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German Pages [257] Year 2016
Hermann Schmitz
selbst sein Über Identität, Subjektivität und Personalität
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495808047
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B
Hermann Schmitz selbst sein
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die klassischen Gegenüberstellungen in der Philosophie gleichen oft dem Verschieben von Figuren im Theater oder auf dem Schachbrett. Das liegt daran, dass man alles für einzeln und Identität mit etwas für selbstverständlich hält. Es versteht sich aber nicht von selbst, dass alles, was ist, selbst ist. Selbstsein, Einzelheit, Identität mit etwas haben tiefliegende und kontingente Voraussetzungen in der Dynamik des spürbaren Leibes. Von dieser hängt durch die subjektiven (nicht neutralen) Tatsachen des affektiven Betroffenseins auch das Selbstbewusstsein der Person ab. Um sich mit etwas zu identifizieren, muss sie sich schon kennen, und dafür bedarf sie der leiblichen Dynamik, wie für alles Konkrete der aus dieser sich ergebenden leiblichen Kommunikation. Durch die Ambivalenz von Eintauchen in den Leib und Auftauchen aus ihm wird die Person labil und zwiespältig. Als Wege zu ihrer Stabilisierung und Integration werden hier die Fassung, die Komik und der Humor erörtert. Alle Erfahrung wird auf leibliches Verstehen zurückgeführt. Aber was ist der spürbare Leib im Gegensatz zum sichtbaren und tastbaren Körper? Er muss erst begrifflich freigelegt werden, denn seine eigentümliche Ausdehnung und Dynamik waren der europäischen Intellektualkultur unbekannt.
Der Autor: Hermann Schmitz, geb. 1928 in Leipzig, promoviert 1955, habilitiert für Philosophie 1958; 1971 bis 1993 ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Kiel. Begründer der Neuen Phänomenologie. Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze. Zuletzt im Verlag Karl Alber erschienen sind: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung (2007), Logische Untersuchungen (2008), Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie (2009), Jenseits des Naturalismus (2010), Bewusstsein (2010), Das Reich der Normen (2012), Kritische Grundlegung der Mathematik (2013), Phänomenologie der Zeit (2014), Gibt es die Welt? (2014), Atmosphären (2014). 2011 gab Hans Werhahn den Gesprächsband Neue Phänomenologie. Hermann Schmitz im Gespräch heraus.
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Hermann Schmitz
selbst sein Über Identität, Subjektivität und Personalität
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48709-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80804-7
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Inhalt
Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
1. selbst sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
2. Subjektivität in der älteren und in der Neuen Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . .
34
3. Von der Subjektivität zur Intersubjektivität . . . . .
53
4. Psychiatrie der Subjektivität ohne Seele . . . . . . .
73
5. Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 6. Die Labilität der Person . . . . . . . . . . . . . . . . 119 7. Komik und Humor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 8. Die Person im affektiven Betroffensein . . . . . . . . 156 9. Die Person – weder innen noch außen . . . . . . . . 170 10. Die Bedeutung des Todes für die Dauer der Person
189
11. Leibliches Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 12. Erfahrung als leibliches Verstehen
. . . . . . . . . . 226
5 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Inhalt
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
6 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Vorrede
Dieses Buch betrifft die Voraussetzungen dafür, selbst zu sein. Wie das? Ist es nicht selbstverständlich, dass alles, was ist, selbst ist? Davon sind in der Tat alle oder fast alle überzeugt. Identität gilt als eine selbstverständliche Zugabe zum Sein, auf die man sich verlassen kann. Dabei denkt man gleich an die relative Identität von etwas mit etwas, eine Beziehung zu sich selbst. Der erste Aufsatz, der den Titel des Buches trägt, räumt mit dieser Naivität auf. Relative Identität kommt nur dem Einzelnen zu, aber nicht alles ist einzeln. Tiefer als sie liegt die absolute Identität, überhaupt nur selbst und damit von anderem, falls es solches gibt, verschieden zu sein. Auch sie ist nicht selbstverständlich. Sie bedarf einer Weckung, eines Ruckes im Seienden, der zugleich Ursprung der Zeit und des Leibes ist: des plötzlichen Andrangs des Neuen, der Dauer zerreißt, Gegenwart – ich nenne sie die primitive – exponiert und die zerrissene Dauer ins Vorbeisein verabschiedet. Das wird im ersten Aufsatz mit genauer begrifflicher Unterscheidung von absoluter Identität, Einzelheit und relativer Identität dargetan. Nach dieser ganz allgemeinen und abstrakten Begründung des Selbstseins wenden sich die folgenden Aufsätze spezielleren Gestaltungen zu, die man etwa als Selbständigkeit oder Fürsichsein umschreiben könnte. Genauer handelt es sich um die Subjektivität und die Personalität. Ich erläutere, was mit diesen beiden Titeln gemeint ist. Subjektivität für einen Bewussthaber (der etwas bewusst hat, was ihm bewusst ist) besteht darin, der zu sein, der er ist. Die Tradition findet ihn dafür mit einem Weltausschnitt ab, einer ihm reservierten privaten Innenwelt (Seele, Bewusstsein, Geist usw.), in der er entweder aufgeht oder einen privilegierten Platz 7 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Vorrede
(etwa als Vernunft und Regie führender freier Wille) einnimmt oder eine Randstellung als reines oder transzendentales Ich, als Subjekt, das die Welt als Objekt sich vorstellt (Schopenhauer: »Die Welt ist meine Vorstellung«) oder gar konstituiert (Kant, Husserl). Alle diese Rollenzuweisungen sind Vorschläge für die Selbstzuschreibung des Bewussthabers, etwas für sich selbst zu halten. Sie haben einen gemeinsamen Fehler: Sie kommen zu spät. Sie muten dem Bewussthaber zu, etwas mit sich zu identifizieren. Es stellt sich aber heraus, dass jedes identifizierende Sichbewussthaben ein nicht identifizierendes, eine vorgängige Bekanntschaft mit sich selbst, voraussetzt, weil ihm sonst das Relat – womit identifiziert wird – fehlen würde. Dieser vorgängigen Bekanntschaft hätten die Philosophen nachgehen sollen, statt dem Bewussthaber ein Konstrukt auf Grundlage der Weltspaltung zur Identifizierung anzubieten. Wenn man diesem Leitfaden folgt, gerät man zunächst an die für jemand subjektiven Tatschen seines affektiven Betroffenseins, dass etwas ihm nahe geht, zusetzt, zu schaffen macht. Das präzise Merkmal dieser subjektiven Tatsachen besteht darin, dass im Gegensatz zu den objektiven oder neutralen Tatsachen, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann, höchstens der Betroffene sie auszusagen vermag, weil, dass etwas mir nahe geht, eine reichere Tatsache ist als die, dass es irgend jemand nahe geht. Subjektive Tatsachen unterscheiden sich von den entsprechenden objektiven nicht durch den Inhalt, sondern durch eine reichere Tatsächlichkeit. Im affektiven Betroffensein durch für ihn subjektive Tatsachen versteht der Bewussthaber ohne Identifizierung, dass es sich um ihn selbst handelt. Dafür muss er aber ohne Identifizierung sich selbst finden. Die Frage, wie das möglich ist, führt an die Quelle der leiblichen Dynamik in Gestalt der schon erwähnten primitiven Gegenwart und an einen weiteren Grundzug dieser Dynamik, den vitalen Antrieb aus Engung und Weitung, die zu Spannung und Schwellung verschränkt sind. Subjektivität bedarf also des Leibes; alles affektive Betroffensein ist leiblich. 8 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Vorrede
Subjektivität kommt schon präpersonal bei Tieren und Säuglingen vor. Bei Personen kommt die Selbstzuschreibung hinzu. Sie besteht im Vollsinn darin, nicht nur überhaupt etwas für sich zu halten, sondern sich für einen Fall mehrerer Gattungen zu halten. Die Person kann zwischen diesen Gattungen in bestimmter Weise wählen, sie bewerten, sie mannigfach auf einander beziehen, Akzente setzen usw.; so hat sie einen Spielraum für Selbstbestimmung, Rechenschaft, Stellungnahme im Verhältnis zur Umgebung. Das macht sie zur Person. Eine Person ist also ein Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung. Um diesen Spielraum zu gewinnen, bedarf sie außer der Vereinzelung der Neutralisierung, d. h. der Abschälung der Subjektivität für sie von einem Teil der ihr bewussten Bedeutungen (d. h. Sachverhalte einschließlich der Tatsachen, Programme, Probleme) mit der Folge einer Verfremdung, wodurch sich das Eigene vom Fremden abheben kann. Das ist personale Emanzipation. Sie bedarf aber der gegenläufigen personalen Regression, d. h. des Rückgangs in die Subjektivität des affektiven Betroffenseins und die leibliche Dynamik, weil anders keine Selbstzuschreibung möglich wäre. Durch die Konkurrenz von personaler Emanzipation und personaler Regression wird die Person zwiespältig. Die Aufsätze 2–12 dieses Buches sind mit Subjektivität und Personalität auf der Grundlage der Leiblichkeit befasst. Sie lassen sich in sinngemäß geordnetem Fortschreiten, einschließlich des ersten Aufsatzes, in drei Blöcke zu je vier Aufsätzen gliedern. Die Aufsätze 1–4 entwickeln die Strukturen und Voraussetzungen von Identität, Subjektivität und Personalität. Dem Verdacht einer den Bewussthaber und speziell die Person isolierenden, vereinsamenden Sicht wirkt der dritte Aufsatz durch den Brückenschlag von der Subjektivität zur Intersubjektivität über leibliche Kommunikation vom Typ der Einleibung entgegen. Der vierte Aufsatz benützt die Analyse des Aufbaus der Person zu einer Skizze der Störungen der Subjektivität, der psychiatri9 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Vorrede
schen Nosologie im konventionellen Sinn. Der zweite Block (Aufsätze 5–8) befasst sich mit der Problematik der durch den Zwiespalt von personaler Emanzipation und personaler Regression labilen Person und den Chancen ihrer Stabilisierung, von denen besonders die Fassung und (neben dem hier nur kurz gestreiften Weinen) das Lachen (mit Komik und Humor) in Betracht gezogen werden. Ein höchst illustratives Schlaglicht auf diese Thematik wirft die Gesundheit des Menschen, eingeteilt in die tierische und die personale; den ihr gewidmeten Aufsatz 5, der mit einiger Kürzung schon in meinem Buch Das Reich der Normen (Freiburg 2012, S. 198–206) abgedruckt ist, habe ich daher hier in der vollständigen Fassung wieder aufgenommen. Die Aufsätze 9–12 des dritten Blockes erweitern das Thema der leiblichen Fundierung der Person nach verschiedenen Richtungen. Der Aufsatz 9 wendet sich sowohl gegen die Versetzung der Person nach innen wie (was Heidegger dagegen vorschlug) nach außen unter die Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigt; beides ist noch zu sehr der Weltspaltung verhaftet. Statt dessen wird der Gegenstandsbezug des Bewussthabens verfolgt: von der leiblichen Kommunikation (vom Typ der Einleibung, erst in Halbdinge, dann weiter in beliebige Gestalten) zur sogenannten Intentionalität, die aber als singularistisches Missverständnis verworfen und durch das Konzept einer Aufnahme bewusster Gegenstände in ein durch Explikation von Bedeutungen aus Situationen aufgespanntes Netz ersetzt wird. Der zehnte Aufsatz betrifft die unbeantwortbare Frage: Was wird aus mir, wenn ich tot bin? Drei mögliche Antworten werden durchgenommen: Mit dem Tod ist alles für immer aus; es geht gleich weiter, durch Export des Leibes aus dem Körper; es geht nicht gleich weiter, sondern zwar ist zunächst alles aus, aber es geht trotzdem weiter, vermöge der unterbrechbaren Dauer der Halbdinge. Anschließend wird im Anschluss an Heraklit eine mögliche Version einer von der irdischen Mühsal erlösten postmortalen Existenz an Stelle der verworfenen christlichen Version erörtert. Die beiden letzten Aufsätze 11 und 12 betreffen das leibliche Verstehen 10 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Vorrede
von Situationen durch Einleibung und erweisen es als unerlässliche Voraussetzung jeder Erfahrung, so dass die neuzeitliche, induktive Auffassung der Erfahrung als Sammlung einzelner Belege im leiblichen Verstehen gegründet werden muss. Der gemeinsame Tenor der hier versammelten Texte ist die Zurückführung auf den Leib als Grundlage von Identität, Subjektivität und Personalität. Es ist sehr merkwürdig, dass nicht nur dessen so ausgezeichnete Wichtigkeit, sondern sogar er selbst aus dem Horizont der europäischen Intellektualkultur so lange – hauptsächlich durch die Weltspaltung seit Demokrit, Platon und Aristoteles – verdrängt werden konnte. Eine kurze Skizze der Thematisierung des Leibes im europäischen Denken habe ich am Schluss meines Buches Der Leib (Berlin 2011, S. 147–173) vorgelegt. Seit dem frühen 19. Jahrhundert, zuerst bei Troxler, Schopenhauer und Maine de Biran, keimt in der Philosophie der Sinn für das Leibliche, doch ist es kaum gelungen, sich dabei von der mit der Weltspaltung verbundenen Menschspaltung (in die – auch anders benannte – Seele und den Körper) zu lösen. Der spürbare Leib wurde immer noch mit dem sichtund tastbaren Körper vermengt, exemplarisch etwa bei Nietzsche, Husserl und Merleau-Ponty. Soweit ich sehen kann, habe ich zuerst seine durchaus nicht körperliche, sondern eigenartige Ausdehnung und Dynamik rein herausgeschält. Diese Dynamik reicht als Grundlage für Selbstsein als Identität, Subjektivität und Personalität, obwohl der Körper zum Leben vor dem Tod faktisch unentbehrlich ist. Die deutsche Sprache macht die Unterscheidung durch die beiden Substantive »Leib« und »Körper« einfach; ohne genaue Begriffe ist diese Bequemlichkeit aber ohne Wert für die Besinnung. Die Aufsätze 2–12 sind unabhängig von einander in den letzten Jahren (ab 2010) entstanden und zu Vorträgen verwendet worden, bisher veröffentlicht sind (außer 5, siehe oben) nur 6 (in der Gedenkschrift für Anna Blume Leiblichkeit und Personalität, hg. v. Christoph Jamme, Springe 2013, S. 27–48) und 9 (unter 11 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Vorrede
dem Titel »Die Stellung der Person in der Welt« in: Der (un) durchsichtige Mensch. Wie weit reicht der Blick in die Person?, Schriften des Marsiliuskollegs, Band 8, Heidelberg 2012, S. 13– 29). Den ersten Aufsatz habe ich als letzten und einzigen von vornherein für dieses Buch bestimmten hinzugefügt, um den Umfang von dessen Konzeption deutlich zu machen. Wegen der unabhängigen Entstehung der Aufsätze sind Wiederholungen unvermeidlich, die aber immerhin den Vorteil haben, dass jeder Aufsatz für sich, ohne Rücksicht auf die anderen, gelesen werden kann, ungeachtet ihres geordneten thematischen Zusammenhanges. Hermann Schmitz
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1. selbst sein
Platon beruft seine dialektische Methode als den Weg zur Ideenschau zum Rückgang hinter alle Hypothesen auf den Ursprung, damit sie »das in barbarischem Schlamm vergrabene Auge der Seele gelinde hervorzieht und nach oben führt«. 1 Ich habe aus manchen Hinweisen den Eindruck, dass viele philosophierende Kollegen oder Leser mir verübeln, dieses Auge in solchem barbarischen Schlamm vielmehr festzuhalten oder noch mehr einzugraben, weil ich mich so nachhaltig mit dem beschäftige, was die Menschen unmittelbar angeht und ihnen – nach ihrem Dafürhalten vielleicht zu sehr – auf den Leib rückt, etwa mit dem spürbaren Leib selbst, und ohne Scheu auch so etwas wie die geschlechtliche Ekstase und das Kotlassen thematisiere. Philosophen haben oft eine Neigung zum Transzendieren, das Platon ins Ideenreich an einen überhimmlischen Ort führte, Kant in eine übersinnliche Welt, in der er sich so erhaben vorkam, dass ihm der »heilige Schauer« 2 vor dem Erhabenen in der Natur als Produkt einer Verwechslung (»Subreption«) imponierte, die in die Natur projiziert, was eigentlich ihm selbst als dem Bürger der übersinnlichen Welt zusteht. 3 Andere, die nicht mehr so transzendieren können, ziehen sich auf abstrakte Spitzfindigkeiten zurück. Gegen solche Vorbehalte berufe ich mich auf die Aufgabe, die ich der Philosophie, wie ich sie verstehe, nämlich als Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung, im Anfang meines Büchleins Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie gestellt habe: den Menschen ihr 1 2 3
Politeia 533d Kritik der Urteilskraft, 3. Auflage 1799, S. 117 Ebd. S. 97
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selbst sein
wirkliches Leben begreiflich zu machen, d. h. nach Abbau geschichtlich geprägter Verkünstelungen die unmittelbare Lebenserfahrung – d. h. das, was Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben – zusammenhängender Besinnung zugänglich zu machen. Das ist eine pragmatische, an einen Standpunkt gebundene Rechtfertigung. Andere mögen die Aufgabe der Philosophie anders sehen. Ich glaube aber, für meine bevorzugte Zuwendung zum unmittelbar und unwillkürlich Angehenden auch demonstrative Rechtfertigungen zu besitzen, indem ich den gleich stärker vom Zudringlichen abhebenden Denkern die Naivität vorhalte, dass sie in den Grundlagen Wichtiges übersehen und für selbstverständlich ausgeben, was vielmehr sehr bedingt und problematisch ist. Es lohnt sich, das »Auge der Seele« erst einmal am »Schlamm« festzuhalten, um es darüber zu belehren, auf welchen Stützen dort der erhoffte Aufstieg befestigt ist. Im Folgenden werden dafür vor allem die subjektiven Tatsachen und die Voraussetzungen der Einzelheit herangezogen. In meinen beiden letzten Büchern 4 habe ich überdies auf eine noch primitivere Voraussetzung als Stolperstein für vermeintliche Selbstverständlichkeit aufmerksam gemacht. Es handelt sich um das bloße Selbstsein (selbst sein), das mit dem Sein nicht unbedingt verbunden ist. Es hängt vielmehr von einem Ereignis ab, das die gemeinsame Quelle von Leib und Zeit ist. Diesen Gedankengang will ich in diesem einleitenden Aufsatz noch einmal aufnehmen, um die Einsicht in die fundamentale Bedeutung des spürbaren Leibes und des leiblich-affektiven Betroffenseins für mögliches Personsein von Menschen noch schärfer herauszuarbeiten und tiefer zu befestigen. Es geht hier um Identität, um die Aufspaltung des einfachen Begriffs in zwei Formen, das Selbstsein und das Es-selbst-sein oder absolute und relative Identität. Dass etwas es selbst, d. h. mit sich selbst identisch sei, ist ein altbekannter Gemeinplatz, 4
Phänomenologie der Zeit; Gibt es die Welt? (beide 2014)
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selbst sein
der meist mit der allzu leichtfertigen, weil falschen Unterstellung verbunden wird, dass alles mit sich selbst identisch sei, in dieser Beziehung zu sich selbst stehe. Der mahnende Hinweis, dass dahinter noch eine elementarere und gleichfalls problematische Identität verborgen sei, das bloße Selbstsein, muss solcher vermeintlicher Selbstverständlichkeit ganz paradox vorkommen. Was soll es heißen, dass etwas selbst (gleichsam in eigener Person) ist, außer dass es es selbst ist, mit sich selbst identisch? Kommt denn etwas anderes überhaupt in Frage? Um darüber Klarheit zu gewinnen, ist es erst einmal nötig, dem gemeinten Begriff des Selbstseins fassbaren Umriss zu geben. Das leistet der Begriff der Verschiedenheitsfähigkeit: Wenn Vieles (Mannigfaltiges) ist, dann ist etwas selbst, wenn es von anderem verschieden ist. Wenn nicht Vieles wäre, wohl aber Seiendes, wäre alternativ nicht etwa bloß Eines da, denn Einheit in diesem Sinn setzt die Zahl 1 voraus und damit Einzelheit; davon kann hier noch nicht die Rede sein, da Einzelheit mehr voraussetzt, wovon gleich die Rede ist. Seiendes wäre dann weder Eines noch Vieles. Wenn aber Vieles ist, dann ist Seiendes selbst, wenn es von anderem verschieden ist. Damit ist noch nichts gesagt über eine Beziehung, in der es zu sich selbst steht. Die absolute Identität, selbst zu sein, unterscheidet sich von der relativen Identität, mit etwas identisch zu sein. Wohl aber setzt relative Identität absolute voraus. Ich habe das so gezeigt 5 : Identität von A mit B (einschließlich A = A) liegt genau dann vor, wenn A und B in allen Attributen übereinstimmen. 6 Wenn auch nur zwei Attribute, x und y, verglichen werden, muss man voraussetzen, dass dasselbe A, das x besitzt, auch y besitzt. Wenn diese vorausgesetzte Identität des A von gleicher Art wäre, wie die von A mit B, entstünde ein regressus ad infinitum. Dann müsste nämlich, entsprechend Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg/München 2013, S. 49 f. Zum Attributsbegriff, und dass nicht alle Bestimmungen einer Sache Attribute sind, vgl. z. B. Phänomenologie der Zeit, S. 12–15: Attribute und Existenz-Inductiva
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wie beim ersten Mal, ein C angenommen werden, das identisch ist mit dem A, das x besitzt, und dem A, das y besitzt. Unter der Voraussetzung, dass alle Identität relativ ist, würde C dasselbe Schicksal haben wie A: Es könnte seine Aufgabe nur erfüllen durch ein D, das identisch ist mit dem C, das identisch ist mit dem A, das x besitzt, aber auch mit dem A, das y besitzt. So ginge es weiter ad infinitum. Man käme zu einer unendlichen Verschachtelung von Identitätsträgern, aber nie zu einem A, das unmittelbar mit einem B identisch sein könnte. Der einzige Ausweg aus dieser Verstrickung besteht darin, den Regress gleich beim ersten Schritt anzuhalten und sich klar zu machen, dass die für den Vergleich auf relative Identität von A mit etwas erforderliche Identität des A von anderer Art als die relative Identität ist, nämlich die absolute, selbst zu sein. Absolute und relative Identität hängen über die Einzelheit zusammen. Einzeln ist, was Element einer Menge mit der Anzahl 1 ist, der Anzahl jeder nicht leeren Menge, in der jedes Element mit jedem identisch ist. Ich habe gezeigt, dass diese Definition gleichwertig, also austauschbar, ist mit den beiden anderen: Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt; einzeln ist, was Element irgend einer endlichen Menge ist. 7 Einzelheit ist also auf Zahl bezogen. Daher ist es hier nötig, den Zahlbegriff zu bestimmen, ausgehend von dem Grundgedanken: Zahl ist das, was die Umgebung dem Menschen so entgegenbringt, dass er zählen kann, d. h. die Zählbarkeit einer Menge. Die aber besteht in ihrer umkehrbar eindeutigen Abbildbarkeit, so dass man definieren darf: Zahl (oder Anzahl) einer Menge M ist die Eignung irgend einer Menge, umkehrbar eindeutig auf M abgebildet zu werden. Da dies eine Äquivalenzrelation ist, hat jede Menge eine und nur eine Zahl. 8 Damit diese Eindeutigkeit zu Stande kommt, muss das, was eine Zahl hat, eine Menge sein. Mengen Kritische Grundlegung der Mathematik, S. 28–30 Ebd. S. 149 f.: Beweis, dass Äquivalenzrelationen ihr Feld in elementefremde Äquivalenzklassen einteilen
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selbst sein
sind die Umfänge einer Gattung, die alles und nur das enthalten, was Fall der Gattung ist, sofern diese Umfänge eine Zahl haben; was Fall und was Gattung ist, habe ich anderswo angegeben 9 , doch wäre es zu umständlich, das hier zu wiederholen. Außer den Ganzen, die Mengen sind, gibt es auch Ganze aus einzelnen Inhalten, die Komplexe durch gegenseitige (paarende) Verknüpfungen ihrer Teile sind, doch haben diese Komplexe keine bestimmte Zahl, weil diese erst durch eine zusätzliche Einteilung feststeht. 10 Bei Mengen besteht dieser Bedarf nicht, weil von der Gattung her mit einem Schlag deren Umfang und die zugehörigen Fälle bestimmt sind. Die Träger von Zahlen sind also die Mengen. Alle Inhalte einer Menge (alle Fälle der Gattung, deren Umfang sie ist) müssen einzeln sein. Sie müssen nämlich in einem Paar einer umkehrbar eindeutigen Abbildung Platz finden können; die Menge der Glieder eines solchen Paares ist aber eine endliche Menge, und alles, was Element einer endlichen Menge ist, ist einzeln. Andererseits ist alles Einzelne Element einer Menge, wie sich schon aus der Definition ergibt. Damit ist folgendes Ergebnis abgeleitet: Mannigfaltiges, das eine Zahl hat, ist eine Menge, bestehend aus nur einzelnen Elementen, und alles, was einzeln ist, ist Element einer Menge. Damit ist im Mannigfaltigen überhaupt ein Typ von Mannigfaltigkeit – das numerische Mannigfaltige – abgegrenzt als dasjenige Mannigfaltige, das eine Zahl hat und deswegen höchstens aus einzelnen Inhalten besehen kann. Dieses Mannigfaltige ist jeweils eine Menge, deren Inhalte also Fälle einer Gattung sind. Notwendig für Einzelnes ist also, dass es etwas als Fall einer Gattung ist. (Gattung ist alles, wovon etwas ein Fall ist.) Außerdem muss das Einzelne absolut identisch sein, denn was nicht einmal der Verschiedenheit fähig ist, kann nicht in eine Menge mit bestimmter Zahl eintreten. Beide Merkmale – absolut identisch und Fall einer Gattung zu sein – sind für Einzelnes aber auch 9 10
Ebd. S. 43 f. Ebd. S. 33 f.
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selbst sein
zureichend, wenn vorausgesetzt wird, dass die absolute Identität ungestört ist; es gibt nämlich auch Fälle gestörter absoluter Identität, die nicht zum numerischen, sondern zum zwiespältigen Mannigfaltigen gehören; ich komme darauf zurück. Für die Einzelheit steht damit eine weitere Begriffsbestimmung zur Verfügung: Einzeln ist, was ungestört absolut identisch und Fall einer Gattung ist. Relative Identität ist nur an Einzelnem möglich, das Fall einer Gattung ist. (Dass sie außerdem absolute Identität, das andere Merkmal des Einzelnen, voraussetzt, wurde schon gezeigt.) Etwas ist mit etwas identisch nämlich genau in dem Sinn, dass es ein Fall mehrerer Gattungen ist, und zwar aller derer, die jeweils als Attribute in Betracht kommen. Gewöhnlich werden nur zwei Gattungen in Betracht gezogen, wenn nämlich ein a (ein Fall der Gattung a) mit einem b (einem Fall der Gattung b) identifiziert wird, z. B. ein Mensch mit einem Dieb oder einem Helden. Im Fall A = A handelt es sich um Identität eines Falles der Gattung Referens der Identitätsbeziehung mit einem Fall der Gattung Relat der Identitätsbeziehung. 11 Relative Identität ist also eine Errungenschaft des Aufstiegs von der absoluten Identität zur Einzelheit. Nur was einzeln ist, kann mit etwas identisch sein. Mit dem numerischen Mannigfaltigen hat ein wichtiger Typ von Mannigfaltigkeit Umriss bekommen; es fragt sich, ob es der einzige ist. Wenn es sich so verhielte, wäre alles einzeln, relativ und absolut identisch. Die herrschende Meinung der Denker, sowohl in der Vergangenheit und Tradition als auch heute, scheint das zu bejahen. Mannigfaltigkeit und Einzelheit stehen in der Geschichte des europäischen Denkens im Schatten der Einheit, so dass man sagen kann, über sie werde durch die BeDas ist die einfache »Lösung des Identitätsrätsels«, für die Markus Gabriel (Die Erkenntnis der Welt – Eine Einführung in die Erkenntnistheorie, Freiburg/München 2012, S. 311) Freges unklare Rede vom Sinn als Weise der Gegebenheit bemüht.
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handlung der Einheit mit entschieden. Dabei ist äußerst unklar, was diese sein soll. Verschiedene Auffassungen von Einheit gehen hier durcheinander. Um etwas Ordnung hineinzubringen, will ich vier Bedeutungen des Wortes unterscheiden. Ich beginne mit der analytischen Einheit. Sie entspricht dem unbestimmten Artikel »ein«; was ein x ist, wobei für »x« der Name irgend einer Gattung (oder Eigenschaft) einzusetzen ist, ist analytisch Eines. Analytische Einheit ist also Fallsein (Eigenschaftsbesitz). Ich nenne sie »analytisch«, weil man bei der Analyse von etwas danach fragt, wovon es ein Fall ist. Wenn zur analytischen Einheit die absolute Identität hinzukommt, ergibt sich die numerische Einheit, die Einzelheit, die der Scholastiker Walter Burley als »Selbes der Zahl nach« im gewöhnlichen (nicht aristotelischen) Sinn als etwas charakterisiert, »das mit etwas anderem in eine Zahl gebracht wird oder eine Zahl so bildet, dass von ihm und dem anderen richtig gesagt werden kann, dass die da zwei sind.« 12 Das entspricht meiner Definition: Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Diese beiden Einheitsbegriffe sind sozusagen formal, weil sie über den Inhalt des Einen (und ob es einen hat) nichts präjudizieren, während dies bei den beiden anderen hier unterschiedenen Einheitstypen der Fall ist: der synthetischen und der einfachen Einheit. Synthetisch eines ist ein Ganzes, von dem mannigfache Inhalte zusammengehalten werden; einfach ist Eines, wenn es gar nichts Mannigfaltiges zum Inhalt hat. In der Geschichte des Denkens gehen diese vier Versionen verwirrend durcheinander. Einen großen Teil der Schuld daran hat die Autorität des Aristoteles. Er bestimmt das Eine hauptsächlich als adihaireton, was mit »ungeteilt« zu übersetzen ist, also synthetische Einheit meint, die der Auflösung in Teile nicht verfallen ist; man kann aber auch »unteilbar« übersetzen, und dann handelt es sich um einfache Einheit. Andererseits behaupWalter Burley (Burlaeus), Tractatus de universalibus, ed. H.-U. Köhler, 2. Auflage Stuttgart/Leipzig 1999, S. 32
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tet Aristoteles Umfangsgleichheit des Einen mit dem Seienden und bestimmt das Eine dann im formalen Sinn als analytisch und numerisch Eines, wie der Satz zeigt: »Das Selbe ist ein Mensch und Mensch, und seiender Mensch und Mensch.« 13 »Ein Mensch« ist der numerisch eine, »Mensch« der analytisch eine. 14 Durch Vermengung beider Deutungen wird in der scholastischen Transzendentalienlehre das Eine, der ständige Begleiter des Seienden, viel zu eng, z. B. bei Suarez, als das Ungeteilte ausgegeben, mit der Folge, dass das Viele sich nur noch schwach im Seienden behaupten kann 15 , und zwar als das Geteilte; da die Teile eines Komplexes einzeln sind, kann diese Charakteristik einer Subsumtion des Vielen unter das numerische Mannigfaltige Vorschub leisten. Der Vorrang des Ungeteilten oder Unteilbaren hebt die Substanzen als Kerne des eigentlich Seienden gegen die Zusammenhänge hervor und kommt wiederum der Einzelheit zugute, exzessiv bei Leibniz, der die Umfangsgleichheit des Seienden mit dem Einen zum Monopol der einfachen Substanzen auf den Besitz des Seienden übertreibt. 16 Das Vorurteil des Singularismus, dass alles ohne Weiteres einzeln ist, und die zugehörige Auffassung aller Mannigfaltigkeit als numerische wird einem sprachgläubigen Denken obendrein durch den Umstand nahegelegt, dass die europäischen Sprachen Substantive immer gleich mit dem Singular oder Plural verbinden, wobei das Eine, als numerische wie als analytische Einheit, im Singular als das Seiende dem Vielen im Plural geMetaphysik 1003 b26 f. Der unbestimmte Artikel wird im Griechischen weggelassen oder nur notdürftig durch nachgestelltes »tis« vertreten. 15 Z. B. Johannes Duns Scotus, Quaestiones subtilisimae in Metaphysicum Aristotelis, Buch XI Quaertio 2 n. 12 (Opera omnia, ed. Wadding, Band 4, Lyon 1639, Nachdruck Hildesheim 1968, S. 764 Spalte b): »ita enim est in divisione entis per unum et multum: quia multum secundum suam formalem rationem, inquanitum opponitur uni, diminuit ens, licet non omnino destruat.« 16 Brief von Leibniz an Arnauld vom 30. 04. 1687 (Philosophische Schriften, hg. v. Gerhardt, Band 2, S. 97) 13 14
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genübertritt. In Klassifikationssprachen, die wie das Thai und das Vietnamesische den bloßen Gattungsnamen als Substantiv verwenden und die Anwendung auf Ein- oder Mehrzahl mit Hilfe von Klassifikatoren nachholen, würde solche Auszeichnung des Einen vor dem Vielen schwerer fallen. Wir Deutschen haben solche Klassifikatoren in Gestalt der grammatischen Genera mit Klassifizierung nach männlich, weiblich, sächlich. Mit Thai-Syntax würde »ein Stern« etwa »Stern der ein« lauten, »drei Sterne«: »Stern der drei«. 17 Dann wäre die Schwelle unauffälliger. Die spätantiken heidnischen Neuplatoniker sind dieser Suggestion nicht verfallen. Die Auszeichnung des Einen als des Einzelnen (numerisch Einen) und der numerischen Mannigfaltigkeit wird bei ihnen überdeckt durch die Vision der gespannten Innigkeit des Zusammengehörens in wechselseitiger Durchdringung 18 in der oberen geistigen Welt, dem Seienden für Plotin, während die Zerstreuung in Einzelheit beim Übergang in Zeit und Sinnlichkeit als Schwächung der Spannkraft gilt. 19 Von diesem Leitbild, das noch bei Scotus Eriugena ins christliche Denken des Westens eindringt, haben sich danach die Scholastiker abgesetzt. Schon Abaelard begründet seinen Nominalismus im Anschluss an Boethius damit, dass alles, was eines (und damit seiendes) sei, als Eines der Zahl nach abgesondert in eigener Wesenheit (discretum in propria essentia) sei. 20 Dieses Leitmotiv des Universalienstreits gewinnt seine volle Durchschlagskraft bei Wilhelm von Ockham, nach dessen Lehre jede Sache, Vgl. Hermann Schmitz, Das Reich der Normen, Freiburg/München 2012, S. 257 18 Plotin, Enneaden VI 2 [43] 20, 17–29 19 Vgl. meine ausführliche Darstellung: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Band 1, Freiburg/München 2007, S. 323–402 20 Peter Abaelards Philosophische Schriften, hg. v. Bernhard Geyer (Beiträge zur Philosophie und Theologie des Mittelalters, Band 21), Münster 1919–1927, S. 30 f. (Logica Ingredientibus) 17
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wenn sie sich real von jeder anderen Sache unterscheidet, eine Sache von sich (res a se) ist, weil abgesondert ihrer Wahrheit und Wesenheit nach von jeder anderen Sache, so dass es nichts außer absoluten Sachen gebe. 21 Er leugnet außer den Universalien auch die Beziehungen, die Zusammenhänge. 22 Dieser radikale Singularismus im Gewande eines nicht einmal so zentralen Nominalismus vererbt sich aus der Spätscholastik in die Neuzeit und prägt dem naturwissenschaftlichen Weltbild seine Züge auf. Ich habe ganz allgemein den Singularismus widerlegt, indem ich bewiesen habe, dass der Satz, dass alles einzeln (alle Mannigfaltigkeit numerisch) sei, gleichwertig ist dem Satz der durchgängigen Bestimmung, dass für jeden Gegenstand und jede Bestimmung der Gegenstand die Bestimmung entweder besitzt oder nicht, und mit diesem Satz zusammen falsch, da sogar kein Gegenstand durchgängig bestimmt ist. 23 Sonst wären nämlich, wie ich zeige, alle seine Bestimmungen einzeln, und dann wäre er vielmehr gänzlich unbestimmt. Der Singularismus ist also sicher falsch; nicht alles Mannigfaltige ist numerisch. Um diese allgemeine Einsicht zu konkretisieren, empfiehlt es sich, Beispiele des nichtnumerischen Mannigfaltigen, die aus der gewöhnlichen Lebenserfahrung gewonnen sind, heranzuziehen. Besonders günstig dafür scheint mir das menschliche Sprechen, sowohl als Sprachgebrauch wie als Mundgebrauch. Der Sprachgebrauch besteht darin, dass der kompetente Sprecher einer Sprache, etwa seiner Muttersprache, in flüssiger Rede blind, aber treffsicher, vor Verwechslungen geschützt, in die Sprache hineingreift und ihr die Regeln für die Formulierung seiner Sprüche, die für seinen Zweck benötigten Sätze, entnimmt, um diesen gemäß seine Sprüche zu formen, mit denen er SachverOrdinatio, Buch 1, distinctio 30, quaestio 2, Opera theologica, Band IV, S. 32, Z. 10–12 22 Zu Wilhelm: wie Anmerkung 19, Band 2, S. 79–83 und 133–154 23 Kritische Grundlegung der Mathematik, S. 69–76: Der Hauptsatz 21
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halte, Programme oder Probleme (meist viele zusammen) einzeln darstellt und damit meist allerlei weitere Zwecke zu erreichen sucht. Die Sätze werden nicht etwa gemustert, sodann ausgewählt und zur Formulierung gebraucht, so wie der Koch nach Rezepten kocht. Vielmehr kennt sich der Sprecher in dem sogar hochgradig geordneten Milieu der Sprache aus, ohne deren Inhalte (die Sätze) zu vereinzeln; er lernt diese sogar niemals einzeln kennen, sondern merkt nur an vielen, oft sehr unähnlichen, Sprüchen, dass sie Sprüche desselben Satzes sind. Sprechen als Sprachgebrauch ist also eine Drehbewegung, die ein unübersehbar großes, aber ganzheitlich innegehabtes und geordnetes nicht-numerisches Milieu von Regeln dazu verwendet, aus Situationen mit gleichfalls nichtnumerischer Mannigfaltigkeit 24 einzelne Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) herauszuholen und zu vernetzen. Ebenso wie der Sprachgebrauch ist der Mundgebrauch beim flüssigen Sprechen Umgang mit nicht-numerischem Mannigfaltigem. Die artikulatorische Phonetik hat die Beteiligung der Körperteile in der Mundgegend bei der Erzeugung von Sprachlauten sehr genau analysiert, aber niemand wird glauben, dass der sprechende Mensch schrittweise gemäß den Vorgaben dieser Wissenschaft vorgeht; es wäre unvorstellbar, wie das geschehen sollte. Vielmehr bewegt er sich als Könner differenziert in einem Milieu, in dem er für die Differenzierung seiner von ihm willentlich angeregten und zugelassenen, aber unwillkürlich geführten Aktion keine Unterscheidung von Einzelnem benötigt. Das Angebot des Körpers gleicht insofern dem Angebot der Sprache beim Sprechen. In beiden Fällen ist das Milieu eine (zuständliche) Situation in meinem Sinn, d. h. gar nicht oder wenigstens nicht durchgängig in Einzelheiten gegliedertes Mannigfaltiges, das durch eine ebenso beschaffene (binnendiffuse) Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme
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Dieses Buch unterrichtet reichlich über Situationen.
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oder Probleme sein können, zusammengehalten und abgegrenzt wird; in diesen beiden Fällen handelt es sich nur um Programme, nämlich die Sätze als Regeln zur Formulierung von Sprüchen beim Sprachgebrauch, programmatische Routinen der Zungenstellung usw. zur Vermeidung von stimmlichen Entgleisungen (Apraxie) beim Sprechen im Fall des Mundgebrauchs. Dieser Mundgebrauch ist ein Beispiel für beliebige flüssige Körperbewegungen, die gleichfalls vor Apraxie geschützt sind. Sie folgen beim Können des Gehens, Essens, Tanzens, Schwimmens, Klavierspielens usw. unwillkürlichen, gleichsam in Fleisch und Blut übergegangenen Programmen, die nicht einzeln abgerufen und zu einander in Beziehung gesetzt werden müssen; das würde die Flüssigkeit der Bewegung zerstören. Mannigfaltiges, das gar nicht oder wenigstens nicht vollständig in Einzelnes durchgegliedert und also nicht numerisch ist, bezeichne ich als chaotisch. Die bisher betrachteten Beispiele, der Sprachgebrauch und die gekonnte flüssige Körperbewegung, gehören in eine Oberstufe des chaotischen Mannigfaltigen, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Umgang mit ihm vor Verwechslungen geschützt ist. Dies ist gleichbedeutend damit, dass in dem Mannigfaltigen Identität und Verschiedenheit vorgegeben sind; denn eine Verwechslung besteht darin, statt des Selben ein Anderes zu ergreifen. Die Identität, um die es sich handelt, kann aber nicht die relative sein, sondern nur die absolute. Relative Identität mit etwas ist eine Beziehung, und Beziehungen sind nur zwischen Einzelnem möglich, also nicht im chaotischen Mannigfaltigen, soweit dieses ohne Vereinzelung seines Inhalts auskommt. Beziehungen müssen nämlich nach Stellen- und Teilnehmerzahl unterschieden werden können; so hat z. B. die Selbsttötung die Stellenzahl 2 und die Teilnehmerzahl 1, die Tötung eines Feindes die Stellenzahl sowie die Teilnehmerzahl 2, die Anstiftung zur Selbsttötung die Stellenzahl 3 und die Teilnehmerzahl 2. Zahlen kommen aber nur im numerischen Mannigfaltigen vor, während absolute Identität auch im chaotischen Mannigfaltigen möglich ist. Zu ihr gehört die Verschiedenheit 24 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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oder wenigstens Verschiedenheitsfähigkeit. Die Verschiedenheit, deren das absolut Identische fähig ist, kann also keine Beziehung sein. Was ist sie dann? Diese Frage wird noch brennender, wenn berücksichtigt wird, dass sich der kompetente Sprecher, Schlenderer, Tänzer usw. nicht nur schlicht sich nicht vergreift, sondern sogar in hoch geordneten Milieus wie Sprachen, Mund und System der Körperglieder sich zurechtfindet. Wie ist solche Ordnung ohne Beziehung möglich? Die Antwort auf diese Fragen führt zu wesentlich neuen Einsichten in die Struktur der Mannigfaltigkeit. Dabei geht es um den Unterschied zwischen Verhältnissen und Beziehungen. Beziehungen sind gerichtet, nämlich von etwas, das sich bezieht, auf etwas, worauf es sich bezieht, eventuell durch Zwischenglieder. Verhältnisse sind ungerichtet, können aber in vielen Fällen in Beziehungen gespalten werden. Eine Landkarte, ein Stammbaum sind Anhäufungen von Informationen über spaltbare Verhältnisse (zwischen Verwandten bzw. Orten und Gegenden), die im Fall der Landkarte z. B. teilweise gespalten werden, wenn man sich mit ihrer Hilfe auf den Weg macht. Alle Beziehungen gehen durch Spaltung aus Verhältnissen hervor und bauen sich über Verhältnissen auf. Das ergibt sich aus ihrer trivialen Umkehrbarkeit. Gerichtete Abläufe sind nicht so umkehrbar. Während die Beziehung des Vaters zum Sohn durch Umkehrung als Beziehung des Sohnes zum Vater zu diesem zurückkehrt, führt die Umkehr der Reihenfolge eines Ablaufs nicht zu dessen zeitlichem Anfang zurück, sondern verlängert den Prozess ins noch Spätere. Das liegt daran, dass zwar die Beziehungen ein beharrendes Fundament, das die Umkehr gestattet, an Verhältnissen haben, die Abläufe aber im Fluss der Zeit ohne solches Fundament auskommen müssen. Außer den spaltbaren Verhältnissen gibt es auch unspaltbare, und die können ohne Vereinzelung auskommen und sind dann auch im chaotischen Mannigfaltigen möglich. Ich habe viele Beispiele gesammelt, vom gemeinsamen Sägen über die Ekstasen bis zu Weisen des gewöhnlichen Bewussthabens usw. Die 25 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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Ekstasen betreffen die von mir als Einleibung und Ausleibung beschriebene leibliche Kommunikation. 25 Zu den Ekstasen der Einleibung gehört der »flow« des Motorradfahrers im Bewegungsrausch, das hingerissene gemeinsame Singen und Musizieren, der gemeinsame geschlechtliche Liebesrausch, zu den Ekstasen der Ausleibung der völlig entspannte, versunkene Genuss z. B. eines schönen Sommertages im Freien oder eines guten Glases Wein. Nietzsche porträtiert sich in seinem Gedicht Sils Maria in solcher Lage, wie er behaglich am Silser See sitzt, »wartend, wartend, doch auf Nichts«, »ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.« Das klingt, als sei er der See geworden, aber dann müsste auch der See Nietzsche geworden sein, was nicht der Fall ist. Vielmehr hat Nietzsche in der Ekstase eines unspaltbaren Verhältnisses seine Einzelheit abgestreift, er ist in See, Mittag und Zeit aufgegangen, ohne mit ihnen identisch zu werden, vermehrt aber nicht mehr deren Anzahl um 1, so dass nicht mehr nach Walter Burley12 »von ihm und dem anderen richtig gesagt werden kann, dass die da zwei sind.« Dies natürlich nur in der Perspektive des ekstatisch genießenden Nietzsche, nicht des Kellners oder Polizisten, der ihn beobachtet und vielleicht aufweckt. Auf einem ganz anderen Gebiet, dem der Bewussthaber im Alltag ohne Ekstase, bietet sich als Beispiel für unspaltbare Verhältnisse das unthematische Begleitbewusstsein an, das auf Objekte gerichtete Handlungen und Wahrnehmungen zu begleiten pflegt, das präreflexive cogito nach Sartre. Er gibt folgendes Beispiel: Ich zähle gerade Zigaretten und denke nur an diese und ihre Zahl. Wenn mich aber jemand fragt, was ich gerade tue, antworte ich spontan, ohne Besinnung: »Ich zähle die Zigaretten.« Dabei habe ich gar nicht außer an diese auch noch an mein Zählen gedacht. Das Bewussthaben des Zählens war nämlich nicht ein zweites, einzelnes Bewussthaben neben dem des Objekts, sondern war in unspaltbarem Verhältnis in diesem aufgegangen wie Nietzsche im See und wird nun freige25
Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011, S. 29–53
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setzt. Diese Erklärung stammt freilich nicht von Sartre, der in das präreflexive cogito vielmehr einen Zwiespalt von Sein bei sich und Abwesenheit von sich hineindeutet; ich dagegen glaube, dass ein solches Verhältnis ohne Zwiespalt möglich ist. Unspaltbare Verhältnisse, die der Beziehungen entbehren, lassen statt dessen ungerichtete Ordnungen zu, die auch ohne einzelne geordnete Inhalte (sämtlich oder teilweise) auskommen können; insbesondere fällt der Bedarf nach Einzelheit weg, den Beziehungen schon durch ihre Gerichtetheit haben, zur Unterscheidung von Herkunft und Ziel. Es gibt zwei Ordnungsformen für denselben Inhalt: die diskursive durch gerichtete Beziehungen und die intuitive, wenn sich auf einen Blick ungespaltene Verhältnisse darstellen, die unter Umständen anschließend gespalten werden können. Der denkende Mensch ist weitgehend auf Beziehungen angewiesen, doch wird z. B. großen Schachspielern ein ungewöhnlich weit ausgreifendes intuitives Verständnis des Spielstandes und seiner Aussichten nachgerühmt. Der Unterschied beider Ordnungsformen spiegelt sich sogar im gegensätzlichen Aufbau der französischen und der deutschen Syntax, da sich der französische Satzbau an geradlinig fortschreitende Beziehungen hält, während der deutsche ein Ganzes sich überlagernder Verhältnisse zur spaltenden Analyse anbietet. 26 Wenn keine Spaltung in Betracht kommt, kann die Ordnung des Inhalts die Form von Verhältnissen bewahren. Das ist der Fall im chaotischen Mannigfaltigen, wenn die Vereinzelung fehlt. So ist z. B. die Verschiedenheit, deren absolut Identisches fähig ist, bei Abwesenheit von Einzelheit keine Beziehung (von etwas zu etwas anderem), sondern ein ungerichtetes Verhältnis. In der Muttersprache, die der kompetente Sprecher (gefiltert durch seinen Sprachschatz) mit einem Schlage innehat, ohne ihre Inhalte zu vereinzeln, herrscht für ihn eine Ordnung durch Verhältnisse, mit denen er sich auskennt, ohne
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Wie Anmerkung 17, S. 252–256
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Beziehungen, die erst durch Spaltung zugänglich würden. So ähnlich muss man sich das geordnete Leben und Verhalten der Tiere vorstellen. Ebenso wie der Sprecher während flüssiger Rede in seiner Sprache, die er gebraucht, gefangen ist, sind die Tiere in Situationen gefangen. Unspaltbare Verhältnisse sind zwar auch bei (totalem oder partiellem) Fehlen einzelner Teilnehmer möglich, ebenso aber zwischen solchen, wie das Beispiel des Sägens mit der zweigriffigen Baumsäge zeigt. In beiden Fällen kann sich ein weiterer Typ von Mannigfaltigkeit ergeben, wenn Teilnehmer mit unvereinbaren Eigenschaften in dem Verhältnis zusammengeschlossen sind: das zwiespältige Mannigfaltige, auch über die von »zwie-« suggerierte Zweiheit der Teilnehmer hinaus. Als Leitmotiv solcher Zwiespalts habe ich mir die Husserl’sche Puppe ausgesucht. Der Philosoph Husserl sah im Wachsfigurenkabinett eine Figur erst als lebendige Frau, dann, nach Auflösung der Illusion, als Wachspuppe. In der Zwischenzeit, in einigen Sekunden ungläubiger Überraschung, erblickte er eine Erscheinung, in der sich die Züge von Frau und Puppe zwitterhaft durchkreuzten. Keineswegs traten Frau und Puppe gegen einander an, so dass sie sich wie beim logischen Widerspruch mit ihren unvereinbaren Zügen ausgelöscht hätten und nichts übrig geblieben wäre, sondern die Gegenteile waren in der Weise strittiger Unentschiedenheit unspaltbar vereinigt, bis die Auflösung der Illusion gelang. Man kann dann von einer Konkurrenz mehrerer Sachen (in ganz weitem Sinn des Wortes) um Identität mit derselben Sache sprechen. Das wichtigste Beispiel aus der illusionsfreien Realität ist jeder Mensch, der in seinem Leben beliebig viele »Phasenmenschen« (z. B. als Kind, Jüngling, Mann und Greis) durchläuft und sie alle als der Selbe ist, ohne sich in ihre Serie aufzulösen, obwohl sie von einander verschieden sind und unvereinbare Züge haben. Dann konkurrieren sie mit ihm und er mit ihnen um Identität mit dem zwiespältigen Mannigfaltigen, das der ganze Mensch ist. Ich habe die logischen Antinomien (die der Mengenlehre und die sogenannten semanti28 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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schen) als Formen des Zwiespalts behandelt, der zum Widerspruch erst wird, wenn man mit einer Logik, die nur im numerischen Mannigfaltigen korrekt ist, über dessen Grenzen hinausgeht, sonst aber durch ein unspaltbares Verhältnis gegen den Widerspruch geschützt ist, wie die Husserl’sche Puppe. Um dieser Idee logische Form zu geben, habe ich für den Fall von Antinomien mit unbehebbarer Strittigkeit – die Russell’sche z. B. gehört nicht dazu – die Aussagenlogik durch einen Kalkül der ins Unendliche iterierten Unentschiedenheit ergänzt. 27 Alles, was ich bisher über nichtnumerische (chaotische) Mannigfaltigkeit gesagt habe, bezieht sich nur auf die Oberstufe, in der zwar die Einzelheit (ganz oder teilweise) fehlt, absolute Identität und Verschiedenheit aber erhalten sind, wenn auch eventuell – im zwiespältigen Mannigfaltigen – mit einer Störung. Noch ist die Frage offen, ob Seiendes auch ohne absolute Identität auskommt, so dass etwas zwar ist, aber nicht selbst ist. Wenn das der Fall ist, wird es sich daran zeigen, dass im Umgang mit solchem Seienden kein Schutz gegen Verwechslung möglich ist, also keine Rücksicht auf absolute Identität und Verschiedenheit genommen werden kann. Dafür gebe ich zunächst das Beispiel des Schwimmers an, der sich (z. B. kraulend) in ruhigem (nicht durch starken Wellengang gegliedertem) Wasser gegen dessen dynamisch voluminösen Widerstand vorwärts kämpft. Ihm strömen immer neue Fluten entgegen, ohne Zweifel ein Mannigfaltiges, da er nicht auf einmal die ganze Masse durchmisst. Es wäre aber sinnlos, ihn gegen die Verwechslung solcher Fluten zu schützen; eine Verwechslung kommt nicht in Frage, weil kein Teil selbst ist, verschieden vom anderen. (Die Physik sieht das anders, aber hier geht es um das Phänomen, nicht um Konstrukte.) Dagegen bedarf der Schwimmer beständig des Schutzes gegen Verwechslung der Teile seines Körpers. Er wäre verloren, wenn ihm so etwas unterliefe. Auch wenn ihm bei
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hingegebenem Schwimmen kein solcher Teil einzeln bewusst bliebe, müsste er sich auf absolute Identität und Verschiedenheit seiner Glieder verlassen können. Dieses Beispiel ist sehr speziell. Unablässig in der täglichen Lebenserfahrung kommt selbstloses Mannigfaltiges in den intensiven Größen vor, die stärker und schwächer, lauter und leiser, heller und dunkler, wärmer und kälter sind. Offenkundig ist in solchen Fällen ein Größenunterschied, der aber nicht als Zuwachs oder Zusatz von Teilen zu Teilen aufgefasst werden kann, da sich z. B. große Hitze nicht aus vielen milden Wärmen zusammensetzen lässt. Extensive Größen können in einzelne Teile zerlegt werden, intensive aber nicht einmal in absolut identische Teile, da es in ihrem Inhalt keinen Sinn hätte, sich vor Verwechslung solcher Teile zu hüten, als müsse man auf deren Verschiedenheit Rücksicht nehmen. Andererseits wäre ohne alle Teile kein Größenunterschied möglich. Der Inhalt intensiver Größen besteht also in selbstlosen Teilen ohne absolute Identität, dennoch mit erhaltener Ordnung, die sich an der Richtung des Steigens oder Fallens der Größe erweist. Diese Ordnung wird möglich durch ein unspaltbares Verhältnis der Teile, das also sogar noch den Verlust der absoluten Identität übersteht. Eine intensive Größe übertrifft die andere durch Reichtum an Teilen, die zwar sind, aber nicht selbst sind. Natürlich kann dieser Reichtum nicht in Zahlen ausgedrückt werden, denn zählbar ist nur etwas, dessen Inhalt einzeln ist, und ohne absolute Identität gibt es keine Einzelheit. Bis man zum Gegenstand gelangt in dem Sinn, wie Philosophen und Wissenschaftler über Gegenstände zu sprechen pflegen, müssen also zwei Schwellen überwunden werden. Die erste führt von Seiendem, das zwar ist, aber nicht einmal selbst ist, zur absoluten Identität mit Verschiedenheitsfähigkeit und, da Seiendes immer Vieles ist, zur wirklichen Verschiedenheit. Die zweite Schwelle führt von absoluter Identität und Verschiedenheit zur Einzelheit mit relativer Identität und zur Welt als dem aus primitiver Gegenwart entfalteten Feld aller möglichen Ver30 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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einzelung. 28 Dieser zweite Übergang ereignet sich in jedem gesunden Menschenleben, wenn der Säugling beginnt, zur Person zu reifen, und trennt diese vom Tier; ich hoffe, ihn durchsichtig gemacht zu haben: Er beruht auf der satzförmigen, explikativen Rede des Menschen, die die binnendiffuse Bedeutsamkeit von Situationen aufbricht und Bedeutungen, namentlich Sachverhalte, heraus holt, die als Gattungen erlauben, einzelne Sachen, geordnet nach Übereinstimmung und Unterschied, vielseitig neu zu gruppieren und in Konstellationen zu vernetzen; dabei geht dem Menschen, was keinem Tier gelingt, durch Entfaltung nach den fünf Seiten der primitiven Gegenwart die Welt auf. Viel rätselhafter ist das Überschreiten der ersten Schwelle. Darüber hat man sich überhaupt noch keine Gedanken gemacht. Fröhlich verkündete Quine: »No entity without identity.« Dabei dachte er gleich an relative Identität. Er hatte also auch vom Überschreiten der zweiten Schwelle keine Ahnung. Dass darüber hinaus etwas sein könnte, ohne selbst (erst recht nicht es selbst) zu sein, kam den Denkern noch nicht in den Sinn, und damit auch nicht das Problem der Selbstwerdung. Kant behandelt Identität als bloßen Reflexionsbegriff, mit dem die Begriffe geordnet werden, aber nicht das zu Begreifende in seinem Wesen und seinem Bau getroffen wird. So selbstverständlich schien ihm, dass alles selbst ist, dass er die Gegenstände gar nicht mehr damit behängen wollte. Vielmehr aber ist Identität die elementarste konstitutive Kategorie. Nichts ist von vornherein und ohne Weiteres selbst, sondern das Selbstsein muss im Seienden geweckt werden. Wie kann das geschehen? Man würde sich die Antwort zu leicht machen, wenn man die Weckung als zusätzliche Verleihung einer weiteren Eigenschaft, des Selbstseins, an etwas, das schon da ist, auffassen wollte. Woran sollte sie verliehen werden? Das müsste doch schon selbst da sein, um die Verleihung annehmen zu können. Eine viel radikalere Weckung Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, S. 74–96; Gibt es die Welt? S. 82–108, beide Freiburg/München 2014
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ist nötig, um etwas, das selbst ist, freizusetzen. Die Sprache stellt uns die Vorstellung von Stoffen zur Verfügung, die mannigfach verteilt sind, aber so vorgestellt und sprachlich behandelt werden, als ob es nicht vieles Verschiedenes von ihnen gebe, so dass kein Plural verfügbar ist; wir können von Gold, Luft, Eisen, Sand sprechen, aber nicht oder nur unter besonderen (etwa poetischen) Umständen von Lüften, Eisenen, Bleien, Golden, Sänden. Im Fall des Sandes wird nur von der Einzelheit abgesehen, denn man kann leicht auf die einzelnen Sandkörner zugreifen; bei Luft, Wasser und Eisen scheint das Fehlen des Plurals eher anzuzeigen, dass schon von der bloßen Verschiedenheit abgesehen wird. Etwas als Stoff ohne Vereinzelung, ja ohne Selbstsein in seinem Inhalt anzusprechen, ist für uns mehr oder weniger bloße Ansichtssache; so aber könnte man sich Seiendes ohne Selbstheit denken, unbeschadet aller Mannigfaltigkeit und möglichen Reichhaltigkeit seines Inhalts. 29 Wodurch gelingt die Weckung des Seienden zum Selbstsein? Offenbar gehört dazu eine Akzentuierung oder Exposition (Aussetzung), die die Indifferenz des bloßen Stoffes durchbricht, so dass etwas selbst und verschieden werden kann. Dieses Ereignis muss in der menschlichen Lebenserfahrung gesucht werden können, weil auch die beiden Seiten des Übergangs – das Selbstlose und das absolut Identische – darin vorkommen. Damit die Exposition radikal ist, muss das Seiende dem Nichtsein konfrontiert und ausgesetzt werden. Wir kennen so etwas in Zuständen extremer leiblicher Engung, etwa bei heftigem Erschrecken, bei Erstickungsanfällen oder blitzartig aufzuckendem Schmerz. Allgemeiner handelt es sich um den plötzlichen Andrang des Neuen, der Dauer zerreißt, Gegenwart exponiert und die zerrissene Dauer ins Nichtsein verabschiedet. Die exponierte Gegenwart ist die primitive mit den fünf in unspaltbarem Verhältnis verschmolzenen Momenten hier, jetzt, sein, dieses, ich, Ich denke hier an die Anaxagorasdeutung des Aristoteles, Metaphysik 989 a30–b21.
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die ich seit 1964 hartnäckig besprochen und kürzlich noch einmal sorgfältig durchleuchtet habe. 30 Von ihr wird in den folgenden Aufsätzen weiter die Rede sein, und es wird gezeigt werden, wie aus diesem seltenen Ausnahmezustand absolute Identität auf alles, was selbst ist, übertragen wird: zunächst in der leiblichen Dynamik durch den vitalen Antrieb aus Engung und Weitung (Spannung und Schwellung), wobei in der Spannung die primitive Gegenwart vorgezeichnet ist oder nachklingt, und in der leiblichen Kommunikation durch den gemeinsamen Antrieb der Einleibung; sodann, nach Entfaltung der primitiven Gegenwart, in der Aufspannung der Welt als des Feldes beliebig ausgedehnter, wenn auch nie erschöpfender Vereinzelung. Hiermit ist die anfängliche Aufgabenstellung dieses Aufsatzes eingeholt. Ich wollte zeigen, wie naiv die Denker verfahren, indem sie mit vermeintlicher Selbstverständlichkeit die Anfänge der Möglichkeit irgend einer Vergegenständlichung übergehen, wenn sie sich über die elementaren Erfahrungen des Leibes hinwegsetzen und transzendierend in eine freischwebende höhere Sphäre des vermeintlich reinen oder autonomen Geistes, der nicht mehr leiblichen Person, erheben wollen. Die primitive Gegenwart ist die gemeinsame Quelle von Leib, Raum und Zeit. 31 Ohne ihre Fortpflanzung im vitalen Antrieb wird kein Selbstsein ausgestreut. Dass sich dieses nach Freisetzung der Einzelheit beliebig verbreiten kann, ist nur durch Entfaltung der Gegenwart aus der leiblichen Dynamik möglich. Solche Reden mögen dem traditionellen Denken fremdartig und phantastisch vorkommen. Dieser Anschein ist aber nur der Widerschein der Naivität, mit der dieses Denken über den Bodensee reitet, ohne zu bedenken, wie gebrechlich die Eisdecke ist, die diesen Ritt ermöglicht, und wie labil und prekär die Umstände sind, unter denen das Eis sich gebildet hat.
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Phänomenologie der Zeit, S. 46–56 Ebd. S. 57
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2. Subjektivität in der älteren und in der Neuen Phänomenologie
1.
