselbsthaben in einem „Leben im Verständlichen“,¹²⁵ während nach Schlechtman das Leben erst durch eine autobiographische Erzählung verständlich gemacht wird. Nicht das Leben selber hat den „labilen“ Charakter des Vertrauten und Verständlichen, sondern das Leben so, wie es durch eine solche Erzählung dargestellt wird, ist mehr oder weniger verständlich. Was verständlich ist, wird durch die Erzählung konstituiert; es ist ein narratives Konstrukt des Erzählers, das sich auch als eine Fiktion herausstellen kann.
Heidegger 2010, S. 166
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Schließlich stellt sich die Frage nach der Rolle, die Andere in einer autobiographischen Geschichte spielen. Bei Heidegger sind sie ein unverzichtbarer Bestandteil des Selbstseins einer Person, weil ihr Leben immer ein Leben in einer mit Anderen gemeinsamen Welt ist. Bei Schlechtman kommen die Anderen als Figuren in einer Geschichte, die erzählt wird, vor. Welche Bedeutung ihnen zukommt, entscheidet der Erzähler. Aber sie können auch Adressaten der Erzählung sein. In diesem Falle wäre das Erzählen einer Lebensgeschichte eine Weise des Miteinanderseins. Hier besteht die Möglichkeit, dass auch sie eine Geschichte über einen erzählen, welche von der eigenen Geschichte durchaus abweicht. Es kann Konflikte geben, und man kann ein Interesse daran haben, den Konflikt zu lösen. Die beiden Geschichten sind „verhandelbar“, und wie die Verhandlung ausgeht, hängt von den Umständen ab. Die autobiographische Erzählung hat nicht eo ipso eine besondere Autorität und kann im Konsens durch entsprechende Einwände modifiziert oder auch völlig verändert werden. Endet dagegen die Angelegenheit im Dissens, so wird dies vielleicht irritieren und einen veranlassen, seine Erzählung zu überdenken und gegebenenfalls zu verändern. Welche Rolle spielen dann aber die Anderen für die Konstitution des eigenen Selbst? Dass solche Fragen nicht gestellt werden, erklärt sich dadurch, dass Schlechtman die Erzählung einer autobiographischen Geschichte als eine Art von Monolog versteht. Eine ganz andere Version der These von dem narrativen Selbst wird von Daniel Dennett vertreten. Er ist der Meinung, dass die Frage nach der Existenz eines Selbst leicht zu beantworten ist: „The question of whether there really are selves can be made to look ridiculously easy to answer, in either directions: Do we exist? Of course! The question presupposes its own answer. … Are there entities, either in our brains, or over or above our brains, that control our bodies, think our thoughts, make our decisions? Of course not!“¹²⁶ Wieso geben die Antworten auf diese Fragen auch eine Antwort auf die Frage nach der Existenz eines Selbst? Der von Dennett unterstellte, aber nicht explizierte Zusammenhang legt die Vermutung nahe, dass der Begriff des Selbst so verstanden werden muss, dass einerseits eine enge Beziehung zwischen ihm und dem Begriff der Person, eines Lebewesens, das Fragen stellen und beantworten kann, besteht. Dies bringt ihn zu der These, das Selbst sei ein abstrakter Gegenstand. Andererseits will er das Missverständnis ausschließen, das Selbst sei so etwas wie ein Homunculus, gewissermaßen ein Ich im Ich, und dies begründet er mit der These, das Selbst sei ein fiktiver Gegenstand. Die Auffassung, das Selbst sei ein Zentrum narrativer Gravität, verbindet diese beiden Beweisziele, indem sie einerseits die sprachlichen
Dennett 1991, S. 413
3.2 Narrative Konzeptionen des Selbst
201
Kompetenzen von Personen, die in dem Erzählen einer autobiographischen Geschichte zum Ausdruck kommen, betont und andererseits das Selbst als ein fiktionales Objekt bestimmt. Wie wir sehen werden, beruht die Verknüpfung der beiden Beweisziele sowohl auf einem irrigen Verständnis des Begriffs einer autobiographischen Geschichte als auch darauf, dass Dennett nur eine Möglichkeit, jenes Missverständnis zu vermeiden, in Betracht zieht. Dass das Selbst ein Zentrum narrativer Gravität ist, impliziert für Dennett, dass es sich um einen abstrakten Gegenstand handelt. Er begründet dies mit Hilfe des uns vertrauteren Zentrums der Gravität eines Körpers.¹²⁷ Aber gilt dies auch für eine ganz andere Art eines Zentrums der Gravität, wie es das Selbst sein soll? Betrachten wir die Anwendung des Begriffs eines solchen Zentrums auf den Bereich der belebten Natur. Dennett spricht von einem biologischen Selbst, das auch Amöben haben sollen und in der Disposition besteht „sich selbst von Anderem zu unterscheiden, um sich selbst zu schützen“.¹²⁸ Das biologische Selbst ist kein „konkretes Ding, sondern einfach eine Abstraktion, ein Prinzip der Organisation.“¹²⁹ Dass dieses Selbst kein Ding ist, leuchtet ein. Denn es ist definiert als eine Disposition, den eigenen Zustand zu erhalten und vor schädlichen externen Einwirkungen zu schützen. Aber weshalb soll eine Disposition ein Ding sein, etwa ein abstraktes Ding? Die Amöbe hat diese Disposition; sie steht nicht in einer Beziehung zu irgendeinem Ding, sei es konkret oder abstrakt. Auch wenn man die Annahme eines biologischen Selbst akzeptiert, so ist doch die These, es sei ein abstraktes Ding, völlig unbegründet, wenn nicht gar sinnlos. Wie steht es mit der These, unser Selbst sei so etwas? Dennett schreibt: „Our fundamental tactic of self-protection, self-control, and self-definition is … telling stories, and more particularly concocting and controlling stories we tell others – and ourselves – about who we are.“¹³⁰ In diesen Geschichten soll es die Absicht des Erzählers sein, die Hörer zu der Annahme zu bringen, es gebe so etwas wie „einen einheitlichen Akteur, dessen Worte die Geschichte ausmachen, und von dem sie handeln: kurz gesagt, die Annahme eines Zentrums narrativer Gravität.“¹³¹ Das ist eine bemerkenswerte Verkürzung! Denn diese Annahme soll ja, in Analogie zu der Annahme eines Zentrums der Gravität eines Körpers, die Annahme einer abstrakten Entität sein, während sich die Annahme eines einheitlichen Akteurs, der eine Geschichte über sich erzählt, sich auf denjenigen bezieht, der eine Geschichte erzählt. Diese Person kann ja
Dennett 1992, S. 103 Dennett 1991, S. 414; vgl. Damasio 1999, S. 133 – 142 Dennett 1991, S. 414 Dennett 1991, S. 418 Dennett 1991, S. 418
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3 Die Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt
wohl kaum eine abstrakte Entität sein. Dennett schreibt: „Like the biological self, this psychological or narrative self is yet another abstraction, not a thing in the brain …“¹³² Wenn das narrative Selbst der angenommene oder postulierte einheitliche Akteur ist und so die Rolle eines Zentrum narrativer Gravität wahrnimmt, dann muss der Akteur nach Dennett ein Abstraktum sein. Das ist wenig einleuchtend. Es mag sein, dass derjenige, der eine Geschichte über sich selbst erzählt, kein solcher Akteur ist, aber das macht ihn nicht zu einem Abstraktum und noch viel weniger zu etwas, was in seinem Gehirn zu lokalisieren ist, sondern er bleibt eine Person, die vielleicht eine irrige Geschichte erzählt und Opfer von Missverständnissen ihrer selbst ist. Was immer das narrative Selbst sein mag, sofern es als Akteur, einheitlich oder nicht, der eine autobiographische Geschichte, wie irrig sie auch sein mag, erzählt, verstanden wird, gibt es keinen Grund, es als eine abstrakte Entität anzusehen. Dennett sieht das anders, weil er, wie schon erwähnt, die Vorstellung ablehnt, das Selbst sei so etwas wie ein Homunculus. Wäre dies der Fall, sei es als Seele, sei es als ein bestimmtes Areal im Gehirn, dann wäre es ein konkreter, einzelner Gegenstand.¹³³ Dass es sich um einen abstrakten Gegenstand handelt, soll gerade jene Vorstellung ausschließen; aber sie lässt sich vermeiden, ohne dass man die Annahme, das Selbst sei ein abstrakter Gegenstand, macht. Betrachten wir nun die zweite These von Dennett über das Selbst – die These, das Selbst sei eine Fiktion. Für ihn folgt sie aus der Behauptung, dass es als ein Zentrum narrativer Gravität ein Abstraktum ist.¹³⁴ Dieses Zentrum ist, wie auch das Zentrum der Gravität eines Körpers, die „Fiktion eines Theoretikers“, aber nicht die eines Physikers, sondern die eines Geisteswissenschaftlers, der sich mit Menschen beschäftigt.¹³⁵ Sieht man von der hier nicht diskutierten Vorstellung von Dennett, abstrakte oder theoretische Entitäten seien Fiktionen, ab, so ist zu klären, weshalb das Selbst, verstanden als ein Zentrum narrativer Gravität, eine Fiktion sein soll. Weil Personen ein Selbst haben, haben sie nicht nur, wie alle Körper, ein Zentrum der Gravität, sondern auch noch ein Zentrum narrativer Gravität. Dass Personen ein solches Zentrum besitzen, begründet er durch Überlegungen, die vage sind und nur assoziativ miteinander verknüpft sind. Sie lassen sich in vier Punkten zusammenfassen. Erstens sind wir ständig damit beschäftigt, sich für andere, aber auch für uns selber zu präsentieren, „in der Sprache und mit Gesten, äußerlich und innerlich“.¹³⁶ Zweitens enthält die Um
Dennett 1991, S. 418 Vgl. Dennett 1992, S. 105 Vgl. Dennett 1992, S. 105 Dennett 1992, S. 105 Dennett 1991, S. 417
3.2 Narrative Konzeptionen des Selbst
203
