Schwellen der Medialisierung: Medienanthropologische Perspektiven - Deutschland und Japan [1. Aufl.] 9783839410240

Der Band bietet kulturvergleichende Perspektiven auf Medialisierung als Schwellenphänomen: »Medialisierung« bezeichnet P

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German Pages 226 Year 2015

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Inhalt
Schwellen der Medialisierung – Zur Einleitung in diesen Band
Schwellen der Medialisierung zwischen Erfindung und Tatsächlichkeit: Vergleichende Skizzen zu Deutschland und Japan um 1900 und 2000
Epochenschwelle 1800 – Medienumbruch 2000: Referenzen und Differenzen
Verstärker der Imagination, Bilder der Reflexion Zu Geschichte und Medialität des (computer-)animierten Films in den USA und in Japan
Densha Otoko und die ,Wa(h)re Liebe‘
Empedokles: Legende – Trauerspiel – Film
Ein Ende der Mediengeschichte Carl Schmitts Die Buribunken
Digitale Videokameras als neue Strategie der Überwachung Drei Szenen aus Japan
Medialisierung des biologischen Lebens Künstliche Lebewesen auf dem Computerbildschirm
Automation und die Metamorphosen des Zuschauers
Autorinnen und Autoren
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Schwellen der Medialisierung: Medienanthropologische Perspektiven - Deutschland und Japan [1. Aufl.]
 9783839410240

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K. Ludwig Pfeiffer, Ralf Schnell (Hrsg.) Schwellen der Medialisierung

Die Reihe »Medienumbrüche« wird herausgegeben von Peter Gendolla.

K. Ludwig Pfeiffer, Ralf Schnell (Hrsg.)

Schwellen der Medialisierung Medienanthropologische Perspektiven – Deutschland und Japan

Medienumbrüche | Band 28

Diese Arbeit ist im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 der Universität Siegen entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Silke Krah (»Ohne Titel«, Mischtechnik, Öl auf Karton) Lektorat & Satz: Monika Medvegy Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1024-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt K. Ludwig Pfeiffer/Ralf Schnell Schwellen der Medialisierung – Zur Einleitung in diesen Band................ 7 K. Ludwig Pfeiffer Schwellen der Medialisierung zwischen Erfindung und Tatsächlichkeit: Vergleichende Skizzen zu Deutschland und Japan um 1900 und 2000 ..............................................................................15 Andreas Käuser Epochenschwelle 1800 – Medienumbruch 2000: Referenzen und Differenzen...............................................................................41 Nicola Glaubitz Verstärker der Imagination, Bilder der Reflexion Zu Geschichte und Medialität des (computer-)animierten Films in den USA und in Japan .........................................................................................63 Yuko Mitsuishi Densha Otoko und die ,Wa(h)re Liebe‘ ..........................................................99 Ralf Schnell Empedokles: Legende – Trauerspiel – Film................................................113 Kanichiro Omiya Ein Ende der Mediengeschichte Carl Schmitts Die Buribunken .................................................................................129 Kentaro Kawashima Digitale Videokameras als neue Strategie der Überwachung Drei Szenen aus Japan............................................................................................153 Mario Kumekawa Medialisierung des biologischen Lebens Künstliche Lebewesen auf dem Computerbildschirm.......................................171 Josef Fürnkäs Automation und die Metamorphosen des Zuschauers .............................181 Autorinnen und Autoren ....................................................................................223

K. Ludwig Pfeiffer/Ralf Schnell

Schwellen der Medialisierung – Zur Einleitung in diesen Band Medientheorie und Medienwissenschaft haben sich in ihrer vergleichsweise noch jungen Geschichte mit künstlerisch-technischen Erscheinungen beschäftigt, die man, wie es schien, unschwer als ‚Medien‘ bezeichnen konnte. Das war – und ist es bis zu einem gewissen Grad auch heute noch – verständlich und zureichend motiviert. Zwar haben sich viele medientheoretisch Interessierte oft darüber beklagt, dass in kaum einer Publikation der Begriff des Mediums mit der zu fordernden Strenge definiert werde. Aber dass da Medien oder ‚die‘ Medien, sei es in massenmedialer oder, wie der Film und die digitalen Medientechniken, in technisch auffälliger Form psychokulturell (mit-)bestimmend wurden und deshalb Analysen erheischten, das war doch kaum zu bestreiten. Natürlich verdrängten ‚die Medien‘ nicht die klassischen Künste wie die Literatur und Malerei. Nicht selten aber bedrängten sie diese oder forderten sie zu ebenso kreativen wie demokratischen Reaktionen heraus. Ungücklicherweise freilich ließ sich die gewaltig expandierende Medienwissenschaft angesichts der Expansion ihrer Gegenstände zu relativ bestimmten, irgendwann redundant oder widersprüchlich geratenden Identitätszuschreibungen für Medien hinreißen. So konnte man eine Unmenge von Beschreibungen des ‚ganz Anderen‘ etwa filmischer Bilder lesen, ohne dass man z.B. McLuhans (ihrerseits sicherlich nicht allzu stringente) Diagnose gebührend diskutiert hätte, eigentlich sei der Film aufgrund seines Drehbuch doch ein vergleichsweise noch ‚literarisches‘ Medium. Die Vermehrung dessen, was als Medium/Medien in Erscheinung trat, ließ den Begriff selbst diffus werden. Im Laufe der Zeit war der Eindruck nicht mehr abzuwehren, dass das jeweils postulierte neue und deshalb meist auch für ganz neuartig gehaltene Medium auf in sich geschichteten, immer schon technisierten und medialisierten Dispositiven der Wahrnehmung, Affektmodellierung und Kognition aufsitzt und diese nicht einfach aus den Angeln hebt. Schon bei Empedokles (Aufsatz Ralf Schnell im vorliegenden Band) bilden Mensch und Elemente sich wechselseitig vermittelnde Medien. Der Urgrund des Seins (‚archai‘) bedarf der Vermittlung, um im Wandel seine Beständigkeit demonstrieren zu können. Medialisierung hebt also auf Vermittlungen ab, die ihrerseits auf immer schon hochgradig Vermitteltes treffen. Medien – als Bündel medialer Qualitäten mit bestimmter, aber auch flexibler Stoßrichtung – konstituieren das Bewusstsein des Menschen von sich selbst, brauchen aber ihrerseits dessen nie gänzlich bestimmte Handlungsdynamik, um prägnante Gestalt zu gewinnen.

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Daher müssen Schwellen ausgebildet werden, an welchen solche Vermittlungsschleifen auffällig, prägnant und produktiv werden. Nur bei relativ einfacher Schichtung wirksamer medialer Elemente oder bei einigermaßen konstanten Vermittlungsbedingungen entwickeln sich vergleichsweise stabile, ästhetisch singuläre Komplexe, die man dann als Medien isolieren kann und früher vor allem als Einzelkünste herauspräparieren konnte. Derartige Ausprägungen – vielleicht könnte man, einen anderen Code ausbeutend, auch von Stauungen und Verdichtungen sprechen – verleiten leicht zur unentwegten Spekulation über ihre künstlerisch-mediale Identität. Im sprachkünstlerischen Bereich haben sich in dieser Hinsicht frühzeitig Rhetorik und Poetik oft auch in apologetischer Absicht hervorgetan. Im visuellen Bereich ließen sich zäh verwurzelte Fixierungsgewohnheiten („Was ist ein Bild?“) unschwer auf die Photographie übertragen. Schon lange freilich schwelte der Verdacht, dass die legitimen Definitionsbedürfnisse der Wissenschaften an bestimmten künstlerisch-medialen Komplexen wie dem Theatralischen zwar nicht abprallen, aber auch nicht auf griffige Formeln zu trimmen sind. Klar dürfte sein, dass bereits die Poetik des Aristoteles neben einer Reihe von präzisen Bestimmungen auch eine an sich unzulässige Bereinigung der tragisch-theatralischen Szene seiner Zeit und überdies ein wohl idealisiertes Bild der ihm selbst ja gar nicht mehr aus eigenem Erleben bekannten ‚Klassiker‘ bietet. Wie andere vor und nach ihm, muss Hölderlin erfahren, dass der tragische ‚Stoff‘ seiner eigenen Zeit weder formal noch inhaltlich zureichend „innig“ angepasst werden kann. Die Intermedialitätsforschung war – nach der längst verblichenen wechselseitigen Erhellung der Künste – ein erster, wenngleich halbherziger Schritt, mit dem die komplexe ästhetisch-technisch-materiale Komposition vieler so genannter, scheinbar homogener Künste und Medien sowohl für die Gegenwart wie aber auch für die Vergangenheit angegangen wurde. In der jüngsten Vergangenheit hat sich angesichts komplexer Kompositionen und Wirkungen die begriffslogische Priorität der ‚Medialität‘ zwar noch nicht durchgesetzt, aber doch unübersehbar in den Vordergrund geschoben. Nachdem Empfehlungen des Wissenschaftsrates zu den Medienwissenschaften in Deutschland, vor allem zur „kulturwissenschaftlichen Medialitätsforschung“ 2007 für viel Aufregung und mancherlei Spannungen gesorgt hatten, errichtete Sybille Krämer 2008 mit ihrem Buch Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität (Frankfurt am Main: Suhrkamp) das erste Monument des Medialitätsbegriffes. Krämer bestimmt mediale Qualitäten mit dem Modell des Boten als Mitte und Mittler. Mediale Wirkungen dehnen sich dann in viele Bereiche bis hin zu Viren oder zur Gefühlsübertragung in der Psychoanalyse aus. Damit wird etwa der Spielraum der Begriffes Medium bzw. Mediales gewaltig gesteigert – jener Begriff des Mediums, den Luhmann im Anschluss an einen Aufsatz

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von Fritz Heider aus den 1920er Jahren theoretisch viel versprechend und praktisch sehr enttäuschend aufgenommen hatte. Der vorliegende Band beschreitet andere Wege. Herausgeber wie Verfasser sind sich nicht sicher, inwieweit die auch metaphorische Dimension der Botenvorstellung zum Einfallstor von Inhomogenität einerseits, ungezügelter Erweiterbarkeit andererseits ausgebaut werden könnte. An die Stelle einer unter Umständen überlasteten und auch metaphorisch überfrachtbaren Kontrollinstanz von medialen Qualitäten setzen wir hier Fallstudien zu ‚Schwellen der Medialisierung‘. Darunter sind ‚Verklumpungen‘ bzw. dynamische Konfigurationen medial beschreibbarer Qualitäten gemeint, die im Vergleich zu dem, was man begründet für das jeweils Bestehende halten kann, ein verändertes (‚neues‘) Wirkungspotenzial („a difference which makes a difference“, wie man früher mit G. Bateson gesagt hätte) entfalten. Es versteht sich, dass sich daraus keine Theorie der Medialität oder Medialisierung oder gar deren Metaphysik ergibt. Ja, es ist denkbar, dass es auch nur eine Theorie angesichts der vielfachen Möglichkeiten der Erzeugung wirksamer Schwellen gar nicht geben kann. Wir hoffen allerdings, dass die Analysen jene Stringenz aufweisen, die sie als insgesamt nicht systematische, aber in sich jeweils theoriegesättigte und exemplarische Modelle medialer Wirkungsschwellen legitimiert. Daher sind auch die Scherpunkte und Akzente des vorliegenden Bandes nicht säuberlich zu trennen. Die hier versammelten Aufsätze nehmen zum Teil Medialisierungsdynamiken in den Blick und befassen sich wenig mit dem Begriff des Mediums (K. Ludwig Pfeiffer, Andreas Käuser, Nicola Glaubitz, Yuko Mitsuishi), zum Teil (Ralf Schnell, Kanichiro Omiya, Kentaro Kawashima, Mario Kumekawa, Josef Fürnkäs) legen sie den Eindruck nahe, mediale Verknüpfungen und Verschiebungen könnten der Identität der im Spiel befindlichen Einzelmedien nichts anhaben. Tatsächlich aber erweisen sich in allen thematisierten Fällen die Wirkungselemente als so komplex, dass ein Medium nur als vorübergehende Verlangsamung oder Beruhigung gedacht werden kann. Das gilt selbst für die gegenwärtigen Techniken der Videoüberwachung. Man kann die Videokamera als – technisch bestimmtes – Medium selbstverständlich ohne weiteres dingfest machen. Aber auch bei diesem, an viele Utopien nicht nur des 20. Jahrhunderts erinnernden sozialen Kontrollversuch sind die Probleme, ja die Paradoxien der Beobachtungsinterpretation nicht abgeschafft. Für alle Beiträge gilt daher, dass sie mit „Passagen“ und Übergängen (Josef Fürnkäs im Anschluss an Walter Benjamin), mit umgepolten Bündelungen, mit umspringenden Figur-Grund-Beziehungen und Emergenzketten (vgl. etwa Mario Kumekawa) operieren. Emergenz selbst bietet sich – nicht nur, aber auch medial – als Schwellenphänomen, das heißt als Erzeugung des Neuen durch das Arrangement bekannter Elemente auf anderer Ebene. Im Einzelnen lassen sich die Beiträge wie folgt charakterisieren:

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Der Beitrag von K. Ludwig Pfeiffer über „Schwellen der Medialisierung zwischen Erfindung und Tatsächlichkeit: Vergleichende Skizzen zu Deutschland und Japan um 1900 und 2000“ vergleicht ausgewählte medial fassbare Einschnitte bzw. Medialisierungsschübe in Deutschland und Japan um 1900 und 2000. Er zeigt, wie das jeweilige spannungsreiche Zusammenspiel von Verhaltenstraditionen, überlieferten Medienkonfigurationen und neuer nationaler bzw. kultureller Akzentuierung zu sehr unterschiedlichen Ausprägungen dessen führt, was man gemeinhin als ein Medium und seine kognitive Leistung betrachtet. Das gilt vor allem für die informative bzw. national-kulturelle Rolle des Buches, für die medial-kulturelle Kompatibilität des Films sowie den Status des Computers und seiner kulturellen Potenziale in positiver oder negativer Hinsicht. Im gegenwärtigen Japan ist dabei der gelegentlich fast paradoxe Rang der Literatur auffällig: Eine Art Explosion literarischer Imagination steht bei einem der erfolgreichsten Schriftsteller, Haruki Murakami, in unaufgelöstem, scharfem Kontrast zur körperlichen Höchstleistung im Marathonlauf. Andreas Käuser widmet sich in seinem Beitrag „Epochenschwelle 1800 – Medienumbruch 2000“ der Frage nach dem spannungsreichen Zusammenhang von Medialisierungs- und Epochenschwellen. Die Erforschung der Medienumbrüche zur literalen Kultur des späten 18. Jahrhunderts ebenso wie jene zur digitalen Kultur des 20./21. Jahrhunderts beeinflussen sich wechselseitig im Konzept der Epochenschwelle. Dieses Konzept kommentiert mediale Innovationen durch anthropologische Reflexion. Dabei elaboriert der anthropologische Diskurs Kategorien wie Verkörperung/Embodiment, Identität/Individualität, Performanz/Versinnlichung, Fremdheit/Alterität. Die Anwendung dieser Kategorien auf mediale Innovationen verweist auf die Konvergenz von Diskurs und Medium, problematisiert das Verhältnis von Semantik und Technik, Mensch und Medium, von „Verleiblichung“ (Hegel) und „sinnlichen Begriffen“ (Herder). Nicola Glaubitz zeigt in ihrem Beitrag über „Verstärker der Imagination, Bilder der Reflexion“ am Beispiel des Animationsfilms, dass Medialisierungsschwellen auf doppelte Weise symptomatisch sind: Zum einen wird das marginalisierte Genre der Animation in der Etablierungsphase des Kinos nach 1900 und im Zuge der Digitalisierung des Kinos in den 1990er Jahren zum Faszinationskern film- und bildästhetischer Diskussionen. Film wird in diesen Umbruchsphasen an den imaginationsverstärkenden Effekten und den expressiven Potentialen, die den kulturübergreifend vorkommenden grafischen Bildtypen zugeschrieben werden, gemessen. Zum anderen bleiben zeichnerisch-grafische Bildformen insbesondere in japanischen Anime stabil und bestimmen selbst die Formen computergestützter Bildgestaltung. Als Schwellenphänomen zwischen neuen und alten Medien antworten Anime zudem auf die Notwendig-

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keit, Bilder des Menschlichen zwischen Technologie und Kultur ständig neu auszuhandeln. Eine Schwelle der Medialisierung ganz anderer Art analysiert Yuko Mitsuishi anhand eines Romans, der auf Eintragungen in einem japanischen Webforum basiert. „Densha Otoko“ (etwa: Eisenbahn-Mann) erzählt die Geschichte eines ‚otaku‘, das heißt eines völlig zurückgezogen lebenden jungen Mannes, der sich nach einer Zufallsbegegnung in ein Mädchen verliebt, seine Gefühle in einem Webforum öffentlich macht, die Reaktionen hierauf in sein Handeln einfließen lässt, freimütig über seine schüchternen Annäherungsversuche berichtet, seine anonymen Partner in Mailwechseln um Ratschläge bittet, bis er am Ende – das heißt nach einem Zeitraum von zwei Monaten – der Angebeteten seine Liebe zu gestehen wagt. Die im Webforum sich findenden Threads bildeten die Basis nicht allein der Romanfassung, sondern auch einer Mangaversion, einer Verfilmung und einer Fernsehserie – Beispiele für die erfolgreiche Überwindung von Medialisierungsschwellen, die ihrerseits, rückwirkend, zur Schaffung neuer Webforen auf anderen Plattformen geführt hat. Auf diese Wiese verlieren, wie Mitsuishi zeigt, Genregrenzen ebenso wie ästhetische Parameter ihre traditionsreichen Konturen. Fiktion und Realität gehen auf eine Weise ineinander über, deren kurzfristige Wirkung beim Publikum zudem von der kulturellen Prägekraft trivialer Muster zeugt. Der Beitrag von Ralf Schnell über „Empedokles: Legende – Trauerspiel – Film“ stellt Leben und Werk des nur wenig bekannten Vorsokratikers Empedokles ins Zentrum eines medienwissenschaftlichen Beitrags zu rücken, um die sehr eigenwilligen Bearbeitungsstufen des Stoffes durch Friedrich Hölderlin und im Anschluss daran auf die gleichermaßen anti-dramatische und anti-filmische Aufnahme der ersten Hölderlin-Fassung durch Jean-Marie Straub und Danièle Huillet einzugehen. Dieser Beitrag versucht mithin in historischer Dimension zu zeigen, auf welche Weise Medialisierungsschwellen sich bilden, sich fortsetzen, sich erhalten, aber auch sich verändern. Der Komplex, der ‚Empedokles‘ heißt, bietet hierfür deswegen ein gutes Beispiel, weil sich an ihm Überlegungen und Reflexionen ebenso wie unterschiedliche Formen künstlerischer Produktivität jeweils neu konstituiert und konkretisiert haben, und zwar jeweils innerhalb desjenigen Mediums, das sich als das zeitgenössisch je aktuellste, interessanteste und produktivste erweisen sollte. Ein medienhistorisch einzigartiger Text steht im Mittelpunkt des Beitrags von Kanichiro Omiya über „Ein Ende der Mediengeschichte“, nämlich Carl Schmitts literarische Satire Die Buribunken (1918). Dieser Satire liegt die geistesgeschichtliche und politische Entwicklung Deutschlands im 19. Jahrhundert ebenso zugrunde wie die nüchterne politische und soziale Realität des zusammenbrechenden Kaiserreichs und die zeitgenössisch inhaltsleere bürgerliche Rechtsstaatlichkeit des frühen 20. Jahrhunderts. Schmitts Text wendet sich –

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freilich ohne utopische Dimensionen auf- oder anzubieten – kritisch gegen eine gesellschaftliche Moderne, die sich dadurch auszeichnet, dass sie ihre eigene Sinnleere und Sinnlosigkeit nicht nur durchschaut, sondern sie zugleich durch reflexive, rhetorische, literarische und publizistische Formgebung zu überspielen versucht. Kentaro Kawashima zeigt in seinem Beitrag über „Digitale Videokameras als neue Strategien der Überwachung“ anhand von drei Beispielen, wie neuere Überwachungstechnologien in prägnanten öffentlichen Räumen und Szenerien Japans zur Geltung kommen. Ausgehend von Überlegungen Michel Foucaults zum komplexen sozialtechnologischen Verbundsystem von ‚Überwachen und Strafen‘ arbeitet der Autor den Einfluss des digitalen Medienumbruchs auf die Mechanismen öffentlicher Kontrolle heraus: Die omnipräsente Kamera tritt an die Stelle des isolierten Beobachters, die Strategien der digitalbildlichen Überwachung erweisen sich als Dispositive einer neuen sozialen Orthodoxie. Es handelt sich um einen radikalen, computergestützten Prozess gesellschaftlicher Transformation, der in Japan freilich auf eine paradoxe Weise spannungsreich strukturiert ist. Mit der Frage nach der medialen Qualität künstlicher Lebewesen im digitalen Zeitalter befasst sich der Beitrag von Mario Kumekawa. Anhand dreier konkreter Beispiele aus dem kaum mehr überschaubaren Angebot der ‚Computer Games‘ – „Lifegame“, „Biomorph“ und „Boid“ (= ‚Birdoid‘) – analysiert Kumekawa das Verhältnis von evolutionären biologischen Prozessen und synthetisch hergestellten Kunstwelten, in deren naturwissenschaftliche und technologische Modellierung lebensweltliche Muster Eingang gefunden haben. Dabei zeigt sich, dass die ‚künstlichen Lebewesen‘, indem sie den ihnen technologisch implementierten Spielregeln folgen, eine eigene, gewissermaßen ‚natürliche‘ und ‚soziale‘ Intelligenz entwickeln. Reiz-Reaktionsmuster wie Leben und Tod oder Phänomene der Emergenz werden ebenso variiert und optimiert wie Bewegungsfolgen oder Prozesse der Vervielfältigung und Vermehrung, die in Genres der visuellen Künste hinüberspielen. Deutlich wird an diesen Beispielen, dass sich in ihnen methodologisch ein induktiver Impuls bewährt, mit dem wissenschaftlich folgenreichen Anspruch, Forschungen zur Künstlichen Intelligenz künftig nach dem Prinzip des ‚bottom-up‘ zu organisieren. Der Beitrag von Josef Fürnkäs steht am Ende des Bandes, weil er die Spannungen zwischen Medien und Medialisierung und ihre psychokulturelle Bedeutsamkeit nochmals umfassend bündelt. Dominante Prozesse der Gegenwart, die Automation und der (auch von Kentaro Kawashima untersuchte) Trend zur Kontrollgesellschaft, werden im Horizont der Zuschauer-Figur und ihrer Verwandlungen auf existenziale Grundphänomene und Wirkungsmächte des Daseinsverständnisses vom Staunen und von der Neugierde bis hin zur Sorge geöffnet. Entscheidend ist dabei, wie beispielsweise die keineswegs me-

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dientheoretisch angelegten Kategorien von Hannah Arendt, Hans Blumenberg und Martin Heidegger sich als Vor- und Ausgriffe auf Möglichkeiten der Medialisierung und ihrer Schwellen, aber auch ihrer Grenzen verstehen lassen. Diese Möglichkeiten münden, mit Stefan Rieger, in eine wechselseitige Figuration von Techno- und Anthropomorphismen. Für solche Figurationen bietet nach wie vor das auf alte wie gegenwärtige Praktiken von cultural performances und Kulturtechniken verweisende Theater ein – stets als radikal offen zu denkendes – Modell. Zu Dank verpflichtet sind die Herausgeber Nicola Glaubitz und Monika Medvegy für ihre Hilfe bei der Entstehung des vorliegenden Bandes, der das Forschungsprojekt „Medienanthropologie und Medienavantgarde – Deutschland und Japan im Kulturvergleich“ innerhalb des DFG-Forschungskollegs 615 „Medienumbrüche“ an der Universität Siegen beschließt. Nicola Glaubitz hat die Konzeption des zugrundeliegenden Colloquiums in Tokyo (September 2007) mit vorbereitet und die Entstehung der Publikation umsichtig begleitet; Monika Medvegy hat die Einrichtung des Manuskripts für den Druck in höchst kompetenter Weise besorgt. Dank sagen möchten die Herausgeber außerdem ihren langjährigen Kooperationspartnern an der Keio-Universität in Tokyo für die langjährige, erfolgreiche Arbeit.

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Schwellen der Medialisierung zwischen Erfindung und Tatsächlichkeit: Vergleichende Skizzen zu Deutschland und Japan um 1900 und 2000 I Der Begriff Medialisierung hat in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Nachdrücklich dokumentiert dies die Rolle, die er bzw. der zugeordnete Begriff der Medialität inzwischen selbst für die Steuerung von Forschung und Lehre im Bereich der Medienwissenschaften spielt.1 Der Boom medienwissenschaftlicher Aktivitäten hat unfreiwillig klar gemacht, dass man zwar leichthin von einem Medium oder ‚den Medien‘ reden kann. Die entscheidenden medialen Qualitäten eines so genannten Mediums aber sind nicht ohne weiteres dingfest zu machen. Der Begriff der Medialisierung nimmt daher die Frage in den Blick, welche medialen, nicht nur inhaltlich oder formal beschreibbaren Aspekte eines so genannten Mediums spürbare Wirkungen im Kontext dynamischer kultureller Medienkonfigurationen entfalten. Bei der Einschätzung der Faktoren, die solche Wirkungen ermöglichen, fördern, bremsen oder gar unterdrücken, haben sich die Prioritäten immer wieder verschoben. Man kann heute etwa an die Wichtigkeit technischer Neuerungen für mediale Wirkungen glauben, ohne den oft einschneidenden Einfluss politischer und juristischer, ihrerseits in kulturelle oder auch mentalitätsgeschichtliche Traditionen eingebetteter Bedingungen zu leugnen. Ein für die USA und Europa auch kulturvergleichend aufschlussreiches Werk hat in dieser Hinsicht Paul Starr vorgelegt.2 Dieses Werk beleuchtet beispielsweise die fortdauernden medialen Auswirkungen eines ursprünglich liberalen politischen Programms in den USA. Das liberale Programm ermöglichte langfristig freilich auch die Bildung neuer, ökonomisch wie politisch einflussreicher, gleichsam ‚privater‘ Gruppen. Deren Interessen könnten das ursprüngliche liberale Programm in der Gegenwart in sein Gegenteil verkehren.3 Das ist politisch bedeutsam. In medialisierungstheoretischer Hinsicht zeigt Starr, wie das liberale

1

Vgl. Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Kommunikations- und Medienwissenschaften in Deutschland, 25.05.2007, S. 76-77.

2

Starr: The Creation of the Media.

3

Ebd., S. 3.

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Programm im 19. Jahrhundert zur Entwicklung einer sowohl an Tatsachen wie an deren imaginativer Anreicherung interessierten Presse führt, ferner, dass und wie das journalistische Dispositiv und seine Entfaltung in den Technologien verbilligten Massendrucks aber auch grundlegende Strukturen ‚literarischer‘ Wirkungspotenziale enthält.4 Ein Gutteil US-amerikanischer Literatur des 19. Jahrhunderts und ihrer Ausrichtungen zwischen Sensation, Imagination und Tatsächlichkeit wird so zwar vielleicht nicht einfach verständlich, aber doch verständlicher.

II Für die kulturelle Situation und die Medienkonfigurationen Japans im 19. und 20. Jahrhundert hat Volker Grassmuck eine ähnlich flexible Bilanz aufgemacht. Für das 19. Jahrhundert spielen politisch-kulturelle Faktoren – die Abschließung Japans, die Wirkung der schwarzen Schiffe des Commodore Perry, das mentalitäts-, kultur- und mediengeschichtliche Verhältnis zu China – eine wichtige Rolle. Im späten 20. Jahrhundert beherrscht die technologisch dominierte Öffnung Japans durch das Internet und seine Informationsweite kulturelle, mediale und selbst soziale Konfigurationen. Der Japaner Hayashi Yûjirô – und nicht etwa ein US-Amerikaner – veröffentlicht 1969 das erste Buch, das den Begriff Informationsgesellschaft („jôhôka shakai“) im Titel führt.5 Dieser wichtige Hinweis Grassmucks bleibt freilich unterschwellig ambivalent. Das Informationsbedürfnis ist und war oft national oder gar nationalistisch codiert und motiviert. Auch bei Grassmuck steht die mikroelektronisch bewerkstelligte Wende zur Informationsgesellschaft noch im Banne nationaler Selbstbeschreibungen der Japaner (nihonjinron). Informationsbeschaffung wird, kaum überraschend, auch im späten 19. Jahrhundert vom wie immer verstandenen nationalen Interesse angetrieben. Bei Fukuzawa Yukichi ist es eng mit den ‚aufklärerischen‘ Medien des gedruckten und nur zu lesenden Buches und der Zeitungen verknüpft. Blickt man in ein älteres, wie Hayashis Buch 1969 erschienenes Werk, nämlich Donald Keenes The Japanese Discovery of Europe, 17201830, dann kann man sich fragen, ob das mit wechselnden Medien mehr oder weniger befriedigte Informationsbedürfnis nicht eine Konstante der neueren japanischen Geschichte bildet. Zwar dürfte die Befriedigung dieses Bedürfnisses in der Tokugawa-Zeit aufgrund der allgegenwärtigen Zensur schwer gefallen sein. In ihrer Paranoia hat die Zensur sicherlich des Öfteren ungewollt gegen die eigentlichen nationalen Interessen gearbeitet. Auch und gerade eine 4

Ebd., S. 133-139.

5

Grassmuck: Geschlossene Gesellschaft, S. 330.

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Diktatur braucht Informationen über das Ausland. Und im Inland hat die Abschließung des Landes das Informationsbedürfnis nicht gemindert, sondern gesteigert. Ein gesteigertes Bedürfnis aber findet immer mediale Mittel und Wege zu seiner zumindest partiellen, wenn auch riskanten Befriedigung. Von einem anderen Hayashi, Hayashi Shihei, erscheint etwa 1791 ein auf die wenigen, aber begierig aufgegriffenen Anregungen des Auslands zurück gehendes Werk über militärische Fragen einer maritimen Nation.6 Wie viele andere im 18. Jahrhundert wurde Hayashi Shihei für seine an sich auch für die Regierung wichtige Informationsbeschaffung noch bestraft. Das Regime erblickte darin nicht nur nützliches, sondern in den falschen Köpfen auch gefährliches Wissen. Der operative Code und seine Kopplung von Information und nationaler oder politischer Relevanz bleiben aber seit dem 18. Jahrhundert konstant. Es wandeln sich die jeweils neuen Medien, mit welchen der Code operiert. Fukuzawas Version der ,japanischen Aufklärung‘ im späten 19. Jahrhundert handelt sich daher spezifische mediale Probleme ein. Fukuzawa möchte angesichts eines übermächtig erscheinenden Westens einen zivilisatorischen Geist formen, der westliches wissenschaftliches Wissen und das damit zusammenhängende Streben nach Unabhängigkeit vereint.7 Die dafür notwendige Beschaffung von Informationen und Orientierungen aber bleibt allen möglichen medialen Zufällen, und der nach Information Dürstende der Grenzenlosigkeit möglicher Informationen ausgeliefert. In seiner Autobiographie hebt Fukuzawa etwa die Bedeutung von Websters Wörterbuch für seine Entwicklung hervor,8 spricht aber ansonsten nur sehr unscharf davon, dass er immer gern mit Büchern und mit seinen Händen studiert und gearbeitet habe.9 Der junge Fukuzawa schreibt die ihm in die Hände fallenden Bücher noch von Hand ab. Der spätere Reformer verfasst und veröffentlicht selbst eine unaufhörliche Serie von gedruckten Büchern. Auf einen einigermaßen strukturierten, kontrollierten oder gar ‚wissenschaftlichen‘ Informationsgehalt lässt sich diese serielle Produktion aber nicht eingrenzen. Die aufklärerische Verbreitung der Informationen kann daher offenbar auch durch Zeitungen befriedigt werden.10 Weder für die Bücher noch für die Zeitungen gibt es zuverlässige Informationsquellen. Interaktion und Interviews ihrerseits erbringen im Ausland, vor allem in den USA, widersprüchliche und konfuse Ergebnisse.11 Die Feldstudien 6

Keene: The Japanese Discovery of Europe, 1720-1830, S. 31, 39-44, 73, 122, 125, 158.

7

Blacker: The Japanese Enlightenment, S. 31, 54, 139.

8

Fukuzawa: The Autobiography of Yukichi Fukuzawa, S. 117.

9

Ebd., S. 10, 82.

10 Ebd., S. 321-323. 11 Ebd., S. 116.

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in Europa fallen instruktiver aus. Aber auch sie müssen mit Hilfe anderer Bücher ihrerseits zu Büchern umgeformt werden, um wenigstens eine begrenzte Kohärenz zu gewinnen.12 Diese Art der Buchproduktion markiert eine Medialisierungsschwelle. Der damals wie heute noch verbreitete serielle Typ des informativen Buches kontextualisiert die Zufälligkeit der über den Westen gesammelten Informationen und die Heterogenität ihrer Quellen: Im Buch werden die Quellen auf ihren anscheinend/scheinbar augenfälligen Nutzen für japanische Verhältnisse, nicht aber auf ihre Zuverlässigkeit abgeklopft. Nur in dieser problematischen Kontextualisierung nehmen die Informationen ‚vernünftige‘, das heißt praktisch umsetzbare Form an. Dann dämmert etwa die Einsicht, dass sich Verhaltensregeln und Gefühle in der Familie nicht auf alle zwischenmenschlichen Beziehungen, noch weniger auf die Politik, schon gar nicht auf eine nunmehr verstärkt internationale Politik übertragen lassen.13 In der Politik etwa darf sich Nationalismus nicht als legitime affektive Aufladung nationaler Interessen und Vorurteile oder gar als Wert an sich, sondern lediglich als taktisch-strategisches Mittel in Szene setzen.14 Jedenfalls machen das Sammeln von Informationen und ihre serielle Aufbereitung in Büchern und Zeitungen nur dann Sinn, wenn sie der internationalen Konkurrenzfähigkeit Japans „in the arts of war and peace“ als oberster Leitidee dienen.15 Das Buch ist also nicht einfach ein Medium. Aber durch seinen unterstellten Informationswert im Dienste der nationalen Idee markiert es eine mediale Schwelle. Das gilt selbst dann, wenn der Informationswert in der seriellen Buchproduktion oft genug in diffuse Redundanz umschlägt. Unerheblich sind dabei andere, in anderen, etwa künstlerischen Kontexten, entscheidende Aspekte. Fukuzawa gibt etwa kaum darüber Auskunft, ob es sich bei einem Buch eher um eine Übersetzung oder um das Originalprodukt eines Autors handelt.16

III In Fukuzawas vor allem national gesteuerter Ordnung der Dinge ist für andere Buchtypen, sei es für Kompendien alter chinesischer Weisheit, sei es westliche oder vom Westen inspirierte neuere japanische ‚Literatur‘, kein Platz. Wohl 12 Ebd., S. 133. 13 Blacker: The Japanese Enlightenment, S. 69, 129, 139. 14 Ebd., S. 130. 15 Fukuzawa: The Autobiography of Yukichi Fukuzawa, S. 214, 321, 334; Blacker: The Japanese Enlightenment, S. 130. 16 Ebd., S. 217.

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hält Fukuzawa einige Theaterstücke für interessant. Doch darüber hinaus hinterlässt ein gelegentlicher Theaterbesuch keine Wirkung.17 Die Leerstelle ‚Literatur‘ fällt auf, weil die Rolle der Literatur für den Geist der unter westlichem Druck stehenden japanischen Zivilisation bei vielen anderen japanischen Autoren für erhebliche Kontroversen sorgte. Nicht nur galt im Westen, speziell in Deutschland, die Relevanz der schönen Literatur, der imaginativen Erfindung im späten 19. Jahrhundert als erwiesen. Mit dem Begriff der Nationalliteratur schien dieser Literatur auch eine Art vaterländische Rolle zuzufallen. Die „Legitimität der Fiktion“18, sei es in nationaler oder kosmopolitischer Justierung, setzt sich vollends durch, als der Roman, den noch Schiller zum ‚Halbbruder der Poesie‘ disqualifizierte, mit dem poetischen Realismus praktisch, bei Autoren wie dem Anglo-Amerikaner Henry James auch theoretisch, sein volles literarisch-kulturelles Daseinsrecht erlangt. James steigert die Legitimität seiner Texte in der Tat zur Autonomie: Nicht nur macht er sich, vor allem im Vorwort zur New Yorker Ausgabe des späten Romans The Golden Bowl (1904), über seine – auch eigenen früheren – Versuche lustig, gute Illustrationen, vor allem Photographien, zum Text zu finden, also auf die in der Vergangenheit wie in unserer Gegenwart sattsam bekannten intermedialen Effekte zu setzen. Dem Roman, dem gedruckten Langtext selbst, müssen poetischen Qualitäten und ein Gefühl des Lebens („sense of life“) ebenso intensiv wie den alten Redegattungen entströmen.19 Die labyrinthische Oberfläche des späten Romanstils von James ist nur ein medialer Umweg zu altehrwürdigen kommunikativen Qualitäten: „For all its baroque complications, it must be taken as a spoken style and, in a special way, a style of oratory.“20 Daher spielt in Deutschland – und wohl in Europa überhaupt î die Ausbreitung des Films eine ganz andere Rolle als in Japan. Wiederum ist der Film nicht einfach ein neues Medium. Marshall McLuhan und andere haben vermerkt, dass er als eine auch textuell verfasste Geschichte noch viele literarische Elemente mit sich herumschleppt. Im 17., 18. und noch im 19. Jahrhundert schrieben viele Dramatiker auch Opernlibretti. Im 20. Jahrhundert wandern viele Autoren zwischen den immer noch literarisch genannten Texten und den nicht mehr literarisch genannten Drehbüchern hin und her. Im Vergleich aber zur bilderlosen, nur in einigermaßen wertvollen Ausgaben auch visuell angereicherten Kunst des Romans wirken sich die dynamischen Bilder des Films trotz aller Textgrundlagen wie ein drastischer Mediali-

17 Ebd., S. 216, 295-296. 18 Assmann: Die Legitimität der Fiktion. 19 James: The Golden Bowl, S. 12, 18, 24. 20 Howe: „Introduction“, S. viii.

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sierungsschub aus. Dieser ist speziell vom deutschen Bildungsideal des 19. Jahrhunderts schwer zu absorbieren. Die deutsche Kultur, so mochte und mag es Ausländern oft vorkommen, zeichnet sich vor allem durch ihre musikalische Intensität aus. Die Selbstdarstellung des gebildeten und kultivierten Menschen musste im 19. Jahrhundert in Deutschland aber vor allem über literarische Textkenntnisse geführt werden, deren systematischer Sicherung sich alsbald die philologische Literaturwissenschaft in textlicher und die literaturwissenschaftliche Hermeneutik in sinninterpretierender Hinsicht annahmen. Der selbst viel umfassender gebildete und tätige Goethe wird zur europäischen Ikone einer vornehmlich durch literarische und philosophische Textkenntnis nachzuweisenden Kultur. Man muss natürlich nicht alles kennen und selbst von Goethe nicht alles lesen. Seit 1864 aber geben die ,geflügelten Worte‘ Büchmanns, gibt also ein literarisch-philosophischer Schatz von später oft auch ‚goldenen‘ oder ‚führenden‘ Worten genannten Zitaten die literarischen Idealmaße der Bildung vor. Georg Bollenbeck hat den langen Weg nachgezeichnet, auf dem sich die Angst des Bildungsbürgertums vor den Massenkünsten wie dem Film nur sehr langsam und bis heute keineswegs unbestritten in Akzeptanz, ja Faszination verwandelt.21 Die bisher letzte Auflage des Büchmann dürfte im September 2007 erschienen sein. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass eine poetisch oder philosophisch getönte Text-Kultur die ihr im späten 19. Jahrhundert angesonnene Geltung immer noch besitzt. Die Marginalisierung dieser Kultur ist trotz hochtouriger Marktaktivitäten unübersehbar. Der vornehmlich ans literarische Buch gebundene Bildungstyp ist in vielen Hinsichten veraltet. Nicht nur die alljährlichen Buchmessen aber demonstrieren, dass auch hier Totgesagte länger leben.22 Daher überrascht es nicht, dass wir die literarische Lesekultur – und sei es nur in Form von Redereflexen î auch als eine Art Antwort auf die kulturellen Bedrohungen wieder antreffen, welche der neuerliche, der digitale Medialisierungsschub gegen Ende des 20. Jahrhunderts aufzuwerfen scheint. Wieder einmal geht in Europa Angst um, die ‚klassische‘ Kunst werde vom ihrem Thron gestürzt, ein Thron, auf dem sie, wie man kritisch wird vermerken dürfen, kaum jemals richtig gesessen ist. Wieder einmal gilt es, Dämme gegen einen neuerlichen, nunmehr bedrohlich total aussehenden Wirklichkeits- und Kulturverlust zu errichten. Tilman Welther hat diese und ähnliche Redereflexe in der Kino-Debatte um 1900, in den Be- und Verurteilungen des Digitalen um 2000 aufgespürt.23

21 Bollenbeck: Tradition, Avantgarde, Reaktion, S. 159-178. 22 Bollenbeck: Bildung und Kultur, S. 225. 23 Welther: Medienrevolutionen und Redereflexe.

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IV Worin aber besteht die oder doch zumindest eine Pointe des Medialisierungsschubs durch die dynamischen Bilder? An sich hat Henry James nicht nur im Blick auf Photographie oder ähnlich statische Bilder, sondern auch auf FilmBilder Recht, wenn er „images“ zu „mere optical symbols or echoes“ erklärt.24 Und doch lässt sich die Wahrnehmung von ihnen leichter täuschen als von den indirekten Bildern, den Bildevokationen oder den so wichtigen bildhaften Metaphern der Literatur. Zwei französische Autoren von Kriminalromanen etwa, deren Namen meist auf den Doppelnamen Boileau-Narcejac verkürzt werden, waren von der ‚Verfilmung‘ ihres vielleicht bekanntesten Romans durch HenriGeorges Clouzot offenbar so beeindruckt, dass sie fürderhin den Filmtitel für die Neuauflagen des Romans verwendeten (Les diaboliques statt Celle qui n’était plus, ursprünglich 1952; inzwischen wurde der Roman erneut, diesmal mit Isabelle Adjani und Sharon Stone in den weiblichen Hauptrollen verfilmt). Sie erklären im Vorwort zu einer dem Film folgenden Neuauflage des Romans: „Das Bild, das ist die wirkliche Welt, die Welt der Dinge und Gesichter.“25 Die Realitätssuggestionen der filmischen Bilder drängen sich derart auf, dass die Geschichte nach ihrem Diktat verändert werden muss. Natürlich reden Boileau-Narcejac keiner Abbildhaftigkeit des Films das Wort. Die filmischen Bilder präsentieren keine Tatsachen. Für Boileau-Narcejac erzielt der Film allerdings Tatsächlichkeitseffekte, die man gebannt hinnimmt, auch wenn man sich der Manipulation der und durch die Bilder bewusst wird. Man findet dieses Argument in vielen Varianten in den Filmtheorien von Edgar Morin bis Gilles Deleuze. Morin bezieht es etwa auf den von ihm unterstellten Zwang, in den Nahaufnahmen von Gesichtern so etwas wie die Tatsächlichkeit (nicht nur: den Ausdruck) des Seelischen im und am Menschen zu erblicken. Demgegenüber appellieren die Bildsuggestionen und Metaphern der Literatur zwar oft sehr erfolgreich, aber doch auch labil ‚nur‘ an die Vorstellungskraft der Lesenden. Fukuzawa hat die in die letzten Jahre seines Lebens fallende Ankunft des Films und die Anfänge des Kinos in Japan, zunächst in Kabuki-Theatern, wohl kaum mehr richtig erlebt. Man darf bezweifeln, dass Ankunft und Anfang ihn ebenso aufgeregt hätten wie die deutsch-europäische Kulturkritik. Grassmuck weist wie viele andere darauf hin, dass die Traditionen japanischer Bild- und Bildgeschichten-Kultur den Film und das Kino weitaus besser als in Europa vorbereiteten.26 Auch wenn jedes Einzelbild statisch ist, entfalten japanische 24 James: The Golden Bowl, S. 12. 25 Boileau-Narcejac: Les diaboliques (Celle qui n’était plus), S. 8. 26 Grassmuck: Geschlossene Gesellschaft, S. 210.

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Bildgeschichten eine Dynamik, die sie der Bewegung der Filmbilder indirekt annähert. Die eigentümlich starke, heute auch globale Wirkung japanischer Manga, von Anime ganz zu schweigen, hat wohl damit zu tun.27 Das Fehlen der ‚fiktionalen‘ Literatur in Fukuzawas Textuniversum, die Distanziertheit, mit der er dem Theater gegenüber steht, dürften daher auch mit dem Mangel an ‚Relevanz‘, das heißt an Tatsächlichkeitseffekten zusammenhängen, die – bei aller Attraktivität î hier wohl der westlichen imaginativen und der entstehenden, westlich inspirierten japanischen Literatur eignet. Um 1900 treibt dieses Problem in Japan die Literaten selbst um. Ich möchte hier auf Natsume Sôseki nicht weiter eingehen. Erstaunlich aber ist es schon, wie stark er die Relevanz der ja von ihm auch gepflegten fiktionalen Literatur zwar nicht an Tatsächlichkeitseffekten, aber an einer ihrer Maskierungen, nämlich der moralischen Bedeutung bzw. an einer subtilen, aber gerade deshalb lebensrelevanten Sensibilität der Texte festmacht. In A Study of Literature (1905) vermisst er – aus westlicher Sicht ganz ungewöhnlich î diese Sensibilität selbst bei Shakespeare.28 Literatur gewinnt eine spezifische Funktion, wenn und weil Moral und Sensibilität in ihr geradezu ineinander fließen („a moral is no more than a kind of emotional factor“29). Mori Ôgai hat den Schritt in das, was ich hier eine den filmischen Bildern analoge Tatsächlichkeits-Literatur nennen möchte, in seiner Spätphase vollzogen. Das mag überraschen, hat Ôgai doch deutsche Literatur, Philosophie und Ästhetik, stärkste Formen imaginativer und spekulativer Freiheit also, wie kaum ein anderer über Jahre in Deutschland selbst studiert. Die Details seines Kampfes mit den genauen Bedeutungen der deutschen Texte sind inzwischen teilweise sehr genau dokumentiert.30 Im Banne deutscher Ästhetik und Literatur hat Ôgai eine Zeitlang versucht, die spezifische Erkenntnisleistung der Kunst und den Zusammenhang zwischen Idee und Schönheit zu profilieren.31 Seine eigenen Publikationen zur Ästhetik kommen 1902 an ihr Ende. In der autobiographischen Geschichte „Illusionen“ („Môsô“, 1911), eigentlich schon 1896, scheint die deutsche Ästhetik, auch die einstmals so einflussreiche Ästhetik Eduard von Hartmanns, in beträchtliche kognitive Distanz entrückt.32 Lange vorher hatte Ôgai mit Tsu27 Vgl. Székely: Manga und Anime – Japanische Bilderzählungen und ihre Attraktivität für europäische Kulturen. 28 Matsui: Natsume Sôseki as a Critic of English Literature, S. 101, 115-119. 29 Ebd., S. 117. 30 Fürnkäs u.a.: ,,Autograph Notes by Mori Ogai in Schweglers Geschichte der Philosophie im Umriss“. 31 Lewin: ,,Mori Ôgai und die deutsche Ästhetik“. 32 Bowring: Mori Ôgai and the Modernization of Japanese Culture, S. 84-86.

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bouchi Shôyô eine Diskussion um das künstlerische Werk als Ideal oder als Spiegel objektiver Realität im Sinne ihrer latenten regulativen Ideen geführt. Diese Diskussion hatte vor allem durch ihre absolute Frucht- und Ergebnislosigkeit beeindruckt.33 Fehlgeschlagen war auch der Versuch, Wissenschaft und Kunst als vollständig getrennte, aber auf ihre Art jeweils legitime Erkenntnisformen zu begreifen. Zu unterschiedlich waren die realen Leistungen, die aus beiden Aktivitäten resultierten.34

V Das Feld systematischer Ideen war für den späten Mori Ôgai offenbar abgesteckt, ja abgegrast. Für ihn können die „wirklichen Tatsachen“35 der Naturwissenschaft oder der Medizin den menschlichen Geist ebenso wenig befriedigen wie die unverbindlichen Lebensbilder der Literatur. Der Wissenschaft mangelt es an Imagination; in der Literatur aber kippt die Imagination in willkürliche Erfindung, in bloße, von intellektueller und emotionaler „Ehrlichkeit“ oder auch gesellschaftlicher Relevanz meist weit entfernte „Lüge“.36 In diesem Dilemma schien die Fiktionsphilosophie Hans Vaihingers einen letzten Ausweg zu bieten (entstanden 1876-78, zuerst 1911 veröffentlicht, 1923 etwa mit einer gekürzten ‚Volksausgabe‘ geehrt). Vaihingers Position ist umso bemerkenswerter, als es ihm primär gar nicht um Literatur oder die anderen Künste geht. Sie spielen angesichts der ebenso entscheidenden wie prekären Rolle von Fiktionen in weitaus wichtigeren Dimensionen (Theorie, Recht, Wissenschaft einschließlich Staatswissenschaften, Religion und Alltag) ähnlich wie bei Fukuzawa kaum eine Rolle. Vaihinger möchte deshalb die ästhetischen Fiktionen am liebsten nur ,Figmente‘ nennen. In den poetischen Figmenten vor allem wird oft genug „ein großer Unfug“, wird die imaginative Freiheit auf die Spitze getrieben.37 Dadurch aber verliert sie leicht ihren möglichen Nutzen. Vaihingers Fiktionsbewusstsein entspringt selbst einem Medialisierungseffekt. Es handelt sich um die Möglichkeit, ja den Zwang, die Werke der Philosophie weniger in ihrem jeweiligen Eigenrecht denn als Varianten serieller Textualität zu lesen. Diese Serialität besitzt natürlich ein differenzierteres, ein kontrollierter variiertes Problem- und Begriffsprofil als die Mischung aus medialem Zufall und nationaler Idee bei Fukuzawa. Man muss daher nicht dem berüch33 Karatani: Origins of Modern Japanese Literature, S. 146-151. 34 Bowring: Mori Ôgai and the Modernization of Japanese Culture, S. 77-80. 35 Ebd., S. 155. 36 Ebd., S. 155f., 189. 37 Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob, S. 83-85.

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tigten Urteil A. N. Whiteheads folgen, die europäische Philosophie bestünde aus „a series [!] of footnotes to Plato“38. Gleichwohl entspringt die Fiktionsphilosophie nicht so sehr einer bestimmten systematischen und begrifflichen Kraft. Sie verdichtet sich als Fiktionsbewusstsein vornehmlich durch das historische Studium der Problem- und Begriffsgeschichte. Immerhin gesteht selbst Whitehead der Philosophie seit Plato in diesem Sinne einen Fortschritt in der „Koordination“39 ihrer Geltungsansprüche zu. Wie schwierig diese Koordination bleibt, offenbart aber Vaihingers im Zeitalter rasanter naturwissenschaftlicher Fortschritte notwendiger Versuch, Hypothese und Fiktion voneinander zu unterscheiden. Denn die Bestimmung der Hypothese als „realer Ausdruck eines Realen“ usw. mutet im Kontext der Fiktionsphilosophie recht hilflos und tautologisch an.40 Die Variation der Begriffs- und Problemkontinuität erzeugt weniger einen positiven Erkenntnisfortschritt; sie steigert vielmehr den Unwirklichkeitseffekt zentraler Begriffe. Dieses Schicksal hat oft selbst jene Philosophien wie die Whiteheads getroffen, welcher dem Fußnoten-Dilemma durch radikales Umdenken entrinnen wollte. Whitehead schlägt die einen in Bann, den anderen kommt seine Philosophie wie „obscure private dreams“ vor.41 Vaihingers Buch jedenfalls kommt ganz im Stil hochkoordinierter Systemphilosophie daher. Doch die am Ende stehenden ,historischen Betrachtungen‘ gehören eigentlich an den Anfang. Nur sie sichern die Nachhaltigkeit des Fiktionsbegriffs. Mit der Formel ,positivistischer Idealismus‘ prägt Vaihinger einen für seine Zeit plausiblen begrifflichen Kompromiss, mit welchem er den Druck der Wissenschaften abzufedern und gleichzeitig das Prestige des deutschen Idealismus hochzuhalten versucht. Mit solchem Lavieren ist Ôgai freilich nicht geholfen. Ôgai übersetzt Fiktion mit dem japanischen Wort für Lüge.42 Und er hat Recht: Denn Vaihinger hat den Nutzen, also den pragmatischen Wahrheitsgehalt der meisten der von ihm aufgedeckten Fiktionen nicht zureichend deutlich gemacht. Ôgai distanziert sich von Vaihinger auch deshalb, weil die gesellschaftlichen Umwälzungen in Japan am Anfang des 20. Jahrhunderts härtere Realitätsbilder erfordern. Mit dem Tod des Meiji-Kaisers und in seinem Gefolge dem für viele rätselhaften, lächerlich oder archaisch anmutenden rituellen Doppelselbstmord des Ehepaars Nogi (er ein berühmter General) schienen sie einem neuerlichen Hö-

38 Whitehead: Process and Reality. An Essay in Cosmology, S. 39. 39 Ebd., S. 7. 40 Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob, S. 87. 41 Passmore: A Hundred Years of Philosophy, S. 335, 391. 42 Bowring: Mori Ôgai and the Modernization of Japanese Culture, S. 156, 192.

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hepunkt zuzutreiben. Lebenssteuernde Gewissheiten hatten weder die Wissenschaften, noch die sozialen und nationalen Ideologien, noch auch schließlich die Kunst zu bieten. Gewissheiten als die Empfindung, das Erlebnis oder die Erfahrung der Tatsächlichkeit von Geschehnissen waren nur durch eine nochmalige mediale Verschiebung zu haben. In einem ersten, nur auf den ersten Blick seltsam anmutenden Schritt verteidigt Ôgai daher das von vielen japanischen Modernisierern angegriffene Kabuki-Theater. Dessen schematische Emotionalität mochte man auch unter dem Druck westlicher Realismus-Standards in der Tat für einen Prototyp theatralisch-fiktionaler Lüge halten. Aber die Faszination spektakulärer Performanz setzt sich – wie im bzw. für den Westen, so Ôgai zu Recht, im Übrigen oft bei Shakespeare î darüber hinweg; sie ist entweder – wie die filmischen Bilder î unwiderleglich überzeugend oder unzugänglich fremd.43 In einem zweiten Schritt beschneidet Ôgai die Erfindungsfreiheit des literarischen Autors. Der Autor arrangiert lediglich die Respekt heischenden Geschichten, die in den Dokumenten der Geschichte ihren hinreichend verlässlichen, aber immer noch gestaltungsbedürftigen Niederschlag gefunden haben. Die Geschichte bietet weder Tatsachen noch Lehren für die Gegenwart. Aber sie entrollt Geschehensabläufe, deren mediale Stilisierung sie zu Masken und Mustern von Tatsächlichkeit, das heißt zu Modellen evidenzgesättigter Ereignisse erheben kann. Dem Subjekt bieten evidenzgesättigte Ereignisse einen mentalen Ruhepol, weil die eindrucksstarke Ereignisverkettung nicht mehr an „the illness called meaning“44 leidet. Das ist die Pointe dessen, was man, um Begriffe verlegen, im Englischen Ôgais „historical fiction“ (rekishi shôsetsu) genannt hat.45 Diese Geschichten folgen weitestgehend den als solchen bekannten oder dafür gehaltenen historischen Tatsachen. Aber sie verdichten sie ‚stilistisch‘ in einer Weise, die sich den geläufigen medialen Tendenzen längerer Texte entgegen stemmt. Ôgai setzt weder auf Erzeugung von noch auf das bloße Spiel mit Bedeutungen. Es gibt daher keinen Fluchtpunkt, von dem aus die Geschichten als Bedeutung(en) oder deren Dementi verstanden werden können. Auch schatten sich Modalisierungen wie Pathos oder Ironie, ja vielleicht sogar Tragik allenfalls als Hintergrundspuren ab. Doch scheinen die von den Geschichten erzeugten Eindrücke gleichwohl verbindlich. Man versteht, dass Ôgai in Japan daher vornehmlich als Stilist gesehen wird.46

43 Ebd., S. 157. 44 Karatani: Origins of Modern Japanese Literature, S. 151. 45 Dilworth/Rimer: The Historical Fiction of Mori Ôgai. 46 Ebd., S. 10, 49-51, 152.

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Die im Stil knappster Feststellungen vermittelte Stärke der Ereignisverkettung ist nicht gänzlich begriffslos. Dilworth und Rimer benennen mit der ‚Erbarmungslosigkeit‘ der Geschichte, man könnte auch sagen: mit der Unerbittlichkeit der Ereignisverkettung jenen Eindruck, den die Lektüre etwa von „Sakai Jiken“ wohl oft hervorruft.47 Überdies sind die meisten Geschichten historisch wie (inter-)kulturell klar lokalisierbar. Mit dem Zwischenfall in Sakai ist ein Zusammenprall zwischen Japanern und Franzosen im ersten Jahr der Meiji-Restauration (1868) gemeint. Hier hatten französische Provokationen und die Tötung einiger Franzosen ein kompliziertes, Paradoxien auch in den jeweiligen Kulturen aufdeckendes Ritual eines befohlenen Gruppenselbstmords von japanischen, für die Zwecke des Rituals zu Samurai ernannten Soldaten in Gang gesetzt. Ôgais knappe und konnotationsarme Schilderung erzeugt Tatsächlichkeit als Gefühl für Widersprüchlichkeit wie Ausweglosigkeit der Abläufe. Darüber hinaus verleiht es ihnen keinen Sinn.

VI Ich kann die Stilmerkmale des Textes, vor allem die Wirkung teilweise fast mechanisch anmutender Aufzählungen oder die Ausblendung des Innenlebens der Figuren hier nicht weiter untersuchen. Karatani hält dafür, dass Ôgai die notwendige „Dezentrierung“ moderner, fiktionsgeschwächter Literatur leider nicht durch zukunftsweisende, sondern durch „atavistische“ Verfahren (wie eben Aufzählung, chronikartiger Bericht usw.) bewerkstelligt habe.48 Ôgai selbst hat sich in einem beeindruckend kurzen Statement zum Thema „Das Sosein der Geschichte und die veränderte Geschichte“49 über die Gründe für die Aufnahme wie die Aufgabe seiner historischen Texte – in guter japanischer Manier, möchte man sagen – eher ausgeschwiegen als ausgelassen. Das Studium historischer Aufzeichnungen habe ihn zur Verehrung der Wirklichkeit „that was evidenced in them“ gebracht.50 Er habe die historische Realität nicht ändern, sich aber doch aus ihren Fesseln befreien wollen usw.51 Ôgais Erzählverfahren haben in Japan keine Nachfolger gefunden. Washburn jedenfalls nennt sie „a unique development in Meiji literature“52. Ebenso

47 Ebd., S. 9, 129. 48 Karatani: Origins of Modern Japanese Literature, S. 154. 49 Dilworth/Rimer: The Historical Fiction of Mori Ôgai, S. 181-184. 50 Ebd., S. 181. 51 Ebd., S. 182. 52 Washburn: The Dilemma of the Modern in Japanese Fiction, S. 190, 193.

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klar dürfte sein, dass „the single most significant form of novel that modern Japanese literature has produced“53 im Ich-Roman (watakushi shôsetsu) besteht. Der autobiographische Ich-Roman aber bietet keine wirkliche Abkehr von Ôgais Problem, sondern traktiert dieses mit anderen, wohl noch problematischeren Mitteln.54 Der Ich-Roman ersetzt Tasächlichkeit durch die individuell beglaubigte Wahrheit. Er führt damit aber schnell in eine dem ‚Atavismus‘ Ôgais vergleichbare Sackgasse. Hijiya-Kirschnereit vor allem hat nachgewiesen, dass der Wahrheitsanspruch des Ich-Romans mit dem ritualistischen und mechanisierten Pathos kollidiert, in welches die obsessive Aufblendung des Innenlebens mündet. Eine der großen Ironien interkultureller Medialisierungs-Geschichte besteht nun darin, dass die Ôgaische Fiktionsmüdigkeit, aus Japan verbannt, am Ende des 20. Jahrhunderts im Westen eingekehrt zu sein scheint. Sie überflutet jenes Kulturgebiet, welches sich bislang so viel auf seine imaginative fiktionale Literatur zu Gute gehalten hatte. Sie enthüllt, oft genug unfreiwillig, die logischen wie historischen Schwächen vor allem des Fiktionalitätsbegriffes, mit dem sich die Literaturwissenschaft ein Territorium gesichert zu haben glaubte. Ein wissenschaftlicher Paukenschlag setzte mit dem kaum rezipierten, man kann sagen: mit dem verdrängten Werk von Bernd W. Seiler ein. Diese im Jahre 1983 veröffentlichte Habilitationsschrift setzte sich, wie es schien, damals zwischen alle Stühle literaturgeschichtlicher, rezeptionsästhetischer, empirischer und konstruktivistischer Art. Schon 1975 hatte der Schriftsteller und Maler Wolfgang Hildesheimer in England wie in Deutschland das ,Ende der Fiktionen‘, das heißt das Absterben der Relevanz fiktionaler Literatur beschworen. Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist eine Kehre selbst in der Literaturwissenschaft unübersehbar.55 Diese Entwicklung, so meinen viele, ist der heutigen, digital hochgetriebenen Dominanz multimedialer Kreativität zu verdanken. Mit ihr, so scheint es, kann die Literatur nicht mehr zureichend auf der Ebene attraktiver ‚Erfindungen‘ konkurrieren. Man hat freilich inzwischen gemerkt, dass bei aller Faszination in dieser Kreativität auch eine Unverbindlichkeit steckt, welche weder der historischen oder gar anthropologischen Tiefendimension, noch der Intensität heutiger Kulturspannungen oder Konflikte gerecht wird. Auch mit den wissenschaftlich üblichen Kriterien für Tatsachen oder Wahrscheinlichkeit kommt man Spannungen und Konflikten nicht richtig bei. Für kulturelle, auf überzeugende mediale Vermittlung angewiesene Konfliktdynamiken ist der Wahr53 Lippit: Reality and Fiction in Modern Japanese Literature, S. 2. 54 Bowring: Mori Ôgai and the Modernization of Japanese Culture, S. 223; HijiyaKirschnereit: Selbstentbößungsrituale. 55 Vgl. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität.

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scheinlichkeitsbegriff zu neutral, der Tatsachenbegriff zu arm. In Mary Pooveys History of the Modern Fact drängen daher schon für das 18. Jahrhundert die Bedeutung ‚stilistischer‘ Techniken bei der Konfliktdarstellung und den Versuchen ihrer dort noch argumentativen Bewältigung in den Vordergrund.56 Die einzelne Erfahrung, wie unwiderleglich sie erscheinen mag, selbst das wissenschaftliche Experiment sind nicht in sich zwingend evident. Allenfalls können sie starke Evidenz(en) liefern.57 Wahrscheinlichkeitsstandards müssen respektiert werden. Aber sie erschöpfen das Interesse am Gegenstand von Konflikten keineswegs. Schon Seiler weist – eher en passant î darauf hin, dass möglicherweise „die von uns beobachteten Fakten gar nicht so entscheidend“ sind, dass es vielmehr auf das ankomme, was Heißenbüttel als das „‚Design‘ des Konkreten“ bezeichnet habe.58 Für die überzeugende, in der Erfahrung sich gleichsam unwiderleglich darbietende Evidenz eines konkreten Designs verwende ich hier den bereits wiederholt ins Spiel gebrachten und sicherlich wieder einmal sehr deutsch klingenden Begriff der Tatsächlichkeit. Philosophische Würde hat dieser Begriff 1990 durch Hermann Schmitz im Rahmen einer Philosophie des unerschöpflichen Gegenstands erlangt. Der Sitz der Tatsächlichkeit im Leben ist die Evidenz, in der man nicht umhin kommt, einen Sachverhalt als Tatsache gelten zu lassen. Daher soll die Eigenart der Tatsächlichkeit an der Evidenz abgelesen werden. Evidenz ist exigente Nötigung mit Überzeugung durch die Autorität der Wirklichkeit, die einen Sachverhalt als Tatsache auszeichnet.59 Es ist natürlich auch für Schmitz alles andere als klar, worin Evidenz als „Gehorsam“ vor wirklicher Autorität bestehen könnte. Er zitiert sich daher gleich selbst, um die Möglichkeit einer Verschmelzung mit affektivem Betroffensein, eines Sich-Einlassens, Sich-Hinnehmens und Stellungnehmens „in unbeliebiger Selbstverstrickung“ angesichts der „Unerschöpflichkeit“ der Gegenstände zu suggerieren.60

56 Poovey: A History of the Modern Fact, S. 118, 204-207. 57 Ebd., S. 9. 58 Seiler: Die leidigen Tatsachen, S. 182. 59 Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, S. 229. 60 Ebd., S. 230.

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VII Für Medien- und Kulturwissenschaftler steht bei solchen Fragen eher eine neuerliche Medialisierungsverschiebung zur Debatte. Sie denken an – sei es immer noch oder wieder – literarisch zu nennende oder andersmediale Techniken und Strategien, mit welchen Formen des Sich-Einlassens oder aber Distanzierens als Weisen der Begrenzung und affektiven Abarbeitung von Konfliktsituationen gestaltet werden können. In medialer Formung kann sich Tatsächlichkeit als realer als jede so genannte Realität, aber auch flüchtiger als jede Fiktion erweisen. Für Wirklichkeiten, in denen wir wirklich leben, ist die „Antithese von Wahrheit und Wirkung […] oberflächlich“61. Bis heute schlägt die mediale Logik des Evidenzproblems in der Spannung von Augenscheinlichkeit und Affekten, von Sprache, sprachlichem und visuellem Bild daher auch in der Rhetorik durch.62 Dies alles müsste man sehr viel ausführlicher darlegen.63 Vor allem wären Argumente zur Unterscheidung evidenter Tatsächlichkeit von Meinung, Überzeugung, Dogma, Vorurteil, Aberglauben auf der einen, Theorie und ‚bloßer‘ Medieninszenierung auf der anderen Seite beizubringen. Jedenfalls aber bedarf die Evidenz der Tatsächlichkeit, bedürfen Prozesse der ,Vertatsächlichung‘ (Peter Ludes) der Medialisierung, um als evidenzträchtige Mischung von konkreter Präzision und theoriefähiger Implikation zur Geltung zu kommen. Tatsächlichkeit ist weder nur konkret noch bloß abstrakt. Auch sind Konkretheit und Abstraktion keine Gegensätze. Man kann aber sehr wohl funktions- und wirkungsspezifische Grade des Konkreten und des Abstrakten vor allem in evolutionärer und kulturanthropologischer Perspektive ausmendeln und für Tatsächlichkeitsabschätzungen benutzen.64 Ich halte jedenfalls die Mischung von weitgehend tatsachengetreuem Bericht und imaginativer Suggestion in Ôgais späten Geschichten für ein beeindruckendes Beispiel von Tatsächlichkeitsliteratur. Und man könnte, wie ich oben angedeutet habe, sehr leicht Fortsetzungen dieser Mischung in sehr vielen US-amerikanischen, deutschen, englischen, französischen und anderen Texten ausfindig machen. In Deutschland kann man für neuere Zeiten eine Linie von Wolfgang Hildesheimer zu W. G. Sebald oder auch Walter Kempowski und darüber hinaus ziehen. Für Großbritannien lassen sich so unter61 Blumenberg: Wirklichkeiten, in denen wir leben, S. 111. 62 Ueding: ,,,Komm, liebe Mieze, tun wir doch so, als ob!‘ Zur Rhetorik des Phantastischen“, S. 172-175. 63 Für einen ebenfalls noch viel zu kurz geratenen ersten Versuch vgl. Pfeiffer: ,,Mögliche Welten und die Halluzinationen der Tatsächlichkeit“. 64 Claessens: Das Konkrete und das Abstrakte.