Subjektivität überhaupt
Als Subjektivität für jemand bezeichne ich sein Der-sein-der-erist, d. h. den Bereich, den ihm die Selbstbesinnung erschließt, sofern er darin triftige Antworten auf die Frage »Wer bin ich?« finden kann. Das Personalpronomen der ersten Person ist dazu nicht erforderlich, aber ein brauchbarer Einstieg in diesen Bereich. Dazu gehört in erster Linie die Abgrenzung gegen das, was ich nicht bin. Der einfachste Vorschlag dafür ist die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt. Die Subjektivität wird auf ein Subjekt eingeschränkt, das mit Objekten zu tun hat. Im 4. und 5. Jahrhundert v. Chr. ereignet sich im griechischen Denken die Weltspaltung, indem die Erfahrungswelt in private Innenwelten, je eine pro Subjekt alias Bewussthaber, und eine zwischen diesen Innenwelten, den sogenannten Seelen, verbleibend reduzierte Außenwelt zerlegt wird, zugleich der Mensch in Körper und Seele. Seither vermischt sich das Subjekt mit der Seele als Subjektivität. Platon will von Gesetzes wegen verkünden lassen, schon in diesem Leben sei das, was einen jeden von uns ausmacht, bloß die Seele, der der Körper als ihre Erscheinung folge, und nach dem Tod sei jeder wirklich nur noch seine unsterbliche Seele. 1 Andererseits versetzt er die Seele als Subjekt des Denkens in die Seele, indem mit paradoxer Überbestimmung das Denken als Selbstgespräch der Seele in der Seele mit der Seele ausgibt. 2 Descartes beantwortet die Frage, wer ich bin, mit dem Verdikt, ich sei eine denkende Sache, egal, ob man sie 1 2
Gesetze 959a–b Sophistes 263e–264a
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Subjektivität in der älteren und in der Neuen Phänomenologie
Geist, Seele, Intellekt oder Ratio nennt 3 , während Leibniz das Ich in uns in der Seele alle ihre Phänomene bewirken lässt, als ob es gar keinen Körper gäbe. 4 Das Subjekt als Seele oder Ich in der Seele hat einen doppelten Objektbereich: erstens den übrigen Inhalt der Seele und zweitens die Außenwelt. Zusammen mit der Seele löst es sich bei Hume und Mach sowie ihren positivistischen und physikalistischen Nachfolgern in diesem übrigen Inhalt auf und wird zu einem Haufen von Elementen, Perzeptionen, Empfindungen, zu einer Ansammlung von Objekten unter Objekten, gemäß dem berühmten Ausspruch von Lichtenberg: »Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, sobald man es durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis.« 5 Das ist auch der Standpunkt des frühen Husserl zur Zeit des Erscheinens von Logische Untersuchungen, als er Subjektivität völlig leugnet und in einem Objekt unter Objekten aufgehen lässt: »Ich ist eine objektive Einheit, wie Stiefel und Strumpf, nur kein physisches Ding, sondern eben das Ich, eine Person, eine objektive Einheit von ganz anderem perzeptivem Gehalt.« 6 In der 1. Auflage von Logische Untersuchungen gilt ihm das Ich, das erlebende Subjekt, als Bündel oder Verknüpfungseinheit, Gesamtheit der Erlebnisse, reelles Ganzes aus diesen Teilen, in sich geschlossene Einheit, als psychisches Ding, das durch die kausale Besonderheit der Erlebnisse gesetzlich ge-
Meditatio II de prima philosophia, Oeuvres ed. Adam et Tannery, Band VII, S. 27 4 Réponse aux Objections contenues dans la seconde Edition du Dictionnaire Critique de M. Bayle article Rorarius, sur le système d’Harmonie préétablie, in: Die philosophischen Schriften, hg. v. C. J. Gerhardt, Band 4, S. 559 f. 5 Georg Christoph Lichtenbergs vermischte Schriften, Band 1, Göttingen 1853, S. 99. (Das Heft der Seidelbücher, in dem die Eintragung stand, ist inzwischen verloren gegangen.) 6 Husserl an Hocking, 7. 9. 1903, Briefwechsel, hg. v. Karl und Elisabeth Schuhmann, Band III, Dordrecht 1993, S. 148 3
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Subjektivität in der älteren und in der Neuen Phänomenologie
fordert sei. 7 Ab 1907 kommen ihm Zweifel. Sie führen ihn zur Etablierung des Subjektes als reines Ich, das reines Ich und nichts weiter, aber für jeden Erlebnisstrom ein prinzipiell verschiedenes (also für jeden das seinige) sei; es sei kein Mensch, kein leiblich-seelisches Objekt, sondern »das im Vollzug cogito erfasste Ich«, als freies Wesen darin lebend, »das identische Subjekt der Funktion in allen Akten desselben Bewusstseinsstromes«. 8 Von der Leugnung der Subjektivität gelangt der Protagonist der älteren Phänomenologie also zu ihrer Hypostasierung durch Abschälung alles Inhalts außer der reinen Subjektfunktion; später gibt er ihr wenigstens seine Überzeugungen und Entschiedenheiten (z. B. dem reinen Ich des Husserl’schen Bewusstseinsstromes diejenigen Husserls) zurück, so dass es dann nicht mehr wie vorher »absolut einfach« 9 ist. Ähnlich stellte schon Kant das Ich als Subjekt, das »stehende und bleibende Ich«, dem Ich als Objekt, dem empirischen Bewusstsein oder psychologischen Ich, entgegen, nur dass Kant im Gegensatz zu Husserl das Subjekt-Ich für unerkennbar (mit Ausnahme seiner reinen Spontaneität) und die Einheit beider Ichs für ein unerklärliches Faktum hielt. 10 Mit dieser Skizze dürften die Haupttypen der Auffassung von Subjektivität in der Dogmengeschichte der europäischen Philosophie vor Fichte und, wie Husserls Beispiel zeigt, zum Teil auch nach Fichte markiert sein. Diese Denker verstehen Subjektivität lediglich als positionale, als eine Beziehung, die in einer Stellung zu einem Umfeld besteht: als Subjekt zu Objekten, als Seele zur Außenwelt, als Ich in der Seele zu deren übrigem Inhalt, als reines Subjekt-Ich zu allem, was sich in aktiver Zuwendung erfassen lässt. Alle diese Deutungen der Subjektivität sind Husserliana Band XIX 1, S. 356, 360, 363, 364, 368, 375, 390 Husserliana Band III (Ausgabe Biemel), S. 138, 195, 231; Band IV, S. 105, Band XIII, S. 442; Band XIX 1, S. 368 9 Husserliana Band IV, S. 150 10 Kritik der reinen Vernunft A 123; Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, Akademieausgabe, Band XX, S. 270 f. 7 8
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Subjektivität in der älteren und in der Neuen Phänomenologie
unzulänglich, denn sie leiden an einem grundsätzlichen Fehler: Sie kommen zu spät. Sie wollen den Bewussthaber (z. B. den Menschen) darüber belehren, was er ist, und übersehen, dass diese Belehrung nur möglich ist, wenn er sich unabhängig von ihr schon kennt. Jede Kennzeichnung der eigenen Person als der eigenen hat eine Schwäche, die sie von allen anderen Kennzeichnungen unterscheidet. In allen anderen Fällen kann man durch die Kennzeichnung mit der gekennzeichneten Sache vertraut gemacht werden, ohne diese vorher zu kennen. Wenn mir z. B. ein Hotelzimmer (ein Zimmer als das eigene des Hotels) zur Übernachtung angewiesen wird, kann ich es auf die bloße Angabe von Stadt, Straße, Hausnummer, Stockwerk und Zimmernummer hin finden. Wenn mir dagegen etwas als ich selber vorgestellt wird, muss ich den, womit ich das Vorgestellte identifizieren soll, als mich selbst schon kennen; sonst könnte ich nicht auf den Gedanken kommen, dass es sich um mich selber handelt, sondern würde durch eine beliebig fortsetzbare Kette von Identifizierungen von einer gewissen Sache zu einer auch noch anders bestimmten, mit ihr identischen Sache fortgeführt, von Hermann Schmitz z. B. zu einem gewissen Menschen, einem Bewohner Europas, einem Professor usw. Der Grund für diese Lücke der Identifizierbarkeit besteht darin, dass in allen den Hermann Schmitz betreffenden Tatsachen, die ich unabhängig davon, dass es sich um mich selber handelt, zur Kenntnis nehmen kann, kein Grund dafür enthalten ist, dass dieser Hermann Schmitz der ist, der ich bin. Wenn Hermann Schmitz mit irgend welchen anderen Individuen verglichen wird, ist weder den Geburtsorten, den Nationalitäten, den Beschäftigungen oder anderen Merkmalen zu entnehmen, dass eher dieses als jenes Individuum mit mir identisch ist. Nur in umgekehrter Richtung wird die Identifizierung stichhaltig, indem ich mich von mir aus, so wie ich mich vor jeder Identifizierung kenne, darauf besinne, in welcher Umgebung ich mich befinde und welche Merkmale ich habe. Jede Kenntnis von mir, die ich durch ein Angebot erhalte, 37 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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irgend etwas durch gewisse Merkmale Bestimmtes mit mir zu identifizieren, kann also nur Zusatz zu einer ursprünglichen Kenntnis sein, die ich von mir ohne jede Identifizierung besitze. Dieser ursprünglichen Kenntnis hätten die Philosophen nachgehen sollen, die mich von Platon an über Descartes, Leibniz, Kant bis zu Husserl über mich belehren wollen; dann hätten sie statt freihändiger Spekulation einen in den Tatsachen verankerten Leitfaden gehabt, um das zu finden, was sie suchten. Diesen Leitfaden will ich nun ergreifen. Es gilt, eine jeder Identifizierung von etwas mit mir vorausgehende Bekanntschaft meiner selbst mit mir ausfindig zu machen. Das ist gar nicht schwer. Das affektive Betroffensein ist von dieser Art. Affektiv betroffen macht mich, was mir nahe geht, z. B. ein Schmerz, der mich quält. Dann brauche ich, um so affektiv betroffen zu sein, nicht einen Gequälten zu finden, den ich mit mir identifiziere, sondern ich spüre unmittelbar, dass ich leide, eventuell schon, ehe ich den Schmerz als solchen erkannt habe. In über- und untererregten Zuständen wie panischer Angst, rasendem Zorn, Ekstase oder andererseits Versunkenheit in Schwermut, ist man außer sich und kann nichts mehr mit sich identifizieren, aber man spürt sich sogar sehr intensiv als den Betroffenen eines heftigen Angangs. Das ist möglich, weil die Tatsachen des affektiven Betroffenseins subjektive, und zwar für den Betroffenen subjektive Tatsachen sind, die schon ihrer bloßen Tatsächlichkeit, nicht erst in ihrem Inhalt, gleichsam seinen Stempel tragen. Das zeigt sich daran, dass höchstens er sie aussagen kann. Wenn mir etwas nahe geht, können andere höchstens über Hermann Schmitz sagen, dass das ihm nahe geht, aber das reicht nicht zu meinem affektiven Betroffensein, wenn nicht hinzukommt, dass ich der Hermann Schmitz bin, dem das nahe geht, und das kann kein anderer sagen, wenn er auch noch so viel weiß und noch so gut sprechen kann, denn er ist nicht ich. Ohne diese Nuance der Subjektivität für mich, die höchstens ich sagen kann, ist das Nahegehen im hier gemeinten übertragenen Sinn nur ein Schatten ohne Gewicht. Der Unterschied besteht nicht nur für mich, son38 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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dern auch für die anderen in der Außenperspektive, im Hinblick auf mich. Das zeigt sich an einer Besonderheit in der Verwendung des Wortes »ich«. Meist fungiert es als Pronomen der ersten Person des Singulars. Als solches ist es bloßer Vertreter eines Namens, also überflüssig und nur zur Abkürzung nützlich. Wenn es aber auf ein Bekenntnis affektiven Betroffenseins ankommt, wird das Wort unentbehrlich, um den anderen die Subjektivität der Tatsache des Betroffenseins für den Betroffenen zu signalisieren. Ich fingiere, um das zu demonstrieren, ein Individuum namens »Peter Schulze« statt des Hermann Schmitz. Mein erstes Beispiel ist die Liebeserklärung. Mann: »Peter Schulze liebt dich.« Frau: »Warum sagst du nicht: ›Ich liebe dich‹ ?« Mann: »Das ist doch ganz überflüssig.« Die Frau ist verstimmt, die Liebeserklärung missglückt. Mein zweites Beispiel ist eine Szene im Beichtstuhl. Beichtkind: »Peter Schulze hat gesündigt.« Beichtvater: »Sprich: ›Ich habe gesündigt‹.« Beichtkind: »Das ist doch ganz überflüssig.« Darauf verweigert der Beichtvater die Absolution. Anschließend ertönt ein Schrei aus dem Wasser: »Hilfe, Peter Schulze ertrinkt, das bin übrigens ich.« Der hilfsbereite Mitmensch, der auf den Ruf »Hilfe, ich ertrinke« hin sofort eingegriffen hätte, wird erst einmal neugierig nachsehen, was eigentlich los ist. Schulzes Fehler besteht in allen drei Fällen darin, das Wort »ich« als Pronomen der ersten Person des Singulars zu verstehen, während es hier vielmehr die Funktion hat, dem Hörer die Subjektivität der mitgeteilten Tatsache für den Sprecher zu signalisieren. Den für jemand subjektiven Tatsachen stehen die neutralen oder objektiven gegenüber; das sind solche, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. Schulzes Irrtum war, nur objektive Tatsachen gelten zu lassen. Diese können mit den für jemand subjektiven im Inhalt völlig übereinstimmen. Dass ich traurig bin, dass Hermann Schmitz traurig ist, sagt das Selbe von demselben Mann. Der Unterschied besteht nur in der Tatsächlichkeit. Diese ist bei den objektiven Tatsachen zu arm, zu blass für das affektive Betroffensein. 39 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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Das für jedes identifizierende Sichbewussthaben erforderliche Identifizierungsfreie ist im affektiven Betroffensein also gefunden. Damit ist aber ein neues Rätsel entstanden. Mein affektives Betroffensein enthält zweierlei: das, was mich trifft oder mir nahe geht, und mich, den es trifft. Ich muss mich im affektiven Betroffensein finden als den, für den die Tatsache subjektiv ist. Dieses Michfinden muss frei von Identifizierung sein, denn sonst könnte es dem identifizierenden Sichbewussthaben nicht die nötige Stütze leihen und bedürfte selbst einer solchen Stütze, mit der Folge eines unendlichen Regresses, sofern nicht endlich eine Gelegenheit auftaucht, sich ohne Identifizierung zu finden. Wie ein solches Sichfinden möglich ist, wird aber unverständlich, wenn man es als einen Fall des Etwas-findens im gewöhnlichen Sinn auffasst, etwa des Wiederfindens eines verlorenen Gegenstandes. Dann müsste man nämlich auf etwas treffen und dieses als identisch mit sich erkennen. Dieser Umweg über Identifizierung soll bei dem Sichfinden, das Voraussetzung für die Subjektivität subjektiver Tatsachen ist, aber vermieden werden. Es gilt, zu zeigen, wie das möglich ist. Die Lösung des Rätsels besteht im plötzlichen Einbruch des Neuen, der Dauer zerreißt, Gegenwart exponiert und die zerrissene Dauer ins Vorbei, ins Nichtmehrsein, verabschiedet. Dann fallen in extremer Beengung das absolute Hier der Enge, das absolute Jetzt des Plötzlichen, die Wirklichkeit (das Sein) in der Wucht des Geschehens, die absolute Identität, dieses selbst und verschieden von der verabschiedeten Dauer zu sein, und die Subjektivität, selbst betroffen und in Anspruch genommen zu werden, zur primitiven Gegenwart zusammen, z. B. im heftigen Schreck. Die absolute Identität, dass etwas es selbst und verschieden von etwas ist, versteht sich nicht von selbst. Sie fehlt in dem absolut chaotischen Mannigfaltigen, das ich konfus nenne, weil in ihm Vieles ohne Identität und Verschiedenheit verschwommen zusammenhängt. Einige Beispiele liefert die gleitende Dauer einer dösend oder in achtloser Routine durchgemachten Frist sowie die Fülle von Konnotationen, die den Reiz 40 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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eines zarten lyrischen Gedichts, etwa eines japanischen Haiku, ausmacht. Wenn aber auch absolute Identität eintritt, ist noch lange nicht Platz für relative Identität, die Identität mit etwas. Den Gedanken, dass etwas es selbst und von etwas verschieden ist, kann man fassen, ohne daran zu denken, womit es identisch ist. Relative Identität kommt erst in Frage, wenn etwas Fall mehrerer Gattungen ist, z. B. sowohl Deutscher als auch Universitätsprofessor. Dann ist der betreffende Deutsche mit dem betreffenden Universitätsprofessor identisch. Im elementaren Betroffensein von primitiver Gegenwart fehlt aber die zur Subsumtion unter Gattungen nötige Übersicht und damit der Zugang zur relativen Identität, also auch zur Identifizierung. Statt dessen fallen absolute Identität und Subjektivität, die Momente dieses-hier-jetzt und ich, so unmittelbar zusammen, dass der Betroffene sich sich selbst ohne Identifizierung einprägt, und diese elementare Prägung geht auch bei noch so verkehrten Identifizierungen nicht mehr verloren. Wenn ich wahnsinnig würde und mich in wahnhafter Selbstverkennung statt für Hermann Schmitz etwa für Napoleon hielte, wäre das Referens oder erste Glied der Identifizierung, hier Napoleon, zwar falsch gewählt, aber das zweite Glied, das Relat der Identifizierung, womit identifiziert wird, wäre immer noch richtig: Ich wüsste, dass ich es bin. Die primitive Gegenwart ist ein seltener, vielleicht nie ganz erreichter Ausnahmezustand, aber als Aussicht wird sie durch die Engungskomponente des vitalen Antriebs vorgehalten. Im Antrieb sind Engung und Weitung verschränkt; wenn nämlich die Engung aushakt, wie im heftigen Schreck, ist der Antrieb erstarrt und gelähmt, und wenn die Weitung ausläuft, wie beim Dösen, beim Einschlafen und nach der Ejakulation, ist er erschlafft, so dass er der Verschränkung beider Impulse bedarf. Je schärfer die Engung wird, desto näher kommt der vitale Antrieb der primitiven Gegenwart; er präsentiert diese aber auch noch in der Erleichterung, wenn Weitung aus ihm freigesetzt wird, als die Enge, von der man loskommt. Der vitale Antrieb ist gleich41 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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sam die Achse der von mir sorgfältig studierten leiblichen Dynamik und übergreift den Leib des Individuums, indem er diesen mit anderen Leibern und sogar – vermittelt durch Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere als leibnahe Brückenqualitäten – mit leiblosen Gegenständen zusammenschließt. Ich bezeichne diese leibliche Kommunikation als Einleibung, die sich als antagonistische z. B. am Gefesseltsein durch einen Eindruck, am Blickwechsel, am geschickten Ausweichen bei gefährlichen und harmlosen Begegnungen zeigt, als solidarische Einleibung (ohne Zuwendung zu einem Partner des gemeinsamen Antriebs) z. B. in massenhaftem Aufruhr, stürmischem Mut und panischer Flucht, gemeinsamem Singen, im Effekt rhythmischen Rufens, Klatschens und Trommelns. Dass der vitale Antrieb primitive Gegenwart vorgibt, ist Bedingung für das beharrliche Vorkommen von Identität und Verschiedenheit. Diese sind dem Weltgeschehen ja nicht von vornherein eingeprägt. In gleitender Dauer des Dahinwährens geht alles verschwommen in einander über, ohne dass etwas es selbst wird. Das Gleiten muss durch einen Einschnitt unterbrochen und stillgestellt werden, damit sich etwas als dieses aus dem Kontinuum von Dauer und Weite heraushebt, und dazu bedarf es der Exponierung von Gegenwart im plötzlichen Einbruch des Neuen. Der Weg zur Aufdeckung dessen, der einer selbst ist, des Bewussthabers, führt also in den spürbaren Leib hinein, wenn man der ursprünglichen Kenntnis von sich selbst folgt, die allen Zusatzbestimmungen durch Identifizierung vorgelagert ist und deren unentbehrliche Grundlage bildet. Der spürbare Leib ist aber im Menschenbild der Weltspaltung und der ihr folgenden klassischen Philosophie nur durch eine Fehlanzeige vertreten, vergessen zwischen Seele und Körper. Die Philosophie der Idealisten flieht vor ihm im Bestreben, die Quelle von Identität und Subjektivität in ein freischwebendes tätiges Prinzip zu verlegen, z. B. in die von Kant erdachte transzendentale Apperzeption, das »stehende und bleibende Ich«, das Subjekt, das uns nur als reine 42 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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Spontaneität bekannt sei.10 Dieser Versuch führt in die falsche Richtung; nicht in reiner Tätigkeit, sondern im leiblich engenden Erleiden von Exposition und Abgerissenheit ereignet sich der Ursprung der Möglichkeit, selbst und ich zu sein. Das »ursprüngliche und notwendige Bewusstsein seiner selbst« erklärt Kant sich so: »(…) denn das Gemüt könnte sich unmöglich die Identität seiner selbst in der Mannigfaltigkeit seiner Vorstellungen und zwar a priori denken, wenn es nicht die Identität seiner Handlung vor Augen hätte, welche alle Synthesis der Apprehension (die empirisch ist) einer transzendentalen Einheit unterwirft, und ihren Zusammenhang nach Regeln a priori zuerst möglich macht.« 11 Umgekehrt muss man fragen: Wie kommt die Handlung zu ihrer Identität im Mannigfaltigen? Wodurch entgeht sie dem Schicksal, in so viele verschiedene Handlungen zu zerfallen, wie es Verknüpfungen von Vorstellungen gibt? Die Antwort kann nur lauten: weil sie meine Handlung ist. Die Einheit der Handlung setzt die des Selbstbewusstseins voraus und kann sie nicht erzeugen oder notwendig bedingen. Meine Identität kann nicht an einer synthetischen Handlung abgelesen werden. Eine solche lässt die Frage offen, wer da handelt. Um dessen inne zu werden, dass ich es selber bin, bedarf es eines Geschehens, das mich in einer Weise auf mich aufmerksam macht, die mir keine Verschiebung meines Standpunktes gestattet, wodurch ich mich mit anderen vertauschen könnte. Dazu bedarf es eines Betroffenseins, das mich so einengt, dass ich meinen Standpunkt nicht wechseln kann, und mich so in Anspruch nimmt, dass ich ihn nicht in Gleichgültigkeit dahingestellt lassen kann. Dazu eignet sich nur das engende affektive Betroffensein, das mir unausweichlich nahegeht, und letztlich die im vitalen Antrieb mir vorgehaltene primitive Gegenwart, in der ich vom plötzlichen Einbruch des Neuen aus der gleitenden Dauer abgerissen werde.
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Kritik der reinen Vernunft A 108
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Kant und Husserl kennen Subjektivität nur als positionale in extravertierter Einstellung des Beschäftigtseins mit etwas. Von Husserl ziehe ich die Äußerung heran: »Es bleibt also von dem in Innenstellung Gegebenen nur das Subjekt der Intentionalität, der Akte, als das im ursprünglichen und eigentlichen Sinne Subjektive übrig. Dieses Ich der Intentionalität ist im cogito auf seine Umwelt und speziell auf seine reale Umwelt bezogen, etwa auf Dinge und Menschen, die es erfährt.« 12 Es ist auffällig, dass derselbe Husserl, der immerfort über das Bewusstsein spricht, vom Selbstbewusstsein nichts zu sagen hat. Hinter der positionalen Subjektivität übersieht er wie Kant und alle Denker vor diesem die strikte, die dann zum Vorschein kommt, wenn ich mich frage, wie ich dazu komme, aus objektiven Tatsachen, die mir etwas zur Identifizierung mit mir selbst anbieten, zu entnehmen, dass wirklich ich das bin. Es hat sich ja gezeigt, dass in allen objektiven oder neutralen Tatsachen, die den Hermann Schmitz bestimmen, kein Grund dafür zu finden ist, dass ich Hermann Schmitz bin. Die Subjektivität für mich liegt nicht im Bereich der objektiven Tatsachen, sondern in den reicheren für mich subjektiven des leiblich-affektiven Betroffenseins und den Wegen, die von dort zur Objektivierung und Neutralisierung führen. Von der so verstandenen strikten Subjektivität hat die bisher besprochene philosophische Tradition, einschließlich der von Husserl ausgehenden älteren phänomenologischen Schule (auch Scheler), keine Ahnung. Da werden Angaben über das, was einer selber ist, immer nur als von vornherein objektive Tatsachen angeboten, ohne auf deren Herkunft aus subjektiven zu achten. Einen tiefen Einschnitt in der Geschichte des Nachdenkens über Subjektivität erbringt im Herbst 1793 die philosophische Konzeption Johann Gottlieb Fichtes. Ihm als Erstem wird klar, dass ich – jeder denke an sich – mit dem, was ich bin, bei den objektiven, neutralen Tatsachen nicht unterkomme. Diese ursprüngliche Einsicht hat er aber sogleich missverstanden 12
Husserliana, Band IV, S. 215
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und zunächst umgedeutet in die Hypostase eines absoluten (abgelösten) Ich, das weiter nichts ist als sein eigenes Sichsetzen (eine Tat, die sich selbst tut und weiter nichts), gleich darauf aber in ein rätselhaftes Schweben des Ich über oder zwischen allen objektiven Tatsachen, etwa so wie nach dem Schluss von Wittgensteins logisch-philosophischer Abhandlung. Dieses Schweben konnte als Virtuosität und als Angst verstanden werden. Mit der ersten Deutung eröffnete Friedrich Schlegel das bis heute in fortgesetzter Verstärkung anhaltende ironistische Zeitalter virtuoser Wendigkeit; an die zweite knüpfte die Existenzphilosophie bei Kierkegaard, Heidegger und Sartre an. Die Gegenposition bezog der Positivismus mit gänzlicher Abstreitung der Subjektivität bei Lichtenberg, Avenarius und Mach sowie dem frühen Husserl. Das reine Ich des späteren Husserl wirkt in dieser Gesellschaft wie ein erratischer Block, als Rückfall auf die Hypostase, mit der Fichte zuerst seine Entdeckung abgefunden hatte. 13
2.
Personale Subjektivität
Das leiblich-affektive Betroffensein, die Quelle der Subjektivität, hat der Mensch mit dem Tier und dieses mit dem menschlichen Säugling gemein. Nach der Säuglingszeit wächst die Subjektivität des normalen Menschen über dieses Niveau hinaus zum Personsein. Ich bestimme die Person als Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung. Selbstzuschreibung ist das identifizierende Sichbewussthaben, wodurch der Bewussthaber sich für einen Fall von Gattungen, sogar von mehreren GattunIch habe diese Entwicklung ausführlich nachgezeichnet: Die entfremdete Subjektivität. Von Fichte zu Hegel, Bonn 1992; Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität, Bonn 1995; Husserl und Heidegger, Bonn 1996; Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Freiburg/München 2007, Band 2, S. 422–449, 460–470, 483–488, 520–530, 547–556, 567–580, 721–727, 778–786.
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gen, hält, z. B. für einen Menschen, einen Berliner, einen Schuster, einen Afrikaner, eine Frau, eine Tochter usw. Gattung im hier gemeinten Sinn ist alles, wovon etwas ein Fall sein kann. Den Begriff des Fallseins habe ich anderswo definiert. 14 Mit solcher Selbstzuschreibung entsteht die Möglichkeit, Rechenschaft von sich zu geben, eine Rolle und Verantwortung zu übernehmen, sich einen Platz im Leben zu bestimmen und dergleichen; das sind so charakteristische Merkmale der Person, wie man das Wort gewöhnlich versteht, dass mir meine Definition als angemessen gilt. Zur Selbstzuschreibung gehört in erster Linie, selbst zu sein, d. h. die absolute Identität, die dem Bewussthaber aus der primitiven Gegenwart zukommt. Zweitens gehört dazu das Fallsein unter Gattungen. Beides zusammen macht die Einzelheit aus. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Logisch gleichwertig ist die Definition: Einzeln ist, was Element einer endlichen Menge ist. Anzahlen sind Eigenschaften (genauer: Eignungen 15 ) von Mengen. Mengen sind Umfänge von Gattungen, ihre Elemente deren Fälle. Einzeln kann also nur sein, was absolut identisch und Fall einer Gattung ist; diese beiden Merkmale sind auch zureichend und schöpfen also den Begriff der Einzelheit aus. Indem der Bewussthaber sich als Fall von Gattungen versteht, erhebt er sich, der zuvor bloß absolut identisch war, zum Einzelwesen, zum einzelnen Subjekt, man kann auch sagen: zum Individuum. Ein Individuum ist ein einzelner Fall, der nicht wieder Fälle unter sich hat. Indem die Person sich als Fall mehrerer Gattungen versteht, erhebt sie ihre absolute Identität, dieses und nichts anderes zu sein, zur relativen, mit etwas identisch zu sein, denn relative Identität besteht darin, als Fall einer Gattung A zugleich Fall einer Gattung B zu sein, wobei nur im nichtssagenden Sonderfall der Tautologie A mit B zusammenfällt. Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg/München 2013, S. 43 f. 15 Ebd., S. 23–28 14
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Wo aber kommen die Gattungen her, die zur Selbstzuschreibung der Person benötigt werden? Sie fallen doch nicht von einem platonischen Ideenhimmel. Um die Frage zu beantworten, muss ich auf das Leben aus primitiver Gegenwart zurückgehen, das Tiere und Säuglinge führen, übrigens auch Personen in dem beträchtlichen Teil ihrer Vollzüge, die wie die flüssige Motorik unwillkürliche Routine sind, und im Zustand der Fassungslosigkeit. Das Leben aus primitiver Gegenwart besteht aus gleitender Dauer, sie zerreißender primitiver Gegenwart, daran anknüpfender leiblicher Dynamik und diese fortsetzender leiblicher Kommunikation; davon war schon kurz die Rede. Es ist schon ausgerüstet mit absoluter Identität und Verschiedenheit und dadurch vor Verwechslungen geschützt, z. B. beim flüssigen motorischen Verhalten, doch fehlen noch die Einzelheit und die relative Identität. Statt dessen ist das Leben aus primitiver Gegenwart von Situationen erfüllt. Eine Situation ist Mannigfaltiges, das durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind, zusammengehalten wird. Die Bedeutsamkeit ist binnendiffus, weil in ihr nicht alles (beim Leben aus primitiver Gegenwart: gar nichts) einzeln ist. Die Situationen sind teils aktuell, so dass ihr Verlauf in beliebig kurzen Zeitabständen auf Veränderungen geprüft werden kann, teils zuständlich, so dass dies erst nach längeren Fristen sinnvoll ist. Sie werden von Tieren und Säuglingen ganzheitlich durch Rufe und Schreie – z. B. Alarm-, Lock-, oder Klagerufe – angesprochen, d. h. heraufbeschworen, modifiziert und beantwortet. Der entscheidende Schritt, der über dieses Leben aus primitiver Gegenwart hinausführt, ist die Explikation einzelner Bedeutungen aus der Bedeutsamkeit von Situationen. Sie gelingt dem Menschen durch seine satzförmige Rede, die ich »satzförmig« nicht wegen grammatischer Gliederung, die fehlen kann, nenne, sondern wegen der Fähigkeit, einzelne Sachverhalte, Programme oder Probleme, meist viele einzelne zusammen, zu identifizieren und festzuhalten. Durch Vernetzung solcher Explikate gelangt der Mensch zu Konstella47 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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tionen, die ihm gestatten, Situationen zu rekonstruieren, in den Griff zu nehmen, zu variieren und planend zu überholen. Aus den einzelnen Bedeutungen werden Gattungen gewonnen, die spezielle Sachverhalte sind. 16 Sie können Programme und Probleme enthalten. Hinzu kommen Explikate, die Sachverhalte des Fallseins sind. Mit diesen Mitteln können aus dem Mannigfaltigen der Situationen beliebige Sachen als einzelne entbunden werden. Sie können dann aus den Situationen gelöst und in die Umfänge von Gattungen, soweit deren Vorrat reicht, beliebig eingeordnet werden. Das trifft auch für die Bedeutungen selbst zu. Alle diese einzelnen Fälle werden umspannt von der Welt als dem Rahmen oder Feld möglicher Vereinzelung. Die Welt entsteht durch Entfaltung der primitiven Gegenwart, wobei die in dieser verschmolzenen fünf Momente – hier, jetzt, sein, dieses, ich – zu fünf Dimensionen aufgespannt werden: das Hier als Ortsraum, der durch Lagen und Abstände zu sagen gestattet, wo etwas ist; das Jetzt als modale Lagezeit (mit Anordnung nach Später-oder-gleichzeitig-sein und Einteilung in Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges) mit Fluss der Zeit (dass das Vergangene wächst, das Zukünftige schrumpft und das Gegenwärtige wechselt); das Sein durch Gegenüberstellung des Seienden und Nichtseienden mit Projektion der Einzelheit auch ins Nichtseiende, wodurch Planung, Erinnerung, Phantasie möglich werden; das Dieses durch Ergänzung der absoluten Identität zur relativen, wodurch es möglich wird, etwas unter mehreren Gesichtspunkten zu betrachten; schließlich das Ich, die Subjektivität, durch die Gegenüberstellung des Eigenen und Fremden. Ehe es zur Gegenüberstellung des Eigenen und Fremden kommt, muss die Vereinzelung durch die Neutralisierung ergänzt werden. Die Neutralisierung besteht darin, die subjektiven Bedeutungen durch Abfall oder Abschälung der Subjektivität für jemand auf neutrale zu reduzieren. Die Begriffe von Subjektivität und Neutralität dehne ich von den Tatsachen, für 16
Wie Anmerkung 14
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Subjektivität in der älteren und in der Neuen Phänomenologie
die sie schon eingeführt sind, auf alle Bedeutungen aus, also auch auf untatsächliche Sachverhalte, Programme und Probleme. Ein objektives oder neutrales Programm ist z. B. in der Sicht des unparteiisch registrierenden Historikers der Schlachtplan, der für die Offiziere vor der Schlacht ein Wunsch, während der Schlacht eine Sorge war, ein für jeden höchstpersönlich subjektives Programm bzw. Problem. Im Leben aus primitiver Gegenwart sind alle Bedeutungen für jemand subjektiv. Wenn es nach Entfaltung der Gegenwart zur Welt dabei bliebe, wie in schweren Träumen, in denen die Person ohne Spielraum der Angst und Verlegenheit ausgeliefert ist, könnte sie die Chancen, die ihr die Selbstzuschreibung bietet, gar nicht für Umsicht und Verfügung nützen. Dafür muss sie sich aus der Befangenheit in Subjektivität lösen und zu einer neutraleren, sachlicheren Urteilsfähigkeit finden. Dieser Prozess, das Erwachsen, beginnt typischerweise gegen Ende des ersten Lebensjahres. Eine wichtige, aber keineswegs die einzige Gelegenheit dazu ist die Enttäuschung, in der sich Vereinzelung und Neutralisierung von Bedeutungen verbinden, wie ich öfters 17 ausgeführt habe. Von den neutralisierten Bedeutungen heben sich die für die Person subjektiv bleibenden ab; das ist personale Emanzipation. Da die Person die Möglichkeit ihrer Selbstzuschreibung, ihre Subjektivität und absolute Identität, dem affektiven Betroffensein und der primitiven Gegenwart verdankt, muss sie beständig und auch abwechselnd darauf zurückgehen, um sie selbst zu bleiben. Daher korrespondiert mit der personalen Emanzipation gegenläufig die personale Regression zurück zum Leben aus primitiver Gegenwart, wobei die Gegenüberstellung des Subjektiven und Neutralen durch Resubjektivierung wieder verwischt wird. Natürliche Mechanismen der Integration von personaler Emanzipation und personaler Regression sind Lachen und Weinen. Die Ambitendenz von Emanzipation und Regression trägt der Person eine Labilität ein, gegen die sie sich durch ihre Fassung 17
Zuletzt: Jenseits des Naturalismus, Freiburg/München 2010, S. 338 f.
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stabilisiert, indem sie sich mit etwas identifiziert, das eindeutiger ist als sie selbst. Dabei handelt es sich teils um die Berufsoder Familienrolle, teils um die von dem Psychiater Jürg Zutt so genannte innere Haltung 18 , z. B. bedächtig, liebenswürdig, sanft, zurückhaltend, forsch usw. zu sein und aufzutreten, oft differenziert je nach dem Umfeld. Die Fassung ist im Kern unwillkürlich, an den Rändern steuerbar. Sie ist wesentlich daran beteiligt, dass die personale Emanzipation Niveaus und Stile bildet. Ein Niveau der personalen Emanzipation ist höher als ein anderes, wenn es bessere Chancen bietet, das Subjektive an Bedeutungen vom Neutralisierten abzuheben. Von jedem höheren Niveau personaler Emanzipation aus ist jedes niedrigere ein Niveau personaler Regression. Die Person kann zugleich auf mehreren Niveaus ihrer personalen Emanzipation stehen; dadurch wird z. B. die Akrasie möglich, die Verwerfung eines von der Person bevorzugten Programms durch sie zu Gunsten eines mit mehr Subjektivität für sie besetzten. Aus den bei der personalen Emanzipation subjektiv für die Person bleibenden Bedeutungen bildet sich eine zuständliche persönliche Situation, die man volkstümlich als die Persönlichkeit der Person bezeichnen könnte. Sie entwickelt sich lebenslang durch Prozesse der personalen Emanzipation und personalen Regression, der Implikation in die binnendiffuse Bedeutsamkeit und Explikation aus dieser, mit breiten Grauzonen des Ausfließens der Subjektivität in Neutralität und vielfältiger Verschiebung der Anteile beider Seiten. Die persönliche Situation umfasst viele partielle Situationen, die in ihr wie zähflüssige Massen gleiten und sich reiben. Dazu gehören retrospektive Anteile, über- oder unterschwellig fortwirkende Kristallisationskerne der Erinnerung, eng damit in Wechselwirkung verknüpft prospektive Anteile, worauf die Person hinaus und wovon sie Jürg Zutt, Auf dem Wege zu einer anthropologischen Psychiatrie. Gesammelte Aufsätze, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1963, S. 1–88: Die innere Haltung
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Subjektivität in der älteren und in der Neuen Phänomenologie
weg will, und präsentische Anteile wie die Standpunkte, die Fassung, die Lebenstechnik, die Gesinnung als die Weise des Sicheinlassens auf das affektive Betroffensein, der persönliche Sprachschatz, die habituellen Interessen. Diese präsentischen Anteile sind der Person leichter verfügbar als die prospektiven, auch als die retrospektiven. Sie muss bei jeder Entscheidung ihre persönliche Situation befragen, um zu wissen, was sie will; das gelingt meist glatt und mühelos, in schwierigen Fällen von erheblicher Wichtigkeit aber manchmal nur nach schwerem Ringen. Die Person wird ihre persönliche Situation nicht los, kann aber in personaler Regression unter diese abtauchen. Die persönliche Situation einer Person ist ein Teil ihrer persönlichen Eigenwelt, diese ein Teil ihrer persönlichen Welt. Die persönliche Welt besteht aus der persönlichen Eigenwelt und der persönlichen Fremdwelt. Zur persönlichen Eigenwelt gehören alle Bedeutungen, die für die Person subjektiv sind, und alle Sachen, für die der tatsächliche oder untatsächliche Sachverhalt, dass sie existieren, für die Person subjektiv ist. (Untatsächliche Sachverhalte müssen hier berücksichtigt werden, weil zur persönlichen Welt einer Person vieles gehören kann, was nicht existiert, was sie aber z. B. hofft, fürchtet oder sich zurechtphantasiert.) Diese Definition ist als Präzisierung eines Gedankens gemeint, den man volkstümlich so ausdrücken könnte: Zur persönlichen Eigenwelt gehört alles, woran die Person hängt, in Zuoder Abneigung, Anziehung oder Abwehr. Zur persönlichen Fremdwelt einer Person gehören alle Bedeutungen, die für sie neutralisiert sind, und alle Sachen, für die der tatsächliche oder untatsächliche Sachverhalt, dass sie existieren, für sie neutralisiert ist. Volkstümlich gesprochen: Zur persönlichen Fremdwelt einer Person gehört alles, war ihr fremd geworden ist, nicht nur Stück für Stück, sondern auch in ganzen Massen, unter dem Titel einer Gattung. Die persönliche Welt umfasst also für eine Person das Eigene und das Fremde im Sinne des Entfremdeten und damit die entfaltete Gegenwart, die Welt, nach der Seite der Subjektivität. 51 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Subjektivität in der älteren und in der Neuen Phänomenologie
Die Behandlung der Subjektivität in der Neuen Phänomenologie weicht also von ihrem Vorläufer in der älteren Phänomenologie erheblich ab. Sie hält sich nicht mehr an die positionale Subjektivität der Gegenüberstellung eines exponierten Subjekts mit es umringenden Objekten, seien diese von ihm abhängig oder nicht, sondern orientiert sich an der Subjektivität und Objektivität von Bedeutungen, namentlich von Tatsachen. Ineins damit verwandelt sie gründlich das Welt- und Menschenbild. Sie bringt den bei der Weltspaltung ab 450 v. Chr. zwischen Seele und Körper vergessenen spürbaren Leib zum Vorschein und löst dafür die damals erfundene abgeschlossene private Innenwelt auf, heiße diese nun »Seele« oder, wie in der älteren Phänomenologie, »Bewusstsein«. Sie ersetzt die Statik dieser Abgeschlossenheit durch die Dynamik der Person, deren Persönlichkeit und persönliche Welt sich auf der Grundlage des Lebens aus primitiver Gegenwart in beständiger Gegenläufigkeit von personaler Emanzipation und personaler Regression bildet und umbildet. Diese Personalisierung der Subjektivität in der Dimension des Eigenen und Fremden fügt die Neue Phänomenologie ein in die Entfaltung der fünf in der primitiven Gegenwart verschmolzenen Momente zu den fünf Dimensionen der Welt als des Rahmens möglicher Vereinzelung. Eine von diesen Dimensionen ist die Subjektivität.
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3. Von der Subjektivität zur Intersubjektivität
In Fichtes Schrift von 1801 Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie. Ein Versuch, die Leser zum Verstehen zu zwingen fragt der Leser, was der Autor als das »absolut Unbedingte und Charakteristische des Selbstbewusstseins« ausgebe. Der Autor antwortet: »Die Ichheit ist es, die Subjekt-Objektivität, und sonst durchaus nichts; das Setzen des Subjektiven und seines Objektiven, des Bewusstseins und seines Bewussten, als Eins; und schlechthin nichts weiter, außer dieser Identität.« 1 Von Fichte scheint die Deutung des Selbstbewusstseins als Identität von Subjekt und Objekt zu stammen; jedenfalls kommt er oft mit Nachdruck darauf zurück. 2 Er irrt. Identität von Subjekt und Objekt ist für Selbstbewusstsein weder zureichend noch notwendig, insgesamt also belanglos. Nicht zureichend: Der Prophet Nathan schildert dem König David mit verschleiernder Anspielung auf ein Sexualverbrechen des Königs einen Bösewicht, über dessen Untat der König so in Zorn gerät, dass er dem Übeltäter den Tod androht; darauf Nathan: »Du bist der Mann!« 3 Schon vor dieser Entdeckung lenkte Nathan die Aufmerksamkeit des Königs als Subjekt auf sich als Objekt, denn dieses war ja David, nur wusste dieser es noch nicht; Subjekt und Objekt waren identisch, aber diese Aufmerksamkeit war doch noch kein Selbstbewusstsein Davids. Nicht notwendig: Wenn ein Wahnsinniger sich z. B. für Napoleon hält, sind Subjekt und Objekt dieses Bewusstseins siFichte – Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Abteilung 1, Band 7, S. 219 f. 2 Ich habe die Stellen ausgeschrieben in meinem Buch: Die entfremdete Subjektivität. Von Fichte zu Hegel, Bonn 1992, S. 47 f. Anmerkung 84 3 2. Samuel 12, 1–7 1
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Von der Subjektivität zur Intersubjektivität
cher nicht identisch, und dennoch ist das ein Selbstbewusstsein des Wahnsinnigen, wenn auch vom Typ der Selbstverkennung. Wenn schon die volle Identität mit Übereinstimmung in allen Attributen zum Selbstbewusstsein nicht reicht, dann erst recht nicht eine geringere, gröbere Übereinstimmung wie die des Modells mit seinem Vorbild; deswegen ist die bei Naturalisten beliebte Deutung des Selbstbewusstseins als Selbstmodell (z. B. des Gehirns) 4 von Grund auf abwegig. Zureichend, wenn auch nicht notwendig, für Selbstbewusstsein ist dagegen der Gedanke an den Sachverhalt, dass etwas das Subjekt ist, also nicht die Identität, sondern die Meinung, dass sie besteht. Es handelt sich also um eine Identifizierung. Zum voll entwickelten personalen Selbstbewusstsein oder – wie ich lieber sage 5 – Sichbewussthaben gehört sogar eine mehrfache Identifizierung als Fall mehrerer Gattungen, z. B. bei einem türkischen Schuster in Kreuzberg als Mann, als Vater, als Bruder, als Türke, als Berliner, als Moslem, als Schuster usw. Die Person kann sich dann durch variable Betonung, Verbindung und Trennung dieser Rollen selbständig orientieren, sich ihren Platz in der Welt suchen, Rechenschaft von sich geben, Verantwortung übernehmen; das macht sie zur Person. Ein Selbstbewusstsein dieses Typs bezeichne ich als Selbstzuschreibung. Sie ist so charakteristisch für Personen, dass ich glaube, definieren zu dürfen: Eine Person ist ein Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung. Diese Identifizierung hat aber eine besondere Schwierigkeit, die sich herausstellt, wenn man sie, wie immer leicht möglich ist, zur eindeutigen Kennzeichnung ergänzt. Durch jede andersThomas Metzinger, Subjekt und Selbstmodell, Paderborn usw. 1993 »Bewusstsein« ist doppelsinnig wie in der Formel Husserls: »Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas.« Das erste Vorkommen meint ein Sammelbecken von Bewusstseinsinhalten, eine Eigensphäre des Subjekts, das zweite dagegen eine Beziehung oder ein Verhältnis zwischen einem Bewussthaber und dem, was er bewusst hat, was ihm bewusst ist. Die Ausdrücke »Bewussthaben« und »Sichbewussthaben« haben nur diesen zweiten Sinn.
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Von der Subjektivität zur Intersubjektivität
artige Identifizierung kann man mit der gekennzeichneten Sache bekannt gemacht werden, so etwa im Fall eines mir zur Übernachtung angewiesenen Hotelzimmers durch Angabe von Stadt, Straße, Hausnummer, Stockwerk und Zimmernummer. Mit dem ersten Beziehungsglied, das sich bezieht, dem Referens, hier der Übernachtungsgelegenheit, ist auch gleich das zweite Beziehungsglied, das Relat des Referens, bekannt, hier das durch eine bestimmte Lage gekennzeichnete Zimmer. Bloß im Fall der Selbstzuschreibung muss das Relat schon bekannt sein, damit die Identifizierung möglich wird. Sonst wird der Identifizierende von einer Identifizierung zur nächsten usw. fortgetrieben, etwa im Fall des erwähnten Schusters von der Identität eines Mannes mit einem Türken zu einem Berliner, einem Vater, einem Moslem usw., kommt aber nie auf den Gedanken, dass das er selber ist. Das liegt daran, dass an allen diesen Individuen und ihren Eigenschaften kein Grund für die Annahme zu finden ist, dass es sich gerade um ihn handelt. Jedes Merkmal könnte auch einem anderen zukommen, ebenso für jedes Individuum die Gesamtheit aller seiner Merkmale. Ein Gedankenexperiment des Mathematikers Hermann Weyl macht das schön deutlich. Leibniz wollte Gottes Allmacht mit der Freiheit des Menschen durch die Annahme versöhnen, Gott habe die beste aller möglichen Welten mit genauer Bestimmung aller zugehörigen Inhalte, auch der Menschen und ihrer Freiheit, ausgewählt, darunter solche Versager wie den Verräter Judas. Ganz schön, sagt Weyl, aber der Vorschlag scheitert an dem Verzweiflungsruf des Judas: »Warum musste gerade ich Judas sein?« 6 Mit etwas weniger Verzweiflung gefragt: Warum soll ich gerade Hermann Schmitz sein, warum nicht Thersites oder Abraham Lincoln? Den Herren Thersites, Lincoln und Schmitz ist nicht anzusehen, ob einer und wer von ihnen mit mir identisch ist. Eine noch so große Brautschau von Kandidaten für Identifizierung mit mir liefert Hermann Weyl, Gesammelte Abhandlungen, Band IV, Berlin/Heidelberg/New York 1968 (zuerst 1955), S. 650
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keinen Grund für diese, obwohl ich ohne Zweifel tatsächlich Hermann Schmitz bin. Das ist aber nicht in der Richtung von Hermann Schmitz zu mir, sondern nur in der Richtung von mir zu Hermann Schmitz erkennbar. Nur wenn ich schon vor jeder Identifizierung mit mir bekannt bin, kann ich bei genauerer Nachforschung auf einen zureichenden Grund für die Überzeugung kommen, Hermann Schmitz zu sein. Es fragt sich nun, wie ein solches identifizierungsfreies Sichbewussthaben möglich ist. Die Antwort ergibt sich aus der Unterscheidung zwischen objektiven und für jemand subjektiven Tatsachen. Eine Tatsache ist objektiv oder neutral, wenn jeder sie aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. In allen objektiven Tatsachen ist laut dem schon Nachgewiesenen kein zureichender Grund für eine Selbstzuschreibung enthalten. Es gibt aber auch für jemand subjektive Tatsachen. Das sind solche, die höchstens er im eigenen Namen aussagen kann, obwohl andere ebenso wie er selbst in der Lage sein können, sie zu kennzeichnen und über sie zu sprechen. Dabei handelt es sich um die Tatsachen, die ihn nicht gleichgültig lassen, sondern ihm nahe gehen, ihm zusetzen, ihn packen, in Anspruch nehmen, oder wie man diese Nuance sonst formulieren mag. Ich spreche von Tatsachen des affektiven Betroffenseins. Dass sie subjektiv sind, erkennt man, wenn man einer solchen Tatsache eine objektive gegenüberstellt, die ihr im Inhalt exakt gleicht, z. B. der Tatsache, dass mir etwas nahe geht (z. B. als angenehm oder quälend, erfreulich oder betrübend, beschämend, empörend, begeisternd usw.) die Tatsache, dass Herrn Hermann Schmitz eben dieses ebenso nahe geht, ohne Rücksicht darauf, dass ich er bin (obwohl ich er bin und das weiß). Diese objektive Tatsache, die jeder aussagen kann, wenn er genug weiß und gut genug sprechen kann, enthält zwar auch das Merkmal meines affektiven Betroffenseins, aber nur wie ein abgeblasstes Schattenbild; denn dass einem Hermann Schmitz, abgesehen davon, dass es sich um mich handelt, etwas nahe geht, lässt mich viel mehr kalt als mein eigenes affektives Betroffensein. Der Unterschied liegt nicht am Inhalt, 56 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Von der Subjektivität zur Intersubjektivität
der auf beiden Seiten derselbe ist, sondern an der Tatsächlichkeit, die als objektive dem affektiven Betroffensein gleichsam nicht gewachsen ist. Demnach gibt es nicht nur viele verschiedene Tatsachen, sondern auch viele Tatsächlichkeiten, nämlich für jeden Bewussthaber eine Tatsächlichkeit der für ihn subjektiven Tatsachen seines affektiven Betroffenseins und außerdem vom Bewussthaber unabhängige objektive oder neutrale Tatsächlichkeit. Der Unterschied von subjektiven und objektiven Tatsachen ist nicht an die Perspektive des affektiv Betroffenen gebunden, sondern zeichnet sich ebenso in der Sicht der Mitmenschen ab. Das zeigt sich an der Verwendung des Pronomens »ich« der ersten Person des Singulars und seiner sprachlichen Äquivalente: Im gewöhnlichen Gebrauch vertritt es als bloßes Pronomen einen Namen des Sprechers der Rede, in der es gerade vorkommt. Wenn es aber in der Mitteilung von Tatsachen des eigenen affektiven Betroffenseins verwendet wird, wächst ihm eine andere Funktion zu: Es zeigt an, dass es sich nicht um eine objektive oder neutrale, sondern um eine für den Sprecher subjektive Tatsache handelt. Ich zeige das an drei Beispielen, für die ich einen Mann namens »Peter Schulze« fingiere. Zunächst eine Liebeserklärung. Mann: »Peter Schulze liebt dich.« Frau: »Warum sagst du nicht: Ich liebe dich?« Mann: »Das ist doch ganz überflüssig.« Frau: »Das ist gar nicht überflüssig, gerade darauf kommt es mir an.« Die Liebeserklärung ist missglückt, die Frau verstimmt. Sie wollte hören, was nur er ihr sagen kann. Da ihr Verhalten ganz normal ist, ergibt sich, dass schon die gewöhnliche Denkweise Tatsachen kennt, die höchstens einer, und zwar von sich, aussagen kann: subjektive Tatsachen im angegebenen Sinn. Nun eine Szene im Beichtstuhl: Sünder: »Peter Schulze hat gesündigt.« Beichtvater: »Sprich: Ich habe gesündigt.« Sünder: »Das ist doch ganz überflüssig.« Der Beichtvater verweigert die Absolution, weil er aus der Ablehnung seines Vorschlags entnimmt, dass der Sünder nicht ernsthaft bereut. Schließlich ein Schrei aus dem Wasser: »Hilfe, Peter Schulze ertrinkt, das 57 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Von der Subjektivität zur Intersubjektivität
bin übrigens ich.« Der hilfsbereite Mitmensch, der auf den Ruf »Hilfe, ich ertrinke« hin sofort eingegriffen hätte, wird erst einmal neugierig nachsehen, was eigentlich los ist. Schulzes Fehler, der sein dreifaches Missgeschick verschuldet, besteht darin, das Wort »ich« nur als Pronomen, das als Vertreter eines Namens überflüssig, weil sinngleich ersetzbar ist, zu verstehen; im dritten Beispiel zeigt es an, dass der Sprecher des Rufes oder Schreis Herr Peter Schulze ist. Tatsächlich erwarten die Mitmenschen unter diesen Umständen etwas anderes: die Verwendung des Wortes »ich« zur Anzeige einer für den Sprecher subjektiven, nicht neutralen oder objektiven, Tatsache. Die Sonderstellung der für jemand subjektiven Tatsachen durch einen Überschuss an Tatsächlichkeit, der durch Neutralisierung abgezogen werden kann, über die objektiven betrifft nur das affektive Betroffensein. Die sprachliche Formulierung mit der ersten Person des Singulars suggeriert auch in anderen Fällen eine gleiche Unvertretbarkeit des Aussagenkönnens, als ob es sich deswegen um eine Tatsache besonderen Typs handelte, aber das täuscht. Einige Philosophen haben aus dieser Unvertretbarkeit ontologische Schlüsse über die Subjektivität gezogen, ohne auf das affektive Betroffensein zu achten, z. B. Thomas Nagel an Hand des Ausspruchs »Ich bin Thomas Nagel« 7 , der z. B. als bloße Selbstnennung bei einer behördlichen Veranstaltung ohne affektives Betroffensein geäußert werden kann. In solchen Fällen kann die unvertretbare Formulierung sinngleich durch die vertretbare Darstellung einer objektiven Tatsache in der dritten Person des Singulars ersetzt werden, weil an Thomas Nagel, Der Blick von Nirgendwo, übersetzt von Michael Gebauer, Frankfurt 1992 (Original: The view from nowhere, New York/Oxford 1986); ähnlich (durch Ausblendung des affektiven Betroffenseins) Fichte: »Ich schreibe, ich habe also eine Vorstellung von meinem Schreiben, es schreiben aber auch andere neben mir. Woher weiß ich nun, dass mein Schreiben nicht das Schreiben eines andern ist?« (Wissenschaftslehre nova methodo, Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Abteilung 4, Band 2, S. 232)
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der mitgeteilten Tatsache keine Nuance vorhanden ist, die die unvertretbare Formulierung zur Darstellung einer für den Sprecher subjektiven Tatsache erforderlich machte. Nur, dass ihm etwas nahe geht, ist eine solche Nuance. Die für jemand subjektiven Tatsachen seines affektiven Betroffenseins bringen für ihn ohne Weiteres eine Bekanntschaft mit sich mit, weil sie für ihn subjektiv sind, indem sie ihm nahe gehen. Diese Bekanntschaft steckt schon in der unmittelbaren Erfahrung der Tatsächlichkeit und bedarf keines Brückenschlags einer Identifizierung. Wenn ich z. B. Schmerzen habe, weiß ich sofort, dass ich leide, ohne erst einen von Schmerzen Gequälten finden zu müssen, den ich mit mir identifiziere; ich merke es schon, ohne auf die Identifizierung des Schmerzes als Schmerz warten zu müssen. Die für Selbstzuschreibung nötige vorgängige Bekanntschaft mit ihrem Relat ist damit gefunden. Die Entdeckung hat aber noch größere Tragweite. Es hat sich ja schon herausgestellt, dass aus bloß objektiven Tatsachen kein sachlicher Grund, kein Rechtsgrund, für eine Selbstzuschreibung zu gewinnen ist. Nur von den subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins eines Bewussthabers aus, unter Voraussetzung dieser Tatsachen, kann ermittelt werden, wer oder was dieser Bewussthaber ist, an welchen Platz in der Welt er gehört. Das geschieht, indem die besonnene Person selbst oder andere Personen, die von der Subjektivität des betreffenden Bewussthabers Kenntnis nehmen, von den für ihn subjektiven Tatsachen die Subjektivität abschälen und objektive Resttatsachen übrig behalten, die mit anderen so verknüpft werden, dass sich die Stellung des Bewussthabers in der Welt mehr oder weniger deutlich abzeichnet. Hieraus folgt, dass ein irgendwie bestimmter Bewussthaber überhaupt nur möglich ist auf Grund der für ihn subjektiven Tatsachen seines affektiven Betroffenseins. Ohne affektives Betroffensein kein Bewussthaber und also kein Bewussthaben, wodurch jemandem etwas bewusst ist. Hieraus folgt, dass alle naturalistischen Reduktionen der Subjektivität, z. B. als Epiphänomen des naturwissenschaftlich verstandenen 59 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Von der Subjektivität zur Intersubjektivität
Gehirns, von vornherein verfehlt sind. Die Naturwissenschaften reichen an subjektive Tatsachen überhaupt nicht heran; sie kennen nur objektive Tatsachen. Damit plädiere ich aber keineswegs für ein über die Natur erhabenes geistiges Prinzip. Spiritualismus und Materialismus sind nur Spaltprodukte der Weltspaltung durch die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung, die darin besteht, dass die Welt zerlegt wird in lauter private Innenwelten (je eine pro Bewussthaber) und eine dazwischen verbleibende Außenwelt, die bis auf gewisse für intermomentane und intersubjektive Verständigung und Nachprüfung besonders geeignete Merkmalsorten und deren erdachte Träger abgeschliffen wird, während der Abfall der Abschleifung teils absichtlich, teils als vergessener Rückstand in verwandelter Gestalt in den Innenwelten unterkommt. Ich habe die Weltspaltung, die seit dem Bruch zwischen Empedokles und Demokrit und dann nach dem Vorgang von Platon und Aristoteles die europäische Intellektualkultur beherrscht, seit meinem Auftreten mit einem eigenen philosophischen Entwurf durch eine phänomenologisch angemessene Konzeption zu korrigieren versucht. Die Voraussetzungen der Subjektivität sind mit der Aufdeckung der subjektiven Tatsachen noch nicht ausgeschöpft. Diese Tatsachen bedürfen selbst noch tieferer Fundierung. Sie sind stets für einen Bewussthaber subjektiv und vermitteln ihm eine identifizierungsfreie Bekanntschaft mit sich. Er muss also in jeder für ihn subjektiven Tatsache, die ihm bewusst wird, ohne Identifizierung sich selbst finden. Wie ist das möglich? Identifizierung setzt relative Identität voraus, die Beziehung, mit etwas identisch zu sein. Ich habe bewiesen, dass relative Identität die absolute voraussetzt, selbst und gegebenenfalls von anderem verschieden zu sein. 8 Etwas muss selbst sein, damit es auch nur es selbst (mit sich selbst identisch) sein kann. Hermann Schmitz, Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg/ München 2012, S. 49 f.