welt, in der Menschen leben, vor allem auch Worte, gesprochene und geschriebene sprachliche Ausdrücke. Drittens werden diese von uns dazu benutzt, „selbst-schützende Reihen von Geschichten“ zu erfinden, und sie haben die Tendenz, uns zu dominieren, indem „sie uns erschaffen aus den Rohmaterialien, die sie in unseren Gehirnen finden.“ Schließlich soll unsere „grundlegende Strategie des Selbst-Schutzes, der Selbst-Kontrolle und Selbst-Definition“ darin bestehen, dass wir Geschichten erzählen, insbesondere „die Geschichte, die wir Anderen – und uns selber – darüber erzählen, wer wir sind.“¹³⁷ Die Pointe dieser Überlegungen besteht darin, dass Personen, die ein Selbst haben, in der Lage sind, eine Geschichte über sich selber, eine autobiographische Geschichte zu erzählen. Wie der Besitz dieser Fähigkeit genauer zu bestimmen ist, bleibt ziemlich unklar. Denn Dennett behauptet: „Each normal individual of this species (scil. Homo Sapiens) makes a self. Out of its brain it spins a web of words and deeds, and … it doesn‘t have to know what it‘s doing, it just does it.“¹³⁸ Es handelt sich also um eine Fähigkeit, die nicht bewusst und aufgrund von Überlegungen ausgeübt wird. Aber wie kann man eine autobiographische Geschichte oder überhaupt eine Geschichte erzählen, ohne dass man dies absichtlich tut und daher weiß, was man tut? Man tut so etwas, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, und dazu muss man sich überlegen, welche Mittel dafür geeignet sind. Wie so etwas möglich sein soll, ohne dass man ein Wissen von seinem Erzählen hat, ist völlig unklar. Es wird auch gar nicht erst versucht, die grundlegende Annahme, jeder normale Mensch verfüge über die Fähigkeit, eine autobiographische Geschichte zu erzählen, zu präzisieren und zu begründen. Aber selbst wenn man diese Annahme akzeptiert, was ergibt sich daraus für die These, das Selbst sei eine Fiktion? Dennett scheint dies durch den fiktionalen Status der Autobiographie begründen zu wollen. Das Selbst ist demnach deswegen eine Fiktion, weil Personen, die ein Selbst haben, in der Lage sind, fiktionale Geschichten über sich zu erzählen, also etwas Fiktives sich auszudenken oder zu erfinden. Natürlich ist nicht die Fähigkeit, so etwas zu tun, eine Fiktion, sondern dasjenige, was durch die Ausübung der Fähigkeit zustande kommt, hat den Status einer Fiktion. Selbst wenn man annimmt, dass das Selbstsein von Personen in dem Besitz oder Ausübung dieser Fähigkeit besteht, so ergibt sich daraus nicht, dass ihr Selbst eine Fiktion ist. Es ergibt sich vielmehr, dass sie nur dann ein Selbst sind oder haben, wenn sie in der Lage sind, fiktive Geschichten über sich zu erzählen. Daher scheitert der skizzierte Nachweis der These, das Selbst sei eine Fiktion. Er
Dennett 1991, S. 418 Dennett 1991, S. 416
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3 Die Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt
scheitert aber auch deswegen, weil Dennett annimmt, die erzählte Geschichte sei eine Autobiographie. Es kann ihm nicht darauf ankommen, das Selbstsein von Personen mit der allgemeinen Fähigkeit, fiktive Geschichten zu erzählen, zu verknüpfen. Es muss sich vielmehr um die besondere Fähigkeit handeln, eine autobiographische fiktive Geschichte zu erzählen. Wie ist der Begriff einer solchen Geschichte genauer zu bestimmen? Sofern es sich um eine autobiographische Geschichte handelt, muss es eine Geschichte sein, in der es so etwas wie eine zentrale Figur, einen Protagonisten der Geschichte gibt; und dieser muss der Erzähler der Geschichte sein. Wenn es aber eine fiktive Geschichte ist, dann muss für diesen Protagonist gelten, was Dennett die „Unbestimmtheit fiktionaler Objekte“ nennt.¹³⁹ Sie besagt, dass solche Objekte nur die Eigenschaften haben, die ihnen im Text zugesprochen werden, oder die sich unter der Annahme der Geltung normaler Bedingungen daraus ableiten lassen. Dies scheint jedoch für eine Autobiographie nicht zu gelten. Betrachten wir etwa eine autobiographische Geschichte, die ich von meiner Vergangenheit erzähle. Dennett schreibt: „Of course it is also possible … for a person to engage in auto-hermeneutics, interpretation of one‘ self, and in particular to go back and think about one‘s past, and one‘s memories, and to rethink them and rewrite them. This process does change the „fictional“ character, the character that you are …„¹⁴⁰ Es kann für mich beliebig schwierig sein jetzt festzustellen, was und aus welchen Gründen ich damals etwas getan habe, aber dies bedeutet ja nicht, dass ich weder etwas getan habe noch etwas nicht getan habe; und es bedeutet weder, dass ich diese oder jene Gründe hatte, noch dass ich sie nicht hatte. Für mein vergangenes Tun und Lassen gilt die Unbestimmtheit fiktionaler Objekte nicht, die nur dadurch aufgehoben werden kann, dass man sich eine neue Geschichte ausdenkt, wie Dennett suggeriert.¹⁴¹ Mein Nachdenken über meine Vergangenheit, wie irrig es auch sein mag, besteht nicht darin, dass ich sie neu schreibe, denn sonst gäbe es gar nicht die Möglichkeit, sich dabei zu irren. Meine Vergangenheit ist das, was sie ist, ganz unabhängig davon, ob ich mich mit ihr beschäftige, ob ich sie neu oder anders bewerte und beurteile; und meine Beschäftigung mit ihr, von Dennett als Autobiographie bezeichnet, generiert keinen fiktionaleren Text. Wenn eine Autobiographie kein fiktionaler Text ist und sein kann, dann gibt es auch keinen Grund, den Protagonisten dieser Geschichte als eine fiktionale Entität anzusehen. Dennett schreibt: „The chief fictional character at the center of
Dennett 1992, S. 106 Dennett 1992, S. 110 Dennett 1992, S. 110
3.2 Narrative Konzeptionen des Selbst
205
that autobiography is one’s self. And if you still want to know what the self really is, you’re making a category mistake.“¹⁴² Worin besteht der Fehler? Dass man sich fragt, wie es sich mit einem selber wirklich verhält? Oder darin, dass man sich fragt, was das Selbst wirklich ist? Dennett weist auf das bekannte Phänomen einer Multiple Personality Disorder hin und diskutiert die Möglichkeit von operativen Eingriffen, die die Verbindung der beiden Hälften des Gehirns auflösen.¹⁴³ Diese Überlegungen können vielleicht unsere Überzeugung ins Wanken bringen, es gebe das Selbst, also ein und nur ein Selbst, aber sie begründen nicht, dass das Selbst eine fiktionale Entität ist, bei der es sinnlos ist, eine Frage nach ihrer wirklichen Beschaffenheit zu stellen, welche nicht durch Rekurs auf die erzählte Geschichte zu beantworten ist. Es ist nicht nur bedauerlich, sondern auch merkwürdig, dass Dennett seine zentrale These, Autobiographien seien fiktionale Texte, nicht weiter begründet. Statt dessen diskutiert er ausführlich ein Gedankenexperiment, das zeigen soll, dass eine Autobiographie und das fiktionale Selbst, das ihr Protagonist ist, nicht durch ein Selbst geschaffen sein müssen, sondern durch einen Computer, der ein Programm für das Schreiben von fiktiven Geschichten besitzt, hervorgebracht sein können.¹⁴⁴ Wie immer man dieses Gedankenexperiment beurteilt, für seine zentrale These ergibt sich aus ihm nichts. Was kann man aus Dennetts Überlegungen zum Selbst lernen, wenn man ihr Beweisziel, das Selbst sei eine Fiktion, außer Acht lässt? Nicht nur Lebewesen haben ein Selbst; und das Selbst von Personen unterscheidet sich grundlegend von dem Selbst von Ameisen oder Flusskrebsen.¹⁴⁵ Diese Differenz erklärt er dadurch, dass diese nicht die Fähigkeit der Selbstdarstellung besitzen.¹⁴⁶ Wir machen von dieser Fähigkeit sowohl gegenüber Anderen als auch gegenüber uns selber ständig Gebrauch, und sie lässt sich zumindest in der Hinsicht mit Heideggers Sichselbsthaben in einer Welt vergleichen, dass ein Selbst, das durch die Anwendung dieser Fähigkeit konstituiert wird, wesentlich auf eine Mit- und UmWelt bezogen ist. Aber diese Beziehung zeigt sich nur in dem, wovon die Selbstdarstellung handelt; sie charakterisiert nicht die Lebensweise des Erzählers. Die Unterschiede zwischen Heidegger und Dennett werden deutlich, wenn man dessen Erklärung dafür, dass wir über die Fähigkeit der Selbstdarstellung verfügen, betrachtet. Auch er rekurriert auf die Welt, in der Wesen, wie wir es sind, leben: „Our human environment contains not just food and shelter, enemies to fight or
Dennett 1992, S. 114 Dennett 1992, S. 111– 112 Dennett 1992, S. 107– 108 Vgl. Dennett 1991, S. 416 – 417 Dennett 1991, S. 417
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3 Die Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt
flee, and conspecifics with whom to mate, but words, words, words.“¹⁴⁷ Das Besondere der Welt, in der Personen leben, wird also darin gesehen, dass sie nicht nur all das enthält, was zur Selbsterhaltung von Lebewesen erforderlich ist, sondern auch Worte und somit etwas, was nicht ohne eine gemeinsame Sprache gedacht werden kann. Dennett übersieht aber, dass eine gemeinsame Sprache ein Leben in einer mit Anderen gemeinsamen Welt voraussetzt und zugleich Weisen eines gemeinsamen Lebens mit Anderen ermöglicht, die sich bei Ameisen und Flusskrebsen nicht finden. Heideggers Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt gibt eine Analyse dieser Voraussetzung und beschreibt das, was durch sie ermöglicht wird. Demgegenüber interessiert sich Dennett für eine besondere Art des Gebrauchs einer gemeinsamen Sprache, für die Erfindung „selbstschützender Ketten einer Erzählung“.¹⁴⁸ Eine solche Erzählung soll eine Autobiographie sein, eine Selbstdarstellung gegenüber Anderen, aber auch für sich selber, durch die ein Selbst konstituiert wird. Wir haben ein Selbst, weil wir über eine Sprache verfügen, die wir zur Erfindung von Autobiographien benutzen. Was immer man von dieser spekulativen oder auch assoziativ gestrickten Erklärung halten mag, es ist auf jeden Fall klar, dass das Selbst einer Person in der Fähigkeit einer einzelnen Person begründet ist. Sie ist in der Lage, eine Geschichte über sich zu erzählen; und diese Tätigkeit richtet sich sowohl an Andere als auch an sich selbst. Sie soll dazu dienen, den Erzähler zu schützen, aber es wird nicht gesagt, welche Gefahren oder Beeinträchtigungen abgewendet werden sollen. Demgegenüber betrifft Heideggers Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt das volle Leben einer Person in einer mit Anderen geteilten Welt. Dieses Leben besteht nicht nur darin, dass man redet, etwas erzählt, sondern vor allem auch darin, dass man etwas tut, mit Anderen und gegen Andere. Die Bedeutung, die dem Besitz einer Sprache für ein solches In-der-Welt-sein zukommt, wird von Heidegger nicht bestritten, aber die Sprachkompetenz wird von ihm nicht unter dem sehr speziellen Gesichtspunkt der Erzählung einer autobiographischen Geschichte betrachtet. Dennett vergleicht oder identifiziert diesen Fall mit der Tätigkeit eines „virtuosen Romanschriftstellers, der uns antrifft, wie wir in allen möglichen Arten von Beschäftigungen, mehr oder weniger zusammenhängend, aufgehen“.¹⁴⁹ Da wir selber ein solcher Romanschriftsteller sind, handelt es sich um eine reflexive Beschäftigung mit unserem Leben. Das so konstituierte Selbst wird also durch eine Reflexion und nur auf diese Weise zugänglich. Heidegger lehnt einen solchen Ansatz ab: „Das Selbst ist dem Dasein ihm selbst da, ohne
Dennett 1991, S. 417 Dennett 1991, S. 417 Dennett 1992, S. 114
3.2 Narrative Konzeptionen des Selbst
207