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schiedliche Autoren wie John Fowles und seine Mischung aus Historiographie, auch religiöser Geschichte und der Spannung von Geschichte und Inszenierung (The Magus), aus juristischem Diskurs (besonders in A Maggot) und Epochenporträt (The French Lieutenant’s Woman), und Irvine Welsh mit dem Amalgam aus prägnantem Regionalismus und globalen Implikationen (Drogen, Medien), aus präziser Beschreibung und begrifflicher Diagnose und wiederum viele mehr nennen. In Frankreich hat im letzten Jahrzehnt vor allem Michel Houellebecq die Ausstrahlung von Tatsächlichkeitseffekten in Texten durch die Verflechtung von Aktualität und Theorie gesteigert. Bei Houellebecq kann selbst „le cinéma de fiction“ unter Irrelevanzverdacht geraten; ein „cinéaste“ in Les particules élémentaires weigert sich daher, mit Godard zusammen zu arbeiten.65 Seit mehreren Jahren ist jedenfalls das Feuilleton führender deutscher Tageszeitungen mit Artikeln zu diesem Themenkomplex übersät. Derzeit (das heißt im Februar 2008) sorgt Jonathan Littells ‚SS-Roman‘ Die Wohlgesinnten für Furore. Bei Ôgai und seinen gegenwärtigen westlichen ‚Avataren‘ handelt es sich um Formen von Textualität, welche die Unterscheidung zwischen Literatur, Historiographie, Dokumentation und Theorie nicht vereiteln, aber erheblich erschweren. Das belegen auch der freilich schon wieder sehr modisch gewordene Begriff der docufiction und die ins Kraut schießenden Untersuchungen zu den „Fiktionen des Faktischen“ (so der Titel einer Sektion beim Romanistentag 2007 Wien) der verschiedenen Zeiten. Zu diesem begrifflichen und kulturell zentralen Syndrom im Westen rechnet auch die oben unterstellte Fiktionsmüdigkeit. Dieser Ausdruck meint ja nicht, auch bei Hildesheimer nicht, das Ende der Fiktion schlechthin. Wohl aber klagt er die Forderung nach deutlich mehr als ‚bloßer‘ Fiktion ein. Ohnehin haben die ,leidigen Tatsachen‘ Seilers auch in den vermeintlichen freien imaginativen Kreationen der Hochliteratur eine weitaus größere als die ihnen literaturwissenschaftlich meist zugestandene Rolle gespielt. Auch wenn man Texte nicht biographisch reduzieren will, lässt sich Erstaunliches in dieser Hinsicht bei Thomas Mann dingfest machen. Noch beharrlicher rumort eine halb verborgene, halb erkennbare Tatsächlichkeit, wenn man die Erzählungen und Romane der Gebrüder Mann auch als Dialog zwischen den Brüdern liest. Man kann vor allem Thomas Mann trotzdem auch zum Kronzeugen und Höhepunkt des freien Erfindens und Gestaltens von narrativer Oberfläche wie symbolischer Tiefenschicht ausrufen.66

65 Houellebecq: Les particules élémentaires, S. 39. 66 Koopmann: Thomas Mann – Heinrich Mann.

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Sicher hat man die Texte der so genannten Realisten und Naturalisten zu oft mit den in ihnen massenhaft vorhandenen ‚Realien‘ kurz geschlossen. Rainer Warning hat sich daher zu Recht für ein Kontrastprogramm zur „Phantasie der Realisten“ stark gemacht.67 Schon vor vielen Jahrzehnten hat man in der Romanistik über den ‚Symbolismus‘ Zolas und verwandte Themen gestritten. Seitdem darf man Balzac nicht nur für einen Realisten, sondern auch für einen eingefleischten Romantiker selbst dann halten, wenn man seine Suche nach „effets du réel“ nachhaltig in Rechnung stellt.68 Der Begriff der Tatsächlichkeit möchte in diesem Sinne dem Gegensatz entgehen, in welchen Realien und Phantasie, Realismus, Romantik und Symbolismus oft gebracht worden sind. Er möchte diese Begriffe aber auch nicht einfach miteinander vermengen. Tatsächlichkeit bezieht ihre Evidenz aus jener Form der Realien, welche imaginative Appellkraft ausstrahlt. Eine solche Formulierung mag wie der Versuch einer Quadratur des Kreises anmuten. Begrifflich lässt sich Tatsächlichkeit in der Tat nicht hinreichend festlegen. Ihre Beurteilung hängt von dem ab, was man als historische Logik von Medialisierungsschwellen beschreiben müsste. Man könnte zeigen, dass die oben erwähnten westlichen Texte der Gegenwart Tatsächlichkeit als das suggestiv Neue, das Andere an gelebten, aber auch geschichtlich oder wissenschaftlich erforschungsbedürftigen Wirklichkeiten entdecken. Textualität bleibt abstrakt die beherrschende mediale Qualität. Aber die materiale, oft quasi-wissenschaftlich präzisierte Präsenz wird in der Aufarbeitung gelebter Wirklichkeiten enorm gesteigert. Die innere Medialität der Texte verschiebt sich, weil literarische Verfahren nicht mehr vornehmlich ihre eigenen, ihre möglichen Welten erzeugen, sondern die harten Kerne dessen herausschälen, was unabweisbar und gerade dann als wirklich zu gelten hat, wenn es nicht den Status einer Tatsache beansprucht. Das gilt heute auch für viele ‚literarische‘ Texte, welche die konkrete Dynamik wissenschaftlicher Aktivität entrollen. Ich halte dies für eine, wenn nicht die Signatur der westlichen Textwelten der Gegenwart. Trotzdem bietet meine Charakterisierung natürlich ein sehr einseitiges Bild. Die visuell und performativ beherrschten Medialisierungen von Tatsächlichkeit kommen nicht wirklich oder zureichend vor. Gerade sie sind in Japan besonders eindringlich ausgeprägt. Grassmucks bereits erwähnter Hinweis auf die Absorption des Kino ins Kabuki-Theater69 und die von ihm skizzierten schnellen Wanderungen von Ikonen der Massenkultur durch alle mögliche Medienformate und in alle möglichen Objekte heute70 sprechen für 67 Warning: Die Phantasie der Realisten. 68 Küpper: Balzac und der Effet du Réel. 69 Grassmuck: Geschlossene Gesellschaft, S. 211. 70 Ebd., S. 410.

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die neuere Zeit und heute eine deutliche Sprache. Für die Vergangenheit gilt eine Art visuell-performativer Hegemonie nicht weniger. Immerhin hat sich die Literatur, haben sich auch ihre westlichen Formen seit 100 Jahren als bedeutende kulturelle Institution in Japan etabliert. Anstatt die stattliche Anzahl der Beschwörungen digitaler Vorherrschaft heute zu vermehren, kann man folglich auch fragen, wie sich die japanische Gegenwartsliteratur angesichts des Ôgai-Modells, der watakushi-shôsetsu-Tradition, angesichts wirkungsstarker Bilder, eindrucksvoller Performanzen und digitalen Zaubers verhält. Japanische Kollegen versichern glaubhaft, dass literarisch-narrative Fiktionen sich nicht nur behauptet, nicht nur den Sieg über die älteren Tatsächlichkeits-Modelle davon getragen, sondern sich im Gegenzug in einen unbändigen Erfindungsreichtum hinein gesteigert haben. In den Romanen von Haruki Murakami etwa ist man in der Tat von der Exuberanz und Exorbitanz der Geschichten fast geblendet. Murakami kennt zwar autobiographische Bezüge. Aber er scheint mit ihnen in vergleichsweise harmlosen Kurzgeschichten lediglich zu spielen.71 Im fiktionalen Universum der Romane hingegen reist man durch ein nahezu grenzenloses Gebiet an Erfahrungen, Handlungen, Orten, Zeiten, Anspielungen, Problemen, durch gleichsam eine Science Fiction-Welt ohne ,science‘. Murakamis Romane scheinen vom Ehrgeiz getrieben, den gewaltigen Spielraum der klassischen Romane sowohl des 19. Jahrhunderts wie auch ihrer Relativierung durch die Moderne gleichzeitig zu überbieten. Bei ihm wird die Welt zum Buch und das Buch zu einer Welt, die in ihren Realien wie in ihrer vielfältigen Vorstellbarkeit alle Grenzen zu sprengen scheint. Einen Roman wie Kafka am Strand (2005 in Deutschland in der fünften Auflage) kann man in seiner Grundstruktur als Bildungsroman bezeichnen. Realitätsbezüge von Adolf Eichmann bis zur modernen Konsumgesellschaft stabilisieren diese Struktur, die ansonsten in einer Achterbahnfahrt von halluzinatorischen Evokationen, etwa von Landschaften, von Ausgriffen auf Plato, die Prädestinationslehre, Shinto-Götter und -Geister oder eine Bergson und Hegel zitierende Prostituierte und vieles andere mehr explodieren würde.72 Das Phantastische hat in Japan seinen Einzug selbst in Kriminalromane gehalten, in denen japanische Klassiker wie Matsumoto Seichô in Ten to Sen vordem etwa durch die spannenden Effekte nüchterner Tatsachen wie Fahrpläne und pünktlich verkehrende Transportmittel glänzten. In Miyuki Miyabes Crossfire (1998) spielt

71 Murakami: Blind Willow, Sleeping Woman, S. 81-83, 193 und die Geschichte „The Rise and Fall of Sharpie Cakes“, S. 249-254 sowie die Kommentare zum Schreiben von Romanen und Kurzgeschichten S. vii-xi. 72 Für Diskussionen und ein Seminar-Papier danke ich hier meinem Mitarbeiter Robin Piya.

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nunmehr etwa Pyrokinese die Hauptrolle, die menschliche Fähigkeit also, Gegenstände durch Konzentration und Willenskraft in Brand zu setzen. Erklärungen für diese Entwicklungen sind nicht einfach. Grassmuck bemüht Karatani. Dieser diagnostiziert das Absterben all jener Konzepte, von denen die klassische moderne japanische Literatur bis 1980 lebte: das innere Selbst, der Autor und die von ihm geschaffenen Bedeutungen. An ihre Stelle tritt das Spiel mit Zeichen ohne Bedeutung. Das Spiel vollzieht sich zum großen Teil in der Kombination älterer Gattungen, die immer schon zum Spiel, zum Wortspiel, der Parodie, der ironischen, Science Fiction einschließenden Romanze neigten. In gewisser Weise hat sich prämoderne Edo-Zeit in postmodernem Gewande wieder eingestellt. Das wilde Spiel mit den Zeichen wird für die gedruckte Literatur auch deshalb dringlich, weil wir auch mit dem Computer und den Hypertexten „eine Renaissance des Textes und des Schreibens“73 erleben. Die gedruckte Literatur muss sich von dieser Renaissance abheben, ohne in ihre alten Formen zurück zu fallen. In anderer Perspektive kann man wohl unterstellen, dass in der japanischen Gesellschaft auch heute noch vergleichsweise viele Verhaltensregeln gelten und befolgt werden. Der Kontext dieser Gesellschaft und ihrer Regeln aber ist global geworden. Damit steigen die Vorstellungsmöglichkeiten rasant an. Die Literatur vom Typ Murakami verleiht diesen Vorstellungsmöglichkeiten attraktive Formen. Auch das mag ihren Erfolg zumindest teilweise erklären. Sicher aber beschleunigt sich auch in der japanischen Gesellschaft schon jetzt die Erweiterung realer, nicht nur imaginärer Möglichkeiten, Optionen und Alternativen. Je mehr sich aber die funktionalen Systeme einer Gesellschaft und ihre internen Normen ausdifferenzieren, umso mehr eröffnen sie Zwischen- und Hohlräume des Möglichen, umso schwieriger wird es für die Literatur, sich vornehmlich als literarischer ,Möglichkeitssinn‘ (Robert Musil) auf dem Markt der Optionen zu behaupten.74 Auf die nächste Medialisierungsverschiebung der japanischen Literatur darf man daher gespannt sein. Warten wir ab, ob diese dann noch einen der uns geläufigen Literaturbegriffe rechtfertigt.

VIII Bei Murakami hat sich das Medialisierungsproblem im Jahr 2008 in der Tat bereits signifikant (wenn auch wohl nur vorläufig) verschoben. Es hat sich in einer Weise verschoben, mit welcher das Forschungsprojekt „Medienanthropologie und Medienavantgarde“, das diesem Band zugrunde liegt, seine Legitimi73 Grassmuck: Geschlossene Gesellschaft, S. 403. 74 Sill: Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 191, 199.

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tät und Notwendigkeit nochmals nachdrücklich anmelden kann. Man wird die Romane Murakamis nicht einer medialen Avantgarde zurechnen, wie sie ja selbst innerhalb des landläufig Literatur Genannten immer noch möglich wäre. Murakamis Romane mischen und steigern ‚lediglich‘ die aus so genanntem Realismus wie so genannter Phantastik geläufigen Verfahren und Effekte. Vor Jahren hatte sich Murakami freilich mit Untergrundkrieg. Der Anschlag von Tokyo (ursprünglich je ein Band mit Interviews von Betroffenen des Giftgasanschlags im März 1995 und mit Mitgliedern der Aum Shinrikyo-Sekte) an einer Textsorte versucht, die zumindest nahe an der oben skizzierten Tatsächlichkeitsliteratur liegt. Im Februar 2008 ist nun in Deutschland ein Text erschienen, der zumindest die Dringlichkeit medienanthropologischen Fragens scharf beleuchtet. Der (Ultra-)Marathonläufer und Triathlet Murakami schreibt über das Thema Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede. Als Hochleistungs-Schriftsteller macht Murakami lange vor der Grenze zu einer vornehmlich medial markierten Avantgarde halt. Das Andere des Schreibens (der ‚Medienumbruch‘) ist nicht eine radikale oder komplexe Medialität, sondern das (auch fast hochleistungssportlich betriebene) Laufen. (Verfiele ich damit nicht in eine erneute, diesmal narzisstische Selbstparodie, würde ich sagen: Murakami illustriert das Thema „Der spektakuläre und der verschwindende Körper: Sport und Literatur“ in fast bestürzender Klarheit.75) In ihren polaren Ausprägungen haben das beständige literarische Schreiben und ein ebenso kontinuierliches Lauftraining (mit regelmäßigen Rennen) kaum etwas miteinander zu tun. Zwar gehen auch dem Läufer Gedanken durch den Kopf; der menschliche Geist verträgt kein echtes Vakuum. Aber der Läufer läuft, vor allem die ganz langen Strecken, „um Leere zu erlangen“76. Das mag mit einem wie immer gearteten philosophischen oder meditativen Begriff der Leere viel oder wenig zu tun, der Läufer gelegentlich immerhin den Eindruck haben, „in einen philosophischen oder sogar religiösen Zustand der Leere eingetreten“77 zu sein. Jedenfalls kommen und gehen die Gedanken beim Laufen wie die Wolken am Himmel, welcher dabei, zugleich substanzhaft und substanzlos, existiert und nicht existiert.78 Mit einem derartigen, irgendwie an Leere gemahnenden Bewusstseinszustand wird man die Geistesprodukte der literarischen „Riesen“79 (als Beispiele werden Shakespeare, Balzac, Dickens 75 Vgl. Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre, S. 439-596 (seitenverweise auf Murakamis Buch im fortlaufenden Text). 76 Murakami: Wovon ich rede, S. 22; vgl. S. 111-112. 77 Ebd., S. 115. 78 Ebd., S. 23. 79 Ebd., S. 74; vgl. S. 23.

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genannt) nicht vergleichen wollen. Denn das literarische Genie erstrahlt zumeist in einer Fülle verbalen Glanzes. Irgendwann, meist früher als später (die drei genannten Geistesriesen illustrieren das recht schlagend), verlöscht es, ohne dass der Körper in irgendeiner Weise ins Spiel gekommen wäre. Oder vielleicht doch? Die These, unübersehbar viele der (vor allem auch literarischen) Geistesheroen seien eher kränklich, körperlich gar verwahrlost oder traurig anzusehende menschliche Wracks gewesen, haben (der Arzt und Schriftsteller) Benn und (der Boxenthusiast) Brecht vertreten. Benn hält aber ebenso emphatisch an der (wiederholten) These fest, der Körper sei „der letzte Zwang und die Tiefe der Notwendigkeit“, der „Monolog der Schöpfung“ und manchmal die „Prämisse des Genies“.80 Auch Murakami, im Allgemeinen weitaus nüchterner, spekuliert darüber, ob beim – ohnehin ungesunden – Schreiben nicht „tief im Innern des menschlichen Wesens eine Art Gift abgesondert“ wird, „das dann zur Oberfläche steigt“ und sorgfältig behandelt werden muss.81 Die Talente, die vielen Schriftsteller, die den Genietitel nicht für sich reklamieren können, brauchen also umso dringlicher ein „Autoimmunsystem“82, welches die Verwandlung von Gift in Kreativität steuert. Diese Verwandlung nimmt, ob der talentierte Schriftsteller das will oder nicht, den Körper in Anspruch. Man kann es mit Drogen aller Art versuchen. Benn hat das ausführlich beschrieben. Dergleichen endet meist (wenn auch nicht immer) relativ schnell in „literarischer [und meist auch vitaler] Erschöpfung“83. Oder man kann, so die Variante Murakamis, das Schreiben wie den Körper durch regelmäßiges Training an eine dosierte Giftabsonderung und deren ebenso dosierte Bewältigung gewöhnen. Die Empfehlung, Schreiben als regelmäßige Übung durchzuführen, ist nicht neu – Anthony Trollope etwa hat Ähnliches im 19. Jahrhundert ganz pointiert verkündet. Allerdings fehlte dem 19. Jahrhundert das sportliche Körperbewusstsein. Dieses erleichtert das Schreiben ebenso wie es sein im 19. Jahrhundert (gelegentlich auch noch im 20. Jahrhundert im Kontext der vor allem in Deutschland gepflegten Kulturemphase) geübtes Pathos dämpft. Das Schreiben ist „vielleicht eine geistige Tätigkeit“; ein Buch fertig zu stellen aber ist eine „physische Anstrengung“, bei der im Innern, und das heißt vor allem im Innern des Körpers, „eine zermür80 Vgl. Wolfgang Rothe: „Sport und Literatur in den zwanziger Jahren. Eine ideologiekritische Anmerkung“, S. 135; Benn: „Genie und Gesundheit“, S. 647-648, 651. Benn hat die Thesen in den verwandten Aufsätzen „Zur Problematik des Dichterischen“, „Der Aufbau der Persönlichkeit“ und „Das Genieproblem“ in ähnlichen, manchmal identischen Passagen variiert. 81 Murakami: Wovon ich rede, S. 96. 82 Ebd. 83 Ebd., S. 98.

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bende Dynamik vor sich“ geht.84 Die Ähnlichkeit – im Sinne einer langen Anstrengung – zwischen dem Schreiben eines Romans und einem Marathonlauf ist also nicht nur metaphorisch.85 Unübersehbar aber bleibt dieser Ähnlichkeit eine schon bei Trollope feststellbare ernüchternde und routinisierte Mechanik eingeschrieben. Gerade deshalb muss Murakami bei jedem neuen Roman so angestrengt „ein neues tiefes Loch graben“. Es bleibt ihm „nicht erspart, den „Meißel anzusetzen“, um „ein Loch in den harten Stein“ oder gar den „Fels“ zu schlagen, um also immer wieder mühsam eine Wasserader der Phantasie zu entdecken.86 Allerdings bleibt auch die Lauflust nicht von Einbrüchen, Widerwillen und mechanischem Selbstzwang verschont. Doch kann das laufende Individuum diesbezügliche Probleme weitaus mehr mit sich selbst ausmachen als der auf die Öffentlichkeit und mediale Kommunikation angewiesene Schreiber. Entscheidende Gegensätze zwischen Schreiben und Laufen bleiben daher trotz der Bemühungen Murakamis um Parallelen und Korrelierbarkeit bestehen. Kann man daraus etwas folgern? Murakami verknüpft Schreiben und Laufen, weil beide leicht ins Obsessive gleiten und sich in ihren tiefsten Bewusstseinsausläufern berühren können. Das Laufen erzeugt dann Bewusstsein – vielleicht sollte man sagen: Bewusstheit – als Empfinden nahezu leerer Tatsächlichkeit. Das literarische Schreiben bietet nicht beliebige Phantasien, sondern lotet bindende imaginative, dem Tatsächlichkeitsempfinden vergleichbare Vorstellungsgrenzen aus. Als Extreme einer anthropologischen Konfiguration sind sie miteinander verknüpft. Im Rahmen von Medialisierungsschüben, gleichsam medienpraktisch, haben sie aber wohl wenig miteinander zu tun. Medialisierungsschübe gestalten die Spannungen wie auch die Amalgamierungen zwischen Tatsächlichkeit und Imagination nicht als zwar möglicherweise fundamentale, aber doch nur latent verknüpfte Extreme, sondern als wandernde Momente direkt oder indirekt î ‚metaphorisch‘, reflexiv, kontemplativ î sichtbarer oder rhythmisierter Performanz. Medienumbrüche nennen wir dann jene medial markierten Prozesse, in welchen die wandernden Momente einschneidend reorganisiert zu werden scheinen. Murakami hat, wie viele andere Autoren, eine solche Reorganisation bisher verweigert. Sein Sprung ins Laufen aber zeigt (wie auch vielleicht seine Qualifikation als Jazzfan und Jazzexperte) an, dass man derartige, kulturell-medial angesagte Reorganisationen zwar verweigern, aber nicht wirklich überspringen kann. Umgekehrt lehrt sein Beispiel aber auch, dass Medienumbrüche nicht mit Gegensatzbegriffen (wie

84 Ebd., S. 73. 85 Vgl. ebd., S. 17. 86 Ebd., S. 44.

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heute etwa analog/digital usw.), sondern als kulturell-mediale Konfigurationsverschiebungen, eben als Medialisierungsschübe beschrieben werden sollten.

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Andreas Käuser

Epochenschwelle 1800 – Medienumbruch 2000: Referenzen und Differenzen I Als Sattelzeit oder Epochenschwelle ist die Phase um 1800 von Reinhart Koselleck, Niklas Luhmann, Hans Robert Jauss oder Michel Foucault nicht explizit medial ausgewiesen worden;1 stattdessen wurde eine Veränderung der historischen Semantik, der Begriffe und ihrer Konstellationen, der Konzepte und ihrer Denkweisen oder -stile untersucht und als Methode erfolgreich für die Geistes- und Kulturwissenschaften etabliert. Die Erforschung der Epochenschwelle um 1800 war an Bedeutungsveränderungen und ihren sprachlichen Trägermedien orientiert; als Ergebnis dieser Forschungen wurde formuliert, was Neuzeit oder Moderne ist. Ganz anders setzt die These vom digitalen Medienumbruch um 2000 an den medientechnologischen Innovationen als Katalysatoren umfassender sozialer und kultureller Veränderungen an. Rückwirkend hat diese medientechnische Motivierung und Ursachenforschung auch die Epochenschwelle um 1800 in eine neue Sichtweise gebracht, die die Materialität der Medien stärker in den Blick gerückt hat, als dies die historische Semantik Kosellecks oder Luhmanns intendierte und vermochte. So hat der digitale Medienumbruch auch eine methodische Suchbewegung freigesetzt, die frühere Umbruchs- oder Schwellenphasen neu gesichtet und geordnet hat, so dass auch an der Epoche um 1800 mediale Motivationen nachgewiesen worden sind. Umgekehrt hat die ältere Untersuchungsart von Epochenschwellen den digitalen Medienumbruch beeinflusst, indem dessen medientechnologisches Apriori semantisch oder hermeneutisch erweitert wurde. Nicht nur werden heuristisch aus der Perspektive der digitalen Umwälzung ältere Medienkonstellationen wie diejenige um 1800 anders geordnet oder überhaupt erst in ihrer medialen Ordnung gesichtet; vielmehr profitiert auch die derzeitige Umbruchsphase von der Spiegelung in dieser Medienkonstellation um 1800, die

1

Vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge; Koselleck/Herzog: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein; Koselleck: Vergangene Zukunft; Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik.. Während dort exklusiv historische Semantik von Begriffen betrieben wird, wird in Liebe als Passion (1980), das dem Begriffs- und Affektwandel des 18. Jahrhunderts gewidmet ist, die Methode um symbolisch generierte Kommunikationsmedien erweitert, vielleicht als Beginn der Auseinandersetzung Luhmanns mit Medien und deren Theorie.

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der Jetztzeit zur Orientierung und zum Verständnis, vielleicht sogar zum Erklärungsmodell dient. Gerade wegen der bisweilen eruptiven Neuerungen scheint eine solche historische Rückversicherung in komparatistischer oder hermeneutischer Hinsicht geboten zu sein. Aber auch methodische oder kategoriale Serviceleistungen – und seien sie nur abgrenzender Art – zur älteren Epochenschwellenforschung sind notwendig. Der Medienumbruch um 2000 sowie die Epochenschwelle um 1800 befinden sich in einem heuristischen und hermeneutischen Spiegelungs- und Ergänzungsverhältnis, welches das medientechnologische Primat des digitalen Umbruchs um das semantische Primat der Epochenschwelle ergänzt. Vereinfacht gesagt könnte man von Kompensationsgeschäften dergestalt sprechen, dass der Epoche um 1800 die medienarchäologische Perspektive hinzugefügt wird, mit der sie neu gesehen wird, während die Epoche um 2000 die semantische Perspektive durch die Rückwendung auf 1800 dazu erhält, indem der Medienumbruch 2000 mit den Schemata und Begriffen der Epochenschwelle 1800 erklärt wird. In der Tat lassen sich zentrale Begriffe der derzeitigen Medientheorie wie Verkörperung oder Mediengewalt aus der Medienkonstellation um 1800 herleiten. Zugespitzt formuliert scheint die digitale Umwälzung um 2000 ihr Erklärungsmodell sowie deren Begriffe und Denkweisen dem Erklärungsschema der Epochenschwelle um 1800 zu entlehnen, wodurch methodische und begriffliche Innovationen der derzeitigen Medientheorie durch die Perspektive auf 1800 getätigt worden sind. Dass der Medienbegriff derzeit umformuliert wird von einer kommunikativen und semiotischen auf eine körperlich-performative und alteritäre Bestimmung, liegt auch an der methodischen Rückbesinnung auf die Epochenschwelle um 1800. Maßgebliche Buchtitel der heutigen Medienwissenschaft wie z.B. Friedrich Kittlers Aufschreibesysteme 1800/1900 oder Albrecht Koschorkes Körperströme und Schriftverkehr sind so methodisch durch die gegenläufige Parallelbewegung einer historiografischen Referenz sowie einer medientechnologisch begründeten Differenz auf 1800 zu kennzeichnen. Aber bereits ein Klassiker der Medientheorie, die Dialektik der Aufklärung von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer war durch diese kritische Bezugnahme und Defizitbilanzierung zwischen aufgeklärter Theorie und moderner Kulturindustrie gekennzeichnet.2 2

Im Unterschied zu Adorno/Horkheimer, die die Ausschließlichkeit aufklärerischer Ideen/Ideale mit modernen Medienverhältnissen hervorhoben, geht Vogel in den Medien der Vernunft zwar auch von einem kritischen Verhältnis zwischen Aufklärung und Medienkultur aus, wendet es aber signifikant anders, indem er den aufklärerischen Leitbegriff der Vernunft/Rationalität medial ausstaffieren möchte. Hat die bisherige sich auf die Aufklärung berufende Philosophie die Sprache zum exklusiven Leit-Medium gemacht, so elaboriert Vogel nonverbale und ästhetische Ausdrucks- und Verständigungs-/Verstehensformen, die er zu Rationalitätsträgern

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Wenn es sich um gegenseitige Bezugnahmen handelt, um wechselseitige Lernerfolge, kann gefragt werden, was 1800 von 2000 und 2000 von 1800 lernt. Das späte 18. Jahrhundert wird durch die Perspektive derzeitiger Medienverhältnisse um die Einsicht der Medienkonstellation oder des Mediensystems bereichert. Hat der digitale Medienumbruch durch fortschreitende Akkumulation des Medialen die Kommensurabilität der diversen Medien durch die digitale Plattform erreicht, so werden dadurch leitmediale Hierarchisierungen und Abgrenzungen unterminiert. Insbesondere an der Sinneshierarchie diskutiert das späte 18. Jahrhundert diese Angleichung der Kunstformen, die Egalisierung einer vormaligen Hierarchie der Medien. Lessings Laokoon sowie Herders ästhetische Versuche und Fragmente widmen sich zentral dieser Aufgabe, auf dem Wege der Enthierarchisierung der Sinne – also insbesondere der Depotenzierung des visuellen Leitsinns – auch die Kunstformen zu egalisieren. Mit der Aufwertung des Tastsinns oder des Hörens werden die diesen Sinnen entsprechenden Kunstformen wie Plastik oder Musik in ihrer Andersheit und Fremdheit anerkannt und aufgewertet, wodurch das regelpoetische Diktum der ut pictura poiesis ausgehebelt wird, was insbesondere der literarischen Emanzipation seit 1770 legitimierende Rückendeckung verleiht und zu gute kommt. Mit der Einbildungskraft als Basis der Fiktion auf seiten des Produzenten wird die Rezeption auf seiten des Lesers zu einer neuartigen Medienwirkung aufgebaut, was den Aufstieg der modernen Gattung des Romans und seiner imaginativen Wirkungsstrukturen von ‚Vorstellungen‘ (Kant) mit begründet. Einerseits wird im späten 18. Jahrhundert die Differenz und Fremdheit der Medien entdeckt oder anerkannt, der Wettstreit der Künste neu gesehen und anders bewertet, wodurch stratifikatorische durch funktionale Medienkonstellationen abgelöst werden; andererseits ist der Schriftverkehr einer sich durchsetzenden Buch- und Textkultur die Basis dieser Medienensembles. Den Niedergang der visuellen Kultur und Bildung, die an eine Gesprächskultur gekoppelt war, hat Barbara Maria Stafford durch eine sich ausbreitende Schriftkultur im späten 18. Jahrhundert analysiert und in Parallele gesetzt zur digitalen ikonischen Revolution: Die Überzeugung, daß wir uns inmitten einer radikalen Revolution des Sehens und der Sehgewohnheiten befinden, veranlaßte mich zur Untersuchung eines historischen Moments, der mit dem Erscheinen

aufwerten möchte. Methodisch werden heutige Medienkultur und Aufklärung um 1800 explizit und kritisch relationiert.

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der digitalen elektronischen Kommunikation am ehesten vergleichbar ist […]3 […] als Geschichte des Beginns der Massen-Alphabetisierung [… und des] Niedergangs der visuellen Fähigkeiten. […], indem ich mich auf repräsentative Momente während des einzigartigen Übergangs von einer mündlichen Sehkultur [und Gesprächskultur …]4 […] auf eine Schriftkultur und von da auf die irritierende Wiederkehr von immer realistischeren Bildern in lebendigen, multimedialen Vorführungen konzentriere.5 Die literarische Umwälzung ist als Übergang zum Literatursystem, vom rhetorisch heteronomen Diskurs zur autonomen Medienkonstellation des ‚literarischen Lebens‘ (S. J. Schmidt) beschrieben worden, so dass im späten 18. Jahrhundert erstmals eine mediale Auffächerung und Ausdifferenzierung stattfindet, die durchaus Parallelen zur derzeit stattfindenden Medienrevolution zeitigt oder diese sogar strukturell vorbereitet bzw. latent vorprogrammiert: Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstehen in Europa spontan Literatursysteme vom Typ selbstorganisierender sozialer Systeme im Zuge des allmählichen Umbaus der europäischen Gesellschaften von stratifizierten zu funktional differenzierten Gesellschaften als Netzwerken aus sozialen Systemen.6 Lassen sich Netzwerke durchaus in unserem heutigen Sinne verstehen,7 dann impliziert diese erklärungsbedürftige Erweiterung des Textes zum System „die 3

Stafford: Kunstvolle Wissenschaft, S. 313.

4

Ebd., S. 16.

5

Ebd., S. 11. „Der Plan zum vorliegenden Buch entstand anläßlich meiner Überlegungen zu den grundlegenden Parallelen zwischen dem achtzehnten Jahrhundert und der späten Moderne. Folgt dem Ende der Moderne eine zweite Aufklärung? Aus diesem Gedanken und aus der Frage, wie sich die Rolle der visuellen Studien im Zeitalter der globalen elektronischen Vernetzung und der optischen Informationsverteilung veränderte […]“ (S. 12). „Mitte des achtzehnten Jahrhunderts vollzog sich in Europa […] der Wandel von einer mündlichen und aristokratischen Sehkultur zu einer marktorientierten, demokratischen Schrift- und Buchkultur […] einer schweigenden und einsamen Leserschaft“ (S. 22-23).

6

Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, S. 9.

7

Vgl. zur Archäologie von Netzwerken seit dem 18. Jahrhundert Gießmann: Netze und Netzwerke.

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hohe Interdependenz zwischen den Handlungsrollen (Produzent, Vermittler, Rezipient, Kritiker)“8. Insofern lassen Strukturfragen wie die folgende Parallelen zwischen 1800 und 2000 zu: Moderne Literatursysteme werden – allem Gerede vom ‚Verschwinden des Autors‘ zum Trotz – noch (?) immer geprägt von markanten Individuen. Andererseits ist die Rolle des Autors, ‚eingeklemmt‘ zwischen Markt, Medien und Kritik, bekanntermaßen höchst prekär. Wie ist der belletristische Autor in diese ‚Schräglage‘ als Dichtergestalt einerseits, als Markt- und Medienlieferant von Literaturprodukten andererseits hineingeraten?9 Entsteht im späten 18. Jahrhundert diese prekäre Medienkonstellation von Individualität und Mediensystem als den diversen Akteuren oder Aktanten von Vermittlung und werden darin bis heute gültige Strukturen etwa als Netzwerk ausgeprägt, so bildet sich darin auch die anthropologische Konstellation von Mensch und Medium ab. Dass dies eine paradoxe Konstellation ist, wird offenkundig dann, wenn mit der Etablierung von Netzwerken zugleich die Aufwertung von Individualität einhergeht. Interessiert sich die Anthropologie für diese Individualität, so ist bemerkenswert, dass der Aufschwung dieser Diskursform an die gegenläufige Errichtung einer entindividualisierenden Medienkonstellation gekoppelt ist. Anders gesagt, gehen Medieninnovationen seit dem 18. Jahrhundert eine Kombination mit anthropologischen Theoriebewegungen ein. In gegenläufiger Parallelität befinden sich die entindividualisierenden, oder wie Adorno befand, dehumanisierenden Tendenzen und Resultate der Medienkultur und Kulturindustrie zu den diskursiven Aufwertungen von Individualität, die in der Theorie stattfinden. Dass in den Fach- und Humanwissenschaften wie Medizin, Biologie oder Psychologie die mediale Erkundung und Durchleuchtung des Menschen seit 1900 stetig fortschreitet,10 ändert nichts an der Tatsache, dass die Geistes- und Kulturwissenschaften seit 1800 in Gestalt anthropologischer Denkformen das Verhältnis von Mensch und Medium produktiv kritisch analysieren, etwa in Form kulturkritischer Denkstile, die seit

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Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, S. 12.

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Ebd., S. 12f.

10 Stefan Rieger hat die medientechnische Infiltrierung des Menschen durch die physischen und psychischen Wissenschaften nachgezeichnet, die zu einer apparativ und operativ hergestellten Identität von Mensch und Medium führt, vgl. Rieger: Die Individualität der Medien sowie ders.: Die Ästhetik des Menschen.

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Rousseau und Schiller oft auch medienkritisch – bis zur Medienresistenz – imprägniert sind.11 Für den Übergang zum Mediensystem, zur Medienkonstellation ist die Auf- und Neubewertung der Wirkung und Rezeption zentral. Die Neukonzeption der Ästhetik um 1750 als anthropologische Aisthesis stellt eine Transformation der Produktions- und Nachahmungsästhetik in eine Rezeptionsund Wirkungsästhetik dar. Werden Sinne und Körper als ‚untere Seelenkräfte‘ Gegenstand und Basis der Ästhetik, dann ist diese Aufwertung von Wirkung oder sinnlicher Wahrnehmung plausibel und konsequent. Martin Andree schließt dabei kurz zwischen 1800 und 2000, den Debatten um die Gewalt, die von Medien heute und von Texten um 1800 vermeintlich ausgeht; dieser historische Kurzschluss zwischen 1800 und 2000 bildet den Rahmen der Argumentation, die zu folgendem Resultat kommt: Warum aber existiert diese Debatte um die Mediengewalt erst seit der Neuzeit – Goethes Werther markiert ja den ersten Skandal zu diesem Thema? Die Antwort lautet: Eine pluralisierte Medienlandschaft ist Grundvoraussetzung für solche irregeleiteten Rezeptionshandlungen. Erst infolge der Durchsetzung der Druckerpresse während des 17. und 18. Jahrhunderts und der dadurch verursachten explosionsartigen Diversifizierung der zugänglichen (Text-)Welten werden Fehllektüren möglich, in denen Rezipienten aus willkürlichen, womöglich gar fiktionalen Medienerzeugnissen ihre ganz persönliche Mission ableiten – und dann im Extremfall losschießen. Das Mittelalter hätte schon die Debatte nicht führen können, da es der Mediologie des einen Buches verhaftet war.12 Die halluzinatorische Überwältigung durch Medien als spezifische Leistung moderner Mediensysteme kommt durch die Ausblendung von Zeichen und Textualität zustande: Interaktion wird dann durch Medien wie z.B. Bücher wiedererrichtet, so dass der Schriftverkehr, der den Körperverkehr substituiert hatte, doch wieder imaginär, imaginativ oder phantasmagorisch zu einem Körperverkehr wird,13 und sei es im Selbstmord oder im Weinen.

11 Vgl. Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. 12 Andree: Wenn Texte töten, S. 222f.; Gess: Gewalt der Musik.; vgl. zur rhetorischästhetischen Wirkung(stheorie) der Bewegung, des Movere Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung. 13 Vgl. Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre.

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II Es war von einer Divergenz zwischen Medien und Semantik – oder mit Luhmann zu sprechen von Kommunikation und Bewusstsein î ausgegangen worden, die nun erweitert und vertieft werden muss. Denn wenn sich im späten 18. Jahrhundert eine moderne Medienkonstellation ausbildet, die wesentlich text- und schriftbasiert ist, so wie die heutige Medienkonstellation digital und rechnergestützt ist, dann entfaltet sich eine hierzu im Kontrast stehende Semantik. Hatte die Textkultur die mündlich-visuelle Gesprächskultur abgelöst, so ist der Übergang von der stratifikatorischen zur funktionalen Gesellschaft auch einer von der körperlich-sinnlichen Interaktion zur schriftlich-textuellen Kommunikation. Dasjenige, was durch diesen Vorgang der textuell-schriftlichen Medialisierung verloren geht, die körperlich unmittelbare Interaktion, soll von diesem sich ausbreitenden Schriftverkehr kompensatorisch eingeholt werden.14 Der Begriff für diesen Vorgang der Re-Korporierung ist Verkörperung, oder, wie Hegel sagt, Verleiblichung; es ist der zweite Aspekt dessen, was das 21. Jahrhundert vom 18. Jahrhundert lernt. Während Medien sich als Textkultur in einer entsinnlichenden und differenzierend-distanzierenden Weise ausbreiten und – eklatant bei Goethe und Lichtenberg î die face to face- und Gesprächsinteraktion durch Brief- oder Romankommunikation ersetzen, entfaltet die Semantik dieser Textmedien eine die Sinne und den Körper restituierende Substitution. Führt die Etablierung einer Medienkonstellation zu einer sich ausbreitenden Mediendifferenzierung, so versucht der Diskurs in einer noch genauer als anthropologisch zu kennzeichnenden Semantik diese Differenzierung und Distanzierung zu konterkarieren. Weil Mediendifferenzierung als Sinnendifferenzierung begriffen wird, soll die materiale, basale Entfremdung durch eine anthropologische Semantik der Ganzheit überboten werden. Es gibt zwei Modelle für diese Restitution: zum einen eine die mediale Differenzierung und Entfremdung überbietende Topik und Semantik des „ganzen Menschen“15; zum anderen eine die mediale Distanzierung auffangende Sprachtheorie, die den Text als Medium doch wieder rekorporieren und versinnlichen möchte. Im Medium des Textes, der sich sukzessive im 18. Jahrhundert ausbreitenden Schriftkultur, sollen die Defizite korrigiert werden, die diese Medialisierungsbewegung bewirkt hat: An die Stelle von Mediendifferenzierung und -konstellationen soll Einheit und Identität treten, an die Stelle von Mediendistanzierung der Kommunikation soll eine im Text der Literatur wiederhergestellte Sinnlichkeit und Körperlichkeit der Interaktion treten. Für den 14 Vgl. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. 15 Vgl. Schings: Der ganze Mensch; Riedel: „Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft“, S. 93-159.

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ersten Vorgang bedarf es einer Theorie, die die Ganzheit des Menschen plausibilisiert, was als epochale Topik die Anthropologie leistet; für den zweiten Vorgang bedarf es einer Theorie, die die Sprache als „Archimedium“16 (Ludwig Jäger) von Text (und Medien) sinnlich und körperlich erklärt, ihr also die medialen Verzerrungen der Distanzierung entzieht und interaktive Elemente hinzufügt. Wenn der Werther die ungeheure Wirkung hat, dann ist dies auch Beweis für die These, dass Text-Medien wie der Roman halluzinatorisch überschritten werden können und Interaktion durch Romane wiederhergestellt werden kann, und sei es im vom Text angestifteten kollektiven Selbstmord. Werther ist das berühmteste Beispiel für die sich emanzipierende Gattung des Romans, welche recht genau diese skizzierte Problemlage der Verkörperung umschreibt. Zwar ist der Roman fiktiver Text mit imaginativen Rezeptionsangeboten und Schriftprodukt, doch können die kommunikativen Einschränkungen dieser Medialität durch bestimmte Maßnahmen und formale Prozeduren wie die fiktional erstellte authentische Briefkommunikation oder die im Medium der Liebe stattfindende Intimität der Kommunikation überschritten werden. So kann der Weg zurück von der Kommunikation zur Interaktion bewerkstelligt werden, auch wenn diese Interaktion eine ist, die den Körper im Selbstmord vernichtet. Die zweite moderne literarische Gattung, die an diesem Vorgang partizipiert, ist das bürgerliche Trauerspiel. Nicht nur wird in den Dramen von Lessing, Schiller, Lenz u.a. viel geweint und körperlich, gestisch und mimisch interagiert, sondern diese auf der Bühne stattfindenden Interaktionen haben ebenfalls den Übergang ins Publikum geschafft. Alexander Košenina, der mit viel Archivmaterial den Nachweis dieser ‚Verkörperung‘ als Mischungsverhältnis aus körper- und textsprachlichen Mitteln der eloquentia corporis geführt hat, mit der eine textmediale Rezeption gewollt zur Interaktion zurückführt und diese wiederherstellt, hat parallel den anthropologischen Diskurs rekonstruiert, der diese Wirkung mit bedingt und ermöglicht. Auch hier gehen der Diskurs der Anthropologie und das Medium der Schauspielkunst eine bemerkenswerte Verbindung ein.17 Bemerkenswert ist, dass diese Neubewertung des Körpers und der Sinne von Diskursen des Körpers eingerahmt sowie von bestimmten Maßnahmen des Dramentextes getragen wird. Hierdurch wird ein ambiges Schwellenverhältnis von Körper und Text, Medium und Diskurs etabliert, die in gegenläufiger Parallelität konvergent zueinander stehen. Während der sich emanzipierende Text, die Schriftkultur als Medialisierung den Körper verdrängt und reduziert, holt der literarische Text in Gestalt spezifischer Gattungen wie Trauerspiel oder Roman den Körper, die

16 Jäger: „Medialität und Mentalität“, S. 11f. 17 Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst.

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Sinne ins Textgefüge hinein, insbesondere durch besondere Wirkungsstrukturen, die deswegen im 18. Jahrhundert breit diskutiert werden, wie das zu erzeugende empathische Mitleid bei Lessing oder die intime Liebeskommunikation im Roman.18 Verkörperung ist nach Erika Fischer-Lichte recht genau der Begriff einer neuen Schauspielweise und Dramentheorie, die im späten 18. Jahrhundert entsteht und den Körper emanzipiert, indem sie ihn gleichzeitig an den Text bindet oder fixiert; Text und Schrift werden als materiale Medien durch eine Semantik des Körperlichen und Sinnlichen re-korporiert. Durch die Textbindung und -fixierung ist diese Verkörperung unterschieden von der wirklichen Befreiung des Körpers in den avantgardistischen Theaterexperimenten und audiovisuellen Medien um und seit 1910, die deswegen konsequenterweise den Körper im Theater entliterarisieren.19 Im 18. Jahrhundert kommt plötzlich etwas gänzlich Neues ins Spiel. Neben die Schrift des Dramas tritt nun ein zeitgenössisches physiognomisches Wissen vom Menschen, das die dramatische Rede zugleich ergänzt und unterläuft. Damit wird ein Schauplatz eröffnet, der die Blicke zum ersten Mal auf die lebendigen Körper der Schauspieler lenkt. Zuvor war dieser Körper stets in irgendeiner Weise maskiert gewesen und damit außerhalb der eigentlichen Szene geblieben. Das neue Theater des physiognomischen Ausdrucks hingegen nimmt den Körpern ihre kostümierenden und rhetorischen Masken, um auf diese Weise die Zeichen auf ihren Oberflächen lesbar zu machen, womit die Bühne von einem Ort der Totenbeschwörung zu einem Ort künstlich erzeugter Lebenszeichen wird.20 Für das digitale Medium hat Hansen wiederum eine über die Wirkung und Interaktivität des Users funktionierende Verkörperung festgestellt und ins Zentrum seiner New Philosophy of New Media gestellt.21

18 Vgl. Werber: Liebe als Roman. 19 Vgl. das Kapitel „Verkörperung/embodiment“ bei Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 130-134. Gleichwohl sind die Ursprünge dieser Performanz, die im Umkreis des digitalen Medienumbruchs intensiv diskutiert werden, im späten 18. Jahrhundert auszumachen; vgl. auch Braungart: Leibhafter Sinn. 20 Herrmann: Das Archiv der Bühne, S. 29. 21 Wie der Text zunächst entkörpert, um in einem zweiten Schritt der Medienwirkung imaginativ zu verkörpern, sind auch rechnergestützte Medien durch diesen konvergenten Vorgang von embodiment und disembodiment zu kennzeichnen. Dies ist der Gedanke in Hansens New Philosophy for New Media, der die Frage nach der Neuheit der neuen Medien, also insbesondere des digitalen Bildes unter Rückgriff auf Benjamin mit dem Begriffspaar von disembodiment und embodiment erklärt: Das digitale Medium/Bild entkörpert, der User verkörpert:

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Der gegenläufig-parallele, konvergente Prozess, durch den Sprache im 18. Jahrhundert zu einem Kommunikationsinstrument medialisiert wird, das eine Semantik der Sinne und des Körpers, der Affekte und Emotionen trägt, deren Interaktion oder Interaktivität in literarischen Formen nachgestellt wird, bedarf verschiedener diskursiver Maßnahmen, um zu gelingen: einerseits einen Diskurs, der die Semantik des ‚ganzen Menschen‘ topisch aufrechterhält und immer wieder nachweist; andererseits ein Sprachmodell, das die Verkörperung als Versinnlichung der Sprache untersucht. Jenes hat vielleicht Hegel am prägnantesten ausgearbeitet, dieses Herder. Verfällt (nach Stafford) die Physiognomik als visuelle und interagierende Kultur der Welt- und Menschenkenntnis oder der Geselligkeit und des Gesprächs, dann findet sie eine theoretisch-anthropologische Restitution in der anthropologischen Diskursform des ganzen Menschen. Hegel weist auf diese notwendige Diskursivität des Sachverhalts dadurch hin, dass er ihn in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften behandelt, also einer Schrift, die die ‚Ordnung der Diskurse‘ (Foucault) anstrebt und unternimmt in dem historischen Moment ihrer Differenzierung. Wenn parallel zur Mediendifferenzierung auch eine Spezifizierung der Diskurse und Theorien über den Menschen um 1800 stattfindet, dann sind etwa die Psychologie und die Anthropologie sehr genau separiert und spezialisiert, offerieren also zwei deutlich getrennte Wissensperspektiven auf den Menschen: jene das Innere, diese das Äußere, jene die Seele, diese den Körper. Gleichwohl können diese diskursiv-medialen Spezifizierungen die unterstellte ganzheitliche Konstitution des Menschen, die bei Hegel topisch wiederkehrt, nicht negieren oder einschränken. Das anthropologische Axiom, dass Körper und Seele ein Lesbarkeits- und Identitätsverhältnis unterhalten, wird mit beharrlicher Redundanz vorgebracht, auch wenn Hegel die Medialisierung dieses Grundsatzes etwa als Diskursivierung eines ‚anthropological approach‘ durchaus sieht:

„In New Philosophy for New Media, I attempt to fill out this picture [this properly creative role accorded the body as the source for a new, more or less ubiquitious form of aura: the aura that belongs indelibly to this singular actualization of data in embodied experience], merely suggested in Benjamin’s late work, by correlating the aesthetics of new media with a strong theory of embodiment“ (S. 3). Die Formen sind indessen andere: Findet das embodiment im späten 18. Jahrhundert im Brief (-Roman), beim Schauspieler, im anthropologischen Diskurs und seiner Sprachtheorie statt, so entwerfen digitale Medien andere Formen der Verkörperung wie E-Mails, Icons, second life oder Computerspiele; der Vorgang der Ent- und Verkörperung als zentral für Medialisierung hat aber eine homologe und vielleicht identische Struktur.

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Wichtig für die philosophische Anthropologie wird dagegen die Beziehung der äußeren Empfindungen auf das Innere des empfindenden Subjekts.22 Gerade wenn sich der Mensch in seine diskursiven und medialen Spezifizierungen differenziert und entfremdet, ist es notwendig, die theoretische Einstellung des ganzen Menschen aufrechtzuerhalten. Wieder kann ein Widerspruch von Medium und Diskurs festgestellt werden: Während der Diskurs Identität und Ganzheit propagiert, läuft dessen mediale Realisierung auf Fragmentierung und Parzellierung hinaus. Mediendifferenzierung betrifft dabei insbesondere auch die neu entstehenden Diskursformen wie Ästhetik, Anthropologie oder Kunst- und Musikwissenschaft, die als ins Medienensemble eingezogene Diskurse keinen Alleinvertretungsanspruch von Wahrheit oder Gegenstandsnähe mehr haben, sondern nur noch besondere Perspektiven und jeweilige Einstellungen auf vereinzelte Kunstformen oder Aspekte zulassen.23 Betont die Anthropologie das Äußere des Körpers, so die Psychologie das Innere der Seele. Die Körperausdrucksformen wie Lachen und Weinen, Stimme und Geste sind authentisch-transparentes Spiegelbild der Seele, dadurch wird eine vorsprachliche Symbolisierung notwendig, die als „Affektion“24 durchaus medial konstituiert ist, indem sie innerhalb eines spezifischen Diskurses stattfindet. Die Art und Weise der Behandlung gewisser Gegenstände sowie überhaupt die Auswahl bestimmter Thematiken wie der Formen des Verhältnisses von Körper und Seele sind abhängig von der jeweils gewählten diskursiven Perspektive: Mehr aber als durch jenes eigentümliche Maß der Empfindsamkeit wird die äußere Empfindung durch ihre Beziehung auf das geistige Innere zu etwas eigentümlich Anthropologischem.25 Die Empfindsamkeit von Werthers Leiden exponiert den Körperausdruck des Weinens und der Liebe im literarischen Text; auf diese versprachlichten Gefühle antwortet die Anthropologie dadurch, dass sie diese körpersprachlichen Formen begrifflich analysiert, wie Herder ergänzt. Auch für Hegel sind die Symbolisierungen dieser literalen Verleiblichung zentrales Objekt der Analyse, 22 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, S. 106. 23 Vgl. zur Diskurswerdung der Kunstwissenschaft um 1800 unter Bezugnahme auf anthropologische Diskurse von Arburg: Kunst-Wissenschaft um 1800. Dort finden sich auch erhellende Bemerkungen zur Methode einer solchen historischen Rekonstruktion und ihrem konstruktiven, gegenwartsbezogenen Anteil, vgl. S. 9f. Zur Theaterwissenschaft vgl. Herrmann: Das Archiv der Bühne. 24 Vgl. zum Begriff Campe: „Medium als Selbstaffektion“, S. 149-165. 25 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, S. 107.

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die indessen als unbewusste ‚Affektionen‘ die Beziehung von Innerem und Äußerem, Körper und Seele zentral über die ‚Wirkung‘ eher gestalten als voraussetzen. Der anthropologische Grundsatz der Entäußerung der Seele im Körper ist so etwas medial hergestelltes und produziertes, keineswegs etwas, was naturalistisch oder ontologisch als Gegebenes vorausgesetzt werden kann.26 Wirkung, Stimmung, Entäußerung und vor allem Symbolisierung sind Begriffe, die diesen aktiven und kreativen Anteil einer Herstellung der Identität von Körper und Seele markieren und umschreiben: Wie die äußeren Empfindungen sich symbolisieren, d.h. auf das geistige Innere bezogen werden, so entäußern, verleiblichen sich die inneren Empfindungen […].27 Hegel beschreibt das Szenario einer medial funktionierenden Psychotechnik der Wirkung, die den Zusammenhang des Seelischen und Körperlichen in unbewussten Prozeduren und Mechanismen realisiert, so dass der Identitätsgrundsatz der Anthropologie in der Medienwirkung prä-symbolischer Verleiblichungen manifest wird. Wegen dieser Zentrierung auf die Sprache als denkanleitendes Medium der Anthropologie, als versinnlichende, verkörpernde Sprache der Sprach- und Dramentheorie, als eingezogener Diskurs liegt es nahe, dass diejenige Anthropologie, die sich auf das 18. Jahrhundert bezogen hat, als genuin medien-literarische und nicht andere Medien einbeziehende Anthropologie auftritt oder in der Tradition der amerikanischen Kulturanthropologie durch das Label „Kultur als Text“ bestimmt wird.28 Im Sinne der einleitenden Differenzierung ist dabei die anthropologische Semantik und Form der literarischen Sprache auf26 Wohl erst die im Umfeld des digitalen Medienumbruchs stattfindenden Erforschungen der medialen Implementierung der physiognomischen Seele/KörperEntsprechung haben diese Verkörperung als historisch zu präzisierende Medientechnik erkannt; interessant sind vor allem die biometrischen Transformationen zwischen der Physiognomik des 18. Jahrhunderts und einer digitalisierten face detection im 21. Jahrhundert, die Paßfoto und Fingerabdruck als Modi der Identifizierung ersetzen werden; vgl. Theile: Anthropometrie. 27 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, S. 109. 28 Vgl. die wissenschaftstheoretisch-historische Skizze bei Assmann: Positionen der Kulturanthropologie, S. 10f., mit deutlicher Pointierung der Sprach- und Textfixierung, die die US-amerikanische Kulturanthropologie von Clifford Geertz u.a. mit der literarischen Anthropologie des späten deutschen 18. Jahrhunderts verbindet, indem der „Schrift- und Textbegriff für ihre Disziplin [der Kulturanthropologie] stark gemacht und damit einen wichtigen Schritt in Richtung auf eine ‚Literarisierung‘ der Anthropologie getan haben“ (Assmann: Positionen der Kulturanthropologie, S. 11).

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gedeckt und untersucht worden, weniger deren materiale Medialität. Allerdings gibt es Ansätze einer Reflexion der Medialität der Sprache bereits im 18. Jahrhundert, die insbesondere um den Begriff der Verkörperung stattfinden: Körperströme und Schriftverkehr, die Inszenierungen des Schauspielers oder die Mediengewalt der Romane. Indem die literarische, sinnlich-verkörpernde Sprache der literarischen Revolution von 1770 an die innovative Verwissenschaftlichung der Anthropologie gekoppelt ist, wird der Medienumbruch des späten 18. Jahrhunderts, der als literale Verschriftlichung bestimmt werden kann, an die Installierung der Anthropologie mit dem Thema der Beobachtung des ganzen, körper-seelischen Menschen gekoppelt. Zwar ist die anthropologische Initiative die empirische Beobachtung des Menschen in seiner zu explorierenden Ganzheit und Andersheit, damit die Rehabilitation des Fremden und Primitiven29; doch sowohl Herder im Journal meiner Reise von 1769, der anthropologischen Begründungsurkunde der Anthropologie, wie auch Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht von und seit 1770 machen deutlich, dass eine literarische Medialisierung dieses empirischen Topos des ganzen Menschen nötig sei. Etwas gedrechselt ist Kants Argumentation dafür, dass das anthropologische Projekt der empirischen Welt- und Menschenkenntnis doch wesentlich an literarischen und sprachlichen Quellen als zweitrangigen aber notwendigen medialen Hilfsmitteln einer sekundären Beobachtung von Fiktionen stattfinde: Endlich sind zwar eben nicht Quellen, aber doch Hülfsmittel zur Anthropologie: Weltgeschichte, Biographien, ja Schauspiele und Romane. Denn obzwar bei den letzteren eigentlich nicht Erfahrung und Wahrheit, sondern nur Erdichtung untergelegt wird, um Übertreibung der Charaktere und Situationen, worein Menschen gesetzt werden, gleich als im Traumbilde aufzustellen hier erlaubt ist, jene also nichts für Menschenkenntnis zu lehren scheinen, so haben doch jene Charaktere, so wie sie etwa ein Richardson oder Molière entwarf, ihren Grundzügen nach aus der Beobachtung des wirklichen Tun und Lassens der Menschen genommen werden müssen; weil sie zwar im Grade übertrieben, der Qualität nach aber doch mit der menschlichen Natur übereinstimmend sein müssen.30 Herder erläutert 1769 die Prädominanz der „Worte“ vor den „Sachen“, der „Erklärungen“ vor den „Erfindungen“ in Hinsicht auf die Ästhetik Baumgartens:

29 Vgl. Streck: Fröhliche Wissenschaft Ethnologie, S. 7f. 30 Kant: „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, S. 401f.

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[…] so hat auch in dieser Erklärung Baumgarten ein Wort gebraucht, das bis zur Vieldeutigkeit reich und prägnant ist […] das Wort sinnlich. Sinnlich leitet auf die Quelle und das Medium gewisser Vorstellungen, und das sind Sinne; es bedeutet die Seelenkräfte, die solche Vorstellungen bilden, das sind die sogenannten untern Fähigkeiten des Geistes; es charakterisiert die Art der Vorstellung, verworren und eben in der reichen, beschäftigenden Verworrenheit angenehm zu denken, d.i. sinnlich […] man siehet, ursprünglich ist das Vorzügliche dieser Erklärung nur eine Sprachbequemung.31 Die Ästhetik, die für Herder „Teil der Anthropologie, der Menschenkenntnis“32 ist und als solche eine Erweiterung der Ansätze von Baumgarten und anderen darstellt, behandelt inhaltlich den ganzen Menschen, also unter Hereinnahme der untern Seelenkräfte der Sinne sowie des Körpers: Man denke sich die Integralteile der menschlichen Seele körperlich, und sie hat […] an Kräften mehr spezifische Masse zu einem sinnlichen Geschöpf als zu einem reinen Geiste: sie ist also einem menschlichen Körper beschieden; sie ist Mensch.33 Die formale und methodische Umsetzung dieser neuartigen Themenstellung eines innovativen Menschenbildes ist medienanthropologisch. Zum einen sind die Sinne nur phänomenologisch fassbar in ihren sprachlichen Manifestationen: Eine Theorie des Gesichts, eine ästhetische Optik und Phänomenologie ist also die erste Hauptpforte zu einem künftigen Gebäude der Philosophie des Schönen. […] Hier wäre eine jede Bemerkung gleichsam Phänomenon, sichtbare Erfahrung […]34; zum anderen ist die spezifische und besondere Form und Modalität dieser Versprachlichung demzufolge in Augenschein zu nehmen. Wenn das anthropologische Verhältnis von Körper und Geist sich methodisch in den sprachlichen Formen und Ausdrücken verkörpert, dann bedürfen diese Formen und Ausdrücke der genauen Analyse. Insbesondere poetische und literarische Ausdrucksformen sind geeignet, die schwierige Übersetzung von Körper und Geist, Sinnen und Seele zu bewerkstelligen. Körper und Seele in ihrem trans31 Herder: „Kritische Wälder“, S. 575. 32 Ebd., S. 473. 33 Ebd., S. 476. 34 Ebd., S. 494.

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parenten Wechselverhältnis zu untersuchen bedeutet Sprachanalyse von Metaphern zu betreiben; dies stellt eine mediale Form der Untersuchung dar. Sprache wird zum Medium dann, wenn sie auf ihr sinnlich-körperliches Substrat, ihre ‚Ursprünglichkeit‘ rückbezogen wird: Was nach meiner Idee das Hauptaugenmerk des Werks wäre, die Phänomene und Data des Schönen zu sammeln, zu ordnen, auf ihre Ursprünglichkeit zurückzuführen […]. Was nach meiner Idee die einzige Methode der ganzen Ästhetik wäre, Analysis, strenge Analysis der Begriffe […] Physiologie der Sinne und sinnlichen Begriffe […].35 Die Behandlung der Sinne und des Körpers als zentrales Thema der Anthropologie bedarf einer spezifischen sprachlichen Darstellung. Impliziert Darstellung durchaus die theatralen Aspekte des Begriffs als Maskierung und Verstellung, dann hat etwa das Verhältnis von Haut und Kleidung ein analoges Verhältnis zum fühlenden Kontakt, den der Text in seinen syntaktischen und metaphorischen Vernetzungen erstellt, als Abbild sinnlicher Nähe. In die Behandlung der Sinne und der ihnen entsprechenden Kunstformen, die Herder am Beispiel von Fühlen und Gefühl sowie der Plastik erörtert, greifen so immer die sprachlichen Vertextungs- und metaphorischen Versprachlichungsweisen ein, um ein sinnliches Analogon in der Kohärenz des Textes zu etablieren.36

III Wegen ihrer großen Bibliothek wird die damals moderne Universität Göttingen zu einem Zentrum für anthropologische (und philologische) Forschung.37 Als Popularphilosophie baut die Anthropologie in ihre Diskursform die mediale, populäre Wirkung mit ein, was ihrer akademischen Disziplinwerdung und Anerkennung nicht förderlich ist.38 Kant hat seine Anthropologievorlesung 35 Ebd., S. 502f. 36 Vgl. Binczek: Kontakt. 37 Vgl. Marino: Praeceptores Germaniae, S. 8f. 38 Vgl. Kant: „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, S. 402: „[…] habe ich einige dreißig Jahre hindurch zwei auf Weltkenntnis abzweckende Vorlesungen: nämlich (im Winter-) Anthropologie und im (Sommerhalbenjahre) physische Geographie gehalten; welchen, als populären Vorträgen beizuwohnen auch andere Stände geraten fanden.“ Vgl. zur popularphilosophischen Ausrichtung und Grundierung der Anthropologie Zammito: Kant, Herder, and the Birth of Anthropology; zur schwierigen akademischen Disziplinwerdung der Anthropologie vgl. Marquard: „Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ‚Anthropologie‘ seit dem Ende des 18. Jahrhunderts“, S. 122-144.

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zwar regelmäßig seit 1770 dreißig Jahre gehalten; ihr wurde aber eine definitive Textfassung erst im Rahmen der Wiederentdeckung in den 1780er Jahren gegeben,39 so dass die Textfassungen der Vorlesung die mündliche î gleichsam interaktive î Form behielten. Dies ist ebenfalls Beleg dafür, dass die Anthropologie als Diskurs und Darstellungsweise durch ihre populäre Vortragsform medialisiert ist. Nicht nur vom ganzen Menschen und seiner Empirie handelt die Anthropologie, die in den Weltreisen Georg Forsters oder Alexander von Humboldts zur Geltung kommt, sondern versetzt diese Topik der Identität und Fremdheit in eine diskursive und literarische Form. Anthropologie ist Analyse der Begriffe und Beobachtung der Empirie î die Maxime von ‚Kultur als Text‘ ließe sich deswegen durchaus in Diskussionen des späten 18. Jahrhunderts vorformuliert finden. Ist in dieser Kulturanthropologie die ‚thick description‘ des ‚Anthropologen als Schriftsteller‘ (Clifford Geertz) zum Leitund Kernsatz geworden, dann entschärft das späte 18. Jahrhundert das erkenntnistheoretische Dilemma, dass Erkenntnis und Beobachtung des empirisch Fremden doch immer nur oder immer erst in Sprache übersetzt werden müssen, durch eine Sprachtheorie, die durch ihre Literarizität diesen Übersetzungsvorgang möglichst adäquat vonstatten gehen lässt. Sache und Begriff werden eng zusammengeführt, ein Vorgang, für den Verkörperung und Verleiblichung, auch das Physiognomische, Anschauung, Symbol sowie Ausdruck die maßgeblichen Begriffe sind. Insofern sind der Medienumbruch des späten 18. Jahrhunderts zur Schriftkultur und die Neubegründung der Anthropologie wechselseitig verkoppelt und bedingen sich gegenseitig, Anthropologie ist von Beginn an Medienanthropologie. Dabei wird die Alterität der Medien wie Musik oder Plastik an ihrer sinnlich-körperlichen Basis diskutiert, deren Versprachlichung bzw. Literarisierung im Mittelpunkt steht, was zu einer Mittelpunktstellung literarischer Medien führt. Anthropologie ist wesentlich Anthropologie der Sprache und darin medial und noch nicht Anthropologie der nichtsprachlichen Medien,40 die wesentlich in ihrer Übertragung oder Übersetzung in literarische Sprache zur Geltung und Behandlung kommen. Interessant ist, dass diese Koppelung fortbesteht und mediale Innovationen seit dem späten 18. Jahrhundert an anthropologische Reflexionen gebunden sind.41 39 Vgl. die kritische Neuausgabe und Kommentierung durch Brandt: Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. 40 Vgl. zu dieser Koppelung von Anthropologie und Sprache um 1800 Trabant: Artikulationen. Die anthropologische Diskursform wertet nonverbale Zeichen- und Körperformen wie Geste und Gesicht auf. Vgl. zu den digitalen Reaktivierungen einer Grammatik, Semantik und Medientechnik der Taubstummensprache der Gebärde Bergermann: Ein Bild von einer Sprache. 41 So auch wieder im Umfeld des digitalen Medienumbruchs, so dass seit den achtziger Jahren verstärkt anthropologische Theoriebildung stattfindet î vgl. etwa Wulf:

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Anthropologische Medientheorie wird im Kontext des digitalen Medienumbruchs unter Bezugnahme auf das späte 18. Jahrhundert konzipiert und etabliert einen neuen Medienbegriff der Andersheit und körperlichen Performanz.42 Indem die Schriftkultur körperliche Interaktion zu etwas Fremdem und Anderem werden lässt, wird der Medienbegriff des 18. Jahrhunderts durch genau diese Fremdheit oder Alterität bestimmt, die innerhalb literarischer Diskurse angeeignet und umgesetzt werden. Nun sind diese neuen Einsichten über die alte Epochenschwelle des 18. Jahrhunderts im Kontext des digitalen Medienumbruchs des 20./21. Jahrhunderts getätigt worden und haben dabei die aktuelle Medientheorie verändert.43 Begriffe wie Performanz, Verkörperung, Fremdheit, Alterität, Medienkonstellation, Epochenschwelle kennzeichnen eine im Umfeld des digitalen Medien-

Vom Menschen î, die nicht immer als mediale, wohl aber als sprachgebundene oder literarische auftritt und insofern das späte 18. Jahrhundert exponiert und referiert; vgl. Assmann: Positionen der Kulturanthropologie, S. 11: „Allen genannten Richtungen ist jedoch gemeinsam, daß sie etwa gleichzeitig in den 1980er Jahren entstanden sind.“ Neben der philosophischen Anthropologie „von Kant bis zu Plessner“ (S. 10) und der US-amerikanischen Kulturanthropologie ist dies die historische Anthropologie, „die von wissenschafts- und diskursgeschichtlich interessierten Germanisten entwickelt worden ist. […] In dieser Forschungsrichtung werden anthropologische Diskurse seit dem 18. Jahrhundert rekonstruiert und ihre Bedeutung für die kulturhistorische Entwicklung der Moderne untersucht“ (S. 10f.). 42 Vgl. zur Anders- bzw. Fremdheit der Medien Mersch: Medientheorien zur Einführung, S. 9-28; zur Performanz Krämer: Performativität und Medialität; zur Alterität Taussig: Mimesis and Alterity. Bemerkenswert ist die aus der Perspektive von 2000 stattfindende Erforschung der Anthropologie des späten 18. Jahrhunderts, u.a. bei Pethes: „Zöglinge der Natur“, womit sowohl der Medienumbruch zur Schriftkultur um 1800 als auch der digitale Medienumbruch um 2000 durch anthropologische Theorieformen parallelisiert und kommentiert werden, so dass Anthropologie eine Klammer oder einen Kontext für beide Umbrüche darstellt. 43 Insofern werden die Begrifflichkeiten wie Bruch oder Schwelle zum heuristischen Instrumentarium einer Neubewertung der Weimarer Klassik, die bei Martin Dönike zwar die körperliche Gewaltdarstellung fokussiert, diese aber nicht explizit medial rückbindet und fundiert – allenfalls in der Plastik. Eine andere wissenschaftliche Sichtweise wird aber durch diese Heuristik des Umbruchs exponiert und auf Körperausdrucksformen (der Plastik und ihrer Physiognomie und Mimik) angewendet: „Die Forschung zur ‚Weimarer Klassik‘ stand lange Zeit im Zeichen des miß- bzw. unverstandenen Topos der ‚edlen Einfalt und stillen Größe‘. Erst seit Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, besonders aber seit den neunziger Jahren entstanden Untersuchungen, die diese monolithisch-einseitige Perspektive aufzubrechen versuchen und statt der Harmonie und Ruhe nun eher die Spannungen und Brüche […] in den Blick nehmen“ (Dönike: Pathos, Ausdruck und Bewegung, S. 7).