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Das ist nicht selbstverständlich. Es gibt vieles, das nicht einmal selbst ist, geschweige denn mit etwas identisch. Dazu gehören die Inhalte des Wassers für den Schwimmer, der sich ohne optische Orientierung vorwärts kämpft oder ruhig tragen lässt, und die Teile intensiver Größen, deren diese bedürfen, damit sie mehr oder weniger, z. B. lauter oder leiser, heller oder dunkler, wärmer oder kälter, werden können. Absolute Identität und Verschiedenheit, aber noch nicht relative Identität, gibt es dagegen im Mannigfaltigen, wenn der Umgang mit ihm vor Verwechslungen geschützt ist, Einzelheit aber noch fehlt. Von dieser Art ist z. B. die Sprache, in die der kompetente Sprecher blind, aber treffsicher hineingreift, um ihr die Regeln, nach denen er seine Sprüche formt, nämlich die Sätze der Sprache, zu entnehmen, ohne diese einzeln zu mustern, ebenso die flüssige Körperbewegung, die nicht in Apraxie entgleist, aber ihre Flüssigkeit verlöre, sobald sie in einzelne Akte zerlegt würde, z. B. beim Kauen fester Nahrung, beim flüssigen Sprechen, beim Aufstehen und Gehen. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Näher besehen, besteht die Einzelheit in der Verbindung von absoluter Identität mit dem Fallsein von etwas, einer Gattung, wie ich sage. Relative Identität besteht darin, dass ein einzelner Gegenstand Fall mehrerer Gattungen ist; so ist z. B. im Fall des türkischen Schusters in Berlin ein Türke mit einem Schuster in dem Sinn identisch, dass ein einzelner Gegenstand sowohl Fall der Gattung Türke als auch der Gattung Schuster ist. Etwas ist mit sich selbst identisch, das heißt: Es ist Fall der beiden Gattungen Referens der Identität und Relat der Identität. 9 Diese etwas abstrakten und summarischen Bemerkungen, die ich anderswo unterbaut habe 10, habe ich hier eingeflochten, um darauf hinzuweisen, dass schon gar nicht relative Identität und Einzelheit, aber auch nicht einmal absolute Identität selbstverständlich sind. Dem Seienden steht nicht ins Gesicht geschrie9 10
Ebd. S. 78 f. Ebd. S. 23–58
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ben, dass es selbst oder gar es selbst ist. Vielmehr bedarf es eines stiftenden Ereignisses, das in das Gleiten Selbstheit bringt, und eines Weges, der sie von dort aus weiterträgt auf alles, was selbst und gegebenenfalls es selbst ist. Dieses Ereignis, aus dem die Zeit wird, ist der engende und isolierende Andrang des Neuen, der Dauer zerreißt, Gegenwart exponiert und die zerrissene Dauer ins Vorbeisein verabschiedet. Man kann sich das an heftigem Erschrecken, plötzlich aufzuckendem Schmerz, Erstickungsanfällen und dergleichen veranschaulichen. Diese primitive Gegenwart vereinigt in absolut unspaltbarem Verhältnis die fünf Momente hier, jetzt, sein, dieses, ich: hier als die Enge des Zusammenfahrens, jetzt als das Plötzliche, sein als aufdringliche Wirklichkeit, dieses als absolute Identität und ich als affektives Betroffensein im Sicheinlassen darauf. Ich erläutere noch kurz den anderswo 11 von mir explizierten Begriff des absolut unspaltbaren Verhältnisses. Verhältnisse sind ungerichtet, Beziehungen gerichtet. Alle Beziehungen entstehen durch Spaltung von Verhältnissen. So stellt z. B. eine Landkarte einen Inbegriff von Verhältnissen räumlicher Lage dar; sobald jemand einen Weg darin sucht, spaltet er Verhältnisse in Beziehungen. Es gibt aber auch unspaltbare Verhältnisse. Absolut unspaltbar sind sie, wenn die Teilnehmer, die nicht einzeln zu sein brauchen, auch nicht nach außen (aus dem Verhältnis heraus) in Beziehung zu etwas stehen können. So sind die Momente der primitiven Gegenwart verschmolzen. Wegen des absolut unspaltbaren Verhältnisses von Subjektivität, ich (affektiv betroffen) zu sein, mit absoluter Identität gibt es in primitiver Gegenwart ein unmittelbares Sichfinden als ich-dieses ohne Identifizierung, die hier nicht in Frage kommt, weil Einzelheit und relative Identität hier so wenig wie Gattungen verfügbar sind. Die primitive Gegenwart ist ein ziemlich seltener Ausnahmezustand. Sie ist aber unentbehrlich für die Verleihung von Selbstsein an Seiendes und für jedes Sichbewussthaben, da es 11
Ebd. S. 97–108; Bewusstsein, Freiburg/München 2010, S. 54–69
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ohne Verankerung in primitiver Gegenwart nie ohne Identifizierung auskäme. Diese Verankerung leistet der vitale Antrieb. Er ist der Kern der von mir ausführlich analysierten Dynamik des spürbaren Leibes, der sich vom sicht- und tastbaren Menschen- oder Tierkörper durch seine Ausdehnungsweise und seine Dynamik unterscheidet. 12 Im vitalen Antrieb sind Engung und Weitung als Spannung und Schwellung mit verschiedenen Bindungsformen und wechselnder Gewichtsverteilung antagonistisch verschränkt; durch Abspaltung von Engung entsteht aus der Spannung privative Engung, deren Extremform die primitive Gegenwart ist, und durch Abspaltung von Weitung aus der Schwellung privative Weitung wie bei Erleichterung und Müdigkeit. In der Spannung ist die primitive Gegenwart gleichsam vorgezeichnet oder als Möglichkeit vorgehalten, desto mehr, je stärker etwa in Angst, Schmerz, Beklommenheit die Engung wirkt, aber als die Enge, von der man sich löst, sogar noch im Befreiungserlebnis privativer Weitung, solange das Bewusstsein nicht erlischt. Der vitale Antrieb ist am eigenen Leib in allen leiblichen Regungen spürbar, aber nur manchmal, z. B. im Geschehen der Atmung, als beschränkt auf den eigenen Leib. Meist geht er über diesen hinaus und verwickelt ihn als gemeinsamer Antrieb in ein Verhältnis mit Begegnendem und Widerfahrendem. Ich spreche dann von Einleibung, der wichtigsten Form der von mir ausführlich untersuchten leiblichen Kommunikation. 13 Einleibung als leibliche Kommunikation im Kanal des vitalen Antriebs ist teils antagonistisch, nämlich mit Zuwendung (wenigstens von einer Seite) verbunden, teils solidarisch (ohne solche Zuwendung, als gemeinsamer Antrieb z. B. in AufHermann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011, S. 7–13: Die Ausdehnung des Leibes, S. 15–27: Die Dynamik des Leibes 13 Ebd. S. 29–53: Leibliche Kommunikation. Meine erste ausführliche Behandlung des Themas war: Über leibliche Kommunikation, in: Zeitschrift für klinische Psychologie und Psychotherapie 20, 1972, S. 4–32, abgedruckt in meinem Buch: Leib und Gefühl, 3. Auflage, Bielefeld/Locarno 2008, S. 175–217 12
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ruhr, stürmischem Mut, panischer Flucht, bei gemeinsamem Singen und Musizieren, sowie unter dem Einfluss von Rufen, Klatschen, Trommeln). Antagonistische Einleibung ist teils einseitig, teils wechselseitig. Bei einseitiger Einleibung wird die Engung auf einen Pol hin fokussiert, und der oder die Partner hängen daran als fixiert oder fasziniert, wie die Zuschauer beim Fußballspiel und alle Opfer aufdringlicher Suggestionen. Bei wechselseitiger Einleibung fluktuieren die Komponenten des vitalen Antriebs, Engung und Weitung, und damit die Dominanz, die stets bei der engenden Kraft liegt. Einleibung gibt es nicht nur zwischen Leibern, sondern auch mit Leiblosem. Das wird möglich durch leibnahe Brückenqualitäten, die sowohl am eigenen Leib gespürt als auch an Begegnendem wahrgenommen werden können. Solche Brückenqualitäten sind Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere. Für das Nähere verweise ich auf meine Bücher. 14 Einleibung stiftet den ursprünglichen und elementaren Gegenstandsbezug, längst vor der sogenannten Intentionalität, die ein einzelnes Subjekt mit einem einzelnen Objekt und dessen Hintergrund in Beziehung setzt, und ist deren unentbehrliche Quelle. Die primitivste Form solchen Gegenstandsbezuges ist die Einleibung in Halbdinge. Halbdinge wie die Stimme (eines Menschen oder einer Tierart), der Wind, die reißende Schwere, wenn man ausgleitet oder sich gerade noch fängt, unterscheiden sich von Volldingen auf zwei Weisen: Ihre Dauer ist unterbrechbar, d. h. sie sind, sind nicht und sind wieder, ohne dass es Sinn hat, nach ihrem Zustand in der Zwischenzeit zu fragen; ferner ist ihre Kausalität unmittelbar oder zweigliedrig, d. h. Ursache und Einwirkung fallen dem Effekt gegenüber zusammen, während bei einem Ding die Ursache, z. B. als Stein, von der Einwirkung, z. B. als Schlag oder Stoß, verschieden ist. Der Schmerz ist ein Halbding, nämlich zugleich eigener leiblicher Zustand und in diesen eindringender Widersacher. Deswegen kann man 14
Z. B. Der Leib (wie Anmerkung 12) S. 33–38
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Von der Subjektivität zur Intersubjektivität
in ihm nicht aufgehen wie (als Flüchtender) in der Angst, die ihm als vitaler Antrieb mit überwiegender Spannung, nämlich übermächtige Hemmung eines expansiven Impulses, nahe verwandt ist. Mit dem Schmerz, anders als mit der Angst, muss man sich auseinandersetzen; er konfrontiert als eindringender Widersacher. Menschen leben ursprünglich unter Halbdingen, ergänzen diese aber bald zu Volldingen, z. B. Wind zu bewegter Luft, wodurch die Umwelt zuverlässig und planbar wird. Die antagonistische Einleibung überschreitet diese Schwelle und schließt den Leib nicht nur mit Volldingen, sondern mit begegnenden Gestalten aller Art in gemeinsamem Antrieb zusammen. Dabei greift sie hauptsächlich am Ausdruck an. Menschen haben Ausdruck an ihren Gesichtern, ihren Blicken, ihrer Haltung, ihrem Gang usw., aber auch Naturstimmungen wie das Mondlicht sind ausdrucksvoll, ebenso Geräusche, Klänge und Klangfolgen und vieles mehr. Es wird sich lohnen, etwas beim Ausdruck zu verweilen. Ausdruck teilt etwas mit. Als Mitteilung steht er neben der Nachricht und dem kausalen Symptom. Von diesen beiden Mitteilungstypen unterscheidet er sich durch seine Unübertragbarkeit. Eine Nachricht kann man mühelos unbeschadet aus einem Medium in ein zur Darstellung geeignetes anderes übertragen, indem man z. B. eine schriftlich empfangene Nachricht vorliest. Das Entsprechende gelingt ebenso beim kausalen Symptom, indem man z. B. die Anzeige des Fiebers eines Kranken durch das Fieberthermometer auf eine gezeichnete Fieberkurve überträgt. Beim Ausdruck wird die entsprechende Übertragung zum Virtuosenstück. Man muss schon ein geübter Schauspieler sein, um den Ausdruck der Freude, den beschwingten Gang, die gelöste Sprachweise, die lachenden Augen usw. echt nachzustellen, ohne selbst froh zu sein. Ganz aussichtslos wäre der Versuch, den hochmütigen, nörgelnden oder enthusiastischen Ausdruck einer Stimme mit Hilfe einer Ausdrucksschrift so genau zu reproduzieren wie die von dieser Stimme mitgeteilte Nachricht mit Hilfe der gewöhnlichen Schrift. Aus dieser Unübertragbar65 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Von der Subjektivität zur Intersubjektivität
keit des Ausdrucks folgt die Unregulierbarkeit des Ausdrucksverständnisses, d. h. die Unmöglichkeit, mit Hilfe eines geregelten Verfahrens, eines Übersetzungscodes, dem Ausdruck zuzuordnen, was er ausdrückt. Dann könnte man diesem Verfahren nämlich ein anderes zur Übersetzung in ein beliebiges, zur Darstellung überhaupt geeignetes weiteres Medium vorschalten. Andererseits kann man in vielen Fällen den Ausdruck in ein kausales Symptom umdeuten, z. B. in ein gewissen Gemütsverfassungen typischerweise zugeordnetes Muskelspiel mit kausaler Auswirkung auf Gesichtszüge, und dann durch regulierten Rückschluss mehr oder weniger das Ausgedrückte finden. (Bei Naturstimmungen und Klängen wird das Entsprechende weniger gelingen.) Wie erklärt sich in solchen Fällen der Unterschied der Zugänglichkeit für ein reguliertes Verständnis? Ausdruck ist immer eine Situation, entweder selbstgenügsam oder andere ausgedrückte Situationen anzeigend. Eine Situation in dem von mir gemeinten Sinn ist Mannigfaltiges, das zusammengehalten und mehr oder weniger abgehoben wird durch eine binnendiffuse, d. h. nicht in lauter Einzelnes durchgegliederte Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind. Hier interessieren die impressiven Situationen, in denen die Bedeutsamkeit, ohne ihre Binnendiffusion zu verlieren, mit einem Schlage ganz zum Vorschein kommt. Ein Beispiel ist eine akute, sofortige Bewältigung verlangende Gefahr, z. B. im Straßenverkehr, wenn der Autofahrer einem drohenden Unfall nur durch augenblickliches Ausweichen, Bremsen oder Beschleunigen entgehen kann. Er muss die ganze Bedeutsamkeit mit den relevanten Sachverhalten, den Problemen des unmittelbar bevorstehenden Unfalls und der durch seine Reaktionen eventuell hinzukommenden Bedrohungen und den Programmen möglicher Rettung sofort erfassen, ohne sie in alle Einzelheiten zu analysieren, weil dazu die Zeit fehlt. Ein anderes Beispiel ist der erste Eindruck bei der Begegnung mit einem Mitmenschen, bei der man deutlich zu spüren meint, mit was für einer Persönlichkeit man es zu tun hat, ob66 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Von der Subjektivität zur Intersubjektivität
wohl man es noch nicht ausformulieren kann, trotz einer Prägnanz, die gleich zu pauschalen Urteilen verführen kann; spätere Erfahrung ergänzt oder korrigiert den ersten Eindruck, ohne ihn ganz auszuschöpfen. Entsprechende impressive Situationen werden von eigenartigen Naturstimmungen geliefert, von einem fesselnden Porträt, auf einer Reise in ein fremdes Land von der Lebensart seiner Menschen, von einer Wohnung, die einem gleich kahl oder behaglich vorkommt. Ich spreche von vielsagenden Eindrücken, weil solche Situationen mehr zu verstehen geben, gleichsam auf die Zunge legen, als das, was man aussagen kann. Jeder Ausdruck ist ein solcher vielsagender Eindruck, der in antagonistischer Einleibung aufgenommen wird. Seine unaufgelöste binnendiffuse Bedeutsamkeit verwehrt die Anwendung einer Übersetzungsvorschrift. Bei Umdeutung in ein kausales Symptom wird ein einzelner Zug herausgegriffen, dem eine ganz bestimmte einzelne Bedeutung am Leitfaden eines kausalen Rückschlusses zugeordnet werden kann. Eine etwas grobe, uralte und noch nicht verstummte Erklärung der von Konrad Lorenz so genannten Du-Evidenz, d. h. der eventuell trügenden Gewissheit, mit einem anderen Bewussthaber zu tun zu haben, ist die Analogieschlusstheorie: weil sich ein wahrgenommener Gegenstand so ähnlich benehme wie man selber, glaube man, er müsse ein alter ego sein, ein Bewussthaber wie ich, der Wahrnehmende. Abgesehen von allem anderen, was man dagegen sagen kann, entscheidet gegen die Analogieschlusstheorie die nachgewiesene Unregulierbarkeit des Ausdrucksverständnisses. Ein Schluss, auch ein Analogieschluss, bedarf einer Schlussregel, also einer Regulierbarkeit des Verfahrens, mit dem etwas erschlossen wird. Das ist beim Ausdruck nicht der Fall. Andererseits entstammt die Du-Evidenz hauptsächlich der Wahrnehmung von Ausdruck. Sie kann also nicht durch Analogieschluss gewonnen werden. Seit Theodor Lipps hat man versucht, der allzu logischen Konstruktion eines auf schwachen Füßen stehenden Schlussverfahrens für Du-Evidenz durch die Annahme einer Einfühlung, Empathie 67 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Von der Subjektivität zur Intersubjektivität
oder – wie Husserl sagte – Apperzeption zu entgehen, mit der man sich unwillkürlich in den Gegenstand hineinversetze; als Mittelglied vermutete Lipps eine unwillkürliche Nachahmung des dem Gegenstand abgesehenen Benehmens, die dann, beladen mit dem selbst erlebten Merkmal des Bewusstseins dabei, ebenso unwillkürlich dem Gegenstand zurückgegeben werde. Diese Ersatztheorie scheitert an ihrer Unfähigkeit, die Daseinssetzung zu erklären, die Überzeugung, dass in Gestalt des wahrgenommenen Gegenstandes der Einfühlung ein anderer Bewussthaber wirklich da ist. Sehr gut und mit vollem Recht kann man in den Schauspieler die gespielte Figur einfühlen oder ihn als diese apperzipieren, aber der wäre verrückt, der glaubte, da auf der Bühne stünde wirklich Hamlet oder Faust oder auf der Leinwand der echte Preußenkönig statt des Otto Gebühr, der im Film den alten Fritz spielt. Alle Projektionstheorien, die wie die besprochenen die Gewissheit des Du geradlinig von dem Überzeugten auf den echten oder vermeintlichen anderen Bewussthaber übertragen, machen den Fehler, diesen als passiven, die zugesprochene Qualität des als Bewussthaber Überzeugenden bloß empfangenden Gegenstand zu stilisieren. In Wirklichkeit entspringt die Du-Evidenz, indem der Gegenstand mir etwas antut, und zwar in einer Auseinandersetzung, die ein Geben und Nehmen in der Fluktuation eines gemeinsamen vitalen Antriebs ist, der oft wie ein Handgemenge, ein Ringkampf sein kann, wenn etwa Blicke sich begegnen. Beide sind Gebende und Empfangende; dem Überzeugten geschieht etwas, das aus dem gemeinsamen Antrieb in seine eigene leibliche Dynamik eingreift, und daraus stammt seine Überzeugung, dass da wirklich ein Anderer ist, der mit ihm gemeinsam leiblich existiert und also auch des affektiven Betroffenseins und des Bewussthabens teilhaftig ist. Diese Du-Evidenz ist wechselseitige antagonistische Einleibung. Sie funktioniert dem höheren Tier gegenüber genau so gut wie im Verhältnis zu ähnlich sich benehmenden Mitmenschen. Das kann keine der Projektionstheorien erklären. 68 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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Wechselseitige antagonistische Einleibung ist also die Quelle aller Intersubjektivität, so wie affektives Betroffensein die Quelle der Subjektivität ist. Darüber hinaus vermittelt antagonistische Einleibung absolute Identität an alles, worauf sie trifft. Im Kanal des vitalen Antriebs aus Engung und Weitung wird absolute Identität über leibliche Dynamik und leibliche Kommunikation übertragen. Von sich aus hätte Seiendes keine Gelegenheit, selbst zu sein; was dann wäre, kann man sich ungefähr am Steigen und Fallen intensiver Größen ohne alle Stationen verdeutlichen. In wechselseitiger Einleibung kommt darüber hinaus Kooperation unter Verschiedenen, von denen jedes selbst ist, zu Stande, wie bei flüssiger Körperbewegung schon am eigenen Leib und Körper bei blitzschneller Kooperation der Glieder im Balancieren zum Abfangen eines drohenden Sturzes. Das alles geschieht schon auf dem Niveau der Tiere und Säuglinge vor Entbindung der Einzelheit aus Situationen. Tiere und Säuglinge im Frühstadium bleiben gefangen in Situationen, teils aktuellen, die sich jeden Augenblick ändern können, teils zuständlichen, nach deren möglicher Änderung man außer bei Katastrophen erst nach längeren Fristen sinnvoll fragen kann. Menschliche Personen können die Situationen, in denen sie wurzeln und aus denen sie immer schöpfen müssen, kraft ihrer satzförmigen Rede überholen und dadurch auch der Intersubjektivität ganz neue Chancen verschaffen. Darauf will ich jetzt den Blick werfen. Das absolute Identische bildet sich zum Einzelnen fort, indem es Fall von Gattungen wird. Diese stehen aber nicht von sich aus bereit, etwa in einem platonischen Ideenhimmel. Dann müsste ja jede Gattung, um als einzelne bewusst zu werden, wiederum als Fall einer weiteren Gattung bewusst sein, und das menschliche Bewussthaben wäre durch einen unendlichen Regressus überfordert. Vielmehr schälen sich aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen Bedeutungen heraus und werden von satzförmiger Rede, die sie identifizierbar macht, als einzelne aufgefangen. Unter ihnen sind die Gattungen, als deren Fälle beliebige Träger absoluter Identität einzeln sein können. Dadurch 69 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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kommt ein ganz neues Organisationsprinzip in das Seiende. Was zusammenhält, ist nicht mehr die binnendiffuse Bedeutsamkeit von Situationen, sondern ein Netz von Gattungen als Vorgaben von Gemeinsamkeiten und Unterschieden mit darin aufgehängten einzelnen Gegenständen, von denen jeder durch relative Identität Fall vieler Gattungen und daher vielseitig zugänglich ist. Mit diesem Werkzeug kann der Mensch Situationen in den Griff nehmen und planend überholen. Entscheidende Hilfe leistet ihm dabei die Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt als dem Feld möglicher Vereinzelung. Die Momente der primitiven Gegenwart spannen sich nach ihren fünf Seiten zur Welt auf. Das Hier wird zum Ortsraum aus relativen Orten mit Lagen und Abständen, die zu sagen gestatten, wo etwas ist. Das Jetzt entfaltet sich zur modalen Lagezeit mit Anordnung des Früheren und Späteren und Einteilung in Vergangenes, Gegenwärtiges und Künftiges sowie dem Fluss der Zeit, dass das Vergangene wächst, das Künftige schrumpft und das Gegenwärtige wechselt; dadurch wird es möglich, zu sagen, wann etwas ist. Das Sein entfaltet sich aus dem schmalen Gegensatz zum Vorbeisein in den breiten zum Nichtsein überhaupt, wobei das Einzelne die Grenze überspringt und ins Nichtseiende projiziert wird; dadurch werden Planung, Erinnerung, Hoffnung, Furcht und Phantasie möglich. Das Dieses, die absolute Identität, entfaltet sich zum relativ oder mit etwas Identischen, das als Fall mehrerer Gattungen von vielen Seiten zugänglich und handhabbar wird. Das Ich der primitiven Gegenwart, der vom Andrang des Neuen affektiv betroffene, absolut identische Bewussthaber, entfaltet sich durch Selbstzuschreibung als Fall mehrerer Gattungen zum einzelnen Subjekt, das Person als Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung ist und eine Sphäre des Eigenen im Gegensatz zum Fremden ausbildet. Diese fünfte Seite der Entfaltung der primitiven Gegenwart, die Seite der Subjektivität, bedarf außer der Vereinzelung der Neutralisierung von Bedeutungen, damit die Person eine Distanz der Sachlichkeit gewinnt, ohne die sie sich der Befangenheit 70 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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in Situationen nicht entziehen könnte. Wie von den Tatsachen kann auch von den Programmen und Problemen die Subjektivität für einen selbst abfallen oder abgeschält werden; so wird der Wunsch zum bloß noch objektiven Programm, die Sorge zum neutralen Problem. Dieses Abfallen kann ebenso einzelne Bedeutungen wie ganze Massen treffen. Der subjektiv verbleibende Rest an Bedeutungen, mit Einschluss von Gattungen und ihrer Fälle, bildet die Sphäre des Eigenen gegenüber dem Fremden, das in Neutralität und Sachlichkeit entlassen ist. Breite Grauzonen verwischen mehr oder weniger die scharfe Grenze zwischen beiden Seiten. Das Eigene bildet sich zu einer zuständlichen persönlichen Situation aus, die sich das Leben lang durch Prozesse der personalen Emanzipation und personalen Regression, Explikation und Implikation angesichts von Herausforderungen entwickelt. Personale Emanzipation ist Schärfung des Gegensatzes mit Hilfe der Neutralisierung, personale Regression Resubjektivierung durch Rückkehr ins präpersonale Leben mit Anschluss an die Quelle des Personseins in primitiver Gegenwart. Die persönliche Situation enthält viele partielle Situationen, die wie zähflüssige Massen in ihr gleiten und sich reiben. Explikation holt daraus einzelne Bedeutungen hervor, Implikation lässt diese in die binnendiffuse Bedeutsamkeit solcher partiellen zuständlichen Situationen einsinken. Um die persönliche Situation spannt sich eine persönliche Eigenwelt, die alles umfasst, woran die Person in Zu- oder Abneigung mit affektivem Betroffensein gleichsam hängt; ihr gegenüber steht eine persönliche Fremdwelt, die alles umfasst, was aus der persönlichen Eigenwelt durch Neutralisierung und Verfremdung ausgeschieden ist. Ich belasse es hier bei diesen knappen und etwas unscharfen Andeutungen, die ich anderswo breiter ausgeführt habe. 15 System der Philosophie, Band IV: Die Person, Bonn 1980 und später, S. 287–473; Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 106–136; Bewusstsein, Freiburg/München 2010, S. 95–109; Der Leib, Berlin 2011, S. 71–87
15
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Von der Subjektivität zur Intersubjektivität
Die Intersubjektivität auf personalem Niveau vollzieht sich immer noch als Einleibung, aber kompliziert durch das Gegenüberstehen mehrerer persönlicher Situationen und persönlicher Welten, jeweils mit Eigenwelt und Fremdwelt. Diese Komplikation bewirkt eine gewisse Einbuße an Unmittelbarkeit, schafft aber auch ganz neue Möglichkeiten. So wie in die persönliche Situation partielle Situationen eingesenkt sind, können persönliche Situationen auch in gemeinsame Situationen hineinwachsen; dadurch ergeben sich spezifisch personale Bindungen z. B. in Form der Liebe. 16 Eine unabsehbare Produktivität wächst der personalen Intersubjektivität durch die Wechselwirkung von Situationen und Konstellationen zu. Tiere sind in Situationen gefangen, die sich durchhalten oder bloß abwechseln. Personen explizieren Situationen in einzelne Bedeutungen und Sachen, die zu Konstellationen verknüpft werden. Aus diesen Konstellationen, in die die Personen sich einleben, wachsen wieder Situationen zusammen, die wieder expliziert werden usw. Diese fortgesetzte Abwechslung von Situationen und Konstellationen macht den Gang der Geschichte aus 17 und bietet unabsehbare Gelegenheiten für intersubjektive Kontakte.
Hermann Schmitz, Die Liebe, Bonn 1993 Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg/München 2014, S. 200–208
16 17
72 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
4. Psychiatrie der Subjektivität ohne Seele
1.
Seele und Subjektivität
Die Psychiatrie, erweitert zur Psychotherapie, versteht sich, wie der Name sagt, als Lehre vom Umgang mit Störungen der Seele oder wenigstens, wenn man nicht mehr an die Seele als ganze glaubt, von den psychischen Phänomenen. Sie ist damit ein Erbe der Weltspaltung, eines Paradigmenwechsels im menschlichen Selbst- und Weltverständnis, der sich in Griechenland in der 2. Hälfte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts ereignet hat und seither ganz überwiegend die abendländische Intellektualkultur und mehr als sie (z. B. das Christentum) bestimmt. Das Bedürfnis, die vernünftige Selbstkontrolle des Individuums gegen unbeherrschbar einbrechende Impulse, die Besessenheit durch Götter oder Affekte, abzuschirmen, führte damals zur Erfindung der Seele als abgeschlossener oder mindestens abschließbarer privater Innenwelt des einzelnen Bewussthabers. Die Welt wurde zerlegt in solche Innenwelten, in denen jeweils das gesamte Erleben eines Bewussthabers untergebracht wurde, einschließlich seiner unwillkürlichen Regungen, die der Regie der Vernunft in diesem abgeschlossenen Bereich unterstellt wurden, und eine zwischen diesen Innenwelten verbleibende Außenwelt, die nun verarmt, nämlich von allen ergreifenden Mächten gereinigt war. Der Außenwelt beließ man nur wenige Merkmalsorten, die sich durch intermomentane und intersubjektive Identifizierbarkeit, Messbarkeit und selektive Variierbarkeit für Statistik und Experiment eignen und seit der energischen Wiederaufnahme dieser antiken Vorgaben durch Descartes und Hobbes bis heute die Datenbasis der Physik bilden. Der Abfall, der bei dieser Reduktion anfiel, wurde als Bestandteil des See73 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Psychiatrie der Subjektivität ohne Seele
lenlebens in den privaten Innenwelten untergebracht, teils absichtlich wie die spezifischen Sinnesqualitäten, zum größeren Teil aber achtlos in einer durch Anpassung an das neue Milieu umgedeuteten Weise. Wichtige Bestandteile der in unwillkürlicher Lebenserfahrung jedem vertrauten Welt gingen dabei der denkenden Aufmerksamkeit verloren, so der spürbare Leib und die leibliche Kommunikation, die Atmosphären des Gefühls und die bedeutsamen Situationen, darunter die vielsagenden Eindrücke. Vom Menschen blieben zwei Hälften übrig, der Körper und die Seele. Der Mensch als Bewussthaber und Regisseur der Innenwelt zog sich in die Seele zurück, und diese wurde von Descartes und Kant aus dem Raum zurückgezogen, während der Körper als Werkzeug und Informant der Seele in eine zwispältige Mittelstellung zwischen Innenwelt und Außenwelt geriet. Kopfschmerzen und Bauchschmerzen sollten Empfindungen in der raumlosen Seele sein, aber der Kopf und Bauch sind doch im Raum. Die Seele wurde wie ein Haus eingerichtet, in dem der zur Aufsicht berufene Bewussthaber Herr sein konnte, mit den unwillkürlichen Regungen der Sinnlichkeit, der aggressiven Aufwallungen usw. in den unteren Stockwerken, der Vernunft und dem freien Willen im Obergeschoss. Der Bewussthaber kann seine Aufgabe als Lenker des Geschehens in der Innenwelt und der von dort erreichbaren Außenwelt nur mit Selbstzuschreibung erfüllen, indem er sich für etwas oder etwas für sich hält, d. h., indem er sich für einen Fall mehrerer Gattungen oder, was das Selbe meint, für denselben in verschiedenen Rollen hält, z. B. als Mensch, als Frau, als Schneiderin, als Mutter, als Tochter, als Gattin, als Christin, als Sozialistin usw. So kann er in seinem Selbstverständnis Akzente setzen, zwischen diesen Rollen vermitteln und sich zur eigenmächtigen Stellungnahme befähigen. Leicht kann diese Selbstzuschreibung zur eindeutigen, nur auf einen einzigen Gegenstand passenden Kennzeichnung ausgebaut werden. Diese hat aber eine eigentümliche Schwäche. Durch jede andere Kennzeichnung kann man mit der gekennzeichneten Sache bekannt 74 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Psychiatrie der Subjektivität ohne Seele
gemacht werden. Nur im Fall der Selbstzuschreibung muss man diese Sache, nämlich sich selbst, schon vorher kennen. Sonst wüsste man nicht, dass es sich um eine Selbstzuschreibung handelt, sondern würde von Identifizierung zu Identifizierung endlos weitergetrieben, im angegebenen Beispielsfall etwa von der Frau zur Schneiderin, zur Mutter, zur Christin usw., und käme nie auf den Gedanken, dass man das selber ist. Das liegt daran, dass in allen objektiven oder neutralen Tatsachen – das sind solche, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann – kein Grund zu der Annahme enthalten ist, dass es sich um mich, beispielshalber um mich, handelt. Jede solche Bestimmtheit könnte auch einem anderen zukommen, ebenso das Ganze aller Bestimmtheiten. Leibniz behauptete, Gott habe jedes Menschenlos bis in die letzten Feinheiten bei der Wahl der besten aller möglich Welten festgelegt. Darunter sind ganz elende Lose. Für keinen Menschen ist es selbstverständlich, dass dieses gerade sein Los ist. So könnte der Christusverräter Judas, wie der Mathematiker Hermann Weyl mit einer witzig-tiefsinnigen Pointe gegen Leibniz einwendet 1 , verzweifelt fragen: »Warum musste gerade ich Judas sein?« Die identifizierende Selbstzuschreibung setzt also, damit sie möglich wird, ein nicht identifizierendes Sichbewussthaben voraus. Ein solches ist jedes affektive Betroffensein in dem Sinn, dass mir (als Beispiel für jeden) etwas nahe geht, mir zusetzt, mich in der Weise angeht, dass ich die Betroffenheit am eigenen Leib spüre. Wenn ich leide, merke ich sofort, dass es sich um mich handelt, und brauche nicht erst einen Leidenden zu finden, den ich mit mir identifiziere. Die Tatsachen des affektiven Betroffenseins sind nicht objektive Tatsachen der eben angegebenen Art, sondern subjektive Tatsachen, die höchstens der Betroffene im eigenen Namen aussagen kann, obwohl andere sie kennzeichnen und daher ebenso wie er darüber sprechen könHermann Weyl, Gesammelte Abhandlungen, Band 5, Berlin/Heidelberg/ New York 1968, S. 645
1
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nen. Wenn z. B. mir etwas nahe geht und ich davon spreche, sage ich mehr als das, was ein anderer sagen kann, wenn er sagt, dass dem Hermann Schmitz das nahe geht, denn dann fehlt dem Ausgesagten das besondere Gewicht, das für mich dadurch hinzukommt, dass mir – nicht irgend einem Hermann Schmitz – das nahe geht, und das kann kein anderer sagen, denn er ist nicht ich. Daraus ergibt sich in Situationen, in denen es auf das affektive Betroffensein ankommt, die unentbehrliche Bedeutung des Pronomens, »ich« der ersten Person des Singulars oder entsprechender Ausdrucksmittel, nicht, um einen Namen der betreffenden Person zu vertreten, sondern um zu signalisieren, dass es sich um eine für den Sprecher subjektive, nicht um eine objektive Tatsache handelt. Ich verdeutliche das an einer missglückten Liebeserklärung, die ein Mann namens »Peter Schulze« abgibt. Es handelt sich um folgenden Dialog: Mann: »Peter Schulze liebt dich.« Frau: Warum sagst du nicht: Ich liebe dich?« Mann: »Das ist doch ganz überflüssig.« Frau: »Das ist gar nicht überflüssig, gerade darauf kommt es mir an.« Die Frau ist verstimmt. Schulze ist gescheitert, weil er das Wort »ich« auch in diesem Fall nur für ein Pronomen hielt, das ohne Sinnverlust durch einen Namen der gemeinten Person ersetzt werden kann. Von zwei Tatsachen völlig gleichen Inhalts, dass eine Sache irgendwie bestimmt ist, kann die eine objektiv oder neutral, die andere durch eine reichere Tatsächlichkeit für jemand subjektiv und dann eine Tatsache seines affektiven Betroffenseins sein. Nur durch solche subjektiven Tatsachen ist ein Bewussthaber er selbst. Aus bloß objektiven Tatsachen gäbe es keinen legitimen Schluss darauf, dass es sich gerade um ihn handelt, denn dieselben Bestimmungen könnte auch ein anderer haben. Wenn alle Tatsachen objektiv wären, degenerierte die Person zu dem, 76 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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was Hume und Mach aus ihr machen, zu einem Bündel von Perzeptionen oder Empfindungen ohne jemanden, der sie hätte, ohne Bewussthaber. Tatsächlich irren Hume und Mach, denn sie müssten nur einmal in eine Lage kommen, in der es wirklich so ernst wäre, dass sie ganz oder beinahe die Fassung verlören, dann wüssten sie schon, dass sie selber leiden und nicht nur ein Bündel von Perzeptionen oder Empfindungen einige Modifikationen durchmacht. Mit Hilfe dieser Feststellungen glaube ich nun auf die Frage antworten zu können, was eine Psychiatrie ohne Seele ausmacht, welche Gegenstände und Aufgaben sie behält, nachdem sie von der einfachen Gegenstandsbestimmung des gestörten Psychischen abgekommen ist. Jeder Arzt hat selbstverständlich mit objektiven Tatsachen zu tun, und fast immer auch, angesichts des leidenden Patienten, mit für diesen subjektiven Tatsachen. Von der ärztlichen Tätigkeit ist aber die Medizin als Wissenschaft zu unterscheiden, die die Begriffe liefert, deren sich der Arzt bei der Formulierung seiner Diagnosen und Therapien bedient. In dieser Medizin lassen sich zwei Richtungen oder Tendenzen unterscheiden, wenn auch nicht scharf trennen. Die eine fokussiert auf bloß objektive Tatsachen der Anatomie und Physiologie. Sie gibt dem somatischen Arzt die Anhaltspunkte für seine Urteilsbildung im Rahmen einer weit umfangreicheren ärztlichen Tätigkeit. Die andere Richtung führt in das Gebiet der bisher so genannten psychischen Störungen. Dazu gehören die endogenen Psychosen, wie Depression und Schizophrenie, die Neurosen und vielerlei anderes. Es handelt sich um Störungen der Subjektivität. Um sie über die behaviouristisch erfassbaren Symptome hinaus auch nur zu beschreiben, muss man von für den Patienten subjektiven Tatsachen, Programmen und Problemen sprechen. Anatomie und Physiologie können nur zur Erklärung herangezogen werden. Was die Krankheit ausmacht, sind für den Patienten subjektive Tatsachen, nicht objektive Tatsachen mit subjektiver Stellungnahme des Patienten dazu. So ergibt sich eine in ganz weitem Sinn auf subjektive Tatsachen 77 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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als ihren Gegenstand fokussierte, auch ins Somatische hineinreichende Medizin als Psychiatrie im neuen Sinne, nämlich ohne Seele.
2.
Der Aufbau der Person
Um dieser neu firmierenden, als Subjektivitätsmedizin ohne Seele verstandenen Psychiatrie den Weg zu weisen, muss ich nun den Aufbau der Person nachzeichnen, um daran später die wichtigsten Störungsstellen markieren und klassifizieren zu können. Dafür muss ich zunächst tief ins Präpersonale absteigen. Es hat sich schon herausgestellt, dass die Person als Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung nur durch die für sie subjektiven Tatsachen ihres affektiven Betroffenseins möglich ist, weil diese Tatsachen gewissermaßen von vornherein, durch ihre bloße Tatsächlichkeit, noch unabhängig von ihrem Inhalt, den sie mit objektiven Tatsachen teilen können, den Stempel der Person tragen, mit der Folge, dass höchstens die Person selbst, für die sie subjektiv sind, sie aussagen kann. Deswegen kann die Person aus diesen subjektiven Tatsachen, anders als aus den durch Abstreifen der Subjektivität aus ihnen entstehenden objektiven, das Relat der Selbstzuschreibung entnehmen, nämlich, dass es sich um sie selbst handelt. Dafür muss sie aber den finden, für den die betreffenden Tatsachen subjektiv sind, d. h., sie muss sich selbst finden, und zwar identifizierungsfrei, weil sonst dasselbe Problem entsteht wie bei den objektiven Tatsachen, nämlich, woher man wissen soll, dass der, mit dem etwas identifiziert wird, man selber ist. Wie ist es möglich, seiner selbst ohne Identifizierung bewusst zu werden? Dafür gibt es nur eine einzige Gelegenheit: den plötzlichen Einbruch des Neuen, der z. B. im heftigen Schreck Gegenwart exponiert, Dauer zerreißt und die zerrissene Dauer ins Vorbeisein verabschiedet. Die Gegenwart, die vom Neuen durch seine Ankunft exponiert wird, ist die primitive, in der die fünf Mo78 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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mente hier, jetzt, sein, dieses, ich in absolut unspaltbarem (d. h. nicht in gerichtete Beziehungen spaltbarem) Verhältnis verschmolzen sind. Mit »dieses« meine ich das Identische im Sinn absoluter Identität, selbst und von anderem verschieden zu sein, noch ohne die relative Identität von etwas mit etwas. Relative Identität fehlt in der primitiven Gegenwart, weil keine Gattungen verfügbar sind, unter die subsumiert werden könnte; relative Identität besteht nämlich darin, dass etwas als Fall einer Gattung auch noch Fall einer weiteren Gattung ist, z. B. als Frau auch noch Mutter, so dass eine Frau mit einer Mutter identisch ist, oder im Fall der Identität mit sich selber als Referens zugleich Relat dieser Beziehung. Ich habe gezeigt, dass relative Identität nur unter Voraussetzung absoluter Identität möglich ist. 2 In der primitiven Gegenwart ersetzt der Zusammenfall des absolut Identischen mit mir, der spürbar betroffen ist, die Identifizierung; so wird identifizierungsfreies Sichfinden möglich. Die primitive Gegenwart ist ein seltener, in völliger Reinheit vielleicht nie erreichter Ausnahmezustand. Sie wird aber in der leiblichen Dynamik durch den vitalen Antrieb, in dem Engung und Weitung als Spannung und Schwellung gegenläufig verschränkt sind, als Aussicht oder Andeutung beständig vorgehalten. Wenn die Engung aushakt, wie im heftigen Schreck, ist der Antrieb erstarrt und gelähmt; wenn die Weitung ausläuft, wie beim Einschlafen, beim Dösen oder nach der Ejakulation, ist er erschlafft; Antrieb ist er also nur in der Verschränkung beider Impulse. Ohne Einsatz für ein Ziel, nur in sich wirksam, macht er das leiblich spürbare Einatmen aus, bei dem anfangs die Schwellung führt, von der sich das Übergewicht allmählich, wenn auch schnell, auf die Spannung verschiebt, die, kurz ehe sie unerträglich wird, durch die unumkehrbar aus der Enge in die Weite führende leibliche Richtung des Ausatmens abgeführt wird. Einsetzbar wird der Antrieb durch seine ReizempfänglichHermann Schmitz, Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg/ München 2013, S. 49 f.
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keit und seine Zuwendbarkeit zu empfangenen Reizen; Antrieb, Reizempfänglichkeit und Zuwendbarkeit sind die drei Schichten der Vitalität. Aus dem vitalen Antrieb kann Engung abgespalten werden, z. B. im heftigen Schreck, und Weitung, z. B. in Erleichterung und wohltätiger Müdigkeit. Ich spreche dann von privativer Engung bzw. privativer Weitung. In der Verschränkung können die Gewichte von Spannung und Schwellung stark variieren, etwa zum Übergewicht der Spannung in Angst und Schmerz, der Schwellung in Wollust und Zorn. In der engenden Spannung des vitalen Antriebs ist die primitive Gegenwart als Aussicht und Möglichkeit beständig vorgezeichnet. Ohne diese Aussicht wäre nichts es selbst, denn dem Weltinhalt ist nicht von sich aus die Gliederung eigen, dieses oder jenes, selbst und verschieden zu sein. Ohne den Akzent einer Exposition, die zerreißend eingreift, wäre alles verschwommen. Die Dimension von Enge und Weite, besetzt mit Tendenzen der Engung und Weitung, ist die wichtigste in der von mir kategorial analysierten Dynamik des spürbaren Leibes; außerdem spielt sich diese Dynamik in der nah verwandten, aber nicht mit der anderen sich deckenden Dimension von protopathischer (dumpf ausstrahlender) und epikritischer (spitzer, schärfender) Tendenz ab. 3 Der vitale Antrieb ist nicht nur am eigenen Leib spürbar, sondern verbindet diesen als gemeinsamer Antrieb nicht nur mit den von mir so genannten Halbdingen, die sich wie z. B. Stimmen, reißende Schwere, entgegenschlagender Wind oder wiederkehrender Schmerz durch unterbrechbare Dauer und Zusammenfall von Ursache und Einwirkung in der Kausalität von Volldingen unterscheiden, sondern auch mit Dingen im Vollsinne und begegnenden Gestalten, teils Leibern, teils leiblosen Gegenständen, die durch leibnahe Brückenqualitäten, die ebenso an Gestalten wahrgenommen wie am eigenen Leib gespürt werden können, in die leibliche Kommunikation Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011, S. 15–27, zu protopathischer bzw. epikritischer Tendenz: S. 23–25
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eintreten. 4 Sofern diese im Kanal des vitalen Antriebs stattfindet, bezeichne ich sie als Einleibung. Diese ist teils antagonistisch mit Zuwendung von mindestens einer Seite, teils solidarisch ohne solche Zuwendung. Antagonistische Einleibung ist teils einseitig, indem man von etwas gefesselt ist, teils wechselseitig mit Fluktuieren der Dominanz und dann Quelle der DuGewissheit, mit einem anderen Bewussthaber zu tun zu haben. Solidarische Einleibung gibt es etwa bei gemeinsamem Aufruhr, panischer Flucht, gemeinsamem Singen, rhythmischem Rufen, Klatschen, Trommeln. Außer der Einleibung gibt es leibliche Kommunikation als Ausleibung im Kanal privativer, aus dem Antrieb sich lösender Weitung, wobei der Leib den Halt an seiner Enge verliert, indem diese etwa über den Blick in die Tiefe des Raumes ausläuft oder durch Versunkenheit in absolute Eindrücke von Wärme, Duft, Glanz usw. auf andere Weise zum Kontrollverlust führt. Alle unwillkürliche, distanzlose Wahrnehmung ist leibliche Kommunikation 5 , und alle distanzierte beruht auf ihr; von den physikalischen und physiologischen Begleiterscheinungen, die die Naturwissenschaft studiert, muss man die Wahrnehmung selbst unterscheiden. Mit dem spürbaren Leib, der alles umfasst, was jemand von sich selbst in der Gegend (nicht immer in den Grenzen) seines Körpers bemerken kann, ohne sich auf das direkte oder indirekte Zeugnis der fünf Sinne zu stützen, ist die empirische Grundlage der Person aufgedeckt, die bei der Weltspaltung zwischen den beiden anerkannten Hälften des Menschen, dem Körper und der Seele, aus den Augen geraten war. Zum Leib in diesem Sinne gehören die bloßen leiblichen Regungen wie Angst, Schmerz, Hunger, Durst, Wollust, Ekel, Frische, Müdigkeit, ferner die leiblichen Regungen, die Ergriffensein von Gefühlen sind, wie Über leibliche Kommunikation ebd. S. 29–53 Hermann Schmitz, Wahrnehmung als Verhältnis, in: Näher dran? Zur Phänomenologie des Wahrnehmens, hg. v. Steffen Kluck und Stefan Volke, Freiburg/München 2012, S. 245–256
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Psychiatrie der Subjektivität ohne Seele
Zürnen, Sichschämen, Frohsein, Traurigsein, sodann die gespürte Motorik und die leiblichen Richtungen, die unumkehrbar aus der Enge in die Weite führen wie der Blick, das Ausatmen, das Schlucken. Dass dieser Leib für die personale Selbstzuschreibung unentbehrlich ist, indem er ihr das Relat, dem zugeschrieben wird, liefert, wurde schon gezeigt. Der Leib eines Menschen oder Tieres ist von seinem Körper verschieden, sowohl der Ausdehnung als auch der Dynamik nach. Der Körper ist fest, stetig ausgedehnt, von Flächen begrenzt und durch Flächen schneidbar. Der Leib dehnt sich dagegen in einem flächenlosen Raum aus wie der Schall, die Stille, der Wind, die Gebärde, das Wasser, in dem sich der Schwimmer vorwärts kämpft, von dem er sich ruhig tragen lässt. Der Leib ist auch nicht stetig ausgedehnt, sondern ein Gewoge verschwommener Inseln, zusammengehalten durch die Spannung im vitalen Antrieb. Eine davon ist die bei jedem Einatmen neu sich bildende Insel mit nicht dreidimensionalem, sondern dynamischem Volumen, gestaltet durch die schon beschriebene Verschiebung des Übergewichts von Schwellung zu Spannung bis zum Umschlag der Spannung in die Richtung des Ausatmens und Abbau der gleich wieder sich bildenden Insel; so greifen Ausdehnung 6 und Dynamik im Leib ineinander. Dem Körper voraus, der nur relative Orte hat, die durch Lagen und Abstände über umkehrbaren Verbindungen bestimmt sind, hat der Leib absolute, unmittelbar im Spüren ohne Vermittlung durch Lagen und Abstände bestimmte Orte. Ein Beispiel dafür liefert die Bedrohung. Leiblich bedroht kann sich nur fühlen, wer darauf gefasst ist, getroffen zu werden, und dazu bedarf es eines Ortes, wo man getroffen werden kann, aber nicht einer Besinnung auf Lage und Abstand zu einer Quelle der Bedrohung, denn an dieser kann es fehlen, etwa, wenn sich jemand in diffuser Ängstlichkeit nachts einsam bedroht fühlt, ohne genau sagen zu können, wovon. Der spürbare Leib zusammen mit der leiblichen Kommunikation genügt als präpersonale 6
Wie Anmerkung 3, S. 7–13: Die Ausdehnung des Leibes
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Grundlage zum Aufbau der Person; dass auch noch ein materieller Körper dabei ist, mit dem der Leib weitgehend das Lokal teilt, ist eine zufällige Beigabe, die zwar faktisch nicht entbehrt, aber phänomenologisch nicht begründet werden kann und kausale Zusammenhänge vermuten lässt, die undurchschaubar sind und sich nur der vergleichenden Beobachtung nahe legen. Das präpersonale Leben, das Tiere und Säuglinge immer und ausschließlich, erwachsene Personen in allen unwillkürlich routinierten Verrichtungen (wie dem glatten Kauen fester Nahrung) sowie in Fassungslosigkeit (z. B. Ekstasen, Versunkenheit) führen, ist ganz vom Leib bestimmt; es setzt sich aus gleitender Dauer des Dahinlebens, primitiver Gegenwart beim Einbruch des Neuen, leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation zusammen. Zugleich ist es ein Leben in Situationen. Eine Situation ist Mannigfaltiges, das ganzheitlich, d. h. mit Zusammenhang in sich und (nicht immer scharfer) Abgrenzung nach außen, zusammengehalten wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind. Binnendiffus ist die Bedeutsamkeit, weil nicht alle Bedeutungen (sehr oft keine) in ihr einzeln sind; einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Situationen können aktuell, d. h. von Augenblick zu Augenblick auf Veränderungen abfragbar, oder zuständlich sein, so dass solches Abfragen erst nach längeren Fristen sinnvoll ist; z. B. ist jede motorische Kompetenz flüssiger Bewegung eine zuständliche Situation, jede ihrer Ausübungen eine aktuelle. Das Leben jedes Bewussthabers ist von Situationen durchzogen, die nicht einzeln zu sein brauchen und nur gelegentlich auffällig werden. Tiere und Säuglinge sind in Situationen gefangen, die sie nur im Ganzen durch Rufe und Schreie, denen bei erwachsenen Menschen Interjektionen und Ausrufe entsprechen, wecken, modifizieren oder beantworten können. Menschliche Personen, d. h. Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, haben darüber hinaus die Fähigkeit, Situationen aufzuspalten und zu überholen, indem sie mit ihrer satzförmigen Rede aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit 83 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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einzelne Bedeutungen, meist viele einzelne zusammen, herausholen und zu Konstellationen vernetzen. Unter diesen explizierten Bedeutungen befinden sich Sachverhalte, die Gattungen sind. Ich verzichte hier auf die formal komplizierte Bestimmung, um welche Sachverhalte es sich handelt. 7 Einzeln kann etwas nur sein, wenn es absolut identisch und Fall einer Gattung (etwas als Fall von etwas) ist; das folgt daraus, dass Anzahlen Eigenschaften von Mengen und diese Umfänge von Gattungen sind. Aus der Freisetzung von Gattungen ergibt sich die Möglichkeit, beliebige Inhalte von Situationen, nicht nur Bedeutungen, zu vereinzeln. Im Zuge der Vereinzelung spannt sich für die Menschen um alles Einzelne ein riesiges Ordnungssystem auf, die Welt als Feld möglicher Vereinzelung, die durch Entfaltung der fünf Momente hier, jetzt, sein, dieses, ich der primitiven Gegenwart in fünf Dimensionen aufgespannt wird. 8 Das Hier der primitiven Gegenwart, der absolute Ort als Enge des Zusammenfahrens beim plötzlichen Einbruch des Neuen, entfaltet sich zum Ortsraum aus durch Lagen und Abstände sich gegenseitig bestimmenden relativen Orten, die zu sagen gestatten, wo etwas ist; das Jetzt der primitiven Gegenwart entfaltet sich zur modalen Lagezeit mit Fluss der Zeit, die zu sagen gestattet, wann etwas ist; das Sein der primitiven Gegenwart, das erst das Nichtsein in Gestalt des Nichtmehrseins der ins Vorbeisein verabschiedeten Dauer gegen sich hat, entfaltet sich zum Gegenteil des Nichtseins in voller Breite, mit Projizierbarkeit des Einzelnen ins Nichtseiende, wodurch Planung, Phantasie, Hoffnung, Furcht usw. möglich werden; das Dieses der primitiven Gegenwart, die absolute Identität, entfaltet sich zur relativen Identität von etwas mit etwas, d. h. zum Fallen von Sachen unter mehrere Gattungen, wodurch Vgl. dazu wie Anmerkung 2, S. 43 Vgl. Hermann Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg/München 2009, 3. Auflage 2012, S. 47–70, Phänomenologie der Zeit, Freiburg/München 2014, S. 74–96; Gibt es die Welt?, Freiburg/München 2014, S. 82–108
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diese Sachen vielseitig, d. h. nach vielen Richtungen vergleichbar und unterscheidbar, werden; das Ich der primitiven Gegenwart, d. h. der erst absolut identische, noch nicht einzelne Bewussthaber des Betroffenseins vom Einbruch des Neuen, entfaltet sich durch Selbstzuschreibung als Fall von Gattungen zum einzelnen Subjekt, zur Person mit Gegenüberstellung des Eigenen und Fremden. Diese Seite der Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt ist maßgebend für eine Psychiatrie, die die Subjektivität des Bewussthabers ernst nimmt, und soll daher hier besonders betrachtet werden. Im präpersonalen Leben sind alle in Situationen binnendiffus zusammengehaltenen Bedeutungen subjektiv für einen Bewussthaber, dessen Bewussthaben affektives Betroffensein ist. Mit der Entbindung von Gattungen aus Situationen werden nicht nur einige einzelne Sachen als Fälle von Gattungen möglich, sondern auch ganze Massen von Situationsinhalten, nämlich alle Fälle der betreffenden Gattung, für mögliche Vereinzelung freigesetzt. Dadurch wird es möglich, die Subjektivität von den Bedeutungen abzustreifen und die Sachen, die Fälle von Gattungen sind, zu entfremden. Solange das Leben in Situationen gefangen ist, ist die Subjektivität nicht verfügbar und kein Gegensatz des Eigenen und Fremden (d. h. Entfremdeten 9 ) möglich. Was einzeln oder für Vereinzelung verfügbar ist, kann fremd werden. Eine Sache ist einem Bewussthaber fremd, wenn der (tatsächliche oder untatsächliche) Sachverhalt, dass sie existiert, für ihn neutral (d. h. der Subjektivität für ihn entkleidet) ist. Im Gegensatz dazu ist eine Sache einem Bewussthaber eigen, wenn der (tatsächliche oder untatsächliche) Sachverhalt, dass sie existiert, für ihn subjektiv ist. Es ist hier erforderlich, auch untatsächliche Sachverhalte zu berücksichtigen, weil sich der Gegensatz des Eigenen und Fremden auch auf Nichtseiendes, z. B. Es gibt auch eine Urfremdheit, die nicht auf Entfremdung wartet, vgl. Hermann Schmitz, Jenseits des Naturalismus, Freiburg/München 2010, S. 333–348: Entfremdung und Urfremdheit
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Phantasiertes, illusorisch Gehofftes oder Befürchtetes, bezieht. Den Zusammenhang von Vereinzelung mit Neutralisierung und Fremdwerden kann man besonders deutlich an der Enttäuschung beobachten. Tiere können wie Menschen überrascht und enttäuscht werden, aber für sie hört dann eine Situation auf, und eine neue beginnt, ohne dass sie der Gefangenschaft in Situationen entgehen. Dem Menschen bringt die Enttäuschung dagegen die Chance, dass aus dem Zusammenbruch der durch Enttäuschung entzauberten Situation einzelne harte Tatsachen hervortreten, sowohl aus der verlorenen als auch aus der neuen Lage, und mit ihnen neue Programme, enttäuschte sowohl, die bis dahin in die binnendiffuse Bedeutsamkeit der verlorenen Situation eingebunden waren, als auch neue Strategien zur Bewältigung des neu Gegebenen, und erst recht neue einzelne Probleme. Diese Vereinzelung ist bei der Enttäuschung zugleich Entfremdung; die Subjektivität fällt von vielen Bedeutungen ab, die Eigenheit von vielen Sachen. Diese Neutralisierung und Entfremdung ist ein großer Gewinn, den der Mensch dem Tier voraus hat. Ohne Neutralisierung befände er sich trotz Vereinzelung seiner selbst und vieler anderer Einzelheiten in einer hilflosen Lage wie in schweren Träumen, wo man trotz Vereinzelung, satzförmiger Rede und Selbstzuschreibung in der Situation gefangen bleibt, weil man sich nicht distanzieren, die Subjektivität nicht von den Bedeutungen und die Eigenheit nicht von den Sachen abschütteln kann. Die Neutralisierung solcher für den Bewussthaber subjektiven Sachverhalte, Programme und Probleme und das Fremdwerden von Sachen gibt der Person erst die Chance, das Eigene davon abzuheben. Das ist personale Emanzipation. Ihr unentbehrliches Gegenstück ist die personale Regression mit Resubjektivierung und mehr oder weniger vollständiger Rückkehr ins präpersonale Leben. Ohne personale Regression wäre die emanzipierte Person unmöglich, weil sie, wie gezeigt wurde, aus der Leiblichkeit ihres affektiven Betroffenseins die Möglichkeit ihrer Selbstzuschreibung schöpft. Die Sphäre des Eigenen kommt der emanzipierten Person auf 86 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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zwei Weisen zu, als persönliche Eigenwelt und als persönliche Situation. Die persönliche Eigenwelt ist ein Teil der persönlichen Welt, die aus der persönlichen Eigenwelt und der persönliche Fremdwelt besteht. Zur persönlichen Eigenwelt gehören alle Bedeutungen, die für die Person subjektiv sind, und alle Sachen, für die der tatsächliche oder untatsächliche Sachverhalt, dass sie existieren, für die Person subjektiv ist. Volkstümlich gesagt: Zur persönlichen Eigenwelt gehört alles, woran die Person hängt, sei es in Zu- oder Abneigung, Begierde oder Abwehr. Zur persönlichen Fremdwelt gehören alle Bedeutungen (d. h. Sachverhalte, Programme und Probleme), die durch Abfallen der Subjektivität für die Person neutral geworden sind, und alle Sachen, für die der tatsächliche oder untatsächliche Sachverhalt, dass sie existieren, von dieser Art ist, so dass sie der Person fremd geworden sind. Die Grenze zwischen beiden Teilwelten ist gewöhnlich nicht scharf, sondern durch mehr oder weniger breite Grauzonen aufgeweicht, in denen entweder Subjektivität und Neutralität von Bedeutungen sich zwiespältig mischen oder subjektive und objektive Bedeutungen mit gleichem Inhalt neben einander laufen. Ein Teil der persönlichen Eigenwelt ist die zuständliche persönliche Situation, volkstümlich als die Persönlichkeit der Person bezeichnet. Zu ihr gehört der Inhalt der persönlichen Eigenwelt abzüglich der Sachen darin, die nicht unmittelbar zu der Person selbst gehören, wie z. B. der Freunde und Feinde, an denen sie »hängt«. Die persönliche Situation bildet sich aus den bei Einsetzen der personalen Emanzipation – gewöhnlich etwa vom Alter von neun Monaten an – von der Neutralisierung verschonten, subjektiv bleibenden Bedeutungen und unmittelbar dazugehörigen Sachen und entwickelt sich das Leben lang durch Prozesse der personalen Emanzipation und personalen Regression sowie der Implikation in das Ganze der persönlichen Situation mit binnendiffuser Bedeutsamkeit und Explikation von Einzelnem aus diesem Ganzen angesichts von Herausforderungen. Dabei entstehen viele partielle Situationen, die in der persönlichen Situation wie zähflüssige Massen gleiten 87 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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und sich reiben. Sie lassen sich grob einteilen in retrospektive Situationen (Kristallisationskerne der Erinnerung), prospektive Situationen, die enthalten, worauf die Person hinaus oder wovon sie weg will, und die verleibenden, von mir »präsentisch« genannten zuständlichen Situationen, etwa die Standpunkte der Person, ihre Lebenstechnik (d. h. die habituelle Strategie des Umgangs mit Problemen der Lebensführung), die Fassung, die man verliert, wenn man die Fassung verliert, die moralische Gesinnung, die habituellen Interessen, der persönliche Sprachschatz. Im Lauf der Lebensgeschichte bilden sich in der persönlichen Situation Niveaus der personalen Emanzipation aus, gestaffelt nach der Höhe. Ein Niveau ist höher als ein anderes, wenn es durch mehr oder deutlichere Neutralisierung und Entfremdung bessere Gelegenheit zur Abhebung des Eigenen vom Fremden gibt. Von einem Niveau der personalen Emanzipation aus ist jedes niedrigere Niveau ein Niveau personaler Regression. Die Person kann zwischen den Niveaus wechseln, aber auch gleichzeitig mehrere Niveaus einnehmen, z. B. bei Akrasie. Die persönliche Situation wird grundiert von der persönlichen leiblichen Disposition, die ihre Antriebsquelle ist, gleichsam der Dampf im Kessel, aber auch protopathische und epikritische Züge hat. Wichtiger ist für sie der vitale Antrieb, seiner Stärke und seiner Bindungsform nach. Die Bindungsform des vitalen Antriebs ist die Weise, wie seine Komponenten, engende Spannung und weitende Schwellung, zusammenhängen. Sie kann kompakt sein, so dass beide Impulse zäh an einander haften, wie beim Einatmen, und nur nach Stauung ein ruckartiger Wechsel des Übergewichts zu Stande kommt. Menschen mit dieser leiblichen Disposition sind stufenmütig (bathmothym); bei überwiegender Spannung sind sie Phlegmatiker, die schwer in Bewegung zu setzen sind, bei überwiegender Schwellung Dynamiker, die schwer anzuhalten sind. Der vitale Antrieb kann auch rhythmisch schwingen zwischen Übergewicht der Spannung und Übergewicht der Schwellung; Menschen mit solcher leiblichen Disposition sind kreismütig (zyklothym). Schließlich 88 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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kann die Bindung im vitalen Antrieb so locker sein, dass Anteile der Engung aus der Spannung und Anteile der Weitung aus der Schwellung leicht abgespalten werden können; solche Menschen sind spaltmütig (schizothym). Sie sind einerseits von Schreck, Panik, Bestürzung (privative Engung) bedroht, andererseits aber zur weitenden Abhebung (privative Weitung) befähigt, so dass sie sich strategisch, ironisch oder schwärmerisch usw. über die Situation stellen und auf diese Weise ihre Beirrbarkeit ausgleichen können. Von der Art der leiblichen Disposition wird die Vitalität bestimmt, die Einsetzbarkeit des vitalen Antriebs, deren Grundschicht er selbst ist, wie er ohne jede Zuwendung am Einatmen beobachtet werden kann; als diese Grundschicht nenne ich ihn »vital«. Die ihm aufliegende Schicht der Vitalität ist seine Reizempfänglichkeit, ihre höchste Schicht die Zuwendbarkeit des vitalen Antriebs zu empfangenen Reizen. Alle Aktivität, darunter der Ruck, den man sich zum Realisieren einer Absicht geben muss, damit wirkliches Wollen zu Stande kommt, ist Zuwendung des vitalen Antriebs. Alle drei Schichten der Vitalität sind unabhängig von einander störbar; nicht die Grundschicht, wohl aber die Reizempfänglichkeit und die Zuwendbarkeit sind an Fähigkeiten der Auslese gebunden. Erst mit diesen Vorüberlegungen ist der Rahmen abgesteckt, in den auf einer phänomenologisch gereinigten, von der Weltspaltung und der sie fortführenden Tradition der europäischen Intellektualkultur gelösten Grundlage die sogenannten psychischen Störungen eingeordnet werden können. Auf den Begriff des Psychischen (und den Anschlussbegriff des Psychosomatischen) sollte man dabei verzichten. Die Psyche als abgeschlossene private Innenwelt, in die das gesamte Erleben einer Person eingeschlossen ist, ist, wie gesagt, ein Produkt der Weltspaltung, entstanden aus dem Interesse an personaler Selbstermächtigung gegen die unwillkürlichen Regungen, das ihr die Abgeschlossenheit, mit den Sinneskanälen als einzigen Zugängen, und die Gliederung in Stockwerke beschert. Die Abgeschlossenheit ist eine Fiktion. Zwar wird die Person ihre persönliche Situation 89 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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und ihre persönliche Eigenwelt nicht los, aber sie taucht in Routine oder personaler Regression beständig ins präpersonale Leben ab, wo sie durch leibliche Kommunikation ohne Weiteres an Begegnendes angeschlossen ist und ihm offen steht. Schon deshalb ist die persönliche Situation für sie keine abgeschlossene Innenwelt, ferner aber auch deshalb nicht, weil die persönliche Situation keineswegs nur als Hülle die Person einschließt, sondern dieser auch als Partner entgegentritt. Das ist der Fall beim Wollen, das aus zwei Stufen besteht: der Bildung einer Absicht und der Zuwendung des vitalen Antriebs zu der gebildeten Absicht. 10 Auf der ersten Stufe kommt es für die Person darauf an, zu wissen, was sie will, und dafür muss sie angesichts einer Herausforderung ihre persönliche Situation befragen. Deren Antwort fällt manchmal sogleich einstimmig aus; in anderen Fällen muss die Person zwischen gegenseitig sich hemmenden partiellen Situationen in ihrer persönlichen Situation wie ein Diplomat vermitteln, damit ein von dieser im Ganzen getragenes Programm zu Stande kommt. Wenn dies nicht gelingt, ist das Wollen nur ein Schein und kann sich nicht behaupten, ebenso, wenn ihm zum Schwung die Zuwendung des vitalen Antriebs fehlt. Die Befragung der persönlichen Situation zum Zweck des Wollens geschieht meist unauffällig, etwa beim Wählen aus der Speisekarte im Restaurant, wobei synästhetische Charaktere der angebotenen Speisen mehr oder weniger versteckte Vorlieben (Programme) in der persönlichen Situation ansprechen, sehr nachdrücklich und umständlich aber vor schwierigen Lebensentscheidungen. Dann setzt oft ein mühsames Hin und Her der Argumente für und wider ein, das eigentlich, aber untergründig und der Person unverfügbar, ein Kneten der eigenen persönlichen Situation ist, damit diese zu erkennen gibt, welche von den Seiten der zur Entscheidung anstehenden Alternative zu ihr und damit zur Person selbst passt; wenn das gelungen ist, Hermann Schmitz, Bewusstsein, Freiburg/München 2010, S. 95–109: Wollen
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ist die Entscheidung gefallen, und das Raisonnement wird ruckartig abgebrochen, weil der Mensch nun weiß, was er will. Die persönliche Situation ist also kein Asyl für die Seele, und ebenso wenig eignet sich dafür das Bewusstsein, das seit Kant gern als Ersatz für die Seele, die als metaphysisches Konstrukt suspekt geworden war, herangezogen wird. Anstelle eines Bewusstseins mit allerlei Inhalten genügt das Bewussthaben eines Bewussthabers, der im präpersonalen Leben erst absolut identisch ist, bei der Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt aber zum einzelnen Subjekt wird und sein präpersonales Sichbewussthaben (identifizierungsfreies leiblich-affektives Betroffensein) durch Selbstzuschreibung ergänzt. Die sogenannten Inhalte des Bewusstseins, die Gedanken, Gefühle usw., tauchen vor ihm auf und werden gegebenenfalls durch Zuwendung des vitalen Antriebs und/oder der persönlichen Stellungnahme von ihm aufgegriffen. Der Aufbau der Person ist damit so weit nachgezeichnet, wie mir nötig scheint, um die Störungsstellen zu markieren, bei denen ein heilendes Bemühen um die gestörte Subjektivität einer Person – Subjektivität im angegebenen Sinn der für sie subjektiven Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) – einsetzen kann. Im Folgenden werde ich solche Störungen der Subjektivität in der Skizze einer Nosologie zu klassifizieren versuchen.
3.
Störungen der Subjektivität
Ich gliedere sie in drei Rubriken: Störungen im Bereich des Leibes; Störungen im Verhältnis der Person zu ihrer präpersonalen Leiblichkeit, d. h. im Bereich von personaler Emanzipation und personaler Regression; personale Störungen.
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3.1
Leibliche Störungen der Subjektivität
An erster Stelle nenne ich die Depression, sofern sie nicht bloß eine traurige Verstimmung ist, sondern jene Verstimmung, die Kurt Schneider »vitale Traurigkeit« nannte, wobei er an die von Max Scheler entdeckten Lebensgefühle dachte, die ich als ganzheitliche, d. h. nicht auf Leibesinseln verteilte, leibliche Regungen bestimmt habe. Depression in diesem Sinn ist Lähmung des Rhythmus im vitalen Antrieb, d. h. des rhythmischen Schwingens des Übergewichts von Spannung und Schwellung. Bezeichnend dafür ist das den Deprimierten quälende »Gefühl der Gefühllosigkeit«: Die Gefühle als ergreifende Atmosphären können seinen vitalen Antrieb nicht mehr aufwühlen, wie der Wind die Wellen, da diesem Antrieb die Schwingungsfähigkeit abhanden gekommen ist; der Mensch liegt wie ein Stein unbeweglich in der Brandung der Gefühle. Eine ungefähr verwandte Störung betrifft die Konfliktzonen der Bathmothymiker. Das sind, wie gesagt, Menschen, bei denen Spannung und Schwellung zäh an einander haften. Solche Menschen sind gleichmäßig belastbar; wenn aber die Last zu groß wird, können sie nicht durch Schwingen oder Spalten des Antriebs elastisch ausweichen, sondern nur ruckartig zusammenbrechen oder explodieren; bei zu starker, lange unbekümmert ertragener Belastung gerät ihr Antrieb in eine Stauung, in der sich ihnen kein Ausweg bietet (z. B. Tourette-Syndrom). Auch in diesem Fall ist eine Störung der rhythmischen Schwingungsfähigkeit eine Wurzel des Übels. Zu diesen Störungen im vitalen Antrieb selbst kommen Störungen in den Oberschichten der Vitalität. Eine Überforderung der Kapazität der Reizempfänglichkeit des Antriebs ergibt Nervosität und reizbare Schwäche als diffuse Reaktion, weil das Selektionsvermögen der Reizempfänglichkeit der Überfütterung nicht mehr gewachsen ist. Normalerweise besitzt die Reizempfänglichkeit eine Selektionsschärfe, die der Zuwendung verlässliche Vorgaben macht; wenn diese Schärfe gestört ist, wird die 92 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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Zuwendung mehr oder weniger orientierungslos, was eigentümliche Störungen ergibt. Die Zuwendbarkeit des Antriebs ist gestört bei dem neuerdings viel besprochenen Hyperaktivitätssyndrom der Jugendlichen, das man mit dem Struwwelpeter auch »Zappelphilippsyndrom« nennt. In diesem Fall reicht die Spannung im vitalen Antrieb allein oder im Verband mit der epikritischen Tendenz nicht mehr zum Schutz gegen Ablenkungen der konsequenten Zuwendung aus. Ins Extrem gesteigert ist die Zuwendungsstörung im Krankheitsbild der Manie, wobei die Schwellung im vitalen Antrieb so stark überwiegt, dass die Spannung nicht mehr die zur selektiven Zuwendung auf ein Thema erforderliche Hemmung durchhalten kann. Die bisher betrachteten leiblichen Störungen der Subjektivität betreffen den vitalen Antrieb in der Dimension von Enge und Weite. Die andere Dimension leiblicher Dynamik, die von protopathischer und epikritischer Tendenz, wird bei den Essstörungen wichtig. Ein viel und vergebens diskutiertes Problem der modernen Medizin ist die überall überhand nehmende Fettsucht mit schädlichen Wirkungen auf Kreislauf und Stoffwechsel. Ich habe sie als Vergeltung der protopathischen Tendenz für die einseitige Heraus- und Überzüchtung der epikritischen Tendenz im modernen Leben gedeutet. 11 Besonders bezeichnend ist dafür die Verengung der leiblichen Richtungen, besonders des Blicks, auf ein schmales Feld beim modernen Umgang mit Maschinen aller Art, z. B. Computer, Fernsehen, Autofahren. Der Autofahrer sitzt wie der Fernseher entspannt in bequem immobiler Haltung mit Scharfeinstellung auf ein enges Gesichtsfeld, in dem Signale fein differenzierter Art mit selektiver Reizempfänglichkeit und der Zuwendung zu empfangenen Reizen abgelesen und beantwortet werden müssen; kaum zu sagen, was ihn veranlassen könnte, sich vom Sitz nach oben oder unten zu bewegen. Die Hausfrau in der traditionellen Küche kann dagegen ihre Arbeit Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen, Freiburg/München 2005, S. 156–167: Fettsucht als Vergeltung des Leibes
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mit frei wählbaren Richtungsimpulsen verrichten, ohne solche epikritische Zuspitzung des vitalen Antriebs. Dieser selbst ist von sich aus protopathisch und rächt sich, weil diese seine Tendenz zu kurz kommt, durch übermäßige Aufnahme von Speisen, vorzüglich weicher und süßer. Als Gegenmittel habe ich den Kaugummi, dessen Genuss epikritische Tendenz in protopathische konvertiert, und den Spaß in und auf dem Wasser mit freier Variierbarkeit leiblicher Richtungen empfohlen. Eine andere Essstörung der leiblichen Subjektivität ist die Fressbrechsucht (Bulimie). 12 Sie entsteht bei nicht gelingender Abstoßung der protopathischen Tendenz, die dem Abstoßenden so nahe bleibt, dass er in einseitiger Einleibung gefesselt bleibt von dem, was er abstößt. Dadurch ergibt sich eine dem Ekel nah verwandte leibliche Regung: Faszination, die von dem, was abstößt, nicht loskommen lässt, mit der Folge, dass protopathische Fülle (als Nahrung und leiblicher Zustand) abgestoßen und wieder eingeführt wird. Es dürfte verwundern, dass ich auch den Schmerz den leiblichen Störungen der Subjektivität, die, medizinisch betrachtet, in die Hände des Psychiaters oder Psychotherapeuten gehören, zurechne. Schmerz ist qualvoll als eine paradoxe Selbstvereitelung der Schmerzabwehr. Das zeigt sich an der gegensätzlichen Durchkreuzung der zugleich weitenden und engenden Schmerzgesten. Weitende Schmerzgesten sind der Schmerzensschrei (auch als Wimmern), der nur symbolisch ins Weite entweicht und den Gepeinigten zurücklässt, und das Aufbäumen, das die Fessel nicht abwerfen kann. Engende Schmerzgesten sind das Zusammenbeißen der Zähne, das Zusammenpressen der Lippen und Fäuste. Mit der weitenden Geste will der Gepeinigte dem Schmerz entkommen – weg mehr vom absoluten als vom relativen Ort –, mit der engenden Schmerzgeste den Schmerz aufhalten. Beides passt nicht zusammen, denn, um den Schmerz Hermann Schmitz, Jenseits des Naturalismus, Freiburg/München 2010, S. 362
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aufzuhalten, muss man ihm nahe treten. Zu dieser zwiespältigen Verstrickung kommt es, weil zwei expansive Impulse sich gegenseitig hemmen: der Fluchtimpuls weg vom Schmerz und der Schmerz selbst als expansiver, aber gehemmter Drang, als Konflikt zwischen hemmender Spannung und drängender Schwellung im vitalen Antrieb. Die Übermacht der Hemmung, die den Schmerz zum Konflikt im vitalen Antrieb macht, hängt mehr oder weniger vom hemmenden Beitrag der Schmerzabwehr des Gepeinigten ab. Wenn dieser sich dem Impuls des Schmerzes einfach hingeben könnte, ohne ihn sowohl fliehen als auch aufhalten zu wollen, wäre der Konflikt vielleicht gelöst. Das ist der Fall, wenn ein überwiegender Impuls den Schmerz gleichsam mitnimmt, so dass es nicht zur zwiespältigen Auseinandersetzung mit ihm kommt, wie beim Soldaten, der im Eifer des Kampfes den Schmerz aus seiner Verwundung nicht spürt. Ein anderes Verfahren der Schmerzersparung ist die völlige Entspannung, die den expansiven Impuls, der Schmerz ist, selbst abschaltet. Vielleicht gibt es noch andere Weisen, sich mit dem Schmerz gleichsam zu befreunden und sich dadurch der Verstrickung in widersprüchliche Abwehrmuster, die ihm weitgehend seine Schärfe gibt, zu entziehen.