Reflexion und ohne innere Wahrnehmung, vor aller Reflexion. Die Reflexion im Sinne der Rückwendung ist nur ein Modus der Selbsterfassung, aber nicht die Weise der primären Selbsterschließung.“¹⁵⁰ Der reflexive Standpunkt des autobiographischen Erzählers ist demnach nicht notwendig, um einen Zugang zu dem eigenen Selbst zu haben; und seine Wahl führt dazu, dass man wesentliche Züge des Selbst einer Person nicht erfasst. Diese Züge beschreibt Heidegger als ein „unabgehobenes Michselbsthaben in lebendigen Lebenserfahrungen“.¹⁵¹ Die kritische Pointe gegenüber Dennett wird deutlich, wenn man dessen Charakterisierung der autobiographischen Erzählung heranzieht: „The chief fictional character at the center of that autobiography is one‘s self.“¹⁵² Die Lebenserfahrung, in der das Selbst nach Heidegger fundiert ist, ist ein Erfahren und Erleben des Lebens; sie besteht nicht in seiner Beschreibung oder Darstellung. Das Selbst kommt in diesem Leben vor, aber nicht nur und nicht vor allem als sein Zentrum vor, sondern in der Weise, dass das Leben ihm verständlich ist: „Ich habe mich selbst, heißt: die lebendige Situation wird verständlich.“¹⁵³ Diese Situation ist eine mir vertraute Welt, die wesentlich eine Um- und Mitwelt ist und daher mein Tun und Lassen im Miteinandersein mit Anderen umfasst. Fragt man sich, wie Dennett solchen Bezügen eines Lebens Rechnung tragen kann, so wird man auf die Themen verwiesen, die in der fiktiven Autobiographie behandelt werden. Sie werden so präsentiert, dass sie eine „einzige gute Geschichte“ ergeben.¹⁵⁴ Das Material oder der Stoff für die Geschichte, die wir über uns erzählen, ist unser Leben, aber was gehört alles dazu? Und was muss dazu gehören, damit seine Darstellung als eine Biographie des eigenen Lebens verstanden werden kann? Bei Dennett finden sich keine Antworten auf diese Fragen, weil er sie sich nicht stellt; und er stellt sie sich nicht, weil es ihm ausschließlich darum geht, seine These von dem fiktiven Charakter einer Autobiographie, die ein Selbst erfinden soll, plausibel zu machen. Bei fiktiven Erzählungen stellen sich Fragen der Korrektheit und Vollständigkeit, sofern sie nicht durch die Erzählung selber zu beantworten sind, nicht. Für eine Autobiographie gilt dies nicht, und deswegen gelingt es Dennett nicht, seine These zu begründen. Im Vergleich zu Heideggers Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt ist seine Konzeption des Selbst nicht nur aus begrifflichen Gründen unbefriedigend, sondern auch in ihrer inhaltlichen Explikation unbestimmt und vage.
Heidegger 1975, S. 226 Heidegger 2010, S. 164 Dennett 1992, S. 114 Heidegger 2010, S. 166 Dennett 1992, S. 114
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3 Die Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt
3.3 Das konstituierte Selbst Der ontologische Status dessen, was unter den Begriff Selbst fällt, ist umstritten. Während Burge erwägt, dass es sich um Individuen handelt, sind andere der Meinung, dass es Zustände oder Eigenschaften von Personen sind.¹⁵⁵ Folgt man der ersten Auffassung, so sind Selbst Personen, deren Leben bestimmte Bedingungen erfüllt; und in diesem Leben gibt es eine Zeit, in der sie die Bedingungen noch nicht erfüllen, und möglicher Weise eine Zeit, in der sie nicht mehr erfüllen. Schließt man sich der zweiten Auffassung an, so besteht das Selbstsein in einem Zustand, in dem sich Personen über einen gewissen Zeitraum ihres Lebens befinden. Beide Auffassungen legen die Annahme nahe, dass Personen ein Selbst deswegen sind oder die Eigenschaft des Selbstseins besitzen, weil sie sich in bestimmter Weise verhalten können. Sie können diese Fähigkeit erwerben und gegebenenfalls auch wieder verlieren. Eine Möglichkeit, wie dieser Erwerb zu verstehen ist, besteht darin, ihn als eine Art von Selbstkonstitution zu verstehen. Was damit gemeint ist, kann anhand der Arbeiten von Harry Frankfurt verdeutlicht werden, der in verschiedenen Aufsätzen die These von einer Konstitution des Selbst vertreten hat. Ich orientiere mich im Folgenden vor allem an der Vorlesung Taking Ourselves Seriously, in der er von allgemeinen Überlegungen zu dem bewussten Leben von Personen ausgeht: „We are (probably) unique in being able simultaneously to be engaged in whatever is going on in our conscious minds, to detach ourselves from it, and to observe it – as it were – from a distance. We are then in a position to form reflexive or higher-order responses to it.“¹⁵⁶ Auch wenn man die gewählte Terminologie wegen ihrer metaphorischen Anspielungen für nicht sonderlich erhellend hält, so ist doch klar, was Frankfurt im Sinne hat. Es geht um die Fähigkeit, sich zu unserem bewussten mentalen Zuständen und Ereignissen reflexiv zu verhalten. Gewöhnlich beschäftigen wir uns mit dem, was wir wahrnehmen, fühlen oder denken, aber wir können unsere Aufmerksamkeit auch auf diese mentalen Akte oder Zustände richten. Reflexive Einstellungen können wir allerdings nicht nur dazu, sondern auch zu unserem Tun und Lassen, zu unseren Lebensumständen, zu unserer Vergangenheit und Zukunft einnehmen. Frankfurt betrachtet nur einen besonderen Fall solcher Einstellungen, ohne dass dies in irgendeiner Weise begründet wird. Seine Konzeption eines Selbst, das in ihnen fundiert ist, beschränkt sich daher von vorne herein auf eine thematisch restringierte Art reflexiven Verhaltens. Er spricht von einer „Vielfalt von überwachenden Wünschen, Absichten und Eingriffen“, aber im Folgenden interessiert
Vgl. Burge 2011, S. 143; Cassam 2013, S. 154 Frankfurt 2006, S. 4
3.3 Das konstituierte Selbst
209
er sich nur für eine besondere Form dieses Verhaltens: „ Wir können zum Beispiel den von uns bemerkten Gefühlen zustimmen, oder wir können sie ablehnen …“¹⁵⁷ Es geht um eine bewertende Beurteilung unserer Gefühle. Wir können sie natürlich auch ganz anders beurteilen, etwa im Hinblick auf ihre Verlässlichkeit, Konstanz oder Angemessenheit oder im Hinblick auf ihre Ursache oder ihren Inhalt; und auch dasjenige, was beurteilt wird, ist ein besonderer Fall von dem, was bei Gefühlen bewertend beurteilt werden kann. Es handelt sich um eine Beurteilung des Umstands, dass wir so fühlen, und nicht um eine Beurteilung des Gefühls, das wir haben. Das reflexive Verhalten zu unserem bewussten Leben, von dem Frankfurt ausgeht, ist eine bewertende Stellungnahme zu dem Leben, das und wie es von dem Subjekt des Lebens erfahren wird. Solche reflexiven Bewertungen sind der Dreh – und Angelpunkt seiner Konzeption der „Kreation des Selbst aus den Rohmaterialien des inneren Lebens“.¹⁵⁸ Diese Materialien sind unsere Gefühle und Wünsche, unsere Absichten und Gedanken, von denen wir durch eine Art innerer Anschauung, durch eine „nach innen gewendete kontrollierende Übersicht“ Kenntnis haben sollen.¹⁵⁹ Dass es als Rohmaterial bezeichnet wird, zeigt an, dass mit diesem Mentalen etwas gemacht wird oder gemacht werden kann, je nachdem, wie wir uns jeweils zu unseren bewussten mentalen Zustände oder Ereignissen verhalten. Eine Möglichkeit besteht darin, dass „wir sie akzeptieren als Wiedergabe dessen, was wir wirklich fühlen, was wir wahrhaftig wünschen, was wir in der Tat denken, usw.“¹⁶⁰ Eine andere mögliche Reaktion ist, dass wir unsere Gefühle oder Gedanken ablehnen oder verwerfen, dass wir uns von ihnen „dissoziieren“.¹⁶¹ Wir können uns aber auch einer Stellungnahme enthalten und das, was in uns vorgeht, zur Kenntnis nehmen, ohne dass wir in der Form der Zustimmung oder Ablehnung darauf reagieren. Wir beschränken uns auf die Rolle eines unbeteiligten „Zuschauers“.¹⁶² Diesen verschiedenen Reaktionen ist gemeinsam, dass sie sich jeweils auf unser Mentales beziehen, aber sein Status soll sich aufgrund der Weise, wie wir jeweils reagieren, ändern.¹⁶³ Unsere Reaktion gibt dem „psychischen Rohmaterial“ eine bestimmte Form oder Qualität. Im ersten Falle „integrieren“ wir es, und das, was in uns vorgeht, ist „ein authentischer Ausdruck von uns selbst“; im zweiten Falle
Frankfurt 2006, S. 4 Frankfurt 1987, S. 170; vgl. 2006. S. 6 Frankfurt 2006, S. 4 Frankfurt 2006, S. 8 Frankfurt 2006, S. 10 Frankfurt 2006, S. 8 Frankfurt 2006, S. 8
210
3 Die Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt
verwerfen wir es, wir „externalisieren“ es.¹⁶⁴ Was den dritten Fall angeht, so handelt es sich um Mentales, das „irgendwie stattfindet“ oder „uns widerfährt“.¹⁶⁵ Als Beispiele werden Gedanken, von denen wir besessen sind, oder momentane Impulse, von denen wir überfallen werden, genannt.¹⁶⁶ In diesem Fall nehmen wir eine Art von Zuschauerperspektive zu unserem mentalen Leben ein. Gemeinsam ist den drei Reaktionen ist, dass es sich um ein Verhalten zu dem, was in uns vorgeht, zu den „psychischen Rohmaterialien, mit denen Natur und Umstände uns versorgen“, handelt.¹⁶⁷ Bei den ersten beiden Reaktionen wird aus dem Material etwas gemacht, so dass unsere gegebenen Wünsche, Gefühle oder Gedanken „nicht einfach nur Dinge sind, die in einer gewissen psychischen Lebensgeschichte vorkommen“, sondern Dinge, die wir akzeptieren, oder von denen wir uns dissoziieren.¹⁶⁸ Was sich hier nicht ändert, ist, dass es sich um unsere Wünsche, Gefühle, Gedanken handelt. Daher ändert sich auch nicht, dass wir solche Wünsche wirklich haben, oder dass wir tatsächlich so denken, auch wenn Frankfurt dies bestreitet.¹⁶⁹ Denn unsere Reaktionen auf diese Dinge können nicht dazu führen, dass sie nur scheinbar gegeben sind, dass es sie gar nicht gibt. Was sich aber auf diese Weise ändert, sind wir selber: Wir ändern unser Verhalten zu unseren Wünschen oder Gedanken. Der grundsätzliche Unterschied ist der Unterschied zwischen einem Verhalten als „Zuschauer“ und einem Verhalten als „beteiligter Akteur“; und deswegen sind die beiden zuerst genannten Reaktionen wesentlich verschieden von der dritten möglichen Reaktion. Diese Verhaltensweisen schließen sich gegenseitig aus und sind für Frankfurt die einzig möglichen Weisen, wie wir uns zu dem, was in uns vorgeht, verhalten können. Es handelt sich also um eine exklusive und vollständige Unterscheidung. Zustimmung und Ablehnung einerseits und das bloße Zuschauen andererseits unterscheiden sich nicht nur dadurch, dass das Verhalten des Zuschauers ein passives Verhalten ist, während es sich bei Zustimmung oder Ablehnung um ein aktives Verhalten handelt, sondern sie sollen sich auch dadurch unterscheiden, dass ihr Inhalt, also dasjenige, wozu sie ein Verhalten sind, etwas Passives, bzw. etwas Aktives ist. Mit anderen Worten: Die Verschiedenheit der Verhaltensweisen wird mit einer Verschiedenheit der Inhalte korreliert, so dass wir zu dem, was wir passiv erleiden, die passive Verhaltensweise des bloßen Zuschauers einnehmen, während wir zu unserem aktiven Tun als beteiligter Akteur verhalten.
