Sein und Sollen: Grundfragen der Philosophie des Rechtes und des Staates. Hrsg. von Heribert Franz Köck / Cristina Hermida del Llano / Antonio Incampo / Andrzej Szmyt [1 ed.] 9783428543755, 9783428143757

Das Buch enthält Abhandlungen zu Grundfragen des Rechts und des Staates in philosophischer Sicht. Herbert Schambecks lan

109 6 2MB

German Pages 504 Year 2014

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Sein und Sollen: Grundfragen der Philosophie des Rechtes und des Staates. Hrsg. von Heribert Franz Köck / Cristina Hermida del Llano / Antonio Incampo / Andrzej Szmyt [1 ed.]
 9783428543755, 9783428143757

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

HERBERT SCHAMBECK

Sein und Sollen Grundfragen der Philosophie des Rechtes und des Staates

Herausgegeben von Heribert Franz Köck, Cristina Hermida del Llano, Antonio Incampo, Andrzej Szmyt

Duncker & Humblot  ·  Berlin

HERBERT SCHAMBECK Sein und Sollen

HERBERT SCHAMBECK

Sein und Sollen Grundfragen der Philosophie des Rechtes und des Staates

Herausgegeben von Heribert Franz Köck, Cristina Hermida del Llano, Antonio Incampo, Andrzej Szmyt

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: AZ Druck und Datentechnik, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-14375-7 (Print) ISBN 978-3-428-54375-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-84375-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Dieses Buch enthält Abhandlungen von Herbert Schambeck, die in Zeitschriften, Sammelbänden und Festschriften erschienen sind. Schwerpunkt dieser Veröffentlichung ist die Rechtsphilosophie mit ihrem staatsrechtlichen und rechtspolitischen Gehalt. Die Zusammenstellung der Schriften erfolgte im vorliegenden Buch primär nach inhaltlichen, nicht nach zeitlichen Gesichtspunkten. Herbert Schambeck hat sich schon in seiner Studienzeit philosophischen Fragen gestellt und dazu publiziert.1 Von der Ontologie kam er durch das Studium der Rechtswissenschaften zuerst zur Rechtsontologie und schließlich zur Rechts- und Staatsphilosophie. Von dort aus öffneten sich Herbert Schambeck Schritt für Schritt die Tore zur Staatslehre, zum Verfassungs- und Verwaltungsrecht sowie zu den Politischen Wissenschaften, die zu seinem Lehrstuhl und dem von ihm gegründeten Institut an der Johannes Kepler Universität Linz gehörten. Mit seiner Grundhaltung weiß sich Herbert Schambeck in der naturrechtlichen Tradition des Juristen Alfred Verdross (1890–1980), dem Begründer der Wiener Schule des Völkerrechts und der Rechtsphilosophie, die sich nach den Zweiten Weltkrieg durchsetzte, und des Theologen Johannes Messner (1891–1984), dessen „Naturrecht“ auf Schambecks Initiative hin nochmals (in 7. Aufl.) 1984 in diesem Verlag in Berlin erschien. Durch seinen Lehrer Adolf Merkl (1890–1970), dessen letzter Assistent Schambeck gewesen ist und der ein Hörer sowie späterer Kollege Hans Kelsens (1881–1973) war, ist Herbert Schambeck auch mit der Wiener Rechtstheoretischen Schule2 im Allgemeinen und der Reinen Rechtslehre Kelsens im Besonderen vertraut. In dieser achtet er zwar deren wegweisende Rechtsformenlehre, teilt aber nicht deren Trennung von Sein und Sollen. Für Herbert 1  Vgl. Herbert Schambeck, Das Sein im Lichte christlicher Existenzphilosophie, Neue Wege, Jänner 1954, S. 30 ff.; ders., Die Tragik des Cartesianischen Gedankens, Neue Wege, März 1955, S. 8 ff.; ders., Gabriel Marcel und Jean Paul Sartre, Neue Wege, September 1955, S. 5 ff.; ders., Blaise Pascal – Ein Denker an der Wende einer Gedankenrichtung, Neue Wege, Jänner 1956, S. 7 ff.; und ders., Martin Hei­ degger, Neue Wege, Oktober 1956, S. 5 ff. 2  Siehe Die Wiener Rechstheoretische Schule. Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl und Alfred Verdross, hrsg. von Hans R. Klecatsky, Rene Marcic und Herbert Schambeck, 2 Bde., Wien / Frankfurt / Zürich / Salzburg / München 1968, Neudruck Wien / Stuttgart 2010.

VI Vorwort

Schambeck, der während seiner Gastvorlesungen in den USA 1967 Hans Kelsen noch persönlich in Berkeley kennenlernte und danach mit ihm in Verbindung stand, sind der Staat und überstaatliche Organisationseinheiten wie die Europäische Union notwendig auch Wertegemeinschaften, wobei er für deren Grundlegung und Ausführung auf die Katholische Soziallehre3 Bezug nimmt. In dieser seiner Grundhaltung geht es Herbert Schambeck um die Verbundenheit von Institutionalität, Legalität und Humanität, eine Grundhaltung, von der aus er sich aktuellen Aufgaben und Problemen des Rechtsdenkens und Rechtslebens stellt. Neben diesem seinem rechts- und staatswissenschaftlichen Bemühen sei auf das Wirken Herbert Schambecks im öffentlichen Leben, vor allem 1969 bis 1997 als Vertreter seines Heimatlandes Niederösterreich im Bundesrat,4 der Länderkammer des österreichischen Parlaments, davon die letzten zweiundzwanzig Jahre in Präsidentenfunktionen und als Fraktionsvorsitzender der Österreichischen Volkspartei, verwiesen, was sich literarisch neben der Rechts- und Staatsphilosophie5 auch im Staatsrecht6 und den Politischen Wissenschaften7 dokumentiert. Als Titel des Buches wurde „Sein und Sollen“ gewählt. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass diese Bereiche für Schambeck nicht nebeneinander stehen, sondern aufeinander bezogen sind, weil das Sollen seine Legitimation erst durch seine „Seinsgerechtigkeit“, nämlich der Beachtung des Wesens des Menschen, der Gesellschaft und der Realfaktoren der Gesetzgebung erfährt. Gerade auch in dieser Hinsicht wissen sich Herausgeber und Mitherausgeber mit Herbert Schambeck einig, dem sie diesen Sammelband zu seinem 80. Geburtstag widmen. * Der Abdruck der Beiträge folgt dem Satz des jeweiligen Erstdruckes. Auf eine Vereinheitlichung wurde auch im Interesse der Originalität verzichtet. 3  Dazu Herbert Schambeck, Kirche – Staat – Gesellschaft, Probleme von heute und morgen, Konfrontationen Bd.  1, Wien / Freiburg / Basel 1967; ders., Kirche, Staat, Demokratie – ein Grundthema der Katholischen Soziallehre, Berlin 1992 und ders., Kirche, Politik und Recht. Ausgewählte Abhandlungen und Vorträge, Berlin 2013. 4  Bundesstaat und Bundesrat in Österreich, hrsg. von Herbert Schambeck, Wien 1997, 2. Aufl. Wien 2003. 5  Herbert Schambeck, Ethik und Staat. Schriften zum öffentlichen Recht, Bd. 500, Berlin 1986. 6  Herbert Schambeck, Der Staat und seine Ordnung. Ausgewählte Beiträge zur Staatslehre und zum Staatsrecht, hrsg. von Johannes Hengstschläger, Wien 2002. 7  Herbert Schambeck, Zu Politik und Recht. Ansprachen, Reden, Vorlesungen und Vorträge, hrsg. von den Präsidenten des Nationalrates und des Bundesrates, Wien 1990 und ders., Politik in Theorie und Praxis, hrsg. von Helmut Widder, Wien 2004.

VorwortVII

Unser Dank gilt dem Verlagshaus Duncker & Humblot, mit dessen Inhabern bzw. Gesellschaftern – nacheinander Senator h. c. Prof. Dr. Johannes Broermann, Prof. Dr. h. c. Norbert Simon und Dr. Florian Simon – Herbert Schambeck seit Jahrzehnten in fruchtbarer Zusammenarbeit steht, für die Übernahme des Buches in sein Verlagsprogramm. Für die mit der Herstellung verbundenen Mühen danken wir Frau Heike Frank. Heribert Franz Köck Cristina Hermida del Llano  *  Antonio Incampo  *  Andrzej Szmyt

Inhaltsübersicht I.   1. Der Begriff der „Natur der Sache“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3   2. Ordnung und Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29   3. Geltung und Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59   4. Widerstand und positives Recht. Gedanken zu Art. 20 Abs. IV des Bonner Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 II.   5. Antikes griechisches Rechtsdenken und moderner Staat . . . . . . . . . . . . . . . . 97   6. Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . 113   7. Ethik und Staat. Zur Geschichte der politischen Tugenden und Situa­tion des Staates heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137   8. Was kann der Jurist aus der Geschichte lernen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 III.   9. Idee und Lehren des Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 10. Anselm Desings Kritik an der Vernunftrechtslehre der Neuzeit . . . . . . . . . . 197 11. Die Schule von Salamanca und ihre Bedeutung heute . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 12. Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 13. Naturrecht und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 14. Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 15. Naturrecht in Zeitverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 16. Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechtes sowie des positiven Rechts . 309 IV. 17. Der Anspruch der Gerechtigkeit und die Geltung des positiven Rechts . . . 329 18. Menschenbild und Staatsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 19. Die ontologische Begründung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 20. Menschenbild und Menschenrechte im österreichischen Verfassungsrecht . . 377 21. Die Menschenwürde im öffentlichen Recht und in der politischen Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

X Inhaltsübersicht V. 22. Mahatma Gandhi und seine Bedeutung heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 23. Die Rechtslehre Hans Kelsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 24. Ethik und Demokratie bei Adolf Merkl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 25. Johannes Messner und die Bedeutung seiner Lehre von Recht und Staat . . 447 26. Alfred Verdross als Rechtsphilosoph und die Wiener Rechtstheoretische Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Veröffentlichungen zur Rechtsphilosophie und zum öffentlichen Recht von ­Herbert Schambeck. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Zum Autor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487

Inhaltsverzeichnis I.   1. Der Begriff der „Natur der Sache“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 I. Die Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 II. Die Bedeutung der Natur für das Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 III. Die „Natur der Sache“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Die „Natur der Sache“ als tatsächliche Gegebenheit . . . . . . . . . . . . 11 2. Die Natur des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 IV. Die materiale Gerechtigkeitsvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26   2. Ordnung und Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 I. Die Rechtsidee und ihre Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1. Die Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2. Die Rangordnung der Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 4. Die Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 II. Die Notwendigkeit des positiven Rechtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 III. Das Wesen der Rechtsgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 IV. Die Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 V. Die Verbindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54   3. Geltung und Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 I. Die Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 1. Der Ausschließlichkeitsanspruch des positiven Rechts . . . . . . . . . . 60 2. Der Sinn der Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3. Der Grund der Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 II. Die Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 1. Die autoritative Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2. Die Werteinsicht als Autoritätsbegründung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73   4. Widerstand und positives Recht. Gedanken zu Art. 20 Abs. IV des Bonner Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 I. Widerstand und positives Recht in historischer Sicht . . . . . . . . . . . . . 76 II. Die Bedeutung des deutschen positivierten Widerstandsrechtes . . . . . 84 III. Das positivierte Widerstandsrecht und seine Grenzen . . . . . . . . . . . . . 88

XII Inhaltsverzeichnis II.   5. Antikes griechisches Rechtsdenken und moderner Staat . . . . . . . . . . . . . . . . 97 I. Begriffe und Strukturen griechischen Rechtsdenkens . . . . . . . . . . . . . . 99 II. Entwicklungstendenzen des modernen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 III. Folgerungen in Zeitverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107   6. Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 I. Die römische Staatsverfassung und ihre Entwicklung . . . . . . . . . . . . . 113 II. Der Staat und seine Entwicklung heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 III. Forderungen an den Staat unserer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131   7. Ethik und Staat. Zur Geschichte der politischen Tugenden und Situation des Staates heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 I. Der Anspruch des Rechts und des Gewissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 II. Sein und Sollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 III. Menschenbild und Staatsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 IV. Politik zwischen Dämon und Gott  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 V. Liberalismus und Demokratismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 VI. Friede und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 VII. Politik aus Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157   8. Was kann der Jurist aus der Geschichte lernen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 I. Die Bedeutung von Gdansk (Danzig) in der Zeitgeschichte . . . . . . . . 159 II. Die Verfassungspräambel Polens als Wegweisung . . . . . . . . . . . . . . . . 161 III. Das Recht älter als der Jurist  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 IV. Der Weg des Rechts zum Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 V. Entwicklung von Rechtsbegriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 VI. Das Gesetz und sein Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 VII. Menschenbild und Staatsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 VIII. Entstehen des Verfassungsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 IX. Demokratie und Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 X. Erfordernisse für die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 III.   9. Idee und Lehren des Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 I. Problemstellung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 II. Die Naturrechtsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 III. Die Naturrechtslehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 IV. Das Wesen des Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 10. Anselm Desings Kritik an der Vernunftrechtslehre der Neuzeit . . . . . . . . . . 197 I. Anselm Desing und seine Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 II. Naturrechtskritiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 III. Warnung vor der Vernunftrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

InhaltsverzeichnisXIII 11. Die Schule von Salamanca und ihre Bedeutung heute . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 I. Politik und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 II. Das Zeitalter Karls V.   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 III. Die Schule von Salamanca . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 1. Francísco de Vitoria und die Entstehung des modernen Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 2. Naturrecht als Grundlage der menschlichen und staatlichen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 3. Francisco Suárez und das Gemeinwohl der Menschheit . . . . . . . . . 212 IV. Das geistige Klima zur Zeit Karls V. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 1. Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2. Menschenrechtliche Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 V. Der politische Bedeutungsverlust Spaniens und die Abkehr von der christlichen Naturrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 VI. Die Katastrophe der Weltkriege und die Gründung der Weltfriedensorganisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 VII. Die Erneuerung der christlichen Rechts- und Staatsphilosophie in der Wiener Schule des Völkerrechts und der Rechtsphilosophie . . . . . . . . 215 VIII. Die Renaissance des Naturrechtsdenkens und ihr Niederschlag in internationalen Grundsatzdokumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 IX. Katholische Staats- und Gesellschaftslehre heute . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 X. Solidarität als bleibendes Vermächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 12. Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 I. Kodifikationsbemühungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 II. Der Gehalt des § 7 ABGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 III. Die natürlichen Rechtsgrundsätze in Judikatur und Literatur . . . . . . . 230 IV. Die Bedeutung der natürlichen Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 13. Naturrecht und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 I. Das Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 II. Die Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 III. Naturrecht und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 IV. Das Naturrecht und die Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 V. Die Humanisierung der Staatsrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 14. Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 I. Das Naturrecht und das Grundgesetz Deutschlands . . . . . . . . . . . . . . . 259 II. Das Naturrecht und die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 III. Das Naturrecht in Rechtslehre und Sozialethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 IV. Bedenken gegen das Naturrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 V. Ergebnisse der Naturrechtsdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 VI. Naturrecht und Werteordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

XIV Inhaltsverzeichnis 15. Naturrecht in Zeitverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 I. Grundsteine für Rechtsgebäude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 II. Die Entwicklung der demokratischen Verfassungsstaatlichkeit . . . . . . 289 III. Verantwortung in der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 IV. Der Begriff des Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 V. Arten, Werte und Formen der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 VI. Naturrecht und Schöpfungsverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 VII. Die Naturrechtserkenntnis – Wegweisung zur Verantwortung . . . . . . . 305 16. Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechtes sowie des positiven Rechts  . 309 I. Die Naturrechtslehren und der Rechtspositivismus  . . . . . . . . . . . . . . . 310 II. Naturrecht und Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 III. Naturrecht im formellen und materiellen Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 IV. Die Würde und Personhaftigkeit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 V. Die Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 VI. Die rechtlichen Ordnungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 VII. Rechtsverständnis in Österreich und Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . 323 VIII. Präpositiver Anspruch und positivrechtliche Sicherheit . . . . . . . . . . . . 326 IV. 17. Der Anspruch der Gerechtigkeit und die Geltung des positiven Rechts . . . 329 I. Wertmaßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 II. Realfaktoren des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 III. Bedingungen der Rechtsgeltung und ihre Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . 335 IV. Gerechtigkeit und Rechtsgeltung im Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 18. Menschenbild und Staatsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 I. Menschenbild und Staatsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 II. Der Verfassungsstaat der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 III. Möglichkeiten und Grenzen des Rechtsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 19. Die ontologische Begründung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 I. Die Begründung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 II. Betrachtung und Verständnis des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 III. Seins- und Rechtsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 IV. Die Geistesnatur des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 V. Gottesebenbildlichkeit und Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 VI. Die Personhaftigkeit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 VII. Die Mehrdimensionalität des menschlichen Seins . . . . . . . . . . . . . . . . 371 VIII. Grundrechtsinhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 20. Menschenbild und Menschenrechte im österreichischen Verfassungsrecht . . 377 I. Quellen der österreichischen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 II. Die Bedeutung der Grundrechte für den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . 387 III. Grundrechts- und Staatsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390

InhaltsverzeichnisXV 21. Die Menschenwürde im öffentlichen Recht und in der politischen Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Der Mensch als Auftrag für Recht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 I.        . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 1. Der Mensch als Individuum und Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 2. Die Würde des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 3. Die Grundrechte gegenüber dem Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 II.     . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 1. Die Grundrechte als Individualrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 2. Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat . . . . . . . . . . 398 3. Das Rechtdenken der U.S.A. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 4. Naturrecht und Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 III.   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 1. Präambel mit Gottesbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 2. Die Begründung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 3. Der Schutz der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 IV.   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 1. Der Freiheitsbezug der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 2. Das Reiben der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 3. Grundrechte und Grundpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 4. Der Rechtsschutz des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 5. Die Bedeutung der Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 V.      . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 1. Die individuelle und soziale Seite der Menschenwürde . . . . . . . . . 410 2. Die Gefahr des Terrors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 3. Das Erfordernis der Globalisierung des Schutzes der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 4. Kein Naturrecht der Stärkeren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 V. 22. Mahatma Gandhi und seine Bedeutung heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 I. Das Prinzip der Gewaltlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 1. Die westliche Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 2. Gandhis Prinzip der Gewaltlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 3. Gemeinsame Grundsätze der Gewaltlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 4. Die moralische Grundlage des „Mutes zur Gewaltlosigkeit“ . . . . . 422 II. Umfassende Grundlage – die Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 1. Der Transzendentalverlust im Westen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 2. Die Religion als Zentrum von Gandhis Weltanschauung . . . . . . . . 424 III. Wahrheit und Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 1. Wahrheit und Fortschritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 2. Religion in der pluralistischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 IV. Gandhis fortwirkendes Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426

XVI Inhaltsverzeichnis 23. Die Rechtslehre Hans Kelsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 I. Die Reine Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 II. Die Grundnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 III. Die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 IV. Die Geltung der Rechtsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 V. Naturrecht und positives Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 VI. Die Demokratie und der politische Relativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 24. Ethik und Demokratie bei Adolf Merkl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 I. Recht und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 II. Entwicklungen, Möglichkeiten und Grenzen der Demokratie . . . . . . . 441 III. Die Verantwortung in der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 25. Johannes Messner und die Bedeutung seiner Lehre von Recht und Staat . . 447 I. Lebensweg  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 II. Wegweisung durch die soziale Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 III. Bemühen um präpositive Rechtsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 IV. Das Naturrecht und die Rechtsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 V. Aufgaben der Staatsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 VI. Die Gemeinwohlverpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 VII. Forderungen an die Demokratie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 VIII. Zeiterfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 IX. Messners Lehre als Zukunftsauftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 26. Alfred Verdross als Rechtsphilosoph und die Wiener Rechtstheoretische Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 I. Das Entstehen der Wiener Rechtstheoretischen Schule . . . . . . . . . . . . 468 II. Verdross’ Hinwendung zum Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 III. Merkl und der wertorientierte Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . 474 IV. Kelsen und seine Einstellung zum Naturrecht sowie dem positiven Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 V. Bemühungen um Positivität und Humanität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 VI. Verdross und die christliche Naturrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 VII. Menschheitsentwicklung und Naturrechtsverständnis . . . . . . . . . . . . . . 483 Veröffentlichungen zur Rechtsphilosophie und zum öffentlichen Recht von ­Herbert Schambeck. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Zum Autor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487

I.

Der Begriff der „Natur der Sache“* Die Frage nach der „Natur der Sache“ ist eine der Grundfragen des Rechtes. Sie hat die seinsmäßigen Voraussetzungen des Rechtes zum Gegenstand, nämlich jene Lebensverhältnisse und Sachverhalte, welche ein Rechtsverhältnis, sei es als Berechtigung, sei es als Verpflichtung, möglich und sinnvoll machen. Mit der „Natur der Sache“ haben sich die Rechtsdenker schon immer beschäftigt1. Man trifft den Gedanken der „Natur der Sache“ als juristische Denkform in jeder Periode unserer Rechtsentwicklung an. Bereits das römische Recht kennt das Bestimmungsmoment der Sachgerechtigkeit. Wenn z. B. im altrömischen Eigentumsprozeß im Verfahren in iure die Gegenwart eines umstrittenen Grundstückes ausgeschlossen war, weil es seiner Natur widersprach, dem Richter vorgelegt zu werden, so erklärt sich das aus der „Natur der Sache“. Es ist daher nicht Aufgabe dieser Untersuchung, einen neuen Begriff einzuführen. Entscheidend ist vielmehr, diese Voraussetzung des Rechtes in den verschiedenen Rechtsgebieten aufzuzeigen. Dadurch wird die Bedeutung der „Natur der Sache“ erst erkennbar. In ihr liegt eine Frage nach der Ursprünglichkeit, welche jedem Seienden, daher auch dem Recht zugrunde liegt. Es ist aber der „Natur der Sache“ nicht schon dadurch Genüge getan, daß man sie bloß als eine der Möglichkeiten sieht, den ontologischen Bezug des Rechtes aufzuzeigen; sie stellt sich vielmehr als ein Realfaktor dar, welcher für das gesamte Recht bestimmend ist. Die „Natur der Sache“ ist die Aussage über den bestimmenden Grund (die „Natur“) einer Gegebenheit (der „Sache“), der man Relevanz beimißt und die im Tatbestand einer positiven Rechtsnorm verankert ist.

*  Erschienen in: Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht, Neue Folge, Band X, Heft 3–4, Adolf Merkl und Josef L. Kunz zum 70. Geburtstag, Wien 1959 / 1960, S.  452 ff. 1  Einen kurzen Überblick über die Geschichte des Begriffes der „Natur der Sache“ gibt Hermann Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, Berlin 1929, S. 78 ff.

4

Der Begriff der „Natur der Sache“

I. Die Natur Die erste Frage, die es zu beantworten gilt, ist die nach der Natur selbst. Was versteht man unter „Natur“? Am besten bringt es das lateinische Wort „natura“ zum Ausdruck. Darunter ist nämlich die Schöpfung selbst zu verstehen2. Diese Deutung offenbart ein Zweifaches: einmal, daß mit der Natur die Schöpferkraft und zum anderen, daß mit ihr die Weltordnung gemeint ist. Beide Sinngehalte wären aber unvollständig ohne den sie verbindenden Willen des Schöpfers, der jedem Seienden die Kraft seiner Ordnung verleiht. Setzt man diesen Begriff der Natur als Ordnung zu all ihren Ausdrucksformen in Bezug, so stellt sich die Natur als die allen Dingen zugrunde liegende Wesenheit und als Ursprung der Eigentümlichkeit konkreter Ausprägungen des Seins dar. Sie umfaßt Personen und Sachen in gleicher Weise. Der Begriff „Natur“ kennzeichnet nicht bloß eine faktisch unveränderliche Größe, sondern weist darüber hinaus auch auf ein mögliches Sein, welches seine Fortsetzung in der Entelechie, d. h. in der Entwicklungsmöglichkeit der „Natur der Sache“ findet. Darin kommt die Veränderlichkeit der Erscheinungsform der Natur zum Ausdruck, wie sie vom schöpferischen Willen getragen ist. So ist auch die je und je veränderliche Erscheinungsform der Natur die Grundlage einer jeweiligen materialen Gerechtigkeit, die in der konkreten Rechtssetzung zu verwirklichen ist. Die Natur erscheint so ihrer Bestimmung nach als eine materiale Voraussetzung des Sollens, die ihrer Erscheinungsform nach veränderlich ist. Ein lebenskräftiger, Jahrhunderte alter Baum z. B. wird zum Gegenstand des Verwaltungsrechtes durch den Bescheid, der ihn unter Naturschutz stellt. Sollte aber seine Lebenskraft nachlassen und der Baum absterben, so verändert sich die Voraussetzung, welche ihm Relevanz im Recht verschafft, insoferne er nicht mehr Schutzobjekt des Rechtes bleibt, sondern Verfügungsobjekt (besonders in Zeiten der Holzbewirtschaftung) wird. Dieser Veränderlichkeit alles Natürlichen liegt eine Selbigkeit zugrunde, welche nicht als absolute Gleichheit verstanden werden darf3. Denn die Veränderlichkeit der Natur bezieht sich nicht auf ihr Wesen, sondern nur auf ihre Erscheinungsformen. Die Natur selbst bleibt dieselbe, nur ihre äußeren Merkmale, ihre Ausdrucksformen ändern sich. Daraus ergibt sich z. B. das gleichbleibende Recht des Menschen auf Existenz, welches die Wurzel des Rechtes ist. 2  Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 5. Aufl., herausgegeben von Erik Wolf, Stuttgart 1956, S. 339: „Die Schöpfung ist identisch mit der Natur, soweit diese als aus Gottes Hand hervorgegangen gedacht wird.“ 3  Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, zweite, erweiterte Aufl., Karlsruhe 1959, S. 23.



Der Begriff der „Natur der Sache“5

II. Die Bedeutung der Natur für das Recht Jedes Sein trägt seine Ordnung mit und in sich. Jede Erscheinungsform der Natur hat ihr eigenes Wesen, die Sachen eine Wesenhaftigkeit der Struktur. „Alles, was ist, ist auch als Seiendes in Ordnung4.“ Diese Gedanken führen zu den beiden Fragmenten des Vorsokratikers Anaximandros aus Milet (610–546 v. Chr.)5. Anaximandros veranschaulicht die in der abendländischen Philosophie anerkannte Verbindung von Recht und Sein im Begriff „δίκη“. Sein erstes Fragment zeigt den Ursprung alles Seienden aus dem Unbegrenzten auf: ’αρχὴ τῶν ῍οντων τὸ ἄπειςον6. Die Verbindung des Rechtes zum Seienden hin wird in seinem zweiten Fragment deutlich: ~ ~ ᾽εξ ὡν δὲ ἡ γένεσίς ᾽εοτι τοῖς οὐοι καὶ τὴν φϑορὰν εἰς ταῦτα γίνεοϑαι κατὰ τὸ χρεών. διδόναι γὰρ αὐτἀ δίχην χαὶ τίοιν ἀλλήλοις τῆς ἀδικίας κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν.7 Erstes und zweites Fragment sind nur in ihrem Zusammenhang richtig zu verstehen. Es handelt sich um eine Bestimmung des Seins seinem Ursprung nach und auf sein Ziel hin. Seinem Ursprung nach ist alles Seiende aus dem Unbegrenzten, Unbegreiflichen („ἄπειρον“) her zu erklären. Es trägt „δίκη“ mit sich. „Wo das Sein gedacht wird, ist ‚δίκη‘ immer schon mitgedacht, auch ohne ausdrückliche Nennung“8. „Δίκη“ wirkt sich aus durch die Entfaltung des Seins. Da aber jedes Sein mit dem anderen Seienden (ἀλλήλοις) verbunden ist, ergibt sich eine Wechselseitigkeit, welche erst die Wirksamkeit von „δίκη“ begreifen läßt. Sollte aber das Sein ein Unrecht (ἀδικία) begehen, indem es dem Mitseienden etwas nimmt, dann hat es Buße und Vergeltung zu leisten nach der Ordnung der Zeit. Hier realisiert sich „δίκη“, welche nicht erst in dem Augenblick wirksam werden muß, in welchem ἀδικία geschieht9. „Δίκη“ ist immer schon vorausgesetzt, wo Sein ist. Anaximandros hat also schon erkannt, daß jedes Seiende seine Ordnung in sich trägt. Denn „δίκη“, welche weder von oben noch von außen her, sondern von sich aus inwendig wirkt, „heißt sowohl der Anspruch auf das 4  Wolf,

a. a. O., S.  25. dazu: Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, Wien 1958, S. 7, und Erik Wolf, Griechisches Rechtsdenken I, 1950, S. 218–234. 6  Wolf, a. a. O., S. 225: „Anfänglich und unbegreiflich zu sein ist die Verfügung des Seins. Oder einfacher gefaßt: Dem Sein kommt es zu, anfänglich und unbegreiflich zu sein.“ 7  „Woraus aber das Werden ist für die Dinge, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen, so wie es sein muß. Denn sie zahlen einander Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit“, Olof Gigon. 8  Wolf, a. a. O., S.  225. 9  Vgl. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1934, S. 27. 5  Siehe

6

Der Begriff der „Natur der Sache“

Zukommende, als auch die Zuteilung dieses Zukommenden und endlich das zugeteilt Zukommende selbst10“. Noch deutlicher kommt die Verbindung von Sein und Recht in der zweiten gestaltenden Gottheit Themis zum Ausdruck. Nach Themis, der Rechtsberaterin des Göttervaters, haben jene Weisungen, welche Zeus den Königen gibt, ihren Namen: ϑέμιστες. Was themis ist, entspricht dem Recht. ‚,ἤ ϑέμις“ ist jenes Verhalten, das dem Wesen des Seins entspricht. Und immer das Verhalten entspricht dem Recht, welches natürlich ist11. Darin liegt eine Wesensnotwendigkeit, die von Zeus angeordnet ist, denn jenes δίκην διδόναι soll die wesensmäßige Ordnung herstellen. Themis ist also die personifizierte Verbindung von Natur und Recht12. Ihr Wesen entspricht dem Sein und ihre Sprüche dienen der Bewahrung, der Entsprechung des Seins13. Eine tiefere Einsicht in den Zusammenhang von Recht und Sein gibt Heraklit in seinen Fragmenten 54 und 11214. Sie können als eine Fortsetzung dessen angesehen werden, was Anaximandros in seinem zweiten Fragment angedeutet hat. Wohl ist „δίκη“ bei Heraklit nicht anders als bei Homer und Anaximandros ein Zuspruch15. Mit diesem Zuspruch verbindet aber Heraklit die Erkenntnis, daß hinter der sichtbaren Welt eine verborgene Harmonie existiert, welche auf den ewigen Logos zurückgeht. Der Mensch hat die Fähigkeit, dies zu erkennen. Aufgabe des Menschen ist es daher, „nach der Natur zu handeln auf sie hinhörend16“. Dem frühgriechischen Rechtsdenken entsprechend diente das Recht der Erhaltung der heiligen und unverändert zu bewahrenden Ordnung. Die Rechtsgemeinschaft war noch mit der Blutsverwandtschaft ident. Von dieser 10  Wolf,

a. a. O., S.  221. ist ein Verhalten dann, wenn es aus der Natur hervorgeht oder ihr

11  Natürlich

entspricht. 12  Wolf, a. a. O., S. 27, bezeichnet sie als die „Vergöttlichung“ des „Naturgesetzes“. S. 23: „Themis und Dike sind also ‚Gestalten‘ so gut wie ‚Begriffe‘. Ihre Erscheinung gehört einem ursprünglichen Sein an, dem solche Spaltungen fremd sind. Das Wesen dieser Göttinnen wird verkannt und verfälscht, wenn man sich ihre ‚ältere‘ ‚Gestalt‘ durch eine ‚Abstraktion‘ in den ‚jüngeren‘ Begriff verwandelt denkt. Die Nötigung zu einer – begrifflichen – Trennung des ‚Natürlichen‘ und des ‚Geistigen‘ hat das frühgriechische Dasein nicht erfahren, sie ist deshalb seinem Denken und Dichten fremd.“ 13  Felix Flückiger, Geschichte des Naturrechts I, Zürich 1954, S. 21: „Themis ist eine Göttin der Fügung und zugleich der Bewahrung.“ 14  Fr. 54: „ἁρμονὶα άφανῆς“ Fr. 112: ἀληϑέα λέγειν καί ποεῖν κατὰ φύσιν ᾽επαίοντας. 15  Wolf, a. a. O., S.  247. 16  Verdross, a. a. O., S. 11, und Die Rechtslehre Heraklits, ZöR 22 (1942), 498 ff.



Der Begriff der „Natur der Sache“7

ältesten Einheit, der Familien- und Sippenordnung, begann die Entwicklung des Rechtes, d. h. also vom Natürlichen her. Man kann aber die Natur nie verstehen, und auch ihr nicht gerecht werden ohne die Erkenntnis der in ihr aufzeigbaren „sachgesetzlichen Struktur“. Diese darf aber nicht dahin überschätzt werden, als gäbe es ein eigenes „Situationsrecht“, welches aus der existentiellen Stellung des Seins im Einzelfall erzeugt wird. Das hieße nämlich, den institutionellen Charakter des Rechtes verkennen17. Die Grundordnung, welche die Natur offenbart, ist gemessen am Recht nur ein obligierendes Moment, aber nicht die Norm selbst. Die Natur tritt in der Wesenheit einer Sache in Erscheinung. Diese Wesenheit erschöpft sich aber nicht im bloß substantiellen Sein, sondern sie zeugt gleichzeitig für den Grund, der das Prinzip des Lebens ist. Darin liegt das dynamische Moment, welches sich aus der Betrachtung der Natur erschließt. Denn die Natur offenbart nicht allein die Beschaffenheit einer Sache, sondern auch den Zusammenhang von Werden und Vergehen der äußeren Erscheinungsform. Dieser ist aber kein chaotischer, sondern ein geordneter. Denn die Natur führt in ihrer Entwicklung bestimmten Zielen zu. Sie hat demgemäß gewissermaßen einen Anspruch auf ihre eigene Entfaltung. Daß dem so ist, zeigt sich am besten darin, daß die Natur ihre Kräfte für die Erreichung ihres Zieles, d. h. ihrer Vollendung in und aus sich hat18. Der Natur als Voraussetzung des Rechtes soll hier das Augenmerk zugewendet werden, denn nur aus dieser Sicht kann die Natur als Ordnungsfaktor des Rechtes erkannt werden. Die Bedeutung der Natur für das Recht ergibt sich aus ihrer Ursprünglichkeit. Aus der Natur ist die Entstehung aller sozialen und rechtlichen Verhältnisse zu erklären. So gesehen ist die Natur auch ein dauerndes Maß des Rechtes, weil ihre Ordnung nach Erhaltung strebt und ihre Wesenheit eine dauernde ist. Die Natur ist in verschiedener Weise erkennbar. Die verschiedenen Stufen der Erkennbarkeit, auf welche bereits Thomas von Aquin hingewiesen hat19, gehen auf die Vielschichtigkeit der Natur zurück. Aus dieser läßt sich mittels 17  Thomas Würtenberger, Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft, Karlsruhe 1957, S. 24. 18  Wilhelm Wertenbruch, Versuch einer kritischen Analyse der Rechtslehre Rudolf von Iherings, Berlin 1955, S. 29: „Auch ‚die Natur‘ hat ihren Willen und ihre Zwecke. Sie will, daß ihre Erscheinungsformen sich erhalten, und um diesen Willen zu erzwingen, hat sie gewissen Tätigkeiten oder Unterlassungen ein Lust- oder Schmerzgefühl beigelegt.“ (Vgl. Ihering, Zweck, Bd. 1, S. 28 ff.) „So will sie sich offenbar letztlich auch selbst erhalten.“ 19  Deutsche Thomas-Ausgabe, kommentiert von A. F. Utz OP, 18. Bd., Heidelberg/München/Graz/Wien/Salzburg 1953, S. 433.

8

Der Begriff der „Natur der Sache“

einer ethisch unterbauten Ratio die Naturgesetzlichkeit erkennen. Diese aber muß von dem Naturrecht unterschieden werden, weil das Gesetz die Natursachlage bedeutet, während das Naturrecht diese mit der Rechtsidee und ihren Erscheinungsformen verbindet und sonach die auf den betreffenden Tatbestand bezogene Nutzanwendung darstellt. Diese aus der Natur erkennbare Gesetzlichkeit hat ihren eigenen Geltungsgrund: den Willen des Schöpfers. Gibt es eine eigene Gesetzmäßigkeit der Natur? Diese Frage wird im Hinblick auf die Elemente und das System der Natur zu beantworten sein. Elemente und System der Natur lassen sich aus den zusammenhängenden Veränderungen erkennen, welche in der Natur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit eintreten. Diese Wahrscheinlichkeit offenbart eine bestimmte Gesetzmäßigkeit der sich in der Natur vollziehenden Geschehnisse. „Die an dem Zusammenwirken von Trillionen von Wirkungsquanten abgelesenen Regeln gelten so gut wie absolut20.“ Dieser Wahrscheinlichkeit der natürlichen Regeln steht eine Einheitlichkeit des Stoffes zur Seite. Erstere macht letztere möglich, beide machen die Eigenheit der Natur aus. Die Natur hat ihre eigenen Ordnungsformen21. Diese lassen sich aber nicht bloß in den Pflanzen und in der Tierwelt feststellen, sondern in gleicher Weise bei den Menschen. Zerfällt doch auch die menschliche Gesellschaft in bestimmte Ordnungsformen, in Existenzgemeinschaften, deren Glieder in ihrem Dasein und ihren Bedürfnissen voneinander abhängig sind, z. B. der Säugling von der Mutter, der Ehemann von der Ehefrau. Diese Lebensbezirke finden auch im Recht ihren Niederschlag durch eine Sicherung22. Natur und Recht stehen somit in einem innigen Zusammenhang23. Dieser verdeckt jedoch nicht die grundsätzlichen Unterschiede beider. Während im Bereich der Natur die Kausalität vorherrscht und die Zuordnung der einzelnen natürlichen Vorgänge ihr Prinzip darstellt, ist es die Normativität und das Prinzip der Zurechnung, welches das Recht charakterisiert. Dem Sollen des Rechts steht das Müssen der Natur gegenüber. „Es handelt sich in beiden Fällen nur um den Ausdruck des für das jeweilige System – hier 20  Bernhard Bavink, Die Naturwissenschaft auf dem Wege zur Religion, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1937, S. 39, zitiert bei Erich Fechner, Rechtsphilosophie, Tübingen 1956, S. 191, Anm. B. 21  Siehe dazu Adolf Remane, Ordnungsformen der lebendigen Natur, Studium Generale, 3. Jg. (1950), S. 404 ff., und das sehr anschauliche Beispiel von Erich Fechner, a. a. O., S. 193, Anm. 12, wonach die Vermehrungsindices bestimmter Beutetiere mit den Verzehrungszahlen übereinstimmen. 22  Letztlich haben das Recht und die Natur doch nur ein Ziel: die Erhaltung des Lebens. 23  Selbst Kelsen, a. a. O., S. 2, muß zugeben, daß „das Recht – oder was man zunächst als solches anzusprechen pflegt –, zumindest mit einem Teil seines Wesens im Bereich der Natur zu stehen, eine durchaus natürliche Existenz zu haben scheint.“



Der Begriff der „Natur der Sache“9

die Natur, dort das Recht – spezifischen funktionellen Zusammenhang der Elemente24.“ Entsprechend der bisherigen Untersuchung kann man daher die Natur kennzeichnen als den Inbegriff einer Ordnung kausal-gesetzlich bestimmter Notwendigkeiten25. Die „Natur der Sache“ ist nur die Bezeichnung dieser Gegebenheit, soweit sie als rechtserhebliche Tatsache normative Bedeutung hat. Die „Natur der Sache“ erweist sich als Ausdruck der kosmischen Ordnung im Recht. Sie zeigt das Richtige auf26. III. Die „Natur der Sache“ Als Realfaktor des Rechtes ist die „Natur der Sache“ im weiteren Sinn zweifach zu verstehen: 1. als tatsächliche Gegebenheit, welche eine Sachgesetzlichkeit in der Seinswelt offenbart. Insofern hat die „Natur der Sache“ im engeren Sinn einen material-objektiven Charakter; 2. als Natur des Menschen. Die Erkenntnis der „Natur der Sache“ aus den natürlichen Gegebenheiten ist nur möglich, wenn man sie aus den positiv-rechtlichen Zusammenhängen löst. Denn die Schöpfung tritt in der „Natur der Sache“ als objektives Element zutage, dem im positiven Recht einer bestimmten Zeit nicht unbedingt entsprochen werden muß. Fehlt die Entsprechung, dann steht die „Natur der Sache“ außerhalb des Rechtes; die positiven Sollensgesetze stimmen mit der Seinsordnung nicht überein. Darin darf man aber nicht einen „Widerspruch“ zwischen der apriorischen Rechtslehre und dem positiven Recht sehen, sondern, wie Adolf Reinach richtig hervorhebt, nur eine Abweichung der Sollensbestimmungen von den Seinsgesetzen27. Tatsächlichkeit und Recht weisen dann eben verschiedene Inhalte auf. Die Tatsachen werden für den Norm­ adressaten erst dann relevant, wenn sie durch den Gesetzgeber positiviert, d. h. in die Rechtsordnung aufgenommen sind. 24  Kelsen, a. a. O., S. 23. Siehe auch die Besprechung von Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, 1. Aufl., 1955, durch Günther Winkler in JB1., Jg. 79 (1957), S.  170 f. 25  Wolf, Naturrechtslehre, 1959, S. 37: „Das Wesen der Natur wird dann in dem gefunden, was durch Kausalität zur Erscheinung kommt, als ‚ursächlich‘ (,bedingend‘ oder ‚bedingt‘) begriffen und erklärt werden kann.“ 26  Johannes Messner: Das Naturrecht, 3. Aufl., 1958, S. 75: „Sittlichkeit, so haben wir gefunden, ist das für den Menschen ‚Naturrichtige‘ gemäß den ihm in seiner Natur vorgezeichneten ‚existentiellen Zwecken‘!“. 27  Adolf Reinach, Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes, Halle a. d. S.  1913, S.  133.

10

Der Begriff der „Natur der Sache“

Den Beweis hiefür liefert schon das römische Recht beispielsweise mit seinem Dualismus von possessio naturalis und possessio civilis. In ersterem Fall handelte es sich um den tatsächlichen körperlichen Besitz einer Sache, um die faktische Gewalt, welche nicht durch eine iusta causa qualifiziert ist. Es handelte sich hiebei um „jede Art faktischer Sachgewalt ohne Rücksicht auf ihre juristische Qualifikation28“. Inhaber einer solchen tatsächlichen Sachgewalt waren der Depositar, der Kommodatar, der Mandatar, der negotiorum gestor, der Werkunternehmer, der Mieter und der Pächter29. Der Sachgewalt der detentio stand der vom Recht anerkannte und durch Interdikte geschützte Besitz gegenüber: die possessio civilis. Der Besitz ging im Gegensatz zur detentio auf einen anerkannten Erwerbstitel zurück, welcher nach dem ius civile Voraussetzung für den Eigentumserwerb war, z. B. pro emptore, pro herede usw. Doch auch der vom Zivilrecht nicht anerkannte Besitz, die detentio, hatte insoferne bestimmte Rechtsfolgen, als jedem detentor (Inhaber), dem seine faktische Gewalt entzogen oder beeinträchtigt wurde, die Möglichkeit gegeben war, sich zwar nicht an den Entzieher, wohl aber an den possessor zu halten, von dem er seine faktische Gewalt herleitete und in dessen Namen er diese ausübte30. Der römisch-rechtliche Besitz weist auf eine natürliche Gegebenheit hin, welche als Voraussetzung für eine positive Rechtsfolge angesehen wird: das faktische Naheverhältnis. Der Begriff der possessio setzt sich aus zwei Elementen zusammen: aus dem tatsächlichen räumlichen Naheverhältnis und dem Willen, die Sache als eigene zu haben. Dementsprechend wurde auch der Besitz erworben corpore et animo, d. h. „durch die mit Herrschaftswillen verbundene Herstellung der faktischen Gewalt31“. Die tatsächliche Bemächtigung, ein natürlicher Vorgang, war aber nicht bloß eine Bedingung für die Relevanz des positiv-rechtlich fixierten animus rem sibi habendi, sondern sie bildete mit ihm eine Einheit. Max Kaser32 meint, daß der physische Akt der Bemächtigung durch den Willen qualifiziert würde. Beide Elemente waren aber nicht bloß für den Erwerb des Besitzes, sondern auch für dessen Fortbestand und Verlust von Bedeutung. Gerade dieses Beispiel zeigt, wie irreführend, ja falsch es ist, positivistisch alles allein auf den Rechtswillen zurückzuführen, welcher einen Rechtsbegriff nicht vollständig, welcher nur seinen subjektiven und nicht seinen objektiven Tatbestand erkennen läßt. 28  Max

Kaser, Das Römische Privatrecht, München 1955, S. 327. diese faktische Gewalt fand das gemeine, nicht das klassische Recht, den Ausdruck der „detentio“. 30  Kaser, a. a. O., S.  330. 31  Kaser, a. a. O,. S. 331. 32  Kaser, a. a. O. 29  Für



Der Begriff der „Natur der Sache“11

1. Die „Natur der Sache“ als tatsächliche Gegebenheit Am besten kann man die „Natur der Sache“ in solchen tatsächlichen Gegebenheiten erkennen, die gemäß der Eigenart ihres Wesens schon immer zur Grundlage juristisch relevanter Schlüsse gemacht wurden33. Hierher gehört, daß es verschiedene Arten von Sachen gibt, welche entsprechend verschieden zu werten sind: körperliche und unkörperliche, bewegliche und unbewegliche, teilbare und unteilbare, verbrauchbare und unverbrauchbare usw. An all diesen besonderen Erscheinungen der Seinswelt, als welche sich die verschiedenen Arten von Sachen erweisen, knüpfen sich die verschiedensten Rechtsfolgen. So war z. B. schon im römischen Recht der eigentliche ususfructus nur an unverbrauchbaren Sachen möglich, denn nur sie gestatten eine Benützung und Rückgabe „salva rerum substantia“34. Auch die „natürlichen“ Arten des Eigentumserwerbes lassen die „Natur der Sache“ erkennen, welche die Römer auf die „naturalis ratio“ und das ius gentium zurückführten35. Die Klassiker, insbesondere Gaius, suchten demgemäß die meisten sachenrechtlichen Fragen bezüglich des Eigentumserwerbes naturrechtlich zu begründen36. Aus dem gleichen Grund haben die Römer dem ius gentium eine allgemeine Geltungskraft beigemessen37. Das ius gentium wurde von ihnen auf die „naturalis ratio“ zurückgeführt (Gaius 2, 65 ff. mit D. 41,1, 1 pr. ff.)38. Diese war sein objektives Fundament. Doch welche Bedeutung hat die „naturalis ratio“ für die „Natur der Sache“? Sie ergibt sich aus der Erklärung des terminus, der wohl schwer zu übersetzen ist39. Am besten veranschau33  Max Gutzwiller: Zur Lehre von der „Natur der Sache“, in: Festgabe der Juri­ stischen Fakultät der Universität Freiburg (Schweiz) zur 59. Jahresversammlung des Schweizerischen Juristenvereins, 1924, S. 282 ff. 34  Der Ususfructus ist eines der wenigen Rechtsverhältnisse, welches im römischen Recht ausdrücklich definiert wurde. Paul. Dig. 7, 1, 1: Usus fructus est ius alienis rebus utendi fruendi salva rerum substantia. 35  Siehe Kaser, a. a. O., S. 358, und René Voggensperger: Der Begriff des „Ius naturale“ im Römischen Recht, Basel 1952, S. 39 ff. Naturalis ratio findet sich wohl am meisten bei Gaius. Daneben steht es u. a. auch noch bei Paul. Dig. 17, 2, 83; Dig. 5, 3, 36, 5; Dig. 48, 20, 7 pr.; Dig. 50, 17, 85, 2; Ulp. Dig. 25, 3, 5, 16. 36  Gaius, Inst. 2, 79, Inst. 2, 69–79, Dig. 41, 1, 1–9, Dig. 8, 2, 8. Inst. 2, 1, 12 / 2, 1, 35 / 2, 1, 39 (zitiert von Voggensperger, a. a. O., S. 46). 37  Gai. Inst. 1, 1; Dig. 1, 1, 1, 4. 38  Kaser, a. a. O., S.  183. 39  Unter „naturalis ratio“ drückten Savigny und Leist etwas verschiedenes aus. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, I, 1840, S. 416, 417, verstand darunter „das der menschlichen Natur eingepflanzte Rechtsbewußtsein“. Hingegen stellte

12

Der Begriff der „Natur der Sache“

licht ihn Gaius: Omnes populi, qui legibus et moribus reguntur, partim suo proprio, partim communi omnium hominum iure utuntur: nam quod quisque populus sibi ipse ius constituit, id ipsius proprium est vocaturque ius civile, quasi ius proprium civitatis: quod vero naturalis ratio inter omnes homines constituit, id apud omnes populos peraeque custoditur vocaturque ius gentium, quasi quo iure omnes gentes utuntur40. Ratio wird darnach als objektive Vernunft und natura als die physische Beschaffenheit der Erscheinungsformen der Außenwelt und deren eigentümliches Wesen zu übersetzen sein. Demnach wäre unter „naturalis ratio“ schlicht „die natürliche Vernunft“ zu verstehen, welche die natürlichen Grundlagen, d. h. die in einer Vernunftgemäßheit ruhende Ordnung der Dinge erkennen läßt. Die naturalis ratio bildete die Grundlage für das ius gentium, d. h. für ein Recht, welches wohl ein römisches war, das aber von den Formalien des ius civile befreit war. Anfangs unabhängig vom ius civile trat es später in immer engere Wechselwirkung mit diesem, um dann der größeren Beweglichkeit seiner Formen im Rechtsverkehr wegen in das ius civile überzugehen und dessen alte Formen soweit zu verdrängen, daß z. B. schließlich an Stelle der feierlichen mancipatio die formlose traditio trat41. Auf diese Weise nahm das ius gentium später eine zentrale Stellung im römischen Privatrecht ein. Die letzte Verwirklichung der „naturalis ratio“ bedeutete es, wenn am Ende des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts der Praetor das ius gentium mit der Begründung anwendete, er habe „naturali ratione, naturali aequitate, iure naturali“ gehandelt, also gemäß den grundlegenden Forderungen der natura42. Die Römer sahen demnach die objektive Realität der Dinge letztlich als die Basis des Rechtes an. Daher wurde die „naturalis ratio“ nicht bloß für das ius gentium, sondern darüber hinaus auch für das gesamte Privatrecht als Grundlage juristischer Begriffe und Institute angesehen43. Dies äußerte sich auch in der TerBurkard Wilhelm Leist, Die realen Grundlagen und die Stoffe des Rechts, Jena 1877, S. 8, fest: „Naturalis ratio ist vielmehr: das Reale in den sozialen Verhältnissen; und zwar noch wieder, – im Gegensatz zu der rerum oder rei natura, die lediglich das factisch Existierende bezeichnet, – im Genaueren: das Organisch-Reale, d. h. das in dem Organismus der socialen Verhältnisse real-Gegebene, und als solches der menschlichen Vernunft Erkennbare. Mit anderen Worten: nicht bloß die factische natura (rerum), sondern der vernunftmäßig erkannte Zusammenhang der realen natura.“ 40  Gai. Inst. 1, 1; kaum verändert in Dig. 1, 1, 9. 41  Fritz Schwind: Römisches Recht, I, Wien 1950, S. 49 f. 42  Voggensperger, a. a. O., S. 105; siehe aber auch a. a. O., S. 104, Anm. 14. Zur Vielfalt der Funktionen des ius gentium siehe Gabrio Lombardi: Ricerche Interna Di „Jus Gentium“, Milano 1946 und Sul Concetto Di „Jus Gentium“, Roma 1947. 43  Voggensperger, a. a. O., S. 107. Er verweist auf die Untersuchungen Maschis zu folgenden Texten: Dig. 13, 6, 18, 2 / 7, 5, 2; Gai. Inst. 1, 189; Dig. 25, 3, 5, 16 / 48, 20, 7 / 44, 7, 1, 9 / 9, 2, 4 (S. 257 f.).



Der Begriff der „Natur der Sache“13

minologie von „naturalis cognatio, obligatio, possessio“, welche der „civilis“ gegenübergestellt wurde. Das betreffende Rechtsverhältnis erweist sich als ein Ausdruck der Natur. Die Vernünftigkeit eines Rechtssatzes des ius civile er­ gab sich daher auch aus seiner Begründung durch die „Natur der Sache“44. Worauf bezog sich also letzlich die „naturalis ratio“? Sie bezog sich auf die rerum natura45. Unter natura selbst verstand man sowohl die rerum natura wie die Natur der einzelnen Dinge. „Und eben weil ‚natura‘ auch die Natur des Teiles der natura rerum sein kann, ist es ein Dehnbares, das nicht bloß als absolute Herrin wie die natura rerum, sondern als diapositive Macht gelten kann: es kann, wie gezeigt, nichts ‚contra rerum naturam‘ sein, wohl aber manches ‚contra naturam‘, und damit dringen gegensätzliche Kräfte ein; wie die accidentalia das naturale negotii verdrängen können46.“ Die „Natur der Sache“ als tatsächliche Gegebenheit tritt aber nicht allein in der äußeren Form von körperlichen Gegebenheiten entgegen, sondern auch in den Beziehungen der natürlichen Gegebenheiten untereinander. Als solche können z. B. das Eltern-Kinderverhältnis im engsten oder das der Blutsverwandtschaft im weitesten Sinn angesehen werden. Ersteres läßt erkennen und macht es zum Gebot jedes Gesetzgebers, daß die Eltern eine gewisse Gewalt über ihre unerwachsenen Kinder haben und nicht umgekehrt, ganz im Sinne der „Natur der Sache“47. An Stelle des Ausdruckes ius gentium wird auch der Begriff des ius naturale verwendet. Kaser, a. a. O., S. 183, bezeichnet aber das ius naturale als bloßen Schulbegriff ohne höhere systematische Bedeutung. Dazu B. W. Leist, a. a. O., S. 4: „Danach wird das ius gentium regelmäßig durch den Ausdruck naturalis bezeichnet, namentlich in sechs Fällen: a) naturalis ratio bei den Bedingungen der Ehe; b) naturalis cognatio; c) naturaliter erwerben bei Eigentum und Obligationen; d) Recht des Grundeigentümers auf die Superficies nach naturale ius; e) naturalis possessio; f) naturalis obligatio.“ 44  Voggensperger, a. a. O., S.  108. 45  „Ius naturale est, quoll natura omnia animalia docuit“, Ulp. Dig. 1, 1, 1, 3, zitiert. Nach Otto Gradenwitz, Natur und Sklave bei der Naturalis Obligatio, in: Festgabe der Königsberger Juristischen Fakultät für Theodor Schirmer, Königsberg 1900, S. 13, verstand man ursprünglich unter der rerum natura die Schöpfung, dann die körperliche Welt und schließlich wurde dieser Ausdruck auf die res incorporales übertragen. 46  Gradenwitz, a. a. O., S.  15 f. 47  v. Bar, Archiv für öffentliches Recht, 15. Bd. (1900), S. 14. Der „Natur der Sache“ widerspricht daher auch § 5 des Gesetzes vom 15. Juli 1921, Deutsches RGBl., I, S. 939, über die religiöse Kindererziehung, worin das Kind nach Vollendung des vierzehnten Lebensjahres (also noch in einem Alter der problematischen Reife, wonach es gemäß § 10 JGG für bedingt deliktsfähig erklärt wird) das Recht der freien Entscheidung darüber erhält, zu welchem religiösen Bekenntnis es sich halten will.

14

Der Begriff der „Natur der Sache“

Daher wird dem Familienrecht immer ein bestimmtes Maß an Vernünftigem durch die „Natur der Sache“ vorgezeichnet sein. Als natürlicher Sachverhalt erscheint die Ehe als Geschlechtsgemeinschaft und die Familie als Abstammungsgemeinschaft. Dem wird allerdings im positiven Recht nicht immer Rechnung getragen. Der Unterschied zwischen dem natürlichen und dem rechtlichen Sachverhalt fällt besonders im § 1589 des deutschen BGB auf: „Personen, deren eine von der andern abstammt, sind in gerader Linie miteinander verwandt. Personen, die nicht in gerader Linie verwandt sind, aber von derselben Person abstammen, sind in der Seitenlinie verwandt. Der Grad der Verwandtschaft bestimmt sich nach der Zahl der vermittelten Geburten. Ein uneheliches Kind und dessen Vater gelten nicht als verwandt.“ Uneheliche Kinder, welche doch Blutsverwandte ihres leiblichen Vaters sind, gelten also nach diesem Bürgerlichen Gesetzbuch als nicht verwandt! Diese Bestimmung zeigt ganz deutlich, daß der Gesetzgeber positivrechtlich etwas negieren kann, was naturgemäß eine Voraussetzung des Rechtes ist. Der rechtliche und der natürliche Begriff der Verwandtschaft können also verschieden sein. Diese Divergenz kann aber, wie das deutsche Beispiel noch weiter zeigt, nicht bloß zwischen der natürlichen Ordnung und einer positiv-rechtlichen Ordnung, sondern auch innerhalb ein und derselben Ordnung, nämlich der positiven Rechtsordnung vorliegen. Während uneheliche Kinder als nicht verwandt mit ihrem Vater im Sinne des BGB gelten, gelten sie als Verwandte im Sinne des deutschen Strafgesetzbuches, denn der Vater, der sein uneheliches Kind bestiehlt, bleibt nach § 247 Abs. 2 des deutschen StGB straflos, weil es sich um den Diebstahl eines Verwandten aufsteigender Linie gegen einen Verwandten absteigender Linie handelt48. Daraus kann man eine „Relativität in der Bildung der gesetzlichen Tatbestandsbegriffe“49 erkennen, denn die Rechtsfolgen ein und desselben Tatbestandes können verschieden sein, verschieden auch die Mittel ihrer Geltendmachung und ihrer Durchsetzung. Das zeigt, daß nur der natürliche Tatbestand unveränderlich ist, aber nicht der rechtliche. Will man einer umfassenden Betrachtung des Begriffes der „Natur der Sache“ nur annähernd gerecht werden, dann darf man den mannigfaltigen Gebrauch dieses Begriffes im positiven Recht nicht außer acht lassen. Die „Natur der Sache“ muß als juristische Denkform erkannt werden. Ihre Erkenntnis wird nicht nur durch die natürlichen Seinsvorgänge, sondern auch durch die Gesetzgebung und die Rechtsprechung, d. h. den Bereich des Sollens vermittelt. Denn im Bereich des Sollens sind bestimmte Rechtsfol48  Siehe Karl Engisch: Einführung in das juristische Denken, Kohlhammer, Stuttgart 1956, S. 12 ff. 49  Engisch, a. a. O., S.  17.



Der Begriff der „Natur der Sache“15

gen mit ihr verbunden. Dadurch erweist sich die „Natur der Sache“ als ein Weg der Rechtsfindung. Was kann als Stoff für eine der „Natur der Sache“ entsprechende Erkenntnis angesehen werden? Max Gutzwiller hat dies bereits festgestellt: „Jede rechtlich relevante Gegebenheit50“; d. h. also, nicht allein Teilgebiete, sondern eine ganze Rechtsordnung, nicht nur eine Summe von Rechtsinstituten, sondern auch einzelne von ihnen, ja selbst eine bloße Tatsache im Rechtssinn kann eine der „Natur der Sache“ entsprechende Erkenntnis bieten. Die positivrechtliche Bedeutung der „Natur der Sache“ ist aber verschieden, denn es steht dem Gesetzgeber frei, sachliche Zusammenhänge mehr oder weniger zu berücksichtigen. Unter der „Sache“ ist dabei nicht nur ein körperlicher Gegenstand zu verstehen, sondern auch ein Zusammenhang, ein Seinsvorgang, welcher nicht von der Rechtsordnung abhängig ist, sondern natürlich gegeben ist. Am deutlichsten kann man das im Privatrecht erkennen, also in einem Rechtsgebiet, das, wie z. B. das Handelsrecht, dem freien Verkehr wohl am weitesten offensteht51. Auch soziale und wirtschaftliche Verhältnisse lassen eine „Natur der Sache“ erkennen. Es gilt daher auch nach der Berücksichtigung der „Natur der Tatsachen“ bzw. der „Natur der Rechtsverhältnisse“ in einem Rechtssatz zu fragen. Die Beispiele sind mannigfaltig, hier seien nur einzelne herausgegriffen. Die Leihe ist ein Vertrag, wodurch eine unvertretbare, bewegliche oder unbewegliche Sache zum unentgeltlichen Gebrauch auf bestimmte Zeit dem Entlehner übergeben wird (§ 971 ABGB). Da die Übergabe und der Gebrauch des Leihgegenstandes unentgeltlich erfolgt, d. h. der Verleiher keinen direkten Vorteil aus diesem Vertrag zieht, entspricht es der „Natur der Sache“, daß er auch keinen Nachteil, keinen Schaden erleidet. Daher bestimmt § 977 ABGB, daß eine vorzeitige Rückgabe des Leihgegenstandes durch den Entlehner an den Verleiher nur dann erfolgen darf, wenn sie letzterem nicht beschwerlich fällt. Besonders deutlich tritt die „Natur der Sache“ hervor, wenn eine Störung in der Erfüllung einer Rechtspflicht eintritt und es zwischen zwei oder mehreren rechtlich gleichwertigen Lösungsmöglichkeiten zu wählen gilt. Dies ist z. B. bei Leistungsschwierigkeiten der Fall. Tritt bei einfachen Zeitgeschäften auf der Seite des Käufers eine Leistungsschwierigkeit auf, dann steht dem Verkäufer das Recht zu, die nachträgliche Erfüllung und einen Schadenersatz wegen Verspätung zu verlangen oder vom Vertrag zurückzutreten (§ 918 ABGB). Verlangt der Käufer aber die nachträgliche Leistung, 50  Gutzwiller, 51  Siehe

a. a. O., S.  284. § 346 HGB und § 863 Abs. 2 ABGB.

16

Der Begriff der „Natur der Sache“

d. h. besteht er auf der Erfüllung des Vertrages, dann entspricht es der „Natur der Sache“, daß auch er seinerseits seinen vertraglichen Verpflichtungen nachkommt52. Aus der „Natur der Sache“ erklärt sich auch der Satz, der schon seit dem römischen Recht das positive Recht beherrscht: Species perit ei cui debetur, genus perire non censetur. Danach wird die Unmöglichkeit der Leistung nur bei Species- und nicht bei Genus-Schulden anerkannt, denn bei letzteren ist der Gegenstand der Leistung nicht individuell bestimmt. Dies äußert sich im Handelsrecht darin, daß ein „Käufer nicht das Recht haben kann, Lieferung des Gutes zu verlangen, wenn dessen Lieferung unmöglich ist. Der Satz ‚impossibilium nulla est obligatio‘ hat sicherlich denselben Anspruch auf Geltung wie geschriebenes Gesetz53“. Die Unmöglichkeit im juristischen Sinn, welche sowohl für das bürgerliche Recht im allgemeinen wie für das Handelsrecht im besonderen von größter Bedeutung ist, kann vor allem aus der „Natur der Sache“ erkannt werden. Das ist so selbstverständlich, daß es nicht erst positivrechtlicher Verankerung bedarf. Wenn man die Gesetzesstellen überblickt, welche für die Fragestellung nach der „Natur der Sache“ Raum gewähren, muß man erkennen, daß eine solche Fragestellung nur in sehr engen Grenzen zugelassen ist, mit Recht aber immer dort, wo der Gesetzgeber auf die natürlichen Umstände Rücksicht nimmt oder nehmen mußte. So ergibt sich aus der besonderen „Natur der Verhältnisse“, daß bei einem Geschäft, bei welchem die Kontrahenten die Kaufmannseigenschaft haben, im allgemeinen größere Ansprüche an diese gestellt werden als bei einem reinen Zivilgeschäft54. Nur daraus lassen 52  Hermann Haemmerle, Grundriß des Handelsrechtes, 1947, S. 182. Sehr deutlich tritt die „Natur der Sache“ im Skandinavischen Kaufrecht zutage. Almén-Neubecker: Das Skandinavische Kaufrecht, Bd. I, Heidelberg 1922, S. 463 f.: „Gemäß dem allgemeinen Standpunkt des Gesetzes ist das Aufhebungsrecht auch bei Käuferverzug ausgeschlossen, ‚wenn der Verzug von geringer Bedeutung ist‘ … Die für Verzug von geringer Bedeutung gemachte Ausnahme gilt nach ausdrücklicher Vorschrift nicht bei Handelskäufen. Dies beruht darauf, daß nach kaufmännischer Anschauung auch ein kurzdauernder Verzug mit der Zahlung von wesentlicher Bedeutung ist. Der Verkäufer ist also in seinem vollen Recht, wenn er sich der Vertragserfüllung deshalb entzieht, weil ihm die Zahlung einen Tag nach Fälligkeit angeboten wird. Es liegt jedoch in der Natur der Sache, daß er sich dieses seines Rechts nur bedient, wenn er infolge veränderter Konjunktur durch die Lösung einen Gewinn macht.“ 53  Almén-Neubecker, a. a. O., I, S. 283 f., zitiert von Gutzwiller, a. a. O., S. 284, Anm. 1. Gutzwiller weist darauf hin, daß der schweizerische Gesetzgeber des öfteren eine Rechtsfolge von der „Natur“ einer bestimmten Gegebenheit abhängen läßt. Er unterscheidet drei verschiedene Arten von Gegebenheiten: 1. die „Natur“ des ganzen in Frage stehenden Rechtsverhältnisses, Geschäfts, Vertrags; 2. die „Natur“ der einzelnen Verpflichtung, Verbindlichkeit, Forderung; 3. die „Natur“ gewisser Verhältnisse rein faktischer Art, von Sachen und Tatsachen. 54  Almén-Neubecker, a. a. O., I, S. 71.



Der Begriff der „Natur der Sache“17

sich die Sondervorschriften erklären, welche für beiderseitige Handelsgeschäfte gelten (Gewohnheiten und Gebräuche § 346 HGB; kaufmännisches Zurückbehaltungsrecht § 369 HGB usw.). Ein weiteres Beispiel ist der Umfang der Prokura gemäß § 49 (1) HGB. Diese Form der kaufmännischen Stellvertretung ermächtigt im Gegensatz zur bloßen Handlungsvollmacht nicht nur zu Geschäften und Rechtshandlungen im Rahmen eines bestimmten Handelsgewerbes (§ 54 HGB), in welchem man tätig ist, sondern zu allen Arten von gerichtlichen und außergerichtlichen Geschäften und Rechtshandlungen, die der Betrieb irgendeines Handelsgewerbes mit sich bringt. Wenn auch die in den §§ 12, 41, 49 (2) und 52 (2) HGB genannten Geschäfte dem Prokuristen verwehrt sind, so ist doch seine Vertretungsbefugnis so weitgehend, daß er zu den im § 1008 ABGB genannten Geschäften gemäß 4. handelsrechtl. EV. Art. 6 Nr. 10 keiner besonderen Vollmacht bedarf. Dieser größere Umfang der handelsrechtlichen Vollmacht (welcher sich auch auf die Handlungsvollmacht erstreckt) gegenüber der bürgerlich-rechtlichen ist ein Beispiel dafür, daß das Handelsrecht auf die „Natur der Verhältnisse“ Rücksicht nimmt, welche eine größere wirtschaftliche Bewegungsfreiheit verlangen. Jede Erscheinung der Welt des Seienden hat unzählige Merkmale und die verschiedenartigsten Erscheinungsformen. Man denke nur an jene, welche für den natürlichen Eigentumserwerb des ius gentium ausschlaggebend waren. Sie können nicht alle in gleicher Weise von rechtlicher Bedeutung sein. Wohl kann an sich jede Eigenschaft einer Sache. von Bedeutung sein, aber jede wird es auf andere Weise sein. Alle Erscheinungsformen der natürlichen Tatsachen haben gemeinsam, daß sie von der Naturgesetzlichkeit beherrscht werden. Ihre Beweiskraft beruht, wie Gutzwiller eindeutig hervorzuheben wußte, auf der unbestreitbaren Evidenz, welche allerdings um so mehr abnimmt, je mehr der Begriff der „Natur der Sache“ im übertragenen Sinn verwendet wird. Die Natur des Besitzes wird immer die gleiche sein, die des Eigentums in jeder Zeit verschieden. Denn sofern die tatsächlichen Gegebenheiten weder von politischer noch von wirtschaftlicher Natur sind, wird ihr Wesen immer das gleiche bleiben, weil es allein auf ihre natürlichen Eigenschaften ankommt. Die natürlichen Tatsachen werden zu jeder Zeit gleich bleiben. Ihrer natürlichen Dauereigenschaft nach werden wir immer zwischen Grundstücken und fahrender Habe zu unterscheiden haben. Ihre Wesensmerkmale, welche sie als unbeweglich einerseits, als beweglich andererseits erkennen lassen, lassen auf Dauervorschriften schließen, die in den Sondervorschriften über Eigentumserwerb, Vererbung, Verpfändung usw. enthalten sind.

18

Der Begriff der „Natur der Sache“

2. Die Natur des Menschen Der weite Begriff der „Natur der Sache“ umschließt nicht allein die „Natur der Sache“ im engeren Sinn, sondern auch die Natur des Menschen. Diese hat Helmut Coing in seinen „Grundzügen der Rechtsphilosophie“ zum Unterschied von Gustav Radbruch55 mit Recht hervorgehoben. Kann aber der Mensch überhaupt unter dem Begriff der „Natur der Sache“ subsumiert werden? Steht er nicht vielmehr als Rechtssubjekt den Gegenständen als den Rechtsobjekten gegenüber? Diese Frage ist berechtigt. Es sollen aber hier nicht die Formen untersucht werden, in denen das Recht zutage tritt, sondern vielmehr dargetan werden, was Voraussetzung des Rechtes ist. Daher wurde der zusammenfassende Begriff der „Natur der Sache“ gewählt, welcher die Möglichkeit unterschiedlicher Aufgliederung bietet. Auf diese Weise können vielleicht die wichtigsten, das Recht „konstituierenden wirklichkeitsbezogenen Momente“ (Engisch56) erkannt werden. Dieser verwendete Sachbegriff ist daher nicht mit dem Begriff des Rechtsobjektes gleichzusetzen. Innerhalb des Begriffes der „Natur der Sache“ wurden als Sachen im engeren Sinn die tatsächlichen Gegebenheiten aufgefaßt. Es wurde damit dem Sachbegriff des bürgerlichen Rechtes Rechnung getragen. Denn nach § 285 ABGB ist im rechtlichen Sinn all das eine Sache, was von der Person verschieden ist. Da der Sachbegriff des ABGB ein sehr weiter ist, kann man sagen, daß sich der österreichische bürgerlich-rechtliche Sachbegriff mit dem Begriff der „Natur der Sache“ im engeren Sinn als Erscheinungsform der tatsächlichen Gegebenheiten nahezu deckt. Dieser Sachbegriff umfaßt daher alle Objekte des Rechtes mit Ausnahme der Personen. Der Mensch ist keine Sache57. Da aber der Mensch eine der wichtigsten Voraussetzungen des Rechtes ist, wird auch seine Natur als Seinsbedingung des Rechtes zu werten sein. Die von Gustav Radbruch in seinen letzten Schriften gemachte Unterscheidung von „Natur der Sache“ und Natur des Menschen muß abgelehnt werden. Radbruch glaubt, daß nur aus der Natur des Menschen mittels der Vernunft ein Naturrecht abgeleitet werden kann, welches ein für alle Zeiten und Völker gleiches Recht zu sein beansprucht. Eine Grundrechtsordnung wäre danach der einzig mögliche Inhalt eines solchen Naturrechts. Diesem 55  Radbruch, Die Natur der Sache als juristische Denkform, in: Festschrift für Rudolf Laun, Hamburg 1948, S. 158, und Vorschule der Rechtsphilosophie, Heidelberg 1948, S. 19. 56  Engisch, Vom Weltbild des Juristen, Heidelberg 1950, S. 142. 57  Siehe dazu Engisch, a. a. O., S. 141, und vgl. Ludwig Enneccerus, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Marburg 1928, I, S. 286 ff., sowie Karl Wolff, Grundriß des Österreichischen Bürgerlichen Rechts, Wien 1948, S. 39.



Der Begriff der „Natur der Sache“19

stellt er die „Natur der Sache“ entgegen, welche für ihn den Ausdruck der „Mannigfaltigkeit historischer und nationaler Rechtsbildungen58“ darstellt. Für ihn gehen die „Natur der Sache“ und die Natur des Menschen anscheinend auf zwei verschiedene Seinsordnungen zurück. Die Veränderlichkeit der Sachen dient ihm dabei als Unterscheidungsmerkmal. Die Sachen aber, welche Radbruch mit Eugen Huber als die „Realien der Gesetzgebung“ bezeichnet, sind doch in derselben Weise Naturtatsachen wie die Menschen. Um bei Radbruchs Beispiel zu bleiben: Äpfel fallen zu allen Zeiten in gleicher Weise von Bäumen über Zäune und die Drehungen des Erdballs um sich selbst und um die Sonne, nach denen sich letztlich prozessuale Fristen und Termine bestimmen, sind heute keine anderen als zur Zeit der Römer. Diese Naturtatsachen bleiben für alle Zeiten gleich und machen den Begriff eines natürlichen Rechtes aus, der auch die Natur des Menschen umfaßt. Veränderlich ist nicht die „Natur der Sache“, sondern sind die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen des Rechtes, man möge daher nicht den Fehler begehen, diese mit den Vorformen der Rechtsverhältnisse zu identifizieren, welche die „Natur der Sache“ im weiteren Sinn, nämlich die tatsächlichen Gegebenheiten und die Natur des Menschen bilden. Wenn die Natur des Menschen zum Gegenstand der Betrachtung gemacht wird, dann hat das den Zweck, das „Geschöpf“ Mensch und seine Wesenseigenschaften wie auch deren Bedeutung für die rechtliche Ordnung näher kennenzulernen. Der Natur des Menschen kann nur so lange im Recht entsprochen werden, als in der Gemeinschaft das Individuum nicht untergeht und diese natürlichen Eigenschaften des Menschen erkennbar sind. Der Weg des Rechtes zum Menschen war jedoch in jeder Zeit und an jedem Ort verschieden. Dies geht letztlich auch darauf zurück, daß jede Zeit ihr eigenes Menschenbild hat59. Von den verschiedenen Rechts-, Welt- und schließlich Menschenanschauungen soll hier nicht die Rede sein, denn der Untersuchungsgegenstand ist die Natur des Menschen, welche zu allen Zeiten die gleiche Voraussetzung des Rechtes war. Dies soll auch kein Anlaß sein, ein neues Menschenbild zu entwerfen oder die Abhängigkeit der Menschenanschauungen von der Welt- und damit von der Rechtsanschauung aufzuzeigen. Das Menschenbild wird nämlich zu jeder Zeit ein anderes sein60. Ebenso wie die Weltanschauungen sich ändern, wandelt sich auch die Menschenanschauung, welche von der sich ändernden Stellung des Einzelnen in der Gemeinschaft und von 58  Radbruch,

Laun-Festschrift, a. a. O. dazu Urs Peter Ramser, Das Bild des Menschen im neuem Staatsrecht (Die Antinomie des Westens und des Ostens), Winterthur 1958. 60  Siehe Engisch, a. a. O., und Radbruch: Der Mensch im Recht, Göttingen 1957. 59  Siehe

20

Der Begriff der „Natur der Sache“

dem Grad der Kenntnis seiner Natur abhängt. So erscheint auch der Einzelmensch jederzeit anders: im Mittelalter an die Gemeinschaft gebunden, in der Renaissance aus ihr entbunden. Das der einzelnen Rechtsordnung zugrunde liegende Menschenbild wird daraus erkennnbar sein, was diese zum Gegenstand von Rechten einerseits und Pflichten andererseits macht. Der in der Rechtsordnung sich ausdrückende Wille ist daher dementsprechend immer ein anderer. Er hängt weitgehend auch davon ab, in welchem Ausmaß der Gesetzgeber auf die psychischen Quellen des Rechtsgehorsams und der Rechtsgeltung (siehe dazu die gleichnamige sehr interessante Schrift von Franz Klein) Rücksicht nimmt. Radbruch hat dies wohl erkannt: „Sowohl in den von ihr erteilten Rechten wie in den von ihr auferlegten Pflichten drückt sich also ein auf das entsprechende Verhalten gerichteter Wille der Rechtsordnung aus … Durch die von ihr begründeten Rechte und Pflichten gibt sie also deutlich zu erkennen, welche Antriebe sie im Menschen als gegeben und wirksam annimmt61.“ Gegenstand der Betrachtung der Natur des Menschen sind jene natürlichen Dauereigenschaften desselben, welche eine juristische Anthropologie ausmachen, wie Fritz von Hippel hervorhebt62. Die Voraussetzungen, welche durch die Natur des Menschen gegeben sind und die jede Rechtsordnung vorfindet, sind immer die gleichen. Gleich ist der Mensch, der jeder Rechtsordnung als ihr Adressat vorgegeben ist. Das äußert sich vor allem darin, „daß die zentralen rechtlichen Begriffe nur auf den Menschen angewendet werden63“. So sind die verschiedenen Stufen der Handlungsfähigkeit nur aus der natürlichen Entwicklung des Menschen zu verstehen. Dies wird besonders im Bereich des Strafrechtes deutlich, wo die Bestrafung von Jugendlichen davon abhängig gemacht wird, daß diese fähig sind, die Unrechtmäßigkeit ihrer Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln64. Dies mag wohl eines der besten Beispiele dafür sein, daß ein Rechtssatz von Voraussetzungen abhängt, welche sich nur aus der Natur des Menschen erklären lassen. Das Beispiel zeigt aber auch, daß die rein juristische Erkenntnis ohne die naturwissenschaftliche fragmentarisch ist. Die Bedeutung der Natur des Menschen liegt eben darin, daß das Recht auf die Merkmale seiner Natur ausgerichtet ist. Doch nicht der individuelle Mensch, sondern der empirische Durchschnittstypus wird immer zum Inhalt von Rechtsvorschriften gemacht. „Die Vertragskontrahenten gleichen einander wie der Mensch seinem Spiegelbild, im Rechtsleben tritt in den mannigfachsten 61  Radbruch,

a. a. O., S.  10. v. Hippel, Das Problem der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie, Tübingen 1936, S. 49, vgl. allerdings auch seine Schrift „Gustav Hugos Juristischer Arbeitsplan“, 1931, S. 35–39. 63  Engisch, a. a. O., S.  27. 64  Siehe § 10 JGG. 62  Fritz



Der Begriff der „Natur der Sache“21

Rollen, in tausendfacher Wiederholung, in gespenstischem Doppelgängertum immer der gleiche Mensch sich selbst gegenüber65.“ Nur aus diesem Grund ist es möglich, Normen zu erlassen, welche für alle Eigentümer, Vertragspartner, Gläubiger, Schuldner, Väter, Mütter, Ehegatten usw. anwendbar sind. Die Eigenschaften, Fähigkeiten des Menschen, welche ein Sachen-, Obligationen-, Familienrecht usw. möglich und notwendig machen, sind immer gleich und bleiben es auch. Die Natur des Menschen konnte auch nur deshalb ihren Niederschlag in der Rechtsordnung finden, weil der Mensch als Person eine Gleichheit repräsentiert. Radbruch hat dies besonders hervorgehoben, wenn er unter Hinweis auf die Bedeutung des Gleichheitsbegriffes für das Privatrecht, dessen Voraussetzungen er darlegt, feststellt: Das „Privatrecht ist, wie wir sahen, das Gebiet der ausgleichenden Gerechtigkeit, d. h. des Gleichmaßes ausgetauschter Leistungen, Leistungen aber sind miteinander kommensurabel nur, wenn die Subjekte, die sie austauschen, als gleich gesetzt werden66“. Ob man den Menschen als Rechtssubjekt auf der Käufer- oder Verkäuferseite, als Schuldner oder Gläubiger antrifft, immer ist es ein und derselbe Gleichheitsbegriff, der den verschiedenen Rechtsbezügen zugrunde liegt. Sämtliche Gliederungen des Rechtes gehen darauf zurück. Daher nimmt der Mensch in jedem Rechtsgebiet die ihm eigene Stellung ein, und manche Rechtseinrichtungen oder Rechtsprinzipien finden nur aus ihr den wahren Erklärungsgrund. So läßt sich die den Zivilprozeß beherrschende Verhandlungsmaxime vor allem aus dem vom Gesetzgeber angenommenen Streben des Menschen auf Selbsterhaltung und Selbstwahrung seiner Interessen erklären. Manche Theorie und mancher Begriff des Strafrechts findet eine nähere Erklärung durch einen entsprechenden Rückgriff in den vorstrafrechtlichen Stoff67. Welche Bedeutung der Natur des Menschen im öffent­ lichen Recht zukommt, braucht nicht mehr eigens aufgezeigt zu werden. Oft gilt es im Recht der wesensmäßigen Unvollkommenheit der menschlichen Natur dadurch Rechnung zu tragen, daß man besondere Rechtsschutzeinrichtungen schafft. So ist auch die im § 1 Notariatszwangsgesetz vom 25. Juli 1871 enthaltene Bestimmung zu verstehen. Danach bedürfen Rechtsgeschäfte unter Lebenden, die von Blinden, von Tauben, die nicht lesen oder Stummen, die nicht schreiben können, errichtet werden, zu ihrer Gültigkeit eines Notariatsaktes. 65  Radbruch,

a. a. O., S.  13. Rechtsphil., a. a. O., S. 230. 67  Radbruch, Laun-Festschrift, S. 176, weist darauf hin, wenn er hervorhebt, daß immer mehr an Stelle des abstrakten Täterbegriffes der soziologische Tätertyp in den Vordergrund tritt. „Damit ist an Stelle des Schlagwortes ‚Nicht die Tat, sondern der Täter‘ der weitgehende Gedanke getreten ‚Nicht der Täter, sondern der Mensch‘, und zwar der Mensch in seiner ganzen sozialen Bestimmtheit.“ 66  Radbruch,

22

Der Begriff der „Natur der Sache“

Die Natur des Menschen steht wohl am Beginn jeglichen Rechtsdenkens als eine schöpferische Voraussetzung. Sie ist auch sein letzter Zweck. Das kommt in allen Lehren von der Entelechie zum Ausdruck. In welchem Maße aber der Natur des Menschen entsprochen wird, hängt von dem Personifikationsprozeß ab, welchen jede Rechtsordnung durchzumachen hat und der nur möglich ist, weil der Gesetzgeber tatsächlich weitgehend die freie Wahl des Rechtsinhaltes hat. Es wäre sonst nicht erklärlich, daß ein Mensch als Sklave und ein anderer als freier Bürger gilt, denn alle Menschen sind schon aus ihrer Ebenbildlichkeit Gottes frei. Eine der wichtigsten Merkmale der Natur der Menschen, ist die Zweigeschlechtigkeit. Jede Rechtsordnung beachtet sie in ihrem Familienrecht. Sie ist eine Naturtatsache, welche eine Vielzahl von sozialen Voraussetzungen des Rechtes bedingt. Diese sind nur aus der gesellschaftlichen Natur des Menschen zu erklären. Der Mensch geht nicht bloß in seiner Existenz auf, sondern ist bestimmt durch seine gesellschaftliche Natur, welche durch das Leib-Seeleverhältnis beeinflußt wird. Im engsten Zusammenhang damit steht aber auch die Schutzbedürftigkeit des Menschen, besonders in seiner Jugend und in seinem Alter. Das Recht der Kinder und die Pflicht der Eltern wie auch die Einrichtung der Vormundschaft finden dadurch ihre notwendige Erklärung. Der besonderen Schutzbedürftigkeit des Menschen im Alter wird z. B. durch § 54 EheG Rechnung getragen, wonach eine Ehe in den Fällen der §§ 50–52 EheG dann nicht geschieden werden darf, wenn das Lebensalter der Ehegatten besonders hoch ist. In diesem Falle wäre nämlich das Scheidungsbegehren sittlich nicht gerechtfertigt. Als Beispiel für die Beachtung der Verschiedenheit der Geschlechter ist die Regelung der Geschlechtsgemeinschaft anzusehen. Sie ist eine Realität im Recht. Dieser natürliche Ansatz wird auch von den Rechtspositivisten bejaht. Meist wird der Ehe allerdings nur eine individuelle Bedeutung für die beiden Partner beigemessen. Es wäre aber falsch, der Ehe bloß einen Vertragscharakter dergestalt geben zu wollen, daß man sie bei Wegfall ihrer Voraussetzungen ohne weiteres auch bei Vorhandensein von gemeinsamer Nachkommenschaft lösen könnte. Die Ehe ist vielmehr die „mit Höchstwirkungen ausgestattete Geschlechtsgemeinschaft68“. Inhalt und Wirkung dieses Vertrages sind natürlicherweise der Willkür der Menschen entrückt. Dies läßt uns der Hauptzweck der Ehe: die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft (procreatio et educatio prolis) erkennen. Es widerspricht daher der Natur der Ehe, wenn bei Eingehung der Ehe Übereinkommen getroffen werden, wonach die Leibesfrucht abzutreiben oder das Kind nach 68  Wolff,

a. a. O., S.  299.



Der Begriff der „Natur der Sache“23

der Geburt zu töten wäre. Es ist auch mit der Natur der Ehe unvereinbar, wenn sie sogar trotz vorhandener Nachkommenschaft aufgelöst wird. Denn die Eltern haben von Natur aus die Pflicht, für das Gedeihen ihrer Kinder gemeinsam Sorge zu tragen. Der besondere Rechtsschutz, welchen die Ehe in jeder Rechtsordnung genießt, läßt sieh aus ihrer Natur erklären, deren richtige Einschätzung für den Bestand der Gesellschaft und darüber hinaus eines Staates von größter Bedeutung ist69. Warum kann aber der Mensch überhaupt eine Beachtung seiner Natur durch die Rechtsordnung fordern? Ist der Forderung des suum cuique tribuere nicht bereits durch ein formales Gerechtigkeitsprinzip Genüge getan? Eine Bejahung würde den Anschein erwecken, als würde das Recht nur um seiner selbst willen existieren. Sie wäre daher falsch, denn alles Recht besteht nur des Menschen wegen, der Recht insofern hat, als ihm eine Würde (dignitas humana) zukommt, die den staatlichen Schutz herausfordert. Es besteht eine Art Wechselbeziehung zwischen dem Menschen, seiner Natur und dem Recht. Der Mensch bedarf seiner Natur nach des Rechtschutzes. Das Recht aber ist im Sinne des Gerechtigkeitspostulates auf die Ergänzung durch sittliche Grundwerte angewiesen70. Die Natur des Menschen stellt sich somit als ein unerläßlicher Ergänzungswert des Rechtes dar. Man denke nur an die Prinzipien der Zuverlässigkeit, der Treue und der Wahrhaftigkeit, welche neben anderen für die Privatrechtsordnung bestimmend sind. Es handelt sich immer um Forderungen, die dem Wesen des Menschen entspringen. Die Erfüllung dieser Forderungen läßt sich aber nicht aus einer Vernunftnatur entsprechend dem rationalen Denken finden, sondern nur in einer sittlichen Wertordnung. Die große Bedeutung der Natur des Menschen liegt darin, daß sie den Bereich darstellt, welcher zur Verwirklichung sittlicher Werte geschaffen ist. Die Natur des Menschen ist eben mehr als eine 69  Diese Tatsache hat selbst im sowjetischen Recht ihre Berücksichtigung erfahren. Ursprünglich war der sowjetische Staat an der Form und dem Bestand der Ehe uninteressiert. Es bestand sogar in einzelnen Republiken die Einrichtung der „faktischen“ Ehe, die durch die bloße Tatsache des Zusammenlebens von Mann und Frau begründet wurde. Sogar eine registrierte Ehe konnte privat und außergerichtlich aufgelöst werden, d. h. eine einseitig dem Standesbeamten mitgeteilte Scheidungserklärung genügte. Erst 1944 wurde die Möglichkeit der Eingehung einer solchen „freien Ehe“ beseitigt. Die standesamtliche Registrierung wurde die alleinige Möglichkeit der Eheschließung. Da der sowjetische Staat die grundlegende Bedeutung der Ehe erkannt hatte, verlangte er auch für den Fall der begehrten Auflösung ein eigenes Scheidungsverfahren. Dieses sieht sogar einen Sühneversuch vor. Siehe dazu Reinhart Maurach, Handbuch der Sowjetverfassung, München 1955, S. 343 ff., und Vladimir Gsovski, Soviet Civil Law Ann. Arbor University of Michigan Law School 1948, S. 125, der aus der heutigen gesetzlichen Lage schließt: „It is now more difficult to obtain a divorce in Soviet Russia than in many capitalist countries where civil mariage is recognized.“ 70  Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, Heidelberg 1947, S. 36.

24

Der Begriff der „Natur der Sache“

„Gattung natürlicher organischer Lebewesen im Sinne der Biologie71“, sie ist der Bereich, wo der Mensch seine Einmaligkeit erfährt und sich in ihrer Entsprechung erfüllt. Was macht jedoch den Bereich aus, welcher der Natur des Menschen zu ihrer Verwirklichung offensteht? Es ist die Freiheit, welche durch das Wesen der Person bedingt ist. Alle Rechte, welche es aus der Natur des Menschen abzuleiten gilt, dienen ihrer Sicherung. Alle Fähigkeiten des Menschen, die Rechts- wie die Handlungsfähigkeit, lassen sich nur aus der Freiheit des Menschen erklären. Dadurch wird dem einzelnen Menschen erst die Möglichkeit eröffnet, Recht oder Unrecht zu tun. Nur die erkennbar freie Tat wird dem einzelnen Menschen zu- oder angerechnet werden. Doch welcher Art ist die Freiheit, die sich als Existenzbedingung des Menschen erweist? Es ist die sittliche Freiheit, welche bereits Kant als Grundlage eines Systems von Grundsätzen des Rechtes gedient hat. „Das Recht ist der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit (d. h., so daß alle frei sein können) zusammen vereinigt werden kann72.“ Die Sittlichkeit selbst ist nichts anderes, wie Messner hervorhebt, als die Naturrichtigkeit, d. h. die Entsprechung der menschlichen Seinsweise. „Die Sittlichkeit besteht in der Übereinstimmung des Verhaltens des Menschen mit den in seiner Natur, ihren körperlichen und geistigen Trieben vorgezeichneten Zwecken73.“ Worin liegt aber der bestimmende Grund, welcher das Wesen des Menschen ausmacht? Er ist in der ihm angeborenen Würde zu sehen. „Würde ist ein Wertbegriff, der einen Wertträger als Subjekt voraussetzt74.“ Dieser Sonderwert, als welcher sich die Würde des Menschen darstellt, hebt die Menschen über alle anderen Gegebenheiten hinaus. Man kann auch in Anlehnung an Georg Jellinek mit Wilhelm Wertenbruch sagen: „Eine Person mit Würde ist man und Rechte hat man75.“ Jede Aussage über die Würde des Menschen ist somit zugleich eine solche über sein Wesen, über seine Natur. Es handelt sich dabei um eine Natur, die der freien Entfaltung bedarf. 71  Coing,

a. a. O., S.  63. Kant, Einleitung zu „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“, p. XXXIII, der Königsberger Ausgabe von 1797, zitiert bei Coing: Rechtsphilosophie, S. 154. 73  Messner, a. a. O., S.  38. 74  Günter Dürig, Die Menschenauffassung des Grundgesetzes. JR 1952, S. 259. 75  Wilhelm Wertenbruch, Grundgesetz und Menschenwürde, Köln  / Berlin 1958, S. 34. 72  I.



Der Begriff der „Natur der Sache“25

Diese kann aber nur in der Gemeinschaft erfolgen. Jede Erkenntnis aus der Natur des Menschen läßt daher den besonderen Wert der menschlichen Gemeinschaft deutlich werden und die Vorstellung eines atomisierten Individuums als unrichtig erscheinen76. Die Würde des Menschen und der Wert einer Gemeinschaft stehen in einem engen Zusammenhang. Darum bilden die Menschenrechte die Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft77. Sie sind aber nur so lange gesichert, „als anerkannt wird“, wie Verdross betont, „daß sie aus der richtig verstandenen Natur des Menschen folgen78“. Die Menschenrechte oder Freiheitsrechte setzen aber als ihren Träger eine der Gemeinschaft verantwortliche Persönlichkeit voraus. Das ist der Mensch, denn allein er ist seiner Natur nach ein Freiheitsträger. Sollte der Mensch aber versuchen, sich über die Forderungen seiner Gemeinschaft hinwegzusetzen, um sich aus ihren Bindungen zu befreien, dann handelt er entgegen seiner Natur. Aus der Natur des Menschen ergibt sich, daß ihm eine Würde angeboren ist, welche unverlierbar und unverzichtbar ist. Die Wesenheit des Menschen hat, wie Nipperdey79 betont, einen Charakter indelebilis. Dieser erweist sich als eine gleichbleibende Forderung an jede Sozial- und Wirtschaftsordnung. Denn jeder Mensch hat seiner Natur, d. h. seinem Wesen nach, das seiner Würde gleichzusetzen ist, einen Anspruch auf eine menschenwürdige Existenz. Dieser wird u. a. durch den Pfändungsschutz für Arbeitseinkommen gesichert. Auch das Prinzip des sozialen Rechtsstaates findet in der Natur des Menschen seine naturrechtliche Begründung. Die Würde des Menschen sollte daher an der Spitze jeder Rechtsordnung stehen80. Das Wollen des Staates wie das seiner. Bürger würde dadurch von vornherein abgegrenzt werden. Dem Staat würde einerseits die Möglichkeit genommen, seine Macht „zu verabsolutieren und die Ohnmacht der Unter76  Die Bindung des Einzelnen an die Gemeinschaft hat ihren verfassungsrechtlichen Ausdruck in Art. 2 (1) Bonner GG gefunden: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ 77  Siehe dazu Erich Fechner, Die soziologische Grenze der Grundrechte, MohrTübingen 1954. 78  Alfred Verdross, Die Internationale Anerkennung der Menschenrechte als Voraussetzung des Weltfriedens, in: Moser, Weltbild und Menschenbild (1948), S. 231; vgl. ferner: Die Menschenrechte, ihre Geschichte und Problematik, in: Gemeinschaft des Geistes, Schriftenreihe der Österr. UNESCO-Kommission 14 (1957), S. 47 ff., und Die Idee der menschlichen Grundrechte, Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse der Österr. Akademie der Wissenschaften 23 (1954), S. 335. 79  H. C. Nipperdey: Die Würde des Menschen, in: Neumann  / Nipperdey / Scheuner: Die Grundrechte, Bd. 2, Berlin 1954, S. 3. 80  Siehe Art. 1 Bonner GG.

26

Der Begriff der „Natur der Sache“

tanen zu maximieren81“, und andererseits wäre der Einzelne auch angehalten, die Würde des Mitmenschen zu achten. Die Menschenwürde ist in einer Rechtsordnung dann verwirklicht, wenn sie dem Einzelnen eine Sphäre läßt, in welcher ihm die Freiheit sittlicher Entscheidung offensteht. Ein solches Maß an Anerkennung der Natur des Menschen ist aber nur dann möglich, wenn die Würde des Menschen als naturrechtliches Elementarprinzip aufgefaßt wird82. Die Würde der menschlichen Person ist ein dem positiven Recht vorausliegender Wert, dessen Positivierung keine Rechtsfindung darstellt, sondern eine allgemein verbindliche positiv-rechtliche Anerkennung. IV. Die materiale Gerechtigkeitsvorstellung Die „Natur der Sache“ war seit der Antike immer ein wesentlicher Gegenstand der Rechtswissenschaft. Bereits das griechische Denken entwickelte die Lehre vom „physei dikaion“. Als Begriff aber wurde bisher die „Natur der Sache“ in beliebiger Weise verwendet. Dieser unterschied­lichen Begriffsbestimmung entspricht daher auch die Mannigfaltigkeit der Ergebnisse, welche gemäß dem begrenzten Rahmen der in der Literatur anzutreffenden Untersuchungen meist nur auf Teilgebiete beschränkt blieben. Die verschiedenartige und meist einseitige Verwendung des Gedankens der „Natur der Sache“ machte es daher zur Pflicht, das Versäumte nachzuholen, um den Begriff von der „Natur der Sache“ zu präzisieren. Er ist nicht bloß eine suggestive Formel, welche von Zeit zu Zeit als episodischer Gegenstand individueller Erforschung eng begrenzter Rechtsgebiete geeignet ist83, sondern er stellt als Inbegriff der tatsächlichen Gegebenheiten und der Natur des Menschen eine der Voraussetzungen des gesamten Rechtes dar. Die „Natur der Sache“ als rechtstheoretisches Problem hat sich als eine Frage nach dem Wesen einer Gegebenheit erwiesen. Die uns durch diese notwendige Fragestellung vermittelten, aus der Natur möglichen Schlüsse lassen einen sachlogischen Zusammenhang deutlich werden, welcher eine materiale Gerechtigkeitsvorstellung rechtfertigt. Sachlogische Strukturen 81  Ossip K. Flechtheim: Zur Problematik der Politologie, in: Die Einheit der Sozialwissenschaften, Franz Eulenburg zum Gedächtnis, Stuttgart 1955, S. 226. 82  Siehe Entscheidungen des Bayer. VGH vom 10.6.1950 (GVB1. 1950, 104), vom 14.3.1951 (VGHE 1951, 51) und vom 5.12.1952 (GVB1. 1953, 17) für Art. 100 Bayer. Verf. 83  Siehe Radbruch: La natura della cosa come forma giuridica di pensiero, in: Riv. Int. Fil. Dir., XXI, Prag. 156, und Norberto Bobbio, Über den Begriff der „Natur der Sache“, ARSP XLIV (1958), S. 305.



Der Begriff der „Natur der Sache“27

werden, wie auch Stratenwerth84 richtig hervorhebt, nur aus einer bestimmten Blickrichtung der Erkenntnis möglich sein. Die Frage nach der „Natur der Sache“ erweist sich daher zum einen als Ausdruck des Suchens nach dem ontologischen Bezug des Rechtes, zum andern aber als Möglichkeit, jenes natürliche Recht zu erkennen, das Adolf Merkl in seiner ersten Publikation85 als „außerrechtliches regulatives Prinzip des positiven Rechts“ bezeichnet hat.

84  Günter Stratenwerth, Das rechtstheoretische Problem der „Natur der Sache“. Recht und Staat, H. 204, Mohr-Tübingen 1957. 85  Besprechung des Buches von Erich Jung, Das Problem des natürlichen Rechts, Leipzig 1912, durch Adolf Merkl in der Österreichischen Zeitschrift für öffentliches Recht, 1. Jg. (1914), S. 578.

Ordnung und Geltung* Es kann nicht bezweifelt werden, daß das Leitbild menschlichen Bemühens um die vollmenschliche Existenz die Ordnung ist. Wo und wann immer der Lebenssinn der Menschen zum Durchbruch gelangte, stets war er auf die Herstellung eines dauerhaften Ausgleichs zwischen den Zielen der Einzelmenschen und den zwischenmenschlichen und anderen Voraussetzungen ihrer Verwirklichung gerichtet. Das Wesen des Sozialen umspannt daher das öffentliche wie private Leben in gleicher Weise. Der Gehorsam des Kindes dem Vater gegenüber kommt, so gesehen, dem Gehorsam des Bürgers gegenüber seinem übergeordneten Herrschaftsverband, dem Staat, gleich. Dem entspricht auch eine Grundform menschlichen Denkens, nämlich der Glaube. Es besteht in der Religion zum einen eine Verpflichtung gegenüber dem Schöpfergott, zum anderen in den von ihr sanktionierten Geboten eine Lebensordnung. Die Ordnung ist dem menschlichen Dasein immanent. Am besten hat wohl Aristoteles den innigen Zusammenhang von Mensch und Ordnung deutlich gemacht, als er den Menschen in seiner „Politika“ als ein φύσει πολιτικòν ζωον1 bezeichnet hat. In Verbindung mit der aristotelischen Lehre von der Entelechie muß der Mensch als ein Wesen angesehen werden, das seiner Natur nach auf ein Leben in der gesellschaftlichen Ordnung ausgerichtet ist. Der Ursprung und die Durchsetzungsmöglichkeiten der den einzelnen sozialen Bereichen arteigenen Ordnungen sind verschieden. Dies zeigt sich auch darin, daß die einzelnen Gemeinschaften, wie Ehe, Familie, Freundschaftsbund, Berufsvereinigung, Staat und Kirche, unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen haben. In welchem Maß der Einzelne den Sinn und den Sonderzweck der betreffenden Ordnung zum Beweggrund seines Handelns macht, wird bestimmt durch die Abhängigkeit des Einzelnen von dem jeweiligen Bereich des sozialen Lebens. Der Mensch lebt gleichzeitig in *  Erschienen in: Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht, Neue Folge, Band XI, Heft 3–4, Hans Kelsen zum 80. Geburtstag, Wien 1961, S. 470 ff. 1  Buch I, Kap. II, 1253 a (2–4). Siehe dazu Alfred Verdross: Grundlinien der antiken Rechts- und Staatsphilosophie, Wien 1948, S. 134, und Abendländische Rechtsphilosophie, Wien 1958, S. 41; Leonidas Pitamic: Die Frage der rechtlichen Grundnorm, in: Völkerrecht und rechtliches Weltbild, Festschrift für Alfred Verdross, Wien 1960, S. 212, sowie Herbert Schambeck: Der Mensch in der Politik. Wissenschaft und Weltbild, 14. Jg. (1961), S. 1 ff.

30

Ordnung und Geltung

mehreren Ordnungen. Eine der umfassendsten Ordnungen ist die des Staates. Da in der zivilisierten Welt des 20. Jahrhunderts niemand in einem staatenlosen Gebiet leben kann, weil es ein solches nicht gibt, muß sich heute jedermann mit der Existenz staatlicher Gewalt abfinden und dieser den entsprechenden Tribut zollen2. Mit der Notwendigkeit der Ordnung ist eine innere Spannung verbunden, welche auf die der Natur des Menschen eigene „ungesellige Geselligkeit“ (Kant) zurückgeht. Jede Ordnung geht demnach mit einer Dialektik einher, die in den Beziehungen wesensmäßiger Notwendigkeiten zu dem tatsächlichen Handlungsvollzug liegt. Gesellschaftliches Einheitsstreben und einzelmenschliches Freiheitsverlangen sind die beiden Probleme, vor die sich jede Ordnung gestellt sieht. Sie fordern eine spezifische Struktur der Ordnung, die sie praktikabel, d. h. durchsetzbar macht. Dies soll aber nicht Anlaß geben, in der Bestandssicherung der Ordnung deren Ursprung zu sehen. Der Ursprung der Ordnung liegt vielmehr in dem im Eigensten der Menschennatur gelegenen Erfordernis der Herstellung der weitestgehenden Übereinstimmung von erfahrungsunmittelbarem und erfahrungsjenseitigen (d.  h. metaphysischen) Bezug, von wesenhaftem Sosein und aktuellem Dasein, von Strebenszielen und Verwirklichungsvermögen. Die Einsicht in den natur- und sacheigenen Zusammenhang ist die Voraussetzung für die Entsprechungsbeziehungen in jeglicher Ordnung. Wer diesen Blick nicht hat, mag ein zeitlich begrenztes Nebeneinander von Ordnungsteilen herstellen, aber keine Ordnung im Sinne einer Lebenseinheit, „die aus wollenden und überlegenden Wesen zusammengefügt ist“3. Nur als Einheit kann die Ordnung zu Wirkkraft kommen, sie muß daher bezüglich des in ihren Bereich Fallenden allumfassend sein. In dieser Form kann sie eine Anerkennung zwar an sich nicht erzwingen, wohl aber dazu drängen. Denn von jeder so zu einer Einheit zusammengefaßten Vielheit geht eine Nötigung zur Anerkennung von Sachverhaltsgegebenheiten aus, der sich niemand entziehen kann, der ihrem Bereich zugehört. Auf die Wirkkraft solcher Gegebenheiten geht es zurück, daß Menschen sich durch eine Ordnung bestimmen lassen. In diesem weitesten Sinn bewährt sich der Begriff der Geltung in gleicher Weise für die Sachverhaltsgegebenheiten in der logischen Ordnung, der sittlichen Ordnung, der Wertordnung und der Ordnung der Naturgesetze. Er gilt auch, wie sich zeigen wird, für die Rechtsordnung. Er ist als das unerläßliche Element jeglicher Ordnung anzusehen.

2  Vgl. die rechtstheologische Interpretation von Mk. 12, 13–18 („So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“) durch Erik Wolf: Zur Dialektik von menschlicher und göttlicher Ordnung, in: Naturordnung, Festschrift für Johannes Messner, Innsbruck/Wien/München 1961, S. 48 ff. 3  Hans Barth: Die Idee der Ordnung, Zürich 1958, S. 222.



Ordnung und Geltung31

Die Geltung einer Ordnung setzt zweierlei voraus: zum einen, daß diese Ordnung von einer Rangordnung der Werte bestimmt wird, und zum anderen, daß ihr für einen ganz konkreten Seinsbereich eine Kompetenz zukommt, d. h. daß sie auf diesem Gebiet einen Ausschließlichkeitsanspruch hat. Die Rangordnung der Werte ist deshalb von größter Bedeutung, weil sie die Intentionalität der Ordnung ausdrückt. Jede Ordnung geht von einem Grundwert aus, etwa in der Natur die Erneuerung des Lebens, der in allen Stufen und Bereichen dieser Ordnung dadurch konkretisiert wird, daß er sich entfaltet. Insoweit haben alle Werte ein unabhängig von ihrer Erkenntnis gegebenes Eigenleben. „Der Wert ist aller Wirklichkeitserfassung vorgegeben“4. Werte werden daher nicht ausgeheckt, sondern sie leuchten ein. Sie offenbaren in dieser Weise ihre Objektivität. Diese bleibt selbst dann erhalten, wenn das subjektive Bemühen um die Erfassung einer Rangordnung nicht ausreichen sollte, denn meist sind sie, wie Nicolai Hartmann auch hervorhob, „gewisse mehr oder weniger evident zusammengehörige Gruppen von Werten, die sich um einzelne beherrschende Grundwerte drängen“5. Die so bestehende Rangordnung der Werte macht die Beziehung der Ordnungselemente zueinander aus und ist somit jener Gehalt der Ordnung, ohne den diese nicht existieren könnte. Die Dimensionalität der Werte, wie die Werthöhe und die Wertstärke, ist in den einzelnen Ordnungen verschieden. Sie seien nur als kategoriale Grundgesetzlichkeiten erwähnt, die für jede Zeit von gleicher Wichtigkeit sind, deren Erkenntnis sich jedoch in jeder Generation ändert. Jede Ordnung ist auf einen Teil des Lebens bezogen, für den sie eine Einheit bildet. Nur für diesen Bereich kann die jeweilige Ordnung die ihr adäquate Entsprechung im Verhalten von Menschen erlangen. Der Mensch gehört verschiedenen Ordnungen an, die alle ihre eigenen Geltungsgründe haben. So nimmt der Mensch u. a. an der Ordnung moralischer Werte, logischer Gesetze, ontischer Daten und positivrechtlicher Sätze in gleicher Weise teil. Die Zuständigkeit der einzelnen Ordnungen bzw. ihre Abgrenzung voneinander ist deshalb so wichtig, weil jede Ordnung nur in ihrem Bereich die ihrer Art eigene Entsprechung verlangen kann und sich der eine Geltungsgrund nicht durch einen anderen ersetzen läßt. Er ist funktionell an einen bestimmten Ordnungszusammenhang gebunden. Deshalb ist es ausgeschlossen, daß Normen der Sittenordnung als solche nur im positivrechtlichen Sinn und Rechtssätze nur im sittlichen Sinn gelten. Die Ordnung selbst kann nur durch die ihr eigene Geltung zur vollen Wirksamkeit gelangen, d. h. erfüllt werden. 4  Erich

Fechner: Rechtsphilosophie. Tübingen 1956, S. 44. Hartmann: Ethik, 3. Aufl., Berlin 1949, S. 270. Über die Rangordnung der Werte siehe auch Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 3. Aufl., Halle a. d. S. 1927, S. 87 f. 5  Nikolai

32

Ordnung und Geltung

I. Die Rechtsidee und ihre Elemente Jede Ordnung ist auf eine ihr wesensmäßige Idee ausgerichtet, auch das positive Recht. Manche Autoren sehen eine so enge Bindung des Rechtes an die Rechtsidee gegeben, daß sie wie Julius Binder das Recht als „eine Einrichtung im Dienste der Rechtsidee“6 ansehen oder wie Gustav Radbruch in ihm jene Wirklichkeit sehen, „die den Sinn hat, dem Rechtswerte, der Rechtsidee zu dienen“7. Die Rechtsidee wirkt aber nicht direkt, unmittelbar auf den Normadressaten, sondern mittels der Rechtssätze, in denen es dem Gesetzgeber obliegt, ihr nach Möglichkeit zu entsprechen, sie wird nie Realität, sondern bleibt Idealität und ist der ideelle Grund der Rechtsordnung8. Sie ist als Teil der präpositiven sittlich-rechtlichen Ordnung möglicher Sinn und Ziel des positiven Rechtes. Dies soll aber nicht heißen, die Rechtsidee hätte ausschließlichen Einfluß auf die Rechtssetzung, oft spielen Faktoren in der Gesetzgebung mit, die der bloßen Machtsicherung dienen und keinen sittlichen Gehalt haben. Auf diese Umstände geht es zurück, daß die Rechtsordnung bald als Friedensordnung und bald als Machtordnung erscheint. Wenn diese Momente oft auch dadurch ausschließliche Bedeutung gewinnen, daß sie abwechselnd alleiniger Inhalt von Theorien über das Wesen des Rechtes werden, im Grunde sind sie ja doch nur ein Ausschnitt aus der Vielfalt der Wesenszüge des positiven Rechtes. Aus der Rechtsidee lassen sich aber nicht alle Rechtseinrichtungen sys­ tematisch für eine Rechtsordnung ableiten. Die Rechtsidee verrät nur den potentiellen Sinn des Rechtes und in ihren Elementen die Grenzen des gesetzgeberischen Willens, ohne die Möglichkeit zu bieten, jedes einzelne Rechtsinstitut auf seine Begründung in der Rechtsidee selbst zu unter­ suchen. Die Bedeutung der Rechtsidee liegt darin, daß sie die Verbindung zwischen dem positiv rechtsnormativen und dem wertidealen sittlichen Bereich ist. Coing stellte richtig fest: „Das Recht ragt mit der Rechtsidee in den Bereich des Sittlichen hinein. Aber es nimmt ihn nicht vollständig in sich auf.“9 Die Rechtsidee drängt, die auf konkrete Lebensvorgänge abgestellten sittlichen Postulate in abstrakten Tatbeständen für den normativen Bereich des Rechtes anwendbar zu machen. Nach dem Maß der Entsprechung gegenüber der Rechtsidee durch den Gesetzgeber wird das positive Recht mehr oder weniger die Sittlichkeit zum Grunde seiner Recht- bzw. Gesetz6  Julius

Binder: Rechtsbegriff und Rechtsidee. Leipzig 1915, S. 63. Radbruch: Rechtsphilosophie, 5. Aufl., Stuttgart 1956, S. 123. 8  Helmut Coing: Grundzüge der Rechtsphilosophie, Berlin 1950, S. 148, bezeichnet die Rechtsidee als die oberste Schicht des Rechts. 9  Coing, a. a. O., S.  149. 7  Gustav



Ordnung und Geltung33

mäßigkeit machen. Die wechselnde Entsprechung gegenüber diesem „außerrechtlichen Maßstab“10 im positiven Recht zeigt sich am deutlichsten in dem von Generation zu Generation mehr oder weniger starken Streben um die Erfassung des Naturrechtes, das in den verschiedenen erkenntnistheoretischen Bemühungen, nämlich in seinen Lehren11 und bisweilen auch in einzelnen Kodifikationen12, einen Niederschlag gefunden hat. In weitestem Maße ist dies auf Grund des Bonner Grundgesetzes heute in Deutschland der Fall, wo sich eine eigene Naturrechtspraxis in der Judikatur entwickelt hat13. Es ist dies ein Ausdruck des heute immer mehr feststellbaren Bemühens um Sicherheit im Recht und durch das Recht14. Die Rechtsidee tritt dem Gesetzgeber in ihren Elementen, d. s. das Gerechtigkeitsprinzip, die Rangordnung der Werte, die allgemeinen, übereinstimmend anerkannten Rechtsgrundsätze und dem Grundsatz der Rechtssicherheit entgegen. 1. Die Gerechtigkeit Die Gerechtigkeit15 ist das Prinzip, das die Gleichheit verlangt, wonach gerecht ist, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich, ungerecht aber, Ungleiches gleich und Gleiches ungleich zu behandeln16. Die Gerechtigkeit im Sinne der Gleichheit gibt ein Verhältnis an, und zwar im formalen Sinn: die Übereinstimmung eines Rechtssatzes mit einer ranghöheren Norm, im materialen Sinn: die Beobachtung eines materialen Apriori durch den Gesetzgeber im Wege der Positivierung. Der formalen Gerechtigkeit entspricht in 10  Beschluß

des Bundesgerichtshofes vom 17. Feber 1954. dazu Herbert Schambeck: Idee und Lehren des Naturrechts, in: Naturordnung, S.  443 ff. 12  Hans Thieme: Das Naturrecht und die europäische Privatrechtsgeschichte, Basel 1954. 13  Siehe dazu u. a. René Marcic: Die Judikatur des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes, JBl. 1953, S. 112 ff., Franz L. Neumann / Hans Carl Nipperdey / Ulrich Scheuner: Die Grundrechte, Berlin 1954, Albrecht Langer: Der Gedanke des Naturrechts seit Weimar und in der Rechtsprechung der Bundesrepublik, Bonn 1959, und Walter Leisner: Grundrechte und Privatrecht, München / Berlin 1960. 14  Über die unbedingte Existenz einer derartigen Weltordnung wie über die ethische Fundierung des Rechts siehe Wilhelm Weischedel: Recht und Ethik, Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe, Schriftenreihe Heft 19, 1956, besonders S. 19 ff. 15  Vgl. zu diesem Thema Hans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit?, Wien 1953; Max Rümelin: Die Gerechtigkeit, Tübingen 1920; Wilhelm Sauer: Die Gerechtigkeit, Berlin 1959; und Giorgio Del Vecchio: Die Gerechtigkeit, Basel 1940. 16  Radbruch, a.  a. O., S. 112: „Recht erhebt seinem Wesen nach Anspruch auf Gerechtigkeit, Gerechtigkeit aber fordert Allgemeinheit des Gesetzes, Gleichheit vor dem Gesetze.“ 11  Siehe

34

Ordnung und Geltung

der österreichischen Rechtsordnung das gesetzesstaatliche Prinzip, das im Art. 18 (1) B.-VG. lautet: „Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden.“ Danach sind nur jene Rechtsakte gesetzmäßig, die letztlich auf Grund von Gesetzen im formellen Sinn, d. h. von Beschlüssen des Parlaments gesetzt werden. Die gesamte Rechtsordnung steht im Dienste der Konkretisierung von Normen, die miteinander durch den Bedingungszusammenhang der Gesetzmäßigkeit verbunden sind. Gerecht ist danach jene Norm, welche die ranghöhere Norm näher ausführt. Das formale Gerechtigkeitsprinzip findet seine vollste Entfaltung im Rechtsstaat; denn in diesem ist, wie Radbruch es anschaulich darstellt, der Staat „zur Gesetzgebung berufen nur unter der Bedingung, daß er sich durch seine Gesetze selbst für gebunden halte“17. Einen anderen Bezug stellt die materiale Gerechtigkeit her. Sie strebt eine „Herausarbeitung der sachlogischen Strukturen, die im ganzen Rechtsstoff stecken und die jeder positiven Regelung vorgegeben sind“ (Hans Welzel)18 an. In diesem Sinne handelt gerecht jener Gesetzgeber, der die in den Dingen liegende Ordnung berücksichtigt, dessen Rechtssetzung also einer Sachentsprechung gleichkommt18a. Dies ist etwa der Fall, wenn der Gesetzgeber im Privatrecht die natürlichen Dauereigenschaften des Menschen19 berücksichtigt und im öffentlichen Recht aus der Natur des Menschen20 zur Sicherung seiner Freiheit und Würde21 Grundrechte ableitet. Eine derartige Gesetzgebung ist keine Rechtsfindung im Sinne der Neuschöpfung eines bisher unbekannten Wertes, sondern vielmehr eine allgemein verbindliche positiv-rechtliche Anerkennung22. Materialgerecht handelt somit jener Gesetzgeber, der die den Dingen innewohnende permanente Ordnung des sozialen Lebens zum Inhalt positiver Rechtssätze macht. 17  Radbruch,

a. a. O., S.  228. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 2. Aufl., Göttingen 1955, S. 198, und Naturrecht und Rechtspositivismus, in: Festschrift für Hans Nieder­ mayer, Göttingen 1953, S. 279 ff., insbesondere S. 292 f. 18a  In diesem Zusammenhang schreibt auch Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1952, S. 252: „Die Beobachtung dieser sachlogischen Strukturen ergibt jene ‚Natur der Sache‘, in der Maßstäbe einer konkreten Gerechtigkeit liegen.“ 19  Über die natürlichen Dauereigenschaften selbst siehe Fritz von Hippel: Das Problem der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie. Tübingen 1936, S. 49. 20  Siehe dazu Herbert Schambeck: Der Begriff der „Natur der Sache“, ÖZöR, 1959 / 60 (Band X), S. 452 ff., über die Natur des Menschen insbesondere S. 465 ff. 21  Vgl. Alfred Verdross: Die Würde des Menschen in der abendländischen Rechtsphilosophie, in: Naturordnung, 1961, S. 353 ff. 22  Beachte besonders Hans Peters: Die Positivierung der Menschenrechte und ihre Folgen, in: Naturordnung, S. 363 ff. 18  Hans



Ordnung und Geltung35

Stellt man beide genannten Formen der Gerechtigkeit einander gegenüber, so ist dieser Verhältniswert in seiner formalen Sicht am positiven Recht ausgerichtet und kann als Gesetzmäßigkeit bezeichnet werden. Im materialen Sinn ist die Gerechtigkeit hingegen nicht Maß am Recht, sondern des Rechtes, woran das positive Recht gemessen wird. Dieser Sinn der Gerechtigkeit ist die Rechtmäßigkeit. Bekannt ist die von Aristoteles in der „Nikomachischen Ethik“ (5. Buch) gegebene Einteilung in eine „austeilende“ oder geometrische Gerechtigkeit einerseits und in eine „ausgleichende“ oder arithmetische Gerechtigkeit andererseits. Die iustitia distributiva teilt die Rechte, Pflichten und Ehren nach der Würdigkeit aus (τò διανεμhtiκόν δίκαιον των κοινων), die iustitia commutativa macht die Gleichwertigkeit zu ihrem Verteilungsmaßstab (τò διορdθωτικòν, ό γίγνεται εν τοις συναλλάγμασι)23. Auch diese beiden Formen der Gerechtigkeit sind Formen der Gleichheit, die „austeilende Gerechtigkeit“ eine relative, die „ausgleichende Gerechtigkeit“ aber eine absolute Gleichheit24. Die Frage nach der richtigen Erkenntnis der Gerechtigkeit wird sich nie abschließend beantworten lassen, da die Gerechtigkeit nur ein Verhältnis von Größen zueinander ist, deren Inhalt sich ständig ändert. Radbruch hat die der Gerechtigkeit zugrunde liegende Gleichheit als die „Abstraktion von gegebener Ungleichheit unter einem bestimmten Gesichtspunkt gesehen“25 bezeichnet. 2. Die Rangordnung der Werte Die Gerechtigkeit ist wohl das bekannteste Element der Rechtsidee, aber nicht ihr einziges. Sie erhält in der Rangordnung der Werte einen sinnvollen Gehalt; das Bemühen um diesen war stets das Streben und das Kennzeichen des echten Kulturvolkes. Ihr richtiges Erfassen wurde verhindert einerseits durch die sich ändernden erkenntnistheoretischen Bedingungen und andererseits durch die politischen Wertungen der einzelnen Epochen. Vom Mut des Kriegers in der germanischen Zeit, über die Ehre Gottes im Mittelalter bis zur Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts wechselt die Bedeutung der einzelnen erstrebenswerten Höchstgüter, die es zu verteidigen oder anzustreben galt. Jede Stufe der kulturellen Fortentwicklung brachte ihre eigene Wertskala hervor. Diese Feststellung soll nicht die 23  Siehe dazu Alfred Verdross: Grundlinien der antiken Rechts- und Staatsphilosophie, S. 146, und Abendländische Rechtsphilosophie, S. 44. 24  Helmut Coing, a. a. O., S. 180, 184 f., kennt noch eine dritte Form der Gerechtigkeit: die iustitia protectica. Ihr oberster Satz lautet: „Alle Macht von Menschen über Menschen muß begrenzt sein. Unbeschränkte Macht widerspricht dem Recht.“ 25  Radbruch, a. a. O., S.  126.

36

Ordnung und Geltung

Anerkennung eines Relativismus, sondern vielmehr ein Hinweis auf das stete Bemühen der Menschen aller Generationen um Höchstwerte sein. Die bisher von vielen gepflogene Wertbetrachtung mag den Anschein erwecken, als würden die Werte selbst subjektiv bedingt sein, d. h. erst dadurch entstehen, daß sie von dem Erkenntnis suchenden Subjekt in die einzelnen Güter „hineingelegt“ werden. Das ist aber nicht der Fall, denn jeder Sachverhalt enthält in seiner Natur einen ihm wesensmäßig vorgegebenen Wert. Demnach kann jeder so bestehende Wert die Geltung von „gerecht“ begründen, die Werthöhe bestimmt sich wieder nach dem Maß des Ausgleichs, den der Wert im sozialen Leben zu stiften vermag. Daraus ergibt sich etwa der Wert der Ehe und Familie als Lebensgemeinschaft und des Staates als umfassend organisierte Gemeinschaft, d. h. als ausgleichende Einheit einer Vielheit von Ordnungen. Alle Güter und Rechtseinrichtungen sind immer als Glieder einer Ordnung zu sehen, und diese wieder als Teil einer größeren, umfassenderen Ordnung, welche die Aufgabe hat, den spezifischen Rechtszweck, nämlich die größtmögliche Garantie von Frieden, Ordnung und Sicherheit zu stiften. Je nachdem, in welchem Maße es möglich ist, die einzelnen Güter an der Erfüllung dieses Rechtszweckes mitwirken zu lassen, werden sie höher- oder niederrangiger sein. Eine Verschiedenrangigkeit bzw. Verschiedenwertigkeit der Güter kennt auch der Gesetzeber, der den einzelnen Rechtsgütern ein differenziertes Maß an Rechtsschutz, das aus der Höhe der Strafe erkennbar ist, angedeihen läßt. Für diese ist allerdings auch der Grad der Gefährdung des einzelnen Gutes, z. B. des Lebens oder der Familie bestimmend. Dies ist der Grund, warum der Gesetzgeber für Kapitalverbrechen zu einer Zeit die Todesstrafe erforderlich erachtet, zu einer anderen Zeit aber wieder nicht. Die wirtschaftlichen, politischen, sozialen Umstände mögen sich ändern, nicht aber der Rang der einzelnen Güter, diesen gilt es den obgenannten Umständen entsprechend verschieden zu sichern und zu schützen. Der Grad der sich ständig ändernden Schutzbedürftigkeit der Güter und Rechtseinrichtungen möge daher nicht verwechselt werden mit dem gleichbleibenden Rang der Werte26. Johannes Messner27 hat schon darauf hingewiesen, daß von der Ontologie der Zweckordnung die Realisierung der Zweckordnung wohl zu unterscheiden ist. Die Realisierung der Zweckordnung im sichtbaren Bereich des positiven Rechtes ist meist politisch bedingt, es werden daher im positiven Recht nicht alle Ordnungszwecke berücksichtigt und Werte konkretisiert. Die Notwendigkeitsbelange der Zeit 26  Einen solchen ständigen Wert stellt die Familie dar. Siehe dazu Hans Schmitz: Gerechtigkeit für die Familie, Wien 1949, und Renaissance der Familie, in: Naturordnung, S.  282 ff. 27  Johannes Messner: Das Naturrecht, 3. Aufl., 1959, S. 47.



Ordnung und Geltung37

und das Vollkommenheitsstreben des Seins begleiten konkurrierend unser Bemühen um das Erfassen einer essentiell gerechten Wertordnung, die nicht der Inbegriff von Wertidealen, sondern von Grundwerten sein soll. 3. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze Eine Übereinstimmung in der Erkenntnis verschiedener Werte, die in der Idee des Rechtes selbst gelegen sind, läßt sich aus den Rechtsgrundsätzen ermitteln, die wir in fast allen Rechtsordnungen feststellen können und die deshalb als übereinstimmend anerkannte bezeichnet werden. Als solche sind beispielsweise der Grundsatz von Treue und Glauben, der Anfechtung von Verträgen wegen Willensmängel, der Verschuldenshaftung, des Verbotes des Rechtsmißbrauches, der Rechtskraft von individuellen Rechtsakten und der Grundsatz „lex specialis derogat generali“ anzusehen. Sie sind ein Ausfluß des Rechtsbewußtseins der Menschen, welches von der einen sich im natürlichen Rechtsgewissen manifestierenden Rechtsidee bestimmt wird und deshalb als einheitlich angesehen werden kann. Alfred Verdross spricht in diesem Zusammenhang vom „gemeinsamen Rechtsboden der Menschheit“28, der in der Natur des Menschen so verankert ist, daß er Ewigkeitscharakter hat. Diese Rechtsgrundsätze sind die Voraussetzungen der Rechtsordnungen der einzelnen Staaten und damit auch des Rechts der Staatengemeinschaft, nämlich des Völkerrechts. Auf sie ist in der völkerrechtlichen Judikatur immer dann zurückzugreifen, wenn das positive Völkerrecht keine andere Regelung ermöglicht. Da das Völkerrecht wesensmäßig unvollkommen ist, sind die allgemeinen Rechtsgrundsätze als die normative Grundlage bezeichnet worden, „welche die Staaten zu einer Einheit verbindet“29. Ihre ausdrückliche Positivierung, d. h. die Anerkennung dieses vorhandenen Rechtes, erfolgte durch Art. 38 lit. c des Statuts des Internationalen Gerichtshofes, danach hat dieser Gerichtshof subsidiär, wenn weder nach dem Vertragsrecht noch nach dem völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht die Regelung eines Streitfalles möglich ist, diese nach den „von den Kulturvölkern übereinstimmend anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ (principes généraux de droit) zu erfolgen30. Das Völkerrecht kann nur auf dem Prinzip der Übereinstimmung seine Rechtsordnung aufbauen und muß daher die allen Ordnungen gemeinsame Rechtsidee als letzten Geltungsgrund anerkennen. Es wundert daher nicht, wenn Verdross schreibt, die allgemeinen Rechtsgrundsätze 28  Verdross / Zemanek:

Völkerrecht, 4. Aufl., Wien 1959, S. 12. a. a. O., S.  25. 30  Verdross unterscheidet a. a. O., S. 97, genau zwischen zwei Arten von allgemeinen Rechtsgrundsätzen: „jene, die vom Völkergewohnheitsrecht und vom Vertragsrecht vorausgesetzt werden und solche, die sich aus dem Inhalte des übereinstimmenden Rechts der Kulturvölker ergeben“. 29  Verdross / Zemanek,

38

Ordnung und Geltung

durchleuchten die ganze Völkerrechtsordnung31. Sind diese doch der Ausdruck weitestgehenden Einflusses und Abhängigkeit des positiven Rechts von der Rechtsidee, deren normativer Niederschlag sie sind. 4. Die Rechtssicherheit Die Rechtsidee und ihre bisher aufgedeckten Erscheinungsformen verlangen nicht bloß erkannt, sondern in der gleichen Weise anerkannt zu werden. Dies setzt aber eine letzte Ausgliederung der Rechtsidee voraus: die Rechtssicherheit. Ohne diesen normativen Grundwert würde sich die gesamte Rechtsordnung erübrigen. Erst sie macht eine Rechtssetzung möglich. Der Begriff der Rechtssicherheit ist vieldeutig. Man versteht darunter in gleicher Weise die Bestimmbarkeit von Ordnungsprinzipien, den Schutz von Rechtseinrichtungen wie die Vorhersehbarkeit staatlichen Organhandelns. Germann32 sieht darin sogar eine gewisse Stufenfolge, als welche zu einer funktionellen Einheit zusammengefaßt die Sicherheit der Geltung „die Grundlage für die kulturelle Funktion des Rechtes bildet“. Die Rechtssicherheit ist nicht allein darin zu erblicken, daß ein Gesetzesbefehl mit Sicherheit durchgesetzt wird, sondern auch darin, daß mit Sicherheit die Elemente der Rechtsidee, nämlich die Formen der Gerechtigkeit, der Rang der Werte und die allgemein anerkannten Rechtsgrundsätze vom Gesetzgeber erkannt werden können. Dies gibt noch keine Sicherheit darüber, was Recht sein soll, sondern vielmehr eine Sicherheit, was Recht sein kann, wenn der Gesetzgeber sich entschlossen hat, der Rechtsidee und ihren Ausprägungen zu entsprechen33. Die Rechtssicherheit34 ist als Möglichkeit der Konkretisierung der Rechtsidee und ihrer Bestandteile ein Idealzustand, als stete Sicherheit der Gesetzesdurchsetzung ein Realzustand, der sich u. a. in dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, den Verfahrensvorschriften, insbesondere in der Einrichtung der Rechtskraft manifestiert. Die Rechtssicherheit verlangt die Positivität des Rechtes, d. h. den Zwangs­ charakter, der dem gesatzten Recht zu eigen ist. Dadurch ist den Kategorien der Gerechtigkeit und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen nicht bloß ihre Rechtsfindung, sondern auch eine Rechtsbefolgung gewährleistet, nach der 31  Verdross / Zemanek,

a. a. O., S.  94. A. Germann: Methodische Grundfragen. Schweizerische criminalistische Studien Nr. 1, Basel 1946, S. 59. 33  Germann, a. a. O. unterscheidet zwischen der Sicherheit des Rechtsinhaltes und der Sicherheit der Rechtsgeltung, wobei ich aber nur dem Vorhandensein letzterer zustimme, da kein Rechtsinhalt mit Sicherheit vorhergesagt werden kann. 34  Siehe dazu auch Ludwig Bendix: Das Problem der Rechtssicherheit, Berlin 1914, und Max Rümelin: Die Rechtssicherheit, Tübingen 1924. 32  O.



Ordnung und Geltung39

die Erscheinungsformen der Rechtsidee nicht bloß vorhersehbar sind, sondern auch durchsetzbar werden. Insofern ist die Rechtssicherheit selbst ein Wert. Der Begriff Rechtssicherheit trägt jedoch eine große Gefahr in sich, die darin besteht, daß viele übersehen, daß sich der Wortteil „Sicherheit“ mit dem Begriff „Gewißheit“ nicht deckt. Oftmals schützte eine Rechtsordnung Güter, Rechtseinrichtungen, ohne daß ihr Gesetzgeber auch die Gewißheit hat, daß es sich nicht bloß um Wertungen, sondern um Werte handelt, die schutzbedürftig sind. Einem zeitbedingten Ordnungszweck wegen kann es dann geschehen, daß die beiden Bestandteile der Rechtsidee, nämlich die Gerechtigkeit und die Rechtssicherheit, dadurch miteinander in Widerspruch geraten, daß die Rechtssicherheit nach dem Satz Goethes: „Ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als Unordnung ertragen“ die Geltung ungerechter Rechte nicht bloß ermöglicht, sondern auch zu entschuldigen scheint. Nur allzu leicht ist auf diese Weise im Streben nach Sicherheit an die Stelle der Freiheit die Unfreiheit getreten. Hat es doch den Anschein, als ließe sich mittels der Rechtssicherheit jedes positive Recht nicht allein entschuldigen, sondern auch rechtfertigen35. Dies ist der Weg des Positivismus. Er hat es verstanden, die jeweils herrschenden Verhältnisse als normativ gewollte darzustellen. Am bekanntesten ist wohl im innerstaatlichen Recht die Verjährung und im Völkerrecht das Institut der Ersitzung, wonach ein Staat unter bestimmten Voraussetzungen nach Ablauf von mindestens 30 Jahren (Zeit einer Generation) auch an einem widerrechtlich erworbenem Gebiet Eigentum erwerben kann. Ein unrechtmäßiger Zustand wird dadurch zu einem Rechtszustand. – Im Widerstreit zwischen dem positiven Recht und dem Gedanken der Gerechtigkeit, der sicherlich den Hauptinhalt der Rechtsgeschichte36 ausmacht, nimmt die Rechtssicherheit die Mitte ein. Sie steht oft zwischen der Rechtsidee und der bloßen Macht. Alle Bestandteile der Rechtsidee stehen in einem bestimmten Verhältnis zueinander, da sie Ergänzungswerte sind. In der Beziehung von Rechtssicherheit und formaler Gerechtigkeit im Sinne von Gesetzmäßigkeit ist diese die inhaltliche Erfüllung der letztgenannten Ausprägung der Rechtsidee. Unberührt davon bleibt jene Gerechtigkeit, die in den ontischen Werten der Sachgegebenheiten vorliegt und als materiale bezeichnet wird, sie bedarf der Rechtssicherheit nicht zur Begründung ihrer Existenz, wohl aber zur Entsprechung ihres Wertgehaltes durch den Gesetzgeber im positiven Recht. 35  So schreibt auch Radbruch, a. a. O., S. 182: „Aber wie ungerecht immer das Recht seinem Inhalt nach sich gestalten möge – es hat sich gezeigt, daß es einen Zweck stets, schon durch sein Dasein, erfüllt, den der Rechtssicherheit.“   Über Rechtssicherheit und Naturrecht siehe besonders Walter Antoniolli: Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1954, S. 107 ff. 36  Hans Planitz: Deutsche Rechtsgeschichte, Graz 1950, S. 1.

40

Ordnung und Geltung

Erfolgt aber eine solche Positivierung nicht, dann kann ein Widerspruch von Gerechtigkeit, nämlich im materialen Sinn als Rechtmäßigkeit und Sicherheit entstehen. Dies ist um so leichter möglich, als die Sicherheit meist für Zweckmäßigkeitserwägungen mißbraucht wird, die letztlich in dem Satz zu gipfeln vermögen: „Recht ist, was dem Volke nützt.“ Diese Auffassung hat aber die Grenzen dessen, was sich aus der Rechtsidee und ihren Erscheinungsformen ableiten läßt, überschritten. Die bloße Zweckmäßigkeit ist, wie auch Radbruch37 festzustellen wußte, von der Willkür nicht zu unterscheiden und hat keinerlei Bezug zur Rechtsidee, da sie „keine allgemein gültige Feststellung“ gestattet38. Sollte das aus Zweckmäßigkeitserwägungen statuierte Unrecht auch auf alle Einwohner eines Staates in gleicher Weise angewendet werden, so mag dies wohl gesetzmäßig sein, kann aber niemals gerecht im materialen Sinn, also rechtmäßig werden. Auch wenn alle Einwohner eines Staates durch den Willen ihres Gesetzgebers ihre Grundrechte verlieren, ist dieser Zustand wohl gesetz-, aber niemals rechtmäßig, denn die Freiheit und die Würde des Menschen bilden ja einen solchen Grundwert des Rechtes, daß er selbst durch eine vermeintliche Gerechtigkeit, die in der Gleichheit enthalten ist, nicht ersetzt werden kann39. Sollte aber das durch Zweckmäßigkeitserwägungen bedingte Unrecht ein Übermaß annehmen, das den Wert der Rechtssicherheit übersteigt, dann gefährdet dieses Unrecht seinen eigenen Bestand dadurch, daß es selbst zum Widerstand aufruft. Daraus kann ersehne werden, daß der Wert der Rechtmäßigkeit dem der Rechtssicherheit in seiner Wirkung übergeordnet ist. Kein Unrecht, auch wenn es in Gesetzesform auftritt, kann mit dauerndem Rechtsgehorsam rechnen. Wird dieser nicht mehr gezollt, dann muß der Gesetzgeber sich auf den sittlichen Wert der Rechtssicherheit besinnen; dieser kann nur in einer Übereinstimmung mit der Rechtmäßigkeit gefunden werden. Dies ist auch der Ort, von dem aus es den neuen Rechtsstaat zu errichten gilt. Dementsprechend hat das Bonner Grundgesetz in seinem Art. 20, Abs. 3, eine ausdrückliche Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung „an Gesetz und Recht“ verankert40. 37  Radbruch:

Vorschule der Rechtsphilosophie, Heidelberg 1948, S. 30. der Feststellung des Naheverhältnisses von Rechtmäßigkeit und Willkür bezeichnet aber Radbruch in seiner Rechtsphilosophie a. a. O., S. 168, die Zweckmäßigkeit als den zweiten Bestandteil der Rechtsidee. 39  Anderer Meinung scheint Radbruch: Vorschule, S. 31, zu sein. 40  In diesem Sinne stellt auch Theodor Maunz: Deutsches Staatsrecht, München und Berlin 1958, 9. neubearbeitete Auflage, S. 58, fest: „Zwar unterscheidet Art. 20 Abs. 3 GG zwischen Gesetz und Recht, wobei unter jenem nicht nur das formelle Gesetz, sondern vielmehr alle von diesem abgeleiteten geschriebenen Rechtssätze (das gesetzte Recht), unter diesem aber das Rechtsnorm enthaltende, jedoch ungeschriebene Recht zu verstehen ist … Unter ‚Recht‘ im Sinne des Art. 20 GG sind zunächst die aus den demokratisch-rechtsstaatlichen Grundprinzipien unmittelbar 38  Trotz



Ordnung und Geltung41

Die Rechtsidee als solche wie einzelne ihrer erfaßbaren Erscheinungen machen in jeder Zeit ihren eigenen Bedeutungswandel durch, der sie, wie z. B. die Gerechtigkeit im Sinne von Rechtmäßigkeit mit der Rechtssicherheit auch in Widerspruch geraten lassen kann. Dieser kann sich jedoch wieder auflösen, da die Rechtsidee doch eine „dialektische Einheit“41 von Gerechtigkeit, Rangordnung der Werte, der übereinstimmend anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze und des Prinzips der Rechtssicherheit ist. Das positive Recht wird der Rechtsidee und ihren Elementen in den Perioden seiner Entwicklung mehr oder weniger entsprechend nahe kommen und danach mit wechselnd hinreichende Begründung auch als ein richtiges Recht bezeichnet werden können42. In dieser Weise ist die Rechtsidee das Apriori des positives Rechtes. Unabhängig davon, ob der Gesetzgeber die Rechtsidee anerkennen will oder nicht, bleibt sie als Wert höchster Ordnung bestehen. Selbst wenn ihre Existenz nicht durch jenes Maß an Geltung gekennzeichnet ist, das eine Durchsetzung mit Anwendung von Zwangsfolgen gestattet, ist sie doch als Wertmaßstab vorgegeben. Die Geltung der Rechtsidee ist eine andere als die des positiven Rechtes. Binder wußte dies schon zu unterscheiden: „Die Geltung des positiven Rechtes besteht in seiner praktischen Durchsetzbarkeit, die der Rechtsidee in ihrer idealen schlechthinnigen Richtigkeit oder Notwendigkeit“43.

ableitbaren ungeschriebenen Rechtsnormen, darüber hinaus aber alle sonstigen von der allgemeinen Rechtsüberzeugung getragenen ungeschriebenen Rechtsnormen zu verstehen.“ Vgl. aber auch von Mangoldt / Klein: Das Bonner Grundgesetz, 1957, 1. Bd., S. 603: „Somit bezeichnet ‚Recht‘ im Sinne dieses Absatzes den Wert (Wertgehalt oder Rechtsgehalt), den das Gesetz in sich aufnehmen muß, um rechtsverbindlich zu sein und bedeutet ‚Gesetz‘ Positivität ohne Wertgehalt, ‚Recht‘ Wertgehalt ohne Positivität.“ Eberhard Schmidt: Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Göttingen 1952, 1. Teil, S. 222, sieht in der Formulierung „Gesetz und Recht“ einen Pleonasmus, weil nämlich das „Recht“ es ist, „das alleinige Richtschnur für richterliche Rechtspflege sein soll, ‚Recht‘ im Sinne des Inbegriffs der an der Idee der Gerechtigkeit orientierten Wertungen menschlichen Verhaltens im Gemeinschaftsleben.“ Siehe auch Werner Maihofer: Die Bindung des Richters an Gesetz und Recht, in: Annales Universitatis Saraviensis, Vol. VIII, Fasc. 1 / 2 1960, S. 5 ff. 41  Karl Larenz: Das Problem der Rechtsgeltung, Berlin 1929, S. 32. 42  Larenz, a. a. O., S. 33, stellt dazu fest: „Freilich ist das System des Rechtes nie ein geschlossenes und daher auch kein lückenloses, weil die ‚Positivierung‘ der Idee in keinem Augenblick der Zeit vollendet sein kann, weil alles Zeitgeschaffene auch dem Wandel der Zeit unterliegt, weil alles Recht als positives ein in der Geschichte entstehendes und darum auch vergehendes und gerade in diesem ständigen Fluß und Wechsel ein geschichtlich-lebendiges ist.“ 43  Julius Binder: Philosophie des Rechts, Berlin 1925, S. 256.

42

Ordnung und Geltung

II. Die Notwendigkeit des positiven Rechtes Die sinngebende Leistung der Rechtsordnung ist die Rechtssicherheit, die zum einen in der möglichen Erkenntnis der Rechtsidee zu sehen ist, zum anderen aber in der durch den Akt der Rechtssetzung entstandenen „Vorhersehbarkeit und Eindeutigkeit der Normen“44 liegt. Die letztgenannte Sicherheit ist ein Schutz vor Willkür, die den Organen der Gesetzgebung ebensolche Grenzen ihres Wollen setzt, wie den Normadressaten, an die sich der Gesetzesbefehl richtet. Wenn auch der Ursprung der beiden Formen der Sicherheit verschieden ist, im ersteren Fall ist es die Rechtsidee, im anderen Fall der Wille des Gesetzgebers, so sind sie beide auf dasselbe Ziel hin ausgerichtet: nämlich auf Errichtung einer Dauerordnung, welche die Rechte und Pflichte des Einzelnen genau festlegt und dadurch für künftige Normadressaten vorhersehbar ist. Die Sicherheit als das Hauptziel des Rechtes wird in der Rechtskraft am deutlichsten, durch die das im Verfahren erreichte Ergebnis für die Partei und für den Staat als Repräsentanten des öffentlichen Interesses gesichert, aber auch unanfechtbar wird. Dieses Vertrauen auf das positiv-rechtlich Festgelegte ist die Wiege jeglicher Rechtskultur. Die Rechtssicherheit verlangt nach dem positiven Recht, denn „die Ordnung des Zusammenlebens kann den Rechtsanschauungen der zusammenlebenden Einzelnen nicht überlassen bleiben, da diese verschiedenen Menschen möglicherweise entgegengesetzte Weisungen erteilen“, die Ordnung „muß vielmehr durch eine überindividuelle Stelle eindeutig geregelt werden“45. Auch die präpositiven Prinzipien, die das Naturrecht ausmachen, verlangen geradezu nach einem positiven Recht46. Bedürfen doch die auf die zeitlich und örtlich differenzierten Verhältnisse in Anwendung gebrachten Prinzipien des Naturrechtes, wie sie sich aus der „Natur der Sache“ als dem Ursprungswert der Seinsordnung und der Rechtsidee als dem Ursprungswert der Sollensordnung ergeben, der konkreten Ausführung durch das positive Recht47, da es einerseits der Natur des gefallenen Menschen oft nicht immer möglich ist, die sittliche Verantwortlichkeit von sich aus zu erkennen und 44  Germann,

a. a. O., S.  55. Rechtsphilosophie, S. 179. 46  So schreibt auch Verdross: Primäres Naturrecht, sekundäres Naturrecht und positives Recht in der christlichen Rechtsphilosophie, in: Ius et lex, Festgabe für Max Gutzwiller, Basel 1959, S. 455: „Das Naturrecht bedarf des positiven Rechts, um in einer Gemeinschaft wirksam zu werden und das positive Recht ist im Gewissen nur verbindlich, wenn es dem Naturrecht entspricht. Bloß in ihrer Verbindung entsteht das konkrete Recht einer bestimmten Gemeinschaft. 47  Johannes Messner: Das Naturrecht im positiven Recht. ÖZöR, 1958 / 59, Bd. IX, S.  132 f. 45  Radbruch,



Ordnung und Geltung43

andererseits das Naturrecht dem Gesetzgeber auch einen neutralen Raum läßt, „in dem das Naturrecht den Gesetzgeber zur Entscheidung legitimiert, ohne ihm inhaltlich bestimmte Rechtsprinzipien vorzugeben“. Fordert doch auch die Natur des Menschen, die als auf den Staat bezogen bereits von Aristoteles48 erkannt wurde, nach dem positiven Recht, denn kein Staat kann ohne die entsprechende Autorität bestehen. Aus diesem Grunde wird die Autorität auch in der Soziallehre der Päpste als Ordnungsprinzip nicht nur anerkannt, sondern sogar verlangt: „Der demokratische Staat, ob Monarchie oder Republik, muß wie jede andere Regierungsform mit wahrer und wirksamer Autorität ausgestattet sein“49, heißt es in der Radiobotschaft Pius XII. vom 24. Dezember 1944. Nach der Enunziation Pius XI.50 ist die echte und legale Autorität überall „ein Band der Einheit, eine Quelle der Kraft, eine Gewähr gegen Zerfall und Splitterung, eine Bürgschaft der Zukunft“. Dem Bemühen um die Geltung des positiven Rechts steht aber die Tatsache entgegen, daß die Geltung einen vielfachen Sinn hat. Gelten doch nicht nur positivrechtliche Normen, sondern u. a. auch logische und sittliche Normen. Sie alle gelten aber stets in einem anderen Sinn. Die logischen Normen gelten, weil sie dem wesenhaften Sein entsprechen. Beide Normen sind Erkenntnisnormen, denn aus den Werten der Wahrheit und Richtigkeit schöpfen sie ihre Geltung. Anders die Rechtsnorm: sie gilt nicht als anerkannter, sondern als gewollte Satz. Husserl sagt: „Vom handelnden Subjekte, nicht von dem erkennenden heischt das Recht Anerkennung“51. Ein Willens48  Aristoteles: Politika, I. Buch, II. Kap., 1253 a (2–4) sowie im Anschluß an ihn u. a. Klemens von Alexandrien: Stromata, I, 6, 34, und Origines, Contra Celsum. 7, 59. 49  Pius XII: Grundlehren über die wahre Demokratie, Radiobotschaft an die Welt: 24. Dezember 1944, deutsche Übersetzung in Utz-Groner: Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, Freiburg 1954, 2. Bd., S. 1778. Beachte auch die Darlegungen über den christlichen Begriff der Staatsmacht durch Pius XII: Grundsätze der christlichen Politik, Ansprache: 28. März 1957, in Utz-Groner, 3. Bd., S.  3757 f. 50  Pius XI: Rundschreiben „Mit brennender Sorge“ vom 14. März 1937, deutsche Übersetzung in: Emil Marmy: Mensch und Gemeinschaft in christlicher Schau, Freiburg 1945, S. 224. Dies ist eine Fortsetzung des Gedankens über die Notwendigkeit der Obrigkeit, den Leo XIII. in seinem Rundschreiben „Immortali Dei“ vom 1. November 1855, Marmy, S. 576, geäußert hat: „Da aber keine Gesellschaft bestehen kann, wenn nicht einer an der Spitze aller steht, der mit wirksamem und gleichmäßigem Antrieb die einzelnen zum gemeinsamen Ziel hinlenkt, so folgt daraus, daß auch die bürgerliche Gesellschaft eine Autorität braucht, die sie leitet.“ Über die staatliche Autorität beachte auch Leo XIII.: Rundschreiben „Diuturnum illud“ vom 29. Juni 1881, Marmy, S. 553 ff., und über die Grenzen der Autorität und des Gehorsams u. a. Leo XIII.: Rundschreiben „Sapientiae christianae“ vom 10. Jänner 1890, Marmy, S. 610. 51  Gerhart Husserl: Rechtskraft und Rechtsgeltung, Berlin 1925, S. 8. 

44

Ordnung und Geltung

akt ist es, der das normative Sein des Gesetzes bestimmt, nämlich der Rechtssetzungsbeschluß des Gesetzgebers. Dieser wird aber im Unterschied zu den Geltungsbedingungen der Logik und der sittlichen Ordnung auch von raumzeitlich gebundenen Momenten, die meist von der Politik ihren Ausgang nehmen, bestimmt. Der Charakter der Überzeitlichkeit und der Allgemeingültigkeit, und dies in einem präpositiven Sinn, kommt nur jenen Normen zu, die sich als Rechsgrundsätze auf die Rechtsidee und ihre Elemente zurückführen lassen. Alle übrigen Normen sind in ihrer Geltung vielfach begrenzt. Dieser Unterschied in dem Bindungswert der Geltung geht darauf zurück, daß es nicht allein Aufgabe eines Rechtssatzes ist, auszudrücken, was wahr oder richtig ist, sondern was rechtens zu sein hat. Letztere Festlegung obliegt dem Gesetzgeber52 selbst, ihm ist die Möglichkeit gegeben, einem Seinswert oder einer sittlichen Forderung oder auch einem machtpolitischen Anspruch Rechtsgeltung zu verschaffen. Dies soll aber nicht so verstanden werden, als würden etwaige Normierungen des Seins oder der Sittlichkeit erst durch den Akt der Positivierung ihre Bedeutung für das soziale Leben erhalten haben, diese ist meist schon präpositiv gegeben. Dies muß deshalb betont werden, weil das Recht als raumzeitliche Wirklichkeit gerade aus den genannten Bereichen seinen wesentlichen Gehalt bezieht, nämlich jenen, der aus der Ordnung die Geltung erklären läßt. Die Ordnung ist somit eine der Wesensvoraussetzungen des positiven Rechtes im allgemeinen, der Rechtsgeltung im besonderen. Denn von ihr hängt es einerseits ab, mit welchem Inhalt und andererseits in welcher Form das positive Recht dem Normadressaten entgegentritt. Der Notwendigkeitscharakter der Geltung geht aus der Ordnung hervor. Sie verlangt aus der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen heraus nach einer einheitlichen, für einen bestimmten Bereich verbindlichen Gültigkeit mit Zwangscharakter, das ist die Rechtsgeltung. Sie garantiert durch ihre Legalität je nach dem Maß der Entsprechung durch die Rechtssetzungsorgane der normativen Ordnung ein Maß an Bindung, der sich niemand entziehen kann. Die Frage nach dem Grund dieser für notwendig erachteten Gebundenheit ist die nach dem Wesen der Geltung. Denn es gilt zu erklären, warum das Befolgen eines Befehls einmal als Recht und ein andermal als Unrecht angesehen wird, und in welchem Verhältnis Erkenntnis- und Verpflichtungsgrund zueinander stehen.

52  Radbruch: Rechtsphilosophie, S. 179, Anmerk. 2: „Die Rechtssetzungsbefugnis des Machthabers kann eine bestimmte Rechtsansicht zwar zur Grundlage der Rechtsordnung machen, aber nicht als allgemeingültige Rechtswahrheit ausrufen, dem Machtkampfe, nicht aber dem Meinungskampf der Rechtsansichten ein Ende setzen.“



Ordnung und Geltung45

III. Das Wesen der Rechtsgeltung Zwei Arten von Normen bestimmen die Ordnung. Es sind dies die Normen des autonomen Sollens im Bereich der Natur und die des heteronomen Sollens im Bereich des Rechtes. Die Eigengesetzlichkeit der kausalen Ordnung hat als solche noch keinen Zwangscharakter nach der Art eines Gesetzes, aus ihr ergeben sich noch keine Gebote und Pflichten für den einzelnen Normadressaten. Der Begriff Recht hat, wie Laun festzustellen wußte, zwei Bedeutungen: „Das Recht als Sein und das Recht als Sollen“53. Die Anordnung eines Befehles mag wohl ein Sollen sein, das tatsächliche Befehlen und Gehorchen hingegen ist ein Seinsakt, der allerdings durch einen Sollensbefehl bedingt ist. Die Rechtssetzung wie die Rechtsanwendung ist ein sich auf allen Stufen der Rechtskonkretisierung fortsetzender Integrationsprozeß von Sein und Sollen54. Es ist daher falsch, den Gegensatz von Sein und Sollen mit dem von positivem und nichtpositivem Recht gleichzusetzen. Es sei auch Laun zugestimmt und die Positivität in der Tatsächlichkeit erkannt und der Rechtssatz als eine Aussage über eine Tatsache angesehen55. Die Tatsächlichkeit ist auch in dem sich permanent bestätigenden Gehorsam zu erblicken, der Inhalt des Rechtssatzes in einer Seinsaussage, die an einen Sollensbefehl gebunden ist. Besteht doch jeder Rechtssatz aus einem Tatbestand und einer Rechtsfolge. Der Sollensteil des Satzes ist mit dem Seinsteil hypothetisch verbunden, denn das Sollen ist durch das Entsprechen des Tatbestandes bedingt, z. B. wer gegen einen Menschen in der Absicht, ihn zu töten, auf eine solche Art handelt, daß daraus dessen oder eines anderen Menschen Tod erfolgt, macht sich des Verbrechens des Mordes schuldig und soll mit Kerker bestraft werden. Ein Seinsvorgang, die Tötung eines Menschen, wird durch das Sollen zuzüglich einer Strafandrohung mit dem Ausdruck des Wollens des Gesetzgebers, der in diesem Fall der Schutz des Lebens ist, verbunden. Der Wille des Gesetzgebers ist von bestimmter Art, der drückt sich in keinem Ersuchen aus, sondern in einem Befehl, den er an den ihm untergeordneten Normadressaten richtet. Ein abstrahierter Lebensvorgang wird mit einem Imperativ verbunden, der als geltend zu betrachten ist, weil er von dem Gesetzgeber ausgeht, der ihm „normative Kraft“ verleiht und daher als Korrelat des Imperativs56 53  Rudolf

Laun: Recht und Sittlichkeit, Berlin 1935, S. 40. Sein und Sollen im rechtlichen Stufenbau siehe René Marcic: Die bedingte Natur des positiven Rechts. JZ, Heft 7 / 1960, S. 198 ff. 55  Laun, a. a. O., S.  52. 56  Über den imperativen Charakter von Rechtssätzen siehe Karl Engisch: Einführung in das juristische Denken, 2. Auflage, Stuttgart 1959, S. 22. Die Bedeutung des 54  Über

46

Ordnung und Geltung

Pflichten für den Gesetzesunterworfenen begründet. Diese wechselseitige Beziehung von abstrahierten Lebensvorgängen und Gesetzesbefehl in einem Rechtssatz lassen diesen als einen bedingenden bedingten Zusammenhang erscheinen, dessen Teile für sich allein keine Kraft haben, da sie „nur durch wechselseitige Zusammenfügung einen vollständigen Sinn“57 ergeben. In der Rechtsgeltung sind Sein und Sollen zu einem organischen Ganzen vereint. Das durch einen Seinsvorgang bedingte Sollen ist auf die Herstellung eines Nicht-Seienden gerichtet, nämlich auf den vom Gesetzgeber erstrebten Rechtszustand58. Ist dieser hergestellt, dann löst sich der Gegensatz von Sein und Solen, der ein dialektischer ist, auf. Handelt es sich doch um einen Gegensatz, von dem Larenz schrieb, daß er „ebenso notwendig ein Gegensatz als eine Einheit darstellt, so, daß ein jeder der gegenständlichen Begriffe den anderen schon in sich schließt“59. Das Sein ist Bedingung und Ziel des Sollens zugleich. Nach dieser Analyse des Rechtssatzes muß die Frage nach seiner Rechtswerdung gestellt werden, also nach jenem Akt, der dieser Bindung von Sein und Sollen Zwangscharakter verleiht. Die Beobachtungs- und Befolgungspflicht ist nämlich das entscheidende Merkmal der Rechtsgeltung. Bedeutung im sozialen Sinn mag der betreffende Sachverhalt als Seinswert bereits ge­ habt haben. Zu einem positiven Rechtswert wird er erst durch den Willen des Gesetzgebers in der Rechtssetzung. Auch der Gesetzentwurf ist noch nicht verbindliches positives Recht, sondern ein möglicher Rechtsgeltung zugänglicher Sachverhalt. Es ist das letzte Stadium des Seins vor seiner Positivierung. Auch dieses ist von Bedeutung. Kelsen lehrt: „Für die Wahrheit des Rechtssatzurteils sind alle Voraussetzungen, ist jeder einzelne Akt der Gesetzgebung von gleicher Bedeutung.“60 Er lehnt die Laband-Seligmannsche Konstruktion ab, da sie „das Wesen der Gesetzgebung in der Ausstattung einer Regel mit Verbindlichkeit erblickt und darum die Sanktion als den Kernpunkt hinstellt“61. Die Fixierung des Gesetzesinhaltes und die Erteilung des Gesetzesbefehles sind als Akte der Rechtswerdung von gleicher Bedeutung. hypothetischen, kategorischen und disjunktiven Urteils für die Rechtsnorm deckt Felix Ermacora: Die Bedeutung und die Aufgabe der Wiener Schule für die Wissenschaft, ÖZöR, 1959 / 60 (Band X), S. 357, auf. 57  Engisch, a. a. O. 58  Vgl. dazu Pitamic, a. a. O., S. 209: „Es ist ein solcher Ausgangspunkt des rechtlichen Denkens zu suchen, bei dem sich möglichst viel Sollen mit möglichst viel Sein trifft und sich somit dieses Sollen als in der Seinswelt möglichst, wenn auch nicht vollkommen, wirksam und umgekehrt das Sein als möglichst normentsprechend, also als gesollt darstellt.“ 59  Larenz, a. a. O., S.  23. 60  Hans Kelsen: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911, S. 416. 61  Kelsen, a. a. O.



Ordnung und Geltung47

Vom Normadressaten her gesehen mag wohl die Festsetzung der Sanktion der folgenreichste Schritt sein. Der fragliche Sachverhalt erhält dadurch eine nur mehr durch die Publikation oder den Eintritt einer Bedingung aufschiebbare Gesetzeskraft62. Das soll aber nicht heißen, dass der betreffende Sachverhalt vor der Sanktionsverleihung ohne jegliche Bedeutung gewesen wäre. Ist er ein Sozialwert, dann war er im sittlichen Sinn bereits verbindlich und ist nun im positiv-rechtlichen Sinn gültig geworden, d. h. seine Geltung hat als normative einen imperativen Charakter angenommen. Dem betreffenden Sozialwert verbürgt der Rechtssatz Anerkennung und Befolgung. Kelsen stellt auch fest: „Die Norm gilt, sofern sie befolgt werden soll.“63 Ihr Charakter als Rechtsnorm ist aus dem objektiven Sinn ihrer Geltung zu erkennen, nämlich daraus, daß ihre Existenz unabhängig von dem sie begründenden Willen des Rechtssetzungsorganes besteht, der nachträglich sogar schwinden kann64. So kann es geschehen, daß die Rechtsnorm länger existiert als der sie hervorbringende Wille des Rechtssetzungsorganes. Fragt man nun nach dem Grund der Rechtsgeltung, dann ist dieser in dem objektiven Sinn des Willensaktes des Rechtssetzungsorganes, der eine modifizierende Kraft hat, zu sehen. Diese Geltung ist spezifisch dem positiven Recht eigen, denn gelten kann nur eine Rechtsordnung zum Unterschied von einer anderen, wenn sie regelmäßig erzwingbar ist, daher ist eine Geltung im positiv-rechtlichen Sinn nur in Rechtssätzen möglich, die in der Welt der Tatsachen wirkkräftig sind. Sie zeigen, daß das Wesen der Geltung in der Möglichkeit und der Wahrscheinlichkeit der Durchsetzung liegt. Hängt doch auch der positiv-rechtliche Charakter von Normen weitgehend davon ab, ob ihre Befolgung erzwungen werden kann. Eine Rechtsordnung ohne Zwangscharakter hätte keinen normativ-positivrechtlichen Wert. Die Geltung ist das Ordnungsprinzip einer Gemeinschaft und umfaßt diese in ihrer Totalität in der Weise, daß sie die verschiedenen Ordnungsbestandteile zu einem Rechtssystem zusammenfaßt. Damit dient sie der Rechtssicherheit. In der Rechtsordnung findet dieses präpositive Prinzip den sichtbarsten Ausdruck in der Rechtstaatlichkeit, die in Österreich im Art. 18 (1) B.-VG. 1920 als Gesetzesstaatlichkeit demokratische Gestalt angenommen hat. Danach ist der einzelne Rechtsakt auf Dauer nur soweit gültig, als er sich in das Ganze der so begründeten Rechtsordnung einfügt und ein Rechtssatz der Konkretisierung der ranghöheren Norm dient. Den 62  So gesehen stellt Husserl, a. a. O., S. 9, eine Rangordnung unter den einzelnen Stadien der Gesetzgebung fest. 63  Kelsen, a. a. O., S.  14. 64  Näheres siehe bei Hans Kelsen: Reine Rechtslehre, zweite, vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Wien 1960, S. 7.

48

Ordnung und Geltung

einzelnen Stufen der Rechtskonkretisierung entspricht eine Stufenfolge der Geltung. Je höherrangiger der einzelne Rechtssatz ist, desto stärker ist seine Geltungskraft. Da der Gesetzgeber nicht Rechtsvorschriften einer Type, sondern verschiedener Typen, z. B. Verfassungsgesetze, einfache Gesetze, Verordnungen usw. erläßt, ist eine Rangordnung dieser Rechtssatzformen bzw. Rechtsquellen notwendig. Dieser Rang ergibt sich aus dem Maß an derogatorischer Kraft, die als Folge die der Geltung eigene Ausschließlichkeitswirkung zeitigt. Insofern kann mit Husserl65 die „Sperrwirkung“ des Rechtes als die charakteristische Geltungswirkung angesehen werden. Eine Rechtsnorm, die gilt, schließt eine andere auf den gleichen Gegenstand gerichtete Regelung aus, indem sie dieser derogiert. Merkl stellte es fest: „Das Kriterium des Rechtsranges einer Rechtsquelle ist ihre sogenannte derogatorische Kraft. Rechtserscheinungen von gleicher derogatori­ scher Kraft sind einander rangsgleich, Rechtserscheinungen von verschiedener derogatorischer Kraft sind rangsverschieden, und zwar in dem Sinne, daß die Derogierbarkeit einer Rechtsquelle durch die andere den höheren Rang der derogierenden und den niederen Rang der derogierbaren Rechtsquelle anzeigt.“66 Dieser Stufenbau der Rechtssatzformen stellt ein System dar, aus dem allein die Geltung des einzelnen Rechtssatzes erklärt werden kann. Der Rechtssatz gilt nämlich aus dem bedingenden bedingten Zusammenhang der Rechtsordnung. So sagt auch Merkl: „Die sogenannte derogatorische Norm derogiert die abzuändernde Norm nicht aus eigener Kraft, sondern aktualisiert nur die in der Derogationsnorm angelegte Derogations­ potenz.“67 Dieser ist bereits im Ursprung der Geltung der Rechtsordnung dadurch vorgegeben, daß die Vielzahl an Rechtssatzformen, die in der betreffenden Rechtsordnung anzutreffen ist, nicht im Verhältnis der Koordination, sondern der Subordination zueinander stehen. Der Rangunterschied der einzelnen Rechtssätze ergibt sich aber nicht aus einem Formunterschied, sondern vielmehr aus ihrer „rechtssetzenden Fähigkeit“68. Nur der Rechtssatz, der einem anderen gegenüber derogierende Kraft hat, ist diesem gegenüber von höherem Rang. Ihrem jeweiligen Rang im rechtlichen Stufenbau nach wird die Geltungskraft, die von den einzelnen Rechtssätzen ausgeht, immer verschieden sein. Nur das präpositive Naturrecht ist von unbegrenzter Geltungsdauer, das positive Recht ist von begrenzter Geltungsdauer. Dies gilt selbst für jene Verfassung, die keine Derogations65  Husserl,

a. a. O., S.  13. Merkl: Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1927, S. 113, und im Anschluß ebenso Walter Antonelli: Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1954, S. 81 f. Beachte auch Albert Fuchs: Die Rechtsgeltung, Leipzig / Wien 1933. 67  Adolf Merkl: Die Lehre von der Rechtskraft, Wien 1923, S. 258. 68  Merkl: Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: Gesellschaft, Staat und Recht, Festschrift für Hans Kelsen, Wien 1931, S. 276. 66  Adolf



Ordnung und Geltung49

klausel enthält, denn sie kann durch die „normative Kraft des Faktischen“ (Jellinek) außer Kraft gesetzt werden. Vom Wesen der Geltung ist ihr präpositiver Ursprungswert zu unterscheiden. Das Wesen der Geltung wird sich mit den gegebenen Durchsetzungsmöglichkeiten ändern. Der Ursprungswert hingegen nicht, er hat Ewigkeitscharakter, da er in der Rechtsidee selbst begründet liegt. Dieser Ursprungswert ist in dem Streben nach Frieden, Ordnung und Sicherheit zu erblicken, wie es sich in allen Rechtsordnungen dokumentiert. Verdross sieht daher in der Rechtsidee nichts anderes „als eine normative Formulierung dieses rechtlichen Grundwertes“69. Dieser ist uns bereits in der Lehre vom rechtlichen Stufenbau begegnet, wonach ein Rechtssatz nur dann gelten kann, wenn ihn der übergeordnete Rechtssatz bedingt. Dieser Geltungszusammenhang ist ein eindeutiger Ordnungswert. Er wird in der österreichischen Rechtsordnung noch dadurch vermehrt, daß letztlich jeder Rechtsakt für den Normadressaten vorhersehbar ist. Dadurch wird ein ungeheures Maß an Rechtssicherheit69a gewährt. Es bleibt aber dem Gesetzgeber überlassen, in welcher Weise er seiner normativen Grundlage in den einzelnen Stufen der Rechtsordnung entspricht, es werden daher die einzelnen Rechtssätze mehr oder weniger auf die Rechtsidee bezogen sein oder nicht. Die einzelnen Rechtssätze gelten aber im positivrechtlichen Sinn aus ihrer bloßen Zugehörigkeit zum Rechtssystem auf Grund des formellen, nämlich bedingenden stufenförmigen Zusammenhanges und nicht etwa auf Grund einer direkten Rückführung auf die Rechtsidee. Das Postulat der Rechtsidee zur Errichtung einer wertbezogenen Ordnung richtet sich an den Verfassungsgesetzgeber70, der die Möglichkeit hat, die Prinzipien, die wie oben angeführt, aus der Rechtsidee erkennbar sind, mit einem konkreten Inhalt zu versehen. Die Rechtsidee hat nicht bloß eine konstitutive, sondern auch eine regulative Funktion71; sie gibt die Grenzen an, in deren Rahmen Rechtsnormen 69  Verdross / Zemanek,

a. a. O., S.  13. Maß an Rechtssicherheit macht mit den Rechtsschutz aus. Über diesen als Kennzeichen der Rechtsstaatlichkeit siehe Hans Schima: Verfeinerung des Rechtsschutzes, Rektoratsrede an der Universität Wien, 1956, und Die Lückenlosigkeit des Rechtsschutzsystems und ihre Grenzen, in: Ius et Lex, Festgabe für Max Gutzwiller, Basel 1959, S. 523 ff. 70  So stellt auch Hans Nawiasky: Allgemeine Rechtslehre, Einsiedeln 1948, S. 29, vom Naturrecht fest: „Es richtet sich vielmehr an den Rechtssetzer, den Gesetzgeber.“ 71  Eine anschaulich regulative Bedeutung kommt der Rechtsidee bei I. Kant: Einleitung in die Rechtslehre, zu. Sie ist für ihn der „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit vereinigt werden kann.“ 69a  Dieses

50

Ordnung und Geltung

auch im sittlichen Sinn zu gelten vermögen. Hat der Gesetzgeber sein Recht in der Rechtsidee begründet, so stellt sich die positive Rechtsordnung für diesen Fall als ein besonderer Eigenwert dar, der bei einem etwaigen Konflikt mit einer anderen Ordnung nicht als untergeordnet zu weichen hat, sondern der vielmehr jederzeit bereit und fähig sein muß, seinen sittlichen Gehalt durch Rückführung auf die sein System begründende und ihr immanente Rechtsidee zu rechtfertigen72. Die Rechtsgeltung ist aus der Sicht der bedingten Akte der Rechtsordnung ein Ausdruck der Positivität, da sie in ihrer raumzeitlichen Bindung auf einem Willensakt beruht, den der Gesetzgeber setzt. Von der überzeitlichen Rechtsidee und ihren Elementen her betrachtet, ist sie das Ordnungsprinzip der Gemeinschaft und insofern ein Ausdruck der Normativität. Je nachdem, ob der sittliche Gehalt der Rechtsidee in der einzelnen Rechtsordnung mehr oder weniger zum Tragen kommt, wird die Rechtsgeltung das eine Mal mehr normativitäts- und das andere Mal mehr positivitätsbezogen sein. Der Begriff der Geltung ist gleich dem Rechtsbegriff vieldeutig. Er hat stets einen anderen Inhalt, je nachdem, ob es sich um die Geltung des positiven Rechtes, des Naturrechtes oder des Gewohnheitsrechtes handelt. Daraus erklärt sich, daß der Ausdruck Geltung in der Rechtslehre, wie Verdross hervorhebt, in einem dreifachen Sinn verstanden wird: „Darunter kann man nämlich entweder die sittliche Geltung einer Norm oder ihre Wirksamkeit (Effektivität) in einer bestimmten Gemeinschaft, oder aber auch verstehen, daß die Norm innerhalb einer positiven bestimmten Rechtsordnung ordnungsgemäß erzeugt wurde und daher innerhalb dieser Ordnung verbindlich ist.“73 Es soll mit eine Aufgabe dieser Arbeit über Ordnung und Geltung sein, die Bedeutung von sittlichem Gehalt, Effektivität und positiver Normativität aufzudecken. Dieser vielfache Bezug der Geltung geht darauf zurück, daß eine Rechtsnorm einerseits kein ausschließlicher Ausdruck des Absoluten ist und andererseits jede Geltung auf den möglichen Rechtsgehorsam abgestellt sein muß, für den die verschiedensten Gründe bestimmend sind. Die Bindung des Einzelnen an eine Ordnung kann verschieden sein. Sie kann auf den bloßen Willen des Gesetzgebers zurückgehen oder sich als 72  So sehr ich bezüglich des sittlichen Eigenwertes des Rechtes Larenz, a. a. O., S. 36, Anm. 78, zustimme, so sehr muß ich aber seine Meinung, die sittliche Idee hätte einen dialektischen Charakter, der es mit sich brächte, daß die Rechtsidee mit sich selbst in Widerspruch geraten kann, indem sie sich in zwei positiven Normordnungen, der positiven Moral und dem positiven Recht, „verwirklicht“, ablehnen. Stellt nämlich die Rechtsidee einen sittlichen Wert dar, so kann dieser nie mit der Sittenordnung selbst in Widerspruch geraten. 73  Verdross: Abendländische Rechtsphilosophie, S. 246.



Ordnung und Geltung51

Ausfluß der Sittenordnung erweisen. Aus dem Willen des Gesetzgebers ergibt sich die Geltung und unter Voraussetzung der entsprechenden Autorität die Wirksamkeit, aus der Sittenordnung die Verbindlichkeit. IV. Die Wirksamkeit Die Geltung ist die spezifische Existenzform des positiven Rechtes. Sie ist als Forderung an den Normadressaten nicht selbst eine Wirklichkeit, sondern vielmehr eine Norm für die Wirklichkeit. Wo Letztere Erstgenannter entspricht, dort liegt Wirksamkeit vor; Forderung und Bestand des Rechtes erfüllen nämlich erst in ihrer Wechselseitigkeit die Rechtsgeltung, die in einem Zusammentreffen von Normativität und Positivität besteht. Die Rechtsnorm selbst ist kein Wert, sondern bloß auf mögliche Werte insofern bezogen, als die praktizierte Norm einen Wert schaffen kann. Die Rechtsnorm ist ein Werturteil. Jede Normvollziehung stellt demnach die Verwirklichung einer Wertung dar. Von diesen geschaffenen Werten kann dann eine besondere Ordnungskraft ausgehen, wenn Werte der Sittenordnung positiviert und konkretisiert wurden. Es sind dann die betreffenden Normen nicht bloß gültig, sondern auch verbindlich. Diese Unterscheidung in der möglichen Bindung an Normen ist deshalb zu treffen, weil die Ursachen der Geltung bisweilen andere sind als die der Verbindlichkeit. Verdross74 hat zwar nicht im Ausdruck eine solche Differenzierung getroffen, dafür aber die Geltungsgründe klar voneinander getrennt75. Es darf daher die positiv-rechtliche Geltung einer Norm nicht von ihrer Richtigkeit, d. h. Übereinstimmung mit den Prinzipien der präpositiven Ordnung abhängig gemacht werden, sondern vielmehr von ihrer Wirksamkeit. Eine Norm gilt nämlich nur dann, „wenn sie die Fähigkeit hat, motivierend zu wirken, den Willen zu bestimmen“76. Dies setzt aber wieder voraus, daß die Rechtsordnung von einer sich ständig durchsetzenden Organisation getragen ist, denn nur dieser wird es möglich sein, Unrechtstatbestände zu ahnden. Geht doch jede Gesetzesnorm auf einen Willensakt zurück, der nach Durchsetzung verlangt. Wobei es allerdings der Eigenart des Rechtssatzes entspricht, daß seine Existenz, nämlich seine Geltung, unabhängig von der Existenz des Willensaktes ist, die die Geltung hervorbrachte. Die Rechtsnorm besteht bekanntlich auch dann weiter, wenn der sie zeugende Willensträger nicht mehr vorhanden ist. Die Geltung ist aber kein bloßes Sollen, sondern vielmehr ein Sollen, welches auf ein Sein gerichtet ist. Dem Sollen der Rechtsnorm ist es aufge74  Verdross,

a. a. O. Unterscheidung auch in der Bezeichnung nimmt Marcic: Die bedingte Natur des positiven Rechts, a. a. O., S. 199, Anmerk. 4, vor. 76  Georg Jellinek: Allgemeine Staatslehre, 5. Aufl., 1929, S. 333. 75  Eine

52

Ordnung und Geltung

tragen, das Sein der Wirklichkeit zu gestalten. Ist das der Fall, dann ist die Geltung wirksam geworden. Die Geltung von positiv-rechtlichen Normen wird bestimmt, wie bereits aus dem Hinweis auf den Stufenbau der Rechtsordnung zu ersehen ist, durch das Prinzip der Legalität76a, wonach eine Norm dann gilt, wenn sie ordnungsgemäß unter Bezugnahme auf eine andere, ranghöhere Norm erzeugt und publiziert wurde. Die Legalität ist aber nur für das Entstehen der Geltung, nicht aber für deren weiteren Bestand von Bedeutung; denn dieser hängt von der Wirksamkeit der in Geltung gesetzten Norm ab. Kelsen77 versteht jedoch darunter nicht bloß die Anwendung der Norm durch die betreffenden Rechtsorgane, sondern auch deren Befolgung durch die der Rechtsordnung unterworfenen Normadressaten. Die Befolgung der Rechtsnorm ist die Bezeichnung der Wirksamkeit vom Gesetzgeber aus gesehen. Sie stellt sich vom Normadressaten her als Rechtsgehorsam dar. Es ist daher letztlich auch der Rechtsgehorsam mit eine Bedingung der Geltung. Für den Rechtsgehorsam sind aber nicht bloß rechtliche, sondern auch psychische Quellen78 maßgebend, weshalb festgestellt werden muß, daß die von der Reinen Rechtslehre vertretene Ansicht, daß die Wirksamkeit zwar nicht die Geltung selbst, wohl aber eine Bedingung der Geltung ist, keine ausschließlich juristisch normative, sondern auch eine soziologische Geltungslehre darstellt. Dem Prinzip der Legalität im bedingenden bedingten Stufenbau der Rechtsordnung entspricht auf Verfassungsebene das Prinzip der Legitimität79, wonach eine Verfassung dann gilt, wenn sie unter Entsprechung all jener Bedingungen, welche die vorhergehende Grundordnung statuiert hat, zustande gekommen ist. Dieses Prinzip kann aber dadurch durchbrochen werden, daß stillschweigend die Verfassung durch eine neue Verfassungspraxis geändert wird; man bezeichnet dies als eine Umwandlung. Es kann aber auch eine neue Fundamentalordnung gewaltsam eingeführt werden. In diesem Fall ist die Wirksamkeit nicht das notwendige Aposteriori der Geltung, sondern vielmehr das erzeugende Apriori. Die normative Kraft geht in diesem Fall nicht vom Willen des Gesetzgebers aus, sondern vom Faktischen. Kelsen80 hat aus diesem Grunde festgestellt, daß das Prinzip der 76a  Während

Kelsen: Reine Rechtslehre, S. 213, den Begriff der Legitimität vor allem auf Normen mit Verfassungsrang anwendet, wird hier der der Legalität gebraucht, um Normen jeglicher Rechtskonkretisierungsstufe erfassen zu können. Dazu beachte Willibald Plöchl: Das Legitimitätsproblem und das kanonische Recht, ÖZöR, 1938 (Band XVIII), S. 1 ff. 77  Kelsen, a. a. O., S.  11. 78  Beachte Franz Klein: Die psychischen Quellen des Rechtsgehorsams und der Rechtsgeltung, Berlin 1912. 79  Siehe dazu Kelsen, a. a. O., S. 212 ff. 80  Kelsen, a. a. O., S.  215.