3.2
Störungen im Zwischenbereich von personalem und präpersonalem Leben (personale Emanzipation und personale Regression)
Hierhin gehören die großen, oft katastrophalen Störungen: Schizophrenie und Hysterie. Der Schizophrenie habe ich eine ausführliche Studie zugedacht. 13 Ich habe für die schizophrenen Symptome drei Quellen eruiert, die insofern gleichberechtigt Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band IV: Die Person, Bonn 1980, in Studienausgabe 2005, S. 415–473, vgl. Andrea Moldzio, Schizophrenie – eine philosophische Krankheit, Würzburg 2004
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sind, als es möglich ist, jede verstehbar aus den beiden anderen herzuleiten, wobei aber eine von ihnen die größte anthropologische Wichtigkeit besitzt und zur Zentralstellung besonders geeignet ist. Dabei handelt es sich um den Verlust der Elastizität im Spielraum von personaler Emanzipation und personaler Regression. Der normale Mensch, der eine leichte oder schwere Erschütterung erleidet, eine personale Regression, kann sich anschließend wieder fassen, den Eindruck – ebenso, wenn es ein bedrückender wie wenn es ein erhebender war – verarbeiten, sich in personaler Emanzipation wieder distanzieren. Der Schizophrene steckt fest, erstarrt gleichsam in der Haltung, in der ihn die Betroffenheit erwischt hat, ohne Fähigkeit zur Verarbeitung. Daher kann ihm jeder Anflug eines ihn einnehmenden Gedankens oder Zumuteseins unvermittelt zur wahnhaften Gewissheit werden, etwa in wahnhafter Selbstverkennung. Aus demselben Defekt geht ebenso die affektive Steifigkeit hervor, wie die Bahnung entweder verhärtender oder aufweichender Reaktionen: verhärtend durch Einschnappen in einem Niveau personaler Regression mit Stereotypien, wahnhaften Identifizierungen, motorischer Erstarrung; aufweichend in hilfloser Anpassung, wächserner Weichheit (flexibilitas cerea nach Kraepelin), Auslieferung an vermeintlich durch Maschinen gemachte Gedanken. Wenn der Kopf nicht mehr frei ist, um Stellung zu nehmen, wird man entweder weich und durchlässig in hilfloser Anpassung oder starr. Die beiden anderen Quellen sind die Explikationsstörung und das Versagen der Objektivierung. Die Explikationsstörung bis zum Faseln, d. h. die Unfähigkeit, einzelne Bedeutungen geordnet aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen abzurufen, ergibt sich aus der Ratlosigkeit, mit widerfahrenden Eindrücken elastisch reagierend fertig zu werden, und ist besonders ausgeprägt bei stark mit Subjektivität für den Kranken beladenen Themen, die ihn seine Hilflosigkeit mehr fühlen lassen als objektive und neutrale Themen, bei denen es nicht auf sein Steckenbleiben in der Betroffenheit ankommt. Das Versagen der Objektivierung, sich abzusetzen, das 96 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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Eigene vom Fremden zu scheiden, ergibt sich unmittelbar aus dem Verlust der Elastizität bei der Eindrucksverarbeitung; der Schizophrene verfällt an das, was ihm zustößt, weil er sich damit nicht mehr beweglich auseinandersetzen kann. Die Hysterie gleicht der Schizophrenie als Störung des Zusammenwirkens von personaler Emanzipation und personaler Regression, doch kommt der Hysteriker damit besser zurecht. Sein Leiden ist ein ihm unverfügbarer Wechsel des Niveaus personaler Emanzipation bzw. Regression. Während der Gesunde sich mehr oder weniger distanzieren oder gehen lassen kann, schnappt das Niveau der größeren oder geringeren Selbständigkeit oder Unselbständigkeit beim Hysteriker wie von selbst ein. Der unvermittelte Wechsel solcher Niveaus kann bis zur Persönlichkeitsspaltung (multiple Persönlichkeit) gehen. Auf dem jeweiligen Niveau kann sich der Hysteriker aber, im Gegensatz zum Schizophrenen, mit beweglicher Eindrucksverarbeitung angepasst benehmen. Es gibt auch eine gespielte Hysterie, die den Wechsel und die Überschiebung solcher Niveaus geschickt wie ein Klavierspiel handhabt. Die echte Hysterie kann in die gespielte und umgekehrt übergehen. Außer den krassen und dramatischen Störungen der personalen Emanzipation bei Schizophrenie und Hysterie gibt es mildere Zustandsbilder der Reaktion auf eine besondere Empfindlichkeit und Schutzbedürftigkeit des Niveaus der personalen Emanzipation. Ich nenne den Hyperthymiker nach Mollweide und den Typus melancholicus nach Tellenbach. 14 Der Hyperthymiker strapaziert seine Vitalität durch Hochspannung und Fixierung seines Selbstbewusstseins, um sich über seine UnHans Mollweide, Psychopathologische Abgrenzung der hyperthymischen Psychopathie von der chronischen Manie bzw. Hypomanie, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten vereinigt mit der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Band 181, 1948/49, S. 712– 735; Hubert Tellenbach, Melancholie, Berlin /Göttingen/Heidelberg 1961; referiert in: Schmitz, System der Philosophie, Band IV, Bonn 1980/2005, S. 350–353
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sicherheit, die verwundbare nervöse Überempfindlichkeit, hinwegzusetzen; er weicht durch gesteigerten Anspruch auf Geltung der Zuwendung zu Reizen aus, die das Niveau seiner personalen Emanzipation bedrohen würden. Der Typus melancholicus reagiert auf dieselbe Bedrohung passiv, gleichsam mit Einwickelung in ein überaus ordentliches, dienendes, anhängliches, gewissenhaftes, geregeltes Leben mit ängstlicher Sorgfalt; er fühlt sich schuldig und bittet gern um Verzeihung. Auch das ist eine Verweigerung der Zuwendung des vitalen Antriebs zu Reizen im Interesse des Schutzes für das verletzliche, vom vitalen Antrieb nicht sicher getragene Niveau personaler Emanzipation.
3.3 Personale Störungen Nach den leiblichen Störungen der Subjektivität und den Störungen des Aufbaus der Person über ihrer Leiblichkeit betrachte ich nun die Störungen des vom Leib getragenen personalen Lebens. Es handelt sich teils um Störungen der persönlichen Situation, teils um Abgrenzungsstörungen in der persönlichen Welt. Die Störungen der persönlichen Situation, die Neurosen im engsten Sinn, beruhen auf Reibungen unter den partiellen Situationen in ihr. Solche Reibungen sind bis zu einem gewissen Grade normal und gesund; ein Mensch ohne sie wäre ohne Probleme, die nicht von außen an ihn herangetragen werden, und könnte nicht durch Kämpfe aus eigenen Quellen seiner Persönlichkeit reifen. Neurotisch werden die Reibungen erst, wenn sie ihm oder seiner Umgebung über Gebühr lästig fallen und seine Entfaltung in für ihn selbst unbeherrschbarer Weise behindern. Oft ist es die Lebenstechnik, die habituelle Weise des Umgangs mit Problemen der Lebensführung, womit der neurotische Mensch, ohne es zu durchschauen, sich selbst im Wege steht. Oft tyrannisieren ihn auch die prospektiven partiellen Situationen in seiner persönlichen Situation, die in binnendiffuser Be98 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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deutsamkeit umschließen, worauf er aus ist und wovon er weg will, und mit einander in Konflikt geraten können. Sie sind ihm meist schwer zugänglich, wofür ihre allzu enge Verstrickung mit den retrospektiven partiellen Situationen ein Grund sein dürfte; es ist fast unmöglich, beide Seiten der eigenen persönlichen Situation zu vergleichen und von den prospektiven auf die retrospektiven zurückzusehen oder von diesen auf jene vorzublicken. Viel eher kann man die präsentischen partiellen Situationen in der Reflexion isolieren und mit einander vergleichen. Die Psychoanalytiker fokussieren hauptsächlich auf die retrospektiven Anteile der persönlichen Situation, z. B. frühkindliche Beeinträchtigungen und ungelöste Konflikte, die nach ihrer Meinung kausal weiterwirken und die Persönlichkeit behindern. Dagegen ist zu sagen, einerseits, dass die retrospektiven partiellen Situationen keine bevorzugte Stellung unter den Neurosenquellen haben, andererseits, dass frühe Störungen als solche für die Entwicklung der Persönlichkeit viel weniger wichtig sind als die Art und Weise, wie die Person damit umgeht und sie mehr oder weniger elastisch verarbeitet. Ein Beispiel für eine Neurose, die ihre Quelle in einer prospektiven partiellen Situation hat, ist die Animabesessenheit des Mannes. Die Anima ist eine partielle prospektive Situation in der persönlichen Situation des Mannes; sie drängt darauf, auf eine Frau projiziert zu werden, die in unberechenbarer, geheimnisvoller Weise Nähe und Ferne vereinigt. Wenn dies nicht gelingt, kann es zu Ersatzbildungen bis in die Metaphysik hinein kommen, wie bei Nietzsche. 15 Die Abgrenzungsstörungen in der persönlichen Welt ergeben sich aus den Grauzonen, in denen Subjektivität und Neutralität von Bedeutungen, Eigenheit und Fremdheit von Sachen in einander übergehen. Dem gemäß kann die Grenze zwischen persönlicher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt mehr oder weHermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Band II, Freiburg/München 2007, S. 562–566
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niger scharf gezogen sein. Der Übergang im Bereich der Bedeutungen (der Sachverhalte, Programme und Probleme) kann darin bestehen, dass Subjektivität und Neutralität sich mischen, aber auch darin, dass subjektive und inhaltsgleiche neutrale Bedeutungen parallel geführt werden, indem jemand in affektivem Betroffensein an etwas hängt und dieses Verhältnis zugleich neutral und sachlich betrachtet. Nur die erste, nicht die zweite Weise des Übergangs muss die Verwischung der Grenze begünstigen. Es gibt drei Typen von Personen, die sich im Verhältnis der beiden Teilwelten ihrer persönlichen Welt unterscheiden. Bei den Extravertierten ist die Grenze zwischen persönlicher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt schwach gezogen, so dass sie in fast paradoxer Weise Dominanzstreben und Hingabefähigkeit vereinigen können, weil sie wenig befähigt sind, das Fremde als Fremdes zu sehen. Ihre Gefahr ist die extravertierte Schwäche der Zerstreuung und Ablenkbarkeit; Goethe hatte mit ihr lebenslang zu kämpfen. 16 Die extravertierte Schwäche kann auch reaktiv determiniert sein, indem Konflikte partieller Situationen in der persönlichen Situation die Person zur Flucht nach außen treiben. Dem Extravertierten steht der Introvertierte gegenüber. Bei ihm ist die Grenze zwischen beiden Teilwelten weit schärfer durchgezogen, und der sein Leben bestimmende Akzent liegt auf der persönlichen Eigenwelt, mit besonderer Ergiebigkeit (Nachhaltigkeit) der retrospektiven partiellen Situationen. Die persönliche Fremdwelt hat für ihn deutlichen Umriss. Seine Gefahr ist die Schutzreaktion gegen diese durch Rückzug oder Abpanzerung. Der dritte Typ, der des Ultrovertierten, gleicht dem Introvertierten durch die Schärfe der Abgrenzung zwischen beiden Teilwelten der persönlichen Welt, aber bei ihm liegt das Hauptgewicht der Lebensführung in der persönlichen Fremdwelt. Das wird dadurch möglich, dass in den breiten Grauzonen die Subjektivität von der Neutralität, die Eigenheit von Vgl. Hermann Schmitz, Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang, Bonn 1959, Nachdruck 2008, S. 306–309
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der Fremdheit so sehr in Schach gehalten wird, dass sie in den Dienst der anderen Seite tritt. Ultrovertiert sind z. B. ein einseitig auf seinen Betrieb (z. B. wirtschaftlicher, politischer, militärischer Art) und dessen Effizienz fixierter Funktionär, ein nur noch sachlich denkender Ingenieur, Arzt oder Mathematiker, ein kalter Machtmensch wie Napoleon oder ein in neutrale Probleme um ihrer selbst willen verliebter Grübler wie der sächsische Grundtoffel. 17 Die Gefahr des Ultrovertierten besteht in der Vernachlässigung des affektiven Betroffenseins, der unerlässlichen Stütze der Selbstzuschreibung, bei sich und anderen. Eine andere Art von Abgrenzungsstörungen zwischen persönlicher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt besteht in den paradoxen Überschiebungen des Eigenen und Fremden. Auch sie werden möglich durch die Übergänge in den Grauzonen, namentlich die Parallelführung subjektiver und neutraler Bedeutungen. Die wichtigste Form solcher Störungen der Subjektivität ist die Zwangskrankheit, der Anankasmus. Ein Programm kann einerseits als fremd aus der persönlichen Eigenwelt ausgeschieden sein und sich dann doch in dieser einnisten. Dann ist es für die Person einerseits durch seine Fremdheit unverfügbar, andererseits durch seine Eigenheit undistanzierbar. Sie unterliegt dann einem Zwang, sich dem Programm wie einem erratischen Block zu unterwerfen. Wenn das Programm eine Norm ist, d. h. ein Programm für möglichen Gehorsam, handelt es sich um eine Zwangsneurose im engeren Sinn. Das tyrannische Programm kann aber auch ein Wunsch sein, d. h. das Programm der Investierung des affektiven Betroffenseins in die Vertatsächlichung (Realisierung) eines Sachverhaltes, so dass diese Realisierung dem Betroffenen lustvoll nahe geht, Ausbleiben der Realisierung dagegen leidvoll. Dann ist die Zwangskrankheit eine Sucht. Das Gegenstück zum Anankasmus ist der Sensitivismus, wobei nicht das Fremde in das Eigene verlagert 17
Hermann Schmitz, wie Anmerkung 14, S. 406, nach Beck
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ist, sondern umgekehrt das Eigene in das Fremde, so dass dieses in wahnhafter Verzerrung eine Tönung des Eigenen annimmt. Das ist der Fall bei dem von Kretschmer beschriebenen Beziehungswahn alternder Jungfrauen. 18 * Bisher habe ich mich nur mit Individuen beschäftigt. Es gibt aber auch kollektive Störungen der Subjektivität, die großen Kulturen das Gepräge geben. Man kann die Geschichte des Abendlandes seit der Weltspaltung in Griechenland, besonders auf dem Boden des weströmischen Reiches, als eine jahrtausendelange Krankheitsgeschichte verstehen, bestehend in den vier Verfehlungen des abendländischen Geistes, die ich in meinem Buch Adolf Hitler in der Geschichte (Bonn 1999) herausgearbeitet habe. Die erste von ihnen ist die Weltspaltung, die mit ihrem Motiv, dem Bemühen um personale Selbstermächtigung gegen die unwillkürlichen Regungen, schon den Übergang zur zweiten, der dynamistischen, Verfehlung macht; diese besteht in der Bindung des gesamten affektiven Betroffenseins an die Macht als Thema. Diese Verfehlung wird mit dem Köder der Sorge um das eigene Glück oder Unglück der Person in einem Leben nach dem Tode vom Christentum voll ausgebildet, zunächst als Bindung des affektiven Betroffenseins an die Allmacht Gottes in der Hoffnung, sich vor der ewigen Verdammnis in die ewige Seligkeit retten zu können. Da jede Person nur für sich die Gunst des Machthabers besorgen kann, während das Schicksal der Mitmenschen für sie undurchsichtig bleibt, verbindet sich die dynamistische Verfehlung im menschlichen Selbstverständnis mit der autistischen, nämlich der Isolierung und Nivellierung der Individuen durch Abstreifung der die persönlichen Situationen in sich einpflanzenden (implantierenden) gemeinErnst Kretschmer, Der sensitive Beziehungswahn, zuerst 1918, Neuausgabe Berlin/Göttingen/Heidelberg 1950
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samen Situationen, die im heidnischen Altertum unangefochten geblieben waren – und das, obwohl die praktische Uniformierung der Gläubigen im Verband der christlichen Kirche stärker durchgreift als je zuvor. Da die Bindung an die Allmacht Gottes durch den Missbrauch zu weltlichen Zwecken (z. B. Kreuzfahrer) der Transzendenz entkleidet wird, beginnen die Menschen ab etwa 1300 (Philipp der Schöne im Konflikt mit Papst Bonifax VIII.) die Macht, an die ihr affektives Betroffensein gebunden bleibt, in die eigenen Hände zu nehmen. Dabei verbindet sich die dynamistische Verfehlung mit der konstellationistischen. Den Grund dafür legt der spätscholastische Nominalismus mit dem Singularismus, der Lehre, dass alles ohne Weiteres einzeln ist und es weder Universalien noch Relationen (wie die Weltordnung) gibt. Der Konstellationismus deutet die Welt als ein großes Netz aus einzelnen Knoten, das im Geist der dynamistischen Verfehlung dazu bestimmt wird, vom Menschen nach Belieben neugeknüpft zu werden. Daraus geht die neuzeitliche Naturwissenschaft und Technik hervor. Das Christentum wird seit dem 18. Jahrhundert von der Aufklärung abgelöst, die von ihm die dynamistische und die autistische Verfehlung übernimmt, sichtbar am Bündnis der Aufklärung mit dem Kapitalismus. Im Zuge des naturwissenschaftlich-technischen Kapitalismus wird dem menschlichen Selbstverständnis wenigstens von Seiten nüchterner Denker wie Hume die Subjektivität entzogen, so dass der Mensch sich selbst als bloßes Bündel psychischer Atome (Perzeptionen, Empfindungen) verstehen soll. Diese Entsubjektivierung weckt die Frage des Menschen, wo er selbst bleibt. Diese Frage wird im Herbst 1793 von Johann Gottlieb Fichte entdeckt, aber nicht zum Rückgewinn der Subjektivität von Tatsachen genützt, da weiterhin ganz selbstverständlich alle Tatsachen als objektiv oder neutral gelten. Fichte versucht es erst mit einem absoluten Ich und, als dieser Versuch an der Beschränkung durch ein Nichtich scheitert, mit der zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, Abhängigkeit und Unabhängigkeit schwebenden Einbildungskraft. Aus der Not dieses Schwebens 103 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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über den eigenen Möglichkeiten, die Kierkegaard und seine Nachfolger als Angst begreifen, macht Friedrich Schlegel die Tugend virtuoser Wendigkeit, sich von jedem Standpunkt abwenden und auf jeden versetzen zu können (romantische Ironie). Er eröffnet damit das ironistische Zeitalter, das inzwischen zur Dominante der abendländischen Kultur geworden ist. Der Mensch des ironistischen Zeitalters steht mit virtuoser Wendigkeit, die ihm die Konsequenz eigenen Wollens abgewöhnt, ohne die aus solcher Konsequenz sich ergebende Widerstandskraft einem ungeheuren Angebot vorgeformter Möglichkeiten gegenüber, das von der dynamistisch-konstellationistischen Verfehlung der modernen Technik bereitgestellt wird. Er hat nur noch die Aufgabe, in dem riesigen Schienennetz dieses Angebots für sich die Weichen zu stellen, aber kaum noch eine Chance, aus dem Vollen der in der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen noch ungeformten Möglichkeiten zu schöpfen.
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Die grundlegende und allgemeine Formel zur Charakteristik der Gesundheit stammt von Aristoteles. Sie betrifft bei ihm aber nicht die Gesundheit, sondern die Lust. Platon hatte die Lust als den Prozess des Übergangs von einem Mangel zur Behebung dieses Mangels ausgegeben. Damit wollte er sie, skeptisch gegen Lust, zur bloßen Vorstufe der Vollkommenheit, die ohne Lust sei, herabsetzen. Dagegen wendet sich Aristoteles. Lust könne kein Prozess sein, denn jeder Prozess könne schneller oder langsamer stattfinden, aber es habe keinen Sinn, von schneller und langsamer Lust zu sprechen. Für Aristoteles verträgt sich Lust mit Ruhe und Vollkommenheit, sie ist die Auszeichnung eines Lebewesens, das in der Fülle seiner Kraft seine naturgemäße Anlage unbehindert in Aktion versetzen kann, also das, was Karl Bühler »Funktionslust« nennt. Demgemäß bestimmt Aristoteles im 7. Buch der Nikomachischen Ethik Lust als den ungehemmten Vollzug der naturgemäßen Fähigkeit (er sagt: des naturgemäßen Habitus, wobei Habitus das Gegenteil von Mangel oder Privation ist) eines Wesens. 1 Diese Formulierung lässt sich mit einigen Einschränkungen von der Lust auf die Gesundheit übertragen. Zunächst ist zu fordern, dass der Vollzug sozialverträglich ist. Wenn ein Mensch seinen Mitmenschen mit der unbehinderten Ausübung seiner natürlichen Anlage über Gebühr lästig fällt, wird man ihn für krank, etwa für einen Psychopathen, halten. Ferner bedeutet eine Behinderung durch bloße äußere Umstände keine Einschränkung der Gesundheit. Schließlich müssen auch solche Behinderungen ausgeschlossen werden, 1153 a14 f., vgl. Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band III, Teil 2, S. 491–495
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Gesundheit
die auf moralischem Versagen beruhen. Bosheit und Niedertracht sind keine Krankheiten. Die Grundidee des Aristoteles, dass es auf die ungehinderte Entfaltbarkeit der eigenen Natur und der darin angelegten Fähigkeiten ankommt, lässt sich bei Berücksichtigung dieser Bedenken gut zur Bestimmung des Sinnes der Rede von Gesundheit benützen. Es ergibt sich dann etwa folgende Formulierung: Ein Lebewesen ist gesund, wenn es die zu seiner Natur gehörigen Fähigkeiten unbehindert entfalten kann, solange diese Entfaltung sozialverträglich ist und abgesehen von der Behinderung durch äußere Umstände und durch moralisches Versagen seinerseits. Es könnte scheinen, als ob damit ein Wegweiser gefunden sei, dem sich ohne Probleme folgen ließe, um die Gesundheit zu finden. Die Probleme ergeben sich aber erst bei dem Versuch, den gewiesenen Weg zu gehen. Aristoteles dachte biologisch. Demgemäß ist seine Definition glatt anwendbar auf Pflanzen und Tiere. Bei ihnen hat es klaren Sinn, von ihrer spezifischen Natur zu sprechen und dieser einen Katalog von naturgemäßen Fähigkeiten zuzusprechen, deren unbehinderte Ausübbarkeit unter günstigen Umständen als die Gesundheit des betreffenden Lebewesens zu gelten hat. Bei einer Pflanze handelt es sich z. B. um den gesunden Wuchs zu der betreffenden Vollform, um die gehörige Behauptung gegen Trockenheit, Regen und Wind und die Photosynthese. Im Fall der Tiere ist der Katalog komplizierter. Ein Löwe muss gut schlafen, scharf sehen, jagen, fressen, ausscheiden, sich paaren, je nach Geschlecht brüllen oder gebären können und die dazu erforderlichen Körperteile, Körperformen und Körperfunktionen entsprechend ausbilden. Auch der Mensch ist ein Tier. Seiner tierischen Natur kann man ebenso wie der des Löwen, und in ziemlich ähnlicher Weise, einen Katalog naturgemäßer Fähigkeiten zuordnen, deren unter günstigen äußeren Umständen unbehinderte Ausübbarkeit die Gesundheit des Menschen als Tier ausmacht. Mit der Erhaltung und Wiederherstellung der so verstandenen tierischen Gesundheit des Menschen beschäftigt sich die gesamte somatische Humanmedizin, sofern sie bloß 106 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Gesundheit
eine solche ist. Der Augenarzt z. B. bemüht sich um die Wiederherstellung oder Erhaltung der natürlichen Sehfähigkeit, so gut das nach Lage des Falls möglich ist; ebenso könnte er sich um die Augen einer Kuh oder eines Huhns bemühen, und bei experimentellen ophthalmologischen Arbeiten am Tiermodell kommt so etwas vielleicht wirklich vor. Der somatische Mediziner ist insofern ein Veterinär des Menschen. Wenn er sich nur an der anatomischen und funktionalen Integrität des körperlichen Menschentieres orientiert, braucht er aus der Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit kein Problem zu machen, da über den Katalog der naturgemäßen Fähigkeiten dieses Tieres hinlängliche Übereinstimmung besteht. Der orthopädische Chirurg, der ein gebrochenes Bein auf den Weg zur Heilung bringt, kann sich sicher sein, dass er damit einen Beitrag zur Wiederherstellung der Ausübbarkeit der naturgemäßen Fähigkeiten desjenigen Tieres leistet, das sein Patient eben auch ist. Die Schwierigkeit der Anwendung der aristotelisierenden Gesundheitsformel beginnt erst beim Menschen, sofern er nicht nur ein Tier oder ein ganz besonderes Tier ist. Die offene Frage ist, ob und wie man von einer Natur dieses Menschen mit einem Katalog von Fähigkeiten, deren sozialverträgliche Ausübbarkeit ohne Behinderung durch äußere Umstände und moralisches Versagen seine Gesundheit wäre, sprechen darf. Die aristotelische und scholastische Tradition hat sich die Antwort auf diese Frage zu leicht gemacht. Sie meint, das Menschliche als spezifische Differenz zur generischen Tiernatur glatt hinzufügen zu können, als den Logos, die Fähigkeit vernünftiger Rede, und kommt so zur Definition des Menschen als vernünftiges Tier (animal rationale). Da die spezifische Differenz nach Aristoteles mehr als die Gattung bei der Wesensbestimmung ins Gewicht fällt, ist demgemäß der Mensch für Thomas von Aquino in erster Linie Vernunftwesen, dem seine tierische Natur unterworfen werden muss. In Wirklichkeit ist das spezifisch Menschliche aber kein glatt und unproblematisch anfügbarer Zusatz zur Tiernatur, sondern eine sehr dynamische, labile und zwiespältige 107 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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Ergänzung, die mehr oder weniger den Versuch durchkreuzt, die gesunden, naturgemäßen Fähigkeiten des Menschen im Vollsinn zu einem Katalog zu bündeln. In diese Schwierigkeit will ich jetzt einführen, indem ich auf die Grundgedanken meiner Anthropologie zurückkomme. Da ich diese nach vielen Darstellungen als mehr oder weniger bekannt voraussetzen darf 2, werde ich bei dieser Skizze auf ausführliche Einführung der Begriffe und Begründung verzichten. Der Mensch im Vollsinn ist Person. Eine Person ist ein Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung. Selbstzuschreibung besteht darin, einen Fall mehrerer Gattungen für sich selbst zu halten, also z. B. in meinem Fall einen Mann, einen Menschen, einen Professor, einen Deutschen, einen Philosophen für mich selbst. Indem ich die Rollen, die ich als solcher Fall je einer Gattung als die meinen anerkenne, überlege, vergleiche, auf einander abstimme oder gegen einander ausspiele, kann ich mir über meine Stellung in meiner näheren und ferneren Umgebung und über meine Aufgabe und Verantwortung klar werden, solche Stellungen, Aufgaben, Verantwortungen übernehmen oder kritisieren, Rechenschaft ablegen usw. Das macht mich zur Person. Die Selbstzuschreibung ist ein identifizierendes Sichbewussthaben; sie setzt ein nicht identifizierendes Sichbewussthaben voraus, damit für die Identifizierung des betreffenden Professors, Deutschen, Mannes usw. ein Relat, womit identifiziert wird, in der zur Selbstzuschreibung erforderlichen Weise vorliegt. Ich muss schon ohne Identifizierung wissen, dass es sich um mich handelt, mit dem der Fall solcher Gattungen identifiziert werden soll; sonst führt die fortschreitende Identifizierung nur ins Unendliche zu einer Anhäufung immer weiterer Gattungen, aus denen nie ein Grund für die Annahme zu gewinnen ist, dass gerade ich der Fall aller dieser Gattungen sei. Dieses vorgängige, nicht identifizierende Sichbewussthaben,
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Es genügt wohl, auf das Vorstehende zu verweisen.
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das durch die Selbstzuschreibung bloß ergänzt wird, besteht im affektiven Betroffensein, weil dessen Tatsachen subjektiv, d. h. durch ihre bloße Tatsächlichkeit (ohne Rücksicht auf ihren Inhalt) an den Betroffenen adressiert sind, mit der Folge, dass höchstens er sie aussagen kann. Im affektiven Betroffensein findet man also identifizierungsfrei sich und das, was einen betroffen macht. Wie gelingt es, in diesem Zusammenhang identifizierungsfrei sich selbst zu finden? Das ist nur möglich durch die leibliche Engung, das »Zusammenfahren« z. B. vor Schreck, beim plötzlichen Einbruch des Neuen, das Dauer zerreißt, Gegenwart exponiert und die zerrissene Dauer ins Nichtmehrsein verabschiedet; die exponierte Gegenwart ist die primitive, in der die erlittene Engung als Hier (absoluter Ort), das Plötzliche als Jetzt (absoluter Augenblick), die aufdringlich hervortretende Wirklichkeit (das Sein), die absolute Identität als dieses, das es selbst und von der verabschiedeten Dauer verschieden ist, und die Subjektivität des Betroffenseins, selbst dieses zu sein, das betroffen wird, untrennbar und ununterscheidbar verschmelzen. Dabei fehlt mit der Aussicht auf Gattungen die relative Identität von etwas mit etwas, d. h. eines Falles dieser Gattung mit einem Fall jener (meist einer anderen) Gattung, und damit die Möglichkeit der Identifizierung; statt dessen sorgt der Zusammenfall von absoluter Identität und Subjektivität für ein identifizierungsfreies Sichbewussthaben in der primitiven Gegenwart. Diese ist ein seltener, vielleicht nie ganz erreichter Ausnahmezustand, der aber beständig als Aussicht vorgehalten wird durch die Engungskomponente des spürbaren vitalen Antriebs, in dem Engung und Weitung als Spannung und Schwellung gegenläufig – einander hemmend und gerade dadurch aktivierend – verschränkt sind. Der vitale Antrieb übergreift den Leib in der Einleibung als gemeinsamer Antrieb, der Leiber mit Leibern und – vermittelt durch Brückenqualitäten, nämlich Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere – mit leiblosen Gestalten (Dingen und Halbdingen) zusammenschließt. Aus Dauer, primitiver Gegenwart, leiblicher Dynamik 109 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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mit dem vitalen Antrieb als Achse und leiblicher Kommunikation, deren wichtigste Gestalt die Einleibung ist, bildet sich das Leben aus primitiver Gegenwart, das Tiere und Säuglinge führen, sowie Personen bei routinierten Verrichtungen und in Zuständen der Fassungslosigkeit. Es ist von der primitiven Gegenwart her durch absolute Identität und Verschiedenheit vor Verwechslungen (z. B. Apraxie) geschützt und von Situationen, deren binnendiffuse Bedeutsamkeit Mannigfaltiges integriert, durchzogen. Die Bedeutsamkeit besteht aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme und/oder Probleme sind, und ist in dem Sinn binnendiffus, dass im Leben aus primitiver Gegenwart in ihr nichts, sonst wenigstens nicht alles, einzeln ist; einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Dies ist, schnell ohne Abschweifung in Erläuterungen und Begründungen skizziert, die präpersonale Unterschicht der Person. Diese erhebt sich aus ihr zunächst durch satzförmige Rede, mit der es gelingt, über die die Situationen ganzheitlich bearbeitenden Rufe und Schreie hinaus einzelne Bedeutungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit herauszuholen und zu verknüpfen. Damit werden Sachverhalte als Gattungen und Sachverhalte des Fallseins unter Gattungen bereitgestellt, mit deren Hilfe Beliebiges im Mannigfaltigen vereinzelt werden kann; denn Einzelheit ist, wie sich leicht zeigen lässt, absolute Identität mit Fallsein von Gattungen. Aus der Vereinzelung ergibt sich die Entfaltung der in der primitiven Gegenwart verschmolzenen fünf Momente durch Aufspannung in fünf Dimensionen (Ortsraum, modale Lagezeit, Sein und Nichtsein, relative Identität, das Eigene und Fremde) zur Welt als dem Rahmen oder Feld möglicher Vereinzelung. Eine von diesen Dimensionen, die letztgenannte, ist die Dimension der Subjektivität. Der absolut identische Bewussthaber des Lebens aus primitiver Gegenwart erhebt sich durch Selbstzuschreibung, sich als Fall von Gattungen zu verstehen, zum einzelnen Subjekt. Damit hat er aber noch nicht den Ertrag der Selbstzuschreibung für das Personsein gewonnen, nämlich das Vermögen zum Umgang mit den Rol110 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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len, die ihm als Fall mehrerer Gattungen zufallen, in frei verfügender und Stellung nehmender Reflexion am Leitfaden relativer Identität. Dazu fehlt noch die Neutralisierung, wie in schweren Träumen, in denen er zwar schon als einzelnes Subjekt in Selbstzuschreibung vorkommt, aber dank der verbliebenen Subjektivität aller Bedeutungen für ihn keinen Abstand von dem, was ihm zufällt, zu ungebunden prüfender Reflexion hat. Die Neutralisierung der Bedeutungen, die mit der Vereinzelung einhergeht, besteht im Abfall der Subjektivität für den affektiv Betroffenen; es entstehen neutrale oder objektive Bedeutungen, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. Von den neutralisierten Bedeutungen heben sich die für die Person subjektiv bleibenden als das Eigene im Gegensatz zum Fremden ab, in Gestalt der persönlichen Situation, die volkstümlich als die Persönlichkeit einer Person bezeichnet wird, und als persönliche Eigenwelt gegenüber einer persönlichen Fremdwelt. Die Abgrenzung ist nicht scharf, denn zwischen dem Eigenen und dem Fremden entstehen breite Grauzonen, in denen das Eigene durch zunehmende Neutralisierung von Bedeutungen in das Fremde ausläuft. Die Abhebung des Eigenen vom Fremden durch Vereinzelung und Neutralisierung ist personale Emanzipation. Sie verschafft der Person ihre vorhin angegebene spezifische Leistungsfähigkeit, sich von sich Rechenschaft geben, sich in beweglicher Überlegung auf dieses oder jenes Fallsein unter einer Gattung festlegen, sich einordnen zu können. Andererseits bedarf sie zur bloßen Möglichkeit der Selbstzuschreibung, nämlich zum Schöpfen des Relats durch nicht identifizierendes Sichbewussthaben, des Rückgangs in die Aussicht auf primitive Gegenwart durch personale Regression, d. h. Eintauchen in das Leben aus primitiver Gegenwart im leiblich-affektiven Betroffensein ohne Sonderung des Eigenen und Fremden. Der Mensch ist nur Person, indem er zwiespältig zwischen personalem Leben und präpersonalem Leben aus primitiver Gegenwart, zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression, in der Mit111 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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te steht, wechselnd zwischen Niveaus personaler Emanzipation, die sich durch die Ausprägung der Scheidung des Eigenen vom Fremden unterscheiden, und oft auf mehreren Niveaus zugleich. Durch Prozesse der personalen Emanzipation und personalen Regression, der Explikation von Bedeutungen aus der persönlichen Situation und der Implikation in sie angesichts von Herausforderungen entwickelt sich lebenslang die persönliche Situation wie eine zähflüssige Masse, in der viele partielle Situationen wie zähflüssige Massen gleiten und sich reiben. Diese rasch durcheilende Skizze aus der Anthropologie hat die unentbehrlichen Voraussetzungen geschaffen, um beurteilen zu können, in welchem Sinn noch bei Personen von einer Natur mit natürlichen Anlagen gesprochen werden darf, deren Ausübbarkeit unter hinlänglich günstigen Umständen als die Gesundheit der Person bestimmt werden könnte. Diese Natur müsste in erster Linie in der Fähigkeit bestehen, sich im Zwiespalt von personaler Emanzipation und personaler Regression zu stabilisieren und zurechtzufinden. Dafür hat die Person ihre Fassung, eine partielle Situation in ihrer persönlichen Situation. Die Fassung besteht darin, in spielerischer Identifizierung, ohne Fiktion und ohne Verwechslung, sich mit etwas zu identifizieren, das eindeutiger ist als das, was die Person wirklich ist. Solcher Festlegung bedarf die Person, um sich nicht zu entgleiten, sei es im Zwiespalt von personaler Emanzipation und Leben aus primitiver Gegenwart, sei es im Entgleiten der Person in Neutralisierung, das sie durch persönliche Formgebung in einer sich selbst objektivierenden Fassung auffängt. Die Fassung besteht teils in der Übernahme sozialer Rollen, teils in einem Gehabe, einer inneren Haltung, womit die Person an Herausforderungen heran oder von ihnen weg tritt, z. B. bedächtig oder zupackend, liebenswürdig oder misstrauisch. Für die Wahl der Fassung gibt es keinen Kanon. Die Person verschafft sich dadurch gleichsam eine zweite Natur über der tiermenschlichen, näher bei der personalen Emanzipation oder bei der personalen Regression. Dem entsprechen verschiedene Typen von Gesundheit als Gelegen112 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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heiten zu ungehinderter Ausübung der Fähigkeiten, die diese zweite Natur dem Menschen auf Grund seiner persönlichen Situation verschafft. Ich gebe dafür zwei Gedichte von Goethe zur Veranschaulichung der divergierenden Möglichkeiten personaler Gesundheit. Zuerst ein Gedicht auf den Dichter Christoph Martin Wieland, Goethes Zeitgenossen und Vorgänger am Fürstenhof in Weimar: Lebensweisheit, in den Schranken Der uns angemessnen Sphäre, War des Mannes heitre Lehre, Dem wir manches Bild verdanken. Wieland hieß er! Selbst durchdrungen Von dem Wort, das er gegeben, War sein wohlgeführtes Leben Still, ein Kreis von Mäßigungen. Geistreich schaut’ er und beweglich, Immerfort aufs reine Ziel, Und bei ihm vernahm man täglich: Nicht zu wenig, nicht zu viel. Stets erwägend, gern entschuldgend, Oft getadelt, nie gehasst; Ihr mit Lieb und Treue huldgend, Seiner Fürstin werter Gast. 3 Ein Leben in vorsichtig-liebenswürdiger Dosierung und Selbstbeschränkung der Lebenskraft! Geradezu ein Schulbeispiel gesunder Fassung, wie die Weisen es uns nahelegen, aber etwas zu sehr gedämpft durch personale Emanzipation; es fehlt die Gesundheit der Kraft, des Wagemuts. Das nun bietet im Übermaß die Vision des jungen, dem Sturm und Drang verhafteten Maskenzug 1818. Bei Allerhöchster Anwesenheit Ihrer Majestät der Kaiserin Mutter Maria Feodorowna in Weimar, Propyläenausgabe von Goethes Werken, Band 31, S. 213
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Goethe, die ihm sicherlich bei der Vorüberfahrt an einer mittelalterlichen Burgruine am Rhein aufstieg, in dem Gedicht Geistesgruß: Hoch auf dem alten Turme steht Des Helden edler Geist, Der, wie das Schiff vorübergeht, Es wohl zu fahren heißt. »Sieh, diese Sehne war so stark, Dies Herz so fest und wild – Die Knochen voll von Rittermark, Der Becher angefüllt – Mein halbes Leben stürmt ich fort, Verdehnt’ die Hälft’ in Ruh Und du, du Menschenschifflein dort, Fahr immer, immerzu! 4 Der Ritter hat sich in Abenteuern und alkoholischen Exzessen ausgetobt und danach sein Leben auf der Burg vertrödelt. Er hat sich eine Fassung mit dem Akzent auf personaler Regression zugelegt, die altersweise Belehrer kaum als Vorbild einer besonders gesunden Lebenshaltung gelten lassen dürften, aber er hat jedenfalls aus dem Vollen gelebt, während Wielands Leben sich nach dem Gedicht in ziemlich dünner Luft abspielte, und hat darüber keineswegs die Fassung verloren, wie seine geisterhafte Anwesenheit auf dem hohen Turm, lange nach seinem Tod, mit gutmütig herablassendem Wohlwollen erkennen lässt. In der Perspektive der Fassung, in die als zweite Natur der Ritter eingegangen ist, hat er die dieser Natur gemäßen Fähigkeiten voll und ungehindert, hoffentlich auch sozialverträglich, ausgelebt, und daher wird man ihm im Sinne der aristotelischen Formel eine eigentümliche Gesundheit bescheinigen dürfen.
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Propyläenausgabe von Goethes Werken, Band 2, S. 22
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Goethes Wieland und alter Ritter sind zwei Lösungen der jeder menschlichen Person zufallenden Aufgabe, im Zwiespalt zwischen personaler Emanzipation und präpersonaler Verwurzelung eine eigene Lebensform zu finden. Dieser Zwiespalt, zusammen mit dem verwandten Zwiespalt zwischen Subjektivität und ihrem Entgleiten in den Grauzonen zur Neutralität hin, vereitelt die Glättung personalen Menschseins zu einem einheitlichen Leitbild der menschlichen Natur mit einem überschaubaren Katalog von Fähigkeiten, deren ungehinderte Ausübung das Kennzeichen der Gesundheit wäre. Statt dessen muss jede Person ihre eigene Gesundheit finden. Personales Menschsein ist durch seinen eingepflanzten Zwiespalt eine Krankheit, die sich ihre eigene Gesundheit bestimmen muss, über die elementare tierische Gesundheit hinaus, die der somatische Arzt als Humanveterinär zu befördern sucht. Auf dieses Leitbild einfacher tierischer Gesundheit beruft sich das feuchte Weib, das in Goethes berühmter Ballade Der Fischer aus bewegtem Wasser hervorrauscht und den einsamen Angler unter anderem mit den Worten bestrickt: Ach, wüsstest du, wie’s Fischlein ist So wohlig auf dem Grund, Du stiegst herunter, wie du bist, Und würdest erst gesund. Die Person muss dagegen ihre eigene Gesundheit in einer Fassung finden, die die ungehinderte Entfaltung der in ihrer Persönlichkeit, ihrer persönlichen Situation, einschließlich der diese tragenden und ihr die vitale Antriebskraft spendenden leiblichen Disposition, angelegten Fähigkeiten möglichst begünstigt, soweit die Weckung dieser Fähigkeiten sozialverträglich ist. Das ist die von Nietzsche beschworene »große Gesundheit – eine solche, welche man nicht nur hat, sondern auch beständig noch erwirbt und erwerben muss, weil man sie immer
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wieder preisgibt, preisgeben muss!« 5 , eine Gesundheit, die nur in schwingender Anpassung der Fassung beim Reiten auf den Wellen personaler Emanzipation und personaler Regression zu gewinnen und zu bewahren ist. Sie kann in Widerspruch mit der tierhaft natürlichen Gesundheit geraten; der große Mathematiker Leonhard Euler, der größte Erfinder der Mathematikgeschichte, soll sich gefreut haben, als er im Alter erblindete, weil der Druck der Ablenkungen damit endlich abnähme. Diese große Gesundheit muss die Person zwar selbst finden, aber nicht allein. Von sich selbst, von der eigenen Persönlichkeit, kann sie keinen Eindruck haben. Die persönliche Situation ist segmentiert, in dem Sinn, dass sie immer nur in Ausschnitten zum Vorschein kommt; wohl aber kann sie in vielsagenden Eindrücken, d. h. impressiven Situationen, deren Bedeutsamkeit mit einem Schlage präsent ist, plakatiert werden, aber diese Plakate sind truganfällig und auch nur dem Mitmenschen zugänglich, der oft schon beim ersten Eindruck in der Begegnung prägnant zu spüren meint, mit welcher Persönlichkeit er zu tun hat, und diesen Eindruck in zunehmender Vertrautheit prüfen, verfeinern oder berichtigen kann. An die eigene Persönlichkeit kommt die Person nur synthetisch, von fragmentarischen Einblicken in das eigene Verhalten und Reagieren aufsteigend, heran; deswegen wirkt es wenig überzeugend, wenn sie über sich pauschale Charakterisierungen abgibt, zu denen der Mitmensch viel eher befugt ist. Daher ist der Mitmensch berufen, ihr dabei zu helfen, sich in die Entfaltung der für die ihrer Persönlichkeit angehörigen Fähigkeiten günstigste Fassung einzuleben. Dazu ist besonders sein liebender Blick befähigt, der von einem impressiven Leiteindruck, den der Liebende von der persönlichen Situation des Geliebten empfängt, gefesselt und geleitet wird und damit unwillkürlich den Geliebten zu dessen Möglichkeiten lei-
Die fröhliche Wissenschaft § 382, Nietzsches Werke, Kritische Studienausgabe von Colli und Montinari, Band 3, S. 636
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tet. 6 Obendrein gibt es soziale und zeittypische Ideale, nach denen die Person sich so formen kann, dass sich ein die Genossen der betreffenden Population überzeugender Eindruck von Gesundheit ergibt, wie die Kalokagathie der altgriechischen Adelsgesellschaft. Ein allgemeiner Kanon der Gesundheit für Personen ist demnach nicht möglich. Wohl aber kommen gelegentlich evidente Eindrücke, impressive Situationen vor, die den Beobachter davon überzeugen, mit einem exemplarisch misslungenen oder exemplarisch gelungenen Fall personaler »großer« Gesundheit zu tun zu haben. Für beide Möglichkeiten stehen Formulierungen Goethes bereit. Für das Extrem des Misslingens lautet eine solche: »Es gibt problematische Naturen, die keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genugtut. Daraus entsteht der ungeheure Widerstreit, der das Leben ohne Genuss verzehrt.« 7 Für das Gelingen stehen die schönen Verse über die idealisierten Arkader im 3. Akt des 2. Teils von Faust: Hier ist das Wohlbehagen erblich, Die Wange heitert wie der Mund, Ein jeder ist an seinem Platz unsterblich: Sie sind zufrieden und gesund. 8 Der Gegensatz entsteht durch das verschiedene Verhältnis der erworbenen Fassung zu den prospektiven partiellen Situationen in der persönlichen Situation, den oft geheimen Wunsch-, Leitund Schreckbildern, die der Person, auch ohne deutlich hervorzutreten, vorzeichnen, worauf sie hinaus und wovon sie weg will, und auch unter einander in Konflikt geraten können. Wie Hermann Schmitz, Die Liebe, zuerst Bonn 1993, S. 90–97: Der Leiteindruck 7 Goethe, Maximen und Reflexionen, hg. v. Max Hecker, Weimar 1907, Nr. 134 8 Faust, Verse 9550–9553 6
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schwer diese prospektiven Anteile der eigenen Persönlichkeit der Person zugänglich sein können, zeigt sich bei schwierigen Lebensentscheidungen von beträchtlicher Tragweite, vor denen oft ein quälendes Hin- und Herwälzen der Argumente für und wider einsetzt, unter dem sich eine Art von Kneten der persönlichen Situation verbirgt, bis diese preisgibt, was bezüglich der zur Entscheidung anstehenden Alternative zu ihr, d. h. zu ihren prospektiven Anteilen, passt; wenn es dahin kommt, wird das Wälzen der Argumente ruckartig abgebrochen, denn die Entscheidung ist gefallen. Nun gibt es Menschen, denen die Abstimmung ihrer Fassung auf das, was sie eigentlich wollen, d. h. worauf ihre persönliche Situation, ob auch unerkannt, hindrängt, ganz und gar misslingt, wie Goethes problematischen Naturen, vielleicht, weil diese prospektiven partiellen Situationen in unschlichtbarem Streit miteinander liegen. Auf der anderen Seite kann es Menschen geben, deren Fassung sich besonders gut den prospektiven partiellen Situationen in ihrer persönlichen Situation anschmiegt, und dann meint man, einem in ausgezeichneter Weise personal gesunden Menschen zu begegnen, aber auch ein solcher Eindruck kann eine Kehrseite haben und fragwürdig werden, weil der grundsätzliche Zwiespalt des Personseins nicht zu heilen ist: eine interessante und fruchtbare Krankheit.