Vgl. Frankfurt 2006, S. 8 – 11 Frankfurt 2006, S. 8 Frankfurt 2006, S. 9 Frankfurt 2006, S. 7 Frankfurt 2006, S. 8 Vgl. Frankfurt 2006, S. 8; 9
3.3 Das konstituierte Selbst
211
Gegen die Annahme einer solchen Korrelation spricht jedoch erstens, dass wir die Rolle eines bloßen Zuschauers nicht nur zu unserem Mentalen, das uns widerfährt, einnehmen können. Wir können uns in dieser Weise auch zu unserem bewussten Leben, das wir aktiv gestalten, verhalten. Und zweitens müssen wir uns zu dem Mentalen, das uns widerfährt, etwa Wünschen, die uns überfallen, oder Gedanken, die wir nicht loswerden, nicht als bloße Zuschauer verhalten, sondern wir können versuchen, damit aktiv umzugehen und als beteiligte Akteure sie zu gestalten und zu verändern. Weiterhin ist die These von der Dichotomie von bloßem Zuschauer und beteiligtem Akteur, von dem, was uns passiv widerfährt, und dem, was wir aktiv gestalten, nicht überzeugend. An anderer Stelle schreibt Frankfurt: „The difference between passivity and activity is at the heart of the fact that we exist as selves and agents and not merely as locales in which certain events happen to occur.“¹⁷⁰ Aber dass ein Unterschied zwischen Passivität und Aktivität besteht, impliziert nicht, dass unser Selbstsein in einer Aktivität besteht, die jede Passivität ausschließt. Wir sind vielmehr Wesen, deren Aktivität immer durch das bedingt ist, was uns widerfährt, und die dasjenige, was sie passiv erleben, vom Standpunkt des beteiligten Akteurs gestalten und verändern können. An die Stelle der Annahme einer Dichotomie kann man auch die von Kant favorisierte Vorstellung einer wechselseitigen Abhängigkeit von Rezeptivität und Spontaneität vertreten. Für Frankfurt wird das Selbst konstituiert. Wir erschaffen es auf der Basis des „Rohmaterials unseres inneren Lebens“, indem wir unsere Wünsche, Gefühle, Gedanken vom Standpunkt des beteiligten Akteurs uns zu eigen machen oder ablehnen.¹⁷¹ Ein solches Selbst besteht oder manifestiert sich in dem Leben einer Person, das im Hinblick auf ihr bewusstes mentales Leben, ihr „inneres“ Leben betrachtet wird. Das Selbst wird konstituiert auf der Grundlage dieses Lebens und besteht in dem Verhalten von Personen dazu. Der Begriff des Selbst einer Person ist daher erstens ein Begriff, der sich wesentlich und ausschließlich auf ihr mentales Leben bezieht. Dieses Leben besteht zweitens in mentalen Zuständen und Ereignissen einzelner Personen. Gefühle, Wünsche, Gedanken, die mit anderen geteilt werden, werden nicht berücksichtigt, und daher spielen weder die Einstellungen, die ich zu dem Mentalen Anderer haben kann, noch die Einstellungen, die Andere zu meinem Mentalen haben können, für die Konstitution des Selbst, das ich habe oder bin, eine Rolle. Der Begriff des Selbst ist der Begriff eines einzelnen, isolierten Selbst. Schließlich ist zu betonen, dass eine besondere Art von Mentalem für die Konstitution relevant ist. Es handelt sich um Dinge, die ich
Frankfurt 1988, S. IX Vgl. Frankfurt 1987, S. 170
212
3 Die Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt
akzeptieren oder verwerfen kann. Frankfurt erwähnt als Beispiele meine Gedanken, Wünsche und Gefühle, aber schon bei Gefühlen ist nicht klar, ob sie durchweg Thema solcher Einstellungen zweiter Stufe sein können; und bei Empfindungen, etwa Schmerzen, scheint die Rede von einem Akzeptieren oder Verwerfen, keinen Sinn zu machen. Der Begriff des Selbst betrifft ein bewusstes Leben, das von uns kontrolliert wird. Im Lichte von Heideggers Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt werden die einseitigen, reduktiven Züge von Frankfurts Auffassung des Selbst besonders deutlich. Das Selbst einer Person wird durch sie und nur durch sie konstituiert. Diese Konstitution erfolgt durch eine Identifikation mit seinen gegebenen Einstellungen, die man zurecht als eine Selbstwahl verstanden hat.¹⁷² Demgegenüber versteht Heidegger das Selbst einer Person als ihr Sichselbsthaben in der vor ihr gelebten Welt: „… ich erfahre mein Selbst nur in und durch seine Leistungen und Schicksale, die selbst den einheitlich einzigen Charakter der Lebenswirklichkeit haben im faktischen Lebenszusammenhang haben …“¹⁷³ Zu meiner Lebenswirklichkeit gehören nicht nur meine Leistungen, sondern ebenso das, was mir widerfährt. Sie verbindet die aktiven und passiven Züge meines Lebens; und meine Lebenserfahrungen sind Erfahrungen eines Lebens in einer Welt, die ich mit Anderen teile, und die nicht von mir geschaffen ist. Für Frankfurt besteht das Selbst einer Person in ihren eigenen mentalen Zuständen und Ereignissen. Aus diesem „Rohmaterial“ wird ein Selbst geschaffen – unabhängig von der Welt, in der die Person lebt, und von Anderen, mit denen sie lebt. An die Stelle einer solchen creatio ex nihilo tritt bei Heidegger das Leben der Person in einer vertrauten Welt, deren Verständlichkeit keine kognitive Leistung eines einzelnen Subjekts ist. Sie beruht nicht auf theoretischen Erkenntnissen, sondern zeigt sich in einem praktischen Verhalten. Diese Verständlichkeit teile ich mit Anderen. Die vertraute Welt ist eine strukturierte Mannigfaltigkeit von Bedeutsamkeiten. Das Leben in einer solchen Welt kann nicht nur in einem mentalen Vokabular beschrieben werden. Für Frankfurt besteht der Zugang zu dem Selbst einer Person in einem „nach innen gewendeten kontrollierenden Übersicht“, und Selbsterfahrung ist eine reflexive Beschäftigung mit den eigenen mentalen Zuständen und Ereignissen.¹⁷⁴ Dieses Reflexionsmodell wird von Heidegger explizit kritisiert,¹⁷⁵ und die Vorstellung einer „Selbstwahrnehmung und Selbstbeobachtung im Sinne der Rückwendung auf eben abgeschlossene Erleb-
Vgl. Pothast 2016, S. 118 – 129 Heidegger 2010, S. 114 Frankfurt 2006, S. 4 Heidegger 2010, S. 164
3.4 Verschiedene Selbst einer Person
213
nisse“ wird verworfen.¹⁷⁶ Weil das Selbst einer Person in ihrem Leben in einer Welt besteht, kann ihre Selbsterfahrung nicht als eine Art von innerer Anschauung ihrer Erlebnisse gedacht werden. Heideggers Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt bezieht sich auf ein Leben in einer gemeinsamen Welt. Das Selbst einer Person betrifft daher immer auch ein Mitsein und Miteinandersein mit Anderen. Ohne Andere kann es kein Selbstsein geben. Demgegenüber spielen die Anderen für die Konstitution des Selbst bei Frankfurt keine Rolle. Auch wenn das „Rohmaterial“, aus dem das Selbst geschaffen wird, in vielfältiger Weise auf Andere bezogen sein und sogar mit ihnen geteilt werden kann, so fehlen bei ihm Überlegungen, die dem Rechnung tragen. Die von ihm diskutierten mentalen Zustände und Ereignisse betreffen einzelne Personen, die unabhängig von der Welt, in der sie leben, und von den Anderen, mit denen sie leben, betrachtet werden; und auch die Aktivitäten der Zustimmung oder Ablehnung, der Aneignung oder Ablehnung des eigenen Mentalen sind Tätigkeiten eines isolierten Subjekts. Die Dichotomie von Aktivität und Passivität betrifft ausschließlich ein Verhalten, das solche Subjekte zu sich selber haben, und bei dem Andere keine Rolle spielen. Diese Idee eines einzelnen, isolierten Selbst wird durch Heideggers Konzeption des Selbst, das in einer verständlichen, mit Anderen geteilten Welt lebt, radikal kritisiert.