Ordnung und Geltung53

Legitimität durch das Prinzip der Effektivität eingeschränkt wird. Während nach dem Prinzip der Legitimität wie der Legalität eine Norm zuerst in Geltung tritt und dann wirksam werden kann, ist nach dem Prinzip der Effektivität eine Norm zunächst wirksam und dann gültig. Wenn in der Wirksamkeit die Bestandsgarantie der Geltung gesehen wird, und zur vollen Wirksamkeit, wie Kelsen selbst hervorhebt, nicht bloß die Anwendung der positiven Rechtsnorm, sondern auch deren Befolgung durch die Normadressaten erforderlich ist, dann heißt dies, daß eine Rechtsnorm nur dann im vollen Umfang wirksam und gültig sein kann, wenn ihr der entsprechende Rechtsgehorsam gezollt wird. Dieser ist aber nur möglich, wenn sich der Einzelne auch innerlich an die geltende Norm gebunden erachtet. Es ist daher ein bestimmtes Minimum an Anerkenntnis sittlicher Werte durch den Gesetzgeber eine unbedingte Voraussetzung jeglicher Rechtsgeltung, da sonst die Wirksamkeit gefährdet ist. Die Geltung, der Rechtssatzinhalt und der Rechtsgehorsam stehen daher in einer bestimmten Beziehung zueinander80a. Der Mangel an sittlichem Gehalt kann vor allem dann die Geltung des positiven Rechts gefährden, wenn die präpositiven Prinzipien durch den Gesetzgeber als Bedingungen des positiven Rechtes anerkannt wurden. Sieht man jedoch die Rechtsordnung auf einer hypothetischen Grundnorm basieren, dann kann deren Geltung, wie Walter folgerichtig feststellt, nur aufhören, „wen die Hypothese aufgegeben wird, nicht aber, wenn eine Änderung im Seinsbereich (Aufhören der Wirksamkeit) eintritt“81. Einer Hypothese ist es bisher auch noch nie gelungen, einer unsittlichen Rechtsordnung auf die Dauer jenes Maß an Rechtsgehorsam zu verschaffen, das zu der von Kelsen verlangten vollen Wirksamkeit erforderlich ist, vielmehr verlöre diese dadurch ihre Gültigkeit, daß ihr des Mangels an sittlichem Gehalt wegen nicht mehr der erforderliche Rechtsgehorsam gezollt wird. Damit ist aber jenes Maß an Wirksamkeit gefährdet, von dem die Geltung einer Norm in ihrem 80a  Dies scheint auch Georg Jellinek: Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 2. Aufl., Berlin 1908, S. 45, erkannt zu haben: „Die aus den Seins- und Entwicklungsbedingungen der Gesellschaftlich fließenden, an den menschlichen Willen sich zu ihrer Verwirklichung richtenden Normen haben wir als den objektiven Inhalt des Ethischen erkannt. Wenn wir nun bei einem historisch bestimmten Gesellschaftszustande nach den Normen fragen, deren Befolgung die fortdauernde Existenz eines solchen Zustandes möglich macht, so erhalten wir das Recht dieser Gesellschaft. Das Recht ist nichts anderes als das ethische Minimum. Objektiv sind es die Erhaltungsbedingungen der Gesellschaft, soweit sie vom menschlichen Willen abhängig sind, also das Existenzminimum ethischer Normen, subjektiv ist es das Minimum sittlicher Lebensbetätigung und Gesinnung, welches von den Gesellschaftsgliedern gefordert wird.“ 81  Robert Walter: Besprechung der 2. Auflage der Reinen Rechtslehre in ÖJZ, 1960, S. 670.

54

Ordnung und Geltung

Bestand abhängig ist. Schreibt doch Kelsen selbst, daß es ein tatsächliches Geschehen ist, „das dem rechtlichen Sollen seinen Inhalt gibt“82. Ist es diesem Rechtsatz aber nicht mehr möglich, seine bindende Kraft zu entfalten, dann verliert er seine Geltung. Daraus läßt sich erkennen, daß der Wille der normunterworfenen Rechtssubjekte, der für das Entstehen der Rechtsgeltung irrelevant ist, für ihren Bestand hingegen von größter Bedeutung ist! V. Die Verbindlichkeit Mag es für die Entstehung einer Rechtsnorm genügen, daß sie auf dem Willen des Gesetzgebers beruht, so ist es aber für ihren längeren Bestand erforderlich, daß ihr Rechtssatzinhalt auch verbindlich ist, d. h. Gültigkeit im sittlichen Sinn beanspruchen kann. Die Geltung ist der Ausdruck eines zeitlichen, die Verbindlichkeit eines überzeitlichen Bestandes der Norm. Beide Ordnungsprinzipien sind in einer positiv-rechtlichen Norm dann vereint, wenn der Gesetzgeber in ihr auch der Sittenordnung entsprochen hat. Die Macht positiv-rechtlichen Wollens und die des sittlichen Werturteils fallen dann zusammen und werden nach dem Grad an sittlichem Wertbewußtsein ein Maß an Befolgung zeitigen können, ohne das eine volle Wirksamkeit und damit ein dauernder Bestand der Geltung letztlich nicht möglich ist. So schwierig es ist, die Erkenntnis sittlicher Werte mit der naturwissenschaftlichen Kenntnissen eigenen Genauigkeit zu beweisen, so eindeutig ist es aber, daß ohne sittliche Wertbetrachtung das Gesetz zum Recht des Stärkeren degradiert würde, was eine Gleichsetzung von Recht und Macht zur Folge hätte. Der eigentliche Sinn des Rechtsbegriffes würde dadurch verloren gehen und letztlich jedes Gesetz, selbst das unsittliche, auch als gerecht beurteilt werden. Daß dies bisher in der Rechtsgeschichte nie der Fall war, beweist die Notwendigkeit ständiger Konfrontation des positiven Rechts mit seinen präpositiven Prinzipien, wie sie aus der Rechtsidee und ihren Elementen erkennbar sind. So schreibt auch Nawiasky: „Das Recht geht dem Gesetz vor wie das innere Wesen eines Gegenstandes seinen äußeren Erscheinungsformen.“83 Es sei auch nicht außer acht gelassen, daß die Erfüllung einer Rechtspflicht wohl mehr voraussetzt als die bloße Angst vor einer allzu schweren Unrechtsfolge, sie verlangt auch nach der Erkenntnis des sittlich Notwendigen. Nur im sittlichen Bewußtsein kann letztlich eine Pflicht begründet werden. Diese Sittlichkeit, aus der allein die Verbindlichkeit aufzudecken ist, darf nicht als Inbegriff abstrakter Begriffe und Prinzipien gesehen werden, sondern vielmehr als der Ausdruck der Übereinstimmung von Hand82  Kelsen:

Hauptprobleme, S. 36. Allgemeine Rechtslehre, Vorwort S. XX.

83  Nawiasky:



Ordnung und Geltung55

lungen und Haltungen mit den dem Menschen und den Sachen wesensmäßig eigenen Zwecken. Im einzelnen wird die sittliche Verbindlichkeit der „existentiellen Zwecke“ (Johannes Messner)84 durch die „Sachrichtigkeit“85 bestimmt. Sie macht das objektive Kriterium des Sittlichen aus, das allen Menschen in gleicher Weise zugänglich ist. Die Fähigkeit des Menschen, sittlicher Grundsätze einsichtig zu werden, darf aber nicht des Umstandes wegen bestritten werden, daß es Menschen gibt, welche das Unsittliche dem Sittlichen vorziehen. Dies hieße nämlich, den Fehler zur Regel erheben zu wollen, um darauf eine Ordnung zu begründen. Die Erkenntnis der Sittenordnung ist deshalb notwendig, weil „aus Gewalt niemals eine Pflicht abgeleitet werden kann, auch dann nicht, wenn man die Gewalt ‚Recht‘ nennt“86, aus ihr kann höchstens ein Zwang entstehen. Dem Zwang wird mehr aus Angst vor der Strafe gefolgt, der Pflicht jedoch aus der Überzeugung des sittlich Notwendigen entsprochen87. Wenn jedoch die Furcht vor den Unrechtsfolgen das ausschließliche Moment ist88, das zum Gesetzesgehorsam veranlaßt, dann wird die Wirksamkeit und die Geltung vorwiegend der Angst des Normadressaten vor der Strafandrohung und nicht seinem Rechtsbewußtsein ihr Dasein verdanken. Diese Geltung wird, da sie nicht mit der Verbindlichkeit gepaart ist, nur für die Dauer der wirksamen Zwangsdrohung gegeben sein und mit dieser schwinden. Anders ist dies, wenn der gesetzgeberische Befehl mit einer sittlichen Pflicht einhergeht, die von sich aus den einzelnen auf Dauer zu binden vermag. Die sicherste Bindung des Einzelnen an das Gesetz ist dann gegeben, wenn der Normadressat erkennt, nicht bloß aus einem äußeren unvermeidbaren Zwang oder einer höchstpersönlichen Wertvorstellung heraus zu einer bestimmten Ordnung verhalten zu sein, sondern wenn er gewahr wird, wie Laun es ausdrückt, „daß jeder in der gleichen Lage ein inhaltlich gleiches Sollen erleben würde“89. Dies ist die objektive Erfahrung des Sittlichen. Entspricht der Gesetzgeber dieser präpositiven Ordnung, dann macht er dem Einzelnen, unter Voraussetzung der Erkenntnis des sittliche Notwendigen durch 84  Johannes

Messner: Das Naturrecht, 3. Aufl., 1958, S. 40. Sachrichtigkeit wird aus der „Natur der Sache“ bestimmt, über diese siehe Schambeck: Der Begriff der „Natur der Sache“, ÖZöR, 1959 / 60, Band X, S. 452 ff. 86  Laun: Recht und Sittlichkeit, S. 9. 87  So meint auch Laun, a. a. O., S. 29: „Der Stärkere kann mich zwingen, aber nicht verpflichten, wenn mir selbst nicht mein Gewissen und Rechtsgefühl die Verpflichtung schafft, ihm zu gehorchen.“ 88  Gustav Boehmer: Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung, Tübingen 1951, II, 1, S. 225, meint sogar, „weniger die Freiheit als ein Minimum an spießbürgerlicher wirtschaftlicher Geborgenheit ist im Werturteil weiter Volkskreise das ‚höchste Gut‘, dem die Freiheit bedenkenlos oder resigniert geopfert wird.“ 89  Laun, a. a. O., S.  71. 85  Die

56

Ordnung und Geltung

denselben, diesem den Rechtsgehorsam leicht. Er wird in diesem Fall das Gesetz als gerecht empfinden. Wenn dem Menschen auch bisweilen die Erfahrung der sittlichen Verantwortung fehlt, darf das sittliche Wertbewußtsein doch nicht als irrelevant betrachtet werden. Wollte man dies aber doch tun, so käme dies der Ansicht gleich, als würden die Menschen nur deshalb nicht ständig morden, weil sie die Todesstrafe oder den lebenslangen schweren Kerker fürchten und nicht, weil sie sich nicht für bevollmächtigt erachten, über das Leben eines Mitmenschen nach Willkür zu verfügen. Stets wird ein Teil der Menschen die Erfüllung einer Rechtspflicht als sittliches Gebot ansehen, ein anderer bloß als geringeres Übel. Je nachdem, in welchem Maß das Gesetz auf Normen der Sittenordnung Bedacht nimmt und das sittliche Wertbewußtsein ausgeprägt ist oder nicht, wird der Gesetzesbefehl auf einem autonomen oder heteronomen Sollen beruhen. Laun geht sogar so weit, zu sagen, daß wir bei der Verbindung des Begriffes „positive“ mit dem Begriff „Recht“ voraussetzen, „daß wenigstens ein großer Teil der Akte des tatsächlichen Gehorsams auf autonomem Sollen beruht“89a, und mag nicht unrecht haben, denn je mehr Menschen auf Grund ihrer autonomen Werterkenntnis das positive Recht befolgen, auf desto sicherem Boden befindet sich die Staatsgewalt. Ein Widerspruch von Geltung und Verbindlichkeit entsteht jedoch, wenn die positiv-rechtliche Ordnung etwas gebietet, was mit der sittlichen Ordnung unvereinbar ist. Beispiele hiefür bieten sich in großer Zahl in den Rechtsordnungen totalitärer und autoritärer Staaten89b. Diese Sittenwidrigkeit kann dreifach begründet sein, sie kann sich aus dem Inhalt oder den Folgen des Gesetzes ergeben oder auch dadurch entstehen, daß ein sittlich indifferentes Verhalten von dem Normadressaten verlangt wird. In diesem Fall ergibt sich die Frage, ob die juristische Geltung von der Übereinstimmung mit dem Sittengesetz abhängig ist90. Die Antwort sei zunächst aus einer realistischen Betrachtung der Rechtsgeltung gegeben. Danach ist eine sittenwidrige positive Rechtsnorm so lange gültig, als sie imstande ist, eine Ordnungsfunktion dadurch zu erfüllen, daß sie ein Minimum an Schutz 89a  Laun,

a. a. O., S.  54. den Bericht der Internationalen Juristenkommission: Recht in Fes-

89b  Beachte

seln, 1955. 90  Karl Bergbohm: Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Leipzig 1892, S. 398, leugnete anscheinend die Berechtigung einer solchen Fragestellung, wenn er schrieb: „Und gerade dem um seiner Schädlichkeit oder Inhumanität mißfälligen Recht gegenüber bewährt sich erst des reinen Juristen vornehmste Tugend: die Fähigkeit, seinen Verstand jeder Beeinflussung selbst durch die tiefsten persönlichen Überzeugungen und heißesten Herzenswünsche zu entziehen, die Befriedigung derselben nur auf dem Wege der Rechtsumbildung erwartend.“



Ordnung und Geltung57

gewährt. Sollte dazu aber ein Gesetzgeber nicht imstande sein, dann sind seine unverbindlichen Normen auch nicht gültig, weil sie nämlich nicht einmal der Rechtssicherheit zu dienen vermögen. Diese positive Rechtsordnung verliert ihren spezifischen Wertcharakter, da sie keine „wirklichkeitsgestaltende Kraft“ (Hans Welzel)91 mehr hat. In positiv-rechtlicher Sicht ist die Beantwortung der Frage, wie lange ein sittenwidriges Gesetz in Geltung ist, davon abhängig, ob der betreffende Verfassungsgesetzgeber auf dem sittlichen Gehalt übergesetzlichen Rechtes aufbaut oder nicht. Im ersteren Fall ergibt sich die Antwort aus dem Inhalt des positiven Rechtssatzes höheren Ranges, dem der niederen Ranges zu entsprechen hat. Tut dies der einfache Gesetzgeber nicht, so ist sein Gesetzesbeschluß als verfassungswidrig anfechtbar. Der vorgegebene Wertmaßstab ist nämlich positiviert worden, was zur Folge hat, daß jeder sittenwidrige Rechtssatz aufgehoben werden kann, der dieser staatlichen Fundamentalordnung widerspricht92. Anders ist die Rechtslage, wenn der Verfassungsgesetzgeber keinen Bezug auf die Sittenordnung nimmt. In diesem Fall sind dem Belieben des einfachen Gesetzgebers in bezug auf die Sittenordnung keine positiv-rechtlichen Schranken gesetzt, so daß jener Normkonflikt eintreten kann, in dem es „ehrenwerter ist, durch den Staat als für den Staat zu sterben“ (Adolf Merkl). Auch in diesem letztgenannten Fall sucht meist der betreffende Gesetzgeber in irgendeiner Weise eine sittliche Rechtfertigung seiner Befehle zu erlangen. Selbst der Nationalsozialismus erachtete nach der Beseitigung der Grundrechte zumindest eine Entschuldigung vor sich selbst als angebracht und bezeichnete die Grundrechte als einen „Aufstand des Egoismus gegen die Volksgemeinschaft“. Man wollte sich auf diese Weise wenigstens den Schein des sittlichen Sollens92a sichern. Sieht man mit Laun die Positivität des Rechtes in der Tatsächlichkeit, dann darf diese nicht bloß in der Tatsächlichkeit der Rechtsanwendung gesehen werden, sondern es muß auch die Tatsächlichkeit des sittlichen Wertbewußtseins miteinbezogen werden. So gesehen, bedeutet das Wort 91  Hans Welzel: Naturrecht und Rechtspositivismus, in: Festschrift für Hans Niedermayer, S. 288. 92  Über die Vielzahl an Rückgriffen der Gerichte auf das Sittengesetz und verwandte Begriffe in der Judikatur der deutschen Gerichte siehe Albrecht Langner: Der Gedanke des Naturrechts seit Weimar und die in der Rechtssprechung der Bundesrepublik, Bonn 1959, S. 94 f. und die dort angegebenen Belegstellen. Beachte auch Eberhard Schmidt: Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, 1. Teil, Göttingen 1952, S. 225, sowie Hans-Ulrich Evers: Der Richter und das unsittliche Gesetz, Berlin 1956. 92a  Hans Fehr: Die Ausstrahlung des Naturrechts der Aufklärung in die neue und neueste Zeit, Vortrag gehalten am Internationalen Historikerkongreß in Zürich, 1938, insbes. S. 26 ff., hat ein solches Recht sehr treffend und anschaulich als das isolierte Naturrecht der totalitären Staaten bezeichnet.

58

Ordnung und Geltung

Recht „ein an diese Tatsächlichkeit geknüpftes Werturteil“93. Das Gesetz hat in diesem Sinn nicht bloß ein durch einen Zwangsapparat durchsetzbares Müssen zu enthalten, sondern auch ein Sollen, das aus dem den Menschen eigenen sittlichen Werterlebnis erfahrbar ist. Abschließend sei festgestellt, daß der Grad der Positivität des Rechtes sowohl von dem Macht- und Zwangsapparat bestimmt wird, über den ein Gesetzgeber verfügt, als auch von dem Rechtsgewissen, das der Mehrzahl der Normadressaten zu eigen sein soll94. Beides ist notwendig für die dauernde Geltung einer positiven Rechtsnorm und für jenes Maß an Würde des positiven Rechtes, das die Autorität ausmacht, durch die die Ordnung gilt.

93  Laun,

a. a. O., S.  52. Zusammenhang von Rechtsgeltung und Rechtsgehorsam hat klar Karl Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, S. 149, im Anschluß an den Satz bei Enneccerus / Nipperdey: Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 15. Aufl., Tübingen 1959, I, § 30, Anm. 4: „Unter Rechtssatz ist also nicht ein grammatikalischer Satz, der sich auf das Recht bezieht, sondern eine das Rechtsleben gestaltende Rechtsregel zu verstehen“, aufgedeckt: „Das ‚Rechtsleben‘ zu gestalten, vermag der Rechtssatz nur dadurch, daß er in das Rechtsbewußtsein, und zwar in der für die jeweilige Situation erforderlichen Bestimmtheit, aufgenommen wird.“ 94  Den

Geltung und Autorität* I. Die Geltung Spricht man von Geltung, dann ist damit das Prinzip der Bindung gemeint, welches die positive Rechtsordnung ermöglicht1. Die Geltung ist eine Herstellungsform der Ordnung, nämlich jener Ordnung, die mit einer Befehls- und Zwangsgewalt für die Gesellschaft einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort einen Interessenausgleich anstrebt. Die Geltung ist das Ordnungsprinzip des positiven Rechts. Neben der Geltung als dem Ordnungsprinzip des positiven Rechts gibt es aber noch andere Ordnungsprinzipien, die sich eine jeweils verschiedene Wirkkraft haben; es sei an die sittlichen, ästhetischen und logischen Normen erinnert. Diese Normen gelten (in diesem Fall: Geltung im weitesten Sinn) jeweils in einem anderen Sinn. Während die Realität der positiv-rechtlichen Normen von ihrer Geltung (jetzt im engeren Sinn) abhängt, hängt die Realität von sittlichen Normen von ihrer Verbindlichkeit ab. Die Übereinstimmung der Normen mit dem Willen des Gesetzgebers in dem einen Fall und die Übereinstimmung mit den unter den gegebenen Umständen als sittlich wahr Gehaltenem in dem anderen Fall bildet die Quelle der Bindekraft der jeweiligen Ordnung. Die positiv-rechtliche Ordnung ist in keinem anderen Sinn wirklich als in dem der Geltung und die sittliche Ordnung in dem der Verbindlichkeit. Die Norm, die sich auf Grund eines ununterbrochenen Delegationszusammenhanges auf den Willen des Gesetzgebers zurückführen läßt, hat in ihrem Ordnungsbereich ebenso einen Anspruch auf Befolgung wie die Norm, die für sittlich wahr gehalten wird im Gewissensbereich. Der *  Erschienen in: Estudios de Filosofia del Derecho y Ciencia Juridica, en Memoria y Homenaje al Catedratico Don Luis Legaz y Lacambra, Tomo II, Facultad de Derecho de la Universidad Complutense Centro de Estudios Constitucionales, Madrid 1985, S. 667 ff. 1  Siehe dazu besonders Herbert Schambeck, Ordnung und Geltung, Österr. Zeitschrift f.öffentl. Recht, Neue Folge, Bd. XI, Heft 3–4 1961, S. 470 ff.; Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, München / Berlin 1964, bes. S. 299 ff. und S. 438 ff.; Luis Legaz y Lacambra, Rechtsphilosophie, Neuwied am Rhein 1965, S 965 bes. S. 243 ff.; Rupert Schreiber, Die Geltung von Rechtsnormen, Berlin / Heidelberg / New York 1966; Hans Welzel, An den Grenzen des Rechts, Die Fragen nach der Rechtsstellung, Köln/Opladen 1966; Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 2. Auflage, Berlin 1969, bes. S. 265 ff. und René Marcic, Rechtsphilosophie, Freiburg im Breisgau 1969, bes. S. 164 ff.

60

Geltung und Autorität

Mensch wird als Punkt sich schneidender Kreise von beiden Ordnungen erfaßt, von der positiv-rechtlichen wie von der sittlichen Ordnung, in dem einen Fall ist er gesetzesunterworfener Normadressat, in dem anderen Fall zur sittlichen Vervollkommung [!] aufgerufene Person. Er wird von beiden Normkreisen angesprochen, von den sittlichen Normen wie von den positivrechtlichen Normen. Der Unterschied liegt vor allem darin, daß die sittlichen Normen unabhängig vom Willen des jeweiligen Gesetzgebers auf Grund ihres Gewissensanspruches verbindlich sind, die positivrechtlichen Normen hingegen ausschließlich durch den Willen des Gesetzgebers in Geltung gesetzt werden. Er erhebt sich nun die zu klärende Frage, bestehen bei Norm­ ordnungen voneinander unabhängig nebeneinander oder besteht doch eine Beziehung? Die Natur der menschlichen Gemeinschaft verlangt eine Ordnung, deren Bindekraft von den individuellen Wünschen jedes einzelnen Normadressaten unabhängig ist. Es soll eine Ordnung sein, die einen Ausgleich der Interessen zwischen der gesamten Gemeinschaft und dem Einzelnen (vorwiegend im öffentlichen Recht) und zwischen den Einzelpersonen untereinander (z. B. im Privatrecht) anstrebt und herstellt. Im Zeitalter des formellen Rechtsstaates, d. h. des Rechtswegestaates2, in dem der Staat oft mehr an eine bestimmte Form seines Handelns, nämlich an die in Gesetzen, als an einen bestimmten Inhalt gebunden ist, steht es dem Gesetzgeber frei, unter Entsprechung der Formvorschriften sowohl Aufgaben des Rechts- und Machtzweckes wie auch des Wohlfahrts- und Kulturzweckes zu erfüllen. Der Herrschaftsanspruch des positiven Rechts wird dadurch stets „totaler“, d. h. er beginnt immer mehr Bereich des öffentlichen und privaten Lebens zu reglementieren. 1. Der Ausschließlichkeitsanspruch des positiven Rechts Der Ausschließlichkeitsanspruch des positiven Rechts ist zu keiner Zeit der Rechtsentwicklung noch so deutlich geworden wie gerade in unseren Tagen. Dieser Ausschließlichkeitsanspruch wird umso stärker werden, je mehr das wechselseitige Angewiesensein der Menschen aufeinander zunimmt. Der Mensch ist Grund, aber zugleich auch Mittel der Geltung. Denn eine Ordnung positiver Rechtssätze erweist sich als geltend, wenn sie den Anspruch auf Gehorsam und Durchsetzung unter Ausschluß aller anderen Ordnungssysteme erhebt. Der Anspruch auf Geltung enthält auch den Anspruch auf Befolgung, der wieder die Rechtspflicht des Normadressaten begründen soll. Die Erfüllung dieser Rechtspflicht wird von dem Norm­ adressaten ein bestimmtes Maß an Werteinsicht verlangen. Dem Streben des 2  Adolf Merkl, Reine Rechtslehre und Moral, ÖZöR, Bd. XI 1961, S. 303; beachte auch Herbert Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates, Berlin 1970, S. 20.



Geltung und Autorität61

Gesetzgebers nach Ausgleich der Interessen hat ein Streben des Einzelnen nach Werteinsicht zu entsprechen. Dieses Streben muß sich auf die positive Rechtsordnung beziehen. Was nicht gilt, braucht auch nicht dem Bestand der positiven Rechtsordnung wegen zum Gegenstand der Werterkenntnis gemacht zu werden. Die positive Rechtsnorm verlangt aber Anerkennung ihres Wertcharakters. Das Erfordernis einheitlicher Regelung gesellschaftlicher Tatbestände, der Befehls- und Zwangscharakter der positiv-rechtlichen Norm und die Rolle des Rechtsgehorsams geben nur Aspekte der Geltung an. Es gilt deshalb des Sinn und den Grund der Geltung aufzudecken. Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Geltung ergibt sich aus der Tatsache, daß jede Ordnung auf eine ihr wesensmäßige Idee ausgerichtet ist, auch das positive Recht3. Gustav Radbruch sieht in ihm jene Wirklichkeit, die den Sinn hat, „dem Rechtswerte, der Rechtsidee zu dienen“4. Die Rechts­ idee5 wirkt aber nicht direkt, unmittelbar auf den Normadressaten, sondern mittels der Rechtssätze, in denen es dem Gesetzgeber obliegt, ihr nach Möglichkeit zu entsprechen, sie wird nie Realität, sondern bleibt Idealität und ist der ideelle Grund der Rechtsordnung. Sie ist als Teil der präpositiven Ordnung möglicher Sinn und Ziel des positiven Rechtes. Dies soll aber nicht heißen, die Rechtsidee hätte ausschließlichen Einfluß auf die Rechtssetzung, oft spielen Faktoren in der Gesetzgebung mit, die der bloßen Machtsicherung dienen und keinen sittlichen Gehalt haben. Auf diese Umstände geht zurück, daß die Rechtsordnung bald als Friedensordnung und bald als Machtordnung erscheint. Wenn diese Momente oft auch dadurch ausschließlich Bedeutung gewinnen, daß sie abwechselnd alleiniger Inhalt von Theorien über das Wesen des Rechtes werden, im Grunde sind sie ja doch nur ein Ausschnitt aus der Vielfalt der Wesenszüge des positiven Rechtes. Die Rechtsidee tritt dem Gesetzgeber in ihren Elementen, d. s. das Gerechtigkeitsprinzip, die Rangordnung der Werte, die allgemeinen, übereinstimmend anerkannten Rechtsgrundsätze, und dem Grundsatz der Rechtssicherheit entgegen. Die Gerechtigkeit6 ist das Prinzip, das die Gleichheit verlangt, wonach gerecht ist, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich, ungerecht aber, Un3  Siehe

Herbert Schambeck, Ordnung und Geltung, S. 472 ff. Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Auflage, Stuttgart 1973, S. 119. 5  Radbruch, Rechtsphilosophie, S.  120  ff., S. 164  ff. und Schambeck, a.  a.  O., S.  470 ff. 6  Vgl. dazu Hans Kelsen, Was ist die Gerechtigkeit?, Wien 1953; Max Rümelin, Die Gerechtigkeit, Tübingen 1920; Wilhelm Sauer, Die Gerechtigkeit, Berlin 1959 und Giorgio des Vecchio, Die Gerechtigkeit, Basel 1940 und Legaz y Lacambra, a. a. O., S.  315 ff. 4  Gustav

62

Geltung und Autorität

gleiches gleich und Gleiches ungleich zu behandeln7. Die Gerechtigkeit im Sinne der Gleichheit gibt ein Verhältnis an, und zwar im formalen Sinn: die Übereinstimmung eines Rechtssatzes mit einer ranghöheren Norm, im materiellen Sinn: die Beobachtung eines materialen Apriori durch den Gesetzgeber im Wege der Positivierung. Der formalen Gerechtigkeit entspricht in der österreichischen Rechtsordnung das gesetzesstaatliche Prinzip, das im Art. 18 (1) Bundes-Verfassungsgesetz lautet: „Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden“. Danach sind nur jene Rechtsakte gesetzmäßig, die letztlich auf Grund von Gesetzen im formellen Sinn, d. h. von Beschlüssen des Parlaments gesetzt werden. Die gesamte Rechtsordnung steht im Dienste der Konkretisierung von Normen, die miteinander durch den Bedingungszusammenhang der Gesetzmäßigkeit verbunden sind. Gerecht ist danach jede Norm, welche die ranghöhere Norm näher ausführt. Einen anderen Bezug stellt die materiale Gerechtigkeit her. In diesem Sinne handelt gerecht jener Gesetzgeber, der die in den Dingen liegende Ordnung berücksichtigt, dessen Rechtssetzung also einer Sachentsprechung gleichkommt8. Dies ist etwa der Fall, wenn der Gesetzgeber im Privatrecht die natürlichen Dauereigenschaften des Menschen9 berücksichtigt und im öffentlichen Recht aus der Natur des Menschen10 zur Sicherung seiner Freiheit und Würde11 Grundrechte ableitet. Eine derartige Gesetzgebung ist keine Rechtsfindung im Sinne der Neuschöpfung eines bisher unbekannten Wertes, sondern vielmehr eine allgemein verbindliche positiv-rechtliche Anerkennung12. Materialgerecht handelt somit jener Gesetzgeber, der die den Dingen innewohnende permanente Ordnung des sozialen Lebens zum Inhalt positiver Rechtssätze macht. 7  Radbruch, a. a. O., S. 108: „Recht erhebt seinem Wesen nach Anspruch auf Gerechtigkeit, Gerechtigkeit aber fordert Allgemeinheit des Gesetzes, Gleichheit vor dem Gesetze.“ 8  In diesem Zusammenhang schreibt auch Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1952, S. 252: „Die Beobachtung dieser sachlogischen Strukturen ergibt jene ‚Natur der Sache‘, in der Maßstäbe einer konkreten Gerechtigkeit liegen!“ Siehe auch die diesbezüglichen Ausführungen in der 2. Auflage dieses Werkes, S.  426 ff. 9  Über die natürlichen Dauereigenschaften selbst siehe Fritz von Hippel, Das Problem der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie, Tübingen 1936, S. 49. 10  Siehe dazu Herbert Schambeck, Der Begriff der „Natur der Sache“, Wien 1964. insb. S. 45 ff. 11  Vgl. Alfred Verdross, Die Würde des Menschen in der abendländischen Rechtsphilosophie, in: Naturordnung, Festschrift für Johannes Messner, Innsbruck / Wien /  München 1961, S. 353 ff. 12  Beachte Hans Peters, Die Positivierung der Menschenrechte und ihre Folgen, in: Naturordnung, S. 363 ff.



Geltung und Autorität63

Die Gerechtigkeit ist wohl das bekannteste Element der Rechtsidee, aber nicht ihr einziges. Sie erhält in der Rangordnung der Werte einen sinnvollen Gehalt; das Bemühen um diese war stets das Streben und das Kennzeichen des echten Kulturvolkes. Ihr richtiges Erfassen wurde oft erschwert einerseits durch die sich ändernden erkenntnistheoretische Bedingungen und andererseits durch die politischen Wertungen der einzelnen Epochen. Vom Mut des Kriegers in der germanischen Zeit, über die Ehre Gottes um Mittelalter bis zur Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts wechselt die Bedeutung der einzelnen erstrebenswerten Höchstgüter, die es zu verteidigen oder anzustreben galt. Jede Stufe der kulturellen Fortentwicklung brachte ihre eigene Wertskala hervor. Diese Feststellung soll nicht die Anerkennung eines Relativismus, sondern vielmehr ein Hinweis auf das stete Bemühen der Menschen aller Generationen um Höchstwerte sein. Eine Übereinstimmung in der Erkenntnis verschiedener Werte, die in der Idee des Rechts selbst gelegen sind, läßt sich aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ermitteln, die wir in fast allen Rechtsordnungen feststellen können und die deshalb als übereinstimmend anerkennt bezeichnet werden. Als solche sind beispielsweise der Grundsatz von Treue und Glauben, der Anfechtung von Verträgen wegen Willensmängel, der Verschuldungshaftung, des Verbotes des Rechtsmißbrauches, der Rechtskraft von individuellen Rechtsakten und der Grundsatz „lex specialis derogat generali“ anzusehen. Sie sind ein Ausfluß des Rechtsbewußtseins der Menschen, welches von der einen sich im natürlichen Rechtsgewissen manifestierenden Rechtsidee bestimmt wird und deshalb als einheitlich angesehen werden kann. Diese Rechtsgrundsätze sind die Voraussetzungen der Rechtsordnungen der einzelnen Staaten und damit auch des Rechtes der Staatengemeinschaft, nämlich des Völkerechtes. Auf sie ist in der völkerrechtlichen Judikatur immer dann zurückzugreifen, wenn das positive Völkerreicht keine andere Regelung ermöglicht. Da das Völkerrecht wesensmäßig unvollkommen ist, sind die allgemeinen Rechtsgrundsätze als die normative Grundlage bezeichnet worden, „welche die Staaten zu einer Einheit verbindet“13. Ihre ausdrückliche Positivierung, d. h. die Anerkennung dieses vorhandenen Rechtes, erfolgte durch Art. 38 lit. c des Statuts des Internationalen Gerichtshofes, danach hat dieser Gerichtshof subsidiär, wenn weder nach dem Vertragsrecht noch nach dem völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht die Regelung eines Streitfalles möglich ist, diese nach den „von den Kulturvölkern übereinstimmend anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ (principes généraux de droit) zu erfolgen14. 13  Alfred Verdross / Stephan Verosta / Kral Zemanek, Völkerrecht, 5.  Aufl., Wien 1964, S. 25, und Alfred Verdross, Die Quellen des universalen Völkerrechts, Freiburg 1973, S. 120 ff., beachte auch Legaz y Lacambra, a. a. O., S. 547 ff. 14  Verdrosss  /  Verosta  /  Zemanek, unterscheiden a. a. O., S. 146 f. genau zwischen zwei Arten von allgemeinen Rechtsgrundsätzen und zwar jenen, die vom Völkerge-

64

Geltung und Autorität

Die Rechtsidee und ihre bisher aufgedeckten Erscheinungsformen verlangen nicht bloß erkannt, sondern in der gleichen Weise anerkannt zu werden. Dies setzt aber eine letzte Ausgliederung der Rechtsidee voraus. die Rechtssicherheit. Ohne diesen normativen Grundwert würde sich die ganze Rechts­ ordnung erübrigen. Erst sie macht eine Rechtssetzung möglich. Der Begriff der Rechtssicherheit ist vieldeutig. Man versteht darunter in gleicher Weise die Bestimmbarkeit von Ordnungsprinzipien, den Schutz von Rechtseinrichtungen wie die Vorhersehbarkeit staatlichen Organhandelns. Die Rechtssicherheit15 ist als Möglichkeit der Konkretisierung der Rechts­ idee und ihrer Bestandteile ein Idealzustand, als stete Sicherheit der Gesetzesdurchsetzung ein Realzustand, der sich u.  a. in dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, den Verfahrensvorschriften, insbesondere in der Einrichtung der Rechtskraft manifestiert. Die Rechtssicherheit verlangt die Positivität des Rechts, d. h. den Zwangs­ charakter, der dem gesetzten Recht zu eigen ist. Dadurch ist den Kategorien der Gerechtigkeit und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen nicht bloß ihre Rechtsfindung, sondern eine Rechtsbefolgung gewährleistet, nach der die Erscheinungsformen der Rechtsidee nicht bloß vorhersehbar sind, sonder auch durchsetzbar werden. Insofern ist die Rechtssicherheut selbst ein Wert. Aus der Rechtsidee lassen sich aber nicht alle Rechtseinrichtungen systematisch für eine Rechtsordnung ableiten. Die Rechtsidee läßt nur den potentiellen Sinn des Rechtes und in ihren Elementen die Grenzen des gesetzgeberischen Willens erkennen, ohne die Möglichkeit zu bieten, jedes einzelne Rechtsinstitut auf seine Begründung in der Rechtsidee zu untersuchen. Alle Bestandteile der Rechtsidee stehen in einem bestimmten Verhältnis zueinander, da sie Ergänzungswerte sind. So bedarf der Gerechtigkeit im materiellen Sinn ebenso wie die Rangordnung der Werte der Gerechtigkeit im formellen Sinn und diese der Rechtssicherheit zu ihrer Entsprechung und Ausführung. Dies ist etwa der Fall, wenn die Freiheit und Würde des Menschen in den Grundrechten eines Staates geschützt werden; wo dies aber aus politischen Gründen nicht der Fall ist, widerspricht die Gerechtigkeit im formellen Sinn der Gerechtigkeit im materiellen Sinn und die Rechtssicherheit der Rangordnung der Werte. wohnheitsrecht und vom Vertragsrecht vorausgesetzt werden und solchen, die sich aus dem Inhalte des übereinstimmenden Rechts der Kulturvölker ergeben; vgl. auch Verdross, a. a. O., S.  120 ff. 15  Siehe dazu auch Ludwig Bendix, Das Problem der Rechtssicherheit, Berlin 1914. und Max Rümelin, Die Rechtssicherheit, Tübingen 1924; Radbruch, a. a. O., S. 164 ff. und 193 ff.; Coing, a. a. O., S. 143 f., und Henkel, a. a. O., S. 333 ff.



Geltung und Autorität65

Vor diesem Problem der Erfassung und Ausführung der Rechtsidee und ihren Erscheinungsformen steht jeder Staat, da dem Menschen keine allgemeingültige Rechtseinsicht möglich ist. Die Rechtssicherheit verlangt nach dem positiven Recht, denn die Ordnung des Zusammenlebens kann den Rechtsanschauungen der einzelnen zusammenlebenden Menschen mit möglicherweise entgegengesetzten Weisungen nicht überlassen bleiben, die Ordnung muß vielmehr durch eine überindividuelle Stelle eindeutig geregelt werden. Dies ist Aufgabe des staatlichen Gesetzgebers. 2. Der Sinn der Geltung Der Sinn der Geltung ist somit ein zweifacher, einerseits dem Postulat der Rechtsidee und ihren Erscheinungsformen zur Entsprechung zu verhelfen, andererseits aber die widerstrebenden Interessen von einzelnen Personen und Prinzipien, die sich aus der dynamischen Natur des Menschen ergeben, auszugleichen. Bedarf doch die Rechtsidee mit ihrem sittlichen Gehalt der konkreten, d. h. zeit- und ortsbezogenen Ausführungen und der Anwendung ihrer Erscheinungsformen. Also solche Erscheinungsformen sind bereits die Gerechtigkeit, die Rangordnung der Werte, die allgemeinen Rechtsgrundsätze und die Rechtssicherheit erwähnt worden. Diese Erscheinungsformen der Rechtsidee vermitteln uns zwar nicht den vollen Gehalt der Rechtsidee, wohl aber wesentliche Einsichten. „Sie geben uns die Möglichkeit, über formale Sätze hinaus bestimmte materielle Inhalte als sittlich notwendigen Inhalt des Rechts zu erweisen“16. In welcher Weise das positive Recht den in der Rechtsidee vorgegebenen Maßstab ihrer Ordnung entspricht, ist die Aufgabe des Gesetzgebers. Die Geltung ist somit das Prinzip, das auch dem zum Wesensgehalt der abstrakten Ordnung des positiven Rechts transformierten sittlichen Wert der Befolgung durch Androhung von Unrechtsfolgen sichert. Es ist eben der besondere Charakter der Erscheinungsformen der Rechtsidee, daß sie auch in andere Ordnungen einzugehen vermögen. Sie kann z. B. das Prinzip der Rechtssicherheit und der formellen Gerechtigkeit als Grundsatz der Gesetzesstaatlichkeit in der positiven Rechtsordnung eingehen. Dieser Grundsatz ist in Österreich im Art. 18 (1) B.-VG. verankert, danach darf die gesamte Vollziehung auf Grund der Gesetze ausgeübt werden. Da die Gesetze in der Volksvertretung beschlossen und in den Gesetzesblättern kundgemacht werden, sind die Grundsätze staatlichen Handelns zum einen dadurch vorhersehbar, daß das Volk selbst durch seine Vertreter auf die Rechtssetzung Einfluß nimmt und zum anderen, daß es sich über diese Beschlüsse jederzeit unterrichten kann. In diesem Fall ist es daher unmöglich, wie eine kluge 16  Helmut

Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, Berlin 1950, S. 148.

66

Geltung und Autorität

Hörerin erklärte, daß einen Normadressaten ein obrigkeitlicher Akt „gleich einem Blitz aus heiterem Himmel“ trifft. Diese Sicherheit durch Berechenbarkeit und Vorherrschaft staatlichen Verhaltens verschafft dem Einzelnen eine Sicherheit, der auch ein sittlicher Wert zukommt. Als weitere Verwirklichung einer Erscheinungsform der Rechtsidee, nämlich der materialen Gerechtigkeit, kann die Erlassung von Grundrechten zum Schutz der dignitas humana angesehen werden. Einem vorgegebenen Wert, der Freiheit und der Würde des Menschen wird auf diese Weise ein qualifizierter Schutz, der Rechtsschutz, zuteil. Es steht dem Gesetzgeber die Wahlfreiheit zu, in welcher Weise er der Rechtsidee entspricht. So gibt es Rechtsordnungen, die eine mehr oder weniger qualifizierte Rechtssicherheit17 gewähren. Oder es kann eine Rechtsordnung zwar gerecht im formellen, aber ungerecht im materiellen Sinn zu werten sein. Letzteres ist etwa in einem totalitären Staat der Fall, welcher wohl eine Form der Rechtsstaatlichkeit mit einer Rangordnung verschiedener Rechtssatzformen kennen mag, aber keine Grundrechte. Der Sinn der Geltung ist nicht allein von der Notwendigkeit der gesicherten Konkretisierung sittlicher Werte, sondern auch von den gesellschaftlichen Gegebenheiten her zu verstehen. Diese lehren es uns, daß die Regelung des Zusammenlebens der Menschen nicht den wechselnden Interessen, ja den Launen von Einzelpersonen oder Personengruppen überlassen werden kann, weil Gegensätzlichkeiten und nicht Einheitlichkeit die Folge dessen wären. Die Regelung der Ordnung soll den individuellen Machtkämpfen entrückt werden, sie soll durch eine „überindividuelle Stelle“18 erfolgen. Dies ist schon deshalb notwendig, weil jede an dem Zustandekommen einer Ordnung interessierte Person andere sachliche Gründe ins Treffen führen wird. So wird beispielsweise der Vertreter eines Bundeslandes für eine bundesstaatliche Verfassung mit dezentralisierter Verwaltungsorganisation eintreten, während ein anderer wieder eine einheitsstaatliche Verfassung mit einem zentralistischen Aufbau der Verwaltung vorziehen wird. Ein wechselseitiges Interesse des einen Vertreters an der Erfüllung der Wünsche der anderen Vertreter wird nicht bestehen. Der Streit der Meinungen, welches Ordnungsbild als das gerechteste und zweckmäßigste anzusehen ist und angesehen 17  Das verschiedene Maß an Rechtssicherheit ist an der Entwicklung des Rechtsstaates zu erkennen. Siehe dazu wie über den Zusammenhang von Rechtsstaatlichkeit und Rechtsschutz Adolf Merkl, Die Wandlungen des Rechtsstaatsgedankens, in: Festnummer der österreichischen Verwaltungsblattes zum 80. Geburtstag Adolf Menzels, 8. Jg. (1937) Nr. 7, S. 174 ff., und Herbert Schambeck, The Development of austrian administrative Law, Revue internationale des sciences administratives, Brüssel 1962, S. 215 ff., sowie Derselbe, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates. 18  Siehe Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 170 ff.



Geltung und Autorität67

werden soll, wird sich nicht entscheiden lassen. Nicht fortgesetzt werden soll aber der Machtkampf, daher muß eine in Form der Rechtsordnung entsprechende Entscheidung herbeigeführt werden. Die Form der Rechtssetzung ist verschieden, die kann ein monarchischer Willensentschluß sein oder demokratische Abstimmung. In beiden Fällen kann das Ergebnis privaten Einzelpersonen nicht mehr zugerechnet werden, es ist eine überindividuelle Größe entstanden, die nach dem Maß der Ausführung der Rechts­ idee von mehr oder weniger großem sittlichen Wert ist. Der sich aus den angeführten Gründen ergebende Sinn der Geltung ist im Streben jedes Gesetzgebers, selbst in dem rechtssetzenden Bemühen einer siegreichen revolutionären Gruppe, die sich hernach als Regierung bezeichnet, erkennbar; er liegt in dem Streben nach „Ruhe und Ordnung“, d. h. nach der Sicherheit im Recht. Dieser Sinn erweist die Geltung als eine Einrichtung im Dienste der Rechtsidee19. So sehr man nämlich das Recht, und es ist damit zum Unterschied vom Naturrecht stets das positive, im sozialen Leben geltende Recht gemeint, von der Idee des Rechts unterscheiden muß, so sehr muß es uns mit Binder bewußt sein, „daß dieses rein Empirische gar nicht Recht ist; daß es nur seine Beziehung zur Idee des Rechts ist, was dieses Empirische zum Rechte macht“20. Die Frage nach dem Sinn der Geltung wäre mit dem Hinweis auf das Erfordernis der notwendigen Einheitlichkeit der Ordnung unvollständig beantwortet, sie bedarf noch der ergänzenden Aufdeckung des Grundes der Geltung. Erst mit dem Geltungsgrund ist es möglich, den Sinn der Geltung zu erfüllen. Während der Sinn der Geltung die Erklärung ist, „warum“ es eine positive Rechtsordnung geben muß, läßt es der Grund der Geltung erklären, „wodurch“ diese Ordnung existiert. Die Frage nach dem Grund der Geltung ist die Frage, worauf der Bestand einer positiven Rechtsordnung zurückzuführen ist. Da der Bestand einer Ordnung von ihrer Durch19  Wenn das Ordnungsprinzip des positiven Rechts, nämlich die Geltung als eine Einrichtung im Dienste der Rechtsidee angesehen wird, so soll das nicht heißen, diese Geltung wäre auch das Ordnungsprinzip der sittlichen Ordnung, das ist nämlich die Verbindlichkeit. Man hüte sich daher, beide Ordnungsprinzipien bei aller möglichen Bezogenheit zu verwechseln. 20  Julius Binder, Philosophie des Rechts, Berlin 1952, S. 762; beachte auch Adolf Merkl, Die Lehre von der Rechtskraft, Leipzig / Wien 1923, S. 2012: „Soll das Chaos von Rechtsgestalten, das eine Summe zusammengehöriger Erscheinungen, mit einem Wort als Rechtssystem, als ein rechtlicher Kosmos gedeutet werden können, dann muß diesem Chaos ein delegierendes Prinzip nicht bloß subintelligiert, dann muß es vielmehr als Ausfluß eines gemeinsamen Ursprunges erkannt werden. Die eine Ursprungsform ist nichts anderes als die Summe der von ihr abgeleiteten Normen eine rechtliche Gegebenheit, die nur dadurch den Schein der Irrealität annimmt, daß sie nie und nirgends die äußeren Formen des positiven Rechts teilt, insbesondere niemals als sogenanntes geschriebenes Recht auftritt.“

68

Geltung und Autorität

setzbarkeit, d. h. von ihrer Wirksamkeit abhängt, ist die Frage nach dem Grund der Geltung konkreter gefaßt, wenn man nach den Gründen der ordnungssichernden Durchsetzbarkeit fragt. Meist wird als der augenfälligste Grund für die Durchsetzbarkeit, d. h. für die Wirksamkeit der positiven Rechtsordnung der sie tragende Macht- und Zwangsapparat genannt. Danach wäre jeweils die Ordnung als geltend anzuerkennen, die sich auf Grund der Macht durchsetzt. Ihre Rechtfertigung soll diese Macht aus der Tatsache erfahren, daß keine Ordnung mit ihrer einstimmigen Annahme rechnen kann, da die Ordnungsvorstellungen der Menschen verschieden sind und die erforderliche Einheitlichkeit der Gesellschaftsziele oft unter Zwang hergestellt werden muß. Es sei die Tatsache, daß eine Rechtsordnung der Macht bedarf, nicht geleugnet, denn dies entspricht der Wirklichkeit. Es hat sich ja von mehreren Geltungsansprüchen immer jener durchgesetzt, hinter dem die Macht stand. Dies verlangt auch äußerlich die Rechtssicherheit, also eine Erscheinungsform der Rechtsidee. Welche Unsicherheit würde doch auch entstehen, wenn mehrere positive Ordnungen gleichzeitig an einen Normadressaten appellieren. Die bestimmende Ordnung wäre weder vorhersehbar noch einheitlich. Es würde vielmehr ein Konkurrenzkampf um Anerkennung entstehen, der die Sicherheit des Einzelnen gefährdet. Soll aber die Folge dieser Erkenntnis in der vorbehaltlosen Anerkennung einer Macht gelegen sein, die den Charakter der Gewalt hat? Das Erfordernis der Gewaltherrschaft wäre die Folge. Gibt man sich mit dem alleinigen Vorhandensein eines Macht- und Zwangsapparates zufrieden, dann wäre die Gewaltausübung das einzige Streben und das einzige Kennzeichen des positiven Rechts. Dem Willen des gewalthabenden Gesetzgebers wären keine anderen Schranken gesetzt, als die seiner Wünsche. Eine solche positiv-rechtliche Ordnung würde auf einer bloß voluntaristischen Geltung beruhen. Diese voluntaristische Geltung könnte aber nur eine Seite der Wirksamkeit zeitigen: die Rechtsanwendung durch die Rechtsvollzugsorgane. Die Macht zur Rechtssetzung und die der Rechtsanwendung allein werden aber schwer jene andere Seite der Wirksamkeit zeitigen, die zum dauerhaften Bestand einer Rechtsordnung erforderlich ist: der Rechtsgehorsam als Anerkennung der gegenständlichen Ordnung. In der Kenntnis dieser Tatsache haben auch Zwangsordnungen auf diese ihre Anerkennung verzichten müssen und sich mit der Androhung von Zwang an die Befehlsunterworfenen „begnügt“. Entweder wollten oder mußten sie der Frage nach dem Wert ihrer Ordnung aus dem Wage gehen. Man wird wohl zugeben müssen, daß die bloße Gewalt als Existenzbedingung der positiv-rechtlichen Ordnung keinen allgemein gültigen Grund für die Geltung abgibt, sondern vielmehr die Ausdrucksform einer bestimmten Ordnung der Gewaltherrschaft ist, deren Bestand mangels voller Wirksamkeit ständig gefährdet ist.



Geltung und Autorität69

3. Der Grund der Geltung Der Grund der Geltung, der eine umfassende Wirksamkeit der positiven Rechtsordnung nach allen Seiten, d. h. sowohl gegenüber dem normempfangenden Adressaten als auch gegenüber dem rechtssetzenden Organ ermöglicht, kann nicht die bloße Macht in der Form nackter Gewalt sein, sondern wird ein Bindungsprinzip eigener Art sein müssen, das die Voraussetzung für das geltende positive Recht überhaupt bildet, es ist also der letzte Geltungsgrund. Wir sind es in der positiven Rechtsordnung gewohnt, die positiv-rechtliche Bindung, d. h. die Geltung einer Norm aus einer anderen ranghöheren Norm derselben Art abzuleiten. So ist unter der Voraussetzung verschiedener Rechtssatzformen die Verfassung der Grund für die Gesetze, die Gesetze sind die Grundlage für die Verordnungen und diese wieder die Grundlage für die individuellen Rechtsakte. Mit einer rechtslogischen Deduktion wird eine Rechtsnorm aus einer anderen abgeleitet. Das positive Recht bedingt sich also in den Stufen einer Konkretisierung selbst21. Jeder Rechtssatz muß in dem ihm ranghöheren Satz bereits vorgegeben, in seiner Geltung bereits enthalten sein. Das positive Recht entwickelt sich aus sich selbst, es ist seine eigene Erzeugungsregel. Eine solche auf die bereits in Geltung befindliche Rechtsordnung bezogene Rechtsbetrachtung wird nicht die gewünschte Antwort auf die Frage nach dem Grund der Geltung zu geben vermögen, da sie ihre Bindegewalt aus der bereits vorhandenen Geltung schöpft, ohne diese selbst zu erklären. Diese Fragestellung wird nicht den Ursprung der Bindegewalt aufzudecken vermögen, der Rechtssatz wird aus der Bedingtheit eines ranghöheren Satzes erklärt werden müssen, ohne die Frage selbst zu stellen, wodurch dieser Satz überhaupt Rechtssatz geworden ist, was ihm Geltung verschafft hat. Dieses wichtigste Problem der Lehre von der Geltung erhält den Ansatz einer Lösung von Walter Burckhardt, der feststellte, daß, wenn man diese letzte Frage stellt, „wie das Recht, das einmal Geltung erlangt hat, aus dem früheren Zustand, in dem es noch nicht galt, hervorgegangen sei, so kann die Antwort nicht anders lauten als: es ist aus etwas anderem als (geltendem) Recht entstanden“22. Man kann diese Antwort nicht mit dem Hinweis darauf geben, daß sich eine Ordnung durchgesetzt 21  Über den Stufenbau der Rechtsordnung beachte die von Adolf Merkl entwickelte Lehre in folgenden Schriften: Das Recht im Lichte seiner Anwendung, Deutsche Richterzeitung 1918, S. 56 ff.; Derselbe, Die Lehre von der Rechtskraft, Wien 1923; Derselbe, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1927, und Derselbe, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: Gesellschaft, Staat und Recht, Festschrift für Hans Kelsen, Wien 1931, S. 252 ff. 22  Walter Burckhardt, Die Organisation der Rechtsgemeinschaft, 2. Aufl., Zürich 1944, S. 199.

70

Geltung und Autorität

habe, d. h. daß sich die Tatsache der Geltung aus der bloßen Tatsache der Durchsetzbarkeit selbst ergeben habe, dies sei nämlich der Geltungsgrund. Es wäre doch auch sinnlos, den letzten Grund von Geschehnissen aus anderen Geschehnissen, d. h. eine zeitgebundene Ursache aus einer anderen, erklären zu wollen. Die Erstursache, d. h. die Fundamentalnorm einer Rechtsordnung selbst bedarf einer Begründung. Diese Vorschrift ist nicht dadurch Recht geworden, daß sie durch ein bloßes Ereignis bedingt wurde, sie ist vielmehr der Ausdruck eines zeitlosen Grundes, auf den sie, um Aussicht auf Bestand zu haben, ausgerichtet sein muß. Dieser zeitlose Grund ist aber nicht die bloße Macht im Sinne von Gewalt. Die Machtausübung durch Gewaltanwendung ist zeitgebunden. Sollte auf ihr der letzte Geltungsgrund ruhen, so würde mit dem Nachlassen der Gewalt die Geltung gefährdet und mit ihrem Erlöschen die Geltung verlorengegangen. Dies hat etwa Napoleon klar erkannt, als er erklärte, daß er es sich im Gegensatz zu anderen Herrschern nicht leisten könne, eine Niederlage zu erleiden. Er hat damit zweifellos nicht gemeint, daß eine solche Niederlage sein Selbstbewußtsein so sehr erschüttern würde, daß er seine Herrscherqualitäten verlieren, sondern er hat vielmehr die Gefahr erkannt, daß eine Niederlage seine Machtausübung gefährden könnte und er auf diese Weise Herrschaft nicht mehr ausüben könnte. Gelingt es ihm nämlich nicht mehr, seine Untertanen bis in ihren Gesinnungsbereich zu erfassen und muß er ihnen mangels der erforderlichen Macht die Entscheidung über die Annahme seiner Ordnung überlassen, so sieht er sich vor die Gefahr eines Werturteils gestellt, welches er aber gerade vermeiden wollte. Der Ausspruch Napoleon macht deutlich, daß die Machtausübung durch bloße Gewaltanwendung allein nicht den dauernden Bestand der Geltung zu sichern vermag, sondern daß dazu mehr erforderlich ist, nämlich eine Form der Bestimmung zur Ordnung, die nicht allein auf der Androhung und Anwendung von Gewalt besteht, sondern auch auf die motivierende Kraft von Werten, deren notwendige Sicherung der Macht dienen soll. Die Macht hat in einem vom jeweiligen Gewalthaber zu bestimmenden Maße an Sicherung von Werten, die Ausdruck einer ihrer Kategorie nach zeitlosen Wertigkeit sind, zu dienen, um in einer möglichst widerspruchslosen Einheit mit der Rechtsidee und ihren Erscheinungsformen den Grund der Geltung zu bilden, der sich als die Autorität erweist. Die Autorität kann deshalb als der Grund der Geltung bezeichnet werden, weil die Autorität es ist, welche den Gehorsam, durch welche die Ordnung auf möglichste Dauer gilt ermöglicht. Diese Bedeutung der Autorität läßt schon ihr Wort selbst erkennen. Autorität kommt von auctoritas und dieses Wort gehört zu auctio, dem Hauptwort, und dem Zeitwort augere. Die Autorität ist daher die Kraft, welche zu vermehren vermag. Wem auctoritas zukommt, der vermag einen



Geltung und Autorität71

Zuwachs zu ermöglichen; in diesem Fall einen solchen der gestifteten Ordnung. Als auctor wird auch stets ein Stifter und Schöpfer angesehen23. II. Die Autorität Die Autorität ist der Geltungsgrund des positiven Rechts; wer Gehorsam verlangt, muß Autorität haben. Gehorsam ist aber nicht bloß Zustimmung durch Schweigen, sondern ein positiver Akt, nämlich der Akt der Annahme. Nur die Annahme ermöglicht die Treue, welche mit zur Wirksamkeit einer Rechtsnorm erforderlich ist. Die Treue ist ja der wesentliche Grund für den Rechtsgehorsam24. Übersehen wir nicht, daß es ja doch auch Rechtssätze gibt, deren Einhaltung rechtlich nicht erzwungen werden kann, weil sie sich auf einer Ranghöhe befinden, daß dies ausgeschlossen ist. Wer wollte etwa die Geltung von Verfassungsrechtssätzen, die sich auf die obersten Staatsorgane beziehen, erzwingen. Hans Marti erklärt, daß die Geltung dieser Fundamentalsätze einer Rechtsordnung auf der Tatsache beruhen, „daß diese Organe solche Rechtssätze auch im Gewissen als verbindlich anerkennen“25. Es wäre aber grundlegend falsch, wollte man diese Annahme als Anerkennung in dem Sinne ansehen, als bliebe es dem Belieben des Normadressaten überlassen, ob er eine positive Rechtsordnung zur Kenntnis nehmen und ihr den entsprechenden Gehorsam zollen wolle oder nicht. Eine solche Auffassung würde in der Anerkennung und nicht in der Autorität den Grund der Geltung sahen. Die Anerkennung, eine Form des Gehorsams, ist nur eine Bestandsgarantie der Geltung, aber nicht der Grund selbst. Eine Ordnung, die nur dann gilt, wenn ihr die Rechtsunterworfenen den Gehorsam zollen wollen, wäre keine positive Rechtsordnung. Der Gehorsam ist nur für die Wirksamkeit der Rechtsordnung, d. h. für den Bestand der Geltung erforderlich, nicht aber für ihre Begründung. Das positive Recht appelliert 23  So kannte ja das römische Recht den auctor als Bürgen, d. h. als eine Person, welche der Erfüllung eines Rechtsverhältnisses vermehrte Sicherheit verschafft. Durch Mitwirkung des auctor konnte sogar ein Geschäftsunfähiger Geschäfte abschließen. 24  So bemerkt auch Gustav E. Kafka, Autorität und Norm (Verfassungskrisen als verfassungsrechtliches Problem II), ÖZöR 1952, N. F. Bd. IV, S. 302: „Nicht der ‚Zwang‘, d. h. die Furcht, wie die herrschende Lehre es will, sondern die Treue ist die conditio sine qua non jeder Rechtsgeltung und daher jeder juristischen Betrachtung“ oder derselbe a. a. O., S. 330: „Denn das Recht ist nicht nur eine Wirklichkeit, die wir erleben, sondern im Gegenteil ein Erlebnis, das wir verwirklichen, ein Erlebnis, das die Grundhaltung der Treue voraussetzt und darum der als Wissenschaft maskierten Ideologie indifferenten Unterwürfigkeit niemals zugänglich sein wird.“ 25  Hans Marti, Naturrecht und Verfassungsrecht, in: Rechtsquellenprobleme im Schweizerischen Recht, Festgabe für den Schweizerischen Juristenverein, Band 91 der Zeitschrift des Bernischen Juristenvereines, Jg. 1955, S. 81.

72

Geltung und Autorität

daher nicht bangend an die Zustimmung des Einzelnen, sondern verlangt vom Einzelnen ein Streben nach Werteinsicht. Das positive Recht tritt daher an den Normadressaten nicht bittend, sondern fordernd heran. Dieser Forderung nach Werteinsicht kann der Normadressat nur folgen, wenn der Gesetzgeber auch den Werten entsprochen hat. Eine Werteinsicht des Einzelnen ohne Wertentsprechung von seiten des Gesetzgebers ist unmöglich. Der Gehorsam verlangt eben eine echte Autorität, aus der eine Geltung die Kraft ihrer vollen Durchsetzung schöpfen kann! 1. Die autoritative Geltung Im Unterschied zu der auf einem bloßen Mach- und Zwangsapparat beruhenden voluntarisierten Geltung, die den schrankenlosen Willen eines machthabenden sogenannten Gesetzgebers auszuführen hat, beruht diese Geltung auch auf der motivierenden Kraft der Anerkennung durch den Norm­adressaten, die eine Steigerung bis zur innerlichen Zustimmung erfahren kann. Diese Geltung kann mit einer vollen Wirksamkeit rechnen, welche die Rechtsanwendung und den Rechtsgehorsam umfaßt. Sie gründet sich auf einer echten, auf ein ethisches Minimus bezogenen Autorität, weshalb diese Geltung als autoritative Geltung zu bezeichnen ist. Während die voluntaristische Geltung sich nur allzuoft zu einer Willkürordnung entwickelt, stellt sich autoritative Geltung als Ansatz einer auf die Rechtsidee und ihre Erscheinungsformen bezogenen Ordnung dar, die deshalb den Ehrentitel Rechtsordnung verdient. Nur diese Rechtsordnung hat Aussicht auf einen dauerhaften Bestand, denn ihr wohnt jene Kraft inne, durch welche die Ordnung gilt. Diese Autorität kann daher als der Grund der Geltung des positiven Rechts anerkennt werden. Wird die Autorität als Geltungsgrund des positiven Rechts angesehen, so hat man die Frage nach der Geltung nicht in der Weise gestellt, daß man sich fragt, warum die Menschen tatsächlich den Befehl des Gesetzgebers gehorchen, dies hat ja nicht einen, sondern verschiedene Gründe. So gehorchen manche, weil sie physisch oder psychisch dazu gezwungen werden oder weil sie sich vor den Unrechtsfolgen ängstigen. Diese Gründe, oder besser Motivationen des Gehorsams unterscheiden sich kaum von jener Angst, mit dem ein Tier den Befehl eines anderen Tieres oder eines Menschen befolgt. Furcht und Gewalt können aber nicht als ausschließlicher Grund für die Wirksamkeit einer Rechtsordnung, d. h. als Bestand der Geltung genannt werden; wissen wir doch, daß es Menschen gibt, die sich auch dann an eine Rechtsordnung gebunden fühlen, wenn sie sich nicht unmittelbar „vom Auge des Gesetzes“ beobachtet fühlen. Sie handeln dann nicht aus verspürter Angst und aus ausgeübtem Zwang, sondern erfüllen eine anerkannte Pflicht. Nicht ein Angst- oder Zwangserlebnis ist der Grund für ihr Verhalten, sondern eine



Geltung und Autorität73

Pflichterkenntnis. Würde der Mensch bloß dem Zwang folgend und nicht aus Pflichtbewußtsein gesetzmäßig handeln, so müßten die Gesetzesbefehle mit „Du mußt“ und nicht mit „Du sollst“ beginnen. Da sie aber stets ein Sollen ausdrücken und kein Müssen, zeigen sie, daß sie beim Normadressaten nicht den Eindruck eines Gezwungenseins, sondern eines Verpflichtetseins erwecken wollen. Dadurch unterscheiden sich auch die Bürger eines Staates von den Opfern einer Räuberbande. Beide haben bestimmte Leistungen zu erbringen, das Opfer, weil es gezwungen wurde, der Bürger, weil er verpflichtet ist! 2. Die Werteinsicht als Autoritätsbegründung Diese Verpflichtung des Bürgers findet ihre Begründung nicht allein in der Positivität der Rechtsordnung, d. h. in der Tatsache, daß eine Rechtsordnung in der Regel von den Normadressaten befolgt wird, sondern auch im Wert, den der Gesetzesbefehl ausdrückt. Die Befolgung kann nämlich wohl auf einige Zeit erzwungen werden, die Verpflichtung aber, die eine innere Zustimmung verlangt, nicht. Die Verpflichtung beruht ja auf einer Werteinsicht, die durch einen Gewaltakt nicht ausschließlich ersetzt werden kann. Laun26 hat daher mit Recht festgestellt, daß die Positivität einer Rechtsordnung, deren „Geltung“ im Sinne einer Fähigkeit, innerlich zu „verpflichten“, ein „Sollen“ zu erzeugen, nicht erklären kann, denn es läßt sich dartun, daß physische Gewalt kein Sollen erzeugen kann, und die Positivität die bloße Tatsächlichkeit des Massengehorsams ist, die als solche gleichfalls kein Sollen erzeugen kann. Auch die stärkste physische Gewalt der Welt kann das innere Erlebnis des Verpflichtetseins, des Sollens, selbst des Letzten, des Ärmsten, des Geringsten, des noch so sehr Besiegten, nicht erzwingen. Erzwingen kann sie nur den äußeren Gehorsam27. Dieser äußere Gehorsam wird aber aufhören, wenn der ihn erzeugende äußere Zwang aufhört. Dieses Bestimmungsmoment des Zwanges wird daher schwerlich auf Dauer jenes Maß an Gehorsam erzeugen können, das Kelsen28 selbst als einen Bestandteil der Wirksamkeit und damit als Garantie der Geltung ansieht. Die bloße Zwangsordnung wird mit dem Zwang erlöschen. Für die Zeit der Ausübung des Zwanges wird die Rechtsordnung positiv sein und selbst Massentötungen von Tausenden von Menschen ohne hinreichenden Grund auf Grund von Staatsbefehlen werden von vielen trotz ihrer Unsittlichkeit bedauerlicherweise nicht als Mord, sondern als Hinrichtung angesehen, denn nach diesem positiven Recht waren Staatsorgane ermächtigt und zuständig, solche Handlungen zu setzen. Die 26  Rudolf Laun, Vom Geltungsgrund des positiven Rechts, in: Grundprobleme des internationalen Rechts, Festschrift für Jean Spiropoulos, Bonn 1957, S. 327. 27  Laun, a. a. O., S.  328. 28  Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 11.

74

Geltung und Autorität

Zurechnungsregel exculpiert die Taten dieser Menschen für die Dauer der Positivität dieser Ordnung. Diese Form der Positivität der Rechtsordnung wird sich aber auf längere Zeit nicht halten können. Die Geschichte selbst lehrt uns, daß die vom juristischen Positivismus vertretene Ansicht falsch ist, wonach die verpflichtende Kraft sich aus der physischen Gewalt ableiten lasse. Die verpflichtende Kraft des positiven Rechts drückt sich nämlich gleich der Geltung, die im Einzelnen die Stimme wachruft: „Du sollst“, in einem Rechtssatz aus, der nicht bloß positiv ist, das heißt gesetzt wurde, sondern gilt. Er erhält seine Bestandsgarantie von jenem letzten, von nichts weiter ableitbaren Erkenntnisvorgang, in dem das Individuum in einem subjektiven Erlebnis erfährt, „daß es im konkreten Fall etwas ‚soll‘ “29. Sittliches Rechtsbewußtsein und Würde, d. h. Autorität des Staates sind komplementäre Größen. Die innere Zustimmung des Normadressaten ist die echte Antwort auf das durch Autorität des Gesetzgebers hervorgerufene Sollen. Für die Positivität des Rechtes mag die Macht in Form des Zwanges ausreichen, für die Geltung ist aber mehr erforderlich, die Autorität30. Die Autorität ist daher jener Grund der Geltung, welcher dem Sinn der Geltung am besten entspricht, sie ist der normative Ausdruck des sittlichen Auftrags der Rechtsidee. Bereits die Römer verstanden, unter auctoritas, siehe senatus auctoritas, die Geltung. Von dem Vorhandensein der Autorität eines Gesetzgebers, von seinem sittlichen Ansehen wird es abhängen, wie ein Staat beurteilt wird, ob ihm bloß für die Dauer der Angst gefolgt wird, oder ob er auf eine auf sittlicher Überzeugungskraft innerer Zustimmung ruhende Gefolgschaft seiner Bürger rechnen kann. Jeder Gesetzgeber hat die Freiheit, den sittlichen Gehalt der Bindung des Einzelnen an seine Ordnung zu bestimmen. Die ihm zur Verfügung stehende Spannweite ist sehr groß, sie recht von der Positivität bis zu der Autorität einer Ordnung, d. h. von ihrem Gesetzwerden bis zu ihrem Gelten. Jeder Gesetzgeber hat das ihm wesensgemäße Streben zu gelten. Gelten aber heißt in seiner einleuchtendsten und gängigsten Sinngebung anerkannt sein. So wird doch auch ein Mensch, der etwas gilt, als ein angesehener Mensch anerkannt. Ansehen ist aber stets mit Würde und Würde mit Wert verbunden. Einen solchen Wert zu haben versucht, wenn auch bisweilen nur vortäuschend oder mit untauglichen Mitteln, jeder Gesetzgeber, der dem Einzelnen gegenübertritt. 29  Laun,

a. a. O., S.  330. man daher den Rechtsbegriff der Geltung positivistisch in dem bloßen tatsächlichen Gehorsam der Bevölkerung eines Staates gegenüber staatlichen Befehlen, unabhängig davon, ob diesen Befehlen eine innerliche verpflichtende Kraft zu eigen ist, so muß man Laun, a. a. O., S. 329 zustimmen, wenn er den Satz „Das positive Recht gilt“ als eine Tautologie bezeichnet. Denn nach dieser Lehre gilt ja jedes Recht, da „Gelten“ und „Positivsein“ dasselbe ist. Eine solche Lehre kann über den Geltungsgrund nichts aussagen und muß mit einer hypothetischen Grundnorm auskommen. 30  Sieht

Widerstand und positives Recht* Gedanken zu Art. 20 Abs. IV des Bonner Grundgesetzes Zu den Kennzeichen des Menschseins zählt die Gegenüberstellung der Lebensbedürfnisse und Wertvorstellungen des Einzelnen zu den Bedingungen seiner Umwelt. Wird diese Umwelt von einer organisierten Gemeinschaft, deren Teil der Einzelne ist, geprägt, so befindet sich der Einzelne im Spannungsfeld der Ordnung dieser Gemeinschaft. Stimmt er mit den an ihn gerichteten Forderungen dieser Gemeinschaftsordnung nicht überein, liegt es an ihm, sich mit dieser Ordnung kritisch auseinanderzusetzen. Führt diese Auseinandersetzung nicht zu einer Änderung der Ordnung im Sinne des Einzelnen, sondern ruft sie ein Gegenverhalten hervor, dann sucht der Einzelne dem Bestehenden zu widerstehen und leistet so Widerstand. Wenn diese kritische Auseinandersetzung in einer zur Höchstfunktion als Staat organisierten Gemeinschaft erfolgt, wird der Widerstand der Ordnung des Staates, nämlich dem positiven Recht, entgegengesetzt. In diesem Fall steht der Einzelne mit seinem Anliegen im Widerspruch zu dem Befehlsund Zwangscharakter des positiven Rechts. Der Widerstand kann in verschiedener Weise geleistet werden, er kann u. a. im Unterlassen von Handlungen, in mündlicher und schriftlicher Kritik, in öffentlichen und geheimen Druckwerken, in Grenzvergehen, im Streik, im Boykott, in der Emigration, Sabotage, Wehrdienstverweigerung und im Aufstand bestehen1. In jedem dieser beispielsweise genannten Fälle wird eine bestehende Ordnung in Frage gestellt, ist doch Widerstand gegen etwas auch gleichzeitig Kritik an etwas. Auf diese Weise führt der Widerstand, welchen Grund er immer haben mag, zu einer Spannung zwischen dem Staat und dem Einzelnen, die nur möglich ist, wenn der Einzelne – ausdrücklich anerkennt oder stillschweigend voraussetzt – die Eigenständigkeit seiner im Naturrecht2 begründeten Freiheit und Würde erfährt. Somit ist der *  Erschienen in: Menschen im Entscheidungsprozeß, Festschrift für Johannes Messner, hrsg. von Alfred Klose und Rudolf Weiler, Wien / Freiburg / Basel 1971, S. 329 ff. 1  Siehe Günther Scheidle, Das Widerstandsrecht, entwickelt anhand der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1969, insbes. 130 ff. 2  Siehe Johannes Messner, Das Naturrecht, Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 5.  Aufl., Innsbruck / Wien / München 1966.

76

Widerstand und positives Recht

Widerstand Ausdruck einer Konfrontation von Staat und Einzelnem, von positiver und präpositiver Ordnung und die Ausübung des Widerstandes eine Konfliktsituation im Staat. Erkennt man den Widerstand als Konfliktsituation, dann erweckt es besondere Aufmerksamkeit, wenn der Gesetzgeber eines Staates in seinem positiven Recht selbst dem Einzelnen die Ermächtigung zum Widerstand erteilt. Das ist im Bundesverfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland der Fall. Mit dem 17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968 hat der Bundestag dem Art. 20 des Grundgesetzes als Absatz IV die Bestimmung angefügt: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“3. Handelt es sich bei dieser Positivierung des Widerstandes um eine Schwächung des Befehls- und Zwangscharakters des positiven Rechts und damit des Staates, oder sind Widerstand und positives Recht doch in bestimmter Weise vereinbar? Zur Beantwortung dieser Fragen sei I. das Verhältnis von Widerstand und positivem Recht in seiner geschichtlichen Entwicklung betrachtet, II. Art. 20 Abs. IV GG in bezug auf das System des bundesdeutschen Verfassungsrechtes erklärt, um abschließend III. die Bedeutung der Positivierung des Widerstandes für seine Ausübung zu bedenken. I. Widerstand und positives Recht in historischer Sicht Der Gedanke des Widerstandes4 setzt eine kritische Haltung des Einzelnen dem Staat gegenüber voraus. Dies war, abgesehen von Ansätzen bei einzelnen antiken Philosophen5, in umfassender Weise erst durch das Christentum der Fall. Dieses hatte anfangs auf Grund seine Glaubensgutes6 des einzelnen Christen den heidnischen Staat gegenüber zur Unterlassung des heidnischen Götzendienstes, also zu einem passiven Widerstand, veranlaßt. Als das Christentum 313 Staatsreligion wurde, war es mitverantwortlich für den Staat geworden, dessen Herrscher damit auch Pflichten im Sinne der christlichen 3  BGBl. I,

709. u. a. Kurt Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt, Breslau 1916; Widerstand gegen die Staatsgewalt. Dokumente der Jahrtausende, hrsg. von F. Bauer, 1965 und Karl Friedrich Bertram, Widerstand und Revolution, Berlin 1964. 5  Dazu Josef Anton Stüttler, Das Widerstandsrecht und sein Rechtfertigungsversuch im Altertum und im frühen Christentum, ARSP 51 (1965), 495 ff. 6  Siehe besonders Markus 12, 17; Apostelgeschichte 5, 29; Matthäus 7, 1 und Römerbrief 13, 1 u. 2. 4  Siehe



Widerstand und positives Recht77

Staatsethik übernahm, deren Erfüllung beurteilt werden konnte. So sieht sogar die fränkische „Reichsordnung“ 817 ein förmliches Strafverfahren gegen einen tyrannischen Herrscher vor, und 833 folgt der kirchlichen Bestrafung Ludwig des Frommen auch der Verlust der Herrscherrechte. Dieses kirchliche Widerstandrecht erlangte währen des Investiturstreites besondere Bedeutung, was nicht zuletzt in diesem Maße deshalb erklärlich ist, weil schon in der germanischen Zeit die Überzeugung vom Recht zum Widerstand wegen Rechtsverletzungen vorhanden war. Fritz Kern bezeichnete sogar das Widerstandsrecht als einen integrierenden Bestandteil der germanisch-mittelalterlichen Staatsanschauung7. Dieses Recht findet seine Wurzel im germanischen Volksrecht, das schon gewohnheitsrechtlich ein „Verlassen“ des Herrschers aus Mängeln, die in seiner Person liegen, kannte. Solche Fehler waren neben der körperlichen und geistigen Unfähigkeit des Herrschers seine „Gesetz­ losigkeit“8. Nur ein getreuer Herrscher konnte getreue Untertanen erwarten. Kern erklärt deshalb auch die chronische Permanenz der Aufstände im Mittelalter nicht bloß als Ausdruck selbstsüchtiger Auflehnung und Anarchie, sondern vielmehr eines dunklen Rechtsbewußtseins, „das jedem, der sich vom König in seinem Recht gekränkt fühlt, die Befugnis zusprach, für die Rechtsverweigerung sich selbst Genugtung [!] zu verschaffen“9. Auf die aus verletztem Rechtsbewußtsein entspringenden spätmittelalterlichen Fehden des Südostens weist Otto Brunner hin10. Aus dem individuellen Widerstandsrecht entwickelte sich später das lehensrechtliche Widerstandsrecht. Dieses Recht gründet sich auf das mit dem Lehen entstandene Treueverhältnis zwischen Lehensherrn und Lehensmann, bei dessen Verletzung ein Recht zum Widerstand entsteht. Anfangs genügte es einfach, den ungetreuen Lehensherren zu verlassen, später wurde es auch 7  Fritz Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im frühen Mittelalter, 2. Aufl., herausgegeben von Rudolf Buchner, Münster / Köln 1954, 138 ff. 8  Kern, a. a. O., 152; beachte auch Wilhelm Sickel, Zum karolingischen Thronrecht, in: Festschrift für August Siegfried Schultze, Leipzig 1903, S. 121 ff.: „Diese allen Reichsangehörigen gemeinsame und von den Königen selbst geteilte Rechtsüberzeugung von rechtlichen Verpflichtungen des Königs hat die Voraussetzung für eine rechtmäßige Verlassung des Herrschers gebildet … Die Vorstellung, daß das, was vom Herrn dem Untergebenen zu gewähren ist, im Rechtssinne geschuldet wird, ist allem germanischen Verbandsrecht immanent … In allen Fällen erscheint das Verhalten des Gewaltträgers, der den Gewaltunterworfenen Gebührendes versagt oder Ungebührliches zufügt, als Unrecht. Hier wurzelt die im Mittelalter so vielfach lebendig gewordene und nicht selten in Rechtssätzen ausgeprägte Anschauung, daß, wenn der Herr seine Schuldigkeit verletzt und Zwang gegen ihn ausgeschlossen ist, auch die Untergebenen ihrer Pflichten ledig werden und das Recht des Ungehorsams haben.“ 9  Kern, a. a. O., 158. 10  Otto Brunner, Land und Herrschaft, 4. veränderte Auflage, Wien  / Wiesbaden 1959, 21 ff.

78

Widerstand und positives Recht

erforderlich, die Lehenstreue feierlich aufzukündigen. Damit war aus dem formlosen Widerstandsrecht eine formelle Rechtseinrichtung geworden11. Dieses Widerstandsrecht ist sowohl in seiner formlosen wie in seiner formellen Prägung der Ausdruck eines Treueverhältnisses mit einer Gegenseitigkeit von Herrscher- und Untertanenrechten und -pflichten. Welche Rolle das Widerstandsrecht im frühmittelalterlichen politischen und juristischen Denken spielte, zeigt der Karolingische Staatsvertrag aus dem Jahre 842. In diesem werden die Untertanen als Bürger für ordnungsgemäße Vertragserfüllung zugleich zu Richtern über das Verhalten des Königs dadurch bestellt, daß Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle ihre Untertanen von Gehorsam und Treue für den Fall entbinden, daß sie den Vertrag verletzten12. Weitere Beurkundungen des Widerstandsrechtes sind in der folgenden Zeit u. a. in England und Ungarn erkennbar13. Die geistige Grundlage für dieses Widerstandsrecht ist, wie Heyland14 feststellt, durch Jahrhunderte die Lehre von der Volkssouveränität und vom „Herrschaftsvertrag“, der als zwischen Herrscher und Volk bestehend angenommen wird. Als später neben die Fürsten immer mehr die Stände traten, wurde im ständisch organisierten Staat das Widerstandsrecht von den Ständen zum Schutz ihrer Eigeninteressen und der Interessen ihrer Untertanen ausgeübt15. Bisweilen wird dieses Recht auch allen Untertanen zugesichert. Das Widerstandsrecht diente dem Schutz bestimmter verfassungsmäßiger Rechte der Stände und des Volkes, wie u. a. der Bewilligung von Steuern, der Zustimmung zur Münzprägung, dem Verbot der Veräußerung oder Verpfändung von Landesbestandteilen oder dem Recht auf Teilnahme an der landesherrlichen Verwaltung und dem Recht auf unparteiischen Rechtsschutz16. Dabei geht es u. a. um das Recht der Landstände auf eine gerechte Rechtsprechung17. Verletzte der Landesherr eines der Rechte, so gefährdete er damit seine Autorität, denn in diesem Fall waren die Stände berechtigt, Widerstand zu leisten. Man kann daher sagen, daß die Freiheitsrechte des Mittelalters in der vertraglichen Selbstbindung des Herrschers gegenüber seinen Untertanen ihren Grund finden18. Dabei weist Theo Mayer-Maly19 darauf hin, daß der Vertrag die typische Rechts11  Carl

Heyland, Das Widerstandsrecht des Volkes, Tübingen 1950, 9. Germaniae (Schulausgabe), 3. Aufl., 36 ff. 13  Siehe Heyland, a. a. O., 14. 14  Heyland, a. a. O., 18 f. und 27 ff. 15  Wolzendorff, a. a. O., 29 ff. u. 74 ff. 16  Siehe Wolzendorff, a. a. O., 56 ff. 17  Heyland, a. a. O., 25 f. 18  Robert Keller, Freiheitsgarantien für Person und Eigentum im Mittelalter, Beiträge 14, 1., Heidelberg 1933, 38, 238, 243 u. 293. 19  Theo Mayer-Maly, Zur Rechtsgeschichte der Freiheitsidee in Antike und Mittelalter, ÖZöR 1955, 421. 12  Monumenta



Widerstand und positives Recht79

form der Bindung darstellte und Vertrag und Privileg im Mittelalter eine ebenso taugliche Form genereller Normen wie das Gesetz waren, denn nach Bartolus ist „der Vertrag dessen, der Gesetze erlassen kann, Gesetz“20. Je mehr jedoch später die Herrscher ihre Macht immer mehr vergrößerten und am europäischen Kontinent an die Stelle des ständischen Staates der absolute Staat trat, desto mehr wurde diese Bedeutung des Vertrages und das Widerstandsrecht verdrängt. In einem Staat, in dem nämlich die Staatsgewalt nicht zwischen dem Herrscher und den Ständen als den Repräsentanten des Volkes aufgeteilt wurde, sondern vielmehr ungeteilt in den Händen des Herrschers verblieb, mußte das Widerstandsrecht als Einrichtung des positives Rechtes verschwinden. An die Stelle eines dialogischen Spannungsverhältnisses trat nun die Wirkkraft der monologischen Macht. Das Widerstandsrecht lebte aber als naturrechtliche Idee in den Lehren verschiedener Theologen und Rechtsphilosophen weiter. Luther21, Calvin22, die Monarchomachen23, Johannes Althusius24, Hugo Grotius25 seien als Beispiele genannt. Ein Durchbruch in das positive Recht gelingt dem Widerstandsrecht in Europa erst im Anschluß an die Französische Revolution 1789. Seit dieser Zeit hat das Widerstandsrecht, das seit den Uranfängen des Rechtsdenkens als bester Beweis für den dialogischen Charakter der Rechtssetzungsautorität galt, einen sichtbaren Ausdruck im modernen positiven Recht gefunden. Man nahm sich vor allem die Entwicklung in Amerika zum Vorbild, wo bereits der Aufruf des Provinzial-Kongresses von Massachusetts 1775, hernach 1776 die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von Virginia, Pennsylvania und Maryland, sowie 1777 von Vermont, 1780 von Massachusetts und 1784 von New Hampshire die Erklärung des Widerstandsrechtes beinhalteten. Unter diesem Einfluß stehend, enthält der Art. 2 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 als natürliches und unveräußerliches Grundrecht das Recht auf Widerstand: „Le but de toute association est la conversation des droits naturels et imprescriptibles de l’homme. Ces droits sont la liberté, la propriété, la sûreté et la résistance á l’oppression“, das auch in den französischen Verfassungen von 1791 und 1793 enthalten ist. Auf diesen Grundrechten von 1789 baut sich die französische Verfassung vom 4. November 1848 auf; diese Grundrechte haben sich einschließlich des Widerstandsrechtes im Rechtsdenken der Franzosen 20  Tractatus

repressalarium, in: Consilia quaestiones et Tractatus, Lyon 1547, 117. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, 1523. 22  Johann Calvin, Institutio religionis christianae, 1559. 23  Siehe Calvinistische Monarchomachen, hrsg. von Jürgen Dennert, Köln / Opladen 1968. 24  Beachte Peter Jochen Winters, Die Politik des Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen, Freiburg i. Br. 1963, bes. 260 ff. 25  Hugo Grotius, De jure belli ac pacis libri tres, 1625. 21  Martin

80

Widerstand und positives Recht

so eingelebt, daß selbst Carl Schmitt erklärte: „Die Prinzipien der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 haben sich im Bewußtsein der Franzosen so fest eingebürgert, daß ihre Festsetzung in der Verfassung sich erübrigt“26. In diesem Sinne enthalten auch die französischen Verfassungsgesetze von 1875 keine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Neben der amerikanischen Verfassungsgesetzgebung hat dieses Widerstandsrecht seine geistige Wurzel in der Lehre Rousseaus. Rousseau geht zwar in seinem „Contrat social“ nicht von der dualistischen Auffassung der Staatsgewalt aus, die den Ständestaat beherrschte, sondern vielmehr von einer einheitlichen unteilbaren Staatsgewalt, die nach seiner Lehre von der Volkssouveränität beim Volk ruht. Das Volk macht auch den Staat erst möglich, da es sich bekanntlich in einem eigenen Vertrag, den sogenannten Gesellschaftsvertrag, zusammenschließt. In dieser Identität von Herrscher und Beherrschten liegt das Prinzip der Volksherrschaft begründet. Das Volk selbst ist souveräner Gesetzgeber, der in jeden Bereich des Lebens eingreifen kann. Da für Rousseau die Staatsgewalt eine Einheit ist, faßt er die Einsetzung eines Gouvernements nicht wie bisher als Vertrag, sondern als einseitigen Rechtsakt auf. Das leitende Exekutivorgan des Staates befindet sich auch zur freien Verfügung des Volkes. Aus dieser Konstruktion ergeben sich nach Rousseau zwei Möglichkeiten des Widerstandes: einmal, wenn die Gewalt der Regierung anders ausgeübt wird, als es der gesetzgeberische Wille vorschreibt, ein andermal, wenn der Wille des Gesetzgebers selbst jene Vorschrift ändert27. Dieses Widerstandsrecht beruht auf dem Gesellschaftsvertrag, denn wird dieser in den beiden genannten Fällen verletzt, treten die Bürger wieder in ihre ursprünglichen Rechte zurück28. In diesem Zustand schulden sie keinen Gehorsam mehr und können somit Widerstand leisten. Während der Gedanke des Widerstandes im allgemeinen, der Gedanke des Verlustes der Herrscherstellung wegen Verletzung gewisser verfassungsrechtlicher Bestimmungen im besonderen, das amerikanische, englische29, französische und skandinavische30 Rechtsdenken beherrschte, war dies im deutschen Rechtskreis später nicht der Fall. In Deutschland wurde nämlich 26  Carl

Schmitt, Verfassungslehre, München / Leipzig 1928, 128. Rousseau, Contrat social, Liv. III, chap. X, XVI–XVIII; siehe auch Wolzendorff, a. a. O., 354. 28  Roussau, a. a. O., Liv. III. chap. X. 29  Julius Hatschek, Englisches Staatsrecht, Tübingen 1905, Bd. I, 596 ff. 30  Beachte C. Goos / Henrik Hansen, Das Staatsrecht des Königreiches Dänemark, Tübingen 1913, 46 ff., den Art. 1 der Norwegischen Verfassung vom 4. November 1814 und die Schwedische Thronfolgeordnung von 1810. Wenn auch religiöse Gründe für den Thronverlust angegeben werden, so ist dieser selbst Ausdruck des Widerstandes, d. h. der Grenzen der Herrschaft. 27  J. J.



Widerstand und positives Recht81

die absolute Monarchie durch die konstitutionelle Monarchie abgelöst, in der der Einzelne durch eine Verfassung geschützt wurde, zu deren Erlassung das Volk den Monarchen veranlaßte und welches keinen Bezug auf ein neben oder über dem positiven Staatsrecht herrschendes Recht kennt. Den Entzug der naturrechtlichen Grundlage des Widerstandes hatte bereits Immanuel Kant vorbereitet: „Der Grund der Pflicht des Volkes, einen selbst für unerträglich ausgegebenen Mißbrauch der obersten Gewalt dennoch zu ertragen, liegt darin: daß sein Widerstand wider die höchste Gesetzgebung selbst niemals anders als gesetzwidrig, ja als die ganze gesetzliche Verfassung vernichtend geachtet werden muß. Denn, um zu demselben befugt zu sein, müßte ein öffentliches Gesetz vorhanden sein, welches dieses Widerstand des Volkes erlaubte, das heißt, die oberste Gesetzgebung enthielte eine Bestimmung in sich, nicht die oberste zu sein und das Volk, als Untertanen in einem und demselben Urteil zum Souverän über den zu machen, dem es untertänig ist; welches sich widerspricht“31. Für Kant nimmt das positive Recht den ganzen Rechtsbegriff in sich auf. Dem Widerstandsrecht fehlte damit die Legitimation. Die Situation des Widerstandsrechtes im konstitutionellen Staat hat wohl Wolzendorff am besten gekennzeichnet: „Der Staat ist uns die höchste Macht im menschlichen Gemeinschaftsleben, eine auf sich selbst gestellte Herrschergewalt, die von keiner anderen Macht abgeleitet ist. Im modernen Staat ist aber diese Herrschermacht ‚in das Recht gestellt‘, ihre Wirkungen geschehen im Rahmen der Rechtsordnung, der Staat ist Rechtsstaat. Daher würde für den modernen Staat die Anerkennung eines Volkswiderstandsrechtes den rechtlichen Verzicht auf di Wahrung seiner Herrschermacht bedeuten, also eine Selbstentäußerung seines Wesens. Eine andere Rechtsquelle als solch eigener Verzicht des Staates ist aber für den Staat nicht zu denken. Denn der Verlust der aus seinem Wesen sich ergebenden ­Rechtsmacht zur Geltendmachung seiner Herrschergewalt, die mit der rechtlichen Existenz einer den Widerstand gegen sie gestattenden Norm gegeben wäre, ist für uns rechtlich anders nicht konstruierbar, weil wir eine rechtliche Bindung der Staatsgewalt nur kennen als freiwillige, als Selbstbindung. Ein Recht zu prinzipieller Bekämpfung oder gar Vernichtung des Staatsgewalt, wie es das Recht des Volkswiderstands bedeuten würde, ist daher in sich unmöglich“32. An die Stelle des Rechtes auf Widerstand trat immer mehr ein Recht auf Schutz durch die Verfassung und ihre Rechtseinrich31  Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, II.  Teil, 5. Kap., 2. Aufl. 1798. Auch Fichte anerkennt in Überwindung des Dualismus von positivem Recht und Naturrecht nur mehr ein Recht, das in der Form des positives Rechts auftritt. Siehe dazu Johann Gottlieb Fichte, Grundlagen des Nuturrechts nach Prinzipien der Wirklichkeitslehre, Jena und Leipzig 1796. 32  Wolzendorff, a. a. O., 461 f.

82

Widerstand und positives Recht

tungen. Da das Volk im Zuge der Demokratisierung des Verfassungsstaates immer mehr Einfluß auf das Staatsgeschehen erlangte, meinte man, durch ein demokratisches Staatsrecht genügend geschützt zu sein33. Der Einfluß des Volkes auf die Gesetzgebung einerseits und die Gewaltenteilung und die Rechtsstaatlichkeit der Vollziehung, d. h. insbesondere die Bindung der Vollziehung an die Gesetze andererseits, wurden als hinreichender Schutz angesehen. Als hinzu noch die Gerichtsbarkeit öffentlichen Rechts in Form der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, die u. a. die Möglichkeit der Überprüfung aller Rechtsakte auf ihre Gesetzmäßigkeit durch unabhängige Richter bietet, wirksam wurde, glaubte man die Freiheit des Einzelnen endgültig gesichert zu haben. In einem solchen Staat war ein Widerstandsrecht seinem Anschein nach überflüssig geworden; die Verfassung hat den Schutz des Einzelnen übernommen. Man strebte daher in der deutschen Rechtsentwicklung nicht nach einer Anerkennung des Widerstandsrechtes, sondern nach der Gewährung einer Verfassung und in ihr nach einer Ausführung der Grundsätze des demokratischen Rechtsstaates34. Der auf Grund dieser Verfassung tätige Gesetzgeber sollte nach der vom deutschen Reichsgericht formulierten Ansicht selbstherrlich und nur an diejenigen Schranken gebunden sein, die er sich selbst in der Verfassung und den Gesetzen gegeben hat35. Carl Schmitt erklärte auch das Widerstandsrecht als vor- und überstaatliches Menschen- und Freiheitsrecht für juristisch nicht organisierbar und hielt seine Umleitung in ein bloß staatlich zugelassenes Rechtsmittel für ausgeschlossen36. An die Stelle der Widerstandsrechtes scheint somit das subjektive öffentliche Recht des Einzelnen getreten zu sein. Es liegt aber ein großer Unterschied zwischen beiden. Während nämlich der Widerstand meist auf eine präpositive Wertordnung bezogen ist, richten sich der Verfassungsschutz und das richterliche Prüfungsrecht auf den Schutz des positiven Rechts des Gesetzgebers. Dieser Schutz stellt eine Scheininstitutionalisierung des Widerstandes dar. Steht es doch dem Gesetzgeber in derselben Weise, in der er die 33  Mit Recht stellt Heyland, a. a. O., 76, fest: „Seit dem Ende der Revolution von 1848 ist der Gedanke des Widerstandsrechtes in Deutschland tot.“ 34  Eine Ausnahme bildete die Tübinger Rechtsfakultät, die am 26. Jänner 1839 in einem zum hannoveranischen Verfassungskonflikt von 1837 erstatteten Gutachten erklärte, daß der staatsbürgerliche Gehorsam nicht unbedingt, sondern eine durch die Verfassung bedingte Pflicht ist. Die Untertanen sind daher dem Herrscher gegenüber nicht schutzlos, sondern vielmehr zum Widerstand berechtigt, wenn gegen die Verfassung oder gegen Gesetze gehandelt worden ist, durch welche die regierende Macht erst ihre Bestimmung erhalte. Beachte dazu Gutachter der Juristen-Fakultät in Heidelberg, Jena und Tübingen, die Hannoversche Verfassungsfrage betreffend, hrsg. von Dahlmann, 1839, 131 ff., insbesondere 273 ff. 35  RGZ 118, 327. 36  Schmitt, a. a. O., 164.



Widerstand und positives Recht83

Grenzen seines Handelns bestimmen kann, auch frei, die Maßstäbe der Überprüfung festzusetzen. Eine solche Rechtsauffassung läßt für das Widerstandsrecht des Volkes keinen Raum, denn für sie steht die Ordnung des Staates im Mittelpunkt ihres Strebens. Ein Freiheitsanspruch des Einzelnen wird nur soweit anerkannt, als er die Ordnung des Staates nicht gefährdet. Der Versuch eines Ausgleiches zwischen dem Rechtsschutzbedürfnis des Einzelnen und dem Staate wurde auf dem Wege zur Demokratisierung der Staatsfunktionen und der Gewaltenteilung unternommen. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Einzelnen und dem organsierten Herrschaftsverband, von präpositiven Werten und positiven Wertungen sollte durch eine innersystematische Polarität ersetzt werden. Diese war jedoch gefährdet, als im deutschen Rechtskreis die „Selbstherrlichkeit“ des Gesetzgebers durch den Nationalsozialismus einen Willkürcharakter annahm, und die demokratischen Einrichtungen um Zuge des mit dem Autoritätsstreben verbundenen Totalitätsanspruches immer inhaltsleerer wurden, um schließlich die Grundrecht als einen „Aufstand des Egoismus gegen die Volksgemeinschaft“ zu bezeichnen. Die totalitären Herrschaften der Gegenwart haben es ja bewiesen, daß dem Einzelnen zunächst, die präpositive Wertbezogenheit seines Rechtsdenkens unmöglich gemacht wird, um ihn hernach dem Wertungsstreben des jeweiligen Gesetzgebers auszuliefern. Welches Maß an Mißachtung die Würde des Menschen erfuhr, hat die politische Geschichte gezeigt. Als sich nach dem 2. Weltkrieg die Möglichkeit der Erneuerung des Rechtsdenkens eröffnete, wurde dem Einzelnen im deutschen Verfassungsrecht eine Garantie des Rechtsschutzes seiner Persönlichkeit gewährt: es wurden nach angloamerikanischem Vorbild vor- und überstaatliche Grundrechte des Menschen anerkannt, ja das Bonner Grundgesetz erklärt sogar im Art. 79 (3) u. a. eine Änderung der in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze, die sich auf die Menschenwürde, die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte, die Staatsform und die Rechtsstaatlichkeit beziehen, für unzulässig. Sollte also der Gesetzgeber die Würde des Menschen verletzen, indem er etwa die Grundrechte suspendiert, so hört dieser Staat im Rechtssinn auf zu bestehen, es ist ein Bruch der Rechtskontinuität eingetreten. Andererseits wurde eine an der demokratischen Idee ausgerichtete Organisation der obersten Staatsfunktionen geschaffen. Einzelne deutsche Landesverfassungen gingen einen Schritt weiter und positivierten die Idee des Widerstandes. So bestimmt Art. 23 (3) der Verfassung von Berlin vom 1. September 1950: „Werden die in der Verfassung festgelegten Grundrechte offensichtlich verletzt, ist jedermann zum Widerstand berechtigt“. In diesem Neuland am weitesten vorgestoßen ist wohl die Hessische Verfassung vom 1. Dezember 1946 in Art. 147: „(1) Widerstand gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt ist jedermanns Recht und Pflicht. (2) Wer von

84

Widerstand und positives Recht

einem Verfassungsbruch oder einem auf Verfassungsbruch gerichteten Unternehmen Kenntnis erhält, hat die Pflicht, die Strafverfolgung des Schuldigen durch Anrufung des Staatsgerichtshofes zu erzwingen. Näheres bestimmt das Gesetz“. Eine ähnliche Bestimmung findet sich im Art. 19 der Verfassung der freien Hansestadt Bremen vom 21. Oktober 1947: „Wenn die in der Verfassung festgelegten Menschenrechte durch die öffentliche Gewalt verfassungswidrig angetastet werden, ist Widerstand jedermanns Recht und Pflicht“. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland enthielt zunächst 1949 den Widerstand weder als Recht noch als Pflicht; der Parlamentarische Rat37 hatte damals bei den Beratungen über das Grundgesetz davon abgesehen, das Widerstandsrecht trotz der Anerkennung seines Bestehens in die Verfassung aufzunehmen, da es als ein übergesetzliches Recht verstanden wurde, das sich nur schwer in einem Gesetz durch das positive Recht eingrenzen ließ. Diesen Standpunkt gab der Bundestag 1968 auf und nahm das Widerstandsrecht als Art. 20 Abs. IV des Grundgesetzes in das Bundesverfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland auf: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. Dieses im Art. 20 Abs. IV Grundgesetz positivierte Widerstandsrecht gilt es nach seinem Platz im System des deutschen Bundesverfassungsrechtes, seinem Schutzobjekt, seinen Voraussetzungen und dem Ziel seiner Ausübung zu bestimmen. II. Die Bedeutung des deutschen positivierten Widerstandsrechtes Das Widerstandsrecht wurde einem Artikel des Grundgesetzes beigefügt, der das demokratische Prinzip beinhaltet und der in seinen Absätzen I bis III mit der Bestandsgarantie der Unversehrtheit durch Art. 79 Abs. III Grundgesetz versehen ist, d. h. daß der Gesetzgeber unter Wahrung der Rechtskontinuität diesen Inhalt des Art. 20 nicht aufheben kann. Der Gesetzgeber muß 1968 die Absicht gehabt haben, diesen Schutz der Unabänderlichkeit auch dem Widerstandsrecht im Abs. IV des Art. 20 angedeihen zu lassen. Sehr deutlich wurde dies in der Zweiten Lesung im Plenum des deutschen Bundestages am 15. Mai 1968, als der Abgeordnete Dr. Stammberger (SPD) erklärte: „Wir haben dieses Widerstandsrecht – und hier waren sich alle Parteien im wesentlichen einig – in den Art. 20 des Grundgesetzes eingebaut; denn – meine Damen und Herren, das ist wichtig – in diesem 37  Siehe 44. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates vom 19.1.1949.



Widerstand und positives Recht85

Artikel kann es nicht mehr geändert werden. Selbst mit einer ZweidrittelMehrheit kann dieses Widerstandsrecht nicht mehr aufgehoben werden, wenn es im Art. 20 verankert ist“38. Ihm folgte der Abgeordnete Dr. Bucher (FDP): „Wenn wir uns überlegen, ob wir das Widerstandsrecht in das Grundgesetz einbauen, müssen wir dabei besonders bedenken …, daß der Art. 20 darüber hinaus unabänderlich ist, worauf uns Kollege Stammberger dankenswerterweise hingewiesen hat“39. Hier war der Wunsch der Abgeordneten Vater des Gedankens, allerdings war der Gedanke nicht vereinbar mit dem Text des Art. 79 Abs. III, und der Wunsch ist daher nicht erfüllt worden. Man übersieht nämlich, daß sich der Art. 79 Abs. III mit seiner Erklärung der Unzulässigkeit jeder Änderung des Grundgesetzes nur auf den Art. 1 und Art. 20 in der Fassung bezieht, die er vom Parlamentarischen Rat erhalten hat und wie sie 1949 beschlossen wurde. Der nachträglich hinzugefügte Abs. IV des Art. 20 Grundgesetz wird daher von der Bestandsgarantie des Art. 79 Abs. III nicht mit umfaßt. Eine solche Vorgehensweise wäre auch verfassungspolitisch verfehlt, da sie dem Gesetzgeber nach der Verfassungsgesetzgebung die Möglichkeit eröffnen würde, den Kern der unabänderlichen Verfassungsbestimmungen in jeder Menge zu erweitern40. Die Folge der Nichtumfassung des Widerstandsrechtes durch die Bestandsgarantie des Art. 79 III ist das gesetzgeberisch nicht zu begrüßende Ergebnis, daß der Art. 20 in drei Absätze unabänderlich, in seinem vierten Absatz aber abänderlich ist. Sosehr der Art. 20 in bezug auf das Ausmaß der auf ihn bezogenen Bestandsgarantie des Art. 79 III in seiner Unabänderlichkeit geteilt ist, bildet er doch eine Einheit in bezug auf seinen Inhalt. Das im Art. 20 IV vorgesehene Widerstandsrecht soll nämlich dem Schutz jener Ordnung dienen, deren Grundsätze im Art. 20 I–III GG niedergelegt sind, nämlich dem Schutz der Demokratie, der Republik, des Rechtes-, Sozial- und Bundesstaates41. Es kommt daher dem Schutzobjekt dieses positivierten Widerstandsrechtes der Begriff „freiheitliche demokratische Grundordnung“42 gleich. Das konkrete Ausmaß dieser Ordnung ist umfangreich. Was unbedingt zu dieser verfassungsmäßigen Ordnung gehört, kann aus § 92 StG in der Fassung des 8. Strafrechtsänderungsgesetzes entnommen werden, wel­ches noch am Tag 38  Deutscher

Bundestag 5. WP., 174. Sitzung vom 15.5.1968, 9363 D. D. 40  Beachte über die verfassungsrechtliche Bundesgarantie und Art. 20 Abs. IV GG Josef Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, Bad Homburg o. d. H., Berlin und Zürich 1969, 96 ff.; Hans Schneider, Widerstand im Rechtsstaat, Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe, Schriftenreihe Heft 92, Karlsruhe 1969, 10 ff. und Scheidle, a. a. O., 145 f. 41  Beachte dazu näher Schriftlicher Bericht N 7, BT-Drucks. V / 2873. 42  Siehe Art. 18 / 1, 21 II 1 und 91 I GG und BVerfGE 2, 1 (12 f.); 5, 85 (140 f.). 39  9365

86

Widerstand und positives Recht

nach dem Art. 20 IV GG, nämlich am 25. Juni 1968, beschlossen wurde43. Zu den darin aufgezählten Verfassungsgrundsätzen gehören die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht44, die Unabhängigkeit der Gerichte45, das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition46, die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung47 und das Recht auf freie Wahlen48. Auf diese Weise ist das Widerstandsrecht des Art. 20 IV in den Dienst des Schutzes besonderer bestimmter Verfassungsgrundsätze gestellt. Es soll zur Ausübung kommen, „wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“, d. h. ersatzweise, also subsidiär. Diese andere Abhilfe, die zum Schutz der genannten Verfassungsgrundätze zunächst zu ergreifen ist, besteht im Rechtsweg. Aus dem Wortlaut des Art. 20 IV kann eindeutig entnommen werden, daß der Rechtsweg dem Widerstandsrecht vorgeht. Der Widerstand kann nur in den Fällen erhoben werden, wenn der Rechtsweg erschöpft, fruchtlos geblieben oder überhaupt nicht ergriffen werden kann. Sollte es auch von vornherein offenkundig sein, daß der Rechtsweg aussichtslos und die Gefahr für die zu schützenden Verfassungsgrundätze sehr groß und unmittelbar ist, dann braucht ebenfalls nicht abgewartet zu werden. Dieser Grundsatz der Subsidiarität in der Ausübung des Widerstandsrechtes zeigt die Grenzen des positiven Rechts und den Charakter des Widerstandes als Ultima ratio des Rechtsschutzes49. Da das Widerstandsrecht als Ultima ratio des Verfassungsschutzes angesehen wird, kommt es darauf an, alle Voraussetzungen ihres Einsatzes genau zu bestimmen. Aus diesem Grunde hat man auch bei den Beratungen im Bundestag und Bundesrat50 immer wieder betont, daß der neue Art. 20 Abs. IV den Grundsätzen folgen solle, die das Bundesverfassungsgericht entwickelt habe. Da das Bundesverfassungsgericht in seinem KPD-Urteil von einem Widerstandsrecht in dem Fall spricht, daß „das mit dem Widerstand erkämpfte Unrecht offenkundig sei“51, meint Hans Schneider, daß man auch bei der jetzigen Fassung des Art. 20 Abs. IV GG das Merkmal 43  Beachte auch Karl Friedrich Bertram, Das Widerstandsrecht des Grundgesetzes, Berlin 1969, 3. 44  Art. 20 III GG und § 92 II 2 StG. 45  § 92 II 5 StG. 46  § 92 II 3 StG. 47  § 92 II 4 StG. 48  § 92 II 1 StG. 49  So auch Isensee, a. a. O., 37; beachte dazu auch das Protokoll der 174. Sitzung des Bundestages vom 15. Mai 1968. 50  Deutscher Bundesrat, 326. Sitzung 14. Juni 1968, 1380 ff. 51  BVerfGE 5, 377.



Widerstand und positives Recht87

der Evidenz hineininterpretieren dürfe, also lesen müsse: „Gegen jeden, der es offensichtlich unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen …“52. Der durch den auszuübenden Widerstand abzuwehrende offenkundige Angriff kann verschiedener Natur sein; er kann einerseits als Aufstand ein von privater Seite, nämlich vom Volk ausgehender Staatsstreich oder andererseits als Putsch der Mißbrauch der Amtsgewalt von Personen sein, die an den Schalthebeln der Macht im öffentlichen Leben sitzen. Im erstgenannten Fall würde dem Versuch, auf illegalem Weg zur Macht zu gelangen und im zweitgenannten Fall dem Bemühen, die auf legalem Weg erlangte Macht zu illegalen Zwecken zu verwenden, zu begegnen sein. Wenngleich der Art. 21 GG das Parteienprivileg beinhaltet, das den Parteien erstmals eine bestimmte Mitwirkung am Prozeß der Staatswillensbildung sichert, geht das Widerstandsrecht des Art. 20 IV dem Parteienprivileg des Art. 21 vor53, könnte doch dieses Parteienprivileg unter Umständen auch zu illegalen Zwecken mißbraucht werden, ohne daß das Bundesverfassungsgericht eine solche Partei eventuell in einer bestimmten Lage verbieten könnte. Diese zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Ordnung zu setzenden Handlungen des Widerstandes sind daher Akte der Verteidigung eines bestehenden Zustandes der Geltung festumrissener Verfassungsgrundsätze und stellen zum Unterschied von einer Revolution nicht die Herbeiführung eines bisher nicht bestandenen Zustandes dar. Der Art. 20 IV kann daher nicht zur Legitimierung von Umsturzhandlungen mißbraucht werden, enthält doch gerade diese Bestimmung als Staatsnothilferecht bzw. Verfassungsschutzbestimmung eine Ermächtigung, einen solchen Umsturzversuch zu verhindern. Da nach dem Grundgesetz das Volk Quelle und oberster Träger der Staatsgewalt ist, ist es verständlich, daß Art. 20 IV auch das Volk zum Ergreifen des Widerstandes als Verfassungsschutz aufruft. Da Widerstand nur von Einzelnen geleistet werden kann, ist dieses Widerstandsrecht als individuelles Grundrecht zu verstehen54. Vergleicht man diese im Art. 20 IV GG vorgesehene Ermächtigung zum Widerstand mit den ihr vorangegangenen Ermächtigungen zum Widerstand in den Verfassungen von Berlin, Bremen und Hessen in bezug auf das Schutzobjekt, so kann festgestellt werden, daß die Widerstandsermächtigung im Art. 19 der Bremer Verfassung und Art. 23 Abs. 3 der Verfassung von 52  Hans

Schneider, a. a. O., 19. Bertram, Das Widerstandsrecht, 68 ff. 54  Schneider, a. a. O., 15; beachte auch seine Ausführung zum Ausmaß der Ermächtigung zum Widerstand im Hinblick auf die im Art. 22 IV verwendeten Worte „allen Deutschen“; dazu auch Ferdinand v. Peter, Bemerkungen zum Widerstandsrecht des Art. 22 IV GG, DÖV 1968, 719 ff. 53  Siehe

88

Widerstand und positives Recht

Berlin insofern enger gezogen sind, als beide Widerstand nur zum Schutze der Grundrechte vorsehen, die in Art. 20 IV vorgesehene Widerstandsermächtigung darüber hinausgehend ist, da sie sich auf Schutz der Grundsätze der Verfassungsordnung überhaupt bezieht und damit dem weiten Umfang des Schutzobjektes der Widerstandsermächtigung des Art. 147 Abs. 1 der Hessischen Verfassung nahekommt, die den Widerstand „gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt“ erlaubt. Andererseits bleibt die Widerstandsermächtigung doch insoferne hinter derselben der Verfassung von Hessen und Bremen zurück, als sie zum Unterschied von diesen keine Verpflichtung, sondern nur eine Berechtigung zum Widerstand beinhaltet. Welchen Umfang die Widerstandsermächtigung immer haben mag, ihre Aufnahme in das Gesetz wirft die Frage auf, welche Bedeutung die Positivierung des Widerstandes für seine Ausübung haben kann. III. Das positivierte Widerstandsrecht und seine Grenzen Wer das positivierte Widerstandsrecht im System des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland betrachtet, ist veranlaßt, es als einen Ausdruck der weiteren Entwicklung der demokratischen Rechtsstaatlichkeit55 aufzufassen. Das Volk, von dem die Staatsgewalt ausgeht und dessen oberster Träger sie ist, wird zum Schutze der Gewalt und der Einrichtungen des Staates gegen Mißbrauch aufgerufen. Es ist erklärlich, daß diese Entwicklung zum positivierten Widerstandsrecht gerade in Deutschland Platz gegriffen hat, das in seiner jüngsten Geschichte die gröbsten Verletzungen der Grundrecht bei gleichzeitiger Ohnmacht der für wirksam gehaltenen Rechtsschutzeinrichtungen der Vollziehung erlebte. Um Widerholungsfälle zu vermeiden, wurde dieses individuelle Grundrecht des positivierten Widerstandes geschaffen. Wurde Widerstand vom Einzelnen in den Jahrhunderten abendländischer Geschichte oft gegen die autorisierten Träger der Staatsgewalt ergriffen, weil sie die ihnen im Rahmen ihrer Ermessenssphäre auf Grund eines meist autoritären und totalitären politsuchen Ordnungssystems legal zustehende Macht in gemeinwohlwidriger Weise ausübten, also Widerstand gegen den Staat geleistet, handelt es sich hier um einen Widerstand, der vom Einzelnen nicht gegen das politische System eines Staates, sondern im Dienst des Staates zu seinem Schutz geleistet werden soll. Dieser Widerstand hat daher keinen revolutionären, sondern vielmehr konservativen Charakter. Dies ist erklärlich, da nach dem Grundgesetz das Volk schon Träger der Staatsge55  Siehe Herbert Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft Berlin, Heft 38, Berlin 1970.



Widerstand und positives Recht89

walt ist und es nicht erst werden muß. Sein Widerstand richtet sich daher nicht gegen eine als ungerecht empfundene Rechtsordnung, sondern steht im Dienste einer vom Einzelnen anerkannten Rechtsordnung. Handlungen, für deren Beurteilung nicht die Gemeinwohlwidrigkeit, sondern der Widerspruch gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung maßgeblich ist, können auf Grund des Art. 22 IV vom Einzelnen abgewehrt werden. Die bestehende Ordnung soll so geschützt werden. Dieser konservative Charakter des positivierten Widerstandes des Art. 22 IV ist schon aus der Geschichte des positivierten Widerstandsrechtes im Deutschen Recht nach 1945 erkennbar. Sie ist gekennzeichnet von der Überzeugung des Unvermögens des auf die Zeit der konstitutionellen Monarchie zurückgehenden und später von der Weimarer Republik übernommenen Rechtsschutzes. So erklärte ja auch der Abgeordnete Bauer bei der zweiten Lesung des hessischen Verfassungsentwurfes zu dem damaligen Art. 1127, dem heutigen Art. 147: „Es wurde einmütig festgestellt, daß es auf auf keinen Fall noch einmal möglich sein darf, daß mit Hilfe der Verfassung und durch die Verfassung ein neuer Adolf Hitler oder eine nationalsozialistische Partei an die Macht kommt … Es wird festgestellt, daß es jedermanns Pflicht sei, für den Bestand der Verfassung mit allen ihm zu Gebote stehenden Kräften einzutreten. Es ist dies ausdrücklich festgestellt worden, damit nicht noch einmal Menschen nach einer bestimmten Terrorperiode sich damit herausreden können, daß sie sagen: ‚ja, ich hatte doch gar keine Möglichkeit, gegen den Nationalsozialismus Stellung zu nehmen, ich war doch irgendwie gebunden und außerdem war es mir gar nicht vorgeschrieben‘ “56. So sehr es zu begrüßen ist, daß man in Deutschland bestrebt ist, aus der rechtlichen und politischen Entwicklung der Vergangenheit zu lernen, ist es doch nicht ganz problemlos, dem Einzelnen im positiven Recht selbst zum Widerstand zu legitimieren. Die Gründe, welche die Positivierung des Widerstandsrechtes bedenken lassen, sind mannigfach. Geht man vom geltenden deutschen positiven Recht aus, muß man erklären, daß die auch vom Grundgesetz bejahten Erfordernisse des Rechtsstaates die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit in der Ausübung der Rechtseinrichtungen verlangen. Das ist aber beim positivierten Widerstandsrecht nicht der Fall. Es gibt und kann auch auf Grund der Natur der zu bewältigenden Gegebenheit keine Instanz geben, welche genau bestimmt, wann und in welchem Ausmaß Widerstand zu leisten ist. Da der Widerstand als subsidiärstes Rechtsschutzmittel zum Einsatz kommen soll, ist das etwaig denkbare staatliche Institutionensystem nicht mehr wirksam vorhanden. Diesem positivierten Widerstandsrecht fehlt daher das vom Rechtsstaat immer geforderte Maß an Rechtssicherheit. 56  Stenographische Protokolle der 5. Sitzung der verfassungsberatenden Landesversammlung, Groß-Hessen, H. 1 40 / 41.

90

Widerstand und positives Recht

Dieses dem Rechtsstaat eigene Maß an Rechtssicherheit widerspricht geradezu dem mit jedem Widerstand verbundenen Risiko. Da das Widerstandsrecht in das Verfassungsrecht aufgenommen wurde, wird in bestimmter Weise sogar eine Rechtsunsicherheit Teil des Gehaltes der Verfassung. Diese durch die Positivierung des Widerstandes entstandene Rechtsunsicherheit noch potenziert, da für den Fall des Falles die verfassungs­mäßigen Normalund Ausnahmezustände fast nahtlos ineinander über­gehen57. Diese Rechtsunsicherheit durch das positivierte Widerstandsrecht kann auch darin gesehen werden, daß das positivierte Widerstandsrecht nicht allein in den Dienst des Verfassungsschutzes gestellt, sondern auch zu politischen Untaten mißbraucht werden kann. Die im Art. 22 IV beinhaltete verfassungspolitische Blankovollmacht ermöglicht auch letzteres, ohne daß die hinreichende Möglichkeit bestünde, die Notwendigkeit dieser Handlungen nachträglich entsprechend zu prüfen. Dieser Rechtsunsicherheit ließe sich vielleicht begegnen, wenn ein Staat ein politisches Gemeinwesen mit einer durch Jahrhunderte getragenen Tradition überzeugten Ordnungsdenkens ist und über einen entsprechend umfassenden Bestand an von allen Repräsentanten organisierten Interessen dieses Staates gemeinsam getragenen Grundsätzen verfügt, der sich in diesen angepaßten Verhaltensweisen des Einzelnen dokumentiert. Dies ist aber heute nicht der Fall. Im Gegenteil, das positivierte Widerstandsrecht sollte vielmehr auf den einzelnen Bürger, wie es auch der Abgeordnete Evers betonte58, einen erzieherischen Einfluß ausüben. Dies ist aber nicht möglich. Das für die Ausübung eines entsprechend erfolgreichen Widerstandes erforderliche politische Verantwortungsbewußtsein und die persönliche Risikobereitschaft lassen sich nicht durch einen Gesetzgebungsakt anerziehen. Dieser Gesetzesoptimismus, der sich übrigens mit dem Vernunftoptimismus der neuzeitlichen Naturrechtslehre vergleichen läßt, ist sichtlich nicht zu rechtfertigen, da der Widerstand nicht positivierungsfähig ist; soll der Widerstand doch in Grenzsituationen zur Anwendung kommen, die sich in dem das positive Recht kennzeichnenden Erfordernis der Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit nicht bestimmen lassen59. Wird auch tatsächlich die Verfassung gefährdet, so wird für den Fall des erfolgreichen Widerstandes der diesen Leistende auf alle Fälle gelobt und nicht geächtet, für den Fall der Erfolglosigkeit aber ebenso sicher bestraft. Beides hängt nicht von der Positivierung des Widerstandes ab. Gerade in einer Zeit, in der der Anar57  In

diesem Sinne auch Isensee, a. a. O., 102. 213, Prot. 9367. 59  Beachte auch Schneider, a. a. O., 20: „Das Widerstandsrecht teilt insofern das Schicksal jeder Notstandsregelung: der anormale Fall läßt sich nicht normalisieren; die Anomalie entzieht sich der sachlichen Regelung.“ 58  N



Widerstand und positives Recht91

chismus in den verschiedensten Variationen seine Renaissance feiert, kann sich diese Form des positivierten Widerstandes leicht zu einer Form des „legitimierten Ungehorsams“ pervertieren lassen. Neben diesen Bedenken, die sich aus der Sicht des positiven Rechts ergeben, müssen auch solche geäußert werden, die sich im Hinblick auf die Tatsache zeigen, daß der Widerstandsgedanke Teil der Idee präpositiver Ordnung und der Widerstand gleichsam die Sanktion für Verletzung einer präpositiven Ordnung ist. Die Sanktionsmöglichkeit läßt sich auf dem Wege der Denaturierung durch Positivierung nicht institutionalisieren. Ist doch der Widerstand Ausdruck einer Gewissensentscheidung, die von einem präpositiven Ordnungsdenken getragen ist. Auch der Art. 22 IV zeigt, daß der Widerstand in seiner positivierten Form eine Gewissensentscheidung geblieben ist, die niemand dem Einzelnen abnehmen kann. Durch die Positivierung entsteht aber die Gefahr, daß nicht allein, wie bereits aufgedeckt, u. a. das Risiko des Widerstandes verdeckt und ein Übergang vom Normal- zum Ausnahmezustand unkontrollierbar hergestellt wird, sondern daß der präpositive Charakter des Widerstandes verloren geht und das positive Recht den unbeschränkten Rückgriff auf präpositive Rechtsvorstellungen verbietet. Will man daher abschließend Vor- und Nachteile einer Positivierung des Widerstandes, wie er im Art. 20 IV auch seinen Ausdruck gefunden hat, abwägen, muß diese Positivierung abgelehnt werden, Der Widerstand kann vom Einzelnen als Staatsnothilfe auch freiwillig ohne Positivierung ergriffen werden, ist doch auch der Bestand eines überstaatlichen Rechtes, wie es das Widerstandsrecht ist, von seiner Aufnahme in das positive Recht uns seiner mehr oder weniger genau möglichen Präzisierung und Formulierung in einem Gesetz unabhängig60. Es hängt auch die Ausübung des Widerstandes nicht von Inhalt eines Gesetzes, sondern von der Wachheit des Gewissens des Einzelnen ab. Dieses Gewissen wird vom Wissen des Einzelnen um seine politische Verantwortung abhängen. In diesem Sinne haben auf Grund ihrer Gewissensüberzeugung die frühen Christen ohne einen Gesetzesauftrag – im Gegenteil sogar gegen diesen – Widerstand geleistet. Später allerdings ist der Widerstand jahrhundertelang dadurch profaniert und säkularisiert worden, daß die Leistung des Widerstandes eine Sanktion im Dienste des positiven Rechtes der jeweiligen Herrschaftsordnung, sei es z. B. des Lehens- und Ständestaates, war. Als Naturrechtsgebot bestand aber die Idee des Widerstandes unabhängig von dieser ihrer Profanierung weiter und wurde auch als Naturrechtsgebot 60  So auch Scheidle, a.  a. O., 143, Anm. 143; vgl. dazu auch Theodor Maunz, Deutsches Staatsrecht. 15. Auflage, München 1968, § 13 II 1 b.

92

Widerstand und positives Recht

gefördert und geleistet. Als nach der Französischen Revolution das Widerstandsrecht wieder im Zusammenhang mit dem Schutz von Menschenrechten in Frankreich positiviert wurde, erwies es sich im Laufe der Entwicklung als so verwurzelt im Rechtsbewußtsein des Volkes, daß es in Frankreich keiner Positivierung bedurfte61. Wenn nun die Idee des Widerstandes im deutschen Staatsrecht nach 1945 wieder aufgelebt ist, ist dies insoferne verständlich, als das deutsche Staatsrecht, sowohl auf Landes- wie auf Bundesebene, von einer Anerkennung des Naturrechtes und seiner gemeinwohlorientierten Forderungen ausgeht. Es erhebt sich nun die Frage, ob eine solche Staatsrechtsordnung zum Schutze ihrer Grundsätze der Positivierung des Widerstandes bedarf. Die dazu angestellten Erwägungen lassen diese Frage verneinen, da es sich gezeigt hat, daß sich das naturrechtliche Widerstandsrecht positivrechtlich nicht einordnen läßt62. Das Widerstandsrecht kann auf Grund seines präpositiven Charakters konstitutiv positivrechtlich weder gewährt noch genommen werden. Durch die Positivierung des Widerstandsrechtes entsteht vielmehr die Gefahr des Anscheins, es würde der präpositive Bezug dieses Rechtes verloren gehen. Daher hat Hans Klecatsky bereits gewarnt: „Der totale positivistische Staat ist in dem Augenblick grundgelegt, in dem ihm auch nur eine naturrechtsfrei, dem Widerstandsrecht verschlossene Zelle zugestanden wird“. Und er stellte die berechtigte Frage: „Warum soll das naturrechtliche Gebot zum Widerstand dort minder beachtlich sein, wo der Widerstand gegen den harmlosen Rechtsstaat und daher gefahrlos zu üben wäre“63. Durch Positivierung des naturrechtlichen Widerstandsrechtes wollte man der Verfassung einen erhöhten Schutz verschaffen. Dies ist aber vor allem aus zwei Gründen nicht möglich: Erstens, weil die genannten Bedingungen zur Leistung des Widerstandes zu unbestimmt umschrieben sind, um eine dem Erfordernis der Rechtsstaatlichkeit angepaßte Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der Ausübung des Widerstandsrechtes gewährleisten zu können. Zweitens, weil auch im Rechtsstaat das naturrechtliche Widerstandsrecht des Einzelnen auch ohne Positivierung bestehen bleibt. Es kann nicht in einer positiven Rechtsnorm eingefangen werden. Ist doch auch in einem Rechtsstaat dem Gesetzgeber weiterhin die Freiheit in der Auswahl des Rechtsschutzobjektes und der Bestimmung des Maßes des Rechtsschutzes belassen, die er gebrauchen oder mißbrauchen kann. Es bleibt daher 61  Siehe

Fußnote 36. auch Hans Marti, Naturrecht und Verfassungsrecht, in: Rechtsquellenprobleme im Schweizerischen Recht, Festgabe für den Schweizerischen Juristenverein. Zeitschrift des Bernischen Juristenvereines, Jg. 1955, Band 91, 92. 63  Hans Klecatsky, Der Staat von morgen, JBl. 1959, 19. 62  So



Widerstand und positives Recht93

auch im modernen Verfassungsstaat, in dem in qualifizierter Form die Herrschermacht „in das Recht gestellt“ ist, der Staat also Rechtsstaat ist, das Spannungsverhältnis zwischen normsetzendem Organ und Normadressaten bestehen. Aus dieser Erkenntnis ergeben sich für den Widerstandsfall nur zwei Möglichkeiten: Entweder der Organwalter verweigert die Anwendung oder Vollstreckung der betreffenden obrigkeitlichen Anordnung, oder aber die normunterworfenen Bürger verweigern den Gehorsam. Die sind dann die Formen des Widerstandes. Sosehr sich der Gesetzgeber auch immer um eine Verrechtlichung möglichst vieler Bereich des Lebens und der staatlichen Tätigkeit bemühen mag, eine abschließende, endgültige, allgemeinverbindliche Form der Entsprechung des Widerstandes wird sich im positiven Recht nicht finden lassen. Das Recht des Widerstandes wird daher präpositiv weiterbestehen. Wenn nämlich auch nur im Hintergrund, so übt die Möglichkeit des Widerstandes allein schon eine Regulativfunktion aus, die zu keiner Zeit zu unterschätzen ist. So wirksam das Widerstandsrecht als präpositives Recht sein mag, so gefährlich kann es las „legitimierter Ungehorsam“ werden. Ungeprüft und unkontrolliert würde dadurch eine Möglichkeit der Rechtsunsicherheit Teil des positiven Rechtes werden: angedrohter Zwang und erlaubter Ungehorsam würden auf einer Ebene stehen. Der positivierte Widerstand widerspricht demnach dem Charakter des positiven Rechts. So notwendig der potentielle Widerstand als präpositives Regulativ mit präventiver Wirkung ist, so gefährlich kann er in seiner positivierten Form sein. Gibt es doch schwer die Möglichkeit, der mißbräuchlichen Inanspruchnahme eines positivierten Widerstandsrechtes Einhalt zu gebieten. Im übrigen ist ein Aufruf des Gesetzgebers zum Widerstand schon deshalb denkunmöglich, weil selbst ein unsittliches Recht nicht eo ipso nichtig ist, sondern erst vernichtet werden muß. Die Kraft dazu aber kann nicht vom positiven Recht selber ausgehen. Die sittliche Kraft des präpositiven Rechtes ist es, die es vermag, den Einzelnen in seinem Rechtsgewissen anzusprechen. Der Gesetzgeber muß also damit rechnen, daß in all jenen Fällen, in denen er sich keiner minimalen Verknüpfung mit den präpositiven Werten des positiven Rechtes befleißigt, die motivierende Kraft der Sittlichkeit den Einzelnen selbst unmittelbar anspricht. der einzelne Normadressat wird in seinem Gewissen angesprochen, er wird vor eine Wertentscheidung gestellt. Der Einzelne ist dann in seinem Gewissen aufgerufen, Widerstand zu leisten. Diese Entscheidung liegt ausschließlich bei ihm, sie kann ihm von einem Gesetzgeber in einem positiven Rechtssatz nicht abgenommen werden. Sie mag eine der schwersten Entscheidungen sein, vor die sich ein Mensch gestellt sehen kann. Nicht jeder, der mißbräuchlicher Gesetzesherr-

94

Widerstand und positives Recht

schaft unterworfen war, mag zu einem solchen Widerstand bereit gewesen sein. Verlangt er doch eine Einsamkeit und Opferbereitschaft, die die wenigsten auf sich zu nehmen bereit sind. Aus der Tatsache der nicht regelmäßigen Widerstandsleistung darf aber nicht auf ihre Unmöglichkeit geschlossen werden. Die politische Geschichte und die Rechtsgeschichte liefern dafür eine Fülle an Beispielen.

II.

Antikes griechisches Rechtsdenken und moderner Staat* 1

Wer an Griechenland denkt, verbindet mit diesem Land Verschiedenes. Die meisten denken an Griechenland in Bewunderung der Schönheit der Landschaft und der Denkmäler der Kultur, die miteinander so verbunden sind, daß man Griechenland, man denke etwa an Kap Sunion, Delphi, Epidauros, Olympia, um nur einige Beispiele zu nennen, als Kulturlandschaft bezeichnen kann. Steingewordene Geschichte tritt uns entgegen. In dieser Sicht Griechenlands wenden wir den Blick in eine Vergangenheit, der immer wieder Bewunderung gilt und die kulturell zum Klassischen dessen zählt, was nicht allein das Abendland prägt, sondern was Menschen auf Erden überhaupt geschaffen haben. Zum Klassischen, was das frühe Griechenland der Menschheit geschenkt hat, zählt mit der Kultur auch das Rechtsdenken der Griechen. Recht und Kultur stehen in einer besonderen Beziehung. Das Recht drückt das Ordnungsbewußtsein des Volkes einer bestimmten Zeit aus und ist damit eine Kulturerscheinung. Je nachdem aber, ob das Recht im Dienste der Sicherung der Freiheit und Würde des Menschen steht oder nicht, wird das Recht und damit auch diese Entwicklung der Kultur positiv oder negativ zu beurteilen sein. In der Auffassung vom Bild des Menschen und der ihn umgebenden Ordnung stehen Recht und Kultur in geradezu schicksalhafter Beziehung. Das Recht kann nämlich zum kulturellen Fortschritt beitragen, aber auch zum kulturellen Niedergang führen. Um in der Sprache des heutigen Rechtsdenkens zu reden, Rechtswege können zu unterschiedlichen Rechtszielen führen! Diesen Zusammenhang von Recht, Kultur und Menschenbild hier in der Österreichisch-Griechischen Liga zu verdeutlichen, ist aktuell, denn gerade das Rechtsdenken der frühen Griechen hat Grundlegendes zum Ordnungsbewußtsein der Menschheit beigetragen, was gerade in einer Zeit wert ist, *  Vortrag, gehalten am 4.12.1984 vor der Österreichisch-Griechischen Liga in Wien. Erschienen in: Der Rechtsstaat in der Krise. Festschrift für Edwin Loebenstein zum 80. Geburtstag. hrsg. von Ludwig Adamovich und Alfred F. Kobzina, Wien 1991, S. 141 ff.

98

Antikes griechisches Rechtsdenken und moderner Staat

bedacht zu werden, in der in der Bandbreite von autoritären und totalitären Regimen bis zum Anarchismus und Terrorismus alle Variationen politischer Systeme und Staatsformen erlebbar sind. Die Dynamik des Staates der demokratisierten und technisierten Industriegesellschaft verdeckt oft den Blick auf das Grundsätzliche der Rechtsordnung, das gerade vor der bevorstehenden Zeitenwende bedacht sei. Grundsatzdenken und Zeitverantwortung gemeinsam sind uns aufgetragen. Lassen Sie mich als Vertreter der Fächer des öffentlichen Rechtes, insbesondere des Staatsrechtes, der Rechtsphilosophie und der politischen Wissenschaften, der ein wenig auch die praktische Politik heute erlebt, hiezu überblicksweise in dem zeitlichen Rahmen, den das Maß eines Vortrages zuläßt, I. in grundsätzlicher Sicht wichtigste Begriffe und Strukturen griechischen Rechtsdenkens der Antike hervorheben, II. einige Entwicklungstendenzen des modernen Staates verdeutlichen, um dann III. die Frage unseres heutigen Beisammenseins zu beantworten: Was können wir aus dem Allgemeingültigen des klassischen Rechtsdenkens der Griechen für die Ordnung in unserer Zeit lernen? Sicher stellt sich dabei dem einen oder anderen die Frage, inwieweit bei der verschiedenen geopolitischen Lage Österreichs und Griechenlands gemeinsame Anliegen erkannt werden können. Lassen Sie mich darauf die Antwort mit dem Schöpfer des Entwurfes der neuen griechischen Verfassung aus 1975, dem früheren griechischen Staatspräsidenten Konstantinos Tsatsos geben, der in seinem Buch „Griechenland und Europa“ festgestellt hat: „Das Merkmal, das hauptsächlich die permanentesten und beständigsten und geschichtlich bedeutendsten menschlichen Gemeinschaften bezeichnet, ist weder die Niederlassung im selben geographischen Raum, noch die sich ständig verändernden wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und Umstände, noch die zusammenhängenden Interessen. Am hauptsächlichsten werden die menschlichen Gemeinschaften durch die gemeinsamen geistigen Züge, Merkmale und Elemente und durch die gemeinsamen Ansichten und Anschauungen über elementare und fundamentale religionsmäßige, gesellschaftliche und ästhetische Werte gegründet, welche sich in den gemeinsamen Traditionen, in den gemeinsamen Mythen und Sagen, in den gemeinsamen Sitten und im allgemeinen in den Inbegriff gleicher seelischer Situationen und Reaktionen verankern. So andauernd und beständig und von solcher historischer Bedeutung sind nur die kulturellen Gemeinschaften.“1 1  Konstantin

Tsatsos, Griechenland und Europa (Athen 1977) 9.



Antikes griechisches Rechtsdenken und moderner Staat99

Griechenland hat mit seinem Denken in der Antike eine solche kulturelle Gemeinschaft begründet, deren Ausmaß weiter als geographische und politische Grenzen reicht und die in ihrem Werden, ihren Gefährdungen, Wandlungen und Beständigkeiten die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen alles Menschlichen im öffentlichen Leben zeigt. I. Begriffe und Strukturen griechischen Rechtsdenkens Es war schon Fritz Schachermeyr, der in seinem 1981 erschienen Werk „Die Tragik der Voll-Endung“ geschrieben hat: „Die erste Stufe der griechischen Schöpfungsdynamik bezeichnen wir als ‚Archaische Periode‘ (von Arche, dh der Anfang). Sie beginnt mit Homer und reicht bis zum Beginn der Demokratie wie bis zu den Perserkriegen (510–490). Es war die erste große Geniezeit der Hellenen, denn nicht nur in den Künsten, sondern auch im Handwerklichen und Technischen, vor allem aber im Politischen meldeten sich nun schöpferische Persönlichkeiten …“.2 Diese so skizzierte Geniezeit der Griechen war begriffsfindend und ordnungsbegründend für das Rechtsdenken der Menschen.3 Homer prägte bereits grundlegend die Ausdrücke Themis für Rechtsweisung und Dike für Rechtsanspruch. Hesiod setzt Dike bereits zweckorientiert ein und verbindet sie mit Eunomia, der guten Ordnung, und Eirene, dem Frieden. Alle diese und spätere Rechtsbegriffen weisen zwei Merkmale auf: zum einen sind sie Ausdruck eines anthropomorphisierten Götterglaubens, dh, in Menschengestalt werden Rechtsbegriffe ausgedrückt, beginnend mit dem Göttervater Zeus, und zum anderen dokumentieren sie nach der damaligen Vorstellungswelt einen metaphysischen Bezug, der das, was man später als Rechtspositivismus bezeichnet und folgenschwer war, nicht beinhaltet. Hesiod kennt bereits die Widersacherinnen der Ordnung, Eris, den Streit, der die Ordnung zerstört, Bia, die Gewalt, die dem Recht entgegentritt, und Hybris, die Maßlosigkeit, die die Grenzen des Rechts überschreitet und so das Recht in Unrecht verwandelt. Hesiod bleibt aber nicht in der Mythologie allein verhaftet, er führt bereits den Begriff des Nomos, also einen nichtpersonifizierten Rechtsbegriff ein, der für das gesamte Rechtsdenken der Menschen schicksalshaft wird. Die von der Gottheit gehüteten Nomoi beherrschen die Welt; ein Leben nach dem Nomos der Dike entspricht dem Wesen der Menschen, womit auch verständlich ist, daß für Hesiod das Recht kein Ergebnis eines bloßen Willensaktes, sondern vielmehr der 2  Fritz

Schachermeyr, Die Tragik der Voll-Endung (Wien / Berlin 1981) 62. dazu näher Erik Wolf, Griechisches Rechtsdenken (Frankfurt 1950) und Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl (Wien 1963). 3  Siehe

100

Antikes griechisches Rechtsdenken und moderner Staat

Rechtsfindung im Lichte der Dike ist, die wieder Anteil an der Aletheia, der Wahrheit, hat. Hesiod kennt bereits die Funktion des Richters und übrigens schon ansatzweise das, was man später als Gewaltenteilung bezeichnen wird, und bei Aristoteles, John Locke und Montesquieu ihre klassisch gewordene Form für den heutigen Verfassungsstaat gefunden hat. In die politische Arena selbst ist später Solon getreten, der 594 v Chr zum Archon gewählt und beauftragt wurde, Athen eine neue Verfassung zu geben. Er wußte bereits zwischen der guten und der schlechten Bia, also zwischen der rechtmäßigen und der rechtswidrigen Gewalt, zu unterscheiden. Mit Bia und Dike wollte er seine Stadt zur Eunomia zurückführen. Dazu mußte Solon drei Erscheinungsformen der Hybris begegnen, nämlich der Pleonexia (der Herrschsucht), der Philargyria (der Habsucht) und der Hyperephania (der Geltungssucht). Wer das öffentliche Leben unserer Tage verfolgt, kann manche Mißstände, begrifflich hier schon vorgegeben, antreffen. Mit wachsender Deutlichkeit erkennen wir in diesem griechischen Rechtsdenken das Bemühen um die Idee der Gerechtigkeit und die Begründung des Menschseins in der Ordnung und ihren Formen. Pythagoras glaubt, eine mathematische Gerechtigkeit zu erkennen, Xenophanes und Anaxagoras gehen von einem Weltgeist aus (nous genannt), der den Kosmos gestaltet; Heraklit nimmt einen sichtbaren Kampf ums Recht auf dem Hintergrund der verborgenen Harmonie des göttlichen Logos an. Den ersten Absatz einer staatsphilosophischen Begründung der Volksherrschaft gab Herodot, der für die Demokratie den Begriff der Isonomia, also des Gleichheitsstaates, prägte; er sieht die Demokratie nicht als politisches Ordnungssystem, sondern als Staatsform, in der es keine Herrschaft von Menschen über Menschen gibt, denn neben der Gleichheit und der Freiheit gibt es ein drittes Merkmal der Demokratie: die Herrschaft der Gesetze. Der Gedanke der Selbstbindung des Einzelnen durch die Gesetze, der, im 19. Jahrhundert beginnend, in einer Symbiose von Demokratismus und Liberalismus den Gesetzesstaat, nämlich den demokratischen Rechtsstaat, bis heute kennzeichnet, wird hier erstmals deutlich. Nach diesem ersten Ansatz zur Demokratie bei Herodot muß als Vertreter der ältesten umfassenden Demokratietheorie Protagoras genannt werden, der von seinem Freund Perikles den Auftrag erhielt, für die athenische Pflanzstadt Thurioi eine Verfassung auszuarbeiten. Sein Schaffen zeigt bereits sehr deutlich die verschiedenen Funktionen des demokratischen Staates, denn er hat ua ja ein Werk über den Staat, die dialektische Kunst in der Volksversammlung und vor dem Volksgericht verfaßt. Der Schwerpunkt seiner Lehre ist die ethische Rechtfertigung der Demokratie, ähnlich wie später Montesquieu in seinem Werk „Vom Geist der Gesetze“ die Tugend als Prinzip der Volksherrschaft bezeichnet hat.



Antikes griechisches Rechtsdenken und moderner Staat101

Während bei Herodot und Protagoras das Gleichheitsprinzip im Vordergrund der Demokratietheorie steht, ist es bei Perikles daneben auch der Freiheitsgedanke. In seiner berühmten Grabrede, die er nach dem Bericht des Thukydides gehalten hat, entwickelt er das Programm des liberalen Demokratismus und den Weg zum Rechtsstaat. Perikles erklärte schon: „Als freie Bürger stehen wir dem Staate gegenüber … Wir gehorchen den jeweiligen Inhabern der Staatsgewalt und befolgen die Gesetze.“ Es wäre aber falsch, aus diesen Hinweisen auf die ersten Ansätze des Demokratismus annehmen zu wollen, er wäre im griechischen Rechtsdenken alleine vorherrschend gewesen. Es muß auch auf jene Rechtsdenker hingewiesen werden, deren Ideen zu einer Lehre vom Recht des Stärkeren geführt und die damit den Auffassungen von Freiheit und Gleichheit widersprochen haben; ich meine Gorgias, Thrasymachos und Kallikles. Diese Vertreter des Rechtes des Stärkeren haben später im 19. und 20. Jahrhundert ihre Fortsetzung in Philosophen wie Friedrich Nietzsche, Joseph Arthur Graf Gobineau, Alfred Rosenberg und der Ideologie des Faschismus und Nationalsozialismus gefunden. Es gibt wohl nicht allein für das griechische Rechtdenken, sondern für die gesamte Menschheitsgeschichte kein glaubwürdigeres Zeichen für Gesetzesachtung als das von Sokrates gegebene Beispiel der Gesetzestreue, mit der er sein eigenes Leben nach einem Fehlurteil aufopferte. Nach Sokrates müsse man das Vaterland entweder in überzeugender Weise eines Besseren belehren oder sich seinen Anforderungen fügen. Für ihn ist bekanntlich die Tugend lehrbar, wobei es ihm auf die Metanoia, die innere Umwandlung der Staatsbürger ankommt, die nach der Erweckung des Ethos möglich ist, und ohne die eine Reform des Staates nicht erfolgreich sein kann. Für Sokrates ist die Tugend lehrbar, wobei er durch das Opfer seines Lebens seiner Lehre eine einmalige Glaubwürdigkeit gegeben hat, die bis heute die Mensch­heit beschämt. In Plato hat Sokrates einen würdigen Schüler seiner Lehre von der Ethik des Staates erhalten, die Plato vor allem mit seiner Ideenlehre und seiner Lehre von den Staatsformen ergänzte. In diesem Zusammenhang sei auf seine Schriften über die Tugenden, im Dialog „Laches“ über die Tapferkeit, „Charmides“ über die Selbstbeherrschung und „Euthyphron“ über die Frömmigkeit und Gerechtigkeit verwiesen. Für ihn soll nicht, wie es Alfred Verdross betonte, der Mensch ein Staat im kleinen sein, sondern der Staat ein Mensch im großen.4 Die Lehre vom Menschen ist für ihn die Basis für seine Lehre vom Recht und vom Staat. Dabei war er sowohl ein Idealist als auch ein Realist des Staates. In seiner Politeia entwickelte er den Idealstaat 4  Verdross,

Abendländische Rechtsphilosophie 31.

102

Antikes griechisches Rechtsdenken und moderner Staat

vom Richterkönigtum, und in seinen Nomoi die Möglichkeiten des Gesetzesstaates. Da auf Plato, der im Hain des Heros Akademos eine von 387 v. Chr. bis 529 n. Chr. bestandene Akademie gegründet hatte, der Begriff des Akademikers zurückgeht, sollten gerade die Akademiker sich dem Gesetzesstaat besonders verpflichtet fühlen! Plato hat nach dieser Gesetzestreue die Staatsformen eingeteilt und, je nachdem, ob auf Grund der Gesetze oder gegen die Gesetze regiert wurde, gute und schlechte Staatsformen unterschieden. So stellte er der Monarchie, Aristokratie und Demokratie die Tyrannis, Oligarchie und die gesetzlose Demokratie gegenüber. Diese seine dynamische Staatstheorie verdeutlicht sich besonders in seiner in der Politeia entwickelten Zyklentheorie. So entartet der Aristokratie zum streit- und ehrliebenden Staat, Timokratie, durch Verweichlichung und Bereicherung wird diese zur Oligarchie, nämlich der Herrschaft der Wohlhabenden, was zum Klassengegensatz von Reich und Arm sowie letztlich nach einem Volksaufstand zur Demokratie führt, in der nach Plato – man beachte seine kritische Haltung – „Jeder die Freiheit hat, zu tun, was er will“.5 In dieser Zeit der Herrschaftslosigkeit gehen alle absoluten sittlichen Maßstäbe verloren, da alle Ansichten als gleich ehrenwert angesehen werden. Die Situation läßt Demagogen mächtig werden, welche die Menschen umschmeicheln, um sie für sich zu gewinnen; aus der größten Freiheit wird die größte Knechtschaft, nämlich die Tyrannis; mit diesem Stadium bricht Plato seine Lehre im 8. Buch ab und setzt diese Theorie, worauf Verdross6 besonders verweist, im XI. Brief fort, wo er meint, daß nur ein hervorragender Mann mit seinen Fähigkeiten die Kraft hat, das Staatsleben zu erneuern. Nach den Fähigkeiten des Menschen will Plato den Staat mit seiner Verfassung aufbauen, wobei er einer Mischung von Autorität und Freiheit das Wort redet; wohl wissend, daß zwar das Richterkönigtum und die Ideenschau das Idealbild für den Staat wären, daß die Wirklichkeit aber anders aussieht. Menschenbild und Staatsform konfrontiert hat auch Aristoteles. Es war der Erste, der eine beschreibende Staatslehre betrieb, man würde sie heute als vergleichendes öffentliches Recht bezeichnen. Aristoteles lehnte zwar bekanntlich die Ideenlehre Platos ab, indem er die Ideen als hypostasierte, also ins Übersinnliche hinaufgehobene Begriffe bezeichnete, was zu einer überflüssigen Verdopplung der Welt führe, ist 5  Plato,

Politeia VIII, 557 b. Abendländische Rechtsphilosophie 34.

6  Verdross,



Antikes griechisches Rechtsdenken und moderner Staat103

aber doch von einem Grundbezug Platos nicht unberührt, nämlich der Bezogenheit von Staat und Ethik sowie Mensch und sozialer Ordnung. Aristoteles war es ja bekanntlich, der den Menschen als zoon politikon bezeichnet hat. Die Übersetzung dieses Begriffes reicht von der Auffassung des Menschen als staatliches Wesen bis zur Definition als sozialorientiertes Individuum, er wurde abwechselnd von kollektivistischen bis individualistischen Ideologen gebraucht und mißbraucht. Ich würde diesen Begriff des Menschen als zoon politikon übersetzen als ein Wesen, das die volle Entfaltung seiner Persönlichkeit in der Gemeinschaft findet. Aristoteles hat bekanntlich seine Staatslehre mit der Entelechielehre verbunden, nach der jedes Sein und auch der Mensch sein Telos entsprechend handeln, was die Entfaltung der in einem selbst liegenden Anlagen verlangt. Aristoteles hat seine Ethik auch auf die Staatsformen angewendet und das von Plato aufgestellte Schema übernommen, während aber Plato die Einteilung der Staatsformen nach der Beachtung des Gesetze vornahm, tut dies Aristoteles nach dem Maße, in dem in einem Staat die Herrschaft im Interesse des Herrschers oder im Interesse des Gemeinwohls geschieht. Der Begriff der Demokratie wird nach ihm nicht für die gute Staatsform als Volksherrschaft verwendet, für sie verwendet er das Wort Politie, sondern er versteht unter Demokratie die entartete Staatsform im Sinne einer Mehrheitsdiktatur. Aristoteles hat es deshalb vermieden, die Demokratie zu den guten Staatsformen zu zählen, weil sie im 4. Jahrhundert v Chr in Mißkredit gekommen ist. Die Zyklentheorie Platos selbst hat Aristoteles verworfen, da er der Meinung war, daß sich die geschichtliche Wirklichkeit oft in anderer Reihenfolge entwickelt. Die höchste Gewalt kennt Aristoteles den Gesetzen des Staates zu, an die auch die Obrigkeit gebunden ist; Aristoteles anerkennt eine natürliche Gerechtigkeit, die aber zum positiven Recht nicht im Gegensatz steht, da die menschliche Natur erst im Staat ihre volle Entfaltung findet. Das Wesen des Menschen begrenzt somit die Ziele des Staates, womit bereits bei Aristoteles Ansätze für menschliche Grundrecht erkennbar sind, welche der Staat nicht verletzen darf, ohne seiner eigenen Idee untreu zu werden. Mit Plato und Aristoteles hatte die griechische Antike eine Naturrechtslehre entwickelt, welche auch dadurch von dauerhaftem Einfluß wurde, daß die beiden für die führende Naturrechtslehre des Christentums bestimmend wurden, nämlich Plato für den Augustinus und Aristoteles für Thomas von Aquin. Die Überwindung des staatlichen und rechtlichen Denkens, das in der griechischen Antike vor allem auf die Polis abgestellt war, erfolgt später durch die Stoa, nach welcher der Mensch mit seinem Logos am göttlichen Logos, die menschliche Vernunft an der Weltvernunft teilnehmen kann. So

104

Antikes griechisches Rechtsdenken und moderner Staat

sprengt die Stoa die Enge der Polis und öffnet den Blick zur Kosmopolis; womit ein Ansatz zu dem gegeben ist, was später als Weltrechtsstaat in einer Zeit der internationalen Gemeinschaften unserer Tage angestrebt wird. Der Einzelne ist demnach nicht nur Bürger seiner Stadt, sondern auch des Weltstaates. Eine metaphysische Begründung der Stellung des Einzelmenschen aber erfolgt in der griechischen Antike selbst nicht, dies vermochte erst das Christentum mit seiner Lehre von der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen, welche die Freiheit und Würde des Menschen begründet und den Weg zu den Grundrechten eröffnete. Diese Grundrechte sind neben den Staatsorganisationsvorschriften für den modernen Staat prägend geworden. II. Entwicklungstendenzen des modernen Staates Vom modernen Staat zu sprechen, verlangt, die Strukturen des Staates im Hinblick auf die heutigen Entwicklungstendenzen des öffentlichen Lebens zu verdeutlichen. Der Staat ist so alt, wie es ein geordnetes Zusammenleben der Menschheit gibt, in dem eine oberste Gewalt ausgeübt wird. In der Ausübung der Staatsgewalt durch die drei Staatsfunktionen Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung zeigt sich die Erfüllung der Staatszwecke sowie in Grundrechten die jeweilige Stellung des Einzelmenschen, wobei sich zwischen dem Staat und dem Einzelnen der intermediäre Bereich der Gesellschaft öffnet; beide, sowohl der Staat als auch seine Gesellschaft, werden von der jeweiligen Staatsform und ihrem politischen Ordnungssystem geprägt. Der moderne Staat, den wir in unserem „politischen Breitengrad“ erleben, ist gekennzeichnet von der Staatsform der Republik und dem politischen Ordnungssystem der Demokratie. Diese demokratische Republik wird von der Gemeinschaft der Einzelnen getragen, wie es in Art. 1 B-VG proklamiert wird: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“ Damit dieses demokratische Verfassungsgebot in der politischen Wirklichkeit nicht als am Volk ausgehend empfunden werden muß, sind bestimmte Bedingtheiten und Entwicklungen des heutigen öffentlichen Lebens im allgemeinen und des Staates im besonderen zu bedenken. Der heutige Staat ist ein Verfassungs- und Gesetzesstaat, dh seine normative Grundordnung ist in einer Verfassung begründet, und das Handeln seiner Organe erfolgt auf Grund der Gesetze. Das Entstehen des Verfassungsstaates ist ein letztes Produkt des auf René Descartes zurückgehenden Rationalismus und des ihm folgenden Vernunftoptimismus, die zunächst, im 17. und 18. Jahrhundert beginnend, zur Kodifikation des Privatrechts und später im 18. und 19. Jahrhundert auch des öffentlichen Rechts geführt ha-



Antikes griechisches Rechtsdenken und moderner Staat105

ben. Die Ausübung der Staatsgewalt sollte an das positive Recht gebunden und Willkür ausgeschaltet werden. Zu diesem Zweck gingen Demokratismus und Liberalismus eine Symbiose ein, und die liberale Forderung nach Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Staates wurde durch eine Rechtssicherheit erfüllt, nach welcher der Staat mit seinen Organen nur auf Grund der Beschlüsse der auf dem Wege demokratischer Staatswillensbildung zustande gekommenen Gesetze handeln darf. Man mußte in diesem Jahrhundert feststellen, daß dem Verfassungs- und Gesetzesstaat wohl berechenbare Rechtswege zu eigen sind, diese Rechtswege aber zu verschiedenen Zielen führen und die Demokratie dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft eine eigene Prägung gibt. Der Staat der Gegenwart ist ein mehr oder weniger gut funktionierender Mehrzweckapparat geworden, der sowohl dem Rechts- und Machtzweck als auch dem Kultur- und Wohlfahrtszweck dient. Neben der Ruhe, Ordnung und Sicherheit erwartet sich der Einzelnen vom Staat auch kulturellen Fortschritt, wirtschaftliches Wachstum und soziale Sicherheit. Der Staat hat nicht bloß, wie früher, Ordnungsgarant zu sein, er ist Leistungsträger geworden und erfüllt einen Sozialgestaltungsauftrag. Die Bestimmung dieser Staatsaufgaben erfolgt auf dem demokratischen Weg der Gesetzgebung, für welchen die politischen Parteien und Interessenverbände bestimmend geworden sind. Standen früher die Vertreter der Gesellschaft dem Staat kritisch gegenüber, so haben sie sich heute des Staates bemächtigt und diesen in Interessen-, Macht und Einflußsphären aufgeteilt; der Staat wurde vergesellschaftet und vermittelt bisweilen den Eindruck, ein Clearinghaus der Gruppeninteressen zu sein. Die Breite und Tiefe einer Organisation sind zum ausschlaggebenden Machtfaktor des Staates geworden, und die von Parteien und Interessenverbänden nicht Repräsentierten werden zu demokratisch Heimatlosen. Der Gesetzgebungsakt ist Ausdruck der Machtverteilung und des Interessenausgleichs. So ist der demokratische Staat der Gegenwart sehr machttransparent geworden und dokumentiert sich nicht bloß in Polizeigesetzen, sondern ebenso in Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgesetzen. Diese Entwicklung der Mehrzweckeverwendung des Staates wird im Politischen begleitet von einer wachsenden Demokratisierung in immer mehr Lebensbereichen. Dabei ist es bemerkenswert, daß, je mehr Aufgaben an den Staat übertragen und je mehr Lebensbereiche demokratisiert werden, das Interesse des einzelnen Menschen an diesem Staat, seiner Demokratie und seiner Politik nicht ebenso zu-, sondern abnimmt. Bemerkenswert ist es auch, daß mit der Mehrung der Staatsaufgaben die rechtsstaatliche Erfassung und Gestaltung dieser Aufgabenbereiche nicht Schritt halten konnte. Der moderne Staat soll nämlich auch als Kultur-,

106

Antikes griechisches Rechtsdenken und moderner Staat

Sozial- und Wirtschaftsstaat Rechtsstaat sein; wer die vor allem mit der wirtschaftlichen Tätigkeit der öffentlichen Hand verbundenen Affären der letzten Zeit beobachtet, muß feststellen, daß die rechtsstaatliche Erfassung der Aufgaben des Staates in seiner Mehrzweckeverwendung noch auf sich warten läßt. Die Aufgabenvermehrung des Staates gilt es, mit der erforderlichen Rechtssicherheit zu verbinden! Gleichzeitig sei aber auch betont, daß die Formen und die Wege des positiven Rechts alleine noch nicht ausreichend sind; es kommt immer auch darauf an, wofür sie verwendet werden. Betrachten wir die Erfahrungen mit autoritären und totalitären Staaten in unserer Zeit, muß leider auch der Mißbrauch des staatlichen Rechtes gegen die Freiheit und Würde des Menschen festgestellt werden. Ein zu bedenkendes Phänomen des modernen Staates ist auch die Tatsache, daß mit der Verpolitisierung des öffentlichen Lebens die Ideologien sehr an Einfluß gewonnen und, obgleich sie oft auch widersprüchliche Zielsetzungen beinhalten, Eingang in Verfassungsrecht und einfaches Gesetzesrecht gefunden haben; denken wir z. B. an den Konservativismus, Liberalismus und Marxismus. Sehr deutlich ist diese Entwicklung im Bereich der Grundrechte, indem politische Grundrechte mit Freiheit im Staat, liberale Grundrecht mit Freiheit vom Staat sowie soziale Grundrechte mit Freiheit durch den Staat gleichzeitig positiviert werden. Trotz des Strebens, möglichst viele Gebiete durch Grundrechte zu schützen, ist das elementarste Grundrecht, nämlich das auf das Leben, wie die sogenannte „Fristenlösung“ in Österreich zeigt, noch nicht allgemein anerkannt. Der moderne Staat ist in seiner Mehrzweckeverwendung gleichzeitig auf soziale Perfektion, technische Realisation und demokratische Omnipotenz orientiert. Die Folge dieser Entwicklung ist ein auf den Staat gerichteter Optimismus, mit dem der Einzelne vom Staat alles erwartet; weiters eine Verpolitisierung von immer mehr Lebensbereichen, die so vom individualen Bereich des Einzelmenschen über die soziale Sphäre der Gesellschaft in den Aufgabenbereich des Staates übergehen. Mit dem Verlust der privaten Sphäre tritt aber immer stärker die Gefahr der Kollektivisierung, Nivellierung und der Uniformierung auf. Die Stellung des durch eigenständige Freiheit und Würde geprägten Menschen wird dadurch verdunkelt, wenn nicht verdeckt. Fassen wir die Folgen dieser skizzierten Entwicklung im modernen Staat nach ihren zu bedenkenden Gefahren zusammen, so sind diese 1.  die Gefahr totaler Verpolitisierung des Lebens, die begleitet wird 2.  von einer demokratischen Willensbildung, in welcher oft Macht Ethik ersetzt, wie z. B. die Fristenlösung zeigt, sowie



Antikes griechisches Rechtsdenken und moderner Staat107

3. eine zunehmende Trennung der Sittlichkeit vom Recht, was letztlich auf Kosten des Menschenbildes geht, das die Bedingung und der letzte Zweck jeder Ordnung, so auch dieses Staates, ist. III. Folgerungen in Zeitverantwortung Bezieht man Gedanken und Begriffe des Rechtsdenkens der griechischen Antike auf den Staat der Gegenwart, so erscheint dies – abgesehen von geopolitischen Verschiedenheiten – auch im Hinblick auf den Zeitunterschied und den Wandel des politischen Denkens wohl nicht leicht vergleichbar. Bedenkt man aber, daß der Staat aller Zeit von denselben Grundstrukturen geprägt ist, dann ist eine Konfrontation des heutiges Staates mit dem Rechtsdenken der griechischen Antike nicht frucht- und wertlos. In einer Zeit wachsender Staatsallmacht ist es sicher wertvoll, den Rechtsbegriff der Griechen zu beachten, der neben positivistischen Strömungen, wie dem Recht des Stärkere, von Homer an starke präpositive Züge hatte. Bei den Griechen, wie etwa bei Hesiod, lesen wir, daß die Welt von Gesetzen (Nomoi) beherrscht wird, die von der Gottheit geschützt werden, sowie, daß das Leben nach dem Nomos der Dike dem Wesen des Menschen entspricht. Das Recht hatte in seiner Begründung zunächst religiöse und später ethische Züge. Die Begrenztheit des positiven Rechts durch eine höhere Ordnung begleitet das Rechtsdenken der Griechen und läßt einen Rechtspositivismus, der im 20. Jahrhundert so viele autoritäre und totalitäre Systeme ermöglichte, nicht aufkommen. Denken wir an Antiphon, Lykrophon und Alkidamas, so gehen sie im Gegensatz zu Gorgias, Thrasymachos und Kallikles nicht vom Recht des Stärkeren, sondern von Merkmalen, zwar zoologischer Natur, aus, die allen Menschen gemeinsam sind, was sie Standesunterschiede ablehnen ließ. Alkidamas erklärte schon, daß Gott alle gleich geschaffen und niemand zum Sklaven gemacht habe. Der Weg zu den Grundrechten des modernen Staates war dann ein weiter. Vor allem nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges setzte eine weltweite Bewegung zur Anerkennung der Grundrecht ein, die im Dienst der Freiheit und Würde des Menschen stand und die Personenhaftigkeit des Einzelnen schützen wollte. Dabei muß betont werden, daß der Begriff Person auf den griechischen Ausdruck Prosopon zurückgeht, wie die Göttermaske im archaischen Kult bezeichnet wurde. Es wäre aber wohl falsch anzunehmen, die griechischen Rechtsdenker wären von solchem Einfluß gewesen, daß die Grundrechte ein Teil des griechischen Verfassungslebens geworden sind. Das war nicht der Fall; die Ansätze waren mehr theoretischer als praktischer Natur.

108

Antikes griechisches Rechtsdenken und moderner Staat

In diesem Zusammenhang der Konfrontation von modernem Staat und antikem Staat der Griechen sei Adolf Menzel zitiert, der schon 1929 in seinem Werk „Beiträge zur Geschichte der Staatslehre“ meinte: „Daß … die politische Wirklichkeit der Gegenwart eine andere sei wie die der griechischen Kleinstaaten vor mehr als 2000 Jahren, erscheint einleuchtend. Allein man darf die Differenzen nicht überschätzen. So hat z. B. die Sklaverei nicht jene grundlegende Bedeutung für das politische und soziale Leben, die man ihr öfters beilegt. Es gab in den griechischen Staaten neben den Sklaven einen ansehnlichen Stand freier Handwerker, so daß hier ähnliche soziale Probleme entstehen konnten wie in der Gegenwart. Auch der Mangel einer Repräsentativverfassung in der antiken Stadtrepublik ist nicht so bedeutungsvoll, um damit einen fundamentalen Unterschied vom modernen Staat zu konstruieren. Die direkte Befragung des Volkes in wichtigen Angelegenheiten ist in der heutigen Demokratie eingerichtet, und umgekehrt war der griechische Demos nicht immer selbsttätig, sondern besaß im Rate und in den Beamten eine Art Vertretung … Ganz verfehlt ist auch der Versuch, einen grundsätzlichen Unterschied in der Weise zu formulieren, daß die Polis ein Klassenstaat gewesen sei, während der heutige Staat eine Vereinigung zum Zwecke der Wohlfahrt aller seiner Angehörigen bedeute. In dieser Behauptung liegt eine Verwechslung zwischen Ideal und Wirklichkeit. Der Idee nach ist auch der antike Staat für das Wohl aller Angehörigen errichtet; schon die Gedichte Solons drücken diese Gedanken aus. Falsch ist auch die beliebte Phrase von der Unfreiheit des Individuums im antiken Staate; für Athen trifft dies sicher nicht zu. Die Grabrede des Perikles betont gerade die Freiheit des einzelnen gegenüber dem Staate.“7 Adolf Menzel hob auch hervor: Die Griechen „haben die leitenden Ideen des Volksstaates klar herausgearbeitet, ohne die theoretischen Schwierigkeiten, das Problematische der Demokratie zu verkennen. In dieser Beziehung hat die moderne Staatstheorie kaum wesentlich neue Forschungen aufzuweisen; sie knüpft bewußt oder unbewußt an die antiken Gedanken an“.8 Dieses griechische Rechtsdenken hat die Verbundenheit von Freiheit und Gleichheit – nicht Gleichmacherei – verdeutlicht, wobei Freiheit nicht libertinistisch als Freiheit wovon, sondern verantwortlich, als Freiheit in der Demokratie in der Beachtung der beschlossenen Gesetze, also in der demokratischen Selbstbindung gesehen. Nach einem von Heraklit erhaltenen Fragment muß das Volk um seine Gesetze so kämpfen wie um seine Stadt7  Adolf Menzel, Beiträge zur Geschichte der Staatslehre (Wien/Leipzig 1929) 137 f. 8  Menzel, Beiträge zur Geschichte der Staatslehre 139.



Antikes griechisches Rechtsdenken und moderner Staat109

mauern. Protagoras wieder hat nach dem gleichnamigen Dialog Platos erklärt: Der Staat zwingt seine Bürger, nach den Gesetzen zu regieren und sich regieren zu lassen, Bürger und Regierende sind an die Gesetze in gleicher Weise gebunden. Bemerkenswert für den heutigen Staat ist neben dem Hinweis im griechischen Rechtsdenken auf die Gesetzesbindung auch ein bestimmtes Maß an wertendem Denken, was sich in der Einteilung des Staatsformen in gute und schlechte Staatsformen, bei Plato nach dem Maß der Gesetzesbindung und bei Aristoteles nach dem Dienst am Gemeinwohl ausdrückte. Das Ordnungsdenken der Griechen hatten einen wertenden Bezug, das zeigte ihre Lehre von den Tugenden, beginnend bereits bei Hesiod. Wer wollte leugnen, daß der Hinweis auf die Notwendigkeit des Maßhaltens in einer Demokratie der Parteien und Interessenverbände von aktueller Bedeutung ist. Das Erfordernis der wohlausgewogenen Ordnung, der Eunomia, auf die Solon schon hinwies, stellt sich auch unserer Zeit, man denke an die Beziehungen von Freiheit und Sicherheit, von parlamentarischer Staatswillensbildung und direkter Demokratie sowie von Ökologie und Ökonomie. Der Hinweis auf das erforderliche Maß, das Metron, und die Warnungen von den verschiedenen Formen der Hybris, nämlich der Herrschsucht, Habsucht und Geltungssucht, gelten auch für heute. Der Wandel der politischen Systeme ist daher in der Zyklentheorie Platos richtig als Entwicklung der Charaktere der jeweils Herrschenden gesehen worden, und Sokrates hat daher begründet auf das Erfordernis in die Einsicht der erlernbaren politischen Tugend verwiesen. In gleicher Weise sollte man die von Sokrates immer wieder erhobene Forderung nach der für die Demokratie so dringend erforderlichen politischen Bildung einschließlich Dialog und Redefähigkeit beachten. Das von Sokrates übernommene Delphische Orakel: „Erkenne dich selbst“ und die Notwendigkeit der inneren Wandlung (der Metanoia) gelten auch für uns. Leider ist die Demokratisierung und Politisierung des öffentlichen Lebens der Gegenwart nicht immer mit eine politischen Erziehungsarbeit verbunden worden, die den jeweiligen Ordnungsbezügen und Ordnungsansprüchen der Zeit entspricht. Diese führt uns zur Frage nach der Begründung der Autoritäten heute. Jede Gemeinschaft, von der Familie bis zum Staat, wird von Autoritäten getragen sein müssen, soll kein Chaos entstehen. Mit dem Sozialbewußtsein der Menschen werden sich aber die Strukturen der jeweiligen Sozialordnung und der sie begründenden Autoritäten weiterentwickeln. War unsere Sozialordnung früher von hierarchischen Autoritäten geprägt, so sind es nun partnerschaftliche Autoritäten, die ordnungsstiftend motivieren. War früher die hierarchische Autorität bloß in ihrer Position begründet, so wird sie es heute auch in ihrer Argumentation sein müssen.

110

Antikes griechisches Rechtsdenken und moderner Staat

Unsere Zeit braucht zur Herstellung und Aufrechterhaltung der Ordnung in Gesellschaft und Staat Autoritäten, die befragbar und fähig sind, eine Antwort zu geben, was das Verstehen des Wortes voraussetzt, also Zeitverständnis verlangt. Wer wollte leugnen, daß zu diesem Zeitverständnis heute das griechische Rechtsdenken einen wertvollen Beitrag leistet, wenn etwa Plato erkannte: „Wenn zum Beispiel ein Vater sich gewöhnt, einen Buben vorzustellen und sich vor seinen Söhnen fürchtet, wenn dagegen ein Sohn den Vater spielt und weder Scham noch Furcht vor seinen Eltern hat, damit er nämlich frei sei … … Der Lehrer fürchtet und hätschelt seine Schüler, die Schüler fahren den Lehrern über die Nase und so auch ihren Erziehern. Und überhaupt spielen die jungen Leute die Rolle der alten und wetteifern mit ihnen in Wort und Tat, während Männer mit grauen Köpfen sich in die Gesellschaft der jungen Burschen herbeilassen, darin von Possen und Späßen überfließen, ähnlich den Jungen, damit sie nur ja nicht als ernste Murrköpfe, nicht als strenge Gebieter erscheinen … … Wenn du alle diese Erscheinungen zusammennimmst …, siehst du nun ein, was das Allerschlimmste hierbei ist? Daß sie die Seele der Bürger so empfindlich machen, daß sie, wenn ihnen jemand auch nur den mindesten Zwang antun will, sich alsbald verletzt fühlen und es nicht ertragen; ja endlich, verachten sie gar alle Gesetze, die geschriebenen wie die ungeschriebenen, um nur keinen Gebieter in irgendeiner Beziehung über sich zu haben … … Diese so schöne, …, und jugendlich kecke Wirtschaft, … ist also denn der Anfang, woraus sich die Staatsform der Tyrannis erwächst, wie ich glaube … … Denn die allzu große Freiheit schlägt offenbar in nichts anderes um als in allzu große Knechtschaft, sowohl beim Individuum wie beim Staate …“.9 Diese Sätze Platos – und sie ließen sich bei ihm und manch anderem griechischen Rechtsdenker beliebig vermehren – zeigen, wie sehr die Griechen, nicht vom Kollektiven, sondern vom Individuum, vom Menschen her, den sie auch in der Kunst so klassisch dargestellt haben, dachten und daher auf dem Boden der Realität standen, was uns im Staat der Gegenwart von ihnen weiter lernen läßt, ein Lernen von den Idealen und Realitäten der Griechen. Wie klar hat dies doch schon Carl J. Burckhardt in seinem Festvortrag „Zur Geschichte der politischen Leitworte“ am 13.7.1960 in der Bayerischen Akademie ausgedrückt – und mit ihm lassen Sie mich schließen: 9  Plato,

Politeia VIII, Kap 14 und 15.



Antikes griechisches Rechtsdenken und moderner Staat111

„Man muß sich davor hüten, durch die Geschichte der Griechen hindurch bis zu ihrem staatlichen Zusammenbruch und während ihrer gewaltigen Expansion als kulturschaffende Besiegte im Hellenismus nur reines Streben nach hohen politischen Idealen aus erhabenen Begriffen zu lesen. Die Griechen hatten den sichersten Sinn für das Gemäße, das heißt, sie wußten um die ewige Mischung von Wahr und Unwahr in allem menschlichen, allem politischen Geschehen.“10 Auch davon sollten wir im vorletzten Jahrzehnt eines Jahrhunderts, welches das Erbe des 2. Jahrtausends nach Christi einzubringen hat, lernen.

10  Carl

J. Burckhardt, Gestalten und Mächte (Zürich 1961) 422.

Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat* I. Die römische Staatsverfassung und ihre Entwicklung „Rom ist ein Individuum, das Universalität und Dauer beansprucht und diesen Anspruch beständig ausspricht“1. Diese erlebbare Feststellung hat schon Carl Jakob Burckhardt in seinem am 13. Juli 1960 in der Bayerischen Akademie gehaltenen Festvortrag über die Geschichte der politischen Leitworte getroffen, und sie gilt auch heute für uns. Wer wollte nämlich wenige Jahre vor der Zeitenwende des Jahres 2000, also am Ende einen Jahrhunderts, leugnen, welches Erbe eines ganzen Jahrtausends einzubringen ist. Die Sicht auf den Beitrag Roms in seiner klassischen Prägung für das Ordnungsstreben unserer Tage2 soll dabei nicht besonders verdrängt werden, auch nicht für Italien, das sich um eine neue politische Ordnung und damit eine neue Verfassung bemüht und auch nicht für den Raum, den wir als Europa bezeichnen3 und dessen abendländische Prägung angesichts der vielfachen Verletzung von Menschenrechten in manchen europäischen Staaten nicht immer entsprechend erkannt werden kann. Auch wäre es um den Weltfrieden besser bestellt, wäre er eine zeitgemäße Pax Romana. Wer von Rom spricht, muß bekanntlich in der Gesamtentwicklung der römischen Staatsverfassung drei Epochen unterscheiden, die ungefähr ein halbes Jahrtausend umfassen, nämlich die Königszeit, die der Republik und die Kaiserzeit. „Keine dieser Epochen folgt auf die vorhergehenden so, daß diese durch einen plötzlichen und entscheidenden Abbruch ihr Ende gefunden und dann ein ganz neuer Anfang eingesetzt hätte, sondern jedesmal hatte sich das Neue im Alten vorbereitet“4. *  Vortrag, gehalten am 07.12.1993 am Österreichischen Kulturinstitut in Rom. Erschienen in: RIFD. Quaderni della Rivista Internazionale di Filosofia del Diritto 7. Sergio Cotta (1920–2007), Scritti in memoria, a cura di Bruno Romani. Milano 2010, S.  811 ff. 1  C. J. Burckhardt, Gestalten und Mächte, Fretz & Wasmuth, Zürich, 1961, S. 426. 2  Siehe E. Mayer. Römischer Staat und Staatsgedanke, Artemis, Zürich/Stuttgart, 1963, S.  254 ff. 3  Dazu J. Le Goff, Das alte Europa und die Welt der Moderne, C. H. Beck, München, 1975. 4  E. Täubler, Der römische Staat, Teubner Verlag, Stuttgart, 1985, S. 2, 4.

114

Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat

Wer vom antiken römischen Rechtsdenken spricht, geht vom römischen Volk, dem populus Romanus aus. Das römische Bürgergebiet umfaßte in der Königs-Zeit nur die Stadt Rom und ihre nähere Umgebung. Dies war ein Gebiet von rund 150 qkm. Die Grenzen dieses Gebietes waren noch bis in christliche Zeit durch den alljährlichen Flurumgang (ambarvalia) erkennbar. Später wurde diese Gebiet nach der Einverleibung des etruskischen Veji auf 1500 qkm und nach dem Latinerkrieg und der Einverleibung von Latium (340–338 v. Chr.) auf 6100 qkm erweitert. Vor dem Bundesgenossenkrieg umfaßte das Siedlungsgebiet der Bürger außer Latium vor allem Kampanien, das südliche Eturien und jenen Landstreifen, der sich von Latium nördlich quer durch die Halbinsel bis zur Küste des Adriatischen Meeres erstreckte. Vor Ausbruch des 2. Punischen Krieges betrug die Zahl der männlichen erwachsenen Bürger 300.000 bis 350.000; die der römischen Gesamtbevölkerung einschließlich Frauen und Kinder 1 Mill. bis 1,2 Mill. Diese Zahlen stiegen nach dem sogenannten Bundesgenossenkrieg, es wuchs die Zahl der wehrfähigen Bürger auf 3 bis 4 Mill. Menschen. Die römischen Bürger waren bis in die späte Republik überwiegend Bauern, deren Hof jeweils zwischen 10 und 30 Morgen groß war. In den größeren Orten gab es damals bereits Handwerksbetriebe. Diese bäuerliche Grundlage der Römer sei deshalb von mir auch betont, weil sie für das Ordnungsdenken der Römer bestimmend war, denn sie verband sich mit der der Familie und der Stellung des pater familias, die eine lebenslange zum Unterschied von der der griechischen Familiengewalt war, welche mit der Mündigkeit des jeweiligen Familienmitgliedes endete. Die römische Familie war eine vom Staat nicht abgeleitete und daher von ihm auch nicht kontrollierte Institution. Vielmehr hat sich der Staat aus einem Bunde der zu gentes zusammengefaßten Familien entwickelt. Die Familie erscheint daher, Cicero5 nennt sie quasi seminarium rei publicae, „als in der Staatsverbindung fortdauernde, ursprünglichste politische Organisation … So ist denn die Scheidung einer öffentlichen und einer privaten Macht und der drauf basierte Grundsatz von öffentlichem und Privatrecht bereits in dem geschichtlichen Aufbau des römischen Staates begründet. Der Römer ist auch dem Staate gegenüber Person“6. Es ist daher verständlich, daß Cicero in dem Schutz des Eigentums das Motiv der Staatenbildung sieht7 sowie zweitausend Jahre später John Locke die Hauptaufgabe der Staatsgewalt im Schutz des 5  Cicero,

Off. 1, 54. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Bad Homburg v. d. H. – Berlin / Zürich, 1966, S. 314. 7  Cicero, Off. 2, 73. 6  G.



Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat115

Eigentums (property) gegen Angriffe sieht8; ein Gedanke, der verbunden mit dem vom Leben, Freiheit und Eigentum als vorstaatliche Grundrechte von John Locke den Liberalismus mit begründete, von den Reisenden der Mayflower in die nordamerikanische Kolonien exportiert, das Denken der USA bis heute prägte und durch Lafayette im letzten Drittel des 18. Jhdt. auf den europäischen Kontinent zurückgebracht wurde, um in der Folge bis heute zunächst das europäische und später das weltweite Verfassungsrechtsdenken zu beeinflussen. Im römischen Rechtsdenken lassen sich, wie Rudolf von Jhering in seiner Schrift „Der Geist des römischen Rechts“ nachgewiesen hat9, bereits die Ansätze der Vorstellung feststellen, daß die Macht des Gesetzgebers gegenüber dem Einzelnen Grenzen habe. So hat bekanntlich die stoischciceronicensische Lehre vom ius naturae Ansätze für die Beschränkung der gesetzgeberischen Gewalt entwickelt. Sie stehen in engem Zusammenhang mit der späteren Naturrechtslehre der Neuzeit, welche im 19. und 20. Jhdt. vom Rechtspositivismus verdeckt wurde. Nach der Herrschaft autoritärer und totalitärer Regime und der Beendigung des 2. Weltkrieges sowie in den letzten Jahren nach der politischen Wende welcher Papst Johanns Paul II in seiner Enzyklika „Centesimus annus“ sogar ein eigenes Kapitel gewidmet hat10, hat das Naturrecht eine seiner ewigen Wiederkehren11 erfahren. Damit berühre ich den eigentlichen Kern jenes Teiles meines Vortragsthemas, der sich auf das Rechtsdenken der Römer bezieht und beziehe mich auf deren Rechtsbegriff. In seiner 1958 erschienenen Studie „Vom Rechtsbegriff der Römer“ hat schon Theo Mayer-Maly auf „die innige Verknüpfung gerade des frührömischen ius mit dem Sakralbereich“12 hingewiesen und hervorgehoben: „Sobald man nun religiöse Vorstellungen nicht als Ergebnis eines Entwicklungsprozesses sondern als uranfänglich bestehend ansieht, bedeutet das zugleich, daß im Recht nicht ein gewordenes, sondern ein für jeden Menschen gegebenes zu sehen ist“13. Es soll in diesem Zusammenhang auch der mögliche Ursprung der Wortbedeutung von ius nicht unerwähnt bleiben, die entweder von iuz (als 8  Siehe

näher: J. Locke, Two treatises of government, 1690. R. von Jhering, Der Geist des römischen Rechts, Scientia Verlag, Aalen, 1993, 4. Aufl., II 1, § 26, S. 60, Nr. 44 und 45 und die dort zitierten Cicero-Stellen. 10  Papst Johannes Paul II, Enzyklika Centesimus annus, 1991, III. Kapitel: Das Jahr 1989. Nr. 22 ff. 11  Dazu H. Rommen, Die ewige Widerkehr des Naturrechts, Josef Kösel Verlag, München, 1947. 12  T. Mayer-Maly, Vom Rechtsbegriff der Römer, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Band IX, Heft 2, 1958, S. 153. 13  T. Mayer-Maly, a. a. O. 9  Siehe

116

Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat

­ auerring mit dem Seil gehegte Gerichtsstätte), oder von ieu (Reinheit, M nämlich des Eides) oder Iovis (Schwurgott)14 abzuleiten ist. Theo MayerMaly spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „Da-Sein des richtigen Rechts“15 und betont: „Nirgends begegnet die Vorstellung, Recht könne beliebigen Inhalt haben, wenn es nur ordnungsgemäß erzeugt wurde“.16 Welchen Inhalt nach Ansicht der Römer das Recht haben kann, ist Inhalt des klassischen römischen Rechts geworden, nämlich einer Rechtsordnung, welche sich zum überwiegenden Teil aus unzähligen Einzelentscheidungen der Zeit ausgehender Republik und der Prinzipatzeit, das ist vom 2. Jhdt. vor Christi Geburt bis zum 3. nachchristlichen Jahrhundert, entwickelt hat. In dieser Sicht ist auch die berühmte Definition des Rechts zu verstehen, welche bekanntlich Ulpian von Iuventius Celsus überliefert hat: „Ius est ars boni et auqui“17. Ulpian hat dann selbst die Aufgabe des römischen Juristen in folgender Weise erklärt: „Iustitiam namque colimus et boni et aequi notitiam profitemur, aequum ab iniquo separantes, licitum ab illicito discernentes, …, veram nisi fallor philosophiam, non simulatam affectantes“18: Danach bezeichnet Ulpian die Pflege der Gerechtigkeit, das Leben des Guten und Gerechten, in dem das Gerechte vom Ungerechten getrennt sowie das Erlaubte vom Unerlaubten unterschieden wird, als das Bemühen um die wahre, nicht um die gekünstelte Philosophie. Auf Ulpian geht bekanntlich auch die berühmte Definition der Gerechtigkeit zurück: „Iustitia est constans et perpetua volunts ius suum cuique tribuendi“19, die nach Wolfgang Waldstein dem römischen Recht durch den Stoiker Panaitios von Rhodos im 2. Jhdt. vor Christi vermittelt worden ist, aber sich der Sache nach bereits bei Plato und noch viel früher findet20. Mit diesem erstgenannten Zitat Ulpians: „Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi“ berührt man die Zentralfrage des Rechtsdenkens überhaupt, nämlich die nach dem suum cuique; sie war für die Antike wie für die Gegenwart von gleicher Bedeutung. Viele sehen in dieser Formulierung, es sei nicht geleugnet, eine Leerformel, die jeden Inhalt haben kann, daher, es sei betont, dem Menschen dienen, ihn aber auch vernichten kann. In diesem 14  M. Kaser, das altrömische Ius. Studien zur Rechtsvorstellung und Rechtsgeschichte der Römer, Vandenhoeck Ruprecht, Göttingen, 1949, S. 27 f. 15  T. Mayer-Maly, a. a. O., S. 154. 16  T. Mayer-Maly, a. a. O., S. 155. 17  Ulp. Dig. 1, 1, 1 pr. 18  Ulp., Dig., 1, 1, 1. 19  Ulp., Dig. 1, 1, 10 pr. 20  W. Waldstein, Il compito del diritto romano nell‘ Europa d’oggi, Vortrag gehalten am 27. Oktober 1985 in Bozen anläßlich der Tagung (Convegno) des „Istituto Antonio Rosmini“ über „Scienza e cultura in Europa oggi“, Renconde, 1985, S.  102 f.



Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat117

Zusammenhang bleibe es nämlich nicht unerwähnt, daß über dem Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald in der Zeit Hitlerdeutschlands auch der Satz stand: „Jedem das Seine“. Diesem Vorwurf möglicher Leerformel des suum cuique sei aber mit Wolfgang Waldstein erwidert, daß gerade Ulpians Maxime von einer Gewißheit über das ius als objektive Ordnung und als das dem Einzelnen Zustehende eine Austauschbarkeit des suum ausschließt21 und mit Theo Mayer-Maly darauf aufmerksam gemacht, „daß bei Ulpian ( D1, 1, 10, 1) zwei andere praecepta iuris voranstehen: ‚honeste vivere, alterum non laedere‘ “22. Welchen Inhalt man aber immer den Definitionen des Rechts und der Gerechtigkeit bei Ulpian geben mag, sie verweisen auf die Existenz sowohl eines staatlichen wie eines präpositiven Rechts. Gehen doch auch die römischen Juristen davon aus, daß das ius civile im weitesten Sinne dem natürlichen Recht zugeordnet ist. Auch stellt Ulpian fest, daß das ius civile sich mit dem ius naturale wenigstens teilweise deckt23, wo dies aber nicht der Fall ist, werden die Bestimmungen des ius civile als Modifikation des ius naturale verstanden, im Extrernfall auch als Gegensatz zu ihm, was z. B. die Beurteilung der in der Antike vorhandenen Sklaverei zeigt24. Über die Digesten Iustinians, an deren Spitze ein Text aus Ulpian stand, übte dieses römische Rechtsdenken einen wegeweisenden Einfluß auf die europäische Rechtsentwicklung mit ihren Kodifikationsbemühungen aus. Ich verweise etwa u. a. auf das Sachen-, Schuld-, Familien- und Erbrecht. Konkret möchte ich auch auf den § 7 des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches 1811 verweisen, der als letzte Entscheidungshilfe die natürlichen Rechtsgrundsätze nennt25; auch soll in diesem Zusammenhang die Feststellung im Kommentar zum ABGB von Pfaff-Hofmann, Wien 1877 nicht unerwähnt bleiben: „… überhaupt ist das römische Recht größtenteils ein in seinen Folgerungen dargestelltes Naturrecht“26. 21  W. Waldstein, Ist das „Suum cuique“ eine Leerformel?, in: Ius humanitatis, Festschrift zum 90. Geburtstag von Alfred Verdross, hrsg. von Herbert Miehsler, Erhard Mock, Bruno Simma, Ilmar Tammelo, Duncker und Humblot, Berlin, 1980, S.  285 ff. 22  T. Mayer-Maly, Der Jurist, Tätigkeitsbericht der österreichischen Akademie der Wisschenschaften 1988 / 89, Sonderdruck Nr. 1, Wien, 1988, S. 20. 23  Ulp. Dig. 1, 1, 6 pr. 24  Vgl. Flor., Dig. 1, 51 4, 1. 25  Näher H. Schambeck, Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB, in: Völlkerrecht und Rechtsphilosophie, Internationale Festschrift für Stephan Verosta zum 70. Geburtstag, hrsg. von Peter Fischer, Heribert F. Kiick, Alfred Verdross, Duncker & Humblot, Berlin, 1980, S. 479 ff. 26  Kommentar zum österreichischen allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuche von Leopold Pfaff und Franz Hoffmann I, Wien 1877, S. 195, Anm. 171.

118

Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat

Wie stark das Gerechtigkeitsdenken bei den Römern sowohl im Recht als auch im Leben der Gesellschaft und vor allem der Wirtschaft war, zeigt besonders das häufige Erscheinen von aequitas und iustitia auf römischen Münzen; was Guido Kisch in seinem Buch „Recht und Gerechtigkeit in der Medaillenkunst“, 1955, näher ausführt.27 Das Rechtsdenken der Römer war nicht auf ein generell abstraktes Recht, sondern auf den konkreten Rechtsfall, wie er sich aus dem menschlichen Leben ergibt, bezogen. Aequitas war daher nichts anderes als „die in der konkreten Rechtsordnung verwirklichte Gerechtigkeit“28, und das bonum der Römer war „die typisch römische Tugend der Zuverlässigkeit und Charakterfestig­ keit“29, wozu ein bestimmtes Maß an Traditionsgebundenheit zählt, welches diesen Staat begründete und sehr lange Zeit bestehen ließ. Diese mehr ethischen Grundsätze waren existenzbegründend und existenzerhaltend für Rom, anfangs eine Stadt, später ein Staat, für die damalige Zeit wahrscheinlich weltumspannend; Rom ist in seinem Werden und Sein einzigartig. Viktor Helm hat es bereits 1844 in seiner „Einladungsschrift zu dem Examen in der höheren Kreisschule zu Pernau“ betont: „Nie hat sich eine geschichtliche Notwendigkeit vom ersten Ansatz an deutlicher verkündet und gesetzmäßiger bis zur letzten Erfüllung vollzogen. Rom war jahrhundertelang eine kleine Stadt, die mit der Nachbarschaft in Fehde lag und von inneren Händeln bewegt war – es war eine unter tausend anderen. Einige Jahrhunderte weiter finden wir dieselbe Stadt als Herrscherin aller Völker und Mittelpunkt aller Künste … Nicht durch plötzliches Aufflackern, dem dann ein ebenso schnelles Erlöschen folgt, sondern durch einen langsamen, dann nachdem die Bande gesprengt sind, mit denen jede sich in die Existenz setzende Idee in ihrem ersten Stadium zu kämpfen hat, desto reißenderen Fortschritt erweitert sich die urbs zum orbis terrarum. Wenn irgendwo, ruft Niebuhr, ein Wunder anzunehmen ist, so ist es in der römischen Geschichte. Er verstand unter Wunder das Gegenteil des Wunders, nämlich eine aller Willkür und jedem Zufall entnommene stets Notwendigkeit des geschichtlichen Verlaufes. Das Bewußtsein der sieghaften Ewigkeit Roms wohnt jedem Römer inne“30. Wer Rom und die Römer früher und jetzt erlebt, der kann diese Feststellung Helms nicht bezweifeln, im Gegenteil, sie gehören zur Erklärung für den Aufstieg Roms, denn diese Stadt hat sich „aus unscheinbaren Anfängen 27  G. Kisch, Recht und Gerechtigkeit in der Medaillenkunst, C. Winter, Heidelberg, 1955, S. 58 f., 84, 134 f., 156 sowie Tafel I. 28  M. Kaser, Das Römische Privatrecht, Handbuch der Altertumswissenschaft, Erster Abschnitt, 2. Aufl., C. H. Beck, München, 1971, S. 195. 29  M. Kaser, a. a. O., S. 194. 30  V. Helm, Italien und Italiener, drei Essays, herausgegeben und eingeleitet von Eugen Thurnher, Stifterbibliothek, Salzburg, 1981, S. 49.



Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat119

aus einer geographisch zwar zentralen, aber nicht besonders günstigen Lage – Rom hat keinen guten Hafen, der Tiber ist schlecht schiffbar“, zum römischen Imperium entfaltet.31 Die Theorie, daß es „aus einem Asyl von Zusammengelaufenen“ entstanden sei, bezeichnet allerdings Dionysios von Halikarnass als absurde Geschichte und sagt, daß es von Griechen gegründet wurde (Dion. Hal. 1, 4, 27.). In seiner im Jahre 7 v. Chr. veröffentlichten römischen Archäologie führt er den Aufstieg Roms auf göttliche Vorsehung (θεια προνοια, 5, 54, 1 und öfter) zurück32. Was wir heute in der allgemeinen Staatslehre als Staat mit seinen drei Elementen des Staates bezeichnen, nämlich Staatsvolk, Staatsgewalt und Staatsgebiet, hat alles seinen jeweiligen historischen Ursprung. So hat sich das Staatsvolk aus dem Schwerpunkt des Staates der Griechen, die Staatsgewalt aus dem der Römer und das Staatsgebiet aus dem der Germanen und später der Deutschen entwickelt. Dieses römische Imperium kannte seinem Ursprung nach nie Macht als Selbstzweck, sondern war mit dem Religiösen verbunden, Imperium und Auspicium, nämlich das Recht die Götter über die für die politische Gemeinschaft bedeutsamen Entscheidungen zu befragen, gehörten eng zusammen. In ihrem auch auf das öffentliche Leben bezogenen Denken waren die Römer stark auf rechtliche Bindungen bezogen, und es sind Begriffe von einer überzeitlichen Kontinuität entstanden. Carl J. Burckhardt hat mit Recht schon erklärt: „Das Inventar der Wörter begrifflichen Inhalts, die einst entstanden sind, um das menschlichen Zusammenleben zu behüten und zu regeln, ist innerhalb des europäischen Kulturkreises und seiner außereuropäischen Einflußzone vom 4. Jhdt. vor Christus bis ins 20. Jhdt. im wesentlichen dasselbe geblieben“33. Dabei haben sich die Römer, „wie alle abendländischen Völker nach dem von den Griechen geschaffenen Vorbild ausgeformt. Zu dem politisch-sittlichen Vokabular haben sie viele inhaltsschwere, tragende, wirkungsmächtige Wörter hinzugefügt. Alle hängen sie mit der eigensten Schöpfung Roms, dem Recht und mit der Vorstellung in imperialer Statik zusammen: Gravitas – ernste Bedeutung, Erhabenheit vor dem Hintergrund der Macht; Sanctitas – Unverletzlichkeit und Würde; Fides – Vertrauen, Gewißheit, Glaubwürdigkeit, Schutz, alles unlöslich gebunden an die Vorstellung von Ehre und Tugend, die im Abendland noch so lange vorherrschen soli: Honos und Virtus. Als Dominante bleibt die Idee der Weltherrschaft im Sinne umfassender Ordnung durch Rechtsnormen, am 31  V. Pöschl, Die Einigung Italiens durch Rom, in: Hostoria Mundi, Dritter Band: Der Aufstieg Europas, Francke, Bern, 1954, S. 459. 32  Dazu eingehend J.-L. Ferrary, Philhellénisme et imperialisme, Ecoile francaise de Rome, Rom, 1988, S. 227 f. und 374. 33  C. Burckhardt, Gestalten und Mächte, S. 415.

120

Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat

deutlichsten bei einem Scipio Africanus. Hier sind Bild und Wort, ist die Entsprechung dieser beiden großen Möglichkeiten menschlicher Zeichengebung als Symbol des Weltherrschers, des Kosmokrators, gegenwärtig: Globus, Zepter, Steuerruder und Füllhorn erschienen im Jahr 45 v. Chr. auf Münzen und Gemmen schlagwortartig zur Verherrlichung von Caesars Politik“34. Die Herrschaft des Augustus dagegen wird durch die auf einem ihm gewidmeten Ehrenschild geschriebenen Begriffe virtus, clementia, ius­ titia und pietas (Res gestae 34–35) gewürdigt.35 Auch die Begriffe Dignitas – Würde, später verbunden mit Gloria – Ruhm und Auctoritas im Sinne von Autorität, Ansehen gilt es hier zu nennen. Vieles ließe sich zu diesen Begriffen sagen, was für das politische und rechtliche Denken der Römer bestimmend wurde. Das Wort Auctoritas soll aber als Beispiel näher betrachtet werden; es geht im Lateinischen auf auctor und dieses auf augere zurück. Augere heißt vermehren, zunehmen, wachsen lassen und auch fördern. Von diesem Wort augere leitet sich später die Bezeichnung Augustus ab, was ursprünglich Mehrer und Schöpfer, im übertragenen Sinne heilig, erhaben und anbetungswürdig bedeutet hat. Diesen Ehrenbeinamen erhielt Octavian, der Adoptivsohn, Erbe und Nachfolger Caesars, der Erste in der Reihe der römischen Kaiser, und seit ihm war Augustus die effektive Amtsbezeichnung der römischen Kaiser. In seiner Schrift Über Autorität hat Theodor Eschenburg mit Recht auf diesen Ursprung hingewiesen und den Bogen bis auf Bismarck gespannt, denn die deutsche Übertragung dieser Formel findet sich in dem von Otto von Bismarck entworfenen Manifest Wilhelm I. für die Kaiserproklamation in Versailles am 18. Jänner 1871, wo es heißt: „allzeit Mehrer des Deutschen Reiches, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung“36. Dieser Begriff der auctoritas war bei den Römern noch mit fides, dem Vertrauen, das jemand besitzt, verbunden. Diese fides sollte der Stärkere gegenüber dem Schwächeren, der Patron gegenüber dem Klienten, der Amtsträger gegenüber dem römischen Volk, dieses gegenüber den verbündeten Gemeinden and später gegenüber den Bewohnern der römischen Provinzen haben.37 Das römische Rechtsdenken sowie die Bezeichnung des römischen Staates, nämlich Senatus populusque Romanus, also der Senat und das Volk, 34  ID.,

a. a. O., S.  425 f. Römische Wertbegriffe, hrsg. von Hans Oppermann, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1983. 36  T. Eschenburg, Über Autorität, 2.  Auflage, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1969, S. 9. 37  Vgl. D. Nörr, Die Fides im römischen Völkerrecht, Mueller, Heidelberg, 1991. 35  Dazu



Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat121

drückte eine Verpflichtung aus. Cicero erklärt in seiner Schrift über den Staat 1, 39, daß die res publica res populi ist, „ein Volk aber nicht jede irgenwie zusammengescharte Ansammlung von Menschen, sondern die Ansammlung einer Menge, die in der Anerkennung des Rechtes und der Gemeinsamkeit des Nutzen vereinigt ist“38. Auch res allein wird genannt oder res Romana, die Gesamtheit der Angelegenheiten und Interessen des Volkes; es tritt als eine abstrakte Idee anstelle des griechischen Personalverbandes39. Diese Interessen des Volkes liegen in Griechenland in der persönlichen Mitverantwortung der einzelnen Bürger, in Rom aber in der von Repräsentanten des Volkes, welche befugt sind, für das Wohl und Weh des Staates im Namen des Volkes und ihres Staates zu handeln, wobei der einzelne Amtsträger in der Ausübung seiner Funktion zwar souverän ist, aber nur aufgrund der Gesetze, an die er gebunden ist. Hier zeigt sich eine gleiche Haltung wie im griechischen Staat. Dabei soll man nicht übersehen, daß die Idee des Rechtsstaates mit Platos Nomoi und Politeia beginnt. Rom hat aber zum Unterschied von Hellas die Qualität des Bürgers genauer herausgearbeitet. Georg Jellinek unterstreicht es in seiner Allgemeinen Staatslehre: „Die rechtliche Natur der Zivität ist in Rom so reich als möglich entwickelt; ihre verschiedenen Abstufungen beweisen, wie genau man sich der Fülle des in ihr enthaltenen individuellen Rechtskreises bewußt war“40 und Theo­ dor Mommsen weist in seinem Abriß des römischen Staatsrechts auch auf den damals schon in Rom geläufigen Begriff des sogenannten Passivbürgers, des civis sine suffragio, hin41. Anders als in Griechenland war in Rom der öffentliche Funktionär, nämlich die Magistratur, die Stütze des Staates und Ausdruck einer bestimmten Nobilität, die aber kein abgeschlossener Stand, sondern offen und prinzi­ piell ein für Außenstehende zugänglicher Kreis war. Im Letzten wurde diese Nobilität auf dem Dienst für die Allgemeinheit und damit für den Staat begründet. Die erbrachte Leistung und die ausgeübte Tätigkeit begründete in der Regel den gradus dignitatis. Sicher war die Abstammung für das Ansehen in der römischen Nobilität mitbestimmend, aber die praktische politische Arbeit für das Volk im Staat ausschlaggebend, anders als die spätere mittelalterliche und später neuzeitliche Adelsgesellschaft war sie 38  Vgl. G. Dulckeit  /  F. Schwarz  /  W. Waldstein, Römische Rechtsgeschichte, 10. Aufl., C. H. Beck, München, 1989, S. 25 f. 39  Siehe E. Meyer, Vom griechischen und römischen Staatsgedanken, in: Das Staatsdenken der Römer, hrsg. von Richard Klein, Wege der Forschung, Darmstadt, 1980, S. 65 ff., bes. S. 79 ff. 40  G. Jellinek, a. a. O. S. 315. 41  T. Mommsen, Abriß des römischen Staatsrechts, Duncker & Humblot, Leipzig, 1893, S.  54 f.

122

Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat

nicht der Ausdruck eines absoluten Wertmaßstabes42. Der römische Aristokrat war der Landmann und zwar Großgrundbesitzer; eine Grundlage, die man auch später bewahren sollte, wie die lex Claudia vom Jahre 218 v. Chr. bewies, nach welcher Senatoren und deren Nachkommen an die ländliche Lebensweise dadurch gebunden werden sollten, daß es ihnen einfach verboten wurde, Handelsgeschäfte zu betreiben, hingegen gestattet, die Früchte der eigenen Güter auf den Markt zu bringen. Die Folge war, daß sich später eine neue Gruppe bildete, der Stand der Ritter. In der Folgezeit wandelte sich die Grundlage der römischen Nobilität von einer Lebensanschauung zu einer eigenen Rechtsordnung und in der Folge wurden die mores in Rechtsnormen und bei Übertretungen die gesellschaftliche Ächtung in Strafsanktionen umgewandelt. Diese rechtliche Regelung betraf erstens die Ämterlaufbahn, um dem Ämterehrgeiz zu begegnen; in leges annales wurden sogar Altersvorschriften für einzelne Ämter vorgesehen; zweitens wurden Vorschriften gegen Wahlbestechungen (leges de ambitu) erlassen und drittens auch Gesetze über den privaten Lebensstil gegen den Luxus, sogenannte leges sumptuariae. Die Wirkung war nicht groß und Heuchelei die Folge. Für die Beobachtung dieser Vorschriften wurde die Censur geschaffen. Der Censor übte zunächst eine Kritik durch amtliche Feststellung des Fehlverhaltens, was den Boykott der Gesellschaft zur Folge hatte. Der Censor, der die Senatslisten zu überwachen hatte, ließ bei der Verlesung der im Senat Sitzungsberechtigten einfach den Namen des Beanstandeten weg. „Der so Notierte war praktisch ein erledigter Mann, jedenfalls politisch tot. Man verfolgte ihn weiter nicht; es genügte“, schreibt Jochen Bleicken in seinem Buch „Die Verfassung der römischen Republik“, „daß er als ein politisches Wesen nicht mehr existierte, und es interessierte dann kaum jemanden, was er künftig tat“43. Neben diesen Grenzen der politischen Stellung gab es für jeden Römer eine libertas, einen Freiheitsraum, der nicht ausdrücklich grundrechtlich geschützt war, aber die Freiheit der Meinung, der Lehre, der Freizügigkeit, der wirtschaftlichen Initiative, des Eigentums, des Schutzes des Hausrechtes usw. beinhaltete und effektiv erfaßte. In diesem Zusammenhang möchte ich auf das verweisen, was Bernard Andreae in seinem Buch über Odysseus44, das treffend den Untertitel Archäologie des europäischen Menschenbildes 42  J. Bleicken, Die Verfassung der römischen Republik, 6. Aufl., Utb, Paderborn 1993, S. 40 ff., bes. S. 48 ff. 43  J. Bleicken, a. a. O. S. 59. 44  B. Andreae, Odysseus – Archöologie des europäischen Menschenbildes, Societäts-Verlag, Frankfurt, 1982, S. 15 und derselbe, Anschauliche Symbole Europas, in: Veröffentlichungen der Hanns Martin Schleyerstiftung Bd. 35, 1991, S. 243 f.



Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat123

trägt, über eben dieses europäische Menschenbild anschaulich geschrieben hat: Er sei nämlich ein sich selbst bestimmender, in keiner Gefahr verzweifelnder, sondern auf Rettung sinnender, phantasievoller und dynamischer Mensch. An diesem europäischen Menschenbild hat auch der Römer einen wesentlichen Anteil. Es wäre aber falsch anzunehmen, es hätte für die Römer ein Bereich schranken- und grundloser Freiheit bestanden; das ist nicht der Fall. Die Situation Roms und der Römer war bestimmt durch die Bedrohung von außen und den Ratschluß der Götter. Um beides bemühten sich die Römer und suchten, auf dem Weg der geschichtlichen Sendung ihrer Weltherrschaft gerecht zu werden. Diese Anforderungen zu erfüllen, verlangte virtus45. Virtus bedeutet schon seinem Wortsinn nach Mannhaftigkeit, Mut, Tüchtigkeit und Tugend. Sie ist für die Existenzsicherung des einzelnen Römers von gleicher Bedeutung wie für den römischen Staat überhaupt. Die Einstellung der griechischen Stoa, daß die Tugend um ihrer selbst willen anzustreben sei, gilt für die Römer zwar auch, aber für sie ist sie Existenz­ voraussetzung überhaupt. Sehr klar gibt dies Cicero zu erkennen, für den virtus ebenso wie übrigens für Plato und Aristoteles46 die vollendete Natur ist, denn in seinem Werk „de legibus“ schreibt er auch „… est autem virtus nihil aliud nisi perfecta et ad summum perducta natura“.47 Für Cicero enthält daher die Gemeinschaft von Mensch zu Mensch in Freundschaft oder Liebe oder aber auch die Gemeinschaft im Staat ihren Wert in sich und es gibt keinen zusätzlichen Vorteil außerhalb dieser ihrer Gemeinschaft. Cicero schrieb daher in seinem Dialog Laelius – de amicitia: „Nicht weil wir in ihr (der Verbundenheit) auf Gegenlohn hoffen dürfen, halten wir sie für erstrebenswert, … sondern weil in ihr aller Gewinn in der gegenseitigen Zuneigung (Cicero selbst schreibt amor) selbst liegt“48. Und was für Cicero im Zwischenmenschlichen die Zuneigung ist, das ist für Cicero im Staat die gemeinsame Anerkennung des Rechts (iuris consensus). Dabei versteht er unter ius nicht bloß das positive Recht, sondern auch das Naturrecht – und nach dessen Maß die Gerechtigkeit49. Von ihrer Wahrung macht Cicero den Bestand aller Staatsverfassungen abhängig. 45  Siehe dazu auch H. Drexler, Die moralische Geschichtsauffassung der Römer, in: Das Staatsdenken der Römer, S. 255 ff., bes. S. 266 ff. sowie L. Curtius, Virtus und constantia, in: Römische Wertbegriffe, S. 370 ff. und K. Büchner, Altrömische und Horazische virtus, in: Römische Wertbegriffe, S. 376 ff. 46  Siehe A. Verdroß, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Springer, Wien, 1963, S. 49. 47  Cicero, Leg. 1, 25. 48  Cicero, Lael. 31. 49  Vgl: Cicero, Leg. 1, 42 ff. und Rep. 3, 33; auch 3, 45.

124

Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat

Cicero hat damit die Natur dynamisch betrachtet, wie er übrigens auch den Staat realistisch sah. Er hat den verschwommenen stoischen Ideen juristische Gestalt gegeben und auf diese Weise die schon bei Plato erkennbare Mehrstufigkeit des Rechts in einer Weise weiterentwickelt, wie sie später in der christlichen Naturrechtslehre in der stufenförmigen Unterscheidung in lex aeterna, lex naturalis und lex positiva fortlebte. Realistisch hat er auch im Anschluß an Plato, Aristoteles und Polybius eine Lehre von der gemischten Staatsform und von einer fünfstufigen Ordnung des Gemeinschaftslebens vertreten, die ebenfalls für unsere Zeit nicht unaktuell ist. Dieser Gedanke der gemischten Verfassung verbindet monarchische, aristokratische und demokratische Elemente und sieht diese in den Konsuln, dem Senat und den Komitien institutionalisiert; eine Kompromißform politischen Wollens und staatlichen Lebens, die heute sicher ebenso beachtenswert ist wie die Lehre Ciceros in De officiis von der stufenförmigen Ordnung von Gemeinschaften: die von Mann und Frau, der Familie, der Siedlungsgemeinschaft, des Staates, der Sprachgemeinschaft, der societas humana, welche die ganze Menschheit umfaßt, und letztlich die Götter und Menschen umfassende Weltgemeinschaft.50 Wer will behaupten, daß gerade in der heutigen Zeit mannigfaltiger Verfassungsreformen und vielfältiger internationaler Gemeinschaftsbildungen, die UNO, der Europarat und die EG seien besonders genannt, diese Gedanken unaktuell wären? Wenn man Ciceros Lehre von der stufenförmigen Ordnung des Rechts, die sich auf das präpositive Gesetzesrecht in gleicher Weise bezieht, auch ins Auge faßt, dann ist sie bestimmt für die Bemühungen unserer Zeit wenigstens um Strukturen eines Weltrechtsstaates von Bedeutung. Dabei kann uns auf dem Weg von der Antike über das Urchristentum in die Gegenwart der Begriff des Friedens bei Aurelius Augustinus, nämlich Pax est ordinata concordia – der Friede ist die geordnete Eintracht51 – begleiten. Der Friede war bewußt oder unbewußt, mehr oder weniger deutlich und erkennbar, das Anliegen römischen Ordnungsdenkens. Viktor Pöschl hat bereits in seiner Abhandlung über „Die Einigung Italiens durch Rom“ bezüglich der geistigen und seelischen Grundlagen des römischen Staates erklärt: „Das römische Imperium ist dadurch entstanden, daß hier ein Volk in einzigartiger Weise seine Grenzen immer wieder neu zu sichern wußte, wobei diese Grenzen nicht aus einem Expansionswillen, aus dem Willen nach Macht und Gewinn immer weiter hinausgetragen wurden, sondern aus dem Willen zur Sicherung, bis der Ager Romanus zum Imperium Romanum 50  Cicero,

Off. 1, 53. Augustinus, Civ. 19, 13; vgl. auch den ganzen Text Civ. 19, 11–14.

51  Aurelius



Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat125

wurde, innerhalb dessen Friede (Pax) herrschte“52. Dieses Wort pax kommt von pacare, was nämlich Frieden und Sicherheit bringen bedeutet, zunächst verstand man in der römischen Antike unter pax den Vertrag sowie den vertraglichen Zustand und insofern den Frieden; damit ging es den Römern um einen dies- und jenseitigen Frieden, d. h. auch um pax deorum, also auch um den Frieden mit den Göttern. Kennzeichen und Attribute der Pax wurde der Ölzweig, der auf den Münzen bereits in der augusteischen Zeit zu finden ist, weiters das Füllhorn, die verschlungenen Hände, das Zepter, das Steuerruder. Dazu kommen aber noch besonders typische Merkmale des römischen Denkens zur Darstellung von pax wie die Verknüpfung von Pax mit Victoria; der Römer kann sich nämlich pax ohne den eigenen entscheidenden Endsieg schwer vorstellen, was sich in Darstellungen wie Lorbeer, Speer, Schild und Siegestrophäe ebenso zeigt, wie im Anzünden erbeuteter Waffen53. Als Pax Romana war der Friede der rechtliche Ordnungsbegriff des Römischen Reiches und wurde in der Kaiserzeit die Pax Augusta zu dessen Kulturidee54, als dessen Abschluß das wohl bedeutendste Kunstwerk dieser Epoche, die Ara Pacis Augustae am Marsfeld in Rom angesehen werden kann. Sie wurde 13. v. Chr. von Senat und Volk beschlossen und 9 v. Chr. geweiht. Angesichts der derzeitigen Weltlage, vor allem auch in Europa, besonders bezüglich der Länder des frühen Jugoslawien, wäre es ein Fehler anzunehmen, die Pax Romana wäre der in der Antike erbrachte Beweis frühen Pazifismus; das wäre weit gefehlt. Es handelte sich bei der Pax Romana um einen bewaffneten Frieden, d. h. um ein Bemühen, mit Waffen die Ordnung vor Übergriffen an Schwächeren durch Stärkere zu schützen. Hans Heinrich Stier betonte in seiner Abhandlung „Augustusfriede und Römische Klassik“, „daß Rom seine Macht nur deshalb so weit über Italiens Grenzen ausgedehnt habe, weil es dem dort grassierenden, als Gefährdung aller empfundenen Zustand des bellum omnium contra omnes begegnen mußte“55. In diesem Zusammenhang verweise ich auch auf die in Tacitus Historien 52  V.

Pöschl, a. a. O., S. 467. Koch, Pax, in: Paulys Realencyldopädie der Classischen Altertumswissenschaft, 36. Halbband, Letztes Drittel, hrsg. von Konrat Ziegler, J. B. Metzler, Stuttgart, 1949, Sp. 2434 f. 54  Siehe Friede, in: Lexikon Alte Kulturen, herausgegeben und bearbeitet von Hellmut Brunner, Klaus Flessel, Friedrich Hiller und Meyers Lexikonredaktion, Zweiter Band, Meyers, Mannheim / Leipzig / Wien / Zürich, 1993, S.  25. 55  H. H. Stier, Augustusfriede und Römische Klassik, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II, hrsg. von Hildegard Temporini und Wolfgang Haase, Principat, Zweiter Band, hrsg. von Hildegard Temporini, De Gruyter, Berlin / New York, 1975, S. 21. 53  C.

126

Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat

wiedergegebene berühmte Rede des Petilius Cerialis56. Augustus selbst ist es um eine Verbindung des römischen Nationalgedankens mit der Idee des Weltfriedens im Dienste der Sicherung der damaligen Hochkultur gegangen. Wir wissen aber, wie schwer es auch in der Antike und in der Folge in allen Epochen der Weltgeschichte war, die Waffe nur als Mittel des Schutzes und nicht als solches der Unterdrückung, d. h. im Dienste des Schutzes der Freiheit des Einzelnen sowie des äußeren und inneren Friedens zu gebrauchen. In dieser Sicht begleitet der Friedensgedanke der Römer auch die folgende Geschichte der Menschheit im allgemeinen und die Europas im besonderen. Dazu muß ich aber und damit überleitend zu dem letzten Teil meiner Ausführungen, die sich nun dem modernen Staat zuwenden, den schon einleitend erwähnten Carl Jakob Burckhardt zitieren, welcher in seiner am 26. September 1954 in Frankfurt a. M. gehaltenen Rede anläßlich der ihm zuteil gewordenen Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels erklärte: „Zur Zeit des römischen Weltreiches gab es kein Europa mit dem Sinngehalt, der inzwischen in dieses Wort hineingelegt wurde. Länger als man gemeinhin annimmt, blieb die Erinnerung an das große Imperium lebendig. Seine juristische Einheit wurde als Postulat sogar bis zum Ende des byzantinischen Reiches erhoben. Das Gebiet, auf welches dieser Anspruch und diese Erinnerung sich bezogen, war das Trümmerfeld, das die Römerreiche zurückließen, … Als der Raum, den wir noch heute gewohnt sind, Europa zu nennen, zu einer vom Islam berannten Festung geworden war, als das Massensterben der antiken Städte und Munizipien sich längst qualvoll vollzogen hatte, als man zur primitiven Naturalwirtschaft zurückgekehrt war, setzte eine europäische gemeinsame Willensbildung unter gemeinsamer Führung der Kirche ein, und es begann jenes christliche, germanisch-lateinische Zeitalter, das man das ‚medium aevum‘ genannt hat. Jetzt entstand, aus der Begegnung der Germanen mit den Lateinern und vor allem aber mit dem Christentum eine europäische Kultur. Das Wesentliche: diese Kultur wurde beherrscht durch einen Universalismus, der nicht mit Uniformität verwechselt werden darf“57, und noch durch ein bleibendes Kennzeichen Europas, daß es nämlich auch in Krisenzeiten – und die hatten viele Staaten, Völker und Nationen Europas zu verschiedenen Zeiten – imstande war, Kultur zu entwickeln und zu entfalten. Das zeigt sich auch in bezug auf den Staat, dessen heutige Situation mit dem Rechtsdenken römischer Antike abschließend nun konfrontiert sei; zuvor sei auf den Begriff „Staat“ selbst im deutschen Sprachgebrauch eingegangen. 56  Tacitus, 57  C.

Historien 4, 71 f. J. Burckhardt, Betrachtungen und Berichte, Manesse, Zürich, 1964, S. 25 f.



Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat127

II. Der Staat und seine Entwicklung heute Der Name „Staat“ selbst findet seine Wurzel nicht im Lateinischen, sondern im indogermanischen Wort „sta“, mit dem Wörter gebildet werden, deren Inhalt mit „Stehen“ und „Stellen“ zusammenhängt58. Auch das vom Lateinischen stare gebildete Wort status bedeutet Art, Ort und Handlung des Stehens. Damit war aber in der Antike nicht der Begriff Staat gemeint. Die Griechen verwendeten dafür das Wort polis und identifizierten den Staat mit der Stadt59. Auch für die Römer ist der Staat die Gemeinde der Vollbürger, die civitas und das der Volksgemeinde Gemeinsame, die res publica oder der populus romanus; das Wort status wurde aber für die Verfassung des Staates gebraucht, so wenn Ulpian D. 1, 1, 1, 2 sagt: publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat. Darunter wurde auch ein Zustand verstanden, der den Genitiv verlangt.60 In diesem Sinne findet sich auch im Mittelalter die Verbindung status rei publicae, status imperii und status regni, wodurch das Wort status zu einem Grundwort von Recht und Politik wird. Wir stoßen damit auf Bereiche, in welchen schon die Indogermanen Wörter der sta-Familie verwendeten. Juristisch wurde in der Folge unter status ein Rechtszustand oder die Rechtsfähigkeit von Personen verstanden; später wird status als Bezeichnung für Stand und Ordnung verwendet. Seine Bezogenheit auf die Politik erhielt der Begriff von dem von Niccoló Machiavelli geprägten Begriff der ratio status. In der Folge wird der Staat nicht als Gemeinschaft, sondern als Herrschaft gedacht61, die der Monarch ausübt. Damit tritt das auf das imperium der Römer zurückgehende Staatselement Staatsgewalt in den Vordergrund. Wer vom Staat spricht, verwendet einen Begriff mit einer alten Geschichte, die sich stets mehr oder weniger verjüngt fortsetzt. Der Staat ist der dem Einzelnen und der Gesellschaft übergeordnete Herrschaftsverband, der Höchstfunktion erfüllt. Diese Höchstfunktion besteht in der Ausübung jener Staatsfunktion, welche durch das Rechtsdenken 58  J. Pokorny, Indogermanisches etymologisches Wörterbuch, Francke, Bern, 1959, Sp. 1004 ff. 59  G. Jellinek, a. a. O., S.  129 ff. 60  Siehe A. O. Meyer, Zur Geschichte des Wortes „Staat“, Die Welt als Geschichte, 1950, S. 229 ff.; W. Suerbaum, Vom antiken zum frühmittelalterlichen Staatsbegriff, Münster, 1961 und P.-L. Weinacht, Staat – Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert, Berlin, 1968 sowie E. Meyer, Vom griechischen und römischen Staatsgedanken, in: Eumusia, Festgabe für Ernst Howald, Eugen Rentsch, Zürich, 1947, S. 30 ff. 61  K. Bosl, Herrscher und Beherrschte im deutschen Reich des 10.–12. Jahrhunderts, in: derselbe, Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa, Welt, München / Wien, 1964, S.  137.

128

Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat

der Römer eine besondere Prägung erfahren hat, nämlich durch die Ausübung der Staatsgewalt, die auf das imperium der Römer zurückzuführen ist. Die Primärfunktion des Staates in der Ausübung der Staatsgewalt besteht in der Herstellung und Aufrechterhaltung von Ruhe, Ordnung und Sicherheit; wo diese Erfüllung des Rechts- und Machtzweckes einem Staat nicht gelingt, gefährdet er seine Existenz. Thomas Hobbes hat in seinem 1651 erschienenen Werk „Leviathan“ sehr deutlich den gegenseitigen, bedingenden und bedingten Zusammenhang von Gehorsamspflicht des Bürgers und Schutzpflicht des Staates verdeutlicht und dort, wo der Staat dieser seiner primären Schutzpflicht nicht mehr nachzukommen imstande ist, den Staat als „sterblichen Gott“62 bezeichnet, da der Staat nur solange den Gehorsam seiner Bürger erwarten kann, solange er auch imstande ist, diese zu schützen. Je mehr der Staat in seiner Geschichte demokratisiert wurde, desto mehr haben die Aufgaben des Staates zugenommen, die heute neben dem Rechtsund Machtzweck auch den Kultur- und Wohlfahrtszweck erfassen, denn der Staat der Gegenwart ist, um mit Ferdinand Lassalle zu sprechen, kein sogenannter Nachtwächterstaat, wie er ihn am 12. April 1862 in Berlin im Handwerkerverein der Oranienburger Vorstadt in einer Rede über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes bezeichnet hat63, sondern er ist ein Mehrzweckeapparat; er ist auch Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsstaat geworden und soll all diese Aufgaben auch als Rechtsstaat, nämlich in Gesetzesbindung alles Staatshandelns erfüllen.64 Die Folge dieser Mehrzweckeverwendung des Staates und der Gesetzesbindung allen Staatshandelns ist die dauernde Notwendigkeit der Gesetzgebung, welche zu einer Gesetzesflut65 führt, die vom einzelnen Normadressaten im Staat nicht mehr mitverfolgt werden kann und daher nur zur äußeren Rechtssicherheit, aber meist zur personlichen Rechtsunsicherheit führt. Unter diesen Umständen entsteht auch nur schwer eine eigene Rechtsgesinnung und, wenn diese Unübersichtlichkeit auch schon auf Verfassungs62  T.

Hobbes, Leviathan, 1651, 21. Kap. in F. Lassalle, Gesammelte Reden und Schriften, herausgegeben und eingeleitet von Eduard Bernstein, Band II, Erster Halbband, Berlin, 1920 / 1921, S. 195. 64  Dazu H. R. Klecatsky, Der Rechtsstaat zwischen heute und morgen, Reihe Konfrontationen 2, Wien / Freiburg / Basel 1967, bes. S. 13 ff. und derselbe, Die verfassungsrechtliche Problematik des modernen Wirtschaftsstaates, De Gruyter, Graz, 1968. 65  T. Mayer-Maly, Gesetzesflut und Rechtskenntnis, Pustet, Salzburg  / München, 1969. 63  Abgedruckt



Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat129

ebene gegeben ist, ein Mangel an Verfassungsbewußtsein66; gefährlich kann eine solche Situation für einen Staat besonders dann werden, wenn in ihm dem Volk auch noch das Geschichtsbewußtsein mangelt; auch das kann man von den Römern lernen, welche ein klares Rechts- und Traditionsbewußtsein hatten, das sie auch mit einem bestimmten Verständnis für Tugendhaftigkeit zu verbinden wußten. Unserer Zeit fehlt dies, obgleich gerade die Demokratie im Staat ein Wertdenken verlangen sollte. Es ist nämlich falsch, die Demokratie, d. h. die Möglichkeit der Selbstbestimmung des Volkes, als Selbstwert anzusehen; die Demokratie ist vielmehr ein Mittel zum Zweck, und der verlangt eine entsprechende Wertentscheidung durch das Volk und innerhalb dieses von jedem Einzelnen. Ich stimme daher Clemens-August Andreae zu, der in seinem sehr lesens- und bedenkenswerten Vortrag über „Demokratie und Marktwirtschaft – ein Kuppelprodukt?“ im Jänner 1989 beim 1. Symposium der informedia-Stiftung erklärte: „Die Demokratie stellt lediglich ein Mittel dar zur Verwirklichung bestimmter Wertvorstellungen der Gemeinschaft“67. Wer die Demokratie im Staat verlangt, übernimmt daher eine große Verantwortung. Leider müssen wir aber feststellen: Je mehr die Einzelnen im Staat die Demokratisierung von einer immer größeren Zahl an Lebensbereichen und vom Staat immer mehr Leistungen verlangen, desto mehr nimmt die Demokratiemüdigkeit zu und das Staatsinteresse ab. Der Staat wird vielmehr ein mehr oder weniger gut funktionierender Mehrzweckeapparat, von dem man sich bei einem Minimum an eigenem Einsatz ein Maximum an Leistung erwartet. Die Beziehung zwischen dem Einzelnen und seinem Staat wird zur Soll / Haben-Rechnung, wobei das Verlangen groß und die Pflicht klein geschrieben werden. So wie in positivistischer Sicht der Staat als Rechts- und Gesetzesstaat zum bloßen Rechtswegestaat wird, in dem die Rechtsform die Voraussetzung für das Staatshandeln und der Gesetzesinhalt der bloßen politischen Entscheidung anheimgestellt und oft auch dem tagespolitischen Kauf- und Tauschgeschäft ausgeleifert wird, so besteht die Beziehung von Staat und Einzelnem in einem bloßen Normieren, das oft nicht mit einem entsprechenden Motivieren einhergeht. Leistungen und Opfer wird aber der Einzelne besonders in Krisenzeiten und bei Grenzsituationen nur dann erbringen, wenn er nicht nur weiß, was er zu tun hat, sondern auch, warum und wozu er es zu tun hat. 66  K. Korinek, Verfassungsbewußtsein in Österreich, Schriftenreihe Niederösterreichische Juristische Gesellschaft, Heft 33 / 34, St. Pölten, Wien, 1983. 67  C.-A. Andreae, Demokratie und Marktwirtschaft – ein Kuppelprodukt?, Verlag Bercker GmbH, Kevelaer, 1989 S. 14, Neudruck: Aus Wirtschaft und Gesellschaft, ausgewählte Publikationen von Clemens-August Andreae in memoriam, hrsg. von Franz Aubele, Duncker & Humblot, Berlin, 1994, S. 238.

130

Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat

Normierung und Motivierung sollten auch im heutigen demokratischen Mehrzweckestaat möglichst miteinander einhergehen; im römischen Staat war dies lange Zeit möglich, und wenn wir uns an den Begriff virtus, an die römischen Tugenden und politischen Begriffe erinnern, waren diese ethisch geprägt. Wer wagt es heute noch, im privaten und öffentlichen Leben von Tugenden zu sprechen? Schon Paul Valery hat vor dem 2. Weltkrieg in seiner Rede vor der Französischen Akademie, erstmals erschienen 1935, Zweitveröffentlichung 1957, erklärt: „Tugend, meine Herren, das Wort Tugend ist tot oder mindestens stirbt es aus … den Geistern von heute bietet es sich nicht mehr als unmittelbarer Ausdruck einer vorgestellten Wirklichkeit unserer Gegenwart dar … Ich selber muß gestehen: ich habe es nie gehört, oder vielmehr – was viel schwerer wiegt – ich habe es immer nur mit dem Vorzeichen der Seltenheit und in ironischem Sinne erwähnen hören in den Gesprächen, die man in der Gesellschaft führt. Das könnte bedeuten, daß ich eben nur in schlechter Gesellschaft verkehre, setzte ich nicht hinzu, daß ich mich auch nicht erinnere, es in den meistgelesenen oder höchstgeschätzten Büchern unserer Tage angetroffen zu haben. Endlich ist mir auch keine Zeitung bekannt, die es druckt, noch fürchte ich, es außer in komischer Absicht zu drucken wagte“68. Paul Valery meint schließlich, so sei es dahin gekommen, daß das Wort „Tugend“ und „tugendhaft“ nur noch im Katechismus – der jüngst erschienene Katechismus der katholischen Kirche gibt Valery mit Erwähnungen an vielen Stellen recht69 –, in der Akademie, der Poesie und in der Operette anzutreffen ist. Josef Pieper bezeichnete diese Diagnose von Paul Valery in seiner Schrift „Über das christliche Menschenbild“ als „ganz unbestreitbar richtig“70 und erkannte damit eine Zeitsituation an, welche der protestantische Theologe Walter Künneth in seinem Werk über die christliche Ethik des Politischen treffend als „Politik zwischen Dämon und Gott“71 bezeichnet hat. Ich selbst habe mich diesem Pessimismus über die Ethik nicht angeschlossen und nach meiner Aufnahme in die Accademia Patavina di scienze, lettere ed arti meinen am 20. November 1983 in Padua zu Beginn des 385. akademischen Jahres dieser Paduaner Akademie gehaltenen Inaugurations68  Europäische Revue, Bd. 11, 1935, S. 657  ff. und Œuvres, Bd. 1, Gallimard, Paris, 1957, S. 937 ff. 69  Katechismus der katholischen Kirche, Verlag Neue Stadt, München 1993, siehe das thematische Register S. 810 f. 70  J. Pieper, Über das christliche Menschenbild, 7. Aufl. Kösel, München, 1964, S. 18. 71  W. Künneth, Politik zwischen Dämon und Gott, eine christliche Ethik des ­Politischen, Lutherisches Verlagshaus, Berlin, 1954.



Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat131

vortrag der Geschichte der politischen Tugenden und der Situation des heutigen Staates gewidmet72 und diesem 1986 meine Schrift „Ethik und Staat“73 folgen lassen. Ich folge so den mahnenden Worten, die im Nachruf auf John Adams und Thomas Jefferson, den Gründungsvätern der USA, 1826 zu lesen waren: „Die Republik wird aufhören zu bestehen, wenn sie aufhört, sich der Tugenden ihrer Gründer zu erinnern, sie zu verehren und nachzuahmen!“74 III. Forderungen an den Staat unserer Zeit Ohne einer ethischen Grundhaltung, der möglichst allgemeinen Anerkennung von Grundwerten75 des öffentlichen und privaten Lebens, vor allem im Hinblick auf mannigfache Formen heutiger Pluralität, und ohne einem Gemeinwohldenken76 wird auch der moderne Staat sich in seiner Existenz schwer tun. Dies verlangt aber sowohl auf Seiten des Staates, als auch des demokratischen Rechtsstaates, wie beim Einzelnen, ein bestimmtes Maß an Aufgeschlossenheit für dementsprechende Zeiterfordernisse, für die das Rechtsdenken der Römer nicht bedeutungslos sein kann; als solche Erfordernisse im Staat unserer Zeit wären beispielsweise besonders zu nennen: 1) Das Modell der gemischten Verfassung77 zu beachten, in der sich verschiedene Elemente in der Organisation des Staates verbinden, nämlich ein quasi konservativ monarchisches in der Staatsrepräsentation der Staatsspitze, etwa eines Staatsoberhauptes78, ein aristokratisches Prinzip, das sich in 72  H. Schambeck, Etica e stato – un contributo alla storia delle virtú politiche e l’odierna situazione dello stato; in: Atti e Memorie dell’Accademia Patavina di scienze, lettere ed arti, giá Accademia dei ricoverati anno accademico 1983–84 – CCCLXXXV della fondazione volume XCVI – parte I, Padova, 1984, S. 25 ff. 73  H. Schambeck, Ethik und Staat, Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 500, Duncker & Humblot, Berlin, 1986. 74  M. D. Peterson, The Jefferson Image in the American Mind, Oxford University Press, New York, 1962, S. 7. 75  Dazu H. Schambeck, Die Grundwerte des öffentlichen Lebens in: Objektivierung des Rechtsdenkens, Gedächtnisschrift für Ilmar Tammelo, hrsg. von Werner Krawietz, Theo Mayer-Maly und Ota Weinberger, Duncker & Humblot, Berlin, 1984, S.  321 ff. 76  Beachte J. Messner, Das Gemeinwohl, Idee, Wirklichkeit, Aufgaben, 2. Auflage, Fromm, Osnabrück, 1968. 77  Siehe R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 10. Auflage, Beck, München, 1988. S.  152 ff. sowie  301 ff. 78  Siehe dazu H. Schambeck, Zum Amtsverständnis des österreichischen Bundespräsidenten, in: Verantwortung in unserer Zeit, Festschrift für Rudolf Kirchschläger, hrsg. von Alois Mock und Herbert Schambeck, Verl. Österreich. Staatsdruckerei, Wien, 1990, S. 181 ff.

132

Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat

der Ministerverantwortlichkeit79 dokumentiert und das demokratische Prinzip, das sich in parlamentarischen Einrichtungen80 ergänzt durch plebiszitäre Möglichkeiten, wie Volksbefragung, Volksbegehren und Volksabstimmung81, zeigt. In einer demokratischen Wahl sollte der demokratische Auftrag zum Handeln gegeben werden und in ihr nicht bloß die jeweilige Standortbestimmung von Streitparteien gesehen werden; zumal es nämlich dem Einzelnen im Staat nicht interessiert, wer gegen wen ist, sondern wer für ihn da ist und an wen er sich wenden kann.82 Aus dieser Sicht kann 2)  nur dem zugestimmt werden, was schon John D. Rockfeller in seinem Credo vom 3. Mai 1941, in Stein gehauen am Rockefeller Center an der 5th Avenue in New York nachlesbar, betont hat, nämlich „… daß jedes Recht eine Verantwortung in sich schließt, jede Möglichkeit eine Verpflichtung, jeder Besitz eine Aufgabe … daß das Gesetz für den Menschen und nicht der Mensch für das Gesetz gemacht wurde; daß die Regierung der Diener des Volkes und nicht sein Herr ist“83. Der Staat beinhaltet in seiner Ordnung daher eine Gemeinwohlverpflichtung84 und ist kein Laden, von dem sich jeder nach Bedarf bedienen kann, jede Form und Möglichkeit der Bereicherung auf dem Weg der Korruption85 ist daher abzulehnen: dazu gilt es nämlich zu beachten, daß 79  Vgl. H. Schambeck, Die Ministerverantwortlichkeit, Karlsruher Juristische Studien, Nr. 101, Karlsruhe 1971, sowie K. Korinek, Ministerverantwortlichkeit, Heft 1 der Schriftenreihe Recht – Politik – Wirtschaft, Verlag Orac. Labovitz, Wien, 1986. 80  Siehe H. Widder, Parlamentarische Strukturen im politischen System – Zu Grundlagen und Grundfragen des österreichischen Regierungssystems, Duncker & Humblot, Berlin / München, 1978. 81  Dazu H. Schambeck, Repräsentative und plebiszitäre Komponenten im demokratischen Verfassungsstaat Osterreich, in: „MNHMH“, Gedächtnisschrift für Michael A. Dendias, hrsg. von Jean Rivero u. a., Athen-Paris, 1978, S. 209 ff., F.Koja, Allgemeine Staatslehre, Wien, 1993, S. 85 ff., sowie P. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, Springer, Wien / New York, 1986, S. 210 f. 82  H. Schambeck, Ansprache aus Anlaß der Angelobung des neugewählten Bundespräsidenten Dr. Thomas Klestil, in: Stenographisches Protokoll der 14. Bundesversammlung der Republik Österreich am 8. Juli 1992, Wien, 1992, S. 4 ff. 83  J. D. Rockefellers Credo, 3 Mai 1941, in: Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, hrsg. von Herbert Schambeck, Helmut Widder und Marcus Bergmann, Duncker & Humblot, Berlin, 1993, S. 478. 84  J. Messner, Das Naturrecht, 5. Auflage, Tyrolia-Verl., Innsbruck  / Wien / München, 1966, S. 571. 85  T. Mayer-Maly, Grundsätzliche Überlegungen zur Wirksamkeit des Rechts bei der Bekämpfung von Korruption, in: Korruption und Kontrolle, hrsg. von Christian Brünner, Böhlau, Wien, 1981, S. 503 f.



Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat133

3)  die Autorität86 in der Zukunft der Politik noch mehr als bisher nicht vom vorgesprochenen Wort, sondern vom vorgelebten Beispiel bestimmt sein wird. Jede Ordnung war immer von Autoritäten bestimmt; waren dies in einer Zeit hierarchischer Ordnung allein in der Position begründet, so werden diese in einer mehr partnerschaftlichen Ordnung auch in der Argumentation begründbar sein müssen; es bedarf heute Autoritäten, welche befragbar und antwortfähig sind. 4)  Die Gewalt des Staates hat nicht allein in Form monopolischer Machtausübung, sondern dialogfähiger Autorität87 erlebbar zu sein, in der sich Normierung durch das Recht und Motivierung im Staat einander ergänzen und so eine Rechtsakzeptanz durch den Einzelnen im Staat möglich ist.88 5)  Die Aufgaben des Staates zur Beschränkung seiner Allmacht sollten in öffentliche Angelegenheiten89, die er selbst hoheitsrechtlich erfüllt, und private Aufgaben, welche für die Allgemeinheit auch von privater Seite erledigt werden könnten, aufgeteilt werden, und nach Möglichkeit sollte bei der Beschlußfassung jedes Gesetzes auch die Frage nach den mit seiner Ausführung verbundenen Kosten beantwortet werden.90 6) Es sollte mehr als bisher das Maß an detaillierter Gesetzesregelung durch den Gesamtstaat überlegt und in einem Bundesstaat der Gesetzgebung der Länder die entsprechende Ausführungsgesetzgebung oder Verfassungsund Gesetzesautonomie überhaupt eingeräumt werden und daneben von den Möglichkeiten der Regionalisierung und Föderalisierung91 oder ein einem Einheitsstaat von der Möglichkeit der Dezentralisierung Gebrauch gemacht werden. Jede Tendenz des Partikularismus und Separatismus sei aber in diesem Zusammenhang abgelehnt und jede Initiative zur Begründung einer Stärkung des Heimatbewußtseins und des Bewußtseins, Solidargemeinschaft zu sein, begrüßt. 86  T. Eschenburg, Über Autorität; H. Schambeck, Ethik und Staat, S. 83 ff. sowie R. Zorn, Autorität und Verantwortung in der Demokratie, Verlag Würzburg, Würzburg, 1960. 87  Vgl. H. Schambeck, Ethik und Staat, S. 188 ff. 88  Dazu J. W. Pichler, Rechtsakzeptanz, in: Österreichs Rechtstheorie und Rechts­ praxis um die Jahrtausendwende, hrsg. von Walter Barfufl, Manzsche Wien, Wien, 1994, S.  39 ff. 89  H. Peters, Öffentliche und staatliche Aufgaben, in: Festschrift für Hans Carl Nipperdey zum 70. Geburtstag, C. H. Beck, München/Berlin, 1965, S. 878 ff. 90  Vgl. H. Schäffer, Rationalisierung der Rechtssetzung, in: Theorie der Rechtssetzung, hrsg. vom demselben, Wien, 1988, S. 199 ff. 91  Dazu Föderalismus und Regionalismus in Europa, hrsg. von Fritz Ossenbühl, Baden-Baden, 1990.

134

Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat

7)  Wie weit die Kompetenz eines Staates zur Rechtssetzung aber immer reichen möge, stets sollte beachtet werden, daß die Quantität der Gesetze nicht auf Kosten ihrer Qualität geht und die Gesetzesflut nicht zur Rechtsunsicherheit führt.92 Dazu bedarf es der Geschlossenheit und Übersichtlichkeit einer Verfassungsrechtsordnung93, die nicht allein in der Regelung der Staatsorganisation bestehen kann, sondern auch einen Katalog von Grundrechten und Grundpflichten94 enthält und die Zwecke und Zielsetzungen des Staates erkennen läßt. 9)  Aufgabe einer solchen Verfassungsrechtsordnung müßte es sein, alle politischen Kräfte eines Gemeinwesens zu integrieren, die Staatsgewalt zu konstituieren, auf die Ordnungs- und Sicherheitsansprüche eine Antwort zu geben und nötigenfalls Sozialhilfe echt Bedürftigen zukommen zu lassen. Eine solche Verfassungsrechtsordnung verlangt zur Erfüllung dieser ihrer Repräsentations-, Integrations-, Antwort-, Sozialkorrekturfunktion95. 10) ein entsprechendes Freiheitsverständnis96, daß nämlich einerseits der Einzelne nicht allein die Freiheit gewährt erhält, sondern dazu auch die politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen zu ihrer Nutzung, wozu ich als existentielles Grundrecht den Umweltschutz97 zählen möchte, denn welche Bedeutung hätte jeder Fortschritt, wenn er 92  Siehe H. Schambeck, Das Gesetz und seine Funktion heute, in: Aus Österreichs Rechtsleben in Geschichte und Gegenwart, Festschrift für Ernst C. Hellbling zum 80. Geburtstag, hrsg. von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg, Berlin, 1981, S. 56 f. 93  Dazu W. Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Zürich, 1945, Neudruck Darmstadt, 1971; F. Koja, Allgemeine Staatslehre, S. 105 ff.; F. Ermacora, Allgemeine Staatslehre, Erster Teilband, Berlin, 1970, S. 431 ff. sowie P. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, S. 93. 94  Siehe H. Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für Johannes Messner zum 85. Geburtstag, hrsg. von Alfred Klose u. a., Berlin, 1976, S. 493 ff. 95  H. Schambeck, Der Verfassungsbegriff und seine Entwicklung, in: Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag, hrsg. von Adolf Merkl, René Marcic, Alfred Verdroß und Robert Walter, Verlag Franz Deuticke, Wien, 1971, S. 229. 96  H. Schambeck, Von der Freiheit, die wir meinen, Rede, gehalten vor der Eröffnung der 96. Cartellversammlung der katholischen Studentenverbindungen der Bundesrepublik Deutschland am 10. Juni 1981 in Bochum; veröffentlicht in: Freiheit und Autorität als Grundlage der modernen Demokratie, Würzburger Studien der Soziologie, Heft 7, Würzburg, 1982, S. 251 ff.; Neudruck in: Recht – Glaube – Staat, Festgabe für Herbert Schambeck, hrsg. von Walter Kaluza u. a., Österr. Staatsdruckerei, Wien, 1994, S. 154 ff. 97  Siehe H. Schambeck, Die Grundrecht im demokratischen Verfassungsstaat, S. 486 ff. sowie H. H. Klein, Ein Grundrecht auf saubere Umwelt?, in: Im Dienst an Recht und Staat, Festschrift für Werner Weber zum 70. Geburtstag, hrsg. von Hans Schneider und Volkmar Gütz, Duncker & Humblot, Berlin, 1974, S. 643 ff.



Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat135

nicht mit der Gesundheit der Menschen verbunden, sondern vielmehr auf ihre Kosten erkauft werden würde;98 all dies verlangt 11) sowohl vom Staat als auch von jedem Einzelnen ein bestimmtes Freiheitsverständnis, nämlich daß die Freiheit des Einen dort endet, wo die des Nächsten beginnt und daß es letztlich nicht darauf ankommt, eine Freiheit wovon zu haben, sondern eine Freiheit wozu. Die Freiheit ist nämlich auch eine Verpflichtung.99 So enden Gedanken über antikes römisches Rechtsdenken und modernen Staat letztlich beim Bild des Menschen, denn zwischen Menschenbild und Staatsform besteht ein enger Zusammenhang, den ich in meinem Festvortrag aus Anlaß der Eröffnung der 80. Generalversammlung der Görres-Gesellschaft am 1. Oktober 1977 in der Aula der Innsbrucker Universität bereits behandelt habe100. Worauf es mir heute ankommt, ist zu verdeutlichen, daß es letztlich auf das erkannte und verstandene Bild des Menschen ankommt, für den einerseits Verantwortung tragen Antwort geben verlangt und der sich über sein Wissen ein Gewissen machen sollte; die beiden lateinischen, auch in ihrem Sinn überlappenden Worte scientia und conscientia verdeutlichen dies. Wie dies geschehen kann, dazu hat Papst Johannes Paul II. kürzlich in seiner Moralenzyklika „Veritatis splendor“ (Der Glanz der Wahrheit) ein Beispiel gegeben, als er sich über unsere Zeit ein Gewissen machte, indem er, und dies gilt auch für Ethik im Staat; warnt: „… vor jeder Art von Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch dem freiwilligen Selbstmord; was immer die Unantastbarkeit der menschliche Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder seelische Folter und der Versuch, psychischen Zwang auszuüben; was immer die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Lebensbedingungen, willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei. Prostitution, Mädchenhandel und Handel mit Jugendlichen, sodann auch unwürdige Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird: all diese und andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande, sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie im höchsten Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers“ (Nr. 80). Papst Johannes Paul II geht es um die ungekürzte, also auch nicht verideologisierte katholische Lehre von der Sittenordnung, die er nicht allein 98  H. Schambeck, Die Grundrecht im demokratischen Verfassungsstaat, S. 445 ff., insbes. S.  486 ff. 99  H. Schambeck, Von der Freiheit, die wir meinen, in: Recht – Glaube – Staat, S. 157. 100  H. Schambeck, Menschenbild und Staatsform, Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1977, Köln, 1978, S. 26 ff.

136

Antikes römisches Rechtsdenken und moderner Staat

auf das private, sondern auch auf das öffentliche Leben, nämlich die Politik bezieht. So lehnt er in gleicher Weise „den Diebstahl, den Geschäftsbetrug, ungerechte Löhne, ungerechtfertigte Preiserhöhungen und Aneignung von Gesellschaftsvermögen, Steuerbetrug, Scheck- und Rechnungsfälschungen und Verschwendung“ ab (Nr. 100) und tritt für die „Wahrhaftigkeit in den Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten, Unparteilichkeit im Dienst am Staat, Achtung der Rechte auch der politischen Gegner, Schutz der Rechte der Angeklagten gegen summarische Verfahren und Verurteilungen, richtige und gewissenhafte Verwendung der öffentlichen Gelder …“ ein (Nr. 101). Gleichzeitig warnt er gerade nach dem Niedergang der Ideologien in verschiedenen Ländern, wobei er den Marxismus besonders nennt, vor der Gefahr der Verbindung zwischen Demokratie und ethischem Relativismus;101 denn, wie Papst Johannes Paul II betont, verwandelt sich eine Demokratie ohne Werte, wie die Geschichte beweist, „leicht in einen offenen oder hinterhältigen Totalitarismus“ (Nr. 101). In einer Zeit, in der man sich vor allem in Mittel- und Osteuropa aber auch in anderen Teilen der Welt um die Bewältigung der Folgen des Totalitarismus bemüht, kommt es darauf an, sich der großen Verantwortung für die Möglichkeiten bewußt zu sein, welche die Demokratie bietet und sich zu bemühen, die Rechts- und Staatslehre nicht als bloße Rechts- und Staatsformenlehre, sondern auch als Gelegenheit zur Verwirklichung der Rechts- und Staatsethik zu nützen. Der Zusammenhang von Menschenbild und Politik wird dabei ebenso deutlich, wie die Verantwortung für die Möglichkeiten des Rechts, welche ebenso zur Wahrung der Würde des Menschen wie zur Vernichtung des Menschen genutzt werden können. Die Wurzeln des abendländischen Rechtsdenkens, zu denen die Roms zählen, mahnen auch zu dieser Konfrontation und bleiben eine Wegweisung auch für die Zukunft. Theodor Heuss hat es schon in seiner Rede am 26. September 1950 gesagt: „Von drei Hügeln ging Europa aus: von der Akropolis, dem Capitol und Golgatha“.102 Wir sollten diese Tradition auch auf dem Weg des sich immer mehr um Einigung bemühenden Europas nicht vergessen, im Gegenteil sich immer neu darauf besinnen, wie dies die hier in Rom am 4. November 1950 zustande gekommene Menschenrechtskonvention tat. Sie setzt sich ein für die Wahrung „der Gerechtigkeit und des Friedens“, Werte, die uns schon im Alten Rom entgegentraten, und für „ein gemeinsames Erbe an geistigen Gütern“103; sie alle sollten uns Verpflichtung bleiben! 101  Ebenso neuestens Papst Johannes Paul II in der Enzyklika Evangelium vitae Nr. 70. 102  Zitiert nach E. Genzmer, Festschrift für Rudolf von Laun, Girardet, Hamburg, 1953, S. 499. 103  Europa-Recht, 11. Auflage, München, 1991, S. 407.

Ethik und Staat Zur Geschichte der politischen Tugenden und Situation des Staates heute* „The Republic will cease to be, when it ceases to remember, to revere, and to imitate the virtues of its founders“1. Dieses Zitat stammt aus einer Gedächtnisrede an John Adams von Thomas Jefferson, Gründungsvätern der Vereinigten Staaten Amerikas. Unabhängig von dem einzelnen, hier nach­ einander behandelten Staat und abgesehen von dessen Staatsform, gelten diese Worte für jeden von ihnen, denn sie drücken das Verhältnis von Ethik und Staat aus. I. Der Anspruch des Rechts und des Gewissens Wer über Ethik und Staat redet, der bildet bewusst ein Gegensatzpaar: Einem moralischen Bedürfnis wird das Bedürfnis der Ausübung der Herrschaftsgewalt gegenübergestellt. Der Staat ist die hoheitliche, dem Einzelnen sowie der Gesellschaft übergeordnete Struktur, die höchste Aufgaben erfüllt. Diese höchsten Aufgaben des Staates äußern sich darin, eine Ordnung für ein bestimmtes Territorium und dessen Bevölkerung festzulegen und aufrecht zu erhalten, eine Ordnung, die vom Staat getragen wird. Daraus folgt, dass der Staats keinesfalls Selbstzweck ist und seine Macht, die als Begriff im römischen Rechtsgedanken, der als imperium bezeichnet wird, begründet liegt, muss eine Aufgabe erfüllen, die in einem demokratischen Staat vom Volk ausgeht, während sie in einem autoritären Staat von einer Person oder einer Gruppe festgelegt wird, ohne dass einzelne Personen daran irgendeine Entscheidungsbeteiligung hätten. Die beiden genannten politischen Formen, die ihren Ursprung in der demokratischen oder in der autoritären Hoheit haben, können in den *  Vorlesung zur Eröffnung des 385. akademischen Jahres 1983 / 84 der Accademia Patavina di Scienze Lettere ed Arti in Padua am 20. November 1983, aus dem ­Italienischen übersetzt von Univ.-Prof. Dr. Antonio Incampo. 1  Thomas Jefferson an John Adams, zitiert von M.  D. Peterson, The Jefferson Image in the American Mind, New York 1962, S. 7.

138

Ethik und Staat

Staatsformen Republik oder Monarchie auftreten, und sie können, wenn sie wollen, den Staat in seinem Hoheitsanspruch an moralischen Prinzipien messen. Beide, Staat und Moral, erleben sowohl als Begriff als auch in ihrer Anwendung eine evolutionsbedingte Konditionierung, da sie ursprünglich anders gedacht waren, besonders hinsichtlich der Zeit- und der Ortsbedingungen. Derart betrachtet, ist die Beziehung Ethik und Staat nicht nur Teil der politischen, sondern auch der philosophischen Geschichte. Die Ethik zeigt sich in moralischen Bedürfnissen: sowohl in der individuellen Moral des Einzelnen in seiner Privatsphäre, als auch in der gesellschaftlichen Moral, die den Einzelnen mehr auf das öffentliche Leben hin orientiert, sie betrifft den Bewußtseinsbereich der Person, die entweder Sender oder Empfänger von Normen ist. Das Verhältnis zwischen Staat und Norm wird vom Recht bestimmt, und Hans Kelsen, Autor der Reine Rechtslehre, ist von einer Übereinstimmung von Staat und Recht2 ausgegangen, nach der der Staat Recht ausübende Funktion erfüllt. Aber es war nur Hans Kelsen, der das positive Recht in dieser Weise gefasst hat, da er überzeugter Rechtspositivist war; meiner Überzeugung nach ist dies eine zu eingeengte Sichtweise. Die Staatsordnung wird nicht nur durch das positive Recht bestimmt, sondern auch durch vorpositive Normen des sozialen und individuellen Lebens, zu denen sicherlich auch das Naturrecht gehört, das grundlegend ist für die Freiheit und die Würde jeder Person, und dadurch zum Grundsatz wurde, um eine Staatsordnung zu gründen und zu bewerten. Dies wird besonders im Bereich des Verfassungsrechts deutlich, welches die Staatsordnung ganz dezidiert begründet und auf dem die übrige Rechtsordnung aufgebaut ist. Damit eine einmal in Kraft getretene Staatsordnung wirksam werden kann, bedarf es ihrer juristischen Anwendung von Seiten der zuständigen Organe, der Erfüllung dieser Normen im gesetzgebenden, gerichtlichen, und im administrativen Bereich, sowie der Verinnerlichung als geltendes Recht jedes einzelnen Bürgers, der ja letztlich der Adressat der Normen ist. Die juristische Anwendung und die Integration in das Rechtssystem sind die Voraussetzung jeder Wirksamkeit des Rechts und damit der gesamten Staatsordnung; beide sind außerdem unter ethischen Gesichtspunkten mitbestimmend, insofern als jede Pflichterfüllung letztendlich notwendig des Bewußt­ seins bedarf, dem nicht ohne Beziehung zu ethischen Kategorien genüge geleistet werden kann. Der Bereich Ethik und Staat wird so gesehen, von der Übereinstimmung bis zur Unterschiedlichkeit ausgedehnt, beinhaltet aber dennoch eine Pola2  H.

Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1960, hier besonders Seite 283 ff.



Ethik und Staat139

risierung, die von Mal zu Mal überwunden werden muss3. Im Idealfall erfüllt der Staat ein moralisches Bedürfnis; in diesem Falle bilden das Bedürfnis nach Recht und das Bedürfnis nach Gewissen eine Einheit. Das andere Extrem bildet der Fall, dass die beiden Elemente im Widerspruch zueinander stehen, und zum Konflikt führen, der sich in der Oppositionshaltung des Einzelnen gegen den Staat äußert4. Auf lange Sicht kann kein Staat gegen die moralische Überzeugung seiner Bürger existieren; aber wo es dennoch dazu kam, wurde die erzwungene Auferlegung des Rechtssystems an eine staatliche Erziehung gebunden, die mit Manipulation arbeitet, zu Gunsten eines Einzelnen und dessen Staat und seinen Herrschern zu liebe, davon berichten zahlreiche Fälle der vergangenen und der gegenwärtigen Geschichte. Die Psychagogie und die Pädagogik des Kommunismus5 sind nur eines von vielen Beispielen, die hier genannt werden können. Der größte Teil der Staaten versucht wenigstens ein „ethisches Minimum“ zu erhalten6. Als Staat ethische Werte anzunehmen und anzuerkennen, ist jedoch ein Problem von Politik und von Klugheit, so wie es das Problem der Überzeugung und der Zivilcourage für den Einzelnen mit seinem mehr oder weniger starken Gewissen ist. Bei der Gelegenheit fällt die von Algernon Sidney in seinen in der dritten Auflage in London erschienenen Discourses Concerning Government (1751) gemachte Beob­ achtung ein: „This Virtue is the dictate of Reason, or the remains of Divine Light, by which men are made beneficent and beneficial to each other“7. Die Tugend beinhaltet einen individuellen und einen sozialen Aspekt: Der individuelle Aspekt einer ganz ausgereiften Tugend kann zur vollen Entfaltung der Persönlichkeit eines Individuums beitragen, während der soziale Aspekt einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Sicherung des Friedens leisten kann. Beide Aspekte gehen von der Anerkennung des Menschen in seiner Natur als Person aus, die einerseits auf der Freiheit und der Würde 3  Vgl. A. Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, in Recht und Staat, Heft 282–283, Tübingen, 1964. 4  Siehe dazu: K. Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt, Breslau 19116; Widerstand gegen die Staatsgewalt, Breslau 1916; Widerstand gegen die Staatsgewalt. Dokumente der Jahrtausende, hrsg. von F. Bauer, Frankfurt a. M. 1965; K. F. Bertram, Widerstand und Revolution, Berlin 1964; H. Schambeck, Widerstand und Politisches Recht, Gedanken zu Art. 20 Abs. IV des Bonner Grundgesetzes, in: Menschen im Entscheidungsprozess, hrsg. von A. Klose und R. Weiler, Wien / Freiburg / Basel 1971, S.  329 ff. 5  G. Möbus, Psychagogie und Pädagogik des Kommunismus, Köln  /  Opladen 1959. 6  G. Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe (2), Berlin 1908, S. 45. 7  A. Sidney, Concerning Government (3), London 1751, S. 212.

140

Ethik und Staat

des Menschen basiert, und andererseits das Individuum mit der Gemeinschaft verbindet. Der Begriff der dignitas humana, der in der Lehre des Christentums von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen8 seine metaphysische Begründung erfährt, und die Interpretation des Menschen als phýsei politikón9 sind Beispiel gebend für das Bild des Menschen. Bedenkt man das Werden des Menschenbildes und des Gemeinsinns im abendländischen Rechtsdenken10, nimmt man diese in diversen Begriffen, in mal höher, mal weniger hoch entwickeltem Entstehen sehr klar wahr, und das auch in verschiedenen Entstehen sowohl des geistigen, als auch des politischen Lebens. Der abendländische Rechtsgedanke verfiele unweigerlich in eine euphorische und also völlig unrealistische, utopische Sichtweise, wenn man davon ausginge, es habe sich ausschließlich um eine Lehre von Tugendhaftigkeit gehandelt: Richtig ist vielmehr, dass es sich um die Lehre vom Einzelnen und seinem Verhältnis zum Staat und zur Gesellschaft handelt; in gleicher Weise beinhaltet sie Bemerkungen zu Individualität und Kollektivität, sowie zu Ethik und Unmoral. Schon die Autoren des Federalist hatten darauf aufmerksam gemacht, dass die Menschen sich in ihrem Benehmen eher von Leidenschaften und unmittelbaren Interessen leiten lassen, als von allgemeinen und alt hergebrachten Überlegungen über eine vernünftige Politik, über Nutzen und Gerechtigkeit11. Die beste Art und Weise, um Überlegungen über politische Tugenden zu verdeutlichen, könnte ein Gespräch des Menschen über und mit sich selbst sein. Mehr oder weniger glücklich und klar brächte es die Selbsteinschätzung und das Selbstbewußtsein zum Ausdruck. Darüber nachzudenken und sie umzusetzen kann gar nicht unwichtig in einer Zeit sein, in der sich das gesellschaftliche Leben als Folge von Umorientierung und Unbehagen zwischen zwei Extremen abspielt: Einerseits besteht das Risiko, dass der Mensch zum Statisten degradiert wird, auf der anderen Seite droht die Ablehnung jeglicher Ordnung. Ich möchte über Untersuchungen und Problematiken sprechen, die der Rechtsidee innewohnen, denn in der Politik kommen geistige Haltungen zum Ausdruck und die Politik beeinflusst das Recht, welches seinerseits für den Einzelnen im Staat gilt, wie auch für die Staaten in der Völkergemeinschaft.

8  Siehe dazu J. Messner, Die Idee der Menschenwürde im Rechtsstaat der pluralistischen Gesellschaft, in: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung: Festschrift für Willy Geiger zum 65. Geburtstag, Tübingen 1974, S. 221 ff. 9  Aristoteles, Politik, I, 1253a. 10  A. Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie (2), Wien 1963. 11  Vgl. Federalist, Nr. 6, S. 54.



Ethik und Staat141

II. Sein und Sollen Hinsichtlich der Begriffe Ordnung, Recht und Staat hat die abendländische Rechtsphilosophie ihren Anfang in einem anthropomorphisierten GötterGlauben, in dem einzelne Aspekte der Ordnung von Göttern in Menschengestalt dargestellt werden. So wird in Homers Ilias das Recht von der Göttin Themis12 personifiziert, ihre Tochter Dike, die die Notwendigkeit von Recht darstellt, findet sich später in der Theogonie von Hesiod als Illustration neben ihren Schwestern Eunomia (die gute Ordnung) und Eirene (der Frieden): Vater aller drei jungen Frauen ist Zeus und ihre Mutter Themis13. Bereits in dieser Dichtung Hesiods bildet die Sozialordnung ein Spannungsverhältnis, denn Dike und ihre Schwestern haben drei Gegenspieler: Éris (der Streit)14, Bía (die Gewalt) und Hýbris (die Maßlosigkeit), die die Grenzen des Rechts verletzt und in Unrecht wandelt. Hier treffen wir bei Hesiod die Grundfrage des politischen Gedankens, nämlich die des richtigen Maßes in der Politik15, Maß (métron) zu halten und die Maßlosigkeit zu bekämpfen lag Solon16 besonders am Herzen, der entsprechend auch die besonders ausgewogene Ordnung „eunomía“ nannte: Eunomie wird bedroht, wenn einzelne Gruppen ein Übermaß an Macht im Staat erhalten. Bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. erkannte Solon, dass, tut man eunomía, der guten Ordnung, Gewalt an, es zu sozialen Problemen wie Kämpfen zwischen Aufwieglern, Hass und Unruhen kommt. So versuchte er auch, der hýbris, der Maßlosigkeit der Bürger, die sich seines Erachtens in den drei Formen Machtgier (pleonexía), Habsucht (philargyría) und Ehrgeiz (hyperephanía) äußerten, entgegenzuwirken. Dies tat er, indem er den Wunsch nach Ordnung vor allem in seiner Heimat Athen mit Hilfe von Díke (dem Recht) und Bía (der Gewalt) wiederherstellt, denn er unterschied zwischen guter und schlechter Bía. Zum Problem einer angemessenen Aufteilung der einzelnen Ordnungsfaktoren äußert sich Pythagoras in einer mathematischen Legalität. Dieser bemühte sich, den Begriff der universellen Harmonie aus dem Bereich der Natur auf den der sozialen Ordnung zu übertragen. Seiner Ansicht nach sind der Respekt vor den Göttern und den Eltern, die Beachtung der Gesetze und der Milde gegenüber allen Menschen unentbehrliche Prinzipien für ein gemeinschaftliches Zusammenleben. Von jedem Mitglied der Gemeinschaft werden Selbstkontrolle zur Ordnung, ein friedvoller Charakter 12  Homer,

Ilias, z. B. IX, XX und XXIII. Theogonie, 901–903. 14  Hesiod, Theogonie, 225–232. 15  Hesiod, Werk und Tage, 274–280. 16  Genauer siehe A. Verdross, Grundlinien der antiken Rechts- und Sozialphilosophie (2), Wien 1948, S. 23 ff.; id., Abendländische Rechtsphilosophie …, S. 5 ff. 13  Hesiod,

142

Ethik und Staat

und Schicksalsergebenheit verlangt. Für Pythagoras ist Anarchie das Böse schlechthin, da der Mensch ohne Autorität nicht lebensfähig sei, meint er.17 Das klarste Verhältnis zwischen dem Prinzip des Maßvollen und der menschlichen Natur findet man im 3. Jh. v. Chr. im so genannten Grundsatz des „homo-mensura“ des Protagoras, „der Mensch sei das Maß aller Dinge“18. wie Alfred Verdross bereits bemerkte, sollte dieser Grundsatz korrekterweise heißen, „der Mensch sei das Maß aller Qualitäts- und Bewertungsmaßstäbe“19, eine Interpretation, die Verdross in dem Grundsatz bestätigt fand, dass für jeden Staat das richtig und gut sei, was er dafür hält, solange er sich an seine eigene Meinung hält20 Protagoras hat demnach einen moderaten Rechtsrelativismus eingeschlagen. Zu welchen Extremlösungen der Rechtsrelativismus andererseits durchaus fähig ist, zeigt die Form, die er bei Gorgias21, Thrasymachos22, und Kallikles23 annimmt, für die das Recht des Stärkeren gilt. Dieses Recht des Stärkeren fand später seine Fortsetzung bei Joseph-Arthur Graf von Gobineau24 und bei Friedrich Nietzsche25, dann, ab dem 19. Jh. findet es Einlass in die zeitgenössischen Ideologien, wie dem Faschismus und dem Nationalsozialismus des 20. Jh., um nur die anschaulichsten zu nennen, aber es würde durchaus nicht an weiteren Beispielen für dieses Recht des Stärkeren fehlen. Ein Vergleichsbegriff dazu bildet das Verhältnis zwischen éthos, Mensch und Recht bei Sokrates, der als erster die Tugend als solche für erlernbar hält und für die Existenz des Staates das Befolgen des Guten an sich verlangte, was sich in einem Leben in Wahrheit, Umsicht und Gerechtigkeit zeigte, und gegen jede Verführung und Bedrohung zu schützen war26. Als Meister des politischen areté sprach Sokrates sowohl das Wort der moralischen Erneuerung des Einzelnen und des Staates, wie auch das für das Selbstbewußtsein des Einzelnen. Aus dem Letztgenannten muss nach 17  Darüber

A. Verdross, ebenda, S. 26 ff. Frg. B 1, in: H. Diehls / W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker (10), Berlin 1952, II, S. 263 = Platon, Theaitetos, 151e–152a; vgl. 166d. 19  A. Verdross, ebenda, S. 17. 20  Platon, Theaitetos, 167c. 21  Gorgias, Frg. B11 (6), in: H. Diehls / W. Kranz, Die Fragmente …, S. 289–290. 22  Thrasymachos, Frg. B 6a, in: Ebenda, S. 325 = Platon, Der Staat, I, 338c. 23  Platon, Gorgias, 482b–519d. Darüber A. Menzel, Kallikles, eine Studie zur Geschichte der Lehre vom Rechte des Stärkeren, Wien / Leipzig, 1922. 24  J. A. Graf von Gobineau, Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen (Übersetzung des Original: Essai sur l’inégalité des races humaines, 1853–1855), Stuttgart 1898–901, Band 4. 25  F. W. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Leipzig, 1886, Nr. 260. 26  Platon, Laches, 191d–r. 18  Protagoras;



Ethik und Staat143

Sokrates die Erneuerung des Staates erwachsen. Die Wiederentdeckung des zivilen éthos ist die Voraussetzung für jede politische Entwicklung, denn jede Reform von Seiten des Staates setzt eine innere (metánoia) Reform seiner Bevölkerung voraus. Jahrhunderte später, genauer im Jahre 1962 schrieb der Schweizer Professor für öffentliches Recht, Max Imboden in einem ähnlichen Sinne in seinem Buch Die politischen Systeme etwa, dass das, was sich im sozialen Gefüge als Struktur zeigt, lediglich der Reflex der Prozesse sei, die sich im Innern des einzelnen Menschen vollziehen. „Innen“ und „außen“ seien letztendlich ein Einziges. Im sozialen Zusammenleben der Menschen gebe es nur eine Realität, das Verhältnis zu dem Anderen, das aus der Erfüllung der eigenen Persönlichkeit entspringe27. Während Sokrates den Begriff der politischen Tugend, insbesondere für das politische und das juristische Denken prägte, und die Notwendigkeit der moralischen Grundlage des Staates verdeutlichte, setzte sein Schüler Platon sich ein weit verbreitetes Staats- und politisches Bewußtsein zum Ziel. Platon ging von einzelnen politischen Tugenden aus, die die Grundlage und den Halt der menschlichen Gemeinschaft bilden; er machte die ersten Schritte in diese Richtung, ohne sie jedoch auszuformulieren. So behandelt er in dem Laches-Dialog das Thema der Werte, im Charmides-Dialog das der Selbstkontrolle und im Eutyphron-Dialog das der Gesundheit und der Gerechtigkeit. Platon erkannte die wechselseitige Unterordnung dieser Tugenden und ihren gesellschaftlichen Charakter; er entwickelte in diesen Dialogen keine einzige komplette Definition, sondern, wie auch Alfred Verdross bemerkt, werden sie ohne jedes Ergebnis abgebrochen.28 In „Der Staat“ [Politeía] versucht Platon eine komplette sozio-politische Philosophie zu entwickeln, in der er eine philosophische Anthropologie entwirft, auf der er seine Rechts- und Staatsphilosophie basieren lässt. Ausgehend vom Wesen des Menschen versucht er das Wesen des Staates zu erklären. Für Platon besteht der Mensch aus drei Schichten, die in der folgenden Reihenfolge von unten nach oben übereinander liegen: Die sinnlichen Appetit auslösende Fähigkeit liegt im Trieb, sich zu ernähren, zur Sexualität und dem Bedürfnis nach Schlaf; dann die geistigen Kräfte der Emotionen und etwas zu wagen, also des Mutes, des Ehrgeizes und der Hoffnung. Die oberste Schild bildet der Verstand, den die Platonische Staatslehre in eine Ideenlehre wandelt, denn der Verstand ist nicht nur der kalkulierende Intellekt, sondern auch das Denken, das Existierendes in sich aufnimmt.29 Jahr27  Vgl.

M. Imboden, Die politischen Systeme, Basel 1962, S. 12. Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie …, S. 31. 29  Platon; Der Staat, IV, 434d; VIII, 544e; IX, 580d. 28  A.

144

Ethik und Staat

hunderte später, genauer im XVII. Jahrhundert, unterscheidet Blaise Pascal in seinen Pensées zwischen der „esprit géometrique“ und der „esprit de finesse“, zwischen der logischen und abstrakten Sprache und der Sprache des Herzens30. Abgesehen von dem ähnlichen Gedanken, bietet sich der Hinweis auf Pascal auch insofern an, als auch seine Gedanken fragmentarisch bleiben, wobei Platon jedoch ein komplettes System entwickelte, mit dem er vom Wesen des Menschen auf das Wesen des Staates zu schließen versuchte. Auf diese Weise entstand eine verfassungsähnliche Gliederung des Staates, in der der Verstand mit dem Stand des Herrschers gleichgestellt wurde, der Mut mit dem Stand der Krieger und die Sinnlichkeit mit der Wirtschaft. Die einzelnen geistigen Kräfte hatten ihre Entsprechung in einzelnen sozialen Ständen, in einer Arbeitsteilung und in einer sozialen Vereinigung. In Der Staat erscheint Platon der Richter-König der ideale Herrscher zu sein, der ohne Gesetze regiert, während er in Nomoi den Rechtsstaat als denjenigen für den praktischen Alltag aufzeigt. Die Verbindung zwischen Der Staat und Nomoi stellt der Dialog Politikos her, in dem Platon Staaten danach beurteilt, ob sie ihre Gesetze befolgen oder nicht: Geordnete Staatsformen sind demnach die Monarchie, die Aristokratie und die Demokratie; degenerierte Staatsformen dagegen die Tyrannei, die Oligarchie und die Demagogie31. Außer, dass er den Staat auf das Gesetz verpflichtet, was ihn zum Gründer der Idee eines staatsgefundenen Rechts macht, garantiert Platon für die Einhaltung objektiver Grundregeln im Staat, deren Mißachtung die gesammte Staatsordnung in Gefahr bringt. Von diesen ethischen Gesichtspunkten ausgehend, kommt Platon zu seiner bekannten Zyklentheorie, die er im achten Buch von Der Staat darlegt: Die Aristokratie degeneriert in die gewalttätige und ehrgeizige Timokratie, die ihrerseits durch eine Vernachlässigung der Bräuche und eine Bereicherung in die Oligarchie degeneriert, die durch die Demokratie niedergeschlagen wird, die sich wiederum in Demagogik entfaltet, und am Ende werden alle in der Tyrannei eines Einzigen enden. Platon hat also sowohl erkannt, wie ein guter Staat mit dem Beispiel des perfekten Menschen gebildet werden kann, als auch, in welchen Schritten seine Degeneration stattfinden wird. Seine Staatslehre basiert auf einer Anthropologie, die ihren letztendlichen Sinn aus einer Theologie bezieht, das geht aus dem zehnten Buch der Nomoi hervor. Er gibt also zu, dass der Mensch von einem göttlichen Geist gelenkt wird, daher löst bei Platon der 30  B.

Pascal, Pensées (282.). Politikos, 301a–303b.

31  Platon,



Ethik und Staat145

Grundsatz des deus-mensura des maßgebenden Gottes den von Protagoras des homo-mensura, des maßgebenden Menschen ab. Eine dynamische Vorstellung vom Staat finden wir auch bei Aristoteles, der als erster das vergleichende Verfassungsrecht angewandt hat und, indem er die Staatsformen beurteilte, und als gut nur diejenigen bewertet hat, die der Allgemeinheit dienen (tò koinòn symphéron)32. Hier kommt in der Staatslehre erstmals das ethische Prinzip, in dem christlich geprägten Begriff des Allgemeingutes (bonum commune) zum Ausdruck, der so typisch ist für Thomas von Aquin. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Aristoteles die Demokratie nicht zu den guten, sondern zu den schlechten Staatsformen zählt. Die gute Volksherrschaft nennt er politeía33. Für Aristoteles liegt jede Tugend in der Mitte, so liegt der Wert zum Beispiel zwischen Feigheit und Tollkühnheit, die Freundlichkeit zwischen Rüpelhaftigkeit und Schmeichelhaftigkeit, die Herrschaft an und für sich zwischen Undiszipliniertheit und Dummheit.34 Aristoteles versteht unter Tugend eine Fähigkeit, diese Sicht rührt aus dem entelechischen Zugang, den er auf das Sein hat, und er begreift das Menschenbild, in dem allein das Wesen des Menschen ganz und gar in seiner Entfaltung innerhalb der Gemeinschaft besteht. Der Mensch, der seine Aufgabe und seine Funktion erfüllt, ist für ihn fähig und daher gut. Daher ist für Aristoteles Tugend die Notwendigkeit eines aufrichtigen Benehmens, das durch Unterricht und Übung zur Gewohnheit wird. Daher ist für Aristoteles das Benehmen eines Menschen so wichtig für den Staat, denn der Staat ist eine Gemeinschaft aus Personen, die zur Institution geworden ist, es ist sogar die größte und wichtigste der verschiedenen menschlichen Gemeinschaften, zusammengehalten durch die Verfassung. In zwei Schritten35 hat Aristoteles sogar Verfassung und Staatsangehörigkeit (politeía und políteuma) als untereinander identische Elemente dargestellt. So wird einmal mehr klar, dass er die Menschen als politische Wesen wahrnimmt. Da es verschiedene Verfassungen gibt, kann es auch unterschiedliche politische Tugenden geben, die, je nach der Verfassung, unterschiedliche Ansprüche an das einzelne Individuum stellen. Von den alten Römern hat besonders Cicero das geistige Erbe der Griechen angetreten, das er auf die Situation des Staates seiner Zeit anwandte, und er macht sich eine Reform der Politik zur Aufgabe. Voraussetzung dafür 32  Aristoteles,

Politik, III 1278b–1279b. Politik, III, 1279a–b, 1288a; IV, 1289a, 1293b–1294b. 34  Aristoteles, Nikomachische Ethik, III, 1115a–1117a 20; IV, 1119b 22–1122a 17; 1123a 34–1125a 35. 35  Aristoteles, Politik, III, 1278b 10 und 1279a 25. 33  Aristoteles,

146

Ethik und Staat

ist für ihn die virtus36, ein Begriff, unter dem sowohl die Tugend, wie auch die Menschenwürde, die Fähigkeit, der Mut, das Durchsetzungsvermögen, wie auch die Entschlossenheit verstanden wurden. Cicero hielt die virtus, abgeleitet von vir (der Mensch), für die herausragende Eigenschaft der Römer: Würde, Ernsthaftigkeit, Aufrichtigkeit, sowie Respekt vor den Eltern, den Ahnen und den Göttern. In De republica besteht der höchste Grad von virtus für Cicero in der Führung des Staates, später erhebt er den Begriff in die Sphäre des Religiösen und er bezeichnet den Weg zum ewigen Leben. Bemerkenswert ist, dass Cicero das Recht als dem Staat zugehörig einordnete: So erklärte er, dass das, was in der Freundschaft die Zuneigung (amor) ist, im Staat die allgemeine Anerkennung des Rechts (iuris consensus) ist, wobei unter ius Gerechtigkeit zu verstehen ist. III. Menschenbild und Staatsform Die Tugend der Gerechtigkeit als ethisches Postulat des öffentlichen Lebens wurde später, in der christlichen Welt von Augustinus in De civitate Dei und danach besonders von Thomas von Aquin entdeckt. Letzterer widmete den Aufgaben des Herrschers eine eigene Schrift De regimine principum und erklärte die iustitita legalis zur wichtigsten Aufgabe der Politik, die Gerechtigkeit zum Wohle der Gemeinschaft37. Diese muss von der Herrschaft gebildet architectonice werden, denn er formuliert und setzt alles durch, was zum Wohle der Gemeinschaft notwendig ist, während sie bei den Untertanen eine administrative (executive) Rolle haben, denn sie gehorchen den Gesetzen und den Anordnungen des Amtsinhabers und müssen jede Beschädigung des Allgemeingutes verhindern38. Dieser iustitia legalis ist die iustitia distributiva, untergeordnet, nach der die Güter je nach Verdienst und die Ehren nach der Fähigkeit, sie zu tragen, aufgeteilt werden. Voraussetzung für die Tugend der Gerechtigkeit ist die Tugend der Politi, zur Antonomasie: Die Weisheit, die prudentia39, will sagen, die Fähigkeit des Herrschers mit Überzeugungskraft festzulegen, was für die konkrete Politik getan und erhalten werden muss. Diese Tugend der Umsicht allein genügt jedoch nicht und muss von der sapientia, von der Weisheit, vervollständigt werden. Thomas von Aquin meint, dass alle diese Tugenden in der Politik dem Gemeinwohl, dem bonum commune dienen, wie sie bereits als zusätzliche Elemente bei Panezio und Cicero erscheinen. 36  Cicero,

De legibus, I, 8, 25. von Aquin, Summa Theologiae, II–II q. 58 a. 5. 38  U. Matz, Thomas von Aquin, in: Klassiker des politischen Denkens, I, hrsg. von H. Maier / H. Rausch / H. Denzer, München 1969, S. 143. 39  Thomas von Aquin, Summa Theologiae, II–II q. 47 ff. 37  Thomas



Ethik und Staat147

Ein tugendhaftes Leben wird bei Dante Alighieri als Ziel und Zweck für das Glück auf Erden dargestellt. Dieser meint, im Gegensatz zu Aristoteles und Thomas von Aquin, dass Vernunft und Glück ausschließlich im Gesamtstaat erreicht werden können. Auf diese Weise versucht Dante die Zivilisation der Menschheit zu verwirklichen, also die civilitas humani generis40; und darin fühlt er sich dem Begriff von Augustinus „Pax hominum ordinata concordia“41 sehr verbunden. Nicht der religiöse Aspekt, sondern der Aspekt der Möglichkeiten im politischen Alltag bewegt Niccolò Machiavelli, für den virtus die Geschicklichkeit des Soldaten und des Statisten bedeutet, Macht zu erlangen. Um Macht zu erlangen und zu behalten, darf der Fürst, der für Machiavelli die Personifizierung der Politik ist, vor nichts zurückschrecken; daher erklärt er, dass es notwendig sei, mitleidvoll, treu, menschlich, integer, fromm zu erscheinen und zu sein, aber mit dem Geist grundanständig zu bleiben, so dass, auch wenn es nicht nötig ist, du in der Lage bist, dich zum Gegenteil zu wandeln42 Handlungen müssen nach ihren Wirkungen und die Wirkungen von Mal zu Mal nach ihren Zielen ausgerichtet werden. Obwohl auch bei Machiavelli ein Missgeschick ein Missgeschick bleibt ist er jederzeit bereit, das Gute durch das Schlechte zu ersetzen, wenn der Zweck es erfordert. Andererseits bedarf es zur Erreichung des Ziels auch Glück. Bei Machiavelli tritt an die Stelle der aristotelischen Lehre des télos des Menschen der utilitaristische Blickwinkel der Staatsräson, die bei Machiavelli die Form einer rein politischen Gelegenheit annimmt, die zum Relativismus führt. In seiner Ordnung ist der Staat nicht mehr geeignet als Bild von einem Menschen, der beschäftigt ist, seine Persönlichkeit voll zu entfalten, sondern er ist Ausdruck eines Bereichs von politischen Kräften, die von Mal zu Mal veränderbar sind. Wie sehr sich das Bild des Menschen in Bezug auf die Staatsordnung zurückentwickelt, und seine animalische Seite hervortritt, wird bei Machiavelli klar, als er behauptet, dass ein Staatsmann gleichzeitig Fuchs und Löwe sein müsse, wenn er Erfolg haben wolle. Wie sehr Machiavelli von „seinem“ Politiker überzeugt ist, zeigt das negative Bild des Menschen, das er in seinem Werk Der Fürst entwickelt hat: Ein unglaublich unsteter Mensch, ein Heuchler, feige und gewinnsüchtig. Ein negatives Bild des Menschen und eine Tiersymbolik als Vergleichsschlüssel, um die Natur des Staates zu beschreiben, benutzte bekannterma40  Dante

Alighieri, De monarchia, I, 2. Agostino, De civitate Dei, 19, 13; siehe Th. Hobbes, Leviathan, 21 und 29, sowie J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, Berlin 1983, S. 3 ff. 42  N. Machiavelli, Der Fürst, 18. 41  Aurelio

148

Ethik und Staat

ßen auch Thomas Hobbes. Wie Machiavelli, folgt auch er einer mechanistischen Lehre von der Politik: Diese „Pflicht“, die für Platon aus der Idee von Recht entstand, und für Aristoteles vom télos des Menschen, wird nicht berücksichtigt; im Gegenteil wird dem Menschen die Freiheit zugestanden, „seine Kräfte und Fähigkeiten nach eigenem Gutdünken einzusetzen“43. Für Hobbes ist das wichtigste Recht des Menschen, das zur eigenen Selbsterhaltung. Wie bekannt, verglich er den Staat mit einem biblischen Meeresmonster mit dem Namen Leviathan, und schrieb in seinem Buch mit dem gleichnamigen Titel sinngemäß: „Die Macht der einzelnen Person liegt hier in der Kraft, so wie das Glück des Volkes alle betrifft; die Staatsmänner, von denen man die notwendigen Kenntnisse erwartet, sind das Gedächtnis; Gleichheit und Recht sind unnatürlich“44. Hobbes geht von einer Gehorsamspflicht des Bürgers gegenüber dem Staat aus, die jedoch nur solange besteht, wie der Staat in der Lage ist, seine Bürger zu schützen. Solange der Staat seine Versorgungspflicht erfüllen kann, steht ihm die komplette Autorität zu. Im Kapitel 26 des Leviathan schreibt Hobbes: „Auctoritas, non veritas facit legem“; aber wenn der Staat nicht mehr in der Lage ist, diese Regeln zu erfüllen, erlischt die Gehorsamspflicht des Bürgers und der Staat wird zu einem „sterbenden Gott“45. Wie Hobbes, so hat auch Baruch (Benedictus) de Spinoza die Grenzen der Staatsmacht gesehen. Genau wie Machiavelli gesteht er dem Staat keinerlei verbindliche Moral zu und betrachtet den Staat als dem Einzelnen übergeordnet. Er glaubt jedoch als reale Grenze den Moment zu erkennen, in dem Angst, Respekt und Vaterlandsliebe, auf denen der Gehorsam der Untertanen basiert, als Motivation wegfallen. Wenn der Staat den Einsatz seiner Bürger ausnutzt, setzt er die eigene Existenz aufs Spiel46. Eine klare Wende hin zu einem positiven Menschenbild zeigt sich dagegen bei John Locke und bei Samuel Pufendorf. Locke ist der Meinung, dass der Mensch bei der Gründung eines Staates im Besitz seiner, wenn auch vorstaatlichen Rechte auf Lebenszeit, wie Freiheit und Besitzrecht bleibt, und er diese auch verteidigen darf. Im praktischen Bereich werden die Prinzipien der Moral auf der Basis von Vernunft und Erfahrung gebildet47. Nach diesen Theorien von Hobbes und Locke, die den Menschen isoliert betrachten, wird er bei Pufendorf sehr klar in seiner Natur als soziales We43  Hobbes,

Leviathan, 26. Leviathan, 17. 45  A. Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie …, S. 118. 46  B. de Spinoza, Tractatus politicus, Kap. 3, 4 und 3, 8, sowie Kap. 4, 4. 47  J. Locke, Two Treatises of Civil Government und An Essay Concerning Human Understanding. 44  Hobbes,



Ethik und Staat149

sen gesehen, der seine Hauptaufgabe im Dienst für die Gemeinschaft sieht und daraus besondere Pflichten der Gemeinschaft ableitete48. Während Locke von einem empirischen Menschen ausgeht, sieht Immanuel Kant etwas später den Menschen als Exponenten der Vernunft. Das Gesetz der Moral ist seines Erachtens kein empirisches Gesetz, „… sondern das einzige Factum der einen Vernunft (sei), die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic jubeo) ankündigt“49. Für Kant entsteht also die moralisch-juristische Pflicht nicht, wie für Aristoteles und Thomas von Aquin aus dem Zweck menschlichen Daseins im entelechialen Sinne, sondern als kategorischer Imperativ. Für den Menschen ist es autonome Pflicht, insofern es als ein Selbst-Befehl des menschlichen Willens ist: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“50. Nach Kant umschließt die Ethik zwei Bereiche: Die äußeren Pflichten des Rechts und die inneren Pflichten der Moral. Kant sieht die ethische Notwendigkeit einer Gesetzgebung als Tatsache, die aus der Uneinigkeit der menschlichen Natur entsteht, die sich in einer „ungeselligen Geselligkeit“ äußert. Seiner Meinung nach ist das Recht also „[…] der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“51. Mit den politischen Tugenden haben auch Charles de Montesquieu und Jean Jacques Rousseau, die beiden großen französischen Politik-Philosophen, die bis heute mit ihren Lehren die Bereiche Politik und Staat beeinflussen, genaue Überlegungen angestellt. Schon im Jahre 1724 hat Montesquieu nach Pufendorfs De officio hominis et civis als Vorbild eine Lehre der Pflichten mit dem Titel Traité des devoirs vorgestellt, von der jedoch leider nur das Inhaltsverzeichnis erhalten blieb. Aber er behandelte die politischen Tugenden sehr detailliert in seiner Schrift De l’esprit des lois. Besonders in der Demokratie bedarf es der Tugend („vertu“), für die es Patriotismus braucht, allgemeine Ideale müssen mit Hingabe verfolgt werden, es bedarf einer Veranlagung zur Uneigennützigkeit und zur Gradlinigkeit, die Fähigkeit der Zufriedenheit und der Gleichheit. In der Aristokratie braucht es dagegen vor allem Bescheidenheit („modération“), und die Monarchie lebt von Ehrgeiz und Ehre, die jedermann seinem Rang und der sozialen Situa48  S. Pufendorf,

De officio hominis et civis iuxta legem naturalem libri duo. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Buch I, Teil I, Paragraph 7 (E-Text, Uni Bonn). 50  I. Kant, ebenda. 51  I. Kant, Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Einleitung in die Rechtslehre, Buch VII, S. 32 (Zeno. org., Meine Bibliothek, Philosophie / Edition Holzinger, Berliner Ausgabe 2013, 2. Aufl.). 49  I.

150

Ethik und Staat

tion entsprechend anstrebt; der Despotismus erhält sich dagegen, indem er Angst („crainte“) verbreitet52. Montesquieu unterschied in der Politik sehr deutlich zwischen gut und böse. Das absolut Böse ist der Despotismus, das ideale Gute die Freiheit, die nicht auf Willkür, sondern auf Sicherheit beruht, die durch allgemeine Gesetze garantiert wird.53 IV. Politik zwischen Dämon und Gott Während Montesquieu die politischen Tugenden der jeweiligen Staatsformen und ihren politischen Systemen angepasst hat, hat Rousseau als jemand der sowohl den positiven Begriff Aristoteles’ vom Menschen als zôon politikón, wie auch den negativen Begriff des Menschen als Kriegskamerad im bellum omnium contra omnes ablehnte, ein utopistisches Bild des Menschen mit einer nicht existierenden Sozialordnung geschaffen: Ursprünglich war der Mensch weder gut noch böse, und hatte daher weder Tugenden noch Laster. Nach Rousseau hat die Ungleichheit ihren Ursprung in der Schaffung von Besitz. Zu Beginn des Contrat social schreibt er etwa, der Mensch werde in Freiheit geboren und dennoch sei er überall in Ketten gebunden. In der Folge gibt Rousseau die Verantwortung für die Ungleichheit und die Korrumpierbarkeit des Menschen nicht nur dem Besitz, sondern auch den Künsten und der Wissenschaft, denen er die schlichte republikanische Tugend gegenüberstellt: „Vertu“ und „vérité“ sind seine Kampfrufe, ohne dass er jedoch für seine plebiszitäre Form der Demokratie eine detaillierte politische Lehre der Tugenden entworfen hätte. Wie bekannt, führte sein Demokratismus später zum Totalitarismus, der, über die Herrschaft der Jakobiner während der französischen Revolution, bis heute dort auftritt, wo der Demokratismus Rousseaus nicht eine Symbiose mit dem Liberalismus und seiner Lehre der Demokratie eingeht, die Rousseau nur für Mini-Staaten wie Korsika anwendbar hielt54. Heute wird sie in weiten Gebieten moderner Staaten mit ihrer pluralistischen Massengesellschaft angewandt. Die Lehre von Rousseau, von der er glaubte, sie sei geeignet, dass Herrscher und Untertanen sich durch sie verwirklichen, führt nicht etwa zu größerer Freiheit, sondern zu größerer Abhängigkeit, denn die „volonté générale“ toleriert neben sich keinerlei Willen eines Einzelnen. Später sprach auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel sich für die Einordnung des Einzelnen in der nationalen Gemeinschaft aus. Seines Erachtens 52  Ch.

de Montesquieu, De l’esprit des lois, III, 2–11. de Montesquieu, De l’esprit …, XI, 3. 54  J. J. Rousseau, Contrat social, II, X. 53  Ch.



Ethik und Staat151

liegt in der Eingliederung in ein Kollektiv die Befreiung des Menschen, denn laut Hegel ist es die größtmögliche Kollektivität, die größtmögliche Freiheit bietet55. Ein Naturrecht, das das Kollektiv und daher den Staat einschränkt, oder eine Moral, die die Macht begrenzt, lässt Hegel nicht zu, denn der Staat, so meint er, sei die Wirklichkeit gewordene Idee von Moral56. Für Hegel existiert der Staat nicht aus Liebe zu seinen Bürgern. Der Mensch müsse Mitglied oder organischer Teil des Staates werden, um so seine eigenen maximalen Möglichkeiten zu erreichen57. Die politische Tugend des Einzelnen besteht daher laut Hegel schlicht und einfach darin, sich in den Staat einzuordnen, und die Persönlichkeit hat keinen Existenzgrund im Staat, denn seiner Meinung nach entsteht die größte Freiheit, wenn jeder in der Privatsphäre auf den eigenen Willen verzichtet58. Mit Rousseau und Hegel beginnt eine Evolution, mit der der ethische Schein des Sozialen immer mehr verschwindet. In der Folge klärt Karl Bergbohm, dass es kein generelles Ethik-Prinzip gibt, denn jede Ethik ist von der jeweiligen Zeit und Gesellschaft beeinflusst59. Karl Marx versuchte auf die wirtschaftliche Beeinflussung der Moral hinzuweisen; er meinte, das Geld wandle jede menschliche Situation in ihr Gegenteil: Es wandle Treue in Untreue, Liebe in Hass, den Hass in Liebe, die Tugend in Frevel, den Frevel in Tugend, den Diener in Herrn, den Herrn in Diener.60 Und so geht die Ethik auf dem Weg in die sogenannte Befreiung verloren, wie Marx etwa meint, wurde der Mensch nicht von der Religion befreit, er erhielt die Freiheit zur Religion. Er wurde nicht vom Besitz befreit, er erhielt die Freiheit, zu besitzen. Er wurde nicht vom Berufsegoismus befreit, sondern er hielt die Freiheit des Berufs.61 Es ist immer die Freiheit von etwas nicht die Freiheit für etwas. So kam es, dass die Tugend nachweislich zu einem übrig gebliebenen Relikt wurde. Wohin das führen könnte, zeigt Paul Valéry bereits vor zwanzig Jahren in seiner Rede über die Tugend, die er an der französischen Akademie gehalten hat, und in der er dem Sinn nach erklärte: „Die Tugend, meine Herren, das Wort ‚Tugend‘ ist tot oder zumindest vom Aussterben bedroht […]. Im heutigen Zeitgeist scheint es nur noch Ausdruck einer imaginären Welt […]. Ich selbst muss gestehen, ich hab den 55  Vgl.

G. W. Fr. Hegel, Rechtsphilosophie, § 260. G. W. Fr. Hegel, Rechtsphilosophie, § 257. 57  Vgl. A. Baruzzi, Hegel, in: Klassiker …, II, S. 205; vgl. G. W. Fr. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, S. 112, in: Sämtliche Werke, hrsg. von J. Hoffmeister, XVIII, Hamburg 1955. 58  Vgl. G. W. Fr. Hegel, Die Vernunft …, S. 142 f. 59  K. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, S. 175, 425, 455. 60  K. Marx, Nationalökonomie und Philosophie (1844) in: K. Marx, Die Frühschriften, hrsg. von S. Landshut, Stuttgart 1968, S. 301. 61  Nach K. Marx, Zur Judenfrage (1844) in: Marx, Die Frühschriften …, S. 198. 56  Vgl.

152

Ethik und Staat

Begriff nie in den Themen gehört, die aktuell im Gespräch sind, und, was noch schlimmer ist, wenn dann als etwas außergewöhnliches oder mit Ironie. Das könnte natürlich bedeuten, dass ich schlechten Umgang habe, ganz zu schweigen davon, dass ich mich nicht einmal erinnere, den Begriff in Bestsellern oder in anderer bekannter Literatur gelesen zu haben. Ich kenne nicht einmal eine Zeitung, die den Mut hätte, ihn zu drucken, es sei denn, in einem komischen Kontext“62. Valery meint, wir seien an dem Punkt angekommen, dass die Begriffe „Tugend“ und „Tugendhaftigkeit“ nur noch im Katechismus, in der Farce, in der Akademie oder in der Operette zu finden seien. Der katholische Philosoph Josef Pieper bezeichnete die Diagnose von Paul Valéry als „absolut unbestreitbar richtig“63 und erkannte damit eine Situation an, die der Protestant Walter Künneth in dem Werk über die christliche Ethik in der Welt der Politik zutreffend als „Politik zwischen Dämon und Gott“64 bezeichnet hat. Politik zwischen Dämon und Gott ist der treffende Titel für den Versuch über die Ethik in der heutigen Welt der Politik, denn er vergleicht zwei Grenzsituationen: Die diabolische mit der himmlischen. Dieses Konstrukt stand auch Augustinus sehr nahe, denn in dem Werk De civitate Dei kontrastierte er die civitas Dei mit der civitas Diaboli. Auch an seinem letzten Aufenthaltsort Pavia, in der Kirche San Pietro in Ciel d’oro, wo er begraben ist, befand sich Augustinus in einer solchen Gegensatz-Situation: In dieser Kirche ruht er im Sarkophag des Hauptaltars, während unter Sankt Augustinus der geistige Vorfahre des Nominalismus B ­ oethius ruht. Was wir auf der historischen Ebene verzeichnen können, kann als Alternative versucht werden; es genügt, zu beobachten, wie viele Orte gleichzeitig heilig sind und dennoch Orte extremer Gegensätzlichkeit. Jedoch setzt sich die Verantwortung der geistigen Welt, die Wissen und Gewissen vereint – es genügt, sich die Überlagerung der Begriffe scientia und conscientia bewußt zu machen – erleuchtend und durch die Jahrhunderte führend fort. Davon zeugen hervorragende Wissenschaftler wie Nikolaus Kopernikus, Kardinal Bessarione, Nikolaus von Kues, Pico della Mirandola, Galileo Galilei, Francesco Guicciardini, Torquato Tasso, Bernardino Telesio, Erasmus von Rotterdam und viele andere. Gerade in Padova kann man nicht über Tugend sprechen, ohne an diejenigen zu erinnern, die hier in Padova als Studenten studiert haben und anschließend von der katholischen Kirche als Heilige zu Ehren der Altäre erhoben wurden: Albertus Magnus, Johannes Nepomuk, Gaetano da Thiene, 62  „Europäische

Revue“, XI (1935), S. 657 ff. = Œuvres, I Paris 1957, S. 937 ff. Pieper, Über das christliche Menschenbild (7), München 1964, S. 17. 64  W. Künneth, Politik zwischen Dämon und Gott, eine christliche Ethik des ­Politischen, Berlin 1954. 63  J.



Ethik und Staat153

Antonio Maria Zaccharia, Roberto Bellarmino, Franz von Sales und Gregorio Barbarigo. In Wappen und Siegel der Padovaner Universität sind die Bilder von Christus dem Erlöser und der Heiligen Katharina von Alexandrien eingemeißelt, Schützer der ersten beiden Studienrichtungen, der Juristischen Fakultät und der der Freien Künste. So hat auch Papst Johannes Paul II bei seinem Besuch in Padova und deren Universität mit vielen „foglie di gloria“ [Lorbeeren]65 bezeichnet. Auch heute sollte ein solcher Ort zum Nachdenken anregen. V. Liberalismus und Demokratismus Stellt man Ethik und Staat einander gegenüber, so vergleich man eine Pflicht mit einem Sein, oder besser, eine moralische Notwendigkeit mit einer Macht-Situation. Diese Gegenüberstellung schließt die gesamte Geschichte der Menschheit ein: Die, ehrlich gesagt für den Einzelnen immer fatal war, aber die Demokratisierung der Staaten, die Verbesserung und Verbreitung der Bildung, sowie die Verbreitung der Massenmedien haben ihn aufgeklärt und besser informiert. Dies erfordert einen Blick auf die heutige Situation des Staates. Der heutige Staat ist einerseits dadurch charakterisiert, dass er für viele Zwecke verwendet wird, andererseits durch eine Ideologisierung der Politik. Im ersten Bereich wird ihm die Ausführung seiner Ziele wie Recht und Macht, wie auch die Bereiche Kultur und Wohlstand zugestanden. Sicherheit, Ordnung, kulturelles Leben, sozialer und wirtschaftlicher Schutz sind gleichfalls Aufgaben des Staates geworden. Fast scheint es, der Einzelne habe seine jahrhundertelange Zurückhaltung gegenüber dem Staat aufgegeben, um ihm immer mehr Aufgaben zugunsten der Privatpersonen zu übernehmen. Jedoch ist dieser Staat mit den zunehmenden Aufgaben für den einzelnen Menschen wahrlich nicht menschlicher geworden. Es stimmt zwar, dass die Anzahl der Aufgaben des Staates angewachsen ist, nicht aber seine Kommunikationskraft, mit der er dem Einzelnen die eigenen Entscheidungen erklären könnte. Dieser Einzelne scheint desto mehr das Interesse am Staat zu verlieren, je mehr er ihn beansprucht. Diese Instrumentalisierung des Staates zu vielen Zwecken steht in enger Verbindung zu einer Ideologisierung der Politik, mit der die moderne Gesellschaft mit ihren politischen Parteien und den organisierten Interessenvertretungen ihre ganze Vielfalt schützt. Diese Ideologisierung hat die Politik 65  „L’Osservatore Romano“, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 24. September 1982, S. 5.

154

Ethik und Staat

zwar transparenter gemacht, hinsichtlich der Vertretung ihrer Werte und dem Anspruch ihres Willens hat sie aber die Politik andererseits in eine Situa­tion größerer Widersprüchlichkeit gebracht. Diese Präsenz der Politik in einem Staat, der von einer Vielzahl an neuen Aufgaben von der öffentlichen Hand gekennzeichnet ist, sowie von einem verstärkten Eingreifen in das öffentliche Leben, und zudem von einer klareren Ausdifferenzierung der unterschiedlichen politischen Ideen führt im Alltag des Staates zu zahlreicheren Widersprüchen und beeinflusst den Inhalt der Gesetze. In einer solchen Situation des Staates und seiner normativen Ordnung tauchen im politischen Bereich ideologische Extreme und die rechtlichen Wege auf, die den Rechtsstaat kennzeichnen, und werden für die unterschiedlichsten Zwecke mit verschiedenen Inhalten gebraucht. Der heutige Staat beruht auf einer Symbiose zwischen Liberalismus, die auf rechtliche Sicherheit bedacht ist, indem sie den Staat vorausschauend und abschätzend führt, und einem Demokratismus, der die Bindung des Staates an den Willen des Volkes und seiner Repräsentanten vorsieht. Für diese Symbiose ist er als demokratischer Rechtsstaat zum Staat geworden, der auf Legalität basiert; aber die Bildung der öffentlichen Meinung und die eines staatlichen Willens, der zu wirksamen Gesetzen führt, sowie der Inhalt und die Form dieser Gesetze, welche die Grundlage des Staates bilden, schaffen nicht immer das Maß an Überzeugung, aus dem der Staat auf lange Sicht die Kraft einer effizienten Existenz zieht. Diese Vielfalt in der Politik und in den Aufgaben des Gesetzes stellt heute den Staat vor schwierige Entscheidungsfragen, da er, um existieren zu können, davon abhängt, dass die Grundwerte des öffentlichen Lebens anerkannt werden, wobei er aber ohne ein vorhandenes Verhältnis zwischen Ethik und Staat nicht auf ein positives und effizientes Ergebnis bauen kann. Der moderne Staat hat ein bemerkenswertes Rechtssystem aufgebaut. Aber leider hat er, wenn auch nicht auf Autorität, sondern auf Demokratien basierend, auch mit der Gesamtheit der Normen nicht immer die entsprechende Begründung gegeben. Der Einzelne weiß im Staat nicht immer, was er zu tun hat, und wenn er es weiß, weiß er nicht, warum. Es soll damit darauf verwiesen werden, dass die legale Bindung des Staates zwar zu einer Flut an Gesetzen geführt hat, aber durchaus nicht zu einer Rechtssicherheit, denn oft fehlt es an Rechtsbewußtsein und der Rechtsüberzeugung. Je vielfältiger die Wünsche und Forderungen des Einzelnen an den heutigen Staat sind, je manigfaltiger die Interessen der Gesellschaft sowie die Aufgaben des Staates werden, um so dringender bedarf es einer festen ethischen Basis. Ohne diese Basis verliert der heutige Staat die Begrün-



Ethik und Staat155

dungskraft, welche die Freiheit und die Würde des Menschen schützt, und zudem die Existenz des Staates selbst erst möglich macht. Ein Überdenken der Geschichte der politischen Tugenden kann viel dazu beitragen, den Staat auf diese Basis zu heben, und zudem dem Einzelnen Sicherheit zu verleihen. Bereits am 13. Juli 1960 erklärte Carl Jakob Burckhardt in seiner Festansprache an der Bayrischen Akademie: „Das Inventar der Worte mit begrifflichem Inhalt, die einst gebildet wurden, um das Miteinander der Menschen zu organisieren und zu schützen, ist innerhalb der europäischen Kultur und seinem außereuropäischen Einflussbereich maßgeblich seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. bis zum 20. Jahrhundert n. Chr. gleich geblieben. Heute wie in der Antike reden wir über das Recht, das Gesetz, von Frieden und Freiheit, von Gleichheit und so weiter“66. Auch aus der heutigen Sicht Burkhardts kann man nur feststellen: „All diese Begriffe entstanden einst unter der Führung der sophrosýne, also der gemäßigten Bewertung, durch die Unterordnung des menschlichen Tages, das voll mächtigem Leben war, wie sie in ihren Gefühlen immer gegenwärtiger Personifizierungen, eine klare, weise, umsichtige und sichere Kraft ist. Mehr als Worte und Begriffe handelt es sich um bewegte Formen, voller geistiger Kraft […]“67. VI. Friede und Gerechtigkeit Die Geschichte des abendländischen Rechtsdenkens im Allgemeinen und der politischen Tugenden im Besonderen kann unter diesem Gesichtspunkt einen wertvollen Beitrag liefern, um dem Staat wieder eine Ethik zu geben. Sie gibt uns Gelegenheit, das Gesetz an der Rechtsvorstellung und die Rechtsvollziehung an der Gerechtigkeit sowie den Menschenrechten zu messen. Aber in einem Staat, in dem Kant die „ungesellige Geselligkeit“ der Menschen erkennt, bedarf es einer angemessenen Autorität und damit der Bía, welche die Ordnung des Staates durchführbar macht. Wer wollte also abstreiten, dass der Wunsch des Solon im 6. Jahrhundert vor Chr., mit Dike und Bía die Ordnung seines Landes zu erneuern, bis heute für uns im 20. Jh. nach Chr. notwendig ist? Das verlangt, die Zwecke des Staates zu rechtfertigen und sie glaubwürdig darzustellen. Der österreichische Bundespräsident Dr. Rudolf Kirschschläger hat dies bereits deutlich gemacht: „In der täglichen Arbeit sollte ein wenig von der Toleranz beigefügt werden, die der Demokratie als Lebensform innewohnt. Fügt man dann ein wenig die Überzeugung hinzu, dass wir alle der Staat sind, die wir das Staatsbürgerrecht dieses Staates besitzen, und dass alle, die ihn verwalten, in seinem Dienst stehen, 66  C. 67  C.

J. Burckhardt, Gestalten und Mächte, Zürich 1961, S. 415. J. Burckhardt, Gestalten …, S. 417.

156

Ethik und Staat

aber dass der Staat ihnen nicht gehört und sie auch nicht die Herrscher sein können, dann kann es eigentlich nicht schwierig sein, ein demokratisches Verhältnis zwischen denen herzustellen, die den Staat repräsentieren, und denen, die in einem seiner Büros arbeiten und den einzelnen Bürgern“68. Wenn sich diese Bedürfnisse gegenseitigen Respekts und Verständnisses ausbreiten, Grundrechte und ‑pflichten sich ausgleichen und niemand würde vom Staat mehr verlangen, als er geben kann, dann könnte jeder vom anderen nur verlangen, was er selbst in der Lage ist zu geben oder zu leisten. Das heißt: Der Frieden in der Welt beginnt mit dem Frieden zwischen „mir“ und „dir“, und setzt sich fort mit dem Frieden zwischen Gesellschaft und Staat sowie zwischen dem Staat und der Gemeinschaft der Völker. Das heißt, auch im internationalen Leben ist der Frieden nicht das Gegenteil von Angst, sondern, um es mit Papst Pius XII zu sagen, (dessen Todesjahr sich in diesem Jahr zum 25. Mal jährt), das Werk der Gerechtigkeit, oder wie sein Motto lautete: Opus iustititae pax. Auf diese Weise könnte sich die Vorstellung des Gemeinwohls, die Aristoteles und Thomas von Aquin gebildet haben, im staatlichen und im internationalen Leben ausbreiten, und im philosophischen Bereich der Weg vom bonum commune civitatis zum bonum commune humanitatis beschritten werden können, um den sich zur Zeit des Umbruchs des 16. und 17. Jahrhunderts die Meister der spanischen Moralphilosophie der Schule von Salamanca bemühten und soll in diesem Bemühen an Francisco Suarez und Francisco de Vitoria erinnert werden. So gehen die Ethik-Begriffe im Staat in die innerhalb der Gemeinschaft der Völker über, und kein Staat kann von einem anderen etwas Mögliches verlangen in der internationalen Ordnung, wenn er selbst nicht bereit und in der Lage ist, es mit seinen Möglichkeiten zu bieten. Auf diese Art und Weise führt das Nachdenken über Ethik und Staat zur Anfangsphase zurück und zu der Schlussphase jeder Gemeinschaft: Letztendlich zu denen der menschlichen Bedingungen im Allgemeinen, die den Gebrauch von Grundsätzen im Denken und Toleranz im Handeln verlangen, sowie sichere Brücken und feste Ufer möglich machen. Toleranz im Handeln: Sie verlangt ihrerseits keine Gleichgültigkeit, sondern gegenseitiges Verständnis, das es gestattet, Menschlichkeit und Geduld mit ihren Möglichkeiten und Grenzen zum Tragen zu bringen.

68  R. Kirschschläger, Der Friede beginnt im eigenen Haus. Gedanken über Österreich, Wien 1980, S. 88.



Ethik und Staat157

VII. Politik aus Verantwortung In diesem Zusammenhang sei abschließend auf Alfred A. Häsler verwiesen, der in der Einleitung zu seinem Buch Politik aus Verantwortung feststellt: „Die Perfektion ist nicht von dieser Welt; wer sie dennoch erzwingen will, wird leicht zum Unmenschen. Und doch kann man im ethischen Bereich mehr verwirklichen, als wir es uns eingestehen wollen. So kann man Erfolg haben und gleichzeitig eine anständige Person bleiben. Man kann dem Materiellen seinen notwendigen Stellenwert geben und sich dennoch einer höheren Instanz gegenüber verantwortlich fühlen. Man kann an die Macht kommen und an der Macht bleiben, und dennoch muss man ihren Versuchungen nicht erliegen. All dies kann man tun, ohne sich als Vorbild der Tugendhaftigkeit und der Fähigkeiten zu fühlen oder zu präsentieren. Eine integre Ethik verlangt, die Handlungsgrenzen des Menschen zu kennen und dennoch immer zu versuchen, sie zu erweitern“69. Die heutigen Möglichkeiten einer Menschen gerechten Politik als unveränderbares Mandat aufzuzeigen, war das Ziel der vorliegenden Ausführungen, und ich danke der Padovanischen Akademie, dass sie mir in ehrender Weise als ihr Mitglied die Gelegenheit gegeben hat.

69  Vgl. Fr. T. Wahlen, Politik aus Vernunft. Rede und Aufsätze, hrsg. und eingel. von A. A. Häsler, Basel 1974, S. 10.

Was kann der Jurist aus der Geschichte lernen?* I. Die Bedeutung von Gdansk (Danzig) in der Zeitgeschichte Es gibt wenige Städte der Welt, welche so zum Nachdenken über die Geschichte und den Lauf der Zeit einladen, wie gerade Gdansk.1 In dieser Stadt, die als Ort erstmals 980 erwähnt wurde, hat sich durch Jahrhunderte europäische Geschichte ereignet, die in Stein aus den Häusern dieser Stadt sprechen. Ereignisse in dieser Stadt und von ihr ausgehend haben zu auch leidvollen Entwicklungen und Abschnitte der Geschichte unvergesslich besonders auch im 20. Jahrhundert geführt. In diesem Zusammenhang erinnere ich, dass der 2. Weltkrieg2 am 1. September 1939 durch Angriff auf die Westerplatte3 von hier ausging, als der deutsche Kreuzer „Schleswig-Holstein“ das polnische Munitionsdepot beschoss. Sechs Tage lang, wir wollen dies nicht vergessen, trotzten 182 polnische Soldaten der deutschen Übermacht, bevor sie sich ergaben. Die Ruinen der Kasernen sind als Mahnmal erhalten. Mit diesem Tag, 1. September 1939, an dem auch der Anschluss von Gdansk an das damalige Deutsche Reich proklamiert wurde, begann ein leidvoller Abschnitt in der Geschichte nicht nur dieser Stadt, sondern auch Polens4, Europas5 und in der Völkergemeinschaft überhaupt. *  Vorlesung, gehalten am 21.3.2011 an der Rechtsfakultät der Universität Gdansk. Erschienen in: Gdanskie Studia Prawnicze. W Kregu Historii Doktryn Politycznych i Prawnych Oraz Konstytucjonalizmu. Tom XXVII, 2012, Universität Danzig, S. 453 ff. 1  Beachte Udo Arnold, Danzig: sein Platz in Vergangenheit und Gegenwart, Warschau 1998; Malgorzata Omilanowska / Jerzy S. Majewsky, Danzig und Ostpommern, Starnberg 2000 und Peter Oliver Loew, Danzig, Biographie einer Stadt, München 2011. 2  Siehe Gerd Schultzer-Rhonhof, 1939 – der Krieg, der viele Väter hatte: der lange Anlauf zum Zweiten Weltkrieg, 6. Aufl., München 2007. 3  Dazu William K. von Uhlenhorst-Ziechmann, Westerplatte 1969. A play in three acts. Exposition Press, New York 1955. 4  Siehe Norman Davies, Im Herzen Europas. Geschichte Polens, München 2000. 5  Beachte Oskar Halecki, Europa Grenzen und Gliederung seiner Geschichte, Darmstadt 1957.

160

Was kann der Jurist aus der Geschichte lernen?

So wie dieser leidvolle und bedenkenswerte Weg, der in den 2. Weltkrieg führte, in Gdansk begann, trat auch von dieser Stadt ausgehend für Polen und Europa eine Wende ein, als von dieser Stadt jene Protestbewegung im August 1980 ausging, die zu den Streiks der Werftarbeiter und zur Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc6 führte, die in Lech Walesa7 ihre in die Weltgeschichte eingegangene Personifikation fand. In diesem Zusammenhang sei auch der frühere Erzbischof von Krakau Kardinal Karol Wojtyla genannt, der nach seiner Wahl zum Petrusnachfolger 1978 als Papst Johannes Paul II8 nicht nur in der Geschichte der römische katholischen Kirche, sondern auch in der Zeitgeschichte ein neues Kapitel eröffnete, das allgemein anerkannt, auch von Michail Sergejewitsch Gorbatschov, zur politischen Wende9 durch das Ende des Kommunismus führte. Schon in seiner ersten Polenreise im Juni 1979 machte Papst Johannes Paul II. seiner Nation, die die Mitte und damit das Herz Europas bildet, Mut, als er erklärte, dieses Volk der Märtyrer und Helden würde die Kraft zum Neubeginn finden und in einen nicht fernen Tag als freie Nation wieder auferstehen. Diesen Weg hat Polen10 in der Folgezeit beschritten und letztlich zur Verfassung der Republik Polen vom 2. April 199711 geführt, über die ich bei meinem ersten mir unvergesslichen Besuch an ihrer Universität am 16. Mai 2008 in meiner letzten Gastvorlesung12 bei ihnen gesprochen habe. Diese Verfassung Polens ist beispielgebend über Polen hinaus auch für die neue Ordnung des integrierten Europa. Es freut mich, dies heute hier mit meinem langjährigen Dekan an der Rechtsfakultät der Universität Linz Pro6  Hierzu Timothy Gharton Ash, The Polisch Revolution, Solidarity 1980–82, Sribner, New York 1984 und Hartmut Kühn, Das Jahrzehnt der Solidarnosc. Die Geschichte Polens 1980–1990, Berlin 1999. 7  Dazu Pietro Adamowicz, Danzig in den Worten von Lech Walesa, Danzig 2008, Ten years of Lech Walesa 1980–1989: or why did the Berlin Wall collapse, Warschau 2009. 8  Dazu Joseph Ratzinger / Benedikt XVI., Johanns Paul II. Mein geliebter Vorgänger, hrsg. von Elio Guerriero, Augsburg 2008. 9  Siehe Donato Squicciarini, Dialog in Wahrheit und Liebe, Der Apostolische Nuntius in Österreich zu aktuellen Fragen in Kirche und Welt (1986–1996), hrsg. von Egon Kapellari / Herbert Schambeck, Graz/Wien/Köln 1997, bes. Der Papst und die „Wende“, S. 398 ff. und Die historische Chance der „Wende“, S. 430 ff. 10  Beachte Jan Wiktor Tkaczynski, Polen im Umbruch. Skizzen aus Geschichte, Wirtschaft und Politik, Berlin 1997. 11  Näher Boguslaw Banaszak, Prawo Konstytucyjne, Warszawa 1999. 12  Herbert Schambeck, Prawo natury a prawo konstytucyjne – porownanie rozwiazán konstytucji Rzeczypospolitej Polskiej i Republiki Austriackiej, in: Gdanskie Studia Prawnicze Tom XX 2009, Wydawnictwo Uniwersytetu Gdanskiego, S. 251 ff.



Was kann der Jurist aus der Geschichte lernen?161

fessor Dr. Heribert Köck13 auch in seiner Anwesenheit betonen zu können, denn er hat als einstimmig gewählter Präsident der Internationalen Vereinigung für Europarecht sich mit der neuen Ordnung des integrierten Europas nicht nur als Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft, sondern auch als Rechts- und Wertegemeinschaft in Wort und Schrift intensiv beschäftigt. II. Die Verfassungspräambel Polens als Wegweisung Für dieses neue Europa14 auch als Rechts- und Wertegemeinschaft15 ist bereits die Präambel der Verfassung Polens mit ihren ersten Worten wegweisend. „In der Sorge um unser Vaterland und seine Zukunft, nachdem wir 1989 die Möglichkeit wieder gewonnen haben, souverän und demokratisch über unser Schicksal zu bestimmen, beschließen wir, das polnische Volk – alle Staatsbürger der Republik, sowohl diejenigen, die an Gott als Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten, wir alle, gleich an Rechten und Pflichten dem gemeinsamen Gott, Polen gegenüber …“. Diese einleitenden Verfassungsrechtssätze Polens führen zur Verantwortung in der Zeit, welche die Geschichte begleitet und sie in ihrer Summe ausmacht; sie sind an alle gerichtet, zu ihrem Verständnis besonders an die Juristen. Der Jurist16 hat die Aufgabe, Ordnung erlebbar zu machen: durch Rechtssetzung und Rechtsanwendung. Diese Aufgabe des Juristen der Ordnungsbegründung soll nicht selbst nur den Juristen dienen, etwa als Eigennutz, 13  Beachte Heribert Köck mit Peter Fischer und Margit Maria Karollus, Europarecht, 4. Aufl., Wien 2002. 14  Dazu Jacque Le Goff, Das alte Europa und die Welt der Moderne, München 1996. 15  Siehe Herbert Schambeck, Das integrierte Europa auch als Wertegemeinschaft, in: Jean Monnet“ European Module, Die internationale Konferenz. Die Geschichte der Europäischen Union, Kultur und Bürgerschaft, Ministry of Education, Research and Youth, University of Pitesti, Faculty of Law an Administrative Studies, Pitesti 2008, S. 9 ff. und derselbe, Der Reformvertrag von Lissabon und die Europäische Integration, in: University of Pitesti, „Jean Monnet“, European Module „History oft he European idea, civilization and construction“ European Union’s History, Culture and citizenship, 4th, edition, May 13–14th, 2011, University of Pitesti Publishing House 2001, S. 7 ff. 16  Näher Herbert Schambeck, Von den Aufgaben des Juristen, in: Der Staat und seine Ordnung, ausgewählte Beiträge zur Staatslehre und zum Staatsrecht, hrsg. von Johannes Hengstschläger, Wien 2002, S. 33 ff.

162

Was kann der Jurist aus der Geschichte lernen?

sondern im Dienst der Menschen stehen, also mit dem Gemeinwohl dem Einzelnen, der Gesellschaft und dem Staat dienen. III. Das Recht älter als der Jurist Da die Menschen von Anfang an Ordnungs- und Sicherheitsbedürfnisse hatten, ist das Recht ein Seinserfordernis der Menschheit, das sie in ihrer Geschichte begleitet. Ich sage, dass das Recht nur ein Seinserfordernis ist, weil mit dem Recht nicht alle Aufgaben des menschlichen Miteinanders gelöst werden können, aber auch ohne das Recht das Leben in der pluralistischen und komplizierten Welt unmöglich ist! Das Recht dient in der allgemeinsten Form der notwendigen Abgrenzung der jeweiligen Lebens- und Freiheitsbereiche der einzelnen Menschen. Der Weg von der Lebens- zur Rechtsordnung und der Dienst an ihr bedürfen eines eigenen Berufsstandes wie dem des Juristen; es sind dies eigene Stadien der Menschheitsentwicklung durch die Geschichte. Dabei lässt sich erkennen, dass das Recht, in welcher Form es immer auftrat, älter ist als der Jurist!17 Bevor sich ein eigener Berufsstand mit dem Recht beschäftigte, taten die bekanntlich die Priester neben ihren eigentlichen religiösen Aufgaben18. So sei daran erinnert, dass im 5. vorchristlichen Jahrhundert auch das Rom des Zwölftafelgesetzes keinen eigenen juristischen Berufsstand hatte, die pontifices setzten die Riten der Rechtsakte wie die von Sakralakten. Orare war etwa nicht nur das Wort für Beten, sondern auch für den Parteienvortrag vor Gericht. Die Fortentwicklung des Fachjurisprudenz von der pontifikalen Rechtspflege kann man bereits 300 vor Christi Geburt annehmen, und 100 vor Christi Geburt findet man bereits ein umfangreiches fachjuristisches Schrifttum. In der Folge erlangen die klassisch-römischen Juristen Anteil an der Rechtsfortbildung, wodurch das klassisch-römische Privatrecht vor allem Juristenrecht wird, das die Kaiser durch das ius respondendi ex auctoritate principis unter Kontrolle zu bringen suchten. In der Folge wurde, wie Theo Mayer-Maly19 hervorhebt, „die rechtsbildende Jurisprudenz der Prinzipatszeit (bis ca. 230 n. Chr.) mit dem Souveränitätsanspruch der Kaiser der Dominatszeit (ab Diokletian 284–305 n. Chr.) unverträglich. Nun sollte alles Recht vom Kaiser ausgehen; der Jurist hatte das Recht anzuwenden, nicht zu schaffen. Damit geriet der Jurist in seine moderne Position, wobei es 17  So

auch Theo Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, 2. Aufl., München 1981, S. 9. Franz Wieacker, Altrömische Priesterjurisprudenz, in: Festschrift für Max Kaser, Wien / Graz 1986, S. 347 ff. 19  Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, S. 12. 18  Näher



Was kann der Jurist aus der Geschichte lernen?163

unter dem Aspekt der Stellung des Juristen nur sekundäre Bedeutung hat, dass heute die Vorbehalte gegen jurisprudentielle Rechtsfortbildung weniger vom Anspruch eines Souveräns als vom Grundsatz der Gewaltenteilung (Legislative – Justiz – Verwaltung) und von der zu geringen demokratischen Legitimation eines Juristenrechtes ausgehen. Die beamtete Jurisprudenz der Spätantike entspricht der des neuzeitlichen Wohlfahrts- und Verwaltungsstaates. Das friderizianische Preußen und das josephinische Österreich haben insofern mit Justinians Reich verblüffende Ähnlichkeiten. Von Kontinuität kann indessen nicht die Rede sein. Der Fachjurist behauptet sich zwar am Hof von Byzanz und in der päpstlichen Verwaltung, nicht aber in den Pfalzen und Residenzen des Frühmittelalters. Der Prozess der Verdrängung im Recht erfahrener, aber nicht als Fachjuristen ausgebildete Honoratioren durch spezialisierte Experten musste im Hoch- und Spätmittelalter wiederholt werden. Diesmal ging er von Bologna und Paris als den Zentren eines akademischen Rechtsunterrichts aus“.20 Das erste eindrucksvolle öffentliche Auftreten des europäischen Juristen neuer Prägung erfolgte 1158 beim Reichstag Barbarossas auf den ronkalischen Feldern. Als Kronjuristen des Kaisers nahmen vor allem in dessen Auseinandersetzung mit der lombardischen Liga vier doctores aus Bologna zum politisch brisant gewordenen Problem der Regalien (königlicher Vorrechte) Stellung. Rationale Legitimation politischer Ansprüche: dies hatte der gelehrte Fachjurist vor allem anzubieten21. In der Folge entwickelt sich der Jurist zum eigenen Berufsstand in der Verwaltung und zunehmend auch im Richteramt, das am Lande vom Adel bis ins 19. Jahrhundert noch ausgeübt wird. Dabei vertritt der Jurist die von der Herrschersouveränität legitimierte Staatlichkeit, hat aber keine Möglichkeit, zur Rechtsfortbildung beizutragen, wie es in der Antike der Fall war. So hieß es in ALR Einl § 6 aus 1794: „Auf Meinungen der Rechtslehrer, oder ältere Ausspräche der Richter, soll, bei künftigen Entscheidungen, keine Rücksicht genommen werden“. Mit der Konstitutionalisierung und Demokratisierung des Staates, also mit dem Entstehen des demokratischen Verfassungsstaates, immer deutlicher werdend im 19. Jahrhundert, trat das auf dem Weg parlamentarischer Staatswillensbildung zustande gekommene Gesetz an die Stelle der obrigkeitlichen Anordnung des Monarchen.

20  Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, S.  60 ff. 21  Mayer-Maly, a. a. O., S.  12 f.

164

Was kann der Jurist aus der Geschichte lernen?

IV. Der Weg des Rechts zum Gesetz Das Gesetz des demokratischen Verfassungsstaates an der Stelle der obrigkeitlichen Anordnung des Monarchen zeigt die Entwicklung des Rechtes und die Aufgabe des Juristen in der Geschichte sowie auch die Geschichtlichkeit von Prinzipien des Rechts und der Einrichtungen des Staates. Betrachten wir die Geschichte, so hat über sie Karl Jaspers in seinem Werk „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“ wohl eine deutliche Hinführung gegeben, als er in seinem Vorwort feststellte: „Mitten in der Geschichte stehen wir und unsere Gegenwart. Diese wird nichtig, wenn sie in den engen Horizont des Tages zur bloßen Gegenwart sich verliert … Die Gegenwart erfüllt sich durch den geschichtlichen Grund, den wir zur Wirksamkeit in uns bringen … Die Gegenwart wird andererseits erfüllt von der in ihr verborgenen Zukunft, deren Tendenzen wir in Abwehr oder Einstimmung zu den unseren machen“.22 Als Jurist die Geschichte des Rechts bedenkend kann vor allem deutlich in der Rechtsphilosophie eine Aufeinanderfolge von verschiedenen Strömungen und eine diese begleitende Entwicklung von Begriffen festgestellt werden. Diese Strömungen können sich in einer Abfolge ergänzen, wie die griechische und die römische Stoa, die den Weg zur Kosmopolis wies und den Nomos der Polis zum Weltgesetz ausgeweitet hat; es gibt aber auch Strömungen, die sich nicht ergänzen, sondern vielmehr zu einer kritischen Auseinandersetzung führen, wie z. B. die katholische Patristik des Mittelalters und der Rationalismus der Neuzeit23, welcher bekanntlich getragen von einem Vernunftoptimismus zu den Rechtskodifikationen, zunächst in den Naturrechtsgesetzbücher24 des Privatrechts und hernach auch des öffentlichen Rechts25 führten. Diese Kodifikationen des öffentlichen Rechts führten besonders deutlich im 19. Jahrhundert in einer Symbiose von Liberalismus und Demokratismus zur Schaffung des Systems demokratischer Verfassungsstaatlichkeit26, zu22  Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 3. Aufl., München 1952, Vorwort. 23  Siehe Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, ihre Grundlagen und Hauptprobleme in geschichtlicher Form, 2. Aufl., Wien 1963, S. 53 ff. und S. 128 ff. 24  Beachte Wieacker, a. a. O., S.  322 ff. 25  Näher Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 6. Neudruck, Darmstadt 1959, S.  521 ff. 26  Dazu Carl J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin  / Göttingen /  Heidelberg 1953.



Was kann der Jurist aus der Geschichte lernen?165

nächst mehr in der Staatsform der Monarchie und später auch der Republik, die für den Einzelmenschen im Staat mit vermehrter Verantwortung verbunden war und ist. V. Entwicklung von Rechtsbegriffen Parallel zu diesen Strömungen haben sich abhängig von diesen oder auch unabhängig Begriffe27 entwickelt, wie z. B. fas, ius, lex, Recht, Gesetz und Gerechtigkeit. Jeder dieser Begriffe hat wieder seine Entwicklung genommen; ich erinnere etwa bei den Griechen in Bezug auf die Gerechtigkeit an die Unterscheidung von ausgleichender und austeilender Gerechtigkeit, weiters an ihr Unterscheiden in physei dikaion und nomo dikaion, nämlich dem was von Natur aus „Recht“ ist, sowie jenem, das durch eine positive Ordnung als Recht erklärt wird. Das Rechtsdenken führte später noch zur Unterscheidung in formelle und materielle Gerechtigkeit28. Die formelle Gerechtigkeit drückt die Ausführung ranghöheren Rechts in der rangniedrigeren Rechtsnorm aus und die materielle Gerechtigkeit die Sachentsprechung einer rechtlichen Regelung; etwa den Erwerb durch Übergabe bei körperlichen Sachen oder die Anerkennung des Menschen in Grundrechten. Die formelle Gerechtigkeit geht von einer Mehrzahl von Rechtsnormen aus. Adolf Merkl29, dessen letzter Assistent ich war, der ein Schüler und später Kollege von Hans Kelsen gewesen ist, sprach in diesem Zusammenhang von einem Stufenbau der Rechtsordnung sowie einem Derogationszusammenhang, der im demokratischen Verfassungsstaat, wie wir ihn in unserer Zeit erleben, jedem Rechtsakt als im Dienste der Verfassungskonkretisierung stehend ansah. Die materielle Gerechtigkeit30 bezieht sich auf Realfaktoren des positiven Rechts, wie sie die Natur des Menschen mit seiner heute allgemein anerkannten Würde ist sowie die Natur der Sachen, wie z. B. teilbare und unteilbare, vertretbare und unvertretbare, körperliche und unkörperliche Sa27  Näher Theo Mayer-Maly, Einführung in die Rechtswissenschaft, Berlin / Heidelberg 1993, s. 4 ff. 28  Näher Herbert Schambeck, Ethik und Staat, Schriften zum öffentlichen Recht, Band 500, Berlin 1986, S. 70 f. 29  Adolf Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: Alfred Verdross (Hrsg.), Gesellschaft, Staat und Recht, Festschrift für Hans Kelsen zum 50. Geburtstag, Wien 1931, S. 252 ff., Neudruck in: derselbe, Gesammelte Schriften, 1. Band, 1. Teilband, hrsg. von Dorothea Mayer-Maly, Herbert Schambeck, WolfDietrich Grussmann, Berlin 1993, S. 437 ff. 30  Dazu Schambeck, a. a. O., S.  70 f.

166

Was kann der Jurist aus der Geschichte lernen?

chen. Sie haben mit der Natur des Menschen besonders auf Verfassungsebene das öffentliche Recht, mit der Natur der Sachen das private Recht, man denke etwa an Formen des Eigentumserwerbs, begleitet. In dieser Form materieller Gerechtigkeit wird ein Apriori des Rechts anerkannt, das in unserer Zeit Gegenstand der Rechtsontologie31 wurde. VI. Das Gesetz und sein Wert Das Apriori des Rechts tritt uns auch schon in der Antike entgegen. Bereits im griechischen Altertum werden die Begriffe32 wie Themis, Dike und Nomos von verschiedenen Philosophen unter Annahme des Vorhandenseins einer vorstaatlichen, den Staat auch bindenden Ordnung geprägt. So erklärte Homer e themis estin, d. h. ein bestimmtes Verhalten entspricht dem Recht, wenn es „dem Wesen des Menschen in einer bestimmten Stellung entspricht“ und nicht durch einen äußeren Zwang allein auferlegt wurde. Und unter Dike est versteht Homer schon den subjektiven Rechtsanspruch des Einzelnen. Bei beiden Begriffen darf nicht übersehen werden, dass für die genannten Begriffe Namen von Göttern verwendet wurden, was mit deren präpositiven Charakter ausdrückt. In diesem präpositiven Sinne wurde auch der Begriff „Nomos“ verstanden und gebraucht. Es war von Hesoid33 eingeführt als die von Zeus gehütete Weltordnung, welche als die Grundlage des Lebens der Bürger und der Polis angesehen wurde und von der schon Heraklit gesagt hatte: „Kämpfen soll das Volk für seinen Nomos wie für seine Stadtmauer“34. Von Protagoras berichtet uns Platon in einem gleichnamigen Dialog den Satz: „Der Staat zwingt seine Bürger, nach den Gesetzen zu regieren und sich regieren zu lassen“35. Im 5. vorchristlichen Jahrhundert schrieb der sogenannte Anonymus Jamblichi, dass Recht und Gesetz ihr königliches Szepter unter den Menschen führen und sich beide unmöglich ihrer Herrschaft entäußern könnten, dann festgefügt sei dieses Verhältnis von Natur36. Wie nahe im griechischen Rechtsdenken die Vorstellung von Gesetzmäßigkeit und Gerechtigkeit waren, machte sowohl Sokrates durch die Weigerung am deutlichsten, sich mittels der Flucht der Urteilsvollstreckung zu entziehen37. Im platonischen 31  Näher Herbert Schambeck, Der Begriff der „Natur der Sache“, ein Beitrag zur rechtsphilosophischen Grundlagenforschung, Wien 1964. 32  Beachte Verdross, a. a. O., S.  1 ff. und 14 f. 33  Hiezu Hesoid, Werke und Tage, Vers 17 r und Verdross a. a. O., S. 2 ff. 34  Heraklit, Fragment 44. 35  Platon, Protagoras, 15. Kapitel. 36  Adolf Menzel, Beiträge zur Geschichte der Staatslehre, Wien / Leipzig 1929, S. 162. 37  Plato, Kriton, 11 und 12.



Was kann der Jurist aus der Geschichte lernen?167

Dialog Kriton finden wir den modern anmutenden Gedanken, dass der Staat eigentlich nichts anderes als die Rechtsordnung ist; Nomoi und Polis werden geradezu als identisch angesehen und miteinander verbunden38. Diese Stellen sind auch von dem Gedanken der Demokratie beeinflusst. So erklärte Herodot, dass sich in der Demokratie drei Merkmale ausdrücken: die Idee der Gleichheit und der Freiheit sowie die Herrschaft des Gesetzes39. Eine ausdrückliche Anerkennung des Gesetzesstaates bedeutet es, wenn Platon, von seinem in der Politeia dargestellten Idealbild vom Richterkönigtum abgehend, in seinem Alterswerk Nomoi zur Idee des Gesetzesstaates findet und erklärt: „Denn dem Staate, in dem das Gesetz abhängig ist von der Macht des Herrschers und nicht selbst Herr ist, dem sage ich kühn sein Ende voraus; demjenigen dagegen, in dem das Gesetz Herr ist über die Herrscher und die Obrigkeiten den Gesetzen untertan sind, dem sehe ich im Geiste Heil beschieden und alles Gute, was die Götter für Staaten bereitet haben“40. Der Idee der Gesetzesherrschaft sah sich auch Aristoteles verbunden, der am Schluss des 11. Kapitels seiner „Politik“ meinte, es gehe aus dem Vorangehenden klar hervor, „das die höchste Gewalt oder Souveränität den Gesetzen zukommen müssen, vorausgesetzt, dass sie richtige Gesetze sind“41. Aristoteles verbindet also mit der Anerkennung der Gesetzesherrschaft eine Voraussetzung, die einen wertenden Charakter hat, nämlich die Gesetze müssen richtig sein; das ist dann der Fall, wenn die Herrschaftsgewalt nicht aus willkürlichen Interessen, sondern im Dienste des gemeinsamen Nutzens ausgeübt wird42. Er bemerkte auch Jahrhunderte bevor Hans Kelsen in seiner Allgemeinen Staatslehre schreiben sollte, dass der „Sinn der Staatsgewalt oder Staatsherrschaft nicht der ist, dass ein Mensch anderen Menschen, sondern dass Menschen Normen unterworfen sind“43 in seiner Nikomachischen Ethik: „wir wollen nicht, dass ein Mensch über uns herrsche, sondern der Logos des Nomos“44. VII. Menschenbild und Staatsform Das Bemühen um den Logos des Nomos in der Antike setzte sich später in der Begründung des Rechts in der jeweiligen Staatsform, nämlich der 38  Platon,

a. a. O. III, 80 ff. 40  Platon, Nomoi, 715a. 41  Aristoteles, Politik, 1282b. 42  Aristoteles, Politik, 1279a. 43  Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin, 1925, S. 99. 44  Aristoteles, Nikomachische Ethik, 120. 39  Herodot,

168

Was kann der Jurist aus der Geschichte lernen?

Republik und der Monarchie fort und wurde durch Jahrhunderte begleitet von der Beziehung des Menschenbildes zur Staatsform45. Das deutlichste Beispiel einer Begründung der Form und des Aufbaues des Staates nach dem Bild des Menschen findet sich in der „Politeia“ Platons, nach dem der Mensch aus drei übereinander gelagerten Schichten besteht. Die unterste Schicht bildet das sinnlichbegehrliche Vermögen, nämlich der Nahrungs- und Geschlechtstrieb sowie das Ruhebedürfnis; darüber befinden sich die eifrig mutigen Seelenkräfte, also der Mut, der Ehrgeiz und die Hoffnung. Die oberste Schicht ist die Vernunft, die dem Erleuchteten die Erkenntnis des göttlichen Seiens ermöglicht, was Platon46 in seiner Ideenlehre ausführt. Aus diesem Bild des Menschen erklärt auch Platon die Form des Staates; anders als es später die Naturrechtslehre der Neuzeit in einem Vertrag annimmt, meint Plato den Aufbau des Staates in den Anlagen des Menschen selbst begründen zu können. Den Anlagen der Menschen nach führen Platons Gedanken zu einer ständischen Gliederung des Staates, in welcher Vernunft dem Herrscherstand, der Mut dem Kriegerstand und die Sinnlichkeit dem Wirtschaftsstand zugerechnet wird47. Wenngleich Plato48 in seiner gesamten Lehre verschiedene Staatsformen zulässt, muss nach ihn der Staat so geordnet sein, dass die Vernunft die Führung hat; er geht nämlich von der Annahmen aus, dass es objektive Wesensgesetze des Staates gibt, die sich aus seiner Natur ergeben, werden sie aber verletzt, dann gefährdet sich der Staat, wodurch eine Änderung eintritt, deren Entwicklung Platon in dem 8. Buch seiner „Politeia“ in seiner berühmten Zyklentheorie darstellt. Mit dem Bild des Menschen und der Entwicklung der Staatsformen hat sich nach Plato auch Aristoteles49 beschäftigt; gleich ihm geht auch Aristoteles50 von einer dynamischen Seinsbetrachtung aus, die in seiner bekannten Lehre von der Entelechie ihren Ausdruck und in dem berühmt gewordenen Satz seiner Politik, dass der Mensch ein Zoon physei politikon ist, eine klassische Prägung fand. Diese Lehre von der sozialen Natur des Menschen, die in der Gemeinschaft ihre volle Entfaltung findet, hat bekanntlich in der Rechtsphilosophie 45  Siehe Herbert Schambeck, Menschenbild und Staatsform, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görresgesellschaft 1977, Köln 1978, S. 26 ff. 46  Platon, Politeia, IX 580d und 581. 47  Siehe Verdross, a. a. O., S.  35 f. 48  Platon, Politeia, 369 ff. 49  Aristoteles, Politik I, 1252b. 50  Aristoteles, Politik I / 2, 1153a, 7.



Was kann der Jurist aus der Geschichte lernen?169

des Thomas von Aquin51 ihre christliche Prägung erfahren, wobei die in der Gottesebenbildlichkeit52 begründete Lehre von der Würde des Menschen ihr ein auch metaphysisch begründetes positives Menschenbild verleiht. Diese klassische Tradition von der sozialen Natur des Menschen und damit auch eines positiven Menschenbildes verlässt in der Neuzeit Thomas Hobbes, für den der Mensch ein asoziales Wesen53 ist. Diesen homo-hominilupus-Zustand in einem bellum omnium omnes suchen die Menschen nach Hobbes, durch Leidenschaft und Vernunft herausgefordert, dadurch zu überwinden, dass sie sich in einem Gesellschaftsvertrag zusammenschließen und in einem Unterwerfungsvertrag eine Autorität kreieren, der sie alle Macht übertragen. Der Herrscher als Repräsentant dieser staatlichen Autorität ist nicht selbst Partner, sondern Produkt des Unterwerfungsvertrages, ist daher an diesen nicht gebunden. Das negative Menschenbild des Thomas Hobbes führte daher zur Rechtfertigung der absolutistischen Monarchie. Trotz der absoluten Macht seines Staates nennt daher Hobbes ihn zu Recht einen „sterbenden Gott“. Wie selten in der Geschichte der Staatslehre zeigt sich in England in kurzer Aufeinanderfolge der Gegensatz und die damit verbundenen Konsequenzen eines negativen und eines positiven Menschenbildes für die Staatsform. Während nach Hobbes von einem negativen Menschenbild ausgehend zu einer Rechtfertigung des Absolutismus gelangte, führte später die positivere Einstellung John Lockes54 mit seinem optimistischen Menschenbild zur Rechtfertigung des Konstitutionalismus und seiner Begründung des Liberalismus. Nach Locke besitzt aber der Staat nur eine beschränkte Gewalt, da Locke im Gegensatz zu Hobbes keine vollständige Unterwerfung der Bürger unter die Staatsgewalt annimmt, sondern vielmehr meint, dass die Menschen beim 51  Siehe Thomas von Acquin, Summa contra Gentiles und Summa theol. I, II und III; Verdross, a. a. O., S.  71 ff. 52  Beachte Gen. 1,26 f., 5,3 und 9,6; Verdross, a. a. O., S. 257 ff.; Johannes Messner, Die Idee der Menschenwürde im Rechtsstaat der pluralistischen Gesellschaft, in: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, Festschrift für Willy Geiger zum 65. Geburtstag, Tübingen 1974, S. 226 und Herbert Schambeck, Die Grundrechte in der Lehre der katholischen Kirche, in: Handbuch der Grundrecht in Deutschland und Europa, Band 1, Entwicklung und Grundlagen, hrsg. von Detlef Merten und HansJürgen Papier, Heidelberg 2004, S. 349 ff., bes. S. 11 ff. 53  Thomas Hobbes, Leviathan Kap.  13; dazu Schambeck, Menschenbild und Staatsform, S.  30 f. 54  Siehe John Locke, Tractatus theoIogico-politicus, Kap. 16, Kap. 3, § 15 f., Essay concerning human understanding I, Kap. 3, sect. 4, II, Kap. 28, sect. 5 und sect. 10 sowie Two treatises of government II, sect. 4 und Verdross, a. a. O., S. 123 ff.

170

Was kann der Jurist aus der Geschichte lernen?

Abschluss des Staatsgründungsvertrages ihre vorstaatlichen Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum zurückbehalten haben. Verbunden mit seiner Lehre von der Gewaltentrennung und von den Grundrechten kann Locke nicht nur als ein geistiger Vater des Liberalismus, sondern auch des späteren Verfassungsstaates bezeichnet Werden. Die auf Sicherung der Freiheit des Einzelnen gerichtete Lehre von der Staatsordnung, in der sich das positive Menschenbild verdeutliche, wurde aber einige Jahrzehnte später durch die Demokratieauffassung von Jean Jacques Rousseau55 gefährdet. Rousseau geht zwar auch von einem friedlichen Urzustand aus, der aber durch die Einführung des Ackerbaues erschüttert wird. Er glaubte, dem Einzelnen in einem Staat zu helfen, in dem jeder auf alle seine natürlichen Rechte zugunsten des Gemeinwillens verzichtet, um sie dann als bürgerliche Rechte wieder zurückzuerhalten. Diese Volonté générale wird aber von Rousseau nicht liberal, sondern totalitär und absolut gesehen; dieser Staat duldet neben sich keine Religion und Privatsphäre des Einzelnen. Mit Recht bemerkt Alfred Verdross, dass in dieser sogenannten revolutionären Naturrechtslehre Rousseaus der Weg von der totalen Freiheit zum totalen Staat führt, „der das Menschenleben ganz und gar umgreift“56. Es zählt mit zu den tragischen Momenten in der Rousseau folgenden Zeit, dass sie seine Lehre, die er nach seinen eigenen Worten für einen Kleinstaat von der Größe Korsikas bestimmt hatte, auf den Großflächenstaat mit einer pluralistischen Gesellschaft übertrug. Wohin der Weg der Lehre Rousseau im politischen Leben führte, zeigte sich schon in der staatsrechtlichen Entwicklung Frankreichs von der Jakobiner- über die Konvents-, Direktional- und Konsular- zur Kaiserverfassung57. Diese Entwicklung war am Beginn von einer Überforderung der demokratischen Idee derart begleitet, dass alle drei Staatsfunktionen, also Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung in gleicher Weise demokratisiert wurden, was zu einer Jakobinisierung und bekanntlich einer Gefährdung der Freiheit des Einzelnen führte. In dieser jakobinisierten Form der demokratischen Idee wurde ihre Wirkung im öffentlichen Leben dadurch, dass sie allen Ideologien zugänglich war, durch den Marxismus geradezu potenziert. Als ich 1977 anlässlich eines offiziellen Besuchs in der Volksrepublik China auf dem Großen Platz in Peking, wo ich übrigens auch in Kundgebungen die Verkündigung der Er55  Dazu Jean Jacques Rousseau, Du contrast social I Ch I, II, Ch I, Ch III, ChI, IV, Ch II, Vh V, Ch VI, Ch VII, Ch II, Ch III, Ch XII, Ch IV. 56  Verdross, a. a. O., S.  128. 57  Näher Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 6. Neudruck, Darmstadt 1959, S.  523 ff.



Was kann der Jurist aus der Geschichte lernen?171

gebnisse und der Beendigung des 11. Parteitages sowie die Beendigung der Kulturrevolution am 20. August 1977 miterlebte, die Bilder von Marx und Engels neben denen Stalins und Lenins in Großformat aufgestellt sah, dachte ich mir, dass daneben auch das Bild Jean-Jacques Rousseau herauszustellen wäre. VIII. Entstehen des Verfassungsstaates Betrachtet man diese bloß an Hand einiger Beispiele skizzierte Entwicklung des Menschenbildes, verdeutlicht sich gerade in unserer Zeit die Konfrontation zwischen der oft auch revolutionär auftretenden marxistisch begründeten Kollektivprägung des Menschen, in welcher die persönliche Freiheit des Einzelnen minimalisiert und die Macht des Staates maximiert wird, einerseits und jenem Bilde vom Menschen andererseits, das von der Freiheit und Würde des Einzelnen getragen wird. Es ist Ausdruck jener abendländischen Kultur, von der Hannah Arendt einmal meinte, es wäre für sie die Unterscheidung in politische und unpolitische Lebensbereiche kennzeichnend. In ihrem Buch „Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart“ hat Hannah Arendt schon festgestellt: „Die abendländische Tradition politischen Denkens hat einen klar datierbaren Anfang, sie beginnt mit den Lehren Platos und Aristoteles. Ich glaube, sie hat in den Theorien von Karl Marx ein ebenso definitives Ende gefunden“58. Welchen Ausdruck hat nun diese angedeutete Entwicklung im Staatsrecht gefunden? Das Staatsrecht ist insofern von Bedeutung, als es die Grundordnung und damit auch das Bild des Staates bestimmt. Was sich in der Geschichte der Staaten und ihres Rechtes im Laufe der Zeit im Verfassungsstaat der Neuzeit ausdrückte. In diesem Entstehen des Verfassungsstaates,59 zeigt sich in bemerkenswerter Weise ein Nebeneinander von Staatsorganisations- und Grundrechtsvorschriften. Am deutlichsten ist dies in den ersten nordamerikanischen Verfassungsurkunden, die sich aus den Pflanzungsverträgen der Siedler entwickelten und in der Regel von einem Nebeneinander zweier Teile, nämlich von Bestimmungen über die obersten Organe und deren Funktionen, Frame of Government genannt, und einem mit bill or declaration of rights überschriebenen Grundrechtsteil, gekennzeichnet sind. Diese Zweiteilung führte im Verfassungsstaat der Neuzeit, unter dem im 19. Jahrhundert zunächst vor allem die konstitutionelle Monarchie und im 20. Jahrhundert die 58  Hannah Arendt, Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart, Frankfurt am Main 1957, S. 9. 59  Dazu Jellinek, a. a. O. S. 505 ff. und S. 515 ff.

172

Was kann der Jurist aus der Geschichte lernen?

demokratische Republik verstanden wurde, zu einem geradezu klassisch gewordenen Nebeneinander von Vorschriften der Staatsorganisation und des Grundrechtsschutzes; mit wachsender Anerkennung des positiven Menschenbildes führte dies zu einer anfangs konstitutionellen und später demokratischen Ordnung des Staates. IX. Demokratie und Dialog Wer in einer Demokratie, gleich ob mit Staatsform der Monarchie oder Republik lebt, muss die ihm eingeräumten Rechte, beginnend mit dem Wahlrecht ausüben; wer dies nicht tut und sich auch sonst an Meinungs-, Willens- und Urteilsbildung im Staat nicht beteiligt, muss damit rechnen, dass in einer solchen Demokratie das Recht nicht vom Volk ausgeht, wie es im Art. 1 des österreichischen B-VG 192060 steht, sondern am Volk ausgeht. Die Demokratie verlangt im Staat den Dialog zwischen dem Volk und seinen Repräsentanten sowie eine Geltung des positiven Rechts, welche mit dem Normieren auch das Motivieren verbindet, nämlich bei Begründung von Rechtspflichten die Beantwortung der Frage nach dem Warum und Wozu; in einem solchen Fall ist der Einzelne auch bereit, Verpflichtungen einzugehen und Belastungen auf sich zu nehmen. Eine bloß auf Machtauübung beruhende voluntaristische Geltung,61 die auf Dauer besteht, läuft Gefahr, am Widerstand zu enden. Eine solche Situation erleben wir derzeit in Staaten des Nordens Afrikas, wo vorn Volk teils Demokratie-, teils Sozialevolutionen ausgehen, die viele Menschenleben kosten. Für diese gilt der Satz meines einstigen Wiener akademischen Lehrer Adolf Merkl: „Es kann Zeiten geben, wo es ehrenwerter ist, durch den Staat als für den Staat zu sterben“. Neben dieser auf bloßer Machtausübung beruhenden voluntaristischen Geltung zeigt die Geschichte dem Juristen eine auf motivierende Kraft beruhende autoritative Geltung.62 Die Autorität ist der Geltungsgrund des positiven Rechts, der im demokratischen Verfassungsstaat begründet ist, wenn die Autorität ihre Legitimation in der verfassungsrechtlich begründeten Zuständigkeit erfährt, die in ihrer Ausübung eine Persönlichkeit in der Verantwortung des Staates erleben lässt. 60  Siehe Herbert Schambeck, Die Demokratie, in: Das österreichische BundesVerfassungsgesetz und seine Entwicklung, hrsg. von demselben, Berlin 1980, S.  149 ff. 61  Näher Herbert Schambeck, Ethik und Staat, S. 79 f. 62  Beachte Schambeck, a. a. O., S.  83 ff.



Was kann der Jurist aus der Geschichte lernen?173

Das Wort Person63 kommt aus dem lateinischen Wort personare, das heißt hindurchtönen, und proposon hieß die Göttermaske im archaischen Kult. In einer Person tönt ein höherer Anspruch in die Wirklichkeit. Bei einer autoritativen Geltung ist ein Ordnungsanspruch im Staat erlebbar, der neben dem Sollen des positiven Rechtsanspruchs auch von der ethischen Überzeugung begleitet ist. Die Bedeutung der Autorität lässt schon das Wort selbst erkennen. Autorität kommt von auctoritas, was Gewähr, Bürgschaft, Glaubwürdigkeit und Gültigkeit bedeutet und von augere, was vermehren sowie vergrößem heißt. Die Autorität ist daher die Kraft, welche zu vermehren sowie vergrößern heißt. Wem auctoritas zukommt, der vermag Zuwachs zu ermöglichen, in diesem Fall einen solchen Zuwachs der gestifteten Ordnung. Für die Autorität im demokratischen Verfassungsstaat gehört zu ihrer Begründung die Legitimität, wer keine rechtlich begründete Legitimität hat, verliert die Autorität und kann sich hernach nur auf bloße Macht stützen. Im demokratischen Verfassungsstaat muss daher genau auf dem Weg demokratischer Meinungs-, Urteils- und Willensbildung geprüft werden, welche Verfassung in rechtsnormativer Form angenommen und auf Grund dieser Staatsfunktionen legitimiert werden kann. Da Verfassungsrecht, wie Adolf Merkl immer sagte, kodifizierte Politik ist, ist die der Verfassungswerdung vorausgehende und nach ihrer Beschlussfassung folgende Politik von wegweisender Bedeutung. Diese zur Verfassungswerdung führende Politik kann eine Verfassungsordnung nämlich unter Beachtung sowie Ausführung der früheren Verfassungsrechtsordnung in Verfassungskontinuität zustande kommen lassen, dann ist Kontinuität der Verfassung im Rechtssinn mit Identität der Staaten gegeben, andernfalls entsteht ein Neustaat. Auf diese Weise haben sich Jahrhunderte lang absolute Monarchien fortgesetzt und später die Verringerung der Herrschermacht mit Entstehung der demokratischen Verfassungsstaaten in einer Symbiose von Demokratismus und Liberalismus als Staatsformen konstitu­ tionelle Monarchien und demokratische Republiken entstehen lassen. Die Geschichte lehrt und zeigt uns aber, dass Ereignisse Emotionen entstehen lassen, die solche Kontinuität durchbrechen. Das sind vor allem Revolutionen, als Bewegungen des Volkes oder aus dem Volk, die dann von Einzelpersonen getragen und geprägt, Epochen bildend wirksam werden. 63  Dazu Siegmund Schloßmann, Persona und proposona im Recht und christlichen Dogma, Dissertation, Kiel 1906 und Herbert Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für Johannes Messner zum 85. Geburtstag, hrsg. von Alfred Klose, Herbert Schambeck, Rudolf Weiler, Valentin Zsifkovits, Berlin 1976, S. 459 ff.

174

Was kann der Jurist aus der Geschichte lernen?

In diesem Zusammenhang erinnere ich an das Ende des 1. Weltkriegs, als Revolutionen u. a. in Berlin und Wien die Throne 1918 zum Einstürzen brachten, deren Monarchen Kaiser Wilhelm II. und Kaiser Franz Josef 1914 den Krieg erklärten und ihre Völker zu den Waffen riefen. Diese Völker folgten ihnen hernach fast mit der gleichen Emotion, mit der sie vier Jahre später nach verlorenem Krieg die Monarchien beendeten. Solche Ereignisse führen in verschiedenen Staaten bisweilen zu gleichen Zeiten auch zu verschiedenen Entwicklungen, wie zum Beispiel zur Oktoberrevolution 1917 in St. Petersburg mit Beginn des Kommunismus auf sieben Jahrzehnte, während in Wien die deutschsprachigen Abgeordneten, die 1911 noch nach dem Staatsrecht der Monarchie gewählt wurden, 1918 nach dem 1. Weltkrieg die Republik Deutschösterreich als ein später nicht akzeptiertes Offert an Deutschland der Weimarer Republik ausriefen. Bedenken wir aber bei Betrachtung der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts, wie anders wäre doch die Geschichte der Staaten, Völker, Nationen und Millionen Menschen verlaufen, wäre Kaiser Wilhelm II. in Deutschland und auch hernach mit ihm Kaiser Franz Josef zur Kriegserklärung 1914 nicht bereit gewesen wären! Es wäre sicher zu weiteren Demokratisierungen und Konstitutionalisierungen der Staaten gekommen, aber wir hätten uns unter Umständen Diktatoren wie Stalin, Lenin und Hitler erspart sowie Millionen Menschenleben erhalten und es hätte auch keinen Holocaust gegeben! Da beide Weltkriege von Europa und hier in bedauerlichster Weise aus dem deutschsprachigen Raum ausgingen, haben wir für die neuen Ordnung Europas und der Welt eine Bringschuld zu erfüllen! Polen, im Herzen Europas gelegen, war dazu nach leidvollen Epochen, wegweisend. Von dieser ihrer Stadt ist mit der Gewerkschaft Solidarnosc unter Lech Walesa als beispielgebende Persönlichkeit jene Entwicklung ausgegangen, die ideologisch zum Ende des Kommunismus führte und das im wahrsten Sinne des Wortes dialoghaft durch das Miteinander am sogenannten „Runden Tisch“, von dem mir bei meinem ersten Besuch und letzten Aufenthalt in Gdansk Lech Walesa selbst sagte, er wäre ihm von Seiten der katholischen Kirche Polens mit Kardinal Josef Glemp empfohlen worden. X. Erfordernisse für die Zukunft Dieser in Gdansk begonnene Weg führte hernach auf wahrhaft dialoghaften Weg zur neuen demokratischen Verfassung Polens, die mit ihrem Gottesbezug auch den Juristen ein Vorbild zum Nachdenken gibt; denn wie stellte schon 1976 Ernst-Wolfgang Böckenförde oft und auch jetzt zustimmend zitiert fest: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Vorausset-



Was kann der Jurist aus der Geschichte lernen?175

zungen, der er selbst nicht garantieren kann … Als freiheitlicher Staat kann er nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert“.64 Dieser Hinweis auf den präpositiven Bezug des Rechts verdeutlicht die Gewissenspflicht des Einzelnen im Staat. Übersehen wir daher nicht den überlappenden Sinn der lateinischen Worte scientia, Wissen und Conscientia, Gewissen. In diesem Zusammenhang müssen wir auch verantwortlich in unserer Zeit dankend erkennen, dass der Weg zum neuen demokratischen Verfassungsstaat in Polen und mit ihrer Nation in Mittel- sowie Osteuropa mit dem Ende des Kommunismus begann und damit auch die Zweiteilung Europas beendet wurde; eine Mauer ist auf diese Weise nicht allein in Berlin und Deutschland, sondern überhaupt in Europa gefallen. Dieses Ende des Kommunismus ist aber nicht das Ende oder schließlich die Beendigung der sozialen Frage, diese stellt sich vielmehr in jeder Zeit neu! Sie verlangt von uns als Juristen aus der Geschichte Lernende ein neues weiteres Rechts- und Sozialverständnis, das aber frei von ideologischen Einseitigkeiten sei, wie etwa von der Lehre des Kommunismus nach der Friedrich Engels zur Folge die Freiheit die Kenntnis des wirtschaftlich Notwendigen ist65 und nach Andrej Januarjewitsch Wyschinski „das Recht die Gesamtheit der Verhaltensregeln ist, die den Willen der herrschenden Klasse ausdrücken und auf gesetzgeberischen Wegen festgelegt sind“.66 Haben wir aus der Geschichte der Politik und des Rechts gelernt, dann gibt der soziale Rechtsstaat mit sozialer Marktwirtschaft im Rahmen des demokratischen Verfassungsstaates Gelegenheit, solche Fehler nicht zu wiederholen und sich nicht ideologischen Einseitigkeiten hinzugeben. Dies verlangt, die Legalität mit der Humanität sowie den Rechts- und Machtzweck mit dem Kultur- und Wohlfahrtszweck des Staates zu verbinden, die Möglichkeiten und Grenzen der Staatsgewalt an den Grundrechten zu messen, für die diese Grundrechte nach den Grundwerten zu positivieren und diese in der Freiheit sowie Würde des Menschen anzuerkennen sind, 64  Ernst-Wolfgang Böckenforde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1976, S. 60. 65  Friedrich Engels, Anti-Dühring, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Band XX, Berlin 1962, S. 106. 66  Andrej Januarjewitsch Wyschinski, Fragen des Rechts und des Staates bei Marx in: Sowjetische Beiträge zu Staats- und Rechtstheorie, Berlin 1953, S. 76; siehe Herbert Schambeck, Von der Last der Freiheit im Recht und Staat des Westens und Ostens, in: Die Freiheit des Westens, Wesen, Wirklichkeit, Widerstände, hrsg. von Otto B. Roegele, Graz / Wien / Köln 1967, S. 483 ff.