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6. Die Labilität der Person
Zum Gedenken an Anna Blume Anna Blumes Dissertation wurde 2003 unter dem Titel »Scham und Selbstbewusstsein. Zur Theorie konkreter Subjektivität bei Hermann Schmitz« als Buch veröffentlicht. Es handelt sich um eine Pionierarbeit, die erste monographische Auseinandersetzung mit meiner Theorie der Subjektivität. Wie die Verfasserin an dieses Thema, ja überhaupt an die Philosophie geriet, sagt sie in der Einleitung: Es war »die irritierende Frage, ob außer mir überhaupt noch ›Welt‹ ist, ja ob ich selbst mit Sicherheit sagen kann, ›ich bin‹ ? Dieser Frage folge ich vielleicht in dieser Arbeit etwas zu übermäßig, aber sie war und ist wohl überhaupt ein starker Motor, ein starkes Motiv gewesen in meiner Hinwendung zur Philosophie.« (S. 11) Wenn Philosophie, wie ich ihr Wesen oft bestimmt habe, Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung auf Grund einer Beirrung dieses Sichfindens ist, war Anna Blumes Leben im Zeichen dieser Frage eine philosophische Erschütterung; sie bekennt in derselben Einleitung: »Mich hingegen berührt das Solipsismusproblem immer wieder mal heftig (ja, zuweilen erschüttert mich seine tödliche Anmutung).« Mit solcher Ergriffenheit in der Beirrung beschämt Anna Blume die meisten Philosophen, die sich seit Descartes mit mehr oder weniger naiver Begründung über ihr eigenes Sein und das der Umgebung beruhigen. Mit der Frage, woher wir die Kenntnis nehmen, dass es uns gibt, beschäftigt sich auch meine folgende Abhandlung, die ich dem Andenken an Anna Blume widme. Sie trägt den Titel »Die Labilität der Person« und endet mit dem Hinweis auf den »fundamentalen Zwiespalt in der Person. Diesem gewachsen kann die Stabilisierung nur sein mit der elastischen Beweglichkeit des Wellenreiters.« Beides hat Bezug zum Leben von Anna Blume. Für elasti119 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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sches Wellenreiten war sie wohl zu spröde; Stabilität gewann ihr Kurs durch die leidenschaftliche Konsequenz ihres philosophischen Dranges. Mit dieser Entschiedenheit hat sie gelebt und ist sie gestorben. Dadurch ist ihr Schicksal exemplarisch für unser aller Schicksal: »Uns hebt die Welle, Verschlingt die Welle, Und wir versinken« (Goethe, Grenzen der Menschheit). * Die europäische Kultur des menschlichen Selbstverständnisses unter Führung der Philosophie steht ganz überwiegend im Zeichen des Kampfes gegen die Labilität der Person von einem Ausgangspunkt ausgeprägter Labilität her. Es handelt sich um das Menschenbild der Ilias. Der Ilias-Mensch steht ohne die Hausmacht einer Seele, einer abgeschlossenen privaten Innenwelt, im Konzert halbautonomer, teils treibender, teils hemmender Regungsherde, deren Beschaffenheit wir uns ungefähr am Gewissen, einem uns noch hemmenden halbautonomen Regungsherd, klar machen können; er ist dem Einbruch von Göttern und Affekten ungeschützt ausgesetzt: Ares taucht in Hektor ein wie Zorn in Achilleus. 1 Ein großes Stück weiter auf dem Weg personaler Selbstermächtigung ist die Odyssee: Odysseus geht mit seinen Regungsherden um wie der Herr mit dem Hund, schilt seinen Bauch, der ihn zu essen zwingt, da er lieber ob der Trennung von der Heimat trauern möchte, und tritt den Göttern als kalkulablen Gegenspielern gegenüber; seine Selbstkontrolle erlaubt ihm, sich in der Vorstellung wie von außen zu sehen und daher seinen Gesichtsausdruck perfekt zu beherrschen. Im Zuge des Fortschreitens dieser Tendenz wird die Psyché, die bei Homer niemals Seele oder Regungsherd ist, im Lauf des 5. vorchristlichen Jahrhunderts zur abgeschlossenen privaten Innenwelt. Bei Heraklit ist sie noch offen, denn er lehrt: »Grenzen der Seele wirst du niemals finden, wenn du auch jegliche Straße ab1
17, 210 und 19, 16
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schrittest.« 2 Von Sophokles ist als Fragment aus den verlorenen Manteis der Vers überliefert: »das verschlossene Tor der Seele öffnen.« 3 Zwischen Heraklit und Sophokles liegt die Wasserscheide zur seither dominanten Vergegenständlichungsweise der europäischen Intellektualkultur, zur Weltspaltung: Die empirisch zugängliche Welt wird zerlegt in je eine private seelische Innenwelt für jeden Bewussthaber, in die dessen gesamtes Erleben eingeschlossen ist, und eine zwischen allen Innenwelten verbleibende, bis auf wenige bequem identifizierbare, messbare und selektiv variierbare Merkmalsorten und deren hinzugedachte Träger abgeschliffene Außenwelt; der Abfall der Abschleifung wird absichtlich oder in verwandelter Gestalt, als vergessen unbemerkt, in den Seelen untergebracht. Der Mensch wird in Körper und Seele zerlegt; zwischen ihnen vergessen wird der spürbare Leib, der ohne Hilfe der fünf Wahrnehmungssinne mehr oder weniger aufdringliche Sitz alles affektiven Betroffenseins, auch durch Gefühle als ergreifende Atmosphären, und der Resonanz darauf sowie aller leiblichen Regungen wie Schreck, Angst, Schmerz, Hunger, Durst, Ekel, Wollust, Frische, Müdigkeit, wozu noch die spürbare Motorik und unumkehrbare leibliche Richtungen wie der Blick kommen. Im Menschenbild der Weltspaltung gibt es keinen Platz für Kopf- oder Bauchschmerz, denn als Schmerz soll er seelisch sein, aber Kopf und Bauch sind Körperteile. So einfach lässt sich zeigen, dass der spürbare Leib schlicht vergessen worden ist. Die zentrale Triebkraft der Weltspaltung, die als philosophisches System zuerst von Demokrit verarbeitet und von Platon fortgeführt und ausgebreitet worden ist, war der Bedarf nach Stabilisierung der labilen Person, der zur Selbstbemächtigung und Kontrolle der in der Ilias oft übermächtig durchbrechenden unwillkürlichen Regungen mit der Seele ein Haus aller Erlebnisse angewiesen wurde, in dem sie in der Rolle der Vernunft 2 3
Diels und Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, 22B45 Tragicorum Graecorum Fragmenta, rec. A. Nauck, Sophokles fr. 360
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Herr sein konnte. Diesem Rezept dient mit raffinierte Perfektion die platonische Seelenteilungslehre, die die unwillkürlichen Regungen nach dem Prinzip »divide et impera« in zwei Herde aufspaltet: Die aggressiven Regungen werden von der Richtung nach außen in die Innenwelt umgelenkt, als Zorn und Scham über die eigene Sinnlichkeit, und so in den Dienst der Vernunft gestellt, dass diese sich die unwillkürlichen sinnlichen Regungen unterwerfen kann und diesen als einzige Tugend nur noch zubilligt, der Vernunft zu gehorchen. Die gesamte griechische Philosophie der Nachsokratiker von Platon an steht, mit Erweiterung der Perspektive nur im spätantiken Neuplatonismus, im Bann der Aufgabe, die Selbstbemächtigung der Person in der Rolle der Vernunft gegen die unwillkürlichen Regungen durchzusetzen. Dieses philosophische Gentleman-Ideal wird danach durch das Christentum verschärft und populär gemacht, indem das gesamte affektive Betroffensein mit allen unwillkürlichen Regungen ständiger Selbstkontrolle mit Orientierung an der Macht Gottes im Interesse eigenen transzendenten Glückes und der Vermeidung transzendenten Unglücks unterworfen wird, bis seit dem späten Mittelalter die Menschen die Macht, an die ihr affektives Betroffensein gebunden bleibt, in die eigenen Hände zu nehmen bereit sind und ab 1600 die Selbstbemächtigung als Leitmotiv ihres Selbstverhältnisses in die technische Weltbemächtigung übergeht. Dabei bleibt die Selbstbemächtigung zur Stabilisierung der Person gegen die unwillkürlichen Regungen eine dominante Parole der Philosophie etwa bei Spinoza, Kant, Fichte und Husserl; ich erinnere nur an Kants Vortrag »Von der Macht des Gemüts des Menschen über seine krankhaften Gefühle durch den bloßen festen Vorsatz Meister zu werden« mit Beleg durch seine Bewältigung der von ihm seiner »flachen und engen Brust« zur Last gelegten Hypochondrie. 4 Die ontologische Grundlage dieser Stabilisierung ist die 4
Akademieausgabe, Band 7, S. 98 und 104 (Der Streit der Fakultäten)
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Weltspaltung durch Aussonderung privater Innenwelten, die meist »Seele« und in anderen Sprachen entsprechend, bei manchen Philosophen aber auch z. B. »Bewusstsein« heißen. Die Achillesferse dieser Vorstellung ist die Schwierigkeit, den Bewussthaber, um dessen Seele es sich handeln soll, zu ihr in Beziehung zu setzen. Das Problem entfiele, wenn er einfach in die Seelenzustände, wie Hume, Mach und der frühe Husserl wollten, aufgelöst werden könnte, aber das ist nur so lange plausibel, wie man nicht ernstlich betroffen ist; wer z. B. brennt oder von brennender Scham befallen ist, wird schon merken, dass er selber leidet und nicht bloß ein Vorrat von Perzeptionen, Empfindungen oder Akten einige Modifikationen durchmacht. Sonst war es üblich, das Subjekt in der Seele anzusiedeln oder mit ihr zu identifizieren; beides kommt, auch in unstimmiger Verquickung, schon bei Platon vor. 5 Der spätere Husserl glaubte an ein reines Ich, das reines Ich und nichts weiter, aber ein besonderes für jeden Bewusstseinsstrom sei und als freies Wesen in intentionalen Akten lebe. 6 Ähnliche Vorstellungen finden sich bei Kant 7 und Scheler. 8 Sie kommen alle zu spät. Sie muten dem Bewussthaber zu, etwas mit sich selbst zu identifizieren. Dabei soll es sich um eine objektive Tatsache handeln, dass er z. B. dieser Mensch, diese Seele, dieses reine Ich ist. Objektive Tatsachen sind solche, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. Niemand kann aber durch eine Identifizierung im Bereich der objektiven Tatsachen auf den Gedanken kommen, dass er irgend etwas ist, denn keine objektive Tatsache enthält für irgend einen Bewussthaber einen Grund für
Sophisten 263e–264a; Gesetze 959a–b Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1. Buch, Halle 1913, S. 109, 160, 192 7 Akademieausgabe, Band 20, S. 270 f. (Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik) 8 Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 4. Auflage Bern 1954, S. 391–394 5 6
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die Annahme, dass er dieses oder jenes Wesen oder Individuum ist. In meinem Fall führen solche Identifizierungen z. B. von einem entpflichteten alten Professor durch beliebig viele Zwischenstufen zu einem vor mehr als 80 Jahren geborenen Knaben, ferner zu einem Mann, einem Europäer, einem Deutschen, einem Träger des Namens »Hermann Schmitz« usw., aber daraus geht nie hervor, dass ich dieser Hermann Schmitz bin. Für diese Identifizierung fehlt das Relat, wenn ich es nicht zur Selbstzuschreibung, etwas für mich zu halten, mitbringe, indem ich mich durch ein Michbewussthaben vor jeder Identifizierung kenne. Diesem jeder Identifizierung vorgängigen Sichbewussthaben als Voraussetzung der Selbstzuschreibung hätten die Philosophen nachgehen sollen, statt von der Seele aus Angebote für die Selbstzuschreibung dessen zu machen, der die Seele hat. Ein identifizierungsfreies Sichbewussthaben ist leicht zu finden in Gestalt des affektiven Betroffenseins. Affektiv ist ein Betroffensein, das einem nahe geht wie z. B. der Schmerz. Um zu spüren, dass ich leide, brauche ich nicht einen Gequälten zu finden und den für mich zu halten, sondern ich merke es sofort, ohne Identifizierung. In über- und untererregten Zuständen wie panischer Angst, Ekstase oder Versunkenheit in Schwermut spürt man sich sogar sehr intensiv, ist aber nicht in der Lage, etwas mit sich zu identifizieren. Solches identifizierungsfreies Sichbewussthaben ist dadurch möglich, dass die Tatsachen des affektiven Betroffenseins subjektive Tatsachen sind, die in ihrer bloßen Tatsächlichkeit, nicht erst in ihrem Inhalt, gleichsam den Stempel des Betroffenen tragen, mit der Folge, dass höchstens er sie aussagen kann. Wenn mir etwas nahe geht, können andere höchstens über Hermann Schmitz sagen, dass das ihm nahe geht, aber das reicht nicht zu meinem echten affektiven Betroffensein, wenn nicht hinzukommt, dass ich der Hermann Schmitz bin, dem das nahe geht, und das kann kein Anderer sagen, wenn er auch noch so viel weiß und noch so gut sprechen kann, denn er ist nicht ich. Ohne diese Nuance der Subjektivität für mich, die höchstens ich sagen kann, ist das Nahegehen nur 124 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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ein Schatten ohne Gewicht. Dabei sind beide Tatsachen, die für mich subjektive und die durch Abfall der Subjektivität neutralisierte objektive, im Inhalt völlig gleich, denn ich bin ja Hermann Schmitz; ihr Unterschied besteht nur in der Tatsächlichkeit, die in der objektiven Tatsache gleichsam zu blass ist, um dem affektiven Betroffensein gewachsen zu sein. Das wirkliche Vorkommen des Sichbewussthabens ohne Identifizierung ist also erwiesen, dessen Möglichkeit aber noch nicht eingesehen. Um eine für mich subjektive Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, muss ich mich als den finden, für den sie subjektiv ist, und zwar identifizierungsfrei, weil sonst ein Zirkel und unendlicher Regress entstünde, im ständigen Bemühen, dem Relat der Identifizierung aufzuprägen, dass es sich um mich handelt. Wie ist es aber ohne Identifizierung möglich, das einzusehen, dass in meinem affektiven Betroffensein gerade ich der bin, für den die Tatsache subjektiv ist? Dies gelingt durch den plötzlichen Einbruch des Neuen, der Dauer zerreißt, Gegenwart exponiert und die zerrissene Dauer ins Nichtmehrsein verabschiedet. Dann fallen in extremer Beengung das absolute Hier der Enge, das absolute Jetzt des Plötzlichen, das Sein oder die Wirklichkeit in der Wucht des Geschehens, die absolute Identität, dieses selbst und verschieden von der abgeschiedenen Dauer zu sein, und die Subjektivität, selbst betroffen und in Anspruch genommen zu werden, zur primitiven Gegenwart zusammen, etwa im heftigen Schreck. Was aber noch fehlt, ist die relative Identität von etwas mit etwas und damit die Möglichkeit der Identifizierung, denn relative Identität besteht darin, dass etwas als Fall einer Gattung Fall einer Gattung – sinnvoller Weise einer anderen Gattung – ist, z. B. als Professor zugleich Mensch, als Vater zugleich Sohn; Gattungen und Subsumtionen stehen in der primitiven Gegenwart aber nicht zur Verfügung. Statt dessen genügt zum Sichfinden im plötzlichen Betroffensein der Zusammenfall von absoluter Identität und Subjektivität, von dieses – hier – jetzt und ich; das absolut Identische der primitiven Gegenwart zeigt sich unmittelbar, ohne Identifizierung, als 125 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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ich, und diese elementare Kenntnis seiner selbst geht bei noch so verkehrten Selbstzuschreibungen nie mehr verloren. Wenn ich wahnsinnig würde, wenn ich mich in wahnhafter Selbstverkennung statt für Hermann Schmitz z. B. für Napoleon hielte, wäre das Referens der Selbstzuschreibung zwar verkehrt, aber vom Relat wüsste ich immer noch richtig, dass ich es bin. Die primitive Gegenwart ist ein seltener, vielleicht nie ganz rein erreichter Ausnahmezustand, aber sie wird als Aussicht vorgehalten durch die Engungskomponente des vitalen Antriebs, in dem Engung und Weitung gegenläufig verschränkt sind. Wenn die Engung aushakt, wie im heftigen Schreck, ist der Antrieb erstarrt und gelähmt; wenn die Weitung ausläuft, wie beim Dösen, beim Einschlafen und nach der Ejakulation, ist er erschlafft; er besteht also in der Verschränkung beider Impulse. Je schärfer die Engung wird, desto näher kommt der vitale Antrieb der primitiven Gegenwart; er präsentiert diese aber auch noch in der Erleichterung, wenn Weitung aus ihm freigesetzt wird, als die Enge, von der man loskommt. Der vitale Antrieb ist gleichsam die Achse der von mir studierten leiblichen Dynamik und übergreift die Einheit eines Leibes, indem er diesen mit anderen Leibern und sogar – vermittelt durch leibnahe Brückenqualitäten – mit leiblosen Gegenständen zusammenschließt; ich bezeichne diese leibliche Kommunikation als Einleibung, die sich als antagonistische z. B. am Gefesseltsein durch einen Eindruck, am Blickwechsel, am geschickten Ausweichen bei gefährlichen oder harmlosen Begegnungen zeigt, sowie als solidarische Einleibung an massenhaftem Aufruhr, stürmischem Mut und panischer Flucht, gemeinsamem Singen, am Effekt rhythmischen Rufens, Klatschens und Trommelns. Dass der vitale Antrieb primitive Gegenwart vorgibt, ist Bedingung für das Vorkommen von Identität und Verschiedenheit. Diese sind dem Weltgeschehen ja nicht von vornherein aufgeprägt, denn in gleitender Dauer des Dahinwährens, wie sie im Dösen und in gedankenloser Routine erfahren wird, geht alles verschwommen in einander über, ohne dass etwas es selbst wird. Das Gleiten muss 126 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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durch einen Einschnitt unterbrochen und stillgestellt werden, damit sich etwas als dieses aus dem Kontinuum von Dauer und Weite heraushebt, und dazu bedarf es der Exponierung von Gegenwart im plötzlichen Einbruch des Neuen. Der Weg zur Aufdeckung des Bewussthabers führt also in den spürbaren Leib hinein. Nicht in der Seele oder an deren Rand, wie die klassischen Philosophen wollen, ist der Gesuchte zu finden, denn das ergibt nur Vorschläge zur Selbstzuschreibung, aber deren Möglichkeit beruht auf einer ursprünglicheren, jeder Identifizierung vorausgehenden Kenntnis seiner selbst, und die ist auf die leibliche Dynamik angewiesen, auf die primitive Gegenwart und den vitalen Antrieb. Der spürbare Leib ist aber im Menschenbild der Weltspaltung nur durch eine Fehlanzeige vertreten, vergessen zwischen Seele und Körper. Die klassische Philosophie war eifrig bemüht, die Quelle der Identität und Subjektivität möglichst weit von den unwillkürlichen Regungen abzurücken und ihr ein freischwebendes tätiges Prinzip als Sitz zu geben, so etwa Kant die von ihm erdachte transzendentale Apperzeption, das »stehende und bleibende Ich« 9 , das als Subjekt uns nur als reine Spontaneität bekannt sei.7 Dieser Versuch einer gleichsam frei schwebenden Stabilisierung des Subjekts führt in die falsche Richtung; nicht in reiner Tätigkeit, sondern im leiblich engenden Erleiden von Exposition und Abgerissenheit ereignet sich der Ursprung der Möglichkeit, selbst und ich zu sein. Die Person geht aber weit über diesen Ursprung hinaus. Eine Person ist für mich ein Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung. Diese besteht darin, etwas für sich selbst zu halten, genauer gesagt: sich als Fall von Gattungen oder Bestimmungen zu verstehen, z. B. als Mensch, Vater, Sonderling, Ausländer usw. Gattung oder Bestimmung im hier gemeinten Sinn ist alles, was mindestens einen Fall hat; was ein Fall ist,
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habe ich anderswo definiert. 10 Wenn, wie gewöhnlich, mehrere Gattungen zur Verfügung stehen, lässt sich die absolute Identität zur relativen ergänzen: A ist mit B identisch, wenn dieselbe Sache sowohl ein Fall der Gattung a als auch ein Fall einer von a verschiedenen Gattung b ist. Die Selbstzuschreibung gestattet dem Bewussthaber, sich zu vergleichen, sich einzuordnen, sich einen Platz in seiner Umgebung zu suchen, Verantwortung zu übernehmen usw. Das sind so bezeichnende Merkmale dessen, was man von einer Person zu verlangen pflegt, dass ich meine Definition im Hinblick auf sie für gerechtfertigt halte. Zur Person gehört dem gemäß, was über die Selbstzuschreibung gesagt wurde, jedenfalls das affektive Betroffensein, die primitive Gegenwart und der vitale Antrieb. Was gehört zu ihr darüber hinaus? Um sich etwas zuzuschreiben, muss die Person sich als einzelne verstehen, also nicht so, wie sie sich nach Abstreifen der Einzelheit in Ekstase, panischer Angst, Versunkenheit oder gedankenloser Routine befindet. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Logisch gleichwertig ist die Definition: Einzeln ist, was Element einer endlichen Menge ist. Anzahlen sind Eigenschaften (genauer: Eignungen 11 ) von Mengen. Mengen sind Umfänge von Gattungen. Einzeln kann daher nur sein, was Fall einer Gattung ist. Außerdem gehört dazu die absolute Identität, dass es selbst (etwas) ist. Einzelheit ist die Zusammenfassung absoluter Identität mit Fallsein. Der präpersonale Bewussthaber, z. B. in den eben genannten entrückten Zuständen oder etwa als Tier oder Säugling, ist schon absolut identisch, wie seine Fähigkeit zur Kooperation mit bestimmter Rolle in antagonistischer Einleibung erweist, aber noch nicht einzeln. Zur Einzelheit erhebt er sich als Person in der Selbstzuschreibung als Fall von Gattungen. Erst die Person ist ein nicht nur identisches, sondern auch einzelnes Subjekt. Hermann Schmitz, Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg/ München 2013, S. 43 f. 11 Ebd. S. 23–31 10
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Zur Einzelheit oder numerischen Einheit bedarf es also der Gattungen, wovon etwas ein Fall sein kann. Diese sind nicht in einem platonischen Ideenhimmel aufgehängt, sondern stammen letztlich aus dem Leben aus primitiver Gegenwart, das Tiere, Säuglinge und erwachsene Personen bei allen unwillkürlich routinierten Verrichtungen, zu denen auch das Schöpfen aus der Sprache bei flüssigem Sprechen gehört, mit gleitender Dauer, primitiver Gegenwart, leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation führen. Dieses Leben ist durch absolute Identität und Verschiedenheit, ein Erbe der primitiven Gegenwart, vor Verwechslungen und Sichvergreifen geschützt, z. B. bei allen flüssigen Körperbewegungen, die die Beteiligten für sich und mit verteilten Rollen in verbündeter oder feindlicher Kooperation ausführen, z. B. beim Kauen, Gehen, Sprechen, Tanzen, Greifen, Zuschlagen, Ausweichen. Es ist ein Leben in Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, die aus Bedeutungen besteht, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind. Diesem Leben fehlt noch die Einzelheit. Keine der Bedeutungen wird einzeln im Leben aus primitiver Gegenwart. Der redende Umgang mit Situationen besteht beim Leben aus primitiver Gegenwart in einem ganzheitlichen, nicht explizierenden Ansprechen der binnendiffusen Bedeutsamkeit, das diese mit Rufen und Schreien heraufbeschwört, modifiziert und quittiert, z. B. durch Alarm-, Lock- und Klagerufe. Tiere und Säuglinge sprechen so. Sie verständigen sich durch Ansprechen gemeinsamer Situationen, auch ohne Zuwendung zum Partner. Der entscheidende Schritt, der darüber hinaus zur Personwerdung und zur Welt als dem Rahmen möglicher Vereinzelung in den fünf aus den Momenten der primitiven Gegenwart entfalteten Dimensionen führt, ist die Geburt der Einzelheit durch die explikative Rede des Menschen. Sie setzt bei der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen an und entbindet daraus einzelne Bedeutungen, insbesondere Sachverhalte, die meist mit Programmen oder Problemen gefüllt sind. Unter solchen Sachverhalten befinden
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sich die Gattungen 12 und die Sachverhalte des Fallseins von Gattungen, wodurch es möglich wird, beliebige absolut identische Sachen zu vereinzeln. Einzelne Bedeutungen lassen sich nur durch explikative Rede feststellen und festhalten, denn man kann nicht auf sie zeigen; sie sind aber nötig für die Einzelheit irgend welcher Sachen, auch wenn man auf diese zeigen kann. Das bloß absolut Identische ist an die Einbettung in Situationen gebunden, seien diese nun aktuelle Situationen, die sich von Augenblick zu Augenblick verändern können, oder zuständliche, an denen sich sinnvoll erst nach längeren Fristen prüfen lässt, ob und wie sie sich verändert haben. Das Einzelne kann als Fall von Gattungen (namentlich mehrerer, unter denen etwas in verschiedener Weise genommen werden kann) aus den Situationen, in denen es zunächst begegnet, herausgezogen und beliebig neu kombiniert werden. Dadurch werden Analyse und Planung möglich, wodurch es dem Menschen gelingt, Situationen in den Griff zu nehmen und zu überholen. Dadurch wird er den Tieren überlegen. Die Vereinzelung ist eine fundamentale Voraussetzung der Personwerdung, aber nicht die einzige. Die Neutralisierung muss hinzukommen. Im Leben aus primitiver Gegenwart sind alle in den Situationen gebundenen Bedeutungen subjektiv für jemand. Ich verstehe die Subjektivität und Objektivität von Sachverhalten, Programmen und Problemen entsprechend zu der schon erklärten derjenigen Sachverhalte, die Tatsachen sind. 13 Durch absichtliche Abschälung oder unabsichtlichen Abfall solcher Subjektivität werden aus für jemand subjektiven Bedeutungen objektive, die jeder sagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. So ist z. B. der Schlachtplan für die Offiziere vor der Schlacht ein subjektives Programm, ein Wunsch, und bei kritischem Stand der Schlacht ein subjektives Ebd. S. 41–47 Zum Verhältnis zwischen Sachverhalten und Tatsachen vgl. Hermann Schmitz, Logische Untersuchungen, Freiburg/München 2008, S. 65–78
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Problem, eine Sorge; für den nüchtern registrierenden Historiker bleiben nur ein objektives Programm, ein objektives Problem übrig. Ohne solche Neutralisierung gibt es von der Selbstzuschreibung nur Kümmerformen. Ich denke besonders an schwere Träume, in denen die Person in Angst und Aporie aufgeht. Dann ist sie zwar noch fähig zur Vereinzelung und Selbstzuschreibung, aber der Situation im Traum restlos ausgeliefert und ohne die Überlegenheit, die den spezifischen Gewinn der Vereinzelung ausmacht. Umsichtige Selbstzuschreibung ist nur mit Neutralisierung (Entsubjektivierung) von Bedeutungen möglich. Mit ihr beginnt das Erwachsen, d. h. die Personwerdung des Kindes, typischerweise um das letzte Viertel des ersten Lebensjahres. Vereinzelung und Neutralisierung greifen in einander, wie ich mehrfach am Beispiel der Enttäuschung gezeigt habe. Mit der Neutralisierung wird die Fremdheit entdeckt. Eine Sache wird jemand fremd, wenn der (tatsächliche oder untatsächliche) Sachverhalt, dass sie existiert, für ihn neutral (d. h. objektiv) wird. 14 Mit der Entdeckung des Fremden gewinnt die beginnende Person die Chance, um die nicht entfremdeten, für sie subjektiv gebliebenen Situationen und Bedeutungen herum eine Sphäre des Eigenen auszubilden, die vom Fremden abgesetzt ist. Ich habe sie als persönliche Situation und persönliche Eigenwelt eingehend charakterisiert. 15 Die Neutralisierung von Bedeutungen für die Person mit Abhebung des ihr Eigenen vom ihr Fremden ist personale Emanzipation. Die personale Emanzipation bildet Stufen oder Niveaus aus. Ein Niveau ist höher als ein anderes, wenn es mehr und entschiedener Bedeutungen neutralisiert und Sachen verfremdet, mit dem Ergebnis, dass sich
Neben dieser Fremdheit durch Entfremdung gibt es eine Urfremdheit, vgl. Hermann Schmitz: Jenseits des Naturalismus, Freiburg/München 2010, S. 333–348 15 Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band IV: Die Person, Bonn 1980, in Studienausgabe 2005, S. 287–473; Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 106–136; Bewusstsein, Freiburg/München 2010, S. 99–109 14
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Die Labilität der Person
das Eigene deutlicher abhebt. Eine Person kann auf verschiedenen Niveaus zugleich stehen. Durch ihre personale Emanzipation nimmt die Person Abstand vom Leben aus primitiver Gegenwart. Andererseits bedarf sie des Eintauchens in dieses Leben, weil die Möglichkeit der Selbstzuschreibung, nämlich die Bereitstellung eines Relats für diese aus der unmittelbaren Bekanntschaft mit sich vor jeder Identifizierung, in der dargelegten Weise vom leiblich-affektiven Betroffensein und der leiblichen Dynamik abhängt. Wenn die Person sich ganz und gar emanzipierte und entleiblichte, wäre sie gar nicht mehr da, weil sie die Fähigkeit zur Selbstzuschreibung verloren hätte, übrigens auch die Identität. Durch diese Ambivalenz von Abstandnahme und unentbehrlichem Rückgriff wird die Person zwiespältig und labil. Sie existiert gleichsam gespreizt oder im Spagat. Um bestehen zu können, bedarf sie zum Ausgleich der personalen Emanzipation der personalen Regression, die von der Sonderung des Eigenen und Fremden durch Resubjektivierung die Richtung auf das Leben aus primitiver Gegenwart einschlägt, in dem alle Bedeutungen subjektiv sind und nichts entfremdet ist. Es gibt Niveaus der personalen Regression so gut wie Niveaus der personalen Emanzipation, aber sie fallen mit diesen zusammen. Von einem höheren Niveau personaler Emanzipation aus ist jedes weniger hohe ein Niveau personaler Regression. Die Integration von personaler Emanzipation und personaler Regression ist prekär. Die Natur hat dem Menschen allerdings zwei gelungene Gestalten solcher Integration mitgegeben: Lachen und Weinen. Der Lacher lässt sich in personaler Regression von einem Niveau personaler Emanzipation fallen im Genuss der Zuversicht, unversehrt auf dieses Niveau zurückkehren zu können; daher vereinigt das Lachen Hinfälligkeit und (vorweg genommenen) Triumph über die Hinfälligkeit. Der Weiner kann sich vor der Bedrängnis auf seinem Niveau personaler Emanzipation nicht halten und lässt sich in personaler Regression auf primitive Gegenwart hin fallen, bis ihm sein vitaler Antrieb Gelegenheit gibt, aus der überwiegen132 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Labilität der Person
den Engung, sich ausweinend, in Weite zu entkommen und dadurch Gelegenheit zum Aufbau eines neuen Niveaus personaler Emanzipation zu erhalten. Im Gegensatz zum Lachen führt das Weinen also nicht auf dasselbe Niveau personaler Emanzipation zurück. Deswegen bildet es, anders als das Lachen, die Lebensgeschichte fort. Die Person kann sich nicht auf Lachen und Weinen allein verlassen, um personale Emanzipation und personale Regression zusammenzuführen. Sie bedarf einer beständigen Balance, um das Gegeneinanderstreben beider Tendenzen auszugleichen, und findet diese in der Fassung, die sie sich gibt. Fassung ist das, was man verliert, wenn man die Fassung verliert. In der Fassung bestimmt sich die Person durch spielerische Identifizierung als etwas, das eindeutiger ist, als sie wirklich ist. Spielerische Identifizierung besteht darin, etwas ohne Verwechslung und ohne Fiktion, stattdessen ohne Rücksicht auf Tatsächlichkeit, als etwas anderes zunehmen, z. B. das Bild als das Abgebildete (z. B. als ein Gesicht, eine Landschaft), den Schauspieler als die gespielte Figur (Faust oder Hamlet usw.), ein Symbol als das Symbolisierte (z. B. die Fahne als verkörperte Gemeinschaftsehre oder Nation), Menschen als ein Leitbild (wie Faust Helena in jedem Weibe sieht). Identität ist symmetrisch oder umkehrbar, so auch die fiktive Identität; die Identität spielerischer Identifizierung ist dagegen unecht, Identität nur in einer Richtung. Die Fassung eines Menschen ist zum Teil durch seine Berufs- oder Familienrolle bestimmt, zum größeren Teil aber durch das, was der Psychiater Jürg Zutt die »innere Haltung« nennt. 16 Er schreibt: »Manche Haltungen, die aus bestimmten Wesenszügen hervorgehen, können fast dauernd die innere Haltung und damit das Handeln eines Menschen bestimmen, so Aufrichtigkeit, Stolz, Liebenswürdigkeit, Bedächtigkeit. Aus diesen Grundhaltungen entwickeln sich die Nuancen von EinzelhalJürg Zutt, Auf dem Wege zu einer anthropologischen Psychiatrie, Berlin/ Göttingen/Heidelberg 1963, S. 1–88: Die innere Haltung
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tungen, wie z. B. Entgegenkommen, Begrüßen, Abweisen, Verabschieden.« 17 Andere Beispiele sind z. B. Jovialität, sanfte Bestimmtheit, misstrauische Vorsicht oder die Grundhaltung des analen Charakters nach Freud mit den Merkmalen: ordentlich, sparsam, eigensinnig. Die Fassung kann aber auch je nach dem Lebensbezug wechseln, z. B. gegenüber dem Vorgesetzten anders sein als gegenüber den Untergebenen, im Amt anders als in der Familie. Sie kann sich auch den Umständen anpassen, etwa um eine Gegentendenz zu unterdrücken. Zutt gibt folgende Beispiele: Wer seinem Ärger nicht Luft machen will, lächelt maliziös, und wer sich zu einem schweren Gang aufmachen will, legt sich einen besonders entschlossenen Schritt zu. Die Fassung ist vielschichtig und wendig. An der Quelle spielt sie sich unwillkürlich ein, im auferlegten Auf und Ab von personaler Emanzipation und personaler Regression. Manchmal ist man überrascht, dass man gegen diesen Menschen oder in diesem Lebenskreis so sein, gerade diese Fassung annehmen muss. Über dem Unwillkürlichen kann es in der Fassung viel Aufgesetztes geben. Ihre Beweglichkeit kann gehandhabt werden. Seine Fassung in der Begegnung schwingen zu lassen, ohne sie zu verlieren, ist der sensibelste Fühler der Einleibung, die den Anderen am eigenen Leibe spüren lässt; denn die Fassung vermittelt ausgleichend zwischen der leiblichen Grundlage der Person und der personalen Emanzipation. Wer dagegen seine Fassung starr festhält, wird unempfänglich und sieht am Anderen vorbei. Der Ausgleich im Zwiespalt von personaler Emanzipation und personaler Regression ist nur eine von mehreren Leistungen der Fassung. Eine andere ist das Auffangen der Subjektivität beim Auslaufen in den Grauzonen der Neutralisierung. Die subjektiv bleibenden Bedeutungen in der persönlichen Situation, der Kern des Eigenen der Person, neigen in der personalen Emanzipation zur Neutralisierung, indem der Mensch etwas nicht nur persönlich nimmt, sondern auch ganz sachlich und 17
Ebd. S. 14
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objektiv sieht und sich selbst oft nicht klar ist, wie die Gewichte verteilt sind. Bei einem von mir beschriebenen Menschentyp, dem Ultrovertierten, ist das Auslaufen so stark, dass er trotz deutlicher Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden den Schwerpunkt seines Engagements in die persönliche Fremdwelt mit neutralisierten Bedeutungen legt. Dieses Auslaufen in Objektivität kann die Person auffangen, indem sie sich selbst objektiviert, gleichsam in der Vorstellung mit den Augen der Anderen sieht und darin eine Fassung findet, in der die Subjektivität des Selbstentwurfs und die Entfremdung ausgeglichen sind. So schildert die dänische Schriftstellerin Luise Heiberg das Erwachen ihres »eigenen Ichs« im Alter von vier Jahren: »Deutlich erinnere ich mich, dass, als ich eines Tages der Länge nach in einem Rinnstein lag und mit einem Stock darin plätscherte, ich plötzlich aufstand, meine Finger abtrocknete und dachte: wenn dich hier jemand so liegen sähe, da müsstest du dich doch schämen.« 18 Solches Entdecken seiner selbst in einer objektivierend angenommenen Fassung kann in späteren Jahren das Auslaufen der Subjektivität in Neutralisierung begrenzend auffangen: Die Person gibt sich eine Form. Schließlich ist als dritte Funktion der Fassung ihre soziale Leistung unübersehbar. Die Person ist dem Blick des Mitmenschen dadurch unterlegen, dass dieser oft schon beim ersten Anblick ihrer Erscheinung einen vielsagenden Eindruck abzugewinnen vermag, der ihm als eine Plakat-Situation die ganze Persönlichkeit des Anderen – in meiner präzisierenden Ausdrucksweise: dessen zuständliche persönliche Situation – zu signalisieren scheint. Dieser erste Eindruck kann trügen, aber durch weitere Erfahrungen angepasst und gegebenenfalls korrigiert werden, wobei der Mitmensch analytisch vorgeht, von einem Eindruck, den der ganze andere Mensch ihm macht, abHanns Reichardt, Die Früherinnerung als Trägerin kindlicher Selbstbeobachtungen in den ersten Lebensjahren, Halle 1926, S. 289 (nach Johanne Luise Heiberg, Et liv, Kopenhagen 1891)
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steigend zu speziellen Zügen und von diesen Einzelbeobachtungen aus das Gesamtbild verbessernd, bis es zwar nicht endgültig gewiss wird, aber für passende Gelegenheiten ziemlich sichere Urteile gestattet, wie der Andere einzuschätzen und was von ihm zu erwarten ist. Auf Grund dieses Blickes vom Ganzen her kann der Mitmensch sich pauschale Urteile zutrauen, indem er den Anderen etwa als zuverlässig, leichtfüßig, eitel, hochnäsig, mutig, weichlich usw. einstuft. Die Person selber kann nicht so zu sich absteigen. Von sich selbst kann man keinen Eindruck haben, der ein Plakat der eigenen Persönlichkeit ist. Deswegen wirkt es sonderbar, wenn ein Mensch sich selbst in der angegebenen Weise pauschal charakterisiert. Er kann nur bei einzelnen Gelegenheiten die Probe machen, was an ihm ist, und durch Sammlung solcher Erfahrungen synthetisch zur eigenen persönlichen Situation aufsteigen, ohne dass sich ihm diese mit einem Schlage darzustellen auch nur scheint, außer vielleicht in ganz seltenen »Augenblicken der Wahrheit« und auch dann nur streifend, während der Mitmensch gleich den ganzen Anderen sieht oder zu sehen meint. Diese Unterlegenheit unter den Blick des Mitmenschen sucht die Person zu kompensieren, indem sie ihm ein Ganzes von sich als ihre Fassung entgegenhält. Da aber der Mitmensch auch ihr Mitmensch ist, dem sie mit ihrem Blick ebenso überlegen ist wie er ihr mit dem seinen, ergibt sich ein beiderseits mehr oder weniger ausgewogener Konflikt von Blick und Fassung, wobei der Blick, wenn die Fassung bloß aufgesetzt ist und erhebliche Ränder der Persönlichkeit frei lässt, keine allzu große Schwierigkeit hat, die ihm entgegengehaltene Fassung zu durchdringen. Diese soziale Funktion der Fassung schiebt sich oft in den Vordergrund, aber es wäre verkehrt, die Fassung deswegen als die Außenseite der Person anzusehen, als etwas, das sie gleichsam vor sich herträgt. Vielmehr ist sie der Person unentbehrlich, als Werkzeug zum Ausgleich der Spreizung zwischen dem Leben aus primitiver Gegenwart und dem Leben in der zur Welt entfalteten Gegenwart, des Zwiespaltes von personaler Emanzi136 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Labilität der Person
pation und personaler Regression, sodann auch als Hilfe zum Abfangen des Auslaufens der Subjektivität in Neutralisierung durch Selbstobjektivierung. Es wäre unbillig, der Person vorzuwerfen, dass sie sich in spielerischer Identifizierung auf etwas festlegt, das eindeutiger ist als sie, so wie es unbillig wäre, dem Schauspieler vorzuwerfen, dass er den Hamlet spielt. Nur für unechte, trügerisch oder ungeschickt aufgesetzte Fassungen ist der Vorwurf angebracht. Die Fassung ist das einzige Hilfsmittel, das die Person zu ihrer Stabilisierung besitzt. Diese kann aber nicht in der Verschanzung gegen die Labilität der Person bestehen, sondern nur in beweglicher Anpassung der Balance. Deswegen ist das Schwingenlassen der Fassung so wichtig, auch als Hauptorgan der Sensibilität in der Einleibung. Das Philosophenideal einer starren Stabilisierung der Person über den unwillkürlichen Regungen, wie es extrem bei den Stoikern, aber auch bei Platon, Spinoza und Kant beherrschend hervortritt, führt in die Irre. Es rechnet nicht mit dem fundamentalen Zwiespalt in der Person. Diesem gewachsen kann die Stabilisierung nur sein mit der elastischen Beweglichkeit des Wellenreiters.
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7. Komik und Humor
Warum leisten sich die Menschen das Lachen? Diese naheliegende Frage ist in den es betreffenden Diskussionen seit dem Altertum trotz ihres kaum übersehbaren Umfangs zu kurz gekommen; man hat sich hauptsächlich über Lachanlässe ausgelassen und sich dabei nur auf einen einseitig bevorzugten Spezialtyp bezogen, das komo-geloiotische Lachen über das in komischer Weise Lächerliche. Warum solche Anlässe gerade Lachen erregen, wurde kaum bedacht. Joachim Ritter glaubte wenigstens, die »Heiterkeit, Vergnügen, Laune, Freude usw.« solchen Lachens damit begründen zu können, dass das Lachen und das Lächerliche die Funktion hätten, »die dem Ernst nicht zugängliche Zugehörigkeit des Anderen zu der es ausgrenzenden Lebenswirklichkeit sichtbar zu machen«, indem »die dem Ernst widerständigen Dinge auf den Punkt hingespielt werden, an dem sie diese ihre widerständige Kraft verlieren und umsetzen in das Bekenntnis ihrer Zugehörigkeit zur Daseinswelt- und Daseinsordnung« 1 ; man hat ihm deswegen nachgesagt: »Bei Ritter begreift man wieder, warum gelacht wird.« 2 Aber so versöhnlich ist keineswegs jedes Lachen, nicht einmal jedes komogeloiotische; das schadenfrohe Auslachen des Hochmuts, der im buchstäblichen oder übertragenen Sinn zu Fall kommt, nimmt das Belachte nicht als Kontrastfigur auf, sondern weist es ab. Die häufigste Erklärung der motivierenden Kraft von Lachanlässen gründet sich auf das Bedürfnis, einen Antriebsüberschuss losJoachim Ritter, Subjektivität, Frankfurt a. M. 1974, S. 62–92: Über das Lachen, S. 79–84 (zuerst 1940) 2 Otto Rommel, Die wissenschaftlichen Bemühungen um die Analyse des Komischen, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturverwandtschaft und Geistesgeschichte, Band 21, 1943, hier S. 193 1
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Komik und Humor
zuwerden, der zur Bewältigung einer Aufgabe nicht mehr gebraucht wird. So ist Kant zu verstehen: »Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts.« 3 Freud fasst seine im Anschluss an Theodor Lipps entwickelte Auffassung der komischen Lust, einschließlich des Witzes und Humors, so zusammen, dass es sich um Lust an Ersparung von Aufwand handle. 4 Aber Lachen ist ein anstrengendes und aufwendiges Unternehmen; der Freud’sche Lacher würde sich also das Spiel verderben. Überhaupt scheitert jede Abfuhrtheorie, die im Lachen bloß die Abreaktion eines nicht mehr benötigten Antriebs sieht, an dem Überschuss, den das Lachen über die Abreaktion dadurch besitzt, dass es ein eigener Einsatz des Lachenden ist, der Eifer und Mitmachen erfordert. Man erkennt das am Vergleich des Lachens mit dem Zittern, dem es übrigens verwandt ist; Lachen ist so etwas wie verstärktes, akustisch geäußertes Zittern. Zittern kommt als Abreaktion eines Antriebs vor, der nach erfolgreicher Bewältigung von Erregungszuständen in kritischen Situationen nicht mehr benötigt wird. Wenn der Eifer beim Lachen auf Grund einer bedrohlichen oder peinlichen Überraschung gestoppt wird, vergeht dem Menschen das Lachen; keineswegs vergeht ihm dann ebenso das Zittern, die bloße Abreaktion eines überflüssig gewordenen Antriebs. Aus demselben Grund versagt auch ein dritter Erklärungsversuch, der von Plessner, der das Lachen als Reaktion des Menschen auf »unbeantwortbare und nicht bedrohende Lagen« versteht: Der Mensch »kapituliert nicht als Person. Er verliert nicht den Kopf. Auf die unbeantwortbare Lage findet er gleichwohl (…) die einzig noch mögliche Antwort: von ihr Abstand zu nehmen und sich zu lösen. Der außer Verhältnis zu ihm geratene Körper übernimmt für ihn die Antwort, nicht mehr als Instrument von Handlung, Sprache, Geste, Gebärde, sondern als Körper. Im Verlust der Herrschaft über ihn, im Ver3 4
Kritik der Urteilskraft, 3. Auflage 1799, S. 225 Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, letzter Absatz
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Komik und Humor
zicht auf ein Verhältnis zu ihm bezeugt der Mensch noch sein souveränes Verständnis des Unverstehbaren, noch seine Macht in der Ohnmacht, noch seine Freiheit und Größe im Zwang.« 5 Das wäre richtig, wenn die Menschen in unbeantwortbaren Lagen, statt zu lachen, zu zittern begännen, ohne die Fassung zu verlieren. Das Lachen ist dagegen keine Ablösung der Person von dem in ihrem Körper ablaufenden Geschehen, sondern ein eifriges Mitmachen, in das die Person sich hineinwirft. Die Schwierigkeit mit der Frage, warum die Menschen in gewissen Lagen lachen, wird noch größer, wenn man sie auf die bisher fast allein fokussierte Form des Lachens bezieht, nämlich das Lachen über Gegenstände, die in komischer Weise lächerlich (komo-geloiotisch) sind; diese gewagte Wortneubildung habe ich gewählt, weil manches als lächerlich gilt, ohne komisch zu sein, etwa als Gegenstand eines nur verächtlichen, verwerfenden Lachens, wie wenn man über eine Zumutung sagt, »Darüber kann ich nur lachen«, und dann wirklich lacht. Unter den fast unübersehbar vielen Arten von Lachen, differenziert nach Lachanlässen 6 , sticht das komo-geloiotische Lachen durch seine Entspanntheit hervor, die Ritter dazu verführte, dem Lachen überhaupt »Heiterkeit, Vergnügen, Laune, Freude usw.«1 zuzuschreiben. Diese Entspanntheit liegt in der Mitte zwischen zwei Bereichen von Lachweisen, die nicht so entspannt vergnüglich sind, einem Lachen aus Überlegenheit und einem Lachen aus Unterlegenheit; präziser könnte man sie, mit meinem Begriffssystem leiblicher Dynamik, als Lachen mit überwiegender Schwellung bzw. überwiegender Spannung im vitalen Antrieb charakterisieren. Zur ersten Gruppe gehören das höhnische, hämische, schadenfrohe, jubelnde Lachen, das Lachen des Siegers, der schon beim Angriff (im Vollgefühl seiner Stärke) triumHelmuth Plessner, Lachen und Weinen, 3. Auflage Bern/München 1961, S. 89 6 Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band IV: Die Person, zuerst Bonn 1980, S. 119–121: Arten des Lachens 5
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phiert 7 , zur zweiten Gruppe etwa das Lachen aus Angst, aus Verlegenheit, das bittere, das verzweifelte Lachen, das metakritische, in dem sich das Entsetzen nach überstandener Katastrophe löst. Zwischen diesen Extremen gibt es ambivalente Formen wie das Lachen aus Angstlust bei Kindern, die von Erwachsenen aufund abgeschwenkt werden. Man hat Anlass, sich zu fragen, wie das komo-geloiotische Lachen zu seiner nicht so ambivalenten, vielmehr ungetrübten Entspanntheit zwischen den Extremen kommt. Die Tradition gibt darauf im Wesentlichen die Antwort des Aristoteles, das Lächerliche im Sinn der Komödie sei eine hässliche Verfehlung, die harmlos ist, weil sie weder Schmerz noch Verderben bringt. 8 Aber auf so etwas kann man ebenso mit Entrüstung, Ärger, Abscheu, Ekel wie mit Lachen reagieren. Die traditionelle Erklärung, die sich nur am Gegenstand oder Lachanlass und nicht an dem orientiert, was das komo-geloiotische Lachen für den Lachenden selbst leistet, bleibt an der Oberfläche. Sie muss ergänzt werden durch eine Anthropologie des Lachens, die dieses vom lachenden Menschen her bestimmt. Meine Lösung dieser Aufgabe, gestaffelt für Lachen, Komik, Humor und Witz, habe ich längst vorgelegt. 9 Ich bestimme das Lachen überhaupt als eine dem Menschen von Natur eingegebene Technik zur Integration der Person, die deren labilen Zusammenhang bestätigt und festigt, und die Komik als eine Gelegenheit, das mit dieser Integrationsarbeit verbundene Risiko zu mindern, so dass die Person mit beruhigter Sicherheit ans Lachen gehen kann; der Humor stellt sich mir als Einbau der Komik in die lachende Person dank einer Verfeinerung ihres Umgangs mit sich dar. Witze rechne ich nicht zum Komischen und werde meine Theorie des Lachens über sie im Folgenden Angelsächsische Recken, ebd. S. 118 (nach Heinz Reinhold, Humoristische Tendenzen in der englischen Dichtung des Mittelalters, Tübingen 1953, S. 23) 8 Poetik 1449a34 f. 9 Wie Anmerkung 6, S. 114–126; Der unerschöpfliche Gegenstand, zuerst Bonn 1990, S. 161–166 7
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Komik und Humor
nur streifen. Da aber Prütting in seiner monumentalen Darstellung 10 von meinen einschlägigen Lehrstücken nur das Lachen überhaupt behandelt, sie für die Komik, den Humor und den Witz aber mit keiner Silbe erwähnt, will ich meine Gedanken über Komik und Humor noch einmal kurz zusammenfassen. Das ist nicht möglich, ohne auf meine Theorie der Person einzugehen, doch werde ich mich dabei so kurz wie möglich fassen, weil ich darüber schon breit und reichlich geschrieben habe. Von da komme ich zunächst zum Lachen und erst auf dieser Grundlage zu Komik und Humor. Ich bestimme die Person als einen Bewussthaber mit der Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, einen Fall mehrerer Gattungen für sich selbst zu halten. Auf diese Gattungen kann sie Akzente der Bewertung und Wichtigkeit setzen und dadurch in gewissem Maß sich selbst bestimmen, was für das Personsein entscheidend ist. Selbstzuschreibung ist ein identifizierendes Selbstbewusstsein (Sichbewussthaben), das nur möglich ist, wenn ihm ein nicht identifizierendes zu Hilfe kommt. Aus jeder Identifizierung, bei der nicht schon vorausgesetzt wird, dass es sich bei dem, womit identifiziert wird, um den sich identifizierenden Bewussthaber (zum Beispiel um mich) handelt, ist nämlich nicht zu erraten, dass es sich um mich handelt, weil jede Bestimmung als etwas, die durch Identifizierung erreicht wird, auch einem anderen als mir zukommen könnte. Das nicht-identifizierende Sichbewussthaben, das für die Selbstzuschreibung vorausgesetzt wird, besteht in den Tatsachen des affektiven Betroffenseins. Das sind (in meinem Fall) die Tatsachen, dass mir etwas nahe geht, mir zusetzt, mich in Anspruch nimmt. Sie sind für mich subjektive Tatsachen, die höchstens ich im eigenen Namen aussagen kann, weil sie mich mir als den, dem sie unvertretbar nahe gehen, aufdrängen. In den Tatsachen des affektiven Betroffenseins muss ich mich also, damit Selbstzuschreibung möglich wird, ohne Identifizierung selbst finden. Das ist nur möglich im 10
Lenz Prütting, Homo ridens, Freiburg/München 2013
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Rückgang auf die primitive Gegenwart, d. h. den plötzlichen Andrang des Neuen, der Dauer zerreißt, Gegenwart aus ihr exponiert und die zerrissene Dauer ins Vorbeisein verabschiedet. In der exponierten Gegenwart sind die fünf Momente hier, jetzt, sein, dieses, ich in absolut unspaltbarem (ungerichtetem) Verhältnis (vor jeder gerichteten Beziehung zu etwas) verschmolzen; dabei bezeichnet »dieses« das absolut Identische (vor jeder relativen Identität mit etwas, z. B. mit sich selbst) und »ich« den, der im affektiven Betroffensein sich als der Betroffene aufgedrängt wird. 11 Wegen des unspaltbaren Verhältnisses von ich und dieses entfällt in der Erfahrung von mir als diesem, dem Sichbewussthaben in primitiver Gegenwart, die Identifizierung, die eine Beziehung wäre. Die primitive Gegenwart ist ein seltener Ausnahmezustand; sie wird der Person durch die Dynamik ihres spürbaren Leibes aber beständig vorgehalten in Gestalt des vitalen Antriebs, in dem sich Engung als Spannung und Weitung als Schwellung gegenläufig verschränken. In der Engung wird dem Bewussthaber die primitive Gegenwart als Maximum, als Enge des Leibes, tendentiell vorgehalten oder angedeutet. Der vitale Antrieb übergreift den Leib der Person, wie schon zuvor des Tieres, und verbindet ihn sowohl mit Leibern als auch mit leiblosen Gestalten, die durch Brückenqualitäten – nämlich Bewegungsuggestionen und synästhetische Charaktere, die sowohl am eigenen Leib gespürt wie an begegnenden Gestalten wahrgenommen werden können – leibnah sind, im gemeinsamen Antrieb der Einleibung. Aus unzerrissener und zerreißender Dauer, primitiver Gegenwart, leiblicher Dynamik und Einleibung als Hauptform leiblicher Kommunikation besteht das Leben aus primitiver Gegenwart, das Tiere und Säuglinge, sowie Personen bei allen routinierten unwillkürlichen Verrichtungen (einschließlich des Sprechens als Sprach- und MundÜber die Begriffe des absolut unspaltbaren Verhältnisses und der absoluten Identität unterrichten meine Bücher Kritische Grundlegung der Mathematik oder Phänomenologie der Zeit.
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gebrauch), führen, gefangen in Situationen. Eine Situation ist Mannigfaltiges, zusammengehalten durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind. Die Bedeutsamkeit ist binnendiffus, weil nicht alle Bedeutungen in ihr (sehr oft gar keine) einzeln sind: einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Dem Menschen gelingt es, durch seine satzförmige – d. h. von den Regeln einer Sprache, ihren Sätzen, geleitete – Rede der Gefangenschaft in Situationen zu entkommen, indem er einzelne Bedeutungen und in Folge einzelne Sachen beliebiger Art als Fälle von Gattungen aus den Situationen herausholt und mit Hilfe von Unterschied und relativer Identität zu Konstellationen vernetzt, aus denen sich wieder Situationen bilden, die wieder expliziert werden, usw. Auf diese Weise wird der Mensch befähigt, Situationen rekonstruierend in den Griff zu nehmen und planend oder phantasierend zu überholen. Im Zuge der Vereinzelung entfaltet sich dem Menschen die primitive Gegenwart nach ihren fünf Momenten zur Welt als entfalteter Gegenwart. Das Hier der primitiven Gegenwart wird zum Ortsraum aus relativen Orten, wo etwas ist. Das Jetzt der primitiven Gegenwart entfaltet sich zur modalen Lagezeit, mit Fluss der Zeit, die als Lagezeit bestimmt, wann etwas ist. Das Sein der primitiven Gegenwart entfaltet sich zum Gegenteil des Nichtseins in voller Breite mit Projizierbarkeit des Einzelnen ins Nichtseiende, wodurch Erwartung, Phantasie, Planung, Hoffnung, Furcht usw. möglich werden. Das Dieses der primitiven Gegenwart entfaltet sich aus der absoluten Identität zur relativen Identität von etwas mit etwas, wodurch Sachen als Fälle verschiedener Gattungen vielseitig zugänglich werden. Das Ich der primitiven Gegenwart, der Bewussthaber des affektiven Betroffenseins, entfaltet sich durch Selbstzuschreibung als Fall mehrerer Gattungen zum einzelnen Subjekt. Mit dieser Vereinzelung verbindet sich die Neutralisierung in der Weise, dass von den subjektiven Bedeutungen, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann – nämlich den subjektiven Tatsachen und 144 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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den ebenso subjektiven Programmen, Problemen und untatsächlichen Sachverhalten – die Subjektivität für den Betreffenden abfällt, so dass sich objektive oder neutrale Bedeutungen ergeben, die jeder aussagen kann, wenn er genug weiß und gut genug sprechen kann. Es bleiben aber genug für die Person subjektive Bedeutungen übrig, um die sich eine Sphäre des für sie Eigenen bildet, bestehend aus ihrer zuständlichen persönlichen Situation, die sich als ihre Persönlichkeit lebenslang weiterbildet, und der diese umfassenden persönlichen Eigenwelt alles dessen, woran sie in Zu- oder Abneigung mit affektivem Betroffensein hängt, gegenüber der durch Neutralisierung für sie entstehenden persönlichen Fremdwelt nebst breiten Grauzonen zwischen beiden Teilwelten. Durch Vereinzelung und Neutralisierung, mit Gegenüberstellung des Eigenen und des durch Neutralisierung entfremdeten Fremden, erhebt sich die Person über ihr Leben aus primitiver Gegenwart in personaler Emanzipation. Weil aber die Person nicht ohne Selbstzuschreibung und diese nicht ohne Anbindung an die primitive Gegenwart über das affektive Betroffensein und die leibliche Dynamik des vitalen Antriebs möglich ist, bedarf die Person, um existieren zu können, einer zur personalen Emanzipation gegenläufigen personalen Regression, die den Gegensatz des Eigenen und Fremden verwischt, die Neutralisierung und Vereinzelung mehr oder weniger aufhebt und sich so zur Rückkehr in das Leben aus primitiver Gegenwart aufmacht. Durch den Gegensatz beider ihr innewohnenden Tendenzen gerät die Person in eine labile Stellung. Sie versucht, diese Labilität zu kompensieren, indem sie sich eine Fassung gibt, durch die sie sich eindeutiger darstellt, als sie ist. Fassung ist das, was man verliert, wenn man die Fassung verliert und die Errungenschaften der personalen Emanzipation preisgibt. Die personale Emanzipation hat viele Stile, die nach Niveaus gestaffelt sind. Ein Niveau der personalen Emanzipation ist höher als ein anderes, wenn es emanzipierter ist, d. h. durch Vereinzelung und Neutralisierung das Fremde dem Eigenen schär145 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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fer gegenüberstellt, so dass dieses sich deutlicher abheben kann. Von einem Niveau personaler Emanzipation aus ist jedes niedrigere ein Niveau personaler Regression. Ein schlagender Beweis für die Existenz solcher Niveaus ist die Akrasie, die falsch benannte sogenannte Willensschwäche. Ein Beispiel ist der faule Bettgenießer, der morgens beim Erwachen einsieht, dass er zu einer wichtigen Erledigung aufstehen muss, es aber so schön wohlig und warm im Bett findet, dass er trotzdem liegen bleibt. Hier werden auf zwei Niveaus zwei Absichten gebildet, und die der Subjektivität näherliegende, weniger durch neutralisierende Sachlichkeit verdünnte setzt sich durch. Umgekehrt ist es eine Erhebung auf ein höheres Niveau, wenn eine Person sich einen Ruck gibt, mit einem Seufzer zu etwas aufrafft oder – um im Soldatenjargon zu sprechen – den inneren Schweinehund bekämpft. Man kann auch auf mehreren Niveaus zugleich stehen, z. B. sich selbst Mut zusprechen oder mit der Besonnenheit über einer Scham oder einem Zorn stehen, obwohl man die affektive Befangenheit in ihnen noch nicht ablegen kann. Goethe sagt irgendwo (ich habe die Quelle vergessen): »Ich bin meinen Widersachern immer überlegen gewesen, weil ich ihre Vorzüge zu schätzen wusste.« Er hat sich über dem Niveau affektiver Verstrickung in Feindschaft ein höheres für gerechtes Urteilen bewahrt. Diese Analyse des Aufbaus der Person hilft sofort zum Verständnis der Wichtigkeit des Lachens, der Komik und ihrer Weiterbildung zum Humor für menschliche Personen. Das Lachen vereinigt personale Regression mit personaler Emanzipation in solcher Weise, dass die Person ihre durch den Zwiespalt beider Tendenzen bedingte Labilität überwindet und sich nach beiden Seiten in ihrer Ganzheit bestätigt. Zunächst ist das Lachen personale Regression. Der Mensch fällt ins Lachen, so dass er seine besonnene Wachheit bis zur Wehrlosigkeit preisgibt, indem er je nach Art des Lachens auf einem Niveau personaler Regression haltmacht, bis er eventuell in völlig hemmungslosem Lachen jedes mögliche Niveau personaler Emanzipation unterschreitet. 146 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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Aber er fällt nicht nur ins Lachen, sondern er lässt sich in das Lachen fallen; dieses gedeiht durch den Schwung, den er dem regressiven Impuls gibt. Nur durch den Druck äußerer Umstände, z. B. im Interesse gesitteten Benehmens in einer entsprechend fordernden Umgebung, kann es geschehen, dass man widerwillig lacht. Der Schwung entspringt dem Selbstvertrauen, dass durch den Absturz hindurch der Aufschwung zum verlassenen Niveau gelingen wird. Auf diese Weise gleicht das Lachen der Bauchwelle am Reck: So viel Schwung wird genommen, dass der Abschwung für den Wiederaufschwung die nötige Reserve hat. Deshalb legen sich die Menschen in ihr Lachen hinein; sie geben ihm die Kraft der Selbstbestätigung, die das Selbstvertrauen in personaler Regression nicht sinken lässt. Als Beispiel nenne ich das Kind, das in Angstlust lachend und jauchzend sich z. B. in der Luft schwenken oder – die Neckerei durchschauend – bedrohen lässt. Es triumphiert über die Auslieferung an die Gefahr, nachdem es begriffen hat, dass es über diese von der Macht, der es sich überlässt, hinausgetragen wird und obendrein durch die Bewunderung der Erwachsenen oder die Höhe, in die es gehoben wird, Stolz als Prämie ernten kann. Der Erwachsene braucht keinen haltenden Arm mehr, um sein Selbstvertrauen in der Preisgabe beim Lachen zu bewahren; ihm genügt der eigene Schwung. Diese Deutung des Lachens als Integration von personaler Emanzipation und personaler Regression erklärt mit einem Schlag, warum sich die Menschen in so vielen und verschiedenartigen Lebenslagen, ebenso frohen wie bedrängenden, und keineswegs nur vergnüglich wie beim komischen Amüsement, dem Lachen überlassen: Sie suchen sich der Ganzheit ihrer Person nach beiden Seiten, der emanzipatorischen und der regressiven, zu versichern und benutzen dafür eine ihnen von der Natur gegebene Kunst. Die Überlegenheit aus Kraft (in strotzendem Vollgefühl) oder Glück (im Jubel) kann die Person nicht weniger labilisieren, aus dem Gleichgewicht bringen, als die Bedrängnis in Angst, Verzweiflung oder Bitterkeit, und in solchen Nöten 147 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Komik und Humor
leistet sie sich das angstvolle, bittere oder verzweifelte Lachen, um sich zu vergewissern, dass sie noch ganz und nicht durch die Bedrängnis zerrissen ist. Eine Sonderstellung hat nur das verlegene Lachen, da in diesem Fall das Selbstvertrauen nicht echt ist und vielmehr die Selbstbehauptung in der Selbstpreisgabe nur gespielt wird, aber nicht nur vorgespielt, als setze man das Lachen zur Täuschung des Partners ein, sondern im Sinn einer Beschwörung, durch die der Verlegene magisch versucht, durch die personale Regression des Lachens hindurch auf die Höhe selbstsicherer personaler Emanzipation zu kommen. Das Lachen des Gekitzelten vereinigt als wollüstige Hingabe an die zarte Berührung durch einen anderen – sich selbst kann man nicht kitzeln – oder dessen Instrument (Feder) Selbstauslieferung als personale Regression mit Genuss zarter Wollust, der als lustvolles Sicheinlassen der Person auf ein im Kampf mit engender Spannung siegreiches Übergewicht weitender Schwellung im vitalen Antrieb 12 die zum lachenden Selbstvertrauen nötige Bestätigung liefert. Diese Aufklärung der Leistung des Lachens für die Person führt sogleich zur Lösung des Rätsels der Komik, des komo-geloiotischen Lachens über komische Vorgänge und Zustände. Wie ist es möglich, so lautet die Frage, dass zwischen den Extremen des gepressten, spannungsvollen Lachens aus Über- oder Unterlegenheit eine Insel gefunden wird, auf der sich das Lachen so entspannt und behaglich einnisten kann, dass die Menschen über nichts öfter und lieber lachen als über komische Effekte? So sehr, dass die meisten Theoretiker, wie exemplarisch Ritter1, darüber die anderen Lachweisen vergessen haben? Antwort: Das Behagen beim komo-geloiotischen Lachen resultiert aus der erhöhten Sicherheit des Lachenden. Lachen ist ein riskantes Unternehmen. Es verginge dem Lachenden sehr schnell, wenn ihn die Zuversicht verließe, dass der Schwung seines lachenden EinVgl. von mir zur Wollust: Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band II, Teil 1, S. 217–230; zum Genuss: ebd. Band III, Teil 4, S. 642–646
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satzes ihn durch das Verfallen in personale Regression hindurch auf sein geräumtes Niveau personaler Emanzipation zurückbringen wird. Diese Zuversicht sucht sich eine Stütze. Der Lacher findet sie, sobald er Gelegenheit hat, den Verlust des Niveaus personaler Emanzipation auf ein stellvertretendes Opfer abzuwälzen, auf einen anderen, dessen Niveau statt des seinen wenigstens vorgeblich der Regression preisgegeben wird. Das ist die Chance, die das komo-geloiotische Lachen ergreift. Der Griff zur Komik dient dem Selbstschutz des Lachenden durch Projektion des Risikos (Abfall vom Niveau personaler Emanzipation) auf ein stellvertretendes Opfer. In der langen und ausufernden wissenschaftlichen Diskussion über Komik hat man, statt nach dem Sinn und Nutzen des Komisch-findens für den Lacher zu fragen, nach einem einheitlichen, alle Fälle umgreifenden Merkmal komischer Effekte gefahndet und dieses als irgend einen Kontrast oder Verstoß gegen das Normale, vorausgesetzt, dass nichts Bestürzendes vorliegt, dingfest zu machen gesucht. Meines Erachtens lohnt es sich nicht, darauf so viel Mühe zu verwenden; für den komischen Effekt genügt, dass irgend jemand eine Schwäche zeigt, die Gelegenheit gibt, sein Niveau personaler Emanzipation entweder wirklich oder – und meist – nur in der Vorstellung des Komisch-findens in personaler Regression zu versenken. Dies aber ist für den komischen Effekt auch notwendig. Es betrifft immer eine Person oder Personen, deren Haltungen und Zustände, nie unpersönliche Sachen wie im Wind umschlagende Regenschirme 13 oder auf der Schultreppe schwappende Fluten 14 bloß als solche, sondern nur als Repräsentanten solcher Haltungen und Zustände. Übrigens kommt der Belacher komischer Effekte in Wirklichkeit nie darum herum, das Risiko seines Verfallens in personale Regression einzugehen; die Projektion auf ein stellvertretendes Opfer gibt ihm aber Gelegenheit, so zu tun, als habe er es abgewälzt, und 13 14
Wie Anmerkung 6, S. 138, Anmerkung 520 (gegen Konrad Lange) Ebd. S. 137
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Komik und Humor
sich um das eigene Risiko nicht mehr zu kümmern. Der komogeloiotische Lacher wiegt sich in Sicherheit und schöpft darauf Behagen bis zum Amüsement. Das trifft allerdings nur für das harmlose Belachen zu, das nicht mit einer ungünstigen Bewertung verbunden ist. Im ausgeprägten Hohngelächter verdirbt sich der Lacher den Nutzen der Komik für das Lachen, die behagliche Entspanntheit, durch die aggressive Schärfe und Gespanntheit seines Vernichtungswillens. Allenfalls das schadenfrohe Lachen macht eine Ausnahme, weil die bloße Schadenfreude, anders als der höhnische Vernichtungswille, genügend gelassene Distanz gestattet, um die Stellung amüsierten Behagens halten zu können. Es leuchtet aber ein, dass das komo-geloiotische Lachen aggressiven Impulsen die Gelegenheit gibt, sich in ihm einzunisten und es zum Hohngelächter zu verschärfen. Der komo-geloiotische Lacher opfert im Interesse eigener Sicherheit das Niveau personaler Emanzipation einer anderen Person an personale Regression; dieser Abfall, diese Degradierung des Niveaus, auch wenn sie zunächst mit keiner ungünstigen Bewertung dieser Person verbunden ist, lädt dazu ein, ihn mit einer höhnischen Entwertung des Betreffenden zu beladen, falls eine solche erwünscht ist. Ein wichtiger Ertrag dieser Theorie der Komik ist die Brücke, die sie zum Verständnis des Humors schlägt. Das Wort ist auf Grund seines Durchgangs durch viele Verwendungen so vieldeutig geworden, dass es ohne genauere Präzisierung zur wissenschaftlichen Klassifikation ungeeignet ist. Einerseits versteht man Humor als eine Haltung heiterer Gelassenheit beim Blick auf Mängel und Schwächen der Welt und des Lebens einschließlich des Humoristen selbst; andererseits schreibt man dem Humor auch Selbstironie zu. Diese gehört aber nicht zur heiteren Gelassenheit, die auch als feste, eindeutige Haltung möglich ist, während zur Selbstironie ein zwiespältiges Schwanken zwischen einem höheren und einem niedrigeren Standpunkt gehört. Heiterkeit kann dem Humor nicht wesentlich sein; das zeigt die Existenz des schwarzen Humors, der mit dem Entsetzen Scherz 150 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Komik und Humor
treibt und in Frankreich von dem Surrealisten André Breton propagiert wurde 15, während man in der deutschen Romantik etwa die Nachtwachen des Bonaventura (aber auch Goethes Mephistopheles) dafür namhaft machen kann. Ich werde daher bei meiner Begriffsbildung auf die heitere Gelassenheit keine Rücksicht nehmen und mich mehr an die Selbstironie halten. Dabei gehe ich aus von einem bekannten Gedicht, in dem Wilhelm Busch das Wesen des Humors am Beispiel eines Vogels beschreibt, der, angeleimt auf einem Zweig sitzend, einen Kater heranschleichen sieht, der ihn unvermeidlich fressen wird. Die zweite Strophe lautet: Der Vogel denkt: Weil das so ist, Und weil mich doch der Kater frisst, So will ich keine Zeit verlieren, Will noch ein wenig quinquilieren Und lustig pfeifen wie zuvor. Der Vogel, scheint mir, hat Humor. Das ist typischer Galgenhumor. Er besteht nicht in bloßer Schicksalsergebenheit, denn die könnte den Vogel ebenso zu ernsteren Tönen veranlassen, ohne dass er die Fassung verlieren müsste. Vielmehr verfügt der Vogel offenbar über zwei Niveaus personaler Emanzipation, ein ernstes der Einsicht und ein lustiges der Lebensfreude, und weiß sich ihrer so souverän zu bedienen, dass er mit paradoxer Motivation aus einer hoffnungslos verzweifelten Lage die Motivation zur (wenn auch nur noch kurzen) Lebensfreude gewinnt. Dieses beliebige Verfügen über den Wechsel des Niveaus ist ein wesentliches Merkmal des Humors, besonders des englischen, wie Hans-Dieter Gelfert am Tristram Shandy von Laurence Sterne klar macht, indem er »die Volker Schupp, Die Mönche von Kolmar. Ein Beitrag zur Phänomenologie und zum Begriff des Schwarzen Humors, in: Festgabe für Friedrich Maurer zum 70. Geburtstag, Düsseldorf 1968, S. 199–222
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Komik und Humor
Destruktion von Autorität, das respektlose Spielen mit Wertbegriffen, das ironische Wechseln der Seiten« und die Blickrichtung von unten nach oben als Kennzeichen des spezifisch englischen Humors ausgibt: »Was Sternes Humor seinen unvergleichlichen Charme gibt, ist zunächst die kunstvolle Mischung aller dieser Ingredienzien, dann aber vor allem die Selbstironie, durch die jede Aussage in schillernde Zweideutigkeit getaucht wird, so dass schließlich nichts Festes zurückbleibt außer der schieren Vitalität des Lebens.« 16 Das beliebige Verfügen über die Höhenlage, mit der sich die Person von der Befangenheit in Betroffenheiten abhebt oder in solche zurücksinken lässt, macht den Kern solchen Humors aus. Er ist ein Spielen mit Niveaus personaler Emanzipation. Dazu passen die englischen Humortechniken des understatement und des undurchdringlichen Pokergesichtes (deadpan face). Wer untertreibt, hält höhere Stufen seiner personalen Emanzipation in Reserve, und wer ein undurchdringliches Gesicht aufsetzt, hält dahinter einen Sack voller möglicher Stellungnahmen bereit. Humor, wie ich ihn verstehe, ist also die Introjektion der Komik. Der Lacher über Komisches verteilt zwei Niveaus personaler Emanzipation an verschiedene Personen (oder Personengruppen), nämlich das eine, das er lachend fallen lässt, an sich, und das andere, auf das diese personale Regression stellvertretend übertragen wird, an sein komisches Opfer, dessen personale Emanzipation in seiner Vorstellung an Lächerlichkeit zerbricht. Der Humor übernimmt beide Niveaus in die eigene Person, die das als komisch an die Regression preisgegebene Niveau durch ein höheres übertrifft, von dem aus sie sich diese Preisgabe leisten kann, wobei aber kein Standpunkt von dem ironischen Spiel ausgenommen ist. Solcher Humor setzt nicht nur verschiedene Niveaus personaler Emanzipation in derselben Person voraus, sondern auch die Fähigkeit zu freihändigem, eventuell spieleriHans-Dieter Gelfert, Max und Monty. Kleine Geschichte des deutschen und des englischen Humors, München 1998, S. 130
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Komik und Humor
schem Umgang mit ihnen. Keineswegs genügt dazu die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen. Ich habe einen Bericht von Hochfeld über sein Geschick bei der Frühjahrsparade vor dem Kaiser auf dem Tempelhofer Feld 1913 angeführt und kommentiert. 17 Während er starr wie eine Statue stand und präsentierte, presste beim Nahen des Kaisers sein Kamerad zwischen den Zähnen hervor: »Knack! Da is a!« Nur mit äußerster Anstrengung konnte Hochfeld ein Lachen unterdrücken, das ihm schwerste Strafen eingebracht hätte. Der schnodderige Zuruf des Kameraden hatte ihm die pomphafte Szene zur lächerlichen Groteske werden lassen, mit ihm selbst als Figuranten darin. Wäre das Lachen aus ihm herausgeplatzt, hätte er also auch über sich selbst gelacht, aber ohne Humor, weil die personale Regression ihm abgepresst und nicht aus seinem freien Umgang mit seinen Niveaus entsprungen gewesen wäre. Weil das Spiel mit mehreren Niveaus der eigenen personalen Emanzipation eine erhebliche Verfeinerung im Umgang des Menschen mit sich voraussetzt, ist Humor eine späte Errungenschaft. Den alten Griechen und Römern scheint er noch nicht zugänglich gewesen zu sein. Zwar ist ihre Lebensphilosophie voll vom Angebot verschiedener Stufen und Stile personaler Emanzipation und der Abwägung zwischen ihnen, aber dabei kommt immer nur eine einzige Option in Frage. Das Extrembeispiel ist der stoische Weise. Auch Diogenes in der Tonne war kein Humorist, sondern ein Parodist; ohne Schwanken hielt er den Menschen ihr beschämendes Bild im Spiegel seiner Bedürfnislosigkeit vor. Nur aus der Fixierung auf einen einmal gewählten Standpunkt ergibt sich der Glaube, ein Mensch könne sein ganzes Leben im Zeichen dieses oder jenes Ideals oder Ziels wählen, wie Herakles am Scheidewege nach Prodikos; Platon versetzt diese Wahl in das transzendente Reich zwischen Tod und Wiedergeburt (Staat, 10. Buch), und Aristoteles hält dafür drei Wie Anmerkung 6, S. 135 f., nach Sophus Hochfeld, Der Witz, Potsdam/ Leipzig 1920, S. 118 f.
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Komik und Humor
Vorschläge bereit: Leben der Theorie, der politischen Praxis und des sinnlichen Genusses. 18 Auch die komischen Figuren der Antike, soviel ich sehe, tragen ihr Niveau und ihren Stil personaler Emanzipation wie einen eingeprägten Charakter ohne Humor. Der zu diesem erforderliche bewegliche Umgang mit vielen solchen Stilen und Niveaus entsteht vielleicht erst in der höfischen Konkurrenzgesellschaft listiger Betrüger unter dem Deckmantel feinster Etikette. Baltasar Gracián (1601–1688) gibt dazu den Rat: »Sich Allen zu fügen wissen: ein kluger Proteus: gelehrt mit dem Gelehrten, heilig mit dem Heiligen. Eine große Kunst, um Alle zu gewinnen: denn die Übereinstimmung erwirbt Wohlwollen. Man beobachte die Gemüther und stimme sich nach dem eines Jeden. Man lasse sich vom Ernsten und vom Jovialen mit fortreißen, indem man eine politische Verwandlung mit sich vornimmt. Abhängigen Personen ist diese Kunst dringend nöthig. Aber als eine große Feinheit erfordert sie viel Talent: weniger schwer wird sie dem Manne, dessen Kopf in Kenntnissen und dessen Geschmack in Neigungen vielseitig ist.« 19 Hier ist Wahl des Lebensweges kein Thema mehr, statt dessen Virtuosität des geistigen Fechters. Bei Gracián bleibt sie ohne Humor, nicht aber schon etwas früher in der maccheronischen Dichtung, die im selben Satz schlecht verstandenes Latein mit der Volkssprache zu einem Jargon vermischt, mit dem ein Narr aus dem Volk, ein Bauerntölpel, einen ambitionierten Narren aus der Welt der feinen Leute kopiert, aber aus seiner Bauernperspektive und entsprechend verzerrt. »Damit wird zugleich auch das Prinzip der sokratisch-kynischen Selbstverkleinerung weiter gesteigert, denn der humanistische Intellektuelle springt aus der eigenen elitären Schicht auf das Niveau eines Dorftrottels, um die Aufgeblasenheit der gesellschaftlichen Elite, zu der er ja selbst gehört, von dort unten her zu beleuchten und zu verlachen und sich zugleich damit wiederum über die 18 19
Eudemische Ethik 1215a32–b5 Handorakel, Aphorismus 77, übersetzt von Schopenhauer
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Komik und Humor
und sich selbst zu erheben.« 20 Es handelt sich um ein humoristisches Spiel mit Niveaus personaler Emanzipation. Abschließend werfe ich noch einen kurzen Blick auf den Witz, dem ich an anderer Stelle sehr ernsthaft nachgegangen bin, namentlich zur Beleuchtung des zwiespältigen Typs der Mannigfaltigkeit. 21 Ich meine den Witz, wie es ihn erst nach Jean Paul gibt, als Explosion einer durch Verdeckung gestauten Mehrdeutigkeit. Weil beim Witz die Verteilung auf mehrere Niveaus personaler Emanzipation fehlt, kann ich ihn nicht der Komik oder gar dem Humor zurechnen. Ich verstehe das Lachen über Witze als Prämie für die Kunst, mitten in der Verwirrung Übersicht zu behalten und also personale Regression (Verwirrung) mit personaler Emanzipation (Übersicht) zu integrieren.