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umbruchs veränderte Medientheorie, deren Transformation durch die innovative Erforschung des 18. Jahrhunderts und maßgeblich die damals stattfindende Installierung anthropologischer Diskursformen und Denkstile zustande kommt. Insbesondere der Begriff der Verkörperung entfaltet dabei ein besonderes heuristisches und semantisches Potential, in dem er den Schluss von Anthropologie auf Medien über die Versprachlichung des Körpers plausibilisiert. Solange Medien als Kommunikation verstanden wurden, meinte dies die Überwindung der körperlichen Interaktion durch Verschriftlichung. Werden Medien performativ definiert, dann wird die körperliche Interaktion ins mediale Agieren zurückgeholt. Dabei werden auch Differenzen der Referenz zwischen 2000 und 1800 deutlich. Denn sind Verkörperung wie auch Performanz wesentlich auf Sprach- und Sprechakte bezogen, so entzieht der Medienumbruch um 1900 diesen Sprachanteil durch Entliterarisierung, indem die visuellen Medien den Körper analog zeigen und nicht mehr schriftlich repräsentieren. Andererseits wird der Körper im Umfeld des digitalen Medienumbruchs innerhalb einer komplexen Medienkonstellation elaboriert, wie die Diskussionen um Medialität und Performativität gezeigt haben. Dem Körperentzug der digitalen Medien korrespondiert eine Verkörperung, die indessen nicht mehr nur als Sprechakt auftritt, sondern theatral, szenisch, nonverbal, musikalisch etc. ist. Auch die physiognomische Verkörperung erfährt eine Transformation, die als Übergang vom Gesicht zur Geste, von der Physiognomik zur Mimik zu kennzeichnen wäre.44 Stimme, Geste oder Gesicht sind im Spannungs- oder Schwellengefüge von Soma, Semantik und Medien neu und mit gleichsam ethnologischem Blick bestimmt worden.45 Die Differenzen treten als begriffliche zutage etwa in Gestalt divergierender Medienbegriffe, so dass Paul Rabinow unter maßgeblicher Berücksichtigung der Epochenschwellentheoretiker Blumenberg und Foucault in der Anthropologie durch Begriffe und deren Geschichte Innovationen zutage treten sieht. Dieses Buch versucht sich als eine Meditation zu Michel Foucaults Behauptung, paraskeuè [Equipment] sei das Medium, wodurch sich logos in ethos verwandelt. […] einen begrifflichen Werkzeugkasten zusammenzustellen. Zweck eines solchen Werkzeugkastens ist es, die Forschung voranzubringen. […] Mängel [der geisteswissenschaftlichen Forschungsweisen] offenbaren sich insbesondere im gespannten Verhältnis zwischen dem unaufhaltsam anwachsenden Informa44 Käuser: „Physiognomik – Transformationen eines Diskurses über das Gesicht“, S. 53-80. 45 Kolesch/Krämer: Stimme; Bickenbach u.a.: Manus Loquens; Gray: About face: German Physiognomic Thought from Lavater to Auschwitz; Person: Der pathographische Blick; Löffler/Scholz: Das Gesicht ist eine starke Organisation.

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tionsberg, der Art und Weise, wie den Informationen eine narrative und begriffliche Form verliehen wird und der Frage, wie sich dieses Wissen in eine Lebensführung eingliedern lässt.46 War die Epochenschwelle um 1800 wesentlich im Bereich der Semantik der Begriffe oder Diskurse verhandelt worden, so ist dieser begriffs- und diskurshistorische Zugang auch auf die medientechnische Umwälzung um 2000 anwendbar. Denn die Spiegelung medientechnischer Veränderungen in den Diskursen, die ihrer Beschreibung und Analyse dienen wie auch die Differenzen zwischen Diskurs und Medium, Semantik und Technik können als ein für die derzeitige Entwicklung und Epistemologie zentrales Charakteristikum kenntlich gemacht werden. Entgegen den medienutopischen Visionen vom Ende der Buchkultur oder einer Überwindung der Semantik durch Technik, hat der digitale Medienumbruch die Konvergenz, also die parallele Gegenläufigkeit von Diskurssemantiken und Medientechniken nicht nur gezeitigt, sondern sogar gesteigert. Offenbar müssen die medientechnologischen Fortschritte diskursiv und reflexiv verhandelt werden, auch wenn oder gerade weil die Produkte des medialen Fortschritts nicht immer intelligenten Ansprüchen von Theorie genügen. Sind die Begriffsgeschichten der historischen Semantik dazu geeignet, Kontinuitäten und Diskontinuitäten auzukundschaften,47 dann mag diese Sensibilität für die Konvergenz von Schwellen die exponierte Referenz zwischen der Epochenschwelle von 1800 und des Medienumbruchs von 2000 begründen.

Literaturverzeichnis Andree, Martin: Wenn Texte töten. Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt, München 2006. Arburg, Hans-Georg: Kunst-Wissenschaft um 1800. Studien zu Georg Christoph Lichtenbergs Hogarth-Kommentaren, Göttingen 1998. Assmann, Aleida (Hrsg.): Positionen der Kulturanthropologie, Frankfurt a.M. 2004.

46 Rabinow: Was ist Anthropologie?, S. 7. 47 Bei Luhmann und Foucault ist Diskontinuität ein prominenter Begriff für Epochenschwellen und deren Theorie; der Begriff ist auch für eine Theorie des Medienumbruchs zentral, vgl. Käuser: „Historizität und Medialität. Zur Geschichtstheorie und Geschichtsschreibung von Medienumbrüchen“ S. 147-167 sowie Schanze: „Mediengeschichte der Diskontinuität“, S. 185-203, beide in: Schnell, Ralf (Hrsg.): MedienRevolutionen.

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Bergermann, Ulrike: Ein Bild von einer Sprache. Konzepte von Bild und Schrift und das Hamburger Notationssystem für Gebärdensprachen, München 2001. Bickenbach, Matthias u.a. (Hrsg.): Manus Loquens. Medium der Geste î Gesten der Medien, Köln 2003. Binczek, Natalie: Kontakt: Der Tastsinn in Texten der Aufklärung, Tübingen 2007. Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J. J. Rousseau bis G. Anders, München 2007. Brandt, Reinhard: Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Hamburg 1999. Braungart, Georg: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne, Tübingen 1995. Campe, Rüdiger: „Medium als Selbstaffektion“, in: Navigationen, Jg. 7, Nr. 2 (2007), S. 149-165. Dönike, Martin: Pathos. Ausdruck und Bewegung. Zur Ästhetik des Weimarer Klassizismus 1796î1806, Berlin/New York 2005. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1989. Gess, Nicola: Gewalt der Musik. Literatur und Musikkritik um 1800, Freiburg/Berlin 2006. Gray, Richard T.: About face: German Physiognomic Thought from Lavater to Auschwitz, Detroit 2004. Gießmann, Sebastian: Netze und Netzwerke. Archäologie einer Kulturtechnik 1740-1840, Bielefeld 2006. Hansen, Mark B. H.: New Philosophy for New Media, Cambridge, MA/London 2004. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III. Werke in zwanzig Bänden, Theorie Werkausgabe, hrsg. v. Eva Moldenbauer/Karl Markus Michel, Bd. 10, Frankfurt a.M. 1970. Herder, Johann Gottfried: „Kritische Wälder oder Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen. Viertes Wäldchen über Riedels Theorie der schönen Künste“, in: Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, hrsg. v. Regine Otto, Berlin/Weimar 1990, S. 453-640. Herrmann, Hans-Christian von: Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft, München 2005.

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Nicola Glaubitz

Verstärker der Imagination, Bilder der Reflexion Zu Geschichte und Medialität des (computer-)animierten Films in den USA und in Japan In den medienhistorischen Umbruchsphasen nach 1900 und um 2000 sind Animationsfilme zu Faszinationskernen medienästhetischer Diskussionen geworden. Dennoch haben sie in der filmwissenschaftlichen Diskussion niemals einen zentralen Platz eingenommen. Animierte Filme sind seit der Konsolidierung des Formats Spielfilm in den 1920er Jahren in Randzonen des Mainstreamkinos angesiedelt worden: im Bereich der vulgären oder infantilen Unterhaltung und im Bereich des Kunstkinos. Der Mangel an Realismus und die Festlegung auf humoristische und groteske Sujets ließ sie, wie den Comic, zu einem Medium für Kinder und Jugendliche werden. Die Selbstbezüglichkeit animierter Bilder hat allerdings auch immer wieder Vergleiche mit der Filmkunst herausgefordert.1 Seit einigen Jahren werden Animationsfilme wieder als Vergleichsbasis für das postklassische Kino diskutiert, das sich durch Formreflexion, Ästhetisierung und Adressierung der Sinne durch Effekte auszeichnet. Im Diskurs der Filmästhetik fungiert Animation in der Etablierungsphase des Spielfilms und in der jüngsten Vergangenheit als alternative Leitvorstellung für das, was Film sein und können sollte. In beiden historischen Phasen wird die Verwandtschaft des Animationsfilms zu kulturgeschichtlich älteren malerischen und grafischen Präsentationsformen von Sichtbarkeit, aber zugleich auch seine technische und ästhetische Modernität oder Postmodernität hervorgehoben: Das gezeichnete Bewegtbild und eine Auffassung von Film als ‚digitaler Malerei‘ werden zum Inbegriff der jeweils neuesten Medienavantgarde.2 Ob und in wie weit diese Beobachtungen nur für westliche (vor allem nordamerikanische) oder auch für japanische Animationsfilme und ihre Diskurse gelten, ist Gegenstand der folgenden Überlegungen. In den 1990er Jahren sicherten sich japanische Anime und computergenerierte Animationsfilme aus den USA wieder einen bedeutenden Platz im weltweiten Filmemarkt. In beiden Filmkulturen wurden digitale Bildbearbeitungs- und -generierungsverfahren eingesetzt, die jedoch zu unterschiedlichen ästhetischen Orientierungen 1

Vgl. Glaubitz: „Absolute und anthropomorphe Form“.

2

Zur ‚postmodernen‘ Lektürehaltung, die Animationsfilme herausfordern, vgl. Jameson: Postmodernism, S. 77, zu Film als digitaler Malerei vgl. Manovich: The Language of New Media, S. 304.

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führten: Ließen sich amerikanische Animatoren von fotorealistischer Computergrafik faszinieren, so ordneten japanische Zeichentrickregisseure Digitaltechnik dem zeichnerischen Gesamteindruck ihrer Filme unter. Ein Blick auf die japanischen und amerikanischen Geschichten des Animationsfilms (die hier nur skizziert werden können) versucht zunächst zu klären, wie sich zeichnerische und fotografisch-filmische Bildtypen phänomenologisch unterscheiden lassen und welche medialen Eigenschaften ihnen zugeschrieben werden (Teil 1). Kulturell mitbedingte Spezifizierungsentscheidungen, welche in die erweiterten Gestaltungsmöglichkeiten digitaler Bilder einfließen, lassen sich dann an den Beispielen der Entwicklung des amerikanischen computergenerierten Unterhaltungsfilms (Teil 2) und der japanischen Anime (Teil 3) konturieren. Vorab sind zwei Prämissen zu kennzeichnen, denen die Überlegungen folgen werden: Die Beschreibung von visuellen Medienangeboten und den sie begleitenden ästhetischen Diskursen ist erstens eine mögliche Art und Weise, um Aufschluss über Medienumbrüche zu gewinnen. Medienumbrüche sind als transmediale Veränderungen zu verstehen, deren gesellschaftliche Wirksamkeit sich erst nach einer Latenzphase entfaltet: Auf oftmals verdeckt ablaufende technologische und epistemologische Entwicklungen und ihre Etablierung folgen eine Welle intensiver Diskussionen über Medienpraxis und Experimente mit der Mediengestaltung. Mediendiskurse sind Ergänzungen der ‚Gebrauchsanweisungen‘, die mediale Wahrnehmungsangebote immer schon mitliefern, und sie reagieren mit kategorialer Verunsicherung, wenn neue Technologien und Praktiken auftauchen. Zweitens wird der Begriff der Ästhetik in einem erweiterten, anthropologischen Sinn verwendet, dem der Medialisierung oder Medialität. Medialisierung ist hier zu verstehen als das Herstellen eines Selbst-, Sozial- und Weltbezugs mithilfe von Bildern, Klängen und Gegenständen. In mehr oder weniger festen Kombinationen (als Medien) differenzieren und stabilisieren visuelle, akustische und materiale Phänomene kognitive Akte (z.B. Imagination) und konstituieren Sinn. Medien können aber auch einmal bestehende und kommunikativ zirkulierende Sinngebilde entdifferenzieren, sie z.B. für neue Kombinationen freisetzen oder affektive Potentiale mobilisieren.3 Für die hier zu diskutierenden filmischen Erzählungen steht erstens die Frage im Mittelpunkt, ob sich im Bereich des Films etablierte und normalisierte Praktiken der Medialisierung ändern. Zweitens steht zur Diskussion, welche Art des Verhältnisses zu digitalen Technologien auf der Ebene der filmischen Erzählung sichtbar wird (z.B. in Form von Rezeptionsanweisungen) und ob sich hier kulturspezifische Präferenzen bemerkbar machen. 3

Vgl. Pfeiffer: „Phänomenalisierung“, S. 328; Jäger: „Wieviel Sprache braucht der Geist?“, S. 15; Krämer: „Medialität und Performativität“, S. 14, 22f.

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1

Animationsfilm: Geschichte, Ästhetik, Medialität

Dass das Kino sich in den 1990er Jahren grundlegend verändert hat und dass dafür vor allem der massive Einsatz digitaler Bildbearbeitung verantwortlich ist, ist eine inzwischen weit verbreitete Beobachtung, die eng mit einem neuen Interesse an der Animation verbunden ist. Lev Manovich hat die Kernfrage, die das neue Kino aufwirft, so formuliert: But what happens to cinema’s indexical identity if it is now possible to generate photorealistic scenes entirely on a computer using 3-D computer animation; modify individual frames or whole scenes with the help a [sic] digital paint program; cut, bend and stitch digitized film images into something with perfect photographic credibility, even though it was never actually filmed?4 Die Irritationen, die das zeitgenössische Kino auslöst, führen andernorts zu paradoxen Formulierungen: „Digitale Bilder“, so Klaus Kreimeier, „gleichen den analogen aufs Haar und sind doch etwas ganz anderes“5; Thomas Elsaesser bezeichnet digitale Bewegtbilder als Repräsentanten eines „cultural shift, the consequences of which seem to be to leave everything the same while simultaneously altering everything“6. Die Ähnlichkeit zwischen computergenerierten oder -bearbeiteten und fotografischen Bildern hatte in den 1990er Jahren eine Diskussion um den epistemologischen Status von Fotografien ausgelöst (vgl. unten, Punkt 2). Wo es nur um Realitätseffekte ging – im Bereich der Medienästhetik – stellten die Möglichkeiten des Computers dagegen das Konzept der Einzelmedien erneut auf die Probe.7 Hinter den paradoxen bis ratlosen Beschreibungen digitaler Filmbilder verbirgt sich das Problem, dass ‚materiale‘ und technisch bedingte Eigenschaften von Einzelmedien, die bisher eine relativ verlässliche Basis der Identifizierung ihrer spezifischen Formbildung boten, auf einer digitalen Plattform simuliert und verändert werden können. Technische und materiale Grenzen der Gestaltung können nicht länger als gegebene Voraussetzungen für Formendifferenz betrachtet werden. Dies motiviert auch die Intermedialitätsforschung zu einer neuen Gewichtung ihrer Prä-

4

Manovich: The Language of New Media, S. 295. Zu den epistemologischen Dimensionen der Diskussion vgl. Punkt 2.

5

Kreimeier: „Alte Bilder – neue Bilder“, S. 199.

6

Elsaesser: „Digital Cinema“, S. 222. Vgl. Lamarre: „Introduction“, S. 183f.

7

Zu einer Kritik an der Vorstellung der Einzelmedien, die nicht durch Digitaltechnologie motiviert ist, vgl. Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre, S. 23.

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missen.8 Am Beispiel von Fotografie und Film zeigt sich beispielsweise, dass diese Einzelmedien durchaus als Formen weiter [bestehen], die das lose gekoppelte Medium des Digitalen strikter koppeln können – und müssen, denn der digitale Code ist an sich weitgehend unbestimmt und wird erst durch eine solche Kopplung überhaupt ein ‚Medium‘ (oder etwas anderes). […] Die Spezifik der Medien bleibt also in den Formen ihrer jeweiligen Aisthesis bestehen.9 Lässt sich die Herausdifferenzierung distinkter Einzelmedien also nur als Resultat von temporären kulturellen Stabilisierungsprozessen (mit mehr oder weniger großem Beharrungsvermögen) ansprechen, dann erscheinen sie als Ausnahmefälle und nicht als die Regel. Auch in kulturgeschichtlich längeren historischen Zeiträumen finden sich eher intermediale Mischverhältnisse.10 An solche Überlegungen schließt Lev Manovich mit einer These an, die inzwischen auf breite Resonanz gestoßen ist:11 der wesentlich von digitalen Techniken der Bildbearbeitung geprägte Spielfilm verliere gegenwärtig seinen Status als ‚Supergenre‘ des 20. Jahrhunderts und sei nicht länger von der Erzeugung indexikalischer fotografischer Bildlichkeit her zu definieren. Die ‚manuelle‘ Verfertigung von digitalen Filmbildern stelle eine Rückkehr zu vorkinematographischen Praktiken der Malerei und des handgezeichneten Zeichentrickfilms dar. Der Spielfilm werde gegenwärtig von der Animation bzw. dem „digital handpainting“12 abgelöst und verwandle sich in ein Untergenre der Malerei. Diese ‚Handarbeit‘, die nach Manovich den gegenwärtigen digital hergestellten oder bearbeiteten Film kennzeichnet, ist freilich nach wie vor in hochgradig arbeitsteilige und kollektive Arbeitsprozesse einer Filmindustrie eingebettet und keineswegs mit den Produktionsweisen von Bildern im 19.

8

Vgl. Paech/Schröter: „Intermedialität analog/digital“, S. 8f.

9

Ebd., S. 11.

10 Vgl. Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre, S. 27, 33. 11 Vgl. Weingarten: „Patchwork der Pixel“, S. 223; Kloock: „Heiß oder kalt?“, S. 249. Mark Driscoll („From kino-eye to anime-eye/ai“, S. 270) sieht Taihei Imamuras Theorie des Animationsfilms von 1948 als geeigneten Ausgangspunkt für die Beschreibung digitaler Bewegtbilder und einer ‚postkinematographischen‘ Situation an. Ryozo Maeda („Rasender/Lesender Stillstand“, S. 198) verwendet den Begriff des ‚Post-Cinema-Medium‘ aus ähnlichen Gründen für Manga. 12 Manovich: The Language of New Media, S. 304. Zu ähnlichen Einschätzungen der Animation vgl. Jameson: Postmodernism, S. 77; Werckmeister: „Ghost in the Shell“, S. 298, 300; Lamarre: „Introduction“, S. 184f.; Looser: „From Edogawa to Miyazaki“, S. 297, 298; Miyao: „Before anime“, S. 193.

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Jahrhundert zu vergleichen.13 Dennoch ist Manovichs Versuch, durch Rückgriff auf die Vorstellung eines ‚alten‘ Mediums ganz neue Medienangebote und -praktiken zu beschreiben, ausbaufähig. Wenn die ‚Formen der Aisthesis‘ sich im Modus des Digitalen tatsächlich ein Stück weit erhalten, wäre zu fragen, wie sich die Wahrnehmbarkeit fotografischer, zeichnerisch-grafischer und malerischer Bilder unterscheiden lässt. Für Bilder, die neben Texten und Klängen einen Grundmodus medialer (und das heißt auch aisthetischer) Gegebenheit darstellen,14 lässt sich hier mit Lambert Wiesing eine phänomenologisch-pragmatische Minimaldefinition formulieren: Bilder machen etwas – ein Bildobjekt – sichtbar und ausschließlich sichtbar. Ein Bildobjekt (nicht aber der Bildträger) ist gerade nicht tastbar, wägbar oder physikalischen Prozessen unterworfen. Damit ist keine essentialistische Definition von Bildlichkeit angezielt, denn Bilder treten, so Wiesing, niemals ohne diskursive Funktionszuweisungen, pragmatische Kontexte und technische Einbettung auf. Diese regeln, ob das sichtbar Präsentierte als Index, Symbol, Repräsentation, Schriftzeichen usw. gelten soll – ohne solche Geltungen freilich vollständig garantieren zu können.15 Die Sichtbarkeit von Bildobjekten ist zudem immer das Resultat manueller, technischer und stilistischer Manipulationen. Diese Manipulationen gehen in die Formbildungen auf den Bildträgern ein. Sie prägen die Art und Weise, wie Bildobjekte präsentiert werden. Kulturelle Protokolle lenken die Aufmerksamkeit auf jene Aspekte von Bildern, die für ihre Verwendung relevant sind: das betrifft ihre Wahrnehmung (ihre ‚Formen der Aisthesis‘), ihre materiale Gestaltung, aber auch epistemologische und imaginative Funktionen. Die Produktion von Bildern kommt diesen Verwendungsweisen ihrerseits entgegen und organisiert Sichtbarkeit so, 13 „Seen in this context, the manual construction of images in digital cinema represents a return to the pro-cinematic practices of the nineteenth century, when images were hand-painted and hand-animated. At the turn of the twentieth century, cinema was to delegate these manual techniques to animation and define itself as a recording medium. As cinema enters the digital age, these techniques are again becoming commonplace in the filmmaking process. Consequently, cinema can no longer be clearly distinguished from animation. It is no longer an indexical media technology but, rather, a subgenre of painting“ (Manovich: The Language of New Media, S. 295). 14 Vgl. Venus: Masken der Semiose, S. 32. 15 Wiesing: Phänomene im Bild, S. 10, 15-18; Wiesing: „Pragmatismus und Performativität“, S. 119, 120, 123. Ähnliche Überlegungen finden sich bei Gell: Art and Agency, S. 6, der wie Wiesing eine Bestimmung bildlicher Artefakte ausgehend von Begriffen der Bedeutung, Sinnkonstitution oder Kommunikation ablehnt. Dass Bedeutungs- oder Bedeutsamkeitszuweisungen und Praktiken aber in einem wechselseitig konstitutiven Verhältnis zu Bildern stehen, verdeutlicht Jäger: „Transkriptivität“, S. 29, 37ff.

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dass das Verhältnis von Bildobjekt, Formbildung und Bildträger in unterschiedlichen Gewichtungen wahrnehmbar werden kann. Bildtypen sind also als Ergebnis von Sedimentationsprozessen innerhalb von kulturell eingebetteten Bildpraktiken zu konzeptualisieren: Bestimmte phänomenologische Eigenschaften von Bildern werden im Laufe der Geschichte immer von neuem und so aktualisiert, dass sie im Rückblick als Konstanten erscheinen; ebenso lassen sich bei Zuschreibungen und Verwendungsweisen solche ‚strukturellen Invarianzen bei gleichzeitiger Transformation‘16 auffinden. Für Spielfilm und Zeichentrickfilm gilt zunächst, dass sie Sichtbarkeitsebenen – also das Verhältnis von Bildobjekt, Formbildung und Bildträger – nach dem Vorbild der Fotografie bzw. der Zeichnung organisieren. Die technische Konfiguration einer Fotokamera beispielsweise erzeugt Bilder mit hohem Detailreichtum, einer bestimmten Schärfenverteilung und perspektivischer Optik. Die Eingriffsmöglichkeiten des Fotografen sind eingeschränkter als die eines Malers oder Zeichners. Als „mechanisches Analogon des Wirklichen“17 sind Fotografien daher zwar, wie Roland Barthes formuliert, „Botschaften ohne Code“18: Sie sind Träger von Informationen, die ohne Umweg über das menschliche Bewusstsein autographisch aufgezeichnet worden sind. Diese Kriterien konnten Fotografien im 19. Jahrhundert als Spur, als Verweis auf ein tatsächlich dagewesenes Objekt, und das heißt als indexikalische Bilder, gelten lassen. Indexikalität bezeichnet jedoch keine essentielle Eigenschaft, denn jemand muss die Zuordnung zwischen Fotografie und Ding herstellen, das Sichtbare als Index lesen, diese Semiose iterativ beglaubigen und dafür sorgen, dass es andere auch tun.19 Die Fotografie als eine solche temporäre Stabilisierung von Sichtbarkeit ist vorwiegend als indexikalische und damit als phänomenale Wirklichkeit abbildender, dokumentierender und beglaubigender Bildtyp funktional. Nicht in einem epistemologischen Sinne, aber in Hinblick auf die angezielten Wirklichkeitseffekte macht sich auch der Spielfilm diese Festlegungen zunutze. Der Spielfilm konsolidiert sich ab etwa 1914 als Format, das fotografische Bilder, Schnitt, Montage und Kamerabewegungen zur unmittelbar anmutenden Präsentation von Bildobjekten einsetzt und schließlich in Verbindung mit Musik und Dialog dem Zweck des Erzählens fiktionaler Geschichten unterordnet. Spielfilme spekulieren bei allen Verweisen auf ihre Gemachtheit auf die Sus16 Gell: Art and Agency, S. 167. 17 Vgl. Barthes: „Die Fotografie als Botschaft“, S. 14f. 18 Vgl. Barthes: „Rhetorik des Bildes“, S. 38. 19 Vgl. Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen, S. 64, 65. Indexikalität ist ferner nur ein Aspekt, den ein Zeichen neben Symbolcharakter und Ikonizität immer aufweist. In Reinform kommt er Peirce zufolge nicht vor.

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pendierung eines Bewusstseins für die mediale Vermitteltheit des Gezeigten. Mit dem international einflussreichen Hollywoodkino verbreiten sich Techniken der Aufmerksamkeitslenkung, welche die filmischen Stilmittel möglichst unauffällig in den Dienst der kontinuierlichen Geschehensreferenz treten lassen.20 Zeichnungen und Grafiken dagegen vereinfachen ihre Bildgegenstände stark, indem sie sie auf Linien oder Pinselstriche und auf (Farb-)Flächen reduzieren. Sie weisen einen geringen Detailreichtum auf und vermitteln nicht unmittelbar den Eindruck räumlicher Tiefe oder der Plastizität der Bildgegenstände. Diese Aspekte kennzeichnen einen (im Gegensatz zur europäischen Malerei) kulturübergreifend vorkommenden und auch historisch stabilen Bildtypus.21 Für Zeichnungen und Grafiken charakteristisch ist die gleichzeitige Wahrnehmbarkeit von Bildobjekt, Bildmaterial und Präsentationsstil (oder nach Boehm die ikonische Differenz): Eine Linie ist eine Kontur und entspricht damit einem Teil des präsentierten Objekts, sie ist aber auch immer noch eine Tuschelinie auf Papier oder auf Zelluloidfolie.22 Differenzierungsgrad und Organisation von Sichtbarkeitsebenen hängen ihrerseits von konkreten pragmatischen und semantischen Kontextualisierungen ab. Bei künstlerischen Zeichnungen oder Comics etwa sind alle drei Sichtbarkeitsebenen relevant; Konstruktionszeichnungen und Diagramme dagegen lassen sich vergrößern, verkleinern oder farblich verändern, ohne dass diese Relevanzunterdrückung von Bildträger und -material die verallgemeinernde Modellfunktion der Darstellung beeinträchtigen würde. Die meisten Verwendungsweisen von Fotografien und Filmbildern zeichnen sich dagegen durch die Dämpfung sowohl der ikonischen Differenz als auch der Spannung zwischen Bildstil und Bildobjekt zugunsten der Präsentation eines wiedererkennbaren Bildobjekts aus. Die Zuschreibungen, die sich an den Bildtyp Zeichnung knüpfen, sind heterogen, lassen sich nicht widerspruchslos auf die phänomenologischen Eigenschaften zurückführen und auch nicht ausschließlich auf diesen Bildtyp beziehen. Als strukturelle Invarianz taucht aber doch in zahlreichen Diskursen zur Zeichnung das Merkmal der selektiven Informationszuteilung auf. Hein20 Vgl. Hansen: Babel and Babylon, S. 16, 23, und Bordwell u.a.: The Classical Hollywood Cinema. 21 Vgl. zu einer kulturübergreifenden Definition von Grafik Giesecke: Die Entdeckung der kommunikativen Welt, S. 352f. 22 Zu einem Versuch der Unterscheidung von Zeichen und Zeichnung über das Kriterium der Korrespondenz der Teile vgl. Gell: Art and Agency; zur ikonischen Differenz Boehm: „Die Wiederkehr der Bilder“, S. 29f. und Wiesing 2000, S. 17. Die Selbstbezüglichkeit der Zeichnung ist häufig hervorgehoben worden, z.B. von Imdahl: „Ikonik.“ S. 323; Wollheim: „Why is drawing interesting?“, S. 9; bezogen auf den Animationsfilm Balázs: Der Geist des Films, S. 178.

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rich Wölfflin hat etwa den linearen Stil in der europäischen Kunst zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert vom malerischen abgegrenzt, indem er ihm eine Bildgegenstände unterscheidende, Formen betonende und voneinander trennende Leistung zuschreibt.23 Die Linie sei ferner eine Entsprechung des Tastbaren (das in der europäischen philosophischen Tradition als Ausweis des Wirklichen gilt), während das Malerische als „Auffassung, die dem bloßen optischen Schein sich zu überlassen imstande ist“24 vorrangig das Sichtbare und damit die Erscheinung (re-)präsentiere: Das plastische und konturierende Sehen isoliert die Dinge, für das malerisch sehende Auge schließen sie sich zusammen. Im einen Falle liegt das Interesse mehr in der Begreifung der einzelnen körperlichen Objekte als fester, faßbarer Werte, im anderen Fall mehr darin, die Sichtbarkeit in ihrer Gesamtheit als einen schwebenden Schein aufzufassen.25 Wenn lineare Bildtypen die zergliedernd-analytische Selektion der visuellen Informationen also gewissermaßen im Taktilen rückversichern und den ‚bloßen optischen Schein‘ vernachlässigen, liegt es nahe, ihnen besondere Eignung für präzise wissenschaftliche Darstellungen oder Bauanleitungen zuzuschreiben.26 Verknappung als Beschränkung auf Wesentliches oder auch Wesenhaftes ist gleichfalls eine gängige Zuschreibung.27 In der asiatischen Tradition wird etwa die Beschränkung der Pinselzeichnung auf wenige Details geschätzt. Die Tuschemalerei zielt auf die Herausarbeitung der wenigen, wesentlichen Merkmale eines Gegenstandes ab, und das flüchtige Andeuten und Evozieren spielt eine wichtige Rolle. Zeichnung und Grafik können daher auch im Dienste des kari23 Vgl. Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, S. 34. 24 Ebd., S. 27. 25 Ebd. 26 Vgl. Booker: A History of Engineering Drawing. 27 Vgl. Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen, S. 143ff.; Meder: Die Handzeichnung, S. 17ff., 21; Meister: „Einleitung“, S. 9. Zur europäischen Zeichnung zwischen Kunst und Wissenschaft vgl. Kemp: „Disegno“. In der westlichen Tradition wird diese Zuschreibung bis hin zu der Annahme erweitert, die Handzeichnung sei wie die Handschrift eine Spur der Persönlichkeit, der individuellen Intentionalität oder Genialität (vgl. Meder: Die Handzeichnung, S. 16-30; Meder geht allerdings von einem Spannungsverhältnis zwischen Ausdruck und wiederholbaren Formelementen bzw. Stil aus). Diese Zuschreibung fehlt in der asiatischen Tradition; hier ist es die spezifische Stimmung oder Emotionalität einer Situation, die sich durch die zeichnend angedeuteten Dinge manifestieren soll, vgl. Yamada: Wie lerne ich japanische Tuschemalerei?, S. 16, 78; Saito: „The Japanese Aesthetics of Imperfection and Insufficiency“, S. 383.

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kierenden Pointierens und Übertreibens stehen und als Visualisierungen von Ideen gelten.28 Die gleichzeitige Präsenz verschiedener Sichtbarkeitsebenen, die im Wahrnehmungsprozess erst gewichtet und ‚entziffert‘ werden müssen, und die oft notwendige gedanklich-imaginative Vervollständigung einer nur angedeuteten Gestalt oder einer Idee hat kulturübergreifend die Überlegung angestoßen, Zeichnungen aktivierten in besonderer Weise die Imagination.29 In der europäischen Tradition werden mit zeichnerischer Detailverknappung auch evokative, das Sichtbare in Richtung des Vorstellbaren oder Empfindbaren überschreitende Leistungen in Verbindung gebracht. Das Skizzenhaft-Unfertige oder die beiläufige Kritzelei bedürfen noch der Ergänzung und Vervollständigung durch die Phantasie. Dass Zeichnungen und Grafiken besonders dazu geeignet seien, in narrativen Kontexten eindrucksvolle Realitätseffekte zu setzen, Ideen zu visualisieren und als ‚Verstärker der Imagination‘ zu fungieren, ist auch die Ansicht des Filmwissenschaftlers Taihei Imamura. Er stellte zeitgenössische japanische Zeichentrickfilme daher in die Tradition der Bildrollen der Heian- und Kamakura-Zeit.30 Aus ähnlichen Gründen waren die einfachen Linienzeichnungen des frühen französischen Animationsfilmers Emile Cohl in Japan erfolgreich. Filmkritiker wie Hironari Terasaki, der mit der japanischen Filmkunstbewegung sympathisierte, deklarierten Cohls Animationsfilme in den späten 1910er Jahren zum Vorbild für ein neues japanisches Nationalkino, denn sie schienen einen direkten Anschluss an die japanische Tradition der Linienzeichnung zu ermöglichen.31 Verweise auf Anime und Manga als Ausläufer einer solchen Tradition sind gängig und pointieren die historisch langfristig stabile strukturelle Invarianz des Bildtyps Grafik/Zeichnung insbesondere in Japan. Für die hier verhandelte Fragestellung nicht sehr produktiv bleibt jedoch die Charakterisierung dieser Invarianzen als ‚autoch-

28 Vgl. Imamura: „Japanese Art and the Animated Cartoon“, S. 220, 221; Burch: To the Distant Observer, S. 44. 29 Bilder als „Verstärker der Imagination“ diskutiert Wiesing: Phänomene im Bild, Kap. 1 (Überschrift). Zu einer auf Iser zurückgreifenden Comic-Rezeptions-ästhetik vgl. Hatfield: Alternative Comics, S. 33. 30 Imamura legte weltweit die erste Theorie des Animationsfilms in Buchlänge vor. In der englischen Übersetzung eines Kapitels aus Theory of Animation heißt es: „Yet even in the most imaginative scrolls a concern with the realities of life shows itself. Imagination does not necessarily make us forget realities but can stimulate our awareness of them“ (Imamura: „Japanese Art and the Animated Cartoon“, S. 221). 31 Vgl. Miyao: „Before anime“, S. 196f.

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thone‘ und ‚Kern‘bestände japanischer Kultur.32 Interessanter ist es, nach den Bedingungen zu fragen, unter denen die ständig neu gefällten Entscheidungen über die Reaktualisierung dieser oder jener Bildtypen und Zuschreibungen geschehen, und unter denen sich dabei Einflüsse von Tradition mit technologischen, sozialen und ökonomischen Entwicklungen und ästhetischen Erwägungen überschneiden. Einige der Strukturen der Zeichnung, die sich im Austausch von Zuschreibungen und Praktiken im populärkulturellen Bereich stabilisiert haben, fanden Eingang in westliche Zeichentrickfilme. Die Bildgegenstände in kommerziellen Zeichentrickfilmen seit den 1910er Jahren wirken vereinfacht, und in Cartoons mit Tierfiguren sind die Objektreferenzen sekundär (Mickey Mouse erinnert nur noch sehr entfernt an eine Maus). Eine vereinfachte und standardisierte Linienführung, deutliche Konturen und flächige Farbfelder passten zu den technischen und kommerziellen Rahmenbedingungen des Zeichentrickfilms, die arbeitsteiliges und rasches Zeichnen zulassen mussten. Die spezifische Art der Bewegungsgenerierung im Zeichentrickfilm steigert den artifiziellen, selbstbezüglichen Charakter gezeichneter Bilder. Zeichner gehen synthetisch vor: sie setzen einen Bewegungsablauf durch Ausprobieren aus einzelnen, selbst festgelegten Phasen zusammen. Das Resultat sind Bewegungsabläufe, die ‚unnatürlich‘ wirken, gleichzeitig aber darstellerische Spielräume eröffnen.33 Obwohl mittlerweile Computer Arbeitsschritte übernehmen können, z.B. das Errechnen von Zwischenphasen in Bewegungsabläufen oder Perspektivveränderungen bei ‚Kameraschwenks‘, ist die Festlegung der Art und Weise und des Grades der Vereinfachung oder der pointierenden Merkmalsselektion von Figuren noch immer Sache menschlicher Gestalter. Konnotationen, die sich im Westen historisch an die abstrahierenden und selbstbezüglichen Visualisierungsweisen von Comic, Zeitungscartoon, Karikatur und 32 Z.B. bei Coulmas, der Manga als etwas „distinkt Japanisches“ aus der japanischen Bildtradition heraus erklärt. Coulmas: Die Kultur Japans, S. 267, differenzierter Grassmuck: „Osu, ugoku, ureshii“, S. 426f., zu Anime als Ausdruck japanischer Kultur vgl. Drazen: Anime Explosion, S. viii, 35. 33 Vgl. Small/Levinson: „Toward a Theory of Animation“, S. 69. Mit der 1914 entwickelten und auch oft für Special Effects verwendeten Technik der Rotoskopie dagegen lassen sich natürliche Bewegungsabläufe generieren, denn hier gehen Zeichner analytisch vor und setzen einzelne Filmbilder in Zeichnungen um. Mit computerunterstützter Motion Capture-Technik oder mit den neuen Rendering-Techniken lassen sich gleichfalls natürlich wirkende, tiefenräumlich situierte Bewegungsabläufe mit grafisch stark abstrahierten Darstellungsformen kombinieren, wie z.B. der ganz in Schwarzweiß-Farbfeldern gehaltene Film Renaissance (F 2006), vgl. Giesen: Lexikon des Trick- und Animationsfilms, S. 361 (Artikel Rotoskopie), S. 298 (Artikel Motion Capture). Zu den Anwendungs-möglichkeiten der Computeranimation vgl. Auzenne: The Visualization Quest.

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Zeichentrickfilm geheftet haben – Humor, Irrealität, Phantasie, Groteske, Ironie – werden im Zeichentrickfilm aktualisiert und konventionalisiert. Dazu trägt die Genrestruktur bei: Zeichentrickfilme werden innerhalb von Genres realisiert, in denen der Attraktionswert von bekannten Figuren, Musik und expressiver (Körper-)Bewegung im Vordergrund steht, oder in denen fantastische, magische und übernatürliche Welten entworfen werden. Die Hoffnung der europäischen Filmkritiker und Imamuras, der Zeichentrickfilm werde sich als eine populäre Kunstform gegen den Spielfilm durchsetzen, wurde nicht erfüllt. Der ‚klassische‘ Hollywood-Spielfilm wurde zu einem beherrschenden Modell, während der Trickfilm einen der unteren Ränge in der sich rasch konsolidierenden filmischen Gattungshierarchie einnahm. Auch im japanischen Kino findet sich eine enge Verbindung zwischen avantgardistischem Filmschaffen und Animation, und auch hier bildet sich mit der raschen Übernahme der Hollywoodcodes eine Hierarchie heraus.34 Die Dominanz des Erzählens und der Wirklichkeitsprätention hat sich jedoch in Japan nie so stark ausgeprägt wie im amerikanischen und europäischen Kino. Statt einer möglichst vollständigen ‚narrativen Sättigung‘ durch Repräsentation strebten japanische Spielfilmregisseure, so Noël Burch, eine eher theatralische und gleichberechtigte Präsentation von visuellen, narrativen und akustischen Elementen an.35 In japanischen Realfilmen erhielten sich bis in die frühen 1930er Jahre Elemente des Attraktionenkinos wie der Filmerzähler (benshi). Später erfuhren formale und handwerkliche Merkmale eine stärkere Betonung und Wertschätzung.36 Die Geschichte des japanischen Animationsfilms verläuft von ihren Anfängen 191737 bis in die 1970er Jahre ähnlich wie die westliche. Zunächst be-

34 Miyao („Before anime“) zeichnet die parallele Entwicklung von Animationsfilmen und der japanischen Kunstfilmbewegung nach. Im Westen wie in Japan wurde bis in die 1920er Jahre nicht zwischen Animation und Realfilm unterschieden, und auch die Genrehierarchie etablierte sich erst in dieser Zeit. Die Bezeichnung ‚anime‘ ist seit der Nachkriegszeit gebräuchlich. Vgl. Miyao, „Before anime: Animation and the Pure Film Movement in Pre-War Japan“, S. 193, 200, 206 und Thompson: „Implications of the Cel Animation Technique“, S. 107f.; Edera: Full Length Animated Feature Films, S. 11. Zur Übernahme der Hollywoodcodes vgl. Bordwell: „Visueller Stil im japanischen Kino“, S. 164, 205f. 35 Burch: To the Distant Observer, S. 98. Er hat japanische Filme bis ca. 1970 im Blick. – Wenn das europäische Autorenkino gegen die Hollywood-Konventionen rebelliert, ist die übergreifende Frage noch immer die nach der Erzählbarkeit und des Sichtbarmachens von Wirklichkeit. 36 Vgl. Bordwell: „Visueller Stil im japanischen Kino“, S. 179f. 37 Nach den Erfolgen importierter Animationsfilme kam 1917 der erste animierte Kurzfilm (5 min.) aus japanischer Produktion in die Kinos; es handelte sich um

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herrschten amerikanische Importe, vor allem aus dem Disney-Studio, den Markt und die Genrestruktur einheimischer Produktionen. Zeichentrickfilme galten als leichte Unterhaltung für Kinder und erzählten, wie z.B. die auch im Westen bekannt gewordenen TV-Serien Astro Boy (Tetsuwan Atomu, 1963) und Kimba der weiße Löwe (Janguru Taitei, 1965, beide von Tezuka Osamu), Abenteuergeschichten mit Robotern und Tieren.38 Die Darstellungsweise japanischer Animationsfilme hat sich in engem Austausch mit der Ästhetik der Manga entwickelt, und diese wiederum ist nicht ohne das Vorbild amerikanischer Superheldencomics der Nachkriegszeit zu beschreiben. Wenn japanische Anime tatsächlich „Japan talking directly to itself“39 sind, dann sprechen sie mit einem prononciert amerikanischen Akzent. Im Westen hatten Zeichentrickfilme seit den 1910er Jahren die Tradition des ‚Attraktionenkinos‘ fortgeführt, das zunächst auf das Zurschaustellen der Kinotechnik selbst und später auf die Schauwerte spektakulärer Figuren, Orte, Szenen und Ereignisse setzte. Neben kürzeren Cartoons, die im Vorprogramm liefen, werden ab 1937 abendfüllende Zeichentrickfilme produziert, die den Genres des Revuefilms und des Musicals nahe stehen. Tom Gunning hat sie neben den Avantgardefilmen als Erben des Kinos der Attraktionen bezeichnet: In fact the cinema of attractions does not disappear with the dominance of narrative, but rather goes underground, both into certain avant-garde practices and as a component of narrative films, more evident in some genres (e.g. musical) than in others.40 Die Affinität zum Attraktionenkino behielten die stilbildenden, von Walt Disney 1937 eingeführten Zeichentrickfilme in Spielfilmlänge bei: Sie verankerten Tanz- und Musiknummern, die nicht dem Fortgang der Handlung dienen und auf die Attraktion bewegter Formen und Körper setzen, fest in ihrem Repertoire. Als ökonomisch riskante Produktionen setzten sie auf Gefälligkeit. Die auf Kinder und Familien zugeschnittenen Tierfiguren- und Märchenerzählungen wiesen kaum die groteske Gewaltsamkeit, den satirischen Witz und die

Imokawa keizŇ genkan ban no maki von Oten Shimokawa, vgl. Miyao: „Before anime Animation and the Pure Film Movement in Pre-War Japan“, S. 198. 38 Vgl. Maas: „Anime“, S. 288. Yabushita Taijis Hajukaden (1958) ist der erste japanische Animations-Langfilm. Erst in den 1950er Jahren, als Animationsfilme professioneller hergestellt wurden, bürgerte sich in Japan die Bezeichnung Anime für Zeichentrickfilme ein. Vgl. Nieder: Die Filme von Hayao Miyazaki, S. 10. 39 Drazen: Anime Explosion, S. viii. 40 Gunning: „The Cinema of Attractions“, S. 57f.

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Formreflexion vieler Cartoon-Kurzfilme oder TV-Cartoons von Tex Avery bis zu den Simpsons auf. Zur Entwicklung der Anime in den 1970er Jahren gehört die Herausbildung einer Vielfalt von Stilen und Genres nach dem Vorbild der Manga, auf denen die Filme noch immer häufig basieren. Fast immer kontrastieren detailliert gemalte, dreidimensional wirkende Hintergründe mit flach wirkenden Figuren, und der zweidimensional wirkende, an Handzeichnungen erinnernde Zeichenstil herrscht bis heute vor. Knetgummianimation oder Puppentrick sind in Japan dagegen ohne Bedeutung geblieben, ebenso wie fotorealistische Computeranimationen eine vorübergehende Mode waren.41 Genrekonventionen sind offener und vielfältiger als die westlicher Filme bzw. TV-Formate.42 In wechselnden Kombinationen wurden Sportfilme, Horror, Fantasy und Science Fiction, Pornografie und Erotik gezeichnet. Entsprechend weit sind die Publikumssegmente gefächert: Sowohl in Amerika als auch in Europa fällt es schwer, Animationsfilme oder -serien zu finden, die nicht Kinder als Zielgruppe haben. […] In Japan dagegen kann ein Zeichentrickfilm alle denkbaren Themen aufgreifen.43 Anime verarbeiten ohne weiteres ‚ernsthafte‘ Themen wie die Atombombenabwürfe von 1945 oder Umweltzerstörung. Mit Manga teilen Anime-Serien eine Präferenz für lange und verzweigte Handlungsbögen, die der Charakterisierung einzelner Figuren und vor allem dem Schildern von Stimmungen, Situationen und emotionalen Zuständen viel Raum geben. Oft tritt der Eigenwert solcher Momente sogar in den Vordergrund: „Storyless or non-narrative elements begin to have an impact on stories, to inform narratives and to generate new narratives.“44 Nicht nur die kostensparende Reduzierung der Bewegungsphasen in der limited animation motivieren in Anime lange Einstellungen (oder langsame Zooms) auf Einzelbilder, die oft nur mit Musik unterlegt werden oder in vollkommener Stille verbleiben. Die Präsentation solcher Momente kann auch als Reaktualisierung von Rhythmen der japanischen Theaterformen

41 Maas: „Anime“, S. 287. 42 Vgl. ebd., S. 296, 298; Berndt: Phänomen Manga, S. 164f. 43 Maas: „Anime“, S. 294; vgl. S. 298, 300. 44 Lamarre: „From animation to anime“, S. 339; vgl. Drazen: Anime Explosion, S. ix, 14f.

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Nô und Kabuki betrachtet werden, welche die Verdichtung von Stimmungen in eingefrorenen Posen kultivieren.45 In den 1990er Jahren werden Anime weltweit bekannt, und auch in der US-amerikanischen Kinolandschaft nimmt die Zahl der Animationsfilme und ihrer Zuschauer nach einer Flaute in den 1980er Jahren wieder deutlich zu. Computeranimierte Langfilme sind im Westen wesentlich für diesen Trend verantwortlich,46 und diese Filme sind – neben dem ‚Kino der Spezialeffekte‘ – Gegenstände einer Diskussion um eine spezifische digitale Bildlichkeit gewesen. Diese Diskussion ist im Westen eng mit der Annahme verbunden, eine solche Bildlichkeit könne vom Fotografischen her bestimmt werden und werfe aufgrund ihrer Ähnlichkeit zum Fotografischen schwerwiegende epistemologische Probleme auf.

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Computeranimierte Unterhaltungsfilme

Digitale Bilder sind einer der Hauptgegenstände, an die sich in Europa und den USA seit den 1990er Jahren Diagnosen eines Medienumbruchs oder einer digitalen Revolution knüpften. In der deutschen und amerikanischen Diskussion stand um 2000 fast ausschließlich die Ähnlichkeit digitaler und analogfotografischer Bilder im Mittelpunkt. Friedrich Kittler und Wolfgang Hagen machten auf die erweiterten Möglichkeiten der Manipulation des Bildprozesses in digitalen Kameras aufmerksam – denn Bildaufzeichnung und Wiedergabe müssen einen Umweg über Messzellen und programmierte Berechnungsvorgänge nehmen – und leiteten daraus das Argument ab, im Vergleich zur Fotografie sei die Indexikalität des Digitalfotos schwach. „Computerbilder sind also in einem Maß, das die Fernsehmacher und Ethikjournalisten schon heute zittern macht, die Fälschbarkeit schlechthin.“47 Auch die drohende Ununterscheidbarkeit der Wirklichkeit von einer digital erzeugten virtuellen Realität stand als anscheinend unausweichliches Telos der technischen Entwicklung zur Diskussion.48 Diese Befürchtungen eines Authentizitätsverlusts durch di45 Vgl. Berndt: Phänomen Manga, S. 166; zu Posen: Nieder: Die Filme von Hayao Miyazaki, S. 12, 17, 19f.; Lamarre: „From animation to anime“, S. 335, 338 f. 46 Seit 1995 wurden im US-Kino so viele animierte Langfilme gezeigt wie in den gesamten 70 Jahren davor zusammengenommen. Shrek 2 war 2004 auch der international meistgesehene Film; bis 2006 sind elf computeranimierte Filme zu Blockbustern geworden und haben international jeweils mehr als 300 Millionen Dollar eingespielt; vgl. Eder: „Spiel-Figuren“, S. 278; Siebert: Flexible Figuren, S. 56. Die zahlreichen Cartoon-Serien im Fernsehen sind dabei nicht erfasst. 47 Kittler: „Computergrafik“, S. 179. 48 Böhme: Theorie des Bildes, S. 131, 132; Lamarre: „Introduction“, S. 183f.

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gital generierte (Bild-)Welten greift 1999 der Film The Matrix auf, der auf große populäre und akademische Resonanz stieß.49 Die Ausgangssituation ist eine postapokalyptische Welt, in der Maschinen die Macht übernommen und die Menschen, um sie als Energielieferanten ausbeuten zu können, kollektiv an eine Computersimulation angeschlossen haben. Den Menschen wird eine künstliche Welt vorgespiegelt, die mit ihren Großstädten und Büros der vertrauten Welt der Gegenwart entspricht. Einige Rebellen kämpfen für die Befreiung der Menschheit von Maschinen und Simulation. Digitale Bilder gelten als fatale Täuschung, die Menschen ihrer Autonomie beraubt; authentisches Leben und Individualität sind nur außerhalb der ‚Matrix‘ möglich. Im Erfolg von The Matrix – der ironischerweise mit massivem Einsatz von digitalen Effekten gedreht wurde – zeichnet sich eine in erster Linie epistemologische und ontologische Einschätzung digitaler Bilder ab. Es ist durchaus richtig, dass Computer die Interventionsmöglichkeiten in den Bildprozess multiplizieren. Mit Computern ist im Prinzip alles darstellbar, was mathematisch formalisiert, als Software programmiert, von entsprechend leistungsfähiger Hardware verarbeitet und auf Displays dargestellt werden kann. Das setzt z.B. der Generierung schwierig zu formalisierender Texturen oder der hochauflösenden Darstellung schneller Bewegungen Grenzen. Aber schon innerhalb dieser Grenzen müssen weitere Einschränkungen gesetzt werden, denn als ‚universelle Maschinen‘ ohne im Voraus festgelegten Zweck sind Computer geradezu auf Programmierung – eine Spezifizierung ihrer vielfältigen Möglichkeiten – angewiesen, um überhaupt zu irgendetwas tauglich zu sein. Der Nachbau einer virtuellen Kamera ist eine solche Spezifizierungsmöglichkeit. Aber andere sind möglich und werden etwa mit Techniken des nonphotorealistic rendering realisiert: mit Programmen, die Zeichnungen, Diagramme oder malerische Bilder errechnen oder ihre Anfertigung unterstützen.50 Für die 49 Vgl. stellvertretend für eine ganze Reihe an Studien Irwin: The Matrix and Philosophy. 50 Das Programm kann logische Strukturen in Form von Hardware, d.h. festen Verschaltungen, abbilden, es kann aber auch als Software operationalisiert werden. Vgl. Schröter: Das Netz und die virtuelle Realität, S. 10f., zu unterschiedlichen Typen digitaler Bilder S. 196-204. Man kann digitalisierte Bilder (z.B. eingescannte Bilder), digital bearbeitete (z.B. digitalisierte und dann neu zusammengesetzte, in Form, Farbe, Format, Schärfe usw. veränderte) Bilder und generierte Bilder (errechnete, konstruierte) unterscheiden. Für Grafikanwendungen kommen Kombinationen aus speziellen Grafikchips und Software zum Einsatz, die ausgewählte Gesetze der Optik in logische Strukturen überführen. Diese Auswahl bestimmt dann die Ästhetik der generierten oder präsentierten Bilder; vgl. Kittler: „Computergrafik“, S. 183. Einen Überblick über die Verfahren und Systeme, die zeichnerische und malerische Funktionen für Illustratoren, Designer und Animationsfilmer unterstützen, geben Bruce und Amy Gooch: Non-Photorealistic Rendering; vgl.

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Animationsfilmproduktion sind solche Verfahren inzwischen gängig.51 Von der technischen Seite her gesehen sind digitale Bilder schwach bestimmt – und eben deswegen sind sie stark durch die Verwendungszwecke, Problemlagen und Zuschreibungen formbar, denen gerade Priorität eingeräumt wird. Die Fotografie-Ähnlichkeit von Bildern, die mit digitalen Kameras aufgenommen oder die mit aufwendigen Grafikprogrammen generiert werden, ist daher eine Folge bestimmter Entscheidungen und Zielsetzungen im Prozess der technischen Entwicklung. In der US-amerikanischen Entwicklung von Displays, Grafikkarten und -programmen seit den 1980er Jahren lagen die Prioritäten klar auf einer Nichtunterscheidbarkeit digital generierter und fotografischer Bilder – die avisierten Anwendungsbereiche waren kinematografische Spezialeffekte und 3-D-Computerspiele. Lev Manovich zufolge blieb eine Definition von ‚qualitativ hochwertiger Computergrafik‘, die 1987 auf der jährlichen Konferenz der Computergrafikentwickler (SIGGRAPH) präsentiert wurde, bis zur Jahrtausendwende unverändert: Die Qualität guter Grafik bemesse sich daran, dass sie „virtually indistinguishable from live action motion picture photography“ sei.52 Diese Leitvorstellung verdichtete sich, wie Manovich wieter ausführt, in Fachpublikationen und in der Öffentlichkeit zu einer Fortschrittsgeschichte, die auf eine immer vollkommenere Angleichung computergenerierter an fotografische und kinematografische Bilder hinauslief: In this definition, achieving synthetic realism means attaining two goals: the simulation of codes of traditional cinematography and the simulation of the perceptual properties of real life objects and environments.53 Aktuelle Entwicklungen im Unterhaltungsbereich scheinen diesen Trend zu bestätigen. Im August 2005 schloss Disney, das vormals marktbeherrschende Trickfilmstudio, in Sydney das letzte Studio, in dem noch Trickfiguren von Hand gezeichnet und animiert wurden. Für die Produktion von animierten Langfilmen setzt Disney/Pixar künftig auf 3-D-Computergrafik. Eine aktuelle Studie zum computeranimierten Spielfilm prognostiziert, dass fotorealistisches rendering den Zeichentrick in absehbarer Zeit verdrängen werde.54

auch die Sondernummer der Zeitschrift Computer Graphics zu Non-Photorealistic Rendering. 51 Vgl. Furniss: Art in Motion, S. 178, Cavallaro: Hayao Miyazaki. 52 Manovich: „‚Reality‘ effects in computer animation“, S. 10. 53 Ebd., S. 10, vgl. S. 6. 54 Vgl. Kohlmann: Der computeranimierte Spielfilm, S. 256. Die schlagzeilenträchtige Schließung des australischen Studios hatte eher symbolische Bedeutung, die

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Die Ununterscheidbarkeit von fotografischen und computergenerierten Bildern ist zweifellos für die Produktion und Vermarktung von Computergrafik im Unterhaltungsbereich als self-fulfilling prophecy funktional gewesen (die Verbreitung digitaler Kameras ist das beste Beispiel dafür). Sie hat auch die Diskurse über digitale Bilder beeinflusst. Ob sich diese Ununterscheidbarkeit allerdings auch ästhetisch in dem Produkt manifestiert, das als Leistungsdemonstration der neuesten Grafikanwendungen fungiert – dem computergenerierten Animationsfilm –, ist fraglich.55 Die technischen Möglichkeiten des rendering haben in den USA seit 1984 einen neuen Stil des Animationsfilms hervorgebracht, der 1995 mit Toy Story erstmals in einem abendfüllenden, vollständig computergerenderten Spielfilm zu sehen war.56 An dieser Entwicklung waren nur einige wenige Studios bzw. Produktionsfirmen beteiligt, deren Filme aber dennoch einen Boom auslösten. Obwohl sie von unterschiedlichen Produktionsfirmen stammen, weisen die amerikanischen Computeranimationsfilme einen sehr ähnlichen ‚Look‘ auf: Die Konturen und Flächen und die oft grellen Farben der traditionellen Zeichentrickfilme weichen Bildern mit Raumtiefenillusion, fein abgestuften Schattierungen, konsistenten Lichtverhältnissen und Beleuchtungseffekten und einem hohen Detailreichtum. Sie ähneln insofern malerischen und fotografischen Bildern und sind auch mit Hilfe einer programmierten, virtuellen Kamera erzeugt. Lichteinfall und Lichtbrechung lassen sich in ihrer Relation zu gleichfalls berechneten Volumina und Texturen formalisieren und darstellen.57 Dennoch sind die Bilder kaum mit fotografischen Bildern zu verwechseln: Computern und Displays stand nur ein begrenztes Farbspektrum zur Verfügung, das z.B. Erdtöne nicht genau wiedergeben konnte, und die Oberflächenstrukturen errechneter Objekte wirken

auf dem höheren Prestige von kinotauglichen Langfilmen beruht; Disneys TV-Serien werden nach wie vor gezeichnet und im bewährten Cartoon-Stil gehalten. Im Mai 2006 fusionierte Disney mit Pixar, einem der erfolgreichsten Studios für computeranimierte Spielfilme. 55 Das Studio Pixar betreibt Softwareentwicklung „for the highest-quality, photo-realistic images“; vgl. http://www.pixar.com/companyinfo/about_us/overview.htm. Jedem Filmabspann ist eine Erklärung angefügt, dass alle Szenen errechnet wurden und nicht mit Verfahren wie Motion Capture oder Rotoskopie erstellt wurden. Zum Eindruck, dann ‚Benchmark-Programme‘ anstelle von Kinofilmen vorgeführt zu bekommen, vgl. Siebert: Flexible Figuren, S. 182. 56 Genauer: zwischen 1984 (Pixars erster gerenderter Kurzfilm, 2 min.: The Adventures of André and Wally B.) und 1995 (der erste gerenderte Film von Spielfilmlänge: 81 min., Toy Story). 57 Vgl. Mitchell: The Reconfigured Eye, Kap. 6, 7; Kohlmann: Der computeranimierte Spielfilm, S. 249; Manovich: „‚Reality‘ effects in computer animation“, S. 6.

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noch immer ‚künstlich‘, sehr glatt und perfekt.58 Schwierigkeiten bereitete es lange Zeit, Farbschattierung, Lichtbrechung und Bewegung komplexer und unregelmäßiger Texturen z.B. von Haut, Fell, Bäumen, Wiesen oder Wolken mathematisch zu formalisieren. Auch menschliche Physiognomien und Bewegungsmuster ließen sich nur unzureichend berechnen. So boten sich für die frühen computergenerierten Animationsfilme nichtmenschliche Akteure mit glatten Oberflächen als Hauptfiguren an – Insekten (in A Bug’s Life), Spielzeugfiguren (in Toy Story) und Fische (in Finding Nemo). Diese Figuren waren wie die Comicfiguren in The Incredibles, die Fabelwesen in Shrek oder die Tierfiguren in Madagascar und Ice Age mehr oder weniger stark stilisiert. Die Limitationen der Computergrafik ließen sich nahtlos an die Konventionen der in den USA etablierten Zeichentrickgenres anschließen – humorvolle Märchen- und Tierfilme, die an Kinder und Familien adressiert waren: In der Zeit von 1995 bis 2001 ist die Cartoon-Tendenz durch die noch unausgereiften Modellierungsmethoden der eingesetzten 3-DSoftware zu erklären, die kaum abweichende Stile wie den cartoonkonträren Fotorealismus erlaubten.59 So blieben computergenerierte Animationsfilme einerseits der vereinfachenden Ästhetik des Cartoons und dem zugleich detailreichen und Irrealität signalisierenden Repräsentationsstil der Malerei verpflichtet. Sie orientierten sich aber andererseits mit ihrer Filmsprache und ihren Appellen an das Fachwissen des Publikums explizit am Telos des Fotorealismus und der Kinematographie. Die Freiheitsgrade der virtuellen Kamerabewegungen wurden beispielsweise so eingeschränkt, dass sie den klassischen Hollywoodkonventionen entsprechen: „We wanted the audience to respond to traditional dolly and crane movements, not to make them dizzy“60, kommentierte etwa Craig Good, verantwortlich für die Postproduktion bei Pixar Toy Story. Zooms, Tiefenschärfe und sogar die Effekte der Lichtbrechung auf einer (am Bildprozess gar nicht beteiligten) Kameralinse bei Gegenlicht werden in die Präsentation integriert. Die Drehbücher folgen nun eher Spielfilmkonventionen und nicht den oft episodisch aufgebauten, nach dem ‚Nummernprinzip‘ funktionierenden älteren 58 Vgl. Darley: „Second-order realism“, S. 18. 59 Kohlmann: Der computeranimierte Spielfilm, S. 89, vgl. zum folgenden 89ff. und 96ff., zur Figurenkonzeption im computergenerierten Familienfilm Eder: „SpielFiguren“, vgl. Furniss: Art in Motion, S. 183, 189; Manovich: „Reality effects“. Der bislang einzige computergenerierte Animationsfilm, der Spielfilmkonventionen folgt – Final Fantasy – war kein kommerzieller Erfolg und blieb bislang ein Einzelfall. 60 Zitiert nach Siebert: Flexible Figuren, S. 182.

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westlichen Trickfilmen.61 Selbstreflexive Filmszenen stellen zusätzlich einen Bezug zum Realfilm her: Der Film Monsters, Inc. etwa beginnt mit einer Sequenz, die sich nach einigen Augenblicken und nachdem die virtuelle Kamera zurückgefahren ist, als Szene in einem Übungssimulator entpuppt. Im Abspann sind ‚misslungene Szenen vom Dreh‘ zu sehen – die Monsterfiguren des Films vergessen ihren Text, fallen aus der Rolle, oder es ragt ein Mikrofon ins Bild. Ähnliche Episoden vom vermeintlichen ‚Drehen‘ des Films finden sich im Abspann der Märchenparodie Shrek. Die Gefahr einer Verwechslung der Bilder im computeranimierten Spielfilm mit fotografischen Bildern ist dennoch gering, denn die Produzenten nicht nur von Shrek behielten Stilisierungen bei, wo ‚realistischere‘ Darstellungsformen bereits technisch möglich gewesen wären.62 So legten sie Wert auf eine vereinfachte Mimik der menschlichen Protagonistin, um sie konsistenter in ein narratives Universum aus Monstern und karikaturhaft überzeichneten, sprechenden Tieren eingliedern zu können. An diesen Beispielen wird deutlich, dass digitale Bildbearbeitungs- und -generierungsmöglichkeiten sich an vorliegenden Bildtypen und gestalterischen Zielsetzungen (wie z.B. der Realisierung eines Genres) orientieren. Im Falle der amerikanischen Computeranimationsfilme seit Mitte der 1990er Jahre lagen fotografische Bildkonventionen quer zu den Spielregeln des Genres und beugten sich ihnen schließlich; die von Computer- und Softwareentwicklern und z.T. Kulturkritikern prophezeiten Tendenzen zum vollständigen Illusionismus haben sich nicht eingestellt. Die Ausstellung, Kombination und Verschmelzung von bildlichen Wahrnehmungsangeboten ganz unterschiedlicher Herkunft ist auch im zeitgleich boomenden sogenannten postklassischen Hollywoodkino unübersehbar: Je durchlässiger etablierte Genregrenzen werden, desto eher werden ästhetische und generische Mischangebote akzeptiert.63 Postklassisches Kino richtet sich an ein intensiv mediensozialisiertes Publikum und verwendet technische und formale Rafinessen, komplexe Narrationen, intertextuelle Verweise und intermediale Bezüge inzwischen selbst als Attraktionswerte. Filme wie Lola rennt, Memento, Kill Bill oder Adaptation bieten neben der Option, eine Erzählung zu verfolgen, den Genuss von hochstilisierten Bildern und zu Musik choreographierten Körperbewegungen an. Außerdem finden zunehmend Spielformen, die aus Computerspielen bekannt sind (das Rundenprinzip, Neustarts, Parallel- und Alternativerzählungen) Eingang in die Filmerzählung und bedingen ihrerseits andere, oft als ‚cartoonhaft‘ kritisierte Figurenkonzep-

61 Vgl. ebd., S. 180-82. 62 Vgl. Eder: „Spiel-Figuren“, S. 284-287. Zu Anspielungen auf Realfilme und zu den ‚Outtakes‘ Siebert: Flexible Figuren, S. 181, 183f. 63 Vgl. Leschke/Venus: „Spiele und Formen“, S. 8f.