176

Was kann der Jurist aus der Geschichte lernen?

die wieder in der Lehre des Christentums von der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen grundgelegt ist, die über den Kreis der Christgläubigen durch ihre Wirkung auf die Entwicklung der Grundrechte und damit der Verfassungen allen zugute kommt; dies sollte nur möglichst von allen erkannt und anerkannt werden. Die heute so notwendige soziale Partnerschaft67 von Arbeitgebern und Arbeitnehmern und ökumenische Brüderlichkeit der Christen68 können darauf besonders hinführen. Der Präsident des Europäischen Rates der Europäischen Union Hermann von Rompuy hat in seinem kürzlich erschienenen Buch über „Werte für die Zukunft Europas“ schon darauf verwiesen: „Der moderne Mensch darf nicht nur ein Reisender oder Suchender sein. Er braucht auch ein Nest, ein Fundament der Verlässlichkeit und der Sicherheit …69 und betont: „Es ist ein Paradoxon, dass die Europäer heute immer mehr von unseren Werten sprechen, während Werte an sich immer stärker angezweifelt werden“.70 In der Entwicklung zur neuen Ordnung Europas, die vor allem von Gdansk ausgehend gleichzeitig zu einer Demokratie- sowie Sozialreform führte, wurde ein entscheidender Schritt zu dieser neuen Ordnung gesetzt, die in der EU als Staatenverbund sowohl eine Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft als auch eine Rechts- und Wertegemeinschaft sein soll sowie sein kann, in der sich Heimat, Staats- und Europabewusstsein ergänzen mögen. Gedanken über die Geschichte führen dazu hin! Sie sollen Geschichtsverständnis, Gegenwartsverantwortung und Zukunftserwartung vereinen. Der frühere deutsche Bundespräsident Johannes Rau, der in vielen beispielgebend und wegweisend war, hat es am 1. September 1999 in seiner Rede an der Westerplatte schon gesagt, und mit ihm will ich schließen: „Wir sind durch eine Geschichte des Leidens und der Hoffnung miteinander verbunden und sollten auf der Grundlage unserer Erfahrungen fordern, dass die Koexistenz der Völker in Europa geregelt ist durch: 1. die Verurteilung von Nationalismus, 2. die Anerkennung des Humanismus als Maßstab aller politischen Maßnahmen und 3. die gute Nachbarschaft als eine produktive Quelle gemeinsamer Entwicklung“71. 67  Siehe Alfred Klose, Ein Weg zur Sozialpartnerschaft. Das österreichische Modell, Wien 1970. 68  Beachte Papst Johannes Paul II., Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ 1987, Nr. 47 und Enzyklika „Centesimus Annus“ 1991, Nr. 60. 69  Hermann van Rompuy, Christentum und Moderne, Werte für die Zukunft, Kevelaer 2010, S. 163. 70  Van Rompuy, a. a. O., S. 164. 71  Rede von Johannes Rau an der Westerplatte am 1. September 1999, Manuskript S. 2.

III.

Idee und Lehren des Naturrechts* I. Problemstellung In einer Zeit, in der man die Idee des Rechtes mit dem Begriff des positiven Rechtes zu identifizieren sucht, um diesen positivierten Rechtsbegriff als ein „ethisches Minimum“1 zu bezeichnen, dessen Inhalt man unabhängig von Ethik, Moral und jeglichem Rechtsbewußtsein bestimmen will, liegt die Frage nach dem Naturrecht sehr nahe. Von ihrer Beantwortung hängt heute in vielen Fällen der Glaube der Menschen an das Recht ab. Der Frage nach dem Naturrecht steht aber eine Reihe von sehr schwerwiegenden Entwicklungserscheinungen unseres Rechtsdenkens entgegen. Das Naturrecht diente seit der Antike als Sammelbegriff für sämtliche Lehren von richtigen Rechten, die man als natürliche Rechte bezeichnete. Ein „Naturrecht“ mit einem sich ständig wandelnden Inhalt war die selbstverständliche Folge. Bisweilen scheint es, als wäre die gesamte Rechtsphilosophie ein sich durch die Jahrhunderte abendländischen Denkens vollziehendes Gespräch, das den Naturrechtsgedanken in verschiedenen Abwandlungen zum Thema hat. Zu dieser allgemeinen Problematik der Naturrechtsphilosophie tritt in der Gegenwart noch eine besondere hinzu. Infolge der Entwicklung der Technik sind in diesem Jahrhundert mehrere bisher meist selbständig und abgeschlossen entwickelte Kulturkreise miteinander in Berührung getreten. Der noch das 19. Jahrhundert bestimmende Hochmut der Europäer, welcher ihre Kultur zu der Kultur schlechthin erklären ließ, hat damit sein Ende gefunden2, aber gleichzeitig eine vielfache Spaltung im Rechtsleben der Gegenwart sichtbar werden lassen. Je kleiner die Welt heute zu werden scheint, desto größer erscheint die Zahl all der „Naturrechte“, deren Inhalte nicht nur verschieden, sondern auch meist miteinander unvereinbar sind. Für das innerstaatliche Recht der einzelnen Staaten muß sich aber daraus nicht unbedingt ein Nachteil ergeben; anders verhält es sich mit dem Völ*  Erschienen in: Naturordnung in Gesellschaft, Staat, Wirtschaft. Festschrift zum 70. Geburtstag von Johannes Messner, hrsg. von Joseph Höfner, Alfred Verdross, Francesco Vito, Innsbruck / Wien / München 1961, S.  437 ff. 1  Georg Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 2. Auflage, Berlin 1908, S. 45. 2  Oswald Spengler, Untergang des Abendlandes, München 1923; Arnold Toynbee, A Study of History, London, Univ. Press 1947.

180

Idee und Lehren des Naturrechts

kerrecht. Das „ius inter gentes“ beruht nämlich auf bestimmten übereinstimmenden Rechtsgrundsätzen3, welche erst ein harmonisches Zusammenleben der Menschen möglich machen. Je differenzierter die Rechtsvorstellungen der einzelnen Kulturkreise sind, desto mehr ist der freie harmonische Rechtsverkehr zwischen den Völkern gefährdet4. Die Folge dieser Entwicklung ist ein Wertpluralismus in den Beziehungen zwischen den einzelnen Rechtsordnungen, der für das westeuropäische Denken schon immer bestimmend war. Es sei an den Niederschlag der verschiedenen politischen Ideologien in den Verfassungen der Staaten seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts erinnert. Die Verschiedenheit der politischen Wertvorstellungen führte oft zu Kriegen, nicht nur zwischen verschiedenen Staaten, sondern auch innerhalb eines Staates. Dieser Pluralismus der Werte5 scheint ein Festhalten an der Annahme des Vorhandenseins absoluter Werte zu verbieten, besonders deshalb, weil sich die meisten Wertsysteme nach einiger Zeit als gleitend erwiesen. Hinzu kommt noch das Bestreben der Autorität des positiven Rechtes, ihren Normen ein Maß an Rechtsgehorsam zu verschaffen, welcher aus der positiv-rechtlichen Geltung allein nicht immer möglich ist. Gesetzesbefehle, welche mit der Natur des Menschen unvereinbar waren, sollten auch ein Maß an sittlicher Geltung erhalten. So glaubte man etwa zur Zeit des Dritten Reiches, die Rassengesetze aus der „Natur der Gemeinschaft“ erklären und die Totalität des Staates als eine Totalität der Führung aus dem Naturund Lebensrecht der Gemeinschaft zwangsläufig ableiten zu können6. Das Naturrecht wurde als ein besonderes Gemeinschaftsrecht dargestellt. Da aber jede Gemeinschaft über eine arteigene Struktur verfügt, ergab sich eine Vielzahl von solchen Ordnungen. Die absolute Geltung dieses Naturrechts versuchte man aus einer angenommenen Unabhängigkeit des Wesens der Gemeinschaft von Zeit und Ort abzuleiten. So sprach auch der deutsche 3  Alfred

Verdross / Karl Zermanek, Völkerrecht, 4. Auflage, 1959, S. 12. die Folgen, die sich daraus für das christlich-europäische Völkerrecht ergeben, siehe Josef L. Kunz, Pluralismus der Naturrechte und Völkerrecht, ÖZR 1955, Band VI, S. 185 ff. 5  Hans Ryffel, Der Wertpluralismus unserer Zeit als philosophisches Problem, ARSP, 1956, Band XLII, S. 328, faßt diese Werte als gesollte Verhaltenspotentia­ litäten auf und erklärt eine Überwindung dieses Wertpluralismus „angesichts der Petrifikation aller Werte in einer ewigen ein für allemal vorhandenen Ordnung für sinnlos“. Er verlangt vielmehr eine Umstrukturierung der gesollten Verhaltens­ potentialitäten in eine universale, gesollte Verhaltenspotentialität, „in der alle anderen gesollten Verhaltenspotentialitäten sozusagen von der Wurzel her wahrhaft überwunden würden“. 6  Hans Helmut Dietze, Naturrecht in der Gegenwart, Bonn 1936, besonders S. 296. 4  Über



Idee und Lehren des Naturrechts181

Reichskanzler in einer Rede im Jahre 1934 von jenen ewigen Gesetzen, die dem aufbauenden Leben zugrunde liegen. Die Freiheit des Naturrechts wurde mißbraucht. Da dieses Recht aber nicht von einer Gemeinschaft von Menschen ausging, sondern das Wesen der dieses Recht tragenden Gemeinschaft, vor allem durch das Blut und den Lebensraum des Volkes bestimmt, angenommen wurde, ergab sich eine Mehrzahl von „natürlichen Rechten“, welche mit der Idee des Naturrechts abendländischer Provenienz nichts mehr gemeinsam hatte. Hans Fehr hat ein solches Recht bereits 1938 sehr treffend als das isolierte Naturrecht der totalitären Staaten bezeichnet7. Es ist in zweifacher Weise isoliert, einmal, weil es kein Menschenrecht ist, sondern ein Nationalrecht, welches nur von einer völkischen Gemeinschaft getragen war, und zum zweiten, weil es keinen Bezug zur Idee des Naturrechts hat, da es als gemeinschaftsbedingtes Recht weder überzeitlich noch unveränderlich war und der absoluten Geltung entbehrte. Eine Universalrechtsgemeinschaft aller Menschen war dem Charakter dieses Rechts nach ausgeschlossen. Naturrecht und positives Recht konnten in der folgenden Zeit eine scheinbare Einheit bilden8. Da aber die meisten totalitären Staaten die Freiheit des Einzelnen so weit einschränken, daß ein geistiges Eigenleben und eine persönliche Entscheidungsfreiheit dem Einzelnen genommen wird, erscheint dieser nicht mehr als ein Subjekt der Gemeinschaft, sondern eine „Natur der Gemeinschaft“ ist das Maß dieses sogenannten natürlichen Rechts. Deren nähere Behandlung liegt daher nicht mehr auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie, sondern vielmehr auf dem der Rechtspolitik. Dieser Mißbrauch des Naturrechts stellte nicht bloß die Rechtsidee in Frage, sondern gefährdete darüber hinaus auch das gesamte Rechtswertdenken. Ein Relativismus begann das Rechtsdenken zu beherrschen. Dieser mußte auch nach einer Zeit des Historismus mit zwingender Notwendigkeit eintreten. Immer mehr setzte sich auch die Auffassung durch, daß nicht die Erkenntnis Bedingung für die einzelnen Naturrechtssätze sei, sondern das weltanschauliche Bekenntnis9. Auf diese Weise machte der Rela7  Hans Fehr, Die Ausstrahlung des Naturrechts der Aufklärung in die neue und neueste Zeit, Vortrag gehalten am internationalen Historikerkongreß in Zürich 1938, insbesondere S.  26 ff. 8  Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 1. Auflage, 1936, S. 151–160; siehe dazu auch Wilhelm R. Beyer, Rechtsphilosophische Besinnung, Karlsruhe 1947, S. 45 ff. 9  Vergleich Adolf Julius Merkl, Einheit oder Vielheit des Naturrechts?, ÖZR 1953, S. 260: Ein konservativ, liberal, demokratisch, nationalistisch, faschistisch, sozialistisch, kommunistisch gesinnter Mensch kann, wenn er seiner Überzeugung freien Lauf läßt, nicht dieselben Gesetze geben, Rechtssprüche fällen und Verwaltungsakte erlassen. Jeder dieser Ideologien ist ein Schatz von Werturteilen konge­

182

Idee und Lehren des Naturrechts

tivismus10 die Existenz verschiedener weltanschaulich bedingter Naturrechtssysteme möglich. Diese haben aber nur die Fragestellung gemeinsam. Denn aus der Identität der Kategorien ergibt sich nicht auch die Selbigkeit ihres Inhaltes. Rudolf Stammlers11 „Naturrecht mit wechselndem Inhalt“ findet darauf seine Erklärung. Das soll aber nicht heißen, daß nicht manche subjektive Wertungen den Weg der Objektivierung durchgemacht hätten, um letztlich Bestandteil einer Naturrechtslehre zu werden. Der Relativismus soll aber nicht bloß ein Anlaß zur Skepsis sein; er kann vielmehr auch als ein Streben um das Absolute gewertet werden, weil wir nicht zwischen Relativismus und Absolutismus zu wählen haben, sondern weil es darauf ankommt zu erkennen, was relativ und was absolut ist12. Ein solcher Relativismus ist positiv zu werten, denn er lenkt den Blick auf die Absolute hin. Die Frage nach der Richtigkeit und Natürlichkeit des Rechtes, von dem behauptet wird, daß es einen objektiven Charakter habe, stellt sich im Rechtsdenken immer dann, wenn die Einheit von Gesetz und natürlichem Recht durch Überschreiten des Maßes an Rechtsgehorsam und dauernder Verletzung der Rechtsidee und ihrer Erscheinungsform zerbricht13. Jede Krisis des Naturrechtes ist daher auch immer eine solche des positiven Rechtes. Erich Fechner14 hat sehr treffend festgestellt, daß die Menschen mehr Blut und Leben für irrationale Werte gelassen haben als für eine Vernunftwahrheit. Die rechtsphilosophische Situation unserer Zeit findet in diesen Umständen ihre Begründung. Es wäre aber in unserer Zeit unverantwortlich, die Erschütterung des positiven Rechtes nur zu einer bloßen Neuverkündung allgemeiner Postulate nial, den man als ihr spezifisches Naturrecht bezeichnen kann, weil diese Werturteile Forderungen in bezug auf das soziale Verhalten zwischen Kollektivum und Individuum und zwischen den einzelnen Individuen zum Gegenstand haben. 10  Siehe dazu Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wert­ ethik, 2. Auflage, 1921, S. 272 ff., und Erich Fechner, Rechtsphilosophie, 1956, S. 156 ff. Alessandro Baratta stellt in seinem Artikel „Relativismus und Naturrecht im Denken Gustav Radbruchs“, ARSP, XLV / 4, S. 507, treffend fest: „Der Relativismus relativiert also die Objektivität der Wahrheit, insofern er die Universalität des Subjekts relativiert.“ 11  Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, 1896, S. 183. 12  Dietrich Schindler, Alles ist relativ, Vortrag erschienen in: Recht, Staat, Völkergemeinschaft, ausgewählte Schriften und Fragmente aus dem Nachlaß, Zürich 1948, S. 64. 13  Fechner, a. a. O., S. 179, weist bei der Betrachtung der geschichtlichen Gestalt des Naturrechts darauf hin, daß sich die Naturrechtsfrage in dem Augenblick stellen mußte, in dem die ursprüngliche Einheit von Religion, Königsmacht und Recht zerfiel. 14  Fechner, a. a. O., S.  161.



Idee und Lehren des Naturrechts183

zu benutzen, welche Anlaß für eine neue Naturrechtslehre geben könnte. Mit Recht hat daher Adolf Merkl die Frage nach der Einheit oder der Vielheit des Naturrechtes gestellt, um in deren Behandlung die Forderung nach der Substantiierung des Naturrechtes zu erheben15. Es genügt nicht, das Naturrecht als Sammelbegriff verschiedenster Normenkomplexe darzustellen, um neuerlich Anlaß dafür zu geben, die Natürlichkeit dieses Rechtes zu untersuchen. Es ist heute mehr als je zuvor ein besonderes Gebot, vom Wesen des Rechtes und vom Natürlichen ausgehend, die Idee des Naturrechtes deutlich werden zu lassen. Davon sind die zu verschiedensten Zeit oft in widersprechender Weise aufgestellten Naturrechtslehren zu trennen. II. Die Naturrechtsidee Das Vorhandensein der verschiedensten Rechtsordnungen und der oft entgegengesetzten Rechteinrichtungen hat den relativen Charakter und eine oft nur mehr hypothetisch scheinende Geltung des positiven Rechtes erkennbar werden lassen. Die Tatsache, daß diese Wesensmerkmale des positiven Rechtes trotzdem die Existenz des Rechtsgehorsams und der Geltung einer höheren Ordnung nicht in Frage stellen konnten, weist auf diese höhere Ordnung hin, welche das von ihr abgeleitete Recht als unveränderlich erscheinen läßt. Selbst Hans Kelsen mußte zugeben, daß der Vergleich des Naturrechts mit dem positiven Recht zu einem Punkt führt, „an dem sich keine prinzipielle Differenz zwischen beiden, sondern eine grundsätzliche Wesensgemeinschaft“16 ergibt. Er sieht diese in der für jede normative Ordnung bestehenden „Notwendigkeit einer Individualisierung (Konkretisierung) der generellen (abstrakten) Normen“17. Die Gemeinsamkeit von Naturrecht und positivem Recht ist aber auch in der Rechtsidee und ihren Erscheinungsformen, demnach in der obersten Stufe der Rechtsentwicklung gegeben. Die Naturrechtsidee ist die Grund­lage der Naturrechtsordnung, die auch im positiven Recht ihren Ausdruck finden kann. Die Naturrechtsidee wird aber nicht nur in der Konkretisierung ihrer verschiedenen Erscheinungsformen erkennbar18; sie zeigt sich auch in dem jahr15  Merkl,

a. a. O., S.  257. Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, 1928, S. 15. 17  Kelsen, a. a. O. 18  Alfred Verdross zeigt in seiner Abendländischen Rechtsphilosophie, Wien 1958, besonders auf S. 231 ff., den Unterschied zwischen dem die Grundprinzipien enthaltenden primären Naturrecht und dem auf die veränderlichen Umstände bezoge16  Hans

184

Idee und Lehren des Naturrechts

hundertealten Streben aller Rechtsuchenden nach einer unveränderlichen Idee, welche unbelastet von zeit- und ortbedingten Erwägungen Geltung hat. Die Naturrechtsidee darf nicht mit dem Naturrecht identifiziert werden. Dieses ist nur ein Ausdruck der Idee. Auch eine Gleichsetzung mit der Natur wäre verfehlt. Die Natur ist nämlich der Inbegriff einer Ordnung kausalgesetzlich bestimmter Notwendigkeiten19. Die Naturrechtsidee ist aus dieser erkennbar und wird so sittlicher Geltungsgrund des Rechts. Das Naturrecht ist seinem Konzept nach eine Sollensordnung. Dementsprechend sind die Naturrechtssätze zwar nicht Rechtssätze im positivrechtlichen, wohl aber im bloß normativen Sinn. Auch im Naturrechtssatz ist die Folge mit der Bedingung durch ein Sollen verbunden. Als Ausfluß des Seins ist die Naturrechtsidee die Voraussetzung sowohl für den materiellen wie auch für den formellen Naturrechtsbegriff. Das Sein tritt uns in zweifacher Weise entgegen: als wesenhaftes Sein (essentia) und als bloßes Dasein (existentia). Nur die essentia, d. h. das wesenhafte Sein ist maßgeblich für die Naturrechtsidee. Heinrich Rommen20 weist mit dem Recht darauf hin, daß Hans Kelsen diese Unterscheidung in der „Reinen Rechtslehre“ nicht macht; seine Betrachtung bezieht sich nur auf das positive Recht. Kelsen sieht nur das bloße Dasein. Der von ihm geforderte und dargestellte Dualismus von Sein und Sollen bezieht sich daher nur auf dieses (existentia). Das Sein als bloßes Dasein ist nach Kelsen die Voraussetzung des Sollens, denn „die von dem historisch ersten Gesetzgeber gesetzte Verfassung ist nur gültig unter der Voraussetzung, daß sie wirksam, daß der nach ihren Bestimmungen sich entfaltenden Ordnung die korrespondierende Wirklichkeit im großen und ganzen entspricht“21. Die Naturrechtsidee hingegen korrespondiert der essentia, dem Sein im Gegensatz zum Dasein. Und insofern herrscht zwischen Sein und Sollen nach dem naturrechtlichen Konzept eine Übereinstimmung. Die oberste Sollensnorm des Naturrechts ist: Werde Dein Sein22. Dieses Prinzip ergibt sich auch nen sekundären Naturrecht auf, wobei er in seinem Beitrag zur Festgabe für Max Gutzwiller, S. 455, die gegenseitig notwendige Ergänzungsbedürftigkeit von primärem, sekundärem Naturrecht und positivem Recht darlegt, denn „bloß in ihrer Verbindung entsteht das konkrete Recht einer bestimmten Gemeinschaft“. Dies stellt aber keine Verwischung der Grenzlinien zwischen beiden Normensystemen dar, wie dies Kelsen, a. a. O., S. 14, behauptet, sondern dient einerseits der Vermeidung einer Überforderung des Naturrechts und andererseits der Rechtssicherheit. 19  Herbert Schambeck, Der Begriff der Natur der Sache, ÖZR 1960, S. 457. 20  Rommen, a. a. O., S.  164. 21  Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1934, S. 71. 22  Klaus Ritter, Zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus, 1956, S. 24; anders Hans Kelsen, Platon und die Naturrechtslehre, ÖZR 1957 / 58, S. 2 f.



Idee und Lehren des Naturrechts185

aus der Natur des Menschen. Wenn gefordert wird, daß der Mensch der Gemeinschaftsautorität gehorchen müsse, so ist dies ein Sollensbefehl und zugleich ein Seinsurteil im angegebenen Sinn. Es entspricht der Menschennatur, die Gemeinschaft zu achten, sich ihr zu fügen und zu gehorchen, denn nur in der Gemeinschaft kann der einzelne Mensch die seinem Wesen entsprechende Entfaltung finden23. Die Naturrechtsidee muß daher als der sich aus dem Grundbezug von Sein (essentia) und Sollen ergebende Wert mit absoluter Geltung bezeichnet werden24. Dieser Wert ist aber schwer faßbar und kann nicht von der Erkenntnis eines beliebigen Einzelmenschen abhängen. Giorgio del Vecchio bezeichnet mit Recht das Bestreben der Menschen, „die Wahrheit und die Gerechtigkeit von der Genehmigung eines jeden beliebigen Menschen abhängig zu machen“, als Widersinn25. Es wäre aber unrichtig anzunehmen, die Naturrechtsidee ließe sich unabhängig vom positiven Recht verwirklichen. Auch die einzelnen naturrechtlichen Postulate bedürfen ihrer Konkretisierung. Die von Adolf Merkl für das positive Recht entwickelte dynamische Betrachtungsweise des Rechtes, welche den Zusammenhang von bedingten und bedingenden Rechtsakten deutlich werden läßt, sollte dazu anleiten, die naturrechtlichen Postulate in die positivrechtliche Gemeinschaftsordnung aufzunehmen26. Es widerspricht nicht der Eigenart des Naturrechts, wenn es seine Form im Wege der Konkretisierung ändert. Denn es bleibt als denaturiertes Recht Naturrecht im materiellen Sinn, auch wenn es positives Recht im formellen Sinn wird. Von der Naturrechtsidee reicht der Stufenbau über das primäre und sekundäre Naturrecht bis in das positivierte Naturrecht hinein. Jede Naturrechtslehre müßte daher auch angeben, auf welchen Status des Naturrechtes, auf welche seiner Konkretisierungsstufen sie sich bezieht, denn mit der Entfernung vom metaphysischen Grundprinzip durch Konkretisierung verändert sich auch die Form. Die Naturrechtsidee bleibt aber ihrem metaphysischen Gehalt nach immer gleich, mag sich auch die Rechtstechnik ihrer Verwirklichung ändern27! Die metaphysische Begründung des gesamten Rechtes durch die Naturrechtsidee entspricht ganz den Erfahrungen des Menschen. Johannes Mess23  Siehe dazu auch Johannes Messner, Das Naturrecht, Innsbruck, 3. Auflage, 1958, S. 65. 24  Siehe Fechner, a. a. O., S. 181, ebendort zitiert Hugonis Grotii de jure belli ac pacis, libri tres Moeno – Francofurti MDXXVI.-PROL. (§ 31): „Quod si qui verae iustitiae sacerdotes naturalis et perpetuae iurisprudentiae partes tractandas susciperent …“. 25  Giorgio Del Vecchio, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, Basel 1951, S. 339. 26  Siehe dazu auch René Marcic, Die bedingte Natur des positiven Rechts, JZ 1960, S. 198 ff., der von anderen methodischen Voraussetzungen ausgeht. 27  Anderer Meinung Hans Kelsen, Die Idee des Naturrechts, ÖZR 1928, S. 249.

186

Idee und Lehren des Naturrechts

ner weist auf das Wissen des Menschen von der Unerschöpflichkeit seiner Natur in der sinnenhaften Wirklichkeit, auf das Bewußtsein seines Gewissens, seiner Selbstbestimmung und Freiheit, seiner Teilhaftigkeit an einer Welt absoluter Werte hin und bezeichnet diese metaphysischen Erfahrungen des Menschen mit einem Ausdruck Henry Bergsons als die „natürliche Metaphysik des menschlichen Geistes“28. Diese Einsichten des Menschen sind vorwissenschaftlich, sie prägen aber den allumfassenden Charakter des Naturrechts29. Die Naturrechtsidee bedarf zu ihrer Erfassung nicht bloß empirischer Methoden, welche mittelbar oder unmittelbar der Natur verdeutlichen, sondern auch metaphysischer, welche die „phänomenologisch ermittelten Gegebenheiten auf die Erkenntnis des Wesens und des Grundes der übersinnlichen Wirklichkeit und auf die Erkenntnis ihrer Bedeutung durch den Menschen und die menschliche Existenz“[29?] analysieren. Danach ist die durch die Vernunft bedingte erfahrungsmäßige Wirklichkeit auf ihre Ursachen hin zu untersuchen, damit das hinter den Erscheinungen verborgene Wesen erfaßt werden kann. Das absolute Sein ist im Verhältnis zur Wirklichkeit zu sehen. F. A. Freiherr von der Heydte weist mit Recht darauf hin, daß „die Grundlage jeder Rechtsphilosophie eine Metaphysik des Rechtes sein muß. Ohne solche Metaphysik des Rechts kann man vielleicht eine Rechtslehre, niemals jedoch eine Rechtsphilosophie entwerfen30“. Eine Rechtsphilosophie, die Sein und Sollen, Gerechtigkeit (im Sinne von Rechtmäßigkeit) und Wahrheit sowie Sittlichkeit und Recht trennt, würde ihre metaphysische Basis ignorieren. Die metaphysischen Voraussetzungen des Rechts sind heute leider meist Juristen fremd. Diese begnügen sich schon seit Jahrzehnten mit einem mathematischen Denken, von dem sie sich mit logischer Folgerichtigkeit eine richtige Lösung durch den Gesetzgeber erwarten. Das ist aber unrichtig und utopisch. Das juristische und das mathematische Denken dürfen nicht gleichgesetzt werden. Dietrich Schindler weiß den Unterschied beider Denkweisen treffend zu umschreiben, wenn er sagt: „Man glaubt – und dieser Glaube liegt auch Iherings naturwissenschaftlicher Methode und Kelsens System zugrunde –, daß sich die Rechtssätze mit derselben sicheren Eindeutigkeit aus eigenen Axiomen ableiten lassen wie die Lehrsätze der Mathematik. Man übersieht aber dabei, daß die Eindeutigkeit der mathematischen Deduktion, die Eigenschaft des Einzig-Möglichen, die ihr zukommt, 28  Messner,

a. a. O., S.  370. „Das Naturrecht“ beinhaltet, dem Rechnung tragend, eine Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsethik. 30  Friedrich August Frhr. von der Heydte, Johannes Messner und das Naturrecht, ÖZR, Bd. X, 1959, S. 78, Anm. 1. 29  Messners



Idee und Lehren des Naturrechts187

dem rechtlichen Denken mangelt. Für eine mathematische Aufgabe gibt es eine richtige Lösung, für eine rechtliche Aufgabe deren verschiedene31.“ Es ist deshalb unbedingt erforderlich, daß Vernunftserwägungen und Wertentscheidungen einander ergänzen32. Nur dadurch kann es möglich werden, über die rational bedingt sichtbaren Erfahrungen hinaus das Gesamte in den Blick zu bekommen, um beurteilen zu können, was der Gesamtwirklichkeit entspricht. Die Rechtsphilosophie könnte dadurch wieder das werden, was sie auch sein soll, eine Rechtsmetaphysik33. III. Die Naturrechtslehren Alle Lehren vom Naturrecht haben eines gemeinsam: Sie setzen sich mit dem Grundbezug von Sein und Sollen auseinander. Sie bieten ein vielgestaltiges Bild erkenntnistheoretischer Versuche34, den metaphysischen Gehalt der Naturrechtsidee zu erfassen. Allgemeingültige Sätze lassen sich aus den wechselnden Naturrechtslehren nur sehr schwer erkennen. Denn in ihnen spiegelt sich die Seins- und Rechtsanschauung der betreffenden Zeit. Gustav Radbruch charakterisiert das trefflich: „Der Frage nach dem ‚natürlichen‘, das heißt dem richtigen Recht, kann Allgemeingültigkeit, jeder ihrer Beantwortungen aber nur für einen gegebenen Gesellschaftszustand, nur für eine bestimmte Zeit und für ein bestimmtes Volk Geltung zugestanden werden35.“ Die Kategorie selbst hat Ewigkeitswert, nicht aber ihre Anwendungen und deren Ergebnisse. Die Naturrechtslehre schlechthin als Bezeichnung zu verwenden heißt daher, eine oft sehr widersprechende Vielzahl als Einheit aufzufassen. Die Unsicherheit, welche den Juristen beim Gebrauch des Naturrechtsbegriffes befällt, geht vor allem auf die Vielzahl von Wertvorstellungen zurück, welche in den Naturrechtslehren zum Ausdruck kommt. Wüßte man klar zwischen der absoluten Naturrechtsidee und den zeitlich und örtlich begrenzten Naturrechtslehren zu unterscheiden, würde man nicht beiden die gleiche Be31  Dietrich Schindler, Der Kampf ums Recht in der neueren Staatsrechtslehre, Vortrag in: Recht, Staat, Völkergemeinschaft, ausgewählte Schriften und Fragmente aus dem Nachlaß, Zürich 1948, S. 22. 32  Fechner, a. a. O., S. 76, aber vor allem über die Notwendigkeit metaphysischen Fragens: S.  278 f. 33  Verdross, a. a. O., S. 188 f., weist daher begründet auf die Rückwendung der Gegenwartsphilosophie zur Metaphysik hin. Siehe auch René Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, Wien 1957, S. 76. 34  Siehe auch Josef Dobretsberger, Erkenntnistheorie und Naturrecht, in: Gesellschaft, Staat und Recht, Festschrift Hans Kelsen zum 50. Geburtstag, herausgegeben von Alfred Verdross, Wien 1931, S. 1 ff. 35  Radbruch, a. a. O., S.  107.

188

Idee und Lehren des Naturrechts

deutung beimessen. Es gilt daher, die Naturrechtslehre aus den wandelnden Wertvorstellungen verschiedener Zeiten herauszulösen. Die Rechtsidee ist von zeitlich und örtlich verschiedenen Wert- und Ordnungssystemen unabhängig. Der absolute Wert, welcher in der Naturrechtsidee enthalten ist, bleibt gleich, es ändern sich nur die „Wertträger“ und mit ihnen die Wertanschauungen . Die geltenden Rechtsordnungen lassen am besten erkennen, daß vieles, was heute als Recht anerkannt, morgen schon als Unrecht bestraft werden und bisweilen sogar den bürgerlichen Tod zur Folge haben kann. So wurde beispielsweise die Sklaverei von Augustinus und Thomas von Aquino für ihre Zeit als naturrechtsmäßig erklärt, im 20. Jahrhundert wird sie aber als eine Verletzung der primitivsten Rechtsgrundsätze angesehen36. Wenn gegen das Naturrecht der Vorwurf erhoben wird, es drücke lediglich immer das als Sollen aus, was ist, weil es nämlich zu sehr orts- und zeitgebunden sei, so erklärt sich das ebenfalls aus dem mangelnden begrifflichen Unterscheidungsvermögen; aus dem Mangel, zwischen der Idee und den vielen Lehren des Naturrechts zu unterscheiden. Es wäre unrichtig zu meinen, das Naturrecht würde nur von einer bestimmten sozialen Schichte getragen, die unbeeinflußt von den Rechtsvorstellungen der übrigen Gesellschaft auf Grund ihrer Herrscherstellung ihrem Recht zu alleiniger Geltung verhelfen könnte. Ein solches sogenanntes „Naturrecht“ wäre isoliert von jeglichem metaphysischen Gehalte des Rechtes und diente, wie bereits eingangs ausgeführt, nur der Verabsolutierung von eigenwilligen Ansprüchen autoritärer Staaten. Dieses „Naturrecht“ beruhte auf keiner Legitimität, sondern auf einer Faktizität. Es hätte mit der natürlichen Ordnung nur mehr den Namen gemeinsam und könnte der bloßen Zweckmäßigkeit seines Inhalts wegen nicht einmal als eine Naturrechtslehre bezeichnet werden, da seine subjektivistische Verengung zu weit reichte37. Johannes Messner weist mit Recht darauf hin38, daß es im Wesen der Naturrechtssätze liegt, mehrdeutig zu sein. Sie bedürfen der konkreten Anwendung in der Situation, durch welche sie bedingt sind. Je mannigfacher diese Situationen sich ändern, desto vielfacher sind die Forderungen, welche das Naturrecht an den Gesetzgeber richtet. Sie geben Anlaß zu immer neuen erkenntnistheoretischen Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis von Sein und Sollen. Sie bilden jenen „Schatz von Werturteilen“, welcher nach 36  Siehe § 16 ABGB; Heinz Guradze, Der Stand der Menschenrechte im Völkerrecht, 1956, und Verdross/Zemanek, a. a. O., S. 491 f. 37  Merkl, a. a. O., S.  258. 38  Messner, a. a. O., S.  297.



Idee und Lehren des Naturrechts189

Merkl39 jeder Ideologie gemeinsam ist und die er als „spezifisches Naturrecht“40 bezeichnet. Es bedeutet aber eine Verkennung des Wesens des Naturrechts, wenn man seinen Inhalt bloß ideologisch deuten, das heißt von den wechselnden Wertvorstellungen der jeweiligen Gesellschaft abhängig und nicht sachgebunden sehen wollte. Das natürliche Recht bedarf zu seiner richtigen Erkenntnis keiner Sinnverleihung durch eine Ideologie, sondern eines Seinverständnisses. Nur wenn man sich dieser erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Naturrechtslehren bewußt ist, kann man ihre wechselnden Folgen in der abendländischen Geschichte verstehen. Diese sind meist Ausdruck der jeweiligen Vernunftstruktur einer Zeit41. Der Inhalt der Naturrechtslehren war daher in jeder Zeit ein anderer: in der Antike der Gegensatz von Physis und Nomos, im Mittelalter die Beziehung von göttlichem Recht und weltlichem Gesetz und in der Neuzeit das Verhältnis von Vernunft und Recht. Letzteres hat in der rationalistischen Naturrechtslehre auf die Rechtsentwicklung bis in die Gegenwart nachhaltigen Einfluß ausgeübt, weshalb eine methodologische Analyse gerade dieser Strömung des neuzeitlichen Denkens gerechtfertigt erscheint. Franz Wieacker hat in seiner „Privatgeschichte der Neuzeit“42 in einmaliger Weise die geistesgeschichtlichen Wurzeln der Vernunftrechtslehre dargelegt. Danach ist die Vernunftrechtslehre nicht bloß eine Reaktion gegen die naturalistische Naturrechtslehre eines Thomas Hobbes, Baruch Spinoza, John Locke und eines Christian Thomasius, sondern die Folge jenes rationalistischen Erkenntnistriebes, der in René Descartes43 seinen erstmalig sichtbaren Ausdruck gefunden hat. Die ratio war der Jurisprudenz wohl schon immer geläufig; sie ist keine Entdeckung der Neuzeit. Man denke nur an die Exegese der justinianischen Texte. Im Dienste der Ermöglichung der Anwendung dieser Texte entstand eine strenge Bindung der ratio an die gegebene Autorität44. Als es aber Aufgabe der Vernunft wurde, die Autorität des Landesherrn rechtspolitisch zu steigern und ihr Landesrecht zu verabso39  Merkl,

a. a. O., S.  260. von Adolf Merkl verwendete Begriff des „spezifischen Naturrechts“ ist aber nicht zu verwechseln mit dem des sekundären Naturrechts. Über letzteren siehe Alfred Verdross, Primäres Naturrecht, sekundäres Naturrecht und positives Recht in der christlichen Rechtsphilosophie, in: Jus et Lex, Festgabe zum 70. Geburtstag von Max Gutzwiller, 1959, S. 447. 41  Johann Sauter, Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts, Wien 1932, S. 3. 42  Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1952. 43  Siehe dazu Herbert Schambeck, Die Tragik des cartesianischen Gedankens, Neue Wege, März 1955, 10. Jg., Nr. 103, S. 3 f. 44  Wieacker, a. a. O., S.  134. 40  Dieser

190

Idee und Lehren des Naturrechts

lutieren, wurde diese Art der juristischen Auslegung immer künstlicher und damit „naturrechtswidrig“45. Die Verbindung von Autorität und ratio bestimmte die erkenntnistheoretische Methode der rationalistischen Naturrechtslehre. Dies ergibt sich besonders aus der Lehre Samuel Pufendorfs. Das Naturrecht beruht nach ihm auf der „socialitas“, diese wieder auf der Autorität. Die Menschen bedürfen ihrem Wesen nach der Gesellschaft. Da aber im Naturzustand – nicht die Autorität, sondern die Vernunft vorherrscht, liegt darin wohl ein Widerspruch begründet46. Denn diese Richtung versuchte doch auf der von der Autorität beherrschten „socialitas“ ein System zu schaffen, in dem für die Autorität kein Platz sein kann. Dies ist ein Beweis für die vielen konstruierten Naturrechtssätze, welche letztlich auch dem Fürsten das Recht einräumten, die kirchlichen Gesetze aufzuheben. Velthusius lehrte sogar: „Wenn die Obrigkeit etwas befiehlt, was die Untertanen mit gutem Gewissen nicht befolgen können, dann dürfen sie von der allgemeinen Kirche abfallen und eine eigene gründen … unter einer christlichen Obrigkeit ist es nicht erlaubt, vom Naturrecht Gebrauch zu machen47.“ Das absolutistische Streben dieser Naturrechtslehren hatte das Ziel, die Religion vom Naturrecht soweit als möglich auszuschließen, um es auch für Ungläubige praktikabel zu machen. Dieses liebedienerische Bestreben des Vernunftrechtes hat seinen vollen Erfolg erzielen können. Das beweist die Hochblüte des Absolutismus. Das Recht des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts baut auf dem methodischen Trialismus von Vernunft, Tradition und Autorität auf. Erst durch deren Wechselbeziehung war das rationalistische System möglich geworden, als ein auf der gegebenen Gesellschafts- und Herrschaftsordnung aufbauendes autorisiertes Vernunftrecht. Ein solches Recht muß als ein konstruiertes, fiktives angesehen werden. Die Natur wurde nicht als Wirklichkeit, sondern als mathematische Größe betrachtet. Dies erklärt sich aus der dieser Zeit eigenen Mathematisierung aller Zweige der Wissenschaft48. Unter „Natur“ selbst verstand man nur einen Teil der menschlichen Natur, nämlich die ratio. Pufendorf gibt im Vorwort zu seinem jus naturae et gentium selbst an, daß er aus der Vernunft allein das Naturrecht ableiten wolle. Die Vernunft ist demnach der Erkennt45  Vergleiche die bemerkenswerte Arbeite J. Sauters, Juris naturae larva detracta, eine Naturrechtskritik aus dem 18. jahrhundert, ÖZR, 1929 (VIII), S. 244 ff. 46  Näheres siehe Anselm Desing, Juris naturae larva detracta, Jus naturae libertatum ac repurgatum a principiis lubricis et multa confusione per doctores heterodoxos inductis und ius gentium redactum ad limites suos, quos novi quidam doctores perruperant, alle München, 1752. 47  Zitiert bei Sauter, a. a. O., S. 264 f., Anm. 2. 48  Wieacker, a. a. O., S.  137.



Idee und Lehren des Naturrechts191

nisgrund des natürlichen Rechtes dieser Zeit49. Ein solches Vernunftabsolutum ist mit dem metaphysischen Apriori des Naturrechtes unvereinbar; daher ergab sich auch die Notwendigkeit, die Metaphysik zu mathematisieren50. Dies findet seinen sichtbaren Ausdruck, wie Anselm Desing in seiner bereits 1753 veröffentlichten Naturrechtskritik hervorhebt, auch darin, daß Pufendorf in seinem jus naturae et gentium metaphysische Fragen nur in den ersten sechs Kapiteln, hingegen in den restlichen 72 Kapiteln ausschließlich positives Recht behandelte51. Ein solches Naturrecht kann nicht als Wesensrecht angesehen werden. Es trägt die Züge eines bloßen Gesellschaftsrechtes, in welchen nicht die Seinsordnung die natürliche Rechtsquelle ist, sondern die autonome Vernunft. Die Grenzen zwischen physischen, moralischen, natürlichen und positivrechtlichen Bereichen sind verwischt worden. Die Gesellschaft, der Staat und das sie bestimmende Recht sollten durch das Gesetz gestaltet werden, welches gleich mathematischen Sätzen unabänderlich sein sollte. More geometrico wollte man dem physikalischen Weltbild ein juristisches nachbilden. Um dem positiven Recht natürliche Geltung zu verschaffe, war es daher auch notwendig, das Naturrecht von der Metaphysik zu emanzipieren. Dies hat sich für den Staat der Aufklärung als äußerst vorteilhaft erwiesen, weil es ihm überlassen blieb, in der Vereinigung von natürlichem Müssen und positiv-rechtlichem Sollen die Glückseligkeit des einzelnen Staatsbürgers zu bestimmen. Desing kann daher nur beigepflichtet werden, wenn er behauptet, daß die Naturrechtslehre „von Thomasius bis Wolff ein politicum transzendieren wollte“. Auf diese Weise glaubte man das Hauptproblem des Rechtsdenkens, nämlich das Verhältnis von natürlicher Ordnung und positivem Recht, bewältigt zu haben. Die eigentliche Aufgabe wurde im „Demonstrieren“ der Rechtssätze geschehen, „das die logische Evidenz des geometrischen Beweises anstrebt, und in einem ununterbrochenen Absteigen von allgemeinen zu speziellen Begriffen“52 besteht. Diese Form der Begriffsbildung hat die Rechtswissenschaft von der rationalistischen Naturrechtslehre übernommen. Das Ewigkeitsstreben dieses naturalisierten Gesetzesrechtes hat die gro­ ßen zivilrechtlichen Kodifikationen zu Beginn des 19. Jahrhunderts hervorgebracht. Wenn es sich auch in der späteren Rechtsentwicklung als ein folgenschwerer Fehler erwiesen hat, aus dem natürlichen Recht detaillierte Rechte ableiten zu wollen, so hat doch gerade diese Lehre einen unaus49  Siehe

Sauter, a. a. O., S. 247. das Naturgesetz der „mathematischen“ Welterklärung siehe näher bei Wieacker, a. a. O., S.  138, Anm.  14. 51  Sauter, a. a. O., S.  259. 52  Wieacker, a. a. O., S.  156. 50  Über

192

Idee und Lehren des Naturrechts

löschlichen Beitrag zur europäischen Kultur geleistet53, welcher sich nur aus dem einmaligen Näheverhältnis von Rechtsidee und Gesetzesrecht erklären läßt. Nur daraus kann die plötzliche Humanisierung der Rechtsentwicklung verstanden werden, welche u. a. in der Abschaffung der Folter und der Leibeigenschaft ihren Ausdruck fand. Diese Änderungen beweisen aufs neue den permanent revolutionären Gehalt des Naturrechts. Betrachtet man diese bedeutende Lehre vom natürlichen Recht abschließend, so darf nicht unerwähnt bleiben, daß die juristische Überforderung des metaphysischen Rechtsgehaltes das Naturrecht zu einer lang andauernden Krisis geführt hat. Dies geht darauf zurück, daß es im Widerspruch zu seinem Wesen vom jeweiligen Wollen des Gesetzgebers abhängig gemacht wurde, und daß man in seiner positivierten Form dem dynamischen Element der Rechtsentwicklung nicht hinreichend Rechnung trug. Die Hauptaufgabe des Naturrechts, die metaphysische Basis der absoluten Maßstäbe zu sein, nach welchen das menschliche Handeln zu messen ist, ging dadurch verloren. Ein nur unvollkommener Ersatz sind für die österreichische Rechtsordnung die „natürlichen Rechtsgrundsätze“ des § 7 ABGB. Sie kommen nach Erschöpfung der Analogie als letzte Möglichkeit der Auslegung eines positiv-rechtlichen Satzes zur Anwendung. Es handelt sich aber dabei, wie Karl Wolff im Klang-Kommentar54 mit Recht hervorhebt, „um nichts anderes als die Anwendung des natürlichen Verstandes auf die Rechtsordnung als Ganzes und ihre Auslegung“. Entscheidend ist immer, was sich aus der gesamten gegenwärtig geltenden Rechtsordnung ergibt. Der Inhalt der natürlichen Rechtsgrundsätze wird vom Gesetzgeber bestimmt. Zur Anwendung gelangt immer die Gesamtheit des Rechtes, und diese ist eine positiv-rechtlich fixierte und keine von präpositiven Regulativen bestimmte Ordnung55. Die Versuche methodischer Vereinheitlichung von Naturrecht und positivem Recht haben in den Naturrechtslehren jenes Spannungsverhältnis von Recht und Gesetz beseitigt, welches für die Rechtsentwicklung immer 53  Näher

bei Wieacker, a. a. O., S.  183 ff. zum Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch, 2. neubearbeitet Auflage, herausgegeben von Heinrich Klang, Wien 1948, S. 106. 55  Klang-Kommentar, a. a. O., S. 107: „Alles also, was sich aus dem Begriff einer Rechtsordnung und aus logisch daraus abgeleiteten Sätzen ergibt, macht den Inbegriff der natürlichen Rechtsgrundsätze aus.“ Siehe dazu auch: Moritz Wellspacher, Das Naturrecht und das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch, und Stanislaus Dniestrzanski, Die natürlichen Rechtsgrundsätze (§ 7 ABGB), Josef Maucka, Die Anwendung der Theorie der Interessenkollisionen auf die „angeborenen Rechte“, besonders S. 236 f., in: Festschrift zur Jahrhundertfeier des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, Wien 1911; Paul Koschaker, Europa und das römische Recht, 1953, S. 185; und Johannes Messner, Das Naturrecht im positiven Recht, ÖZR 1958, S. 136, bes. Anm. 17. 54  Kommentar



Idee und Lehren des Naturrechts193

fruchtbar war. Diese Gleichsetzung von positivem Recht und Naturrecht war der Beginn des Positivismus56, der heute noch andauert. Will man die Bedeutung der Naturrechtslehren erfassen, so muß man zu allererst die angegebenen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen bedenken. Sehr viele Gegensätze innerhalb der verschiedenen Naturrechtslehren beruhen nämlich auf erkenntnistheoretischen Unterschieden und finden aus diesen ihre Erklärung. „Nicht Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung, sondern Erkenntnistheorie, nicht die historische Schule, sondern die kritische Philosophie, nicht Savigny, sondern Kant hat den entscheidenden Schlag gegen das Naturrecht getan57.“ Es ist daher nicht das Naturrecht widerspruchsvoll, sondern die verschiedene Erkenntnis desselben. Die Naturrechtslehren enthalten, und darin liegt ein Unterschied zum Naturrechtsbegriff, meist keine Frage nach der richtigen Natur, sondern vielmehr nach der richtigen Erkenntnis derselben. Es gibt Begriffe, die jeder Rechtsordnung wesensmäßig immanent sind, z. B. Rechtssubjekt und Rechtsobjekt, andere aber, sie bilden den Großteil, bedürfen in jeder Zeit einer Neuformulierung. Die Bildung der Begriffe ist daher eine wechselnde und damit auch die Funktion derselbe. Welche Wandlungen hat doch der Begriff der ratio (Vernunft) durchgemacht; von der Absolutierung zur Relativierung. Je mehr aber die Erkenntnisquellen in Frage gestellt werden, desto mehr schwindet die Geltungskraft der Erkenntnis selbst. Die subjektive Meinung einiger weniger stellt noch keine objektiv-verbindliche Wahrheit dar. Die Vernunft selbst hat dadurch eine Abwertung erfahren. Alle Naturrechtslehren haben als erkenntnistheoretische Auseinandersetzung das Erkennen selbst gemeinsam. Dieses aber erfolgt nicht nur auf Grund eines „Denkens“, sondern auch mit Hilfe der „Anschauung“58. Das Denken ordnet all das, was das Sein vermittelt. Dieses Ordnen erfolgt mittels der Begriffe. Jede Erkenntnistheorie muß daher „die Anstrengung des Begriffes auf sich nehmen“59. Die Erkenntnis wurde aber überbewertet und den verschiedenen Lehren des natürlichen Rechtes eine Bedeutung beigemessen, welche die Beweisbarkeit des Wesens des Naturrechtes von der Richtigkeit der Lehren selbst abhängig machte. Darin liegt die Problematik des Naturrechts begründet. Das Erkennen, d. h. Anschauung und Denken, 56  Hans Thieme, Das Naturrecht und die europäische Privatrechtsgeschichte, Basel 154, S. 44 ff.; Hans Fehr, a. a. O., und Leo Strauß, Naturrecht und Geschichte, Stuttgart 1953, S. 18. 57  Radbruch, a. a. O., S.  107. 58  Peter Badura, Die Methoden der neueren allgemeinen Staatslehre, Erlangen 1959, S. 15. 59  Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Einführung in die Phänomenologie des Geistes, Leipzig 1920, S. 50, zitiert bei Badura, a. a. O.

194

Idee und Lehren des Naturrechts

schafft nicht, wie der Neukantianismus der Marburger Schule dargestellt hat, den Gegenstand, das Sein, sondern sie geben ihm nur die Form. Man möge die Methode nicht dadurch überfordern, daß man in der Art des Denkens das Sein selbst sieht. Die Mannigfaltigkeit der Begriffsinhalte geht meist auf die Verschiedenheit der Methoden zurück. Der Relativismus der Werte findet auch darin seine Erklärung. Dieser kann nur durch das Bestreben überwunden werden, allgemeingültige Aussagen zu machen, d. h. Ergebnisse zu zeitigen, welche „eine von Zeitepoche und Kulturbereich unabhängige Richtigkeit besitzen“60. Die Voraussetzungen allgemeingültiger Aussagen müssen mehr als bisher Gegenstand eingehender Untersuchungen werden, welche letztlich der Sachlogik die ihr gebührende Funktion zuweisen. Nur dadurch könnten die Naturrechtslehren ihrem metaphysischen Ansatz, welcher in der Naturrechtsidee gelegen ist, entsprechen; nur dadurch den Wert menschlicher Erkenntnis an der ewigen Gültigkeit der Wahrheit messen. Die bloße empirische Feststellung genügt daher genauso wenig wie eine formale Handhabung der Methode, denn die erkenntnistheoretische Aussage muß dem Wesen einer Gegebenheit entsprechen, um allgemeingültig zu sein. Deshalb muss sich die Naturrechtslehre in erster Linie um die Grundfragen des Seins bemühen61. IV. Das Wesen des Naturrechts Um das Naturrecht als ein von Zeit und Ort ungebundenes, natürliches System zu begreifen, muß auf jene Ordnung Bedacht genommen werden, welche das Wesen dieses natürlichen Rechtes ausmacht. Die Erkennbarkeit des Wesens des Naturrechts ist die unbedingte Voraussetzung für seine Anwendbarkeit62. Man verfalle aber nicht in den Fehler der Rationalisten, ein natürliches Recht zu konstruieren, denn das Naturrecht ist in der Natur des Menschen und in der Natur der Sache bereits begründet und davon abzuleiten. Das Naturrecht darf auch nicht bloß als eine Summe von formalen Normen angesehen werden, man muß in ihm vielmehr eine Summe von Normen materialer Natur sehen. Die nach dem Zusammenbruch des militanten Rechtspositivismus erhobenen naturrechtlichen Parolen bedürfen einer inhaltlichen Prüfung63. Diese 60  Badura,

a. a. O., S.  22. Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, 2. erweiterte Auflage, Karlsruhe 1959, S.  158 f. 62  Siehe Eduard Spranger, Zur Frage der Erneuerung des Naturrechts, Universitas, III. Jg., 1948, S. 405 ff.; Leo Strauss, a. a. O., S. 83: „Die Entdeckung der Natur muß der des Naturrechts vorangehen.“ 63  Fechner, a. a. O., S.  182 ff. 61  Erik



Idee und Lehren des Naturrechts195

kann aber nur auf Grund des gegenwärtig Seienden erfolgen, und nicht auf Grund des Zukünftigen, auf das unser Denken und Streben meist gerichtet ist. Man muß sich mehr als bisher um das nunc aeternum des hl. Augustinus bemühen. Die Natur muß daher als Gleichbleibendes ungeschichtlich gedacht werden, damit ihre strukturellen Zusammenhänge deutlicher werden. Denn das Gleichbleibende der Natur ist das Charakteristikum für das Wesen des Naturrechts. Alfred Verdroß hat festgestellt: „Wenn das natürlich Rechtsgesetz aus der Natur des Menschen abgeleitet wird, dann können nur jene naturrechtlichen Normen für alle Zeit und Völker gültig sein, die dem allgemeinen Wesen des Menschen entsprechen, wie es bei allem geschichtlichen Wandel immer gleich geblieben ist64“. Die Wesenheit der Natur, welche den Menschen mitumfaßt, ist immer gleich geblieben, sie verkörpert die ewigen Gesetze und zeigt sich in den Dauereigenschaften der Menschen und Sachen. Das Wesen des Naturrechts offenbart sich in der in der Natur der Dinge liegenden Seinsordnung65. Die Vernunft dient dabei nicht zu deren Begründung, sondern zu deren richtigen Erkenntnis. Das ist der Zusammenhang von Naturgesetz und Vernunft. Das Naturrecht ist kein Vernunftrecht, sondern ein Wesensrecht66. Das Naturrecht ist die Ordnung alles dessen, was der Grund einer Gegebenheit offenbart67. Der Geltungsgrund des Naturrechts liegt im Sein! Die periodischen Wiederkehren der Verkündung des Naturrechts sind keine Neubegründungen des Naturrechts, sondern nur Besinnungen auf jene Prinzipien, welche das Sein offenbart. Das Naturrecht ist seinem Wesen nach von den einzelnen Epochen und Staaten unabhängig, es bedarf zu seiner Geltung nicht erst der Anerkennung durch einen Gesetzgeber. Darin liegt sein wesensmäßiger Unterschied zum positiven Recht. Der Gesetzgeber schafft das positive Recht, das Naturrecht hingegen ist bereits vorgegeben und verpflichtet den Gesetzgeber, welcher die Realien der Gesetzeswerdung nicht frei gestalten darf, ohne darauf Bedacht zu nehmen, daß sie die Grenzen des Rechtsgehorsams und der Rechtsgeltung vorbestimmen. Diese ganze kurze Betrachtung des Wesens des Naturrechts macht schon die ganze Problematik des Naturrechts deutlich. Faßt man nämlich das Naturrecht als ein Wesensrecht auf, dann muß man sich gleichzeitig bewußt werden, daß dieses von der Natur abhängig ist. 64  Verdross,

a. a. O., S.  231. Johannes Messner, Naturrecht ist Existenzordnung, ARSP 1957, Band XLIII, S.  187 ff. 66  Vgl. Friedrich August Frhr. von der Heydte, Johannes Messner und das Naturrecht, ÖRZ, Band X, Heft I, 1959, S. 78 ff. 67  Siehe dazu Erik Wolf, a. a. O. 65  Dazu

196

Idee und Lehren des Naturrechts

Eine Vielzahl von Lehren im Bereich des Naturrechtsdenkens hat sich mit der richtigen Formulierung des Naturrechtsgedankens beschäftigt68. Alle haben aber trotz ihres meist widerspruchsvollen Charakters eines gemeinsam, nämlich daß sie ihre Aussagen in der Vielfalt des geschichtlichen Ablaufs an einer Idee ausrichten, welche für sie eine Wahrheit höherer Ordnung ist, die Naturrechtsidee. Das immerwährende Leitbild der Naturrechtsidee enthebt aber nicht von der Verpflichtung, sich gerade in einer Zeit der Besinnung auf das Ewige im Recht um einen Naturrechtsbegriff zu bemühen, der dem gegenwärtigen Rechtsgedanken in formeller und materieller Hinsicht mangelt. Im gegenwärtigen Bemühen um das natürliche Recht ist daher nichts so notwendig, wie das gesamte skizzierte Problem einer terminologischen69 und, weil die verschiedensten Disziplinen der Geisteswissenschaft berührt werden, auch einer methodologischen Untersuchung zu unterziehen. Dann erst ist es möglich, die innere Ratlosigkeit der Lehre vom richtigen Recht zu überwinden und einen Beitrag zur Rechtserkenntnis zu leisten, der unabweisbar ist.

68  Johannes Messner, a. a. O., S. 226, bezeichnet die an die Natur der Sache gebundene Seite des Naturrechts auch als ihre objektive Seite. 69  Siehe dazu Ernst Weigelin, Recht- und Naturrechtslehre, ARSP 1950  /  51, Band 39, S. 118.

Anselm Desings Kritik an der Vernunftrechtslehre der Neuzeit* 1

Es ist eine Tatsache in der Geschichte des Rechtes, daß sich die rechtsuchenden Menschen immer wieder um die Erkenntnis des Naturrechtes als eines Rechtsbestandes von präpositiven Normen bemühen. Dieses Bemühen ist fast ständig begleitet von einer Naturrechtskritik. Diese Naturrechtskritik verneint die Relevanz von Naturrechtslehren für das positive Recht, bisweilen leugnet die Naturrechtskritik das Vorhandensein des Naturrechtes als solches. Ja, es kommt sogar vor, daß auch die kritische Beurteilung einer einzelnen Naturrechtslehre zu einer Leugnung des Naturrechtes überhaupt führt. Zu den Vertretern der Naturrechtskritik, die das Vorhandensein des Naturrechts bejahen und nur eine einzelne Naturrechtslehre kritisch beurteilen, ist der im 18. Jahrhundert lebende Benediktiner Anselm Desing zu zählen. Anselm Desing setzte sich kritisch mit der Rechtslehre seiner Zeit, nämlich der Vernunftrechtslehre und ihrem Streben nach der Schaffung eines eigenen Vernunftrechtes auseinander. Da auch wir uns gegenwärtig in einem Gespräch über das Naturrecht befinden, scheint es angebracht, sich gerade jetzt mit einer Naturrechtsethik aus dem 18. Jahrhundert zu beschäftigen. Es soll daher in den nun folgenden Ausführungen 1. die Person Anselm Desing vorgestellt und seine Rechtslehre in ihren wichtigsten Grundzügen kurz dargestellt werden, um dann 2.  Desings Kritik an den führenden Juristen seiner Zeit hervorzuheben und 3. abschließend der Versuch unternommen werden, Desings Kritik zu bewerten. I. Anselm Desing und seine Rechtslehre Anselm Desing wurde am 15.3.1699 in Amberg in der Oberpfalz geboren. Er besuchte in seinem Geburtsort das Jesuitengymnasium und betrieb *  Erweiterte Fassung der vom Verfasser 1964 an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien im Rahmen seines Habilitationsverfahrens gehaltenen Probevorlesung, dessen Thema er einem Hinweis des Herrn Univ. Prof. Dr. Alfred Verdross zu danken hat. Erschienen in: Internationale Festschrift für ­Alfred Verdross zum 80. Geburtstag, hrsg. von René Marcic / Hermann Mosler / Erik Suy / Karl Zemanek. München / Salzburg 1971, S.  449 ff.

198

Anselm Desings Kritik an der Vernunftrechtslehre

anschließend von 1715 bis 1717 in Wien philosophische Studien. 1718 trat Desing in die bayerische Benediktinerabtei Ennsdorf ein, deren Abt er später werden wollte. Von 1737 bis 1743 lehrte Desing als Professor an der Universität Salzburg. Desing hatte in Salzburg auch Kleriker von Kremsmünster unter seinen Schülern und trat in der folgenden Zeit auch mit diesem oberösterreichischen Kloster in nähere Beziehungen. Die Errichtung einer Ritterakademie und der Bau einer Sternwarte in Kremsmünster gehen mit auf seine Initiative zurück. Amseln Desing war nämlich universell gebildet und gleichermaßen als Geograph, Mathematiker, Astronom, Physiker, Philosoph, Theologe, Kanonist und Historiker tätig. Um die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu verbreiten, verfaßte er auch verschiedene Lehrbücher. Anselm Desing war aber nicht allein wissenschaftlich tätig, er war auch politisch sehr interessiert. Dieses Interesse, sein Wissen und vor allem seine Fähigkeit der geschickten Verhandlungsführung veranlaßte den damaligen Fürstbischof von Passau, Josef Dominikus Kardinal von Lamberg, Desing zur Regelung von Streitfragen heranzuziehen. Als etwa die österreichische und die bayerische Regierung die Geistlichen zur Leistung außerordentlicher Steuern zu drängen suchten, wandte sich der Kardinal dagegen und Desing konnte ihm bei der Wahrung seiner Immunitätsrechte schätzenswerte Dienste leisten. Auch war Desing Rechtsbeistand des Kardinals, als diese gegenüber Österreich Rechtsansprüche auf mehrere Klöster und Städte anmeldete; Desings Gutachten fand dabei sogar die besondere Anerkennung des damaligen Präsidenten des kaiserlichen Hofrates. Diese politischen Angelegenheiten hielten aber Anselm Desing nicht ab, mit besonderer Aufmerksamkeit auch die Entwicklung des Geisteslebens in Deutschland und ihre Auswirkungen zu verfolgen. Auf der Suche nach Lehrbüchern für Kremsmünster war Desing bereits auf den Einfluß der Philosophie der Protestanten Samuel Pufendorf und Christan Wolff gestoßen. Allmählich reifte in ihm der Entschluß, von katholischer Seite der nun von Norden vordringenden Philosophie und Rechtslehre literarisch energisch entgegenzutreten, vor allem um seine Freunde und Glaubensgenossen vor der ihm durch diese Lehre drohend scheinenden Gefahr für die katholische Religion zu warnen. Als Desing im Heiligen Jahr 1750 eine Romreise unternahm und auf seiner Reise das geistige und wissenschaftliche Leben in den Studienanstalten erlebte, bestärkte ihn dies noch besonders in seinem Vorhaben. Angeeifert von Kardinal von Lamberg setzte Desing sich hierauf in einer Reihe von Studien mit der Rechtslehre seiner Zeit, nämlich der Vernunftrechtslehre der Aufklärung, auseinander. Desing hatte sich anfangs gescheut, diese Studien gleichsam als Streitschriften zu veröffentlichen. 1752 meinte er noch in einem Brief, man werde es ihm, dem Mönch, übelnehmen, daß er es gewagt habe, gegen



Anselm Desings Kritik an der Vernunftrechtslehre199

anerkannte Größen aufzutreten, zumal auch in Italien nur wenige Wolff’s Lehre entgegengetreten seien. Als Desing aber merkte, daß die Schriften der Vernunftrechtslehre, und damit also auch von den Protestanten Samuel Pufendorf, Christan Thomasius und Christian Wolff, in die hohen Schulen eindrangen und dort auf die Jugend einen gewaltigen Eindruck machten, befürchtete Desing, daß die akademische Jugend zu „aufgeklärt“ die Universitäten verlassen und eine antiklerikale Stellung beziehen würde. Aus diesem Grunde entschloß sich Desing, seine Studien zu veröffentlichen, und 1753 erschienen seine Schriften: – Juris naturae larva detracta compluribus libris sub titulo juris naturae prodeuntibus – Jus naturae liberatum ac repurgatum a principiis lubricis, multa confusione per doctores heterodoxos inductis – Jus gentium redactum ad limites suos quos novi quidam doctores perruperant. II. Naturrechtskritiken Für Desings Naturrechtskritik ist die erstgenannte Schrift Desings Juris naturae lavra detracta von besonderer Bedeutung. Um Desings Kritik an der Vernunftrechtslehre seiner Zeit zu verstehen, ist es erforderlich, seine eigene Naturrechtslehre soweit dazulegen, als es notwendig ist, um Desings Standort in der Rechtslehre zu bestimmen. Nach Anselm Desing ist alles menschliche Recht nur eine „Teilhabe“, participatio, am göttlichen Recht, da die prima et generalia praecepta der menschlichen Vernunftnatur eingeprägt seien.1 Diese Grundhaltungist orientiert an Thomas von Aquin, nach dem die lex naturalis eine participatio legis aeterna in rationali natura ist. Gleich Thomas sieht Desing die Gottesund Nächstenliebe als Fundamentalnorm an, von der der Dekalog nur eine Ausführung wäre. Das Naturrecht selbst ist für Desing eine „bestimmte Verhaltensnorm im Stande der Natur“.2 Desing nimmt nämlich an, daß Gott seinen Willen naturgemäß, d. h. durch die Seins- und Wertzusammenhänge der Welt und durch den Naturtrieb dokumentiert.3 Dabei geht Desing unter dem Einfluß von Aristoteles von dem entelechialen Strukturprinzip des Seins aus und gibt im ersten Kapitel seines Werkes Juris naturae larva detracta, De statu hominum vario betitelt, eine genetische Erklärung der Ge1  Juris naturae larva detracta, Verlag Johann Urban Gastl, München 1753, S. 6 und 37. 2  Juris naturae larva detracta, S. 8. 3  Juris naturae larva detracta, S. 10.

200

Anselm Desings Kritik an der Vernunftrechtslehre

sellschaft und ihres Entwicklungsganges. Desing geht von fünf Lebensformen aus: der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft, der Vereinigung zu einem Staate, dem Staatenbund und dem Stand der Religion.4 Nach Desing ist für die Gesellschaft, den Staat und den Staatenbund die Obrigkeit nicht essentiell, sondern akzidentell, weil die Menschen das Recht oft verletzen.5 Die genannten menschlichen Lebensformen sind für Desing gleich den naturrechtlichen Geboten nicht apriori evident, sie müssen erst mit der Vernunft erschlossen werden. Dabei unterscheidet sich Desing sehr von seinen Zeitgenossen, die einem unbeschränkten Vernunftoptimismus huldigen, während Desing doch meint, daß die menschliche Vernunft auch mannigfachen Irrtümern ausgesetzt ist. Die ratio ist bei Desing, zum Unterschied von den übrigen Zeitgenossen, nicht nur die formale Denkrichtigkeit, sondern vielmehr eine Ausrichtung auf ein Ziel, das von Desing als material-richtiges Ziel angesehen wird, nämlich Gott als das „Verum et sum(m)um bonum“.6 Diesem Ziel soll nach Desing die Vernunft zustreben, denn nur bei Beachtung dieses Zieles ist die Vernunft für Desing eine „ratio recta“.7 Für Desing ist die Gottes- und Nächstenliebe die naturrechtliche Grundnorm, die in einem Stufengang bzw. einem Stufenbau des Rechtes immer konkretere Gestalt annimmt, wobei sich nach Desing diese Fundamentalnorm durch alle Rechtsebenen hindurch konkretisiert. Da sich für Desing je nach der Entfernung von der Grundnorm auch die Modalität des Naturrechtes ändert, verlangt er von jedem Naturrechtslehrer, daß er genau angibt, welchen Status er im Auge hat. Das habe aber weder Samuel Pufendorf noch Christian Wolff getan. Nach dieser Ableitung der Rechtsordnung aus einer naturrechtlichen Grundnorm ist es verständlich, daß Desing lehrt, das Recht sei eine Entfaltungsweise der Ethik.8 Einen Ausdruck findet diese Verbundenheit von Recht und Ethik bei Desing in dem Prinzip der Gerechtigkeit.9 Die Gerechtigkeit ist für Desing das normative Prinzip des Rechtes. Neben der Gerechtigkeit hat Desing eigene Prinzipien des Naturrechtes entwickelt.10 Er unterscheidet das konstitutive Prinzip: Gottes Wesen und Wille, und die indikativen Prinzipien. Unter den indikativen Prinzipien ver4  Juris

naturae larva detracta, S. 1 ff. naturae larva detracta, S. 3. 6  Juris naturae larva detracta, S. 85. 7  Juris naturae larva detracta, S. 85 ff. 8  Juris naturae larva detracta, S. 43. 9  Juris naturae larva detracta, S. 10 f. 10  Juris naturae larva detracta, S. 21 ff. 5  Juris



Anselm Desings Kritik an der Vernunftrechtslehre201

steht Desing all das, „was den menschlichen Verstand in der Erkenntnis seines Pflichtenkreises unterstützt“.11 Die indikativen Prinzipien werden von Desing in innere und äußere indikative Prinzipien eingeteilt. Als innere indikative Prinzipien nennt Desing z. B. „notio boni et appetitus ejus“12, den natürlichen Hang des Menschen, Hilfe zu suchen in der Wahrheitserkenntnis13 und die Gleichheit der Natur aller Menschen.14 Äußere indikative Prinzipien sind für Desing der ordo rerum, die im bürgerlichen Recht enthaltenen Hinweise auf das römische Recht und die Lehren von Theologen und Rechtsgelehrten.15 Mit dieser Darstellung der Prinzipien des Naturrechtes hat sich Desing von jenen Vertretern der Naturrechtslehre seiner Zeit unterschieden, die vorgeben, daß es ein universales Naturrechtsprinzip gibt. So sei als oberstes Prinzip z. B. nach Thomas Hobbes die conservatio sui, nach Samuel Pufendorf die societas, nach Christian Wolff die perfectio und felicitas des Menschen genannt. Diesen Universalnaturrechtsprinzipien stellt Desing kritisch seinen Standpunkt entgegen, daß es ein principium unum et evidens16 nicht gibt, und erklärt in mehreren Kapiteln seine verschiedenen eben genannten Naturrechtsprinzipien. Aus der Naturrechtslehre Desings, wie er sie vor allem in der Erklärung von Gott als summum bonum ac verum, dem Hinweis auf die fünf mensch­ lichen Lebensformen, in den Ausführungen über die Prinzipien des Naturrechtes und über die Bezogenheit von Recht und Ethik dargestellt hat, ergibt sich die Grundlage seiner Kritik an der Rechtslehre seiner Zeit. Desing lehnt mit seiner Ansicht, daß das Recht nur eine Entfaltungsweise der Ethik17 ist, die von Pufendorf vorbereitete und von Thomasius vollzogene Scheidung von Recht und Moral ab. Desing legt dem Recht die Maßstäbe der Ethik an, aber einer Ethik, deren Höchstwert Gott ist und nicht ein konstruierter Wert, der Ausdruck eines politischen Zweckes ist. Den Mißbrauch des Naturrecht zu politischen Zwecken wirft nämlich Desing in seiner 1753 erschienenen Schrift Juris naturae larva detracta der zeitgenössischen Rechtslehre vor. Ihre Vertreter bezeichnet Desing als larvati juris naturae doctores18, die das Naturrecht in der Weise mißbrauchen, daß sie mit der Vernunft das geltende Landesrecht zu rechtfertigen suchen. Die 11  Juris

12  Juris 13  Juris 14  Juris 15  Juris 16  Juris 17  Juris 18  Juris

naturae naturae naturae naturae naturae naturae naturae naturae

larva larva larva larva larva larva larva larva

detracta, detracta, detracta, detracta, detracta, detracta, detracta, detracta,

S. 21. S. 29. a. a. O. S. 31. S. 32 f. S. 22. S. 43. S. 76.

202

Anselm Desings Kritik an der Vernunftrechtslehre

Kritik Anselm Desings richtet sich also nicht gegen das Naturrecht selbst, sondern vielmehr gegen die von den Vertretern seiner zeitgenössischen Rechtslehre vertretene Vernunftserkenntnis, in der Desing keinen naturrechtlichen Ewigkeitswert, sondern den Ausdruck politischer Zweckmäßigkeitserwägungen zu erkennen meint. So wirft Desing Samuel Pufendorf vor, daß er mit einer sogenannten Vernunftserkenntnis jenen Naturzustand als den richtigen bezeichnet hat, der dem damals geltenden Gesellschaftsbild entspricht. Desing beginnt seine Kritik Pufendorfs mit einer Kritik seinen Grundbegriffes der societas.19 Nach Pufendorf hat nämlich Gott den Menschen kein anderes Ziel gesetzt als jenes, welches er mit der societas erreichen kann, wobei ihm bereits in diesem Leben Lohn und Strafe zuteil werden, denn die societas ist für Pufendorf nichts anderes als die staatliche Obrigkeit, beruht doch der Trieb zur Geselligkeit, die socialitas, nach Pufendorf auf der Autorität. Hierin muß, so meint Desing, eine Widersprüchlichkeit innerhalb des Systems der Vernunftrechtslehre erkannt werden, denn nach der Grundthese dieses Systems herrscht im Naturzustand nicht die Autorität, sondern die Vernunft. Desing meint daher, es handle sich bei Pufendorf nicht um ein jus naturale, sondern um ein jus sociale, nicht um ein „jus naturae purae“, sondern um ein „jus particulare juris civilis“.20 Ein Bezug auf die Schöpfungsordnung ist bei Pufendorf nach Desing nicht mehr feststellbar.21 Als Beweis für die Richtigkeit seines Vorwurfes, Pufendorf mißbrauchte den Begriff des Naturrechtes zu politischen Zwecken, bemerkt Desing, daß sich Pufendorf in seiner Schrift De jure naturae et gentium nur in zwei von acht Büchern mit metaphysischen Streitfragen beschäftigt und nur sechs von vierundsiebzig Kapitel zur Erörterung der Pflichten der Liebe und Humanität verwendet, während er in den übrigen Abschnitten seines Buches ausgesprochen positives Recht behandelt.22 Desing schriebt, es geht ihm darum: „Puffendorffium nihil tradidisse de Jure naturae.“23 Desing hat mit dieser Kritik Pufendorfs insofern recht, als Pufendorf das Naturrecht nur als Empfehlung an den Gesetzgeber anerkennt und den Menschen im Staat an das positive Recht allein bindet. Nur im Falle der offenkundigen Verletzung eines göttlichen Gebotes läßt Pufendorf ein passives 19  De

iure naturae et gentium, 1672, 1, 2, c., 3. §§ 15–21. naturae larva detracta, S. 142 ff. 21  Diese Kritik Desings findet auch ihre Bestätigung durch Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1. Auflage, Göttingen 1952, S. 181, der darauf hinweist, daß die socialitas bei Pufendorf nicht mehr eine in der Schöpfungsordnung gegründete heilsgeschichtliche Bestimmung ist. 22  Juris naturae larva detracta, S. 145. 23  Juris naturae larva detracta, a. a. O. 20  Juris



Anselm Desings Kritik an der Vernunftrechtslehre203

Widerstandsrecht zu. Nach Pufendorf24 ist auch der grausamste Fürst ein Vater des Vaterlandes. Desing wirft in seiner Kritik Pufendorf vor, daß er die Autorität und die Gewalt der Fürsten steigern wollte und aus diesem Grund ein entsprechendes Bild vom Naturzustand des Menschen gezeichnet hat, das den ihm politisch opportun erscheinenden Zweck des positiven Rechtes rechtfertigen soll. Nach Pufendorf ist der Mensch von der Selbstliebe getragen, gekennzeichnet durch die Hilfebedürftigkeit und die Fähigkeit zu schaden und zu nützen. Dementsprechend treffen den Einzelnen auch die Gemeinschaftspflichten: keinem zu schaden, jeden zu achten und zu nützen. In seinem Werk De officio hominis et civis betont Pufendorf besonders, daß jeder die von ihm übernommenen Pflichten erfüllen soll. Mit letztgenanntem Grundsatz versuchte Pufendorf dem positiven Recht seiner Zeit die naturrechtliche Verbindlichkeit zu verschaffen. Desing hebt weiters kritisch hervor, daß Pufendorf den Landesfürsten das natürliche Recht zuerkennt, die kirchlichen Gesetze abzuschaffen, weil sie nach seiner Meinung nur auf freier Übereinkunft beruhen. Die Fragen der Religion werden von Pufendorf vom Naturrecht deshalb ausgeschlossen, weil für Pufendorf die Religion schon im Naturzustand eine freie Sache ist. Desing geißelt geradezu Pufendorfs religionspolitische Haltung und kehrt seinen Ausdruck „pestilentissima dogmata“25 gegen ihn selbst. Desing sieht durch Pufendorf die Autorität der katholischen Kirche gefährdet. Um Pufendorfs Politik aufzudecken, weist Desing darauf hin, daß Pufendorf in seiner Schrift De habitu religionis offen zugibt, die katholische Lehre zerstören zu wollen und in seiner Apologie bemerkt, von Grotius gerade wegen seiner katholischen Tendenzen abgewichen zu sein.26 Desing sieht Pufendorf Anliegen neben der Stärkung der Gewalt der Fürsten auch in dem Bemühen um eine Schwächung der Stellung der katholischen Kirche und ihrer Religion gelegen.27 Obwohl nämlich Pufendorf die Religion für eine freie Sache erklärt, erkennt er den Fürsten die potestas zu, die Religion ihrer Untertanen zu kurieren. Aus der potestas der Fürsten leitet Pufendorf sogar die naturrechtliche Befugnis ab, kirchliche Gesetze aufzuheben und neue anzuordnen. Diese Einschätzung der Obrigkeit durch Pufendorf findet ihren sichtbaren Ausdruck in dem Titel des achten Kapitels des siebenten Buches seiner Schrift Jus naturae et gentium: „Von der unverletzlichen Heiligkeit der höchsten obrigkeitlichen Gewalt.“ Ganz im Sinne Pufendorfs hat übrigens auch Velthusius erklärt: „Unter einer christlichen Obrigkeit ist es nicht erlaubt, vom Naturrecht Gebrauch 24  De

officiis hominis et civis naturae larva detracta, 26  Juris naturae larva detracta, 27  Juris naturae larva detracta, 25  Juris

iuxta legem naturalem libri II, 1673, II, 9 § 4. S. 114 ff. S. 149. S. 65.

204

Anselm Desings Kritik an der Vernunftrechtslehre

zu machen; nachdem die Frage der kirchlichen Leitung noch nicht ganz geklärt ist, sind nur die expressa mandata zu befolgen.“28 Desing hat aber nicht allein Pufendorf kritisiert, sondern auch Christian Thomasius, dem er vorwirft, eine Geschichte des Naturrechtes schreiben zu wollen, dabei aber mit der Behauptung zu beginnen, daß die Lehre Christi in den Jahrhunderten vor Luther verdorben wurde29, so daß es vor Luther auch kein Naturrecht gegeben hätte. Daraus ist zu ersehen, daß es Desing vor allem um eine Kritik der Rechtslehre seiner Zeit unter dem Aspekt der Religionspolitik geht. Er ist bestrebt, die Gottes- und Nächstenliebe als oberstes naturrechtliches Gebot und die Stellung der katholischen Kirche zu verteidigen. Dies wird auch deutlich in der an Christian Wolff geübten Kritik. In zwei Kapiteln setzte sich Desing mit Wolff auseinander. Ihm wirft er vor, daß er wohl das Naturrecht „in ipsa essentia atque natura rerum“ begründet sieht, dann aber die natura auf die ratio eingeschränkt hat, um schließlich die Vernunft als einzige Rechtsquelle anzusehen. Dazu bemerkt nun Desing, daß es ein Sophisma sei30, zu sagen, die Natur sei zwar abhängig von Gott, weil sie ein Werk Gottes ist, die Erkenntnis der Natur sei aber unabhängig von Gott. Nach Desing wird von Wolff Gott und die Religion, gemeint ist die katholische Religion, aus dem Naturrecht ausgeschlossen. Desing muß auch bei Wolff die Gefahr der gewollten Stärkung der Fürstengewalt erblickt haben, da er auch Wolffs oberstes Prinzip, die Glückseligkeit, kritisiert, denn nach Desing haftet der menschlichen Natur nicht die Glückseligkeit an, sondern eine Unsumme vom Elend.31 Obgleich Wolff den Untertanen ein aktives Widerstandsrecht zuerkennt, wenn etwas gegen den Grundsatz der Glückseligkeit und der Wohlfahrt befohlen wird, und damit betont mutiger für das Naturrecht eintritt als Pufendorf32, ist nach Desing durch die Zweckbestimmung der Wohlfahrt im Staat als Folge der Glückseligkeit des Menschen als obersten Rechts- und Sittengrundsatz die Fürstenautorität dadurch gesteigert worden, daß dieser das Recht eingeräumt wurde, das zu bestimmen, was nach ihrer Meinung der Wohlfahrt dient. III. Warnung vor der Vernunftrechtslehre Will man die Kritik Anselm Desings an der Naturrechtslehre seiner Zeit beurteilen, so muß man sich vor Augen halten, daß es Desing vor allem, 28  Opera

I, 370. naturae larva detracta, S. 153. 30  Juris naturae larva detracta, S. 177. 31  Juris naturae larva detracta, S. 200. 32  Siehe Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Wien 1963, S. 140. 29  Juris



Anselm Desings Kritik an der Vernunftrechtslehre205

wie er auch in Briefen an Freunde betont hat, darum gegangen ist, die jungen Katholiken vor der Vernunftrechtslehre der Protestanten Pufendorf, Thomasius und Wolff zu warnen. Er erklärt selbst in seinem Buch Larva detracta: „Sed periculum juventutis parentumque liberos suos periculo objicientium religionis verae Deique me amor impulit.“33 Der Zweck seiner Schriften war ein apologetischer. Er war bestrebt, nachzuweisen, daß dieses „neue“ Naturrecht, wie er es bezeichnete, von falschen Prinzipien ausgeht, und wen es Gott ausschließen und die Vernunft allein als Quelle des Naturrechtes anerkennen will, um dadurch zu einem „voraussetzungslosen“ Naturrecht zu gelangen, letztlich auf einen politischen wie religiösen Umsturz abzielt. Er bemühte sich daher um eine systemimmanente Kritik seiner Gegner und den Nachweis, daß diese Rechtslehre sich bloß den Anschein gibt, mit der Religion nichts zu tun zu haben, in Wirklichkeit aber mit den christlichen Grundsätzen in Widerspruch steht. Er befürchtete, daß ihre Lehre zum Indifferentismus und Naturalismus führt und wollte den Zusammenhang des Naturrechtes mit der Moral und Theologie verteidigen. Diese apologetische Haltung Desings ist verständlich, wenn man bedenkt, daß das Naturrecht ja ursprünglich an den theologischen Fakultäten im Rahmen der Moraltheologie gelehrt wurde und es unter dem Einfluß des Protestantismus zur Errichtung von eigenen Lehrstühlen für Naturrecht, also getrennt von der Moraltheologie, gekommen ist. So war Samuel Pufendorf an der Universität Heidelberg Inhaber der ersten deutschen Lehrkanzel für Naturrecht und Völkerrecht. Ein weiterer Grund für Desings Stellungnahme zur Rechtsphilosophie seiner Zeit waren die damaligen kirchenpolitischen Strömungen. Bereits 1748 hat Desing in Briefen die Befürchtung ausgesprochen, es könnte eine Säkularisationsbewegung zu einer Verstaatlichung der Kirchengüter und einer starken Beschneidung der Erbberechtigung der Klöster führen. Desing war daher bemüht, den Vorwurf, die Kirche sei ein Staat im Staat, zurückzuweisen und stellte dem die Definition des Staates entgegen, nach welcher der Fürst und das gesamte Volk, damit auch die Priester, den Staat bilden; er lehnte es ab, einen Teil der Gesellschaft allein als Staat anzusehen. Da für Desing der Staat ein beseelter Körper ist, wie er in dem ebenfalls 1753 erschienenen Buch „Opes sacerdotii“ betonte, kommt der Kirche nach Desing in der Aufgabe der Sorge für die Seele eine notwendige Funktion auch im Staat zu. Desing erklärte, daß die Kirche universal sei und alle Völker zum Wohle jedes einzelnen Staates vereine. Diese Feststellungen Desings richteten sich vor allem gegen die papstfeindliche Haltung der Protestanten und ihre Auffassung vom Verhältnis Staat und Kirche. Desing wollte in seinen genannten Büchern die Autorität und die Tradition der 33  Juris

naturae larva detracta, Vorwort, S. 4.

206

Anselm Desings Kritik an der Vernunftrechtslehre

Kirche und ihrer Schriftsteller verteidigen und die Gegner der Kirche entlarven. Diese Entlarvung hatte seine Gegner überrascht. Zu seiner Hauptkritik in Juris naturae larva detracta ist keine Gegenschrift erschienen. Eine Jenenser philosophische Dissertation über Desing von Georg Daniel Moog aus 1756 geht auf seine Kritik gar nicht ein. Es hat den Anschein, also würden ihm sogar seine Gegner ein bestimmtes Maß an Achtung zollen, denn noch 1753 schrieben die von seinen Gegnern betreuten „Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen“: „Wir lassen hier unsere Leser das Urteil von den Herrn Paters Gelehrsamkeit fällen; leugnen aber nicht, daß uns die Mühe nicht reue, die wir auf die Lesung seiner Schriften verwendet, und daß, wenn wir gleich nicht allen beipflichten können, wir doch viel Gutes darinnen vorgefunden haben.“ Es ist selbstverständlich, daß Desings Freunde auf ihn sehr stolz waren. Kardinal Angelo Quirine schrieb Desing, man sollte in jeder Stadt eine Professur (publica cathedra) zur Erklärung seiner Werke errichten und meint, dies sei in der Stadt Rom nicht weniger notwendig als in anderen Städten Italiens. Kardinal Pozzonelli von Mailand wünschte Desings Bücher in die Hände der Fürsten und Minister. Wenn auch Desings Naturrechtskritik zu seiner Zeit nicht widerlegt wurde, ja sogar mehr als einen bloßen Achtungserfolg erringen konnte, war ihr die Breitenwirkung versagt geblieben. Es war den genannten Vertretern der Vernunftrechtslehre durch ihre Absage an den traditionellen Autoritätsglauben gelungen, sich eine weitgehende Anerkennung zu verschaffen und auf die Rechtsentwicklung, wie die Kodifikationen zeigen, einen nachhaltigen Einfluß auszuüben. Dieser Umstand darf uns aber bei einer Betrachtung der Zeit der Vernunftrechtslehre ihren Kritiker Anselm Desing nicht übersehen lassen, dessen Leistung auch heute noch achtungsgebietend ist.

Die Schule von Salamanca und ihre Bedeutung heute* 1

Die Geschichte, die jeder von uns durchlebt und die sich mehr oder weniger durch ihre schöpferische Tätigkeit innerhalb der eigenen Möglichkeiten bestimmend auswirkt, kann rückblickend als eine Reihe von verschiedenen Strömungen sowie als eine parallele Entwicklung von einzelnen Begriffen verstanden werden. Ein solcher Blick auf das Geschichtliche ermöglicht es, im Laufe der Zeit ein gewisses Maß an Eschatologie zum Tragen zu bringen, dies als direkte Einladung an uns, der Geschichte und somit der ebenso gleichzeitig von ihr bestimmten Politik den Maßstab der Ethik anzulegen. Ich möchte diese einführende Beurteilung als Ausdruck meiner persönlichen Auffassung anlässlich meines Eintritts in die Real Academia de Ciencias Morales y Políticas de España zu Beginn meiner Ausführung festhalten. Ihr anzugehören ist für mich eine große Ehre und bedeutet eine besondere Freude, da sich mit die Möglichkeit eröffnet, meine persönliche Haltung gegenüber der reichen Tradition ihres juridischen Denkens auszudrücken. I. Politik und Ethik Jedoch ist das Verhältnis von Politik und Ethik, ausgedrückt auf besondere Art durch die Namensgebung dieser unserer Akademie, nicht offensichtlich. Beinahe die gesamte Geschichte des öffentlichen Lebens bedeutet eine Diskussion darüber, ob die Politik an den Anforderungen der Ethik zu messen sei. Unter ähnlichen Umständen wie diesem, in dem ich mich befinde, verneinte Paul Valéry die Bedeutung der Ethik in Hinblick auf ihre Anwendung als Tugend. In seinem Diskurs vor der französischen Akademie in Paris, einige Jahre vor dem Ausbruch des zweiten Weltkriegs, erklärte er: „Die Tugend, meine Herren, das Wort Tugend ist tot oder mindestens stirbt es aus. Den Geistern von heute bietet es sich nicht mehr als unmittelbarer Ausdruck einer *  Vortrag gehalten im Rahmen der Real Academia de Ciencias Morales y Políticas in Madrid am 5. Juni 1990. Erschienen in: Anales de la Real Academia de Ciencias Morales i Politícas, año XLII, número 67; aus dem Spanischen übersetzt von Karin Forsthuber.

208

Die Schule von Salamanca und ihre Bedeutung heute

vorgestellten Wirklichkeit unserer Gegenwart dar … Ich selber muss gestehen: ich habe es nie gehört, oder viel mehr – was viel schwerer wiegt – ich habe es immer nur mit dem Vorzeichen der Seltenheit und in ironischem Sinne erwähnen hören in den Gesprächen, die man in der Gesellschaft führt. Das könnte bedeuten, dass ich eben nur in schlechter Gesellschaft verkehre, setzte ich nicht hinzu, dass ich mich auch nicht erinnere, es in den meistgelesenen oder sogar höchstgeschätzten Büchern unserer Tage angetroffen zu haben. Endlich ist mir auch keine Zeitung bekannt, die es druckt, noch fürchte ich, es außer in komischer Absicht zu drucken wagte.“1 Laut Valérie ist der Moment erreicht, an dem die Wörter „Tugend“ und „tugendhaft“ nur noch im Katechismus, in der Komödie, in der Akademie oder in der Operette angetroffen werden. Der katholische Philosoph Josef Pieper beurteilte in seinem Werk „Über das christliche Menschenbild“ die Diagnose von Paul Valérie als „unbestreitbar korrekt“2 und identifizierte damit eine zeitlich begrenzte Situation, die der protestantische Theologe Walter Künneth richtigerweise im Untertitel seines Werkes „Die christliche Ethik des Politischen“, Berlin 1954 als „Politik zwischen Dämon und Gott“ bezeichnete. II. Das Zeitalter Karls V. Es gibt sicher Zeiten in der Menschheitsgeschichte, in denen Konfrontationen dieser Art gelebt werden, die zum Nachdenken über die Grundhaltung einladen und Ergebnisse hervorbringen, deren Bedeutung über die spezifischen Umstände hinaus bestehen bleibt. Eine solche Epoche war die von Karl V. und, als bleibender Beitrag derselben, die Schule von Salamanca (La Escuela de Salamanca). Aus diesem Grund ist es eine Freude für mich, heute hier über diese Epoche zu sprechen, obgleich in der Kürze, die eine Rede erfordert. Es war jene eine Zeit, in der Österreich und Spanien vereint waren, wie wir wissen, in einem Reich, in dem die Sonne nie unterging. Es war auch eine besondere Periode der Menschheitsgeschichte, die „zurückblickend zugleich als Beginn und Ende anzuerkennen ist“3. Wer würde leugnen, dass wir zehn Jahre vor dem Jahr 2000 etwas Ähnliches erleben, vor allem, wenn wir an Osteuropa und an das deutsche Volk denken. Die unentwegte Verletzung der Freiheit und der Menschenwürde hat in einzelnen Staaten zu Volksaufständen geführt, anfangs unorganisiert haben 1  Europäische Revue, Band 11, 1935, S. 657 ff. und Œuvres Band 1, Paris 1957 S.  937 ff. 2  Josef Pieper, Über das christliche Menschenbild 7. Aufl., München 1964, S. 18. 3  Heribert Franz Köck, „Das Zeitalter Karls V.“, in: Mitteilungsblatt der Vereinigung der Caballeros von Yuste im deutschen Sprachraum, 4 / 1979, S. 18.



Die Schule von Salamanca und ihre Bedeutung heute209

sie Systeme gestürzt und neue Staatsformen geprägt. Ein Denken bahnt sich seinen Weg, sich von den Ideologien abwendend, um sich auf das Gemeinwohl der Völkergemeinschaft zu konzentrieren, es kann auf beiden Seiten des Ozeans beobachtet werden, so wie das Imperium Karls V., das in jener Epoche der Schule von Salamanca die Welt umfasste. In den letzten Tagen habe ich persönlich dieses Interesse erlebt. Ich komme gerade aus den USA, wo ich genau vor einer Woche eingeladen war, um im Kapitol eine Rede über den Entwicklungstrend des Europas von morgen zu halten. Bei dieser Gelegenheit konnte ich die Bedeutung der europäischen Traditionen und Entwicklungstrends, wie hier konkret des Föderalismus und des Regionalismus, in der Neuen Welt feststellen. Auf weltweiter Ebene – ebenso wie es dieser Tage bei den Treffen der politischen Führer geschieht – stellte auch die Epoche von Karl V. in der die Krone des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Spaniens Katholizität sowie die universelle Weite seiner Gebiete verbunden waren, deutlich eine einzigartige Faszination und zugleich ebenso Gefahren aber auch Möglichkeiten dar. III. Die Schule von Salamanca Mein österreichischer Freund und Kollege Heribert Franz Köck, Schüler von Alfred Verdross und Dekan an der Fakultät für Rechtswissenschaften in Linz, sagte diesbezüglich bereits richtigerweise: „Vieles von dem was in jenem Monat angefertigt wurde, war, aufgrund des Fortschritts der Wissenschaft und der Technik, seit Langem überholt. Mit Karls Infanterie ist heute kein Krieg mehr zu gewinnen, mit der Verwaltung aus jenen Tagen ist heute kein Staat mehr zu regieren. Jedoch bleiben die erworbenen Kenntnisse über den Menschen, den Staat und die Völkergemeinschaften unübertroffen. Deshalb wird der Beginn des modernen Völkerrechts treffenderweise mit Spanien verbunden und mit ihm mit jener Stadt, die als Wiege dieser Wissenschaft gilt, Salamanca“4. 1. Francísco de Vitoria und die Entstehung des modernen Völkerrechts Diese beachtenswerte Bedeutung wird – sogar aus heutiger Sicht – der Schule von Salamanca nicht nur deshalb gerecht, sondern auch aufgrund der Tatsache, ihre ethischen Prinzipien formuliert zu haben – immer mit Bedacht auf den Stand jener Dinge, die geordnet werden sollten. Dabei muss4  Köck,

a. a. O. S.  21.

210

Die Schule von Salamanca und ihre Bedeutung heute

te von einem klaren Bewusstsein gegenüber dem Problem für die jeweilige Epoche ausgegangen werden, und, da sie auf die spanische Kolonialpolitik ausgerichtet war, auch von einem Wissen über den Stand der Dinge in der Neuen Welt. Die theoretischen Anforderungen orientierten sich an der konkreten Praxis. Was allgemein als Einführung in die Methode der spanischen Kolonialethik dieser Spätscholastik galt, ist vor allem für ihren Begründer und zweifellos wichtigsten Vertreter, Francísco de Vitoria, gültig. Francísco de Vitoria hatte in Paris mit dem Holländer Peter Crockaert studiert, der das bis dahin an den Universitäten verwendete Handbuch von Pedro Lombarda durch die Summa theologica von Thomas von Aquin ersetzt hatte; und, wie mein Lehrer Alfred Verdross, der ein Wiederentdecker von Vitoria war, bereits unterstrich, ersetzte er das eher negative Menschenbild seitens der Reformer Luther und Calvin durch ein positiveres, nach welchem die Vernunft des Menschen durch die Ursünde sicherlich getrübt gewesen war, sie jedoch grundsätzlich gesund und imstande war, das Rechte zu erkennen. Die recta ratio präsentiert sich bei Vitoria nicht primär – wie später bei Descartes und Hobbes – als bloße Vernunft, die zählt, misst und beschreibt, sondern als die Vernunft, die nach dem Ziel und dem Sinn fragt5. Wie man weiß, plädierte er mit dieser praxisorientierten Vernunft in seinen berühmten, 1538 und 1539 an der Universität von Salamanca gehaltenen Vorlesungen Relectiones de Indis zugunsten der juridischen Subjektivität der heidnischen Völker, ebenso wie für deren Recht auf Unabhängigkeit und Autonomie. Die bereits in der stoischen Schule verfochtene Idee von der moralischen und juridischen Einheit der Welt nahm bei Vitoria juristische Formen an. Für ihn ist die ganze Welt (totus orbis) eine breite juridische Gemeinschaft und die Beziehungen aller Völker untereinander sind reguliert mittels jenes Rechtes, das er bekanntlich als Erster Ius inter Gentes nannte. 2. Naturrecht als Grundlage der menschlichen und staatlichen Beziehungen Offensichtlich besitzen für Vitoria alle Menschen eine soziale Natur, unabhängig von ihrem Glaubensbekenntnis6. Man kann von einem Recht auf Gemeinschaft und natürliche Kommunikation sprechen7. Ebenso begründet 5  Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2.  Aufl., Wien 1963. S.  92 f. 6  De potestate civili, 4 und 6 (relectiones teologícas, ed. crit. Version und Anmerkungen von L.G. Alonso Getino. 3 Bände, Madrid 1933–1935). 7  De Indis recenter Inventis, tit. leg. 1 und 3.



Die Schule von Salamanca und ihre Bedeutung heute211

sich die staatliche Gemeinschaft und die der Völker im Naturrecht8. Das Völkerrecht begründet sich nicht auf einfachen Abkommen der Menschen untereinander, sondern hat auch die Kraft eines Gesetzes. Kein Staat kann sich dem Völkerrecht entziehen, denn es ist auf der Autorität über die ganze Welt (Iatum totius orbis auctoriate) begründet9. Für Vitoria können weder der Papst noch der Kaiser nach der Regierung der Welt trachten, denn weder Gott noch die Völker selbst haben ihnen dieses Recht erteilt10. Für ihn existieren Güter, die nach dem Naturrecht allen Völkern gehören, wie das Meer, die Flüsse und Häfen11. Vitoria übernimmt Grundsätze aus dem Naturrecht und damit auch aus dem Völkerrecht für die Ureinwohner von Westindien und verpflichtet deren Mitbürger dazu, diese zu befolgen: Achtung vor dem Leben und dem Eigentum der anderen, persönliche Freiheit, Recht auf friedliche Kommunikation und Handel, Selbstverteidigung, Reziprozität in der Erfüllung von Verträgen12. Vitoria bemühte sich, eine Theorie des gerechten Krieges aufzustellen, in der er als einzigen Grund, und erst nachdem alle friedlichen Mittel gescheitert sind13, die erlittene Ungerechtigkeit14 für diesen anerkennt, jedoch nicht den der Verbreitung der Religion15. In diesem Sinne also ist er gegen die missionarische Gewaltanwendung – und Andersgläubigkeit ist für ihn kein Grund, der einen Krieg rechtfertigt. Als Folge der naturrechtlich begründeten Solidarität zwischen allen Menschen sind die einzelnen Staaten der Völkergemeinschaft befugt, gegen jene Staaten zu intervenieren, die die Menschenrechte verletzen16. Aus diesem Grund und auf diese Weise, wie bereits Alfred Verdross aufzuzeigen vermochte, ist das Völkerrecht von Vitoria nicht nur ein zwischenstaatliches Recht, sondern auch ein Recht der Menschheit (ius humanitatis)17. Mit dem Ziel, einen Gesamtüberblick zu bieten, sei darauf hingewiesen, dass bereits vor Vitoria eine kolonialethische Diskussion geführt wurde. Wie Joseph Höffner, damals Professor an der Universität Münster und danach Kardinalerzbischof von Köln, in seinem Werk „Christentum und Menschen8  De

Ind. tit. leg. 3. potestate civili, 21. 10  De Ind. II. 1 und 2. 11  De Ind. III., 1 und 2. 12  De pot. civ., 21. 13  De Ind. III. 6. 14  De jure belli, 13. 15  De jure belli, 10. 16  De Ind. III. 12. 17  Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, ebd. S. 88. 9  De

212

Die Schule von Salamanca und ihre Bedeutung heute

würde“, in seiner zweiten Auflage mit dem Titel „Kolonialismus und Evangelium“18 betonte, begann diese Diskussion bereits im Jahr 1512 in Burgos, als Matías de Paz den Bericht De domino regum Hispaniae super indio verfasste, von dem Vitoria keine Kenntnis erlangte. Hervorzuheben ist die Tatsache, dass Vitoria, obgleich er den Text Comentario de las sentencias de Pedro Lombardo des Pariser Nominalisten John Major, bezüglich der Westindien-Frage kannte, ihn nicht zitiert19. Ebenso hatte sich der Italiener Thomas Cajetan (1469–1534) gegenüber der Kolonialethik in seinem Kommentar zur Summa theologica geäußert, jedoch ohne explizite Nennung weder Amerikas noch der Indianer. Da Cajetan die Neue Welt nicht ausdrücklich erwähnte, ist es verständlich, dass Vitoria später, als er 1538–1539 seine berühmte Vorlesung „über die jüngst entdeckten Indianer“ herausbrachte, sagen konnte, er habe kein Schriftstück zu dieser Frage gesehen und auch niemals an einer Auseinandersetzung teilgenommen20. Es ist bekannt, dass Vitoria in seinen Vorlesungen zu aktuellen Fragestellungen einen Standpunkt einnahm. Zu Weihnachten 1528 sprach er über die zivile Macht, am 25. Jänner 1530 über die Scheidung Heinrichs VIII. von England, 1532–1534 über die Macht der Kirche, des Papstes und der Konzilien, 1537–1538 über die Kannibalen sowie 1539 über die Neue Welt und die spanische Eroberung. Wir wissen, dass Vitoria seine Werke nicht veröffentlichte und sie nur dank der Mitschriften der Hörer seiner Vorlesungen überliefert und später gesammelt in Buchform veröffentlicht wurden. 3. Francisco Suárez und das Gemeinwohl der Menschheit Die beste spätere Weiterentwicklung der Lehre über die Völkergemeinschaft von Vitoria ist zweifellos die von Francisco de Suárez, dem wir die Prägung des bonum commune humani generis21 verdanken, das heißt des Gemeinwohls der Menschheit als zentrales Konzept des Völkerrechts. Suárez versteht darunter das Gemeinwohl der Staaten wie bonum commune omnium nationum22. Unter Volk versteht er die Gemeinschaften mit staatlicher Organisation. Jeder einzelne Staat sollte sein eigenes Wohl nur eingefügt im und dem Gemeinwohl der Menschheit untergeordnet erreichen. 18  Joseph Höffner, Kolonialismus und Evangelium, Spanische Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, WVT Trier, 1969 S. 251. 19  Vgl. Pedro Leturia „Mayor y Vitoria ante la conquista de América“ in Anuario de la Asoc. Fr. de Vit. Band III (1932) S. 32 ff. 20  De Ind. 21  De bello, sesct. 6 Nr. 5. 22  De legibus ac Deo legislatore, II. Kap. 20, Nr. 8.



Die Schule von Salamanca und ihre Bedeutung heute213

Suárez zeigte bereits die Möglichkeit der Organisation der Staatengemeinschaft auf, davon ausgehend, dass die Staaten die Freiheit besitzen, um auf den Krieg als Mittel zur Durchsetzung des Rechts zu verzichten und ein überstaatliches Entscheidungszentrum mit koerzitiver Macht zu implementieren23. Der Zeitraum und der Themenumfang, auf die sich meine Ausführungen begrenzen, gestatten es leider nicht, an weitere Thesen von Suárez und anderen Vertretern der Schule von Salamanca zu erinnern. Ich möchte jedoch zumindest folgende Namen erwähnen: Luis de Molina (1535–1600), Domingo de Soto (1495–1560), Melchor Cano (1509–1560), Domingo Bañez (1528–1604), Bartolomé de Medina (1527–1580), Gregorio de Valencia (1549–1603), Diego de Covarrubias y Leyva (1512–1577), Fernando Vázquez (1512–1569), Bartolomé de Las Casas (1474–1566), Martín de Azpilucueta genannt Navarro (1493–1586) und Alfonso de Castro (1495–1558). IV. Das geistige Klima zur Zeit Karls V. 1. Toleranz Die Tatsache, dass Vitoria und mit ihm die Vertreter der Schule von Salamanca mehr oder weniger ungestraft ihre Lehre verfechten konnten, welche der Rechtsberater von Karl V., Sepúlveda, aufgrund der Ausrichtung gegen die dominierende Konzeption der Rechtfertigung des Weltreiches und somit der spanischen Herrschaft über die Neue Welt als Delikt einstufte, spricht für die Existenz eines bemerkenswerten Maßes an Toleranz und mit ihr auch an Kultur. Karl V. wusste von der Lehre Vitorias und der Schule von Salamanca. Er lud Vitoria sogar zum Konzil von Trient ein, was dieser jedoch nicht annehmen konnte und mit der Antwort abschlug, er wäre eher unterwegs ins Jenseits als an sonst einen Ort auf der Welt.24 Sein Handeln und das seiner Schule entbehrten nicht des Erfolges. Das ist ersichtlich in den „leyes nuevas“ (Neuen Gesetzen) für die Neue Welt, dank derer ab 1542 die Versklavung der Indios allmählich abgeschafft und die Vergabe ihrer Ländereien an die Spanier verboten wurde. Man stellte, was die Abgaben betraf, die Ureinwohner und die Spanier gleich. Joseph Höffner beurteilt diese Gesetzgebung zweifellos als praktischen Erfolg dieser kolonialethischen Untersuchungen, womit im 16. Jahrhundert Maßnahmen zum Schutze der Einwohner Amerikas getroffen wurden, die „im Westen bis zum 19. Jahrhundert nicht praktiziert wurden“25. 23  De

legibus, II. Kap. 19, Nr. 8. G. Alonso Getino; El Maestro Fray Francisco de Vitoria y el renacimiento filosófico-teológico del siglo XVI, S. 117. 25  Höffner op.cit. S. 414. 24  Luis

214

Die Schule von Salamanca und ihre Bedeutung heute

2. Menschenrechtliche Ansätze Etwas Ähnliches, nämlich Bahnbrechendes, kann von der Schule von Salamanca behauptet werden, nicht nur bezüglich der sozialen Rechte, sondern auch der Menschenrechte.26 Antonio Truyol y Serra hat es so ausgedrückt: „Charakteristisch für das spanische philosophisch-juridische Denken ist die Tatsache, dass sein Beitrag zur Lehre über die Menschenrechte seinen Ausgangspunkt und zugleich seinen Höhepunkt im Bereich des Völkerrechts hatte. Und paradoxerweise, nämlich am Vorabend des Entstehungsprozesses der Idee der Menschenrechte als solche, erhielt er in seiner Essenz, wie wir wissen, seinen ersten Impuls im Rahmen des internen Rechts zu Beginn der Neuzeit“.27 V. Der politische Bedeutungsverlust Spaniens und die Abkehr von der christlichen Naturrechtslehre Leider war die Epoche, die der Schule von Salamanca folgte, der Umsetzung dieses ethisch-spätscholastischen Gedankens offenkundig nicht förderlich. Das Reich Karls V. war zweifellos die letzte christliche Universalmonarchie, die von politischen Unstimmigkeiten, bewaffneten Konflikten sowie der religiösen Spaltung als eine Folge der Reformation begleitet wurde. Was Spanien betrifft, hat Franz I. von Frankreich das Karl V. im Jahre 1526 im Friedensvertrag von Madrid gegebene Versprechen gebrochen, es folgte der Aufstand 1527 der Niederlande, die Niederlage der Armada 1588, der Friede zu Vernius 1598 und der Pyrenäenfriede 1659. Frankreich, das Spanien als Vormacht in Europa ablöste, erreichte nie die politische und geistliche Macht von derselben Entschlossenheit in Europa so wie dies möglich war in der Zeit Karls V. und der Schule von Salamanca. Aufgrund seiner Gebietsansprüche verbündete sich Frankreich mit den Protestanten und ebenso mit den Türken gegen die katholischen Habsburger. Unter dem Gesichtspunkt der juridischen und politischen Philosophiegeschichte kann mit Verdross rückblickend bekräftigt werden, dass „sich seit den Anfängen der Patristik bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts eine einheitliche christliche Naturrechtslehre entfaltet hat, die zwar durch die spanische Moraltheologie wiederhergestellt und auf neue Lebensverhältnisse angewendet wurde. Durch die radikale antiaristotelische Wendung, die sich 26  Vgl. Heribert Franz Köck, Der Beitrag der Schule von Salamanca zur Entwicklung der Lehre von den Grundrechten, Berlin 1987. 27  Antonio Truyol y Serra, „Spanien und der völkerrechtliche Schutz der Menschenrechte“, in Verfassungsrecht und Völkerrecht. Gedächtnisschrift für Wilhelm Karl Geck, Köln 1989, S. 915.



Die Schule von Salamanca und ihre Bedeutung heute215

zu Beginn der Neuzeit mit der Widerlegung der aristotelischen Naturbetrachtung auch in der Philosophie vollzogen hat, wurde sie aber durch nahezu drei Jahrhunderte in den Hintergrund gedrängt, um erst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts allmählich wieder zu neuem Leben zu erwachen“.28 Ebenso wenig entwickelte sich das politische Leben in den folgenden Jahrhunderten im Sinne der Ethik der Schule von Salamanca. So wich zum Beispiel die Idee des universalen Gemeinwohls immer weiter zurück und jene der unbegrenzten Staatshoheit rückte an erste Stelle; anstatt der Lehre des bellum iustum wurde ein unbegrenztes ius ad bellum praktiziert. VI. Die Katastrophe der Weltkriege und die Gründung der Weltfriedensorganisationen Diese Entwicklung, begleitet vom Positivismus und dem Nationalismus sowie von nach Macht dürstenden Ideologien, führte zu den Katastrophen der beiden Weltkriege dieses Jahrhunderts. Diese lösten, nach dem Opfer von Millionen Menschen, Kämpfern und Zivilbevölkerung – ohne all die Männer, Frauen und Kinder zu vergessen die in Konzentrationslagern aus politischen, rassistischen und religiösen Gründen ums Leben gekommen sind – eine neue Bewusstseinsbildung in der Völkergemeinschaft aus. Erwähnt sei hier und in diesem Kontext die Gründung des Völkerbundes 1919 und die der Vereinten Nationen im Jahr 1945 mit dem Willen, die Völkergemeinschaft zu organisieren. Und bezugnehmend auf das Bemühen, die Gewaltanwendung als Mittel der nationalen Politik allmählich zu drosseln und für illegal zu erklären, sei an den Briand-Kellog-Pakt 1928 und das Gewaltverbot im Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta erinnert. VII. Die Erneuerung der christlichen Rechts- und Staatsphilosophie in der Wiener Schule des Völkerrechts und der Rechtsphilosophie Bezugnehmend auf die Wissenschaft möchte ich mich als Österreicher auf zwei meiner Lehrer beziehen, denen ich viel zu verdanken habe: dem Professor für Völkerrecht und Rechtsphilosoph Alfred Verdross und den Professor für Sozialethik Johannes Messner. Alfred Verdross war der Einzige in Österreich und einer der Ersten im deutschen rechtswissenschaftlichen Denken, der an der Wiederentdeckung der Schule von Salamanca mitwirkte. Ich verweise auf seine Bücher über „Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung“, Tübingen 1923, und „Die Ver28  Verdross

op.cit. S. 99.

216

Die Schule von Salamanca und ihre Bedeutung heute

fassung der Völkerrechtsgemeinschaft“, Wien 1924. Johannes Messner hat die Postulate von der Schule von Salamanca hervorgehoben, speziell die von Vitoria und Suárez, vor allem in seinem umfassenden Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik mit dem Titel „Das Naturrecht“, vielfach übersetzt und zuletzt erschienen in der siebten erweiterten Auflage. VIII. Die Renaissance des Naturrechtsdenkens und ihr Niederschlag in internationalen Grundsatzdokumenten Die Idee der Organisationsmöglichkeit des Staatenbundes, des Gemeinwohls der Völker, der friedlichen Regelung von Rechtsstreitigkeiten, der Verpflichtung zur Wahrung der Freiheit und der Menschenwürde die Grundrechte betreffend, für die immer mehr – ab dem Minderheitenschutz – internationale Institutionen zum Rechtsschutz geschaffen wurden, wurde, ohne weder die Praxis noch die Theorie der internationalen Politik auszuschließen, progressiv rückbestätigt. Ich möchte auch auf die UN-Menschenrechtskommission sowie auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hinweisen und ebenso auf die Entwicklung, welche zum Korb III der europäischen Sicherheitskonferenz geführt und die 1980–1983 in Madrid getagt hat, als sie sich in einem wichtigen Entwicklungsstadium befand. Diese zu Beginn der Neuzeit entwickelte Idee des Gemeinwohls für die Welt befindet sich erneut in den Quellen des bedeutendsten Internationalen Rechts des 20. Jahrhunderts, wenngleich diese vor allem im Wunsch zur friedlichen Zusammenarbeit aller Staaten bei der Schaffung und Durchführung bestimmter Grundfreiheiten sowie sozialer, ökonomischer, politischer und kultureller Rechte für alle Menschen und ebenso in der Anstrengung, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu erreichen, begründet sind. So enthält zum Beispiel die UN-Charta vom 26. Juni 1945 Grundsätze und Ziele dieser Art,29 und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte30 erscheint erneut, vor allem im Vorwort, die Idee des universalen Gemeinwohls. In den internationalen Pakten über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie über bürgerliche bzw. politische Rechte, beide vom 19. September 1966, im Abkommen über politische Rechte von Frauen vom 31. März 1953, sowie beispielsweise im Internationalen Abkommen gegen 29  Speziell

in der Einleitung und Abs. 56. bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. De-

30  Beschlossen

zember 1948.



Die Schule von Salamanca und ihre Bedeutung heute217

rassistische Diskriminierung, wird als Motiv auf das bonum commune humanitatis verwiesen. Die europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.November 1950 hat dieselben Ziele, und in der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa wird diese Idee ebenso sichtbar. Die Erklärung31 der UN-Weltumweltkonferenz vom 16. Juni 1972 in Stockholm betont die Tatsache, dass der Umweltschutz eine dringende Forderung bedeute und eine Pflicht aller Staaten dieser Welt sei. Ebenso hat die Charta über die Rechte und Pflichten der Staaten vom 12. Dezember 1974 als Ziel, in allen Ländern einen menschenwürdigen wirtschaftlichen Wohlstand zu erlangen32. Im Vertrag über die Tätigkeiten von Staaten betreffend den Mond und andere Himmelskörper vom 18. Dezember 1979 gilt die Nutzung des Mondes als Angelegenheit der gesamten Menschheit zugunsten und im Interesse aller Länder und der Mond als gemeinsames Erbe der Menschheit33. Wir finden hier bereits denselben Ausgangspunkt in der Erklärung von Grundsätzen für den Meeresboden am 17. Dezember 197034. In ihr werden der Meeresboden und der Meeresuntergrund jenseits der Grenzen des Bereichs nationaler Hoheitsbefugnisse sowie die natürlichen Reichtümer dieses Gebiets als gemeinsames Menschheitserbe erklärt. Das UN-Seerechtsübereinkommen von 1982 wiederholt35 und entwickelt diese Idee. Der Gegenstand dieser Konvention – die übrigens noch nicht in Kraft getreten ist – zeigt eine richtungsweisende Entwicklung, in der die Idee des allgemeinen Gemeinwohls für die Welt erstmals eine praktische wirtschaftliche Gestaltung erhält. IX. Katholische Staats- und Gesellschaftslehre heute Neben dieser einerseits politischen, andererseits juristischen Entwicklung möge auch die in der katholischen Rechtsphilosophie vertretene Idee des Staatenbundes hervorgehoben sein. Ich verweise auf Luigi Tarapeli d’Azelio S.J. (1793–1862), der schon damals eine internationale Aufsicht der Gemeinschaft36 forderte, weiters auf Papst Leo XIII., der sich für ein ver31  Erklärung

der UN-Konferenz über die Umwelt des Menschen. Verdross/Bruno Simma: Universelles Völkerrecht. Theorie und Praxis, Berlin 1984, S. 915. 33  Abs. 11. 34  Erklärung der UN-Versammlung über die Grundsätze zur Regelung des Meeresbodens und der Erhaltung der Meere. 35  Abs. 136. 36  Siehe Luigi Taparelli d’Azeglios S.J., Saggio teoretico di diritto naturale appogiato sul fatto (1840–1843). 32  Alfred

218

Die Schule von Salamanca und ihre Bedeutung heute

pflichtendes Schiedsverfahren einsetzte, und auf die Texte für den Frieden der Päpste Benedict XV. und Pius XI., erstere um dem Ersten Weltkrieg ein Ende zu setzen, und im Anschluss daran auf die Enzyklika „Summi pontificatus“ von Papst Pius XII. und auf viele seiner Ansprachen – ich selbst habe ihnen zwei umfassende Werke zum Gedenken gewidmet37. Der Papst lehnt die Lehre über die absolute Staatshoheit ab und anerkennt nur die relative Hoheit innerhalb der Grenzen des naturrechtlich begründeten internationalen Rechts im Dienste des universalen Gemeinwohls. Trotz der relativen Kürze seines Pontifikats (1958–1963) hat auch Papst Johannes XXIII. seinen Beitrag zur christlichen Lehre des Völkerrechts geleistet und mit den Enzykliken „Mater et magistra“ von 1961 und „Pacem in terris“ aus 1963, ebenso wie Papst Paul VI. mit der Enzyklika „Populorum progressio“ aus 1967 und ab 1968 in seinen eigenen Friedensbotschaften an die Welt38, welche Papst Johannes Paul II. bis heute weitergeführt hat; und in den Letzten hat er auch, in seiner Anstrengung darum, das Wohl für alle zu erreichen, den Umweltschutz und die Bewahrung der Schöpfung Gottes eingeschlossen. Ein System der christlichen Ethik des Völkerrechts im wahren Sinne der Schule von Salamanca entnimmt man auch den Ansprachen von Agostino Casaroli, seit 1967 als Sekretär des Rates für die Öffentlichen Angelegenheiten der Kirche und seit 1979 als Kardinalsstaatssekretär. Die Titel der beiden Bände, die diese Reden Casarolis enthalten, und die ich, als Herausgeber, in deutscher Sprache veröffentlichte, zeigen klar die Richtung seiner Sichtweise und seines Denkens. Es handelt sich um „Der Heilige Stuhl und die Völkergemeinschaft“39 und „Glaube und Verantwortung“40. Ich möchte hier auf die Rede von Kardinal Casaroli im März 1990 anlässlich seiner Ernennung zum Ehrendoktor in Parma über „die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ besonders hinweisen, zumal er auch den Vorsitz bei der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki hatte. Bei dieser Gelegenheit drückte sich Casaroli völlig im Sinne der Schule von Salamanca aus: „Wenngleich die Verpflichtung von den Staaten übernommen wurde (sieben der neun Prinzipien betreffen sie, das letzte nicht mitgezählt, weil es alle umfasst), so gilt sie doch nicht den Staaten allein – obschon diese den überwiegenden Teil der Dokumente einneh­men – 37  Siehe Pius XII. zum Gedächtnis, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1977 und Pius XII., Friede durch Gerechtigkeit, hrsg. von Herbert Schambeck, Kevelaer, 1986. 38  Siehe Die Weltfriedensbotschaften Papst Pauls VI., hrsg. von Donceto Squicciarrini, Berlin 1979. 39  Berlin, 1981. 40  Berlin, 1989.



Die Schule von Salamanca und ihre Bedeutung heute219

sondern auch den Menschen (Prinzip VII) und den Völkern (Prinzip VIII). Damit erscheinen auf der internationalen Szene der Mensch und das Volk“41. Diese sollen die Träger der Prinzipien von „Souveräne Gleichheit, Achtung der der Souveränität innewohnenden Rechte“, der „Enthaltung von der Androhung oder Anwendung von Gewalt“, der „Unverletzlichkeit der Grenzen“, der „Territoriale Integrität der Staaten“, der „friedlichen Regelung von Streitfällen“, der „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“, der „Zusammenarbeit zwischen den Staaten“ und schließlich der „Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen nach Treu und Glauben“42 werden. In der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa werden der Grundsatz der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit anerkannt. Zwar hatten schon zuvor Texte von weltweiter Gültigkeit, insbesondere die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, die Achtung dieser Rechte als Bedingung dafür genannt, dass sich die Menschen nicht zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung gezwungen sehen und auch die UN-Charta sieht die Achtung und den Schutz der Menschenrechte vor. Aber die Ostblockstaaten hatten bis dahin immer da­ rauf gebaut, dass es sich dabei um eine interne Angelegenheit jedes Staates handle, in die sich niemand einmischen dürfe. Durch die Verankerung in den Schlussakten wurde nunmehr klargestellt, dass eine Intervention die ein Mitgliedstaat in einem anderen Staat aus humanitären Gründen für notwendig hält, nun nicht mehr a priori als Einmischung in innere Angelegenheiten dieses Staates angesehen werden kann43. Auf diese Weise hat sich ein gemeinsamer Kompromiss gebildet, um die Grundrechte und -pflichten zu retten, der, aufgrund der großen Anzahl an Teilnehmerstaaten an der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, zu der nicht nur europäische Staaten sondern auch Kanada und die USA zählen, einen wichtigen Bestandteil der internationalen Gemeinschaft darstellt. Dies war deshalb so signifikant, weil frühere eindeutige Grenzen zwischen den sogenannten freien demokratischen Staaten und dem Ostblock geschwächt wurden. Dank der gemeinsam übernommenen Verpflichtung, festgelegte Grundrechte zu schützen – über die bestehenden Differenzen zu verschiedenen politischen Verpflichtungen hinaus – entstand eine Art Brückenfunktion mit einem ausgleichenden und annähernden Effekt zwischen den Teilnehmerstaaten. Es besteht kein Zweifel darüber, dass dies jene po41  Siehe

L’Osservatore Romano, dt. Wochenausgabe vom 13. April 1990, S. 12 f. I, II, III, IV, V, VI, IX, X. 43  Helmut Liedermann, „Die KSZE aus österreichischer Sicht“ in Kirche und Staat, Friz Eckert zum 65. Geburtstag, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1976, S. 565. 42  Prinzipien

220

Die Schule von Salamanca und ihre Bedeutung heute

litische Bewegung im Volk verursachte, welche das System des Ostblocks erschütterte und in vielen mittel- und osteuropäischen Staaten neue politische Situationen erzeugte, die die politische Landkarte Europas verändern. Auf diesem Weg und ohne jeden Zweifel unterstützen die Schlussakte von Helsinki die widerständischen Bewegungen. X. Solidarität als bleibendes Vermächtnis Wer würde negieren, dass diese erlebten und beweisbaren, aktuellen historischen Prozesse, selbst jene der letzten Tage, zur Umsetzung jener Grundrechte ihren Beitrag geleistet haben und demselben Gemeinwohl alle dienen, wie die Schule von Salamanca bereits vor einem halben Jahrtausend die Aufforderung an die Menschen formulieren sollte, die internationale Gemeinschaft zu gründen? Die Schule von Salamanca hat somit eine Solidarität mit der Menschheit begründet, die, sogar nach dem Ende der spanischen Kolonialherrschaft, als Dauerbeitrag den Weg der Menschheit begleitet und uns alle verpflichtet, unsere Dankbarkeit und Achtung gegenüber dieser hohen Ausprägung der spanischen Ethischen und Politischen Wissenschaften auszudrücken. Dies war meine Absicht, mit meiner bescheidenen Rede zum Ausdruck zu bringen.

Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB* Jede Rechtsordnung besteht neben Gesetzen mit Detailregegelungen, welche eine unmittelbare Rechtsanwendung ermöglichen, auch aus Gesetzen, die mit einem umfassenden Ordnungsanspruch vereinzelt Regelungen von mehr wertendem Charakter beinhalten. Zu letztgenannten Rechtsnormen ist seit nahezu hundertsiebzig Jahren in Österreich das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch zu zählen, welches viele Jahre, bevor Österreich mit der Märzrevolution 1848 den Weg zum Verfassungsstaat und mit der Konstitutionierung auch der Demokratisierung seiner Staatsrechtsordnung eröffnete, den § 7 vorsieht: „Läßt sich ein Rechtsfall weder aus den Worten, noch aus dem natürlichen Sinne eines Gesetzes entscheiden, so muß auf ähnliche, in den Gesetzten bestimmt entschiedene Fälle, und auf die Gründe anderer damit verwandten Gesetzte Rücksicht genommen werden. Bleibt der Rechtsfall noch zweifelhaft; so muß solcher mit Hinsicht auf die sorgfältig gesammelten und reiflich erwogenen Umstände nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen entschieden werden.“

Die natürlichen Rechtsgrundsätze haben ihren Geltungsanspruch in einer Zeit der absoluten Monarchie begründet erhalten und über alle Brüche der Rechtskontinuität1 und Wechsel der Staatsformen bis zur demokratischen Republik der Gegenwart fortgesetzt. Die Zeit ihrer Geltung reicht von der Spätzeit der Naturrechtslehre der Neuzeit2 bis zur Wirksamkeit des Rechtspositivismus im heute noch geltenden österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz 19203; sie zählen – mehr oder weniger bewußt und deutlich – zum Kontinuierlichen im österreichischen Rechtsdenken.

*  Erschienen in: Völkerrecht und Rechtsphilosophie. Internationale Festschrift für Stephan Verosta zum 70. Geburtstag, hrsg. von Peter Fischer / Heribert Franz Köck /  Alfred Verdross, Berlin 1980, S. 479 ff. 1  Siehe z. B. Adolf Merkl, Die Rechtseinheit des österreichischen Staates, Archiv des öffentlichen Rechtes 1917, S. 56 ff. 2  Beachte Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. Göttingen 1967. 3  Dazu Ernst C. Hellbling, Österreichische Verfassungsfragen im Lichte der Reinen Rechtslehre, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1961, S. 346 ff. und Franz Bydlinski, Gesetzeslücke, § 7 ABGB und die „Reine Rechtslehre“, in: Privatrechtliche Beiträge, Gedenkschrift Franz Gschnitzer, Innsbruck 1969, S. 101 ff.

222

Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB

I. Kodifikationsbemühungen Das ABGB selbst ist der bleibende Ausdruck erfolgreich gewordener österreichischer Kodifikationsversuche am ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. In seiner Entwicklung, vor allem in der seiner Rechtsquellenauffassung zeigen sich deutlich die Stadien der damaligen Rechtspolitik. Wie Stephan Verosta bereits festgestellt hat, reichen die ersten Kodifikationsversuche „tief in das österreichischen Barockzeitalter hinein. Der weltweite imperiale Zug, der die Politik beherrschte, mochte sich mit den unsicheren Formen des gemeinen Rechts und den Spekulationen des individualistischen Naturrechts, die sich seit der Rezeption des römischen Rechts und seines Legisaktionenverfahrens zur Herrschaft aufgeschwungen hatten, nicht zufrieden geben“4. Die Frühzeit der Kodifikationen zeigt bereits das Nebeneinander des Vernunftoptimismus und eines eigenartigen Positivismus, nach dem das damals geltende Recht mit einem Absolutheitsanspruch kodifiziert werden sollte. Die Landesrechte sollten „so weit als möglich zu einem einheitlichen Ganzen vereinigt und die Lücken aus den Natur- und Völkerrechte ergänzt werden“5. Diese Fragestellung drückt sich in den 1753 erfolgten vorbereitenden Beratungen der Kompilationskommission, den Richtlinien der Kaiserin Maria Theresia6 und den daraufhin von der Kommission ergehenden Kompilationsgrundsätzen aus7. Der Codex Theresianus erwies sich hernach selbst als ein Kompromiß zwischen Naturrechtsvorstellungen und damals geltenden positivem Recht und als solcher als „ein Lehrbuch des gemeinen Rechts der damaligen Zeit“8, was etwa trotz der angeborenen Freiheit das Institut der Sklaverei erklären läßt für die im Kriege gefangenen Ungläubigen, „die in das Eigen des Überwinders gelangen und gleich anderen Sachen handelbar sind“ (Nr. 8)9. Da der Einfluß der naturrechtlichen Ideen nur äußerlich und oberflächlich war10 und man durch den Entwurf, wie Staatskanzler Wenzl Fürst Kaunitz 4  Stephan Verosta, Richterliches Gewohnheitsrecht in Österreich, ein Beitrag zur Rechtsquellenlehre, Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. XXII, Wien 1942, S. 97. 5  Moritz Wellspacher, Das Naturrecht und das ABGB, in: Festschrift zur Jahrhundertfeier des ABGB, 1. Teil, Wien 1911, S. 176; vgl. auch die Konstitution Friedrich II. vom 31. Dezember 1746. 6  Siehe Leopold Pfaff  / Franz Hofmann, Commentar zum österreichischen allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch, 1. Teil, Wien 1877, S. 9 f. 7  Beachte Beilage 2 zur Einleitung von Harras von Harrasowsky, Codex Theresianus I, Wien 1868, S. 16. 8  Wellspacher, S. 178. 9  Vgl. Haarasowsky, S. 55 A. 4. 10  Wellspacher, S. 178.



Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB223

betonte, vom römischen Recht nicht emanzipiert wurde, fand er keine positive Annahme. Maria Theresia hat daher schon am 4. August 1772 in ihren Richtlinien für die Umarbeitung betont: „in den Gesetzen soll nicht an die römischen Rechte gebunden, sondern überall die natürliche Billigkeit zum Grunde gelegt werden“11. Wenngleich der Codex Theresianus nicht die entsprechende Geltung erlangte, ist er für die Geschichte der Privatrechtskodifikation allein deshalb von nicht zu unterschätzender historischer Bedeutung, da er, wie Stephan Verosta hervorgehoben hat, mit Ausnahme der natürlichen Rechtsgrundsätze „alle Momente der Rechtsquellenlehre, die für die Kodifikation im ABGB bedeutsam werden“12, beinhaltet, und zwar die Abschaffung des Gewohnheitsrechtes, die Betonung des Kodifikationsgedankens als die Identität von positivem und kodifiziertem Recht und die Anfrage bei Hof. Das Josephinische Gesetzbuch 1786, das nur das Personenrecht umfaßte und auf den Entwurf Hortens zurückgeht, brachte keine wesentlichen Fortschritte in der Rechtsquellenlehre, stellt aber eine deutliche Hinwendung auf das Naturrecht dar. Am deutlichsten wird aber in der Folge der naturrechtliche Einfluß im Entwurf des Wiener Naturrechtslehrers Freiherr von Martini13, 11  Pfaff / Hofmann,

I, S. 15 und Harrasowsky, S. 12. S. 99. 13  Siehe über Martini Stintzing-Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft III 1, S. 383 f. und S. 521 ff. sowie Franz Klein-Bruckschwaiger, K. A. von Martini in der Zeit des späten Naturrechts, Festschrift für Karl Haff, Innsbruck 1950, S. 120 ff. Dieser Entwurf Martinis wurde noch 1797 den Landständen, Justizkollegien und Fakultäten zur Begutachtung vorgelegt. Das einzige Gutachten, das nach dem Brand des Justizpalastes im Jahre 1927 noch vorhanden ist, stammt von der Freiburger Rechtsfakultät, die den Entwurf in 12 Sitzungen beraten und ihre Stellungnahme am 29. September 1797 nach Wien abgesandt hat. Clausdieter Schott hat dieses Gutachten im Archiv der Universität Freiburg im Breisgau entdeckt und in seiner Schrift: „Rechtsgrundsätze“ und Gesetzeskorrektur, ein Beitrag zur Geschichte gesetzlicher Rechtsfindungsquellen, Berlin 1975, behandelt. Bemerkenswert hebt Schott, S. 18, hervor: „Die Freiburger Juristenfakultät nahm die ‚allgemeinen und natürlichen Rechtsgrundsätze‘ zum Anlaß, um einen noch weitergehenden Vorschlag anzufügen. Das Gutachten bemerkt zu dieser Subsidiärquelle: Da der Gesetzgeber ein Mensch ist, folglich unmöglich immer alle Umstände und deren unendliche Modifikation vorhersehen kann, so könnte am Ende dieses § noch füglich hinzugesetzt werden: Dieses nämliche (gemeint ist der Rückgriff auf die ‚allgemeinen und natürlichen Rechtsgrundsätze‘) hat auch der Richter zu tun, wenn aus der wörtlichen Auslegung eines an sich zwar klaren Gesetzes wegen vorkommender, ganz besonderer, vom Gesetzgeber nicht vorhergesehenen Umstände eine offenbare Ungerechtigkeit oder Ungereimtheit folgen sollte (S. 8 des Gutachtens). Dieser Zusatzantrag wurde von dem neuen Referenten der ‚Hofkommission in Gesetzessachen‘, Franz von Zeiller, schlechthin ignoriert, obwohl er im übrigen die meisten, weniger bedeutsamen Redaktionsvorschläge der Freiburger Fakultät verarbeitete und getreulich vortrug. Zeiller wollte offensichtlich den Freiburger Vorschlag nicht mehr diskutieren.“ 12  Verosta,

224

Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB

­ elcher die Leitung der Gesetzgebungsarbeiten übernimmt. Dieser Entwurf w Martinis tritt 1797 als Westgalizisches Gesetzbuch probeweise in Geltung. Er enthält ebenfalls die Abschaffung des Gewohnheitsrechtes, ergänzt durch die Delegationsklausel des § 22: „Auf Landesgebräuche und Gewohnheiten kann zwar in Fällen, welche auf die Auslegung eines Gesetztes Bezug haben, Rücksicht genommen werden; allein sie sind nicht hinreichend, ein schon vorhandenes Gesetz aufzuheben oder ein neues zu begründen“; ebenfalls wieder die Betonung des Kodifikationsgedankens; es entfällt aber die Anfrage bei Hof und an ihre Stelle tritt die Verweisung des Richters auf Rechtsgrundsätze, die als allgemeine und natürliche noch zugleich eigenschaftswörtlich unschreiben werden: § 19 Findet aber ein Richter einen Rechtsfall durch die Worte des Gesetzes nicht geradezu entschieden, so muß er in seinem Urteile auf den natürlichen Sinn des Gesetzes, er muß ferner auf die Gründe anderer damit verwandter Gesetze und auf ähnliche im Gesetz bestimmt entschiedene Fälle Rücksicht nehmen; bleibt ihm der Rechtsfall nach all diesem noch zweifelhaft, so muß er ihn mit Hinsicht auf die sorgfältig gesammelten und reiflich erwogenen Sachumstände „nach den allgemeinen und natürlichen Rechtsgrundsätzen entscheiden“. Das ABGB hat in seinen Rechtsquellenbestimmungen den Umfang des Urentwurfes Martini nicht überschritten. In den Beratungen hat aber die Hofkommission14 dann beschlossen, die Worte „allgemeinen und“ wegzulassen, um den Gedanken ganz zu entfernen, als ob die Richter in irgend einem Fall auf das römische, bisher auch sogenannte allgemeine Recht, Rücksicht zu nehmen hätten15. § 7 ABGB ist ein Ausdruck des Bemühens um möglichste Vollständigkeit des kodifizierten Privatrechtes, dem in seiner Zeit der absoluten Monarchie mangels eines umfassenden und durchgebildeten Staatsrechtes eine besondere Bedeutung zukam. Das dem Richter dazu eingeräumte Recht der Rechtsfindung aus den natürlichen Rechtsgrundsätzen ist eine besondere Akzentsetzung auf dem Weg zum Rechtsstaat. Diese Möglichkeit der richterlichen Rechtsfindung stellte für die Zeit des Absolutismus deshalb eine besonders zu beachtende Neuheit dar, weil bisher der Wille des Monarchen 14  Protokolle

I, S. 24. S. 185, Fn. 30 betont: „Daß unter den natürlichen Rechtsgrundsätzen das Naturrecht ist, kann nicht dem geringsten Zweifel unterliegen.“ Vgl. Pfaff / Hofmann, I, S. 194 ff. und Lukas, Benthams Einfluß auf die Geschlossenheit der Kodifikation, Archiv für öffentliches Recht 1910, S. 89 ff. Siehe Schott, S. 29: Wegen der Verweisung auf das Naturrecht mußte sich Martini bei den Beratungen 1793 von der Kommission vorhalten lassen, daß „die Lehrer des Naturrechts in gewissen Grundsätzen unter sich selbst nicht einig sind“ (Harrasowsky V, 1886, S. 11, Anm. 6). 15  Wellspacher,



Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB225

nach dem Fundamentalsatz „regis voluntas est suprema lex“ der allein bestimmende war, was sich in der Regel des référé législatif16 zeigt, wonach der Richter in zweifelhaften Fällen die Auskunft des Monarchen einzuholen hat. In diesem Sinne bestimmte auch § 437 der Allgemeinen Gerichtsordnung von 1781 Joseph II.: „… sollte aber über den Verstand des Gesetzes ein gegründeter Zweifel vorfallen, so wird solcher nach Hof anzuzeigen und die Entschließung darüber einzuholen sein“17. Dieses neue Rechtsdenken, das insbesondere von Moritz Wellspacher18 als natürlich bezeichnet wird, zeigt sich im ABGB neben den natürlichen Rechtsgrundsätzen des § 7 vor allem in § 16 als Anknüpfungspunkt privater Persönlichkeitsrechte19 der Gesellschaftslehre, welche alle menschliche Organisationsformen auf den Grundtypus der Gesellschaft zurückführt und zum Prinzip der freien Körperschaftsbildung (§ 26 ABGB) gelangte20, der Irrtumslehre und dem Gedanken der culpa in contrahendo21, der allgemeinen Lehre von den Voraussetzungen der Schadenersatzpflicht22, der erlaubten Notwehr des § 19 ABGB23, der direkten Stellvertretung24, dem Publizitätsgedanken im Sachenrecht25, der Enteignung gegen Entschädigung, „wenn es das allgemeine Beste erheischt“, nach § 365 ABGB26, dem Eigentumserwerb durch Verarbeitung27 und dem Parentalsystem im Erbrecht28. Betrachtet man diesen sogenannten naturrechtlichen Einfluß auf das ABGB im Vergleich zu der Rolle, welche das Naturrecht im 17. und 18. Jahrhundert gespielt hat, und der politischen Situation des beginnenden 19. Jahrhunderts, so zeigt sich, daß mit dem Begriff Naturrecht und natür16  Paul Koschaker, Europa und das Römische Recht, 3. Aufl., München und Berlin 1958, S. 183 f., Fn. 4. 17  Beachte auch das Kundmachungspatent der Allgemeinen Gerichtsordnung 1781 und § 26 des Josephinischen Gesetzbuches 1786: „wenn dem Richter ein Zweifel vorfiele: ob ein vorkommender Fall in dem Gesetz begriffen sei oder nicht? Wenn ihm das Gesetz dunkel schiene oder falls besondere und sehr erhebliche Bedenken der Beobachtung desselben entgegenstünden, soll die Belehrung allzeit vor den Landesfürsten gesucht werden.“ Vgl. auch Lukas, Zur Lehre vom Willen des Gesetzgebers, in: Festschrift für Laband, S. 407 ff. 18  Wellspacher, S.  184 ff. 19  Wellspacher, S.  187 ff. 20  Wellspacher, S.  189 ff. 21  Wellspacher, S.  196 ff. 22  Wellspacher, S.  198 ff. 23  Wellspacher, S.  200 ff. 24  Wellspacher, S.  203 f. 25  Wellspacher, S.  204 ff. 26  Wellspacher, S. 206. 27  Wellspacher, S.  206 f. 28  Wellspacher, S. 207.

226

Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB

lich nicht immer gleiches verstanden wurde. Das Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts, wie es in den sogenannten Naturrechtsgesetzbüchern Ausdruck fand29, ist positiv-rechtlicher Ausdruck eines Vernunftoptimismus, der glaubte, auf rationalem Weg die Idee des absolut Gültigen mit dem zeitgebundenen Landesrecht verbinden zu können. Rechtspolitisch führte dieses Bemühen letztlich zu einer vermehrten Legitimation des Fürstenabsolutismus, wobei es interessant ist, daß dieser Weg zur Mehrung landesfürstlicher Autorität, vor allem von Protestanten, beigetragen hat, die auch in ihrem Glauben in Landesdimensionen, wie der von Landeskirchen in ihren Glaubensgemeinschaften dachten; eine Herrschaftsorientiertheit dieser Naturrechtslehre, die, von geringen Ausnahmen, wie dem katholischen Rechtslehrer Anselm Desing30, abgesehen, größtenteils kritiklos geblieben ist. Das ABGB verdankt diesen sogenannten Naturrechtsgesetzbüchern formal viel, nämlich seine sprachliche und technische Vollendung31; inhaltlich stand aber dieses Gesetzbuch im Widerspruch zu dem, was die klassische Zeit der Naturrechtsgesetzbücher wollte. Das ABGB ist nach der französischen Revolution und in einer Zeit beginnender demokratischer Besinnung, die wohl im Gegensatz zu dem Absolutismus des Vormärz stand, entstanden. Franz Klein hat treffend festgestellt: „In der Zeit erlassen ist das bürgerliche Gesetzbuch ein Anachronismus. Das Niveau, auf das es die Person erhebt und die Selbständigkeit der Verfügung, mit der es sie ausstattet, sowie die Emanzipation der privatrechtlichen Beziehungen von Staat und Behörden standen zu dem Regierungssystem im Gegensatze, unter dem es wirken sollte32.“ „… Das bürgerliche Gesetzbuch war eine Vision. Es zeichnete eine Zeit geistiger, politischer und wirtschaftlicher Entfaltung, die damals traumhaft fern lag, und es sah auch Gebilde und Organismen, in denen sich die Nachteile des Absolutismus und der ständischen Verfassung vereinigten … Noch wunderbarer war es dann, wie die Zeit vollständig in das Gesetz hineingewachsen ist. Das war aber wieder nur möglich, weil das Gesetz an seine Zeit nicht gebunden und von dem historisch Wechselnden fast frei warten konnten, bis sein Recht richtiges Recht wurde“33. Wie weit gilt dieses für das ABGB allgemein positiv gefällte Urteil auch für die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7? 29  Wieacker,

S.  322 ff. Anselm Desing, Iuris naturae larva detracta, 1753 und dazu Herbert Schambeck, Anselm Desings Kritik an der Vernunftsrechtslehre der Neuzeit, in: Internationale Festschrift für Alfred Verdroß, München/Salzburg 1971, S. 449 ff. 31  Wellpacher, S. 182. 32  Franz Klein, Die Lebenskraft des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, in: ABGB-Festschrift, 1. Teil, S. 17. 33  Klein, S. 31. 30  Beachte



Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB227

II. Der Gehalt des § 7 ABGB Stanislaus Dniestrzanski hat schon erklärt, daß die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB mit dem Naturrecht der Redaktoren nicht identisch sind. „Letzteres weicht sogar von dem Begriffe des Naturrechts wesentlich ab, denn das Naturrecht deckt sich nicht mit der Auffassung, welche die Redaktoren des ABGB von ihm gehabt haben34.“ Die Zeit des ABGB war auch nicht in ihren Entwicklungstendenzen ident mit den Zeitumständen, welche in einer Ära des Absolutismus zu den Naturrechtslehrbüchern geführt haben. „Und wolle man das Wort ‚Naturrecht‘, um die Verwechslung mit der naturrechtlichen Schule zu vermeiden, lieber durch ein anderes ersetzt wissen, so wird man allerdings den Ausdruck ‚natürliche Rechtsgrundsätze‘ für passend erachten. Der Gebrauch dieser Redewendung im § 7 ABGB ist gewiß nicht ohne Bedeutung. Wenigstens ist man befugt, über die Irrlehren der Naturrechtstheoretiker des 18. und 19. Jahrhunderts hinwegzugehen. Man darf aber nicht über den Kern des Naturrechts, nicht über den wahren Grundgedanken, der schon den Redaktoren geläufig war und nur durch irrige rechtspolitische Anschauungen getrübt wurde, hinweggehen35.“ In diesen nicht unbegründet kritischen Worten Dniestrzanskis drückt sich – mehr oder weniger deutlich – die Unterscheidung zwischen der Idee und den Lehren des Naturrechts aus36; Erstere ist Ausdruck des Absoluten im Recht und gehört in den Bereich der Metaphysik, Letztere sind Ausdruck des Relativen im Bemühen um die Darstellung dieser Idee, wobei öfters zeitbedingte Momente in dem jeweiligen Denken nicht zu übersehen und dem Bereich der Erkenntnistheorie zuzuzählen sin. Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB sind zu einer Zeit positiviert worden, als die Euphorie des früheren Naturrechtsdenkens langsam zu weichen begann, ohne allerdings in das Gegenteil eines bloß zeitbedingten Rechtspositivismus zu verfallen, wie er sich im späteren 19. Jahrhundert dann Platz machen wird37. § 7 ABGB war Ausdruck eines Realismus, der jeden Optimismus ablehnte, mittels der Vernunft alles positiv geltende Recht ablesen zu können, er ist 34  Stanislaus Dniestrzanski, Die natürlichen Rechtsgrundsätze (§ 7 ABGB), in: ABGB-Festschrift, 2. Teil, S. 8. 35  Dniestrzanski, S.  8 f. 36  Siehe dazu näher Herbert Schambeck, Idee und Lehren des Naturrechts, in: Naturordnung, Festschrift für Johannes Messner, Innsbruck 1961, S. 437 ff. 37  Beachte Wieacker, S. 340  ff. und Schott, S. 97 ff. über Wandlungen im Verständnis der „Grundsätze“.

228

Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB

Ausdruck der eingestandenen Lückenhaftigkeit des positiven Rechts. So erklärte bereits Zeiller: „Zwar sei er weit entfernt zu vermuten, daß selbst durch die sorgfältigste Anwendung dieser Regeln ein vollendetes, keiner Nachhilfe, keiner Erläuterung, keiner Verbesserung bedürfendes Gesetzbuch zustande kommen werde. Zu geschweigen, daß die Veränderung der Umstände bei einer in der Kultur, in dem Kommerze, in der Betriebsamkeit so sehr fortschreitenden und volkreichen Nation auch Veränderungen in der Gesetzgebung nach sich ziehen müsse, so lasse sich, wenn man von Eigenliebe nicht verblendet ist, wohl vorsehen, daß man bei einem so großen Werke manche Lücke, die sich erst in der Folge aufdeckt, übergehen, daß so Manches, was doch noch einer genaueren Erörterung bedarf, als deutlich und bestimmt annehmen und daß man manche Neuerung versuchen werden, die in der Ausübung nicht Probe hält. Nur die Erfahrung mehrerer Jahrzehnte und die allgemeinen Verbesserungen könnten ein solches Werk der Vollendung näher bringen. Immer aber verdiene der Gesetzgeber den segnenden Dank der Nachkommenschaft, der wenigstens den Grundstein zu dem Gebäude gelegt hat, unter dessen Schutz ihn bürgerliche Freiheit und Sicherheit der Rechte gewährt ist38.“ Wie die Worte „natürliche Rechtsgrundsätze“ schon ausdrücken, werden in diesem Begriff des § 7 ABGB versuchtes Naturrechtsdenken auf positives Recht zur Anwendung gebracht und Vernunft mit Erfahrung verbunden39; diese Form richterlicher Rechtsfindung findet gleichsam als ultima ratio nur in subsidiärer Bedeutung Anwendung und da auch in keinster Weise willkürliche Anwendung, sondern „mit Hinsicht auf die sorgfältig gesammelten und reiflich erwogenen Umstände“. Diese Entscheidung für die natürlichen Rechtsgrundsätze ist Zeiller sicher nicht leicht gefallen. In Auseinandersetzung mit diesem auf Martini zurückgehenden Gedanken, der erstmals im § 19 des Westgalizischen Gesetzesbuches Aufnahme fand, erklärte noch Zeiller nach Abschaffung der Anfrage bei Hof in der Diskussion um das ABGB gleichsam vermittelnd und trotzdem wegweisend: „Wenn ein Gericht zufolge des § 19 des Gesetzbuches einen Rechtsfall nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen entscheidet und dieses Urteil keinem weiteren Rechtszuge unterliegt oder doch nicht unterzogen worden ist, so hat es einen solchen Rechtsfall in einem bündigen Auszuge sammt dem Urtheile und dem Entscheidungsgrunde am Schlusse des Jahres der Hofkommission in Gesetzessachen einzusenden. Die Ursachen dieser Anordnung wären: 38  Julius Ofner, Der Ur-Entwurf und die Beratungs-Protokolle des Österreichischen Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches I, 1889, S. 10. 39  Siehe Dniestrzanski, S. 9.



Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB229

1.  Um die Gerichte sodann zu belehren, dafern sie einen Fall zu voreilig nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen entschieden hätten, welcher noch nach dem positiven Gesetze hätte entschieden werden können, 2. um dieselben eben durch diese Kontrolle zu beschränken, damit sie das Befugnis nicht mißbrauchen, 3.  um die Lücken, welche auf solche Art am sichersten aufgedeckt werden, allmälig in der Gesetzgebung zu ergänzen40.“ Die dann doch dem österreichischen Richter eingeräumte Vollmacht des § 7 ABGB war eine deutliche Absage an jede politische Willkür und Ausdruck des Strebens nach einem bestimmten Maß an Rechtssicherheit; wobei der Richter je nach dem Einzelfall an das positive Recht zur Erfüllung seiner Lücken anknüpfen kann, besonders, wenn im Gesetz allgemeine Prinzipien oder allgemein lautende Vorschriften angetroffen werden41. Schon Unger hat erkannt: „Der Richter hat Recht zu finden, nicht zu erfinden“42; und Stephan Verosta in bezug auf die §§ 7 und 12 ABGB „als vom Gesetzgeber gelöste Objektivation“ gesprochen43. § 7 statuiert ein weitgehendes Rechtserzeugungsrecht des österreichischen Richters juris civilis adiurandi und supplendi gratia, in dem letztlich auch ein Rechtserzeugungsrecht contra legem (legis corrigendae gratia) enthalten ist. Denn jedenfalls verweist es auf eine außerordentliche Entscheidungsgrundlage: Naturrecht libre recherche scientifique (Gény) usw. und das daraus durch steten gleichmäßigen Rechtsgebrauch resultierende richterlicher Gewohnheitsrecht … Der nächste Richter, der einen gleichen Fall, der im Gesetz nicht ausdrücklich, unzulänglich oder überhaupt nicht geregelt ist, zu entscheiden hat, wird sich wahrscheinlich an die Vorentscheidung halten, insbesondere, wenn sie von der höheren Instanz stammt und um so mehr, wenn die höhere Instanz kontinuierlich in derselben Weise entscheidet44.“ Die jeweilige Bedeutung des § 7 ABGB wird daher von dem jeweiligen Maß an Bereitschaft zu eigenverantwortlicher richterlicher Rechtsfortbildung und der Fähigkeit sowie Möglichkeit, aus dem System des Rechtsdenkens nötigenfalls das positive Recht ergänzend und verbessernd zu schöpfen, abhängen. Die natürlichen 40  Ofner, S. 23. Beachte Schott, S. 30: „Zeiller hat die natürlichen Rechtsgrundsätze lustlos übernommen mit der Bemerkung: Ungezweifelt sei zwar das Befugnis, welches man den Richtern für die Zukunft einräumen wolle, besonders da die Richter oft eben keine gründlichen Rechtsphilosophen seien, ein Übel, aber ein Übel, das nicht ganz aufgehoben werden können, … es komme nur darauf an, dem besorgten Mißbrauche soviel wie möglich Grenzen zu setzen.“ (Ofner, Ur-Entwurf I, S. 23). 41  Dniestrzanski, S. 17. 42  Neue Freie Presse vom 22. Jänner 1911, Nr. 16.674. 43  Verosta, S. 106. 44  Verosta, S. 106.

230

Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB

Rechtsgrundsätze können daher mehr oder weniger eine Qualifikationsmarke für die jeweilige Rechtsentwicklung sein. Die natürlichen Rechtsgrundsätze verlangen in der obgenannten Sicht nach einer mehr offenen als geschlossenen Definition, denn sie sind „nicht abstrakte Gebilde, sie wurzeln vielmehr in den konkreten Schöpfungen einzelner Gemeinwesen, in den aus innerer Kraft und mit Autorität derselben geschaffenen Rechtsnormen. Sie sind das Erzeugnis der Bedürfnisse des Gesellschaftslebens einzelner sozialer Verbände und unterliegen mit den ersteren einer stetigen Fluktuation“45. In welcher Weise hat sich diese Fluktuation in Literatur und Judikatur gezeigt? III. Die natürlichen Rechtsgrundsätze in Judikatur und Literatur Es kann wohl kein Zweifel bestehen, daß die natürlichen Rechtsgrundsätze, wie sie von Martini in die Kodifikationsbestrebungen eingeführt wurden, vom Gedanken des Naturrechts getragen waren. Bereits im Entwurf Martinis wird erklärt: Da die oberste Quelle aller Gesetzgebung das Naturrecht ist, so hat der Richter zur Ausfüllung von Lücken des Gesetzes auf diese Quelle zurückzugehen (§ 12, I, 1). Auch Zeiller, der ja auch Autor eines natürlichen Privatrechts war46, sah im Naturrecht eine Quelle der natürlichen Rechtsgrundsätze47; ein Fortschritt gegenüber der früheren Anfrage bei Hof und bemerkenswert in einer Zeit des Polizeistaates einem selbstverantwortlichen Richtertum ein solches Tor zu öffnen. Josef Winiwarter erklärte zu dieser Ermittlungstätigkeit des Richters: „Unter den natürlichen Rechtsgrundsätzen sind hier jene zu verstehen, welche sich aus der Natur der Sache, mit Rücksicht auf den Begriff, den Ursprung und den Zweck der Verfügungen über einen gewissen Gegenstand ergeben. Man muß also, was man Natur der Sache nennt, nicht aus willkürlichen Ansichten zusammensetzen und dabei von abstrakten Begriffen ausgehen; sondern der Richter muß sich an die schon gegebenen halten, die einer Lehre zum Grunde dienenden Prinzipien auszuforschen suchen, um nach denselben die Entscheidung so zu fällen, daß sie mit dem Systeme der positiven Gesetze übereinstimmt, und wie sie der Gesetzgeber selbst gemacht haben würde, wenn er den übergangenen Fall vorausgesehen hätte48.“ 45  Dniestrzanski,

S. 13. Franz Zeiller, Das natürliche Privatrecht, Wien 1808 und Theo MayerMaly, Zeiller, das ABGB und wir (im Druck). 47  Franz Zeiller, Kommentar über das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch, 1. Band, Wien 1811, S. 62 ff. 48  Josef Winiwarter, Das österreichische bürgerliche Recht, I. Teil, Wien 1838, S.  81 f. 46  Siehe



Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB231

Die Folge dieser Verbundenheit der natürlichen Rechtsgrundsätze mit dem Naturrecht ist, daß sie mit diesem im 19. Jahrhundert beginnend das Schicksal teilen mußten; zunächst von den Vertretern der historischen Schule und hernach des Rechtspositivismus angegriffen. So spricht Unger den natürlichen Rechtsgrundsätzen jede Bedeutung ab und meint, es könne sich niemals ein Fall ereignen, in dem der Richter auf die subsidiäre Quelle des Naturrechts zurückgreifen müßte, zumal nach seiner Auffassung die Rechtsanalogie vollkommen ausreicht49. Betrachtet man die Judikatur zu § 7 ABGB der folgenden Zeit, so entspricht sie der dem Naturrecht distanzierten Haltung; das Wort Natur wird nicht im Zusammenhang mit einem präpositiven Recht, das als Regulativ gedacht wird, gebraucht, sondern im übertragenen, nämlich rechtslogischen Sinn. Einige Urteile seien hierfür als Beispiel angeführt: Die Entscheidung des OLG Venedig vom 3. Dezember 1857, Nr. 21 404 (GLU II, 573), deutet bei Auslegung des § 364 ABGB „auf jene Rechte hin, welche nach den auch im § 7 ABGB in Erinnerung gebrachten natürlichen Rechtsgrundsätzen aus der inneren Natur der Verhältnisse sich ergeben“. In einer Entscheidung vom 9. Dezember 1891, Nr. 6312 (GLUNF XXX, 14 132) beruft sich das OLG Innsbruck auf die natürlichen Rechtsgrundsätze, um schließlich auf die Analogie zurückzukommen. Nach der Entscheidung des OLG Triest vom 21. Juli 1892, Nr. 2725 (GLUNF XXX, 14 528), „ermächtigte der § 7 ABGB wohl den Richter, auf die Gesetzesanalogie und auf die natürlichen Rechtsgrundsätze, nicht aber auf rein imaginäre , sogenannte natürliche Rechte Rücksicht zu nehmen“. Der OGH beruft sich in einer Entscheidung vom 4. März 1902, Nr. 2511 (GLUNF V, 1795), bei der Erläuterung der §§ 6 und 7 ABGB auf das angebliche Prinzip der Vertragsrechte, „daß keine Partei vor der anderen begünstigt werde und daß der Schutz (der Gesetze) beiden und nicht bloß dem einen Kontrahenten zustatten komme“. Aus der rechtlichen Natur einer Alpengenossenschaft schließt der OHG in einer Entscheidung vom 7. Jänner 1903, Nr. 16 746 (GLUNF VI, 2200). In einer Entscheidung vom 7. August 1900, Nr. 10 957 (GLUNF III, 1102) gebraucht der OHG die natürlichen Rechtsgrundsätze um Zusammenhang mit der Billigkeit und dem Geist der Gesetze. Die Ausdrücke „Natur“, „natürlich“ und „natürliche Rechtsgrundsätze“ werden in verschiedener Sinngebung vom OHG gebraucht, so wenn er in einem Erkenntnis vom 26. Juni 1901, Nr. 8512 (GLUNF IV, 1483), die Ersatzpflicht der Eltern für den der Erzieherin durch das anvertraute Kind gestifteten Schaden aus den natürlichen Rechtsgrundsätzen erklärt, oder in einem Erkenntnis vom 4. März 1902, Nr. 2511 (GLUNF V, 1795) aus den im § 7 ABGB aufgestellten Grundsätzen versucht wird, den Zeitpunkt zu bestimmen, von welchem an 49  Unger,

System I, § 11.

232

Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB

die Frist für die Gewährleistungsklage zu laufen beginnt; oder es in einem Erkenntnis vom 22. Oktober 1903, Nr. 10 1087 (GLUNF VI, 2473) als natürlich erklärt, daß ein Rechtsverhältnis der Herrschaft des Gesetzes des Ortes unterworfen bleibt, an dem die Tatsachen geschaffen wurden; in einem Erkenntnis vom 10. April 1906, Nr. 5996 (GLUNF IX, 3383) wird aus dem § 7 ABGB auf den Zweck eines Rechtsinstitutes geschlossen und die Adoption der eigenen Enkel aus dem Wesen der Adoption für unzulässig erklärt; das „Wesen“ der Bereicherung ist der Erkenntnisgrad für ein Erkenntnis nach § 7 ABGB vom 17. April 1907, Nr. 2350 (GLUNF X, 3750), und die „Natur des zugrunde liegenden Rechtsverhältnisses“ in einem Erkenntnis vom 14. November 1911, Nr. 560 / 10 (GLUNF XIV, 5637). Die angeführten Erkenntnisse zeigen deutlich, daß die natürlichen Rechtsgrundsätze nach § 7 ABGB Grundlage für Entscheidungen waren, die auf der „Zweckbestimmung der positiven Regelung“ (GLUNF VI, 2323) oder auf „dem Zweck des Rechtsinstitutes“ beruhten. Die „Natur der Sache“ findet in der Judikatur einmal Erwähnung, und zwar in einem Erkenntnis des OGH vom 18. April 1903, Nr. 4234 (GLUNF VI, 2323), das dem Finder eines Sparkassenbuches aus der „Natur der Sache“ heraus einen Finderlohn nach freiem Ermessen zuspricht. Inge Gampl kommt auch in ihrer Untersuchung der „natürlichen Rechtsgrundsätze in der Judikatur der k. k. Höchstgerichte Österreichs“ in Auswertung der untersuchten Entscheidungen zu dem Ergebnis, daß diese Gerichte diese Rechtsgrundsätze in keinem einzigen Fall dazu herangezogen haben, um „irgendeinen extra- oder überpositivem (‚Rechts‘-) Grundsatz zum Durchbruch zu verhelfen“50. In der Literatur ist es im Zusammenhang mit der 100-Jahrfeier des ABGB und der aus diesem Anlaß erschienenen zweibändigen Festschrift zu einer Neubesinnung auf die natürlichen Rechtsgrundsätze gekommen. Moritz Wellspacher erklärt: „Die Frage der Ausfüllung von Lücken des Gesetzes hat meiner Ansicht nach bis heute noch keine bessere Lösung gefunden, als sie durch den Schlußsatz des § 7 gegeben ist. Es ist ein durchaus zutreffender Gedanke, daß über allem positiven Recht ein höheres Recht steht, ein Recht, aus dem der Gesetzgeber seine Weisheit nimmt und das den Maßstab bildet für die Kritik bestehender Gesetze. Ob man dieses Recht Naturrecht oder natürliche Rechtsgrundsätze oder richtiges Recht nennt, ist gleichgültig und ebenso gleichgültig, daß sich die Redaktoren ihr richtiges Recht als ein für alle Zeiten feststehendes gedacht haben51.“ 50  Inge Gampl, Die natürlichen Rechtsgrundsätze in der Judikatur der k. k. Höchstgerichte Österreichs, in: Festschrift Heinrich Demelius zum 80. Geburtstag, Wien 1973, S. 59 f. 51  Wellspacher, S. 186.



Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB233

Dniestrzanski52 sprach sich aus dem gleichen Anlaß der ABGB-Jahrhundertfeier im Zusammenhang mit dem § 7 ABGB nicht für ein präpositives Recht, etwas aus der Natur des Menschen, sondern vielmehr für einen Hinweis auf die Natur des Rechts aus; in diesem Sinne fallen nach ihm die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 mit dem Gewohnheitsrecht zusammen; er sprach sich so für die Korrektur von Gesetzen durch den Richter aus53 und zieht sie zur Interpretation nicht hinlänglich bestimmter Gesetzesbegriffe heran54. Als ein Bemühen, die Negierung der natürlichen Rechtsgrundsätze zu überwinden, kann die Erklärung von Heinrich Klang betrachtet werden: „Da aber eine Norm nicht entbehrt werden kann, welche dem Richter eine Anweisung auf jene Fälle gibt, für die eine Entscheidung durch Auslegung des Gesetzes nicht gewonnen werden kann, war die Rechtslehre bemüht, an die Stelle des Naturrechts eine andere Formel zu setzen, welche für die Entscheidung aus dem Gesetze nicht entscheidbarer Fälle Geltung haben sollte55.“ In dieser Richtung kann geradezu als vorweggenommene Präzisierung der Äußerung Klangs die Feststellung von Karl Wolff im Klang-Kommentar angesehen werden; für ihn sind die natürlichen Rechtsgrundsätze die „Anwendung des natürlichen Verstandes auf die Rechtsordnung als ganzes und ihre Auslegung“56. Entscheidend ist für Wolff immer die gesamte gegenwärtig geltende Rechtsordnung. „Alles also, was sich aus dem Begriff einer Rechtsordnung und aus logisch daraus abgeleiteten Sätzen ergibt, machte den Inbegriff der natürlichen Rechtsgrundsätze aus57.“ In der Rechtsfindung aus den natürlichen Rechtsgrundsätzen soll daher die Gesamtheit der geltenden positiv-rechtlichen Rechtssätze zur Anwendung kommen. Diese Sinngebung der natürlichen Rechtsgrundsätze läßt diese als die Ordnung des positiven Rechts erkennen58; für präpositive Gesichtspunkte und ontologische Bezüge ist in einer solchen Betrachtung kein Platz. Ähnlich meint Franz Gschnitzer, der Richter 52  Dniestrzanski,

S.  3 ff. S. 18: „Es besteht die faktische Möglichkeit veralteter Gesetze desuetudo … Soweit reicht die korrektive Tätigkeit des Richters, mit Worten der römischen Rechtsquellen corrigendi iuris civilis gratia“. 54  Dniestrzanski, S 22 ff. und S. 30 ff. 55  Heinrich Klang, Der Oberste Gerichtshof und die Entwicklung der bürgerlichen Rechts, in: Festschrift zur Hundertjahrfeier des Österreichischen Obersten Gerichtshofes, Wien 1950, S. 84 f. 56  Kommentar zum Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch, 2. neubearbeitete Auflage, 1. Band, hrsg. von Heinrich Klang, Wien 1948, S. 106. 57  Klang-Kommentar, S. 107. 58  Siehe Karl Wolff, Grundriß des österreichischen bürgerlichen Rechts, 4. Aufl., Wien 1948, S. 7. 53  Dniestrzanski,

234

Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB

soll bei der Lückenfüllung ebenso wie bei der Analogie „auf den hypothetischen Willen des Gesetzgebers und zwar des ‚gegenwärtigen Gesetzgebers‘ gerichtet sein“59. Eine vermittelnde Stellung nimmt Armin Ehrenzweig ein. Für ihn sind natürliche Rechtsgrundsätze „jene Grundsätze, die gegenwärtig in allen Kulturstaaten anerkannt sind und die gemeinsame Grundlage ihrer Gesetzgebungen bilden“60, Er ist aber deutlich dagegen, die natürlichen Rechtsgrundsätze als a priori feststehende Regeln anzusehen. Ehrenzweig verweist etwa darauf, daß vereinzelte Entscheidungen, wie die Frage, wo ein Verstorbener zu beerdigen ist, nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen gelöst haben61 und früher Fragen des internationalen Privatrechts mehrmals nach natürlichen Rechtsgrundsätzen beantwortet wurden62. Als Fundamentalprinzipien des positiven Rechts sieht Franz Bydlinski die natürlichen Rechtsgrundsätze, denn nach seiner Auffassung „sind natürliche Rechtsgrundsätze die in unserer Rechtsgemeinschaft praktisch unbestrittenen sowie jene weit verbreiteten Wertungen, die erkennbar unserer Rechtsordnung zugrunde liegen“63. Die natürlichen Rechtsgrundsätze positivrechtlich und nicht präpositiv, aber regulativ sehen auch Helmut Koziol / Rudolf Welser, die in ihnen einen Verweis auf die allgemeinsten Wertprinzipien, die unserer Rechtsordnung zugrunde liegen, annehmen, welche der Richter in einem neuen Rechtssatz zu entfalten hat64. Als Beispiele seien genannt: Wer schuldhaft ein Kind verletzt, kann sich nicht seiner Schadenersatzpflicht entziehen, indem er darauf verweist, daß der Vater des Kindes wegen seiner Unterhaltspflicht die Spitalskosten tragen müsse65; auch wird die Gewährung der Exszindierungsklage gem. § 37 EO für den Eigentumsvorbehaltskäufer im Konkurs des Verkäufers als Rückgriff auf die natürlichen Rechtsgrundsätze angesehen66. Betrachtet man nach diesen skizzierten Hinweisen auf die Wertung der natürlichen Rechtsgrundsätze in der Literatur ihre Beachtung in der Judikatur, so hat bereits Inge Grampl darauf hingewiesen, daß für die Zeit nach 59  Franz

Gschnitzer, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, Wien 1966, S. 33. Ehrenzweig, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, 2. Aufl., 1. Band, Wien 1951, S. 83. 61  Ehrenzweig, S. 83. 62  Ehrenzweig, S. 84. 63  Bydlinski, S. 107, Fn. 12, letzter Satz. 64  Siehe Helmut Koziol / Rudolf Welser, Grundriß des bürgerlichen Rechts, Band I 4. Aufl., Wien 1976, S. 17 und S. 24. 65  OGH in SZ 35 / 32 besprochen in Koziol / Welser, S. 24 f. 66  Koziol / Welser, Band II, 3. Aufl., S. 116. 60  Armin



Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB235

1918 der erhobene Befund in der Rechtssprechung des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes völlig negativ ist67. Was den § 7 ABGB in der Rechtsprechung des OGH betrifft, so wird dieser vor allem zur Lösung von Analogieproblemen genutzt, um einer Unvollständigkeit des Gesetzes zu begegnen. Da die natürlichen Rechtsgrundsätze ultima ratio sind, werden sie verhältnismäßig wenig in dieser Rechtsprechung genannt68. In den wenigen Erkenntnissen des OGH, die auf die natürlichen Rechtsgrundsätze Bezug nehmen, ist ihre Wertung im Hinblick auf eine richterliche Rechtsfortbildung unterschiedlich. Während etwa in einem Erkenntnis 1972 dazu eine negative Einstellung anzutreffen ist69, zeichnet sich 1974 eine mehr positive ab70. Die Hinweise auf die Rechtsprechung des OGH zu § 7 zeigen, daß er zurückhaltend gegenüber den natürlichen Rechtsgrundsätzen ist und sie, wie sich aus dem letztgenannten Erkenntnis ergibt, zu den sittlichen Grundsätzen zählt, welche bei der Gesetzesanwendung immer zu berücksichtigen sind. Die natürlichen Rechtsgrundsätze werden aber in keinem einzigen Fall genützt, um einen extra- bzw. überpositiven Rechtsgrundsatz durchzusetzen oder gar einen ontologischen Bezug des positiven Rechtes aufzudecken.

67  Grampl,

S. 51. SZ 22 / 75, 81 und 214; SZ 23 / 57, 191, 207, 2016 und 266; SZ 24 / 21, 190 und 278; SZ 25 / 124; SZ 35 / 97; SZ 38756; SZ 39 / 130; SZ 40 / 150; SZ 41 / 3 und 119; SZ 44 / 48; SZ 45 / 41 und 90; SZ 46 / 123; SZ 47 / 65, 78, 104 und 145; SZ 48 / 114. 69  SZ 45  / 41: „Es mag sein, daß die Regelung des Gesetzes unverständlich und unbefriedigend ist. Diese zu verändern ist aber nicht Sache der Rechtsprechung, sondern der Gesetzgebung; die Gerichte haben nur die bestehenden Gesetze anzuwenden; es ist hingegen keineswegs ihre Aufgabe, im Wege der Rechtsfortbildung oder einer allzu weitherzigen Interpretation möglicher Intentionen des Gesetzgebers Gedanken in ein Gesetz zu tragen, die darin nicht enthalten sind … Als maßgebend kann vielmehr nur der objektive Sinn einen gehörig kundgemachten Gesetzeswortlautes angesehen werden.“ Vgl. auch SZ 45 / 90. 70  SZ 47 / 104 ebenso SZ 48 / 67, 48 / 79 (1975): „Die oft harten Konsequenzen des § 1502 ABGB müssen aber dort ihre Gesetze finden, wo sie mit den tragenden und damit bei der Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen immer zu berücksichtigenden Grundsätzen des bürgerlichen Rechtes in Widerspruch geraten. Das Gesetz anerkennt nämlich sittliche Grundsätze (allgemeine Grundsätze der Gerechtigkeit: Abs. 1 des Kundmachungspatentes des ABGB vom 1. Juni 1811, PGS Nr. 946), die so allgemein anerkannt sind, daß es zu ihrer Anwendung keiner besonderen Gesetzesbestimmungen bedarf (‚natürliche Rechtsgrundsätze:‘ § 7 ABGB; ‚gute Sitten‘: §§ 879, 1295 Abs. 2 ABGB  …)“. 68  Beachte:

236

Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB

IV. Die Bedeutung der natürlichen Rechtsgrundsätze Nach Skizzierungen der Kodifikations- und Ideegeschichte der natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB sowie ihrer Wertung in Literatur und Judikatur sei abschließend ihre Bedeutung hervorgehoben. Es kann wohl eindeutig anerkannt werden, daß sich in ihrem Wortlaut, vor allem in der eigenschaftswörtlichen Verwendung des Wortes „Natur“ in Verbundenheit mit den Rechtsgrundsätzen in über eineinhalb Jahrhunderte an Geltung ein Hauch dessen erhalten hat, was einst getragen vom Vernunftoptimismus die Naturrechtslehre der Neuzeit in den Privatrechtskodifikationen an Bemühen, den Traum des absolut Allgemeingültigen in und mit dem positiven Recht zu verwirklichen. In ihrer Geschichte ist es den natürlichen Rechtsgrundsätzen – von einzelnen Ansätzen abgesehen – nie gelungen, eine ständig genutzte Quelle gesetzesergänzender oder gesetzesändernder Rechtsfindung zu werden, durch welche präpositive und damit auch naturrechtliche Prinzipien Maßstab für die Rechtsfindung werden konnten. Der OGH hat dementsprechend auch einmal entschieden, daß § 7 den Richter nicht berechtigt, auf rein imaginäre, sogenannte natürliche Rechte Rücksicht zu nehmen71, wohl aber waren die natürlichen Rechtsgrundsätze als allgemeine Wertprinzipien anerkannt, die sich aus der gesamten Rechtsordnung ergeben. So definierte schon der OGH 1915 die natürlichen Rechtsgrundsätze, indem er ausdrücklich „nicht auf ein nicht bestehendes Vernunftrecht verwiesen“ wissen wollte, „sondern das zu einer bestimmten Zeit herrschende, von den logischen Denkgesetzen getragene Rechtsbewußtsein des Volkes“72 verstand. Ob mit Anerkennung eines präpositiven Rechts oder nicht war mit § 7 ABGB der richterlichen Rechtsfindung ein besonderer Bereich eröffnet und in Abwehr jeder Herrscherwillkür 1811 ein entscheidender Schritt am Weg vom Polizei- zum Rechtsstaat und so letztlich auch zum Verfassungsstaat gesetzt. Verdinestvoll hat diese Leistung österreichischer Rechtsentwicklung Stephan Verosta herausgestellt, als er zu einer Zeit als Österreich von der „politischen Landkarte“ verschwunden war, nämlich 1942, seine schon 1936 abgeschlossene Hausarbeit für öffentliches Recht veröffentlichte73 und betonte: „So hat das ABGB fast 100 Jahre vor dem berühmten Art. 1 des Schweizer ZGB. andere Rechtsquellen des Privatrechts als das Gesetz anerkannt74.“ Das ABGB hat damit auch dem Richter die Möglich71  Siehe Fundstelle Entsch. Slg. Nr. 14.528 zitiert bei Ehrenzweig, S. 83, Fn. 13; beachte dazu Armin Ehrenzweig, JBl. 1901, S. 102. 72  Erkenntnis vom 2. März 1915, GLUNF XVIII 7335. 73  Verosta, S.  89 ff. 74  Verosta, S. 108.



Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB237

keit zu einem richterlichen Gewohnheitsrecht eröffnet: „Dem § 12 zum Trotz äußert jede bewußt oder unbewußt auf § 7 zurückgehende Entscheidung, soweit sie nicht unter Auslegung des Gesetzes und unter der Analogie somit unter das Gesetz fällt …, zunächst faktisch über den Einzelfall hinausgehende Wirkungen. Der nächste Richter, der einen gleichen Fall, der im Gesetz nicht ausdrücklich, unzulänglich oder überhaupt nicht geregelt ist, zu entscheiden hat, wird sich wahrscheinlich an die Vorentscheidung halten, insbesondere wenn sie von der höheren Instanz stammt und um so mehr, wenn die höhere Instanz kontinuierlich in derselben Weise entscheidet75.“ Die österreichische Rechtssprechung hätte dazu Gelegenheit gehabt, aber nur sehr zurückhaltend, wenn überhaupt davon Gebrauch gemacht76. Ein auf § 7 ABGB basierendes richterliches Gewohnheitsrecht, das gleichsam einem Regulativcharakter gegenüber dem Gesetzesrecht annimmt, ist nicht zustandegekommen, wohl aber ein in der sonst mehr positivistischen österreichischen Rechtsordnung nur selten anzutreffender Ausdruck für die Existenz von Grundformen wertorientierten Denkens77 und die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit für den Richter, davon Gebrauch zu machen. Die natürlichen Rechtsgrundsätze sind zu jenen Rechtsprinzipien zu zählen, von denen schon Karl Larenz schrieb, sie „sind Leitgedanken, die der gesetzlichen Regelung oder auch einer sich entwickelnden Rechtssprechung in der Weise zugrunde liegen, daß diese von ihnen her ihren spezifischen Sinn erhält. Sie sind also ‚rationes legis‘. Jene sinngebende Funktion aber beruht darauf, daß sie entweder einen als solchen einleuchtenden Gerechtigkeitsgehalt oder einen von der Rechtsordnung anerkannten Höchstwert zum Ausdruck bringen. Sie bedürfen, um in konkrete Entscheidungen umgesetzt zu werden, stets der Konkretisierung … Dieser Vorgang ist nie abgeschlossen, weil einerseits immer neue Situationen auftreten, die eine rechtliche Regelung erfordern, andererseits in der Gesetzgebung und in der Rechtsprechung jeweils auch neue Wertakzente gesetzt werden“78. Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB sind eine ständige Einladung an den Richter, als ultima ratio bei einer Gesetzesanwendung auch 75  Verosta,

S. 106. S. 115: „Es ist darauf hinzuweisen, daß es sich bei der Zitierung der §§ 7 und 12 in der Entscheidung oft nur um ein obiter dictum handelt; denn naturgemäß können die §§ 7 bis 13 nicht Inhalt des Urteilsspruches sein. Manchmal mag der Rekurs auf die natürlichen Rechtsgrundsätze durch die besondere Lagerung des einzelnen Falles oder auch die Unmöglichkeit der Korrektur der unterinstanzlichen Beweiswürdigung durch den OGH bedingt sein.“ Siehe die dort auch von Verosta angegebenen Entscheidungen. 77  Siehe dazu Karl Larenz, Grundformen wertorientierten Denkens in der Jurisprudenz, in: Festschrift Walter Wilburg zum 70. Geburtstag, Graz 1975, S. 217 ff. 78  Larenz, S.  223 f. 76  Verosta,

238

Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB

vom Grundsätzlichen im Recht her zu denken; eine Grundsätzlichkeit, die bei der Allgemeinheit der Formulierung im § 7 ABGB, wie sich aus den beispielsweisen Stellen aus Literatur und Judikatur ergibt, sehr weit reicht, nämlich die Relevanz einer naturrechtlich begründeten Präpositivität ebenso erlaubt, wie eine positivrechtlich fundierte Grundsätzlichkeit. In der Sicht der heutigen österreichischen Staatsrechtsordnung, die in dem positivistischen Bundes-Verfassungsgesetz 1920 ihre Fundamentalnorm hat, sind diese aus der Rechtsordnung des Jahres 1811 kontinuierlich übernommenen natürlichen Rechtsgrundsätze eine der wenigen Bestimmungen im österreichischen Recht, welche zu grundsätzlichem Rechtsdenken aufrufen, was eine permanent prüfende und kritische Haltung in der Rechtfindung verlangt. Stanislaus Dniestrzanski ging sogar soweit, in den natürlichen Rechtsgrundsätzen „das große Geheimnis der steten Verjüngung des österreichischen bürgerlichen Rechtes“79 zu sehen. Die Geschichte des österreichischen Rechts zeigt, daß diese Möglichkeit ständiger Rechtserneuerung aus den natürlichen Rechtsgrundsätzen nicht genützt wurde, sie begleiten uns aber als permanente Mahnung hiezu und erinnern uns, um abschließend die allgemein gültige Feststellung von Franz Klein zu zitieren, „daß die Gesetzgebung kein Handwerk sein darf, zumindestens muß sie ein Kunstwert bleiben. Prüfungen, platte Legistik und trockene Lebenskunde machen noch nicht zum Gesetzgeber. Nur ein die Menschen ergreifender, allgemeiner Gedanke kann die Massen dazu bringen, daß sie von selbst in ihre Tätigkeit Ordnung bringen, wie es das letzte Ziel jedes Gesetzes sein mus“80.

79  Dniestrzanski, 80  Klein,

S. 32.

S. 35.

Naturrecht und Verfassungsrecht* „Die Verfassungsgebung vollzieht nicht nur die Grundnorm im rechtslogischen Sinn auf dem Weg einer reinen logischen Operation, vielmehr wendet sie Völkerrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze (ius gentium) an; vollzieht die verstreuten Grundelemente der ihr vorauslaufenden Rechtsordnung, die allerdings, wenn keine Rechtskontinuität waltet, bloß auf dem Weg der Interpretation gefunden werden; schließlich führt sie das ursprüngliche Seinsrecht als die ontologische Grundnorm aus … So ist das Seinsrecht, das Naturrecht, die letzte Decknorm; sie deckt die Verfassung, wie die Verfassung das Gesetz, wie das Gesetz die Verordnung oder ein Urteil des Gerichts oder den Bescheid einer Verwaltungsbehörde oder den Rechtsakt von Rechtsgenossen deckt“1, dieses Bemerken hat René Marcic in der ihm eigenen Art umfassender Ordnungsbetrachtung gemacht und in Überschreitung des normativen Rechtsbereiches die Stufenfolge des positiven Rechts mit dem präpositiven Recht in Beziehung gesetzt, das ihm in einem ontologisch begründeten Naturrecht als Realfaktor gegeben erscheint. Der Hinweis von René Marcic auf das Naturrecht als Bedingtheit des positiven Rechts im allgemeinen, des Verfassungsrechts im besonderen drückt den Wunsch nach einer Möglichkeit der Eingebundenheit des Gesetzesrechts aus, das die abendländische Rechtsphilosophie2 seit altersher begleitet. Schon Ulpian schrieb in bezug auf das Naturrecht, es sei „quod natura omnia animalia docuit“3, womit sich die stoische Idee einer Rechtsgemeinschaft aller Lebewesen erkennen läßt, welche auf die von René Marcic getroffene Erklärung des Kosmos als Rechtsordnung, die besonders in seiner 1965 erschienenen Schrift „Mensch – Recht – Kosmos“ deutlich ist, von Einfluß ist4. *  Erschienen in: Das Naturrechtsdenken heute und morgen. Gedächtnisschrift für René Marcic, hrsg. von Dorothea Mayer-Maly  /  Peter M. Simons, Berlin 1983, S.  911 ff. 1  René Marcic, Verfassung und Verfassungsgericht, Wien 1963, S. 42. 2  Siehe näher Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Wien 1963. 3  D 1, 1, 1, 3. 4  In diesem Sinne auch Theo Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, 2. Aufl., München 1981, S. 98.

240

Naturrecht und Verfassungsrecht

Betrachtet man kritisch dieses Integrationsbemühen des René Marcic von Naturrecht und positivem Recht im allgemeinen und Verfassungsrecht im besondere, so ist es im Hinblick auf sein lebenslanges Bemühen um Rechtssicherheit durch das positive Recht im Dienste von Freiheit und Würde des Menschen erklärlich, im Hinblick auf seine Begründbarkeit aber eine Frage, die sich einerseits auf das bezieht, was unter Naturrecht und Verfassung verstanden wird sowie andererseits auf die Beziehungen dieser beiden zuein­ ander. I. Das Naturrecht Das Naturrecht ist jene soziale Ordnung, die aus der Natur des Menschen und, wie es Johannes Messner ausdrückt, der ihr eigenen „existentiellen Zwecken“5 allgemein gültige Normen abzuleiten sucht, die dem positiven Recht vorgegeben sind. Nach Johannes Messner handelt es sich dabei um Zwecke, die der Mensch verwirklichen muß, um seine Persönlickeitsentfaltung zu finden, einschließlich seinem Bedürfnis nach Glückserfüllung. Diese Zwecke sind aus der der Erfahrung des Menschen unmittelbar zugänglichen Wirkweise der menschlichen Natur erhoben, wobei der Mensch nicht als abstraktes Wesen, sondern immer auch als konkretes Geschichtswesen gesehen wird. Mit der Entfaltung der menschlichen Natur und der Erfüllung der „existentiellen Zwecke“ macht der Mensch selbst eine Veränderung durch, die sich auch in dieser seiner Befähigung zu schöpferischen Entwicklung von Kulturrechten äußert und mit dazu beiträgt, dem Naturrecht einen dynamischen Charakter zu verleihen. Die Einsicht in die präpositiven Ordnungsstrukturen setzt den Gebrauch der Vernunft voraus. So erklärte schon Alfred Verdross, „daß das Naturrecht kein Recht im juristischen Sinn bildet, das mit sozialen Sanktionen verknüpft ist, sondern aus Grundsätzen besteht, die dem positiven Recht vorgegeben sind und mit dem natürlichen Lichte der Vernunft erschlossen werden können6.“ Sie umfassen menschliches und zwischenmenschliches Verhalten, es eignet ihnen daher eine individuale und soziale Natur, Bleibendes und Veränderliches bestehen neben- und miteinander. „Obgleich sich also nur Geschichtliches ereignet, wird dieses doch auch vom Übergeschichtlichen mitgestaltet, das sich durch die Geschichte erklärt. Ohne ein Dauerndes im Wechsel gäbe es gar keine kontinuierliche menschliche Geschichte. Diese würde in einzelne, unzusammenhängende Bruchstücke 5  Dazu näher Johannes Messner, Das Naturrecht, Handbuch der Gesellschafts­ ethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 5. Aufl., Innsbruck 1966, S. 43 ff. 6  Alfred Verdross, Statistisches und dynamisches Naturrecht, Freiburg im Breisgau 1971, S. 9.



Naturrecht und Verfassungsrecht241

auseinanderfallen7.“ Auch Verdross sieht in seiner auf das Wesen des Menschen bezogenen Naturrechtserklärung die historische Dimension miteingeschlossen. „Da es jedoch keinen Menschen an sich, sondern nur konkrete Menschen gibt, die in einer bestimmten Periode der Geschichte leben, besteht das Wesen den Menschen aus jenen gemeinsamen Merkmalen, die sich in den einzelnen konkreten Individuen geschichtlich ausprägen8.“ Diese geschichtliche Ausprägung der Natur des Menschen und ihre Bedeutung für die Erklärung des Naturrechts ist für Verdross so deutlich gewesen, daß es ihm besser erschien, „vielleicht … die Bezeichnung Naturrecht durch Kulturrecht zu ersetzen“9; was er aber dann doch nicht tat, „weil unsere Kultur verschiedene Züge aufweist, die den humanen Zielen widersprechen“10. Die Einsicht in die Ordnungselemente des Naturrechts werden nach dem jeweiligen erkenntnistheoretischen Standort der Einzelnen sowie der kulturellen und sozialen Entwicklung verschieden sein; sie findet ihren Ausdruck in einzelnen Lehren über das Naturrecht, welche die Geschichte der Rechtsphilosophie begleiten und prägen11. Die verschiedenen Bedingtheiten der Naturrechtslehre verlangen eine Unterscheidung der Idee des Naturrechts von den einzelnen Naturrechtslehren12. Diese Naturrechtslehren können neben ihren schon erwähnten Bestim­ mungsmomenten auch noch dadurch gekennzeichnet sein, daß sie „ideologische Elemente aufweisen, da sie bewußt oder unbewußt dazu dienen, bestehende Zustände zu legitimieren oder zu revolutionieren. Das schließt nicht aus, daß sich hinter solchen Ideologien ein vorideologischer Kernbefund verbirgt, der rational ermittelt werden kann“13. Diese ideologisch be7  Verdross,

a. a. O., S.  92. a. a. O.; dazu auch José Llompart, die Geschichtlichkeit der Rechtsprinzipien, Frankfurt am Main 1976 bes. S. 194 ff. 9  Verdross, a. a. O. 10  Verdross, a. a. O. 11  Siehe Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, besonders deutlich in der Darstellung der Rechtsphilosophie der Neuzeit, S. 100 ff., sowie René Marcic, Geschichte der Rechtsphilosophie, Freiburg im Breisgau 1971. 12  Ausführlich hiezu Herbert Schambeck, Idee und Lehren des Naturrechts, in: Naturordnung in Gesellschaft, Staat und Wirtschaft, Festschrift zum 70. Geburtstag von Johannes Messner, hrsg. von Joseph Höffner, Alfred Verdross und Francesco Vito, Innsbruck 1961, S. 437 ff.; Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, 2. Aufl., Karlsruhe 1964; Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, hrsg. von Erik Wolf und Hans-Peter Schneider, 8. Aufl., Stuttgart 1973, S. 102 ff. sowie Alexander Holler­ bach, Das christliche Naturrecht im Zusammenhang des allgemeinen Naturrechtsdenkens, in: Naturrecht in der Kritik, hrsg. von Franz Böckle und Ernst-Wolfgang Böckenförde, Mainz 1973, S. 9 ff. 13  Verdross, Statistisches und dynamisches Naturrecht, S. 10. 8  Verdross,

242

Naturrecht und Verfassungsrecht

dingte Verzeichnung des Naturrechts hat die allgemeingültige Bedeutung des Naturrechts sehr beschwert, bisweilen, denken wir an das von jedem metaphysischen Ansatz her „isolierte Naturrecht der totalitären Staaten“14, geradezu verschwinden lassen. Dieses Naturrecht ist von der oberwähnten Lehre in zweifacher Weise isoliert, einmal weil es kein Menschenrecht ist, sondern ein staatlich geprägtes und somit zeitlich bedingtes Recht, das dort, wo es nur von einer völkischen Gemeinschaft getragen ist, ein Nationalrecht ist; ein andermal ist es isoliert, weil es keinen Bezug zur Idee des Naturrechts hat, da es als gemeinschaftsbedingtes Recht weder überzeitlich noch unveränderlich ist und der absoluten Geltung entbehrt. Eine Universalrechtsgemeinschaft aller Menschen war dem Charakter dieses Rechts nach ausgeschlossen15, das in einer faschistischen Prägung während des 2. Weltkrieges sogar die Grundrechte als einen Aufstand des Egoismus gegen die Volksgemeinschaft bezeichnet hat. Von solchen Verzerrungen einer mit präpositivem Anspruch auftretenden Ordnungslehre ist die Anerkennung der aus der Natur des Menschen ableitbaren Rechte zu unterscheiden, wie sie etwa in der Deklaration der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 194816 sowie in den zwei von den Vereinten Nationen 1966 beschlossenen Pakten über die bürgerlichen und politischen Rechte vom 16. Dezember 196617 enthalten sind. Diese Dokumente suchen die der menschlichen Person innewohnende Würde auf einzelnen Gebieten in Rechten zu schützen. Stets kommt es darauf an, den Zusammenhang von Naturrecht und Naturrechtslehre, der in den natürlichen Rechten des Menschen, soweit sie mit der Vernunft erkennbar sind, grundgelegt ist, nicht verloren gehen zu lassen, was in der Pluralität des politischen Lebens der Gegenwart nicht leicht ist, da ihnen verschiedene Menschenbilder eignen, die nach Ausdruck im positiven Recht streben und aus dem präpositiven Bereich – bisweilen aus dem 14  Hans Fehr, Die Ausstrahlung des Naturrechts der Aufklärung in die neue und neueste Zeit, Vortrag gehalten am internationalen Historikerkongreß in Zürich 1938, insbes. S.  26 ff. 15  Näher Schambeck, Idee und Lehren des Naturrechts, S. 438 f. und 443 ff. 16  Hersch Lauterpracht, International Law and Humans Rights, London 1950; René Cassin, La Declaration universelle et la mise en œuvre des Droits de l’homme, Recueil des Cours (de l’Academie de droit international) 79 (1951 II), S. 237 ff.; Manfred Rotter, Mensch und Gesellschaft aus staatlicher und zwischenstaatlicher Sicht, in: Alfred Klose u. a. (Hrsg.), Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für Johannes Messner, Berlin 1976, S. 527 ff. 17  Andreas Khol, Zwischen Staat und Weltstaat. Die internationalen Sicherungsverfahren zum Schutz der Menschenrechte, Wien 1969; Hans Floretta, Theo Öhlinger, Die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen, Wien 1978; Manfred Nowak, Die Durchsetzung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, Europäische Grundrechtezeitschrift 1980, S. 532 ff.



Naturrecht und Verfassungsrecht243

unter Naturrechtsbezeichnung – appellieren18. Schon Verdross gab der Hoffnung Ausdruck, daß mit fortschreitender Erkenntnis der menschlichen Natur die verkürzten Menschenbilder überwunden werden können19; er warnte vor einer überschätzen Naturrechtsbetrachtung und einer falschen Ontologisierung. „Dennoch besteht zwischen dem Naturrecht und der Naturrechtslehre ein inniger Zusammenhang, als zwischen einem in der Außenwelt vorhandenen Gegenstand und der ihn erforschenden Wissenschaft, da wir das Naturrecht in keiner Weise als objektives Normengefüge vorfinden. Was wir unmittelbar erfassen, das sind nicht Normen, sondern die menschliche Natur mit ihrer Zielstrebigkeit, aus der wir erst die dieser Natur angemessenen Normen erschließen müssen. Nur jene ist uns gegeben. Hingegen ist uns die Ermittlung dieser Normen aus jener ontologischen Vorgegebenheit aufgegeben. Daher muß jeder Versuch, die naturrechtlichen Normen als solche zu ontologisieren, abgelehnt werden.“20 Aus dieser skizzierten Verständlichmachung der Naturrechtsproblematik, welche die Geschichte des Rechtsdenkens ständig begleitet21 und nach rechtpositivistischen Strömungen22 das Naturrecht immer wieder neu deutlich hervortreten läßt23, zeigt sich die Verantwortung im Gebrauch des Naturrechtsbegriffs, der, wie es bereits Erik Wolf so treffend beschrieben hat, als Begriff mehrdeutig und in seiner Funktion eindeutig ist24. Seiner Funktion nach hat das Naturrecht eine dreifache Aufgabe zu erfüllen, es ist gegenüber dem positiven Recht legitimierend, normierend und korrigierend. Auf Grund seiner ihm eigenen Unvollkommenheit – begründet vor allem teils in der unzureichenden Deutlichkeit in der Erkennbarkeit25, teils in seiner Sanktionslosigkeit – bedarf das Naturrecht des posi18  Vgl. Urs Peter Ramser, Das Bild des Menschen im neuern Staatsrecht (Die Antinomie des Westens und des Ostens), Winterthur 1958. 19  Verdross, Statistisches und dynamisches Naturrecht, S. 14. 20  Verdross, a. a. O., S.  14 ff. 21  Siehe z. B. Hans Dieter Schelauske, Naturrechtsdiskussion in Deutschland, ein Überblick über zwei Jahrzehnte: 1945–1965, Köln 1968 sowie Johannes Messner, Naturrecht im Disput, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1971, S. 7 ff. und derselbe, Aktualität des Naturrechts, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1974, S. 43 ff. 22  Beachte etwa Hans Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, Berlin-Charlottenburg 1928. 23  Dazu Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 3. Aufl., Köln 1949 (1. Aufl. Leipzig 1936) und Arthur F. Utz, Der unzerstörbare Kern der Naturrechtslehre, Rechtstheorie 1980, S. 283 ff. 24  Wolf, a. a. O., S.  193 ff. 25  Beachte Papst Pius XII in seiner am 13. Oktober 1955 über „Koexistenz und Zusammenleben der Völker in der Wahrheit und in der Liebe“ gehaltenen Rede, abgedruckt in: Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, Soziale Summe

244

Naturrecht und Verfassungsrecht

tiven Rechts, das durch den Rechtssetzungsakt des Gesetzgebers eine umfassende Ordnung herzustellen imstande ist, die sanktionsbeschwert ist. In jenem besonders erkennbaren Bereich, der vor allem in der Freiheit und Würde des Menschen und somit seinen natürlichen Rechten gegeben ist, vermag das Naturrecht ein normierendes Richtmaß für das positive Recht zu geben, das als Regulativ, dort, wo es zu wenig beachtet wird, zu korrigierenden Initiativen Anlaß gibt und dann bis zur Leistung von Widerstand in Gegensatz zum positiven Recht geraten kann, was bei menschenrechtsverletzendem positivem Recht der Fall sein kann26. Da das Verfassungsrecht die normative Grundordnung des positiven Rechts eines Staates ist, kommt ihm eine besondere Bedeutung auch in der Beziehung zum Naturrecht zu. In der Beziehung von Naturrecht und Verfassungsrecht zeigt sich ein bedingendes und konfrontierendes Element zugleich und damit auch eine bestimmte zweifache Antinomie. Einerseits ist das Naturrecht um die Beachtung bestimmter zeitlos gültiger Grundsätze, wie sie sich aus den natürlichen Rechten des Menschen ergeben, in der Sozialordnung bemüht und bedarf des positiven Rechts dazu, da es selbst sanktionslos ist, andererseits beansprucht es das Recht ständiger überprüfender Kontrolle des positiven Rechts und schließt auch die Konfrontation in Form von Widerstand und Revolution nicht aus; Situationen von Naturrecht und positivem Recht, die jeweils verschieden sein können27. Bevor auf diese Beziehung von Naturrecht und Verfassungsrecht näher eingegangen sei, gilt es den Verfassungsbegriff28 selbst zu verdeutlichen. Pius XII, hrsg. von Arthur-Fridolin Utz und Joseph-Fulko Groner, 3. Band, Freiburg 1961, Nr. 6286, S. 3783: „Nicht weniger lehrreich ist es zu sehen, wie man immer das Bedürfnis erkannt hat, durch internationale Verträge und Vereinbarungen das festzulegen, was nach den Grundsätzen der Natur nicht mit Sicherheit feststand, und das zu ergänzen, worüber die Natur schwieg.“ 26  Siehe Karl Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausartung der Staatsgewalt, Breslau 1916; Widerstand gegen die Staatsgewalt, Dokumente der Jahrtausende, hrsg. von F. Bauer, 1965; Karl Friedrich Bertram, Widerstand und Revolution, Berlin 1964 sowie Herbert Schambeck, Widerstand und positives Recht, in: Menschen im Entscheidungsprozeß, hrsg. von Alfred Klose und Rudolf Weiler, Wien 1971, S. 329 ff. sowie derselbe, Widerstand, in: Katholisches Soziallexikon, 2. Aufl., hrsg. von Alfred Klose, Wolfgang Mantl, Valentin Zsifkovits, Innsbruck/Graz 1980, Sp. 3343 ff. 27  Dazu u. a. Otto Veit, Der geistesgeschichtliche Standort des Naturrechts, in: Naturrecht oder Rechtspositivismus?, hrsg. von Werner Maihofer, Darmstadt 1962, S. 33 ff. 28  Dazu Werner Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Zürich 1945, Neudruck Darmstadt 1971, Herbert Schambeck, Der Verfassungsbegriff und seine Entwicklung, in: Festschrift Hans Kelsen zum 90. Geburtstag, hrsg. von Adolf J. Merkl, René Marcic, Alfred Verdross und Robert Walter, Wien 1971, S. 211 ff.; Verfassung, hrsg. von Manfred Friedrich, Darmstadt 1978 und Peter Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, Berlin 1978.



Naturrecht und Verfassungsrecht245

II. Die Verfassung Die Verfassung stellt die Grundordnung des Staates dar, die als Verfassung im formellen Sinn die normative Grundordnung eines staatlichen Gemeinwesens und als Verfassung im materiellen Sinn die politische Grundordnung eines Staates darstellt. Unter Verfassungsrecht wird die Verfassung im formellen Sinn verstanden; es handelt sich um Normen des positiven Rechts, die auf dem Wege besonderer Rechtssetzung mit qualifizierten Präsens- und Konsensquorum zustandegekommen sind und unter der Bezeichnung als Verfassungsnorm kundgemacht wurden29. Der Umfang des Verfassungsrechts kann nach der Weite des Verfassungsbegriffs im formellen Sinn im jeweiligen Staat verschieden sein; er kann in einem Gesetz, der Verfassungsurkunde schlechthin, die umfassend ist, bestehen oder in einer Mehrzahl, was in Österreich der Fall ist, wo Verfassungsrecht in Verfassungsgesetzen, Verfassungsbestimmungen in einfach Gesetzen und verfassungsändernden Staatsverträgen beinhaltet ist. Die Qualifikation des Zustandekommens und die Publikation sind bestimmend für eine Norm als Verfassungsrecht, deren Inhalt eine politische Entscheidung darstellt und zeigt, wie der Verfassungsgesetzgeber eines Staates die politische Grundordnung eines Gemeinwesens mehr oder weniger weit umspannend erfassen will. Die Verfassung im materiellen Sinn als politische Grundordnung des Staates ist bezogen auf die Staatsorganisation in der Regelung der Ausübung der Staatsgewalt in den Staatsfunktionen der Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung, der Stellung des Einzelmenschen gegenüber dem Staat und im Staat durch die Grundrechte sowie auf die Angabe von Staatszielsetzungen oder Staatszwecken und bei deren Mehrzahl deren Rangordnung. Die Erfassung der Weite dieses Verfassungsbegriffes im materiellen Sinn hängt vom jeweiligen Verfassungsbewußtsein in einem Staat und dem Rechtssetzungswillen seiner parlamentarischen Organe ab. Aus diesem Grund kann die Verfassung im materiellen Sinn dann in der Verfassung im formellen Sinn aufgehen, wenn die Staatsorganisation, die Grundrechte und allenfalls auch die Staatszwecke im Verfassungsrecht beinhaltet sind. Sehr deutlich war dies – ausgenommen im Hinblick auf den damals limitierten Staatszweck und die fehlenden Staatszweckbestimmungen – in Österreich in 29  Siehe z. B. Art. 44 (1) des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes: „Verfassungsgesetze oder in einfachen Gesetzen enthaltene Verfassungsbestimmungen können vom Nationalrat nur in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder und mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen beschlossen werden; sie sind als solche (Verfassungsgesetz, Verfassungsbestimmung) ausdrücklich zu bezeichnen.“

246

Naturrecht und Verfassungsrecht

der sogenannten Dezemberverfassung 1867 mit ihren fünf Staatsgrundgesetzen30 gegeben. Die Verfassung im formellen Sinn eines Staates kann diese obenannten Elemente der Verfassung im materiellen Sinn in seinem Verfassungsrecht zur Gänze aufnehmen oder nur zum Teil; was etwa der Fall ist, wenn eine Verfassungsurkunde nur die Staatsorganisation regelt, einzelne Grundrechte angibt und alles übrige der einfachgesetzlichen Regelung überläßt. Derartige Verfassungsrechtsordnungen können in einem gemeinsam zustandegekommenen und beschlossenem System, wie z. B. das Bonner Grundgesetz 1949, die Griechische Verfassung 1975 und die Spanische Verfassung 1978 enthalten sein oder aber die einzelnen Verfassungsrechtssätze gehen auf verschiedene Zeiten und politische Systeme zurück und wurden kompiliert beschlossen, wie dies in Österreich der Fall ist, wo neben der im BundesVerfassungsgesetz 1920 beschlossenen Staatsorganisation die Grundrechte durch den Art. 149 B-VG aus dem Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie in das Verfassungsrecht der Republik dadurch rezipiert wurden, daß neben diesem Bundes-Verfassungsgesetz das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger 1867 (RGBl Nr. 142) weitergilt. Auf diese Weise befindet sich nach mehr als hundert Jahren noch immer das von Kaiser Franz Josef I. dekretierte Menschenbild in der Verfassungsordnung weiterlebend31. Die Staatszwecke, die z. B. in der Rechts- und Sozialstaatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland ausdrücklich angegeben werden32, finden sich im österreichischen Verfassungsrecht nicht33, wo deshalb auch die Sozialstaatlichkeit nur einfach- und nicht verfassungsgesetzlich grundgelegt ist34. Was René Marcic in bezug auf das Fehlen des ausdrück30  Siehe hiezu näher Herbert Schambeck, Der Verfassungsbegriff und die Dezemberverfassung 1867, in: Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik, Festschrift Hermann Eichler zum 70. Geburtstag, hrsg. von Ursula Floßmann, Wien 1977, S. 549 ff. 31  Siehe dazu Robert Walter/Heinz Mayer, Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts, 4. Aufl., Wien 1982, bes. S. 347  ff.; Ludwig K. Adamovich/ Bernd-Christian Funk, Österreichisches Verfassungsrecht, Wien  /  New York 1982, bes. S. 305 ff. und Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1980, darin bes. Karl Korinek/Brigitte Gutknecht, Der Grundrechtsschutz, S. 291 ff. 32  Art. 20 (1) und Art. 28 (1) Grundgesetz sowie Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, München 1977, bes. S. 602 ff. und S. 682 ff. 33  Dazu Herbert Schambeck, Die Staatszwecke der Republik Österreich, in: Die Republik Österreich – Gestalt und Funktion ihrer Verfassung, hrsg. von Hans R. Klecatsky, Wien 1968, S. 243 ff. und derselbe, Staatsstrukturbestimmungen und österreichisches Bundesverfassungsrecht, in: Auf dem Weg zur Menschenwürde und Gerechtigkeit, Festschrift für Hans R. Klecatsky zum 60. Geburtstag, hrsg. von Ludwig Adamovich und Peter Pernthaler, 2. Teilband, Wien 1980, S. 867 ff. 34  Siehe näher Ludwig Fröhler, Die verfassungsrechtliche Grundlegung des so­ zialen Rechtsstates in der Bundesrepublik Deutschland und in der Republik Öster-



Naturrecht und Verfassungsrecht247

lichen Hinweises auf die Rechtsstaatlichkeit im österreichischen Bundesverfassungsrecht als „das beredte Schweigen der Verfassung“35 bezeichnet hat, gilt im übertragenen Sinn auch für andere Staatszwecke, wie das Sozialstaatsprinzip. Die Beziehung von Verfassung im formellen und materiellen Sinn wird von Staat zu Staat verschieden sein; sie drückt die Beziehung von Recht und Politik aus, die in Staaten mit mehr liberaler Grundhaltung36, wie sie im 19. Jahrhundert bestand und bisweilen noch heute fortlebt und das österreichische Beispiel zeigt, vor allem die Staatsorganisation und die Stellung des Einzelnen gegenüber dem Staat regelt; Wertaussagen und über den Rechts- und Machtzweck hinausgehende Zielsetzungen des Staates werden nicht gemacht sowie eine Trennung von Staat und Gesellschaft angenommen. Die politische Entwicklung ist über diese restriktive Staatsauffassung hinausgegangen und die Verfassung im materiellen Sinn zwar weniger im Verfassungsrecht, aber mehr in der politischen Ordnung eines Staates sowie im einfachen Gesetzesrecht ausgeführt worden, wie es z. B. in Österreich der Fall ist, wo ohne verfassungsrechtliche Vorschreibung sich ein Gemeinwesen zum Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsstaat mit einem bedingenden bedingten Zusammenhang von Staat und Gesellschaft entwickelt hat, in dem die Parteien und Interessenverbände, welche in der Fundamentalnorm der österreichischen Rechtsordnung dem Bundes-Verfassungsgesetz 1920 ihrer Bedeutung nach gar nicht vorkommen, die Demokratie dieses Staates prägen37. Überall dort, wo das Verfassungsrecht sich nicht in einer die politische Wirklichkeit erfassenden Weise entfaltet, läuft es Gefahr, seiner Hauptfunktion der Rechtssicherheit nicht entsprechend nachzukommen, umgekehrt kann auch eine zu umfassende Juridifizierung des öffentlichen Lebens durch das Verfassungsrecht zu einer Erstarrung des öffentlichen Lebens führen38. reich, München 1967 und Herbert Schambeck, Das Österreichische Verfassungsrecht und der soziale Rechtsstaat, Gesellschaft und Politik, Heft 2, Jahrgang 1975 (Festschrift für Grete Rehor), S. 87 ff. sowie derselbe, Auf dem Weg zum sozialen Rechtsstaat, in: Wiener Zeitung vom 27. April 1970, Festschrift 25 Jahre Zweite Republik Österreich, S. 4 f. 35  René Marcic, Das beredte Schweigen der Verfassung, in: Im Dienste der Sozialreform, Festschrift für Karl Kummer, hrsg. von Anton Burghardt, Karl Lugmayer, Erich Machek, Gerhard Müller, Hans Schmitz, Wien 1965, S. 403 ff. 36  Beachte Theo Mayer-Maly, Der liberale Gedanke und das Recht, in: Festschrift für Adolf J. Merkl zum 80. Geburtstag, hrsg. von Max Imboden, Friedrich Koja, René Marcic, Kurt Ringhofer und Robert Walter, München 1970, S. 247 ff. 37  Näher Herbert Schambeck, Die Demokratie, in: Das österreichische BundesVerfassungsgesetz und seine Entwicklung, S. 149 ff. 38  Vgl. Heinrich Triepel, Staatsrecht und Politik, Berlin 1927.

248

Naturrecht und Verfassungsrecht

Das moderne Staatsverständnis verlangt in der Rechtspolitik den Mittelweg in bezug auf den Umfang des Verfassungsrechts, das ja die Grundlage für die ganze Rechtsordnung in einer Gesellschaft zu bieten hat, welche vielfach pluralistisch ist. Aufgabe des Verfassungsrechts ist es, diese Pluralität durch die Integration der repräsentierten bestimmenden Kräfte des Gemeinwesens zu einer Staatsautorität zu nutzen, von der eine ordnungsbegründende und staatserhaltende Wirkung ausgeht, indem sie antwortgebend auf persönliche Wünsche des Einzelnen und die organisierten Interessen der Gesellschaft ist, wodurch das Verfassungsrecht neben seiner Funktion der Repräsentation, Integration und der Antwortgebung in Stand gesetzt wird, auch eine solche der Sozialkorrektur zu erfüllen. Diese Mehrfachfunktion erfüllt das Verfassungsrecht zumeist nicht willkürlich, sondern auf den Wegen des demokratischen Rechtsstaates, nämlich des Gesetzenstaates, in dem durch die Gebundenheit der Vollziehung an die Gesetze die demokratische Staatswillensbildung die Grundlage für die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit staatlichen Organhandels bietet, wodurch Willkür von seiten des Staates ausgeschlossen und Rechtssicherheit dem Einzelnen geboten werden kann; diese Möglichkeiten entsprechen den Erfordernissen des Naturrechts, wenn sie zur Sicherung der natürlichen Rechte des Einzelnen und zur Entfaltung seiner Persönlichkeit beitragen können. Voraussetzung für diese Beziehung von Naturrecht und Verfassungsrecht ist daher eine Weite der Verfassung im formellen Sinn, die neben der Staatsorganisation auch die Stellung des Einzelnen im Staat in den Grundrechten erfaßt. Für diesen Fall der Nähe von Verfassung im formellen und materiellen sinn erhebt sich die Frage nach ihrer Bedeutung für das Naturrecht. III. Naturrecht und Verfassungsrecht Das Naturrecht kann für das Verfassungsrecht nur in dem Maße von Bedeutung sein, als es einerseits für den Gesetzgeber einsichtig ist und dieser andererseits auch bereit ist, dieses ihm zugängliche Naturrecht auf dem Wege der Rechtssetzung zu positivieren, also mit dem Befehl- und Zwangscharakter des positiven Rechts zu versehen. Da unsere Gesellschaft, die im demokratischen Staat u. a. durch eine Vielzahl von politischen Parteien und Interessenverbänden39 gekennzeichnet ist, in mehrfacher Hinsicht eine pluralistische ist, kommt es als Voraussetzung für eine Verfassungswerdung darauf an, eine möglichst umfassende Anerkennung der Grundwerte des öffentlichen Lebens40 zu erreichen, die einen Zugang zur Einsicht in die Grundsätze des Naturrechts eröffnet. 39  Siehe

z. B. in bezug auf Österreich Schambeck, Die Demokratie, S. 207 ff. Grundwerte in Staat und Gesellschaft, hrsg. von Günter Gorschenek, München 1977. 40  Dazu



Naturrecht und Verfassungsrecht249

Im Naturrecht und Verfassungsrecht werden zwei Sozialordnungen einander gegenübergestellt. Sie haben gemeinsam das Ziel, nämlich die Grundordnung menschlichen Zusammenlebens zu ermöglichen; die Quellen dieser Ordnung sind aber verschieden, im Naturrecht die natürlich Vernunft verbunden mit Seinsverständnis, vor allem gerichtet auf die Freiheit und Würde des Menschen sowie auf die Ordnungsstrukturen der menschlichen Lebensverhältnisse, wozu die Einsicht in die „Natur der Sache“41 nicht unmaßgeblich ist; im Verfassungsrecht bezogen auf die Begründung der Rechtsordnung als einer mit Sanktion versehenen Ordnung, deren Übertretung mit Unrechtsfolgen verbunden ist. Beide Ordnungen können sich ergänzen, sie können aber auch einander widersprechen. Sie vermögen sich zu ergänzen, wenn das Verfassungsrecht die im Naturrecht gegebenen präpositiven Strukturen und Werte unter der Voraussetzung entsprechender natürlicher Einsicht mit dem Rechtsschutz des positiven Rechts versieht, was bei der Positivierung von Grundrechten und einer Staatsordnung der Fall ist, die auch in ihren Organisationsvorschriften auf das Naturrecht sowie damit auf die Stellung des Einzelmenschen in Freiheit und Würde Bedacht nimmt. Dort, wo im Idealfall Naturrecht und Verfassungsrecht übereinstimmen, besteht die nur selten in der Sozialordnung erreichbare Möglichkeit, daß Gewissens­ anspruch und Rechtsgehorsam eins werden können, was aber nicht heißen soll, daß es außerhalb der Naturrechtsentsprechung keinerlei Möglichkeit der Gewissensbildung gibt. Die gegenseitige Bezogenheit von Naturrecht und Verfassungsrecht kann für den Menschen und die Sozialordnung insofern von Nutzen sein, als die Gelegenheit zu einem menschlichen Recht besteht, die Widersprüchlichkeit beider Systeme würde aber zu kontroversiellen Situationen bis zum Widerstand Anlaß geben. Vorstellungen, daß das Naturrecht ohne positivem Recht und damit auch ohne Verfassungsrecht genügt, sind im Hinblick auf die Konkretisierungs- und Sanktionsbedürftigkeit des Naturrechts ebenso utopisch, wie das Streben des Rechtspositivismus, dem Naturrecht jede Relevanz für das positive Recht abzusprechen, ein irreales Übersehen von präpositiven Bezügen des positiven Rechts. Treffend hat 1918 einer, wie es Hans Kelsen selbst ausgedrückt hat, der Mitbegründer der Reinen Rechtslehre42, Adolf Merkl, diesen Bezug von Naturrecht und positivem Recht im allgemeinen sowie Verfassungsrecht im besonderen betont: „Eine Art naturrechtlicher Wurzelt fehlt keiner wie immer konstruierten Rechtsordnung. Auch hat wohl jeder positive Rechtssatz einmal das Stadium naturrechtlicher Normativität passiert. Der Vorwurf der ‚Naturrechtlerei‘ ist dort nicht am 41  Näher

Herbert Schambeck, Der Begriff „der Natur der Sache“, Wien 1964. Kelsen, Adolf Merkl zu seinem siebzigsten Geburtstag am 23. März 1960, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 1960, S. 313. 42  Hans

250

Naturrecht und Verfassungsrecht

Platze, wo erst die Grundsteine des Rechtsgebäudes gelegt werden sollen43.“ und 1923 festgestellt: „Soll das Chaos von Rechtsgestalten als eine Summe zusammengehöriger Erscheinungen mit einem Wort als Rechtssystem, als ein rechtlicher Kosmos gedeutet werden können, dann muß diesem Chaos ein delegierendes Prinzip nicht etwa bloß subintelligiert, dann muß es vielmehr als Ausfluß eines gemeinsamen Ursprunges erkannt werden. Die eine Ursprungsnorm ist nicht anders als die Summe der von ihr abgeleiteten Normen eine rechtliche Gegebenheit, die nur dadurch den Schein der Irrealität annimmt, daß sie nie und nirgends die äußeren Formen des positiven Rechtes teilt, insbesondere niemals als sogenanntes geschriebenes Recht auftritt44.“ Zu jenen präpositiven Bezügen – Hans Kelsen hat eine fiktive und inhaltsleere Grundnorm angenommen45 – zählt auch das Naturrecht, welche, was bereits hervorgehoben wurde, sowohl eine der Voraussetzungs- bzw. Bedingungsfunktionen des Verfassungsrechts ist als auch in bestimmter Weise eine der möglichen Bestandsgarantien, was schon Peter Häberle betont hat, wenn er unter Hinblick auf das Bonner Grundgesetz meinte, daß „Teile des ‚unbezweifelten‘ Naturrechts, etwa Aspekte der Art. 19 Abs. 2 („Menschenwürde“!) und Art. 79 Abs. 3 GG, trotz aller Qualifikation als ‚Notbremse‘ als auch naturrechtlich begründbar im verfassungsdogmatischen Bewußtsein bleiben sollten. Verfassungstheorie darf ihre Möglichkeiten nicht überschätzen, sie muß die Grenzen der Leistungsfähigkeit von Verfassungen realistisch einschätzen. Es kann (Grenz-)Situationen geben, in denen der Rückgriff auf Naturrecht gegenüber der Arroganz staatlicher und gesellschaftlicher Macht effektiver ist als die subtile verfassungstheoretische Begründung46.“ Eine besondere Entsprechung kann das Naturrecht im Verfassungsrecht finden, das bisweilen eine derartige Positivierung erreicht, daß die naturrechtlichen Ursprünge vergessen werden. Häberle spricht von „Einbruchstellen des Naturrechts im positiven Verfassungsrecht: etwa in Art. 1 Abs. 1 Satz 1, Art. 6 Abs. 1, 2, in Art. 19 Abs. 2 und 19 Abs. 3 GG (insbesondere auch in den Länderverfassungen). Im Vorgang der Verfassungsgebung von 43  Adolf Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz; eine Betrachtung aus der Erkenntnistheorie des Rechts, Sonderabdruck aus: Juristische Blätter 1918, S. 29. 44  Adolf Merkl, Die Lehre von der Rechtskraft, Leipzig 1923, S. 210. 45  Näher Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, bes. S. 196f. sowie Die Reine Rechtslehre in wissenschaftlicher Diskussion, Wien 1982, darin besonders Ralf Dreier, Bemerkungen zur Theorie der Grundnorm, S. 38 ff. Eugen Bucher, Zur Kritik an Kelsens Theorie von der hypothetischen Grundnorm, S. 47 ff. und Aleksander Peczenik, Two Sides of the Grundnorm, S. 58 ff. 46  Peter Häberle, Verfassungstheorie ohne Naturrecht, in: derselbe, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 2. erweiterte Auflage, Berlin 1996, S. 101.



Naturrecht und Verfassungsrecht251

1949 war das Naturrecht eine unverzichtbare geschichtsmäßige, normierende Kraft als Reaktion auf staatliche Willkürherrschaft der vorangegangenen Zeit. Inzwischen hat sich das Verfassungsrecht mit naturrechtlichem Einschlag, haben sich insbesondere die Grundrechte gegenüber dem von naturrechtlichem Denken gesteuerten Positivierungsvorgang dank dieses Vorgangs, dank des politischen Prozesses und der Verfassungsdogmatik so verselbständigt und in das Ganze der Verfassung und ihre Öffentlichkeit integriert, daß es sich selbst trägt, d. h. der naturrechtlichen Legitimierung nicht mehr bedarf47.“ IV. Das Naturrecht und die Rechtsetzung Die Grundrechte sind – neben dem organisatorischen Teil des Verfassungsrechtes stehend48 – der menschliche Maßstab der normativen Grundordnung, denn sie haben die Aufgabe, die Stellung des Einzelmenschen im Staat und gegenüber dem Staat zu bestimmen. In Staaten, wie Österreich, die keine ausdrückliche Angabe von Staatszwecken im Verfassungsrecht besitzen, können aus dem Grundrechtssystem die zulässigen Staatszielsetzungen und damit auch die Begrenzung der gesellschaftspolitischen Möglichkeiten49 entnommen werden. Grundrechte können ja verschieden formuliert werden50, dort wo sie mit den Worten „werden anerkannt“ vorgefundene Werte positivieren, kommt gleichsam ein deklaratorischer Akt zustande und wird stillschweigend der präpositive Bezug des Grundrechtes deutlich51. Diese Anerkennung präpositiver Werte und Realfaktoren, wie es die natürlichen Rechte des Menschen mit seiner Freiheit und Würde sind, als eine Positivierungsmöglichkeit des Naturrechts setzt ein allgemein anerkanntes Seinsverständnis und eine vielen gleich zugängliche natürliche Vernunft 47  Häberle, a. a. O, S. 93; beachte auch Otto Kimminich, Naturrecht – positives Recht – Menschenrechte, Politische Studien 1982, S. 345 ff. 48  Beachte Klaus Stern, Die Verbindung von Verfassungsidee und Grundrechtsidee zur modernen Verfassung, in: Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel, Festschrift für Kurt Eichenberger, Basel 1982, S. 197 ff. 49  Näher Karl Korinek, Die verfassungsrechtliche Grundlegung der österreichischen Sozial- und Wirtschaftsordnung, in: Verantwortung in Staat und Gesellschaft, hrsg. von Alois Mock und Herbert Schambeck, Wien 1977, S. 245 ff. und Herbert Schambeck, Verfassungsrecht und Wirtschaftsordnung in Österreich, in: Verwaltung im Dienste von Wirtschaft und Gesellschaft, Festschrift für Ludwig Fröhler, hrsg. von Peter Oberndorfer und Herbert Schambeck, Berlin 1980, S. 41 ff. 50  Näher siehe Gottfried Dietze, Über Formulierung der Menschenrechte, Berlin 1956. 51  Siehe auch Josef Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, Juristische Stu­ diengesellschaft, Heft 145, Karlsruhe 1980.

252

Naturrecht und Verfassungsrecht

voraus. Leider steht diesem Erfordernis eine Pluralität an Seins- und Wertvorstellungen entgegen. Deutlich bemerkte allgemein Willi Geiger: „… die Gesellschaft der Gegenwart verfügt noch über einen gemeinsamen Wortschatz: Demokratie, Freiheit, Staat, Gemeinwohl, soziales Verhalten, Toleranz, Moral, Sitte, Christentum, Humanität, usw. Was fehlt, ist offenbar die Übereinstimmung darüber, was die Worte meinen. Damit fehlt das verbindlich Verbindende, das die je verschiedenen Interessen übergreift und überdauert52“, wozu Johannes Messner anknüpfend richtig feststellte: „Die weltanschaulich pluralistische Gesellschaft kann als Rechtsstaat und freiheitliches demokratisches Gemeinwesen nur Bestand haben, wenn bei aller Vielfalt von Wahrheits- und Wertüberzeugungen eine Gemeinsamkeit von Grundhaltungen gegeben ist, die an allgemein anerkannten Werten orientiert sind53.“ Zu dieser Gemeinsamkeit von Grundhaltungen kann das Verfassungsrecht hinführen, das imstande ist, seiner Repräsentations- und Integrationsfunktion nachzukommen. Der Rechtssetzungsakt des Verfassungsgesetzgebers hat die Möglichkeit, die Pluralität der Anschauungen aufzuheben, wenn es ihm gelingt, auf dem Weg denaturierender Positivierung einen Mindestbestand an gemeinsamen Wertüberzeugungen in Grundrechten und Grundpflichten im Staat und gegenüber dem Staat zum Ausdruck zu bringen. Wie sehr dies zum Tragen kommt, hängt davon ab, ob die Grundrechte sich nicht miteinander reiben54 und ein Verfassungsgerichtshof imstande ist, das Seine durch authentische Interpretation und Konkretisierung der Verfassungsnormen zur Stabilität und kontinuierlichen Weiterentwicklung der Staatsordnung beizutragen55. Die in dem Verfassungsrechtssystem gemeinsam anerkannte Staatsordnung vermag durch den Rechtssetzungsakt einen Beitrag zur Überwindung der Pluralität in der Politik zu leisten. Das Naturrecht kann dazu aber nur dann einen positiven Beitrag leisten, wenn es nicht verideologisiert wird. Bemerkenswert sind daher die Festestellungen von Ernst Forsthoff: „daß die Orientierung am Menschenbilde nicht im Sinne eines Subjektivismus mißverstanden werden darf, daß sie ebensowenig mit dem sich geschichtlich wandelnden menschlichen Selbstverständnis zu tun hat. Das Menschenbild ist von denkbar strenger Objektivität: es ist die Aussage der Offenbarung darüber, was der Mensch 52  Willi Geiger, Die Wandlung der Grundrechte, in: Gedanke und Gestalt des demokratischen Rechtsstaates, hrsg. von Max Imboden, Wien 1965, S. 31. 53  Johannes Messner, Die Idee der Menschenwürde im Rechtsstaat der pluralistischen Gesellschaft, in: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, Festschrift für Willi Geiger zum 65. Geburtstag, hrsg. von Gerhard Leibholz, Hans Joachim Faller, Paul Mikat, Hans Reis, Tübingen 1974, S. 221. 54  Dazu Gerhard Müller, Die Drittwirkung der Grundrechte und das Sozialstaatsprinzip, in: Im Dienste der Sozialreform, S. 375 ff. 55  So auch Geiger, a. a. O., S. 31.



Naturrecht und Verfassungsrecht253

wirklich ist56.“ Forsthoff hat damit präpositive Bezüge zwar wahrgenommen, wollte sie aber nicht mit dem Naturrecht gleichsetzen, meinte er doch: „Diese Auffassung enthält nicht die Koordination eines Systems, das sich mit den Mitteln der Vernunft in einer Abfolge logischer Rechtsaussagen nach Art des Naturrechts entwickeln ließe. Sie ist nicht eine norma normarum, sondern schlechthin außer jeder Norm. Gewiß gibt es Normen, die diesem Menschenbilde entsprechen, aber es läßt sich nicht – nach Art der vom Naturrecht vorausgesetzten Natur – in Normen auflösen oder ausdrücken57.“ Wenngleich von einer anderen Grundposition, die nämlich nicht rechtspositivistisch, sondern naturrechtsfreundlich ist, kommt Johannes Messner zu einer ähnlichen, das Bild des Menschen berührenden Aussage: „Die neuen Ideen vom Menschen reichen von der Behauptung, daß wir überhaupt nicht wissen, was der Mensch ist, bis zur Behauptung, nur die Naturwissenschaften können etwas Gültiges über die Natur des Menschen aussagen. Ferner muß sich die Naturrechtslehre durch die neue Problematik in der Frage nach der Natur des Menschen herausgefordert sehen58.“ Das ständige Erfordernis, zeitgemäß die Fragen nach der Natur des Menschen zu beantworten, ist der das Rechtsdenken begleitende Grund für Naturrechtslehren von der Antike bis zur Gegenwart, in der aber heute – und dies betrifft jetzt besonders das Verhältnis von Naturrecht und Verfassungsrecht – die Gefahr der Verideologisierung des Menschenbildes auf dem Wege des Wandels der Grundrechtsauffassung sehr groß ist. Die Pluralität der Gesellschaft, an der sich die Integrationsfunktion des Verfassungsrechts besonders zu bewähren hat, ist auch ideologisch bedingt59 und kann zu entsprechenden „Deutungen“ der Grundrechte führen60, die nicht objektiv einsichtig, sondern einseitig im Dienst von Gruppeninteressen stehen; Wertkonsens und Verfassung fallen dann nicht zusammen, sondern auseinander. Mit dieser Möglichkeit der Mißdeutung der Grundrechte geht Hand in Hand, daß in all jenen Fällen, in denen mit Grundrechten auch auf die Freiheit und Würde des Menschen bezogene natürliche Rechte verideologisiert werden, auch das Verhältnis von Naturrecht und Verfassungsrecht 56  Ernst Forsthoff, Zur Problematik der Rechtserneuerung, in: Naturrecht oder Rechtspositivismus?, hrsg. von Werner Maihofer, Darmstadt 1974, S. 207. 57  Forsthoff, a. a. O. 58  Johannes Messner, Zur Naturrechtsanthropologie, in: Dimensionen des Rechts, Gedächtnisschrift für René Marcic, hrsg. von Michael Fischer, Reimund Jakob, Erhard Mock, Helmut Schreiner, 1. Band, Berlin 1974, S. 207. 59  Hiezu und zur Abgrenzung von Weltanschauung und Ideologie siehe Herbert Schambeck, Politik und Weltanschauung, Wissenschaft und Weltbild, März 1968, S.  45 ff. 60  Näher Klaus Stern, Verfassungsrechtliche wider „ideologische“ Deutung der Grundrechte, in: Festschrift für Burkhard Freudenfeld (im Druck).

254

Naturrecht und Verfassungsrecht

leidet sowie innerhalb des Verfassungsrechtssystems sich die Beziehung der Grundrechte zu den Staatsorganisationsvorschriften nicht in einem wechselseitigen, bedingenden bedingten Zusammenhang des Miteinander, sondern des Gegeneinander befinden. Beginnend vom Freiheitsbegriff selbst – seinen Möglichkeiten und Grenzen61 – über die Alltagsnormen und Lebensgefühle62 kann eine Pervertierung der natürlichen Grundordnung um sich greifen, die mit Verbalismen63 be­ ginnt und bei Anarchismen und Terrorismen endet. Die Forderung von René Marcic: „Das Gesetz ist ein ‚Konsekutivwert‘ der Verfassung. Nur wenn es sich so verhält, sind die Grundrechte, weil Bestandteil der Verfassung, wirksam geschützt64“, bleibt unerfüllt. Die Rechtssicherheit im Dienste der Freiheit und Würde des Menschen geht verloren, verideologisiert ausgelegte Grundrechte werden gegen die Staatsordnung angewandt. Auch in diesem Zusammenhang gilt es zu beachten, was Karl August Bettermann in seiner Besprechung des „Wallraff-Urteils“ des VI. Senats des Bundesgerichtshofes erklärt hat, daß die Freiheit des auf die Meinungsfreiheit bezogenen Art. 5 des Grundgesetzes „nicht als Freiheit für Unmoral, als Dispens von Anstand und Rücksicht, von Redlichkeit und Rechtlichkeit, von der Achtung fremder Rechtsgüter und von der Verantwortung für die Schädigung Dritter mißverstanden werden dürfen“65. Bettermann steht in seiner Warnung nicht allein; vor den Gefahren der Verideologisierung des Verfassungsrechts hat auch Klaus Stern gewarnt, wenn er bemerkt: „Minderheiten lehnen es unter Berufung auf ihre höchst subjektiv gedeuteten, naturgegebenen Rechte ab, sich demokratisch und rechtsstaatlich einwandfrei zustandegekommenen Entscheidungen zu beugen. Partizipations- und Mitbestimmungsansprüche werden in einer Weise ausgedehnt, daß die Funktionsfähigkeit von Einrichtungen beeinträchtigt wird, die gemeinschaftserforderliche Sachbelange wahrzunehmen haben. … Zwar ist es mit den Werten und – wissenschaftlich – mit den Werturteilen eine eigene Sache; sie sind Subjektivitäten unterworfen. Aber weder Individuum noch Gemeinschaft kann ohne Wert auskommen. Werte müssen jedoch konsensfähig in der Gemeinschaft sein. Für diesen Konsens 61  Beachte näher Herbert Schambeck, Von der Freiheit, die wir meinen, in: Freiheit und Autorität als Grundlage der Demokratie, Würzburg 1982, S. 251 ff. 62  Beachte z. B. Friedrich H. Tenbruck, Alltagsnormen und Lebensgefühle in der Bundesrepublik, in: Die Zweite Republik, 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Richard Löwenthal und Hans-Peter Schwarz, Stuttgart 1974, S. 289 ff. 63  Vgl. Otto B. Roegele, Kleine Anatomie politischer Schlagwort, Texte These 23, Osnabrück 1972. 64  René Marcic, Rechtsphilosophie, Freiburg im Breisgau 1969, S. 232 f. 65  Karl August Bettermann, Publikationsfreiheit für erschlichene Informationen? Kritische Bemerkungen zum Wallraff-Urteil des BGH, Neue Juristische Wochenschrift 1981, Heft 20, S. 1066.



Naturrecht und Verfassungsrecht255

bietet sich nach dem Vertrauensverlust des Staates und seiner Repräsentanten bei uns Deutschen im besonderen Maße die Verfassung an. Der Verfassung ist in der verfassungsbedürftigen Gesellschaft, die wir sind, das Integrations-, Legitimations- und Konsensinstrument schlechthin geworden66.“ V. Die Humanisierung der Staatsrechtsordnung Das Naturrecht hat unter der jeweiligen Voraussetzung entsprechend der natürlichen Vernunftserkenntnis und der damit verbundenen Seinseinsicht im Staat und Gesellschaft die Gelegenheit zu einer über die Positivität hinausgehenden Legitimation und Motivation des Verfassungsrechts beizutragen; wo dies gelingt, trägt das Naturrecht zur Humanisierung der Staatsrechtsordnung und das Verfassungsrecht auch zur Rechtssicherheit bei. Wo dies aber nicht der Fall ist und Naturrecht und Verfassungsrecht auseinanderfallen, eröffnet sich einerseits ein Bereich der Indifferenz und Wertneutralität, der nur zu leicht zu Kontroversen führen kann, weil er von verschiedenen Ideologien ausgefüllt wird, die gleiche Gefahr besteht bei zu großer Unbestimmtheit und Allgemeinheit von Wertbegriffen. Dieser Bereich kann auch zu einem Freiheitsmißbrauch führen, der mit dem Anliegen des Naturrechts, nämlich der Stellung des Menschen mit seiner natürlichen Würde zu entsprechen, unvereinbar ist. Eine kontroversielle Situation zwischen Naturrecht und Verfassungsrecht kann zu einer Widerstandsleistung andererseits auch dadurch führen, daß das Verfassungsrecht, etwa durch Grundrechtswidrigkeiten, die Freiheit und Würde des Menschen verletzt. Derartige Grenzsituationen von Naturrecht und Verfassungsrecht lassen sich mittels des positiven Rechts nicht vermeiden, auch nicht durch die Möglichkeiten positivierten Widerstandes – sei es als Recht oder Pflicht67 –, denn positivierter Widerstand ist legitimierter Ungehorsam und widerspricht als solcher dem Gebot der Rechts­ sicherheit, das für das Naturrecht und das Verfassungsrecht von gleicher Bedeutung ist. Das Recht zum Widerstand kann aufgrund der Unauslöschlichkeit seines präpositiven Charakters konstitutiv positiv-rechtlich weder gewährt noch genommen werden. Durch die Positivierung des Widerstandes 66  Klaus Stern, Die Ideologie in die Schranken, Allgemeinwohl geht über Gruppeninteresse bei der Auslegung der Grundrechte, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. April 1982, Nummer 100. 67  Siehe Hans Schneider, Widerstand im Rechtsstaat, Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe, Schriftenreihe Heft 92, Karlsruhe 1969; Karl Friedrich Bertram, Das Widerstandsrecht des Grundgesetzes, Berlin 1969; Günther Scheidl, Das Widerstandsrecht, entwickelt anhand der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1969 und Herbert Schambeck, Widerstand und positives Recht, Gedanken zu Art. 20 Abs. IV des Bonner Grundgesetzes, in: Mensch im Entscheidungsprozeß, S.  329 ff.

256

Naturrecht und Verfassungsrecht

entsteht vielmehr die Gefahr des Anscheins, es würde der präpositive Bezug dieses Rechtes verloren gehen. Hans Klecatsky hat schon 1959 gewarnt: „Der totale positivistische Staat ist in dem Augenblick grundgelegt, in dem ihm auch nur eine naturrechtsfreie, dem Widerstandsrecht verschlossene Zelle zugestanden wird … Warum soll das naturrechtliche Gebot zum Widerstand dort minder beachtlich sein, wo der Widerstand gegen den harmlosen Rechtsstaat und daher gefahrlos zu üben wäre68.“ Dieser abschließende Hinweis auf die im Widerstand mündende Grenzsituation von Naturrecht und Verfassungsrecht zeigt deutlich den Gewissensanspruch, der den Einzelnen in der Rechtssetzung als Organ der Gesetzgebung oder als Normadressaten trifft; ein unübersehbares und unaufhebbares Spannungsverhältnis von Präpositivität und Positivität berührt den Einzelmenschen, das in der Geschichte der Menschheit und ihres Rechtes ebenso oft zu Einsichten in die Präpositivität des Rechtes, auch des Naturrechtes, wie zu ihrem Übersehen und ihrem Mißbrauch geführt hat; in Theorie und Praxis begleitet daher die Naturrechtsdiskussion das Ordnungsdenken69 im allgemeinen und das Verfassungsrechtsdenken im besonderen. Naturrecht und Verfassungsrecht gehören unterschiedlichen Bereichen an; sie sind aber auf verschiedenen Wegen auf das gleiche Ziel gerichtet, nämlich auf eine möglichst objektive Begründung der sozialen Ordnung, die bei aller Positivität des Rechts und damit auch des Verfassungsrechts stets veranlaßt ist, sich – bewußt oder unbewußt, gewollt oder ungewollt – ein Bild des Menschen70 zu machen, das zu vermitteln ein stetes Anliegen des Naturrechts71 und ein dauernder Auftrag an das Verfassungsrecht ist.

68  Hans Klecatsky, Der Staat von morgen, Juristische Blätter 1959, S. 19; siehe auch Hans Marti, Naturrecht und Verfassungsrecht, in: Rechtsquellenprobleme im Schweizerischen Recht, Festgabe für den Schweizerischen Juristenverein, Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins, Jg. 1955, Band 91, S. 92. 69  Dazu Helmut Coing, Naturrecht als wissenschaftliches Problem, Wiesbaden 1966; Franz Wieacker, Zum heutigen Stand der Naturrechtsdiskussion, Köln / Opladen 1965; Gebhard Müller, Naturrecht und Grundgesetz, zur Rechtsprechung der Gerichte, besonders des Bundesverfassungsgerichtes, Würzburg 1967 und Herbert Schambeck, Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute, in: Rechtspositivismus, Menschenrechte und Souveränitätslehre in verschiedenen Rechtskreisen, hrsg. von Eduard Kroker und Theodor Veiter, Wien 1976, S. 11 ff. 70  Ausführlich Herbert Schambeck, Menschenbild und Staatsform, Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1977, Köln 1978, S. 26 ff. 71  Hierzu Franz Böckle, Widerkehr oder Ende des Naturrechts?, in: Naturrecht in der Kritik, S. 304 ff.

Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute* Zu den stets sich neu stellenden Problemen des Rechtsdenkens zählt die Frage nach dem Naturrecht. Es ist die Frage nach einem möglichen Maßstab des positiven Rechts, der vorgegebenes Regulativ für die Rechtssetzung und in bestimmter Weise auch für die Rechtsvollziehung sein kann. Nach dem jeweiligen Rechtsschutzbedürfnis und Rechtsbewußtsein wird das Streben nach der Erfahrung des Naturrechtes verschieden sein und zu verschiedenen Naturrechtslehren führen. Diese Naturrechtslehren werden auch wesentlich von der jeweiligen erkenntnistheoretischen Position abhängig sein. So haben etwa Rationalismus, Empirismus, Idealismus, Realismus und Phänomenalismus in verschiedenen Zeiten zu jeweils verschiedenen Naturrechtslehren geführt, es gilt daher diese Unterscheidung zu beachten. Das Bemühen um die Erfassung der Naturrechtsidee, nämlich einen Höchstwert mit allgemeiner Geltung, gehört in den Bereich der Metaphysik, das Streben nach den Naturrechtslehren in den Bereich der Erkenntnistheorie1; es wird Voraussetzung für den Denkansatz nach einem Naturrechtsbegriff sein, der dann, wenn er für das positive Recht von Bedeutung sein soll, unter Beachtung der normativen Methode zu finden sein wird. Oft wird diese Unterscheidung in Idee, Lehren und Begriff des Naturrechts nicht beachtet und die Naturrechtsdiskussion in einem Methodensynkretismus ausgetragen. Treffend hat Alfred Verdross in seinem vor kurzem erschienenen Buch: „Statisches und dynamisches Naturrecht“ erklärt: „Wir müssen zwischen dem Naturrecht und der Naturrechtslehre unterscheiden, da jenes ein Normengebilde, diese aber eine auf seine Erkenntnis gerichtete Betrachtungs*  Vortrag gehalten im Rahmen der vom 26. bis 28. Juni 1974 in Königstein veranstalteten Tagung der Ostakademie Königstein, der Philosophisch-Theologischen Hochschule Königstein und des internationalen Expertenkomitees für das Weltflüchtlingsproblem (AWR); erschienen in: Rechtspositivismus, Menschenrechte und Souveränitätslehre in verschiedenen Rechtskreisen, hrsg. von Eduard Kroker und Theodor Veiter, Wien / Stuttgart 1976, S.  11 ff. 1  So schon Herbert Schambeck, Idee und Lehren des Naturrechts, eine methodologische Untersuchung, in: Naturordnung in Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Festschrift für Johannes Messner zum 70. Geburtstag, Innsbruck / Wien / München 1961, S. 437 ff.; dazu siehe auch Josef Dobretsberger, Erkenntnistheorie und Naturrecht, in: Gesellschaft, Staat und Recht, Festschrift Hans Kelsen zum 50. Geburtstag, Wien 1931, S.  1 ff.

258

Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute

weise bildet. Daher können in einer konkreten Lage nur bestimmte naturrechtliche Normen der Sachlage entsprechen, es kann aber verschiedene, mehr oder minder gelungene Versuche geben, diese Normen zu ermitteln. Ihr Unterschied erklärt sich aus der partiellen Verschiedenheit der ihnen zugrunde liegenden Menschenbilder. Man kann aber hoffen, daß mit fortschreitender Erkenntnis der menschlichen Natur die verkürzten Menschenbilder überwunden werden können.“2 Mit dieser Feststellung hat Verdross nicht nur eine Unterscheidung zwischen Naturrecht und Naturrechtslehren getroffen, sondern auch das Kernproblem der Diskussion über das Naturrecht, nämlich die Frage nach dem Menschenbild und damit nach dem Naturbegriff berührt. Das Wort Naturrecht drückt ja einen aus Natur und Recht zusammengesetzten Begriff aus. Recht bedeutet hier im umfassenden Sinn Ordnung und nicht positives Recht allein, das etwa die Gesetze des Staates zu ersetzen vermag. Es ist das Bemühen um die Erfahrung gleichbleibender Realien bzw. Realfaktoren der Rechtsordnung, die auch objektive Zusammenhänge verdeutlichen. Dabei muß betont werden, daß mit der „Natur“ im Sinne der modernen Naturwissenschaft diese Zusammenhänge allerdings nichts zu tun haben3. Franz Wieacker hat schon bekannt, „daß das große Losungswort Naturrecht ein für allemal durch den griechischen Physisbegriff festgelegt worden ist; es wurzelt daher von vornherein in der überaus intellektualistischen Anthropologie der hellenischen Philosophie. Aber nicht die hiemit auch für das Abendland verbindlich gewordene Tradition, die durch die Frage nach der Physis des Menschen das Problem der Gerechtigkeit an eine idealistische Anthropologie gekettet hat, halte ich für den lebendigen Beitrag des Naturrechts zur Gerechtigkeitsfrage; ich sehe ihn vielmehr in der in dieser Anthropologie eingekleideten Frage nach den Möglichkeiten unbedingt verpflichtender Weisungen für gerechtes Handeln. Solche Weisungen können sich nur an die Person richten, und die Personhaftigkeit des Menschen ist daher für die Anerkennung einer unbedingten Verpflichtung eine unerläßliche Voraussetzung.“4 Immer dann, wenn die Anerkennung der Personhaftigkeit des Menschen gefährdet ist, kommt es zu einer Krise des positiven Rechts und damit auch zu einer neuerlichen Besinnung auf das Naturrecht. Das kennzeichnet auch die jüngste Rechtsentwicklung, welche für die Naturrechtsdiskussion heute mitbestimmend ist. Weniger in Österreich, das 1938 von Hitler-Deutschland 2  Alfred

Verdross, Statisches und dynamisches Naturrecht, Freiburg 1971, S. 14. Coing, Naturrecht als wissenschaftliches Problem, Wiesbaden 1966,

3  Helmut

S. 12. 4  Franz Wieacker, Zum heutigen Stand der Naturrechtsdiskussion, Köln / Opladen 1965, S. 61.



Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute259

besetzt und in seiner Rechtsentwicklung unterbrochen wurde, als in der Bundesrepublik Deutschland wird dies deutlich. In Österreich gilt deshalb auch heute noch das mit VÜG 1945 wieder in Kraft getretene Bundes-Verfassungsgesetz 1920 in der Fassung der Novelle 1929, das in seinem Entwurf auf den Vertreter des Rechtspositivismus und der sogenannten Reinen Rechtslehre Hans Kelsen zurückgeht und deshalb auch keine Anerkennung des Naturrechts beinhaltet5. In der Bundesrepublik Deutschland zeichnete sich nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges eine andere Entwicklung ab, die mehr zum Naturrecht hinführte. Die Erfahrung ungerechter Gesetze hatte Entsetzen und Entrüstung hervorgerufen. Die Folgen dessen drückten sich in Rechtssetzung, Rechtsvollziehung und in der Rechtswissenschaft aus. Da Reaktionen nicht zu Dauerzuständen führen und gleich einer Pendelbewegung auch rückläufige Bewegungen zur Folge haben6, ist diese Naturrechtsentwicklung nicht unbestritten geblieben7. Um den Stand der Naturrechtsdiskussion heute zu beleuchten, sei 1. der Einfluß des Naturrechtsdenkens auf die Verfassungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland erwähnt; 2.  naturrechtliche Tendenzen in der Rechtsprechung angeführt; 3.  die Bedeutung des Naturrechts in der rechtswissenschaftlichen Lehre und in der Sozialethik behandelt; 4.  wichtigste Bedenken gegen das Naturrecht genannt sowie 5. entscheidende Ergebnisse der Naturrechtsdiskussion hervorgehoben, um diese abschließend im Hinblick auf den Stand des heutigen Rechtsdenkens zu würdigen, was im Hinblick auf die umfassende Problematik des Themas und den Umfang der Literatur nur ein skizzenhafter Überblick sein kann. I. Das Naturrecht und das Grundgesetz Deutschlands Die Frage nach der Bedeutung des Naturrechts für das Verfassungsrecht ist deshalb so wichtig, weil das Verfassungsrecht in einem demokratischen 5  Siehe etwa Ernst C. Hellbling, Österreichische Verfassungsfragen im Lichte der Reinen Rechtslehre, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. XI, Heft 3 / 4 (Hans-Kelsen-Festnummer), 1961, S. 346 ff.; und Felix Ermacora, Österreichs Bundesverfassung und Hans Kelsen in: Festschrift Hans Kelsen zum 90. Geburtstag, Wien 1971, S. 22 ff. 6  Beachte auch Adolph Leinweber, Gibt es ein Naturrecht? Beiträge zur Grundlagenforschung der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Berlin 1970. 7  Dazu besonders Hans Dieter Schelauske, Naturrechtsdiskussion in Deutschland, ein Überblick über zwei Jahrzehnte: 1945–1965, Köln 1968, bes. S. 13 ff.

260

Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute

Rechts- und Verfassungsstaat die Grundlage der gesamten Rechtsordnung ist, sie stellt Wegweisung und Begrenzung der Rechtsentwicklung zugleich dar. Es sei dabei vor allem auf die am Beginn des Grundgesetzes schon im Art. 1 stehende Anerkennung der Würde des Menschen8, die für unantastbar erklärt wird, ebenso verwiesen, wie auf die folgenden Grundrechte. Es handelt sich dabei vorwiegend um klassische Grundrechte, die als politische Grundrechte auf eine Freiheit im Staat durch Möglichkeit der Mitwirkung an der demokratischen Staatswillensbildung gerichtet sind oder aber als liberale Grundrechte oder Freiheitsrechte durch Gewährung einer staatsfreien Sphäre auf eine Freiheit vom Staat. Soziale Grundrechte haben erst später durch Ratifikation der Europäischen Sozialcharta am 19. September 19649 endgültigen Eingang in die bundesdeutsche Rechtsordnung gefunden. Dabei darf aber nicht übersehen werden, daß das Grundgesetz zwar keine Angaben über die genauere Gestaltung der Sozial- und Wirtschaftsverfassung enthält, wohl aber Grundrechte über die Ordnung des Gemeinschaftslebens, so über Ehe, Familie, Schule und Kirchen10. Das Grundgesetz beinhaltet auch den ausdrücklichen Sozialgestaltungsauftrag an den einfachen Gesetzgeber, daß die Bundesrepublik Deutschland ein sozialer Rechts- und Bundesstaat sei11, was übrigens auch in Sozialstaatsklauseln12 und einzelnen sozialen Grundrechten in deutschen Landesverfassungen13 seinen Ausdruck findet. Das Grundgesetz14 bekennt sich zu absoluten Rechtsinhalten, was Ausdruck der Anerkennung einer präpositiven Ordnung ist. Neben der Anerkennung der Unantastbarkeit der Würde des Menschen (Art. 1 [1] GG) und des Rechtes auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 [1] GG), sei unter anderem besonders verwiesen auf die Ablehnung intoleranter Diskriminierungen nach Rasse, Glaube oder religiöser oder politischer Anschauungen (Art. 3 [3] GG) und auf das Bekenntnis zu materiellen Rechtsstaatsgarantien in der Formulierung des Art. 20 (3) GG: „Die Gesetzgebung ist an die verfas8  Siehe Hans Carl Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Die Grundrechte, Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, 2. Bd., Berlin 1954, S. 1 ff. 9  dBGBl. Teil II, 1965, S. 1122 ff., und BArbBl. 16 / 1965, S. 209 ff. 10  Art. 6 und 7 Bonner Grundgesetz. 11  Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 Grundgesetz. 12  Art. 3 der Verfassung des Freistaates Bayern. 13  Art. 27  ff. der Verfassung des Landes Hessen, Art. 51 ff. der Verfassung für Rheinland-Pfalz und Art. 43 ff. der Verfassung des Saarlandes. Siehe auch den Vorspruch der Verfassung des Landes Baden- Württemberg, der Verfassung von Berlin, der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen, der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg und der Verfassung für Rheinland-Pfalz. 14  Vgl. dazu Theodor Maunz  / Günter Dürig / Roman Herzog, Grundgesetz, Kommentar, München 1969; Hermann von Mangoldt  /  Friedrich Klein, Das Bonner Grundgesetz, Berlin / Frankfurt 2. Aufl. 1957 ff. und Ingo von Münch, Grundgesetz, Kommentar, Frankfurt 1974.



Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute261

sungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden“; vor allem aber sei auch die im Art. 19 (2) enthaltene Wesensgehaltsgarantie15 der Grundrechte hervorgehoben: „In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“ Diese Wesensgehaltsgarantie stellt eine absolute Selbstbindung des bundesdeutschen Parlaments gegenüber Verfassungsänderungen dar, wozu noch als zweite Schranke auch Art. 79 (3) GG hervorgehoben sei, wonach eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche die Grundsätze der Freiheitlichkeit, Rechtsstaatlichkeit, Sozial- und Bundesstaatlichkeit unzulässig, d. h. unter Wahrung der Rechtskontinuität ausgeschlossen ist16. Da in diesem Art. 79 (3) unter anderem ausdrücklich auch der den Schutz der Menschenwürde beinhaltende Art. 1 GG genannt ist, enthält das Bonner Grundgesetz wohl den weitestgehenden Schutz der Hauptanliegen jeglichen Naturrechts. Dieser Schutz hat mit dem 17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 196817 eine besondere Form der Weiterentwicklung dadurch erfahren, daß dem Art. 22 GG als Absatz IV die Bestimmung angefügt wurde: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Rechts zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Der Widerstand18 als Gewissensanspruch ist eine der möglichen Formen des Naturrechtsschutzes; er war als Widerstandsrecht bereits im Art. 23 (3) der Verfassung von Berlin vom 1. September 1950 und darüber hinaus auch als Widerstandspflicht im Art. 147 (1) der Hessischen Verfassung vom 1. Dezember 1946 und Art. 19 der Verfassung der freien Hansestadt Bremen vom 21. Oktober 1947 enthalten. Trotz Anerkennung seines Bestehens hat der Parlamentarische Rat bei den Beratungen über das Grundgesetz davon abgesehen, das Widerstandsrecht in die Verfassung aufzunehmen. Der Bundestag gab diesen Standpunkt 1968 auf und fügte das Widerstandsrecht dem Art. 20, also einem Artikel bei, der das demokratische Prinzip beinhaltet und in seinen bisherigen Absätzen I bis III durch Art. 79 (3) GG mit der Bestandsgarantie der Unversehrtheit versehen ist. Man wollte damit dem Widerstandsrecht den erhöhten Schutz der verfassungsrechtlichen Bestandsgarantie geben19. Dabei hat man aber übersehen, daß sich der Art. 79 (3) 15  Siehe dazu Hermann von Mangoldt  / Friedrich Klein, a. a. O., Bd. I, S. 551 ff.; Eike von Hippel, Grenzen und Wesensgehalt der Grundrechte, Berlin 1965, S. 165 und Peter Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, Karlsruhe 1962. 16  Siehe dazu Maunz / Dürig / Herzog, a. a. O., Anm. 21 ff. zu Art. 79 Abs. 3 GG. 17  BGBl. I, 709. 18  Siehe dazu unter anderen Carl Heyland, Das Widerstandsrecht des Volkes. Tübingen 1950; Widerstand gegen die Staatsgewalt, Dokumente der Jahrtausende, hrsg. von F. Bauer, 1965; und Karl Friedrich Bertram, Widerstand und Revolution, Berlin 1964. 19  Über diese Problematik siehe Josef Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, Bad Homburg a.d.H. / Berlin / Zürich 1969; Hans Schneider, Widerstand im Rechts-

262

Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute

mit seiner Erklärung der Unzulässigkeit jeder Änderung des Grundgesetzes nur auf Art. 1 und 20 in der Fassung bezieht, die er vom Parlamentarischen Rat erhalten hat und wie sie 1949 beschlossen wurde. Der nachträglich hinzugefügte Absatz IV des Art 20 GG wird daher von der Bestandsgarantie des Art. 79 (3) nicht mitumfaßt. Eine solche Vorgehensweise wäre auch verfassungspolitisch verfehlt, da sie dem Gesetzgeber nach der Verfassungsgesetzgebung die Möglichkeit eröffnen würden, den Kern der unabänderlichen Verfassungsbestimmungen in jeder Menge zu erweitern. Die Folge dieser Nichtumfassung des Widerstandsrechtes durch die Bestandsgarantie des Art. 79 (3) ist das gesetzgeberisch nicht zu begrüßende Ergebnis, daß der Art. 20 in drei Absätzen unabänderlich, in seinem vierten Absatz hingegen abänderlich ist. Neben diesen mehr legistischen Bedenken sind aber auch solche des Inhalts dieses Rechtes selbst zu erwähnen. Es erhebt sich überhaupt die grundsätzliche Frage, ob eine solche Staatsrechtsordnung zum Schutze ihrer Grundsätze der Positivierung des Widerstandsrechts bedarf. Diese Frage ist zu verneinen, da es sich gezeigt hat, daß sich das naturrechtliche Widerstandsrecht positivrechtlich nicht einordnen läßt20. Das Widerstandsrecht kann auf Grund seines präpositiven Charakters konstitutiv positivrechtlich weder gewährt noch genommen werden. Durch die Positivierung des Widerstandsrechts entsteht vielmehr der Anschein, es würde sich dabei um einen Artikel „legalisierten“ oder „legitimierten Ungehorsams“ handeln und als würde der präpositive Bezug dieses Rechtes verlorengehen. Daher hat Hans Klecatsky bereits gewarnt: „Der totale positivistische Staat ist in dem Augenblick grundgelegt, in dem ihm auch nur eine naturrechtsfreie, dem Widerstandsrecht verschlossene Zelle zugestanden wird.“ Und er stellte die berechtigte Frage: „Warum soll das naturrechtliche Gebot zum Widerstand dort minder beachtlich sein, wo der Widerstand gegen den harmlosen Rechtsstaat und daher gefahrlos zu üben wäre.“21. Durch Positivierung des naturrechtlichen Widerstandes wollte man der Verfassung einen erhöhten Schutz verschaffen. Dies ist aber vor allem aus zwei Gründen nicht möglich: Erstens, weil die genannten Bedingungen zur Leistung des Widerstandes zu unbestimmt umschrieben sind, um eine dem Erfordernis der Rechtssicherheit angepaßte Vorsehbarkeit und Berechenbarkeit der Ausübung des Widerstandsrechtes gewährleisten zu können. Zweistaat, Karlsruhe 1969 und Herbert Schambeck, Widerstand und positives Recht, Gedanken zu Art. 20 Abs. IV des Bonner Grundgesetzes, in: Menschen im Entscheidungsprozeß, Wien / Freiburg / Basel 1971, S.  329 ff. 20  So auch Hans Marti, Naturrecht und Verfassungsrecht, in: Rechtsquellenprobleme im Schweizerischen Recht, Zeitschrift des Bernischen Juristenvereines, Jg. 1955, Bd. 91, S. 92. 21  Hans Klecatsky, Der Staat von morgen, JBl. 1959, S. 19.



Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute263

tens, weil selbst im Rechtsstaat das naturrechtliche Widerstandsrecht des Einzelnen auch ohne Positivierung bestehen bleibt. Es kann nicht in einer positiven Rechtsnorm eingefangen werden. Ist doch auch in einem Rechtsstaat dem Gesetzgeber weiterhin die Freiheit in der Auswahl der Rechtsschutzobjektes und der Bestimmung des Maßes des Rechtsschutzes belassen, die er gebrauchen oder mißbrauchen kann. Es bleibt daher auch im modernen Verfassungsstaat, in dem in qualifizierter Form die Herrschermacht „in das Recht gestellt“ ist, der Staat also Rechtstaat ist, das Spannungsverhältnis zwischen normsetzendem Organ und Normadressaten bestehen. Aus dieser Erkenntnis ergeben sich für den Widerstandsfall nur zwei Möglichkeiten: Entweder der Organverwalter verweigert die Anwendung oder Vollstreckung der betreffenden obrigkeitlichen Anordnung oder aber die normunterworfenen Bürger verweigern den Gehorsam. Dies sind dann die Formen des Widerstandes. Dieses letztgenannte Beispiel der Naturrechtsbezogenheit des deutschen Verfassungsrechtes zeigt deutlich, wie sehr das Naturrechtsdenken beim Menschenbild beginnt und endet. II. Das Naturrecht und die Rechtsprechung Wie weit das Naturrecht wieder für die Rechtsprechung von Bedeutung sein kann22, hängt von der Stellung des Richters und von den Möglichkeiten seiner Rechtsfindung ab. Wiederholend sei dabei auf Art. 20 (3) GG verwiesen. Der Weg zum Naturrecht in der Rechtsprechung wurde vor allem in Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen gefunden. Hermann Weinkauff hat dazu schon 1960 anläßlich der 100-Jahr-Feier des Deutschen Juristentages erklärt: „Die naturrechtliche Frage stellt sich einem Gericht dann, wenn das positive Recht, das es auf einen Fall anwenden soll, klar zu einem grob ungerechten Ergebnis führen würde. In der Auslegung der Grundrechtsbestimmungen fühlte sich der Bundesgerichtshof dem Naturrecht besonders verpflichtet.“23 So wird z. B. der überpositive Charakter der Würde 22  Beachte dazu besonders Hermann Weinkauff, Richtertum und Rechtsfindung in Deutschland, Tübingen 1952; Albrecht Langner, Der Gedanke des Naturrechts seit Weimar und in der Rechtsprechung der Bundesrepublik, Bonn 1959; Hermann Weinkauff, Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes. NJW vom 16. September 1960, S. 1689 ff.; Franz Wieacker, Rechtsprechung und Sittengesetz JZ 1961, S. 337 ff.; Gebhard Müller, Naturrecht und Grundgesetz, zur Rechtsprechung der Gerichte, besonders des Bundesverfassungsgerichtes, Würzburg 1967, und Wolf Rosenbaum, Naturrecht und positives Recht, rechtssoziologische Untersuchungen zum Einfluß der Naturrechtslehre auf die Rechtspraxis in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Neuwied / Darmstadt 1972, bes. S. 106 ff. 23  Weinkauff, Der Naturrechtsgedanke, S. 1689.

264

Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute

des Menschen, der freien Entfaltung der Person, der Gleichheit vor dem Gesetz und der Gewissensfreiheit anerkannt24. Daneben sind als Naturrechtsgebote vom Bundesgerichtshof besonders anerkannt die Ehe- und Familienordnung25. Auch das Selbstbestimmungsrecht eines geschichtlich gewordenen staatlich geeinten Volkes wird naturrechtlich begründet26. Es sei auch auf die Strafrechtsjudikatur verwiesen, so auf die Straftheorie, die Sühne und Vergeltung zum Strafzweck erklärt und Naturrechtsgrundlagen hiezu heranzieht27. Es sei auch an die Rechtsprechung zur Kuppelei und an die Qualifizierung jedes außerehelichen Geschlechtsverkehrs als „Unzucht“ durch den Bundesgerichtshof und andere Gerichte erinnert28. In diesem Zusammenhang ist auch das Eherecht zu nennen. Nach dem Ehegesetz 1938 besteht die Möglichkeit, das Scheidungsbegehren dann vom Verschulden unabhängig zu machen, wenn die Ehepartner drei Jahre getrennt gelebt haben. Der schuldlose Teil kann dann Widerspruch einlegen, der aber unbeachtlich ist, wenn die Ehe unmittelbar zerrüttet ist. Nach anfänglichen Schwankungen hat nun der BGH auf Grund einer naturrechtlich-christlichen Auffassung vom Wesen der Ehe das Zerrüttungsprinzip des geltenden Rechts durch das Verschuldensprinzip ersetzt, in dem er den Widerspruch des schuldlosen Teils nur noch in ganz wenigen Bedingungen unbeachtet ließ29. Die Durchsicht der Rechtsprechung des BGH ergibt zwar nach Franz Wieacker30 kein durchgehendes Bekenntnis zur Geltung eines aktuell verbindlichen Naturrechts, welches die Kraft hätte, positives Recht in der heutigen grundgesetzlichen Ordnung zu brechen; es finden sich aber in den Entscheidungen des Großen Strafsenats31, in einem Gutachten des I. Zivilsenats32 und einem Zivilurteil des BGH33 bestimmtere Aussagen und Postulate über Grundfragen der Sozialethik: nämlich über die Existenz eines absoluten Sittengesetzes und die Möglichkeit seiner Erkenntnis34; über die Normförmigkeit dieser absoluten Ordnung der Werte35; über die absolute, übergesetzliche 24  BGB St 4, S. 376 f.; BGH St 5, S. 333 f.; BGH Z 6, S. 275; BGH Z 11, Anh. 64; BGH Z 13, S. 297 f.; BGH Z 13, S. 334 ff.; BGH Z 16, S. 353. 25  BGH St 6, S. 46 ff.; BGH Z 11, Anh S 34 ff. 26  BGH Z 13; S. 265 ff. 27  BGH St. 2, S. 200 ff.; BGH St. 10, S. 262 ff. 28  BGH St. 6, S. 51 ff. 29  BGH Z. 36, S. 357; BGH Z. 39, S. 134. 30  Wieacker, Rechtssprechung, S. 344. 31  BGH St. 6, S. 53. 32  BGH Z. 11 Anh. S. 34 ff. 33  BGH Z. 8, S. 243. 34  BGH St. 6, S. 46. 35  BGH St. 6, S. 46.



Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute265

Rechtsverbindlichkeit dieses Sittengesetzes36; über die Freiheit des Menschen, nach diesen Normen zu handeln37; über die gegenseitige Hilfeleistungspflicht der Menschen und die sittliche Verwerflichkeit des Selbstmordes38; daneben standen anthropologische Aussagen über die Beschaffenheit des Menschen nach Natur und Schöpfungsordnung39, über die Einehe als die einzige durch das absolute Sittengesetz zugelassene Partnerschaft der Geschlechter40; über die göttliche Stiftung der Familie und die sich daraus ergebende Funktionsteilung zwischen Mann und Frau in der Gesellschaft41. Im Wettbewerbsrecht darf auf ein Schwanken zwischen moralisierender Bewertung anhand von vorgegebenen sittlichen Prinzipien und wirtschaftspolitischer Erwägungen verwiesen werden42. Als besonderer Einfluß des Naturrechts auf die Rechtsprechung sei das Arbeitsrecht, vor allem im Hinblick auf die Drittwirkung der Grundrechte hervorgehoben43. Nach der Lehre der Drittwirkung sind die Grundrechte nicht nur zwischen Staat und Bürger, sondern auch zwischen Bürgern und somit auch zwischen Unternehmer und Arbeitnehmer bestimmend. Für diese Entwicklung war Hans Carl Nipperdey ausschlaggebend44. Diese Entwicklung der Grundrechte führt, um mit Gerhard Müller45 zu sprechen, zu einem Reiben der Grundrechte, was eine Güterabwägung verlangt. Verglichen mit dem Bundesgerichtshof ist das Bundesverfassungsgericht46 in bezug auf das Naturrecht eher zurückhaltend gewesen. Dabei sei auf die Möglichkeit von verfassungswidrigen Verfassungsnormen verwiesen47. 36  BGH

St. 6, S. 46. St. 2, S. 194. 38  BGH St. 6, S. 147. 39  BGH Z. 8, S. 243. 40  BGH St. 6, S. 46. 41  BGH Z. 11, Anh. S. 34 ff. 42  Beachte vor allem die Rechtsprechung zu § 1 UWG und Rosenbaum, a. a. O., S.  176 ff. 43  Beachte schon BArbG 1, S. 191 ff.; BAGE 7, S. 260. 44  Siehe unter anderen Hans Carl Nipperdey, Freie Entfaltung der Persönlichkeit, in: Bettermann / Nipperdey, Die Grundrechte, Bd. 4, 2. Halbbd., Berlin 1975, S. 747 ff.; weiters Walter Leisner, Grundrechte und Privatrecht, München 1960; und Gerhard Müller, Die Drittwirkung der Grundrechte und das Sozialstaatsprinzip, in: Im Dienste der Sozialreform, Festschrift für Karl Kummer, Wien 1965, S. 369 ff. 45  Gebhard Müller, Drittwirkung der Grundrechte und das Sozialstaatsprinzip, RdA 1964, S. 121 ff. 46  Dazu siehe Gebhard Müller, Naturrecht und Grundgesetz, bes. S. 26 ff.; und Rosenbaum, a. a. O., S.  156 ff. 47  Beachte Otto Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen? Tübingen 1951. 37  BGH

266

Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute

Wenn, was ja meist und auch im GG der Fall ist, eine Verfassung teilweise Verfassungsbestimmungen enthält, die, was besonders bei Grundrechten der Fall ist, positiviertes Naturrecht sind, andere dagegen lediglich politische Entscheidungen, kann eine solche Verfassung auch verfassungswidrige Verfassungsnormen enthalten. Das ist der Fall, wenn Verfassungsnormen nichtnaturrechtlichen Ranges solchen naturrechtlichen Ranges widersprechen. Eine Wertordnung wird auf diese Weise in das Verfassungsrecht hineininterpretiert. Das Bundesverfassungsgericht hat die Möglichkeit verfassungswidriger Verfassungsnormen zunächst bejaht48, später verneint49; umgekehrt verlief die Entwicklung beim Bundesgerichtshof: zunächst ablehnend50, später bejahend51. Bejahend ist auch der Bayerische Verfassungsgerichtshof eingestellt52, von dem eine große Wirkung auf Rechtsprechung ausging. Es sei aber betont, daß auch das BVerfGH weiterhin die Bindung des einfachen Gesetzgebers an überpositive Rechtsprinzipien bejaht. Es bedurfte aber, wie Wolf Rosenbaum53 hervorhebt, zunächst eines kleinen Interpretationskunsttricks, um zu verhindern, daß jedes Gericht diese Überprüfung der Gesetze am nichtpositivierten Naturrecht vornehmen darf, was natürlich zu einem rechtspolitischen Chaos hätte führen können; das Bundesverfassungsgericht hat nach dem GG nur das Monopol für die Ungültigkeitserklärung von mit dem positiven Verfassungsrecht nicht übereinstimmenden Gesetzesrecht. Aus diesen im GG und im Bundesverfassungsgerichtsgesetz niedergelegten Zuständigkeiten hat man nun nicht gefolgert, daß eine Überprüfung an überpositivem Recht unzulässig ist, sondern per analogiam auch auf die Alleinzuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für das Naturrecht als Ungültigkeitsgrund geschlossen54. In einer seiner ersten wichtigen Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht erklärt: „Das Bundesverfassungsgericht erkennt die Existenz überpositive, auch den Verfassungsgeber bindenden Rechtes an und ist zuständig, das gesetzte Recht daran zu messen.“55 Das Bundesverfassungsgericht konnte überpositives Recht deshalb anerkennen, weil es auch der Verfassungsgesetzgeber getan hat. Er hat ein Wertsystem gewollt und zum Bestandteil der Verfassungsordnung selbst gemacht. Die Grundordnung ist so eine wertgebundene 48  BVerfGE

1, S. 32. 3, S. 231 f. 50  BGH Z. 1, S. 276. 51  BGH Z. 11, Anh. S. 34. 52  Bayer, VerfGHE 4, S. 51; und Gebhard Müller, a. a. O., S. 25 f. 53  Rosenbaum, a. a. O., S.  356 f. 54  Vgl. BVerfGE 1, S. 18; BVerfGE 3, S. 231; BGH Z. 11, Anh. S. 42 f. 55  BVerfGE 1, S. 14 ff. 49  BVerfGE



Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute267

Ordnung: „Sie ist das Gegenteil des totalen Staates, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ablehnt.“56 Es sei auch auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zum Gleichheitsgrundsatz verwiesen, in der sich die Verknüpfung dieses Grundsatzes mit dem der materiellen Gerechtigkeit zeigt57 und der Gleichheitsgrundsatz als Willkürverbort ausgelegt wird, wobei der Begriff der „Natur der Sache“58 für die Beantwortung der Frage nach der Willkürlichkeit von Bedeutung ist59. Das aktuellste Thema von Naturrecht und positivem Recht, vor allem auch hinsichtlich der Rechtsfindung, stellt sich bezüglich der sogenannten „Fristenlösung“60 und des Schutzes des ungeborenen Lebens. Es erhebt sich nun die Frage nach dem Beginn der Schutzwirkung dieses Grundrechtes. Karl Josef Partsch meint, daß im Hinblick auf Entscheidungen der europäischen Menschenrechtskommission der Schluß naheliegt, daß dieser Zeitpunkt sehr weit zurückverlegt wird61. In Kommentaren zur Europäischen Menschenrechtskonvention hat Heinz Guradze wohl den Schutz des nasciturus abgelehnt62, Hubert Schorn63 demgegenüber aber deutlich erklärt: „Das Recht auf Leben umfaßt auch das keimende, noch ungeborene Leben vom Augenblick der Empfängnis an.“ Eine eigene Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofes zum Schutze der Menschenrechte zur Art. 2 (1) MRK gibt es nicht. Es sei aber vergleichsweise auf die ähnliche Bestimmung im Art. 2 (2) Bonner Grundgesetz verwiesen: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Zum Inhalt dieser Bestimmung sagt der Standardkommentar von Maunz/Dürig/Herzog64 1971 eindeutig: „Inhaber des Grundrechtes auf Leben ist auch der nasciturus“ und drückt damit die in der Bundesrepublik 56  BVerfGE

2, S. 12. Müller, a. a. O., S. 30. 58  Beachte Herbert Schambeck, Der Begriff der „Natur der Sache“, Wien 1964, S.  103 ff. 59  Siehe den 1966 von Karl Engisch vor der katholischen Akademie in Bayern gehaltenen Vortrag über „Die Natur der Sache als Gestalt des Naturrechtes in der Gegenwart“. 60  § 219 StG. 61  Karl Josef Partsch, Die Rechte und Freiheiten der europäischen Menschenrechtskonvention, Berlin 1964, S. 104. 62  Heinz Guradze, Die Europäische Menschenrechtskonvention, Berlin, 1968, S. 47. 63  Hubert Schorn, Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Frankfurt 1965, S. 74. 64  Maunz / Dürig / Herzog, a. a. O., S.  87 f. 57  Gebhard

268

Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute

Deutschland herrschende, auch von Rechtslehrern wie von Mangoldt/Klein65 und Nipperdey66 vertretene Lehre aus. Vorsichtiger ist Ekkehart Stein, wenn er schreibt: „Ein Grundrecht des nasciturus dürfte zu verneinen sein, da ihm die Grundrechtsfähigkeit fehlt“, aber dem gleich hinzufügt: „Aus dem Schutz des Lebens ergibt sich aber eine objektive Norm, wonach der Staat nascituri nicht töten lassen darf.“67 Nach Theodor Maunz68 wieder trifft den Staat gegenüber dem ungeborenen Leben eine doppelte Verpflichtung: Er muß einerseits sich selbst eigener Eingriffe in das ungeborene Leben enthalten und damit einer Achtungspflicht nachkommen und andererseits Angriffe auf das ungeborene Leben, die von Privaten ausgehen, abwehren, womit ihn eine Schutzpflicht trifft. Dieser Achtungs- und Schutzpflicht kommt der Staat nicht nach, wenn er im Sinne der Fristenlösung für einen bestimmten Zeitraum das ungeborene Leben rechtlich ungeschützt zur Disposition stellt. Anders wäre dies bei der Indikationenlösung, welche grundsätzlich das ungeborene Leben schützt und nur für bestimmte zu beachtende Grenzsituationen eine Eingriffsmöglichkeit zuläßt. Wenngleich das Grundrecht auf Leben neu durch Art. 2 MRK in die österreichische Rechtsordnung eingeführt wurde69, darf aber andererseits nicht übersehen werden, daß § 22 ABGB schon seit Jahrzehnten einfachgesetzlich vorsieht: „Selbst ungeborene Kinder haben vom Zeitpunkt ihrer Empfängnis an einen Anspruch auf den Schutz der Gesetze.“ Dabei ist zu beachten, daß Karl Marschall erklärt hat, der Schutz des Art. 2 MRK erstrecke sich immer dann auch auf die Leibesfrucht, wenn und insoweit dieser durch die einfache Gesetzgebung Rechtspersönlichkeit eingeräumt wird70. Das ist also in Österreich der Fall. Daher kommt auch er zum Schluß, es ergebe sich, „dass nach der geltenden österreichischen Verfassungsrechtsordnung der menschlichen Leibesfrucht jedenfalls verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte auf Leben im Rahmen des Art. 2 MRK … 65  Von Mangoldt  / Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl., Bd. I, Berlin / Frankfurt 1957, S. 186. 66  Hans Carl Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Neumann  /  Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte, Bd. 2, Berlin 1954, S. 4. 67  Ekkehart Stein, Lehrbuch des Staatsrechtes, 2. Aufl., Tübingen 1971, S. 203. 68  Theodor Maunz, Deutsches Staatsrecht. 16. Aufl., München 1968, S. 110 f. 69  Siehe Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950, BGBl. Nr. 210 / 1958 und Art. II des Bundesverfassungsgesetzes vom 4. März 1964, BGBl. Nr. 59. 70  Karl Marschall, Grundsatzfragen der Schwangerschaftsunterbrechung im Hinblick auf die verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Leben, JBl. 1972, S. 508.



Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute269

eingeräumt sind … Nach geltender einfachgesetzlicher Rechtslage hat die menschliche Leibesfrucht ab Empfängnis Rechtspersönlichkeit … Die einfach gesetzliche Beschränkung dieses Rechtsschutzes wäre verfassungsrechtlich höchst bedenklich.“71 Für die Bundesrepublik Deutschland hat schon Roman Herzog festgestellt, es kann „keinen Zweifel daran geben, daß der Beginn des verfassungsrechtlichen Lebensschutzes auf den frühesten Zeitpunkt anzusetzen ist, in dem überhaupt von einem neu entstehenden menschlichen Wesen gesprochen werden kann, das heißt also auf die Vereinigung der Keimzellen“72. Ein Maß an Rechtsschutz hat der nasciturus schon bisher durch Gesetzgebung und Rechtsprechung in Deutschland erfahren. So wird er als Träger von Rechten in den §§ 844, 1922, 1923, 1963, 2043 und 2144 BGB anerkannt. Der Bundesgerichtshof erklärt in bezug auf das werdende Leben des Ungeborenen, daß jeder Mensch ein Recht darauf hat, daß sein organisches Wachstum nicht von Menschenhand gestört und beeinträchtigt werde73. Das Bundessozialgericht sieht diesen Anspruch auch aus dem Verfassungsgebot des „sozialen Rechtsstaates“ und „sozialen Bundesstaates“ im Grundgesetz gegeben74. Beachtenswert ist auch die Fragestellung des Bundessozialgerichtes, daß ein Anspruch auf Versorgung auch für solche Gesundheitsstörungen bestehe, die auf Schädigung vor der Geburt zurückzuführen seien75. Die Entscheidung des Gesetzgebers für die Straffreiheit der Abtreibung in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft, der sogenannten „Fristenlösung“, im § 218 des neues Strafrechtes steht mit dieser Entwicklung im Widerspruch und verstößt gegen das auch naturrechtlich bestehende Gebot auf Schutz des Lebens. Betrachtet man die verschiedenen Naturrechtsbezogenheiten in der Rechtsprechung, darf nicht übersehen werden, daß über viele Naturrechtsfragen, wie über Inhalt sowie über Umfang und Grund der Geltung des Naturrechts Unklarheit besteht. Wolf Rosenbaum hat 1972 in seinen rechtssoziologischen Untersuchungen „Naturrecht und positives Recht“ zum Einfluß der Naturrechtslehre auf die Rechtspraxis in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts auf diese Pluralität der Meinungen hingewiesen: „Inhaltlich orientiert man sich häufig an christlich-katholischen Naturrechtssätzen, aber auch allgemein an christlichen Geboten, daneben an Sätzen der materiellen 71  Karl

Marschall, a. a. O., S.  510 f. Herzog, Der Verfassungsauftrag zum Schutze des ungeborenen Lebens, JR Heft 12, 1969, S. 442; beachte auch Heribert Berger, Die Heimatlosigkeit des Menschen, in: Innsbrucker Universitätsreden VIII, Innsbruck 1964, S. 20 ff. 73  BGH Z. Bd. 8, S. 2043 ff., siehe auch BGH Z. Bd. 58, S. 48 ff. 74  BSG Bd. 20, S. 45. 75  BSG Bd. 18, S. 55. 72  Roman

270

Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute

Wertethik Schelerscher und Hartmannscher Herkunft sowie an Forderungen einer allgemeinen elektrischen Humanitätsphilosophie.“76 Zu dieser Unbestimmtheit des Naturrechts kommt auch ein allgemeines Nachlassen seiner Zitierung. Otto Veit hat bereits 1947 in seinem über „Die geistige Situation des Naturrechts“ verfaßten Aufsatz treffend und anschaulich von dem Phänomen der „historischen Undankbarkeit“77 in dem Sinne gesprochen, daß jeder ideelle Wert im Bewußtsein der Menschen verblaßt, sobald er eine Zeitlang zum realen Bestand des Alltags gehört hat. Mit dem Nachlassen des NS-Schreckens und der Stabilisierung der sozialen Verhältnisse hat die Notwendigkeit der Berufung auf das Naturrecht nachgelassen78. Gleichzeitig hat aber das Naturrechtsdenken in anderer Weise fortgewirkt, nämlich in einer Betonung der Bindung von Gesetzgeber und Richter an Sachgesetzlichkeiten und überpositive sozialethische Werte. Rosenbaum stellte schon fest: „Würden sich die Gerichte in ihren Entscheidungen allein an den Normen des positiven Rechts orientieren, könnten sie ihre politisch-integrative Funktion und die ihnen zugewachsene Aufgabe, soziale Konflikte ‚unpolitisch‘ zu schlichten, nicht wahrnehmen. Erst der Rückgriff auf übergesetzliche Prinzipien erlaubt es, viele Normen so auszudeuten, daß sie Grundlage für die für notwendig gehaltene richterliche Entscheidung werden könnten.“79 III. Das Naturrecht in Rechtslehre und Sozialethik Bei diesem Streben nach fortbildender und konfrontierender richterlicher Rechtsfindung spielt als möglicher Maßstab die Naturrechtsdiskussion in der Rechtstheorie keine geringe Rolle. Dabei darf nach 1945 keine Einheitlichkeit in der Aussage über das Naturrecht, sondern nur im Streben nach dem Naturrecht angenommen werden. Dieses Streben war umfassend. Selbst ein Rechtspositivist, wie Gustav Radbruch einer war, hat nach dieser Rechtsentwicklung erkannt, daß nicht jede Gesetzesherrschaft auch als Rechtsherrschaft gewertet werden kann, und 1945 erklärte er: „Wenn Gesetze den Willen zur Gerechtigkeit bewußt verleugnen, z. B. Menschenrechte Menschen nach Willkür gewähren oder versagen, dann fehlt diesen Gesetzen die Geltung, dann schuldet das Volk ihnen keinen Gehorsam, dann müssen auch 76  Rosenbaum.

a. a. O., S.  127. Veit, Der geistige Standort des Naturrechts, Merkur, 1. Jg. 1947, S. 390, Neudruck in: Naturrecht oder Rechtspositivismus, hrsg. von Werner Maihofer, Darmstadt 1962, S. 33 ff. 78  Über diesen Bedeutungswandel des Naturrechts in der Rechtsprechung siehe auch Gebhard Müller, a. a. O., S. 13 ff. 79  Rosenbaum, a. a. O., S.  209 f. 77  Otto



Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute271

die Juristen den Mut finden, ihnen den Rechtscharakter abzusprechen … Es kann Gesetze mit einem solchen Maße von Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit geben, daß ihnen die Geltung, ja der Rechtscharakter abgesprochen werden muß.“80 Nach Jahren des Rechtsmißbrauches setzte eine Besinnung auf den präpositiven Bezug des Gesetzesrechtes und damit der Freiheit und Würde des Menschen ein. Da dieser Mißbrauch im deutschsprachigen Raum am stärksten war, wurde das Wiederaufleben des Naturrechtsdenken hier auch am deutlichsten. So betonte der führende deutsche Privatrechtslehrer und erster Präsident des Bundesarbeitsgerichtes, Hans Carl Nipperdey: „Die Würde des Menschen hat einen Charakter indelebilis, der sich als eine gleichbleibende Forderung an jede Sozial- und Wirtschaftsordnung erweist.“81 Und der einstige Präsident des deutschen Bundesverfassungsgerichtes Josef Wintrich stellte fest: „Würde kommt dem Menschen um deswillen zu, weil er seiner seinsmäßigen Anlage nach ‚Person‘ ist.“82 René Marcic wies auf den unbedingten Rechtswert des Menschen hin83. Die Aussagen fanden ihre geistesgeschichtliche Begründung in der „Abendländischen Rechtsphilosophie“ von Alfred Verdross84 und ihre Ausführung im „Naturrecht“ Johannes Messners85. Diese Beiträge zur Naturrechtsdiskussion waren entweder bloß rechtsphilosophisch oder religiösen Ursprungs. In dem von Werner Maihofer 1962 in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt herausgegebenen Sammelband „Naturrecht oder Rechtspositivismus“86 sind die wichtigsten Stimmen hiezu festgehalten. Am entscheidendsten für den Naturrechtsanstoß nach 1945 war wohl Gustav Radbruch, der vor allem in seinen Aufsätzen „Fünf Minuten Rechts80  Gustav Radbruch, Fünf Minuten Rechtsphilosophie, dritte und vierte Minute, 1945, Neudruck in: Rechtsphilosophie, hrsg. von Erik Wolf, Stuttgart 1965, S. 336. 81  Hans Carl Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Neumann  /  Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte, 2. Bd., Berlin 1954, S. 3. 82  Josef M. Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, Köln  /  Opladen, 1957, S. 6. 83  René Marcic, Der unbedingte Rechtswert des Menschen, in: Politische Ordnung und menschliche Existenz, Festgabe für Eric Voegelin, München 1962, S. 360 ff.; derselbe, Rechtsphilosophie, Freiburg im Breisgau 1969, bes. S. 262 ff. 84  Alfred Verdross, Abendländischen Rechtsphilosophie, 1.  Aufl., Wien 1958, 2. Aufl., Wien 1963. 85  Johannes Messner, Das Naturrecht, 1. Aufl., Innsbruck  / Wien / München 1950, 5.  Aufl., Innsbruck / Wien / München 1966. 86  Naturrecht oder Rechtspositivismus, hrsg. von Werner Maihofer, Darmstadt 1962, beachte auch Die ontologische Begründung des Rechts, hrsg. von Arthur Kaufmann, Darmstadt 1965.

272

Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute

philosophie“ 194587 und „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ 194688 sowie grundlegend in den Neuauflagen seiner Rechtsphilosophie dem kritischen und wertenden Rechtsdenken vom Naturrecht her neue Anstöße gab. Er hob die in der Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit gegebenen Erscheinungsformen der Rechtsidee hervor, deren Antinomien er auch betonte89. Er wies in seinem Betrag zur Laun-Festschrift über die Natur der Sache auf den objektiven Sinn und das Seinsganze der sozialen Wirklichkeit hin90. Arthur Kaufmann, der 1965 in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt einen Sammelband über „Die ontologische Begründung des Rechts“ herausgab, hat in seinem Buch „Das Schuldprinzip“91 sowie seinen Schriften „Recht und Sittlichkeit“92 und „Naturrecht und Geschichtlichkeit“93 sich als bedeutender Schüler Radbruchs erwiesen und sich in kritisch realistischer Weise um das Naturrecht bemüht. Neben Radbruch und seiner Schule ist der Frankfurter Helmut Coing zu nennen, der sich in seinen „Grundzüge der Rechtsphilosophie“94, die in der 1969 erschienenen zweiten Auflage auch einen geschichtlichen Teil enthalten, um die Aufdeckung der Grundlagen des Rechts, nämlich der Natur der Sache95 und die sittlichen Grundlagen des Rechts, bemühte. Sittliche Grundlagen des Rechts sieht er in der Gerechtigkeit, Freiheit und Treue; er wertet das Recht als Wertsynthese96. Das Naturrecht bildet für Coing den Maßstab für die Beurteilung des positiven Rechts. Betrachtet man die vielen rechtsphilosophischen Naturrechtstheorien, zu welchen Erik Wolf in seinem Buch „Das Problem der Naturrechtslehre“ 87  Radbruch,

Rechtsphilosophie, S. 335 ff. Süddeutsche Juristen-Zeitung Nr. 5, August 1946, Neudruck in: Rechtsphilosophie, S.  347 ff. 89  Radbruch, a. a. O., S.  168 ff. 90  Gustav Radbruch, Die Natur der Sache als juristische Denkform, in: Festschrift für Rudolf von Laun zum 65. Geburtstag, Hamburg 1948, S. 157 ff., Neudruck in der Reihe „Libelli“, Darmstadt 1960. 91  Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, eine strafrechtlich-rechtsphilosophische Untersuchung, Heidelberg 1961. 92  Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, Recht und Staat, Heft 282  / 283, Tübingen 1964. 93  Kaufmann, Naturrecht und Geschichtlichkeit, Recht und Staat, Heft 197 Tübingen 1957; siehe auch derselbe, Rechtsphilosophie im Wandel, Frankfurt am Main 1971; derselbe, Wozu Rechtsphilosophie heute?, Frankfurt am Main 1971, sowie derselbe und Winfried Hasemer, Grundprobleme der zeitgenössischen Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Frankfurt am Main 1971. 94  Helmut Coing, Grundzüger der Rechtsphilosophie, 1.  Aufl., Berlin 1950, 2. Aufl., Berlin 1969. 95  Coing, a. a. O., S.  177 ff. 96  Coing, a. a. O., S.  188 ff. 88  Radbruch,



Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute273

mehr als bloß den „Versuch einer Orientierung“97 bot, kann eine wertphilosophische, idealistische und existentialphilosophische Naturrechtsbegründung erkannt werden. Die wertphilosophische Richtung geht von einer Trennung von Wert und Sein aus; die Werte bilden ein eigenes Reich materialer Qualitäten. Das Werterfassen ist keine bloße verstandesmäßige Abstraktion von Wesensbegriffen aus konkreten Seienden, sondern geschieht durch intentionales Wertfühlen. Dies läßt das Bestehen objektiver Werte und ihre hierarische Ordnung erfahren. Hiezu ist Coing zu zählen, der eine materiale Wertphilosophie vertritt. Die idealistische Naturrechtsbegründung wieder sieht das Recht als ein in seiner Idee, seinem eigenen ideellen Gehalt und damit in sich selbst gegründetes, mit eigener selbständiger sozialer Geltung ausgestaltete Gebilde98. Das Naturrecht ist ein rein idealer Maßstab, der es ermöglichen soll, das positive Recht in seinem Wert zu prüfen. Recht und Sittlichkeit werden a principio aus der reinen Vernunft abgeleitet. Karl Larenz ist mit seiner „Methodenlehre der Rechtswissenschaft“99 dazu zu nennen. Um eine Wesensbestimmung des Menschen, die nicht das menschliche Wesen in einer in sich selbst ruhenden Substanz sieht, sondern meint, daß der Mensch zum eigentlichen Selbstsein nur in der als „Selbstrealisierung kraft eines Selbstverhältnisses“ verstandenen individuellen Entscheidung gelangt, ist die existenzphilosophische Richtung bemüht. Hier gilt es, Max Müller mit seinem 1964 erschienenen Werk „Existenzphilosophie im geistigen Leben der Gegenwart“100 zu nennen. Für ihn befindet sich der Mensch schon vor jeder positiven Zielsetzung „im Recht“. Das Recht ist geschichtlich wandelbar, da der Mensch „kein fertig Seiendes“, sondern vielmehr immer „unterwegs“ ist. Die Freiheit aufgegebener Wesensverwirklichung bestimmt Wesen oder Natur des Menschen101. Ähnliche Gedanken hat Werner Maihofer entwickelt, der sich in seiner Schrift „Naturrecht als Existenzrecht“102 um eine existentielle Rechtsphilosophie bemüht. Er lehnt es ab, aus dem Wesen des Menschen ein Naturrecht abzuleiten, da er im Anschluß an Nietzsche und Marx der Meinung ist, daß der Mensch „durch und durch Produkt ebenso der Verhältnisse und der ihr 97  Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, Versuch einer Orientierung, 3. Aufl., Karlsruhe 1964. 98  Schelauske, a. a. O., S.  344. 99  Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Berlin  / Heidelberg / New York 1975. 100  Max Müller, Existenzphilosophie im geistigen Leben der Gegenwart, 3. Aufl., Heidelberg 1964. 101  Siehe dazu näher Verdross, Statisches und dynamisches Naturrecht, S. 46 f. 102  Werner Maihofer, Naturrecht als Existenzrecht, Frankfurt 1963.

274

Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute

eigenen Ordnung, in denen er sein Wesen treibt, wie Produkt der eigenen Entscheidung, die er selbst zu treffen hat, die ihm eigentlich niemand abnehmen, für die er sich letztlich auf niemanden berufen kann“103 ist. Der Mensch muß daher selbst sein Wesen in einer bestimmten geschichtlichen Lage durch einen eigenen Vorausentwurf bestimmen, aus dieser Sicht erhält das, „was wir bisher das Naturrecht nannten, einen verwandelten Sinn: den eines Vorausentwurfes der geschichtlichen Selbstbestimmung des Men­ schen“104, den er im Anschluß an Ernst Bloch als „konkrete Utopie“105 bezeichnet. Zu diesen rechtsphilosophischen Richtungen ist noch in den letzten Jahren immer deutlicher eine Strömung getreten, die Alfred Verdroß in seinem Werk „Statisches und dynamisches Naturrecht“ als die Naturrechtslehren der Neuen Linken bezeichnet hat106 und damit die Meinungen von Herbert Marcuse, Ernst Bloch, Theodor Adorno und Max Horkheimer erfaßte. Marcuse rief nach einer „Rückkehr zu einer menschlichen Lebensweise“107. Dabei lehnt er für die Zukunft nicht jede Zwangsordnung, sondern nur jene ab, die das Maß überschreitet, das zur Erhaltung und Förderung der Kultur erforderlich ist. Zur Erreichung seiner Ziele weist er auf die „Idee einer erzieherischen Diktatur“ hin, die „von jenen ausgeübt wird, denen man zutrauen kann, daß sie das Wissen um das wirklich Gute erworben haben“108. Eine mehr messianische Deutung sucht Ernst Block109 mit seinem Prinzip Hoffnung: Von ihm bekennt Verdross110 im Anschluß an René Marcic111, daß es sein gutes Verdienst sei, als erster im Rahmen des Marxismus die Menschenwürde und in ihr wurzelnden Menschenrecht herausgearbeitet und gezeigt zu haben, daß der wirtschaftliche Fortschritt ohne allgemeine Achtung der Menschenwürde dem Wesen des Menschen nicht gerecht wird. Ansätze zu einer Naturrechtslehre sind auch in der sogenannten kritischen Theorie Adornos112 und Horkheimers113, die von einem Glücksstreben alle Menschen ausgehen, zu erkennen. Für sie ist die soziale Moral ein Aufruf 103  Maihofer,

a. a. O., S.  19. a. a. O., S.  21. 105  Maihofer, a. a. O., S.  21. 106  Verdroß, a. a. O., S.  49 ff. 107  Herbert Marcuse, Humanismus, Neues Forum XVII, 1970, S. 352. 108  Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt 1965, S. 222. 109  Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1959. 110  Verdross, a. a. O., S.  56. 111  René Marcic, Rechtsphilosophie, S. 102. 112  Theodor Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1947. 113  Max Horkheimer, Kritische Theorie, 2 Bde, Frankfurt 1968 und derselbe, Materialismus und Metaphysik, Frankfurt 1970. 104  Maihofer,



Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute275

zur Verwirklichung des Glücks aller, dessen Einzelforderungen geschichtlich bedingt und veränderlich sind114. Diese sogenannten humanistischen Marxisten haben zu einer Zeit, in der sich die Freiheitsgefährdung und praktische Widerlegung der Theorie Karl Marx, wie z. B. die der Konzentration, Krise und Verelendung am deutlichsten zeigen, eine neue marxistische Ideologie mit einem viele jüngere Menschen motivierenden Verbalismus entwickelt. Dazu hat schon 1968 Manfred Scheuch eine kritische Untersuchung in einem Sammelband mit dem treffenden Titel „Die Widertäufer der Wohlstandsgesellschaft“ verfaßt115. Diese Neue Linke ist meist nichts anderes als die neue Gewandung des alten Marxismus. Sie bekämpfen wie Ludwig Reichhold meint, nach dem Genuß der Früchte des Wohlfahrtsstaates die Konsumgesellschaft, die für sie ein Ersatz für die kapitalistische Klassengesellschaft ist; sie sprechen an Stelle der klassenlosen Gesellschaft von der antiautoritären Strukturen und versuchen mit dem Begriff der außerparlamentarischen Opposition der anarchistische Revolutionsidee von gestern heute unerkannt fortleben zu lassen116. Von diesen weltlichen Naturrechtstheorien117, wie man sie bezeichnen kann, sind jene Naturrechtslehren zu unterscheiden, welche religiös bedingt sind, nämlich die christlichen Naturrechtslehren118. Sie sind im katholischen Raum vor allem durch eine jahrzehntelange Tradition von päpstlichen Sozialenzykliken119 geprägt, die eine aristotelischneothomistische Lehre darstellt, zu der Johannes Messner120 mit seinem Werk „Naturrecht“ eine Sozial-, Wirtschafts- und Staatsethik schrieb, und Alfred Verdross121 mit seinem Werk „Statisches und dynamisches Natur114  Näher

dazu Verdross, a. a. O., S. 56. Widertäufer der Wohlstandsgesellschaft, eine kritische Untersuchung der „Neuen Linken“ und ihrer Dogmen, hrsg. von Erwin Scheuch, Köln 1968. 116  Ludwig Reichhold, Abschied von der proletarischen Revolution, das Ende eines revolutionären Mythos, Frankfurt am Main 1972, S. 250. 117  Dazu Schelauske, a. a. O., S. 339 ff., und Rosenbaum, a. a. O., S. 130 ff. 118  Beachte Schelauske, a. a. O., S. 342 ff., und Rosenbaum, a. a. O., S. 132 ff. 119  Siehe dazu Emil Muhler, Die Soziallehre der Päpste, 2. Aufl., München 1959; Johannes Messner, Christliche Soziallehre unter Feuer, Civitas 3, November 1966; Oswald von Nell-Breuning, Wie sozial ist die Kirche, Leistungen und Versagen der katholischen Soziallehre, Düsseldorf 1972. 120  Besonders Johannes Messner, Moderne Soziologie und scholastisches Naturrecht, Wien 1961; derselbe, Das Naturrecht, Handbuch der Gesellschafts-, Staatsund Wirtschaftsethik, Innsbruck / Wien / München, 1966; derselbe, Atheismus und Naturrecht, ein Streitgespräch mit Ernst Topitsch, Neues Forum XIII / 152–153, August / September 1966; derselbe, Naturrecht im Disput, ÖZöR 1971, S. 7 ff. 121  Beachte auch von Alfred Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, Tübingen 1923; derselbe, Abendländische Rechtsphilosophie, Wien 1958, 2. Aufl., Wien 1963. 115  Die

276

Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute

recht“ eine eingehende Auseinandersetzung mit allen derzeitigen Naturrechtslehren verfaßte, vor allem auch mit der Neue Linken und besonders mit Viktor Krafts rationaler Begründung der sozialen Moral122. Die Klärung und Begründung der naturhaften Rechte des Menschen und der Staaten kann auf verschiedenen Weise erfolgen. Sie wurde lange Zeit aus dem sich in der menschlichen Natur offenbarenden Willen des Schöpfers erschlossen. Im geistigen Klima Englands fand Johann Messner für eine metaphysische Begründung Schwierigkeiten. Der Engländer denkt empirisch, geht von der Befriedigung des Glückstriebes aus, wovon jeder Mensch Erkenntnis aus eigener Erfahrung besitzt. Messner strebte daher eine Begründung des Naturrechts nicht vom „ewigen Gesetz“, dem Willen des Schöpfers, sondern anthropologisch von der Natur des Menschen und den ihr eigenen „existentiellen Zwecken“ zu finden. Das sind die Zwecke, die der Mensch verwirklichen muß, um seinem Bedürfnis nach Glückserfüllung zu entsprechen. Diese Zwecke sind aus der der Erfahrung des Menschen unmittelbar zugänglichen Wirkwiese der menschlichen Natur erhoben. Dabei ist der Mensch nicht als abstraktes Wesen, sondern immer auch als konkretes Geschichtswesen gesehen, das durch seine Befähigung zur schöpferischen Entwicklung von Kulturwerten sich verändert, damit auch die Forderungen des Naturrechts. Bestehen bleibt die an die in der Vernunftbegabung geknüpfte „Konstante“ im zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Verhalten, nämlich das das fundamental Menschliche gewährleistende Verhalten, darüber hinaus bildet sich die weitreichende „Variable“ der kulturspezifischen Normen der verschiedenen Völkerschaften. Die Naturrechtslehre als Wissenschaft ist wie jede Wissenschaft stets unterwegs in der Klärung und Begründung der naturrechtlichen Forderungen. Messner unterscheidet scharf zwischen Naturrechtswirklichkeit und Naturrechtslehre. Die Erstere bestand schon viele tausend Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung. Die Letztere entstand fast gleichzeitig in Griechenland und China um 500 Jahre vor Christus. Die grundlegende Naturrechtsforderung besteht in der Erstellung der positiven Rechtsordnung, also des staatlichen Gesetzesrechtes, wodurch der Friede in der politischen Gemeinschaft gewährleistet wird. In Fortentwicklung seiner Naturrechtslehre spricht Messner heute nicht sosehr von den existentiellen Zwecken als von den leiblichen, seelischen und geistigen Grundbedürfnissen des Menschen, deren Befriedigung die Voraussetzung einer Selbstverwirklichung bilden. Diese Bedürfnisse entsprechen den existentiellen Zwecken, eröffnen aber den Zugang zu den zwei Begriffen, die Messner als Grundnorm des Naturrechts 122  Alfred Verdross, Statisches und dynamisches Naturrecht, Freiburg im Breisgau 1971, bes. S. 69 ff., 95 ff. und 99 ff., beachte dazu die Besprechung in der ÖZöR 1973, S. 371 ff. durch W. Heinemann.



Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute277

und aller gerechten gesellschaftlichen Ordnung ansieht. Das ist die Menschenwürde und das Gemeinwohl. Die beiden gehören dem heutigen sittlichrechtlichen Bewußtsein an, wie viele von den Dokumenten der Vereinten Nationen zeigen. Sie müssen daher im Mittelpunkt des Naturrechtsdenkens stehen. Menschenwürde und Gemeinwohl müssen beide Geltung der Wirksamkeit als gesellschaftliche Ordnungsprinzipien haben. Sie bedingen gleicherweise die Selbstverwirklichung des Menschen, deren Voraussetzungen zu schaffen Zweck der menschlichen Gesellschaft und des Staates ist. Verdross wieder stellt in Selbsterklärung seines Standpunktes fest: Wenn man unter „Naturrecht“ jene Rechtsgrundsätze versteht, die mit dem natürlichen Lichte der Vernunft erkannt werden können und daher dem positiven Recht vorgegeben sind, muß man mit Aristoteles und Thomas von Aquino, um zu ihrem Inhalt zu gelangen, von der unbestreitbaren Tatsache ausgehen, daß der Mensch nach seiner (in dieser Richtung) unveränderlichen Natur, ein eigenständiges und zugleich soziales Wesen ist, da er weder Zelle eines Organismus noch bloßes Gattungswesen, sondern Person ist, der infolge ihrer hohen Stellung in der Seinsordnung eine nur ihr eigene Würde zukommt, obgleich der Mensch nur als unfertiges Wesen zur Welt kommt und daher der Gemeinschaft (als Mittel zu diesen Zielen) in der menschlichen Natur verankert. Die Gemeinschaftsordnung kann aber keinen beliebigen Inhalt haben, sondern sie muß auf ein friedliches Zusammenleben in geordneter Freiheit hinzielen. da nur eine solche Ordnung imstande ist, die Erhaltung und Entfaltung des Menschen zu gewährleisten und ihm ein der Würde des Menschen entsprechendes Leben zu ermöglichen. In dieser Würde sind sowohl die sozialen Rechte grundgelegt, was von der Internationalen Deklaration der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 und der Präambel der beiden Pakte über die bürgerlichen und politischen Rechte sowie über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte vom 10. Dezember 1966 zugleich mit ihrer überpositiven Grundlage anerkannt wird. Diese primären unveränderlichen Grundsätze des Naturrechts müssen jeweils der kulturellen Lage eines bestimmten Volkes angepaßt werden. So entsteht das sekundäre veränderliche Naturrecht, das durch den konkreten Gesetzgeber positiviert werden kann und soll. Für die katholische Naturrechtskonzeption ist kennzeichnend, daß sie auf dem Boden des kritischen Realismus steht und sich um die Wesenszusammenhänge bemüht. Sie kommt einer ontologischen Rechtslehre, wie sie René Macic123 vertreten hat, sehr nahe; das kirchliche Naturrecht erscheint 123  Beachte vor allem René Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, Wien 1957; derselbe, Rechtsphilosophie, Freiburg 1969; derselbe, Geschichte der Rechtsphilosophie, Freiburg 1971.

278

Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute

als Wesensrecht; gleich der Lehre vom lex aeterna, lex naturalis und lex positiva unterscheidet die katholische Naturrechtslehre zwischen primärem und sekundärem Naturrecht und ihrer Ausführung im positiven Recht124. Alexander Hollerbach spricht von der „Verwirklichung der Inexistenz des Naturrechts im positiven Recht“125. Während im katholischen Raum die Naturrechtslehre eine zeitangepaßte Fortsetzung einer jahrhundertelangen Tradition ist, die durch die Imago Die-Lehre die Dignitas humana und damit auch die Grundrechte metaphysisch begründete und durch die Enzykliken der päpstlichen Soziallehre als Grundlage katholischer Sozialethik zur Humanisierung des wirtschaftlichen, sozialen und staatlichen Lebens beitrug, erwies sich die evangelische Naturrechtslehre mehr als ein neuer Anfang126. Das evangelische Menschenbild von der natura corrupta hat die menschliche Vernunfteinsicht und damit auch das Naturrecht selbst ursprünglich ausgeschlossen. Hier trat nach 1945 bis in die Gegenwart eine Änderung ein. In seiner 1972 erschienenen Schrift „Zur Frage nach dem Naturrecht im deutschen Protestantismus der Gegenwart“ hat Theodor Herr von dem „eingeklammerten Ja zum Naturrecht“127 gesprochen. Muß man doch bedenken, daß vom evangelischen Glaubensverständnis hier ein geschlossenes System mit konkreten Sätzen und handlichen Lösungen bis ins Detail unmöglich vorzulegen ist. Friedrich Karrenberg hat deshalb bemerkt: „Es gehört zur Eigenart des evangelischen Denkens, daß es keine geschlossene Gesellschaftskonzeption besitzt.“ Deshalb konkretisiert sich evangelische Sozial­ethik mehr in der Kritik „bestehender Unrechtssysteme als im Entwurf sogenannter christlicher Lösungen“128. Diese Haltung mehr nachträglicher Verurteilung als positiver Vorausplanung hat auch die katholische Kirche bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts eingenommen und sich dann dem positiven konzeptiven Weg zugewendet; eine Entwicklung, die anscheinend heute die evangelische Sozialethik durchmacht. Konstruktiv hat 124  So auch Alfred Verdross, Primäres Naturrecht, sekundäres Naturrecht und positives Recht in der christlichen Rechtsphilosophie, in: Jus et Lex, Festgabe zum 70. Geburtstag von Max Gutzwiller, Basel 1959, S. 447 ff. 125  Alexander Hollerbach, Das christliche Naturrecht im Zusammenhang des allgemeinen Naturrechtsdenkens, in: Naturrecht in der Kritik, hrsg. von Franz Böckle und Ernst-Wolfgang Böckenförde, Mainz 1973, S. 36. 126  Siehe dazu Oswald von Nell-Breuning  / Hans Lutz, Katholische und Evangelische Soziallehre, ein Vergleich, Recklinghausen 1967. 127  Theodor Herr, Zur Frage nach dem Naturrecht im deutschen Protestantismus der Gegenwart, Mainz  /  Paderborn  /  Wien 1972, S. 209; beachte auch Alfred Reber, Katholische und Protestantische Rechtsbegründung heute, Frankfurt am Main 1962. 128  Friedrich Karrenberg, Gestalt und Kritik des Westens, Stuttgart 1959, S. 225.



Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute279

hier Hans Dombois129 für die Beseitigung zahlreicher spiritualistischer Vorurteile ebenso das Wort geredet wie Hans Walzl130 für ein neues Verhältnis zum öffentlichen Leben. Es kommt geradezu zu einem „Ideologieabbau“131. Herr132 betont, daß die evangelische Kirche neuartig ihren politischen Auftrag erkannt hat und radikal den Kulturprotestantismus, pietistische Strömungen, Privatisierungstendenzen und Ausweichen in die Eigengesetzlichkeit ablehnt. Er stellt einen Konsens der Anerkennung dar: 1. im Naturrecht als einzige Möglichkeit der Rechtsfindung vor allem in der pluralen Gesellschaft und für den Ausbau der internationalen Beziehungen; 2. im Streben des Naturrechts nach immer mehr und immer besserer Gerechtigkeit 3.  wird das „unbestreitbare Wahrheitsmoment“ des Naturrechtes anerkannt, daß das Recht nicht geschaffen, sondern gefunden wird; 4.  wird bejaht, daß es wirkliches Recht und tatsächliche Gerechtigkeit auch außerhalb der Kirche und der biblischen Offenbarung gibt, womit 5.  eine Rehabilitation der menschlichen Vernunft verbunden ist. In seiner Grundsituation wird Situationsbezogenheit des Naturrechtes betont, was ihm eine gewisse Starre und übertriebene Gesetzlichkeit nehmen soll. Es wird weniger auf Geschlossenheit und Vollständigkeit im Sinne von Lückenlosigkeit Bedacht genommen, sondern mehr die Rahmenkonzeption des Naturrechtes betont. Das Naturrecht wird als vorläufiges und begrenztes Recht gesehen. Herr schreibt: „Es hat eine vorläufige, auf die Jetztzeit bezogene Aufgabe und eine begrenzte irdische Möglichkeit. Weil es Naturordnung ist und nicht Erlösungs- oder Heilsordnung, gibt es auch keine approximative Annäherung an die absolute Gerechtigkeit, keine stufenweise evolutistische Perfektionierung.“133 Es kann allgemein anerkannt werden, daß die evangelische und katholische Soziallehre und Naturrechts129  Hans Dombois, Naturrecht und christliche Existenz, Kassel 1952; derselbe, Der gegenwärtige Stand der evangelischen Staatslehre, in: Spannungsfelder der evangelischen Soziallehre, hrsg. von Friedrich Karrenberg und Wolfgang Schweitzer, Hamburg 1960, S. 129 ff.; Macht und Recht, Beiträge zur Lutherischen Staatslehre der Gegenwart, hrsg. von Hans Dombois und Erwin Wilkens, Berlin 1956; sowie derselbe, Zur Geschichtlichkeit des Rechts, ZEvE. 7. Jg. 1963, S. 316 ff. 130  Hans Walzl, Der politische Auftrag des Protestantismus in Europa, Tübingen 1955; derselbe, Das protestantische Wagnis, Stuttgart 1958; Gerechtigkeit in biblischer Sicht, hrsg. von Hans Walzl und Heinz Schrey, Zürich / Frankfurt 1955. 131  Dazu besonders Herr, a. a. O., S. 126 ff. 132  Herr, a. a. O., S.  216 ff. 133  Herr, a. a. O., S.  219.

280

Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute

lehre in den praktischen Entscheidungen beieinanderliegen können, während die theologischen Begründungen erheblich voneinander abweichen. IV. Bedenken gegen das Naturrecht Betrachtet man das Naturrecht, wie es heute in der Diskussion steht, so müssen mehrere Tatsachen hervorgehoben werden. Zunächst muß betont werden, daß das Naturrecht nur Grundsätze, aber keine Detailprogramme angeben kann. Wie Ernst-Wolfgang Böckenförde bereits erklärt hat, erlauben die naturrechtlichen Prinzipien „ihrer Art nach schlußfolgernde Ableitungen nicht für alle Bereiche politischen Handelns, sondern nur für diejenigen, wo ein unmittelbarer ethisch-sittlicher Bezug in Frage steht. Das sind in erster Linie die ‚personennahen‘ Bereich des individuellen Lebensrechtes, von Ehe und Familie, Erziehung und Schule, religiöser Betätigung, aber schon nicht mehr der notwendig vielfach vermittelte, in historisch gewordenen Institutionen und Formen sich verwirklichenden Bereich der politischen Ordnung. Diejenigen Bereiche, deren ethisch-sittlicher Bezug vermittelt ist, wie eben der gesamte Bereich der Organisation der politischen Freiheit (Staats- und Regierungsform), die Art der Wirtschaftsordnung, weite Bereich der Sozial-, Gesellschafts- und Bildungspolitik, schließlich die eigentliche Innen- und die gesamte Außenpolitik fallen aus dieser naturrechtlichen Determinierbarkeit weitgehend oder ganz heraus.“134 Wer diese Grenzziehung der Naturrechtsrelevanz beachtet, muß aber dem noch hinzufügen, daß immer auch die Mehrdeutigkeit des Naturrechtsbegriffes zu beachten ist. Franz Wieacker hat schon 1964 in seinem Vortrag zum heutigen Stand der Naturrechtsdiskussion betont: „Es wäre daher zu wünschen, daß bei jeder verantwortlichen Aussprache über das Naturrecht oder andere überpositive Instanzen zuvor mit aller Deutlichkeit deklariert werde, welche der verschiedenen Fassungen des Naturrechts hier ins Spiel gebracht wird“135; dabei wird nach verschiedenen erkenntnistheoretischen Positionen zwischen verschiedenen einzelnen Naturrechtslehren, sie sich um die Naturrechtsidee bemühen, zu unterscheiden sein136.

134  Ernst-Wolfgang Böckenförde, Kirchliches Naturrecht und politisches Handeln, in: Naturrecht in der Kritik, S. 99 ff. 135  Franz Wieacker, Zum heutigen Stand der Naturrechtsdiskussion, Köln  / Opladen 1965, S. 15. 136  Dazu Herbert Schambeck, Idee und Lehren des Naturrechts, in: Naturordnung, S. 437 ff. und Verdross, Statisches und dynamisches Naturrecht, S. 11 ff.



Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute281

V. Ergebnisse der Naturrechtsdiskussion Ungeachtet dieser Bedenken bezüglich der Naturrechtsdiskussion kann heute als Ergebnis anerkannt werden, daß diese Renaissance des Naturrechtsdenkens zu einer weitgehenden Anerkennung der Grundrechte im privaten und öffentlichen Leben geführt hat, was eine Humanisierung des Rechts und der Politik mehr oder weniger folgerte. Dies zeigt die weitgehende Anerkennung der Menschenrechte und die auch im internationalen Leben immer deutlicher werdende Proklamation von Grundrechten, die nicht allein wie früher in ihrer klassischen Prägung auf ein Unterlassen, sondern auch auf ein Tun des Staates gerichtet sind. Neben die liberalen und demokratischen Grundrechte sind auf diese Weise die sozialen Grundrechte137 getreten, die von der erlebbaren Notwendigkeit von auf den Umweltschutz gerichteten existentiellen Grundrechten138 begleitet werden. Daneben tritt neben die Einsicht in die Natur des Menschen auch die in die Natur der Realfaktoren der Gesetze; immer mehr stellt sich die „Natur der Sache“139 als Ordnungsaufgabe und wächst die Einsicht in die Rechts­ idee und ihre Erscheinungsformen, wie die Gerechtigkeit im formellen und materiellen Sinn, die Rechtssicherheit, die Rangordnung der Werte und die übereinstimmend anerkannten Rechtsgrundsätze, sowie in die Problematik ihrer Harmonie140. Treffend hat Hans Schelauske erkannt: „Die Naturrechtslehre, welche die Individualität der Lebensverhältnisse ja neu in ihr Denken einzubeziehen hat, kann dabei an den Ergebnissen, welche die Erforschungen der ‚Natur der Sache‘ zutage fördert, nicht vorübergehen und hat stets auch die Frage nach der Wesensart eines Sachbestandes zu stellen“141, und Helmut Coing stellt in seinem Frankfurter Vortrag über das „Naturrecht als wissenschaftliches Problem“ fest: „Zunächst zeigt sich, daß es in der Tat natürliche und 137  Dazu allgemein Frans van der Ven, Soziale Grundrechte, Köln 1963 und Herbert Schambeck, Grundrechte und Sozialordnung. Berlin 1969. 138  Beachte Herbert Schambeck, Umweltschutz und Rechtsordnung, ÖJZ 1972, S. 617 ff. und Werner Weber, Umweltschutz im Verfassungs- und Verwaltungsrecht, DVBl. 1971, S. 806 ff.; weiters Gerhard Konow, Rechtliche Möglichkeiten und ihre politische Probleme des Umweltschutzes, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ 1971, S. 3 ff.; Karl Korinek, Verfassungsrechtliche Probleme des Umweltschutzes im Bundesstaat, Wirtschaftspolitische Blätter 1971, S. 72 ff. und Norbert Wimmer, System des österreichischen Umweltschutzrechtes in: Beiträge zum Umweltschutz 1972–74, Wien 1975, S. 79  ff., beachte auch die Literaturübersicht, S.  173 ff. 139  Siehe besonders Die ontologische Begründung des Rechts, hrsg. von Werner Maihofer, Darmstadt 1965. 140  Näher Herbert Schambeck, Ordnung und Geltung, ÖZöR 1961, S. 470 ff. 141  Schelauske, a. a. O., S.  356.

282

Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute

soziale Zusammenhänge gibt, die die Rechtsordnung, die der Gesetzgeber nicht übersehen kann, die er vielmehr – jedenfalls wenn die Rechtsordnung sinnvoll sein soll – beachten muß.“142 Auf diese Weise hat ein neues Streben nach den unbedingten und elementaren Rechtswerten eingesetzt; was dringend notwendig war. In diesem Sinne bemerkte schon Hermann Weinkauff in seinen Gedanken über „Richtertum und Rechtsfindung in Deutschland“: „Was dem deutschen Rechtsbetrieb dagegen handgreiflich fehlt, ist das lebendige innerliche Bewegtsein von der Idee des Rechts, der besonnene und doch leidenschaftliche Glaube an bestimmte letzte, unbezweifelte, alle bindende, innerlich frei bejahte, fundamentale Sätze des Rechts, von denen her erst der ganze unendlich verzweigte Bau der positiven Rechtsordnung Sinn und Halt erfährt und über die alles Volk, Gesetzgeber und Richter einig sind … Ich glaube, daß es möglich ist, eine nicht sehr große Zahl grundlegender, klarer und schlechthin verbindlicher Rechtssätze aufzufinden, die sich aus der Personhaftigkeit des Menschen und aus gewissen fundamentalen Ordnungsprinzipien des gesellschaftlichen Lebens ergeben.“143 VI. Naturrecht und Werteordnung Derartige Erklärungen über das Naturrecht lassen deutlich seine heutige Bedeutung erkennen. Sie liegt vor allem darin, daß in einer Zeit, in welcher mit Demokratisierung des öffentlichen Lebens die Pluralität zwischen- und innerstaatlichen Beziehungen und der Wertmaßstäbe zunimmt, eine gemeinsame, von allen erkenn- und anerkennbare Werteordnung von Bedeutung ist. Auf diese Weise kann das Naturrecht eine Integrationswirkung erzeugen. Diese Bedeutung des Naturrechtes ist gerade in einer Zeit von Wichtigkeit, die sich auch um eine Humanisierung des Lebens durch vermehrte Anerkennung der Grundrechte im staatlichen und privaten Bereich bemüht und sich in der Staatszielsetzung den Aufgaben des Sozialstaates, der dabei auch Rechtsstaat sein soll, verpflichtet fühlt. Das Menschenbild und damit bewußt oder unbewußt das Naturrechtsdenken werden hier für die Rechtsentwicklung von Entscheidung sein, denn eine soziale Ordnung ist ohne Wertungen gar nicht möglich. Dabei wird mit der Entwicklung der sozialen Ordnung auch das Naturrecht weiterzuentwickeln sein, denn die „Allgemeingültigkeit“ sittlicher Normen besagt bei genauer Analyse ein „Im-allgemeinen-gültig-Sein“, d. h. die Normen sind gültig, soweit sie die notwendigen Bedingungen umfassend und zutreffend berücksichtigen. Dies stellte 142  Helmut

S. 16.

Coing, Naturrecht als wissenschaftliches Problem, Wiesbaden 1966,

143  Weinkauff,

a. a. O., S.  30 f.



Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute283

schon Franz Böckle fest144 und fügte dem hinzu: „Sittliche Vernunft erklärt keine Verabsolutierung normativer Aussagen.“145 Mit der Entwicklung des Seins erfolgt daher auch eine Fortentwicklung der Möglichkeiten des Allgemein-gültig-Seienden und so auch der Naturrechtsbezüge. Dabei wird ein Rekurs auf die Natur, d. h. auf den Bedingungsspielraum anthropologischen Seins nicht nur nach wie vor angezeigt sein, sondern heute unter viel besseren humanwissenschaftlichen Bedingungen möglich sein. Auf diese Weise hat die Naturrechtsdiskussion heute, wenn auch von verschiedenen Ausgangspositionen kommend, mehr oder weniger übereinstimmende Ergebnisse gezeigt: „Es gibt in der geschichtlichen Entwicklung des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses durchaus fortschreitende Einsichten, hinter die der Mensch nicht mehr zurück kann, wenn er sein Leben vernünftig human gestalten soll. Man denke etwa an die Deklaration der Menschenrechte. So wird die mit dem geschichtlichen Wandel bedingte Diskontinuität ethischer Normen von dem Kontinuum eines unumkehrbaren Erkenntnisprozesses durchgetragen.“146 Aus derartigen nachprüfbaren Feststellungen kann bei anfälliger Diskussion über die Bezeichnung Naturrecht die Anerkennung ihres Inhaltes festgestellt werden. Helmut Coing hat in diesem Sinn bereits geschrieben: „Hiernach könnte man die Frage nach dem Naturrecht dahin beantworten, daß es sich im diejenigen Regeln für die soziale Ordnung handelt, die sich unmittelbar aus dem Zusammenspiel von bestimmten ethischen Begriffen oder Inhalten mit den Gelegenheiten der Daten der Gesetzgebung, mit der ‚Natur der Sache‘ als Strukturen der Gerechtigkeit ergeben.“147 So erkennen wir das Naturrecht immer mehr als jene sozialen Normen, die dem positiven Recht vorgegeben sind und mit dem natürlichen Licht der Vernunft erschlossen werden können. Da der Mensch von Natur aus ein in der Geschichte sich entfaltendes Kulturwesen ist, meinte sogar Alfred Verdross, es schiene vielleicht besser, die Bezeichnung „Naturrecht“ durch „Kulturrecht“ zu ersetzen148. Welche Bezeichnung man immer dieser natürlichen Ordnung geben mag, sie wird ihren präpositiven, das positive Recht prüfenden, messenden, beurteilenden, nötigenfalls ergänzenden und allenfalls abändernden Charakter nur dann entfalten können, wenn den Organen der Rechtssetzung und Rechtsvollziehung wie den einzelnen Normadressaten neben der entsprechenden Rechtskenntnis auch das entsprechende Rechts144  Franz Böckle, Wiederkehr oder Ende des Naturrechtes, in: Naturrecht in der Kritik, S. 307. 145  Böckle, a. a. O., S.  306. 146  Böckle, a. a. O., S.  310 f. 147  Coing, a. a. O., S.  27. 148  Verdross, a. a. O., S.  9.

284

Der Stand der Naturrechtsdiskussion heute

gewissen eignet. So lassen Sie mich Gedanken über den Stand der Naturrechtsdiskussion heute mit der Forderung schließen, es möge der institutionalisierte Rechtsschutz durch eine praktische Rechtserziehung ergänzt werden und es der Einzelne lernen, sich über sein Gesetzeswissen ein Rechtsgewissen zu machen.

Naturrecht in Zeitverantwortung* „Die Problematik der Rolle vom Naturrecht in der Verfassungsordnung bildet immer einen Beitrag zur Diskussion darüber, ob der Staat und seine Organe diese Werte tatsächlich respektieren, die noch einen primären und unveräußerlichen Charakter aufweisen“. Diese Feststellung trafen Staatsrechtslehrer einer Nation, die im vergangenen Jahrhundert wie kaum eine andere autoritäre und totalitäre Regime zu erleiden sowie in deren Folge Unmenschlichkeiten erfahren hat, nämlich der polnischen Nation und zwar Boguslaw Banaszak und Mariusz Jablonski.1 Sie stellten fest: „Besonders sichtbar wird es in der Zeit des Systemwechselns und der ihn begleitenden kritischen Beurteilung der bisherigen Lösungen, die die typisch positivistischen Konstruktion von Mechanismen der Macht charak­ terisieren.2 Die historischen Erfahrungen zeugen nämlich davon, dass man schon immer nach solch einer Formel der Staatsfunktionierung sucht, die gebührenden Respekt für die Rechte eines jeden Menschen sichern würde.“3 Diese Feststellungen polnischer Staatsrechtslehrer sind aus der Erfahrung und dem Erleben politischer Wende, nämlich nach dem Kommunismus und dem System der Volksdemokratien sowie der Entwicklung zur demokratischen Verfassungsstaatlichkeit, erklärlich. Diese Feststellungen gelten über Polen hinaus für die postkommunistischen Staaten überhaupt, aber auch für alle Staaten, welche nicht im Rechtspositivismus verharren, nämlich das positive Recht nicht absolut setzen, sondern die Beurteilung der dem Stufenbau der Rechtsordnung4 angepassten Rechtssatzformen mit der Rechtsinhaltsbetrachtung verbinden. Nach der Erfahrung der Antinomien im Staatsrecht des Westens und des *  Erschienen in: Mensch und Naturrecht in Evolution, hrsg. von Werner Freistetter und Rudolf Weiler, Wien / Graz 2008, S. 115 ff. 1  Boguslaw Banaszak / Mariusz Jablonski, Das Naturrecht in der Polnischen Verfassung vom 2. April 1997, in: Die Wiederkehr des Naturrechts und die Neuevangelisierung Europas, hrsg. von Rudolf Weiler, Wien 2005, S. 220. 2  Vgl. Z. Hangartner, Grundzüge des schweizerischen Staatsrechts, Band I, Zürich 1980, S. 31. 3  Boguslaw Banaszak / Mariusz Jablonski, a. a. O. 4  Adolf Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien und Berlin 1927, Neudruck Darmstadt 1969, S. 157 ff.

286

Naturrecht in Zeitverantwortung

Ostens5 hat ein neues, nämlich kritisches Denken bezüglich Recht und Staat Platz gegriffen, es bemüht sich um Maßstäbe für die Setzung und Vollziehung des positiven Rechts, die von allgemeiner Gültigkeit sein sollten. Banaszak-Jablonksi haben nach ihrer Politik- und Rechtserfahrung schon darauf verwiesen: „Das Streben nach solchen dauerhaften und unveränderlichen Garantien ist unzertrennlich damit verbunden, dass man sich auf diese Werte beruft, die mit der Natur vom menschlichen Wesen gleichgesetzt werden. Diese soll nämlich die beständigen Grenzen von dem bestimmen, was die selbst demokratisch legitimierte Hoheit tun darf.“6 Diesen präpositiven Bezug des positiven Rechts hob schon einer der Mitbegründer der späteren Wiener Rechtstheoretischen Schule7, Adolf J. Merkl, in seiner ersten Abhandlung, nämlich der Besprechung des Buches von Erich Jung „Das Problem des natürlichen Rechts“, 1914 hervor; er gelangte „zur grundsätzlichen Feststellung der Berechtigung und Notwendigkeit beider Erscheinungsformen des Rechts“ und schrieb dem natürlichen Recht die „Mission“ zu, „ständiges ‚Regulationsprinzip des positiven Rechts‘ zu sein.“8 In der Folge, nämlich 1918, unterstrich Merkl in seiner berühmt gewordenen Abhandlung „Das doppelte Rechtsantlitz. Eine Betrachtung aus der Erkenntnistheorie des Rechts“: „Eine Art naturrechtliche Wurzel fehlt keiner wie immer konstruierten Rechtsordnung. Auch hat wohl jeder positive Rechtssatz einmal das Stadium naturrechtlicher Normativität passiert; der 5  Siehe dazu Herbert Schambeck, Von der Last der Freiheit im Staatsrecht des Westens und des Ostens, in: Die Freiheit des Westens, Wesen, Wirklichkeit, Widerstände, hrsg. von Otto B: Roegele, Graz / Wien / Köln 1967, S. 483 ff. 6  Banaszak / Jablonski, a. a. O. 7  Siehe Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Schriften von Hans Kelsen / Adolf Merkl / Alfred Verdross, hrsg. von Hans Klecatsky / René Marcic / Herbert Schambeck, Wien / Frankfurt / Zürich / Salzburg / München 1968. 8  Adolf J. Merkl, Buchbesprechung von Erich Jung, Das Problem des natürlichen Rechts, Zeitschrift für öffentliches Recgrt, 1. Jg., 1914, S. 578; siehe dazu Herbert Schambeck, Leben und Wirken von Adolf Julius Merkl, Schriftenreihe Niederösterreichische Juristische Gesellschaft, Heft 55, Wien 1990, S. 21 ff.; derselbe, Ethik und Demokratie bei Adolf Merkl, in: Adolf J. Merkl Werk und Wirksamkeit, Ergebnisse eines internationalen Symposiums in Wien (22.–23. März 1990), Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Band 14, Wien 1990, S. 267 ff. und derselbe, Adolf Merkl und die Wiener Rechtstheoretische Schule, in: Staatsrecht und Staatswissenschaften in Zeiten des Wandels, Festschrift für Ludwig Adamovich zum 60. Geburtstag, hrsg. von Bernd-Christian Funk / Hans R. Klecatsky / Edwin Loebenstein / Wolfgang Mantl / Kurt Ringhofer, Wien / New York 1992, S. 621 ff., Neudruck in: derselbe, Der Staat und seine Ordnung, ausgewählte Beiträge zur Staatslehre und zum Staatsrecht, hrsg. von Johannes Hengstschläger, Wien 2002, S. 871 ff.



Naturrecht in Zeitverantwortung287

Vorwurf der ‚Naturrechtlerei‘ ist dort nicht am Platze, wo erst die Grundsteine des Rechtsgebäudes gelegt werden sollen.“9 I. Grundsteine für Rechtsgebäude Grundsteine für Rechtsgebäude werden besonders bei Staatsgründungen und nach politischen Umwälzungen gesetzt, solche waren nach dem 2. Weltkrieg vor sechzig Jahren gegeben. Papst Benedikt XVI.10 hat in seiner Botschaft zum Weltfriedenstag am 1. Januar 2008 besonders auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrecht 1948 durch die UNO verwiesen und betonte: „Mit diesem Dokument reagierte die Menschheitsfamilie auf die Schrecken des Zweiten Weltkriegs, in dem sie ihre auf der gleichen Würde aller Menschen beruhende Einheit anerkannte und ins Zentrum des menschlichen Zusammenlebens die Achtung der Grundrechte der Einzelnen und der Völker stellte: Das war ein entscheidender Schritt auf dem schwierigen und anspruchsvollen Weg zu Eintracht und Frieden“!11 Auf europäischer Ebene folgte 1950 die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten mit ihren elf Zusatzprotokollen, 1961 die Europäische Sozialcharta und 2000 die Grundrechtecharta der Europäischen Union12, die mit dem Vertrag von Lissabon 2007 ihre endgültige positivrechtliche Verankerung fand. Auf innerstaatlicher Ebene war sicher 1949 das Bonner Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die Wegweisung für eine neue Prägung demokratischer Verfassungsstaatlichkeit in Europa, nämlich eine solche, die den präpositiven Bezug des Staatsrechtes und Möglichkeiten sowie Grenzen demokratischer Staatswillensbildung betont. Am Beginn dieser Verfassung steht die Präambel mit der Invocatio Dei: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott …“ und es folgten bereits mit I. Die Grundrechte. Dieser Katalog der Grundrechte beginnt im Art. 1 mit dem Schutz der Menschenwürde: (1) „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, diese erhält dadurch den höchsten Schutz, dass nach Art. 79 (3) GG eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die 9  Adolf Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz – eine Betrachtung aus der Erkenntnistheorie des Rechts, Sonderabdruck aus „Juristische Blätter“, Wien 1918, S. 29, Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Band 1, S. 1112. 10  Papst Benedikt XVI., Die Menschheitsfamilie, eine Gemeinschaft des Friedens, L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 21. Dezember 2007, Nr.  51 / 52, S.  15. 11  Papst Benedikt XVI., a. a. O. 12  Dazu näher Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen GrundrechteCharta, hrsg. von Peter J. Tettinger und Klaus Stern, München 2006.

288

Naturrecht in Zeitverantwortung

grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, … unzulässig“ ist, das heißt, dass unter Wahrung der Rechtskontinuität der Grundsatz der Menschenwürde nicht verändert, also aufgehoben oder verletzt werden darf. Der Grundsatz der Menschenwürde zählt somit zu den absolut starren Bestimmungen des deutschen Staatsrechts und drückt damit auch einen präpositiven Bezug aus, dem ein entsprechendes Menschenbild zugrunde liegt. Das Bonner Grundgesetz ist mit diesem präpositiven Bezug, der auch eine Naturrechtsbezogenheit13 beinhaltet, beispielgebend und wegweisend, besonders für die postkommunistischen Verfassungen geworden14. Da Österreich in Folge des Rechtspositivismus Hans Kelsens15, auf den der Entwurf des Bundes-Verfassungsgesetzes Österreichs 192016 zurück geht, mehr eine Rechtswegeverfassung ohne ausdrückliche Wertbezüge beinhaltet, ist die österreichische Staatsrechtsordnung nicht so sehr für diese Verfassungsentwicklung ausschlaggebend. Eine Ausnahme bildet die Verfassungsgerichtsbarkeit mit ihrer Normenkontrolle17; diese wurde entsprechend der Lehre Adolf Merkls18 vom Stufenbau der Rechtsordnung von Hans Kelsen in sein System der Normenkontrolle im Rahmen der Kompetenzen des Verfassungsgerichtshofes übernommen und später Teil vieler demokratischer Verfassungsstaatssyste13  Beachte Gebhard Müller, Naturrecht und Grundgesetz, Zur Rechtsprechung der Gerichte, besonders des Bundesverfassungerichts, Würzburg 1967. 14  Siehe Herbert Schambeck, Politik und Verfassungsordnung postkommunistischer Staaten Mittel- und Osteuropas, in: derselbe, Zu Politik und Recht, Ansprachen, Reden, Vorlesungen und Vorträge, hrsg. von den Präsidenten des Nationalrates und den Präsidenten des Bundesrates in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Parlamentarischen Gesellschaft, Wien 1999, S. 121 ff., bes. S. 125 ff. sowie Die Verfassungen Mittel- und Osteuropas, hrsg. von Herwig Roggemann, Berlin 1999 und Georg Brunner, Transformation in Mittel- und Osteuropa, hrsg. von Otto Luchterhand und Angelika Nußberger, Krakow 2006, bes. S. 93 ff. 15  Beachte Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, Leipzig und Wien 1934, 2. Aufl. mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, Wien 1960 sowie Ernst C. Hellbling, Österreichische Verfassungsfragen im Lichte der Reinen Rechtslehre, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Neue Folge, Band XI, Heft 3–4, S. 346 ff. und Herbert Schambeck, Möglichkeiten und Grenzen der Rechtslehre Hans Kelsens, Juristische Blätter 1984, Jg. 106, Heft 5 / 6, S. 126 ff., Neudruck in: Der Staat und seine Ordnung, S. 765 ff. 16  Siehe Georg Schmitz, Die Vorentwürfe Hans Kelsens für die österreichische Bundesverfassung, Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Band 6, Wien 1981 und Die österreichische Bundesverfassung und Hans Kelsen, Analysen und Materialen zum 100. Geburtstag von Hans Kelsen, hrsg. von Felix Ermacora unter Mitarbeit von Christiane Wirth, Wien 1982. 17  Siehe Karl Korinek, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktion, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 39, Berlin / New York / 1981, S.  8 ff., bes. S.  22 ff. 18  Beachte Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 172 f.



Naturrecht in Zeitverantwortung289

me. In ihrer Gesamtkonzeption war aber das deutsche Grundgesetz für die Verfassungsrechtsentwicklung in Europa mitbestimmend und folgte damit dem, was die Entwicklung der Verfassung der USA19, beginnend mit der Einteilung in Frame of government als Staatsorganisationsrecht und bill or de­ claration of rights als Grundrechtsbestimmungen für den weiteren Weg der Verfassungen der Staaten gewiesen hat. Donald P. Kommers hat es bereits unterstrichen, dass „in den letzten Jahrzehnten das deutsche Grundgesetz die amerikanische Verfassung als das Referenzmodell für einen demokratischen Verfassungsstaat abgelöst“20 hat. In seinen Betrachtungen über die „Ausstrahlungswirkung des Grundgesetzes auf ausländische Verfassungen“ hat sich dem mit nuanzierter Bescheidenheit Klaus Stern angeschlossen und bemerkt: „Verfassungsrechtliche Rezeptionen sind meist keine bloßen Übernahmen, sondern weitgehend schöpferische Auswertungen und Weiterbildungen der sich im Grundgesetz und in anderen europäischen Verfassungsordnungen widerspiegelnden Erfahrungen und Errungenschaften.“21 II. Die Entwicklung der demokratischen Verfassungsstaatlichkeit In dieser Entwicklung der demokratischen Verfassungsstaatlichkeit zeigen sich kennzeichnend vor allem das demokratische Wahlrecht, die Grundrechte, die Verfassungsgebundenheit des Staatshandelns, das parlamentarische Regierungssystem, die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit, die Weisungsgebundenheit der Verwaltung, die Rechnungs- und Gebarungskontrolle und die Amtshaftung22. Liberalismus und Demokratismus waren am Beginn dieser Entwicklung zu diesem System bereits ansatzweise im 19. Jahrhundert eine Symbiose eingegangen23. In Österreich zeigte sich dies bereits 1867 mit der sogenannten Dezemberverfassung mit ihren fünf Staatsgrund19  Siehe Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, hrsg. von Herbert Schambeck, Helmut Widder und Marcus Bergmann, 2. Aufl., Berlin 2007, S.  166 ff. 20  Donald P. Kommers, Kann das deutsche Verfassungsrechtsdenken Vorbild für die Vereinigten Staaten sein? Der Staat Bd. 37, 1988, S. 336. 21  Klaus Stern, Ausstrahlungswirkung des Grundgesetzes auf ausländische Verfassungen, in: Bewährung und Herausforderung. Die Verfassung vor der Zukunft, Dokumentation zum Verfassungskongress 50 Jahre Grundgesetz / 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, hrsg. vom Bundesministerium für Inneres, 1999, S. 250. 22  Beachte in: Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1980, derselbe, Die Demokratie, S. 149 ff., Edwin Loebensetein, Der Rechtsstaat, S. 253 ff. und Karl Korinek/Brigitte Gutknecht, Der Grundrechtsschutz, S. 291 ff. 23  Dazu Adolf Merkl, Idee und Gestalt der politischen Freiheit, in: Demokratie und Rechtsstaat, Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, S. 163 ff., Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Band 1, S. 631 ff.

290

Naturrecht in Zeitverantwortung

gesetzen24, nämlich für jede der drei Staatsfunktionen, für die Grundrechte sowie für die Einsetzung des Reichsgerichtes, mit dem die Verfassungsgerichtsbarkeit grundgelegt wurde, je ein Staatsgrundgesetz.25 Diese Dezemberverfassung 1867 war von Kaiser Franz Josef I., einem damals noch absolutistisch denkenden Monarchen, zu einer Zeit erlassen worden, als es noch keine demokratisch gewählte Volksvertretung und auch keine parlamentarisch legitimierte Regierung gab. Politische Parteien waren erst im Werden, wie Klaus Bertold bereits feststellte, „verdanken“ sie „ihre Entstehung neben anderen Faktoren in erster Linie dem Aufkommen des Parlamentarismus.“26 Diese Dezemberverfassung 1867 wurde in der Folge die Grundlage für das System der späteren demokratischen Verfassungsstaatlichkeit in Österreich und wurde nach Ausrufung der Republik 1918 angepasst der neuen Staatsform in das Staatsrecht dieses Neustaats übernommen und später weiterentwickelt.27 Hans Kelsen selbst hat bereits 1923 in seinem Buch „Österreichisches Staatsrecht, ein Grundriss entwicklungsgeschichtlich dargestellt“ darauf hingewiesen: „Wenn der Verfassung des vorrepublikanischen Österreich ein verhältnismäßig breiter Raum gewidmet wurde, so geschah dies nicht nur deshalb, weil eine Kenntnis dieser Verfassungsperiode oder richtiger: der Verfassung dieses Staates, für ein Studium des Staatsrechtes der Republik Österreich schon aus Gründen rechtshistorischer Bildung unerlässlich ist, sondern insbesondere darum, weil sehr bedeutende Verfassungsinstitutionen der österreichischen Monarchie in die Republik hineinragen und weil diese auch dort, wo sie für ihre neuen Verhältnisse neue Einrichtungen schuf, sich oft bewusst an analoge Rechtsgebilde des alten Österreich anlehnte!“28 Da sich die politischen Parteien in der konstituierenden Nationalversammlung auf keinen eigenen Grundrechtskatalog einigten, wurde eines der fünf Staatsgrundgesetze, nämlich das über die allgemeinen Recht der Staatsbürger29 durch Art. 149 B-VG aus dem Staatsrecht der Monarchie in das Verfassungsrecht der Republik Österreich rezipiert. So gelten daher auch 24  Siehe Die österreichischen Verfassungsgesetze, hrsg. von Edmund Bernatzik, 2. Aufl., Wien 1911, S. 390 ff. 25  Näher Herbert Schambeck, Der Verfassungsbegriff und die Dezemberverfassung 1867, in: Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik, Festschrift für Hermann Eichler, hrsg. von Ursula Floßmann, Wien / New York 1977, S. 549 ff., bes. S. 553 ff. 26  Österreichische Parteiprogramme 1868–1966, eingeleitet und herausgegeben von Klaus Berchtold, Wien 1967, S. 11. 27  Beachte Ludwig K. Adamovich, Bernd Christian Funk, Gerhart Holzinger, Österreichisches Staatsrecht, Band 1: Grundlagen, Wien / New York 1997, S. 71 ff. 28  Hans Kelsen, Österreichisches Staatsrecht, ein Grundriß entwicklungsgeschichtlich dargestellt, Tübingen 1923, S. V. 29  RGBl. Nr.  142 / 1867.



Naturrecht in Zeitverantwortung291

heute nach mehr als hundertvierzig Jahren diese im 19. Jahrhundert erlassenen Grundrechte noch auch im 21. Jahrhundert, zu denen später noch andere Grundrechte hinzugetreten sind. Diese klassischen, nämlich liberalen und demokratischen Grundrechte ergänzen das mehr wertneutrale österreichische Verfassungssystem des B-VG. Dieses B-VG hat, was schon vom Verfasser öfters betont wurde30, nur jene Begriffe und Prinzipien, die neu in die österreichische Staatsrechtsordnung aufgenommen wurden, expressis verbis ausgedrückt, wie z. B. die Staatsform der Republik im Art. 1 und den Staatsaufbau als Bundesstaat im Art. 2 B-VG, nicht aber den Begriff des Grundrechts, der unterschiedslos in dem Begriff der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte im Art. 144 B-VG aufgeht, oder nicht den Begriff Rechts- und Gesetzesstaates sowie nicht den der Freiheit und Würde des Menschen.31 Sie wurden wertneutral vorausgesetzt; gleiches gilt für die Demokratie32, die nur in eigenschaftswörtlicher Form bei der Angabe der Staatsform der Republik angeführt wird. Anders das Grundgesetz Deutschlands, das u. a., wie bereits erwähnt, die Grundrecht als Überschrift des Kapitel I, die Würde des Menschen im Art. 1 (1), den demokratischen und sozialen Bundesstaat im Art. 20 (1) nennt. Dieser Wertneutralismus des österreichischen Verfassungsrechts zeigt sich im Unterschied z. B. zum deutschen Staatsrecht auch darin, dass im deutschen Verfassungsrecht eine Identität von Verfassung im formellen und materiellen Sinn gegeben ist, was übrigens auch bei der Dezemberverfassung 1867 gegeben war und dem Bonner Grundgesetz ein Inkorporationsgebot eignet (Art. 79 (1) GG.), dem österreichischen B-VG nicht. Es kann daher neben dem B-VG 1920 ohne Ausnahmen in demselben entweder in einem eigenen BVG, in einer Verfassungsbestimmung in einem einfachen Gesetz oder in einem verfassungsändernden Staatsvertrag Verfassungsrecht beschlossen werden. Ein Indifferentismus besteht aber in Österreich nicht allein betreffend die Form, sondern auch betreffend den Inhalt des Verfassungsrechts. Es kann nämlich jeder Rechtssatz Verfassungsrang unabhängig von seinem Inhalt erlangen. Das ist in Österreich meist der Fall, um nach einer politischen Entscheidung, die in einem Rechtssatz normativen Charakter annahm, diese nicht durch den Verfassungsgerichtshof auf ihre Verfassungsmäßigkeit über30  So u. a. Herbert Schambeck, Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsinterpretation in Österreich, Juristische Blätter, 102. Jg., Heft 9 / 10 / 1980, S. 225 ff., bes. S. 230 ff., Neudruck in: Der Staat und seine Ordnung, S. 73 ff., bes. S. 83 ff. 31  Siehe Walter Berka, Lehrbuch Verfassungsrecht, Grundzüge des österreichischen Verfassungsrechts für das juristische Studium, Wien / New York 2005, S. 369. 32  Dazu Herbert Schambeck, Die Demokratie, in: Das österreichische BundesVerfassungsgesetz und seine Entwicklung, S. 149 ff.

292

Naturrecht in Zeitverantwortung

prüfen zu lassen. Das Verfassungsrecht erweist sich somit, wie es schon Adolf Merkl oft sagte, als kodifizierte Politik und wird so der Politik zur Disposition gestellt. Grundfragen des menschlichen Seins, wie der Schutz des Lebens, beginnend mit der Zeugung des Ungeborenen, werden ebenso nicht beantwortet, wie die nach dem Charakter der Ehe!33 Hingegen können Bestimmungen, die nicht zur politischen Grundordnung des Staates, wie es die Ausübung der Staatsgewalt in den drei Staatsfunktionen Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung sowie die Grundrechte und die Angabe der Ziele bzw. Zwecke des Staates sind, Verfassungsrang erhalten, wenn dies eine politische Entscheidung auf dem Kompromissweg verlangt.34 III. Verantwortung in der Politik Nicht von der Politik und nicht vom positiven Recht, auch nicht vom Staatsrecht kommend, sondern vielmehr mit Blick auf die Situation des privaten und politischen Lebens hat die Situation des Menschen bezogen auf die demokratische Staatswillensbildung der Dekan des Kardinalkollegiums Joseph Kardinal Ratzinger als Seelsorger erkannt, als er vor seiner Wahl zum Nachfolger Petri am 18. April 2005 in seiner Predigt während der Heiligen Messe „Pro eligendo Romano Pontifice“ von der „Diktatur des Relativismus“35 sprach, „die nichts als endgültig anerkannt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt“.36 Er sprach im Zusammenhang mit diesen Relativismus von einem „vom Windsstoß irgendeiner Lehrmeinung hin- und hertreiben lassen“ und erkennt in der Politik den Einfluss der Pluralität der Meinungen und bemerkt: „Wie viele Glaubensmeinungen haben wir in den letzten Jahrzehnten kennen gelernt, wie viele ideologische Strömungen, wie viele Denkweisen … Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken gebracht worden: vom Marxismus zum Liberalismus bis hin zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum radikalen Individualismus; vom Atheismus zu einem religiösen Mystizismus; vom Agnostizismus zum Synkretismus und so weiter. Jeden Tag entstehen neue Sekten …“.37 33  Beachte Herbert Schambeck, Familie und öffentliches Recht, Österreichische Juristenzeitung 1994, 49 Jg., Heft 12, S. 401 ff. sowie Berka, a. a. O., S. 383 ff. 34  Näher Herbert Schambeck, Gedanken über das Verständnis des Staates und des Verfassungsrechtes in Österreich, in: Ein Leben für Staat und Gesellschaft, Festschrift für Jürgen Weiss, hrsg. von Georg Lienbacher, Theodor Thanner, Matthias Tschirf, Katharina Weiss, Wien / Graz 2007, S. 612 ff. 35  Joseph Kardinal Ratzinger, L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 22. April 2005, Nr. 16, S. 3. 36  Ratzinger, a. a. O. 37  Ratzinger, a. a. O.



Naturrecht in Zeitverantwortung293

Der heutige Papst Benedikt XVI. hat mit seiner Hervorhebung des Relativismus von der Theologie her unter konkreter Nennung auf Ideolo­ gien38 hingewiesen, die Hans Kelsen 1929 am Schluss seiner Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ aus der Sicht der Staatslehre und des Staatsrechts auch wahrgenommen hat, ohne aber konkret Ideologien wie Ratzinger zu nennen. Für Kelsen „ist der Relativismus die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt“.39 Dabei nimmt Kelsen, der ein Agnostiker war, insofern auf die Heilige Schrift bezug, als er das 18. Kapitel des Johannesevangelium zitiert, in dem Pilatus bekanntlich auf seine Frage an das Volk, wen sie frei haben wollen, die Antwort „Barabas“ erhielt. „Der Chronist aber fügt hinzu“, zitiert Kelsen, „Barabas war ein Räuber“.40 Mit dieser formal verstandenen Demokratie Kelsens und diesem Relativismus hat sich auch Joseph Kardinal Ratzinger auseinandergesetzt.41 Ratzinger erkennt: „Demokratie wird nicht inhaltlich, sonder rein formal definiert: als ein Gefüge von Regeln, die Mehrheitsbildung, Machtübertragung und Machtwechsel ermöglichen.“42 Dies führt für ihn zu einem Recht, bei dem „im Grunde zuletzt die Macht des Stärkeren“43 zählt; dabei erkennt Ratzinger: „Die Freiheit kann sich selbst aufheben, ihrer selbst überdrüssig werden, wenn sie leer geworden ist. Auch dies haben wir in unserem Jahrhundert erlebt, dass ein Mehrheitsentscheid dazu dient, die Freiheit außer 38  Siehe dazu Politische Theorien und Ideologien, Einführungen, hrsg. von Franz Neumann, Baden-Baden 1974 / 75; Jeanne Hersch, Die Ideologien und die Wirklichkeit, München 1957; Hans Barth, Wahrheit und Ideologie, Erlenbach / Zürich / Stuttgart 1961; Werner Maihofer, Ideologie und Recht, Frankfurt am Main 1969, S. 1 ff.; Herbert Schambeck, Politik und Weltanschauung, in: derselbe, Politik in Theorie und Praxis, hrsg. von Helmut Widder, Wien / Graz 2004, S. 39 ff., bes. S. 44 ff. sowie Ferdinand Kinsky, Solidarität statt Egoismus, Lebensmodell Europa. Augsburg 2007, S.  39 ff. 39  Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen 1929, S. 101; vgl. auch Heribert Franz Köck, Recht in der pluralistischen Gesellschaft, Grundkurs über zentrale Fragen zu Recht und Staat, Wien 1998. 40  Kelsen, a. a. O., S.  104. 41  Beachte Joseph Kardinal Ratzinger, Wahrheit, Werte, Macht, Prüfsteine der pluralistischen Gesellschaft, 3. Aufl., Freiburg im Breisgau 1993, S. 65  ff., bes. S. 70 ff.; Herbert Schambeck, Fede, Stato e Democrazia: un contributo sul confronto tra il Cardinale Joseph Ratzinger e Hans Kelsen, alla scuola della Veritá, I settanta anni di Joseph Ratzinger a cura di Jodef Clemens e Antonio Tarzia, Torino 1997, S. 319 ff. und derselbe, Die Möglichkeiten der Demokratie und die Diktatur des Relativismus, ein Beitrag zur Zeitverantwortung in der Lehre Papst Benedikt XVI., L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 12. Mai 2006, Nr. 19, S. 10 f. und 19. Mai 2006, Nr. 20, S. 9 f. 42  Ratzinger, Wahrheit, Werte, Macht, S. 69 f. 43  Ratzinger, a. a. O., S.  79.