3.4 Verschiedene Selbst einer Person Heideggers Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt versucht, das Selbst einer Person in der mannigfaltigen Weisen ihrer Zugehörigkeit zu einer Welt, die wesentlich eine Um- und Mitwelt ist, zu erfassen. Weshalb soll man die Annahme eines komplexen und in sich strukturierten Selbst-Begriffs machen und nicht stattdessen von verschiedenen Selbst-Begriffen ausgehen, die den verschiedenen Aspekten des In-der-Welt-seins einer Person Rechnung tragen? In der gegenwärtigen Diskussion zum Selbst gibt es viele Theoretiker, insbesondere Psychologen, die eine solche Auffassung vertreten.¹⁷⁷ Für einen solchen Ansatz können ganz unterschiedliche Gründe angeführt werden; und im Folgenden wird nur der Ansatz des Psychologen Ulric Neisser betrachtet.Vertreter dieser Auffassung berufen sich häufig auf William James, dessen Theorie der verschiedenen Selbst einer Person einen großen Einfluss ausgeübt hat. Er unterscheidet in Anspielung auf Kant zwischen einem empirischen und einem reinen Ich und beschäftigt sich vor
Heidegger 2010, S. 159 Vgl. Gallagher 2013, S. 33 – 249
214
3 Die Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt
allem mit dem empirischen Selbst: „The Empirical Self of each of us is all that he is tempted to call by the name of me. But it is clear that between what a man calls me und what he simply calls mine the line is difficult to draw.“¹⁷⁸ Es fällt nicht leicht zu sehen, worin diese Schwierigkeit bestehen soll; und auch die Begründung, die James für sie gibt, hilft nicht weiter. Er behauptet: „We feel and act about certain things that are ours very much as we feel and act about ourselves.“¹⁷⁹ Aber aus dem Umstand, dass wir die gleichen Gefühle und Verhaltensweisen bei Dingen, die in irgendeinem Sinne zu uns gehören, an den Tag legen wie bei reflexiven Gefühlen und Verhaltensweisen, folgt nicht, dass solche Verhaltensweisen Selbstverhältnisse sind. Genau dies aber behauptet James: „In its widest possible sense, however, a man’s Self is the sum total of all that he CAN call his, not only his body and his psychic powers, but his clothes and his house, his wife and children, his ancestors and friends, his repudation and works, his lands and horses, and yacht and bank-account. All these things give him the same emotions.“¹⁸⁰ Man fragt sich, wie sich eine solche Gesamtsumme bestimmen lassen solle. Was nach James unter den Begriff meines Selbst fällt, ist einerseits dasjenige, was mein ist; andererseits ist es dasjenige, was ein Teil meines Selbst ist, wozu er meinen Körper, aber auch meine psychischen Dispositionen oder Fähigkeiten rechnet.¹⁸¹ Diese Beziehungen lassen sich nicht zur Deckung bringen. Es gibt viele Dinge, die mir gehören, aber nicht Teile von mir sind und daher unabhängig von mir existieren können. Weiterhin ist nicht klar, welcher Zusammenhang zwischen dem, was mein ist, und meinem Selbst bestehen soll. Zu dem, was mein ist, kann ich mich gegebenenfalls irgendwie verhalten; und ein solches Verhalten ist ein reflexives Verhalten. Ist dies der Grund dafür, dass das, was mein ist, zu meinem Selbst gehört? Bei James findet sich keine Antwort auf die Frage. Aber auch die Rede von Teilen meines Selbst ist nicht sonderlich klar. Sie legt die Vermutung nahe, das Selbst sei ein Ganzes, das aus Teilen zusammengesetzt sei. Aber wie soll man sich eine solche Verbindung denken? Als Teile werden mein Körper, aber auch meine engste Familie und das Ansehen, das ich bei Anderen genieße, genannt.¹⁸² Es fehlt bei James jeder Versuch, diese verschiedenen Dinge in einen Zusammenhang zu setzen, der es erlaubt, sie als Momente oder Teile eines Ganzen zu verstehen. Auch hier stellt sich die Frage, warum es sich dabei um etwas handelt, das mit meinem Selbst zu tun hat. Es ist klar, dass dies kein
James 1901, S. 291 James 1901, S. 291 James 1901, S. 291 James 1901, S. 292 James 1901, S. 292; 294
3.4 Verschiedene Selbst einer Person
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cartesianisches Ego sein kann, überhaupt gar keine Entität, sondern dass es sich eher um mein Leben handelt, wie es einerseits durch physische und psychische Zustände und Fähigkeiten und andererseits durch die Umstände meiner Lebensführung bestimmt ist. Aber eine bloße Aufzählung verschiedener Arten von Selbst ersetzt nicht eine Analyse der Bedingungen, die für das Selbstsein von Personen relevant sind. In Anbetracht dieser begrifflichen Unklarheiten ist es ratsam, die Idee, eine Person habe verschiedene Selbst, am Beispiel einer anderen Theorie zu diskutieren. Neisser unterscheidet in dem Aufsatz Five Kinds of Self-knowledge verschiedene Arten von Selbst, aber im Unterschied zu James werden sie anhand eines Leitfadens gewonnen. Er orientiert sich an dem Wissen, das wir von uns haben, genauer an „der Information, auf der Selbst-Wissen letztlich begründet ist“, und behauptet, dass es „verschiedene Arten einer selbst-spezifizierenden Information gibt, die jeweils einen verschiedenen Aspekt des Selbst ergeben.“¹⁸³ Er begründet also die Annahme verschiedener Selbst einer Person durch eine Unterscheidung ihres Selbst-Wissens, die auf einer Klassifikation seiner Inhalte beruht. Ob ein solches Projekt sinnvoll ist, hängt unter anderem davon ab, wie die Rede von einem Selbst zu verstehen ist. Verschiedene Selbst sollen „Aspekte derselben Person“ sein,¹⁸⁴ aber das unterschiedliche Selbst-Wissen soll auch jeweils andere „Aspekte des Selbst“ bestimmen;¹⁸⁵ und im Unterschied zu den verschiedenen Selbst spricht Neisser auch von „dem Selbst als einem Ganzen“.¹⁸⁶ Das ist ziemlich verwirrend. Orientiert man sich an seinem Projekt, verschiedene Selbst durch die unterschiedlichen Inhalte eines Selbst-Wissens zu identifizieren, dann liegt es nahe, zuerst einmal den Begriff des Selbst-Wissens genauer zu betrachten. Es ist ein Wissen, das Personen haben und sich und Anderen zuschreiben können, und dessen Inhalt sich auf denjenigen oder diejenige bezieht, der oder die das Subjekt des Wissens ist. Der Inhalt bezieht sich nicht auf ein Selbst. Wenn verschiedene Selbst unterschiedliche Aspekte ein und derselben Person sein sollen, dann muss das, was mit Aspekt gemeint ist, durch den Inhalt des SelbstWissens erklärt werden. Da es sich um ein propositionales Wissen handelt, müssen die Aspekte etwas mit den Charakterisierungen des Subjekts zu tun haben, auf das sich der Inhalt eines Selbst-Wissens bezieht. Es stellt sich daher die Frage, ob die verschiedenen Arten einer solchen Charakterisierung jeweils als
Neisser 1988, S. 35 Neisser 1988, S. 55 Neisser 1988, S. 35 Neisser 1988, S. 45
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3 Die Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt
Bestimmungen eines Selbst verstanden werden können, das sich von der Person, die so oder so charakterisiert wird, unterscheiden lässt. Um die Frage zu beantworten, ist es sinnvoll, Neissers verschiedene Selbst genauer zu betrachten. Das ökologische Selbst basiert auf Informationen in den verschiedenen Wahrnehmungsmodalitäten, die wir über uns und die Umgebung, in der wir uns bewegen, haben.¹⁸⁷ Es wird daher als „das Selbst, wie es im Hinblick auf die physische Umgebung wahrgenommen wird“, bestimmt und so charakterisiert: „ ‚I’ am the person here in this place, engaged in this particular activity.“¹⁸⁸ Was damit genau gemeint ist, ist nicht klar. Die Verständnisschwierigkeiten beginnen schon mit der Orthographie für das Personalpronomen der ersten Person Singular: Während in dem Zitat das Pronomen in Anführungszeichen gesetzt wird, fehlen diese in den Beschreibungen der anderen Selbst.¹⁸⁹ Das Pronomen ist sicherlich nicht die Person, die jetzt hier ist. Bei dem ökologischen Selbst betont Neisser die auf Wahrnehmung gestützten Informationen, die ein Akteur von sich hat. Deswegen spielt der Begriff des optischen Flusses eine entscheidende Rolle, und er beruft sich auf Gibsons Konzeption der visuellen Kinästhese, um die Bedeutung der durch optische Wahrnehmung fundierten Kenntnisse, die jemand von seinen Bewegungen und den Positionen seines Körpers hat, hervorzuheben.¹⁹⁰ Aber Neisser, wiederum mit Berufung auf Gibson, weist auch darauf hin, dass „das, was wir wahrnehmen, wir selber sind, insofern wir zu einer Umgebung gehören und in ihr handeln … Wir nehmen wahr, wie wir handeln, und dass wir handeln.“¹⁹¹ Es ist nicht zu bestreiten, dass wir nicht handeln können, ohne dass wir etwas wahrnehmen – die Situation in einer bestimmten Umgebung, die Stellung und Bewegung unserer Körperteile, usw. Aber nehmen wir immer unser Handeln wahr, wenn wir handeln? Wenn ich die Haustür aufschließe, so sehe ich das Schloss, meine Schlüssel, kontrolliere in den verschiedenen Wahrnehmungsmodalitäten die Bewegung meiner Hand, aber ich schließe die Tür auf; ich beobachte in der Regel nicht mein Tun, es sei denn, ich will feststellen, wie gut es mir nach einer Handoperation gelingt, die Tür aufzuschließen. Neisser geht es um das Wissen, das ich von meinem Handeln habe. Beruht es ausschließlich auf Wahrnehmung? Das ist nicht der Fall, weil ein solches Wissen auch auf der Kenntnis meiner Absichten oder Wünsche, auf meinem Verständnis der Situation, in der ich mich befinde, usw. beruht. Ich benötige dazu Erinnerung und eine Vertrautheit mit Selbstverständlichkeiten, die in der Wahrnehmung vorausge
Vgl. Neisser 1988, S. 39 Neisser 1988, S. 36 Vgl. Neisser 1988, S. 36 Neisser 1988, S. 37 Neisser 1988, S. 40
3.4 Verschiedene Selbst einer Person