Prütting, wie Anmerkung 10, S. 611 Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, zuerst Bonn 1990; Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg/München 2013, S. 61
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8. Die Person im affektiven Betroffensein
Ein Mensch wird zur Person, wenn er sich von sich selbst Rechenschaft geben kann. Das ist der Fall, sobald er sich als Fall mehrerer Gattungen versteht. Ein türkischer Schuster in Kreuzberg kann sich Rechenschaft von sich geben, indem er sich als Türke zu sich als Schuster, als Berliner, als Moslem, als Familienvater usw. in Beziehung setzt, diese Rollen auf einander abstimmt und verschieden akzentuiert oder auch weitere hinzu erleidet oder hinzu erfindet, etwa als Kranker, als Lotteriespieler, als Losgewinner in spe. Alle diese Subsumtionen verhelfen ihm aber nicht zur Selbstzuschreibung, solange er nicht merkt, dass er selbst der ist, um den es sich handelt. Selbstzuschreibung als personales Selbstbewusstsein bedarf also einer Identifizierung, deren Referens (das sich auf etwas bezieht) ein Gattungsfall ist und deren Relat (worauf es sich bezieht) etwas ist, wovon der Identifizierende merkt, dass er das selber ist. Diese Identifizierung hat eine eigentümliche Schwäche, die sich zeigt, sobald sie, was immer leicht möglich ist, zur eindeutigen Kennzeichnung ausgebaut wird. Durch jede andere eindeutige Kennzeichnung kann man mit dem gekennzeichneten Gegenstand bekannt gemacht werden, z. B. mit einem zur Übernachtung angewiesenen Hotelzimmer durch Angabe von Stadt, Straße, Hausnummer, Stockwerk und Zimmernummer. Dagegen muss man die Bekanntschaft mit dem Relat der Selbstzuschreibung schon mitbringen, damit die Identifizierung gelingt. Sonst würde diese endlos von einem Gattungsfall zum nächsten weiterführen, z. B. bei jenem Schuster von einem Türken zu einem Berliner, einem Kranken, einem Lotteriespieler usw., aber nie zu der Einsicht, dass er selber dieser Mann ist. Woran das liegt, kann ich besser an mir als Beispiel erklären: In allen Merkmalen, die mich als 156 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Person im affektiven Betroffensein
Fall einer Gattung (wovon etwas ein Fall sein kann) bestimmen, ist kein sachlicher Grund für die Annahme enthalten, dass ich selber dieser Fall bin. Meinen Geburtstag, meinen Geburtsort, mein Geschlecht, meinen Beruf, meine Überzeugungen, meine Schmerzen, meine Gefühle, meine Absichten usw. könnte ebenso ein anderer haben. Auch sie alle zusammen ergeben keinen Grund zu der Annahme, dass ich das bin. Der Mathematiker Hermann Weyl verdeutlicht das am Beispiel des Verräterapostels Judas, von dem Leibniz glaubte, dass er mit seinem vollständigen Begriff, der alle Gattungen, von denen er je Fall ist, enthielte, zusammenfiele. Diese Annahme, so Weyl, bricht zusammen vor dem Verzweiflungsschrei des Judas: Warum musste ich Judas sein!« 1 Die ganze Last dieses unerfreulichen Begriffes, wenn sie schon jemand tragen müsste, hätte ja auch einem anderen zufallen können. Die Selbstzuschreibung kann also nur gelingen, wenn der Selbstzuschreiber bereits ohne Identifizierung mit sich bekannt ist. Diese Bekanntschaft wird durch das affektive Betroffensein geleistet, das immer stattfindet, wenn einem etwas nahe geht. Wenn mir etwas nahe geht, wenn ich z. B. Schmerzen habe, brauche ich, um mich zu spüren, nicht erst einen Betroffenen zu finden, den ich mit mir identifiziere, sondern ich merke unmittelbar, dass ich leide. In übererregten und versunkenen Zuständen hat man nicht mehr genug Besinnung, um sich als Fall von etwas zu verstehen, und spürt sich trotzdem besonders lebhaft im Betroffensein von Zorn, Angst, Begeisterung, Eifer oder Schwermut. Das wird durch eine besondere Eigenschaft der Tatsachen des affektiven Betroffenseins möglich. Gewöhnlich hält man alle Tatsachen für objektiv in dem Sinn, dass jeder sie aussagen kann, wenn er genug weiß und gut genug sprechen kann. Die Tatsachen des affektiven Betroffenseins sind aber nicht von Hermann Weyl, Gesammelte Abhandlungen, Band 4, Berlin usw. 1968, S. 645, von mir zitiert nach: Michael Großheim, Politischer Existenzialismus, Tübingen 2002, S. 20
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Die Person im affektiven Betroffensein
dieser Art. Wenn mir etwas nahe geht, wenn ich leide oder mich freue, kann ein anderer zwar sagen, dass Hermann Schmitz leidet bzw. sich freut, aber das ist nur ein neutralisierter Rest des echten Nahegehens, das ich mit »Ich bin traurig«, »Ich bin so froh« bezeugen kann, und das kann mir der andere nicht nachsprechen, ohne einen anderen Sachverhalt zu meinen, denn er ist nicht ich. Die Tatsachen des affektiven Betroffenseins sind nicht objektiv, sondern so eigen, dass höchstens der Betroffene selbst – sehr oft niemand – sie aussagen kann, obwohl die anderen über sie sprechen können. Das liegt nicht an ihrem Inhalt. Der neutralisierte Rest, der dem Mitmenschen für sein Aussagenkönnen meines affektiven Betroffenseins bleibt, hat genau denselben Inhalt wie meine Aussage meines vollständigen affektiven Betroffenseins. Diesen Unterschied merkt auch der Mitmensch an gewissen Verwendungen des Wortes »ich«, wenn es nämlich nicht als Personalpronomen fungiert, das gleichzeitig durch einen Namen des Sprechers ersetzt werden kann, sondern dazu da ist, die mitgeteilte Tatsache als für den Sprecher subjektive seines affektiven Betroffenseins auszuzeichnen. Peter Schulze möchte eine Liebeserklärung abgeben. Dabei entspinnt sich folgender Dialog. Mann: »Peter Schulze liebt dich.« Frau: »Warum sagst du nicht: ›Ich liebe dich‹ ?« Mann: »Das ist doch ganz überflüssig.« Die Liebeserklärung ist missglückt; die Frau ist verstimmt. Schulzes Fehler war, das Wort »ich« als Pronomen aufzufassen, während es in dieser Situation dazu dienen müsste, die Subjektivität der mitgeteilten Tatsache für ihn statt der blasseren Neutralität einer bloß objektiven Tatsache zum Ausdruck zu bringen. Wer einer für ihn subjektiven Tatsache inne wird, kennt sich ohne Identifizierung, weil es seine eigene Tatsache ist, durch ihre bloße Tatsächlichkeit auf ihn eingestellt oder abzielend, mit der Folge, dass höchstens er sie aussagen kann. Damit dies möglich ist, muss er in der Lage sein, ohne Identifizierung sich als den zu finden, für den die Tatsache seines affektiven Betroffenseins subjektiv ist, wie an ihn adressiert. Die Gelegenheit da158 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Person im affektiven Betroffensein
zu gibt ihm der plötzliche, leiblich engende Einbruch des Neuen, der z. B. im Schreck Dauer zerreißt und ins Nichtmehrsein verabschiedet, an ihrer Stelle aber Gegenwart exponiert, als primitive Gegenwart, in der die fünf Momente hier, jetzt, sein, dieses, ich verschmolzen sind. Hier, das ist die leibliche Enge im Zusammenfahren. Jetzt, das ist der absolute Augenblick des abgerissenen Plötzlichen. Sein, das ist die Wucht der einbrechenden Wirklichkeit, die im gleitenden Dahinleben noch fehlt. Dieses, das ist die absolute Identität, selbst und von anderem, das nicht mehr ist, verschieden zu sein, aber noch ohne die relative Identität von etwas mit etwas. Ich, das ist die Subjektivität, selbst betroffen zu sein, in Anspruch genommen zu werden. Die Verschmelzung von absoluter Identität mit Subjektivität macht den Brückenschlag der Identifizierung für das Spüren, selbst dieses hier jetzt wirklich zu sein, überflüssig, und mangels relativer Identität ist Identifizierung in diesem Betroffensein gar nicht möglich. Aus dieser Quelle kennt der Mensch sich selbst, noch ehe er in der Lage ist, einen Fall einer Gattung sich selbst als dem, der dieser Fall ist, zuzuschreiben. Die primitive Gegenwart ist ein seltener, bei vollem Bewusstsein vielleicht nie ganz erreichter Ausnahmezustand, der aber als Maximum möglicher Enge stets durch die Engungskomponente des vitalen Antriebs, in dem Engung und Weitung antagonistisch verschränkt sind, vorgehalten wird. Wenn die Engung aus dem Verband aushakt, wie im heftigen Schreck, ist der Antrieb erstarrt oder gelähmt, und wenn die Weitung ausläuft, wie im Dösen oder beim Einschlafen, ist er erschlafft; er existiert also nur in der Verschränkung beider Impulse. Solange er anhält, kann der Mensch seiner selbst mit oder ohne Selbstzuschreibung bewusst sein, weil die Engung auf ihr Maximum, die primitive Gegenwart, hinweist, sogar dann noch, wenn Weitung sich teilweise von der Engung löst und Enge nur noch als das, wovon man loskommt, gespürt wird, am meisten aber bei starkem Übergewicht der Engung im vitalen Antrieb wie in Angst, Schmerz, Scham, Beklommenheit, während man bei 159 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Person im affektiven Betroffensein
Übergewicht der Weitung oft, wie in fröhlicher Ausgelassenheit, über sich hinweglebt. Der vitale Antrieb verbindet in der Einleibung als gemeinsamer Antrieb Leiber mit Leibern und – vermittelt durch leibnahe, ebenso am eigenen Leib spürbare wie an Begegnendem wahrnehmbare Brückenqualitäten, nämlich Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere – mit leiblosen Gegenständen; die Einleibung ist teils antagonistisch mit Zuwendung mindestens eines Partners zum anderen, teils solidarisch ohne solche Zuwendung, wie bei gemeinsamem Singen, Rufen, Klatschen, Aufruhr, stürmischem Mut oder panischer Flucht einer Truppe oder anderer Gruppen usw. Aus gleitender Dauer, primitiver Gegenwart, an sie anschließendem vitalem Antrieb als Achse der von mir anderswo 2 beschriebenen leiblichen Dynamik und Einleibung als Hauptform leiblicher Kommunikation besteht das Leben aus primitiver Gegenwart, das Tiere, Säuglinge und menschliche Personen, diese in allen routinierten Verrichtungen und in Zuständen der Fassungslosigkeit, führen. Es ist von der primitiven Gegenwart her mit absoluter Identität und Verschiedenheit vertraut und dadurch vor Verwechslungen geschützt, z. B. vor Apraxie bei der flüssigen Gliederbewegung; dagegen fehlt noch die relative Identität von etwas mit etwas, weil noch keine Gattungen einzeln hervortreten. Relative Identität besteht nämlich darin, Fall mehrerer Gattungen (nur bei nichtssagender Tautologie nochmals derselben Gattung) zu sein. Statt von Fällen und Gattungen ist das Leben aus primitiver Gegenwart erfüllt von Situationen. Eine Situation ist Mannigfaltiges, das zusammengehalten wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind. Die Bedeutsamkeit ist binnendiffus, weil in ihr nicht alles – im Leben aus primitiver Gegenwart: gar nichts – einzeln ist; einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Das zweite absolute Ereignis – mit einem Ausdruck von 2
Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011, S. 15–27
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Die Person im affektiven Betroffensein
Sartre gesprochen – nach dem plötzlichen Einbruch des Neuen in die gleitende Dauer ist die Entstehung der Einzelheit. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Anzahlen sind Eigenschaften (genauer: Eignungen 3 ) von Mengen, Mengen Umfänge von Gattungen. Einzeln kann daher nur sein, was Element einer Menge und Fall einer Gattung ist. Gattungen sind Bedeutungen, genauer Sachverhalte, die oft Programme und/oder Probleme enthalten. 4 Sachen können daher erst einzeln werden durch Entbindung von Gattungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen. Das ist die Leistung der satzförmigen Rede, im Gegensatz zu den Rufen und Schreien, womit Tiere und Säuglinge Situationen ansprechen, wie es Personen mit Ausrufen tun. Nur durch satzförmige Rede können einzelne Bedeutungen identifiziert werden, und nur als deren Fälle können andere Sachen einzeln sein. Einzelheit kommt nur durch satzförmige, von einer Sprache geleitete Rede zu Stande. Wenn dies gelungen ist, können Situationen aufgebrochen werden, um einzelne Bedeutungen und Sachen herauszuholen, unter Gattungen zu ordnen und zu unterscheiden, die Ordnungen und Unterschiede umzugruppieren und so die Situationen in den Griff zu nehmen, planend und phantasierend zu überholen. Die primitive Gegenwart entfaltet sich nach ihren fünf Momenten hier, jetzt, sein, diesen, ich zur Welt als dem Rahmen oder Feld möglicher Vereinzelung. Der absolute Ort wird zu einem System relativer, sich durch Lagen und Abstände gegenseitig bestimmender Orte, die zu sagen gestatten, wo etwas ist. Der absolute Augenblick wird zu einem System relativer, durch die Beziehung des Früheren zum Späteren oder Gleichzeitigen geordneter Augenblicke in einer modalen Lagezeit mit Fluss der Zeit. Das Sein entfaltet sich aus dem Gegensatz zum Nichtmehrsein zum Gegenteil des Nichtseins überhaupt; dabei überspringt Hermann Schmitz, Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg/ München 2013, S. 23–31: Zahl 4 Näheres über Gattungen als Sachverhalte ebd. S. 41–47 3
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Die Person im affektiven Betroffensein
die Einzelheit die Grenze ins Nichtseiende, wodurch Planung, Phantasie, Erinnerung, Hoffnung und Furcht möglich werden. Die absolute Identität entfaltet sich zur relativen Identität von etwas mit etwas, wodurch es möglich wird, Sachen vielseitig, unter verschiedenen Gesichtspunkten, zu betrachten. Die Subjektivität entfaltet sich, indem der bloß absolut identische Bewussthaber des Lebens aus primitiver Gegenwart, z. B. der Säugling, durch Selbstzuschreibung als Fall von Gattungen zum einzelnen Subjekt und zur Person wird. Die Personwerdung ist also eine Seite unter den fünf Seiten der Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt. Die Vereinzelung ist aber nur die eine Seite der Entfaltung der Subjektivität, der Personwerdung; die andere ist die Neutralisierung von Bedeutungen. Im Leben aus primitiver Gegenwart sind alle Bedeutungen für jemand subjektiv, so wie ich es vorhin für die Tatsachen erklärt habe. Wenn es dabei bliebe, könnte die Selbstzuschreibung nicht zur beweglichen Rechenschaft von sich genützt werden. Ein Beispiel für dieses Steckenbleiben sind schwere Träume, wenn man z. B. auf der Flucht nicht von der Stelle kommt. Die Person mit ihrer Selbstzuschreibung ist schon da, aber in totaler Subjektivität aller Bedeutungen der Situation hilflos ausgeliefert, ohne bewegliche Reflexion. Um diese zu erlangen, müssen Bedeutungen neutralisiert, zu bloß noch objektiven Sachverhalten, Programmen und Problemen, die jeder aussagen kann, wenn er genug weiß und gut genug sprechen kann, herabgesetzt werden. Die Person benötigt einen klaren Kopf und sachliche Distanz. Dieser Prozess geht beim Erwachsen normalerweise, etwa seit dem letzten Viertel des ersten Lebensjahres, mit der Vereinzelung Hand in Hand. Von einem Teil der Sachverhalte, Programme und Probleme fällt die Subjektivität für die Person ab und zieht sich auf einen Rest zusammen, der zur Keimzelle des Eigenen im Gegensatz zum Fremden wird. Aus der Neutralisierung von Bedeutungen ergibt sich in präzis definierbarer Weise das Fremdwerden von Sachen. Es kommt zur Unterscheidung einer persönlichen Eigenwelt, die alles um162 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Person im affektiven Betroffensein
fasst, woran die Person in Zustimmung oder Abwehr hängt, von einer persönlichen Fremdwelt, die alles umfasst, was für sie aus solcher Anhänglichkeit in Neutralität und Fremdheit entlassen ist, mit breiten Grauzonen zwischen beiden Seiten. In der persönlichen Eigenwelt ist die persönliche Situation enthalten, die Persönlichkeit einer Person mit vielen partiellen Situationen in sich, z. B. retrospektiven Kristallisationskernen der Erinnerung, präsentischen partiellen Situationen wie den Standpunkten, der Gesinnung, der Fassung, dem Sprachschatz, der Lebenstechnik, den habituellen Interessen, sowie prospektiven, die das enthalten, worauf die Person hinaus und wovon sie weg will, und ihr oft nur schwer zugänglich sind. Die persönliche Situation entwickelt sich lebenslang wie eine zähflüssige Masse, in der zähflüssige Massen gleiten und sich reiben. Die Neutralisierung subjektiver Bedeutungen als Grundlage für die Unterscheidung des Eigenen vom Fremden ist personale Emanzipation. Sie ist unentbehrlich dafür, dass die Person ihre Selbstzuschreibung zur Rechenschaft von sich ausbauen kann. Sie bedarf aber der gegenläufigen personalen Regression, die den Unterschied des Eigenen und Fremden wieder verwischt und resubjektivierend zum Leben aus primitiver Gegenwart mehr oder weniger zurückführt, weil die bloße Selbstzuschreibung, wie gezeigt wurde, nur durch affektives Betroffensein, primitive Gegenwart und vitalen Antrieb möglich ist. Zwei naturgegebene Gestaltungen der Integration von personaler Emanzipation und personaler Regression sind je auf ihre Weise Lachen und Weinen. Sonst gelingt die Integration meist nicht so glatt. Die Person laviert zwiespältig, sowohl simultan als auch sukzessiv, zwischen Niveaus personaler Emanzipation und Niveaus personaler Regression. Ein Niveau ist höher als ein anderes, wenn es mehr Neutralisierung, mehr Sachlichkeit, als Gelegenheit zu schärferer Unterscheidung des Eigenen vom Fremden enthält. Von oben gesehen, ist jedes niedrigere Niveau personaler Emanzipation ein Niveau personaler Regression. Die Person kann sich zugleich auf mehreren Niveaus in verschiede163 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Person im affektiven Betroffensein
ner Höhe befinden, z. B. auf sich in ihren Schwächen herabsehen, sich wegen zu leichter Beschämbarkeit belächeln, sich als ängstliche Person Mut zusprechen, sich in zorniger Erregung zur Besinnung rufen. Humor besteht in der Fähigkeit, ein jeweils eingenommenes Niveau in beweglichem Wechsel zu einem höheren der Lächerlichkeit preiszugeben. Eine besonders eindringliche Betätigung des Vermögens der Person, auf mehreren Niveaus personaler Emanzipation bzw. personaler Regression zugleich zu stehen, ist die Akrasie, die zuerst von Aristoteles und neuerdings viel in der analytischen Philosophie behandelt und dort als Willensschwäche (weakness of will) missverstanden wurde. Ein einfaches Beispiel ist der faule Bettgenießer, der morgens beim Aufwachen bemerkt, dass er wegen einer wichtigen Erledigung umgehend aufstehen müsste, es aber so warm und wohlig im Bett findet, dass er sich umdreht und weiterschläft. In diesem Fall konkurrieren zwei Niveaus mit entgegengesetzten Absichten. Auf dem höheren Niveau möchte die Person aufstehen, auf dem niedrigeren liegen bleiben, und dieses setzt sich durch, indem es für seine Absicht die Zuwendung des vitalen Antriebs gewinnt. Diese fällt hier leicht, weil der vitale Antrieb dem Leben aus primitiver Gegenwart angehört, dem das niedere Niveau näher steht als das höhere. Wenn sich dieses höhere durchgesetzt hätte und die Person aufgestanden wäre, hätte es einer Aufpeitschung des vitalen Antriebs zu einem Schwung bedurft, der die Höhe des Niveaus erreicht hätte; die Person hätte sich einen Ruck geben müssen. Von Willensschwäche kann in diesem Fall keine Rede sein, vielmehr konkurrieren zwei Absichten auf zwei Niveaus der Person, und die Zuwendung des vitalen Antriebs entscheidet klar zwischen ihnen. In einem zweiten Fall von Akrasie, wo es gar nicht zu einer ausgeprägten Absicht kommt, handelt es sich schon eher um Willensschwäche. Ein junger Mann, der sich bewusst ist, eigentlich für sein Examen lernen zu müssen, lässt sich von seiner Freundin verführen, statt dessen die Nacht auf einer lustigen Party zu verbringen. Schon bald schlägt ihm sein Arbeits164 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Person im affektiven Betroffensein
gewissen. Er ist fortan nicht mehr ganz bei der lustigen Sache. Seine Freundin wird unzufrieden, weil er nicht richtig mitmacht. Er kann sich aber auch nicht losreißen. Hier liegt das emanzipiertere Niveau der Arbeitsabsicht in unentschiedenem, akrasischem Konflikt mit dem stärker von Subjektivität geladenen der Anhänglichkeit an die verführerische Freundin, und die vollere Subjektivität gibt diesem Niveau personaler Regression ein Übergewicht über die blassere Objektivität des stärker neutralisierenden höheren Niveaus, ohne dass jenes sich gegen dieses wie im vorigen Fall voll durchsetzen könnte. Die dominante philosophische Tradition und das aus ihr über Religion und Naturwissenschaft hervorgegangene Welt- und Selbstbild des gemeinen Mannes haben es sich mit der Person zu leicht gemacht, indem sie ihr einen festen Platz als Herr im Haus einer ihr reservierten abgeschlossenen privaten Innenwelt namens »Seele« oder »Bewusstsein« zuwiesen, mit der Aufgabe, als Vernunft über die unwillkürlichen Regungen Regie zu führen. Diese Weltanschauung hat nur an das Referens der Selbstzuschreibung gedacht und Vorschläge dafür gemacht, als was die Person sich selbst verstehen möge, statt einzusehen, dass die Person, um sich überhaupt als etwas zu verstehen, sich schon kennen muss, und dem Leitfaden dieser vorgängigen Kenntnis, die von der Selbstzuschreibung nur noch ergänzt werden kann, nachzugehen. Wenn man diesen Weg einschlägt, kommt man auf das präpersonale, leiblich-affektive Fundament der Person, von dem ich hier die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins, die primitive Gegenwart und den vitalen Antrieb erwähnt habe. Die Person sitzt nicht, Zügel führend wie der Wagenlenker in Platons Gleichnis, fest im Sattel in einer ihr reservierten privaten Innenwelt, sondern schwebt zwiespältig zwischen Neutralisierung und Resubjektivierung, personaler Emanzipation und personaler Regression, auf wechselnden Niveaus; sie stabilisiert sich in diesem Schweben durch eine Fassung, die sie sich gibt und verliert, wenn sie die Fassung verliert. Statt einer Seele, in der sie alle unwillkürlichen Regungen, abge165 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Person im affektiven Betroffensein
schirmt gegen unberechenbare äußere Eingriffe, als abgeschlossenen Besitz verwalten könnte, hat sie als ihr Eigenes nur die zuständliche persönliche Situation, unter die sie in personaler Regression abtauchen kann, und die persönliche Eigenwelt. Die persönliche Situation ist so wenig Eigentum der Person, dass diese ihr in allem Wollen wie ein Orakel gegenübersteht, in dessen Stimmen sie sich zurechtfinden muss, um zu wissen, was sie will, und daraus eine Absicht zu bilden. Wie schwer das sein kann, zeigen die Beispiele aus der Akrasie, und besonders aufdringlich wird es bei schwierigen Lebensentscheidungen von großer Tragweite, vor denen oft ein quälendes Hin- und Herwälzen der Möglichkeiten einsetzt, das eigentlich ein Kneten der persönlichen Situation ist, damit diese zu erkennen gibt, was bezüglich der zur Entscheidung anstehenden Alternative zu ihr passt. Wenn sich das herausstellt, ist die Entscheidung gefallen, und das Grübeln wird abgebrochen. Sobald dann noch der Schwung zur Ausführung aufgebracht wird, in Gestalt der Zuwendung des vitalen Antriebs zu der gebildeten Absicht, ist das Wollen vollständig. Ebenso wenig, wie das Wollen, ist das affektive Betroffensein ein Umgang mit Inhalten der eigenen Seele als privater Innenwelt. Vielmehr ist es ein an der Wurzel leibliches Betroffensein, teils von bloßen leiblichen Regungen wie Schmerz, Angst, Wollust, Hunger, Durst, Ekel, Frische, Müdigkeit, teils von Gefühlen, die durch leibliche Regungen hindurch die Person ergreifen und gewöhnlich in Situationen eingebunden sind, besonders in impressive Situationen oder vielsagende Eindrücke, deren binnendiffuse Bedeutsamkeit mit einem Schlage ganz zum Vorschein kommt; man kann dann ebenso sagen, dass Gefühle und dass gefühlshaltige Situationen den Menschen ergreifen. Alles affektive Betroffensein rüttelt und rückt an dem Niveau personaler Emanzipation mit Tendenz zur personalen Regression. Dabei gibt es aber einen Unterschied zwischen den bloßen leiblichen Regungen und den Gefühlen. Die bloßen leiblichen Regungen kann man gewöhnlich auf einem Niveau personaler 166 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Person im affektiven Betroffensein
Emanzipation empfangen, das dabei nicht preisgegeben zu werden braucht. Man kann sie dann von Anfang ihres Aufsteigens an betrachten und mit einer Stellungnahme beantworten. Eine Ausnahme machen nur plötzliche und heftige Regungen wie aufzuckender Schmerz oder ein Überfall wollüstiger Erregung. Bei Gefühlen wie Zorn, Scham, Furcht, Trauer, Freude, Entzücken, Bestürzung, Grauen, Bangigkeit, Zufriedenheit, Verzweiflung ist es anders. Wer ein Gefühl gleich an der Schwelle des Eintrittes in das eigene, leiblich ergriffene Fühlen mit einer fertigen Stellungnahme begrüßt, fühlt nicht wirklich, sondern tut nur so oder wird nur eben von einem Anflug des Gefühls flüchtig gestreift. Die Ergriffenheit von Gefühlen beginnt mit der Nötigung, ihrem stürmischen oder schleichenden Impuls, womit sie den Leib ergreifen und ihm eine auffällige Gebärdensicherheit eingeben, als eigenen Impuls zu übernehmen. Erst nach einer Anlaufzeit anfänglicher Überwältigung hat die Person Gelegenheit, von einem Niveau personaler Emanzipation aus mit Preisgabe oder Widerstand in den Impuls des Gefühls einzugreifen. Ich zeige das am Beispiel des Zorns. Noch niemand hat einen Zorn in seiner Seele inspiziert. Vielmehr überfällt der zornige Impuls aus gegebenem Anlass den Leib spürbar als ergreifende Macht und reißt die Person mit sich fort gleich der reißenden Schwere, die wie aus dem Nichts über den Stürzenden kommt und ihn trotz heftigen Sträubens abwärts zieht. Der Zürnende sträubt sich dagegen anfangs nicht gegen seinen Zorn, sondern geht unweigerlich mit, sobald der echt ergriffen ist. Erst nach dieser Anfangsphase ist die Person in der Lage, mit Preisgabe oder Widerstand in den Impuls einzugreifen, indem sie den Zorn zu besänftigen sucht oder sich noch mehr hineinsteigert. Das Entsprechende gilt für andere Gefühle, auch für solche, die nicht stürmisch wie der Zorn, sondern wie Liebe oder Neid oft schleichend ergreifen. In dieser Verzögerung der personalen Stellungnahme zur Ergriffenheit von Gefühlen liegt der Grund dafür, dass sich Gefühle nicht so gut wie bloße leibliche Regungen beobachten lassen. Solange man heftig zürnt, kann man den 167 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Person im affektiven Betroffensein
Zorn nicht auch aufmerksam verfolgen; die Aufmerksamkeit dämpft den Zorn. Der Ergriffene kann sich aus der Verstrickung nicht so leicht, wie gewöhnlich bei bloßen leiblichen Regungen, befreien, weil er am Anfang mit eigenem Impuls die Partei des Gefühls genommen, dessen Impuls zu dem seinen gemacht hat; von da in die neutrale Position des bloßen Beobachters zu kommen, ist nicht leicht. Die Struktur des affektiven Betroffenseins von Gefühlen hat eine wichtige Konsequenz für die Affektkontrolle. Es ist aussichtslos, beim Zornigen eine Mauer der Abwehr in vorderster Stellung gleich einer Maginotlinie aufzubauen, weil die Wachtposten an dieser Stelle keinen Einfluss auf das Geschehen hätten. In den ersten Augenblicken überwältigenden Zorns hat die Person keine Verantwortung, weil sie vom Impuls des Affektes mitgenommen wird; wenn sie diesen von Anfang an steuern könnte und nicht erst kurze Zeit danach, würde sie gar nicht zornig. Eine Therapie der affektiven Überwältigung müsste in diesem Fall also gerade darauf ausgehen: Wie kann man den Anfall des Zorns vermeiden? Ein mögliches Verfahren sehe ich im Einwirken auf die leibliche Dynamik, die dem Zorn Gelegenheit gibt, sich zu entfalten. Der Zorn benötigt im vitalen Antrieb ein Übergewicht starker schwellender Weitung über gleichfalls starke bindende, engende Spannung mit einer Stauung in der Verschränkung beider Impulse, wodurch der Ausgleich in rhythmischem Schwingen verhindert wird und nur eine explosive Lösung des Konflikts von Spannung und Schwellung, eine Entspannung im Racheakt, möglich wird. Diese kritische Konstellation könnte man zu entkrampfen versuchen, einerseits durch Ablassen von Weitung als privative Weitung aus der Schwellung – etwa mittels der von mir als Ausleibung bezeichneten leiblichen Kommunikation mit maßloser Weite 5 – andererseits durch Aktivierung der rhythmischen Bindung im vitalen Antrieb zum Abbau der Stauungsbereitschaft. Für den 5
Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011, S. 50–53
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Die Person im affektiven Betroffensein
Erfolg bin ich allerdings skeptisch, weil die Bindungsform in der leiblichen Disposition dauerhaft verankert zu sein pflegt. Alternativ müsste man versuchen, den Zorn gedanklich zu blockieren. Wenn er einmal zur leiblichen Ergriffenheit zugelassen ist, kann die Person erst nachträglich eingreifen.
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9. Die Person – weder innen noch außen
John Locke vergleicht die Sinneneindrücke mit Fenstern, »durch die das Licht in einen dunkeln Raum eingelassen wird. Denn meines Erachtens ist der Verstand einem Kabinett gar nicht so unähnlich, das gegen das Licht vollständig abgeschlossen ist und in dem nur einige kleine Öffnungen gelassen wurden, um äußere, sichtbare Ebenbilder oder Ideen von den Dingen der Umwelt einzulassen.« 1 Den Bewussthaber, die Person, ohne die das Licht im Kabinett der Wahrnehmung nichts nutzen würde, muss man sich wohl als den Bewohner der dunklen Zelle vorstellen. Der moderne Mensch wird sich mit solcher Einsperrung schwerlich abfinden; er wird sich auch nicht mit gelegentlichen Spaziergängen begnügen, sondern eher für das Dasein halten, von dem Heidegger schreibt: »Im Sichrichten auf … und Erfassen geht das Dasein nicht etwa erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die es zunächst verkapselt ist, sondern es ist seiner primären Seinsart nach immer schon ›draußen‹, bei einem begegnenden Seienden der je schon entdeckten Welt.« 2 In dieser Option ist der moderne Mensch aber nicht konsequent, da er sich für die Wahrnehmung auf das naturwissenschaftliche Weltbild verlässt, das ihn in die dunkle Kammer Lockes zurückversetzt. Nach diesem Weltbild kommen Informationen aus der Außenwelt an die Person ausschließlich über die Locke’schen Sinneskanäle durch einen Transport, der bei unanschaulichen Gedankendingen (z. B. elektrischen Strömen, Wellen, Elektronen und Photonen mit Essay on human understanding, Buch 2, Kapitel 12, § 17, übersetzt von Carl Winkler (1913, nachgedruckt 1962) 2 Martin Heidegger, Sein und Zeit. Erste Hälfte, 5. Auflage Halle a. d. S. 1941, S. 62 1
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Die Person – weder innen noch außen
wechselnden Energiezuständen) ansetzt und durch lauter Transformationen in andere solche Gedankendinge bei weiteren gleicher Art im Gehirn endet. An dieser Empfangsstation muss man sich in freischwebender Spekulation einen Bewussthaber in einer von Heidegger verworfenen Innensphäre hinzudenken, wenn man diese nicht gleich, wie eifernde Materialisten heute wollen, mit dem Gehirn identifiziert, aber das ist nicht nur empirisch unplausibel und daher kaum populär zu machen, sondern sogar mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild unverträglich, da das Gehirn kein unanschauliches Gedankending ist, sondern ein sicht- und tastbarer Gegenstand, der gemäß dem naturwissenschaftlichen Weltbild mit allen anschaulichen Dingen erst auf den Transport folgen, also nicht schon dessen Endstation sein kann. Ohne es sich zuzugeben und konsequent zu denken, bleibt der moderne Mensch seinem Selbstverständnis nach also in der hilflosen Situation des Verstandes, dem die Sinne, als er sie durch Umdeutung der Welt in Atome und Leeres ohne Sinnesqualitäten überholen will, nach Demokrit zurufen: »Armer Verstand, von uns nahmst du die Beweisstücke und willst uns damit niederwerfen? Ein Fall wird dir der Niederwurf.« 3 Die Einsperrung des Bewussthabers in eine von Heidegger verworfene Innensphäre ist geschichtlich, aus anderen Gründen als der Reflexion auf die Wahrnehmung, in einem Prozess zu Stande gekommen, an dessen Anfang der Mensch ohne die Hausmacht einer solchen privaten Innenwelt in einem Konzert ihn teils treibender, teils hemmender halbautonomer Regungsherde steht, die ungefähr unserem Gewissen als hemmendem Regungsherd vergleichbar, aber anders als dieses leiblich lokalisiert sind. Das ist die Lage des Menschen in der Ilias, der obendrein dem ergreifenden Einfluss von Göttern und Gefühlsmächten mehr oder weniger schutzlos ausgesetzt ist. Die Labilität der Diels und Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, 8. Auflage Berlin 1954, 68B125
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Die Person – weder innen noch außen
Person geht so weit, dass viermal ein Held in der Ansprache an den Thymós, seinen wichtigsten treibenden Regungsherd – wir würden sagen: beim Selbstgespräch –, an diesen die Initiative verliert, so dass er sich schließlich fragt, was denn da der Thymós zu ihm gesprochen habe. 4 In der Odyssee kommt dagegen die personale Selbstkontrolle und Selbstbemächtigung des Menschen im Verhältnis zu seinen unwillkürlichen Regungen, auch den Regungsherden, viel stärker zur Geltung. Der Mensch will sich in die Hand bekommen. Im Zuge dieser Entwicklung steigt die Psyché, die bei Homer weder Seele noch Regungsherd ist, zur seelischen Innenwelt auf, zum Haus, in dem die Person der Herr sein kann. Bei Heraklit ist sie dem Angriff des Thymós ausgesetzt 5 und noch grenzenlos offen. 6 Wenige Jahrzehnte später dichtet Sophokles den fragmentarisch erhaltenen Vers: »das verschlossene Tor der Seele öffnen«. 7 Die seelische Innenwelt ist nun geschlossen; die Person braucht sich nicht mehr schutzlos ergreifenden Mächten auszusetzen, auch nicht dem Thymós, gegen dessen treibende Macht in diesem für die europäische Intellektualkultur schicksalsträchtigen 5. Jahrhundert v. Chr. Demokrit und der Sophist Antiphon den besonnenen Menschen zum Kampf aufrufen. 8 In der Seele wird die Vernunft zum Sitz der Person zwecks Beherrschung der unwillkürlichen Regungen. Schon Demokrit fordert: »Das unbotmäßige Leid einer schmerzerstarrten Seele verjage durch Vernunft!« 9 Bei Platon richtet sich diese aggressive Selbstbemächtigung hauptsächlich gegen die Sinnlichkeit. Zu diesem Zweck verteilt er in seinen Dialogen Politeia und Phaidos die unwillkürlichen Regungen in Vgl. Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band II, Teil 1, Bonn 1965, in Studienausgabe 2005, S. 412–414: Unechte Selbstgespräche 5 Diels und Kranz, wie Anmerkung 3, 22B85 6 Ebd. 22B45 7 Tragicorum Graecorum Fragmenta, rec. A. Nauck, Sophokles fr. 360 8 Diels und Kranz (s. o.) 68B236 und 87B58, vgl. Schmitz, wie Anmerkung 4, S. 455 9 Ebd. 68B290 4
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Die Person – weder innen noch außen
der Seele auf die beiden Herde der aggressiven, die introvertiert werden und als Zorn und Scham über die eigene Sinnlichkeit in den Dienst der Vernunft treten, und der sinnlichen Regungen, als deren einzige Tugend der widerstandslose Gehorsam gegen das Gebot der Vernunft übrig bleibt. Die sokratischen Schulen und die hellenistischen der Epikureer, Skeptiker und besonders der Stoiker stehen ganz im Dienst dieser Tendenz personaler Selbstermächtigung durch Herrschaft der Vernunft über die unwillkürlichen Regungen. Dieses Pathos pflanzt sich akzentuiert zu späteren Philosophen wie Thomas von Aquino, Descartes, Spinoza, Kant, Fichte, Husserl fort. Das Christentum erzieht die Menschen durch die Sorge für das transzendente Glück ihrer von den Griechen an die Christen weitergegebenen Seele zu ständiger Selbstkontrolle. Die Abschließung der privaten seelischen Innenwelt im Interesse der personalen Selbstermächtigung gegen die unwillkürlichen Regungen treibt im 5. und 4. vorchristlichen Jahrhundert, bei Demokrit, Platon und Aristoteles, ein seither die europäische Intellektualkultur im Wesentlichen bestimmendes Paradigma hervor: die Weltspaltung. Die empirische Welt wird zerlegt in abgeschlossene private Innenwelten, je eine pro Bewussthaber, und eine zwischen ihnen verbleibende Außenwelt, die bis auf wenige Merkmalsorten, die noch heute das Datenmaterial der Physik ausmachen, nämlich die unspezifischen Sinnesqualitäten, und deren erdachte Träger (etwa Atome) abgeschliffen wird. Der bei der Abschleifung anfallende Rest wird entweder absichtlich in den Seelen abgeladen, wie namentlich die spezifischen Sinnesqualitäten, oder schlicht vergessen und, da man ihn nicht los wird, in verwandelter Gestalt in den Seelen wiedergefunden. Dieses Schicksal trifft den spürbaren Leib und die leibliche Kommunikation, die Gefühle als Atmosphären, die bedeutsamen Situationen und die in ihnen enthaltenen oder aus ihnen explizierten Bedeutungen, nämlich Sachverhalte, Programme und Probleme. Auf dieser Weltspaltung beruht unter anderem das naturwissenschaftliche Weltbild. 173 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Person – weder innen noch außen
Die Weltspaltung bringt erhebliche Probleme. Das nächstliegende besteht darin, dass die Person aus ihrem seelischen Haus, in dem sie gegen unkontrollierbar ergreifende Mächte hinlänglich geschützt ist, nicht mehr herauskommt, um das Zeugnis der Sinne zu kontrollieren. Daher fühlten sich die Philosophen der hellenistischen Kyrenaikerschule wie im Belagerungszustand, so dass sie sich von den äußeren Dingen abwandten und nur noch mit eigener Lust und Unlust beschäftigten. 10 Erhebliche Unsicherheit bereitet die Frage, wie der Bewussthaber, dem eine private Innenwelt als Seele, Geist, mens, mind – später sagt man auch »Bewusstsein« – zur Verfügung gestellt wird, sich zu dieser verhält. Platon vermischt die beiden Ansichten, dass der Bewussthaber die Seele und in der Seele ist, indem er das Denken als ein Selbstgespräch ausgibt, das die Seele in der Seele mit der Seele führt. 11 Diese Zweideutigkeit erhält sich lange. Das Problem entfiele, wenn der Bewussthaber in die Seelenzustände, die Empfindungen, Perzeptionen oder Akte des Bewusstseins, aufgelöst würde, so dass er kein Verhältnis zu diesen mehr benötigte. Das war die Auffassung von Hume, Ernst Mach und dem frühen Husserl auf dem Stand von Logische Untersuchungen. So kann man nur meinen, ehe es ernst wird. Wer dagegen z. B. wirklich brennt oder von brennender Scham befallen ist, wird schon merken, dass er selber leidet und nicht nur ein Haufen von Empfindungen usw. gewisse Modifikationen durchmacht. Der spätere Husserl legte sich statt dessen ein reines Ich zurecht, das reines Ich und nichts weiter, absolut einfach, aber für jeden Erlebnisstrom (jede private Innenwelt) ein anderes sei und frei in seinen Akten lebe; noch später traute er diesem reinen Ich wenigstens habituelle Überzeugungen und Entscheidungen zu, aber ein Mensch sollte es nicht sein. Alle diese und verwandte Vorstellungen der Philosophen von der Stellung des Bewussthabers zu seiner Seele kommen zu spät, 10 11
Plutarch, Moralia, S. 1120 (Adversus Coloten) Sophistes 263e–264a
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Die Person – weder innen noch außen
denn sie bieten nur Referentien der Selbstzuschreibung an. Unter Selbstzuschreibung verstehe ich die Fähigkeit, etwas für sich selbst zu halten, genauer gesagt: sich als Fall von Gattungen oder Bestimmungen zu verstehen, z. B. als Mann, Mensch, Professor, Vater, Sohn, Enkel, Individuum mit mehr als 180 cm Körperlänge usw. Dieses Vermögen ist für die Person so fundamental, dass ich sie als Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung definiere. Durch Selbstzuschreibung kann jemand sich beurteilen, sich vergleichen, daraufhin für sich einen Platz in der Umgebung bestimmen, anerkennen oder verwerfen, Verantwortung übernehmen usw.; das sind die wesentlichen Merkmale einer Person. Jede Selbstzuschreibung hat ein Referens, nämlich den Gattungsfall, der zugeschrieben wird, und ein Relat, dem er zugeschrieben wird. Sie kann leicht zur eindeutigen Kennzeichnung ausgebaut werden. Die Kennzeichnung durch Selbstzuschreibung unterscheidet sich von allen anderen Kennzeichnungen aber durch einen eigentümlichen Nachteil. Durch jede andere Kennzeichnung kann man mit der angegebenen Sache bekannt gemacht werden, z. B. mit einem zur Übernachtung angewiesenen Hotelzimmer durch Angabe von Stadt, Straße, Hausnummer, Stockwerk und Zimmernummer. Im Fall der Selbstzuschreibung ist das nicht möglich. Hier muss man mit der gekennzeichneten Sache, nämlich einem selbst, schon vertraut sein, damit die Kennzeichnung zu Stande kommt. Ich z. B. muss schon wissen, dass ich der bin, der gekennzeichnet wird, um ein Relat für meine Selbstzuschreibung zu haben. Sonst käme ich nur von einer so und so, z. B. durch Geburtsort und -zeit, gekennzeichneten Sache zu einer auch anders bestimmten, mit ihr identischen Sache, aber niemals auf den Gedanken, dass ich diese Sache bin. Der Grund für diese Lücke besteht darin, dass in allen den Hermann Schmitz betreffenden Tatsachen, die ich unabhängig davon, dass es sich um mich selber handelt, bewusst haben kann, kein Grund dafür enthalten ist, dass dieser Hermann Schmitz der ist, der ich selber bin, so dass ich auch durch noch so viel Scharfsinn nicht darauf 175 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Person – weder innen noch außen
verfallen könnte. Wenn Hermann Schmitz mit irgend welchen anderen Individuen verglichen wird, ist weder den Geburtsorten und -zeiten, noch der Beschäftigung, der Nationalität oder anderen Merkmalen etwas davon anzumerken, dass eher dieses als jenes Individuum mit mir identisch ist. Nur in umgekehrter Richtung wird die Identifizierung evident, indem ich mich von mir aus, so wie ich mich vor jeder Identifizierung kenne, darauf besinne, in welcher Umgebung ich mich befinde und welche Merkmale ich habe. Die Möglichkeit der Selbstzuschreibung setzt hiernach ein jeder Identifizierung vorangehendes Sichbewussthaben voraus. Diesem vorgängigen Sichbewussthaben, das durch Selbstzuschreibung nur noch ergänzt werden kann, hätten die Philosophen nachgehen sollen, als sie den Bewussthaber suchten, statt ihn in oder hinter seiner Seele zu suchen und als bloßes Referens (erstes Beziehungsglied) der Selbstzuschreibung anzubieten. Ein identifizierungsfreies Sichbewussthaben ist gar nicht schwer zu finden. Es gehört zu jedem affektiven Betroffensein. Affektiv betroffen ist man von allem, was einem nahe geht, z. B. vom Schmerz. Wer Schmerzen hat, spürt sofort, dass er leidet, und braucht dazu nicht einen Gequälten zu finden, den er mit sich identifiziert. In über- oder untererregten Zuständen, wie Ekstase, panische Angst, lodernder Zorn, Versunkenheit in Schwermut, spürt man sich sogar besonders intensiv, ist aber nicht in der Lage, etwas mit sich zu identifizieren. Solches Sichbewussthaben ohne Identifizierung ist dadurch möglich, dass die Tatsachen des affektiven Betroffenseins subjektive Tatsachen sind, die schon in ihrer bloßen Tatsächlichkeit, noch abgesehen von ihrem Inhalt, gleichsam den Stempel des Betroffenen tragen, mit der Folge, dass höchstens er sie aussagen kann. Wenn z. B. mir etwas nahe geht, kann ein Anderer zwar über Hermann Schmitz sagen, dass ihm das nahe geht, aber nur ich kann sagen, dass es mir nahe geht, und erst durch diesen Umstand bekommt das Nahegehen sein volles Gewicht; sonst bleibt es in der Distanz eines Stückes Weltgeschehen, das man bedauern mag, dem 176 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Person – weder innen noch außen
aber der echte Druck des Nahegehens fehlt. Was der Andere über mich sagen kann, ist die nach Abzug der Subjektivität für mich verbleibende objektive oder neutrale Tatsache, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. Beide Tatsachen bestimmen denselben Mann durch dasselbe Merkmal, sind also im Inhalt gleich, aber die objektive Tatsache ist zu blass, um dem affektiven Betroffensein gewachsen zu sein. Damit ich mich identifizierungsfrei in einer für mich subjektiven Tatsache meines affektiven Betroffenseins finde, muss ich mich als den finden, für den sie subjektiv ist, und zwar auch identifizierungsfrei. Wo ist eine Gelegenheit, so auf sich zu stoßen, dass man spürt, selbst betroffen zu sein, ohne etwas mit sich identifizieren zu müssen? Sie ergibt sich beim plötzlichen Einbruch des Neuen, der die gleitende Dauer des Dahinlebens zerreißt und, z. B. im heftigen Schreck, Gegenwart als primitive Gegenwart exponiert, in der die im Zusammenfahren erlebte Enge als absoluter Ort, das Plötzliche als absoluter Augenblick, die absolute Identität, wodurch etwas selbst und von anderem verschieden ist, die Subjektivität für mich, dass etwas mich angeht, und das in der Wucht des Betroffenseins erfahrene Sein, die Wirklichkeit, die im gleitenden Dahinleben keine Rolle spielte, mit einander verschmelzen. Der Zusammenfall von absoluter Identität und Subjektivität im Beengt- und Ausgesetztsein des Betroffenen lässt ihn spüren, dass er selbst betroffen ist, ohne dass er etwas mit sich identifizieren müsste, und dazu ist er bei dieser Gelegenheit nicht in der Lage, weil Identifizierung relative Identität, Identität von etwas mit etwas, benützt. Relative Identität besteht darin, dass etwas als Fall einer Gattung oder Bestimmung A auch Fall einer Gattung B ist, wobei Identität von A und B als Grenzfall der Tautologie zugelassen ist; Subsumtion eines Falls unter eine Gattung kommt in primitiver Gegenwart aber nicht in Frage. Primitive Gegenwart ist ein seltener, in extremer Reinheit bei vollem Bewusstsein vielleicht niemals erreichter Ausnahme177 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Person – weder innen noch außen
zustand, der aber ständig latent in der Engung als Komponente des vitalen Antriebs vorgezeichnet wird. Der vitale Antrieb, gleichsam die Achse der von mir untersuchten leiblichen Dynamik, besteht in der Verschränkung konkurrierender Impulse von Engung und Weitung, denn wenn die Engung aus dem Verband gleichsam aushakt wie im heftigen Schreck, ist der Antrieb erstarrt und gelähmt, und wenn die Weitung ausläuft, wie beim Dösen, beim Einschlafen und nach der Ejakulation, ist er erschlafft. Je stärker die Engung überwiegt, wie bei Angst, Schmerz, Beklommenheit, desto näher kommt der vitale Antrieb der primitiven Gegenwart, aber sie ist auch noch in der Erleichterung spürbar, als die Enge, von der man loskommt. Wenn der vitale Antrieb nicht primitive Gegenwart vorhielte, wäre nicht nur Sichbewussthaben unmöglich, sondern auch absolute Identität von etwas, da es sich nicht von selbst versteht, dass etwas dieses selbst ist, weil im gleitenden Dahinleben alles verschwommen in einander übergeht und ohne den plötzlichen Einbruch des Neuen nichts den exponierenden Akzent, selbst zu sein, erhielte. An den vitalen Antrieb schließt sich die Einleibung im Kanal des vitalen Antriebs an, die Leiber mit Leibern und mit leiblosen Gegenständen im Kanal eines gemeinsamen Antriebs zusammenschließt; dass auch leiblose Gegenstände teilnehmen können, verdanken sie ihren leibnahen Brückenqualitäten, den Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren, die sowohl am eigenen Leib gespürt als auch an Gestalten wahrgenommen werden können, wie am Gang und den Gebärden, oder als Rhythmus. Die Einleibung ist zum Teil antagonistisch, wenn mindestens ein Teilnehmer sich dem anderen zuwendet, sonst solidarisch wie bei Aufruhr, stürmischem Mut und panischer Flucht, gemeinsamem Singen und anderen Anlässen. Antagonistische Einleibung ist teils einseitig, wobei die Dominanz auf einer Seite bleibt, z. B. auf der Seite des Fesselnden, wenn jemand von einem Anblick oder einem Klang gefesselt ist, teils wechselseitig, wenn sich die Partner die Dominanz wie 178 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Person – weder innen noch außen
einen Ball zuspielen, wie beim Blickwechsel, im Gespräch und beim Ausweichen vor einander auf bevölkerten Gehwegen. Es gibt noch einen weiteren Typ leiblicher Kommunikation, die Ausleibung, deren Kanal nicht der vitale Antrieb ist, sondern die privative Weitung, die sich aus dem vitalen Antrieb löst. Aus gleitender Dauer, primitiver Gegenwart, leiblicher Dynamik mit Beteiligung des vitalen Antriebs und leiblicher Kommunikation besteht das Leben aus primitiver Gegenwart, auf das die Tiere und die Säuglinge und sonstigen nicht-personalen Menschen beschränkt sind, während menschliche Personen es gleichsam wie den Eisberg unter den personalen Spitzen in allen unwillkürlich routinierten Verrichtungen führen, z. B. bei der flüssigen Körperbewegung, beim geschickten Ausweichen, beim treffsicheren Griff in die Sprache ohne vorgängiges Wählen der zur Sprachabsicht passenden Muster im flüssigen Sprechen; wenn sie die Fassung verlieren, z. B. in panischer Angst oder hingerissen vor Begeisterung, versinken sie ganz in das Leben aus primitiver Gegenwart. Dieses Leben aus primitiver Gegenwart ist ausgerüstet mit absoluter Identität und Verschiedenheit, dem Erbe der primitiven Gegenwart, und dadurch geschützt vor Verwechslungen, so dass z. B. die flüssige Körperbewegung nicht in Apraxie entgleist und der Sprecher sich nicht gegen seine Absicht in der Sprache vergreift. Was diesem Leben noch fehlt, ist die Einzelheit. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Zerlegung in einzelne Schritte würde die Flüssigkeit der Körperbewegung blockieren. Beim glatten Kauen helfen schon Identität und Verschiedenheit von Nahrung und Zunge, sich nicht auch noch die eigene Zunge zu zerkauen, aber Einzelnes kommt erst vor, wenn sich z. B. ein Brocken als zäh erweist. Einzelheit ist die Verknüpfung von absoluter Identität mit Fallsein. Anzahlen sind nämlich Eigenschaften (genauer: Eignungen 12 ) von Mengen, Mengen Umfänge von Gattungen; Vgl. Hermann Schmitz, Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg/München 2013, S. 23–31
12
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Die Person – weder innen noch außen
Gattung im hier gemeinten Sinn ist alles, wovon etwas ein Fall sein kann. 13 Gattungen, die Sachverhalte (auch untatsächliche) sind 14 , liegen im Leben aus primitiver Gegenwart noch nicht einzeln vor, so dass etwas als Fall auf sie bezogen werden könnte, sondern sind in Situationen gleichsam gelöst wie Salz im Wasser. Eine Situation ist Mannigfaltiges, das durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind, zusammengehalten wird. Die Bedeutsamkeit ist binnendiffus in dem Sinn, dass die Bedeutungen in ihr entweder überhaupt nicht (so im Leben aus primitiver Gegenwart) oder wenigstens nicht sämtlich einzeln sind. Das Leben aus primitiver Gegenwart ist von Situationen erfüllt, die in tierischer Rede durch Rufe und Schreie ohne Explikation einzelner Bedeutungen angesprochen, nämlich heraufbeschworen, modifiziert und beantwortet werden, etwa durch Alarm-, Lockund Klagerufe; bei personalen Menschen leisten Interjektionen und Ausrufe Entsprechendes. Im Leben aus primitiver Gegenwart gibt es kein Innen und kein Außen; die Situationen, die durch Rufe der genannten oder anderer Art angesprochen werden, umgreifen im Allgemeinen mehrere absolut identische, wenn auch noch nicht einzelne Teilnehmer, die in Einleibung mit bestimmten, im Fall antagonistischer Einleibung sogar mit verteilten, Rollen zusammenwirken. Personen sind demnach für ihr Personsein, das in der Fähigkeit zur Selbstzuschreibung besteht, unausweichlich auf eine leibliche Grundlage angewiesen, die im leiblich-affektiven Betroffensein, in der primitiven Gegenwart und in der leiblichen Dynamik mit dem vitalen Antrieb als Achse besteht, sowie auf die Teilnahme am Leben aus primitiver Gegenwart. Ohne Leib keine Person. Ich verstehe den Leib als Inbegriff der Regungen, die jemand von sich, als zu sich gehörig, in der Gegend (nicht immer in den Grenzen) seines Körpers spüren kann, ohne sich 13 14
Ebd. S. 43 f. Ebd. S. 41–47
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Die Person – weder innen noch außen
der fünf Sinne und des aus ihren Erfahrungen, besonders denen des Sehens und Tastens, habituell gewordenen perzeptiven Körperschemas zu bedienen. Dazu gehören die bloßen leiblichen Regungen wie Schreck, Angst, Schmerz, Hunger, Durst, Ekel, Wollust, Frische, Müdigkeit, weiter die leiblichen Regungen, die ein Ergriffensein von Gefühlen sind, wie Zürnen, Sichschämen, Bangigkeit, Fürchten, Sichfreuen, Trauern, Sehnen, Schwermut, Euphorie, dann die leiblich spürbare Motorik und unumkehrbare Richtungen wie der Blick und das Ausatmen. Die Weltspaltung hat den Menschen in Körper und unkörperliche Seele zerlegt und den spürbaren Leib darüber vergessen lassen. Sie kommt damit schon bei Kopf- und Bauchschmerz nicht zurecht, denn als Schmerz sollen sie seelisch sein, aber Kopf und Bauch sind körperlich. Ich habe den Leib seiner räumlichen Beschaffenheit und Dynamik nach studiert und durch Merkmale charakterisiert, die mit denen des festen, stetig ausgedehnten, flächig begrenzten und schneidbaren Menschenkörpers unverträglich sind. Wenn ich vom Leib und der leiblichen Grundlage des Personseins spreche, ist also nicht an diesen Körper zu denken. Obwohl die Person auf den Leib angewiesen ist und am Leben aus primitiver Gegenwart teilnimmt, geht sie keineswegs darin auf. Der erste Schritt, der darüber hinaus führt, ist die Geburt der Einzelheit durch Entbindung einzelner Bedeutungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen. Das unentbehrliche Werkzeug dazu ist die menschliche, explikative Rede, die man im Gegensatz zu den Rufen und Schreien der Tiere auch als die satzförmige bezeichnen kann, obwohl es auf grammatische Gliederung nicht ankommt. Sachverhalte, Programme und Probleme sind auch ohne Explikationsvermögen den Tieren und Säuglingen vertraut, nämlich ohne Vereinzelung in Gestalt der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen; der Säugling z. B. beantwortet das Problem seines Hungers und Missliegens mit dem Programm der Abhilfe, das seine gebieterische Stimme verkündet, und quittiert den Sachverhalt seiner anschließenden 181 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Person – weder innen noch außen
Sättigung und Trockenlegung mit Behagen, aber er ist weit davon entfernt, sich eines einzelnen Sachverhalts, Programms oder Problems bewusst zu sein. Einzeln lassen sich Bedeutungen als diese bestimmten nur durch satzförmige Rede in einer Sprache identifizieren, denn man kann sie nicht durch stumme Vorführung präsentieren, schon deshalb nicht, weil man zur Vorführung einzelne Sachen brauchte und Sachen erst durch Bedeutungen, als Fälle von Gattungen, einzeln werden. Als solche Fälle werden sie aber aus den Situationen, in denen sie zunächst begegnen, herausgehoben und in den beliebige Situationen übergreifenden Umfang von Gattungen versetzt. Der Mensch gewinnt durch die von seiner Rede ermöglichte Einzelheit von Sachen eine ungeheure Beweglichkeit des Umgangs mit ihnen, zumal dann, wenn für die Subsumtion, das Beziehen eines Falles, mehrere Gattungen zur Verfügung stehen und also die relative Identität zur Identifizierung eingesetzt werden kann, wodurch es möglich wird, eine Sache von vielen Seiten, unter vielen Gesichtspunkten und in vielen Verhältnissen, zu betrachten und zu behandeln. Dem Menschen wird es dadurch möglich, Situationen in den Griff zu nehmen, die zu seinen Absichten passenden Bedeutungen herauszuholen und die Situationen mit freier Variation, z. B. planend und phantasierend, zu überholen. So wird er den Tieren überlegen. Für ihn selbst bringt die Geburt der Einzelheit durch Entbindung von Bedeutungen und darunter Gattungen, nebst Sachverhalten des Fallseins unter ihnen, den Vorteil der Personwerdung. Durch Selbstzuschreibung, indem er sich selbst als Fall von Gattungen versteht, erhebt er sich aus der absoluten Identität, die ihm die primitive Gegenwart geschenkt hat, zum einzelnen Bewussthaber und zur Person mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung. Der Gewinn der Selbstzuschreibung wäre aber gering und würde kaum dafür reichen, der Person die erwarteten Vorzüge – die Fähigkeiten, sich zu beurteilen, zu vergleichen, einzuordnen, Verantwortung zu übernehmen, sich an Herausforderungen und Zumutungen zu messen – einzubringen, wenn sich 182 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Person – weder innen noch außen
nicht mit der Vereinzelung ein weiterer Prozess verbände, die Neutralisierung von Bedeutungen. Den Unterschied von Subjektivität und Objektivität oder Neutralität, den ich vorhin nur für Tatsachen eingeführt habe, dehne ich nun auf Bedeutungen aller Art, also auf untatsächliche Sachverhalte, Programme und Probleme, aus. Im Leben aus primitiver Gegenwart sind alle Bedeutungen für jemand subjektiv. Aus dem personalen Leben kenne ich einen Zustand ohne jede Neutralisierung, d. h. ohne mehr oder weniger Abfall von Subjektivität, nur aus schweren Träumen, in denen der Person zwar die Einzelheit und die Selbstzuschreibung bleibt, aber jede Beweglichkeit im Sinne der eben angegebenen spezifisch personalen Fähigkeiten abgeht; die Person ist dann dem Traumgeschehen in hilfloser Unselbständigkeit ausgeliefert. Damit sie ihre Selbstzuschreibung für die Befreiung zu einem gelockerten Selbstverhältnis nützen kann, muss sie subjektive Bedeutungen versachlichen und neutralisieren, d. h. aus ihnen solche machen, die jeder sagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. Aus der Neutralisierung von Bedeutungen ergibt sich die Entfremdung von Sachen. Eine Sache wird einem Bewussthaber fremd, wenn der tatsächliche oder untatsächliche Sachverhalt, dass sie existiert, für ihn neutral oder objektiv wird. Es ist wichtig, hier auch untatsächliche Sachverhalte zu berücksichtigen, weil für die Person vieles, was gar nicht existiert, wovon sie nur träumt, was sie hofft oder fürchtet, wichtig ist. Vereinzelung, Neutralisierung und Verfremdung gehen oft zusammen, z. B. bei der Enttäuschung, wenn jemandem das, was ihm in der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen selbstverständlich war, in der Entbehrung einzeln, neutral und fremd wird und das Neue zunächst ebenso begegnet, bis er sich daran gewöhnt hat, in dem Sinn, dass es für ihn in die binnendiffuse Bedeutsamkeit neuer Situationen eingeheilt ist. Solche Erfahrungen sind namentlich für das reifende Kind wichtig. Die Neutralisierung von Bedeutungen und Verfremdung von Sachen bringt der Person nämlich den großen Gewinn, dass sich 183 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Person – weder innen noch außen
dem Neutralen und Fremden gegenüber eine Sphäre des Eigenen bildet. Diesen Prozess in seiner lebenslangen Fortbildung und Umgestaltung bezeichne ich als personale Emanzipation. Ihr antwortet gegenläufig eine personale Regression, die den Unterschied des Eigenen und Fremden wieder verwischt und resubjektivierend zum Leben aus primitiver Gegenwart zurückführt. Sie gehört zur Person ebenso wie die personale Emanzipation, da ohne Schöpfen aus dem Leben aus primitiver Gegenwart keine Selbstzuschreibung möglich wäre. Die bei der Neutralisierung subjektiv gebliebenen Bedeutungen verharren entweder in binnendiffuser Bedeutsamkeit oder können sich, wenn sie vereinzelt waren, mit den übernommenen Situationen oder zu neu gebildeten Situationen zusammenschließen. So entwickelt sich eine zuständliche, d. h. nicht von Augenblick zu Augenblick, sondern nur über längere Fristen veränderliche persönliche Situation, die Persönlichkeit einer Person. Sie entwickelt sich lebenslang durch Prozesse der personalen Emanzipation und personalen Regression, der Explikation aus Situationen und Implikation in solche, und umfasst viele partielle Situationen, z. B. Kristallisationskerne der Erinnerung, Standpunkte, habituelle Interessen, den Sprachschatz, die Lebenstechnik, die persönliche Fassung (die man verliert, wenn man die Fassung verliert), die Gesinnung als Weise des Sicheinlassens auf das affektive Betroffensein und die partiellen prospektiven Situationen, in denen das beschlossen (oft verschlossen) liegt, worauf die Person hinaus und wovon sie weg will. Zur persönlichen Situation kommt die persönliche Eigenwelt. Zu ihr gehören alle Bedeutungen, die für die Person subjektiv sind, und alle Sachen, für die der tatsächliche oder untatsächliche Sachverhalt, dass sie existieren, für die Person subjektiv ist. Volkstümlich kann man das so ausdrücken: Zur persönlichen Eigenwelt gehört alles, woran die Person hängt, in Zuwendung oder Abwehr. Die persönliche Situation und die persönliche Eigenwelt haben eine gewisse Ähnlichkeit mit einer privaten Innenwelt im Sinne der Weltspaltung, aber man kann nicht sagen, dass die 184 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Person – weder innen noch außen
Person in ihnen wohne wie in einer Seele, in der sie Herr im Haus ist. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens kann die Person diese Quasi-Innenwelten zwar nicht abwerfen, ebenso wenig aber auch ganz in ihnen unterkommen, denn zur Behauptung ihrer Personalität, ihrer Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, muss sie im präpersonalen Leben aus primitiver Gegenwart verwurzelt bleiben und in personaler Regression dahin zurückkehren. Wege dazu sind unter anderem zwei von der Natur dem Menschen mitgegebene Vorgänge der Integration von personaler Emanzipation und personaler Regression: Lachen und Weinen. Zweitens ist die persönliche Situation für die Person keineswegs nur eine Hülle wie ein Haus, in dem man wohnen kann, sondern auch ein herausfordernder Partner, dem sie sich stellen muss, wie ein Orakel, von dessen Sprüchen sie abhängt. Das ist der Fall beim Wollen. Dieses hat zwei Phasen: die Bildung der Absicht und die Zuwendung des vitalen Antriebs zu der gebildeten Absicht, damit diese den Schwung zur Realisierung erhält. Die erste Phase besteht in einer Orientierung des Menschen in seiner persönlichen Situation, damit diese zu verstehen gibt, was angesichts einer Herausforderung zu ihr passt. Das kann glatt gelingen; in anderen Fällen müssen die divergierenden Stimmen partieller Situationen gehört, abgewogen und diplomatisch vermittelt werden, bis es gelingt, ein einzelnes Programm, die Absicht, herauszuholen, hinter dem dann die ganze Persönlichkeit steht. Am Ende dieses Prozesses weiß der Mensch, was er will. Das kann er bei schwierigen Entscheidungen nicht voraussehen. Dann wirkt ein mehr oder quälendes Abwägen von Gründen für und wider wie ein Kneten der persönlichen Situation darauf hin, dass diese endlich zu verstehen gibt, was zu ihr passt; dann ist das Abwägen der Gründe manchmal abrupt beendet. Bei leichteren Alltagsentscheidungen ist der Vorgang in der Struktur gleich, nur nicht so auffällig und langgezogen; beim Wählen von der Speisekarte etwa reagiert die persönliche Situation auf die binnendiffuse Bedeutsamkeit der in Sinnesqualitäten einge-
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Die Person – weder innen noch außen
wickelten synästhetischen Charaktere. Manche bevorzugen das Süße und Weiche, andere das Herbe, Körnige und Bittere. Mit der abgeschlossenen Innenwelt entfällt auch die in der Weltspaltung mit ihr zusammengehörige Außenwelt und die Intentionalität des Bewusstseins oder besser Bewussthabens als Brückenschlag von innen nach außen. Diese Intentionalität, die von der älteren Phänomenologie um Brentano und Husserl mit dem Slogan »Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas« favorisiert und von Sartre als Ausbruch aus der abgeschlossenen Innenwelt verherrlicht wurde 15, scheint zunächst nur die Trivialität zu sein, dass in allem Bewussthaben etwas bewusst gehabt wird, was Brentano so amplifiziert: »In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urteile ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehaßt.« 16 Problematisch ist daran aber, dass das in die Außenwelt hinübergreifende Bewussthaben als Kontaktaufnahme mit beliebigen einzelnen Objekten behandelt wird. Die Intentionalitätstheorie unterliegt damit dem Vorurteil des Singularismus, dass alles ohne Weiteres einzeln ist. Einzelheit versteht sich aber nicht von selbst, sondern ist stets vermittelt durch das Fallsein unter Gattungen, die als Bedeutungen (nämlich als Sachverhalte, oft beladen mit Programmen und Problemen) in satzförmiger Rede aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen expliziert und zu Konstellationen vernetzt werden. Nicht also muss erst die Sache intendiert sein, damit anschließend sie betreffende Bedeutungen erfasst werden können, sondern es ist gerade umgekehrt: Eine Sache kann einzeln erst sein und intendiert werden, wenn sie betreffende Bedeutungen aus Situationen expliziert sind, und damit ist sie auch schon intendiert. Sie ist als einzelne intendiert, wenn in einem Netz von Bedeutungen, einer Konstellation, solJean-Paul Sartre, Une idée fondamentale de la phénoménologie de Husserl: L’intentionnalité, in: Sartre, Situations, Band I, Paris 1947, S. 31–36; vgl. Hermann Schmitz, Husserl und Heidegger, Bonn 1996, S. 88–90 16 Franz Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, 1. Band, zuerst 1874, hg. v. Oskar Kraus, Leipzig 1924, S. 125 15
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Die Person – weder innen noch außen
che vorkommen, in denen die Sache einer Gattung subsumiert ist. Das Konzept der Intentionalität muss insofern in das Konzept der Explikation überführt werden. Der Gegenstandsbezug des Bewussthabens beginnt aber schon vor der Vereinzelung im Leben aus primitiver Gegenwart, und zwar im Verhältnis zu den von mir so genannten Halbdingen wie dem Schmerz, dem Wind, der Stimme, der reißenden Schwere, wenn man ausgleitet und stürzt oder sich gerade noch fängt, vielen Geräuschen wie schrillen Pfiffen oder stechendem Lärm, stechenden Blicken, brütender Hitze und schneidender Kälte, Melodien, besonders solchen, die einem nicht aus dem Kopf gehen, dem Licht, das die Farben aufleuchten lässt und auf ihnen spielt, der Nacht und der Zeit, wenn sie in Langeweile oder gespannter Erwartung sich unerträglich dehnt. Halbdinge unterscheiden sich von Volldingen durch unterbrechbare, potentiell unstetige Dauer und eine unmittelbare Kausalität, in der Ursache und Einwirkung zusammenfallen, während das Vollding als Ursache hinter seiner Einwirkung steht (oder hinter sie gesetzt wird, wie bewegte Luft hinter den Wind als Halbding). Durch ihre unmittelbare Kausalität sind Halbdinge zudringlich, und ihre Zudringlichkeit erzeugt antagonistische Einleibung als gemeinsamen Antrieb mit verteilten Rollen einer Auseinandersetzung, zu der der absolut identische Bewussthaber genötigt ist. Der Schmerz als Halbding ist z. B. ein zudringlicher Widersacher, mit dem man sich auseinandersetzen muss, während man in der nicht minder peinlichen Angst aufgehen kann, indem man sie z. B. in panischer Flucht einfach ausagiert. Ähnlich verhält es sich beim Betroffensein von der reißenden Schwere. Diese Konfrontation überträgt sich auf alle Gestalten, auch von Volldingen, die Ausdruck haben, womit sie den Betroffenen ansprechen und fesseln, vielleicht in Bann ziehen. Immer spielt sich dieser noch primitive Gegenstandsbezug in Situationen ab, die keine Schwelle zwischen Innerem und Äußerem enthalten. Aus solchen Situationen werden dann in satzförmiger Rede Netze von Bedeutungen expliziert, in denen 187 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Person – weder innen noch außen
absolut identische Sachen als Fälle von Gattungen Platz finden, und damit ist der Gegenstandsbezug des Bewussthabens auch zu Einzelnem hergestellt. Aus den Konstellationen, den Netzen von Bedeutungen und mitvernetzten Sachen wachsen neue Situationen zusammen, die wieder expliziert werden usw., so dass ein potentiell unendlich rollendes Rad von Explikationen aus Situationen und Implikationen in solche um die Person abrollt und durch die Hände ihres Bewussthabens geht. Eine scharfe Grenze des Inneren und Äußeren erübrigt sich, wenn man bedenkt, dass es sich immer auch um Situationen handelt, die beide Seiten übergreifen. Der personale Mensch braucht nicht, wie Heidegger meinte, draußen zu sein, um bei dem ihm begegnenden Seienden anzukommen, sondern es genügt, wenn er in Situationen lebt, aus deren Explikation ihm und dem begegnenden Seienden die Einzelheit zufällt.
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10. Die Bedeutung des Todes für die Dauer der Person
Was wird aus mir, wenn ich tot bin? Diese Frage bewegt die Menschen von je her. Sie ist aber unbeantwortbar. Es besteht keinerlei Aussicht, darüber eine vernünftige begründete Auskunft zu geben. Ich werde nichts dergleichen versuchen. Dagegen ist es eine sinnvolle und sogar aussichtsreiche wissenschaftliche Aufgabe, für das mit dem Tod eintretende Schicksal der Menschen Möglichkeiten zu sichten und zu vergleichen. Die seit Jahrtausenden ventilierten Vorschläge für solche Möglichkeiten, die wir z. B. von den theistischen Religionen oder aus dem tibetanischen Totenbuch kennen, verraten einen bemerkenswerten Mangel an Phantasie, und es ist lohnend und vernünftig, ihren Horizont zu erweitern. Die Leitfrage »Was wird aus mir, wenn ich tot bin?« gabelt sich in zwei speziellere Fragen: 1. Gibt es eine Dauer der Person über den Tod hinaus, und von welcher Art könnte sie sein? 2. Wenn die Person nach dem Tod dauert, wie könnte dann ihr Zustand beschaffen sein? Ich werde beide Fragen nach einander behandeln.
Zur ersten Frage: Bezüglich einer Dauer der Person nach ihrem Tod gibt es drei Möglichkeiten: 1. Mit dem Tod ist alles aus, und dabei bleibt es. 2. Nach dem Tode dauert die Person ununterbrochen fort.