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tionen.64 Bildästhetisch entspricht diesen Tendenzen der in den 1990er Jahren häufig zu beobachtende Rückgriff auf Stoffe und Bildlichkeit von Comics (Spiderman, Sin City, A Scanner Darkly). Auch das Zitieren von japanischen Anime und chinesischen Martial Arts-Filmen (die Matrix-Trilogie, Kill Bill), die wachsende Popularität von Mischfilmen (Who Framed Roger Rabbit?) und reinen Animationsfilmen, welche die Cartoonästhetik Disneys durch ‚realistischere‘ Figurengestaltungen ersetzen (Renaissance, Persepolis), sprechen für diesen Trend. In diesem Kontext sollte auch das oft diskutierte ‚Kino der (digitalen) Spezialeffekte‘ gesehen werden: Drei Viertel aller amerikanischen Spielfilme, so schätzte Maureen Furniss, wurden bereits 1998 mit digitalen Spezialeffekten hergestellt. An sich ist das nichts Neues, denn mit Effekten, die sich nahtlos in die Optik des fotografierten Bildes einfügen, wurde im Kino schon immer gearbeitet. Geändert hat sich jedoch grundlegend ihre Kontextualisierung. In Blockbustern wie Jurassic Park und Titanic wurden Spezialeffekte eigens als Schauwerte inszeniert. Ging es den Hollywood-Studios früher darum, den Produktionsprozess vor allem der Spezialeffekte zu verschleiern, wird die Machart nun in Paratexten erklärt und das Publikum zu Experten für die Tricks trainiert.65 Eine solche Rezeptionsweise entspricht durchaus der Wahrnehmungshaltung, die von Animationsfilmen herausgefordert wird, und Animation kann insofern tatsächlich Modell für zeitgenössische Kinotendenzen stehen: Limited animation […] shaped a new kind of viewing and consuming, one that entails scanning, re-reading, searching information, discerning technical innovation and so forth. […]anime generated a viewer that was very much like the experience of informatization itself. And thus I think it is no coincidence that anime emerged, and is still emerging, into the global market in conjunction with the new economies of globalization and informatization.66 Mit der Verfügbarkeit neuer technischer Möglichkeiten um 2000 werden ästhetische Veränderungen daher zwar zu Optionen; wie sie realisiert werden, ist allerdings nicht durch die Digitaltechnik determiniert. Dies lässt sich durch einen (freilich nur selektiven) Blick auf einige neuere, auch international bekannte japanische Animationsfilmproduktionen bestätigen.

64 Vgl. Glaubitz: „Reanimationsversuche“, S. 55, 59ff. 65 Vgl. Gehr: „Alter Wein in neuen Schläuchen“, S. 15; Kreimeier: „Alte Bilder – neue Bilder“, S. 199. 66 Lamarre: „From animation to anime“, S. 337. Vgl. zu einer ähnlichen Einschätzung Jameson: Postmodernism, S. 77.

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Anime

Digitaltechnologien blieben in Japan nicht ohne Auswirkungen auf die Ästhetik der Anime, obwohl sie, da sie sehr kostspielig sind, für die Mehrzahl der (Serien-)Produktionen nur in eingeschränktem Maße zur Verfügung standen. Viele Animationsstudios arbeiten als Familienbetriebe und verwenden noch immer traditionelle, handgezeichnete und -kolorierte Folienanimation.67 Der Anime-Stil, der sich in den 1980er Jahren herausgebildet hat und nach wie vor mit flach wirkenden, relativ detailarmen Figuren vor räumlich wirkenden Hintergründen arbeitet, hat sich insgesamt nicht wesentlich verändert. Das hängt unter anderem auch damit zusammen, dass japanische Anime seit den frühen 1990er Jahren eine etablierte Marke auf dem europäischen und amerikanischen Markt waren. In den USA wird die Bezeichnung japanimation bereits als Synonym für Anime verwendet und mit den entsprechenden Zeichenstilen, einer im Unterschied zu westlichen Filmangeboten für vergleichbare Zielgruppen größeren Toleranz für die Darstellung von Gewalt und Sexualität und schließlich mit langen, stärker auf Figurencharakterisierung und Atmosphäre abhebenden Erzählbögen ohne obligatorische Gut/Böse-Differenzen und HappyEnds assoziiert.68 Insofern ist es kaum verwunderlich, dass die bloße ‚Andersheit‘ von Anime69 auf einem transnationalen Medienmarkt attraktiv erscheint: Dieser Markt zeichnet sich inzwischen keinesfalls nur durch die Standardisierung oder Amerikanisierung von Medienangeboten aus, sondern durch das Management und die ‚Formatierung‘ lokaler kultureller Differenzen.70 Sowohl exotistische Faszinationsmuster als auch ein geschicktes Abtasten potentieller Märkte für ‚neutrale‘ wie auch für distinkt japanisch anmutende Produkte, die der Medienforscher Koichi Iwabuchi beschreibt, tragen zum transnationalen Erfolg von Anime bei.71 Auch höher finanzierte und in Kooperation mit westlichen Firmen produzierte Filme wie Mamoru Oshiis Ghost in the Shell (1995) und Ghost in the

67 Vgl. Levi: „New Myths for the Millennium“, S. 48. 68 Vgl. Craig: „Introduction“, S. 12ff.; Nieder: Die Filme von Hayao Miyazaki, S. 14. 69 Vgl. Bichler: Anime sind anders, Craig: „Introduction“, S. 16; Székely: Manga und Anime. 70 Iwabuchi: Recentering Globalization, S. 43, 153. 71 Vgl. Iwabuchi: Recentering Globalization, S. 5ff., 53f, 95. Das Fehlen einer distinkt japanischen Anmutung trug z.B. zum Erfolg der Kinderzeichentrickserie Heidi aus den 1970er Jahren bei. – Patrick Drazen hält Anime für direkte Reflexionen einer Nationalkultur: „Anime are, after all, Japan talking directly to itself, reinforcing its cultural myths and preferred mode of behavior“ (Drazen: Anime Explosion, S. viii.).

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Shell 2: Innocence (2004) oder die Filme von Hayao Miyazaki behielten die zeichnerischen Bildformen weitgehend bei, obwohl sie mit massivem Einsatz digitaler Technologien realisiert wurden.

Abb. 1: Fließende Masse, computerberechnet, in Chihiros Reise ins Zauberland.

In Prinzessin Mononoke (1997) sind nur etwa zehn Prozent der insgesamt 144.000 Einzelbilder digital bearbeitet, gezeichnet, koloriert, geschnitten und mit Spezialeffekten versehen worden; in Chihiros Reise ins Zauberland (2002), seinem nächsten Film, setzte Miyazaki Computergrafik flächendeckend ein. Die key frames, wichtige und aussagekräftige Einzelbilder innerhalb einzelner Sequenzen, wurden zwar noch von Hand gezeichnet und zum Teil auch koloriert, doch die Berechnung von Bewegungszwischenphasen, z.B. in der Sequenz mit einem Flussgott (Abb. 1), übernahmen Computer. Alle Bilder wurden aber anschließend eingescannt, nachbearbeitet, neu zusammengefügt und ebenfalls mit Spezialeffekten wie z.B. Spiegelungen, Mustern und Oberflächenstrukturen versehen (vgl. Abb. 2).

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Abb. 2: Texturen und Muster auf Gefäßen, Chihiros Reise ins Zauberland.

Das sogenannte compositing, das Zusammenfügen gezeichneter und errechneter Bilder, hat Räumlichkeitseffekte durch imitierte ‚Kameraschwenks‘ und ‚Fahrten‘ ermöglicht, und auch Spiegelungen und Texturen konnten sehr viel detaillierter dargestellt werden. Die Darstellung eines Zuges, der in Chihiro über kurz unter einer reflektierenden, weiten Wasserfläche liegenden Schienen fährt (Abb. 3), wäre in traditioneller Folienanimation extrem aufwendig gewesen. Auch die Bootsfahrten in Ghost in the Shell und Ghost in the Shell 2: Innocence (2004), in denen sich die Perspektive auf umliegende Gebäude und einen farbenprächtigen Festumzug ständig verschieben, hätten sich in traditioneller Animation kaum realisieren lassen (Abb. 4). Eine zu starke Entfernung vom Zeichnerischen suchte Miyazaki allerdings zu vermeiden. Digitale Bildbearbeitung und tendenziell fotorealistische Gestaltungsweisen sollten nur in dem Maße Eingang in Anime finden, als das Zeichnerische des Bildeindrucks gewahrt bleibe.72 Yoshinori Sugano, ehemaliger Computergrafikexperte in Miyazakis Animationsfilmstudio Studio Ghibli, berichtet von der Produktion von Prinzessin Mononoke, wie sein Team sich um die Entwicklung und Beschaffung von Software bemühte, die eine nahtlose Integration gezeichneter und digital generierter Bilder erlaubte. Er sprach sich dafür aus, digitale Technologien so einzusetzen und weiterzuentwickeln, dass sie den expressiven Charakter von Zeichnungen für Anime beibehalten können. Fotorealistische Animationsfilme seien nicht imstande, die Phantasie der Betrachter entsprechend zu stimulieren.73 72 Vgl. Nieder: Die Filme von Hayao Miyazaki, S. 87. 73 Vgl. Cavallaro: The Animé Art of Hayao Miyazaki, S. 126ff. Zu einer detaillierten Auflistung der Techniken, die in Mononoke verwendet wurden Sugano: „Manga

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Abb. 3: Spiegelungen, in Chihiros Reise ins Zauberland.

Abb. 4: Ghost in the Shell 2: Innocence.

Bildregisseur Atsushi Okui betonte, auch in Chihiro sei das Ziel gewesen, die Computergrafik so unauffällig wie möglich einzusetzen und den bewährten Zeichenstil des Studios nicht zu verändern.74 Die bereits bekannten Argumenand Non-Photorealistic Rendering“, S. 65f. Vgl. das Interview mit Oshii auf der deutschen Ausgabe der DVD von Ghost in the Shell; zu Anno vgl. Grassmuck: „Osu, ugoku, oreshii“ S. 431; Maas zufolge („Die Welt als Zeichentrick“, S. 303) gibt es dezidiert keinen Trend zum Fotorealismus; Lamarre nimmt sogar eine verstärkte Tendenz zur Stilisierung wahr („From animation to anime“, S. 346). 74 Vgl. Cavallaro: The Animé Art of Hayao Miyazaki, S. 143.

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te für die Besonderheit (und sogar Überlegenheit) zeichnerischer Bildformen wurden also erneut bemüht, um die fotorealistischen Optionen, welche Digitaltechnologien bieten, auszuschließen. Ließ sich bei den amerikanischen, fotorealistisch generierten Animationen eine deutliche Festlegung auf das Cartoongenre beobachten, das Figurenkonzeptionen und Themenwahl recht enge Grenzen setzte, können japanische digitalisierte Anime auf die etablierte Vielfalt an Genres und Themen zurückgreifen. Miyazakis Filme lassen sich aufgrund ihrer Adressierung von Kindern durchaus mit Filmen wie Toy Story, Monster AG oder Ratatouille vergleichen. Anstelle der vergnüglichen Abenteuergeschichten über Außenseiter, denen es durch Teamwork gelingt, ihre Träume zu realisieren, fokussiert Miyazaki in fantastisch-surrealen Settings kindlich-jugendliche Reifungsprozesse mit allen ihren beängstigenden Seiten. Der vorübergehende Verlust ihrer Eltern, die Notwendigkeit, sich arbeitend selbst versorgen und die Verhaltensregeln ihrer neuen Umgebung lernen zu müssen, ist für Chihiro eine schmerzliche Erfahrung. Wie in Prinzessin Mononoke sind Figuren (wie die Hexe Yubaba oder der schwarze Schatten Kaonashi) nicht eindeutig als Antagonisten oder Helfer definiert. Sie wechseln ihre Gestalt und ihre Rolle, so dass der Protagonistin nur das situationsbezogene Umgehen mit wechselnden Allianzen übrig bleibt. Miyazaki thematisiert in beiden Filmen auch Probleme der Modernisierung: in Prinzessin Mononoke sind es Industrialisierung und Umweltzerstörung, welche die z.T. an shintoistische Gottheiten angelehnten Wald- und Tiergötter bedrohen – diese sind aber selbst nicht ungefährlich und können keine moralische Überlegenheit beanspruchen. Auch hier geht es um das Handhaben von Übergängen und Schwellen, wie die weibliche Hauptfigur San zeigt: Als Mensch, der von Wölfen aufgezogen wurde, sympathisiert sie mit der Tier- wie mit der Menschenwelt und muss einsehen, dass sie keiner ganz gerecht werden kann. Thomas Lamarres Beobachtung, Anime seien in der japanischen Diskussion mit postmodernen, posthumanen und postnationalen Individualitätsmodellen sowie digitalen Medien in Verbindung gebracht worden,75 verweist auf ähnliche narrative Trends in anderen Filmen. Grenz- oder Schwellenphänomene zwischen Menschlichem und Technisch-Medialem werden in Anime, die dem Science Fiction/Cyberpunk-Genre zuzurechnen sind, anders behandelt als in vergleichbaren westlichen Produktionen. Hier stehen die pragmatischen und ethischen Aspekte des Umgangs mit (digitalen) Technologien und vor allem mit biotechnologischen Apparaturen im Mittelpunkt, nicht ihre Existenz an sich. Diese Schwerpunktsetzung unterscheidet einige erfolgreiche Anime von resonanzträchtigen Technik-Erzählungen wie z.B. The Matrix und anderen amerikanischen Spielfilmen. 75 Lamarre: „Introduction“, S. 185; ders.: „From animation to anime“, S. 387f.

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Wie in The Matrix wird in den beiden Teilen von Ghost in the Shell (1996, 2004) digitale Bildbearbeitung häufig eingesetzt. Sie dient vor allem dazu, die für die Handlungen zentralen Visualisierungstechnologien (Infrarotbrillen, dreidimensionale Displays, Scanner, Tarnkappen, vgl. Abb. 5) darzustellen.

Abb. 5: Figuren und 3-D-Display, Ghost in the Shell 2: Innocence.

Die aufwendig gestalteten Hintergründe wirken annähernd fotorealistisch, und ‚Kameraschwenks‘ sind als Resultate digitaler Bearbeitung zu erkennen. Die Gesichter der Figuren und ihre Körper bleiben jedoch einer zeichnerischen Ästhetik verpflichtet. Das eröffnet Oshii einen größeren Spielraum, um buchstäblich mit Körper- und Menschenbildern zu experimentieren. Die Frage, ob und wie sich menschliche und künstliche Intelligenz, künstliches Leben und technisch aufgerüstete Körper differenzieren lassen, steht in beiden Filmen im Mittelpunkt. Die Protagonisten sind Cyborgs und technisch aufgerüstete Menschen, die mit nicht veränderten Menschen zusammenarbeiten und am Rande der aktionsreichen Handlungen ausführlich die Problematik vernetzter Identitäten und persönlicher Identität erörtern. Die starke Rhythmisierung des Films durch abrupte Wechsel zwischen aktionsreichen Sequenzen und langen, nur musikalisch untermalten und visuell attraktiven Szenen oder ausführlichen Dialogen ist neben der Vorspanngestaltung in das Design von The Matrix eingeflossen. In Ghost in the Shell 2: Innocence tritt eine Figur auf, die denselben Namen trägt wie die amerikanische Cyborg-Theoretikerin Donna Haraway. Diese Figur weist jeden Versuch ihres menschlichen Gesprächspartners, eines Polizisten, zurück, kybernetische Maschinen und Menschen nach ontologischen Kriterien zu differenzieren – es komme allein darauf an, ob sich so etwas wie Sozialität herstellen lasse (Abb. 6, 7).

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Abb. 6: Cyborgs und Mensch (ganz rechts), Ghost in the Shell 2: Innocence.

Abb. 7: Der Cyborg Ms. Haraway, Ghost in the Shell 2: Innocence.

Im Klassiker des Roboter- und Cyborg-Genres, Ridley Scotts Blade Runner (1982) ist zwar die problematische Integration von Cyborgs in die menschliche Gesellschaft das Ausgangsproblem, die Handlung findet ihren Höhepunkt aber in einer Konfrontation des körperlich und geistig perfekten Cyborgs mit seinem ‚Schöpfer‘ bzw. Konstrukteur. Parallelen zur christlichen Schöpfungsgeschichte werden explizit gemacht. Auch in einer neueren Behandlung des Themas, Steven Spielbergs A.I. (Artificial Intelligence), ist eine solche Konfrontation zentral und legt nahe, dass die grundlegende Andersheit – Konstruiertheit – des künstlichen Wesens das Kernproblem ist, nicht seine gescheiterte Akzeptanz seitens der Gesellschaft.

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Bei Oshii dagegen konstituiert sich Individualität auf der narrativen Ebene als Effekt eines sozialen Austauschprozesses, in dem ganz selbstverständlich auch Datensätze, Computer, Waffen, Tiere und Gegenstände als gleichberechtigte Aktanten gelten.76 Solche Konzepte von Mensch-Maschine-Verhältnissen trugen zum Erfolg des Films außerhalb Japans bei, ebenso wie die suggestive bildliche Gestaltung. Auf der Bildebene sind ausnahmslos alle wichtigen Aktanten von augenfälliger Künstlichkeit und Gemachtheit – sie sind gezeichnet oder sehen so aus. Im Modus des Zeichentricks verwischt sich der Unterschied zwischen menschlichen, technisch aufgerüsteten und gänzlich maschinenhaften Akteuren. Die Frage, was persönliche Identität und Menschsein konstituiert, ist auf der bildlichen Ebene noch nicht vorentschieden. Hier spielen zeichnerische Bilder tatsächlich das Potential aus, Reflexionen über Schwellenphänomene des Menschlichen auf relativ abstrakte Weise zu visualisieren und sie zugleich emotional packend zu konkretisieren. Manovichs These, dass sich Kinofilme gegenwärtig sinnvoll als Animation oder als digitale Malerei beschreiben lassen, deutet also in die richtige Richtung: Die Zuschreibungen, die Fotografie als indexikalischen Bildtypus etabliert haben und den Spielfilm auf das Problem der Erzählbarkeit und Repräsentation von Welt festlegten, treten im Kino der 1990er Jahre in den Hintergrund. Das Interesse an der Präsentationsweise gewinnt dagegen an Bedeutung. Hier lassen sich durchaus Parallelen zu den Parametern der Wertschätzung von Malerei in der europäischen Tradition finden, in der ‚bloße Abbildhaftigkeit‘ niemals erwünscht war. Betrachtet man die Wahrnehmungshaltung, die durch postklassisches Kino und japanische Animationsfilme strukturiert wird, dann erweist sich Animation als geeigneter Begriff für die Beschreibung der Kinoentwicklungen in den 1990er Jahren:77 Animationsfilme sind seit den 1920er und 1930er Jahren als Phänomene angesprochen worden, die aufgrund der Selbstbezüglichkeit ihrer Bilder und aufgrund ihrer Auseinandersetzung mit ihrer Materialität Kunstpotential zu haben schienen. Dass sie dieses Potential in der Gestaltung der Figurenkonstellationen und in der Wahl ihrer Themen nicht realisierten, bleibt auch für die gegenwärtige Konjunktur der Animationsfilmdiskurse ein Problem. Dennoch wird der Abstand zwischen dem reflexiven und imaginationsverstärkenden Potential, das dieser Bildform zugeschrieben wird, und den konkreten Exemplaren immer wieder von neuem ver-

76 Dass im Unterschied zu Blade Runner in Ghost in the Shell das Menschliche nicht von vornherein das Maß für die Wünsche, Träume und Handlungen der Cyborgs abgibt, hat Susan Napier hervorgehoben. Vgl. Napier: Anime from Akira to Princess Mononoke, S. 107, 113. 77 Vgl. Driscoll: “From kino-eye to anime-eye/ai“, S. 270.

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messen – was zumindest von der fortdauernden Attraktivität dieser Bildform zeugt.

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Kill Bill I (USA 2003, Regie: Quentin Tarantino) Kimba der weiße Löwe/Janguru Taitei (Japan 1965, TV-Serie, Regie: Osamu Tezuka) Lola rennt (Deutschland 1998, Regie: Tom Tykwer) Madagascar (USA 2005, Regie: Eric Darnell, Tom McGrath) Monsters, Inc. (USA 2001, Regie: Pete Docter, David Silverman) Persepolis (Frankreich 2007, Regie: Vincent Paronnaud, Marjane Satrapi) Prinzessin Mononoke (Japan 1997, Regie: Hayao Miyazaki) Ratatouille (USA 2007, Regie: Brad Bird) Renaissance (Frankreich 2006, Regie: Christian Volckman) Shrek (USA 2001, Regie: Andrew Adamson, Vickie Jenson) Shrek 2 (USA 2004, Regie: Andrew Adamson, Kelly Asbury) Sin City (USA 2005, Regie: Frank Miller, Robert Rodriguez, Quentin Tarantino) Spiderman (USA 2002, Regie: Sam Raimi) Star Trek: The Wrath of Khan (USA 1982, Regie: Nicholas Meyer) The Adventures of André and Wally B. (USA 1984, Regie: Alvy Ray Smith) The Incredibles (USA 2004, Regie: Brad Bird) The Matrix (USA 1999, Regie: Andy und Larry Wachowski) Titanic (USA 1997, Regie: James Cameron) Toy Story (USA 1995, Regie: John Lasseter) Who Framed Roger Rabbit (USA 1989, Regie: Robert Zemeckis)

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Yuko Mitsuishi

Densha Otoko und die ‚Wa(h)re Liebe‘ 1

Densha Otoko

Im Oktober 2004 erschien in Japan ein Buch im Shinchosha-Verlag mit dem Titel Densha Otoko (Train Man), von dem im Dezember desselben Jahres ca. 500.000 Exemplare, im Juni des folgenden Jahres ca. 1.015.000 Exemplare verkauft wurden. Die Besonderheit dieses Buches besteht darin, dass es angeblich eine aus Eintragungen im Webforum Ni-Channel entwickelte Liebesgeschichte ist. Auf dem Schutzumschlag des Buches kann man lesen: „Die stärkste Geschichte der wahren Liebe aus diesem Jahrhundert ist erschienen.“1 Die Geschichte beginnt mit dem Eintrag Nr. 731 vom 14. März 2004 um 21 Uhr 55 auf einem thread. Der Schreiber berichtet in dem Eintrag Nr. 749, dass er auf der Rückfahrt von Akihabara in der Bahn einer jungen Frau, die von einem Betrunkenen belästigt wurde, geholfen hat. Dieses Ereignis beschreibt er auf dem thread ausführlich, weil es für einen so schüchternen Menschen wie ihn eine ganz besondere Tat war – wohl auch deshalb, weil sich zum ersten Mal in seinem Leben eine Frau bei ihm bedankt hat und weil es ihn dazu inspiriert, auf eine Beziehung mit einer Frau zu hoffen. Als die anderen Teilnehmer des threads seinen Eintrag lesen, denken sie alle î und auch er selbst î, dass diese Tat zwar mutig und lobenswert war, dass aber diese kleine aufregende Geschichte damit auch schon beendet sei. Zwei Tage später erhält er von der jungen Frau zwei Hermès-Tassen mit einem Dankesbrief. Durch seinen erneuten Eintrag auf dem thread, in dem er von dem Geschenk berichtet, wird nun die Neugierde bei vielen Teilnehmern geweckt, und die Diskussion im thread erfährt eine Wendung, hin zu einer Unterstützung des Eintrags Nr. 731. Die junge Frau wird ab diesem Zeitpunkt nach den von ihr geschenkten Tassen von den Teilnehmern als ‚Hermes‘ bezeichnet und er, der bisher den Eintrag Nr. 731 als Identifikationszeichen benutzt hat, wird nun als ‚Densha‘ oder ‚Densha Otoko‘ bezeichnet, weil der Ausgangspunkt seines Erlebnisses die Bahn war. Später benutzt er sogar selbst ‚Densha Otoko‘ als seinen festen Namen (handle name) im thread.2

1

Densha Otoko – The story of the Train Man who fell in love with the girl, Hermes.

2

Vgl. Wikipedia: Densha Otoko, http://ja.wikipedia.org/wiki/%E9%9B%BB% E8%BB%8A%E7%94%B7, 25.03.2008.

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Yuko Mitsuishi | Densha Otoko und die ‚Wa(h)re Liebe‘

In diesem Webforum ist es eigentlich üblich, sich als ‚namenlos‘ zu bezeichnen. ‚Namenlos‘ bedeutet mehr als anonym. Denn es ist kein Pseudonym, da fast alle Teilnehmer diese Bezeichnung verwenden und deshalb die einzelnen Beiträge nicht bestimmten Personen zugeordnet werden können. Das wieder bedeutet, dass jeder Einzelbeitrag in der Masse aller anderen Beiträge aufgeht und gleichzeitig Baustein dieser Masse ist. Da die Einträge aber nummeriert sind, können die Leser je nach Bedarf auf einen bestimmten Eintrag Bezug nehmen, und falls der Absender es möchte, kann er sich auch zu erkennen geben. Im Falle des Densha Otoko wurde den Beteiligten aus praktischen Gründen ein fester handle name gegeben. Die Handlung wird also durch den regelmäßigen Eintragungswechsel zwischen der identifizierbaren Figur Densha Otoko und den vielen nicht-identifizierbaren ‚Namenlosen‘ rhythmisiert. Densha Otoko trägt seine Gespräche, Mailwechsel und Erlebnisse mit Hermes immer sofort in den thread ein und bittet um Rat, worüber und wie er mit Hermes kommunizieren sollte. Seine Unbeholfenheit weckt bei vielen Teilnehmern Sympathie, deshalb genießt er ihre Unterstützung und wohlgemeinten Ratschläge. Sie ermutigen ihn so lange, bis er am 8. Mai 2004 Hermes seine Liebe gesteht und ihr einige Tage später alle die Original-threads zeigt, in denen der Eintragungswechsel zwischen Densha Otoko und den anderen thread-Teilnehmern stattgefunden hat. Hier endet nun die editierte Fassung, auf der alle Medien-Versionen basieren. Densha Otoko kämpft mit seinem Minderwertigkeitskomplex, der daraus resultiert, dass er ein otaku ist und sein Lebensalter der freundinlosen Zeit entspricht. Er versucht im Laufe dieser zwei Monate mit der Unterstützung der vielen ‚Namenlosen‘, sich dem Niveau von Hermes anzupassen, d.h. sich den Normen der japanischen Gesellschaft zu fügen und seine Bestimmung als otaku zu relativieren. Die Hauptereignisse und die damit verbundenen Bemühungen und (Selbst-)Überwindungen von Densha Otoko werden im Folgenden tabellarisch aufgeführt: 14.03.2004 Der erste Eintrag von Densha Otoko. Er berichtet von seiner ‚Heldentat‘. 16.03.2004 Densha Otoko erhält von Hermes zwei Tassen. Densha Otoko führt sein erstes Telefonat mit Hermes und verabredet sich mit ihr zum Essen. Den Ratschlägen der thread-Teilnehmer folgend, kauft Densha Otoko modebewusst Kleidung und Schuhe ein, lässt sich in einem Friseursalon zurechtmachen und trägt von nun an statt einer Brille Kontaktlinsen. Densha Otoko bereitet sich für die Verabredung vor, indem er sowohl das Lokal sorgfältig auswählt als auch die Speisekarte gründlich studiert. Denn er ist selten zuvor ausgegangen

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und kennt sich daher in solchen Angelegenheiten nicht aus. Er beschäftigt sich auch damit, aktuelle Gesprächsthemen und Redeweisen anzueignen. 27.03.2004 Das erste Rendezvous mit Hermes. Nach diesem Rendezvous telefoniert er mit ihr und vereinbart einen zweiten Termin. Densha Otoko kleidet sich dafür neu ein und übt sich in europäischen Tischmanieren. 03.04.2004 Das zweite Rendezvous mit Hermes, die von einer Freundin begleitet wird. 17.04.2004 Densha Otoko erfährt, dass Hermes in der Bahn belästigt wurde. Er begleitet sie nach dem dritten Rendezvous nach Hause. 18.04.2004 Das vierte Rendezvous. Hermes lädt Densha Otoko zu sich ein. Die beiden trinken Benoist-Tee in den geschenkten Hermès-Tassen. Vor dem entscheidenden Tag, an dem Densha Otoko Hermes seine Liebe gesteht, werden alle erdenklichen Umstände mit Hilfe der thread-Teilnehmer bis ins genaueste Detail vorbereitet, von der Kleidung über den Tagesablauf bis zu den Worten, die er in bestimmten Situationen sagen soll. Er räumt sein Zimmer auf, das heißt, er verschenkt viele Dinge, die einen otaku typischerweise auszeichnen, wie Poster und Figuren, oder wirft sie weg. 08.05.2004 Das fünfte Rendezvous. Sie suchen zusammen einen PC für Hermes aus und gehen dann in einen Stadtpark, wo Densha Otoko ihr seine Liebe gesteht. 15.05.2004 Densha Otoko meldet sich wieder im dem thread und berichtet darüber, dass er Hermes alle Original-Eintragungen in dem thread gezeigt hat. Bereits ein halbes Jahr nach der Buchausgabe gab es eine Flut unterschiedlicher Medialisierungen des ‚Densha Otoko‘: als Manga, Film, Fernsehserie, Theaterstück, Lesung, Porno-Video, Hörbuch und Taschenbuch.3 Die Medialisierung dieser Ge3

Manga-Versionen erschienen im März 2005 (Watanabe: Densha Otoko – Trotzdem reise ich ab), Juni 2005 (Ocha: Densha Otoko – Eine Liebesgeschichte zwischen einer Schönen und einem naiven Otaku aus dem Internet, Hara: Densha Otoko – Abfahrt Internet, Liebesgeschichte einer Lokalbahn), Juli 2005 (Hashimoto: Densha Otoko) und Juni 2005 (Douke: Densha Otoko – Toi, toi, toi Dokuo!). Ein Film von Masanori Murakami wurde im Juni 2005 uraufgeführt, eine

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schichte ist üblicherweise mit urheberrechtlichen Fragen und Nutzungsgebühren verbunden. Da das Buch aber keinen Autor hat, werden die gesamten Einnahmen dem Roten Kreuz gespendet. In Deutschland erschien die Buchversion im August 2007 beim Hansa-Verlag. Die Manga-Ausgabe des Zeichners Hara Hidenori4 wurde von Juni bis Dezember 2007 in insgesamt drei Bänden von Carlsen Comics veröffentlicht. Das Buch wurde inzwischen auch in Taiwan, China, Korea, England und Italien in die jeweilige Landessprache übersetzt und publiziert – nicht zu verkennen ist dabei das intensive internationale Interesse an japanischer (Sub-)Kultur. In diesem Beitrag sollen aber insbesondere die Eintragungen auf dem thread und die Buchform, rückblickend auf die japanische Kulturszene um 2004/05, analysiert werden, denn in dieser Phase haben unübersehbare Manipulationen des Internet-Geschehens stattgefunden. Erst diese Manipulationen konstruierten die inszenierte Geschichte von Densha Otoko zu einer Geschichte über die ‚wahre Liebe‘ und verkauften es als die ‚Ware Liebe‘ den japanischen Medien.

2

„Die Männer werden von hinten abgeschossen“: Thread auf Ni-Channel und die Zusammenfassung der Handlung von Naka no Hito

Als der thread „Die Männer werden von hinten abgeschossen î Holt die Sanitätssoldaten“5 auf der Plattform des Webforums Ni-Channel für männliche otaku-Singles (genannt dokuo-ita, d.h. Giftmänner-Plattform) eingerichtet wurde, gab es im wesentlichen zwei Hauptintentionen: Zum einen wollten die Teilnehmer der Plattform durch die Eintragungen verschiedener Liebschafts11-teilige Fernsehserie lief von Juli bis September 2005, mit einer Zusatzsendung im Oktober 2005. Als Theaterstück wurde Densha Otoko vom 5. bis 27. August 2005 Tokyo und bis 11. September 2005 in Osaka, Nagoya, Sendai, Kitakyushu und Nagasaki mit jeweils einer Aufführung gespielt. Eine Lesung des ersten Teils fand vom 12. bis 14. März 2005 in Tokyo-Shinjuku statt, der zweite Teil wurde am 9. Mai 2005 in Tokyo-Marunouchi gelesen. Film, Fernsehserie und Lesung sind auch auf DVD erhältlich. Ein Pornovideo von Hitoshi Nimura erschien im Juli 2005 (Kuss und Sex des Densha Otoko), als Hörbuch kam Densha Otoko im September 2005 und als Taschenbuch im Dezember 2006 auf den Markt. 4

In dieser Manga-Adaption wird „Densha Otoko“ der Name „Tsuyoshi“ gegeben, obwohl er in der japanischen Ausgabe keinen anderen Namen als „Densha Otoko“ oder „Densha“ hat. In der Adaption von Ocha Machiko heißt „Densha Otoko“ „Saiki Ikumi“ und „Hermes“ „Kohinata Mai“.

5

Der thread „Die Männer werden von hinten abgeschossen“ wurde am 6.03.2004 eingerichtet.

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verläufe aus dem Liebespaar-Forum, die sie auf ihrem thread kopieren und einfügen konnten, sich gegenseitig in ihren Depressionen bestärken. Sie selbst hatten nämlich keine Hoffnung auf eine Liebesbeziehung. Zum anderen sollten die Teilnehmer, die sich auf eine Liebesaffäre eingelassen haben, über ihre eigenen Erfahrungen in Echtzeit berichten. Somit hatten die anderen Teilnehmer die Möglichkeit, ihre quälenden Vorstellungen, die durch diese Eintragungen verstärkt zum Ausdruck kamen, noch intensiver zu erleben. Ungefähr zur selben Zeit, als Densha Otoko seine Erlebnisse und Sorgen in diesen thread eintrug, gab es noch neun andere Protagonisten, die eine Liebschaft in den threads der dokuo-Plattform veröffentlichten. Drei von ihnen waren bei ihrer ‚Mission‘ gescheitert und sechs wurden von den Teilnehmern der Plattform als ‚Götter‘ angebetet, weil sie erfolgreich waren.6 Die ‚Götter‘ berichteten bis auf Densha Otoko und einen weiteren Schreiber von ihrem ersten Sexualverkehr mit der neuen Freundin. Dies bedeutet, dass es auf dieser Plattform eigentlich üblich war, über seine diesbezüglichen Erfahrungen zu berichten, um auf die anderen Teilnehmer zu provozieren. Die ‚Helden‘, egal ob sie erfolgreich waren oder nicht, müssen dann den thread verlassen, oder zumindest künftige Eintragungen unter ihrem handle name unterlassen und so tun, als hätten sie nichts mehr mit der Plattform zu tun. Denn auch der wegen seiner scheinbaren Verwahrlosung berühmt-berüchtigte Ni-Channel hat doch einige wichtige Spielregeln. Eine von ihnen ist, dass die Inhalte der Eintragungen dem Titel des threads entsprechen müssen. Im Falle dieser Plattform heißt das also, dass nur otaku-Männer und darüber hinaus nur diejenigen, die keine Partnerin haben, in dem thread Einträge vornehmen dürfen. Die Protagonisten haben nur so lange das Recht, hier einzutragen, wie sie über die Entwicklung ihrer Liebesaffäre berichten. Sobald eine feste Beziehung entstanden ist, verlieren sie dieses Recht, denn sie sind kein dokuo mehr. Am 15. März 2004 wurde zum ersten Mal der Name ‚Densha Otoko‘ auf der Website von Naka no Hito erwähnt, auf der die Zusammenfassungen der interessantesten threads der dokuo-Plattform aufgeführt werden. Die Website kann nicht nur von den Teilnehmern eines threads, sondern von allen, die sich dafür interessieren, gelesen werden, auch wenn sie mit dem Ni-Channel sonst nichts zu tun haben. Es kommt daher öfters vor, dass jemand, der noch nie in seinem Leben im originalen Ni-Channel gewesen ist, durch diese auf Zusammenfassungen spezialisierten Websites viele Ereignisse kennt, die innerhalb des Ni-Channels ablaufen. Bei Naka no Hito handelt es sich um ehrenamtliche Mit6

Vgl. Naka no Hito, „Die Männer werden von hinten abgeschossen – Holt die Sanitätssoldaten!“ Zusammenfassung der von Naka no Hito ausgewählten Eintragungen auf verschiedenen threads der dokuo-Plattform: http://www. geocities. co.jp/Milkyway-Aquarius/7075.

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arbeiter, die die Zusammenfassungen dieser interessanten threads erstellen. Da man diese Ereignisse auf der Website kostenlos lesen kann, glaubte Naka no Hito selbst nicht, der für die Zusammenfassung dieser Plattform zuständig ist, dass sich das Buch Densha Otoko so gut verkaufen ließe.7 Nachdem Densha Otoko als Zusammenfassung auf der Website zu lesen war, nahm nach und nach die Teilnehmerzahl in jenem thread, in dem Densha Otoko seine Eintragungen machte, zu. Das Motto ‚Wir unterstützen Densha Otoko in seiner Liebe‘ wurde von den Teilnehmern immer entschiedener propagiert. Vielen neuen Teilnehmern aber, unter ihnen auch einigen weiblichen Teilnehmern, war nicht bewusst genug, dass dieser thread für dokuo bestimmt war. So störten sie mit ihren Eintragungen die ursprünglichen Teilnehmer des threads. Das führte dazu, dass einige kleinere Auseinandersetzungen zwischen neuen und ursprünglichen Teilnehmern entstanden. Diese Auseinandersetzungen, so wie die meisten heftigen Diskussionen über Densha Otokos Verhalten, sind natürlich nicht auf der Website der Zusammenfassungen zu lesen, da sie keinen inhaltlichen Zusammenhang mit der Liebesgeschichte von Densha Otoko aufweisen. Dies zeigt zum einen deutlich, dass die Stimmung im thread nicht immer so harmonisch war, wie die Zusammenfassungen suggerierten. Zum anderen ist zu erwähnen, dass einige Teilnehmer, die später dazukamen, sich nicht bewusst waren, dass sie es mit den sog. otaku zu tun hatten. Vor allem ist ihnen entgangen, dass der Zweck des threads nicht darin bestand, Densha Otoko zu unterstützen, sondern von den Eintragungen gegenseitig die deprimierte Stimmung verstärken zu lassen. Es gab 40 threads mit jeweils 1.000 Eintragungen, die die Liebesgeschichte von Densha Otoko aufgriffen,8 wobei der erste bis 31. thread in der Zusammenfassung den Hauptteil bildet, in dem von der Entwicklung seiner Beziehung zu Hermes berichtet wird. Die threads 32 bis 40 bilden eine Art Epilog. Von den neun threads des Epilogs werden nur die ersten vier in der Zusammenfassung erwähnt, also bis zu dem Zeitpunkt, als Densha Otoko Hermes alle originalen threads zeigt. Dagegen wird über die restlichen fünf threads einfach geschwiegen. Aber auch im Hauptteil sind verschiedene Debatten um das Verhalten von Densha Otoko nicht in der Zusammenfassung erwähnt î besonders diejenigen, die seinem Image abträglich sind. Bereits am Anfang waren einige Teilnehmer der Meinung, dass Hermes Densha Otoko sympathisch finden müsse, weil die Entwicklung der Beziehung eigentlich von Hermes aus be7

Vgl. den Auszug eines Mail-Interviews mit „Naka no Hito“ vom Febr. 2005: http://train.2ch-library.com/info/archives/2005/02/50_2.html.

8

Alle 40 threads kann man nachlesen: http://2ch-library.com/male/train/, die allzu obszönen Ausdrücke in Worten und ASCII-Arts in den Eintragungen wurden leider zensiert.

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stimmt werde. Schon auf dem 16. thread, nach dem dritten Rendezvous, erwarteten viele Teilnehmer, dass Densha Otoko Hermes seine Liebe offenbaren würde. Als sie aber erfuhren, dass er, ohne Initiative zu zeigen, zurückkehrte, waren sie enttäuscht und wurden auch ungeduldig. Es begann sich eine durchaus schlechte Stimmung unter den thread-Teilnehmern zu verbreiten, die man an mehreren ASCII-Arts und Eintragungen deutlich erkennen konnte. Densha Otoko, der sich am Anfang durch seine Unbeholfenheit und Naivität Sympathie bei den Teilnehmern verschafft hatte, blieb ruhig und schrieb stur seine Berichte weiter. Seine Sturheit nahm zu dem Ende hin immer mehr zu und konnte als Arroganz gedeutet werden. Auf dem 38. thread wollte Densha Otoko, wie die herkömmlichen ‚Götter‘, über seinen Sexualverkehr berichten, wogegen viele Teilnehmer vehement protestierten. Ihre Argumente lauteten, es handle sich nun um eine ganz andere Situation und ganz andere Teilnehmer als bei den bisherigen ‚Göttern‘; er sei auch ohne diese Ausführungen bereits ein ‚Gott‘ für alle dokuo und Hermes sei sich nicht im Klaren, wie riskant der Ni-Channel tatsächlich sei. Nach der Publikation des Buches Densha Otoko herrschte mehr oder weniger die Meinung, das Buch habe das schlechte Image des Ni-Channels verändert. Ironischerweise wurde aber gerade in den originalen Eintragungen auf die Gefährlichkeit des Ni-Channels hingewiesen. Mit dem Eintrag Nr. 661 vom 17. Mai 2004 um 23 Uhr 21, in dem er trotz des vehementen Protests der Teilnehmer seinen Bericht über das Petting mit Hermes beendet, verschwindet der handle name Densha Otoko gänzlich von der Plattform der männlichen Singles. Densha Otoko galt also in einer doppelten Hinsicht als Verräter: 1) weil er den wohlmeinenden thread-Teilnehmern widerspricht und über sein Petting mit Hermes berichtet. 2) aber auch, weil er über seinen eigentlichen Sexualverkehr gerade nicht mehr berichtet.

3

Densha Otoko und die ‚Wa(h)re Liebe‘

Der Erfolg von Densha Otoko beim japanischen Publikum ist sicherlich auf die Einfachheit und Verständlichkeit der Handlung und auf die ausführlichen Schilderungen der Gefühlsregungen von Densha Otoko zurückzuführen. Der Herausgeber des Buchs Densha Otoko ist Nakano Hitori. Der Name ist ein Pseudonym und bedeutet ‚einer von denen (auf der Giftmänner-Plattform)‘ und ist mit Naka no Hito identisch. Diese Person hat aus allen Einträgen eine Website mit Zusammenfassungen eingerichtet und dann in eine Buchform gebracht. Dabei aber hat sie sich auch die Freiheit genommen, einige der Eintragungen zu zensieren und kritische Diskussionen zu ignorieren. ‚Der Autor‘ des Buches existiert nicht, es gibt nur einen Herausgeber und eine Figur, Densha

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Yuko Mitsuishi | Densha Otoko und die ‚Wa(h)re Liebe‘

Otoko. Ferner gibt es zahlreiche Stimmen von ‚Namenlosen‘, die auf Denshas Eintragungen auf irgendeine Weise reagiert und Stellungnahmen bzw. Kommentare in den threads veröffentlicht haben. Man kann daraus auf Folgendes schließen: Auch wenn die Sache mit Hermes eine erfundene Geschichte sein sollte, die von einem, der sich Densha Otoko nennen lässt, inszeniert wurde, bleibt es eine Tatsache, dass einst auf dem Webforum solche ‚Kommunikationen‘ zwischen den Teilnehmern stattgefunden haben. Nach den Arten der Eintragungen auf den threads kann man die Intentionen der Teilnehmer in drei Gruppen gliedern, wobei wahrscheinlich viele Überschneidungen auftreten. 1) Die Gruppe, die durch die Eintragungen des Densha Otoko ihre Depressionen kultivieren wollte. Diesen Menschen dienten die Ratschläge als Mittel zum Zweck. 2) Die Gruppe, die die Liebschaft des Densha Otoko wirklich unterstützen wollte. 3) Die Gruppe, die dieses Geschehen wie beim Computerspiel in Echtzeit erleben wollte. Auf der Website der Zusammenfassungen sowie im Buch werden die Eintragungen der zweiten Gruppe bevorzugt aufgenommen. Obwohl manchmal etwas giftig distanzierte Eintragungen gegen Densha Otoko zu finden sind, bekommt er immer wieder überwiegend positive Unterstützung von den Teilnehmern des threads. Diese Gemengelage erweckt bei den Lesern weder Zweifel noch Skepsis an der eindeutigen Erfolgsgeschichte von Densha Otoko. Dies liegt wohl daran, das Densha Otoko durch seinen von Naka no Hito verliehenen Charakter bei den Rezipienten Beschützerinstinkte erweckt: Densha Otoko wurde als eine extrem unschlüssige, ungeschickte Person dargestellt, so dass die Leser sich ihm überlegen fühlten und welterfahrener vorkamen. Aus dieser auf Densha Otoko herabblickenden Position heraus, bekam man als Leser leicht den Eindruck, dass man ihn mit Teilnehmern des threads oder statt ihrer ihn besser beraten und unterstützen könnte. Der Verlauf der Handlung und die fehlende Dramatik wird durch die Haltung des Densha Otoko von Nakano Hitori/Naka no Hito geschickt verdeckt. Densha Otoko erlebt die größte Aufregung zum einen ganz am Anfang, als er Hermes in der Bahn hilft, und zum anderen am Ende, als er ihr seine Liebe gesteht. Ansonsten gibt es weder ernsthafte Krisen und Konflikte noch wirkliche Rivalen,9 die sich in Hermes verlieben. Die einzige Situation, die man vielleicht als eine kleine Krise betrachten könnte, ist der Moment, als ihm sein Minderwertigkeitskomplex erneut bewusst wird und sich seine selbstnegierende Einstellung verstärkt. Dies geschieht kurz vor seinem Schicksalstag, als er erfährt, dass Hermes im Ausland vergnügt die ‚Goldene Woche‘ verbracht hat, wäh-

9

Um aus dieser Geschichte 11 Folgen zu machen, gibt es in der Fernsehserie einige Rollen, darunter der ‚coole Typ‘, und einige Episoden, die in keiner anderen Version zu finden sind.

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rend er auf einer Comic-Börse war und eine Genugtuung darüber empfand, dass er dort diesmal nichts eingekauft hat. Er verliert den Mut und schreibt in dem thread, dass er und Hermes auf keinen Fall zusammenpassen; weiterhin, dass es für ihn eine Überforderung sei, sich ihr anzupassen.10 Hermes, die der real existierenden Schauspielerin Nakatani Miki ähnlich sieht, ist etwas älter als Densha Otoko, ist in einer wohlhabenden Familie aufgewachsen und lebt mit ihrem Hund noch bei ihren Eltern. Welchen Beruf sie hat, wird nicht bekannt gegeben. Sie verdient aber auf jeden Fall mehr als Densha Otoko. Sie war schon mehrmals im Ausland und beherrscht eine Fremdsprache (vermutlich Englisch), trinkt gerne Benoist-Tee und hat selbst ebenfalls einen etwas ‚otakuhaften‘ Geschmack. Wenn sie zusammen sind, übernimmt sie immer ganz dezent die Führung, und obwohl ihre Anspielungen oft von Densha Otoko nicht verstanden werden, nimmt sie ihm diese Schwäche nicht übel. Sie zeigt ein großes Verständnis für seine Unerfahrenheit und Unbeholfenheit. Es war also von Anfang an zu erwarten, dass Densha Otoko, wenn es nach japanischen Regeln ginge, keine Chance bei ihr hätte. Doch bekommt er auf seinen Minderwertigkeitskomplex hin ermutigende Worte von den vielen ‚Namenlosen‘, die ihm helfen, selbstbewusst aufzutreten. So gelingt letzlich das ‚Happy End‘. Aber diese Geschichte dürfte eigentlich nicht mit einem ‚Happy End‘ abschließen. Wenn nämlich alles so reibungslos und ohne Komplikationen abläuft, erwartet man ein böses Ende. Wider Erwarten gibt es jedoch keines. Da eine solche Erzählung üblicherweise eine mehr als unerfreuliche Wende hat, steigt die Spannung beim Publikum, da man sich fragt, wann, wo und wie dieser schlimme Augenblick eintritt. Hier wird also die Spannung durch eine ‚überraschende Überraschungslosigkeit‘ erzeugt. Die emphatische Darstellung, wie Densha Otoko mit Hilfe der Teilnehmer am thread die Liebe Hermes’ erringt, zeigt einerseits ein ideales Modell des Webs. Das Web relativiert nämlich die Einschränkungen der realen gesellschaftlichen Umwelt der Benutzer und bietet ihnen die Freiheit, auf eine Gemeinschaft einzugehen, zu der sich jeder zugehörig fühlen möchte. In diesem Sinne kann Densha Otoko auch als Erfolg der Massenkollaboration oder der Intelligenz einer Gemeinschaft betrachtet werden. Somit konnte das Modell des Web-Raumes auch gegen bestimmte Probleme in der Realität seine Funktionsfähigkeit beweisen, in dem die aktiven Beiträge der vielen Beteiligten gesammelt werden. Anzumerken ist aber, dass diese positive Einstellung in Densha Otoko nicht auf das Webforum Ni-Channel bezogen wurde, sondern auf allgemeine Webforen. Andererseits zeigt Densha Otoko, dass ein otaku von einer 10 Siehe Eintrag Nr. 914 und Nr. 940 auf dem 24.thread vom 4. Mai 2004. Aber schon in dem Eintrag Nr. 957 schreibt Densha Otoko, dass er neuen Mut von den Teilnehmern des threads bekommen hat.

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‚noblen‘ Frau als ein liebenswürdiger Mensch akzeptiert werden kann. Hier wird thematisiert, dass auch ein otaku ein Liebhaber sein kann, was z.B. in der ‚Bubble-Zeit‘ der japanischen Wirtschaft in den 1990er Jahren kaum in Frage gekommen wäre. Die Interessen der beiden sozialen Gruppen gingen zu deutlich auseinander. Auch der nahe liegenden Annahme, dass eigentlich Hermes Densha Otoko erobert haben könnte,11 wird keine Aufmerksamkeit geschenkt. Densha Otoko erweckt mit seinen rührenden Bemühungen um Hermes bei vielen allein stehenden, beruflich erfolgreichen und daher im Wohlstand lebenden Frauen den Wunsch, ebenso geliebt zu werden wie Hermes – ohne dass dies aber auf die wenig feinfühlige Formel ‚Hermes domestiziert einen harmlosen otaku‘ hinausliefe. Die berufstätigen Frauen sind außerdem wichtige Konsumenten und wurden als solche angesprochen. So erhöhte sich z.B. während der Hochkonjunktur von Densha Otoko die Nachfrage auf dem otaku-Markt, nach HermèsTassen und Benoist-Tee (in Tokyo gibt es nur im Kaufhaus Matsuzakaya/Ginza eine Zweigstelle von „Benoist“). Durch die Verbindung mit einem otaku wird nun eine neue Variante einer Liebesbeziehung angeboten. Nachdem die japanische Gesellschaft in ihrer ‚Bubble-Zeit‘ sogar die ‚Liebe‘ ihrem Konsumsystem einprogrammiert hatte, entdeckte sie nun das Interesse für ein neues Objekt, das offenbar außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung situiert war: Für ein Liebesabenteuer die Konventionen zu sprengen wird nun für beruflich erfolgreiche Frauen zur Option. Die Frage nach ökonomisch bedingten Konventionen warf auch der Film Densha Otoko auf. Er stellt die gesamte Handlung als Tagtraum von Densha Otoko dar, der in der Bahn sitzt. Die Interpretation des Regisseurs Murakami, wonach ein otaku schließlich doch ein otaku bleibt, kann man als Widerstand gegen die Normierung und Domestizierung des otaku zu einem Konsumenten auffassen. Das aber wurde von vielen Zuschauern übersehen. Die Liebe, für die sich jemand ‚zu Tränen rührend‘ bemüht, ganz frei von dem Kalkül der Vorteile und von Kosumnormen, wird in dieser Erzählung als etwas ganz besonders Reines und Erhobenes konstruiert. In dieser Liebe sollen die beiden betroffenen Personen innigst und aufrichtig zueinander stehen – in scharfem Kontrast zur Lebenswirklichkeit. Aus dieser Diskrepanz kann der Wunsch entstehen, wenidstens im Rahmen einer Geschichte und zumindest für einen Augenblick eine Vereinigung erleben zu können. Mit diesem Liebeskonzept wird die Wiedergewinnung des Verlorenen zum Hauptthema, und es ist kein Zufall, dass es in Japan zwischen 2003 und 2006 eine Hochkonjunktur dieser ‚zu Tränen rührenden‘ Liebesromane gab. Sie wurden von verschie-

11 Vgl. den Eintrag Nr. 768 auf dem 30. thread vom 9. Mai 2004.

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denen Medien aufgegriffen, verfilmt und als Fernsehserien angeboten.12 Unter diesen Beispielen finden sich Plots wie diese: Eine verstorbene Ehefrau kommt mit Gedächtnisschwund während der Regenzeit zu ihrer Familie zurück und verschwindet wieder nach der Regenzeit. Eine Retrospektive eines jungen Mannes über seine erste Liebe. Eine an einer seltenen Krankheit leidende Studentin entscheidet sich für die Liebe und muss dafür mit ihrem Leben bezahlen. Diese Plots unterscheiden sich thematisch und inhaltlich nicht, ob sie nun in dreidimensionalen oder zweidimensionalen Medien (Manga, Anime, Computerspiele) auftauchen. In diese Reihe der erfolgreichen Medialisierungen von Liebesromanen lässt sich auch Densha Otoko einordnen. Eine von Konsumnormen absolut freie Liebe wird vom Konsumsystem der Medien erst produziert und dann instrumentalisiert – und vom Publikum dankbar aufgegriffen. Als mögliche Konsequenzen dieser Medialisierungsprozesse zeichnen sich folgende Tendenzen ab: Wenn sich das Bedürfnis der otaku und der Nicht-otaku nach Liebe ebenso wie ihre Interessen überschneiden, kann man mit dem Begriff otaku folglich keine bestimmte Gruppe innerhalb der japanischen Gesellschaft mehr bezeichnen. Noch dazu haben die japanischen Medien durch den ‚Verkauf der Liebe‘ die Umwelt der otaku positiv präsentiert. Die Medien haben folglich Schwierigkeiten, die otaku nach wie vor als einen negativen Faktor darzustellen und in Verbindung mit Kriminalität zu bringen. Und schließlich haben sich otaku als Gesprächsstoff offenbar abgenutzt und die japanische Gesellschaft ist von diesem Thema übersättigt. Paradoxerweise könnte der otaku, jahrelang durch die Medien in der Gesellschaft diskriminiert, im Augenblick seiner Rehabilitierung mit Densha Otoko aus dem Fokus der japanischen Medien verschwinden. 12 Der Roman Ima, ainiyukimasu (Ich komme jetzt) von Ichikawa Takuji erschien 2003 und wurde im folgenden Jahr von Doi Nobuhiro verfilmt. Ein amerikanisches Remake ist bei Warner Bros. für 2009 geplant. Mangaversionen von Yasuhiko Takata und Aya Kawashima erschienen 2004 und 2005. Der Roman Sekai no Tyushin de, Ai wo sakebu (In der Mitte der Welt schreie ich Liebe aus) von Katayama Kyoichi (2001) wurde von Kazumi Kazui als Manga adaptiert (2004) und im selben Jahr von Isao Yukisada verfilmt. Ein Hörspiel und eine Fernsehserie erschienen im gleichen Jahr, eine Theaterversion wurde 2005 aufgeführt. Der Regisseur Yun-su Yeon verfilmte den Roman erneut (Parang-juuibo, 2005), und nach dem koreanischen Film entstand ein weiterer Roman von Momose Shinobu (2006). Eine deutsche Manga-Version von Kyoichi Katayama mit dem Titel Cry out for Love erschien 2005, der Roman wurde unter dem Titel Das Gewicht des Glücks, in einer Übersetzung Thomas Eggenberg 2007 veröffentlicht. Der Roman Rennai Shasin – Mouhitotu no Monogatari (Liebesfoto – Eine andere Geschichte) von Takuji Ichikawa erschien 2003 und wurde unter dem Titel Tada, Kimi wo aisiteru (Nur meine Liebe gehört dir) von Takehiko Shinnjo 2006 verfilmt.

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Literaturverzeichnis Densha Otoko, http://ja.wikipedia.org/wiki/%E9%9B%BB%E8%BB%8A %E7%94%B7, 25.03.2008. Densha Otoko – Informationsbüro, http://train.2ch-library.com/info/archives/ 2005/02/50_2.html. 2ch – Archiv, http://2ch-library.com/male/train/. Zusammengefasste Heldensagen der dokuo-Plattform, http://www.geocities. co.jp/MilkywayAquarius/7075. Densha Otoko – The Story of the Train Man who fell in love with the girl, Hermes, hrsg. von Nakano Hitori, Tokyo 2004. Douke, Daisuke: Densha Otoko – Toi, toi, toi Dokuo!, in: Young Champion, Bd. 2; Bd. 5, 2005 bis Bd. 2, 2006. Sammelband in 3 Bdn., Reihe Young Champion Comics, Bd. 1, Juni 2005; Bd. 2, Oktober 2005; Bd. 3, Februar 2006. Hara, Hidenori: Densha Otoko – Abfahrt Internet, Liebesgeschichte einer Lokalbahn, in: Young Sunday, Doppelausgabe der Bde. Nr. 6-7; Bd. Nr. 28, Bd. Nr. 30; Bd. Nr. 33, Doppelausgabe der Bde. Nr. 36-37; Bd. Nr. 39 (2005), Sammelband in 3 Bdn., Reihe Young Sunday Comics, Bd. 1, Mai 2005; Bd. 2, Juli 2005; Bd. 3, Oktober 2005. Hashimoto, Raika: Densha Otoko, in: Judy, Shogakkan, Nr. 7, 9, 11 (2005). Ichikawa, Takuji: Ima, ainiyukimasu, Tokyo 2003. Ichikawa, Takuji: Rennai Shasin – Mouhitotu no Monogatari, Tokyo 2003. Katayama, Kyoichi: Cry out for Love, Hamburg 2005. Katayama, Kyoichi: Das Gewicht des Glücks, München 2007. Katayama, Kyoichi: Sekai no Tyushin de, Ai wo sakebu, Tokyo 2001. Kawashima, Aya: Ima, ainiyukimasu, Reihe: Flower Comics Special, Tokyo 2005. Kazui, Kazumi: Sekai no Tyushin de, Ai wo sakebu, in: Puchikomikku, Bd. 1-2 (2004); Sammelband, Reihe: Flower Comics Special, Tokyo 2004. Momose, Shinobu: Boku no, Sekai no Tyushin ha, Kimi da, Tokyo 2006. Ocha, Machiko: Densha Otoko – Eine Liebesgeschichte zwischen einer Schönen und einem naiven Otaku aus dem Internet, in: The Dessert, Nr. 5 (2005); Sammelband, Reihe KC Dessert, 2005.

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Sekai no Tyushin de, Ai wo sakebu (Theateraufführung, August/September 2005) Setagaya-Public-Theater, Tokyo. Sekai no Tyushin de, Ai wo sakebu, Hörspiel, CD, Tokyo 2004. Sekai no Tyushin de, Ai wo sakebu, Hörspiel, Tokyo-FM, Mai 2004. Takata, Yasuhiko: Ima, ainiyukimasu, Tokyo 2004. Watanabe, Wataru: Densha Otoko – Trotzdem reise ich ab, in: Champion Red, Nr. 3 (2005); Nr. 4 (2006). Sammelband in 3 Bdn., Reihe Champion Red Comics, Bd. 1, Juni 2005; Bd. 2, Okt. 2005; Bd. 3, März 2006.

Filme Densha Otoko (Japan 2005, Regie: Masanori Murakami) Ima, ainiyukimasu (Japan 2004, Regie: Doi Nobuhiro) Ima, ainiyukimasu (Fernsehserie, Japan 2005) Kuss und Sex des Densha Otoko (Japan 2005, Regie: Nimura Hitoshi) Sekai no Tyushin de, Ai wo sakebu (Japan 2004, Regie: Isao Yukisada) Sekai no Tyushin de, Ai wo sakebu (Japan 2004, Fernsehserie, 11 Folgen) Parang-juuibo (Südkorea 2005, Regie: Yun-su Yeon) Tada, Kimi wo aisiteru (Japan 2006, Regie: Takehiko Shinnjo)

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Ralf Schnell

Empedokles: Legende – Trauerspiel – Film 1

Einleitung

Leben und Werk des nur wenig bekannten Vorsokratikers Empedokles ins Zentrum eines medienwissenschaftlichen Beitrags zu rücken, die sehr eigenwilligen Bearbeitungsstufen des Stoffes durch Friedrich Hölderlin zu diskutieren, schließlich auf die gleichermaßen anti-dramatische und anti-filmische Aufnahme der ersten Hölderlin-Fassung durch Jean-Marie Straub und Danièle Huillet einzugehen – das bedeutet auf den ersten Blick, die Linie der Fragestellungen nach der Qualität von Medienumbrüchen und dem Verhältnis von Medienkulturen und Medienästhetik zu Beginn des 20. Jahrhunderts und im Übergang zum 21. Jahrhundert ebenso zu verlassen wie den Kulturvergleich zwischen Deutschland und Japan, um den es im Forschungsteilprojekt Medienanthropologie und Medienavantgarde des Forschungskollegs 615 an der Universität Siegen geht. Und doch berührt der Gegenstand des vorliegenden Beitrags den thematischen Rahmen des Forschungsprojekts Medienanthropologie und Medienavantgarde durchaus, wenn auch auf eine vermittelte Weise. Das Verbindungsstück liefert der Titel des hier vorliegenden, auf ein Symposion in Tokio (Herbst 2007) zurückgehenden Bandes, der nach ‚Schwellen der Medialisierung‘ fragt. Dieser Titel erlaubt es, aus dem Problemzusammenhang eines Projekts vorzutragen, das in historischer Dimension zu zeigen vermag, auf welche Weise Medialisierungsschwellen sich bilden, sich fortsetzen, sich erhalten, aber auch sich verändern. Der Komplex, der hier ‚Empedokles‘ heißt, bietet hierfür deswegen ein gutes Beispiel, weil sich an ihm Überlegungen und Reflexionen ebenso wie unterschiedliche Formen künstlerischer Produktivität jeweils neu konstituiert und konkretisiert haben, und zwar jeweils innerhalb desjenigen Mediums, das sich als das zeitgenössisch je aktuellste, interessanteste und produktivste erweisen sollte. In drei Schritten – anhand der philosophischen Legendenbildung in der Antike, der Ästhetik des Trauerspiels im 18. Jahrhundert und der Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts – soll dies im Folgenden nachgezeichnet werden.

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Ralf Schnell | Empedokles: Legende î Trauerspiel î Film

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Legende

Nur wenig ist überliefert von und zu Empedokles, und auch dieses Wenige ist fragwürdig genug. Geboren wurde er um 495 v. Chr. im südsizilianischen Akragas, dem heutigen Agrigent. Einem Adelsgeschlecht entstammend, wirkte er – und hier beginnen die Mythen die Fakten bereits zu überwuchern – als Arzt und Philosoph, als Priester, Wanderprediger und Wunderheiler, als Seher und Mystiker, als Dichter und Wissenschaftler, als Physiker und als Politiker. Er soll die ihm angetragene Königswürde ausgeschlagen haben, er gilt als Führer der demokratischen Opposition in seiner Heimat, mit der Folge seiner Verbannung. Gestorben ist er vermutlich – auch dies ist unsicher – um 435 v. Chr. im griechischen Exil, auf der Peloponnes. Doch bekannter als dieses Ende ist die Legende geworden, die sich um seinen Tod rankt: Im sizilianischen Vulkan Ätna soll er verschwunden sein, umgekommen durch Selbstmord oder aber durch Tötung von fremder Hand. Eine Sandale, die der Vulkan herausgeschleudert habe, sei – so heißt es – alles, was von ihm geblieben ist. Wollte man den thematischen Rahmen des vorliegenden Bandes bereits im Hinblick auf die Konstitutionsbedingungen dieser lebensgeschichtlichen Vielfalt namens ‚Empedokles‘ pointieren, so ließe sich von biographisch verdichteten Medialisierungsschwellen sprechen: Der historisch überprüfbare Lebensweg einer empirischen Person wird bereits zeitgenössisch überlagert, verändert und variiert durch Zuschreibungen, die mit den biographisch-historischen Fakten nichts oder nur wenig oder zumindest nichts empirisch Überprüfbares gemein haben. Es handelt sich um Projektionen, die zu Fakten mutieren, um empirisch leere Fakten freilich, die gerade deshalb zu Faktoren der Legendenbildung werden können, einer Legende, die ihrerseits die Qualität einer zitierbaren Tatsächlichkeit gewonnen hat. Deren schillernde Vieldeutigkeit hat am prägnantesten Friedrich Nietzsche in seiner Basler Vorlesung von 1872 herausgearbeitet. Empedokles gilt hier als ‚Grenzfigur‘: Er schwebt zwischen Arzt und Zauberer, zwischen Dichter und Rhetor, zwischen Gott und Mensch, zwischen Wissenschaftsmensch und Künstler, zwischen Staatsmann und Priester, zwischen Pythagoras und Demokrit: er ist die buntgefärbteste Gestalt der älteren Philosophie: mit ihm scheidet das Zeitalter des Mythos, der Tragödie, des Orgiasmus, aber zugleich erscheint in ihm der neuere Grieche, als demokratischer Staatsmann, Redner, Aufklärer, Allegoriker, wissenschaftlicher Mensch. In ihm ringen die beiden Zeitalter […].1

1

Nietzsche: „Basler Vorlesung“ (1872), S. 28.

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Dies freilich ist bereits jene Medialisierungsschwelle namens Nietzsche, die sich ihren Gegenstand – wie Heinz Schlaffer in seiner Studie jüngst gezeigt hat2 – rhetorisch und stilistisch überaus wirkungsvoll her- und zurichtet. Die Überlieferungswirklichkeit sieht anders aus. Nur wenig handfest Greifbares oder Verlässliches liegt uns an Aufzeichnungen aus der Feder des Naturforschers und Naturphilosophen Empedokles vor, und auch dies nur fragmentarisch. Es sind etwa zwanzig Quellen, aus denen man die Biographie wie die schriftliche Hinterlassenschaft des Empedokles zu rekonstruieren versucht hat. Zwei seiner Schriften stehen im Zentrum der vorsokratischen Philosophie: die ƋơƨơƱµƯƟ (katharmoí), was soviel wie ‚Reinigungen‘ (im Sinne eines kultischen Dienstes) bedeutet, und ƑƥƱƟ ƶƽƳƥƹƲ (perí phýseos): ‚Über die Natur‘. Die ƋơƨơƱµƯƟ gehen aus vom Goldenen Zeitalter der Aphrodite, einem Universum vollkommener Harmonie. Zu diesem Topos aller geschichtsphilosophisch orientierten und religiös grundierten Weltdeutung gehört der Eintritt des Streits und damit des Bösen in die Welt, das Leiden an der disharmonischen Signatur der Gegenwart und der Entzweiung mit dem göttlichen Gesetz, das den Menschen der ơƭƜƣƪƧ (anánke), der Notwendigkeit und den Zwängen seiner Daseinsbestimmung unterwirft, ein Topos, der geschichtsphilosophisch freilich durchweg auch bestimmt ist durch das – christlich gesprochen – heilsgeschichtliche tertium comparationis der ‚Erlösung‘. Bei Empedokles findet sich dieser Aspekt ausgeführt in der Figur der Verbindung, die zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen besteht, der Fähigkeit zum Denken, die Geist – das Göttliche – und Materie – das Menschliche, insofern es den Elementen angehört – miteinander verbindet. Die ƋơƨơƱµƯƟ dienen der Annäherung, präziser: der Wieder-Annäherung des Menschen an Gott, in Form kultischer Reinigungen, die zu einem inneren, wahren Verständnis der Natur des Göttlichen führen. Dieser reinigende Weg führt zu einer neuen Harmonie, durch die Vereinigung des menschlichen und des Göttlichen, im Bild des einen, vollkommen mit sich identischen Geistes. Die erkenntnistheoretische Voraussetzung dieses nur fragmentarisch überlieferten, religiös und geschichtsphilosophisch geprägten Weltmodells ƑƥƱƟ ƶƽƳƥƹƲ bildet die Naturphilosophie des Empedokles. Sie geht aus von der Einsicht des Parmenides (515/510 v. Chr.-450 v. Chr.) – erinnert sei an den großen Dialog bei Platon –, nichts, was in der Welt ist, könne aus dem Nichts entstehen, noch könne es ins Nichts vergehen. Im Unterschied zu Parmenides aber geht Empedokles nicht von einer Wahrnehmung der Wirklichkeit als einer in sich statischen, bewegungslosen Einheit aus, sondern er sieht „vier Wurzeln aller Dinge“ – jene vier Wurzeln nämlich, die uns heute als die Elemente vertraut sind: Feuer, Wasser, Luft und Erde, Grundkräfte des Lebens, die ih2

Schlaffer: Das entfesselte Wort.