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setzt, aber nicht durch sie erworben werden. Da das ökologische Selbst durch eine bestimmte Art von Selbst-Wissen identifiziert werden soll, kann die von Neisser in Betracht gezogene Wahrnehmung des eigenen Tuns, für sich genommen, nicht eine besondere Art von Selbst bestimmen. Das ökologische Selbst, wenn es denn so etwas gibt, muss einem Selbst-Wissen zugeordnet werden, das komplexer ist, als er es beschreibt; und daher kann auch dieses Selbst nicht schlicht „das Selbst, wie es im Hinblick auf die physische Umgebung wahrgenommen wird“, sein.¹⁹² Auf ähnliche Schwierigkeiten stoßen wir, wenn wir seine Ausführungen zu dem „interpersonalen Selbst“ betrachten. Neisser schreibt: „The interpersonal self is the self as engaged in immediate unreflective social interaction with another person. Like the ecological self, it can be directly perceived …“¹⁹³ Versteht man ein Selbst als einen Aspekt einer Person, so wird man sich fragen, wie ein Aspekt mit einer anderen Person interagieren kann. Sieht man von dieser begrifflichen Schwierigkeit ab, so ist vor allem bemerkenswert, dass Neisser nur einen besonderen Fall sozialer Interaktion betrachtet. Nicht jede solche Interaktion ist „unmittelbar unreflektiert“. Er diskutiert die Interaktion zwischen einer Mutter und ihrem zwei Monate alten Kind und weist auf das bekannte Phänomen von joint attention hin,¹⁹⁴ aber es fällt schwer zu glauben, dass diese Interaktion ein Paradigma für jede Art von sozialer Interaktion ist. Zumindest finden sich keine Überlegungen bei ihm, die diese Annahme auch nur irgendwie plausibel machen. Die von ihm betrachtete Interaktion konstituiert eine besondere Art von Intersubjektivität, die „auf direkter Wahrnehmung basiert und nicht auf Schlussfolgerungen“.¹⁹⁵ Im Hinblick auf ein anderes Beispiel für eine Mutter-Kind – Beziehung betont er, dass „Intersubjektivität ein emotionales Geschäft ist: die beiden Partner haben denselben Affekt.“¹⁹⁶ Daraus kann man vielleicht entnehmen, dass die von Neisser so favorisierten direkte Wahrnehmung nicht die einzige Art und Weise ist, wie wir feststellen, dass eine intersubjektive Gemeinsamkeit gegeben ist, sondern dass dazu auch andere Faktoren erforderlich sind. Die Fragen, wieso die von ihm betrachtete Intersubjektivität ein Paradigma für soziale Interaktion sein soll, und wie andere Formen solcher Interaktionen auf dieser Grundlage verständlich gemacht werden können, werden dadurch aber nicht beantwortet. Die Intersubjektivität, die in sozialen Interaktionen zum Ausdruck kommt, besteht darin, dass „die Teilnehmer unmittelbar und auf kohärente Weise auf
Neisser 1988, S. 36 Neisser 1988, S. 41 Neisser 1988, S. 42 Neisser 1988, S. 42 Neisser 1988, S. 44
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einander reagieren, sowohl in ihrem Tun als auch in ihrem Fühlen … Das Ergebnis ist eine gemeinsame Struktur einer Handlung.“¹⁹⁷ Soziale Interaktionen bestehen also in einem wechselseitigen Verhalten von Personen, so dass ihr Verhalten insgesamt ein gemeinsames Verhalten ausmachen. Betrachten wir ein von Heidegger diskutiertes Beispiel: Ich begrüße einen Bekannten, er grüßt zurück, wir begrüßen uns.¹⁹⁸ Das ist sicherlich eine Möglichkeit einer sozialen Interaktion, welche die von Neisser so betonte „Angemessenheit“ der Reaktion des Anderen und die Koordination der beiden Verhaltensweisen belegt.¹⁹⁹ Es ist jedoch zu fragen, ob es sich auch um notwendige Bedingungen für eine soziale Interaktion handelt. Wenn ich jemanden grüße, der Andere dies nicht bemerkt oder geflissentlich übersieht, dann begrüßen wir uns zwar nicht, aber ich grüße ihn doch. Ist das keine soziale Interaktion, sondern nur ein Versuch, so etwas zustande zu bringen? Nein, denn mein Verhalten ist auch dann ein soziales Verhalten, wenn es nicht zu einem wechselseitigen Verhalten kommt. Folgt man dem Ansatz von Neisser, so muss sich die Bestimmung meines interpersonalen Selbst an dem besonderen Selbst-Wissen orientieren, das ich von mir in sozialen Interaktionen habe. Dazu schreibt er: „The mutuality of their behaviour exists in fact and can be perceived by outside observers; more importantly, it is perceived by the participants themselves. Each of them can see (and hear, and perhaps feel) the appropiately interactive responses of the other.“²⁰⁰ Dass ein außenstehender Beobachter eine soziale Interaktion zwischen zwei Personen beobachten kann, ist sicherlich möglich, aber ob er es kann, hängt von seinen Kenntnissen der sozialen Umgangsformen und seinem Hintergrundswissen im Hinblick auf die gegebene Situation ab. Eine bloße, in diesen Hinsichten nicht informierte Beobachtung ist nicht ausreichend. Was die Akteure selber angeht, so können sie das jeweilige Verhalten unmittelbar wahrnehmen, aber es ist ebenso möglich, dass sie das Verhalten als interpretationsbedürftig ansehen und sich auf ihre Erinnerung und andere Kenntnisse stützen müssen, um sich situationsgerecht zu verhalten. Ein undifferenzierter Begriff direkter Wahrnehmung wird den Schwierigkeiten, mit denen eine Erkenntnis sozialer Interaktionen konfrontiert sein kann, nicht gerecht. Für die Bestimmung des interpersonalen Selbst ist das Selbst-Wissen, das die Akteure von sich haben, entscheidend. Wie lässt sich dieses Wissen im Falle meines Grüßens eines Bekannten beschreiben? Ich weiß, dass ich grüße, ich weiß, dass mein Bekannter mich grüßt, ich weiß, dass wir uns begrüßen. Im ersten Falle
Neisser 1988, S. 43 Vgl. Heidegger 2010, S. 105 – 106 Neisser 1988, S. 41; 45 Neisser 1988, S. 41
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betrifft das Selbst-Wissen mein Verhalten gegenüber einem Anderen, im zweiten Falle geht es um ein Verhalten eines Anderen mir gegenüber, und im dritten Falle handelt es sich um das Verhalten, das ich gemeinsam mit einem Anderen an den Tag lege. Mein Selbst-Wissen hat jeweils einen anderen Inhalt. Welches SelbstWissen dient zur Bestimmung meines interpersonalen Selbst? Neisser schreibt: „Those responses, in relation to one’s own perceived activity, specify the interpersonal self.“²⁰¹ Dies legt es nahe, an den zweiten Fall zu denken: Ich weiß, dass der Bekannte mich grüßt als Reaktion darauf, dass ich ihn grüße. Aber die beiden anderen Fälle können ebenso gut in Betracht kommen. Wie dem auch sei, wichtiger ist ein anderes Problem. Er betont, dass seine Analyse des Selbst sich an dem orientiert, was wir über uns wissen, und wie wir es wissen.²⁰² Was das Wie angeht, so behauptet er, dass das Wissen auf „direkter Wahrnehmung“ beruht,²⁰³ und dass es nicht durch Schlussfolgerungen erworben wird.²⁰⁴ Diese Behauptung ist in dieser Allgemeinheit falsch, aber selbst wenn sie richtig wäre, gäbe es keinen Unterschied zu dem ökologischen Selbst, wie Neisser selber hervorhebt.²⁰⁵ Die Gründe für die Annahme eines interpersonalen Selbst, zusätzlich zu der Annahme eines ökologischen Selbst, haben also nichts mit einer besonderen Weise, wie ich etwas von mir als Akteur sozialer Interaktionen weiß, zu tun, sondern ergeben sich allein durch das, was ich von mir weiß. Er schreibt: „The analysis presented here distinguishes between several kinds of self-specifying information, each establishing a different aspect of the self. These aspects are so different that they are essentially different selves …“²⁰⁶ Sieht man von den begrifflichen Schwierigkeiten ab, dass eine Verschiedenheit der Aspekte desselben Gegenstands zu einer Verschiedenheit von Gegenständen führen soll, so wirft die Korrelation von Arten von Selbst-Wissen, die sich allein aufgrund des Inhalts unterscheiden, mit verschiedenen Selbst, die Frage auf, wie sich denn die Inhalte unseres Selbst-Wissens klassifizieren lassen müssen, damit die Annahme verschiedener Selbst berechtigt oder auch nur irgendwie plausibel erscheint. Ich kann mein Selbst-Wissen auch im Hinblick auf meine Freizeit, auf meine Hobbys oder auf meine Weinpräferenzen einteilen. Wie kann Neisser die Annahme eines Freizeit-, eines Hobby-, eines Wein-Selbst verhindern? Anders formuliert: Es fehlen bei ihm auch nur Ansätze von Überlegungen zu den Gesichtspunkten, nach denen wir unser Selbst-Wissen so einteilen können, dass es mit verschie-
Neisser 1988, S. 41 Neisser 1988, S. 36 Neisser 1988, S. 41; 41 Neisser 1988, S. 42; 44 Neisser 1988, S. 41; 44– 45 Neisser 1988, S. 35
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denen Selbst verbunden werden muss, im Unterschied zu anderen möglichen Einteilungen, die nicht die Annahme eines besonderen Selbst erfordern. Eine bloße Aufzählung von verschiedenen Selbst kann solche Überlegungen nicht ersetzen. Dieses Defizit wird in besonderer Weise deutlich, wenn wir seine Überlegungen zum „begrifflichen Selbst“ betrachten. Neisser schreibt: „Each of us has a concept of him/herself as a particular person in a familiar world. These self-concepts originate in social life … A few concepts of my own can serve as convenient examples: I am an American, a husband and a professor.“²⁰⁷ Er hat, wie man sieht, mehrere begriffliche Selbstbegriffe, aber handelt sich um Begriffe von ihm „als einer besonderen Person“? Es handelt sich um Begriffe, unter die einzelne Personen fallen, aber sie erlauben es, für sich genommen, nicht, eine Person als eine besondere Person zu bestimmen. Weiterhin sind es Begriffe, unter die Neisser nicht nur fällt, sondern von denen er auch weiß, dass es sich so verhält. Sonst könnten sie nicht für sein Selbst-Wissen eine Rolle spielen. Neisser spricht von „dem Begriff des Selbst“ oder auch von „dem Selbst-Begriff“,²⁰⁸ aber es ist ja offenkundig, dass es beliebig viele solche Begriffe gibt. Bestimmt jeder dieser Begriffe ein anderes begriffliches Selbst? Oder kommt es auf die Art des Wissens an, das ich davon habe, dass ich unter einen gegebenen Begriff falle, welche für die Identifizierung meines begrifflichen Selbst relevant ist? Diese Fragen werden nicht beantwortet. Neisser schließt sich der Auffassung an, dass Begriffe wesentlich zu einem „Netzwerk von Begriffen, d. h. zu einer Theorie“ gehören.²⁰⁹ Daher soll gelten: „My notion of what I am … reflects a cognitive model embedded in a theoretical network.“²¹⁰ Der Selbst-Begriff einer Person soll jeweils ein „einzelnes kognitives Modell“ sein, das mehrere „TeilTheorien“ enthält.²¹¹ Diese Theorien sind Vorstellungen von unseren sozialen Rollen, von unserem Körper und unserem Seelenleben und von unseren Fähigkeiten.²¹² Die Aufzählung macht weder deutlich, welche Abhängigkeiten zwischen den verschiedenen Komponenten unseres Selbstverständnisses bestehen, noch zeigt sie, wie diese sich so miteinander verbinden lassen, dass etwa die von Neisser genannten Beispiele für sein begriffliches Selbst Begriffe von ihm als Begriffe einer identischen Person, als „Begriffe von mir selber“ fungieren können. Es stellt sich die Frage, wie das Verhältnis zwischen dem begrifflichen Selbst und den anderen, von Neisser unterschiedenen Selbst zu beschreiben ist. Da diese