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Die Bedeutung des Todes für die Dauer der Person
3. Der Tod löscht die Person aus, es ist vorbei mit ihr, und trotzdem dauert sie über ihn hinaus weiter. Zur ersten Möglichkeit ist nicht viel zu sagen. Es ist vernünftig, von ihr auszugehen und sich an sie zu halten. Auch sie lässt der Person eine gewisse Endgültigkeit und Beharrlichkeit über den Tod hinaus, nämlich die des Gewesenseins. Jeder, der gegenwärtig lebt, kann sich gewiss sein, dass ein Späterer, der ihm in irgend einer Zukunft die Existenz und das, was er gewesen ist, bestreiten wollte, nicht die Wahrheit sagen könnte. In diesem Sinn ist das Vergangene unauslöschlich und das Nichtmehrsein mehr als bloßes Nichtsein. Der zweite Vorschlag, der Person eine ununterbrochene Dauer über den Tod hinaus zuzutrauen, beruft sich im christlichen Bereich auf die Vorstellung von einer unsterblichen Seele, die sich im Tod vom Körper trennt, hat aber ein scheinbares Vorbild bei Homer, der dem Tod des Patroklos wie des Hektor die Worte anschließt: »Die Psyché, den Gliedern entfliegend, begab sich zum Hades, ihr Schicksal beklagend, da sie Mannheit und Jugend verloren hatte.« 1 Die Analogie ist nur scheinbar, weil »Psyché« bei Homer nie eine Seele bedeutet, die den lebendigen Körper bewohnt, sondern das Leben im qualitativen Sinn, die Lebendigkeit, die sich erst nach dem Tod als Totengeist, als Gespenst, selbständig macht. Die Zusammensetzung des Menschen aus dem Körper und der Seele, dem eigentlichen Menschen nach Platon, entstammt der Weltspaltung um 400 v. Chr., die die Seelen als abgeschlossene private Innenwelten von der Außenwelt absondert und der Vernunft als das Haus, in dem sie Herr sein kann, zur Machtergreifung über die unwillkürlichen Regungen zur Verfügung stellt. Konsequent ist es dann, die Seele auch aus dem Raum als der Domäne des Äußeren zurückzuziehen und ihr die Ausdehnung abzustreiten, woraus 1
Ilias 16, 856 f. und 22, 562 f.
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Die Bedeutung des Todes für die Dauer der Person
Descartes nach dem Vorgang Augustins 2 das Wesensmerkmal des Seelischen, das ausdehnungslose Denken, macht. So denkt auch Kant, wenn er schreibt: »Äußerlich kann die Zeit nicht angeschaut werden, so wenig wie der Raum, als etwas in uns.« 3 Diese Denker haben sich verspekuliert und die Menschen, die sich nach dem Tod als unausgedehnte Seele von ihrem Körper lösen wollen, in die Irre geführt. Sie machen dem Menschen Vorschläge dafür, als was er sich verstehen soll, und übersehen, dass er sich schon kennen muss, um sich überhaupt als etwas zu verstehen. Jedes Merkmal, das ein Mensch sich zuschreibt, könnte auch ein anderer haben, ebenso alle Merkmale zusammen; in keinem ist ein Grund dafür enthalten, dass es sich gerade um ihn handelt. Wenn er das nicht schon als vorgängige Kenntnis zu allem, was er sich zuschreiben kann, mitbrächte, würde die Kette der Identifizierung ins Unendliche weiterlaufen, z. B. im Fall eines türkischen Schusters in Kreuzberg von einem Türken zu einem Schuster, einem Berliner, einem Moslem, einem Familienvater, aber der Mann hätte keinen Anlass, auf die Idee zu kommen, dass das alles er selber ist. Jeder identifizierenden Selbstzuschreibung muss ein nicht identifizierendes Sichbewussthaben zu Grunde liegen, das von der Selbstzuschreibung nur noch ergänzt werden kann. Dem hätten die Philosophen nachgehen sollen, statt nach eigenem Belieben Vorschläge für die Selbstzuschreibung zu machen. Dann wären sie auf den spürbaren Leib aufmerksam geworden, der bei der Weltspaltung und seither im Gegensatz zum sicht- und tastbaren Körper vergessen worden ist, wie unter den Tisch gefallen. Die einzige Gelegenheit, ohne Identifizierung seiner selbst bewusst zu werden, ist nämlich das leiblich engende Zusammenfahren beim plötzlichen Einbruch des Neuen, wenn ich nur noch hier jetzt dieses bin, reduziert auf die absolute IdenDe quantitate animae, Kapitel 64 und 69, vgl. Contra epistulam Manichaei quam (vocant fundamenti 20 [XVI]) 3 Kritik der reinen Vernunft A 23, B 37 2
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Die Bedeutung des Todes für die Dauer der Person
tität, selbst und verschieden von dem, was vorbei ist, auf der Spitze, die jetzt ist, zu stehen, ohne Vermögen, mich als Fall dieser oder jener Gattung zu verstehen, d. h. als ein A, das identisch ist mit einem B, mit einem C usw. In diesem Augenblick ist die absolute Identität ohne die relative, identisch mit etwas zu sein, also ohne Möglichkeit einer Identifizierung, rein da und so verschmolzen mit der Subjektivität, selbst betroffen und in Anspruch genommen zu werden, dass ich und dieses ohne Identifizierung zum Sichbewussthaben zusammenfallen. Zwar sind solche Momente schreckhaften Abgerissenseins die Ausnahme, aber sie kündigen sich an in jeder spürbaren leiblichen Engung, als das darin angelegte Maximum der Enge, weil ohne diese Aussicht alles in gleitende Übergänge verwischt wäre und nichts zu sich selbst käme. Absolute Identität ist nämlich nicht selbstverständlich; sie bedarf eines Ereignisses, das den Halt zur Eindeutigkeit gibt, und das ist die primitive Gegenwart der angegebenen Art. Sie pflanzt sich fort in den vitalen Antrieb, in dem Engung und Weitung gegenläufig verschränkt sind, und in die Einleibung, in der Antrieb als gemeinsamer auf Beteiligte verteilt ist. Aus gleitender Dauer, primitiver Gegenwart beim die Dauer zerreißenden plötzlichen Einbruch des Neuen, leiblicher Dynamik mit dem vitalen Antrieb als Achse und Einleibung besteht das Leben aus primitiver Gegenwart, das Tiere und Säuglinge als ihr Leben und Personen als die Grundschicht ihres Lebens führen. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass eine Person, als Bewussthaber mit der Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, sich als Fall mehrerer Gattungen zu verstehen, ohne Leib unmöglich wäre. Der Leib – verstanden als alles das, was jemand von sich selbst in der Gegend seines Körpers (wenn auch nicht immer in dessen Grenzen) spüren kann, ohne sich der fünf Sinne und des aus ihrem Zeugnis, besonders dem des Sehens und Tastens, abgeleiteten habituellen Vorstellungsbildes vom eigenen Körper zu bedienen. Dieser Leib 4 ist zwar nicht der Menschenkörper, aber er 4
Vgl. dazu jetzt: Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011
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Die Bedeutung des Todes für die Dauer der Person
teilt mit diesem weitgehend das Lokal, jedoch mit einer anderen Art von räumlicher Ausdehnung. Der sichtbare und tastbare Körper ist stetig ausgedehnt, von Flächen begrenzt und durch Flächen schneidbar, mit den drei Dimensionen der Länge, Breite und Dicke. Der spürbare Leib ist dagegen flächenlos wie der Schall, wie die feierlich weite oder drückend enge Stille, wie der entgegen schlagende Wind, wie das als frische oder stickige Luft gespürte Wetter, wie das Wasser für den Schwimmer, der die optische Begleitvorstellung ausschaltet. Am eigenen Leib kann man keine Flächen spüren, während man sie am eigenen Körper besehen und betasten kann. Die flächenlose Ausdehnung des Leibes ist auch nicht stetig, sondern im Allgemeinen ein diskretes Gewoge verschwommener Leibesinseln, von denen einige mit weitgehend konstanter Struktur beharren, etwa in der Mund- Anal- und Sohlengegend, die meistens aber unvorhersehbar kommen und gehen. Sehr konstant ist die Ateminsel in der Brustgegend, die sich aus vitalem Antrieb bei jedem Einatmen aus Engung als Spannung und Weitung als Schwellung neu bildet, wobei sich das Übergewicht kurzfristig, aber stetig von der Schwellung in die Spannung verschiebt, bis diese, ehe sie unerträglich wird, von der unumkehrbar aus der Enge in die Weite führenden Richtung des Ausatmens abgeführt wird. An diesem Beispiel kann man sich klar machen, was leibliches Volumen ist, das im Gegensatz zum Volumen der Körper nicht dreidimensional, sondern dynamisch, aus dem antagonistischen Zusammenspiel von Engung und Weitung aufgespannt, ist, wie das Wasser als dynamisches Volumen für den Schwimmer, dem es entgegenströmt, während er sich in ihm vorwärts kämpft, oder den es ruhig trägt. Das Gewoge verschwommener Inseln wird zusammengehalten durch die Engungskomponente des vitalen Antriebs; außerdem gibt es ganzheitliche, nicht auf Leibesinseln verteilte leibliche Regungen, wie die Lebensgefühle bei munterem oder mühseligem Tagesbeginn am Morgen, Mattigkeit und Frische, Behagen und Missbehagen, ansteckender Eifer, spontan ausladende oder einsinkende Gebärden. 193 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Bedeutung des Todes für die Dauer der Person
Während die Person als unsterbliche Seele ohne Ausdehnung den Tod nicht, wenigstens nicht mit erhaltener Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, überdauern kann, wächst die Chance, wenn sie den Leib mitnimmt, und damit ihre leiblich spürbare Lebendigkeit; man könnte die erwähnten Homerstellen über die Psyché des toten Patroklos und Hektor so verstehen, ohne dass ich dies als philologisch zuverlässige Deutung ausgeben möchte. Einzelne Leibesinseln können sogar den noch lebenden Körper verlassen; das beweisen die Phantomglieder der Amputierten, die wirklich existierende Leibesinseln, nur ohne die verlorenen zugehörigen Körperteile sind, besetzt mit so echten Schmerzen wie es die Kopf- und Bauchschmerzen im noch erhaltenen, körperlichen Kopf und Bauch eines Menschen sind. Warum sollte nicht auch der ganze Leib den Körper verlassen können? Die vielen Berichte über Heautoskopie, wobei jemand sich selbst – etwa auf dem Operationstisch liegend – von außen oder von oben sieht 5 , können für diese Möglichkeit herangezogen werden; neuerdings versucht man sogar, mit raffinierten Versuchsanordnungen wissenschaftlich Umstände zu erzeugen, in denen eine Versuchsperson sich selbst in einem anderen Körper als dem ihren spürt. Man will damit die Täuschbarkeit des Selbstgefühls erweisen, aber das ist eine voreilige und unkritische Deutung; es könnte ja auch sein, dass der Leib tatsächlich aus dem Körper auswandert. Dass so etwas in der Tat geschieht, freilich nur als Hineinwachsen des sich erweiternden Leibes in Instrumente und nicht als Verlassen des Körpers, ist altbekannt. In seiner Psychologie des Motorrads schreibt Hansjörg Znoj: »Das Motorrad wird durch den Gebrauch zum erweiterten Selbst, es fängt buchstäblich an zu leben, weil wir durch das Motorrad hindurch die Straße, die Umgebung wahrnehmen. Erfahrene Motorradfahrer spüren die Straßenoberfläche; sie nehmen intuitiv wahr, wie groß die Reibungswerte sind, sie spüren Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band II: Der Leib, 1. Teil, Bonn 1965, in Sonderausgabe 2005, S. 138–141: Die Heautoskopie
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Die Bedeutung des Todes für die Dauer der Person
den Zustand des Motorrads, oft schon lange bevor dieses durch Geräusche oder durch andere Zeichen zu erkennen gibt, dass es Öl oder neue Lager braucht.« 6 Er schöpft aus dem Vorrat analoger Beispiele: »Wir merken beim Schaufeln, ob der Untergrund hart oder weich ist. Wir realisieren beim Hauen, ob der Stein nachgibt oder nicht. Wenn wir einen Bleistift in die Hand nehmen und ihn über eine Oberfläche ziehen, merken wir recht gut, ob die Fläche rau oder glatt ist, ob sie weich ist, samtig oder spröde; wir erleben die Oberfläche an der Spitze des Bleistifts und nicht an den Fingern, die den Bleistift umgreifen. Und so verhält es sich auch bei komplexen Werkzeugen. Ein Baggerführer mit Erfahrung kann sehr gut die Widerstandskraft eines Materials abschätzen, obwohl ihn eine komplizierte Hydraulik die Kräfteverhältnisse stark untersetzt spüren lässt.« 7 Ähnliche Beobachtungen hat schon Lotze im 19. Jahrhundert mitgeteilt. Eine leibliche Regung ist auch der Blick, der unumkehrbar aus der Enge in die Weite führt und damit den Körper verlässt. Dass er unkörperlich zum Leib gehört, zeigt sich z. B. beim geschickten Ausweichen vor einer in drohender Näherung gesehenen wuchtigen Masse. An die Stelle der Abstands- und Lagebestimmung des eigenen Körpers, deren man dann, weil man ihn nicht sieht, leicht fähig ist, tritt die Auffangfähigkeit des Blickes, der sich wie gebannt an die Bewegungssuggestion des drohenden Objektes, die dessen bevorstehenden Kurs anzeigt, hängt und diese Information in das von mir studierte, aus unumkehrbaren Richtungen bestehende motorische Körperschema, zu dem er selbst gehört, so überträgt, dass dieses zur angepassten Ausweichbewegung befähigt wird. Wenn sich der Leib auf solche Weise partiell vom Körper emanzipiert, kann er das im Tod vielleicht zur totalen Emanzipation erweitern und die Person so mitnehmen, dass diese bruchlos den Tod überdauert. Hansjörg Znoj, Die Psychologie des Motorrads. Zur Wechselwirkung von Mensch und Maschine, Bern 2011, S. 37 7 Ebd. S. 77 6
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Die Bedeutung des Todes für die Dauer der Person
Ich komme jetzt zur dritten Möglichkeit, einer postmortalen Dauer der Person, die keine unmittelbare Fortdauer ist. Man könnte sie mit dem Schlagwort (Slogan) umschreiben: »Mit dem Tod ist alles aus, und es geht trotzdem weiter.« Der Grund für den paradoxen Anschein dieser Formel besteht darin, dass man die Dauer einer Sache wie selbstverständlich nur als stetige, ununterbrochene Dauer versteht, weil man von einem Gegenstandstyp mit anderer Dauerweise keine Notiz nimmt, obwohl man schon im Alltag ständig damit zu tun hat. Ich habe ihn als den Typ der Halbdinge beschrieben, zur Unterscheidung von den Dingen im üblichen Sinn, den Volldingen. Ein gutes Beispiel ist die Stimme. Jeder oder fast jeder Mensch hat seine individuelle Stimme; mir ist öfters widerfahren, dass ich bei einem Anruf am Telefon mich vorzustellen vergaß, der Angerufene, der mich kannte, mich aber sogleich als Herrn Schmitz begrüßte, weil er mich an meiner Stimme erkannte. Tieren hören wir eine spezifische Stimme an. Dieselbe Stimme erscheint in ganz verschiedenen Schallfolgen und verstummt zwischendurch. In den Pausen ist sie gar nicht da. Ihre Dauer ist unstetig, unterbrochen. Wenn sie aber erschallt, trifft sie den Hörer unmittelbar wie ein Blick. Nicht wie ein Ding ist die Stimme da, das gelegentlich in Aktion tritt und auch dann als Ursache von seiner Einwirkung zu unterscheiden ist, wie der fallende Stein vom Stoß, mit dem er an dem getroffenen Gegenstand einen Effekt bewirkt, sondern nur als direkte Einwirkung auf den Hörer tritt die Stimme in Erscheinung. Dass die physikalische und physiologische Akustik zwischen der Schallquelle und der Empfangsstation im Gehirn (ohne das Hören selbst zu erreichen) viele und für die Entwicklung erprobter Techniken äußerst nützliche Zwischenglieder aufbaut, gehört nicht zu der Sache, von der ich hier spreche; es ist eine Gestalt des höchst erfolgreichen Bestrebens der Menschen, sich in der Umwelt zu behaupten und diese sich zu unterwerfen, indem sie Halbdinge in Volldinge umdeuten, deren Aktionspotential man schon vor ihrer Einwirkung abschätzen kann. An der Stimme kann man die beiden charakte196 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Bedeutung des Todes für die Dauer der Person
ristischen Grundzüge von Halbdingen ablesen: unterbrechbare Dauer und eine unmittelbare Kausalität, bei der Ursache und Einwirkung nicht zu unterscheiden sind, sondern die Ursache als Einwirkung unmittelbar den Effekt vollbringt. Andere Halbdinge sind z. B. der Wind, der einen trifft (noch vor der Umdeutung in bewegte Luft, ein zur übersichtlichen Zusammenfassung vieler Erscheinungen hinzugedachtes Vollding), die reißende Schwere, wenn man ausrutscht und stürzt oder sich gerade noch fängt, der widerfahrende (gewohnte, chronische) Schmerz, der nicht nur ein eigener leiblicher Zustand ist, sondern auch ein eindringender Widersacher, mit dem man sich auseinandersetzen muss, weil man in ihm nicht aufgehen kann wie in der nicht minder peinlichen Angst (durch Aufnahme ihres expansiven Impulses in der panischen Flucht), Gefühle, wie immer wieder einmal aufsteigende Scham oder Bitterkeit, ein Problem, das der Grübler nicht los wird, eine Melodie, die nicht aus dem Kopf gehen will, die Nacht und die Zeit, wenn sie in Langeweile oder gespannter Erwartung unerträglich lang wird. Die Liste kann fortgesetzt werden. Die Person könnte ein Halbding sein. Dass sie mit Unterbrechungen dauert, wird durch den Schlaf, die Benommenheit, das Koma, die Narkose nahegelegt; man hat, daraus erwachend, den Eindruck, nach einer Pause wieder da zu sein, wie eine Stimme, die nach dem Verstummen sich wieder meldet. Auch das zweite Merkmal der Halbdinge, die unmittelbare Kausalität, passt auf die Person, denn »das stehende und bleibende Ich« 8 als »das Substanziale, was übrig bleibt, wenn ich alle Accidenzen, die ihm inhärieren, weggelassen habe« 9 , ist offenbar ein schlechtes Bild für sie. Sie ist vielmehr von ihren sogenannten Accidenzen,
Kant, Kritik der reinen Vernunft A 126 Kant über die von der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1791 angesetzte Preisfrage: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolff’s Zeiten in Deutschland gemacht hat?, Akademieausgabe, Band 20, S. 270
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ihren Äußerungen, Wirkungen, »Taten und Leiden«, gar nicht zu unterscheiden, geht aber darin so wenig auf oder unter wie die Stimme in den Sprüchen, Schreien, Gesängen, in denen sie sich äußert: Die Person lebt in diesen Äußerungen, darunter Einwirkungen, und steht nicht dahinter als deren Ursache. In beiden Hinsichten, der unterbrechbaren Dauer und der unmittelbaren Kausalität nach, darf sie also als Halbding gelten. Dann ist es aber auch möglich, dass sie nach Unterbrechungen wieder einmal oder mehrmals dauert, und der Tod könnte eine solche Unterbrechung sein. Es gibt also an der Leiche eines geliebten Menschen, an dessen Weiterleben nach dem Tode man nicht glaubt, keinen zureichenden Grund für die Verzweiflung darüber, dass es mit ihm für immer vorbei sei, denn, auch wenn er nicht mehr existiert, braucht es keineswegs für immer mit ihm vorbei zu sein. So rätselhaft ist der Tod für die Frage nach dem Schicksal des Menschen, dass im Reich vernünftig motivierter Denkmöglichkeiten für seine Dauer nach dem Tod nichts darauf ankommt, ob etwas von ihm übrig bleibt.
Zur zweiten Frage: Ich beende damit die Behandlung der Chancen für eine Dauer der Person nach ihrem Tod und wende mich zu der zweiten vorhin aus der Leitfrage »Was wird aus mir, wenn ich tot bin?« abgefilterten spezielleren Frage, die für den Fall, dass die Person nach ihrem Tod noch dauert, zu erforschen begehrt, in welchem Zustand sie sich dann befinden könnte. In der europäischen Tradition ragt mit beherrschender Geltung die Antwort des Christentums hervor, wonach dem Tod eine radikale Polarisierung des Glückszustandes der ihn überlebenden Personen folgt: Die einen (wenigeren) werden in ewige Seligkeit aufgenommen, die anderen (die Mehrzahl) aber auf alle Ewigkeit in unaussprechlich grausamer Weise gequält und gemartert, z. B. durch das Höllenfeuer. Diese Auskunft ist sicherlich unhaltbar, mindestens, was 198 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Bedeutung des Todes für die Dauer der Person
die ewige Seligkeit angeht. Vorhin hat sich ja schon herausgestellt, dass die Selbstzuschreibung, deren Fähigkeit für die Person wesentlich ist, an leiblich spürbare Engung gebunden ist, sowohl an die Engung des Zusammenschreckens beim plötzlichen Einbruch des Neuen als auch an die Engung, die im vitalen Antrieb als Spannung mit der weitenden Schwellung antagonistisch verschränkt ist. Seligkeit ist im Gefüge leiblicher Dynamik privative Weitung, Ablösung aus der Schwellung und von der engenden Spannung. Diese ist aber nur so lange beglückend, etwa als Erleichterung von einer schweren Sorge, wie in der Ablösung die Enge, von der sie sich löst, noch gespürt wird, also als Übergang. Sobald die Befreiung vollendet ist, wird der Zustand fade; man kann dann mit Goethe sagen: »Alles in der Welt lässt sich ertragen, / Nur nicht eine Reihe von schönen Tagen.« Darüber kann man sich mit Worten hinwegsetzen, indem man irgend eine unbegreifliche, transzendente, an keine Bedingungen geknüpfte Seligkeit postuliert, aber damit verleugnet man die Erfahrungen, aus denen der Sinn solcher Worte wie »Seligkeit« geschöpft ist. Der Gedanke an eine einfache Entflechtung des Gegensatzes, der die vitale Grundlage von Identität und Personalität (ja schon von Subjektivität) ist, steht im Geruch eines kindlichen Traumes, eines illusionären Überspringens der ernsten Wirklichkeit. Im Folgenden werde ich der christlichen Seligkeitsidee ein heraklitisches Analogon gegenüberstellen. 10 Heraklit schreibt: »Der Menschen wartet, wenn sie gestorben sind, was sie nicht hoffen noch wähnen.« Bis zum Ende dieses Aufsatzes werden mich die beiden Fragen beschäftigen: 1. Was hat sich Heraklit
Im Folgenden zitiere ich Heraklitfragmente mit bloßen Nummern nach Diels und Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, 8. Auflage Berlin 1956, 22 b. Ich stütze mich für die Heraklitinterpretation auf meine Darstellung: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Band 1, Freiburg/München 2007, S. 38–53: Heraklit, S. 39–50: Heraklits Äquivalenzprinzip.
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dabei gedacht? 2. Wie lässt sich das mit modernen phänomenologischen Begriffen widerspruchsfrei ausdrücken?
Zur ersten Frage: Heraklit schreibt: »Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen, schuf weder einer der Götter noch der Menschen, sondern sie war immerdar und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer, Erglimmendes nach Maßen und Erlöschendes nach Maßen.« (30) Heraklit will, wie ich philologisch gezeigt habe, nicht sagen, dass ewig lebendiges Feuer erglimmt und erlischt, sondern, dass die Weltordnung zwei Seiten hat: Sie ist 1. ewig lebendiges Feuer und 2. Erglimmendes und Erlöschendes. Er meint eine Äquivalenz, die er mit der von Gold als Tauschmittel und Waren vergleicht: »Wechseltausch: Feuer für sämtliche (Dinge) und sämtliche Dinge für Feuer, so wie Waren für Gold und Gold für Waren.« (90) Derselbe Prozess stellt sich in zwei Perspektiven dar: in der teilheitlichen des fortgesetzten Wechsels und in der ganzheitlichen einer Weltordnung, die »Feuer« heißt; dieses ist nicht als Glied des Wechsels zu verstehen. Beide Perspektiven werden von Heraklit in zwei Sentenzen, die der Überlieferer Plotin sehr passend zusammenstellt, gegen einander ausgespielt: »Sich wandelnd ruht es aus.« »Erschöpfung ist’s, sich an denselben (Verrichtungen) abzuplagen und (immer wieder) anzufangen.« (84 a-b) Als Ganzes ist der Wechsel als Weltordnung ein im Großen geordneter Rhythmus, in dem man sich ausruhen kann, im Einzelnen eine Sisyphusarbeit des unablässigen Anfangens und Aufhörens, des Einsatzes und der Erschöpfung von Kräften, die Heraklit so ausmalt: »Wenn sie geboren sind, haben sie Willen zu leben und dadurch das Todeslos zu haben, und sie hinterlassen Kinder, dass wieder Todeslose entstehen.« (20) Man kann diese Weltordnung durch das Bild eines bewegten Meeres verdeutlichen, das in der Vogelperspektive, als Ganzes überschaut, einen erhebenden Anblick bietet, während der 200 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Bedeutung des Todes für die Dauer der Person
Schwimmer sich von Welle zu Welle kämpft und schließlich untergeht, nachdem er jüngere Schwimmer, die dasselbe Schicksal haben usw., in die Wellen gesetzt hat. 11 Die beiden Perspektiven bleiben aber nicht getrennt, sondern fallen zwiespältig zusammen, wie Heraklit mit einer Pluralisierung der Vogelperspektive sagt, die nun nicht mehr vom Feuer, sondern von den unterstellten Göttern eingenommen wird: »Unsterbliche Sterbliche, Sterbliche Unsterbliche, lebend jener Tod, deren Leben aber gestorben seiend.« (62) Das Leben der Sterblichen ist selbst der Tod der Unsterblichen und umgekehrt, d. h.: Sterbliche und Unsterbliche haben überhaupt kein Leben, das weiter nichts wäre, sondern jede von beiden Parteien teilt ihr Leben mit dem Tod der anderen Seite, und das Entsprechende gilt umgekehrt für den Tod. Diese zwiespältige Koinzidenz oder Komplementarität verdeutlicht Heraklit an einer simplen Lebenserfahrung: »Denen, die in dieselben Flüsse hineinsteigen, strömen andere und andere Wasser entgegen.« (12) Das Leben des Flusses, der Gesamtordnung des strömenden Gewässers, ist der Tod der Wellen, die in ihm aufgehen, und das Leben der Wellen ist der Tod des Flusses, der in ihnen untergeht, sich gleichsam verzettelt, während sie ihn bilden. Man kann den zwiespältigen Typ von Mannigfaltigkeit, um den es geht, auch durch ein Beispiel belegen, das jeder aus seinem eigenen Leben kennt. Ich war einmal ein Säugling, ein kleiner Junge, ein Jüngling, ein ausgereifter Mann, und jetzt bin ich ein Greis. Alle diese Phasenmenschen und unzählige weitere in kurzen Abständen sind verschieden, und doch bin ich, dieser eine und einzige Hermann Schmitz, sie alle; sie konkurrieren um Identität mit mir. Nach einer von Sextus Empiricus überlieferten Nachricht des Ainesidemos hat Heraklit gelehrt, dass der Teil mit dem Ganzen identisch und auch davon
Vgl. Goethe, Grenzen der Menschheit: »Was unterscheidet Götter von Menschen? Daß viele Wellen vor jenen wandeln, ein ewiger Strom; uns hebt die Welle, verschlingt die Welle, und wir versinken.«
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verschieden sei 12 ; vielleicht dachte er an ein solches Verhältnis wie zwischen mir und meinen Lebensaltern. Die beiden Perspektiven fallen aber nicht nur zusammen, sondern kippen auch in einander um, wie sich bei richtigem Verständnis aus Diels/ Kranz 22 B 88 ergibt. 13 Diesen Umschlag vollziehen die Kämpfer im Heldentod. »Im Kriege Gefallene ehren Götter und Menschen.« (24) Indem sie die Perspektive wechseln, nehmen beide Seiten an ihnen teil. Wie kann diese Sicht des Todes mit modernen phänomenologischen Begriffen gerechtfertigt, d. h. als eine widerspruchsfreie Möglichkeit (auch ohne Aussicht auf ihre konkrete Realisierung) ausgewiesen werden? Um diese Frage zu beantworten, gehe ich von der Unterscheidung zwischen Verhältnissen und Beziehungen aus. Verhältnisse sind ungerichtet, Beziehungen gerichtet von etwas, das sich bezieht, auf etwas, auf das es sich bezieht, eventuell (bei mehr als zweistelligen Beziehungen) durch Zwischenglieder hindurch. Alle Beziehungen entstehen durch Aufspaltung von Verhältnissen. Das zeigt sich daran, dass jede Beziehung nach Belieben umgekehrt werden kann, etwa eine Beziehung von A zu B in die Beziehung von B zu A (des Vaters zum Sohn in die des Sohnes zum Vater). Diese Beliebigkeit ist nur möglich, weil ein invariantes Verhältnis zu Grunde liegt, das sich gleich gut in dieser wie in jener Richtung auffassen lässt. Das ist anders beim Ablauf, dem durch den Fluss der Zeit, dass die Masse des Vergangenen wächst, die Masse des Zukünftigen schrumpft und die Masse des Gegenwärtigen wechselt, eine eindeutige Richtung vorgegeben ist, deren Umkehr phantastisch ist. Die meisten Verhältnisse sind in Beziehungen spaltbar. Der Stammbaum einer Familie ist in zahlreiche Beziehungen zwischen Familienangehörigen spaltbar, das Potenzverhältnis in die Beziehung der Wurzel zum Quadrat und die des Quadrats zur Wurzel, das Generationsverhältnis in die Bezie12 13
Sextus Empiricus, Adversus Mathematicos, IX 337 Schmitz, wie Anmerkung 10, S. 47–49
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hung der früheren zur späteren Generation und die umgekehrte. Schwieriger ist die Spaltung im Fall der räumlichen Lage. Zwei Dinge liegen neben einander. Um aus diesem ungerichteten Verhältnis Beziehungen zu gewinnen, muss ich mich hinzudenken und kann dann sagen, dass von mir aus das eine Ding rechts, das andere links vom anderen liegt. Es gibt aber auch unspaltbare Verhältnisse. Ein simultaner Akkord ist höchstens in Intervalle, die wiederum Verhältnisse sind, spaltbar, und Beziehungen zwischen Tönen gibt es erst, wenn sie sukzessiv erklingen. Hier interessieren unspaltbare Verhältnisse im Bereich der leiblichen Kommunikation, von der es zwei Haupttypen gibt, die Einleibung im Kanal eines gemeinsamen vitalen Antriebs und die Ausleibung im Kanal der privativen Weitung, wobei die Enge des Leibes in etwas ausfließt, bis zur Versunkenheit des sich ausleibenden Bewussthabers in etwas, in das er sich vertieft. Ich werde mich im Folgenden nur an die Ausleibung halten, obwohl auch in der Einleibung viele unspaltbare Verhältnisse vorkommen, z. B. beim Sägen, zwischen Reiter und Pferd, Fahrer und Motorrad, in den Ekstasen der Liebe und des gemeinsamen Singens und Musizierens. Unspaltbare Verhältnisse der Ausleibung entstehen z. B., wenn sich der Blick in die Tiefe des Raumes verliert, wie bei der gefährlichen Autobahntrance, wenn der Fahrer auf langen geraden, monotonen Straßen die Kontrolle über sein Fahrzeug verliert, oder beim Liegen in der Sonne in der entspannten sinnlichen Ichhaltung, von der Hedwig Conrad-Martius sagt, dass nur noch »der Wind, der mich umspielt, die Wärme, die mich einhüllt, der Duft, der in mich eingeht« gespürt wird 14 , und bei verwandter Vertiefung in sinnliche Genüsse wie Wein, Haut, Pelz. In einer solchen sinnlichen Ichhaltung befand sich Nietzsche nach Maßgabe der ersten vier Zeilen seines sechszeiligen Gedichtes Sils Maria: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Band III, 1916, S. 404
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Hier saß ich, wartend, wartend, – doch auf Nichts, Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel, Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. 15 Wenn Nietzsche ganz See geworden wäre, müsste eigentlich auch der Silser See ganz Nietzsche geworden sein, aber das war nicht der Fall. Es handelt sich vielmehr um ein unspaltbares Verhältnis der Versunkenheit, das als Identität ausgedrückt wird, weil man sich unspaltbare Verhältnisse bisher nur für den Fall der Identität vorstellen konnte: Verhältnisse, bei denen jemand in das, worein er sich vertieft, innig eingegangen und versunken ist, dass er dazu keine Beziehung aufnehmen kann. Von dieser entspannten sinnlichen Versunkenheit ist der Weg ganz kurz zur mystischen Vereinung (unio mystica), die Hegel in seiner Hölderlin gewidmeten Elegie Eleusis vom Aufblick zum nächtlichen Sternenhimmel bezeugt: Der Sinn verliert sich in dem Anschaun, Was mein ich nannte, schwindet, Ich gebe mich dem Unermesslichen dahin, Ich bin in ihm, bin alles, bin nur es. Dem wiederkehrenden Gedanken fremdet, Ihm graut vor dem Unendlichen, und staunend fasst Er dieses Anschauns Tiefe nicht. 16 In der versunkenen Vertiefung verliert Hegel mit der Fähigkeit, sich zu etwas in Beziehung zu setzen, die Unterscheidungsfähigkeit, und diese Ununterscheidbarkeit deutet er als Identität, alles
Die fröhliche Wissenschaft, Lieder des Prinzen Vogelfrei, Nietzsches sämtliche Werke, Studienausgabe von Colli und Montinari, Band III, S. 649 16 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Frühe Schriften, als Taschenbuch Frankfurt a. M. 15
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zu sein, als ob von allem nur noch Hegel übrig wäre. Ohne diese Verwechslung mit Identität kommt dieselbe Versunkenheit als Einweihungserlebnis des mittelalterlichen Mystikers Heinrich Seuse vor: »Als er noch ein anfangender Mensch war, trug es sich einmal zu, dass er am St.-Agnes-Tag – es war nach dem Mittagessen des Konventes – in den Chor ging. Dort war er allein; er stand an dem niederen Gestühl der rechten Seite. (…) Und wie er da so stand, des Trostes bar, und niemand in seiner Nähe war, da ward seine Seele entrückt, ob im Leib, ob außer ihm, das wusste er nicht. Was er da sah und hörte, lässt sich nicht in Worte fassen. Es hatte weder Form noch bestimmte Art und hatte doch aller Formen und Arten freudenreiche Lust in sich. Des Dieners Herz verlangte danach und fühlte sich doch gestillt, sein Sinn war freudvoll und bewegt; Wünschen war ihm entfallen, Begehren entschwunden; er starrte nur in den hellen Abglanz, in dem er sich selbst und alles um ihn vergaß. War es Tag oder Nacht? Er wusste es nicht. Ein Ausbruch war es von des ewigen Lebens Lieblichkeit, seinem Wahrnehmen gegenwärtig, bewegungslos, ruhig. Als er wieder zu sich kam, sagte er: ›Wenn das nicht das Himmelreich ist, so weiß ich nicht, was Himmelreich ist.‹« 17 Was hier als Ausnahmezustand vorkommt, bezeugt Ranke als seine dauernde Erfahrung bei historischen Studien: »Man lebt mehr in dem Ganzen als in der Person. Oft weiß man kaum mehr, dass man eine Persönlichkeit hat. Man ist kein Ich mehr. Der ewige Vater aller Dinge, der sie alle belebt, zieht uns ohne allen Widerspruch an sich.« 18 In der versunkenen Ausleibung, die in den angeführten Zitaten ebenso als sinnliche wie als mystische Vereinung mit dem
Heinrich Seuse, Deutsche mystische Schriften, aus dem Mittelhochdeutschen übertragen von Georg Hofmann, Düsseldorf 1966, S. 20 f. (Das Leben des seligen Heinrich Seuse, 2. Kapitel) 18 Brief an den Bruder Heinrich Ranke vom 30. November 1832, in: Leopold v. Ranke, Das Briefwerk, hg. v. Walter Peter Fuchs, Hamburg 1949, S. 252 f. 17
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Begegnenden und Widerfahrenden vorkommt, gibt es keine Beziehungen mehr, die das Subjekt von seinen Objekten und diese von einander unterscheiden, so dass sich ein Anschein von Identität einstellt; der Ausgeleibte ist ganz See, Mittag und Zeit, ist alles, das Unendliche. Und doch braucht es nicht zu völliger Verschwommenheit zu kommen; sonst wäre ein historisches Studium wie bei Ranke unmöglich. Dieser lebt dann, wie er sagt, »mehr im Ganzen«. Das ist das Leben des anschauenden Verstandes, der ungespaltene Verhältnisse mit einem Schlag zu erfassen vermag, während der menschliche Verstand diskursiv ist, d. h. der Spaltung von Verhältnissen in Beziehungen bedarf. Kant hat diesen Gegensatz richtig gesehen, aber unnötig mit dem Unterschied zwischen einem schaffenden und einem auf Gegebenes angewiesenen Verstand, statt mit dem Unterschied des Denkens in Verhältnissen und in Beziehungen, in Verbindung gebracht. Bei Ranke müssen die Verhältnisse, in denen er primär lebt, spaltbar bleiben, damit er historisch denken kann; in der ganz versunkenen Ausleibung sind sie unspaltbar und nur nach der Anschauung, die Ausleibung ist, zugänglich. Das ist meines Erachtens eine haltbare und widerspruchsfreie Interpretation des Perspektivenwechsels, den Heraklit im Zuge seines Äquivalenzprinzips als Umkippen im Tode nahelegt. In der Vogelperspektive des Ganzen, verbildlicht als Fluss, ruht das Leben im Wandel sich aus; in der Froschperspektive des lebenden Menschen, verbildlicht durch die immer anderen Wasserfluten, die dem in den Fluss Hineinsteigenden entgegenströmen, ist dieses Leben die Sisyphusarbeit einer immer am Ende vergeblichen und doch niemals nachlassenden, von Generation zu Generation fortgeerbten Auseinandersetzung des Einzelnen mit Einzelnen, zu dem er in Beziehungen tritt. Und doch ist beides dasselbe Leben, wie der Fluss einmal in ganzheitlicher Auffassung als primärer Zusammenhang, das andere Mal in teilheitlicher Auffassung als sekundärer, aus lauter Einzelheiten zusammengesetzter Zusammenhang. Das Leben der einen Seite ist der Tod der anderen, weil beide sich ausschließende Ansich206 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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ten desselben Geschehens sind. Dies ist der Tod als Zustand; ihm entspricht der Tod als Ereignis, wenn eine Perspektive in die andere umkippt, wie bei einem Vexierbild. So scheint ihn Heraklit gedacht zu haben: Die Menschen versinken, wenn sie gestorben sind, in eine Ausleibung in das Ganze des Geschehens, wo ihnen nur noch unspaltbare Verhältnisse zugänglich sind, so dass sie sich nicht mehr wie Sisyphus an Beziehungen zu Begegnendem abmühen müssen. Sie werden wie Nietzsche »ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel«, wie Hegel angesichts des Nachthimmels »alles«, d. h. sie gehen mit allem mit, ohne sich als Subjekte zu Objekten in Beziehung zu setzen. Sie sind gleichsam von allem hypnotisiert. Der umgekehrte Übergang ins irdische Leben in Beziehungen wäre die Geburt, der Tod, mit dem die Sterblichen ihr Leben lang das Leben der Unsterblichen weiterleben (62), so dass Heraklit auch sagen kann: »Tod ist, was auch immer wir erwacht sehen.« (21) Das ist eine gänzlich andere Deutung des Gegensatzes von Seligkeit und Unseligkeit, Erlösung und Unerlöstheit, als die christliche; sie unterscheidet sich von dieser dadurch, dass sie ganz ohne Jenseits auskommt, nur mit demselben Geschehen, das auch wir jetzt erleben, und das Göttliche nicht als transzendenten Gott zum Thema macht, sondern als eine von der unsrigen radikal verschiedene Art, dieses Geschehen zu sehen und zu nehmen, wobei der Umschlag der einen in die andere Weise in Betracht gezogen wird. In theologischer Perspektive verstehen auch Seuse und Ranke ihre Ausleibung, aber während Seuse sie nur als Vorgeschmack des transzendenten christlichen Himmelreichs interpretiert, versetzt Ranke dieses schon in sein historisches Studium, bei dem ihn der ewige Vater aller Dinge in sich zieht, wie die Seligen im christlichen Himmel. Ranke nimmt dann schon die heraklitische Vogelperspektive ein, die ihm gestattet, im Ganzen des von ihm betrachteten historischen Geschehens wandelnd sich auszuruhen (84 a). Dies ist auch ein Entwurf einer Möglichkeit für den Zustand einer den Tod überdauernden menschlichen Person. Sie lebte dann im Austausch 207 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Die Bedeutung des Todes für die Dauer der Person
zwischen dem Leben der Unsterblichen in unspaltbaren Verhältnissen und dem Leben der Sterblichen in Beziehungen, und beide Leben wären unvereinbar, obwohl nur in zwei Weisen, dasselbe Leben zu leben.
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11. Leibliches Verstehen
Margarete in Goethes Faust beschwert sich über Mephistopheles, ohne zu wissen, dass er ein Teufel ist, mit den Worten: Der Mensch, den du da bei dir hast, Ist mir in tiefer, innrer Seele verhaßt! Es hat mir in meinem Leben So nichts einen Stich ins Herz gegeben Als des Menschen widrig Gesicht! Und weiter: Mir wird’s so wohl in deinem Arm, So frei, so hingegeben-warm, Und seine Gegenwart schnürt mir das Innre zu. Faust: Du ahnungsvoller Engel du! 1 Margarete versteht leiblich durch Engung und Weitung, durch schnürende Engung ahnungsvoll das Teuflische, durch frei ausströmende Weitung die Gegenwart des Geliebten. Aus der Verschränkung von Engung und Weitung besteht der vitale Antrieb, den ich oft und eingehend als Grundform leiblicher Dynamik in der für diese hauptsächlich bestimmenden Dimension der Enge und Weite beschrieben habe. 2 In dieser Dimension bewegt sich Margaretes Verstehen; in einer benachbarten Dimension leiblicher Dynamik versteht sie das spontan AbstoßenGoethes Faust, Verse 3471–3475, 3491–3494 Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011, S. 19–27: Die Dynamik des Leibes
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Leibliches Verstehen
de als Stich ins Herz. Sie ergänzt diese Art des Verstehens durch den Versuch, an der optischen Erscheinung zu beschreiben, was sie so abstößt: Mephistophes blicke immer so spöttisch und halb ergrimmt drein, ihm stehe an der Stirn geschrieben, dass er keine Seele liebe, an nichts Anteil nehme. 3 Diese Charakteristik motiviert freilich ein Misstrauen, aber kein so tiefes Entsetzen wie die im leiblichen Verstehen empfangene radikale Abstoßung. Was Margarete leiblich versteht, ist in meiner Ausdrucksweise eine Situation mit ihren Hintergründen. Als Situation bezeichne ich Mannigfaltiges, das zusammengehalten und nach außen mehr oder weniger deutlich abgehoben wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit, bestehend aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind. Binnendiffus ist die Bedeutsamkeit, weil nicht alle, sehr oft keine, Bedeutungen in ihr einzeln sind; einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Ich unterscheide nach der Weise der augenblicklichen Gegebenheit impressive und segmentierte Situationen, nach der Weise des zeitlichen Verlaufs aktuelle und zuständliche. Impressiv ist eine Situation, die mitsamt ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit in einem Augenblick ganz zum Vorschein kommt, z. B. eine zu sofortiger Bewältigung anstehende akute Gefahr, etwa im Straßenverkehr, mit einer Bedeutsamkeit, bestehend aus den relevanten Sachverhalten, den Programmen möglicher Rettung und den Problemen, die sich sofort oder bei Ausführung der Programme eventuell zusätzlich einstellen. Eine solche Situation muss unverzüglich in ihrer ganzen Bedeutsamkeit erfasst und bewältigt werden, wenn ein drohendes Unglück vermieden werden soll; es bleibt keine Zeit dafür, die Bedeutsamkeit in lauter einzelne Bedeutungen zu zerlegen. Wegen ihrer Binnendiffusion ist die Situation unerschöpflich für ein objektivierendes Aufzählen ihrer Bestandteile; sie gibt mehr zu verstehen, als man aussagen kann, und ich bezeichne impressive Situationen 3
Verse 3485–3490
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Leibliches Verstehen
daher auch als vielsagende Eindrücke. Manchmal treten sie aufdringlich hervor, etwa als ein interessantes Gesicht, ein fesselndes Porträt, in dessen Zügen man lesen möchte, eine eigenartige Naturstimmung, ein lyrisches Gedicht, das einen durch seine Andeutungskraft nicht loslässt, eine Wohnung, die dem Besucher, noch ehe er sich umgesehen hat, kahl oder behaglich vorkommt. Ein krasses Beispiel nennt Weininger: »In einem dichten Menschengedränge nehme ich z. B. ein Gesicht wahr, dessen Anblick mir durch die dazwischen wogenden Massen sofort wieder entzogen wird. Ich habe keine Ahnung, wie dieses Gesicht aussieht, wäre völlig unfähig, es zu beschreiben oder auch nur ein Kennzeichen desselben anzugeben; und doch hat es mich in die lebhafteste Aufregung versetzt, und ich frage in angstvollgieriger Unruhe: ›wo hab’ ich dieses Gesicht nur schon gesehen?‹« 4 Ein absoluter vielsagender Eindruck, ohne alle Sinnesqualitäten in leiblicher Kommunikation 5 empfangen, mobilisiert ähnlich wie bei Goethes Margarete das leibliche Verstehen durch engende Spannung, die mit weitender Schwellung gieriger Unruhe verschränkt ist, entzieht sich ihm aber durch einen binnendiffusen Reichtum, der dem Verstehen zu vielsagend ist und es nach Anhaltspunkten durch Wiedererkennen suchen lässt. Während solche impressiven Situationen aus dem Rahmen fallen, sind andere ganz gewöhnlich und unauffällig, z. B. der typische Charakter, der etwas als Gegenstand einer bestimmten Sorte oder als ein Individuum, z. B. einen Menschen mit seiner charakteristischen Stimme, seinem Gang und sonstigem Gehabe, erkennen lässt, geladen mit einer binnendiffusen Bedeutsamkeit aus unwillkürlich erwarteten Sachverhalten, die sich meist erst bei Überraschung einzeln abzeichnen, mit Aufforderungscharakteren der Anziehung (bis zur Verführung) oder Abstoßung, des Prestiges, der Brauchbarkeit, oft auch mit ProbleOtto Weininger, Geschlecht und Charakter, 11. Auflage Wien/Leipzig 1909, S. 121 5 Der Leib (wie Anmerkung 2), S. 29–53: Leibliche Kommunikation 4
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Leibliches Verstehen
men wie in Margaretes Mephistopheles-Bild, das ein solcher Charakter ist. Segmentiert sind Situationen, die nie in einem Augenblick ganz zum Vorschein kommen. Zuständlich sind Situationen, deren Verlauf sinnvoll erst nach Ablauf längerer Fristen auf Veränderungen geprüft werden kann. Aktuell sind Situationen, die sich von Augenblick zu Augenblick ändern können, so dass ihr Verlauf in beliebig dichten Querschnitten auf Veränderungen geprüft werden kann. Segmentierte Situationen sind meist zuständlich. Ein Beispiel ist jede natürliche Sprache, eine zuständliche und segmentierte Situation, die nur aus ihrer Bedeutsamkeit besteht, nämlich aus den Programmen, die die Sätze dieser Sprache sind. Sätze sind Regeln, nach denen gesprochen werden kann, um Sachverhalte, Programme und/oder Probleme, meist viele einzelne zusammen, darzustellen und eventuell damit weitere Zwecke zu erreichen. Ein anderes Beispiel ist die Persönlichkeit eines Menschen, die von mir ausführlich analysierte, sowohl zuständliche als auch segmentierte, persönliche Situation 6 , in der viele partielle Situationen wie zähflüssige Massen in einer zähflüssigen Masse gleiten und sich reiben, sowohl retrospektive wie die Kristallisationskerne der Erinnerung als auch prospektive wie die der Person oft schwer zugänglichen Wunsch-, Leit- und Schreck»bilder« als auch präsentische, etwa die Standpunkte, soweit sie nicht nur verhärtete einzelne Maximen sind, die Fassung, die man verliert, wenn man die Fassung verliert, die Gesinnung als Weise des Sicheinlassens auf das affektive Betroffensein, die Lebenstechnik als habitueller Umgang mit Problemen der Lebensführung, der persönliche Sprachschatz, die habituellen Interessen. Zuständliche und segmentierte Situationen sind ferner etablierte Freundschaften und Feindschaften, soziale Milieus wie ein Familienleben oder der Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band 4: Die Person, Bonn 1980, in Studienausgabe 2005, S. 287–473; Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 106–136; Bewusstsein, Freiburg/München 2010, S. 100–109
6
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Leibliches Verstehen
Lebensstil einer gesellschaftlichen Schicht oder Gruppe, der Frühling, der Herbst, charakteristische Landschaften, alle Gedächtnisse, falls man darunter erworbene Kompetenzen versteht, namentlich alle motorischen Kompetenzen. Es gibt aber auch aktuelle segmentierte Situationen, z. B. ein Problem, an dem man lange grübelt oder das Gesicht, das sich über den Charakter eines Dinges legt und dessen jeweilige Erscheinung ausmacht, indem sich das Ding etwa dreht, nähert oder entfernt, beleuchtet oder beschattet wird usw. Der Charakter ist eine impressive zuständliche Situation. Aktuelle Situationen sind vielfach mit zuständlichen Situationen beladen. Gespräche sind aktuelle Situationen. In sie wirken hinein: die persönlichen Situationen der Teilnehmer, die von diesen vertretenen individuellen und kollektiven Standpunkte (z. B. politische, religiöse, pädagogische), Lebenslagen wie die Börsenlage oder die politische Lage, Konventionen und Sitten, die Sprache, die öffentliche Meinung und zudem die partnerschaftliche zuständliche Situation, die sich bei jedem Kontakt bildet, bei weiteren Kontakten beharrt oder umbildet oder gleich anders ist und darüber entscheidet, wie die Partner im Lauf ihres Zusammenseins mit einander auskommen. Im Fall von Margarete und Mephistopheles ist sie eine Katastrophe. Alle diese hintergründigen Situationen werden im leiblichen Verstehen der aktuellen Situation je nach dem Grad der Sensibilität der leiblichen Dynamik mehr oder weniger miterfasst. So gewinnt ein Mensch schon gleich beim Kennenlernen einen vielsagenden Eindruck, der freilich täuschen kann, von der Persönlichkeit seines Partners, obwohl diese eine segmentierte Situation ist, an die demgemäß die Person, um deren Persönlichkeit es sich handelt, nie ganz, sondern immer nur von einzelnen Erfahrungen mit sich zum Ganzen aufsteigend, herankommt, während der Partner, wenn er seinen ersten Eindruck bewähren will, in umgekehrter Richtung vom Ganzen der ihm geschenkten impressiven Situation durch Prüfung, Korrektur und Ergänzung an einzelnen Erfahrungen mit dem Mitmenschen absteigt. Deswegen 213 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Leibliches Verstehen
kann er sich gleich summarische Urteile über den Anderen erlauben, was für ein Mensch das sei: ein zuverlässiger oder ein Leichtfuß, ein schlaffer oder zupackender, träger oder geweckter, nervöser oder gelassener, derber oder feinsinniger Mensch. Wer sich solche pauschalen Urteile über sich selbst erlaubt, überdreht seine Kompetenz. Aus dieser Überlegenheit des Mitmenschen beim Zugriff auf die Persönlichkeit entwickelt sich ein Konflikt zwischen Blick und Fassung, indem der Mensch die Fassung, mit der er sich identifiziert, als ein angenommenes Ganzes schützend dem als impressive Situation dem Partner zugefallenen Ganzen entgegenhält. 7 Der Durchblick des leiblichen Verstehens impressiver Situationen auf die ganze Persönlichkeit des erblickten Mitmenschen hat für die heute übliche, auf Physik und Physiologie fixierte Auffassung des Wahrnehmungsgeschehens etwas Befremdliches, weil man nicht einsieht, wie durch die momentanen Sinnesdaten, die vermeintlich als die einzigen frischen Informationen aus der Außenwelt dem Geist oder der Seele zur Verfügung stehen, ein so tiefer Durchblick durch die lebenslang gewachsene Persönlichkeit einer anderen Person gewährt werden kann. Dagegen ist aber zu sagen, dass keineswegs einzelne Sinnesdaten, sondern Situationen im angegebenen Sinn, einschließlich der persönlichen Situation, die primären Informationen sind, von denen unser ganzes Erfahren ausgeht, sowohl aktuelle Situationen als auch die zuständlichen, mit denen diese beladen sind. Um das deutlich zu machen, muss ich einen ontologischen Exkurs einschieben, den ich so kurz wie möglich halte, auf selbst wichtige Feinheiten verzichtend. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Anzahlen sind Eigenschaften von Mengen, Mengen sind Umfänge von Gattungen. Gattung ist alles, wovon etwas ein Fall sein kann. 8 Gattungen sind Sachverhalte und daHermann Schmitz, Hermeneutik leiblicher Expressivität, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53, 2005, S. 339–347, hier S. 346 f. 8 Näheres über Gattung und Fall bei Hermann Schmitz: Kritische Grund7
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Leibliches Verstehen
mit Bedeutungen im angegebenen Sinn. Einzeln kann hiernach etwas nur sein, wenn es Fall einer Gattung, einer Bedeutung, ist, und als Einzelnes kann es nur bewusst sein, wenn es als Fall einer Gattung bewusst ist, nicht bloß selbst bewusst, sondern als so und so etwas bewusst. Wenn nun jede solche Gattung gleich einzeln wäre, entstünde für dieses Bewussthaben eine unmögliche Aufgabe. Die Gattung müsste, so gut wie ihr einzelner Fall, selbst wieder als Fall einer weiteren Gattung bewusst sein, diese ebenso und so ad infinitum. Die Möglichkeit, etwas einzeln bewusst zu haben, würde durch die unerfüllbare Voraussetzung, unendlich viele Gattungen bewusst zu haben, vereitelt werden. Also müssen die Gattungen, statt von vornherein einzeln zu sein, aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen entbunden werden. Der Situationen bedarf es, damit auf ein ganzheitliches, nicht notwendig einzelnes, Reservoir von Bedeutungen zurückgegriffen werden kann und nicht ein wirres Chaos dem Zufall freies Spiel lässt. Die Gattungen sind, wenn die Vereinzelung beginnt, gleichsam erst auf dem Wege, selbst einzeln zu werden. Abgeschlossen wird dieser Weg, wenn sie einen Namen bekommen. Erst satzförmige Rede macht einzelne Sachverhalte identifizierbar. Satzförmig ist die Rede, wenn ihre Sprüche den Sätzen einer Sprache gehorchen, d. h. den Regeln, die deren binnendiffuse Bedeutsamkeit ausmachen. Eine Sprache ist eine zuständliche Situation, in die der Sprecher blind, aber treffsicher hineingreift, um zu seiner Absicht gewisse einzelne Sachverhalte, Programme und/oder Probleme identifizierbar darzustellen, passende Rezepte herauszuholen. Tiere sind in Situationen gefangen; sie lassen sich ohne Überblick von deren binnendiffuser Bedeutsamkeit leiten. Menschen bedienen sich einer Sprache, einer zuständlichen Situation mit binnendiffuser Bedeutsamkeit aus Regeln, nämlich Sätzen, um durch Explikation einzelner Bedeutungen aus Situationen diese Situationen legung der Mathematik, Freiburg/München 2013, 41–47; Gibt es die Welt?, ebd. 2014, S. 72 f.
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Leibliches Verstehen
mit Kombination der Explikate zu Konstellationen zu überschauen, in den Griff zu nehmen und planend zu überholen. Diejenigen Bedeutungen, die Gattungen sind, geben ihnen Gelegenheit, aus dem Mannigfaltigen der Situationen einzelne Gegenstände als Fälle der Gattungen herauszuholen. Aus den Konstellationen, die dabei zu Stande kommen, bilden sich neue Situationen. Der Gehalt dessen, was in die Form der Einzelheit aufgenommen wird, stammt aber immer aus den Situationen, denen er entnommen ist, und wird durch die Eigenart der Sprache, die zu der Vereinzelung verwendet wird, mitbestimmt. Nichts ist von sich aus einzeln; einzeln ist etwas nur durch explizierende Formung von Situationen mit Hilfe einer weiteren Situation, einer Sprache. Das gilt auch für einzelne Sinnesdaten und alle Vorgaben der Physik und Physiologie, die irrig davon ausgehen, dass alles ohne Weiteres einzeln sei. Das leibliche Verstehen taucht gleichsam unter den Schleier der Vereinzelung hindurch und nimmt direkte Fühlung mit den Situationen, die der Vereinzelung zu Grunde liegen. Dazu gehören auch die hintergründigen zuständlichen Situationen, die durch die zunächst aufdringlichen aktuellen Situationen hindurch wirken, z. B. die Persönlichkeiten, mit denen der leiblich Verstehende zu tun hat. Das Vehikel des leiblichen Verstehens ist die Einleibung, eine der beiden Hauptformen der von mir oft behandelten leiblichen Kommunikation.5 Sie beruht auf der Struktur des vitalen Antriebs, in dem Engung und Weitung als Spannung und Schwellung antagonistisch verschränkt sind; wenn das Band der Verschränkung zur Engung hin reißt, wie im Schreck, ist der Antrieb erstarrt und gelähmt, und wenn es umgekehrt zur Weitung hin ausläuft, wie beim Einschlafen, beim Dösen oder nach der Ejakulation, ist er erschlafft. Der Antrieb kann gespreizt werden, so dass er als gemeinsamer Antrieb mehrere Teilnehmer verbindet; das ist Einleibung. Sie kommt auch als solidarische Einleibung ohne Zuwendung der Teilnehmer zu einander vor, etwa bei Aufruhr, Panik, gemeinsamem Singen, unter der suggestiven Wirkung von Rufen, Klatschen, Trommeln; für das 216 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Leibliches Verstehen
leibliche Verstehen ist aber nur die antagonistische Einleibung wichtig, wobei der Antagonismus von Spannung und Schwellung sich zu einer Auseinandersetzung der Beteiligten spreizt und mindestens einer von ihnen sich dem oder den anderen zuwendet. Der gemeinsame Antrieb ist dann so etwas wie der Fühler einer sowohl motorischen als auch sensiblen Anpassung, z. B. im Blickwechsel, sowohl im Gespräch oder anderen Begegnungen in ruhiger Haltung als auch auf bevölkerten Gehwegen, wenn flüchtige, achtlose Blicke der Passanten genügen, um den bevorstehenden Kurs der Begegnenden so in einen gemeinsamen Antrieb einzubinden, dass Zusammenstöße ausbleiben, obwohl keiner sich ein Bild von Lage und Abstand seiner Körperteile im Verhältnis zu denen der Entgegenkommenden macht. Der Antagonismus von Spannung und Schwellung zeigt sich am Blickwechsel als unvermeidliches Ringen um Dominanz, auch wenn gar keine Beherrschungsabsicht vorliegt, wie beim liebevollen und beim demütigen Blick, die die dominantesten sind, weil sie rühren, so dass man nicht widerstehen kann. Der gemeinsame Antrieb antagonistischer Einleibung beginnt schon am eigenen Leib in Gestalt des Schmerzes, der nicht nur ein quälender Zustand ist wie die ihm nah verwandte Angst, sondern im Gegensatz zu dieser, mit der man z. B. in panischer Flucht mitgehen, ja in ihr aufgehen kann, ein zudringlicher Widersacher, von dem man gestellt wird, mit dem man sich auseinandersetzen muss. Der Schmerz ist ein Halbding. Halbdinge unterscheiden sich von Volldingen (von Dingen im Vollsinn) durch unterbrechbare Dauer und eine Kausalität, die keinen Unterschied zwischen der Ursache und ihrer Einwirkung zulässt. Halbdinge sind unter anderem der Wind, der elektrische Schlag, die reißende Schwere, wenn man ausgleitet und stürzt oder sich gerade noch fängt, die Stimme, die mächtige Stille, die Gefühle als ergreifende Atmosphären, die Zeit, wenn sie unerträglich lang wird. Die Wahrnehmung von Halbdingen ist antagonistische Einleibung. Diese greift aber darüber auf alles Wahrnehmbare aus, auch auf leiblose, nicht von sich aus leiblicher Dynamik 217 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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fähige Gegenstände. Das wird möglich durch zwei Sorten leibnaher Brückenqualitäten, d. h. solcher, die sowohl am eigenen Leib gespürt als auch an begegnenden Gestalten wahrgenommen werden können. Es handelt sich um Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere. Bewegungssuggestionen sind Vorzeichnungen einer Bewegung, die über das Maß der ausgeführten Bewegung, falls eine solche überhaupt stattfindet, hinausgehen, an ruhenden und bewegten Gestalten und an Bewegungen. Am eigenen Leibe werden sie z. B. als Sinken, Schwellen, Erhebung, Ausladen, Schweben bei Müdigkeit, Wollust, Stolz und Freude erlebt. Auch Engung und Weitung, die Komponenten des vitalen Antriebs, sind Bewegungssuggestionen, ebenso der Rhythmus, die Bewegungssuggestion einer Sukzession nur als solcher, die als Brücke zwischen Gestalt und Leib genützt wird, wenn der Dichter seine Gedichte, die »unter die Haut« gehen sollen, lieber in meist gereimten Versen als in der minder rhythmischen Prosa verfasst. Bewegungssuggestionen beherrschen die Musik und springen von ihr auf tanzende und marschierende Leiber über; sie geben allen Gebärden den Gebärdensinn und allen kurvigen und gewinkelten Raumformen eine Leibnähe, die ich mit Hilfe der Kategorien leiblicher Dynamik mehrfach nachbuchstabiert habe. 9 Synästhetische Charaktere sind intermodale – über die Gegenstandsgebiete verschiedener Sinne verbreitete – Eigenschaften, die oft, aber nicht immer, den Namen spezifischer Sinnesqualitäten tragen, aber etwa im Fall feierlicher, drückender oder zarter Stille auch ganz ohne solche wahrgenommen werden können, z. B. das Scharfe, Grelle, Sanfte, Spitze, Helle, Harte, Weiche, Warme, Kalte, Schwere, Massige, Zarte, Dichte, Glatte, Raue der Farben, Klänge, Gerüche, des Schalls und der Stille, des hüpfenden oder schleppenden Ganges, der Freude, des Eifers, der Schwermut, der Frische und Müdigkeit. Das Übereinstimmende dieser breit gestreuten Vorkommnisse ist ihre Affinität zur leiblichen Dy9
Zuletzt in: Der Leib (wie Anmerkung 2), S. 99–102
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namik. Was ist z. B. das Gemeinsame im Schmeicheln eines schmeichelnden Höflings oder Liebhabers und schmeichelnder Frühlingsluft? Das einschmeichelnd Sanfte als synästhetischer Charakter, der am eigenen Leib als milder, protopathischer 10 Rhythmus gedämpfter Spannung und Schwellung gespürt wird. Das Zusammenwirken von Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren in einem vielsagenden Eindruck, der auf die leibliche Dynamik überspringt, wird an einer Bemerkung von Otto König deutlich: »Kein noch so energischer ›Ruhe‹Ruf bringt eine laut diskutierende Menschengruppe zu solch unmittelbarem Aufmerken wie ein einziges hell zischendes ›pssst‹.« 11 Ein synästhetischer Charakter des Geräusches weckt als sinnfällige Erscheinung privativer, d. h. aus dem vitalen Antrieb schreckhaft sich lösender Engung des Leibes eine in dieser Beziehung gleiche Bewegungssuggestion alarmierten Auffahrens, die im Tierreich, für das König ebenda Beispiele nah verwandter Geräuschwirkungen gibt, nach der geringsten Verstärkung in Flucht ausartet. Das leibliche Verstehen ist gewöhnlich aus einer sensiblen Reaktion der Dynamik des eigenen Leibes – man fühlt sich, wie man sagt, »eigentümlich berührt« – und einer an Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren orientierten Beobachtung physiognomischer und pathognomischer Züge des Objektes zusammengesetzt. Sehr deutlich zeigt sich diese Struktur in der vorhin besprochenen Schilderung Margaretes von ihrem Betroffensein durch Mephistopheles. Sie setzt sich in jeder Wahrnehmung von Ausdruck fort. Von anderen Formen einer Darbietung, die etwas mitteilt oder zu verstehen gibt, nämlich von der Nachricht und dem Symptom, unterscheidet sich der Ausdruck durch seine Unübertragbarkeit. Aussichtslos wäre der Versuch, den hochmütigen, nörgelnden oder enthuZur protopathischen Tendenz leiblicher Dynamik: Der Leib (wie Anmerkung 2), S. 23–25 11 Otto König, Urmotiv Auge, München/Zürich 1975, S. 93 10
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siastischen Ausdruck einer Stimme mit Hilfe einer Ausdrucksschrift so genau wiederzugeben wie eine von dieser Stimme mitgeteilte Nachricht mit Hilfe der gewöhnlichen Schrift. Von der gehörten Nachricht geht nichts verloren, wenn man sie aufschreibt, ebenso wenig vom Fieber als Symptom, wenn man den Thermometerstand in eine Fieberkurve auf dem Papier überträgt, aber bei unversehrter Übersetzung des Ausdrucks bedarf es einer getreuen Nachbildung, zu der ein geschickter Schauspieler oder Parodist erforderlich ist. Aus dieser Unübertragbarkeit des Ausdrucks ergibt sich die Unregulierbarkeit des Ausdrucksverständnisses durch folgendes Lemma: »Nur wenn der Inhalt einer Mitteilung in jedes zu ausreichend klarer Darstellung geeignete Medium übertragen werden kann, genügt zum Verständnis der Mitteilung die Anwendung einer Übersetzungsvorschrift.« Dann kann nämlich dieser Vorschrift einfach eine weitere vorgeschaltet werden, die z. B. bei der Nachricht von der Stimme zur Schrift, beim Symptom vom Thermometer zur Fieberkurve führt. Beim Ausdruck ist ein solcher Übergang also nicht möglich. Deswegen kann es keinen Code geben, der das Ausgedrückte in den Ausdruck übersetzt. Dieses Ergebnis kann befremden, weil es doch möglich ist, den Ausdruck als Symptom zu behandeln, das mit Hilfe von Messungen und Kausalzuschreibungen auf irgend welche Stimmungen oder Einstellungen zurückgeführt wird, wenigstens beim Gesichtsausdruck, nicht so sehr beim Ausdruck einer Gewitterlandschaft oder eines Geigenklangs. Aber auch beim Gesichtsausdruck wird durch Umdeutung zum kausalen Symptom das Ausdruckshafte zerstört. Der Ausdruck ist nämlich eine impressive Situation, die eine andere Situation darstellt oder, wie ich sage, plakatiert. Insbesondere können segmentierte Situationen sich zu impressiven gleichsam zusammenziehen, so dass so etwas wie die Quintessenz zu der segmentierten Situation in einem Augenblick, auf einen Schlag, in der binnendiffusen Bedeutsamkeit eines vielsagenden Eindrucks zum Vorschein zu kommen scheint. Heidegger hielt das für die Aufgabe des Kunst220 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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werks und prägte dafür den Spruch: »Werk sein heißt: eine Welt aufstellen.« 12 Beispielhaft gab er ein Schuhgemälde van Goghs als Aufstellung der bäuerlichen Welt, einer segmentierten Situation, durch dieses Kunstwerk aus. Ein näher liegendes Beispiel ist das schon besprochene vom spontan sich aufdrängenden Eindruck der Persönlichkeit eines Mitmenschen; als Auslösung und Führung der Liebe ist der von mir in diesem Sinn besprochene Leiteindruck wichtig. 13 Er kann aber trügen; dann ergibt sich die Tragik einer irregeführten Liebe, deren sich besonders Goethe angenommen hat (Clavigo, Werther, Gretchentragödie, Wahlverwandtschaften). Explikation mit Kombinierung der Explikate zu Konstellationen und Plakatierung sind die beiden Grundformen des orientierenden Umgangs mit Situationen. Auch andere als segmentierte Situationen können plakatiert werden, z. B. die aktuelle Situation des Chefs, die der Untergebene in kritischer Lage sorgenvoll an dessen Gesichtsausdruck abzulesen sucht. Tiere sind auf Plakatierung angewiesen, da sie nicht über satzförmige Rede verfügen. Sie plakatieren durch Rufe und Schreie, die einer Situation den impressiven Akzent eines vielsagenden Eindrucks geben, z. B. Alarm-, Lock- und Klagerufe. Menschen haben andere Felder für Plakatierung. Eines davon ist die dichterische Rede, deren Kunst in einer geschickten Sparsamkeit besteht, die um die zu vermittelnde Situation einen so dünnen Schleier ausgesagter Bedeutungen webt, dass diese Situation unverkürzt hindurchscheinen und, unmittelbar unsagbar, in der dichterischen Rede zur impressiven Situation verdichtet und so zum Vorschein gebracht wird. Ein anderes Plakat ist die Wohnung. Wohnen ist Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum. 14 Dafür Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, S. 33 Hermann Schmitz, Die Liebe, Bonn 1993, S. 90–97 14 Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band III, Teil 4: Das Göttliche und der Raum, Bonn 1977, 2. Auflage 1995, in Studienausgabe 2005, S. 258–308: Wohnen als Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum; dort 557–593: Die Dichtung 12 13
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kommen namentlich die häusliche Wohnung, die Kirche und der Garten in Betracht. Aus dem Raum erlebter Anwesenheit, in dem Atmosphären des Gefühls ergossen sind, muss ein abgesteckter Bereich entnommen werden, in den die Atmosphären zur menschlichen Behandlung eingefangen werden. Die Bearbeitung erreicht durch Züchtung oder Dämpfung solcher Gefühle mit Hilfe von Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren – in der häuslichen Wohnung etwa durch Gestaltung der Wände, der Decke, des Fußbodens, durch Möblierung und Regelung des Lichteinfalls, der Temperatur und der Geräusche – ein dem Bewohner genehmes Klima des Gefühls in einem vielsagenden Eindruck, etwa der impressiven, mit entsprechend geformten Gefühlen besetzten Situation des Wohnzimmers, die die segmentierte Situation der Bewohner plakatiert, ebenso wie sie auf diesen Gemeingeist, diese Lebensart, zurückwirkt. Alle solche Plakate, impressive Situationen wie der Ausdruck, das Gedicht, die Wohnung, werden in primär leiblichem Verstehen antagonistischer Einleibung auf die von ihnen plakatierte Situation hin verstanden, auch mit kultureller und intellektueller Formung dieses Verstehens. Dessen wichtigstes Organ ist aber die Fassung. Fassung ist das, was ein Mensch verliert, wenn er die Fassung verliert. Jeder entwickelte Mensch hat seine Fassung, die sowohl leiblich als auch personal ist. In der Fassung identifiziert er sich mit etwas, das eindeutiger ist als er selbst. Sie ist keine Fiktion und keine Verwechslung, auch wenn es sich in Fällen der Unechtheit um das eine oder das andere handeln kann. Solchen Randfällen liegt zu Grunde, was ich als spielerische Identifizierung bezeichnet habe, nach dem Vorbild des Schauspielers, der als die gespielte Figur gesehen wird. Das eingängigste Beispiel ist die Bildnahme. Wir sehen, wenn wir nicht reflektieren, das Bild nicht als Bild, sondern als das Abgebildete, z. B. eine bemalte oder bedruckte Fläche als schöne Landschaft oder fesselndes Gesicht, sind aber ebenso weit entfernt, Fläche und Gesicht zu verwechseln, wie das eine in das andere 222 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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umzudeuten. Mit gleicher Selbstverständlichkeit identifiziert sich der personale Mensch, gleichsam unschuldig, mit seiner Fassung, falls er nicht in aufgesetzter Willkür damit spielt. Es bleibt ihm auch nichts anderes übrig, da die Person auf eine ambivalente Schieflage zwischen personaler Emanzipation und leiblich-affektivem Betroffensein, zwischen Distanzierung und Resubjektivierung, angewiesen ist und sich in dieser Labilität nicht anders stabilisieren kann, als indem sie sich eine Fassung gibt. 15 Diese orientiert sich oft an der Berufs- und Familienrolle, umfasst aber darüber hinaus das, was der Psychiater Jürg Zutt die »innere Haltung« nennt. 16 Er gibt als Grundhaltungen an: Aufrichtigkeit, Stolz, Liebenswürdigkeit. Bedächtigkeit. Mir fallen weitere Beispiele ein: misstrauische Vorsicht, Jovialität, sanfte Bestimmtheit, Freuds analer Charakter mit den Merkmalen: ordentlich, sparsam, eigensinnig. Die Fassung, die aus Anteilen der Rollen und innerer Haltung besteht, ist der sensibelste Fühler der Einleibung im zwischenmenschlichen Kontakt. Wenn man den Anderen am eigenen Leibe spürt, weil man sich von ihm eigentümlich berührt fühlt, dann ist es hauptsächlich die eigene Fassung, an die er gerührt hat. Wer sich so nicht rühren lässt, indem er seine Fassung starr festhält, sieht am Partner vorbei. Alles Verstehen von Situationen ist primär leibliches Verstehen in antagonistischer Einleibung, personal und kulturell überformt und kritisch geprüft. Man täte gut, die Diskussion um das Verstehen in der sogenannten Hermeneutik in diesem Bereich festzuhalten. Leider hat man das Verstehen in diesem Sinn mit dem Verstehen von Texten vermengt, ausgehend von der Methodenlehre der verstehenden Geisteswissenschaften, die Dilthey den erklärenden Naturwissenschaften gegenüberstellte. Hermann Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 197–173: Fassung als Spielraum der Person 16 Jürg Zutt, Auf dem Wege zu einer anthropologischen Psychiatrie, Berlin usw. 1963, S. 1–88: Die innere Haltung 15
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Leibliches Verstehen
Sicherlich muss der Geisteswissenschaftler auch Situationen verstehen. Die Hauptaufgabe des Historikers besteht darin, sich aus den einzeln überlieferten Daten ein Bild der Situationen zu machen und in den aktuellen Situationen, auf die er dabei zunächst stößt, den Anteil der hintergründig mitbestimmenden zuständlichen Situationen, z. B. der persönlichen Situationen (Persönlichkeiten) der Beteiligten und der diese einschließenden gemeinsamen Situationen, ausfindig zu machen. Dazu bedarf auch er des leiblichen Verstehens ihn anmutender vielsagender Eindrücke, worauf er erste Vermutungen gründen kann, die sich in kritischer Erwägung zu Hypothesen verdichten können, mit denen er an sein Material herangeht, um zu prüfen, inwieweit sie sich bewähren. Weil Situationen stets eine binnendiffuse Bedeutsamkeit besitzen, ist es nie möglich, ihren Inhalt so genau zu bestimmen wie den einer Menge aus lauter einzelnen Elementen; man kann sich erkennend nur in revidierbaren Versuchen an sie herantasten, und das ist die Basis der irreführenden Reden von einem hermeneutischen Zirkel. Zugleich geht der Geisteswissenschaftler überwiegend mit schriftlich überlieferten Texten um, und das war der Grund, die besondere Schwierigkeit des analysierenden Erkennens von Situationen auf beliebige Texte zu übertragen. Für gewisse Textsorten ist solche Vorsicht gerechtfertigt, etwa für poetische Texte, deren dichterische Leistung gerade darin besteht, Situationen unverkürzt durchscheinen zu lassen. Man hat aber, dank der Verwechslung des Verstehens von Situationen mit dem Verstehen von Texten, diese Vorsicht zu einer radikalen Skepsis des Textverstehens übertrieben, bis zu der Leugnung, den vom Autor eines Textes gemeinten Sinn korrekt zu verstehen oder überhaupt etwas besser statt nur anders verstehen zu können. Diese Skepsis, ausgehend von Gadamer und den französischen Poststrukturalisten, hat lange Zeit in der hermeneutischen Debatte eine große Rolle gespielt, um inzwischen wieder etwas zurückzutreten. 17 Sicherlich darf 17
Till Kinzel, Wahrheit ohne Methode? Hermeneutischer Relativismus als
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Leibliches Verstehen
sie nicht auf alle Textsorten angewendet werden. Wo kämen wir hin, wenn niemand sich mehr zutraute, technische Gebrauchsanweisungen für Maschinen, mathematische und chemische Aufsätze, medizinische Diagnosen und Therapievorschriften genau so zu verstehen, wie sie der Autor gemeint hat? Auch müsste man die Skepsis von schriftlichen Texten auf mündliche Reden übertragen, da beide Äußerungsarten sich nur im Medium der Darbietung unterscheiden. Damit wäre die Grundlage des Vertrauens unter Menschen zerstört. Texte sind sprachliche Darstellungen vieler einzelner, aus Situationen geschöpfter und zu Konstellationen verknüpfter Bedeutungen. Zwar haftet ihnen noch etwas von der Binnendiffusion der Situationen an, schon deshalb, weil sie gemäß den Sätzen einer Sprache formuliert sind und diese selbst eine Situation mit binnendiffuser Bedeutsamkeit ist. Aber die gemäß diesen Sätzen geformten Sprüche sind einzeln und stellen einzelne Sachverhalte, Programme oder auch Probleme dar. Das Einzelne kann man zum Thema einer genauen Untersuchung machen.