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Ralf Schnell | Empedokles: Legende î Trauerspiel î Film

rerseits durch zwei Prinzipien in Bewegung gehalten werden: durch Liebe (Eintracht) und Hass (Zerstörung): Einmal wächst es zusammen, um ein alleiniges Eines zu sein aus Mehrerem, das andere Mal entwickelt es sich zu Verschiedenem, dass es Mehreres ist aus Einem: Feuer und Wasser und Erde und der Luft unermessliche Höhe. Und gesondert von diesen, aber sie in jeder Hinsicht aufwiegend: Haß, der verwünschte; und unter ihnen: Liebe, ichnen gleich an Länge und Breite.3 Der Text ƑƥƱƟ ƶƽƳƥƹƲ ist ein Lehrgedicht. Es richtet sich an Pausanias, einen Schüler und Liebhaber des Empedokles, dem auf höchst poetische Weise die prozesshaft bewegte, evolutionär sich entfaltende, sich selbst genügende und sich bewahrende Natur mit Kategorien des Raumes und der Zeit beschrieben wird. In ihr kann nichts verloren gehen, da sie alles, was sie aus sich hervorbringt, auch wieder in sich zurücknimmt: Denn all jene [Elemente] sind gleich und gleichaltriger Herkunft, jedes aber hat seinen eigenen Machtbereich, jedes seinen eigenen Charakter; jedes herrscht in seinem eigenen Bereich im Rundgang der Zeit. Nichts gibt es, das zu jenen noch hinzu entsteht oder, von ihnen sich absondernd, aufhört zu sein. Denn wenn sie dem Verderben ausgesetzt wären, würde es sie längst überhaupt nicht mehr geben. Andererseits, was wäre imstande, das All zunehmen zu lassen – woher sollte so etwas überhaupt kommen? Wohin sollte etwas aus ihnen zugrunde gehen, wenn es nichts gibt, was von ihnen leer ist? Nein: was ist, sind eben jene [Elemente]: Indem sie durcheinander hindurch gehen, entstehen sie bald als dieses, bald als jenes, wie auch fortwährend als immer Gleiches.4 Dass aber Bewegung überhaupt möglich ist in Form von Trennung und Vereinigung, Kontrast und Übereinstimmung, Konflikt und Harmonie – das eben hängt mit jenen Basiskräften zusammen, welche die Elemente zu Austauschprozessen motivieren: Liebe und Haß. In Wut haben sie alle verschiedene Gestalt und sind einander entzweit; in Liebe jedoch kommen sie zusammen und sehnen sich nacheinander. Denn aus jenen [Elementen] ist alles, was war und ist und sein wird: sind Bäume entsprungen und Männer und Frauen und Tiere und Vögel und auch sich im Wasser ernährende Fische und Götter, 3

Empedokles: „Die Natur“, S. 81.

4

Ebd., S. 81f.

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langlebige, hoch in Ehren stehend. Denn was ist, sind eben jene [Elemente]; indem sie durch einander hindurch gehen, werden sie aber anders im Aussehen: So großen Unterschied bewirkt Mischung im Wechsel.5 Die vier Elemente also – Feuer, Wasser, Erde, Luft – sind der Urgrund allen Seins. Aus ihrem Zusammenspiel entsteht die Natur in allen ihren Formen und Variationen. Sie sind die ơƱƷơƟ (‚archaí‘) aller Materialität des Lebens, Voraussetzung, Basis und Bedingung aller Evolution, die aus ihnen hervorgeht, buchstäblich aus ihnen erwächst wie aus einem uranfänglichen Keim. Dass Entwicklung überhaupt möglich ist, hat seinen Grund in jenen Kräften, die in und zwischen den Elementen wirken: die dynamischen Energien Liebe und Hass, die den Urgrund aller Bewegung der Elemente bilden. Sie ermöglichen den Elementen den Austausch untereinander, Wechsel, Veränderung, Erneuerung. Wo bei Parmenides die Vorstellung einer in sich ruhenden Einheit herrscht, nimmt die Naturphilosophie des Empedokles Vielheit an, eine Pluralität der Formen, deren Beständigkeit auf ihrer Wandlungsfähigkeit beruht und deren permanenter Wandel von ihrer Beständigkeit zeugt. Ein Wandel, der insoweit auch auf Ausgleich des Bewegten und Bewegenden angelegt ist. Denn die Bewegung der Elemente, die durch Liebe und Streit in Gang gehalten und dynamisiert wird, setzt eine Trennung von Geist und Materie voraus: Der Streit verstreut die Elemente, setzt sie dem Sturm aus, der sie auseinanderwirbelt und voneinander entfernt. Doch die Liebe verbindet sie wieder miteinander, indem sie Mischformen ermöglicht, Amalgamierungen und Synthesen, die zu variationsreichen Formen einer je neuen Einheit führen. Das Universum mit den Gestirnen, auch der Erde, und das Leben selbst zeugen hiervon. Es versteht sich von selbst, dass der theologischen Dimension dieses Denkens und dieser Naturanschauung der Gedanke der Seelenwanderung und der Wiedergeburt a priori eingeschrieben ist. Was der Naturphilosophie des Empedokles den Rang einer Medialisierungsschwelle zuweist, sind mithin drei Charakteristika. Zum einen stellt sie den Übergang vom Mythos zum Logos dar. Empedokles setzt mit einer göttlichen Zuschreibung für die Elemente ein: „leuchtend-heller Zeus“ (Feuer), „lebenspendende Hera“ (Erde), Aidoneaus (= der „Unsichtbare“: Luft) und Nestis (= die „Fließende“: Wasser), „die mit ihren Tränen den sterblichen Quellstrom befeuchtet“.6 Doch Empedokles geht über die mythologische Einbettung seiner Naturdeutung hinaus, in Richtung einer Verwissenschaftlichung seiner Erkenntnisse, indem er die bewegenden Kräfte der Natur als ƱƩƦƹµơƴơ 5

Ebd., S. 83.

6

Ebd., S. 75.

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Ralf Schnell | Empedokles: Legende î Trauerspiel î Film

(‚rhizómata‘) beschreibt, als „Wurzelgebilde aller Dinge“7, die er zugleich dem Ordnungsprinzip der Zahl Vier unterwirft, das pythagoreischen Ursprungs ist. Zum anderen versteht Empedokles die Elemente buchstäblich als Medien. Sie konstituieren das Bewusstsein des Menschen von sich selbst (Gefühle, Leidenschaften, Ängste, Sehnsüchte). Und ebenso gilt: Alles, was die Menschen sind und was sie fühlen, konstituiert sich durch die Elemente. Die Menschen selbst – Körper, Geist, Gefühl – sind, vermittels der Elemente, „Medien, in welchen sich numinose oder natürliche Mächte darstellen“8: „Alles am und im Menschen ist Medium; er lebt im Durchzug der Elemente.“9 Will man die besondere Qualität dieser Naturphilosophie darüber hinaus als Medienschwelle in ihrer Zeit erfassen, so wird man den Sprachgestus einbeziehen müssen, in dem Empedokles sich mitgeteilt hat. Empedokles verbreitet seine Naturphilosophie, wie bereits erwähnt, als Lehrgedicht. Die überlieferten Zeugnisse sind dementsprechend dialogisch angelegt und monologisch durchgeführt. Vor-Sokratiker ist Empedokles insofern in einem genauen Sinn des Wortes, als er seine Natur- wie seine Verhaltenslehre zwar adressiert, aber nicht gesprächsweise durchführt, sondern sie als eine Art Epistel an seine Zuhörer oder Leser organisiert. Im einen Fall Die Natur wird gleich zu Beginn Pausanias, der Sohn des ‚klugen Anchitos‘ angesprochen,10 im anderen Fall (Reinigungen) sind es die Mitbürger im sizilianischen Akragas.11 In beiden Fällen handelt es sich um eine nicht primär naturwissenschaftlich geprägte Diktion in unserem heutigen Verständnis und auch nicht um eine liturgisch oder katechetisch geprägte Religionssprache. Vielmehr kann man von einer natürliche wie religiöse Phänomene thematisierenden Sprache reden, die sich ihre Gegenstände durch poetische Bild- und Sprachwelten anverwandelt und ihnen auf diese Weise eine literarhistorisch wie philosophiegeschichtlich neue Qualität verleiht. Die Durchdringung von naturwissenschaftlicher Beobachtung und naturphilosophischer Erkenntnis ist wissenschaftshistorisch die originäre Leistung des Empedokles. Es handelt sich bei der Naturphilosophie des Empedokles um eine „mediale Sinnesphysiologie“, in der Wahrnehmung und Denken dasselbe sind: „Und so nehmen wir die Dinge wahr in dem Maße, wie sie auf Verwandtes in uns treffen.“12

7

Ebd.

8

Böhme/Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft, S. 22.

9

Ebd., S. 23.

10 Empedokles: „Die Natur“, S. 71. 11 Empedokles: „Reinigungen“, S. 141. 12 Böhme/Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft, S. 188.

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Trauerspiel

Mit dieser Einsicht lässt sich auch das Verhältnis Friedrich Hölderlins zu jener Legende umschreiben, die der Name Empedokles repräsentiert. Der Dichter hat Verwandtes in sich gesehen, zu einer legendären Außenseiterfigur, die ihrer Zeit politisch wie persönlich voraus war, zur Emphase subjektiver Freiheit und individueller Unabhängigkeit, wie sie den Lebensweg des Naturphilosophen kennzeichnet, zur Höhe seiner natur- und religionsphilosophischen Reflexionen und zur analytischen Schärfe seiner Naturbeobachtungen. Dass diese in Formen poetischer Verdichtung, in einer dem Mythos noch verbundenen und doch aus ihm bereits sich lösenden Bildersprache verarbeitet waren, dialogisch aufgebaut, wenngleich als visionärer Monolog durchgeführt, dürfte zudem den Dramatiker in Hölderlin inspiriert haben, der sich wieder und wieder in den Jahren 1797 bis 1799 mit dem Empedokles-Stoff auseinandersetzte.13 Die diversen Bearbeitungsstufen, die Hölderlin den Empedokles-Stoff hat durchlaufen lassen, stellen ihrerseits ‚Schwellen der Medialisierung‘ dar – jedenfalls soweit man dieses Attribut für unterschiedliche Genres und Fassungen in Anspruch nehmen kann: die frühe und die späte Fassung einer Ode mit dem Titel Empedokles (1797); den Frankfurter Plan, eine Art erstes Exposé, das der ersten Fassung vorangeht; ein weiteres Exposé, das der dritten Fassung vorangeht; einen Essay mit dem Titel Grund zum Empedokles (1799); und natürlich die drei Fassungen des Trauerspiels mit dem Titel Der Tod des Empedokles, deren Entstehungszeit im einzelnen nicht präzise rekonstruierbar ist. Welche Charakteristika Hölderlin an der Legende Empedokles wahrgenommen hat, in welchem Maße diese auf Verwandtes in ihm getroffen sind, lässt sich am prägnantesten an der im alkäischen Versmaß gehaltenen Ode ablesen: Empedokles Das Leben suchst du, suchst, und es quillt und glänzt Ein göttlich Feuer tief aus der Erde dir, Und du in schauderndem Verlangen, Wirfst dich hinab, in des Aetna Flammen. So schmelzt’ im Weine Perlen der Übermut Der Königin; und mochte sie doch! Hättst Du Nur deinen Reichtum nicht, o Dichter, Hin in den gärenden Kelch geopfert!

13 Vgl. hierzu die Studie von Birkenhauer: Legende und Dichtung.

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Doch heilig bist du mir, wie der Erde Macht, Die dich hinwegnahm, kühner Getöteter! Und folgen möchte ich in die Tiefe, Hielte die Liebe mich nicht, dem Helden.14 Poetische Kraft und Todessehnsucht – dies sind die bedeutendsten Motive, die Hölderlin mit dem Empedokles-Stoff verbunden haben dürften. Die legendäre Hybris der historischen Figur, die sich gelegentlich als Inkarnation der Götter verstanden haben soll, und die suggestiven Identifikationsmöglichkeiten, die von ihrem Weg und ihrem Werk ausgehen, boten für Hölderlin offenkundig die entscheidenden dramaturgischen und sprachlichen Herausforderungen. Die Naturphilosophie des Empedokles aber, in der sich das Naturverhältnis des Dichters Hölderlin zur eigenen Zeit reflektieren ließ, grundiert die unterschiedlichen Stufen der Annäherung an den Stoffen, die Hölderlins Fassungen durchlaufen haben.15 Deren Inhalt sei zunächst knapp referiert, um anschließend, in einem zweiten Darstellungsschritt, deren Bearbeitungsgang unter dem eingeschränkten Aspekt der Handlungsstruktur zu skizzieren. Seinen Stoff hat Hölderlin den zehn Büchern des Doxographen Diogenes Laërtius (3. Jh. n. Chr.) mit Lebensbeschreibungen und Aufzeichnungen bzw. Aussprüchen bekannter Philosophen entnommen. Darin findet sich Empedokles im 8. Buch (§§ 51-177). Im Mittelpunkt der ersten Fassung von Hölderlins Trauerspielentwurf (zwei Akte mit 2050 überlieferten Versen in der metrischen Grundform des Blankverses) steht der titelgebende Tod des Empedokles. Er wird ausgelöst durch Intrigen naturferner Priester, die die Vertreibung des Empedokles zur Folge haben – sein Entschluss, zu sterben, wird auch durch seine Rehabilitierung und das Angebot der Königswürde nicht revidiert. Dieser Entschluss ist motiviert durch die Hybris des Empedokles, sich zeitweilig als Herr der Natur, mithin als „Gott“ gefühlt zu haben. In dieser Konstruktion lehnt sich Hölderlin offenbar an das klassische Tragik-Modell der antiken Tragödie an – mit dem Ergebnis, das Werk nicht vollenden zu können. Denn tatsächlich entbehrt der Entschluss des Empedokles – im Unterschied zu manchen Deutungen einer der Tradition verbundenen Philologie – jeder Tragik: Auch wenn sich Empedokles durch seine Hybris ‚schuldig‘ gemacht hat, so ist er doch selbst verantwortlich für seine ‚Schuld‘. Die zweite Fassung ist lediglich in Form eines abgeschlossenen ersten Aktes und des Schlusses von Akt zwei überliefert. Man kann diese zweite Fassung als ein Trauerspiel ansehen, das einen Neueinsatz bedeutet, einen Neubeginn 14 Hölderlin: Werke und Briefe, S. 67. 15 Vgl. hierzu Birkenhauer: „‚Natur‘ in Hölderlins Trauerspiel ‚Der Tod des Empedokles‘“, S. 207-225.

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Ralf Schnell | Empedokles: Legende î Trauerspiel î Film

der Arbeit am Werk, der durch die Einsicht in die gänzlich ‚un-tragische‘ Schuld des Helden motiviert ist – und diese Einsicht fortschreibt auf einer neuen, modernen Stufe, nämlich der Naturlehre des historischen Empedokles, insbesondere des Gedankens der Wiedergeburt. Dieser Gedanke begründet hier auch den Todesentschluss des Empedokles, dem nun freilich weder ‚Schuld‘ noch auch nur ein Hauch von ‚Tragik‘ anhaften: Er sucht den Tod im Bewusstsein der Wiederkehr ins Leben. Dass aber auch die Konzeption des Trauerspiels für eine dramatische Entfaltung des Empedokles-Stoffes unzureichend war, dürfte der entscheidende Grund für den Abbruch der Arbeit an dieser zweiten Fassung gewesen sein. Ablesbar ist dieser Grund an der dritten Fassung, die ihrerseits nur aus einem ersten Akt mit einem Entwurf des ‚Schlußchors‘ besteht. Beginn der Arbeit: frühestens im September 1799. Die fragmentarischen Materialien bieten uns eine weitere Stufe der Stoffentfaltung, einen abermaligen Neueinsatz, der seinerseits die zweite Fassung voraussetzt, doch ohne sie fortzusetzen. Hier trifft Empedokles auf den Seher Manes, der um die Erlösungsfunktion des Opfertodes weiß und diese Frage im Angesicht von Empedokles erörtert, um dessen Berufung zum Opfertod zu prüfen. Man kann in diesem Zusammenhang mit Emil Staiger von einer „analytischen Technik“16 sprechen und insoweit von einer visionären, über ihre Entstehungszeit deutlich hinausweisenden dramaturgischen Konzeption, die in der Einführung des Chores eine ästhetisch beispielhafte Dimension besitzt. Für diese Annahme sprechen auch die inhaltlichen Begründungen, die Hölderlin in seiner theoretischen Abhandlung Grund zum Empedokles (August/ September 1799) für diese dritte Konzeption gefunden hat. Hier erscheint Empedokles, ein kaum verhohlener Selbst-Entwurf seines Autors, als ein Sohn seines Himmels und seiner Periode, seines Vaterlandes, ein Sohn der gewaltigen Entgegensetzungen von Natur und Kunst, in denen die Welt vor seinen Augen erschien. […] So individualisiert sich seine Zeit in Empedokles, und je mehr sie sich in ihm individualisiert, je glänzender und wirklicher und sichtbarer in ihm das Rätsel aufgelöst erscheint, um so notwendiger wird sein Untergang.17 Um das „Rätsel“ zu lösen, so zeigt Hölderlin in seiner Abhandlung, musste Empedokles

16 Staiger: „Der Opfertod von Hölderlins Empedokles“, S. 19. 17 Hölderlin: „Grund zum Empedokles“, S. 575, 578.

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einen Schritt weiter gehen, er mußte, um das Lebendige zu ordnen, es mit seinem Wesen im Innersten zu ergreifen streben, […] eben dadurch mußte sein Wille, sein Bewusstsein, sein Geist, indem er über die gewöhnliche und menschliche Grenze des Wissens und Wirkens ging, sich selber verlieren […].18 Die drei Fassungen Hölderlins repräsentieren in ihrer Gesamtheit eine neue ‚Schwelle der Medialisierung‘: Sie stehen (erste Fassung) in der Tradition der antiken Tragödie bzw. (zweite Fassung) in der Tradition des bürgerlichen Trauerspiels respektive entwerfen (dritte Fassung) eine Form, die des analytischen Dramas, die auf das 20. Jahrhundert voraus weist, letztere vorbereitet durch eine weit ausgreifende, Kunst und Leben dialektisch aufeinander beziehende Abhandlung. Es handelt sich um drei Fassungen, die Fragment geblieben sind, und um eine Abhandlung, die alle Denkspuren der philosophischen Avantgarde am Ende des 18. Jahrhunderts trägt und deren Formensprache durchweg motiviert ist durch Gestalt und Legende des Empedokles. Da die drei Dramenentwürfe allesamt Fragmente geblieben sind, könnte man geneigt sein zu sagen: Hölderlins Versuch, den historischen Stoff mit dem zeitgenössischen Denken in einer angemessenen medialen Form zu verbinden, sei gescheitert. Wenn man ‚Scheitern‘ aber als einen Faktor, zumindest als ein Indiz ästhetischer Produktivität versteht, dann wird es von Interesse sein, nach den Gründen hierfür zu fragen. Sie dürften in einem Brief Hölderlins an seinen Freund Neuffer vom 3. Juli 1799 formuliert sein, in dem Hölderlin im Hinblick auf den Entstehungsprozess seines Dramas von seinem „Ideal eines lebendigen Ganzen“ und in diesem Zusammenhang ausdrücklich von einer „stolzen Verleugnung alles Akzidentellen“19 spricht. Zu verwirklichen suche er, so schreibt er an Neuffer, „die strengste aller poetischen Formen, die ganz dahin eingerichtet ist, um, ohne irgendeinen Schmuck, fast in lauter großen Tönen, wo jeder ein eigenes Ganze ist, harmonisch wechselnd fortzuschreiten“20. Die Nähe des SchillerSchülers und -Verehrers Hölderlin zur Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung ist unverkennbar, insbesondere zu Schillers Begriffsdialektik, die darauf angelegt ist – mit Peter Szondi zu sprechen –, „das Naive“ als „das Sentimentalische“ zu konzipieren.21 Diese Begriffsdialektik grundiert auch Hölderlins Konzeption. Er versucht, weil ihm die Form der Tragödie wie die des Trauerspiels verbraucht und untauglich erscheinen, das ‚Sentimentalische‘ im 18 Ebd., S. 582. 19 Hölderlin: Briefe, Bd. 2, S. 904. 20 Ebd. (Hervorhebung im Original). 21 Vgl. Szondi: „Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung“, S. 59-105.

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Sinne Schillers ins ‚Naive‘ zu transformieren und dieses als das ‚Sentimentalische‘ erscheinen zu lassen. Festzuhalten bleibt freilich, dass Hölderlin die Form für ein reines IdeenDrama nicht gefunden hat. Die Form der Tragödie war verloren, wie Hölderlin wusste: „Wir müssen“, so schreibt er, „nach meiner Überzeugung die alten klassischen Formen verlassen, die so innig ihrem Stoffe angepasst sind, dass sie für keinen andern taugen“22. Die „eigentliche Form des Trauerspiels“, so heißt es weiter, „hat ihren eigentümlichen poetischen Wert bei uns verloren“.23 Aus der „stolzen Verleugnung alles Akzidentellen“ aber ließ sich eine neue Dramatik nicht entwickeln – noch nicht, müsste man hinzufügen. Insofern bedeutet ‚Schwelle der Medialisierung‘ im Blick auf Hölderlins Bearbeitungen des Empedokles-Stoffes zugleich, von einer medialen ‚Hemmschwelle‘ zu sprechen.

4

Film

Die Grundlage für den 1986 entstandenen Film von Danièle Huillet (19362006) und Jean-Marie Straub (*1933) bildet die erste Fassung von Friedrich Hölderlins Trauerspiel-Entwürfen zu Der Tod des Empedokles. Es handelt sich um eine französisch-deutsche Koproduktion, deren Uraufführung im Februar 1987 während der Internationalen Filmfestspiele Berlin stattfand. Straub/Huillet waren zu diesem Zeitpunkt bereits als Regisseure einer Reihe bemerkenswert extravaganter Filme hervorgetreten, unter denen insbesondere zu nennen sind Die Chronik der Anna Magdalena Bach (1967) sowie Moses und Aron (nach Arnold Schönbergs Oper; 1975). Auf die Empedokles-Adaption folgten mit Klassenverhältnisse (nach Franz Kafkas Amerika-Roman; 1989), Sicilia! (1999) und Jene ihre Begegnungen (nach Cesare Paveses Gespräche mit Leuko, 1947) drei weitere Filme, in denen der filmgeschichtlich singuläre Gestus des Regie-Paares zum Ausdruck kam – einzigartig durch die Haltung, mit denen sich Straub/Huillet ihren Themen und Vorlagen annäherten, um diese in ebenso prägnante wie komplexe filmische Bilder und Seqenzen zu übersetzen. Dies gilt auch für Der Tod des Empedokles. Die Textfassung wurde erarbeitet in Kooperation mit D.E. Sattler, der für die Hölderlin-Ausgabe des Verlags Roter Stern/Stroemfeld verantwortlich zeichnete. In gewisser Weise ist das ästhetische Prinzip der Verfilmung von Straub/Huillet jenen philologischen Ansprüchen verpflichtet, die der Einleitungsband zur Frankfurter Ausgabe der Sämtlichen Werke Friedrich Hölderlins, mit deutlicher Abgrenzung gegenüber

22

Hölderlin: Briefe, Bd. 2, S. 904.

23 Ebd.

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vorangegangenen Editionen (u.a. Hellingrath, Beißner), bereits 1975 pointiert hatte. Dem philologischen Prinzip der Herausgeber, einen ‚authentischen‘ Hölderlin-Text zu präsentieren, unter Einschluss akribischer Rekonstruktionen von Entstehungsstufen und anhand der den Bänden beigefügten, reproduktionstechnisch vergleichsweise aufwendigen Faksimile-Belege, schlossen sich Straub/Huillet mit ihrer Verfilmung, mutatis mutandis, offenbar an. Ihre vollständig dem Primat des Textes sich überlassende Adaption des Empedokles-Stoffes wirkt, als habe sie sich konsequent orientiert an dem editorischen Postulat der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe: Die Schwierigkeit, die Hölderlins Texte dem Verständnis entgegensetzen, entspricht der Schwierigkeit, Zwang und Normen abzuwerfen. Die Mühe, Hölderlin zu verstehen, gleicht darum jener, die keiner schon hinter sich hat.24 Die Differenz zur Edition besteht freilich darin, dass der Film die Entstehungsstufen des Textes nicht reflektieren kann. Das Editionsmodell der Frankfurter Ausgabe, so hieß es 1975 im Einleitungsband, orientiert sich am Entwurfscharakter des Hölderlinschen Spätwerks. Deshalb ist die herkömmliche Trennung von Lesetext und kritischem Apparat weitgehend aufgehoben. Der Text erscheint nicht isoliert von dem, was ihm voranging, oder gar ‚gereinigt‘ von den letzten Bearbeitungen, sondern wird im Zusammenhang gezeigt. Damit wird der Weg vom ersten Konzept bis zum letztintendierten Text nachvollziehbar.25 Der Film macht sich dieses Modell dadurch zu eigen, dass er den Anspruch auf Authentizität in einer philologisch getreuen Wiedergabe des ersten Entwurfs von Hölderlins Trauerspiel einlöst, und zwar mit äußerster Konsequenz. Bereits ein erster Blick auf die Eingangssequenz vermag dies zu verdeutlichen: Die ästhetischen Maximen, denen der Film insgesamt, mit leichten Modifikationen im Einzelnen, gehorcht, sind hier vorgeprägt. Die Sequenz beginnt mit einer Einstellung auf einen Landschaftsausschnitt, aus dem Off sind die ersten Sätze Pantheas zu vernehmen: „Diß ist sein Garten! dort im geheimen / Dunkel, wo die Quelle springt, dort stand er / jüngst, als ich vorüberging – du / hast ihn nie gesehn?“26 Mit der Anrede an ihre Dialogpartnerin

24 Leiner u.a.: „Editorische Notiz“, S. 18. 25 Ebd., S. 19. 26 Hölderlin: Sämtliche Werke, S. 697.

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Rhea – in den späteren Fassungen ‚Delia‘ genannt – werden die Bildausschnitte jeweils um diese beiden Figuren ergänzt, die, im Wechsel der Gesprächsanteile, einzeln, vor dem Hintergrund der Landschaft, gegeneinander geschnitten sind. Das Prinzip der Kameraführung ist statisch, wie das der Führung der Figuren auch. Eine Bewegung der Figuren vor der Kamera unterbleibt, sieht man einmal von leichten Wendungen des Kopfes in Richtung der jeweils angesprochenen Dialogpartnerin ab. Der Sprachgestus folgt konsequent der Metrik des Textes, ohne diesen in einer Art alltäglicher Geläufigkeit zu verschleifen. Die Ästhetik der Montage ist mithin der Übermittlung des Wortlauts untergeordnet wie auch die Mise-en-scène, die Originalwiedergabe eines Ausschnitts der sizilianischen Landschaft, die ganz unspektakulär Wärme, Licht und Wind des Aufnahmeortes wiedergibt, ohne vom Dialog abzulenken. Der Film bietet ausschließlich Außenaufnahmen. Die Natur erscheint lediglich als Hintergrund und Umgebung, mit einem natürlichen Wechsel von Licht und Schatten, der sich als Reflex des Spiels von Sonne und Wolken erweist. Sparsamkeit und Reduktion lauten die Aufnahme- und Montageprinzipien: sparsame Schnittfolge; geringfügige Wechsel der Einstellungsgrößen zwischen Halbtotale und Totale; nur wenige Nahaufnahmen oder amerikanische Einstellungen; geringe Varianz der Kameraeinstellungen; kaum Bewegung vor der Kamera; kaum Bewegung der Kamera. Die Figuren treten fast ausnahmslos paarweise oder einzeln auf; sie erscheinen nahezu bewegungslos, wenn nicht statisch in die Landschaft gestellt; marmorstatuenhaft, nahezu emotionslos sprechen sie die Sprache Hölderlins, deren Schönheit sich auf diese Weise gewissermaßen unvermittelt mitteilt. Auffallend ist denn auch, inmitten dieses Reichtums der Kargheit, der Sprachgestus, der Hölderlins Text wortgetreu, ja deklamatorisch wiedergibt; der den Jamben, der Vorlage entsprechend, streng durchrhythmisiert ist; mit einer zeilengetreu, das Enjambement nachgerade unterschlagend, die Verse rezitierenden Sprechhaltung, so dass die Sprache ohne Funktion für die Umsetzung der Handlung bleibt. Eine Analyse der Tonmontage ergibt zudem, dass offenbar nicht nachsynchronisiert wurde. Und wären nicht die in der Kleidungstradition der Antike stilisierten Kostüme, die vor dem Landschaftshintergrund Siziliens einen eigenen Reiz entfalten, so könnte man dem Film jede Wirkungsabsicht absprechen. Man kann den ästhetischen Gehalt dieser filmischen Adaption von Hölderlins Empedokles pointiert mit einem Satz zusammenfassen: Er leistet Dienst am Text. Zweifellos liegt Straub/Huillet in erster Linie an der Vermittlung der authentischen Textgestalt, nicht an einer ‚filmischen‘ Umsetzung des Stoffes im traditionellen Sinn. Es handelt sich bei Straub/Huillets Film, mit anderen Worten, nicht um eine ‚Literaturverfilmung‘ gängigen Musters, sondern, im

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Gegenteil, um eine Filmversion des Trauerspiels, die Zwang und Normen der bekannten filmischen Adaptionen literarischer Vorlagen hinter sich gelassen hat. Literaturverfilmungen, sofern sie glücken, haben nur wenig mit ihrem jeweiligen Ausgangstext zu tun, viel hingegen mit dem ‚Zielmedium‘ Film.27 Der Text fungiert als Vorlage – den ästhetischen Maßstab liefert der Film. Nur dort, wo der Film die Vorlage mit seinen eigenen Mitteln aufnimmt und transformiert, gelingt gemeinhin die ‚Verfilmung‘. Mehr noch: Je enger sich der Film an die literarischen Vorgaben des Textes hält, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit seines Scheiterns als Film. Und umgekehrt gilt: Nur in dem Maße, wie die filmischen Bilder ihre eigene Sprache, ihre filmisch unverwechselbare Ausdrucksform gefunden haben, besitzen sie die Chance, ihrer Vorlage gerecht zu werden. Straub/Huillets Film stellt insofern einen vollkommen neuen, originären Versuch dar, „Hölderlin zu verstehen“28, als er den Text Hölderlins – und gerade nicht die ästhetischen Ansprüche und Möglichkeiten des Mediums Film – zum organisierenden Zentrum des Werks macht. Mit einem gewissen Recht ließe sich deshalb von einem ‚unfilmischen‘ Film sprechen, präziser wohl: von einem ‚anti-kinematographischen‘ Film.29 Den Maßstab bildet bei Straub/ Huillet nicht das Medium Film mit seinen vielfältigen technischen Möglichkeiten, auch nicht die filmische Reproduktion einer Bühnenfassung und aufführung, sondern ausschließlich und konsequent der Ausgangstext Hölderlins, sein sprachlicher Gestus und Duktus eingeschlossen. Die Pointe des Films besteht mithin auch darin, die Geschichte des Films und der Medienrevolutionen vorauszusetzen, um sich gegen sie zu kehren und auf diese Weise eine neue Ästhetik der ‚Literaturverfilmung‘ zu begründen, die den Weg zurück zum literarischen Original und seiner poetischen Authentizität sucht und findet.

5

Resümee

Wenn man aus dem bislang Gesagten ein Resümee ziehen will, so lässt sich dies in einer Art evolutionstheoretischer Kehre versuchen: Es handelt sich, wie das Beispiel des Empedokles-Komplexes gezeigt hat, durchaus nicht um ‚Medienumbrüche‘, sondern tatsächlich um ‚Schwellen der Medialisierung‘. Deren 27 Vgl. hierzu und zum Folgenden Schnell: Medienästhetik, S. 145-170. 28 Leiner u.a.: „Editorische Notiz“, S. 18. 29 Für diesen Vorschlag während der Diskussion anlässlich des Symposions Schwellen der Medialisierung (Keio-Universität, Tokyo, 21./22.09.2007) danke ich meinem Kollegen Kanichiro Omiya.

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Konstitutions- und Evolutionsbedingungen bilden die Impulse intermittierender Ideenproduktionen, die sich ein und desselben Gegenstandes, ‚Empedokles‘ genannt, bemächtigen, um diesen fortzuschreiben. Doch indem sie sich seiner bemächtigen, ist er schon nicht mehr, was er, als Legende, einmal gewesen zu sein schien. In historischer Perspektive wie im je aktuellen Zugriff unterlag und unterliegt der Komplex Empedokles fortwährenden Variationen, die zu Modifikationen, die zu Mutationen führen. Bei Straub/Huillet geht es durchaus nicht um die historische Figur oder um die Legende, die Empedokles heißt, sondern um die Geschichte des Films und – soweit es doch um Empedokles geht – um eine der Varianten Friedrich Hölderlins und insoweit, an ihrem Exempel, um das Verhältnis von Tragödie, Theater und Sprache. Bei Hölderlin aber geht es nicht um eine Figur aus der Geschichte der vorsokratischen Philosophie, sondern um einen Charakter, der von Hölderlin in drei Schritten, entsprechend den drei Fassungen, dramatisch entworfen und in zwei Schritten, entsprechend den beiden essayistischen Schriften, theoretisch gedeutet wird. Empedokles selbst schließlich, wenn wir von einer historischen Person dieses Namens überhaupt sprechen können, hat sich bereits in der Antike zu einer Legende verflüchtigt, die sich, wie jede Legendenbildung, als ein Resultat vielfältiger Zuschreibungen verstehen lässt: biographischer oder philosophischer Art, teils quellengestützt, teils rein fiktiv. Der Komplex ‚Empedokles‘ bildet mithin, medienevolutionstheoretisch gesprochen, so etwas wie einen thematischen Organismus. Er hat alle Schwellen der Medialisierung nicht nur überstanden, sondern mit ihrer Hilfe sein Überleben dauerhaft gesichert. Dies freilich konnte nur gelingen um den Preis fortwährender Veränderung bzw. Anpassung an neu entwickelte und neu zu entwickelnde Fragestellungen, die mit dem Ausgangsmaterial nur wenig noch zu tun haben. Am Ende erscheint die Ursprungslegende entstellt zu einer immer neuen Kenntlichkeit. Wenn diese Feststellung als Fazit haltbar erscheint, dann lassen sich an den ‚Schwellen der Medialisierung‘, die der Empedokles-Stoff durchlaufen hat, zugleich einige Prinzipien ablesen, aus denen eine neue Produktionsästhetik zu entwickeln wäre. Sie hätte am wenigsten mit den materiellen Implikationen historischer Daten oder Kontexte zu tun, sondern müsste die Eigendynamik philosophischer und ästhetischer Produktivität herausarbeiten und ebenso den Eigensinn, der jeder Art denkender oder künstlerischer Formung zugrunde liegt.

Literaturverzeichnis Birkenhauer, Theresia: „‚Natur‘ in Hölderlins Trauerspiel ‚Der Tod des Empedokles‘“, in: Hölderlin-Jahrbuch, 30. Jg. (1996-1997), S. 207-226.

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Birkenhauer, Theresia: Legende und Dichtung. Der Tod des Philosophen und Hölderlins Empedokles, Berlin 1996. Böhme, Gernot/Böhme, Hartmut: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, München 2004. Empedokles: „Die Natur“, in: Die Vorsokratiker II. Auswahl der Fragmente, Übersetzung und Erläuterungen von Jaap Mansfeld, Stuttgart 1999, S. 71141. Empedokles: „Reinigungen“, in: Die Vorsokratiker II. Auswahl der Fragmente, Übersetzung und Erläuterungen von Jaap Mansfeld. Stuttgart 1999, S. 141-155. Hölderlin, Friedrich: Werke und Briefe, hrsg. v. Friedrich Beißner/Jochen Schmidt, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1969. Hölderlin, Friedrich: „Grund zum Empedokles“, in: Werke und Briefe, hrsg. v. Friedrich Beißner/Jochen Schmidt, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1969, S. 570583. Hölderlin, Friedrich: „Briefe“, in: Werke und Briefe, hrsg. v. Friedrich Beißner/Jochen Schmidt, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1969, S. 795-1004. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe, Empedokles II, hrsg. v. Dietrich E. Sattler, Frankfurt a.M. 1985. Leiner, Michel/Sattler, D.E./Wolff, KD: „Editorische Notiz“, in: Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. ‚Frankfurter Ausgabe‘, Einleitung, Frankfurt a.M. 1975, S. 16-19. Nietzsche, Friedrich: „Basler Vorlesung“ (1872), zit. nach Hölscher, Uvo: „Empedokles von Akragas. Erkenntnis und Reinigung“, in: HölderlinJahrbuch, 13. Jg. (1963/64), S. 21-44. Schlaffer, Heinz: Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen, München 2007. Schnell, Ralf: Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen, Stuttgart 2000. Staiger, Emil: „Der Opfertod von Hölderlins Empedokles“, in: HölderlinJahrbuch, 13. Jg. (1963/64), S. 1-21. Szondi, Peter: „Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung“, in: ders.: Schriften II, Frankfurt a.M. 1978, S. 59106.

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Kanichiro Omiya

Ein Ende der Mediengeschichte Carl Schmitts Die Buribunken 1

Kain und Abel oder eine Seele, die entzweigeht

In den 1910er Jahren hat sich Carl Schmitt mit einigen literarischen Bohèmen befreundet, von denen einer Theodor Däubler, der Dichter des Nordlichts war, ein anderer Fritz Eisler, mit dem er zusammen die Satire Schattenrisse anonym verfasste. 1916 hat er die Studie Theodor Däublers Nordlicht1 veröffentlicht, kurz nach der Erscheinung seiner Habilschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen.2 Gewiss gibt es in der Geschichte der Deutschen Literatur zahlreiche dichtende Juristen, es sieht sogar aus, als bildeten sie eine Tradition: Joseph von Eichendorff, E.T.A. Hoffmann, Franz Grillparzer, Ludwig Thoma, Henrich Heine, Adalbert Stifter, Theodor Storm, um von Goethe und Jakob Grimm ganz zu schweigen. Die Kette dieser namhaften Beispiele läuft bis ins 20. Jahrhundert fort, wie Kurt Tucholsky und Franz Kafka zeigen. Dichter und Juristen standen einander näher, diskursanalytisch betrachtet waren beide treuste Söhne der Alphabetisierung um 1800 alias des „Muttermunds“, wie dies Friedrich Kittler einst schön dargestellt hat.3 Diese zwei Seelen, die eigentlich eine einheitliche waren, gingen jedoch nach und nach auseinander, als sie sich in je eigener Art zu entwickeln begannen. Schon der geschichtliche Bedeutungswechsel des Wortes „Germanistik/Germanisten“ ist ein Beweis dafür. So ist im Laufe des 19. Jahrhunderts dem Juristen entweder ein weitgehend garantierter Status im Beamtentum versprochen worden oder eine Karriere im privaten Bereich mit einem relativ gesicherten Lebensstandard, während der Dichter allmählich, auch wenn er einen publikatorischen

1

Schmitt erkannte in Däublers Gedicht Das Nordlicht ein „spezifisch bildnerisches Formgefühl“, das ihm seinem eigenen verwandt zu sein schien. Schmitt: Theodor Däublers „Nordlicht“, S. 18.

2

Schmitt: Der Wer des Staates und die Bedeutung des Einzelnen. Als Motto zu diesem Werk zitiert Schmitt eben die Verse aus Däublers Nordlicht: Zuerst das Gebot, die Menschen Kommen später.

3

Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, S. 68ff.

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Erfolg hatte, an den Rand der Gesellschaft rückte, jener Gesellschaft nämlich, die sich angesichts der erhobenen Widersprüche, die am eigenen Rande sichtbar wurden, mit dem Prinzip Sicherheit überziehen wollte. Als zwei Paradebeispiele solcher Widersprüche sind die Arbeiterbewegung und die sowohl moralisch als auch politisch zweideutige Figur des Bohèmiens zu nennen. Es ist kein Zufall, dass Baudelaire, der sich eben als Bohèmiens bezeichnete, in seinem Gedichtezyklus Révolte die gesellschaftliche Unstimmigkeit quasi in eine ‚Zwei-Rassen-Theorie‘ umschmiedete: Race d’Abel, dors, bois et mange; Dieu te sourit complaisamment. Race de Caïn, dans la fange Rampe et meurs misérablement.4 Indem Walter Benjamin in seinem von Adorno î mit Unrecht î abgelehnten Aufsatz Das Paris des Second Empire bei Baudelaire diese entgegengesetzten zwei Rassen mit Cassagnac und Marx in die von Bourgeoisie und Proletariat umdefiniert hat, wollte er jedoch weniger das ins Unversöhnbare gesteigerte Spannungsverhältnis der beiden Rassen bzw. der Klassen in Paris zur Mitte des 19. Jahrhunderts als gesellschaftliches ,Problem‘ darstellen, als vielmehr die eigentliche Zweideutigkeit der intellektuellen Bohème und ihren geschichtlichen Wandel, dass sie mal als Verschwörer des Widerstands erschien, mal in der Komplizenschaft mit Louis Bonaparte stand, bis sie aber in den darauffolgenden Zeiten schließlich mitsamt dem Proletariat als Kains Rasse ausgestoßen wurde. Der Satanismus von Baudelaire darf nicht allzu schwer genommen werden. Wenn er von einiger Bedeutung ist, so als die einzige Attitüde, in der Baudelaire eine nonkonformistische Position auf Dauer zu halten imstande war. […] Es heißt das Problem nur anders wenden, wenn man die Frage aufwirft, was Baudelaire nötigte, der radikalen Absage an die Herrschenden eine radikal-theologische Form zu geben.5 Schon bei den meisten der genannten deutschen Dichterjuristen kann man ganz leicht den Verdruß an dem Jurastudium und das ambivalente Verhältnis zur Juristerei bemerken. Sie schwankten sozusagen zwischen Abel und Kain, bis der eine dem anderen bald unterlag. Sie wurden nämlich Abel mit Kains Herz, wenn sie am ordentlichen Berufsstand festhielten, oder umgekehrt Kain 4

Baudelaire: „Abel et Caïn“, S. 173.

5

Benjamin: „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“, S. 524f.

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mit Abels Herz, wenn darauf verzichtet wurde. Selbst Baudelaire begann wohl nur ungern einmal Jura zu studieren. Er hatte doch auch ein kleines von Abels Herzstückchen. Fast immer dringt das Bekenntnis der Frömmigkeit wie ein Streitruf aus Baudelaire. Er will sich seinen Satan nicht nehmen lassen. Der ist der wahre Einsatz in dem Konflikt, den Baudelaire mit seinem Unglauben zu bestehen hatte. Es geht nicht um Sakramente und um Gebet; es geht um den luziferischen Vorbehalt, den Satan zu lästern, dem man verfallen ist.6 Anstatt des Gottesvorbehalts gilt bei Baudelaires satanistischer Theologie der luziferische, wovor der ,fromme‘ Dichter eben seine Verbundenheit mit Abels Rasse verrät. Hierin ist er Kain mit Abels Herz. Demgegenüber trifft die Bezeichnung Abel mit Kains Herz auf Schmitt insofern gut, als er zwar seit 1920 wohl wegen seines ,beruflichen Vorbehalts‘ mit der Dichtung scheinbar aufgehört hat, jedoch an die Leser seiner staatsrechtlichen Schriften hohe stilistische Ansprüche stellte. Die Dichterei in der Jugendzeit ist nicht einfach verschwunden, sie ist vielmehr in seine eigentliche, juristische Arbeit eingegangen und dort erfolgreich integriert worden: Manchmal wird ihm das Herz allzu voll, sodass es ihm in die schreibende Hand übergeht. Das ist eben einer der Gründe dafür, dass er außer den Fachspezialisten über eine große Leserschaft verfügte und immer noch verfügt. Seine Feinde, Abels treue Nachkommen, lehnen seine Gedanken eben als reine Poesie ab, mit derselben Begründung also, wie seine Freunde aus Kains Ecke davon fasziniert sind: Benjamin, Ernst Jünger, Curtius, Bloch, Taubes, als wären sie vom Teufel ergriffen worden. So sieht Schmitt in seiner Politischen Theologie im Satanismus des 19. Jahrhunderts „keine beiläufige Paradoxie, sondern ein starkes, intellektuelles Prinzip“7 und zitiert die letzte skandalöse Strophe von Abel et Caïn, was Benjamin seinem Baudelaire-Aufsatz merkwürdigerweise ersparte. Race de Caïn, au ciel monte, Et sur la terre jette Dieu!8 Dann fährt Schmitt jedoch fort: Nur ließe sich diese Position nicht halten, denn sie enthielt zunächst nur eine Vertauschung der Rollen von Gott und Teufel. Auch ist Proudhon im Vergleich zu den spätern Anarchisten noch ein moralistischer Kleinbürger, der an der Autorität des Familienvaters und am 6

Ebd., S. 526.

7

Schmitt: Politische Theologie, S. 80.

8

Baudelaire: „Abel et Caïn“, S. 174.

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monogamen Familienprinzip festhält. Erst Bakunin gibt dem Kampf gegen die Theologie die ganze Konsequenz eines absoluten Naturalismus. Zwar will er den ‚Satan verbreiten‘, und hält er das î im Gegensatz zu Karl Marx, der jede Art Religion verachtete î für die einzige wirkliche Revolution. Aber seine intellektuelle Bedeutung beruht doch auf seiner Vorstellung vom Leben, das kraft seiner natürlichen Richtigkeit die richtigen Formen von selbst aus sich selbst schafft.9 Wie der spanisch-katholische Staatswissenschaftler Donoso Cortes mit vollem Respekt den patriarchalischen Anarchisten Proudhon sich entgegengesetzt sieht, sieht Schmitt in Bakunin, der die letzten theoretischen Konsequenzen aus der Anti-Theologie gezogen hat, seinen eigenen, eigentlichen Gegenspieler in der postmonarchischen Staatslehre, die jedoch statt dieses ehrwürdigen Namens nach 1918 ganz nominalistisch „Verfassungslehre“ heißen musste.10 Der Umgang mit dem anarchistischen Psychopathologen Otto Groß in Schwabing vor dem Ende des Ersten Weltkriegs wäre wohl die Suche nach Bakunins Repräsentanz gewesen. Dies hat man bisher selber psychopathologisch damit erklärt, dass Schmitts Beziehung zu Groß etwa durch eine Art Ödipuskomplex motiviert gewesen wäre. Aus solchem Psychologismus würde allerdings nur eine innerlich zwiespältige und gebrechliche Persönlichkeit herauskommen, was zur Bagatellisierung seiner wissenschahftlichen Tätigkeit führte, ohne sich damit ernsthaft auseinanderzusetzen. Seiner Suche nach den Dissidenten sollte man nicht seine eigene Neigung dazu entnehmen, sondern vielmehr seine staatsrechtlerische Gesinnung, dass nämlich der moderne Staat, solange dieser î statt ein neutraler und normativistischer Gesetzgebungsstaat zu bleiben î der wahre Erbe der römischen Kirche sein will, sich ebenfalls als die Complexio oppositorum erkennen muss, wie Schmitt in seiner kleinen Schrift „Römischer Katholizismus und politische Form“11 darstellt. Der Staat konstituiert sich demnach ebenfalls aus extremen Gegensätzen und besteht als deren integrative Form, die die Spannung weiter behält, ohne sie auszuschalten.

9

Schmitt: Politische Theologie, S. 84 (Hervorhebung im Original).

10 Schmitt selbst war allerdings kein Nominalist, sondern ein Realist. Seine staatstheoretische Bemühung zielte darauf ab, diesem nominalistischen Gebilde „moderner Staat“, der sich selbst nicht begründen kann, eine reale Basis zu geben. Begriffe wie „das Politische“, „Repräsentation“, „Institution/Institut“ oder „konkrete Ordnung“ sind Beweis dafür. Selbst „Verfassung“ sei ein „existenzieller Begriff“; vgl. Schmitt: Verfassungslehre, S. 3ff., 200ff. 11 Schmitt: Römischer Katholizismus und politische Form, S. 10ff.

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Aus den verschiedenen, entgegengesetzten Interessen, Meinungen und Bestrebungen muss die politische Einheit sich täglich bilden, nach dem Ausdruck von Rudolf Smend, sich „integrieren“12. Ohne Gegensätze kann es keinen Staat geben. Das gespannte Verhältnis der Gegensätze gehört zu der Staatsräson, der der moderne Staat seine Existenz überhaupt verdankt. Demnach kann die moderne Verfassungslehre den modernen Anarchismus nicht entbehren. Bakunins Naturalismus geht so weit zu predigen, dass aus der Familie als dem eigentlichen Sündenzustand zum paradiesischen Matriarchat zurückzukehren sei, wo es keine autoritäre Entscheidung über politische Probleme und damit keinerlei Herrschaft gäbe, was zugleich die Verwirklichung der Idee des Anarchismus sein soll. Aber „bei dem größten Anarchisten des 19. Jahrhunderts, Bakunin“ î so Schmitt î „ergibt sich die seltsame Paradoxie, daß er theoretisch der Theologe des Anti-Theologischen und in der Praxis der Diktator einer Anti-Diktatur werden mußte“13. Die scheinbare Seltsamkeit der Tatsache, dass mit diesem Satz der ganze Band der Politischen Theologie beinahe zu plötzlich und ohne das letzte î wenn man will: synthetische î Wort abgeschlossen wird, hat einen stilistischen und performativen Grund. Der Gegensatz ist klar aufgestellt worden: der Kampf zwischen Donosos gegenrevolutionärer Autorität und der Anarchie Bakunins, wo in Wirklichkeit miteinander zwei Theologen oder Diktatoren ringen. Schmitts Beobachtung aus dem Jahre 1922, dass der Kampf unentschieden bleibt, liegt auf der Hand. Und auf der Ebene der Darstellung sieht es so aus, als ob der Gegensatz als barer Gegensatz aufgeworfen daläge, was jedoch alles andere als die romantische Vorstellung vom ewigen Gespräch ist, welche Schmitt am Anfang dieses IV. Kapitels des Buches Zur Staatsphilosophie der Gegenrevolution mit vollem Spott ins Wirkliche, d.h. ins Politische, hinübergezogen hat. Überall, wo die katholische Philosophie des 19. Jahrhunderts sich in geistiger Aktualität äußert, hat sie in irgendeiner Form den Gedanken ausgesprochen, daß eine große Alternative sich aufdrängt, die keine Vermittlung mehr zuläßt. ‚No medium‘, sagt Newman, ‚between catholicity and atheism.‘ Alle formulieren ein großes Entweder-Oder,

12 Schmitt: Verfassungslehre, S. 6. Auf Schmitts Distanzierung von der Smendschen „Integrationslehre“ geht dieser Aufsatz nicht ein. 13 Schmitt: Politische Theologie, S. 84. Gemeint ist hier Bakunins Idee der „unsichtbaren Diktatur“, die er auch bei der anarchistischen Machterfgreifung und -ausübung für notwendig hielt.

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dessen Rigorosität eher nach Diktatur klingt als nach einem ewigen Gespräch.14 Was Donoso Cortes gegen Proudhon in dieser Form ausgerufen hat, war der ewige Kampf statt des romantischen ewigen Gesprächs. Das ist eben die Ausgangssitutation der kontrarevolutionären Staatsphilosophie des 19. Jahrhunderts. Da es kein Medium zwischen Donoso und Proudhon, zwischen dem politischen Katholizismus und dem Anarchismus gibt, muss die Spannung „des großen Entweder-Oder“ ohne Vermittlung ausgesprochen werden. Was man hier nicht ignorieren darf, ist, dass dies trotz der Vermittlungslosigkeit dennoch die gespannte Form des Staates bildet, mit anderen Worten: aus der Vermittlungslosigkeit muss eben die politische Form des modernen Staats werden, weshalb dieses Argument später als der Begriff des Politischen wiederkehrt. Der Anti-Pluralist Schmitt, dem als Staatsrechtler des 20. Jahrhunderts das ZweiWelten-Schema innerhalb eines Staates, der doch als Leviathan eine politische Einheit bilden soll, als solche nicht unzulässig erschien, sieht eben in dem „großen Entweder-Oder“ die neuaufgetauchte Aufgabe des Staates als der umfassenden, integrativen Form, die die Vermittlungslosigkeit derart zu überwinden, dass diese in die äußerste Spannung zwischen den Extremen umgeschmiedet wird. Und diese paradoxe Form heißt eben „das Politische“. Wo das Prinzip des Politischen in einem Staat aktualisiert wird, können sich Kain und Abel wieder Brüderschaft schwören, mit einem alten Wort: sie sind friunde.15

14 Schmitt: Politische Theologie, S. 69. 15 Dass das Wort „friund = Freund“ eigentlich geschworene Bruderschaft bedeutete, während „Feind“ kein inimicus, sondern hostis = Gast war, ist die begriffsgeschichtliche Überlegung, die der Schmittschen Unterscheidung von Freund und Feind zugrunde liegt; vgl.: Schmitt: „Der Begriff des Politischen“, S. 5f. und Corollarium 2 „Über das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind (1938)“, in: „Der Begirff des Politischen“, S. 104. Sollten Kain und Abel in einem Staat endlich wieder auseinandergehen und sich entgegensetzen, was zugleich das Ende des Politischen als des allerletztmöglichen Formprinzips bedeuten würde, werden sie dann „die absoluten Feinde“; vgl.: Schmitt: Theorie des Partisanen, S. 91ff. Hingegen verweist Jacques Derridas Idee von l’amitié = Freundschaft auf die schwache Tradition der absoluten Freundschaft; vgl. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 406ff. Der Beweis dafür, dass Schmitt den allerletzten und wohl zum Scheitern verurteilten Beruf des modernen Staates tatsächlich in der Integration von Abel und Kain sieht, wird in seiner späteren Arbeit Theorie des Partisanen ausdrücklich geliefert. Die Anarchisten Gilles Deleuze/Félix Guattari stellen mit ihrer These, dass Staat und Kriegsmaschine (alias Abel und Kain) zwei sich ausschließende Prinzipien seien, das negative Spiegelbild Schmittschen Bedenkens dar; vgl. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 482ff.

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Die Buribunken als Schattenrisse einer rechtsstaatlichen Entwicklung

Für den Verfasser der Politischen Theologie geht es dem Staat also weder um die Vertauschung der Rollen noch um die Auflösung der theologischen Vorstellung, sondern um die Art des Integrierens von Gott und Teufel alias Abel und Kain. Was den dichterisch schreibenden Juristen Schmitt treibt, ist ebenfalls dieser Zwang zur Integration, die er als Advocatus diaboli für sich und die zeitgenössische Staatsidee für notwendig hielt. Für ihn ist der Staat eben Abel mit Kains Herz und darf nichts anderes sein. Und umgekehrt kann man auch in seinem literarischen Werk die Kehrseite derselben Bemühung um die Integration durch Spannungsverhältnisse beobachten. Also: Kain mit Abels Herz. Sein letztes Werk Die Buribunken. Ein geschichtsphilosophischer Versuch ist 1918, im Jahre des Zusammenbruchs des Deutschen Kaiserreichs, in Franz Bleis Zeitschrift Summa16 erschienen, die von 1917 bis 1918 viermal publiziert wurde, und zu der Schmitt dreimal beitrug. Die Buribunken ist sein letzter Beitrag zum letzten Band. Als Beiträge zum gleichen Band finden sich u.a. Hermann Brochs Konstruktion der historischen Wirklichkeit17 oder Robert Musils Skizze der Erkenntnis des Dichters18. Stilistisch betrachtet ist Die Buribunken eine Satire auf wissenschaftliche Abhandlungen. „Ein geschichtsphilosophischer Versuch“ soll diese Pseudoabhandlung sein, die die geschichtliche Entwicklung der Gemeinwesen der „Buribunken“ darstellt. Die Wissenschaft über die Buribunken heisst „Buribunkologie“19. Sie ist ihrem Gegenstand, dem Buribunkentum gegenüber dadurch in einer besondern günstigen Lage, daß ein gleicher Geist beide beseelt und zu einer harmonischen Ehe verbindet.20 Beide sind von demselben Geist beseelt. Das, was ein Buribunke, und das, was ein Buribunkologe macht, sind ein und dasselbe: Schreiben. Um es weniger romantisch-ästhetisch und nüchterner auszudrücken, verdanken die Buribunken ihre Existenz den Buribunkologen, die die „Buribunkologie“ genannte Wissenschaft betreiben. Weil es Buribunkologie gibt, gibt es auch die Buribunken. 16 Schmitt: „Die Buribunken“, S. 89-106. Teilweise bzw. zum großen Teil abgeschrieben in: Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 334-351. 17 Broch: „Konstruktion der historischen Wirklichkeit“, S. I-XVI. 18 Musil: „Skizze der Erkenntnis des Dichters“, S. 164-168. 19 Schmitt: „Die Buribunken“, S. 90. 20 Ebd.

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Diese Wissenschaft garantiert die Existenz ihres eigenen Gegenstands. Somit sind die Buribunken und das Buribunkentum kein realistisches, sondern ein nominalistisches, andersherum gesagt ein wissenschaftspo(i)etisches Gebilde.21 Auch die Buribunkologie ist keine Staatslehre, die den faktischen Bestand der konkreten Substanz voraussetzt, sondern eine Verfassungslehre. Was das Gemeinwesen der Buribunken verbindet, ist weder der gemeinsame Wille zur politischen Einheit noch die absolutistisch-zentralistische Ordnung, die verschiedene, einander inkompatible Institutionen und Institute in einem Gebiete abstrahierend entstehen hieß, sondern eine dogmatische Wissenschaft, deren Entwicklung erst die Buribunken selbstreferenziell (er-)findet. Demnach soll es zwei buribunkologische Merkmale der Buribunken geben, nämlich eine bestimmte Tat, worin auf den ersten Blick nur private Bedeutung zu erkennen wäre, die dennoch bei den Buribunken institutionalisiert ist, und eine physiologische Eigenschaft, die sich die Bevölkerung ebenfalls durch jene Tat angeeignet hat. Mit anderen, dem Text getreuen Worten: Ein Buribunke ist sowohl durch ein bestimmtes körperliches Merkmal als auch durch ein geistiges ausgezeichnet, nämlich dadurch, dass er ein großes ‚Maul‘ hat, und dass er Tagebuch führt. ‚Ein großes Maul haben‘ meint nicht bloß idiomatisch ‚prahlen‘, sondern der Buribunke hat tatsächlich ein weit klaffendes Maul, das heißt ein „medizinisches“22 Merkmal. Angespielt wird hier gewiss auf das Blutprinzip der Nation, dessen abartige Entwicklung die an sich pseudowissenschaftliche Rassentheorie herbeiführte, die den Zusammenhang der vererbten physiologischen Eigenschaften einer Rasse mit ihrem geistigen Entwicklungsstand sicherstellen zu können glaubte. Allerdings ist das große ‚Maul‘ eines Buribunken nicht das Ergebnis der Vererbung, sondern seiner eigenen geistigen Tätigkeit, d.h.: sie führen Tagebuch. Das erweiterte ‚Maul‘ bedeutet nicht bloß eine physiologisch-naturhafte Eigenschaft der Buribunken; es könnte nämlich vielmehr „ein tiefer Zusammenhang des erweiterten Mauls mit der höhern Geistigkeit“ bestehen, „da der Geist sich den Körper baut“.23 Während das große ‚Maul‘ der Buribunken schließlich eher „eine mehr medizinische Betrachtung verlangte“24, ist das geistige Merkmal der buribun21 So ließe sich z.B. den geschichtlich kontinuierlichen Bestand der Nationalliteratur ,literaturwissenschaftlich‘ rekonstruieren. 22 Schmitt: „Die Buribunken“, S. 90. 23 Ebd., S. 92. Dieser buribunkische ,Geist‘, der sich den Körper baut, ist, wie im folgenden dargestellt wird, kein immaterielles Willensprinzip, sondern ein selber schon medientechnisch bedingtes, das gleichsam wie ein ,Betriebsprogramm‘ wirkt. 24 Ebd.

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kischen Tätigkeit, dass sie Tagebuch führen, „in der Entfaltung des Tagebuchgedankens eben historisch“25 nachzuweisen. Diese Entfaltung wird im Text Die Buribunken in drei geschichtlichen Entwicklungsstufen dargestellt, denen der Fortschrittsgedanke zugrunde liegt, weswegen sie von der Gegenwart aus, wo die Idee des Buribunkentums verwirklicht worden ist, oder wo dessen Geist sich selbst verwirklicht hat, rückblickend erzählt wird. Heute, da es uns vergönnt ist, die strahlende Mittagshöhe der Tagebuchidee in ihrer ganzen Köstlichkeit zu genießen, übersehn wir nur zu gern, welche Großtat jener Mensch verrichtete, der, vielleicht ein ahnungsloses Werkzeug des Weltgeistes, mit der ersten, unscheinbaren Notiz das Senfkorn pflanzte, das jetzt als mächtiger Baum die Erde überschattet.26 Als Tagebuchschreiber sind die Buribunken also auch großmäulig und führen das große Wort. Ein erster Vorläufer aller Buribunken ist Don Juan, der bekanntlich seinen Diener Leporello seine ,Eroberungen‘ katalogisieren ließ. Aber da ihm doch jedes geschichtliche Bewusstsein fehlte, und sein Katalog schließlich nichts mehr als ein ganz „oberflächlicher und renommistischer Spaß“27 wurde, ist er nicht als echter Buribunke zu bezeichnen. Wir bemerken nichts von jener, den Buribunken auszeichnenden Haltung, die aus dem Bewußtsein entspringt, jede einzelne Sekunde des eigenen Daseins für die Geschichte zu konservieren, sich selbst als Denkmal zu setzen und zu sehen. Er stürzt sich zwar auch auf die einzelne Sekunde, wie der tagebuchführende Buribunke, und darin liegt gewiß eine Ähnlichkeit in der psychischen Gebärde. Anstatt jedoch seine Beute im lichten Tempel auf dem Altar der Geschichte zu weihen, schleppt er sie in die dunstige Höhle brutaler Genußsucht, verschlingt sie wie ein Tier zur Sättigung grober Instinkte.28 Sowohl Don Juan als auch sein Registerschreiber Leporello sind noch in der tierischen Natur verfangen geblieben, ohne sich und Ihre Taten in die Höhe der „Geschichte“29 erheben zu können. Derjenige, dem als erstem dieser entscheidende Übergang von der Natur in die Geschichte gelungen ist, heißt dann Ferker, der plebeischer Abstammung ist und mit einem lateinlosen Schulabschluss nach der wechselhaften Lebensbahn seines letzten Zeichens „Dozent für Reklamewesen und Arrivistik“ an der „Handelshochschule in Ale25 Ebd. 26 Ebd. 27 Ebd., S. 93. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 93 et passim.

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xandria“ wurde, wo er starb.30 Er hat nach dem Schlagwort „Sei dir selbst die Geschichte! Lebe, daß jede deiner Sekunden in deinem Tagebuch eingetragen werden und deinem Biographen in die Hände fallen kann!“31 die buribunkologische Wissenschaft institutionell aufgebaut, was zugleich die Geburt des Buribunkentums bedeutete. Aber trotzdem kann man Ferker nicht den Helden des Buribunkentums nennen, sondern er ist „nur der Moses, der das gelobte Land schauen, aber noch nicht betreten durfte“32. Ist er doch kurz vor seinem Tode „eine bürgerlich-kirchliche Ehe“33 eingegangen, und zwar mit seiner eigenen analpabetischen Haushälterin. Außerdem hat er sich wohl vor dem Tod gefürchtet, weswegen er weder über seine Eheschließung noch über den Tod Tagebuchnotizen hinterlassen hat. Was heute jedem von uns geläufig ist, die geistig-seelischen Kämpfe und Krämpfe, die uns in unserer freien Schaffensfreude beeinträchtigen, eben zum Objekt der Schaffensfreude zu machen, das hatte Ferker noch nicht mit der unbedingt erforderlichen Entschiedenheit erkannt.34 Eigene Todesängste und die Ehe in Verbindung zu bringen und diese im dunklen privaten Bereich zu verstecken, ohne sie durch die Eintragung ins Tagebuch öffentlich zu machen î dies wird die unburibunkische „Inkonsequenz“35 genannt. Ehe und Tod oder Trau und Trauer gehörten ursprünglich zu den öffentlichen Ereignissen, wo die versammelten Anwesenden eine organisierte Einheit bilden sollen, statt eine bloße Schar zu sein. Die wahre, d.h. geistige Versammlung geschieht jedoch bei den Buribunken erst durch die Eintragung ins Tagebuch. Weder Applaus noch Klage, noch standesamtliche Urkunde, sondern das Tagebuch ist das einzige buribunkisch berechtigte Mittel, diese Vereinheitlichung gegen die allgemeine Vergesslichkeit der Menschen in der Geschichte festzuschreiben. Für die Buribunken soll das Tagebuchführen also keineswegs eine private, sondern eine durchaus öffentliche Tätigkeit bedeuten, die sich als eine solche in der Geschichte erweisen muss. Die geschichtliche Verwirklichung dieser Idee des öffentlichen Tagebuchs ist wohl nicht reibungslos verlaufen. Was mit Ferkers Versäumnis, das wohl eine Überzeugungstat war, auch zu vergleichen wäre, ist der Untergang des Le30 Ebd., S. 97. 31 Ebd., S. 96. 32 Ebd., S. 99. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 100. 35 Ebd.

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viathan, den Schmitt in den 1930er Jahren dargestellt hat, nämlich: Der Leviathan soll aus der in die Öffentlichkeit gebrachten Todesangst der Bürger entstanden sein und durch die Spaltung zwischen dem öffentlichen Glauben (confessio) und der inneren Gesinnung (fides) zugrundegehen.36 Wie der Leviathan eben dort sterblich ist, wo der Wille zum Engagement in der geschichtlichen Öffentlichkeit fehlt, dürften die Buribunken auch bei Ferkers Tod, den er mitsamt der Ehe vor dem Lebensende völlig privatisieren wollte, wohl in eine Überlebenskrise geraten sein. Aber mitten in der Gefahr wächst der Rettende auch. So wurde dieser für den modernen Staat eigentliche Todeskeim ,Innerlichkeit‘ von Schnekke, dem ersten echten, zölibatären buribunkischen Helden, nicht mehr als unvermeidbares Schicksal hingenommen, sondern als Herausforderung angenommen und überwunden. Er ist nichts mehr als Tagebuchführer, er lebt für das Tagebuch, er lebt in und vom Tagebuch, und wenn er endlich auch Tagebuch darüber führt, dass ihm nichts mehr einfällt, was er ins Tagebuch schreiben könnte.37 Unter Schnekke, den der eigene Tod als individuelles Ereignis und die bürgerliche Ehe als Privatisierung der Institution der Eheschließung nicht interessieren, ist das Reich des Buribunkentums errichtet worden, was den Sieg des Allgemeinen und Universellen gegen das Individuelle und Private bedeutet: Denn mitten in seinen ununterbrochenen Tagebüchern fand Schnekke bei seinem starken Allgemeingefühl und seinem universellen Instinkt Gelegenheit, das Tagebuch aus der verengenden Verknüpfung mit der Einzelperson zu lösen und zu einem Kollektivorganismus zu gestalten. Die großzügige Organisation des obligatorischen Kollektivtagebuchs ist sein Werk. Dadurch hat er die äußern Bedingungen für eine buribunkische Innerlichkeit gesetzt und gesichert, hat er das rauschende Chaos unverbundenen Einzelburibunkentums zu der tönenden Vollendetheit eines buribunkischen Kosmos emporgeführt.38 Schnekke hat die Krise nicht durch die erneute Institutionalisierung der Ehe oder des Todes überwinden wollen; seine Strategie ist nicht die Restauration der genealogischen Standesordnung, die für ein patrimoniales Buribunkentum nützlich wäre, sondern die allgemeine Vernetzung aller Buribunken in einen Selbstlegitimationsmechanismus. Dass dieser Mechanismus ausgerechnet das kollektiv geführte Tagebuch ist, nimmt die spätere Romantik-Kritik desselben

36 Vgl. Schmitt: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 79ff. 37 Schmitt: „Die Buribunken“, S. 100. 38 Ebd., S. 100f.