294

Naturrecht in Zeitverantwortung

Kraft zu setzen … dieser Gefahr müssen wir entgegentreten, wenn es um die Verteidigung der Freiheit und der Menschenrechte geht.“44 Gerade diese Mahnung zeigt, dass es Joseph Kardinal Ratzinger nicht um die Ablehnung der Demokratie als Form der Staatswillensbildung, sondern vielmehr um den Hinweis auf die Möglichkeit ihres Missbrauches geht. Grund dazu ist in der Vielzahl an autoritären und totalitären Regimen gegeben, die im 20. Jahrhundert teils mit, teils ohne Bruch der Verfassung und Rechtskontinuität entstanden waren, daneben gibt es aber bis heute auch die Nutzung demokratischer Verfassungsstaatlichkeit mit parlamentarischer Staatswillensbildung zu Lasten und Verletzung der Würde des Menschen sowie der von ihr geprägten Menschenrechte, wie z. B. des Rechtes auf das Leben, vom dem Papst Benedikt XVI. schon zu Beginn seiner apostolischen Reise aus Anlass des 850-Jahrjubiläums von Mariazell in Wien sagte: „Das gilt für das Leben von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Ende. Abtreibung kann demgemäß kein Menschenrecht sein – sie ist das Gegenteil davon. Sie ist eine ‚tiefe soziale Wunde‘, wie unser verstorbener Mitbruder Kardinal Franz König zu betonen nicht müde wurde.“45 Menschenrechtsverletzungen sind neben falschem Grundrechtsverständnis auch über den rechtsnormativen Bereich hinaus durch politische Entscheidungen etwa im Sozial- und Wirtschaftsleben durch einen immer stärker werdenden liberalen Neukapitalismus möglich; etwa bei Steigerung der Aktienkurse auf Kosten der Arbeitsplätze, die verringert werden. Christoph Kardinal Schönborn bemerkte schon 1998: „Doch fragen sich immer mehr Menschen, wie eine Gesellschaft funktionieren soll, in der die Abschaffung von Arbeitsplätzen als Erfolgsmeldung für die Börse gilt, in der Hiobsbotschaften vom Arbeitsmarkt als Siegesmeldungen an der Wall Street gelten“.46 Ein solches Verhalten ist eine Form des Egoismus, welche die Grundsätze der Personalität und der Solidarität der Menschen verletzt; sie ist auch mit dem sozialen Charakter der Marktwirtschaft auf keiner Ebene des öffentlichen Lebens vereinbar und kann sich vor allem nicht inner- und außerhalb der EU im Bereich der Staaten Mittel- und Osteuropas als Alternative zum Kommunismus empfehlen. Es ist eine Form des Egoismus, die in weiterer Form menschenunwürdig ist. Da Europa vor allen nach zwei Weltkriegen, welche von diesem Kontinent ausgingen, gegenüber der übrigen Völkergemeinschaft geradezu eine 44  Ratzinger,

a. a. O., S.  20. Benedikt XVI. in Österreich, Apostolische Reise aus Anlass des 850-Jahrjubiläums von Mariazell, Die österreichischen Bischöfe 8, hrsg. von der österreichischen Bischofskonferenz, Wien 2007, S. 37. 46  Christoph Kardinal Schönborn, Die Menschen, die Kirche, das Land, Christentum als gesellschaftliche Herausforderung, Wien 1998, S. 106. 45  Papst



Naturrecht in Zeitverantwortung295

Bringschuld an Menschlichkeit hat, wäre eine Lebensordnung erstrebensund empfehlenswert, in der sich kultureller Fortschritt, wirtschaftliches Wachstum und soziale Sicherheit vereinbaren ließen.47 Dies verlangt eine Staatlichkeit, in welcher der Rechts- und Machtzweck mit dem Kultur- und Wohlfahrtszweck vereinbar ist.48 Ein solches Sinnverständnis des öffentlichen Lebens verlangt kein Neben- sondern ein Für- und Miteinander der Menschen, in dem das positive Recht in Sozialverantwortung steht und das Rechtsdenken den rein normativen Bereich überschreitet, sowie seinen präpositiven Bezug und seine ethische Verantwortung erkennen lässt. Das Naturrecht weist einen solchen Weg und begleitet das abendländische Rechtsdenken49 in ewiger Wiederkehr, wie treffend Heinrich Rommen sein später viel zitiertes Buch 1947 betitelte.50 IV. Der Begriff des Naturrechts Der Begriff Naturrecht sucht insoferne präpositives und positives Recht zu vereinen, als es Ideal- und Realfaktoren des Rechtes zur Ordnungsbegründung zu erfassen sucht. Wer vom Naturrecht spricht, sucht mittels des Rechts sowohl zu normieren wie zu motivieren; will die öffentliche Ordnung nicht auf das Müssen, sondern auf das Sollen ausrichten und das Gewissen ansprechen. Es sucht die Frage zu beantworten: „Was legitimiert die Rechtsnorm, das Gewissen zum normgemäßen Handeln zu verpflichten auch ohne faktischen Zwang … Denn die Tatsache, dass die Masse der individuellen Gewissen die Rechtsnorm annimmt und befolgt, gibt ihr damit noch nicht imperativen, die Gewissen verpflichtenden Charakter, wie immer auch die Individuen durch terroristische Drohung und Zwangsanwendung zur äußerlichen passiven Normgemäßheit gezwungen werden können“.51 Wer die Bedingtheiten und Grenzen des positiven Rechts bedenkt, setzt sich bewusst oder nicht mit dem Naturrecht auseinander. Im Naturrecht­ denken verbindet sich die Idee einer natürlichen Ordnung höchsten Ranges, die in den Bereich der Metaphysik gehört, mit dem vielfachen Streben um die Erfassung dieser Idee in verschiedenen Naturrechtslehren, die erkennt47  Siehe

Kinsky, a. a. O. S.  25 ff. Herbert Schambeck, Von den Staatszwecken Österreichs, in: Parlamentarismus und öffentliches Recht in Österreich, Entwicklung und Gegenwartsprobleme, 1. Band, hrsg. von demselben, Berlin 1993, S. 3 ff. 49  Näher Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, ihre Grundlagen und Hauptprobleme in geschichtlicher Form, 2. Aufl., Wien 1963. 50  Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, München 1947. 51  Rommen, a. a. O., S.  149. 48  Näher

296

Naturrecht in Zeitverantwortung

nistheoretischen Ursprungs sind52, mit dem Bemühen im normativen Bereich um den Begriff des Naturrechts im formellen Sinn. Dieser ist gegeben, wenn sich expressis verbis dessen Merkmale anerkannt im Staatsrecht ausgedrückt findet, wie z. B. im Gottesbezug der Präambel oder dem Art. 1 Abs. 1 des Bonner Grundgesetzes sowie in Erkenntnissen des Deutschen Bundesverfassungsgerichtes.53 In der langen Geschichte des Rechtsdenken im allgemeinen und des Naturrechtsdenkens im besonderen hat es viele Bemühungen um das Naturrecht gegeben, die auch die Kodifikationsbemühungen zunächst des Privatrechts54 und später auch des öffentlichen Rechts zum Verfassungsstaat der Neuzeit55 begleiten. Im Privatrecht z. B. in Österreich sei auf die natürlichen Rechtsgrundsätze des ABGB56 hingewiesen. Der Ausdruck des Naturrechtsbegriffs im formellen Sinn ist nicht immer leicht und problemlos. Klaus Stern hat es bereits in Bezug auf Rechtsethik, Naturrecht und überpositive Rechtswerte erklärt: „Sie führen hart an die Grenze ‚letzter Werte‘, die nicht selten stark vom Zeitgeist abhängig sein und in der Hand der Interpreten nicht unerheblich variiert werden können. Hinzu tritt ihre mangelnde intersubjektive Überprüfbarkeit“.57 Je nach der Pluralität der Gesellschaft mit ihren geistigen, nämlich religiösen, weltanschaulichen und ideologischen Grundhaltungen, parteipoliti52  Siehe näher Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, Versuch einer Orientierung, 3. Aufl., Karlsruhe 1964, bes. S. 193 ff.; Verdross, a. a. O., bes. S. 108 ff. und Herbert Schambeck, Idee und Lehren des Naturrechts, in: Naturordnung in Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Festschrift für Johannes Messner zum 70. Geburtstag, hrsg. von Joseph Höffner, Alfred Verdross und Francesco Vito, Innsbruck / Wien / München 1961, S. 437 ff., bes. S. 440 ff. 53  Vgl. BVerfGE 3, 225 (233 f.); 1, 14 (18); ferner 34, 269, 286 f.; weiters Al­ brecht Langner, Der Gedanke des Naturrechts seit Weimar und in der Rechtssprechung der Bundesrepublik, Bonn 1959; Hermann Weinkauff, Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, Neue Juristische Wochenschrift 1960, S. 1689 ff.; Müller, Naturrecht und Grundgesetz und Wolf Rosenbaum, Naturrecht und positives Recht. Rechtssoziologische Untersuchungen zum Einfluss der Naturrechtslehre auf die Rechtspraxis in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts, Neuwied / Darmstadt 1972, bes. S. 106 ff. 54  Näher Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2. Aufl., Göttingen 1967, bes. S. 322 ff. 55  Beachte Carl J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin  /  Göttingen / Heidelberg 1953, S.  119 ff. 56  Näher Herbert Schambeck, Die natürlichen Rechtsgrundsätze des § 7 ABGB, in: Völkerrecht und Rechtsphilosophie, internationale Festschrift für Stephan Verosta, hrsg. von Peter Fischer, Heribert Franz Köck, Alfred Verdross, Berlin 1980, S. 479 ff. 57  Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Aufl., München 1984, S. 21.



Naturrecht in Zeitverantwortung297

schen Einstellungen sowie beruflichen Interessen wird der Gesetzgeber eines Staates beginnend mit dem Verfassungsrecht und später in seiner Rechtsordnung einen präpositiven Bezug und damit auch einen Bezug auf das Naturrecht nehmen oder nicht. Das zeigt sich mit der Möglichkeit eines Gottesbezugs in der Präambel einer Verfassungsrechtsordnung. So haben nach dem Stand April 200658 von 191 Verfassungen 143 eine eigene Präambel und von diesen 65 einen Gottesbezug, die in der Verfassung Polens vom 2. April 1997 sei besonders hervorgehoben, weil sie auf die Pluralität in Zeitverantwortung insoferne Bezug nimmt, als sich alle mit dieser Präambel mit ihrer Invocatio Dei identifizieren können, „sowohl diejenigen, die an Gott als Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten“.59 Auf Grund der rechtspositivistischen und daher mehr wertneutralen Einstellung des österreichischen Verfassungsrechtes enthält das B-VG und auch keine folgende Bundes-Verfassungsbestimmung einen eigenen Gottesbezug und die Diskussion um eine Reform des österreichischen Bundesverfassungsrechtes der letzten Zeit60 zeigt bedauerlicher Weise keine allgemeine Bereitschaft hiezu61. Dabei könnte man sich doch den nicht von der Religion herkommenden Jürgen Habermas anschließen, der 2005 zum Abschluss seiner Gedanken über „Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?“ erklärte: „Saekularisierte Bürger dürfen, soweit sie in ihrer Rolle als Staatsbürger auftreten, weder religiösen Weltbildern grundsätzlich ein Wahrheitspotential absprechen, noch den gläubigen Mitbürgern das Recht bestreiten, in religiöser Sprache Beiträge zu öffentlichen Diskussionen zu machen. Eine liberale politische Kultur kann sogar von den säkula58  Constitutions

of the Countries of the World, New York 2006. Banaszk-Jablonski, a. a. O., S.  223 f. 60  Dazu u.  a. Andreas Khol, Österreich-Konvent und Verfassungsreform, eine Zwischenbilanz, Journal für Rechtspolitik, Jg. 13, 2005, S. 95 ff.; Georg Lienbacher, Verfassungsreform und Konventsmethode, Journal für Rechtspolitik, Jg. 13, 2005, S. 42 ff.; Ludwig Adamovich, Eine neue Republik? Gedanken zur Verfassungsreform, Wien 2004, S. 125 und derselbe, Christentum und Verfassung, in: Vom Verfassungsstaat am Scheideweg. Festschrift für Peter Pernthaler, hrsg. von Karl Weber und Norbert Wimmer, Wien / New York 2005, S. 11; Clemens Jabloner, Vom Verfassungskampf zum Österreich-Konvent, in: Politische Kultur in Österreich, hrsg. von Nikolaus Dimmel und Josef Schnee, Wien 2005, S. 158 sowie Herbert Schambeck, Zur Gottesfrage als Verfassungsfrage in Österreich, in: Identität und offener Horizont, Festschrift für Egon Kapellari, hrsg. von Franz Lackner und Wolfgang Mantl, Wien / Graz / Klagenfurt 2006, S.  1107 ff. 61  Beachte von katholischer Seite wegweisend vor allem Egon Kapellari, über den Sinn von Weihnachten und die Rolle des Christentums und der Kirche in Österreich, Kleine Zeitung vom 24.12.2004, S. 2 f. 59  Dazu

298

Naturrecht in Zeitverantwortung

risierten Bürgern erwarten, dass sie sich an Anstrengungen beteiligen, relevante Beiträge aus der religiösen in eine öffentlich zugängliche Sprache zu übersetzen“.62 Wenngleich ein überall und jederzeit allgemein gültig anerkannter Begriff des Naturrechts im formellen Sinn nicht in den Rechts- und Verfassungsordnungen feststellbar ist, kann aber insoferne ein Naturrechtsbegriff im materiellen Sinn erkannt werden, der in der Rechtsidee und ihren Erscheinungsformen wie Gerechtigkeit im formellen und materiellen Sinn, der Rechtssicherheit, allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen und der Rangordnung der Werte als Idealfaktoren einerseits sowie der Natur der Sache, nämlich der Natur des Menschen mit seiner angeborenen Würde und der der tatsächlichen Gegebenheiten als Realfaktoren andererseits gegeben ist. Der Staat kann unter Beachtung dieser Kennzeichen des Naturrechts im materiellen Sinn einen ethischen Bezug erlangen und seine positiven Rechtsnormen auch Gewissenspflichten begründen sowie neben der Geltung auch Verbindlichkeit erlangen.63 V. Arten, Werte und Formen der Grundrechte Wir sich aus diesen skizzierten Hinweisen auf das Naturrecht im formellen und materiellen Sinn erkennen lässt, ist dieses mit mehr oder weniger Deutlichkeit in Bewusstsein und Erkenntnis der für Politik und Recht Verantwortlichen präsent; vor allem in den Bemühungen um eine humane Staats-, Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsordnung. Johannes Messner bezeichnete daher auch sein umfassendes Werk „Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik“.64 In begrüßens- und dankenswerter Weise wurde dieses in vielen Erdteilen sehr beachtete65 Werk durch zahlreiche Veröffentlichungen zu gesellschaftswissenschaftlichen und sozialethi62  Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: derselbe/Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung, über Vernunft und Religion, Freiburg / Basel / Wien 2005, S. 36 und derselbe, Glaube und Wissen, Frankfurt / Main 2001, siehe dazu Reinhold Esterbauer, Die neue Funktion der Religion zu Jürgen Habermas. Positionierung von Religion im demokratischen Rechtsstaat, österreichisches Archiv für Recht und Religion 2006, Heft 1, 53. Jahrgang, S. 2 ff. 63  Siehe näher Herbert Schambeck, Ethik und Staat, Schriften zum öffentlichen Recht, Band 500, Berlin 1986 und derselbe, Der Begriff der „Natur der Sache“, ein Beitrag zur rechtsphilosophischen Grundlagenforschung, Wien 1969. 64  Johannes Messner, Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, Innsbruck/Wien/München, 1. Aufl. 1950, 5. Aufl. 1966, Neudruck Berlin 1984. 65  Dazu Herbert Schambeck, Johannes Messner und die Bedeutung seiner Lehre vom Recht und Staat, in: Naturrecht in Anwendung, Johannes Messner Vorlesungen 2001, hrsg. von Rudolf Weiler, Graz 2001, S. 117 ff., bes. S. 136 ff.



Naturrecht in Zeitverantwortung299

schen Spezialthemen ergänzt66 durch Messner, auf den auch zahlreiche spirituelle Schriften zurückgehen67. Johannes Messner, der schon 1984 hoch betagt heimgegangen ist, war in seinem Leben und Wirken als Priestergelehrter geradezu die Personifikation der Enzyklika „Fides et Ratio“, die, von Papst Johannes Paul II. 1998 erlassen, von Johannes Messner nicht mehr er- aber voraus gelebt sowie voraus gelehrt wurde! Dieses päpstliche Rundschreiben beginnt mit den Worten. die auch kennzeichnend für das Werk und Wirken von Johannes Messner sind: „Glaube und Vernunft sind wie die beiden Flügel, mit denen sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit hebt“.68 Die Wahrheit, wie sie im Glauben und mit der Vernunft zugänglich ist, zeigt sich in der Schöpfungsordnung der Natur. In dieser Sicht trifft den Christen auch eine Schöpfungsverantwortung! Das Naturrecht kann zur Erfüllung dieser Verantwortung Maßstab sein. Joseph Kardinal Ratzinger hatte auch von der „Vernunft der Natur“ und vom „Vernunftrecht für den Menschen“ gesprochen69 sowie zum interkulturellen Gespräch aufgefordert und betont: „Für Christen hätte es mit der Schöpfung und dem Schöpfer zu tun“.70 Diese Mahnung, die Schöpfung betreffend, ist gerade für die Verantwortung in unserer Zeit von Wichtigkeit, in der Menschenrechte beginnend mit dem Recht auf Leben selbst verletzt werden und der Klima- bzw. Umweltschutz von existentieller Bedeutung ist. Das Naturrecht steht in solcher Zeit in besonderer Zeitverantwortung! Papst Benedikt XVI. hat dies auch am 23. Februar 2007 für die Teilnehmer am internationalen Kongress über das Naturrecht betont: „Die Methode, die es uns erlaubt, die vernünftigen Strukturen der Materie immer gründlicher zu erkennen, macht uns immer unfähiger, die Quelle dieser Vernünftigkeit, die schöpferische Vernunft zu sehen. Die Fähigkeit, die Gesetze des materiellen Seins zu erkennen, macht uns unfähig, die im Sein enthaltene ethische Botschaft zu sehen, die von der 66  Beachte Johannes Messner, 1891–1984, herausgegeben und erläutert von Alfred Klose, Paderborn, München / Wien / Zürich 1991 sowie Johannes Messner. Menschenwürde und Menschenrechte, ausgewählte Artikel, hrsg. von Anton Rauscher und Rudolf Weiler in Verbindung mit Alfred Klose und Wolfgang Schmitz, Wien 2004. 67  Siehe Johannes Messner, Spirituelle Schriften, das Wagnis des Christen, das unbefleckte Herz, eingeleitet von Senta Reichenpfader, hrsg. von Anton Rauscher SJ und Rudolf Weiler in Verbindung mit Alfred Klose und Wolfgang Schmitz, Wien 2002. 68  Papst Johannes Paul II., Fides et Ratio, Vatikanstadt 1998, S. 3. 69  Joseph Ratzinger, Was die Welt zusammenhält, Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates, in: Dialektik der Saekularisierung, S. 51. 70  Ratzinger, a. a. O.

300

Naturrecht in Zeitverantwortung

Tradition ‚lex naturalis‘, natürliches Sittengesetz genannt wird … der Grund dafür liegt in einen Naturbegriff, der nicht mehr metaphysisch, sondern rein empirisch ist.“71 Papst Benedikt XVI. erklärte auch: „Das Naturrecht ist schließlich das einzige gültige Bollwerk gegen die Willkür der Macht oder die Täuschungen der ideologischen Manipulation. Die Kenntnis dieses Gesetzes, das in das Herz des Menschen eingeschrieben ist, wächst mit dem Fortschreiten des Gewissens.“72 Das Erkennen des Naturrechts setzt vor allem Gewissenhaftigkeit, Seinsverständnis, Rechts- und Wesenseinsicht voraus.73 Sind diese Voraussetzungen gegeben, sind die verständnisvollsten Möglichkeiten gegeben, um dem Naturrecht in einer Grundrechtsordnung zu entsprechen, die in liberalen Grundrechten eine Freiheit vom Staat, in demokratischen Grundrechten eine Freiheit im Staat, in den sozialen Grundrechten eine Freiheit durch den Staat sowie in existentiellen Grundrechten den Schutz des Lebens und der Umwelt gewähren.74 Bei diesen verschiedenen Grundrechtswerten und ihrem Bezug zur Freiheit kommt es stets darauf an, das all diesen Grundrechten zugrunde liegende gemeinsame Menschenbild zu beachten75 und dementsprechend die einzelnen Grundrechtswerte in entsprechenden Grundrechtsformen, als solche bieten sich das subjektiv öffentliche Recht, der Programmsatz, die Einrichtungsgarantie und die Organisationsvorschrift an76, 71  Papst Benedikt XVI., Probleme und Perspektiven des Naturrechts, L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 23. Februar 2007, Nr. 8, S. 9. 72  Papst Benedikt XVI., a. a. O. 73  Siehe dazu u. a. in: Wie erkennt man Naturrecht?, hrsg. von Josef Seifert, Heidelberg 1998, mit Beiträgen zur Problematik und Bedeutung der Erkennbarkeit des Naturrechts: Theo Mayer-Maly, Vergewisserung über Naturrecht, S. 13 ff.; Epistemologische und axiologische Grundlagen des Naturrechtsbegriffs. Wolfgang Waldstein, Das Naturrecht und die Grundlagen seiner Erkenntnis im Römischen Recht, S. 35 ff.; Josef Seifert, Zur Erkenntnis der Menschenrechte und ihrer axiologischen und an­ thropologischen Grundlagen, S. 65 ff.; Erkennbarkeit des Naturrechts als rechtliches und politisches Problem: Franz Bydlinski, Erkenntnis von Naturrecht und heutiger Rechtsordnung, S. 109 ff. und Rocco Buttiglione, Erkennbarkeit des Naturrechts in einer pluralistischen Gesellschaft als politisches Problem, S. 153 ff. 74  Siehe näher Herbert Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für Johannes Messner zum 85. Geburtstag, hrsg. von Alfred Klose, demselben, Rudolf Weiler, Valentin Zsifkovits, Berlin 1976, S. 445 ff., bes. S. 466 ff. und S. 480 ff. 75  Dazu Gustav Radbruch, Der Mensch im Recht, Göttingen 1957, S. 9 f. und Herbert Schambeck, Menschenbild und Menschenrechte im österreichischen Verfassungsrecht, in: Menschenrecht und Menschenbild in den Verfassungen Schwedens, Deutschlands und Österreichs, ethische Grundlagen und praktische Folgerungen, Heidelberg 1983, S. 57 ff. 76  Näher Herbert Schambeck, Grundrechte und Sozialordnung, Gedanken zur Europäischen Sozialcharta, Berlin 1969, S. 95 ff. und Schambeck, Menschenbild und Menschenrechte, S.  71 ff.



Naturrecht in Zeitverantwortung301

normativ zu erfassen und zu schützen. Auf diese Weise ist eine zweifache Ausgewogenheit für die Beachtung des Naturrechts im öffentlichen Recht erforderlich, einerseits zwischen der Grundrechtsordnung und dem übrigen System des demokratischen Verfassungsstaates. Diese Sicht verdeutlicht die große Sozialverantwortung des Naturrechts für den Staat und die Gesellschaft. VI. Naturrecht und Schöpfungsverantwortung Um diese vom Naturrecht geprägte Sozialverantwortung hat sich die katholische Soziallehre durch Jahrzehnte bemüht. Grenzüberschreitend hat dazu Johannes Messner mit seinem Wirken in seinen Werken schon beginnend in der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich und systematisch die Sachgebiete der Sozialethik und damit die Hauptanliegen katholischer Soziallehre be- und aufgearbeitet.77 Da er währen des NS-Regimes im Exil in Großbritannien lebte, konnte er auch diese Zeit sehr fruchtbar zum Studium der empirischen Forschung nutzen78. Mit diesen seinen sozialwissenschaftlichen Arbeiten hat Messner viele katholische, besonders päpstliche Lehräußerungen, vor allem Sozialenzykliken vorbereitet, begleitet und ausgeführt. In Lehre und Wissenschaft vermag diese katholische Sozialethik den Verantwortlichen in der Politik Wegweisung und Richtmaß zu geben. Messner wusste um dieses Erfordernis in einer Zeit vieler Pluralismen79 und leistete seinen Beitrag im Sinne auch der Pastoralkonstitution des II. Vatikanums „Gaudium et spes“ Kirche in der Welt von heute, aber nicht die Welt von heute in der Kirche zu sein! Es war und ist erfreulich, dass die Lehre Mess77  Siehe Johannes Messner, Soziale Frage und soziale Ordnung, Tatsachen und Prinzipien, Innsbruck / Wien / München 1928; derselbe, Sozialökonomik und Sozial­ ethik. Studien zur Grundlegung einer systematischen Wirtschaftsethik, 2. Aufl., Paderborn 1929; derselbe, Das Naturrecht, Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, Innsbruck / Wien / München, 1. Aufl. 1950; derselbe, Kulturethik mit Grundlegung durch Prinzipienethik und Persönlichkeitsethik, Innsbruck  /  Wien / München 1954; derselbe, Der Eigenunternehmer in Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Heidelberg/Löwen 1961; derselbe, Die soziale Frage im Blickfeld der Irrwege von gestern, der Sozialkämpfe von heute, der Weltentscheidungen von morgen, 7. Aufl., Innsbruck  /  Wien  /  München 1964; derselbe, Ethik und Gesellschaft, Aufsätze 1965–1974, Köln 1975 und Kurz gefasste christliche Soziallehre, Wien 1979. 78  So auch Anton Rauscher, Johannes Messner (1891–1984), in: Zeitgeschichte in Lebensbildern, Mainz 1984, S. 250 ff., bes. S. 257. 79  Dazu beachte Messner, Du und der andere. Vom Sinn der menschlichen Gesellschaft, Band 3 der Kommentarreihe zur Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche in der Welt von heute, Köln 1969 sowie derselbe, Die weltanschaulichen Positionen in der Auseinandersetzung von heute, Bonn 1977.

302

Naturrecht in Zeitverantwortung

ners von seinem Nachfolger am Wiener Lehrstuhl Rudolf Weiler, der gleich ihm das Studium der Theologie mit dem der Sozialwissenschaften verbunden hatte, fortgesetzt80 und aktualisiert wurde81. Er geht auf die Unterscheidung Messners primäres Naturrecht, welches „unmittelbar in der sittlichen Natur des Menschen begründet und ihm durch seine sittlich-rechtliche Vernunfteinsicht kundgetan ist“82 sowie sekundäres Naturrecht oder angewandtes Naturrecht ein. Als dieses bezeichnete er die Forderungen der Gerechtigkeit, die sich aus den allgemeinen Prinzipien in Verbindung mit der Einsicht in die unter den jeweiligen Umständen zu erkennende Natur der Sache ergeben83. Weiler erkennt auch die Möglichkeit von Naturrechtsirrtümern und hebt hervor, dass „die Bedeutung der existentiellen Zwecke für die Erforschung der menschlichen Natur bei der Überwindung von Naturrechtsirrtümern und beim Zugang zu neuen Grundfragen über die Natur des Menschen festzuhalten, … entscheidend“84 ist. Begleitet wurde dieses Naturrechtsdenken in Wien der Theologen auch von einem Mitbegründer der Wiener Rechtstheoretischen Schule, nämlich Alfred Verdross, der in der grotianischen Koppelung von Völkerrecht und Rechtsphilosophie, das Apriori des positiven Rechts hervorhob.85 Er widmete noch eine seiner letzten selbständigen Publikationen dem Naturrechtsthema, nämlich 1971 seine Schrift „Statisches und dynamisches Naturrecht“86. Für ihn ist zu beachten, „dass das Naturrecht kein Recht im juristischen Sinn bildet, das mit sozialen Sanktionen verknüpft ist, sondern aus Grundsätzen besteht, die dem positiven Recht vorgegeben sind und mit dem natürlichen Lichte der Vernunft erschlossen werden können“.87 Für ihn sind … 80  Siehe u. a. Rudolf Weiler, Einführung in die politische Ethik, Graz 1992; derselbe, Die soziale Botschaft der Kirche, Einführung in die katholische Soziallehre, Wien 1993; derselbe, Wirtschaftsethik, Graz 1993 und derselbe, Herausforderung Naturrecht, Beiträge zur Erneuerung und Anwendung des Naturrechts in der Ethik, Graz 1996. 81  Beachte besonders Weiler, Wiederkehr des Naturrechts und Neuevangelisierung, in: Die Wiederkehr des Naturrechts und die Neuevangelisierung Europas, S.  9 ff. 82  Messner, Das Naturrecht, S. 359. 83  Messner, a. a. O., S.  362; Weiler, a. a. O., S.  36 f. 84  Weiler, a. a. O., S.  39. 85  Siehe schon Alfred Verdross, Zum Problem der Rechtsunterworfenheit des Gesetzgebers, Juristische Blätter, 45 Jg., 1916, S. 741 ff. und S. 483 ff., Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Band 2, S. 1545 ff.; derselbe, Primäres Naturrecht, sekundäres Naturrecht und positives Recht in der christlichen Rechtsphilosophie, in: lus et lex, Festschrift für Max Gutzwiller, Basel 1959, S. 447 ff., Neudruck, Band 1, S. 787 ff. und derselbe; Dynamisches Naturrecht, Forum XII / 137, Mai 1965, S. 223 ff., Neudruck, Band 1, S. 933 ff. 86  Alfred Verdross, Statisches und dynamisches Naturrecht, Freiburg 1971. 87  Verdross, a. a. O., S.  9.



Naturrecht in Zeitverantwortung303

„veränderlich … nur die Konkretisierungen des primären Naturrechts … Daher sind die im Laufe der Geschichte ermittelten konkreten Naturrechtsnormen notwendigerweise dynamisch, obgleich ihre obersten Grundsätze konstant bleiben“88 und „wenn daher die aus verschiedenen Lagern hervorgegangene Naturrechtslehre unseres Jahrhunderts übereinstimmend die Würde des Menschen als Grundlage der humanen Ziele des Naturrechts wieder stärker betont, erweist sie sich damit als getreue Hüterin des klassischen Erbes“89 und „das Naturrecht als das humane Gewissen des positiven Rechts“90. Es ist erfreulich und dankenswert, dass diese Lehren vom Naturrecht und den Menschenrechten, wie sie mit Messner, Weiler und Verdross als Hauptvertreter in Österreich gegeben sind, begleitet waren im deutschsprachigen Raum vom gleichen Bemühen in Deutschland von Joseph Kardinal Höffner, den der Verfasser durch Messner einst selbst kennenlernen und mit ihm hernach in Kontakt stehen konnte. Seine spanische Kolonialethik 1947 unter „Christentum und Menschenwürde“ und 1969 unter „Kolonialismus und Evangelium“91 war ein wegweisender Beitrag zur Völkerrechtsethik. Seine „Christliche Gesellschaftslehre“, die 1962 erstmals veröffentlicht wurde und später in einer Vielzahl an Übersetzungen und Auflagen erschienen ist, wurde zu einer christlichen Ordnungslehre der Gesellschaft, Wirtschaft, des Staates und der Völkergemeinschaft, die aktualitätsbezogen in der Thematik, Lehre und Literatur verdienstvoll weiterbearbeitet und ergänzt von Lothar Roos herausgegeben wurde.92 In gleicher Weise sind in all den Jahrzehnten, die Aktualität der katholischen Soziallehre begleitend, die Beiträge zur christlichen Gesellschaftsverantwortung „Kirche in der Welt“ von Anton Rauscher zu nennen93, der sich als Priestergelehrter auch persönlich Messner ebenso sehr verbunden fühlte, wie in der Schweiz Arthur Fridolin Utz, der Bleibendes zur Geschichte94, 88  Verdross,

a. a. O., S.  116. Statisches und dynamisches Naturrecht, S. 117. 90  Verdross, a. a. O., S.  114. 91  Joseph Höffner, Kolonialismus und Evangelium, Spanische Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, Trier 1969. 92  Josef Kardinal Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, herausgegeben, bearbeitet und ergänzt von Lothar Roos, 2. Aufl. der Neuausgabe, Kevelaer 2000. 93  Anton Rauscher, Kirche in der Welt, Beiträge zur christlichen Gesellschaftsverantwortung, Erster und Zweiter Band, Würzburg 1988, Dritter Band, Würzburg 1998. 94  Siehe Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, hrsg. von Arthur Fridolin Utz und Brigitta Gräfin von Galen, 4 Bände, Aachen 1976. 89  Verdross,

304

Naturrecht in Zeitverantwortung

den Grundsätzen und der Entwicklung der katholischen Soziallehre einschließlich der Naturrechtslehre95 geleistet hat. Dieses vielfältige Grenzen überschreitendes Bemühen um die Erkenntnis der natürlichen Ordnung als Aufgabe an den Gesetzgeber96 des Staates und der Völkergemeinschaft wurde katholischerseits begleitet von den Sozialgestaltungsempfehlungen der päpstlichen Lehräußerungen, vor allem auch im letzten Pontifikat durch Papst Johannes Paul II. in seinen Sozialenzykliken „Laborem Exercens“ 1981, „Sollicitudo Rei Socialis“ 1987 und „Centesimus Annus“ 1991, dem Kompendium der Soziallehre der Kirche 2004 sowie durch die päpstliche Weltfriedensbotschaften, beginnend mit Papst Paul VI.97 Je mehr auch besonders durch den Fortschritt der Technik die Internationalisierung des öffentlichen Lebens zunahm sowie durch die Globalisierung98 die Grenzen zurücktreten und die Menschen sich näher kommen, desto mehr erfährt sich, was auch Papst Benedikt XVI. in seiner Weltfriedensbotschaft 2008 besonders betonte, die Menschheit als große Familie99. Diese Entwicklung sollte sich auch mit einer Internationalisierung und Globalisierung an Solidarität und Menschlichkeit verbinden.100 Europa könnte auf diesem Weg mit seiner neuen integrierten Ordnung auch eine 95  Arthur F. Utz, Grundfragen des öffentlichen Lebens, Bibliographie Band 1–4, Freiburg i. Br. 1960 ff.; derselbe, Sozialethik I: Die Prinzipien der Gesellschaftslehre, Heidelberg / Löwen 1958 sowie Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius XII., Band 1–3, hrsg., v. demselben und Joseph-Fulko Groner, Freiburg (Schweiz) 1954–1961. 96  Näher Herbert Schambeck, Die Menschenwürde im öffentlichen Recht und in der politischen Wissenschaft, in: Conceptualization of the Person in Sozial Science, hrsg. von Edmond Malinvaud und Mary Ann Glendon, The Pontifical Academy of Social Sciences Acta 11, Vatican City 2006, S. 235 ff.; Josef Isensee, Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, Archiv des öffentlichen Rechts 131 (2006), S. 173 ff. und Konrad Hilpert, Begründung und Bedeutung der Menschenwürde aus christlicher Sicht, Zur Debatte 7, München 2007, S. 24 ff. 97  Siehe die Weltfriedensbotschaften Papst Paul VI., eingeleitet und herausgegeben von Donato Squicciarini, Berlin 1979; Die Weltfriedensbotschaften Papst Johannes Paul II., hrsg. von Donato Squicciarini, Berlin 1992 sowie Die Weltfriedensbotschaften Papst Johannes Paul II. 1993–2000, Beiträge zur katholischen Soziallehre, eingeleitet und herausgegeben von Donato Squicciarini, Berlin 2001. 98  Beachte Roland Minnerath, Gegen den Verfall des Sozialen, Ethik in Zeiten der Globalisierung, Freiburg / Basel / Wien 2007. 99  Papst Benedikt XVI., Die Menschheitsfamilie, eine Gemeinschaft des Friedens, Feier des Weltfriedenstages, 1. Januar 2008. 100  Näher Herbert Schambeck, Nächstenliebe und Gerechtigkeit als Gebote des Glaubens sowie des Rechtes, Gedanken zur Enzyklika Papst Benedikt XVI. „Deus Caritas est“, in: Charity and Justice in the Relations among Peoples and Nations, edited by Mary Ann Glendon, Juan José Llach, Marcelo Sanchez Sorondo, The Pontifical Academy of Social Sciences, Acta 13, Vatican City 2007, S. 27 ff.



Naturrecht in Zeitverantwortung305

Rechts- und Wertegemeinschaft101 werden, wozu auch die Verträge der Europäischen Union in der Fassung des Vertrages von Lissabon (2007), die zwar keine Invocatio Dei beinhaltet, aber in der Präambel102 auf das Schöpfen aus dem „kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte der Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit entwickelt haben“, hinweist und die eine umfassende Grundrechtecharta103 beinhaltet, einen Beitrag leisten können. Das Naturrecht in seiner ewigen Wiederkehr könnte darauf mit hinführen und Christen ihrer Schöpfungsverantwortung gerecht werden. VII. Die Naturrechtserkenntnis – Wegweisung zur Verantwortung Diese Schöpfungsverantwortung des Christen verlangt am Beginn des 21. Jahrhunderts auch aus der Geschichte im Allgemeinen sowie der des Rechtes im Besonderes zu lernen. Diese Geschichte zeigt einerseits die Entwicklung von Begriffen, wie den des Rechtes, positiven Rechtes, Gesetzes und Naturrechts, sowie daneben oft auch parallel laufend die Aufeinanderfolge von Strömungen; zu diesen zählen in einer Wechselfolge die von ewiger Wiederkehr des Naturrechts104 wie auch ebensolcher ewiger Wiederkehr des Rechtspositivismus.105 101  Hiezu Herbert Schambeck, Über Grundsätze, Tugenden und Werte für die neue Ordnung Europas, in: Gedächtnisschrift für Joachim Burmeister, hrsg. von Klaus Stern und Klaus Grupp, Heidelberg 2005, S. 377 ff. 102  Dazu in: Kölner Gemeinschaftskommentar zur europäischen GrundrechteCharta Herbert Schambeck, Die christlichen Wurzeln in der europäischen Verfassungsidee, S. 199 ff. sowie derselbe, Präambel und Gottesbezug, S. 241 ff.; vor allem Tommaso Stenico, Giovanni Paolo II., Padre dell’Europa. Dall’Atlantico agli Urali nel segno di Christo, Vatikan 2004; Joseph Kardinal Ratzinger, Wendezeit für Europa? Diagnosen und Prognosen zur Lage von Kirche und Welt, Freiburg 1991; derselbe, Europa, I suo fondamenti oggi e domani, Milano 2004; derselbe, Werte in den Zeiten des Umbruches. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, Freiburg im Breisgau 2005; Egon Kapellari, Seit ein Gespräch wir sind …, Neue Begegnungen, Wien / Graz / Klagenfurt 2007, bes. Christus – Hoffnung Europas, S. 158 ff., Gibt es eine Leitkultur in Europa, S. 221 ff. und Von der Verantwortung der Christen für Europa, S. 256 ff. sowie Josef Clemens, Der Europagedanke bei Joseph Ratzinger, Analecta Segermitana XXXIV, Vatikan 2008. 103  Siehe näher Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen GrundrechteCharta. 104  Siehe Rommen, a. a. O. (Fußnote 50). 105  Dazu schon Dieter Lang-Hinrichsen, Zur ewigen Wiederkehr des Rechtspositivismus, in: Festschrift für Edmund Mezger zum 70. Geburtstag, München und Berlin 1954, S. 62; siehe auch Hans Kelsen, Naturrecht und positives Recht, eine Untersuchung ihres gegenseitigen Verhältnisses. Internationale Zeitschrift für Theo-

306

Naturrecht in Zeitverantwortung

Besonders Bezugnahmen auf das Naturrecht sind in diesen Zeiten fast immer dann erfolgt, wenn vorher autoritäre und totalitäre Regime zur Verletzung der Menschenrechte führten. Im 20. Jahrhundert sind solche Menschenrechtsverletzungen besonders durch den Nationalsozialismus106 und Kommunismus107 erfolgt und hernach gleichsam als Reaktion eine Wende im Rechtsdenken eingetreten. Die einleitend schon zitierten polnischen Staatsrechtslehrer Banaszak und Jablonski108 hatten zur Recht darauf bereits hingewiesen. Reaktionen zeigten sich deutlich im Gottesbezug der Präambel109 des Bonner Grundgesetzes 1949 mit Anerkennung der Menschenwürde im Art. 1110 nach dem 2. Weltkrieg und am Ende des NS-Regimes sowie in Polen nach der politischen Wende111 des Kommunismus beispielgebend besonders in der Präambel der Verfassung Polens 1997 und ihres Art. 30112. Diese Wende drückte sich meist im öffentlichen Recht auch in Anerkennung von Grundwerten und Grundrechten113 sowie in den Prinzipien, Zweckrie des Rechts, 2. Jg. 1927 / 28, S. 71 ff.; Neudruck. Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Band 1, S. 215 ff. und derselbe, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, Charlottenburg 1928, Heft 31, Philosophische Vorträge, hrsg. von der Kant-Gesellschaft; Neudruck: die Wiener Rechtstheoretische Schule, Band 1, S. 281 ff. 106  Hiezu Dimension des Völkermordes. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, hrsg. von Wolfgang Benz, München 1991 und Gedenkbuch, Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945, 2. Aufl., hrsg vom Bundesarchiv, Band I–IV, Koblenz 2006. 107  Beachte Stephane Courtois/Nicolas Werth/Jean-Louis Margolin, Das Schwarzbuch des Kommunismus, Unterdrückung, Verbrechen und Terror, 2. Aufl., München / Zürich 1998. 108  Siehe Banaszak / Jablonski, a. a. O. (Fußnote 1). 109  Grundsätzlich dazu Peter Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: Demokratie in Anfechtung und Bewährung, Festschrift für Johanes Broermann, hrsg. von Joseph Listl und Herbert Schambeck, Berlin 1982, S. 212 ff., bes. S.  217 ff. 110  Siehe Hans Carl Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Die Grundrechte, Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, 2. Band, Berlin 1954, S. 1 ff. und Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bans IV / 1, § 97. Die Würde des Menschen, München 2006, S. 3 ff. 111  Beachte Jan Wiktor Tkaczynski, Polen im Umbruch, Skizzen aus Geschichte, Wirtschaft und Politik, Berlin 1997. 112  Hiezu Boguslaw Banaszak, Europäische Verfassung und Verfassung der Republik Polen, Danziger Juristische Studien, Band XII, 2004, S. 8 und derselbe, Einführung in das polnische Verfassungsrecht, Wroclaw 2003. 113  Näher Herbert Schambeck, Grundrechte in westeuropäischen Verfassungen, Österreichische Juristenzeitung 1992, S. 634 ff. und derselbe, Über die Grundwerte und Grundprinzipien der europäischen Verfassungen, Österreichische Juristenzeitung 1992, S.  745 ff.



Naturrecht in Zeitverantwortung307

und Zielbestimmungen einer Staatsverfassung114 aus, findet seinen Niederschlag in der Rechtsprechung115 und auch in der Literatur. Gustav Radbruch ist hiefür ein wegweisendes Beispiel.116 Diese Entwicklungstendenz führte einerseits zu einer Humanisierung im Rechtsdenken und gleichzeitig andererseits auch bewusst oder unbewusst, deutlich oder nicht, zu einer Art Säkularisierung und Profanisierung der Naturrechtsidee durch die Positivierung ihrer Anforderungen an die Rechtsordnung.117 Der metaphysische Ansatz des Naturrechts, was schon Papst Benedikt XVI.118 betonte, und die Präpositivität des Rechts scheint dadurch nicht immer erkennbar und deutlich zu sein. Das von Naturrecht Geforderte wird im positiven Recht als mehr selbstverständlich genommen und die sogenannte Renaissance des Naturrechts dauerte daher in ihrer Ausdrücklichkeit nicht immer sehr lange,119 wirkte aber in der Grundrechtsjudikatur in unterschiedlicher Weise nach, was nicht ohne Kritik blieb120 und schon Hans Joachim Faller die Frage stellen ließ: „Ist ein Rückgriff auf das Naturrecht heute noch notwendig?“.121 Die Frage nach der Notwendigkeit des Naturrechts ist zu bejahen. Immer wieder stellt sie sich vor allem auch im demokratischen Verfassungsstaat im Zusammenhang mit den Möglichkeiten, Pflichten und Grenzen des Gesetzgebers. In diesem Zusammenhang erinnerte schon Papst Benedikt XVI. 114  Siehe Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1., 2. Aufl., München 1984, S. 121 ff. und Herbert Schambeck, Naturrecht und Verfassungsrecht, in: Das Naturrechtsdenken Heute und Morgen, Gedenkschrift für René Marcic, hrsg. von Dorothea Mayer-Maly und Peter M. Simons, Berlin 1983, S. 911 ff. 115  Beachte z. B. Hermann Weinkauff, Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, Neue Juristische Wochenschrift 1960, S. 1689 ff. und Hans Ulrich Evers, Naturrecht in der deutschen Rechtsprechung, in: Das Naturrechtsdenken Heute und Morgen, S. 725 ff. und Karl Korinek, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, Wien / New York 2000. 116  Hiezu Christoph M. Scheuren-Brandes, Der Weg von Nationalsozialistischen Rechtslehren zur Radbruchschen Formel. Untersuchungen zur Geschichte der Idee vom „Unrichtigen Recht“, Paderborn 2006. 117  Dazu Herbert Schambeck, Der Stand der Naturrechtsidee heute, in: Rechtspositivismus, Menschenrecht und Souveränitätslehre in verschiedenen Rechtsbereichen, hrsg. von Edward Kroker und Theodor Veiter, Wien / Stuttgart 1976, S. 11 ff. 118  Papst Benedikt XVI., Probleme und Perspektiven des Naturrechts, S. 9. 119  So bereits Peter Schneider, Naturrechtliche Strömungen in der deutschen Rechtsprechung, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1956, S. 98. 120  Siehe u. a. Werner Apelt, Verfassung und richterliches Prüfungsrecht, Juristenzeitung 1954, S. 401 und Hans Nawiasky, Positives Recht und Überpositives Recht, Juristenzeitung 1954, S. 717. 121  Beachte Hans Joachim Faller, Ist ein Rückgriff auf das Naturrecht heute noch notwendig? Entwicklung bis zu den „Mauerschützen-Urteilen“ des Bundesgerichtshofes, in: Festschrift für Hartmut Schiedermair, hrsg. von Dieter Dörr, Udo Fink, Christian Hillgruber, Bernhard Kempen, Dietrich Murswiek, Heidelberg 2001, S. 3 ff.

308

Naturrecht in Zeitverantwortung

anlässlich des internationalen Kongresses über das Naturrecht am 12. Februar 2007, „dass jede Rechtsordnung sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene ihre Rechtmäßigkeit letztlich aus ihrer Verwurzelung im Naturrecht aus der in das Sein des Menschen selbst eingeschriebenen ethischen Botschaft bezieht“122 und betonte im Jänner 2008 in seiner für den Besuch der römischen Universität „La Sapienza“ geplanten Ansprache: „Es geht um die rechte Gestaltung der menschlichen Freiheit, die immer Freiheit im Miteinander ist: Das Recht ist Voraussetzung der Freiheit, nicht ihr Gegenspieler. Aber es erhebt sich sofort die Frage: Wie findet man die Maßstäbe der Gerechtigkeit, die gemeinsam gelebte Freiheit ermöglichen und dem Gutsein des Menschen dienen“;123 das Naturrecht kann daraufhin den Weg weisen, es ist notwendig, denn wie auch Papst Benedikt XVI. bei dieser Gelegenheit warnend hervorhob: „Die Wahrheits-Sensibilität wird immer wieder überlagert von der Interessen-Sensibilität.“124 Das Denken von dem und auf das Naturrecht hin sowie damit das Bedachtnehmen auf die Präpositivität des Rechts, die Menschenwürde und Menschenrechte125 können diesen Gefahren begegnen. Wie sehr dies bereits ein Anliegen und Erfordernis, Grenzen der einzelnen Staaten überschreitend, ist, zeigt die Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs in Straßburg126, des Europäischen Gerichtshofes der EU in Luxemburg127 und des Internationalen Kriegsverbrecher-Tribunals in Den Haag128.

122  Papst

Benedikt XVI., Probleme du Perspektiven des Naturrechts, S. 9. Benedikt XVI., Es ist Aufgabe des Papstes, die Sensibilität für die Wahrheit wach zu halten, L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 25. Januar 2008, Nr. 4, S. 6 f. 124  Papst Benedikt XVI., a. a. O., S. 7. 125  Näher u. a. Eberhard Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde. Universale Ethik in einer geschichtlichen Welt, Mainz 1996 und Josef Römelt, Menschenwürde und Freiheit. Rechtsethik und Theologie des Rechts jenseits von Naturrecht und Positivismus, Freiburg im Breisgau 2006. 126  Siehe Europäischer Gerichtshof, Sammlung der Rechtssprechung des Gerichtshofes und des Gerichts Erster Instanz, Amt der Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, Luxemburg. 127  Beachte Sammlung der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte; Publikationen von 1960–1996, Reports of judgements and elections. 128  Dazu Website of the Court. 123  Papst

Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechtes sowie des positiven Rechts* Im abendländischen Rechtsdenken1, in dem sich wechselnde Strömungen verbindend oder unterscheidend ergaben sowie bleibende Begriffe sich bildeten, bietet die Geschichte dem Juristen2 viele Erfahrungen, die Grundfragen und Kenntnisse der Ordnung verdeutlichen; zu ihnen zählt die Frage nach dem Recht in seiner präpositiven Bedingtheit und seiner rechtsnormativen Form, welche den jeweiligen Staat in seiner Ordnung begründen und bestehen lassen kann. Der Staat als der dem Einzelnen übergeordnete Herrschaftsverband, der Höchstfunktionen zu erfüllen hat, kann von Unterschiedlichkeit der Staatsform, Monarchie oder Republik, des Staatsaufbaus, ob Bundes- oder Einheitsstaat, sowie bezüglich der Beziehung zum Einzelnen selbst von demokratischer oder autoritärer oder totalitärer Einstellung gekennzeichnet sein. Mittelpunkt dieser Ordnungsbetrachtung ist das Recht, dessen rechtspositive Form gerade in missbräuchlicher Verwendung im vergangenen Jahrhundert auch in der Folge vieler militärischer Auseinandersetzungen insbesondere durch zwei Weltkriege und durch autoritäre sowie totalitäre Herrschaftssysteme zum Verlust der Freiheit und des Lebens von Millionen Menschen beigetragen hat. Nach diesem leidens- und opferreichen Weg der Menschheitsgeschichte hat ein Bemühen um eine Verbundenheit von Humanität und Legalität eingesetzt, die sich auch in einem internationalen Schutz der Menschenrechte3 zeigt. In der Mitte dieses Bemühens um eine menschliche Ordnung steht das Recht und zwar in zweifacher Form: einerseits in seinem präpositiven Bezug, der als Naturrecht bezeichnet wird, und andererseits im positiven Recht der einzelnen Staaten in der Völkergemeinschaft. *  Erschienen in: Festschrift für Andrés Ollero Tassara, hrsg. von Pedro Serna Bermudez, Christina Hermida del Llano und Jose-Antonio Santos, Madrid 2014. 1  Siehe Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, ihre Grundlagen und Hauptprobleme in geschichtlicher Form, 2. Aufl., Wien 1963. 2  Beachte Herbert Schambeck, Was kann der Jurist aus der Geschichte lernen?, Gdanski Studia Prawsnicze, Tom XXVII, 2012, S. 453 ff. 3  Dazu Menschenrechte, ihr internationaler Schutz, hrsg. von Bruno Simma und Ulrich Fastenrath, 6. Aufl., München 2010.

310

Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechtes

Das Naturrecht ist ein Regulativ für den Gesetzgeber, dem als Sozialgestaltungsempfehlung ein Gewissensanspruch zukommt. Dem positiven Recht hingegen eignet die Befehls- und Zwangsgewalt des Staates, die in seiner Geltung begründet ist. I. Die Naturrechtslehren und der Rechtspositivismus Das Naturrecht tritt als Idee einer absoluten Ordnung auf, die in den Bereich der Metaphysik gehört. Über diese Idee sind in der abendländischen Rechtsphilosophie verschiedene Lehren4 entwickelt worden, die erkenntnistheoretisch bedingt sind und nach dem jeweiligen Menschenbild zur Rechtfertigung verschiedener Staatsformen geführt haben, so z. B. das negative Menschenbild des Thomas Hobbes5 zur Rechtfertigung der absolutistischen Monarchie und das positive Menschenbild John Lockes6 zur Rechtfertigung des Konstitutionalismus und der Begründung des Liberalismus. Das positive Recht tritt in Rechtssätzen entgegen, die aus zwei Teilen bestehen: den Tatbestand und die Rechtsfolge. Der Tatbestand hat einen generellen Charakter, lässt sich der vom Einzelnen gesetzte Sachverhalt unter ihn subsumieren, wird die Rechtsfolge, also die Sanktion verhängt. Das positive Recht tritt in einer Vielzahl von Rechtssatzformen auf, die nach der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung in einem Verhältnis der Über- und Unterordnung zueinanderstehen. Solche Rechtssatzformen sind das Verfassungsgesetz, einfache Gesetze, die Verordnung, die Bescheide, das Urteil und die Vollstreckungsverfügung. Der Rang in diesem Stufenbau der Rechtsordnung, dessen Lehre auf Adolf Merkl7 zurückgeht, bestimmt sich nach der derogatorischen Kraft, danach derogiert die höhere Norm der rangniederen Norm und die spätere Norm die frühere Norm. Die Lehren vom Naturrecht beinhalten einen präpositiven Bezug des Rechts und haben nach der Scholastik des Mittelalters sowie dem sich davon unterscheidenden Rationalismus der Neuzeit durch den Vernunftoptimismus zu Rechtskodifikationen zunächst des privaten8 und hernach des positiven Rechts geführt, die in der Folge in einer Verbundenheit von De4  Dazu Verdross, a. a. O., S. 114 ff. und Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, Versuch einer Orientierung, Karlsruhe 1964. 5  Thomas Hobbes, Leviathan 1651. 6  John Locke, Two treatises of government 1690; dazu Verdross, a. a. O., S. 122 ff. 7  Siehe Adolf Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien und Berlin 1927, Neudr. Darmstadt 1969, S. 157 ff. 8  Beachte Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967.



Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechtes311

mokratismus und Liberalismus den Verfassungsstaat der Neuzeit9 entstehen ließen, der nach dem Vorbild der Verfassung der USA10 neben der Regelung der Staatsorganisation in einem Grundrechtsteil einen Schutz der Menschenrechte ermöglichte. Die Formen und Wege des positiven Rechts des Verfassungsstaates wurden mit dem Vordringen des Rechtspositivismus11, schon beginnend im 17. Jahrhundert, besonders deutlich dann im 19. Jahrhundert mit Karl Bergbohm12, der ein Naturrecht als unmöglich erklärt, des metaphysischen Bezuges entledigt und das Tor zu einem ethischen Relativismus geöffnet. In diese Offenheit drang im 19. Jahrhundert eine Pluralität als Folge eines entstandenen vielfachen Nationalbewusstseins und demokratischer Willensbildungen. Nationalitäten, Minoritäten, Parteien und Interessenverbände organisierten und repräsentierten sich. Diese Pluralitäten führten zu Gegensätzlichkeiten innerhalb der einzelnen Staaten und zwischen diesen. Grundwerte in den Staaten und der Völkergemeinschaft gingen verloren. Zwei Weltkriege machten dies mit Millionen an Menschenopfern ebenso deutlich, wie die Vernichtung von Menschenleben durch Ideologien wie Kommunismus und Nationalsozialismus. Der Satz, der im Konzentrationslager Majdanek, in dem über 350.000 Menschen vergast wurden, steht: „Unser Leidensweg sei Euere Mahnung“ ist eine Verpflichtung! Diese Konfrontation von Humanität und Legalität war dadurch entstanden, dass sich durch den Rechtspositivismus der Verfassungsstaat zu einem wertneutralen Rechtswegestaat entwickelte. In diesem Gemeinwesen stand die Rechtsform im Mittelpunkt und der Rechtsinhalt durch die parlamentarische Willensbildung der Politik zur Disposition. In der Rechtstheorie führte zu diesem Rechtspositivismus die sogenannte „Reine Rechtslehre“ von Hans Kelsen, der mit seinem zahlreichen schon am Beginn des 20. Jahrhunderts begonnenen, auch oft übersetzten Schriften, besonders in seiner 1934 in erster Auflage erschienenen „Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik“ wegweisend wurde. Diese Rechtslehre Kelsens „versucht, die Frage zu beantworten, was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein und gemacht werden soll. Sie ist Rechtswissenschaft, nicht aber Rechtspolitik … Sie will die 9  Beachte Carl J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin / Göttingen /  Heidelberg 1953. 10  Hiezu Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, hrsg. von Herbert Schambeck gemeinsam mit Helmut Widder und Markus Bergmann, 2. Aufl., Berlin 2007. 11  Näher Verdross, a. a. O., S.  172 ff. 12  Karl Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 1892, bes. S. 175, 372, 381, 384, 403, 425 und 455.

312

Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechtes

Rechtswissenschaft von allen ihr fremden Elementen befreien.“13 Er betont: „In völlig kritikloser Weise hat sich die Jurisprudenz mit Psychologie und Biologie, mit Ethik und Theologie vermengt.“14 Kelsen15 ist es in seiner „Reinen Rechtslehre“ um eine Rechtsformenlehre gegangen, die zu einem Werteneutralismus und Gesinnungsindifferentismus führte, die autoritäre und totalitäre Staaten ge- und missbrauchten. Als Staatsrechtslehrer hat Kelsen mit seiner rechtspositivistischen Einstellung nach dem Ende des ersten Weltkrieges in Österreich, als er Rechtsberater des letzten Herrscher, nämlich Kaiser Karl I. am Ende der Monarchie war und nach Ausrufung der Republik auch Rechtsberater des Staatskanzler Dr. Karl Renner sowie der konstituierenden Nationalversammlung wurde, in verhältnismäßig kurzer Zeit mit Zustimmung der damaligen Parlamentsfraktionen im Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) 1920 die heute noch geltende Staatsrechtsordnung der Republik Österreich in ihrer Primärquelle ermöglicht. Diese kurzfristige Beschlussfassung des B-VG 1920, das in der Fassung der Novelle 1929 noch heute die normative Grundlage der österreichischen Staatsrechtsordnung ist, war deshalb unter anderem besonders möglich, weil Kelsen mit seinem rechtspositivistischen nur auf Regelung der Rechtswege in der normativen Ordnung Österreichs gerichteten Verfassungsentwurf der Verfassung gebenden Nationalversammlung eine Wertediskussion mit ideologischen und weltanschaulichen Auseinandersetzungen erspart hat. Diese Staatsorganisationsregelung im B-VG ergänzte Kelsen durch die Grundrecht aus der Dezemberverfassung 1967, die der damals noch absolutistisch denkende Kaiser Franz Josef I. in einer Zeit als es noch keine demokratisch gewählte Volksvertretung gab, den Liberalen gewährte und welche im Staatsgrundsatz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger RGBl. Nr. 142 durch Rezeption im Art. 149 B-VG aus dem Staatsrecht der seinerzeitigen konstitutionellen Monarchie in das Verfassungsrecht der Republik Österreich übernommen wurden. Dieses B-VG als ein Beispiel für eine positivistische Verfassung enthält u. a. bis heute keine Begriffe wie Rechts- und Gesetzesstaat, Freiheit und Würde des Menschen; der Begriff des Grundrechts geht unterschiedslos im Begriff verfassungsgesetzlich gewährte Rechte in der Kompetenz des Verfassungsgerichtshofes als Sonderverwaltungsgerichtshof auf. 13  Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, Leipzig/Wien 1934, S. 1. 14  Kelsen, a. a. O. 15  Siehe Herbert Schambeck, Möglichkeiten und Grenzen der Rechtslehre Hans Kelsens, in: derselbe, Der Staat und seine Ordnung, ausgewählte Beiträge zur Staatslehre und zum Staatsrecht, hrsg. von Johannes Hengstschläger, Wien 2002, S. 765 ff.



Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechtes313

Der Verfassungsgesetzgeber hat nur jene Begriffe in das B-VG expressis verbis aufgenommen, die nach Ausrufung der Republik Österreich 1918 neu in das Staatsrecht der Republik aufgenommen wurden.16, das war die Erklärung der Staatsform der Republik im Art. 1 B-VG, der das Wort Demokratie nur eigenschaftswörtlich verwendet, und im Art. 2 der Staatsaufbau als Bundesstaat. Beides war deshalb erforderlich, weil der 1918 beendete Staat, der sich die im Reichsrat vertretenden Königreiche und Länder nannte, eine konstitutionelle Monarchie und ein dezentralisierter Einheitsstaat war. Sonstige Werteaussagen fehlten. Dieses B-VG wurde 1920 in einem Parlament in Österreich beschlossen, das von der Existenzfähigkeit dieses Staates nicht überzeugt war. Adolf Merkl17, neben Kelsen ein Mitschöpfer des Entwurfes dieses Verfassungsgesetztes, betrachtete es als „ein nicht akzeptiertes Offert an die Weimarer Republik“. Diese Weimarer Republik fand 1933 ihr Ende, als Adolf Hitler im Deutschen Reich auf parlamentarischen Weg mit Mehrheit zunächst an die Spitze der Regierung und nach Paul von Hindenburgs Tod 1934 an die Spitze des Staates trat. Diese Machtergreifung führte in der Folge dazu, dass aus politischen und rassischen sowie militärischen Gründen Millionen von Menschen zunächst ihre Freiheit und später ihr Leben verloren. Der Macht- und Größenwahn eines Einzelnen pervertierte das Recht dazu, dass die Freiheit als ein Aufstand des Egoismus gegen die Volkgemeinschaft bezeichnet wurde18. Neben Pervertierung durch die Ideologie des Nationalsozialismus folgte die des Kommunismus. So lehrte Friedrich Engels19, dass die Freiheit die Kenntnis der ökonomischen Gesetzmäßigkeit ist. Andrej Januarjewitsch Wyschinski erklärte dem folgend, dass das Recht nichts anderes als ein klassenkämpferisches Instrument ist20.

16  Beachte Herbert Schambeck, Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsinterpretation in Österreich, in: derselbe, Der Staat und seine Ordnung, S. 73 ff. 17  Dazu Adolf Merkl, Gedanken zur Entstehung und Entwicklung der Republik Österreich und ihrer Verfassung, in: Festschrift für Ernst C. Hellbling zum 70. Geburtstag, hrsg. von H. Lentze, P. Putzer, W. Fink, Salzburg 1971, S. 517 ff. 18  Beachte Manfred Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechts­wissenschaft, Band 50, Berlin 1997, S. 399 ff. 19  Friedrich Engels, Anti-Düring, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke (hrsg. vom Institut für Marxismus – Leninismus beim ZK der SED), Bd. XX, Berlin 1962, S. 106. 20  Beachte Andrej Januarjewitsch Wyschinski, Fragen des Rechts und des Staates bei Marx, in: Sowjetische Beiträge zur Staats- und Rechtstheorie, Berlin 1953, S. 76.

314

Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechtes

II. Naturrecht und Verfassungsrecht Diese Beispiele zeigen, dass Ideologien das wertneutrale, positive Recht zu „nutzen“ verstanden und zwar auf Kosten der Freiheit und Würde des Menschen; die Reaktion darauf war nach dem 2. Weltkrieg besonders in Deutschland „die ewige Wiederkehr des Naturrechts“, wie Heinrich Rommen sein viel zitiertes 1936 in erster und 1947 in zweiter Auflage erschienenen Buch betitelte. Die zeigt sich deutlich sogar expressis verbis im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland21 1949, die mit dem Gottesbezug22 in der Präambel „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ beginnt und im Art. 20 unter Verfassungsgrundsätzen ausdrücklich die Gebundenheit der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung, an Gesetz und Recht angibt. Beispielgebend hat damit das Verfassungsrecht Deutschlands einen präpositiven Bezug und das Naturrecht im Verfassungsrecht anerkannt. Anders als im österreichischen B-VG, im dem es keinen eigenen Grundrechtskatalog gibt und die Grundrechte durch Rezeption aus der Dezemberverfassung 1867 im Art. 149 B-VG einen verfassungsgesetzlich ergänzenden Charakter haben23, beginnt in Deutschland das Grundgesetz nach der Präambel mit dem Kapitel „I. Die Grundrecht“, deren Änderung für „unzulässig“ im Art. 79 Abs. 3 GG und „das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“ im Art. 20 Abs. 4 erklärt wird. Einen präpositiven Bezug enthält auch das Recht der EU, das in der Präambel des Vertrages über die Europäische Union24 erklärt „schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit entwickelt haben“. Auch die Präambel der Charta der Grundrecht der Europäischen Union25 enthält einen solchen präpositiven Bezug, wenn festgestellt wird: „In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt den Menschen 21  Dazu Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1 München 1984, Band II München 1980, Band III / 1 München 1988, Band III / 2 München 1994, Bans IV / 1 München 2006, Band IV / 2 München 2001 und Band V München 2000. 22  Beachte Herbert Schambeck, Gott und das Verfassungsrecht, in: L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache vom 16. Januar 2004, Nr. 3, S. 12. 23  Näher Johannes Hengstschläger / David Leeb, Grundrechte, 2. Aufl., Wien 2013. 24  ABl.Nr. C 290 / 1 vom 30.11.2009. 25  ABl.2007, C 303 / 1.



Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechtes315

in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet. Die Union trägt zur Erhaltung und zur Entwicklung dieser gemeinsamen Werte unter Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditionen der Völker Europas, sowie der nationalen Identität der Mitgliedstaaten und der Organisation ihrer staatlichen Gewalt auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene bei.“ Diese auch präpositiven Aussagen führen mit den übrigen Bestimmungen des Vertrages von Lissabon und der EU-Grundrechtecharta zum Erkennen der EU sowohl als Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft als auch als Rechts- und Wertegemeinschaft. Präpositive Bezüge enthält auch die Verfassung Polens26 1997, nach deren Präambel sich mit ihr identifizieren können: „sowohl diejenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und Schönen glauben, als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten“. Erwähnt sei auch, dass die neue Schweizerische Bundesverfassung 2000 einen präpositiven Bezug durch eine Invocatio Die beinhaltet: „Im Namen Gottes des Allmächtigen! Das Schweizervolk und die Kantone, in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung … geben sich folgende Verfassung“. Wie im Kommentar zu dieser Verfassung der Eidgenossenschaft betont wird, wird der Name Gottes „nicht angerufen, um diese staatliche Ordnung zu legitimieren, viel eher ist der Anruf in einem herrschaftskritischen Sinn zu verstehen“27. Dieser Gottesbezug in der schweizerischen Bundesverfassung, dies sei betont, ist Ausdruck einer langen Tradition im Verfassungsdenken der Eidgenossenschaft. III. Naturrecht im formellen und materiellen Sinn Betrachtet man diese Rechtsentwicklung vor allem auch im Verfassungsrecht einzelner Staaten und ihre Mitarbeit an der neuen Ordnung des sich integrierenden Europas, dann kann ein jeweils spezifisches Rechtsverständnis erkannt werden, das neben dem positiven Recht in den demokratischen Verfassungsstaaten präpositive Rechtsbezüge erkennen lässt. Die Entwicklung des positiven Rechts hat im demokratischen Verfassungsstaat zu einem demokratischen Wahlrecht, parlamentarischer Staatswillensbildung, Verfassungsmäßigkeit des Staatshandelns, einem Stufenbau der 26  Beachte

Boguslaw Banaszak, Prawo Konstytucyjne, Warszawa 1999. schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, hrsg. von Bernhard Ehrenzeller u. a., Zürich 2002, S. 8. 27  Die

316

Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechtes

Rechtsordnung, der Gesetzesbindung der Verwaltung, der Unabhängigkeit der Gerichte, der Rechnungs- und Gebarungskontrolle und der Amtshaftung geführt. Rechtswege wurde angelegt und kontrolliert. In welchen Richtungen und zu welchen Zwecken diese Wege angelegt werden, bleibt der Politik der Verantwortlichen überlassen. Verantwortung tragen verlangt Antwort geben und dieses setzt Zeit- sowie Rechtsverständnis voraus, das mit den Bereich der Politik ausmacht, auf den Religionen, Weltanschauungen und Ideologien von Einfluss sind. Je nachdem, ob im Verfassungsrecht eines Staates präpositive Bezüge gegeben sind, werden diese in den jeweiligem Staat zu einer Rechts- und Wertegemeinschaft die Entwicklung ermöglichen. Neben dieser Entwicklung des positiven Rechts, das sich im demokratischen Verfassungsstaat mit seinen genannten Kennzeichen dokumentiert, zeigt sich mit wechselnder Deutlichkeit das Naturrecht im formellen und materiellen Sinn; beide mit ihren Möglichkeiten und Grenzen. Die Rechtssatzformen des positiven Rechts dokumentieren sich expressis verbis in generell abstrakten sowie individuell konkreten Normen, anders das Naturrecht. Das Naturrecht kann als Begriff im formellen Sinn seine Eigenständigkeit gegenüber dem positiven Recht durch eigene Begrifflichkeit dokumentieren, wie sehr deutlich im Grundgesetz Deutschlands, das im Art. 20 Abs. 3 die Gebundenheit der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung „an Gesetz und Recht“ angibt. Mit diesem unterschiedlichen Begriff wird ein präpositiver Bezug gegeben, der Naturrecht erkennen lässt. Im Unterschied zum positiven Recht, das von einer Mehrzahl der Rechtsformen geprägt ist, die im Verfassungsstaat stufenförmig geordnet und von einer legitimierten Autorität in Geltung gesetzt sind, ist die Präpositivität des Naturrechts offener und nicht so systematisch. Sie ist nicht mit Befehlsund Zwangsgewalt ausgestattet, sondern beruht zum einen auf der Überzeugung einer Rechtsidee und ihren Erscheinungsformen sowie andererseits auf einer Seinseinsicht. Der Ordnungsanspruch des Naturrechts liegt in der Überzeugung von einem präpositiven Rechtsbezug sowie in der Seinseinsicht begründet, die durch Wesensbetrachtung zur Natur der jeweiligen Sache28 und durch die Wesenserkenntnis zur ontologischen Begründung des Rechts führen kann. Während das positive Recht der Rechtssetzung durch den jeweiligen Staat bedarf, ist das Naturrecht im materiellen Sinn in dem Rechtsbewusstsein 28  Näher Herbert Schambeck, Der Begriff der „Natur der Sache“, ein Beitrag zur rechtsphilosophischen Grundlagenforschung, Wien 1964 und Die ontologische Begründung des Rechts, Wege der Forschung, Band XXII, hrsg. von Arthur Kaufmann, Darmstadt 1965.



Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechtes317

und der Seinseinsicht der einzelnen Menschen vorgegeben, das aber nicht immer gleich von allen erkannt und befolgt ist. Dieser präpositive Rechtsbezug kann die Rechtsidee in ihren Erscheinungsformen erkennen lassen, diese sind das Gerechtigkeitsprinzip, die Rangordnung der Werte, die allgemeinen, übereinstimmend anerkannten Rechtsgrundsätze und der Grundsatz der Rechtssicherheit. Die Gerechtigkeit ist das Prinzip, das die Gleichheit verlangt, wonach gerecht ist, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich, ungerecht aber, Ungleiches gleich und Gleiches ungleich zu behandeln. Die Gerechtigkeit im Sinne der Gleichheit gibt ein Verhältnis an, und zwar um formalen Sinn: die Übereinstimmung eines Rechtssatzes mit einer ranghöheren Norm, im materiellen Sinn: die Beobachtung eines materialen Apriori durch den Gesetzgeber im Wege der Positivierung. In diesem Sinne handelt materiell gerecht jener Gesetzgeber, der die in den Dingen liegende Ordnung berücksichtigt, dessen Rechtssetzung also in einer Sachentsprechung gleichkommt. Dies ist etwa der Fall, wenn der Gesetzgeber im Privatrecht die natürlichen Dauereigenschaften des Menschen berücksichtigt und im öffentlichen Recht aus der Natur des Menschen zur Sicherung seiner Freiheit und Würde Grundrechte29 ableitet. Eine derartige Gesetzgebung ist keine Rechtsfindung im Sinne der Neuschöpfung eines bisher unbekannten Wertes, sondern vielmehr eine allgemein verbindliche positiv-rechtliche Anerkennung. Materialgerecht handelt somit jener Gesetzgeber, der in den Dingen innewohnende permanente Ordnung des sozialen Lebens anerkennt und zum Inhalt positiver Rechtssätze macht. Die Gerechtigkeit erhält in der Rangordnung der Werte einen sinnvollen Gehalt; das Bemühen um diesen war stets das Streben und das Kennzeichen des echten Kulturvolkes. Ihr richtiges Erfassen wurde verhindert einerseits durch die sich ändernden erkenntnistheoretischen Bedingungen und andererseits durch die politischen Wertungen der einzelnen Epochen. Vom Mut des Kriegers in der germanischen Zeit, über die Ehre Gottes im Mittelalter bis zur Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts wechselt die Bedeutung der einzelnen erstrebenswerten Höchstgüter, die es zu verteidigen oder anzustreben galt. Jede Stufe der kulturellen Fortentwicklung brachte ihre eigene Wertskala hervor. Diese Fragestellung soll nicht die Anerkennung eines Relativismus, sondern vielmehr ein Hinweis auf das stete Bemühen der Menschen aller Generationen um Höchstwerte sein. 29  Siehe Herbert Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für Johannes Messner zum 85. Geburtstag, hrsg. von Alfred Klose, Herbert Schambeck, Rudolf Weiler, Valentin Zsifkovits, Berlin 1976, S. 445 ff.

318

Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechtes

Eine Übereinstimmung in der Erkenntnis verschiedener Werte, die in der Idee des Rechts selbst gelegen sind, lässt sich aus den Rechtsgrundsätzen ermitteln, die wir in fast allen Rechtsordnungen feststellen können und die deshalb als übereinstimmend anerkannt bezeichnet werden. Also solche sind beispielswiese der Grundsatz von Treue und Glauben, der Anfechtung von Verträgen wegen Willensmängel, der Verschuldenshaftung, des Verbotes des Rechtsmissbrauches, der Rechtskraft von individuellen Rechtsakten und der Grundsatz „lex specialis derogat generali“ anzusehen. Sie sind ein Ausfluss des Rechtsbewusstseins der Menschen. Diese Rechtsgrundsätze sind die Voraussetzungen der Rechtsordnungen der einzelnen Staaten und damit auch des Rechtes der Staatengemeinschaft, nämlich des Völkerrechts. Auf sie ist in der völkerrechtlichen Judikatur immer dann zurückzugreifen, wenn das positive Völkerrecht keine andere Regelung ermöglicht. Da das Völkerrecht wesensmäßig unvollkommen ist, sind die allgemeinen Rechtsgrundsätze als die normative Grundlage bezeichnet worden, „welche die Staaten zu einer Einheit verbindet“30. Ihre ausdrückliche Positivierung, d. h. die Anerkennung dieses vorhandenen Rechtes, erfolgte durch Art. 38 lit. e des Statuts des Internationalen Gerichtshofes, danach hat dieser Gerichtshof subsidiär, wenn weder nach dem Vertragsrecht noch nach dem völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht die Regelung eines Streit­ falles möglich ist, diese nach den „von den Kulturvölkern übereinstimmend anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ (principes généraux de droit)31 zu urteilen. Diese Erscheinungsformen des Rechts verlangen nicht bloß erkannt, sondern in der gleichen Weise anerkannt zu werden. Dies verlangt daher die Rechtssicherheit. Ohne diesen normativen Grundwert würde sich die ganze Rechtsordnung erübrigen. Erst sie macht eine Rechtssetzung möglich. Der Begriff der Rechtssicherheit ist vieldeutig. Man versteht darunter in gleicher Weise die Bestimmbarkeit von Ordnungsprinzipien, den Schutz von Rechts­ einrichtungen wie die Vorhersehbarkeit staatlichen Organhandelns. Die Rechtssicherheit verlangt die Positivität des Rechts, d. h. den Zwangs­ charakter, der dem gesatzten Recht zu eigen ist. Dadurch ist den Kategorien der Gerechtigkeit und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen nicht bloß ihre Rechtsfindung, sondern eine Rechtsbefolgung gewährleistet.

30  Vgl. u. a. Alfred Verdross, Les principes généraux de droit dans le systéme des sources de droit international, in: Festschrift für Paul Guggenheim, 1968, S. 521 ff. 31  Vgl. Heribert Franz Koeck, Die Allgemeinen Rechtsgrundsätze im Völkerrecht, in: Fritz Schwind / Hans Hoyer / Helmut Ofner (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre ZfRV, Wien 2013, 107 ff.



Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechtes319

IV. Die Würde und Personhaftigkeit des Menschen Neben dem Rechtsbezug wird das Naturrecht im materiellen Sinn durch den Seinsbezug geprägt, der sowohl in der Natur des Menschen, als auch in der Natur der Sachen vorgegeben ist. Er bezieht sich auf humane und nicht humane Realien, welche sich präpositiv dem Gesetzgeber als Aufgabe stellen und die Wesenserkenntnisse verlangen. Mittelpunkt dieses Naturrechts im materiellen Sinn und damit auch wichtigste Erkenntnis ist der Mensch. Er ist gekennzeichnet von Dauereigenschaften und seiner Würde, die nach der Lehre des Christentums in der Gottesebenbildlichkeit des Einzelnen (Siehe Gen. 1, 26 f., 5,3 und 9,6) begründet und ein präpositiver Wert ist. Dieser Wert des Menschen drückt sich in dem Begriff „Person“ aus, der sich auf das lateinische Wort „personare“, was hindurchtonen heißt, zurückführen lässt und im griechischen Wort prosopon, wie die Göttermaske im archaischen Kulturen bezeichnet wurde, eine weitere antike Wurzel hat. Heinrich Schneider meinte daher: Die Person „ist jene Stelle der Welt, durch die hindurch ein höherer Anspruch in die Wirklichkeit kommt“.32 Die Erkenntnis der Würde des Menschen füht zur metaphysischen Wurzel der Rechte, welche als Grundrechte den Verfassungsstaat prägen und zur Verbundenheit von Humanität, Konstitutionalität und Legalität hinführen. Sie zeigen aber auch die Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechts sowie des positiven Rechts. V. Die Grundrechte Diese Rechte des Menschen sind als Grundrechte auf den Schutz der Würde und Freiheit des Menschen in verschiedenen Dimensionen und Grundrechtsformen bezogen; so als liberale Grundrecht oder Freiheitsrecht vor allem auf die Gleichheit vor dem Gesetz, der Freiheit der Person, des Eigentums, der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Forschung und ihrer Lehre, die Pressefreiheit, die Freizügigkeit und die Freiheit der Erwerbstätigkeit gerichtet. Als demokratische oder politische Grundrechte beinhalten sie das Wahlrecht, die Vereins- und Versammlungsfreiheit sowie das Peti­tionsrecht. Betrachtet man die Grundrechte in dieser ihrer klassischen Form so drücken sie zum überwiegenden Teil eine Negation staatlicher Zuständigkeit aus und sind Abwehrrecht gegenüber dem Staat. Sie suchen die Würde des Menschen im positiven Recht auszuführen und zu schützen. 32  Heinrich Schneider, Politische Bildung als Gewissensbildung, Beiträge zur politischen Bildung, Nr. 3, Würzburg 1961, S. 9.

320

Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechtes

Der Kreis der Grundrechte hat sich mit der Entwicklung der Bedürfnisse des Einzelnen und der organisierten Interessen der Gesellschaft erweitert. Zu den klassischen, nämlich liberalen und politischen Grundrechten sind sogenannte soziale Grundrechte33 getreten. Als solche soziale Grundrechte seien vor allem genannt: das Recht auf Arbeit, auf sichere, gerechte und gesunde Arbeitsbedingungen, auf ein gerechtes Arbeitsentgelt, auf Kollektivvertragsverhandlungen, der Kinder und Jugendlichen auf Schutz, auf Berufsberatung, Berufsausbildung, auf Gesundheit, Fürsorge und soziale Sicherheit. Alle diese verschiedenen Grundrechtswerte verlangen zu ihrem Rechtsschutz nach den ihnen entsprechenden Grundrechtsformen, als solche bieten sich die Möglichkeiten als subjektiv öffentliches Recht des Einzelnen gegen den Staat, als Einrichtungsgarantie, Organisationsvorschrift oder Programmsatz an. Während es sich im ersten Fall um einen von Einzelnen gegen den Staat jederzeit einklagbaren Individualanspruch handelt, ist in den übrigen Fällen mehr ein von der Verfassung an den einfachen Gesetzgeber gerichteter Sozialgestaltungsauftrag gegeben. Wird diese notwendige Beziehung der Grundrechtswerte auf die mögliche Grundrechtsform nicht beachtet, kann dies das allen Grundrechten zugrunde liegende Menschenbild gefährden. Diese Gefahr besteht vor allem bei neuen Grundrechten, wie den Sozialrechten, die nicht mehr wie die klassischen Grundrechte auf ein Unterlassen, sondern auf ein Tätigwerden des Staates gerichtet sind. Würde daher z. B. das Recht auf Arbeit als subjektiv öffentliches Recht, d. h. als ein von jedermann gegen den Staat einklagbarer Individualanspruch eingeräumt werden, würde dies nur zu bald zu einer Pflicht des Einzelnen zur Arbeit führen und damit die Zentralverwaltungs- und Planwirtschaft verlangen, da man in diesem Fall nicht bloß den Einzelnen berechtigen kann, seinen Arbeitsplatz gegen den Staat nötigenfalls einzuklagen, sondern dem Staat auch Gelegenheit geben muss, den Arbeitsplatz zu beschaffen, was ohne dirigistische Maßnahmen des Staates in der Wirtschaft nicht möglich ist. Anders ist dies, nimmt man diese auf ein Tätigwerden des Staates gerichteten Grundrechte als Organisationsvorschrift, Einrichtungsgarantie oder Programmsatz auf und damit also in einer die gesamte Politik des Gesetzgebers bestimmende Staatszielsetzung bzw. Staatszweckbestimmung; dies erteilt dem Staat den entsprechenden Sozialgestaltungsauftrag, den er dem jeweiligen socio-ökonomischen Verhältnissen und den übrigen Grundrechten angepasst ausführen kann und schafft dem Einzelnen soziale Sicherheit ohne seine Freiheit zu gefährden. Dieser Hinweis auf Möglichkeiten und Gefahren in der Weiterentwicklung der Grundrechte möge auch erkennen lassen, dass die Grundrechte nicht im33  Näher Herbert Schambeck, Grundrechte und Sozialordnung, Gedanken zur Europäischen Sozialcharta, Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 88, Berlin 1969.



Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechtes321

mer miteinander harmonieren und sich ergänzen müssen; es kommt vielmehr auch vor, dass sich Grundrechte reiben, man denke an das Reiben von sozialen Grundrechten34 mit der Eigentumsfreiheit, oder beim Konzentra­ tionsprozess innerhalb der Presse an das Reiben von Unternehmerfreiheit und Meinungsfreiheit der Redakteure. In solchen Fällen wird ein Interessenausgleich und damit oft auch eine politische Entscheidung erforderlich sein. Die Grenzen der Grundrechte verdeutlichen weiters auch die Tatsache, dass nicht alle Ansprüche und Werte, die grundrechtswürdig sind, auch grundrechtsfähig sein müssen. Wer hat etwa in unseren Tagen nicht oft und oft das Bedürfnis nach einem Grundrecht auf Ruhe durch Schutz vor Lärm, nach einem Grundrecht auf Verkehrssicherheit gegen Verantwortungslosigkeit der Verkehrsteilnehmer, nach einem Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre gegen Bespitzelung oder nach einem Grundrecht auf Alleinsein gegen Belästigung verspürt. Viele dieser Ordnungsansprüche können schon durch einfache Gesetze geregelt werden, manche aber auch nicht, weil sie sich normativ nicht erfassen lassen. VI. Die rechtlichen Ordnungsansprüche Das Bedenken der Grundrechtswürdigkeit in Bezug auf präpositive Werte, wie die der Würde des Menschen, und der Grundrechtsfähigkeit zu deren Rechtsschutz lässt den Unterschied von Naturrecht und positivem Recht erkennen. Der Anspruch des positiven Rechts ist begründet in der auf eine legitimierte Rechtssetzung zurückführenden Geltung des Rechtssatzes, der dann in dem Gemeinwesen eines Staates für alle Normadressaten gilt. Das Naturrecht enthält hingegen einen Ordnungsanspruch, der von der Gewissensund Seinsbezogenheit sowie der Wesenseinsicht des Einzelnen abhängt; sie können zur individuellen Verbindlichkeit als präpositiven Anspruch an das positive Recht führen. Die Geltung ist der Ordnungsanspruch des positiven Rechts, die Verbindlichkeit der Ordnungsanspruch der Sittenordnung und damit auch des präpositiven Rechts, also des Naturrechts, und die Wirksamkeit35 die Durchführung der Geltung oder der Verbindlichkeit. Die Wirksamkeit der Verbindlichkeit ist in der Positivierung eines Gebotes des Naturrechts gegeben, so in Grundrechten als Teil des Verfassungsrechtes. 34  Dazu Gerhard Müller, Die Drittwirkung der Grundrechte und das Sozialstaatsprinzip, in: Im Dienste der Sozialreform, Festschrift für Karl Kummer, Wien 1965, S.  375 ff. 35  Hiezu Herbert Schambeck, Ethik und Staat, Schriften zum öffentlichen Recht, Band 1986, S. 64 ff.

322

Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechtes

In dieser Betrachtung der Ordnungsansprüche des positiven Rechts muss zwischen der Entstehung und dem Bestand der Geltung einer Rechtsnorm unterschieden werden. Die Entstehung und Begründung der Rechtsgeltung erfolgt durch den Willensakt des jeweiligen Gesetzgebers und seiner Publikation. Die für den Bestand der Rechtsgeltung erforderliche Wirksamkeit hängt einerseits von der Anwendung der in Geltung gesetzten Rechtsnorm durch die Normkonkretisierungsorgane in der Vollziehung, also der Verwaltung und Gerichtsbarkeit, und andererseits von dem Maß an Rechtsgehorsam ab, die den betroffenen Normadressaten zu leisten gewillt sind. Je nachdem, ob die Organe der Rechtssetzung und Rechtsvollziehung sowie die Normadressaten in ihrem Rechtsbewusstsein von den Ansprüchen der Sittenordnung bzw. dem präpositiven Recht und dem Naturrecht bestimmt werden, wird die Verbindlichkeit ein motivierendes Moment für die Wirksamkeit der Rechtsnorm und so von Bedeutung für die Bestandssicherung der Geltung sein. Wo diese Übereinstimmung aber nicht gegeben ist, wird vom Staat gegenüber dem Einzelnen seine Befehls- und Zwangsgewalt einzusetzen sein, während andererseits der Einzelne die Möglichkeit des Widerstandes hat. Dieser Widerstand ist in einem Rechtsstaat mit Rechtsmitteln gegen Rechtsakte vorgesehen und erlauben im Instanzenzug bis zu Höchstgerichten eine Überprüfung des positivrechtlichen Gebotes auf seine Gesetzes- und Verfassungsmäßigkeit. Neben diesem Widerstand, der in der Unterschiedlichkeit der Überzeugung betreffend des positiven Rechts begründet ist, sowie neben dem Rechtsmittelverfahren kann auch Widerstand in verschiedener Weise geleistet werden, er kann u. a. im Unterlassen von Handlungen, in mündlicher und schriftlicher Kritik, in öffentlichen und geheimen Druckwerken, in Grenzvergehen, im Streik, im Boykott, in der Emigration, Sabotage, Wehrdienstverweigerung und im Aufstand bestehen. In jedem dieser beispielsweise genannten Fälle wird eine bestehende Ordnung in Frage gestellt; ist doch Widerstand gegen etwas auch gleichzeitig Kritik an etwas. Der Widerstand, welchen Grund er immer haben mag, führt zu einer Spannung zwischen dem Staat und dem Einzelnen, der nur möglich ist, wenn sich der Einzelne – ausdrücklich anerkannt oder stillschweigend vorausgesetzt – der Eigenständigkeit seiner im Naturrecht begründeten Freiheit und Würde bewusst ist. Somit ist der Widerstand Ausdruck einer Konfrontation von Staat und Einzelnem, von positiver und präpositiver Ordnung und die Ausübung des Widerstandes eine Konfliktsituation im Staat. In letzter Zeit hat sich eine neue Form des Widerstandes in Form von Terrorakten entwickelt. Dieser sogenannte Widerstand hat nichts mit der hier gemeinten Konfliktsituation von Gesetzes- und Sittenordnung zu tun;



Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechtes323

er geht auf Machtansprüche zurück, die außerhalb der Beziehung von Naturrecht und positiven Recht liegen, willkürlich sind und welchen in einem Miteinander der Staaten in der Völkergemeinschaft zu begegnen ist36. Eine besondere Form des Widerstandes wurde in das Verfassungsrecht Deutschlands 1968 im Art. 20 Abs. 4 Grundgesetz eingeführt, nachdem „gegen jeden, der es unternimmt“ die verfassungsmäßige Ordnung „zu beseitigen … alle Deutschen das Recht zum Widerstand“ haben, „wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. Auf diese Weise wurde legitimierter Ungehorsam37 Schutz einer Verfassungsordnung, die beginnend mit dem Gottesbezug in der Präambel und der Anerkennung der Freiheit und Würde des Menschen einen präpositiven Naturrechtsbezug hat. VII. Rechtsverständnis in Österreich und Deutschland Keine Staatsrechtsordnung hat im 20. Jahrhundert eine derartige Hinwendung zum präpositiven Recht und damit einen auch lesbaren Bezug zum Naturrecht vollzogen, wie nach dem Ende des nationalsozialistischen Regime und dem 2. Weltkrieg das Grundgesetz Deutschland38. Es hat mit Geschichtserfahrung, Gegenwartsverantwortung und Zukunftserwartung in einer Zeit der Zweiteilung der deutschen Nation ein Beispiel für eine normative Staatsordnung39 gegeben, das später nach der politischen Wende für viele postkommunistische Staaten in Mittel- und Osteuropa Wegweisung zu deren demokratische Verfassungsstaatlichkeit und ihre angestrebte Mitgliedschaft in der EU40 wurde, die sowohl eine Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft als auch eine Rechts- und Wertegemeinschaft sein soll. Auf diese Weise dokumentieren das Grundgesetz Deutschlands und das Recht der neuen Ordnung des integrierten Europas die erstrebenswerte Verbundenheit von Humanität, Konstitutionalität und Legalität. Sie haben das weiter36  Siehe Katrin Gierhake, Der Zusammenhang von Freiheit, Sicherheit und Strafe im Recht, eine Untersuchung zu den Grundlagen und Kriterien legitimer Terrorismusprävention, Berlin 2013. 37  Näher Herbert Schambeck, Widerstand und positives Recht. Gedanken zu Art. 20, Abs IV des Bonner Grundgesetzes, in: Menschen im Entscheidungsprozess, hrsg. von Alfred Klose und Rudolf Weiler, Wien/Freiburg/Basel 1971, S. 329 ff. 38  Dazu Stern, a. a. O. 39  Näher Herbert Schambeck, Sechzig Jahre Grundgesetz aus österreichsicher Sicht, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge, Band 57, Tübingen 2009, S. 71 ff. 40  Siehe Herbert Schambeck, Das Grundgesetz und seine Bedeutung für die neue Ordnung des integrierten Europa, in: 60 Jahre Grundgesetz, das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Verfassungsverbund, hrsg. von Klaus Stern, München 2010, S. 21 ff.

324

Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechtes

entwickelt, was in der Staats- und Verfassungswerdung der USA41 in der Zweiteilung von frame of government und bill oder declaration of rights grundgelegt wurde. Das Grundgesetz hat das Naturrecht im formellen und materiellen Sinn positiviert. Er anerkannt die Freiheit und Würde des Menschen, die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die Rangordnung der Werte und dient der Rechtssicherheit, weil es das Staatshandeln vorhersehbar und berechenbar auch durch den Stufenbau der Rechtsordnung und der Rechtskontrolle werden lässt. Nach vielen Jahrzehnten einen folgenreichen Rechtspositivismus, der durch autoritäre und totalitäre Regime wie den Nationalsozialismus und den Kommunismus zum Tod von Millionen Menschen führte, hat ein Bedenken des präpositiven Rechts eingesetzt. Diese Entwicklung ermöglichte in Deutschland auch wieder beispielgebend eine Identität von Verfassung im materiellen und formellen Sinn: einerseits durch die Gewährung von Grundrechten, die Angabe der Staatsorganisation sowie den Zwecken und Zielen des Staates und andererseits durch das Inkorporationsgebot im Art. 79 des Grundgesetzes, nach dem das Grundgesetz „nur durch ein Gesetz geändert werden kann, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt“. Durch diese Identität von Verfassung im formellem und materiellen Sinn entsteht Rechtssicherheit und ein Verfassungsbewusstsein! Anders ist dies in Österreich, dessen Staatsrechtsordnung wie es schon René Marcic42 ausdrückte, von einem „beredten Schweigen der Verfassung“ gekennzeichnet ist und im Hinblick auf den Rechtsquellenpluralismus, der neben dem B-VG 1920 das österreichische Staatsrecht kennzeichnet bereits Hans R. Klecatsky feststellen ließ: „die Bundesverfassung ist Ruine – innerlich und äußerlich“.43 In Österreich wirkt in dieser Weise die „Reine Rechtslehre“ Kelsens weiter und lässt zwar kein Naturrechtsbemühen, wohl aber die Möglich­ keiten und Grenzen des positiven Rechts erkennen. Sie erfuhr im Staatsrecht eine Ergänzung durch ein materiales Verfassungsverständnis44 sowie in der pluralistischen Gesellschaft eine Hinwendung zu einer theozentri41  Beachte Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, hrsg. von Herbert Schambeck, gemeinsam mit Helmut Widder und Markus Bergmann, 2. Aufl., Berlin 2007. 42  René Marcic, Das beredte Schweigen der Verfassung, in: Im Dienste der Sozialreform, Festschrift für Karl Kummer, Wien 1965, S. 403 ff. 43  Hans R. Klecatsky, Bundes-Verfassungsgesetz, in: Das österreichische BundesVerfassungsgesetz und seine Entwicklung, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1980, S. 83. 44  In diesem Bemühen Karl Korinek, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, Wien 2000.



Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechtes325

schen und anthropozentrischen Naturrechtslehre, auf die Verdross45 hinzuführen suchte. In Deutschland zeichnete sich eine Abkehr des Rechtspositivismus ab, für die Gustav Radbruch46 mit der Entwicklung seines Rechtsdenkens vom eigenen Rechtspositivismus weg und Helmut Coing47 mit seiner Wegweisung von Bedeutung sind. Kennzeichnend für diese Entwicklung ist in der Rechtsphilosophie der Nachkriegszeit, die für viele richtungsweisend wurde, von Radbruch „Fünf Minuten Rechtsphilosophie“ 1945, in deren fünften Minute er feststellte: „Es gibt also Rechtsgrundsätze, die stärker sind als jede rechtliche Satzung, so dass ein Gesetz, das ihnen wiederspricht, der Geltung bar ist. Man nennt diese Grundsätze das Naturrecht oder das Vernunftrecht. Gewiss sind sie im Einzelnen von manchem Zweifel umgeben, aber die Arbeit von Jahrhunderten hat doch einen festen Bestand herausgearbeitet und in den sogenannten Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte mit so weitreichender Übereinstimmung gesammelt, dass in Hinsicht auf manche von ihnen nur noch gewollte Skepsis den Zweifel aufrechterhalten kann.“48 Ein Jahr später 1946 drückte Radbruch die Spannungen von präpositiven und positiven Recht in seinen Gedanken über „gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ aus und erkannte: „Der Positivismus hat in der Tat mit seiner Überzeugung ‚Gesetz ist Gesetz‘ den deutschen Juristenstand wehrlosgemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts. Dabei ist der Positivismus gar nicht in der Lage, aus eigener Kraft die Geltung von Gesetzen zu begründen.“49 Der einzelne Mensch ist der Adressat der Gesetze, in denen sich das positive Recht ausdrückt und in Geltung steht; der Bestand dieser Geltung hängt aber von ihrer Wirksamkeit50 ab, die neben der Anwendung der Rechtsnorm durch die Rechtskonkretisierungsorgane auch der Gesetzesakzeptanz durch die einzelnen Normadressaten bedarf. In dieser Sicht hat die Geltung einen dialoghaften Charakter, die sich in der Beziehung von Normsetzer und Normadressaten ausdrückt und die Wirksamkeit einer Norm zur Bedingung ihrer Geltung macht.51 45  Verdross,

a. a. O., S.  256 ff. Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, hrsg. von Erik Wolf und HansPeter Schneider, Stuttgart 1973. 47  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, Berlin 1950. 48  Radbruch, Fünf Minuten Rechtsphilosophie, Rhein-Neckar-Zeitung vom 12.9.1945, in: Rechtsphilosophie, S. 328. 49  Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, a.  a. O., S. 344, aus Süddeutsche Juristenzeitung 1 (1946), S. 105 ff. 50  Hiezu Schambeck, Ethik und Staat, S. 64 ff. 51  Schambeck, a. a. O., S.  88 ff. 46  Siehe

326

Möglichkeiten und Grenzen des Naturrechtes

Bewusst, aber auch unbewusst wird diese Beziehung von Naturrecht und positivem Recht schicksalhaft für das Entstehen und den Bestand einer Rechtsordnung. Nach dem Strafrechtler Radbruch hat auch der Rechtshistoriker Coing in seiner Rechtsphilosophie auf „die bleibenden Struktur und Wesenszusammenhänge im Recht“52 verwiesen sowie die Rechtsidee mit ihren Erscheinungsformen und die ontologische Rechtsbegründung durch den Rechtsbezug auf die Natur der Sache anerkannt.53 VIII. Präpositiver Anspruch und positivrechtliche Sicherheit Nach Jahrhunderten, in denen nach verschiedenen erkenntnistheoretischen Positionen verschiedene Naturrechtslehren sich entwickelten und das positive Recht in Mehrzweckeverwendung Staatsrechtsordnungen in Geltung setzte, welche für, aber auch gegen die Humanität die Konstitutionalität sowie Legalität einsetze, sind bereits mit Tradition positivrechtliche Ordnungen entstanden, welche die Freiheit und Würde der Menschen in Grundrechten, übereinstimmend anerkannten Rechtsgrundsätzen und einer Rangordnung der Werte akzeptieren sowie der Rechtssicherheit dienen. Damit wurde dem Naturrecht im materiellen Sinn oft bedingt vom jeweiligen Verständnis der Menschen ihrer Zeit und deren Gesellschaft entsprochen. Diese Naturrechtsbezogenheit verlangt ein auch präpositiv bezogenes Wertdenken und eine Wesensbezogenheit auf die Realfaktoren des Rechts. Da dieses Wertedenken und diese Wesensbezogenheit oft von Mensch zu Mensch sowie von Zeit zu Zeit verschieden sein kann, dann oft auch das präpositive Rechtsdenken nicht jene Rechtssicherheit erreicht wird, die auf dem Weg parlamentarischer Staatswillensbildung möglich ist sowie in generell abstrakten und individuell konkreten Rechtsnormen vorhersehbar und berechenbar in Kraft tritt, ist das positive Recht erforderlich. Das positive Recht kann nämlich eine Rechtssicherheit ermöglichen, die das präpositive Naturrecht nicht vermag. Aus diesem Grund bedarf es eines besonderen Verantwortungsdenkens für alle in der Rechtssetzung, auf dass sie Wissen mit Gewissenhaftigkeit, Verantwortung mit Antwortgeben sowie Rechtmäßigkeit mit Menschlichkeit verbinden. In dieser möglichen Verbundenheit von präpositivem Anspruch und positivrechtlicher Sicherheit kann die Ordnung eines Staates entstehen, in der dem Einzelnen die Frage nach dem Woher und Wozu des Rechts beantwortet sowie die Wirksamkeit des Rechtsanspruches in dem Rechtsverständnis des Normadressaten und so auch die Geltung begründet wird. 52  Coing, 53  Coing,

a. a. O., S.  12. a. a. O., S.  93 ff.

IV.

Der Anspruch der Gerechtigkeit und die Geltung des positiven Rechts* Die Gerechtigkeit1 ist ein Wertmaßstab und die Geltung2 des positiven Rechts ein Ordnungsprinzip des Staates als der dem Einzelnen sowie der Gesellschaft übergeordneten Herrschaftsverband mit Höchstfunktion. Der Mensch, der in der Gemeinschaft des Staates lebt, wird von beiden berührt und das in dem Maße, in dem er sich des Anspruchs der Gerechtigkeit bewusst ist und sich darüber ein Gewissen macht sowie der Rechtsordnung und ihrem Ordnungsanspruch folgt. Je nach der Staatsform, Monarchie oder Republik, und dem politischen Ordnungssystem, das autoritär oder demokratisch sein kann, wird der Einzelmensch Gelegenheit haben, an dem Zustandekommen und der Gestaltung dieser Staatsordnung teilzunehmen sowie Subjekt und oder Objekt des Staates und seines Rechts zu sein. Begleitet von der entsprechenden Kenntnis kann der Mensch sich über sein Wissen auch ein Gewissen machen. Im Lateinischen verdeutlichen die beiden Worte scientia und conscientia den überlappenden Sinngehalt dieser Begriffe. Dabei ist es oft in unserer Zeit feststellbar, dass einerseits manche nicht das entsprechende Wissen haben, das erforderlich ist, um Verantwortung als Subjekt oder Objekt der Staatswillensbildung auszuüben und sich ein Gewissen zu machen. Sie übernehmen öfters Funktionen ohne entsprechende Voraussetzungen zu haben; andererseits gibt es Menschen, die vorgeben, sich in Positionen ein Gewissen zu machen, ohne das erforderliche Wissen, d. h. ohne die notwendigen Kenntnisse. Beide Umstände unserer Zeit sind in unterschiedlicher Form und Wirkung erkenn- und erlebbar. Sie wahrzunehmen ist ein Erfordernis unserer Gegenwart, in der immer mehr Lebensbereiche kompliziert und demokratisiert werden und verantwortet werden müssen. Verantwortung tragen verlangt nämlich Antwort zu geben. *  Erschienen in: Gedanken zur Gerechtigkeit. Festschrift für Hans Giger zum 80. Geburtstag, hrsg. von Walter Barfuß u. a., Bern 2009, S. 59 ff. 1  Siehe Otfried Höffe, Alexander Hollerbach, Walter Kerber, Gerechtigkeit, Staatslexikon Recht-Wirtschaft-Gesellschaft, hrsg. von der Görresgesellschaft, 2. Band (7. A. Freiburg im Breisgau 1986) 895 ff. und Herbert Schambeck, Ethik und Staat (Berlin 1986) 895 ff. 2  Beachte Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre (3. A. Darmstadt 1959) 333 f.; Felix Ermacora, Allgemeine Staatslehre, 2. Teilband (Berlin 1970) 963  ff. und Schambeck, a. a. O., 64 ff.

330

Der Anspruch der Gerechtigkeit

Das positive Recht mit seiner Geltung verlangt eine solche Antwort. Sie zeigt sich in der Rechtskenntnis und im Rechtsgehorsam, die Gerechtigkeit als Wertmaßstab führt dazu hin. I. Wertmaßstäbe Der Wertmaßstab der Gerechtigkeit wurde in der Geschichte des abendländischen Denkens3 in verschiedenem Bezug zu erfassen gesucht. Arthur Kaufmann betonte schon: „Im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende sind eine ganze Reihe solcher unveränderlicher Prinzipien der Gerechtigkeit heraus­ gearbeitet worden: das Gleichheitsprinzip, die Regel des ‚suum cuique‘, das Gebot ‚neminem laedere‘, das Tötungsverbot und nicht zuletzt das Schuldprinzip“.4 Theo Mayer-Maly hat aber leider Recht mit der Feststellung: „In der Entwicklung der Rechtskultur hat das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Recht eine sehr bewegte und nicht besonders rühmliche Rolle gespielt. Ulpians Definition der iustitia als constans und perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi ist von den Nazis mit ihrer zynischen Aufschrift am Eingangstor des KZ Buchenwald ‚Jedem das Seine‘ gründlich entehrt worden“.5 Zu Recht begleitet daher unsere Zeit der Aufruf, der über einem Aschenberg von Tausenden umgekommenen, zumeist vergasten Menschen im KZ Maidanek steht: „Unser Leidensweg sei Euere Mahnung“. Dieser Forderung suchte beispielgebend nach dem Zweiten Weltkrieg und dem NS-Regime das neue Deutschland nachzukommen und hat in Art. 1 des Grundgesetzes 1949 das Bekenntnis „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ abgegeben. In dieser Verfassungsbestimmung Deutschlands6 zeigt sich ein präpositiver Bezug, der sich auch in Art. 20 (3) Grundgesetz verdeutlicht. Er sieht vor: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden.“ Diese Verfassungsbestimmung Deutschlands verdeutlicht eine Verbundenheit von präpositivem und positivem Recht. Sie lässt Wertmaßstäbe erkennen, die zur Erkenntnis der Gerechtigkeit in ihrem zweifachen Bezug hinführen, nämlich zur Gerechtigkeit im formalen und materialen Sinn. 3  Näher Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, ihre Grundlagen und Hauptprobleme in geschichtlicher Form (2. Aufl. Wien 1963). 4  Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, eine strafrechtlich-rechtsphilosophische Untersuchung (Heidelberg 1961) 110. 5  Theo Mayer-Maly, Rechtsphilosophie (Wien 2001) 13. 6  Grundlegend Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, Grundbegriffe und Grundlagen des Staatsrechts, Strukturprinzipien der Verfassung (2. Aufl. München 1984).



Der Anspruch der Gerechtigkeit331

Gerechtigkeit im formalen Sinn ist die Übereinstimmung eines positiven Rechtssatzes mit einer ranghöheren Norm im Stufenbau der Rechtsordnung, eine Lehre, die auf Adolf Merkl7 zurückgeht. Dieser formalen Gerechtigkeit entspricht z. B. in der österreichischen Staatsrechtsordnung8 das gesetzesstaatliche Prinzip, das in Art. 18 (1) Bundes-Verfassungsgesetz 1920 lautet: „Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden“. Danach sind nur jene Rechtsakte gesetzmäßig, die letztlich auf Grund von Gesetzen im formellen und materiellen Sinn, die auf dem Weg parlamentarischer Staatswillensbildung zustande kommen, ergehen. Da das Verfassungsrecht die oberste Norm ist und so die normative Grundlage des Staates9 hat demnach die gesamte Rechtsordnung im Dienste der Verfassungskonkretisierung zu stehen, zumal die Rechtsnormen in einem Bedingungszusammenhang der Gesetzmäßigkeit stehen. Gerecht ist danach die Norm, welche die ranghöhere Norm ausführt. Positive Rechtmäßigkeit und formale Gerechtigkeit werden dadurch ident werden können. Anders ist der Bezug, welcher zur materialen Gerechtigkeit führt. Dieser materialen Gerechtigkeit vermag der Gesetzgeber im positiven Recht zu entsprechen, wenn er dem Apriori des Rechts, nämlich den Vorgegebenheiten der Staatsrechtsordnung, die in den Dingen zugrundeliegenden Strukturen gegeben sind, nämlich der Natur der Sache entspricht. Diese Natur der Sache10 tritt in der Natur des Menschen und den Realfaktoren des Rechts entgegen. Die Natur des Menschen verdeutlicht im öffentlichen Recht die Freiheit und Würde des Menschen, welche Grundrechte zu sichern vermögen, sowie im Privatrecht seine natürlichen Dauereigenschaften11. Eine solche Sachgerechtigkeit in der Gesetzgebung lässt diese keine bloße Rechtsfindung im Sinne einer Neuerkenntnis, sondern vielmehr eine positiv-rechtliche Aner7  Adolf Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, Gesellschaft, Staat und Recht, Festschrift für Hans Kelsen (Wien 1931) 252 ff., Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, Band 2 (Wien / Salzburg 1968) 1311 ff. 8  Siehe u. a. Walter Berka, Lehrbuch des Verfassungsrechts, Grundzüge des österreichischen Verfassungsrechts für das juristische Studium (2. Aufl. Wien 2008). 9  Siehe Werner Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Untersuchungen über die Entwicklungstendenzen im modernen Verfassungsrecht (Zürich 1945, Nachdruck Darmstadt 1971) und Herbert Schambeck, Der Staat und seine Ordnung, ausgewählte Beiträge zur Staatslehre und zum Staatsrecht, hrsg. von Johannes Hengstschläger (Wien 2002) bes. 45 ff. 10  Dazu Herbert Schambeck, Der Begriff der „Natur der Sache“, ein Beitrag zur rechtsphilosophischen Grundlagenforschung (Wien 1964); sowie Die ontologische Begründung des Rechts, hrsg. von Arthur Kaufmann (Darmstadt 1965). 11  Siehe schon Fritz von Hippel, Das Problem der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie (Tübingen 1936) 49.

332

Der Anspruch der Gerechtigkeit

kennung des Apriori sein. Material gerecht handelt damit jener Gesetzgeber, welcher der Natur der Sache, nämlich der den Vorgegebenheiten der Gesetzgebung innewohnenden Ordnung des sozialen Lebens, entspricht, indem er diese zum Inhalt positiver Rechtssätze macht. Die Positivierung der Menschenrechte in den Grundrechten eines Staates12 sind dafür ebenso Ausdruck materialer Gerechtigkeit wie die Beachtung von Realgegebenheiten wie u. a. von teilbaren und unteilbaren sowie körperlichen und unkörperlichen, verbrauchbaren und unverbrauchbaren Sachen, ideellen und manuellen sowie vertretbaren und unvertretbaren Leistungen; sie machen die Natur der Sache im engeren Sinne aus13. Die Gerechtigkeit stellt als Wertmaßstab eine Beziehung dar: in formaler Hinsicht im bedingenden und bedingten Zusammenhang der stufenförmigen Rechtsnormen und in materialer Sicht in der Wahrnehmung der Vorgegebenheiten des Rechts, sei es an Menschen und Sachen; beide verlangen für die sachliche Entsprechung im Rechtssatz durch die Gesetzgebung ihre Erkenntnis und Werterfassung. II. Realfaktoren des Rechts Da jeder Akt der Rechtssetzung letztlich auf die Ordnung von Gegebenheiten und Sachverhalten des Lebens gerichtet ist, bedarf der Gesetzgeber „der Kenntnis der Lebenswirklichkeit“, denn, wie es schon Ernst Beling hervorhob „ohne zu wissen, wie es ist, könnte er nicht bestimmen wollen, wie es sein soll, und nicht ermessen, ob sie so werden kann, wie es seinem ‚Soll‘ entspricht“.14 Dem Willensakt des Gesetzgebers geht ein Akt schöpferischer Erkenntnis voraus, der eine sachliche Wertung erst ermöglicht. Aufgabe der Methodik des Gesetzgebers ist es dann, für deren Herausarbeitung15 zu sorgen. Bei der Betrachtung der Gesetzgebungsarbeit ist eine inhaltliche und technische Seite zu unterscheiden16. Beide sind zwei Seiten ein und derselben Tätigkeit, die dem Ordnungszweck dient, der die Kenntnis des zu ordnenden Sachverhaltes ebenso verlangt wie die Auswahl der dem Zweck dienenden Mittel, die auf die Wirklichkeit einwirken sollen.17 Sehr deutlich zeigt sich 12  Beachte Hans Peters, Die Positivierung der Menschenrechte und ihre Folgen, in: Naturordnung in Gesellschaft und Staat, Festschrift für Johannes Messner zum 70. Geburtstag (Innsbruck 1961) 363 ff. 13  Näher Schambeck, a. a. O., bes. 32 ff., 38 ff. und 45 ff. 14  Ernst Beling, Methodik der Gesetzgebung (Berlin-Grunewald 1922) 1. 15  Siehe Beling, a. a. O., 7 ff. 16  Beachte schon Ernst Zitelmann, Die Kunst der Gesetzgebung (Dresden 1904) 5 ff. 17  Siehe Schambeck, a. a. O., 75 ff.



Der Anspruch der Gerechtigkeit333

dies bei den Grundrechten im demokratischen Verfassungsstaat.18 Sie positivieren die Freiheit und Würde des Menschen, die Christen in der Verbundenheit von imago dei und dignitas humana begründen19, im Begriff des Grundrechts, nämlich eines Anspruchs des Einzelnen gegenüber dem Staat, und haben eine ausgewogene ziel- und zweckorientierte Entscheidung zwischen den einzelnen Grundrechtsformen, nämlich subjektiv-öffentliches Recht, Einrichtungsgarantie, Programmsatz oder Kompetenzbestimmung20 für den jeweiligen Grundrechtswert zu treffen, wodurch in liberalen, demokratischen, sozialen und existentiellen Grundrechten eine Freiheit vom, im und durch den Staat sowie eine Lebenssicherheit ermöglicht werden kann. Die Ordnung des Staates kann dadurch eine Verbundenheit von Legalität und Humanität erreichen und von Menschenbild und Staatsform21 erkennen lassen. Die Natur der Sache verlangt Menschen- und Sachenverständnis. Beides hat seine Geschichte, dies zeigt sich für die Menschen in der Entwicklung des Grundrechtsschutzes22 und bezüglich der übrigen Apriori der Gesetzgebung schon in der römischen Antike, die an verschiedene Sachen unterschiedliche Rechtsfolgen knüpfte, z. B. war schon im römischen Recht der eigentliche usus fructus nur an unverbrauchbaren Sachen möglich, denn nur sie gestatten eine Benützung und Rückgabe „salva rerum substantia“23. Auch die „natürlichen“ Arten des Eigentumserwerbes lassen die Natur der Sache erkennen, welche die Römer auf die „naturalis ratio“ und das ius gentium zurückführten.24 Die Klassiker, insbesondere Gaius, suchten demgemäß die meisten sachenrechtlichen Fragen bezüglich des Eigentumserwerbs naturrechtlich zu begründen.25 Ratio wird als Erkenntniskraft der Vernunft und natura als sachgerechte Eigenart der Gegenstände der Außenwelt und deren eigentümliche Beschaf18  Dazu Herbert Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für Johannes Messner zum 85. Geburtstag (Berlin 1974) 445 ff.; sowie Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I, Entwicklung und Grundlagen, hrsg. von Detlef Merten und Hans-Jürgen Papier (Heidelberg 2004). 19  Näher Verdross, a. a. O., 259. 20  Siehe Schambeck, a. a. O., 477 ff. 21  Näher Herbert Schambeck, Menschenbild und Staatsform, in: Jahren- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1977 (Freiburg im Breisgau 1978) 26 ff. 22  Dazu Karl Korinek / Elisabeth Dujmovitz, Grundrechtsdurchsetzung und Grundrechtsverwirklichung, in: Handbuch der Grundrechte, 909 ff. 23  Paul. D. 7,1,1: Usus fructus est ius aliensis rebus utendi fruendi salva rerum substantia. 24  Siehe Max Kaser, Das Römische Privatrecht (München 1955) 358 und René Voggenberger, Der Begriff „Ius naturale“ im Römischen Recht (Basel 1952) 39 ff. sowie Paul. D. 17,2,83; D. 50,17,85,2 und Ulp. D. 25,3,5,16. 25  Gai. Inst. 2,79.

334

Der Anspruch der Gerechtigkeit

fenheit zu übersetzen sein. Demnach wäre unter „naturalis ratio“ schlicht „die natürliche Vernunft“ zu verstehen, welche die natürlichen Grundlagen, d. h. die der natürlichen Einsicht zugängliche Ordnung der Dinge, erkennen lässt. In diesem Zusammenhang sei auf die Entwicklung der mancipatio zu traditio26 und die Unterscheidung von körperlichen und unkörperlichen Sachen beim Eigentumserwerb verwiesen. Das die materiale Gerechtigkeit begründende Sachverständnis hat mit der Natur der Sache eine eigene Geschichte27 zu der Max Gutzwiller in der Festgabe der juristischen Fakultät der Universität Freiburg (Schweiz) zur 59.  Jahresversammlung des Schweizerischen Juristenvereins 1924 eine „Lehre von der ‚Natur der Sache‘ als Auslegungsprinzip eigener Art“28 hinzufügte. Für Gutzwiller setzt die Natur der Sache in dieser Anwendung voraus: „1. eine Gegebenheit, einen Stoff (die ‚Sache‘, aus der geschlossen, die als Obersatz gebraucht wird); 2. ein Begriffselement, das der ‚Sache‘ entnommen wird (die ‚Natur‘ der Gegebenheit, Untersatz); 3. eine Folgerung, die aus diesen Präzisen abgezogen wird (der Schluss).“29 Er betonte: „Wie bei der Auslegung eine juristisch relevante Gegebenheit mit den allgemein gebräuchlichen Mitteln zu ihren Folgerungen verstellt wird, so soll hier auf ganz besondere Weise aus einem vorliegenden Stoff dadurch juristisch Wertvolles gewonnen werden, dass ein bestimmtes, je nach Lage des konkreten Falles verschiedenes ‚Wesensmerkmal‘ von ihm abgezogen und zur Grundlage einer juristischen Folgerung gemacht wird. Dabei erweist sich diese Schlussform – denn als eine solche tritt die ‚Natur der Sache‘ in der hier zur Untersuchung stehenden Bedeutung immer auf – zum Unterschied von der Auslegung im hergebrachten Sinne als ergiebig bei rein tatsächlichen Verhältnissen.“30 Für Gutzwiller ist Folgendes „das Ausschlaggebende“ für „die Schlüsse aus der ‚Natur der Sache‘. Sie haben alle eines gemeinsam: dass nämlich ein einer Gegebenheit eigentümliches Wesensmerkmal zur Grundlage eines juristischen Urteils gemacht wird.“31

26  Siehe

Fritz Schwind, Römisches Recht I (Wien 1950) 49 f. Schambeck, a. a. O., 7 ff. 28  Max Gutzwiller, Zur Lehre von der „Natur der Sache“, Festgabe der juristischen Fakultät der Universität Freiburg (Schweiz) zur 59. Jahresversammlung des Schweizerischen Juristenvereins 1924 (Freiburg i. Ü. 1924) 282 ff. 29  Gutzwiller, Neudruck, 134. 30  Gutzwiller, a. a. O. 31  Gutzwiller, a. a. O., 139. 27  Näher



Der Anspruch der Gerechtigkeit335

III. Bedingungen der Rechtsgeltung und ihre Grenzen Menschlichkeit und Sachlichkeit prägen die materiale Gerechtigkeit als Wertmaßstäbe in Bezug auf das positive Recht, das in seiner stufenförmigen Ordnung geltender Rechtsnormen im Dienste der Verfassungskonkretisierung eines demokratischen Verfassungsstaates der formalen Gerechtigkeit entspricht. Die ergänzende Bezogenheit von formaler und materialer Gerechtigkeit ist von bestimmender Bedeutung für die Geltung des positiven Rechts. Sie begründet den Ordnungsanspruch des positiven Rechtssatzes im Staat mit. Diese ergänzende Bezogenheit ist deshalb von Wichtigkeit, weil jede Geltung des positiven Rechts zwar für ihre Rechtssetzung des Willens des rechtssetzenden Organs, für ihren Bestand aber der Wirksamkeit bedarf; diese kommt durch die Anwendung der Rechtsnorm seitens der Rechtskonkretisierungsorgane der Gesetzgebung sowie der Vollziehung und durch den Rechtsgehorsam seitens der Normadressaten zustande. Die Geltung einer Rechtsnorm ist zwar nach Hans Kelsen als ein Sollen von der Wirksamkeit, die eine Tatsache des Seins ist, zu unterscheiden32, trotzdem besteht auch für ihn insoferne ein bestimmter Zusammenhang, als auch nach Kelsen „eine Norm, die nirgends und niemals angewendet und befolgt wird, das heißt, eine Norm, die – wie man zu sagen pflegt – nicht bis zu einem gewissen Grad wirksam ist, nicht als gültige Norm angesehen wird.“33 Die Wirksamkeit ist also Bedingung der Geltung34 und zwar insoferne, „als Wirksamkeit zur Setzung einer Rechtsnorm hinzutreten muss, damit diese ihre Geltung nicht verliere“.35 Die Wirksamkeit muss also der Setzung folgen, damit die Geltung Bestand hat; um in der Terminologie Kelsens zu bleiben, bedarf es eines Seinsvorganges damit ein Sollen und zwar das des jeweiligen positiven Rechtssatzes gesichert ist. Die Rechtsanwendung durch die Normkonkretisierungsorgane in Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung sowie die Normbefolgung durch die Normadressaten ermöglichen diese Wirksamkeit als Bestandsgarantie der Geltung. Diese Normbefolgung führt zu dem Rechtsgehorsam, für den – von Ordnungsbewusstsein, Rechtsüberzeugung, Angst vor Sanktionen angefangen – 32  Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit (2. Aufl. Wien 1960) 10 f. 33  Kelsen, a. a. O., 10, siehe auch 215 ff. 34  Siehe auch Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen (Wien 1979) 111 ff. sowie Herbert Schambeck, Ordnung und Geltung, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht (Wien 1961) 470 ff. 35  Kelsen, Reine Rechtslehre, 11.

336

Der Anspruch der Gerechtigkeit

sicher verschiedene Beweggründe mit maßgebend sind, die auch außerrechtlichen Ursprungs sind, wie religiöse und ethische Einstellungen; wobei nicht alles, was die Wirksamkeit der Geltung des positiven Rechts bestimmt, deckungsgleich ist. Aufgabe des positiven Rechts ist es, durch seine Geltung vor allem zu normieren; zu seiner Wirksamkeit, das zeigt auch die Geschichte von Rechtsordnungen, bedarf es dazu auch des Motivierens; wo dies in entsprechendem Maße nicht gegeben ist, entsteht Widerstand36. Dieser kann in positivrechtlich vorgesehener Form zu politischen Manifestationen und ­Proklamationen auf Grund der Meinungsfreiheit, zu Gesetzesinitiativen im Rahmen demokratischer Staatswillensbildung im Parlament sowie zu Rechts­mitteln gegen Gerichtsurteile und Verwaltungsbescheide führen. Über diese Einzelfälle hinaus übersteigt dieser Widerstand staatsrechtliche Grenzen, wenn Volksbewegungen zu Revolutionen gegen bestehende Ordnungen führen. In diesem Fall vermag bei entsprechendem Ausmaß ein Seinsvorgang einen Sollensauftrag zu beenden. Damit es aber nicht zu solchen Vorgängen der revolutionären Änderung einer Staatsordnung kommt, bedarf die institutionalisierte Rechtsordnung der praktizierten Rechtserziehung37 sowie einer Staatsrechtsordnung, die nicht einen bloßen Machtanspruch, der von Gewaltanwendung begleitet ist, darstellt und eine voluntaristische Geltung ausdrückt, sondern eine autoritative Geltung38, die von einem bestimmten Maß an Rechtsüberzeugung getragen ist, die mit der auch innerlichen Einstellung der Normadressanten, religiös oder ethisch begründet, im erforderlichen Maße übereinstimmt.39 Das positive Recht befindet sich im Spannungsverhältnis zwischen Gerechtigkeit als Anspruch von Wertigkeit und dem Gebot auch der Rechtssicherheit als Erfordernis der Ordnung durch das positive Recht. Die Erkenntnis dieser Spannung war in vergangenen Zeiten unterschiedlich und bei autoritären sowie totalitären Regimen mit vielen Opfern im 36  Siehe Adolf Merkl, Die Staatsbürgerpflichten nach katholischer Staatsauffassung, Zeitschrift für öffentliches Recht (Wien 1937) 1 ff., Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Band 1, 447 ff., bes. 468 ff. und ders., Einheit oder Vielheit des Naturrechtes? Zeitschrift für öffentliches Recht (Wien 1953) 257 ff., Neudruck, 547 ff., bes. 596 ff. sowie Schambeck, Ethik und Staat, 98 ff. 37  Beachte Herbert Schambeck, Politische Ordnung und staatsbürgerliche Erziehung, in: Politische Bildung (Wien 1971) 32 ff.; Friedrich T. Wahlen, Politik aus Verantwortung (Basel 1974) und Flavio Cotti, Stunde der Wahrheit für die Schweiz (Freiburg i. Ü. 1992). 38  Dazu Herbert Schambeck, Geltung und Autorität, Estudios de filosofia del derecho y ciencia juridica, en memoria y homenaje al Catedratico Don Luis Legaz y Lacambra, Tomo II (1985) 667 ff. sowie ders., Ethik und Staat, 79 f. und 83 f. 39  Näher Schambeck, Ethik und Staat, bes. 78 ff.



Der Anspruch der Gerechtigkeit337

vergangenen Jahrhundert verbunden. Die Entwicklung der Einsicht in die Beziehungen von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit ist dafür kennzeichnend; Gustav Radbruch, der sich in dieser Zeit vom Rechtspositivisten zum Naturrechtsvertreter entwickelte, ist hiefür beispielgebend gewesen und wegweisend geworden. So ging nach Radbruch ursprünglich vor dem Erstem Weltkrieg die Rechtssicherheit vor der Gerechtigkeit40; er erklärte: „Da nun aber Vernunft und Wissenschaft diese Aufgabe nicht erfüllen können, so muss der Wille und die Macht sie übernehmen; vermag niemand festzustellen, was gerecht ist, so muss jemand festsetzen, was rechtens sein soll“41. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam Radbruch hingegen zu seiner später oft zitierten Einsicht: „Wenn Gesetze den Willen zur Gerechtigkeit bewusst verleugnen, zum Beispiel Menschenrechte willkürlich gewähren oder versagen, dann fehlt diesen Gesetzen die Geltung … dann müssen auch Juristen den Mut finden, ihnen den Rechtscharakter abzusprechen … es kann Gesetze mit einem solchen Maß von Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit geben, dass ihnen die Geltung, ja der Rechtscharakter abgesprochen werden muss … es gibt also Rechtsgrundsätze, die stärker sind als jede rechtliche Satzung, so dass ein Gesetz, das ihnen widerspricht, der Geltung bar ist.“42 IV. Gerechtigkeit und Rechtsgeltung im Dialog Rechtsanordnung, Rechtsüberzeugung und Rechtsgehorsam werden nicht immer umfassend übereinstimmen, sie sollten aber im größtmöglichen Maße aufeinander abgestimmt sein, damit jene Wirksamkeit zustande kommen kann, die zum Bestand der Geltung erforderlich ist.43 In dieser Sicht kann die Beziehung von Gerechtigkeit und Rechtsgeltung als dialoghaft bezeichnet werden. Dieser Dialog zwischen dem Einzelnen und dem Staat mit seiner Rechtsordnung ist auf die Positivität des Rechts gerichtet, überschreitet diese aber dann, wenn zur Begründung der Geltung des positiven Rechts die Präpositivität der Ordnung des Staates durch das Gewissen des Einzelnen als dessen Objekt oder Subjekt angesprochen wird. Ein solcher präpositiver Bezug ist schon bei der normativen Begründung einer Staatsordnung 40  Siehe Gustav Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie (Leipzig 1914) 39 ff. und Verdross, a. a. O., 216 ff. 41  Radbruch, a. a. O., 170 f. 42  Radbruch, Rechtsphilosophie (München 1956) 336. 43  Siehe Franz Klein, Die psychischen Quellen des Rechtsgehorsams und der Rechtsgeltung (Berlin 1912) bes. 57 f., 72 und 77; Rudolf von Laun, Vom Geltungsgrund des positiven Rechts, in: Grundprobleme des internationalen Rechts, Festschrift für Jean Spiropoulos (Bonn 1957) 327 ff. und Arthur Kaufmann, Recht und Sittlichkeit (Tübingen 1964).

338

Der Anspruch der Gerechtigkeit

in der Präambel eines Verfassungsgesetzes44 möglich, vor allem dann, wenn diese einen Gottesbezug aufweist. Dies ist in Fortsetzung einer langen Tradition im Verfassungsdenken der Eidgenossenschaft auch in der neuen Schweizerischen Bundesverfassung45 2000 gegeben: „Im Namen Gottes des Allmächtigen! Das Schweizervolk und die Kantone, in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung …, geben sich folgende Verfassung“. Nach dem Stand April 200646 haben von 191 Verfassungen 143 eine eigene Präambel und von diesen 65 einen Gottesbezug in je unterschiedlicher Formulierung. Das Grundgesetz Deutschlands 1949 drückt „Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ aus, während die Verfassung Polens 1997 die Beschlussfassung des Volkes betont „sowohl“ durch „diejenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten“. Wie die Präambel ist in einer Verfassungsrechtsordnung eine Gottesklausel weder politisch noch rechtlich notwendig, aber doch ein möglicher und empfehlenswerter Bestandteil. Sie kann Ausdruck einer religiösen, ethischen, kulturellen und politischen Grundhaltung eines Volkes sein. Sie kann infolge ihres präpositiven Bezuges im Verfassungsrecht dann auch die politische Willensbildung beschränken und eine jeden Menschen betreffende Höchstverantwortung verdeutlichen, ohne aber, was betont sei, „dass die Bürger verpflichtet sind, an Gott zu glauben.“47 Österreichs Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) 1920 enthält ebenso wie andere österreichische Verfassungsrechtsquelle keine Präambel und auch keinen Gottesbezug. Bei Reformbemühungen letzter Zeit hat es aber in Österreich Initiativen48 und Vorschläge gegeben, die aber bis jetzt zu keinen Beschluss fassenden Ergebnissen geführt haben.49 Ähnliches lässt sich auch betreffend der Grundordnung des integrierten Europas auf dem Weg zum früheren Verfassungsvertrag und jetzigen Reformvertrag von Lissabon50 sagen. 44  Beachte Peter Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: Demokratie in Anfechtung und Bewährung, Festschrift für Johannes Broermann (Berlin 1982) 212 ff. 45  Dazu René Rhinow, Grundzüge des Schweizerischen Verfassungsrechts (Basel / Genf / München 2003) bes. 24 f., Nr. 130 ff. und 553 f., Nr. 3132 f. 46  Constitutions of the Countries of the world, Stand April 2006. 47  Alexander Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VI (Heidelberg 1989) 518. 48  Dazu u.  a. Andreas Khol, Österreich-Konvent und Verfassungsreform, eine Zwischenbilanz, Journal für Rechtspolitik (Wien 2005) 95 ff. 49  Näher Herbert Schambeck, Zur Gottesfrage als Verfassungsfrage in Österreich, in: Identität und offener Horizont, Festschrift für Egon Kapellari (Wien 2006) 1107 ff.



Der Anspruch der Gerechtigkeit339

Präpositive und positivistische Bezüge bestimmen den Weg der Begründung der Geltung50 des positiven Rechts eines Staates und im sich integrierenden Europa des Staatenverbundes der EU der einzelnen Mitgliedsländer, welche, wie es das Bundesverfassungsgericht Deutschlands ausdrückte, „die Herren der Verträge“51 sind. Je mehr das politische Leben und die Staatswillensbildung demokratisiert werden, desto mehr stehen die Einzelnen mit ihrem Staat und seinem positiven Recht in konstitutierender sowie positivierender Weise dadurch in Beziehung, dass sie die Organe des Staates zu Rechtssetzung und Rechtsvollziehung je nach dem politischen Bewusstsein eines Volkes und der Grundordnung eines Staates auf repräsentativ oder plebiszitär demokratischem Weg oder in deren Kombination zur Verantwortung legitimieren. In dieser Entwicklung ist die Gerechtigkeit im formalen und materialen Sinn ein Wertungsmaßstab für die Beurteilung und Annahme des positiven Rechts sowie auf diese Weise mit eine wesentliche Voraussetzung für die Wirksamkeit und somit den Bestand der Geltung. Diese Beziehung vom Anspruch der Gerechtigkeit und der Geltung des positiven Rechts beinhaltet im Individual- und Sozialleben der Menschen ein Maß auch an Ethik, die Hans Giger stets im Auge hatte52; von ihr stellte er fest: „grundsätzlich besitzt ‚Ethik‘ Fliessbandqualität. Das gesamte Verhalten ist m.a.W. vom ethischen Imperativ erfasst. Die ethnischen, zeitbedingten und anderweitigen Unterschiedlichkeiten widerspiegeln sich nun zwangsläufig in der Vorstellung über das, was ‚ethisch anmutet‘“53 und betont getragen von Geschichtskenntnis, Gegenwartserfahrung und Zukunftserwartung: „Die Überlieferung hat das Netzwerk der in Ethik und Moral gründenden Normen für Gegenwart und Zukunft erhalten, sie stets neu gestaltend der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung angepasst“.54 Gedanken über Gerechtigkeit und positives Recht zu Ehren von Hans Giger sollen diese Notwendigkeit in Zeitverantwortung erneut bewusst machen. 50  Siehe Herbert Schambeck, Präambel und Gottesbezug, in: Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta hrsg. von Peter J. Tettinger u. Klaus Stern (München 2006) 241 ff. und ders., Über die Entwicklung des sich integrierenden Europa zum EU-Verfassungsvertrag und zum Reformvertrag von Lissabon, Current problem of European Integration (Pitesti 2009) 13 ff. 51  Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts der Bundesrepublik Deutschland 89, 155. 52  Siehe u. a. Hans Giger, Ethik als grenzenlos erweiterte Verantwortung. Gedanken zur Bedeutung der Ethik als Ordnungsprinzip und seine Verwirklichung im Recht, in: Festgabe zum 70. Geburtstag von Hans Giger (Bern 2000) 159 ff. 53  Hans Giger, Notwendigkeit der rechtlichen Verstärkung ethischer Imperative, in: Technologische Entwicklung im Brennpunkt von Ethik, Fortschrittsglauben und Notwendigkeit (Bern 2002) 264. 54  Giger, a. a. O., 279.

Menschenbild und Staatsform* „Wir müssen nicht rückwärts beginnen, bei den Regierungsformen und politischen Methoden, sondern wir müssen vorn anfangen beim Bau der Persönlichkeit, wenn wir wieder Geister und Männer haben wollen, die uns die Zukunft verbürgen … die Wurzeln tiefer treiben, nicht an den Ästen rütteln.“1 Dies schrieb vor mehr als fünf Jahrzehnten, nämlich 1919, Hermann Hesse aus Anlaß der ersten Ausgabe von „Zarathustras Wiederkehr“; Sätze, die nichts an ihrer Bedeutung eingebüßt haben, ja im Gegenteil heute von besonderer Aktualität sind. Ich werte es nämlich als mehr als einen Zufall, daß gerade diese Sätze in der Beilage der Samstagsausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 17. September 1977 schon einleitend zitiert wurden, während zur selben Zeit in Bonn der Krisenstab tagte und, umkreist von Hubschrauber, bewacht von 500 Bereitschaftspolizisten, im Barockjuwel von Ottobeuern über Einladung des Bischofs von Augsburg Josef Stimpfle inmitten von tausenden Teilnehmern Vertreter aus Kirche und Politik für die Einigung Europas und zugleich für das Schicksal von Hanns-Martin Schleyer beteten. Welches Bild des Menschen zeigt sich hier angesichts dieser Form des Staates? Menschenbild und Staatsform ist aber nicht bloß eine sich stellende Frage zu einer Zeit, in der sich ein Staat in einer Grenzsituation befindet, von deren Möglichkeit heute übrigens auch kein anderer Staat in der sogenannten freien Welt der Völkergemeinschaft ausgenommen ist. Menschenbild und Staatsform ist das Grundproblem der Lehre von Staat und Recht überhaupt und schließt damit die Frage nach der Stellung des Einzelmenschen im Staat selbst mit ein. Schon 1956 hat der Schweizer Staatsmann Friedrich Traugott Wahlen in einem Vortrag über „Hochkonjunktur und Menschenwürde“ bemerkte: „Wir pochen auf die Verantwortung der Gemeinschaft aller Stufen gegenüber dem Individuum und übersehen die Verantwortung des Einzelnen gegenüber sich selbst, gegenüber dem Nächsten und der Gemeinschaft, und Gott gegenüber.“2 *  Festvortrag, gehalten am 1.10.1077 anlässlich der 80. Generalversammlung der Görres-Gesellschaft in der Aula der Universität Innsbruck. Erschienen in: Jahresund Tagesbericht der Görres-Gesellschaft 1977, Köln 1978, S. 26 ff. 1  Hermann Hessen, zitiert nach der Beilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 17. September 1977. 2  Friedrich Traugott Wahlen, Dein Gewissen verpflichtet, 7. Aufl., Zürich 1969, S.  90 f.

342

Menschenbild und Staatsform

Es bedarf daher heute einer Hinwendung zu einer Staatslehre, die das Bild des Menschen, wie es im Verfassungsrecht mehr oder weniger realistisch oder idealistisch gezeichnet ist, als tragende Notwendigkeit in den Mittelpunkt unseres Denkens rückt, die dabei aber auch um die Bedingungen und Erfordernisse der Verankerung alles Institutionellen und Menschlichen weiß. Dazu lassen Sie mich unter Beachtung der einem Vortrag in einem derartigen Rahmen gesetzten zeitlichen Grenzen nach einer Klärung des Begriffs Staatsform die Beziehung von Menschenbild und Staatsform an Hand einiger Beispiele aus der Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie in seiner Entwicklung erklären, hernach seinen Ausdruck in dogmatischer Sicht im Verfassungssystem beleuchten, um abschließend daraus einige rechtspolitische Folgerungen für unsere Zeit zu ziehen. I. Menschenbild und Staatsform Die Lehre von den Formen der Staaten beschäftigt sich mit den verschiedenen typischen Methoden der Staatswillensbildung. „Setzt man Staatswillensbildung mit formeller Gesetzgebung gleich, so werden die Unterschiede der Staatsformen ausschließlich und erschöpfend durch die staatenweisen Abweichungen in der Organisation und dem Verfahren der Gesetzgebung begründet“3, dem fügte schon Adolf Merkl in seiner Lehre vom rechtlichen Stufenbau hinzu: „Erkennt man jedoch die Rechtserzeugung als einen stufenförmigen Prozeß, in dem die formelle Gesetzgebung nur Ausgangspunkt oder Durchgangspunkt, aber nicht Standpunkt ist, dann ist die Staatsform eines Staates nicht schon durch die positiv-rechtliche Gestaltung der Gesetzgebung, sondern erst durch die Mitberücksichtigung der Erzeugungsregeln sämtlicher außergesetzlichen und im besonderes untergesetzlichen Rechtserzeugungsstufen erschöpfend bestimmt.“4 In dieser Sicht „ist es auch kein Zufall, sondern nur die Tatsache, daß Staatstheorie und politische Praxis im entscheidenden Punkt miteinander korrespondieren, wenn der Gegensatz von Monarchie und Republik, von Autokratie und Demokratie, von Obrigkeits- und Volksstaat in Gegenwart wie Vergangenheit auch im Brennpunkte des politischen Kampfes steht“.5 So anerkennt dies auch Hans Kelsen in 3  Adolf Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: Gesellschaft, Staat und Recht, Festschrift gewidmet Hans Kelsen zum 50. Geburtstag, hrsg. von Alfred Verdross, Wien 1931, S. 287; Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl und Alfred Verdross, hrsg. von Hans Klecatsky, René Marcic und Herbert Schambeck, Band 2, Wien / Salzburg 1968, S. 1353. 4  Adolf Merkl, a. a. O. 5  Hans Kelsen, Staatsform als Rechtsform, Zeitschrift für öffentliches Recht 1925 / 26, S. 73; Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, S. 1689.



Menschenbild und Staatsform343

seinen Betrachtungen über Staatsform als Rechtsform; auch der Begründer der Wiener Rechtsschule und namhafte Vertreter des Rechtspositivismus erklärt: „Der Staat ist eine Ordnung menschlichen Verhaltens.“6 Dieses Verbundensein der Menschen, das wir Staat nenne, besteht darin, „daß das gegenseitige Verhalten der Menschen auf eine bestimmte Weise geordnet ist“.7 Diese Weise der Ordnung des Staates wird von vielfältigen, oft auch heterogenen politischen Strömungen bestimmt; je mehr nun im Laufe der Geschichte durch die Demokratisierung des öffentlichen Lebens transparent wurde, desto vielfältiger und pluralistischer wurden damit auch die Bedingungen des Staates und seiner Formen. Das Staatsrecht selbst hat im letzten die einzige und ständige Frage nach dem „suum cuique“ zu beantworten. In der Beantwortung der Frage, die in dem Zeitablauf allen Staaten gestellt war, zeigt sich das Bild vom Menschen und damit auch von der Anschauung der Welt. Schon Aloys Dempf meinte: „Die Weltanschauung (und damit auch die Rechtsanschauung) ist von den Menschenanschauung abhängig“8 … „Die Weltbilder sind von den Menschenbildern und diese von den Bestandteilen der Menschennatur abhängig.“9 Zu dieser Sicht kann die Geschichte von Recht und Staat als Teil der Geistesgeschichte angesehen werden; dies drückt sich auch in der Entwicklung der Beziehungen von Menschenbild und Staatsform aus. Die Staatsformenlehre findet ihr Grundgerüst in der Dreigliederung von „Monarchie, Aristokratie und Demokratie“; eine Gliederung, die bereits bei Herodot in seinem Gespräch mit den Persern die Grundlage und später durch Aristoteles ihre klassische Prägung bekam; diese Dreigliederung war vorherrschend, bis die Aristokratie allmählich verschwand, die Demokratie begrifflich zu einem politischen Ordnungssystem wurde und die heutige Einteilung der Staatsformen in Monarchien und Republiken erfolgte, die beide staatsrechtlich entweder autoritäre oder demokratische Züge annehmen können; Unterscheidungen und Nuancierungen, für die letztlich das Bild des Menschen neben dem jeweiligen spezifischen Erfordernissen der Staatsorganisation ausschlaggebend ist. Das deutlichste Beispiel einer Begründung der Form und des Aufbaues des Staates nach dem Bild des Menschen findet sich in der „Politeia“ Platons, nach dem der Mensch aus drei übereinandergelagerten Schichten besteht. Die 6  Hans Kelsen, Das Wesen des Staates, Internationale Zeitschrift für die Theorie des Rechtes 1926  /  27, S. 5 Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, S. 1713. 7  Hans Kelsen, a. a. O. 8  Alois Dempf, Theoretische Anthropologie, Bern 1950, S. 17. 9  Alois Dempf, a. a. O., S. 58.

344

Menschenbild und Staatsform

unterste Schicht bildet das sinnlich-begehrliche Vermögen, nämlich der Nahrungs- und Geschlechtstrieb sowie das Ruhebedürfnis; darüber befinden sich die eifrig mutigen Seelenkräfte, also der Mut, der Ehrgeiz und die Hoffnung. Die oberste Schicht ist die Vernunft, die dem Erleuchteten die Erkenntnis des göttlichen Seiens ermöglicht, was Platon in seiner Ideenlehre ausführt. Aus diesem Bild des Menschen erklärt auch Platon die Form des Staates; anders als es später die Naturrechtslehre der Neuzeit in einem Vertrag annimmt, meint Plato des Aufbau des Staates in den Anlagen des Menschen selbst begründen zu können. Den Anlagen der Menschen nach führen Platons Gedanken zu einer ständischen Gliederung des Staates, in welcher die Vernunft dem Herrscherstand, der Mut dem Kriegerstand und die Sinnlichkeit dem Wirtschaftsstand zugerechnet wird. Nach Platon ergibt sich aus der Natur des Menschen nicht nur die Herrschaft der Vernunft über den Willen und die Sinne, sondern auch die Arbeitsteilung; der Staat ist daher nur dann richtig geordnet, wenn nicht alle dasselbe tun, sondern jeder das, was seiner Naturanlage entspricht. Plato war aber so realistisch, zu wissen, daß sich diese Ideale nicht immer konsequent verwirklichen lassen und hat neben seinem Idealstaat in der „Politeia“ auch ein Realmodell in seinem letzten Werk „Nomoi“ entwickelt, in dem er die ständische Gliederung aufgegeben hat und eine Regierung vorsieht, die von der Volksversammlung gewählt wird. Plato muß von der Erkenntnis ausgegangen sein, daß unter verschiedenen soziologischen Voraussetzungen verschiedene Staatsformen erforderlich sind, er lehrte nämlich, daß noch weitere Staatsformen erdacht werden müssen, wenn der Staat der „Nomoi“ nicht verwirklicht werden kann. Wenngleich Plato in seiner gesamten Lehre verschiedenen Staatsformen zuläßt, muß nach ihm der Staat so geordnet sein, daß die Vernunft die Führung hat; er geht nämlich von der Annahme aus, daß es objektive Wesensgesetze des Staates gibt, die sich aus seiner Natur ergeben, werden sie aber verletzt, dann gefährdet sich der Staat, wodurch eine Änderung eintritt, deren Entwicklung Platon in dem 8. Buch seiner „Politeia“ in seiner berühmten Zyklentheorie darstellt, nach der sich aus den Schwächen menschlicher Eigenschaften Tendenzen der Entwicklung der Staatsformen ergeben. Verweichlichung, Bereicherung, Zügellosigkeit zählen zu den Eigenschaften der Menschen, welche die Aristokratie zur Timokratie, diese zur Oligarchie, dann zur Demokratie und letztlich diese zur Tyrannis werden lassen. Wenngleich die von Platon angenommenen Tendenzen in der Entwicklung der Staatsformen nicht immer in der beschriebenen Aufeinanderfolge und Wirkung auftreten, sind diese Möglichkeiten in der Staatengeschichte erkennbar gewesen.



Menschenbild und Staatsform345

Mit dem Bild des Menschen und der Entwicklung der Staatenformen hat sich nach Plato auch Aristoteles beschäftigt; gleich ihm geht auch Aristoteles von einer dynamischen Seinsbetrachtung aus, die in seiner bekannten Lehre von der Entelechie ihren Ausdruck und in dem berühmt gewordenen Satz seiner Politik, daß der Mensch ein Zoon physei politikon10 ist, eine klassische Prägung fand. Diese Lehre von der sozialen Natur des Menschen, die in der Gemeinschaft ihre volle Entfaltung findet, hat bekanntlich in der Rechtsphilosophie des Thomas von Aquin ihre christliche Prägung erfahren, wobei die in der Gottesebenbildlichkeit begründete Lehre von der Würde des Menschen ihr ein auch metaphysisch begründetes positives Menschenbild verleiht. Diese klassische Tradition von der sozialen Natur des Menschen und damit auch eines positiven Menschenbildes verläßt in der Neuzeit Thomas Hobbes, für den der Mensch ein asoziales Wesen ist. Für ihn sind die Menschen von Natur aus ungesellig; diese Natur hat nach Hobbes „sogar einen zu des anderen Mörder gemacht“.11 Diesen homo-homini-lupus-Zustand in einem bellum omnium contra omnes suchen die Menschen nach Hobbes, durch Leidenschaft und Vernunft herausgefordert, dadurch zu überwinden, daß sie sich in einem Gesellschaftsvertrag zusammenschließen und in einem Unterwerfungsvertrag eine Autorität kreieren, der sie alle Macht übertragen. Der Herrscher als Repräsentant dieser staatlichen Autorität ist nicht selbst Partner, sondern Produkt des Unterwerfungsvertrages, ist daher an diesen nicht gebunden; er steht über und nicht unter dem Gesetz, In seinem Levia­ thanstaat gibt es daher auch keine Widerstandsrecht, da dem Staat eine dauernde und unbeschränkte Macht über alle Bürger eingeräumt ist. Das negative Menschenbild des Thomas Hobbes führte daher zur Rechtfertigung der absoluten Monarchie; gleichwohl muß aber bemerkt werden, daß dieser Leviathan – wie schon Carl Schmitt12 mit Bedauern feststellte –, nicht totalitär ist, da er nur zum Schutz des Lebens und der irdischen Güter seiner Bürger bestimmt ist. Diese Gehorsamspflicht gegenüber dem Staat erlischt aber, wenn er nicht mehr imstande ist, seiner Primärpflicht nachzukommen, die äußere Ordnung aufrecht zu erhalten; trotz der absoluten Macht seines Staates nennt daher Hobbes ihn zu Recht einen „sterbenden Gott“.13 Wie selten in der Geschichte der Staatslehre zeigt sich in England in kurzer Aufeinanderfolge der Gegensatz und die damit verbundenen Konsequenzen eines negativen und eines positiven Menschenbildes für die Staats10  Aristoteles,

Politik I 1253. Hobbes, Leviathan, Kap. 13. 12  Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, 1938. 13  Thomas Hobbes, a. a. O., Kap. 21. 11  Thomas

346

Menschenbild und Staatsform

form. Während noch Hobbes von einem negativen Menschenbild ausgehend zu einer Rechtfertigung des Absolutismus gelangte, führte später die positivere Einstellung John Lockes mit seinem optimistischen Menschenbild zur Rechtfertigung des Konstitutionalismus und seiner Begründung des Liberalismus. Auch Locke geht bekanntlich von einem angeblichen Naturzustand aus, in dem die Menschen in schrankenloser Freiheit, nur ihrem Selbsterhaltungstrieb und dem Streben nach einem angenehmen Dasein gelebt haben. Da nach Locke die Menschen erkennen, daß sie nur im Friedenszustand ihre ursprünglichen Rechte genießen können, bedarf es einer Regierung, die durch Übereinkunft der Menschen eingesetzt wird. Nach Locke besitzt aber der Staat nur eine beschränkte Gewalt, da Locke im Gegensatz zu Hobbes keine vollständige Unterwerfung der Bürger unter die Staatsgewalt annimmt, sondern vielmehr meint, daß die Menschen beim Abschluß des Staatsgründungsvertrages ihre vorstaatlichten Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum zurückbehalten haben. Der Staat des John Locke besitzt daher eine nur beschränkte Gewalt. Verbunden mit seiner Lehre von der Gewaltentrennung und von den Grundrechten kann Locke nicht nur als ein geistiger Vater des Liberalismus, sondern auch des späteren Verfassungsstaates bezeichnet werden, auf den noch aus der Sicht des Themas näher einzugehen sein wird. Die auf Sicherung der Freiheit des Einzelnen gerichtete Lehre von der Staatsordnung, in der sich das positive Menschenbild verdeutlichte, wurde aber einige Jahrzehnte später durch die Demokratielehre von Jean Jacques Rousseau gefährdet. Rousseau geht zwar auch von einem friedlichen Urzustand aus, der aber durch die Einführung des Ackerbaues erschütter wird. Er glaubte, dem Einzelnen in einem Staat zu helfen, in dem jeder auf alle seine natürlichen Rechte zugunsten des Gemeinwillens verzichtet, um sie dann als bürgerliche Rechte wieder zurückzuerhalten. Dieser Volonté générale wird aber von Rousseau nicht liberal, sondern totalitär und absolut gesehen; dieser Staat duldet neben sich keine Religion und Privatsphäre des Einzelnen. Mit Recht bemerkt Alfred Verdross, daß in dieser sogenannten revolutionären Naturrechtslehre Rousseaus der Weg von der totalen Freiheit zum totalen Staat führt, „der das Menschenleben ganz und gar umgreift“.14 Es zählt mit zu den tragischen Momenten in der Rousseau folgenden Zeit, daß sie seine Lehre, die er nach seinen eigenen Worten für einen Kleinstaat von der Größe Korsikas bestimmt hatte, auf den Großflächenstaat mit einer pluralistischen Gesellschaft übertrug. Wohin der Weg der Lehre Rousseaus 14  Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2.  Aufl., Wien 1963, S. 128.



Menschenbild und Staatsform347

im politischen Leben führte, zeigte sich schon in der staatsrechtlichen Entwicklung Frankreichs von der Jakobiner- über die Konvents-, Direktionalund Konsular- zur Kaiserverfassung. Diese Entwicklung war am Beginn von einer Überforderung der demokratischen Idee derart begleitet, daß alle drei Staatsfunktionen, also Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung in gleicher Weise demokratisiert wurden, was zu einer Jakobinisierung und bekanntlich einer Gefährdung der Freiheit des Einzelnen führte. In dieser jakobinisierten Form der demokratischen Idee wurde ihre Wirkung im öffentlichen Leben dadurch, daß sie allen Ideologien zugänglich war, vom Marxismus geradezu potenziert. Als ich vor wenigen Wochen anläßlich eines Aufenthaltes in der Volksrepublik China im August 1977 auf dem Großen Platz in Peking, wo ich übrigens auch in Kundgebungen die Verkündigung der Ergebnisse und der Beendigung des 11. Parteitages sowie die Beendigung der Kulturrevolution miterlebte, die Bilder von Marx und Engels neben denen Stalins und Lenins in Großformat aufgestellt sag, dachte ich mir, daß daneben auch das Bild Jean-Jacques Rousseaus herauszustellen wäre. So wie Rousseau in seinem Staat den Menschen nicht als Einzelwesen anerkennt, so werten auch Karl Marx und Friedrich Engels den Menschen als bloßes Gattungswesen; für sie ist der Mensch ein homo oeconomicus und die Freiheit besteht für sie nicht – wie in der Bergpredigt dargestellt – in der Entscheidung zwischen Alternativen, sondern in dem Wissen um die ökonomische Gesetzmäßigkeit; so schreibt auch Friedrich Engels im „Anti-Düring“: „Freiheit ist die Kenntnis der ökonomischen Gesetzesmäßigkeit“15, nachdem er formuliert hat: „Freiheit des Willens heißt daher nichts anderes als die Freiheit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können…Freiheit besteht also in der auf Erkenntnis der Notwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur; sie ist damit notwendig ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung.“16 In diesem Sinne ist der sich von den wirtschaftlichen Notwendigkeiten in der UdSSR leiten lassende Stachanovist ebenso frei, wie der von dem Vorbild der Kommune von Tatschai bestimmte Chinese; hier stehen sich Alternativen gegenüber, die sich im Menschenbild ausdrücken, welche auch die Grundrechte des Einzelmenschen zu Kollektivrechten der Gemeinschaft werden lassen. Karl Marx wollte den eigenverantwortlichen Bereich des Menschen beseitigen und den Menschen in ein bloßes Gattungswesen umwandeln. In 15  Friedrich Engels, Anti-Düring, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke (hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. XX, Berlin 1962, S. 106. 16  Friedrich Engels, a. a. O.

348

Menschenbild und Staatsform

seiner Auseinandersetzung mit der Schrift Bruno Bauers „Die Judenfrage“ bekämpfte er auch die Menschenrechte. „Keines der sogenannten Menschenrechte“, erklärt Karl Marx, „geht also über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich ein auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist. Weit entfernt, daß der Mensch in ihnen als Gattungswesen aufgefaßt wurde, erscheint vielmehr das Gattungswesen selbst, die Gesellschaft, als ein dem Individuum äußerlicher Rahmen als Beschränkung der ursprünglichen Selbständigkeit… Der Mensch wurde daher nicht von der Religion befreit, er erhielt die Religionsfreiheit. Er wurde nicht vom Eigentum befreit, er erhielt die Freiheit des Eigentum. Er wurde nicht von dem Egoismus des Gewerbes befreit, er erhielt die Gewerbefreiheit“.17 Erst in einer künftigen klassenlosen Gesellschaft wird der Gegensatz von individuell und gesellschaftlich aufgehoben. Der mehr grundrechtsbedachte Eurokommunismus wird, wie es der Vizepremierminister der Volksrepublik China Li-Sinien mir am Vorabend der Beendigung der Kulturrevolution und des 11. Parteitages am 19. August 1977 in einem in Peking geführten Gespräch erklärte, als Abweichung vom Marxismus trotz der Tatsache, daß er sich gegen die Intentionen Moskaus richtet, abgelehnt. Betrachtet man diese bloß an Hand einiger Beispiele skizzierte Entwicklung des Menschenbildes, verdeutlicht sich gerade in unserer Zeit die Konfrontation zwischen der oft auch revolutionär auftretenden marxistisch begründeten Kollektivprägung des Menschen, in welcher die persönliche Freiheit des Einzelnen minimalisiert und die Macht des Staates maximiert wird, einerseits mit jenem Bilde vom Menschen andererseits, das von der Freiheit und Würde des Einzelnen getragen wird. Es ist Ausdruck jener abendländischen Kultur, von der Hannah Arendt einmal meinte, es wäre für sie die Unterscheidung in politische und unpolitische Lebensbereiche kennzeichnend. In ihrem Buch „Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart“ hat Hannah Arendt schon festgestellt: „Die abendländische Tradition politischen Denkens hat einen klar datierbaren Anfang, sie beginnt mit den Lehren Platos und Aristoteles. Ich glaube, sie hat in den Theorien von Karl Marx ein ebenso definitives Ende gefunden.“18 Welchen Ausdruck hat nun diese angedeutete Entwicklung im Staatsrecht gefunden?

17  Zitiert nach Marx-Engels, Studienausgabe, hrsg. von Iring Fetscher, Bd. I, Frankfurt am Main 1969, S. 49 u. S. 52. 18  Hannah Arendt, Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart, Frankfurt am Main 1957, S. 9.



Menschenbild und Staatsform349

II. Der Verfassungsstaat der Neuzeit Das Staatsrecht ist insofern von Bedeutung, als es die Grundordnung und damit auch das Bild des Staates bestimmt. Was sich in der Geschichte der Staaten und ihres Rechtes im Laufe der Zeit im Verfassungsstaat der Neuzeit ausdrückte, ist das Ergebnis einen jahrhundertelangen Prozesses, an dem der Nationalismus ebenso beteiligt war wie der Vernunftoptimismus, der dank der rationalistischen Naturrechtslehre der Neuzeit zunächst zur Kodifikation des privaten und mit Zunahme des Konstitutionalismus und Demokratismus aus des öffentlichen Rechtes führte. In diesem Entstehen des Verfassungsstaates zeigt sich in bemerkenswerter Weise ein Nebeneinander von Staatsorganisations- und Grundrechtsvorschriften. Am deutlichsten ist dies in den ersten nordamerikanischen Verfassungsurkunden, die sich aus den Pflanzungsverträgen der Siedler entwickelten und in der Regel von einem Nebeneinander zweier Teile, nämlich von Bestimmungen über die obersten Organe und deren Funktionen, Frame of Government genannt, und einem mit bill or declaration of rights überschriebenen Grundrechtsteil, gekennzeichnet sind. Diese Zweiteilung führte im Verfassungsstaat der Neuzeit, unter dem im 19. Jahrhundert zunächst vor allem die konstitutionelle Monarchie und im 20. Jahrhundert die demokratische Republik verstanden wurde, zu einem geradezu klassisch gewordenen Nebeneinander von Vorschriften der Staatsorganisation und des Grundrechtsschutzes; mit wachsender Anerkennung des positiven Menschenbildes führte dies zu einer anfangs konstitutionellen und später demokratischen Staatsform. Dieses Nebeneinander von Menschenbild und Staatsform verdeutlicht sich in Österreich wohl am besten in der sogenannten Dezemberverfassung 1867 mit ihren fünf Staatsgrundgesetzen; neben je einem eigenen Verfassungsgesetz für die Ausübung der drei Staatsfunktionen, nämlich für die Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit, die Regierungs- und Vollzugsgewalt sowie die Verfassungsgerichtsbarkeit wurden in einem eigenen Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger die Grundrechte so allgemein anerkannt geregelt, daß dieses Gesetz 1920, als sich nach Ausrufung der Republik die Parteien auf einen neuen Grundrechtskatalog nicht einigen konnten, aus dem Staatsrecht der Monarchie in das der Republik übernommen wurde; auf diese Weise ist in klassischen, nämlich liberalen und demokratischen Grundrechten das Menschenbild der Monarchie trotz Änderung der Staatsform gleichgeblieben und gelten noch 1977 in der Republik die Grundrechte, die 1867 die Liberalen einem damals noch absolutistisch denkenden Monarchen zu einer Zeit abgetrotzt haben, als es noch keine demokratische Volksvertretung gab!

350

Menschenbild und Staatsform

Betrachtet man heute das System des österreichischen Verfassungsrechts, so sind anders als im Bonner Grundgesetz die Grundrechte in Österreich neben dem Bundes-Verfassungsgesetz, das, von einzelnen Grundrechten abgesehen, die Staatsorganisation regelt, in einem eigenen bundes-verfassungsgesetzergänzenden Verfassungsgesetz geregelt; hier zeigt sich deutlich ein Nebeneinander von Menschenbild und Staatsform, die sich aber in ihrem freiheitlich-demokratischen Charakter der Grundrechte einerseits und der demokratischen Republik als Staatsform andererseits gegenseitig ergänzen. Je mehr aber gerade in demokratischen Staaten, wie es auch die Bundesrepublik Deutschland ist, auf dem Wege parlamentarischer Staatswillensbildung der Staat über den Rechts- und Machtzweck auch im Dienste der Kultur- und Wohlfahrtszweckes tätig und so auch auf den Wegen des Rechtsstaates Kultur-, Wirtschafts- und Sozialstaat wird, desto mehr erfolgt durch diese neuen Staatszielsetzungen eine wechselseitige Durchdringung von Grundrechten und Staatsorganisationsvorschriften. So ist es bemerkenswert, daß sich im österreichischen Verfassungsrecht anders als im Bonner Grundgesetz an keiner einzigen Stelle die Vorschreibung des sozialen Rechts- oder sozialen Bundesstaates befindet, in den Kompetenzvorschriften österreichischer Bundesstaatlichkeit aber dem einfach Gesetzgeber die Möglichkeit dazu eröffnet wurde, von welcher er auch Gebrauch machte, so daß Österreich auf einfach-gesetzlichem Weg ein sozialer Rechtsstaat und zwar derart wurde, daß beim Beitritt zur Europäischen Sozialcharta trotz des Fehlens von eigenen sozialen Grund- und Verfassungsrechten Österreich diese Forderung der Sozialstaatlichkeit ohne verfassungsrechtliche Vorschreibung längst einfachgesetzlich erfüllt hatte. Bei dieser Mehrzweckverwendung des Staates ist die klassische Trennung von Staat und Gesellschaft, von welcher der Verfassungsstaat der Neuzeit ausgegangen ist, immer mehr verlorengegangen. Die Repräsentanten der Gesellschaft haben den Staat oft vergesellschaftet, was nicht zur Hebung der Autorität des Staates beitrug, weil sie den Staat zu einem Clearinghaus der Gruppeninteressen machten; andererseits hat sich auch in anderen Fällen der Staat der Repräsentanten der Gesellschaft, wie etwa der Interessenverbände, angenommen und die Gesellschaft insofern verstaatlicht, daß, wie sich in östlichen Staaten dokumentiert, die Interessenverbände von Selbsthilfe- und Selbstschutzorganen des Einzelnen zu solchen des Staates wurden und den Zugriff zu den ungeschützt seienden Einzelmenschen offen lassen; die Tendenz der Verstaatlichung der Gesellschaft führte zu einer Gefährdung der Freiheit des Einzelnen. Diese Entwicklung geht Hand in Hand mit einer Ausweitung des Staatseinflusses in der Wirtschaft, vor allem unternehmensführend, auftragserteilend und subventionsverteilend in der Privatwirtschaftsverwaltung.



Menschenbild und Staatsform351

Der Einzelne scheint seine jahrhundertelange Flucht vor dem Staat beendet zu haben und umgekehrt dem Staat zuzueilen, damit dieser, der früher in liberalen Grundrechten verpflichtet wurde, dem Einzelnen eine Freiheit vom Staat zu gewähren, nun in sozialen Grundrechten eine Freiheit durch den Staat sichere. Der Staat kann aber nicht allein zu kulturellen Fortschritt, wirtschaftlichem Wachstum und sozialer Sicherheit verpflichtet werden, man muß ihn auch berechtigen, alle diese Leistungen herbeizuführen. Auf diese Weise kann die Gefahr entstehen, daß sich etwa das Recht auf Arbeit nur allzu leicht zu einer Pflicht zur Arbeit wandelt; das Sicherheitsstreben der Menschen muß daher nicht immer auch zu einer Mehrung der Freiheit führen; nach der Anspruchsberechtigung des Einzelmenschen tritt nun die des Staates mit seiner Mehrzweckefunktion. Dies führt natürlich auch zu einem Wandel der Grundrechtsauffassung. Treffend hat Joachim Burmeister19 sein Buch „Vom staatsbegrenzenden Grundrechtsverständnis zum Grundrechtsschutz der Staatsfunktionen“ betitelt und so auf Stadien in der Grundrechtsentwicklung hingewiesen. Diese nachprüf- und erlebbare Entwicklung im Grundrechtsverständnis und der Staatszwecke ist aber nicht problemlos. Bei der engen Verbundenheit von Staat und Gesellschaft kommt es immer mehr zu einem unentwegt regenerierenden Prozeß von Bedarfserweckung und Bedürfnisbefriedigungen, welcher die Macht eines Staates erweitert, in dem nach dem Grundsatz des parlamentarischen Regierungssystems die Parlamentsmehrheit die Regierung bildet und dort, wo es keine wirksamen parlamentarischen Minderheitsrechte gibt, die parlamentarische Kontrolle stumpf wird; gleichzeitig kann als weitere Sicherheitsgefährdung bemerkt werden, daß das Instrumentarium des Rechtsstaates mehr auf die Hoheits- als auf die Privatwirtschaftsverwaltung abgestellt ist; sachgerechte Fortentwicklung des Rechtsschutzes des Einzelnen in bezug auf die Wirtschaftsstätigkeit des Staates fehlt. Die Vermehrung der Staatstätigkeit hat daher nicht zu einer ebensolchen Mehrung des Rechtsschutzes beigetragen. Dieser Rechtsschutz hat aus zwei verschiedenen Richtungen ebenfalls eine Minderung erfahren: zum einen aus der Tatsache, daß mit Zunahme der Gesetzesflut die Rechtskenntnis nicht zu-, sondern abnimmt. „Rechtskenntnis und Gesetzesflut“ nannte schon 1969 Theo Mayer-Maly20 eine seiner Schriften. Das Verstehen des Rechts – auch seiner Sprache nach – sollte als ein Erfordernis des sozialen Rechtsstaates anerkannt werden. Der zweite Mangel an Rechtsschutz ist der bedauerliche Umstand, daß in einem nicht 19  Joachim Burmeister, Vom staatsbegrenzenden Grundrechtsverständnis zum Grundrechtsschutz der Staatsfunktionen, Frankfurt 1971. 20  Theo Mayer-Maly, Rechtskenntnis und Gesetzesflut, Salzburg 1969.

352

Menschenbild und Staatsform

immer verständlichen Humanisierungsstreben der Rechtsschutz im Kriminalstrafrecht im Zurückgehen begriffen ist; der Häftlingsurlaub, nach dem Justizorgane einen Verurteilten unter bestimmten Voraussetzungen freizulassen haben, den dann unter Gefährdung ihres Lebens die Polizei wieder einzufangen hat, ist dafür ein deutliches Beispiel. Dieser Wandel der Staatsaufgaben und damit auch der Stellung des Einzelnen im Staat ist problematisch. Je mehr nämlich der Staat Aufgaben von den Menschen übertragen bekommt, desto mehr nimmt das Interesse der Menschen am Staat nicht zu, sondern ab und entwickelt sich ein Bild des Menschen im Staat, das zu denken geben soll. Friedrich Tenbruck hat schon in seinem Gedanken über „Alltagsnormen und Lebensgefühle“ bemerkt: „In merkwürdigem Widerspruch zu der Zufriedenheit und Lebensfreude im privaten Bereich genießen die Institutionen kaum Anerkennung. Viele nehmen sie als selbstverständliche Gegebenheiten hin, aber Lob, Anerkennung oder Stolz auf die öffentlichen Einrichtungen hört man nie spontan, wohl aber Mißmut, Ungeduld und Mißtrauen, die in der Publizität, in der Literatur, auf dem Theater, in der Intelligenz zur beherrschenden Signatur geworden sind. Dort grassiert ein aufgeregter Mobilismus des Klagens und Forderns, des Planens und Reformens, dem die gegebenen Zustände und Einrichtungen bestenfalls noch deshalb als vorübergehend erträglich gelten, weil sie geändert werden können. Für diese lautstarken Teile der Bevölkerung sind nur die Ziele, Versprechen und Reformen moralisch legitimierbar, nicht die Zustände. Auf den Plätzen, wo öffentliche Meinung verkündet und gemacht werden kann, gehören die Anklage und das Mißtrauen gegen Staat und Gesellschaft zum guten Ton, so daß ihre Verteidigung meist nur entschuldigend und fast schon mit schlechtem Gewissen vorgetragen werden kann. Gewiß läuft das alles an der Mehrzahl der Bevölkerung ab; der Haß auf das System ist Sache einer lautstarken Minderheit. Aber die Unsicherheit über Normen und Ziele ist verbreitet, so daß erhebliche Teile der Bevölkerung verschreckt und stumm die politischen Konflikte ohne eigenen Urteil verfolgen, das man sich nicht mehr zutraut oder auch nicht mehr gerne äußert…“.21 „Da rät der höchste Repräsentant des Staates Schülern, aus den staatlich genehmigten Schulbüchern Seiten, die ihnen nicht passen, kurzerhand herauszureißen. Da bejubeln nächtliche Zuschauermengen, wenn aus einem brennenden Hochhaus Flammen schlagen, und skandieren ihre Bravos. Da mausern sich Bildungseinrichtungen im Namen von Reformen zu 21  Friedrich H. Tenbruck, Alltagsnormen und Lebensgefühle in der Bundesrepublik, in: Die Zweite Republik, 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland – einen Bilanz, hrsg. von Richard Löwenthal und Hans-Peter Schwarz, Stuttgart 1974, S 308.



Menschenbild und Staatsform353

Stätten politischer Kaderschulung; da verkümmert Wissenschaft zur öden Routine, die mit Scheinen und Titeln beglaubigt wird, solange nur die Fassaden von Betrieb und Wortschall noch stehen; da wird ‚Manna‘ auf Steine geschrieben, die den Studenten statt Brot gereicht werden. Da werden Gerichtssäle zu Schaubühnen, auf denen Staat, Recht, Verfassung, Gesellschaft verhöhnt und provoziert werden; da zerfallen Parteien in Lager, die sich wie Skorpione in der Flasche bis zur Machtprobe des tödlichen Stichs umkreisen. Überall herrscht Verwirrung, die der Demagogie und Schwarmgeisterei die Tore öffnet. Keine Institution, keine Norm, keine Idee scheint mehr sicher. Sprache und Bewußtsein zerfasern in einem Babel der Diskussion, die sich in Formen und Inhalten an nichts mehr halten kann. Gewalt ist Gegengewalt, Recht Unterdrückung; Wahrheit Klassenlüge; Revolution Befreiung; Erziehung Vergewaltigung; Leistung Repression; Bildung Inhumanität; Demokratie Ausbeutung; Diktatur Freiheit; Verrat Befreiung; Religion Revolution, Dienst Verrat; Gehorsam Feigheit; Angeklagte Kläger; Kompetenz Anmaßung. Da ist nichts, was nicht doppelbödig geworden wäre, nicht mit zwei Namen genannt werden könnte, und der Bürger gewöhnt sich an zweigleisiges Denken, für das alles bis auf Abruf auch sein Gegenteil sein darf, ja mancher genießt es wie ein lustiges Spiel, die Sachen bald so, bald anders nennen zu dürfen. Und so geht es durch die Situationen und Einrichtungen hindurch.“22 Bei der Veranschaulichung dieser unleugbaren Zustände hat man fast den Eindruck, als würde an die Stelle der früheren Flucht vor dem Staat, nachdem man diesen jetzt vermehrt gerufen hat, nun die Flucht vor der Verantwortung treten. Kann man aus derartigen Lebenszielen eine Staatsform bestreiten? Die Frage ist wohl zu verneinen, vor allem, wenn man bedenkt, daß sie auf der einen Seite von der Idee allumfassender Zuständigkeit des Volkes und auf der anderen Seite von einem Verfall des Rechtsstaatsideals in einer Formalisierung, Technisierung und Relativierung begleitet wird. Auf die Folgen dieser Entwicklung wies bereits Werner Kägi hin, wenn er in seiner Schrift „Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates“ bemerkt: „Mit der Relativierung und schließlich Nihilisierung der Werte aber entfällt die entscheidende innere Gewähr für die Festigkeit, ohne die das Gesetz seinen Sinn verliert“23, was sich auch im Formellen ausdrückt, denn „die Lockerung und Auflösung der Formen ist lediglich eine Folge des Problematischwerdens des Inhalts“.24 22  Friedrich

H. Tenbruck, a. a. O. S. 309. Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Untersuchungen über die Entwicklungstendenzen im modernen Verfassungsrecht, Zürich 1945; Neudruck Darmstadt 1971, S. 32 f. 24  Werner Kägi, a. a. O. S. 39. 23  Werner

354

Menschenbild und Staatsform

Nach diesen Feststellungen über die Probleme in Beziehung von Menschenbild und Staatsform im heutigen Verfassungssystem wird die Frage nach den Möglichkeiten zur Veränderung, wenn möglich Besserung dieser Entwicklung zu bedenken sein. III. Möglichkeiten und Grenzen des Rechtsstaates Am Beginn dieses letzten Teiles meiner Ausführungen lassen Sie mich mit Max Imboden die Vorbemerkung machen: „Was sich im sozialen Gefüge als Struktur manifestiert, ist nur der Widerschein von Vorgängen, die sich im Inneren des Menschen vollziehen, ‚Innen‘ und ‚Außen‘ sind letztlich eines.“25 Wenn nun diese Zusammenhänge klar sind, wie kann es dann zu derartigen frustrierenden Tendenzen in einem Staat mit geregelter Arbeitszeit, bezahltem, vierwöchigem Mindesturlaub, einem Netz sozialer Sicherungen gegen die Wechselfälle des Lebens und immer noch relativ sicheren Arbeitsplätzen kommen? Der Psychotherapeut Viktor E. Frankl26 traf bei den Salzburger Hochschulwochen sicher den Nagel auf den Kopf, als er sagte: „Was den Menschen zum Menschen macht ist der Wille zum Sinn, und eben dies werde in der heutigen Gesellschaft völlig ignoriert. Und hier zeigt sich die Wohlstandsgesellschaft, die wir alle nicht missen wollen, ihr zweites, weniger freundliches Gesicht: Indem sie den Menschen von allen Härten des Lebens entlastet, degradiert sie ihn zu einer nur noch reagierenden und sich abreagierenden Marionette. Mit anderen Worten: die Wohlstandsgesellschaft ist inhuman, nicht weil sie dem Menschen zuviel, sondern weil sie ihm zuwenig zumutet. Der Mensch ist schon von seiner physischen und psychischen Konstitution her ein Wesen, das ein gewisses Maß an Spannung und Gefordertsein braucht, um nicht zu verkümmern“. In einer solchen Situation kommt es darauf an, den Einzelnen auch daran zu erinnern, daß es zwischen ihm und dem Staat nicht bloß Grundrechte, sondern auch Grundpflichten gibt; das Verhältnis Einzelner und Staat kann nicht in einer bloßen Entpflichtung gesehen werden, es bedarf auch der Einsicht, in das Erfordernis der Verpflichtung des Einzelnen gegenüber der Allgemeinheit. Das Recht hat dazu neben einer sozialkorrigierenden auch eine integrierende und stabilisierende Funktion zu erfüllen. Das Instrumentarium des Rechtsstaates bietet dazu Gelegenheit. Übersehen und vergessen 25  Max

Imboden, Die politischen Systeme, Basel und Stuttgart 1962, S. 12. E. Frankl, Die Sinnfrage der Psychotherapie, in: Suche nach Sinn – Suche nach Gott, Graz 1978, S. 317. 26  Viktor



Menschenbild und Staatsform355

wir nicht: „Die Demokratie ist nur als rechtsstaatliche sinnvoll“27, denn wie Werner Kägi richtig feststellte: „Der Rechtsstaat ist die Ordnung, in der ein politisch reifes Volk seine Begrenzung anerkennt.“28 Dies verlangt die Einsicht in die Möglichkeiten und Grenzen des Rechtsstaates. Als Erfordernisse sei nur stichwortartig betont: 1.  der Schutz und die Weiterentwicklung der Verfassung als eine allgemein anerkannte Wertordnung; einschließlich der Unterscheidung in Verfassungs- und einfaches Gesetzesrecht; wobei vor der Beschlußfassung von Verfassungsrecht auf Zeit zu warnen sei, denn auf dem Weg des Experimentellen und Provisorischen verliert die Verfassung nur an normativer Kraft. 2.  sei auf den Zusammenhang von Grundrechtswerten und Grundrechtsformen hingewiesen. Nicht jeder Grundrechtswert eignet sich zum Rechtsschutz als subjektiv öffentliches Recht, die Möglichkeit als Programmsatz, Organisationsvorschrift und als Einrichtungsgarantie ist ebenfalls zu bedenken, damit ein ausgewogenes Verhältnis von Freiheit und Sicherheit vor allem bei dem Wandel der Staatsaufgaben zu erreichen ist. 3.  käme es darauf an, mehr als bisher zwischen staatlichen Aufgaben, die der Staat selbst erledigt und öffentlichen Aufgaben, die er zur Erledigung an Selbstverwaltungskörper und Private vergibt, zu unterscheiden; der Staat sollte mehr als bisher die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips beachten und sich seiner Schutzfunktion bewußter werden. Gesetze sind nach ihrer Beschlußfassung keine Diskussions-, sondern Vollzugsgegenstände. Das bedeutet aber gerade in der Demokratie keine Verkennung der Wichtigkeit der öffentlichen Meinungsbildung; der Dialog ist ja das Lebenselement der demokratisch republikanischen Staatsform, darum möchte ich 4. auf das Erfordernis eines ausgewogenen Verhältnisses von repräsentativ- und plebiszitär demokratischen Verfassungskomponenten hinweisen: d. h. das Nebeneinander von Einrichtungen der direkten Demokratie neben der parlamentarischen Staatswillensbildung in der Weise betonen, daß Erstere das Parlament nicht ersetzen, was ja einer Jakobinisierung gleichkäme, aber wohl Entscheidungshilfen liefern könnten; Hans Kelsen29 meinte schon, es wäre Aufgabe der Einrichtungen direkter Demokratie, das freie Mandat 27  Werner Kägi, Rechtsstaat und Demokratie, in: Demokratie und Rechtsstaat, Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, S. 134. 28  Werner Kägi, a. a. O. S. 141. 29  Hans Kelsen, Das Problem des Parlamentarismus, Soziologie und Sozialphilosophie, Schriften der Soziologischen Gesellschaft Wien, Heft III, Wien/Leipzig 1925, Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Band 2, S. 1667 f.

356

Menschenbild und Staatsform

der Abgeordneten zu ergänzen, und Karl Korinek30 hat erst kürzlich auf die verfassungskonforme Bedeutung des Petitionsrechts im demokratischen Rechtsstaat hingewiesen. Noch viele weitere verfassungspolitische Forderungen ließen sich erheben, sie sollen uns aber auch nicht die Grenzen des Rechtsstaates und der Grundrechte verkennen lassen. Diese liegen vor allem darin, daß nicht alles, was grundrechtswürdig erscheint, auch grundrechtsfähig ist, wie etwa das Grundrecht auf Ruhe und Alleinsein. Bei aller Weiterentwicklung des Systems des Verfassungsstaates und des in seinem Dienst stehenden Rechtsstaatsinstrumentariums, einschließlich der Grundrechte, sollte aber auch im vermeintlichen Wohlfahrtsstaat das Recht zum Leben nicht übersehen werden. Welchen Sinn hätten alle Rechte auf kulturellen Fortschritt, wirtschaftliches Wachstum und soziale Sicherheit, wenn das Recht zum Leben, von dem die Ärzte klar und deutlich – hier in Innsbruck verdienstvoll Heribert Berger31 1974 in seiner Rekordrede – sagen, daß es bereits mit der Befruchtung menschlicher Keimzellen entsteht, schutzlos bleibt. Die Frage nach Menschenbild und Staatsform ist auch eine Frage nach Recht und Moral. Hier bin ich dagegen, daß mittels des Rechtes moralisiert und der Staat zum Voyeur im Privatleben des Einzelnen wird, ich bin aber ebenso dagegen, daß mittels des Rechtes die Demoralisierung der Gesellschaft weiter vorangetrieben wird; die Fristenlösung ist ein solcher Schritt, wozu in der Bundesrepublik Deutschland das Bundesverfassungsgericht zu einem Nein bereit war, zu dem unser Verfassungsgerichtshof in Österreich nicht imstande war. Man möge aber gleichzeitig erkennen, daß es auch Grenzen des Rechtsstaates und seiner Grundrechte gibt. Ich meine, daß es zum Schutz des ungeborenen Lebens auch eine Möglichkeit gibt, zu der man weder einen Justiz- noch einen Finanzminister braucht, nämlich mehr Menschlichkeit, Verständnis und Hilfsbereitschaft gegenüber Frauen in Grenzsituationen und deren Kindern, auch dann, wenn sie – wofür sie selbst nichts können – nicht ehelicher Geburt sind. Hier gilt es noch viele falsche Vorurteile abzubauen, die manche Frau in Grenzsituationen treibt. Wir müssen überhaupt wahrnehmen, daß mit Zunahme der Verrechtlichung der zwischenmenschlichen Beziehungen deren ethischer Gehalt abnimmt. Wie bereits Fritz Werner bemerkte, wird einerseits das „Schicksal 30  Karl Korinek, Das Petitionsrecht im demokratischen Rechtsstaat, Recht und Staat Heft 474 / 475, Tübingen 1977. 31  Heribert Berger, Die Heimatlosigkeit des Menschen, in: Veröffentlichungen der Universität Innsbruck 83, Innsbruck 1974.



Menschenbild und Staatsform357

als einklagbarer Rechtsverlust“32 angesehen und andererseits zu erkennen sein, „daß Erbarmen, Liebe, Barmherzigkeit, Demut und manches andere rechtlich nicht zu fassende eine Vorstellung ist, die mehr und mehr entschwindet“.33 Es ist dabei bemerkens- und bedauernswert zugleich, daß in dem Maß der Abnahme des Ethischen im Denken das Anarchistische im Wollen ebenso zunimmt, wie die Interessenlosigkeit am Staat mit dem Maße seiner Aufgabenzunahme. Diese Umstände verpflichten den institutionalisierten Rechtsschutz mit einer praktizierten Rechtserziehung zu ergänzen, die auch den Erfordernissen der Sozialethik nicht aus dem Wege geht. Montesquieu hat schon die bürgerliche Tugend als Voraussetzung für die Demokratie genannt und dafür unter anderem Vaterlandsliebe, Selbstverleugnung und Liebe zur Einfachheit angegeben. Der natürliche Platz der Tugend ist für Montesquieu die Freiheit, er betonte aber „bei einer übertriebenen Freiheit“, die mancher heute als neue Last seiner Einsamkeit empfindet, „findet sie sich so wenig wie bei einer Knechtschaft“.34 Es kommt darauf an, daß heute der Staat den Einzelnen aus seiner Anonymität herausholt, ihn sowohl als Träger von Rechten, aber auch Pflichten anspricht, nach dem sichtbaren Beweis eigener Fähigkeit die in der Verfassung grundgelegten Werte nötigenfalls im Einsatz seiner Macht zu schützen vermag und auch im Einzelnen die Bereitschaft weckt, für den Staat und seine Wertordnung einzutreten. „Wer aber“, und hier lassen Sie mich meinen Bonner Bundesratskollegen Bernhard Vogel in seiner Rede beim Festakt der letzten Salzburger Hochschulwochen zitieren, „es ungestraft geschehen läßt, daß man ‚klammheimliche Freude‘ über die Ermordung eines Bundesanwaltes empfindet, verliert letztlich das Recht, über den freiheitlichen Rechtsstaat zu meditieren.“35 Was sich heute als Anarchismus, und wie all die Ismen eines pervertierten Menschenbildes heißen, welche Staatsformen zu erschüttern suchen und die Allgemeinheit zu erschrecken trachten, breit macht, hat einen langen Weg der Entwicklung hinter sich, er begann schon vor Jahren mit jener Formlo32  Fritz Werner, Über Tendenzen der Entwicklung von Recht und Gericht in unserer Zeit, Karlsruhe 1965. S. 11. 33  Fritz Werner, Wandelt sich die Funktion des Rechts im sozialen Rechtstaat? in: Die moderne Demokratie und ihr Recht, Festschrift für Gerhard Leibholz zum 65. Geburtstag, 2. Band, Tübingen 1966, S. 162. 34  Montesquieu, in: Vom Geist der Gesetze, hrsg. von Ernst Forsthoff, München 1967, S. 158. 35  Bernhard Vogel, Die Sinnfragen der Politik, in: Suche nach Sinn – Suche nach Gott, Graz 1977, S. 346.