Neisser 1988, S. 52 Neisser 1988, S. 53 Neisser 1988, S. 53 Neisser 1988, S. 53 Neisser 1988, S. 53 Neisser 1988, S. 53 – 54
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mit Rekurs auf ein propositionales Selbst-Wissen bestimmt werden, kann der Unterschied nicht darin bestehen, dass die anderen Selbst nicht begrifflich repräsentiert werden. Begriffliche Charakterisierungen sind bei der Beschreibung meiner Beschäftigung mit der Umgebung und meiner sozialen Interaktion mit Anderen unverzichtbar, auch wenn die von Neisser betrachteten Beispiele zu einer ontogenetischen Phase gehören, in der begriffliche Kompetenzen noch nicht erworben sind. Aber es geht ihm ja nicht um eine Rekonstruktion der Ontogenese von Selbst-Begriffen, sondern um ihre begriffliche Explikation. Er behauptet, dass das begriffliche Selbst auf „sozial vermittelten und verbal mitgeteilten Vorstellungen beruht.“²¹³ Das ist ziemlich vage und gilt ebenso für das interpersonale Selbst und für das hier nicht betrachtete Selbst von der eigenen Vergangenheit und Zukunft, das als extended self bezeichnet wird. Das sieht Neisser auch so und kommt zu dem Ergebnis: „Daraus ergibt sich, dass jede der vier anderen Arten von Selbstwissen in dem begrifflichen Selbst repräsentiert wird.“²¹⁴ Das kann, wie gesagt, nicht so verstanden werden, dass auf diese Weise die anderen Selbst allererst begrifflich repräsentiert werden. Es muss vielmehr besagen, dass die „Selbst-Theorien“, die als Explikationen unseres „begrifflichen Selbst“ angesehen werden, immer umfangreicher werden und alle die Aspekte unseres bewussten Lebens berücksichtigen, die vorher im Rahmen der anderen Arten von Selbst aus buchstabiert worden sind. Diese werden in das begriffliche Selbst integriert, so dass es die andersartigen Selbst „einschließt“.²¹⁵ Dies bedeutet aber, dass das begriffliche Selbst nicht einfach ein weiterer Aspekt des Selbst, sondern so etwas wie das ganze Selbst ist, das die anderen Selbst, die bislang nur unabhängig voneinander betrachtet wurden, enthält. Dieses Verhältnis schließt aber die Annahme Neissers aus, das begriffliche Selbst sei ein „Meta-Selbst“.²¹⁶ Bei seiner Unterscheidung verschiedener Selbst orientiert sich Neisser an verschiedenen Arten von Selbst-Wissen. Wie es zu jedem solchen Wissen ein Subjekt des Wissens gibt, so gibt es auch zu jedem Selbst eine Person. Das Verhältnis, das zwischen einer Person und ihren verschiedenen Selbst, besteht, wird, wie wir gesehen hatten, mit Hilfe des vagen Begriffs Aspekt beschrieben und bleibt ungeklärt. Heidegger hat dieses Problem nicht. Das Selbst des Daseins wird als ein Sichselbsthaben in einer Welt bestimmt; und diese Welt ist wesentlich und gleichursprünglich eine Mit- und eine Umwelt. Diese geben keine Aspekte des Daseins an, unter denen es jeweils für sich betrachtet werden kann, sondern es
Neisser 1988, S. 54 Neisser 1988, S. 54 Neisser 1988, S. 54 Vgl. Neisser 1988, S. 54
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handelt sich um wechselseitig mit einander verknüpfte Weisen, wie das Dasein in einer Welt ist. Diese Welt ist die „volle Lebenswelt …, in der mit der Selbstwelt immer auch die Mit- und Umwelt da ist.“²¹⁷ Die Unterscheidung verschiedener Welten ist daher als eine Differenzierung von verschiedenen Momenten zu verstehen, deren Verbindung allererst eine vollständige Bestimmung der Lebenswelt ergibt. Das Selbst des Daseins ist ein Sichselbsthaben in dieser Lebenswelt; es wird nicht zusammengesetzt aus Teilen, die in den verschiedenen Momenten der Lebenswelt bestehen. Denn die Welt, in der das Dasein lebt, und durch die sich sein Selbst bestimmt, ist die „volle Lebenswelt“, die sich aus dem Zusammenspiel der verschiedenen, wechselseitig voneinander abhängigen Welten ergibt. Daher kann das Selbst nicht als ein Kompositum von einzelnen, voneinander unabhängigen Teilen gedacht werden, wie das bei Neisser der Fall ist. Weil das Selbst kein solches Kompositum ist, stellt sich auch nicht die Frage nach der Einheit eines solchen Kompositums. Neissers verschiedene Selbst ergeben sich durch die inhaltliche Unterscheidung von Arten von Selbst-Wissen. Dies hat zur Folge, dass die Beziehungen einer Person zu ihren verschiedenen Selbst immer im Hinblick auf ihr Selbst-Wissen verstanden werden müssen. Das ökologische oder das interpersonale Selbst einer Person bestehen nicht in ihrem Leben in einer Umgebung und mit Anderen, sondern werden durch ihr Wissen, das sie von diesem Leben hat, konstituiert. Dieses Wissen ist das Wissen einer bestimmten, einzelnen Person; und auf dieses Wissen sind ihre verschiedenen Selbst immer bezogen. In Anlehnung an Heidegger kann man ein solches Wissen als ein Verständnis des Lebens in einer Umwelt und mit Anderen ansehen, das er mit der These von der „Zugespitztheit auf die Selbstwelt“ charakterisiert und explizit verworfen hat. Für ihn ist das Selbst nicht in einem egozentrischen Verständnis des Lebens, sondern in diesem Leben selber in einer vertrauten Welt fundiert. Es ist kein Leben, das allein durch das Selbst-Wissen einer bestimmten, einzelnen Person konstituiert wird. Es genügt nicht, verschiedene Selbst zu konstatieren; man muss auch klären, dass und wie sie sich miteinander verbinden. Denn die unterschiedlichen Arten von Selbst-Wissen, die die Grundlagen dieser Selbst sind, fungieren nicht als isolierte, voneinander unabhängige Blöcke, sondern sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Das Selbst-Wissen, das sich auf meine gegebene Umgebung bezieht, ist mit dem Selbst-Wissen verknüpft, das sich auf meine Erinnerungen stützt und meine Vergangenheit betrifft, und muss im Zusammenhang mit meinen Erwartungen der näheren Zukunft gesehen werden. Das gilt ebenso für das Selbst-Wissen, das die Basis für mein interpersonales Selbst abgibt. Neisser
Heidegger 1994a, S. 94
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diskutiert das Problem der Vernetzung verschiedener Selbst ausschließlich bei dem begrifflichen Selbst: „Thus our self-concepts typically include ideas about our physical bodies, about interpersonal communication, about what kind of things we have done in the past and are likely to do in the future, and especially about the meaning of our own thoughts and feelings. The result is that each of the other four kinds of self-knowledge is also represented in the conceptual self.“²¹⁸ Aber die Repräsentation verschiedener Arten von Selbst-Wissen ist nicht eo ipso eine Repräsentation ihrer Verbindung und ihres wechselseitigen Zusammenhangs, welche nicht nur bei dem begrifflichen Selbst, sondern bei jeder Art von Selbst bestehen. Demgegenüber geht Heideggers Konzeption des In-der-Welt-seins von einem solchen Zusammenhang aus. Es gibt kein Dasein ohne Welt; und es gibt keine Welt ohne Dasein. Das Selbst des Daseins ist ein Sichselbsthaben in einer Welt; und diese Welt ist eine verständliche Welt, die in einer Vernetzung vertrauter und bekannter Bedeutsamkeiten besteht. Das Sichselbsthaben des Daseins in einer solchen Welt besteht in seinen Lebensweisen in einer verständlichen Welt, die durch miteinander verbundene Bedeutsamkeiten konstituiert wird. Der Zusammenhang von Um-, Mit- und Selbst-Welt begründet eine Verbindung von Lebensweisen des Daseins, die nicht unabhängig voneinander gedacht werden können. Die Lebensweisen sind gleichursprünglich und daher nicht so etwas wie isolierte Elemente, die nach einem building block-Verfahren zusammengesetzt werden können. Heidegger geht von einer Ganzheit des Selbst aus, die Neisser nur für das begriffliche Selbst annimmt und auch in diesem Fall nicht wirklich überzeugend erklärt. Zum Abschluss sollen die Vorzüge von Heideggers Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt im Vergleich zu einigen heute vertretenen Auffassungen des Selbst kurz zusammengefasst werden. Diese Konzeption spielt in der gegenwärtigen Diskussion kaum eine Rolle. Die von mir behandelten Autoren erwähnen Heidegger noch nicht einmal; und in dem umfangreichen, repräsentativen Sammelband The Oxford Handbook of The Self wird seine Position nur kurz in einem historischen Überblick skizziert.²¹⁹ Dass seine Position so wenig zur Kenntnis genommen wird, lässt sich vielleicht dadurch erklären, dass seine Theorie des eigentlichen Selbst im Zweiten Abschnitt von Sein und Zeit im Rahmen seines ontologischen Projekts steht und der Bestimmung der Zeitlichkeit als des „ursprünglichen Seinssinn des Daseins“ gewidmet ist.²²⁰ Diejenigen, die sich heute mit dem Thema Selbst beschäftigen, haben gewöhnlich kein Interesse an einem