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Verfassers vorweg. Geschichtlich betrachtet ist das Tagebuch kein bloßes Medium der Innerlichkeit, sondern vielmehr deren Verstärker: Aus der Rückkopplung von schreibendem Ich und beschriebenem Ich tritt die Subjektivität hervor, was anders als beim selbstgenügsam sentimentalen Ich die polemische Negation der bestehenden ästhetischen sowie politischen Ordnung bedeutet. Dieser destruktive Faktor, den das Tagebuch eigentlich enthalten soll, wird in der Beschreibung der Geschichte von den „Buribunken“ einfach ignoriert und übersprungen. Stattdessen kommt einem rebellischen Geist schon im Voraus die unbedingte Freiheit der Meinungsäußerung entgegen. Hierin finden Freiheit und Gehorsam schon ihre harmonisierte postsubjektivistische Verbindung. Der frühaufklärische Befehl: „Räsonniert, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht!“, den nach Kant „ein einziger Herr in der Welt“ des 18. Jahrhunderts erließ,39 wird dann in den buribunkischen Imperativ umgeschmiedet, welcher nun heißt: Schreibt, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur hört nicht auf! Das ewige Gespräch bleibt insofern harmlos und unwirksam, als es nur weitergeführt wird, und sei es das Gespräch zwischen Abel und Kain. Der wirkliche Anstoß sollte erst dort beginnen, wo das Gespräch unterbrochen wird und daraus ein nicht mehr schreibendes, sondern handelndes oder handeln wollendes Subjekt hervortreten würde. Diese Chance ist jedoch von den Romantikern wegen ihres Okkasionalismus, welcher alles andere ist als die Complexio oppositorum als Formprinzip eines modernen Staates, entscheidend verpasst worden. Dies wäre die Lehre, die der misstrauische Verfasser der „Politischen Romantik“ aus dem romantischen Wirrwarr um 1800 gezogen hat. Ganz ironischerweise können die Buribunken nur dadurch, dass sie dauerhaft in der Schreibstube hocken und Tagebuch führen, aus der dunklen privaten Sphäre in die öffentliche heraustreten. Ob der Name Öffentlichkeit dieser Sphäre angemessen ist, ist eine andere Frage. Die „Organisation des obligatorischen Kollektivtagebuchs“40 funktioniert gleichsam wie ,das tägliche Plebiszit‘, wodurch î laut Ernest Renan î der Gemeinwille eines modernen Nationalstaats und die Opferbereitschaft des Einzelnen überprüft werden sollen. Während Renans Plebiszit ein ideeles bleibt, hat Schnekke dieses durch die Einführung des Kollektivtagebuchs tatsächlich jeden Tag durchführbar gemacht. Sofern die Tagebücher kollektiverweise geführt werden und den buribunkologischen Untersuchungen Materialien liefern, kann sich das Buribunkentum als eine real existierende Nation behaupten (allerdings nur ,tagebuchreal‘, denn die Buribunken können nur schreiben, dass sie für die Nation opferbereit seien, statt sich wirklich zu opfern).

39 Kant: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, S. 55. 40 Schmitt: „Die Buribunken“, S. 101.

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Für die buribunkologischen Untersuchungen werden alle buribunkischen Tagebuchnotizen sorgfältig und nicht ohne urheberrechtliche Rücksicht zusammengestellt, gesichtet und katalogisiert î allerdings gemäss des medienbzw. speichertechnischen Standes um 1918 im „Zettelkatalog“41, der gewissermaßen an Niklas Luhmanns berühmte ,Karteikartenkartei‘ erinnert. Immerhin kann so einem wissenschaftlichen oder auch sonstigen Interesse an einer einzelnen Person oder Personengruppe sofort entgegengekommen werden. Wollte zum Beispiel ein Psychopathologe sich dafür interessieren, welche Träume eine bestimmte Klasse von Buribunken während ihrer Pubertätszeit gehabt hat, so könnte das einschlägige Material an der Hand der Zettelkataloge in kürzester Zeit zusammengestellt werden. Die Arbeit des Psychopathologen würde ihrerseits aber ebenfalls wieder der Registrierung unterliegen, so daß ein Historiker der Psychopathologie in wenigen Stunden zuverlässig ermitteln kann, welche Art psychopathologischer Studien bisher betrieben wurde und gleichzeitig î das ist der größte Vorteil der Doppelregistrierung î aus welchen psychopathologischen Motiven diese psychopathologischen Studien zu erklären sind.42 Diese Kette von buribunkologischen Interessen an sich selbst und am Buribunkischen hat kein Ende. Die Buribunkologie ist sowohl eine eigenständige Wissenschaft als auch die Fortsetzung des Tagebuchführens, weshalb die einzelnen buribunkologischen Studien auch Gegenstände anderer buribunkologischer Studien werden. Auch die schädliche Abschweifung beim Gebrauch des Zettelkatalogs wird verhindert. Denn es gibt eine Kontrolle durch die Zentralinstanz des Buribunkentums, die dafür sorgt, dass die buribunkischen Daten stets wissenschaftsrelevanterweise eingeordnet werden. Aus dem Buribunkentum und der Buribunkologie hat sich eine buribunkologische Bürokratie entwickelt. So betrachtet liegt der Satire Die Buribunken die geistesgeschichtliche und politische Entwicklung Deutschlands im 19. Jahrhundert zugrunde. Zwar könnte man auch den Eindruck haben, es gehe bei den Buribunken um eine negative Utopie wie George Orwells 1984.43 Und es ist auch nicht ausgeschlossen, dass Schmitt dies im Sinne gehabt hat. Aber wie Thomas Morus’ Utopie mit ihrem Lob der göttlichen Gesetzmäßigkeit des menschlichen Zusammenlebens uns heute alles andere als utopisch erscheint, und auch 1984, mit einer

41 Ebd. 42 Ebd. 43 Vgl. Koselleck: „Die Verzeitlichung der Utopie“, S. 131-149.

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kleinen Akzentverschiebung bei der Darstellung, doch ein Utopie-Roman hätte sein können, ist es letztendlich ein Darstellungsproblem, ob eine erzählte Welt eine Utopie, eine negative Utopie oder sogar eine Anti-Utopie ist. Trotz einiger utopischer sowie anti-utopischer Darstellungskomponenten, die mehr oder weniger bei fast allen Romanen und Novellen zu finden sind, ist es nicht so sehr nötig, die Welt der Buribunken für utopisch, für negativ utopisch oder für anti-utopisch zu halten. Viel eher sollte sie eher als wirklichkeitsnah betrachtet werden.44 Hinter dem, was der Text Die Buribunken wohl mit gewisser Zuspitztung darstellt, liegt die nüchterne Wirklichkeit angesichts des politisch zusammenbrechenden Kaiserreichs und der leer laufenden bürgerlich-rechtsstaatlichen Werte in den Augen eines Abel mit Kains Herz, der sich über die Sinnlosigkeit aller buribunkischen Tätigkeit stets im klaren ist und sich trotzdem bemüht, derselben Sinnlosigkeit eine î seine î Form zu geben.

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Gegen die Sinnentleerung der Wissenschaft

Die Buribunken führen in jeder Sekunde ihres Lebens Tagebuch, was für sie gleichbedeutend mit ihrem Existenzrecht ist. Sie sind einerseits die ins Groteske weitergeführte Karikatur des Aufschreibesystems von 1800, in dem Dichter und Beamte Ihre Illusion eines „frei schreibenden Subjekts“45 ausgestalten konnten. Dann sieht es aber so aus, als sei der Text Die Buribunken bloß die kritische Anspielung auf ein derartiges romantisch frei schreibendes Subjekt und auf den bürgerlichen Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Das ist gewiss eine naheliegende Deutung des Textes, zumal wenn man mitberücksichtigt, dass dessen Verfasser nachher über „Politische Romantik“ schreibt. Jedoch ist der Gegenstand des Textes nicht die Vergangenheit. Denn die Buribunken schreiben schon im Aufschreibesystem von 1900; sie schreiben nämlich nicht mehr mit ihrer eigenen Hand, sondern schon maschinell. Die mäandernde Handschrift als das kontinuierliche Korrelat des freien subjektiven Geistes um 180046 ist durch die diskreten Typenschriften der Schreibmaschine abgelöst worden, deren Endbenutzer nun frei schreibendes Kollektivum hieße. Der Grundriss der Philosophie des Buribunkentums ist fichteanisch-identitätsphilosophisch. Sie wird so formuliert:

44 Das stets umstrittene Verhältnis von Utopie und Wirklichkeit eingehender zu erörtern, ist nicht das Ziel dieses Aufsatzes. 45 Frei nach Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, S. 223ff. 46 Ebd., S. 102ff.

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Ich denke, also bin ich; ich rede, also bin ich; ich schreibe, also bin ich; ich publiziere, also bin ich. Das enthält keinen Gegensatz, sondern nur die gesteigerte Stufenfolge von Identitäten, die sich in logischer Gesetzmäßigkeit über sich selbst hinaus entwickeln. Denken ist dem Buribunken nichts andres als lautloses Reden; Reden nichts andres als schriftloses Schreiben; Schreiben nichts andres als antizipiertes Publizieren und Publizieren infolgedessen mit Schreiben identisch, bei so geringfügigen Unterschieden, daß sie ohne Gefahr vernachlässigt werden dürfen. Ich schreibe, also bin ich; ich bin, also schreibe ich. Was schreibe ich? Ich schreibe mich selbst. Wer schreibt mich? Ich selbst schreibe mich selbst. Was ist der Inhalt meines Schreibens? Ich schreibe, daß ich mich selbst schreibe. Was ist der große Motor, der mich aus diesem selbstgenügsamen Kreis der Ichheit hinaushebt? Die Geschichte! Ich bin also ein Buchstabe auf der Schreibmaschine der Geschichte. Ich bin ein Buchstabe, der sich selbst schreibt. Ich schreibe aber streng genommen nicht, daß ich mich selbst schreibe, sondern nur den Buchstaben, der ich bin.47 Schon merkwürdig ist die Kette von Gleichsetzungen, viel merkwürdiger ist jedoch die Tatsache, dass trotz alldem das sich schreibende Ich nie verschwindet. Es überlebt selbst in der Gestalt der Typen der Schreibmaschine. Der Verfasser der Buribunken war sich dessen ganz bewusst, dass sowohl die Freiheit als auch das Subjekt als deren Träger an sich die aus der geschichtlichen Notwendigkeit eingeführten Ideen sind, die vor allem mit dem polemischen Sinn beladen wurden, mal gegen die geistliche sowie weltliche Obrigkeit, mal gegen die Fremdherrschaft, mal gegen jedweden gesellschaftlichen Zwang. Wo jedoch dieser polemische Stellenwert der Ideen mitsamt der genannten geschichtlichen Notwendigkeit verlorengeht, bleiben ihnen nur die konventionellen Anerkennungen und Sicherungen, deren Neutralität jedem freien und Freiheit suchenden Subjekt eigentlich abscheulich sein sollte. Aus der Idee des freien, frei schreibenden und damit rebellischen Subjekts sind die administrative Maschinerie des Beamtentums und der bürgerliche Liberalismus aufgrund der privaten Bedürfnisse hervorgegangen. Beide sind Kopf und Zahl einer einzigen Münze, die testamentmäßig ganz in Abels Besitz übergeht, während der eigentlich polemisch-rebellische Kern des frei schreibenden Subjekts, auch Kain genannt, mit leeren Händen nach und nach vergessen wurde, bis dieser Kern sich schließlich als Libertinage in Abels privatem Leben begraben

47 Schmitt: „Die Buribunken“, S. 103f.

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lässt. So könnte man ungefähr das Subjekt des Aufschreibesystems um 1800 in den Kontext der kritischen Bilanz der rechtstaatlichen Entwicklung einbringen, welche Schmitt in seinen späteren Schriften gezogen hat, etwa in Das Zeitalter der Entpolitisierungen und der Neutralisierungen48 oder Der Begriff des Politischen. Beim Text Die Buribunken bleibt dieser politisch-polemische Bestandteil unter dem satirischen Gewand eher versteckt, vor allem im Vergleich zur ironischen Darstellung des glorreichen Sieges buribunkischen Verwaltungswesens. Ist dann die Idee des frei schreibenden Subjekts einfach obsolet geworden? Nur voreilig könnte man mit Marx, Nietzsche oder Freud das Ende des bürgerlichen, selbstbewussten oder einheitlichen Subjekts erklären. Aber wie Baudelaires Gedicht längst angekündigt hat, kehrt der einmal so verdrängte und sich angepasst habende Kain mit der Geschichte wieder und bricht in Abels Selbstgenügsamkeit ein, um aus dieser sein Herzensstück zu holen. Die wirkliche Herausforderung gegen den Staat als Complexio oppositorum fängt erst dort an. Der Verfasser der Buribunken, der nie aufgehört hat, Jurist alias Abel zu sein, ist kein Demolierer der Ordnung, sondern deren Hüter, welcher Ordnung auch immer. Er stellt sich eben am Ende des alten Aufschreibesystems seit 1800 die Aufgabe, eine „Version-up“ des Begriffs des frei schreibenden Subjekts versuchsweise oder prototypisch vorzulegen. Die Buribunken ist natürlich eine Spielerei, aber deren Verfasser spielt ganz im Ernst. Theatralisches Spiel und geschichtlicher Ernst gehen ineinander î das ist eben das Thema sowohl des kleinen Büchleins Hamlet oder Hekuba49, das Schmitt 1956 veröffentlicht, als auch des Stückes Hamlet, das er darin zu deuten versucht. In dieser Version-up-Fassung ist der Identitätskreis der romantischen, sich selbst schreibenden Ichheit nicht mehr durch die Rückkopplung verstärkt gebrochen, sondern durch die Geschichte, konkreter: durch die geschichtliche Maschine. Diese Maschine, die das privilegierte Arbeitsgebiet der gebildeten Abels zerstörte und allen bildungs- und einbildungslosen Kains zugänglich machte, heißt bekanntlich Schreib-Maschine. Das maschinenschreibende Ich ist î geschichtlich, d.h. aus Kains Sicht betrachtet î weder Ursache der Geschichte noch deren Movens, sondern nur noch das, was durch das Schreiben als dessen Ergebnis im Trümmerhaufen der Buchstaben auftaucht, um aus dem Sinnlosen dadurch gerettet zu werden, dass es registriert und wissenschaftlich verwendet wird. Aber die Sinnlosigkeit läßt sich nie ganz beseitigen. Während Abels Rasse nur vergeblich alle Kains zu verwalten versucht, wächst die Unzahl von unverwaltbarem und rettungslosem Unsinn, den zu produzieren Kain nicht aufhört. Mit dem Aufschreibesyetem von 1900 beginnt das

48 Schmitt: „Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen“, S. 83ff. 49 Schmitt: Hamlet oder Hekuba, S. 41f.

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Zeitalter des massenhaften Schreibens. Literarhistorisch sollte nun „Ich schreibe“ gewiss nicht mehr gelten, sondern „Es schreibt“, dessen literaturwissenschaftliche Entsprechung dann New Criticism hieße. Vom schreibenden Subjekt wird die Aufmerksamkeit nun auf ,das Geschriebene‘ umgelenkt. Aber trotz der verlachenden Darstellung der Potenzierung des illusionären Ich verzichtet der Verfasser der Buribunken nicht auf ein Weiterbestehen der Ich-Vorstellung, und sei es auch im Buchstaben. Er hält diese Illusion auch im Zeitalter des massenhaften und kollektiven Schreibens noch für unentbehrlich, wohl aus verfassungsrechtlicher Notwendigkeit. Die Grundrechte im eigentlichen Sinne sind wesentlich Rechte des freien Einzelmenschen, und zwar Rechte, die er dem Staate gegenüber hat. […] Die rechtliche Bedeutung ihrer Anerkennung und ‚Erklärung‘ liegt darin, daß diese Anerkennung die Anerkennung des fundamentalen Verteilungsprinzips des bürgerlichen Rechtsstaates bedeutet: eine prinzipiell unbegrenzte Freiheitssphäre des einzelnen und eine prinzipiell begrenzte, meßbare und kontrollierbare Eingriffsmöglichkeit des Staates.50 Aus dieser Lehrbuchdarstellung über die „Grundrechte“ im bürgerlichen Rechtsstaat kommt eher der gebrechliche Zustand des „isolierten Einzelmenschen“ zum Vorschein als die verfassungsgesetzlich fromme Erklärung seiner unbegrenzten Freiheit, die als solche î zumindest juristisch î nichtssagend ist. Denn diese Freiheit ist kein Rechtsinstitut, keine Einrichtung und keine Anstalt: sie kann noch weniger eine organisierte und formierte Institution des öffentlichen Rechtes sein.51 In seiner Skepsis gegenüber der Proklamation der Grundrechte in der Verfassung war Schmitt den späteren Grundrechte-Skeptikern wie Hannah Arendt oder Giorgio Agamben nicht unterlegen. Jedoch sieht er sich als Jurist eines bürgerlichen Rechtsstaats dazu verpflichtet, dieser unformierten und formlosen Freiheit Form und Halt zu geben. Diese Form bietet seine Unterscheidung von Grundrechten und institutionellen Garantien.52 Die letzteren werden fernerhin in drei Arten gegliedert, nämlich: in „institutionelle Garantien“ für öffentliche Institutionen wie Beamtentum oder Hochschule mit wissenschaftli50 Schmitt: Verfassungslehre, S. 164. 51 Schmitt: „Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung“, S. 167. 52 Schmitt: Verfassungslehre, S. 170ff.

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cher Lehrfreiheit, „Institutsgarantien“ für privatrechtliche Institute wie Ehe, Eigentum oder Erbrechte und schließlich „konnexe und komplementäre Garantien“, unter welchen die Grundrechte bzw. individuellen Freiheitsrechte überhaupt von rechtlichen Normierungen und staatlichen Einrichtungen umgebaut und geschützt werden.53 Demnach bedeuten die buribunkologischen Einrichtungen für die frei schreibenden Buribunken keine Kontrollinstanz, die der Freiheitsidee widerspräche, sondern sie allein garantieren die individuelle Freiheit der Buribunken, indem sie den Buribunken die organisatorische Pflicht, kollektiv Tagebuch zu führen, auferlegen und die Wissenschaft „Buribunkologie“ kontrollieren. Nur dadurch genießen die tagebuchführenden Buribunken das Recht der freien Meinungsäußerung. Nur so ist die Beweisführung verstehbar, mit der Schmitt das Recht der freien Meinungsäußerung trotz der irreführenden Formulierung des entsprechenden Artikels 118 der Weimarer Verfassung „innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze“ zum unbedingten Grundrecht erklärt. Die Ausdrucksweise der verfassungsgesetzlichen Regelung ist nicht immer klar und eindeutig. Das äußert sich sehr auffällig bei dem wichtigsten gesellschaftlichen Freiheitsrecht, dem Ursprung aller anderen gesellschaftlichen Freiheitsrechte, der Voraussetzung der liberalen Idee von der freien Diskussion: dem Recht der freien Meinungsäußerung mit seinen Konsequenzen von Redefreiheit und Pressefreiheit. Art. 118 RV, sagt mit einer missverständlichen Wendung: ‚Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern.‘ Die Worte ‚innerhalb der Schranken‘ scheinen ein von Anfang an begrenztes Recht zu bezeichnen, so dass danach das Recht der freien Meinungsäußerung in der Weimarer Verfassung nicht als absolutes Grundrecht behandelt wäre. Dieses in der Sache unwahrscheinliche Ergebnis ist aber auch durch den allerdings unklaren Wortlaut nicht gerechtfertigt.54 Hingegen sollen die wissenschaftlichen Tätigkeiten der Buribunkologen unter Aufsicht der Verwaltung stehen, denn die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre ist kein Grundrecht, sondern enthält „eine institutionelle Garantie“55.

53 Schmitt: „Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung“, S. 149ff. 54 Schmitt: Verfassungslehre, S. 166f. 55 Ebd., S. 173.

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Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Der Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil.56 Die Begründung ist, dass es sich dabei um eine geschichtliche Korporation namens deutsche Universität handelt, d.h. nicht um einen Einzelmenschen als eigentlichen Träger der Freiheitsrechte. So erklärt Schmitt mit Rücksicht auf Rudolf Smend, der 1927 in seinem Bericht bei der Staatsrechtslehrertagung aufgrund der geschichtlich engen Verbindung zwischen der Freiheit der Meinungsäußerung und der Freiheit von Wissenschaft und Lehre die letztere das „Grundrecht der deutschen Universität“57 nannte. Demnach fände die akademische Lehrfreiheit geschichtlich bei Fichte in Jena ihren eigenen Ursprung, und in der Frankfurter Reichsverfassung ihre erste gesetzliche Festlegung.58 Die geistige Quelle könnte fernerhin auf das evangelische Pfarrertum zurückzuführen sein.59 Der Wortlaut ist zwar unterschiedlich, aber sowohl Smend als auch Schmitt waren sich zumindest darin einig, dass die akademische Freiheit alles andere bedeutet als die Anerkennung einer anarchischen Entwicklung der Wissenschaft. Was die buribunkologische Verwaltung den Buribunken als unangemessen verbietet, ist nicht der Eintrag regierungsfeindlicher Worte im Tagebuch, sondern der Unsinn und das Schweigen, denn diese würden eben zum Sinnloswerden der buribunkologischen Wissenschaft führen. Davor die Buribunkologie zu hüten, heißt eben die institutionelle Garantie. Der Verfasser der Buribunken schreibt auch über eine Ethik des Buribunkentums: Was tut nun, ethisch betrachtet, der Buribunke, der in jeder Sekunde seines Lebens Tagebuch führt? Er entreißt der Zukunft jede Sekunde,

56 Art. 142, RV. v. 11.08.1919. 57 Smend: „Das Recht der freien Meinungsäußerung“, S. 118. 58 Ebd., S. 101ff. Vgl. dazu Schmitt: Verfassungslehre, S. 173; „Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung“, S. 151f. 59 Smend: „Das Recht der freien Meinungsäußerung“, S. 110. Jedoch weist er die herkömmliche universitätsgeschichtliche Darstellung, die Lehrfreiheit sei auf den protestantischen Universitäten entstanden, als vulgäre Vermutung im Voraus zurück. Wenn aber die akademische Lehrfreiheit die „säkularisierte Form der Stellung des evangelischen Pfarrertums“ wäre, wie Smend dies doch für möglich hält, wird es zum Schmittschen politisch-theologischen Schema „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe“ im deutlichen Kontrast stehen; vgl. Schmitt: Politische Theologie, S. 49. Entgegengesetzt werden dort die zwei Prinzipien, die vom Staat und der deutschen(!) Universität jeweils repräsentiert werden.

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um sie der Geschichte einzuverleiben. Vergegenwärtigen wir uns die ganze Großartigkeit dieses Vorgangs: Von Sekund zu Sekunde kriecht aus dem dunklen Rattenloch der Zukunft, aus dem Nichts dessen, was noch nicht ist, blinzelnd die junge Ratte der gegenwärtigen Sekunde, um in der nächsten Sekunde leuchtenden Auges in die Realität des Geschichtlichen einzugehen. Während nun bei dem ungeistigen Menschen Millionen und Milliarden Ratten plan- und ziellos in die Unermeßlichkeit des Vergangenen hinausströmen, um sich darin zu verlieren, weiß der tagebuchführende Buribunke sie einzeln zu fassen und ihre übersichtlich geordnete Heerschar den großen Parademarsch der Weltgeschichte aufführen zu lassen.60 Die unaufhörte Registrierung und Sichtung solcher quantitativen Massen oder der Rattenschar, die aus dem Rattenloch unaufhaltsam kriecht, wird nicht bloß wegen des ostentativen Parademarsches vorgenommen, wie vorhin zitiert. In Wahrheit sind die Buribunken durch eigene politische Berufung getrieben. Sie kämpfen nämlich gegen die Geschichte. Ihre Strategie heißt folgendermaßen: Wir durchschauen die Illusion der Einzigkeit. Wir sind die von der Hand des schreibenden Weltgeistes geschnellten Buchstaben und geben uns dieser schreibenden Macht mit Bewußtsein hin. Darin erblicken wir die wahre Freiheit. Darin finden wir aber auch die Mittel, uns an die Stelle des schreibenden Weltgeistes zu setzen. Die einzelnen Buchstaben und Worte sind ja nur die Werkzeuge der List der Weltgeschichte. Manches trotzige ‚Nicht‘, das in den Text der Geschichte geworfen wird, fühlt sich stolz in der Opposition und hält sich für einen Revolutionär, wo es vielleicht doch nur die Revolution negiert. Aber dadurch, daß wir bewußt eins werden mit der schreibenden Weltgeschichte, begreifen wir ihren Geist, wir werden ihm gleich und î ohne aufzuhören geschrieben zu werden î setzen wir uns dennoch gleichzeitig als Schreibende. So überlisten wir die List der Weltgeschichte. Indem wir sie schreiben, während sie uns schreibt.61 Die Buribunken durchschauen also auch die Illusion des „Ich schreibe“62. Nicht aufhören geschrieben zu werden î das ist übrigens Lacans Definition des Notwendigen: le nécessaire, das nicht das Reale ist63 und uns von demselben stets ablenkt. Sich î statt des Realen î der Notwendigkeit der Geschichte hin-

60 Schmitt: „Die Buribunken“, S. 104. 61 Ebd., S. 105. 62 Ebd., S. 103. 63 Lacan: Encore, S. 183.

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zugeben, heißt eben die buribunkische Freiheit. Die Freiheit bedeutet dort: Widerstand durch Mitarbeit. Dadurch sind die Buribunken miteinander verbunden. Indem Sie dasselbe tun wie die Weltgeschichte, d.h. indem sie so schreiben wie geschrieben werden, versuchen sie die List derselben zu überlisten und somit die Widersacher der Weltgeschichte zu sein. Und was hier Weltgeschichte heißt, ist nichts als Mediengeschichte. Die Buribunken als Text ist somit tatsächlich zeitgenössisch mit Kafkas Beim Bau der chinesischen Mauer, wo alle Befehle von den Fronarbeitern Wort für Wort „nachbuchstabiert“64 werden, oder dem Wunsch, Indianer zu werden, wo der Ritt auf dem Pferd so genau nachgeahmt wird: bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glattgemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.65 Ob homologein oder Nachbuchstabieren, das Schreiben der Buribunken ist, wiewohl es als ihre eigene, aktive Tat erscheinen mag, nichts als die totale und haargenaue Nachahmung der Weltgeschichte, wobei die einzelnen Schreibakte und die einzelnen Notizen an sich wertlos sein können î und es ist gut so, denn ihre Relevanz entsteht nur kollektiv. Wie gesehen ist die Buribunkologie dem rebellischen Geist gegenüber weitgehend tolerant. So z.B. ist es einem Buribunken durchaus erlaubt zu schreiben, dass man sich weigere, Tagebuch zu führen. Hingegen wird das Schweigen bzw. das Nichtschreiben streng bestraft. Selbstverständlich geht diese Freiheit nicht bis zu anarchischer Zügellosigkeit. Jede Eintragung der Weigerung, Tagebuch zu führen, muß ausführlich begründet und dargelegt werden. Wer, statt zu schreiben, daß er sich weigere, das Schreiben wirklich unterläßt, macht von der allgemeinen Geistesfreiheit einen falschen Gebrauch und wird wegen seiner antisozialen Gesinnung ausgemerzt.66 Dem Haufen des Wert- und Sinnlosen eine (zumindest zeitweilig) sinnvolle Form zu geben î darum hat sich doch der Verfasser der Buribunken bemüht, um nichts anderes. Die politische Form des Buribunkentums ist mit gewisser Übertreibung doch die Antwort eines Staatsrechtlers auf die bevorstehende 64 Kafka: „Beim Bau der chinesischen Mauer“, S. 344. 65 Kafka: „Wunsch, Indianer zu werden“, S. 32-33. 66 Schmitt: „Die Buribunken“, S. 102. „Ausmerzen“ heisst freudianisch-lacanianisch wohl: „Verwerfen/forclusion“. Verworfen wird die verfehlte Begegnung mit dem Realen.

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Herausforderung von der Seite der Rasse Kains, die Ratten und Rattenfänger zugleich umfasst und den unübersehbaren Bestandteil eines Staats bildet. Um diese Rasse als Kollektivum in Abels Reich nicht politisch, sondern wissenschaftlich zu integrieren, macht der Verfasser der Buribunken vom Aufschreibesystem 1900 positiven Gebrauch. Wenn dies dennoch in der Sinnlosmachung der Wissenschaft enden sollte, was uns die heutigen Medienentwicklung um 2000 noch wahrscheinlicher denn je vermuten lässt, wird er also auch î als Kain mit Abels Herz î das Ende der Welt- bzw. einfach Mediengeschichte erzählt haben.

Literaturverzeichnis Baudelaire, Charles: „Abel et Caïn“, in: OEuvres Complètes I, hrsg. v. Félix François Gautier, Paris 1918, S. 173-174. Benjamin, Walter: „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“, in: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1972ff., Bd. I, S. 511-604. Broch, Hermann: „Konstruktion der historischen Wirklichkeit“, in: Summa. Eine Vierteljahresschrift, Jg. 1917-18, Bd. 4, 1918, S. I-XVI. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus, Berlin 1997. Derrida, Jacques: Politik der Freundschaft, Frankfurt a.M. 2000. Kafka, Franz: „Wunsch, Indianer zu werden“, in: Drucken zu Lebzeiten, hrsg. v. Hans-Gerd Koch u.a., New York/Frankfurt a.M. 1994, S. 32-33. Kafka, Franz: „Beim Bau der chinesischen Mauer“, in: Nachgelassene Schriften und Fragmente I, hrsg. v. Malcolm Pasley, New York/Frankfurt a.M. 1993, S. 337-357. Kant, Immanuel: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, in: Schriften zur Antholopologie, Geschichtsphilosophie, Politik u. Pädagogik 1, Werkausgabe, hrsg. v. Wilhelm Weisschedel, Bd. XI, Frankfurt a.M. 1968, S. 5162. Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900, München ³1995. Kittler, Friedrich: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986. Koselleck, Reinhard: „Die Verzeitlichung der Utopie“, in: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M. 2000, S. 131-149. Lacan, Jacques: Séminaire Livre XX. Encore, Texte établi par Jacques-Alain Miller, Paris 1975.

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Musil, Robert: „Skizze der Erkenntnis des Dichters“, in: Summa. Eine Vierteljahresschrift, Jg. 1917-18, Bd. 4, 1918, S. 164-168. Schmitt, Carl: Verfassungslehre, Berlin ʕ1993. Schmitt, Carl: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963. Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963. Schmitt, Carl: „Das Zeitalter der Entpolitisierungen und Neutralisierungen“, in: ders.: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963, S. 79-95. Schmitt, Carl: „Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung“, in: ders.: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, S. 140-173. Schmitt, Carl: Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit ins Spiel, Düsseldorf 1956. Schmitt, Carl: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Hamburg 1938. Schmitt, Carl: „Der Begriff des Politischen“, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Jg. 58, 1927, S. 1-33. Schmitt, Carl: Politische Romantik, Berlin ²1925. Schmitt, Carl: Römischer Katholizismus und politische Form, München 1925. Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel über die Souveränität, München 1922. C.S. (d.h.: Carl Schmitt): „Die Buribunken. Ein geschichtsphilosophischer Versuch“, in: Summa. Eine Vierteljahresschrift, Jg. 1917-18, Bd. 4, 1918, S. 89-106. Schmitt, Carl: Theodor Däublers „Nordlicht“. Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes, München 1916. Schmitt, Carl: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, Tübingen 1914. Smend, Rudolf: „Das Recht der freien Meinungsäußerung“, in: ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin ³1994, S. 89118. Die Verfassung des Deutschen Reichs v. 11.08.1919.

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Digitale Videokameras als neue Strategie der Überwachung Drei Szenen aus Japan Zwei Überwachungstechnologien Die panoptische Überwachung, so Michel Foucault, besteht in einer eigentümlichen Raum-Konstruktion: Den zentralen Überwachungsturm umgibt ein ringförmiges Gebäude, das in vereinzelte Zellen unterteilt ist. Diese architektonische Anordnung ermöglicht einem Aufseher im Turm, mit einem Mal alle Zellen im Außenring zu überwachen. Man bedarf dann nur noch kleiner Kunstgriffe in Form von Jalousien oder Zwischenwänden, um jeden Schatten des Aufsehers unsichtbar zu machen. Dadurch kann er im Zentralturm alles sehen, „ohne je gesehen zu werden“1. In dem Panopticon, das der englische Utilitarist Jeremy Bentham insbesondere für die Architektur des Gefängnisses erdachte, gilt es also, den Blick des Wächters vor denjenigen zu verbergen, die überwacht werden. Eben aus diesem unsymmetrischen Blick-Verhältnis ergibt sich eine höchst effiziente Überwachung, die unabhängig von der tatsächlichen An- oder Abwesenheit eines Aufsehers im Turm ohne Unterlass funktionieren kann. Es genügt, dass die Überwachten wissen, dass sie jederzeit überwacht werden (können). Die moderne Überwachung basiert in dieser Hinsicht auf einer gewissen wahrnehmungsästhetischen Kalkulation, die die Unsichtbarkeit des überwachenden Blicks durch eine besondere Bautechnologie verwirklicht. Diesen Panoptismus begreift Foucault in seinem Buch Überwachen und Strafen (1975) als Matrix der moderen „Disziplinargesellschaft“2 überhaupt. Das Panopticon ist also in seinen Augen ein kompaktes Modell für moderne institutionelle Systeme wie Familie, Schule, Krankenhaus, Kaserne, Fabrik, Gefängnis etc. Diese Institutionen formieren und normalisieren als Disziplinarsysteme ein Subjekt zu einem bürgerlichen Individuum, indem sie das unsymmetrische Blick-Verhältnis des Panopticons operationalisieren. In diesem Sinne organisiert die panoptische Überwachung soziale Orthodoxien in modernen Gesellschaften: Sie lässt sich als moderne Sozialtechnologie verstehen, die paradoxe Momente an den zu disziplinierenden Subjekten normalisiert. Man kann davon 1

Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, S. 259.

2

Ebd., S. 269 (Hervorhebung von K. K.).

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ausgehen, dass diese theoretische Perspektive ihre Gültigkeit auch dann nicht verliert, wenn es um Aspekte des modernen Japan geht. Sicherlich wäre die japanische Modernisierung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, auch wenn sie noch so eigenartig anmuten mag, ohne disziplinierende Institutionen nach modernem europäischem Muster, wie etwa Schule, Krankenhaus, Fabrik oder Kaserne, unmöglich gewesen. Ohne die Einführung panoptischer Systeme im Laufe der Modernisierung wäre das heutige Japan wohl nicht geworden, was es heute ist. Nun scheint sich jedoch andererseits im Zeichen des ‚Medienumbruchs um 2000‘ eine radikale Transformation zu vollziehen. Denn an Stelle von Menschen aus Fleisch und Blut überwachen uns heute in panoptischen Systemen digitale Videokameras. Eine digitalisierte, damit an den Computer anschließbare „Sehmaschine“3 beobachtet uns dauernd und meistens unbemerkt aus verschiedenen Winkeln. Sie beobachtet uns beinahe überall im öffentlichen Raum, nämlich auf der Straße, in den Parkplätzen, in Supermärkten, in Kaufhäusern, in Banken, in Aufzügen, in Bahnhöfen, auf Autobahnen, in Flughäfen usw. Dabei befinden sich diese kleinen Kameras meistens außerhalb unseres Gesichtsfeldes: Sie sehen uns immer von oben herab, ‚ohne gesehen zu werden‘. Geht es hier um jenen „return of Bentham’s ghost“4, von dem David Lyon angesichts der Überwachung im Zeitalter des Computers spricht? Oder geht es um etwas ganz Anderes? Im Folgenden gilt es, exemplarische Szenen der digitalbildlichen Überwachung in Japan zu beschreiben. Angeführt werden drei konkrete Beispiele, die die neue Strategie der Überwachung um 2000 veranschaulichen sollen. Dabei werden einige Aspekte herausgearbeitet, die uns zu Überlegungen über Kontinuität und Diskontinuität von alten und neuen Überwachungssystemen veranlassen. Davon ausgehend wird am Ende die digitalbildliche Überwachung als ein neues Dispositiv befragt, das daran Anteil hat, die Definition dessen, was heute soziale Orthodoxie heißt, radikal zu verändern. Die neue, digitalbildliche und auf den Computer gestützte Strategie der Video-Überwachung entspricht – das ist meine These – einer irreversiblen Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung von Orthodoxie und Paradoxie.5 Freilich begründet sich die digitale Video-Überwachung, wie zu zeigen sein wird, in mehrfacher Hinsicht selbst auf paradoxe Diskurse. 3

Virilio: Die Sehmaschine.

4

Lyon: Bentham’s Panopticon: From Moral Architecture to Electronic Surveillance, S. 610.

5

Auch der Sammelband von Hempel/Metelmann spricht bereits in seinem Untertitel von der „Videoüberwachung als Zeichen gesellschaftlichen Wandels“; vgl. Hempel/Metelmann: Bild – Raum – Kontrolle.

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Szene 1: Asakusa Die erste Szene spielt in Asakusa, einem touristisch geprägten Stadtteil Tokyos. Die Attraktion von Asakusa macht die traditionell volkstümliche Unterhaltungskultur aus. Dieser Stadtbezirk ist sozusagen ein Refugium des alten Tokyo. Asakusa versteht sich als Bollwerk gegen die unaufhörlichen Modernisierungswellen, die im 20. Jahrhundert das Aussehen der Stadt Tokyo drastisch veränderten. Die Abbildung 1 zeigt die zentrale Straße in Asakusa, die Nakamise-Straße.

Abb. 1: Nakamise-Straße in Asakusa.

Offensichtlich präsentiert sich Asakusa als das alte und vormoderne Tokyo, das noch Edo genannt wurde. Eben deshalb ist bemerkenswert, dass sich Asakusa dafür entschieden hat, ein großes System von Überwachungskameras einzuführen. Die Recherchen, die die von Juristen gegründete Anti-Überwachungsgesellschafts-Gruppe (Kanri Shakai wo Kyohisuru Kai) im Dezember 2004 anstellten, erhellen den aktuellen Stand der intensiven Video-Überwachung in diesem Bezirk. Die Abbildung 2, die auf der Homepage der Gruppe zu finden ist, veranschaulicht dies.6

6

Anti-Überwachungsgesellschafts-Gruppe (Kanri Shakai wo Kyohisuru Kai): http://www009.upp.so-net.ne.jp/kansi-no/condition/documents/condition_ camera_2004_012_02.htm.

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Abb. 2: Wo in Asakusa Überwachungskameras installiert sind.

Die Pünktchen zeigen, wo Überwachungskameras installiert sind. Es sind insgesamt 63. Das ist aber noch nicht alles. Am Tag der Recherchen war man gerade im Begriff, in der bereits erwähnten Nakamise-Straße 50 neue Überwachungskameras aufzustellen. In dieser etwa 150 m langen Hauptstraße Asakusas, die in der Abbildung vertikal verläuft, richten also seit der betreffenden Installation mehr als hundert Überwachungskameras ihre elektronischen Blicke auf die Passanten. In der Abbildung sieht man ferner, dass es auch an dem Eingangstor zur Nakamise-Straße, das für das gesamte Asakusa sinnbildhaft ist, eine Überwachungskamera gibt. Normalerweise fotografieren sich Touristen wechselseitig vor diesem berühmten Tor. Niemand würde dabei bemerken, dass eine andere Kamera insgeheim ihre Bilder aufnimmt. Erstaunlich ist also nicht nur die Zahl der Kameras, die in diesem relativ kleinen Zentrum des Stadtbezirks Asakusa installiert sind, sondern auch, dass man üblicherweise diese Vielzahl von Kameras gar nicht wahrnimmt. Das liegt daran, dass die Überwachungskameras fast ausnahmslos weit oberhalb der Ebene des Gesichtsfelds aufgestellt sind, so dass sie sich, wenn man nicht permanent danach Ausschau hält, meistens der Wahrnehmung entziehen. Es handelt sich hier beispielhaft um jene drastische Wucherung von Überwachungskameras, die in Tokyo im Jahr 2002 begonnen hat. In diesem Jahr wurden zuerst in Shinjuku-Kabukicho 50 digitale Überwachungskameras eingerichtet, die sowohl mit Monitoren im Polizeipräsidium (Metropolitan Police Department/Keishicho) als auch im Polizeirevier Shinjukus verbunden sind. Dieses Projekt wurde von der Stadt Tokyo finanziert und von einem Komitee aus Sachkundigen und Experten, die von England viel gelernt hatten, in Gang gesetzt. Und seit 2004 unterliegen auch die Stadtbezirke Shibuya und Ikebukuro, seit 2006 Ueno, seit 2007 Roppongi der gleichen digitalbildlichen Video-Über-

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wachung, die vom Polizeipräsidium in Tokyo ausgeht.7 Diese fünf Stadtbezirke werden seitdem also pausenlos, 24 Stunden am Tag, von Polizeibeamten streng observiert. Ihre ‚Sehmaschinen‘ haben dabei eine hohe Bildauflösung, können zoomen, speichern ohne Schlaf und Unterbrechung Unmengen von Bildern. Prinzipiell werden, wie die Webseite des Polizeipräsidiums versichert, die auf Festplatten gespeicherten Bilder nach einer Woche gelöscht. Aber sie können auch, nach gut informierten Journalisten, dank einer kleinen bürokratischen Prozedur auf ewig aufbewahrt werden. Zwar ist Asakusas Überwachungssystem nicht durch polizeiliche Initiative, sondern auf Betreiben von vereinten Ladenbesitzern in Asakusa eingeführt worden. Aber dieses System ist weit davon entfernt, eine rein bürgerliche Angelegenheit der Kaufleute zu sein, die besonderns auf die Ordnung ihres Stadtbezirks achten. Denn erstens wird ein Drittel der Kosten für Einrichtung und Betrieb des Systems von der Stadt Tokyo, ein zweies Drittel vom Asakusa-Bezirk und nur das letzte Drittel vom lokalen Kaufladen-Verein finanziert. So hatten die Kaufleute von Anfang an, das heißt, von dem Stadium der Planung und der Finanzierung an, mit zuständigen Verwaltungsbeamten zu tun. Folgerichtig kann man ihnen ein klares Bewusstsein unterstellen, dass es immer schon um eine öffentliche Angelegenheit geht. Zweitens kann die Polizei stets damit rechnen, dass ihr die gespeicherten Daten der Überwachungskameras zur Verfügung stehen. Es verwundert kaum, wenn dies ganz reibungslos vonstatten gehen kann, denn es gibt in Japan noch kein Gesetz, das die Verwendung von Überwachungsdaten regelt. In der Tat berichten japanische Massenmedien immer wieder von Fällen, in denen erst durch die Bilder von Überwachungskameras eine Verhaftung von Verdachtspersonen möglich war. Es wird zudem gesagt, dass die Polizei ohne richterliche Erlaubnis nach Belieben über diese Daten verfügen darf, die dann auch bei Strafprozessen Beweismittel sein können.8 Diese Allianz von Polizei und Kaufladenverein, ihre Zusammenarbeit oder, wenn man will, Komplizenschaft, ist hinsichtlich der digitalbildlichen Video-Überwachung in Japan sehr auffällig. Zwischen unternehmerisch-privater und polizeilicher Überwachung gibt es keine scharfe Grenze mehr. Ohne diese Entgrenzung, die im Medium der digitalen Videokamera stattfindet, könnte vielleicht heutzutage die Überwachung kaum mehr effizient genug ausfallen. Erst dadurch, dass bürgerliche und polizeiliche Systeme zusammenarbeiten, 7

Vgl. hierzu die Homepage von Metropolitan Police Department (Keishicho): http://www.keishicho.metro.tokyo.jp/seian/gaitoukamera/gaitoukamera.htm.

8

Zur Problematisierung der Video-Überwachung aus der juristischen Perspektive in Japan vgl. Kurosawa: CCTV and Criminal Investigation (Videokamera niyoru Kanshi to Hanzai Sousa); Juristisches Seminar (Hougaku Seminar).

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kann das Potential eines Überwachungs-Netzes optimimal ausgeschöpft werden. Diese utilitaristische Kalkulation, die auf die opimale Effizienz des Systems aus ist, verbindet diese neue mit den alten Überwachungsstrategien. Die zweite Szene, eine Szene aus einem sogenannten ‚convenience store‘, ist auch ein Beleg dafür.

Szene 2: Der convenience store Der convenience store („konbini“) ist ein japanisches Bedarfsartikelgeschäft. In ihm werden eine eher kleine Palette verschiedener Lebensmittel und Getränke verkauft. Es gibt weder frisches Gemüse noch Obst. Stattdessen werden auch verschiedene Zeitschriften und Mangas, modische Software, CDs und DVDs, Schreibwaren, Kosmetika, Unterwäsche und Zahnbürsten, Medikamente usw. angeboten. Auch ein Kopiergerät und einen Geldautomaten findet man ganz gewiss dort. Wenn der convenience store in der Tat convenient ist, dann nicht nur deshalb, weil er bestimmte, für das moderne Alltagsleben wichtige Waren feilbietet, sondern auch, und vor allem weil er alle Tage 24 Stunden durchgehend geöffnet hat. Das ist eine japanische Erfindung, obwohl das ökonomische Modell dieser Läden selbst aus den USA stammt. Der 7-ELEVEn, ein exemplarischer convenience store, der seit den 1970er Jahren überall in den Städten und auch auf dem Land anzutreffen ist, (Abb. 3) hat in den Vereinigten Staaten – deshalb der Name – nur von sieben bis 23 Uhr geöffnet. Aber der japanische 7-ELEVEn hat sich gleichsam von seinem importierten Namen emanzipiert: Er hat mittlerweile meistens rund um die Uhr geöffnet.

Abb. 3: 7-ELEVEn.

7-ELEVEn und auch andere convenience stores in Japan sind für den vorliegenden Beitrag deshalb interessant, weil sie stets mit mehreren Überwachungs-

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kameras ausgestattet sind. Die Daten dieser rastlos überwachenden Videokameras in den schlaflosen Läden werden nicht vom convenience store selbst verwaltet, sondern in eine sogenannte ‚Security-Firma‘ übertragen, dort monitoriert und gespeichert. Berichtet wird auch von einer schier unglaublichen Situation, wo die in einem convenience store installierten Überwachungskameras an einen polizeilichen Computer gekoppelt sind und von dort gesteuert werden. Abgesehen von einem solch extremen Fall kann die Polizei, ähnlich wie bei der Allianz von Polizei und Kaufladenverein in Asakusa, in der Regel auf diese Daten der nicht-polizeilich verwalteten Überwachungskameras uneingeschränkt und problemlos zugreifen. Daher ist es auch sehr verständlich, dass Polizisten, wenn es um Ermittlungen in einem Kriminalfall geht, zuallererst die convenience stores in der Nähe des Tatortes aufsuchen. Denn sie können damit rechnen, dort Bilder der Verdachtspersonen in hoher Auflösungsgenauigkeit zu bekommen. Japanische Massenmedien berichten über viele Erfolgsfälle bei solcher Spurensuche. Allerdings denken Unternehmer und Inhaber der convenience stores, wenn sie Überwachungskameras einführen, angeblich nicht primär an diese Spurensicherungs-Funktion der ‚Sehmaschinen‘. Sie denken vielmehr an die Funktion der sogenannten Verbrechensvorbeugung, nämlich mögliche Verbrechen im Voraus zu blockieren. Dementsprechend bezeichnet man in Japan die digitale Videokamera meistens nicht als Überwachungskamera, sondern als security camera (Bouhan-Camera). Es handelt sich hier um eine subtil strategische Umbenennung, die dem kriminologischen Denken der Prävention9 entspricht. Diese Theorie geht davon aus, dass Videokameras widerrechtliche Taten im Keim ersticken oder zumindest ihre Zahl verringern helfen. Das bereits dargestellte System der Überwachungskameras in Shinjuku-Kabukicho wird in diesem Sinne vom Polizeipräsidium als security camera system bezeichnet. In Japan ist die Verbrechensvorbeugung das Hauptargument zur Installation von Überwachungskameras. Aber die Präventivfunktion der Videokamera ist weit davon entfernt, wissenschaftlich nachgewiesen werden zu können. Das gilt nicht nur für Japan, sondern auch für England, auf das sich japanische Beamte und Sachkundige zuerst beriefen. Die vom englischen Innenministerium beauftragte Untersuchung von Ben Brown, die er 1995 in Newcastle, Birmingham und King’s Lynn vollzog, zeigt vielmehr, dass die Vorbeugungsfunktion der Überwachungskamera ziemlich beschränkt ist.10 Seinem Report CCTV in Town Centers. 9

Zur Vorgeschichte dieses Präventionskonzepts in der abendländischen Philosophie vgl. im vorliegenden Band: Josef Fürnkäs: Automation und die Metamorphosen des Zuschauers.

10 Brown: CCTV in Town Centers.

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Three Case Studies zufolge ist die Videokamera zwar Straftaten gegenüber wirksam, die sich auf die Sache beziehen: Die Zahl der Diebstähle reduziert sich jeweils nach der Installation des CCTVs (closed-circuit television). Was aber Straftaten gegen Personen, zum Beispiel Raub oder Körperverletzung, betrifft, scheint diese Installation dagegen als nicht sonderlich wirksam zu sein.11 Dieser Befund wird von neueren Recherchen gestützt. Brandon C. Welsh und David P. Farrington analysierten 24 Untersuchungen über die Video-Überwachung als Präventionstechnologie in England und America, und sie kamen zum folgenden Ergebnis: The meta-analysis also examined the effect of CCTV on the most frequently measured crime types. It was found that CCTV had no effect on violent crimes (from five studies), but had a significant desirable effect on vehicle crimes (from eight studies).12 Die präventive Wirksamkeit von Überwachungskameras ist aber auch zeitlich beschränkt. Benn Brown weist auf die Möglichkeit hin, dass die Videokamera nach einer gewissen Zeit aufhört, Warnung zu sein.13 Um die zeitliche Begrenzung der Wirksamkeit zu erweitern, soll die Überwachungskamera erfolgreicher funktionieren: „In order to sustain the effect of cameras on a particular offence, the cameras must be used to increase the risk of arrest for offenders.“14 Das heißt: die Videokamera muss, damit sie als effektive Verbrechensvorbeugung gelten kann, wiederholt bei der Festnahme eines Straftäters Erfolge ernten. Das besagt insbesondere, dass die Wirksamkeit der Überwachungskamera eben an der Zahl der Straftaten gemessen wird, die sie eigentlich hätte verhindern sollen. Hierin kann man eine große Paradoxie des Konzepts sehen. Zugespitzt formuliert, setzt sich die Vorbeugungsfunktion der Überwachungskamera dadurch in Gang, dass sie widerrechtliche Taten nicht verhindert hat und nur bloß nachträglich, das heißt, nach vollzogenen Straftaten als Spurensicherungstechnik arbeitet. So gesehen erscheint die kriminologische Theorie der Verbrechensvorbeugung durch Überwachungskameras in nicht unbeträchtlichem Maße als illusionär. Aber auf Prävention gerade gründet sich die dras11 Ebd., S. vi. „The effect of cameras on personal crime is less clear. In large metropolitan areas, the cameras have had very little effect on overall levels of assaults and wounding, despite being used to prompt many arrests.“ Vgl. auch ebd., S. 62f. 12 Welsh/Farrington: Crime Prevention Effects of Closed Circuit Television: A Systematic Review, S. 42; AICrime reduction matters 2004: „The best available research consistently suggests that CCTV has no effect on violent crime.“ 13 Brown: CCTV in Town Centers, S. 63. 14 Ebd., S. vi.

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tische Wucherung von Videokameras in Japan um 2000. Die kriminologischen Experten, auf die sich das japanische Polizeipräsidium beruft, erklären deutlich, dass die Verbrechensvorbeugung der primäre Zweck der in Tokyo installierten Systeme sei, dass die Ermittlung, d.h. die Verhaftung und die Anklage eines Straftäters dagegen nur der sekundäre Zweck sei.15 Aber die präventive Wirkung der Überwachungskamera ist von ihrer Leistung der Spurensicherung abhängig. Ohne diese würde jene auch nicht funktionieren. Außerdem gibt es einen weiteren Aspekt, der die Widersprüchlichkeit des Überwachungs-Konzepts in den convenience stores noch komplexer erscheinen lässt. Die digitale Videokamera im 7-ELEVEn, die man eben nicht Überwachungskamera, sondern security camera nennt, hat eine eigentümliche Form (Abb. 4):

Abb. 4: Die Überwachungskamera in 7-ELEVEn.

In dieser „CAPSUL CAMERA“16, die an der Decke installiert ist, verbirgt sich das Objektiv hinter der kleinen schwarzen Halbkugel. Die Absicht, die Anwesenheit einer Überwachungskamera möglichst zu verbergen, ist hier deutlich zu erkennen. Als Werbespruch heißt es in der Tat: „Scharf überwachen, ohne bemerkt zu werden“. Dieser eigentümliche Überwachungsapparat in den convenience stores ist sicherlich zunächst einmal mit dem klassischen Panopticon vergleichbar, das gleichfalls die Augen des Aufsehers im Zentralturm verbirgt. Dadurch werden die Insassen des Panopticons gezwunden, permanent die Anwesenheit des Aufsehers, ob dieser nun tatsächlich im Turm ist oder nicht, zu unterstellen. Es gibt also keinen Augenblick, in dem sie den überwachenden Blick vergessen dürfen. Ihnen wird das ununterbrochene Bewusstsein des Überwacht-Werdens aufgezwungen. Die Strategie der security camera in den convenience stores scheint jedoch eine ganz andere zu sein: Verbirgt sie das Kamera-Auge hinter dem dunklen Dom, dann soll sie gerade umgekehrt ein

15 Vgl. Japan Urban Security Resarch Institute (Toshi Bouhan Kenkyu Center): Report on Security Cammera Systems, S. 6. 16 Anti-Überwachungsgesellschaft-Gruppe (Kanri Shakai wo Kyohishuru Kai): http://www009.upp.so-net.ne.jp/kansi-no/data/documents/data_200301_002. htm.

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mögliches Bewusstsein des Überwacht-Werdens keineswegs erwecken. Die gewisse Eleganz dieser neuen Form der Überwachung liegt gerade darin, den Käufer und Kunden über sein Bewusstsein hinweg überwachen zu können. Diese neue Strategie der Video-Überwachung, das Bewusstsein der überwachten Subjekte zu übergehen, haben die convenience stores und der Stadtbezirk Asakusa gemeinsam. Das Bewusstsein, überwacht zu werden, ist für die Kauflust keineswegs zuträglich. Aus der Perspektive des convenience stores ist daher entscheidend, dass die Leute einkaufen können, ohne sich der Überwachung dabei bewusst zu werden. Als Hintergrundwissen, davon kann man ausgehen, ist vielen Kunden bewusst, dass es in den convenience stores Überwachungskameras gibt. Die convenience stores versuchen aber mit der neuen Strategie der Überwachung, den Käufern dieses Vorwissen vergessen zu machen: Die Videokameras verbergen, indem sie nicht nur an der Decke der stores, also außerhalb des Gesichtsfelds, installiert, sondern auch hinter der kleinen schwarzen Kuppel versteckt werden, ihre je aktuelle Anwesenheit dem je aktuellen Wahrnehmungsbewusstsein der Kunden. Jene Umbenennung der Überwachungskamera in security camera hängt höchstwahrscheinlich mit dieser neuen Strategie zusammen. Hierin wird wieder die Paradoxie jener Präventivfunktion auffällig, der die Überwachungskamera allenthalben ihre Intallation verdankt. Was man unter dem Namen der Verbrechensvorbeugung installiert, schickt uns in Wirklichkeit gerade keine Warnsignale. Im Gegenteil: Es sucht sich unserer Wahrnehmung zu entziehen. Es handelt sich hier um ein Überwachungssystem, das über das Bewusstsein der überwachten Subjekte hinweg funktioniert. In diesem Punkt ist eine entscheidende Differenz zum klassischen Panopticon unverkennbar. Jene überwachenden „Blicke, die sehen, ohne gesehen zu werden“17, dienen nämlich nicht mehr dazu, die Anwesenheit des Wächters vorzugaukeln und damit eine permanente Überwachung zugunsten der Disziplinierung zu verwirklichen. Keine menschlichen Augen werden mehr zur Überwachung gebraucht, denn mit dem Aufkommen der Videokamera ist die Überwachung sowieso permanent. Verstecken sich die überwachenden Blicke, dann gibt es einen ganz anderen Grund dafür: Es geht in der neuen Strategie darum, dass sich ein Subjekt als Objekt der Überwachung dieser Überwachung unbewusst bleibt. An der Stelle von Disziplinierung tritt Unbewusstheit als Ziel der sich versteckenden Überwachungs-Blicke auf.18 17 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 221. 18 Aus dieser Sicht greift der Begriff der Videoüberwachung als einer Art „elektronischen Panopticons“ (Norris: Vom Persönlichen zum Digitalen, S. 360) zu kurz. Diese Bezeichnung stellt nämlich nicht in Rechnung, dass die Video-Überwachung nicht diszipliniert.

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Szene 3: Das N-System Dieser Aspekt erscheint auch in der dritten Szene. Es geht um Video-Überwachung auf der Autobahn bzw. der Hauptstraße, die N-System genannt wird. Das N-System, das an über siebenhundert Orten in Japan installiert werden soll, besteht aus computergestützten Videokameras, die automatisch die Nummernschilder der vorbeifahrenden Autos lesen. Die Daten werden an den zentralen Computer der Polizeidirektion übertragen, in dem die Autonummern, die polizeilich gesucht werden, gespeichert sind. Die Polizeibeamten brauchen also nur vor dem Monitor zu warten, bis eine Übereinstimmung mit einem Datensatz in der polizeilichen Datenbank auftaucht. Bemerkenswert ist das N-System, weil es aus dem digitalisierten Datenbanksystem Nutzen zieht. Es ist nämlich nicht nur gänzlich automatisiert und quasi intelligent, sondern es setzt auch die unmenschliche Geschwindigkeit der Recherchen voraus, die die elektronische Datenverarbeitung ermöglicht. In diesem Sinne nimmt das N-System, das das japanische Polizeipräsidium schon 1986 in Praxis umsetzte, den Medienumbruch um 2000 vorweg. Genaue Informationen darüber, ob das N-System erfolgreich arbeitet oder wo Kameras installiert sind, werden geheim gehalten. So sichert sich die Polizei die Position, in der sie alles sehen kann, ohne gesehen zu werden. Aber sie machte zumindest bekannt, dass sie 1995 mit Hilfe dieses Systems beobachten konnte, wo und wie sich Dutzende von Autos der Ohm-Sekte bewegten. Es wird vermutet, dass die japanische Polizei im Begriff ist, mit einem technisch verbesserten N-System nicht nur Nummernschilder, sondern auch Gesichter von Autofahrern erkennen zu können. Von da ist bis zur Einführung der sogenannten facial recognition nur noch ein Schritt. Diese Technologie der automatischen Gesichtserkennung zählt zur Biometrie. Sie zerlegt das Gesicht, das die Überwachungskamera gerade aufnimmt, blitzschnell in Details, um sie dann in entsprechende Zahlenwerte umzurechnen. Somit kann das Programm der facial recognition automatisch prüfen, ob die von der Überwachungskamera geschickten Daten mit den in der Gesichts-Datenbank gespeicherten Informationen identisch sind. Diese biometrische Technologie hat mittlerweile rasche Fortschritte gemacht. Das berühmteste System, FaceIt, das die amerikanische Firma Identix entwickelt hat, soll theoretisch sechzig Millionen von gespeicherten Gesichts-Daten pro Minute auf ihre Identifizierung hin nachprüfen können. Im internationalen Flughafen Narita ist FaceIt installiert, im Flughafen Kansai das System WithFace, das die japanische Firma Nikon-System programmiert hat.19 Weil auch das N-System bereits auf einer Datenbank basiert, 19 Vgl. Sasaki: Gesichtserkennungskameras (Kao wo Ninshiki suru Kanshi Kamera. Kankuu ga hisoka ni Dounyu shite ita).

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scheint eine allgemeine Einführung der automatischen Gesichtserkennung der natürliche Lauf der Dinge zu sein. Aber dies trifft nicht nur auf das N-System, sondern auch auf die digitale Video-Überwachung im Allgemeinen zu. Denn die digitale Videokamera, die man ohnehin an einen Computer anschließt, ist ohne weiteres auf die facial recognition anwendbar. Wie bereits dargelegt, wurde 2002 das System der Überwachungskameras in Shinjuku-Kabukicho eingerichtet. Es ist eben dieses Jahr, in dem die internationalen Flughäfen in Narita und Kansai die facial recognition inaugurierten. Diese erste Einführung der automatischen Gesichtserkennung in einem öffentlichen Raum geschah anlässlich der Fußballweltmeisterschaft in Korea und Japan mit dem Argument, dass man nur so Ausschreitungen von Hooligans verhindern könne. Dabei wurden wie zuvor beim N-System weder Einrichtungen angekündigt noch technische Details bekanntgemacht: Man weiß bis heute nicht, wo und wieviele Videokameras in den Flughäfen für die facial recognition arbeiten. Dadurch vermehrten sich wieder mal die digitalisierten Videokameras in Japan, die uns im Geheimen pausenlos und über unser Bewusstsein hinweg überwachen und identifizieren.

Die „Kontrollgesellschaften“ und die digitale Kamera Es gilt nun, aus diesen drei Szenen theoretische Schlußfolgerungen zu ziehen. Gilles Deleuzes Denken bietet dabei einen wesentlichen Bezugspunkt. Was die neue, von der digitalen Technologie unterstütze Überwachungsstrategie anbelangt, gibt es vielleicht keinen instruktiveren Text als Deleuzes Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, der zuerst 1990 in Paris erschienen ist.20 Der Philosoph zeichnet dort Konturen der „Kontrollgesellschaften“, die sich seinen Augen zum Ende des 20. Jahrhunderts zu immer deutlicher zeigen. Diese „Kontrollgesellschaften“ stehen laut Deleuze gerade im Begriff, die „Disziplinargesellschaften“ abzulösen. Interessant ist dabei, dass Deleuze in seine Überlegung über die „Kontrollgesellschaften“ bereits „Informationsmaschinen und Computer“21 mit einbezieht: Die Überwachung in den „Kontrollgesellschaften“ basiert nicht mehr auf Einschließungs-Milieus, für die das Panopticon steht, sondern auf Daten und Informationen.22 In diesen Kontext rückt die digitale Video-Überwachung ein, die wie andere neueste Überwachungstechnologien, 20 Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. 21 Ebd., S. 259. 22 Ebd., S. 258: „Die numerische Sprache der Kontrolle besteht aus Chiffren, die den Zugang zur Information kennzeichnen bzw. die Abweisung. Die Individuen sind ‚dividuell‘ geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder ‚Banken‘.“

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z.B. Biometrie, IC-Card, Gentechnik etc., untrennbar mit dem Computer verbunden ist. Diese Hochtechnologien zur Überwachung dienen weniger zur Disziplinierung eines Subjekts als vielmehr zu seiner Kontrolle. In diesem Sinne muss man die Bezeichnung „superpanopticon“23 für die Überwachung im Zeitalter des Computers, die der kanadische Soziologe David Lyon vorschlägt, für verfehlt halten. Die computergestützte Überwachung ist keine digitaltechnologisch erneuerte Version des Panoptismus, sondern sie verwirklicht die „Kontrollgesellschaften“, deren Maschinerie ohne Disziplinierung auskommt. In diesem Zusammenhang fällt es auf, dass sich die drei Szenen der digitalbildlichen Video-Überwachung alle auf offene Verkehrsräume im weiten Sinne des Wortes beziehen. Die Viedokamera hat mit geschlossenen Milieus nichts zu tun. Sie wird dort installiert, wo man touristisch (Asakusa), ökonomisch (convenience stores) oder im trivialen Wortsinne physisch (N-System) verkehrt. Die Überwachung richtet sich also auf Subjekte, die in Verkehrsräumen erscheinen und verschwinden. Dies unterscheidet die neue Überwachung mit der Videokamera definitiv vom klassischen Panoptismus, den Foucault als Disziplinarmacht beschreibt. In den alten panoptischen Systemen galt es zuallererst, Einschließungs-Milieus zu konstruieren, in denen Subjekte wiederum „zellenförmig“24 isoliert werden können: „Die Disziplin macht sich zunächst an die Verteilung der Individuen im Raum.“25 Subjekte müssen also voneinander abgetrennt und von Außen abgegrenzt werden, damit der Blick der Überwachung ins Innen eines jeden Subjektes so tief eindringen kann, dass er verinnerlicht wird. Der überwachende Blick vermag, das isolierte Subjekt allein als unterworfenes Individuum zu formieren. Die Isolierung ist die Bedingung dafür, seine Seele und seinen Körper der Norm gemäß zu disziplinieren. Genau diese Disziplinierung des Subjektes nach dem Prinzip der „Parzellierung“26 nimmt die neue Überwachung nicht vor. Was Foucault im Kern des Panoptismus entdeckte, die Disziplinierung, lässt die neue Strategie der Überwachung mit der digitalen Videokamera außer Acht. Denn ihre Blicke fokussieren hauptsächlich keine sich versammelnden Subjekte in geschlossenen Einschließungs-Milieus wie in der Familie, im Schulzimmer oder in der Kaserne, sondern zerstreute Subjekte in offenen Verkehrsräumen.27 Das Einzige, was sie im Auge haben, ist die ‚Kontrolle‘ der offenen Verkehrsräume, in denen man sich,

23 Lyon: Surveillance Society, S. 114f. 24 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 191. 25 Ebd., S. 181. 26 Ebd., S. 183 (Hervorhebung im Original). 27 Zu dem Begriffspaar von Sammlung und Zerstreuung im abendländischen Kulturkritik-Diskurs vgl. Schneider: Kollekten des Geistes.