358

Menschenbild und Staatsform

sigkeit, die oft eine milde Form des Terrors ist. Wie treffend wurde schon in den Thesen gegen den Mißbrauch der Demokratie, herausgegeben von Hans Buchheim und Felix Raabe, bemerkt „Von keiner einzelnen Konvention und keinem einzelnen Akt der Höflichkeit ließe sich beweisen, daß er für die Humanität unseres Zusammenlebens unentbehrlich sei – so wie sich bei keinem einzelnen Baum, der in einem Wald gefällt wird, eine Veränderung der Landschaft nachweisen ließe. Und trotzdem führt der Abbau der Umgangsformen ebenso zur Enthumanisierung unseres gemeinsamen Lebens, wie der Raubbau in den Wäldern die Verkarstung der Landschaft zur Folge hat.“36 So zeigt sich gerade in unserer Zeit sehr deutlich, daß das Bild des Menschen und die Form des Staates heute in einem deutlich sichtbaren Zusammenhang stehen. Die Demokratisierung der Staatsformen hat gerade in einer Republik den Staat zu einem Aufruf ständiger Selbstkonfrontation des Einzelnen werden lassen; so wird auch die Demokratie von morgen vom politisch aktiven Menschen und seiner Ethik – und niemand anderem – heute abhängig. Darum gelten auch heute für uns jene Gedanken, die nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges der auch in Österreich hochverehrte und unvergeßlich langjährige Präsident der Görres-Gesellschaft Hans Peters für die Entwicklung seines Vaterlandes ausdrückte, allgemein für uns alle, und damit lassen Sie mich schließen: „Die Problematik der Demokratie für die Zukunft wird dadurch gekennzeichnet, aus den geschichtlich gegebenen demokratischen Ansätzen sowie aus vielfach übernommenen formell-demokratischen Bestimmungen den materiellen Gehalt echter Demokratie zum Leben zu erwecken und zugleich eine dem Wesen der Demokratie immanente Ethik zu entwickeln.“37 Möge es der Görres-Gesellschaft mit dieser Generalversammlung und damit auch mit dem Beginn des 2. Jahrhunderts ihres Bestehens gegönnt sein, zu dieser Aufgabe einen möglichst dauerhaften Beitrag zu leisten.

36  Thesen gegen den Mißbrauch der Demokratie, hrsg. von Hans Buchheim und Felix Raabe, Stuttgart 1972, S. 34. 37  Hans Peters, Problematik der deutschen Demokratie, Zürich 1948, zitiert nach derselbe, Entwicklungstendenzen der Demokratie in Deutschland seit 1949, in: Demokratie und Rechtsstaat, S. 230.

Die ontologische Begründung der Menschenrechte* Das Begehren und der Wunsch nach möglichst allgemeiner Anerkennung der Menschenrechte zählt zu dem, was die Menschen über die Zeitenwende des Jahres 2000 in das 21. Jahrhundert mit sich genommen haben. Das Verlangen nach dieser Anerkennung überschreitet die Grenzen von Staaten und Kontinenten. Je nach Kultur, Religion und der Entwicklung der Politik eines Landes wird der Zugang zur Erfüllung dieser Forderung verschieden sein. Auch in der Frage der Begründung der Menschenrechte zeigt sich die Pluralität unserer Zeit. Im Streben nach dem Gemeinsamen soll ihr begegnet werden. Der Mittelmeerraum lädt zur Beantwortung dieser Frage nach der Begründung der Menschenrechte besonders ein. Er zählt mit zur Wiege der europäischen Kultur abendländischer Prägung. Der einstige deutsche Bundespräsident Theodor Heuss erklärte diesbezüglich einmal, ihr Ursprung verdeutliche sich in drei Orten, nämlich der Akropolis von Athen, Golgotha nahe Jerusalem und dem Kapitol in Rom1. Bari liegt in diesem Kräftefeld europäischer Geschichte und Gegenwartsverantwortung. Als Hauptstadt der Region Puglia erinnert diese in der Geschichte auch an die Zeit der Staufer und in der Gegenwart an die außerordentliche Hilfe, die Sie in diesem Raum geradezu stellvertretend für Italien und Europa unzähligen Flüchtlingen auch asylgewährend entgegengebracht haben. Mit dieser in Ihrer Region und in dieser Stadt gewährten Hilfe entsprechen Sie auch dem Vorbild des Heiligen, der seit dem 8. Mai 1087 in der Krypta der Basilika San Nicola in Bari seine letzte Ruhestätte gefunden hat, nämlich des Heiligen Nikolaus, der Bischof von Myra war und 350 im hohen Alter verstorben ist. Er ist wohl der gefeiertste Volksheilige des Abendlandes geworden. Seinem Vorbild als Nothelfer und Wohltäter folgen Sie mit vielen Menschen in dieser Region in einem sehr anerkennenswerten Einsatz. Mein Memento gilt gleichzeitig in dieser Stadt aber auch einer Persönlichkeit, die als Professor an dieser Ihrer Universität gelehrt, und nach dem *  Vortrag, gehalten am 5.4.2000 im Rahmen des Europe – Near East Centre, der Città di Bari, Assessorato Cultura e turismo, und The Becket Fund for Religious Liberty in Bari. Erschienen in: Diritti dell’ Uomo, Diritto delle Genti nel Mediterraneo, a cura Angiola Filipponio / David M. Jaeger, Bari 2000, S. 13 ff. 1  Theodor Heuss, Geist der Politik: ausgewählte Reden, Frankfurt am Main 1964.

360

Die ontologische Begründung der Menschenrechte

auch deren Auditorium maximum benannt ist, nämlich Aldo Moro: dem bedeutenden Rechtsgelehrten und Politiker. Wir in Österreich werden ihm immer dankbar sein, daß er in seiner Zeit politischer Verantwortung vor mehr als dreißig Jahren Wegweisendes und Bleibendes zur Lösung des Südtirolproblems in Verhandlungen mit unserem Land geleistet hat. Das leidvoll tragische Ende des bedeutenden Lebensweges von Aldo Moro, das mit seiner Geiselnahme in Rom um 9.05 Uhr am 16. März 1978 in der Via Fani begonnen und mit seinem Auffinden, ermordet nach 55 Tagen Gefangenschaft, am 9. Mai 1978 in der Via Caetani in Rom sichtbar geworden ist, soll auch im Hinblick auf die Menschenrechte, die ein ideologisierter Terrorismus zutiefst verletzte, zu denken geben. I. Die Begründung der Menschenrechte Die Achtung und der Schutz der Menschenrechte hängt eng mit deren Begründung zusammen. Sie sollen so weit wie möglich über die Grenzen der Staaten und damit auch politischen Systeme allgemein anerkannt und einsichtig sein. Es freut und ehrt mich sehr, daß Sie mich als einen Vertreter des deutschsprachigen Raumes aus Ihrer österreichischen Nachbarschaft auch als Vortragenden zur Teilnahme an dieser internationalen Konferenz eingeladen haben. Menschenrechte verpflichten die Staaten und die Völkergemeinschaften, sie sollten aufgrund ihres präpositiven Charakters auch deren politisches Wollen begrenzen. Diese beachtenswerte Begrenzung politischer Willensbildung durch die Menschenrechte trifft im besonderen auch die Demokratie. Papst Johannes Paul II. hat es schon betont: „Eine Demokratie ohne Werte verwandelt sich, wie die Geschichte beweist, leicht in einen offenen oder hinterhältigen Totalitarismus“2. Werte werden nicht vom Staat erzeugt, sondern entstammen dem Wertebezug der Menschen sowie der Wertschöpfung der mannigfach pluralistischen und gegliederten Gesellschaft. Wenn auch nicht ausschließlich, aber doch in einem besonderen Maß kommt den Kirchen und religiösen Gemeinschaften bei der Erkenntnis und Vermittlung solcher Werte eine besondere Aufgabe zu. In seinen Enzykliken „Sollicitudo rei socialis“ und „Centesimus annus“ sowie während seiner kürzlichen Reise in das Heilige Land, besonders in Jerusalem, hat Papst Johannes Paul II. vor allem in bezug auf die Würde 2  Papst Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, 1991, Nr. 46. Siehe dazu auch Herbert Schambeck, Zur Demokratie in der Soziallehre Papst Johannes Paul II., in: Dem Staate, was des Staates, der Kirche, was der Kirche ist, Festschrift für Joseph Listl zum 70. Geburtstag, hrsg. von Josef Isensee, Wilhelm Rees und Wolfgang Rüfner, Berlin 1999, S. 1003 ff.



Die ontologische Begründung der Menschenrechte361

des Menschen einen Aufruf zu diesem Wertedenken an alle christlichen Religionen, die Juden, die Moslems, an alle Anhänger der großen Weltreligionen sowie an alle Menschen guten Willens erlassen3. Im Anschluß an diese Enzykliken hat der katholische Sozialethiker und Professor an der Gregoriana Johannes Schasching SJ anschaulich von der „Notwendigkeit einer Ökumene der wertestiftenden Kräfte“ gesprochen4. Dieser Notwendigkeit einer Ökumene der wertestiftenden Kräfte kann am besten durch einen Dialog in Wahrheit und Liebe entsprochen werden, einem Zeiterfordernis, dem der aus Puglia, nämlich aus Altamura stammende Apostolische Nuntius in Österreich, Erzbischof Donato Squicciarini4a, der auch eine menschliche Brücke ihrer Region zu Österreich ist, sein Buch gleichen Titels gewidmet hat. Diese heutige internationale Konferenz gibt zu diesem Dialog Gelegenheit. Die Frage nach der ontologischen Begründung der Menschenrechte läßt uns nämlich unabhängig von allen religiösen, philosophischen, weltanschaulichen, ideologischen und politischen Grenzen und Unterschiede über die Seins-Tatsachen des Rechts sowie damit auch über Realien der Gesetzgebung5 und Vorgegebenheiten des Rechts6 ein Gespräch führen. Das Sein ist die Voraussetzung, daß das Recht als Ordnung erforderlich ist. Der Münchener Rechtsphilosoph und Strafrechtslehrer Arthur Kaufmann hat es bereits erklärt: „Daß mit dem Sein zugleich auch das Recht gegeben ist, ist der älteste Gedanke des Abendlandes, den wir besitzen“7 und er verweist auf Anaximander: „Alles, was ist, ist auch als Seiendes in Ordnung.8 Wer das Sein denkt, denkt auch das Recht. Das Recht ist die Ordnung des Seienden in seiner konkreten Fülle …“.9 3  Beachte Papst Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo rei socialis 1987, Nr. 47 und Centesimus annus 1991, Nr. 60. 4  Brief von Johannes Schasching SJ vom 11.2.1999 an den Verfasser. 4a  Donatus Squicciarini, Dialog in Wahrheit und Liebe der Apostolische Nuntius in Österreich zu aktuellen Fragen in Kirche und Welt, hrsg. von Egon Kapellati und Herbert Schambeck, Graz / Wien / Köln 1997. 5  Dazu Herbert Schambeck, Der Begriff der „Natur der Sache“. Ein Beitrag zur rechtsphilosophischen Grundlagenforschung, Wien 1964, bes. S. 5, 32, 46, 62 und 71. 6  Beachte Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., München 1977, S. 229 ff. 7  Arthur Kaufmann, Die ontologische Struktur des Rechts, in: Die ontologische Begründung des Rechts, hrsg. von demselben, Darmstadt 1965, S. 503 f. 8  Hierzu Erik Wolf, Der Ursprung des abendländischen Rechtsgedankens bei Ana­ ximander und Heraklit, in: „Symposion. Jahrbuch für Philosophie“, Band I, 1949, S.  35 ff. 9  Kaufmann, a. a. O., S.  504.

362

Die ontologische Begründung der Menschenrechte

Wir wissen auch, daß die Griechen zwischen dem νόμω δiκαιον, welches auf die Autorität des Gesetzgebers zurückgeht und das Gesetz ist, und dem φύσει δικαιον, das in der natürlichen Ordnung der Dinge wurzelte und das Recht ist, unterschieden haben. Der Mensch ist von beiden Ordnungen berührt, von der natürlichen und der gesetzlichen Ordnung. Das antike Rom unterschied zwischen dem ius als einer von Menschen für Menschen gebildeten Ordnung und dem fas als eine den Göttern gegenüber zu respektierenden Ordnung10. Die Frage nach dem Bild des Menschen stellt sich bewußt oder unbewußt jedem Gesetzgeber und zeigt sich mehr oder weniger deutlich in jeder Rechtsordnung11, besonders aber in den Menschenrechten des Grundrechtsteiles jeder Staatsverfassung.12 Menschenrechte führen zum Menschenbild, und dieses setzt Seinsbetrachtung sowie Seinsverständnis voraus. II. Betrachtung und Verständnis des Seins Die Frage nach dem Sein ist nach den verheerenden Folgen zweier Weltkriege sowie autoritärer und totalitärer Regime nach 1945 besonders gestellt worden. Sie verlangt eine Einstellung zum Sein. Aus einer geradezu zerbrochenen Welt fragten sich die Menschen nach dem Sinn des Lebens und des Seins. Ein Denker dieser Zeit, welcher im Unterschied zum Existentialismus des mehr nihilistischen Jean Paul Sartre zur christlichen Existenzphilosophie gerechnet wird13, nämlich Gabriel Marcel14 schrieb 1952 in seinem Werk „Le Mystère de l’Etre“: „Es wird klar, mit welcher Vorsicht die Behauptung ‚ich bin‘ aufgenommen werden muß, die von Descartes aufgestellt wurde, weil er sie ein für allemal gesichert zu haben glaubte. Was mich angeht, würde ich viel eher sagen: sie darf nicht in vermessenem, herausforderndem Tone vorgebracht werden, nur flüsternd haben wir sie auszusprechen, mit Demut, Furcht und mit beglücktem Staunen in der Stimme. 10  Dazu Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, Erster Abschnitt, München 1988, S. 267 ff. und S. 275 ff. 11  In diesem Sinne auch schon Gustav Radbruch, Der Mensch im Recht, Göttingen 1957, bes. S. 9 ff. und Theo Mayer-Maly, Gedanken über das Recht, Wien /  Köln / Graz 1985, S.  20 ff. 12  Siehe z. B. Henkel, a. a. O., S. 234 ff. und Menschenrecht und Menschenbild in den Verfassungen Schwedens, Deutschlands und Österreichs, ethische Grundlagen und praktische Folgerungen mit Beiträgen von Willi Geiger, Carl Friedrich Hadding, Gunnar Heckscher und Herbert Schambeck, Heidelberg 1983. 13  Beachte Herbert Schambeck, Das Sein im Lichte christlicher Existenzphilosophie, „Neue Wege“ Nr. 92, Jg. IX, Wien Jänner 1954, S. 30 f. 14  Dazu Herbert Schambeck, Gabriel Marcel und Jean Paul Sartre, „Neue Wege“ Nr. 106, Jg. XI, September 1955, S. 5 f.



Die ontologische Begründung der Menschenrechte363

Mit Demut: Denn dieses Sein, wir werden es mit wachsender Klarheit erkennen, es kann uns letztlich nur gewährt sein. Es wäre grobe Selbsttäuschung, zu wähnen, ich könne es mir selber übertragen. Mit Furcht kann ich doch nicht einmal ganz sicher sein, es läge nicht in meiner Macht, mich dieser Gabe dermaßen unwürdig zu erweisen, daß ich ihrer verlustig gehen müßte, stünde die Gnade mir nicht zur Seite. Und mit beglücktem Staunen endlich, weil diese Gabe mir das Licht bringt, weil sie das Licht ist“.15 Was Gabriel Marcel in fast poetischen Worten an Respekt vor dem Sein ausdrückt, hat der deutsche Dichter Angelus Silesius schon im 17. Jahrhundert in einem Gedicht mit den Versen den Menschen als Verantwortung nahegebracht: „Mensch, alles was Du willst, ist schon zuvor in Dir, es liegt nur an dem, daß Du’s nicht wirkst herfür.“16 Diesen Gedanken auf den Menschen bezogen, lassen hinsichtlich dem Sein des Menschen an die Lehre von der Entelechie bei Aristoteles und in christlicher Prägung fortsetzend an Thomas von Aquin denken. III. Seins- und Rechtsbegründung Aristoteles hat, es sei in Erinnerung gerufen, im Anschluß an Plato das Sein dynamisch gesehen. Es befindet sich in einem ständigen Werden, und zwar zwischen der in ihm vorhandenen Möglichkeit und der verwirklichten Form.17 Aristoteles geht von einer Seinsentfaltung aller Wesenheiten aus, die ihren Telos nämlich in sich tragen. Diese Verbundenheit von Sein, on, und Ziel, telos, drückt wohl auch der auf Aristoteles zurückgehende Begriff der Entelechie am besten aus.18 Während aber alle anderen Lebewesen durch die bloße Entfaltung ihrer biologischen Natur zur Vollendung kommen, muß der Mensch für seine Seinsentfaltung, um sein Ziel zu erreichen, ein Leben nach der Vernunft führen. Da aber die Vernunft nach Aristoteles etwas Göttliches ist, muß ein Leben nach der Vernunft göttlich sein; alle sollten sich daher im Rahmen des ihnen Möglichen bemühen, sich zur Unsterblichkeit zu erheben19. Diese Lehre von der Entelechie des Seins hat Aristoteles bekanntlich mit der Erkenntnis verbunden, daß der Mensch ein zoon physei politikon ist20, 15  Gabriel

Marcel, Geheimnis des Seins, Wien 1952, S. 330 f. Silesius, Cherubinischer Wandersmann, eingeleitet und erläutert von Will-Erich Peuckert, (Sammlung Dietrich Bd. 64), Leipzig o. J., S. 131. 17  Aristoteles, Metaphysik VIII, 1050a. 18  Siehe Aristoteles, Politik I, 1252b. 19  Aristoteles, Nikomachische Ethik X 7, 1177b; dazu Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Wien 1963, S. 40 ff. 20  Aristoteles, Politik I, 1253a. 16  Angelus

364

Die ontologische Begründung der Menschenrechte

also ein Wesen, das seine Entfaltung in der Sozial- bzw. Gemeinschaftsbezogenheit findet21. Es wäre aber falsch anzunehmen, Aristoteles wäre damals schon für die Menschenrechte eingetreten; er hält vielmehr noch, wie übrigens schon vor ihm Plato22, an der Sklaverei fest, die es für ihn von Natur aus gibt.23 Diese Lehre von der Entelechie des Aristoteles hat bekanntlich später Thomas von Aquin übernommen, der von seinem Lehrer und Vorgänger an der Pariser Universität Albert Magnus durch seine Kommentare zur Ethik und zur Politik des Aristoteles auf die Rechtsphilosophie des Stagiriten hingeführt wurde. Thomas von Aquin geht von der Finalität allen Seins aus24. Während aber die vernunftlosen Wesen ihrem Ziel instinkthaft und blind zustreben, ist es die Pflicht des Menschen, sein Ziel zu erkennen und diesem zu folgen. Der Mensch habe in sich selbst den Drang nach der Entfaltung und Vollendung seines Wesens.25 Das Endziel des Menschen sei es, selbst gottähnlich zu werden, da der Mensch als Ebenbild Gottes erschaffen wurde: „ultimus finis est Deo assimilari“.26 Bei Thomas von Aquin verbindet sich daher die Lehre von der Entelechie mit der von der Persönlichkeitsentfaltung und der Heilsfindung des Menschen. Er übersieht aber auch nicht, daß der Mensch von seinem natürlichen Ziel durch das „Gesetz der Sünde“ abgelenkt werden kann, und geht von einer doppelten menschlichen Natur aus: nämlich von der, die seinem Wesen entspricht und die durch die Sünde pervertiert wurde.27 Seine Seinslehre selbst hat Thomas von Aquin in seinem Tractat de ente et essentia, welche eine in Paris 1252 oder 1253 entstandene Erstlingsschrift ist, entfaltet.28 Mit ihr kommt er der Existenzphilosophie und damit auch dem ontologischen Denken der heutigen Zeit sehr nahe.29 Seinsbegründung und Rechtsbegründung werden in diesem Ordnungsdenken unserer Zeit sehr nahe gebracht und mit der ontologischen Begründung des Rechts auch ein Beitrag zum Naturrechtsdenken geleistet, was mit zur Begründung der Menschenrechte beizutragen vermag. 21  Siehe

näher Verdross, a. a. O., S.  42 ff. Politeia, 577c und 588c; Plato war auch gegen ärztliche Hilfe an gebrechliche Personen, derselbe, Politeia, 407e. 23  Aristoteles, Politik, 1254b. 24  Thomas von Aquin, Summa contra gentes III, 17. 25  Thomas von Aquin, a. a. O., I, 1. 26  Thomas von Aquin, a. a. O., III, 19. 27  Thomas von Aquin, Summa theologica II, 1, 71, Art. 2 ad 3. 28  Siehe Thomas von Aquin, Über das Sein und das Werden, deutsch-lateinische Ausgabe, übersetzt und erläutert von Rudolf Allers, Darmstadt 1961. 29  So auch Allers, a. a. O., S. 11. 22  Plato,



Die ontologische Begründung der Menschenrechte365

In der Einleitung seines Sammelbandes „Die ontologische Begründung des Rechts“ hat bereits Arthur Kaufmann 1965 festgestellt: „Hatte man im Altertum das Naturrecht auf die Natur oder den Logos, im Mittelalter auf die Schöpfungsordnung Gottes, in der Neuzeit auf die menschliche Ratio zu gründen gesucht, so ist das Naturrechtsdenken der Gegenwart am Sein orientiert“.30 Kaufmann ist die Problematik des Seinsbegriffs bewußt und verweist darauf, „daß den heutigen rechtsontologischen Versuchen … nicht ein abstrakt-allgemeines, sondern ein konkretexistentielles Seinsverständnis zugrunde liegt. Es ist ein Naturrechtsdenken aus der konkreten ‚Natur der Sache‘ “31. Die „Natur der Sache“ umfaßt die Natur der Vielzahl an tatsächlichen Gegebenheiten, welche Realien des Rechts überhaupt sind, wie zum Beispiel körperliche und unkörperliche, teilbare und unteilbare Sachen sowie vertretbare und unvertretbare Leistungen, daneben aber zählt neben der „Natur der Sache“ im engeren Sinn auch die „Natur des Menschen“.32 Die Natur des Menschen zählt zu den gleichbleibenden und immer begleitenden Apriori jeder Rechtsordnung. Jede Rechtsordnung befindet sich in einem Spannungszustand zwischen dem Präpositiven und den Zeiterfordernissen. Alles positive Recht ist ja geschichtliches Recht. Positives Recht wird Gesetz aufgrund eines zeit- und ortsbedingten Ordnungs-, Schutz- und Sicherheitsbedürfnisses, sei es des Einzelmenschen, der Gesellschaft oder des Staates. IV. Die Geistesnatur des Menschen Was für das positive Recht im allgemeinen Recht gilt, gilt auch im besonderen für das Verfassungsrecht und für die Menschenrechte. Sie drücken ein Spannungsverhältnis aus; es ist letztlich begründet in der ontologischen Struktur der Realität des Rechts. Im Hinblick darauf erklärte schon Arthur Kaufmann: „Reales Recht geht hervor aus der polaren Spannung von Naturrecht und Positivität. Naturrechtlichkeit und Positivität sind die beiden gestaltenden Seinsprinzipien des Rechts. In der allgemeinen Ordnung heißen diese Seinsprinzipien Wesenheit und Dasein, Essenz und Existenz, was dasselbe ist: Potenz und Akt, Möglichkeit und Wirklichkeit … Alle Substanzen, sagt Thomas von Aquin, sind zusammengesetzt aus dem, ‚wodurch sie sind‘, und dem, ‚was sie sind‘ (‚quo est‘ et, ‚quod est‘)“33. 30  Die

ontologische Begründung des Rechts, S. 1. a. a. O., S.  1. 32  Näher Schambeck, Der Begriff der „Natur der Sache“, S. 39 ff. und S. 45 ff. 33  Thomas von Aquin, De ente et essentia, 5. Kapitel, Ausgabe Allers, S. 50 f.; Kaufmann, a. a. O., S.  90 f. 31  Kaufmann,

366

Die ontologische Begründung der Menschenrechte

Bezogen auf die ontologische Begründung des Rechts kann festgestellt werden, es ist die Wesensanalyse des Seins und in bezug auf den Menschen eine metaphysische Ontologie erforderlich; der Mensch ist in seiner Trans­ zendentalbezogenheit zu sehen. In Überwindung der Seinsvergessenheit ist es notwendig, bei allen Seienden nach dem Sein selbst zu fragen34. Ohne in Verdacht zu stehen, vor allem christlich gewesen zu sein, hat der deutsche Philosoph Martin Heidegger in seiner Schrift „Was heißt denken?“ schon festgestellt, es vermag Moral „als bloße Lehre und Forderung nichts, wenn nicht der Mensch zuvor in ein anderes Grundverhältnis zum Sein gelangt, wenn der Mensch nicht von sich aus … sich dahin aufmacht, sein Wesen überhaupt erst einmal offenzuhalten in die wesenhaften Bezüge zum Sein“35. Heidegger hat zwar auf das Sein hingewiesen, selbst aber den Grund für die Bedeutung des Seins nicht angegeben. Mit Alfred Verdross kann bemerkt werden, „daß Heidegger nur das innerweltliche Sein im Auge hat, das sich in den Kategorien der Endlichkeit und Zeitlichkeit erschöpft“36. Die Betrachtung und Bewertung des Seins erhält aber eine andere Dimension, wenn man sie als Teil der Schöpfungsordnung und den Menschen in seiner Freiheit und Würde anerkennt. Sie führt auch zur Erkenntnis der Natur des Menschen, nämlich in Fortsetzung der Lehre von Aristoteles und Thomas von Aquin von der Entelechie und dem Menschen als zoon politikon zur Einsicht in die Geistnatur des Menschen. Sie unterscheidet den Menschen von allen anderen Lebewesen. Diese Geistnatur des Menschen äußerst sich in Selbstfindung, Selbstbewußtsein, Selbstverantwortung, Selbstbestimmung, Selbstverfügung, Selbstverwirklichung und Selbstvervollkommnung! Im erfüllten Sein des Menschen verbindet sich seine Individualität mit der Personalität und der Solidarität. Der Mensch ist in seiner Persönlichkeitsentfaltung auf den Nächsten und die Gesellschaft angelegt. Das Ich verwirklicht und erfüllt sich im Du. In diesem Zusammenhang sei auf „die Schriften über das dialogische Prinzip“ von Martin Buber37, auf die Lehre von der Kommunikation bei Karl Jaspers38, nicht zuletzt auf Romano Guardini mit seiner Schrift „Vom Sinn der Gemeinschaft“39 verwiesen. Romano Guardini, der 1885 in Verona geboren wurde und nach langen Lehrjahren in München 1968 gestorben ist, sei länger zitiert; er hat es näm34  Siehe

näher Verdross, a. a. O., S.  200 f. Heidegger, Was heißt denken?, Tübingen 1954, S. 34. 36  Verdross, a. a. O., S.  201. 37  Martin Buber, Die Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg 1954. 38  Siehe z. B. Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, 2. Aufl., Zürich 1950, S.  24 ff. 39  Romano Guiardini, Vom Sinn der Gemeinschaft, Graz / Wien / München 1952. 35  Martin



Die ontologische Begründung der Menschenrechte367

lich verdeutlicht: „Daß der Mensch kein Eingesperrter sei im zugemauerten Selbst, sondern daß da Tore offen stehen und Wege führen vom Einen zum Anderen. Daß man den Anderen erblicken könne und verstehen, wie er ist; daß man ihn anreden könne und von ihm angeredet werde; daß es Wort gebe und Ant-Wort, sprechbar und vernehmbar; daß es möglich sei, das Leben des Anderen mitzuvolkziehen und das Eigene von ihm mitvollzogen zu sehen; daß es Teilnahme gebe hinüber und herüber, im Schenken und Empfangen, in Leid und Lust, an Gütern und Werten, an Aufgaben und Schicksalen, an Erlebnis, Weisheit und Innerlichkeit …“40. Guardini führt auf diesem Weg zum Erleben der Gemeinschaft, wenn er schreibt: „Darin bewegt ein Ich sich auf das andere zu. Es blickt von sich weg, auf das andere hin. Es trägt sich jenem entgegen; öffnet sich ihm. So kann jenes, wenn es die Bewegung erwidert, im Herkommen dieses sich öffnende Ich mitvollziehen und darin verstehen und wird ebendarin offen für das erste und macht ihm den verstehenden Mitvollzug möglich“41. V. Gottesebenbildlichkeit und Menschenwürde In der Gemeinschaft des privaten und öffentlichen Lebens verbindet sich die Persönlichkeitsentfaltung des Einzelmenschen mit seiner Sozialverantwortung. Sie ist getragen von der Erfahrung des Seins, in dem für den christgläubigen Menschen die Freiheit und Würde in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen begründet ist.42 Mit der Imago-Die-Lehre wurde die Lehre von der dignitas humana metaphysisch begründet. So lesen wir in der Genesis: „Lasset uns den Menschen machen nach unserem Abbild, uns ähnlich.“43 Anschließend wird die gleiche Menschenwürde der Frau betont. Nach seinem Bild schuf er den Menschen „als Mann und Weib erschuf er sie“44. Diese Lehre von der Gottesebenbildlichkeit wurde von den Kirchenvätern45, vor allem auch in der Schrift von Gregor von Nyssa „De hominis opificio“ im 4. Jahrhundert näher ausgeführt. Sie begleitete durch Jahrhun40  Guardini,

a. a. O., S.  10 f. a. a. O., S.  43 f. 42  Siehe Gen. 1, 26 f. Dazu auch Johannes Messner, Die Idee der Menschenwürde im Rechtsstaat der pluralistischen Gesellschaft, in: derselbe, Ethik und Gesellschaft, Aufsätze 1965–1974, Köln 1975, S. 13 ff., bes. S. 20 ff. 43  Gen. 1, 26 f. 44  Gen. 1, 27. 45  Dazu Verdross, a. a. O., S. 55 ff.; Felix Flückinger, Geschichte des Naturrechts, Zürich 1954, S. 284 ff. und Hugo Rahner, Kirche und Staat im frühen Christentum, München 1961. 41  Guardini,

368

Die ontologische Begründung der Menschenrechte

derte die Idee von der Würde des Menschen. Besonders sei auf die ausdrückliche Hervorhebung der Menschenwürde bei Samuel von Pufendorf verwiesen, der in seinem Werk „De officio hominis et civis“ 1672 von der Idee der angeborenen Würde des Menschen (inesse homini aliqui dignatio) aus die gleiche Achtung und Gleichberechtigung des Menschen ableitete46; eine Lehre, die später auch die amerikanische Erklärung der Menschenrechte und über diese die Frankreichs sowie auch den Weg Europas zum demokratischen Verfassungsstaat der Neuzeit beeinflußt hat.47 Die Verbundenheit von Sein und Würde des Menschen drückt sich in dem Wort „Person“ aus48. Dieses Wort Person, es sei besonders betont, ist älter als der Rechtbegriff Person.49 Boethius scheint die erste formalontologische Definition von Person gegeben zu haben, wenn er feststellte: „Persona est naturae rationalis individua substantia“50. VI. Die Personhaftigkeit des Menschen Die Anerkennung aller Menschen als Rechtsperson hat eine sehr lange Geschichte und erfolgte erst mit dem Untergang der feudalen Ständeordnung51. Die Würde des Menschen fand in dem Personbegriff seinen Ausdruck. Treffend und anschaulich sagte es dem auch entsprechend Papst Johannes XXIII. 1963 in seiner Enzyklika „Pacem in terris“ (Art. 9), „daß jeder Mensch seinem Wesen nach Person ist“52. Der Schutz dieser Würde 46  Samuel

von Pufendorf, De officio hominis et civis, 1673, III, § 1. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 6. Neudruck, Darmstadt 1959, bes. S. 412 ff.; Carl Joachim Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin / Göttingen / Heidelberg 1953 sowie Herbert Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für Johannes Messner zum 85. Geburtstag, hrsg. von Alfred Klose, Herbert Schambeck, Rudolf Weiler und Valentin Zsifkovits, Berlin 1976, S. 445 ff. 48  Siehe Siegmund Schloßmann, Persona und prosopon im Recht und im christlichen Dogma, Dissertation, Kiel 1906 sowie Hans Rheinfelder, Das Wort „Persona“, Geschichte seiner Bedeutungen mit besonderer Berücksichtigung des französischen und italienischen Mittelalters, „Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie“, Heft 77, Halle 1928. 49  Dazu näher Helmut Coing, Der Rechtsbegriff der menschlichen Person und die Theorie der Menschenrechte, Beiträge zur Rechtsforschung, Tübingen 1950. 50  Nach Arthur Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, Recht und Staat, Heft 282 / 283, Tübingen 1964, S. 11 f. 51  Beachte Hermann Conrad, Individuum und Gemeinschaft in der Privatrechtsordnung des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, Karlsruhe 1956. 52  Hiezu Giorgio Filibeck, Human Rights in the Teaching of the Church: From John XXIII to Johan Paul II, Vatican City 1994; Die Kirche und die Menschenrech47  Näher



Die ontologische Begründung der Menschenrechte369

und Personhaftigkeit des Menschen erfolgt in der Rechtsform des Grundrechts; d. h. in der Form eines Rechtssatzes höchsten Ranges, nämlich des Verfassungsrechts, welches den Staat selbst verpflichtet und den Einzelmenschen berechtigt. Die Grundrechte haben sich von Standesrechten zu Menschenrechten entwickelt. War es früher ein Anspruch einiger weniger Bevorzugter gegen den Staat und seinen Repräsentanten, so wurden die Grundrechte mit der Demokratisierung des Staates und seiner Rechtsordnung zu einem Recht aller Einwohner oder zumindest aller Staatsbürger. Die Geschichte zeigt, daß die Verbundenheit von Mensch als Rechtsperson und Rechtsordnung im Sinne des Gebotes von Menschenwürde ein Vorgang von langer Dauer war und der Personbegriff zum Rechtsgebot sich erst mit dem Beginn der Rechtskodifikation verdeutlichte53. Im späteren Rechtspositivismus54 ging die metaphysische Begründung der Menschenrechte verloren. Erst nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges ließ die Wiederkehr des Naturrechts55 die Einheiten von Menschenwürde und Person­ haftigkeit in positivrechtlich gesicherten Menschenrechten zustande kommen56. Der Mensch wurde als Rechtsperson anerkannt, seine Rechtsfähigkeit damit begründet und die Voraussetzung für seine Stellung in Recht und Politik geschaffen.57 Das zeigt sich in vielen Verfassungen. So beginnt das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 sogar im Art. 1 mit der Erklärung und dem Schutz der Menschenwürde; weiters sei te, ein Arbeitspapier der Päpstlichen Kommission Iustitia et Pax, 3. Aufl., München 1980 und Päpstlicher Rat Iustitia et Pax, Die Kirche und die Menschenrechte, historische und theologische Reflexionen, Bonn 1991. 53  Dazu Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, bes. S. 322 ff. 54  Siehe insbesondere Karl Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Leipzig 1892 und Hans Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, Charlottenburg 1928, Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl und Alfred Verdross, hrsg. von Hans Klecatsky, René Marcic und Herbert Schambeck, Band 1, Wien / Salzburg 1968, S. 281 ff. 55  Beachte Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2. Aufl., Köln 1947 sowie die bei Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, auf S. 461, Anmerkung 84 angegebene Literatur. 56  Näher Herbert Schambeck, I diritti fondamentali nelle constituzioni dell’Europa occidentale, in: I Diritti Umani. Dottrina e prassi, opera collettiva diretta da Gino Concetti, Roma 1982, S. 443 ff. und derselbe, Grundrechte in westeuropäischen Verfassungen, Österreichische Juristen-Zeitung 1992, S. 634 ff. 57  Beachte u. a. Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, Textausgabe mit einer Einführung und einem Sachverzeichnis von Adolf Kimmel, 4. Aufl., München 1996, S.  XIV ff.

370

Die ontologische Begründung der Menschenrechte

betont, daß Israel ein eigenes Grundgesetz über die Würde und Freiheit des Menschen vom 17. März 1992 hat. Auch die Verfassungen vieler Staaten des Mittelmeerraumes enthalten Bekenntnisse zur Freiheit bzw. zur Würde des Menschen.58 58  Siehe Verfassung der Republik Italien vom 27.12.1947:  Art. 2. Die Republik anerkennt und gewährleistet die unverletzlichen

Rechte des Menschen, sei es als Einzelperson, sei es innerhalb der gesellschaftlichen Gebilde, in denen sich seine Persönlichkeit entfaltet; sie verlangt die Erfüllung der unabdingbaren Pflichten politischer, wirtschaftlicher und sozialer Solidarität. Art. 27. (1) Für Straftaten ist jedermann persönlich verantwortlich. (2) Bis zur endgültigen Verurteilung gilt der Angeklagte als nicht schuldig. Die Strafen dürfen nicht in einer Behandlung bestehen, die humanitärem Empfinden widerspricht; sie müssen die Umerziehung des Verurteilten anstreben. Die Todesstrafe ist un­zu­ lässig, außer in den von den Militärgesetzen für den Kriegsfall vorgesehenen Fällen. Art. 41 (1) Die privatwirtschaftliche Initiative ist frei. (2) Sie darf nicht im Gegensatz zum Gemeinwohl oder in einer Weise ausgeübt werden, die der Sicherheit, der Freiheit und der Würde des Menschen schadet. Verfassung des Königreiches Spanien vom 29.12.1978. Art. 10 (1) Die Würde des Menschen, die unverletzlichen Rechte, die ihr innewohnen, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Achtung des Gesetzes und der Rechte anderer sind die Grundlagen der politischen Ordnung und des sozialen Friedens. Verfassung der Republik Griechenland vom 11.6.1975: Art. 2 (1) Grundverpflichtung des Staates ist es, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Verfassung der Republik Slowenien vom 23.12.1991: Art. 21. Die Achtung der Persönlichkeit und Würde des Menschen im Strafverfahren und in allen anderen rechtlichen Verfahren sowie während des Freiheitsentzuges und des Strafvollzuges ist zu gewährleisten. Verfassung der Republik Kroatien vom 22.12.1990: Art. 25 (1) Jeder Festgenommene und Verurteilte muß menschlich behandelt und seine Würde geachtet werden. Art. 35. Jedem Menschen und Bürger werden Achtung und Rechtsschutz seines Privat- und Familienlebens, seiner Würde, seines Ansehens und seiner Ehre gewährleistet. Verfassung der Bundesrepublik Jugoslawien vom 27.4.1992: Art. 22. (1) Die Unverletzlichkeit der physischen und psychischen Integrität des Individuums, seines Privatlebens und seiner persönlichen Rechte wird garantiert. (2) Die persönliche Würde und Sicherheit des Individuums wird garantiert. Israel – Grundgesetz über die Würde und Freiheit des Menschen vom 17.3.1992: Abschnitt 1. Die grundsätzlichen Rechte des Menschen in Israel beruhen auf der Achtung der Werte als menschliches Wesen sowie der Unverletzlichkeit seines Lebens und seiner Freiheit und dies wird im Geiste der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel anerkannt. Abschnitt 1b. Die Absicht ist es, die Freiheit und Würde des Menschen in einem Grundgesetz über die Werte des Staates Israel als eines jüdischen und demokratischen Staates zu verankern.



Die ontologische Begründung der Menschenrechte371

VII. Die Mehrdimensionalität des menschlichen Seins Die Entsprechung der ontologischen Begründung der Menschenrechte im Grundrechtsteil eines Verfassungsrechtssystems verlangt die Beachtung der Mehrdimensionalität des menschlichen Seins. Es ist auf ein Selbstsein, auf ein Zusein und auf ein Mitsein gerichtet. Das Selbstsein kann zur Selbsterkenntnis, Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung des einzelnen Menschen führen; das Zusein kann die Verbundenheit mit dem Mitmenschen erleben und das Mitsein die gemeinsame Verantwortung für Gesellschaft und Staat begründen lassen. Diese verschiedenen Dimensionen des Seins entsprechen der ontologischen Bedingtheit des Menschen59. Diesbezüglich ist nach dem Hamburger Rechtsphilosophen Heinrich Henkel „die Frage nach der seinsgesetzlichen Bestimmung des Menschen, … also eine solche nach seiner Realität und Idealität zugleich. Wirklichkeitsschau und Wesensschau sind in einem Verfassung der Volksrepublik Algerien vom 28.11.1996:  Art. 34. (1) Der Staat garantiert die Unverletzlichkeit der menschlichen Person. (2) Jede Form der physischen oder seelischen Gewalt oder Verletzung der Würde des Menschen ist verboten. Verfassung der Arabischen Republik Ägypten vom 22.5.1980: Verfassungsrechtliche Proklamation: (…) Viertens: Freiheit für die Menschlichkeit der Staatsbürger Ägyptens: Menschlichkeit und Würde sind der Lichtstrahl, der den Weg der großen Fortentwicklung der Menschheit zur Verwirklichung seines höchsten Ziels leitet. Die Würde des Menschen ist eine natürliche Reflexion auf die Würde der Nation (…): Verfassung der Volksrepublik Lybien vom 11.12.1969: Art. 27. Das Ziel gerichtlicher Entscheidungen soll die Sicherung der Prinzipien der Gemeinschaft und der Rechte, Würde, und Freiheit des Einzelnen sein. Verfassung der Republik Albanien vom 21.10.1998: Art. 3. Die Unabhängigkeit des Staates und die Integrität seines Territoriums, die Würde des Individuums, die Menschenrechte und die Freiheiten (…) sind Grundlagen des Staates, der die Pflicht hat diese anzuerkennen und zu schützen. Art. 28. (…) 5. Jede Person, deren Freiheit durch Haft eingeschränkt wurde, hat das Recht auf eine menschlichen Behandlung und auf Anerkennung seiner Würde. Verfassung der Republik Türkei vom 7.11.1982: Art. 17. (…) Niemand darf der Folter oder Mißhandlung unterworfen werden: niemand darf einer Strafe oder Behandlung unterworfen werden, die mit der Würde des Menschen unvereinbar ist. Verfassung der Tunesischen Republik vom 1.6.1959:  Präambel Im Namen Gottes (…) bringen wir, die Repräsentanten Tunesiens (…) den Willen des Volkes zum Ausdruck, (…) die nationale Einheit zu festigen und den menschlichen Werten, die das allgemeine Erbe der Völker darstellen, wie die Würde des Menschen, Gerechtigkeit und Freiheit (…), Treu zu bleiben. 59  Siehe Henkel, a. a. O., S. 231 und S. 240 ff.

372

Die ontologische Begründung der Menschenrechte

ontologischen Menschenbild untrennbar miteinander verbunden. Dieses Menschenbild ist also zugleich existentielles und essentielles Menschenbild“60. In diesem Zusammenhang sei vor allem auf die ontologische Schichtenlehre Nicolai Hartmanns61 und Erich Rothackers62 sowie auf die Schriften von Ernst Kretschmer „Mensch und Lebensgrund“63 aufmerksam gemacht. Da der Mensch nicht alleine lebt, bedarf es auch seines Verständnisses für das entsprechende Neben- und Miteinander mit seinen Nächsten, wie z. B. Entgegenkommen und Toleranz. Der deutsche Philosoph Josef Pieper hat diesem Erfordernis seine Schrift mit dem bezeichnenden Titel „Grundformen sozialer Spielregeln“ gewidmet64. In Individual- und Sozialexistenz dokumentiert sich der Mensch, der auch physisch und psychisch ideell und materiell in gleicher Weise bestimmt ist. Anlagen, Triebe, Leidenschaften, Bedürfnisse, Wünsche, Interessen, Zwecke und sonstige Gegebenheiten und Notwendigkeiten verschiedenster Art begleiten den Menschen und prägen ihn. Diese Grundstrukturen der Menschen finden beim Einzelnen einen unterschiedlichen individuellen Ausdruck. Der Mensch erlebt und erfährt sich dabei nicht allein, sondern auch in vielen Bezügen im Hinblick auf Mitmenschen, die Gesellschaft und den Staat. In dieser Sicht eignet der ontologischen Bedingtheit des Menschen auch eine starke soziale Dimension, in der er auch seine volle Persönlichkeitsentfaltung finden kann. Selbstgestaltung und Sozialgestaltung verbinden sich und verlangen auch eine Abgrenzung der verschiedenen Seins-, Aufgaben- und Verantwortungsbereiche der Menschen. Die Freiheit des einen endet nämlich dort, wo die Freiheit des Nächsten beginnt! Zu dieser Abgrenzung ist der Staat mit seiner Rechtsordnung erforderlich. Damit aber bei aller Notwendigkeit des Staates zur Rechtssetzung und Rechtsvollziehung die Seinsautonomie des Menschen65 und damit auch seine Freiheit und Würde gewahrt bleibt, bedarf es der Menschenrechte, welche in der Rechtsform der Grundrechte geschützt werden. Die Grundrechte sind daher ontologisch begründet und notwendig66. Die Notwendigkeit ergibt sich aus dem Erfordernis der Abgrenzung der Stellung des Einzelmenschen zu seinen Mitmenschen sowie aus seiner Beziehung zum Staat. Die Grundrechte sichern die Stellung der Einzelmenschen gegenüber dem Staat, dem damit auch die Grenzen seines eigenen Tuns verdeutlicht werden. 60  Henkel,

a. a. O., S.  240. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 2. Aufl., Berlin 1949. 62  Erich Rothacker, Die Schichten der Persönlichkeit, 5. Aufl., Bonn 1952. 63  Ernst Kretschmer, Mensch und Lebensgrund, Tübingen 1966. 64  Josef Pieper, Grundformen sozialer Spielregeln, 7. Aufl., München 1987. 65  René Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, Wien 1957, S. 314. 66  So auch Marcic, a. a. O., S. 305. 61  Nicolai



Die ontologische Begründung der Menschenrechte373

Die Anerkennung dieser Rechte, mit welchen der Mensch nahezu geboren wird, hat ihre eigene Geschichte, man kann geradezu im Zusammenhang mit der Anerkennung der Würde und Rechte der Menschen von einer Kulturgeschichte des Rechtes sprechen. So wurde schon 1811 im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch Österreichs, das heute noch bei uns gilt und damals auch für Teile des heutigen Italiens Geltung hatte, im § 16 erklärt: „Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten“. Wohl am deutlichsten wurde die Menschenwürde im Grundgesetz Deutschlands 1949 im Art. 1 geschützt, in dessen ersten Absatz schon steht: „(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Im Zusammenhang mit der ontologischen Begründung der Menschenrechte, in der es um die Einsicht in das Wesen der Menschenwürde geht, ist besonders der Art. 19 des Deutschen Grundgesetzes von Bedeutung, der im 2. Absatz in bezug auf die Einschränkung der Grundrechte erklärt: „In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden“. Diese sogenannte Wesensgehaltsgarantie des deutschen Verfassungsrechtes67, die auch auf das österreichische Verfassungsrecht nicht ohne Einfluß war68, zeigt wohl am deutlichsten die Bezogenheit, ja Nähe der ontologischen Begründung der Menschenrechte zum positiven Recht. In diesem Sinne hat bereits der Tübinger Staatsrechtslehrer Günter Dürig festgehalten: Die verfassungsrechtliche Aussage über die Unantastbarkeit der Menschenwürde enthält „eine Wertaussage, der ihrerseits … eine Aussage über eine Seinsgegebenheit zugrunde­liegt“69. Sie ist daher letztlich auch die Voraussetzung für alle Grundrechte. 67  Dazu näher vor allem Peter Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, Karlsruhe 1962 und Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III / 2, Allgemeine Lehren der Grundrechte, München 1994, S. 837 ff. 68  Beachte Karl Korinek, Die Erwerbsfreiheit als Schranke für die Wirtschaftslenkung, in: Beiträge zum Wirtschaftsrecht, Festschrift für Karl Wenger zum 60. Geburtstag, hrsg. von Karl Korinek, Wien 1983, S. 243 ff., bes. S. 248 ff.; derselbe, Entwicklungstendenzen in der Grundrechtsjudikatur des Verfassungsgerichtshofes, Wien 1992; Herbert Schambeck, Zur Theorie und Interpretation der Grundrechte in Österreich, in: 70 Jahre Republik, Grund- und Menschenrechte in Österreich, hrsg. von Rudolf Machacek, Willibald P. Pahr und Gerhard Stadler, Kehl a.R.  /  Straß­burg / Arlington 1991, S. 83 ff., bes. S. 89 ff. und derselbe, Demokratische Verfassungsstaatlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit dargestellt am Beispiel Österreichs und Deutschlands, in: derselbe, Zu Politik und Recht, Ansprachen, Reden, Vorlesungen und Vorträge, hrsg. von den Präsidenten des Nationalrates und den Präsidenten des Bundesrates in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Parlamentarischen Gesellschaft, Wien 1999, S. 157 ff., bes. S. 164 ff. und Theo Öhlinger, Verfassungsrecht, 4. Aufl., Wien 1999, S. 296 ff. 69  Günter Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, Entwurf eines praktikablen Wertsystems der Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 des GG, „Archiv des öffentlichen Rechts“, Band 81, Heft 2, S. 125.

374

Die ontologische Begründung der Menschenrechte

VIII. Grundrechtsinhalte Diese Grundrechte sind teils als Menschenrechte, teils als Staatsbürgerrechte in den jeweiligen Staatsverfassungen nach dem Inhalt als liberale, demokratische, soziale und existentielle Grundrechte erkennbar. Die liberalen Grundrechte, auch Freiheitsrechte genannt, wie z. B. die Gleichheit vor dem Gesetz, die Freiheit der Person, des Eigentums, des Glaubens und Gewissens, der Erwerbsbetätigung der Person, der Forschung und Lehre sowie die Freizügigkeit der Person und des Vermögens, sind auf eine Freiheit vom Staat und die Gewährung einer staatsfreien Sphäre gerichtet. Als demokratische oder politische Grundrechte, wie z. B. das Wahlrecht, das Petitionsrecht sowie die Vereins- und Versammlungsfreiheit sind sie auf eine Freiheit im Staat durch Beteiligung an der Staatswillensbildung abgestellt. Als soziale Grundrechte, wie z. B. Recht auf Arbeit, auf gerechte, sichere und gesunde Arbeitsbedingungen, auf gerechtes Arbeitsentgelt, auf Kollektivverhandlungen, auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen, auf Berufsberatung, Berufsausbildung, auf Gesundheit, Fürsorge und soziale Sicherheit, sind sie auf eine Freiheit durch den Staat gerichtet. In ähnlicher Weise verlangen die existentiellen Grundrechte, welche auf den Schutz des Lebens selbst gerichtet sind, beginnend mit dem Schutz des ungeborenen Lebens bis zur Problematik der Sterbehilfe einschließlich des sogenannten Umweltschutzes ein mitverantwortliches Handeln des Staates. Zu diesen existentiellen Grundrechten sei, wenn auch dem Wortlaut nach nicht immer in Verfassungen erkennbar, aber dem Inhalt nach zumindest gefordert, das Recht auf Heimat sowie damit neben dem religiösen auch der ethnische bzw. nationale Minderheitenschutz genannt. Minderheitenrechte sind ein europäisches Grundrecht geworden70. Diese Mehrdimensionalität der Grundrechte verlangt auch für diese einzelnen Grundrechtswerte die entsprechende Grundrechtsform; davon gibt es im Vergleich der Verfassungen der einzelnen Staaten vier, nämlich das subjektiv öffentliche Recht, die Organisationsvorschrift, die Einrichtungsgarantie und den Programmsatz. Es ist die Aufgabe des jeweiligen Staates, im Hinblick auf das allen Grundrechten zugrundeliegende Menschenbild die 70  Näher Herbert Schambeck, Der Minderheitenschutz als europäisches Grundrecht, in: Recht – Glaube – Staat, Festgabe für Herbert Schambeck, hrsg. von Hans Walther Kaluza, Johann Penz, Martin Strimitzer und Jürgen Weiss, 4. Aufl., Wien 1997, S. 183 ff. und Christian Scherer-Leydecker, Minderheiten und sonstige ethnische Gruppen, eine Studie zur kulturellen Identität im Völkerrecht, Berlin 1997.



Die ontologische Begründung der Menschenrechte375

entsprechende Grundrechtsform zu finden, damit das Tun und Unterlassen des Staates jeweils aufeinander abgestimmt werden kann71. Dieser Hinweis auf die verschiedenen Grundrechtsformen im Hinblick auf die einzelnen Grundrechtswerte sei deshalb gegeben, um zu betonen, daß es zum Schutz der Menschenwürde und damit der ontologischen Begründung der Menschenrechte auch der entsprechenden Ordnung des Staates bedarf. In den Menschenrechten wird ein präpositiver Wert, in ontologischer Sicht kann gesagt werden, eine Seinstatsache anerkannt. Darum haben derartige Menschenrechtserklärung einen deklaratorischen Charakter72. Er drückt sich auch in den Worten „sind anerkannt“ aus. Anerkennen kann man nämlich nur etwas bereits Vorhandenes! So, wenn z. B. in einem Verfassungsrecht steht: „Die Freiheit und Würde des Menschen wird anerkannt“. Die Einsicht in diese ontologische Begründung der Menschenrechte und damit in den Wert des Menschen verlangt den Schutz durch das positive Recht des Staates. Selbsteinsicht, Selbsterkenntnis, Sozial- und Staatsverantwortung sollten sich daher gegenseitig ergänzen und dort, wo ein Staat eine Demokratie ist, auch Grundrechte und Grundpflichten. Gerade der demokratische Verfassungsstaat verlangt den mitdenkenden, mitbeurteilenden und mitentscheidenden Menschen. Er ist in einer Demokratie aufgerufen, seinen Wert, seine Bedeutung, aber auch seine Aufgabe und seine Verpflichtung zu erkennen. Eine Tagung wie diese jetzige hier in Bari über die Menschenrechte, führt zu dieser Verantwortung hin, und die Bezogenheit auf den Mittelmeerraum läßt die Wurzeln unserer Tradition und damit die Verpflichtung für die Zukunft erkennen.

71  Näher Herber Schambeck, Grundrechte und Sozialordnung, Gedanken zur europäischen Sozialcharta, Berlin 1969, S. 95 ff. und derselbe, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, S. 462 ff. und S. 477 ff. 72  Dazu näher Gottfried Dietze, Über Formulierung der Menschenrechte, Berlin 1956.

Menschenbild und Menschenrechte im österreichischen Verfassungsrecht* „Nichts ist so entscheidend für den Stil eines Rechtszeitalters wie die Auffassung vom Menschen, an der er sich orientiert … Der Rechtssatz in seiner Allgemeinheit kann vielmehr nur hingeordnet werden auf einen menschlichen Allgemeintypus – und mannigfach verschiedene menschliche Eigenschaften erscheinen den verschiedenen Rechtszeitaltern als typisch, als wesentlich, als maßgebliche Angriffspunkte für die rechtliche Normierung. Die Auffassung einer bestimmten Rechtsordnung vom Menschen wird deutlich erkennbar, wenn man sein Augenmerk darauf richtet, was sie zum subjektiven Recht, was sie zur Rechtspflicht gestaltet hat … Sowohl in den von ihr erteilten Rechten wie in den von ihr auferlegten Pflichten drückt sich also ein auf das entsprechende Verhalten gerichteter Wille der Rechtsordnung aus … Durch die von ihr begründeten Rechte und Pflichten gibt sie also deutlich zu erkennen, welche Antriebe sie im Menschen als gegeben und wirksam annimmt.“1 Diese Feststellungen hat Gustav Radbruch 1927 in seiner Heidelberger Antrittsvorlesung getroffen und damit auch den dialoghaften Charakter des positiven Rechts angesprochen, nämlich den Zusammenhang zwischen Seinsordnung und Normanspruch. Aus den Lebensvorgängen, welche der Mensch mehr oder weniger bewußt und gewollt gestaltet, stellen sich die Ordnungsaufgaben des positiven Rechts, die der Gesetzgeber wieder im Hinblick auf seine Einschätzung des Motivationsbewußtseins des Menschen sucht. Auf diese Weise besteht geradezu ein wechselseitiger, nämlich sich bedingender bedingter Zusammenhang zwischen Recht und Menschenbild.

*  Vortrag, gehalten am 13.6.1982 in Stockholm auf der von der Schwedischen, Deutschen und Österreichischen Sektion der Internationalen Juristen-Kommission veranstalteten Juristenkonferenz. Erschienen in: Menschenrecht und Menschenbild in den Verfassungen Schwedens, Deutschlands und Österreichs. Ethische Grundlagen und praktische Folgerungen, hrsg. von der Deutschen Sektion der Internationalen Juristen-Kommission, Heidelberg 1983, S. 57 ff. 1  Gustav Radbruch, Der Mensch im Recht, Göttingen 1957, S. 9 f.

378

Menschenbild und Menschenrechte

I. Quellen der österreichischen Grundrechte Dieser Zusammenhang von Recht und Menschenbild ist in einem demokratischen Verfassungsstaat besonders deutlich auf Verfassungsebene. In einem demokratischen Verfassungsstaat bietet sich nämlich das Verfassungsrecht als die normative Grundordnung des Staates, in dem auf Grund der von Adolf Merkl entwickelten Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung jeder Akt der Gesetzesvollziehung auch ein Akt der Verfassungskonkretisierung ist. Auf diese Weise ist die Ordnung der Verfassung die Grundlage des Staates und das ihr zugrunde liegende Menschenbild eine Wirkkraft für die gesamte Rechtsordnung. Der Staat der Gegenwart erfüllt aber seine Aufgabe nicht alleine in der Herstellung und Aufrechterhaltung von Ruhe, Ordnung und Sicherheit, sondern ebenso in den Bereichen der Sozialordnung, so daß das Bild des Menschen im demokratischen Verfassungsstaat der Gegenwart über den Bereich des Staates auch auf den der Gesellschaft wirkt. Dieser Mehrzweckverwendung des Staates entspricht eine Mehrdimensionalität des Verfassungsrechtes, die sich in ihren wichtigsten Aufgabengebieten der heutigen Verfassung zeigt. Ausgehend von der Zweiteilung der nordamerikanischen Verfassungsentwicklung in frame of government und bill of declaration of rights kennzeichnet heute das Verfassungsrecht eine Dreiteilung der Hauptaufgaben. Es hat erstens die Ausübung der Staatsfunktionen in Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung zu regeln, zweitens das Verhältnis des Staates zum Einzelmenschen zu bestimmen, was vornehmlich in den Grundrechten geschieht, und drittens die Staatszwecke anzugeben. Das Bild des Menschen kann in allen drei Aufgabenbereichen des Verfassungsrechtes mehr oder weniger deutlich werden. Die Regelung der Organisation des Staates, welche ja die Erfüllung der Primäraufgaben des Staates ermöglicht, damit er seine Ordnungs- und Schutzfunktionen ausüben kann, allein läßt das Menschenbild des jeweiligen Staates nicht erkennen. Denn jeder Staat ist veranlaßt, die Ausübung seiner Staatsgewalt zu regeln. Wenn aber im Zusammenhang mit dieser Staatsorganisationsregelung, die sich auf die Ausübung der Staatsfunktionen der Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung bezieht, auch die Zuständigkeiten näher ausgeführt werden, weil ein Staat, wie zum Beispiel die Republik Österreich, ein Bundesstaat ist, dann kann aus dieser Kompetenzregelung, die ja Lebenssachverhalte zum Inhalt hat, erkannt werden, welche Sozialsituation der Staat für den Einzelmenschen als quasi-politische Umweltbedingungen im kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Bereich für denkbar und möglich erachtet.



Menschenbild und Menschenrechte379

Diese Kompetenzregelungen sind vom Verfassungsgesetzgeber für den einfachen Gesetzgeber des Bundes und der Länder gegebene Blankoermächtigungen, Möglichkeiten also, von welchen er Gebrauch machen kann, aber nicht muß; sie zeigen aber die Sozialorientiertheit des Menschen, wie der Verfassungsgesetzgeber mehr oder weniger deutlich angibt. Das österreichische Verfassungsrecht findet seine Staatsfundamental­ norm im österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920 (B.-VG.), das in den föderalistischen Kompetenzverteilungen der Art. 10 ff. sowohl Aufgaben des Rechts- und Machtzweckes wie des Kultur- und Wohlfahrtszweckes beinhaltet. Zum Unterschied von anderen Staaten, wie zum Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, welche ausdrücklich den sozialen Rechtsstaat und den sozialen Bundesstaat in ihrem Grundgesetz vorgeschrieben erhalten hat, fehlt eine solche Bestimmung dem österreichischen Verfassungsrecht. Das österreichische Verfassungsrecht bezieht über den Rechts- und Machtzweck hinausgehend den Standpunkt der Wertneutralität und überläßt die Entscheidung seiner Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsstaatlichkeit in ihrer Qualität und Quantität dem einfachen Gesetzgeber, der davon auch in den letzten Jahrzehnten Gebrauch gemacht hat, wodurch Österreich einfachgesetzlich, also ohne verfassungsrechtliche Vorschreibung ein sozialer Rechtsstaat wurde. Möglichkeiten und Grenzen dieser sozialen Rechtsstaatlichkeit ergeben sich aus der österreichischen Grundrechtsordnung. Betrachtet man die österreichische Grundrechtsordnung, so muß schon einleitend festgestellt werden, daß diese nicht, wie in anderen Ländern, integrierender Teil des Bundes-Verfassungsgesetzes ist, sondern neben diesem einen bundes-verfassungsgesetzergänzenden Charakter besitzt. Die österreichischen Grundrechte gehen nämlich in ihrer Hauptquelle – sieht man vom Gleichheitsgebot, den Wahlrechtsvorschriften, den Verfahrensvorschriften und dem Recht auf den gesetzlichen Richter im B.-VG. ab, auf die sogenannte Dezember-Verfassung 1867 zurück. In diesem Jahr hat Kaiser Franz Josef I. für die österreichische Reichshälfte der Doppelmonarchie fünf Staatsgrundgesetze erlassen, von denen eines, nämlich das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, die Grundrechte beinhaltete. Als sich in der Zeit der Konstituierenden Nationalversammlung 1919 / 1920 die politischen Parteien auf keinen neuen Grundrechtskatalog einigen konnten, übernahmen sie trotz der Tatsache des Untergangs der Donaumonarchie aus dem Staatsrecht der Monarchie die Grundrechte in das Verfassungsrecht der Republik. Auf diese Weise gelten auch heute, 1981, nach mehr als hundert Jahren, noch immer zum Großteil die Grundrechte, die 1867 die Liberalen einem damals absolutistisch denkenden Monarchen zu einer Zeit abgetrotzt haben, als es noch keine demokratisch gewählte Volksvertretung gab!

380

Menschenbild und Menschenrechte

Letzterer Umstand sei deshalb auch besonders betont, weil er zeigt, dass die Grundrechte Österreichs älter sind als die demokratische Staatswillensbildung. Österreichs Wahlrecht wurde erst 1873 ein direktes, 1896 ein gleiches und 1907 ein allgemeines, und das immer noch als Wahlrecht der Männer. Die Frauen bekamen ihr Wahlrecht erst gleichsam als „Morgengabe der Republik“ in der Wahlordnung der konstituierenden Nationalversammlung 1918. Betrachtet man dieses Staatsgrundgesetz, so fällt auf, daß einzelne Grundrechte nacheinander aufgezählt werden, ohne da darin aufgrund eines bestimmten anerkannten und zum Ausdruck gebrachten Menschenbildes ein System zu erkennen wäre. Grundrechte, die jedem Menschen gewährt werden, stehen neben Grundrechten, die nur für Staatsbürger gelten; Grundrechte, die physische und juristische Personen berechtigen, stehen gemeinsam mit Grundrechten, welche entweder nur für physische Personen oder nur für juristische Personen gelten. Es handelt sich dabei um Grundrechte, die zum überwiegenden Teil als liberale Grundrechte auf die Gewährung und Sicherung einer staatsfreien Sphäre abgestellt und daher Freiheitsrechte sind, so zum Beispiel die Freiheit der Person, des Eigentums, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Freizügigkeit, die Freiheit der Erwerbstätigkeit. Einzelne dieser Grundrechte haben auch demokratischen Charakter, weil sie auf eine Organisation bzw. Repräsentation der Interessen des Volkes gerichtet sind, wie zum Beispiel die Vereins- und Versammlungsfreiheit und das Petitionsrecht. Manche Grundrechte haben sowohl einen liberalen als auch einen demokratischen Charakter, wie zum Beispiel der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz. In diesem Sinne erweisen sich die Grundrechte überhaupt als eine Säkularisation alten christlichen Gedankengutes, welches dank der Initiative der Liberalen und Demokraten im 19. Jahrhundert seine Positivierung erfahren hat. Im Zuge dieser Positivierung der Grundrechte mußten die Liberalen und Demokraten auch zugestehen, dass grundrechtliche Gewährleistungen nicht absolut gelten. Dies äußert sich darin, daß dem einfachen Gesetzgeber das Recht zur Konkretisierung und Statuierung von Ausnahmen von einzelnen Grundrechten in Gesetzesvorbehalten eingeräumt wird. Das bekannteste Beispiel ist wohl der im Artikel 5 proklamierte Grundsatz der Eigentumsfreiheit, der lautet: „Das Eigentum ist unverletzlich“. Diesem ersten Satz wird aber hinzugefügt: „Eine Enteignung gegen den Willen des Eigentümers kann nur in den Fällen und in der Art eintreten, welche das Gesetz bestimmt.“ Dieser formale Gesetzesvorbehalt erlaubt es dem einfachen Gesetzgeber, ein Grundrecht, welches mit einem derartigen Vorbehalt versehen ist, in verfassungsmäßiger Weise seinem Inhalte nach völlig auszuhöhlen. Der Grund für den formalen Gesetzesvorbehalt mag vielleicht darin liegen, daß sich der Gesetzgeber 1867 die Entsprechung verschiedener Mög-



Menschenbild und Menschenrechte381

lichkeiten sozialer und wirtschaftlicher Entwicklungen offenlassen und durch die Anerkennung eines bestimmten Menschenbildes nicht verhindern wollte. Man vertrat damit aber einen Freiheitsbegriff, den man weder seinem Ursprung noch seinem Ziel und Zweck nach begrüßte. Man gewährte in liberalen Grundrechten eine Freiheit vom Staat und in demokratischen Grundrechten eine Freiheit im Staat, ohne sich zu fragen, wozu der Einzelne diese Freiheit verwendet. Dem Staat wurde ein bloßes Unterlassen aufgetragen. Die Gewährung der Freiheit war dabei die einzige Wertung. Der demokratisch-republikanische Verfassungsgesetzgeber hat 1920 dieser mangelnden Wertbezogenheit auch nichts hinzugefügt. Es ist bezeichnend, daß das gesamte österreichische Verfassungsrecht den Ausdruck „Grundrecht“ nicht kennt und die Rezeption des Staatsgrundgesetzes in den Schlußbestimmungen vornimmt, obgleich die Formulierung der Menschenrechte in anderen Verfassungen meist an den Anfang gestellt wird. Das Bundes-Verfassungsgesetz läßt den Begriff des Grundrechts in dem in Art. 144 Bundes-Verfassungsgesetz verwendeten Begriff des „verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts“ aufgehen. Diesem Begriff kommt eine juristische Bedeutung zu, weil der Verfassungsgerichtshof nach diesem Verfassungsartikel berufen ist, über Beschwerden zu entscheiden, in welchen nach Erschöpfung des Instanzenzuges jemand behauptet, in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht durch den Bescheid oder eine „faktische Amtshandlung“ einer Verwaltungsbehörde verletzt zu sein. Der Verfassungsgesetzgeber versteht unter einem solchen Recht aber nicht allein die Grundrechte, sondern alle subjektiven Rechte, die durch eine Verfassungsbestimmung eingeräumt wurden. Sollten sich daher etwa Ansprüche aus Verfahrensvorschriften ergeben, die in einem Verfassungsgesetz stehen, sind auch solche als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte zu verstehen. Die Grundrechte sind in Österreich daher in dem Sog der Verfassungsrechte unterschiedslos aufgegangen und haben durch die österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit, zunächst seit 1869 durch das Reichsgericht, eine Gestaltung, und, man kann in einigen Fällen auch sagen Wandlung, erfahren. Als Beispiel sei die Freiheit des Eigentums und die Enteignungsmöglichkeit genannt, die dem Verfassungsgerichtshof sogar als Recht zu entschädigungslosen Sozialisierungsmaßnahmen erschien (VerfGHSlg. 2572  /  52), wobei er heute eine gewisse Kehrtwendung dadurch versucht, daß er aus dem Gleichheitsgebot eine Entschädigungspflicht ableitet (VerfGHSlg. 6884 / 72, 7234 / 72). Oder man denke an das Recht auf das Verfahren vor dem gesetzlichen Richter, das der Verfassungsgerichtshof auch als Schutz vor jeder unzuständigen Staatshandlung ansieht (zum Beispiel VerfGHSlg. 3875 / 61). Weitere Beispiele ließen sich nennen.

382

Menschenbild und Menschenrechte

Neben der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes haben die Grundrechte in Österreich eine Weiterentwicklung über den innerstaatlichen Bereich durch die internationale Rechtsentwicklung erfahren, nämlich durch all jene Verträge, welche im Rahmen der UNO und des Europarates um die Neuformulierung oder Weiterentwicklung der Grundrechte bemüht waren. Von den Staatsverträgen, die innerstaatlich im Verfassungsrang stehen und unmittelbar anwendbar sind, seien genannt: die Europäische Menschenrechtskonvention (MRK), BGBl. 210 / 1958 und 59 / 1964, sowie die Zusatzprotokolle 1 bis 5 (BGBl. 210 / 1958, 329 und 330 / 1970, 434 / 1969 und 84 / 1972) verfassungsändernd, aber der speziellen Transformation vorbehalten sind zum Beispiel das Internationale Übereinkommen über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl. 377 / 1972 (mit Ausführungsgesetz B.-VG., BGBl. 390 / 1973), sowie das Übereinkommen über die politischen Rechte der Frau, BGBl. 256 / 1965. Der internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, BGBl. 591 / 1978, wurde nicht als verfassungsändernd ratifiziert und der Erfüllung durch Gesetze vorbehalten. Ebenfalls nicht verfassungsändernd mit Erfüllungsvorbehalt wurden die Europäische Sozialcharta (BGBl. 460  /  1969) und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (BGBl. 590 / 1978) ratifiziert. Minderheitenschutz- und Grundrechtsbestimmungen enthalten auch Art. 42–69 des Staatsvertrages von Saint Germain 1919 (StGB1. 303 / 1920) und Art. 6 und 7 des Staatsvertrages von Wien-Belvedere 1955. Von entscheidender Bedeutung für die österreichische Grundrechtsordnung ist vor allem die Europäische Menschenrechtskonvention, welche im Rang eines Verfassungsgesetzes steht und unmittelbar verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte beinhaltet. Während also die Europäische Sozialcharta mit ihren Grundrechten bloß eine Sozialgestaltungsempfehlung beinhaltet, tritt die Europäische Menschenrechtskonvention neben die einschlägigen Bestimmungen der österreichischen Bundes-Verfassung; bei Kollisionen gilt gemäß Art. 60 der Europäischen Menschenrechtskonvention die jeweils grundrechtsfreundlichere Regelung. Die MRK beinhaltet neben einer Reihe schon der bisherigen Grundrechtssituationen Österreichs entsprechenden Fundamentalrechten des Einzelnen sowie der Einräumung eines überstaatlichen Rechtsschutzsystem auch beachtenswerte Neuerungen. Die MRK führte Grundrechtsverbürgungen in die österreichische Rechtsordnung ein, die im StGG nicht oder nicht ausdrücklich enthalten sind, wie



Menschenbild und Menschenrechte383

zum Beispiel das Recht auf Leben (Art. 2), auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8), auf Eheschließung und Familiengründung (Art. 12) sowie das Verbot rückwirkender Strafgesetze (Art. 7). In manchen Fällen der MRK ist der Schutzbereich weiter als nach dem StGG. So sind etwa die Grundrechte der Vereins- und Versammlungsfreiheit (Art. 11) nach der MRK Menschenrechte und nicht bloß Bürgerrechte; die Vereinsfreiheit bezieht sich auf Vereinigungen schlechthin und gibt damit auch wirtschaftlichen Assoziationen eine verfassungsrechtliche Grundlage. Von grundsätzlicher Bedeutung ist schließlich der durch die MRK eingeführte neue Typus des Gesetzesvorbehaltes – zum Beispiel die Art. 8, 9, 10 und 11 MRK -, der den das Grundrecht beschränkenden einfachen Gesetzgeber ausdrücklich inhaltlich festlegt und damit stärker beschränkt als die formalen Gesetzesvorbehalte der im StGG gewährleisteten Rechte. Die materiellen Gesetzesvorbehalte der MRK enthalten eine doppelte Schranke: Es werden einerseits die Rechtsgüter aufgezählt – zum Beispiel gem. Art. 8 MRK (Achtung des Privat- und Familienlebens): nationale Sicherheit, öffentliche Ruhe, wirtschaftliches Wohl des Landes, Verteidigung der Ordnung, Verteidigung vor strafbaren Handlungen, Schutz der Gesundheit und der Moral, Schutz der Rechte und Freiheiten anderer –, zu deren Schutz dem einfachen Gesetzgeber ein Eingriff in die grundrechtlich gewährleistete Freiheit erlaubt ist, und andererseits werden Art und Ausmaß des Eingriffes auf das in einer demokratischen Gesellschaft Übliche beschränkt. Damit sind durch die MRK Grundsätze in die österreichische Grundrechtsordnung eingeführt. Spricht man von den Grundrechten und ihrer Entwicklung, sei auch ein Hinweis auf die für den Einzelnen gegebene Schutzmöglichkeit im österreichischen Verfassungsstaat gegeben. Der Einzelne hatte nach der Dezember-Verfassung 1867 nur die Möglichkeit, sich gegenüber Eingriffen der Verwaltung in Grundrechte an das Reichsgericht zu wenden, das zur Entscheidung über Beschwerden der Staatsbürger wegen Verletzung der ihnen durch die Verfassung gewährleisteten politischen Rechte zuständig war, nachdem die Angelegenheit im gesetzlich vorgeschriebenen Verwaltungswege ausgetragen worden ist. Diese Möglichkeit übernahm 1920 der österreichische Verfassungsgerichtshof im Rahmen seiner Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit und entwickelte dazu noch durch die verfassungsgerichtliche Kompetenz zur Gesetzesprüfung einen indirekten Schutz der Grundrechte für den Einzelnen, den er bei anfechtungsberechtigten Höchstorganen selbst provozieren konnte. Seit der B.-VG.-Novelle 1975 besitzt nun der Einzelne selbst auch einen direkten Rechtsschutz gegenüber der Gesetzgebung, da der Einzelne nun Gesetze wegen des Verdachtes der Verfassungswidrigkeit beim Verfassungsgerichtshof anfechten kann, wenn diese – ohne daß ein Bescheid oder ein Urteil zu ergehen hätte – ihn in seinen Rechten

384

Menschenbild und Menschenrechte

verletzen (Art. 140 (1) B.-VG.). Die Grundrechte sind daher auch Maßstab für die durch den Einzelnen erreichbare Gesetzesprüfung. Untersucht man nun die aus verschiedenen Rechtsquellen fließenden und mit unterschiedlicher normativer Kraft ausgestatteten Grundrechte der österreichischen Rechtsordnung, so zeigen sich in geordneter Form dargestellte Grundrechte der Einzelperson, des Gemeinschaftslebens, der Religion, der Bildung und des wirtschaftlichen Lebens. Aus Zeitgründen ist es ausgeschlossen, auf all diese Rechte einzeln einzugehen, in den einzelnen Systemen des österreichischen Staatsrechtes mit seinen Grundrechten ist dies geschehen; lassen Sie mich auf die einschlägigen Werke von Felix Ermacora2, Ludwig Adamovich3, Robert Walter4 sowie Robert Walter und Heinz Mayer5, sowie auf die kürzlich in dem von mir herausgegebenen Sammelband zum Jubiläum des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes veröffentlichte Abhandlung von Karl Korinek und Brigitte Gutknecht6 verweisen. Überblickweise möchte ich nach den verschiedenen Rechtsquellen folgende Grundrechte nennen: Aufgrund des StGG, RGBl. 142 / 1867, bestehen folgende verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte: – die Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz; – die gleiche Zugänglichkeit zu den öffentlichen Ämtern; – die Freizügigkeit des Vermögens und der Person und die Auswanderung; – die Unverletzlichkeit des Eigentums; – die Freiheit des Aufenthaltes, des Liegenschaftserwerbs und des Erwerbs; – Aufhebung der Untertänigkeit und der Hörigkeit; – die Freiheit der Person und das Recht auf den gesetzlichen Richter; – die Unverletzlichkeit des Hausrechtes; – das Briefgeheimnis; 2  Felix Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte, Wien 1963. 3  Ludwig Adamovich, Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts, 6. Aufl. Wien / New York 1971, S.  497 f. 4  Robert Walter, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Wien 1972, S. 779 ff. 5  Robert Walter, Heinz Mayer, Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts, 3. Aufl. Wien 1980, S. 336 f. 6  Karl Korinek, Brigitte Gutknecht, Der Grundrechtsschutz, in: Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, Hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1980, S. 291 ff.



Menschenbild und Menschenrechte385

– das Petitionsrecht; – die Vereinsfreiheit und die Versammlungsfreiheit; – die Freiheit der Meinungsäußerung und die Pressefreiheit; – die Glaubens- und Gewissensfreiheit; – bestimmte Rechte der anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften; – die Rechte der Anhänger nichtanerkannter Religionsbekenntnisse auf häusliche Religionsausübung; – die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre; – die Freiheit der Berufswahl; – gewisse Rechte von Minderheiten und Volksstämmen. Aufgrund des Beschlusses der provisorischen Nationalversammlung vom 30. Oktober 1918, StGB1. 3 / 1918, bestehen folgende verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte: – die Zensur ist aufgehoben, die volle Pressefreiheit gewährleistet; – die Vereins- und Versammlungsfreiheit. Aufgrund des Abschnittes V des III. Teiles des Staatsvertrages von St. Germain bestehen nachstehende verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte: – Schutz des Lebens und der Freiheit; – Recht der öffentlichen Religionsausübung; – das Recht auf Staatsangehörigkeit; – Gleichheit vor dem Gesetz; – die gleiche Zulassung zu öffentlichen Stellungen, Ämtern und Würden oder zu den verschiedenen Berufs- und Erwerbstätigkeiten; – freier Gebrauch der Sprache; – nicht deutschsprechende Staatsangehörige haben Anspruch auf angemessene Erleichterung beim Gebrauch ihrer Sprache vor Gericht; – Gleichbehandlung der Minderheiten. Aufgrund des B.-VG. bestehen folgende verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte: – Die Gleichheit aller Bundesbürger vor dem Gesetz; – Privatschulen ist das Öffentlichkeitsrecht zu verleihen; – das aktive und passive Wahlrecht aller Staatsbürger; – das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter.

386

Menschenbild und Menschenrechte

Aufgrund des Staatsvertrages von Wien 1955 bestehen folgende verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte: – die qualifizierten Rechte der slowenischen und kroatischen Minderheiten; – das aktive und passive Wahlrecht der Staatsbürger. Aufgrund des Art. I b, § 7 des MinderheitenschulG für Kärnten, BGBl. 101 / 1959, hat jeder Schüler das Recht, in bestimmten Schulen Kärntens die slowenische Sprache als Unterrichtssprache zu gebrauchen. Aufgrund der Menschenrechtskonvention bestehen als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte: – das Recht auf Leben; – das Recht auf einen menschenwürdigen Strafvollzug und das Verbot der Folter; – die Freiheit der Person von Sklaverei und Leibeigenschaft; – die Freiheit von Zwangs- und Pflichtarbeit; – das Recht auf ein gerichtliches Verfahren in Zivil- und Strafsachen; – den Anspruch auf Vorhersehbarkeit von Straffolgen; – das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens; – das Recht auf Achtung der Wohnung; – das Recht auf Achtung des Briefverkehrs; – das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; – das Recht auf freie Meinungsäußerung und freien Empfang der Meinung; – das Recht der Vereins- und Versammlungsfreiheit; – das Recht des Beitrittes zu Gewerkschaften; – das Recht, eine Ehe einzugehen; – das Recht, bei Verletzung der in der Menschenrechtskonvention gewährleisteten Rechte eine Beschwerde einzubringen; – die Gleichheit vor dem Gesetz; – das Recht auf eine Entscheidung einer supranationalen Instanz. Aufgrund des 1. Zusatzprotokolls zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. 210 / 1958, bestehen an verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte: – das Recht auf Achtung des Eigentums; – das Recht auf Bildung; – das aktive und passive Wahlrecht.



Menschenbild und Menschenrechte387

Aufgrund des 4. Zusatzprotokolls zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. 434  /  1969 sind als verfassungsrechtlich gewährleistete Rechte zu nennen: – niemandem darf die Freiheit allein deshalb entzogen werden, weil er nicht in der Lage ist, eine vertragliche Verpflichtung zu erfüllen; – das Recht auf freie Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthaltsortes; – das Recht, jedes Land zu verlassen; – das Recht der Einreise und des Aufenthalts im Hoheitsgebiet des Staates, dessen Staatsangehöriger man ist; – das Recht, nicht kollektiv als Fremder ausgewiesen zu werden. Betrachtet man diese genannten, in Österreich bestehenden verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte in bezug auf ihren Geltungsbereich, so zeigt sich eine Tendenz, die verschiedene Behandlung von Staatsbürgern und Fremden zu beseitigen, was durch die Europäische Menschenrechtskonvention samt Zusatzprotokolle besonders deutlich wird. Über die im österreichischen Verfassungsrecht nicht in einem Systemzusammenhang, sondern nur stückhaft bis fragmentarisch vorhandenen Ordnung der Grundrechte, welche die Stellung des Einzelmenschen im Staat regelt, hinaus, kommt den Grundrechten eine Bedeutung für die gesamte Ordnung des Staates und seiner Gesellschaft zu. II. Die Bedeutung der Grundrechte für den Gesetzgeber Die Grundrechte geben dem Gesetzgeber Maß, Wegweisung und Grenzen für sein Tätigwerden an. Der von den Grundrechten geschützte Bereich steht nicht mehr zur Disposition des einfachen Gesetzgebers, selbst auch bei Grundrechten, die unter Gesetzesvorbehalt stehen, gibt es Schranken. Obgleich nämlich im Unterschied zur Bundesrepublik Deutschland das österreichische Verfassungsrecht keine ausdrückliche Wesensgehaltsgarantie der Grundrechte beinhaltet, hat der österreichische Verfassungsgerichtshof in mehreren Erkenntnissen den Kernbereich der Grundrechte für unantastbar erklärt. Nach dieser Rechtsprechung widersprechen Gesetze einem unter Gesetzesvorbehalt gewährleisteten Grundrecht dann, wenn sie gegen das Wesen der Grundrechte verstoßen, insbesondere dann, wenn sie in ihrer Wirkung einer Aufhebung des Grundrechts gleichkommen. Eine materielle Sicht der Grundrechte, welche aus den Grundrechten gewisse inhaltliche Richtlinien ableiten, hat der Verfassungsgerichtshof nur beim Eigentumsschutz angenommen. Er hat nämlich erklärt, daß Enteignungen und Eigentumsbeschränkungen nur dann zulässig sind, wenn sie im

388

Menschenbild und Menschenrechte

öffentlichen Interesse gelegen sind. Ein Ansatz zur inhaltlichen Gebundenheit des Gesetzgebers ist weiter in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zum Gleichheitsgrundsatz zu erkennen, aus dem der Verfassungsgerichtshof ein allgemeines Gebot zur Sachlichkeit und ein Willkürverbot ableitet. Diese skizzierten Hinweise mögen zeigen, daß sich Österreichs Grundrechte in einem Stadium ansatzweiser Weiterentwicklung befinden, deren Ausgangslage aber nach wie vor die eines Verstehens der Grundrechte als Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat ist. Eine unmittelbare Geltung der Grundrechte für die Beziehung von Einzelnen untereinander, also auf den Privatrechtbereich, wird abgelehnt. Die Grundrechte wirken im Bereich der Gesellschaft bloß entsprechend dem Prinzip der mittelbare Drittwirkung als Normen, die den Inhalt unbestimmter Privatrechtsbegriffe ausfüllen, wie zum Beispiel „gute Sitten“ nach § 879 ABGB sowie als Interpretationsmaxime. Nur das Grundrecht auf Datenschutz ist aufgrund von § 1 Datenschutzgesetz 1978 unter Bezugnahme auf den in Art. 8 Abs. 2 Europäische Menschenrechtskonvention gewährleisteten Schutz des Privatund Familienlebens mit unmittelbarer Drittwirkung ausgestattet. Dieses mehr oder weniger zurückhaltende Grundrechtsverständnis steht in Österreich in Einklang mit dem sehr wertindifferenten Verfassungssystem, das ausgenommen des Bekenntnisses des Art. 9a B-VG. zur umfassenden Landesverteidigung und von der in B.-VG. 1955 erfolgten Neutralitätserklärung abgesehen, keine Staatszweck- und Werterklärung beinhaltet. Einzelne Grundrechte haben dafür mit ihren Schutzerklärungen bestimmter Rechtsgüter eine besondere Bedeutung. Das gilt trotz des Fehlens von über den Rechts- und Machtzweck hinausreichenden Staatszweckerklärung für bestimmte Grundrechte des Sozial- und Wirtschaftslebens neben einzelnen Verfassungsbestimmungen. Aus den Grundrechten zum Schutz des Eigentums (Art. 5 StGG und Art. I 1 ZP MRK), der Freizügigkeit der Person und des Vermögens und der Aufenthaltsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 StGG und Art. 6 Abs. 1 StGG), der Berufsausbildung, der Arbeitsplatzwahl (Art. 18 StGG), des Liegenschaftsverkehrs und der Erwerbsbetätigung (Art. 6 Abs. 1 StGG), den Vorschriften über die Prüfungsmaßstäbe der finanziellen Kontrolle (Art. 126b Abs. 5 B.-VG.), den Verfassungsgrundlagen für die beiden Formen an Interessenvertretungen sowie dem auch in der gesamten Rechtsordnung zum Tragen kommenden Nebeneinander von privater und staatlicher Wirtschaft, kann wohl die soziale Marktwirtschaft als jene Wirtschaftsordnung angesehen werden, welche dem österreichischen Verfassungssystem am besten angepaßt ist. Diese genannten Verfassungsbestimmungen nehmen bei aller Wertneutralität des gesamten österreichischen Verfassungssystems eine bestimmte Ab-



Menschenbild und Menschenrechte389

grenzung vor, aus der zwar keine Pflicht zu einem positiven Tun, wohl aber zu einem verfassungs- beziehungsweise grundrechtswidrigen Unterlassen abzuleiten ist. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zum Gleichheitsgrundsatz. Er hat es lange abgelehnt, aus diesem Prinzip eine Verpflichtung zu einem positiven Tun abzuleiten, in letzter Zeit aber die Auffassung vertreten, daß auch die im partiellen Unterlassen einer gesetzlichen Regelung liegende Gleichheitswidrigkeit eines Gesetzes durch die Aufhebung des dann verfassungswidrigen Teils der Regelung geahndet werden kann. In allen übrigen Bereichen zeigt sich keine Bereitschaft des Verfassungsgerichtshofes, den Grundrechten eine besondere Bedeutung der Grundsatzentscheidung für die gesamte Rechtsordnung einzuräumen. Zwei Beispiele sind hierfür besonders kennzeichnend. So hat der Verfassungsgerichtshof erkannt, daß das Grundrecht der Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre keine bestimmte Organisationsform der Universität verlangt, sowie anläßlich der Anfechtung der sogenannten Fristenlösung erklärt, dass das Grundrecht des Schutzes des Lebens nur einen Schutz vor Tötung durch den Staat bewirke, nicht aber rechtliche Regelungen erfordere, die das Leben unter einen besonderen rechtlichen Schutz, etwa vor Eingriffen gegenüber Privaten, stellen. Der Gesetzgeber früherer Zeiten hat in dieser Frage eine andere Haltung eingenommen, wenn wir etwa im § 22 ABGB 1811 lesen: „Selbst ungeborene Kinder haben vom Zeitpunkt ihrer Empfängnis an einen Anspruch auf den Schutz der Gesetze.“ Der heutige österreichische Gesetzgeber und die diesbezügliche Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes nimmt aber eine andere, nämlich libertinistische Haltung ein. Er sieht das Leben als Schutzgut nur vom Staat her zu schützen an. Anders als in der Bundesrepublik Deutschland wird in Österreich nicht eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates angenommen, Vorkehrungen zum Schutz des Lebens zu treffen, wenn dieses nicht vom Staat selbst, sondern von dritter Seite bedroht ist. Eine solche Haltung empfinde ich mit dem heutigen Staats- und Gesellschaftsverständnis nicht vereinbar. Der Staat, welcher seit Jahrzehnten seine Hellebarde ins Eck gestellt und seine Nachtwächterrolle abgelegt hat, um – wie bereits betont – u.  a. für kulturellen Fortschritt, wirtschaftliches Wachstum und soziale Sicherheit zuständig zu sein, müßte im umfassenden Sinn das Leben von Anbeginn und nach allen Seiten hin schützen. Die Verantwortung des Gesetzgebers wäre in Österreich in der Weise und Richtung weiterzuentwickeln, daß der Gesetzgeber auch durch ein Unterlassen Grundrechte verletzten kann, weshalb er zur Erlassung grundrechtsschützender Gesetze zu verpflichten wäre. Es ist als widersprüchlich, gera-

390

Menschenbild und Menschenrechte

dezu schizophren zu bezeichnen, einerseits zum Beispiel in der Sozial- und Wirtschaftsordnung als allgemein zuständiger Staat mit Mehrzweckverwendung reglementierend aufzutreten, in bezug auf den Schutz des elementarsten aller Rechte, des Rechtes auf Leben, eine Zurückhaltung an den Tag zu legen, die hinter die Zeit des ABGB des Vormärzes zurückfällt. In einer Zeit, in der vom Staat alles verlangt wird, sieht man ihn für den Schutz des Lebens von dessen Anbeginn an nicht für zuständig an! III. Grundrechts- und Staatsverständnis Mit diesem Hinweis auf das Erfordernis grundrechtlichen Schutzes des Lebens im umfassenden Sinn bin ich zur Betrachtung des Menschenbildes im österreichischen Verfassungsrecht gekommen. Mit der Entwicklung der Menschenrechte im österreichischen Verfassungsrecht zeichnet sich ein Bild des Menschen, der anfangs nur den Schutz vor dem Staat anstrebt, später aber die Flucht vor dem Staat beendet und seine Hilfe gesucht hat. Nach der Freiheit vom Staat folgt ein Bemühen um eine Freiheit durch den Staat auf dem Weg der Sicherheitsgewährung. Dieser Wandel des Grundrechtsverständnisses wird begleitet von einem Wandel des Staatsverständnisses, der von einem Ordnungsbewahrungsstaat zu einem Leistungsstaat führte. Dieses Wachsen der Staatszwecke zeigt sich in Österreich nicht im Verfassungsrecht, sondern im Verwaltungsrecht, die Entwicklung der Grundrechte hat damit noch nicht Schritt gehalten. Das österreichische Grundrechtesystem weist nämlich vorwiegend klassische, nämlich liberale und demokratische, nicht aber entsprechende soziale Grundrechte auf, die beginnend mit dem Schutz des Lebens, des Kindes, der Familie, der gesunden Umwelt auch die existentielle Seite des Menscheins in das Rechtssystem miteinbeziehen. Bei der in Österreich im Gang befindlichen Grundrechtsdiskussion wird es darauf ankommen, den Grundrechtsschutz dem Sozial- und Staatsverständnis der Gegenwart anzupassen; dabei wird man bei einer Neukodifikation der Grundrechte aufgrund der langen Grundrechtserfahrung auch darauf achten müssen, daß das Bild des freien Menschen in Sozialverantwortung in Staat und Gesellschaft nicht durch einen Verfassungsschutz verletzt wird, etwa daß die Sicherheit auf Kosten der Freiheit geht. So kann etwa das Recht auf Arbeit schon leicht zur Pflicht zur Arbeit werden, wenn man zum Beispiel die Verfassungen in West- und Osteuropa vergleicht. Hier kommt es darauf an, die verschiedenen Grundrechtsformen, wie subjektives öffentliches Recht, Einrichtungsgarantie, Programmsatz und Organisationsvorschrift, im jeweiligen Einzelfall auf ihren Einklang mit den jeweiligen Grundrechtsgütern zu prüfen!



Menschenbild und Menschenrechte391

Wenngleich Österreich zum Unterschied von anderen Staaten kein dem heutigen Stand der Rechtsschutzbedürfnisse angepaßtes geschlossenes Sy­ stem an Grundrechten besitzt, welche für die gesamte Rechtsordnung obligierend sind, hat sich Österreich doch auf verschiedenen Gebieten ohne verfassungsrechtliche Vorschreibung, nämlich freiwillig, auf einfachgesetzlichem Weg zu einem Kultur-, Wirtschafts- und Sozialstaat entwickelt, der dazu aufgrund von Art. 18 / 1 B.-VG. auch verpflichtet ist, all diese Aufgaben der Staatlichkeit auf den Wegen des Rechtsstaates zu erreichen. Weitgehend ist dies auch gelungen, was sich besonders deutlich zeigte, als 1969 die Europäische Sozialcharta ratifiziert wurde und ein Teil dieser sozialen Grundrechte bereits innerstaatlich aufgrund jahrzehntelanger Verwaltungsrechtsentwicklung längst einfachgesetzlich ausgeführt war! Der Mensch im österreichischen Recht hat seine grundrechtlich geschützten Freiheitsrechte und politischen Rechte und Pflichten genützt und von seiner Staatswillensbildung, wie der hohe Prozentsatz der Beteiligung bei Wahlen zu den allgemeinen Vertretungskörpern auf Gemeinde-, Landes- und Bundesebene ebenso zeigt wie das bisweilen feststellbare Engagement bei dem zunehmenden Gebrauch von Einrichtungen der direkten Demokratie, wie Volksabstimmung, Volksbegehren und Volksbefragung, welche die parlamentarische Staatswillensbildung zwar plebiszitär nicht ersetzen, wohl aber ergänzen können, Gebrauch gemacht. Dieses Bild vom Recht des Menschen in der österreichischen Staatsordnung mag aufgrund der Unterschiedlichkeit seiner zeitlichen Entstehung und seiner rechtlichen Dimension fragmentarisch erscheinen, es hat aber in der Offenheit seiner Begriffsbildung und Elastizität der Rechtsprechung trotz des Wechsels der Staatsform und der Weiterentwicklung des politischen Systems ein bestimmtes Maß an Kontinuität in der Rechtsordnung ermöglicht, die von der Dezember-Verfassung 1967 mit ihrem noch heute geltenden Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger ihren sichtbaren Anfang nahm und bis zur Gegenwart reicht. Auf diesem Weg der Entwicklung von Menschenbild und Menschenrechten im österreichischen Verfassungsrecht hat das Verfassungsrecht der Republik Österreich keinen absolut starren Verfassungsschutz vorgesehen, das Gegenteil ist gegeben; auf dem Weg qualifizierter Rechtssetzung wäre auch eine Suspendierung der Grundrechte möglich gewesen. Der österreichische Gesetzgeber hat von dieser Freiheit keinen mißbräuchlichen Gebrauch gemacht, sondern auf der Basis der Grundrechte von 1867 hat die Verfassung Österreichs 1920 ein Fundament für ihre Form des demokratischen Rechtsstaates und des Föderalismus gefunden. Diese jahrzehntelange Erfahrung, verbunden mit dem Erleben des internationalen Rechtsschutzsystems, bietet Österreich wertvolle Voraussetzungen für seine Fortschreibung der Grundrechte.

392

Menschenbild und Menschenrechte

Mit welchem Ergebnis immer diese Bemühungen um eine Neukodifikation der Grundrechte in Österreich beendet werden, sie werden zwei Tatsachen berücksichtigen müssen, die sich auch im modernen Grundrechtskatalog nicht übergehen lassen: 1. daß unsere Gesellschaft, solange sie frei ist, eine pluralistische Gesellschaft sein wird, in der es nicht möglich sein kann, alle Wertvorstellungen grundrechtlich zu schützen. Menschliche Toleranz dem Andersdenkenden gegenüber ist daher erforderlich! 2. müssen wir einsehen, daß nicht alle Güter, die grundrechtswürdig sind, auch grundrechtsfähig sein müssen. Es gibt Werte, Wünsche und Vorstellungen, die zwar der Würde des Menschen entsprechen, sich aber nicht grundrechtlich schützen lassen. Wer von uns erlebt nicht ständig das echte Bedürfnis nach einem Grundrecht auf Ruhe durch Schutz vor Lärm, nach einem Grundrecht auf Verkehrssicherheit gegen Verantwortungslosigkeit der Verkehrsteilnehmer, nach einem Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre gegen Bespitzelung oder nach einem Grundrecht auf Alleinsein gegen Belästigung. All diese genannten Forderungen, deren Dringlichkeit wir täglich bewußt oder unbewußt erleben, zeigen uns deutlich, daß nicht jeder Schutz der Menschenwürde durch Grundrechte, ja sogar durch das Recht überhaupt, das ja kein patentierter Vollkommenheitsapparat, sondern Menschenwerk ist, möglich sein wird. es kommt neben dem institutionalisierten Rechtsschutz vielmehr auch auf die praktizierte Rechtserziehung an. Möge es dieser Tagung unserer Sektionen im Rahmen der Internationalen Juristenkommission erlaubt sein, zu dieser heute so dringend notwendigen praktizierten Rechtserziehung einen Beitrag zu leisten, der glaubwürdig und dauerhaft ist.

Die Menschenwürde im öffentlichen Recht und in der politischen Wissenschaft* Der Mensch als Auftrag für Recht und Politik Die Rechtsordnung stellt die Beziehung von Normsetzer und Normadressaten und die Politik den sie vermittelten Willen dar. Die Kodifikation der Politik drückt sich im Verfassungsrecht eines Staates aus. Die Wissenschaft vom Recht und der Politik gibt mehr oder weniger gekonnt seismographisch die Darstellung deren Entwicklung wieder. Geschichtsverständnis, Gegenwarts­ erkenntnis und Zukunftserwartung können sich dabei verbinden. Der Mensch selbst steht dabei zu verschiedenen Zeiten in seiner Wertigkeit, deutlich und öfters auch unterschiedlich vom Recht und der Politik erfasst, im Mittelpunkt. Wie aktuell diese Fragestellungen sind, verdeutlichte sich vor einigen Jahren als im Einvernehmen mit Papst Johannes Paul II. in Wien, von polnischen Gelehrten ausgehend, mit internationaler Beteiligung ein „Institut von den Wissenschaften vom Menschen“ geschaffen wurde, das regelmäßig auch im Sommer in Castel Gandolfo mit Papst Johannes Paul II. Tagungen abhielt. I. 1. Der Mensch als Individuum und Person Die Menschen sind als Subjekt Handelnde auf verschiedenen Gebieten und gleichzeitig Objekte in diesen Sachbereichen. Je intensiver dies mit der Entwicklung der Zeit der Fall ist, desto mehr stellt sich für den Menschen selbst die Frage nach ihm selbst und seiner Wertigkeit. Franz Kardinal König, der langjährige Erzbischof von Wien, der einen Großteil seines langen, fast hundertjährigen Lebens mit viele Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen in Kontakt stand, hat geradezu mahnend an seinem Lebensabend oft gemeint, der Mensch sollte sich fragen: „Woher komme ich? Wohin gehe ich? Und welchen Sinn hat mein Leben?“1 Diese Grundfrage begleitet, *  Vortrag, gehalten am 22.11.2005 im Rahmen der 11. Plenarsitzung der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften im Vatikan. Erschienen in: The pontificial Academy of Social Sciences, Acta 11, Vatican City 2006, S. 235 ff. 1  Franz Kardinal König, Schlussansprache zum „Fest der Vielfalt“ und zum 95. Geburtstag von Franz Kardinal König am 24. September 2000 im Dom zu

394

Die Menschenwürde im öffentlichen Recht

unterschiedlich auch bewusst, die Frage nach der Menschenwürde im öffentlichen Recht und in der Wissenschaft von der Politik. Die Antwort fällt in ihrer Begründung je nach dem Kulturkreis bei aller Anerkennung der Bedeutung des Menschen und seinem Schutz durch das öffentliche Recht verschieden aus. Diese Verschiedenheit zeigt sich schon im Wortgebrauch für den Menschen, ob ich ihn als Individuum oder als Person bezeichne. Unter Individuum versteht man ein einzelnes Lebewesen, als Person wird der Mensch in seiner Wertigkeit betont und durch ihn tritt ein höherer Anspruch in die Wirklichkeit.2 Das abendländische Rechtsdenken3 drückte dies im Begriff der Personhaftigkeit des Menschen aus, wobei das von den Etruskern vermittelte griechische Wort „prosopon“ als Bezeichnung für die Göttermaske im archäischen Kult und das lateinische Wort „personare“, was soviel wie hindurchtönen heißt4, wegeweisend waren. 2. Die Würde des Menschen Diesen Personhaftigkeit des Menschen erhielt ihren werthaften Inhalt durch die Lehre von der Würde des Menschen. Sie hat erste Ansätze ihrer Idee in der Lehre der griechischen Stoa vom menschlichen Logos, der am Logos der Weltvernunft Anteil hat und so mit dieser kosmopolitischen Weltbetrachtung die Enge der Polis sprengte. Diese Lehre der Stoa war aber nur auf den geistigen Bereich beschränkt und nicht auf die Politik und das Recht bezogen; die Lehre der Stoa blieb daher auf die Stellung des Menschen im Staat ohne Einfluss. Anders wurde dies durch das Christentum, es begründete die Würde des Menschen dadurch metaphysisch, dass es die Gottesebenbildlichkeit der Menschen lehrte und in dieser die Würde des Menschen begründete.5 St. Stephan in Wien, zitiert nach Requiem für Franz Kardinal König am 27. März 2004 im Dom zu St. Stephan in Wien, S. 19. 2  Siehe Herbert Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für Johannes Messner, hrsg. von Alfred Klose, Herbert Schambeck, Rudolf Weiler, Valentin Zsifkovits, Berlin 1976, S. 458 ff. 3  Beachte Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, ihre Grundlagen und Hauptprobleme in geschichtlicher Schau, 2. Aufl., Wien 1963. 4  Beachte Siegmund Schlossmann, Persona und proposona in Recht und im christlichen Dogma, Dissertation Kiel 1906, Harry Westermann, Person und Persönlichkeit als Wert im Zivilrecht, Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Heft 47, Köln/Opladen 1957 und Gustav Naß, Person, Persönlichkeit und juristische Person, Berlin 1964 sowie Robert Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen „etwas“ und „jemand“, 2. Aufl., Stuttgart 1998, bes. S. 25 ff und S. 252 ff. 5  Gen 1, 26 f., 5,3 und 9,6.



Die Menschenwürde im öffentlichen Recht395

Diese Lehre von der dignitas humana fand ihre Ausführung besonders durch die Kirchenväter,6 wobei vor allem der Beitrag hiezu in der Schrift Gregors von Nyssa „De hominis opificio“ hervorgehoben sei. In der Folge sei auch die Lehre vom Eigenwert des Menschen bei Augustinus7 und bei Thomas von Aquin8 verwiesen und später auch die Spanische Moraltheologen des 15. und 16. Jahrhunderts, besonders die Schule von Salamanca9 mit Francisco de Vitoria und Francisco Suárez- auch mit ihrem Hinweis auf das bonum commune humanitatis- genannt. Wir finden bei ihnen zwar noch keine vollständige Liste der Menschenrechte, wohl ist aber der innere Gehalt jener Grundrechte bereits entwickelt worden, die spätere Verfassungsurkunden prägten.10 Mit dieser Lehre von der Teilnahme des Menschen am Reich Gottes11 hat nämlich das Christentum dem Menschen bestimmte Rechte begründet, „die ihm“, wie der Völkerrechtler und Rechtsphilosoph Alfred Verdross es schon erklärte, „keine irdische Gemeinschaft entziehen kann“,12 dies trug dazu bei, dass sie später zu Grundrechten wurden.13 In diesem Zusammenhang betonte auch Joseph Kardinal Ratzinger „die Unbedingtheit, mit der Menschenwürde und Menschenrechte als Werte erscheinen müssen, die jeder staatlichen Rechtssetzung vorangehen.“14 3. Die Grundrechte gegenüber dem Staat In der Folge wurden die Grundrechte in der Entwicklung des Staatsrechts zu Rechtsansprüchen gegenüber den Staaten, die in einem Prozess von Jahr6  Siehe

Felix Flückiger, Geschichte des Naturrechts, Zürich 1954, S. 284 ff. Joseph Mausbach; Die Ethik des heiligen Augustinus, Bd. I, Freiburg i. Br. 1929, S.  155 ff. 8  Vgl. Arthur Fridolin Utz, Recht und Gerechtigkeit, Deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 18, Heidelberg / Graz 1953, S. 494 ff. 9  Dazu Verdroß, Abendländische Rechtsphilosophie, S. 92 ff. 10  Siehe Heribert Franz Köck, Der Beitrag der Schule von Salamanca zur Entwicklung der Lehre von den Grundrechten, Berlin 1987. 11  Näher Hugo Rahner, Kirche und Staat im frühen Christentum, München 1961. 12  Alfred Verdross, Die Würde des Menschen in der abendländischen Rechtsphilosophie, in: Naturordnung in Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Festschrift für Johannes Messner zum 70. Geburtstag, hrsg. von Joseph Höffner, Alfred Verdross und Francesco Vita, Innsbruck / Wien / München 1961, S.  353. 13  Näher Herbert Schambeck, Grundrechte in der Lehre der katholischen Kirche, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I, hrsg. von Detlef Merten und Hans-Jürgen Papier, Heidelberg 2004, S. 349 ff. 14  Joseph Kardinal Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, Freiburg im Breisgau 2005, S. 85. 7  Beachte

396

Die Menschenwürde im öffentlichen Recht

hunderten15 mit der Demokratisierung und Konstitutionalisierung der Staatsformen und politischen Systeme von dem Recht einzelner privilegierter Stände sich zu Rechten der Bürger und hernach auch aller Menschen gegenüber dem Staat und der Völkergemeinschaft16 entwickelten. Auf diese Weise wurden aus Standesrechten Menschenrechte.17 Als bekanntestes Beispiel für ein solches Standesrecht wird die Magna Charta Libertatum 1215 König Johann ohne Land genannt, es sei aber auch beachtet, dass sich schon 1188 die Cortes von Leon, die ständische Versammlung der Bischöfe, Magnaten und Bürger dieses spanischen Teilkönigreiches von König Alfons IX. bestimmte Rechte, wie die der drei Stände auf Beratung und Mitsprache in allen wichtigen Fragen, die Krieg, Frieden, Verträge sowie Unverletzlichkeit des Lebens und der Ehre, des Hauses und Eigentums sowie aller Einwohner auf Wahrung anerkannter Gewohnheitsrechte zusichern ließen.18 Mit diesem verbrieften Recht auf Eigentum, das damals im 12. Jahrhundert in Spanien noch ein Standesrecht war, war ein bemerkenswerter Ansatz zu dem gegeben, was 1690 John Locke in seinen „Two Treatises of Civil Gov­ ernment“ im Begriff „property“ mit dem Eigentum auch das Leben und die Freiheit als jeden Einzelnen angeborenes Recht bezeichnete. Damit eröffnete er den Weg zum individuellen, nämlich jedem Menschen zustehenden Recht. Der Begriff Menschenrechte selbst scheint erstmals von dem aus der Schule von Salamanca hervorgegangenen Fernando Vasquez de Menchaca in der praefatio seiner 1559 erschienenen Ausgabe der „Controversiae illustres“ gebraucht; in ihr erklärt er, dass jeder Mensch „jura naturalia, quasi immutabilia“ besitzt; er lehnte deshalb auch schon damals die Sklaverei als naturrechtswidrig ab.19 II. 1. Die Grundrechte als Individualrechte Es ist ein beachtenswerter Lauf der Geschichte, dass die Fortsetzung der Entwicklung dieser Grundrechte als Individualrechte im Staat und gegen15  Schambeck, 16  Näher

Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, S. 452 ff. Felix Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, Wien

1974. 17  Siehe Gerhard Oestreich, Die Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in: Die Grundrechte I / 1, Berlin 1966, S. 19. 18  Oestreich, a. a. O. S. 19 f. und derselbe, Die Idee der Menschenrechte, 5. Aufl., Berlin 1974, S. 13 ff. 19  Näher Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, S. 108 ff.



Die Menschenwürde im öffentlichen Recht397

über dem Staat nicht von England auf den Kontinent übergriff, sondern vielmehr den Weg europäischer Grundrechtsordnung im Verfassungsstaat über die damaligen Kronkolonien Englands in Amerika und den späteren USA nahm.20 Dabei weist Mary Ann Glendon21 darauf hin, dass John Locke von „life, liberty and property“ gesprochen hatte, die amerikanischen Revolutionaries in der Declaration of Independence 1776 hingegen von „Leben, Freiheit und Streben nach Glückseligkeit“22 sprachen. Der Begriff Fraternité, wie ihn später die Französische Revolution gebrauchte und was wir heute als Solidarität verstehen, mag zwar in bestimmter Weise der gelebten Realität der damaligen Amerikaner entsprochen haben, aber nicht deren Vokabular. Die Gleichheit, welche die Unabhängigkeitserklärung forderte, war erst nach dem Bürgerkrieg und der Befreiung der Sklaven erreicht. Da die Rechte der Menschen am Beginn der USA nicht auf alle Einwohner, sondern nur auf die mit Bürgerrecht bezogen waren, hat Paul Kirchhof zu Recht festgestellt, „dass die Verkünder dieser Menschenrechte zugleich Sklavenhalter sein konnten“.23 Auch die USA und ihre Bevölkerung haben einen eigenen Bewusstseinsprozess in Bezug auf die Menschenwürde, deren Erkenntnisse, Weite und deren Schutz durchgemacht. Man denke an die Rassenfrage, die auch in anderen Erdteilen, wie in Afrika, besonders in Südafrika, bis in unsere Zeit reicht, wo doch der Einfluss, wie Nicholas McNally unterstreicht, des Römischen Rechts und später des Roman-Dutch Law gegeben war.24 Wenn auch die USA nicht in der Weite an Anerkennung und Rechtsschutz der Menschenwürde in ihrer Geschichte wegweisend waren, obgleich ihre Gründer aus Familien stammen, welche vor der von Ungleichheit geprägten Ständegesellschaft europäischer Monarchien geflüchtet waren, so haben die USA dadurch doch einen bleibenden Beitrag zur Entwicklung der demokratischen Verfassungsstaatlichkeit und damit auch zum Schutz der Grundrechte geleistet, dass die nordamerikanischen Kolonien der englischen Krone sich allmählich im 17. und 18. Jahrhundert in souveräne Staaten wandelten,25 aus ihren Charters Constitutions wurden und diese eine Zweiteilung in frame of 20  Siehe näher Herbert Schambeck, Helmut Widder, Marcus Bermann (Hrsg), Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin 1992. 21  Mary Ann Glendon, Concepts of the Person in American Law, in dieser Publikation, Vatikan 2006, S. 2 f. 22  Dokumente, S. 114. 23  Paul Kirchhof, Die Idee der Menschenwürde als Mitte der modernen Verfassungsstaaten, in dieser Publikation, Vatikan 2006, S. 5. 24  Nicholas J. McNally, The Concept of the Human Person, in: Anglo-American Law, in dieser Publikation, Vatikan 2006, S. 4. 25  Dokumente, S.  30 ff.

398

Die Menschenwürde im öffentlichen Recht

government, also eine Regelung der Staatsorganisation, und eine bill or declaration of rights, einen Grundrechtsteil, beinhalteten.26 Am Beginn der Verfassungsentwicklung der USA stand eine später beispielgebend gewordene Verbundenheit von Politik, Ethik und Rechtsüberzeugung; von ihr schrieb Georg Jelinek: „Nicht hochverräterische Aufruhr, sondern Rechtsverteidigung glauben sie zu üben, als sie sich der englischen Herrschaft entledigen“.27 2. Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat Diese amerikanische Grundhaltung und das Beispiel der Verfassung der USA von 178728 sind später wegweisend für die Staaten, vor allem Europas und darüber hinaus geworden. So regte schon die virginische Bill of rights 177629 Joseph de Motier Lafayette zu jener Initiative in der französischen verfassunggebenden Nationalversammlung in Paris an, welche am 26. August 1789 zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte30 führte. Paul Kirchhof weist im Anschluss an Hasso Hofmann31 in diesem Zusammenhang darauf hin, dass diese „Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers“ Frankreichs „die Benachteiligung der Frauen, die Judenemanzipation und die Lage der Farbigen in den französischen Kolonien zunächst kaum verbessern“32 konnte. Gleichzeitig möge man nicht übersehen, welch wegweisender Einfluss von den USA zunächst auf Frankreich, hernach im 19. Jahrhundert von Frankreich auf Belgien, Deutschland, Österreich sowie andere Staaten in Europa und darüber hinaus ausging. Waren es anfangs die Grundrechte der Menschen, insbesondere auch deren Selbstbestimmungsrecht, welche für die Politik einzelner Staaten bestimmend wurden, so waren es dann auch die Ideen der Verfassungsstaatlichkeit, der Demokratie und des Föderalismus.33 Bei vielen verfassungsrechtlichen Neukodifikationen dienten die USA da26  Siehe Herbert Schambeck, Der Verfassungsbegriff und seine Entwicklung, in: derselbe, Der Staat und seine Ordnung, ausgewählte Beiträge zur Staatslehre und zum Staatsrecht, hrsg. von Johannes Hengstschläger, Wien 2002, S. 45 ff., bes. S. 51 f. 27  Georg Jelinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 6. Neudruck, Darmstadt 1959, S. 416. 28  Dokumente, S.  166 ff. 29  Dokumente, S.  110 ff. 30  Alfred Voigt, Geschichte der Grundrechte, Stuttgart 1948, S. 195 ff. 31  Hasso Hofmann, Die Entdeckung der Menschenrechte, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zur Berlin, Heft 161, Berlin 1999, S. 8. 32  Kirchhof, a. a. O., S.  5. 33  Dazu Klaus Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Heft 91, Berlin / New



Die Menschenwürde im öffentlichen Recht399

mals als Vorbild, dem zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher Form mehr oder weniger entsprochen wurde, wie in den letzten mehr als eineinhalb Jahrzehnten nach dem Ende des Kommunismus und der Teilung Europas auch das Bonner Grundgesetz 1949 für die neuen Verfassungen der postkommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas Vorbildcharakter hatte; bei ihnen erwies sich aber der Föderalismus, wie Russland, Jugoslawien und die Tschechoslowakei zeigten, nicht als erforderlich und wegweisend.34 Dazwischen liegen die Erschütterung des öffentlichen und privaten Lebens mit Niederschlag in der jeweiligen Staatsordnung durch Ideologien, wie den Kommunismus und den Nationalsozialismus; für erstere Ideologie waren die Grundrechte nicht Rechte des Einzelnen, sondern der Klasse35 und für die letztgenannte Ideologie waren die Grundrechte ein Aufstand des Egoismus gegen die Volksgemeinschaft.36 3. Das Rechtdenken der U.S.A. Wenn wir den Blick von den politischen Konzepten und Rechtsvorstellungen der Gründungsväter der amerikanischen Verfassung, wie sie so eindrucksvoll etwa auch in den Artikeln der Federalist Papers zum Ausdruck kommen, in die Gegenwart lenken, sehen wir freilich auch immer wieder neue Herausforderungen für „Concepts of the Reason in American Law“ oder wie man aus allgemeiner Sicht von der „Natur des Menschen“ und der „Menschenwürde“ sprechen könnte. Mary Ann Glendon hat in Ihrem Beitrag klar die sehr spezifischen Anfangsbedingungen herausgearbeitet, die am Beginn der amerikanischen politischen Praxis und des Verfassungsrechts standen, aber auch gleichzeitig auf wichtige Weiterentwicklungen von Grundrechtsthemen durch die politische Praxis und die Judikatur des U.S. Supreme Court verwiesen. Wichtige EntYork 1984 und derselbe, Das Grundgesetz im europäischen Verfassungsvergleich, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Heft 164, Berlin 2000. 34  Näher Herbert Schambeck, Politik und Verfassungsordnung postkommunistischer Staaten Mittel- und Osteuropas, in: derselbe, Zu Politik und Recht, Ansprachen, Reden, Vorlesungen und Vorträge, hrsg. von den Präsidenten des Nationalrates und des Bundesrates, Wien 1999, S. 121 ff., bes. S. 126 ff.; vgl. auch Klaus Stern, Ausstrahlungswirkung des Grundgesetzes auf ausländische Verfassungen, in: Bundesministerium des Inneren, Bewährung und Herausforderung – Die Verfassung vor der Zukunft, Dokumentation zum Verfassungskongress 50 Jahre Grundgesetz / 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1999. S. 249 ff. 35  Beachte Herbert Schambeck, Von der Last der Freiheit im Recht und Staat des Westens und Ostens, Wesen – Wirklichkeit – Widerstände, hrsg. von Otto B. Roegele, Graz 1967, S. 483 ff. 36  Dazu Manfred Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, Berlin 1997, S. 399 ff.

400

Die Menschenwürde im öffentlichen Recht

scheidungen des U.S. Supreme Court zur Rassenfrage, wonach die Rassentrennung in der Schule als „inherently unequal“ gebrandmarkt wurde und „with all deliberate speed“ die Segregation aufzuheben sei,37 sowie das Bürgerrechtsgesetz aus 1964 waren Wegmarken in dieser Entwicklung. Auch die Frage der Todesstrafe beschäftigte immer wieder die amerikanische Politik und ihr (Verfassung-) Recht, kommen doch darin auch besonders heikle Aspekte der menschlichen Natur und des Konzepts der Person im amerikanischen Recht zum Ausdruck.38 Die unterschiedliche Todesstrafenpraxis in den einzelnen Bundesstaaten sowie neuere Entscheidungen des Supreme Court über die Unzulässigkeit der Todesstrafe an Geisteskranken einerseits und an Jugendlichen andererseits lassen hier allerdings neue Bemühungen erkennen, auch in diesen höchst sensiblen und in der Bevölkerungsmeinung oft hoch emotionalisierten Thematiken zu Lösungen zu kommen, die den Eigenwert der Person – auch des sündigen Menschen im christlichen Sinne – anerkennt und rechtlich absichert. Dass sich schließlich aufgrund neuester Entwicklungen eines weltweit operierenden Terrorismus auch vielfältige neue Herausforderungen für den demokratischen Verfassungsstaat im Allgemeinen und seine Freiheiten und Menschrechtssicherungen im Besonderen ergeben, soll schon hier erwähnt werden. Es ist dies aber nicht mehr nur ein Problem, dass sich der amerikanischen Menschenrechtspraxis und Judikatur stellt, sondern das auch zu gemeinsamen Lösungsanstrengungen in allen Staaten, aber auch auf der Ebene der internationalen Rechtes führen muss. 4. Naturrecht und Rechtspositivismus Die Reaktionen auf Entwicklungen von Recht und Staat in autoritären und totalitären politischen Regimen, welche die Menschenwürde verletzten und Millionen Menschen die Freiheit sowie das Leben gekostet haben,39 führten zu einer Erneuerung des Rechtsdenkens mit einer Renaissance des Naturrechts40 und einer weltweiten Anerkennung und einem Schutz der 37  Siehe

Dokument, S. 530 ff. und S. 580 ff. Rede von Gouverneur George H. Ryan an der Juristischen Fakultät der Northwestern University of Chicago und die Erklärung von Gouverneurin Jodi Rell vom 7.12.2001 über ihre Entscheidung Michael Ross keinen Aufschub zu gewähren. 39  Siehe Stephane Courtois / Nicolas Werth / Jean-Louis Panne / Andrzej Paszkowski  /  Karel Bartosek  /  Jean-Louis Margolin, Das Schwarzbuch des Kommunismus, Unterdrückung, Verbrechen und Terror, 2. Aufl., München Zürich 1998 und Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt a. M. 1990. 40  Beachte Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2. Aufl., München 1947. 38  Siehe



Die Menschenwürde im öffentlichen Recht401

Freiheit der Würde des Menschen,41 die in den Verfassungen der einzelnen Staaten in verschiedener Formulierung und Textierung Niederschlag gefunden haben. Meist sind Freiheit und Würde des Menschen in Verfassungen, die von einem materialen Rechtsdenken geprägt sind,42 in einem Grundrechtekatalog festgehalten, der sich am Beginn, der Mitte oder am Schluss eines Verfassungsgesetzes befindet. Eine solche Wertigkeit ist dann nicht gegeben, wenn eine Staatsrechtsordnung, wie zum Beispiel die Österreichs von einem Rechtspositivismus gekennzeichnet ist, in dem zwar die Rechtswege angegeben, aber keine Werteaussagen getroffen werden. So enthält das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz 1920 keinen eigenen Grundrechtekatalog, der wurde aus der Dezemberverfassung 1867 aus dem Staatsrecht der Monarchie in das der Republik übernommen; es verwendet nicht den Begriff Grundrecht und auch nicht den der Würde des Menschen. Der Verfassungsgerichtshof und der Oberste Gerichtshof in Österreich gehen aber davon aus, wie auch Walter Berka43 hervorhebt, dass die Menschenwürde einen ungeschriebenen „allgemeinen Wertungsgrundsatz“ der österreichischen Rechtsordnung darstellt.44 Anders als in Österreich, wo im Rechtsdenken der Rechtspositivismus der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens45 prägend war und ist, hat die Bundesrepublik Deutschland – nach den Erfahrungen mit den nationalsozialitischen Unrechtsregime – „Die Würde des Menschen“ bereits am Beginn des Art 1 gesetzt; er lautet „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlicher Gewalt“. Diese Bestimmung zählt nach Art. 79 (3) GG auch zu den Grundsätzen, deren Änderung unzulässig ist. In einer weiteren Weise gibt das deutsche Verfassungsrecht ein Vorbild, nämlich mit dem Text seiner Präambel, sie enthält nämlich eine Invocatio Dei mit den Worten: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen …“.

41  Näher

Menschenrechte – Ihr internationaler Schutz, 4. Aufl., München 1998. Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, S. 215 ff. 43  Walter Berka, Lehrbuch Grundrechte, Wien / New York 2000, S. 80, siehe dazu auch Klaus Burger, Das Verfassungsprinzip der Menschenwürde in Österreich, Frankfurt am Main 2002. 44  VfSlg 13.635 / 1993; OGH 14.4.1994, 10 Ob 501 / 94, Juristische Blätter 1995, Heft 1, S. 46 ff. 45  Siehe Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, Leipzig / Wien 1934, 2. Aufl. 1960, Nachdruck Wien 1992, dazu Herbert Schambeck, Möglichkeiten und Grenzen der Rechtslehre Hans Kelsens, Juristische Blätter 1984, Heft 5 / 6, S. 126 ff. 42  Dazu

402

Die Menschenwürde im öffentlichen Recht

III. 1. Präambel mit Gottesbezug Eine solche Präambel,46 die in Deutschland als Reaktion auf das NSRegime entstanden ist, drückt eine besondere Verantwortung aus, beschränkt die politische Willensbildung einer Demokratie und nimmt einen präpositiven Bezug in das Verfassungsrecht auf, ohne, wie es Alexander Hollerbach feststellte, „daß die Bürger verpflichtet sind, an Gott zu glauben“.47 Eine ähnliche Offenheit, die mit einem wertorientierten Grundsatzdenken verbunden ist, drückt sich in der Präambel der Verfassung Polens 1997 aus; sie nimmt Bezug auf „diejenigen, die an Gott glauben, welcher Quelle der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen ist, wie auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen und diese universellen Werte aus anderen Quelle ableiten“.48 Mit dieser letztgenannten Formulierung eines Präambeltextes will Polen der Pluralität der gegenwärtigen Gesellschaft gerecht werden. Die erforderliche Offenheit des Verfassungsrechts für alle im Staat verlangt dies; sie setzt einen Minimalkonsens an Grundwerten in einem Staat voraus und sollte sich auch in den Grundrechten ausdrücken. Da weltweit gesehen nach den Constitutions of Countries of the World, Stand Januar 2004 von 191 Staatsverfassungen 143 auch eine Präambel und von diesen 65 Gottesbezüge haben, bietet sich hier ein weites Gesichtsfeld. Die Geschichte zeigt, Präambeln49 beginnend mit dem Gesetzeswerk des Königs von Babylon Hammurabi reicht über die Verfassung der USA 1787 und die französische Menschenrechtserklärung 1789 bis zu den zwei Präambeln in dem Verfassungsvertrag der EU unserer Tage. Eine Präambel soll in einem Staat möglichst alle zur Sozialverantwortung hinführen und auch einleitend die Wertigkeit der Staatsorganisation erklären, ohne in ihrer Allgemeinheit an Formulierung ein Maß an Normativität erlangen zu können, die zu einem einklagbaren Rechtsanspruch führt. 46  Siehe Herbert Schambeck, Gott und das Verfassungsrecht, L’Osservatore Romano, Wochenzeitung in deutscher Sprache, 16. Januar 2004, Nr. 3, S. 12. 47  Alexander Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Josef Isensee und Paul Kirchhof, Band VI, Heidelberg 1989, S. 518. 48  Die Verfassungen Mittel- und Osteuropas, hrsg. von Herwig Roggemann, Berlin 1999, S. 675 und dazu Boguslaw Banaszak, Einführung in das polnische Verfassungsrecht, Wroclaw 2003. 49  Näher Peter Häberle, Präambeln in Text und Kontext von Verfassungen, in: Demokratie in Anfechtung und Bewährung, Festschrift für Johannes Broermann, hrsg. von Joseph Listl und Herbert Schambeck, Berlin 1982, S. 211 ff.



Die Menschenwürde im öffentlichen Recht403

Ist eine Präambel mit einem Gottesbezug verbunden, nimmt sie einen präpositiven Bezug in das Verfassungsrecht auf, der die politische Willensbildung besonders verpflichtet, ja in bestimmter Weise auch beschränkt.50 Im Zusammenhang mit der in einem Verfassungstext anerkannten Menschenwürde, wie dies im Art. 1 der Deutschen Verfassung im Grundgesetz gegeben ist, stellt der Gottesbezug, also die Invocatio Dei, eine Begründung für die dignitas humana dar. Transzendenz und Immanenz, aber auch Glaube und Politik verbinden sich. Je nach der Religionszugehörigkeit wird es ebenso verschiedene GottesVerständnisse wie nach dem politischen Bewusstsein und der kulturellen Entwicklung auch verscheiden geprägte Verfassungssysteme geben. Mit der Normierung der Menschenwürde im Verfassungsrecht51 wird ein präpositiver Bezug hergestellt, dessen Wahrnehmung sich als Aufgabe auch der politischen Wissenschaft stellt. Diesen präpositiven Bezug zeigt auch das Zeitwort „anerkennen“ zur Menschenwürde. Anerkennen kann man ja nur etwas als bereits vorhanden Angenommenes!52 2. Die Begründung der Menschenrechte Die Einsicht in diesen präpositiven Bezug der Menschenwürde und ihrer Begründung der Menschenrechte war zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich. Nach zwei Weltkriegen, die im 20. Jahrhundert von Europa ausgingen, hat Europa gegenüber der Welt eine besondere Bringschuld. Die Tradition des Rechts, vor allem auch die Wirkkraft des römischen Rechts, das zeigt sich auch in den Ausführungen von Nicholas McNally und von Francesco P. Casavola, führen zu einer viele Nationen und ihre Rechtsordnung beeinflussenden Entwicklung, die sich im europäischen Recht dokumentiert. Treffend hat schon vor Jahren Helmut Coing seinen publizierten Vortrag über die Europäischen Gemeinsamkeiten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft betitelt „Von Bologna bis Brüssel“.53 50  Siehe Helmut Goerlich / Wolfgang Huber / Karl Lehmann, Verfassung ohne Gottesbezug? Zu einer aktuellen europäischen Kontroverse, Leipzig 2004 und Christian Konrath, Vermittlung und Erinnern, Anmerkungen zu den Präambeldiskussionen in der EU und in Österreich, österr. Archiv für recht und religion 2004, S. 189 ff. 51  Beachte Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band IV / 1, § 97 Die Würde des Menschen, München 2006, S. 3 ff. 52  Dazu Gottfried Dietze, Über die Formulierung der Menschenrechte, Berlin 1956. 53  Helmut Coing, Von Bologna bis Brüssel, Europäische Gemeinsamkeiten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Kölner Juristische Gesellschaft, Band 9, Bergisch Gladbach / Köln 1989, dazu auch Herbert Schambeck, Rechtsbewusstsein

404

Die Menschenwürde im öffentlichen Recht

Auf diesem Weg europäischer Rechtsentwicklung ereignete sich in Bezug auf Begriffe des öffentlichen Rechts und der politischen Wissenschaft eine Säkularisierung und Profanierung alten christlichen Gedankengutes; besonders zeigte sich dies in den Forderungen der französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Welcher ideengeschichtlicher und welcher normativer Niederschlag der Menschenwürde im Verfassungsrecht der einzelnen Staaten auch immer zu eigen sein mag, stets zeigt sich, wie es Ernst-Wolfgang Böckenförde schon formulierte, dass der freiheitliche säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, „die er selbst nicht garantieren kann“.54 Dazu zählt die Identität des Menschen, von der Paul Kirchhof in seinem eben erschienenen Buch „Die Erneuerung des Staates – eine lösbare Aufgabe“ feststellte: „Wäre die Identität des Menschen nunmehr biologisch-medizinisch nicht mehr gleich bleibend vorgegeben, verlöre der Verfassungsstaat ein Axiom, auf das der freiheitliche Rechtsstaat und die Demokratie aufbauen“.55 Der freiheitliche Rechtsstaat und mit ihm auch die demokratische Verfassungsstaatlichkeit müssen sich dabei verschiedenen Aufgaben und Problemen stellen, welche den Bereich des normativen Rechts betreffen, wie etwa dem, in welchen Rechtsformen die Menschenwürde in Grundrechten geschützt werden; es bieten sich neben der klassischen Form des subjektiv öffentlichen Rechts, die Einrichtungsgarantie, der Programmsatz und die Organisationsvorschrift an. Mit diesen möglichen Rechtsformen der Grundrechte sind auch unterschiedliche Konsequenzen für den Einzelnen und den Staat verbunden, wie etwa bei einem subjektiv öffentlichen Recht der bei einem Verfassungsgerichtshof einklagbare Rechtsanspruch des Einzelnen oder eine bloße Sozialgestaltungsempfehlung an den Gesetzgeber. 3. Der Schutz der Menschenrechte Als besonderen Fortschritt kann es angesehen werden, dass es einen Schutz der Menschenwürde und der Grundfreiheiten gibt, welcher vom Einzelnen sowohl gegenüber dem Staat als auch in der internationalen Gemeinschaft geltend gemacht werden kann. Beginnend mit der UNO-Menschenrechtsdeklaration 1948, für die René Cassin prägend war, der übrigens gegenüber Jean Monnet in der Krypta des Pantheon seine letzte Ruhestätte und Rechtssicherheit im integrierten Europa, in: derselbe, Zu Politik und Recht, S.  213 ff. 54  Ernst Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976, S. 60. 55  Paul Kirchhof, Die Erneuerung des Staates – eine lösbare Aufgabe, Freiburg im Breisgau 2006, S. 23 f.



Die Menschenwürde im öffentlichen Recht405

gefunden hat, wurde die Menschenwürde Teil der Völkerrechtsordnung und erhielt der Einzelne in der Folge einen Rechtsschutz. Die Wahrung bestimmter Grundfreiheiten war nicht bloß eine inner-, sondern auch zwischenstaatliche Aufgabe geworden. Das begann schon im 19. Jahrhundert mit dem ethischen Minderheitenschutz und wurde in der Folge auch auf andere Rechtsgebiete übertragen und so erweitert. In diesem Zusammenhang sei auch schon an die Konferenz, heute Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, OSZE) mit ihren Schlussakte vom 1. August 1975, in Helsinki unter Vorsitz von Agostino Casaroli unterzeichnet, erinnert, in denen die Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissen-, Religions- und Überzeugungsfreiheit als Prinzip anerkannt wurden und seit der eine Intervention aus humanitären Gründen, die ein Teilnehmerstaat bei einem anderen für erforderlich erachtet, nicht mehr als a priori als Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates angesehen werden kann.56 Dieser Fortschritt war wegweisend und begünstigend für die spätere Dissidentenbewegung, die zum Ende des Kommunismus und der Teilung Europas, führte, wozu Papst Johannes Paul II. viel beitrug. Eigene und fremde Staaten konnten von Einzelnen und anderen Staaten zur Einhaltung der Menschenrechte belangt werden;57 besonders sei auf das heute so aktuelle Asylrecht verwiesen.58 IV. 1. Der Freiheitsbezug der Grundrechte Die Wahrung der Menschenwürde führt auch zu einer Erweiterung und bisweilen Überschreitung des rechtlich Normierbaren, sie verlangt nämlich kulturelle, wirtschaftliche und soziale Voraussetzungen zu ihrer Achtung und 56  Siehe Helmut Liedermann, Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), ein kontinuierlicher Prozess, in: Pro Fide et Justitia, Festschrift für Agostino Kardinal Casaroli zum 70. Geburtstag, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1984, S. 489 ff., bes. S. 492 und Agostino Kardinal Casaroli, Wegbereiter zur Zeitenwende, Letzte Beiträge, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1999, S. 35 ff. 57  Dazu Peter Fischer  / Heribert Franz Köck, Völkerrecht, das Recht der universellen Staatengemeinschaft, 6. Aufl., Wien 2004, S. 245 ff. 58  Näher Kay Hailbronner, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekt, in: Michael Bothe / Rudolf Dolzer / Eckard Klein / Philip Kunig / Meinhard Schröder /  Wolfgang Graf Vitzthum, Völkerrecht, 3.  Auflage, S.  213  ff., Nr.  217  ff., bes. S. 230 ff., Nr. 284 ff. und Herbert Schambeck, Statement Österreich, in: Zeitgemäßes Zuwanderung – und Asylrecht – ein Problem der Industriestaaten, hrsg. von Klaus Stern, Berlin 2003, S. 201 ff.

406

Die Menschenwürde im öffentlichen Recht

damit liberale, demokratische sowie soziale Grundrechte, die wieder mit unterschiedlichen Freiheitsbezügen, nämlich Freiheiten von, in und durch den Staat verbunden sind. Dabei möge man nicht den Unterschied im Freiheitsverständnis der USA und Europa übersehen. Das amerikanische Freiheitsverständnis geht von einer Freiheit vom Staat aus und ist auf eine staatsfreie Sphäre gerichtet; die Freiheit im europäischen Staat schließt hingehen auch insoferne die Freiheit durch den Staat, vor dem man nicht mehr wie früher Angst hat, ein, als von ihm die Schaffung all jener Voraussetzungen erwartet wird, die zur Nutzung der Freiheit für erforderlich angesehen werden. Im technologisierten Industriezeitalter ist es nämlich auch notwendig, dass der Einzelnen diese Freiheiten nicht nur in verschiedenen Bezügen erschlossen erhält, sondern dass er sie auch als gesunder Mensch nutzen kann, was den inneren und den äußeren Umweltschutz59 verlangt. Dies führt auch allgemein zu jener Verbundenheit, die Nicholas McNally speziell im Hinblick auf das englische Recht als „interplay“ zwischen Recht, Religion und Moral festgestellt hat.60 Dabei kann dies zu unterschiedlichen Wertigkeiten aus der Sicht verschiedener Gebiete führen, wie z. B. im S ­ exualbereich, und sich auch ein Bereiche überschreitender Einfluss ergeben. Paul Kirchhof weist in diesem Zusammenhang mit Recht darauf hin, dass „die Rechtsbegriffe des Gewissens, des guten Glaubens, der Ehrbarkeit, der Nächstenliebe und Barmherzigkeit, der Vorwurf des unsozialen Verhaltens, damit das dritte Ideal der modernen Demokratie, die Brüderlichkeit, und die moderne Sozialstaatlichkeit … in dieser christlich geprägten Rechtsordnung ihre Wurzeln“61 haben. 2. Das Reiben der Grundrechte Trotz dieser gemeinsamen Wurzeln in der Menschenwürde und ihrem christlichen Ursprung kann es zu einem Reiben der Grundrechte durch die Verschiedenheit an Werten und Rechtsformen der Grundrechte kommen, wie etwa dem Umweltschutz als existentiellem Grundrecht mit dem Schutz des Eigentums als wirtschaftlichem Grundrecht oder zwischen einem sozialen Grundrecht und der Unternehmerfreiheit. Soll die Marktwirtschaft auch eine soziale sein, was vielfach durch Verfassungen angestrebt wird, gilt es, dies zu beachten! 59  Näher Herbert Schambeck, Humanitärer und ökologischer Umweltschutz als Auftrag für die staatliche und internationale Ordnung, in: Technologische Entwicklung im Brennpunkt von Ethik, Fortschrittsglauben und Notwendigkeit, hrsg. von Hans Giger, Hermann Lübke, Herbert Schambeck und Hugo Tschirky, Bern 2002, S. 347 ff. 60  Nicholas McNally, a. a. O., S. 3. 61  Kirchhof, Die Idee der Menschenwürde als Mitte der modernen Verfassungsstaaten, S. 9.



Die Menschenwürde im öffentlichen Recht407

Joseph Kardinal Ratzinger hat schon darauf hingewiesen, dass es „konkurrierende Menschenrechte“62 gibt, „etwa im Fall des Gegeneinanders zwischen dem Freiheitswillen der Frau und dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes. Was Diskriminierungsverbot heißt, wird immer mehr ausgeweitet und so kann das Diskriminierungsverbot immer mehr zur Einschränkung der Meinungs-, ja der Religionsfreiheit werden.“63 3. Grundrechte und Grundpflichten Im Hinblick auf die soziale Natur des Menschen, die wegweisend für seine Persönlichkeitsentfaltung und mit Grundlage für die Gesellschaft sowie den Staat ist, sei nicht übersehen, dass die Würde des Menschen sowohl ihren Schutz in Grundrechten wie auch ihre Verwirklichung in Grundpflichten verlangt. In den päpstlichen Lehräußerungen wurde dieser Zusammenhang auch verdeutlicht. So hat Papst Johannes XXIII. 1963 in „Pacem in terris“ (Nr. 27) auf die „unauflösliche Beziehung zwischen Rechten und Pflichten in derselben Person“ hingewiesen, betont Papst Paul VI. 1971 in „Octogesima adveniens“ (Nr. 24) „den unlöslichen Zusammenhang zwischen den eigenen Rechten und den Pflichten gegenüber den anderen“ und Joseph Kardinal Ratzinger 2004 es „müsste heute die Lehre von den Menschenrechten um eine Lehre von den Menschenpflichten und von den Grenzen des Menschen ergänzt werden.“64 Gerade der moderne Sozialstaat mit seiner Mehrzweckeverwendung verlangt die ausgewogene Erfassung von Rechten und Pflichten zur Wahrung der Menschenwürde. Das Verlangen an den Staat und die Leistung für den Staat sollten sich die Waage halten! Im positiven Recht haben diese Grundpflichten unterschiedliche Ausprägungen erhalten. In diesem Zusammenhang sei in historischer Sicht auf die Verfassung Frankreichs von 1795 verwiesen, die neben der Erklärung der Rechte auch eine Erklärung der Pflichten der Bürger enthielt. Die Erklärung der Grundrechte hat staatlich und international eine genauere und breitere Ausführung erhalten als die der Pflichten, zu diesen sind vor allem die Wahl-, Wehrdienst- und Steuerpflicht zu zählen. Im Zuge der Entwicklung zum Wirtschafts- und Sozialstaat ist die Sozialpflichtigkeit 62  Joseph Ratzinger, Europa in der Krise der Kulturen, in: Marcello Pera / Joseph Ratzinger, Ohne Wurzeln. Der Relativismus und die Krise der europäischen Kultur, Augsburg 2005, S. 70. 63  Ratzinger, a. a. O. 64  Joseph Ratzinger, Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates, in: Jürgen Habermas / Joseph Ratzinger, Dia­lektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg / Basel / Wien 2005, S. 51.

408

Die Menschenwürde im öffentlichen Recht

der Wirtschaftsrechte, insbesondere des Eigentums deutlich geworden. Sozialpflichtigkeit von Grundrechten und soziale Grundrechte bestehen mit den klassischen Grundrechten, wie es die liberalen und demokratischen Grundrechte sind, neben- und miteinander; es kommt aber darauf an, dass diese in einer dem gemeinsamen Menschenbild angepassten Weise aufeinander abgestimmt werden, was besonders in Bezug auf das Verhältnis von Grundrechtswert und Grundrechtsform wichtig ist.65 Die Menschenwürde verlangt einen Schutz, der zeit- und ortsbedingt ist und somit von Staat zu Staat verschieden sein kann. Das zeigt sich in den Bereichen des öffentlichen Rechts und der politischen Wissenschaften aus verschiedenen Erdteilen, die in den einzelnen Kontinenten nicht eine gleiche, sondern verschiedene kulturelle, politische, rechtliche, wirtschaftliche und soziale Entwicklung nehmen, die sich auch im Verfassungsrecht und mit diesem in der gesamten Rechtsordnung jeweils ausdrückt. 4. Der Rechtsschutz des Lebens Neben diesen Unterschiedlichkeiten, die allerdings ein Mindestmaß an Rechtsschutz der Menschenwürde zu achten und bewahren haben, gibt es für alle Verfassungsstaaten sich gleich stellende Notwendigkeiten des Rechtsschutzes der Würde des Menschen von Beginn des Lebens mit der Zeugung bis zum Heimgang durch den Tod,66 was die Abtreibung, das Klonen,67 die Todesstrafe und die aktive Sterbehilfe in gleicher Weise verbietet. Unter Strebehilfe ist die Hilfe oder Beistand einem Sterbenden gegenüber gemeint. Als aktive Sterbehilfe stellt sie insofern eine Hilfe zum Sterben dar, als sie entweder das Leben des Sterbenden direkt verkürzt, um dessen Leiden zu beenden, oder als indirekte Sterbehilfe seine Schmerzen 65  Siehe dazu u. a. Herbert Schambeck, Grundrechte und Sozialordnung, Gedanken zur europäischen Sozialordnung, Berlin 1969, bes. S. 95 ff. und S. 120 ff.; derselbe, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, S. 493 ff. und Friedrich Koja, Allgemeine Staatslehre, Wien 1993, S. 344 f. 66  Beachte Papst Johannes Paul II., Respekt vor der Menschenwürde in jeder Phase des Lebens, L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache vom 4. März 2005, 35. Jahrgang, Nr. 9, S. 7. 67  Siehe Markus Hengstschläger, Das ungeborene menschliche Leben und die moderne Biomedizin. Was kann man, was darf man?, Wien 2001; Juan de Dios Vial Correa-Elio Sgreccia, The dignity of human procreation and reproductive techno­ logies: anthropological and ethical aspects. Proceedings of the tenth assembly of the Pontificial Academy for Life, Vatican 2004 sowie Jens Kersten, Das Klonen von Menschen, eine verfassungs-, europa- und völkerrechtliche Kritik, Tübingen 2004 und die Dekleration der UNO-Generalversammlung vom 9. März 2005, welche jegliches Klonen mit der Menschenwürde unvereinbar erklärte; dazu Kathpress Tagesdienst Nr. 57 vom 9.3.2005, S. 13 f.



Die Menschenwürde im öffentlichen Recht409

zu lindern sucht, ohne dabei die mögliche Verkürzung des Lebens direkt zu wollen. Von dieser Hilfe beim Sterben ist die passive Sterbehilfe zu unterscheiden; sie besteht in einem Unterlassen von lebensverlängernden Maßnahmen bei einem Sterbenden. Während direkte Sterbehilfe als Tötung abzulehnen ist, kann die indirekte Sterbehilfe akzeptiert werden, wenn die Schmerzlinderung ethisch erlaubt ist, zwischen der Schmerzlinderung und der Lebensverkürzung ein annehmbares Verhältnis besteht und die Lebensverkürzung nur eine nicht gewollte Nebenfolge ist. Die passive Sterbehilfe ist ethisch erlaubt, wenn die unterlassenen lebensverlängernden Maßnahmen ein für den Sterbenden subjektiv nicht mehr zu ertragendes Leiden in sinnloser Wiese nur verlängern würden, das dann zu erwartende Dasein menschenunwürdig wäre und der Sterbende selbst eine Lebensverlängerung nicht wünscht, dieses Verlangen aber vernünftigerweise selbst nicht mehr stellen kann. 5. Die Bedeutung der Ehe und Familie Der Rechtsschutz der Menschenwürde lässt auch in unserer Zeit ihre Grenzen erkennen, vor allem dort, wo das positive Recht die Rechtswege aufzeigt und eröffnet, ihr nutzendes Beschreiten aber ein freiwilliges in Selbstverantwortung ist, wie etwa, was die Grundlagen der Gesellschaft und mit ihr des Staates betrifft, nämlich die Ehe als eine auf Dauer bezogene Lebensgemeinschaft zweier Menschen verschiedenen Geschlechts und die Familie. Diese Grundlagen sind in vielen Teilen nicht mehr gegeben. Die Zahl der alleinerziehenden, alleinverdienenden, oft teilzeitbeschäftigten Mütter nimmt ebenso zu wie die der Scheidungen und Lebenspartnerschaften auf Zeit und die Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Personen. Als Konsultor des Päpstliches Rates für die Familie habe ich schon am 19. November 2004 bei der 16. Plenarversammlung des Päpstlichen Rates für die Familie im Vatikan darauf hingewiesen, wie sehr es auch die Würde des Menschen verletzt, wenn sich bei Ehe und Familie Gewissensanspruch und Rechtspflicht, die sich ergänzen sollen, es aber leider nicht mehr ausreichend tun, widersprechen. So erweist es sich nämlich nur all zu oft, dass nicht alles, was der Ordnung würdig wäre, auch des positiven Rechts fähig ist; z. B. sich auf einen Mitmenschen verlassen zu können, auf ein menschliches Miteinander, auch auf Liebe zu vertrauen sowie ein Ja zum Kind in Ehe und Familie zu sagen. Dies ist auch in Österreich68 nicht der Fall, wo 68  Beachte Herbert Schambeck, Zur Bedeutung von Ehe und Familie für Gesellschaft und Staat (ein österreichischer Beitrag), Familia et Vita, Vatikan Anni IX, Nr. 3 2004 / 1 2005, S. 185 ff.

410

Die Menschenwürde im öffentlichen Recht

43 von 100 geschlossenen Ehen geschieden werden; 88 Prozent all dieser Scheidungen erfolgten in beiderseitigem Einvernehmen, dabei waren 36 Prozent dieser geschiedenen Ehen kinderlos! Solche Situationen des Lebens sind gleichzeitig eine wichtige pastorale Aufgabe und ein großes soziales Problem. Deshalb war es verdienstvoll, dass Mary Ann Glendon am 7. März 2005 in der 49. Sitzung des Ausschusses der UNO über die Stellung der Frau in New York darauf hinwies, dass die hohe Scheidungsrate und die Mutterschaft alleinstehender Frauen „neue Formen der Armut“ und „neue Bedrohungen für das menschliche Leben und seine Würde“ erzeugen. Auch das 2004 vom Päpstlichen Rat „Justitia et Pax“ herausgegebene Kompendium der Soziallehre der Kirche weist auf den Zusammenhang von Selbst- und Sozialverantwortung, Ehe, Familie, Staat und Völkergemeinschaft hin.69 Wir sind gewöhnt, die Wahrung der Menschenwürde und ihren Rechtsschutz mit gerichtlicher Prüfung vor allem im Verhältnis von Gesetzgebung und Vollziehung zu beachten, dass kein Gerichtsurteil und Verwaltungsbescheid grundrechtswidrig ist. Die auf Hans Kelsen zurückgehende, von Österreich ausgehende Normenkontrolle der Verfassungsgerichte bemüht sich um diese Verfassungsmäßigkeit allen Staatshandelns. Die Würde des Menschen stellt sich als Problem aber schon in der Ichund Du-Begegnung sowie in der Beziehung zweier Menschen sowie dem Miteinander im privaten und öffentlichen Leben, in dem oft Formlosigkeit nur eine milde Form des Terrors ist! V. 1. Die individuelle und soziale Seite der Menschenwürde Die Wahrung der Menschenwürde beginnt in individuellen Bereichen und setzt sich im Sozialen fort. Die Menschen sollten sich als Personen untereinander so achten, wie es im Verhältnis von Einzelmensch und Staat in einer ausgewogenen Verfassungsordnung von Grundrechten und Grundpflichten wünschenswert ist. Dazu treten noch neben den Ansprüchen des Einzelmenschen an den Staat auch solche von diesem auf internationaler Ebene, wie das Individualbeschwerdeverfahren der Europäischen Menschenrechtskonven­ tion vom 4. November 1950, und die eines Staates gegenüber den anderen, etwa als Schutzmacht zum Minderheitenschutz oder nach Korb III der Europäischen Sicherheitskonferenz zur Wahrung der Menschenrechte. 69  Siehe Pontifical Council for Justice and Peace, Compendium of the Social Doctrine of the Church, Vatican 2004, bes. S. 123 ff., S. 217 ff.



Die Menschenwürde im öffentlichen Recht411

Auf diese Weise sind heute die Menschenrechte Grundlage der Staatsordnung und Völkergemeinschaft, Beurteilungsmaßstab im öffentlichen Recht und auch der politischen Wissenschaft geworden. Der Verfassungsstaat gibt die Rechtswege an, ihre Nutzung und ihr Gebrauch aber ist eine jeweilige Entscheidung auf dem Weg der Verfassungskonkretisierung. Das Verfassungsrecht ist, wie schon Adolf Merkl sagte, kodifizierte Politik und die modernen Verfassungen sind, wie es Kirchhof ausdrückt, „das Gedächtnis der Demokratie, das die Mindestanforderungen menschlichen Zusammenlebens rechtsverbindlich regelt“.70 2. Die Gefahr des Terrors Neben dem Rechtsleben wird aber in zunehmendem Maße das öffentliche Leben in Staaten sowie im internationalen Leben durch eine überraschende Gewaltausübung belastet, die mit der Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit auch der kontroversiellen Politik, wie sie durch den Krieg erfahrbar ist, nicht vergleichbar ist, nämlich der bereits genannte Terror.71 Seine Dimensionen erreichen ein Ausmaß, das bisher nicht vorstellbar war und die Menschenwürde in sehr tragischer Form geradezu vernichtend verletzt. Benedikt XVI. hat auf „diese Gefahr durch den organisierten Terrorismus, der sich inzwischen weltweit ausbreitet“,72 hingewiesen und betont: „Die Ursachen dafür sind zahlreich und komplex; nicht zuletzt gehören dazu die mit irrigen religiösen Auffassungen vermengten ideologischen und politischen Gründe“.73 Im Unterschied zum Krieg mit dem ius in bello74 erkennt die Herrschaft des Terrorismus keine rechtlichen Regelungen; das Gegenteil ist der Fall. Je unvorhersehbarer, unberechenbarer und brutaler der Terror zum Einsatz kommt, umso erfolgreicher erscheint er. Er ist Grenzen der Staaten und Kontinente übersteigend. Durch den Terror wird die Menschenwürde mit Furcht und Schrecken gefährdet sowie verletzt und es wird versucht, Menschen zu töten, die selbst unschuldig sind. Die Gründe für den Terrorismus sind unterschiedlich, sie können parteioder machtpolitische Ansprüche sein oder auf religiöse, weltanschauliche 70  Kirchhof,

Die Erneuerung des Staates, S. 29. Eckhart Klein / Christian Hacker / Bernd Grzeszick, Der Terror; der Staat und das Recht, mit einem Beitrag hrsg. von Josef Isensee, Berlin 2004. 72  Ansprache Papst Benedikt XVI. am 9. Januar 2006, Der Einsatz für den Frieden eröffnet neue Hoffnungen, Neujahrsempfang für das beim Heiligen Stuhl akkreditierte Diplomatische Korps, L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 20. Januar 2006, Nr. 3, S. 7. 73  Papst Benedikt XVI., a. a. O. 74  Dazu Fischer/Köck, S. 413 ff. 71  Dazu

412

Die Menschenwürde im öffentlichen Recht

und ideologische Einstellungen zurückzuführen sein. So wie einstens der Jakobinismus die verzerrt radikale Form der Demokratie war, ist der Terrorismus eine radikalisierte Form der politischen Auseinandersetzung mit dem Pluralismus in Gesellschaft und Staat, die in jeder Weise abzulehnen ist. Auch das Kompendium der kirchlichen Soziallehre verurteilt den Terrorismus in „absolutester Weise“!75 Er sät Hass, Tod und Rache und zeige eine „totale Verachtung“ des menschlichen Lebens. Terrorakte können durch keine Motivation gerechtfertigt werden; sie sind ein Angriff auf die gesamte Menschheit. Aus diesem Grund gibt es nach dem Compendium ein Recht auf Verteidigung, das aber nicht auf das gesamte Volk ausgedehnt werden darf, aus dem etwa eine Terrorgruppe stammt. Es ist im Lichte der Eschatologie der Geschichte wirklich bedenkenswert, dass dieser Terrorismus nach dem Ende des Kommunismus und der Teilung Europas sowie des sogenannten kalten Krieges die Freiheit, Sicherheit und Würde des Menschen bedroht, und das in einer Zeit, in der im Jahr 2004 im Kompendium der Soziallehre der Kirche in Erinnerung gerufen wird: „Die letzte Quelle der Menschenrechte findet sich nicht im bloßen Willen der menschlichen Wesen, nicht in der Wirklichkeit des Staates, nicht in der öffentlichen Gewalt, sondern im Menschen selbst und in Gott, seinem Schöpfer“.76 3. Das Erfordernis der Globalisierung des Schutzes der Menschenwürde Die erneute Einsicht in diese Glaubenswahrheit der Gottesebenbildlichkeit und der Würde des Menschen wäre ein wegweisender Grund, um über die vielfach auch jetzt durch den Terrorismus gefährdete Würde des Menschen in einer immer mehr global werdenden Welt zu einer Globalisierung des Schutzes der Menschenwürde zu gelangen. Es wäre aber ebenso tragisch, wenn die Außerachtlassung des Rechts durch den Terrorismus in seiner Bekämpfung auch zu einer weiteren Außerachtlassung des Rechts, vor allem der Grundrechte, bei der Terrorbekämpfung und beim Strafvollzug führen würde. Vielmehr wäre es erstrebens- und begrüßenswert, könnten die Schutzmaßnahmen des Staates auch in der Kriminalistik im Rahmen des Möglichen in einer den Menschenrechten angepassten Weise weiterentwi75  Compendium,

S.  288 ff., Nr.  513 ff. S. 85, Nr. 153; Cf. Second Vatican Ecumenical Council, Pastoral Constitution Gaudium et Spes, 27: AAS58 (1966), 1047–1048; Catechism of Church, 1930. Cf. John XXIII, Enzyclical Letter Pacem in Terris: AAS55 (1963) 259; Second Vatican Ecumenical Council, Pastoral Constitution Gaudium et Spes, 22: AAS58 (1966), 1079. 76  Compendium,



Die Menschenwürde im öffentlichen Recht413

ckelt und weder bei den Tätern noch den Verfolgern des Terrorismus ein bloßes Recht des Stärkeren vorherrschend werden. Auch aus der Verpflichtung zur Wahrheit lehnt Papst Benedikt XVI. das Recht des Stärkeren ab: „Wer sich zur Wahrheit verpflichtet, muss das Recht des Stärkeren ablehnen, das von der Lüge lebt und das so oft, auf nationaler und internationaler Ebene, die Geschichte der Menschen mit Tragödien überzogen hat“.77 4. Kein Naturrecht der Stärkeren Das sogenannte Naturrecht des Stärkeren, wie es als erstes von Gorgias, Kallikles und Thrasymachos78 im 5. Jahrhundert vor Christus vertreten wurde, sollte im 21. Jahrhundert nach Christus keine Renaissance erleben, vielmehr sollte die weltweite Gefährdung der Menschenwürde die Notwendigkeit erkennen lassen, in einer immer enger werdenden Zusammenarbeit der Staaten und der internationalen Organisationen einen Weltrechtsstaat entstehen zu lassen. Dies verlangt zum Schutz der Menschenwürde auf inner- und überstaatlicher Ebene einen Polizei- und Rechtsschutz, etwa in Form einer Einsatzschutztruppe, sowie entsprechende im Voraus denkende und strebende Nachrichten – sowie Sicherheitsdienste. Daneben wäre es aber begrüßenswert, wenn in – und außerhalb der Staaten in der Auseinandersetzung „die grundlegenden Werte des Soziallebens“, die das Sozialkompendium der Kirche mit „Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe“ angibt,79 nicht verloren gehen und eine neue Form der Konflikt- und Streitkultur entsteht, die zu einem modernen Bonum commune humanitatis beiträgt. Die Verantwortung ist hiefür sehr groß. Es wäre nämlich tragisch, würde es zu einem Weltkrieg der Kulturen kommen; Samuel P. Huntington hat der Problematik schon 1996 sein Buch „The Clash of Civilisations“ gewidmet.80 Die Bewältigung dieses Problems, bei dem der Mensch entweder Subjekt oder Objekt für das Recht und die Politik ist, verlangt aber in einem großen Maß gegenseitiges Verstehen und Toleranz, nicht als Gleichgültigkeit, sondern als Einsicht.

77  Papst

Benedikt XVI., a. a. O. Verdroß, Abendländische Rechtsphilosophie, S. 19 ff. 79  Compendium, S. 113, Nr. 197; Cf. Second Vatican Ecumenical Council, Pastoral Constitution Gaudium et Spes, 26: AAS58 (1966), 1046–1047; John XXIII, Enzyclical Letter Pacem in Terris: AAS55 (1963), 265–266. 80  Samuel P. Huntington, The Clash of civilisations, New York 1996. 78  Siehe

V.

Mahatma Gandhi und seine Bedeutung heute1 Die Jamnalal-Bajaj-Preise werden für schöpferische Arbeit in der Tradi­ tion Gandhis vergeben. Daher erscheint es mit höchst angemessen, aus diesem festlichen Anlaß über „Mahatma Gandhi und seine Bedeutung heute“ zu sprechen. Das gibt mir, einem Westeuropäer von Abstammung und einem Christen vom Glaubensbekenntnis, die Möglichkeit, über den dauernden Einfluß von Leben und Lehren eines unserer größten Zeitgenossen, eines Asiaten von Ursprung und eines Hindus vom Glaubensbekenntnis, zu sprechen, nachdem mehr als 40 Jahre seit seinem verfrühten Tod, durch ein Attentat im Jahre 1948 vergangen sind. In der Zwischenzeit sind unzählige Bücher und Artikel über die Person und Tätigkeit des Mahatma geschrieben worden, und manch eine Analyse ist unternommen worden, um das Innere von Gandhis Persönlichkeit, das sich in seinen Worten und Taten widerspiegelt, offenzulegen. Wenig verwunderlich ist es daher, daß die Ergebnisse, die von den einzelnen Untersuchern gewonnen wurden, bis zu einem gewissen Umfang unterschiedlich sind, eine Tatsache, die wahrscheinlich den verschiedenen Standpunkten, von denen aus man sich mit der Persönlichkeit Gandhis beschäftigt, zuzuschreiben ist. Ich beanspruche daher nicht, irgendein endgültiges oder umfassendes Urteil über Mahatma Gandhi abgeben zu können. Was ich mir vielmehr zur Aufgabe gemacht habe, ist, diese Punkte auszuwählen, die mir persönlich von bleibender Wichtigkeit für die heutige Welt zu sein scheinen. In der Tat gibt es zwei solche Punkte, und ich weiß nicht, welchen von beiden ich als den bezeichnen soll, zu dem Gandhi den größeren Beitrag geleistet hat. Aufgrund praktischer Überlegungen werde ich trotzdem mit dem Grundsatz des gewaltlosen Widerstands beginnen, vielleicht, weil es dieser Grundsatz ist, der unter den Lehren des Mahatma die weiteste Anerkennung erhalten hat.

1  Erweiterte Fassung des Festvortrages, gehalten anläßlich der Jamnalal Bajaj Preisverleihung am 2. November 1990 im Nehru-Center von Bombay. Herrn Dekan o.  Univ.-Prof. Dr. Heribert Franz Köck von der Universität Linz habe ich wertvolle Gespräche zum gegenständlichen Thema zu danken.

418

Mahatma Gandhi und seine Bedeutung heute

I. Das Prinzip der Gewaltlosigkeit 1. Die westliche Tradition In der westlichen Welt haben auch wir eine Tradition der Gewaltlosigkeit. Diese Tradition hat zwei Wurzeln, eine in der christlichen Bibel und die andere in der Naturrechtslehre, die sich vom hl. Augustin und hl. Thomas über das Mittelalter bis hindurch in die moderne Zeit entwickelt hat. In Folge der Tatsache, daß es heute zu allererst die Katholische Kirche ist, die ein ganzes Naturrechtssystem entwickelt hat, sind diese beiden Quellen, die biblische und „natürliche“, miteinander verschmolzen worden, sodaß es hier nur eine Lehre über das Gebot der Gewaltlosigkeit und der Zulässigkeit des Gebrauches von Gewalt gibt. Diese Verschmelzung von biblischem Denken und Naturrechtsdenken wurde im 16. Jahrhundert von dem berühmten spanischen Ethiker Francisco de Vitoria, Begründer und erster Leiter der sogenannten Schule von Salamanca, in der Lehre gerechtfertigt, der folgerte, daß kein Widerspruch zwischen releviertem und natürlichem Recht bestehen könnte, da es derselbe Gott ist, der Gesetzgeber für beide ist. Für ihn waren Christentum und Freiheit austauschbar, „da nichts durch das Evangelium verboten sein kann, was durch die Natur erlaubt ist“2, und gerade seiner eigenen Natur und ihren Bedürfnissen zu folgen nicht als Knechtschaft angesehen werden kann. Den biblischen und naturrechtlichen Zugang zu vermischen, hieß scheinbar so widersprüchliche Sätze wie „Leiste den Bösen keinen Widerstand!“3 oder „Der, der das Schwert ergreift, soll durch das Schwert umkommen“4 auf der einen Seite, und „Es ist jedermanns Recht, einem ungerechten Angriff zu widerstehen“ oder „Es gibt eine Pflicht, anderen bei ihrer Abwehr eines ungerechten Angriffes beizustehen“ auf der anderen Seite, zu harmonisieren. Die auf diese Art entwickelte Theorie ruht auf zwei fundamentalen Grundsätzen: der erste ist, daß Gewalt nur als ein gesetzliches Mittel gebraucht werden darf, und der zweite ist, daß Gewalt nur von jenen gebraucht werden darf, die nicht durch Anrufung einer höheren Instanz Zuflucht zu einer friedlichen Streitbeilegung nehmen können. Folglich erlaubt die Beziehung von Menschen innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft, und im besonderen innerhalb des Staates keine wie auch immer geartete zwischenmenschliche Gewalt, da derjenige, der Grund zur Klage gegen einen anderen hat, die Gerichte anrufen kann, auf daß seine Beschwerde beseitigt 2  Francisco

de Vitoria, De potestate Civile 8, 1528. 5, 39. 4  Mt 26, 52. 3  Mt



Mahatma Gandhi und seine Bedeutung heute419

werde. Dies beruht natürlich auf der Annahme, daß der Staat den Einzelnen gegen alle ungerechten Ansprüche und gegen alle gewaltsamen Angriffe seitens der Mitmenschen beschützt, und daß der Staat auch die Durchsetzung des eigenen gerechtfertigten Anspruchs gegenüber jedermann, der nicht bereit ist ihn zu erfüllen, zustande bringen wird. Im Einklang mit der modernen westlichen Lehre gehört dieser Schutz gegen physischer oder rechtlicher Verletzung zum Kern des bonum commune oder Gemeinwohls und bildet die ursprüngliche „raison d’être“, die primäre Rechtfertigung für die eigentliche Existenz des Staates. Dasselbe Modell paßt gut auf die Friedenssicherung in der Völkergemeinschaft. Bis zum Ersten Weltkrieg hatte jeder Staat, da es an einer zwischenstaatlichen Instanz für obligatorische Schiedsgerichtsverfahren oder Schlichtung fehlte, das Recht, sich in den Krieg zu flüchten, wenn er glaubte, einen gerechten Grund zu haben, dies zu tun, oder wenn er sich in ungerechter Weise von einem anderen Staat angegriffen fühlte. Dies fand seine Grundlage in der bellum iustum-Doktrin (oder Lehre vom gerechten Krieg), die, wenn auch ausschließlich auf diese Art, den Gebrauch von Gewalt für die Durchsetzung eines rechtmäßigen Anspruches, dessen Erfüllung vorher verweigert worden war, oder für die Selbstverteidigung gegen einen ungerechten Angriff gestattete. Dieses Recht, auf den Krieg zurückzugreifen, oder für den Gebrauch von Gewalt im allgemeinen, wurde durch die Völkerbundsatzung von 1919, dann durch den Briand-Kellogg-Pakt über die Ächtung des Krieges 1928, und schließlich durch Art. 2 Abs. 4 der Charta der Vereinten Nationen, der die Drohung oder den Gebrauch von wie auch immer gearteter Gewalt, sei sie als Krieg oder auch anders bezeichnet, untersagt, gezügelt. Statt dessen schreibt Abs. 5 desselben Art. 2 den Rückgriff auf friedliche Streitbeilegungsmittel vor. Aber auch das System der Vereinten Nationen verbietet den Einsatz von Gewalt nicht gänzlich. Sie garantiert einem Opfer der zwischenstaatlichen Aggression eher in Analogie zu innerstaatlichen Behelfen den Beistand der Staatengemeinschaft, ein Beistand, der unter dem Kapitel VII der Charta nicht nur in wirtschaftlichen und auf diese Art „friedlichen“ Sanktionen, sondern auch aus militärischen Maßnahmen bestehen kann. Gleichfalls ist das Recht der Selbstverteidigung, der individuellen wie der kollektiven, als ein „natürliches“ erhalten. Und schließlich kann der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, wenn ein Staat einem Urteil des Internationalen Gerichtshofes nicht folgen sollte, im Rahmen des Verfahrens der friedlichen Streitbeilegung über die notwendigen Mittel entscheiden, um den betreffenden Staat zu zwingen, das Urteil zu erfüllen. Verglichen mit diesem System, das auf natürlicher Gerechtigkeit beruht, scheint der Begriff der christlichen Liebe auf die persönliche Haltung des Einzelnen beschränkt zu sein, ob er nun allein oder mit anderen tätig ist, im

420

Mahatma Gandhi und seine Bedeutung heute

besonderen in seiner Eigenschaft als Organ des Staates oder der Staatengemeinschaft. So erlaubt die christliche Nächstenliebe, ja schreibt unter gewissen Umständen sogar vor, ungerechte Behandlung zu erdulden, um auf diese Art und Weise ein Beispiel zu setzen, um damit den, der Zuflucht zu einer ungerechten Behandlung gesucht hat, zu bekehren; aber dies kann nicht getan werden, indem man die Rechte Dritter opfert, deren Schutz Vorrang hat. 2. Gandhis Prinzip der Gewaltlosigkeit Mahatma Gandhi hat sein Prinzip der Gewaltlosigkeit scheinbar als Gegenposition zu dem eben Gesagten proklamiert. Die weltweite Beachtung, die seiner Lehre der Gewaltlosigkeit und ihrer Anwendung in der Politik, zuerst Südafrika und danach in Indien, entgegengebracht wurde, scheint den Standpunkt zu erhärten, daß sie etwas Neues, somit Beispielloses, im gewissen Sinne Revolutionäres war. Während Gandhi selbst darauf bestand, daß dieses Prinzip der „Gewaltlosigkeit“ im Einklang mit den erhabensten Lehren aller großen Religionen stand, hatten die Menschen nicht den Eindruck, daß dieses Prinzip bisher seinen Ausdruck in den inner- oder zwischenstaatlichen Beziehungen gefunden hätte. Demgemäß wurden verschiedene Haltungen im Hinblick auf Gandhis Grundsatz der „Gewaltlosigkeit“ und seine Anwendbarkeit auf innerstaatliche und zwischenstaatliche Angelegenheiten eingenommen. Für einige ist der Grundsatz einfach nicht praktikabel. Wenn diejenigen, die diese Auffassung vertreten, dem Mahatma noch immer huldigen wollen, müssen sie darauf bestehen, daß dieser Grundsatz keineswegs eine entscheidende Rolle in Gandhis Lehren einnahm. Folglich könnte sogar Ho Tchi Min als ein Schüler Gandhis angesehen werden, über das Argument, daß Gandhi selbst behauptet hat, Furchtlosigkeit nicht Feigheit bilde die Grundlage der Gewaltlosigkeit, und daß es deshalb dies Furchtlosigkeit, und nicht die Gewaltlosigkeit war, die wirklich in Gandhis System zählte. Für andere ist dieser Grundsatz nur unter bestimmten, sagen wir günstigen Umständen anwendbar, wie das der Fall unter dem „sportiven“ und grundsätzlich humanen Geist der britischen Administration in Indien war. Wie es schon allgemeiner von einem freundlichen Beobachter festgestellt wurde, ist es „wahr, daß die Mittel der Gewaltlosigkeit am besten funktionieren, wenn sie gegenüber Widersacher“ eingesetzt werden, bei denen totaler Fanatismus noch nicht überhand genommen hat. Nazis, Stalinisten und Anhänger der Herrschaft der Weißen Rasse wären unerreichbar gewesen, und sind es heute noch. Dieser Standpunkt findet Unterstützung in der Tatsache, daß Gandhi selbst nicht bei allen Gelegenheiten den Gebrauch von Gewalt ausgeschlossen oder mißbilligt hat. Aus diesem Grund haben einige



Mahatma Gandhi und seine Bedeutung heute421

versucht zu beweisen, daß „Gewaltlosigkeit“ keinesfalls die Grundlage von Gandhis System war, und daß er es eher als ein angemessenes Mittel politischer Kriegsführung seitens eines sich selbst opfernden, aber dann andererseits ohnmächtigen Staates gebraucht hat. Meiner Meinung nach kann Gandhis Lehre der „Gewaltlosigkeit“ im Einklang mit dem traditionellen westlichen System, das eine Unterscheidung zwischen dem gesetzmäßigen und dem ungesetzlichen Gebrauch der Gewalt kennt, interpretiert werden, obwohl nur unter einer sehr wichtigen Bedingung, auf die ich gleich zu sprechen kommen werde; und zugleich übertrifft sie diese traditionelle Lehre auf eine bestimmte Art und Weise. 3. Gemeinsame Grundsätze der Gewaltlosigkeit Lassen Sie mich zuerst die Bedingung erwähnen, unter der, so wie ich glaube, die traditionellen westlichen Ansichten über Gewalt und Gandhis Lehre der Gewaltlosigkeit zusammenlaufen. Diese Bedingung ist sehr einfach, und trotzdem nur selten erfüllt: Die Praxis müßte sich an die Lehre angleichen. In den seltensten Fällen war und ist das der Fall. Während Einzelmenschen und Staaten Lippenbekenntnisse zu einer Lehre ablegen, welche die Gewalt zur Magd des Rechts macht, hat sich die Herrschaft der Übereinstimmung zwischen Recht und Stärke oft durchgesetzt, und setzt sich grundsätzlich noch immer durch, in der innerstaatlichen wie in der zwischenstaatlichen Politik. Aus diesem Grunde hat Gandhis Lehre und im besonderen seine Praxis des Grundsatzes der Gewaltlosigkeit einen solchen Eindruck auf seine Zeitgenossen gemacht und macht ihn noch immer auf die folgenden Generatio­ nen. Von diesem Standpunkt aus hat Gandhi, wie er immer offen erklärt hat, eine sehr alte Wahrheit verkündet. Außerdem kann aber gesagt werden, daß Gandhis Grundsatz der „Gewaltlosigkeit“ das traditionelle westliche System an Radikalität übertrifft. In der Tat war es Gandhi, der zum ersten Mal nachgewiesen hat, daß es da eine weitere Alternative zum gänzlichen Unterlassen des Widerstandleistens gegen Ungerechtigkeiten gibt, neben dem Widerstand durch Gewalt, nämlich den Widerstand in Form von „Gewaltlosigkeit“. In Wirklichkeit ist passiver Widerstand in der westlichen Rechtslehre seit dem Altertum bekannt, aber er wurde immer als etwas Außergewöhnliches angesehen, manchmal als etwas, wozu eher Einzelmenschen auf eigene Gefahr hin Zuflucht genommen haben, eher, als denn eine Methode der Massenbewegung. Somit war der passive Widerstand mehr eine Methode, sich selbst rein von der sonst schmutzigen politischen Realität zu halten, aber es ist niemals eine gemeinsame politische Handlung gesetzt worden, die gerade auf jene Auswirkungen abzielte, die im Einklang mit der traditionellen westlichen Lehre nur durch aktiven Widerstand herbeigeführt

422

Mahatma Gandhi und seine Bedeutung heute

werden konnten, also durch Einsatz von Gewalt gegen die etablierte politische Macht. Diese „Gewaltlosigkeit“ könnte als moralische Stärke gegen den Gegner wirken, die ihn veranlaßt, nachzugeben und zu gewähren, was er bisher verweigert hat. Daß dies sogar in der Beziehung zwischen einem Volk und seiner Regierung Anwendung finden könnte, hat bislang kaum Eingang in die Geisteshaltung der westlichen Gelehrten oder gar der Politiker gefunden. 4. Die moralische Grundlage des „Mutes zur Gewaltlosigkeit“ Gewaltlosigkeit trägt natürlich auch seine Gefahren mit sich, und das ist der Grund, warum Gandhi darauf bestanden hat, daß sie mehr Ausdruck von Tapferkeit als von Demut und Schüchternheit ist. Viele würden dazu geneigt sein, den Löwen eher zu erschießen, als ihn dadurch zu zähmen, daß sie ihren Kopf in seinen Maul stecken. Das könnte als natürlich betrachtet werden, da man ja nur ein Leben hat, und warum dieses der Gefahr aussetzen, wenn es einen „bequemeren“ Ausweg gibt, einen Ausweg, der mit weit weniger Risiken behaftet ist? Auf diese Frage gibt Gandhi eine klare Antwort: Gewalt ist das Gesetz der Tiere, aber Gewaltlosigkeit ist das Gesetz der menschlichen Natur. Nur, wenn man nach diesen menschlichen Grundsätzen lebt, kann der Mensch seine eigene Berufung erfüllen und so zum Anblick Gottes gelangen. Es war dieser Anblick Gottes, den Gandhi als das höchste und letzte Ziel des Menschen angesehen hat. Dieses Leben auf Erden hat kein Ziel in sich selbst. Es sollte daher nicht höher eingeschätzt werden als jene moralische Vervollkommnung, die alleine es schließlich dem Menschen gestattet, in die Gegenwart Gottes zu gelangen. Als Christ finde ich in diesem Teil der Lehre des Mahatma einen Widerhall des Wortes Jesu: „Wer versucht, sein Leben zu erhalten, wird es verlieren, wer aber sein Leben in meinem Namen verliert, wird es finden.“5 Und da gibt es ein anderes, das darlegt: „Du sollst jene nicht fürchten, die nur Deinen Körper töten könnten; fürchte lieber ihn, der beides, Körper und Seele, dem ewigen Feuer übergeben kann.“6

5  Mt 6  Lk

16, 25. 12, 4–5.



Mahatma Gandhi und seine Bedeutung heute423

II. Umfassende Grundlage – die Religion In der Tat ist der Unterschied zwischen der Natur des Menschen, ausgestattet mit Vernunft und freiem Willen, und der Natur aller anderen Wesen, die nur ihren verschiedenen Instinkten folgen, in der Abendländischen Tradition, wenigstens seit Hesiod, bekannt. Aber was einige als Einsicht in der westlichen Welt nahezu verloren haben, ist die Anerkennung der grundlegenden, mehr: der einzigartigen Rolle der Religion im menschlichen Leben, im privaten und im öffentlichen. Weil es dieser herausragende Gesichtspunkt der menschlichen Natur ist, die beides, eine Quelle spezifischer menschlicher Pflichten, und spezifischer menschlicher Stärke bildet, muß eine Gesellschaft, die zum Großteil diesen herausragenden Gesichtspunkt verloren hat, Schwierigkeiten haben, diese spezifischen Pflichten zu erkennen und es wird ihr an Stärke fehlen, sie zu erfüllen. 1. Der Transzendentalverlust im Westen Für Gandhi, mit seiner indischen, religiösen Tradition, war es axiomatisch, daß der physische Tod nicht das Ende der Existenz einer Person bedeutet. Dieser Glaube wurde in der westlichen Welt geschwächt und ging bis zu einem gewissen Grad verloren, indem er, durchdrungen von Skeptizismus, allmählich, aber fortwährend, seit dem Zeitalter der sogenannten Aufklärung säkularisiert wurde. Es kann gesagt werden, daß unser europäi­ sches System auch vom Materialismus beeinflußt wird, vom theoretischen und sogar mehr vom praktischen. Die Liberalismen des 19. Jahrhundert, und alle Formen des Sozialismus des 20. Jahrhundert, haben diese Einstellung begünstigt, und Religion wurde von vielen als eine blanke Illusion abgetan. Sogar die Christen sind von dieser Idee angesteckt worden; tatsächlich haben viele, während sie der Form nach einer Kirche angehören, lange schon ihren Glauben verloren, und glauben weder an Gott, noch an ein Leben nach dem Tod. Dies ist sicher ein Grund, und höchstwahrscheinlich der Grund, warum sogenannte christliche Länder oft versagt haben, und immer noch versagen, wenn es darum geht, den Richtlinien, die von ihrer Religion aufgestellt wurden, nachzukommen. Daher ist die Basis dessen, was in der westlichen Welt Gesellschaftsvertrag genannt werden könnte, bestenfalls der gegenseitige Vorteil beziehungsweise der wechselseitige Schaden und schlechtestenfalls, das Gesetz der Gewalt. Daher ist es unmöglich, irgend einen festeren Grund für eine Gesellschaft zu finden, die sich gerne „pluralistisch“ nennt, aber in der Tat oft eine a-religiöse ist.