Neisser 1988, S. 54 Die Anmerkung muss lauten: Vgl. Barresi & Martin. In: Gallagher, 2013, S. 49 – 50 Heidegger 1963, S. 235
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solchen Projekt. Dass insbesondere Heideggers Konzeption des Sichselbsthabens in einer Welt nicht zur Kenntnis genommen wird, ist nicht weiter verwunderlich. Denn es wird nur in einer Frühen Freiburger Vorlesung entwickelt, um dann sogleich revidiert und verworfen zu werden. Die Konzeption findet sich zwar auch in einigen Teilen der Analyse des alltäglichen In-der-Welt-seins in Sein und Zeit, aber wegen der Fokussierung dieser Analyse auf die abfallende Alltäglichkeit kommt sie nicht zur Entfaltung. Es ist aber diese Konzeption, die wegen ihres kritischen Potenzials im Hinblick auf die gegenwärtige Diskussion besondere Aufmerksamkeit verdient. Ihr Ausgangspunkt ist das Selbstverstehen von Personen in ihrer faktischen Lebenserfahrung. Dass ihr Selbst auf der Grundlage von und in Korrelation zu einem Selbstverstehen gedacht wird, ist ein Ansatz, der sich auch bei den hier diskutierten Autoren findet. Die Unterschiede werden deutlich, wenn man die unterschiedlichen Bestimmungen dessen, was jeweils verstanden wird, betrachtet. Die faktische Lebenserfahrung ist nach Heidegger die Erfahrung eines Lebens, das „weltlich gesäumt“ ist und besteht daher in einem Umgang mit und Verhalten zu Dingen und Ereignissen, die sich zu einem vernetzten System von Bedeutsamkeiten verbinden.²²¹ Ein solches System konstituiert eine Welt, die mit Anderen geteilt wird; und das Miteinandersein mit Anderen gehört wesentlich zu dem Leben in einer Welt. Meine Lebenserfahrung ist eine Erfahrung von etwas, das mir bekannt und vertraut ist; und ich habe mich in dem, was ich erfahre, weil ich in der Welt lebe, zu der dasjenige gehört, was ich erfahre. Das Selbstverstehen ist für Heidegger ein Verstehen, das Personen von ihrem Leben haben; und dieses Leben ist wesentlich ein Leben in einer mit Anderen gemeinsamen Welt. Ein solches Leben basiert nicht, wie bei Perry, auf dem, was eine Person von sich auf selbst-informative Weise weiß. Sein Kern sind nicht phänomenal bewusste mentale Zustände oder Eigenschaften seiner Körperteile, deren Wahrnehmung von einem privilegierten Standpunkt der Person aus erfolgt. Das Leben in einer mit Anderen gemeinsamen Welt wird auch nicht durch eine mehr oder weniger erfundene Autobiographie einer Lebensgeschichte mit dem Erzähler als zentraler Figur erfasst, wie es narrative Auffassungen des Selbst vorschlagen. Sie haben den grundsätzlichen Mangel, dass nicht geklärt wird, welche Bedingungen eine solche Autobiographie erfüllen müssen, damit sie als Darstellung der Lebensgeschichte einer Person angesehen werden kann. Unser Leben in einer Welt enthält nicht nur Festlegungen oder Entscheidungen darüber, was und wie wir sein wollen, die wir im Hinblick auf das treffen, was wir an Wünschen, Gefühlen, Meinungen in uns vorfinden, wie Frankfurt meint. Und schließlich ist das Leben in
Heidegger 2010, S. 157
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einer Welt nicht ein Kompositum von Aspekten einer Person im Sinne von Neisser, welche sich durch die unverbundenen Inhalte ihres Selbst-Wissen identifizieren lassen. Heideggers Auffassung des Selbst als eines Sichselbsthabens in einer Welt ist dadurch ausgezeichnet, dass sie das Selbstverstehen als das Verstehen des eigenen Lebens bestimmt, das in einem Zusammenspiel des Verhaltens in einer vertrauten Umwelt und den Interaktionen mit und von Anderen besteht. Das Leben in einer Welt hat nicht nur ein Zentrum, sondern ist polyzentrisch und verbindet eine Anpassung an eine gegebene Umwelt mit einem mehr oder weniger konfliktträchtigen Miteinanderleben mit Anderen. Zu diesem Leben gehören auch die Vorstellungen von dem, was und wie man sein will, aber sie beziehen sich nicht nur auf das Mentale einzelner Personen, sondern betreffen ebenso unser Verhalten zu einer Welt, die wir vorfinden, wie die Erwartungen, die wir an Andere haben, und die Andere uns gegenüber haben. Schließlich erschöpft sich das Leben in einer Welt nicht in dem, was wir explizit von uns wissen. Heideggers Konzeption schließt die Annahme einer von ihrer Umwelt und ihrer Mitwelt isolierten Person aus und vermeidet die Einseitigkeiten einer mentalistischen Betrachtungsweise von vielen heutigen Auffassungen des Selbst.
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Sekundärliteratur und weitere Literatur
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Strawson, Peter (1959): Individuals – An Essay in Descriptive Metaphysics. London: Methuen Strawson, Galen (2004): Against Narrativity. In: Ratio XVII, S. 428 – 452 Theunissen, Michael (1965): Der Andere. Berlin: De Gruyter Thomä, Dieter (1990): Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Frankfurt: Suhrkamp Tugendhat, Ernst (1979): Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Frankfurt: Suhrkamp Tugendhat, Ernst (1996): Über den Tod. In: Tugendhat (2001), S. 67 – 90 Tugendhat, Ernst (1999a): „Wir sind nicht fest verdrahtet“: Heideggers „Man“ und die Tiefendimensionen der Gründe. In: Tugendhat (2001), S. 138 – 162 Tugendhat, Ernst (1999b): Schwierigkeiten in Heideggers Umweltanalyse. In: Tugendhat (2001), S. 109 – 137 Tugendhat (2000): Zeit und Sein in Heideggers Sein und Zeit. In: Tugendhat (2001), S. 185 – 198 Tugendhat, Ernst (2001): Aufsätze 1992 – 2000. Frankfurt: Suhrkamp Wittgenstein, Ludwig (1958): Philosophische Untersuchungen 2. Edition. Oxford: Basil Blackwell
Personen-Index Aristoteles 88, 89, 152 Arrien, Sophie-Jan 16, 43, 48
James, William 213 – 215 Jung, Matthias 11, 67
Brandom, Robert 105 – 106, 135, 155 Burge, Tyler 160 – 165, 169, 170
Kisiel, Theodor 10, 13, 67 Moore, George Edward 9
Carman, Taylor 123, 127 – 130 Cimino, Antonio 8, 23 – 24, 43, 48
Neisser, Ulric 216 – 223, 225
Dennett, Daniel 200 – 207 Descartes, René 71 – 72, 145, 168 Dreyfus, Hubert 91, 109, 121, 122, 123, 124 – 127
Okrent, Mark 101
Evans, Gareth 189
Schatzki, Theodor 123 Schlechtman, Marya 195 – 200 Strawson, Peter 66 – 67
Frankfurt, Harry 208 – 213 Haugeland, John 1, 88, 92, 102, 104, 105 von Herrmann, Friedrich-Wilhelm 94 – 95, 104, 106, 146 Hogemann, Friedrich 24, 48 Husserl, Edmund 7, 58, 75 – 76, 102
Perry, John 165 – 168, 169, 170, 171 – 194, 224 Pöggeler, Otto 54
Theunissen, Michael 106 – 107 Thomä, Dieter 67 – 68, 76 Tugendhat, Ernst 1, 68, 88, 130 – 135, 148 – 149 Wittgenstein, Ludwig 100, 110 – 111, 125, 126
https://doi.org/10.1515/9783110615210-006
Sach-Index Abfall 47 – 49, 54, 55, 58, 60, 85 Alltäglichkeit 16, 87, 92 – 95, 98, 99 – 102, 110 – 114, 115 , 136, 148, 150, 152, 155 – 156, 157 Alltäglichkeit, verfallende 113 – 116, 136 – 139, 140 – 141, 142, 144, 145, 156 Anzeige, formale 32, 65 Autobiographie 195 – 200, 202 – 205, 206 – 207, 224
Man 108, 113, 119 – 136, 151 Mitdasein 97, 99, 104 – 109, 113, 116 – 117, 127 Miteinandersein 109 – 110, 112, 113, 114, 118, 119 – 120, 121, 124, 128, 133 – 134, 135, 137 Mitwelt 17, 21, 23, 97 – 99, 103, 106, 108, 109, 116, 127 Modifikation 120, 133
Bedeutsamkeit 18 – 20, 45 – 46, 47, 54, 178 – 179, 193 Bedeutsamkeit, selbstweltliche 46 – 49, 55, 56, 57, 61, 85 Bekümmerung 49, 57, 68 – 70, 86 Bezug 43, 44 – 45, 46, 52, 80 – 81
Ontologie
De dicto 160, 161, 167 De re 159 – 160, 161, 163, 167, 168 De se 33 – 34, 70, 159, 161, 162, 165 – 169 Eigentlich – Uneigentlich 118 – 119, 127 – 130, 141, 151, 153, 154, 155 Erinnerung 29 – 31, 33 – 34 Erlebnis 6, 9 – 10, 13, 85 Existenz 64 – 65, 91 – 94 Gehalt 43, 53, 63, 80 Geschichte 41 – 46 Gleichursprünglich 39, 192, 194, 223 Hermeneutik der Faktizität 65
16, 41, 60, 64,
Ich
12 – 13, 32 – 33, 69 – 70, 72, 105 – 106, 119 Ich bin 65 – 72, 86, 156, 158 In-der-Welt-sein 90, 91, 95 – 99, 103 – 106, 139 – 140, 150, 155, 223 Leben 6, 14 – 15, 16 – 18, 22, 35, 40, 41, 59, 62 – 64, 77 – 80, 82 – 84, 87 Lebenswelt 21, 22, 24, 33, 37, 77, 82 https://doi.org/10.1515/9783110615210-007
90, 142 – 146
Phänomenologie 13, 22, 75 – 78 Philosophie 3 – 5, 40 – 41, 58 – 60, 73 – 75, 84, 85, 110 Primat des Theoretischen 3 – 5, 74, 77 – 78 Psychologie 26 – 29, 85 – 86, 182, 191 Rolle 172 – 178 Reflexion 31, 34 – 35, 206 – 207, 212 – 213 Sein 88 – 90, 143 – 144 Seinsverständnis 90, 141 – 147, 151 – 157 Selbst 31 – 33, 50, 72 – 73, 86, 91, 96 – 99, 102 – 103, 108 – 110, 117 – 120, 147, 170 – 171, 172, 175 – 178, 195, 200 – 205, 208, 211 – 212, 213 – 215, 216 – 223 Selbst-Begriff 180, 181 – 185, 186 – 192, 198, 199 Selbstgenügsamkeit 15 – 16, 50, 51, 52, 53 – 54, 79, 83, 84, 87 Selbst-Verstehen 117 – 119, 124, 134 – 136, 137 – 140, 141 – 142, 152 – 156 Selbst-Welt 17, 20, 23 – 28, 33 – 34, 36 – 39, 51, 55 – 58, 81 – 86, 97 – 99, 222 Selbst-Wissen 185, 187 – 192, 215 – 222 Sichselbsthaben 29 – 31, 34 – 36, 39, 60 – 65, 86, 158 – 159, 164, 168 – 170, 178 – 180, 192, 194, 199, 205 – 207, 212 – 213, 221 – 222, 224, 225 Standpunkt der Ersten-Person 8, 27 – 30, 127 – 128, 130, 162, 196
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Sach-Index
Theoretisch-Vortheoretisch 77 – 78, 87 Tod 146 – 151
3 – 5, 74,
Verfallen 113 – 114 Vollzug 43, 44, 45, 50 – 51, 67, 81, 85 Welt
Umwelt 7 – 12, 17, 21, 23, 97, 100 – 101, 103, 108 Ursprungswissenschaft 3, 22, 40, 73, 75 – 79, 86 – 87, 158
9 – 12, 17, 144, 154 – 155, 158 – 159, 194, 221 – 222, 223 Wer-Frage 102, 119 – 120, 131