Herausforderung, in: Philotheos. International Journal for Philosophy and Theology 12, Belgrad 2012, S. 3–16
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12. Erfahrung als leibliches Verstehen
Aristoteles äußert sich über die Entstehung der Erfahrung so: »Aus der Erinnerung geht bei den Menschen die Erfahrung hervor; erst viele Erinnerungen nämlich ein und derselben Sache ergeben die Fähigkeit einer Erfahrung.« 1 Friedrich Kambartel kommentiert diese Stelle in seinem Artikel »Erfahrung« im Historischen Wörterbuch der Philosophie so: »Die Rede von den vielen Erinnerungen, die eine Erfahrung erst ermöglichen, gibt dann die (also bereits Aristotelische) Einsicht wieder, dass zur Beurteilung von Elementarbehauptungen (singulären Urteilen) letzten Endes auf die Vertrautheit mit einschlägigen Beispielen und (ohne dass Aristoteles das bereits erwähnt) mit Gegenbeispielen zurückgegriffen werden muss.« 2 Er versteht diese Erfahrung also als Beispielsammlung zur Beurteilung einfacher Subsumtionen und geht damit an dem Kontrast vorbei, den Aristoteles hervorhebt, indem er den vielen Erinnerungen eine einzige daraus resultierende Erfahrung gegenüberstellt; das lässt doch eher an eine einzige motorische Kompetenz wie die des Gehens nach vielen Gehversuchen denken, die der Könner nicht als Beispiele aus seiner Lerngeschichte gegenwärtig haben muss, um geläufig gehen zu können. Das Missverständnis Kambartels beleuchtet das seit der Scholastik und im neuzeitlichen Denken herrschende Vorurteil des Singularismus, dass alles ohne Weiteres einzeln ist, wobei einzeln heißt, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Dieses Vorurteil bestimmt auch den Gang des Verständnisses für Erfahrung in der neuzeitlichen Philosophie und besonders der Wissenschaftstheorie seit Bacon, das Kam1 2
Metaphysik 980b28–30 Band 2, Basel 1972, Spalte 610
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Erfahrung als leibliches Verstehen
bartel in seinem Artikel treffend nachzeichnet. Vom aristotelischen unterscheidet es sich nur dadurch, dass die einzelnen Schritte des Gewinns von Erfahrung methodisch verknüpft werden, so dass in die Beispielsammlung eine kontrollierbare Ordnung kommt. Der Singularismus ist ein Irrtum von großer Tragweite. Seine Unhaltbarkeit will ich jetzt möglichst knapp verdeutlichen, um ein besseres Verständnis von Erfahrung anzubahnen. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Anzahlen sind Eigenschaften von Mengen; die Anzahl einer Menge M ist die Eignung irgend einer Menge dazu, umkehrbar eindeutig auf M abgebildet zu werden. 3 Man kann auch leicht zeigen, dass die Bedingung, eine Anzahl um 1 zu vermehren, gleichwertig ist mit der Bedingung, Element irgend einer endlichen Menge zu sein. 4 Mengen sind Mengen der …, d. h. Umfänge von Gattungen. Gattung ist alles, wovon etwas ein Fall sein kann. Einzeln kann demnach nur sein, was Fall einer Gattung ist, und um es als Einzelnes zu erfassen, muss man es als solchen Fall verstehen. Gattungen sind Sachverhalte, nach denen gefragt werden kann; sie können tatsächlich oder untatsächlich sein, je nach dem, ob die Antwort richtig oder falsch, aber widerspruchsfrei ist. Für irgend eine Sache S betrachte ich den tatsächlichen oder untatsächlichen Sachverhalt, dass S existiert. Wenn daraus für Gegenstände der Art g folgt, dass mindestens ein g existiert, ist dieser Sachverhalt eine Gattung von S und S ein Fall von g. Um ein Beispiel zu geben: Wenn Sokrates existiert, existiert mindestens ein Ehemann der Xanthippe, denn jemand wäre nicht Sokrates, wenn er nicht Ehemann der Xanthippe ist; daher ist Ehemann der Xanthippe (genauer: der Sachverhalt, dass mindestens ein Ehemann der Xanthippe existiert) eine Gattung von Sokrates und dieser ein Fall von ihr, ein solcher Ehemann, Hermann Schmitz, Kritische Grundlegung der Mathematik, Freiburg/ München 2013, S. 27 4 Ebd. S. 30 3
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Erfahrung als leibliches Verstehen
eventuell einer unter mehreren. Um etwas als einzelnen Gegenstand zu verstehen, muss also auch etwas, wovon es ein Fall ist, mitverstanden werden, eine Gattung, ein Sachverhalt, wobei man sich auch irren darf; nur darauf kommt es an, dass der Sachverhalt für eine Gattung der Sache gehalten wird. Damit entsteht aber eine Schwierigkeit. Wenn die betreffende Gattung selbst wieder einzeln sein müsste, wäre sie auf eine weitere Gattung angewiesen, deren Fall sie ist, und so weiter ad infinitum. Die Möglichkeit, etwas als einzeln bewusst zu haben, würde an die unerfüllbare Voraussetzung gebunden, einen unendlich hohen Turm von Gattungen, von denen immer eine Gattung der anderen ist, bewusst zu haben. Aus dieser Verlegenheit kann uns nur die Möglichkeit retten, für das Fallsein Gattungen zu finden, die nicht von vornherein einzeln sind. Wir finden sie, indem wir uns auf Situationen besinnen, in denen wir von vornherein leben. Situationen sind Grundlagen, aus denen wir unser ganzes Bewussthaben, auch das von Einzelwesen und namentlich von Individuen, die nicht wieder Fälle haben, schöpfen. Als Situationen bezeichne ich Mannigfaltiges, das durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind, zusammengehalten und nach außen mehr oder weniger deutlich abgehoben wird. Binnendiffus ist die Bedeutsamkeit, weil nicht alle, sehr oft keine, Bedeutungen in ihr einzeln sind. Ich unterscheide nach der Weise der augenblicklichen Gegebenheit impressive und segmentierte Situationen, nach der Weise des zeitlichen Verlaufs aktuelle und zuständliche. Impressiv ist eine Situation, die mitsamt ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit auf einmal, in einem Augenblick, zum Vorschein kommt, segmentiert eine Situation, deren Bedeutsamkeit nur in Ausschnitten zugänglich ist. Aktuell ist eine Situation, die sich ständig ändern kann, zuständlich eine Situation, bei der es nur nach längeren Fristen sinnvoll ist, nachzusehen, ob und wie sie sich verändert hat. Eine zugleich impressive und aktuelle Situation ist eine zu sofortiger Bewältigung 228 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
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anstehende Gefahr, etwa im Straßenverkehr. Ihre Bedeutsamkeit besteht aus den relevanten Sachverhalten, den Programmen möglicher Rettung und den Problemen, die sich sofort oder bei Ausführung eines Programms, eventuell nachträglich, einstellen. Eine solche Situation muss unverzüglich in ihrer ganzen Bedeutsamkeit erfasst und mit einem Schlage bewältigt werden, wenn ein drohendes Unglück vermieden werden soll. Es bleibt keine Zeit dafür, die Bedeutsamkeit in lauter einzelne Bedeutungen zu zerlegen. In ihrer Binnendiffusion ist sie unerschöpflich für das Aufzählen; sie gibt mehr zu verstehen, als man sagen kann, und ich bezeichne solche impressiven Situationen daher auch als vielsagende Eindrücke. Manchmal treten sie aufdringlich hervor, etwa als ein interessantes Gesicht, ein fesselndes Porträt, eine eigenartige Naturstimmung, ein lyrisches Gedicht, das durch seine Andeutungskraft nicht loslässt, oder eine Wohnung, die dem Besucher, noch ehe er sich umgesehen hat, kahl oder behaglich vorkommt. Andere impressive Situationen sind ganz gewöhnlich und unauffällig, z. B. der typische Charakter, der etwas als Gegenstand einer bestimmten Sorte oder als Individuum, z. B. als dieser Bekannte mit seinem bezeichnenden Gang, seiner charakteristischen Stimme, erkennen lässt. Der Charakter ist geladen mit einer binnendiffusen Bedeutsamkeit aus unwillkürlich erwarteten Sachverhalten, die sich meist erst bei Überraschung einzeln abzeichnen, mit Programmen der Anziehung (bis zur Verführung) oder Abstoßung, des Prestiges, der Brauchbarkeit, oft auch mit Problemen wie Gefahren oder Rätseln. Der Charakter ist eine impressive, zuständliche Situation. Er bekleidet sich mit einem Gesicht, das wechselt, wenn sich das Ding nähert oder entfernt, dreht oder beglänzt oder beschattet wird usw. Das Gesicht ist eine aktuelle segmentierte Situation. Alle motorischen Kompetenzen, wie zum Gehen, Sprechen, Kauen, Tanzen, Schwimmen, Klavierspielen, überhaupt alle Gedächtnisse, sind zuständliche Situationen, alle ihre Ausübungen aktuelle Situationen. Aktuelle Situationen sind mit zuständlichen beladen, Gespräche z. B. mit den persönlichen Situationen 229 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Erfahrung als leibliches Verstehen
(vulgo Persönlichkeiten) der teilnehmenden Personen, mit persönlichen und kollektiven Standpunkten (z. B. politischen, religiösen, pädagogischen), mit öffentlichen (z. B. politischen, wirtschaftlichen) Lagen aller Art, mit Konventionen, Sitten und der Sprache, in denen sie geführt werden, und mit der partnerschaftlichen Situation, die darüber entscheidet, wie die Teilnehmer mit einander auskommen, und sich zu weiteren Begegnungen fortwälzt. Situationen können einzeln sein, sind es meist aber nicht. Wir gehen ständig durch Situationen hindurch, die nie registriert werden. Tiere sind und bleiben in Situationen gefangen, die sie durch Rufe und Schreie beantworten, heraufbeschwören und modifizieren. Der Mensch hat durch seine satzförmige Rede die Chance, in die Bedeutsamkeit der Situationen spaltend einzudringen und einzelne Bedeutungen herauszuholen, die er zu Konstellationen vernetzt, um die Situation rekonstruierend in den Griff zu nehmen und planend zu überholen. Unter diesen Bedeutungen sind auch Sachverhalte, die Gattungen sind und ihm Gelegenheit geben, beliebige Inhalte der Situationen als Fälle solcher Gattungen zu einzelnen Gegenständen zu machen, die durch ihr Fallsein nach Übereinstimmungen und Unterschieden neu geordnet werden. Satzförmig ist die Rede, weil sie Sätzen gehorcht, nämlich den Regeln einer Sprache, in der sich der Sprecher so auskennt wie das Tier in seinen Situationen. Die gesprochene Sprache ist eine zuständliche Situation, die ganz nur in ihrer Bedeutsamkeit aus Programmen besteht, nämlich aus Sätzen, die Regeln für die Portionen der Rede, die Sprüche, sind. Der Sprecher greift blind, aber treffsicher in seine Sprache hinein und holt für die Formung seiner Sprüche die zu seiner Absicht passenden Sätze heraus, unter deren Führung er redend einzelne Sachverhalte, Programme oder Probleme, meist viele einzelne zusammen, darstellt und meist noch weitere Absichten verfolgt. Für die Vereinzelung der Bedeutungen bedarf er der Rede und damit der Sprache, weil sich Sachverhalte, Programme und Probleme als diese einzelnen nur redend identifizieren las230 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Erfahrung als leibliches Verstehen
sen. Er bedarf ihrer aber nicht von vornherein in entfaltetem Sprecherkönnen. Kleine Kinder sagen schon »Da! Da!« und zeigen dabei auf etwas, das sie schon als Einzelnes verstehen, ohne noch einen Namen dafür zu haben. Sie meinen es als etwas vor ihnen, an einem Ort, Befindliches. Diese Gattungen sind schon dabei, aus der Situation entbunden zu werden, aber noch gleichsam eingewickelt in das mit ihrer Hilfe, als ihr Fall, angedeutete Einzelne. Erst wenn die entwickelte Sprache verfügbar ist, wird die Gattung aus der Einwickelung frei. Auf diese Weise lässt sich das vorhin angesprochene Dilemma des unendlich hohen Turmes von Gattungen, die für jedes Finden von etwas als Einzelnes vorverstanden sein müssten, beheben. Die Gattungen können ihr Werk für die Vereinzelung schon vollbringen, wenn sie bei der Explikation aus Situationen erst auf dem Wege sind, selbst einzeln zu werden; nur zum identifizierenden Bestimmen und Unterscheiden müssen sie einzeln, in sprachlicher Formung, vorliegen. Hiernach ist jeder Zugang von Menschen zu als einzeln erfasstem Einzelnen auf das Schöpfen aus Situationen angewiesen, denen Bedeutungen, namentlich Sachverhalte, entnommen werden, als deren Fall etwas einzeln sein kann. Nichts kann von vornherein einzeln sein, auch nicht die Gattungen, in deren Licht, als Fall, anderes einzeln ist. Wenn die Gattungen von vornherein einzeln wären, wie platonische Ideen, wäre das menschliche Bewussthaben durch einen unendlich hohen Turm bewusst zu habender Gattungen überfordert. Hieraus ergibt sich, dass eine Erfahrung, wie Kambartel sie sich vorschreibt und der aristotelischen Konzeption zuschreibt, überhaupt unmöglich ist. Der Kardinalfehler des neuzeitlichen Empirismus als einer Form des Singularismus besteht in der Annahme, mit der Erfahrung von irgend welchen einzelnen Gegenständen, z. B. Dingen oder Sinnesdaten, ausgehen und ihnen nachträglich Bedeutungen als etwas aufprägen zu können. Statt dessen ist die Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen primär und gibt den Situationen das Mannigfaltiges zusammen231 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Erfahrung als leibliches Verstehen
haltende Gepräge. Jedes Erfahren ist daher von vornherein ein Verstehen von etwas als Fall von etwas, wobei das, als was etwas verstanden wird, aus Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit geschöpft werden muss. Das ursprüngliche Erfahren ist also ein Verstehen von Situationen in ihrer Bedeutsamkeit. Darauf verstehen sich schon die Tiere, wenn sie z. B. Alarm-, Lockoder Klagerufe ausstoßen. Der Zugang zu diesem ursprünglichen Verstehen ist leibliche Kommunikation. Ich hole kurz das Wichtigste darüber aus meiner jüngsten ausführlichen Darstellung 5 nach. Hier ist nicht vom sichtbaren und tastbaren Körper die Rede, sondern vom ohne Beistand der fünf Sinne spürbaren Leib, der eine von den entsprechenden Strukturen des Körpers abweichende Ausdehnungsweise und Dynamik besitzt. Die wichtigste Dimension dieser Dynamik ist die von Enge und Weite, besetzt mit Tendenzen der Engung und Weitung, die gegenläufig verschränkt sind. Die Gewichtsverteilung beider Tendenzen sowie ihre Bindungsform (kompakt oder rhythmisch) schwankt. Aus dem vitalen Antrieb kann Engung als privative Engung, z. B. im Schreck, sowie Weitung als privative Weitung, z. B. in Erleichterung und in wohltätiger Müdigkeit, abgespalten werden. Der Antrieb kann den eigenen Leib überschreiten und als gemeinsamer Antrieb mit Begegnendem verbinden; ich spreche dann von Einleibung. Sie kommt als solidarische Einleibung ohne Zuwendung der Beteiligten zu einander und als antagonistische Einleibung mit Zuwendung von wenigstens einer Seite vor. Solidarische Einleibung ereignet sich z. B. in Aufruhr, Massenpanik, bei gemeinsamem Singen und Lachen, unter dem Einfluss von rhythmischem Rufen, Klatschen und Trommeln. Antagonistische Einleibung ist teils einseitig, teils wechselseitig. Einseitige Einleibung findet statt, wenn jemand von etwas gefesselt oder gar gebannt und fasziniert ist. Für wechselseitige Einleibung ist ein Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011, S. 15–27: Die Dynamik des Leibes, S. 29–53: Leibliche Kommunikation
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Erfahrung als leibliches Verstehen
Fluktuieren der Dominanz im gemeinsamen Antrieb charakteristisch, wobei immer die engende Partei die dominante ist. Beispiele sind der Blickwechsel, z. B. im Gespräch, und das geschickte Ausweichen, z. B. der Passanten vor einander auf bevölkerten Gehwegen als auch des Bedrohten vor einer in drohender Näherung gesehenen wuchtigen Masse. Außer als Einleibung gibt es leibliche Kommunikation auch als Ausleibung im Kanal der privativen Weitung als Kommunikation mit prädimensionaler Tiefe, etwa beim Blick, der sich in der Tiefe des Raumes verliert, oder beim Aufgehen in Glanz, Duft, Wärme. Sie führt entweder zu formloser Versunkenheit oder zur Begegnung mit reinen, von den Umständen gelösten Arten. Leibliche Kommunikation gibt es nicht nur unter Leibern, sondern auch mit Leiblosem, das durch leibnahe Brückenqualitäten, die sowohl am eigenen Leib gespürt als auch an Gestalten wahrgenommen werden können, zum Eintritt in die Kommunikation befähigt wird. Bewegungssuggestionen sind Vorzeichnungen einer Bewegung, die über das Ausmaß der ausgeführten Bewegung, falls eine solche stattfindet, hinausgeht, an ruhenden und bewegten Gestalten oder an Bewegungen. Engung und Weitung, die Komponenten des vitalen Antriebs, sind selbst Bewegungssuggestionen, ebenso der Rhythmus, die Bewegungssuggestion einer Sukzession nur als solcher, die als Brücke zwischen Gestalt und Leib vom Dichter genutzt wird, der seine Gedichte, die »unter die Haut« gehen sollen, lieber in gereimten Versen als in der minder rhythmischen Prosa verfasst. Ich übergehe weitere Beispiele. Synästhetische Charaktere sind intermodale – über die spezifischen Gegenstandsgebiete verschiedener Sinne verbreitete – Eigenschaften, die oft, aber nicht immer, die Namen spezifischer Sinnesqualitäten tragen, aber wie im Fall weiter, drückender oder zarter Stille auch ganz ohne solche vorkommen können, z. B. das Scharfe, Grelle, Spitze, Helle, Harte, Weiche, Warme, Kalte, Schwere, Massige, Zarte, Dichte, Glatte, Raue der Farben, Klänge, Gerüche, des Schalls und der Stille, des hüpfenden und schleppenden Ganges, der Freude, des Eifers, der 233 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Erfahrung als leibliches Verstehen
Schwermut, der Frische und Müdigkeit. Dieses weitgespannte Vorkommen ergibt sich aus der vermittelnden Stellung des Leibes. Das Zusammenwirken von Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren in einem vielsagenden Eindruck, der auf die leibliche Dynamik überspringt, wird an einer Bemerkung von Otto König deutlich: »Kein noch so energischer ›Ruhe‹-Ruf bringt eine laut diskutierende Menschengruppe zu solch unmittelbarem Aufmerken wie ein einziges hell zischendes ›pssst‹.« 6 Ein synästhetischer Charakter des Geräusches weckt als sinnfällige Erscheinung privativer, aus dem vitalen Antrieb schreckhaft sich lösender Engung des Leibes eine ihm in dieser Beziehung gleiche Bewegungssuggestion alarmierten Auffahrens, die im Tierreich, für das König an derselben Stelle Beispiele nah verwandter Geräuschwirkungen gibt, nach der geringsten Verstärkung in Flucht ausartet. Das leibliche Verstehen vielsagender Eindrücke setzt sich gewöhnlich aus einer sensiblen Reaktion der Dynamik des eigenen Leibes – man fühlt sich, wie man sagt, »eigentümlich berührt« – und einer von Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren geleiteten, dadurch physiognomisch-pathognomisch aufschlussreichen Wahrnehmung des Partners zusammen. Ein schlagendes Beispiel dafür ist in Goethes Faust die Reaktion Margaretes auf Mephistopheles, über den sie sich bei Faust beschwert: Der Mensch, den du da bei dir hast, Ist mir in tiefer, innrer Seele verhaßt! Es hat mir in meinem Leben So nichts einen Stich ins Herz gegeben Als des Menschen widrig Gesicht! Und weiter:
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Otto König, Urmotiv Auge, München/Zürich 1975, S. 93
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Erfahrung als leibliches Verstehen
Mir wird’s so wohl in deinem Arm, So frei, so hingegeben warm, Und seine Gegenwart schnürt mir das Innre zu. Faust: Du ahnungsvoller Engel du! 7 Margarete versteht leiblich durch Engung und Weitung, durch schnürende Engung ahnungsvoll das Teuflische, durch frei ausströmende Weitung die Gegenwart des Geliebten. Sie ergänzt dieses Verstehen durch den Versuch, an der optischen Erscheinung zu beschreiben, was sie so abstößt: Mephistopheles blicke immer so spöttisch und halb ergrimmt drein, ihm stehe an der Stirn geschrieben, dass er keine Seele liebe, an nichts Anteil nehme. 8 Solche Misstrauen motivierenden Züge bedürfen wohl der Verstärkung durch das eigenleibliche Spüren, um sich zum Abscheu zu steigern. An früherer Stelle des Dramas spürt Margarete am eigenen Leibe das Teuflische der Atmosphäre ihres Zimmers, die »so schwül, so dumpfig« ist, nachdem, ohne dass sie es ahnt, Mephistopheles da gewesen ist. 9 Margarete versteht leiblich am Ausdruck des Gesichts oder der bloßen Atmosphäre ihres Zimmers das Teuflische, wo sie es gar nicht sucht und nicht darauf gefasst ist. Ausdruck erschließt sich nur im leiblichen Verstehen vielsagender Eindrücke. Aussichtslos ist der Versuch, ihn als ein Zeichen zu verstehen, das durch eine Regel, einen Code, dem Bezeichneten zugeordnet werden könnte. Das ergibt sich aus seiner Unübertragbarkeit, die ihn von anderen Formen der Mitteilung, der Nachricht und dem kausalen Symptom, unterscheidet. Aussichtslos wäre der Versuch, den hochmütigen, nörgelnden oder enthusiastischen Ausdruck einer Stimme mit Hilfe einer Ausdrucksschrift so genau wiederzugeben wie eine von dieser Stimme mitgeteilte
7 8 9
Goethe, Faust, Verse 3471–3475, 3491–3494 Verse 3485–3490 Verse 2753–2758
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Erfahrung als leibliches Verstehen
Nachricht mit Hilfe der gewöhnlichen Schrift. Von der gehörten Nachricht geht nichts verloren, wenn man sie aufschreibt, ebenso wenig vom Fieber als Symptom, wenn man den Thermometerstand in eine Fieberkurve überträgt, aber zu unversehrter Übersetzung des Ausdrucks bedarf es getreuer Nachbildung durch einen geschickten Schauspieler oder Parodisten. Aus dieser Unübertragbarkeit des Ausdrucks ergibt sich die Unregulierbarkeit des Ausdrucksverständnisses, weil, wenn dieses an eine Regel gebunden wäre, dieser Regel leicht eine weitere für die Übertragung vorgeschaltet werden könnte, wie beim Übergang von der Rede zur Schrift, vom Thermometerstand zur Fieberkurve. Freilich ist es möglich, den Ausdruck als Symptom zu behandeln, das nach wissenschaftlich ermittelbaren Regelmäßigkeiten auf irgend welche Stimmungen oder Einstellungen zurückgeführt wird, wenigstens den Gesichtsausdruck, weniger schon den Ausdruck einer Gewitterlandschaft oder eines Geigenklangs. Aber das Ausdruckshafte wird dadurch zerstört. Ausdruck ist nämlich eine impressive Situation mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, die auch ohne Explikation einzelner Bedeutungen verstanden wird und eine andere Situation, die ausgedrückte, darstellt oder, wie ich sage, plakatiert. Der Zugang zum Verständnis des Plakats ist nicht die regulierbare Deutung eines Zeichens, sondern sensible antagonistische Einleibung, der der Ausdruck durchsichtig wird. Der Ausdruck wird sensiblem leiblichen Verstehen zugänglich. Nicht minder ist solches Verstehen beteiligt, wenn weniger die Sensibilität als der Verstand gefordert wird. Der Mathematiker, der an einem Problem grübelt, hat es mit einer Situation zu tun, in deren binnendiffuser Bedeutsamkeit viele Sachverhalte, Programme für mögliche Lösungswege und Probleme bei deren Beschreiten enthalten sind, während das Ganze der noch undurchschauten Bedeutsamkeit binnendiffus bleibt. An diese Situation ist er in einseitiger Einleibung, also leiblicher Kommunikation, fixiert. Dazu genügt schon die Aufmerksamkeit.
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Erfahrung als leibliches Verstehen
Aufmerksamkeit ist Zuwendung des vitalen Antriebs an ein Thema in Wartestellung. 10 An den Zugang des leiblichen Verstehens zu Situationen knüpft beim Menschen das Denken an, das aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit einzelne Bedeutungen expliziert und zu Konstellationen vernetzt. Damit beginnt die kombinatorische Erfahrung, die in der Geschichte des europäischen Denkens zum ausschließlichen Thema geworden ist. Dieses Thema ist zwar legitim, und sein Studium war ergiebig; dieses bleibt aber oberflächlich, wenn es nicht bei der ursprünglichen Erfahrung anknüpft, dem leiblichen Verstehen von Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit.
10
Hermann Schmitz, Bewusstsein, Freiburg/München 2010, S. 108
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Personenregister
Abaelard, Petrus 21 Ainesidemos 201 Antiphon 172 Aristoteles 11, 19 f., 32, 60, 105– 107, 141, 153, 164, 173, 226 Augustinus 191 Avenarius, Richard 45 Blume, Anna 11, 119 Boethius, Anicius Manlius Severinus 21 Bonaventura 151 Bonifaz VIII. (Papst) 103 Brentano, Franz 186 Breton, André 151 Bühler, Karl 105 Burley, Walter (Burlaeus) 19, 26 Busch, Wilhelm 151 Conrad-Martius, Hedwig 203 David (bibl. König) 53 Demokrit 11, 60, 121, 171–173 Descartes, René 34, 38, 73 f., 119, 173, 191 Dilthey, Wilhelm 223 Diogenes 153 Duns Scotus, Johannes 20 Empedokles 60 Euler, Leonhard 116 Fichte, Johann Gottlieb 36, 44 f., 53, 58, 103, 122, 173 Frege, Gottlob 18
Freud, Siegmund 134, 139 Gabriel, Markus 18 Gadamer, Hans-Georg 224 Gebühr, Otto 68 Gelfert, Hans-Dieter 151 f. Goethe, Johann Wolfgang von 100, 113–115, 117 f., 120, 146, 151, 199, 201, 209, 211, 221, 234 f. Gogh, Vincent van 221 Gracián, Baltasar 154 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 204 f., 207 Heiberg, Luise 135 Heidegger, Martin 10, 45, 170 f., 188, 220 Heraklit 10, 120 f., 172, 199–201, 206 f. Hobbes, Thomas 73 Hochfeld, Sophus 153 Hölderlin, Friedrich 204 Homer 120, 172, 190, 194 Hume, David 35, 77, 103, 123, 174 Husserl, Edmund 8, 11, 28, 35 f., 38, 44 f., 54, 68, 122 f., 173 f., 186 Jean Paul 155 Kambartel, Friedrich 226, 231 Kant, Immanuel 8, 31, 36, 38, 42– 44, 74, 91, 122 f., 127, 137, 139, 173, 191, 197, 206 Kierkegaard, Søren 45, 104 Kinzel, Till 224
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Personenregister
König, Otto 219, 234 Kraepelin, Emil 96 Kretschmer, Ernst 102 Lange, Konrad 149 Leibniz, Gottfried Wilhelm 20, 35, 38, 55, 75 Lichtenberg, Georg Christoph 35, 45 Lincoln, Abraham 55 Lipps, Theodor 67 f., 139 Locke, John 170 Lorenz, Konrad 67 Lotze, Hermann 195 Mach, Ernst 35, 45, 77, 123, 174 Maine de Biran, François-PierreGonthier 11 Merleau-Ponty, Maurice 11 Metzinger, Thomas 54 Moldzio, Andrea 95 Mollweide, Hans 97 Nagel, Thomas 58 Nathan (Prophet) 53 Napoleon 41, 53, 101, 126 Nietzsche, Friedrich 11, 26, 99, 115, 203 f., 207 Ockham, Wilhelm von 21 Philipp der Schöne 103 Platon 11, 13, 34, 38, 60, 105, 121– 123, 137, 153, 165, 172–174, 190 Plessner, Helmuth 139 f. Plotin 21, 200 Plutarch 174 Prodikos 153 Prütting, Lenz 142, 155 Quine, Willard Van Orman 31
Ranke, Leopold von 205–207 Reichardt, Hanns 135 Reinhold, Heinz 141 Ritter, Joachim 138, 140, 148 Rommel, Otto 138 Sartre, Jean-Paul 26 f., 45, 161, 186 Scheler, Max 44, 92, 123 Schlegel, Friedrich 45, 104 Schmitz, Hermann 21, 31, 37–39, 41, 44, 55 f., 72, 76, 84 f., 90, 93– 95, 99–101, 105, 117, 124–126, 130 f., 140, 148, 155, 175 f., 186, 196, 201 f., 221, 223, 232, 237 Schneider, Kurt 92 Schopenhauer, Arthur 8, 11 Schupp, Volker 151 Scotus Eriugena, Johannes 21 Seuse, Heinrich 205, 207 Sextus Empiricus 201 f. Sokrates 227 Sophokles 121, 172 Spinoza, Baruch de 122, 137, 173 Sterne, Laurence 151 f. Suarez, Francisco 20 Tellenbach, Hubert 97 Thomas von Aquino 107, 173 Troxler, Ignaz 11 Weininger, Otto 211 Weyl, Hermann 55, 75, 157 Wieland, Christoph Martin 113– 115 Wittgenstein, Ludwig 45 Xanthippe 227 Znoj, Hansjörg 194 f. Zutt, Jürg 50, 133 f., 223
240 https://doi.org/10.5771/9783495808047 .
Sachregister
Abendland 102 Ablauf 25, 202 Absicht 90, 146, 164, 166, 185 Affektkontrolle 168 Akrasie 50, 88, 146, 164, 166 Aktivität 89 Allmacht 102 f. Analogieschlusstheorie 67 Anankasmus 101 Angst 45, 65, 80, 104, 124, 128, 141, 147, 176, 187, 197, 217 Angstlust 141, 147 Anima 99 Antinomie, logische 28 Antrieb, vitaler 8, 33, 41–43, 63– 65, 68 f., 79–82, 88, 90–95, 98, 109 f., 126–128, 140, 143, 159 f., 164–166, 168, 178–180, 185, 192 f., 203, 209, 216, 218 f., 232– 234, 237 Anzahl 16, 26, 46, 84, 128, 179, 210, 214, 226 f. Apraxie 24, 61, 110, 160, 179 Art, reine 233 Atmosphären 74, 92, 121, 173, 217, 222, 235 Attribut 15, 18, 54 Aufforderungscharakter 211 Aufklärung 103 Aufmerksamkeit 236 f. Augenblick, absoluter 109 Ausatmen 79, 82, 193 Ausdehnung 193 f., 232 Ausdruck 65–67, 187, 219 f., 222, 235 f.
Ausleibung 26, 168, 179, 203, 205– 207, 233 Ausruf 180 Aussagenlogik 29 Außenwelt 34–36, 60, 73 f., 121, 173, 186, 190, 214 Ausweichung 233 Autobahntrance 203 Balancieren 69 bathmothym 88 Bathmothymiker 92 Bedeutsamkeit, binnendiffuse 23, 31, 47, 50, 66 f., 69–71, 83, 86 f., 96, 104, 110, 129, 144, 180 f., 183, 185 f., 210 f., 215, 219, 224 f., 228 f., 232, 236 f. Bedeutung 23, 31, 47–49, 51 f., 67, 69–72, 83–87, 91, 96, 99 f., 110– 112, 129, 173, 180 f., 183, 186– 188, 210, 215 f., 225, 228–231, 236 f. Bedeutung, neutrale 100 f., 111, 145 Bedeutung, subjektive 100 f., 145, 183 Begleitbewusstsein, unthematisches 26 Betroffensein, affektives 8 f., 38– 40, 49, 51, 56–59, 62, 68 f., 71, 75 f., 78, 85 f., 100–103, 109, 121 f., 124 f., 128, 142, 157 f., 166, 168, 176 f., 212 Betroffensein, engendes affektives 43
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Betroffensein, leiblich-affektives 14, 44 f., 91, 111, 132, 180, 223 Bewegungssuggestion 42, 64, 109, 143, 160, 178, 195, 218 f., 222, 233 f. Bewussthaben 26, 91, 186–188, 215, 228 Bewussthaber 7 f., 26, 34, 37, 42, 45 f., 54, 59 f., 67 f., 70, 73 f., 76– 78, 85 f., 91, 110, 121, 123, 127, 142, 170 f., 174, 176, 187, 192, 203 Bewusstsein 44, 52, 91, 123, 165, 174, 186 Beziehung 15, 22, 24 f., 27 f., 36, 54, 60, 62, 64, 143, 202 f., 206–208 Bindungsform 88, 169, 232 Bitterkeit 147 Blick 81 f., 93, 116, 121, 136, 195 f., 203, 214, 217 Blickwechsel 217, 232 Bulimie 94 Charakter 212 f. Charakter, synästhetischer 42, 64, 90, 109, 143, 160, 178, 218 f., 222, 233 f. Charakter, typischer 211, 229 Christentum 73, 102 f., 122, 173, 198 Dauer 7, 40, 42 f., 47, 62, 64, 78, 80, 83 f., 109, 125, 127, 177, 189 f., 196 f. Dauer, unstetige 187 Dauer, unterbrechbare 10, 197 f., 217 Denken 237 Depression 77, 92 Dichtung, maccheronische 154 Ding 64, 109, 196, 217, 231 Disposition, leibliche 88 f., 115, 169
Dösen 41, 79, 178, 216 Du-Evidenz 67 f. Du-Gewissheit 81 Duft 81 Dynamik, leibliche 8 f., 33, 42, 47, 68 f., 79, 83, 109, 127, 140, 168, 199, 209, 218, 234 Dynamiker 88 Eifer 139 Eigene, das 48, 51, 70 f., 85 f., 88, 97, 101 f., 110–112, 131, 135, 163, 184 Eigenwelt, persönliche 51, 71, 86, 90, 99–101, 111, 145, 162, 166, 184 Eignung 179 Einatmen 79, 88 f. Einbildungskraft 103 Eindruck, erster 66, 116, 135, 213 Eindruck, vielsagender 67, 74, 116, 135, 166, 211, 213, 219–222, 224, 229, 234 f. Einfühlung 67 f. Einheit 15, 18 f. Einheit, analytische 19 Einheit, einfache 19 Einheit, numerische 19 Einheit, synthetische 19 Einleibung 9–11, 26, 33, 63 f., 72, 81, 109 f., 126, 134, 137, 143, 160, 178, 180, 192, 203, 216, 223, 232 f. Einleibung, antagonistische 42, 63– 65, 67–69, 81, 126, 128, 160, 178, 180, 187, 217, 222 f., 232, 236 Einleibung, einseitige 64, 81, 94, 178, 232, 236 Einleibung, solidarische 42, 63 f. , 81, 126, 160, 178, 216, 232 Einleibung, wechselseitige 64, 68 f., 81, 178, 232
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Einschlafen 41, 79, 178, 216 Einzelheit 7, 14–16, 18 f., 21, 26 f., 29 f., 32 f., 46–48, 61 f., 69, 110, 128–130, 161 f., 179, 181–183, 186, 188, 216 Ejakulation 41, 79, 178, 216 Ekel 94 Ekstase 25 f., 83, 124, 128 Element 16 Emanzipation, personale 9 f., 49 f., 52, 71, 86 f., 96 f., 111–113, 115 f., 131 f., 134, 145–149, 152, 155, 163, 165, 184 f., 223 Empirismus, neuzeitlicher 231 Enge 62, 81 f., 84, 93, 125, 159, 192 f., 195, 199, 203, 209, 232 Enge des Leibes 143 Engung 32 f., 41, 63 f., 69, 79 f., 109, 126, 143, 159, 192 f., 199, 209, 216, 218 f., 232–235 Engung, privative 63, 80, 89, 178, 219, 232 Entfaltung der primitiven Gegenwart 162 Entfremdung 85 f., 88, 135, 183 Entsubjektivierung 103 Enttäuschung 49, 86, 183 epikritisch 80, 88, 93 f. Epikureer 173 Ereignis, absolutes 160 Erfahrung 11, 226 f., 231, 237 Erleichterung 41, 63, 178, 199, 232 Erschrecken 32 Erstickungsanfall 32 Erwachsen 49, 131 Essstörung 93 Explikation 47, 50, 71, 112, 184, 187 f., 215, 221, 231, 236 Explikationsstörung 96 Exposition 43 extravertiert 100
Fall 9, 17 f., 41, 45 f., 54, 61, 69 f., 74, 84 f., 108, 110 f., 125, 127 f., 144, 157, 159, 180, 182, 188, 192, 214 f., 227 f., 231 Familienleben 212 Fassung 10, 49–51, 77, 88, 112– 118, 133–137, 140, 145, 165, 179, 184, 212, 214, 222 f. Fassungslosigkeit 47, 83 Feindschaften 212 Fettsucht 93 Fläche 193 Fluss der Zeit 25, 48, 70, 84, 202 Form 135 Frau 99 Fremde, das 48, 51, 70 f., 85, 88, 97, 101 f., 110–112, 131, 135, 163, 184 Fremdwelt, persönliche 51, 71, 86, 99–101, 111, 135, 163 Fressbrechsucht 94 Freundschaften 212 Frühling 213 Funktionslust 105 Gattung 9, 17–19, 31, 41, 45–48, 51, 54, 61 f., 69 f., 74, 84 f., 108, 110 f., 125, 127–130, 142, 144, 156 f., 159–161, 175, 177, 179 f., 182, 186, 188, 192, 214–216, 227 f., 230 f. Gebärde 82, 218 Gebärdensicherheit 167 Gedächtnis 213, 229 Gedicht 222, 233 Gefahr 229 Gefühl 74, 81, 92, 121, 166–168, 173, 197, 217, 222 Gegenstandsbezug 187 f. Gegenwart 40, 62, 78, 109, 125 Gegenwart, Entfaltung der 33, 48 f., 70, 85
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Gegenwart, entfaltete 144 Gegenwart, primitive 7 f., 30–33, 40–43, 46–49, 62 f., 71, 78–80, 83–85, 91, 109–111, 125–129, 143–145, 159, 165, 177–179, 182 f., 192 Gehirn 54, 60, 171, 196 Genuss 148 Geschichte 72 Gesicht 213, 229 Gesinnung 51, 88, 184, 212 Gespräch 213, 217, 229, 232 Gesundheit 10, 105 f., 112–117 Gesundheit, große 115–117 Gesundheit, personale 113 Gewissen 120, 171 Glanz 81 Götter 120, 171 Gott 102 f., 122, 207 Grauzone 87, 99–101, 111, 115, 134, 145, 163 Griechen 153, 173 Größe, extensive 30 Größe, intensive 30, 61, 69 Grundtoffel 101 Halbding 10, 64 f., 80, 109, 187, 196–198, 217 Haltung, innere 50, 112, 223 Heautoskopie 194 Herbst 213 Hermeneutik 223 Historiker 224 Humor 10, 139, 141 f., 146, 150– 155, 164 Humor, schwarzer 150 Husserl’sche Puppe 28 f. Hyperthymiker 97 Hysterie 95, 97 Ich, absolutes 44, 103 Ich, reines 36, 45, 123, 174
Idealisten 42 Identifizierung 38, 40–42, 44, 54 f., 59, 62 f., 75, 78 f., 123–125, 127, 142, 156, 158 f., 176 f., 182, 191 f. Identifizierung, spielerische 112, 133, 137, 222 Identität 7, 11, 24, 28, 31, 40–43, 53 f., 126, 132 f., 199, 201, 204 f. Identität, absolute 7, 14–16, 18 f., 24, 29 f., 33, 40 f., 46–49, 60–62, 69 f., 79, 84, 109 f., 125, 128 f., 144, 159 f., 162, 177–179, 182, 191 f. Identität, relative 7, 14–16, 18, 24, 30 f., 41, 46–48, 60–62, 70, 79, 84, 109–111, 125, 128, 144, 159 f., 162, 177, 182, 192 Ilias 120 f., 171 Implikation 50, 71, 87, 112, 184, 188 Individuum 46, 102, 124, 228 f. Innenwelt 7, 34, 52, 60, 73 f., 89 f., 120–123, 165, 171–174, 184, 186, 190 Intellektualkultur, europäische 60, 89, 173 Intentionalität 10, 44, 64, 186 f. Interessen, habituelle 212 Interjektion 180 Intersubjektivität 69, 72 Intersubjektivität, personale 72 Introjektion 152 introvertiert 100 Ironie, romantische 104 Kalokagathie 117 Kapitalismus 103 Kausalität 64, 80, 217 Kausalität, unmittelbare 187, 197 f. Kind 183, 231 Klassifikationssprache 21 Körper 10 f., 34 f., 42, 52, 69, 74,
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81–83, 121, 127, 139 f., 180 f., 191, 193–195, 232 Körperbewegung, flüssige 61, 69, 179 Körperschema, motorisches 195 Körperschema, perzeptives 181 Komik 10, 141 f., 146, 148–150, 152, 155 Kommunikation, leibliche 9 f., 26, 33, 42, 47, 63, 69, 74, 80–83, 90, 110, 126, 173, 203, 211, 216, 232 f., 236 Kompetenz, motorische 213, 226 Komplementarität 201 Komplex 17 Konstellation 31, 47 f., 72, 84, 144, 186 f., 216, 221, 225, 230, 237 Konstellationismus 103 Kontinuum 127 Krankheit 115, 118 Kümmerform 131 Kyrenaiker 174 Labilität 120, 137, 145 f., 171, 223 Lachanlass 138, 141 Lachen 10, 49, 132 f., 138–142, 146–150, 155, 185 Lachen, komo-geloiotisches 138, 140 f., 148–150 Lachen, metakritisches 141 Lachen, schadenfrohes 150 Lachen, verlegenes 148 Lachen des Gekitzelten 148 Lagezeit, modale 48, 70, 84, 110 Landschaft 213 Leben aus primitiver Gegenwart 47, 49, 52, 110–112, 129 f., 132, 136, 143, 145, 160, 162, 164, 179– 181, 183–185, 187, 192 Lebensentscheidung 90, 118, 166 Lebensgefühl 92
Lebensstil 213 Lebenstechnik 98, 212 Leib 7 f., 10 f., 14, 33, 42, 52, 63, 65, 69, 74, 80–83, 98, 109, 121, 127, 143, 167, 173, 180 f., 191–195, 203, 217–219, 232–234 Leibesinseln 92, 193 f. Leiteindruck 116, 221 Liebe 72, 167, 221 Luft 65, 187, 197 Lust 105 Macht 102 f., 122 Manie 93 Mann 99 Mannigfaltiges, chaotisches 24 f., 27, 29 Mannigfaltiges, konfuses 40 Mannigfaltiges, nichtnumerisches 22 f., 29 Mannigfaltiges, numerisches 17 f., 20 f., 24, 29 Mannigfaltiges, selbstloses 30 Mannigfaltiges, zwiespältiges 18, 28 f., 201 Materialismus 60 Mathematik 236 Medizin 77 Menge 16 f., 46, 84, 128, 179, 214, 224, 227 Mengenlehre 28 Mensch 28, 31, 34, 36 f., 45, 47, 70, 74, 81 f., 84, 86, 91, 103 f., 106– 108, 111, 113, 121, 130, 159, 181 f., 191, 215, 222 f., 230 f., 237 Menschspaltung 11 Mondlicht 65 Motorik 47, 81, 121 Müdigkeit 63, 232, 234 Mundgebrauch 22–24 Musik 218
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Nachricht 65, 219 f., 235 f. Nahegehen 38, 177 Naturwissenschaft 60, 81, 103, 165 Neid 167 Nervosität 92 Neue, das 40, 42 f., 62, 70, 78, 83– 85, 109, 125, 127, 177 f., 191 Neuplatonismus 21, 122 Neurose 77, 98 f. Neutralisierung 9, 44, 48 f., 58, 70 f., 86–88, 111 f., 130, 124, 137, 144 f., 162, 165, 183 f. Neutralität 48, 87, 99 f., 115, 158, 162 Nichtsein 32, 70, 84, 110, 190 Nichtseiende, das 48, 84, 162 Niveau der personalen Emanzipation 50, 88, 97 f., 112, 132, 145 f., 149–152, 155, 163, 166 f. Niveau der personalen Regression 50, 88, 146, 163, 165 Nominalismus 21 f., 103 Norm 101 Objekt 34–36, 52 f., 64, 206 f. Objektivität 52 Odyssee 120, 172 Ordnung 25, 27, 30 Ort, absoluter 82, 84, 94, 109, 177 Ort, relativer 82, 84, 94 Ortsraum 48, 70, 84, 110 Persönlichkeit 50, 52, 66, 87, 116, 135 f., 184 f., 212–214, 216, 221, 224, 230 Persönlichkeitsspaltung 97 Person 9 f., 31, 33, 45–47, 49–52, 54, 59, 69 f., 72, 76, 78, 81, 83, 85, 87–91, 98, 100–102, 108, 110– 112, 115–117, 120 f., 127 f., 135, 137, 140–143, 145 f., 156, 160–
162, 165, 167–169, 170, 174 f., 179 f., 182–185, 188–190, 192, 194–199, 212–214, 223, 230 Personalität 11 Pflanze 106 Phantomglieder 194 Phasenmensch 28, 201 Philosophie 13 f., 119 Phlegmatiker 88 Physik 29, 73, 173, 214, 216 Physiologie 214, 216 Plakat 116, 136, 222 Plakat-Situation 135 Plakatierung 221 Pokergesicht 152 Positivismus 45 Preisgabe 147, 167 Problem 9, 23 f., 47–49, 66, 71, 83, 86 f., 91, 100, 110, 173, 180–183, 186, 197, 210–213, 215, 225, 228– 231, 236 Problem, neutrales 71 Problem, objektives 131 Problem, subjektives 49, 77, 130 f. Programm 9, 23 f., 47–49, 66, 71, 83, 86 f., 90 f., 100 f., 110, 173, 180–183, 186, 210, 212, 215, 225, 228–231, 236 Programm, neutrales 49 Programm, objektives 71, 131 Programm, subjektives 49, 77 Projektionstheorie 68 protopathisch 80, 88, 93 f., 219 Psychiatrie 73, 77 f., 85 Psychoanalyse 99 Psychotherapie 73 Raum 33, 190 f. Raum, flächenloser 82 Realisierung 101, 185 Rede, dichterische 221 Rede, explikative 31, 129 f., 181
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Rede, satzförmige 47, 69, 83, 86, 144, 161, 182, 186, 215, 221, 230 Regel 212, 215, 230, 235 f. Regression, personale 9 f., 49–52, 71, 86 f., 90, 96 f., 111 f., 114, 116, 132, 134, 145–150, 153, 155, 163, 165 f., 184 f. Regung, ganzheitliche leibliche 92 Regung, unwillkürliche 73 f., 89, 102, 121 f., 127, 137, 165, 172 f., 190 Regungsherd 120, 171 f. Reich, weströmisches 102 Reizempfänglichkeit 79 f., 89, 92 f. Resubjektivierung 71, 86, 132, 165, 223 Rhythmus 218 f., 233 Richtung, leibliche 79, 81, 93 f., 121 Risiko 141, 149 f. Römer 153 Rolle 223 Routine 90, 128 Ruf 47, 83, 110, 129, 161, 180 f., 221, 230 Sachlichkeit 70 f. Sachverhalt 9, 23, 31, 47, 49, 54, 66, 83–85, 87, 91, 100, 110, 173, 180– 183, 186, 210–212, 214 f., 225, 227–231, 236 Sachverhalt, untatsächlicher 51, 85, 183 Sägen, gemeinsames 25, 28 Säugling 9, 31, 45, 47, 69, 83, 110, 128 f., 143, 160 f., 179, 181, 192 Satz 61, 212, 215, 225, 230 Satz der durchgängigen Bestimmung 22 Satzbau, deutscher 27 Satzbau, französischer 27 Schall 82 Schizophrenie 77, 95, 97
schizothym 89 Schlucken 82 Schmerz 32, 64, 80, 94 f., 187, 197, 217 Schmerzgeste 94 Scholastik 226 Schreck 41, 78 f., 89, 109, 125, 178, 216 Schrei 47, 83, 110, 129, 161, 180 f., 221, 230 Schweben 45, 103 Schwellung 33, 63, 79 f., 82, 88 f., 92 f., 95, 109, 140, 143, 168, 193, 199, 211, 216 f., 219 Schwere, reißende 64, 80, 167, 187, 197, 217 Schwimmer 29, 82, 193 Schwung 147 f., 185 Seele 11, 34–36, 42, 52, 73 f., 77 f., 81, 91, 120 f., 123 f., 127, 165 f., 172–174, 176, 181, 185, 190 f., 194, 214 Sein 14, 40, 48, 70, 84, 109 f., 125 Selbstbewusstsein 44, 53 f. Selbstermächtigung, personale 89, 102, 120, 122, 172 f. Selbstgespräch 172, 175 Selbstironie 150 f. Selbstkontrolle 173 Selbstsein 11, 14 f., 31–33, 62 Selbstverkennung, wahnhafte 96 Selbstvertrauen 147 f. Selbstwerdung 31 Selbstzuschreibung 8 f., 45–47, 49, 54–56, 59, 70, 74 f., 78, 82 f., 85 f., 91, 101, 108, 110 f., 124, 126–128, 131 f., 142, 144, 156 f., 159, 162, 165, 175 f., 180, 182–185, 191 f., 194, 199 Selektionsschärfe 92 Seligkeit, ewige 198 f.
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Sachregister
Sensibilität 137 Sensitivismus 101 Sichbewussthaben 54, 62, 176, 178, 192 Sichbewussthaben, identifizierendes 8, 40, 45, 108, 142 Sichbewussthaben, nicht identifizierendes 8, 40, 56, 75, 108, 111, 124 f., 142, 191 Singularismus 20, 22, 103, 186, 226 f., 231 Situation 11, 23, 28, 31, 47 f., 66, 69 f., 72, 74, 76, 83, 85–87, 96, 104, 110, 129 f., 144, 160 f., 166, 173, 180–182, 184, 186–188, 210–216, 220–222, 224 f., 228– 232, 236 f. Situation, aktuelle 47, 69, 83, 130, 210, 212–214, 216, 221, 224, 228 f. Situation, gemeinsame 102 f., 129, 224 Situation, impressive 66 f., 116 f., 166, 210 f., 213 f., 220–222, 228 f., 236 Situation, partnerschaftlich zuständliche 213, 230 Situation, persönliche 50 f., 71 f., 87, 89–91, 98–100, 102, 111–113, 115–118, 135 f., 145, 163, 166, 184 f., 212–214, 224, 229 Situation, präsentische 88, 99, 212 Situation, prospektive 88, 98 f., 117 f., 184, 212 Situation, retrospektive 88, 99 f., 212 Situation, segmentierte 116, 210, 212 f., 220–222, 228 f. Situation, zuständliche 47, 69, 83, 130, 210, 212–216, 224, 228–230 Skeptiker 173 Sorge 49, 71, 131
Spannung 33, 63, 65, 79 f., 82, 88 f., 92 f., 95, 109, 140, 143, 168, 193, 199, 211, 216 f., 219 Spiritualismus 60 Sprache 22, 25, 28, 61, 129, 179, 182, 212, 215 f., 225, 230 f. Sprachgebrauch 22–24 Spruch 61, 225, 230 Stabilisierung 121 f., 127, 137 Standpunkt 213, 230 Stellungnahme, persönliche 91 Stellungnahme, personale 167 Stille 82, 217 f., 233 Stimme 64, 80, 187, 196–198, 217 Stoff 32 Stoiker 137, 173 Subjekt 34–36, 42, 44, 46, 52–54, 64, 70, 85, 91, 110 f., 127 f., 144, 162, 206 f. Subjektivität 7–9, 11, 34–36, 38– 42, 44 f., 48–52, 58–60, 62, 69–71, 77 f., 85–87, 91, 94, 96, 99 f., 103, 109–111, 115, 124 f., 134 f., 137, 145 f., 159, 162, 165, 177, 183, 192, 199 Subjektivität, positionale 36, 44, 52 Subjektivität, strikte 44 Subsumtion 182 Sucht 101 Suggestion 64 Symptom 65–67, 219 f., 235 f. Tatsache 9, 38–40, 48, 52, 56 f., 71, 86, 103 Tatsache, neutrale 8, 44, 56–58, 75, 103, 177 Tatsache, objektive 8, 39, 44 f., 56– 60, 75–78, 103, 123, 125, 157 f., 177 Tatsache, subjektive 8, 14, 38–40, 44, 56–60, 75–78, 109, 124 f., 142, 158, 165, 176 f.
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Tatsächlichkeit 8, 38 f., 57–59, 76, 78, 109, 124 f., 133, 158, 176 Technik 103 f. Text 223–225 Thymos 171 Tiefe des Raumes 203 Tier 9, 28, 31, 45, 47, 68 f., 72, 82 f., 86, 106 f., 110, 128–130, 143, 160 f., 179, 181 f., 192, 196, 215, 221, 230, 232 Tod 10, 189–191, 196, 198, 202, 206 f. Tourette-Syndrom 92 Traum 49, 86, 183 Transzendenz 103 trennen 191 Typus melancholicus 97 f. ultrovertiert 100 f., 135 Umfang 17, 84, 128, 182, 227 understatement 152 Urfremdheit 85 Vereinung, mystische 205 Vereinzelung 9 Verfehlung, autistische 102 f. Verfehlung, dynamistische 102– 104 Verfehlung, konstellationistische 103 f. Verfremdung 71 Vergegenständlichung, psychologisch-reduktionistisch-introjektionistische 60 Verhältnis 25, 27 f., 54, 62, 203, 206 Verhältnis, spaltbares 25 Verhältnis, ungespaltenes 206 Verhältnis, unspaltbares 25–30, 32, 62, 79, 143, 203 f., 207 f. Verlegenheit 141 Verlust der Elastizität 96 f.
Vernunft 73 f., 121 f., 165, 172 f., 190 Versagen der Objektivierung 96 Verschiedenheit 17, 24 f., 27, 30, 32, 40, 42, 47, 61, 110, 126, 129, 179 Verschiedenheitsfähigkeit 15, 25, 30 Verstehen 210, 217, 223, 232 Verstehen, leibliches 10, 210 f., 213 f., 216, 219, 222–224, 234– 237 Versunkenheit 83, 124, 128, 176, 203, 205, 233 Verwechslung 61, 110, 160, 179 Verzweiflung 147 Vitalität 80, 89, 92, 97 Vollding 64 f., 80, 187, 196 f., 217 Vollsinn 108 Vorbeisein 78, 84 Wärme 81 Wahrnehmung 81 Weinen 10, 49, 132 f., 185 Weite 42, 82, 93, 127, 195, 209, 232 Weitung 41, 63 f., 69, 79–81, 89, 109, 126, 143, 159 f., 168, 178, 192 f., 209, 216, 218, 232 f., 235 Weitung, privative 63, 80 f., 89, 168, 179, 199, 203, 232 f. Wellenreiter 137 Welt 30 f., 33, 48 f., 51 f., 60, 70, 84 f., 91, 110, 121, 136, 144, 161 Welt, persönliche 51 f., 86, 98–100 Weltbemächtigung 122 Weltbild, naturwissenschaftliches 170 f., 173 Weltspaltung 8, 10 f., 34, 42, 52, 60, 73, 81, 89, 102, 121, 123, 127, 173 f., 181, 184, 186, 190 f. Wendigkeit 45, 104 Widerspruch 28 f.
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Sachregister
Widerstand 167 Willensschwäche 164 Wind 64 f., 80, 82, 187, 197, 217 Wirklichkeit 40, 62, 125 Witz 139, 141 f., 155 Wohnung 221 f. Wollen 90, 104, 166, 185 Wollust 80, 148 Wunsch 49, 71, 101, 130 Zahl 16 Zappelphilippsyndrom 93
Zeit 7, 14, 33, 62, 197, 202, 217 Zeitalter, ironistisches 45, 104 Zirkel, hermeneutischer 224 Zittern 139 Zorn 80, 167 f., 176 Zuwendbarkeit 80, 89, 93 Zuwendung 98 Zwangskrankheit 101 Zwangsneurose 101 Zwiespalt 29, 112, 115, 118 f., 136 f., 146 zyklothym 88
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