424

Mahatma Gandhi und seine Bedeutung heute

2. Die Religion als Zentrum von Gandhis Weltanschauung Im Gegensatz dazu hat Gandhi dem indischen Volk, aber auch allen Völkern dieser Welt in Erinnerung gerufen, daß das Verhalten des Einzelnen, ob als private oder politische Person, von der Religion geleitet werden muß, und daß in der Tat das höchste Gut, das der Mensch erreichen kann, Gott selbst ist, und er, der Mensch, demgemäß seine Rangordnung der Werte auszurichten hat. Ich persönlich glaube, daß dies der größte Beitrag ist, den Gandhi der modernen Welt geleistet hat: Der Menschheit ihre spezifische Berufung als eine Gemeinschaft von Brüdern unter dem gemeinsamen Vater, Gott selbst, in Erinnerung rufen. Von diesem Verständnis aus sind alle anderen Lehren des Mahatma nur Folgerungen, Anwendungen auf bestimmte Umstände. Dies gilt auch für seinen Grundsatz der „Gewaltlosigkeit“. Und deshalb, so groß es auch sein mag, ist das Prinzip der Religion noch weitaus größer. Natürlich ist es gerade dieses Problem, in dem Gandhi mißverstanden und von Vertretern der sogenannten westlichen Denkhaltung sogar in Zweifel gezogen wurde. Ein bekannter skandinavischer Sozialist behauptet, offenkundig übereinstimmend mit seiner eigenen Art, daß Gandhi ein „aufgeklärter radikaler Liberaler“ gewesen sein soll, und wird unsicher, wenn die Sprache auf den moralischen Unterbau kommt: „Für Gandhi“ stellt er fest, „sollte die Politik in der Moral wurzeln. Hier“, behauptet er weiter, „unterstreicht er bloß wahrhafte liberale Prinzipien, von denen sich zu viele Autoren, vor allem unter den Ökonomisten zu verabschieden versuchten. Fragwürdiger“, so findet er freilich, „ist – vom liberalen Standpunkt aus – Gandhis Beharren auf der Grundlegung der Moral in der Religion.“ Gleicherweise findet der gute Mann einen Ausweg aus diesem Dilemma, indem er zum Schluß kommt, die von Gandhi vorgelegten „höheren“ Ideale seien in Wahrheit „allgemein humanitärer und rationalistischer Art“, ein Umstand, der zumindest für einen Hinweis auf die Religion überflüssig macht. III. Wahrheit und Toleranz Daß Gandhis religiöse Lehre so ansprechend ist, ist ohne Zweifel teilweise auch dem gänzlichen Fehlen jeglicher Art von Dogmatismus zuzuschreiben. Im Westen hat der Hang zu Definitionen und Systematisierungen im großen und ganzen zuviel Gewicht auf die institutionellen und dogmatischen Aspekte der Religion gelegt. Allzuoft ist vergessen worden, daß im Einklang mit der Bibel die höchste der drei göttlichen Tugenden – Glaube, Hoffnung und Liebe – letztere und nicht die erste ist.7 Und Jesus hat das 7  Kor

13, 13.



Mahatma Gandhi und seine Bedeutung heute425

Himmelreich nicht den Theologen versprochen, sondern denen, die während ihres Lebens ihren Mitmenschen gedient haben, denn „Was immer Du einem meiner geringsten Brüder getan hast, hast Du mir getan.“8 1. Wahrheit und Fortschritt In diesem Zusammenhang ist besonders die undogmatische Annäherung Gandhis an die Religion, die nichts mit indifferenten Relativismus zu tun hat, bemerkenswert. Hier, wie auch auf anderen Gebieten, war Gandhi immer bereit, seinen eigenen Standpunkt aufzugeben, sobald er eines Besseren belehrt worden war. Er verband das Vertrauen in jedes Menschen Fähigkeit, die Wahrheit zu finden, mit der Erkenntnis der Beschränktheit der menschlichen Einsichtsfähigkeit in die Wahrheit, und deshalb der Möglichkeit, oder besser der Notwendigkeit, eine solche Wahrheit weiter zu entwickeln. „Ich habe keine Angst davor, meine Meinung zu ändern“, hat Gandhi festgestellt, „Ich schreite von Wahrheit zu Wahrheit fort.“ Das könnte in westlichen Ohren seltsam klingen, wo man geneigt ist zu glauben, die Wahrheit sei eher eine statische als eine dynamische Sache. Indem wir dieses tun, vergessen wir jedoch, daß ein Teil der westlichen Tradition immer die von des Menschen begrenzter Natur abgeleitete Erfahrung hochgehalten hat, daß in jeder Wahrheit notwendigerweise auch etwas Irrtum beigemengt ist. Oder, wie es die Bibel ausdrückt: „Hier sehen wir die Dinge nur wie durch einen Spiegel; nur im nächsten Leben sehen wir sie von Angesicht zu Angesicht.“9 Tatsächlich haben auch wir Menschen aus dem Westen erst vor kurzem angefangen, dies Schritt für Schritt wahrzunehmen. Einer unserer größten Theologen, der vor wenigen Jahren verstorben ist, Karl Rahner hat prophetisch festgestellt, daß der Christ des 21. Jahrhunderts entweder ein Mystiker oder gar kein Christ sein wird.10 2. Religion in der pluralistischen Gesellschaft Die herausragende Rolle, die von Gandhi der Religion im privaten so wie auch im sozialen und politischen Leben eingeräumt wird, und zur gleichen Zeit seine undogmatische Annäherung an religiöse Belange waren beispielgebend für die praktische Lösung einer der entscheidendsten Fragen, die sich in einer modernen Gesellschaft stellen, nämlich nach der Vereinbarung von ideologischem Pluralismus und religiöser Überzeugung, als das mora8  Mat

25, 40. Kor 13, 12. 10  Karl Rahner, Schriften zur Theologie, Band 14, Zürich 1980, S. 161. 9  1

426

Mahatma Gandhi und seine Bedeutung heute

lische Rückgrat von beiden, nämlich des Einzelnen und der Gemeinschaft. Gandhi hat die moderne Welt gelehrt, daß es möglich ist, die Ideale einer pluralistischen Gesellschaft zu wahren, denn letzten Endes neigen alle menschlichen Gesellschaften zu diesem Pluralismus, der die notwendige Folge der menschlichen Beschränktheit auf Erden, nämlich der Freiheit des Gewissens, der Religion und der Rede ist, ohne die Religion insgesamt aus dem öffentlichen Leben zu verbannen, und sie zu einem unbedeutenden Aspekt in der Privatsphäre zu reduzieren. Im Gegensatz zu Karl Marx verkündet Gandhi nicht die Befreiung des Menschen durch die Unterdrückung der Religion, sondern vielmehr durch Eingeständnis ihrer allumfassenden Wichtigkeit. Denn es ist schließlich die Religion, die es den Menschen ermöglicht, ein wirklich menschliches Leben zu führen. IV. Gandhis fortwirkendes Beispiel Es sind diese Lehren Gandhis, auf die die heutige Welt hören soll. Sicherlich wird es nicht immer möglich sein, die von Gandhi aufgestellten Modelle genau zu kopieren. aber hier ist wieder eine Bezugnahme auf die Bibel höchst nützlich. Was Jesus von seinen Jüngern verlangt hat, und was er heute von jedem Christen verlangt, ist nicht, ihn im engeren Sinne des Wortes nachzuahmen, sondern eher, seinem Beispiel unter den besonderen Umständen des Einzelfalles zu folgen. Für die Christen ist es deshalb sowohl wichtig, was Christus vor fast 2000 Jahren getan hat, als auch, was Christus heute selbst tun würde. Aus dem gleichen Grunde sollte es mutatis mutandis möglich sein, Inspiration in den Worten und in den Taten des Mahatma, auch unter ganz anderen Umständen als jenen, mit denen er konfrontiert war, zu finden. Auf eine bestimmte Art hat Jamnalal Bajaj, dessen Name beide, diese ehrwürdige Stiftung und die Preise, die heute verliehen werden, tragen, gezeigt wie man es anstellt, und ist selbst ein „Kapitalist Gandhischer Art“ geworden. Lassen Sie mich daher mit dem Ausdruck meiner Hoffnung schließen, daß die heutige Welt seinem Beispiel folgen wird und Anregungen aus dem Leben und Gedankengut des Mahatma Gandhi ziehen wird. Es würde dann eine bessere Welt sein.

Die Rechtslehre Hans Kelsens* Mit dem Namen Hans Kelsen verbindet sich in der Rechtswissenschaft der Name eines Gelehrten, der in den neun Jahrzehnten seines Lebens – wie kein anderer Rechtslehrer – die Juristen weltweit in Theorie und Praxis mit seinem Schrifttum angesprochen hat, das von seiner 152 Seiten umfassenden 1905 in Wien erschienenen Erstlingsarbeit über „Die Staatslehre des Dante Alighieri“ bis zu seinem nach seinem Ableben aus dem Nachlass von den Wiener Professoren Kurt Ringhofer und Robert Walter im Auftrag des österreichischen Hans Kelsen-Instituts herausgegebenen 362 Seiten starken Werk „Allgemeine Theorie der Normen“, das 1979 in Wien veröffentlicht wurde, reicht. Zwischen diesen beiden Werken liegen hunderte Publikationen, die zum Teil in bis zu 24 Sprachen übersetzt wurden.1 Das Schaffen von Kelsen umfasst in gleicher Weise Arbeiten zur allgemeinen Theorie des Rechts, der Rechtsphilosophie, der allgemeinen Staatslehre, dem Verfassungs-, Verwaltungs- und Völkerrecht; auf letzterem Gebiet sei besonders sein 1950 in New York erschienener Kommentar zur Charta der United Nations genannt. Es sei auch nicht übersehen, dass Kelsen wertvolles zu den politischen Wissenschaften, u. a. durch seine Arbeit zur Ideologiekritik2, beigetragen hat. Er hatte an der University of California in Berkeley, wo ich ihn und seine Gattin während meiner Lehrtätigkeit in den USA im April 1967 besucht hatte, eine Professur am Department of Political Science. Aber schon während seiner Wiener Lehrtätigkeit war Kelsen neben seinen Arbeiten zum positiven öffentlichen Recht um die Erfassung von Grundfragen des politischen Lebens bemüht; in diesem Zusammenhang möchte ich vor allem seine Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ nennen, die in 2. Auflage in Tübingen 1929 publiziert wurde und auch für heutige Fragen der Politik wegweisende Antworten zu geben vermag. *  Gastvorlesung, gehalten am 13.12.2010 an der Nikolaus Kopernikus Universität Torun. Erschienen in: Studia Juridica Toruniensia, Tome VII, Torun 2011, S. 34 ff. 1  Siehe das Gesamtverzeichnis von Hans Kelsens Veröffentlichungen, in: Metall, Hans Kelsen, Leben und Werk (1969), 122 f. und die Ergänzung in: Die Reine Rechtslehre in wissenschaftlicher Diskussion, Referate und Diskussion auf dem zu Ehren des 100. Geburtstages von Hans Kelsen von 22. Bis 27.9.1981 abgehaltenen Internationalen Symposium, Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts VII (1982), 216 ff. 2  Siehe dazu: Krawietz/Topitsch/Koller (Hrsg.), Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Kelsen, Rechtstheorie 1982, Beiheft 4.

428

Die Rechtslehre Hans Kelsens

Ich betone nur skizzenhaft diese Weite des Schrifttums und Wirkens Kelsens, zu dem ich auch seinen Entwurf zum österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)3 rechnen möchte, der ein in einer sehr kurzen Zeit zustande gekommener Parteienkompromiss von fragmentarischer Bedeutung war; sich aber als dauerhaft erwiesen hat, da dieses B-VG heute noch in Österreich gilt und Kelsen deshalb als Vater der österreichischen BundesVerfassung bezeichnet wird. Kelsen hatte mit seinem Lebensweg von Wien nach Köln, Genf, Prag, New York und schließlich Berkeley, wo er am 19.4.1973 im 92. Lebensjahr verstorben ist, und mit dem weltweiten Echo seiner Schriften bald die Grenzen seiner österreichischen Heimat überschritten, wo er im altösterreichischen Prag am 11.10.1881 geboren wurde und hernach in Wien aufwuchs, wo seine Laufbahn begann. Über alle Grenzen und Kontinente und der Staaten setzen sich seit Jahrzehnten Juristen mit seinen Lehren auseinander, die ein wesentlicher Teil der Rechtswissenschaft dieses 20. Jahrhunderts geworden sind. Wer von dem rechtswissenschaftlichen Werk Kelsens spricht, denkt zumeist vor allem an seine „Reine Rechtslehre“, wie sie 1934 in erster Auflage und nach dem Erscheinen seiner General Theory of Law and State 1945 in zweiter Auflage 1960 mit einem Anhang: „Das Problem der Gerechtigkeit“ veröffentlicht wurde. I. Die Reine Rechtslehre Die Antwort auf die Frage: Was ist die Reine Rechtslehre, hat Kelsen – wie selten ein anderer Rechtslehrer – selbst gegeben, als er in beiden Auflagen seines gleichnamigen Werkes schon im ersten Satz des ersten Kapitels schrieb: „Die Reine Rechtslehre ist eine Theorie des positiven Rechts“.4 Aus dem Wort „eine“ Theorie spricht eine Toleranz, dass er anscheinend daneben noch andere Theorien für möglich hält; in ihrer Bezogenheit auf das „positive Recht“ will Kelsen deutlich jeden Bezug auf nichtpositives Recht, wie es auch das Naturrecht ist, ausgeschlossen wissen. Er war bemüht, wie er in der 1. Auflage der „Reinen Rechtslehre“ feststellt, „eine reine, d. h. von aller politischen Ideologie und allen naturwissenschaftlichen Elementen ge3  Hiezu Kelsen, Österreichisches Staatsrecht. Ein Grundriss entwicklungsgeschichtlich dargestellt (1923) sowie Schmitz, Die Vorentwürfe Hans Kelsens für die österreichische Bundesverfassung (1981) und Ermacora (Hrsg.), Die österreichische Bundesverfassung und Hans Kelsen (1982). 4  Kelsen, Reine Rechtslehre, Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik (1934), 1 sowie derselbe, Reine Rechtslehre, mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, 2. Aufl. (1960), 1.



Die Rechtslehre Hans Kelsens429

reinigte, ihrer Eigenart, weil der Eigengesetzlichkeit ihres Gegenstandes bewusste Rechtstheorie zu entwickeln … ausschließlich auf Erkenntnis des Rechts gerichtete Tendenzen zu entfalten und deren Ergebnisse dem Ideal aller Wissenschaft, Objektivität und Exaktheit, soweit als irgend möglich anzunähern“.5 Er kritisiert es, dass dies bei der traditionellen Rechtslehre nicht der Fall sei: „In völliger kritikloser Weise hat sich Jurisprudenz mit Psychologie und Soziologie, mit Ethik und politischer Theorie vermengt“.6 Kelsen will alles von seiner Reinen Rechtslehre ausscheiden, was nicht zum positiven Recht zu zählen ist. Kelsen interessiert für seine Rechtstheorie nur das geltende Recht, d. h. das Recht, wie es sich derzeit in Geltung befindet und nicht wie es sein könnte; letzteres gehört zur Rechtspolitik und wird von ihm von der Reinen Rechtslehre getrennt. In dieser Sicht ist Reinheit bei Kelsen, wie es Ulrich Klug ausdrückt, „keine ethische Kategorie“, er versteht „die reine Rechtslehre als allgemeine Theorie im Sinne des klassischen juristischen Begriffs der allgemeinen Rechtslehre“7; er war in seiner Reinen Rechtslehre daher um eine normative Strukturanalyse des positiven Rechts bemüht und hat jede historische oder soziologische Betrachtung von Phänomenen des öffentlichen und staatlichen Lebens zwar nicht überhaupt, aber für seine Rechtslehre ausgeschlossen. Die Reine Rechtslehre Kelsens hat daher, wie übrigens jede allgemeine Rechtslehre, einen bloß beschreibenden Charakter. Dieser beschreibenden Funktion kann die Reine Rechtslehre nur dort nachkommen, wo sich das Recht in bereits positivierter Form erweist. Die Frage nach der Grundlage des positiven Rechts stellt sich daher auch Kelsen! II. Die Grundnorm Nur fiktiv und hypothetisch war Kelsen imstande, aus seiner Sicht eine Begründung des positiven Rechts zu geben; er sieht sie in der sogenannten Grundnorm gegeben; sie ist für Kelsen „die objektive Geltung begründende Voraussetzung“. „Es ist somit nicht die Seins-Tatsache eines auf das bestimmte Verhalten anderer gerichteten Willensaktes, sondern wiederum nur eine Sollens-Norm, aus der – in einem objektiven Sinne – die Geltung der Norm folgt“.8 Als höchste Norm, von welcher alle übrigen Normen abgeleitet sind, ist die Grundnorm vorausgesetzt, da sie nicht von einer höheren Norm, als einer 5  Kelsen,

Reine Rechtslehre, 1. Aufl., III. Reine Rechtslehre, 1. Aufl., 1. 7  Klug, Hans Kelsens Reine Rechtslehre, in: Die Reine Rechtslehre in wissenschaftlicher Diskussion, 31. 8  Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 8. 6  Kelsen,

430

Die Rechtslehre Hans Kelsens

anderen Autorität abgeleitet sein kann; sie wird von Kelsen nicht nur als fiktiv, sondern auch als inhaltsleer betrachtet, zumal es ihm in seiner Lehre nicht um den Rechtsinhalt, sondern um die Rechtsform geht, was sich auch später darin zeigt, dass die Reine Rechtslehre für jedes politische System, auch von totalitären und autoritären Systemen für anwendbar erachtet wurde. Die Grundnorm ist eine fiktive inhaltsleere Hilfsgröße, die als formaler Zurechnungspunkt die Positivität des Rechts, beginnend mit der historisch ersten Verfassung, die nach Kelsen jeder Staatsordnung eigen ist, erst ermöglicht. Wenn nämlich jede Rechtsform als durch eine höhere Norm legitimierte und damit bedingte Norm angesehen wird, bedarf auch die historisch erste Verfassung eines Legitimationsgrundes, den die Grundnorm ermöglicht und die also ein hypothetischer Geltungsgrund ist. Dieser historisch ersten Verfassung können beliebig viele Verfassungen folgen; je nachdem ob sie unter Wahrung oder unter Bruch der Rechtskontinuität zustande kommen, entsteht ein neuer Staat oder es wandelt sich der bestehende. Adolf Merkl9, ein Schüler Kelsens, hat es besonders verdeutlicht, dass immer dann, wenn eine Verfassung unter Missachtung der Bedingungen entsteht, welche die vorangehende Verfassung für ihre Erzeugung vorsieht, ein neuer Staat entsteht, andernfalls aber die Kontinuität der Verfassungsordnung eine Identität der Staaten ermöglicht. Es kann daher ein Staat im völkerrechtlichen Sinn durch mehrere Verfassungsbrüche ebenso viele Neustaatsgründungen erleben und umgekehrt mehrere auf verfassungskonformen Weg zustandegekommenen Verfassungen die Identität des Staates und somit auch die Kontinuität der Rechtsordnung sichern. III. Die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung In seinem Bemühen um eine möglichst weite Erfassung des positiven Rechts hat Kelsen die Lehre von der Grundnorm und mit ihr von der Begründung der Positivität des Rechts die sich nach ihm in der historisch ersten Verfassung ausdrückt, genutzt, um deren Weiterentwicklung in einer Folge von aufeinander abgestimmten Rechtssatzformen darzustellen, die infolge der Stufenförmigkeit dieser ihrer Darstellung als Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung bekannt geworden ist. Diese Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung hat Kelsen erstmals in der 1. Auflage seines 1934 in Wien erschienenen Buches „Reine Rechts9  Insb: Merkl, Die Rechtseinheit des österreichischen Staates, eine staatsrechtliche Untersuchung auf Grund der Lehre von der lex posterior, AöR XXXVII  /  1 (1917), 56  ff. Neudruck in: Klecatsky  /  Marcic  /  Schambeck (Hrsg.), Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdroß I (2010), 913 ff.



Die Rechtslehre Hans Kelsens431

lehre“ vertreten, die aber, und dies sei mit aller Deutlichkeit betont, nicht original von ihm, sondern von seinem Schüler, meinem Lehrer Adolf ­Merkl, stammt, der diese Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung schon viele Jahre vorher entwickelt hatte. Sie kündigte Merkl bereits in seinen Abhandlungen 1917 „Das doppelte Rechtsantlitz“10 und 1918 „Das Recht im Lichte seiner Anwendung“11 an und führten sie 1931 in seinem Beitrag zur ersten Festschrift für Kelsen näher aus, in welcher Merkl den grundlegenden Beitrag über „Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues12 leistete. Dazu hatte Merkl in seinem klassisch gewordenen Werk „Allgemeines Verwaltungsrecht“ schon 1927 die Lehre vom rechtlichen Stufenbau in seinem Rechtssystem eingebaut13, ein Weg, auf dem ihm sein Lehrer Kelsen folgte. Mit der Übernahme der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung von Merkl durch Kelsen14 hat Kelsen15 seine Lehre dynamisiert und ihr in Bezug auf die Lebensnähe seiner Rechtstheorie überhaupt eine besondere Kraft verliehen. Mit der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung, wie sie Merkl entworfen und Kelsen in seine Reine Rechtslehre übernommen hat, soll der Zusammenhang der Rechtsnormen und mit ihnen ihrer Rechtssatzformen erklärt werden. Dieser Zusammenhang der Rechtsnormen und ihrer Formen erweist sich als eine systematische Aufeinanderfolge von ranghöheren zu rangniederen Normen, welche deshalb als stufenförmig bezeichnet werden kann, weil diese Normen in einem bedingenden / bedingten Zusammenhang stehen. Die ranghöhere Norm ist bedingend gegenüber der niederen Norm und diese bedingt durch die höhere sowie selbst bedingend gegenüber der ihr im Stufenbau der Rechtsordnung im Rang folgenden Norm. Nur die höchste Rechtsnorm, das Verfassungsrecht, hat keinen Zwei-, sondern Einfachcharakter; einen solchen einfachen Charakter hat auch die rangniedrigste Norm, nämlich der nur bedingte Vollstreckungsakt. 10  Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz, eine Betrachtung aus der Erkenntnistheorie des Rechts, JBl 1917, 425 ff., 444 ff. und 463 ff. (Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule I, 893 ff. 11  Merkl, Das Recht im Lichte seiner Anwendung, DRiZ 1918, 56 (Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule I, 955 ff.). 12  Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: Gesellschaft, Staat und Recht, Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre, Kelsen-FS (1931), 252 ff. (Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule II, 1071, ff.). 13  Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht (1927, Neudruck 1969), 157 ff. 14  Beachte auch Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatz (1923, Neudruck 1960). 15  Dazu Kelsen, Adolf Merkl zu seinem 70. Geburtstag am 23.3.1960, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht (ÖZöR) X (1960), 313 ff.

432

Die Rechtslehre Hans Kelsens

Als derartige Stufen im Bau der Rechtsordnung können die Verfassungsgesetze, die einfachen Gesetzte und die Verordnungen, als Aufeinanderfolge von generell abstrakten Normen genannt werden, welchen als individuell konkrete Normen die Verwaltungsakte sowie die Gerichtsurteile und hernach die Vollstreckungsakte folgen. In der stufenförmigen Aufeinanderfolge dieser Normen erweist sich ein Delegationszusammenhang, der jeden Rechtsakt in den Dienst der Verfassung stellt. In dieser Sicht steht auch jedes Rechtsorgan im Dienste der Verfassungskonkretisierung, nicht nur der Verfassungsrichter und andere Höchstrichter, sonder jeder Justizfunktionär und Verwaltungsbeamte. Die gesamte Rechtsordnung hat den Auftrag der Verfassung auszuführen, wobei dieser Weg der Vollziehung in Gerichtsbarkeit und Verwaltung sich als ein Vorgang permanenter Rechtsschöpfung erweist. Auf jede Stufe der Rechtsordnung ist stets ein neuer und weiterer Akt der Rechtskonkretisierung erforderlich, der deshalb auch in einem Instanzenzug eine entsprechende Rechtskontrolle verlangt, die in der Selbstkontrolle durch Verwaltungsinstanzen, der Kontrolle durch Zivil- und Strafgerichte oder durch Höchstgerichte einschließlich der Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit gegeben sein kann. Jeder Rechtsakt ist an seiner ranghöheren Norm und sie alle an dem Verfassungsrecht zu messen. Der Rang in diesem Stufenbau selbst bestimmt sich präzise nach seiner derogatorischen Kraft. Die ranghöhere Norm derogiert der rangniedrigeren Norm und innerhalb der selben Normhöhe die spätere Norm der früheren Norm. Es wäre aber falsch und unrichtig, nun meinen zu wollen, die gesamte Rechtsordnung wäre als ein Prozess der Verfassungskonkretisierung zu verstehen, der automatisch so abläuft, wie ein Apparat, in den man oben die Münze Verfassungsakt hineinwirft und unten kommt das Produkt Vollstreckungsakt heraus; das ist nicht der Fall. Die gesamte Vollziehung erweist sich als ein Akt der Rechtsschöpfung, der sich auf verschiedene Stufen mit unterschiedlichen Determinierungsgraden ereignet. In diesem Zusammenhang sei auf das sogenannte freie Ermessen und den unbestimmten Gesetzesbegriff verwiesen; es sei auch betont, dass sowohl eine Staatsregierung wie ein Exekutionsbeamter in der Vollstreckungsabteilung eines Gerichtes im Dienste der Verfassung stehen, nur, und das darf nicht übersehen werden, ist der Rahmen der Verantwortung innerhalb dieser Verfassungskonkretisierung von ranghöherer zu rangniedrigerer Stufe im Abnehmen begriffen und verschieden. Der Staat regelt die Erzeugung und Weiterentwicklung seines positiven Rechts selbst und dieses positive Recht kann nur zustande kommen, wenn jede Bedingung des in der Verfassung selbst vorgesehenen Erzeugungsprozesses eingehalten wird. Auf diesem Weg gelangt Kelsen zu seiner bekannten Lehre der Identität von Staat und Recht.



Die Rechtslehre Hans Kelsens433

IV. Die Geltung der Rechtsnorm Voraussetzung für die Ausübung dieser Funktionen der Normen des positiven Rechts ist die Geltung der Rechtsnorm.16 Gelten ist eine Form der Ordnung des sozialen Lebens, zu welchem der Staat und seine Rechtsordnung zählen. Geltung im weitesten Sinn ist in dreifacher Weise möglich, nämlich im juristischen, ethischen und soziologischen Sinn. Geltung im juristischen Sinn ist gegeben, wenn eine Norm des positiven Rechts in Kraft gesetzt wird; diese Geltung ist als die im engeren Sinn des Wortes zu verstehen. Geltung im ethischen Sinn zeigt sich in der Motivationskraft der Sittenordnung und kann als Verbindlichkeit bezeichnet werden, während Geltung im soziologischen Sinn die Wirksamkeit ist, mit der sich entweder die Geltung des positiven Rechts oder die Verbindlichkeit der Sittenordnung durchsetzt. Die Lehre von Kelsen bezieht sich auf die Geltung im Rechtssinn und drückt ein Sollen aus. Kelsen hat aber in dieser seiner Lehre genau zwischen dem Beginn der Geltung und ihrem Bestand unterschieden. Zum Inkrafttreten der Norm, also dem Ingeltungsetzen, ist der Rechtsakt des im Stufenbau der Rechtsordnung autorisierten Rechtssetzungsorganes, also ein Sollensvorgang, erforderlich, zum Bestand der Geltung bedarf es aber auch der Wirksamkeit, die, dass sei ergänzend zu Kelsen festgestellt, ein Seinsvorgang ist. Die Wirksamkeit der Norm besteht zum einen in der Anwendung der Norm durch die Normkonkretisierungsorgane, sie es durch die Organe der Gesetzgebung, oder durch die Organe der Vollziehung in Gerichtsbarkeit und Verwaltung, sowie andererseits im Rechtsgehorsam durch die Normadressaten. V. Naturrecht und positives Recht Die Lehre des positiven Rechts von Kelsen bezieht sich auf den normativen Bereich der geltenden Rechtsordnung. Alles nicht Normative, sei es religiös, philosophisch, ideologisch und weltanschaulich bedingt, wollte Kelsen ebenso ausgeschlossen wissen, wie alles Präpositive, womit vor allem das Naturrecht gemeint ist. Naturrecht und positives Recht erscheinen Kelsen unvereinbar, sie liegen im Gegensatz von Sein und Sollen, von materialem und formalem Geltungsprinzip und von absoluter und relativer Geltung. 16  Vgl. Schambeck, Ordnung und Geltung, ÖZöR XI (1961), 470 ff. sowie Walter, Wirksamkeit und Geltung, ÖZöR XI (1961), 531 ff.

434

Die Rechtslehre Hans Kelsens

Kelsen hat das positive Recht und das Naturrecht in einem Nebeneinander gesehen und eine Verbindung als unmöglich erklärt. Kelsens Hörer und späterer Kollege Merkl scheint bei dieser Betrachtung von Naturrecht und positivem Recht dem Weg Kelsens nicht gefolgt zu sein, denn schon 1918 stellt er in seiner unter dem Titel „Das doppelte Rechtsantlitz“ veröffentlichten Betrachtung aus der Erkenntnistheorie des Rechts fest: „Eine Art naturrechtlicher Wurzel fehlt keiner wie immer konstruierten Rechtsordnung. Auch hat wohl jeder positive Rechtssatz einmal das Stadium naturrechtlicher Normativität passiert. Der Vorwurf der Naturrechtlerei ist dort nicht am Platze, wo erst die Grundsteine des Rechtsgebäudes gelegt werden sollen“.17 Kelsen hat zwar zugegeben18, dass das Naturrecht seiner Konkretisierung bedarf, hat sich aber ein Nacheinander von Naturrecht und positivem Recht nicht vorstellen können. Die Lehre Kelsens bleibt im normativen Sollensbereich des positiven Rechts verhaftet, wobei die Seinstatsachen der Setzung und der Wirksamkeit von ihm nur als Stützen des Sollens, nämlich als Voraussetzung und Folge der jeweiligen Geltung angesehen werden, ohne sich damit näher und ausführlicher zu beschäftigen. Sonst hätte Kelsen zugeben müssen, dass Sein und Sollen wechselseitige Bedingungen sind, die sich auf allen Ebene des sogenannten rechtlichen Stufenbauers wiederholen. Da Kelsen den Bestand der Geltung einer Norm des positiven Rechts von der Wirksamkeit, diese wieder auch von ihrer Befolgung durch den Normal­ adressaten abhängig macht, kann angenommen werden, dass über diesen erforderlichen Rechtsgehorsam die Ethik für die Dauerhaftigkeit der Geltung des positiven Rechts von Bedeutung sein kann. Kelsen hat sich dazu nicht näher geäußert, wenngleich er für die Begründung seines Begriffes des positiven Rechts einer Norm bedarf, die transzendental ist. Kelsen ist es um rechtliche Werte und um das rechtliche Sollen, nicht aber um metarechtliche Werte und metarechtliche Sollen gegangen; sein Anliegen war nicht ein solches des Rechtsinhaltes, sondern des Rechtsweges. Die Reine Rechtslehre Kelsens war daher wertrelativistisch ausgerichtet. Kelsen bemühte sich, eine wertfreie Rechtslehre zu vertreten, von welcher er annahm, sie würde insofern einen Beitrag zum Liberalismus darstellen, als sie den Staat einer Beschränkung unterzieht, zwar nicht ihrem Inhalt, wohl aber ihrer Form nach. Kelsen hat nämlich das Handeln des Staates an die ausschließliche Form des positiven Rechts gebunden. 17  Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz, Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, 910; Merkl scheint den Begriff des Naturrechts hier im weitesten Sinn für alles Präpositive gebraucht zu haben. 18  Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, 15, Neudruck 238.



Die Rechtslehre Hans Kelsens435

Der Vorteil dieser Bindung des Staates an das positive Recht nach der Rechtslehre von Kelsen liegt in der Notwendigkeit der Verrechtlichung der Staatsordnung, was sich in dem System des österreichischen B-VG 1920, das heute noch in der Fassung der Novelle 1929 gilt, besonders verdeutlicht. Von den vielen Rechtsschutzeinrichtungen, die Kelsen geprägt hat, sei die österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit genannt, die mit ihrer Normenkontrolle ein wegweisendes Vorbild für viele andere Staaten geworden ist und von Kelsen als sein „liebstes Kind“ in der Rechtswissenschaft bezeichnet worden ist. Es zählt zu den Grenzen und tragischen Momenten der Rechtslehre von Kelsen, was Merkl schon feststellte, dass der Rechtspolitiker Kelsen zwar liberal gesinnt war, der Rechtstheoretiker Kelsen „allen Rechtsinhalten und damit alles politischen Wertlehren Raum“19 gab. VI. Die Demokratie und der politische Relativismus Kelsen hatte seine Rechtslehre nur auf die Rechtswege, nicht aber auch auf die Rechtsinhalte bezogen, die Folge war ein Rechtsstaatsideal, das sich als Rechtswegestaat erwies, dem die Form des positiven Rechts unabhängig von seinem Inhalt wesentlich war. Deshalb war auch ein materieller Unrechtsstaat auf den Wegen des formellen Rechtsstaates denkbar und ausführbar. Auf seinem Lebensweg hatte Kelsen vor diesem Staat die Flucht ergriffen, die 1940 von Europa weg nach den USA führte, wo er später in Berkeley nicht an der Rechtsfakultät, sondern in dem Department of political science einen Lehrstuhl für politische Wissenschaften innehatte, also für ein nicht ausschließlich auf den normativen Bereich des positiven Rechts bezogenes Fachgebiet. Es wäre falsch, anzunehmen, Kelsen hätte die Moral nicht wahrgenommen; er tat dies wohl, hat sie aber in seiner Rechtslehre außerhalb des normativen Bereiches gehalten und nicht zum Gegenstand seiner wissenschaftlichen Arbeit zum Rechtsleben gemacht, die er nur auf das positive Recht beschränkte. Beachtet man die Erklärung Kelsens, kann seine Rechtslehre mit ihrer Beschränkung auf den normativen Bereich des Rechts geradezu als eine Verdeutlichung der Möglichkeiten und Grenzen der Positivität des Rechts bezeichnet werden, welche eine ethische Ergänzung nicht ausschließt. Bemerkenswert hat schon Merkl zum 80. Geburtstag Kelsens in seiner Abhandlung „Reine Rechtslehre und Moralordnung“ in Bezug auf das positive Rechte erklärt: „Weil dieses aber als allzu menschliche Einrichtung zwi19  Merkl, Zum 80. Geburtstag Hans Kelsens – Reine Rechtslehre und Moralordnung, ÖZöR (1961), 298.

436

Die Rechtslehre Hans Kelsens

schen dem Versuch und der Karikatur der Gerechtigkeit schwankt, bedarf die Rechtstheorie der Ergänzung durch seine Rechtsethik“.20 Merkl hat sich daher auch später für seine Ergänzung der Rechtsformenlehre durch eine Rechtsinhaltsbetrachtung ausgesprochen. Es liegt tatsächlich an jedem Einzelmenschen, das Seine dazu beizutragen, dass ein Wertdenken, möge es in einem präpositiven Naturrecht oder einem Gewissensanspruch der Moral begründet sein, die Setzung und Vollziehung des positiven Rechts beeinflusst. Die Entscheidung liegt beim Einzelnen, der Objekt und Subjekt des positiven Rechts ist. Auch die Entwicklung zur Demokratie, welchen Charakter immer sie annimmt, hat dies nicht leichter, sondern schwerer gemacht. Kelsen wusste dies und hat in seiner vor mehr als sechzig Jahren erschienenen, sehr lesenswerten Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ die Demokratie als den Ausdruck des politischen Relativismus bezeichnet und zu Abschluss seiner Betrachtungen über die Demokratie, welche ja das politische System ist, in dem sich seine Rechtslehre heute zu bewähren hat, obgleich er kein gläubiger, sondern mehr ein Agnostiker war, auf das 18. Kapitel des Johannesevangeliums verwiesen – eine Stelle der Heiligen Schrift, die heute nicht unaktuell ist; an dieser Stelle berichtet der Evangelist, dass zur Zeit des Osterfestes Pilatus, der römische Statthalter, das Volk fragte, wen sie frei haben wollten: Jesus oder Barabas. Das Volk aber schrie: Barabas. Kelsen zitierte dazu den Evangelisten: und „Barabas war ein Räuber“.21 Mit dieser abschließend zitierten Stelle aus dem Schrifttum Kelsens ersehen wir, dass Kelsen sich neben dem Streben um die Reinheit seiner Rechtslehre im Sinne normativer Geschlossenheit des positiven Rechts der Relativität der Setzung und Vollziehung des positiven Rechts im Hinblick auf außerrechtliche Werte bewusst war. Geht man daher über den Bereich seiner Rechtslehre hinaus, um ihre Möglichkeiten und Grenzen zu erkennen und bezieht man das übrige Schrifttum Kelsens in die Beurteilung seines Denkens mit ein, kann man erkennen, und dies war auch Anliegen meines Vortrages, dass Kelsen klar und deutlich die Möglichkeiten und Grenzen des positiven Rechtes in normativer Sicht aufgedeckt und so die entscheidende Voraussetzung geboten hat, das Wissen um das positive Recht mit dem Gewissen um seine Anwendung zu verbinden.

20  Merkl,

21  Kelsen,

Reine Rechtslehre und Moralordnung, 313. Vom Wesen und Wert der Demokratie (1929), 104.

Ethik und Demokratie bei Adolf Merkl* „Kaum einer, der sich zur Reinen Rechtslehre jemals bekannt hat, ist ihrer methodischen Grunderkenntnis abtrünnig geworden. Nur ein anderweitiger Dienst am Recht hat bei nicht wenigen den Dienst an der Reinen Rechtslehre unter Festhalten ihrer unverlierbaren Erkenntnisse in den Hintergrund gedrängt, denn sie kann und will den Dienst am Recht, ja selbst die Erkenntnisaufgaben am Recht nicht erschöpfen. Ihr Hauptverdienst besteht ja gerade darin, daß sie die Anmaßung der überlieferten Rechtswissenschaft, in einem das reale und das ideale Recht zu erkennen, Jurisprudenz, Politik und Ethik zu bieten, zurückgewiesen und entkräftet hat.“ Diese bekenntnishafte Feststellung hat Merkl zum 80. Geburtstag Kelsens in einer seiner letzten veröffentlichten Abhandlungen getroffen, die den Titel „Reine Rechtslehre und Moralordnung“1 trägt und zu jener Thematik hinführt, die mit Gedanken über „Ethik und Demokratie bei Adolf Merkl“ dieses Merkl gewidmete Gedächtnissymposion abzurunden vermag. I. Recht und Moral Merkl waren der Unterschied, die grundsätzliche Eigenständigkeit, aber auch die möglichen Beziehungen von Recht und Moral bewußt. „Recht und Moral“, schrieb Merkl, „haben möglicherweise und im größten Umfang dieselben Adressaten: Sie fordern aber nicht dasselbe, sondern im größten Umfang verschiedenes Verhalten derselben Person. Schematisch ausgedrückt, verhalten sich Recht und Moral wie zwei einander schneidende Kreise; so ergeben sich Bereiche identischer und unterschiedlicher Forderungen der beiden normsetzenden Autoritäten an die Adresse desselben Menschen, von denen freilich nur jeweils eine als geltend anerkannt werden kann. *  Vortrag, gehalten am 23.3.1980 bei dem Internationalen Symposion des Hans Kelsen-Instituts „Adolf Merkl – Werk und Wirksamkeit“ in Wien. Erschienen in: Adolf J. Merkl – Werk und Wirksamkeit. Ergebnisse eines Internationalen Symposions in Wien (22.–23. März 1990), hrsg. von Robert Walter (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Band 14), Wien 1990, S. 267 ff. 1  Merkl, Zum 80. Geburtstag Hans Kelsens. Reine Rechtslehre und Moralordnung, ZÖR XI (1961) 294 f. (Nr. 442).

438

Ethik und Demokratie bei Adolf Merkl

„Wie der Mensch trägt auch die menschliche Gemeinschaft Staat die beiden Möglichkeiten in sich, sittlich oder, was dasselbe ist, moralisch und amoralisch zu wollen und zu handeln.“2 Diese im Alter von über 70 Jahren von Merkl getroffene literarische Äußerung war das Ergebnis einer leidvollen Lebenserfahrung und begründeten Wissenschaftserkenntnis. Auf dem Weg seines Lebens hatte Merkl Gelegenheit, das Nationalitätenproblem, den Mißbrauch des kaiserlichen Notverordnungsrechts zur Ausschaltung des Reichsrates, später die Selbstausschaltung des Nationalrates und die verfassungswidrig zustandegekommene ständischautoritäre Verfassung Österreichs sowie die Besetzung Österreichs mitzuerleben und mußte persönlich die Verfolgung durch das NS-Regime und nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs die in völkerrechtswidriger Weise erfolgte Ermordung seines Schwagers in der Kriegsgefangenschaft durch einen Siegerstaat verkraften. Neben diesen Zeiterlebnissen waren es auch Betrachtungen der Geschichte von Staaten und Menschen, die ihn veranlaßten, dem öffentlichen Leben ethische Maßstäbe der Beurteilung anzulegen. Dies zeigt sich im Lebenswerk Merkls besonders deutlich nach 1945. Er, der sich in seinem Schaffen bis zum Zweiten Weltkrieg vor allem mit Fragen der Rechtsformen, gestützt auf die Grundlagen der Reinen Rechtslehre, beschäftigte, wofür als Beispiel etwa seine Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung anzuführen ist, wendete sich nun auch mit rechtsethischen Problemen der Betrachtung des Rechtsinhalts zu. In seinem Brief an Kelsen vom 7. Mai 1956 schrieb Merkl selbst, daß ihm nun „durch die Erfahrungen des christlichständischen Staates, des Dritten Reiches und auch der erneuerten demokratischen Republik die Entstehung der Gesetzesrechtslage gegenüber einer idealen Gesellschaftsordnung ungleich wichtiger … als die reine Realisierung des positiven Rechts auf dem Wege der Vollziehung“ schien.3 In diesem Brief an Kelsen spricht Merkl selbst von einer „methodisch und inhaltlich gewandelten wissenschaftlichen Haltung“.4 Dies zeigte sich in der Folge auch in seinen Lehrveranstaltungen und Publikationen. So widmete er ab dem Sommersemester 1955 bis zu seiner Emeritierung mit Wintersemester 1962 / 1963 das staatsrechtliche Seminar dem Problemkreis „Freiheit und Gerechtigkeit“. Im Hinblick auf diese nachweisbare Entwicklung hat Korinek erst kürzlich in der Besprechung des verdienstvollen Buches von Grussmann über „Adolf Julius ­Merkl – Leben und Werk“ hervorgehoben: „Bei der Lektüre des Beitrags wird auch deutlich, wie sich Merkl im Laufe seiner wissenschaftlichen Arbeit vom strikten Positivismus der Reinen Rechtslehre entfernt und nach 2  Nr. 442,

299. Merkls an Kelsen vom 7. Mai 1956, Nachlaß Mappe VIII; siehe auch Grussmann, Adolf, Julius Merkl – Leben und Werk (Schriftenreihe des Hans KelsenInstituts XIII, 1989) 44 f. 4  Fn. 3. 3  Brief



Ethik und Demokratie bei Adolf Merkl439

Ansicht des Rezensenten die Grundlage für die heute in der österreichischen Staatsrechtslehre und der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes herrschende methodische Position eines wertorientierten gemäßigten Positivismus gelegt hat …“.5 Von den nahezu fünfhundert Publikationen hat Merkl viele Arbeiten nach 1945 auch rechtsethischen Fragen gewidmet; es seien in diesem Zusammenhang z. B. in Erinnerung gerufen: 1950: Unvergängliches Freiheits-Erbgut, Festschrift für Heinrich Klang zum 75. Geburtstag, 14. Tragödie des Gehorsams, Stuttgarter Zeitung vom 20. Jan. 1950, 3. 1951: Neue Naturrechtssysteme im heutigen Deutschland als Krise des gesatzten Rechts, Juristische Blätter 1951, 60 (Vortrag vor der Wiener Juristischen Gesellschaft) 1953: Idee und Gestalt der politischen Freiheit, Festschrift für Zaccharia Giacometti, 163. Einheit oder Vielheit des Naturrechts, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht V, 1953, 257. 1955: Die politische Freiheit als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis, Anzeige der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Nr. 21, 285. 1957: Gerechtigkeit und Staat als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis, Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Nr. 22, 1957, 353. 1961: Das Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt im Lichte christlicher Ethik, in: Naturordnung in Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Festschrift für Johannes Messner, 1961, 467 und vor allem sein grundlegender, bereits einleitend zitierter Beitrag in der Festnummer der Österreichischen Zeitschrift für öffentliches Recht „Zum 80. Geburtstag Hans Kelsens. Reine Rechtslehre und Moralordnung“. In der zuletzt genannten Abhandlung stellte Merkl bekenntnishaft für seinen wissenschaftlichen Standort fest: „Die Reine Rechtslehre ist gerade in ihrem Verdammungsurteil gegen Einmengungen aus anderen normativen und explikativen Wissenschaften eine theoretische Notwendigkeit, ein Durchbruch zum Recht. Weil dieses aber als allzu menschliche Einrichtung zwischen dem Versuch und der Karikatur der Gerechtigkeit schwankt, bedarf die Rechtstheorie der Ergänzung durch eine Rechtsethik“.6 5  Korinek, Besprechung von Grussmann, Adolf Julus Merkl – Leben und Werk, ZfV 1990, 23. 6  Nr. 442, 313.

440

Ethik und Demokratie bei Adolf Merkl

Merkl wußte um die Bedeutung dieser Feststellung und die Problematik dieser Normbereiche, denn in der gleichen Abhandlung bemerkte er: „Gewiß sind die Kennzeichen der ethischen Normativität noch umstrittener als die der juristischen. Ebenso gewiß ist aber der Erkenntnisgegenstand der Ethik, genauer: die Vorstellung des moralisch Gesollten, wie die obigen Beispiele amoralischen Gehorsams gezeigt haben, das ‚regulative Prinzip‘ und somit, wenn auch in wechselndem Maß, die letzte Quelle des positiven Rechtes“.7 Selbstverständlich wurde in diesem Zusammenhang auch das Widerstandsrecht ein besonderes Anliegen in der wissenschaftlichen Arbeit Merkls, mit diesen und anderen rechtsethischen Fragen beschäftigte sich Merkl ansatzweise schon vor dem Zweiten Weltkrieg.8 In einer umfassenden Betrachtung könnte man sagen, daß Merkl trotz seiner erfolgreichen Mitarbeit an der Reinen Rechtslehre, die er mit seiner Lehre vom rechtlichen Stufenbau dynamisiert und komplettiert hat, stets auch den präpositiven Bezug des positiven Rechts im Auge behalten hat. Schon in seiner ersten Abhandlung, einer Besprechung des Buches von Jung „Das Problem des natürlichen Rechts“, die 1915 in der Zeitschrift für öffentliches Recht erschienen ist, gelangte Merkl „zur grundsätzlichen Feststellung der Berechtigung und Notwendigkeit beider Erscheinungsformen des Rechts“ und schrieb dem natürlichen Recht die „Mission“ zu, ständiges „regulatives Prinzip des positiven Rechts zu sein“.9 Zeitlebens hat Merkl diesen Standpunkt nicht geändert, denn 1952 betonte er in seinem selbstbiographischen Beitrag zu dem von Nikolaus Grass als 97. Band der Schlern-Schriften herausgegebenen Buch „Österreichische Rechts- und Staatswissenschaften der Gegenwart in Selbstdarstellung“, daß diese Aussage, „obwohl bereits 35 Jahre zurückliegend, als noch heute für mich gültiges Bekenntnis zum Positivismus verstanden werden“10 kann. Auch 1952 hob Merkl hervor: „Das bedeutet, daß der staatliche Befehl seine verpflichtende Kraft nicht aus seinem Ursprung, sondern aus seiner Übereinstimmung mit der Idee des Rechts empfängt.“11 Ähnliche Äußerungen von Merkl finden sich in anderen für sein Rechtsdenken grundlegenden Studien. So erklärte er 1918 in seiner berühmt gewordenen Abhandlung „Das doppelte Rechtsantlitz. Eine Betrachtung aus der Erkenntnistheorie des Rechts“: „Eine Art naturrechtliche Wurzel fehlt 7  Nr. 442,

313. die chronologische und systematische Bibliographie der Werke Merkls bei Grussmann (FN 3) 53 ff. und 94 ff. 9  Nr. 1, 578. 10  Nr. 377, 139. 11  Nr. 377, 139. 8  Siehe



Ethik und Demokratie bei Adolf Merkl441

keiner wie immer konstruierten Rechtsordnung. Auch hat wohl jeder positive Rechtssatz einmal das Stadium naturrechtlicher Normativität passiert; der Vorwurf der ‚Naturrechtlerei‘ ist dort nicht am Platze, wo erst die Grundsteine des Rechtsgebäudes gelegt werden sollen“.12 Fünf Jahre später schreibt er in seinem Buch „Die Lehre von der Rechtskraft“: „Soll das Chaos von Rechtsgestalten als eine Summe zusammengehöriger Erscheinungen, mit einem Wort, als Rechtssystem, als ein rechtlicher Kosmos gedeutet werden können, dann muß es vielmehr als Ausfluß eines gemeinsamen Ursprungs erkannt werden. Die eine Ursprungsnorm ist nicht anders als die Summe der von ihr abgeleiteten Normen eine rechtliche Gegebenheit, die nur dadurch den Schein der Irrealität annimmt, daß sie nie und nirgends die äußeren Formen des positiven Rechts teilt, insbesondere niemals als sogenanntes geschriebenes Recht auftritt.“13 Man geht sicherlich nicht fehl, wenn man bei einer Gesamtschau des Lebenswerkes von Merkl zum Ergebnis gelangt, daß er sich mit zunehmendem Alter, ausgehend von einzelnen beachtenswerten Ansätzen schon in frühen Arbeiten neben seiner Rechtsformenlehre immer mehr auch um eine Rechtsinhaltsbetrachtung bemühte, er sich also über die Darstellung des Rechtswegestaates hinaus, Gedanken um die Zwecke und Ziele des Staates und seines Rechtes machte. In diesem Zusammenhang verweise ich auf seine 1919 erschienene Arbeit „Staatszweck und öffentliches Interesse“14 und die darauf aufbauenden Ausführungen über den Mehrzweckestaat unserer Zeit in seiner schon eingangs zitierten Abhandlung aus 1961 über „Reine Rechtslehre und Moralordnung“, in der er auch feststellte: „Diese Rechtsentwicklung hat den Dienst der öffentlichen Hand für Kultur und Wohlfahrt trotz Verdammungsurteils unbelehrter Liberaler ermöglicht“.15 II. Entwicklungen, Möglichkeiten und Grenzen der Demokratie Diese von Merkl angesprochene Rechtsentwicklung war gleichzeitig auch ein Ergebnis der Entwicklung der Demokratie. Sie hatte Merkl auch selbst innerlich engagiert miterlebt. Schon in seiner Jugend hatte Merkl ein waches politisches Interesse. Später betonte er, daß ihn schon als Schüler der Weg ins Parlament führte, wo er fast ein Stammgast auf der Abgeordnetenhausgalerie wurde.16 Auch später ging er gerne zu Sitzungen der Nationalver12  Nr. 31a,

13  Nr. 133, 14  Nr. 46.

15  Nr. 442, 16  Nr. 377,

29. 210. 303. 137.

442

Ethik und Demokratie bei Adolf Merkl

sammlung und amüsierte sich, wenn er manchen bei seinem Erscheinen sagen hörte, es käme nun das doppelte Rechtsantlitz. Möglichkeiten und Grenzen der Demokratie waren Merkl wohl stets bewußt und ein Anliegen; der Bogen seiner Gedanken hierzu reichte etwa von seiner Studie über „Die gedanklichen Grundlagen der Forderung einer demokratischen Verwaltung“, 192017 erschienen, bis zu seiner von mir aus seinem Nachlaß in der Festschrift für Verdroß zum 80. Geburtstag 1971 veröffentlichten Studie „Die Zukunft der Demokratie – Hoffnung oder Verhängnis?“.18 In der Demokratie sah Merkl die Zielsetzung, „die Idee der politischen Freiheit für die Masse des Volkes in die Tat umzusetzen“.19 Immer wieder betonte Merkl, daß die Demokratie eine politische Bildungs- und Erziehungsarbeit voraussetze, soll die politische Freiheit nicht verlorengehen.20 In seinen Publikationen verwies er auf das Erfordernis der Toleranz in der Demokratie und legte für die Willensbildung in der Demokratie den Weg des Kompromisses nahe.21 In seinem Beitrag zur Giacometti-Festschrift bekräftigte er, „daß die Demokratie ihrem Wortsinn als Herrschaft aller über alle Bürger niemals rein verwirklicht werden kann, daß sie sich immer als Abschlagszahlung der Wirklichkeit an ihre Idee darstellt“.22 Im Hinblick auf die mittelbare Demokratie hebt Merkl hervor: Es „herrscht … nur eine verschwindend kleine Minderheit des Aktivvolkes, im Falle starker Herabminderung des Anwesenheitserfordernisses für Abstimmungen des Vertretungskörpers sogar nur eine verhältnismäßig kleine Minderheit der Volksvertretung; so wenn die österreichische Bundesverfassung für einfache Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates die Anwesenheit eines Drittels der Mitglieder und die Zustimmung der einfachen Mehrheit der jeweils anwesenden Mitglieder genügen läßt“.23 Merkl verdeutlichte schon bald auch die Grenzen der Demokratie, etwa, wenn er in bezug auf die Forderung nach einer demokratischen Verwaltung erkannte: „Wird nicht vielmehr das demokratische Prinzip, das in der Organisation der Gesetzgebung zum Ausdruck kommt, durch eine in gleicher Weise demokratisch zusammengesetzte Verwaltung entkräftet? Es ist eine 17  Nr. 51.

18  Nr. 471. 19  Nr. 471,

271. Merkl, die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs. Ein kritisch-systematischer Grundriß (1935) 3 f (Nr. 297). 21  Nr. 471, 274. 22  Nr. 381, 193. 23  Nr. 381, 169. 20  Siehe



Ethik und Demokratie bei Adolf Merkl443

wichtige Erkenntnis Professor Hans Kelsens, daß die Kumulierung des demokratischen Prinzips in Gesetzgebung und Verwaltung seine Paralysierung, wenn nicht gar seine Negierung bedeutet“.24 Für Merkl bedeutete Demokratie „Herrschaft des Volkes, also eine Form der Herrschaft, die eine Betätigung des Willens und naturgemäß eine möglichst ungehemmte Betätigung des Willens. Die Verwaltung aber ist eine Funktion des Staates, die sich im Rahmen der Gesetze, richtiger auf Grund der Gesetze, also nicht frei, sondern gebunden vollziehen soll. Sie ist gedanklich weniger die Betätigung des eigenen Willens als die Vollziehung eines fremden Willens, weniger Herrschaft als Gehorsam, Dienst im Sinne eines Herrschenden, der im Staate die Gesetzgebung ist“.25 Mit Kelsen sprach sich daher Merkl gegen eine demokratische Verwaltung und für eine autokratische Verwaltung aus, was in bezug auf die von den Sozialisten ständig verlangte Demokratisierung der Bezirksverwaltung nicht ohne Bedeutung geblieben ist. Im Zusammenhang mit dieser demokratiepolitischen Frage drückte Merkl eine Erkenntnis der politischen Ethik von allgemeiner Bedeutung aus, wenn er im Zusammenhang mit der Parlamentsmüdigkeit feststellte: „Es bestätigt sich eben auch auf dem Gebiete der Politik die allgemein menschliche Erfahrung, daß Erstreben mehr befriedigt als Besitzen, daß die Körnung des Kampfes durch den Sieg zugleich der Beginn vom Abstieg ist. Wie haben sich ehrliche Demokraten auf den Zeitpunkt gefreut, wo das Volk mit den Werkzeugen des Parlaments und der Regierung Herr seiner selbst werden würde, doch zeigte sich, als dieser Zeitpunkt gekommen war, nur zu bald, daß die Freude verfrüht, wenn nicht gar unangebracht gewesen war; man konnte des Besitzes nicht recht froh werden! … Politische Ziele sind bekanntlich schon im allgemeinen trügerisch und halten selten, was sie versprochen haben. … Sehr begreiflich, daß man unter diesen Umständen eine Ablenkung suchte, nach rettenden Gedanken Ausschau hielt, der die Massen den radikalen demokratischen Parteien erhalten könnte, mochte dieser Zweck auch nur durch das Mittel einer Diskreditierung so wahrhaft demokratischer Einrichtungen, wie es ein demokratisches Parlament oder eine demokratische Regierung ist, erreichbar sein.26 Merkl hat den weiteren Weg des österreichischen Parlamentarismus mit der Selbstausschaltung des Nationalrates erlebt und das Vorgehen von Dollfuß mit dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit gegeißelt. Merkl wurde in dieser Zeit kritisiert und nach 1938 vom NS-Regime eliminiert. Er hob die pervertierte Form dieses Staates hervor, der auf Kosten der Freiheit und Würde des Menschen die Grundrechte als einen Aufstand des Egoismus 24  Nr.  51,

525 f. 526. 26  Nr.  51, 512 f. 25  Nr. 51,

444

Ethik und Demokratie bei Adolf Merkl

gegen die Volksgemeinschaft bezeichnete. Für Merkl waren dies Zeiten, in denen es, nach seinem oft gebrauchten Zitat, ehrenwerter sein kann, durch den Staat, als für den Staat zu sterben. Als Merkl, der erste Märzgefallene des Jahres 1938 seiner Fakultät, als letzter 1950 zurückkehrte, fand er eine auf Koalition beruhende Parteienstaatlichkeit vor, die er grundsätzlich bejahte, aber deren Proporz er als mit dem Gleichheitsgrundsatz ebenso unvereinbar ansah, wie den Klubzwang mit dem freien Mandat.27 Was die Rechtssituation der politischen Parteien betrifft – die erst 1975 im Parteiengesetz28 und auch dann noch unzulänglich rechtlich geregelt wurden29 –, schien ihm „die Fixierung der politischen Parteien innerhalb der Rechtsordnung … zufällig und unzulässig. Über ihre grundsätzlichen Aufgaben schweigt der Gesetzgeber“, schreibt Merkl 1959.30 Für ihn „besitzen sie eine zwischen Gesellschaft und Staat vermittelnde Stellung. Dem Gesetzgeber steht es frei, die politischen Parteien als der Gesellschaft zuzurechnende Vereine oder als Staatsorgane einzurichten“.31 Merkl anerkannte die großen Leistungen, welche die politischen Parteien, beginnend mit der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945, erbracht hatten. Merkl erklärte: „Gerade wegen dieser großen Leistungen haben die Parteien die moralische und rechtliche Pflicht, die Staatsverfassung als die Grundordnung der Demokratie anzuerkennen. Demokratie ist nur möglich, wenn man bereit ist, auf Machtüberschreitung zu verzichten. Nur wenn man die rechtlichen Grundlagen der Demokratie achtet, kann man ihre ideellen Grundlagen und ihren moralischen Kredit unversehrt erhalten“.32 Merkl hat die ideellen Grundlagen der Demokratie vielleicht auch deshalb so sehr betont, weil er den Relativismus als „den bemerkenswertesten Zug“ der Demokratie erkannte. Merkl hat dies, gleich Kelsen in dessen Schrift „Vom Wesen und Werk der Demokratie“,33 in seiner Publikation „Demokratie und Verwaltung“, 1923,34 betont. Für die Demokratie sah Merkl bereits 1923 zwei Gefahren, bzw. bei einer Betrachtung nach Aristoteles müßte man sagen, Entartungen. Er meinte, 27  Dazu Merkl, das Unbehagen im Parteienstaat. Die Antwort der Verfassung, Forum 1959, 50 (Nr. 430). 28  BGB1 1975 / 404. 29  Dazu näher Schambeck, Die Stellung der politischen Parteien nach österreichischem Verfassungsrecht, in: Form und Erfahrung, ein Leben für die Demokratie, FS Hermens zum 70. Geburtstag (1976) 60 (66 ff.). 30  Nr. 430, 50. 31  Nr. 430, 50. 32  Nr. 430, 52. 33  Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie2 (1929) 103. 34  Nr. 132, 10.



Ethik und Demokratie bei Adolf Merkl445

beide entsprüngen dem Parteiwesen: „Die Gefahr einer Parteidiktatur und die Gefahr eines parteimäßig orientierten ‚Richterkönigtums‘, das jeden einzelnen Fall dem Parteiinteresse unterstellt. … Als Garantie gegen die Parteityrannei im Einzelfall erweist sich“ für Merkl „das zwar parteimäßig erzeugte, aber zur Anwendung im Einzelfall eben jener Bürokratie überantwortete Gesetz. Die harmonischeste Lösung des Organisationsproblemes der Demokratie ist wohl angedeutet durch die Forderung einer parteipolitisch orientierten Gesetzgebung und einer parteipolitisch neutralisierten Justiz und Verwaltung. Die Demokratie kann dadurch nur gewinnen, wenn sie Erscheinungen, die ihr zwar den Charakter geben, nicht überwuchern läßt“.35 Gerade diese Ausführungen Merkls zeigen, daß er die Demokratie nicht, wie heute oft vielfach feststell- und erlebbar, isoliert und ideologisiert sieht, sondern immer im Hinblick auf das Ganze des Staates und das Wohl des Volkes. III. Die Verantwortung in der Demokratie Man mag sich nun vielleicht abschließend fragen, ob sich dieses politische Denken Merkls, das über die Rechtsformbetrachtung hinausreicht und sich auch mit den Staatszielen und Rechtsinhalten beschäftigt, in Widerspruch zu seiner früheren, mehr formalen rechtswissenschaftlichen Einstellung befindet. Diese wohl verständliche Frage wäre aber zu verneinen. Merkl selbst hat in seiner 1961 zum 80. Geburtstag von Kelsen erschienenen Abhandlung „Reine Rechtslehre und Moralordnung“ darauf eine Antwort gegeben, als er festhielt: „Der konkrete moralische Wert eines Staates ergibt sich nur unter der Voraussetzung eines eindeutig feststehenden Kriteriums der Staatsmoral, aus einer Analyse aller Stufen der staatlichen Rechtsordnung und damit zugleich aus der im ständigen Fluß befindlichen Summe aller staatlichen Verhaltensweisen … Der Stufenbau des Rechtes bringt die Möglichkeit mit sich, dass sich der Widerspruch von Recht und Moral erst auf einer abgeleiteten (niedrigeren) Stufe des Rechtsgebäudes einstellt und mit dem Abstieg auf die jeweils niedrigere Rechtsstufe gleich bleibt oder verstärkt. Dagegen ist es ausgeschlossen, daß ein auf einer höheren Rechtsstufe auftretender Widerspruch in einer weiteren Stufenfolge sich abschwächt oder aufgehoben wird. Dieser Sachverhalt erklärt sich daraus, daß das Recht auf den höheren Stufen, namentlich auf den Stufen der Staatsverfassung, in der Regel moralisch neutral ist, jedoch durch die inhaltliche Erfüllung des ursprünglichen Leer35  Nr. 132,

92.

446

Ethik und Demokratie bei Adolf Merkl

raums mittels der Gesetze, Verordnungen und der Individualakte der Justiz und Verwaltung unter den zahlreichen theoretisch möglichen solche, sei es nun generelle oder individuelle, Entscheidungen trifft, die mit den Forderungen der Moralordnung nicht vereinbar sind“.36 Mit diesen seinen Gedanken über Reine Rechtslehre und Moralordnung hat Merkl auch die Verantwortung in der Demokratie verdeutlicht und gezeigt, daß auf jeder Stufe der Rechtsordnung der Anspruch der Ethik besteht, der in einer Rechtsform Rechtsinhalt werden kann, aber nicht muß; ob dies geschieht, ist eine Frage des Gewissens, was aber letztlich den normativen Bereich überschreitet. Diesen Gewissensanspruch hat Merkl auch besonders an die Demokratie gerichtet, denn seine Abhandlung „Zukunft der Demokratie – Hoffnung oder Verhängnis?“ endet mit den mahnenden Worten, die auch heute an Bedeutung nichts verloren haben: „Nur eine Demokratie, die in allen wesentlichen Fragen den Wertungen einer Aristokratie, und zwar nicht einer Geburts- oder Geldaristokratie, sondern Geistesaristokratie Raum gibt, ist positiv zu bewerten und sichert dem Volk das Schritthalten in der Konkurrenz der Kulturvölker und die Bewährungsprobe im Urteil der Geschichte“.37

36  Nr.  442, 37  Nr. 471,

300 f. 292.

Johannes Messner und die Bedeutung seiner Lehre von Recht und Staat* Das Gedenken einer Persönlichkeit gibt Gelegenheit zum Bedanken und zum Bedenken seiner Gedanken. Wir führen so einen Dialog und sollten diesen so führen wie Donato Squicciarini sein Buch betitelte: „Dialog in Wahrheit und Liebe“.1 Der 110. Geburtstag von Johannes Messner ist ein solcher Anlaß hiezu und er ist in dieser Weise ein willkommener. Er ereignet sich nämlich zur Zeitenwende auf das 3. Jahrtausend nach Christi Geburt; Papst Johannes Paul II. hat zu Beginn dieses neuen Jahrhunderts kürzlich am 6. Januar d. J. sein Apostolisches Schreiben „Novo Millennio Ineunte“ erlassen und in diesem zu einem neuen Dynamismus aufgerufen.2 Zu dieser auch nach dem letzten Heiligen Jahr gegebenen Zielsetzung ist Johannes Messner eine Wegweisung. I. Lebensweg Johannes Messner hat in seinem langen, nämlich 93 Jahre währenden Leben von 1891 bis 1984 sowie in den Jahrzenten seines Wirkens als Priestergelehrter ein Beispiel gegeben, und das in Wort und Schrift. Diesem kommt auch deshalb in unserer Zeit, in der alles und jedes, bevor es akzeptiert, vorher analysiert und kritisiert wird, eine besondere Bedeutung zu, weil sie von einer Persönlichkeit getragen ist, welche die Verbundenheit von Wissen und Gewissen verkörpert und diese von einer Glaubwürdigkeit geprägt ist, die im Vorleben begründet ist. Die Lebenszeit von Johannes Messner reicht vom ausgehenden 19. Jahrhundert und der zu Ende gehenden Monarchie über zwei Weltkriege, die ganze Entwicklung der Republik Österreich umspannend bis in die Zeit vor *  Vortrag gehalten im Rahmen der Johannes-Messner-Gesellschaft zum Gedenken des 110. Geburtstages von Johannes Messner am 16. Februar 1891 (in Schwaz, ­Tirol) am 24. Jänner 2001 in Wien.   Erschienen in: Rudolf Weiler / Herbert Schambeck, Naturrecht in Anwendung. Johannes-Messner-Vorlesungen 1996 bis 2001, Graz 2001, S. 117 ff. 1  Donato Squicciarini, Dialog in Wahrheit und Liebe, Der apostolische Nuntius in Österreich zu aktuellen Fragen in Kirche und Welt (1989–1996), hrsg. von Egon Kapellari und Herbert Schambeck, Graz / Wien / Köln 1997. 2  Nr. 15.

448

Johannes Messner

der sogenannten politischen Zeitenwende, als sich beginnend in Polen das Ende des Kommunismus und damit auch der Teilung Europas in den beginnenden achtziger Jahren abzuzeichnen begann. Johannes Messner kam im Jahr der Verkündigung der Sozialenzyklika „Rerum Novarum“ Papst Leo XIII. 1891 zur Welt und erlebte in der Folge die Pontifikate von sieben Päpsten sowie die Entwicklung ihrer Soziallehre mit dem Weg der römisch katholischen Kirche vor und nach dem II. Vatikanischen Konzil, das der Idee nach übrigens auf Papst Pius XII. zurückgeht und von diesem in einer ersten Fassung vorbereitet wurde, von seinem Nachfolger Johannes XXIII. erneut vorbereitet, hernach auch einberufen und von dem folgenden Papst Paul VI. zu Ende geführt wurde. II. Wegweisung durch die soziale Frage Jedes Leben eines Menschen und auch das eines Priesters sowie Wissenschaftlers ist wesentlich auch durch seine Herkunft und seine Zeit bestimmt. In dieser Sicht hat Johannes Messner die soziale Frage schon in seiner Jugend erlebt. Er ist nämlich am 16. Feber 1891 in der alten Bergwerkstadt Schwaz in Tirol als Sohn eines Bergmannes und einer Fabriksarbeiterin geboren worden.3 In einer ergreifenden Weise hat er in seinem später in sieben Auflagen erschienenen Werk „Die soziale Frage“ die Verbundenheit mit seinen Eltern zum Ausdruck gebracht. Er betitelte diese widmende Erinnerung „Im Andenken an meine Eltern“. Schon die ersten Worte dieser seiner Widmung zeigten seine persönliche Bescheidenheit, wenn er einleitend schreibt: „Mancher, der diese Widmung liest, mag überrascht sein, daß es heißt, ‚im‘ Andenken an meine Eltern und nicht ‚dem‘ Andenken. Meine Eltern waren außer einen engen Nachbarschafts- und Freundeskreis nicht bekannt.“4 Messner betont: „Das Wort ‚soziale Frage‘ ist in unserer Familie nie gefallen, geschweige denn das Wort ‚Proletariat‘“5 und erklärt: „Von der Familie ging mein wissenschaftliches Bemühen aus, zu ihr kehrt es immer wieder zurück“6. Welche Richtung dabei eingeschlagen wurde, hob er auch 3  Siehe Alfred Klose, Johannes Messner – eine biographische Notiz, in: Naturordnung in Gesellschaft Staat Wirtschaft, Festschrift für Johannes Messner zum 70. Geburtstag, hrsg. von Joseph Höffner, Alfred Verdroß und Francesco Vito, Innsbruck / Wien / München 1961, S. 29 ff. und Johannes Messner 1891–1984, hrsg. und erläutert von Alfred Klose, München / Wien / Zürich 1991, S. 11 ff. 4  Johannes Messner, Die soziale Frage, 7.  Auflage, Innsbruck  /  Wien  /  München 1964, S. 15. 5  Messner, a. a. O., S.  17. 6  Messner, a. a. O., S.  19.



Johannes Messner449

hervor: „Der natürliche Sinn hatte die Eltern den rechten Weg gewiesen“7, diesen ging auch Johannes Messner später. Der Weg, den Johannes Messner als Priester und Gelehrter ging, führte ihn durch eine Zeit des Wandels und des Umbruchs, nämlich vom 19. ins 20. Jahrhundert und von der Staatsform der Monarchie zur Republik, ließ ihn demokratische, aber auch autoritäre Regime und die Entwicklung von Rechts-, Sozial-, Staats- sowie Wirtschaftsordnungen erleben. In der Kirche, in der er den Katholizismus begleitete, vor und nach dem 2. Vatikanum bezog er nicht lautstark Position, sondern erarbeitete sich seine Haltung, die er konsequent und kontinuierlich vertrat. Johannes Messner wurde so wegweisend für viele, denen er für ihr Denken und Handeln Richtung gab. III. Bemühen um präpositive Rechtsbegründung Mit Recht und Staat setzte sich Johannes Messner deshalb auseinander, weil sie für die irdische Ordnung des Zusammenlebens der Menschen von Bedeutung sind. Sie sind für ihn nicht Selbstzweck, sondern haben eine dienende Funktion. Sie geben Grundlage bzw. Rahmen für die Möglichkeiten an Persönlichkeitsentfaltung des Einzelmenschen sowie von Entwicklungen im öffentlichen Leben, die über den Individualbereich der Menschen für Gesellschaft und Staat von Bedeutung sind. Ihre Voraussetzung ist die Anerkennung der Würde des Menschen. In seinem Beitrag zur Festschrift für Willi Geiger stellt Johannes Messner8 fest: „Darauf, daß dem Menschen zum Unterschied von allen anderen Lebewesen seine Selbstverwirklichung durch Selbstbestimmung und Selbstverantwortung aufgetragen ist, beruht seine Würde. Sie findet ihre metaphysische Begründung in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen.“9 Diese Verbundenheit der Imago-Dei-Lehre mit der Idee der Dignitas humana begleitete das gesamte abendländische Rechtsdenken, was uns in der gleichen Grundhaltung wie bei Johannes Messner von Alfred Verdross in seiner „Abendländischen Rechtsphilosophie“ auch in historischer Übersicht veranschaulicht wird10 und in der Geschichte zur Humanisierung des posi7  Messner,

a. a. O., S.  15. Messner, Die Idee der Menschenwürde im Rechtsstaat der pluralistischen Gesellschaft, in: Festschrift für Willi Geiger, hrsg. von Gerhard Leibholz, Hans Joachim Faller, Paul Niklas, Hans Reis, Tübingen 1974, S. 221 ff.; zitiert im Neudruck: Johannes Messner, Ethik und Gesellschaft, Aufsätze 1965–1974, Köln 1975, S. 16. 9  Siehe Genesis 1,26 f., 5,3 und 9,6. 10  Siehe Alfred Verdroß, Abendländische Rechtsphilosophie, ihre Grundlagen und Hauptprobleme in geschichtlicher Schau, 2. Aufl., Wien 1963, bes. S. 252 ff. 8  Johannes

450

Johannes Messner

tiven Rechtes geführt hat. Wie lange dies aber dauerte, bekundet wohl am deutlichsten die Entwicklung des Strafvollzugs und die langsame Anerkennung der Menschenrechte und ihres Rechtsschutzes! In diese Zeit wurde vor 110 Jahren Johannes Messner geboren. Welche Problematik mit dieser Lebenszeit von Johannes Messner gegeben war, zeigt die Tatsache, daß einer der berühmtesten Juristen seiner Zeit, der Rechtspositivist Karl Bergbohm 1892, also ein Jahr nach der Geburt Messners, seine später berühmt und vielzitierte Schrift „Jurisprudenz und Rechtsphilosophie“ veröffentlichte, in welcher er feststellte: „Wer trotz allem z. B. noch irgend einen universellen Rechtssatz zustande bringen möchte, möge zusehen, wie er ihn in alle Sprachen so übersetze, daß ihn alle Nationen verstehen und alle gleich verstehen“. Treffend hat Johannes Messner später 1961 in seiner Schrift „Moderne Soziologie und scholastisches Naturrecht“ dem entgegengehalten: „Gerade dies geschieht heute durch die Vereinten Nationen mit ihrer Erklärung der Menschenrechte“11. Dazwischen liegen die Herrschaftsansprüche von autoritären und totalitären Regimen, wie des Nationalsozialismus, der die Grundrechte als einen „Aufstand des Eigennutzen gegen die Volksgemeinschaft“ bezeichnete12, und des Kommunismus, für den Andrej J. Wyschinski die Freiheit als die Kenntnis des wirtschaftlich Notwendigen erklärte13. 11  Johannes Messner, Moderne Soziologie und scholastisches Naturrecht, Wien 1961, S. 7. 12  Adolf Merkl, Zum 80. Geburtstag Hans Kelsens – Reine Rechtslehre und Moral, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Band XI, Heft 3–4, Wien 1961, S. 301, Neudruck in: Adolf Julius Merkl, Gesammelte Schriften, hrsg. von Dorothea Mayer-Maly, Herbert Schambeck, Wolf-Dietrich Grussmann, I / 1, Berlin 1993, S. 639; Otto Koellreutter, Grundriß der Allgemeinen Staatslehre, Tübingen 1933, S. 105; Hans Fehr, Die Ausstrahlung des Naturrechts der Aufklärung in die neue und neueste Zeit, Vortrag gehalten am internationalen Historikerkongreß in Zürich 1938, insbes. S. 26 ff.; Ernst Rudolf Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Rechtes, 2. Aufl., Hamburg 1939, S. 361 ff.; Herbert Schambeck, Idee und Lehren des Naturrechts, in: Naturordnung, SW. 438 f.; Erich Fechner, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Tübingen 1962, S. 31 f.; Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Wien 1963, S. 78; Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, hrsg. von Erik Wolf und Hans-Peter Schneider, 8. Aufl., Stuttgart 1973, S. 344 ff. und derselbe, Rechtsphilosophie, Studienausgabe, hrsg. von Ralf Dreier und Stanley L. Paulson, Heidelberg 1999, S. 194 ff. 13  Andrej J. Wyschinski, Fragen des Rechts und des Staates bei Marx, in: Sozialistische Beiträge zur Staats- und Rechtstheorie, Berlin 1953, S. 76; hiezu Urs Peter Ramser, Das Bild des Menschen im neuen Staatsrecht (Die Antinomie des Westens und des Ostens), Winterthur 1958 und Herbert Schambeck, Von der Last der Freiheit in Recht und Staat des Westens und Ostens, in: Die Freiheit des Westens, Wesen, Wirklichkeit und Widerstände, hrsg. von Otto B. Roegele, Graz / Wien / Köln 1967, S.  483 ff., bes. S.  510 ff.



Johannes Messner451

In dieser Zeit des 20. Jahrhunderts ereignete sich, um wieder mit Johannes Messner zu sprechen, „die Vergewaltigung allen Rechts durch den totalitären Staat …“ und „brachte eine völlige Neubesinnung mit sich“14. Bei dieser Entwicklung entsprach das Streben Johannes Messner nach einer präpositiven Rechtsbegründung der damals notwendigen Zeitverantwortung. Er suchte nach Grundlagen und Grundwerten, welche auch für Recht und Staat bestimmend sind und dem tages- sowie damit bloß machtpolitischen Wollen Grenzen setzt. IV. Das Naturrecht und die Rechtsbegründung Die Antwort auf diese Forderung der Zeit gab Johannes Messner am deutlichsten in seinem Fundamentalwerk „Das Naturrecht“. Er bezeichnete es im Untertitel als „Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik“. Es ist bekanntlich 1950 in 1. und 1966 in 5. Auflage, hernach auch in Neudruck sowie in Übersetzungen erschienen, auf die japanische sei besonders verwiesen. Johannes Messner hat selbst die Hinwendung zum Naturrecht zwar nicht herbeigeführt, der Umschwung, wie er ihn selbst bezeichnete,15 setzte schon früher ein, so sei auf das schon 1936 von Heinrich Rommen erstmals und später neu aufgelegte Buch „Die ewige Widerkehr des Naturrechts“ verwiesen, auf das Messner selbst immer wieder hingewiesen hat. In dieser „Renaissance des Naturrechts“, wie sie Messner selbst nennt16, hat er die umfangreichste und tiefgründigste Ordnungsbetrachtung angestellt. Hiezu waren ihm seine mit Promotionen abgeschlossenen Studien der Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften sehr zweckdienlich und wertvoll. Für diese seine Erkenntnisse ist ihm entscheidend, „daß von Anfang an Vernunfteinsicht und Sacheinsicht unzertrennlich verbunden sind und sich gegenseitig bedingen“17. In diesem Zusammenhang hebt er hervor, wie sehr die Kenntnis der Natur der Sache auf all diesen Gebieten18 von entscheidender Wichtigkeit ist. Die Natur der Sache hat für ihn zwei Seiten, nämlich die Wesensnatur der gesellschaftlichen Beziehungen und Gebilden mit der des Menschen als Mittelpunkt in allen Sachbeziehungen, wie z. B. die Natur des Staates mit seinen Funktionen und die Kenntnis der Realnatur, nämlich die tatsächlichen Einrichtungen und Wirkweisen der gesellschaftlichen, kul14  Messner,

a. a. O. a. a. O. 16  Messner, a. a. O. 17  Messner, a. a. O. 18  Messner, a. a. O. 15  Messner,

S.  7. S.  7. S.  7. S.  12. S.  10.

452

Johannes Messner

turellen, staatlichen, wirtschaftlichen und internationalen Lebensbereiche19. Er betont ausdrücklich: „Deren Naturordnung im Sinne der natürlichen Gerechtigkeitsprinzipien zu ermitteln, ist die Aufgabe des Naturrechts als Wissenschaft.“20 Für ihn ist das Naturrecht, wie er schrieb, „ein Rechtsbestand und zwar ein Inbegriff von allgemeinen Rechtsnormen.“21 Er betont: „Zu den natürlichen Rechten gehören keineswegs nur einzelmenschliche Rechte (Individualrechte), sondern auch Gemeinschaftsrechte.“22 Die Begründung dieses Naturrechts – Messner spricht ausdrücklich von dem „Seinsgrund des Naturrechts“ – ist die Menschennatur. „Das Naturrecht hat seinen Namen davon, daß es in der Natur des Menschen begründet ist. Der Seinsgrund hat eine doppelte Seite, die ontologische und metaphysische.“23 Messner betont es: „Achtet man nur auf die Wirkweise der menschlichen Natur, so wie sie der Erfahrung unmittelbar zugänglich ist, dann ist der Seinsgrund ontologisch gesehen. Es ist die Wirkweise der Menschennatur. Die Idee der Menschenwürde auf dieser ontologischen Grundlage schließt die Idee der Person im sittlichen Sinn ein, nämlich des Menschen als sittlich verantwortlichen Wesens … Die andere Seite des Seinsgrundes des Naturrechts ist die metaphysische … Dies ist die Wirklichkeit jenseits dessen, was der Sinneswahrnehmung zugänglich ist. Zu diesem Wissen gehört vor allem, daß der Mensch sofort weiß, daß er mehr ist als das Tier, (Augustin, de gen. contr. Manich II. 11.16), dann das Wissen vom Gewissen … und daher von unbedingten sittlichen Verpflichtungen …“.24 Messner erkennt, daß die Entwicklung des Naturrechts in doppelter Richtung zu erfolgen hat, nämlich auf das Rechtsbewußtsein und auf die Rechtsform25 hin. Er verweist auf die große Reformkraft des Naturrechts, welche auch in der Verfassungsgeschichte erkenn- und erlebbar ist, wie etwa „Die Verfassung der modernen amerikanischen Demokratie, welche ihre geistigen Grundlagen aus der Volkssouveränitätslehre der traditionellen Naturlehre gewann“.26 Mit Recht weist er darauf hin, daß die Prinzipien der Menschenrechte, der Sozialrechte und des Völkerrechts letztlich auf das Naturrechtsbewußtsein und die Naturrechtswissenschaft zurückgehen, mit welchen Europa einen bedeutenden Beitrag zur „Rechtskultur der Welt“ geleistet hat.27 19  Messner, 20  Messner, 21  Messner, 22  Messner, 23  Messner, 24  Messner, 25  Messner, 26  Messner, 27  Messner,

a. a. O. a. a. O. a. a. O. a. a. O. a. a. O. a. a. O. a. a. O. a. a. O. a. a. O.

S.  10. S.  10. S.  10. S.  14. S.  21. S.  21 f. S.  32. S.  35. S.  41 f.



Johannes Messner453

Johannes Messner war mehr als manch einem anderen bewußt und erlebbar, daß sich seine Anliegen nach Anerkennung des Naturrechts als einer präpositiven Ordnung in einer Welt vielfacher Pluralität zu bewähren haben. Diese Pluralität hat Johannes Messner auf seinem Lebensweg in den verschiedenen politischen Staatsformen und Systemen sowie damit auch in der Vielfalt der Parteien, Interessenverbände, Ideologien und Weltanschauungen, aber auch in der Wissenschaft selbst begleitet; so etwa als Johannes Messner 1938 nach der Besetzung Österreichs durch Hitlerdeutschland zur Flucht genötigt war und nach sechs Wochen der Internierung bei Exceter im Oratory des Cardinal Newmann in Birmingham auf lange Zeit eine Bleibe fand. Hier erschloß er sich den Zugang zur angelsächsischen Geistes-, Kultur- und Wissenschaftswelt und damit auch zum Empirismus. Dies drückte sich besonders in seinem Hauptwerk „Naturrecht“ aus, das 1949 in Englisch unser dem Titel „Social Ethics“ und im folgenden Jahr Deutsch erschienen war. Joseph Höffner, dem sich Johannes Messner immer sehr verbunden fühlte und der, zum Unterschied von ihm, der hiezu auch in Innsbruck die Chance gehabt hätte, dem Lehrstuhl den Bischofsstuhl folgen ließ, hat später in der von ihm mitherausgegebenen Festschrift zum 70. Geburtstag von Johannes Messner in der methodischen Betrachtung und Würdigung des Gesamtwerkes Johannes Messner hervorgehoben, daß Johannes Messner gegenüber der empirisch-historischen Beweisführung, die das Naturrecht als allgemein menschliche Wirklichkeit nachzuweisen sucht, und „gegenüber der überlieferten metaphysisch-theologischen Begründung, die das Naturrecht von der lex aeterna ableitet“, „bewußt den induktiv-ontologischen Beweis … in den Vordergrund rückt.“28 Wie Johannes Messner selbst schieb, geht es ihm „nicht nur um die anthropologisch-philosophische, sondern um die konkret-tatsächliche Natur des Menschen und seine gesellschaftliche Existenz. … Denn mit den naturrechtlichen und christlichen Sozialprinzipien ist längst nicht alles getan. Vielmehr ist es Aufgabe einer gerade in diesen Prinzipien und ihrer Wesensart begründeten Verantwortungsethik, die mit ihnen gestellten Gerechtigkeits­ imperative konkret in Anbetracht der ‚Situation‘, als Forderungen der ‚Natur der Sache‘ zu erarbeiten, also die Prinzipien zu konkretisieren.“29 Deshalb betont Messner: „Die kirchliche Soziallehre stellt jedoch die Aufgaben, die realpolitisch aufgrund der Kenntnis der ‚Natur der Sache‘ in jedem Lande in konkreter Weise anzugehen sind.“30 28  Joseph Höffner, Johannes Messner und die Renaissance des Naturrechts, in: Naturordnung in Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, S. 19. 29  Johannes Messner, Christliche Soziallehre unter Feuer, Civitas 3. Nov. 1946, S. 143. 30  Messner, a. a. O. S.  145.

454

Johannes Messner

In dieser Betrachtungsweise hat sich Johannes Messner neben der Rechtsbegründung auch den Aufgaben der Staatsordnung gestellt. V. Aufgaben der Staatsordnung „Der Staat ist heute weithin Apparat, und ein Apparat ist der Seelsorge sehr schwer zugänglich. Jedoch der Staat besteht auch aus Menschen. Sie wissen, daß man so viel spricht von der Verstaatlichung des Menschen und daß es unsere Sache wäre, nach einer Vermenschlichung des Staates zu trachten“.31 Diese Feststellungen hat Johannes Messner einmal auf einer Seelsorgertagung getroffen und damit selbst den Rahmen seiner Betrachtung des Staates andeutungsweise angegeben: Es ist zum einen die Einsicht in das System des Staates und es ist zum anderen der Hinweis auf die ethischen Maßstäbe, die beim Gebrauch dieses Systems zu beachten wären, damit der Staatsapparat nicht Selbstzweck wird, sondern im Dienst des Menschen steht. Der Staat ist für Johannes Messner das Kernstück einer sozialen Summe. Obgleich Johannes Messner ethische Zielsetzungen in seinem Schrifttum verfolgte, beherrschte er die staatsrechtlichen Denkkategorien, von welchen er ausging: „Der Staat ist die mit höchster Herrschaftsgewalt ausgestattete Gemeinschaft eines auf bestimmtem Gebiete seßhaften Volkes zu allseitigen Begründung seines Gemeinwohls.32 Zur Erreichung dieser Staatszielsetzung bedarf es des Rechtes, das für ihn „der Grundwert des Gemeinwohls ist. Von ihm hängen Friede und Ordnung der Gesellschaft und damit überhaupt die Existenz der Gesellschaft und des Menschen als Kulturwesen ab“. Johannes Messner unterscheidet zur Sicherung der Stellung des Einzelmenschen den Staat mit seiner Organisationsform und die Gesellschaft mit der ganzen Pluralität des öffentlichen Lebens, wie sie sich in den politischen Parteien und Interessenverbänden zeigt. Er nimmt die Ordnungsprobleme moderner Staatlichkeit mit ihrer Mehrzweckverwendung ebenso wahr wie die der Massendemokratie und sucht sie auf dem Boden der Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit ethisch zu bewäl­ tigen. Johannes Messner tritt für die Offenheit der Verfassung für mögliche soziale Entwicklungen ein, weil Kontinuität des Verfassungsrechts und Elastizität im Sozialleben auch Johannes Messner richtig erscheinen. „Tatsäch31  Johannes Messner, Der Staat, in: Die Kirche und die Mächte der Welt, Wien 1961, S. 108. 32  Johannes Messner, Das Naturrecht, Handbuch der Gesellschaftsethik, Staats­ ethik und Wirtschaftsethik, 5. Aufl., Innsbruck 1966, Neudruck Berlin 1984.



Johannes Messner455

lich erscheint es einer der größten Vorzüge jeder Verfassung zu sein, neue Entwicklungen des Gesellschaftsprozesses zuzulassen, und diese an den in ihr lebendigen Rechtsgeist binden zu können. Das setzt allerdings voraus, daß das Rechtsbewußtsein des Volkes gefestigt genug ist, um der geschriebenen und ungeschriebenen Verfassungsnorm gegenüber der Eigenmächtigkeit von Gruppen Geltung zu verschaffen“33, er spricht sogar von „Elastizität der Verfassung“34, warnt aber auch vor dem Mißbrauch des Rechtes und betont, daß erst die Möglichkeit, Freiheitsrechte gegenüber dem Staat wirksam wahrzunehmen, den Rechtsstaat ausmacht.35 Konkret warnt Johannes Messner vor dem „Mißbrauch verwaltungsrechtlicher Vollmachten“36 und vor der „Schaffung von Unrechtsrecht im Namen des Rechtsstaates“,37 im ersteren Fall handelt es sich um Übergriffe der Verwaltungsbürokratie in die Rechtssphäre des Einzelnen und im anderen Fall um Gewichtsverteilungen zugunsten von Einzelgruppen durch deren Machtausübung auf Gesetzgebung und Verwaltung.38 VI. Die Gemeinwohlverpflichtung Messner hat klar erkannt, daß die politischen Parteien auch in ihrer Gesamtheit nicht der Staat sind, kommt doch auch das Wort Partei vom lateinischen Wort „pars“; dem Wortsinn nach ist vielmehr jede Partei ein Teil des Ganzen. Das gleiche gilt für die Interessenverbände, auch sie sind nicht die Gesamtheit möglicher Interessen, so hat auch der vom Staatsrecht kommende Adolf Merkl von den „berufsständisch Heimatlosen“39 gesprochen und meinte damit Menschen, die nicht in Interessenverbänden repräsentiert sind, wie z. B. die nicht berufstätigen Hausfrauen. Gleich, in welcher Vielzahl in einem Staat Parteien und Interessenverbände bestehen, sie sollten sich immer nicht nur ihren Mitgliedern, sondern in ihrem Wollen und Tun allen im Staat, nämlich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen. In seiner Schrift „Das Gemeinwohl“, das auf einen Vortrag im Franz Hitze-Haus zurückgeht und 1968 in 2. Auflage erschienen war, erklärte Johannes Messner: „Das Gemeinwohl besteht in der aus der gesellschaftlichen Verbundenheit der Gesellschaftsglieder erwachsenden Hilfe für die 33  Messner,

Das Naturrecht, S. 729. a. a. O., S.  731. 35  Messner, Das Gemeinwohl, 2. Aufl., Osnabrück 1968, S. 151. 36  Messner, a. a. O., S.  152. 37  Messner, a. a. O., S.  153. 38  Messner, a. a. O., S.  154. 39  Adolf Merkl, Der staatsrechtliche Gehalt der Enzyklika Quadragesimo anno, Zeitschrift für öffentliches Recht, 1934, S. 222. 34  Messner,

456

Johannes Messner

eigenverantwortliche Erfüllung der ihnen in ihrer Natur vorgezeichneten und gesellschaftlichen Lebensaufgaben“.40 Diese Gemeinwohlverpflichtung trifft die Verantwortlichen im öffentlichen Leben im besonderen und den Staat im allgemeinen; alle haben im Staat und der Politik dem Menschen zu dienen. Johannes Messner sieht in dem Staat und dem Menschen keine notwendigen Gegensätze, sondern vielmehr eine Bezogenheit. Ist doch der Staat nach Johannes Messner als Gemeinschaft, „die in den existentiellen Zwecken des Menschen ihren Grund hat“ … „Teil der sittlichen Ordnung und sittlicher Wert“.41 Die existentiellen Zwecke des Menschen bilden für Johannes Messner den Grundbegriff seiner Ethik,42 seine Begriffsbestimmung der Sittlichkeit steht „im Einklang … mit der allgemeinsten und sichersten menschlichen Erfahrung“.43 Für Johannes Messner ist „das Volk als politische Ordnungseinheit der ursprüngliche Träger der Staatsgewalt“44 und nicht der Wille des Volkes; nach ihm kann daher auch in der Natur des Staates keine absolute Volkssouveränität vorgefunden werden, wie es sich Jean Jacques Rousseau vorstellte. Johannes Messner schloß sich der Kritik Werner Kägis an,45 daß Rousseau den verabsolutierten Souveränitätsbegriff des Thomas Hobbes vom Monarchen auf das Volk übertragen hat. Johannes Messner erkannte nämlich die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Demokratie im Verfassungsstaat. Für ihn beruht die freiheitliche Demokratie auf den gemeinsamen Überzeugungen der Staatsbürger von der Gleichheit der Menschennatur und der Gleichheit der Menschenrechte.46 In der Demokratie sind Parteien und Interessenverbände zwar erforderlich, um die verschiedenen Anliegen des Volkes vertreten zu können. Sie sind aber auch in ihrer Summe nicht das gesamte Volk.47 Immer wieder verlangte Johannes Messner, daß auch die Verbändedemokratie das Wohl des gesamten Volkes im Auge haben sollte, warnte vor der „Versuchung 40  Johannes

Messner, Das Gemeinwohl, S. 92. Das Naturrecht, S. 766. 42  Näheres Johannes Messner, a. a. O., S. 42 ff. 43  Messner, a. a. O., S.  42. 44  Messner, a. a. O., S.  781. 45  Siehe Werner Kägi, Rechtsstaat und Demokratie, in: Demokratie und Rechtsstaat, Festgabe für Zacearia Giacometti, Zürich 1953, S. 109 f. 46  Messner, Das Gemeinwohl, S. 153. 47  Etwa Messner, Das Naturrecht, S. 733. 41  Messner,



Johannes Messner457

zum Handeln nach Machtverhältnissen“48 auf den Wegen der Legalität, die gemeinwohlwidrige Aktionen von Parteien und Verbänden legitimieren. Treffend stellte Johannes Messner fest: „Die Ausbalancierung von Machtverhältnissen gibt an sich noch keine Ordnung der Gerechtigkeit.“49 Er weiß, wie schwierig die Anwendung der Gerechtigkeitsvorstellungen auf den Einzelfall sein mögen, sie sind für ihn aber nicht unbewältigbar: „Unbestimmtheitsrelationen in der Gerechtigkeitsordnung mögen in Einzelfragen unvermeidlich sein, jedoch Sacheinsicht und Gemeinsinn sind imstande, ein Ausmaß der Ordnung der Gerechtigkeit zu erzielen, wonach alle Gruppen das Bewußtsein haben können, den ihnen gebührenden verhältnismäßigen Anteil an der jeweils möglichen Wertfülle des Gemeinwohls zu erhalten“.50 Johannes Messner war in seinen auf die Sozialethik bezogenen Bemühungen soweit wirklichkeitsbezogen, zu wissen, daß die Macht im Staat zu den Realitäten zählt, sie ist aber kein Selbstzweck: „Wie der Staat ohne Minimum von gesellschaftlicher Sittlichkeit, so kann er nicht bestehen ohne ein Minimum an Macht“.51 Sein Anliegen war daher die Versittlichung der Macht. Einen entscheidenden Beitrag wird nach Johannes Messner zu dieser Versittlichung der Macht die öffentliche Meinung leisten können, wenn sie für Recht und Gerechtigkeit empfindlich ist.52 Das Volk und seine Repräsentanten sind für diese Entwicklung der öffentlichen Meinung und damit auch für die Versittlichung der Macht von gleicher Bedeutung. Das Volk trifft die Verantwortung für die Wahl seiner Repräsentanten, „ihre Macht ist nicht größer als die, die ihnen das auf das christliche Gewissen hörende Volk durch Wahlstimmen und öffentliche Meinung zu geben vermag“.53 Johannes Messner spricht von einem Verantwortungspluralismus, der die pluralistische Demokratie prägt; nach ihm geschieht die Konkretisierung „durch den geschichtlich in Sitte und Gewohnheit wirksam werdenden Rechtswillen des Volkes, der wieder vom ursprünglichen und vom entwickelten Rechtsbewußtsein, letztlich von sittlichem Rechtsgewissen bestimmt ist. Es handelt sich um eine Form konkretisierten Naturrechts“.54

48  Messner,

49  Messner, 50  Messner, 51  Messner, 52  Messner, 53  Messner, 54  Messner,

Das Gemeinwohl, S. 156. Das Gemeinwohl, S. 159. Das Gemeinwohl, S. 153 f. a. a. O., S.  165. a. a. O., S.  169. Der Staat, S. 113. Das Naturrecht, S. 784.

458

Johannes Messner

VII. Forderungen an die Demokratie Johannes Messner ist sich in seinem Bemühen um die Ausführung des Naturrechts in der Pluralität der Gesellschaft dieser Schwierigkeiten bewußt. So erklärt er auch: „Die weltanschaulich pluralistische Gesellschaft kann als Rechtsstaat und freiheitliches demokratisches Gemeinwesen nur Bestand haben, wenn bei aller Vielfalt von Wahrheits- und Wertüberzeugungen eine Gemeinsamkeit von Grundhaltungen gegeben ist, die an allgemein „anerkannten Werten orientiert sind“55 und spricht sich für „ein Minimum an gemeinsamen Wertvorstellungen“56 aus. Leider muß aber aus der Kenntnis der Demokratiepraxis hinzugefügt werden, daß es aber neben Sitte und Gewohnheit so viele Faktoren gibt, die für diese Grundhaltung und für die Meinungs- und Willensbildung im Staat bestimmend sind, daß die von Johannes Messner angeführte Sitte und Gewohnheit zwar ideal, leider aber nicht immer ausschließliche Realfaktoren des öffentlichen Lebens und auch der Rechtssetzung sind. Viele Momente der Politik sind ideologischer oder voluntaristischer Natur. Johannes Messner untersucht die Gründe und die Grenzen für den Gehorsam im Staat57 und das Recht des Widerstandes,58 er erkennt eine innere Begrenzung der staatlichen Autorität. Zur Vermeidung derartiger Grenzsituationen spricht sich daher Johannes Messner für eine entsprechende Kontrolle im Staat aus und betont die Bedeutung der Grundrechte. Kritisch setzt sich Johannes Messner mit der modernen Demokratie auseinander,59 in der ihm mit Recht die Volkssouveräntität, die Masse, die Repräsentation, das allgemeine Wahlrecht, das Parlament, die Parteien, die Herrschaft des Rechts, die Pluralität der westlichen Demokratie und unerläßlich für diese Kontrolle die Gewaltenteilung als besondere Wesenszüge erschienen. Er wußte auch um die kritischen Tendenzen in der Entwicklung dieser modernen Demokratie, die er vor allem im Spannungsfeld von Interessenvertretung und Sozialordnung, Parteienherrschaft und Volksvertretung sowie Regierungsverantwortung und Koalitionskompromiß gelegen sah.60 Johannes Messner erkannte Erfordernisse der Reform der Demokratie, welche nach ihm die Fortbildung der politischen Demokratie zu einer sozialen verlangt, die Führerauslese und die Autoritätsbegründung vordringlich werden läßt, sowie die Gruppeninteressen unter die Allgemeininteressen stellt. Ausdrücklich 55  Messner,

Die Idee der Menschenwürde, S. 13. a. a. O. 57  Messner, Das Naturrecht, S. 790 ff. 58  Messner, a. a. O., S.  796 ff. 59  Siehe Messner, Das Naturrecht, S. 806 ff. 60  Messner, a. a. O., S.  810 ff. 56  Messner,



Johannes Messner459

hat Johannes Messner auch vor billigem Opportunismus, taktischem Kompromiß und vor dem Ausbalancieren der Forderungen der Interessengruppen ohne hinreichende Bedachtnahme auf dringende Staatsnotwendigkeiten gewarnt.61 Er sah als vordringlichste Aufgaben im heutigen Staat die Anerkennung der Rechtssouveränität vor der Volkssouveränität an, die Erkenntnis der Wichtigkeit wahrheitsgetreuer Information und des politischen Urteils.62 In diesem Zusammenhang hat Johannes Messner klar die Wesenszüge des modernen totalitären Staates aufgedeckt, nämlich die unbeschränkte Autorität, die Unterschiedslosigkeit von Staat und Gesellschaft, die Aberkennung jedes Rechtes gegenüber dem Staat, die Verantwortung von oben nach unten, den Einparteienstaat, den Polizeistaat, das Fehlen der institutionellen Kontrolle, der Freiheit öffentlicher Meinung, des Vereinigungsrechtes und der Menschenrechte.63 Messner sprach sich daher für die Anerkennung des Subsidiaritätsprinzips als „Rechtsfundament der Gesellschaft gegenüber dem Staat“64 und zur Wahrung der Freiheit und Würde des Menschen aus. Er warnt vor einer Staatsraison, die Recht und Sittlichkeit verletzt und vor der Lüge im öffentlichen Leben, sie „ist nie als Mittel der Politik ge­recht­ fertigt“.65 Als Realist des politischen Lebens lehnt Johannes Messner zwei Fehlauslegungen der Staatsraison ab, die entgegengesetzte Richtungen beinhalten: den absoluten Pazifismus, der die Berechtigung des Verteidigungskrieges verneint und den politischen Utilitarismus, der keine Gemeinwohlerfordernisse anerkennt und nur einer Zweckmoral huldigt.66 Johannes Messner ging es um eine Ordnung des Gemeinschaftslebens der Menschen, das Freiheit und Sicherheit dem Einzelmenschen in gleicher Weise zu gewähren versteht. Er wußte um die Gefahr, daß „mit der zunehmenden ideologischen Selbstetikettierung verschiedener politisch aktiver Gruppen … sich die Bestimmtheit im ursprünglich gemeinsamen Urteil über das fundamental Menschliche als Maßstab der zu erstrebenden menschlichen Gesellschaft“67 verliert und trat daher bei aller Vielfalt von Wahrheits- und Wertüberzeugungen für eine Gemeinsamkeit von Grundhaltungen ein, „die an allgemein anerkannten Werten orientiert sind“.68 Da Johannes Messner mit seiner Lehre vom Staat immer einen ethischen Bezug herstellen wollte, ist es ihm im Zusammenhang mit der Anerkennung 61  Messner, 62  Messner, 63  Messner, 64  Messner, 65  Messner, 66  Messner, 67  Messner, 68  Messner,

a. a. O., S.  827. a. a. O., S.  830 f. a. a. O., S.  833 ff. a. a. O., S.  839. Das Naturrecht, S. 918. Das Naturrecht, S. 920 ff. Die Idee der Menschenwürde, S. 15. a. a. O., S.  13.

460

Johannes Messner

der Grundrechte stets darauf angekommen, dem Einzelmenschen seine Möglichkeit der Selbstverwirklichung durch Selbstbestimmung und Selbstverantwortung bewußt zu machen.69 Er erkannte aber auch, daß es „der heute weithin beherrschenden Emanzipationsideologie unerträglich scheint, Grenzen anzuerkennen, die auch die Natur des Menschen, wie sie ist und zu Selbstverwirklichung strebt, gesetzt sind“70 und weist auf das Gewissen als Instanz politischen Handelns hin,71 das eine Bewußtseinsveränderung, die durch Gesellschaftsveränderung eine Systemüberwindung unter Gefährdung der freiheitlichen Demokratie bewirkt, zu vermeiden versteht. Konkret spricht sich Johannes Messner für eine Gewissensfreiheit der Abgeordneten aus, „die in der Entscheidungsfreiheit nach den Imperativen des Gemeinwohls“ besteht.72 Johannes Messner kritisiert den falschen Relativismus, der die Demokratie gefährden könnte und jeden metaphysischen Bezug leugnet: „In der Theorie der Demokratie ohne Metaphysik lebt der Wertrelativismus des alten Liberalismus fort. Für den Weltrelativismus, der keine ethische Gemeinwohlidee kennt, ist nur die formale Demokratie möglich“;73 vor ihr warnt Johannes Messner; er läßt seine Staatsethik in eine Verantwortungsethik übergehen, die gerade in der Massendemokratie so wichtig ist, deren staatspolitische Gefahr er in allererster Linie, Max Weber zitierend,74 „in der Möglichkeit starker emotionaler Elemente in der Politik“ sieht.75 Wer die heutige Diskussion in der Demokratie um den Umweltschutz, die Energieversorgung und das Wirtschaftswachstum verfolgt, kann Johannes Messner mit der Warnung vor dieser Emotionalisierung der Politik nur Recht geben. So mündet seine Staatsethik in einer Gesinnungsethik all derer, die in diesem Staat Verantwortung tragen; das sind das Volk und seine Funktio­ näre,76 nämlich die Menschen, die in der heutigen Demokratie Beauftragte des Volkes sind, was die Bezeichnung Mandatar besonders ausdrückt. Johannes Messner hat für all diese in seinem gesamten Schrifttum genügend Hinweise für eine sittlich gerechtfertigte Verantwortungsausübung gegeben und die christliche Lehre vom Staat, wie sie mit Aurelius Augustinus‘ Werk 69  Messner,

a. a. O., S.  14. a. a. O., S.  25. 71  Johannes Messner, Das Gewissen als Instanz politischen Handelns, in: Ethik und Gesellschaft, S. 31 ff. 72  Messner, a. a. O., S.  39. 73  Messner, a. a. O., S.  39. 74  Max Weber, Gesammelte politische Schriften, hrsg von Johannes Winckelmann, Tübingen 1971, S. 221. 75  Messner, a. a. O., S.  42. 76  Dazu ausführlich Johannes Messner, Der Funktionär – seine Schlüsselstellung in der heutigen Gesellschaft, Innsbruck 1961. 70  Messner,



Johannes Messner461

„De Civitate Die“ und mit Thomas von Aquins Schrift „De regimine principum“ Grundlegendes erreichte, wegweisend für unsere Zeit fortgesetzt; denn Johannes Messner gibt die ethischen Maßstäbe an, um die vom positiven Recht geprägten Rechtswege des Mehrzweckstaates im Dienste des Menschen, seiner Freiheit und Würde gemeinwohlgerecht zu nutzen. VIII. Zeiterfordernisse Die Betrachtung der Lehre von Johannes Messner auch in Bezug auf Recht und Staat, die aus Anlaß seines 110. Geburtstags angestellt wurde, ist trotz des zeitlichen Abstands keine historische Reminiszenz, sondern von unmittelbarer Aktualität, und zwar sowohl aus der Sicht der römisch katholischen Kirche als auch des Rechtes und Staates in der neuen Ordnung Europas. Die Aktualität der Lehre Johannes Messner ist vor allem darin begründet, daß er diese Lehre im wahrsten Sinn des Wortes in Zeitverantwortung gegeben hat, er hat nämlich auf Anforderungen seiner Zeit Antwort gegeben und das in einer Weise, die in Form und Inhalt zukunftsweisen ist. So war sich Johannes Messner der Eigenständigkeit der einzelnen Lebens- und Sachbereiche bewußt und hat die Ethik auf die Sachanliegen der Kultur-, Rechts-, Sozial-, Wirtschafts- und Staatsordnung bezogen. Damit hat er schon lange vor dem II. Vatikanischen Konzil das hervorgehoben, was im Art. 36 der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ über „Die richtige Autonomie der irdischen Wirklichkeiten“ festgestellt und anerkannt wird. Zum Unterschied von anderen sah sich aber Johannes Messner nicht veranlaßt, das Anliegen dieses Konzils zur Konfrontation zu nehmen, sondern vielmehr zur Kontemplation. Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, der zwar persönlich stille, weil auch nicht Aufsehen erregen wollende Johannes Messner hat mit dieser seiner Lehre das Konzil insofern vorausgedacht, als er nämlich den Dialog von Glaube und Welt durch sein Wirken als Priestergelehrter in dem Bereich der Sozialwissenschaften führte. Intellektualität und Spiritualität haben sich in und bei Johannes Messner vereint. Mit diesem seinem Ethikbezug in möglichst vielen Sachbereichen des öffentlichen und privaten Lebens hat Johannes Messner zu einem Grundsatzdenken hingeführt, das Grundwerte erkennen ließ. Diese Gedanken Johannes Messners sind besonders in einer Zeit sehr aktuell, in der man sich darum bemüht, daß die Europäische Union in einer neuen Form der Integration als eine Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsgemeinschaft auch eine Wertegemeinschaft ist, was Papst Johannes Paul II. immer wieder, auch in seiner Europarede in der Wiener Hofburg bei seinem

462

Johannes Messner

letzten Österreichbesuch 1998, einfordert und mit seiner Forderung einer „Europäisierung“ unseres Kontinents immer wieder verlangt.77 Mehr oder weniger gelungen zeigt sich dieses Streben auch in dem derzeitigen Bemühen um die Weiterentwicklung des EU-Rechtes, etwa auch im Hinblick auf den Grundsatz der Subsidiarität, den Johannes Messner besonders herausgearbeitet hat und der von der EG-Konferenz von Maastricht zur Beachtung gefordert wurde, weiters auch in der Erarbeitung einer eigenen EU-Grundrechtscharta. Johannes Messner, der bekanntlich 1984 heimgegangen ist, hat dieses Bemühen um eine Neuordnung Europas zwar auf dem Weg zur Integration, aber nicht die politische Wende selbst mit dem Ende des Kommunismus sowie der Teilung Europas erlebt. Er hat aber durch seine Lehre vom Recht und Staat vorausdenkend entscheidend zu dem materiellen Verfassungsverständnis im Sinne eines Wertedenkens beigetragen, das nach dem Ende kommunistischen Machtblocks für das Entstehen neuer Demokratien in den Verfassungen der postkommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas nach den Volksdemokratien so prägend wurde. Man übersehe nämlich nicht, durch das Disaster des Kommunismus, um einen mir selbst gegenüber in Warschau vom damaligen polnischen kommunistischen Ministerpräsidenten Mieczyslaw F. Rakowski 1989 gebrauchten Ausdruck zu verwenden, und damit dem Ende der Volksdemokratien ist ein ideologisches Vakuum entstanden und wurde die katholische Soziallehre besonders aktuell. Hier könnte sie sich auch bewähren, denn das Ende des Kommunismus ist nicht das Ende der sozialen Frage, im Gegenteil, die soziale Frage stellt sich in diesen neuen Demokratien Mittel- und Osteuropa in besonderer, nämlich neuer Aktualität! Wir dürfen aber auch in unserem Land nicht übersehen, daß Johannes Messner mit seiner Lehre und seinem Schrifttum, wie neben dem Fundamentalwerk „Das Naturrecht“ besonders mit seinen Publikationen „Das Gemeinwohl“, „Die soziale Frage“, „Der Funktionär – seine Schlüsselstellung in der heutigen Gesellschaft“ sowie „Ethik und Gesellschaft“ zur politischen Ethik und damit zur Beantwortung von Wertfragen hinführt, die in Österreich offen sind, weil unser Bundes-Verfassungsgesetz 1920 seinem Entwurf nach bekanntlich auf den Rechtspositivisten Hans Kelsen zurückgeht und daher wertneutral ist. Wertentscheidungen fallen auf einfachgesetzlicher Ebene und verlangen politische Entscheidungen. Auf diese Weise wirkt Johannes Messner mit seiner Lehre über seine Lebenszeit hinaus, gibt ein Beispiel, wie es heute auch im akademischen 77  Dazu z. B. Johannes Paul II. und Österreich, Festgabe zum 80. Geburtstag des Heiligen Vaters, hrsg. vom Sekretariat der Österreichischen Bischofskonferenz, St. Pölten 2000, S. 381.



Johannes Messner463

Leben keine Selbstverständlichkeit mehr ist, nämlich, ohne sich in verbali­ stischer Form um Schlagwortpopularität und Aufsehen zu bemühen, der Wahrheit allgemein gültig zu dienen. Johannes Messner ging es um die Sache und nicht um die persönliche Profilierung, etwa auf Kosten anderer. So hat bereits Anton Rauscher schon in dem Sammelband „Zeitgeschichte in Lebensbildern“ in der Biographie Messners mit Recht hervorgehoben: „Man findet in dem gesamten Schrifttum Messners keinen einzigen Satz, in dem er Andersdenkende abwertend oder mit billigem Sarkasmus begegnet wäre. Auch dort, wo er sich mit Positionen und Bestrebungen auseinandersetzte, die er nicht teilen konnte und ihm zuwider waren, geschah dies immer in Respekt und Achtung der Würde und Freiheit des anderen, in Argumenten, mit denen er überzeugen wollte, in einer Sprache, die keine persönliche Verstimmung verursachen konnte.“78 Auf diese Weise ist Johannes Messner nicht nur beachtenswert mit dem, was er geleistet hat, sondern auch wie. Er ist als Priester und Gelehrter ein Vorbild, das richtungsgebend ist. Wer wollte leugnen, daß dies nicht auch heute von großer Bedeutung ist. Johannes Messner hat das in seinem langen Leben getan, was unser Heiliger Vater Papst Johannes Paul II. zehn Jahre nach dem Heimgang von Johannes Messner in seinem Apostolischen Schreiben „Tertio Millenio Adveniente“ zur Vorbereitung auf das Jubeljahr 2000 als Pflicht 1994 verdeutlichte, nämlich die Zeit, die uns geschenkt ist, zu heiligen.79 Ein Priestergelehrter, der für unsere Zeit ebenfalls sehr prägend war und Johannes Messner viele Jahrzehnte kannte, nämlich Arthur Fridolin Utz O.P. hat unmittelbar nach der Beisetzung von Johannes Messner am 20. Februar 1984 in einem Brief geschrieben, er könne dieses Leben nur mit dem des Heiligen Thomas von Aquin vergleichen: „Ein tief frommer, überragender Wissenschaftler, dessen einzige Absicht es war, der Kirche zu dienen und ihre Soziallehre zu vertiefen und zu verbreiten. Er wollte seine eigene Person ganz zurücktreten lassen, um nur die katholische Wahrheit ins Licht zu setzen.“80 Unvergeßlich bleibt mir auch eine Begegnung mit dem aus Oberöster­ reich stammenden Missionar und Jesuitenpater Franz Reiterer SJ im No78  Anton Rauscher, Johannes Messner 1891–1984, in: Zeitgeschichte in Lebensbildern, Band 6. Aus dem deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, hrsg. von Jürgen Aretz, Rudolf Morsey und Anton Rauscher, Mainz 1984, S. 261. 79  Apostolisches Schreiben Tertio Millenio Adveniente von Papst Johannes Paul II. an die Bischöfe, Priester und Gläubigen zur Vorbereitung auf das Jubeljahr 2000, Vatikanstadt 1994, Nr. 10, S. 18. 80  Brief von o. Univ.-Prof. Arthur Fridolin Utz O.P. vom 10.2.1984 an Frau Dr. Senta Reichenpfader.

464

Johannes Messner

vember 1979 im Norden Thailands, nahe der Grenze zu Burma, in Chiangmai, der mir erzählte, daß er neben seinem pastoralen Wirken auch an einer Privatuniversität Ethik unterrichtet und ihm das „Naturrecht“ von Johannes Messner die Grundlage für all seine Vorlesungen sei. Der frühere Vorarlberger Landeshauptmann Dr. Herbert Kessler sagte schon vor vielen Jahren einmal zu mir, da0 das „Naturrecht“ von Johannes Messner eine ganze Bibliothek ersetze, so inhaltsreich sei es und für ihn als Politiker wegweisend. Der einstige Generalsekretär der Bundeswirtschaftskammer und zeitweilige Bundesminister für Finanzen Österreichs Dr. Franz Korinek meinte nach dem Lesen von Johannes Messner Buch über die soziale Frage, er hätte sich manche Schwierigkeit erspart, wenn er dieses Werk früher gekannt hätte. Als Johannes Messner am 3. Juli 1971 von Rektor Univ.-Prof. Dr. Emerich Coreth sowie Dekan Univ.-Prof. Dr. Clemens August Andreae das Ehrendoktorat an der Innsbrucker Universität erhielt, wurde er mit Recht in der Würdigung, an deren Formulierung auch Prof. Dr. Ernst Kolb mitgewirkt hatte, als „großer Soziologe und Ethiker“, der sich „mit allen Fragen des gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens befaßt hat“, bezeichnet. Nicht unerwähnt möchte ich auch den früheren österreichischen Justizminister, den emeritierten Staatsrechtslehrer der Innsbrucker Universität Hans Klecatsky sein lassen, der mir in seinem sein heutiges Fernbleiben entschuldigendem Brief vom 12. Jänner d. J. schrieb: Johannes Messner, den er auch persönlich kannte und fast alle seine Werke von ihm erhalten hatte, ausgenommen das „Naturrecht“, das er von Rene Marcic erhalten hatte, sei ein „über alle Maßen verehrungswürdiger Gottesmann … Mesnners Bild – ich besuchte ihn einmal – steht über die Jahrzehnte hinweg in seiner Körperlichkeit in aller Klarheit – wie kaum ein anderer – vor mir – und, daß er Recht hatte und hat, steht außer Zweifel.“81 Hans Klecatsky hat mit diesen seinen wenigen Worten die Bedeutung und die Richtigkeit der Naturrechtslehre von Johannes Messner verdeutlicht. Auch die nach seinem Heimgang von uns allen erlebte politische Entwicklung in Europa und darüber hinaus hat ihm Recht gegeben. Die Menschen sind nämlich Ende der Achtziger Jahre nicht für das positive Recht, das ihnen ja jeden Protest und jede Demonstration verboten hätte, sondern für das präpositive Recht, für das Naturrecht auf die Straßen und Plätze in Mittelund Osteuropa gegangen, um sich für ein Recht, das sie zwar begrifflich nicht kannten, das sie aber ahnten bzw. fühlten, und für eine menschliche neue Ordnung auch unter Gefährdung ihres Lebens einzusetzen. 81  Brief vom 12.1.2001 vom Bundesminister i. R. em. o. Univ.-Prof. Dr. Hans R. Klecatsky an den Verfasser, S. 1 f.



Johannes Messner465

IX. Messners Lehre als Zukunftsauftrag So hat das Leben selbst, dessen natürliche Ordnung er studierte und darstellte, die Lehre von Johannes Messner bestätigt. Dieses Erleben der Richtigkeit dieser seiner Lehre verbleibt nach seinem Ableben als Auftrag auch für die Zukunft. Viele tragen schon zur Erfüllung dieses Auftrags bei: wie die Johannes Messner-Gesellschaft mit ihrem unseren Kontinent bis Japan überschreitenden Wirken und in dieser deren Präsident Prälat Univ.-Prof. Dr. Rudolf Weiler, als sein Lehrkanzlernachfolger mit seinem auch für das akademische Leben, in dem doch jeder gerne alleine groß ist, gegebenen Beispiel treuer Verbundenheit mit seiner Naturrechtslehre, weiters Prof. Dr. Alfred Klose, dem ich 1960 meine erste persönliche Begegnung mit Johannes Messner verdanke, mit seinen Publikationen zur katholischen Soziallehre sowie gemeinsam mit seiner Frau, der Nichte Johannes Messner, sind sie Johannes Messner familiär nahegestanden, wie freundschaftlich Dr. Wolfgang Schmitz, seine verstorbene Frau Schwester und seine gottseligen Eltern. Wenn wir Johannes Messner gedenken, dann glaube ich, auch bei dieser Gelegenheit einer Persönlichkeit im Namen aller danken zu müssen, die Jahrzehnte ihres Lebens, schon vom Studium in ihrer Jugend her, verständnisvollst und das bis zum Ableben Johannes Messner, gewidmet hat, nämlich Frau Dr. Senta Reichenpfader, die vergangenes Jahr schon ein eindrucksvolles literarisches Portrait von Johannes Messner gegeben hat und gemeinsam mit Prof. Weiler erst vor wenigen Wochen auch vor Petri Thron im Vatikan gegenüber Papst Johannes Paul II. ihr Bekenntnis zu Johannes Messner erneut ablegte. Vom Menschen, so sagt ein indisches Sprichwort, gibt es drei Bilder: das erste Bild hat der Mensch von sich selbst, hier sah sich Johannes Messner, wie wir ihn auch bei allen äußeren Ehren mit seinem stillen Lächeln erleben durften, bescheiden, so wollte er z. B. nie mehr als nur dem Titel nach Ordinarius sein und kein akademisches Amt annehmen; als ich ihn einmal fragte, welche von seinen vielen Ehrungen und Anerkennungen ihn am meisten gefreut hatte, antwortete er mir, als größten Erfolg habe er es empfunden, daß ein Häftling – ich glaube aus dem englischsprachigen Raum – nach Verbüßung seiner Strafe ihm geschrieben habe, daß er nach dem Lesen einer seiner Schriften – ich meine es war „Das Wagnis des Christen“ – sich nicht mehr vor der Freiheit fürchte! Das zweite Bild haben die anderen von einem Menschen, dieses Bild habe ich mir erlaubt, heute mit meinen Worten von Johannes Messner zu zeichnen, und das dritte Bild hat Gott von einem Menschen, diese Bild können wir nur ahnen. Aber heute in dieser Stunde im Schatten von St. Stephan

466

Johannes Messner

können wir Gott dem Herrn danken, daß es Johannes Messner gab und wir ihn erleben durften; die Wegweisung seines Lebens, seiner Worte und seiner Schriften begleiten uns auch im dritten nachchristlichen Jahrtausend in die Zukunft, damit Recht und Staat menschlicher und die Menschen gottesebenbildlicher werden.

Alfred Verdross als Rechtsphilosoph und die Wiener Rechtstheoretische Schule* Jeder Jurist ist in der Situation, eine Rechtsordnung vorfindend, sich mit ihr annehmend oder ablehnend auseinander zu setzen. Das beginnt mit dem Studium und setzt sich je nach der Berufswahl auch später fort. Selbst wer keinen juristischen Beruf ausübt, wird in seinem Leben nach seinem Studium von einem Rechtsbewusstsein begleitet, das – mehr oder weniger bewusst oder nicht – sein Verantwortungsdenken prägt. Neben der Rechtsordnung sind es Orts- und Zeitumstände sowie diese begleitend politische Bedingtheiten, die für dieses Verantwortungsdenken bestimmend sind. Diese mehr allgemeinen Feststellungen gelten besonders für Alfred Verdross (1890–1980).1 Er erlebte Österreich zunächst als Vielvölkerstaat mit monarchischer Staatsform, ab 1918 als demokratische Republik, unterbrochen von 1933 bis 1945 von einer autoritären Zeit, welcher er vor 1938 kritisch und nach der Okkupation Österreichs durch Hitlerdeutschland 1938 bis 1945 ablehnend gegenüberstand. Mit der Wiedererlangung der Freiheit und vollen Souveränität war Österreich ein Land geworden, für das er als Rechtswissenschaftlicher repräsentativ sich voll einsetzte. Zu einem besonderen Geburtstag von Alfred Verdross stellte bereits Stephan Verosta fest, „dass Verdross wissenschaftliche Leistungen, in welcher Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und die Rechtsdogmatik von Völkerrecht und internationalem Privatrecht zu organischer Einheit zusammengewachsen sind, bereits zu einem wesentlichen Bestandteil nicht nur der österreichischen, sondern der europäischen Geistesgeschichte geworden sind“,2 und es darf hinzugefügt werden: es mit Weltgeltung sind. Das Echo seiner mehrfach übersetzten und in verschiedenen Erdteilen erfolgten Publikationen bezeugt *  Erschienen in: Die Welt im Spannungsfeld zwischen Regionalisierung und Globalisierung. Festschrift für Heribert Franz Köck, hrsg. von Peter Fischer  /  Margit Maria Karollus / Sigmar Stadlmeier, Wien 2009, S. 527 ff. 1  Köck, Alfred Verdross – ein österreichischer Rechtsgelehrter von internationaler Bedeutung, Schriftenreihe Niederösterreichische juristische Gesellschaft, Heft 56, Wien 1991; derselbe, Leben und Werk des österreichischen Rechtsgelehrten Alfred Verdross, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht 1 / 1991, 31 ff. 2  Verosta, Alfred Verdross – Leben und Werk, in: Frhr v d Heydte / Seidl-Hohenveldern / Verosta / Zemanek (Hg.), Völkerrecht und rechtliches Weltbild, Festschrift für Alfred Verdross, Wien 1960, 1.

468

Alfred Verdross als Rechtsphilosoph

dies; mit ihnen ist er, wie es schon Heribert Franz Köck feststellte, „für uns lebendige Gegenwart geblieben“.3 I. Das Entstehen der Wiener Rechtstheoretischen Schule Zur Lebendigkeit und Vergegenwärtigung von Alfred Verdross im Rechtsdenken hat sein Bemühen um die Einheit des rechtlichen Weltbildes, ausgehend vom Völkerrecht,4 im Allgemeinen und im Besonderen seine Auseinandersetzung mit dem Rechtspositivismus und dem Naturrecht beigetragen. Hans Kelsen, der zunächst sein Lehrer und hernach sein Kollege war, erklärte dazu 1926: „Der Positivismus ist nicht erledigt und wird nie erledigt sein, sowenig wie das Naturrecht erledigt ist, dieses erledigt sein wird. Dieser Gegensatz ist ein ewiger. Die Geistesgeschichte zeigt mir, daß bald der eine, bald der andere Standpunkt in den Vordergrund tritt. Mir scheint sogar, daß es sich hier nicht nur um einen Gegensatz in der Geistesgeschichte, sondern um einen solchen handelt, der in jedes Denkers Brust lebendig ist, Naturrecht ist juristische Metaphysik. Und der Schrei nach Metaphysik tönt jetzt – nach einer Periode des Positivismus und Empirismus – wieder allenthalben und auf allen Erkenntnisgebieten. Wohin führt aber dieser Ruf nach Metaphysik und Naturrecht auf dem Gebiet der Jurisprudenz?“5 Alfred Verdross war zu dieser Frage- und Problemstellung durch Hans Kelsen gekommen, in dessen Privatseminar er eintrat, dem neben ihm auch Adolf Merkl,6 mit dem er später an der Seite Kelsens ein Mitbegründer der Wiener Rechtstheoretischen Schule7 würde, sowie Leonidas Pitamic, Franz Sander und Felix Kaufmann angehörten. Kelsen selbst erzählte am Karfreitag 1967 dem Verfasser während seiner Lehrtätigkeit in den USA bei einem Gespräch in Berkeley, dass er sich gut erinnere, wie General Ignaz Verdross 3  Köck,

Alfred Verdross, 9. Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung Tübingen 1923. 5  Kelsen, Aussprache in Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 3, Berlin und Leipzig 1927, 53 f. 6  Schambeck, Adolf Merkl und die Wiener Rechtstheoretische Schule, in: Staatsrecht und Staatswissenschaften in Zeiten des Wandels, Festschrift für Ludwig Adamovich zum 60.  Geburtstag, hg. von Funk / Klecatsky / Loebenstein / Mantl / Ringhofer, Wien / New York 1992, 621 ff., Neudruck, in: derselbe, Der Staat und seine Ordnung, ausgewählte Beiträge zur Staatslehre und zum Staatsrecht, hg von Hengstschläger, Wien 2002, 781 ff. 7  Siehe die Wiener Rechtstheoretische Schule, Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, hg. von Klecatsky / Marcic / Schambeck, 2 Bände, Wien / Salzburg 1968. 4  Verdross,



Alfred Verdross als Rechtsphilosoph469

Edler von Drossberg ihn in seiner Wiener Wohnung besuchte, um ihm für die Aufnahme seines Sohnes Alfred in sein Privatseminar zu danken. Dieses Seminar wurde zur Keimzelle und Wirkstätte der Wiener Rechtstheoretischen Schule, für die Kelsen bereits mit seiner Habilitationsschrift „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze“, Wien 1891, wegweisend wurde. Kelsen ging es mit seiner Lehre um die Entwicklung einer sogenannten „reinen Rechtstheorie“. Sie fand 1934 in seinem Buch „Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtwissenschaftliche Problematik“, Leipzig und Wien 1934, ihre klassische Prägung, die vielzitiert wie kein anderes rechtswissenschaftliches Werk ein internationales Echo fand, was der Verfasser darauf angesprochen bei Gastvorlesungen in verschiedenen Erdteilen immer wieder selbst erlebte. Schon einleitend erklärte Kelsen in seinem Werk: „Die Reine Rechtslehre ist eine Theorie des positiven Rechts … Sie versucht die Frage zu beantworten, was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder gemacht werden soll. Sie ist Rechtswissenschaft, nicht aber Rechtspolitik.“8 Mit dieser seiner Lehre vom positiven Recht ging es Kelsen um eine möglichst allgemein gültige Lehre von der Geltung sowie der Struktur des positiven Rechts. In diesem Sinne war Kelsen um die Darstellung einer von geistigen Bedingtheiten unabhängigen wertfreien Anatomie des positiven Rechts, das für jeden Staat unabhängig von seiner Form und seinem Aufbau von Bedeutung sein kann9, bemüht. Das Bemühen um die Allgemeingültigkeit dieser Lehre verband Kelsen mit dem nach der Offenheit seiner Schule, die sich über sein Seminar hinaus entwickelte. Anschaulich stellte er daher in seinem Vorwort zur „Reinen Rechtslehre“ fest: „Ein Kreis von Gleichstrebenden schloss sich enger zusammen, den man meine ‚Schule‘ nennt und der es nur in dem Sinne ist, dass hier jeder versucht, vom anderen zu lernen, ohne darauf zu verzichten, einen eigenen Weg zu gehen. Nicht gering ist auch die Zahl jener, die ohne sich zur Reinen Rechtslehre zu bekennen, zum Teil ohne sie zu nennen, ja sogar sie direkt und wenig freundlich ablehnend, wesentliche Erkenntnisse von ihr übernehmen.“10 Kelsen selbst zeugte für diese Offenheit, als er von 8  Kelsen, Reine Rechtslehre, Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, Leipzig/Wien 1934, 1. 9  Schambeck, Möglichkeiten und Grenzen der Rechtslehre Hans Kelsens, Juristische Blätter 5–6 / 1984, 126 ff., Neudruck, in: derselbe, Der Staat und seine Ordnung, 765 ff. 10  Kelsen, a. a. O., III f.; ähnlich schon derselbe, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, 2. Aufl. Tübingen, 1923, XXIII.

470

Alfred Verdross als Rechtsphilosoph

Adolf Merkl dessen Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung11 in seine Reine Rechtslehre übernahm,12 und dies auch bei anderen Thesen, „ohne sich immer ausdrücklich“, wie schon Gabriele Kucsko-Stadlmayer hervorhob, „auf Merkl zu beziehen“.13 Zur Übernahme der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung bezeugte Kelsen die Urheberschaft Merkls rückblickend zum 70. Geburtstag Merkls und stellte fest, sie ist „zu einem wesentlichen Bestandteil der von mir vertretenen Reinen Rechtslehre geworden … und so muss Adolf Merkl als einer ihrer Mitbegründer angesehen werden“,14 den 1960 Kelsen zu seinem 70. Geburtstag „als ein wahres Genie rechtswissenschaftlichen Denkens“15 bezeichnete. Eingetreten in das Privatseminar Kelsens, wurde mit Merkl auch Verdross in der Folge einer der Mitbegründer der späteren Wiener rechtstheoretischen Schule. In dieser Schule ging es Kelsen, Merkl und Verdross in gleicher Weise um die Einheit des rechtlichen Weltbildes, Merkl mehr orientiert auf das Staats- und Verwaltungsrecht16 und Verdross17 auf das Völkerrecht und die internationalen Beziehungen wie auch um deren Voraussetzungen. Dieses Apriori und die Bedingtheit des positiven Rechts wurden von den Gründern der Wiener Rechtstheoretischen Schule in ihrer Notwendigkeit erkannt. Kelsen sah die erste Voraussetzung des positiven Rechts in der sogenannten Grundnorm,18 die für ihn fiktiv und inhaltsleer war; sie „ist die 11  Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz, eine Betrachtung aus der Erkenntnistheorie des Rechts, Juristische Blätter 1918, 425 ff., 444 ff. und 463 ff., Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, 1091 ff.; derselbe, Das Recht im Lichte seiner Anwendung, Deutsche Richterzeitung 7–8  /  1917, 3 ff., Neudruck, 1167; derselbe, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Gesellschaft, Staat und Recht, Festschrift für Hans Kelsen zum 50. Geburtstag, Wien 1931, 252 ff., Neudruck, 1311 ff. 12  Kelsen, Reine Rechtslehre, 62 und 73 ff. 13  Kucsko-Stadlmayer, Der Beitrag Adolf Merkls zur Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hg.), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre, Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Band 18, Wien 1992, 108. 14  Kelsen, Adolf Merkl zu seinem siebzigsten Geburtstag am 23. März 1960, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht NF 10 / 1959–60, 313. 15  Kelsen, a. a. O. 16  Merkl, Die Verfassung der Republik Deutschösterreich, ein kritisch-systematischer Grundriss, Wien/Leipzig 1919, derselbe, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien/Berlin 1927, Neudruck Darmstadt 1969; derselbe, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs, ein kritisch-systematischer Grundriss, Wien 1935. 17  Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung; derselbe, Völkerrecht, 1. Aufl. Berlin 1937. 18  Kelsen, Reine Rechtslehre, mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, 2. Aufl. Wien 1960, bes. 196 ff., 204 ff., 221 ff. und 232 ff.



Alfred Verdross als Rechtsphilosoph471

gemeinsame Quelle für die Geltung aller zu einer und derselben Ordnung gehörigen Normen, ihr gemeinsamer Geltungsgrund“.19 Dieses Normensystem ist ein statisches,20 welches durch die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung Merkls dynamisiert wurde. Kelsen war um die Reinheit und Geschlossenheit der Rechtslehre, um ihr Sollen und um keine wie immer geartete Verbindung zum Sein21 und zur Moral bemüht, anders hingegen Verdross und Merkl. II. Verdross’ Hinwendung zum Naturrecht Verdross gewann in dem Bemühen um die Begründung des Völkerrechts „aus der Lehre von den allgemeinen Rechtsgrundsätzen“, wie schon Köck ausführte, „einen weiteren induktiven Beweis für seine naturrechtliche Position“.22 Verdross betont die systematische Verknüpfung von Recht und Moral. Für ihn ist „Die Geltung der positiven Rechtsordnung von der Moral abhängig … Recht und Moral sind daher notwendigerweise verknüpft.“23 Verdross anerkennt auch die Freiheit und Würde des Menschen in ihrem Auftrag an den Gesetzgeber und als Wegweisung durch die abendländische Rechtsphilosophie.24 Im Unterschied zu Kelsen bejaht Verdross das Naturrecht und betont, „dass das Naturrecht kein Recht im juristischen Sinne bildet, das mit sozialen Sanktionen verknüpft ist, sondern aus Grundsätzen besteht, die dem positiven Recht vorgegeben sind und mit dem natürlichen Lichte der Vernunft erschlossen werden können“.25 In seiner weiteren Forschungs- und Lehrtätigkeit hatte sich Verdross mit dem Naturrecht im Zusammenhang mit der Geschichte der Rechtsphilosophie abendländischer Prägung beschäftigt und wie kein anderer Vertreter der Wiener Rechtstheoretischen Schule auch geradezu systematisierend die einzelnen Lehren des Naturrechts, wie die weltliche, naturalistische, rationalis19  Kelsen,

a. a. O., 197. a. a. O., 198. 21  Köck, Alfred Verdross, 15. 22  Köck, a. a. O., 17 und Verdross, Der Einfluss der Naturrechtslehre auf Theorie und Praxis der internationalen Beziehungen, Österreichische Zeitschrift für öffent­ liches Recht 13 / 1963, 106 ff. 23  Verdross, Die systematische Verknüpfung von Recht und Moral, Forum der Rechtsphilosophie 1950, 9 ff., Neudruck in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, 517. 24  Verdross, Die Würde des Menschen in der abendländischen Rechtsphilosophie, in: Höffner  /  Verdross  /  Vito (Hg.), Naturordnung in Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Festschrift für Johannes Messner, Innsbruck / Wien / München 1961, 353 ff. 25  Verdross, Statisches und dynamisches Naturrecht, Freiburg 1971, 9. 20  Kelsen,

472

Alfred Verdross als Rechtsphilosoph

tische und individualistische Naturrechtslehre,26 veranschaulicht, naturrechtliche Nebenströmungen 27 registriert sowie in der Rechtsphilosophie der Gegenwart28 die Renaissance der materialen Rechtsphilosophie verdeutlicht.29 In kritischer Würdigung der Ergebnisse der Entwicklung des Rechtsdenkens hebt Verdross die Hauptrichtungen der rational-empirischen, metaphysischen, theozentrischen und anthropozentrischen Naturrechtslehre in der pluralistischen Gesellschaft30 hervor. Er deckt die philosophische Wurzel und die soziologische Grundlage der Würde des Menschen31 auf und nennt „neben dem Begriffe der Würde des Menschen“ den Begriff des „bonum commune“ einen Grundbegriff der Naturrechtslehre, da er auf den Zweck des Gemeinschaftslebens gerichtet ist.32 Während Kelsen die Reinheit seiner Rechtslehre mit der Unterscheidung von Sein und Sollen33 sowie der Distanz zu Religion, Ideologie und Weltanschauung, mit denen er sich wohl auseinandersetzte,34 zu sichern suchte, ging Verdross einen anderen Weg. Nach Auseinandersetzung mit dem Rechtspositivismus35 entwickelte er eine christlich orientierte Ordnung des Rechts zwischen den Staaten36 und eine christliche Naturrechtslehre, was sich auch in einer seiner letzten Publikationen, nämlich über „Statisches und dynamisches Naturrecht“ 1970 besonders zeigt. Er schließt sich der Dreistufigkeit der Naturrechtslehre bei Augustinus37 und Thomas von 26  Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, ihre Grundlagen und Hauptprobleme in geschichtlicher Form, 2. Aufl. Wien 1963, 108 ff., 113 ff., 128 ff. und 151 ff. 27  Verdross, a. a. O., 181 ff. 28  Verdross, a. a. O., 199 ff. 29  Verdross, a. a. O., 215 ff. 30  Verdross, a. a. O., 244 ff., 252 ff. und 256 ff.; beachte auch Köck, Die Funktion des Naturrechts in einer pluralistischen Gesellschaft, in: Mayer-Maly / Simons (Hg.), das Naturrechtsdenken heute und morgen, Gedächtnisschrift für René Marcic, Berlin 1983, 803 ff. 31  Verdross, a. a. O., 257 ff. 32  Verdross, a. a. O., 268. 33  Kelsen, a. a. O., insb 5 ff., 215 ff. und 42 ff. 34  Kelsen, Politische Weltanschauung und Erziehung, Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung, Band 2, 1913, 1 ff., Neudruck, in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, 1501 ff.; derselbe, Gott und Staat, Wadeda Lano Review 3 / 1925, 1 ff., sowie Metall, Hans Kelsen Leben und Werk, Wien 1969, 110 ff. 35  Verdross, Statisches und dynamisches Naturrecht, 59, 65 und 94, siehe auch Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, Darmstadt 1962. 36  Verdross, Die Entstehung der christlichen Völkerrechtslehre und ihre Entfaltung durch die Päpste sowie durch das Zweite Vatikanische Konzil, in: Theodor Tomandl (Hg.), Der Einfluss des katholischen Denkens auf das positive Recht, Wien 1970, 7 ff. 37  Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, S. 62 ff.



Alfred Verdross als Rechtsphilosoph473

Aquin38 an, hebt die Unterscheidung in primäres und sekundäres Naturrecht sowie positives Recht in der christlichen Rechtsphilosophie hervor,39 um abschließend zu betonen: „Das Naturrecht bedarf des positiven Rechts, um in einer Gemeinschaft wirksam zu werden und das positive Recht ist im Gewissen nur verbindlich, wenn es dem Naturrecht entspricht. Bloß in ihrer Verbindung entsteht das konkrete Recht einer bestimmten Gemein­ schaft.“40 Für Verdross erweist sich, was in der Sicht Kelsens seiner „Reinen Rechtslehre“ undenkbar wäre, „das Naturrecht als das humane Gewissen des positiven Rechts. Ohne Naturrecht würde es erstarren oder mangels eines Kompasses sein Ziel verfehlen, in jeder geschichtlichen Lage das Zusammenleben der Menschen in geordneter Freiheit und unter Wahrung der Würde aller Menschen zu regeln.“41 Bei aller Anerkennung und Bejahung des Naturrechts ist sich Verdross auch dessen Grenzen bewusst und betont: „Wir müssen zwischen dem Naturrecht und der Naturrechtslehre unterscheiden, da jenes ein Normengebilde, diese aber eine auf seine Erkenntnis gerichtete Betrachtungsweise bildet. Daher können in einer konkreten Lage nur bestimmte naturrechtliche Normen der Sachlage entsprechen; es kann aber verschiedene, mehr oder weniger gelungene Versuche geben, diese Normen zu ermitteln. Ihr Unterschied erklärt sich aus der partiellen Verschiedenheit der ihnen zugrunde liegenden Menschenbilder. Man kann aber hoffen, dass mit fortschreitender Erkenntnis der menschlichen Natur die verkürzten Menschenbilder überwunden werden können.“42 Verdross unterstreicht: „Veränderlich sind also nur die Konkretisierungen des primären Naturrechts … Daher sind die im Laufe der Geschichte ermittelten konkreten Naturrechtsnormen notwendiger Weise dynamisch, obgleich ihre obersten Grundsätze konstant bleiben.“43

38  Verdross,

a. a. O., 71 ff. Primäres Naturrecht, sekundäres Naturrecht und positives Recht in der christlichen Rechtsphilosophie, in Ius et lex, Festschrift für Max Gutswiller, Basel 1959, 447 ff., Neudruck, in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, 787 ff.; siehe dazu Köck, Grundsätzliches zur Geltung und Auslegung des ius divinum, in: Kaluza / Köck / Schambeck (Hg.) Glaube und Politik, Festschrift für Robert Prantner, Berlin 1991, 215 ff. 40  Verdross, a. a. O., 796. 41  Verdross, Statisches und dynamisches Naturrecht, 114. 42  Verdross, a. a. O., 14; beachte dazu auch Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 4. Aufl. Tübingen 2008. 43  Verdross, a. a. O., 115. 39  Verdross,

474

Alfred Verdross als Rechtsphilosoph

III. Merkl und der wertorientierte Rechtspositivismus Gleich Alfred Verdross war auch Adolf Merkl bemüht und interessiert, das Apriori, die Bedingtheiten und die Grenzen des positiven Rechts zu erfassen. Schon in seiner ersten Abhandlung, einer Besprechung des Buches von Erich Jung „Das Problem des natürlichen Rechts“, die 1915 in der Zeitschrift für öffentliches Recht erschienen ist, gelangte Merkl „zur grundsätzlichen Feststellung der Berechtigung und Notwendigkeit beider Erscheinungsformen des Rechts“ und schrieb dem natürlichen Recht die „Mission“ zu, ständiges „regulatives Prinzip des positiven Rechts zu sein.“44 Ähnliche Äußerungen von Merkl finden sich in anderen für sein Rechtsdenken grundlegenden Studien. So erklärte er 1918 in seiner berühmt gewordenen Abhandlung „Das doppelte Rechtsantlitz. Eine Betrachtung aus der Erkenntnistheorie des Rechts“: „Eine Art naturrechtliche Wurzel fehlt keiner wie immer konstruierten Rechtsordnung. Auch hat wohl jeder positive Rechtssatz einmal das Stadium naturrechtlicher Normativität passiert; der Vorwurf der ‚Naturrechtlerei‘ ist dort nicht am Platze, wo erst die Grundsteine des Rechtsgebäudes gelegt werden sollen.“45 Fünf Jahre später schreibt er in seinem Buch „Die Lehre von der Rechtskraft“: „Soll das Chaos von Rechtsgestalten als eine Summe zusammengehöriger Erscheinungen, mit einem Wort, als Rechtssystem, als ein rechtlicher Kosmos gedeutet werden können, dann muß es vielmehr als Ausfluß eines gemeinsamen Ursprungs erkannt werden. Die eine Ursprungsnorm ist nicht anders als die Summe der von ihr abgeleiteten Normen eine rechtliche Gegebenheit, die nur dadurch den Schein der Irrealität annimmt, daß sie nie und nirgends die äußeren Formen des positiven Rechts teilt, insbesondere niemals als sogenanntes geschriebenes Recht auftritt.“46 Merkl erfasst auch das Spannungsverhältnis von Recht und Moral, nicht in einem Nebeneinander, sondern in gegenseitiger Bezogenheit. „Recht und Moral“, schrieb Merkl, „haben möglicherweise und im größten Umfang dieselben Adressaten: Sie fordern aber nicht dasselbe, sondern im größten Umfang verschiedenes Verhalten derselben Person. Schematisch ausgedrückt, verhalten sich Recht und Moral wie zwei einander schneidende Kreise; so ergeben sich Bereiche identischer und unterschiedlicher Forderungen der beiden Norm setzenden Autoritäten an die Adresse desselben 44  Österreichische

Zeitschrift für öffentliches Recht 1 / 1914, 578. Das doppelte Rechtsantlitz. Eine Betrachtung aus der Erkenntnistheorie des Rechts, Sonderabdruck aus „Juristische Blätter“ 1918, 29; Neudruck, 1112. 46  Merkl, Die Lehre von der Rechtskraft entwickelt aus dem Rechtsbegriff, Leipzig / Wien 1923, 210. 45  Merkl,



Alfred Verdross als Rechtsphilosoph475

Menschen, von denen freilich nur jeweils eine als geltend anerkannt werden kann. Wie der Mensch trägt auch die menschliche Gemeinschaft Staat die beiden Möglichkeiten in sich, sittlich oder, was dasselbe ist, moralisch und amoralisch zu wollen und zu handeln.“47 Merkl, der sich in seinem Schaffen bis zum Zweiten Weltkrieg vor allem mit Fragen der Rechtsformen, gestützt auf die Grundlagen der Reinen Rechtslehre, beschäftigte, wofür als Beispiel etwa seine Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung anzuführen ist, wendete sich nun auch mit rechts­ ethischen Problemen der Betrachtung des Rechtsinhalts zu. In seinem Brief an Kelsen vom 7. Mai 1956 schrieb Merkl selbst, dass ihm nun „durch die Erfahrungen des christlich-ständischen Staates, des Dritten Reiches und auch der erneuerten demokratischen Republik die Entsprechung der Gesetzesrechtslage gegenüber einer idealen Gesellschaftsordnung ungleich wichtiger … als die reine Realisierung des positiven Rechts auf dem Wege der Vollziehung“ schien.48 In diesem Brief an Kelsen spricht Merkl selbst von einer „methodisch und inhaltlich gewandelten wissenschaftlichen Haltung“.49 Dies zeigte sich in der Folge auch in seinen Lehrveranstaltungen und Publikationen. So widmete er ab dem Sommersemester 1955 bis zu seiner Emeritierung mit Wintersemester 1962 / 1963 das staatsrechtliche Seminar dem Problemkreis „Politische Freiheit und Gerechtigkeit“. Im Hinblick auf diese nachweisbare Entwicklung hat Karl Korinek in der Besprechung des verdienstvollen Buches von Wolf-Dietrich Grussmann über „Adolf Julius Merkl – Leben und Werk“ hervorgehoben: „Bei der Lektüre des Beitrags wird auch deutlich, wie sich Merkl im Laufe seiner wissenschaftlichen Arbeit vom strikten Positivismus der Reinen Rechtslehre entfernt und nach Ansicht des Rezensenten die Grundlage für die heute in der österreichischen Staatsrechtslehre und der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes herrschende methodische Position eines wertorientierten gemäßigten Positivismus gelegt hat …“.50 Merkl stellte geradezu bekenntnishaft 1961 seinen wissenschaftlichen Standort fest: „Die Reine Rechtslehre ist gerade in ihrem Verdammungsurteil gegen Einmengungen aus anderen normativen und explikativen Wissen47  Merkl, Zum 80. Geburtstag Hans Kelsens Reine Rechtslehre und Moralordnung, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 11 / 1961, 299. 48  Brief Merkls an Kelsen vom 7. Mai 1956, Nachlass, Mappe VIII, siehe auch Grussmann, Adolf Julius Merkl – Leben und Werk, Schriftenreihe des Hans KelsenInstituts, Band 113, Wien 1988, 44 f. 49  Merkl, a. a. O. 50  Korinek, Besprechung von Grussmann, Adolf Julius Merkl – Leben und Werk, ZfV 1990, 23.

476

Alfred Verdross als Rechtsphilosoph

schaften eine theoretische Notwendigkeit, ein Durchbruch zum Recht. Weil dieses aber als allzu menschliche Einrichtung zwischen dem Versuch und der Karikatur der Gerechtigkeit schwankt, bedarf die Rechtstheorie der Ergänzung durch eine Rechtsethik.“51 Merkl wusste um die Bedeutung dieser Feststellung und die Problematik dieser Normbereiche, denn in der gleichen Abhandlung bemerkte er: „Gewiss sind die Kennzeichen der ethischen Normativität noch umstrittener als die der juristischen. Ebenso gewiss ist aber der Erkenntnisgegenstand der Ethik, genauer: die Vorstellung des moralisch Gesollten, wie die obigen Beispiele amoralischen Gehorsams gezeigt haben, das ‚regulative Prinzip‘ und somit, wenn auch in wechselndem Maß, die letzte Quelle des positiven Rechts.“52 Merkl hat somit auch seine Betrachtung der Rechtsform mit einer solchen des Rechtsinhalts zu ergänzen gesucht und den Staat, der die Verantwortung für das positive Recht trägt, zu beurteilen gewusst, denn oft betonte Merkl: „Es gibt Zeiten, in welchen es ehrenvoller ist, durch als für den Staat zu sterben.“ Mit dieser Feststellung anerkannte Merkl auch den Maßstab der Gerechtigkeit. Von ihm erklärte er: „Gerechtigkeit gilt den größten Ethikern als höchster ethischer Wert. Der Staat der geschichtlichen Erfahrung hat die Wahlmöglichkeit zwischen gut und böse, zwischen gerecht und ungerecht. … Die mögliche und ethisch gebotene Rolle der Gerechtigkeit ist die eines regulativen Prinzips für das Recht, sowohl für die Rechtserzeugung als auch für die Rechtsanwendung. … Unabhängig von der philosophischen Frage der Erkennbarkeit des Gerechten ist die Form des Freistaates mit gewährleisteter öffentlicher Kritik geeignet, für die die große Mehrheit das Bewußtsein grundsätzlicher Gerechtigkeit des Staatshandeln hervorzurufen.“53 Merkl setzte sich auch mit dem Problem des Widerstands gegen die Staatsgewalt54 auseinander sowie mit dem Verhältnis von Völkerrecht, Macht und Moral, zu der er festhält: „Trotz allem obsiegt aber selbst nach heutigem Völkerrecht die qualifizierte Macht über die machtlose Moral. … Unvermeidliche Tragik des Rechts! Unvermeidlicher Konflikt von Recht und Moral.“55

51  Merkl,

Reine Rechtslehre und Moral, 313. a. a. O. 53  Merkl, Gerechtigkeit und Staat als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis, Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse der österreichischen Akademie der Wissenschaften, Nr. 22, Wien 1957, 353 f. 54  Merkl, Das Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt im Lichte Christlicher Ethik, in: Naturordnung in Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Festschrift für Johannes Messner, Innsbruck 1961, 467 ff. 55  Merkl, Reine Rechtslehre und Moralordnung, 312. 52  Merkl,



Alfred Verdross als Rechtsphilosoph477

IV. Kelsen und seine Einstellung zum Naturrecht sowie dem positiven Recht Auch Verdross beschäftigte diese Frage- und Problemstellung von Recht und Moral. Er betonte: „Die Moral in engeren Sinne gliedert sich in die Individualmoral und in die soziale Moral. Beide sind aber unlöslich miteinander verknüpft, da der Mensch sowohl eine selbstverantwortliche Person als auch ein soziales Wesen ist.“56 Und er erklärt: Es „ist davon auszugehen, daß jede Gemeinschaftsautorität ihre Befugnis zur Erlassung von Normen aus dem natürlichen Rechtsgesetz herleitet. Dieses ermächtigt aber die Gemeinschaftsautorität nur zur Ergreifung von Maßnahmen, die dem ‚bonum commune‘ dienen, wobei zu berücksichtigen ist, daß es über die Auswahl der geeigneten Mittel, die zu diesem Ziel hinführen, verschiedene Auffassungen geben kann.“57 Verdross wusste, dass es auch autokratische Herrschaft gibt und stellte fest: „Solche Machthaber bilden nur so lange eine naturrechtlich legitimierte Autorität, als ihre Anordnungen von den Gliedern der Gemeinschaft im Großen und Ganzen als geeignete Mittel zur Erreichung der naturrechtlich fundierten Gemeinschaftsziele anerkannt werden.“58 Eine solche Beziehung von Naturrecht und positiven Recht sieht Kelsen nicht gegeben. Er hat sich vor allem in dem Anhang zur zweiten, vollständig neu bearbeiteten und erweiterten Auflage seines Hauptwerkes „Reine Rechtslehre“ mit den „Normen der Gerechtigkeit“59 sowie mit der Naturrechtslehre60 auseinandergesetzt. Für Kelsen erfolgt „eine Beurteilung des positiven Rechts als gerecht oder ungerecht … insbesondere vom Standpunkt der Naturrechtslehre, der zufolge das positive Recht nur gilt, wenn es dem einen absoluten Gerechtigkeitswert konstituierenden Naturrecht entspricht. Nimmt man das an, dann kann eine naturrechtswidrige Norm positiven Rechts nicht als gültig angesehen werden. Es können nur naturrechtsgemäße Normen positiven Rechts gelten … Das heißt aber, dass dieser Theorie nach, in Wahrheit nur das Naturrecht, nicht das positive Recht als solches als gültig angesehen werden kann.“61 Kelsen sieht daher keine Beziehung von Naturrecht und positivem Recht sowie Gerechtigkeit als gegeben, da es sich um zwei verschiedene Sachgebiete handelt; er verdeutlicht: „Der Begriff der Gerechtigkeit muß von dem des Rechts unter56  Verdross,

Abendländische Rechtsphilosophie, 287. a. a. O., 280. 58  Verdross, a. a. O., 281. 59  Kelsen, Reine Rechtslehre, mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, 2. Aufl. Wien 1960, 357 ff. 60  Kelsen, a. a. O., 402 ff. 61  Kelsen, a. a. O., 359. 57  Verdross,

478

Alfred Verdross als Rechtsphilosoph

schieden werden.“62 Diese Rechtsbetrachtung führt bei Kelsen zum Relativismus, den er in der demokratischen Staatswillensbildung gegeben sieht. In diesem Sinn erklärt er in seiner geradezu klassisch gewordenen Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“: „Darum ist der Relativismus die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt“63 und verweist auf das 18. Kapitel des Johannes-Evangeliums, von dem er, der ein Agnostiker war, feststellt: „Die schlichte in ihrer Naivität lapidare Dar­ stellung gehört zu dem großartigsten, was die Weltliteratur hervorgebracht hat; und ohne es zu beabsichtigen, wächst sie zu einem tragischen Symbol des Relativismus und der Demokratie.“64 In dieser Stelle des Evangeliums gibt Johannes die Verurteilung Jesu und die Freilassung des Barabas durch Pilatus nach der Abstimmung durch das Volk wieder. „Die Volksabstimmung fällt gegen Jesu aus. – Da schrien wiederum alle und sagten: Nicht diesen, sondern Barabas. – Der Chronist aber fügt hinzu: Barabas war ein Räuber.“65 Dieser von Kelsen zwischen den beiden Weltkriegen in einer auch durch autoritäre und totalitäre Regime, wie Kommunismus und Nationalsozialismus, herbeigeführten Weltnacht, die Millionen Menschen die Freiheit und das Leben kosteten,66 festgestellte Relativismus fand seine Bestätigung durch die politische Entwicklung in einzelnen Staaten und deren inhumanen Rechtsordnung. Die Reine Rechtslehre als Methode des positiven Rechts hat mit ihrer Wertneutralität im Rechtsdenken sowie Gesinnungsindifferentismus bei vielen Verantwortungsträgern in Rechtssetzung und Rechtsvollziehung die rechtspolitische Voraussetzung für diese Entwicklung geboten, was Kelsen, der selbst eine deutliche Ideologiekritik übte,67 mit seiner Familie sehr opferreich und schmerzlich auf seinem Lebensweg erfahren hat.68 In der Zeit der Herrschaft des Kommunismus hat der Verfasser oft in von diesen Ideologien beherrschten Staaten von damaligen Repräsentanten der Politik und des Rechts gehört, dass für sie der Rechtspositivismus der Reinen Rechtslehre Kelsens beachtens- und begrüßenswert war, nicht hingegen seine Kritik an ihrer Ideologie. 62  Kelsen,

a. a. O., 402. Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen 1929, S. 101. 64  Kelsen, a. a. O., 103. 65  Kelsen, a. a. O., 104. 66  Wolfgang Benz (Hg.), Dimension des Völkermords – Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991, und Courtois / Werth / Panne / Pacskowski / Partosek / Margolin, Das Schwarzbuch des Kommunismus, Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München / Zürich 1997. 67  Metall, a. a. O., 110 ff. 68  Metall, a. a. O., 57 ff., 63 ff. und 77 ff. 63  Kelsen,



Alfred Verdross als Rechtsphilosoph479

Mit seiner Reinen Rechtslehre stellt Kelsen Anforderungen an die Form, nicht aber den Inhalt der Rechtsnormen, die er in der Stufenförmigkeit ihrer Ordnung als Teil der Verfassungskonkretisierung ansah und für sie die Normenkontrolle durch die von ihm geprägte Verfassungsgerichtsbarkeit vorsah.69 V. Bemühungen um Positivität und Humanität Wie schon einleitend bemerkt, ist die Situation von Recht und Staat der jeweiligen Zeit ganz entscheidend für das Rechtsdenken sowie das Rechtsbewusstsein eines Menschen. Kelsen wurde in eine Zeit zunehmender Pluralität der Gesellschaft und wachsender Demokratisierung des Staates hineingeboren. Für diese Zeit ersparte seine Bemühung um die Reinheit seiner Rechtslehre Diskussionen um Werte, besonders bei der Entstehung einer Verfassung, was sich nun mit dem B-VG 1920 in Österreich deutlich zeigte.70 Dieser mit der von ihm angestrebten Reinheit seiner Rechtslehre verbundene Rechtspositivismus vermochte eine Staatsrechtsordnung entstehen zu lassen, die ein formeller Rechtsstaat wurde, „den man“, wie Merkl schrieb, „am kürzesten als Rechtswegestaat bezeichnen konnte, das heißt, jenen Staat, dem außer den Aufgaben des sogenannten Rechts- und des Machtzweckes auch der Wohlfahrts und Kulturzweck freistehen, freilich unter der Voraussetzung, daß diese Zwecke rechtlich vorgesehen, im besonderen im Staat mit parlamentarischen Einrichtungen formellgesetzlich ermächtigt und in einer Weise inhaltlich geregelt sind, daß der staatliche Eingriff vorhersehbar und berechenbar wird“.71 Dieser Rechtswegestaat hatte verschiedene Inhalte mit unterschiedlicher Wertigkeit: „Das Sein und das Sollen stehen laut dem Erfahrungssatz Heraklits panta rei im Fluß der Geschichte … Gewiß sind die Kennzeichen der ethischen Normativität noch umstrittener als die der juristischen. Ebenso gewiß ist aber der Erkenntnisgegenstand der Ethik, genauer: die Vorstellung des moralisch Gesollten … das ‚regulative Prinzip‘ und somit, wenn auch die im wechselnden Maß, die letzte Qualle des positiven Rechts.“72 In dieser Betrachtung zeigte sich der Ausdruck des Relativismus, wie es schon Kelsen betonte, nicht nur in der demokratischen Staatswillensbildung, sondern, wie es Merkl hervorhob, auch in der ethischen Relevanz des posi69  Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 5, Berlin / Leipzig 1929, 30 ff. 70  Dazu Hellbling, Österreichische Verfassungsfragen im Lichte der Reinen Rechtslehre, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht NF 11 / 1961, 346 ff. 71  Merkl, Reine Rechtslehre und Moralordnung, 303. 72  Merkl, a. a. O., 313.

480

Alfred Verdross als Rechtsphilosoph

tiven Rechts. Er wies auf „das Unmaß von ungerechtem Recht, das sich in der Geschichte der Menschheit kurzweg ‚Recht‘ genannt hat“73 hin. Verdross war dieser Relativismus sehr bewusst. Darum bemühte er sich mit der Lehre vom Naturrecht, das auf der Anerkennung der Freiheit und Würde des Menschen beruht sowie in der Identität von dignitas humana und imago dei gründet, eine auch der Moral verpflichtete Auffassung vom positiven Recht zu vertreten.74 Dieses Bemühen um eine Ordnung, die Positivität und Humanität verbindet, zeigte sich vor allem nach dem 2. Weltkrieg und nach dem Ende ideo­ logisch bedingter Herrschaften in der Entwicklung der Grundrechte innerhalb des Staatsrechts75 sowie der Völkergemeinschaft in der Errichtung der UNO und der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte76 – eine Entwicklung, die bis zur EU-Grundrechtecharta77 reicht. Kelsen78 selbst schrieb auch einen Kommentar zur Charta der UNO,79 auf den der Verfasser bei seinem Besuch im Parlament Indiens in New Delhi vom Präsident des dortigen Senats sogar angesprochen wurde. Kelsen wusste mit methodischer Klarheit zwischen Staats-, Völkerrecht, Rechtsphilosophie, politischer Wissenschaft und Ideologiekritik zu unterscheiden. Ohne gleich Verdross eine Geschichte der Rechtsphilosophie geschrieben zu haben, kannte Kelsen diese ebenso wie die Bibel und die katholische Lehre; seine Auseinandersetzung mit der Idee und Lehre des Naturrechts80 führte ihn hierzu. Normentheoretische Überlegungen begleiteten ihn aber immer wieder und auch in den letzten Jahren seines Lebens; seine „Allgemeine Theorie der Normen“,81 herausgegeben posthum im Auftrag des Hans-Kelsen-Instituts 1979, bezeugt dies. Diese seine Lehre wurde im Rahmen des nach ihm benannten Instituts fortgeführt.82 73  Merkl,

a. a. O. Statisches und dynamisches Naturrecht, 117. 75  Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, Wien 1974. 76  Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, Theorie und Praxis, 3. Aufl. Berlin 1984, 69 ff. und 822 f. 77  Siehe Tettinger  /  Stern (Hg.), Kölner Gemeinschaftskommentar Europäische Grundrechte-Charta, München 2006. 78  Kelsen, The Law of the United Nations, A critical Analysis of the Fundamental Problems, New York 1950. 79  Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl, 406 ff. 80  Kelsen, Die Idee des Naturrechts, Zeitschrift für öffentliches Recht 7  / 1927, 221 ff., Neudruck, 245 ff.; derselbe, Naturrecht und positives Recht. Eine Untersuchung ihres gegenseitigen Verhältnisses, Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechtes, 2 / 1928, 71 ff. 81  Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, hg von Ringhofer  /  Walter, Wien 1979, III. 74  Verdross,



Alfred Verdross als Rechtsphilosoph481

Bekenntnishaft waren auch die letzten Publikationen von Merkl wie sein Beitrag zur Kelsen Festnummer der Österreichischen Zeitschrift für öffentliches Recht 1961, die „Zum 80. Geburtstag Hans Kelsens reine Rechtslehre und Moral“ gewidmet war; diesen endete er mit der Bibel: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ … und will „für viele Entrechtete und für manche an der Rechtsgestaltung Beteiligte“83 es als „aus einer höheren Ordnung quellenden Trost“ bezeichnen, „für das Unmaß von ungerechtem Recht, das sich in der Geschichte der Menschheit kurzweg ‚Recht‘ genannt hat“.84 82

VI. Verdross und die christliche Naturrechtslehre Gleich Lebensbekenntnissen widmete sich auch Verdross Grundfragen des Rechtslebens letzte Veröffentlichungen, wie „Quellen des Völkerrechts“ 1973 und „Statisches und dynamisches Naturrecht“ 1971. Auch er endet nach einem Bekenntnis zum präpositivem Recht mit einem Satz aus der Heiligen Schrift: „Das natürliche Rechtsgesetz kann daher nicht nur rational seinen Früchten einsichtig gemacht werden. Nur wenn wir mit gutem Willen diese Wendung vollziehen, kann uns das aufleuchten, was dem israelitischen Volk in seinem babylonischen Exil durch den Mund des Propheten Jesaja verheißen wurde (43, 18-16): ‚Seht ich tue Neues. Schon sproßt es. Merkt ihr es nicht‘?“85 Mit dieser Denkweise ging es Verdross als Rechtsphilosoph sowie auch als Völkerrechtler um die Erfassung eines gemeinsamen Rechtsbodens, was ihn zur christlichen Naturrechtslehre führte sowie in Forschung und Lehre an Hugo Grodius und sein Hauptwerk „de jure belli ac pacis“ (1625)86 erinnern lässt. Auf diesem Weg seines Wirkens hielt sich Verdross gleich Kelsen und Merkl auf Distanz zu Ideologien und ließ sich nicht von Relativismen der Zeit instrumentalisieren; auf diese hat auch Joseph Kardinal Ratzinger vor seiner Wahl zum Papst am 18. April 2005 in seiner Predigt während der Heiligen Messe „Pro eligendo Romano Pontifice“ vor St Peter hingewiesen: „Wie viele Glaubensmeinungen haben wir in den letzten Jahrzehnten kennengelernt …, wie viele Denkweisen … Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken 82  Walter (Hg.), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre, mit Beiträgen von Jabloner, Kucsko-Stadlmayer, Mayer, Schmidt, Thienel, Walter, Schriftenreihe des Hans Kelsen Instituts, Band 18, Wien 1992. 83  Merkl, a. a. O., 313. 84  Merkl, a. a. O. 85  Verdross, a. a. O., 117. 86  Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 112 f.

482

Alfred Verdross als Rechtsphilosoph

gebracht, von einem Extrem ins andere geworfen worden: vom Marxismus zum Liberalismus bis hin zum Libertinismus, vom Kollektivismus zum radikalen Individualismus, vom Atheismus zu einem vagen Mystizismus; vom Agnostizismus zum Synkretismus und so weiter … Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wo hingegen der Relativismus, das sich ‚vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin- und Hertreiben-lassen‘, als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nicht als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt.“87 Dieser Gefahr des Relativismus gilt es mit den Möglichkeiten der Demokratie88 in einer Verbundenheit von Humanität und Legalität unter Anerkennung der Grundwerte des privaten und öffentlichen Lebens89 sowie der übereinstimmend anerkannten Rechtsgrundsätze in der Gemeinschaft der Staaten und Völker90 zu begegnen. Köck hat sich um diese menschengerechte Ordnung nach dem Vorbild von Verdross in Forschung und Lehre der grotianischen Koppelung von Völkerrecht und Rechtsphilosphie entsprechend auch bemüht und in seinem Grundkurs über zentrale Fragen zu Recht und Staat in der pluralistischen Gesellschaft betont: „Die Frage nach der wirklichen Geltung des Rechts ist für die Juristen so etwas wie die Frage nach dem Sinn des Lebens für den Menschen“.91 Die Antwort auf diese Frage sucht Köck im Hinblick auf die mit seiner Idee einer nachweisbaren, erfahrbaren Pluralität in Gesellschaft und Staat mit seiner Idee einer pluralistischen Grundnorm zu geben. Zu ihrer Begründung erklärte er: „Die Realität der Gesellschaft und ihrer Glieder einerseits, die Faktiziät des Staates andererseits liefern daher eine ausreichende Begründung der pluralistischen Grundnorm, aber auch ihrer immanenten Schranken und rechtfertigen mit der normativen Kraft des Faktischen den Geltungs- bzw Gehorsamsanspruch von Staat und Recht ebenso wie gegebenenfalls den Widerstand gegen beide.“92 87  L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 16, 22.4. 2005, 3. 88  Schambeck, Die Möglichkeiten der Demokratie und die Diktatur des Relativismus, ein Beitrag zur Zeitverantwortung in der Lehre Papst Benedikt XVI., L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 19, 12. Mai 2006, 10 f. und Nr. 20, 19. Mai 2006, 9 f. 89  Schambeck, Die Grundwerte des öffentlichen Lebens, in: Krawietz  /  MayerMaly  /  Weinberger (Hg.), Objektivierung des Rechtsdenkens, Gedächtnisschrift für Ilmar Tammelo, Berlin 1984, 321 ff. 90  Verdross, Die Quellen des Völkerrechts, eine Einführung, Freiburg 1973, 120 ff. 91  Köck, Recht in der pluralistischen Gesellschaft, Grundkurs über zentrale Fragen zu Recht und Staat, Wien 1998, III. 92  Köck, a. a. O., 199.



Alfred Verdross als Rechtsphilosoph483

VII. Menschheitsentwicklung und Naturrechtsverständnis Rechts- und Verantwortungsbewusstsein vom Normsetzer und Normadressaten, getragen von einer Rechtsordnung, welche in gleicher Weise zu normieren und zu motivieren vermag, erspart so eine Konfliktsituation und kann eine Ordnung begründen, von der schon Aurelius Augustinus schrieb, sie könnte friedensstiftend sein.93 Alle die verschiedenen Bemühungen, das Recht der Staaten in seiner normativen Form präpositiv zu begründen, sei es Kelsen mit seiner inhaltsleeren und hypothetischen Grundnorm oder Verdross mit seiner Naturrechtsbezogenheit im Dienste der anerkannten Freiheit und Würde des Menschen weisen auf die Notwendigkeit der Begründung der Geltung der Rechtsnorm hin. Sie wird in der konstitutionell legitimierten Autorität zur Rechtssetzung durch Verfassungsorgane eines Staates gesehen, deren Normanordnungen zu ihrem Bestand der Wirksamkeit bedürfen. Diesen Zusammenhang zwischen Geltung und Wirksamkeit des Rechts betonte auch Kelsen und erklärte: „Die korrekte Bestimmung dieses Verhältnisses ist eines der wichtigsten und zugleich schwierigsten Probleme der positivistischen Rechtstheorie. Es ist nur ein Spezialfall des Verhältnisses zwischen dem Sollen der Rechtsnorm und dem Sein der Naturwirklichkeit. Denn auch ein Akt, mit dem eine positive Rechtsnorm gesetzt wird, ist – so wie die Wirksamkeit der Rechtsnorm – eine Seinstatsache.“94 Die Seinstatsache dieser Wirksamkeit der Rechtsnorm kann aber nicht allein normativ bestimmt werden, sie wird auch von außernormativen Kräften begründet, wie es vor allem die Moral und die Religion sind und Seins­ einsichten ermöglichen.95 Die Anerkennung der Freiheit und Würde des Menschen ist ein Hinweis auf eine solche Seinseinsicht, welche in den Grundrechten ihren Niederschlag fand. Sie können die Basis für eine Verbundenheit von Legalität und Humanität sowie von Rechtsgeltung und Wirksamkeit sein. Auf diese Weise lässt sich die Geltung nicht als Ausdruck monologischer Machtausübung, sondern in ihrem dialoghaften Bezug erfassen,96 der die Wirksamkeit als Bestandssicherung der Geltung erkennen lässt. Der Anspruch der Rechtsnorm und der des Gewissens des Einzelnen stehen dabei in einem bedingenden bedingten Zusammenhang. Sind sie von wechselseitigem Verstehen getragen, ist mit Rechtsgehorsam eine humane Ordnung begründ- und erlebbar, andernfalls eine autoritative Herrschaft, welche die Formen des Rechts zur bloßen Machtausübung zu nutzen sucht 93  Augustinus,

De civitate Die, XIX, 11–13, 14, pax est ordinata concordia. Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 215. 95  Siehe Schmitt Glaeser, Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes, Tübingen 2008, 31. 96  Schambeck, Ethik und Staat, Berlin 1986, 64 ff. und 83 ff. 94  Kelsen,

484

Alfred Verdross als Rechtsphilosoph

und zu Konflikten führt. Das vergangene Jahrhundert hat diese Entwicklungen vielfach erleben lassen, Verdross hat sie mit erfahren und auch als Rechtsphilosoph ihnen zu begegnen gesucht. Die von Kelsen begründete Wiener Rechtstheoretische Schule hat hingegen das Verstehen der Rechtssatzformen dieser Herrschaftssysteme ob autoritativer oder demokratischer Begründung wertneutral zu erklären gesucht. Wozu diese Rechtswege genutzt werden, bleibt Gewissensentscheidung der Normsetzer und Normadressaten. Die fiktive und inhaltsleere Grundnorm Kelsens ist trotz des Strebens Kelsens nach Reinheit der Rechtsnorm offen für jedes politische System, die Lehre vom präpositiven Naturrecht von Verdross ist hingegen wegweisend zu einer Rechtsordnung möglicher Verbundenheit von Legalität und Humanität, die aber nicht übersehen lässt, dass, wie Verdross hervorhob, mit der Entwicklung der Menschheit sich auch das Naturrecht verändert, ohne selbst in Frage gestellt zu werden.97 Je mehr, beginnend mit der Entwicklung der Menschheit, was Köck hervorhebt, sich auch das Naturrecht verändert, „ohne dass damit ihre jeweilige Gültigkeit in Frage gestellt werden müsste“,98 desto mehr nimmt die Verantwortung des Einzelmenschen für sich an Selbsterkenntnis, Seinsverständnis und Sozialverantwortung zu. Köck in grotianischer Koppelung von Völkerrecht und Rechtsphilosophie, um diese humane Ordnung gleich seinem Lehrer bemüht, sucht dazu wegweisend seinem Vorbild in der Pluralität unserer Zeit zu folgen, wofür ihm die Länge der Zeit des Lebens gleich Verdross ebenso gewünscht sei, wie der Erfolg seiner Lehre.

97  Verdross, Statisches und dynamisches Naturrecht, 76 und Köck, a. a. O., 36, FN 58; hierzu beachte Schambeck, Naturrecht in Zeitverantwortung, in: Freistetter / Weiler (Hg.), Mensch und Naturrecht in Evolution, Wien / Graz 2008, 15 ff. 98  Köck, a. a. O.

Veröffentlichungen zur Rechtsphilosophie und zum öffentlichen Recht von H ­ erbert Schambeck Als Autor Grundrechte und Sozialordnung. Gedanken zur Europäischen Sozialcharta (Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 88), Berlin 1969. Richteramt und Ethik (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Bd. 15), Berlin 1982. Ethik und Staat (Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 500), Berlin 1986. Staat, Öffentlichkeit und öffentliche Meinung (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Bd. 17), Berlin 1992. Kirche, Staat und Demokratie. Ein Grundthema der katholischen Soziallehre, Berlin 1992. Regierung und Kontrolle in Österreich (Beiträge zum Parlamentsrecht, Bd. 29), ­Berlin 1997. Kirche, Politik und Recht. Ausgewählte Abhandlungen und Vorträge, Berlin 2013.

Als Herausgeber Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung. Berlin 1980. Österreichs Parlamentarismus – Werden und System. Berlin 1986. Parlamentarismus und öffentliches Recht in Österreich. Entwicklung und Gegenwartsprobleme. 2 Teilbände, Berlin 1993.

Zum Autor Herbert Schambeck, geb. 1934 in Baden bei Wien. An der Universität Wien ­ romotion zum Dr. jur. 1958, 1959 Assistent von o. Univ.-Prof. Dr. Adolf Merkl; P 1964 Habilitation an der Wiener Rechtsfakultät. 1966 ao. Univ.-Prof. für die Wissenschaft von der Politik und das österreichische Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Universität Innsbruck, 1967 Gastprofessor an der University of Notre Dame, Indiana, USA und hernach bis zur Emeritierung 2002 o. Univ.-Prof. für öffentliches Recht, politische Wissenschaften und Rechtsphilosophie an der Universität Linz. Dr. jur. h. c. von Universitäten in Santiago de Chile, Washington D.C., Prag, Breslau, Piteşti und Kiew; Dr. theol. h. c. der Päpstlichen Theologischen Fakultät Breslau; Dr. phil. h. c. der Internationalen Akademie für Philosophie und Dr. h. c. der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften in Sofia. Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Padua, Madrid, Düsseldorf, Mailand, Vatikan und Rom (Lincei). 1969 bis 1997 Mitglied des Bundesrates der Republik Österreich, 1975 bis 1997 in Präsidentenfunktionen des Bundesrates.

Herausgeber Heribert Franz Köck, Dr. DDr. h. c. Emer. O. Univ. Prof. der Johannes Kepler Universität Linz Cristina Hermida del Llano, Dr., Univ. Prof. an der Universidad Rey Juan Carlos in Madrid Antonio Incampo, Dr., O. Univ. Prof. an der Università degli Studi di Bari Aldo Moro Andrzej Szmyt, Dr. habil., O. Univ. Prof. an der Universität Gdánsk (Danzig)