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sei es als Kulturrezipient, sei es als Konsument oder sei es als Verkehrsteilnehmer bewegt. Bei der neuen Überwachung gilt es, Sicherheit und Stabilität der Verkehrskanäle sowie der ökonomischen und kommunikativen Kanäle zu gewährleisten und ohne Störung zu garantieren. In ihrer Sicht dürfen Subjekte undiszipliniert bleiben, insofern sie den zeitgemäßen Lauf der Dinge und Menschen nicht aufhalten. Differenzierungen werden toleriert, insofern sie nicht systemfeindlich sind. Überwacht uns die Videokamera immer unsichtbarer von oben herab und über unser Bewußtsein hinweg, dann deshalb, weil sie nicht mehr dazu da ist, zu disziplinieren. Mit anderen Worten: Die neue Überwachung interessiert sich nicht so sehr für die Disziplinierung unserer Seelen und unserer Körper, sondern für eine stabile Ordnung der Infrastruktur, die den freien Verkehr der Waren, Informationen und Menschen garantiert.28 Michel Foucaults Schrift Überwachen und Strafen impliziert eine bestimmte medienanthropologische Theorie: Das Panopticon definiert sich demnach als das kulturtechnische Medium, durch das das Subjekt auf das moderne ‚Individuum‘ hin diszipliniert wird. Die digitale Videokamera hört aber auf, Medientechnologie zur disziplinierenden Normierung des Subjekts zu sein. Das besagt nichts anderes als dass das sogenannte ‚Individuum‘ als autonome, mit sich selbst identische Einheit aus dem Fokus des Interesses verschwunden ist. Was wäre dann eine neue Bestimmung des Menschen, die der Videokamera als Kulturtechnik entsprechen würde? In dieser Perspektive ist darauf hinzuweisen, dass um 2000 sowohl in Europa als auch in Japan eine neue Debatte über die Beziehungen von Mensch und Tier die Bühne des theoretischen Denkens belebt. Im Anschluss an die Humanismus-Kritik von Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger sprach Peter Sloterdijk 1999 von Regeln für den Menschenpark: Die „Zähmung und Züchtung“ des Menschentiers ist heutzutage keine Aufgabe von Philosophie und Pädagogik mehr, sondern von „Anthropotechniken“.29 2002 erschien Das Offene. Der Mensch und das Tier von Giorgio Agamben: Dort werden der theologische, der biologische und der philosophische Diskurs über die Differenz von Mensch und Tier befragt, um aporetische Reste dieser Unterscheidungen ins Auge zu fassen.30 In Weimar fand 2006 eine Tagung über Politische Zoologie statt, die den Menschen als politisches Tier (zoon

28 Susanne Krasmann schreibt: „Videoüberwachung ist keine Disziplinartechnik, sie will nicht Einstellungen ändern oder Menschen erziehen. Entscheidend ist vielmehr, daß die Passanten das Funktionsgefüge nicht stören – aus welchem Grund auch immer. Die optische Kontrolltechnik könnte nur einer der Gründe sein. Sie dient dazu, die Wahrscheinlichkeit reibungsloser Abläufe innerhalb des überwachten Raumes zu erhöhen“ (Krasmann: Mobilität, S. 317). 29 Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark., S. 326. 30 Agamben: Das Offene.

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politicon) aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtete.31 In Japan veröffentlichte 2001 ein berühmter Derrida-Kommentator, Hiroki Azuma, ein Buch mit dem Titel Die tierisch werdende Postmoderne: Dort schließt er an Alexandre Kojèves Introduction à la lecture de Hegel an, in der das Tier-Werden des Menschen nach dem Ende der hegelianisch begriffenen Geschichte thematisiert wird.32 Diese theoretischen Ansätze um 2000 kommen bei allen Unterschieden darin überein, dass sie jeweils die Diskurse über die kategoriale Differenz von Mensch und Tier problematisieren. Es geht darum, im Blick auf die Geschichtlichkeit des Begriffs vom Menschen die Beziehung von Humanem und Tierischem anders zu denken. Die Notwendigkeit, den Menschen im Verhältnis zum Tier erneut befragen zu müssen, entspricht wohl eben der neuen Strategie der Überwachung, die aufhört, das moderne Subjekt zu einem Individuum disziplinieren zu wollen. Es werden nämlich Differenzen zum klassischen Bild des Menschen als autonomem Individuum bis zu einem gewissen Grad toleriert, da man bemerkt hat, dass diese Differenzen unter Umständen nutzbringend für Kommerz und Politik sein können. Die ‚neue‘ soziale Orthodoxie um 2000 kann sich diese relative Toleranz gegenüber Differenzen bedenkenlos erlauben, ohne in ihrem Funktionieren gefährdet zu sein. Diese Toleranz ist jedoch nur relativ und vielleicht sogar trügerisch. Denn die neue Überwachung verfolgt andererseits mit der Videokamera soziale Elemente, die den spätkapitalistischen bzw. postmodernen Verlauf der Waren und Dienstleistungen, der Dinge und Menschen stören. Der Stadtbezirk Suginami in Tokyo z.B. installierte im Jahr 2000 eine Videokamera vor dem Tor zur Übungshalle der Aleph-Sekte (der ehemaligen Ohm-Sekte), um ihre Tätigkeiten zu observieren. Hinsichtlich der Verfolgung der sozialen Paradoxie kann die neue Überwachungstechnik gnadenloser als das Panopticon sein. Denn digitale Videokameras, deren Zahl um 2000 explodierte, arbeiten mit zoomfähigen Augen, die ohne Schlaf auskommen, und zwar aus zahllosen unsichtbaren Winkeln. Außerdem haben sie eine ausgezeichnete Fähigkeit zur Datenspeicherung, die viel vertrauenswürdiger als das menschliche Erinnerungsvermögen ist. Darüber hinaus wird das Netz der Überwachung dadurch immer dichter und effizienter, dass die Installation der Videokamera die Trennwand zwischen Öffentlichem und Privatem, zwischen Polizei und Bürger regelmäßig missachtet. Und die Fiktion der Prävention wird instrumentalisiert, damit man allenthalben Videokameras installieren kann, die eigentlich nur nachträglich zur Spurensicherung effizient arbeiten. In der Tat könnte man zum Paranoiker werden, wenn man sich einmal mit dieser 31 Heiden/Vogl: Politische Zoologie. 32 Azuma: Die tierisch werdende Postmoderne (Doubutsuka suru Postmodern. Otaku kara mita Nihonshakai).

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Problematik beschäftigt. Wenn digitalisierte Videokameras nun die elegante Form des kleinen Doms annehmen, wenn sie immer bescheidener und unsichtbarer werden, dann deshalb, weil sie trotz oder wegen ihrer explosiven Wucherung und ihrer intensiven Vernetzung unbedingt vermeiden wollen, uns zu stark zu stressen. Denn unter großem Stress kann man nicht optimal verkehren, d.h. einkaufen, arbeiten, kommunizieren. Ein störungsfreier kommerzieller und sozialer Verkehr setzt wohl weniger disziplinierte Subjekte, als vielmehr die Illusion voraus, dass man frei und nicht im Netz der Überwachung verfangen sei, dass man nicht im Fokus der digitalen Videokameras stehe. So betrachtet liegt der folgende Verdacht nahe: Definiert die neue Strategie der Video-Überwachung vielleicht den Menschen als – mehr oder weniger soziales – Tier, das trotz gewisser Undiszipliniertheit zahm verkehren kann? Und macht sie sich nicht gleichzeitig daran, andere Undisziplinierte aus dem überwachten Verkehr zu ziehen, die gemäß dieser Definition nicht verkehren können? Die Ordnung der sozialen Orthodoxie und Paradoxie um 2000 legt solche Überlegungen nahe, wenn man bestimmte japanische Szenen der digitalen Video-Überwachung untersucht.

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Schneider, Manfred: Kollekten des Geistes. Zur Kulturkritik der Zerstreuung, in: Neue Rundschau 2., 1999, S. 44-55. Sloterdijk, Peter: „Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus“, in: ders.: Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frankfurt a.M. 2001, S. 302-337. Virilio, Paul: Die Sehmaschine, übers. v. Gabriele Ricke/Ronald Voullié, Berlin 1989. Welsh, Brandon C./Farrington, David, P.: Crime Prevention Effects of Closed Circuit Television: A Systematic Review, Home Office Research Study, 252. 2002, http://www3.hetccv.nl/binaries/toezicht/cameratoezicht/Inter nationaal/welshfarringtonx2002.pdf, 16.08.2008.

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Medialisierung des biologischen Lebens Künstliche Lebewesen auf dem Computerbildschirm 1

Einleitung: Computer als Medium künstlichen Lebens

Die Vorstellung von künstlichen Lebewesen ist in Europa bekanntlich sehr alt. Sie ist ein Topos in Mythen und Legenden, Märchen und Sagen und neueren literarischen Werken sowie in der Filmkunst. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden vor dem Hintergrund der Entwicklung der industriellen Technologie verschiedene Automaten konstruiert, z.B. künstliche Flötenspieler oder eine mechanische Ente. Heute sind die künstlichen Kreaturen in Form von Robotern selbstverständlich geworden. Aber seit den 1990er Jahren befinden wir uns in einer neuen Phase der Kreation künstlichen Lebens. Mit der Computertechnologie ist jetzt eine neue Qualitätsstufe erreicht. Diese Ansätze eröffnen uns neue Möglichkeiten, das Leben sowohl naturwissenschaftlich als auch philosophisch in neueren Kontexten zu ergründen. In dem vorliegenden Beitrag sollen zunächst die Modalitäten der Generierung künstlicher Lebewesen im Computer angesprochen werden. Daraufhin wird die philosophische und ästhetische Bedeutung dieses Vorhabens dargestellt.

2

Was ist künstliches Leben?

Im Computerzeitalter kann man zwischen drei Arten von künstlichem Leben unterscheiden: Software, Wetware und Hardware. Software ist ein Computerprogramm; darauf geht der folgende Abschnitt näher ein. Wetware ist ein organisches System, das in der realen Welt, also außerhalb der Computerwelt, mit uns leben kann. Ein echtes künstliches Leben in Form von Wetware existiert bisher noch nicht, künstliche Viren kann man erst seit 2003 herstellen. Aber diese Viren können nur im Körper anderer Lebewesen weiter existieren, und daher können sie in diesem Sinne nicht als Lebewesen betrachtet werden. Sie sind jedoch ein großes Problem für uns Menschen, weil sie bedrohliche Krankheiten verursachen und verbreiten können. Hardware schließlich kann man als ein mechanisches Tier, eine Art Roboter betrachten. Die Hardware-Lebewesen sind einem wirklichen, d.h. biologischen Tier in Form und Bewegung nachempfunden.

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Mario Kumekawa | Medialisierung des biologischen Lebens

Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich hauptsächlich auf die Software, das heißt auf Lebewesen im Computer. Der amerikanische Biologe Christopher Langton, der als Gründer der Wissenschaft des künstlichen Lebens betrachtet wird, erklärte 1987 beim ersten Kongress über die Forschung zu künstlichen Lebewesen den Sinn und Zweck der Untersuchung künstlichen Lebens: Biology is the scientific study of life - in principle, anyway. In practice, biology is the scientific study of life on Earth based on carbon-chain chemistry. There is nothing in its charter that restricts biology to carbon-based life; it is simply that this is the only kind of life that has been available to study. Thus, theoretical biology has long faced the fundamental obstacle that it is impossible to derive general principles from single examples. […] In order to derive general theories about life, we need an ensemble of instances to generalize over. Since it is quite unlikely that alien lifeforms will present themselves to us for study in the near future, our only option is to try to create alternative life-forms ourselves - Artificial Life - literally ,life made by Man rather than by Nature‘. […] By extending the horizons of empirical research in biology beyond the territory currently circumscribed by life-as-we-know-it, the study of Artificial Life gives us access to the domain of life-as-it-could-be, and it is within this vastly larger domain that we must ground general theories of biology and in which we will discover practical and useful applications of biology in our engineering endeavors.1 Nach Langtons Auffassung ist das Leben kein materielles Sein, sondern Wirkung und Information, die sich auf dem materiellen Feld bewegen. Bemerkenswerterweise ist bei Langton noch nicht vorentschieden, was Leben ist. Man könne erst durch die Untersuchung künstlichen Lebens, d.h. ‚life as it could be‘, fragen, was Leben sei.

Lifegame

3

Ein vergleichsweise einfaches Computerspiel gilt als bahnbrechend auf dem Gebiet der hier besprochenen Software: das sog. Lifegame. Nach dem Prinzip des cellular automaton, das der Computererfinder und Ingenieur John Neumann

1

Langton: „What is Artifical Life?“

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erdacht hatte, wurde es von John Horton Conway in den 1970er Jahren entwickelt. (Abb. 1) Die Regeln des Spiels sind relativ simpel: 1) Eine weiße Zelle lebt, eine schwarze Zelle ist tot. 2) Wenn es um eine Zelle A nur eine oder keine lebende Zelle gibt, scheidet A in der nächsten Szene aus, weil sie zu ‚einsam‘ ist, d.h. sie der biologischen Logik nach keine lebenserhaltenden zellularen oder molekularen Austausch betreiben kann. Wenn mehr als vier lebende Zellen um A vorhanden sind, wird sie ebenfalls entfallen, und zwar wegen der zu dichten Population der Zellen. 3) Wenn zwei lebende Zellen um A vorkommen, bleibt A in der nächsten Szene unverändert, d.h. wenn sie jetzt ‚lebt‘, ‚lebt‘ sie weiter. Wenn sie ‚tot‘ ist, bleibt sie ‚tot‘. 4) Wenn es um A drei lebendige Zellen gibt, wird sie in der nächsten Szene lebendig, egal, ob sie vorher bereits ‚gelebt‘ hat oder ‚tot‘ war.

Abb. 1: Lifegame.

In den 1970er Jahren spielten viele Computerinteressierte Lifegame und berichteten über den von ihnen als eigenartig empfundenen Eindruck, dass die Zellen wirkliche Lebewesen darstellten. Christopher Langton ging es genauso: „Ich habe verstanden, dass es zwischen mir, der Maschine und dem Computer keine Grenze gibt.“2 Lifegame wird heute als Prototyp des künstlichen Lebens betrachtet.

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Langton, zitiert nach Shiraishi: Jinkou seimei towa nanika, S. 48.

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Biomorph und die Emergenz

Ein anderes Computerspiel namens Biomorph produzierte der Biophysiker Richard Dawkins in den 1980er Jahren (Abb. 2). Beim Starten des Programms werden in der Mitte des Bildschirms eine einfache Form und um sie herum acht Variationen dieser Form sichtbar. Das Zeichen in der Mitte soll eine ‚Mutter‘ darstellen. Wählt man eine der neun Formen, werden wieder eine ‚Mutter‘ und acht Variationen gezeigt. Je mehr Generationen man durchgeht, desto mehr Änderungen werden in die ‚Gene‘ gespeichert und es entstehen unerwartet komplizierte Formen, die wie Tiere aussehen.

Abb. 2: Biomorph.

Das Spiel Biomorph ist ein typisches Beispiel für den genetischen Algorithmus, der Entscheidungen, Wahlen und Änderungen in sich speichern und sich dabei ändern kann. Der Begriff des genetischen Algorithmus wurde 1975 von John Holland, einem Dozenten für Elektrotechnik, Informatik und Psychologie an der Michigan University, vorgeschlagen, um fundamentale Phänomene wie Zuchtwahl, Mutation oder Kreuzung zu simulieren. Durch solche Algorithmen versuchte Dawkins die Evolution mit vielfältiger Emergenz wiederzugeben. Emergenz ist ursprünglich ein philosophischer Begriff, aber in der Biologie bedeutet er das ‚Erscheinen‘ von Phänomenen auf der Makroebene eines Systems, die erst durch das Zusammenwirken der Systemelemente auf der Mikroebene zustande kommen. Die Emergenz kann nicht durch vorausgesetzte Gegebenhei-

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ten logisch vorgesehen oder erklärt werden. Aber der Prozess der Evolution, der von der Geburt der Zelle zu den Lebenssytemen mit hoher Komplizität führt, muss eine Kette der Emergenz sein. Die Simulation der Emergenz mit dem Computer soll die Biologie in eine unbekannte Sphäre einbringen, die durch analystische wissenschaftliche Methoden nicht erreicht werden könnte. Wie sind Zellen in Erscheinung getreten? Was kontrolliert den Stoffwechsel? Wie entwickelt sich ein Arm? Welchen Mechanismus hat die Evolution? Um solche Fragen zu beantworten, genügt es nicht, ein komplexes System auf seine Bestandteile zu reduzieren. Vielmehr benötigt man das System als ganzes, um den Organismus der Zellen unmittelbar zu analysieren. In dieser neuen Biologie ist der neue Begriff der Emergenz, die auf einer höheren Ebene als der jedes Bestandteils auftaucht, besonders wichtig.3 Der Prozess der Evolution seit dem Auftreten des ersten Lebewesens muss eine Kette von Emergenz gewesen sein. Doch mit Hilfe eines Computerprogramms wie Biomorph kann man zum Beispiel die Änderungen der Formen der Tiere über hunderte Generationen in wenigen Sekunden verfolgen. Die Simulation auf dem Computer führt die Disziplin Biologie in einen neuen Bereich, der durch analytische Untersuchungen und Betrachtungen nicht erreicht werden könnte.

5

Boid (Birdoid)

Es gibt nicht nur den Versuch, biologische Züge von Lebewesen auf dem Computer wiederzugeben, sondern auch den Versuch, Bewegungen und Formen von Lebewesen dort autonom entstehen zu lassen. Ein Beispiel dafür ist das Computerprogramm Boid des amerikanischen Künstlers Craig Reynolds, das auch in Hollywoodfilmen verwendet wird. Der Name Boid ist die Abkürzung von Birdoid (‚Vogelähnlicher‘). Mit diesem Programm kann man verschiedene Zeichen wie eine Gruppe fliegender Vögel ansehen (Abb. 3).

3

Emmeche: The Garden in the Machine, S. 17.

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Abb. 3: Craig Reynolds: Boid.

Es scheint, als seien Informationen über die Bewegungen der Vögel in das Programm eingestellt. Doch in der Tat kontrolliert der Computer nicht die Bewegung der ganzen Gruppe, vielmehr sind einige einfache Regeln eingestellt: 1) Die Distanz zwischen den Vögeln soll immer unverändert bleiben. 2) Jeder Vogel soll dieselbe Richtung und Geschwindigkeit einnehmen wie die anderen. 3) Kein Vogel darf sich aus der fliegenden Gruppe entfernen. Mit solch einfachen Regeln wird die Emergenz der Bewegung der Vögel simuliert, während jeder einzelne Vogel ihnen nur folgt. Je mehr Hürden man in das Bild einbaut, wie etwa Bäume oder einen anderen Vogelschwarm, desto besser imitiert die Gruppe die Bewegungen realer Vögel, die nicht auf die Regeln reduziert werden können.

5

Künstliches Leben als CG

Auch Computergrafik-Künstler versuchen, auf dem Computer Formen von Lebewesen wiederzugeben. Wir können die Spur eines Lebewesens als solche erkennen, weil die Formen der Lebewesen immer zeigen, wie ein lebendiges System aussehen soll. So lassen sich ohne große Schwierigkeiten auch bloße Steine und Muschelschalen unterscheiden. Interessanterweise werden solche Formen manchmal durch fraktale Mathematik auf dem Bildschirm des Computers dargestellt. Dabei werden auch Formen gezeigt, die zwar in der natürlichen biologischen Welt nicht existieren, jedoch kann man sie als Formen von Lebewesen erkennen.

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Abb. 4: Fraktale Grafik.

Der japanische Künstler Yoichiro Kawaguchi stellt z.B. auf diese Art Bilder mit vielen spiraligen Formen her, die an Lebewesen erinnern (Abb. 5).4

Abb. 5: Yoichiro Kawaguchi: Artificial Life Metropolis CELL 1993.

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Aramata: Kono subarashiki ikimonotachi, S. 107.

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Die Bilder bewegen sich teilweise und vermehren sich wie wirkliche Lebewesen. Kawaguchi sagt dazu: „Ich möchte Tiere aus uralten Zeiten auf dem Computer wiedergeben. Radikal gesagt, will ich auch ein Schöpfer sein.“5 Er versucht auch, aus wenigen unkomplizierten Grundregeln die Emergenz mit großer Komplexität autonom erscheinen zu lassen. Für den Künstler ist Autonomie ist ein wichtiges Stichwort: [Der] Computer ist für mich kein bloßes Designwerkzeug. Vielmehr will ich, dass der Computer sich autonom bewegt. Ich stelle nur ein einfaches Programm mit ein Paar Regeln her, und dann brauche ich nur einen Teil des Programms zu stimulieren, der beim wirklichen Lebewesen dem Gen entspricht. Die Bilder vermehren sich autonom im Computer und stellen ihre eigene Welt dar. Sie zeigen unvorsehbares Wachstum und Evolution. Der Mensch braucht dann nichts zu machen.6 Die Bilder, die Kawaguchi auf dem Bildschirm erzeugt, erinnern zwar an biologische Lebewesen, sind aber gleichzeitig mysteriös und fantastisch. Seine Kunst ist in dem Sinne surrealistisch, als sie die Grenze der Erkenntnisse und der Einbildungskraft des Menschen in Frage stellt. Doch die Absicht Kawaguchis ist nicht der künstlerische Surrealismus, sondern die Wiedergabe des Lebens auf dem Bildschirm.

7

Wissenschaft von „Bottom-up“ und die Komplexität

Bisher wurden Beispiele von Aktivitäten gezeigt, die das Thema ‚künstliches Leben‘ aufgegriffen haben und die heute noch aktuell sind. Aber auch mit Hilfe solcher Beispiele lässt sich kein Umriss des Konzepts ‚künstliches Leben‘ zeichnen. Angesichts der Unmöglichkeit zu definieren, was ‚Leben‘ ist, ist die Frage danach, was das ‚künstliche Leben‘ ausmacht, noch weniger eindeutig zu beantworten. Nach Langton ist es nicht top-down-Wissenschaft, sondern bottom up. Er ist überzeugt: „Um das Handeln des Lebewesens zu entdecken und es schließlich wiederzugeben, spielt das Denkmodell nach der Methode des cellular automaton die Hauptrolle.7 Der Kernpunkt der Methode kommt in dem Wort bottom up besonders prägnant zum Ausdruck. Dieser Begriff ist für Langtons Philosophie des ‚künstlichen Lebens‘ von höchster Wichtigkeit und be-

5

Ebd., S. 142.

6

Shiraishi: Jinkou seimei towa nanika, S. 140.

7

Levy: Artificial Life, S. 138.

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deutet, dass kleinere Wirkungen sich nach oben kollektiv ausdehnen, manchmal Gegenwirkungen verursachen, sich reflektiv mit anderen Wirkungen verbinden und wiederholt werden, bis die Muster des Handelns als ganze und klar auftauchen.8 Die Untersuchungen des Lebens und des künstlichen Lebens sollen nicht nach einem Prinzip geplant werden, sondern man nähert sich dem unbekannten Ziel durch viele und vielfältige experimentelle Versuche und Simulationen auf dem Computer. In diesem Sinne ist die Wissenschaft des ‚künstlichen Lebens‘ keine herkömmliche Naturwissenschaft. Sie ist vielmehr eine Art Wissenschaft der Komplexität, bei der die experimentelle Simulation auf dem Computer eine entscheidende Rolle spielt. Das ‚künstliche Leben‘ steht noch am Anfang und beinhaltet zahlreiche Unsicherheiten. Aber eben deshalb ist seine Erforschung von den metaphysischen Voraussetzungen der Naturwissenschaft wie von der Kausalität oder Verallgemeinerung befreit und kann vielleicht die Einmaligkeit und Konkretheit, die die modernen Naturwissenschaften vernachlässigt hatten, in ihre Methode aufnehmen.

8

‚Künstliches Leben‘ und ‚künstlicher Intellekt‘

Wenn vom ‚künstlichen Leben‘ die Rede ist, wird immer wieder auch die ‚künstliche Intelligenz‘ thematisiert. Tatsächlich gehören beide zu dem Traum, einen künstlichen Menschen zu schöpfen. Aber die Geschichte des künstlichen Intellekts sollte man in einer anderen Tradition betrachten. Denn wie Umberto Eco in seinem Werk Suche nach der vollkommenen Sprache (1995) beschreibt, hat die ‚künstliche Intelligenz‘ viel mehr mit der Sprache zu tun: Man muss eine universale und vollkommene Sprache erfinden, um zu ihr zu gelangen. Als Marvin Minsky vor wenigen Jahren einen Vortrag in Kyoto hielt, fragte er die Zuhörer: „Möchte jemand von Ihnen 2000 Jahre leben?“9 Nachdem niemand antwortete, sagte Minsky: „Ich möchte und kann 2000 Jahre leben, wenn man mein Gehirn in einen Computer aufnehmen kann. Ich glaube, das ist in ein paar Jahrzehnten möglich.“ Der ‚künstliche Intellekt‘ kann auch als der Versuch betrachtet werden, die Menschenseele zum Erreichen eines ewigen Lebens in den Computer aufzunehmen – wobei ungeklärt bleibt, ob dies wirklich Leben ist. Aber trotz Minskys Optimismus scheint das Projekt des ‚künstlichen Intellekts‘ gescheitert zu sein. Denn wie bereits Ludwig Wittgenstein beobachtete, ist die Logik, die ein Computer recht gut behandeln kann, nur ein kleiner Teil der sprachlichen Tätigkeiten des Menschen. Die Natursprache besteht aus 8

Ebd.

9

Minsky, zitiert nach Shiraishi: Jinkou seimei towa nanika, S. 236.

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vielen verschiedenen Sprachspielen, die weder eine einzige Logik noch eine Grammatik kontrollieren kann. Doch vielleicht ist eine neue Möglichkeit entstanden: Bisher war die Suche nach dem ‚künstlichen Intellekt‘ ein top-downProjekt, in dem man vergebens nach einer universalen Grammatik forschte, die alle Informationen versprachlichen könnte. Nun dagegen kennt der Mensch auch die bottom-up-Wissenschaft, die die Emergenz simulieren kann. Man kann den ‚künstlichen Intellekt‘ zwar nicht erfinden, aber es scheint möglich, auf dem Computer einen ‚künstlichen Intellekt‘ sich autonom entwickeln zu lassen.

Schluss Die Studien über das ‚künstliche Leben‘ sind nicht nur technologische und naturwissenschaftliche Versuche, ein Leben auf der Grundlage einer künstlichen Methode wiederzugeben, sondern auch Untersuchungen darüber, was Leben eigentlich ist. Früher wurde jeder isolierte Computer als elektronisches Gehirn betrachtet, aber heute kann man Computer, die in Netzwerken gebraucht werden, als Metapher der biologischen Sphäre ansehen. Es stellt sich nun auf philosophischer Ebene die Aufgabe, den Computer synthetisch mit dem Leben verbunden zu betrachten.

Literaturverzeichnis Aramata, Hiroshi: Kono subarashiki ikimonotachi (Diese wunderbaren Lebewesen), Tokyo 1994. Emmeche, Claus: The Garden in the Machine. The Emerging Science of Artiticial Life, Princeton 1994. Langton, Christopher: „What is Artificial Life?“, http://www.biota.org/ papers/cglalife.html, 4.04.2008. Levy, Steven: Artificial Life. The Quest for a New Creation, Tokyo 1992. Shiraishi, Akihiko: Jinkou seimei towa nanika (Was ist ein künstliches Leben?), Tokyo 1995.

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Josef Fürnkäs

Automation und die Metamorphosen des Zuschauers Ce qu’il y a de plus terrible dans la communication, c’est l’inconscient de la communication. Pierre Bourdieu

Vergessen wir als Menschen der vita contemplativa nicht, welche Art von Übel und Unsegen durch die verschiedenen Nachwirkungen der Beschaulichkeit auf die Menschen der vita activa gekommen ist. Friedrich Nietzsche

1

Staunen und Neugierde, Angst und Sorge

Bekanntlich soll nicht nur in einem fernen Einst einmal mit Staunen und Verwunderung (griech. ƨơƵµƜƮƥƩƭ/thaumazein, lat. admiratio oder stupor) des Zuschauers (griech. ƨƥƹƱƼƲ/theoros oder ƨƥơƴƞƲ/theatēs, lat. spectator)1 die abendländische Philosophie begonnen haben. Vielmehr kommt auch bis auf den heutigen Tag, will man den nicht enden wollenden Kommentaren zu diesem auf die Gründungsväter Platon und Aristoteles zurückgehenden Topos glauben, kein Philosophieren um diesen Anfang herum: ohne Staunen keine Fragen, ohne Verwunderung keine über die Selbstverständlichkeiten der jeweiligen Lebenswelten hinausgehenden Ausblicke. Schon im entsprechenden platonischen Dialog, in dem der Lehrmeister Sokrates den jungen Theaitetos belehrt, wird indes nicht beim Staunen innegehalten: Staunen ist der Anfang der Philosophie, weil es Geist und Sinn des Wahrheit Suchenden in besonderer Weise für die Fragen der Logik (griech. ƫƼƣƯƲ/logos) empfänglich macht.2 Hannah Arendt (1906-1975) hat ins Zentrum ihrer Festgabe zum 80. Geburtstag Martin Heideggers am 26. September 1969 Zitate aus dessen Deutung von Heraklit, Fragment 16, gestellt, die auf den Topos vom philosophischen Staunen Bezug nehmen:

1

Vgl. den Wörterbuchartikel „Zuschauer“ von Hühn/von der Lühe, S. 1452-1455.

2

Vgl. Platon, Theaitetos 155d.

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Heidegger spricht einmal ganz im Sinne Platons von dem ‚Vermögen, vor dem Einfachen zu erstaunen‘, aber er fügt anders als Plato hinzu: ‚und dieses Erstaunen als Wohnsitz anzunehmen‘. Dieser Zusatz erscheint mir für eine Besinnung auf den, der Martin Heidegger ist, entscheidend.3 Heidegger, der selbst einmal der Versuchung des „Willens zur Macht“ nachgegeben hat, „seinen Wohnsitz zu verändern und sich in die Welt der menschlichen Angelegenheiten ‚einzuschalten‘ – wie man damals so sagte“, habe nach Arendt dennoch î und vielleicht gerade deshalb î wie niemand vor ihm gesehen, wie sehr, als Antipode zur „Gelassenheit“, solches Wollen „dem Denken entgegensteht und sich zerstörerisch auf es auswirkt“.4 Vor der Auseinandersetzung mit dem „Willen zur Macht“, mit Nationalsozialismus, Nihilismus und Nietzsche, hat Heidegger in Sein und Zeit (zuerst 1927) Wille und Wollen noch als menschliche Erscheinungen in dem existenzialen Grundphänomen der „Sorge“ fundiert gesehen. Die ontologische Ausarbeitung der „Sorge“ als Selbstverständnis des „Daseins“ in seiner „Zeitlichkeit“ war dabei mit Hinweis auf u.a. Augustinus und Kierkegaard ihrerseits von der „Grundbefindlichkeit der Angst“5 ausgegangen. Angst und Sorge erlauben dem Dasein nicht, gelassen und beschaulich in seiner Gegenwart aufzugehen. So zeigt sich besonders im Warten und Zögern ein gespanntes Zeitverhältnis, das als das Daseinsselbstverständnis der Sorge den Menschen immer schon zwingt, vorausschauend sich selbst voraus zu sein. Welche Wirkmacht dem Anfang im Fortgang und womöglich am Ende bleibt, kann nüchterne Betrachtung, die nicht nur nostalgischem Ursprungsdenken und fundamentalen Ontologien, sondern auch positivistischem Rationalismus misstraut, nur als offene Frage behandeln. „Der Erforscher der Natur konnte nicht mehr der antike Weltzuschauer bleiben oder wieder werden“6 î Blumenbergs begriffsgeschichtliche Ausführungen über Die Legitimität der Neuzeit lassen schließlich unentschieden, ob „humaner Selbsterhaltung“7 oder „theoretischer Neugierde“8 der Primat – de facto und de iure î unter den menschlichen Antrieben zukomme. Sie machen an diesem neuzeitlichen Dop3

Arendt: „Hannah Arendt für Martin Heidegger“, S. 187 (Hervorhebung im Original). Zur Heraklit-Deutung vgl. Heidegger: Vorträge und Aufsätze, S. 251 („Aletheia“).

4

Arendt: „Hannah Arendt für Martin Heidegger“, S. 191.

5

Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, § 40-42 (S. 184-200.); ebenso § 63- 65 (S. 310-331).

6

Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, S. 266.

7

Vgl. ebd., S. 135-259.

8

Vgl. ebd., S. 263ff.

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pelimperativ der affektiven Grundeinstellungen aber deutlich, dass „theoretische Neugierde“ noch ebenso an der anthropologischen Archaik des Staunens teilhat wie „humane Selbsterhaltung“ an der je nur vorläufigen Selbstermächtigung des Menschen durch den „Logos des Mythos“, der „im Abarbeiten des Absolutismus der Wirklichkeit“9 die Befreiung von Furcht und Schrecken und Angst verspricht. Die Hartnäckigkeit im Fortleben der neuzeitlich unerledigten Mythen ist in Blumenbergs Arbeit am Mythos leitendes Thema: Horizont ist nicht nur der Inbegriff der Richtungen, aus denen Unbestimmtes zu gewärtigen ist. Es ist auch der Inbegriff der Richtungen, in denen Vorgriffe und Ausgriffe auf Möglichkeiten orientiert sind. Der Prävention korrespondiert die Präsumtion.10 Blumenbergs „Prozeß der theoretischen Neugierde“11 sucht „zwischen dem phänomenologischen Radikal der ‚theoretischen Einstellung‘ Husserls und dem daseinsanalytischen Existential der ‚Sorge‘ Heideggers“12 durchzukommen, indem die Rekonstruktion des historischen Prozesses der Neuzeit durchgängig an die Rechtmäßigkeitsprüfung von entsprechenden Wissensansprüchen und Wissenszumutungen gebunden wird. „Wir können ohne Wissenschaft nicht leben. Aber das ist weithin eine Wirkung der Wissenschaft.“13 Blumenberg trägt dieser Unvermeidlichkeit der Wissenschaft in unserer Lebenswelt Rechnung, indem er ausdrücklich „von Technisierung als einem Prozeß, nicht von Technik als einem Gegenstandsbereich“14 spricht. ‚Technisierung‘ in diesem Sinne lässt die gängige Opposition von Technik und Natur bereits als reduktives Resultat eines verengten Gegenstandshorizontes erscheinen. Diese Verengung des Gesichtsfeldes ist nicht zuletzt jenem „Existential der ‚Sorge‘“ geschuldet. Die neuzeitliche Legitimierung der Wißbegierde (lat. curiositas) als unbeschränkte ‚theoretische Neugierde‘ bei Descartes, Francis Bacon, Hobbes 9

Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 18.

10 Ebd., S. 13. 11 Vgl. Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, S. 261-528. 12 Ebd., S. 267. In der aus dem Nachlass herausgegebenen Anthropologie Blumenbergs behält die Evidenz der ‚phänomenologischen‘ Theorie schließlich gegenüber der ‚existentialistischen‘ Praxis der Sorge doch das letzte Wort (vgl. Blumenberg: Beschreibung des Menschen, bes. S. 9-47). Zu ‚Daseins Sorge‘ im Anschluss an Heideggers Interpretation der einschlägigen Cura-Fabel aus der Mythen-Sammlung Fabulae des Hyginus vgl. auch Blumenberg: Die Sorge geht über den Fluß, bes. S. 195-222. 13 Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, S. 265. 14 Blumenberg: „Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie“, S. 16.

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u.a. ist für Blumenberg zugleich Klage gegen die fortwirkende Verurteilung der curiositas als bloßer Augenlust (lat. concupiscentia oculorum). Der Kirchenvater Augustinus hatte sie in seinen Confessiones um 400 in den christlichen Lasterkatalog aufgenommen. Zu Blumenbergs Plädoyer für die Neugierde im Kontext neuzeitlicher Wissenschaft und Technisierung (zuerst 1966) hat Stefan Matuscheks Abhandlung Über das Staunen15 ideengeschichtliche Ergänzungen beigebracht: Staunen und Neugier, die zwar eine gemeinsame griechische Wurzel (thaumazein) besitzen, als zwei Typen aber schon bei Platon und Aristoteles klar unterscheidbar seien, finden sich nach Matuschek spätestens mit Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft, die nachgerade das Staunen überwinden wollte, in getrennten Lagern wieder. Neben Religion und Theologie, Mythos und Mythologie sind es die Gärten des Wunderbaren in Kunst und Literatur, die dem Staunen dauerhaftes Asyl gewähren. Die „theoretische Neugierde“ ist nach Blumenberg freilich eine selbstreflektierte und methodisch disziplinierte Form, die durch Angst und Sorge belehrt, jene ursprüngliche Naivität des Staunens in die Vor- und Ausschau von Prävention und Präsumtion verwandelt hat. Gerade in der frühen Neuzeit unterhielten Wissenschaft, Aufklärung, Theologie, Kunst und Literatur vielfältige epistemologische Beziehungen miteinander. Solche Beziehungen hat Rüdiger Campe über Matuscheks Ideengeschichte des Staunens hinaus durch einen exemplarischen Vergleich der „paratheatralen Formen der ästhetischen Betrachtung von Architektur und Garten“ einerseits und der „epistemischen Beobachtung des Experiments“ andererseits herausgestellt.16 Beim ästhetischen Betrachter wie beim wissenschaftlichen Beobachter geht es im 17. Jahrhundert um durchaus künstliche, weil inszenierte Einstellungen des Zuschauers, die ähnlichen, der manieristischen Ästhetik des Paradoxen verpflichteten Mustern folgen: le rare, l’extraordinaire, das Seltene und Außerordentliche in Garten und Schloß von Versailles antwortete auf the curiosities and wonders, die in den Laboratorien und Experimentalräumen der Royal Society in London zu beschauen waren. Naturschauspiel, Experiment und Bühnenkunst trafen sich in der gemeinsamen „Vorstellung von der Natur als Artefakt“17, die im Topos vom theatrum mundi die Welt lediglich als Modell im Horizont von möglichen Welten betrachten lehrte. Erst im 18. Jahrhundert sollten verschärfte Realitätspostulate für klarere Verhältnisse zwischen Möglichkeit, Notwendigkeit und Wirklichkeit sorgen: Einerseits inkriminierte die protestantische 15 Vgl. Matuschek: Über das Staunen. 16 Campe: „Die Einstellung des Zuschauers. ‚Admiratio‘ in den Gärten von Versailles und in der Royal Society zwischen 1660 und 1690“, S. 347. 17 Nelle: „Von der beobachteten zur inszenierten Natur – Descartes und der Regenbogen im Wasserglas“, S. 402.

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und neuhumanistische Theaterkritik exzessive Schaulust und spektakuläre Bühneneffekte, andererseits wurde die Reinigung der experimentellen Wissenschaften von ihren allzu theatralen Momenten vorangetrieben, die Scharlatanerien und Quacksalbereien Vorschub geleistet hatten.

2

Automatismus, Aufmerksamkeit und Medialisierung Dient die Aufmerksamkeit der Lebenserhaltung als Notbehelf, oder folgt sie dem freien Impuls, der von der Unerschöpflichkeit der Sache selbst ausgeht? Noch kürzer formuliert: Ist sie eine Sache der Selbsterhaltung oder der Neugier?18

Waldenfels übersetzt Blumenbergs offen gehaltene Frage des Verhältnisses von Selbsterhaltung und Neugierde, Dasein und Theorie, Sorge und Bewusstsein, in die kaum weniger offene Frage nach der Rolle der Aufmerksamkeit in Erfahrung, Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft: „Ist Aufmerksamkeit ein Geschehen, ein Ereignis, ein Akt, eine Disposition, ein Können, eine Pflicht, ein Geschenk?“19 Aus neurobiologischer, informationstheoretischer und kognitiver Perspektive ist es die begrenzte Verarbeitungskapazität des Gehirns, die Aufmerksamkeit überhaupt Bedeutsamkeit verleiht. Weil sich unser Gehirn zu gleicher Zeit nur mit einer sehr beschränkten Menge von Reizen bewusst beschäftigen kann, muss es fortlaufend selektieren, welche Informationen für den Organismus von Wichtigkeit sind und deshalb Aufmerksamkeit verdienen, und welche weniger bedeutsam sind und deshalb ausgeblendet werden können. In der Evolution des menschlichen Gehirns haben Techniken des Lernens, Übens und Simulierens die wachsende Komplexität taktischer Entscheidungen in der (Über-)Lebenswelt durch „eine neue Art von Replikatoren“ auszugleichen gewusst. Raimar Zons hat sie im Anschluss an die kulturelle Gedächtnisforschung der letzten Jahre passend ‚Meme‘ genannt: „Träger abstrakter ‚kultureller‘ Information, die sich von den Gehirnen lösen und als kulturelles Gedächtnis in Büchern, Bildern, Filmen, Computern etc. weiter und weiter getragen werden konnten.“20 Sie erlauben nicht nur, Intelligenz und Wissen von den sterblichen Menschenkörpern zu trennen, sondern kompensieren auch die begrenzte Verarbeitungskapazität des Gehirns, indem sie die Prozesse der Auf-

18 Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 68. 19 Ebd., S. 9. 20 Zons: Die Zeit des Menschen, S. 27. Zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung vgl. bes. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis; ebenso Aleida Assmann: Erinnerungsräume.

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merksamkeitszuwendung automatisch (griech. ơƽƴƼµơƴƯƲ/automatos = selbstbewegend) steuern. Als Automatismus wird gewöhnlich ein selbsttätiges und spontanes Funktionieren motorischer und psychischer Systeme verstanden, das ohne Willenskontrolle und ohne wesentliche Mitwirkung des Bewusstseins abläuft. Psychologen unterscheiden einen angeborenen bzw. endogenen von einem erworbenen bzw. sekundären Automatismus, der durch Wiederholen und Lernen, durch Übung und Gewöhnung gleichsam in Fleisch und Blut übergehen kann. Habit formation erscheint deshalb in heutiger Pädagogik als wichtigste Grundlage aller Arten von Lernprozessen. Neues kann nur in sehr begrenzter Dosierung aufgenommen werden, und das auch nur, weil psychische Systeme weitgehend automatisch funktionieren. Die fortlaufende Auswahl der Reize bzw. Informationen, eingeschlossen die damit notwendig verbundene Unaufmerksamkeit gegenüber anderen, je aktuell weniger bedrängenden Reizen oder weniger wichtig erscheinenden Informationen, versieht eine schützende Filterfunktion, der schon Freud 1920 in Jenseits des Lustprinzips unter dem topischen Begriff „Reizschutz“21 die Aufgabe zuerkannte, das labile psychische System gegen die von außen, aber auch von innen andrängenden Energien zu stabilisieren. Filterfunktion und Aufmerksamkeitszuwendung greifen in ihrem Zusammenspiel unter normalen Umständen vollkommen automatisch, d.h. durch Gewohnheit habitualisiert, ineinander. Gleichwohl lässt ihr Automatismus von Fall zu Fall eine zusätzliche und bewusste Einflussnahme zu. Je nach Lage der Dinge und nach Verfassung der Psyche kann so die eigentliche Aufmerksamkeitszuwendung die Prioritäten von Selbsterhaltung und Neugier auch willkürlich verschieben, um etwa den besonderen Herausforderungen sportlicher Selbsterprobung zu genügen. Aufmerksamkeit (lat. attentio), in der europäischen Tradition seit Augustinus primär als Willensausrichtung (lat. intentio voluntatis) der ‚äußeren‘ Sinneswahrnehmungen sowie der ‚inneren‘ Vorstellungen von Gedächtnis und Phantasie bestimmt, motiviert als intentio eher denn attentio noch Husserls Insistenz auf einer immanenten Bewusstseinslogik der Intentionalität gegenüber einem Multiversum impressionistischer Affektionen und Appetitionen.22 Waldenfels hält deutlichen Abstand zu Husserls Phänomenologie: „Zunächst erweist sich das Aufmerken als ein Geschehen, an dem wir beteiligt sind, aber nicht als Ur-

21 Vgl. Freud: „Jenseits des Lustprinzips“, S. 213-272; über „Reizschutz“ bes. S. 234ff. und S. 244ff. 22 Vgl. Husserl: Erfahrung und Urteil, bes. S. 80ff. Blumenberg moniert an Husserls Phänomenologie eine Überschätzung der Aktseite des Bewusstseins vor der Inhaltsseite. Vgl. Blumenberg: Zu den Sachen und zurück, bes. S. 182ff.

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heber oder Gesetzgeber.“23 Dieses Geschehen erforscht er in den Spalten von Auffallen und Aufmerken, Auftauchen und Absinken, Gehen und Kommen, Erfassen und Auffassen. Aufmerksamkeit wird als Schwellenphänomen beschrieben, das „durch mannigfache Zwischeninstanzen hindurchgeht“, dabei wechselnde Gestalten und Funktionen erhält durch ein „Arsenal aus Techniken, Medien, sozialen Praktiken, das die Aufmerksamkeit durchformt und eine Ökonomie und Politik der Aufmerksamkeit entstehen läßt“.24 Richtig erkennt Waldenfels die falsche Transparenz der Medien, durch die der Blick „hindurchgeht“, um sie selber hinter dem „Geschehen“, einmal dort „angekommen“, prompt aus dem Blick verschwinden zu lassen. Es geht dabei um einen „rhetorischen Effekt, der sich als adressierte Wirkung von jeder bloß physischen Wirkung unterscheidet“. In der Konsequenz erweist sich bei medial erzeugtem Wirkungsgeschehen alles Was und Wozu an ein „Wodurch“ gebunden: Dieses Wodurch ist ähnlich wie das griechische ƤƩƜ und das lateinische per als ein Hindurch (frz. à travers) zu verstehen, das die Materialität eines Vermittels (frz. par) nicht abgelegt hat.25 Der faktische Prozess der Konkretion von perzeptiven, kognitiven, emotiven, affektiven und somatischen Potentialen kann in der Wechselwirkung mit bestimmten Gegenständen und Gehalten als Medialisierung des Menschen beschrieben werden. Gegen „technoid verklärende und verklärte Medientheorie“26 hilft ein Medienkonzept, „das unter Medien nicht nur die Konkretion der Apparaturen, sondern auch das Spektrum der unterschiedlichen Kulturtechniken faßt“27. Stefan Rieger hat dieses Medienkonzept im Anschluss an Friedrich Kittler als wechselseitige „Figuration“ von „Techno- und Anthropomorphismus“ bestimmt und für eine alternative Geschichte der Wissenschaften vom Menschen fruchtbar gemacht:

23 Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 99. 24 Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 9. Vgl. hierzu den Entwurf: Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit; ebenso die spätere Selbstkritik (2005) des Autors: Franck: Mentaler Kapitalismus; nicht zuletzt auch Stiegler: Prendre soin, bes. S. 103-193. 25 Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 127 (griech. ƤƩƜ/dia = durch, hindurch). 26 Reck: „Inszenierte Imagination. Zu Programmatik und Perspektiven einer historischen Anthropologie der Medien“, S. 232. 27 Rieger: Die Individualität der Medien, S. 16f.

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Mensch und Medium sind vielmehr in ein Figurationsverhältnis eingespannt, das die Rede über den Menschen als Spiegelseite einer Rede über die Medien und umgekehrt die Rede über die Medien als Rede über den Menschen aufscheinen läßt.28 Die Kopplung des Menschen durch seine Kulturtechniken hindurch an immer neuere Medien hat „im Wechselschluß ein Reich numerischer Zugriffsweisen auch auf den Menschen geschaffen“29. Als kaum objektivierbares Schwellenphänomen ist Medialisierung keineswegs nach Maßgabe einer symbolischen Raumordnung von Differenz oder Grenze zu begreifen, allenfalls mit Hilfe der Metaphorik von Bewegungsverhältnissen zu benennen; es geht um vielfachen Übergang, um oszillierende „Passagen“30 (Walter Benjamin). Der offene, gleichwohl gerichtete, d.h. Menschen adressierende Medialisierungsprozess hat einen faktischen Eigenwert, der sich an seiner Phänomenalität und seinen Effekten als spezifische Sinnbildung erkennen lässt. Es mag hier erlaubt sein, bei der Betrachtung dieser spezifischen Sinnbildung zunächst von der heutigen Machtfrage, d.h. von den unübersehbaren ökonomischen und sozialpolitischen, insbesondere neoliberalen Implikationen und Konsequenzen zu abstrahieren. In technisch-strategischer Hinsicht kann Medialisierung durch den Bezug auf anthropologische Perzeptions-, Kognitions-, Affekt- und Emotionspotentiale noch unterhalb des Niveaus von konventionellem Sinn merkbare Bedeutsamkeiten generieren, die als je besondere Tatsächlichkeitseffekte mehr als bloß imaginären oder fiktiven Status beanspruchen können. Die medienanthropologische Frage nach der mentalen Wirklichkeitskonstitution durch die faktischen Konkretionsleistungen von Medialisierungsprozessen führt so zur epistemologischen Frage nach dem Status des ‚Realen‘ in den Medien, insbesondere in den digitalen Medien. Beide Fragen sollen hier in der medienästhetischen Suche nach Schwundstufen î oder weniger nostalgisch gewendet: nach Alternativen oder Substituten î des Normativen zusammengeführt werden. Die medienanthropologische Rücksicht auf das interfakultative Zusammenwirken des Perzeptiven, des Kognitiven, des Emotiven und Affektiven erlaubt, die forschungslogische Unterscheidung von quaestio iuris und quaestio facti, von Geltung und Genesis, von Normativem und Empirischem in Klammern zu setzen. Die rhetorische Statuslehre (griech. ƳƴơƳƩƲ/stasis, lat. status oder constitutio), die der antiken Gerichtsrede komplementär zur Thesislehre (zugrunde liegender allgemeiner Rechtsfall) half, die Ausgangsstellung für Anklage oder Verteidigung zu bestimmen, kann 28 Ebd., S. 13f. 29 Ebd., S. 12. 30 Vgl. Brüggemann: „Passagen“, S. 573-618.

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dabei zur Orientierung im ‚Realen‘ taugen: Fragen nach faktischen Tatbeständen und Tatsächlichkeiten (ƫƯƣƩƪƜƟ/logikái/quaestiones rationales) können mit Fragen nach der Interpretation von normativen Gesetzen und Schriften (ƭƯµƩƪƜƩ/nomikái/quaestiones legales) kombiniert werden. Unsere medienästhetische Suche wird indes nicht am Beispiel des Richters und seiner Tatsachenfindung im Kontext von Fallbeschreibung und Fallbeurteilung, sondern des Zuschauers und seiner mentalen Wirklichkeitskonstitution im Medialisierungsprozess unternommen. Findung, Beurteilung und Beschreibung setzen allemal Wahrnehmung und Betrachtung voraus, wo noch Perzeption, Kognition, Emotion und Affektion zusammenwirken. Sollen aus der Frage nach dem Status des ‚Realen‘ brauchbare Kategorien zur Beschreibung der digitalen MedienWelten gewonnen werden, die auch die Frage nach medialen Ordnungen des ‚Realen‘ im faktischen Prozess der mentalen Wirklichkeitskonstitution einschließen, dann kommt der Figur des Zuschauers eminente Bedeutung zu. Es ist wohl diese originäre Schwellenleistung im phänomenologischen „Zweitakt von Auffallen und Aufmerken“ in der Lebenswelt, wozu sich erst in einem zweiten Schritt die Subjekt-Akte des Erfassens und Auffassens, der „Apprehension“ und „Ap-perzeption“ eines erkennbaren und benennbaren ‚realen‘ Etwas gesellen, die dazu eingeladen haben, die Figur des Zuschauers als intentionalen ‚Beobachter‘ zum epistemologischen Konstrukt zu formalisieren.31 Diese Formalisierung des Zuschauers geht wiederum einher mit seiner Automation: Als ‚Beobachter‘ ist der Zuschauer dann in vielen – nicht nur wissenschaftlichen î Disziplinen aufgerufen, institutionelle Garantien hinsichtlich des empirischen (griech. ƝµưƥƩƱƯƲ/empeiros = erfahren, erprobt) Realitätsgehaltes der jeweilig verhandelten Sachverhalte und Tatbestände abzugeben. Die „Sein/Nicht-Sein-Unterscheidung“ von Epistemologien und Ontologien will, dass die „Realität“ so erkannt wird, „wie sie ist, und nicht so, wie sie nicht ist“.32 Niklas Luhmanns systemtheoretische Darstellung der Wissenschaft der Gesellschaft gibt jedoch die realistischen wie idealistischen Beobachterpositionen der philosophischen Tradition zugunsten einer automatischen Beobachtung der „Rekursivität des Beobachtens von Beobachtungen“33 auf, die erst den Realitätsbezug des Beobachters selbst gewährleisten kann: Auf der Ebene der Kybernetik zweiter Ordnung, auf der Ebene des Beobachtens von Beobachtungen, wird man daher beobachten müssen, wie der beobachtete Beobachter beobachtet. Die Was-Fragen verwandeln sich in Wie-Fragen. Das schließt definitive Darstellungen aus 31 Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 65f. 32 Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 88. 33 Ebd., S. 93.

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und läßt nur die Möglichkeit zu, daß sich im rekursiven Prozeß des Beobachtens von Beobachtungen stabile Eigenzustände (etwa sprachliche Formen) ergeben, auf die man jederzeit zurückgreifen kann.34

3

Spektakel und Theatralik – Hinsehen, Wegsehen, Zusehen

Wer dem Zuschauer beim Zuschauen zuschauen will, sollte also auf Luhmanns wahrnehmungstheoretischen Wink reagieren und zuerst die gewohnte eigene Blickrichtung auf Sachen und Personen umkehren. „Es ist sehr schwierig, von den Stürmern und dem Ball wegzuschauen und dem Tormann zuzuschauen.“35 Das äußert als Zuschauer eines Fußballspiels – im Gespräch mit einem anderen Zuschauer î am Ende der Erzählung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970) Peter Handkes Protagonist Josef Bloch, der früher selber ein bekannter Tormann und nun arbeitsloser Monteur und Mörder auf der Flucht ist. Wenn es um Fußball geht, kommen Zuschauer gewöhnlich nicht als Individuen, sondern vielmehr im Plural, als Menge oder Masse, in Betracht: Sportzuschauer drängen und brüllen in Stadien; dort finden sie ihre vulgärste Ausformung als Fan-Haufen. Oder sie lümmeln zu Hause in der Pose eines Bereitschaftsdienstes vor dem Fernseher.36 Gewiss ist Gebauer zuzustimmen, wenn er die heutigen Fußball-Freunde vor solchen negativen Klischee-Bildern einer simplifizierenden Kulturkritik des Feuilletons in Schutz nimmt. Die starre Dichotomie von Intellekt und roher Körperlichkeit, welche die traditionsreiche „Verachtung der Massen“37 stützt, ignoriert die Tatsache, dass neben dem Showbusiness der Sport, d.h. in Europa der Fußball, in Stadien und Arenen, vor Bildschirmen und Leinwänden, nicht nur die meisten Zuschauer anlockt, sondern kraft seiner körperlichen Dynamik auch „der größte und wichtigste Bilderlieferant“38 neben dem alltäglichen Leben ist. Die ökonomische Allianz von Sport, Produktwerbung und Marketing in den Medien ist in der Tat nicht zu übersehen. Vor allem Stürmer, die den Ball spektakulär ins Tor schießen, genießen bei den Massen der Fuß-

34 Ebd., S. 95. 35 Handke: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, S. 111. 36 Gebauer: „Fußball als Spiel der symbolischen Macht“, S. 91. 37 Vgl. Sloterdijk: Die Verachtung der Massen. 38 Gebauer: „Fußball als Spiel der symbolischen Macht“, S. 93.

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ball-Zuschauer die höchste Gunst, „da der spektakuläre Körper eine unvermeidliche Modalität menschlicher Orientierung bleibt“39. Eine „eigenartige Beziehung von Sport, Theatralik und Literatur“40 zeigt sich schon unmittelbar nach der gesamteuropäischen Katastrophe des Ersten Weltkriegs in den in Aufruhr geratenen Metropolen des Kontinents. Träger ist eine internationale Avantgarde von Künstlern und Literaten verschiedener Herkunft und Zukunft. In Zürich ab 1916, dann vor allem in Paris und Berlin inszenierten die Dadaisten ihre radikale Absage an die repräsentativen Kunstund Kulturformen des Bildungsbürgertums, indem sie bei Jahrmarkt, Vergnügungslokal, Schmierentheater, Massenpresse und Sport riskante Anleihen machten: Jedermann sein eigener Fußball41 lautete 1919 der programmatische Titel einer Berliner Dada-Zeitung, deren 7600 Exemplare am Tag des Erscheinens im Straßenverkauf abgesetzt wurden. Und der französische Surrealismus nahm im Nachkriegs-Paris Mitte der zwanziger Jahre die populären Impulse von Dadaismus, Futurismus und anderen Avantgardismen auf, um daraus seine ‚überrealistischen‘ Methoden des spontanen Experimentierens und Beobachtens zu entwickeln, welche die banalen Alltagswelten der modernen Großstadt und die Traumwelten ihrer Insassen von Fall zu Fall kurzzuschließen wussten. Auch Robert Musil lässt in seinem großen Roman Der Mann ohne Eigenschaften den Mathematiker Ulrich die neusachliche Entdeckung machen, „daß die Griffe und Listen, die ein erfinderischer Kopf in einem logischen Kalkül anwendet, wirklich nicht sehr verschieden von den Kampfgriffen eines hart geschulten Körpers sind“42. Und der junge Bertolt Brecht geht schon 1926 einen î politischen î Schritt weiter in Richtung auf eine emanzipatorisch verstandene, urbane Massenkultur und setzt „unsere Hoffnung“ kurzerhand auf das „Sportpublikum“: Unser Auge schielt, verbergen wir es nicht, nach diesen ungeheuren Zementtöpfen, gefüllt mit 15000 Menschen aller Klassen und Gesichtsschnitte, dem klügsten und fairsten Publikum der Welt.43 Im Vergleich zu derart avantgardistischer Begeisterung der Zwischenkriegszeit zeigt Handkes literarische Fiktion Die Angst des Tormanns beim Elfmeter 1970 nachgerade die individualistische Abkehr vom massenmedial inszenierten Zuschauersport und seinem körperlich-dynamischen Männlichkeitsideal, die in 39 Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre, S. 457. 40 Ott: „‚Unsere Hoffnung gründet sich auf das Sportpublikum‘“, S. 465. 41 Vgl. Riha: Da Dada da war ist Dada da, S. 44f. 42 Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, S. 44. 43 Brecht: „Mehr guten Sport“, S. 31.

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der Arena nach römischem Vorbild ihren idealen Schauplatz besitzen. Handkes Erzählung bezieht zwar aus dem kollektiven Bildraum des Fußballspiels ihre Beschreibungsprägnanz, bindet diese aber zugleich an die individuelle Inversion der habituellen Blickrichtung eines Zuschauers. Handkes Zuschauer Josef Bloch, dem ehemals bekannten Tormann, gelingt am Ende der Erzählung die Entzauberung der Stürmer-Dynamik – und mit ihr der zum geflügelten Wort prädestinierten ‚Angst des Tormanns beim Elfmeter‘: Der Schütze lief plötzlich an. Der Tormann, der einen grellgelben Pullover anhatte, blieb völlig unbeweglich stehen, und der Elfmeterschütze schoß ihm den Ball in die Hände.44 Handkes literarische Esoterik der Perspektiven-Inversion und ihre immanente Kritik am Zuschauersport lassen nicht nur einen deutlichen Abstand zur avantgardistischen Exoterik des frühen 20. Jahrhunderts erkennen; sie stehen auch quer zu neueren, mitunter gegen das Schrift-Paradigma „Lesbarkeit der Kultur“45 gerichteten Versuchen, Sport und Fußball als „cultural performances“46 im Verein mit Wettkämpfen, Ritualen, Spielen, Festen, Zeremonien, Moden kulturwissenschaftlich aufzuwerten. Aus der eigenen skeptischen Zuschauer-Position wollen wir hier weniger im Plural von vergleichender Kulturanthropologie und spektakulärer Massenkultur,47 vielmehr im wahrnehmungstheoretischen Singular von Medienanthropologie fragen: Wie zeigt sich heute der Zuschauer? Wo und wann? Welche Verwandlungen zeigt er? Diese Fragen laufen auf eine rekursive Frage hinaus, welche die vorangehenden wie in einem Spiegelkabinett zugleich reflektiert: Wenn sich der Zuschauer so zeigt, î wie, in welcher Gestalt, wo, wann î, was zeigt er dann jeweils? Was zeigt dieses dem Zuschauer beim Zuschauen Zuschauen î dem Zuschauer? „Der Tormann sah zu, wie der Ball über die Linie rollte […].“48 Handke hat diesen parabolischen Beobachtungssatz als Motto seiner Erzählung über die Angst des Tormanns beim Elfmeter vorausgeschickt, die für den Kino-Zuschauer im Medienwechsel zu ki44 Handke: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, S. 112. 45 Vgl. Neumann/Weigel: Lesbarkeit der Kultur. 46 Vgl. Gebauer: Körper- und Einbildungskraft. Zum Begriff ‚cultural performances‘ (Milton Singer) vgl. die Einleitung der Herausgeberin Fischer-Lichte in: dies.: Theatralität und die Krisen der Repräsentation, S. 1ff. 47 Vgl. Debord: La société du spectacle; ebenso Debord: Commentaires sur la société du spectacle. Beide Texte (von 1967 und 1988) des Situationisten und ‚Achtundsechzigers‘ finden sich zusammen auch in einer deutschen Ausgabe (Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996). Zur ‚Massenkultur‘ in historischer Perspektive vgl. Maase: Grenzenloses Vergnügen. 48 Handke: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, S. 5.

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nematographischer Sichtbarkeit zu bringen, Wim Wenders’ gleichnamige Literaturverfilmung 1972 doch einige Schwierigkeiten zeigte. Wenn man heute vom Zuschauer spricht, d.h. davon, wie er wo und wann sich zeigt, sieht man sich ‚anthropologisch‘ zunächst an sinnliche Wahrnehmungsphänomene und ästhetische Konstellationen verwiesen. Zum Problem wird, mit anderen Worten, denen Heideggers auf dem „Weg zur Sprache“ von 1959 gesprochen, das Verhältnis von „Sprache“ und „Zeige“: „Das erbringende Ereignen, das die Sage als die Zeige in ihrem Zeigen regt, heiße das Ereignen.“49 Ereignis und Ergebnis, Geschehen und Resultat gehen nicht ineinander auf, „die Zeige in ihrem Zeigen“ weist darauf hin, dass eigentlich nur von einem offenen Prozess – in actu wie in situ – zu sprechen ist. Der Zuschauer steht nun nach Maßgabe eines anthropologisch unvordenklichen, archaischen Begriffspaares komplementär im Kontrast zum tatkräftigen Helden, oder nüchterner und moderner gesprochen: zum Akteur. In Europa blieb es der Institution des Theaters und in ihr den aus der Antike überlieferten dramatischen Kunstformen von Tragödie und Komödie vorbehalten, die fundamentale Opposition von Held und Zuschauer im Kollektivbewusstsein metaphorisch auszukleiden. Der Zuschauer hat, anders als der Akteur, der im französischen Nomen l’acteur eben nicht nur den Handelnden, sondern auch den Schauspieler bezeichnet, gewöhnlich kein Anrecht auf Glanz und Licht der Bühne. Er soll nach aller dramatischen Theaterkonvention im dunkleren Raum Platz nehmen, im Zuschauerraum eben, von wo aus er schauen kann, ohne selbst gesehen zu werden, ohne sich selbst zu zeigen. Diese rigide Trennung von Bühne und Zuschauerraum hatte es jedoch weder in der Antike noch im Mittelalter gegeben, sie ist erst mit der Entwicklung eines neuen Theaterbegriffs im elisabethanischen England des ausgehenden 16. Jahrhunderts entstanden. Der neue Begriff brachte unter dem alten Topos vom Theatrum mundi zugleich eine extensive Ausbreitung von Theatermetaphorik zuwege, die auf alle kulturellen Bereiche ausstrahlen sollte: Aufführung, Darstellung, Drama, Tragödie, Komödie, Bühne, Kulisse, Szene, Kostüm, Maske, Rolle, Regisseur, Souffleur, Schauspieler, Akt, Zuschauer etc. Der historische Wandel einer Metapher bringe „die Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen selbst zum Vorschein, innerhalb deren Begriffe sie ihre Modifikationen erfahren“50 – diese Grundannahme bestimmt Strategie und Ziel von Blumenbergs Metaphorologie, die die wissenschaftliche Begriffsgeschichte zu erweitern suchte, indem sie ihr durch eine

49 Heidegger: „Der Weg zur Sprache“, S. 258. 50 Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 13.

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Theorie der Unbegrifflichkeit51 ihre Grenzen aufzeigte. Blumenberg hat der Theatermetaphorik nur am Rande Aufmerksamkeit gezollt, den Fokus seiner metaphorologischen Untersuchungen als Philologe und philosophischer Hermeneutiker vielmehr auf die Lesbarkeit der Welt52 eingestellt, um Mythos, Theologie und Metaphysik im Gefälle von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit als Metaphorik neu lesbar zu machen. Weniger der neuzeitliche Theaterzuschauer, vielmehr der antike Weltzuschauer hat im Spiegel seiner neuzeitlichen Rezeptionsgeschichte gleichwohl Blumenbergs Metaphorologie zu interessieren gewusst. Zwei metaphorische Komplexe verdienen hier besondere Erwähnung: Schiffbruch mit Zuschauer53 einerseits, Das Lachen der Thrakerin54 andererseits. Den ersteren analysiert Blumenberg als paradoxe ‚Daseinsmetapher‘ in der anthropologischen Kontraposition von unstetem Meer und festem Land, den letzteren stellt er als eine ‚Urgeschichte der Theorie‘ dar. Die absurde Komik des theoretischen Verhaltens von der Antike bis zur Gegenwart wird im Zusammenstoß des Thales von Milet, des theoros, der beim Betrachten des nächtlichen Sternenhimmels in den Brunnen fällt, mit der Realität sichtbar, welche sich wiederum im Lachen der thrakischen Magd, der Zuschauerin des gefallenen Weltzuschauers, reflektiert. Historisch verdanken sich Rolle und Funktion des Zuschauers sowie Perspektive und Modus seiner Wahrnehmung in der Neuzeit wohl jener epistemischen Krise der Repräsentation, die nach Michel Foucault durch die Etablierung des Prinzips der Repräsentation an der Stelle der brüchig gewordenen Korrespondenzen von Mikro- und Makrokosmos markiert wird: Vom siebzehnten Jahrhundert an wird man sich fragen, wie ein Zeichen mit dem verbunden sein kann, was es bedeutet. Auf diese Frage wird das klassische Zeitalter durch die Analyse der Repräsentation antworten, und das moderne Denken wird mit der Analyse des Sinns und der Bedeutung antworten.55

51 Vgl. Blumenberg: „Aussicht auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit“, S. 85-106; ebenso zuletzt aus dem Nachlass herausgegeben von Anselm Haverkamp: Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit. 52 Vgl. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. 53 Seit Lukrez erscheint diese ‚Daseinsmetapher‘ als eine die Vorstellungen von Meeresstürmen sowie die Untergangsängste steigernde „Konfiguration“, „in der dem Schiffbruch auf dem Meere der unbetroffene Zuschauer auf dem festen Lande zugeordnet wird“ (Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, S. 13). 54 Vgl. Blumenberg: Das Lachen der Thrakerin. 55 Hier zitiert nach der Übersetzung von Ulrich Köppen (Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 75). Im Original heißt es: „à partir du XVIIe siècle on se demandera

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Während die kosmologische Lehre von den Ähnlichkeiten Schein und Sein in eins setzte und so eine externe theatrale Kommunikation die Aufmerksamkeit der Schaulustigen auf die mimetischen Verfahren der Darstellung lenken konnte, verlangt das Theater als Repräsentation im professionalisierten öffentlichen Theater, die performativen Funktionen rigoros den referentiellen unterzuordnen. Der Zuschauer soll sich auf die dargestellte fiktive Welt konzentrieren, und die Schauspieler sollen so agieren, daß der Zuschauer ihre Handlungen im Hinblick auf die fiktiven Figuren zu deuten vermag, die sie spielen, und daß zugleich in ihm nicht der Eindruck befördert wird, er beobachte Schauspieler bei ihrer Arbeit, sondern die Illusion, realen Personen bei ihren Handlungen zuzuschauen.56 Das Theater als Schein/Sein-Modell, das dem Zuschauer durch Illusion Distanz gewährt und dergestalt etwa im bürgerlichen Trauerspiel zur moralischen Anstalt und in antikisierender Tragödie zum Ort einer neuen Identitätsbildung werden konnte, ist heute vielfach in Verruf geraten. Regietheater und „postdramatisches Theater“57 setzen auf Performanz und Inszenierung, um referentielle Repräsentation von Welt und Illusionsbildung beim Zuschauer zugleich aufs – performative î Spiel zu setzen. Statt am schriftlich aufgezeichneten Sprachkunstwerk des Bildungsbürgertums orientiert sich dieses kommunikative Theater wieder an theatralischen Prozessen, die die Nähe weder zu alten, aus traditionalen Gesellschaften bekannten, noch zu neuen Spielarten von cultural performances scheuen: Rituale, Wettspiele, Zirkus, Varieté, Happening, Video- und Medienperformanzen etc. Dass sich die kommunikativen und performativen Momente aus Mittelalter- und Renaissance-Kultur auch im Theater comment un signe peut être lié à ce qu’il signifie. Question à laquelle l’âge classique répondra par l’analyse de la représentation; et à laquelle la pensée moderne répondra par l’analyse du sens et de la signification“ (Foucault: Les mots et les choses, S. 58). 56 Fischer-Lichte: Theatralität und die Krisen der Repräsentation, S. 7. Um das Theater als kulturelles Modell in den Krisen der Repräsentation (1600 und 1900) zu profilieren, sucht der Sammelband Theatralität als Prinzip nach den Aspekten von „Aufführung/Performanz“, „Inszenierung“, „Wahrnehmung“ und „Körperlichkeit“ zu rekonstruieren. 57 Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater, bes. S. 241-260. und S. 401-447. Fischer-Lichte ihrerseits hat von einem „Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts“ gesprochen, den sie im Titel zwar als „Entdeckung des Zuschauers“ ankündigt, in den darunter firmierenden Untersuchungen aber vielmehr als (Selbst-)Ermächtigung von Regisseur und Regietheater ausweist (vgl. FischerLichte: Die Entdeckung des Zuschauers).

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der referentiellen Repräsentation von fiktiven Welten nicht gänzlich unterdrücken ließen, zeigt zwischen Sein und Schein die Theatralisierung höfischer Feste im Barock. So traten in Versailles der Sonnenkönig Louis XIV. und seine Höflinge als Theaterzuschauer und als Darsteller zugleich auf, um jeweils ein durchaus theatrales Rollenspiel zu pflegen. Nicht nur die Fürstenhöfe und souveränen Residenzen der frühen Neuzeit, auch ihre durch Revolutionen ermächtigten Erben im kaum weniger um Selbst-Repräsentation besorgten Bildungsbürgertum seit dem 19. Jahrhundert bieten vielfache Anschauungsbeispiele, wie die Schaubühne als Ort der ungeselligen Geselligkeit eher denn als moralische Anstalt von ihren Liebhabern zum Vorwand herabgesetzt wurde, um sich als Zuschauer vor anderen Zuschauern selbst in Szene zu setzen: als die zum Publikum versammelten Repräsentanten von – vermeintlich oder tatsächlich î geschichtsmächtigen Schichten. Wenn heute im akademischen Kontext vom Zuschauer die Rede ist, mag man zunächst noch immer an den ästhetischen Betrachter in Theatern und bei Kulturveranstaltungen denken, der mit den Massen bei den Zuschauersportspektakeln und im Showbusiness wenig gemein haben will: Zur Masse gehören in erster Linie immer nur die anderen. Gegen die bildungsbürgerliche Opposition von Individuum und Masse ist freilich daran zu erinnern, dass es in der griechischen Antike das Stadion (griech. ƳƴƜƤƩƯƭ/stádion) als Schauplatz physischer Wettkämpfe gewesen ist, wo der Zuschauer als theoros zuerst aufgetaucht ist. Das Amphitheater (griech. ơµƶƩƨƝơƴƱƯƭ/amphithéatron) als gemeinschaftlicher Aufführungsplatz von Tragödien und Komödien kam danach, und die Agora (ơƣƯƱƜ/agorá) als Versammlungsstätte der Polisbürger verlangte, betrachtet man die Entwicklung der athenischen Demokratie,58 weniger Zuschauer – auch nicht den Weltzuschauer im Sinne der theoria, wie der durch Plato reportierte Fall des Sokrates zeigt î als vielmehr aktive und reaktive Teilnehmer. Von der Antike bis in unsere Gegenwart zeigt die europäische Kulturgeschichte allerdings, dass der Augensinn vor allen anderen Sinnen, vor Hören, Riechen, Schmecken, Tasten, privilegiert worden ist.59 Wenig erstaunlich ist deshalb, dass die Metaphorik optischer Wahrnehmungsphänomene als Bildspender für menschliche Wahrnehmung überhaupt einstehen musste: Was es auch sei, man will es am liebsten mit eigenen Augen sehen, will Augenzeuge oder gar Voyeur sein. Dabei geht es zugleich aber auch darum, die sichere Distanz des Blickes zu wahren, welche die nächste Nähe der unliebsamen Berührung vom verletzlichen Leib fernhält. 58 Vgl. Bleicken: Die athenische Demokratie, bes. S. 190-311 („Die politischen Organisationsformen“). 59 Vgl. Wulf: „Auge“, S. 446-458; ebenso die anderen Artikel der Abteilung „Körper“, zu seinen Sinnen- und Ausdrucksformen (S. 405-585).

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Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes. Man will sehen, was nach einem greift, man will es erkennen oder zumindest einreihen können. Überall weicht der Mensch der Berührung durch Fremdes aus.60 Nicht mit dem Staunen, sondern mit Furcht und Angst sowie dem menschlichen Sicherheitsbedürfnis nach distanzierendem ‚Sehen‘ beginnt Masse und Macht, Canettis große Abhandlung zur Massenpsychologie von 1960. Trotz der Aufwertung von Gefühl und leibhaftem „Kontakt“61 im 18. Jahrhundert, trotz des Aufstiegs der Musik zur Leitkunst in der deutschen Romantik62 î der Begriff des Zuschauers kann im entdifferenzierten Sinne als anthropologischer Subjektbezug für synästhetische Wahrnehmungsprozesse festgehalten werden, schließt also im Zuschauer nicht nur die Fremd- und Selbst-Wahrnehmung körperlicher Ausdrucksformen, sondern auch undifferenziert den Zuhörer ein. Teilnehmer sind auch jeweils Zuschauer (und Zuhörer), und dies selbst dann, wenn sie in erster Linie aktive oder reaktive Mitwirkende sind oder sein sollen. Jedoch macht die Rede vom Zuschauer im Museum schon wenig Sinn, weniger noch diejenige vom Zuschauer in Bibliotheken, Archiven, Parlamenten, Hörsälen. An all diesen Orten, in all diesen modernen Institutionen empfiehlt es sich eher, einfach dem Sprachgebrauch folgend von Teilnehmern, Benutzern oder Besuchern zu sprechen. Unsere subjektbezogenen, durch Nominalisierung geprägten sprachlichen Konventionen suggerieren, dass das Subjekt von Kunst und Kultur, Wissen und Wissenschaft der Mensch sei, „oder jedenfalls das Bewusstsein des Menschen; oder eventuell der Kollektivsingular des transzendentalen Bewußtseins der Menschen“63. Solche Sprech- und Schreibgepflogenheiten lassen auch plausibel erscheinen, wenn komplexe Wahrnehmungen samt ihren kognitiven und emotiven Medialisierungsprozessen im Sinne von Sprachökonomie einem ‚Zuschauer‘ oder ‚Beobachter‘ zugeordnet werden. Gerade deshalb aber ist zu fragen, welche Rolle der zum funktionalen Beobachter institutionalisierte Zuschauer in den heutigen Wissenschaften spielt î und seit der Legitimierung der „theoretischen Neugierde“ in den neuzeitlichen Wissenschaften gespielt hat.

60 Canetti: Masse und Macht, S. 13 (Hervorhebung im Original). 61 Dass der Tastsinn spätestens im 18. Jahrhundert durch die ‚bürgerlichen‘ Forderungen nach Nähe, Gefühl und Intimität gegenüber dem Sehen eine beträchtliche Aufwertung erfuhr, haben neuere Arbeiten zur historischen Anthropologie gezeigt, vgl. Binczek: Kontakt; Zeuch: Umkehr der Sinneshierarchie; Braungart: Leibhafter Sinn. 62 Vgl. Udz: Das Auge und das Ohr im Text. 63 Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 11.

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Seit Aristoteles war das Verhältnis zu Wissen und Technik (griech. ƴƝƷƭƧ/techne) durch die Auffassung bestimmt gewesen, dass der Mensch als ‚Weltzuschauer‘ keiner technischen Hilfen und Prothesen bedürfe, weil seine natürliche Ausstattung zum Schauen und Erkennen vollkommen auf die umgebende Welt abgestimmt sei. Neuzeitliche Experimentalwissenschaft bricht mit dieser idyllischen Genügsamkeit, indem sie den Menschen „mit neuen Organen, d.h. Instrumenten, die ihn vorher Unbekanntes erkennen lassen“64, ausrüstet: Fernrohr, Mikroskop, Thermometer, Barometer etc. Naturwissenschaftliche Beobachtung verpflichtet die menschliche Wahrnehmung nicht nur auf sinnenunterstützende Instrumente, sondern verlangt zugleich das Aufzeichnen von Daten, die sich dem Messen, Wiegen, Berechnen von Untersuchungsobjekten verdanken. So entstehen z.B. Seekarten und Sternenkarten als hybride Gebilde neuzeitlicher Kartographie in einem komplexen Koordinationsverhältnis von Zeichnen und Verzeichnen, von Mimesis und Repräsentation. In dem Maße, in dem Experimentalwissenschaft den technischen Messtisch zum Surrogat von Beobachtung, Aufzeichnung und Speicherung macht, immobilisiert sie zugleich den beobachtenden Subjekt-Körper im apparativen Verbund selbst zum starren Beobachtungsinstrument. Seit elektronische Mess-, Aufzeichnungs-, Speicher- und Rechenanlagen nicht nur allenthalben in die Forschungslabors Einzug gehalten haben, sondern auch zur Grundausstattung von profitablen Unternehmen und administrativen Organisationen geworden sind, hat sich der akribische Beobachter von Messoperationen am Untersuchungsobjekt in den Kontrolleur bzw. Supervisor elektronischer Apparaturen verwandelt. Weil diese weitestgehend automatisiert nach installierten Programmen funktionieren, braucht er zumeist nur noch im Hintergrund der Kulissen, als delegierter Spielleiter gleichsam, zu agieren bzw. zu reagieren. Niklas Luhmann, der sich als Sozialwissenschaftler selber „im rekursiven Prozeß des Beobachtens von Beobachtungen“ verortet, fasst diesen Prozess der Entsubjektivierung von Wissenschaft zusammen: Als Resultat einer langen, aber in der Zurechnung des Wissens auf den Menschen eindeutigen Tradition kann eine gewisse Idealisierung des Beobachters als eines Komplexes von Messungen und Berechnungen festgestellt werden. Das gilt in besonders eindeutiger Weise für die moderne Physik, die mehr die Effekte ihrer Instrumente als die Effekte des Menschen, der sie jeweils handhabt, reflektiert. Fast

64 Weigl: Instrumente der Neuzeit, S. 9; vgl. auch Stadler: Der technisierte Blick.

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könnte man daher auf die Subjektfassung der Beobachter verzichten und nur von Beobachten bzw. Beobachtungen sprechen.65 Luhmann verabschiedet jede anthropologische Naivität, die den wissenschaftlichen Prozess der ‚Beobachtung‘ – nach dem Sprachgebrauch î einem Subjekt zurechnen wollte, so als wären Wissen und Wahrnehmungen subjektiver Besitz oder einfach menschliches Potential. In der Wissenschaft – nur in ihr? – ist der Mensch, aller alt- und neuhumanistischen Rhetorik zum Trotz, jedenfalls nicht das Maß der Dinge. Und der ‚Beobachter‘ ist in der verwissenschaftlichten Welt unserer Tage nur als Schwundstufe einer ‚Subjektfassung‘ zu begreifen, die selber als Effekt der Beobachtung in ihrem Vollzug zu interpretieren wäre. Luhmanns wissenssoziologische Rede vom Verschwinden des Beobachters in der Beobachtung findet in Gieseckes kulturvergleichenden Studien zur Mediengeschichte ein deutlich vernehmbares Echo: „Der Beobachter/das Kameraauge verläßt den außen stehenden Standpunkt und bewegt sich als Teil des Geschehens mit.“66 Giesecke räumt zwar ein, dass sich „die Visualisierung in den neuen Medien […] gegenwärtig, zumindest was ihre Grundideen angeht, noch in einer Phase der Abhängigkeit von den älteren Medien“67 befinde. Umso mehr begrüßt er aber gelingende „Innovationen“ dort, „wo synästhetisch und multimedial gearbeitet und so die Begrenzung auf visuelle Informationsverarbeitungs- und -darstellungsprozesse aufgebrochen wird“,68 wo damit zugleich „der einzelne Mensch/Betrachter nicht mehr das erkenntnistheoretische Paradigma abgibt, sondern soziale Kollektive“69. Hier kann es nicht darum gehen, in Gieseckes Lob dieser „Innovationen“ einzustimmen. Zu fragen bleibt vielmehr, ob man deshalb bereits auf die Subjektfassung „Beobachter“ bzw. „Zuschauer“ verzichten und nur mehr von „Beobachtungen“ sprechen sollte. Welchen Verlust bedeutet es, wenn man davon absieht, „das, was als Beobachter in den Prozeß der Produktion und Reproduktion von Wissen eingeht, durch die Systemreferenz Mensch“70 zu konkretisieren? Luhmann beantwortet diese Fragen nicht explizit, obschon seine konstruktivistische Systemtheorie der Gesellschaft praktisch ohne humanen Beobachter auskommt: 65 Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 14 (Hervorhebungen im Original). 66 Giesecke: Die Entdeckung der kommunikativen Welt, S. 498. 67 Ebd. 68 Ebd., S. 499. 69 Ebd. 70 Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 15.

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Aber die Beobachtung selbst ist ja eine empirische Operation, belegt dadurch, daß sie selbst beobachtbar ist. Jede Art von Konstruktivismus muß auf einer solchen Empirie aufruhen, und dem Subjekt kann nur die Möglichkeit offengehalten werden, im Unbeobachtbaren zu verschwinden, à Dieu!71

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Automation: Form@t und Figur des Zuschauers

Der amerikanische Kunsthistoriker Jonathan Crary hat in seinen Studien zur Wahrnehmung seit dem 19. Jahrhundert versucht, die kulturkritische Opposition von Aufmerksamkeit und Zerstreuung als unhintergehbare Paradoxie unserer modernen, vielfach durch Automation bestimmten Medien-Wahrnehmung selber darzustellen. Bekanntlich hatte diese Opposition mit der Klage über das verkümmernde Wahrnehmungsvermögen bei Adorno und der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule noch zur Ablehnung der – insbesondere amerikanischen î Kulturindustrie des 20. Jahrhunderts geführt. Verflüchtigung von Innerlichkeit und Distanz einerseits, entlastende Vereinnahmung durch Arbeit, Kommunikation und Konsum andererseits, î sie bestimmen nun als die beiden dominierenden Aspekte des aktuellen Lebens- und Kulturprozesses Crarys Auffassung, wonach es sich bei der modernen Zerstreuung nicht um eine Zerstörung von Aufmerksamkeit, sondern vielmehr um einen positiven „Effekt“ handele, um ganz im Gegenteil „bei menschlichen Subjekten Aufmerksamkeit zu produzieren“.72 Unschwer lässt sich bei Crary das zentrale Motiv des Automatismus wieder erkennen, das aus der neurobiologischen und kognitiven Aufmerksamkeitsforschung als informationstheoretische Mangellösung des Problems der begrenzten Verarbeitungskapazität des menschlichen Gehirns bekannt ist. Der Rekurs auf Automatismus und Automation verdeckt hinter den technologischen Möglichkeiten von intelligenten, d.h. selber rückkoppelungsfähigen Informationsverarbeitungsmaschinen nur schlecht jene „prometheische Scham“73, von der Günther Anders in seinem Buch Die Antiquiertheit des Menschen zuerst 1956 gesprochen hat. Schon Aristoteles hatte in Politika74 automatische, d.h. sich selbst bewegende Werkzeuge imaginiert, die auf

71 Ebd., S. 61. 72 Crary: Aufmerksamkeit, S. 47 (Originalausgabe: Crary, Jonathan: Suspensions of Perception. Attention, Spectacle and Modern Culture, Cambridge, MA 1999); vgl. auch Crary: Techniques of the Observer. 73 Vgl. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, S. 21-95. 74 Aristoteles, Politika I, 2, 1254a.

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Befehl ihre Arbeit allein verrichten könnten, um so dem Herren die Sklaven und dem Handwerker die Lehrlinge zu ersetzen. Kunsthistorikern und Literaturwissenschaftlern ist bekannt, dass Automation auch im Denken und Träumen der französischen Surrealisten eine wichtige Rolle spielte. Im mehr oder weniger vagen Anschluss an Freuds Entdeckung des psychoanalytischen Unbewussten experimentierten ihre frühen Selbst- und Gruppenversuche mit einem psychotechnischen Automatismus, der zugleich als literarische Technik des Spontanschreibens – l’écriture automatique nach André Bretons erstem Manifeste du surréalisme von 1924 – und als revolutionäre Methode zur Befreiung des kreativen Menschen aus Zwang und Zensur erprobt werden sollte. Vom frühen Surrealismus und seiner Radikalität der Freiheit hat sich Crary allerdings sehr weit entfernt. Automation kommt nicht als Weg zu kreativer Befreiung in Betracht, bildet vielmehr gerade das Einfallstor, durch das Aufmerksamkeit je von außen her geweckt und gefasst, von außen aus geführt und verführt werden kann. Der theoretische und praktische Erfinder von Marketing und Public Relations, Edward L. Bernays (18911995), Neffe von Sigmund Freud, noch in Wien geboren, aber schon früh nach Amerika gekommen, war nicht zufällig Zeitgenosse der künstlerischen Avantgarden. Wie Walter Lippmann (1889-1974), der Sohn deutsch-jüdischer Einwanderer, der als Publizist und politischer Berater in Washington und New York seine amerikanische Traum-Karriere machte, ist er aus der berühmten Creel Commission des Präsidenten Woodrow Wilson hervorgegangen, deren berüchtigten Propaganda-Kampagnen gegen die Deutschen es zum Ende des Ersten Weltkriegs noch gelungen war, eine damals pazifistisch eingestellte amerikanische Bevölkerung vom nun angeblich plötzlich notwendigen Kriegseintritt der USA an der Seite Englands und Frankreichs zu überzeugen. Bernays konnte sich fortan mit Lippmann u.a. zur Elite der amerikanischen Meinungsmacher zählen. Larvatus prodeo – wie nach dem Verhältnis von res cogitans und res extensa Descartes’ Geist in der Maschine, pflegten sie, bei ihrer (reich entlohnten) Öffentlichkeitsarbeit Maske und Kostüm anzulegen. Gemeinsames Sendungsbewusstsein war offensichtlich, als „invisible government“ im Verborgenen die Fäden zu ziehen: „to control the public mind“.75 Propaganda sollte dabei im liberalen Chaos der Interessen und Meinungen „proper-ganda“ sein, nicht „improper-ganda“.76 Im Dienst mächtiger Politiker und kapitalkräftiger Wirtschaftskonzerne (American Tobacco Company, General Electric, United Fruit Company u.a.) setzte Bernays auf psychotechnische Automatismen: Wünsche wecken, Ereignisse schaffen, Moden kreieren, Meinungen in

75 Chomsky: Media Control, S. 22. 76 Vgl. die Bernays-Biografie von Tye: The Father of Spin.

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Umlauf bringen, Kontroversen aller Art provozieren sind seit den 1920er Jahren Strategien des freien Marktes, die eine intelligente Manipulation der Massen – ‚the bewildered herd‘ (W. Lippmann) î durch eine aufgeklärte Minorität von Experten durchaus mit demokratischen Spielregeln zu vereinbaren wissen. Crystallizing Public Opinion (1923), Propaganda (1928), Public Relations (1945), Engineering of Consent (1955) zählen zu Bernays’ wichtigsten Schriften. Sie gehen alle vom Zweifel am demokratischen Ideal aus, das eine kompetente Öffentlichkeit unterstellt, die auch in einer komplexen und modernen Welt fähig wäre, über die öffentlichen Angelegenheiten des Gemeinwesens Entscheidungen zu treffen. Ihre Botschaften lassen sich auf den gemeinsamen Nenner bringen: Demokratische Gesellschaften brauchen heute Experten und Eliten. Nur sie können fortan gewährleisten, dass Bestand und Anerkennung von Recht und Ordnung weniger durch äußere Zwangsmittel als vielmehr durch mediale Verführung bewerkstelligt werden. „Propaganda is to a democracy what the bludgeon is to a totalitarian state.“77 Freie Zustimmung soll durch allmähliche, kaum merkliche Konditionierung sich einstellen. Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels war bekanntlich ein begeisterter Leser von Bernays’ Schriften der 1920er Jahre. Um die böse Meinungsmache in totalitären Staaten – vom faschistischen Deutschland bis zur kommunistischen Sowjetunion und darüber hinaus – von der guten eigenen besser unterscheiden zu können, ging man nach 1945 zunehmend dazu über, für die eigene freie Meinungsmache in Politik und Wirtschaft nur noch Public Relations und Marketing zu verwenden. ‚Jenseits von Gut und Böse‘ gilt für Propaganda, PR und Marketing aber gleichermaßen: Aus Psychoanalyse, Experimentalpsychiatrie, Massenpsychologie und Kommunikationstheorie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ergibt sich die automatische Konzeption eines atomisierten Individuums, dessen Wünsche, Bedürfnisse, Meinungen am Bewusstsein vorbei direkt von außen adressiert werden wollen. Von sich aus hat es dies Individuum kaum mehr mit einer äußerlichen Zwangsmacht zu tun: weder mit einem souveränen Herrscher noch einem ausbeuterischen Kapitalherrn noch einer totalitären Staatsgewalt. Solche Mächte zeigten den Makel der Sichtbarkeit; sie wären zu orten, um sich ihnen gegebenenfalls direkt widersetzen zu können. Das vereinzelte einzelne Individuum ist vielmehr selbst Schauplatz und damit unwissende Beute einer freundlichen Verführungsmacht, welche die Intimität seines Denkens und Wünschens besetzt und alle seine inneren Regungen begleitet. In einem seiner letzten Texte hat der französische Philosoph Gilles Deleuze 1990 auf die kaum merkliche, d.h. automatisch ablaufende Konsolidie77 Chomsky: Media Control, S. 20; vgl auch Herman/Chomsky: Manufacturing Consent.

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rung einer neuen, medial organisierten Herrschaftsform über konforme Individuen und Bevölkerungen aufmerksam gemacht, die er Kontrollgesellschaften î „les sociétés de contrôle“78 î nennt. Michel Foucault hatte von den Disziplinargesellschaften î ‚les sociétés disciplinaires‘ î des 18. bis 20. Jahrhunderts gesprochen, die das Individuum in geschlossenen Milieus und Institutionen erzogen und überwacht hätten: Familie, Schule, Kaserne, Fabrik, Krankenhaus, nicht zuletzt Gefängnis. Der dort in der Korrelation von Sichtbarkeit, Fremd- und Selbstdisziplinierung wirksame Machtmechanismus findet sich in Surveiller et punir79 nicht zufällig anhand von Jeremy Benthams ‚Panopticon‘, dem architektonischen Entwurf eines Gefängnisses, illustriert. Von der industriellen Disziplinargesellschaft zur hyperkapitalistischen Kontrollgesellschaft 2000 î Deleuze seinerseits sieht in Bewegungsfreiheit und unbeschränkter Kommunikationsmöglichkeit gerade schon die technischen und sozialen Voraussetzungen, damit durch Computer und Internet, Fernsehen und Telekommunikation gestütztes Marketing als neues Instrument der permanenten Kontrolle wirksam werden kann. Das neue Verfahren dieses ‚contrôle continu‘ beschreibt Deleuze prägnant: Le langage numérique du contrôle est fait de chiffres, qui marquent l’accès à l’information, ou le rejet. Les individus sont devenus des ‚dividuels‘‚ et les masses, des échantillons, des données, des marchés ou des ‚banques‘.80 Es geht bei dieser neuen Kontrolltechnik gerade nicht um eine disziplinierende Überwachung von Personen oder versammelten Gruppen in ihren Milieus, die den Überwachten nach dem Panopticon-Muster von Foucaults Disziplinargesellschaften jederzeit bewusst wäre, mehr noch: bewusst gemacht werden sollte. Die digitalen Überwachungskameras unserer Tage verrichten ihre Arbeit diskret über die Köpfe der Kontrollierten hinweg, geht ihre Einrichtung doch nur darauf, für den freien Verkehr der Personen, Waren und Dienstleistungen zu sorgen.81 Störungen dieser freien Verkehrsordnung sind selbstverständlich zu beseitigen und Störenfriede selbstredend aus dem Verkehr zu ziehen. Kontrolle in diesem Sinne erfasst die Personen als normale ‚Verkehrsteilnehmer‘ eigentlich nur insoweit, als die Zugänge zu ihnen zu sichern sind, die ihre jederzeitige Erreichbarkeit gewährleisten. Kontrollieren und adressieren î ohne ge78 Vgl. Deleuze: „Post-scriptum sur les sociétés de contrôle“, S. 240-247. 79 Vgl. Foucault: Surveiller et punir. 80 Deleuze, Gilles: „Post-scriptum sur les sociétés de contrôle“, S. 244. 81 Vgl. hierzu im vorliegenden Band Kawashima: „Digitale Videokameras als neue Strategie der Überwachung“.

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sicherte Erreichbarkeiten sind adressierte Medialisierungsprozesse kaum möglich. Ihr Programm ist eben wiederum, Kunden, Mitarbeiter und Mitmenschen zu beeinflussen und zu gewinnen, bestimmte Verhaltensweisen vorzugeben und zu normalisieren, Geister und Gemüter am Bewusstsein vorbei durch immer diskretere Psychotechniken zu adressieren und zu kontrollieren. Die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Raum verwischen. Der Zuschauer zu Hause vor seinem Fernsehapparat oder an seinem Computer mag noch auf seiner Individualität und Privatheit bestehen; aber in Wirklichkeit ist er medial immer schon adressiert und ‚dividuell‘ in seiner Erreichbarkeit kontrolliert. Er macht das, was zur selben Zeit Hunderttausende tun, ob sie nun genau dasselbe Programm als Fernsehteilnehmer anschauen oder nur das gleiche Computerprogramm benutzen. Die neue computergestützte und vernetzte Medienwelt der 1990er Jahre hat innovative Marketing-Manager hervorgebracht, die mit Wareninszenierung, Pop- und Rockkultur, Theatralik, Emotional Design und Trendforschung gegen Krisenstimmung und Konsumverweigerung ganzer Bevölkerungsgruppen gezielt vorgingen. Prävention und Risikokalkül waren aufgerufen, um das übliche Krisenmanagement zu ersetzen. „Kult-Marketing“82 sollte immer individuellere bzw. ‚dividuelle‘ Kundenorientierungen gewährleisten und das irrationale Konsumbegehren immer differenzierter bedienen. So ist in Amerika auch die magische Figur des „Erzählers“83 wiederbelebt worden, an dessen Verschwinden aus der modernen Welt Walter Benjamin schon 1936 mit einem schönen Abschiedstext erinnert hatte. Nach der poststrukturalistischen Dekonstruktion der großen Erzählungen der Geschichte im postmodernen Klima der 1980er Jahre ist mit Storytelling nach 1990 ein neues Instrument für Marketing, Management und Politik auf dem neoliberalen Markt auferstanden. Die eher esoterische französische Erzähltheorie von Roland Barthes, Gérard Genette bis Paul Ricœur hat zugleich dadurch in Amerika ein überraschendes, hyperindustrielles Recycling erfahren. Christian Salmon hat kürzlich aufgezeigt, wie in der neuen Unübersichtlichkeit neoliberaler Markt-Deregulierungen zur Ausbildung und Bekräftigung bestimmter Unternehmens- und Organisationskulturen ein Erzählen von ‚einfachen‘ Geschichten und Anekdoten eingesetzt wird. Es geht darum, habit formation zu betreiben, Konformismus herzustellen und Abweichungen zu ‚normalisieren‘. Trotz des paradoxen Anscheins von simpler Menschenfreundlichkeit bewegt sich solche Performanz durchaus auf der Höhe aktueller Datenverarbeitung, operiert doch Storytelling computergestützt oft zugleich mit virtuellen Realitäten, numerischen Bildern und senso-

82 Vgl. Bolz/Bosshart: Kult-Marketing. 83 Vgl. Benjamin: „Der Erzähler“, S. 438-465.

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riellen Effekten. Das innovative narratologische Verfahren erscheint in Management und Marketing, in Militärberichten und Medienpräsentationen, in Werbekampagnen und Wahlveranstaltungen als rein strategisches Mittel, um bestimmte Botschaften oder bestimmte Produkte î an Bewusstsein und Reflexion vorbei î an Kunden und Konsumenten, Geschäftspartner und Wähler zu bringen. Mit entlarvendem Zynismus schlägt Salmon für Storytelling bereits im Untertitel seines Buches eine kühne wie treffende Apostrophe vor: „la machine à fabriquer des histoires et à formater les esprits“84. Als keineswegs harmlose „Maschine“ zur seriellen Herstellung von standardisierten Geschichten ist Storytelling zugleich eine „Maschine“, die Geist und Bewusstsein in bestimmter Weise zu „formatieren“ vermag. Aus narratologischer Perspektive sind die verwendeten Strickmuster in ihrer Rekurrenz – z.B. das Muster der success story bzw. Erfolgsstory î leicht zu durchschauen, zugleich aber nur schwer in ihrer Wirksamkeit zu fassen. Intension und Extension – so scheint es î verhalten sich beim Storytelling umgekehrt proportional zueinander: Je geringer und banaler der Inhalt selbst, desto größer und vielfältiger sind die Möglichkeiten von Einsatz und Wirkung der Story. Einen „incroyable hold-up sur l’imaginaire“ erkennt Salmon und zögert nicht, Ross und Reiter bzw. Cowboys zu nennen: Ainsi, l’art du récit qui, depuis les origines, raconte en l’éclairant l’expérience de l’humanité, est-il devenu à l’enseigne du storytelling l’instrument du mensonge d’État et du contrôle des opinions: derrière les marques et les séries télévisées, mais aussi dans l’ombre des campagnes électorales victorieuses, de Bush à Sarkozy, et des opérations militaires en Irak ou ailleurs, se cachent les techniciens appliqués du storytelling. L’empire a confisqué le récit.85 Winning hearts and minds – um diskret und beiläufig, mithin scheinbar absichtslos und um so erfolgreicher dieses „Formatieren“ von formatierbaren Adressaten zu betreiben, brauchen die PR-Experten in der Regel nur die Erzählung selber in einem seriell gängigen und deshalb zwangsläufig armen Story-Format präsentieren, wie aufwendig die Medienunterstützung dabei – zum Ausgleich für die banale Geschichte î auch immer angesetzt sein mag. Mit Format, abgeleitet vom Partizip Perfekt Passiv formatus (gebildet, geformt) des lateinischen Verbs formare, wird in Wirtschaft und Industrie üblicherweise eine Vorlage oder Vorgabe an Größe, Form und Struktur bezeichnet, die einer Sache einen bestimmten seriellen Standard vermitteln soll. Wenn

84 Vgl. Salmon: Storytelling. 85 Ebd., S. 20.

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man diesen Begriff mit Salmon auf Personen bezieht, macht man sich eigentlich einer pragmatisch-semantischen Sphärenvermengung schuldig: Menschen sind keine Sachen, sollten es wenigstens nicht sein. Dass technische Performanzen diskursiven Argumenten enteilen können, scheint jedoch bei Medientheoretikern im Blick auf das Faktische – Zahlen, Lettern, Bilder, Sounds î kaum noch Erstaunen hervorzurufen. Es können nicht nur Korrelationen zwischen sozialen und technischen Systemen mit Luhmann u.a. auf den jeweiligen historischen Stand von gesellschaftlicher Datenverarbeitung zurückgeführt werden; darüber hinaus erscheinen selbst die modernen Konzeptualisierungen des Menschen, die Anthropologie, Psychologie, Soziologie hervorgebracht haben, im Anschluss an Kittler u.a. nur als symbolische Varianten einer technischen Datenverarbeitung: Was Mensch heißt, bestimmen keine Attribute, die Philosophen den Leuten zur Selbstverständigung bei- oder nahelegen, sondern technische Standards. Jede Psychologie oder Anthropologie buchstabiert vermutlich nur nach, welche Funktionen der allgemeinen Datenverarbeitung jeweils von Maschinen geschaltet, im Reellen also implementiert sind.86 In der Informatik ist Formatieren zum Schlüsselbegriff avanciert, geht es doch vor jeder eigentlichen Datenverarbeitung darum, die Daten nach einem bestimmten Code zusammenzustellen und zu strukturieren. Die Formatierung des Datenträgers bereitet so das Speichermedium zur automatischen Aufnahme der Daten vor, während mit dem Dateiformat nur noch festgelegt wird, nach welchem Standardformat die Daten in einer Datei dann gespeichert werden. Vom Buchdruck mit beweglichen Lettern zur elektronischen Datenverarbeitung – bekanntlich haben Formatvorlagen im Druckereiwesen ihre historischen Anfänge erlebt. Als Papierformate, Buchformate und Zeitungsformate konnten sie das neuzeitliche Nachrichten- und Kommunikationswesen entwickeln und standardisieren helfen, bis sich ihnen mit der Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert und dem transportablen Fotoapparat noch Filmformate hinzugesellten. Das Format bestimmt, was unabhängig vom speziellen Standort des Kunden geht und was nicht geht. Es ist nicht nur vorgegebene Form, sondern zugleich verbindliche Norm, mit der automatisch gerechnet werden kann und auch soll. Wird etwa das Verhältnis von Medien und literarischen Formen thematisch, kann der Begriff Format als Vermittler einspringen, weil er die medialen Möglichkeiten einer Form in der Medienkonkurrenz î als Format î technisch-strategisch zu standardisieren hilft. Wo Medientheoretiker

86 Kittler: „Die Welt des Symbolischen – eine Maschine“, S. 61.

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mit geisteswissenschaftlichem Hintergrund noch geneigt sind, nach ästhetischen Formen zu suchen, da sprechen Medienpraktiker im Hinblick auf bestimmte Medien zumeist von technischen Formaten – und zumeist in kommerzieller Absicht: Das Fernsehformat besagt, welche standardisierte Konzeption für eine erfolgreiche Fernsehproduktion gilt, das Format-Radio steht für ein spezielles Radioprogramm, das analog zur Kundenbindung im Marketing eine Hörerbindung erreicht und sich am Rundfunkmarkt platziert hat. Und nicht nur für diese beiden, sondern wohl für alle Medienformate gilt, dass Einschaltquoten möglichst gewinnbringend an Werbekunden zu verkaufen sind. Format ist kein deskriptiver Begriff, sondern hat als technischer Terminus in Mechanik und Elektronik jeweils einen strategischen Richtungssinn. Formatvorgaben garantieren als Normen, d.h. als Normalisierungen durch Automation, vergleichbare Standards. Wo sie mustergültige Verlässlichkeit herstellen können, dienen sie als Präfabrikate zur willkommenen Entlastung des Kunden, weil sie schon im Vorfeld Komplexitäten automatisch reduzieren helfen. Format als Begriff verweist zugleich immer schon auf ein Machen, auf einen Vorgang des Herstellens. In der griechischen Antike hieß zunächst mit Blick auf das Handwerk alles Herstellen Poiesis (griech. ưƯƟƧƳƩƲ). Davon heben sich Formen der intransitiven Praxis (griech. ưƱơƮƩƲ) ab, die ihren humanen Zweck, womöglich als menschliches Glück bzw. ‚gute Praxis‘ (griech. ƥƽưƱơƮƟơ/eupraxia), nach Aristoteles im eigenen, ganz inneren Vollzug als ‚Entelechie‘ (griech. ƝƭƴƥƫƝƷƥƩơ/entelecheia) haben. Transitiv bestimmt ist ‚Poiesis‘ dagegen von Anfang an auf ein äußerliches Ziel (griech. ƴƝƫƯƲ/telos) ausgerichtet, das im sichtbaren Werk (griech. ƝƱƣƯƭ/ergon) materielle Gegenständlichkeit finden soll. Vita activa oder Vom tätigen Leben – Hannah Arendts warnende Kritik an der modernen Arbeitsgesellschaft und am Fetisch Arbeit und Konsum bezieht ihre fortdauernde Bedeutsamkeit nicht zuletzt daraus, dass sie hinter den neuzeitlichen und christlich-mittelalterlichen Reduktionen an die vergessenen Gehalte von „vita activa“ in der Antike erinnert hat: „Arbeiten, Herstellen und Handeln“87. Während „Arbeiten“ in der antiken Sklavenhaltergesellschaft nur dem biologischen Stoffwechsel des Menschenkörpers und der Notdurft des SichAbarbeitens an den Naturdingen entsprach, zielte handwerkliches „Herstellen“ auf eine vom Menschen selbst produzierte, künstliche Welt von Gegenständlichkeiten, die das menschliche Leben überdauern und dem immerwährenden Naturkreislauf von Werden und Vergehen in gewissem Maße widerstehen können sollte. Als einzige Tätigkeit, „die sich ohne die Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt“88, galt das „Han87 Arendt: Vita activa, S. 16 (Originalausgabe: The Human Condition, Chicago 1958, erste deutsche Ausgabe: München 1967). 88 Ebd., S. 17.

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deln“, das als freies politisches Handeln Bedingung für die Kontinuität der Generationen, damit zugleich für Geschichte und kollektives Gedächtnis war. Vita activa stellt nun nach Arendt selber bereits eine verzerrende lateinische Übersetzung dar, wodurch die mittelalterliche Theologie den aristotelischen ƢƟƯƲ ưƯƫƩƴƩƪƼƲ (bios politikos) uminterpretierte: Das Leben des freien Mannes, das innerhalb der griechischen Polis nur für ‚schöne‘ Taten zu sorgen hatte, verschwand im christlichen Sammelbegriff vita activa, der fortan alle Arten von aktiver Beschäftigung mit den Dingen der Welt bezeichnen konnte. Nur eine einzige freie Lebensweise der griechischen Überlieferung nach Aristoteles sollte im Mittelalter das Glück haben, unter dem Ehrentitel vita contemplativa christliche Anerkennung zu finden: ƢƟƯƲ ƨƥƹƱƧƴƩƪƼƲ (bios theoretikos), nämlich das Leben des Philosophen, der durch Erforschen und Schauen dessen, was nie vergeht, sich in einem Bereich immerwährender Schönheit aufhält, das dem doppelten Eingriff des Menschen, seinem Herstellen neuer Dinge und seinem Verzehren dessen, was ist, entzogen ist.89 Aus dem griechischen Ideal der ƨƥƹƱƟơ (theoria), was ursprünglich „nicht Schauen, sondern Zuschauen“90 bedeutete, nämlich dem Sich-Zeigen der Seinswahrheit zuschauen, wurde das abendländische Ideal der Kontemplation, das in der Muße (griech. ƳƷƯƫƞ/scholé, lat. otium), fern von allem negotium, von allen öffentlichen Geschäften, empfänglich für die christliche Offenbarung der Wahrheit durch das göttliche Wort machen sollte. Arendts Einwand gegen das mittelalterliche Ideal der Kontemplation geht nicht gegen dieses selbst, vielmehr gegen die verheerenden Nachwirkungen, die es für die modernen Vorstellungen von der vita activa gezeitigt hat: Kontemplation als christlich-feiertägliches Ideal wird dafür verantwortlich gemacht, dass die antiken Konstellationen und Gliederungen des tätigen Lebens vergessen worden sind. Die Neuzeit gestand mit der Umkehrung des mittelalterlichen Verhältnisses von vita activa und vita contemplativa, die den Sieg von homo faber als ‚Werkzeugmacher‘ beglaubigte, den Primat nunmehr „dem Machen, Fabrizieren und Herstellen“91 zu. Die (früh-)moderne Vereinigung von Herstellen und Erkennen im Experiment machte Mittel und Kausalität (causa efficiens) zur Hauptsache, setzte Substanz und Form (causa substantialis und causa formalis) sowie bis zu einem gewissen Maße auch Zweck (causa finalis) zu Nebensachen herab. Im Gefolge dieser säkularen Verschiebung der Untersuchungs89 Ebd., S. 23. 90 Ebd., S. 31. 91 Ebd., S. 375.

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und Beobachtungskoordinaten schien die in Erfahrung und Experiment begegnende Natur von sich aus den Charakter von Entwicklung, Evolution und Prozess anzunehmen. Und wenn es einst zum Wesen des Seins gehörte, daß es sich zeigte und in die Erscheinung trat, so liegt es im Wesen des Prozesses, daß er selbst unsichtbar bleibt, daß sein Vorhandensein nur aus bestimmten Daten, die nicht eigentlich mehr Phänomene sind, erschlossen werden kann.92 Im 17. und 18. Jahrhundert war es î besonders im kolonialherrlichen England – dem voranschreitenden Kapitalismus gelungen, theoretisch die Arbeit zu verherrlichen, im 19. und 20. Jahrhundert dann darüber hinaus sogar, ganze Nationen in Arbeitsgesellschaften zu verwandeln. Es ist das nicht unumstrittene Verdienst von Ernst Jünger, 1932 der Arbeitsgesellschaft im großen Essay Der Arbeiter ihre damals neueste technische Formatierung im Spiegel von ‚Herrschaft und Gestalt‘ vorgeführt zu haben. Indem er die ideologischen Fronten von Kapitalismus, Kommunismus, Liberalismus und Faschismus durchkreuzte, konnte er die ungläubigen Blicke seiner Zeitgenossen u.a. auf den „Einbruch elementarer Mächte in den bürgerlichen Raum“ und die „Technik als Mobilisierung der Welt durch die Gestalt des Arbeiters“ lenken.93 In den 2004 aus dem Nachlass herausgegebenen Aufzeichnungen Martin Heideggers Zu Ernst Jünger erscheint Jünger nicht nur als Nietzsches Erbe, der mit kalter Beschreibung und automatischer Präzision einen „heroischen Realismus“ des 20. Jahrhunderts zur Erfüllung und Überwindung des „planetarischen Nihilismus“ aufbietet.94 Heidegger skizziert darüber hinaus ein Bild von Jünger als Seher und Späher, der die umgebende moderne Wirklichkeit mitsamt ihren Schmerz- und Todesdrohungen für den heutigen Menschen zwar erkennen, nicht aber das Wirkliche dieser Wirklichkeit als Denker befragen könne: Beobachten und Fragen, Sehen und Denken sind aber zur Rettung aufeinander angewiesen. Die Forderung nach Fragen und Denken im ‚eigentlichen‘ Sinne kann als Heideggers Replik besonders auf Jüngers existentialistische Denkfigur der „Linie“95 genommen werden, die sich mit der Widmung „Martin Heidegger zum 60. Geburtstag“ im Essay Über die Linie (1950) skizziert findet. 92 Ebd., S. 378. 93 Vgl. Jünger: „Der Arbeiter“, S. 5-317. 94 Vgl. Heidegger: Zu Ernst Jünger. 95 Vgl. Jünger: „Über die Linie“, S. 237-280. Jünger schreibt: „Die Überquerung der Linie, die Passage des Nullpunkts teilt das Schauspiel; sie deutet die Mitte, doch nicht das Ende an. Die Sicherheit ist noch sehr fern. Dafür wird Hoffnung möglich sein“ (ebd., S. 261).

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In der nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in Amerika sich ausbreitenden industriellen „Automation“96 hat Arendt zuletzt die historische Möglichkeit eines allgemein von Arbeitslast und Notwendigkeitsjoch befreiten Lebens erkannt: erreichbar potentiell allen, zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte nicht mehr lediglich den privilegierten Wenigen, den je Herrschenden sowie ihren Künstlern, Dichtern und Denkern. Hier nun spätestens rächt sich aber, dass das moderne animal laborans, das siegreiche und formatierte Arbeitstier der Gegenwart, das „mehr und mehr eine Art gesellschaftlich-animalisches Lebewesen ist“97, über keine Ideen mehr verfügt – weder von vita contemplativa noch von vita activa noch von einem freien politischen Handeln in der Öffentlichkeit, das Arendt insbesondere vermisst: Die Erfüllung des uralten Traums trifft wie in der Erfüllung von Märchenwünschen auf eine Konstellation, in der der erträumte Segen sich als Fluch auswirkt. Denn es ist ja die Arbeitsgesellschaft, die von den Fesseln der Arbeit befreit werden soll, und diese Gesellschaft kennt kaum noch vom Hörensagen die höheren und sinnvolleren Tätigkeiten, um deretwillen die Befreiung sich lohnen würde.98 Fast zur gleichen Zeit wie Hannah Arendt, jedoch ungleich optimistischer im geschichtsphilosophischen Ausblick, hat 1964 Marshall McLuhan (1911-1980) im Schlusskapitel seines großen medientheoretischen Entwurfs Understanding Media. The Extensions of Man das zeitgenössische Thema der Automation aufgegriffen. Automation erfasse nicht nur die industrielle Massenproduktion und die Massenmedien, „sondern jede Phase des Konsums und Marketings“; sie kann ihm deshalb als Zukunftshorizont der Menschheit erscheinen: Automation oder ‚Kybernation‘ behandelt alle Einheiten und Komponenten des Prozesses der Industrie und des Marketings genauso, wie Rundfunk oder Fernsehen die einzelnen Personen eines Publikums in eine neue, gegenseitige Verbindung bringen. Die neue Art interner Querverbindungen in der Industrie wie in der Unterhaltung ist das Ergebnis der sofort gegebenen elektrischen Geschwindigkeit.99 Um die Welt zum kommenden global village zusammenzuziehen, wird es Elektrizität nach McLuhan gelingen, das mechanistische Prinzip der ‚Explosion‘, das

96 Arendt: Vita activa, S. 12. 97 Ebd., S. 412. 98 Ebd., S. 12f. 99 McLuhan: Die magischen Kanäle/Understanding Media, S. 524f.

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die Neuzeit und die erste industrielle Revolution bestimmte, durch das neue wissenschaftsrevolutionäre Prinzip der ‚Implosion‘ zu ersetzen. Die sofortige, präzise Verarbeitung von Wissen und Informationen sowie die unmittelbar mögliche, d.h. automatische Synchronisation von simultanen Abläufen und Handlungen können so der schematisch-linearen Reihung von Arbeitsschritten und Handlungsabfolgen ein Ende bereiten. Vielfältiges Lernen als habit formation sieht McLuhan aufgerufen, an die Stelle von herkömmlicher Arbeit zu treten: In Zukunft besteht die Arbeit nicht mehr darin, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern darin, im Zeitalter der Automation leben zu lernen.100 Wo McLuhan nur technologischen Fortschritt und enorme Zukunftschancen für die Menschheit aus der Befreiung von der Arbeitsnotdurft sieht, rechnet Arendt skeptisch Gewinn und Verlust gegeneinander auf, wenn durch Automation „auch die Arbeit und die ihr erreichbare Lebenserfahrung aus dem menschlichen Erfahrungsbereich ausgeschaltet sein wird“101. Sie bemüht gar die bekannte Fiktion vom „Beobachter im Weltall“, um den „Mutationsprozeß“ der Arbeitsgesellschaft in distanzierter wie zugleich distanzierender Optik erscheinen zu lassen:102 In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von Jobholders, und diese verlangt von denen, die ihr zugehören, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren, als sei das Leben des Einzelnen bereits völlig untergetaucht in den Strom des Lebensprozesses, der die Gattung beherrscht, und als bestehe die einzige aktive, individuelle Entscheidung nur noch darin, sich selbst gleichsam loszulassen, seine Individualität aufzugeben, bzw. die Empfindungen zu betäuben, welche noch die Mühe und Not des Lebens registrieren, um dann völlig ‚beruhigt‘ desto besser und reibungsloser ‚funktionieren‘ zu können. […] Es ist durchaus denkbar, daß die Neuzeit, die mit einer so unerhörten und unerhört vielversprechenden Aktivierung aller menschlichen Vermögen und Tätigkeiten begonnen hat, schließlich in der tödlichsten, sterilsten Passivität enden wird, die die Geschichte je gekannt hat.103

100 Ebd., S. 520. 101 Arendt: Vita activa, S. 410. 102 Ebd., S. 411. 103 Ebd., S. 410f.

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Vom ƨƥƹƱƼƲ (theoros), dem antiken Weltzuschauer, über den ästhetischen Betrachter und experimentellen Beobachter der frühen Neuzeit zum formatierten „spectator“104 und Supervisor von Simultaneitäten „im Zeitalter der Automation“ (McLuhan) î die Metamorphosen des Zuschauers lassen sich an der Differenz von Format und Figur in ihren Extremen ausmessen. Wie das Format in Mechanik und Elektronik bezieht sich auch der Begriff der Figur zunächst auf ein Machen, ein Herstellen. Im Gegensatz zum Format verweisen aber Semantik und Pragmatik dabei nicht auf neuzeitliche und moderne Technik, sondern auf Kunst und Kultur, auf Sprache und Literatur in ihrer antiken und humanistischen Tradition. Figura ist als lateinischer terminus technicus durch die antike Rhetorik überliefert worden, die als Kunst der überzeugenden Rede zuerst Sprachtechnik gewesen ist. Der rhetorische Begriff stammt selber vom lateinischen Verb fingere ab, wovon auch fictio (Fiktion) abgeleitet worden ist; fingere bedeutet jedoch nicht in erster Linie ersinnen, vorstellen, vorgeben, sondern bauen, stellen, schaffen. Figuren bezeichnen ‚poietische‘ Artefakte, die nicht als simple Naturdinge wahrgenommen werden wollen, sondern als gestellte Formen, ob von einem Schriftsteller oder Schausteller, je immer Zeichencharakter haben und Bedeutungen transportieren. Aus der antiken Bindung an Sprache und Rhetorik haben Figuren bis heute eine bestimmte kommunikative Appellfunktion bewahrt. Figuren sind keine vorgefertigten Produkte, keine seriellen Präfabrikate wie etwa standardisierte industrielle oder kommunikationelle Formate, sie sind vielmehr als Figurationen, Konfigurationen, Transfigurationen, Defigurationen nur in einem dynamischen Prozess der Gestaltwerdung und Gestaltveränderung zu beschreiben, der an der Doppelheit von Sprache und Sprechen sein Modell finden kann. Wie Sprache als Sprache ist Figur als Figur Werk und Artefakt (ergon), wie Sprache als Sprechen ist Figur als Figuration Tätigkeit und Wirkvorgang (griech. ƥƭƝƱƣƥƩơ/energeia). Der deutsche Sprachwissenschaftler Pörksen hat in seiner Kritik an der „Weltwirkung der Visiotype“ darauf hingewiesen, dass es zur Doppelheit der Sprache „auf dem Gebiet des Sehens keine Parallele“ geben würde: Gäbe es sie, würde sie ‚Sahe‘ heißen. Aber es gibt keine Sahe, weder als Wort noch als Sache. Es gibt auf dem Gebiet des Sehens nichts, was Grammatik und Lexikon ernsthaft entspricht und in einer der Sprache analogen Weise Verständigung ermöglicht.105

104 Chomsky stellt dar, wie Propaganda, PR und Marketing die Funktion der Massen, Kunden und Konsumenten „in a properly functioning democracy“ in der Tat zuerst darin sehen, „to be spectators, not participants in action“ (Chomsky: Media Control, S. 17). 105 Pörksen: Weltmarkt der Bilder, S. 300.

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Indem Pörksen den „Plastikcharakter“106 der wissenschaftlich und industriell formatierten „Visiotype“ beklagt, übersieht er doch zugleich, dass die Rhetorik mit ihrer elokutionären Ornatus-Lehre, insbesondere mit den Tropen (tropi) und Figuren (figurae), schon seit der Antike eine durchaus tragfähige Brücke zwischen Sprechen und Sehen bereitgestellt hat. Nicht zufällig gehörte die Rhetorik zwischen Grammatik und Dialektik im sprachlichen Trivium zu den sieben freien Künsten (septem artes liberales) der gelehrten Welt von lateinischem Mittelalter und früher Neuzeit. Als literarische Rhetorik gab sie bis in die Moderne hinein nicht nur den Regelkram zur Fertigung poetischer Gebilde nach bestimmten Gattungen vor, sondern lieferte auch anderen Künsten – Bild, Plastik, Theater, Musik î Gegenstände, Themen, Topoi (griech. ƴƼưƯƲ/topos = Ort, Stelle) und Strukturen. Die Extreme von Format und Figur des Zuschauers können auch am Wandel des Zuschauer-Konzepts illustriert werden, das sich die Unterhaltungsmedien des 20. Jahrhunderts von ihrer jeweiligen Kundschaft machten. Die Figur des Zuschauers verleugnet ihre lange Zugehörigkeit zur Institution des Theaters nicht, auch nicht ihre requisitenhaften Andenken an die goldene Zeit der manieristischen und barocken Theatralik. Hörfunk, Film und Fernsehen hielten bis in die 1970er Jahre mehr oder weniger daran fest, das Publikum in Analogie zu Theater und Zirkus als Zuschauer bzw. Spectator zu behandeln. Unterhaltung mit Anspruch orientierte sich z.B. in der alten BRD an der bildungsbürgerlichen Ästhetik des Theaters, Unterhaltung mit Spaß gleichzeitig an den weit populäreren Formen von Zirkus und Zuschauersport, Revuetheater und Spectator-Showbusiness. Erst in den 1980er Jahren, mit der Liberalisierung und Deregulierung des Fernsehmarktes sowie der exakten und kommerziellen Orientierung an Einschaltquoten, setzte sich allgemein ein ZuschauerKonzept durch, das gegen altväterliche Bildungsansprüche den empirisch ermittelten Durchschnitt der Gewohnheiten und Wünsche der Fernsehteilnehmer zum Richtmaß erhob. Der Zuschauer wurde zum Viewer, einem Zuschauer-Format, das kontinuierlich durch Einschaltquoten kontrolliert zugleich ein medial produziertes Format war. Man kann die Entwicklungen der Videotechnologie mit ihren von Zeit und Ort unabhängigeren Nutzungsmöglichkeiten durch den Viewer als Vorbereitung auf den Computer verstehen. Mit dem User trat um 1990 endlich der ‚aktive‘ Zuschauer auf: jemand, der vor seinem PC sitzt, im Internet surft, Online-Dienste wahrnimmt, chattet, E-Mails liest und verschickt oder Computerspiele mitmacht. Die Umformatierung von Kino-Spectator und Fernseh- sowie Video-Viewer zum Mediennutzer hat den aktiven, reaktiven, interaktiven User hervorgebracht, der als Jedermann des Computerzeitalters sein eigener Programmdirektor sein kann. Die Sorge der ei106 Vgl. auch Pörksen: Plastikwörter.

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gentlichen Programm-Macher, diversifizierte User-Formate jeweils kontinuierlich ‚upzudaten‘, hat in kommerzieller Absicht zu vielerlei zynischen Strategien geführt, den hinter dem Computer unsichtbar gewordenen Zuschauer wieder sichtbar zu machen. So gibt es etwa zunehmend Fernsehveranstalter, die sich die Zuschauer als Talk-Show-Gäste oder als Container-Bewohner oder als kommende Superstars ins Studio holen, um durch die eigene mediale Produktion und Reproduktion des Durchschnitts sich eben dieses Durchschnitts empirisch zu versichern. Dem Zuschauer mitsamt seinen Verwandlungen bleibt in der heutigen Medienkultur î vom ästhetischen Betrachter über den wissenschaftlichen Beobachter bis zum Augen- und Ohren-Zeugen, zum Leser, Voyeur, Spectator, Viewer, User, Supervisor, Kontrolleur und dem aktiven, interaktiven oder reaktiven Teilnehmer î eine kulturpolitische Zerreißprobe nicht erspart. Immer nachhaltiger scheint eine hyperindustrielle Massenkulturproduktion von Konformismus und Konsumismus unsere heutigen Lebenswelten in einem zu formatieren und zu kontrollieren. Bilderfluten und Schallwellen von Entertainment und Kommerz, von Advertainment und Infotainment schalten sich mit den psychischen Automatismen der unwissenden Adressaten kurz, suchen durch zunehmend raffiniertere und emotivere Verführungsstrategien die Aufmerksamkeit der Kunden am Bewusstsein vorbei zu adressieren und zu kontrollieren. Diesen vielen ‚funktionierenden‘ Konsumenten stehen unsichtbar im Verborgenen wenige PR-Experten und Marketing-Strategen gegenüber. Sie haben von den Spezialisten der Propaganda und den künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts gelernt, haben deren Techniken der Meinungsmache und Aufmerksamkeitsgewinnung durch wissenschaftliche Anleihen bei u.a. Psychologie, Informatik, Medienwissenschaft, Kognitions- und Hirnforschung in ganz praktischer Absicht weiterentwickelt. Diesen Experten der Medienwelt, den Produzenten und Agenten, Planern und Marktstrategen, Machern und Manager, kann man freilich nachsehen, dass sie im Dienst kommerzieller Interessen über den forschen Positivismus von Technik- und Produkt- und Unternehmenskulturwerbung kaum hinausgehen. „Le biopouvoir est devenue un psychopouvoir“107 î im Niemandsland zwischen Konsumenten und Machern, teils kritisch-subversiv, teils zynisch-affirmativ in der versuchten Annäherung an die Angreifer, weiß sich die ästhetische Distanz von Medientheoretikern und Kulturhistorikern zu behaupten, die in besonderen Zirkeln und Institutionen sich und den anderen beim Zuschauen noch zuschauen. Bestenfalls können sie andere Zuschauer, denen Hören und Sehen noch nicht ganz vergangen ist, daran erinnern, das es jenseits der kontrollierten Automation und des formatierten Funktionierens von Konformismus und Konsumismus, die 107 Stiegler: Prendre soin, S. 189.

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PR und Marketing gewährleisten, noch anderes wahrzunehmen gibt, das die Mühen der selbstbewussten Aufmerksamkeit lohnt. Oder auch, dass es schlicht einmal anderes gegeben hat, dessen Kenntnis dazu taugt, dem Absolutismus automatisch funktionierender Wirklichkeit das Wissen von anderen Möglichkeiten entgegenzuhalten, um diesem „uncroyable hold-up sur l’imaginaire“108, den Christian Salmon exemplarisch an der neuesten PR-Technik des Storytelling angeprangert hat, ein wenig Widerstand zu leisten. Werfen wir also zum Schluss nochmals einen Blick zurück auf die metaphorologische Konfiguration Schiffbruch mit Zuschauer. Blumenberg hat ja in seiner diachronen Analyse dieser paradigmatischen Daseinsmetapher auch vielfältige Zusammenhänge, in welchen die Figur des Zuschauers seit der Antike und ihrer Idee des ‚Weltzuschauers‘ gestanden hat, im Sinne seiner Theorie der Unbegrifflichkeit beleuchtet. Er ist der Überlieferung dieses metaphorischen Komplexes quer durch die Neuzeit in Philosophie, Literatur und Essayistik nachgegangen. Es wäre gewiss lohnend, die humanistische Figur des Zuschauers im Anschluss an Blumenbergs Untersuchungen nochmals zu akzentuieren, doch mag ein Streiflicht auf die Schlüsselszene und ihre Deutung durch Blumenberg hier zum Abschluss genügen: Suave mari magno turbantibus aequora ventis e terra magnum alterius spectare laborem, non quia vexari quemquamst iucunda voluptas, sed quibus ipse malis careas quia cernere suave est.109 Ausgehend von dieser epikuräischen Passage aus der bedeutendsten Lehrdichtung der Antike, nämlich aus De rerum natura des Lucretius, stellt Blumenberg auf dem Umweg über die Rezeptionsgeschichte des Topos das Glück der ästhetischen Distanz durch ihre Entlastungsleistung von diversen Unheilerwartungen und Schmerzdrohungen heraus. Solche Entlastung ermöglicht dem Zuschauer, dem schrecklichen „Schiffbruch“ vom sicheren Ufer aus zuzuschauen, dabei zwar nicht den Untergang der anderen Unglücklichen, doch aber die eigene Distanz dazu – zu genießen. „Wer mehr sieht, trägt mehr Last.“110 Ästhetik und Moral des Zuschauers kommen letztlich zwar weder im Mitleid entsprechend der Anthropologie der Aufklärung (Rousseau, Lessing) noch in der 108 Salmon: Storytelling, S. 20. 109 Lucretius Carus, Titus: De rerum natura, Liber secundus, Vers 1-4 („Süß, wenn auf hohem Meer die Stürme die Weiten erregen, ist es, des anderen mächtige Not vom Lande zu schauen, nicht weil wohlige Wonne das ist, daß ein andrer sich abquält, sondern zu merken, weil süß es ist, welcher Leiden du ledig“ (die Übersetzung ist von Karl Bücher). 110 Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, S. 47.

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christlichen Tugendlehre der Barmherzigkeit, wohl aber in der Selbstsorge überein, welche die spätestens seit Kants Moralistik aus der Neuzeit verdrängte, antike Frage des Glücks und des rechten und freien Lebens wieder aufnimmt. Epikureischer Hedonismus war auf eine angst- und schmerzfreie Existenz des um sich selbst besorgten Menschen ausgerichtet. Solange nach der Idee der Gelassenheit (griech. ƜƴơƱơƮƟơ/ataraxia) Lust als Ruhe und Glück als Harmonie verstanden werden, solange freie Selbsterhaltung und nicht der ‚Wille zur Macht‘, d.h. expansives Unternehmertum und paranoische Machtvermehrung, das Streben nach Lust und Glück bestimmt, können in der Konjunktion von Freiheit und Selbstsorge ästhetische Distanz und „Ästhetik der Existenz“111 eine labile Balance halten. Alle Formate einer über die Lebenskunst dieser freien Selbstsorge hinausgehenden, sei es privaten, sei es kollektiven Vorsorge, mithin auch alle Risiko-Kalkulationen eines florierenden Versicherungswesens, aber zielen – nicht zuletzt im Identifizieren und Adressieren möglicher Kunden mittels user profiling und anderer neuer Marketing- und Kontrollmethoden î auf illusionären Gewinn an entlastender Distanz ab, bezeichnen damit zugleich fatale Strategien der Schmerzvermeidung.

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111 Die „Ästhetik der Existenz“ des späten Foucault als Fluchtpunkt im Auge geht Kimmich im Ausblick ihrer Abhandlung zur Epikur-Rezeption auch auf Nietzsches bezeichnend widersprüchliche Haltung zum Epikureismus ein: Nietzsche lobt zunächst Epikur als idyllisch-heroischen Aufklärer, um ihn in den späten 1880er Jahren im Kontext des „Willens zur Macht“ als „melancholischen Dekadent“ zu denunzieren. Vgl. Kimmich: Epikureische Aufklärungen, S. 231-249.

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Autorinnen und Autoren Josef Fürnkäs, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Keio-Universität Tokyo. Forschungsschwerpunkte: Literarische Moderne, Literaturtheorie, Medienästhetik. Nicola Glaubitz, Wissenschaftliche Koordinatorin des Forschungskollegs „Medienumbrüche“, Universität Siegen; Anglistin. Forschungsschwerpunkte: 1800, Literatur und audiovisuelle Medien im 20. Jahrhundert, Patricia Highsmith. Andreas Käuser, Vertretungsprofessur für Germanistik an der Universität Flensburg; Literatur- und Medienwissenschaftler. Forschungsschwerpunkte: Medienanthropologie, Körper- und Musikdiskurse, Medien- und Literaturgeschichte. Kentaro Kawashima, Lehrbeauftragter an der Keio-Universität Tokyo u.a.. Forschungsschwerpunkte: Autobiographie des 20. Jahrhunderts, Medientheorie, Diskurstheorie. Mario Kumekawa, Assistenzprofessor für Germanistik an der Keio-Universität Tokyo. Forschungsschwerpunkte: Sprachphilosophie, Sportliteratur, Geschichte des Sports. Yuko Mitsuishi, Lehrbeauftragte an der Keio-Universität, Tokyo u.a. Forschungsschwerpunkt: Paul Celan. Kanichiro Omiya, Assistenzprofessor für Germanistik an der Keio-Universität Tokyo. Forschungsschwerpunkte: Politik und Ästhetik um 1800/1900, Philosophie und Psychoanalyse, alte und neue Medien um 1900. K. Ludwig Pfeiffer, Professor für Anglistik an der Jacobs University Bremen. Forschungsschwerpunkte: kulturelle und mediale Konfigurationen (Shakespeare-Zeit, 19. Jahrhundert, Körperinszenierung). Ralf Schnell, Rektor der Universität Siegen, vormals Professor für Germanistik/Neuere deutsche Literaturwissenschaft ebendort. Forschungsschwerpunkte: Neuere und neueste deutsche Literaturgeschichte, Theorie und Praxis audiovisueller Medien.

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Medienumbrüche Ingo Köster, Kai Schubert (Hg.) Medien in Raum und Zeit Maßverhältnisse des Medialen Dezember 2008, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-8376-1033-8

Rainer Geißler, Horst Pöttker (eds.) Media – Migration – Integration European and North American Perspectives Dezember 2008, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN: 978-3-8376-1032-1

Daniel Müller, Annemone Ligensa, Peter Gendolla (Hg.) Leitmedien Konzepte – Relevanz – Geschichte, Band 2 Dezember 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-8376-1029-1

Daniel Müller, Annemone Ligensa, Peter Gendolla (Hg.) Leitmedien Konzepte – Relevanz – Geschichte, Band 1 Dezember 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-8376-1028-4

Rainer Geißler, Horst Pöttker (Hg.) Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland Band 2: Forschungsbefunde Dezember 2008, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-8376-1027-7

Annemone Ligensa, Daniel Müller (Hg.) Rezeption Die andere Seite der Medienumbrüche Dezember 2008, ca. 200 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-8376-1026-0

Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.) Mediengeographie Theorie – Analyse – Diskussion Dezember 2008, ca. 500 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN: 978-3-8376-1022-2

Michael Ross, Joseph Garncarz, Manfred Grauer, Bernd Freisleben (eds.) Digital Tools in Media Studies Analysis and Research. An Overview November 2008, 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN: 978-3-8376-1023-9

K. Ludwig Pfeiffer, Ralf Schnell (Hg.) Schwellen der Medialisierung Medienanthropologische Perspektiven – Deutschland und Japan November 2008, 226 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-8376-1024-6

Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Volker Roloff (Hg.) Surrealismus und Film Von Fellini bis Lynch Juni 2008, 326 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-863-6

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Medienumbrüche Albert Kümmel-Schnur, Jens Schröter (Hg.) Äther Ein Medium der Moderne April 2008, 404 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-610-6

Michael Lommel, Volker Roloff (Hg.) Sartre und die Medien März 2008, 228 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-816-2

Sigrid Baringhorst, Veronika Kneip, Annegret März, Johanna Niesyto (Hg.) Politik mit dem Einkaufswagen Unternehmen und Konsumenten als Bürger in der globalen Mediengesellschaft 2007, 394 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-648-9

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Peter Gendolla, Jörgen Schäfer (eds.) The Aesthetics of Net Literature Writing, Reading and Playing in Programmable Media 2007, 394 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-493-5

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Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

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Ralf Schnell (Hg.) Wahrnehmung – Kognition – Ästhetik Neurobiologie und Medienwissenschaften 2005, 264 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-347-1

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Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Spannungswechsel Mediale Zäsuren zwischen den Medienumbrüchen 1900/2000 2005, 220 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-278-8

Rainer Geißler, Horst Pöttker (Hg.) Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland Problemaufriss – Forschungsstand – Bibliographie 2005, 546 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-280-1

Ralf Schnell, Georg Stanitzek (Hg.) Ephemeres Mediale Innovationen 1900/2000

Peter Gendolla, Jörgen Schäfer (Hg.) Wissensprozesse in der Netzwerkgesellschaft

2005, 242 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-346-4

2004, 286 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-276-4

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